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Kirchen⸗Lexikon
oder
Encyklopädie
der Fatholifchen Theologie
und ihrer Hiltswiſſenſchalten.
Herausgegeben
unter weeng der ausgezeichnetften katholiſchen Gelehrten
| Teutſchlands
von
Heinrich Joſeph Wetzer,
Doctor der Philoſophie u. Theologie und ord. Profeſſor der orientaliſchen Philologie
an der Univerſität zu Freiburg im Breisgau,
——
und
Beuedikt Welte,
Doctor der Theologie und ord. Profeſſor an ver katholiſch- theologiſchen
Facultät zu Tübingen.
—
Sechster Band.
Saaba — Mazarin.
I Mit Approbation des hochwürdigſten Erzbifhofs von Freiburg.
Freiburg im Breisgau,
ide Berlagshandfung.
1851.
—
—
3
K.
Kaaba, ſ. Caaba. i i
Kabbala (7:27), von dem hebräiſchen Worte >27, empfangen, annehmen,
alfo — acceptio. Man verftegt unter Rabbala eine geheime Ueberlieferung und
Wiffenfchaft der Juden, welche eine Enthüllung des verborgenen Sinnes der HI.
Schrift, eine Theofophie, eine Lehre von der Schöpfung verſchiedener Welten als
Lichtausflüffen aus dem einen abſoluten Weſen, Ainſoph, Urlicht, in immer wei=
tern unvollfommmeren Kreifen bis zur Materie herab, von Adam Kadmon, dem
geiftigen Urmenſchen, von dem Abfall der Geifter, fodann der Menfhenfeelen,
vom Maſchiach, dem erwarteten Erretter und DBefreier von Sünd’ und Elend,
vom fünftigen Gericht, von der Auferfiefung der Todten und einer Wiederher-
ſtellung der Dinge enthält, und die neben vielen Bliden in den großen Zufam-
menbang und den allgemeinen Sinn der Dffenbarungswahrheiten des alten Te—
flaments auch eine fymbolifhe Zahlenlehre, ähnlich der pythagorifchen, jedoch bei -
vielem VBortrefflihen und Probehaltigem manches Abenteuerlihe, ja mährchenhaft
Klingende in fih faßt. Wir verfuchen zuerft einen nähern Begriff des Syſtems
der Rabbala nach den älteften fchriftlihen Duellen, dem Buche Jezira und dem
Buche Sohar. Das Buch Jezira trägt die Ideen der Kabbala mittelft einer
Zahlen = und Buhftaben-Symbolif vor. Darnach bezeichnen zehn Zahlen und
zweiundzwanzig Buchſtaben in ihrer Aufeinanderfolge die zweiunddreißig Bahnen
oder Wege Gottes, in denen fich die höchſte Einheit und Weisheit, die abfolute
Sntelligenz ſchaffend einhüllt zu ihrer Enthällung und Offenbarung. Einheit,
Weisheit und Harmonie im Weltall beweifen: die Eriftenz einer höchften Einheit
und Weisheit, welche Himmel und Erde und was darin ift, hervorgebracht hat
und Ienft nah Zahl, Maß und Gewicht. Gedanfe, Sprache und Schrift find
im Schöpfer eins und ungetrennt. Seine Wirfungen und Faffungen zur Mani»
feftation feiner unausfprehlichen, unbegreiflihen Wefenheit werden Sefiroth ge-
nanntz; es find die Urzahlen oder göttlichen Zählungen, Grundeategorien des
Weltalls, Bafen, Behälter, worin die göttliche Wefenheit und Wirffamfeit gleich»
fam durchſcheint und wie in einem Spiegel oder Gefäße offenbar wird, Sie find
unendliche, raum = und zeitfreie Beflimmungen der göttlichen Thätigfeit, oder des
Dafeins der Dinge, worin diefelbe erfiheint, „Es gibt, Heißt es, zehn Seftroth,
fuche fie zu begreifen, dein Denken, Sinnen und Dichten hat es immer damit zu
thun. Stelle die Dinge auf ihr Princip und den Schöpfer auf feine Bafıs.”
Der Logos oder göttliche Geift ift Weltbildner, principium formativum, und im-
manenter Nealgrund der Welt; aus feinem Schooße ift Alles gleichfam gefloffen,
Die zweiundzwanzig Burhftaben (analog den Ideen im platonifchen Logos) find
den Seftroth gegenüber die nähern Dffenbarungscharaftere und Baſen. Der
Menſch ift der Micrscosmus, Auszug und Summe der großen Natur. Den Dua-
lismus ſchließt das Syſtem aus; Gott ift über, aber nicht außer den Zahlen und
Buchſtaben. Auch das Buch Sohar geht von der höchſten Einheit aus, fehreitet
von da fynthetifch vor und bildet namentlich die Lehre von den drei oberen und
den fieben unteren Sefiroth, um deren Zehnzahl überhaupt Die ganze Kabbala
Kirchenlexikon. 6. Bd. 1
2 | Kabbala.
ſich dreht und die ihren Hauptinhalt ausmacht, ſorgfältig nach allen Seiten aus.
Das Verhältniß dieſer Darſtellung zu der im Buch Jezira iſt ähnlich dem des
Platonismus zu der Lehre des Pythagoras. An die Stelle der Zahlen- und
Buchftabenlehre tritt Die Ideenwelt im Logos, Adam Kadmon; die Behandlung
ift geiftiger, idealer. Der Vortrag von der Natur Gottes ift allegoriſch, oder
poetifch überfhwänglich, oft jedoch metaphyſiſch beftimmt, Die efoterifche Ein-
heit Gottes, Ainfoph, an fih form- und geftaltlog, nimmt in den Sefiroth Form
und Geftalt an, um ſich zu offenbaren. Doc ift die erfle Seftra, die Krone oder
das lange Geficht, woraus die übrigen hervorgehen und denen fie erhaltend inne-
wohnt, der ifoterifchen Einheit oder dem Ainfoph noch fo nahe, daß fie oft damit
Herwechfelt zu werben fiheint, andererfeitS aber doch beftimmt davon unterfchieden
wird, ähnlich wie im Chriftenthfum unter dem Worte Vater häufig die erfte Per-
fon in der hl. Trinität, dann aber auch wieder eben fo oft die einige Gottheit in
der Totalität ihrer Momente verflanden wird, Auf die Krone folgt die Weis-
heit, welche männlich, dann der Verfland, welcher weiblich vorgeftellt wird,
Diefe bilden die drei oberen Sefiroth, Die fieben folgenden, unteren aber hei—
Ben: Gnade oder Größe, Gericht oder Stärke, und Schönheit; dann Triumph,
Glorie und Reich, endlich Grund oder Bafis, „Der Unbekannte der Unbefann-
ten unterfcheidet fih von Allem und ift nicht getrennt; denn Alfes vereinigt ſich
mit ihm, wie er fich wieder mit Allem vereinigt; er ift Alles.” „Man erkennt
ihn nur an dem Lichte, das von ihm ausgeht, und dieß wird ber heilige Name
genannt.” In jedem der zehn Sefiroth, für ſich unſelbſtſtändige Attribute, iſt
Gott manifeftirt, das unendliche Wefen gefaßt, Sie bilden gefammt die erfte,
Holftändigfte und höchfte Manifeftation Gottes, den urbildlichen oder himmlifchen
Menfhen. Der irdifche Menfch ift feine ſchwache Copie. Der Mierocosmus, der
beide befaßt, ift Abbild und Inbegriff, Alles, was im Himmel und auf Erben,
Durch den allein Alles iſt; jedoch ift der obere und untere Menſch zu unter-
ſcheiden; der eine fann nicht ohne den andern beflehen, Der obere Menfch, oder
der „Erſtgeborene aller Creatur” ift die abfolute Form, Form und Duell der
Formen, der Ideen, der Gedanfen, oder Logos, „die höchfte verborgene Weis-
beit.“ Die Sefiroth find nad Einigen die unterfhiedlichen Hauptnamen Gottes, -
oder das diefen Namen in Gott objectiv Entfprechende, ohne dag Gott weder er-
fannt, noch felbft fein fonnte, z. B. Gott wirft nur durch die Allmacht. Nach
Andern wieder find fie Werkzeuge der göttlichen Macht, Gefchöpfe der göttlichen
Natur, nicht Eigenfchaften, fondern von Gott total verfchieden, Noch Andere
identifleiren Die Sefiroth vollig mit dem Ainſoph; ihre Gefammtheit ift der Un-
endliche felbft. Nach einem zwifchen beiden ftehenden Sinne, wohl dem urfprüng-
lichen der Kabbala, ift Gott der Unendliche, Namenlofe in fih, offenbart fih im
den Sefiroth, in welchen er gegenwärtig, ohne in ihnen aufzugeben; fie find wie
ebenfo viele Gefäße oder gefärbte Gläfer, Dunfelheiten, durch welche auf ver-
ſchiedenen Stufen das einige, ewige Licht feheint und fich Fundgibt, und eigentlich
weder Gefhöpfe, noch unmittelbare Eigenfihaften. Ber ihnen als Einhüllungen
des unbegreiflichen Lichtes, kommt zu unterfheiden das dunfle Gefäß, Hülle, und
der in diefer Faffung erfcheinende Glanz, Fülle. Die Kabbala redet von einer
überftrömenden Fülle aus den drei oberfien in die erfle und die übrigen der ſie—
ben Sefiroth mit Zerfprengung der Gefäße, In Beziehung namentlich auf bie
oberen Sefiroth diene zum nähern Verfländniffe noch Folgendes. „Rrone, Ke—
ther, ift das Princip der Principien, die geheime Weisheit, die erhabenfte Krone,
mit der alle Diademe und alle Kronen geſchmückt werben,” Sie ift nicht jene
geheimnißvolle Totalität, Ainfoph, auch Chaos genannt, das allen Attributen
voranging, fondern die Darftellung des Unendlichen im Unterfchiede vom End-
lichen. Der ihr entfprechende Name iſt „ich bin”; abfolutes Sein ohne Dualifi-
eation, wohin Feine Analyfe dringt; fie beißt auch der Urpunet oder der Punch,
Kabbala. 3
„So Yange der Verborgene der Berborgenen noch nicht diefen Lichtpunct aus fei-
nem Schoofe Entlaffen hatte, war er noch ganz unbefannt und verbreitete fein
Licht." In feiner Concentrirung auf ſich, Zurüdziefung vom Endlihen, Deter-
minirten heißt der Unendliche, Ainſoph, auch Nichtetwas, Nichts, gerade fo, wie
der Areopagit nach der fogenannten theologia abdicativa fagt: deus non existif.
und Erigena: deus nescit, quid sit, non enim quidquam est; und wie in neuerer
Zeit Fichte dem Abfoluten das Dafein abfpriht. Gegen den Alten der Alten,
F die Einheit, ift das Licht der Krone Finſterniß. Aus dem Haupte der Einheit
und Duelle alles Lichtes, angeſchaut von Geficht zu Gefiht, unterfchieden von
aller Mannigfaltigfeit und relativen Einpeit, gehen hervor zwei ſcheinbar eutge⸗
gengeſetzte, doch unzertrennliche Principien, die männliche, active Weisheit,
J Chochma, und der weibliche, paſſive Verſtand, Bina; ohne beide wäre keine der
Bildungen Gottes möglich geweſen. Weisheit Heißt auch der Allerzeuger in den
zweiunddreißig Bahnen, der Berftand die Mutter; beider Sohn, von beiden
Zenugniß gebend, ift die Erfenntniß oder das Willen, welches jedoch Feine eigene
Sefira bildet. Die drei genannten Sefiroth enthalten in fih Alles, was da ik,
Sind aber felbft im Alten ver Alten eins, der Alles in Allem if. Bei fpätern
Ausfegern heißt es auch: Krone, Weisheit und Verftand feien eins, wie Wiffen,
Wiſſendes und Gemwußtes, Jdentität des Fdealen und Realen, Der Unterfchied
yon Gottes Wiffen und unferm Wiffen ift damit ausgefprochen, daß im ihm jedes
Sbjeet iventifh mit dem Subjecte iſt; ſich wiffend weiß Gott alfe Dinge, weil
fih als den alleinigen Hervorbringer aller Dinge, Die fieben Sefiroth, welche
folgen, heißen die Sefiroth der Eonftruction vder des Aufbaues, Aus der Ein-
heit nämlich der drei erften Sefiroth gehen wieder zwei entgegengefegte Princi-
pien hervor: ein actives, männliches, und ein paſſives, weibliches ; einerfeitg
Barmherzigkeit und Gnade, Cheſed, andererfeits Gerechtigkeit und Strenge, Din
(Erpanfion und Contraction). Diefelben Attribute heißen auch Arme Gottes;
das erflere gibt das Leben, das andere den Tod, Wären fie getrennt, fo Fönnte
die Welt nicht beftehen; Feine Gereihtigfeit ohne Gnade; beide vereinigen ſich
zum gemeinfamen Centrum der Schönheit, Tifereth, deren Symbol das Herz.
Diie zwei nähftfolgenden Attribute, Triumph und Glorie, Nezach und Hod, ver-
halten ſich wiederum, wie Männliches und Weibliches, Erpanfives und Contrac-
| tives als entgegengefegte Kräfte, deren Einheit die Wurzel aller Kräfte in der
Welt, Grund oder Bafis, Jeſod, auch Saft oder Mark genannt wird, die Macht
der Erzeugung und des Wahsthumes in der Natur. Dieß Antlig Gottes heißt
Zebaoth. Das legte Attribut, Malchuth, Reich, ift eigentlich Fein neues Attri-
but, fondern die Einheit, Harmonie und Herrfchaft aller vorigen über die Welt,
7 Sede der drei Elaffen diefer Attribute im himmliſchen Menſchen ſtellt Gott in
einer untheilbaren Dreiheit dar, Die drei erften drüden die abfolute Identität
des Seins und Denkens aus, und find die intelligible Welt. Die drei folgenden
find die moralifhe Welt oder die des Fühlens, die Spentität der Güte und
Strenge in der Schönheit; die drei Iegten find die natura naturans in der phyſi—
fen Welt; die göttliche Vorfehung ift zugleich der höchſte Grund, die abfolute
Kraft in diefer Ordnung, das Element der Zeugung. Schon in der Kabbala
findet fi der bei Jacob Böhme vorkommende Vergleich von der Flamme an
Kohle oder Licht; das weiße obere Ende derfelben wird vom bläulichen untern,
dieſes als Lichtſtuhl vom Docht und der Materie getragen, die fih unabläffig in
Feuer aufpebt und verzehrt; das weiße, obere Ende, ſich ſtets gleich, führt in die
Einheit zurück. Die Anwendung wird auf den Menfhen und Gott felbft ge-
7 madt. Die Collectivdreiheit des Abfoluten (Krone), des Ideals (Schönheit)
77 amd der immanenten Kraft (Reid, Schechina), oder: der Subſtanz, des Den-
17 Tens und des Lebens Heißt wegen ihrer Eentralität die Säule der Mitte; das
IE FIange Gefiht (Krone), der Heilige König (Schönheit), die Heilige Matrone
1*
Eur.
A Kabbala.
(Schechina) bezeichnen dieſelbe Drei. Die reale Exiſtenz heißt auch Mond und
Eva, als Wiederfihein der idealen Schönheit oder Sonne, als Mutter und feg-
nende Nährerin, Die Verbindung der beiden Antlige des Königs und der Köni—
gin bewirkt das Entſtehen und die Erhaltung der Schöpfung. Ihre gemeinfame
Liebe zum Werfe offenbart fich in zweifachen Früchten, je nach der Richtung der
Kräfte vom Gemahl zur Gemahlin, Eingeburt und Vermehrung in diefer Welt;
pder von der Gemahlin zum Gemahl, VBergeiftigung der Verförperungen und
Eingeburt in die ewige Welt oder Wiedergeburt, Die Seelen haben ihre Wur—
zel im höchften Verftande; gehen fie von dort durch das Princip der Gnade, fo
werben fie männlich, durch das der Strenge, fo werben fie weiblich, König und
Königin find der Zeugung der Seele das, was Mann und Frau der Zeugung
des Körpers, Bei dem umgekehrten Wege der Seele aufwärts, wo die Tugend-
geſchmückte, ihre Beftimmung erreicht hHabende, in den Schooß Gottes zurüd-
kehrt, fteigt fie von felbft auf, fowohl durch die Liebe, welche fie einflößt, als
durch die, welche fie empfindet, und mit ihr fteigt auch die Ießte Stufe der Ema-
nation oder das le&te, reale Sein auf, das fo mit der idealen Geftalt in Harmo—
nie gefegt wird. Abermalige Zufammenfunft des Königs mit der Königin, jet
zu anderm Zwecke als vorhin, „So wird das Leben von oben und von unten ge—
ſchöpft.“ Eine Anticipation diefer Verbindung zeigt fih-in der Efftafe, — Die
Kabbaliſten veranfchaulichten dieß ihr Syſtem in mannigfachen ſymboliſchen Figu—
ven, vorzüglich in dem fogenannten Fabbaliftifhen Baum oder auch in neun con=
eentrifchen Kreifen um einen Mittelpunct ꝛc. Jede Form des Seins von der
Materie bis zur ewigen Weisheit ift eine Manifeftation, oder, wenn man Tieber
will, eine Emanation des unendlichen Wefens, Gott muß in ihrer Mitte gegen-
wärtig fein; fich felbft überlaffen würden fie wie ein Schatten verſchwinden. Aber
felbft der Schatten der Materie iſt noch das Ende der Manifeftationen, fowie
der ideale Menfch deren Anfang if. Alles geht in den Anfang zurück, von dem
es ausgegangen, Fein Wort, Fein Hauch in Gottes Welt ift verloren, Nichts ift
abfolut fchlecht, Nichts ift für immer verfluht. Die Krone, der Anfang und
Schöpfer, ift zugleich der Segen. Es kommt der ewige Sabbath, das ewige Feft
der allgemeinen Herftellung. Als die jegige Welt gefchaffen werben follte, wa—
ren alle Dinge diefer Welt, alle Gefchöpfe des Weltalls — in welcher Zeit fie
auch exiftiren follten — bevor fie in diefe Welt eingetreten, in ihren wahren
Geftalten vor Gott gegenwärtig. Sp müffen die Worte des Predigerd: „was
da war, wird auch fein, und was gefihehen ift, wird auch geſchehen,“ gedeutet
werben, „Die untere Welt ift mit der obern ähnlich gemacht worden; was in
der obern ift, findet fich gleichfam als Abbild auf Erden.” Alles Hat eine ſym—
bolifche Bedeutung, die in der Signatur der in vier Welten abgeftuften Wefen
ausgedrückt if, Diefe vier Welten heißen: Aziluth, Beria, Jezira und Aſia.
Die fehr ausführliche Lehre von den Engeln, Dämonen und Menfchenfeelen, ihrem
Abfall, ihrer Länterung und einftigen Glorifieirung, wobei dem Menſchen als
MWelt- und Gnttesbild die oberſte Stelle angewiefen wird, erhält neben manchem
Irrigen und Willfürlichen viel Bortrefflihes und Tiefes. Manches erinnert Teb-
haft an hieher bezügliche Grundlehren des Platonismus, aber nicht felten über-
firahlt die Kabbala diefelben und ftreift an die tiefften Wahrheiten und fpeculati=
ven Ideen des Ehriftentfums. Daher wurden auch viele Kabbaliften Chriſten,
und die Lehre ven Juden felbft verdächtig; und Tholuf glaubte fich in neuerer
Zeit auf ven Sohar berufen zu können, um den Juden, welche die Kabbala nicht
verwerfen, die Nothwendigfeit zu zeigen, Chriften zu werben, Wir folgten in
unferer Darftellung des Syſtems der Kabbala durchgängig der Arbeit Franks,
in's Teutſche übertragen von Gellinek, welche jedenfalls den Vorzug befigt,
einen leichten, Karen Ueberblick des Syſtems nach all’ feinen Theilen zu gewäh-
zen, Man vergleiche indeß Molitor's Werk: Philofophie der Geſchichte oder
KRabbala, | 5
über die Tradition, namentlich im erften Bande den bten Abſchnitt, und im 2ten
Bande den 2tenAbfchnitt, fowie den Anhang. — Die Kabbala foll nach den berühmte-
ften Bertretern diefer Wiffenfchaft von Gott dem Moſes auf Sinai geoffenbart und als
die Auslegung des Gefeges, als efoterifche Weisheit, mitgetheilt worden, und ſodann
durch eine ununterbrochene Weitergabe von feinen Nachfolgern empfangen und bis auf
die Gegenwart fortgepflanzt fein. Sp behaupten fie namentlich, daß Hillel, der be-
rühmte Lehrer Gamaliel’s, zu deffen Füßen Paulus gefeffen, ja felbft Paulus und Jo—
bannes kundige Kabbaliften gewefen feien, und tief eingeweiht in dieſe Gottesweis⸗
heit; an den beiden letztern tadeln fie nur, daß fie lehrten, daß der Maſchiach
Fleifch geworden und von der Jungfrau geboren fei. Andere gehen felbft bis auf
Abraham, den Bater der Gläubigen, zurüf und behaupten, daß fhon ihm die
Kabbala, wie fie im Buch Jezira enthalten, für feine Nahfommen geoffenbart wor-
den fei, Außer dem Heinen Buch Jezira, Buch der Schöpfung, weldes im zweiten
Sahrhundert von Rabbi Afiba (ſ. d. A.) niedergefchrieben fein foll, ift das Buch
Sohar, Buch des Glanzes, von Rabbi Simon Ben Johai ci. d. A.) bald
nachher begonnen und als Inbegriff der mündlichen Leberlieferungen von der
Säule deſſelben mehrere Jahrhunderte hindurch fortgefegt und bis zum Umfang
von drei Duartanten ausgedehnt, Hauptquelle der Kabbala. Doc fehlt es nicht
in den fpätern Jahrhunderten an zahlreichen Fabbaliftifchen Schriftftellern, welche
mehr die Lehre auslegten und commentirten, als felbftfändig weiter führten. Meh—
rere gelehrte Hriftliche Forfcher dagegen wollen in der Kabbala nur einen Aus-
fluß oder eine modificirte Anwendung altindifcher Emanationslehren oder der Gei-
fterlehre des Zorvafter im Zendbuch oder eine jüdiſch modificirte, dem Neupla-
tonismus und Pythagoräismus verwandte, fpeculative Theologie und Cosmogonie
erblifen, auf welche vielleicht das uralte Buch Iking der Chinefen, welches von
der Entftehung aller Dinge aus der Ureinheit, dem Taho, handelt, feinen Ein-
fluß geübt Habe. Obwohl, abgefehen von den Gnoftifern, eine wenigflens mit-
telbare Bekanntſchaft mit der Kabbala bei Divnyfius dem Arevpagiten und Sco—
tus Erigena (f. die A.) unverfennbar ift, fo geſchieht ihrer doch ausdrücklich erft
feit vem 13ten Jahrh. Erwähnung, und erft feit dem 15ten Jahrh. mit der Erneuung
des Studiums der claffifchen Alten und namentlich des Plato zieht fie die Aufmerffam-
feitder chriſtlichen Gelehrten auffih. Raimundus Lullus, der enthufiaftifche Lieb-
haber der Tiefen Hriftlicher Wiffenfchaft, der auch das Evangelium unter den Moham-
medanern auf der Norbfüfte Africa’s verfündend ald Martyrer fiel, erwähnt ihrer
zuerft in feiner ars magna; feine Metaphyfif und Zahlenlehre insbefondere ward
von Giordano Bruno (f. Bruno) und manchen andern fpätern Gelehrten benutzt.
Borzüglih aber waren es Marfilius Fieinus (ſ. Fieinus), der berühmte Ueber-
feger Plato's, Plotins und anderer Platonifer, namentlich auch des Dionyſius
Arevpagita, und die beiden großen Gelehrten Joh. und Franz Pico von Mi-
randola (f. d. U.), welche bei ihrer mit lebhafter Begeifterung ergriffenen Idee
einer moſaiſchen Philoſophie und einer gemeinfamen Ueberlieferung einer Uroffen-
barung aus dem Paradies unter den Völkern, aus welcher alle religiöfen und
philofophifchen Syſteme, in denen ein höherer Wahrheitsgehalt, gefchöpft Hätten,
auf die Rabbala ein großes Gewicht legten. Sie brachten ihre platonifche Welt-
anfhauung in Verbindung mit dem Neuplatonismus mit verfihiedenen der beffe-
ren Ideen des platonifirenden, allegorifirenden Juden Philo und anderer Gnofti=
fer, namentlich aber mit der Kabbala, und fanden die alfo geſchickt und geiftreich
eombinirte Philofophie im beften Einklang mit der riftlihen Religion, ja, fie
bielten diefen ihren Platonismus in inniger Vereinigung mit den fupranaturalen
Lehren der Rabbala, deren Ouellen fie fih um hohen Preis bei damaligen Ju—
den zugänglich gemacht hatten, für eines der wirffamften Mittel, das Chriften-
thum fpeculutiv zu begründen und zu vertheidigen. In diefer Geftalt brachte
30h, Reuhlin den Plato und zugleih mit ihm die Kabbala von Stalien nad
6 Kabbala.
Teutſchland, und ſeine gelehrten Bemühungen um letztere theilten bald Agrippa
von Nettesheim, Knorr von Roſenroth, van Helmont, Piſtorius,
Poſtelli, Nicei, Kircher, Wachter, und andere, welche namhafte Schriften
über die Kabbala verfaßten. An den Arbeiten und Mittheilungen dieſer Männer
entzündete fih die damalige, höchſt bedeutende, vornehmlich aber für die neuere
Zeit fehr einflußreich gewordene Theofophie und Phyfiofophie des originellen und
tieffinnigen Paracelfus und des noch ungleich größern Theofophen, des „Phi-
Yofophus Teutonieus“ Jacob Böhme (f. Böhme), bei weldhem bie drei
oberen und die fieben unteren Sefiroth als der dreifaltige Wilfe des Urgrundeg,
und als die fieben Dualitäten oder Duellgeifter des Grundes oder der ewigen
Natur Gottes, wiederfehren und auf deffen merfwürbige Nebereinftimmung in den
Grundzügen feiner Lehre mit der Kabbala neuerdings mehrere teutſche Gelehrte
aufmerkfam gemacht Haben, Durch den gelehrten und chriftlich begeifterten Me—
taphufifer John Nordage, der Böhme's Lehre fyftematifch zu ordnen und Flarer
darzuftellen verfuchte, fo wie durch den tiefgemüthlichen, geiftvollen Saint-Mar-
tin, der Jacob Böhme den Adler unter den hriftlihen Myſtikern nennt, wurde
indireet die Kabbala auch für England und Franfreih einflußreich, obwohl in
England Ralph Cudworth und Henry Moore fhon Früher in ähnlichen
Geifte gewirkt Hatten. Zweifellos ift in Teutſchland durch Böhme, Dettinger
und feine weitverzweigte Schule, durch die neueren Freunde beider, fowie Durch
jene genannten Schriftftelfer, der mittelbare Einfluß der mit dem Platonismus
verbundenen Rabbala ein fehr bedeutender geworden. Schelling und Hegel
bewundern die tieffinnigen Zdeen und Speculationen Jacob Böhme’s, und er—
Härten, daß er als vrigineller teutfcher Tiefvenfer den Namen des „teutichen
Philoſophen“ mit Recht führe. Baader und feine Schule aber hielten die Lehre
Böhme’s für mehr als irgend eine andere geeignet, die neue teutfche Philofophie
aus ihrer Verflahung und Verirrung vom Boden der Religion zurüdzuführen,
und einen dauernden, engen Bund zwifchen der Philofophie und Theologie neuer-
dings zu begründen, In der fogenannten romantischen Schule huldigten dieſer
Richtung vorzüglih Novalis und Friedrih Schlegel, der dem Böhme in
Beziehung auf die enge Verbindung der Philofophie mit der Theologie fogar vor
P ats den Preis zuerfannte, Durch folhe Tendenzen und DBeftrebungen wurde
denn neuerdings der Rabbala in Teutfchland eine befondere Aufmerffamfeit, und
eine vielfache, gelehrte, Eritifche und fpeculative Bemühung wieder zugewendet,
Außer andern Verehrern Jacob Böhme's, Dettingersd und Saint-Martins waren
es vorzüglich die Fatholifchen Gelehrten und Philofophen Molitor, Baader
und Schmid, unter den Proteftanten Kleufer, Tholuf, Meyer, Auber-
Yen, Rothe, demnächft die gelehrten Juden Beer, Frank und fein Ueberſetzer
Gellinef, Freiftadt und Joel, welche fih, obwohl in verfchiedener Abficht
und mit nicht gleichen Nefultaten ihrer Forſchung um dieſelbe Verbienft erwar-
ben. Längft hat man von der Nothwendigfeit fih überzeugt, eine genuine Kab—
bala von einer adulterirten zu unterſcheiden; zu den Quellen jener zählt man un—
bedingt die Bücher Jezira und Sohar, Einige auch das Buch Bahir und bie
Schriften des Nabbi Luria , zu diefer die thalmudifchen und andere fpätere Schrif-
ten von verwandtem Inhalt. Aber über den Sinn der Orundlehren der ächten
Kabbala felbft, auf die wir bisher allein ung einließen, fogar darüber, ob das
Syſtem verfelben als ein reiner Theismus und Creatianismug, oder als eine,
obgleich die ewige Perfönlichfeit Gottes anerfennende, emanatiftifche Lehre anzu—
fehen fei, ftreiten die Gelehrten, Der erfteren Anficht find unter den neueren
entfchieden Freiftadt und Joel zugethan, Freiſtadt halt die Ausdrücke in ber
Kabbala, welhe eine Emgnation bezeichnen, fir poetifch und bildlich, und fei-
neswegs die Schöpfungsivee auszufihließen bezwerfend Cwie etwa diefelben Aus-
drücke bei Thomas von Aquin pder Ignatins), Ebenſo erklärt Joel im feiner
= ha,
RB
Kades und Kabesbarne, 7
Polemit gegen Frank (vgl. Religionsphiloſophie des —7*— von Joel S. 140 ff.,
insbefondere 161 und 195.) die drei obern wie die fieben untern Sefiroth nicht
minder, als die vier Welten der Rabbala, für freie Segungen des Ainſoph, des
Shöpfers, mit welcher Auffaffung aber die meiften hriftlichen Gelehrten ſelbſt
da nicht übereinflimmen, wo fie die Lehre von Gott als abfoluter, unveränder-
licher Perfönlichkeit und vollſtändigen Herrn und Lenker der Welt, von der Frei-
heit des endlichen Geiftes und von der Unfterblichfeit des Menfchen als von der
Kabbala feftgehalten nicht in Zweifel ziehen. Molitor, jedenfalls einer der com-
vetenteften Richter, ſcheint zu der Anficht zu neigen, daß die Kabbala von dene
Borwurf eines feinern Pantheismus der Emanation nicht völlig frei zu fprechen
fei; diefer feinere Pantheismus fei eigentlich aber nicht gewollt, noch confequent
durchgeführt. Das eigentliche Verdienft der Speculation der Kabbala aber liege
in deren Andeutungen in Betreff der heiligen Trinität, in der Anerfennung der
Naturfeite der Schöpfung und des Menfhen, in der Trihotomie des Menfcher
als Geift, Seele und Leib, und in ihren ſpeculativ moralifchen Lehren über den
Weg der intelligenten, wie nichtintelligenten Ereatur zu dem einftigen Stand ver
Bollendung und der Glorie, und der Herftellung eines neuen Himmels, einer
neuen Erde, und eines neuen Jerufalems oder einer neuen Menfchheit, Auch
Baader fah in der Kabbala feinen jüdifch abftracten, Fahlen Theismus, fondern
ftelfte die drei oberen Seftroth mit den drei Perfonen der göttlichen Trinität, die
fieben nachfolgenden unteren Sefiroth aber mit der Lehre Jacob Böhme’s von
der Sophia, der ewigen Natur und den fieben Dualitäten oder Duelfgeiftern zu—
fammen, — Der Mißbrauch der in der Kabbala enthaltenen Zahlenlehre, als
Mittel Fünftige Dinge vorher zu fagen (babylonicos numeros tentare), überhaupf
dem Menfchen Verwehrtes zu ergründen, gab den Anlaß, daß auch eine gewiffe
eombinatorifche Rechenkunſt Kabbala genannt ward, Vergl. hierzu die Artifelz
Emanation und Gnoſticismus. [Sglüter.]
Kades und Kadesbarne (Kadns Baovn, sıy2 up) bezeichnen einen
und denfelben Grenzort des füdlihen Paläſtina, wie z. B. aus Num. 20, 14.
vgl. mit 32, 8. oder 32, A, vgl. mit Richt. 11, 16, 17. erhellt, Die Identität
beider fteht auch dem Eufebius und Hieronymus im Onom. feft, obwohl fie es
an der Stelle Jof, 15, 23., wo e8 ausnahmsweife Sp geſchrieben ift, mit dem
galiläifhen Kedes verwechfeln. Ihre Angabe der Lage (Ev Zonup zr nape-
zeıvovon rergg reoAeı) ſtimmt ebenfalls mit der Schrift überein, nach welcher
es in der Wüfte Pharan (Num, 13, 27.) oder genauer in der Wüfte Zin, dem
nordöflihen Theile jener (Num. 27, 14. 33, 36. Deut, 31, 52.), zugleih an
der Grenze Edoms liegt, zwifchen dem Berge Hor und dem Gebirg der Amale-
fiter, vor dem Eintritt in das gelobte Land (Num. 13, 27 ff.). Diefe Daten
find Far genug, um die Anficht Laborde's (Comment. in Exod.) und Robinfong
cm. S. 170—175) als die richtige feftzuhalten, nach welcher es in dem Ain el
Weibeh, dem bedeutendften Waſſerplatze an der edomitifchen Arabah, einige
Stunden nordweftlih von Petra, wieder zu erfennen if, Andere Stellen, be—
fonders in der Genefis (14, 6, 7. 16, 14. 20, 1.), welche eine weit weftlichere
Lage voraus zu feßen ſcheinen und ſchon Bonfrere veranlaßten, ein zweites Kades
anzunehmen, paffen, recht verfianden, ganz gut auf jenes. Kedorlaomer ſchlägt
Gen. 16, 4—7. die Horiter auf dem Gebirge bis gegen die Wäſte Pharan,
I wendet fih dann nach Kades und über das Hochplateau der Ampriter nach der
Ebene Sittim, fo wie fpäter die Jfraeliten von Kades aus gegen diefe hinauf
fleigen,, aber zurücfgefchlagen werden (Num. 14, 40, vergl, 13, 31.). Ebenſs
- wird Gen. 16, 14. u. 20, 1. gleihwie Zof. 10, 41. Kades nur als öſtlicher
- Endpunet gegenüber dem weftlihen Gaza oder fühweftlihen Schur genannt; we-
der der Brunnen Hagars noch Gerar, wohin Abraham Ausflüge macht, müffen
8 Rades.
darum in feiner unmittelbaren Nähe Liegen, Auch geht es gar nicht an, bie
: Grenze Edoms fo weit nach Oſten zu rüden, indem ber geographiſch ganz be—
ſtimmte Berg Hor ebenfalls an der Grenze Liegt Rum, 20, 22.). Jenes Kades,
welches J. Rowland 1842 (ſ. Ritter, Sinaihalbinfel S, 1077—1088) im
Südweſten gefunden haben will, iſt noch fehr in Zweifel zu ziehen, und würde
viel zu weit nach Süden führen, abgefehen davon, daß von dort bis Berſabe
fein Gebirg zu erfleigen ifl. — Kades hieß ehemals „Duelle Mizpat“ (anyn
75 xgloewg) Gen. 14, 6. 7., und nicht ohne Grund bezieht man beide Namen
auf ein uraltes Heiligtum der Amopriter, etwa eine Drafelftätte, der Zuſatz
Darnea ift eben nichts anders als „Duelle Mizpat“, „Brunnen der Runde”
( gu Wach Wichtiger wurde Kadesbarne in der Führung des ifraelitifchen Vol—
kes als Hauptlagerplag in der Wüfte, und als erfter längerer Sit feines Hei-
ligthumes. Dorthin, gegen das Gebirge der Ampriter, ging der große Marſch
Durch die Wüfte Pharan, von dort aus follte Die Eroberung des hl. Landes be-
ginnen (Num, 13, 27 ff. Deut, 1, 19 ff.), von dort gehen und dorthin Fehren
die ausgefendeten Kundſchafter Num, 32, 4. Deut, 1, 22. of. 14, 6. 7.), dort
blieb die Bundeslade, als Iſrael dennoch den Kampf mit Amalek wagte, und im
Gebirge bis Horma (ſüdweſtwärts) gefchlagen wurde (Num, 14, 44, Deut, 1,
44,). Dort war während des größten Theiles der 38 Jahre („lange Zeit” Deut,
1, 46. vgl. 2, 14.) der Mittelpunct des fih bildenden neuen Geſchlechtes und
feiner Wanderungen; es fah am Ende derfelben Mirjam bei fich fterben und be-
graben werden (20, 1.), ſah aber auch die Widerfpenftigfeit der jungen Genera—
tion am „Haderwaffer”, und den aus dem Felfen gefchlagenen Duell (Robinſon
zählte jest drei große Quellen), big endlih Mofes nach vergeblich erbetenem
Durchzuge durch Edom längs deſſen Weftgrenze am Berge Hor vorüber nad
Süden aufbrach, um die öftlihe Straße nach Moab durch den Wady Getum oder
Sthm zu gewinnen (Num, 20, 14 ff. Deut, 2, 1—8. Richt. 11, 16—17.). Zu-
vor war der Ampriterfönig Arad, der den Nachzug geplündert hatte, befiegt und
fo die frühere Niederlage beinahe an derfelben Stelle gerächt worden, — Kades
wird dann wieder erwähnt, um of. 15, 3. die Sübgrenze des Stammes Juda
zu bezeichnen, welche übereinfiimmend mit Num, 34, 4ff. vom tobten Meere.
erſt nach Süden neben Edom hin, dann weftwärts über das Gebirge zum „Bade
Aegyptens“ gezogen wird, alſo Kades nothwendig mit einfchließt, das denn auch
unter den Städten Juda's aufgezählt wird (Sof, 15, 23.) 5 e8 gehörte zur „mit-
tägigen Gegend.“ Sp auch bei Ezech. AT, 19. in dem idealen heiligen Land,
Kades, obwohl Num. 20, 16. als Stadt (Hy) bezeichnet, und von Joſue erp-
bert (10, 41), war felbft Fein befonderer Königsfig (der Joſ. 12, 22, gehört
nach Galiläa), daher fih das allmählige Verſchwinden des Namens erklärt, Pf.
28, 8. fpricht noch von der Wüfte Kades, wie die Wüfte Zin auch Num. 33, 36,
genannt wird, und Ecel, 24, 18, lobt die Palmen daſelbſt. [S. Mayer,]
Kades zweinal in der Vulg. (Sof. 12, 22, und 1 Mace. 11, 63, 73. bier
auch die LXX.) flatt dem fonfligen Cedes Corp, Kedis), zum Unterſchiede von
Kadesbarne auch Kedes Nephthali genannt, früher ein canaanitifcher Königsſitz
(Joſ. 12, 22. neben Megiddo), dann eine Leviten- und Aſylſtadt in Galilia, im
Antheile des Stammes Nephthali (Hof. 19, 36. 20, 7. 21, 32.), woher Baraf
gebürtig, und in deren Nähe die Keniter und das Zelt Zaeld waren (Nicht. 4,
6—9,). Sie hatte eine fehr fefte Lage (Hof. 19, 36.), weßhalb ihre Eroberung
durch Tiglathpilefer (2 Kon, 15, 29.) erwähnt wird, Im maccabäifchen Kriege
hatte fie eine zahlreiche Befagung, und Jonathan erfocht in der Nähe einen Sieg.
Auch Joſephus Flavius bel. Jud. A, 9. nennt fie als volfreiches, wohlgelegenes
Kvdoioo« in der Nähe von Gifchala, das Onom. Kvdoooog (vgl, Tob, 1, 2%
Kvdıs) bei Paneas, 20 Meilen ſüdöſtlich von Tyrus. Das Dorf Kedes wurde
Kain — Kaiferspeim. 9
eben da, nächſt dem See Merom, dem zeifenden Robinfon CHI, 622) auf einem
Berge gezeigt.
Kain, f. Abel.
Kainiten (Rainianer), von einzelnen Vätern und älteren Schriftftellern
auch Eajaner (ſ. d. A.) oder Eainiften genannt, Sie entlehnten ihren Namen
von dem bei ihnen hochverehrten Brudermörder Kain im Gegenfage zu den Se—
tbianern oder Sethiten (ſ. d. A.), mit denen fie übrigens zu der gnoftiichen
Secte der Ophiten (f. d. U.) gehörten, Nach Irenäus (contra haeres. I. 31.)
waren fie ein Ableger der Valentinifhen Schule; nah Epiphanius Chaeres. 38.)
und Theodoret Chaeres. fabb. I. 15.) vereinigten fie die Gottloſigkeit und Unſitt⸗
lichkeit der Nicolaiten, Valentinianer und Karpokratianer in ſich. Ihrer Lehre
zufolge gab es zwei Kräfte, eine höhere (Coguc) und eine niedere (vorega, ute-
rus, vulva). Der legtern fohrieben fie ven Bau des Himmels und der Erde zu,
Na Epiphanius (1. c. vgl, Tertull. de praescript. c. 47) hatte Eva den Kain
von der Sophia, den Abel von der Hyftera empfangen; nah Theodoret ward
Kain von der Sophia in befondern Schug genommen und mit höherer Erfenntniß
ausgerüftet, fo daß er der flärfere den ſchwächern Abfümmling oder Günftling
der Hyftera tödtete, Aus diefer Auffaffung der Gnoſis (ſ. d. A), gepaart mit
antijüdifchen und antinomiftifchen Grundfägen, ſtammt auch die Verehrung gegen
den Rain, welche fih bis auf Cham, die Spodomiter, auf Efau, Eore und auf
alle im A. B. als verworfen dargeftellten Perfönlichkeiten, ja felbft auf Judas
Iskarioth, als auf ebenfo viele, wahrhaft pneumatifche, mit höherer Erfenntniß
ausgeftattete und ihnen felbft verwandte Naturen ausdehnte, weil diefe nach ihrer
Meinung von dem Demiurgos zwar fortwährend angefeindet, aber von der So—
phia befhügt, in Aeonen umgeftaltet worden und fomit als Vorbilder nachzuah—
men ſeien. Am höchſten ſtellten fie aber den Judas Iskarioth, welcher der Er-
leuchtetſte, ja der einzig Erleuchtete unter den Apofteln und ein wahrer Wohl-
thäter des Menfchengefchlechtes dadurch gewefen fei, daß er den Erlöfer den
Juden überlieferte, entweder weil er erfannte, daß nur durch den Tod Jeſu das
Reich des Judengottes zerflört werde, oder weil er den (pſychiſchen) Jeſus für
einen Berräther an der Wahrheit hielt (Tertull. 1. c.). Nach der Lehre der
Kainiten mußte der Menfh, um zur vollfommenen Gnofis und zum Heile zu ge—
langen, die ganze Stufenleiter der Lafterhaftigfeit durhmadhen; ja fie Iehrten
fogar, daß jedes Laſter feinen eigenen Engel babe, der bei Ausübung der That
ſelbſt angerufen werden müſſe. Sie verachteten die h. Schrift, hatten aber meh-
rere apveryphifche Bücher, 3. B. das Evangelium des Judas und die Entrüfung
vder Offenbarung des HI. Paulus (avaßarızos — ascensus S. Pauli in tertium
coelum) (f. Apveryphen = Literatur). Ihr Antinomismus (f. d. A)
übertraf wirklich Alles an Frechheit; fie geftatteten namentlich die ie
und forderten von den Einzuweihenden die Verwünfhung des Namens Jeſu als
bes pſychiſchen Meſſias. Vergl. Renati Massueti, dissertat. praeviae in Irenaei
libros diss. 1. art. III. nr. XV. 157. [Häusle.]
Kaiphas, Keiapas (viell. x2> pefra, oder N2">, depressio, Targ. Prov.
46. 26.) eigentlich Jo ſeph Kaiphas (Joseph. Antt. 18, 2: 2.), jüdifcher Hoher-
3 priefter zur Zeit der öffentlichen Wirkfamfeit und des Leidens des —* gleich⸗
* mit ſeinem hohenprieſterlichen Schwiegervater Annas, [9.183
. 256.
- Raifersberg, f. Gailer.
R Kaiſersheim, auch Furzweg Kaisheim oder Keisheim, war eine gefürftete
Reichsabtei Eiftercienferordens, im ehemaligen Herzogtum Neuburg ander Do-
mau, nicht weit von Donauwörth gelegen. Sie ward im 3. 1132 vom Grafen
[5 Heinrich von Lehs-Gemünd geftiftet, und von Papft Lucius IT. im J. 1184 in
des romiſchen Stuhls befondern Schug genommen. Der Stifter hatte für fih
10 Kaiſerthum — Kaland-Geſellſchaft.
und ſeine Erben den Erbſchutz und die Vogtei über die Abtei ſich vorbehalten.
Mit dem Ausſterben der Familie des Stifters ging das Schutzrecht an die Grafen
von Grayspach über; nachdem aber auch dieſer Stamm mit dem Grafen Berthold
ausgeſtorben war, ſo belehnte Kaiſer Ludwig der Bayer das Haus Bayern mit
dem Vogteirecht über das Kloſter Kaiſersheim. Jedoch ſollten die Herzöge von
Bayern die Abtei bei ihren Privilegien belaſſen. Im Anfange des 17ten Jahr—
hunderts ward jedoch die Abtei wegen der ihr in der erſten Stiftung verliehenen
Reichsunmittelbarkeit angefochten, Nach einem langwierigen Proceß kam es 1656
zu einem gütlichen Vertrag, worin die Abtei als unmittelbarer Reichsſtand an-
erkannt worden ift, Als folder war fie auch in verſchiedenen Reichstagen auf-
getreten. Im J. 1543 brannte die Klofterfirche ab, In ihr hatten verſchiedene
sornehme Familien ihr Erbbegrabnig. Im J. 1757 wurde diefe Abtei, nicht
ohne Proteftation des bayerifshen Kreifes, dem ſchwäbiſchen einverleibt, Zedlers
Univerfallexifon, XV. Bd.
Kaiſerthum, griechiſches, f. griehifhes Kaiſerthum.
Kaiſerthum, römiſches, ſ. Rom.
Kaland-⸗ oder Kalend-Geſellſchaft, Kalandsbrüder, auch Ka—
lanzbrüder. Mit dem Worte Kaland oder Caland bezeichnete man früher
1) eine Genoſſenſchaft andächtiger und wohlthätiger Perſonen, 2) die Verſamm—
Yung derſelben zu gewiſſen Zeiten, 3) das Haus, in dem fie zuſammenkam —
gewöhnlich das Kalandshaus genannt, auch der Kalandshof, wenn es von be=
trächtlihem Umfang war, und 4) die Pfründe der Kalandsbrüder, Unter den
verfchievenen Anfichten über die Entflehung des Wortes „Kaland“ hat die am
Meiften für fih, welche es von dem Tateinifchen Calendae abftammen läßt, nicht
als ob gerade die Geſellſchaft fich regelmäßig am erften Tage eines jeden Mo—
nats (Calendis) verfammelt hätte; vielmehr ift Hiftorifch erwiefen, daß die Mit-
lieder alljährlich nur zweimal, wie z. B. zu Nordſtrand ober viermal, wie
zu Stargard in Pommern ꝛc., und auch nicht am erfien Tage eines Monats zu-
fammen famen, Die ältefte Urkunde diefer Genoffenfhaft ift von dem Kalande
zu Ditberg vom Jahre 1226, und viel weiter hinauf wird auch ihr Urſprung nicht
datirt werden Dürfen, Zweck diefer Genoſſenſchaft war Stiftung und Unterhaltung
redlicher Freundfchaft, gütliche Beilegung etwaiger Mißhelligfeiten, gemeinfame
Unterftügung in Unglüdsfällen, Förderung der chriftlichen Zucht und Sitte, be—
fonders war die Ralandgefellfehaft beforgt, daß ihren Mitgliedern eine feierliche
Beerdigung zu Theil wurde, und daß man ihrer häufig in Darbringung des hl,
Meßopfers, in Gebet und Fürbitten gedachte, Eintreten in eine folche Gefell-
ſchaft konnten nicht bloß Geiftliche, fondern auch Laien beiderlei Gefchlechts, wie
ſchon aus den Worten erhellt, deren fich der papftliche Legat, Antonius Bonum-
bra im Eingange feiner Confirmation des Ralandes zu Stargard vom J. 1473
bedient: Dileetis nobis in Christo fidelibus utriusque sexus eoclesiastieis et secu-
laribus confratribus fraternitatis Calendarum. Einen geiftlihen Orden bildeten
alſo die Kalandsgeſellſchaften nicht, doch Hatten fie ihre eigenen Negeln und Sta-
tuten, welche von den Bifchöfen jeder Didcefe approbirt wurden, Der Borftand
hatte ven Namen Dechant (decanus), auch Propft (praepositus), oder, doch fel-
tener, provisor generalis. Ihm zur Seite fland ein Kämmerer, bald Provifor,
bald Teftamentariug, bald Thefanrarius genannt, hin und wieder kommt noch ein
dritter Beamte vor, Eleemoſynarius genannt, der für richtige Vertheilung des
Almsfens zu forgen hatte, während dem Kämmerer die Verwaltung des gemein-
Thaftlihen Vermögens oblag. Wegen des fihönen und humanen Zwedes floßen
namlich den Kalanden, die namentlich in Nordteutfchland zu Haufe waren, bald
reihlihe Gaben, Schenfungen und Privilegien zu. Gewöhnlich heißen die Mit-
glieder einer folhen Gefelfchaft Ralandsbrüder (fratres calendarii), es gab
aber auch in manchen Städten zwei Kalande, einen großen und einen Heinen, die
| Kalb, goldenes. 11
Mitglieder des großen — Ralandsherren— beftanden nur aus adeligen Perfonen
| und aus den VBornehmften der Geiftlihfeit und bildeten nicht felten wie zu Ber-
gen auf Rügen eine Mittelsperfon zwifhen dem Landesfürften und dem übrigen
Adel. Diefe Genvffenfhaften arteten bald aus, die Kalandshäuſer wurden oft
berabgewürdigt zu Bierhäufern, und bei den Zufammenfünften der Mitglieder
- ging oft der geiftige Menſch Ieer aus, während der finnliche fih um fo ungezie-
mender entfhädigte, daher die Redensart: fie haben gefalandert fo viel als: fie
haben unmäßig gegeffen und getrunfen. Kein Wunder, daß fie im 16ten Zahr-
hundert meiftens eingingen. Daß mit dem Namen Kalendgefellihaft ſchon frühe
au die Kapiteld - und Paftoraleonferenzen bezeichnet wurden, ift befannt, vgl.
d. A Eonferenzen, geiftlihe. Vgl. Allg. Encyelop, von Erf u. Gruber,
14, Thl. 2te Abth. Teutfhe Eneyelop. IV. Bd. Feller, oratio de fratribus ca-
lendariis. Lips. 1691. Dähnert's pom, Biblioth. Bd. 1. ©. 137—144, [Fris.]
Kalb, goldenes, Kälberdienit. Zum fünften Male hatte Mofes den
Befehl erhalten, den Berg zu befteigen, weil Jehova ihm „die fleinernen Tafeln
und das Gebot und das Geſetz, welches er gefchrieben” geben wolle (Exod. 24,
12.). Rahdem er dort fieben Tage gewartet (Erod. 24, 16.), trat er in das
Gott umhüllende Dunfel, um weitere Gefege (vgl. Exod. €.25—31.) zu erhal-
ten und blieb darin vierzig Tage und vierzig Nächte. Während diefer Zeit follten
mit den 70 Aelteften Aaron und Chur über die Streitfachen des Volkes entfchei=
den. Diefes, ob der langen Abwefenheit Mofis an feiner Rückkehr verzweifelnd,
beſtürmte den Aaron, ihnen „Götter zu machen, die vor ihnen hergeben“ (32, 1.).
Diefes Verlangen harakterifirt den religiöfen Bildungsftand des Volkes; einer-
feits erblickt es in Mofes mehr als ein bloßes Drgan Jehova's, an ihn allein
knüpft es die That der Befreiung aus Aegypten, als Erfag für ihn fordert es
jest andere „Götter” (arm>n); andererfeits erfcheint doch das ganze Verhältnig
als ein fehr äußerlihes gefaßt, das Volk beforgt, Mofes habe etwas Menfchliches
erfahren, e8 verlangt fihtbare Götter, Aaron gab dem Andrange nach und fer-
tigte aus den goldenen Ohrringen ein gegoffenes Kalb (7222 53», vitulum
conilatilem, Vulg. Exod. 32, 4., vgl. Deut, 9, 21. Neh. 9, 18. Pf. 106, 19.).
- Im Sinne Aarons follte dieß ein Symbol Jehova's fein (Exod. 32, 5.), in den
- Augen Jehova's ift es ſchnöder Abfall, den er durch Vernichtung des undanfbaren
Volkes ftrafen will; nur die Bitten Mofis vermögen den göttlichen Zorn abzu—
wenden (32, S—14,). Zurüdgefehrt vernichtet Mofes das Gögenbild ; es wurde
geſchmolzen, dann zu Staub verbrannt, diefer dann in's Feuer geworfen und das
Volk mußte das mit dem Staube vermifchte Waffer trinfen (32, 20., über die
exegetiſche Schwierigfeit diefer Stelle vgl. NRofenmüller scholia ad h. 1. und
Winer R.W. s.v.); das fündhafte Beginnen war hiemit in feiner Nichtigkeit
gezeigt und durch die Ceremonie des Trinfens auf feine Urheber zurüsfgeführt,
VBgl. 2 Kon. 23, 6. — Die Wahl des Gögenbildes Hatten ohne Zweifel äghp—
tiſche Vorbilder beftimmt Cogl. die Rede des HI. Stephanus, Ang. 7, 39. 40.)5
in Aegypten wurden nicht bIoß lebendige Thiere, fondern auch Thier bilder
göttlich verehrt Cogl. Herod. II, 129 ff. Plut. de Iside et Os. opp. I. pag. 366.
- Strab. 17. p. 805.); der Apis war das Symbol des Oſiris (Plut. de Is. c. 33.),
wird als ſolches dem Jehova entgegengeftellt (Jerem. 46, 15.), geringer geachtet
— war der Stier Mnevis, der zu Heliopolis verehrt wurde (Ael. hist. anim. XI. 11.
” Strab. 1. c.); man wird daher (mit Lact. institt. 4, 10. Hier. in Hos. A. ete.) in
I dem Apis das Vorbild des goldenen Kalbes (>33, eigentl. der junge Stier) zu
ſuchen haben, In neuefter Zeit wurde von den Hegelianern Vatke (Religion des
A. T. 5.3 ff.) und Bruno Bauer (Religion des A. T. I, ©, 180 ff.) die
eonftante Anficht aller Zeiten rückſichtlich des ägyptiſchen Urfprungs angefochten
Fund ein uranfänglicher Stiercultus bei den Sfraeliten hypothefirt, aus dem
TH erſt allmählig Die Jehovaverehrung auf natürlihem Wege entwisfelt Habe;
12 Kaldi — Kalender.
das Grundlofe diefer Meinungen hat Hengftenberg ausführlich dargethan in fei-
nen Beiträgen zur Einleitung in's A. T. II, ©, 150 ff, — Diefer abgöttifche
Eultus Iebte wieder auf im Neiche Iſrael. Jeroboam I. (ſ. d. A), um die poli=
tifhe Trennung zu befeftigen, fuchte feinen Unterthanen durch Gründung neuer
Saera einen Erfag für den Tempeleultus in Jerufalem zu geben, er wollte na—
mentlih die Feftreifen nach Jeruſalem aufheben; er Tieß zwei goldene Kälber
fertigen, das eine zu Bethel, einem in der Volfstradition hochheiligen Orte, das
andere in dem gleichfalls früher zur Eultusftätte geweihten Dan mit dem nöthi-
gen Priefterperfonal aufftellen; fie follten auch nur Symbole Jehova's fein, wie
die Väter ein folhes ſchon am Sinai gehabt hätten! (1 Kön. 12, 26 ff) Vi-
debatur hoc ejus consilium politice prudens et ad regnum suum statumque
politicum tuendum salutare: sed re vera fuit imprudens et perniciosum statumque
et regnum ejus prorsuslabefactavit etevertit, bemerft mit Recht Corn, a
Lapide. Bol, 2 Kön. 10, 29. Hof. 8, 5. 10, 5. Tob, 1,5, Diefe Bilder be-
fanden auch unter ſolchen Regenten fort, welche fonft ven fremden Gdgendienft
verabfcheuten und austilgten (2 KRön. 10, 25. 17, 2,), daher fo haufig von den
Propheten über Bethel gedroht wird, das fie durch ein Wortfpiel mit Bethaven
(Gbtzenhaus) verwechfeln. Vgl. Am, 3, 14. 5, 5. 7,10, Hoſ. 4, 15. 10,5,
und andere, [Rönig.]
Kaldi, Georg, gelehrter ungarifcher Jefuit, geboren zu Tyrnau in Ungarn
1570, wurde, nachdem er im Drden verfchievdene Aemter befleivet, zu Wien ge-
predigt und zu Olmütz die Theologie gelehrt hatte, zulegt zum Rector des Colle—
giums zu Preßburg, das er von Grund auf neu erbaute, aufgeftelt, und farb
dafelbft, allgemein betrauert, im J. 1634, Er war vieler Sprachen kundig und
erwarb ſich fowohl als Prediger wie als Meberfeger der Bibel in die ungarifche
Sprache große Verdienſte. Zugleich war er ein frommer und tugendhafter Mann,
und hatte ven Muth, dem Fürften von Siebenbürgen Gabriel Bethlen vorzuwer-
fen, er trage die Schuld, daß fo viele Chriften in türfifche Selaverei geriethen,
was der Fürft dem allgemein geachteten Manne fo wenig übel nahm, daß er ihn
zu Tiſch behielt und mit hundert Thalern zur Unterflügung der Druderei be—
fchenfte. Ein Theil der Predigten Kaldi's erfchien zu Preßburg 1631 in Folio,
Seine Bibelüberfegung fam zu Wien 1626 in Fol, heraus, und war für Die Ka—
tholifen um fo mehr ein Bedürfniß, als der Prediger der Neformirten zu Gönz,
Caſpar Karoly, ſchon früher die ganze HI. Schrift in die ungarifche Sprache
übertragen hatte. Die Ueberfegung des letztern, gedruckt 1589 zu Vifoly, ward
nachher von Albert Mollnar verbeffert, — Mit Kaldi namensverwandt it Ral-
les (alles) Sigmund, Jefuit zu Wien, geboren zu Agsbach in Deftreich,
einer der vorzüglichften öftreichifchen Gefchichtfchreiber des 1Sten Jahrhunderts,
Außer einer vortrefflihen Trauerrede auf den Tod Kaiſer Carls VII. verfaßte er:
Jahrbücher von Deftreich, von den älteften Zeiten bis zu den Fürften aus dem
Habsburgifchen Gefchlechte, zwei Bande in Folio, Wien 1750; Reihenfolge der
Biſchöfe von Meißen, Regensburg 17525 Jahrbücher, Firchliche, von Teutſchland,
Deftreih, Ungarn und Polen, die Gefhichte der erften eilf Jahrhunderte ent-
baltend, ſechs Folivbande, Wien 1756—1769 — ein ausgezeichnetes, noch zu
wenig befanntes und benüßtes Firchengefchichtliches Werk, [Schrödt.]
Kaleb, f. Caleb.
Kalender, julianiſcher und gregorianiſcher. Unter dem julianiſchen
Kalender verſteht man den Bau, den Julius Cäſar unter ſeinem und des Aemi—
lius Lepidus Conſulate dem Jahre Anno 708 nach Erbauung der Stadt Rom ge—
geben; unter dem gregorianiſchen die verbeſſerte Ausgabe des julianiſchen Ka—
lenders, die Papſt Gregor XII. angeordnet hat, Beide find für den Chriſten
überaus wichtig, da fie die Rahme find, in welcher das chriſtliche Kirchenjahr
(9.9) an ung vorübergeht. — Der julianifche und gregorianifche Kalender
Kalender. 13
| teilen zunächft das Jahr in zwölf Monate, die in ihrer urſprünglichen Reihen-
folge alfo lauten: März (Martius vom Gotte Mars), April (Aprilis, vielleicht
| son Aperire, und daher fynonym mit Keimmonat), Mai (Majus von der Göttin
Maja, der Mutter des Mercurius), Juni (Junius von der Göttin Juno), Duin-
tilis, Serxtilis, September, Detober, November, December (5., 6., 7., 8., 9. und
10. Monat), Januar (Januarius vom Gotte Janus) und Februar (Februarius
von den in diefem Monate üblichen Luftrationen). Der Februar hat 28 Tage,
die Monate Januar, März, Mai, Duintilis, Sertilis, Detober und December
31, die übrigen 30 Tage, fomit das ganze Jahr 365 Tage. In dem vierten
Sabre erhält ver Februar zwifchen dem 23, und 24. einen Schalttag, der dei-
wegen Bissextus (ante Cal. Mart.) genannt wird. Ein ſolches Jahr ſelbſt nennt
man Schaltjahr (Annus Bissextilis). Im julianifhen Kalender ift jedes vierte
Jahr (es ift nach der Hriftlichen Aera immer dasjenige, das fih mit vier theilen
läßt, 3. B. 1852, 1860 u. |. w.) Schaltjaßr, im gregorianifchen jedes vierte mit
der Einfchränfung, daß unter den Jahren der hriftlichen Aera, die wenigftens zwei
Nullen im Einheits- und Zehnerrange haben (1700, 1800, 1900, 2000), je drei
feinen Schalttag erhalten, und nur das vierte folder Jahre wieder Schaltjahr
wird, — Anlaß zur Einführung diefer Kalender war ſowohl für Julius als auch
für Yapft Gregor das Mißverhältnig, in welches das natürliche Jahr zu dem
bürgerlihen gefommen war, Was Julius Cäfar betrifft, fo waren die Monate
zu feiner Zeit fo fehr aus ihrer urfprünglichen Periode im Jahre gefommen, dag
der 1. Januar auf unfern dermaligen 13. October oder noch früher fiel. Nach
der Anordnung des Numa Pompilius berechneten nämlich die Römer das Jahr
nach 12 Lunationen (daher noch jest der Name Monat), und fihalteten, da das
Jahr Hiedurch nur beiläufig 354 Tage erhalten haben, und hiedurch offenbar mit
dem durch das Gebot der Natur fih Fundgebenden Sonnenjahre in Bälde in
Widerfpruh gefommen fein würde, gewöhnlich in jedem zweiten Jahre nach dem
legten Monate (Februar) einen Schaltmonat (Merkedonius, Mensis intercalaris)
ein, dem der römifche Pontifex Maximus die nothwendige Anzahl von Tagen zu
geben hatte. Da nun aber der Pontifer bei der Einfhaltung diefer Tage nicht
immer darauf Rückſicht nahm, mit dem Sonnenjahr im Einklang zu bleiben, fon-
dern den Merfedonius nach Gutdünfen bald länger, bald fürzer machte, oder ihn
auch ganz ausließ, je nachdem er fein Intereffe dabei fand: jo mußte auf Abhilfe
gedacht werden. Diefe fchaffte Julius Cäſar dadurch, daß er das Jahr 708 nad
Erbauung der Stadt Rom aus 445 Tagen in 15 Monaten beftehen ließ (Ja—
nuar mit 29 Tagen, Februar mit 28 Tagen, Merfedonius mit 23 Tagen, März
mit 31 Tagen, April mit 29 Tagen, Mai mit 31 Tagen, Juni mit 29 Tagen,
Duintilis mit 31 Tagen, Sertilis mit 29 Tagen, September mit 29 Tagen,
Detober mit 31 Tagen, November mit 29 Tagen, zwei Schaltmonate mit 67
Tagen, und December mit 29 Tagen), und im nächftfolgenden Jahre feine neue
Ordnung geltend machte. Nur läßt fich noch bemerken, daß der julianifche Ka—
Iender (der Vorſchrift feines Urhebers zuwider) in den erſten 36 Jahren den
Shalttag nicht im jedem vierten Jahre, fondern vor dem Beginne eines jeden
vierten erhielt, Hiedurch in diefen 36 Jahren drei Dial zu oft wiederfehrte, und
daher auf Befehl des Kaifers Auguftus in den nähften 12 Jahren nah Erlaß
feines Befehls ausgelaffen wurde. Man nahm hiebei Anlaß, den Monat Duin-
tilis zu Ehren des Gründers des Kalenders „Juli“ (Julius), und den Monat
7 Sertilis zu Ehren feines Emendators Auguſt“ (Augustus) zu nennen, Erfteres
befahl nah Suetonius der Kaifer Auguft felbft, das zweite ein Senatsbeſchluß
— unter den Eonfuln Martins Cenforinus und Cajus Afinius Gallus. Was den
gregorianiſchen Kalender betrifft, fo ift auch er ein großes Bedürfniß geworben.
I Dom julianifchen Kalender liegt nämlich die Voransfegung zu Grunde, daß das
Sonnenjahr 365 Tage 6 Stunden zähle, und daher jedes vierte Jahr Schalt-
14 Kaliph.
jahr fein müffe, Nun hat aber das Sonnenjahr einige Minuten weniger, fo da
diefe in 134 Jahren ungefähr einen Tag ausmahen, und daher den Anfangs-
punct des natürlichen Sonnenjahrs in 134 Jahren um einen ganzen Tag ver-
rüden, Hiedurch kam es, daß die Frühlingstag- und Nachtgleiche, welche zur
Zeit der Bäter von Nicäa auf den 21. März fiel und für bie Feier des chriftlichen
Dfterfeftes maßgebend ift, im 3. 1582 zehn Tage früher fiel, Gregor XII. (ſ.
9,4) wies daher der Frühlingstag- und Nachtgleiche nicht bloß die urfprüngliche
Grenze wieder an, indem er durch eine Bulle vom 24, Februar 1582 (Inter
gravissimas) befahl, es folle im nächften October nach dem 4. fogleich der 15,
gezählt werden, fondern machte auch auf den Nath des Aloyfius Lilio die fernere
Verrückung dadurch unmöglich, daß er die Wiederfehr der Schaltjahre in obiger
Weiſe beſchränkte. Diefe Vorſchrift fand bei den Katholifen fogleih Aufnahme,
und wird noch jegt eingehalten, Auch die Proteftanten richten fich feit dem vori—
gen Jahrhundert nach derſelben; obwohl fie die Zweckmäßigkeit derfelben fchon
früher anerfannten und fih nur deßwegen fträubten, „weil man“, wie fie fagten,
„von dem Papfte als dem Teibhaftigen Antichriften nichts annehmen dürfe, ohne
fih der Gefahr auszufegen, dem papiftifchen Joche wieder anheimzufallen“
(Schmid's Gef. d. Teutfh. 8, Thl. II. Bd, 6, Cap). Die griehifhe Kirche
bedient fich noch jegt des julianifchen Kalenderg, der dermalen 12 Tage hinter
dem gregorianifchen zurücd ft. Daher fommt e8, daß es in öffentlichen Blättern
bei Beifegung des Datums öfters heißt: „nach altem Ciulianifhem) Style“ oder
„mach neuem (gregorianifhem) Style”. Man vgl, Dionysium Petavium de doc-
trina temporum. Vgl. auch den Art, Cyelus. [Fr. X. Schmid,]
Kaliph, Chaliph (AR) Heißt „Stellvertreter, Nachfolger“ und be—
zeichnet vorzugsweife die Erben der Gewalt Mohammeds. Diefer nahm außer
der Prophetenwürde befanntlih die höchfte geiftlihe und weltliche Authorität in
Anſpruch. Er war Geſetzgeber, Richter, Feldherr, König und Borbeter (Imam)
feiner Anhänger, Im erften Menfchenalter nach feinem Tode traten der Reihe
nah Abu Beker, Omar, Osman und Alt (f; diefe Art.) an die Spike ber Be—
fenner der mohammedanifchen Lehre, und diefen vier Männern erfennt das mo—
bammedanifche Recht die un beſchränkte Würde des Kaliphats zu. In Neſefi's
um 1130 verfaßten Katechismus heißt es: „Das vollkommene Kaliphat dauerte
nur 30 Jahre, und nach dieſer Zeit gab es bloß Herrſcher, Emire“ (Muradgea
d’Ohsson Tableau I. p. 212. fl, Ausg). Mohammed felbft fol ausgeſprochen
haben, daß das Kaliphat nur 30 Jahre dauere, und daß von da an nur weltliche
Gewalthaber regieren würben, : Schon Dmar hatte den Titel: „Emir, oder Fürft
der Gläubigen“ (erstmal ao) angenommen, während Abu Beker fih „Ra- ”
Yiph des Gefandten Gottes“ (a 4— ) 9) RUND) nennen ließ CAbulfeda ‚ed.
Reiske I. p. 222.). Indeſſen nannte man jene mohammedanifchen Fürften aus
der ommajadifchen Familie, weldhe zu Damascus von 661 bis 750, und bie
abbaffivifchen Herrfcher, welche von da an bi8 1258 am Euphrat und Tigris ihre
Refivenz *) auffhlugen, Raliphen. Ihre weltlihe Macht gründete fih auf den
Erfolg ihrer Waffen, ihre geiftliche Gewalt darauf, daß fie fih als Imame db, i.
Borbeter aller Moslimen geltend machten. Da die letztere Eigenfchaft zum
Theil die Stüße der weltlichen Herrfchaft war, fo war es fehr wichtig, über das +
Imamat Beftimmungen zu machen, Faft jedes Lehrbuch des mohammedanifhen
Glaubens enthält ſolche. Nefeft drückt fih fo aus: „Die Moslimen müffen von
*) Anfangs war Kufa, dann das nördlich davon am Euphrat gelegene Anbar Reſidenz.
Almanfır baute Bagdad um 770, Die Kaliphen refivirten fpäter öfters in Samirra, Sar—
ramarra.
Kalteifen, | 15
einem Imam regiert fein, welcher das Recht und die Macht Hat, die Beobachtung
der Geſetze zu überwachen, die gefeglichen Strafen zum Vollzug zu bringen, die
- Grenzen zu fhügen, Truppen auszuheben u. ſ. w.“ „Der Imam muß fihtbar
fein“ *). „Der Imam muß koreiſchitiſcher Abfunft fein, jedoch ift es nicht nö—
thig, daß er gerade ein Alive fei“, wie die Schiiten annehmen! „Die Würde des
Smamates fordert nicht, daß ihr Befiger fündenlos und der Edelfte der Menfchen
fei“ (Bgl. Eligi ed. Soerensen p. 301 sqq.). Die abbaffivifhen Kaliphen legten
einen um fo größern Werth darauf, Jmame der Moslimen zu fein, als die poli-
tifchen Bürgfchaften für ihre Macht unficher wurden. Auch nah der Einnahme
Bagdads durch den Mongolen Hulagu 1258 führte die abbaffivifhe Familie den
Anſpruch auf das Imamat fort und ihre Häupter werden immer noch Raliphen
genannt. Sie Iebten zu Kairo, wo ber legte die Würde des Imamates auf den
türfifhen Sultan Selim I. übertrug (1517) **). Im Folge diefer Uebertragung
werden die türfifchen Sultane als rechtmäßige Imame angefehen, obwohl fie nicht
Foreifchitifcher Abkunft find. Den Namen Kaliph haben die Sultane jedoch nicht ange=
nommen. Dagegen haben die fatimidifchen Gebieter Kairo's (f. Fatim a), welche
neben den Abbaffiven das Imamat ſich aneigneten, auch den Titel Kaliphen ge=
führt (vom 3. der Hedſchra 361, d. i. 971 n. Ehr. an), bis Saladin als Eroberer
von Aegypten, dem Scheine nach lediglich im Dienfte des abbaffivifhen Kaliphen
zu Bagdad, im Anfang des 3. 567 (der Hedſchra), d. i. 3, Sept. 1171 m. Chr.,
die Kotba (Ku) für den fatimidifhen Kaliphen Adhid lidinillahi (0010
a EN) aufpob und für den Kaliphen zu Bagdad recitiren ließ (Excerpta
ex Abulfeda in Bohadini Vita Saladini ed. Schultens. 1732. p. 12. Abulfeda ed.
Reiske T. III. p. 632.). Die Rotba vder das Throngebet war nämlich die be—
deutendſte Infignie des Kaliphen. Jeden Freitag wurde in jeder Mofchee, ver-
bunden mit einer Formel des Glaubensbefenntniffes, die Rechtmäßigkeit der Re—
gierung des eben lebenden Kaliphen von einer befondern Kanzel herab verfündet,
— Die osmanischen Sultane Iaffen die Kotba für fih beten, wie die Kaliphen.
Die Formel, welche dabei gebraucht wird, gibt Mur. d’Ohsson T. II. p. 213 sqq.,
fleine Ausgabe. Die ältern Kaliphen beteten die Koba felbft und hielten dabei
dfters Reden bis auf Mohammed VII. 324 (936), Mur. daf, S. 205. Die Ka-
liphen ließen jene mächtigen Majordomus, welche feit der Mitte des zehnten
Jahrhunderts in der Wirklichkeit Herrfchten, mit in-der Kotba erwähnen, Abulf.
U. p. 398. Vgl. hierzu den Art. Freitag bei den Mohammedanern, und
Is lam. [Haneberg.]
g Kalteifen, Heinrich, gelehrter Dominicaner des 1äten Jahr-
hunderts, geboren zu Chrenbreitftein bei Koblenz, trat ſchon ſehr jung in den
Eonvent der Dominicaner zu Koblenz, ftudirte zu Wien und Coln und ward im
lesterer Stadt nach volfendeten Studien Profeffor der Theologie, Mit dieſem
Amte verband er zugleich das eines Predigers und erntete in beiden Beziehungen
allgemeinen Beifall, Nachdem er mit der Doctorwürde geſchmückt worden war,
wurde er zu Mainz zum Generalinguifitor für Teutfchland aufgeftellt; dabei ver-
fündete er fortwährend zu Mainz und auch zu Koblenz das Wort Gottes. In
" Anfehung feines Amtes und feiner Celebrität erhielt er 1431 den Ruf, an der
1 Bafeler Synode (ſ. d. A.) Theil zu nehmen. Hier machte er fih berühmt durch
N die Rede, welche er gegen einen der von den Hufiten (f. d. A.) geforderten vier
FF Artikel abhielt. Zur Vertheidigung diefer Artikel wählten die im Januar 1433
FF nah Basel gefommenen. Böhmen vier ihrer Doctoren in der Art aus, daß je
) Im Gegenfaß zur Annahme der Schiiten, deren 12ier Imam unſichtbar fortlebt.
E * Mouradgea dOhſſon I. S. 270. Schon im J. 797 d. 9. 1393 Hatte Sultan Ba—
iazid ſich vom Kaliphen Motawakil ein Anerkennungspatent geben laſſen.
16 Kammer, apoſtoliſche — Kanon, biblifher,
"einer einen diefer Artifel zu vertheidigen hatte. Seinerſeits ernannte nun auch
das Toncil zur Widerlegung der Böhmen vier Fatholifche Doetoren: 1) Johann
yon Ragufa, Profeffor der Theologie und General der Dominicaner, nachher
Cardinal, 2) Aegidius Charlier, Profeffor der Theologie und Dechant zu
Cambrai, 3) unfern Heinrih Ralteifen, 4) Johann von Polemar, Doctor
der Rechte, Archiviacon von Barcellona und Auditor Rotä. Kalteifen hatte den
dritten Artifel der Böhmen von der freien (der päpftlichen oder bifchöflichen Mif-
fion nicht unterworfenen) Predigt des göttlichen Wortes, welchen der Lehrer und
Pfarrer der Waifen, Ulrich, in zweitägiger Rede vertheidigt hatte, zu mwiber-
legen, und entfprach feiner Aufgabe in einer Rede, die er drei Tage hinterein-
ander in drei Abtheilungen vortrug. Außerdem predigte Kalteifen zu wiederholten
Malen vor der Synode, fo im 3. 1434, da er in Form eines vom Himmel ge-
fendeten Briefes eine Art Strafprebigt hielt, worin er es ſcharf rügt, Daß Die
Schon feit drei Jahren zur Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern Ver—
fammelten in diefer Hinficht noch nichts gethan hätten, Während feines Aufent-
baltes zu Bafel fcheint er im dafigen Dominicaner-Eonvent das Amt des Priors
verwaltet zu haben, Im J. 1443 erhob ihn Papft Eugen IV. zum Magiſter sacri
palatii, und im J. 1452 Papft Nicolaus V. zum Erzbifchof von Drontheim, Zwei
Jahre vor feinem Tode zog er fich in das Klofter feines Drdens zu Koblenz zurück,
wo er 1465 farb und begraben wurde, Kalteifen gehörte unter die gelehrteften
Männer feiner Zeit und hinterließ eine Menge Schriften, die jedoch größtentheils
ungedrucft geblieben find. Einige davon hat Fr. Steill in ephem. dominican.
herausgegeben, Heinr. Canifius (ſ. d. A.) Hat zuerft in feinen lect. antig. bie
Reden der vier Fatholifchen Theologen edirt, welche fie zu Bafel gegen die vier
Artikel der Böhmen gehalten haben, Die Rede Kalteifens betreffend, darf man
Schröckh's (XXXIV, 707) und Basnage's (Basnage-Canis IV, 459) ungünftigem,
aus Kleinigfeiten und abgeriffenen Stellen gefällten Urtheile nicht beiflimmen,
vielmehr erblickt man in dieſer Nede allenthalben den Scholaftifer edlerer Art,
und den vielbelefenen, gründlichen pofitiven Theologen. ©, Basnage-Cani-
sius, lect. antig. T. IV. p. 623— 708; Quetif und Echard Script. Ord. Praed.
II, 823. [Schrödt.]
Kammer, apoftolifche, ſ. Curiaromana. >
Kammerer, f. Definitoren in Decanaten,
Sana, f. Cana,
Sanaan, ſ. Canaan.
Kandace, Kavdarn, nah Apg. 8, 27. Name der äthiopiſchen Königin,
deren Hofbeamter von Philippus befehrt und getauft wurde, Kavdaxm war je-
doch gemeinfchaftlicher Name der damaligen Königinnen von Meros (Dio Cass.
54. 5. Strabo, 16, 820). Plinius Ch. n. 6, 29.) nennt fie Candaoce. Noch zur
Zeit des Eufebius Ch. e. II, 1.) gab es äthiopifhe Königinnen. Die Tradition
nennt den befehrten Rämmerer Indich und macht ihn zum erfien Verbreiter des
Chriftentfums in Aethiopien (Iren. II. 12. Euseb. U, 1.). Vergl. den Artikel
Abyffinien. |
Kanon (Rirchengefeb), ſ. Canon.
Kanon, biblifher. Seit den älteften Zeiten der Kirche wirb die Samm—
Yung der hl. Schriften Kanon und fofort diefe Schriften ſelbſt Fanonifche genannt,
Ueber die Bedeutung des Wortes Kanon in dieſer Anwendung find verfihiebene
Anfichten aufgeftellt, aber zum Theil wieder aufgegeben worden, Eine der ge=
wöhnlichften ift noch, das Wort bedeute Verzeichniß, nämlich Verzeichniß ber in
den gottesdienftlichen Verfammlungen der Chriften zu gebrauchenden Bücher,
Allein die wahre Bedeutung des Wortes xavav ift Regel, Richtſchnur, und es
wird von den heiligen Schriften im eminenten Sinne als fihlechtbin maßgebende
Regel und Richtſchnur für den rechten Glauben und das rechte Lehen gebraucht,
as. As ee re" A
—
Kanon, bibliſcher. 17
| Dieß erhellt Hinlänglich aus den Schriften der Kirchenväter. Schon wo die Worte
zevav und zavovızög zuerft vorfommen, bezeihnen fie im Gegenſatze zu pro-
fanen und apvergphifchen Schriften ſolche, deren Inhalt infpirirt oder göttlich
geoffenbart ift (Orig. prolog. in cant. und comment. in Matth. 27, 9.), und in
der Folge werden fie ſtets nur zur Bezeichnung des Infpirations- oder Dffen-
barungscharafters gebraucht (Herbft, Einleitung. I. 6 ff.). Da die Hl. Scrif-
ten, welche der vorchriftlichen Zeit angehören, gewöhnlich auch das alte Tefta-
ment, und die aus der hriftlichen Zeit herrührenden das neue Teftament genannt
werden, fo erfcheint der gefammte Bibel-Kanon zunächſt als ein doppelter, ein
altteffamentliher und ein neuteflamentliher. Der ‚altteftamentlige
Kanon aber ift ſchon bei den Juden felbft um die Zeit Chriſti nit überall der-
felbe. Die paläftinenfifhen Juden hatten in ihrem Kanon bloß die fog. proto-
kanoniſchen Bücher oder diejenigen, welche noch jest in unfern hebräifchen Bibeln
fih finden; die griechiſch redenden Juden dagegen, welde fih damals der aleran-
drinifchen Ueberfegung bedienten, hatten zwar diefe Bücher ebenfalls, aber dazu
noch einige andere, welche wir die veuterofanonifchen zu nennen pflegen. Man
könnte jenen Kanon füglich auch den hebräifchen, diefen den griehifchen Ka—
non des A, T. nennen, Fragt man nah der Entfiehungszeit und Entjtehungs-
weife, fo kann der Hebräifhe Kanon nad der Natur der Sache nur allmäplig
entftanden fein. Anfangs enthielt er begreiflich bloß die moſaiſchen Schriften oder
den fog. Pentateuch. Später famen andere Schriften hinzu, mande fhon vor
dem Eril, andere erft nach demfelben. Eine Sammlung heiliger Lieder mußte
Bedürfniß fein, feitdem die Abfingung folcher auf Davids Anordnung einen Theil
des heiligen Dienſtes ausmachte; es find daher ohne Zweifel ſchon frühe einzelne
Pfalmenfammlungen entftanden, die dann fpäter mit einander verbunden wurden,
Auch Weispeitsiprühe wurden ſchon in der vorerilifchen Zeit gefammelt (Sprüchw.
25, 1.). Und daß man jedenfalls ſchon während des Erils eine Sammlung hei-
liger Schriften hatte, in welcher ſich auch die Weiffagungen der früheren Pro-
pheten befanden, erhellt aus Dan. 9, 2. Seinen jegigen Umfang erhielt aber
der hebräifche Kanon erfi nach dem Exil, wie ſchon daraus hervorgeht, daß noch
mehrere nachexiliſche Schriften in demfelben fih finden, Die alte jüdifhe und
chriſtliche Ueberlieferung bezeichnet die Zeit Esra's als diejenige, in welcher der
bebräifche Kanon zu feinem vollen Abfchluffe gefommen fei und feine jegige Ge-
falt erhalten Habe, Und dafür fpricht außer der Verſicherung des Joſ. Flavius,
daß nach dem Tode des Artarerres Longimanus feine Schrift mehr in den he—
bräifhen Kanon aufgenommen worden fei, noch dasjenige, was Nehem. 8, s—15.
9, 3. 10, 29—39, 2 Maccab. 2, 13. über Esra’s und Nehemia’s Beihäftigung
mit dem Gefeg und den heiligen Schriften überhaupt gefagt wird, fowie auch der
Umftand, daß von Feiner einzigen Schrift des hebräifhen Kanons mit Sicherheit
eine fpätere Abfaffungszeit fi behaupten läßt. Die Beftandtheile diefes Kanıns
find nad) den dießfallfigen Ausfagen und Schrifteitaten bei Joſephus und Philo,
und den Verzeichniffen des Hebräifhen Kanons bei Melito, Drigenes, Hieronymus
und im Thalmud: der Pentateuh, Zofua, Richter, Ruth, zwei Bücher Samuels,
zwei Bücher der Könige, zwei Bücher der Chronik, Esra, Nehemia; die Palmen,
Job, die Sprühwörter, der Prediger, das Hohelied; Jefaias, Jeremias, Ezechiel,
Daniel und die zwölf Heinen Propheten, Die Zahl diefer Bücher wird von Joſ.
Flavius, Origenes und Hieronymus auf 22 angegeben; dabei werden dann die
Bücher Richter und Ruth, die Bücher Samuels, der Könige, der Chronik, Esra
und Nehemia, Jeremias und die Klagelieder je als ein Buch gezählt. In dem
gemariſtiſchen Verzeichniſſe dagegen (Baba bathra f. 14. b.) werden 24 Bücher
aufgeführt, indem Ruth und Klagelieder ald befondere Bücher gezählt werden;
daher auch die rabbinifche Bezeichnung des hebr. Kanons mit: die Bierundzwan-
sig (732m D° DD), oder: das Buch der Vierundzwanzig (D’Yw >) T92I87 120),
Kircheniexikon. 6. Br. Sre Je
18 Kanon, bibliſcher.
Der griehifhe Kanon enthält alle diefe Bücher des hebräiſchen Kanons eben-
falls, aber dazu noch mehrere andere, die unter dem Namen deuterofanonifche
befannt find, nämlich zwei Bücher der Maccabäer, die Bücher Tobiä, Judith
und Baruch, die Weisheit Salamo’s, die Sprüche Sirachs und die deuterofann-
nischen Abfehnitte in den Büchern Daniel und Efiher, Zu welder Zeit diefer
Kanon feinen jegigen Umfang erhalten habe, läßt fich nicht genau angeben, jeden-
fall8 aber auch nicht läugnen, daß er denfelben um die Zeit Chrifti bereits ge—
habt habe. Es wird allerdings von einer gewiffen Seite her beharrlich geläugnet,
daß bei den Juden um diefe Zeit ein doppelter Kanon üblich gewefen fei, ein
anderer bei den Paläftinenfern und ein anderer bei den Alerandrinern (wie wir
hier der Kürze wegen bie griechiich redenden Juden überhaupt nennen wollen);
alfein die dafür vorgebracdhten Gründe, das Schweigen Sirachs und Philo's und
die vorgebliche fundamentale Neligionsverfchiedenheit, die dadurch zwifchen den
Paläftinenfern und Alerandrinern fich gebildet und ihre Religionsgemeinſchaft auf-
gehoben hatte, find nicht beweifend. Denn Sirach muß in dem Prologe feines
Buches, wo er von den heiligen Schriften der Juden redet, von den fraglichen
Büchern nothwendig fhweigen, weil fie zu feiner Zeit wenigftens großentheils
noch nicht einmal vorhanden find, Das Schweigen Philo's aber kann ſchon darum
nichts beweifen, weil er von acht Büchern des hebräifchen Kanons ebenfallg
ſchweigt und in feinen vielen Schriften fie nirgends nennt und nirgends Stellen
aus ihnen anführt, es find die fünf Megilfotb und außerdem noch Daniel, Ne
hemia und die Chronif, Sp wenig nun fein Schweigen hier zum Beweife dient,
daf die Alerandriner diefe Bücher nicht in ihrem Kanon gehabt haben, fo wenig
fann es bei den deuterofanonifchen Büchern zu ſolchem Beweife dienen. Dag
Fundament der Religion aber wurde bet den alerandrinifchen Juden durch Auf-
nahme diefer Bücher nicht alterirt, denn fie find ihrem Inhalte nad nur Fort-
fegung der theofratifchen Gefchichte und Unterwerfung in demfelben Sinn und
Geift, der auch die protofanonifchen Bücher durchdringt und beherrſcht. Ohnehin
waren die Paläftinenfer in der fraglichen Hinficht nicht allzu engherzig, und bra=
hen z. B. mit den Alerandrinern die kirchliche Gemeinfhaft nit ab, obwohl
diefelben zu Leontopolis einen eigenen Tempel erbaut und damit das Gefeg über
die Einheit des Heiligthbums, ein mofaifches Grundgefeg, auf erlatante Weife
verlegt hatten. Andererfeits hatten die Merandriner jedenfalls viele größere und Flei-
nere Zufäge in ihrem Schriftterte, die ihnen eben fo gut wie der übrige Inhalt der
Schrift als infpirirt und göttlich galten, zum Flaren Beweife, daß der hebräifche
Kanon jedenfalls nicht durchaus maßgebend für fie war, Aber felbft abgefehen
hievon, die deuterofanonifchen Bücher müffen um die Zeit Chrifli in der Samm-
Yung der hl. Bücher gewefen fein, deren die Alerandriner ſich bedienten, und |
müffen ihnen eben darum auch als heilige und göttliche gegolten haben, weil fie |
fonft nie in die Sammlung gefommen wären, Sie müffen in der Sammlung ge= |
wefen fein, denn einerfeits Tieße fich ihr Ipäteres Hineinfommen in diefelbe nicht
begreifen, und andererfeits könnten fie im entgegengefesten Falle nicht fhon von |
den älteſten Kirchenfchriftftellern, fo wie e8 der Fall ift, gebraucht worden fein, |
Wir finden nämlich, daß ſchon die fog. apoftolifchen Väter oder Apoftel-Schüler,
welche fich der alerandrinifchen Ueberfegung bedienten, gelegenheitlich Stellen aug |
deuterokanoniſchen Büchern citiren wie aus protofanonifchen, als Ausfprüche einer |
unumftößlichen göttlichen Auctorität, daß fie fomit diefe Bücher in der Samme |
fung ihrer hl. Schriften Tafen, Zu ihrer Zeit fünnen fie aber nicht in die Samme |
fung gefommen fein, weil fie in diefem Falle diefelben nicht als Heilige und göft-
liche betrachtet Hätten. Als ſolche betrachteten fie aber diefelben wirklich, wie noch
weit mehr, ald aus den in ihren Schriften vorfommenden Citaten, daraus erhellt,
daß ihre unmittelbaren Schüler, die in ſtrengem Fefthalten an dem empfan-
genen Unterrichte ihren größten Ruhm fuchten, die fraglichen Bücher gerade fo
#
Kanon, bibliſcher. ni
wie die protofanonifchen, und verhältnifmäßig wohl auch noch mehr, als Duelle
der geoffenbarten Heildlehre gebrauden. Diefe Betrachtungsweiſe aber läßt ſich
nur daraus erklären, daß die apoftolifhen Väter durch die Weifung und das Bei»
fpiel der Apoftel felbft dazu auctorifirt waren, und diefes wiederum ift nur dar-
aus erflärlih, daß jene Bücher in der alerandrinifchen Bibel, deren ja die Apps
ſtel fich bedienten, bereits vorhanden waren und als heilige und göttliche galten,
- — Die fheinbar bedeutenden Einwendungen hiegegen, daß nämlich die Verzeich—
niffe des Melito und Drigenes die fraglichen Bücher auslaffen, daß die erften
chriſtlichen Apologeten fie nicht gebrauchen, und daß die Kirchenväter des vierten
Sahrhunderts fie ausdrüdlih vom Kanon ausfchließen, verlieren bei näherer Be-
fihtigung alles Gewicht, Jene Verzeichniffe wollen nicht den Kanon der chriſt—
lichen Kirche, fondern, wie ihre Urheber ausprüdlich fagen, den Kanon der Juden,
und zwar den hebräifchen oder paläftinenfiichen liefern. Sodann bei den Apolo-
geten handelt es fich hauptfählih um Juſtin den Martyrer, er aber vertheidigte
das Chriſtenthum gegen die Juden und war daher auf den Gebraud ihrer hei—
ligen Bücher, d. h. auf den hebräifchen Kanon, angewiefen ; gelegenheitlich unter—
fheivet aber auch er fogar ausdrüdlih den altteftamentlihen Kanon der Kirche
von jenem der Juden und tadelt letztere, daß fie die alerandrinifche Heberfegung
verwerfen und mehrere heilige Schriften des A. T. nit als heilig anerfennen
(ef. A. Vincenzi, sessio quarta Gonc. Trident. etc. Rom. 1842. p. 133 sq.), und
felbft bei Athenagoras findet ſich unter den wenigen altteftamentlichen Citaten auch
Barud 3, 36. (Vincenzi, l. c. p. 136). Den Kirchenvätern des vierten Jahr—
hunderts endlich begegnete mitunter daffelbe, was noch in neuefter Zeit denjeni-
gen, die als die Koryphäen der altteftamentlichen Kritif gelten wollen; fie hielten
die Verzeichniffe des Melito und Drigenes für Berzeichniffe des hriftlich-Firchlichen
Kanons. Indem fie nämlih von dem an ſich richtigen Sag ausgingen, daß der
jüdifche Kanon des A. T, durch Chriflus und die Apoftel zum Kanon der Kirche
geworden fei, dabei aber auf das damalige Borhandenfein eines doppelten Ka—
nons bei den Juden nicht reflectirten, wurden fie durch jene Berzeichniffe verleitet,
den hebräifchen Kanon für den Firchlichen zu halten. Und in diefer Anfiht wur—
den fie noch beftärft durch den Umftand, daß die deuterofanonifchen Bücher zur
Unterweifung der Ratechumenen gebraucht wurden; denn dieſes legte nach den
Regeln der damaligen Arcan-Disciplin (f. d. A.) die Folgerung nahe, daß diefe
Bücher von geringerer Dignität feien, als die protofanonifchen. Und daß man
diefe Folgerung wirklich machte, erhellt ganz deutlich aus dem BVBerzeihnif des
Athanafius Epist. Fest. Opp. I. 961.), wo aud das Buch Efifer vom Kanon
ausgefhloffen wird, weil e8 zu jener Unterweifung gebraucht wurde, Diefer Ge—
brauch fand aber nur Statt wegen der ganz befonderen Brauchbarfeit der frag-
Tihen Bücher zum erwähnten Zwede, wie ſchon Drigenes ausdrücklich fagt (Hom.
27..n. 1. in lib. Num.), und jene Folgerung war unrichtig. Die Ausſchließung
diefer Bücher von Seite der Kirchenväter des vierten Jahrhunderts aus dem Ka—
non der Kirche, denn die Beftandtheile von diefem und nicht vom jüdifchen Kanon
wollen fie angeben, wie alle ihre Verzeichniffe unwiderfprechlich zeigen, beruhte
demnach auf Mißverfländniffen und kann nichts gegen die Kanonicität beweifen,
Jene Kirchenväter gerieten fogar durch diefe Ausſchließung mit ſich ſelbſt in
Widerſpruch, indem fie in ihren dogmatifchen und moralifchen Erörterungen die
befeitigten Bücher eben doch als Fanonifche, als Duelle der Dffenbarungslehre
gebrauchten, und damit factifch die Firchliche Praris, nach der fie fih in folchen
Fällen richten mußten, beftätigten, obwohl fie diefelbe theoretifch befämpften. Die-
fer Kampf Hatte aber gegen das Ende des vierten Jahrhunderts die Folge, daß
fih die Kirche ſelbſt über die Beftandtheile ihres altteftamentlihen Kanons aus-
ſprach zunächſt auf den Synoden zu Hippo (393) und Carthago (397) unter der
Leitung des HI, Auguſtin, wo nad Mafgabe der genau geprüften Ueberlieferung
2*
20 Kanon, biblifher.
ganz diefelben Bücher in den altteftamentlichen Kanon gefegt wurden, welche auch
die Trienter Synode zu demfelben zählte, und der dießfallfige africanifche Kanon
erhielt alsbald die Zuftimmung der römifchen und dann der gefammten Kirche,
Bol. Herbft, Einleitung, I. 5—47. Scholz, Einleitung, I. 197 ff. — Au
der neuteftamentlihe Kanon fonnte nur allmählig entſtehen. Zwar laßt ſich
denken, daß die Schriften der Apoftel und wohl auch der Apoftelfchüler, wenn die
Auctorität eines Apoftels für fie einftund, in den von ihnen gegründeten Ge-
meinden ſchon frühe gefammelt wurden, weil man fie von Anfang an als gött—
lich infpirirte Schriften betrachtete, von nicht geringerer Dignität als die heiligen
Schriften des A, T., wie denn auch fihon der Apoftel Petrus die Briefe Pauli
als Werke höherer Weisheit bezeichnet (2 Petr. 3, 15 f.). Aber diefe Samm-
Jungen fonnten nicht von Anfang an überall diefelben fein, weil e8 oft von zu=-
fälligen Umftänden abhängen fonnte, daß eine Gemeinde fehnell zum Befig eines
anderwärts vorhandenen apoftolifchen Schreibens gelangte, oder erft fpäter damit
befannt wurde, Indeſſen bei der gegenfeitigen oft Iebhaften Gemeinfchaft, in
welcher die riftlichen Gemeinden mit einander flunden, müffen die apoftolifchen
Schriften wohl ziemlich bald allgemein verbreitet worden fein, und nur bie an
einzelne Perfonen gerichteten mögen zum Theil eine furze Ausnahme gemacht
haben, Dagegen erweist fih die fonderbare Meinung, daß die Häretifer des
zweiten Jahrhunderts zuerft apoftoliiche Schriften gefammelt haben, um ihre Irr—
Vehren damit zu begründen, und dadurch auch die Kirche veranlaßt worden fei,
folde Sammlungen zu veranftalten (Neuß, die Gefhichte der heiligen Schriften
neuen Teftaments 20, Halle, 1842. ©, 105 ff.), als völlig gefhichtswidrig. Die
eigenthümliche Weife, wie die Häretifer mit den apoftolifchen Schriften umgingen
und diefelben nur durch arge Verbrefungen und BVerfälfhungen für ihre Beweis—
führungen brauchbar zu machen wußten, zeigt hinlänglich, daß diefelben zu ihrer
Zeit fchon lange als heilige Schriften gebraucht und durch öffentliches Vorlefen
zur allgemeinen Kenntniß der Chriften gebracht waren, fo daß auch fie, wenn fie
ihre Srrlehren empfehlen wollten, zu Gunften derfelben auch die apoftolifchen
Schriften anführen mußten, — In den älteften Berzeichniffen jedoch des neu-
teftamentlihen Kanons läßt fih dem vorhin Bemerkten zufolge noch Feine Ein-
flimmigfeit erwarten, und wirklich weichen diejenigen, bie aus der Zeit vor ber
Nicäner Synode herrühren, mehrfach von einander ab, Das befannte murato—
zifhe Bruchftüd aus dem Anfang des dritten Jahrhunderts, das wohl mit
Unrecht dem römifchen Presbyter Cajus (f. d. A.) zugefchrieben wird, welcher Die
jobanneifche Apocalypſe verwarf, fehließt den Brief an die Hebräer, den Brief
Sacobi, die beiden Briefe Petri und den dritten des Johannes vom Kanon aus,
Drigenes dagegen in feiner fiebenten Homilie zum Buche Joſua ($ 1.) nennt
alle 27 Bücher, die wir jegt noch im neuteftamentlichen Kanon haben, ald Be—
ſtandtheile veffelben; fpäter jedoch in feinem Kommentar zum Zohanned-Evange-
Yium (tom. 5. $ 3.) bemerft er, der zweite Brief Petri und der zweite und dritte
des Johannes feien nicht allgemein anerfannt, und über den Hebräer-Drief fpricht
er die Anficht aus, daß derfelbe nicht von Paulus herrühre, fügt jedoch bei, daß
die Alten (agxaloı avdges) ihn für paulinifch ausgegeben haben (ef. Euseb. H.
E. VI. 25.). Befonders wichtig find die Mittheilungen des Eufebius über den
neuteftamentlihen Kanon CH. E. III. 25.). Er theilt die Schriften, die auf apo—
ſtoliſchen Urſprung Anſpruch machten oder zu machen fchienen, in drei Claſſen
ein, nämlih 1) in OuoAoysusva, d. h. allgemein und überall durch das überein-
ftimmende Urtheil der Gefammtlirche als apoftolifch anerkannte Schriften, 2) in
Grrihsyöueva, d. h. folhe, deren apoftolifher Urfprung theils behauptet, theils
geläugnet wurde, alfo vorläufig noch ungewiß und zweifelhaft war; und endlich
3) in vo9a, d. h. folhe, denen anerfanntermaßen mit Unrecht da und bort ein
apoftolifcher Urfprung zuerfannt wurde, In die erfte Elaffe ftellte ex die vier
Kanon, bibliſcher. 21
Evangelien, die Apoſtelgeſchichte, die pauliniſchen Briefe, den erſten Brief Petri
und den erſten des Johannes, und fügt bei, wem es gut dünke, der könne auch
die Apocalypſe hieher rechnen; in die zweite Claſſe bringt er die Briefe des Ja—
eobus und Judas, den zweiten Brief Petri und den zweiten und dritten des Jo—
bannes; in die dritte Claſſe endlich fegt er die Acta Pauli, die Apocalypfis Petri,
den Hirten, den Brief des Barnabas und bie DBelehrungen ber Apoftel, und fügt
wieder bei, wem es gut dünfe, der fönne auch die johanneifche Apocalypfe bieher
zählen, denn fie werde von einigen den OuoAoyausvors, von andern den woJoLS
beigezäßlt. Während er aber hier in die erfte Claffe einfach die Briefe Pauli,
ohne Ausnahme, fegt, bemerft er H. E. II. 3, daß der Brief Pauli an die
Hebräer von einigen verworfen worden fei, indem fie fagten, daß deffen Ab-
ſtammung von Paulus von der Kirche zu Nom widerfprochen werde. Hiernach
ſcheint alfo der apoftolifche Urfprung des Hebräer-Briefes, der johanneifchen
Apocalypſe und der Fatholifchen Briefe mit Ausnahme des erften Briefs Petri
und des erften johanneifhen zweifelhaft gewefen zu fein. Ganz anders da-
gegen lauten die patriftifchen DVerzeichniffe aus der Zeit nach der Nicäner
Synode, Athanafius, der auf derfelben die Hauptperfon gewefen war, rechnet
in feiner Epistola Festalis die 4 Evangelien, die Apoftelgefchichte, die 14
paulinifhen und 7 Fatholifchen Briefe und die Apocalypſe zum neuteftamentlichen
Kanon, alfp genau diefelben 27 Schriften, die wir jegt noch in demfelben haben,
und äußert gegen feine derfelben irgend einen Zweifel oder Verdacht. Diefelben
Schriften nennt auch Eyrilfus von Jerufalem als die neuteftamentlichfanonifchen,
nur daß er die Apocalypfe übergeht, und daffelbe gilt vom 60ten Kanon der Sy-
node von Laodicen; Gregor von Nazianz aber zählt wieder diefelben Bücher wie
Athanaſius auf und bemerft nur, daß Einige bloß drei katholiſche Briefe anneh-
men, und Manche die Apocalypſe vom Kanon ausfchließen. Es ift Har, daß hier
die Zeugniffe für die früher angefochtenen Bücher durchaus günftig lauten, und
der Grund davon wird fich fchwerlich irgend anderswo als in der fchon erwähnten
Synode von Nicäa finden laſſen. Auf ihr werden fih die aus allen Gegenden
verfammelten Väter wohl auch über die Ueberlieferungen und das herfümmliche
Berhalten der einzelnen Kirchen in Betreff der neuteftamentlichen Schriften ver-
ſtaändigt Haben, wenn gleich die nur mangelhaft erhaltenen Synodalacten nichts
davon fagen. Daß die Synode jedenfalls auch über die in den Kanon gehörigen
Bücher ſich berathen haben müffe, erhellt fhon aus der Bemerfung des hl. Hie-
ronymus in Betreff des Buches Judith: hunc librum synodus Nicaena in numero
sanclarum scripturarum legitur computasse (Prol. in L. Judith). Das Ergebnig
folder Berathungen Fonnte auf Grund der vorhandenen Neberlieferungen: fein
anderes fein, als die allgemeine Anerkennung der theilweife beanftandeten Kano—
nicität der mehr erwähnten Schriften; denn Eufebius fagt ja felbft, daß diefelben
in den meiften Kirchen gleich den übrigen heiligen Büchern öffentlich vorgelefen
und nur deßwegen von Manchen bezweifelt worden feien, weil die Alten fie nicht
häufig erwäßnen (H. E. 1. 23. IN. 31.). Sofort ift au Far, daß die früheren
- Zweifel und Einreden nur Privatanfichten Einzelner waren und nicht den Sinn
der Kirche ausdrückten, fowie fie auch nicht auf der kirchlichen Gefammtüberliefe-
zung berußten. Und wenn fpäter noch da und dort, wiewohl nicht häufig, die
Apocalypſe beanftandet wird, fo Liegt auch davon der Grund nicht in der fird-
lihen Tradition, fondern im Inhalte des Buches, und die Beanftandungen find
wieder nur vereinzelte Privatanfichten, welche die firhliche Praxis gegen fih haben,
Nun kann es nicht mehr befremden, daß das ſchon erwähnte, zu Hippo (393)
und Carthago (397) entworfene Verzeichniß der kanoniſchen Schriften diefelben
27 Bücher als die neuteftamentlih Fanonifchen aufzählt, die wir jegt noch in die-
ſem Kanon haben, Und da diefes Verzeihni in Kurzem die Zuftimmung der
geſammten Kirche erhielt, fo war von da an ber neuteflamentliche Kanon nicht
22 Kant’fhe Religionsphilofophbie — Kanzleiregeln.
bloß herkömmlich, fondern auch geſetzlich für die Folgezeit normirt und fixirt.
Ausführlicheres hierüber fiehe in den Einleitungen von Hug, Feilmpofer und
Scholz, und die patriftifchen Eitate in de Wette's Einleitung. Eine nähere
Beleuchtung der neueren Fritifchen Befämpfungen fowohl der fhon im Altertum
bezweifelten, al® auch vieler andern biblifchen Bücher gehört nicht hieher, ſondern
in bie einzelnen Artifel, die von diefen Büchern handeln, [Welte,]
Kant’fche Neligionsphilofophie, f. Rationalismus.
Kanut, ſ. Canut,
Kanzel, die, Man verfteht darunter die in einiger Erhöhung gewöhnlich
an einer Seitenwand oder einem Pfeiler der Kirche angebrachte Rednerbühne.
Sie entftand aus dem mitunter mit einem Gitter (Cancellus) umgebenen, und
daher bisweilen felbft Cancellus genannten Ambon der Alten, d.h. aus der Bühne,
auf welcher in frühern Zeiten die Leetoren ihre Lefungen und die Sänger ihre
©efänge hielten, und die, um ihrem Zwecke zu entfprechen, groß genug war, um
mehrere Perfonen bequem zu faffen (Gregor. Nazianz, carm. 9.; Sozom, hist. eccl.
1.8. c. 5.; Gregor. Turon. Mirac. 1. 1. c. 94.), Den Anlaß, diefe Bühne in un-
fere ver Größe nach für eine Perfon berechnete Kanzel zu verwandeln, gab bie
ſchon in den erften hriftlichen Jahrhunderten nicht feltene Sitte der Bifhöfe, von
ihr aus zu predigen, um leichter verftanden zu werben (Auguslin. de civ. Dei
1. 22. c. 8.; Ambros. op. 20. al. 33. ad Marcellin. sor.; Sozom. l. c.; Prudent. 1.
peri stephan. hymn. 11.). Als nämlich diefe Sitte, im Gegenfage zu der ur»
fprünglichen, vom Altare (Chrysolog. serm. 173) oder von dem in der Nähe des
Altares befindlichen bifchöflichen Throne (Chrysostom. hom. 18. in act. app.) aug
zu predigen , immer gewöhnlicher wurbe, mochte man es für paffend halten, den
Sängern einen andern Plag (gewöhnlich auf der Emporkirche) anzumelfen, bie
Bühne felhft aber noch mehr zu erhöhen und ihr die Form eines Lehrſtuhls zu
geben, — Gewöhnlich ift die Kanzel mit einem Deckel verfehen und mit drift-
lichen Emblemen geziert, z. B. einer Taube unter dem Dedel (als Symbol des
Wunſches, e8 möge der Hl. Geift dem Redner beiftehen), einer Abbildung der
vier Evangeliften an der Bruftwölbung der Bühne (als Darftellung, daß auf
einer chriftlichen Kanzel nur die Lehre Jeſu zu verfünden fei), den Figuren des
Kreuzes, Ankers uud Herzens (weil die chriftliche Religion auf der Trias des
Glaubens, der Hoffnung und Liebe an, auf und gegen Jeſus den Gefreuzigten
bafirt), der Darftellung des reichen Fifchfanges Petri u. dgl. S. au den Art,
Ambon, [IFr. X. Schmib,]
Kanzelberedtſamkeit, ſ. Beredtſamkeit.
Kanzlei, päpſtliche, ſ. Curia Romana B. II. ©, 95%,
Kanzleiregeln (regulae cancellariae apostolicae), Um der Willfür der bei
der päpftlichen Kanzlei angeftellten Unterbeamten zu ftenern, fowie um allzuhäu—
fige Anfragen nach Oben abzufchneiden, werden von den Päpften ihren Negierungs-
eollegien beftimmte Inftruetionen über das Verfahren bei gewiffen Geſchäften er-
theilt, die unter dem Namen römifhe oder apoftolifhe Ranzleiregeln
befannt find, Ihrem Inhalte nach enthalten fie die Angabe der von dem päpft-
lichen Stuhle gemachten Nefervationen; fodann enthalten fie Vorſchriften über
Zutläffigfeit von Appellationen an denfelben, über die Claufeln, die bei gewiffen
Eonceffionen, Indulten und Privilegien beigefügt werden follen; über den Münz-
fuß bei den Ranzleigebühren, fowie über die äußere Form päpftlicher Urkunden,
Erlaffe u. dgl. Einen wichtigen Abfchnitt diefer Kanzleiregeln bilden eben bie
Beftimmungen über die päpftlichen Nefervationen, die namentlich von den avig—
nonifchen Päpften in der ausgedehnteften Weife in Anfpruch genommen wurden,
Defhalb pflegt man auch den Urfprung jener Regeln auf Papft Johann XXH.
zurüczuführen, der nach einer alten Urfunde vom Jahr 1316 (Steph. Baluz. Vit.
Pap. Avenionens. Tom. I. p. 722. Paris 1693) die yon ihm gemachten Reſerva—
Kanzleiregeln. 23
tionen verſchiedener Claffen von Kirhenämtern bei der apoftolifchen Kanzlei pro-
tocolliren ließ. Diefes Verfahren wurde von den Nachfolgern Johann fortgefegt,
die nicht nur die von ihm gemachten Refervationen für fig erneuerten, fondern
noch erweiterten. Da in Folge diefer ausgedehnten Refervationen, wie fie na—
mentlich aus der Ertravagante Johanns XXI. „Execrabilis* und „Ad regimen*
- son Benedict XII. in die Kanzleiregeln übergingen, die Bejegung der meiften Be—
nefieien in die Hände der Paͤpſte fam, fo bildete dieß einen Haupfklagepunct auf
dem Eonftanzer Coneil (f. d. A.), und ed wurde der Wunfch nach Aufhebung oder
wenigfiens Beſchränkung derfelben ausgeſprochen. Allein gleih nah dem Tage
feiner Wahl erließ der neugewählte Papft Martin V., wie feine Borgänger, Kanz-
Jeiregeln, in welchen er die alten Nefervationen feiner Vorgänger erneuerte und
die weitere hinzufügte, wornad er die Verleihung aller Nemter in Auſpruch nahm,
welche in den acht Monaten: Januar, Februar, April, Mai, Juli, Auguſt, De-
tober und November erledigt werden. In dem mit den Teutfchen auf fünf Jahre
abgefchloffenen Eoncordate (f. den Art, Concordate) wurde feftgefegt, daß aufer
den in den Bullen Johanns XXI. und Benedicts XU. enthaltenen Refervationen
die Eollation der übrigen Stellen zwifhen dem Papfte und dem Eollator wechfeln
Calternativa mensium) follte, mit Ausnahme der Dignitäten in den Dom- und
Collegiatſtiftern, welchen das canonifhe Wahlrecht eingeräumt wurde. Das Ba-
ſeler Concil (ſ. d. A.) wollte alle Refervationen auf die in dem Corpus juris ent-
baltenen beſchränkt willen, wodurd die in den Ertravagantenfamımlungen und aus
diefen in die Kanzleiregeln aufgenommenen aufgehoben wurden. Uebrigens kam
diefer Beſchluß nicht zur Ausführung. In dem Wiener Concordate 1448 wurde
das Eonftanzer Concordat beinahe wieder ganz reftituirt (f, den Art, Refervat-
rechte). Die ebengenannten von Martin V. nach feiner Wahl zu Conftanz (1418)
erlaſſenen Kanzleiregeln, fowie die von Johann XXI. (1410) find die älteften,
welche im Drucke erſchienen; man findet fie bei Hermann von der Hardt (Mag-
num oecum. conc. Constant. Tom. I. p. 954); Nicolaus V. (+ 1455) bradte bie
Regeln feiner Borgänger zuerft in eine ordentlihe Sammlung, der er noch feine
eigenen beifügte. Die Zahl der darin enthaltenen Regeln beläuft fih auf ein-
- oder zweiundfiebenzig (man findet fie abgedruct in dem Bulfarium von Barberi
$ 59, not. p, oder auch bei Corb. Gärtner, Corp. jur. ecel. cathol. etc. Tom. I.
> App. II. p. 457—498). Da diefe Regeln bloß den Charakter von Inſtructionen
haben, und bloß für die Lebensdauer des Papſtes gelten, der fie erlaffen hat, fo
geht bis zu ihrer Erneuerung die Collation der in ihnen dem Papſte refervirten
Benefieien auf deren ordentlihen Collator über. Deßhalb werden fie gewöhnlich
vom Nachfolger bei feinem Regierungsantritte in der Negel mit geringen Ber-
änderungen erneuert und vom Cardinal-Bicefanzler publieirt, Bei der Anwendung
derſelben wird jest immer auf die kirchlichen Verhältniffe der einzelnen Länder
Rückſicht genommen; auch find die in denfelben enthaltenen Refervationen dur
die neuern Concordate aufgehoben oder befchränft worden. Was ihre gemein-
xrechtliche Geltung betrifft, fo erſtreckt ſich diefelbe bloß auf den Verkehr mit der
zömifhen Curie; doch find au hier Exceptionen ftatthaft, wenn fie beftehenden
Concordaten, Landesgefegen, Gewohnheiten u. f. w. zuwider find, Nur wenige
derſelben haben durch NReception allgemeine Geltung erlangt. Allgemein gültig
iſt jest noch in Teutichland die 36te Negel de triennali possessore, wornach fei-
nem Beneficiat das Kirchenamt, weldes er unter rechtmäfigem Titel erworben
und drei Jahre lang unangefochten inne gehabt hat, beftritten werben darf; denn
diefe Regel wurde vollftändig in die von Teutſchland acceptirten Basler Decrete
- @ess. XXL. „Quicunque non violatus est“) aufgenommen, und ift feitvem nicht
wieder aufgehoben worden. Außerdem gingen aber no im: mehreren teutſchen
Didcefen folgende in die Gewohnheit über: 1) die 19te Regel de viginti, zufolge
welcher ein refignivender Benefieiat vom Tage der Nefiguation noch zwanzig Tage
24 Kanzleitaren.
am Leben fein muß; flirbt er früher, fo ift die Nefignation ohne Wirkung und
28 wird das Beneficium als durch den Tod erledigt betrachtet, 2) Die 20te Re—
gel de idiomate, welche die Beftimmung enthält, daß der Beneficiat die Sprache
desjenigen Landes rede und verfiehe, in welchem er ein Beneficium erhält, End=
lich 3) die 35te Negel de annali possessore, wornad für den Fall, daß einem
Benefieiaten feine Pfründe, in deren ruhigem Befige er bereits ein Jahr lang war,
beftritten werden wollte, die Klage mit allen Beweismitteln binnen fehs Mo-
naten bei dem eompetenten Gerichte eingebracht und der ganze Rechtsftreit inner-
balb Jahresfrift entfchieden fein muß (cf. Gravam. trium archiep. etc. anno 1767
ad Caesarem delata im Anh. zu Gratz, thes. jur. ecel. contin. p. 297), Commen-
tarien zu den Ranzleiregeln gibt e8 von Gomez, Nebuff, Dumoulin, Chokier;
die neueften find von J. B. Nigantius über die Ranzleiregeln von Clemens XH.
Rom 1751. IV fol. Das Magazin für Staats- und Kirchengefchichte von J. 5.
Le Bret (Ulm 1771—1787. Bd. I. ©, 605 ff. Bd. IL ©. 1.) enthält eine
weitläufigere, übrigens vom Parteiftandpuncte aus gefärbte Abhandlung über die
Geſchichte der römifchen Ranzleiregeln, foweit fie Refervationen enthalten, Vgl.
Permaneder, Handbuch des Kirchenrechts. $ 171 u, 185, und $ 103, Ferd,
Walter, Lehrbuch des Kirchenrechts. 9te Aufl. $ 125. [Khuen.]
Kanzleitaxen (päpſtliche, biſchöfliche). Da der kirchliche Geſchäftsgang
ein mehr oder minder großes Kanzleiperſonal nothwendig macht, iſt es ganz bil—
lig, daß zum Unterhalte deſſelben auch diejenigen beitragen, die ſeine Dienſte in
Anſpruch nehmen. Deßhalb war es auch von Anfang an üblich, daß man für
beſondere Bemühungen daſſelbe durch freiwillige Geſchenke honorirte (ef. c.. 4,
C. I. qu. 2). Schon Zuftinian erließ eine Verordnung (Nov. 123. 6.3.), wornach
Erzbifchöfe und Bifchöfe neben dem Ehrengefihenf an den Ordinirenden, von 300
bis 6 Solidi abwärts an Die Ranzleiperfonen zu entrichten hatten, Indeß Fam
e8 bald vor, daß die päpftlichen Kanzleibeamten, fo Tange fie noch an Feine be-
flimmte Norm gebunden waren, fich große Mißbräuche zu Schulden kommen ließen,
indem fie fich durch abfichtliche Verzögerung oder Befchleunigung ihrer Erpeditiong-
gefchäfte Geld zu erpreffen wußten, Um diefen Mißbräuchen vorzubeugen, wur—
den von den Päpften für ihr Ranzleiperfonal beftimmte Taren feftgefegt, und die
Einhaltung derfelben als des für die Ranzleigefchäfte gefeglihen Tarifs den Kanz-
Yeibeamten zur firengen Pflicht gemacht. Johann XXI. erließ fon (1316) ganz
in’s Einzelne gehende Beftimmungen, welche dieſes Verhältnig normirten c. un.
Extrav. Joh. XXII. de sent. excomm. (13). Hieraus entwidelte fich eine ausführ-
liche Tarordnung, welche öfters im Drucke erſchien; eine neuere som Jahr 1616
findet fi) bei Rigantius, Commentar. in regulas Cancell. apost. Tom. IV. p. 145.
Eine befondere Art diefer Ranzleitaren find die fogenannten servitia minuta, Kanz-
Teifporteln, welche für die Verleihung von höhern und nievern Kirchenämtern in
fünf Portionen an die Unterbeamten der römifchen Kanzlei zu entrichten find (ſ.
den Art, Abgaben). Hinfichtlich der Gebühren, welche bei Ertheilung von Dis- .
penfen zu entrichten und nach dem Stande und den Bermögensverhältniffen der
Bittfteller normirt find, ift zu bemerken, daß biefelben nicht als vergeltliche Ab-
gaben zu betrachten find, fondern einfach als Ranzleigebühren zur Beftreitung der
auf der Dispensertheilung haftenden Auslagen, ähnlich den Sporteln und Stem-
velabgaben bei der weltlichen Rechtspflege. — Obgleich das Triventinum es den
Biſchoͤfen zur ftrengften Pflicht macht, Weihen und Dispenfen unentgeldlich zw
ertheilen, und ihnen felbft die Annahme freiwilliger Gaben verbietet, fo ge=
ftattet es doch ausdrücklich die Abnahme einer: entfprechenden Kanzlei- oder Ex—
peditionsgebühr für Ausfertigung von Weihformaten, Dimifforien, Approbationen,
Snveftituren, Ehe- und andern Dispenfen u. f. w. zur Guftentation des biefür
nothwendigen Ranzleiperfonalg, wenn nicht anderweitig für daſſelbe geforgt ift
(Sess. XXI. o. 1. de ref), Einzelne neuere Staatsregierungen haben Die Er—
Kapelle — Kaplan. 25
hebung von jeglicher Art von Taren ſowohl inländifhen als ausländiſchen geift-
lichen Behörden verboten und die Beflimmung der Erpeditionsgebühren an der
biſchoflichen Kanzlei für fich in Anfprad genommen, z. B. Baden, Würtemberg,
bie beiden Heffen und Naffau in der Verordnung vom 30. Januar 1830. $ 22,
C£. Weiss, corp. j. ecel. hod. germ. cathol. pag. 317. [Khuen.]
Kavpelle, ſ. Bethaus.
Napernaum, ſ. Capharnaum.
Kapitel, ſ. Capitel.
"Kapitel und Verſe der Bibel, ſ. Abtheilung.
SKapitular, f. Capitular.,
Kapitulation der Bifchöfe, f. Capitulation.
Kaplan (Cappellanus), urfprünglich ein an einer Capelle angeftellter Seif-
licher, der an derjelben den Gottesdienſt entweder fländig zu beforgen, oder zu=-
gleich mehrere in einem Sprengel gelegene Capellen periodifch zu verfehen hatte,
In den erften Zeiten der Kirche nämlich, wo aller Gottesdienft noch auf die bi—
ſchöfliche Kirche befchranft war, geſchah es häufig, daß auf den Grabftätten der
HI. Martyrer für die Privatandacht Bethäufer errichtet wurden, welche man Mar-
tyrien nannte (f. den Art. Bethaus). Allein nicht bloß auf den Gräbern der
Martyrer, fondern auch auf Landgütern und an folden Orten, die weit von der
bifhöflichen Kirche entfernt waren, wurden Bethäufer errichtet, in welchen von
einem dazu beftellten Geiftlihen der Gottesdienft gehalten wurde. Zur Zeit des
Hl. Chryſoſtomus, der zur Errichtung folder Dratörien die Gläubigen aufmuntert,
feinen diefelben Häufig gewefen zu fein. Die Benennung „Capelle” für diefe
Dratorien ift zweifelhaften Urfprungs, indem man fie entweder von capsa oder
capsella’ ableitet, einem Behälter, in welchem die Gebeine der Martyrer auf-
bewahrt wurden; oder, wie Du Cange, von cappa oder cappella, einem Klei=
dungsſtücke des HI. Martin. Jedenfalls bildete fih diefe Benennung zuerft im
Frankreich und zwar nannte man fo den Ort, an welchem die fränfifchen Könige
in ihrem Palafte die Reliquien des Hl. Martin aufbewahrten, dann überhaupt
folge befondere Gebäude, in welchen Reliquien von Martyrern oder Heiligen
aufbewahrt wurden. Da befanntlih der Hof mit feinem Sige wechfelte, und
bald diefe, bald jene Provinz zu feinem Aufenthalte wählte, wurden immer zu—
gleich auch die Reliquien des HI. Martin mitgenommen, für die in jedem Palafte
ein befonderer Drt eingerichtet wurde, den man Capella nannte, Die an diefen
fogenannten Eapellen angeftellten Elerifer, welche in denfelben das HI. Officium
zu verrichten hatten, nannte man Cappellani. Sie waren alfo zunähft Das, was
man heutzutage Hoffapläne nennt, Geiftlihe, die an der Föniglichen oder fürft-
lichen Capelle den Gottesdienft zu beforgen haben (ſ. den Art. Hoffaplan).
Die Benennung Capelle ging dann aber auch auf die Privatoratorien anderer
Laien über, welche diefelben nicht felten zur-Suftentation eines eigenen Geift-
lien und zur Beftreitung der Sabrif- und Eultfoften dotirten, Da jedoch viele
Laien nicht im Stande waren, eine befondere Eapelle zu errichten und fie hin—
Aänglich zu dotiren, wurden fpäter an größern, fowohl Pfarr- als Eollegiat- und
kirchen Nebencapellen errichtet, oder auch bloß Altäre zur Ehre eines be=
amten Heiligen oder zur Erinnerung an ein Ölaubensgeheimnig oder Wunder,
für die Hiefür eigens angeftellten Priefter ein beftimmtes jährliches Einkom—
men geftiftet. Hieraus entſtunden nun einfache Beneficien oder Raplaneien, welde
man je nach dem Namen der betreffenden Capelle, des Altars oder Heiligen be—
titelte, für die fie errichtet wurden. Der Inhaber eines ſolchen Beneftciums hieß
dann Cappellanus oder Sacellanus. Nah Thomaffin (vet. et.nov. ececl. discipl.
P. 1. Lib. III. c. 70. n. 10 sqg.) gehörten diefe Cappellani zu den niedern Chor=
Be und hießen auch vicarii, portionarii, praebendarũ oder semipraebendarii.
Sie hatten mit den Canonikern die Verpflichtung zum Chordienſt theils zu deſſen
26 Kaplan.
Erleichterung, theils zur größeren Feierlichkeit deffelben. Sp wurde z. B. auf
einer Synode zu Placentia im Jahr 1095 den Eanonifern verboten, zwei Canp-
nicatftellen oder zwei Präbenden zugleich anzunehmen, und dem Propfte die Ver—
pflichtung gemacht, wenn die Einfünfte der Capellen zur Suftentation der Ka—
pläne nicht ausreichen, auf eine Vermehrung derfelben bedacht zu fein, Es wurden
dann auch diejenigen Chordiener Cappellani genannt, die gerade ihren Unterhalt
von feinem Beneficium (f. den Art, Beneficium ecclesiasticum) bezogen;
fo erwähnen z. B. die Statuten der Kirche von Lyon vom Jahr 1251 außer ven
höheren Canonifern und niederen Präbendaren noch zwölf Kapläne, die außer der
täglichen Verpflegung im Nefeetorium Fein befonderes Benefictum hatten, Die
Anfiht des Molanus, der auch Van-Eſpen beipflichtet, als hätten fih die Ka—
pläne von den Canonikern Anfangs nicht einmal dem Namen nah unterſchieden,
fofern fie mit denfelben die gleiche Verpflichtung zum Chorbienfte und deßhalb
auch die gleiche Kleidung hatten, und als ob erft fpäter die Canoniker wegen ihres
größeren Einkommens eine hervorragende Stellung über fie eingenommen, er-
feheint als unbegründet. Nach Auflöfung der vita communis (f, die Art, Canv—
niet und Eonpict) fingen die Canonifer allmählig an, theils aus Bequemlich-
keit, theild wegen Uebernahme von Kirchen- und Staatsämtern fih vom dffent-
lichen Chordienfte zurüczuziehen und beftellten fich hiezu einen Stellvertreter, die
fogenannten Chorvicare, die man auch Kapläne oder Präbendate nannte, fofern
fie eben eine Raplanei an der betreffenden Stifts- oder Domkirche als Präbende
erhielten. Das Tridentinum hat in fofern das alte Verhältniß hergeftellt, als es
Sess. XXIV. c. 12 de ref. den Canonifern den perfönlichen Chordienft wiederum
zur Pflicht macht, und dadurch die Domfapläne oder Vicare wiederum in ihre
urfprüngliche Beftimmung einfeßte, In Teutfhland wurden dieſe Domfapläne
auch an den nemerrichteten und reorganifirten Hochftiftern beibehalten, und zwar
zur Unterflügung des Chorbienfles, fowie zur Aushilfe in der Seelforge und zu
anderweitigen Gefchäften, die ihnen der Bifchof auferlegen Tann. Ihre Zahl ift
wie die der Canoniker an jedem Eapitel eine fire und jedem ein fixirtes Einfom-
men zugewiefen (f. den Art. Chorvicare). — Wie mit den Raplaneien an den
Dom- und Collegiatkirchen (ſ. d. U.) die Verpflichtung zum Chorbienfte verbunden
war, fo Fnüpfte fich bei den an Pfarrkirchen oder befondern Eapellen noch die be—
fondere Verpflichtung zur Darbringung des Hl. Meßopfers, daher der Name
„Frühmeffer” (ſ. d. A.), und micht felten auch zur Paftoration überhaupt. Die
Rapläne find demnach felbfiftändige Hilfspriefler, die ein eigenes abgejondertes
Beneficium befigen — daher auch Beneficiaten genannt — welche die mit dem—
felben verbundenen Obliegenheiten zu erfüllen haben. Ihre Anftellung ift wie
die der Pfarrer eine definitive; fie find inamovibel und werden daher als folde
prdnungsmäßig in ihre Stelle eingewiefen, Dem Pfarrer gegenüber find fie in
der Ausübung der mit ihrem Beneficium verbundenen Seelforge unabhängig, find
aber in foweit feiner Beauffichtigung unterftelit, als ihr Beneflcium in feiner
Parochie Liegt und fie zur Aushilfe an der Pfarrkirche verpflichtet find. Nach den
alten Eapitelsftatuten haben die Kapläne in der Negel diefelben Corporations—
rechte wie die übrigen Capitularen, mit Ausnahme des paffiven Wahlrechts bei
Capitelswahlen. Der Umftand, daß man mit dem Befige einer Kaplanei bloß
die Verpflichtung des Meffelefend verbunden dachte ohne fonftige weitere Ver—
pflihtung, gab zu der Anficht Veranlaffung, als fei e8 gleichgültig, wer bie
Meſſe Iefe, wenn nicht auspdrücflich in der Stiftungsurkunde dieſes vom Inhaber
des DBeneficiums verlangt werde, Sp fam es, daß diefer öfters einem Andern
feine Verpflichtung übertrug und ihm von feinem Beneficium dafür das gewöhn-
liche Honorar bezahlte, Zuletzt hielt fich der Beneficiat überhaupt nicht mehr zur
perfönlichen Nefidenz verpflichtet, und es ging diefe Anfiht fo fehe in die Ge—
wohnheit über, daß man die perfonliche Reſidenzpflicht auf dergleichen Kaplaneien
Kappadoeien — Karäer. 27
‚gar nicht mehr ausdehnte. Das Tridentinum hat diefe Gewohnheit in ſofern an-
erfannt, als es (Sess. XXIV. c. 17 de ref.) geftattete, daß dem Inhaber eines
Beneficiums, wenn daffelbe zu feinem flandesmäßigen Unterhalte nicht ausreiche,
ein anderes einfaches Beneficium übertragen werden dürfe, wenn nicht beide
zur perfönlichen Reſidenz verpflichten. Hiegegen proteflirten die Franzoſen und
verlangten, man folle entweder nach dem Sinne der Stifter die Inhaber folder
BDeneficien zur Aushilfe in der Paftoration verpflihten, oder aber dergleichen
Beneficien zum Pfarreinfommen ſchlagen. Diefem Iegteren Vorfhlage wurde im
foweit Rechnung getragen, ald man (Sess. XIV. c. 13 de ref. und Sess. XXI.
6. 18 de ref.) die Unirung ſolcher Beneficien ald das erfte Mittel bezeichnete, um
gering dotirte Pfarrkirchen aufzubeffern. Auch die Unirung derfelben mit gering
dotirten Präbenden an Cathedral- und Eollegiatfirhen (f. d. A.) wurde den Bi-
ſchöfen mit Einwilligung des Capitels geftattet, nur dürften fie feine Klofierbene-
fieien fein. Zu bemerken ift noch, daß Stiftungen von Laien für beflimmte kirch—
liche Functionen nicht als Beneficien zu betrachten find, wenn ihnen nicht vom
Bifchofe der Titel eines Beneficiums verliehen ifl. Sie find als Laienftiftungen
zu betrachten, und fünnen ohne bifhöfliche Inftitution einem Geifllihen nach dem
Sinne des Stifters entweder vorübergehend oder fländig übertragen werden, —
Bon den felbfiftändigen Kaplänen find zu unterfcheiden die nicht felbfiftändigen,
die feine Beneficiaten, fondern bloß zeitliche Hilfspriefter des Pfarrers find (f.
den Art. Hilfspriefter — vicarius temporalis). Ihre Amtsgewalt ift eine vom
Pfarrer delegirte, fowie fie auch von diefem ihr Einfommen und ihre Verpflegung
erhalten, Sie find amovibel und Fönnen vom Bifchofe jeden Augenbli ohne An-
gabe des Grundes abberufen werden. — Vgl, Van-Espen, J.E., P. Il. Tit. 18.
cap. 4. [Rhuen.]
Rappadoeien, f. Cappadocien.
SKapueiner, f. Capuciner.
Kapuze, f. Cucullus.
Karäer, Raraiten. So wird eine Secte der Juden genannt, welche im
Gegenfag zu den Nabbaniten, die fih an Mifchna und Thalmud halten, vor—
zugsweife der Schrift (K’ra oder Mifra) folgt *). Fragen wir über die Namens-
beftimmung hinaus nach fihern Auffchlüffen nad der Entftehung, den eigenthüm-
lien Lehren und Gebräuchen der Karäer, fo müffen wir zunächſt gänzlich auf
eine Duelle verzichten, welche uns am nächſten flünde, nämlich die reiche, in un-
zähligen Werfen uns zugängliche Literatur der rabbanitifchen Juden. Selbft fonft
billige Männer, wie Meimonides, können ihren Unwillen trog aller Kürze nicht
ganz bergen (ſ. die Stellen bei Burtorf, s. v. RI), die übrigen vereinigen
mit der Kürze offenen, blinden Haß. Sp fchreibt Abrafam Ben Dior, „daß
dieſe Keger nie ein Buch zur Vertheidigung des Gefeges, noch ein gelehrtes Werk,
oder auch nur ein Gedicht hervorgebracht hätten, und dag fie flummen Hunden
glichen, die nicht bellen fünnen.“ (S. de Roffi’s Wörterbuch s.v. Karai.) Bei
folder Erbitterung mußten fih chriſtliche Gelehrte auf eigenem Wege über bie
Karäer zu unterrichten ſuchen. Diefes gefchah mit befonderem Eifer am Ende des
Uten und Anfang des 18ten Jahrhunderts, Erſt durch chriſtliche Gelehrte wurde
% billigeres Urtheil vermittelt. Nachdem (1690) der Profeffor Peringer von
Hienblatt durch Carl XL, König von Schweren, unter die in Polen Iebenden
*) Maktizt (de Sacy chrestom. arabe_ ed. I. t.I. p. 160. t. II. p. 175) nennt . die
Karaiten Benu Mikra, worunter er aber Kinver der Berfündung verfieht. Die Rabba—
niten dagegen nennt er Benu Miſchna. (ira Ir ei *6 el Lola
Beca)f I Bol. Maimonides zu Pirke Aboth f. 12. b.
28 Karäer.
Karäer geſendet worden war, um Erkundigungen über ihre Lehren und Gebräuche
einzuziehen und Bücher derfelben anzufaufen (Beer, Gefchichte, Lehren u, f. w.
Th. 1. ©. 196,), knüpfte Trigland, Profeffor in Leyden, eine Correfpondenz
mit den gelehrteften Männern dieſes Befenntniffes an, woraus die diatribe de
Karaeis hervorging *). Angeregt von den Anfragen des chriftlichen Profefforg,
fhrieb Mordechai Ben Niffan (f. Roffi, S. 160) das Bud 157-0 777 Döp
Mordechai, worin er die Gefchichte und das Streben der Karäer darzuftellen
ſuchte. Diefes Werk gab Wolf 1714 Cheffere Ausgabe 1721) hebräifch und la—
teinifch heraus, Ein Jahrhundert fpäter Ienften die Auszüge, welche Koſegarten
aus dem an InD des Ahron Ben Elia gab (Libri Coronae Legis aliquot par-
' ticulus primus edidit Kosegarten. Jenae 1824. 4.) die Aufmerffamfeit der Ge-
Yehrten neuerdings auf die Literatur der Karäer. Bereits vorher hatte de Sacy
in feiner arab, Chreftomathie mohammedanifche Schriftfteller in Anfpruch genom-
men, um die Gebräuche diefer Secte zu erfennen, Auch jüdifche Gelehrte rabba-
nitifchen Befenntniffes, wie Peter Beer, Zoft, Dufes, Geiger, haben fich mit
ſchätzbaren Beiträgen angeſchloſſen. Das Meiſte Hat aber hierin in neuefter Zeit
Franz Delitzſch, theild durch die Herausgabe des Ez Chajim von Ahron Ben
Elia **), theils durch Auffäge im „Drient” gethan, Zwar mag es noch lange
dauern, bis wir ganz vollfommene Kenntniffe von der Gefchichte, Literatur, wie
den Lehren und Gebräuchen der Karäer haben werden, aber die Bahn iſt ge—
brocdhen, Folgendes möge bier genügen. I. Urfprung. Die Karäer find aus
einer Oppofition gegen die thalmudiſche Cafuiftif und die rabbanitifhe Hierarchie
hervorgegangen. Eine folde Oppofition mag ſchon lange vorhanden gewefen fein,
aber um die Mitte des achten Jahrhunderts der hriftlichen Zeitrechnung trieb fie
in Bagdad der Jude Anan zum förmlichen Schisma. Das ift von mohamme—
danifhen Schriftftellern, wie Mafrizi bei de Sacy (Chrest. ar. I. ed. tom. H.
p. 169) und Schahraftani eben fo gut anerfannt, wie von Juda ha Leni im Coſri
(ſ. Buxt. p. 193). Die Karäer heißen daher bei den mohammedäniſchen Schrift-
ftellern Anänter ***), Die Anregung zur Trennung und der Antrieb zu ihrer wei-
tern Ausbildung Fam jedoch nicht von innen, fondern aus dem Einfluffe, welchen
die Motafalen, die rationalifirenden Erforfeher der mohammedanifchen Glaubens—
fäße, unter den erften Abbaffiden ausübten, und von der Berührung mit gelehr-
ten Chriſten. Das Erfte wird von Ahron Ben Elia felbft anerkannt, Das Zweite
ift durch die Dertlichkeit fchon nahe gelegt, welcher die Wiege des Karäismus
angehört, „Unter den Faräifchen Gelehrten find mehrere der berühmteften aus
Baßra, feit Omar der Rivalin von Kufa und aus Bagdad, wo feit der Dynaftie
der Abbaſſiden Ehriften die Wiffenfchaften Iehrten, und fett Mamun der Hauptfig
mobammedanifcher Gelehrfamfeit war” (Delitzſch, Prolegom, zu Ahron ©, L).
Doch würde die naheliegende Möglichkeit, mit gelehrten Chriften in Be-
rührung zu fommen, nicht hinreichen, wenn wir nicht ein poſitives Zeugniß hät-
ten, wie es uns Schahraftani gibt: „Einige von ihnen (den Karäern) find der
Anfiht, Iſa (Jeſus) felbft habe nicht den Anfpruch gemacht, daß er ein gefende-
ter Prophet und der Stifter eines Geſetzes fei, welches das Geſetz des Mufa
*) Bgl. Jo. Gottfr. Schupart, Secta Karaeorum dissertationibus aliquot hi-
storico-philologieis adumbrata. Jenae 1701. Delitzſch, Lit.Bl. des Orients 1840,
Nr. 40, nennt dieſes Werk nicht ungelehrt, aber pfauenhaft ausftaffirt und ſchwülſtig ge—
fihrieben.
*) on 79 Ahron ben Elins aus Nicomedien des Karäers Syſtem der Neligiond-
philofophie. - Leipz. 1841. Barth.
ER) —A Schahraſtani ed. Cureton. t. I. ©. 167. Die Karaiten ſelbſt wollen
aus Esra’d Zeit herſtammen; Maimonives und andere Nabbaniten bringen fie mit vor—
hriftt, jüd, Serten in Verbindung. ©. Buxtorf s. v. NP
Karäer. 29
( Moſes) auflöfe, ſondern daß er zu den Freunden Gottes gehöre, welche ein
gottesfürchtiges Leben führen und mit den Sagungen der Thora vertraut find.
Sie fagen ferner: die Jahüd (Juden) haben Unrecht begangen, da fie ihn zuerft
für einen Lügner erffärten, dann feine Berufung nicht anerkannten und ihn zu-
lest tödteten, und dann feine Stellung und Abfiht verfannten, In der Thora
kommt an vielen Stellen die Erwähnung von Al-Mafchiah vor, und das ift der
Maſih (Meffias), aber die Prophetie und das abrogirende Geſetz wird ihm nicht
verheißen; es kommt vor der Paraclita (Tagaxinros), und das ift der wiffende
Mann, und auch im Evangelium fommt feine Erwähnung vor; es ift dieß aber
nothwendig auf Dasjenige zu beziehen, was eingetroffen ift, und auf denjenigen,
welcher diefes allein als feine Wirklichkeit in Anfpruch genommen.” (Nah Haar-
brüder, Vgl. de Sacy Chr. ar. £. I. p. 361. II ed.) Solches Eingehen auf die
Grundlehren des Chriſtenthums fest eine Berührung voraus, welche das thal-
mudifhe Judenthum abfihtlih durch mehr als ein halbes Fahrtaufend vermieden
zu haben ſcheint. — II. Literatur. Leider befigen wir von den älteften Karäern
fein fchriftliches Denfmal, obwohl es nicht an Schriftftellern fehlte; ſchon der
Stifter ihres Befenntniffes, deffen Grundfag war: „Forſchet tühtig in der
Schrift“ Hraw anna wen. ©, Dufes, literaturhiſtor. Mittheilungen
1.93). Stuttg. 1844. ©. 26.), hat mehrere Werfe gefchrieben, Im zehnten
Jahrhundert zeigt fih eine große Rührigfeit unter feinen Jüngern, und wenn e$
wahr ift, daß der Karäer Salomo ben Jeruham der Lehrer des Saadia war *),
fo hat die Neuerung den Anhängern des Alten unfhäsbare Dienfte geleiftet. Jo—
ſeph Ha Maor aus Kirkeſia Cum 930) und Joſeph Ha Noe (777) bildeten die
Dogmatif aus (f. Delitzſch, Ahron, Proleg. II. und S, 313); Jacob Reuben
die Eregefe (Roffi S. 139); befonders ragte am Ende des zehnten und Anfang
des eilften Jahrhunderts R. Japhet Ha Levi CH>7 n27) hervor (Roſſi ©. 137
und 3. Delitzſch, a. a. O. ©. 314. 319). Die Karäer können fhon darum
ſtolz auf ihn fein, weil er zu den Lehrern des Aben-Esra (f.d. A.), alfo
eined Mannes gehört, den an umfaffender Bildung unter den Rabbaniten nur
Maimonides übertreffen möchte, Der Karait Juda Hodafji glänzte um 1148 durch
feltene Kenntniß der Naturwiffenfchaft, der griechiſchen und arabifchen Sprache.
Sein Eſchkol Ha Kopher liegt zu Leyden, wo fich überhaupt die reichſte Samm-
fung karaitiſcher Schriften findet, wenn man die Bibliothefen Südrußlands aus-
nimmt **), Im zwölften Jahrhundert machte ih Ibn Alfarag (de Roffi ©,
36) durch feine mit glüdlihem Erfolge gefrönte und zahlreiche Befehrungen her-
vorrufende Bekämpfung des NRabbanismus befannt. Als Apologet des Zuden-
thums nah der Auffaffung der Karäer bat ſich bleibenden Nachruhm gefichert
Ahron Den Elia***) aus Nicomedien dur fein im J. 5106 (1346) voll-
endetes und von Deligfch edirtes Werk Ez Chajim. Sein nomofanonifhes Buch
nr2n d würde einer Publication wohl eben fo würdig fein, da wir durch das⸗
ſelbe zur nähern Anfchauung der Faräifhen Obfervanz gelangen würden. Bon
den übrigen, durh Dod Mordechai befannt gewordenen Faraitifhen Schriftftellern +)
erwähnen wir nur noch Einen, ald den vielleicht tüchtigften Gegner des Chriften-
thums, welchen das fpätere Judenthum hervorgebracht hat, nämlich Iſaac Ben
Abraham Troki (blühte um 1600). Diefer und nicht ein Rabbanite ift nämlich
.„ 7) Dod Mordechai (Wiener Ausgabe f. 11. b.). Das Saadia fpäter gegen die Ka—
rãer polemifitte (f. Dukes, a. a. O. ©.33 ff.), fann obige Behauptung nicht enikräften.
* Weber den von Aben-Esra öfters citirten R. Jeſchua f. Delisfh, Ahron ©. 315.
311. und Roffi ©, 155.
=), Ihm War ein anderer Ahron, Ben Joſeph, Berfaffer des nano, + 1294 als
Apologet, namentlich gegenüber dem Maimonides und Ha Levi, vorangegangen.
+) Die andern f. in Dod Morvechai, over in kurzer Faflung bei de Koffi, ©. 158.
247, 58, (die beiden Beſchitzi) ©, 27, 206. 271, 24. 117, 160, dann ©, 38, 122, 250. 213,
30 Karäer.
der Verfaſſer des von Wagenſeil in den lela ignea Satanae — leider ziemlich
fehlerhaft — edirten Buches Tas par, wie ſchon Wolf in der zweiten Aus-
gabe feiner notitia Karaeorum, I. Ausg, 1721. und bibliotheca hebraica tom. IH.
p. 545. dargethan hat*), — II. Wohnfige, Man muß die Fruchtbarkeit der
Karäer an trefflihen Schriften um fo mehr anerfennen, da diefelben nur wenige Ge—
meinden haben. Db es an ihren älteften Sigen im alten Babylonien noch welche
gibt, weiß ich nicht; feit dem Verfalle des Kalıphats finden fie fih vorzüglich in
Kairo, Konftantinopel und nahe dabei, wie in Nicomedien, in der Krim **) und
in Polen, — IV. Der Unterfhied zwifchen den Karäern und Nabbani-
ten, d. i. rabbinifchen vder orthodoren Juden (f. Judenthum), reducirt ſich auf
wenige, aber einflußreiche Puncte, wenn man die Sache mit den fpeeulativen
Augen des Ahron Den Elia anfieht, welcher denfelben in feinem eregetifchen Werfe
Syn In» in folgenden drei Momenten findet ***): Der erſte Controvers-
punct betrifft die Tradition, Man fann fih nah den Kardern feinen Grund
denfen, warum der Öefeßgeber von vornherein einige Gebote zur Niederfchrei=
bung für geeignet, andere, die doch practifhen Inhalts find, dazu nicht für
paffend befunden haben ſollte. Auch fehließt die Ermahnung of. 1, 8. die münd-
liche Ueberlieferung aus, Demnach gibt es fein verbindliches Gebot, das bloß
mündlich überliefert wäre und nicht in der Thora verzeichnet if, Der zweite
Eontroverspunct betrifft die Auslegung der Thora nad der Tradition,
Die Karäer erkennen feine Auslegungsnorm der Schrift außer ihr felber an.
Denn die Schrift folgt dem recipirten Ausdruf, und diefer muß dem intendirten
Sinne, gemäß dem Zufammenhang zwifchen Wort und Gedanken, entſprechen;
die Schrift ift daher wörtlich zu verfiehen und den Gefegen der Togif und Gram—
matif gemäß auszulegen, es fei denn, daß 1) der Wortfinn der finnlihen Wahr-
nehmung offenbar widerftritte, oder 2) durch intellectuelle Gründe fi unabweis-
lich als falfch herausftelte, oder 3) im Widerfpruch mit andern Schriftftelfen ftände,
oder A) durch analoge Schriftftellen felbft umgedeutet würde. Der dritte Contro—
verspunet betrifft die VBollftändigfeit und Zulänglichfeit der Schrift, welche von den
Nabbaniten durch Geltendmachung der Tradition in Abrede geftellt, von den Ka-
räern aber behauptet wird, „Die Schriftforfhung, nicht die Meberlieferung, iſt
das primäre Prineip der thepretifchen und practifchen Theologie” Ca. a. O. Nr. 39,
S, 610). Da jedoch auf folde Art die Negel des Glaubens etwas ſehr Un—
fiheres wird, fo halten die Karäer nad) Ahron am consensus ecclesiae feſt; e$
gibt demnach drei Erfenntnifgründe der Neligion nach karäiſchem Begriffe:
I. 21037 die Bibel; I. wpr77 rl] der Schluß, die Vernunft; III. Yıapr
BAD I, 75 :
Kost eu>T bie Uebereinſtimmung ber Religionsgenoffenfhaft. „In den Um—
£
fang diefes dritten Begriffes der fonagogalen Webereinftimmung wird auch
der der Weberlieferung (7Fn>7) aufgenommen” (Ahron, proleg. V.). Die
Hauptfefte Haben die Karder mit den rabbanitifhen Juden gemein, obwohl
fie mandes eigenthümlich berechnen (ſ. Mafrizi bei de Sacy 1. c.). Hinficht-
Yih der Schlahtung der Thiere CTonw) hat ſchon Schahraftani eine Eigen-
thümlichfeit angemerkt. (Vgl, über die mund 77 Lit.-Bl. d. Dr, 1840,
*) Nah P.I. c. 42. ©. 342 bei Wagenfeil ift das Werf im 3. 5375, d. i. 1615,
verfaßt. Demnad find die Daten bei Roſſi zu berichtigen.
**) Bol. 3. B. in Lemberg: „Etwas über die Karäer in der Krim.“ Lit.Bl. des
Drients 1840, Nr. 28. ©. 442 f,; auh R. Samuelis Sancti Fil. Davidis Jemsel Judaei
Karraitae itinerarium bet Wolf, biblioth. hebr. II. p. f081 sqq.
*##) ©, Delitzſches Abhandlung: „Die Hauptoifferenzen zwifchen Karäern und Nabba=
niten, nach Ahron Ben Elia's Borrede zu feinem Pentateuh — Commentar.“ Lit.Bl.
des Drients 1840, Nr. 32, 34, u, 39,
Fr en Du u
Karantanen — Karg. | 3
Nr. 16. 18. 239. 30. 31.) Ihr Symbolum ift nah Joſt (VE 39.): I. die Welt
ift erſchaffen. IL. Ueber fie Herrfcht ein unerfhaffener Schöpfer. III. Gott ift ge=
Faltlos und einig. IV. Mofes ift von Gott gefendet. V. Mofes hat von Gott
das Gefeg erhalten. VI. Der Gläubige muß das Geſetz in der Urfprache fennen
lernen, VI. Auch die übrigen Propheten find von Gott infpirirt. VII. Es gibt
eine Auferfiehung. IX. Es gibt eine Belohnung des Guten und Beftrafung des
Böfen, X. Goit hat die Unglüclichen nicht verworfen, er will fie nur beffern;
fie müffen fich täglich der Erlöfung dur den Meffias, den Sohn Davids, wür-
dig machen, — Ahron Ben Elia nimmt die Anfiht an, daß Jene, welche eben
ſo viel Gutes wie Böfes thaten, vernichtet werden. Ez Ehajim €, 112. ©,
205. — Die Lehre vom Meffias tritt im Syſteme des Ahron wenig hervor *),
gehört aber fiher zu den Faräifchen Glaubensartifeln, Elia Befhigi (+ 1490)
bat in feiner Darftellung des farätfchen Glaubens und Ritus (Adereth Elia, de
Roffi S,58) Hinlänglich davon Zeugniß gegeben. (Vgl. Trigland diatribe c. X.)
Für die neuere Zeit gibt das Munimen fidei (778 prın) von Trofi das be—
flimmtefte Zeugniß von der Erwartung des Meffias unter den Raräern (Ed. Wa-
genseil p.43.45.). Die Lehrer der Karäer heißen Chafam (Dan, d. i. der Weife);
fie erhalten ftatt der Cohanim den Löfepreis für die Erftgeburt (f. Jo ſt IX. 95,
und den Art, Erfigeburt), Mebrigens leben unter ifnen Männer, welche fich
der Herkunft von Levi und Ahron rühmen und diefelbe durch Stammregifter zu
beweifen ſuchen (daſ. vgl. d. Art. Cohen). Ueber das Ritual und Gebet- und
Bortragswefen belehrt und Zung: „Ihre heutige Gebetordnung, in der felbft
manches rabbinifhe Stück einen Plag gefunden, ftammt aus den Testen Jahren
des 13ten Säculums, und ihre meift aus Bibelverfen zufammengefegten Gebete
ſind feit etwa 700 Jahren mit vielen poetifchen Zuthaten genannter und unge=
nannuter Autoren bereichert worden. Sie vollenden den Pentateuh in einem ein-
jährigen Eyflus, aber nach einer von der rabbinifchen abweichenden, einem Schü-
ler Anand zugefchriebenen Ordnung .... Die zur Thora Gerufenen Iefen zu»
weilen felber aus der Schrift vor; die Haftara’s find compilirte Bibelabfchnitte,
fie werden bei den Gemeinden in Polen und der Krim in der tatarifchen Sprache
gelefen. .... Bei Familienfeierlichfeiten, am Sabbat und fonft einige Male wer—
den religiöfe Vorträge gehalten, und wie bei den übrigen Juden heißt ein folder
Redner „Darfhan.” S. gottesdienftl. Vorträge S. 426. [Yaneberg.]
SKarantanen, f. Kärnten,
Sardinal, f. Cardinal.
SKarena (Carena, Carrina) ift eine vom Bifchofe oder Kloftervorftande
- größern Sündern auferlegte vierzigtägige Bußzeit, während welder der Gläu—
bige ein firenges Faften einhalten mußte, nur Brod und Waffer genießen durfte,
ja mitunter fogar eingeferfert wurde. Im Mittelalter wurden manchen Ehriften
- fünfzig, Hundert und noch mehr Karenen ald Buße auferlegt. Der Name „Carena*
leitet fih entweder von Quadragena ab, oder ift fynonyın mit Garentia; im erftern
Falle deutet er die vierzigtägige Dauer der Bußzeit, im zweiten die große Strenge
an, vermöge der ein Büßer fich faft aller Genüffe zu enthalten (Carere) hatte,
Bol. das Gloffarium von Du Cange.
Karg, Georg, Gegner der Iutherifhen Imputationslehre, ge—
boren 1512 zu Heroldingen in Graubündten, wurde 1538 in Wittenberg Ma-
Hifter und im darauffolgenden Jahre von Luther und Melanchthon zum Prediger
in Dettingen ordinirt. Obwohl vorherrfchend der melandthonianifhen Richtung
angehörig, benahm er fih doch zur Zeit des Interims als eifriger Lutheraner,
wurde von Dettingen vertrieben und fam als Pfarrer nah Schwabach, als wel-
=) Deligf rolegom. S,XL Die Karäer beten fleißig für die Abgeftorbenen.
er all 9 * —
32 Karl — Kärnthen.
eher er an der Spige mehrerer Prediger flund, die fih einem in Rückſicht auf dag
Snterim der Agende beigegebenen „papiftifchen” Anhang widerfegten. Bon Schwa-
bach Fam er 1553 als Paftor nah Ansbach und wurde Generalfuperintendent
über das Fürſtenthum Baireuth. Er farb 1570. Karg ftritt nicht bloß gegen
das Interim (ſ. d. 4). In feinem für die Ansbacher Gemeinde verfaßten Ka—
techismus laßt er die Frage thun, „ob Chrifti Leib, indem er geiftlih genoffen
wird, in den Magen komme?” und antwortet darauf „Nein,“ Darüber zerfiel
er mit dem Dechant Tettelbach von Ansbach und entfpann ſich eine Teidenfchaft-
liche Controverfe, verftärft durch Hilfstruppen auf beiden Seiten, Bon viel
größerer Bedeutung ift, daß er gegen die Intherifche Imputationslehre in die
Schranken trat, wie fie fih zur Zurechnung auch der activen Gerechtigkeit
Chriſti fortgebilvet hatte, d.h. gegen die Lehre, dem Menfchen werde Chrifti
perfönliche Geſetzerfüllung und Gerechtigkeit als etwas flatt feiner Geleiftetes
dergeftalt zugerechnet, als ob er felber das ganze Geſetz auf's Volffommenfte er-
fülft Hätte, wenn er e8 auch nicht bloß nicht erfüllt, fondern theilweife oder auch
ganz und gar übertreten und dagegen gehandelt hätte, Mit Recht trat Karg gegen
diefe unbiblifche und antinomifche Lehre auf; nur das könne man mit Wahrheit
fagen, daß uns der Gehorfam, die Gefegerfüllung Chrifti zu unferer Erlöfung
gefchenft werde, d. h. eine verdienftlihe Kraft habe, und dadurch auf unfer
Verhältniß zu Gott und unfere Erneuerung einwirfe, aber uns nicht der Pflicht
enthebe, felber fromm und gerecht zu fein, Gegen Kargs Doetrin erhob zuerft,
und zwar mit großer Heftigfeit öffentlich von der Predigtfanzel herab der Pre-
diger Ketzman in Ansbach 1569 großes Gefchrei und bewirkte, daß der Marf-
graf zu Kargs Befehrung einige Wittenberger Theologen fommen ließ, die jedoch
nichts ausrichteten. Und nun Fam es fo weit, daß mehrere proteftantifche Fürften
dem Markgrafen zufchrieben, er folle den Irrlehrer ftrafen, und daß das gefammte
proteftantifche Teutfchland Kargs Ketzerei verabfheutel Karg fah jegt wohl, wie
ihm nur die Wahl zwiſchen Abfegung oder noch Schlimmerem und Widerruf übrig
blieb; ex widerrief alfo. Die nächſte Folge diefes Streites war, daß die Iuthe-
rifche Smputationslehre in der Eoneordienformel nur defto forgfältiger und ge-
nauer ausgeprägt wurde; fpäter jedoch fand Kargs Anficht bei einigen caloinifhen
Theologen Eingang. Um die Darftelfung diefes Streites hat ſich Döllinger in
feinem Werfe: die Reformation, ihre innere Entwidlung ꝛc. beſonderes Verdienſt
gefammelt; f. dafelbft Bd, II. ©, 556 ze, und Anhang S, 15 0, [Schrödl,]
Karl, f. Carl.
Karl von Borromäp, ſ. Borromäus.
Karlitadt, ſ. Carlftadt.
Karmeliterprden, f. Carmeliterorden,
Karneval, f. Faſtnacht.
Kärnthen, i. e. bier das alte Rarantanien, Chriſtenthum und Bis—
thümer daſelbſt. Die Länderftrihe, in welche die Karantaner-Slaven feit der
erften Hälfte des fiebenten Jahrhunderts eingewandert waren, und welde das
jeßige Rärnthen, Steiermark und Krain umfaßten, hatten fehon zur Römerzeit
das Licht des Evangeliums, vorzüglich von Aquileja her, empfangen, allein der
Sturm der Völferwanderung und die Beſitznahme diefer Gegenden durch bie
heidnifchen Rarantanen machten eine zweite Belehrung nothwendig. Schon vor
der planmäßigen Chriftianifirung der Karantanen durch ihre Berührungen mit
Bayern und der Salzburger Kirche hatte der hl. Amandus (f. d. A.) einen, wie=
wohl vergeblichen, Verſuch gemacht, unter ihnen das Chriſtenthum zu verbreiten,
und nachher foll der HL. Rupert, Apoftel der Bayern (f, den Art, Bayern wird
hriftlich), das Bekehrungswerk begonnen haben, Bedeutender und größer wur-
den die Erfolge feit Mitte des achten Jahrhunderts, Als nämlich die Avaren
({. die Art, Ab aren, Hunnen) den Rarantanen unter ihrem Herzoge Boruth
Kärnthen. 33
ſtark zufegten, fuchten die legtern bei den benachbarten Bayern um 748 um Hilfe
nad. Die Bayern famen, befiegten die Avaren, unterwarfen Rarantanien der
fränkiſchen Herrfchaft und Fehrten mit Geißeln der Karantanen nah Bayern
zurück. Unter den Geißeln befanden ſich Cacatius, Sohn, und Chettimar, Neffe
des Herzogs Boruth, welcher beide im chriſtlichen Glauben erzogen wiffen wollte,
wie auch geſchah, indem beide Prinzen zu Salzburg oder Chiemfee (f. den Art,
Ehiemfee) chriſtlich unterwiefen und getauft wurden. Nah Boxuth's Tod 750
warb der bereits Chrift gewordene Cacatius, welchen die Karantanen fih zu
ihrem neuen Fürften erbaten, von den Bayern in die Heimath zurüdgefandt, wo
er ſchon 753 ftarb, ohne daß man weiß, was er unter den Seinigen für das
Chriſtenthum gethan. Dem Cacatius folgte in der Regierung Boruths glaubens-
eifriger Neffe Chettimar, dem bei feiner Nüdfehr aus Bayern nah Raran-
tanien der Salzburger Priefter und Vorſteher der Inſel Chiemfee, Lupo mit
Namen, Chettimars Taufpathe, den Presbyter Majoran, feinen Neffen, mitgab,
Ehettimar nun nahm fih um die Befehrung feines Volkes mit allem Ernfte an,
Nachdem die Hriftlihe Religion bereits bedeutende Fortfhritte gemacht, erfuchte
er den Bifhof Virgilius von Salzburg (ſ. d. A), zur Stärkung der Ehriften
im Glauben perfönlih nah Karantanien zu fommen, Statt feiner ſchickte Virgil
den Chorbifhof Modeftus mit vier Presbytern, einem Diacon und mehreren
niedern Elerifern, und ertheilte ihm die Vollmacht, Kirchen und Geiftlihe zu
weihen. Unter den Kirchen, die auf diefe Weife entflanden und von Modeftus
geweiht wurden, werden ausdrüdlich genannt: die Kirche der hf. Maria (wahr-
fheinlih Mariaſaal, nicht weit von Klagenfurt), die Kirhe zu Liburnia (wohl
Ziburnia, ehemalige Hauptftadt von Noricum), und die Kirhe zu Undrimä,
Modeftus ftarb bald und wird noch Heute als Apoftel Kärnthens verehrt; die ihm
nad Rarantanien mitgegebene Geiftlichfeit Fehrte nach feinem Tode nah Salz—
burg zurüf, Neuerdings erfuchte aber Chettimar den Birgilius, in eigener Per-
ſon nad Karantanien zu fommen, diefer fohlug jedoch die Bitte abermals ab,
denn eine Empörung war bei den Rarantanen ausgebrochen, wie es fcheint, wegen
des Chriſtenthums, deffen allfeitige Einführung einem Theile der Karantanen
verhaßt war, Einen Priefter aber fendete Virgil doh ab, und nach gedämpftem
Aufruhr noch ein Paar andere. Mit Chettimars Tod (+ 769) brach der Auf«
fand mit verflärfter Macht hervor, und in Folge deffen befand fich einige Jahre
gar Fein Kriftliher Miffionär im Lande, Endlich wurden die Empörer von dem
Bayern-Herzog Taffilo im J. 772 überwältiget, und feitdem nahm die weitere
Verbreitung des Chriftenthums einen ruhigeren Verlauf. Der neue Fürft Wal-
tung bat bei Virgil wieder um Priefter und Geiftlihe und erhielt fie. — Nah
dem Tode Virgils (+ 784) vollendete Bifchof Arn von Salzburg (f. d. A.) und
deffen Nachfolger Rarantaniens ChHriftianifirung. Auch Arn ſchickte Priefter zu
- ben Rarantanen und den benahbarten SIaven: unter den letztern verſteht
Kopitar die übrigen Slaven „qui e Norico releguntur per totam Pannoniam“ mit
Ausnahme des heutigen Slavoniens und Sirmiums an der untern Drau, und
zum Theil auch der carniolifhen Slaven, welch’ Iegtere von Aquilefa aus bekehrt
worden find, Hatte früher Herzog Chettimar, der fogar alljährlih aus Andacht
die Kirche zu Salzburg zu befuchen pflegte, die Sache des Chriftentfums mächtig
gefördert, fo eiferte jegt Herzog Ingo dafür (in der Taufe etwa Domitian ge=
nannt? f, Hanfiz Germ. s. II, 104). Allgemein wegen feiner Klugheit und Ge-
rechtigkeit Hochverehrt, ließ Ingo felbft Knechte, wenn fie Chriften waren, mit
fih an der Tafel figen und in goldenen Gefäßen bedienen, während er ihren
heidnifhen Herrn außerhalb des Speifefaales Brod, Fleifh und Wein in
ſchlechten Geſchirren auf die Erde hinfegen-Tieß, weil fie gleicher Ehre mit den
Ehriften unwürdig wären, Dadurch bewogen, wendeten ſich viele von den Vor—
nehmern der hriftlihen Religion zu. Um diefe noch mehr in Aufnahme zu brin-
3
Kirchenlexikon. 6. Bd.
34 Kärnthen,
gen, ging Biſchof Arn felbft, nachdem er 798 das erzbiſchöfliche Pallium empfan-
gen, auf Geheiß Carls des Großen in das Gebiet der Karantanen und nad
Niederpannonien, um zu predigen und das Kirchenwefen zu ordnen, namentlich
auch bei den aus Carls fiegreihen Schlachten noch übrig gebliebenen Hunnen ;
andererfeit$ legte Carl ſowohl im materiellen als im hriftlichen Intereffe im vor⸗
maligen Avaren- oder Hunnenreiche nicht nur, fondern au in Rarantanien zahl-
reiche teutfche, vorzüglich bayerifhe Eolonien an, worin ihn feine Nachkommen
nachahmten. Aus Karantanien und Pannonien zurücgefehrt, ftellte Arn dem
König vor, es könnte in jenen Öegenden mit großem Erfolg für das Chriften-
thum gewirkt werben, wenn Jemand an Ort und Stelle die Sache recht ernftlich
betriebe, und fchlug einen hiefür tüchtigen Mann in der Perfon des Priefters
Theoderich vor, den Arn mit Carls Bewilligung zum Bifchof weihte und mit
der Verwaltung des bifchöflichen Amtes im Namen der Erzkirche von Salzburg
bei den Slaven in Karantanien und Niederpannonien beauftragte, Was übrigens
in Virgils und Arnd Tagen auch durch die Einflüffe des zur Römerzeit durchaus
riftlihen Bodens und von Seite der Kirche von Aquilefa für Karantanieng
Ehriftianifirung gefihah, weiß man zwar des Nähern nicht, weil der um 873 von
einem Salzburger Geiftlihen verfaßte Bericht über die Befehrung der Karan—
tanen und der benachbarten Slaven nur die Thaten der Miffionäre von Salzburg
aufführt, allein ficher ift auch von daher beigetragen worden; darauf mag auch
der Streit zwifhen Erzbifchof Arn und dem Patriarchen Urfus von Aquileja über
das Didcefanreht in Karantanien hindeuten, obgleih Aquileja fein Recht nur
auf das frühere Beſitzthum vor dem Einfall der Longobarden fügte. Diefen
Streit entfchied Kaifer Carl im J. 810 dur die Beftimmung, daß die Drau die
Grenze zwifchen beiden Sprengeln bilden follte, Bon Paffau aus ſcheint zwar
nicht für die Belehrung der Rarantanen gewirkt worden zu fein; aber den Slaven
und Hunnen in Niederpannonien predigte ſchon feit 805 Bifchof Urolf von Paſſau;
über die daraus und wegen des Metropolitanrechtes entftandenen Controverfen
zwifchen den Bifchöfen von Salzburg und Paſſau f. die Art, Bayern, GSalz-
burg, Paſſau. — Nah Arns Tod (+ 821) fendete deffen Nachfolger Erzbifchof
Adalram an die Stelle des verftorbenen Bifchofs Theoderich den Biſchof Otto,
und Erzbifchof Liupram fohickte nach Otto's Tod (4 853) den Bifhof Oswald
als feinen Stellvertreter nach Rarantanien und Slavonien. Al aber Oswald im
J. 865 mit Tod abging, ftellte Erzbifhof Adel win feinen ſolchen Vicebiſchof
mehr auf, wahrfcheinlich weil fih das Unterordnungs-Verhältniß diefer Bifchöfe
unter die Erzfirche Salzburg etwas gelodfert hatte (ſ. Decret. Grat. p. I. dist. 50.
c. 6. u. 39) 5 ftatt deffen übertrug Adelwin die bisher von den Vicebifchöfen ge—
führte Oberaufficht in der Eigenfchaft eines Archipresbyters dem in jeder Kunft
und Wiffenfchaft ausgezeichneten Priefter Altfrid. Dagegen dauerten bie, man
weiß nicht gerade feit wann, auch in Norbfarantanien von den Salzburger Erz-
bifchöfen aufgeftellten Bicebifchöfe noch im zehnten Jahrhundert fort, hörten aber
dann hier gleichfalls auf, — Eine wichtige Veränderung traf Erzbifchof Geb-
bard, Er errichtete zum Behufe einer befferen Paftorirung im J. 1072 das
Bisthum Gurf (ſ. d. A) und vereinigte Damit das Generalvicariat über Kärn—
then und Steiermarf, Dabei blieb es bis zum Jahr 1217, in weldem Er z—
bifhof Eberhard II., nachdem er das Bisthum Chiemfee errichtet hatte (f. den
Art. Chiemfee), den Grund zur Errichtung des Bisthums Seckau in Steier-
marf legte. Zum Site diefes Bisthums beſtimmte Eberhard II. das Chorherrn-
ftift zu Sedau, deffen Kirche die Cathedrale und deffen Conventualen zugleich die
Domcapitularen des neuen Bisthums wurden, Kaiſer Friedrich II. und Papft
Honorius III. beftätigten die Stiftung, und jener geftattete zugleich, daß der jedes-
malige Bifchof von Serau gleich den Bifchöfen von Gurk und Chiemfee, un-
gearhtet ihrer befondern Abhängigfeitsverhältniffe von der Erzkirche Salzburg (ſ.
Kärnthen. 35
Chiemfee), zum Prälaten- und Fürſtenſtande des Reiches gehören ſollten. In—
def fowie das Bistyum Gurk, fo war auch das von Sedau von einem geringen
Umfange und enthielt Anfangs nicht mehr als fieben Pfarreien; dazu Fam aber
das Generalvicariat über Steiermark, weldes jegt vom Bisthum Gurf abge-
trennt und auf Sedau übertragen wurde. Zum erſten Biſchof von Seckau ward
Carl, ehedem Propſt des Chorherrnftifts zu Frieſach, eingefegt, der dem Bis⸗
tum 1219—1231 rühmlich vorftand. Zu diefer Stiftung fügte Erzbifchof Eber-
hard bald eine neue. Er ftiftete im 3. 1228, um eine noch beffere Verwaltung
der Salzburger Didcefe befonders in dem fehr gebirgigen Kärnthen zu bewirken,
auch no das Bisth um Lavant mit dem Sige zu St. Andrä im Lavantthale,
und vereinte damit das Generalvicariat über Kärnthen, welches jedoch nicht immer
mit avant verbunden blieb, fondern je nach Gutbefinden der Erzbifhöfe von
Salzburg bald dem Bifhofe von Gurk, bald und im 16ten Jahrhundert immer
dem Biſchof von Lavant übertragen wurde. Der füdlihe Theil des alten Karan-
taniens (ein Theil von Kärnthen und Steiermark und ganz Krain), der durch Carl
d. Gr. der Didcefe Aquileja zugefprochen worden war, blieb zum Theil bis auf
die neuere Zeit bei diefer Didcefe, zum Theil aber fam er an die unter Aquileja
ftehenden Bisthümer Laibah und Trieſt. Das Bis thum Laibach errichtete
Raifer Friedrich IV. im J. 14615 zu deffen Ausftattung wurde das Benedictiner-
Hofter Dberburg im dermaligen Eillierfreife verwendet, und zum Sprengel die
Stadt Laibach nebft mehreren Pfarreien beftiimmt. Das Bisthum Trieſt bes
ftand fchon vorher, ehe Trieft an das Haus Deftreich gelangte, was im J. 1382
geihah. — Diefe Diöcefaneintheilung des alten ehemaligen Karantaniens (der
nachherigen Herzogthümer Kärnthen, Steiermarf und Krain) erlitt in neuerer
Zeit verfchiedene Aenderungen, Um die öfter zwifhen Venedig und Deftreich aus-
gebrochenen Zwiftigfeiten betreff$ der Ausübung des Ernennungsrechtes auf den
Patriarchenftugl Aquileja zu befeitigen, erklärte Papft Benediet XIV. im Einver-
fländniffe mit beiden Regierungen das Patriarchat für aufgehoben, und errichtete
ſtatt deffelben zwei Erzbisthümer, eines zu Udine, weldes den venetianifchen,
und das andere zu Gdrz im öftreichifchen Friaul, welches den öſtreichiſchen An-
theil der Patriarchatsdidcefe unter fih befam und deffen Suffragane die Bifchöfe
von Laibach und Trieft wurden, Ferner, dur Vertrag dd. 17. Mai 1786 zwi-
fhen Raifer Joſeph I. und Erzbiſchof Hieronymus Colloredo von Salzburg trat
Salzburg feine bifhöflihen Rechte in Steiermarf und Kärnthen an die Bi-
{Höfe von Gurf, Lavant, Seckau und das neu zu errichtende Bistum Leoben ab,
behielt aber die Metropolitanrehte über alle Bifchöfe in Steiermark und
Kärnthen, und überdieß das bisherige Ernennungs- und Confirmationsrecht auf
die Bisthümer von Seckau und Lavant für jeden und auf das Bisthum Gurf für
den dritten Erledigungsfall dergeftalt, daß der Erzbifchof jedesmal eine dem
Landesfürften genehme Perfon für Gurf ernennen follte. Für das neue Bisthum
Leoben in Steiermark, dem das unfern der Stadt Leoben gelegene aufgehobene
Nonnenftift Göß zum Sie beftimmt wurde, und deffen erfter Bifchof, Alerander
Graf Engel, im J. 1786 den bifhöflichen Stuhl beftieg, wurde dem Landes-
herrn das Ernennungsrecht, dem Erzbifhof von Salzburg aber das Beftätigungs-
recht zugefprochen, In Folge diefes Vertrages wurden die Diöcefanfprengel be=
deutend verändert, Görz auf einige Zeit zu einem einfachen Bisthum herabgefegt,
und behielt zwar das Bistum Seckau feinen alten Namen fort, allein der Sig
deffelben wurde nah Gräß verlegt. Ingleichen refiviren die Gurfer Bifchöfe
dermalen auch nicht mehr zu Gurk, fondern zu Klagenfurt. Die Leobener Did-
ceſe wird fchon feit Tängerer Zeit von den Bifchöfen von Sedau als Bisthums—
verweſern abminiftrirt. Wie der Erzbifhof von Salzburg haben noch jest auch
die Biihöfe von Gurf, Seckau, Lavant und Laibah den Titel und Rang von
Fürſten der öſtreichiſchen Monarchie. — S. den Salzburger Serigt über die Be⸗
: 3
36 Karo — Karpokrates.
fehrung der Karantanen und benachb. Slaven in Kleinmayrns Juvavia und
Kopitars Glagolita Clozianus, Vindob. 1836; Hanſiz, Germania sacra t. 11;
Klein, Geſch. des Ehriftenth, in Deftreih und Steiermark, Wien 1840— 1842,
Bd. J-VII; Muchar, Gefhihte des Herzogthums GSteiermarf, BB. 2, Gräg
1844— 1845; Tangel Karlmann, Reihe der Biſchöfe von Lavant-Rlagenfurt,
1841 ır, [Schrödl.]
Karo, Joſeph, ſ. Schulchan Aruch.
Karpokrates (Karpokras), aus Alexandrien gebürtig und gewöhnlich unter
die ägyptiſchen Gnoſtiker (ſ. d. A.) gerechnet, lehrte etwas ſpäter als Satur—
ninus und Baſilides (ſ. d. A.) unter der Regierung des Kaiſers Hadrian.
Ueber ihn berichten Irenäus (contra haeres. I. 25.), Epiphanius (haer. 27.),
Theodoret Chaer. fabb. I. 5.), und zwar beide offenbar nach Irenäus; ferner Clemens
v. Aler. (Strom. II. 2.), Zertullian (de praeser. 48) und Eufebius (hist. eccl.
1.IV. c. 5.). Es bleibt jedoch ſchwer, aus diefen Berichten ein ficheres und kla—
res Bild feiner Härefie zu gewinnen; darum weichen auch die Darftellungen der—
felben bei den neuern und neueſten Schriftfiellern bedeutend von einander ab
(gl. z. B. Katerkamp, Kirchengeſch. I. 198 mit Maffuet dissert. praeviar.
in Irenaei libros contra haeres. diss. I. art. Carpocrates, und Fuldner de Carpocra-
tianis in Ilgens hiſt.theol. Abhandl, Leipzig 1824, S. 180—190 mit Mos—
beim de rebus Christianis ante Constantinum M. commentariis. Helmstad. 1753.
p. 363 u, sqq.). Karpofrates Tiebte die platonifche Philofophie, in welcher er
auch feinen Sohn Epiphanes gründlich unterrichtete. In feinem Syfteme finden
fih mehr platonifche Ideen, als bei den übrigen Gnoftifern, von denen er au
in der Erlöfungstheorie völlig abweicht, Hieher gehört die Annahme der Prä-
exiftenz der Seelen, der höhern Erfenntniß als Reminiscenz aus einem frühern
bimmlifchen Dafein, der Seelenwanderung u. f. w. — Der Urgrund des AL,
oder das ewige, unerfchaffene, unausſprechliche Urwefen ift nach Karpofrates das
Lichtprineip als die Einheit (7 uovas), welche fich nicht unmittelbar in der Sin—
nenwelt offenbart, fondern erft in mancherlei Abftufungen durch Emanation (ſ.
d. A.) alle Wefen aus fich hervorgehen laßt, und zwar zuvörderſt die höheren
geiftigen Naturen, und fodann die von diefen getrennte fubaftralifche Welt, den
Wohnort der Menfchen, welcher unmittelbar an die niedrigfte Aeonenſtufe grenzt,
von diefer (ayyskoı zoouorsorol) hervorgebracht ift, und auf welchem jeder die-
fer Weltgeifter an dem Orte verehrt wird, den er gebildet hat, woher denn auch
die Mannigfaltigfeit der Sitten, Gefege und Volksreligionen ſich erklärt. Der
Menſch Hat eine einzige Seele, welche in den obern Räumen erzeugt und im Leibe
wie in einem Kerfer eingefchloffen ift, aber die Begierden von Gott felbft ein-
gepflanzt erhalten Hat. Gleichwie im Gange der Emanation die göttliche Einheit
fih in mancherlei von diefer gleichfam abfallende Aefte und Zweige fpaltet, fo
firebt umgekehrt das Al wieder zur Einheit und Gemeinſchaft; aber die welt-
bauenden Engel hindern diefes Streben bei ven Menfchen durd religidfe Sapun-
gen, deren Spige das jüdiſche Gefeg ift. Einzelnen Dienfchen gelingt es aber,
fich über die Herrfchaft der Demiurgen zu erheben, indem in die aus dem Ple-
roma flammende Seele die göttlich erwedte Erinnerung an einen verlorenen, vor—
irdifchen und feligen Zuftand tritt, und diefe fich in die göttliche Einheit zurüd-
verfenft. Die Vollklommenheit der Gnoſis (yvwoıs wovadırn bei Clemens v.
Alex. genannt) befteht eben darin, daß der Menſch, über die Diannigfaltigfeit der
Sndividualität und des Volksthums zur Einheit und Gemeinfchaft zurückkehrend,
fih in die Monas verfegt und zugleich ſich über die befchränkten Anfichten des
gemeinen Haufens und ihrer religiöfen Culte zur Verehrung des wahren Gottes
erhebt. Wer einmal zu diefer Vollfommenheit der Erfenntniß gelangt ift, dem
find die beftehenden Grundfäße von Gut und Böfe, von Recht und Unrecht ge—
yingfügig geworben; ihm iſt das Eigenthum aufgehoben und felbft die Weiber
Karpofrates. 37
find gemeinfchaftlih; und indem er fi über die Verehrung der Nativnalgötter
verfegt, befiegt er diefe, erwirbt die Wundergabe, gelangt zu unerfchütterlicher
Ruhe, worin Feine finnliche Affeetion, felbft die freiwillig angeweckte und zu-
gelaffene, ihm nicht flören kann. Die Gerehtigfeit (Hei dızauoovvn) befteht
alfo auch nicht in den Werfen, fondern in Liebe und Glauben, das ift, in der
Hingabe an jenen großen Zug der Einheit, vor dem jedes Fürfihhaben und Sein
fhwinden muß, und wo die Erhebung über alle Gefege und Sitten und über
alle befchränfenden Religionen — die hriftlich-pofitive felbft nicht ausgenommen —
Yediglich als eine Erhebung über alles Irdiſche gilt. Diefe Erhebung, welde zu-
gleich die höchſte Seligfeit mit fi bringt, ift allen Menſchen vermöge gleicher
Anlage und Beftimmung möglid, Zur vollfommenen Gnofi$ haben fih vor allen
Andern Plato, Pythagoras und Jeſus, welcher das jüdiſche Gefeg umſtieß, er-
hoben; deßhalb wurden ihre Bilder und Statuen in den religiöfen Berfammlungs-
orten der Karpokratianer aufgeftellt und mit heidnifch-religiöfem Culte verehrt,
Das Bild Zefu follte von Pilatus herrühren, welcher bei Lebzeiten des Erlöfers
ein folches habe anfertigen laſſen (f. den Art, Chriftusbilder). Aus diefer
Zufammenftellung des Heilandes mit den griechifchen Weifen und aus den früher
entwicfelten Anfichten des Rarpofrates gebt deutlich hervor, daß diefer in Jeſu
keineswegs eine erclufive und präeminente Offenbarung des göttlihen Pneuma
angenommen, fondern daß er vielmehr das Chriftentbum und Heidenthum als in
einem höhern Sinne mit einander identifh betrachtet habe. Ja Jefus galt ihm
als ein Teibliher Sohn Joſephs und der Marin, als ein bloßer Menfch, welcher
Tediglich durch feinen Lebenswandel, durch feine Nüchternheit und Gerechtigkeit
die übrigen Menfchen übertroffen habe, weil in feiner reinern und ftärfern Seele
die Erinnerung an ihren frühern Umgang (regıpoog) mit der ewigen Monas
durch eine eigene, ihm zugefendete göttliche Kraft befonders Iebendig geworden,
und weil ihm fomit die Berfenfung in die Monade durch die Erhebung über den
Nationalgott der Juden in vorzügliher Weife gelungen fei, obwohl er von Ge-
burt ein Jude gewefen. Die Verbindung mit der Monas habe ihm denn auch zur
der Wundergabe verholfen. Mit allem diefem fei aber noch Feineswegs gefagt,
Daß es nicht auch andere Menſchen Jeſu in der Gnofis und in dem Wunderwirfen
gleihthun, ja ihn fogar übertreffen können. Der Umftand, daß Karpofrates nad
dem Berichte des Irenäus die vorzüglichere Erleuhtung des Heilandes von einer
befondern von der Monas ihm zugefendeten Kraft Herleitete, Hat Mosheim
d. c. ©. 363— 367) zu der Anſicht geführt, daß Karpofrates eine Bereinigung
des Aeons Chriftus mit dem Menfchen Jeſus angenommen babe, eine Anficht,
welche eben fo wenig ftihhaltig fein dürfte, als die Hypotheſe deſſelben Verfaf-
fers über die von Clemens und Epiphanius berichtete Apotheoſe des jugendlichen
Epiphanes in Same (S. 370 1. c., vgl. Neander, Kirchengeſch. 1. Bd. 2. Abt,
1. Ausg. ©. 511). Bei diefer Lehre von der Perfon Ehrifti Fonnte Karpofrates
in diefem natürlich nicht den Erlöfer im hriftlihen Sinne erfennen; er galt ihm
höchſtens als ein Lehrer, welcher die Menfchen vom Gögendienfte erlöste; den—
noch legten die Karpofratianer nah Epiphanius (I. c.) einen großen Werth dar-
auf, als Chriften zu gelten, obwohl fie nach Irenäus (I. c.) eben fo gerne fi
Gnoftifer nannten. Die Auferftehung des Fleifches konnte dem Karpokrates kei—
neswegs als annehmbar erfcheinen, und eben fo confequent verwarf er das alte
Teftament; vom neuen Teftamente aber dachte er in foferne geringfügig, als er
eine von diefem abweichende Geheimlehre Zefu annahm; in feiner Lehre von der
Seelenwanderung beruft er ſich aber ausdrüdlih auf Matth. 5, 25, — Die an-
ſcheinend ideale Auffaffung der Lebensaufgabe des Menfchen und der Charakter
der Einheitslehre, welche für die Erklärung des fittlih Böfen an und für fi
eine Lücke laffen muß, weil diefes aus der Monas nicht abgeleitet werden Fann,
hatte die nämlichen traurigen Folgen für das practifche leben, wie die moniftifchen
38 Karpofrates.
Lehren der Gegenwart, Die Lehre von der Gleichgültigfeit der Handlungen emt-
pfiehlt naturgemäß die Sünde, und der theoretiſche Antinomismus (ſ. d. A.) hat
den practifchen zum unausweichlihen Begleiter, felbft abgefehen davon, daß die
falſche Theorie eben fo oft ihre Wurzel in dem verborbenen Herzen als in dem
verfchrobenen Kopfe hat, Die fittlichen Verirrungen der Karppfratianer über-
fliegen nach den älteften Berichten alles und jedes Maß, und das fehauerliche
Bild, welches Epiphanius Chaer. 26) von den Gräueln einzelner gnoftifcher Serc-
ten entwirft, zunachft der Borborianer (ſ. d. A.), dürfte auch von den Kar-
pofratianern gelten, Nach Irenäus Hatte Karpofrates die Sünde geradezu be-
fohlen, und eine Seelenwanderung gelehrt, zu der die Menſchen fo lange von
dem oberſten weltbauenden Engel verdammt würden, bis fie alle Lafterarten aus—
geübt hätten; ein Demiurgos macht bei diefem Verdammungsurtheile den An-
kläger. Nur jene Seelen, welche bei ihrer erften Erfeheinung im Sleifche alles
Gelüſte vollzogen hatten, bevurften Feiner neuen Verförperung. Die angeführte
Intervention der Demiurgen bei der Seelenwanderung bringt übrigens einen
auffallenden Widerfpruch in das Syflem des Karpofrates. Bei den religiöfen
Berfammlungen der Karpofratianer wurden Zauber- und Liebestränfe bereitet,
und alle Arten von Unzucht bei ausgelöfchten Lichtern verübt, Den Einzumeihen-
den wurde am rechten Ohre ein Zeichen mit einem Eifen, Scheermeffer oder einer
Nadel eingebrannt. Die fittlichen Gräuel der Karppfratianer gaben den Heiden
eine willfommene VBeranlaffung zur VBerläumbung des Wandels der erften Chriften,
Ihre Secte breitete fih in Aegypten und felbft bi8 nach Nom aus; denn hier trat
unter Papft Anicetus (157—168) eine gewiffe Marcellina mit ven Lehren des
Karpofrates auf, Wenn die in neuerer Zeit in Aegypten aufgefundenen zwei
phönieifch-griechifchen Infchriften wirklich nur von Rarpofratianern, und nicht auch
möglicher Weife von einer andern antinomiftifch-gnoftifchen Secte herrühren könn—
ten, fo würde die Secte der Karpofratianer noch im fechsten Jahrhunderte vor—
handen gewefen fein; gewöhnlich wird aber angenommen, daß fie ſchon im vierten
Sahrhunderte völlig verfchwunden feien (vgl. übrigens: Gesenii de inscriptione
phoenicio-graeca in Cyrenaica nuper reperta ad Carpocratianorum haeresin perti-
nente commentatio. Halae 1824). Zur Literatur über die Karpofratianer muß
hier noch angeführt werben: J. Fr. Hebenstreit diss. de haer. Carpocrat. Viteb.
1712. A. Bei unferer Darftellung wurden theilweife Kater kamp, Hafe und
Alzog benügt, — Epiphanes, der fhon oben angeführte Sohn des Karpo—
krates, trug nicht wenig dazu bei, die Lehre feines Vaters auszubreiten und fort-
zubilden, obwohl er nur 17 Jahre alt wurde, Bon ihm berichten Irenäus (con-
tra haer. I. 11.), Clemens v. Alex. (stromat. III. 2.) und Epiphanius (haer. 32).
In der Geburtsftadt feiner Mutter Alerandria zu Same auf der Inſel Cephalle-
nia erwarb ſich der gebildete und ‚feurige Züngling ein folches Anfehen, daß man
ihm nach feinem Tode einen Tempel erbaute und ihn durch eigene feftliche Zu—
fammenfünfte verehrte. Nach Irenäus (1. co.) hatte er die Lehre des Valentinus
in fofern weiter fortgebildet, als er eine noch höhere einfachere, das Wefen des
Bythos bezeichnende Tetras ftatuirte, Nach feiner Lehre ging allem Dafein die
Proarche (rrgowvevvonTog, EI6NTOS zul Kvovou@gos) vorher; diefe nannte er
Monotes (uovörnre). Mit ver Monotes zugleih war eine andere Macht die
Henotes. Diefe beiden Mächte erzeugen, indem fie eine Einheit bilden, das erſte
Grundprincip alles Dafeins, begreiflich zwar, aber urfprungslos und unfichtbar,
die Monas, mit diefer war eine ihr gleichartige Macht: das Eine (TO &v) ver-
bunden, Bon diefer Tetras emanirten alle übrigen Aeonen. Irenäus findet diefe
Tetras höchſt Tächerlih ; nach Maffuet (dissert. I. in Iren. art. II. nro. IL) ftehen
die platonifchen Ausdrücke: Monotes, Henotes, Monas und Hen nur parallel
zur Valentinifchen Tetras: Bythos, Sige, Nus und Aletheia, Epiphanes ſchrieb
ein Buch über die Gerechtigfeit (regt dinanıoodvng), aus welchem ein Fragment
Karthago — Kaftenvogt. 39
bei Clemens v. Aler, (I. c.) vorfümmt. Sein Begriff der Gerechtigkeit war ber
einer vollkommenen Freiheit und Gleichheit aller Iebenden Wefen in der Schö-
pfung. Aus diefem Begriffe und von der flärfern Geſchlechtsluſt der Männer
folgerte er die Gemeinfchaft der Weiber und die Verwerflichfeit aller die Be-
friedigung des Gefchlechtstriebes einfchränfenden Gefege, [Häusle,]
ns; ſ. Carthago.
Karthäuſerorden, ſ. Carthäuſerorden.
Kaſchau, Bisthum, ſ. Erlau.
Kaſimir, ſ. Caſimir.
Kaſtenvogt, ein mit der Adminiſtration des Kirchenvermögens betrauter
Beamter, deſſen Wirkungskreis zu verſchiedenen Zeiten verſchieden war. Solche
zur Adminiſtration des Kirchenvermögens eigens aufgeſtellte Beamte finden ſich
ſchon in den erſten chriſtlichen Jahrhunderten, in welchen die Biſchöfe noch die
unmittelbare Verwaltung des geſammten Kirchenvermögens in den Händen hatten.
Weil nun dieſes Geſchäft ſie zu ſehr in Anſpruch nahm und ſie an ihren höhern
Berufsgeſchäften hinderte, ſo ſtellten ſie ſogenannte Deconomen auf, welche unter
ihrer Oberaufſicht und Leitung das Kirchenvermögen verwalteten. Sie wurden
von dem Biſchofe aus ſeinem Clerus und zuweilen auch durch dieſen gewählt,
und waren ausſchließlich jenem verantwortlich, hatten jedoch eine ziemlich un-
abhängige Stellung und konnten nicht willkürlich, ſondern erſt auf den Urtheils—
fpru des competenten Firhlihen Gerichts abgefest werden. Das Eoneil von
Ehalcedon (451) machte die Aufftellung folder Deconomen jedem Bifchofe zur
Pflicht, und zwar fowohlaus dem bereits angegebenen Grunde, als auch in der Abficht,
das bifhöflihe Anfehen gegen argwöhnifchen Verdacht fiher zu ſtellen (c. 21.
€. XVL qu. 7.). Außer der Einnahme und Vertheilung der Firlichen Einkünfte
hatte der Deconom noch die weitere Aufgabe, Wittwen, Arne und Fremde in
feine befondere Dbforge zu nehmen und das Eigenthum der Kirche zu überwachen,
Nah dem Zeugniffe des HI. Iſidor von Sevilla fiel in feinen Berufsfreis auch
noch das Firhlihe Bauwefen, der Betrieb der Aerfer und Weinberge, fowie die
Vertretung der Kirche vor dem weltlichen Gerichte, Uebrigens ſcheint es, daß
diefes Amt ſchon Häufig in die Hände von Laien übergegangen war; denn auf der
zweiten Synode von Sevilla (619), auf welcher der HI. Iſidor präfivirte, wird
den Biſchöfen firengftens verboten, das Amt des Deconomen Laien zu übertragen
Ce. 22. €. XVI. qu. 7.). Als jedoch, befonders unter den fränfifchen Kaifern, die
Eirchlichen Einkünfte fih mehrten und die Verwaltung des Kirchenvermögens ein
fehr umfaffendes Gefchäft wurde, gelangte auch das Amt des Deconomen zu fehr
hohem Anfehen, fo daß derfelbe fi den Namen Archiöconomus beilegte und fogar
feinen Rang bisweilen unmittelbar nah dem Bifchofe und den Aebten und vor
dem Archidiacon einnahm. Allein gerade diefer ausgedehnte Gefchäftsfreis machte
mehrere Aemter nothwendig, die früher der Deconom in fich vereinigte. So
wurde namentlich für die Vertretung der Kirche bei dem weltlichen Gerichte ein
befonderer Beamter aufgeftellt, der fog. actor oder auch advocatus ecclesiae (f.
den Art, Kirchenvogt). Für die Verwaltung der bifchöflihen Einfünfte (mensa
episcopalis) dagegen wurde in der Regel ein eigener Beamter aufgeftellt, der
fogenannte Vicedominus, deffen Amt oft mit dem des Oeconomen identifch war,
Mit der Ausſcheidung und Sonderung des Kirchenvermögens, namentlich feit der
Auflöfung der vita communis, erſtreckte ſich der Gefchäftsfreis des Deconomen
bloß noch auf die Adminiftration des bifchöflichen Einkommens; er war nicht mehr
als biihöfliher Schagmeifter. Dagegen in der griechifchen Kirche Hat fih das
Amt deffelben in feiner urfprünglihen umfaffenden Bedeutung länger erhalten,
Sogar die Kaifer nahmen diefes Amt für fih in Anſpruch, bis im Jahr 1057
Iſak Comnenus den Patriarchen das Necht zur Wahl der Deeonomen wieder frei-
gab, Verſchieden von den Kaftenvögten im alten Sinne find die feit dem 1äten
40 Katahrefis — Katafomben.
Sahrhundert aufgeftelften Adminiſtratoren des zur Kirchenfabrik gehörigen Kirchen-
vermögend, die unter dem Namen Kaftenvögte, Heiligenpfleger, Kirchenväter,
Kirchenpröbfte (vitrici, jurati, provisores, magistri fabricae) befannt find. Sie
waren eigens hiefür beeidigte Männer aus der Gemeinde, deren Amtsführung
durch den Pfarrer oder Decan überwacht und die in Iegter Inftanz dem Bifchof oder
deffen Official verantwortlich waren (Trident. Sess. XXII. c. 9 de ref.). . Bergl,
Thomassin, vet. et nov. Eccl. discipl. II. L. U. cap. 1—12. Permaneder,
Handb, des kathol. Kirchenr, $ 726, und den Art. Defensor ecolesiae. [Rhuen.]
Katachrefis, zarayonoıs, abusio; man bezeichnet mit diefem Terminus in
der Rhetorik und Hermeneutif die Entlehnung eines Wortes für einen feinem Be-
griffe heterogenen Gegenftand, nach Quintil. VIIL. 6. 34. Die Nedeweife, quae
non habentibus nomen suum accommodat, quod in proximo est; 3. 8, lat. vires,
homines breves sunt, longum consilium, equum aedificant etc. Aus der Hl,
Schrift gehören dahin Ausdrudfsweifen, wie folgende: Beßnloöov To oaßParov
Cam Sabbath den Sabbath brechen), Matth. 12, 5. arnodnoavoldeın Feuskıor,
1 Tim, 6, 19. PAeseıw TV pwrıv, Apoc. 1, 12, Das Wort zuayyelıov in
Gal. 1, 6. als Benennung der faljchen Lehre, Katachreftifch find im neuteftament-
lichen Idiom auch viele griechiſche Wörter nicht nach ihrer nationalen Bedeutung,
fondern nad) der fpeciellen desjenigen hebräiſchen Wortes gebraucht, dem fie im
Allgemeinen entfprechen, fo adeApos, a@xon, dixauog, dıxauoovvn, 0408,
orseoue 0. Vgl. Wilfe, neuteftamentlihe Rhetorik, S. 118 ff.
Satafal£, |. Tumba,
Katakomben. Weit unter einem Theil des ehemals bewohnten Roms
ziehen fich, wie bei Syracug die Latomien, unter Paris die Steinbrüche, unter-
irdifhe Höhlungen durch, aus welchen einft die Puzzolanerde zu den Bauten der
MWeltftadt zu Tage gefördert wurde. Aehnliche finden fih in Brescia, Florenz,
Lucca, Spoleto, an manchen andern Orten, befonders mweitgebehnte, in jeder Be—
ziehung fehenswerthe zu Neapel unter dem großen Spital San Gennaro bei pp=
veri. In Rom erftreden fie fi in vielfachen VBerzweigungen unter den vormali—
gen appifchen, Yavicanifchen und präneftinifchen Straßen durch, was heutzutage
den Ratafomben von San Lorenzo, San Agnefe, San Sebaftiann und San Ca-
liſto entfpricht, Die Zahl der Martyrer, die in dieſen letztern beiden, verbun-
denen, beigefest find, wird nach der Infohrift über der Eingangsthüre in die—
felben in der Kirche von San Sebaſtiano auf 174,000 angegeben, worunter 46
Päpftez in dem Theil, welder von diefer Kirche den Namen hat, befanden ſich
die Ueberrefte des heiligen Petrus und Paulus, Die Sage gibt fämmtlichen
Katakomben eine Ausdehnung bis nah Oſtia. Gewißheit läßt fih hierüber nicht
erhalten, da Niemand allzumeit in diefes Yichtlofe, jo manches Gefährliche ber-
gende Labyrinth fi) wagen dürfte, Dieß find die arenariae, in denen nad) Cicero
in feiner Rede für Cluentius ein gewiffer Afinius ermordet wurde, Sie bilden,
mit Ausnahme einzelner erweiterter Stellen, Gänge in der Höhe doppelter Man—
neslänge, etwa vier Fuß in der Breite. Bon diefen unterirdiihen Schluchten
nahmen feit dem zweiten Jahrhundert unferer Zeitrechnung, vielleicht früher no,
die Chriften Roms Befis. Dahin flüchteten fie während der Verfolgungen, welche
mit kurzen Unterbrechungen unabläffig wider fie tobten, und hier hielten fie ihren
Gottesdienft. Um deffen geheimnißreihe Feier vor den Nachforfhungen der
Späher zu fihern, haben fie vermuthlich die hin und wieder darin vorkommenden
größern Räumlichkeiten ausgegraben, Diefelben ftellen noch heutzutage den un—
entwickelten Prototyp unferer Kirchen dar, zugleich in der Gefchiedenheit beider
Geſchlechter den hohen fittlichen Ernſt, welcher die Gläubigen jener Zeit durch-
drang. Da bildet die ausgezeichnetere Gruft, in welche der Biſchof beigefegt
worden, der in Befenntnif des Ola in Leben gelaffen, den jegigen Altar;
[der Feier der Oberhirte eingenom—
BRARY 2)
KRatafomben 4
men, von bem er die Weihen ertheilte, gegenüber derjenige des Diacon, der bei
der heiligen Handlung feinen Dienft verrichtet; da treten die unverfennbaren
Spuren der ertheilten Sacramente der heiligen Taufe vor Augen; da weifen in
einfacher Malerei, welche die zierlicheren Formen des Heidenthums verfchmäßt,
Sonas im Wallfifh, die Knaben im Feuerofen, Daniel in der Löwengrube, Iſaae
auf dem Holzftoß als eben fo viele Vorbilder auf den alltäglich drohenden Todes-
kampf und auf den unvergänglichen Sieg; da ermuthigt der gute Hirte, der das
verirrte Schaf auf den Schultern zurüdbringt, zur vertrauensvollen Hingabe,
und ftellt Mofes, der dem Felfen den Tebendigen Duell entfpringen läßt, den
Berfolgten und Ningenden zum Troft denjenigen dar, der fie in heißen Mühen
mit feinen Gnaden labt, die aus ihm, dem wahren Duell des Heils, in das ewige
Leben rinnen, In einem diefer Prototype unferer Kirchen, in den Ratafomben
von San Agnefe, wenn nicht den merfwürdigften, doch in neuefter Zeit den zu—
gänglichften und befuchteften von allen, fieht man die heilige Jungfrau, das Kind
auf dem Schooß Liegend, fie felbft mit aufgehobenen Händen, das unwiderleg—
lihfte Zeugniß, daß die ehrfurchtsvolle Anfchauung derfelben fo weit hinaufreiche,
als der Glaube an denjenigen, der, ewig und gleich mit dem Vater, menfhliche
Natur aus ihr angenommen hat. Kenner weifen mehrere der vorfommenden Bil-
der in die Zeit des heiligen Calixt hinauf, der in dem erften Jahrzehend des
dritten Jahrhunderts zum Oberhaupt der Kirche gewählt ward. Bon dem Ein-
druck, den diefe uralten Stätten der Bethätigung des chriftlichen Glaubens auf
den unverbildeten Befchauer jegt noch machen, fagt ein neuerer Befucher der-
felben: „Sie find nun hinausgezogen die Banner des Königs aller Könige, fie
flattern durch die Lüfte, fie wehen von Zinnen und Thürmen, und froh und ficher
fhaarft du dich zu dem ihnen folgenden Zuge; und dennoch fühlft du dich heimifch
in diefen engen Räumen, denn du ftehft an der Tugend ftrahlenden, an der Blut
getränften Wiege deines Geſchlechtes.“ Zugleich wurden die Katafomben die
Ruheſtätten der in Bezeugung ihres Glaubens entweder hingefchiedenen oder hin—
geſchlachteten Chriften, fowie fie in Zeiten größerer Gefahr die Verfammlungs-
flätten der für denfelben Lebenden und Duldenden waren. Das Kriftlihe Dogma
zieht zwifchen die Schlafenden und die Wachenden, zwifchen die nach dem Ziele
Laufenden und die bei demfelben Angefommenen feine Kluft, beide bilden eine
Samilie, weſſen jegt noch in dem niemals fehlenden Memento für die Abgeftor-
benen jede heilige Meffe das täglich ſich wiederholende Befenntnif ablegt. Def»
wegen wurden in dieſe Zufluchtsftätten auch die Todten verborgen, eben ſowohl
um ihre Ueberrefte gegen Schändung durch die Heiden zu fichern, als um die für
den Glauben Rämpfenden mit denen in demfelben Vollendeten in jene enge Be—
ziehung zu bringen, welche durch die Lehre ausgefprochen wird; eine Gewohnheit,
die nachmals aus diefen unterirdifchen Stätten des Heils in die von dem Son—
nenlichte umleuchteten ſich verpflanzt Hat, bis die fromme und tieffinnige Hebung
angeblihen fanitäts-polizeilihen Nücfichten Hat weichen müffen. Deßwegen, weil
diefe Gänge durch das Sandfteinlager zu Begräbnißftätten erfehen wurden, er-
hielten fie den Namen Katafomben, von dem griechifchen Wort Rumba, Ruhe—
bette, und Kata — bei, Doc fam derfelbe erft im vierten Jahrhundert in Ge—
brauch, früher hießen fie Cryptae (wovon unfer teutjches Grüfte, f.d.A.), wie auf einer
alten Inſchrift bei Boldetti IN CRVPTA NONA etc. vorfommt, auch wohl Coeme-
teria (Schlafftätten). Auf beiden Seiten der Gänge find die Orablager (loculi)
in übereinander liegenden Reihen ausgehößlt, bald für einen, auch für zwei, für
drei, feltener für vier Leichname — bisomum, frisomum, quadrisomum.- Waren
diefe beigefegt, fo wurde das Grab mit Ziegen, häufig mit einer Steinplatte,
sermauert, auf diefe die Grabſchrift eingegraben, deren man in den. langen
Gängen des Vaticans, die zu dem chriſtlichen Mufeum führen, eine zahllofe
Menge angebracht, auch wohl den Herausgenommenen Leibern, die an Kirchen
42 } Katafomben.
abgegeben wurden, beigefügt hat, Gewöhnlich ift irgend ein hriftliches Symbol
darauf angebracht, unter denen die Palme conflant das Zeichen des Martyrthums
bildet, Diefes fcheivet fi) in das Martyrium cruentum et incruentum. War es
das erftere, in welchen der Vollendete das Zeugniß feines Glaubens ablegte, fo
wurde das Fläfchchen mit feinem Blut neben dem Grab eingemauert, fo daß jet
noch auch bei dem leeren Grab aus der Höhlung in dem Mörtel erfannt wird,
daffelbe Habe die irdifchen Leberrefte eines Blutzeugen im firengeren Sinne diefes
Wortes umfchloffen. Erft vor ein Paar Jahren ift ein folhes Grab mit den Ge—
beinen zweier Körper geöffnet worden, Ein Fläfchchen bloß wies auf die Todes-
art des Einen, an den Reften des Andern dagegen wurden unverfennbare Spu—
ren des Feuertodes, und zwar in umgekehrter Richtung des Körpers, das Haupt
gegen den Holzftoß, wahrgenommen, Diefe Ruheſtätten, die von den Kämpfen,
der muthigen Ausdauer, den herben Leiden, der fiegreichen Glaubensfreudigfeit
der VBorangegangenen in fo vielen Steinfhriften, in den verfchiedenen Denfzeichen
und in der ganzen Einrichtung diefer Dertlichfeiten ein fo beredtes Zeugniß geben,
blieben der Gegenftand ehrerbietiger Befchauung, auch nachdem aus ihnen bie
Lebendigen bereits an das heitere Tageslicht Hinausgezogen waren; auch da noch,
als die vielfache Bethätigung des hriftlichen Lebens, und was demfelben zur Rräf-
tigung dient, längſt nicht mehr in diefe unterirdifchen Grabesfammern ſich zu
flüchten brauchte, Ein beredtes Zeugniß hievon gibt uns der heilige Hieronymus
in feiner Beleuchtung des Propheten Ezechiel, „Da ich”, fagt er, „als Knabe zu
Nom mich aufhielt, pflegte ich mit meinen Alters- und Studiengenoffen an Sonn—
tagen unter den Gräbern der Apoftel und Martyrer herumzumwandern, in bie
Grüfte hinabzufteigen, wo in unterirdifchen Tiefen der Hineintretende zwifchen
Körpern von Beftatteten an beiden Wänden bindurchwandert, Da ift alles fo
dunkel, daß vollfommen das Wort des Propheten darauf paßt: die Lebenden flei-
gen hinab zur Unterwelt. Nur hie und da mildert ein Lichtſtrahl von oben, nicht
wie er durch ein Fenfter einfällt, bloß wie er durch eine Ritze dringt, die ſchauer—
liche Finſterniß; wie du vorwärts fhreiteft, erbleicht er, und in dem nächtlichen
Dunkel, das dich umgibt, fommt dir Virgild Vers zu Sinn: Ringsum Schauer
und Schweigen erfchütterte jedes Gemüth.“ Wahrſcheinlich find die Katakomben
auch in den folgenden Jahrhunderten, wie zu der Zeit des großen Kirchenvaters,
ſtets ehrerbietig befucht worden. Die Inſchrift in San Sebaftian, die von 46 in
den dortigen Katakomben beigefegten Päpften fpricht, wäre ein Beweis, daß dieſe
ihre Nuheftätte bei den Vorfahren auch dann noch wählten, als die zwingende
Beranlaffung dazu längſt vorübergegangen war. Denn nähmen wir an, daß von
dem heiligen Petrus an ununterbrochen alle Nachfolger veffelben, nicht ein Ein-
ziger ausgenommen, dort ihre Nuheftätte gefunden hätten, fo würde ung biefes
auf Leo den Großen führen, der im Jahr 461 flarb, indeß ſchon hundert etlich
und dreißig Jahre früher, unter Sylvefter I., das Chriſtenthum nicht mehr ge—
zwungen war, fich zu verbergen, Bei den erſten Einfällen der Longobarben und
den Bedrängniffen, die für Noms Bewohner damit verfnüpft waren, fuchten biefe
Troft und Ermuthigung an diefen Erinnerungsftätten ähnlicher Drangfale. In
dem Leben der heiligen Brigitta (ſ. d. A.) und der heiligen Catharina von Siena
(ſ. d. 4.) wird der andachtsvolle Befuh der Katafomben ausdrücklich erwähnt,
Bon dem heiligen Philipp Neri (f.d. A.) wiffen wir, daß er durch zehn Jahre in
denfelben manche Nacht unter Gebet und Bußwachen zugebracht habe, Auch der
hl. Carl Borromäus (ſ. d. A.) zog fich öfters dahin zurück. „Jetzt noch”, fagt
ein neuerer Befucher, „jet noch verkündet aus den geöffneten Gräbern, an den
verlaffenen Altären, von den einfam gewordenen Bifchofsfigen der Tod das Leben;
und wie düfter, wie fohaurig, wie dde Alles auch fer, daffelbe ſteht doch zu dei»
nem Leben, fühlft du anders deffen Schwingungen in dir, in Beziehung; es weht
dich dort nicht der Hauch des Grabes, es haucht dich der Geift an, der bamals
Ratafomben. 43
hier waltete und belebte, wie er jegt noch waltet in der Kirche und belebt dur
die Kirche, die hinausgezogen ift aus den Grüften an das helle, freie, freund-
liche, Alles erquiclende Sonnenlicht,” — Ohne fundigen Führer dürfte Niemand
in diefe unterirdifchen Jrrgänge fih hinabwagen. Auch pflegen immer mehrere
Perfonen zu dergleichen Wanderungen fih zufammenzuthun, jede mit einem Wadhs-
faden verſehen, damit nie das Licht ausgehe, denn ſchwer fonft würde der Rück—
weg zu finden fein, Während der Sommermonate darf man ſich gar nicht hinab—
wagen, weil nur fparfam Verbindungscanäle mit der äußern Luft angebracht find.
Erft feit fieben Jahrhunderten hat man angefangen, Leiber von Martyrern aus
diefen Todtenfammern herauszunehmen und an Kirchen abzugeben. Unter Cle—
mens VII. und feinen beiden Nachfolgern gefchah diefes häufiger, worauf Aleran-
der VH. die Nahgrabungen, die feitdem immer fortgefegt worden, unter die Auf-
fiht des jeweiligen Monfignor Sagrifta ftellte, der auch die heiligen Leiber in
Verwahrung hat. Clemens X. Hat dur die Eonftitution Ex commisso, darauf
Clemens XI. durch eine Bulle (Bull. Magn. VII, 245) noch genauere Vorſchriften
erlaffen, mittelft welcher fämmtlihe Katafomben unter die Aufficht der Congrega=
tion der Jndulgenzen und Reliquien und des Cardinalvicars geftellt find, welde
zwei Bifitatoren ernennen, deren der eine der genannte Euftos der Reliquien ift,
— Die Arbeit des Ausgrabens ift mühfam und fohwierig, nur während der Win-
termonate möglih. Durch ftrenge Verbote gegen das Herausfchaffen des Schut-
tes an die Erdoberflähe wird das Graben wefentlih erfchwert. Gelangen die
Arbeiter an die Grabftätte eines Martyrers (andere Gräber, die das untrügliche
Merkmal des Martyrertfums nicht an fich tragen, werben niemals geöffnet), fo
müffen fie dem Bifitator die Anzeige davon machen, der fih in Perfon an Ort
und Stelle begibt, oder einen Delegirten damit beauftragt. In deffen Gegen-
wart wird das Orab geöffnet, ein Verbal-Proceß aufgenommen, das Gefundene
in einen Korb gelegt, der unter den Augen der Arbeiter verfiegelt und in bie
Wohnung des Bifitators getragen wird, Dort wird eine Unterfuhung angeftellt
und das Gefundene verwahrt, um als Gefihenf irgend einer Kirche zugewiefen
zu werden. Befindet fih an dem Grab eine Infchrift, fo wird diefe den Ge-
beinen beigelegt. Dieß ift jedoch der feltenere Fall; gewöhnlich findet ſich nur,
wenn den Öefundenen das Martyrium cruentum traf, das Blutfläfchchen dabei,
auch wohl nur in den Mörtel, der zu Verfhliefung des Grabes angewendet
wurde, das Zeichen des Martyrthums eingedrüdt. Dann bat der Körper feinen
Namen; es wird ihm dafür ein beliebiger beigelegt, der zu dem hriftlichen Leben
oder zu dem abgelegten Zeugniß des Glaubens in Beziehung fleht, wie Felix,
Victor u. dgl., oder von einem befannten Martyrer entlehnt if. Man nennt
diefe im Gegenfaß zu den Martyrern, deren Name durch eine Inſchrift verfündet
wird, getaufte Heilige. Auf diefes ganz natürliche Verfahren haben die Feinde
der Kirche das unfinnige Vorgeben gegründet: es würden in Nom Todtengebeine
getauft und den Kirchen als Heilige zur Verehrung übermacht. — Die Katakom—
ben find feit drei Jahrhunderten der Gegenftand genauer Durchforfhungen ge-
worden, welchen wir bedeutende Werfe, durch große Gelehrfamkeit ausgezeichnet,
zu Aufhellung des chriſtlichen Alterthums verdanken, Der erfte, ver beinahe fein
ganzes Leben diefen Unterfuhungen widmete, war in der zweiten Hälfte des 16ten
Jahrhunderts Bofio, deſſen berühmtes Werf Roma Soterranea im Jahr 1632
mit vielen Abbildungen des Gefundenen von Severann herausgegeben wurde,
Arringhi’s zwei Folianten in Iateinifher Sprade, unter gleichem Titel, find
eine mit werthvollen Zufägen bereicherte Meberfegung deſſelben. Ein ausgezeich-
netes Werk verdanfte Hierauf die gelehrte Welt dem Canonieus von St. Maria
in Trestevere und Euftos der Ratafomben Boldetti: Osservazioni sopra i Cimi-
teri dei Santi Martiri ed antichi Cristiani di Roma, Roma 1720 fol. Die Ent-
deckungen und Forſchungen aller Vorgänger hat nicht lange nachher, mit den eigenen
44 Kataphrygier — Katecheſe.
bereichert, Bottari in drei Bänden herausgegeben: Sculture e pilture sagre,
estratte dei cimiteri di Roma, publicate gia dagli autori della Roma sotterranea,
ed ora nuovamente date in luce colle spiegazioni per ordine di P. S. Clemente f.
r., 3 Vol. in fol., stamperio Vaticana, 1737—1754. Gleichzeitig gab P. Ma-
rangoni eine mehr Specielles berührende Schrift heraus unter dem Titel:
Appendix de coemeterio Sanctorum Thrasonis et Saturnini cum Actis S. Victorini,
Romae 1740. In neuerer Zeit erfchienen, aber mehr für das wißbegierige Lefe-
publicum als für eigentliche Forſcher und Gelehrte beſtimmt: Artaud voyage
dans les Gatacombes de Rome, und Raoul-Rochette tableau des Catacombes
de Rome. Das gründlichfte Werf über die Ratafomben hat in neuefter Zeit der
Jeſuit P. Joſeph Marchi begonnen, der in diefer unterirdifchen Welt ſo ein-
beimifch ift, wie Fein anderer, und aus berfelben eine Menge der intereffanteften
Gegenftände an das Licht gezogen hat, [Hurter,]
Kataphrygier, f. Montaniften.
Karatecheſe. Die Ratechefe nicht als einzelne, fondern als ein Ganzes kirch—
licher Thätigfeiten aufgefaßt, bezieht fih auf die der Kirche zwar ſchon Angehöri-
gen, aber erft in deren Glauben und Leben (kirchliche Gemeinfhaft) Hinein-
zubildenden und für den Eintritt in die Reihe der kirchlich Mündigen und bie
Thätigfeiten für diefe Vorzubereitenden, Ratehumenen (vnmzıoı, veopvror)
find alſo die getaufte Jugend, aber auch Erwachfene, fofern fie firchlich unmündig
find, fowie Profelyten und Convertiten, fobald fie ihren Hebertritt zur Kirche
förmlich erflärt haben, wie denn auch Die Katechumenen der alten Kirche nicht zu—
nächſt und hauptfächlich Kinder, fondern Erwachfene waren, Jede kirchliche Thä—
tigkeit, welche kirchliche Mündigfeit überhaupt oder eine beflimmten Bebürfniffen
entfprechende insbefondere pflanzen will, ift wefentlich eine Fatechetifche, Nur
haben die Ratechumenen alsbald einen gewiffen Grad Firchlicher Mündigfeit und
gehören in fofern dem öffentlichen Gottesdienfte und der Privatfeelforge an, wie
umgefehrt den kirchlich Mündigen immer noch eine gewiffe Unmündigfeit anflebt
und fie in fofern Fatechetifche Thätigfeit bedürfen, — Das Ziel der Katechefe ift
firchlihe Mündigfeit, der in Liebe thätige Glaube, oder das in der Moral expli—
eirte riftliche Leben, formell die Erfenntnig und Anerfenntnig des Ehriften-
thumes, noch mehr der eigentliche Glaube und eine dieſem angemeffene Verfaffung
des Gemüthes und Willens, und zwar foll al’ dieß alfererfi und hauptſächlich
gepflanzt, aber auch fchon erhalten und vervollkommnet und z.B, durch Gebete,
Kindergottesdienft äußerlich dargeftellt und geübt werden, Sofern das hl, Meß—
opfer, Communion, Beicht und Firmung in den Umkreis der Katecheſe fallen,
tritt auch die Anfchauung und Zuwendung des Iebendig gegenwärtigen Göttlichen
als Moment des Zieles auf, In dem Bisherigen Tiegt fofort das ewige Leben
der Ratechumenen, ihre Neife für die volle Firchlihe Gemeinfchaft und bie
Thätigfeiten für die Firchlih Mündigen, ihre erbauende Rückwirkung auf bie
übrigen Glieder der Gemeinde und ganzen Kirche, fowie die Verherrlichung des
dreieinigen Gottes, einerfeits beftehend in den genannten Momenten, und an—
dererſeits bewirkt durch diefelben. Erbauung (oixodoun) tft auch hier wie in
der ganzen practifchen Theologie das alle Momente des Zweckes in fich befaffende
Schlagwort. Aus begreiflichen Gründen haben die Unrecht, weldhe den Fatecheti-
fchen Zweck bloß in Erzielung der Erfenntnif, allenfalls auch Anerfenntniß des
Chriſtenthumes oder gar nur feiner Elemente ſetzen. Volle kirchliche Mündigkeit
bleibt das Hohe, wenn auch fehr oft unerreichbare Ziel, obwohl Pflanzung des
hriftlihen Lebens, vor allem der Erfenntnig und Anerfenntniß wenigfteng ber
Elemente, kurz dıdaoxakla die erfte und wenigftens zu löfende Aufgabe bildet,
während die Predigt mehr der urchriftlihen rrapaximoıs und sroopnreıa ent-
fpricht, — Die Mittel zum Ziele oder der Inbegriff der Fatechetifchen Thätig-
feiten find das Wort, dıdaozakte, welche bier die erfte, wichtigfte und ume«
—
ER
Katechet. 45
faſſendſte Stelle einnimmt, aber auch Cult und Disciplin, oder der volle in der
Kirche fortlebende Chriſtus in feinem prophetiſchen, hohenprieſterlichen und fönig-
lichen Amte, je nah dem Maße des Faterhetifhen Zieles. Gegen das alte Vor-
urtheil, wornach bloß das Wort, ja bloß das gefprächsweife oder gar nur ab=
lockende Cheuriftifhe) das Fatechetifhe Mittel fein foll, ſpricht die Natur der
Sache, Willen, Weſen und Beiſpiel Jeſu Chriſti und ſeiner Kirche, die nirgends
fliefmütterlih handeln, das wohlverftandene katechetiſche Ziel, Beredtigung, Be—
dürfnig und Empfänglichfeit der Katechumenen, das Katechumenat der alten Kirche,
ja fogar die gewöhnlichfte Praxis. — Die Nothwen digkeit der Katecheſe Liegt
in dem Willen, Wefen und Beifpiele Chrifti, feiner Apoftel und der Kirche aller
Zeiten, die ohne Katechefe von ihrem Haupte und feinem hl. Geifte, von ihrem
univerfellen alleinfeligmanhenden Glauben, ihrer weltumfaffenden Liebe, ja fogar
von dem jeder lebendigen Gefellfhaft wefentlihen Drange der Erhaltung und
Erweiterung gänzlich abfiele und auch höchſt ungerecht handelte, fofern fie den
Katechumenen das vorenthielte, worauf fie volles Net erworben haben. Schon
die Kleinften fünnen und follen ein religiöfes Leben führen nach ihrer Art, Kein
fhöneres Schaufpiel für Himmel und Erde, als eine religiöfe Jugend. Die Ju-
gend ift überall die Zeit der Ausfaat, das gleihfam mit der Muttermilh Ein-
gefogene haftet für Zeit und Ewigkeit entſcheidend. Jugendlihes Glauben, Lieben
und Hoffen ift Paradies und Himmels Vorgeſchmack, Leuchtturm und Magnet
nah fpäterm Fall, Sauerteig, ja Verjüngung ganzer Gemeinden und Zeiten, die
mächtigſte Schugwehr in den Gefahren der Welt und Zeit. Das in der Jugend
Verſäumte läßt ſich fpäter, befonders bei groß gewordener Sünde, fihwer, ja faft
gar nicht mehr einbringen; und eine religiös verwilderte Jugend ift leicht für
Zeit und Ewigfeit verloren und zeugt in befchleunigtem Falle noch ſchlimmere
Geſchlechter. Endlich Fann die ganze fpätere Paftoration nur auf der Bafis guter
Ratechefe wahrhaft und allfeitig gedeihen, Wie fonnte die Katechefe anders als
mit Notbwendigfeit aus der Kirche Chriſti erwachſen! Im Uebrigen haben auch
die mit der Kirche wahrhaft geeinigten Gemeinden, ihre Ratechumenen, deren
Eltern, fowie der fein eigenes Wefen und Jntereffe verftiehende Staat ausdrück-
lich oder ftillfhweigend ihren Willen bei der Katechefe, ihr auch ihrerfeits den
Stempel der Notbwendigfeit aufdrückend. — Bor, mit und nah der amtlichen
Fatechetifchen Thätigfeit find fortwährend viele Factoren für das Ziel thätig, der
hl. Geift, die häusliche Erziehung, die Schule, die ganze Gemeinde und das
Öffentliche Leben, der Gottesdienſt, das Gebet. Hier find aber auch die böfen
Factoren erfennbar. Was fann und fol der Geiftliche für jene und gegen dieſe
thun? — Bir definiren die Katechefe fofort als die Summe der nothwendigen
lirchlichen, göttlih-menfhlichen Thätigfeiten in Lehre, Cult und Disciplin in
Bezug auf die Firhlih Unmündigen zur Erzielung kirchlicher Mündigfeit. Oder
die Ratechefe ift die fortgefegte Gemeindebildung. Gemeindegründung unter
den der Kirche noch gar nicht Angehörigen ift das Geſchäft der kirchlichen Miſſio—
nen. Vgl. hierzu den Art. Chriftenlehre. [Öraf.]
Satechet. Die Geiftlihen heißen Katecheten (Ratechiften), fofern fie im
Auftrage und ald Organe Chriſti und feiner Kirche die katechetiſche Thätigfeit zu
volldringen haben. Früher nannte man fie auch Nautologen, indem man die Kirche
einem Schiffe verglich, in welchem Chriftus der Steuermann, die Führer die Bi:
ſchöfe, die Schiffer die Priefter, die Arbeiter die Diaconen, die Ratecheten die _
Nautologen, d. h. diejenigen find, welche die Einfteigenden im Vordertheile des
Schiffes empfangen, die neu hinzufommende Mannfchaft an Bord bringen; die
Sahrenden find die Menge der Brüder. Die Vorausfegungen einer rechten Ber-
waltung des Fatechetifchen Amtes find im Allgemeinen die aller geiftlichen Amts-
führung: gewiffe Teibliche und geiftige Eigenfchaften und Anlagen (natürlicher
Beruf), gründliche und umfaffende theologifche und allgemein menſchliche Bildung
u: Katechetit.
und lebenslängliches Fortſchreiten in Beidem, ächt religidfer und kirchlicher Sinn
und Wandel, Gebet, Meditation, Seelſorgereifer und Klugheit, Kenntniß der
Gemeinde und Katechumenen, Erwägen der guten und bbſen Factoren und Wirf-
famfeit für jene und gegen dieſe, Vertrauen und Liebe der Gemeinde, Eltern und
Kinder, Eirhliche Berufung. Beſonders find nothwendig oder doch fehr nützlich
gute Kenntniß der Bibel, der Kirchen- und Profangefchichte, des Lebens der Hei-
ligen, der populären Dogmatif, Moral und Liturgif, der Fatechetifchen Haupt-
werfe, des Unterrichts und Erziehungswefens, der Kinderwelt, guter Jugend-
ſchriften, Vorübung durch Ertheilung von allerlei Jugendunterricht, Lefen und
Anhören guter Katecheſen, Fatechetifche Uebungen unter verftändiger Leitung, flei-
Biger Schulbefuh, gewiffenhafte Vorbereitung auf jede Katechefe, gutes Gedädht-
niß, lebhafte Phantafie, ſcharfes Urtheil, natürliche Geiftesgegenwart, hohe Liebe
zu den Kindern, unerfehöpfliche Geduld, Milde mit Strenge gepaart, Leutfelig-
feit, ein frifches, Tebendiges Wefen, Gebet für die Katechumenen. Hauptfache
und eigentliches Triebrad aber bleibt der Fatechetifche Eifer, geweckt und genährt
durch Erwägen der hohen Menſchen- und Chriftenwürbe der Katechumenen, des
Inhaltes, der Schönheit und der zeitlichen und ewigen Folgen des zu verwirf-
lichenden Zieles und des Gegentheiles, durch Betrachten des Weſens derer, die
den Auftrag zur Ratechefe geben, des dreieinigen Gottes, aller guten Geifter,
der Kirche, der Gemeinde, der Eltern, Kinder und des Staates, durch Betrach—
ten des Eifers, Beifpieles und Wirkens der Mufterfatecheten aller Zeiten, durch
Betrachten der eigenen hohen Chriften- und Priefterwürbe, alles Empfangenen
und noch Hinterlegten, als eben fo vieler Motive zu danfbarer Arbeit, durch Be-
trachten der mitwirfenden Factoren, ja auch der zu heldenmüthigem Kampfe her-
ausfordernden Hemmniffe und Schwierigkeiten, durch Betrachten der Folgen guter
und fhlechter Verwaltung für den Katecheten felbft, endlich dur Erwägung, daß
für die fo wichtige und fehwierige Ratechefe dem Bittenden die Gnade nicht feh-
len kann. [Graf.]
Katechetik. Die Katechetik iſt die Wiſſenſchaft und Theorie der Katecheſe,
der fortgeſetzten kirchlichen Gemeindebildung oder der göttlich-menſchlichen Thätig-
keiten der Kirche in Lehre, Cult und Disciplin (Unterweiſung und Erziehung) —
für die Unmündigen zur Erzielung kirchlicher Mündigkeit. Kernyerızm sc. veyyn
oder Erruornun ftammt von 27x05, Schall, Nede, zaunyeiv, anfıhallen, reden,
unterrichten, mit dem Nebenbegriff des Wichtigen und Feierlichen, biblifh vom
Unterrichten im Chriftentbume Luc, 1, 4. Cal. 6, 6., kirchlich vom Unterrichten
und Bilden im Chriftenthume zum vollen Eintritt in die Rirchengemeinfchaft; die—
fes Unterrichten und Bilden felbft heißt zurnxsoıs und zarnxıowos, letzterer
fpäter metonymifch gleich: das Unterrichtsbuch, das aber erft durch den Katecheten
und Yebendigen Gebraud wird, was es fein foll — Katechismus. — Die Prin-
eipien oder Grundpfeiler der Katechetif Tiegen in dem Ziele, den Mitteln zum
Ziele, den Katechumenen und dem Katecheten, Ye wichtiger und fihwieriger bie
Ratechefe, je zahlreicher und eingewurzelter die Irrthümer und der Streit ber
Meinungen in Theorie und Praris, je mehr endlich die Fatechetifhen Thätigfeiten
einen wohlgeordneten Organismus bilden follen und fih für die angehenden
Geiftlichen der Anſchauung im Leben entziehen, defto mehr ift die Katechetif neben
vielem Anderem practifch für die Einen nothwendig, für Alle fehr werthvoll. —
Die Eintheilung der Katechetif kann gebildet werden wollen nach den Momenten
des Zieles (Erkenntniß, Anerfenntnig, Glaube, die diefem angemeffene Verfaf-
fung des Gemüthes und Willens), oder nach) den Grundfräften der menfchlichen
Seele, oder nach den Mitteln zum Ziele (Lehre, Cult, Diseiplin, oder Kirchliche
Unterwerfung und Firchliche Erziehung, oder Stoff und Form, oder Katechet, Ka—
techumene und Ratechefe), Zwermäßig mag folgende fein: I. die katechetiſchen
Themate, II. die Materialien zu ihrer Ausführung, II die Anordnung der Fate
Katechetik. — 47
chetiſchen Themate und ihrer Materialien, IV. die wirffihe Ausführung, V. der
äußere Bortrag —, ganz nach den Momenten, nad) denen eine Katecheſe, Pre—
digt oder Profanrede verläuft. VI. Sicherung des Erfolges durh Auswendig-
lernen, VII. befondere Thätigfeiten durh Wort und Eult für Uebung der Religion,
VI. befondere Thätigfeiten durh Wort und Disciplin für religiöfen Wandel,
IX. die Ratechefe für befondere Bedürfniffe. Unter Berweifung auf die ent-
ſprechenden Artikel des Kirchen-Lerifons können hier nur Andeutungen der Grund=-
Iinien der Ratechetif gegeben werben. I. Die Fatechetifhen Themate. Während
der ganzen Dauer der fatechetifchen Bildung foll das ganze Chriftenthum, je
nach den Vorfenntniffen, Bedürfniffen und Fafungsfräften, möglichſt wiederholt
vorgetragen werden. An das nähere Was, Warum und Inwieweit des objer-
tiven Chriftenthumes, der Geheimnißlehren, der Unterfheidungslehren, der Bibel,
Kirchengeſchichte, natürlichen Offenbarung, des Eultus und der Disciplin, fowie
der Moral, wird hier nur erinnert. Die fatechetifhen Themate für die einzelnen
Slaffen. Die religiöfe Erziehung foll fhon im frübeften Kindesalter beginnen,
die firchliche Fann nicht zu früh angefangen und nicht zu fpät beendigt werden,
Nimm die Katechumenen zufammen, welche im Ganzen diefelben Vorfenntniffe,
Faffungsfräfte und Bedürfniffe haben, und gib denfelben diefen gemäß nicht
Bruchſtücke, fondern je ein Ganzes der Religion nah der Frage: was follen
diefe Rinder glauben, lieben, hoffen, üben, weldes ift das Ideal des religiöfen
Lebens ihrer Stufe? Die Borbereitungsclaffe. Vorbereitung auf den
eigentlichen Unterricht und Beibringung eines Eleinen Religionsganzen im Verlauf
oder auf der Grundlage einer furzgefaßten biblifchen Gefhichte, ſtets auslaufend
und fich concentrirend in das Krenzeszeihen, Symbolum, Bater unfer und bie
Sehler, Tugenden und Uebungen der Kleinen, Erfte Elementarclaffe. Em-
pfänglichkeit und Bedürfnig für Anfhauungen ohne Ausflug des Begrifflihen
als des Seceundären. Warum die biblifche Gefchichte überhaupt und in der Ka—
techefe und vor allem in diefer Elaffe zum Vortrage fommen foll. In die bib-
liſche Geſchichte verwoben, ihr beigebunden oder neben ihr in einem befondern
Büchlein den Kindern in die Hand gegeben — ein furzgefaßter Katechismus zur
Grundlegung des eigentlihen Katechismus. Zweite Clementarclaffe. Em-
pfänglichkeit und Bedürfniß für das Begrifflihe ohne Ausfhluß des Gefhicht-
lichen, als des Secundären und des Mittels. Der Katechismus. Soweit es der
KRatehismusunterricht als die allgemein nothwendige Hauptfache erlaubt, tritt in
zweiter Linie die vollftändigere, tiefere und mehr pragmatifche Darlegung der
Dffenbarung in der von Gott gegebenen gefhichtlichen Form hervor mit fleter
Bezugnahme auf den Katechismus. Die Sonntagshriftenlehre. Katechis—
‚mus und biblifhe Gefhichte in der eben genannten Weife, wohl auch einzelne
bibliſche Abfchnitte und Bücher, oder fonftige wichtige und intereffante Gegen-
fände, überhaupt aber Erhaltung und VBervoliftändigung des Frühern und Hin
zufügung deſſen, wofür erft jegt Bedürfnif und Fähigkeit vorhanden ift. Vielleicht
auch ein zu einem eigentlichen Volksbuch erweiterter Katechismus in den Händen
diefer Jugend und der Gemeinde. Thema der einzelnen Katerhefe wird das,
‚worauf der vom Lehrbuche gegebene und vom Katecheten auf die Lehrftunden wohl
vertheilte Gang des Unterrichtes gerade führt. Erlaubte Unterbrechung des regel-
mäßigen Ganges (vgl. Chriftenlehre). I. Die Materialien zur Ausführung,
Das ganze Chriſtenthum ift überall wie Thema, fo auch Mittel zur Ausführung.
Uebrigens find die Materialien in den Fatechetifchen Handbüchern (bibliſche Ge-
ſchichte, Katechismus), fofern von diefen Alles aus — und in diefe Alles zurüd-
gehen foll, wenigftens angedeutet, in andern Fatechetifchen Hilfsbüchern aber aus-
drüdlih zufammengeftellt, und fließen zudem aus dem ganzen Studium, der Bil-
dung, dem Herzen und der Erfahrung des Katecheten. Endlich bildet die Kenntniß
zu erflären, zu beweifen, zu widerlegen, das Gemüth zu bilden, den Willen zu
2
48 | gatechetik. a
bewegen, und die Lehre von der Meditation eben fo viele Wege zur Auffindung
der Materialien, IM. Die Anordnung. Wie nothwendig diefelbe iſt — mit
Nücfiht auf den Lehrgegenftand, die Ratechumenen und den Katecheten. Allge—
meine Örundfäge: 1) Schide je die Puncte voran, von deren Erfenntniß -
over Anerfenntniß, oder Wirkfamfeit auf Gemüth, Willen und Leben jedesmal
die Erfenntniß oder Anerkenntniß, oder fonftige Wirkfamfeit der folgenden Puncte
an fih oder in beflimmten Claffen mehr oder weniger abhängt. Alfo z. B. laß
das Leichtere dem Schwereren, das Eonerete dem Abftracten vorangehen, Teite
vom Bekannten zum Unbefannten über, gib im Allgemeinen zuerfi die Erflärung,
dann den Beweis, hernach allenfalls Widerlegung, und zulegt die Paränefe für
Gemüth und Willen; gib im Allgemeinen zuerft die Tugend und laß ihr Gegen-
theil folgen. 2) Befolge die Regeln der Logik, aber nicht ſelaviſch, da dieſelbe
bier nur Dienerin für practifhe Zwede iſt. 3) Schließe an das Dogmatifche
feine moralifchen Folgerungen, und an das Moralifche feine dogmatifche Be—
gründung, oder allgemeiner: Iehre. das Dogmatifche ethifh und umgekehrt,
4) Symmetrie und Gradation in der Anlage find wie in der Predigt fhägbar,
jede fünftliche aber, befonders in der Katecheſe, verderblich. 5) Diefe fordert
vielmehr nach ihrem ganzen Wefen vor Allem Einfachheit, eine gewiffe, ftets
wieberfehrende Weife auch in der Anlage, überhaupt den Fürzeften, natürlichften
und verftändlichften Weg. Der Flar gedachte Zweck lehrt am beften, was, wie
und in welcher Ordnung e8 gegeben werben foll. Sorge im Ganzen und Ein»
zelnen, daß die Kinder ſtets möglichft im Bewußtfein des Zufammenhanges er-
halten werden. Die von Hirfcher’s Ratechetif abfolut geftellten Forderungen $ 24,
find nur in der biblifchen Gefchichte, und die $ 25. Cofr. $ 14 ff.) erft dann zu
befolgen, wenn das objective Werden, Wefen und Sichäußern des Guten und
Böfen und feiner Einzelheiten gefchildert werben will, Anordnung der Elaf-
fentbemate, Biblifhe Geſchichte. Ordne Alles fo, wie e8 Gott georbnet
bat, auf daß auch dur die Anordnung die Dffenbarung als ein zu immer grö-
Berem Glanze und Reichthum fich entwicfelndes Ganze voll Gnade und Wahrheit
zur Erlöfung und Befeligung der Menfchheit erfcheine, Katechismus (ſ. d. A).
Die Anlage des römifchen Katechismus. Die Anordnung der einzelnen Kate—
chefe — einerfeitS nach der im Katechismusſatz oder der biblifchen Gefchichte lie—
genden Gliederung, andererfeitS nach den allgemeinen Orundfäßen. IV. Die
Ausführung überhaupt. Erzielung der Erfenntniß der Religion, ihre Noth-
wendigfeit, Aufpellung der Anfhauungen, Begriffe, Urtheile, Lehrftüde, Lehr—
ganzen, der dagmatifchen, fittlichen, gefchichtlihen Gegenflände, Erzielung der
Anerfenntniß und des Glaubens, Ihre Nothwendigkeit. Was ſoll bewiefen
werden? verfchiedene Beweismittel, Auctoritätd- und Vernunftbeweife insbefon-
dere, Wahl und Ausführung der Beweismittel, Was, wie und in welchem
Maße fol widerlegt werden? Erzielung und Befeftigung des Glaubens, z. B.
Unterfchied zwifchen Glauben und bloßem Anerfennen, Menfchenverftand und
Auctorität Gottes und feiner Kirche, Glaubensacte in und außer der Katechefe,
Erzielung der dem Glauben angemefjenen Verfaffung des Willens, z. B. wieder-
holte Darftellung der Majeftät, Gerechtigkeit und Liebe Gottes, der Bedeutung
des freien Willens, Willensacte. Verhütung böfer und unreiner und Erzielung
rechter Willengentfchließungen. Bildung des Gemüthes, der finnlichen, felbfti-
fen, ſympathetiſchen, Afthetifchen und moralifhen Gefühle und Begehrungen?.
Pflege der Liebe zur Kirche, Nelativ allgemeine Forderungen: die Darftellung
fei wefenhaft, habe Fülle und Kraft, und Tiefe, Unbedingt allgemeine: in jeder
Katecheſe fei bis hinaus in Dietion, Action und Declamation in rechter Harmonie,
Neber- und Unterordnung wirffam — die Natur des augzuführenden Gegenflandes,
die Ratechumenen, ihre Vorkenntniſſe, Faſſungskräfte und Bedürfniffe, der Zwed
der Ratechefe überhaupt und der betreffenden insbefondere, die Achte und berech—
Katechetik. 49
tigte Perſonlichkeit des Katecheten. Siehe die betreffenden Artikel und Hirſcher's
Katechetik $ 24—96. Die Ausführung in den katechetiſchen Büchern —
bibliſche Gefhichte und Katechismus. Die einzelne Katecheſe. Die heuriſtiſche
und afroamatifhe Methode, ihr Wefen, ihre Vorzüge und Mängel, ihre rechte
Berbindung. Das bloße Abfragen, Die Fragen und Antworten und ihre Be—
Handlung. Die befondern Modificationen der Ausführung in den verſchiedenen
Elaffen überhaupt und der biblifchen Gefchichte und des Katechismus insbeſondere.
Die Beftandtheile der einzelnen Katecheſe: Eingang, Thema, Partition, Ueber—
gänge, Schluß, Gebete. V. Der äußere Vortrag: Dietion, Action und De-
elamation. Der Unterfihied vom bomiletifchen Vortrage liegt in der Natur der
Katechefe, ihrem Zwede, den Ratechumenen, dem Katecheten. Aufſchreiben und
Mempriren. VI, Siherung des Erfolges. Aufmerffamfeit, Auswendig-
lernen. VII. Befondere Thätigfeiten durh Wort und Cult für Hebung der Re-
ligion. Die Uebung der Religion in und außer der Katecheſe, der Kindergotteg-
dienft, Beiht, Communion, Firmung, Die unmittelbare Vorbereitung für den
Gottesdienft der Erwachfenen. VII. Befondere Thätigfeiten durh Wort und
Disciplin für Ausübung der Religion im Wandel — bei den Elementar-
ſchülern, der erwachfenen Jugend, pofitive Förderung des refigiöfen Wandels,
Fernhalten fittliher Gefahren, Heilung fittliher Berirrungen. Hirfher’s Kat.
$ 118 ff. IX. Die Katecheſe für befondere Bedürfniffe. Die ganze Ge-
‚meinde in der Ratechefe. Beſonders zu Unterrichtende,. Pirofelyten und Conver-
titen. — Die Katechetif als befondere Diseiplin ift jung, wie man überhaupt
lange nicht daran dachte, Die Regeln der Verwaltung des geiftlichen Amtes voll-
fündig, im Zufammenbange und wiffenfchaftlich darzuftellen. Auguſtin's de ca-
‚techizandis rudibus und Gregor’s v. Nyffa Aoyos zarnyntızos 6 ueyas find nur
ganz uneigentlich eine Art Katechetik. Defto mehr blühte in der alten und älteften
Kirche in dem Katechumenat mit feinen Stufen die Katecheſe ſelbſt, nicht fo faft
‚für die Kinder, als die Profelgten, und in dem afroamatifchen Unterricht traten
auf der Grundlage hiſtoriſchen Unterrichtes bald. die kirchlichen Fatechetifchen Haupt-
füfe — Glaubensbefenntnig, Decalog, BVaterunfer, Sarramente, hervor. In
diefen Hauptflüen wurde das Bolf im Mittelalter befonders in der Advents-
und Faftenzeit unterrichtet und auch die Unterweifung der Parvuli in Klofter-
fhulen und durch den Pfarrer fehlte weder in der Gefeggebung, noch in der Ber-_
‚waltung. Ein Bild der mittelalterlihen Katecheſe fünnen wir den Fatechetifchen
Anweifungen in den alten Ritualien entnehmen, und eine Art Katechetif gibt
Gerfon de parvulis ad Christum trahendis. Neuen Werth und Auffgwung gaben
der Katecheſe und Katechetik — die Neformation, das Concil von Trient, die
‚Sefuiten, der Katehismus von Eanifius und der römische, Bon jest an erfchei-
‚nen bei Katholifen und Proteftanten die Anfänge eigentliher Katechetif, Ihre
neuere Geſtalt datirt fih aus der Mitte des 18ten Jahrhunderts, da eigene Lehr-
ftühle für die Paftoral errichtet wurden, aber auch Nationalismus, Aufklärung
und Rantianismus in die Theologie eindrangen, Wohlthätige Folgen waren, daß
„bie ſcholaſtiſche Behandlung einer mehr pſychologiſchen und practifchen Platz machte,
‚bie biblifhe Geſchichte größere Bedeutung erhielt, die Fünftigen Ratecheten dur
Theorie und Uebung forgfältiger vorbereitet und auch pädagogifch gebildet wur-
ben, und die Katecheſe eifriger, allgemeiner, in fletigerem Gange, zablreicheren
Stunden und. längerer Dauer ertheilt wurde, Die verderblihen Folgen aber
waren, daß Katechetif und Katechefe ihres eigentlichen Wefens, biblifchen und
Eirhlihen Elementes faft ganz beraubt wurden, und die rationaliftifche beuriftifche
‚Methode und der bloß natürliche, weltliche und pſychologiſche Inhalt fi unge-
ſcheut, 3. B. bei Oräffe ad absurdum, entwidelten. Der Streit der Meinungen,
das voreilige Berbrängen des hergebrachten Katechismus, die Katehismus-Noth
und Berwirrung und ihre üblen Folgen! Cine beffere Geftaltung geben der Ka⸗
ihenlexikon. 6. Dr. 4
1
5
\
Mr
50 Katehismus,
techefe und Katechetik die tiefere neuere Theologie, Philoſophie und Pädagogik,
die neuerwachte Kirchlichkeit, die große Anftrengung, endlich aus der Ratechismus-
verwirrung herauszufommen, Gruber's und Hirſcher's Leiftungen. Die neueften
pofitio-hriftlichen Ratechetifen der Proteftanten find von Kraußold, Palmer und
Niztzſch. [Graf.]
Katechismus. In der Katecheſe (ſ. d. A.), ſowie unter den Büchern, welche
als deren Grundlage in die Hand der Katechumenen gegeben werden, bildet der
Katechismus den überall unbedingt nothwendigen Mittelpunct und iſt die kurze
volksthümlich und kirchlich begriffliche und geordnete Summe des katholiſchen
Glaubens, Lebens und Weſens in Form von Frage und Antwort mit beigefügtem
Anhang der gewöhnlichen Hauptgebete. Nach vorangeſchicktem bibliſch geſchicht-
lichen Unterrichte ſoll er bei erwachten Verſtandeskräften Thema, Skizze, Zu-
ſammenfaſſung und bleibende Einprägung der Katecheſe werden und vom Kateche—
ten nur aufgeſchloſſen, mit Fleiſch und Blut umgeben und lebendig in Erkenntniß,
Gedächtniß, Herz und Willen eingeſenkt, ſofort eine religiöſe Hauptſubſtanz der
Gläubigen, eine Hauptbaſis und Summe ihres Glaubens und Lebens, eine Haupt-
sprausfegung alles rechten Gebrauchs der Bibel, der Gebet- und anderer reli-
giöfen Bücher, fowie des Gedeihens aller geiftlichen Thätigfeiten im öffentlichen
Gottesdienſte und der Seelforge ausmachen. Sp wichtig und nothwendig für den
Theologen die Dogmatif und Moral, fo wichtig und notbwendig für den ein-
fachen Chriften der Katechismus, Er ift mehr Volfs-, als bloßes Schul- und
Kinderbuch. Er muß in die Hände der Katechumenen gegeben werden, denn da—
durch wird Lernbegierde, Aufmerffamfeit, Erfaffen und Behalten gefördert und
die Vorbereitung auf die Ratechefe, ihr Wiederholen zu Haufe, das Auswendig-
lernen der Summe des Unterrichtes, das Mitarbeiten der Eltern und Lehrer, das
Fortbauen auf feften Grundlagen in der fpätern Ratechefe und in ber Predigt
und Seelforge, und Iebenslängliches Wiederholen ermöglicht. Insbeſondere foll
der Katechismus nach feinem Wefen und Zwed und dem pofitiven Rechte vom
Kirchenregimente ausgehen und in der ganzen Didcefe, wenn nicht bei ganzen
Nationen, möglichft lange unverändert derfelbe fein, ja in der ganzen Kirche ein
und denfelben althergebrachten Grundtypus in Inhalt, Anlage und Ausführung
an fih tragen, Sp nur ift und wird derfelbe eine Art ſymboliſchen Buches, wahr-
haft Firchlicher Inbegriff des gemeinfamen Glaubens und Lebens, Unterpfand der
Einheit unter einander und mit der ganzen Kirche, fo erhält die Kirche und Ge-
meinde die Bürgfchaft Firhlichen, fletigen und einheitlichen Unterrichtes, fo wird
der Geiftliche, der in Feiner Amtsverrichtung ungebunden ift, in der hochwichtigen
Katechefe wohlthätig gebunden, des ſchweren Gefchäftes, felbft zu wählen, fowie
des peinigenden Gefühles, fehlgegriffen zu haben, überboben, fo Fann das Kir—
chenregiment z. B. ſchon im Seminar und durch Fatechetifche Handbücher in rechte
Katechefe einführen; fo nur fann der Katechismus das fortwährende Hauptlehr-
buch der Eltern ihren Kindern gegenüber, das Tebenslänglich orientirende Haupt-
Yefebuch der Gläubigen werben, fo nur Eifer und Freudigfeit bei Geiftlichen,
Eltern und der ganzen Gemeinde erweren und den Werth, die Heiligkeit und
Unveränderlichfeit der Religion gleihfam von außen fühlbar machen, Die Anlage
des Katechismus ſei Firchlich, einfach, populär und fachlich, Einige gingen den
gefhichtlichen Gang und ihr Katechismus wurde ein Zwitterding von Katechismus
und biblifher Geſchichte. Andere vpferten die Behandlung des Fatechetifchen
Stoffes an der Hand der kirchlichen Formeln einer fogenannten wiffenfchaftlichen
Gliederung, handelten aber gegen Beifpiel und Vorfoprift der Kirche, gewannen
auch nicht, was fie erftrebten, am wenigften Einfachheit und Volksthuͤmlichkeit.
Andere fuchten eine wiffenfchaftliche Gliederung mit den Firchlichen Formeln zu
vereinigen, aber die Vereinigung gelang weder genügend kirchlich, noch auch fach-
lich, vollsthümlich und dem practifchen Bedürfniß entfprechend, Andere folgten
Katehumenen. 51
mit geringer Abänderung der Eintheilung des Canifius, hatten aber gegen fi
deffen unläugbare logiſche Gebrechen. Die befte Anlage ift ohne Zweifel die nad
dem römifchen Katechismus im Regensburger (bei Puftet), und noch beffer im
neuen Rottenburger Didcefanfatehismus (von Shufter). 1) Glaube, Glau—
bensbefenntniß, apoftolifhes Glaubensbefenntniß, die zwölf Artifel veffelben,
2) ©nade, heiligmahende Gnade, wirflihe Gnade, Gnadenmittel, Sacramente
und Sacramentalien. 3) Gebote Gottes und deren Erfüllung (Qugend und
chriſtliche Vollkommenheit), Uebertretung der Gebote Gottes (Sünde und Lafter),
zwei Gebote der Liebe, zehn Gebote Gottes, fünf Gebote der Kirche. 4) Gebet,
Gebet des Herrn, englifher Gruß, Ceremonien. Diefe Anlage hat für fih das
Beifpiel des grauen Altertfumes, die den Canifius übertreffende Auctorität des
römifhen Ratehismus, fowie Bolfsthümlichfeit, einfachfte und leichtefte Aufein-
anderfolge der Materien, wohl verftandene Wiffenfchaftlichfeit, und ift nur die
verbefferte des längft bewährten Canifius, Im Uebrigen habe der Katechismus
dogmatiihe Treue, ſachliche Bollftändigfeit und im Ausdrudf Popularität, Prä-
eifion, Kürze und Prägnanz, gebe das ganze, befonders auch das ſpeeifiſch-katho—
Iifche Glauben, Leben und Wefen in vollem begrifflihen Inhalte, hinreichender
Begründung, rechtem Zufammenhange und allenfalld auch mit angemeffenen prac-
tifchen Folgerungen, mit den vornehmften afcetifchen Regeln, furzen Gebeten und
Aumuthungen, fei mehr indirect als direet polemifh und apologetifh, bewahre
die alten, volksthümlichen, von der Kirche producirten, die Perfönlichfeit der
Kirhe, nicht des Einzelnen abjpiegelnden und allein die Sache ohne Alterirung
wiedergebenden Definitionen und Ausdrüde, baue Alles nicht bloß auf fchlagende
wenige Schriftausfprühe und Beifpiele, fondern auch auf Tradition, Kirche und
Bäter, greife nicht in das Gebiet der Ausführung und Paränefe, arbeite diefen aber
möglichft reich indie Hände, fei gleichmäßig angemeffen dem Gebildeten wie dem Unge—
bildeten, wahrhaft objectivund allgemein, rechtfertige fich in ven unbedeutendften Wor-
ten und Wendungen, fondere die Einzelheiten auch jchon für das Auge durch Drud,
Numeriren, verſchmähe den Gebetsanhang nicht und forge möglichft gut für die
große Hauptfahe, das nachhaltige überall möglihe Auswendiglernen. Ins—
befondere habe er die Frag- und Antwortform, fie ift alt hergebracht, vertheilt in
fleine Portionen, verhütet das Jneinanderfließen, marfirt die Gefichtspuncte und
erleichtert das Auswendiglernen, Canisius redivivus! Dem eigentlichen Katechis—
mus fann unbefchadet der biblifchen Gefihichte ein Fleinerer als Vorbereitung und
Grundlegung vorangehen, und ein für die Bedürfniffe der Reiferen und des
ganzen Bolfes angemeffen erweiterter nachfolgen. Vgl. Tüb. Ouartalfchrift Jahrg.
1843, ©, 120 ff. Jahrg. 1845. ©. 589 ff. Jahrg. 1848, S. 326 ff. und die
Vorrede zum Katechismus für das Bisthbum Rottenburg. [Sraf.]
Katechumenen — hießen in frühern Zeiten der Kirche diejenigen, welche
in den Anfangsgründen des Chriftentfums Unterricht empfingen, um fo zum Em—
pfange der hl. Taufe vorbereitet zu werden. Diefe Vorbereitung auf die hl. Taufe
ward im Verlaufe der Ausbreitung des Chriftentfums eine nothwendige Maß—
regel, um die Kirche vor vielen unwürdigen Mitgliedern zu bewahren, und das
Heilige nicht zu profaniren. Die Ratechumenen (zazmxovuevo), meiftens Er-
wachſene aus Heiden und Juden, mußten ſonach ein flufenweifes Auffteigen fich
‚gefallen laſſen, um zulegt im Schooße der Kirche Aufnahme zu finden. Die Auf-
nahme in das Ratechumenat gefhah durch Händeauflegung und Bezeichnung mit
dem Kreuze, Die Dauer des Unterrichtes, fowie das Alter, das Jemand bei der
Aufnahme Haben mußte, war unbeftimmt. Die in das Ratehumenat Aufgenom-
menen hatten das Recht, einem Theile des Kriftlihen Gpttesdienftes beizumohnen.
Seit dem vierten Jahrhundert waren im Ratechumenat folgende Stufen: 1) folde,
die bei den gottesdienftlichen Verfammlungen nur der Predigt beimohnen durften
(audientes); 2) folde, welche nach der Predigt auch noch dem Gebete beiwohn—
4*
52 Katehumenen-Meffe — Katholicismus.
ten und den Firchlichen Segen empfingen (genuflectentes), Bevor das hl. Abend-
mahl den Mitgliedern der Kirche (Rorois adeApoıs) gefpendet wurde, entlief
der Diacon die Ratechumenen mit dem Zurufe: „Ite Catechumeni, missa est!*
Gehet ihr Ratechumenen, die Verfammlung ift zu Ende! Daher die Bezeichnung
Missa catechumenorum für diefen Theil des Gottesdienſtes, dem die von den hl.
Geheimniffen noch ferne gehaltenen Katechumenen beiwohnen durften (f, Gläu—
bigen-Meffe). Uebrigens wird noch heutzutage der Schluß des Gottesdienftes
den verfammelten Gläubigen mit der Zufprache: Ite, missa est! angefündigt, da
das Wort Missa fpäterhin für Gottesdienſt überhaupt, beziehungsweife für bie
Feier der hl. Geheimniffe genommen ward, 3) Sole, welche ihre Prüfung er-
ftanden hatten und in der nächften feierlichen Zeit Can Dftern, Pfingften, bei den
Griechen auch an Epiphanie) zur Taufe zugelaffen werden follten (Ccompetentes,
electi, gwrıbouevor, d. i. Erleuchtete, ſ. Erleuchtung). Erft auf diefer
Stufe wurden fie in die chriſtlichen Myſterien, in die Lehren von der hl, Trini-
tät, der Incarnation, in die Bedeutung der hl. Sacramente und des Glaubens—
befenntniffes überhaupt eingeweiht, Hiernach wurden diefe Competenten noch
mehreren Serutinien unterworfen, mußten dem Teufel, feinen Werfen und Engeln
abfehwören; jet erft ward der hl. Taufact an ihnen vorgenommen: durch drei—
maliges Untertauchen des Körpers, bei Schwächern auch nur durch breimaliges
Befprengen, unter Ausfprechen der drei göttlichen Perfonen, des Vaters, des
Sohnes und des HI. Geiftes, In der fpätern Zeit, wo vorzugsweile an neu—
geborenen Kindern die HI. Taufe vollzogen ward, gefrhah diefelbe durch dreimalige
Begießung des Hauptes mit natürlichem Waſſer. Am Ende des dritten Jahr-
hunderts fam der unlöblihe Gebrauch, auf, die Taufe bis in's höhere Alter, ja
felbft bis zur Annäherung des Todes zu verfchieben, wie foldes von Kaiſer Con—
ftantin dem Großen erzählt wird, Allerdings mag die Haupturſache einer ſolchen
Sitte in der tiefen Ehrfurcht vor den großen Wirfungen diefes Sacraments ge—
legen gewefen fein; man nannte dafjelbe vorzugsweife die Gnade, Erleuchtung,
Heiligung (pwrıouos, ayıaouos), auch Vollendung (reisıov). Die Beſorgniß
nun, diefe herrlichen Wirkungen der Taufe durch wirkliche Sünden fpäter wieder
zu trüben oder zu verlieren, fowie die tröftliche Zuverficht auf die Lehre der Kirche,
daß durch den Empfang der HI. Taufe bei Erwachfenen außer der Erbfünde au
alle begangenen wirklichen Sünden ausgetilgt werden, was für Manche das Mo—
tio, die Taufe möglichft weit hinauszuſchieben, obwohl bei Manden auch bloß
ſittliche Trägheit und das Mißtrauen, den frengen Anforderungen an den Täuf-
Ying genügen zu fünnen, zu Grunde liegen mochte (f. elinifhe Taufe), Die
Taufe an Erwachfenen ward außer den folennen Zeiten meiſtens an Sonntagen
ertheift, und zwar meiftens vom Biſchofe; Priefter und Diaconen tauften auf
Delegation des Bifhofs. Von den neugetauften Katechumenen erhielt der ſog.
weiße Sonntag feinen Namen, da die an Oftern Oetauften als Zeichen der in
der Taufe wievererlangten Unfhuld acht Tage lang weiße Kleider trugen und
diefe erft am Sonntage nach Oſtern feierlich ableäten. [Dür.]
Katechumenen-Meſſe, ſ. Gläubigen-Meſſe.
Katharer, ſ. Albigenſer.
Kathedrale, ſ. Cathedrale.
Katholicismus. Der Ausdruck „Katholicismus“ iſt offenbar neuern Ur—
ſprunges und wahrſcheinlich, wie die Ausdrücke: „Babſtthum“, „Pontificius“,
„Romanensis* (Römling), „Ultramontan“ u. ſ. w. zuerſt in der Controverſe und
zwar anfangs von den Gegnern der katholiſchen Kirche gebraucht worden. Er
bezeichnet ſprachförmlich — eine für ſich abgeſchloſſene Secten- oder Partei-
ſtellung und iſt inſoferne für die katholiſche Kirche injuriös, als dieſe ſich als bie
in Wahrheit Eine und Einzige, als die allgemeine Kirche Jeſu Chriſti erkennt
und befennt, als fie dieſes Selbſtbewußtſein und dieſes Bekenntniß nie und nim—
Katholicis mus. 53
mer aufgeben wird und kann, und gerade dadurch jedem religiöſen Particularis-
mus entgegengefest if. Nur im Verlaufe der Zeit und durch feine allmählige
Aufnahme in Fatholifche Schriften Hat diefer Ausdruf (wie fo mander andere,
oft auch im entgegengefesten Sinne) die urfprünglich anftößige Bedeutung in Et—
was verloren, Er hat übrigens den Ausdruck Katholiſch“ (ſ. d. A.) ſprachlich
und den Ausdruck Ratholicität (ſ. d. A.) der Sache nah zur Grundlage,’ fo
daß bier Alles vorausgefegt werden fann, was zur Beleuchtung des fpecififch
Katholiſchen oder zur Vergleichung des Tegtern mit dem Häretifchen jeder Art
in dem Kirchenlericon als Encyelopädie der Fatholifchen Theologie und ihrer
Hilfswiffenfchaften überhaupt entweder unmittelbar oder allegatorifch vorfommen
mag. Es muß deßhalb die vollftändige und allfeitige Lehre von der Fatholifchen
Kirche, von ihren Merkmalen (f. Kirche), von ihrem dreifachen Amte (ſ. Amt),
von ihrer Berfaffung, von ihrer Iufallibilität und Auctorität, von ihrem Einfluffe
auf alle menfchlihen Verhältniſſe, namentlich auf die Familie, auf das Völfer-
leben, auf den Staat, auf die Wiffenfchaften und Künfte, von ihrem Glauben,
Lieben und Leben, oder von ihrer fegensreichen Wirkffamfeit nach Innen und Außen
und von den diefer entfprechenden kirchlichen Anftalten und Inflitutionen, fo wie
fie in den einfchlägigen Artifeln behandelt wird, als bereits bewiejen und erwiefen
angenommen werden, Denn der Katholicismus ift, er mag nun gegenſätzlich
zu den in fich ſelbſt erftarrten orientalifchen Kirchen und zu dem ſich felbft zer—
fegenden und auflöfenden Proteftantismus, oder pofitiv, das heißt, nach feinem
unendlich reichen Inhalte betrachtet werden, zur 25oynv das Katholiſche“ als
Syitem und organifches Ganzes, wie es war, wie es iſt und fein wird, die herr-
lichſte Dffenbarung der Fülle und Erhabenheit, der Länge, Breite, Höhe und Tiefe
des innern und äußern Lebens an der myftifchen Braut Chrifti, an der alten
und dabei ewig jungen Rirche, welche der Herr mit feinem Blute fi erworben
bat (Apg. 20, 28.). — Wohl iſt der Ratholicismus in letzter Reduction die
volle Anerfennung der von Chrifto in feiner Kirhe für alle Menfchen und
Zeiten gefesten Auctorität als folder und der Fatholifhe Glaube wefent-
lich Glaube an das, ja an Alles das, und zwar ohne Ausnahme und Unterfchied,
was und weil es die von Chriſto geftiftete Kirche, als folhe, zu glauben vor—
ftellt (Klee, Kath. Dogm. J. 322.); wohl ift der Katholicismus hiedurch dem
roteffantismus (f.d. A.) zunähft und principiell entgegengefest, da diefer
in feinem vollen und freien Begriff nicht mehr und nicht weniger ıft als die Nega—
tion der von Chrifto in feiner Kirche gefegten Auctorität, als folder, und die
Aufftellung der abftracten Individualität der Einzelnen als eigentlichen und ein-
zigen Auctorität, welcher und wegen welcher in letter Inftanz geglaubt wird
Klee 1. c.); wohl ift der Katholicismus die Allgemeinheit oder Katholicität des
Epriftentgumes felber in räumlicher und zeitlicher Beziehung; es verbinden fi
aber in dem Begriffe des Katholicismus mit dem Merkmale der Auctorität und
der Allgemeinheit auch noch das Merfmal der Einheit und Einigfeit, fo dag
die wahre Kirche Chriſti an allen Orten und zu allen Zeiten Daffelbe lehrt, die—
felben Heilsmittel befigt und ausfpendet und diefelbe Verfaffung hat, während»
dem andere von ihr getrennte, wenn auch hriftlihe Vereine, nad ihrer Ber-
ſchiedenheit an dem einen Drte fo, an dem andern anders Ichren, beten, fingen,
uch verſchiedene DVerfaflungsformen haben (v. Direy, Apolog. IIL 148). Es
et fih in dem Begriffe des Katholicismus ferner das Merkmal der Unver-
gänglich keit (Unzerftörbarkeit), wodurch er wefentlich eben fo die „Religion der
Zufunft“ wird, wie er potentiell und thatfächlich die eigentliche und einzige Reli—
gion der Vergangenheit war und ver Gegenwart ift. In diefer göttlich gewähr-
4 leifteten Unvergänglichkeit des Katholicismus Liegt denn auch das Merkmal feiner
intenfioften und ertenfivften Fruchtbarkeit, feiner wunderbaren Lebens-
entfaltung nad Innen und Außen, ſowohl für die Zeit, welche vor uns, als für
54 Katholicismug.
jene, welche Hinter ung Tiegt, Der Katholicismus Hat fih über alle und jede
Landesreligion hinaus, über alle nationalen Eigenthümlichfeiten und über den
flüchtigen Charakter des Geiftes irgend einer Zeit hinweg immer und wefentlich
als Weltreligion, ald den univerfalen Ausdruck des rein Neligidfen gewußt und
dargeftelft. Er ift aber auch in und durch feine lebensmächtige, ungerftörliche Univer-
falität den Individuen und Völfern gegenüber in der conereteften Wirffamfeit
aufgetreten, er hat gerade durch feine Erhebung über das Bornirt-Nationale und
Zeitgeiftige die gefunde Entwicklung der einzelnen Menfchen, wie ganzer Stämme
und Nationen ermöglicht, gefördert und allfeitig vollendet; er hat das Stillleben
jeder einzelnen Bauernhütte geordnet, veredelt und verflärt, er hat Völfer groß
gezogen, er hat Sclavenfetten gebrochen, Fürften ihre Kronen gegeben und —
erhalten. Der Katholicismus erfaßt immer und überall den ganzen Menfchen
nach feiner Teiblihen und geiftigen Seite, in feinem Denfen, Fühlen, Wollen
und Thun, in feiner perfönlichen und gefellfchaftlichen Stellung, in feinen in-
teffeetuelfen und moralifhen Bedürfniffen zugleih und ebenmäßig, Er ift die
Religion des fpeculativen Denfers und des einfachen Landmanns, der weder Iefen
noch ſchreiben kann; der gebildete Europäer befennt denfelben Glauben mit dem
Fathofifchen Indianer des Urwaldes, es nährt fie diefelbe Hoffnung, es einigt fie
diefelbe Liebe, fie verehren dag gemeinfame Dberhaupt der Kirche in dem 5,
Bater zu Rom, der die Concilienacten „als Bifhof der allgemeinen, Fatholifchen
Kirche” unterfhreibt und für feinen geliebten Sohn, den Kaifer und König, das
nämliche Lehrwort und den nämlichen Segen hat, wie für feine Kinder, die Roth-
häute, wenn fie in ihrer wortarmen Sprache ihm ihre Ergebenheit bezeugen.
Der Katholicismus ſchmiegt fih jeder Eulturftufe des Menfchengefchlechtes an,
er Iehrt aus dem Munde Auguftin’s den horchenden Mönch das Geheimnig der
Dreieinigfeit erforfchen, er betet mit St, Dominicus dem armen Hirten die Ge—
heimniſſe der Menſchwerdung und Erlöfung am Rorallenpfalter vor, Der Katho-
lieismus hat Raum in feinem Schooße für jede Individualität nach ihrer natür-
lihen oder übernatürlihen Begabung, er bildet die riftlihe Hausfrau und
Mutter, wie die jungfräulihe Nonne, er gewährt dem befchaulichen Leben ebenfo
Recht und Schuß, wie er die werfthätige Liebe erhebt und preist, er heiligt die
Che in ihrer Unzertrennlichfeit und Sacramentalität ebenfo, wie er das Beffere
dem Guten in der Virginität vorzieht. Der Katholicismus hat den herrlichften
Bund mit den Künften und Wiffenfhaften gefchloffen; er hat die meiften Univer-
fitäten gegründet, dotirt und organifirt, feine Söhne ſtehen in allen Zweigen
menfhlihen Wiffens ebenbürtig neben ihren nichtkatholifchen Fachgenoſſen; der
gelehrte Fleiß und die emfige Forſchung des einfamen Mauriners ziert manch’
ein proteftantifches Buch, ohne daß es feine Quellen nennt, und gar mancher alte
Fatholifche Dom beherbergt das in Tert und Weife ärmlich ausgeftattete Lied und
die Falte Predigt des Proteſtantismus. Der Katholicismus hat noch für jedes im
Laufe der Zeit fih offenbarende Gebrechen das angemeffene Heilmittel in feinem
eigenen Schooße gefunden, er hat der Welt und ihrer Pracht die Entfagung des
Mönches, dem unfittlichen Treiben der adeligen Prälaten den armen Franziscaner ent-
gegengeftellt und heute noch ſtellt er dem felbft- und habfüchtigen Ringen nach Geld und
Genuß die alles opfernde graue Schwefter gegenüber, Der Katholieismus wurde nie
müde dag Evangelium zu allen Völfern der Erde zu tragen, damit e8 wenigftens allen
Völkern der Erde gepredigt werde, wenn auch diefe den Glauben aus eigener
unglücfficher Wahl zurücftoßen follten. Das Sprachenfeft in Nom und die Auf-
opferung fo vieler Miffionäre ift beredter als die Schiffsladung der Bibelgefell-
haften, — In dem Begriffe des Katholieismus findet ſich endlich noch die un»
zertrennlihe Schwefter der Einheit und Einigfeit, die wunderbare Confequenz,
welcher felbft die eifrigften Proteftanten ihre Achtung nicht verfagen fünnen, Das
Princip der unfehlbaren Firchlichen Auetorität einmal zugegeben, Fann feine Ein-
—
Katholicismus. 55
wendung ſtichhaltig gegen den Katholieismus, gegen die Lehre, Verfaſſung und
Disciplin feiner Kirche mehr auffommen; die Einheit in der Lehre, im Cultus,
in der Kirchenfprache (ſ. d. A.), in der Regierung und Zucht ift wie von felbft da und
vorhanden, der Katholicismus trägt gerade durch feine Eonfequenz die wahrhafte
Ausgleihung des fupranaturalen und rationalen Momentes der Religion in ſich;
er regelt die freie Forfhung dur die normgebende, unfehlbare Auctorität ohne
fie zu unterbrüden; er ordnet die reiche Mannigfaltigkeit des Lebens zur fchönften
Einheit, er verbindet die fpiegelhelle Klarheit und die unſchuldige Heiterkeit chriſt-
licher Lebens- und Weltanfhauung mit der ahnungsvollſten Tiefe der Wiffen-
Schaft göttlicher Dinge und mit der verborgenften Seligfeit in Gott, Es gibt für
den Menfchen feine urfprünglich freudigere Empfindung als die Empfindung des
eigenen Seins, feinen nachhaltiger feligen Gedanfen als den Far gedachten Aus-
foruch feiner Selbfigewißheit: „Ich bin“ * „ich bin durch Gott!“ Dieſem ge—
ſchöpflichen Ichgedanken ſteht aber an ſeligem Selbſtgefühl, an innerer, freu-
diger Ueberzeugung und Selbſtgewißheit die Empfindung des gläubigen Herzens
am nachſten, welche ſich in den Worten Luft macht: „Ich bin Katholik!“ —
Das katholiſche Selbſtbewußtſein einigt die Gläubigen aller Zonen als Brüder,
und wie Wiſemann (Kath. Lehren und Gebräuche III. Vorleſ.) ſo ſchön ſagt:
„nicht bloß als Genoſſen einer Gemeinſchaft, ſondern als Glieder Eines geheim-
nißoollen Leibes, die nicht durch das Gefühl des gegenfeitigen Mangels, nicht
durh Bande der Blutsverwandtfchaft, nicht durch weltliche Intereffen, fondern
durh Ein Haupt feft vereiniget find und vermöge des Lebensftromes, welder
von Einem zum Andern fließt, im innigften Seelenverfehr miteinander ſtehen.“
Das Fatholifche Bewußtfein einiget die Gläubigen aller Zeiten, es identificirt den
berühmten Ausfpruch des h. Auguftin: Tenet (me in ecclesia catholica) consensio
populorum atque gentium; tenet auctoritas miraculis inchoata, spe nutrita, chari-
tate aucta, vetustate firmata, tenet ab ipsa sede Petri apostoli, cui pascendas oves
suas post resurrectionem Dominus commendavit, usque ad praesentem episcopatum
successio: tenet postremo ipsum catholicae nomen quod non sine causa
inter tam multas haereses sic ista ecclesia sola obtinuit, ut cum omnes haeretici
se catholicos diei velint: quaerenti famen peregrino alicui, ubi ad catholicam
convenialur, nullus haereticorum vel basilicam suam vel domum audeat ostendere
Ceontra epist. Fundament. c. 4) und die befannte Apoſtrophe Boffuet’$ an die
römische Kirche mit dem Liede: Katholiſch ift gut ſterben!“ veffen lieb—
lihe Töne in unfern Tagen über die Fluthen des majeftätifchen Nheines zittern,
Das Fatholifhe Bewußtfein ergreift und tröftet den blonden Sohn des Nordens,
wenn er tief im Süden, wo Niemand feine Sprache fennt, in die Kirche feines
väterlihen Glaubens tritt und überall diefelben Heiligtümer, diefelbe gottesdienft-
liche Handlung und Sprade trifft. Das Fatholifhe Bewußtfein jubelt in dem
Gedanken, daß zu jeder Stunde des Tages und der Nacht auf dem in zwei Hemi-
ſphären getheilten Erbballe das h. Meßopfer dargebracht wird, und daß der Ka—
tholif fi jeden Augenblid in den myftifchen Kreis der ewigen Anbetung des aller-
beiligften Altarsfacramentes verfegen Ffann. Das Fatholifhe Bewußtfein erhebt
fih in der Idee der Einheit und Gemeinfamfeit des Glaubens, welder, da er
feine Trennung und Auswahl der Mahrheit zuläßt, alle Gläubigen zur Einheit
und Gleihförmigfeit ihrer Gedanken verbindet. Das Fatholifche Selbfibewußt-
fein ift wefentlich das freudige Bewußtfein perfönlicher Irrthumsloſigkeit an der Hand
desuntrüglichen Lehramtes in der Kirche, Das Fatholifche Selbſtbewußtſein iſt aberauch
wefentlich das felige Bewußtfein allumfaffender Liebe, die nicht nur die Brüder auf Er—
den, fondern auch die Brüder im Himmel und im Fegefeuer verbindet, und in der Ge-
meinfchaft der Heiligen ſich ausdehnt über die Gläubigen aller Zeiten von Adam big
auf uns, ja bis an das Ende der Zeiten und über diefes hinweg zur ewigfeligen An
ſchauung Gottes im Himmel, Diefes Fatholifhe Selbftbewußtfein erwärmt und
56 Katholicität — Katholiſch.
entzündet ſich immer auf's Neue an dem Gebete des Heilandes vor ſeinem Leiden
(Joh. 17, 20. 21.): „Aber ich bitte Dich nicht für fie allein, ſondern auch für
Diejenigen, welche durch ihr Wort an mich glauben werben; damit Alle Eins feien,
wie Du, Vater, in mir bift und ich in Dir bin, damit auch fie in ung Eing feien;
damit die Welt glaube, daß Du mich gefandt haft.” Das Fatholifche Selbftbe-
wußtfein faßt endlich feine Selbftgewißheit in die Worte zufammen: Facilius du-
bitarem vivere me, quam esse vera, quae audivi (S. Aug. 1.7. Confess, c. 10). —
Zur Literatur: Wifemann, die vornehmften Lehren und Gebräuche der katho—
liſchen Kirche, Teutfch von Haneberg. Negensb, 1838. — Höninghaus, das
Refultat meiner Wanderungen durch das Gebiet der prot. Literatur, Aſchaffenb.
1835. — Kaftner, Würde und Hoffnung der Fath. Kirche 2, Aufl, Sulzbach 1826. —
Katholicismus und Nichtkatholieismus in Beziehung auf Wahrheit und Vollſtän—
digkeit des Olaubens Ebd, 1827. — Staudenmaier, das Wefen der Fath,
Kirche 2. Aufl, Freiburg 1845. [Häuste,]
Katholieität, f. Kirche,
Katholifceh, (aaIoAızös von 040g) heißt fprachlich fo viel als allgemein
fowohl in räumlicher als in zeitlicher Beziehung. Sp liest man z. B. in Duine-
tilian's Instit. orat. 1. I. c. 13: praecepta, quae x@JoAıza vocant, id est (ut
dicamus, quomodo possumus) universalia velperpetualia. Die wahre drift-
liche Kirche führt als ihr drittes Merkmal feit dem erften hriftlichen Jahrhunderte
(Cepist. ecclesiae Smyrnens. de mart. S.Polycarpi — tit. nris. 8. 19) den Namen
der allgemeinen oder der „Fatholifchen“ in räumlicher und zeitlicher Hinficht (ſ.
Kirche) und daß fie diefen Namen durch ihr Alles einigendes Auctoritätsprineip,
durch ihre Ungerftörbarfeit, durch ihre Alles durchdringende, Alles umfaffende
Wirkfamfeit nach Innen und Außen und dur ihre faunenswerthe Confequenz
wirklich verdiene, follte in dem Artifel Katholieismus flüchtig angedeutet wer—
den. — Hier fommt das „Ratholifche” Tediglich als fpecielles Prädicat des chrift-
lichen Glaubens oder der chriftlichen Lehre, des chriftlichen Cultus und der chriſt—
lichen Sitte, ferner nach feinen nähern, aus den Firchlichen Gegenfägen hervor—
gehenden Beftimmungen in Betracht, Es fommt aber auch hier wieder zu Tage,
daß das „Ratholifche” nothwendig mit der „Einheit und Einigkeit“ zu-
fammenhängt und eben dadurch als ächte Eonfequenz-fih darſtellt. — Das
Lehrwort des untrüglichen Lehramtes in der Kirche ift ſtets und wefentlich Fatho-
Lifch, weil es immer die Merkmale der Allgemeinheit, des appftolifchen Urfprun-
ges und der gemeinfanen Ueberzeugung an ſich trägt, oder die Merkmale, welche
Vicenz von Lerin fo fhön mit: universalitas, anliquitas und consensio bezeichnet
(Id teneamus, quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est.
Commonit. c, 3). Daher kommt es denn auch, daß alle die Millionen Katho—
Yifen, welche über den ganzen Erdball zerſtreut find, Daffelbe glauben, jeder
Einzelne was alle Mebrigen und alle Uebrigen was jeder Einzelne, und daß der
Glaube der Katholiken in allen Jahrhunderten der nämliche ift und fein wird.
Daher offenbart fih denn auch an dem Ffatholifchen Glauben eine Gleihfürmig-
feit und Einheit, welche fich gleichfam felbft fteigert, da der Glaube der chriſt—
Yichen Einzelgemeinden in dem Glauben ihrer Geelforger, der Glaube der Seel-
forger in dem Glauben ihres DideefanbifhF8, der Glaube der Biſchöfe in dem
Glauben des römifchen Papftes fich einet und zufammenfchließt, und daß fo die
Worte der Apoftelgefhichte (4, 32,.I: „Die Menge der Gläubigen aber war Ein
Herz und Eine Seele” in Beziehung auf die Glaubenseinheit jegt und durch alle
Sahrhunderte wahr find und wahr bleiben. Katholifch ift mithin Alles, was ung
das untrügliche Lehramt der Kirche zu glauben vorftellt, es fei gefchrieben oder
nicht. Die doctrina catholica fällt alfo mit dem dogma catholicum, mit dem arti-
culus fidei, mit der doctrina de fide zufammen (f.d. A. Do gima). Bon der doc-
trina catholica muß jedoch unterfchieden werben Die dootrina catholicorum, Unter
*
Katholiſch. 57
dieſer verſteht man nämlich ſolche Lehranſichten einzelner Theologen, rüdficht-
lich welcher ſich die Kirche nicht ausgeſprochen hat, z. B. ob ſich die Inſpiration
auch auf denjenigen Inhalt der Hl. Schriften erſtrecke, der mit der Glaubens-
und Sittenlehre in feinem Zufammenhange ſteht. — Katholifche Lehre und zwar
fpeeififch Fatholifche Lehre ift ferner jede Unterfheidungslehre nicht nur
deßhalb, weil fie bloß die Katholiken feſthalten, fondern weil bei näherer und vor—
urtheilsfreier Betrachtung an jeder Unterfcheidungslehre die drei Merkmale, welche
wir oben nach Vincenz von Lerin angegeben haben, deutlich nachgewieſen werden
fonnen, und weil an derfelben ächtwiffenfhaftlihe Confequenz ſich offenbart, und
eine wahrhafte Berfühnung des fupranaturalen und des rationalen Momentes,
das an jeder pofitiven Lehre fih vorfindet. — Wodurd erlangt aber der Cultus
unferer Kirche das Prädicat katholiſch“ — Einmal dur den apoftolifchen
Urfprung feiner repräfentativen, ethifchen und facramentalen Grundlagen; ferner
durch fein ftetes Angewiefenfein an die Ichrende und leitende Kirche als an die zu
feiner Fortbildung, Pflege und Ueberwahung berufene und rechtmäßige Inftanz,
woburd die Willfür und der Particularismus auf dem Gebiete der Liturgie ſchon
an und für fih beſchränkt wird, und wodurd die merfwürdige Hebereinftimmung
aller alten Liturgien, fowie die allgemeine Einführung der römifchen Liturgie im
Abendlande ihre Erflärung und Rechtfertigung findet, ja felbft zum fprechendften
Zeugen für die Univerfalität, Einheit und Confequenz der fatholifchen Kirche wird,
Der Cultus unferer Kirche ift ferner wejentlih katholiſch durch fein wirkliches
Leben, durch feine Imnerlichfeit und durch feinen beveutungsvollen dreifachen
Zweck, nämlih: 1) als Ausdruf des religiöfen Lebens der Kirche, der Gemeinde
und ihrer einzelnen Glieder, als Ausdruf des der Kirche und ihren Gliedern
inwohnenden gläubigen Bewußtfeins, als Manifeftation der Religion an fih und
als Darftellung der Kirche nach ihrer Sichtbarfeit und Univerfalität, als Ausdruck
und Bermittelung unferer Gemeinfchaft mit der jenfeitigen Kirche; 2) in feiner
ethiſchen Richtung auf die Vermittelung, Erhaltung und Fortführung des Krift-
lichen Glaubens und Lebens; 3) in feiner facramentalen Bereinigung des Men—
fen mit Gott und dur feine reale Zuwendung der göttlichen Gnade, Dent
gerade durch feine lebensvolle Wefenhaftigfeit, durch feine Grundtendenz auf das
Innere und in dem angegebenen dreifachen Zwecke umfaßt der Fatholifche Cultus
den ganzen Einzelmenfchen wie die ganze hriftliche Kirche. Der Eultus unferer
Kirche verdient ferner das Prädicat: Fatholifch durch die Allgemeinheit, Einheit
und Stätigfeit feiner Grundformen, nämlih der Sprache, der Handlungen und
Symbole, und endlich ganz vorzüglich durch das nur in der Fatholifchen Kirche
perennirende Prieftertfum und durch feinen hochheiligen Mittelpunct, die unauf-
börliche, unbIutige Fortiegung des blutigen Opfers am Kreuze. Mit der Angabe
der zulest genannten Fatholifchen Momente des Eultus haben wir aber auch ſchon
das Gebiet des fpecififch Ratholifchen in dem Cultus unferer Kirche betreten, Da
der chriſtliche Cultus wefentlih entweder Iyrifche, oder didactifhe, oder ſacra—
mentale Berförperung des hriftlichen Glaubens und Lebens ift, da er überdieß
eine aus dem beftimmten Glauben hervorgehende ethifche Grundtendenz bat, fo
iſt es ganz natürlich, daß das fpecififch katholiſche Moment unferer Kirche be-
ſonders in dem Gottesdienfte und feinen Apvertinentien ſich offenbart. Hieher -
gehören, um nur Einzelnes zu erwähnen, z. B. die eben fo finnvollen als ergreifen-
den Eeremonien bei den verſchiedenen gottesdienftlihen, namentlich facrramentalen
Handlungen, die eigenthümlichen liturgiſchen Gebräuche, bilvlihen Darftellungen
und nah der Farbe wechfelnden Firhlichen Kleider an den Hanptfefttagen des
Jahres und in der diefen unmittelbar vorhergehenden heiligen Zeit, der befondere
Jahrescyelus der Marienfefte und die eben fo zarte als erfinderifche Verehrung
der jungfräulihen Gpttesmutter überhaupt, die Verehrung der Heiligen, ihrer
& Bilder und Reliquien, die fogenannten Onadenbilder, die Proceffionen und
58 Katholiſch.
Wallfahrten, der häufige Gebrauch des hl. Kreuzzeichens und der Kniebeugung,
die Segnungen und Weihungen jeder Art, beſonders mit naturſymboliſcher Be—
ziehung, der Gebrauch des geweihten Oeles, Waſſers und Salzes, der brennen-
den Lichter, des Weihrauches, der gefegneten Blumen, Kräuter und Speifen, die
mannigfaltige Igrifche, myftifhe und ethifche Hereinbeziehung der Kunſt nach allen
ihren Arten in den Gottesdienft, die eigenthümliche innere und äußere Ausftattung
der Firchlichen Gebäude, der Zabernafel und die Beichtftühle der Pfarrkirche
(f. d. A. Eultus und Liturgie; pgl. Lüft's Liturgik I. und II. Bd,). — Aus
der beftimmten religidfen Veberzeugung, aus den ſtehenden Eultformen, aus den
auf die concreten häuslichen und öffentlichen Verhältniffe fich beziehenden Gitten-
vorfchriften einer Firchlichen Genoſſenſchaft und aus der fpeciellen Stellung ihrer
Borftände zu den einzelnen Gemeinden und ihren Gliedern geftaltet fih das, was
wir bei den Chriften die chriſtliche Sitte zu nennen pflegen. Diefe zeigt fich
aber bei den Katholifen bald auch als eine fpecififch katholiſche und gibt ſo—
wohl den Gemeinden als den einzelnen Gliedern derſelben ein fehr beftimmtes
und unterfeheivendes Gepräge, fo daß man jene Ortfchaften und Perfonen, in
welchen der fogenannte Fatholifhe Sinn noch Iebt, augenblicklich herausfindet
und erfennt, Wie der freudige Chriftengruß, das herzlihe „Gelobt fei Jeſus
Chriftus!”, dem Fremdling von dem begegnenden Landmann zugerufen, und die=
fem den Ratholifen erfennen läßt und das Herz des gläubigen Wanderers in eine
eigenthümliche Rührung verfegt, fo macht auch das vor ihm Tiegende Fatholifche
Pfarrdorf einen befonders freundlichen Eindrudf auf fein Gemüth, Auf dem
Thurme der befcheidenen Kirche ragt das Kreuz empor und aus demfelben tönt
ihm das Ave Marialäuten (f. d. A.) entgegen. Der Weg in den zur Abendruhe
erwählten Ort führt ihn an eine Feldcapelle oder an einem Miſſionskreuze vorüber,
das altersgrau und mit Mühe noch aufrecht fteht oder aber in neuefter Zeit auf-
gepflanzt wurde, Bon dem nahen Hügel winkt das Calvarienbergsfirchlein herab,
und aus dem nächften Haufe vernimmt er das NRofenfranzgebet, zu welchem ber
Hausvater alle Angehörigen des Haufes verfammelt hat, weil heute Samstag iſt.
Ein paar Häufer weiter betet ein blondgelocdter Knabe eben fein letztes Vater
unfer „für die armen Seelen“ vor dem Schlafengehen, und die Mutter fpricht
ihrem jüngften Rinde das Gebet zum hl. Schugengel vor, In der Kirche, die
der Wanderer nun erreicht, hat der Pfarrer eben das Salve regina angeftimmt,
nachdem er von der fehulpflichtigen Jugend und der Ortsobrigfeit unter Vor—
tragung des Kreuzes begleitet vor dem Beinhaufe des nahen Gottesackers dag De
profundis gefprochen hat. Jetzt nimmt den Fremden die befcheidene Wirthsftube
auf, im Tifehwinfel hängt das Kreuzbild, und darunter das Bild der feligften
Zungfrau, und die Wirthin entfchuldigt fich freundlich, daß fie Feine Fleifchfpeife
habe, weil Samstag und dazu ein gebotener Fafttag fei. Am folgenden Sonn-
tagsmorgen verfammelt das feierliche Glockengeläute Alt und Jung in der Kirche,
denn es ift ver Tag des Herrn und der Katholif ift durch das Kirchengebot ver-
pflichtet, die HI. Meffe und Predigt mit gebührender Andacht zu hören, Es Liegt
eine eigenthümliche, von dem büftern Ernfte der Proteftanten im nahen Dorfe
über dem Nhein feltfam abftechende Heiterfeit auf den Zügen der einzelnen Glie—
der der Gemeinde; man fieht e8 übrigens den Müttern an, daß auf die herzliche,
die ganz eigenthümlichen Verhältniffe der Pfarrfinder und ihres Familienlebeng
berührende Predigt des greifen Pfarrers in der Kirche, nah Tifh an dem hei-
mifhen Herde eine vielleicht noch längere und noch fpecieller angewendete folgen
wird, und bei der nachmittägigen Gemeindeverfammlung dürften manche Winfe
des Seelforgers mafigebend werden, denn es handelt ſich um die Uebergabe der
Mädchenfchule und des Armenhaufes an drei barmberzige Schweftern. Bergib
mir, freundlicher Lefer! daß ich dir eine Fugenderinnerung und zum Theil das
Bild meines Geburtsortes, wie e8 damals war und jegt vielleicht nicht mehr iſt,
2 re
Katholiſche Briefe — Kebsweib. 59
vorgeführt Habe, um anzubeuten, daß die Häusliche und öffentliche Sitte unter
Katholiken weſentlich katholiſch iſt. — Nun Fommen noch die näheren Beſtimmun⸗
gen des Wortes „katholiſch“, nämlich 1) römiſch Fatholiih, ein Ausdruck, der
zunächft feinen Urfprung darin hat, daß die morgenländifhe Kirche auch nad ihrer
Trennung von der abendländifchen noch fortfuhr, fich die Fatholifche zu nennen;
er wurde und wird von vielen Katholifen noch immer gern gebraudt, weil er zu=-
gleich die Verbindung mit dem fihtbaren Dberhaupte der Kirche oder mit dem
Mittelpuncte der Fatholifhen Einheit bezeichnet, obwohl: er in den ältern katho—
liſchen Glaubensbefenntniffen nicht vorfommt und obwohl er manchen Leuten nicht
recht mundet, entweder weil fie zwifchen ihrem idealen (fubjectiven) und dem
„römischen“ Katholicismus unterfcheiden zu dürfen glauben, oder weil ihre Vor—
liebe für die pofitive Univerfalität des Wortes „Fatholifch” durch jede Befhränfung
derfelben — felbft im Ausdrufe — weniger angenehm berüßrt wird (Leu, allg.
Theologie. S. 327). Leider wird die Bezeihnung „römifch-Fatholifche” Kirche
vielleicht noch Tange ihren guten Grund haben; denn fie wird nicht nur der ge—
trennten griechifchen Kirche gegenüber, fondern felbft ver „proteftantifch-" oder
„evangeliſch“-katholiſchen Kirche (ogl. Guerife, Kirchengeſch.), wie einzelne
Proteſtanten ihre Neligionsgefellfhaft nennen möchten, und dem non sens des
Teutſchkatholicismus“ gegenüber beibehalten werden müffen. — 2) Griechiſch—
Fatholifch ift die weniger richtige Benennung der unirten griechiſchen Kirche,
deren Glieder wohl beffer „Katholifen des griechifchen Ritus” zum Unterfchiede
von den „Ratholifen des lateiniſchen Ritus” genannt werden. — 3) Chrift-Fatho-
liſch. Diefer Ausdruck, welcher ſprachrichtiger „hriftlich-Fatholifch“ lauten follte,
ift wie fein Zeitgenoffe der Ausdruf „Chriftofratie”, als bereits wieder ver—
geffene Bezeichnung der Firchlihen Regierungsform, und das etwas fpätere, aller-
dings gutgemeinte „petro-apoftolifche Lehramt” eine nicht gar glüdliche Erfin-
dung, und, wie Klee (Encycelopädie d. Theol. ©. 45) bemerft, ganz unftatthaft;
denn das „Chriftliche” fteht Hier als Weiterbeftimmung des „Ratholifchen”, wäh-
rend logiſch richtig diefes eine Weiterbeftimmung des „Ehriftlichen” if, Auch
fann es nur zu dem „Undhriftlich- Katholifchen“ im Gegenfage ftehen, wenn
man es nicht in ungefchickter Weife, wie bisweilen gefchehen, dem „Römiſch—
katholiſchen“ entgegenfegen will, Nach Klee hat Rom überdie den Ausdruck:
„Sriftkatholifch” getadelt. — Dem Ausdrude: „Katholiſch“ ift endlich 4) der in
neuefter Zeit von den öftreichifchen Proteftanten abgelehnte Ausdruck: „afatho-
liſch“ direct entgegengefegt. Es wird mit demfelben überhaupt alles Nicht-
Fatholifche bezeichnet, und er umfaßt deßhalb alle hriftlichen, aber nichtfatholi-
ſchen Befenntniffe, z. B. in der frühern öſtreichiſchen Geſetzgebung die nicht unirten
Griechen, die Unitarier, die augsburgifchen und helvetiſchen Glaubensverwandten.
Es kaun den Nichtkatholifen allerdings nicht zugemuthet werden, daß fie fich felbft
„Alatholifen” nennen follen; im Munde der Katholiken aber ift diefer Ausdruck
jedenfalls milder, als die wiffenfchaftlich richtige des Häretifers, und den Prote-
ftanten felbft weniger präjudicirlih, ald wenn diefe den „Eatholifchen” Chriften
gegenüber fich felbft die (vorzugsweife) „evangelifchen” CHriften nennen. [Häusle,]
Katholifche Briefe, f. Briefe, katholiſche.
Kebsweib, us>2, chald. anp>2, daraus neilaxis, nallek, pellex. Wie
bei den meiften Völfern des Altertfums, fo treffen wir auch bei dem Bundesvolfe
das Gefhlechtsleben in Polygamie und Eoncubinat (Rebsweiberei) fündlih aus-
geartet und entftellt. Auch in diefem Puncte war die urfprüngliche von Gott ge-
fegte Ordnung dur den Fall des Menfchen geftört worden, nicht mehr die gleich-
berechtigte Perfönlichkeit, fondern das des höheren ethifchen Momentes entkleivete
Geſchlechtsverhältniß bildete fortan die Grundlage in dem Leben zwifchen Mann
und Weib, legteres gerieth in eine unwürbige Abhängigkeit. Dieß ift der Grund,
aus dem die verjchiedenen Entftellungen des Geſchlechtslebens zu erflären find;
60 Kedar — Keil,
was man gewöhnlich als Urſache davon bezeichnet: das wärmere Klima des
Drients, der allmählig eingeriffene Luxus der Mächtigen und vorzüglich die Furcht,
kinderlos bleiben zu müffen (fo 3. B. Kalthoff in feinem Handbuch der hebr,
Alterth, ©. 352), ift untergeordnet und Folge der getrübten Anfchauung. Konnte
fih auch das auserwählte Volk der allgemein gewordenen Verirrung nicht gänz-
lich erwehren, fo findet fi doch und befonders bei den Patriarchen immer noch
eine lebendige Ahnung deſſen, was dießfalls göttliche Ordnung iſt. Abraham,
Träger der Verheißung zahlreicher Nachfommenfchaft, aber kinderlos und hoch—
betagt, will eher feinen Knecht adoptiren (Gen. 15, 2, 3.), als ein Kebsweib
nehmen, obwohl folches die Stammesfitte (vgl. Gen. 22, 24. 36, 12.) erlaubte,
er entfchließt fih erft dann hiezu, als Sara, fein Eheweib, ihn ausdrücklich auf-
forderte (16, 2.)5 Iſaak hatte, obſchon Rebecca erft im 20ten Jahre ihrer Ehe
Mutter ward (25, 21 ff.) nur Eine Gattin; Jacob erhielt die zweite wider Wil-
len (29, 23 ff.). Das Gefeg traf das Bolf in einer dur) die Sünde mannig=-
fach alterirten Zuftändlichfeit, es Fam mit dem Zweck der Heiligung, fonnte aber
nicht plöglich neu fohaffen, fondern nur das Ideal ausfprechen und baffelbe als
helfen Spiegel für alle Lebensbeziehungen hinhalten; was als tiefgewurzelte, mit
dem Leben verwachfene Sitte fih vorfand, hat e8 wo möglich berichtigt, und wo
es nicht andere fonnte, erlaubt Caber nie befohlen), was die Herzenshärte
(Matth. 19, 8.) noch nicht völlig aufzuheben geftattete, Sp auch den vorliegen-
den Öegenftand. Die Kebsweiber follten wie Töchter des Haufes behandelt, in ihren
Nechten durch Andere nicht verfürzt werden (Exod. 21, 9.); wird eine Kriegs-⸗
gefangene dazu beftimmt, fo darf fie vorher einen Monat lang ihre Eltern be-
weinen; findet ihr Herr feinen Gefallen mehr an ihr, fo Fann fie entlaffen, aber
nicht verfauft oder zur Selavin gemacht werben (Deut, 21, 10 ff.), Sie war
dem Manne, der fie einmal angenommen, zur’ Treue verpflichtet (2 Sam, 3, 7.);
den Verführer traf Strafe (Gen. 35, 22. mit 49, 3, 4. und 1 Chrom, 5, 1.)
Die Kinder der Nebenweiber fanden den legitimen in Bezug auf Erbſchaft nach
(Gen, 21, 10, 24, 36.), und waren wohl nur auf Geſchenke des Vaters ange-
wiefen (Gen. 25, 6.). [König.]
Kedar (Cedar, 77), der zweite Sohn Iſmaels nach Gen. 25, 13, 1 Chron.
1, 28., fowie nach den arabifchen Genealogien (bei Pocode), Seine Nachkom—
men werden öfters in der Schrift erwähnt als ein ftreitbares (Jeſ. 21, 17. gute
Bogenſchützen) und ftreitluftiges (Pf. 120, 5.) Volk, reich an Herden, mit deren
Producten fie Handel treiben (Jerem. 49, 28 ff, Ezech. 27, 21. Jeſ. 60, 7.),—
ein ächtes Bild arabifcher Lebensweife und daher geradezu ihr Nepräfentant (in
den eit. Stell.) ; bei den Rabbinen heißt die arabifche Sprache die Sprache Ke—
dars. Nach Jerem. 2, 10. und Pf. 120, 5. müffen fie von Paläftina etwas ent-
fernt gewohnt haben, nach Hieron, Onom. in eremo Saracenorum, oder deutlicher -
Comment. in Jes. 72. Cedar inhabitabilis est regio trans Arabiam Saracenorum,
d.h, auf der öftlichen Seite der Wüfte gegen den Euphrat hin, wo fie noch zu
den Zeiten Theodorets (in Pf, 123.) ihre Herden bis in die Nähe von Babylon
trieben. Plinius V, 12. fegt ebenfalls die Cedrei in diefe Gegend und verbindet
fie mit den Nabatdern, wie ef. 20, 7, Kedar und Nebajoth. Sp nennt au
Steph. Byzant. die Kıdgaviraı und Zagaxıpoı Nachbarn der Naßaraloı, vb=
wohl er fie irrthümlich zu Arabia felix rechnet, Die Saracent (von pw ftehlen,
rauben) find übrigens nichts anders als die beuteluftigen Kedarener feldft,
Kedes, ſ. Kades.
Kedron, ſ. Cedron.
Keil, Carl Auguft Gottlieb, Sohn des J. G. Keil, Oberacciseinnehmers
zu Großenhayn unweit Dresden, geboren den 23. April 1754, verlor ſchon im
3. 1758 beide Eltern und wurde einem Bürger zu Großenhayn, Namens Hoff-
cn ee ee u nie a A Me
Keil. 61
mann, zur Pflege übergeben, bei dem er bis zum Ende des fiebenjährigen Krie-
ges blieb, Im Jahr 1764 Fam er zu feinem Oheim, dem Nathsproclamator J.
2, Berringer zu Leipzig und erwarb fich theils in der dortigen Nicolaifchule, theils
durch den Privatunterricht bei Neisfe, Funke und Hübfhmann gründliche Kennt»
niffe in den alten und neuen Sprachen. Im J. 1773 begann er die academifche
Laufbahn und befchäftigte fich zunächft Hauptfächlich mit Philologie, dann mit
theoretifcher und practifcher Philofophie, Mathematik und Phyfif, und wählte
endlich zu feinem Hauptftudium die Theologie. Unter den theologiſchen Wiffen-
ſchaften aber zog ihn befonders die biblifche Exregefe an, und er beſuchte daher
vorzugsweiſe die eregetifchen Vorlefungen von Ernefti, Dothe, Anton, Morus
u. U., von denen ihn der Teßtgenannte am meiften befriedigte und auf feine theo—
Logische Richtung großen Einfluß hatte, Nach Beendigung feiner academifchen
Studien erhielt er die Magifterwürde (1773) und wurde auf die Empfehlung des
Morus hin Hauslehrer beim Grafen von Vitzthum. Drei Jahre fpäter (1781)
wurde er Magister legens und hielt Vorlefungen über biblifche Hermeneutif und
Eregefe, und nachdem er das theologiſche Baccalaureat erhalten hatte (1785),
auch über Moraltheologie. Jetzt erhielt er zugleich eine außerordentlihe Pro—
feffur an der philofophifchen Facultät nebft einem Gehalte, und zwei Jahre fpäter
(1787) wurde er feinem Wunfche gemäß als außerordentlicher Profeffor und mit
einer Gehaltszulage in die theologische Facultät aufgenommen. Bon da an hielt
er nur theologiſche Vorlefungen und verfah zugleich das Amt eines Frühpredigers
an der Univerfitätsfirhe, Im J. 1790 heirathete er Johanna Florentine Weber,
die Tochter eines Actuars der Zuriftenfacultät zu Leipzig, und erhielt noch in
demfelben Jahre eine Einladung nach Wittenberg zur Uebernahme des bis dahin
von Reinhard befleideten theologifchen Lehramtes, Nachdem er bereits feine Zu-
fage gegeben hatte, ftarb plöglich fein Lehrer Morus, und als ſich von mehreren
Seiten der Wunfch ausſprach, daß Keil feine Stelle erhalten möchte, entſchloß
er fich, zu Leipzig zu bleiben, wurde im J. 1793 ordentlicher Profeffor der Theo—
logie und Eonfiftorialaffeffor, und erhielt im J. 1799 die dritte, und im J. 1805
die zweite theologiſche Lehrftelle, Am 22. April 1818 farb er als Domherr zu
Meißen, Confiftorialaffeffor und Präfes des collegium philobilicum und des don—
nerstäglichen Predigercollegiums. — Außer einigen Beiträgen zu Journalen hat
Keil mehrere Schriften herausgegeben. Die wichtigfte darunter ift fein „Lehr—
bud der Hermeneutif des neuen Teftamentes nach Grundfägen der gram—
matifch-hiftorifhen Interpretation, Leipzig 1810.” (Lateiniſch durch Emerling
1811.) Keil hat bier in fofern eine neue Bahn in der neuteftamentlichen Her-
‚meneutif gebrochen, als er zum erſten Male die einzelnen Theile derfelben nach
‚jenen Grundfägen vollftändig und erfchöpfend behandelte, Uebrigens wurde ihm
nicht ganz mit Unrecht der Vorwurf gemacht, daß er bei Benützung der hiſtori—
Then Verhältniffe zur Aufhellung des neuen Teftamentes den jüdifhen National-
urtheilen einen zu großen Einfluß geftatte; dagegen den Tadel, daß er mit Gram-
matif und Gefhichte das ganze Gefchäft des neuteftamentlichen Auslegers abge-
than glaubte, hat er nicht verdient. „Die Negeln gehen fehr in's Einzelne, find
aus vieljähriger Erfahrung im Interpretiren gefloflen, durch ausgewählte Bei-
ſpiele erläutert und mit reichhaltiger Literatur verfehen, die Sprache iſt etwas
ſchwerfällig, die Anordnung nicht ganz logiſch“ (Halliſche Encyclopädie s. v. Her—
meneutif), Außerdem find von Keil folgende Schriften erfihienen: 1) De modo,
quo scriptores sacri in dogmatibus tradendis versantur. Lips. 1780. 4. — 2) Dis-
sert. I. Historia dogmatis de regno Messiae Christi et apostolorum aetate etc.
Lips. 1781. 4, — 3) Syftematifches Verzeichniß derjenigen theologifchen Schrif- -
ten und Bücher, deren Kenntniß allgemein nöthig und nüglich ift 2c, Stendal
1784 u, 1792, — 4) Progr. de causis alieni Platonicorum recentiorum a religione
| christiana animi. Lips. 1785. 4. — 5) Progr. de historica librorum sacrorum in-
62 Kelch.
terpretatione ejusque necessitate. Ibid. 1788. 4. — 6) Diss. inauguralis de exem-
plo Christi reete imitando. Ibid. 1792. 4. — 7) Diss. pro loco de doctoribus ve-
teris ecclesiae culpa corruptae per Platonicas sententias theologiae liberandis.
Commentatt. I—XXI. Ibid. 1793—1816. 4. — 8) Dr. ©, F. N. Morus nad
gelaffene Predigten ꝛe. Leipz. 1794—97. 3 Thle. — 9) Dissertatt. theologicae
et philologicae, scripsit Dr. S. F. N. Morus. 2 voll. Lips. 1794. 4. (mit einer
Borrede von dem Herausgeber). — 10) Commentat. de definiendo tempore itine-
ris Hierosolym. Galat. 2, 1. 2. commemorati. Ib. 1798. 4. — 11) Commentat. I.
et HI. in locum Epist. ad Philipp. 2, 5—11. Ib. 1803—1804. 4. — 12) Com-
mentat. de argumento loci Matih. 25, 31—46. Ib. 1809. 4. — 13) Quinam sint
Rom. 8, 23. ob anaoynv Ta mvevuarog Exovres. Ib. 1809. 8. — 14) €, 4.
Schwarz'ens Schulreden (gemeinfhaftlih mit Gedife herausgegeben). Ebend.
1810. 8. — 15) Progr. quo proponitur exemplum judicii de diversis singulorum
scripturae sacrae locorum interpretationibus ferendi, examinandis variis interpretum
de loco Galat. 3, 16. Ib. 1810 sqq. 7 Programme, — 16) Analecten für dag
Studium der wiffenfh. Theologie (gemeinschaftlich mit ©, H. Tzſchirner heraus—
gegeben). Ebend, 1812 ꝛc. — 17) Progr. disseritur de Paulo‘ 00 &rwv ete.
2 Cor. 12, 1—7. Ib. 1816. 4. — Vgl. 9. Döring, die gelehrten Theologen
Teutfchlands im 18ten und 19ten Jahrhundert, Bd. IL. S. 70 ff., von wo obige
Angaben größtentheils entnommen find,
Kelch, im Abendmahl, f. Abendmahl, Abendmahlsfeier und Hu-
fiten. R
Kelch. Da Chriſtus bei der Einfegung des Abendmahles fi eines Kelches
bediente (Matth. 26, 27.), fo ſchmückt der Kelch zu allen Zeiten den Altar der
Ehriften, um damit den Opferwein, beziehungsweife das allerheiligfte Blut des
Herrn aufzubewahren. Seinen obern Theil (die blumenartige Höhlung) nennt
man Cuppa, den untern Theil Cauf welchem die Cuppa ruht) ven Fuß (Pes), den
Nand der Höhlung Can dem man trinkt) die Labia. — Der Stoff, aus welchem
die Kelche verfertiget werden, ift nicht immer und überall derfelbe. In der Vor—
zeit gab es Kelche von Holz, Stein, Horn, Zinn, Erz, Blei, Meffing, Glas,
Kupfer, Erde, Kriftall, Bernftein und Onyr (Conc. Tribur. a. 895. c. 18; Vit.
S. Theod. ap. Sur. 22. April.; Conc. Calchuth. a. 787. o. 10; c. 45. D.I. de con-
secr.; Conc. Trevir. a. 1310. o. 68; Iren. 1.1. c.9. al. 13; Regin. 1. 1. c. 67;
Mabill. it. Ital. p. 95; Vit. S. Berwald. ap. Sur. 20. Nov.; Gregor. Tur. de mirac.
Mart. 1. I. c. 46; Gregor. M. 1.8. ep. 3.). Auch finden fih ſchon in den früheften
Zeiten des Chriſtenthums Spuren von goldenen und filbernen Kelchen, wenn auch
die Sage, Chriftus felbft Habe in einem filbernen confecrirt, feinen Glauben ver-
dient (Beda ap. Baron. ad a. 34. n. 63.). Schon die Martergefchichte des HI.
Laurentius weifet darauf Hin (Prudent. de div. Laurent. carmen. Cfr. Ambros.
1.2. c. 28. de offic. ministr.), ebenfo das Zeugniß des Gregor von Tours (I. 1.
de gl. martyr. c. 38.), daß man in den Ratafomben (ſ. d. A.) viele filberne Opfergefchirre
aus den Zeiten der Verfolgung fand. Um fo mehr vermehrten fich folche koſtbare
Kelche nach den Zeiten der Chriftenverfolgung. Nimmt ja ſchon zur Zeit Julians
ein Heide hievon Anlaß, bei der Plünderung einer von Conftantin erbauten Kirche
fih den Spott zu erlauben: „Ecce quam sumtuosis vasis filio Mariae ministratur“
(Theodoret. 1. 3, cap. 11.). Obwohl e8 an und für fich gleichgültig iſt, ob ein
Kelch irden oder golden u. dgl. ift, fo wünfcht dennoch die Kirche, ja hat es als Regel
vorgefchrieben, daß derfelbe golden oder filbern, oder wenigftend die Cuppa des—
felben filbern und nach Innen vergoldet fei (Missal. Rom.); nur wegen Armuth
darf davon Umgang genommen werben. „Si quis pauper est,“ heißt e8 im fa»
nonifchen Nechte („Ut calix Dni*), „saltem stanneum calicem habeat. De aere
aut orichalco non fiat calix, quia ob vini virtutem aeruginem parit, quae vomilum
provooat. Nullus autem in ligneo aut vitreo calice praesumat Missam cantare.“
——
fe —J—
— — *
Kelchlöffelchen — Kelchtüchlein. 63
Die Kirche geht hiebei von der Ueberzeugung aus, daß man die Stoffe, die in
den Augen der Welt den meiſten Werth haben, auch im Cultus nicht entbehren
könne, ohne daß der ſchwache ſinnliche Menſch ſich daran ſtoßen würde. Wenn
es nämlich auch richtig iſt, daß ein gottſeliger Prieſter die ſchönſte Zierde des
Altars iſt, ſo iſt es eben ſo richtig, daß es auf die Maſſe der Gläubigen einen
flörenden Eindruck machen würde, wenn für den heiligſten Dienft Gefäße ge—
nügen würden, deren man fich felbft in einem einfachen Bürgershaufe bei irgend
einer Feierlichkeit fchämen würde, Diefelbe Anfhauungsweife macht es auch er-
Härlih, warum man auch nach uralter Sitte auf vielen Kelchen Gemälde und
Evdelfteine fieht (Tertull. 1. de pudic. c. 2; Chrysostom. hom. 50. al. 51. in Matth.).
— Der Größe nach gab es in früherer Zeit zweierlei Kelche, Calices minores
und Calices ministeriales. Jene, in welchen fich bloß das Hl. Blut befand, wel-
ches der Celebrant fumirte, waren der Natur der Sache nach etwas Heiner, als
legtere, aus denen es die übrigen Gläubigen nah damaliger Sitte fumirten,
Kelche der Iegtern Art dürften z. B. die zwei gewefen fein, welde die Kirche von
Mainz bis in die jüngfte Zeit befaß, und von denen der eine am ganzen Fuße
mit den foftbarften Steinen befegt 18 Mark feinen Goldes wog, der andere aber
noch größer, ſchwerer, eine Elle hoch und mit zwei Handgriffen verfehen, nur
mit Mühe aufgehoben werden konnte (Binterim’s Denfw, IV. Bd. 1. Thl. ©,
176). Da heutzutage nur mehr der Celebrant au unter der Geftalt des Weines
eommunicirt, fo gibt es natürlich Cim Abendland wenigftens) auch nur mehr Ca-
lices minores. Kelche mit Handhaben oder Handgriffen (Calices ansati) gab es
übrigens ehemals häufig. Nach Beda foll felbft ver Kelch, in dem Chriſtus die
Eudariftie einfegte, folche gehabt haben (Baron. ad a. 34. n. 63.). — Die
Reinigung der Kelche ift Sache der Geiftlihen (Cap. „In sancta“ de con-
secr.). [Fr. X. Schmid.]
Kelchlöffelchen. Man verſteht darunter einen ſilbernen oder goldenen klei—
nen Löffel, mit dem in vielen Kirchen des Abendlandes das aus dem Waſſerkänn—
hen gejhöpfte Waffer in den Wein gefchüttet wird, Man dürfte ihn eingeführt
haben, um fich nicht der Gefahr auszufesen, mit dem Waſſerkännchen felbft zu
viel zu ſchütten; — ein Umftand, der feit der Zeit, ald der Celebrant allein das
hl. Blut fumirt, gewiß Berüdffichtigung verdient. Vorſchrift ift jedoch der Ge-
brauch diefes Löffelchens nicht, daher man ſich auch in vielen Gotteshäufern des-
felben nicht bedient. Binterim meint, es fei diefer Gebrauch wenigftens ſchon
im fiebenten Jahrhunderte erweisbar (Denfw. IV. Bd. 1. Th. ©. 187). Die
Griechen haben auch einen Kelchlöffel, jedoch zu einem andern Zwede, Sie neh-
men nämlich mit demfelben die in das hl. Blut getauchten Hoftien oder Partikeln .
aus dem Kelche, um fie zur Communion auszutheilen (Goar. Euchol. fol. 151).
Kelchtüchlein (Velum). Sp nennt man das Tuh, mit welchem der Kelch
verhüllt ift, wenn er zum oder vom Altare getragen, oder während der Katechu—
menenmeffe (ſ. d. A.) und nach der Communion auf demfelben niedergefegt wird. Nach
der Vorſchrift des Miffale foll e8 feiden fein; jedoch ift eg Regel, daß man es von
demfelben Stoffe fertigt, aus dem die Kafula gemacht wurde, Zwar tadelt Rom-
ſee (op. lit. tom. 2. p. 136) diefe Uebung; allein fie dürfte als eine Iegitime zu
betrachten fein und daher um fo mehr beibehalten werden fönnen, als die Vorſchrift
des Miffale in foweit bloße Rubrica directiva ifl. Der Farbe nach richtet fih das
Kelchtüchlein nach der der Caſula. Eine Segnung deffelben ift nicht vorgefchrieben
Cogl. meine Liturgif, 3, Aufl. II. Bd. S. 525). Seit wann es die Kirche ein-
geführt Hat, ift fchwer anzugeben. Benediet XIV. meint (de sacrif, Miss. sect. 1.
ec. 34.), e8 fei daffelbe identifch mit dem Velamen, von welchem der 72. Canon
apostolorum ſpricht (Velamen linteumve nemo amplius in suos usus assumito).
Wahrſcheinlich entftand fein Gebrauch erft dann, als das Corporale, weldes ur-
fprünglich groß genug war, um Brod und Kelch auf dem Altare zu verhülfen,
64 Kelchweihe — Keller⸗und Küchenmeiſter.
ſeinen dermaligen kleinern Umfang erhielt. Amalarius von Trier und die Sy—
node von Lüttich im J. 1287 kennen es; jener unter dem Namen „Sudarium“
(praef. 2. ad libr. de ecel. off.), diefer unter vem Namen „Panni“ (cap. 5. can. 7).
Die Griechen haben es auch unter dem Namen „A170“ (Goar. Euchol.), Vergl.
die Art. Corporale und Vela. [ör. X. Schmid.]
Kelchweihe (Consecratio calicis), Sie iſt ſehr alt und wird gewöhnlich mit
der der Patena vorgenommen; fhon das gregorianifhe Sarramentarium, bie
älteften Ordines bei Martene u, dgl,, fowie auch der Orient, namentlich die Grie—
hen (Euchol. Graec.) und Kopten (Renaud. collect. lit. orient. tom. I. p. 54) fen-
nen fie. Sowohl das Beifpiel der Synagoge (Assumto unctionis oleo unges ta—
bernaculum cum vasis suis, ut sanclificentur, altare holocausti et omnia vasa ejus;
Exod. 40, 9—10.), als auch der natürlihe Wunfch der Kirche, es möge der
Kelch bei jeder HI. Meffe ein wahrer Calix salutaris für die Gemeine fein, haben
fie veranlaßt. — Der Ritus hiebei ift in der abendländifchen Kirche folgender:
Zuerft betet der Bischof zwei Drationen, die alſo lauten: „Oremus, ut Deus et
Dominus noster calicem istum in usum ministerii sui consecrandum coelestis gratiae
inspiratione sanctificet, et ad humanam consecratiwnem plenitudinem divini favoris
accomodet, Per Christum etc. Oremus, dignare, Domine Deus noster, calicem
hunc benedicere, in usum ministerii tui pia famulatus devotione formalum, et ea
sanclificatione perfundere, qua Melchisedech famuli tui sacratum calicem perfudisti, .
et quod arte vel metalli natura effici non potest altaribus tuis dignum, fiat tua be-
nedictione sanclificatum. Per Christum etc.* Sodann falbt derfelbe mit dem
Daumen der rechten Hand die innere Höhlung des Kelches in der Art von einem
Nande zum andern mit Chrisma, daß hiedurch ein Kreuz gebildet wird, und fo-
dann die ganze innere Höhlung, dabei fprechend: „Consecrare et sanctificare dig-
neris Domine Deus calicem hunc per istam unctionem et nostram benedictionem in
Christo Jesu Domino nostro.* Als Schluß reihen fi noch eine Dration und bie
Befprengung mit Weihwaffer an, Es finden fich diefe Gebete mit Ausnahme der
Salbungsformel ſchon faft wörtlich in den obengenannten Kirchenordnungen. Merf-
würdig ift nur dabei, daß der Salbung weder in dem gewöhnlichen gregorianifchen
Sacramentarium, noch in dem Codex des hl. Eligius, Rodradus, Natoldug und
dem der Kirche von Rheims Meldung gefchieht, ja auch der Ordo Romanus fie
nur als Einfchiebfel der obigen zweiten Dration (vor dem Worte devotione ift
nämlich in demfelben ald Rubrik zu leſen: Et faciat crucem de charismate super
ipsum calicem per latera) fennt, Auc liest man in den Codices der Vorzeit ftatt
„pia famulatus devotione“ die Worte: „pia famuli tui ill. devotione*, woraus fol-
gen dürfte, daß die Kelche der Vorzeit regelmäßig das Gefchenf einzelner wohl-
habender Gläubigen waren, — Nach Firhlicher Vorfehrift iſt es verboten, ſich
eines nichteonfecrirten Kelches bei der hl. Meffe zu bedienen Ce. un. [1. 15.] $8.
X. de sacr. unct.). Hat es ein Priefter dennoch wiffentlich oder unwiffentlich ge—
than, fo ift die Weihe nachzuholen; nur einzelne Theologen meinen, es fei nicht
mehr nothwendig, da der Gebrauch felbft einen folchen Kelch fozufagen geweiht
babe (Quart. comment. in rubr. Miss. p. 2. tit. 1. sect. 2. dub. 3.), Wird ein con⸗
feerirter Kelch bedeutend (notabiliter) gebrochen oder zerfiört, oder feiner ur-
fprünglichen Form verluftig, fo hört er auf, für eonfeerirt gehalten zu werben,
gilt als exeerirt, Einige Schläge, die ihm etwa ein Schmied gibt, oder das all-
mählige Verſchwinden der Vergoldung hebt die Weihe nicht auf, Die Abbrechung
des Fußes hebt fie nur dann auf, wenn die Cuppa (der obere Theil) nicht zum
Abfehrauben if, Ob der Kelch für exeerirt zu halten fer, wenn er neu vergoldet
wurde, ift zweifelhaft; die Praxis fpricht fich gewöhnlich für eine neue Confeera-
tion aus, [ör. X. Schmibd.]
Keller: und Küchenmeifter in den Klöftern und Canonicaten, Urfprüng-
lich führte der Vorfteher des Klofters, dem die Leitung des Ganzen anvertraut
Kempe. 65
war, auch die Verwaltung fämmtlicher Temporalien feiner Anftalt unmittelbar
und verfönlich Ce. 9. C. 18. qu. 2). Da aber dieje weitausgedehnten Ver—
pflichtungen’ feine Thätigkeit fo fehr in Anfpruh nahmen, daß er jeinen ander-
weitigen und höhern Dbliegenheiten kaum mehr nachkommen fonnte, fo fingen die
Aebte einzelner Klöfter an, die Verwaltung der Temporalien eigenen Officialen
übertragen, die fie aus den Mitgliedern ihrer Congregation wählten, Diefe
ficiale — cellerarii oder cellarii (f. d. A.), provisores, procuratores —
führten die Verwaltung des gefammten Kloftervermögens, fie hatten die Aufficht
über das Kircheninventar, forgten für die Verpflegung der Armen, Kranken,
Fremden, hatten den unmittelbaren Bedarf an Lebensmitteln für das Klofter her-
beizuſchaffen, und an die einzelnen Glieder deffelben zu verabreichen. Diefe Ein-
richtung findet fich fhon in der Regel des HI. Benedictus, welche cap. 31 ver-
ordnet: „eligatur de Gongregatione sapiens, maturus moribus, sobrius, non multum
edax, non elatus, non turbulentus, non injuriosus, non tardus, non prodigus, sed
timens Deum: qui omni CGongregationi sit sicut Pater; curam gerat de omnibus.“*
Was die rechtliche Stellung des cellerarius betrifft, fo gehörte er zwar zu den
Borftänden des Klofters, aber er war in allen feinen Functionen dem Abte voll-
fändig untergeordnet und nur fein Stellvertreter; diefelbe Regel fagt: sine jus-
sione Abbatis nihil faciat, quae jubentur, custodiat. Diefes ift die urfprünglide
Stellung des cellerarius, fie Hat fi aber im Laufe der Zeiten je nach den Be—
dürfniffen vielfach geändert und die Ausdehnung feiner Pflichten und Rechte war
daher zu verfchiedenen Zeiten und an verfchiedenen Orten fehr verfchieden; im
Allgemeinen läßt fih nur das fefthalten, daß das urfprünglich fehr ausgedehnte
Amt allmählig in mehrere Zweige getheilt wurde, und fo entflanden eigene hospi-
talarii, xenodochi, infirmarii, thesaurarii und oeconomi; das Amt des cellerarius
beſchränkte fih auf die Sorge für den unmittelbaren Lebensunterhalt der Eon-
gregation, auf die Auffiht über Kühe und Keller, auf die Anfchaffung ,. Auf-
bewaßrung und Verabreihung des täglichen Bedarfs und die Ueberwachung des
dabei thätigen Dienftperfonals; diefe Obliegenheiten bildeten das Amt des Kü—
chen- und Kellermeifters im fpätern und gewöhnlichen Sinne des Wortes,
Wegen der Wirhtigfeit deffelben war von jeher vorgefchrieben, daß es einem
Geiftlihen des Klofterd übertragen werde, und nur felten Fam es in die Hände
der Laien, — Ganz dafjelbe Amt, mit demfelben Namen und den nämlichen Ob-
liegenheiten beftand in den Canonicaten; ſchon Chrodegang hat es aus der
Regel Benedicts in feine Regula Canonicorum übertragen; cap. XI. derfelben fchreibt
die Eigenfhaften und Pflichten des Cellarius vor (Harzheim, Conc. Germ. Tom. I.
p- 101). gl. Thomassin, V. et N. E. D. Pars I. L. IH. c. 66. n. 11. und 67.
n. 1; Van Espen, F. E. P. 1. tit. XXXI. ce. 5.
SKempe, Stephan, Hauptreformator von Hamburg, wurde zu Ham-
burg geboren, fudirte zu Roſtock, trat dafelbft in das Franciscanerflofter, und
war ſchon 1523, als er in Drdensangelegenheiten nah Hamburg reiste, durch
Joachim Slütern vom Luther-Evangelium infteirt. Angefommen in feiner
Baterftadt, hielt er da in der Franciscanerfirche im Geifte Luthers eine Predigt,
welche bei jenem Xheile der Hamburger, der bereits den Neligionsneuerungen
huldigte, mit großem Beifalle aufgenommen wurde. Durch die Umtriebe und
Gewaltthätigkeit diefer Partei wurde der Franciscaner-Convent gezwungen, den
neuen Evangeliften als ordentlichen Prediger an der Klofterfirhe zu belaffen, und
fo nahm die Reformation zu Hamburg ihren Fortgang. Um die Zeit, da Luther
‚heirathete, nahm fih auch Kempe eine Nonne zum Weib, und im $. 1527 wurde
er zum Pfarrer an der Catharinenfirhe beftellt. Zu Kempe gefellten ſich Jo—
bannes Ziegenhagen, ein entlaufener Mönch aus Magdeburg, der fich eben-
fall eine Nonne beilegte, Johann Fritze, ein aus Lübeck vertriebener Kaplan
und deito Nonnenfhänder, und nebft einigen Andern Bugenhagen (ſ. d. A.).
airchenlexilon. 6. Br. | 3
66 Kempis — Kempten,
Ein Hauptmittel, woburd Kempe das ununterrichtete Volk an fih zog, war bie
Predigt von der Communion unter beiden Geftalten, und Ziegenhagen predigte
diefe nicht bloß, fondern theilte fie auch aus. Es fehlte nicht an mehreren katho—
liſchen Geiftlichen, die für Erhaltung der Fatholifhen Neligion eifrigft bemüht
waren, und darunter zeichnete fich vor allen der Canonieus Barthold Moller aus,
Allein mit Hilfe von Ränken und Gewaltthaten gewannen die Neuerer völlig die
Dberhand und mußte im J. 1528 der größte Theil der Fatholifchen Geiftlichkeit
die Stadt verlaffen. Im J. 1529 wohnte Kempe dem Collegium zu Flensburg
bei, und im 3. 1530 richtete er zu Lüneburg das neue Kirchenwefen ein. Er
farb zu Hamburg 1540 und hinterließ einige Schriften. Johann Aepinus
(+ 1553), feit 1532 Superintendent zu Hamburg, führte die Hamburger-Nefor-
mation zu Ende, führte aber auch eine Spaltung unter den Hamburger-Predigern
durch feine Lehre herbei, daß die Seele Chrifti nach dem Tod am Kreuze wirklich
in die Höfe gefommen fei und die Dualen der Verdammten gelitten habe, und
daß diefer Aufenthalt in der Hölle und die Unterwerfung unter die dortigen Stra—
fen einen wefentlichen Beftandtheil feines Erlöfungswerfes gebildet habe! Ueber
die wie überall fo auch zu Hamburg im Gefolge der Neformation unter den Predi-
gern entftandenen Streitigkeiten und über das mit der Neformation zunehmende
Sittenverderbniß unter den Hamburgern ſ. Döllinger’s Reformation, ihre Ent-
wicklung und ihre Wirkungen, B. II. ©, 485 2.5 über Kempe ſ. Hiſt. pol. Blätter
B, XXV. ©, 321 ꝛe. Bergl, dazu den Art, Hamburg, [Schrödl.]
Kempis, Thomas von, ſ. Thomas.
Kempten, gefürſtete Abtei in Schwaben. Einige Zeit nach dem Tode
des hl. Gallus C+ 646) verließen Mang und Theodor, zwei der vorzüglichſten
Schüler deffelben, die St. Gallenzelle und begaben fih in die Augsburger Dib—
cefe, mo Theodor zu Kempten an der Iller (Campidona, Campidunum) blieb, eine
Capelle und Zelle erbaute und unter mancherlei Verfolgungen als Apoſtel pre-
digte, während fein Gefährte Mang fih zu Füßen niederließ (f. Bayern). Auf
den genannten Theodor führt man die erften Anfänge der nachher fo berühmt ge—
wordenen Abtei Kempten zurück. Gleihwohl beginnt die fortdauernde Eriftenz
dieſes Stiftes erft mit dem Jahre 752 wie Hermann der Contracte (Perg,
Script. V, 99) berichtet: „Audogarius, primus Campidonensis coenobii fundator
et abbas, locum illum incolere coepit, i. e. 752.“ Die erfte Gründung geſchah
alfo nicht durch Karl den Großen und feine Gemahlin Hildegard; doch ift gewiß,
daß Hildegard dem Klofter nebft bedeutenden Gütern die Leiber der hl. Martyrer
Gordian und Epimachus zugebracdht habe, Ein großer Gönner des Kloſters war
Kaifer Ludwig der Fromme, der demfelben Jmmunitäten und freie Abtswahl zu-
ſprach, worin ihn die fpätern Carolinger und Dttonen nachahmten. Von dem
Wachsthum des Klofters zeugt, daß daffelbe in der Conftitution Ludwigs vom
J. 817 unter jene Klöfter gerechnet wird, welche nicht bloß Gebete, fondern au
dona, wiewohl ohne Kriegsdienfte, zu entrichten haben, und daß damals Abt
Agapit C+ 817) viele Bücher in einem hölzernen Bücherfaale fammelte, die aber
leider nebft mehrern Kloftergebäuden durch Brand zu Grunde gingen, Lubwig
der Teutfche übergab die Abter im J. 840 dem Bifchof Erchambert von Freyfing
(ſ. Freyſing), der fih um diefelbe fehr annahm. Erchambert's Nachfolger zu
Kempten, Abt Conrad I. baute, um die Neligiofität des Volks zu fördern, Kir—
hen und Capellen. Frühzeitig fland Kempten mit den Klöftern Neichenau und St,
Gallen in geiftlicher Bruderfchaftsverbindung. An der Einweihung der zu St,
Gallen erbauten Othmarskirche im J. 867 nahmen Mönde von Kempten Antheil
und fehrten, mit Neliquien befchenft und von den Gallenfer-Brüdern unter Lob-
gefängen vor das Klofter hinausbegleitet, nach Kempten zurück. Nah dem Tode
des fanften und in geiftlichen Kenntniffen bewanderten Abtes Landfrid CH 876)
übertrug Kaiſer Ludwig die Abtei feinem trefflihen Kanzler Salomon, nachher
Kempten, 67
Abt son St. Gallen und Bifchof von Conftanz (f. Gallen, St.), und feit 889
fland derfelben der Biſchof Waldo von Freyfing vor, — Während der Einfälle
der Ungarn wurde Kempten zu wiederholten Dialen verwüftet. Für die Wieder-
berftellung des Stifts wirkte befonders der HI. Bifhof Ulrih von Augsburg, dem
es Kaifer Dito I. übergeben hatte, Als Ulrich um 955 von St. Gallen zurüd-
fehrend bier weilte, wurde er von einer gefährlichen Krankheit befallen; fchnelf
holte man das von ihm geweihte HI. Del von Augsburg ber, reichte ihm damit
die letzte Delung, die der fromme Mönch Hiltin und zwei Presbyter Ulrichs voll-
zogen, worauf Ulrich fogleich genas. Nachdem Otto I. dem Stifte wieder freie
Abtswahl verliefen hatte, ward mit Ulrichs Bewilligung Alerander I. (+ 992)
zum Abt gewählt, ein frommer, gelehrter und thätiger Herr, welcder dem Volfe
an Fefttagen predigte, das Klofter in Zucht hielt, die Mangfirche reflaurirte, die
Heine Stadt Kempten erweiterte und mit einer Ringmauer umgab, — Kaifer
Eonrad I. gab im J. 1026 das Stift an feinen Stieffohn Herzog Ernft zu Lehen,
und dieſer vertheilte die Stiftsgüter an feine Bafallen und vertrieb die Monde,
Fünf Jahre nachher kam Ernft in das Schlößchen zu Stettwang, wo fich ein Paar
der vertriebenen Mönche aufhielt und einer davon in einer Predigt gerade den
Ruin des Klofters bejammerte. Davon ergriffen, gab Ernft die Abtei zurüd,
und diefe blühte unter Abt Eberhard I. aus dem Klofter Einfieveln (+ 1044) wie-
der auf, Damals und bis zu dem Ausbruche der Streitigfeiten zwifchen Kaifer
Heinrich IV. und Papft Gregor VII. gab es im -Klofter mehrere fromme und um
die Wiffenfhaften thätige Männer, und Abt Heinrih I. (1063) bewahrte dem
Klofter das Anfehen, das es durch feine Schule erlangt hatte, Aber die Kämpfe
zwifchen Kaiſer und Papft wirkten auch auf Kempten deftruirend ein und faifer-
liche und päpftliche Aebte ftritten fich um die Abtei, Doch brachte Ulrich II., feit
1092 Abt, das Stift wieder etwas empor, — Um die Mitte des 12. Zahrhun-
derts hatte der Abt von Kempten bereits den Rang unter den NReichsfürften,
Kaifer Friedrich II. gab dem Abte die Graffchaft Kempten mit allen Würden und
Rechten zu Lehen. Die Iandesperrlihen Rechte wurden ihm gleich andern geift-
lichen Fürften durch Friedrichs II. Verordnung von 1220 beftätiget. Als dann
(1348) Raifer Carl IV. fi gegen den Abt der Anrede „unfer Fürft“ bedient
hatte, Fam in den Ausfertigungen des Stiftes der Titel „Fürſtabt“ in Braud,
Das Privilegium, fih der Infel und Pontificalien zu bedienen, erhielten die
Kempiner Aebte 1238 von Papft Gregor IX. Allein mit dem äußern Glanz des
Stiftes hielt der innere Zuftand deffelben nicht gleichen Schritt, und dazu trugen
die Kämpfe zwifchen den Hohenflaufen und Pärften und das lange Interregnum
Bieles bei. Allmäplig hörte das gemeinfchaftliche Leben der Stiftsglieder auf und
lebten fie in abgefonderten Wohnungen und Häufern häufig gerade fo, wie ihre
adeligen weltlichen Standesgenoffen in der Welt, wobei natürlich an einen Be-
trieb der Wiffenfchaft wenig gedacht werden fonnte, Die Zahl der Eonventualen
ſchmolz zu Wenigen herab und diefe mußten Wappengenoffen von vier Ahnen fein.
Gleichwohl hat das Stift durch feine feelforglihen und gottesdienftlichen An-
falten, durch Kirchenbauten, durch eine Schule für Schüler in und außer der
Stadt, durch Wohlthätigkeit ze, auch in den trübſten Zeiten immerhin manches
- Anerfennungswerthe geleiftet, und in allen Jahrhunderten bis auf die Reformation
herab hat es immer mehrere Aebte gehabt, die ſich weit über die Mittelmäßigfeit
erhoben, z. B. einen Rudolph von Hoheneck, Kanzler des Kaifers Rudolph und
nachher Erzbifchof von Salzburg (+ 1289); Abt Heinrich VII. von Mittelberg
(1346— 1382); Abt Friedrich von Laubenberg, welcher auf der Synode zu Con—
ftanz anweſend war und eifrig an der Verbeiferung feines Ordens und feines
Stiftes wirkte (+ 1434); Abt Pilgrin IL. (1434—1451), der feine Conventualen
vermochte, ihre gefonderten Wohnungen aufzugeben und gemeinfhaftlich zu effen
und zu ſchlafen; auch die Achte Johann I. CH 1481) und Sohann II. CH 1507)
5*
68 Kempten,
waren fehr thätige Vorſtände, wenn auch zu firenge Verteidiger der Rechte des
Stiftes. Indeß Hatten die Aebte auch Urfache genug, fih um die Gerechtfame
des Stiftes tapfer zu wehren, denn trog al’ ihrer Bemühungen hatte ſich die
Stadt Kempten unter Begünftigung der Kaifer allmählig zur Neihsunmittelbar-
feit aufgefhwungen, — Die Reformation drang auch in das Stiftsgebiet ein und
die Stadt Kempten war bald ganz auf Seite des Proteftantismus; abtrünnige
katholiſche Geiftliche, wie ein Matthias Waibel, Jacob Heiftung u. A. zündeten dag
neue Licht an und trugen das Ihrige bei, den Bauernfrieg (ſ.d. A.) zum Ausbruch zu
bringen, in dem das Stift verwüftet wurde, Der Neformation arbeitete Abt
Sebaftian v. Breitenftein (1523—1535) entgegen, Unter ihm Faufte die Stadt
Kempten um 30,000 Gulden dem Stifte die Rechte und Gefälle ab, die es noch
in der Stadt beſaß. Auf Abt Sebaftian. folgte der trefflihe Wolfgang von
Grünenftein CH 1557), der nichts unterließ, was das Stift heben und die Ver—
breitung der Reformation hemmen Fonnte, Ueberhaupt haben auch die nach—
herigen Aebte, felbft jene, deren Wandel Anftoß erregte, dem Eindringen des
Proteftantismus in das Stiftsgebiet fich ftandhaft entgegenfegt, daher Papft Pius V.
in dem Beftätigungsfchreiben der Wahl des Abtes Heinrich von Ulm den 3. März
1608 den neuen Abt ermahnte, feine Borfahrer nachzuahmen, die niemals ge-
duldet, daß Keger in ihrem Gebiet fich feftfegten. Im 5. 1623 Fam endlich eine
oft verfuchte, aber immer wieder namentlich durch die ſchwäbiſche Ritterfchaft,
welche das Stift von Rechts wegen als eine Verforgungsanftalt ihrer jüngern
Söhne betrachtete, vereitelte Disciplinar-Neform des Stiftes zu Stande, worauf
der päpftliche Stuhl feit Iangem gebrungen hatte, Unter der Negierung des
Abtes Johann Schenf von Kaftel wurde 1632 das Stift durch die Schweden
zerftört, alles Heilige gräulich gefchändet und die Plünderungs- und Zerfidrungs-
wuth auch auf andere Drte und Schlöffer ded Kempter-Gebietes übertragen, wo—
bei man den Pfarrern Stricke um den Hals legte, fie an den Schweif der Pferde
band und fo lange herumfchleppte, bis die Pfarrfinder fie mit ſchweren Summen
befreiten. Weitere Verſuche zur Disciplinar-Reform des Stiftes in firengerer
Weiſe machte zu wiederholten Malen und felbft mit Anwendung von Waffenge-
walt der eifrige Abt Noman (1639—1673), doch auch jest ſtemmte fich wieder
vorzüglich die ſchwäbiſche Nitterfchaft entgegen. Unter dem Abt Carbinal Bern-
hard Guftan von Baden wurde der Bau des von den Schweden zerfiörten Stifte
beendiget und dafjelbe am 21. November 1674 unter großen Feierlichfeiten be—
zogen; vor Allem ließ ſich diefer Abt angelegen fein, die Handwerfe und Künfte
emporzubringen und dem Stifte das Anfehen einer völligen Stadt zu geben,
Deffen Nachfolger, Fürftabt Rupert von Bodmann (1678—1728), ein hochge—
bildeter, ſtaatskluger und religids-eifriger Herr, erwirfte dem von ihm noch weiter
emporgebrachten Stifte vom Kaifer Carl VI. im 3. 1712 um 1000 Carolin das
Stadtrecht. Ihm folgte Fürftabt Anfelm Reichlin von Meldegg (1728—1747),
der das geftörte gute Vernehmen zwifchen Regierung und Landfchaft wieder her—
ſtellte. Die legten, Fürftäbte waren: Engelbert von Sirgenſtein (1ITAT—
1760), ein fanfter, fyarfam Iebender, frommer und um die Erhaltung und Ver—
breitung der Fatholifchen Religion thätiger Vorſtand; Honorius Roth von
Schredfenftein (1760—1785), allgemein verehrt und geliebt wegen feiner
Milde und Menfchenfreundlichkeit, feiner Verbienfte um das Land, feiner bei der
Theuerung gebrachten Opfer, feiner Anftalten zum Beften der Armen; RupertIl.
von Neuenftein (1785—1793), unter dem der Aftermyftifer Martin Bong fein
Unwefen zu treiben anfing (ſ. Braun, Geſch. der Bifchöfe v. Augsburg IV, 550).
Der letzte Fürftbifchof von Kempten war Caftolus von Reichlin. In den
Sahren 1802 und 1803 ging die Särularifation des Stiftes vor fi und es Fam
daffelbe wie die Stadt Kempten an Bayern, Bei der Säcularifation, dieſem
trojanifchen Pferde des Communismus, umfaßte die gefürftete Grafſchaft Kemp-
Fee — ir cr
Kenchreä — Kerze, 69
ten 18 Duadratmeilen in einem gefchloffenen Gebiete mit der Reſidenzſtadt Stift
Kempten, 7 Marftfleden, 85 Dörfern, einer Menge von Weilern, Höfen und
Schloͤſſern und 40,000 Einwohnern; zudem befaß das Stift viele zerftreut ge=
legene Zehen. S. Mabill. Annal. t. II. p. 159, 228, und deſſen Vet. Analecta in
uno tomo p. 448 etc.; Rettberg, Kirchengeſch. Teutſchlands. II, 1315 befonderg
Hagenmüller, Gef. der Stadt und der gefürfteten Graffhaft Kempten, zwei
Bände, Kempten 1840— 1847, [Schrödf,]
Kenchreä, f. Corinth,
Kendebäus, Feldherr des Antiohus (VII) Sidetes, von diefem zum Be—
fehlshaber des Küftenlandes (Ts nagakies) ernaunt, drang auf deffen Befehl
in Judäa ein, mordete und plünderte, befeftigte den Grenzort Kedron; Simons
Söhne, Judas und Johannes, zogen wohlgerüftet gegen ihn, Kendebäus verlor
viele feiner Leute und wurde mit dem Refte in die Flucht gefchlagen, Vgl. 1 Mace,
45, 38. — 16, 8. Jos. Antt. XII. 7, 3. bell. jud. I. 2, 2.
Kenifiter, ovr:7, LXX. Keveatoı, Vulg. Cenezaei, ein canaanitifches Voff
nur Gen. 15, 19. genannt.
- Meniter, 02, DUp, auf Dr2Yp, LXX. Kıvator, Vulg. Cinaei, nach Gen,
15, 19. ein Bolfsftamm Canaans, wohnten an der füböftlihen Grenze des Lan-
des unter den Amalefitern, 1 Sam. 15, 6. 27, 10. 30, 29.5 einzelne verloren
fih au in den Norden des Landes, Richt. 4, 11. 17,5. Hobab, der Schwager
Mofes’ (Num, 10, 29.) gehörte diefem Stamme an, Richt. 4, 11. 1, 16. Die
wenigen biblifchen Notizen wurden in befondern Monvgraphien verarbeitet von
A. Murray, com. de Kinaeis, Hamb. 1718, und Kerzig, bibl, Hift, Abhandlung
9. d. Kenitern, Chemnig 1769.
SKenicott, Benjamin, f. Bibelausgaben.
Keri und Ketib, f. Mafora,
Kerze. Das Licht ift ein fo weientlihes und an Beziehungen reiches Sym—
bol der Religion, daß es weder bei den Juden noch bei den Heiden von jeher
gefehlt Hat. Im alten Bunde gehörte das Anzünden von wenigftens fieben Lam-
pen im hl. Zelte zu den vorgefchriebenen gottesdienftlihen Ceremonien, Wag die
chriſtlichen Zeiten betrifft, fo erheifchte fchon die bis in die Anfänge derſelben
binaufgehende Gewohnheit der nahtlihen Verfammlungen den Gebrauch der
Lampen und Lichter (vgl. Apoftelgeih. 20, 8.). Schon Hieronymus muß die von
- Bigilantius als Mißbrauch getadelte „moles cereorum“ in den chriſtlichen Kirchen
in Schug nehmen. Zu feiner Zeit übrigens, auch nicht in den erften drei Jahr—
hunderten, wo die blutigen Verfolgungen die Nothwendigfeit der nächtlihen Got—
tesdienfte in den Ratafomben(f.d. A.) und an andern abgelegenen Drten herbeiführten,
wurde durch das Anzünden der Lichter beim Gottesdienfte bloß die materielle
Dunfelpeit zu verfheuchen gefucht, fondern fetS wurde das Brennen der Lichter
in den Kirchen ſymboliſch aufgefaßt, wie der hl. Hieronymus bemerkt: „In allen
Kirchen des Morgenlandes werden beim Vorlefen des Evangeliums, felbft beim
Sonnenſcheine, Kerzen angezündet, nicht als wolle man eine Finfternif auffellen,
fondern um ein Zeichen der Freude zu geben“ (advers. Vigilant. ed. Mart. tom. IV.
P. II. p. 284). Die Lichter, welde gebraucht wurden, waren von Anfang ent-
Weder Wachs- oder Dellichter, feltener Fackeln (bei feierlichen Umzügen, auch in
der Diternaht), — Die Wachskerzen werden auf Leuchter geſteckt, welche ange-
zündet zu tragen befonders Sache der Acolythen Cceroferarii) if. — Die haupt-
ſachlichen Feierlichkeiten, welche durch das Kerzenlicht verherrlicht werden, find
die HI. Meffe, die Adminiftration der Hl. Sacramente, die Vornahme der Bene-
Dietionen, die Proceffionen; auch gehört das Anzünden von Lichtern vor den Bil-
dern der Heiligen zu dem diefen gebüßrenden Cultus, Biele Gläubige bedienen
ſich der angezündeten Wachskerzen auch bei ihrer Privatandacht, insbefondere beim
70 Kerzentragen
Gebet für die Verftorbenen, — Der liturgiſchen VBorfehriften für den Gebrauch
der Kerzen find viele; die wichtigften betreffen den Stoff, aus dem fie fein follen,
und die Anzahl, in der fie gebrannt werben follen, fowie die Veranlaffungen, bei
welchen fie anzuzünden oder auszulöfchen find. Sie müffen, den Nothfall aus—
genommen, aus Wachs fein, weil dieſes an den „guten Wohlgeruch Chriſti“ er-
innert. Die Farbe derfelben ift entweder weiß oder gelb, auch wohl roth, In
einer Privatmeffe follen zwei und nur zwei Kerzen brennen, bei einem Amt we—
nigftens vier, vor ausgefegtem hochwürdigſten Gute wo möglich ſechs; wenn der
Biſchof celebrirt, brennen fieben. — Die fymbolifchen Beziehungen, welche die
brennenden Kerzen darbieten, find zahlreih, und geftalten fich verſchieden nach
den gottesdienftlichen Handlungen, bei denen fie vorfommen, Im Allgemeinen
bezeichnen fie den in der Kirche gegenwärtigen Erlöfer als das Licht der Welt,
und feine Religion als die Erleuchtung aller Völfer, wie als das heilige Feuer
der Liebe, dag zu entzünden Er die himmlifche Herrlichfeit verlaffen; fie weifen
den Gläubigen darauf hin, daß er felbft nichts Anderes fein foll, als gleichfam
ein Licht an der Geifter- und Gnadenfonne Jeſus Chriftus angezündet, welches
Anderen mit guten Werfen voranleuchtend, fich felbft zu Gottes Ehren verzehrt,
Beſonders verdienen die fombolifhen Beziehungen herausgehoben zu werben,
welche der hl. Carl Borromäus in der brennenden Wachsferze findet, „Cereo
significantur theologicae virtutes, fides in lumine, caritas in calore, spes in cerei
recta altitudine, quae sursum ascendit, ut spes nostra ad coelos usque excitatur
atque erigitur‘ (act. eccles. Med. pag. 4. de instruct. bapt.). Bei der hl. Taufe
erjcheint die brennende Kerze als ein fo wefentlihes Symbol, daß davon bie ganze
hl. Taufe den Namen pwriouog — illuminatio, führt. Sehr paſſend erfcheinen
in manchen Didcefen die Neucommunicanten mit der brennenden Kerze in der
Hand; die Taufferze, die Kerze bei der erften HI. Communion und die Sterbeferze
bilden dann eine fchöne Trias, Auch die Opferung der brennenden Kerze durch
diejenigen, welche eine Weihe erhalten haben, an den ennfecrirenden Bifchof, iſt
eine ſinnvolle Ceremonie, andeutend, daß fie alle fein wollen und follen, was
oom hl. Johannes dem Täufer gefchrieben fteht, „lucerna lucens et ardens.“ —
Um ihrer ausgezeichneten Stellung willen in der Neihe der liturgiſchen Sachen
werden die Kerzen geweiht, ſ. Kerzenweihe und geweihte Sache. [Maft.]
Kerzentragen, Kerzenweihe. Brennende Kerzen werben befonders bei
theophorifchen Proceffionen vom Clerus und den hervorragenden Laien getragen,
wie fie auch Hier befonders am Plate find, um einerfeitS auf das unter Brods—
geftalt verborgene Licht der Welt hinzuweiſen, andererfeitS den lebendigen Glau—
ben der Träger an die facramentalifche Gegenwart des Herrn anzubeuten. Das
Kerzentragen bei Leichenbegängniffen, deffen Gregor von Nazianz, Hieronymus,
Ambrofiug und Chryfoftomus ſchon erwähnen, ift die natürlihfte Ceremonie,
welche das Gebet: „das ewige Licht Teuchte ihnen” (den Abgeftorbenen) begleitet,
Bei der feierlichen Ereommunication tragen die Büßer Anfangs brennende Kerzen:
fobald fie aber die Schwelle des Gotteshaufes Hinter fich haben, werben fie ihnen
ausgelöfcht („die Leuchte der Gottlofen wird ausgelöfcht werden”, Sprüchw. 13,
9,). — Feierlich wird die Kerzenweihe am Fefte Mariä Reinigung vorgenpm-
men (von der Segnung der Ofterferze ein bef, Artifel), woher dieſes Feft auch
den Namen Lihtmeß erhalten. Das Alter diefer feierlichen Segnung läßt ſich
nicht mehr mit Genauigfeit ermitteln, immerhin aber fällt ihr Urfprung vor das
achte Jahrhundert (ſ. Marzohl und Schneller, V, 1. ©.57). Ueber ihren
Sinn geben den beften Auffchluß die Gebete der Kirche bei der Segnung ſelbſt;
darnach follen alle diejenigen, welche die geweibten Kerzen fromm gebrauchen, zur
wahren Gptteserfenntniß erleuchtet, mit dem Feuer ber Liebe entzündet, mit der
Gefundheit des Leibes und der Seele begnadigt, vor allen Nachftellungen des
böfen Feindes gefhügt und zu den Wohnungen des ewigen Lichtes glücklich ge—
J
Keſuba — Ketzertaufe, Ketzertaufſtreit. 71
leitet werden. Während der Vertheilung der geweihten Kerzen wird vom Chor
der Lobgefang des greifen Simeon „nunc dimiltio servum tuum“ angeftimmt, dan
geht die Proceffion vor fih, während welder die fie Begleitenden die angezünde-
ten Kerzen in den Händen tragen. — Sonft findet ſich in der Kirche noch eine
doppelte Benediction der Kerzen, eine gewöhnlihe, welche unter dem Jahre
vorgenommen wird, wenn die Zahl der am Lichtmeßtage geweihten nicht aus—
reicht, und eine andere der Sterbeferzen (f. Marzohl und Schneller V. 1,
©, 368). [Maft.]
-Kefuba, f. Che bei ven Juden.
Kettler, Gotthard, f. Kurland.
Kettler, Wilhelm, f. Caffander.
Kettenfeier Petri, f. Petri KRettenfeier,
Ketzer, Kegerei, f. Härefie.
SKegerrichter, f. Inquifition.
Kegertaufe, Kegertaufjtreit. Schon zu Ende des zweiten hriftlichen Jahr-
bunderts hatte Tertullian, als firenger und herber Charafter in der Firchlichen
Diseiplin dem äußerſten Rigorismus zugethan, in feinem Buche de baptismo (e.
15. p. 262) die erften Keime einer Streitfrage niedergelegt, welche fpäterhin in
unerquicliher Weife Gegenftand gedehnter Verhandlungen ward, Die GStreit-
frage war: „Iſt die von den Kegern ertheilte Taufe gültig oder nicht? Und find
ſofort diejenigen, welche aus irgend einer Härefie in die Fatholifche Kirche zurüd-
zukehren wünfchen, vorerft zu taufen, oder genügt die bisherige Praris ber all-
gemeinen, befonders aber der römischen Kirche, den zurücfehrenden Häretifern
zum Zeichen der Buße und Verſöhnung die Hände aufzulegen?” Tertullian ver-
wirft a. a. O. die Kegertaufe, und motivirt fein Urtheil in Folgendem: „Wir
und die Häretifer Haben nicht denfelben Gott, und nicht Einen, d. i. den näm-
lichen Chriftus, daher auch nicht Eine, weil nicht diefelbe Taufe, Da fie diefe
nicht in rechter Weife befigen, fo befigen fie diefelbe ohne Zweifel gar nichtz
daher fie auch nicht empfangen Fonnen, was fie nicht Haben.” Die fo motivirte
Auffaſſungsweiſe von der Einheit der Taufe Fonnte wohl Agrippinus, Biſchof
von Carthago, der Vaterftadt Tertullians (200), nahdem Iegterer zum Monta—
nismus übergetreten, eben den Montaniften gegenüber mit Necht in Anwendung
bringen, da diefe nicht nach der Einfegung Chrifti, im Namen der ausdrücklich zu
nennenden drei göttlichen Perfonen tauften; er durfte aber diefe Anficht nicht, wie
er auf der Synode zu Carthago gethan, auf die Kegertaufe im Allgemeinen aus—
dehnen, ohne den Fatholifchen Lehrbegriff, wie diefer unten näher zu beleuchten
Tommi, zu gefährden. In Folge des Synodalbefchluffes fand die Hebung, die
‚Häretifer erft durch Ertheilung der Taufe in die kirchliche Gemeinfhaft wieder
aufzunehmen, Eingang in einem großen Theile der africanifchen Kirche, und
Widerhall in den Kirchen Kleinafiens; denn fchon auf der Synode zu Jeonium
und fpäter zu Synnada, unter dem Vorfige Firmilians (ſ. d. A.), Biſchofes
son Cäfaren in Cappadocien, wurde ein gleicher Befchluß gefaßt mit der Synode
zu Carthago (Euseb. H. E. VII. 5. 7. 30.). In bevenflicherer Weife aber ent-
brannte der Regertaufftreit, als im J. 248 Eyprian (f.d. A.) den bifchöflichen
Siuhl von Carthago beftieg. Die nächfte Veranlaffung gab die gerade damals
’ auftauchende Secte der Novatianer, die fih die Neinen, zaI«pol, nennend,
} alle aus ver Fatholifchen Kirche zu ihnen Uebertretenden wieder tauften und fomit
im nothwendigen Rückſchlage die obſchwebende Streitfrage über die Kegertaufe
wieder in Anregung brachten. Auf die fihriftlihe Anfrage von 18 Bifhöfen
Africa’8, wie man es ferner mit der Aufnahme der Häretifer zu halten habe,
' serfammelte Cyprian zu Carthago (255) 31 Biſchöfe der africanifchen Kirche.
3 Gfübend begeiftert für die Idee der Einheit der Kirche, beftärft durch das Bei-
ſpiel feines mittelbaren Vorgängers Agrippinus, wußte Cyprian die verfammel-
72 Kebertaufe, Ketzertaufſtreit.
ten Bifchöfe zum einmüthigen Befchluffe gegen die Gültigkeit der Ketzertaufe zu
beſtimmen. Das Synodalfchreiben (Cypr. ep. 70.) wurde an die Fragefteller ab-
gefandt, und auf folgende Gründe zurücgeführt: „Niemand könne draußen, außer
der Kirche, getauft werden, da nur Eine Taufe in der HL. Kirche beftehe. Keiner,
der außer der Kirche fer, Fünne das Waffer heiligen, da er den hl. Geift nicht
habe, — Es fei nur Eine Taufe, nur Ein hl. Geift, nur Eine von Chrifto dem
Herrn auf Petrus gegründete Kirche. Bei den Frrgläubigen fei alles undächt und
nichtig.” Die Synode verwahrt fih gegen den Vorwurf der Wiedertaufe; denn
„Alle, die von einem ehebrecherifchen und ungeheiligten Waffer fommen und mit
der Wahrheit des heilbringenden Waffers abzumwafchen find, werben von ung nicht
wiedergetauft, fondern getauft” Cep. 73). In gleihem Sinne fohrieb Eyprian
auch an Duintus, einen der Bifchöfe Mauritaniens, der an ihn durch den Priefter
Lucian die nämliche Frage bezüglich der Kegertaufe hatte ergehen Taffen Cep. 71).
Um diefe Frage einer gedeihlichen Löfung entgegenzuführen, Iud er in kurzer Zwi-
ſchenzeit (255—256) abermals 71 Bifchöfe Africa’s zu einer Synode nad) Car-
thago. Diefes Coneil beftätigte die Befchlüffe des erfteren und fandte zugleich
mit dem frühern Synodalfchreiben und dem Briefe Cypriansg an Duintug den
gefaßten Entfcheid nah Rom an Papft Stephanus, Wie weit Cyprian, der
wahrfcheinliche Verfaſſer diefes Synodalfchreibens, von aller Parteifucht und
Streitluft entfernt gewefen, geht aus den Schlußworten des Schreibens hervor:
„Wir fenden dir diefes Schreiben, geliebtefter Bruder, fowohl zu deiner Mit-
funde, als wegen der gemeinfchaftlichen Würde, und aus ungeheuchelter Liebe, —
Doch thun wir Keinem Gewalt an, geben Keinem Geſetz, da jeder Bifchof in
Verwaltung der Kirche feinem freien Urtheile folgt und dem Herren Nechenfchaft
geben wird für das, was er thut” Cep. 72). Diefer Geift der Milde und Ver—
föhnung gibt fih auch fund in einem gleichzeitig an Biſchof Jubajanus gerichteten
Schreiben Cyprians, das er mit den Worten fohließt: „Die Liebe des Herzens
erhalte ich aufrecht mit Geduld und Sanftmuth, die Ehre der Gemeinſchaft, das
Band des Glaubens und die bifhöfliche Eintracht” Cep. 73). Wider Erwarten
Eyprians und der übrigen Biſchöfe Africa’s nahm Stephanus das Synodalfchrei=
ben in einer Weife auf, die allerdings nicht geeignet war, den Streit auf friedlichem
Wege beizulegen, fondern vielmehr die Hige des Kampfes fteigern mußte, be—
ſonders als auch Firmilian, Kenntniß davon nehmend, auf Cyprians Seite trat,
und ihm die Tradition mehrerer Particularfirchen Afiens als Bundesgenpffinnen
zuführte (Cypr. ad Pompejum ep. 74. — Firmil, ad Cypr. ep. 75). Stephanus
dagegen, fußend auf der allgemeinen Tradition, befonders jener der HYaupt-
und Mutterkirche, wie Cyprian felbft (ep. 59) Nom genannt, entfchied mit den
Worten: „Wenn Jemand von was immer für einer Härefie zu euch kommt, fp
fol nichts erneuert werden, außer was überliefert worden ift, daß man ihm bie
Hand auflege zur Buße, da felbft die Häretifer foldhe, die von einer ihrer See—
ten zur andern übergehen, nicht eigenthümlich taufen, fondern nur einfach in ihre
Gemeinſchaft aufnehmen” (ep. 74. p. 293). Der Papft will dur die Berufung
auf das Beifpiel der Jrrgläubigen nur zeigen, wie lebendig und tief die katho—
Yifche Meberlieferung in diefer Frage felbft den getrennten Secten noch inne wohne
($leury h. e. VI. 28.). Die Worte „a quacunque haeresi“, deren fih Stepha-
nus bediente, involviren keineswegs den ihm von Cyprian (ep. 74) gemachten
Borwurf, daß ihm jede, auch in unrechter Weife vollzogene Kegertaufe gleich
gelte, Der Papft konnte fo fprechen, denn leichter wurden damals Ketzer gefun-
den, bie gar nicht tauften, als folche, die nicht der rechten Formel in der Taufe
fich bedient hätten (S. August. de Bapt. VI. 25.). Daß Stephanus den Bifhöfen
Afiens und Africa’s felbft mit dem Banne gedroht habe, geht aus einem Briefe
des Divnyfius von Alerandrien an Papft Xyftus (Euseb. h. e. VII. 5.) hervor, —
Wenn auch der unbefangene Hiftorifer nicht abläugnen Fann, daß in biefem Streite
Kesertaufe, Ketzertaufſtreit. 73
beide Parteien die Schranfen der Mäßigung überfritten, fo wird er doch zu-
gleich zugeben müffen, daß dem Papfte gegenüber, der fih im voliften Rechte
befand, die gebührende Pietät minder von Firmilian ald von Cyprian gewahrt
wurde, Leßterer glaubte dadurch eine Vermittlung bewirken zu können, daß er
nochmals am 1. September 256 ein Coneil nad Carthago berief, zu welchem 85
Bifhöfe aus der Provinz Africa, Numidien und Mauritanien, defgleichen viele
iefter und Diaconen, fowie auch Laien fich einfanden. Wie aus den von Cy—
prian felbft überlieferten Synodalacten hervorgeht, blieben alle Biſchöfe bei ihrem
früheren Befhluffe, mit der nochmaligen Verfiherung, dadurch die Einheit des
Glaubens nicht flören und die Firchliche Gemeinschaft mit den Biſchöfen gegen-
theiliger Ueberzeugung nicht aufheben zu wollen. Ob Eyprian vor feinem Tode
noch feine Meinung widerrufen babe, ift nicht mit Gewißheit befannt. „Fortasse
factum est, sed nescimus“ .... (S. August. de bapt. 1. IL. c. IV.). „Cyprianus sen-
sisse aliter de baptismo quam forma et consuetudo habebat Ecclesiae, non in ca-
nonicis, sed in suis et concilii literis invenitur: correxisse aufem istam sententiam
non invenitur; non incongruenter tamen de tali viro existimandum est, quod cor-
rexerit, et fortasse suppressum sit ab eis, qui hoc errore nimium delectati sunt,
et tanto veluti patrocinio carere noluerunt“ (Id. ep. 43. $ 38.). Indeß ift uns
die Heiligfprehung diefes Kirchenlehrers, fowie feine ausdrüdflihe Erwähnung
im Canon der Meffe die fiherfte Bürgfchaft, daß er flets in vollfommener Kir-
hengemeinichaft geblieben. — Doch auch nah dem Tode Cyprians und des
Dapftes Stephanus dauerte der Kegertaufftreit ſowohl in der afiatifchen als africani-
ſchen Kirche fort. Diony ſius, Bifhof von Alerandrien (f. d. A.), hatte ſchon
zu Zeiten des Papftes Stephanus die Rolle eines Vermittlers übernommen, und
feste nun diefes Amt unter Sirtus H. fort; es gelang ihm jedoch nur theilweife,
die Biſchöfe Africa’s mit Rom in diefem Puncte zu einigen (Euseb. h. e. 1. c).
Endlich ftellte fih auf dem Concile zu Arles (314), dem viele africanifhe Bi-
ſchöfe anwohnten, den Novatianern gegenüber die römifche Ueberlieferung als
Fatbolifhe Lehre offen heraus. Der 28. Canon diefes Coneils lautet: „Wenn
ein Häretifer zur Kirche kommt, fo foll man ihn nach dem Symbole fragen, und
überzeugt man fih, daß er auf den Vater, Sohn und HI. Geift getauft fei, fo
fol man ihm bloß die Hände auflegen. Befennt er aber auf die ihm vorgelegte
Frage nicht diefe Trinität, fo foll er getauft werden“ (Mansi t. II. p. 474.). Das
allgemeine Nicän iſche Concil (325) befräftigte im 8. Canon den Ausfpruch des
Eoneils von Arles, indem es entfchied, daß die Novatianer nur mittelft Hände-
auflegung in die Kirche wieder aufzunehmen feien; die Paulianiften aber, welde
die Taufformel geändert hätten, feien im Falle ver Rückkehr zu taufen Cean. 19.
Mansi t. II. p. 666; Harduin t. I. p. 326 et 331.). Im Driente aber, befonderg
in Eappaborien, fiheint fi die Gewohnheit, alle Ketzer vor ihrer Aufnahme in
die Kirche zu taufen, bis zum erften allgemeinen Coneile von Conftantinopel er=
halten zu haben (S. Basil. prima et secunda ep. can. ad Amphiloch.). Zu Ende
des vierten Jahrhunderts ward dem HI. Auguftin glänzende Veranlaffung, die
Lehre der Fatholifchen Kirche mit der ihm eigenen dialectifchen Schärfe darzuftellen.
Die Donatiften (ſo d. A.), ausgehend von dem Principe, daß die Gültigfeit
der Sacramente bedingt fei durch den Glauben und die Sittlichfeit des Ausfpen-
ders, tauften die zu ihnen übergehenden Katholifen, und beriefen fich hiebei auf
die Autborität des HI. Cyprian, in dem fie allerdings ſcheinbar einen Patron ge-
funden, da er die Gültigkeit der Taufe von der Orthodoxie des Taufenden ab-
bängig gemacht Hatte, Auguftin, vorerft auf den traditionellen Standpunet in
feinem Werfe de bapt. contra Donatistas libri 7. ſich ftellend, entſchuldigt den HI.
Eyprian, da zu feiner Zeit diefe Frage über die Kegertaufe noch durch Fein all-
gemeines Coneil entſchieden gewefen. Uebrigens freche das Verfahren, fowie
bie Lehre des HI, Cyprian gegen die Donatiften, und verbamme die Losreifung
71 Kebertaufe, Ketzertaufſtreit.
von der Kirche, mit der er immer vereinigt geblieben. „Jene Tauffrage war
damals noch nicht forgfältig behandelt worden, aber doch hielt die Kirche die fehr
heilfame Gewohnheit feft, felbft auch an den Schismatifern und Häretifern das
zu verbeffern, was entartet ift, aber nicht zu wiederholen, was gegeben iſt....
Diefe Gewohnheit rührt, meinem Glauben zufolge, aus apoftolifcher Ueberliefe—
rung ber, fowie Vieles, was weder in ihren, noch der Nachfolger Schriften ge=
funden wird, doch als von ihnen (den Apofteln) überliefert und empfohlen ge=
glaubt wird, weil es die allgemeine Kirche beobachtet, Die Macht diefer Ge—
wohnheit beftimmte den Erdfreis, als jene Angelegenheit in Frage geftellt und
die gemeinfame Tradition vor die Authorität und Macht eines allgemeinen Concils
gebracht worden war” (lib. I. de bapt. c. VII. et IX.). Nach dem fritifchen Zeug-
niffe Bellarmins (lib. I. de sacram. c. XXVI.) verſteht Auguftin unter diefem
allgemeinen Eoncil fein anderes, als das ebenerwähnte erfte nicänifche, Auguftin
urgirt diefe für die Gültigkeit der Ketzertaufe fprechende Hebung aus dem Ge—
ftändniffe Cyprians felbft, der behauptet: „viefe fehr Heilfame Gewohnheit ſei
durch feinen Vorgänger Agrippinus im Beginne gewiffermaßen verbeffert, in der
That aber vielmehr verfchlechtert worden” (lib. II. de bapt. c. VII. n. 12.). Zeuge
diefer traditionellen Uebung, die Keger bloß mittelft Händeauflegung in die Kirche
aufzunehmen, ift uns ein ungenannter Schriftfteller aus dem dritten hriftlichen
Sahrhunderte, der ein Buch gegen den Irrthum der Wiedertäufer gefchrieben
(ef. Anonymi liber de Rebaptismate, gewöhnlid) den Werfen Cyprians beigefügt).
Zeuge ift Bincentins von Lirinum, der alfo ſchreibt: „Agrippinus, Biſchof
von Carthago, entfchied fich, der Erfte unter allen Sterblichen, für die Wieder-
taufe gegen den göttlichen Canon, gegen die Negel der allgemeinen Kirche, gegen
den Sinn aller Priefter, gegen Sitte und Einrichtung der Vorfahren” (commonit.
c. VL). Eben fo beftimmt fprechen fih aus Hieronymus (dialog. adv. Lucifer.
n.8 et 9.), Papft Siricius (ep. I. ad Himerium Episc. Tarrac. f,d. Art. Himeriug),
Innocenz I. (ep. XVII. ad Rufum etsoc.), Eugenius IV. (decret. ad Arm. Harduin
T. IX. p. 438), Die von den Bifhöfen Africa’s und Kleinafiens vorgebrachten
Gründe, welche theils in Conjecturen, theils in abweichenden Traditionen von Einzel=
firchen beftanden, beweifen fomit nichts gegen die allgemeine, Fatholifche Tradition,
Einen fohlechten Dienft haben dem HI. Eyprian und feinen’ bifhöflihen Mitgenoſ⸗
fen jene Kirchenſchriftſteller (Tourneminius, conjectures sur la supposition de
quelques ouvrages de Saint Cyprien et de la lettre de Firmilien, zu finden in den
Documentis Trevoltiensibus mens. Decemb. a. 1734, art. CXVIII. p. 2246 et sggq.
— Raymund. Missorius dissert, crit. in ep. ad Pompejum. Venet. 1733) er—
wiefen, die, um fein Firchliche8 Anfehen zu ſchützen, den Kegertaufftreit ganz oder
wenigftens theilweife von den Donatiften fingirt behaupten wollten. Wollte man
eine ſolch' evidente Thatfache, Die auf den folideften Zeugniffen beruht, auf Teichte
Bermuthungen hin, oder aus übelverftandener Pietät gegen eine hiftorifche Größe,
in's Neich der Fabeln verweifen, fo würde bald Gefchichte nicht mehr Geſchichte
fein, denn dem Sfepticismus wäre alsdann Thür und Thor geöffnet (ſ. Perronne
praelect. theolog. t. VI. p. 291. not. 4. Mediol. 1845). — Das antifatholifche
Prineip, nach welchem die Donatiften, fich fälfchlich brüftend mit dem Anfehen
eines hl. Cyprian, die von Kegern Cin ihrem Sinne gennmmen) ertheilte Taufe
unbedingt verwarfen, ward im Laufe der Jahrhunderte ausfchließlihes Eigen-
thum der Härefie, Wir finden es im 12ten Jahrhunderte bei der Secte der Apo—
ftolifer, der Walvdenfer, und gegen das Ende des 14ten Jahrhunderts bei den
Wiclefiten und Hufiten (f. d. A.). Die Fatholifche Lehre dagegen fpricht das vierte
Yateranenfifche Coneil (can. Firmiter) aus: „Die Taufe wirfe das Heil, von went
immer fie ertheilt fein möge, nur foll fie unter Anrufung der Trinität, im Waf-
fer, und in der Form der Kirche, Furz auf die rechte Weife gefchehen“ (Harduin
VII. 17.), Nicht minder beftimmt entjeheidet das Concil von Trient (Sess. VII
Kegertaufe, Kebertauffireit. 75
de bapt. can. W.): „Wenn Jemand fagt, daß die Taufe, wenn fie auch von
Häretifern im Namen des Baters, des Sohnes und des HI. Geiſtes ertheilt wird,
mit der Intention, das zu thun, was die Kirche thut, nicht die wahre Taufe fei,
der fei im Banne.” In diefem Sinne befiehlt die Kirche den Prieftern, nach dem
Ausſpruche der Väter und Eoneilien die Gläubigen zu lehren (Catech. Rom.). —
Die Frage über die Gültigfeit der Kegertaufe, die wir bisher in ihrem geſchicht—
lichen Verlauf verfolgten, findet im Fatholifhen Dogma leihtlih ihre Löfung.
Die vbjective Gültigkeit des Sacramentes ift nad Fatholifchem Lehrbegriffe nicht
bedingt durch die ſubjective Gläubigfeit oder fittliche Würdigfeit des Ausſpenders;
denn die Sacramente haben ihre ganze Kraft von Chriſto und feinem Verdienfte,
Der eigentliche Spender der Sacramente ift Chriftus, und der Minifter des Sa-
eramentes tritt nicht im eigenen Namen auf, fondern in der Kraft und Authorität
Chriſti. Somit hat auch feine Subjectivität feinen Einfluß auf die Gültigkeit des
Sacramentes, wenn er nur die Intention hat, das zu thun, was die Kirche thut,
So bezeugt Johannes der Täufer von Chrifto: „Diefer iſt's, der mit dem hl,
Geifte tauft” (Joh. 1, 33.), obwohl Jeſus nicht felbft, in eigener Perfon taufte,
fondern durch feine Jünger (Joh. 4, 2.). Daher wird die facramentale Taufe
des n. B., gegenüber der in ihrer Wirffamfeit an fubjertive Bedingungen ge—
fnüpften Taufe Johannis, die Taufe Chrifti, die Taufe im Namen Jefu ge-
nannt (Apg. 19, 3. 5.), und der Apoftel Paulus tritt der irrigen Anfiht der
Eorinther, als fei es Paulus, Apollo oder Cephas, die in eigenem Namen tauf-
ten, mit den Worten entgegen: „Iſt denn Chriſtus getheilt? Oder iſt Paulus
für euch gefreuzigt worden? Der feid ihr im Namen des Paulus getauft wor=
den?.... Wer ift denn Apollo? Wer ift Paulus? Diener deffen, dem ihr
geglaubt babet, und zwar fo, wie es der Herr einem Jeden gegeben hat. Ich
babe gepflanzt, Apollo Hat begoffen: Gott aber hat das Gedeihen gegeben, Daher
ift weder der etwas, welcher pflanzt, noch der, welcher begieft, fondern Gott,
der das Gedeihen gibt“ (1 Eor. 1, 13. 3, 4—7.). Iſt es aber nicht der Menſch,
der taufet, fondern immerdar Chriftus, der fich des Menfchen als Drganes be—
dient: fo iſt _ Einem auch die Gültigfeit der von Häretifern ertheilten Taufe
bejabet, denn es ift Ein und diefelbe Taufe, vorausgefegt, daß fie in rechter
Weife ertheilt wird, Auf diefen Sag führte Papſt Stephanus feine Behauptung
zurüf, da er fagte: „Die Ketzer taufen nicht auf eigenthümliche Weiſe“ (Cypr.
ep. 74). Iſt aber die Kegertaufe gültig, fo drüdt fie dem Getauften den facra-
mentalen Charafter ein, und es fann ſonach von einer Wiedertaufe des zur
Kirche zurüdfehrenden Häretifers Feine Rede fein, Derfelbe wird mittelft Ab-
ſchwoͤrung der Härefie und Auflegung der Hände zur Buße und Verfühnung in
die Kirche aufgenommen, und mit diefem Augenblicke treten zugleich in dem le—
bendig gewordenen Gliede der Kirche die Wirfungen des Sarramentes, die bis-
ber bloß der Kraft nach, potentiell, in ibm lagen, wirklich ein Cogl, Perronne
prael. theol. Vol. VI. 293. not. 2). Die$ war eigentli der Knotenpunct
bes Streites zwifchen Cyprian und Stephanus. Cyprian und feine An-
bänger unterfchieden nicht zwifchen Sacrament und Wirkung des Sacramen-
tes, und warfen daher unbilliger Weife dem Papfte Stepkanus, der doch im Ieß-
ten Grunde mit ihnen eins war, vor, er ſchreibe der Ketzertaufe im Momente
des Empfanges diefelben Wirkungen zu, wie der in der Rirche ertheilten. Und
doch hatte Stephanus felbft gefagt: „Die Härefie gebiert und fegt aus; die aus-
gefegten (Rinder) aber nimmt die Kirche auf, und die nicht fie ſelbſt geboren Hat,
ernährt fie als die ifrigen“ CCypr. ep. 75). — Wird demnach das Dogma:
„Ehriftus iſt es, der da taufet”, und der Unterfhied zwifchen der Gültigkeit
und Wirfamfeit der Taufe feft im Auge gehalten, fo löfen ſich alle etwaigen
Bedenken von felbft, wie leichtes Nebelgewölfe. Der HI, Auguftin fagt hieher
bezüglich: „Nicht durch die Verdienfte derer, von denen fie gefpendet wird, noch
76 Ketzertaufe, Kebertaufftreit.
derer, benen fie gefpendet wird, befteht die Taufe, fondern durch die eigene Hei-
Yigfeit und Wahrheit, um Deffen willen, von dem fie eingefegt ift” (de bapt. IV.
16.). Und der Frage: „Gibt e8 in den von der Kirche getrennten Secten wahre
und gültige Sacramente?“ ftelft er die Antwort entgegen: „Die Trennung von
der Kirche ift zweierlei: entweder Trennung in der Liebe allein (Schisma), oder
in der Liebe und im Glauben (Härefie, Apoſtaſie). Halten die in der Liebe Ge-
trennten entweder ganz oder zum Theile feft an dem Glauben, fo bleiben ihnen
zwar fraft diefes Glaubens die Güter, die fie bei der Kirche empfangen und durch
den Glauben fefthalten; was fie von der Kirche mitnahmen, ging ihnen zwar
nicht verloren, aber die erhabenften Geheimniffe frommen ihnen nicht ohne die
Liebe. Daraus geht hervor, daß außer der Fatholifchen Gemeinfchaft Die Gewalt,
zu taufen, gleichwie die Fähigkeit, die Taufe zu empfangen, gefunden werde,
Sp haben die von der Kirche in der Liebe oder auch im Glauben Getrennten
allerdings die wahre Taufe, welche fie bereits vor ihrer Trennung empfangen
hatten und von der Kirche mitbrachten; denn falls fie zu der Kirche zurücffehren,
wird fie ihnen nicht von Neuem gegeben; und darin fpricht fih das Urtheil aus,
daß fie das, was fie in der Einigkeit empfangen hatten, in der Trennung nicht
verloren, Kann nun die Taufe draußen empfangen werden, wie follte fie nicht
draußen gegeben werden können?“ Dem Einwurfe der Donatiften, wie denn
die Härefie Chrifto und der Kirche geiftliche Kinder zeugen könne, begegnet er
mit den Worten: „ES iſt die Eine Kirche, welche einzig die Fatholifche genannt
wird, die durch das, was fie als ihr Eigenthum in den von ihr getrennten Ge—
meinen befigt, geiftliche Rinder zeugt, nicht aber find e8 diefe Gemeinen felbft;
denn die Trennung an fich ift nicht das Zeugende, fondern was von jener er—
halten worden” Ccfr. de bapt. I. 10. — II. 10. — IV. 1—5. — VII. 51, 52,
53.). Ein weiterer, aber nur foheinbarer Einwurf, welcher gegen die Gültigkeit
der Rebertaufe gemacht werben könnte, möchte in der Frage liegen, ob nicht aus
dem nämlichen Grunde auch alle übrigen Sacramente von Häretifern gültig er-
theilt werden fonnen? Perronne fpricht fich hierüber, nachdem er den Canon
des Tridentinums (can. IV. de bapt.) von der Gültigfeit der Kegertaufe vor—
gebracht hat, folgendermaßen aus: „Quod vero attinet ad sacramenta reliqua (si
poenitentiam excipias, non quidem ex defectu fidei, sed’ex defestu jurisdictionis,
qua carent haeretici), certa est illa propositio ac fidei proxima. Licet enim nulla
expressa habeatur de illis ecolesiae definitio, jam ex communi consensu probatur
atque ex ejusdem ecclesiae praxi, pluribus saltem abhinc saeculis confirmata.
Eadem sane ratio, quae suffragatur valori baptismi collati ab haereticis, suffraga-
tur pariter valori ceterorum sacramentorum, quae omnia Christi sunt‘“ (praelect,
theol. t. VI. p. 290). Eben aber, weil alle Sacramente Saeramente Ehrifti find,
Yiegt e8 auch im und am Willen Chriſti, die Bedingungen zum gültigen Em-
pfange fowohl als zur gültigen Ausfpendung bei den einzelnen Sacramenten nach
feiner ewigen Weisheit feftzufegen. Allerdings findet der Sat, daß die Gültig-
feit des Sacraments nicht bedingt wird durch die Nechtgläubigfeit oder Sittlich—
feit des Ausfpenders, prineipielle Anwendung auf alle Hl. Sacramente; allein
zur Gültigfeit des Sacramentes wird auch von Seite des Ausfpenders die In—
tention erforbert, das zu thun, was die Kirche thut, Nun kann aber die Inten-
tion der Kirche Feine andere fein, als die Intention Chrifti. Wie wenig e8 aber
in der Intention Chrifti gelegen, jeden Menfhen ohne Ausnahme zur Ausfpen-
dung aller Sarramente für fähig zu erflären, darüber hat ung die Lehre und
Vebung der Kirche bis auf unfere Zeiten fattfamen Auffhluß gegeben, Nicht aus
dem Titel der Subjertivität des Minifters, fondern aus dem Titel der im Willen
Chriſti Kiegenden und in der Kirche ausgefprochenen Intention fönnen die einzel-
nen Saeramente nur von demjenigen gültig verwaltet werben, der fähig ift, das
zu thun, was bie Kirche nach Anordnung Chrifti thut (vgl. Mattes, die Ketzer—
ee
Keuſchheit. 7
taufe, 2. Artikel. Tübing. Quartalſchrift. 1. Heft 1850). Wenn Chriſtus bie
Bedingung zur gültigen Ausfpendung der Taufe dahin erleichterte, daß Jeder⸗
mann, mithin nicht nur Häretifer, ſondern auch Heiden und Ungläubige gültig
taufen fönnen, fo müffen wir darin bie höchſte Güte und Weisheit des Herrn
bewundern, die für den Empfang des erſten und nothwendigſten Sacramentes alle
hemmenden Schranfen aufpeben wollte (Catech. Rom. de bapt.), 9 Es erübrigt
ung noch, Einiges über die ſymboliſche Seite dieſes Artikels beizufügen. Wie
einft Papft Stephanus, fo Fonnen auch wir aus der Vergleihung der katholiſchen
Lehre mit jener der getrennten hriftlichen Confeffionen ein gewichtiges Zeugniß
für die Wahrheit der Fatholifhen Tradition entnehmen; denn fie Haben in diefer
Frage mehr als in andern das Fatholifhe Bewußtfein mit hinübergenommen. Die
Intherifche und reformirte Kirche anerfennt von ihrem Standpuncte aus die Gül-
tigkeit der Kegertaufe, wenn fie im Namen der drei göftlihen Perfonen ertheilt
wird, und tauft daher nur die Soeinianer und überhaupt die Unitarier, wenn fie
in eine derfelben übertreten (Öuerife, Symbolif, S. 411. — Conf. beig. art.
34. — Conf. gall. art. 23. — Calvin. epp. et resp. ed. Genev. p. 458). — Was
die griechifch nicht unirte Kirche betrifft, fo ſtimmt fie in diefer Frage mit ung
—
sollfommen überein (vgl. Conf. orthod. p. 157). Doch ſoll, nah Heineccius,
in der ruffiihen Kirche geraume Zeit hindurch die Wiedertaufe der Convertiten
aus den verfchiedenen hriftlichen Eonfeffionen üblich gewefen fein. — Für den
Fatbolifhen Seelforger wird insbefondere in unferen Tagen, den modernen
„freien“ Kirchen gegenüber, die Paftoralregel gelten müffen, daß er in jedem
einzelnen Eonverfionsfalle fi genau nach der Härefie erfundige, in welcher der
Eonvertit früher geftanden, damit er nicht gegen Firchliche Lehre und Praris ver-
ſtoße; denn alle in diefen neumodifchen Secten geborenen und erzogenen Häretifer
find meiftentheils überhaupt zu taufen, da fie in ihrer Gemeinfhaft nicht in
rechter Weife und Intention getauft wurden. — Duellen für die Gefhichte und
Lehre der Kegertaufe: Cypr. ep. 70—76. — edit. Baluz. — Euseb. h. e. VII.
3. 5. — Anonymi tract. de bapt. haeret. Mansi t. I. p. 934. — August. contra
Donat. de baptismo, contra Ep. Parm. und contra Petil. (edit. Bened. Par. 1688.
Tom. IX.) — Vincent. Lirin. commonit. cap. VI. — Hieron. contra Lucif. t. II.
ed. Vallarsi. — Bearbeitungen: Natal. Alex. saec. III. cap. III. art. V. et
dissert. XXIII. — Maranus, Praefat. ad Opp. S. Cypriani. Edit. Baluzii. — Giov.
Marchetti, Essereitazioni Ciprianiche: il battesimo degli Eretici. Rom. 1887. —
Godefrid. Lumper Mon Bened. historia theologico-critica de vita, scriptis atque
doctrina SS. Patrum part. XI. sect. II. cap. V. art. II. $ IV. et sqq. Augustae Vin-
.delicorum 1795. — Bald, Ketzerhiſt. TH. II. S. 310— 384. — Stollberg,
Gefhihte der Religion Jeſu CHrifti, Th. 9. S. 148 ff. Wien 1817. — Migne
Patrolog. Cursus compl. Tom. Ill. Par. 1844. — Perronne praelect. theol. tract.
de sacramentis in genere propos. I. — Dr. Mattes, Abhandlung über die Keger-
taufe in der Tüb. theol. Duartalfchr. 1849, 4. Heft, u. 1850 1. Heft. [Gruſcha.]
Keufchheit (ayveiz, castitas) ift die Tugend der Beherrfchung des Ge-
ſchlechtstriebes. Sie Fann in einer doppelten Geftalt auftreten, je nachdem bie
Herrfchaft des Geiftes über diefen Naturtrieb bis zur gänzlichen Entfagung fort-
gebt oder fi) auf jenes Maß von Befriedigung befchränft, die im ehelichen Leben
verftattet und das Mittel der Fortpflanzung der Gattung iſt. Jene hat den Namen
der jungfräulichen Keuſchheit Ccastitas virginalis) ; diefe Heißt die eheliche Keuſch⸗
heit Ceastitas conjugalis). Vgl. Cölibat, Gelübde, Räthe, evangelifche, Wir
haben im gegenwärtigen Artifel nur die Iegtere, eigentlihe Form der Keufchheit im
Auge, da erfiere mehr den Namen „Enthaltfamkeit”-(Eyzoereıe, continentia) führt
Cl. Enthaltfamfeit), Wenn die Kraft des Willens das Map ift, wornad die Größe
der Tugenden fi bemißt: fo ift ofne Zweifel die Enthaltfamfeit als die gänz-
liche Verzichtleiſtung auf die Befriedigung des flärffien und unbändigften aller
78 Keuſchheit.
Triebe die Krone aller Tugenden. Aber ſchon die Keuſchheit des ehelichen Lebens,
die Beſchränkung des Triebes auf feine natürlichen Grenzen und Zwecke, fordert
bei der verlocfenden Luft, die ihn begleitet, eine nicht geringe Macht der Selbſt—
beherrſchung. Ihr Tugendcharakter kann darum nicht in Zweifel gezogen werden,
Diefe Tugend ift e8, die ven Menfchen über den Kreis der Thierheit erhebt, indem
fie durch die Freiheit des bewußten Willens dem blinden, naturnothwendigen
Trieb den Stachel bricht und in die Form gefchlechtlicher Neigung und Liebe um-
wandelt. In dieſer verfittlichten Geftalt tritt der Gefchlechtstrieb in den engften
Zufammenhang mit dem fittlihen Inftitut der Ehe, ſich außerhalb diefer göttlich
beftimmten Schranfe jede Befriedigung, ja felbft ven Gedanken daran, verfagend;
noch mehr: felbft feine legale, durch perfönliche Liebe verklärte und fittlich durch-
drungene Befriedigung hüllt fih in den Schleier der Scham und Ehrbarfeit, Die
Schwefter und ſtete Begleiterin der Keufchheit ift die Tugend der Schamhaftig-
feit (pudicitia). — Als Pflicht fordert die Keufchheit von dem Chriften, den Ge—
fohlechtstrieb zu befäimpfen und zu befiegen, ihm Feine andere als die gottgeordnete
Befriedigung in der Ehe zu verflatten ‚und innerhalb des ehelichen Genuffes ihn
heilig und rein zu bewahren vor ausfchweifender Befleckung. Aus dem ehelichen
Genuß ift von diefem Standpunct aus die rohe, materielle Fleifchlichfeit ver—
fohwunden ; er iſt durch die perfünliche Liebe der Verehelichten vergeiftigt und ver-
edelt. In dem letzteren Moment hat die Tugend und Pflicht der Keufchheit ihre
pofitive Seite, — Wenn diefe Tugend auf dem Boden des heibnifchen Natur-
lebens nur fparfame und matte Blüthen trieb, fo fand fie hingegen innerhalb des
ifraelitifchen Lebens eine entfchiedene, forgfältige Pflege. „D wie ſchön“, ruft
der Berfaffer des Buches der Weisheit (A, 1. 2.) aus, „o wie ſchön ift ein Feu-
fches Geſchlecht im Tugendglanze: denn unfterblich ift fein Andenfen, und bei
Gott und bei Menfchen ift es anerfannt, Ewig triumphirt es mit der Gieges-
frone, und trägt den Preis für die Kämpfe unbeflecdfter Reinigfeit davon,” Vgl.
Sir. 26, 30. Derer, die Keufchheit Tiebten, erwähnen die altteftamentlichen
Schriften mit befonderer Anerfennung. 1 Mof. 39, 8. Job 31, 1 ff. Ruth, 3,
10. Tob, 3, 16—18. Dan. 13, 23. Im Buhe Tobi Ca. a. D. und 6, 17—
20.) wird die bloß zur Luftbefriedigung eingegangene Ehe für fündhaft erflärt.
Wenn fehon die hl. Bücher des alten Bundes feine Pflicht mehr einfchärfen, als
die der Beherrfchung der Gefchlechtsiuft, und Fein Lafter firenger und nachdrucks—
voller verbieten, als das der Gefchlechtsausfehweifung: fo kann e8 ung nicht un-
erwartet fommen, daß die neuteftamentlichen Schriften felbft gegen den Schatten
eines unzüchtigen Weſens, felbft gegen die Leifefte unreine Begierde und die bloße
Nennung von Schmählichem fich erklären und felbft bis zur entfchiedenen Em-
pfehlung der ehelofen, jungfräulichen Keuſchheit fortgehen, fo daß ung fein Zwei—
fel übrig bleiben fann, die Bewahrung der ehelichen Keufchheit fei das Meindefte,
die condilio, sine qua non, was fie für den Standpunet der hriftlichen Lebens-
führung in Anfprucd nehmen. Der Apoftel Paulus bezeichnet die Keuſchheit als
eine wefentlihe Erfcheinung des hriftlichen Lebensprincips, als Frucht des „Gei-
ſtes“ (Gal. 5, 22. vgl. 1 Theſſ. 4, 7. 8.), und erklärt ihre Gegenfäge für Aug-
flüffe eines widerchriſtlichen, dem göttlichen Leben entfremdenden Princips (Gal,
5, 19 ff. vgl. Eph. 5, 3. 1 Cor. 9, 10.). Eindringlihe Mahnungen zu Feufchem
Sinn und ehrbarem, fittfamen Wandel fehren häufig in den apoftolifchen Briefen
wieder, 1 Theff. 4, 3—5. Pf. 4, 8. Röm. 6, 12. 13. Gal. 5, 16. 24, 25,
1 Tim. 5, 2. 22. Tit. 2, 4. 6. 1 Petr. 2, 11. 1 Job. 2, 15—17. Wie David
zu Gott um ein von fleifchlichen Trieben gereinigtes Herz flebt (Pſ. 50, 12.), fo
preist der göttliche Heiland Die, welche reinen Herzens find, felig als ſolche, die
Gott Schauen werden (Matth. 5, 8.). — Der vom riftlich fittlichen Geiſte ge—
forderten Keuſchheit tritt die Unfeufhheit und Unzucht (luxuria) mit ihrem
vielgeftaltigen Heere von Verirrungen und DVerfündigungen entgegen. I. Diefe
RE VE NER
Keuſchheit. 79
Gegenſätze beſchränken ſich zunächſt auf das Bereich der Gedanken, Begierden
und Worte, Der ſittlichen Herzensreinheit widerſprechen freiwillig erweckte oder
unterhaltene Gedanken und Gefühle unreiner Art; wollüftige Bilder und Vor—
ellungen der Einbildungsfraft müffen um fo mehr verbannt werden, je mehr eg
in der Natur der Sache liegt, daß fie nicht ohne Einfluß auf die finnlichen Lüfte
und Bewegungen fein fünnen, die fie reizen und entflammen. Der Apoftel for-
dert ausdrüdlich dazu auf, ſich rein zu halten von aller Beflefung des Geiftes,
2 Cor, 7, 1. Bei der nähern Beftimmung der Sündhaftigfeit unreiner Gedanken
kommt es darauf an, welches ihr Inhalt ift, mit welchem Grad von Freiwillig-
feit fie erwedt worden find, und mit welcher Luft und wie lange fie innerlich vor
der Seele feftgehalten werden. Der Grad und die Größe der in diefem Fall
eintretenden Berfündigung beftimmt fih im geraden Verhältniffe zu den bezeich-
neten Momenten. Noch fündhafter und verwerflicher erſcheinen unreine Begierden,
Wünſche und Gelüfte; fie nähren noch mehr die unreine Flamme der Geſchlechts—
luft, ja fie fohließen den Keim der That ſchon völlig in fih. Daher fagt der Hei-
land: „Wer ein Weib anftept mit Begierde, der hat in feinem Herzen ſchon die
Ehe mit ihr gebrochen”, Matth. 5, 28. Der Apoftel bemerkt, daß die, welde
Chriſti find, ihr Fleisch gefreuzigt haben fammt den Laftern und Gelüften. Gal.
5, 24. vgl. Col. 3, 5. Dei der moralifchen Beurtheilung unreiner Begehrungen
und Gelüfte gilt ein analoger Mafftab, wie oben. Der Grad und die Befchaf-
fenheit ihrer Sündhaftigfeit bemißt fich theils nach dem Object, auf welches fie
gerichtet find, theils nach der Zuftimmung des Willens, theild nach der Heftigfeit
ihres Erregtfeins, theils nach der Beharrlichfeit des Verlangens, Eben ſo ver-
werflich find unreine Neden, Geſänge und Scherze. Unzucht foll, wie der Apoftel
Eph. 5, 3. 4, 12, fagt, im riftlichen Lebensfreife nicht einmal dem Namen nad
befannt fein (ne nominetur in vobis); auch follen fchamlofe Reden, Zotten und
Poffen, überhaupt alles Unanftändige etwas Unerhörtes unter ihnen fein, Was
Coon den Heiden) im Finftern gefchieht, ſchämen müßte man fih, es nur zu nen-
nen. Im Falle aber doch — im Widerfpruche mit der hriftlichen Wohlanftändig-
feit und Züchtigfeit — obſebne Reden geführt werden, fo find e8 folgende Mo-
mente, wornad die Größe der Berfündigung fich entfcheidet. Es kommt erfteng
darauf an, wer Unreines fpricht, ob ein Geiftliher, ein Erzieher, eine Haus-
mutter, oder ein roher Menſch; zweitens vor wem folche Rede geführt wird
(Pueris maxima reverentia); von welchem fpecififhen Inhalt die unreinen
Worte find, ob mehr oder minder anſtößig; viertens endlih, in welcher Ab-
fit fie gefprochen werden, ob bloß in Leichtfertigem, unüberlegtem Sinne, oder
in verführerifcher Abſicht. Immerhin verrathen unzüchtige Reden eine innerlich
derunreinigte, wüfte Seele; aus der Fülle des Herzens fpricht der Mund, Bel.
Clemens von Alerandrien Paedag. II, 6; Cicero. de offic. I, 29. I. Die
thatfählichen Berfündigungen gegen den Geift riftlicher Zucht und Keuſch—
beit find entweder natürlicher oder widernatürlidher Art. Die Gefhledts-
befriedigung ift nämlich auf der einen Seite an die eheliche Verbindung gefnüpft;
nur innerhalb diefes fittlichen Inſtitutes hat fie ihr Necht, fo daß jede aufßer-
eheliche Befriedigung der Gefchlechtsneigung für unftatthaft erflärt werden muß.
‚Auf der andern Seite muß die Befriedigung des Gefchlechtstriebes die Ordnung
der Natur beobachten und darf in feinem Falle die Rückſichten der Schambaftigfeit
und Ehrbarfeit verlegen. Daraus erhellt, daß die thatfähliche Unzucht in einer
zweifachen Hinficht gegen die Forderungen des fittlichen Geiftes verftoßen kann.
Die nächften Vorbereitungen zur wirklichen Gefchlechtsbefriedigung find unreine
Blicke und Geberden, unkeuſche Berührungen und buhlerifhe Lorfungen und An-
zeizungen, die eben deßhalb um fo verwerflicher und unzuläffiger erfcheinen, Sie
‚gehören bereit8 dem Gebiete der äußern That an. Was nun vorerft die voll-
endete That der natürlichen Gefchleshtsbefriedigung betrifft, ſo find die hieher
80 Keuſchheit.
gehörigen Unzuchtsarten folgende: 1) Die Hurerei, die vage außereheliche Ge—
ſchlechtsbefriedigung. 2) Das Concubinat, die ſich von der Hurerei dadurch
unterſcheidet, daß die Geſchlechtsverbindung zwiſchen den Perſonen, die ihre Luſt
mit einander befriedigen, eine jedenfalls länger dauernde iſt, wogegen jene ſich
an feine beflimmte Perfon Fnüpft und feine beftimmte Dauer der Verbindung mit
fih bringt. 3) Die Nothzucht (stuprum), die fih von ben erwähnten aufßer-
ehelichen Gefchlechtsvermifchungen durch den Mangel der beiverfeitigen Einwilli—
gung unterfcheidet; fie ift die erzwungene Gefchlechtsverbindung. 5 Moſ. 22; 28,
29. Czech, 22, 11. 4) Der Ehebrud, der da eintritt, wenn von den Per-
fonen, die den Gefchlechtstrieb mit einander befriedigen, die eine, oder beide mit
Andern verehelicht find. 5) Die Blutfhande, die in der fleifchlichen Verbin—
dung zwifchen den nächften Verwandten und Berfehwägerten befteht. 6) Das
Sacrilegium, eine fleifchliche Verfündigung zwifchen Perfonen, wovon die eine
oder beide Gott geweiht find, fei es durch den Empfang der höhern Weihen des
geiftlihen Standes, oder durch ein feierliches Gelübde der Keuſchheit. — Die
unnatürlichen Berirrungen und Ausfchweifungen des Gefchlechtstriebes anlangend,
fo gehört hierher 1) die Selbftbeflefung, die einfame Selbſtſchändung (Ona-
nie); 2) der naturwidrige Gefhlehtsumgang, die Gefihlechtsbefriedigung
zwifchen Perfonen verſchiedenen Geſchlechts auf eine widernatürlihe Art und
Weiſe; 3) die (vollendete) Sodomie, die Befriedigung der Geſchlechtsluſt zwi—
fchen Perfonen deffelben Gefchlechtes (Päpderaftie oder Knabenſchande und Venus
Lesbia); die Beftialität, Befriedigung des Gefihlechtstriebes mit einem Thiere,
Wir bemerken noch, daß zu den unnatürlichen Unzuchtsarten auch der Beifchlaf
in der Ehe gehört, wenn er mit der Abficht, ihn unfruchtbar zu machen, ver-
bunden ift (1 Moſ. 38, 9), — Die Sündhaftigfeit und Verwerflichkeit,
die Nachtheile ver Gefhlehtsverirrungen können wir theild von der
phyfifh=feelifhen Seite, theils von dem fittlich-foeialen und dem religiöfen Ge—
fihtspunet aus in's Auge faffen. Die Unzucht untergräbt in dem Grabe die ge-
funde leibliche Kraft, als fie das natürlihe Maß und die Ordnung der Natur
überfchreitet, Die Vergeudung der gefchlechtlichen Kräfte rächt ſich fehr ſchwer.
Ausſchweifende Wolluft ift das concentrirtefte Zerftörungsmittel des Lebens, Wer
den Reim des Gattungslebens in fich zerftört, legt zugleich Hand an feine indivi—
duelle Eriftenz. Nicht ungeftraft läßt die Natur ihre großen Zwede verhöhnen;
Siechthum, efelhafte Krankheiten und früher Tod gehen im Gefolge der entner-
senden Unzucht. Der Onanift ift, wie nicht Teicht Jemand, zum Selbfimorbe
geneigt; aus dem peinlichen Gefühle entfchwundener Lebenskraft gährt wilder
Grimm, Selbſthaß, Gottes- und Menfchenhaß auf, Gewöhnlich zerflört der
MWüftling, der Lüderliche auch fein äußeres Lebensglück, häuft Schande und Schmach
auf fein Haupt und beraubt fich felbft aller jener reinen und fittlihen Freuden-
genüffe, die an das häusliche Verhältniß geknüpft erfcheinen. Darum fagt die
Schrift: „Wie träufelnder Honigfeim find die Lippen der Hure, und glätter als
Del ihre Kehle: aber ihr Ende ift bitter wie Wermuth, und fiharf wie ein zwei-
ſchneidiges Schwert, Ihre Füße fleigen hinunter bis zum Tode.“ Spr. 5, 2—5.
vgl, Job 31, 9—12. Spr, 5, 8-11. 23, 27. Sir, 19, 3. — Dazu kommt die
innere Verwüftung und Zerrüttung der Seelenvermögen: Schwähung bes Ge-
dächtniſſes, Abftumpfung der Urtheilsfraft, Befleckung der Phantafie dur ſchmu—
Bige Bilder, Lähmung der Thatfraft und Verödung der Bruft, aus der alle
edlern, zarteren Gefühle entfliehen, Den Zufammenhang zwifchen Zeugen und
Denken dürfte ſchon der hebräifche Sprachgebrauch andeuten, der Erfteres „Er-
fennen” nennt; jedenfalls zeigt fich der Mißbrauch der Zeugungsfraft zugleich als
eine Zerftörung der probuetiven Denkkraft; der Ausfchweifende pflegt ebenfo der
geiftigen als der leiblichen Kinder’ zu entbehren, oder wenn er folche hat, fo find
fie beide gleich [hwächlich, feine Gedanken wie feine Nachkommen. Der Wüfl-
G Keuſchheit. 81
|
ling ift gewöhnlich ein Schwachling an Leib und Seele, zu Grunde geriätet an
Körper und Geiſt. Bol. Bürger’s Gedidt: „Männerfeufchheit,“ — Daran
reiht ſich die tiefe Selbftentwürdigung, die in der Unzucht liegt, die Preisgebung
der perfönlihen Würde. Die geiftige Perfönlichfeit hat in der Leiblichfeit ihre
er a Seite; daher jede Beflefung und Schändung des Leibes eine Ver-
igung gegen die geiftige Perfönlichkeit ift. Dieß drüdt der Apoflel mit den
Borken aus: „Jede Sünde, die der Menfch begeht, ift außer dem Leibe; wer
aber Hurerei treibt, der fündigt wider feinen eigenen Leib,” 1 Eor. 6, 18,
„Ber fih der Hurerei enthält, der erhält feinen Leib unbefledt und in Ehren,”
1 Theff. 4, 4. — Damit hängt die aus berrfchender Unzucht entfpringende Ver—
knechtung des Geiftes zufammen; das beffere Selbft findet ſich durch den ent-
zügelten, übermächtig gewordenen Trieb in unwürdige Zeffeln gefhlagen ; der
Geift, beftimmt, das Gelüften des Fleifches unter fih zu haben und unabhängig
von demſelben zu fein, bat feine freie Macht und Herrfchaft eingebüßt und ift
ein Selave eines thierifchen Triebes geworden. Der Menfh, der diefen Trieb
nicht vergeiftigt, entwürbigt fi zum Thiere, ja der raffinirte, unnatürlicher Luft
frößnende Wüftling finft unter das Thier herab. — Dabei fann es nicht fehlen,
die zur herrfchenden Leidenschaft gewordene Unzucht muß die tieffte moralifche Auf-
‘ Iöfung herbeiführen; im dffentlichen Leben Herrfchend geworden, begründet fie die
fpeeififche Sittenlofigfeit. Als ſolche ift fie die Peft der Gefellfchaft; entfittlicht
in wechfelfeitiger Verführung und Anftefung die Gefchlechter und pflanzt den Keim
des Berderbniffes und der Zügellofigfeit auf ganze Gefhlechtsfolgen fort. —
Ueberdieß ift Unzucht und Unfeufhheit eine Verlegung des göttlihen Schöpfer-
willens, der die Geſchlechtsbefriedigung und die fortpflanzende Thätigfeit an ein
beftimmtes Gefeg und an beftimmte Schranfen gebunden hat. Der heilige Wille
Gottes Hat fich in diefer Hinfiht namentlich im alten Teftament deutlich und nach-
drücklich genug geoffenbart; felbit für unvorfäglihe Beflefung ward Sühne vor-
gefhrieben (3 Mof. 15, 16. 17.), und über die gröberen Verlegungen der Keuſch—
heit fand ſich Die Todesftrafe verhängt. 1 Mof. 38, 9. 10. 19, 4 ff. 3 Mof. 18,
22. 23. 20, 13. 15. 16. 21, 9. 5 Mof. 22, 20—29, 27, 31. — Sie erfcheint
fodann als Auflöfung der Gemeinfchaft des Leibes mit Chrifto, dem Herrn und
Haupte des Leibe. „Der Leib ift, nach dem Ausfpruch des Apoftels, nicht für
die Unzucht, fondern für den Herrn. Wilfet ihr nicht, daß eure Leiber Glieder
Ehrifti find? Soll ich die Glieder Cprifti nehmen und fie mahen zu Gliedern
der Hure? Das fei ferne! Wiffet ihr nicht, daß wer einer Hure anfängt, Ein
Leib mit ihr iſt?“ 1 Eor. 6, 15 f. Ferner ift fie als Wegwerfung des Erlöfungs-
preifes und als Entweifung des Tempels des HI. Geiftes zu betrachten. 1 Cor.
6, 19. 20. 2 Cor. 6, 16. — Endlich ift mit dem Lafter der Unzucht als Strafe
die Ausihliegung aus dem Reiche Gottes und von der Gemeinfchaft der Heiligen
verbunden. Eph. 5, 5. 1 Cor. 6, 9. 10. 1 Tim, 1, 10. Gal. 5, 19, 20. Of. 22,
15. Der Sclave unreiner Lüfte ſchließt fih felft aus dem Kreiſe der Herzens-
reinen und Gottgeheiligten aus. Diefe Sclavenfette, diefer Bann ift ſchwer zu
Töfen ; gründliche Befehrung und Wiederbringung eines Wollüſtlings ſtellt fih in
jedem Falle als ein mühfames Werk dar, das nur zu oft gänzlich mißlingt. Iſt
einmal das unkeuſche Weſen in die innere Natur eingeniſtet, fo wuchert es felbft
dann noch fort, wenn die geſchlechtliche Kraft ſchon Tängft erlofhen iſt. — Die
bisher geſchilderten Nachtheile find mehr oder minder allen Formen der Unzucht
gemeinſam. Es gibt aber hinſichtlich der einzelnen ſolche eigenthümliche Beziehun-
gen, die ung das Unerlaubte fowohl als das Schädliche derfelden unter andern
Gefihtspuneten erfennen laſſen. Sp ift die aufereheliche Geſchlechtsbefriedigung
ſchon deßhalb unerlaubt, weil die auf dieſem Wege erzeugten Kinder von vorn-
herein einer ehrenhaften Eriftenz entbehren und wenn nicht dem frühen Unter-
gange, doch meiſtens der größten Vernachläſſigung fih preisgegeben fehen, Bei
Kirchenlexiklon. 6. Do, . 6
82 Keuſchheit.
Dem Mangel einer ſorgfältigen Erziehung, und wohl auch deßhalb, weil die herr⸗
ſchenden Begriffe ihnen ehrenvollere Bahnen verfhließen, folgen die unglücklichen
Gefchöpfe den pflichtvergeffenen Urhebern ihres Daſeins auf den gleichen Ab-
wegen, — Am meiften entwürdigt der außerehelihe Gefchlechtsgenuß, wenn er
mit einer Luftdirne gefchieht; Hier Fann von einer Herzensgemeinfchaft oder mo—
ralifchen Annäherung gar feine Rede mehr fein; es wird nur die thierifche Luft-
befriedigung gefucht, die eben fo fehr das Weib erniedrigt, die ſich dazu bar-
bietet, al8 den Mann, der fie hinnimmt: beide erniedrigen fih zum Thiere. —
Am gewiffenlofeften ift die Handlungsweife des Wollüftlings, der die Unfchuld
eines Mädchens entweiht. Der VBerführer, der einer Jungfrau ihre Ehre raubt,
raubt ihr in der Negel Alles, da fie, einmal gefallen, felten gründlich fich wieder
erhebt und zumeift fofort tiefer und tiefer ſinkt. Die natürlihe Schamhaftigkeit
des weiblichen Gefchlechtes ift zwar eine Schugwehr, die daffelbe der Unzucht
weniger zugänglich macht; aber ift diefe durchbrochen, dann ift der moralifche
Berfall um fo unaufhaltfamer. — Was die Nothzucht anlangt, fo involvirt fie
die unwürdigfte Behandlung und Mißachtung der perfönlichen Würde dee Men-
fhen. „Der Menfh, fagt Schiller, ift das Wefen, welches will, Eben deß—
wegen — fo folgert er mit Recht — ift des Menfchen nichts fo unwürdig, als
Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf, Wer fie und anthut, macht ung
nichts Geringeres als die Menfchheit ftreitig." Wenn dem alfo ift, fo Teuchtet
ein, welche empörend unwürdige Behandlung die Nothzüchtigung ift, die Gewalt
da anwendet, wo, wenn je in einer Sache, nur die freiefte Hingebung flattfinden
ſoll. — Ehebruch und Blutfehande verlegen auf die tieffte Weife die Reinheit und
das Glück des fittlihen Familienlebens (ſ. Ehebruch und Ehehinderniffe). —
Da nun, wie aus dem Gefagten erhellt, die unverlegte Reufchheit ein fo Hohes
Gut ift, und ihr Verluft eben fo unerfeglih und unmiderbringlih, als von den
verberblichften Folgen begleitet erfcheint: fo Tiegt nichts näher, als die Pflicht,
diejenigen Mittel, welche den Beſitz jener Tugend zu fichern und vor der Un-
fittlichfeit gefchlechtlicher Ausfchweifungen zu verwahren geeignet find, mit forg=
fältiger Treue in Anwendung zu bringen. Diefe Mittel find theild abwehren-
der, theils pofitiv pflegender Art. Da die Feinde der Unfchuld und Tugend
theils äußere, theils innere find, fo wird die erſte Claſſe von Mitteln fich in zwei
Gruppen fpalten, Was nun die erftere betrifft, fo rechnen wir zu den äußern
Feinden der Keufhheit den Müffiggang, die Unmäßigfeit, unvorfid-
tiger Umgang und ungüchtige Lectüre, Der erſte Feind diefer Art iſt alfo
der Müffiggang, der ſich auch in diefer Hinficht als des „Teufels Ruhebank“ und
als der Anfang aller Lafter bewährt. Arbeitfamfeit Täßt Feine ungehörigen Vor—
ftelfungen und Gedanken auffommen. Sind folde in müffigen Stunden entftan-
den, fo Fann man zu nichts Wirkfamerem feine Zuflucht nehmen, als zu ange-
firengter Arbeit und zu ernfter Befchäftigung. Wen der Ernft eines Amtes, bie
Laft eines Tagewerfes, das er zu volfbringen hat, feifelt, hat Feine Zeit, Tüfternen
Borftelungen und einem eitlen Gedanfenfpiele nachzuhängen, Vgl. 1 Tim, 5,
11—15. Ezech. 16, 49. Die Wirkfamfeit diefeg Mittels beftätigt der HL. Hie—
ronymus durch fein eigenes Beiſpiel; die tieffte Einfamfeit und Abgefchiedenheit
gewährte ihm feinen Schuß gegen die fleifchlichen Verfuchungen; auch das firengfte
Faften vermochte nicht ihre Spige zu brechen und die Glut der finnlihen Be—
gierden in feinem auf's Aeußerſte gefhwächten Körper auszulöfhen. Und was
war num mächtiger als all’ diefe vielberühmten Mittel? Das Studium der heb-
räifchen und der Yateinifchen Sprache war es: der ernfte, raftlofe, ange-
firengte Fleiß, den er auf daffelbe verwandte, und der es ihm erfparte, gegen |
feine frühern Feinde anzufämpfen, da fie von nun an verfehwunden waren, Hie-
ronymi ep. 21. (ad Eustochium); ep. 125. In dem Briefean Ruftieus Gal-
lus ermahnt der genannte Kirchenvater; „Facito aliquid operis, ut te semper
Keuſchheit. 83
diabolus inveniat occupalum.“ — Der zweite äußere Feind ift die Unmäßigfeit im
Effen und Trinfen, Befonders vermeide man beraufhende Getränfe, überhaupt
ſoiche Nahrungsmittel, die fpecififche Reize enthalten. Nöm. 13, 14. Eph. 5,
18. Luc. 21, 34. Ser. 5, 7. Tertull. de jejun. c. 1; de spectac. c. 10. 13,
Hieronym. adv. Jovinian. I, 8. GregorM. cur. pastor. Part. III. admon. 20.—
Der dritte äußere Feind ift unbehutfamer, vertrauliher Umgang mit Perfonen
des andern Geſchlechts. „Wer die Gefahr liebt, wird darin umfommen.” Sir,
3, 27. Hier gilt es, fchon den Bli auf Tüfterne Geftalten fih zw verfagen,
Job fagt von fih: „Mit meinen Augen hatt’ ih einen Bund gefhloffen, was
follt ich auch auf eine Jungfrau blicken.“ Job 31, 1. Und Sirach ermahnt:
„Defte deine Augen auf feine Jungfrau, daß ihre Schönheit dir nicht zum Falle
werde. Wende dein Angeficht von einem gepuzten Weibe ab, und blicke nicht
nach fremder Schönheit. Durd die Schönheit eines Weibes gingen ſchon Viele
zu Grande, und dur fie entbrennt die Luft, wie ein Feuer.” Sir. 9, 5. 8,9.
vgl. 42, 12. 13, 23, 4. 2 Kön. 11, 2 ff. 1 Mof. 34, 2. Dan. 13, 8 ff. 1 Petr,
3, 3. 1 Tim, 2, 9. Ambros. expos. in Ps. 118. Serm. 16. n. 3. Chrysost.
hom. 17. in Matth. n. 2. August. ep. 211. n. 10. enarr. in Ps. 50. Gregor.
Moral. XXI, 2. — Ferner warnt Sirah: „Mit einer Tänzerin pflege feinen Um—
gang, und gib ihr Fein Gehör, auf daß dich ihre Künfte nicht zu Grunde richten,”
Sir. 9, 4. vgl. 9, 12. 13. — Der vierte in der Reihe äußerer Feinde ift die
Leetüre folder Schriften, welde die Phantafie erhigen und mit lüfternen wollüfti-
gen Bildern bevölfern. Hieher find unzüchtige Gemälde (Clem. Alex. cohort.
ad genf. c.4. Chrysost. expos. in Ps. 113.n.4. August. Confess. I, 16.),
allzu weihlihe Mufif (Clem. Alex. Paedag. II, 4.), zu aufregende Vergnügun-
gen und Tanzbeluftigungen (Ambros. de virgg. II, 5. n.25. Chrysost. hom.
48. in Matth. n. 2 sqq.) u, ſ. w. zu rechnen. Matth. 5, 27—30. Marc. 9, 43—
47. 1 30h. 2, 16. Sprüchw. 7, 5 ff. — Zur Gruppe der innern Feinde zählt
tändelndes, romanhaftes Gedanfenfpiel, Gefühlsfhwärmerei und überwiegende
Pflege der Einbildungsfraft, insbefondere noch der irrthümlicher oder affectirter
Weife genährte Glaube an die Unwiderftehlichfeit und abfolute Heiligkeit der Na—
turtriebe. — Wenn es nun zunähft gilt, die erwähnten Feinde zu befämpfen und
niederzuringen, fo ift es doch damit noch nicht gethan: die Tugend der Keufchheit
will po ſit iv gepflegt fein, und ihre pofitive Pflege erft fihert den vollftän-
digen Sieg. Abhärtung des Leibes, Gewöhnung an Einfachheit und Mäfigfeit
in der Nahrung, Hebung in der Selbftverläugnung (Faften), Wahfamfeit über
die finnlihen Negungen, Flucht vor gefährlichen Gelegenheiten, Bewahrung des
natürlihen Schamgefühls, ernfte Erwägung der in der Unzucht liegenden Selbft-
entehrung und ihrer furdtbar verwüftenden Folgen, freudige Begeifterung für die
Würde und Schönheit der Keuſchheit, vertrauensvoller Aufblick zu Gott, befon-
ders zur Stunde der Verfuhung, fleter Wandel in Gottes Allgegenwart, ver-
ehrungsvoller Hinblik auf die Vorbilder der Neinigkeit, befonders auf bie jung⸗
fräulihe Gottesmutter, die Mutter der ſchönen Liebe, der wiederholte Gedanke
an Tod und Gericht, der öftere Empfang der heiligen Sacramente find die Haupt-
mittel, die Herzensreinheit und die Keuſchheit des Leibes zu wahren und ihren
Seſitz in pofitiver Weife zu begründen und zu befefligen. Sprüchw. 5, 6. 20 —
31. 7, 9, 3—6..23, 16—25. 9f.,50, 12. 1 Cor. 9, 25. 27. Matth. 5, 29. 18,
9. Marc. 9, 46, Die Väter bezeichnen die Keuſchheit als eine Gabe Gottes,
die er Keinem verfagt, der ihm darum bittet (Origin. comment, in Matth. 19, 11.
Chrysost. de virgin..c. 36.: August, Confess, VI, 11. n. 20. serm. 343. n. 4.
gl. Conc. Trid.‚Sess. 24. de matrim. c. 9. Die Stelle 1 Eor. 7, 7. bezieht
ſich auf die castitas virginalis, die. Gabe der Enthaltfamfeit). Vgl. Athe-
‚mag. Legat. pro Christ. $ 28. Clem. Alexand. Strom. Lib. IH. Hieron. ep. ad
Eustoch. Basil. M. de virgin. Cicero de senect. c. 12. Tuse. Quaest. IV, 39.
J *
84 Khleſel — Rilian,
880. Schleiermader, Grundlinien einer Krit. der bish, Sittenl, S, 276—
282 (Berl, 1813). Friſch, moral, Vorlefungen über d, Pflichten d. Keufchheit
und des ehelichen Vertrags. Altenburg 1795. Sig. Wild, Fürcht. Carl, ein-
dringlihe Warnung vor den Sünden wider das fechste Gebot, Leipz. 1839,
Niedel, die Verirrungen des Geſchlechtslebens. Quedlinb. und Leipz. 1831.
Literatur über Onanie: P. 4 Jais, das Wichtigſte für Eltern, Schullehrer
und Auffeher der Jugend, befonders für Seelſorger. Münd. 1826, Tiffpt,
von der Onanie, überf, von Carſtens. Hamb, 1777, Börner’s pract, Werk
von der Dnanie 2 Thl. Lpz. 1776, Hermes, für Töchter edler Herkunft 3 Thl.
Lpz. 1787. Salzmann, über die heimlichen Sünden der Jugend, Lpz. 1787.
Allgem. Nevifion des Schul- und Erziehungswefens, Herausg. v. Campe Thl.
VIu, VU. Hufeland, Kunft das menfhliche Leben zu verlängern. II. 11 ff.
109 (2. Aufl, Zen. 1789.) — Ueber die Heilmittel der Unzuchtsſünde fehe
man Hirfcher, die hriftl, Moral, Bd, II. ©, 570—575 4,4, Tüb, 1845, [Fuchs.]
Khleſel, f. Kleſel.
Kibla, ſ. Caaba.
Kidron, ſ. Cedron.
Kijun, 7772, Name des Bel, El, oder Belitan, der höchſten Gottheit
bei den (heidniſch) femitifchen Völkern, deg Kronos bei den Griehen, Satur—
nus bei den Römern, Die LXX geben den nur einmal im alten Teftament Amos
5, 26, (vgl. Ang. 7, 43.) vorfommenden Namen durch Paupav (Varr. Perupav,
Pepav, Poupa); nad der gewöhnlichen Erklärung (wie z.B. noch de Wette’s
zu Apg. 1. c.) findet Hier ein Verſehen Statt, der Heberfeger habe 4 für > (7777)
und 7 dur p (Paıyav) gelefen! Diefe Befchuldigung erweist fih durch Die
ganze Auffaffung, welche die berühmte Stelle durch die LXX erfuhr, als irrig;
die Umſtellung, welche die Worte des hebräifchen Textes im Griechifchen erleiden,
deutet hinlänglich an, daß der befanntere Name einer Geftirngottheit verftanden
werden follte; "Prpav kommt aber wirklich in einem (von Kircher und Seyffarth
mitgetheilten) arabifch-Foptifchen Planetenverzeichniß ald Name Saturns vor,
ebenfo ift Rijun als Keiwan, Kewan, Name des Saturn bei den Perfern, Ara-
bern, Syrern u, a., verflümmelt in dem ägyptifhen Kvwv, Fiywv. Neben der
Form 77°> findet ſich eine zweite 712 (Chon, Chun, Chewan), häufig bei Rab—
binen und auf numtdifchen Inſchriften als Baal-Chon, Chun oder Chewan, Der
Name ift zweifelsohne femitifch und leitet fih ab von 712, aufrechtfiellen, feft-
fielen, gründen; das Nomen 71°> und 77> ift ein aufrecht oder feſt Geftellteg,
eine Säule (ziwv); Saturn führt diefen Namen bei ven Semiten ald x00uLo—
zoetwg, Infofern die Weltorbnung ewig gleich durch ihn befteht und
fortdauert, auf welde Anfchauung auch die bildlichen Darftelfungen deffelben
hinmweifen. Bol. Movers, Phönizier, J. ©. 286 ff. und den Art, Bilder bei
den Hebräern, und Götzendienſt. [König.]
Kilian, hl. Glaubengprediger und Martyrer im fiebenten Jahr-
hundert, ein Scotte (d. i. Zrländer) von edler Geburt, von Jugend auf ber
Lectüre der hl. Schrift und der Frömmigfeit ergeben, wahrſcheinlich ein iriſcher
Landbifchof, der zugleich ein Klofter und eine Schule in Irland leitete, ver—
fammelte eines Tages, ergriffen von Chrifti Worten: „Wer mir nachfolgen will,
verläugne fich felbft, nehme fein Kreuz auf ſich und folge mir nad“ feine Ge—
noffen und Schüler, darunter den Presbyter Coloman (Eolonat) und den Diacon
Donatus (Totnan), erflärte feine Abfiht, das Vaterland und Alles zu verlaffen
und mahnte fie ihm zu folgen. : Viel Zuredens bedurfte e8 bei Jrländern, bie fo
gerne in fremde Länder, befonders nah Nom pilgerten, nicht, und fomit 308
Kilian mit mehrern Begleitern, von denen namentlich der Presbyter Coloman
und der Diacon Donatus angeführt werden, zur Neife nah Nom aus, Gie
kamen in's auftrafifche Neich zum Caſtell Würzburg, und fanden daſelbſt den
Kilian. 85
Herzog Gozbert, den Sohn des ältern Hedan, Sohns des Hruodo i. e. Radulphs, welch?
lesterer von König Dagobert I. (f.d. A.) zum Herzog von Thüringen aufgeftellt wor-
den war. Waren auch ſchon früher einige Spuren des Chriſtenthums in das thürin-
gifche Reich gedrungen, fo fonnte davon doc bei Kilians Ankunft nichts vermerkt
werden; er traf den Herzog und deſſen Volk im Heidenthum an. Die ſchöne
Gegend, die heitern Bewohner derfelben und die ſtrahlende Schaar edler Männer
gefielen ihm fehr, aber daß fie in der Nacht des —— lagen, erfüllte
ihn mit unſäglichem Schmerz, und er ſprach zu ſeinen Gefährten: „Wenn es euch
gefällt, ſo wollen wir, wie wir es im Vaterlande ausgemacht haben, nach Rom
pilgern und die Schwellen des Apoſtelfürſten beſuchen und uns dem Antlitze des
Papſtes Johannes darſtellen; zugleich wollen wir aber auch vom apoſtoliſchen
Stuhle die Erlaubniß nachſuchen, in dieſer Gegend den Namen unſers Herrn
Jeſu Chriſti verfünden zu dürfen, und haben wir dieſe Vollmacht erhalten, fo
wollen wir hieher zurüdfehren und predigen.” Kilian's Gefährten waren damit
ſehr zufrieden. Zu Rom war unterdeß Papft Johann V. geftorben und hatte im
3. 687 den Papft Conon zum Nachfolger erhalten, Conon nahm die Pilger lieb—
reich und ehrenvoll auf und eriheilte dem Kilian, nachdem er ſich von feiner Ortho—
doxie und Gelehrfamfeit überzeugt hatte, gerne die nachgefuchte Miffion; viel-
leicht wurde Rilian erft jegt bei diefer Gelegenheit zum Bifchof geweiht. Auf der
Rückkehr trennte ſich ein Theil der Reifegefellfchaft, Kilian aber mit dem Pres-
byter Eoloman und dem Diacon Donatus ging nah Würzburg und predigte bier
zuerft das Wort Gottes. Und nicht ohne Erfolg predigte er, felbft der Herzog
Gpzbert nahm die Taufe an. Gozbert aber hatte, nah alter Gewohnheit bei
den teutſchen Stämmen, die Wittwe feines Bruders zur Gemahlin. Als ihn
Kilian hinlänglich im Glauben befeftiget hielt, machte er ihm über diefe Ehe, die
nad chriſtlichen Gefegen nicht ftatthaft fei, Borftellungen. Wie aus fihwerem
Traum erwachend entgegnete Gozbert: „Schwereres predigeft du nun als vorher,
Doch aus Liebe zu Ehriftus werde ich meine geliebtefte Gemahlin verlaffen !“
Während aber Gozbert vor der Ausführung feines Vorfages noch eine Reife
machte oder in das Feld zog, ließ Geilana, feine Gemahlin, den Kilian und
deflen zwei Begleiter im 3. 689 tödten und an dem nämlichen Ort fammt Cap-
feln, Kreuz, Evangelium und Pontificalgewändern einfoharren. Nur eine fromme
Matrone Burgunda, die in der Nähe in einer Zelle gewohnt haben foll, fah die
Unthat. Bei Gozbert's Rückkehr Täugnete Geilana Alles, allein der von ihr be-
ftellte Henker, von Raſerei überfallen, erklärte fich ſelbſt ſchuldig und ſchrie jam-
mernd: „der Heilige Gottes Kilian brennt mich mit unausftehlihem Feuer!“
Gozbert berief das von Kilian getaufte Bolf zu einer Verfammlung, um über
das Loos des Nafenden zu beſchließen. Da trat ein von Geilana bedungener
Rathgeber mit dem Vorſchlag auf: „Befreie den Unglüflihen von den Banden
und überlaß ihn ſich ſelbſt, zu prüfen, ob der Gott der Chriften fo mächtig, all-
wiſſend und gerecht ift als man fagt, denn ift es fo, fo wird er feine Diener
Echen und wir haben daran ein Zeichen bei der Taufe zu bleiben; rächt er feine
| Diener nicht, fo wollen wir der großen Diana (Frau Holda, in Heffen und
büringen verehrt) dienen, wie unfere Väter gethan, die dabei gut fanden.“
> Man ließ den Unglüdlichen frei, und fogleich zerfleifchte er fich mit feinen Zähnen
Jawtodt, Das getaufte Volk ward dadurd im Glauben mächtig beftärkt. Auch
E ©eilana entging der Strafe nicht, fie ftarb in der Naferei, Gozbert blieb Chrift,
wie au fein Sohn und Nachfolger Hedan II., welder an den hl. Willibrord im
13. 704 und 716 bedeutende Schanfungen machte. Als der HI. Bonifaz 719 in
3 Thüringen auftrat, war der von Rilian auggeftreute chriſtliche Same, ob. au
"großentHeild wieder vertilgt oder mit Unfraut vermifcht, doch zum Theil noch
vorhanden. DBurfard, der von dem hl. Bonifaz eingefege erfte ordentliche
Siſchof mit feftem Sige zu Würzburg, ließ die Leiber des hl. Kilian und feiner
86 Kimi.
zwei Genoſſen ausgraben und zuerft in der Marienkirche auf dem Schloßberge
beifegen, nachher aber an den vorigen Ort bringen, wo er für diefelben eine
Kirche zuerft aus Holz, dann aus Stein aufführte. ©, die vita s. Kiliani vetustior
bei Basnage-Ganis. lect. antiq. t. II. pars I. p. 180 und bei Mabill. Acta SS. Ord.
S. B. II. 991; die fpäter abgefaßte Biographie bei Canis. ibid. p. 175, bei d,
Bol. 8. Jul.; vgl. die Art, Bayern, B. I. S, 707—708 und Burkard, Bild,
v. Würzburg; Rettberg, Kirchengeſch. Teutfhlandg B. I. ©. 303, 3295
Seiters, Bonifacius S. 97 ꝛc. Gropp, Leben des Hl. Kilian. Würzb. 17385
Nion, Leben des hl. Kilian. Afchaff. 18345 Himmelftein, Reihenfolge der
DB, v. Würzburg, Würzb, 1843, ©. 6 ꝛe. | [Schrödf.]
Kimchi ift im Mittelalter der Name einer jüdifhen Familie zu Narbonne,
aus welcher mehrere Gelehrte Hervorgingen, unter denen befonders Joſeph und
feine beiden Söhne Mofes und David befannt find. Zofeph Kimhi (or {|
mp) blühte um's Jahr 1160 und verfaßte mehrere Schriften, die ihm unter
den Juden bald ein großes Anfehen verfihafften, fo daß er im Buche nbw>w
sap unter die bedeutenderen jüdifchen Gelehrten gezählt wird, Uebrigens
eriftiren feine Schriften bis jegt nur handfchriftlich und find meiftens polemifcher und
eregetifcher Art, Das Bud der Kriege des Herrn (7 nınmbn O au nunbn ©
Mix oder jımzı DO genannt) ift gegen einen befehrten Juden, Namens Peter
Alphons, gerichtet und enthält eine heftige Polemik gegen das Chriſtenthum. Bon
derfelben Art find drei andere Bücher von ihm, nämlich das Buch des Bundes
(aI37 9), das Buch des Glaubens (man D) und das geoffenbarte Buch
C7>3 8). Alfe drei find gegen das Chriſtenthum gerichtet und im Eingang zum
erfteren fagt Kimchi felbft, feine Abficht fei gewefen, fämmtlihe Schriftterte zu-
fammenzuftellen, welche gegen die Lehren der Häretifer und Epifuräer, d. h.
Chriften, gerichtet feien, um dem Treiben der befehrten Juden, die die Worte
Gottes zu Gunften des riftlichen Glaubens verdrehen, Einhalt zu thun (De-Rossi,
bibliotheca judaica antichristiana p. 52 sqq.). Seine eregetifchen Schriften find
Commentare über das Geſetz, die Propheten, das Hohelied, den Prediger, die
Sprüche Salomo's und die Bücher Ruth und Esra, Außerdem ſchrieb er ein Bud
unter dem Titel Schefel des Heiligthums Corp >rW), weldes eine Menge
moralifher Denkſprüche enthält, und eine hebräifhe Grammatif unter dem Titel
jn>rm DO (liber memorialis), welche von David Kimchi und andern Gramma-
tifern oft mit Lob erwähnt wird. Vgl, Biographie universelle. Paris 1818, p. 418.
Wolf, Bibliotheca Hebraea. I. 562 sqq. III. 423 sqq. De-Rossi, l. c. — Moſes
Kimchi (Ho7 ja 'nap men I), ein Sohn des vorigen, zeichnete fih am Ende
des 12, und im Anfang des 13. Jahrhunderts durch feine Titerarifchen Leiſtungen
noch mehr aus als fein Vater, Am befannteften ift feine hebräifhe Grammatif
unter dem Titel: n»77 "520 Thrn (Incessus semitarum scientiae) und mit den
Anfangsworten Ian? ma>n nen manp ny9Hm Ybran Tara, wovon die An-
fangsbuchftaben den Namen Ynnp mw geben. Sie wurde zum erſten Mal ge-
druckt im 3. 1508 zu Peſaro und nachher fehr oft aufgelegt (of. Le Long, bib-
liotheca sacra II. 1177. De-Rossi, annales hebraeo-typographici sec. XV. p.
170 sggq.), zuweilen auch unter anderem Titel, wie wıpr 7105 ">97 © (liber
viarum linguae sanctae) vder P77P7 d (liber grammaticae), Die befferen Aus-
gaben find gewöhnlich mit Erflärungen und Ergänzungen angefehener Nabbinen
verfehen, Die Ausgabe z. B. von Seb. Münfter (Bafel 1531) hat Bemerkungen
und Zufäge von Elias Levita und gibt dem Buche den Titel Pr7p7 2%, bie
Ausgabe von Dan, Bomberg (Venedig 1546) hat Verbefferungen von R. Schab-
tat und Zuſätze von A. Juſtiniani, die Leydener Ausgabe vom J. 1631 hat wie-
derum Zufäge von Elias Levita, eine Vorrede von R, Benjamin und Anmerkun—
gen von Conftantin P’Empereur, So fehr übrigens diefe Grammatik ungeachtet
ihrer Kürze für ihre Zeit eine treffliche Leiftung war und auch ihre verdiente An—
Kimchi. 87
erkennung fand, fo iſt fie doch vielfach mangelhaft und zur gründlichen Erlernung
der bebräifchen Sprache bei Weitem nicht ausreichend. Andere weniger befannte
grammatifhe Werfe unferes Kimdi find a0 >>© (Intellectus bonus) und
nerannn 5 (liber emplastri), dagegen das ihm zugefchriebene Bud 2-7 rınD
(initium verborum meorum) halten manche für das Werf eines andern Berfafferg,
Bon feinen eregetifchen Schriften ift der Eommentar zum Buch Esra in der rab-
binifhen Bibel von Dan. Bomberg (1545—49) gedrudt, in Burtorfs rabbini-
fer Bibel jedoch weggelaffen. Dagegen der Commentar zu den Sprüchen Salo-
mon’s ift noch ungedrudt. Ein moralifhes aber ebenfalls nur handſchriftlich vor—
bandenes Werf ift fein Bud wo> 12» (deliciae animae). Bemerfenswerth ift
noch, daß in all’ diefen Schriften von der heftigen Folemif gegen das Cpriften-
tum, die in den Schriften der beiden andern Kimchi oft ziemlich fchroff hervor—
tritt, nichts zu finden ift. Vgl. Biographie universelle, I. c. — Wolf, bibliotheca
hebraea I. 892 sqg. III. 810 sqqg. — R. David Kimdi Onnp 207 72 775
abbrey. >77 oder 777), Bruder des vorigen, ift einer der berühmteften jüdifchen
Gelehrten des Mittelalters und ald Grammatifer, Lericograph und Ereget auch
den Ehriften wohl befannt. Er ift immer gemeint, wenn in grammatifchen, lexi—
ealifchen und eregetifchen Schriften bloß einfach ohne weiteren Beifag Kimi citirt
wird, Er wurde in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu Narbonne ge-
boren und farb gegen 1240 in der Provence. Seine jüdifhen Zeitgenoffen
hatten vor ihm die Höchfte Achtung, fo daß feine Ausſprüche in der Regel als
unumftößliche Auctorität galten. Sogar der Ausſpruch Eleaſar's des Sohnes
Ajarja’s: TOın ZN map JS DS (sinon est farina, non est lex, Pirke Aboth
II. 20.) wurde in Anwendung auf ihn umgeändert in: nanp »>2 map j”8 (non
est farina sine molitore), um anzudeuten, daß ohne ihn das Geſetz nicht verftan-
den werden fünne. Als daher der zwifchen den franzöfifchen und fpanifchen Juden
über die freiere, ſcheinbar antitbalmudifche Richtung des Maimonides ausgebrochene
Streit gegen die dreißiger Jahre des 13. Jahrhunderts einen fehr heftigen Cha—
rafter angenommen hatte, wurde David Kimchi allein noch für fähig gehalten, das
Bermittlungsgefhäft zu übernehmen und den Streit gütlich beizulegen. Anfangs
fhienen feine Bemühungen auch wirflih zum Ziele zu führen, allein da er auf
die Seite des Maimonivdes trat und feinen Gegnern Unrecht gab, verwidelte ihn
dieß in einen fcharfen Federkrieg mit dem fpanifchen Nabbi Juda Alpbacher, der
28 mit den franzöfiihen Juden gegen Maimonides hielt, und das angefangene
FSriedenswerf zerfchlug fih bald wieder (f. Joſt, Gefchichte der Sfraeliten ꝛc.
Bd. VI. ©. 194 ff. — Geiger, wiſſenſchaftliche Zeitfchrift für jüdifhe Theologie
Bd. V. Heft 1. ©. 95 f.). Sonft hat man über David Kimdi, fo groß au
fein Anfehen bei den Juden von jeher war und noch ift, nur dürftige und dazu
noch unzuverläffige und verdächtige Nachrichten. Die von David Kimchi ver-
faßten Schriften find ziemlich zahlreich. Sein grammaticaliſch-lexicaliſches Haupt-
werk ift das Bud Michlol (>3>22, perfectio); es befteht aus zwei Theilen, einer
bebräifhen Grammatik und einem bebräifhen Lericon, welche auch einige Male
zugleich mit einander als ein Werk im Drud erfchienen find, namlich zu Eon-
fantinopel 1513 und 1530, und zu Venedig 1529 und 1545; in den beiden
tern Ausgaben ift der Text des Kimchi mit dem Duadrat-, die Bemerkungen
des Elias Levita mit dem rabbinifhen Curfiv-Alphabet gedruckt. Später jedoch
wurde jeder Theil, namentlich das Lericon öfters, für fi herausgegeben, und
fo Fam es, daß der urfprünglich dem Ganzen gegebene Titel auf die Grammatik
befchränft und dag Lericon Dow I (liberradicum) genannt wurde, Die Gram-
matif wurde erft im J. 1545 abgefondert herausgegeben von Corn, Adelkind
zu Benedig; das Lericon dagegen weit früher, zuerft ohne Jahreszahl und Orts—
angabe, dann zu Neapel im J. 1490, und wiederum ebendort im J. 1491 und
88 Kinder bei ven Hebräern,
nachher noch öfters, zulegt und am beften von Bieſenthal und Lebrecht zu Berlin
1847 mit einer infteuetiven Vorrede über die in dem Lexicon citirten jüdischen
Schriftſteller. Diefe beiden Werfe find für die nachherige Bearbeitung der heb-
räiſchen Grammatik und Tericographie bei Juden und Chriften Grundlage und
Mufter geworden; Joh. Reuchlin's hebräiſches Dictionarium ift faft nur eine
Eopie von Kimchi's Drwnv 3, und die hebräifche Grammatik des Santes Pag-
ninus ift ganz aus Kimchi's >r>on geſchöpft. Ob ein anderes weniger befanntes
grammatifches Werf unter dem Titel 30727 (porta freni) wirklich von David
Kimchi Herrühre, iſt noch unentfchieden. Seine Schrift mit dem Titel A950 ©»
(calamus scribae, aus Pf. 45, 2.) ift ein maforethifches Werk, das von Elias
Levita im mA1027 nn70n und Menahem von Lonzano im maın AR citirt wird.
Den größern Theil der Schriften Kimchi's machen feine Bibeleommentare aus,
Sie erftrerfen fich faft über alle Bücher des hebräifchen Canons, find theils ge-
druckt, mitunter in mehreren Ausgaben, theils bloß handſchriftlich vorhanden,
Lesteres gilt gleich von dem Kommentar zum Pentateuh (nn 53 W199),
deffen Abfaffung durh David Kimchi im mhaprı n-wbw und im DIS mon
von Algazäus bezeugt wird. Der Commentar zu den erften Propheten (D’N"23
DDR) iſt zum erſten Mal mit diefen Propheten felbft gedruct worden zu Son-
einp im J. 1486, dann zu Leiria im J. 1494, und nachher öfters, namentlich
in der Bomberg’fihen Bibel vom J. 1526 und in der Burtorf’fhen von 1618
und 19, Der Commentar zu den letzten Propheten (D»rIms DYRI22) erfihien
ebenfalls zugleich mit denfelben zu Soneino im 3. 1486 (Herbſt, Einleitung in's
A. T. 1.129. — De-Rossi, annales hebraeo-typographici sec. XV. p. 104),
fpäter zu Pefaro im J. 1515, dann auch in der eben genannten Buxtorf'ſchen
Bibel; einzelne von diefen prophetifhen Schriften mit Kimchi's und anderen
Commentaren find feit dem Ende des 15. Jahrhunderts oft und an verſchiedenen
Orten herausgegeben worden (cf. Wolf, bibliotheca hebraea I. 301 sqq.). Der
Commentar zu den Palmen wurde abgedrudft in der neapolitanifchen Ausgabe
der Hagiographa im J. 1487 und dann in der erſten rabbinifchen Bibelausgabe
Bomberg’s im J. 1518, in der zweiten aber ift er weggelaffen, fo wie auch in
der Burtorf’fchen Ausgabe. Einige Male wurde er auch befonders zugleich mit
ven Pfalmen herausgegeben, und auch einzelne Pfalmen mit Kimchi's und anderen
Kommentaren wurden gedrudt (Wolf, l. c. p. 303 sqq.). Der Commentar zur
Chronik ift in der rabbinifhen Bibelausgabe Buxtorf's abgedrudt, Wie jene
fpracplichen Werke Kimchi's, fo flunden und ſtehen auch diefe exegetiihen bei
Juden und Chriften, namentlich bei erfteren in großem Anfehen, Anfänglich ent-
hielten fie zwar mandes für die Chriften Anftößige, indem fie oft gegen das
Chriftentbum polemifirten, in den fpäteren Ausgaben jedoch find die anflößigen
Stellen weggelaffen. Kimchi's Hauptbeftreben geht bei feiner Exegefe dahin, den
buchſtäblichen Sinn der Schrift zu finden und darzuftellen, wobei er fih im Gan-
zen an den maforethifchen Text hält, jedoch nicht unbedingt, fondern auch gute alte
Handfhriften zu Rathe zieht und je nach Umſtänden ihren Lefearten vor den
maforethifchen den Vorzug gibt, Etwas abftoßend werben feine Commentare nur
durch das oft ausführliche Eingehen in grammatifche Subtilitäten, dur die am
Ende doch nicht viel gewonnen wird, Vgl. Rich. Simon, hist. crit. du V. T.
Amsterd. 1685. p. 175 sqq. 379. 541. — Wolf, 1. c. 1. 305 sqq. II. 189 sqq. —
De-Rossi, annales hebraeo-typographici eto. p. 76. 80. 125. [elte,]
Kinder bei den Hebräern. Der den Drientalen im Allgemeinen Hoch
beglückende Befig zahlreicher Teiblicher Nachkommenfchaft hatte für den Hebräer
noch eine eigene religiös-beveutfame Seite. Jede Familie ift berufen, den Fort-
beftand des Bundes zu wahren, behauptet deßhalb eine beftimmte ihr zugemwiefene
Stellung im Organismus der Bundesglieder, diefer fol nicht geftört und darum
der Name eines Mannes nicht vertilgt werben in Iſrael. Viele Kinder find daher,
—
®
Kinder, ausgefeste, 89
veil den Fortbefland der Familie und die Bedeutung diefer in der Gemeinde des
Herren garantirend , ein Segen von Gott, Deut. 28, 4, Pi. 123, 3—6. Spr. 17,
3 fo aub fhon in den vormofaifhen Segenswünfhen Gen. 24, 60. 48, 16.
Kinderlofigfeit, wodurch die Familie in ihrer Eriftenz bedroht wird, ift großes
Unglüf, 2 Sam, 18, 18. Jer. 22, 30., namentlich hart für die Frau, Gen. 30,
1. 1 Sam. 1, 6. Pf. 113, 9; Jeſ. 54, 1: Luc, 1, 25., wird für. gewiffe Sün-
ben geradezu als Fluch und Strafe gedroht, Lev. 20, 21. — Nah der Geburt
wobei fhon frühe Hebammen behilflich erfcheinen, Gen. 38, 28. Exod. 1, 15 ff.)
wurde das Kind gebadet, mit Salz gerieben und in Windeln gewidelt, Ezech. 16,
4. 506 38, 9. Der Bater oder Großvater nahm das Neugeborene auf die Kniee
zum Zeichen der Anerfennung und Freude, Gen. 50, 23. Pf. 21, 11. Job 3,
12. (ogl. suscipere oder tollere bei den Römern); die Kinder der Kebsweiber
wurden durch diefe Ceremonie von den eigentlichen Frauen als die ihrigen an—
erfannt, Gen. 30, 3. Der Tag der Geburt ift ein Tag der freude, befonders
wenn das Kind ein männliches und gar das erfigeborne (ſ. den Art, Erfigeburt)
war, Gen. 21, 6.5 alljährlich wurde er feftlich gefeiert, Job 1, 4 ff. Matth. 14,
6.5 weniger erfreulich mochte die Geburt eines Mädchens fein, vgl. Sir. 42, 9.
10. In der ältern Zeit erfolgte bald nach der Geburt auch die Namengebung,
Gen. 4, 1. 16, 15.5 fpäter wurde diefes mit der Befchneidung verbunden, welche
bei den Knaben) am achten Tage nah der Geburt vorgenommen wurde, Luc, 1,
59. Das Stillen des Kindes beforgte die Mutter felbft, 1 Sam. 1, 23. 1Kön.
3, 21., Ammen nur dann, wenn die Mutter Franf oder geftorben war; ihre wie
der Wärterinnen Dienfte wurden danfbar geachtet, Gen. 35, 8. Die Entwöh-
nung erfolgte ſpät, 1 Sam. 1, 22., oft.erft nad drei Jahren, 2 Macc. 7, 28.,
- wurde zu einem Familienfeft, Gen. 21, 8. Die erfte Erziehung war Sade der
Mutter; hatte der Knabe ungefähr das fünfte Jahr erreicht, fo leitete der Bater
diefelbe; die Summe der gefammten Pädagogif enthielt für ihn die Stelle Deut,
6, 7.: „Schärfe fie ein Die Worte des Gefeges) deinen Söhnen und rede
davon, wenn du in deinem Haufe figeft und wenn du draußen geheft, wenn du
dich niederlegeft und wenn du auffteheft;“ vgl. V. 20—25. defl. Cap. und Spr.
1, 8. 4, 4. 6, 20. Mitunter, vornehmlich in wohlhabenden Familien, wurde ein
befonderer Lehrer (728) angeftellt, vgl. 2 Kön. 10, 1.5. 1 Chrom. 27, 32, In
wie weit der Unterricht neben der Belehrung über das Gefeg, der Unterweifung
in der heiligen Geſchichte (Deut. 6, 20—25.) auch über profanes Wiffen fich
erfiredfte, hierüber fehlen nähere Angaben; immerhin war die eigentlich erziehende
Seite im Sinne und nach den Forderungen des Gejeges die Hauptfache, Strenge
wurde nicht gefpart, der Gebrauch der Ruthe ift ein Beweis wahrer väterlicher
Liebe, ein Beförderungsmittel der Weisheit; ein verzärtelter Knabe dagegen
bringt feiner Mutter Schande, vgl. Spr. 13, 24. 23, 13. 29, 15. In der fpä-
tern Zeit gab es auch öffentlihe Schulen (Jos. Antt. XV. 10, 5. XVII. 6, 2.) für
den niederen Unterricht, die wahrfcheinlich mit den Synagogen in Verbindung
fanden. Die Töchter blieben unter mütterliher Auffiht und Leitung bis fie hei-
zatbeten, wurden fehr abgefchloffen gehalten, 2 Macc. 3, 19. — Söhne und
Töchter find der Herrfchaft des Vaters unterftellt, diefer verehelicht fie nach feiner
Wahl, Gen. 24. 29, 16. 34, 12. Erod. 21, 9. Richt, 14, 2., kann die Tochter
als Sclavin verfaufen, Exod. 21, 7., das ohne fein Wiffen gemachte Gelübde
aufheben, Num. 30, 6. Das älterliche Anfehen wird hoch geachtet, auf den Se-
gen des Vaters oder der Mutter legt man hohen Werth, ihr Fluch gilt als das
Sarößte Unglüf, Gen, 27, 4. 49, 2. Sir. 3, 11. Vgl. hierzu den Art. Frauen
bei den Hebräern. I 4 [Rönig.]
Kinder, ausgefeste (Findlinge), rücfichtlich der HL. Taufe. Es gilt die
ie daß fie noch nicht getauft find, und daher noch zur hl. Taufe zu
gen find, da eine Mutter, die fo gewiffenlos ift, ihr Kind auszufegen, auch
a a en en.
90 Kinder, unfhuldige — Kindercommunion. |
nicht zur Erwartung berechtigt, dem Kind doch wenigflens die Nothtaufe ertheilt
zu haben (Conc. Gamerac. a. 1586. lit. 6. c. 8; Conc. Chur. a. 1605 de Bapt.).
Zweifelhafter ifl die Sache, wenn der Findling fchon einige Monate oder Jahre
alt ift, und deffen Leben nicht bloß der Mutter, fondern anch ihrer Umgebung
befannt fein durfte. Läßt fih nämlich annehmen, daß der bisherige Erziehungs-
ort eines folchen Findlings ein Drt war, in welchem die Nichttaufe eines Chriften-
Findes fchon durch die allgemeine Denkweiſe des Publicums verpönt ift, fo iſt
wohl der Empfang der Taufe nicht zu bezweifeln; geſchah aber’ die Ausfegung
von Vagabunden, durchziehenden Soldaten oder Nichtchriften, oder wenigftens
von Leuten, in deren Wohnort die Nichttaufe eines Kindes von dem Publicum
gar nicht beachtet oder geahndet wird, fo ift wohl wieder der Nichtempfang der
Taufe zu präfumiren. Jedenfalls iſt der bei einem Findlinge gefundene Zettel,
es fei derfelbe getauft und habe diefen oder jenen Namen dabei erhalten, Fein ge=
nügender Beweis: höchftens ft, wenn auf dem Zettel der Ort und Tag des Em-
pfanges der Taufe angegeben und dieſer Ort befannt und nicht zu weit entfernt
ift, die Spendung der hl. Taufe, wenn ſich das Kind in Feiner Lebensgefahr be—
findet, fo Tange zu verfchieben, bis die Unmwahrheit der Angabe fich erwiefen hat
(Rit. Passav.) In den Niederlanden, in England und am Rheine fand man in
früherer Zeit bisweilen bei den Findlingen Salz, und hielt dieß bald für einen
Beweis, daß diefelben getauft feien, bald auch für einen Beweis des Gegen-
theiles; das Eine wie das Andere ift unftichhaltig (Conc, Ebor. a. 1195. c. 4.;
Conc. Londin. a. 1200. ce. 3.; Conc. Buscoduc. a. 1571. tit. 3. ec. 8. et a. 1612.
tit. 3. e. 15.; Conc. Mechlin. a. 1607. tit. 3. c. 4. et a. 1609. tit. 3. c. 3.; Conc.
Colon. a. 1662. p. 2. tit. 2. c. 7. $2.). Uebrigens tauft man folche Kinder in jedem
Falle nur bedingnißweife, um der Heiligfeit des Sarramentes nicht zu nahe zu treten, -
fomit mit VBorausfegung der befannten Worte: „Si non es baptizatus (baptizata).“
Da man im hriftlichen Alterthume nach dem Grundſatze des Papftes Leo des Großen:
„Quod non ostenditur gestum, ratio non sinit, ut videatur iteratum“ (ep, 92. ad
Rustic. c. 15.) überhaupt nicht bedingnißweife taufte, fo hielt man damals gewiß
auch bei der Taufe der Findlinge diefelbe Norm ein. [Fr. X. Schmiv,]
Kinder, unſchuldige, Feſt derſelben, ſ. Unſchuldigen Kinderfeſt.
Kindereommunion. Die Disciplin der Kirche iſt in dieſer Hinſicht nicht
immer und überall dieſelbe. Heutzutage läßt man in der lateiniſchen Kirche die
Kinder von der Zeit an zur hl. Communion, wo ſie zum Gebrauche der Vernunft
gekommen ſind. Es ſtützt ſich dieſe Praxis auf die Entſcheidung der Kirche, daß
für die „Parvuli usu rationis carentes“ keine Verpflichtung beſtehe zu communi—
eiren (Conc. Trid. Sess. 21. cap. 4. de Commun.), Da die Frage, wann ein Kind
zum Gebrauche ver Vernunft gefommen fer, ſubjectiv verfchieden beantwortet wird,
fo bleibt noch immer den einzelnen Rirchenvorftehern ein weiter Spielraum, ben
heranwachfenden Kindern die hl. Communion einige Jahre früher oder fpäter zu
geftatten. Sp begnügen fih die Firchlichen Verordnungen des Königs Edgar im
%. 967 (0.22), fowie die des Königs Kanut im J. 1032 (eo. 22) und Regino
di. 1. 0. 272) mit der Forderung, daß die communicirenden Kleinen das Pater-
nofter und Credo auswendig gelernt haben, fo daß nach diefer Entfeheidung fo
ziemlich fchon jedes Kind von fünf bis fieben Jahren zugelaffen werden dürfte,
Dagegen foll nach der Gottesdienftorbnung von Nottenburg im J. 1838 fein Kind
vor zurücgelegtem dreizehnten Lebensjahre communieiren, Gewöhnlih commu-
niciren diefelben vom zehnten bis zwölften Lebensjahre anz nur im Falle, daß fie
fchwer erfranfen, reicht man ihnen die hl. Kommunion auch ſchon im fechsten und
und fiebenten Lebensjahre, wenn fie fo viel Einficht und Unterſcheidungskraft
haben, um fie mit gebührender Andacht empfangen zu fünnen Cofr. Conc. Camerac.
a. 1300; Conc. Bamberg. a. 1491. tit. 33; Conc. Brug. a. 1571; Rit. Passav. a.
1719; Quart. p. 2. tit. 10. sect. 3. dub. 3,). Die Anficht, es dürfe Jemand mit
KRinderesmmunion, 91
der erften hl. Communion bis zum 16tem Jahre oder bis zur Förperlihen Reife
zuwarten, ift irrig (Conc. Colon. a. 1662. p. 2. tit.7. c. 2. $2. Cfr. Gone. Gan-
dav. a. 1650. tit. 6. c. 11.). Im Morgenlande communiciren die Rinder zum
erfien Male nach dem Empfang der Hl. Taufe, fomit als Säuglinge. Sp bezeu-
gen dieß Leo Alfatius (1.3. c. 9. n. 6.) und Goar (Kuchol. fol. 374) für die
“ Griechen, und der Mönch Tekla Maria (ap. Leon. Allat. in epil. Nihus.) für die
Aethiopier. Nach Renaudot Ceollect. lit. orient.) taucht zu diefem- Behufe der
Prieſter den Zeigefinger in das HL. Blut, und ſteckt ihn fodann in den Mund des
Kindes, von der Spendung der Brodsgeftalt nimmt er Umgang. Wo jedod die
Sitte ift, die HI. Hoftie im Allgemeinen im das HI. Blut getaucht zu fpenden,
dürfte auch bei den Kindern derfelbe Gebrauch eingehalten werden, Auch ſcheint
es, daß in vielen morgenländifchen Kirchen die Communion der Säuglinge ganz
aufgehört habe. Wenigftens fchreibt der Maronite Abraham Eechellenfis (ep. ad
Nihus. ap. Leon. Allat.): ‚Infantibus adhuc solus sanguis a quibusdam exhibetur.
Ritus tamen hujusmodi, licet nulla constitutione abrogatus, obsolevit apud omnes
fere nationes orientales.“ In früherer Zeit erhielten auch im Abendlande die
Säuglinge die Hl. Communion, und zwar gleichfall8 (wenigftend in der Regel)
‚unter der Geftalt des Weines allein. Sp erzählt der HI. Eyprian (I. de lapsis),
daß ein Kind, welchem man zu Haufe den Götzen geopfertes Brod zu effen ge-
geben hatte, die Lippen vor dem ihm dargereichten Kelche fchloß, und als der
Diacon ihm mit Gewalt den Kelch einfchüttete, fich fogleich erbrach. Aehnliche
Zeugniffe finden fich bei Auguftin (de peccat. merit. 1. 1. ce. 20.), in dem grego=-
rianifhen Sacramentarium, dem Ordo Rom. Vulgatus u. ſ. w. Noch Hugo a S.
Vietore im 12ten Jahrhundert fchreibt (erud. theolog. 1. 1. de sacram. c. 20):
- „Pueris recens nalis sacramentum in specie sanguinis est administrandum digito
sacerdotis, quia tales naturaliter sugere possunt.“ Ja er gibt im Conterte zu ver-
ftehen, daß das hl. Blut zu diefem Behufe felbft aufbewahrt wurde. Eine Eon-
fitution des Papftes Paſchalis H. vom 3. 1118 Iehrt der Hauptfache nach das—
felbe (ep. 32. ad Pontium). Ja es will diefe Communion noch, jedoch unter der
Geftalt des Brodes, ein Canon der Synode von Würzburg im J. 1298 (ec. 3).
Defonders war fie nach der HI. Taufe üblich. So fihreibt Cyprian (ep. 63. ad.
Caecil.): „Per baptismum Spiritus sanctus aceipitur, et sic a baptizatis et Spiritum
sanctum consecutis ad bibendum calicem Domini pervenitur.“ Im gregorianifchen
Sarramentarium findet fih aus diefer Urfache bei dem Taufritus die Vorfchrift,
die Säuglinge zwifchen der HI. Taufe und Communion nicht zu fäugen. Eben fo
eommunieirten die Rinder täglich in der erftien Woche nach der HI. Taufe (Ordo
Rom. Vulg.), fowie wenn fie fihwer erfranften. Sp erflären die Capitularien der
fränfifhen Könige (1. 1. c. 161), Walter von Orleans (Capit. n. 7) und Regino
C. 1. c. 69), es müffe die Euchariftie auch degwegen aufbewahrt werden, um fie
‚ den flerbenden Kleinen zu jeder Stunde reichen zu fünnen, Auch war es im
Morgen: und Abendlande eine Zeit lang Sitte, die Neberbleibfel vom heiligen
Maple durch Kinder aufzehren zu laſſen. „Cuaecunque reliquiae sacrificiorum“,
verordnen die Väter von Magon im J. 585, „post peractam Missam in sacrario
- supersederint, quarta vel sexta feria innocentes ab illo, cujus interest, ad eccle-
siam adducantur, et indicto eis jejunio, easdem reliquias conspersas vino percipiant
Cean. 6).* Vgl, die Synode von Tours im J. 813 (can. 19), Evagrius (hist.
ecel. 1.4.0.36), Nicephorus Kalliſtus (hist. eccl. 1. 17. c.25.). Die dvermalige Sitte
der Lateiner entwickelte ſich vom 12. Jahrh. an in der Weiſe, daß man Anfangs den
Kleinen nur unconſecrirten Wein und unconſecrirtes Brod reichte, bald aber auch die-
fes, ſowie die Communion felbft verbot. So rügen die Darreihung von gewöhnlichen
Drod und Wein Hugo aS. Victore (1. c.), Odo von Paris im J. 1175 (n. 39) u. f. w.,
fo die Darreichung der hl. Communion felbft die Synode von Trier im J. 1227 Ce. 3).
Thomas von Aquin fucht diefes Iegtere Verbot ſchon zu begründen (in A dist. 23,
92 Kindertaufe — Kindfhaft Gnttes,
qu. 2. art. 2.). Eine Erinnerung an die ehemalige Sitte iſt die Vorfchrift im
Manuale von Amiens im 3. 1524, den getauften Kindern gewöhnlichen Wein
mit den Worten zu reichen: „Corpus et Sanguis D. N. J. Chr. custodiat te in vitam
aeternam. Amen.“ — In der neuern Zeit wird es in vielen Gegenden Sitte (die
Nitualien enthalten hierüber nichts), der erftien Communion (Protveommunion)
der Kinder eine Erneuerung des Taufbundes vorangehen zu laſſen, und biefe
fowie die Communion felbft feierlihft zu begehen. Ein aufmerffamer Blick auf
den Ritus der erften Jahrhunderte bei der a > jener, die fchon zum Gebrauche
der Vernunft gefommen waren, und daher aus eigener Wahl dem Chriftenthume
fi) zumwendeten, hat unbeftreitbar diefe Sitte angebahnt, Da nämlih damals
die Taufadfpiranten vor der Taufe den Bund mit Chrifto abfchloffen, und den
gefchloffenen Bund nad) der Taufe mit der Communion befiegelten, fo ziemt es
um fo mehr, den Protveommunicanten diefen Bund in's Gedächtniß zu rufen,
als auch fie ihn vor der Taufe dur den Mund der Pathen abgefchloffen haben.
Die Gebräuche bei diefer Feierlichfeit find gewöhnlich folgende: 1) die Proto—
eommunicanten nahen paarweife geordnet dem Presbyterium, ftellen fih in einem
Halbeirkel auf, und werden von dem Pfarrer an den Bund erinnert, den die
Pathen in ihrem Namen mit Chrifto abgefchloffen Haben. 2) Die Protocommu-
nicanten werden vor dem ZTauffteine, auf dem eine große Kerze brennt (wenn der
Taufftein fich durch feine Lage nicht dazu eignet, fo brennt die Kerze auf einem geſchmück⸗
ten Credenztiſche, ſ. d. A.) aufgefordert, den Bund zu beftätigen, den die Pathen
in ihrem Namen gefchloffen haben, und daher wörtlich oder dem Inhalte nach die
Tragen zu beantworten, welche die Pathen beantwortet haben. 3) Nach Beant-
wortung diefer Fragen wird jedem Rinde (wie e8 bei der Taufe der Fall war)
eine brennende Kerze als Sinnbild Jeſu des Lichtes der Welt in die Hand ge-
geben, und dabei die Formel gefprochen, die bei der Darreichung der Kerze bei
der Taufe üblich ift, oder eine ähnliche, 4) Die Protoeommunicanten ziehen, die
brennenden Kerzen tragend, in Prozeffion durch das Gotteshaus, ftellen ſich hier—
auf wieder vor oder in dem Presbyterium auf, und werben aufgefordert, an ber
Hand Jeſu durch's Leben zu wandeln, Auch werden Eltern und Erwachſene er-
mahnt, die unfchuldige Schaar nicht zu ärgern, fondern zu erbauen, 5) Die
Communion, der paffende Gebete und Gefänge vorausgeſchickt werden, wird nach
der des Celebranten vorgenommen, [Fr. X. Schmid.]
Kindertaufe, ſ. Taufe.
Kindſchaft Gottes, Kinder Gottes. Wir brauchen uns nicht um eine
Definition des Begriffes Kindſchaft Gottes abzumühen, denn die hl. Schrift er—
klärt uns ſehr genau, was wir darunter zu verſtehen haben. Der Kindſchaft
Gottes ſind alle diejenigen Geſchöpfe theilhaftig, welche Kinder Gottes ſind,
näher: welche ſich als Kinder zu Gott verhalten, und zu welchen ſich Gott als
Vater verhält. Mithin ganz einfach alle Geſchöpfe, Alles was nicht Gott iſt.
Es leuchtet aber doch fogleich ein, der Begriff Kind und Kindſchaft Gottes fer
nothwendig auf die vernünftigen Gefchöpfe zu befchränfen, welche allein ein
Bewußtfein Gottes haben und folglich fich felbft als Gefchöpfe Gottes erfennen,
Nur diejenigen Geſchöpfe können fich als Kinder zu Gott verhalten, welche Gott
als Vater, ſich felbft als gefchaffen erkennen. Demnach find als Kinder Gottes
zu bezeichnen die Engel und die Menfchen. Dieß ift denn auch die erfte Beſtim—
mung, unter welcher fi der Begriff Kinder Gottes in der HI. Schrift findet,
Zugleich ift fie die alfgemeinfte; wir haben fie zuerft in's Auge zu faffen, wenn
wir über unfern Gegenftand ganz in’s Neine kommen wollen. Iſt alfo die Frage:
welche Gefchöpfe find Kinder Gottes? fo lautet die Antwort: 1) die Engel und
die Menſchen. Es bedarf zum Beweife hiefür nicht der Anführung einzelner
Stellen aus der hl. Schrift, da durchgängig den genannten geiftigvernünftigen
Gefchöpfen Gott als Vater vorgeftellt, als ihr eigenes Bewußtfein aber das Be—
Kindfhaft Gottes. 93
wußtſein der Gefchöpflichfeit bezeichnet iſt. Aber wenn ein Geſchöpf ſich als Kind
Gottes weiß, fo muß es als folches fih auch benehmen; unfer Bewußtſein ſchlecht-
hiniger Abhängigkeit von Gott vollendet ſich erſt dadurch, daß wir legtere in un-
erem Leben und Handeln verwirklichen, dadurch alfo, daß wir in Allem, was wir
hun, nicht unferen, fondern den göttlihen Willen vollbringen. Erſt wenn wir
das, was wir find und als was wir uns wiffen, auch felbft fegen, durch eigene
Kraft gleichfam noch einmal fhaffen, erſt dann find wir wahrhaft und vollfom-
men was wir find. Darum nennt die Hl. Schrift in höherem Sinne Kinder Got-
eg 2) die Gerechten, Heiligen, furz Diejenigen, welche den göttlihen Wil-
len refpectiren und vollbringen. Sp heißen 1 Mof. 6. die gottesfürdtigen Nach-
fommen Seth's Kinder Gottes (Söhne Gottes), im Gegenfage zu den lafterhaften
Nachkommen Kains. Im Buche der Weisheit (2, 13.) wird der Öerechte, welcher
die Gottlofen tadelt und zurechtzumweifen beftrebt ift, fillus Dei, Sohn Gottes ge-
nannt, gleichfalls im Gegenfage zu eben jenen Gottloſen, welde, des göttlichen
Willens fpottend, thun was ihnen beliebt, Vgl. ebendaf. 5, 5. Ebenfo nennt der
Herr Matth. 5, 9. die Friedfertigen Kinder Gottes; und wenn er bald darauf,
3.44, u, 45., fagt: „Thut Gutes Denen, die euch haſſen, und betet für eure
Berfolger und Berläumder, damit ihr Kinder eures Vaters feet, der im Himmel
ift, der feine Sonne über die Böfen wie über die Guten aufgehen, und für die
Ungerechten wie für die Gerechten regnen läßt”, fo erffärt er deutlich genug, es
fet dur die Nahahmung Gottes, durch Vollbringung des göttlichen Willens,
daß wir den Anfpruch erhalten, Kinder Gottes genannt zu werden, Borzugsweife
gehört hieher 1 30h. 3, 8—10., wo der Apoftel fagt: wer Sünde thut, iſt aus
dem Teufel, weil der Teufel von Anfang an fündigt (weil dem Teufel wefentlich
ift, zu fündigen); Jeder, der aus Gott geboren ift, begeht feine Sünde, fann
nicht fündigen, weil er aus Gott geboren ift (weil der Same Gottes in ihm
bleibt, d. h. der Wille Gottes in ihm Tebt); gerade daran erfennt man die Kin—
der Gottes und die Kinder des Teufels (In hoc, sc. in dem Nichtfündigen und
Sündigen, manifesti sunt filii Dei et fili diaboli). — Auf folhe Weiſe, dur
Bollbringung des göttlichen, in den Geboten manifeftirten Willens, fich als Kin—
der Gottes zu erweilen, ift allen Menfchen (und Engeln) aufgetragen. Seder,
der die thut, ift ein Werkzeug Gottes zur Verwirklichung des göttlichen Welt-
plans, Es ift aber Teicht zu fehen, daß ſolche Werizeuge Gottes nicht Alle auf
die gleiche Weife fein fönnen, daß die Einen Mehr und Wichtigeres, die Andern
Weniger und Unwichtigeres zu thun Haben, nad der Unterfchiedenheit (quantita=
tiven und qualitativen) der Berrichtungen, welche die Verwirflihung des göttlichen
Beltplans erfordert; daß es alfo ausgezeichnete, befonders hervorftechende
' Werkzeuge Gottes geben müffe. Dieß find einmal den Menfchen gegenüber alle
Engel, welchen als den flärferen und mächtigeren Geiftern wichtigere Dienfte
) übertragen find, und fodann unter den Dienfchen felbft die Obrigfeiten, Könige,
) Propheten ꝛe., welche, zur Leitung der übrigen beftimmt, befondere Dienfte zu
verrichten haben (Röm. 13, 1.2. Joh. 19, 11.). Darum werden in noch höherem
) Sinne Kinder oder Söhne Gottes genannt 3) die Engel (Job 1, 6. 2, 1. 38,
7.) und die Könige und Propheten (Pf. 81, 6. vgl, Joh. 10, 34. 1 Paraliy,
a
F
tanut des Vaters überall der Sohn iſt.
fere Begründung der Kindſchaft Gottes angedeutet. Was die Obrigfeiten find,
| find fie durch beſondere göttliche Anoronung, durch befondere Beftellung, Be-
> Befähigung und Autorifirung von Seite Gottes, Dieß führt entfchieden
|
28, 4—7, 2 Paralip. 1, 9. vgl. Weish. 9, 7.). Wer nämlich den Willen Gottes
im ausgezeichneter Weife vollbringt, in dem erfcheint Gott in ausgezeichneter
Weiſe repräfentirt, und ein folder muß dann auch) in ausgezeichneter Weife Sohn
Gottes genannt werden, in wiefern der natürliche und vollfommenfte Reprafen-
Hiemit ift bereit eine weitere und tie=
den allgemeinen Gedanfen, es fei dur befondere Berufung Gottes, daß
94 Kindfhaft Gottes.
die Menfchen den Anfpruch erhalten, Kinder Gottes im höchften Sinne des Wor-
tes genannt zu werden. Diefes ift denn auch die höchſte und abfchließende Be—
flimmung, welche die hl. Schrift dem Begriffe Kindſchaft Gottes gibt, indem fie
4) Rinder Gottes zur ESoyrv die befonders Auserwählten und Berufe—
nen nennt. Gott erwählt und beruft einzelne Menſchen, um fie in befonderer
Weife durch das gegenwärtige Leben zu führen und dereinft jener Glüdfeligfeit
theilhaftig zu machen, deren Mittheilung an die Creatur der Zweck der Schöpfung
gewefen if. Dieß nennt die HL, Schrift die Erbfchaft Gottes, haereditas divina
(Pſ. 134, 12. 135, 21. 22. Matth, 5, 3. 4.); und diejenigen nun, welche Gott
fo in Folge befonderer Erwählung und Berufung gleichfam als feine Erben ein-
fegt, werden, wie gefagt, im höchſten Sinne Kinder Gottes genannt; in der
Beerbung des Vaters, in dem Genuffe deffen, was der Vater befigt, erweist und
bewährt fich die Kindſchaft in der vollfommenften Weiſe. Aber warum befondere
Berufung, Berufung Einzelner zur Seligfeit? Wenn die Mittheilung diefer an
die Creatur der Zwed der Schöpfung gewefen ift, müffen ihrer dann nicht alfe
Menfchen ohne Weiteres theilhaftig fein? Darauf antwortet die Lehre von der
Erbfünde und Rechtfertigung (f. die Art, Erbfünde, Erldfer, Jeſus Chri—
ſtus, Rechtfertigung). Das Menfchengefchlecht hat in und durh Adam den
Zwed feiner Erfchaffung gänzlich verfehlt, Hat fich der mit der Rückkehr zu Gott
verbundenen Seligfeit fchlechthin beraubt. Soll alfo irgend Einer der Tegtern
dennoch theilhaftig werden, fo Fann es nur durch befondere gnädige Berufung ge—
fchehen; nothwendig beruht, nach der Sünde Adams, die Befeligung eines jeden
Menſchen auf fpecieller Auserwählung. Darin alfo liegt der Grund, warum bie
Kindſchaft Gottes im höchften und eigentlichften Sinne den fpeciell Auserwählten
und Berufenen zufommt und von der HL. Schrift zugefchrieben wird, Diefe Aus—
erwählten nun, denen fo die Kindſchaft Gottes im höchften Sinne zufommt, oder
denen Gott in ganz fpecieller Weife Vater ift, find a) die Jfraeliten, So ift
es zu nehmen, wenn Gott das Volk Iſrael feinen erfigeborenen Sohn nennt, und
dem Pharao fagen läßt: „Entlaffe meinen Sohn, damit er mir diene” (2 Mof. 4,
22.23. vgl. Dfea 11, 1.)5 wenn er daffelbe Volk ausschließlich fein Volk (2 Mof,
3,7 5, 1: 6, 7), fein eigenthümliches Volk (5 Mof. 7, 6. 14,2. 26, 18.), fein
Erbvolk (5 Mof. 4, 20.), das Volk und die Erbſchaft Gottes (5 Mof. 9, 29.
1 Kön, 10, 1. 2 Kön. 7, 23. Jeſ. 19, 25.), fern Eigenthum aus allen Völkern
(2 Mof. 19, 5.) nennt und al’ dieß auf fpecielle gnädige Auserwählung zurüd-
führt, indem er Iſrael fagt: „Du bift ein heiliges Volf vem Herrn deinem Gotte.
Dich hat der Herr, dein Gott, erwählet, daß du fein eigenthümlich Volk feieft
von allen Völkern, die auf Erden find“ (5 Mof, 7, 6. 14, 2,.26, 18.). Diefe
Auserwählung und die damit verbundene Verheißung, womit Gott die Annahme
des Volkes Iſrael an Kindes Statt ausgefprocden hat (Röm. 9, 4), datirt von
Abraham her, Dieß ift wohl zu beachten, Mit Abraham wurde feine Nachkom—
menfchaft adoptirt. Alfo, wie wir gefehen, das Volf Iſrael. Aber ift denn die—
fes Volk ohne Weiteres, als wahre Nachfommenfchaft Abrahams, bereihtigt, das
dem Abraham Berheifene anzufprehen® Darauf antwortet der Apoftel Paulus
mit einem entfchievenen Nein, Abraham wurde gerechtfertigt Can Kindes Statt
angenommen) um feines Glaubens willen (Röm. 4,3, vgl, Gal, 3, 6. 1 Mof.
15, 6.): Folglich find nicht die dem Fleifhe nach von Abraham Abftammenden. |
deffen wahre Nachfommen, das wahre Zfrael, fondern die Gläubigen find es; |
und auf diefe, nicht aber auf jene, hat demgemäß: die Annahme an Kindes Statt |
fammt den damit verbundenen Verheißungen überzugeben, gleichviel, ob fie dem: "
Fleifhe nah von Abraham abflammen vder nicht (Röm. 9, 6 ff.). Wer find nun
aber diefe Gläubigen? Offenbar die Chriften. Wenn Abraham oder irgend Einer
feit vem Falle Adams geglaubt hat, fo hat er geglaubt auf Chriftus hin, ge= |
glaubt an Chriſtus (Joh. 8, 56, Luc, 10, 24.), fo daß mit Entſchiedenheit Die⸗
Kindſchaft Gottes, 95
jenigen als die wahren Nachkommen des erften Gläubigen, des Abraham, zu er-
Hären find, welche fid an Chriftus, nachdem er im Fleiſche erfchienen, gläubig
anfhließen. „Wir Chriften, ruft der Apoftel aus, wir find, nad dem Vorbilde
des Iſaac, die Söhne der Berheigung“ (al. 4, 28.). Demnad ift die in be=
fonderer Erwählung und Berufung gegründete Kindfhaft Gottes nicht Iſrael als
folhem, fondern den Chriften zuzufhreiben, wie denn auch gefchieht, wenn endlich
5) die Ehriften in ausfchließlihem Sinne als Kinder Gottes bezeichnet werden.
Bon Ewigkeit Her hat uns Gott beflimmt zur Annahme an Kindes Statt, eis
viossoler, durch Zefum Chriftum (Ephef. 1, 5.); darum hat er es Allen mög-
lich gemacht (durch die Incarnation), Kinder Gottes zu werden, ſilios Dei fieri
Goh. 1, 12.). Diejenigen werden es -wirflih, welde den menfhgewordenen
Logos aufnehmen, an feinen Namen glauben, denn durch diefen Glauben ift es,
daß der Menfch gleichfam zum zweiten Mal, wie vorher aus dem Fleifche, fo
jest aus Gott geboren wird Cibid. vgl. Joh. 3, 1 ff. 1 Joh. 3, 1.). So ift es
alfo durch den Glauben an Jeſus Ehriftus, daß wir Kinder Gottes find (Gal.
3, 26.: Omnes enim filii Dei estis per fidem quae est in Christo Jesu). Dur
denfelben Glauben ift e8 aber au, daß wir gerechtfertigt find, wie ung der
Apoſtel fo oft verſichert. Mithin erfcheint die Kindſchaft Gottes als identifch mit
der Gerechtigkeit durch Chriſtus; diejenigen find wahrhaft Kinder Gottes, welche
durch Ehriftus gerechtfertigt, mit Gott verföhnt find. Sp belehrt uns in der
That der Apoftel, wenn er fagt: „Geredhtfertigt aus dem Glauben haben wir
Frieden mit Gott durch unfern Herrn Jeſus Chriftus, durch welchen wir auch
Zutritt haben, durch den Glauben, zu jener Gnade, in der wir flehen und ung
zühmen in der Hoffnung auf die Herrlichfeit der Kinder Gottes” (Rom. 5, 1.2.)
Mit Lesterem hat der Apoftel bereits angedeutet, worin fih die Kindſchaft Gottes
ober vielmehr das Bewußtfein derjelben äußere. Das Nähere ift, daß wir, be=
feelt von diefem Bewußtfein, erſtens Gott ohne Furcht, frei von knechtiſchem
Sinne, gegenüberfiehen ; haben wir den Geift der Kindſchaft, weuue vioFeoias,
ı empfangen, fo rufen wir Abba, Vater (Röm. 8, 14. 15. Cal, 4, 5. 6.)5 zwei-
- tens frober Zuverficht in Betreff der Zufunft leben; denn wiffen wir uns als
Kinder, rexve Ieov, fo wiffen wir auch und find aufs BVBollftändigfte überzeugt,
daß wir Erben fein, d. h. die himmliſche Herrlichkeit und Seligfeit erlangen wer-
den (Rom. 8, 16—18. Gal.4,T. vgl. 2 Theff. 1, 4—10.). Allerdings befinden
wir uns dermalen noch nicht in vollem Befise und Genuffe deffen, was ung als
Kinder Gottes erwartet (Röm. 8, 18 ff.). Allein wir find der Erlangung. des—
felben fo gewiß, daß wir bei vernünftiger Erwägung nicht dem Ieifeften Zweifel
Raum zu geben vermögen. Wie fo? Unfere Kindfchaft gründet fih auf Chriftus,
näher darauf, daß Gott uns feinen Eingeborenen gefchenft hat. Wie follte aber
Gott, da er feinen Eingeborenen für uns bingegeben, ung nicht Alles zugleich
mit dieſem fchenfen! (Rom. 8, 32.). Hiebei aber fragt es fi doch noch näher,
wie die Begründung unferer Kindſchaft auf CHriftus beftimmt zu denfen fei, Schon
im Bisherigen ift dieß angedeutet; der Apoftel belehrt uns aber noch genauer,
indem er fagt: „Getreu ift Gott, durch welden ihr berufen feid zur Gemeinfhaft
feines Sohnes 3. Chr. U. 9. (1 Cor. 1,9.). Chriftus ift der Sohn Gottes, die
ganze Fülle der Gottheit in fich tragend (Col. 2, 9.); find wir alfo mit ihm ver-
einigt, gleihfam feine Brüder (Röm. 8, 29.), fo haben wir unmittelbar Theil
an dem, was von Gott ausfließtz wir find feine Miterben; leiden wir nun mit
ihm, fo werden wir auch mit ihm verherrlicht werden“ (Röm. 8, 17.). — Hiemit
if uns der Grundgedanke vorgeführt, und wir find im Stande, das Ganze zu
überſchauen. Bon Anfang an ift der Menfh von felbft Kind Gottes, und dieſe
Kindſchaft äußert fi als Vereinigung mit Gott und bewährt ſich in der hiemit
verbundenen Seligkeit. Getrennt von Gott (durch die Sünde), hört er auf, die
Stellung eines Kindes Gott gegenüber zu haben, Außer Stande, diefe Stellung
96 Kindsmord — Kir,
durch fich felbft wieder zu gewinnen, kann er nur durch Gott mit Gott wieder
verbunden werden. Dieß gefihieht dadurch, daß der Sohn Gottes Menfch wird,
Mit dem menfchgewordenen Gotte fann fi) der Menfch verbinden. Dadurch wird
er mit Gott wieder vereinigt und hiemit in den Befig der Kindſchaft zurückverſetzt.
Folglich ift die Kindſchaft Gottes, deren gegenwärtig der Menfch theilhaftig ift,
eine wiederhergeftellte, und fommt nur den Chriften zu. Am deutlichften wird
fie zu Tage treten und fi) am fchönften äußern in denjenigen Ehriften, welche
fich fo eng mit Chrifto verbunden haben, daß fie mit ihm wirken und leiden, daß
feine Gerechtigkeit auch die ihrige ift (Matth. 5, 3—12). Da aber alle Men-
ſchen von Kain an um Chriſti willen, durch Chriftus und auf Chriftus Hin geboren
find (ohne Chriftus gäbe e8 Fein Menfchengefchlecht, |. den Art» Jeſus Ehriftus),
und da diefem entfprechend die Gnade Gottes von Chriftus aus auch in den vor-
and außerhriftlihen Menſchen wirft (Joh. 1, 5.): fo Fönnen als Rinder Gottes
auch folhe Menfchen erfcheinen, welche äußerlich nicht Chriften find. In dem—
felben Maße, als in ihnen die Gnade Chrifti wirkt und fie gegen Chriftus Hin ge—
zogen werden, find fie der Kindſchaft Gottes theilhaftig. Sp ift die Kindſchaft
der Jiraeliten im Ganzen, dann einzelner gerechter Menſchen, Anderer, deren
fih Gott als befonderer Werkzeuge bediente 2c,, zu verftehen, — Welcher Unter-
fohied zwifchen der Kindſchaft der Creatur und der Kindfchaft des Sohnes Gottes
beftehe, leuchtet von felbft ein. Gibt man ihn aber dahin an, daß der Sohn Got—
tes eigentliher Sohn, fillus proprius, die Menfchen und Engel dagegen Adoptiv-
fühne Gottes, filii adoptivi, feien, fo hat man zwar nicht unrichtig, aber ungenau
gefprochen, Die Kindſchaft ver Menfchen ift, wie wir gefehen, eine reftaurirte,
wiederhergeftellte. Darin erfcheint der Unterſchied derfelben von der des Sohnes
Gottes als ein viel fchärferer, Davon aber abgefehen, fo ift die Kindfchaft jeder
Ereatur Kindſchaft im uneigentlichen, diejenige des Sohnes dagegen im eigent-
lichen Sinne, Der Sohn Gottes ift wirklicher Sohn, nicht gefhaffen, fondern
ewig gezeugt aus dem Wefen Gottes; die Creatur dagegen ift nicht aus dem
MWefen Gottes, alfo nicht gezeugt, fondern aus Nichts gefchaffen, und kann fomit
Gott nur uneigentlih, nämlich in fofern Vater nennen, als fie eben durch Gott
ift und die Liebe Gottes erfährt, [Mattes,]
Kindsmprd, f. Mord,
Kir, np. 1) Gegend, wohin der von Ahas gegen Rezin von Syrien und
Pekah von Iſrael zu Hilfe gerufene Tiglathpilefer die gefangenen Damascener
abführte, vgl. 2 Kön. 16, 9. Jeſ. 22, 6. Amos 1, 5, 9, 7, Die nähere Beftim-
mung tft fihwierig; nach einer Vermuthung Bocharts (Phal. IV. 32.) finden viele
Erflärer (Calmet, Michaelis, Rofenmüller, Alterth, 1.2. ©. 102., Winer,
Realw,, Geſenius, thes. IM. 1210., und Commentar zu Jeſ. I, 688.) diefe
Gegend am Fluffe Kur (Kögos, Kvo6os), der ſich mit dem Arares vereinigt
in’s Faspifche Meer ergießt (Strabo XI. p. 500. 528.); diefer Fluß bildete die
Grenze zwifchen Groß-Armenien, Iberien und Albanien (Forbiger, alte Geogr.
I. ©, 74 u, 598), floß fomit nördlih von Armenien, Die Gegend von Kur
kann aber zur Zeit der erwähnten Transportation fchwerlich unter affyrifcher Herr= |
|
Schaft geftanden haben; nach 2 Kön. 19, 37, flohen die Mörder des Sanherib
nach dem Land Nrarat, d. h. doch wohl über ‚die aſſyriſche Grenze hinaus;
Ararat, Thogarma und Minni find aber die Namen, unter welchen Armenien
Cauf deffen nördlicher Seite Kur) im alten Teftament befannt ift, Ber Jef. 22, \
6, wird Kir neben Elam genannt, beider Bewohner als Bogenfhügen gerübmt;z |
es liegt daher näher, mit Bochart (Phal. 1. c.) an die Stadt Kovorva (Ptolem. |
v1. 2.) am Fluſſe Mardus im ſüdlichen Medien, deren Bewohner auch als treff-
liche Schüsen galten (Ritters Erdk. Aften, VI. I. ©. 615), oder mit Vitringa |
(zu Jeſ. 22, 6.) an die medifche Stadt Kaolvn (Ptolem. 1. 0.), jetzt Kerand |
Ritter, Afien, VL 2, ©, 391) zu denfen, wie denn auch der Chaldder 2 Kon,
lv,
h
Kirche, chriſtliche. 97
16, 9. Sp durch &e77 gibt; dagegen möchte Amos 9, T., wornach bie von Sem
abftammenden (Gen. 10, 22.) Aramäer aus Kir nach Syrien eingewandert waren,
mehr auf einen im nördlichen Mefopotamien oder in Chaldäa liegenden Diftriet
hinführen. Bol. Keil, Commentar über die Bücher der Könige, S. 478 ff. —
2) Ein fefter Ort im Lande der Moabiter (any "7, Jeſ. 15, 1.), wahrſchein-
Th iventifh mit Kir-Harefeth und Kir-Hares (Jeſ. 16, 7. 11. Jerem. 48, 31.
2 Kön, 3, 25.). Der Chaldäer überfegt Jeſ. 15, 1. 28527 8372, d. i. Burg
Moabs, 2 Macs. 12, 17. heit es Xapaza. Unter legterem Namen nennen e$
Ptolemäus CIV. 17.) und Andere (vgl. Reland, Paläft. S. 463, 705.) bis auf
die Zeit der Kreuzzüge herab ; die Kreuzfahrer fanden den Namen noch vor und
‚gaben ihn der von ihnen erbauten Feftung Keraf; aus unficherer Runde der alter
Geographie geihah es aber, daß, wie im Weften die Tage von Berfaba irrthüm—
dh zu Beit Jibrin, fo in Kerak die alte berühmte Hauptſtadt des peträiſchen
Arabiens, Petra (im Bezirk des jegigen Wady Muſa) gefunden wurde; Kerak
führte daher den Namen Petra deserti (Will. Tyr. XI. 26. XV. 21. Jac. de Vitr.
€. 96.); dadurch wurde die Beſtimmung von Keraf bis auf die neuefte Zeit eine
fehr verwirrte; Robinfon hat das Verdienft, diefe Frage genügend entwirrt zu
baben; vgl. Paläftina, II, 119 ff. Im Jahr 1167 wurde das lateiniſche Bis—
tum von Petra errichtet, beftand aber nur furze Zeit; in der griechiſchen Kirche
. bat fi der Titel davon erhalten. [Rönig.]
Kirche, Hriftlide. Das Wort Kirche wird gewöhnlih von dem griechifchen
„Kuvoıarn“, nämlih oizie — Haus des Herrn abgeleitet, biblifh aber ift das
Wort &rxinole, welches in bürgerlihen Verhältniffen die Verfammlung der Ge—
meinde, auch den Ort, wo fie fi verfammelt, endlich die Gemeinde felbft be-
zeichnet, fie mag verfammelt fein oder nicht; von der bürgerlihen Gemeinde wird
das Wort von den Schriftftellern des neuen Teftaments auf eine Gemeinde
höherer Drbnung übergetragen, nämlich jene Gemeinde, welche Gott durch feinen
oh Jeſum Chriſtum auf der Erde aber für den Himmel ftiften wollte, zur Er—
kenntniß und Berberrlihung feines heiligen Namens, zum Heile und zur Heiligung
der Menſchen und dadurch zur innigften Bereinigung der ganzen Menfchheit mit
Gott in einem ewigen und feligen Leben. Dieſe irdiſch-himmliſche Gemeinde
wird defhalb genannt die Gemeinde — Kirche Gottes, Apg. 20, 28. 1 Eor. 11,
16. 22. Gal. 1, 13. 1 Tim. 3, 5. 15. und von ihrem unmittelbaren Stifter und
Dberhaupte die Kirche Chriſti, Matt. 16, 18. Eph. 1, 22. 5,25. 27. 32. Bon
diefer Kirche Haben wir demnach die Thatfache ihrer Stiftung durch Chriſtum, die
von ihm gewählten Drgane zur weitern Ausführung feines Werfes nebft den
ihnen ertbeilten Aufträgen, die hieraus refultirenden Eigenfhaften und Merkmale
der Kirche, die Thätigfeiten der menfchlichen Stellvertreter Ehrifti nebft dem Bei-
flande des göttlichen Stellvertreters des Paraklets in Kürze darzuftellen; den
Schlaf wird ein Blick auf die kirchlichen Gegenfäge machen. — Die Abſicht
Eprifti, eine Kirche in jenem höhern Sinne zu fliften, fteht in der evangelifchen
Geſchichte nicht als ein einzelner oder zufälliger Gedanfe da, fie zieht fich viel-
mehr durch feine ganze Erſcheinung hindurch, wird im verfhiedenen Ausſprüchen
und Handlungen laut, und erfheint in diefer Weife als der Eentralgedanfe feiner
iſchen Wirffamfeit. Schon der erfte Ruf, der aus feinem Munde an die Men-
ſchen ergeht, iſt eine Ankündigung jener irdiſch-himmliſchen Gemeinde: thut Buße,
denn das Himmelreich nahet heran, Matth. 4, 17. Marc. 1, 15.; als er im wei—
tern Fortgange feiner Wirffamfeit für das Himmelreich ſich Apoſiel als feine Ge-
fandten an die Menfchen und als Werkzeuge zur Vollftrefung feiner Abfichten
wählte, bezeichnete er ihnen ihren Beruf mit den Worten: ich will eu zu Men-
ſchenfiſchern machen, Matth. 4, 19. Marc. 4, 17., und erflärte ihnen diefe Worte
durch das Gleihnig von dem Nege, das in's Meer geworfen wird, Matth. 13,
girchenlexikon. 6. 7
98 Kirche, chriſtliche.
47—50. Als er fie gleich bei ihrer Berufung eng an fih anſchloß, fie zu Zeugen
aller feiner Thaten, zu beftändigen Zuhörern aller feiner Vorträge machte, und
ihnen die Verhältniffe des neuen Gottesreiches in den mannigfaltigften Parabeln
erklärte, Matth. 13, 11., gefhah dieß Alles nicht in der Abficht, fie zu tüchtigen
Werkzeugen für die Ausführung feines Werfes zu bilden? Nachdem er fie fo
sprbereitet und im Glauben an feine göttliche Würde feftgegründet gefunden hatte, -
ſprach er feine Abficht, feine Kirche durch fie zu gründen, und fie mit den nöthigen
Vollmachten dazu auszurüften, zum erften Male ohne Bild mit klaren Worten aus,
Matth. 16, 18. 19. 18, 15—18. Noch früher Hatte er fie einen vorläufigen
Berfuh im Lehramte machen laffen, und fie mit den nöthigen Belehrungen und
Berheifungen dazu verfehen, Matth. 10, 5—23. Mare, 3, 14—19, Luc, 9,
1—6.; als aber die Zeit heranrüdte, wo die irdiſche Wirkfamfeit Chrifti nach
dem Nathichluffe des Vaters enden, und die Thätigfeit der Apoſtel an ihre Stelle
treten follte, da verdoppeln fich feine Belehrungen, Tröftungen und Berheißungen,
deren Mittelpunct der höhere göttliche Beiftand ift, der fie an feiner Statt be-
lehren, leiten und mächtig unterftügen werde, Joh. Cap. 14—16. Den Schluß der
Erklärungen Chrifti und den entfcheidenden Beweis für die Stiftung feiner Kirche
bilden die legten Aufträge, die er den Apofteln bei feinem Abfchiede von ihnen
ertheilt, wo er feierlich erffärt: mir ift gegeben alle Macht im Himmel und auf
Erden, gehet alfo Hin, unterweifet (machet zu Schülern) alfe Völfer, und taufet
fie im Namen des Vaters, und des Sohnes, und des heiligen Geiftes, und lehret
fie alles halten, was ich euch befohlen habe, Matth. 28, 18—20.; vergl, Marc,
18, 15—18, Luc, 24, 47—49, Joh. 20, 21—23, Sollten diefe Beweife noch
ärgend einer Verftärfung bedürfen, fo Liefert fie das Zeugniß der Apoftel, Sie
bezeugen nämlich, daß Chriftus fich eine Kirche durch fein Blut erworben, Apg.
20, 28.5 daß er fie dur das Bad der Wiedergeburt im Worte des Lebens ge-
reinigt, Eph. 5, 25—27, damit fie fein fol ein auserwähltes Gefchlecht, ein
königliches Prieftertfum, fein eigenthümliches Volk, 1 Petr, 2, 9, Tit, 2, 14,5
Diefe Gemeinde zu fammeln, reisten fie umher und ftifteten in den bedeutendern
Städten Localgemeinden, welche fie gemäß ihrer Aufträge organifirten, und dur
Diefe Drganifation wie durch den gleichen Geift des Glaubens und der Liebe zu
einer einzigen Gemeinde vereinigten, Nom, 12, 5—16. 1 Cor, Cap, 12 u. 13;
Eph. 4, 3—6.5 eine Einheit, welche fie bildlich dadurch ausprürfen, daß fie die
Kirche das Haus Gottes, 1 Tim, 3, 15. 2 Tim, 2, 20., 1 Petr. 4, 17. Chriftum
den Grundftein deffelben, Apg. 4, 11.1 Petr. 2, 7. ein andermal aber das Haupt
der Kirche, fie feldft feinen Leib nennen, 1 Cor. 12, 12. 27, Eph. 4, 15. 16,
5, 23, — Die Ausführung des großen Planes der Kirche, fie allmahlig
über die ganze Erde zu verbreiten und alle Völfer in fie aufzunehmen, war nicht
Das Werk eines Menfchenlebens, fondern vieler Jahrhunderte, Chriftus mußte
Daher außer jenem göttlichen Stellvertreter, den er als Paraflet verhieß, auch
für ‚eine Vertretung durch Menfchen forgen, welche fein Werf in fichtbarer
Weiſe fortführten, wie er es in fichtbarer Weiſe begonnen hatte, Diefe
menſchlichen Stellvertreter zu beftellen und mit den nöthigen Vollmachten aus—
zurüften, war allein feine Sache, den der Bater zu eben biefem Werfe in
Die Welt gefandt Hatte; wie er gewählt und wen er zu feinen Gtellver- |
tretern und Werkzeugen beftellt habe, haben wir bereits gefehen, die Apoftel |
waren e8, die er gleich am Anfange feines Lehramts auswählte, die er während
feines Lehramts für ihren Fünftigen Beruf befonders bildete, die er am Schluffe
feines Amtes mit denfelben Aufträgen und derfelden Vollmacht in die Welt‘.
ſandte, womit er felbft gefandt war, Joh. 20, 21. Matth. 28, 18—20, Durh
dieſe pofitiven Anordnungen Chriſti ift jede eigenmächtige Einmifhung in die
Stelfvertretung Chrifti abgefihnitten, und muß, wo fie verfucht würde, als un-
berechtigte Anmaßung zurückgewieſen werden, Die Apoftel in ihrer Zwolfzahl
ee ——— —
Kirche, Hriftlide, 99
ftellten aber eine Corporation dar, und jede Corporation muß vrganifirt fein,
namentlich bedarf fie eines Mittelpunctes für ihre Einheit und einer Spige für
die Oberauffiht und Leitung; auch für diefe Drganifation hat Chriſtus geſorgt.
Denn obwohl er alle Apoftel zu feinen Stellvertretern und Werkzeugen ausgewählt
hatte, fo erfcheint doch Einer derfelben von Ehrifto felbft in einer Weife aus«
gezeichnet, und nimmt unter den übrigen eine folde Stellung ein, daß er dadurch
als das Haupt des apoftolifhen Körpers und der Repräfentant ihrer Einheit be-
zeichnet wird, Petrus ift es, dem er gleich bei feiner Berufung den urfprüng-
lichen Namen, Simon, Jona's Sohn, in diefen bedeutfamen Feld, Felfenmann
umwandelt, Matth. 4, 18. Marc. 3, 16. Luc. 6, 11. Joh. 1, 42., um damit
feinen fünftigen fpeciellen Beruf, Matth. 16, 18., voraus anzudeuten; er ift es,
an welchen der Herr das Wort richtet, wenn auch der Inhalt allen Apofteln gilt,
Matth, 17, 24. 26, 40. Luc. 22, 31. Joh. 18, 11., wie au er im Namen ver
Andern das Wort führt, Matth. 16, 16. 17, 4.23 ff. 19, 27. Zur. 8, 45. 12, 41.
Joh. 6, 69. 13, 36.5 er iſt es, den auch die Apoftel und Evangeliften in ihren
namentlichen Berzeichniffen ftets ald den Erften aufführen, Matth. 10, 2. Marc,
3, 16 ff. Luc. 6, 13 ff. Fragt man nun, worin diefe Auszeichnungen des Petrus
vor den übrigen Apofteln ihren Grund Haben mögen, fo läßt fih, da andere ob—
-jeetive Berhältniffe feine Anwendung finden, ein anderer objeetiver Grund nicht
angeben als die befondere Beftimmung und. das befondere Amt, womit Chriftus
ihn in feiner Kirche betrauen wollte; denn obwohl alle Apoftel den Beruf hatten
das Evangelium allen VBölfern zu predigen, fo wird doch er allein zum Felfengrund
gemacht, auf welchem der Herr feine Kirche erbauen will, Matth. 16, 18.5; ob-
wohl alle Apoftel die Gewalt zu binden und zu löfen erhalten, ebend, 18, 18.,
fo werden doch ihm allein die Schlüffel des Himmelreichs gegeben, ebend. 16, 19.5
obwohl alle Apoſtel Theil Hatten an der Leitung der Gemeinden, fo wurde doch
ihm allein die oberfle Hirtenforge über alle Gemeinden und alle Hirten der Ge-
meinden übertragen, Joh. 21, 15 ff., und Chriftus felbft betet für ihn, daß fein
Glaube nicht ſchwach werde, und er feine Brüder ftärfen möge, Luc, 22, 31. —
In diefer Berfaffung, wie fie Chriſtus vorgezeichnet, finden wir nach feinem Hin-
gange zu dem Vater die apoftolifche oder Urkirche wirklich; an den apoftolifchen
Körper ſchloß fih die erfte anfangs Fleine Chriftengemeinde zu Jerufalem an,
Ayg. 1, 13. 14.5 als fie am Pfingffefte des heil. Geiftes voll wurden, fingen
fie an in allerlei Sprachen zu reden, wie es ihnen der heilige Geift eingab, ebend,
2, 4.5 die Apoftel aber leiteten die Gemeinde, zu ihren Füßen [Egten die Gläubigen
den Erlös aus ihren verfauften Gütern, ebend. 4, 34. 35.5 vor fie brachten fie
‚entftandene Klagen, ebend. 6, 1. 2., auch entjtandene Streitfragen, 15, 1. 2.
u. ſ. w. Aber Petrus nimmt in der apoftolifchen Thätigkeit diejenige Stellung
ein, wie Chriftus fie ihm bezeichnet hatte, er erfcheint und handelt überall als
Mittelpunet des apoftolifchen Körpers; er fchlägt die Wahl eines andern Apoftelg
an des VBerräthers Stelle vor, und bezeichnet die Eigenfchaften des zu Wählen-
den, Ang. 1, 15 ff.5 er hält am Pfingfifefte den erften öffentlihen Vortrag über
Ehriftus und Chriſtenthum, ebend. 2, 14 ff.; er that das erfte apoſtoliſche Wun-
der, 3, 2 ff.; er vertrat die Apoftel vor Gericht, 4, S—12.5 er beftrafte ven an
der Gemeinde begangenen Betrug, 8, 18 ff.; er war es, der die in der erſten
Ehriftenverfolgung Zerfireuten befuchte, und die Gemeinden ftärfte, 9, 32 ff.; er
wurde berufen, die erfie Miffion auch unter den Heiden auszuführen, und ihre
Berufung zu vertheidigen, Cap. 10. 11.5 in der Berfammlung der Appftel und
Aelteften, in welcher eben diefe Frage entfchieden werden follte, hatte er die Ini—
tiative, 15, 7 ff.5 endlich ift auch dieß Fein unwichtiged Moment, daß Paulus,
obgleich unmittelbar vom Herrn berufen, es doch für gut fand, den Petrus und
ihn allein zu befuchen, und fünfzehn Tage bei ihm zu bleiben, Gall. 1, 18.
Dieß ift die Organifation des apoftolifchen Körpers, welchem Chriftus den Weiter-
7 *
————
100 Kirche, hriftlide,
bau feiner Kirche übertrug. Er hatte aber außer diefem zur Vermehrung der
Lehrkräfte noch zweinndfiebenzig Jünger beflimmt, deren Feiner mit Namen
genannt ift, Luc, 10, 1.2 ff., und die Apoftel felbft Hatten in den von ihnen
geftifteten Ehriftengemeinden Aeltefte eingefegt, ohne Zweifel zu ihrer eigenen
Unterftügung und zur nächften Aufficht über die Gemeinden, Apg. 14, 22, 15, 4,
20, 28. 1 Tim, 5, 17, Tit, 1, 5. Außer den Aelteften kommen in den Briefen
noch befondere Gehilfen namentlich vor, welche die Apoftel ſich befonders zur
Unterftügung in ihrem Miffionsgefchäfte gewählt hatten, Apg. 16, 1 ff. 18,5.
Col. 4, 7 ff. 2 Tim, 4, 9—12,, endlich hatten fie auf den Wunfch der Gemeinde
zu Jerufalem für einen beftimmten Zwed Helfer wählen laffen, Apg. 6, 1 ff.
welche fih aber außerdem auch für den Dienft des Evangeliums nüslih und
thätig erwiefen, ebend. V. 8 ff. 8, 26 ff. Alle diefe ergänzenden Organe er-
fiheinen ſowohl durch die Art ihres Urfprungs wie durch -ihre Leiftungen in ber
apoftolifchen oder Urfirhe dem Apoftolat untergeoronet, doch müſſen fie den
ordentlichen Gliedern im Körper der Stellvertreter Chrifti beigezählt werden, —
Da Chriſtus feine Kirche für alle Zeiten geftiftet und ihr eine unvergängliche
Dauer verheißen hat, fo muß auch der für ihre Ausbreitung und Verwaltung
angeordnete Organismus fortdauern, d. h. das Amt der Apoftel muß im Fluffe
der Zeiten auf andere Perfonen übergehen, und an die Stelle des Petrus mußten
in gleichem Nachfolger treten, die feinen befondern Beruf erfüllten, und das Eine
wie das Andere mußte in der urfprünglich geordneten Weife geſchehen, d. h. die
Nachfolger der Apoftel und des Petrus Fonnten nur vermöge der von Chriſto
ausgehenden göttlichen Sendung in ihr Amt eintreten, Damit betreten wir ven
Boden der nachappftolifchen Kirche, welche von den Apofteln genrbnet wurde, wie
die apoftolifhe von Ehrifto: fie hatten nämlich für die größern Localgemeinden
nicht nur Aeltefte-und Helfer beftellt, fondern auch einzelnen aus diefen die Ober-
aufficht übertragen, wie daraus erhellt, daß uns in ihren Schriften einigemal das
Wort Errloxorsog begegnet in einer nicht fcharf bezeichneten Beziehung zu dem
Worte rrgsoßvregos, fowie es aus jenen Stellen nicht zu beftimmen ift, ob die Apoſtel
jene Auffeher aus der Zahl der Aelteften, oder ihrer eigenen Gehilfen, vergl. 1 Tim,
1, 3ff., Cap. 5 durhaus, 2 Tim, Cap. 4. Tit, 1,5 ff., oder aus Füngern über-
haupt genommen haben, Jedenfalls fteht feft, daß diefe Erzioxoreoı, wovon dag
Wort Biſchof(ſ.d. A), ebenfo von den Apofteln beftellt worden feien wie die roso—
gruregor (Priefter) und Diacone; daß aber ihnen fehr viel daran lag, dieſes
wichtige Amt gut zu befegen, erfehen wir nicht nur aus den genauen Vorfchriften,
welche fie ihren Gehilfen dießfalls ertheilen, 1 Tim, 3, 1—7. Tit. 1,789,
fondern auch aus der apoſtoliſchen Tradition bei dem römifchen Clemens, wornach
die Apoftel ihrer Sendung gemäß nicht nur erprobte Männer zu Biſchöfen und
Diaconen der Gläubigen felbft eingefegt, 1 Br. Cap. 42., fondern auch voraus⸗
wiffend, daß über die Bewerbung um das bifchöflihe Amt Streit entftehen würde,
eine Verordnung darüber gegeben haben, wie nad dem Abfterben der von ihnen
Eingefesten andere bewährte Männer ihre Amtsnachfolger werben follten, näm—
Yich durch die Wahl der andern vorzüglichften Männer (der Bifhöfe) unter Zu—
flimmung der ganzen Gemeinde, ebend, Cap, 44, Sowohl nad diefem traditio-
nellen Zeugniß als nach den obigen Anordnungen der Apoftel find alfo die Bifchöfe
die erftien und nächſten Amtsnachfolger der Apoftel, an welche ſich die übrigen
Priefter und die Diacone in untergeorbneter Stellung anſchließen. In diefer
Berfaffung und in dem Glauben an die göttliche Anorbnung derfelben finden wir
die hriftliche Kirche auch in den Schriften der übrigen apoftolifchen und appftel-
nächften Männer, wie des Hl, Ignatius von Antiochia, des hl. Polycarpus von
Smyrna, des Hl, Juſtinus Martyr u. A., deren Zeugniffe anzuführen ver Raum
nicht erlaubt, — Wie das Amt der Apoftel in der hriftlichen Kirche fortdauern
muß, und wirklich fortdauert im Episeopat, fo muß auch das befondere Amt
Kirche, chriſtliche. 101
des hl. Petrus oder fein Primat fortdauern in feinen Amtsnachfolgern, und dieß
find die Männer, welchen er bei feinem Scheiden aus dem Zeitlichen fein Amt über-
tragen oder hinterlaffen hat (f. Pap ſt); nun hat er aber fein Leben in Rom befchloffen,
nachdem er in der legtern Zeit feines Wirkens die römische Kirche geleitet Hatte,
So fnüpfte ſich gefchichtlich das Primatialamt an die Perfon der römifchen Bifchöfe,
wie es durch die Anordnung Chrifti an Petrus und feine Nachfolger geknüpft
wurde; für Solche, d. h. für Nachfolger des heiligen Petrus hat auch das ganze
chriſtliche Altertum die römifchen Biſchöfe anerfannt, und darum auch, und nicht
wegen der politifhen Stellung der Stadt Rom, der römifchen Kirche den Vor—
rang vor allen andern Kirchen zugefprochen; in der Anerfennung diefes Vorrangs
haben fih von den erften Jahrhunderten an auswärtige Bifhöfe um Urtheil und
Recht an den römifchen gewendet, felbft Häretifer haben für ihre Irrlehren die
Zuftimmung der römifhen Kirche zu gewinnen, wiewohl vergebens, gefucht, ja
fogar den heidnifchen Kaifern und Gelehrten war der Primat des römifhen Bi—
ſchofs als eine gefchichtlihe Thatfache befannt; was aber die Beweisfraft diefer
Thatfachen vollendet, ift das eigene Bewußtfein der römifchen Bilhöfe der von
Petrus auf fie übergegangenen Pflihten und Rechte, in welhem Bewußtfein fie
durch alle Jahrhunderte der Kirche, je nach den Erforderniffen der Sachen und
den Berhältniffen der Zeiten gehandelt haben. Die hiftorifchen Beweife für diefe
Thatfahen find in meiner Apologetif Bd. 3, S. 233—273 ausgeführt. Wie
daher die Fatholifche Kirche im Bewußtfein ihrer beftändigen Ueberlieferung feier-
lich ausgeſprochen hat, daß die priefterlihe Gewalt des neuen Teftaments nicht
allen Ehriften eigen, fondern von Chrifto eine kirchliche Hierarchie (ſ. d. A.) eingerichtet
fei, zu welder die Bifhöfe als Nachfolger der Apoftel vorzüglich gehören, - und
- über den Vrieftern ſtehen, Conc. Trid. Sess. 23. cap. 4., fo hat fie auch an einem
andern Orte die Beftimmung ausgeſprochen: der heilige apoftolifhe Stuhl und
der römifche Papft befist den Primat über die ganze Erde, er ift Nachfolger des
Apoftelfürften Petrus und der wahre Statthalter Chriſti; das Haupt der ganzen
Kirhe, der Bater und Lehrer aller Chriften, dem in dem hl. Petrus die Vollge-
walt zu weiden, zu regieren und zu leiten von unferem Herrn Jeſu Chriſto
übertragen worden ift. Conc. Flor. Sess. X. (decr. union.). — An diefe Nach—
folger der Apoftel find eben darum auch die Aufträge übergegangen, welde die
Apoftel feldft unmittelbar von dem Herrn empfangen hatten, zu lehren, zu taufen,
zu binden und zu löfen, und überhaupt die Gemeinde Chrifti zu leiten; wie die
Apoftel beforgen auch ihre Nachfolger diefe Aufträge als ihr eigentliches Amt
unter Mitwirfung der von den Apofteln angenommenen Gehilfen. Es gibt daher
in der Kirche ein dreifahes Minifterium (Amt und Dienſt); erftens das
Lehramt oder der Dienft des Wortes Gottes, welches von den Mitgliedern des
Lehrförpers in ihrer Ordnung und Unterordnung in der Weife ausgeübt wird,
daß alle daran Theil nehmen, die oberfte Lehrauctorität aber wie die Entfcheidung
von Lehrftreitigfeiten den unmittelbaren Nachfolgern der Apoftel, den Biſchöfen
und dem Papfte zufteht. Ebenfo ein Priefteramt, oder der Dienft der Sacra-
mente al$ derjenigen heiligen Handlungen, an welche als das Wefen und den
Kern des Hriftlihen Eultus der Erlöfer die Vermittlung der Heilsmittel und die
Zuwendung feiner Gnaden auf eine eigenthümlihe Weife gefnüpft hat; dieſes
Priefteramt wird von denfelben Organen und in ähnlicher Unterordnung wie dag
Lehramt verwaltet, einzelne Verrichtungen des Priefterdienftes Hat die Kirche
vermöge der ihr verliehenen Gewalt zu den obigen hinzugefügt. Endlich das
Amt der Kirchenleitung und kirchlichen Regierung, wodurd das äußere Leben der
Kirchenglieder fo geordnet und geleitet wird, daß die ganze Kirche fich als die
Gemeinde Gottes als ein Gottesftaat darftellen möge; zu dieſem Zwecke hat
Ehriftus feldft den von ihm beftellten Trägern des Lehr- und Priefteramts eine
geſetzgebende Gewalt nebft den zu diefer gehörigen Attributionen verliehen, Matth.
102 Kirche, chriſtliche.
16, 19. 18, 18; Apg. 15, 22—29, 1 Cor. Cap. 71: 12; Eph. 5, 22—33,
ebend. 6, 1—A u. f. w., welche ebenfalls auf ihre Nachfolger überging. — Aus
der Darftellung der Stiftung der Kirche dur Chriftum, ihres Zwedes und des
zu feiner Erreichung in ihr geordneten Organismus ergibt fih der vollftändige
Begriffder Kirche: fie ift nämlich die durch Ehriftum geftiftete, durch Die Kraft
des heiligen Geiftes unter Mitwirfung der dazu berufenen menſchlichen Drgane
bewirkte Lebensgemeinfchaft der erlösten Menfchen unter fi und mit Chrifto
und Gott. In ihrer Totalität umfaßt fie alle diejenigen, die durch den Glauben
und die Taufe in diefe Gemeinfchaft hienieden eingetreten find, und nach ihrem
Ausfcheiden aus dem irdifchen Dafein würdig erfunden wurden, auch jenfeits
darin zu bleiben; unter den letztern nehmen die erfte Stelle ein die vollendeten
Heiligen, welche die himmliſche Herrlichfeit bereitS gewonnen haben; fie heißen
darum die triumphirende Kirche; nicht minder aber. diejenigen Gerechten,
welche jenfeit$ den Neft ihrer Sündenftrafen zu tilgen haben, um der vollen Ge-
meinfchaft mit Gott theilhaftig zu werden, — die leidende Kirche; diejenigen
Glieder der Kirche, welche noch Hier auf Erden unter mancherlei Kämpfen nad
der Gewinnung des ewigen Lebens ringen, bilden die ftreitende Kirche, Alle
drei Sphären umfchlingt aber ein gemeinfchaftliches Band, nämlich eben jene
geiftige Lebensgemeinfchaft, und eine hieraus fließende gegenfeitige Wechfelwirfung
nach der Eigenthümlichfeit einer jeden Sphäre, welches Band die Gemeinfchaft
der Heiligen genannt wird (f. Heilige). Faßt man die Sphäre der flreitenden
Kirche für ſich und beſonders, fo ift fie diejenige, in welcher die hriftliche Lebens-
gemeinschaft beginnt, und für die Fortfegung im Jenſeits begründet wird; darum
gilt das von der Stiftung und DOrganifation der chriftlichen Kirche Gefagte zu—
nächſt und eigentlich von ihr, fie ift die fihtbare Gemeinfchaft ver Gläubigen,
welche unter der Leitung der von Chrifto beftellten Hierarchie fich zu feiner Reli-
gion befennen, und mit der Gnade des hl. Geiftes ihr Heil zu wirken fuchen,
Im Verhältniß zu diefer fihtbaren Gemeinfchaft Fünnen die beiden andern
Sphären die unfihtbare Kirche, richtiger die unfichtbare Seite der Kirche ge—
nannt werden, und auch dieß nicht im firengen Sinne, da die Heiligen in der
Erinnerung und Verehrung, Die Leidenden in den Fürbitten der irdifchen Brüder fort-
leben (f. Fürbitte), in jedem andern Sinne ift die Annahme einer unfichtbaren Kirche
unftatthaft, Die Kirche Chriſti auf Erden ift fichtbar in ihren Gliedern, welde
Menſchen find, fichtbar in der öffentlichen Verfammlung diefer Glieder, fihtbar
in ihren Neligionshandlungen, wodurd nach der Anordnung Chriſti ihnen die
Gnade des Glaubens und der Gerechtigfeit vermittelt und vermehrt wird, ſicht⸗
bar in dem Organismus ihrer Hierarchie, welche die ſämmtlichen Religionshand-
Yungen und die ganze Kirche Yeitet, Die Unterfheidung einer unfichtbaren Kirche
neben der fihtbaren hat zu allen Zeiten ihren Grund in dem Abfall oder der
Trennung einzelner Perfonen oder Parteien gehabt, welche nach dem BVerlufte
des äußeren Firhlichen Bandes ſich noch am inneren Bande Halten wollten, ohne
zu bedenfen, daß fie felbft wie alle Chriften nur durch die Vermittelung des
äußeren Kirchenbandes zur inneren Lebensgemeinfchaft mit Chrifto und den Gläu—
digen gelangten, ja ohne fie nicht einmal zu dem Begriffe der Teßteren hätten
gelangen fünnen, Allerdings kann, wie in andern menschlichen Verhältniffen, fo
auch im kirchlichen, das innere geiftige Band ſich Iodern oder Iöfen, während-
dem die äußere Verbindung fortbefteht, aber dieſe felbft ift und bleibt eine That-
ſache, ja das einzige Mittel, dem geiftig Todten wieder zum Leben zu verhelfen;
darum zählt die Kirche auch Solche zu ihren Gliedern, aber Niemanden, der ihr
nicht wenigftens äußerlich angehört, — Durd ihre Sichtbarkeit ift die Kirche
Chriſti auch äußerlich erfennbar, fo daß fie von den Heilsbevürftigen aufgefucht
werben kann; da aber ſchon vor ihr eine propädeutifche Anftalt (die Synagoge)
berging, und aus ihr Firchliche Vereine fich ablöfen Fonnten und auch abgelöst
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Kirche, chriſtliche. 103
haben, fo bedarf die Kirche Chriſti befonderer Charaktere oder Eigenfhaften
und Merfmale, wodurch fie fih eben als die wahre Kirche zu erfennen gibt,
Eigenſchaften, welche zugleich ausfprechen, was fie gemäß ihrer Stiftung ift, und
in ihrem Fortfchritte immer mehr werden fol; diefe Eigenfhaften find ihr vom
Chriſto verliehen, und von ihr felbft im ihrem Symbolum ausgeſprochen. Die
erfte ift ihre Einheit und Einigfeit;z die Kirche ift Eine, d. h. zunächſt die
einzige, fo daß man nicht von mehrern chriſtlichen Kirchen ſprechen kann, ohne
Eprifto feldft zu widerfprechen, denn er redet nur von Einer Kirche, die er grün-
den wolle, Matth. 16, 18,, und bildlich von Einer Herde, deren Hirte er ift,
Joh. 10, 16.5 ebenfo heben die Apoftel, obwohl fie den örtlichen Gemeinden der
Chriften ven Namen &xxAnola beilegen, überall die Einzigfeit der großen Ge-
meinde Gottes hervor, (f. oben). Diefe Einzigfeit, obgleich zunächſt nur ein
numerifches Verhältniß ausdrüdend, erhält aber ihren reellen Werth und ihren
auszeichnenden Charakter durch diejenigen Beftimmungen, dur welde fie äußer-
lich zur göttlich gefegten und innerlich zur menfhlih gewirften Einheit wird,
Aeußerlich oder objectiv ift die Kirche Eine durch den Einen Herren Jefum Chriftum,
der ihr Stifter und unfichtbares Oberhaupt ift, Eph. 1, 22, 23.5 dur das Eine
Evangelium und die Eine Taufe, wodurch alle Völker ihr Heil finden follen,
Matth. 28, 18. 19., Marc. 16, 15. 16., Eph. 4, 5.5 dur den Einen heiligen
Geift, der auf die mannigfaltigfte Weife in den Gläubigen wirft, 1 Cor. 12,
4—11.; endlich ift die Kirche auch Eine durch ihren Organismus, in welchem alle
Hirten mit ihrem Oberhaupt verbunden find, Auf diefer objectiven Grundlage
ruht und durch fie wird befördert die innere oder fubjective Einheit aller Glieder
der Kirche, Innerlich und fubjeetiv ift die Kirche eine und einig durch den glei-
hen Glauben, die gleiche Taufe, die gleiche Gemeinfchaft des Leibes und Blutes
Chriſti, die gleiche Liebe und die gleiche Hoffnung aller ihrer Glieder ald Brüder
Eprifti und Kinder Gottes, Eph. 4, 3—7. 1 Eor, 10, 16, 17.5 diefe innere Ein-
beit ift-der Kirche fo wefentlih, daß ihr Mangel in einzelnen Individuen immer
nur Regereien und Spaltungen erzeugen und den Wohlftand der Kirche gefährden
fonnte. Deßwegen gaben ſich die Apoftel fo viele Mühe, diefe Einheit unter den
verfchiedenen Elementen der werdenden Kirche zu erhalten, 1 Cor. 1,10 ff. Gal.
1, 6 ff. Röm, €. 7—11. Col, 2, 8 ff., und übten unnahfichtlihe Strenge gegen
die Neulehrer und Neulehren, Br. an Tim. u, Tit. 1 Joh. 2, 18 ff. — Wenn
die Einheit zum Entfiehen und Fortbeftehen der Kirche wefentlih gehört, fo be—
zeichnet ein anderes Kennzeichen, das der Heiligfeit, den ihr gefegten ethifchen
Beruf und ihre höchſte Beftimmung. Die ihrer Sünden losgewordene Menfchheit
foll feiner tabula rasa gleichen, fondern wie der heilige Geift, der durd feine
Wirffamfeit die Erlöfung in den Gläubigen vollzieht, ebendamit auch das Princip
eines neuen Lebens, die heiligmachende Gnade ihnen einpflanzt, fo erhält die Ge-
fammtheit der Gläubigen gleich in ihrem Werden den Beruf zur Heiligung, und
fol ihren Beruf und ihre Erwählung durch gute Werfe zu befeftigen befliffen fein,
2 Petr, 1, 10. Die Kirche Chriſti ift alfo nach Beruf und Beftimmung eine Ge-
meinde von Heiligen; mit diefem ehrwürdigen Titel begrüßen die Apoftel die Lo—
ealgemeinden, an welche fie ſchreiben, und nicht anders fprechen fie von der Ge-
fammtheit aller Gemeinden, wenn fie ſchreiben: Chriftus hat die Kirche geliebt
und fih felbft für fie Hingegeben, auf daß er fie heiligte, fie reinigend durch das
Wafferbad im Worte des Lebens, u. ff., Eph. 5, 25—27.; nicht anders, went
fie die Neubefehrten, einen wie alfe, ermahnen, die Untugenden und Sünden
ihrer frühern Verhältniffe abzulegen und einen neuen Menfhen anzuziehen, ähn—
lich dem Gottgeſchaffenen in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit, Rom, 6,
19, Eph. 4, 22—28. 1 Theff. 4, 3. 7.; wenn fie einfach und geradezu Heiligkeit
als die Beftimmung des Chriſten erflären, Eph. 1,4. Phil. 4, 8. Eol. 1, 21.22,
1 Petr, 1, 2,, in Gemäßheit der Worte des Herren: feid alfo vollkommen, wie
104 Kirche, chriſtliche.
euer himmliſcher Vater vollkommen iſt, Matth. 5, 48., vgl. Joh. 17,17—20, —
Wenn die Heiligkeit die innere Beſtimmung der Kirche, ſo bezeichnet ihr drittes
Merkmal — die Katholicität — ihre äußere Beſtimmung, die allgemeine, alle
Menſchen und Völker umfaſſende Religionsgemeinſchaft zu werden, und durch alle
Zeiten bis an das Ende der Welt zu dauern; zu dieſem Univerſalismus trägt ſie
die Befähigung einmal in ſich ſelbſt, in ihrer Lehre, ihrer Verfaſſung und ihren
Gebräuchen als von Gott geoffenbart; darauf iſt ſie aber auch noch ausdrücklich
von Chriſto angewieſen, der ſchon in feinen Lehrvorträgen vielfältig in den Bil-
Hern und Öleichniffen vom Himmelreiche auf diefe Allgemeinheit hingewiefen, am
Schluſſe feiner irdifhen Laufbahn aber den Apofteln den klaren und beftimmten
Auftrag ertheilt hat, Hinzugehen in die ganze Welt, allen Völfern das Evangelium
zu predigen, und fie zur Haltung feiner Gebote zu verpflichten, Matth. 28, 19.
Marc. 16, 16. Luc, 24, 47. 48., mit der eben fo beftimmten Verficherung, daß
dag Ende nicht fommen werde, bi8 das Evangelium vom Reiche in der ganzen
Welt, allen Völkern zum Zeugniffe verfündigt fein werde, Matth. 24, 14, Die-
fen Aufträgen gemäß gingen die Apoftel in die damals befannte Welt aus, überall
chriſtliche Gemeinden ftiftend, und fie durch das gleiche Band des Glaubens und
der Liebe vereinigend; eine Reihe ihnen gleicher Männer trat in ihre Fußftapfen,
Die Kirche erweiterte mehr und mehr ihre Grenzen, fie erfannte fich felbft als die
Tatholifche, und ſprach es in ihren älteften Befenntniffen aus. Diefes ihr Be—
wußtfein fonnte durch den Abfall einzelner Männer und Secten um fo weniger
eine Störung erleiden, als fie felbft dadurdh unaufgehalten in ihrer Verbreitung
fortfchritt, dDiefe aber nach einer verhältnißmäßig furzen Dauer in fich ſelbſt er-
Lofhen, Und fo muß fie im Hinblick auf ihren urfprünglichen Beruf und ihre Ge—
ſchichte es für ihre Pflicht erfennen, ihren Charakter der Allgemeinheit zu be—
wahren, und in ihrem Kreiſe allem entgegenzutreten, was im Widerfpruche mit
Dem Wefentlichen diefer Allgemeinheit ſich als zeitlicher oder örtlicher Particula-
zismus geltend zu machen fucht. — Die chriftliche Kirche nennt ſich endlich auch
Die apoftslifche, nicht bloß darum, weil fie gefchichtlich durch die Apoftel in die
Welt eingeführt wurde, fondern auch weil fie in demfelben Wefen und in der—
felben wefentlichen Form fortbefteht, worin fie nah den Beſtimmungen Chrifti
von den Apofteln gefegt ifl. Es dauert daher der Beruf und dag dreifache Amt
der Apoftel felbft in ihr fort in der ununterbrochenen Reihe ihrer Nachfolger; es
wird Durch diefe die hriftlich-apoftolifche Lehre in Schrift und Tradition rein er—
Halten und lebendig verfündet, ebenfo werden die Heilsanftalten durch die fie ver-
mittelnden heiligen Handlungen erhalten und den heilsbegierigen Gläubigen zu—
gänglih gemacht; endlich dauert die mit dem Apoftolat von Chriſto gefegte
Berfaffung feiner Kirche in den Nachfolgern der Apoftel und den übrigen ur-
fprünglichen Elementen, alfo in ihrem Wefen unveränderlich fort, Durch dieſe
Sichfelbfigleichheit ſtellt fich alfo die Kirche nicht nur ald eine von Chrifto ge-
gründete, fondern auch als eine von Gott felbft gegen die Wandelbarfeit des Ir—
Difchen geficherte Inftitution dar. — Und als die göttlich gegründete, ja als bie
einzige Inſtitution, außer und außerhalb welder fein Heil zu finden ift.
Der Gründer des Heils für die Menfchheit ift Chriſtus, er wollte, daß Alle es
in der von ihm geftifteten Gemeinde Gottes, in feiner Kirche fuchen und finden
ſollten, darum ließ er das Evangelium vom Reiche Gottes in der ganzen Welt
verkünden und alle Völker zum Anfchluffe an die fichtbare Erfcheinung deffelben,
feine Kirche, einladen; darum zeichnete er auch feine Kirche mit beftimmten Eigen-
Schaften und Merfmalen aus, damit jeder Heilsbegierige fie daran erfennen und
fich ihr einverleiben Fünnte, Sp gewiß alfo nur Ein Chriftus ald Gründer, und
aur Eine Kirche ald Spenderin des Heils ift, fo wahr ift e8 auch, daß das Heil
ausschließlich nur bei ihr zu fuchen und zu finden, fie allein die ſeligmachende ift.
Die Erkenntniß diefer Wahrheit hat der Kirche felbft zu allen Zeiten als ihr
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TR — — —
R—
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Kirche chriſtliche. 105
innerſtes Bewußtfein beigewohnt, und fie hat es eben fo unummwunden ausge-
fprochen, wenn fie in ihren Befenntnißfchriften das Heil entweder vom Fatholifchen
Glauben oder von der Verbindung mit ihr abhängig machte; Conc. Carthag. IV.
can, 1.; Symb. Athanas. ab init.; Lateran. IV. cap. 1.; Prof. Fid. Trid. Wem diefe
Lehre hart erfcheint (wie fie denn diefen Vorwurf immer und immer erfahren hat),
der möge Folgendes bevenfen: Gott felbft hat durch Chriſtum diefe Einrichtung
getroffen, daß der Menfch fein Heil bei der Kirche ſuchen, das heißt, dem nur
von ihr verfündeten göttlihen Worte glauben, durch die nur von ihr gefpendeten
Heilsmittel die Gnade Gottes und Vergebung der Sünden empfangen, und in
dieſer fegensreihen Verbindung mit ihr aus der fichtbaren Gemeinfchaft in die
unfihtbare der Seligen übergehen foll; würde die göttliche Inftitution der Kirche
nicht zwecflos und überflüffig erfcheinen, wenn es außer ihr noch andere, dem
Gutdünfen der Menfchen überlaffene Wege zu demfelben Ziele gäbe? Ferner ift wohl
zu merken, daß jener Lehrfag nicht fo gemeint ift, als reichte die bloße äußere
Berbindung mit der Kirche, gleichfam die Eintragung in ihr Album hin, um des
Heiles gewiß zu fein, vielmehr ſchreibt die Kirche felbft der bloß äußerlichen Ber-
bindung das Heil fo wenig zu, daß fie allen ihren Mitgliedern das Wort des
Herren Matth. 7, 21., wie das Wort des Apoftels 2 Petr. 1, 10. unaufhörlich
einfhärft, um dur einen thätigen Glauben und ein fündelofes Leben lebendige
Glieder ihres geiftigen Leibes zu werden und fo in das Himmelreih einzugehen;
dennoch ift und bleibt die äußere Verbindung die Bedingung und das Mittel, zur
innern Lebensgemeinfchaft mit der Kirche zu gelangen. Hinſichtlich derjenigen, die
fih außer der Kirche befinden, unterfcheidet diefe felbft eine zweifache Stellung:
entweder waren fie in der Lage, daß fie Glieder der Kirche werden fonnten, aber
es nicht werden wollten, oder, was noch mehr ift, fie waren bereits in der Kirche,
find aber durch Häreſis und Schisma aus ihr wieder ausgetreten; diefe Stellung
ift eine Firchenfeindliche; von ihr gilt das Wort des HI. Cyprians: der kann Gott
nicht zum Bater haben, wer die Kirche nicht zur Mutter haben will, de unit.
eccles.; gegen biefe Stellung ift der Ausſpruch der Kirche eigentlich gerichtet,
Dver e8 ift einzelnen Menfchen nah ihren befondern Verhältniſſen nicht möglich,
fih der ſichtbaren Kirche anzufchließen, ihre Stellung außerhalb ift eine unver-
fhuldete; in Anfehung diefer bleibt zwar die Kirche bei ihrem Sage, daß die
Berbindung mit ihr der ordentliche Heilsweg ift, aber ein weiteres Urtheil über
ſolche erlaubt fie fih nicht, indem fie die Möglichkeit begreift, daß Gott, welcher
reich ift an Erbarmungen und Mitteln, fie auf außerordentlihe Weife zu Mit-
gliedern der unfihtbaren Kirche machen Fünne. — Unfere bisherige Darftellung
hat gezeigt, wie Chriftus feine Kirche geftiftet und eingerichtet habe; es übrigt
noch die Frage nach ihrem Fortbeftand. Als die göttlich inftituirte Heilsanftalt
für die Menſchen aller Völker und Zeiten muß fie fortvauern bis an das Ende
der Welt, und diefe Unvergänglichfeit ift ihr auch von ihrem Stifter ver-
heißen, wenn er gleich bei ihrer Gründung verfichert, daß die Pforten der Hölle
fie nicht überwältigen werden, Matt. 16, 18., wenn er fpäter, dieß deutlicher
erflärend, ausruft: Jetzt ergeht das Gericht über diefe Welt, nun wird der Fürft
biefer Welt Hinausgeftoßen; ich aber, wenn ich erhöhet werde von der Erde,
werde Alle zu mir ziehen, Joh. 12, 31. 32.5 wenn er endlih am Schluffe feiner
Laufbahn die Apoftel verfichert: Diefes Evangelium vom Reihe wird in der gan-
zen Welt, allen Völkern zum Zeugniffe verfündigt werden; dann erſt wird dag
Ende fommen, Matth. 24, 14. Diefe Verheißung fonnte aber nicht in Erfüllung
gehen, ohne einen befondern und fortwährenden göttlichen Beiftand, der die Kirche
nicht nur gegen ihre äußeren Feinde fügte, fondern fie auch in der Erfüllung
ihres eigenen inneren Berufes fo unterftüste, daß fie die Lehre Chriſti unver-
fälſcht verfünden und die ihr Angehörigen ohne Verirrung zum Heile führen
konnte; diefe Ausftattung der Kirche heißt ihre Unfehlbarfeit, deren Ausein-
106 Kirche, chriſtliche.
anderfeßung des Zufammenhangs wegen wohl am füglichften ihren Platz bier fin-
den dürfte, Jenen Beiftand hat Ehriftus den Apoſteln ausprücflich verheißen, als
er fie bei ihrer Ausfendung in die Welt verficherte, daß er bei ihnen fein werde
alle Tage bis an das Ende der Welt, Matth.r 28, 20.5 wie das gefhehen follte,
hatte er ihnen ſchon vorher erffärt, als er ihnen wiederholt ftatt feiner einen an=
dern Lehrer und Beiftand (Paraklet) zu fenden verfprach, den heiligen Geift, den
Geift der Wahrheit, der fie alle (die volle und ganze) Wahrheit lehren und an
alles erinnern follte, was er ihnen immer gefagt hatte, Joh. 14, 17. 26.5 jenen
Geift, der die Welt überweifen, den Unterricht der Apoftel vollenden, den Sohn
felbft verherrlichen werde; ebendaf. 18, 8—15., vgl. Matth. 10, 19. 20. Nach
dem inhalt diefer Stellen ift der Beiftand des heiligen Geiftes den Apoſteln ver-
beißen ausdrüclich zur Ausrichtung ihres Berufes und zum Zwecke der Unverirr-
barfeit in demfelben; aber der Beruf der Apoſtel, die Verkündung des Evan-
geliums und die Spendung der übrigen Heilsmittel dauerte auch nach dem Heim—
gange der Apoftel fort, und ging nach der von ihnen getroffenen Einrichtung (ſ.
oben) an ihre Amtsnachfolger über. Diefe bedurften aber jenes Beiftandes, des
heiligen Geiftes, wegen des gleichen Berufes wie die Apoſtel, ja man könnte
fagen, noch mehr als die Apoftel, da fie nicht mehr wie diefe von Chrifto felbft
unterrichtet und vorgebildet waren; jedenfalls fteht feft, daß die ihnen gemachten
Berheißungen, wenn fie ihre volle und bleibende Wirkung haben follten, auch
ihren Amtsnachfolgern für alle Zeiten gelten müffen, Nun bilden nach göttlicher
Anordnung die Apoftel mit ihren Rachfolgern den Lehr- und Negierungsförper
der Kirche (Cecclesia docens nach dem angenommenen Ausdruf), ihren Lehrent-
fheidungen muß daher Unfehlbarfeit zufommen, und fie müffen son den Gläu-
bigen dafür anerfannt werden, folglich als Richtſchnur ihres Glaubens gelten;
dieß fließt al8 unmittelbare Confequenz aus den Verheißungen Ehrifti, in ihrer
Verwirklichung gedacht, Zwar findet ſich der Lehrfag der Unfehlbarfeit in ihren
formellen dogmatifihen Ausfprüchen nicht, aber fie hat in ihrer ganzen Stellung
zur Gefammtheit der Gläubigen ftetS darnach gehandelt; fie hat ihren Glauben
für den alleinfeligmachenden, und jeden ihr widerftreitenden für Irrthum erklärt,
fie hat für ihre doctrinelle Entſcheidungen nicht bloß äußern Gehorfam, fondern
auch innere Zuftimmung verlangt, und die fih Weigernden von ihrer Gemein-
ſchaft ausgefchloffen; fie hat das Net und Vermögen, den Sinn der heiligen
Schriften nach der Wahrheit zu beftimmen, für fih in Anſpruch genommen; fie
bat von jeher behauptet, daß fie von dem heiligen ©eifte geleitet und fortwährend
in die Wahrheit eingeführt und erhalten werde, und darum als von Gott beftellte
Lehrmeifterin von Allen anerfannt werden müffe, Trid. Sess. IV. decr. de can.
script., Sess. VI. cap. 16; ib. can. 29; Sess. XIII. prooem.; find dieß nicht that-
fächliche Beweife des conftanten. Bewußtfeing ihrer Unfehlbarfeit? Zur nähern
Beſtimmung diefes Lehrfages find noch zwei Fragen zu beantworten, nämlich:
wer als Träger der Unfehlbarfeit — subjectum infallibilitatis — zu betrachten
fei, oder genauer ausgedrückt, wie der verheißene Beiftand im Verhältniß zu den
einzelnen Perfonen des Firchlichen Lehrförpers und ihrer Unfehlbarfeit zu denken
fei? Und zweitens, auf welche Firchliche Gegenftände fie fi ausdehne? In
Beziehung auf den erften Punct iſt vor Allem zu bemerken, daß, mit Ausnahme
des Berufes der Apoftel, die unmittelbaren Organe der göttlichen Offenbarung
und ihrer urfprünglichen Meberlieferung zu fein, von welchem Berufe perfönliche
Inſpiration nicht getrennt werden kann, der Beiftand des heiligen Geiftes felbft
nach dem Wortlaute der angeführten Stellen nicht dem einzelnen Kirchenvorſteher
für fih, fondern der Gefammtheit verheißen ift, woraus folgt, daß diefe nie irren
Tann, hingegen von Seite des Einzelnen ein Irrthum wohl möglich bleibt, wie
die Kirchengefchichte zeigt, Fragt man nun nad der vollgültigen Nepräfentation
jener irrthumsloſen Gefammtheit, fo findet man fie am voffommenften in einer
Kirche, chriſtliche. 107
allgemeinen Berfammlung aller Kirchenvorſteher (ſ. Synode), in welcher die beiden
Factoren der Hierarchie, die Bifchöfe und der Papft, einftimmig lehren und verord-
nen; aus diefem Grunde ift den Lehrbeftimmungen allgemeiner Eoneilien ſtets dog⸗
matiſche Auctorität und ihren Geſetzen allgemein verbindende Kraft beigelegt wor=
den, Aber allgemeine Coneilien find, wie die Gefhichte ſowohl der älteren als
der im 15ten und 16ten Jahrhundert gezeigt hat, fehr ſchwer zufammenzubringen,
und zwar um fo mehr bei der gegenwärtigen Ausdehnung der Kirche über alle
fünf Welttheile, aber fie find auch nicht die einzige Form der Nepräfentation
des hierarchiſchen Körpers der Kirche, da das Beifammenfein an einem Orte
wohl die Berathungen und Befhlußfaffung erleichtert, aber zur Uebereinftim-
mung in den Anfihten und Urtheilen der einzelnen Kirchenvorfteher nichts bei—
trägt, und auch die in der chriſtlichen Welt zerfireuten bierarchifchen Organe
Cecclesia dispersa) fich über dogmatifche und andere Fragen verftändigen können.
Dieß kann auf zweifache Weife gefchehen, indem die Anregung biezu entweder
von dem Papfte als dem Dberhaupte der zerftreuten wie der verfammelten Kirche
ausgeht, dem dann die Bifchöfe ftillfchweigend oder in eigenen Antwortfchreiben
zuflimmen, oder eine Anzahl von Bifhöfen (in Provincial- und Nationaleoneilien)
legt die von ihnen gefaßten Entfcheidungen und Befhlüffe über allgemeine An—
gelegenheiten dem Papfte zur Beftätigung vor, Beide Arten folcher allgemeiner
Tirchlicher Entſcheidungen Haben gefchichtlih flattgefunden, die leßtere in den
frübern Jahrhunderten, als der eigentlichen Zeit der Concilien, die erftere vor—
züglich in der fpätern Zeitz ſo wurde die dogmatifche Enticheidung über die pe—
lagianifchen Lehren zuerft durch die Provincialfynode zu Divspolis und noch aus-
führlicher durch das große africanifhe Nativnalconeilium im 3. 418 ausgefprochen,
und ihr Urtheil von Papft Zofimus in feiner epistola tractoria beftätigt; ebenfo
wurden auf dem zweiten Concilium von Drange die pelagianifchen, femipelagia-
ſchen und präbeftinatianifchen Irrthümer secundum authoritatem et admonitionem
sedis Apostolicae verworfen; dagegen haben die Päpfte nach dem Coneilium von
Trient, mit welchem die Reihe allgemeiner Kirchenverfammlungen fich gefchloffen
bat, über fpätere Verirrungen, wie des Mich. Bajus, Janſenius und der Duie-
tiften, ihr Urtheil in eigenen Conftitutionen ausgefprochen, welchem die ganze
Kirche beigetreten ift. Ueber die Gültigkeit und das infallible Anfehen der Aus-
fprüche der zerftreuten Kirche in beiderlei Formen ift man alfo einverftanden, nicht
fo in Betreff der Frage, in wiefern die Unfehlbarfeit den einzelnen, die kirchliche
Entſcheidung bedingenden Factoren für fich zufomme? Die Frage fann eine von
vornherein verfehlte genannt werden, indem fie wie die Kirche fo auch den heiligen
Geift gleichfam fpalten will, da doch jene nur Eine und diefer nur Einer ift, folg-
lich die Verheißung der Unfehlbarfeit nur der ungetheilten und einigen Kirche
| gelten fann, die Spaltung aber feine Verheißung für fich aufweifen kann; wie
daher allgemein angenommen ift, daß die Gefammtheit des Episcopats nur in
Berbindung mit feinem Oberhaupte, oder ein allgemeines Concilium nur unter
Zuftimmung des Papftes auf Unfehibarkeit Anſpruch machen fonne, fo fordert es
die Confequenz, daß auch den Entfheidungen des Vapftes nur unter Borausfegung
der Zuftimmung des Episcopats infalibles Anfehen zufomme, Die Anführung
der Gründe, womit diefe Anficht wie die gegentheilige vertheidigt worden ift, ge-
hört wohl nicht in diefen gedrängten Auffag; zur Vermittelung beider mag jedoch
die Bemerkung erlaubt fein, daß der die Kirche leitende heilige Geift nach feinem
Wohlgefallen bald diefen, bald jenen Factor feiner Organe zuerft erleuchten,
und den andern ihm nachziehen kann, wofür die oben angeführten Thatſachen als
Belege dienen dürften. Die Beantwortung der zweiten Frage, auf welde Fird-
liche Gegenftände die Unfehlbarkeit ſich erſtrecke, ergibt fich aus dem Zwecke, wozu
fie der Kirche verliehen if. Die Kirche ift die von Chriſto geftiftete göttliche
Lehr- und Heilsanftalt, ihr Beruf ift alfo, in dieſer zweifachen Beziehung zum
108 Kirche, chriſtliche.
Beften der Menfchen zu wirken, dazu ift ihr der Beiftand des göttlichen Geiftes
verheißen, dieſer wird ſich daher auf die verfchiedenen Kreife der Firchlichen Thä—
tigfeit erſtrecken, durch welche die geoffenbarte Lehre rein erhalten und verfündet,
und die übrigen Heilsmittel den Gläubigen ebenfo rein gefpendet werden. Diefer
unbeftreitbare Sag in feinen fpeciellen Inhalt zerlegt, gibt folgende, eben fo unbe-
ftreitbare Refultate. Die Kirche ift unfehlbar in der Bewahrung und Ueberlieferung
der hriftlichen Glaubenslehre nach ihrer zweifachen Seite, als Dogmen im engeren
Sinn und als Sittenlehren in practifcher Beziehung (f. Dogma); fie ift e8 eben
darum auch in der Beflimmung und Erklärung des gefchriebenen und ungefchrie-
benen Wortes, welches fie urfprünglich aus dem Munde der Apoftel in ihr Bewußtfein
aufgenommen und unter göttlihem Beiftande bewahrt hat (f. Exegeſe); vermöge
diefes Bewußtfeins iſt fie Schon gewiffermafßen die natürliche Richterin in Glau—
bensfachen, wenn dur die Schwäche vder den böfen Willen einzelner Individuen
über einzelne Glaubenslehren Zweifel und Streitigfeiten erhoben werden, um fo
gewiffer darf die Kirche in folchen Fällen, wo die Reinheit der Lehre in Frage
geſtellt ift, auf die untrügliche Erleuchtung des göttlichen Geiftes rechnen, wie fie
e8 in allen Perioden ihrer Gefchichte wirklich gethan hat, indem fie durch Auf-
ftellung ihrer fombolifchen Befenntniffe und die den gegebenen Fällen entfprechen-
den genaueren Beftlimmungen den Irrthum von ſich ausgefchieden hat. Gegen
diefe Unfehlbarkeit der Kirche in Beurtheilung von Glaubensftreitigfeiten und der
fih darauf beziehenden Schriften von Privaten gilt die Einwendung nicht, daß hier
zweierlei Fragen unterlaufen, nämlich neben der dogmatiſchen auch eine Hiftorifche,
insbefondere über die perfönliche Abficht und den Sinn des Verfaffers (quaestio
juris et quaestio facti), über welche als etwas rein Thatfähliches der Kirche fein
Urtheil zuftehe; diefe Einwendung gilt darum nicht, weil es erftens unbeftreitbare
dogmatifhe Thatfachen gibt, wohin ein großer Theil der neuteftamentlichen Dog-
men, namentlich die in dem apoftolifchen und nicänifhen Symbolum ausgedrüd-
ten, gehören; ferner, weil die Kirche von jeher über den Sinn nicht nur der bib—
liſchen Schriftfteller, fondern auch der Kirchenväter geurtheilt hat, wie fih aus
vielen Beifpielen zeigen Tiefe; endlich folgt diefe befondere Beziehung der Un—
fehlbarfeit aus ihrem allgemeinen Zwede; wäre nämlich das Urtheil der Kirche
über die fchriftlih oder mündlich vorgetragenen Lehren einzelner Perfonen fein
fiheres und .gewiffes, fo wäre diefen das Mittel an die Hand gegeben, den Lehr-
begriff der Kirche in’S Unendliche zu verwirren und dadurch allmählig aufzulöfen,
wie man an der Gefchichte der gnoftifchen, arianifchen, pelagianifchen u. ſ. w. big
herab auf die janfeniftifhen Wirren fehen kann (ſ. Janſenius); übrigens hat die
Kirche ihr Urtheil nur über die Lehrmeinungen, nicht über ven Charakter der Jrrlehrer
auszufprechen., Endlich ift die Kirche, wie bereits gefagt, unfehlbar in der Be—
wahrung und Ausfpendung der übrigen Heilsanftalten, denn da diefe als unmittelbare
göttliche Inſtitutionen den Charakter chriftlicher Dogmen haben, fo gilt alles bis—
ber Geſagte auch von ihnen. Hinfichtlich weiterer Auseinanderfegungen muß ich
auf meine Apologetik, TIL. Bd, 6. Abfchn, verweiſen. — Diefer Artikel kann fich
nicht abfchließen, ohne noch einen Blick auf die verfchiedenen Gegenſätze inner-
halb des Hiftorifhen Umfangs der riftlichen Kirche zu werfen, Denn ob—
wohl Chriſtus nur Eine Kirche ftiften wollte, welche innerlich einig in fich felbft
und auch äußerlich durch ein gemeinfames gefellfchaftliches Band zufammengehal-
ten fein follte, fo hat es doch die göttliche Vorfehung zugelaffen, daß die eigene
Borherfagung Chrifti, Matth. 24, 11. Marc, 13, 22., wie der Apoftel, Apg.
20, 29. 30, 2 Petr, 2, 1. in Erfüllung ging, und menfchliche Willfür, in der
Abficht, das Haupt einer neuen Secte zu werden, die Verbindung mit der Urkirche
löste, oder diefe felbft genöthigt war, ſolche Menfchen wegen Verbreitung falſcher
Lehren von ihrer Gemeinschaft auszufchließen. Sp bildeten ſich frübzeitig außer-
halb der Kirche verfchiedene Vereine, welche die chriftlichen Ideen und kirchlichen
\
Kirche, chriſtliche. 109
Inſtitutionen in eigenmächtiger Weife auffaßten, der herrſchenden heibnifchen
Staatereligion gegenüber auch Chriften genannt wurden, zur Unterfheidung von
der Urfirche aber fich eigene Namen entweder von dem Eigenthümlichen ihres
Syftemes, oder von ihren Häuptern, oder von geographiſchen Beziehungen bei=
legten, wogegen die Urfirche fi nun ausſchließlich die Fatholifche oder allgemeine
nannte, und auch von ihren Gegnern fo genannt wurde, Eine vergleichende Auf-
zaͤhlung derfelben ift nicht diefes Orts, da fie als größtentheild untergegangen
fein practifches Moment darbieten, und über das Geſchichtliche in befondern Ar—
tikeln referirt wird, Practifches Intereffe, und zwar nicht bloß für die Wiffen-
Schaft, fondern auch noch in andern Beziehungen hat nur noch der Gegenfag zwi-
ſchen der katholiſchen und proteftantifhen Kirche, der hier erwähnt wer—
den muß, nicht in Hiftorifcher Beziehung, auch nicht in fymbolifch vergleichender,
da eine folhe Vergleihung einen eigenen Artifel fordert; fondern als kirchlicher
Gegenſatz, der feit feiner Entftehung vielfah auf die Fatholifhe Kirche zurüd-
gewirkt hat und noch zurüdwirft, Der Begriff diefes Gegenfages, fofern von
einer proteftantifhen Kirche die Rede fein fol, ift fchwer zu beflimmen, fo
fehr find feit der Reformation die Anfichten und Meinungen, die fich alle prote-
ftantifh nennen, auseinander gegangen, und fo fehr hat ſich die Zahl der diefe
Sondermeinungen vertretenden Vereine vermehrt; es ift daher nothwendig, zur
Feftftellung des Begriffs gewiffe Grundfäge anzunehmen, und darunter dürfte
wohl der erfte fein, daß zunächſt nur der fymbolifche Proteftantismus in Betracht
fommen und für die Begriffsbeftimmung maßgebend fein könne, denn ohne ein
Symbolum, ohne beftimmte religiöfe Begriffe und eine beftimmte Weife, diefen
Begriffen einen beftimmten Ausdruck und eine beftimmte practifche Geltung zu
verleihen, läßt fich eine Kirche fo wenig denfen, als irgend ein Berein ohne be=
flimmten Zwed und beftimmte Statuten; als zweiter Grundfag wird gelten müſ—
fen, daß ohne Rüdfiht auf das Symbolum doch nur die größeren proteftantifchen
Geſellſchaften unter ven Begriff von Kirche fallen fünnen, da die Fleineren Ver—
eine diefer Art theils an fich meiftens unbedeutend, theils von den größeren aus—
gegangen find. Aber auch nach diefer Befchränfung bleiben noch fo viele Diffe-
renzen zwilchen den größern proteftantifchen Gefellfchaften übrig, daß man fie nur
unter den Begriff verfhiedener Landes- und Nativnalfirchen bringen kann, welche
nur die Oppofition gegen die Fatbolifche, alfo nur ein Negatives miteinander ge—
mein haben, ine zweite Frage, welche hier erhoben werden kann, ift die, in—
wiefern ſowohl die proteftantifchen als die übrigen altern Gefellfehaften eine Stelfe
unter der Rubrik „Hriftliche Kirche” finden fünnen? Gewiß nicht in fofern, als
ob jede diefer Gefellfihaften für fi die von Chriſto geftiftete Kirche darftellte,
welche Borftellung ſowohl durch die Gefchichte als durch ihre inneren Widerſprüche
aufgehoben wird; auch nicht aus dem Gefihtspunet, daß etwa alle zufammen
- Ceollectim) die hriftlihe Kirche darftellten, fo daß jede als ein Verſuch, die rechte
‚ Form der Kirche zu finden, und in der Reihe der übrigen als integrirender Theil
der Gefammterfcheinung der Kirche zu betrachten wäre; denn diefer Anſchauung
widerſprechen nicht nur alle Thatfachen der evangelifchen Gefchichte der Urfirche,
' Denen zufolge Chriftus durd die ihr gegebenen Formen ihrer Einrichtung fie der
menſchlichen Willtür und menfhlihen Bildungsverfuchen entreißen wollte, fondern
‚es würde aus jener Anfchauung auch folgen, daß die Kirche Chrifti in einem
ewigen Werben begriffen fei, ohne je wahrhaft, d. h. vollftändig zu fein, was
‚eine Ungereimtheit iſt. Es bleibt alfo für die Auffaffung der verfchiedenen kirch—
lichen Secten nur das Eine Teitende Princip, daß fie allerdings Verſuche find,
die chriſtliche Kirche zu eonftruiren, aber eigenmächtige, von der durch Chriſtum
' gemachten Grundlage mehr oder minder abweichende, darum irrthümliche und
falſche Verfuhe, die am hriftlichen Namen noch in foweit participiren, als fie
Chriſtum als göttlichen Gefandten und Erlöfer und als Stifter der Kirche an-
}
119 Kirche, als Gebäude,
erfennen, Die Anwendung dieſes Principe auf die einzelnen Specialitäten Yiegt
außer den Grenzen diefes Artifels. [9. Drey.]
Kirche, ald Gebäude. Das Wort Kirche Cüber die Ableitung ſ. Kirche,
Hriftliche) wird nicht nur der Berfammlung der Chriftgläubigen zum Gottesdienſte,
fondern auch dem Gebäude und Drte felbft beigelegt, wo diefe zufammen fommen,
Und daß es in diefer Beziehung ſchon Firdliche Gebäude vom Anfange unferer
heiligen Religion her gab, ſteht außer allem Zweifel. Zwar waren diefelben feine
kirchlichen Gebäude im eigentlichen und firengen Sinne des Wortes, fondern
Säle, Berfammlungsdrter, Die zur Erreichung des Firhlichen Endzweckes in den
Häufern eingerichtet wurden, Dafür bürgen die heilige Schrift, die Zeugniffe
der Kirchenväter aus den erften Jahrhunderten, und auch die Profan-Schriftfteller.
Unter den Stellen der heiligen Schrift verweifen wir nur auf die wichtigften, und
diefe find: Apg. 1, 13. 14. 2, 1. 19, 9. 1:Cor. 11, 225 und 1 Cor, 14, 34, 35,
Hieraus geht deutlich hervor, daß die heiligen Drte, wo ſich die Chriften nach
der Himmelfahrt ihres Herrn, namentlich aber nad) der Ausgießung des heiligen
Geiſtes verfammelten, Kirchen genannt wurden; man mag dag hier mehrmal vor-
fommende Wort ecclesia als bezeichnend für die Berfammlung feldft, oder für
den Play und Drt erflären. Wir machen hier nur noch auf die Worte des hei-
ligen Paulus an die Coloſſer 4, 16. aufmerffam: Salutate Nympham et quae in
ejus domo est ecclesiam. Daffelbe bezeugen die heiligen Martyrer Ignaz und
Juſtin; der erfte in feinem Briefe an die Magnefier, wo er biefelben ermahnt,
daß fie an einem Drte, den er veov Fea (Tempel Gottes) nennt, zufammen
fommen follen; der zweite in feiner Apologie, wo es heißt: An dem Tage, den
ihr Heiden von der Sonne nennet, vereinigen fich alle Ehriften, die in der Stadt
oder auf dem Lande wohnen, an einem Drte, wo dann die Schriften der Apoftel
vorgelefen und erffärt werden. Diefer Drt, wo die heiligften Handlungen ver-
richtet wurden, fann unmöglich ganz willfürlich oder unbeftimmt gewefen fein, da
fonft die einen oder andern Chriften nicht gewußt hätten, wo fie fih zu verfam-
meln haben. Dieß wird auch dur den Brief des jüngeren Plinius an den Kai-
fer Trajan (C. Plinii epist. lib. 10.) beftätiget, wo er fagt, daß die Chriften vor
Sonnenaufgang an einem beflimmten Orte fih verfammeln, um Chriftum als
ihren Gott gemeinfchaftlich zu befingen, Mit Recht fann man daher fagen, daß
in der hriftlichen Kirche die Kirchen (al Gebäude) fo alt find, als die Kirche
felöft, Da die Heiden ein zu Ehren ihrer Götzen errichtetes Gebäude Tempel
nannten, fo vermieden es die Chriften anfänglich forgfältig, ihre religiöfen Ver—
fammlungsprte fo zu nennen, um auch hierin feine Gemeinfchaft mit ihmen zu
halten, Indeſſen läßt fih nicht in Abrede ftellen, daß die Judenchriſten im apo—
ftolifchen Zeitalter noch dfterd den Tempel und die jüdischen Synagogen befuchten,
allein die Feier des heiligen Abendmahles hielten fie flets in ihrem eigenen Ver—
fammlungsorte, Als ſolche Drte wurden befonders zur Zeit der Berfolgungen
Privatwohnungen, Höhlen, Grotten, unterirdifhe Gänge (Katakomben, frd. A.)
und Cömeterien benügt (Constif. apost. lib. 6.). Selbft Ställe, Scheuern, Kerfer,
Schiffe und Badſtuben dienten zu gottesdienftlichen VBerfammlungsorten,. Dieſes
fonnte wohl auch nicht anders gefchehen, da die Höfe unaufhörlich gegen das
Evangelium wüthete, und eine Verfolgung der andern die Hand bot. Sp fam
es, daß oft den Chriftgläubigen in den bedrängnißvollſten Tagen der gottesdienft-
liche Verfammlungsort eine Zeit lang unbefannt blieb (Euseb. hist. ecol. lib. 7.
0.22.);, Allein faum waren die Zeiten des Drudes und der Verfolgung vorüber,
als fich in der Chriftenheit herrliche Gotteshäufer und Kirchen erhoben, und von
nun an Fonnte die heilige Architektur ihr ſchönes, würdiges Amt ungeftört üben,
Und fo Haben fich nach dem Siege des Chriftentbums über das Heidenthum überall
hriftliche Kirchen erhoben. Im Allgemeinen waren die alten Kirchen in Form
eines Schiffes erbaut, Das Presbyterium ftellte den Vordertheil des Schiffes,
Kirche, als Gebäude 411
der Haupteingang den Hintertheil deffelben, und die Mitte das Schiff felbft vor.
Diefe fgmbolifhe Form wird auch, wie fpäter gezeigt werden wird, von den
apoſtoliſchen Eonftitutionen vorgefchrieben; jedoch wurde diefe Vorſchrift nicht all-
gemein beobachtet, Die Kirche unferes Heilandes auf Golgatha war rund, die
zu Antiochia, welche Eonftantin der Große erbauen lief, achteckig, die Kirche der
heiligen Apoftel zu Eonftantinopel in Form eines Kreuzes, und noch andere bil-
beten ein Vierer (Euseb. in vita Constant. M. III. 37. Soecrates. V. 22.). Die
Kirchen in der Schiffsform nannte man dooueza, die zirfelrunden, bei denen die
Balken in einem Mittelpuncte wie in einem Sterne zufammenliefen zolıydowre,
die oben in Geftalt eines Schilves gewölbt waren zovÄlore, die Kreuzkirchen
oTavgoeidn, und die achteckigen oxrugoga. Eine befondere Art von Kirchen bil-
deten die unter dem Namen „Bafilifen” (f. d. A.) befannten, und ihre Bauart
blieb auch bei Errichtung neuer Kirchen nicht ohne Einfluß. Bei folden wurde
bald, um die Richtung nach oben auszudrüden, die Kuppel angebradt, deren die
reine Bafilifa bis dahin entbehrte. Schon zu den Zeiten Eonftantins fah man im
Morgenlande Kirchen von runder Geftalt, die oben weit gewölbte Kuppeln hatten,
welche dem Ganzen einen höchft großartigen Charafter gaben. Dazu gehört die
unter Juftinian erbaute Sophienfirhe, die Mufter vieler andern geworden iſt.
Das Nundgewölb ruht auf vier Pfeilern; unter dem Gewölbe war das Heilig-
thum, an den Seiten der Ausbauten waren die Pläge der Männer und Frauen,
Um die Hauptfuppel fammelten fih bald Fleinere Nebenfuppeln und Thürmchen,
und darin befteht nebft dem ſchon Genannten der Charafter der byzantiniihen Bau-
funft, der auch noch in der erften Hälfte des Mittelalter der herrfchende war,
wenn er auch nicht überall fich rein erhalten Hat. Diefer byzantinifche Charakter
oder Styl hat unftreitig viel Herrliche; die weiten Räume mit ihren einfachen
Linien und Flächen wirfen mächtig auf das Gemüth; der Rundbogen ift in feiner
Einfachheit edel und großartig, und ahmt das Himmelsgewölbe nach; allein diefe
Nachahmung ift doch eine unnatürliche, weil die Erhabenheit fehlt, denn die ge—
wünfchte Höhe des Kreishogens fann nicht erreicht werden, und fo erhält das
Ganze etwas Niederes, Gedrüdtes, Kellerartiges. Darum verharrte auch die
chriſtliche Architektur nicht bei diefem Style (f. Geift des Chriſtenthums von Dr.
Anton Staudenmaier. 2, Thl, S. 930 f.). Außerdem wurden auch viele Kir-
hen in Form eines Kreuzes gebaut. Es follte dadurh der Sohn des Menſchen
am Kreuze hängend vergegenwärtigt werden. Die Länge derfelben wurde in zwei
ungleihe Theile gefondert. Der kleinere derfelben, alfo das Presbyterium, ftellte
das Haupt, die durch den Durchfchnitt gebildeten beiden Seiten die Arme, und
der übrige Theil des Schiffes den Leib des Erlöfers vor. Diefe ſymboliſche Deu-
tung findet fih in den Werfen der gelehrteften Liturgiften. Der teutihe oder
gothiſche Styl Hat in Ausbildung diefer Form das Höchſte erreiht. Das Aus—
gezeichnete an demfelben ift der Spigbogen mit der faft ununterbrocdenen Fort- -
fegung der Berticallinien, worin fi der nah Dben wendende, Aether durd-
dringende Gedanfe verſinnbildete. Es ift das tiefere Wefen des hriftlichen Geiftes
felbft, das fich hier vor ung in den hohen coloffalen Räumen, durch die Anord-
nung der Maffen, dur die beftimmten, beveutungsvollen Formen, fowie durch
die überall herrſchende Einheit des Gedanfens ausfpricht, als wollte der chrift-
liche Geift einen Dom erbauen, der ein tieffinniges Symbol des Weltalls if, in
dem Gott angebetet und verherrlichet wird (f. den Art. Baufunft, hriftliche,
und vgl. Geift des Chriſtenthums von Dr. U. Staudenmaier, 2. Thl. S. 938 f.
Stiglig, von altteutfh. Baufunft, Fr. von Schlegel, Grundzüge der gothi-
fen Baufunft). In Europa gibt es einige Kirchen, deren Bauart die Form
eines griechiſchen Kreuzes hat, fo daß die Durchſchnittslinie mit dem Schiffe eine
gleiche Länge bat. Die Beifpiele aber davon find felten, denn gewöhnlich find
anfere Kirchen in der Form des Iateinifchen Krenzes erbaut, In diefem Style
112 Kirche, als Sehäude,
find die meiften Kirchen im 12ten und 13ten Jahrhunderte, die fih dur Groß—
artigfeit auszeichnen, gehalten. Doch befteht biefür Feine beftimmte Regel, venn
was darüber die apoftolifchen Eonftitutionen beftimmen, hat niemals Gefegesfraft
erhalten, In unfern Tagen wird viel von dem riftlichen Geifte gefprochen, der
bei vem Bau der Kirchen vorberrfchend fein fol, fein Hauptgepräge muß ohne
Zweifel religiös-Firchliche Aeſthetik (ſ. d. A.) fein. Denn die Kirche ift eine Wohnung,
ein Haus Gottes nach der Auffaffungsweife der Katholifen, und diefe ift gewiß die
erhabenfte. Ihre Kirchen find ihnen Wohnungen Gottes, Zwar wiffen fie fehr
wohl, daß Gott allgegenwärtig ift, und nicht wohnt in Tempeln von Menfchen-
händen erbaut (Apg. 7, 24.); aber fie halten dabei zugleich an vem Worte Chriſti
feft: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt (Matth. 28, 20.),
und glauben, daß Er — der eingeborne Sohn des lebendigen Gottes, wahrhaft,
wirftich und wefentlich unter den Geftalten des Brodes-, welches von der Feier
des heiligften Abenpmahles aufbewahrt wird, in den Kirchen gegenwärtig fer, In
Nom Hat fich die hriftliche Architektur wegen der vielen alterthümlichen Denf-
mäler an die heidnifche immer noch angefchloffen, Daher findet man in Italien
an unfern düftern und gothifchen Cathepralfirchen feinen Gefhmakf, Die Süd—
länder find für corinthifche, dorifche und joniſche Baufunft eingenommen, Daher
lieben fie den Marmor in ihren Kirchen, das ftarfe Licht, die Wölbung, die maf>
fiven Eolonnaden, die Säulenhallen und hohen Giebel, Einen entgegengefegten
Geſchmack in diefer Kunſt Hatten die alten Gallier und die Teutfchen, Der hrift-
liche Geift diefer Nationen drückte fih aus in Fühnen und fchlanfen Bauten und
in einem düfteren Lichte, das fpärlich durch die bemalten Fenfter in das Innere
drang, Hienach laßt fi behaupten, daß die riftliche Kunſt nicht abfolut fei,
fondern vielfach durch Rocalverhältniffe bedingt werde, Der riftliche Geift fpie-
gelt fich in dem griechifceh-römifchen Bauftyle eben fo gut ab, wie in dem gothi=
fihen, und fo muß es auch fein, denn das Chriſtenthum iſt ja eine frohe Botfchaft
für alle Länder und Völker. — Die heidnifchen Tempel waren meiftens zu Ehren
ihres Gottes Phobus von Weften nach Oſten gelegen, Als aber das Chriften-
thum den Götzendienſt verdrängt, und auf feinen Trümmern ein neues Neich be=
gründet hatte, richtete e8 feine Gotteshäuſer ebenfalls gegen Often, weil von da
aus die wahre Sonne der Menfchheit aufgegangen war, Die apoftolifhen Con—
ftitutionen, die wegen ihres hohen Alters nicht ohne Gewicht find, verorbnen, daß
die Kirchen gegen Oſten gefehrt fein ſollen. Deffenungeachtet hatten aber viele
Kirchen, wie mehrere Liturgiften beweifen (Card. Bona de divina psalmodia), [don
feit den erften chriftlichen Zeiten ihren Haupteingang auf der Oftfeite, demnach
nothwendig das Presbyterium auf der Weftfeite, Auf diefe Werfe find in Rom
die fogenannten Conftantinifchen Kirchen erbaut, und unter ihnen namentlih St.
Sohannes im Lateran und St, Peter. Da die fromme Vorzeit das Gebet in der
Stellung gegen Abend und die übrigen Himmelsgegenden nicht geradezu verwirft,
und die Erbauung der Kirchen in einer anderen ald der allergewöhnlichften, der
Kreuzesform, nicht ausprüdlich unterfagt: fo Fünnen Kirchen allerdings auch in
der Richtung nah Süden, Weften und Norden und in was immer für einer Ge—
ftalt aufgeführt werden, Wefentlich ift nur, daß dabei die allgemeinen Erforder—
niffe einer jeden Kirche beachtet werden, und von innen und außen Anftand und
Würde herrfchen, — Den Kirchen ald Gebäuden wurden im Laufe der Zeit ver-
ſchiedene Namen beigelegt, ald: Tempel Ca contemplando). Die erften Chriften
bevienten fich diefer Benennung nicht gern, weil fie ihnen als fynonym mit Gößen-
tempel galt, Basilica (f. Bafilifen), Titulus. Auch diefe Benennung fommt ſchon
in der Lebensgefchichte des Papftes Marcellus vor, wo der Biograph beffelben,
Anaftafius, alfo fehreibt: Viginti quinque titulos in urbe Roma constituit. Binterint
in feinen Denfwürbigfeiten fagt bievon IV. Bd, 1. Abth.: In den Kirchen (bei
welchen ein eigener Priefter angeftellt war) erhielten die Katechumenen auf ihre
Kirche, als Gebäude, 113
- Stirn das Kreuzzeichen und die heilige Taufe, welches von den Alten Titulatio,
Titulus genannt wurde. Rom hatte bis in's fünfte Jahrhundert 25, feitvem 28
Haupt ⸗ oder Pfarrkirchen Ctitulos), bei weldhen die heiligen Sarramente ausge—
ſpendet werben; jede derfelben hat mehrere Geiftlihe, aber nur einer, der zu die=
ſer Kirche vrdinirte und bleibend bei derfelben angeftellte, wird intitulatus, incar-
dinatus genannt. Iloooevxengıov (oratorium, Bethaus) aus Nachahmung deſſen,
daß Jeſus den Tempel zu Jeruſalem ein Bethaus nannte, Lucas 19, 46,, und
weil in der Kirche vorzugsweife die Chriftgläubigen dem Gebete obliegen. Wenn
die Sanetuarien über den Gräbern der Glaubensbefenner errichtet waren, fo
hießen fie apostolea — martyria — memoriae; fanden fie über den Gräbern der
Propheten, fo wurden fie auch prophetea geheißen. Defgleihen wurden auch die
Kirchen mit den Worten synodi, conventicula, concilia, conventus bezeichnet, Auch
Dom pflegte man fie zu nennen (von den Alten oft Dom, Thum, Thumb ge—
fhrieben) , welcher Ausdruck entweder durch Berfürzung des Wortes domus (Dei)
oder des Wortes Dominica (aedes), „der durh Zufammenziehung der Anfangs-
buchftaben der drei Wörter Deo, Optimo, Maximo entftanden iſt, oder von domus,
womit man nach Chrodegangs (ſ. d. A.) Regulirung der Geiftlichfeit feiner Ca-
thedralfirche die gemeinfchaftlihe Wohnung der Canonici bezeichnet hat, daher
Dom, Domkirche das Gotteshaus, wo die Domherren ihre canonifchen Tagzeiten
verrichten. Am wahrfcheinlichften von dem griehifhen doua (deuw) Gebäude,
Dft wird auch das Wort Münfter gebraucht Ceigentlih Mönfter), welche Bezeich-
nung von dem Jateinifchen Worte monasterium entftand, — Mit Rüdficht auf die
Beftimmung und den Patron haben die Kirchen auch noch verfchiedene Namen,
In erflerer Hinficht unterfheidet man Haupt- und Nebenfirchen. Die Haupt»
Firchen heißen Metropolitan-, Cathedral-, Colfegiat- und Pfarrfirchen, je nachdem
fie Hauptfirchen einer Provinz, eines Bistums, eines Collegiums von Canoni—
fern, oder einer Pfarre find. Die Nebenfirchen werden gewöhnlich Filialkirchen
genannt, indem ihnen gegenüber die Hauptfirche als Mutterfirche (ecclesia matrix)
erſcheint. — In Betreff der Perfonen, für welche fie zum Gottesdienfte beſtimmt
find, unterfcheidet man Hof-, Schloß-, Burgfirchen (ecclesiae castellanae), Gar-
nifong-, Spitals-, Univerfitäts-, Seminarien- und Gymnaſialkirchen. In Anfehung
des Ortes Stadtkirchen (ecolesiae civicae), Land- und Dorffirchen (ecclesiae ru-
rales seu villanae), Begräbnißfirchen (ecclesiae coemelteriales) ehedem (areae
sepulturarum) und endlich Wallfahrtsfirchen. — Unter die vorzüglicheren Theile
eines Kirchengebäudes zählt man gewöhnlich folgende: Schiff, Chor, Concha,
Thurm, Presbyterium, Pläte der Männer und Frauen, Leitner (Lectionarium),
und den Communionort (Communicabant). Das Schiff der Kirche (vaos,
navis, templi arca, Rirchenleib, Halle, altteutfch Langhaus) ift der für das gläu—
bige Volk in dem Gotteshauſe beflimmte Raum, welcher fih von dem Hauptein-
gange bis zum Presbyterium erſtreckt. Dieſe Benennung ftammt von der uralten
Sitte her, die Kirche mit einem Schiffe zu vergleichen. Nach den apoftolifchen
Conftitutionen ſollen die Kirchen Tänglich in Form eines Schiffes erbaut und gegen
Aufgang gerichtet fein (Constit. apost. I. 57.), Burius gibt von dem Worte
navis ecclesiae folgende erbauliche Erflärung: Navis templi media pars vocatur,
ad ostendenda pericula, ventos et tempestates, quae Christianos circumstant, con-
‚ fra quae ut muniamur, tenenda est unio in nave Petri. Onom. p. 338. Die meiften
Kirchen ftellen, wenn man fih in Bezug auf das Gewölbe, das Presbyterium
‚ und die Nebengänge umgekehrt denkt, ein wirkliches Schiff vor. Nebft dem Haupt-
ſchiffe haben viele Kirchen auch noch Neben- und Seitenfchiffe (Seitenhallen, Sei—
tenlauben, Seitengänge genannt), die für das Volk beftimmt waren, fo daß der
Hauptgang ihm nicht ganz, fondern nur theilweife angehörte, Das Schiff Liegt
gewöhnlich tiefer als die übrigen Theile des Firchlichen Gebäudes, und jegt find
) gewöhnlich Sige (Kirchenſtühle) und Betſchemeln in demfelben angebracht, auge
® Rirhenleriton. 6. Bd. 8
114 Kirche, als Gebäude,
genommen bie italienifhen Kirchen. Der Boden des Schiffes wurde ſchon in der
Vorzeit mit Matten aus Binfen geflochten oder mit Brettern belegt, Späterhin
wurde derfelbe mit Steinen gepflaftert, und es verfloß Feine geraume Zeit, fo
brachte man die herrlichften Moſaikarbeiten aus Marmor auf demfelben an (fiehe
Binterim, Denfw. IV. Bd, 1, Thl.). — Chor. Ein berühmter Schriftſteller,
Sfivor von Sevilla (lib. 6. de Orig. c. 19.), leitet den Urſprung des Wortes
„Chor“ von corona circumstantium ab, weil fi die Sänger in der Runde auf-
zuftelfen pflegten. Einfacher ſcheint die Ableitung von dem griechifchen X0g0g,
welches eine Vereinigung von Sängern bedeutet. Nach Einigen fo genannt, weil
an diefem Orte von den Geiftlichen die Brevierandacht verrichtet wird (Conc.
Tolet. a. 633. c. 18.). Der Chor befand fih in den erſten chriſtlichen Kirchen
immer in der Nähe des Altars; es ftellten fih nämlich die Sänger (Choraliften)
— Drgelfpiel und Inftrumentalmufit gehören erft einer fpätern Zeit an — in
dem Kreife um den ganz ifolirt ftehenden Altar auf, Daher die häufige Ver-
wechslung des Chores mit dem Presbyterium, Als man größere und umfang-
reichere Kirchen zu bauen anfing, wurde für den Chor der Sänger ein eigener
Platz dem Altare gegenüber mit einem Verſchlage angebracht. Die alte Kirche
des hl. Clemens in Nom weist noch diefe Einrichtung nad. Geit vielen Jahr—
hunderten hat jedoch diefe alte Einrichtung aufgehört, und in Cathedral-, Eol-
legiat- und GStiftsfirchen fteht großentheild der Altar entweder frei, oder er ift
bis zur Mauer des Presbyteriums zurüdgerüdt. Im erften Falle befindet fich
der Chor der Sänger rechts und links Hinter dem Altare und wird von den Sitzen
der Geiftlichfeit umgeben, daher man auch) einen höheren und niederen Chor un-
terfchied. Im zweiten Kalle, wo der Altar an der Hintermauer des Presbyteriums
angebracht ift, befindet fi der Chor zwifchen dem Altare und dem Volke, jedoch
gewöhnlich fo, daß er höher als das Schiff, und einige Stufen tiefer als das
Sanetuarium iſt. Urfprünglich gab es ohne Zweifel nur in den Cathebralfirchen
einen Chor ; denn nur in denfelben befand fih ein zahlreicher Klerus und ein
Presbyterium CPriefterfchaft), welches der Rath des Bifchofes war, Im fechsten
und fiebenten Jahrhunderte wurde diefer Chor auch in den Klofter- und Eoflegiat-
firchen für die Mitglieder des Chores eingeführt, Später ahmten auch die Pa-
rochialkirchen diefes Beifpiel nach. Wir bezeichnen heutzutage mit dieſem Worte
den Drt, wo fih an einer Metropolitan-, Cathebral- oder Eollegiatfirche die
Dom- oder Chorherren mit ihren Vicarien verfammeln, um die canonifchen Tag-
zeiten nach der Vorſchrift des kirchlichen Officiums zu verrichten. Und wie in der
älteften Zeit, als noch im Hintergrunde des Presbyteriums der Bifchof feinen
Sitz hatte, die Priefter im Halbfreife um ihn auf Sigen, die man sedilia, sub-
sellia nannte, fich befanden, fo gefchieht dieß jest in den für die Domherren und
für die übrige Priefterfchaft an den Seitenwänden des Presbyteriums angebracd-
ten, mit Bildhauerarbeit und Fünftlihem Schnigwerk verzierten Chorftühlen,
welche stalla genannt werden. Diefer Chor ift alfo durchaus nicht mit dem Mufif-
chore zu verwechfeln, worunter der in einer Art Emporfirche angebrachte Drt ver-
ftanden wird, wo die Orgel fich befindet und die Mufifer fih verfammeln, wenn
bei feierlichem Gottesdienfte figurirte Aemter abgehalten werden, — Concha. Un-
ter Concha, conchula bematis, was bei den Tateinern unter dem Namen Absida
vorkommt, verfteht man die innerhalb des Presbyteriums gelegene Stelle, wo
gewöhnlich in einem Halbfreife die Chorfige oder Chorflühle für die Priefterfchaft
angebracht find, und im äußerften Theile gegen den Altar der erhöhte Sig (Ca-
thedra) für den Bifchof fich befindet, daher oft auch das Wort Presbyterium unter
diefer Bedeutung vorkommt, Nach Einigen fo bezeichnet, weil diefer Theil der
Kirche größtentheils in ovaler Form gebaut ift, und mit dem Hintertheile eines
Schiffes, worauf ſich die Steuermänner befinden, große Aehnlichfeit hat; nach
Andern von ber fchnerfen- oder mufchelartigen Wölbung CConstit. apost. 1. 2. ©.
Kirche, als Gebäude, 115
61. Evagr. hist, eccl. lib. 4. c. 31.). Wahrfhpeinlich daher, weil man bei dem
Baue der Kirchen die uralte Sitte, den Bifhof im Kreife feiner Priefterfchaft zu
fehen, beibehalten wollte. — Thurm. Ein in die Höhe emporfteigendes, meiftens
einen Beftandtheil der Kirche ausmahendes Gebäude, worin die Glocken fi be—
finden, daher campanile, turris campanilis genannt. Bevor die Gloden erfunden
und zum Gottesdienfte verwendet wurden, bedurften die Kirchen Feines Thurmes,
Als Tange Zeit nach ihrer Einführung jede Kirche nur eine Glode von geringerem
Umfange hatte, fo wurde auf dem Giebel der Chorfeite eine Art hölzernes Ge—
bäufe errichtet und darin die Glocke angebradt. Die gothifhe Bauart zeichnet
fih ſchon durch fühn in das Firmament emporftrebende Thürme aus. Diefe neue
Bauart bot dem Mittelalter eine fehr günftige Gelegenheit dar, an den Haupt-
fronten der Kirchen Meifterwerfe der Architektur zu fhaffen, und diefem edlen
Streben verdanken die riefenhaften Thürme, welche fih noch bis auf unfere Zeit
erhielten, ihr Dafein, Jedermann muß der Anfiht des Berfafferd vom „Geift
des Chriſtenthums“ beipflichten, wenn er fagt, daß auch die fhönfte Gegend
nackt, kalt und leblos bleibt, wenn nicht in derfelben ein Ländlicher Thurm gegen den
Himmel ragt. Man errichte dagegen in der wildeften und rauheften Gegend einen
noch fo unbedeutenden Kirchenthurm, und Troft fehrt bei feinem Anblicke in das
menschliche Herz ein. Diefen Worten fann noch beigefügt werden, daß eine Kirche,
wenn fie fih durch ihre Bauart noch fo fehr auszeichnet, ohne Thurm bei weitem
den erbauenden und erhebenden Eindrud nicht mahe. Größere Kirchen hatten
gewöhnlich drei Thürme: zwei über dem Haupteingange und den Glockenthurm.
Indeß gab es auch in der Vorzeit noch Kirchen, welche mehrere hatten, fowie man
auch viele allein ftehende hohe Thürme aufgeführt Hat. Auf der Spige des Thurmes
iſt gewöhnlich ein Kreuz, das Sinnbild unferes Heiles, oft auch ein Hahn als Symbol
der Berfündigung des Evangeliums, oder, wie andere Liturgiften wollen, der hrift-
lichen Wachſamkeit (f, Kreuz, als Bild). Im Laufe der Zeit wurden auch nebft
den ſchönſten architektonifchen Verzierungen auf denfelben Uhren angebracht. Vom
Thurme ertönet die Stimme der Kirche in der Glocke, und Iehrt den Menfchen
den Morgen, Mittag und Abend als Heilige Zeiten zu betrachten. Der Zeiger
an der Kirchenuhr mahnt uns ernfllih, wie die Zeit übergeht in die Ewigkeit
und alles Endlihe und Irdiſche verfhmwindet. Wozu alfo die hoben Thürme ?
Man fann von ihnen aus Umfhau halten. Das ift oft für die Gemeinde wichtig,
Sie dienen dazu, daß der Ruf der Glocken und der Stundenfhlag weithin ge-
tragen werde. Auch das ift von Belang. Doch Fönnen fie au als die Zeige-
finger der Religion gelten, womit diefe alles Volk umher nach Dben weifet. Und
wenn der Thurm zu Babel ein Zeichen war der Verwirrung und Völfertrennung,
jo find unfere Thürme ein Zeichen des Umwohnens von Chriften, die da ihre ge—
meinfame Niederlaffung haben, und vereint find im gemeinfhaftlihen Glauben,
in der Einen und gleichen Liebe und Hoffnung (Hirfcher, Erörterungen. 2. Heft). —
Presbyterium. Diefer Ausdruck ift griechifchen Urfprunges, und bezeichnet in
der Kirche den Raum unmittelbar vor dem Hocaltare, welcher ausfhlieglich für
die Priefter beftimmt ift, die dafelbft bei der allerheiligften Handlung fungiren.
Das Presbyterium ift darum gewöhnlih um einige Stufen höher gelegen, als
Der übrige Theil der Kirche, damit das anwefende Volk dasjenige, was in dem-
felben von der Geiftlichkeit vorgenommen wird, bequem fehen koönne. Auch ift
daffelbe von dem Schiffe durch ein niederes Gegitter, die fogenannten Ranzellen,
abgeſchloſſen. Das Presbyterium fommt bei den Liturgiften noch unter mehreren
Namen vor, als: Chor, Anu«, absis, sanctuarium, corona, sancta sanctorum,
capitium. Sancta sanctorum wird es ob der allerheiligften Handlung, die dort
ftattfindet, geheißen. Der Name Inu (suggestus, ascensus) erinnert an die Bau-
art, vermöge welcher man vom Schiffe eine oder mehrere Stufen aufwärts zu
fleigen hat, weil e8 höher als das Schiff liegt; Yvosaormguov, weil der Hoch-
8*
116 Kirche, als Gebäude.
altar in demfelben fich befindet, und capitium, weil bei den Kirchen in Kreuzes—
form das Haupt des göttlichen Heilandes in demfelben ruhet, Den Laien war
der Zugang dahin ſtets firenge verboten, weßwegen biefem Orte auch der Name
adytum beigelegt wurde, was nach feinem Urſprunge geradezu einen unzugäng-
lichen Drt beveutet, Cancellos, qui circumstant altaria, presbyteri tantum et cle-
rici ingrediantur, neque ullo modo ibi saeculares, maxime dum divina mysteria
celebrantur, admitti debent, idque saepe patres admonent, et apostolica decreta
praescribunt (Merati, Novae observ. p. 1. tit. 20. n. 5.). Prohibendum quoque
est, ut nulla foemina ad altare praesumat accedere, aut presbytero ministrare, aut
intra cancellos stare sive sedere (Cap. 1. de cohabit. mulier. 32.).— Diaconicum,
ein Ort; worin man bie heiligen Gefäße, die priefterlichen Gewänder und andere
firchliche Gegenftände aufbewahrte, und worüber die Diaconen die Aufficht führ-
ten (f. Diaconicum), Daß ihnen die Aufficht über die Kirchenſchätze anvertraut
war, bezeugt der Dichter Prudentius, wenn er von dem Diacon Laurenz alſo
ingt:
ns Claustris sacrorum praeerat,
Coelestis arcanum domus
Fidis gubernans clavibus,
Votasque dispensans opes.
Das Diaconicum darf jedoch nicht mit Sacrarium verwechfelt werben, worunter
man in ber älteften Zeit den Ort verftand, wo ausſchließlich die Euchariſtie für
die Kranken, die Opfergaben der Gläubigen und die Eulogien aufbewahrt wur-
den. Sept verfiehen wir unter Sacrarium (piscina sacra, altteutſch Kirchenfergger)
eine in die Erbe gemauerte Deffnung, welche die Beftimmung bat, gefegnete und
geweihte, zum Gottesdienſte aber nicht mehr verwendbare Sachen in fih aufzu-
nehmen, Die Griechen haben heutzutage Fein Diaconicon, weil fie die heiligen
Gefäße und Kleidungen in eigenen Gebäuden oder fonft an ficheren Orten ver-
wahren, und fi) im Presbyterium Cbema) zum Gottesbienfte anfleiven (CE. Bona
rer.lit. 1.1. c.25.). Statt des ehemaligen Diaconicum haben die Griechen jest auf
der rechten Seite des Altars einen Credenztifch (ſ. d. A). Zur Iinfen befindet fich ein
fleiner Altar, prothesis genannt, — Sacriftei (sacristia, secrefarium, mutatorium,
sacrorum custodia, camera paramenti, Öefäßfammer, salutatorium) ift der Haupt-
fache nach daffelbe, was die Griechen Diaconicon nennen, Der gelehrte Carbinal
Bona leitet das Wort sacristia von dem Jateinifchen secretarium ab. Secretarium
hieß aber in der Vorzeit au) der Saal, worin fih der Biſchof mit feinem Pres—
byterium zu Eirchlichen Berathungen verfammelte, Nach anderen Liturgiften ſtammt
diefes Wort von sacris stare ab, weil man fi) an diefem Orte zur Verrichtung
der heiligen Handlungen vorbereiten und bei Anlegung der Paramente fiehen
muß. Die Sacriftei hieß auch Salatatorium , weil darin der Bifchof die Begrüßung
derjenigen empfing, die fih vor dem Beginne des heiligften Opfers feinem Ge—
bete empfahlen (Bona lib. 1. c. 24. rer. lit. p. 327.); und Metatorium, weil ber
Bifchof nach abgehaltenem Pontificalamte in derfelben auszuruhen pflegte. In
der Vorzeit fließen die Wohnungen der Biſchöfe und Geiftlihen gewöhnlih an
die Kirchen und hatten ftetS ein befonderes Gemach, worin die heiligen Gefäße,
die Bücher, die Tücher und Ornamente aufbewahrt werben Fonnten, Dft waren
auch zweierlei Gemächer vorhanden, woraus ſich das Diaconicum majus und minus
erflären läßt. Im Mittelalter Hatten die Kirchen Feine Sacrifteien wie in unferen
Tagen, fondern eine in der Kirche befindliche Capelle vertrat deren Stelle. Der
Priefter Eleivete fih am Credenztiſche an, der ſich ſtets auf der Epiftelfeite befand;
der Bifchof that Diefes, wie es auch noch gegenwärtig gefchieht, am Altare. In
der Sacriſtei befindet fih gegenwärtig oft ein Altar, vor welchem die Priefter
ihre Gebete vor und nach dem heiligen Opfer verrichten, ein Gefäß zum Hände-
wofchen für den Liturgen, ein ober mehrere Beichtftühle, ein gefchloffener Be—
a ee Zu Me
Kirche, als Gebäude, 117
haͤlter für das Weihwaſſer und die zur Aufbewahrung der Firhlihen Paramente
und Gefäße erforderlichen Käſten und Schränfe nebft einer Wandtafel, worauf die
Fundationsmeffen verzeichnet find. — Emporfirde [ Yrreooov) nennt man die
in erhöhten Richtungen an den inneren Seitenwänden der Kirche angebrachten
- Galerien, von welchen man auch dem Gottesdienfte in der Kirche beiwohnen kann.
Urfprünglih waren fie nur über dem hinteren Theile des Schiffes errichtet. Bald
wurden fie aber innerhalb des ganzen inneren Rirchenraumes angebracht und auf
das Schönfte verziert, Diefelden waren auch den Alten nicht unbefannt, nur
dienten fie bei ihnen dem weiblichen Gefchlechte zum Betorte (Gregor. Nazianz.
_ carm. 9. Evag. hist. eccles. lib. 4. c. 31.). Der Zwed diefer Emporbühnen ift,
darin das Volk, welches im unteren Kirchenleibe nicht Platz findet, unterzubringen,
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daher diefelben Heutzutage, wenn der Raum bei einer Kirche für die Chriftgläu-
bigen zu befchränft und enghaltig wird, oft nachträglich errichtet und angebaut
werden. Iſt ein Theil diefer Emporkirchen für fih zu einem Gemache abgefperrt,
fo nennt man ihn auch oft Dratorium, obgleich auch jedes andere Gemach, wel-
ches Fenfter in der Kirche Hat und dazu beftimmt ift, Perfonen während des Got-
tesdienftes aufzunehmen, Dratorium heißt. — Gitter zwifhen Schiff und
Presbyterium. Diefes Gitter (Cancelli, scamna, Altarfchranfen, Raftell, Do—
zale, Pogium und Balluftrade genannt) fcheidet das gläubige Volk von der Stätte
der Priefter, verhindert aber feineswegs, an dem Gottesdienfte Theil zu nehmen,
Hieson leſen wir in der Kirchengefchichte von Eufebius lib. 10. c. 4. Cancellis
ligneis artificiosa caelatura fabrefactis ita circumdedit, ut admirabilem aspectum
videntibus exhibeat. Diefes Gitter war entweder von Holz oder von Eifen und
Stein, in der Mitte mit Thürflügeln verfehen, die mit Schloß und Riegel ver-
ſperrt werden fonnten, um unberufene Perfonen von dem Zutritte in's Presbyte-
zium hintanzuhalten (Merati, 1. c.). Daffelbe war im 13ten Jahrhunderte faft
überall im Gebrauch. In der Nähe diefer fogenannten Kanzellen war in ber
älteften Zeit au ein Vorhang angebracht, der während der feierlichen Liturgie
vor der missa Catechumenorum, oder von der Epiftel und dem Evangelium an big
zur Austheilung der Eudhariftie vorgezogen wurde, weßwegen bei diefen Gitter-
thüren die unteren Elerifer ſich aufftellen mußten, um den anfommenden Diaconen
die Borhänge aufzuziehen (Sozom. I. E, IX. 2. Chrysost. hom. 3. in epist. ad
Ephes.). Bei den Griechen wird dieß noch beobachtet, und der Ort vor diefen
Vorhängen von ihnen Bjua avayyoorov, Bema der Lectoren genannt. Diefes
Ehorgegitter ift Heutzutage allgemein üblich und größtentheils im Schiffe der Kirche
demfelben entlang eine oder zwei Staffeln angebracht, damit die Gläubigen bei
Empfang des HI. Abendmahles nicht auf der Erde knieen müſſen. — Pläge der
Männer und Frauen. Diefe waren urfprünglich von einander durch hölzerne
Wände getrennt, daher die anoftolifchen Conftitutionen (lib. 2. c. 57.) den Dia-
eoniffen den Eingang der Weiber und den Thürhütern (ostiariis) den Eingang der
Männer zu beobachten aufgetragen haben Cofr. Cyrill. Hierosolym. procatech. lib.
2. c. 61.), Man foll fie abtheilen, die Männer follen bei den Männern und die
Weiber bei den Weibern fein. In einigen Kirchen war der Betfland der Weiber
über den Pfeilern der Kirche in einer Art Emporfirche angebracht, in andern
bloße Berfihläge, welche die Site der Männer und Weiber von einander ab-
fonderten. Defgleihen waren die Jungfrauen von den Gefhwächten gefchieden,
and die Kinder ftellten fih nach dem Gefchlechte bei ihren Eltern auf. Die Ka—
techumenen der zweiten und dritten Claffe, und die Pönitenten der dritten und
vierten Claſſe hatten ihre Plätze im Schiffe. Die Männer befanden fih auf der
xechten, die Weiber auf der Iinfen Seite. Heutzutage ift das Schiff ausfchliegend
für das Volk beftimmt. In manchen Landfirchen ift dag männliche von dem weib-
lichen Geſchlechte noch getrennt. Bei den Griechen war das Schiff für den Clerus
und die Monche beftimmt, Hier faßen fie, fangen und verrichteten ihre yorzüg-
118 Kirhenagende — Kirchenamt.
lichſten Funetionen. Gegenwärtig befindet fih darin nur das männliche Gefchlechtz
das weibliche figt an einem eigenen Orte, von wo aus es die Ceremonien durch
ein Gitter fieht, Bei den Armeniern treten die Frauen durch den Haupteingang,
die Männer durch eine Nebenthüre in das Schiff. Beide find durch eine hölzerne
Balluftrade von einander getrennt (Cefr. Abbe Migne, Gefchichte ver Miyfterien
und Ceremonien der hriftlichen Kirche, Paris 1810). — Lettner wird das Pult
genannt, auf welches man das Evangelien- und Epiſtelbuch Iegte, welches bei
gottesdienftlichen Verfammlungen von dem Diacon und Subdiacon geöffnet wurbe,
um daraus die Epiftel und das Evangelium des Tages abzulefen (Cyprian.
epist. 34. al. 39. Ordo Rom. II.). *ettner ift der altteutfche Ausdruck. Die übri-
gen Benennungen, welche bei den Liturgiften vorkommen, und diefen Pult be-
zeichnen, find: Lectionarium, lectricium, lectrum, lectreolum, pulpitum, analogium
graduale. Dafjelbe war gewöhnlich an einem erhöhten Plate angebracht, und
wurde bei den Griechen in der Negel außwv (von Avaßaırw) und von den La—
teinern absida gradala genannt, weil man einige Stufen hinauffteigen: mußte,
Beim Auffteigen des Diacons, Subdiacons und des Lectors pflegte man eine
Antiphone zu fingen, die deßwegen gradale oder graduale hieß, unter welchem
Namen fie noch in unfern jegigen Meßbüchern vorkommt, Weber die Zahl diefer
Pulte hat man nichts Beſtimmtes. In vielen Kirchen war nur eines, in andern
zwei, wovon eines zur rechten, das andere zur linken Stufe fland; in einigen
Kirchen war ein drittes, worauf das Buch der Prophetien lag, Urfprünglich
waren biefelben von Holz, fpäter von Metall und Marmor verfertigt, und nicht
felten mit den foftbarften [ymbolifchen Verzierungen ausgeftattet, Aus diefem Ambon,
von welchem die Bifchöfe öfters zu predigen pflegten, foll unfere jegige Kanzel
(ſ. d. A.) entftanden fein (Schmid, Liturgik. III. Bd. S. 588). — Communica-
bant. Der Ort, wo das Volk die hl. Communion empfing, war das Gitter
zwiſchen Schiff und Presbyterium. Ueber den dabei befolgten Ritus in alter
und neuer Zeit ſ. Abendmahlsfeier. In Betreff der Communion der Cleriker
verordnet das römiſche Rituale, daß dieſelben an den Stufen des Altars com—
municiren, oder, wenn es möglich iſt, innerhalb des Altargitters von den Laien
hiebei getrennt ſein ſollen. Andere, z. B. das von Straßburg und Trier, ge—
bieten, es ſollen die Laien am Altargitter, die Geiſtlichen innerhalb deſſelben
communieiren, und dieß iſt jetzt die faſt durchaus herrſchende Uebung. In den
meiſten Kirchen wird heutzutage vor den Communicanten auf dem Altargitter
oder der eigens hiezu beſtimmten Communionbank ein reines leinenes Tuch
(mappa communionis, Speistuch) ausgebreitet, welches die Communicanten wäh—
rend des Abſpeiſens emporheben, um die hl. Hoſtie für den Fall, daß ſie durch
Zittern des Prieſters oder einen andern Zufall hinabfallen ſollte, damit zu er⸗
halten. Vom Abſpeiſen führt das Gitter zwiſchen dem Schiffe und Presbyterium
auch den Namen Speisgitter. Gegenwärtig ſind in den meiſten großen Kirchen
eigene Altäre (Speisaltäre genannt), welche mit einem eigenen Gitter einge—
ſchloſſen ſind, wo den Chriſtgläubigen außer der hl. Meſſe die hl. Communion
gereicht wird. Doch dieſe Praxis iſt nicht überall gleich. [Brauner.]
Kirchenagende, ſ. Agende und Ceremoniale.
Kirchenamt. J. Begriff, Ein Kirchenamt (officium ecclesiasticum) be—
zeichnet das Recht und die Pflicht eines Geiſtlichen, die Kirchengewalt in einem
beſtimmten Verhältniſſe und Umfange und vermöge einer dazu ertheilten feſten Anftel-
lung auszuüben. Die mit dem Amte unter kirchlicher Auctorität ſtändig verbundene
Dotation heißt die Pfründe (beneficium ecel.), welche als die weltliche Seite des
Kirchenamtes (temporalia officii) von der geiftlichen Seite deffelben (spiritualia officii)
wohl zu unterfcheiden ift (f. Beneficium eccl. Bd. I. ©. 801 ff.). Zwar im
eanonifchen Rechtsbuche findet fich officium und beneficium durchaus gleichbedeutend,
und legterer Ausdruck fogar häufiger gebraucht, weil im Mittelalter nach einer
u
4
Kirchenamt. 119
mißbräuchlichen Entwicklung ſtatt der an das Amt geknüpften Functionen vielmehr
der Inbegriff des mit dem Amte verbundenen Einkommens hervorgehoben wurde.
Auch heutzutage noch werden Amt und ‚Pfründe dem Namen nach als fynonym
gebraucht, obgleich im Begriffe wefentlih geſchieden. Bloße Commenden, zeit⸗
üche Vieariate und Expoſituren, ſog. Manualpfründen oder auf willkürlichen
Widerruf übertragene Functionen find feine eigentlichen Kirchenämter (ſ. Bene-
ficium a. a. O. ©. 802); eben fo wenig die von Privaten gemachten Stiftungen
von Meffen oder andern geiftlihen Andachten und Verrichtungen, fo lange nicht der
Bifchof diefelben mittelft fürmlicher Inveſtitur zu einem fländigen Kirchenamte
(itulus) erhoben hat. Der Inbegriff der Befugniffe eines Kirchenamtes heißt die
Amtsgewalt (majoritas), welcher der kirchliche Gehorſam der Untergebenen (obe-
dientia canonica) correfpondirt. Die mit einer folden Amtsgewalt betrauten
Perfonen, Kirchenobere (superiores ecclesiastici), bilden zufammen den Kirchen—
beamtenftand (f. Hierarchie). U. Gattungen der Kirhenämter, Man unter-
ſcheidet an den Rirchenämtern 1) folde, die fih auf die Verwaltung der HI. Hand=-
Jungen beziehen; 2) folhe, mit welchen eine äußere Jurisdietion verbunden iſt;
3) Kirchenämter, welche nur an Kloftergeiftliche oder ausſchließlich an Weltgeift-
liche verliehen werden; endlich 4) ſolche, deren zwei oder mehrere unter gewiffen
Borausfegungen in Einer Perfon vereinbar find, oder einer folchen Vereinigung
widerfireben. Ad 1. Die meiften Kirchenämter beziehen fih auf die Verwaltung
der HI. Handlungen und heißen daher officia sacra im weiteren Sinne, Sie be>
ſtehen entweder in Kirhenämtern, zu deren Ausübung nur die höheren Weihen
befähigen, und beziehungsweife das Sarerdotium erfordert wird (officia sacra im
engeren Sinne), oder in Rirchendienften, welche ehemals die hierauf wirklich be—
pfründeten Minpriften verrichteten (officia mere ecclesiastica oder communia),
welche aber in der Folge größtentheils an Laien (Mefner, Euftoden, Altar-
diener) übergegangen find, und die Natur eigentlicher Rirchenämter verloren haben,
Iſt mit einem officio sacro sacerdotali zugleich die Seelforge (cura animarum)
verbunden, fo heißt es ein Seelforgamt oder Curatbeneficium Cofficium duplex
oder curatum); außerdem, es mag an ein officium sacrum oder commune gefnüpft
fein, ein einfaches oder Incuratbeneficium (Cofficium non curatum oder simplex).
Diefe Bezeichnungen finden ſich unter andern c. 38. X. De praeb. III. 5, und Extra-
vag. comm. c. 11. De praeb. III. 2. Erftere Aemter verwalten die Pfarrer und
andere für die Seelforge inveftirte Geiftliche; Ießtere aber die an Stiftern, Hof—
kirchen ꝛc. fländig präbendirten Diaconen und Subdiaconen als ſolche; die ehe-
mals ausfchlieglih für den Chordienft angeftellten Canoniker; die fog. einfachen
Beneficiaten, d. i. Priefter, welche lediglich einige geftiftete Wochenmeffen u, dgl.
zu perfolviren haben, zur Seelforge aber durch ihre Pfründe nicht verpflichtet find.
Eooperatoren und andere zur Aushilfe in der Seelforge zeitlich angeftellte Geift-
liche find, weil nicht canonifch inveftirt, Feine Inhaber, fondern bloße Verwefer
von Kirhenämtern. Ad 2, Einige Rirchenämter beziehen fich auf die äußere Ver-
waltung und die Handhabung der Jurisdiction. In diefer Hinficht unterfcheidet
‚ man höhere Kirchenämter und geringere (c. 8. X. De rescript. 1. 3; 0.7. $ 2. X.
' De elect. I. 6; c. 28. X. De praeb. III. 5.), und Aemter, fchlechtweg fo genannt,
' Einige Aemter nämlich enthalten eine wirkliche Jurisdiction auf eigenen Namen
. (Proprio jure), und diefe heißen höhere Aemier Cofficia majora) oder Prälaturen
) (praelaturae), Würden (dignitates). Nach ftreng hierarchifher Ordnung gehören
dahin bloß der Papft, die Patriarchen, die Erzbifchöfe und Bifchöfe (praelati primi-
| genii); mit der weiteren Entwiclung der Kirchenverfaffung aber haben dur Pri-
vilegien und Herfommen auch die Cardinäle, die apoftolifchen Legaten und Nun-
\ tien, die Drdensgenerale und Aebte ihre Stellung unter den Prälaten erhalten
) @praelati secundarü), fowie auch die Pröpfte und Decane der Stifter den Dig-
nitäten angereiht find, Im früherer Zeit, wo die Capitel nebft dem Propfte und
— ——
‚420 Kirhenamt.
Decan noch andere höhere Stellen hatten (|. Capitelwürben, Bd. I. ©, 327),
wurden auch biefe mit den Namen dignitates (0.8. X. De constit. L 2; 0.6. X.
De consuet. I. 4; c. 28. X. De praeb. Ill. 5.) oder personatus (ce. 8. X. De constit.
1.2; 0.8. X. De rescript. I. 3; c. 13. 28. X. De praeb. III. 5.), und nicht felten
promiscue bezeichnet, Andere Aemter haben feine eigene, fondern nur eine über-
tragene Jurisdietion (jure mandato oder delegato); man nennt fie Aemter Cofficia)
ſchlechthin. Sie fiehen zwiſchen den höheren und niederen Aemtern mitten inne,
zeichnen fich aber vor den Iegtern durch ihre übergeordnete Stellung als relative
3
|
Prälaturen aus, Bon der Art find die Aemter der bifchöflichen Generalvicare, {
Dffieiale, Ruraldecane, früher auch der Erzpriefter, Archidiaconen, Scholafter ıe.,
welche jedoch jeßt, wo fie etwa noch dem Namen nad) beftehen, größtentheils bloße
Perfonate find. Niedere Aemter endlich Cofficia minora) find ſolche, denen gleich-
falls feine eigene Jurisdietion, aber auch Fein äußerer Vorrang inhärirt, Ad 3.
Gewiffe Aemter werden ausschließlich Drdensgeiftlichen (off. regularia), andere
nur Weltgeiftlichen Coff. saecularia) verliehen (Sext. c. 5. De praeb. III. 4; Conc.
Trid. Sess. XIV. c. 10. De ref.). Im Zweifel fpricht die Nechtsvermuthung immer
für das Dafein einer Säcularpfründe, weil die Negularbeneficien fpäteren Ur-
ſprungs find. Es können aber Kirchenämter durch den Willen des Stifters zu
Regularpfründen gemacht fein, oder, wie Abteien, Priorate ꝛc., ſchon ihrer Natur
nad den Drdensämtern angehören ; oder endlich urfprünglich zwar Säcularbene-
fieien gewefen, nachhin aber durch Einverleibung, Verjährung oder fonftwie blei-
bend an Klöfter übergegangen fein, Ad 4. Die weitere Eintheilung der Kirchen—
ämter in verträgliche oder vereinbarliche (officia compalibilia), und unverträgliche
oder unvereinbarliche Coff. incompatibilia) gründet fih auf den Grundſatz der
Kirche, daß der Inhaber eines Kirchenantes in der Regel Fein zweites an fich
nehmen dürfe, fohin die Vereinigung mehrerer Rirchenämter und deren Erträgniffe
in Einer Perfon unftatthaft fei. Hierüber f, den Art; Cumulation, Bd. Il. ©,
941 f. II. Die Errichtung Cereclio) eines neuen Kirchenamtes kann recht—
mäßig nur von der Firchlichen Gewalt ausgehen, Episcopate, als deren Site
nur anfehnlihe Städte gewählt werben follen Ce. A. 5. Dist. LXXX; c. 53. c.XVl.
qu. 1.), wurden in früherer Zeit regelmäßig durch den Metropoliten mit Zuziehung
des Provincialeoneils errichtet Ce. 50. c. XVI. qu. 1), Seit dem achten Jahr⸗
hunderte geſchah dieß, namentlich wo römifche Miffionäre das Chriſtenthum ein-
geführt, unter Mitwirkung des Papftes, und vom eilften Jahrhunderte an ward
die Errichtung von Bisthümern ein ausfchließliches Recht des letzteren (ſ. Causae
majores. Bd, II. ©, 418). Die niederen Kirchenämter werden vom Bifchofe
inftituirt Ce. 11. c. XVI. qu. VII; c. 3. X. De eccl. aedif. II. 48; Conc. Trid. Sess.
XXI. c. 4. De ref.), In beiden Fällen aber ift jest auch die Zuflimmung und
beziehungsweife die Mitwirkung der Staatsregierung geſetzlich. Es begreift aber
die Errichtung eines Kirchenamtes zwei Handlungen, die ſich auf die zwei noth-
wendigen Beftandtheile jedes Kirchenamtes (Amt und Pfründe) beziehen. Voran
geht nämlich die Errichtung oder Stiftung der Pfründe Cfundatio beneficii); ſ. d.
Art, Beneficium, Bd. 1. S. 803. Erft nachdem der betreffende Kirchenobere
fich überzeugt hat, daß die Stiftung nothwendig oder zum Wohl der Kirche, und
ohne Beeinträchtigung der Nechte Dritter gemacht und hinreichend dotirt iſt Ce. 36.
X. De praeb. III. 5; c. 8. X. De conseer. eccl. III. 40), kann die zweite, aber die
Haupthandlung, nämlich die Errichtung des Kirchenamtes Cconstitutio beneficii)
oder die Mebertragung der dem neuen Benefieiaten obliegenden geiftlichen Func—
tionen (spiritualia) vorgenommen werben, IV. Ein Kirchenamt kann nur durch
eanpnifhe Verleihung rechtlich erworben werden; f. die Art, Eollation,
Bd. 11. ©. 663, und Provisio canonica, und dafelbft die verfchiedenen For-
men der Provifion, Eine Veränderung aber kann ein fohon errichtefes Kirchen-
amt 1) nur nach canonifcher Beftimmung, übrigens 2) auf mehrfache Weife
Kirche namt. 121
erleiden. Ad 1. Grundfag des canonifchen Rechtes ift, daß ein einmal errichtetes
Kirhenamt in feiner Integrität erhalten werden foll (c. 8. X. De praeb. II. 5.).
Daher ift eine Veränderung (innovatio, [.d.4.), wofür jede Abweichung von dem Stif-
tungs zwecke gilt, nur ausnahmsweife zuläffig. Dergleihen Ausnahmsfälle, wo—
nah Stiftungen zu beflimmten Zweden abgeändert, die Zahl fundirter Meffen
redueirt, einfache Beneficien zu Gunften unbemittelter Pfarrkirchen unirt werden
dürfen, find nur auf wahre Nothfälle befhränft, wo nämlich der befondere Stif-
tungszweck in der Folge felbft aufgehört hat, oder unter den gegebenen Umftänden
‚nicht mehr errichtbar ift, oder wo wibrigenfalls der ſeelſorgliche Fortbeftand der
Kirche überhaupt, oder endlich wo das nöthige Ausfommen des Geiftlihen höchſt
gefährdet würde (arg. Conc. Trid. Sess. XXI. c. 5. 6. Sess. XXIV. c. 4. Sess. XXV.
€. 6. De ref.). Ueberhaupt Fann die Veränderung eines Kirhenamtes nur unter
denfelben Boransfegungen ftattfinden, welde zur Errichtung eines folden erfor-
dert werden, Außer der nachgewiefenen Nothwendigfeit oder des augenfcheinlichen
Nugens für die Kirche (c. 33. X. De praeb. II. 5.) ift auch die Vernehmung aller
dabei Betbeiligten nothig (c. 9. X. De his quae fiuni a prael. III. 10; Conc. Trid.
Sess. XXI. c. 4. 5. 7. De ref.), da die Rechte Dritter möglichft gewahrt bleiben
follen , weßhalb ihnen bei allenfallfigem Widerfpruche die Befchreitung des Nechts-
weges unbenommen ift, ohne daß übrigens ihr Einfpruch einen Sufpenfiveffeet
bat, der die Thätigfeit des Bifchofes Hemmen könnte. Jede derlei Veränderung
Tann nur vom Bifchofe, der Hiebei an die Zuftimmung des Capitels gebunden ift
G. Conſens des Eapitels, Bd. I. S. 817), und bei Episcopaten und Prä-
laturen vom Papfte (c. 48. 49. c. XVI. qu. 1), und heutzutage in allen Fällen
nur mit Bewilligung und Mitwirfung der betreffenden Staatsregierung vorgenom-
men werden, Ad 2. Eine folhe Veränderung aber betrifft entweder nur die
Pfründe (f. Beneficium, Bd. 1. ©. 804 f.), oder au das Kirchenamt. Ber-
änderungen der letzteren Art treten ein: a) durch Vereinigung, b) durch Einver-
Teibung, c) durch Theilung, d) durch Abpfarrung. Zua) Bereinigung (unio)
ift die bleibende Mebertragung zweier (oder mehrerer) Kirchenämter an Einen
Deneficiaten, fowohl zur Verwaltung des Amtes, als auch zum Bezuge der Ein-
fünfte beider (ec. 3. $ 1. c.X. qu. Il; c. 48. 49. c. XVI. qu. I). Diefe Bereini-
gung ift entweder eine unio aequalis oder inaequalis. Eine unio aequalis oder per
aequalitatem ift da, wo zwei bisher. getrennt beftandene Kirchenämter fortan in
der Art vereiniget werden, daß die Nechtsverhältniffe beider vollftändig erhalten,
und felbft ihre Namen beftehen bleiben (c. 33. X. De praeb. II. 5; c. 1. X. Ne
sede vac. III. 9.). Waren beide Aemter Patronatsbeneficien, fo geht durch die
Bereinigung per aequalitatem weder auf die eine noch auf die andere das Pa-
teonatrecht verloren, fondern es wird in der Regel der Patron der einen Pfründe
nunmehr Eompatron (ſ. d. A.) des anderen mit vem Rechte alternativer Präfentation.
Ebenfo, wenn der Inhaber der unirten Kirchenämter durch Wahl ernannt wird, neh-
men an diefer alle ftimmberechtigten Mitglieder beider vereinigten Kirchen Theil,
Eine unio inaequalis aber kann auf zweifache Weife entftehen, entweder durch Ber-
ſchmelzung zweier früberhin felbftftändiger Kirchenämter, fo daß das eine in dem
anderen ganz und gar aufgeht (unio per confusionem); oder durch Unterordnung,
fo daß beide zwar hinfichtlich der Verwaltung als zwei von einander verfehiedene
erhalten werben, dabei aber ein Abhängigfeitsverhältniß des einen von
dem anderen rechtlich flatuirt ift (unio per subjectionem). Diefe Art der Union
findet befonders bei Pfarreien Statt, wo denn die eine Kirche fofort gleichfam vie
Haupt oder Mutterfirche (ecclesia matrix), die andere aber die fubordinirte oder
Tochterkirche Cecclesia filia) wird. Es kann aber diefe Subjection felbft wieder
eine abfolute fein, fo dag der Pfarrer der Mutterfirde den Gottesdienſt und die
Seelforge der Filialgemeinde durch feinen von der Hauptfirche aus ereurrirenden
Hilfsgeiſtlichen (cooperator) ausübt (subjectio absoluta); „der eine relative, wenn
122 Kirhenamt,
die Filialgemeinde zwar für den regelmäßigen Gottesdienſt einen eigenen Geiftlichen
(vicarius, expositus) hat (f.d. Art, Erpofitur), an einigen gottespienftlichen Hand-
Yungen aber, für welche ihr Geiftlicher zugleich Hilfsgeiftlicher ift, in ver Mutterficche
theilnehmen muß (subjectio secundum quid). Zub) Einverleibung (incorpora-
tio) iſt die Vereinigung eines Kirchenamtes mit einer Dignität, einem Stifte, Kloſter
pder anderen geiftlichen Corporation, unter der für den Erwerber entflehenden
Berbindlichfeit, für die Ausübung der mit dem incorporirten Beneficum etwa
verknüpften Seelforge einen Stellvertreter (vicarius) zu unterhalten. Diefer
Vicar, welchen der Biſchof auf Präfentation des betreffenden Klofters beftellte
Ce. 6. c. XVI. qu. II; c.I.X. De capell. monach. II, 37.), oder das Stift felbft
einfegte und der Bifchof beftätigte (c. 30. X. De praeb. II. 5.), bezieht einen aus
dem Vermögen der einverleibten Pfründe zu entnehmenden und vom Bifchofe zu
beftimmenden firen Gehalt (Conc. Trid. Sess. VI. c. 7. Sess. XXI. c. 4. De ref.),
und follte fchon nach neuerem Decretalenrechte fländig angeftellt fein (c. 30. X.
cit. III. 5; Sext. c. un. De capell. monach. II. 18.), weßhalb fih noch das Tri—
dentinifhe Concil bemüßiget fah, gegen die früher übliche zeitliche Aufftellung
folder Verwefer einzufchreiten und die Einfegung derfelben lediglich dem bifchöf-
lihen Ermeffen anheimzugeben (Conc. Trid. Sess. VI. c. 7. De ref.), Das Wort
„Sinverleibung, incorporatio*, ift zwar noch den Deeretalen und dem Triventinum
fremd, und dafür durchweg „Vereinigung, unio* gebraucht; allein die Eigenthüm—
lichkeit diefer Art der unio und ihre Differenz von Tegterer ift unverkennbar, und
durch die betreffenden Gefepftellen deutlichft ausgefprochen. Die Incorporation
unterfcheidet fich nämlich von der Union wefentlich dadurch, daß bei diefer Teßteren
das Amt fowohl als die Pfründe beider Beneficien vereiniget werden, die Ein—
verleibung aber bald nur auf die Einfünfte Cincorporatio jure minus pleno), z. B.
c. 6. c. XVI. qu. I., bald auf das Amt und das demfelben annere Einfommen ſich
bezieht Cincorporatio jure pleno), 3.8. 0. 3. $2. X. De privil. V. 33, bald noch
überdieß den Geiftlichen und die Gemeinde der incorporirten Kirche der jurisdictio
quasi-episcopalis des Stiftes oder der Abtei unterwirft Cincorp. jure plenissimo),
wie 3.8. 0.21. X. De privil. V. 33, Ein weiterer Unterfihied zwifchen Union
und Sneorporation befteht auch darin, daß unirte Kirchenämter mit dem Ableben
oder der Verfegung 2c. des Inhabers erlediget find, das incorporirte Kirchenamt
aber nie vacant wird, fo lange das Stift oder Klofter, dem es einverleibt ift,
befteht, fondern nur den Stellvertreter des Amtes wechfelt, Zu c) Eine Thei-
lung oder Trennung (divisio seu sectio) Eines Beneficiums in zwei ober meh—
rere Hinfichtlih des Amtes und der Einkünfte zugleich Co. 26. X. De praeb. III.
5.) findet gewöhnlich mit Vorbehalt beflimmter Ehrenrechte für die Mutterkirche
Statt (ec. 3. X. De eccl. aedif. III. 48; Conc. Trid. Sess. XXI. c. 4. De ref.), Iſt
das getheilte Kirchenamt eine Patronatspfründe, fo erwirbt der vorige Patron
auch auf die abgetrennte Pfründe entweder das alleinige Patronat oder das Com«
patronat (f. Patronatrecht), je nachdem das neue Kirchenamt ganz oder nur
theilweife aus dem DVBermögen der Stammpfründe dotirt wird, Die Theilung
eines Kirchenamtes, 3. B. einer Pfarrei, ift rechtlich motivirt durch zu weite Ent-
fernung einzelner Gemeinden, durch höchſt befchwerliche Communication, durch
bedeutend vermehrte Seelenzahl u. dgl. Doch ift der letzte Grund für ſich allein
noch nicht genügend, indem der aus dem Kirchenvermögen bepfründete Pfarrer in
diefem Falle angehalten werben fann, fo viele vom Bifchofe approbirte Hilfsgeift-
liche auf feine Koften beizuziehen, als das Bedürfniß der Pfarrei erheifcht (Cone.
Trid. 1.1), Zu d) Die bloße Abpfarrung (dismenbratio) wird häufig mit der
Theilung eines Kirchenamtes verwechfelt, aber mit Unrecht. Sie kann zwar aus
denfelben Gründen, wie die Theilung, veranlaßt werden, unterfiheivet fih aber
von diefer wefentlich dadurch, daß hier nicht aus und neben dem alten Kirchen-
amte ein neues errichtet, oder eine bemfelben angehörige Filiale oder Erpofitur
Kirhenbann — Kirchenbeſuch. 123
einer feldftfländigen Pfarrei erhoben, fondern der von feinem bisherigen
—“ abgetrennte Theil der Parochianen ſofort einer anderen bereits
beſtehenden, aber letzteren näher und günſtiger ſituirten Pfarrkirche eingewieſen
wird, V. Die Erledigung (vacatio, vacatura) eines Kirchenamtes, fo daß zu
einer neuen Befegung deffelben gefchritten werden kann und muß, erfolgt zunächft
dur den Tod des bisherigen Inhabers. Nur incorporirte Beneficien werden
begreiflich nicht mit dem Abfterben des actuellen Verwalter oder Vicars, fondern
erft mit dem Erlöfhen der Dignität, des Stiftes oder Klofters ıc., dem fie ein-
verleiht find, vacant. Außer dem Fall des Todes tritt die Erledigung eines
Kirchenamtes und des damit verbundenen Pfründeeinfommens für den zeitherigen
Beſitzer ein: 1) durch freiwillige Entfagung (ſ. NRenuntiation und Refig-
nation); 2) durch Verfegung auf ein anderes Kirhenamt (f. Translation
und Translocation); 3) dur Enthebung und Abfegung aus Strafe (f. De-
pofition und Privation). VI. Die Aufhebung oder Unterdrückung (sup-
pressio) eines Kirhenamtes fowohl in Anfehung der geiftlihen Verrihtungen als
der Einfünfte deffelben wird verfügt Ce. 12. X. De constit. I. 2. Conc. Trid. Sess.
XXIV. c. 15. De ref.), wenn die Stiftung wegen Mangel an Geiftlihen, vder
wegen erfolgter Verarmung, oder durch veränderte Zeitumftände ihren urfprüng-
lichen Zwed zu erfüllen außer Stande iſt. Dadurch, daß diefe Aufhebung durch
die Rirchenoberen felbft, und mit Zuziehung aller Betheiligten gefchieht, und nur
fo rechtlich geſchehen kann, unterfcheidet fie fi von der Verweltlihung, wodurd
die Unterdrüäfung firchlicher Anftalten und Aemter und die Einziehung ihres Ver-
mögeng zu Staatszwerfen einfeitig von der Stantsgewalt verfügt wird (Säcu-
larifation). [Permaneder.]
SKirchenbann, f. Bann,
Kirchenbaupflicht, f. Baulaft.
SKirchenbefuch. Unter Kirchenbefuh verfteht man die Berfammlung der
Ehriftgläubigen in den Kirchen, um den dafelbft flattfindenden gottesdienftlichen
Debungen zu beftimmten Zeiten beizumohnen. Der Befuh der kirchlichen Ver—
fammlungen ift fo alt, als die Kirche Jeſu ift, und hat mit der Predigt des
Evangeliums begonnen. Er ift bedingt dur die Stiftung der HI. Kirche felbft,
durch die vom Heilande ausdrüdlich angeordnete Predigt des göttlihen Wortes,
durch die Einfegung des neuteftamentlichen unblutigen Opfers der hl. Meffe,
durch die Ausfpendung der übrigen Heilsgeheimniffe, und endlich durch den Zweck
der wechfelfeitigen Erbauung, fowie durch die allgemeine Pflicht, zn welcher alle
Ehriften verbunden find, Gott zu ehren und ihren Erlöfer vor aller Welt zu
befennen. Sp weit wir in dem Andenken der Zeiten des Chriſtenthums zurüd-
gehen, fo finden wir alle Zeit, daß die Gläubigen ihren Gottesdienſt gemein-
ſchaftlich zu verrichten gefucht haben, Die riftlihen Gemeinden verfammelten
ſich ſchon unter den Augen der Apoftel, diefe hielten öftere Reden an fie, fie
ſpendeten ihnen die hl. Geheimniſſe aus, ſangen und beteten mit denſelben. So
hatten die erſten Chriſten einen Ort, unter dem Namen der Laien bekannt, neben
dem Tempel zu Jeruſalem, wo ſie zuſammen kamen; ſo verſammelten ſich die
Apoſtel zu Jeruſalem nah des göttlichen Meiſters Tode, Apg. 1, 13. — alſo
hatte Paulus in Ephefus den Lehrfaal des Tyrannus und in Troas einen Ober-
faal, Apg. 20, 7 ff. 19,9. Die Apoftel traten auf und Iehrten, die Ge-
meinde beiete, man hielt das Abendmahl des Heren, und Iegte etwas zum
Unterhalte der Dürftigen zufammen, Apg. 2, 42. Es waren alfo ſchon da-
mals DBorlefungen aus dem alten Teftamente, fpäter der Briefe der Apoftel,
die Erflärung vorgelefener Stellen, Pfalmodien und Einfammeln des Al—
mofens für die Armen, Theile des chriſtlichen Gottesdienftes, Am erſten
Wohentage kam Paulus mit der Gemeinde zum Brodbrechen (f. d. 4.) zu⸗
ſammen, Apg. 20, 7. 8, (ſiehe den Artikel: Kirche, als Gebäude), Als in
AR . Kirchenbeſuch.
ſpäterer Zeit die Gläubigen im Beſuche der kirchlichen Verſammlungen erkalteten,
ermuntert ſogar der hl. Paulus dieſelben durch Briefe dazu. „Verlaſſet unſere
Verſammlungen nicht” ſchreibt er an die Hebräer — „wie es manche zu thun
pflegen, ſondern ermahnet euch unter einander“ Hebr, 10, 25. Die Ueberzeugung
der Apoſtel von den Vortheilen des Kirchenbefuches war alfo fo groß, daß fie
ihre Berfammlungen fogar zur Zeit der graufamen Verfolgungen nicht unterlaffen
haben. Sie haben dazu abgelegene Orte, unterirdifche Gewölbe, heimliche Ge-
mächer gewählt, um von der Beobachtung ihrer Verfolger gefchüst zu fein, Der
hl. Martyrer Zuftinus, der im zweiten Jahrhunderte lebte, befchreibt in folgen-
der Weife den am Sonntage üblichen Gottesdienſt: „An dem nad) der Sonne be-
nannten Tage gefchieht eine Zufammenfunft Aller, fowohl derer, die in den
Städten, ald derer, die auf dem Lande wohnen, und dann werben die Denf-
würdigfeiten der Apoftel oder Schriften der Propheten gelefen fo Tange es fich
fügt. Wenn der Vorlefer aufgehört bat, fo gibt der Vorfteher Unterricht und
eine Ermahnung zur Nahahmung diefer fchönen Dinge, Dann ftehen wir Alfe
zufammen auf und beten, und wie ich fchon erzählt, nach geendigten Gebeten
werden dargebracht Brod, Wein und Waſſer; der Vorfteher betet und faget Dank
nach Vermögen, und das Volk flimmt ein, indem e8 Amen fagt. Dann wird
Jedem mitgeteilt von diefen Dingen, über welche der Dank gefprochen worden,
und den Abwefenden wird davon gefandt dur die Diaconen.” Schutzſchrift
n. 87. p. 146 edit. Calabr. Die Ueberfegung nad Stolfberg’s Neligionsgefchichte
Th. 8. S. 25 ff. Siehe Tertullian Apol. c. 39. 1. de pudieit. c. 14. 1. de unit.
eccl. et epist. ad Felicem. Den apoftolifchen Eifer, um den Chriften ven Befuch
der kirchlichen Verſammlungen zu empfehlen, finden wir bei allen Kirchenvätern,
deren Schriften auf ung gefommen find. Der HI. Ignatius in feinem Briefe an
die Ephefer n. 13. — eben derfelbe an die Gemeinde von Smyrna 4, 7, —
Der HI. Athanaſius Apol. 1. ad. Constantium. Aufer den Sonntagen wurde das
Feft ver Geburt Chriſti, Dftern, Pfingften, die Fefte der HI. Apoftel und Mar-
tyrer und fpäterhin die Jahrtage der Verftorbenen gefeiert, Gregor Naz. or. 32.
et Tertul. ad uxor. — Vergl. Räs und Weiß, Fefte des Herrn und ihre Feier in
der Fatholifchen Kirche. — Die erften Chriften vermochte alfo nichts von dem Be-
ſuche der Eirchlichen VBerfammlungen abzuhalten, Selbſt heidniſche Schriftfielfer
haben nicht ermangelt, von diefem Eifer der Chriften im Beſuche der Firhlichen
Berfammlungen Meldung zu thun, Lucian, oder der ihm fonft zugefchriebene
Dialog Philopatris: Ammian Marcellin 1.28. in fine. Unter alfen Hebungen ver
Gottfeligfeit, wodurd die erften Chriften den Tag des Herrn feierten, hat aber
unftreitig das HI. Mefopfer den Vorzug. In den Kirchen wurde täglich dag HI,
Meßopfer dargebracht Ang. 2, 42, 46. Der HL Apoftel Andreas ſprach zum
Landpfleger Aegeas: „Sch opfere täglich dem allmächtigen Gott nicht das Fleifch
der Stiere und Böcke, fondern das unbefleckte Lamm, das auf dem Altare des
Kreuzes geopfert wurde“ (Arten des hl. Andreas von den Nelteften und Prieftern
zu Achafa verfaßt). — Die Zeit der Feier aber war in den Morgenftunden,
Wie Plinius erzählt, wurde der Gottesdienft vor Tagesanbruc (ante lucem)
gehalten, Epiphanius fagt: „die feierlichen Verſammlungen fegt die Kirche in der
Morgenftunde an”, Tract. de haeres. Zur Zeit des hl. Cyprianus wurde dag hl.
Dpfer in der Frühe und Abends gefeiert, er lobt aber (epist. 63) das erftere,
Ein Zeichen, daß die Zeit zur HI. Meffe nicht überall gleich gehalten wurde, und
die Gläubigen erſchienen, wo möglich, täglich dabei, Cypr. in lib. de orat. —
In den apoftolifhen Conftitutionen wird angeorbnet, daß die Gläubigen des
Morgens und des Abends den Firchlichen Gebeten beiwohnen follen; wer aber
nicht beiwohnen fünne, der ſolle zu Haufe beten, jeder für fich, oder zwei over
drei mitfammen, Const. apost. 1. 6. co. 30. — Auch bei dem Abendgottespienft
wurbe manchmal das hl. Meßopfer gefeiert, Cypr. epist 63, worauf dann bag
Kirhenbefud. 125
gewöhnliche Liebesmahl folgte. Chriftus hat zwar das Abend- oder Liebesmahl
mit feinen Apofteln zuerft gehalten, und dann erft die HI. Communion, denn das
alte Gefegliche mußte zuerft gefchehen, ehe das Neue eingefegt wurde. Aber die
Apoftel feierten ſchon zuerft die HI. Eommunion, und dann erft das Liebesmahl,
wie ber hl. Chryfoftomus fagt homil. 27. in 1 Cor. 11. Nur am grünen Donners-
tage pflegte man in Africa, um das Beifpiel Jeſu genau nachzuahmen, gegen
Sonnenuntergang zuerft das hl. Liebesmahl und nach demfelben das HI. Abend-
mahl zu feiern, welcher Gebrauch aber ſowohl in der morgenländifchen als abend-
ländifchen Kirche bald aufgehoben wurde, Außer dem hl. Meßopfer, womit der
Unterricht in der Lehre des Heiles und der Empfang der HI. Communion beim
Kirchenbefuche der Chriftgläubigen in den erſten Jahrhunderten verbunden war,
befuchten diefelben auch zu verfhiedenen anderen Zeiten ihre Kirchen. Sie eilten
in der Frühe dahin, und fangen Hymnen uud Gefänge, fagt Ambrofius (in psalm.
118. serm. 19). In den Landfirchen ging man mit dem Hahnenfchrei zur Kirche,
um ben höchften Herrn zu preifen; ebenfo auch am Ende des Tages (Theod. hist,
relig.), Die Terz, Sert und Non werden ſchon von Tertullian die apoftolifchen
Stunden genannt, und vielfahe Zeugniffe der Kirchenfhriftfteller beftätigen,
daß diefe ſchon in den früheften Zeiten als vorgefchriebene Betjtunden betrachtet
wurden, wobei die Geiftlihen und Laien fi einfanden, Auch zur Nachtzeit be—
fuchten die Chriftgläubigen ihre Kirchen, um dafelbft zu beten, wie dieß nament-
lich in Paläſtina, Syrien, Phönicien, Lybien, Aegypten und Arabien im vierten
Sahrhunderte der Fall war, Basil. epist. 207. fagt: Zur Nachtzeit fand das
Bolf auf zum Haufe des Gebetes, vom Gebete ging man zum Pfalmfingen über,
und in zwei Theile geheilt, fangen fie abwechfelnd; dann fang einer vor, darauf
folgten die anderen nad. Bei anbrechendem Tage fangen fie alle zugleich wie aus
einem Munde und Herzen den Palm des Lobes Gottes (confessionis domini),
Auch) der HI. Auguftin fordert die Gläubigen auf, fhon am Samstage zur Befper
und zu den nächtlichen Vigilien in die Kirche zu gehen. August. serm. de temp.
244 et 251. Als der Eifer der Chriften im Laufe der Zeit anfing wieder zu er-
falten, fah die Kirche ſich genöthigt, die Nachläffigen durch firenge Gebote zum
Beſuche der Kirhe anzuregen. Am meiften arbeitete fie ſtets dahin, daß die
Gläubigen in der ihnen angewiefenen Kirche und unter ihren beftimmten Seelen-
hirten fich verfammelten, Daher das firenge Gebot der Kirchenverfammlung zu
Elvira (ſ. d. U.) in Spanien, welche im Jahre 343 gehalten wurde, und be—
ſchloß, daß, wenn Jemand in der Stadt drei Sonntage hinter einander nicht zur
Kirche komme, man ihn auf kurze Zeit ausschließen folle, damit es einem ſolchen
nicht ungeftraft hingehe. Eben diefe Verordnung wurde auch von anderen Con-
eilien wiederholt, Sess. 22. in decreto de observand. et evitand. in celebr. miss,
bat der HI, Kirchenrath zu Trident die Weifung gegeben: Die Bifchöfe follen das
Volk ermahnen, daß es fleißig in feinen Pfarrfirchen wenigfiens an den Sonn—
‚ tagen und höheren Feten erfcheine, Siehe das ferhste Provincial-Coneilium von
' Mailand p. 1. p. 302. Carol. Bor. Benedict. 14. de synod. divec. 1. 13. c. 14.
' Ambros. de offic. saer. 1. 1. c. 1. Dem Gebote der Kirche, an Sonn- und Feier-
tagen die hl. Meſſe zu hören, mag zwar derjenige genug thun, welcher auch in
einer fremden Kirche dem HI. Opfer beiwohnt, als eifriger Chrift aber, der den
Geiſt der Gebote auffaßt und in fich belebt, Fann er nicht angefehen werben,
Selbſt die frommen Gebete der mit ihrem Seelforger vereinten Gläubigen wer-
den defto ficherer Erhörung finden, je mehr fie im Geifte der brüderlichen Liebe,
die auch in der äußerlichen Vereinigung fich ausfpricht, zu dem Gnadenthron auf-
fteigen. Zudem ift noch wohl die Abficht des eifrigen Kirchenbefuhes in Er-
wägung zu ziehen, daß der Seelforger, der die Bedürfniffe feiner Gemeinde
kennt, am beften geeignet ift, ihr aus der göttlichen Lehre die heilfamften Lebens-
vorſchriften mitzutheilen, Es verrät daher eine große Gleichgültigfeit gegen die
126 Kirhenbüder,
Heilslehren, oder eine fträfliche Geringfhätung ihres Verfünders, oder auch einen
verderblihen Wiffensdünfel, wenn man, den gemeinfamen Unterricht verachtend,
an fremder Stätte oder gar in feinem fparfamen Vorrathe fogenannter aufge-
Härter Erbauungsſchriften die erforderliche Belehrung zu finden glaubt, Hieraus
ergibt ſich demnach unwiderleglih, daß die Vereinigung ganzer Gemeinden zur
Anbetung des höchſten Weſens und die Beflimmung befonderer Orte für heilige
Zwecke fo alt ift, als der Glaube an Gott, und darum befucht auch jeder wahre
Ehrift feine Kirche fo gern, und ift ihm dieſe heilige Stätte fo Lieb, weil da allein
nicht Außenwerk, nicht Formenweſen, nicht Buchftabendienft, fondern ein Gotteg-
dienft im Geifte und in der Wahrheit gilt, wozu der Glaube alle Chriftgläubigen
bier verfammeln fol. Wer flimmt nicht ein in die Worte David's: „Herr ih habe
lieb die Zierde Deines Hauſes und den Drt wo Deine Herrlichkeit wohnt!" —
Eine befondere Erwähnung verdient noch der übliche Kirchenbefuch zur Zeit
größerer Drangfale, von welchen die Chriftgläubigen im Laufe der Jahrhunderte
beimgefucht wurden, und als Ablaßbedingung. Siehe hierüber Liturgif von Fr.
X. Schmid, U. Bd, ©, 222, — Der Befuch einer beftimmten Kirche wird 5.3,
bei den Kirchweih- und Jubiläums-Abläffen gefordert, Mehrere Urfachen haben
ohne Zweifel die Einführung diefer Vorſchrift veranlaßt. Der Anbli von Hun-
derten, die fih zur Gewinnung eines folhen Ablaffes in einer und derfelben
Kirche mit reumüthigen Herzen verfammeln, ift jedem Einzelnen eine mächtige
Aufforderung, fih dem Dienfte Gottes ohne Vorbehalt zu widmen: die hiebei
gewöhnlichen Bußpredigten, Proceffionen und übrigen feierlichen Gottesdienſte
beftürmen das Gemüth, alle Einwendungen, durch die die Sinnlichfeit ven Ent-
fhluß, nah dem Einen Nothwendigen zu ringen, unfräftig machen möchte, mit
männlicher Kraft zu erfticken: der Reichthum von Erinnerungen von wunderbaren
Gebetserhörungen, die fih den Gläubigen nicht felten in Ablaßfirchen darbieten,
flößt Vertrauen ein, daß Gott, der das Wollen gab, auch das Vollbringen geben
werde: das glänzende Tugendbeifpiel, durch das ein Heiliger, deffen Andenken
der Gegenftand der Feier ift, voranleuchtet, muntert zur Nachfolge auf. Vergl.
hierzu die Art, Cultus und Gottesdienſt. [Brauner,]
Kirchenbücher im weiteren Sinne hießen bei den Alten alle Schriften, welche
mit dem chriftlichen Cult in Berührung ftehen und bei gottesdienftlichen und reli-
gidfen Acten gebraucht wurden, wie der Evangelieneoder oder das Synararium,
das Lectionarium, der liber poenitentialis, das Breviarium, das Rituale und Cere-
moniale 20.5 im engeren Sinne und heutigen Sprachgebrauche aber verfteht man
Darunter die zur Beurkundung der wichtigften auf das firchliche Leben fich bezie-
benden Acte (als Taufen, Trauungen, Beerdigungen) angefertigten Berzeichniffe,
Da diefe kirchlichen Functionen nur an Pfarr- und größeren Filial-Rirchen vor-
genommen werden, und den Pfarrern die Beforgung und Aufbewahrung diefer
Liften übertragen ift, fo heißen fie auch vorzugsweife Pfarrbüher, Pfarrma-
trifel, 1. Der Urfprung der Tauf- und Sterb-Regifter ift fehr alt, und führt
in die erften Jahrhunderte zurück. Sp wiffen wir wenigſtens bezüglich der Taufe,
daß die Ratechumenen einige Zeit vor dem Empfange derfelben (in der abendlän—
difchen Kirche gewöhnlich in der vierten Faftenwoche) dem Biſchofe ihre Namen
anzugeben hatten, um in die Mutterroffe oder das Verzeichniß der Täuflinge
(liber vitae, catalogus catechumenorum) eingetragen zu werden (Binterim, com-
ment. hist.-crit. de libris Baptizatorum etc., Düsseldorf. 1816.). Freilich muß hiebei
noch an Feine allgemeine, fefte und gleichmäßige Hebung gedacht werben. Erft
das Triventinifche Eoneil hat in durcdhgreifender Weife den Pfarrern die forgfäl-
tige Führung eines Buches eingefchärft, in welches die Namen der Getauften und
ihrer Pathen eingefchrieben werben folfen (Conc. Trid. Sess. XXIV. c. 2 De ref.
matrim.) Den Grund zu den Todtenbüchern mochten die alten Diptychen oder
jene Verzeichniffe gelegt haben, in welche die an einer Kirche angeftellten Cleriker
Kirhenbüder. 127
und die als Stifter der Kirche oder fonftige Wohlthäter derfelben ausgezeichneten
Laien, um fie theild als annoch lebende Mitglieder der Gemeinde (Diptych. vi-
vorum), teils, wenn fie gottfelig in der Gemeinfchaft der Kirche geftorben (Dipt.
mortuorum), nad ihrem Tode in frommer Erinnerung zu bewahren und dem Ge-
bete der fommenden Gefchlechter zu empfehlen, eingetragen, aber auch, wenn fie
fih öffentlicher Berbrechen —— gemacht, aus denfelben wieder ausgeſtrichen
wurden (ſ. Diptychen, Bd. III. S. 173 f.). Aber nicht alle Gläubigen, ſon—
dern nur gewiffe durch isre Stellung und befondere Beziefungen zur Kirche her—
vorragende Perfönlichkeiten pflegten in diefe Tabellen aufgenommen, und ihre
Namen zum frommen Gedächtniſſe an beftimmten Tagen Öffentlich in der Kirche
abgelefen zu werden. Diefe rituelle Seite der Diptychen verlor fid jedoch mehr
und mehr, und nur an manchen Kirchen befteht noch als Ueberbleibfel jener ur-
alten Gewohnheit die Sitte, die Namen der Stifter und befonderer Wohlthäter
der Kirche an Sonn- und Fefttagen nach der Predigt oder an beftimmten Bruder-
fchafts-Conventtagen während des Gottesdienftes zu verfünden und für fie zu beten,
Abgefehen von diefem religiöfen Gebrauche hat fich die Anlegung von regelmäßigen
Sterbregiftern als chronologifcher Berzeichniffe aller in einer Pfarrei verftorbenen
Mitglieder der Gemeinde nur allmählig, und in einer der heutigen Einrichtung
analogen Weife erft gegen Ende des XVI. Jahrhunderts gebildet, Ebenfo ſchwau—
fend find die Anfänge regelmäßiger Trauungsbücder, und es fann, wenngleich
durch die Sorgfalt einzelner Bifchöfe und den feelforglihen Eifer einzelner Pfar-
zer ohne Zweifel auch hierin manches gefhah, doch nicht mit Sicherheit an eine
frühere und allgemeinere Praris angelnüpft werden. Auch in diefer Beziehung
hat erft das Concil von Trient durch eine allgemeine Verordnung die Pfarrer ver-
pflichtet, ein eigenes Buch zu halten, darin die Namen der Getrauten, der Ehe—
zeugen, und Zeit und Drt der Eheſchliehung verzeichnet fein ſollen (Conc. Trid.
Sess. XXIV. c. 1 De ref. metrim.). Diefe Anordnung regelmäßiger Tauf- und
Ehe Matriter durch das Tridentinum wurde von da ab durch die Provincial- und
Dideefanfgnoden wiederholt und vervollftändiget, und um diefelbe Zeit auch die
Haltung von Todtenliften, fowie fpäter die Anlegung von Berzeichniffen der Firm-
linge ze, vorgefihrieben. IL. Sp erweiterte fih die Zahl der Kirdenbüder
allmahlig auf fünf, wie folde das römifche Ritual im Anhange aufträgt: 1) das
Tauf-, 2) das Firm-, 3) das Ehe-, 4) das Todtenbuh, und 5) der liber status
animarum. Unter legterem verfteht man die nach fortlaufenden Jahren zufam-
mengeftellte tabellarifche Ueberſicht aller in einer Pfarrgemeinde während eines
Jahres Geborenen, Gefirmten, Getrauten und Geftorbenen, zu welchen Haupt-
zubrifen jedoch in Unterabtheilungen vder a latere verfchiedene weitere Aufichlüffe
zu geben find, 3. B. ob und warum ein Kind etwa ohne Taufe oder Nothtaufe,
oder ſchon Erwachſene ohne Sacramente geftorben; wie viele Kinder bereits zum
Empfange des Sacramentes der Buße, wie viele zur erften Communion zuge—
laffen worden, wie viele zum Empfang der Firmung vorbereitet find, oder die=
felbe bereits empfangen haben; ob und wie viele Paare in Schein-Ehe oder Con—
eubinat leben; welche Eheleute mit oder ohne Permittimus discohabitiren u. dgl.
Noch zählen Einige hieher 6) das Verfündbuh, d. i. das von Woche zu Wode
fortgeführte und jedesmal am Sonntag öffentlich zu verfündende Berzeihniß der
im Laufe der Woche abzuhaltenden Gottesdienfte, geftifteten Jahrtage, Seelen-
meffen und anderer Andachten, fowie der ehelichen Aufgebote und fonftiger der
Gemeinde mitzutheilenden ficchlichen Bekanntmachungen ; und 7) das Befehlbuch,
darin die oberhirtlichen allgemeinen oder bejonderen Verordnungen chronologiſch
oder materienweiſe bald in extenso bald nur augzugsweife eingetragen und refp.
allegirt werden, Allein zunächſt kommen bier nur die Tauf-, Trauungs- und
Todten⸗ Liſten wegen ihrer nicht bloß kirchlichen, ſondern auch flaatsrechtaien Be⸗
deutung in Betracht. IL Die Form dieſer drei Matrikel wurde früher durch die
128 Kirhenbüder,
Synoden, in neuerer Zeit, feit dieſe Verzeichniffe zugleich als Quellen der Be—
völferungsliften und Livilftandsregifter angefehen und behandelt werben, faft
überall von der Staatsgefeggebung — bald ausschließlich bald im Einvernehmen
mit den Bifchöfen vorgezeichnet. 1) Das Geburts- oder Taufregifter enthält
den Namen des Kindes, den Tag der Geburt und Taufe deffelben; Tauf- und
Gefchlechtsnamen, Stand und Eonfeffion der Eltern und Pathen, Namen des die
Taufe vollziehenden Geiftlichen, und der Hebamme, Polizeiliche Maßregeln fordern
wohl auch die Vormerfung todtgeborner Kinder, fowie unreifer und monftröfer
Geburten, Unehelihe Kinder werden ausdrücklich als folche bezeichnet, und in der
Regel nur der Name, die Abflammung und Eonfeffion der Mutter; der des Va-
ters nur dann eingetragen, wenn diefer fich freiwillig als folcher vor dem Pfarr-
amte mündlich oder fehriftlich befannt, oder durch gerichtliche8 Paternitätserfenntniß
als Vater des Kindes declarirt wird, Etwaige Legitimation per subsequens ma-
trimonium wird nachträglich an Drt und Stelle bemerkt, 2) Die Ehematrifel
enthält Tauf- und Familiennamen, Alter, Stand und Eonfeffion des Ehemannes;
Namen, Abftammung, Alter und Confeffion der Ehefrau, Namen und Stand der
Trauungszeugen oder Beiftänder, Zeit und Drt der Trauung, Name des Pfar-
rers ꝛc. Wenn der eine ober andere Ehetheil bereits Wittwer oder Wittwe ge—
wefen, ift der Tegalgefertigte Todtenſchein des vorigen Gatten zu ven Acten zu
nehmen und in der Matrifel vorzumerfen, Wenn ein Ehepaar mit päpftlicher ober
bifchöfficher Difpens in Ehehinderniffen oder mit Nachficht des ehelichen Aufge-
botes, oder mit Vollmacht des zufländigen Pfarrers von einem andern nicht ſchon
generaliter mandirten Priefter und in einer fremden Pfarrei getraut wird, fo muß
ſolches in margine ausdrücklich aufgeführt werden, Ebenfo ift nachträglich an der
Stelle der eingetragenen Copulation zu bemerken, falls fpäterhin ven Eheleuten
von Tifh und Bett getrennt zu leben geftattet, oder die gefchloffene Verbindung
wegen unheilbaren Nullitätsgrundes von dem competenten Kirchenoberen als un—
gültig und vom Bande gelöst erklärt, oder aber eine derlei getrennte Ehe öffent-
lich revalidirt werben müßte, 3) Im. ähnlicher Weile befagt das Sterb- oder
Todtenregifter den Tauf- und Familiennamen, Alter, Stand und Eonfeffion
des Defuncten, die Zeit des Todes und der Begräbniß, ob mit oder ohne Em-
pfang der Sacramente, mit oder ohne ärztliche Behandlung, und an welcher Kranf-
beit (nach) Angabe des ordinirenden Arztes und beziehentlich des Tpdtenbefichtigers)
er geftorben, Wegen der Wichtigkeit diefer Aftenftüde ift ihre Anfertigung und
Aufbewahrung in duplo faft überall gefeslich ausgefchrieben, fo daß das eine
Eremplar in der Kirche (Saeriftei), das andere in der Pfarr-Negiftratur hinter-
Yegt werben fol, IV. Die Geburts-, Ehe- und Todtenregifter haben durch bie.
betreffenden Landesgefete überall die Auctorität öffentlicher Urkunden, und
begründen daher unter der Vorausfegung, daß die formellen Erforberniffe, durch
welche die Glaubwürdigkeit dffentlicher Documente überhaupt bebingt if, einge-
halten, und die Nubrifen nach officiellen pflichtmäßigen Anzeigen ausgefüllt worden
find, über die durch fie beglaubigten Thatfachen einen vollen Beweis, der nur
durch den vollftändig gelungenen Gegenbeweis der Fälſchung oder der nicht vor—
handenen Zdentität der fraglichen Perfon aufgehoben werben kann. Die Führung
und Aufbewahrung der Bücher und deren Duplicate fteht in Teutſchland, abge-
fehen von denjenigen Provinzen, wo unter dem Einfluffe des franzöfifchen Rechtes
die Civilbeamten an die Stelle der Geiftlihen getreten find, regelmäßig den
Pfarrern, fowie die Aufficht über den richtigen Vollzug der deßfalls erlaffenen
Borfehriften zunächft den geiftlihen Behörden, den Decanen und bifchöflichen
Drdinariaten zu; und eine Vifitation der Kirchenbücher durch die weltlichen Be—
hörden fann nur bei obwaltenden näheren Indieien pfarr- oder decanatamtlicher
Pflichtverlegung, und auch hier nur bezüglich der einer folchen Vermuthung an—⸗
heimgefalfenen Pfarrämter verfügt werden, Alle Zeugniffe aus den Pfarrbüchern,
Kirhenbuge — Kirhengeräthe, 129
wenn fie öffentlichen Glauben haben follen, müffen legal d. i. vom Pfarrer ſelbſt
mit Unterfhrift und beigedrucdtem Amtsfiegel gefertiget fein, und dürfen an Aus-
wanderer, Militärpflichtige, fowie an Unbefannte oder wie immer verdächtige
Individuen nur auf fpeciellen Vorweis von Seite der betreffenden Diftricts-
volizeibehörde ausgeftellt werden. Vgl. übrigens über diefen Artikel, außer Bin-
terims obenerwähnter Schrift, noch C. Beer, wiſſenſchaftliche Darftellung
der Lehre von den Kirchenbüchern, Frankfurt 1831. 8.3 U ihlein über den
Urſprung und die Beweiskraft der Pfarrbücher, im eiviliſtiſchen Archiv Bd. XV.
©. 26. ff. Vgl. Hierzu den Art. Instrumentum. [Vermaneder.]
Kirchenbuße, f. Bußeanones, Bußgrade und Bußwerfe,
Kirchendiener nennt man im weiteften Sinne alle diejenigen, die bei dem
Eultus aus Auftrag der Kirche in irgend einer Weife functioniren. Sole find
fomit nicht bloß alle Mitglieder der Hierarchia ordinis ex jure divino seu eccle-
siastico (Bifchöfe, Priefter, Diacone, Subviacone, Afolythen, Eroreiften, Lee—
toren und Dftiarier); fondern auch Miniftranten, Sacriftane (Mefner, Küfter),
Glöfner, Organiſten, Kirchenfänger (Choraliften, cantores) fammt den übrigen
Kirhenmufifern, Fahnenträger, Zechpröbfte, Todtengräber, fowie auch die ehema—
ligen Diaconiffinnen. Es billigt diefe weite Auffafjungsweife ſchon der HI. Paulus,
indem er felbft die Apoftel „Ministros Christi“ nennt (1 Eor. 4, 1). In einem
engern, mehr gewöhnlichen Sinne wird dieſer Name allen jenen Cultdienern ge—
geben, die nicht zur Hierarchia ordinis gehören, fomit Miniftranten, Mefnern
8. f. w. Die Rirchendiener in diefem engern Sinne treten ihren Dienft an, ohne
biezu eine Weihe erhalten zu Haben; nur die ehemaligen Diaconiffinnen wurden
geweiht. Die Anftellung derfelben ift Sache des Pfarrers, wenn nicht das Her-
fommen oder irgend ein fpecieller Rechtstitel eine Ausnahme begründet. Letzteres
ift befonders bei Küftern gewöhnlich der Fall, deren Ernennung häufig Sache des
Kirchenpatrones, und aus diefem Titel der Staatsregierung iſt. Vgl. die Artikel
Hierarchie und Ordines. [ör. X. Schmid.]
Kirchendirectorium, ſ. Directorium,
Kircheneinweihungspredigten, ſ. Einweihungspredigten.
Kirchenfabrik, ſ. Fabrica.
Kirchengebet, ſ. Gebet der Kirche.
Kirchengebot, ſ. Gebote der Kirche.
Kirchengeräthe heißen die zur Vornahme der Hl. Handlungen beſtimmten
Gefäße und zur inneren Einrichtung und Ausfhmüdfung der Kirchen und Altäre
gehörigen Gegenftände. 1) Die zum gottesdienftlihen Gebrauche beftimmten
Gefäße find: die Patena und der Kelch nebft Zugehör (das Kelchtuch, das Cor—
porale mit der Burfa, die Palla und das Purificatorium), der Tabernafel mit
dem darin verfhloffenen Ciborium und der Monftranze, die Büchfen zur Aufbe-
wahrung des Chrisma und der Olea sacra Catechumenorum und Infirmorum, die
Opferfännchen, das Rauchfaß mit dem Schiffen, ver Weihwafferfeffel mit dem
Aſpergill. 2) Die regelmäßigen Ornamente des Altares bilden: die Altarleinen,
das Altarblatt, das Erucifir, die Canontafeln, die Altarleuchter, das Pult oder
' Kiffen zur Unterlage des Meßbuches, das Antependium (f. Altarſchmuck Bd. J.
' ©. 185). 3) Die übrigen Geräthe der Kirche find: die Glocken, Reliquien-
käſtchen, Kreuzwegtafeln, Bilder und Statuen, Lampen und Wandleuchter, der
) Traghimmel, die Sedilia und in Cathedralfirchen der Thronſeſſel, der Faltſtuhl,
| die Chorftühle im Presbyterium, die Predigtfanzel, die Beichtftühle im Schiff
der Kirche, der Taufftein, die Fahnen, die Orgel ıc. A) Im weiteften Sinne
ı gehören hieher auch die bei der Feier des Gottesdienfies von dem Dfficiator und
den dienfttäuenden Geiftlichen und Altardienern gebrauchten Gewänder: der Talar,
i das Birret, das Yumerale, die Alba, das Cingulum, das Manipel ‚, die Stola,
die Eafula, die Dalmatif, das Pluviale, das Velum (ſ. Kleider, heiti ge).
N Kirchenlexikon. 6. Bo, 9
}
130 Kirhengefang — Kirchengeſchichte.
Mehrere dieſer Gefäße und Paramente werben theils conſecrirt, theils benedieirt |
(f. Segnung); alle aber als Kirchenzubehör mit vorzüglicher Achtung behandelt,
und deren Entwendung, Verlegung und Profanation auch nach bürgerlichen Straf-
und Polizeigefegen firenger geahndet, [Permaneder,]
Kirchengefang, f. Muſik, chriſtliche.
Kirchengefchichte, Begriff, Aufgabe, Eigenfhaften, Eintheilung,
Duellen und Literatur, Die Kirche ift eine Religionsgenoſſenſchaft; aber
nur eine von Gott geftiftete Religionsgenvffenfehaft ift dem Sprachgebrauche und
der Etymologie gemäß eine Kirche, Ohne Zweifel iſt nämlich der Ausdruck Kirche
niht von dem altteutfchen Worte füren, d. 1. wählen, wie Dr. Sepp (Reben
Chriſti II. 151) und Andere wollen, abzuleiten, fondern von dem griechifchen Ety-
mon zugros (Herr), und zwar näherhin von dem Adjectiv zugeaxn), wozu ent-
weder &xrAnoia Berfammlung) oder oizi« (Haus) zu fubintelligiren ift. Daraus
erklärt fih aud, wie das Wort Kirche bald die ganze Genoffenfchaft der Chrift-
gläubigen, bald nur ein einzelnes Gebäude für deren Gottesdienft bedeuten kann,
je nachdem nämlich das eine oder das andere Subftantiv ExxAnola oder olzi«
dem Adjeetive zupuaxr) in Gedanken beigefügt wird. Schon bei Eufebing CHist.
ecel. IX. 10) nennt der Kaiſer Marimin die Bethäufer der Chriften za zugıaxu
oizeia, Eufebius felbft aber läßt wenige Sätze fyäter bereitd das Subftantiv
hinweg und gebraucht das Adjectiv zuouza gerade fo wie das Wort Kirhem
Es iſt dieß ein Beweis, daß ſchon frühzeitig in der griechifchen Kirche diefe präg=
nante Anwendung des Adjectivs flattfand, von den Griechen aber ging diefe Sitte
zu den Gothen, von diefen zu den übrigen Germanen und dem feandinavifchen
Norden, diefer alten Heimat der Gothen, über, Die Gothen Haben darum dag
Wort kyrch, die Schweden kyrka, die Dänen kyrke. Daß aber das Wort einen
E
4
griechiſchen, nicht einen teutfhen Urfprung habe, zeigt fich auch darin, daß auf
nichtteutfche, nämlich jene flavifihen Stämme, welche von Griechenland aus be
fehrt wurden, fich deffelben Wortes nıit geringer Veränderung bedienen. So ha-
ben die Polen ihr cerkiew, die Nuffen zerkow, die Böhmen zyrkew. Die Römer
Dagegen, und darum auch die romanischen Völker haben dem Subftantiv Exxinole
vor dem Adjectiv zvgıezr den Borzug gegeben. — Stammt aber unfer Wort
Kirche von zuoros her, fo bezeichnet es etymologifch nicht jede, fondern nur eine
von Gott, dem Herrn zur’ ESoyrv, gegründete Neligionsgemeinfhaft, und da⸗
mit flimmt auch der Sprachgebrauch überein. Unter den zahlreichen Religions-
genvffenfhaften nämlich, welche eriftiren und je exiftirten, find nach unferer
Ueberzeugung nur zwei von Gott geftiftet, die jüdiſche und die hriftliche, oder
die alte und die neue Heilsdeonomie, und in der That fprechen wir auch (wenig
ſtens die Unterrichteten) nur von einer jüdiſchen und chriſtlichen, nicht aber von
einer heidniſchen, paganiftifchen, polytheiftifchen ze, Kirche, auch nicht von einer
mohammedanifchen.- Dem Gefagten gemäß verſtehen wir num unter chriſtlicher
Kirche den von Chriſto im Auftrage des Vaters geftifteten religidfen Verein
zur Erlöfung der Menfchheit. Wie aber nur ein Chriftus, fo nur eine Kirche,
Die Abweichung von diefer im Lehrbegriff oder Dogma heißt Härefie oder
Ketzerei; die Abweichung von ihr in der Disciplin oder Verfaſſung heißt
Schisma (f. Kirche, Hriftlihe), Da e8 übrigens eine jüdiſche und eine chrift-
liche Kirche gibt, fo ift Har, daß die Rirchengefchichte ihrem ganzen Umfange nach
ebenſowohl die Gefchichte der jüdiſchen als der chriftlihen Religionsgeſellſchaft
zu umfaffen hat, und namhafte Gelehrte haben fie auch in diefer ausgedehnten
Weiſe behandelt, Sp enthält die Historia ecolesiastica von Natalis Alerander in
ihren zwei erften Foliobänden, die berühmte Stolberg’fche Gefchichte der Religion
Jeſu Chrifti in ihren vier erfien Octavbänden eine Kirkhengefihichte des A, Tr
Diefem Beifpiele folgte in der neueflen Zeit Abbe Rohrbacher, Profeffor am bi=
ſchöflichen Seminare zu Nancy, indem bie drei erfien Bände feines ſchönen und
Kirchengeſchichte. 131
an Werkes (in 29 Dftavbänden, Paris 1842—1848) der altteftamentlichen
Kirchengeſchichte gewidmet find. Gemwöhnlicher dagegen ift es, unter Rirchen-
gefhichte nur die Geſchichte der hriftlihen Kirche zu verfteben, und dieſe en=
‚gere Auffaffung feſthaltend, beftimmt fih uns 1. der Begriff der hriftlihen
Kirchengeſchichte in folgender Weife: Der Ausdruck Gefhichte fann in dop-
Sinne genommen werden c) objectiv, ald Summe des Gefchehenen und
Dtehnifch, als Darftellung oder Erzählung des Geſchehenen. Demgemäß
verſteht man unter Kirchengefhichte ©) in objectivem Sinne den ganzen zeit-
lichen Berlauf des von Chriſto geftifteten religiöfen Vereins oder des Rei—
ches Gottes auf Erden; 2) in technifhem Sinne dagegen ift die Kirchengefchichte
Die Darftellung des zeitlichen Verlaufes diefer von Chriſto geftifteten reli-
‚giöfen Gemeinfhaft, — Suchen wir hienach II. die Aufgabe der Kirchen—
gefhichte näher zu beſtimmen, fo hat diefelbe darzuftellen: 1) wie die Kirche
ihre innere univerfaliftifhe Anlage entwidelt Hat durch ihre Ausbreitung unter
alle Bölfer; 2) wie fie ihr inneres Wahrheitsbewußtfein zum kirchlichen Lehr-
‚begriff und zur kirchlichen Wiffenfhaft entwickelt — im Kampfe mit der Härefiez
3) wie ihre innere Gottesfehnfucht nach und nach den herrlichen Cultus erzeugt;
4) wie aus ihrem innern Organifationstrieb nach und nach die majeftätifche und
fein gegliederte Kirchenverfaffung entftand, und wie 5) der innere Sündenabſcheu
bie heilige Sitte und Kirchenzucht emportrieb *). Nach diefen fünf Hauptmomenten
Hat die Kirhengefchichte den Verlauf des göttlichen Reiches auf Erden zu befchrei=
ben. Zeigt fie diefen Verlauf nach alfen fünf genannten Richtungen, bei allen
Volkern, zu allen Zeiten, und wird zugleich diefer Verlauf ald ein Ganzes auf-
gefaßt und dargeftellt, fo entfteht die Univerfalfirdengefhichte. Diefelbe
will jedoch fo wenig, als die Weltgefchichte in fofern univerfal fein, als ob jedes
einzelne Factum, das kleinſte wie das größte, das unbedeutende wie das bedeu—
tende, von ihr einregiftrirt würde ; fondern nur in foweit, als Nichts, was inner-
halb des Firchlichen Gebiets irgendwo und irgendwann von Bedeutung gefchehen,
von ihr ausgefchloffen wäre. — Soll fie aber ihren Zweck erreihen, fo muß fie
IM. folgende Eigenfhaften Haben: fie muß 1) unparteiifch fein, von aller
abfihtlihen Unwahrheit frei. Damit ift jedoch nicht gefagt, dag der Kirchenhiſto—
riker, um ganz unparteiiſch zu fein, eigentlich Feiner Kirche angehören follte, fonft
müßte auch derjenige am beften die teutfche Gefchichte befchreiben fünnen,, der
nicht den geringften Funken von Vatriotismus in fih fühlt, und Thucydides und
Taeitus würden zu den fihlechteften Hiftorifern gezählt werden müffen, Sehr ſchön
ſprachen fih Hierüber die Göttinger gelehrten Anzeigen vom 8. April 1844 S. 565
alſo aus: „Die Parteilofigkeit befteht nicht darin, daß man weder Schwarz noch
Weiß, fondern Aſchgrau — Melange fei,” fondernnur, daß man „fich bei dem Führen
des hiſtoriſchen Griffels nicht von Leidenſchaft beeinfluffen Iaffe. Dieß allein ift
es ja auch, was man unter der Parteilofigfeit eines Hiftorifers zu verflehen hat;
denn daß er als freier, urtheilsfähiger Mann fih im folonifchen Sinne auf die
eine Seite ftellen muß, verfteht fih von ſelbſt.“ Wir fügen bei: die Unpartei-
dipfeit des Hiftorifers befteht in der Beobachtung der zwei furzen aber inhaltd=
zeichen Regeln: ne quid falsi dicere-audeat, ne quid veri non audeat. Aber außer
der abfihtlichen durch Parteilichkeit herbeigeführten Entftellung der Wahrheit gibt
es auch eine mehr unabfichtliche, nicht auf einem Mangel des Wollens, fondern
des Wiſſens beruhende, und darum muß die Kirchengefchichte 2) auellenmäßig
und kritiſch fein, Wer feine Kenntniß der hriftlihen Vergangenheit nicht aus
‚deren Doeumenten ſelbſt ſchopft, fondern nur blindlings Anderen nachbetet, oder wer
Nehreres hier und im Folgenden Gefagte hat Aehnlichteit, in Gedanken und Aus-
a mit einzelnen Paragraphen der Einleitung ‚zur Alzog'ſchen Kirchengeſchichte. Cs
rührt dieß von handſchriftlichen Bemerkungen ber, die ich meinem verehrten Freunde Dr. Al—
308 zu beliebiger Benügung mittheilte. ie x
9
132 Kirchengeſchichte.
die alten Doeumente und Quellen zwar liest, aber nicht prüft, ihre Glaubwür⸗
digfeit nicht unterſucht, die unächten nicht ausfcheidet, die verfchiedenen nicht ein-
ander entgegenhält u, dgl., der kann niemals eine auch nur mäßige Sicherheit
biftorifcher Renntniffe erwerben, Er vermengt unvermeidlich Falfıhes mit Wahrem
und bringt das Unfraut mit dem Warzen zu Markte. Die Kirchengefchichte muß
3) pragmatifch fein, d. h. den Zufammenhang der Erfcheinungen auffaffen,
den Gründen und Urſachen, ven Folgen und Wirkungen nachfpüren, und überall
den Caufalnerus heroorleuchten laſſen. Aber neben dem wahren Pragmatismus
liegt hier der gefährliche Abweg des falfchen Pragmatismus, der immer nur die
nächſten und oberflächlichften Urfachen und Wirkungen fieht und über die Trivialität
hausbackener Reflexion nicht hinauskommt. Um aber wahrhaft pragmatifch fein
zu fönnen, muß die Kirchengefchichte 4) auch religibs fein, fonft ift fie ihrem
eigenen Gegenftande fremd und verfteht die Erfcheinungen im Gottesreiche nicht.
Religibs aber ift fie, wenn fie Alles auf den abfoluten Urgrund, auf Gott bezieht
Möpler, gef. Schriften II. 269), und im fogenannten Zufall nur das Incognito
der Vorfehung erblickt, Es gibt jedoch auch eine ganz falfche Art von religidfer,
eigentlich pietiftifcher Gefchichtsbehandlung, welche nur die eigene Gedanfenfaul- -
heit unter frömmelnden Sprüchen verbirgt, überall die göttliche Vorfehung wie
einen Deus ex machina eitirt und zu ihrem höchften Ziele nicht die Wahrheit,
fondern die fogenannte Erbaulichfeit wählt. Die Kirchengefchichte muß endlich
5) wiffenfhaftlich fein, und fie ift es, wenn fie neben den bisher genannten
Hier Eigenfchaften noch flets ihren Begriff — Darftellung des zeitlichen Verlaufs
der hriftlichen Heilsanftalt — als ihr Princip und ihren leitenden Gedanken feft-
hält, die einzelnen Erſcheinungen auf diefes Princip bezieht, als Theile deg ge-
nannten Verlaufs auffaßt, und fo in ihrem Ganzen ihren eigenen Begriff ver-
wirfficht, — Was aber weiterhin IV. die Diathefe des Firchenhiftorifchen Stoffes
anlangt, fo gibt e8 in dem zeitlichen Verlaufe der hriftlichen Kirche einzelne un-
verfennbar hervortretende Wendepuncte, und diefe felbft find wieder verfchieden
an Bedeutung. Denn entweder if die von da eingetretene Veränderung eine
durchgreifende oder nur eine partielle. Wo nun eine durchgreifende Ver-
änderung beginnt, da entfieht ein neues Zeitalter, während die partielle Ver—
änderung nur eine neue Periode begründet. Zeitalter aber zählen wir, befon-
ders nach Möhler’s Vorgange, drei: 1) alte Zeit, fo Tange die antifen Völker
(Griehen und Römer) die Träger des hriftlihen Lebens waren ; von Chriftus
bi8 Carl d. Gr. 2) das Mittelalter, während die germanifchen und romani-
fhen Bölfer, unter einem Haupte, dem Papfte, verbunden, die Träger des
riftlichen Lebens waren; von Carl d. Gr, bis Luther. 3) Die neue Zeit, von
der fogenannten Reformation bi8 zur Gegenwart, wo zwar diefelben Völker, aber
nicht mehr in der Einheit der Kirche, den Vordergrund der Gefchichte inne haben, —
Jedes diefer drei großen Zeitalter zerfällt wieder in zwei oder mehrere Perioden,
und-zwar 1) die alte Zeit in zwei Perioden, deren Wendpunct Eonftantin d. Gr,
ift: a) von Chriftus bis Conftantin, oder vom Beginn der Kirche bis zum Ende
der Verfolgungen durch das Mailänder Edict im J. 313, d. i, die Zeit der um
ihre Eriftenz Fämpfenden Kirche; b) von Eonftantin bis Carl d. Gr., d. i. die
Zeit der dogmatifirenden Kirche oder der rafcheften Entwicklung des riftlichen
Lehrbegriffs. 2) Das Mittelalter oder die Zeit der Kirchenhoheit zerfällt in vier
Perioden: a) die erfle, eigentlich Vorperiode, erzählt die Chriftianifirung und
damit Civilifirung der Germanen und Romanen, ihre Einführung in die hriftliche
Kirche vom Beginn diefer Pädagogik bis zu ihrem relativen Abfchluß unter Carl
d. Gr. b) Die zweite Periode geht von Carl's Tod im J. 814 bis Gregor’s VII.
Erhebung im 3. 1073, und enthält die Entftehung der mittelalterlichen Kirchen—
boheit fammt dem Kampfe zwifchen Barbarei und Gefittung. c) Die dritte, von
Gregor VII bis Bonifaz VIII. (1073 — 1300) reichend, iſt die Blüthezeit der
Kirchengeſchichte. 133
mittelalterlichen Kirchenhoheit. d) Die vierte endlich, von Bonifaz VII. bis
Luther, hat die vielfach und heftig auftauchende Oppofition gegen die mittelalter-
liche Kirchenhoheit zu ihrem Charafter, 3) Das dritte Zeitalter, die neue Zeit,
von der fog. Reformation bis zur Gegenwart, zerfällt in drei Perioden: a) von
Luther bis zum weftphälifchen Frieden (1517 — 1648), oder die Zeit des großen
Abfalls und des oft blutigen Kampfes der Confeffionen; b) vom weftphälifchen
Frieden bis zum Ausbruch der franzöfifchen Revolution (1648— 1789): die Con-
feffionen ftehen jegt bürgerlich friedlich, theils fogar gleichberechtigt, neben ein-
ander, aber der große bittere Zwiefpalt dauert dennoch fort, bis am Ende diefer Pe—
riode Sndifferentismus und Unglaube fich breit machen und das firliche Leben nach
allen Seiten erlahmt. c) Die dritte Periode geht von der franzöfifhen Revolu-
tion bis auf die Gegenwart, und ihr Charakter ift: Kampf der Kirche mit falfcher
Staatsweisheit und neuem Heidenthume. — Die erfte und Hauptabtheilung der
Kirchengefchichte ift demgemäß die hronologifhe. Die Maffe des Stoffes wird
zuerſt chronologifch in Zeitalter und Perioden zerlegt; diefe aber werden nicht mehr
in kleinere Zeitabfchnitte getheilt, fondern man zerlegt fie am beften nad den
Materien, mit Rüdfiht auf die fünf Hauptrichtungen, in denen der Verlauf
der kirchenhiſtoriſchen Entwicklung vor fih geht, fo daß Neal- und Zeitabtheilung
mit einander verbunden erfcheinen, — Jene Canäle nun, welde aus der Vorzeit
er Kirche in die Gegenwart herüberreichen und die Runde der vergangenen Jahr-
underte uns zuführen, heißen V. die Duellen der Kirhengefchichte. Diefelben
theilen fih 1) nah dem Verhältniß der Berichterftatter zu der Thatfahe in
a) unmittelbare und b) mittelbare. Umnmittelbare heißen diejenigen, welche von
Augenzeugen herrühren, vornehmlich amtliche Urkunden, Berichte von Autopten,
Biographien großer Männer, von ihren Schülern gefohrieben u. dgl. Mittelbar
dagegen find jene Duellen, deren Urheber, ohne Augenzeugen zu fein, den auf-
gezeichneten Begebniffen nahe ftanden ©) ald Zeitgenoffen im Allgemeinen, oder
PB) dadurch, daß fie aus Erzählungen, mündlichen oder fohriftlihen, von Zeitge-
noffen gefchöpft Haben. 2) Nach der Form ihrer Leberlieferung theilen fi die
Duellen a) in fohriftliche, b) in fogenannte Denkmäler, wie Statuen und Mün-
zen (die Grabvenfmäler z. B. zeigen den Glauben der Urfirde an die Un—
fterblichfeit, und eine Münze ift eine wichtige Duelle in der Geſchichte der Jo-
hanna Papissa); c) Traditionen (nicht in dogmatifhem Sinne) oder Sagen, die
ſich bei einzelnen Völfern und in einzelnen Gegenden fortgepflanzt haben. 3) Nach
der politifchen oder firchlich-politifchen Stellung ihrer Urheber theilen fich die Quellen
in a) öffentlihe und b) Privatquelfen. Deffentlich find die von einer amtlichen
Perfon, Behörde, Corporation ausgehenden, wie päpftliche Bullen, Coneilien-
acten, Hirtenbriefe, liturgifhe Bücher, Drdensregefn, Erlaffe weltliher Re—
genten, die ſich auf die Kirche beziehen, Reichstagsabfchiede u. dgl. Privatquellen
dagegen find ſolche Doeumente, welche von Privatperfonen, oder wohl auch von
amtlichen Perſonen aber in privater Eigenfchaft herrühren. Die Kirchengefhichte
des Eufebiug z. B. ift eine Privatquelle, weil er nicht in feiner amtlichen Eigen—
ſchaft als Bifhof, fondern in feiner privaten Eigenfchaft als Gelehrter das Werk
verfaßt hat. Ein für die Kirchengefihichte wichtiger Hirtenbrief dagegen, von ihm
erlaffen, würde zu den öffentlihen Duellen zu zählen fein. 4) Nach dem Reli-
gionsbefenntniß ihrer Urheber endlich find die Quellen entweder a) einheimifche,
die von Chriften felber herrühren und zwar im engern Sinne von Mitgliedern
ber eigenen Kirche; b) fremde Duellen dagegen nennen wir jene, welche entweder
von Nichtchriſten herfommen (wie von den heidnifchen Hiftorifern Ammianus Mar-
| eellinus und Zofimus) vder von einer unferer Kirche fremd oder feindlich ent—
gegenftehenden Secte. — Der Zugang zu diefen Ouellen war ehemals ungeheuer
ſchwierig, jest aber find die meiften gedruckt in den Werfen der Kirchenväter und
der Kirchenſchriftſteller aller Zeiten, in den Eonrilienfammfungen, den Bullarien,
134 Kirchengeſchichte.
den Kloſterregeln, Martyracten, Lebensbeſchreibungen der Heiligen (ſ. Bollan—
diſten) ze, — Dem richtigen Gebrauche der Quellen muß ihre Prüfung voran⸗
gehen und diefe hat zu gefchehen in Betreff a) der Authentie, b) der Integrität,
c) der Fähigkeit des Verfaffers und d) feines Willens, die Wahrheit zu fagen,
VI. Wie die Kirchengefchichte felbft fo theilt fich auch bie Literatur derfelben in
drei Zeitalter, A. Literatur des erften Zeitalters, 1) Den erften Anfang
einer chriſtlichen Kirchengeſchichtſchreibung machte Hegefippus, ein zum Chriften-
thum befehrter Jude (Euseb. Hist. eccl. IV. 22), welcher der apoftolifchen Zeit
noch nahe ftehend (Hieron. de viris illust. c. 22), aus dem Driente über Corinth
nah Rom reiste (Euseb. 1. c. IV. 22), unter dem Pontificate Anicets (ſ. d. A.)
daſelbſt anfam, und bis in die Zeiten des Papftes Eleutherius Cunter Mare
Aurel) dort verblieb (Euseb. IV. 11). Er blühte fomit um bie Mitte des zweiten
Sahrhunderts, und wird von Eufebius (1. c. IV. 8) den berühmteften Kämpfern
a? re 5 Fe en a u
gegen die alten Häretifer beigezählt. Euſebius fagt auch, daß er viele Werke
geſchrieben CI. c. IV. 22), namentlich aber in fünf Büchern „die reine Neberlie-
ferung der apoftolifchen Predigt in ganz einfacher Weife erzählt Habe“, vmoun-
nerıoausvog (. c. IV. 8). Euſebius gibt demnach Feine beſtimmte Aeußerung
über den Titel diefes Werkes, ja er fagt nicht einmal, daß es vorherrſchend
hiftorifch gewefen fei, vielmehr Fünnte es feinen Worten” zufolge gar wohl auch
einen dogmatiſchen Charafter gehabt haben, Da jedoch Hieronymus in feiner Schrift
de viris illust. 1. c. von Hegefippus fagt: omnes a passione Domini, usque ad suam
aetatem, ecolesiasticorum actuum texens historias eto., fo glaubte man fich hiedurch
berechtigt, in den Urrouvnuarıocusvog des Eufebius eine beflimmte Hinweifung
auf den Titel der Hegefipp’fchen Schrift erblicken, und den Worten des Hieronymus
gemäß Cecclesiasticorum actuum) vermuthen zu dürfen, die fünf Bücher hätten
die Ueberſchrift Urrourruore TWv Exxlmoraorızav noageom geführt. Schon
Photius (Biblioth. cod. 232), eigentlich Stephan Gobarus (ein tritheiftifcher Mo—
nophyſi t im fechsten Jahrh.) bei Photius nennt fie vrouvnjuere, jedoch ohne
weitern Beiſatz. Euſebius gefteht felbft Cl. c. IV. 8), daß er dieß Wert bei feiner
Erzählung der in der apoftolifchen Zeit sorgefalfenen Begebenheiten fehr oft bee
nüßt habe (es war alfo Hiftorifch) ; ja er hat fogar glücklicher Weife eine ziem-
liche Anzahl Stellen verfelben geradezu in feine Kirchengeſchichte herübergenom—
men, und uns fo, da leider das Werk felbft verloren gegangen ift, wenigſtens
einige Fragmente gerettet, Es find die acht Fragmente im eigentlichen Sinne:
zwei über die alten Häretifer Cbei Euseb. IV. 22), zwei über Simeon, Biſchof von
Serufalem (II. 32), eins über die Verwandten Chriſti, wie fie vor Domitian
(ſ. d. Art) geftellt wurden (II, 20), eins über den Tod Jacobi d. j. (II. 23),
eins über die Kirche von Corinth (IV. 22) und eins über die Vergötterung des
Antinous (IV. 8). Außerdem beruft ſich Eufebius noch drei andre Male (IN. 11,
16, IV. 22) auf Hegefippus, ohne jedoch deffen eigene Worte anzuführen, End-
lich Hat auch Photins CBiblioth. cod. 232) ein Fragment Hegefipp’s über die un-
richtige Auffaffung der Stelle Iſ. 64, 4 aufbewahrt, Alle diefe Fragmente hat
Routh, reliquiae sacrae, T. I. p. 189 sqq. am vollſtändigſten gefammelt und
eommentirt; fie finden ſich jedoch auch bei Grabe, Spicileg. I. und Galland,
Biblioth. P. P. T. H. 59. Wahrſcheinlich Hat Hegefippus auch eine kirchenhiſtoriſche
Särift über die Reihenfolge der römischen Biſchöfe bis Anicet (3. 157) verfaßt,
wenigfieng [Heinen feine eigenen Worte bei Eufebius IV. 22: duadoynv Erron-
oaumv ueyoıs Avınyrov in dieſem Sinne genommen werden zu müſſen, wäh-
vend fie Valeſius ganz unrichtig alfo überfegte: mansi ibi apud Anicetum, als ob
der Text dıaroußrv flatt duadoxrv, und rraga ftatt uexgıs hätte, Vgl. Pearfon
bei Routh, 1. c. p. 244 und Origines de l’öglise romaine p. 56 (Tüb, Duartal-
ſchrift 1845 ©, 311 f.). Diefer Catalog ift jedoch vielleicht nur ein Theil
des obgenannten Werfes in fünf Büchern gewefen, 2) Der eigentliche Vater der
girchengeſchichte. 135
Kirchengeſchichte wurde Eufebius, Bifhof von Cäfarca in Palaſtina, in der
erſten Hälfte des vierten Jahrhunderts, und er ſchreibt ſich dieſe Ehre auch aus⸗
drüucklich ſelbſt zu im Prodmium zu feiner Kirchengeſchichte B. J. €. 1. Dieſer
große Gelehrte hat außer feinen wichtigen apologetiſchen, dogmatiſchen, exegeti—
ſchen ꝛc. Schriften auch eine Reihe Hiftorifcher Werke gefertigt, unter denen zwar
nicht der Zeit aber dem Range nad obenan ſteht a) jeine Exrlmocorızı, i0-
zooie in zehn Büchern, von Chriſtus bis zum Siege Conftantins über Licinius
im 53. 324, alfo bis zum Beginn der Alleinherrfchaft Conftantins reichend, Ob
Eufebius dieß Werf no vor Eröffnung der Nieäner Synode im J. 325 been-
digte, oder erft einige Jahre hernach, ift zweifelhaft, aber die erftere Anficht hat
größere Wahrſcheinlichkeit. Es ift namlich @) faum glaublich, dag Eufebius aus
dem Grunde, weil er den Arianern Halb und halb günftig war, abfichtlich beim
Nicanum in feiner Erzählung habe abbrechen wollen, denn er fpricht ja davon au
ziemlich ausführlich in feiner Vita Constantini lib. II. c. 6 sqq. Außerdem wird 2) Eri-
ſpus in der Kirchengeſchichte X. 9 wiederholt mit den fhönften Lobfprüchen beehrt,
was Eufebius als Günftling Eonftantins ſchwerlich gethan hätte, wenn Erifpus ſchon
hingerichtet gewefen wäre, Er wurde aber im 3. 325 auf Befehl Eonftantins
ermordet. — Bei Ausarbeitung feines Werkes benügte Eufebius eine Menge
alter Doeumente, die Schriften ver Kirchenväter, Briefe, amtliche Edicte und
Urkunden aller Art. Namentlich aber fanden ihm, auf befondere Erlaubnif des
Kaiſers, die Archive des ganzen Reiches zu Gebote, Als nämlich Conftantin
während feiner Anwefenheit in Cäſarea den Biſchof aufforderte, für feine Kirche
eine Gnade zu erbitten, erwiederte Eufebius : „feine Kirche bedürfe feiner wei=
teren Schäße, er aber habe große Sehnſucht, die Gefhichte der h. Martyrer zu
befäreiben, und bitte deßhalb, daß ihm von’ den öffentlichen Archiven die Ur—
kunden dazu mitgetheilt würden. Der Kaifer gewährte diefe Bitte und feste da—
durch den gelehrten Biſchof in den Stand, feine Kirchengefchichte zu ſchreiben.
So erzählte Hieronymus (Ep. ad Chromatium et Heliodorum) , und Antipater von
Boſtra (Veterum testimonia pro Eusebio in der Balefifhen Ausgabe der Hist.
eccl.). — Eufebius wollte übrigens nicht bloß erzählen, verfolgte alfo nicht
bloß Hiftorifche Zwecke, fondern es follte fein Werk zugleich auch zur Verthei-
digung und Verberrlihung der hriftlichen Kirche dienen. Daf er manchmal etwas
Unwahrfheinlihes, wohl auch Unwahres, 3. B. den Briefwechfel zwifchen Chriſtus
und Abgar Uchomo (f. d. A.), auch unglaublihe Wunder aufnahm, kann feine
Glaubwürdigkeit im Ganzen nicht wefentlich beeinträchtigen (vgl. Möller, de
fide Euseb. Hafn. 1813. Kestner, de fide Euseb. etc. Götting. 1817. Danz, de
Euseb. Jenae 1815); und wenn wir auch außerdem zugeben müffen, daß fein Styl
hart, die Darftellung nicht pragmatifch, der Inhalt nicht immer vollftändig ift,
fo hat doch dieß Werk für den Theologen einen ganz unfchägbaren Werth, na—
mentlich wegen der vielen Urkunden und aufgenommenen Ercerpte (vgl. Reuter-
dahl, de fontibus hist. ecel. Eusebianae. Lund. 1826. Baur, comparatur Eusebius
hist; ecclesiasticae parens cum parente historiarum Herodoto. Tubg. 1834. Jad-
mann, über die Kircheng. des Eufebius, in Ilgen's Zeitſchr. IX. 2, 10).
Schon das chriſtliche Altertfum Hielt deßhalb die Kirchengefchichte des Eufebius
in hohen Ehren (f. die Veterum testimonia), und ſchon Rufin überfegte fie in's
Lateiniſche, wovon fpäter. b) Gleichfalls Firchenhiftorifch ift auch Eufebii Büch-
fein über die paläftinenfifhen Martyrer, in 13 Capiteln, dem achten Buche
der Kirhengefchichte angehängt. c) Biel wichtiger ift wieder fein Werf de vita
Constantini M. in vier Büchern, reich an den wichtigften und intereffanteften Nach-
richten, die ſich fonft nirgends finden , und die wir alfo dem Eufebius allein noch
zu danfen haben, Als großer Bewunderer Conftanting verfiel er zwar öfters aus
der Hiftorifchen im die panegyrifche Weife und verſchwieg abſichtlich mande Fehler
des Raifers, an andern Stelfen dagegen zeigt er wieder Freimüthigfeit und befpricht
136 Kirchengeſchichte.
auch die Schattenſeite, jedoch mehr feiner Regierung als feines Charakters. So— 1
erated (1. 1) fagt darüber: es fer hier dem Eufebius mehr um eine Panegyrif
als um Thatfachen zu thun gewefen, d) Einen Anhang zu diefem Werke, gleich
fam das fünfte Buch, bilden zwei Reden: ©) die des Kaifers ad sanctorum coe-
tum (d. i. die Gläubigen), urfprünglich Iateinifch gefchrieben, und 4) die Lobrede
Euſebii auf Eonftantin am Fefte feiner Tricennalien, Schon im vierten Buche der
Vita Const. 0. 32 u. 46 hatte er diefe zwei Neben und noch eine dritte, jegt verloren,
beizufügen verſprochen; ihr Firchenhiftorifcher Werth ift jedoch nicht von großer Be-
deutung. e) Gleichfalls hiſtoriſch, jedoch eigentlich profanhiftorifch, und mehr für die
alt- als neuteftamentliche Kirchengeſchichte wichtig ift das Chronicon des Euſebius,
in zwei Büchern, wovon das erfte wahrfcheinlich den Titel uavrodarın iorogla
führte, und eine furze Gefhichte vom Anfange des großen Weltreichs bis auf die
Zeiten Eufebit enthält. Das zweite Buch mit dem Titel yoovızög zavam ift wohl
nichts anderes, ald die von Hieronymus de viris illust. c. 81 angeführte Epitome
des erftien Buchs (vgl. Fabric. Bibl. graeca T. V. Lib. V. c. 4. p. 33 und Au-
cher's Vorrede zu feiner fpäter zu befprechenden Ausgabe des Eufeb’fchen Chro-
nicons p. V), und enthält hronofogifche und fynchroniftifche Tabellen über die ganze
Zeit von Abraham bis Konftantin d. Gr. Eufebius Tegte dabei ein ähnliches
Werk von Zulius Africanus (Sec. IT) zu Grunde, und es ift die Chronik wahr-
fcheinlich das ältefte Werk des Eufebius, ſchon vor der Praeparatio evangelica
(5. 313) verfaßt, fpäter aber noch einmal überarbeitet und fortgefegt. Seit dem
neunten Zahrh, ging der griehifhe Tert verloren und Georg Syneellus (Syn=-
eeflus des Patriarchen Tharaſius von Conftantinopel um's Jahr 800) war der
Letzte, der ihn erweislich benügte und viele Stellen daraus in feine Chronographie
übertrug. Bon da an hatte man nur noch diefe und andere griechifhe Fragmente
Chefonders bei Cedrenus und im Chronicon paschale), ſowie eine lateiniſche Ueber—
fegung des Hieronymus, Hieronymus hatte jedoch nur das zweite Buch, den
Canon im engeren Sinne überſetzt (wenigſtens findet fich Teine Spur davon, daß
er auch das erſte Buch in's Lateinifche übertragen habe), und zudem band er fih
nicht genau an fein Driginal, fondern machte, feine Fortfegung bis zum Jahr 382
feiner Zeitrechnung ganz abgerechnet, noch allerlei Zufäge, befonders in Betreff
der römifchen Geſchichte. Er fagt von fich felbft in der Praefatio dazu (n. 4.):
me et interpretis et scriptoris ex parte officio usum, und feine Arbeit gibt fomit
nicht mehr aceurat die Eufebifche Chronif, Der Iebhafte Wunſch, die letztere
genau wieder zu befigen, führte den gelehrten Scaliger um's Jahr 1600 zu einem
eigenthümlichen Neftitutionsverfuche, Er fah richtig, daß die Chronik des Eufe-
bins nicht bloß ein, fondern zwei Bücher umfaßt habe, und brachte auch mit un-
geheurem Fleiße, alle griechiſchen Schriftfteller durchforſchend, eine große Anzahl
griechifcher Fragmente zufammen, Aber diefe beiden beträchtlichen Verbienfte wur-
den durch die Fehler der Willkürlichkeiten, die er fich erlaubte, wieder aufgewo—
gen. Bor allem hielt er manche eigene Worte des Syncellus ꝛc. für Fragmente
aus Eufebins und wandte bei der Neftitution des erfien Buches die ganz falfhe
Methode an, daß er Manches aus dem zweiten in das erfte verlegte, und fo
beide Bücher verdarb (vgl. Aucher’8 Praefatio zur Eufeb, Chronif p. XXIX. sqq.).
Seine Arbeit erfihien unter dem Titel Thesaurus temporum im J. 1606 zu Ley-
den, in zweiter Ausgabe von Morus 1658. Die Fehler Scaliger’s fah unter
Andern auch der gelehrte VBallarfi von Verona (1769) und nahm darum in feine
treffliche Ausgabe der Werke des h. Hieronymus CT. VID) die Sealiger'ſche Ar-
heit nicht auf, Aber feine eigene hat dafür andere Fehler: er legte auf die grie-
chiſchen Fragmente zu wenig Gewicht und bemüßte öfters ſchlechte Eodices der
Hieronymifchen Verfion, Solcher Codices gibt e8 nämlich eine Menge, fie wei-
hen aber fehr von einander ab, und find von fpätern Abfchreibern vielfach ver-
ändert worden, Was aber das Wichtigſte iſt, Vallarſi machte wieder einen Rüde
Kirchengeſchichte. 137
ſchritt, in der Behauptung, die Chronik des Euſebius habe niemals aus zwei,
ſondern ſtets nur aus einem Buche beſtanden (die Vallarſi'ſche Edition des eufe-
bifch-hieron. Chronicons wurde trog ihrer Fehler unverändert wieder abgedruckt
in Abbe Migne's neuer Ausgabe der Opp. S. Hieron. T. VID, Daß Vallarſi
damit ganz Unrecht gehabt habe, zeigte die bald hernach entdeckte armenifche Ueber—
fegung des Eufebifhen Chronicons. Schon 100 Jahre nah Eufebins wurde feine
Chronik auch in's Armenifche überfegt (Auer in f. Praef. p. XI), und diefe ur-
alte armenifche Ueberfegung beider Bücher der Chronik hat fih bis heute in einem
aus dem zwölften Jahrh. Herfiammenden Eoder erhalten. Diefen Coder bradte
im vorigen Jahrhundert Jacobus, der Bicar des armenifchen Patriarchen zu Jeru—
falem, von da nach Eonftantinopel in die Bibliothek des dortigen armenifhen
Patriarchalfeminars. Im 3. 1790 nahm fofort der gelehrte Armenier Georg
eine Abfchrift davon für den armenifhen Priefter J. B. Aucher in St. La—
ro bei Venedig, hielt fih aber nicht genau an den armenifchen Eoder, fon-
dern interpolirte Einiges, um feine Eopie mit dem Scaligerfhen Terte mehr
barmonifch zu machen. Aucher ließ darum durch Georg eine zweite Abfchrift
fertigen und dieſe brachte fein Drdensgenoffe Zohrab im J. 1793 von Con⸗
fantinopel nah Venedig. Darauf beihäftigte fih Aucher in aller Stilfe mit
Borbereitungen zur Herausgabe des neuen Fundes. Da ſich jedoch die wirf-
liche Herausgabe faft dreißig Jahre lang verzögerte, wurde unterdeffen jene
erfte ungenaue Copie von Zohrab in's Lateinifche überfegt, und diefe Ueber-
fegung von ihm und Angelo Mai gemeinfam im J. 1818 zu Mailand heraus-
gegeben. In demfelben Jahre erfchien aber auch endlich Aucher's Arbeit zu
Venedig 1818 unter dem Titel: Eusebii Pamphili Caesariensis episcopi chronicon
bipartitum (armeniſch, lateiniſch mit den griechifchen Fragmenten und mit An-
merfungen) opera P. Jo. Baptistae Aucher Ancyrani, monachi armeni et doctoris
mechitaristae. 2 Duartb. (Ueber den hiſtoriſchen Gewinn aus der armen. Ueber—
fegung der Chronif des Eufebius . d. Abhandlg. son Niebupr, Feine hiſtor. und
philol. Schriften. Erfte Sammlung, Bonn 1828, ©. 179— 304). Daß fih Auer
über die Mailänder Ausgabe unwillig ausfprach (Praef. p. XXXVII.) ift fein Wun=
der. Uebrigens geftand Angelo Mai felbft, daß die Venetianer Edition den Vorzug
verdiene (Scriptorum vet. nova collectio, T. VII. Praef. p.V.). Da jedoch die arme—
nifche Meberfegung, bei aller Genauigfeit und wörtlichen Treue (die Vergleichung mit
den griechifchen Fragmentenzc. beweist dieß) doch manche Lücken hat, und entfchieden
manches ausläßt, was den Fragmenten zu Folge ehemals im Griechifchen ftand, fo
glaubte Angelo Mai die eufebianifche Chronik auf eine neue Weife wiederherftellen zu
Tonnen, dadurch, daß er im erften Buch unter Zugrundlegung der armenifchen
Berfion beider Ausgaben (der Mailänder und Venetianer), und mit Benügung
der griechifchen Fragmente einen neuen, freilich nur Iateinifchen Text Herftellte, der
demurfprünglichen eufebifchen möglichft nahe kommen follte. Im zweiten Buche des
Chronicons fofort füllte er nicht nur die Lücken des armenifchen aus, fondern ver-
band damit, wie er ſich ausdrückt (p. VL), auch die gelehrten Arbeiten des Hie—
zonymus, d. h. er gab nicht eigentlich den eufebifchen Text, fondern eine ganz
neue Tertesrecenfion der Berfion des Hieronymus unter Benügung der beiden
armenifchen Verfionen, und mit Bergleihung von mehr als 20 vaticanifchen
Handfriften des Hierongmifchen Textes. Auch fügte er, wie im erften Buche,
fo auch Bier, fammtliche noch vorhandene griechifche Fragmente aufs Aller-
fleißigfte bei, unterließ es dagegen leider anzumerfen, in welchen Stellen fein
neuer Tert von dem Armenier abweiche. Diefe neue Mai'ſche Ausgabe findet
ſich im achten Bande der Scriptorum veterum nova collectio e vaticanis codicibus
edita ab Angelo Mai, Rom 1833, p. 1—406, und es ift demnach irrig, wenn
in diefem Kirchenlerieon (unter d. Art, Eufebius von Cäfaren) und ander-
wärts behauptet wurde, Angelo Mai habe bier den griech iſchen Text der
Chronik herausgegeben. 3) Die Kirchengefhichte des Eufebius fand bald nah
ihrer Entſtehung folhen Beifall, daß im fünften Jahrhundert zu gleicher Zeit
drei tüchtige Männer Fortfegungen derfelben unternahmen. Der erfte unter ihnen
war Sperates, wie er ſich in der Ueberſchrift felbft nennt, oyoAaorızög, d.h,
Sahwalter (Redner und Advokat), und zwar zu Conftantinopel unter Kaifer
Theodoſius JII., in der erften Hälfte des fünften Jahrhunderts, weßhalb er auh
die auf Eonftantinopel bezüglichen Ereigniffe mit befonderer Sorgfalt behandelt,
Daß er den Eufebius habe fortfegen wollen, fagt er (I. 1.), aber er wollte ihn
i
I
138 Kirchengeſchichte.
auch da und dort ergänzen, und begann darum ſeine Erzählung nicht mit dem
Jahr 325, wo Euſebius aufgehört, ſondern ſchon mit der Abhandlung Dioeletians
im J. 305 (I. c.), Bon da an führte er in fieben Büchern Exxinoıaozınng
iorogias die Gefhhichte fort bi8 zum J. 439 und umfaßt fomit 134 Jahre, °
Diefer Zeitabfehnitt theilt fih aber in zwei ungleiche Hälften, In der zweiten
fleineren Hälfte lebte Socrates felbft und war fomit ein Zeitgenoffe der von ihm
berichteten Begebenheiten; bei der erfiern und größern Hälfte dagegen mußte er
fih auf die Nachrichten Früherer ſtützen. Zu feiner Hauptquelle für die frühere
Zeit hatte er Anfangs den Rufinus gewählt, d. h. die rufin’fche Ueberſetzung und
Fortfegung der Eufeb’fchen Kirchengefchichte; bei erweitertem Duellenftudium aber,
befonders der Werfe des HI. Athanafius, entdeckte er manche Unrichtigfeiten Rufins,
und arbeitete deßhalb die zwei erfien Bücher, weil er gerade darin ihm zu viel ge-
folgt, aufs Neue um (I. 1.). Seine weiteren Duellen waren die Werfe der
Kirchenväter, Faiferlihe Schreiben, Briefe merfwürbiger Perfonen, Synodalbe-
fchlüffe und fehr zahlreiche Mittheilungen Anderer, welche fih für fein Werf
intereffirten und ihm als Augenzeugen oder fonft wohl unterrichtet, Beiträge und
Nachrichten Lieferten (I. 1. U. 1. VI. 1.). Eine befondere Differtation über die
Duellen des Sperates, und ber beiden andern Fortfeger der Eufeb’fchen Kirchen-
gefchichte, Sozomenus und Theodoret, Tieferte 3, A. Holzhauſen, de fontibus ete.
Götting, 1825. — Wiederholt und gewiffermaffen fich entfchuldigend bemerft
Sperates, daß er fich abfichtlih einer ungeſchmückten Darftellung befliffen habe
dl. 1. VI. 1.)5 gerade dadurch aber ift fein Styl gut und angenehm, beffer als der
Eufeb’fche geworden, Lobenswerth ift dabei auch, daß er die chronologiſchen
Data nah Olympiaden und Eonfuln ziemlich genau gibt. Weiterhin verfichert
Sperates (I. 1. VI. 1.) durchaus nach Unparteilichfeit geftrebt und Niemanden,
weder den Bifchöfen noch den Kaifern, gefchmeichelt zu haben, und er fagt dieß
im Gegenfag zu Eufebius. In der That ift auch feine Unparteilichfeit zu Toben
und man fieht vielfach, wie eifrig er der Objeetivität nachgeftrebt habe, zB.
Vi 32. 21.1. 13. Für was er aber mehrfach befondere Vorliebe zeigt, ft das
Mönchthum, überhaupt Strenge und Nigorismus, weßhalb er auch von den
Novatianern günftiger als gewöhnlich urtheilt, und darum bei Manchen (Niceph.
Hist. ecel. XI. 14. Baron. Annal. ad ann. 402, 18. 415, 40.419, 108.) felbft in ven
Verdacht des Novatianismugs gefommen if. Es iſt richtig, daß er lib. IV. 28
fagt: Novatian fei als Martyrer geftorben, dagegen führt er ihn fonft (V. 20.)
unter den Häretifern auf und nur die Katholiken find ihm ou zig ExxAnolas
(1. 38.). Ebenfalls nicht gehörig begründet ift die Behauptung des Baronius,
Sperates ſei auch Drigenift gewefen (Annal. ad ann. 402, 18.), und mit Recht
hat Balefins die Orthodoxie deffelben vertheidigt (in s. Diss. de vita et scriptis
Socr. et Sozom. vor feiner Ausgabe der Kirchengefchichte deffelben). Aber das
ift nicht zu Iäugnen, daß Sperates die Einheit in der Diseiplin nicht für nöthig
erachtet, 3. B. in Betreff der Ofterfeier, der Faften, des Cölibats ıc. (vgl. V. 22).
Buch 1. 18. verfichert er, wenn feine Streitigkeiten und Spaltungen in der Kirche
entftanden wären, fo hätte er es für überflüffig erachtet, eine Kirchengefihichte zu
verfaffen. Dean fünnte hieraus ſchließen, daß er gerade im dogmenhiftorifchen
Theile feine meifte Stärfe habe; aber dem ift in der That nicht foz im Gegen—
en
Kirchengeſchichte. 139
theil zeigt er vielfach, daß er kein Theologe war, und ſchon Photius (Cod. 28.)
bemerkte: 2» rois doyuaoıv 3 Alav Zoriv axgıßns. Bielleiht ift dieß jedoch
nicht allgemein, fondern nur von der Begünftigung der Novatianer zu verftehen.
4) Der zweite Fortfeger des Eufebinus, Hermias Sozomenus, flammte aus
einer paläftinenfifchen Familie, welche zu Bethel bei Gaza wohnte und von dem
Patriarchen des paläftinenfiihen Monchthums Hilarion zum Chriſtenthum befehrt
worden war (V. 15.). Es waren dieß die erften Chriften jener Gegend, auch
bauten fie dafelbft die erſten Kirchen und Klöfter, und zeichneten fih durch be-
fondere Heiligkeit aus. Wahrſcheinlich wurden fie Mönche (vgl. V. 15. VI. 32.),
Spzomenus felbft hatte in feiner Jugend noch mit mehreren derfelben Umgang
geflogen (V. 15.), und wurde, wie es ſcheint, unter dem Einflug diefer frommen
Mönde zu Gaza erzogen (VII. 28. Majum, das hier genannt wird, ift der See-
bafen von Gaza). Bon einem derfelben, Salamanes (VI. 32.) erhielt er wahr-
fcheinlich feinen Beinamen Salamanes, wie ihn Photius (Bibl. Cod. 30.) nennt,
während ſich in der Ueberfchrift feiner Kirchengefhichte die Form Salaminius
findet, Bon jenen Mönchen erbte er wohl auch feine große Berehrung für das
Mönchthum (I. 12). Später fludirte er Nechtswiffenfchaft zu Berytus, und
wurde, wie Sperates, Sachwalter in Eonftantinopel (II. 3.). Als folcher fchrieb
er feine Kirchengefhichte in neun Büchern, welde vom J. 324 bis zum 1Tten
Eonfulate Theodofii II. (439), dem fie auch gewidmet ift, gehen follte (ſ. die An—
rede an den Kaifer vor dem erften Buche). In der That reicht fie jedoch nur bis
zum 5. 423. Die neun Bücher des Sozomenus find um weniges größer als die
echs des Sperates, dagegen hat das Werf des letztern doch einen größern Werth,
Sperates hat mehr Urtheil, Kritif, Pragmatismus und Objectivität als Sozo—
menus. Außerdem Hat diefer fehr viel Fremdartiges, über Entſtehung einzelner
Städte u, dgl., in feine Kirchengefchichte aufgenommen. Dagegen Iobt Photins
feinen Styl, und er ift in der That geſchmückter als der des Socrates. Aber er
iſt dennoch nicht fchön und nicht gewandt (vgl. die Diss. de vita etc. Socratis et
Sozom. in der Balefifhen Ausgabe diefer Hiftorifer). Die Zuſchrift an den
Kaiſer (vor dem erfien Buch der K. G.) zeugt auch nicht von einfacher Wahrheits-
liebe. Zwei andere Bücher des Sozomenus, ein Breviarium der Rirchengefchichte
von Ehrifti Himmelfahrt bis zur Abfegung des Lirinius enthaltend (ſ. Zufchrift
an den Kaifer), find verloren gegangen. Valeſius glaubte in der oben citirten
Differtation wahrfcheinlich machen zu fünnen, daß Sozomenus, als der jüngere
und minder begabte, den Socrates ausgefchrieben habe, Stäudlin dagegen
(Gef. und Literatur der Kirchengeſch. Herausgeg. v. Hemfen, Hannover 1827,
©. 64 ff.) hat mit mehr Recht behauptet, daß beide unabhängig von einander
ſchrieben, wohl aber zum Theile gleiche Quellen (vgl. Soz. I. 1. mit Soer. I. 1.
VI. 1.) benügten, Daher fommt es, daß bald diefer, bald jener ausführlicher
if, Hätte aber Sozomenus den Soerates vor ſich gehabt, fo würde er da, wo
er von feinen Vorgängern, namentlich Hegefippus und Eufebius ſpricht CL. 1.),
gewiß auch feiner erwähnt Haben, 5) Der dritte große Fortfeger der Kirchen⸗
geſchichte des Eufebius iſt Theodoret, der berühmte Bifchof von Cyrus in Syrien,
vielleicht der gelehrtefte Theologe feiner Zeit (Mitte des fünften Jahrhunderts).
Seiner vielen andern, befonders eregetifhen Werke nicht zu gedenken (f. Theo-
doret) ſchrieb er um's J. 450, alfo etwas fpäter als die beiden zuvor Genannten,
eine Kirhengefchichte in fünf Büchern, von der Entftefung der arianifchen Härefie
(320) bis 428, mit der ausdrücklichen Bemerkung (I. 1.), daß er den Eufebius
fortjegen wolle. Seine Schrift ift unter den drei Continuationen die Heinfte, aber
befie. Schon Photius (Cod. 31.) rühmt den Styl: er fei Har, erhaben und ge-
gedrängt, und leide nur hie und da an übertriebenen Metaphern. Einen befon-
dern Werth gab Theodoret feinem Buche dur Aufnahme fehr vieler Urkunden
und durch ausführlichere Erzählung der Kirchengeſchichte des Orients, namentlich
140 Kirchengeſchichte.
des antiocheniſchen Patriarchats, zu welchem er ſelbſt gehörte. Zu bedauern iſt
dagegen, daß er die chronologiſchen Data faſt nirgendwo beifügt. Daß er den
Soerates und Sozomenus habe ergänzen wollen, wurde ſchon behauptet, aber
nicht bewiefen. Er felbft wenigftens deutet es nicht im Geringften an, und hatte
höchſt wahrſcheinlich gar Feine Kenntniß von den Arbeiten feiner zwei Vorgänger
Cogl. die Praef. des Valeſius zu feiner Ausgabe der Kirchengefch, Theodoret's
und Stäudlin I. cc. ©. 61. 69.) 6) Ein anderes Firchenhiftorifches Werk alter
Zeit von dem Diacon Philippus Sidetes, aus Side in Pamphilien, der zwei
Menfchenalter vor Theodoret lebte, ift verloren gegangen. Nach der Schilderung
des Soerates (VII. 27.) war es fehr umfangsreih, aus 36 Büchern und faft
1000 zöuoıs beftehend, aber vol fremdartigen Stoffes; fo daß aftronomifche, arith-
metifche und muficalifche Fragen darin behandelt, Infeln, Berge, Bäume und alfer-
lei andere Dinge darin gefchildert waren. Soerates fügt bei, daß das Werk fo-
wohl für Gelehrte als für Ungelehrte unnüg gewefen fei und namentlich feine
chronologiſche Ordnung gehabt habe, Die Zeiten des Athanaſius z.B, habe es
nach den Begebenheiten unter Raifer Theodofius befprochen. Ein Fragment davon
bat Dodwell aus einem Bodleianifchen Coder im Append. ad Diss. in Iren. p. 488
edirt. Ebenfalls verloren gingen auch die andern vielen Schriften des Philippus
Sidetes, 3.2. feine Widerlegung der Bücher des Kaifers Julianus Apvftata,
7) Sünger als Philippus, aber älter als Sperates ıc. iſt Philofiorgius aus
Cappadoeien, ein Anhänger der firengften arianifchen Partei der Eunomianer,
Er verfaßte im Intereſſe feiner Partei eine KRirchengefchichte in zwölf Büchern
vom Anfange der arianifchen Härefie bis zum J. 423, Sein Hauptzwed dabei
war, die arianifche Lehre als die urhriftliche darzuftellen und die Spaltungen
unter den Arianern felbft zu entfchuldigen. Das Werl ging verloren, dagegen
befigen wir noch den ziemlich großen Auszug, welchen Photius Cin einer beſon—
deren Schrift, in der Biblioth. Cod. 40 fpricht er nur kurz darüber) machte, Au
finden fi noch weitere Fragmente davon bei Suidas u. A. Alle diefe Ueber—
refte hat Valeſius aus Handſchriften, mit Iateinifcher Ueberſetzung und Noten in
feine Ausgabe der griechiſchen Kirchenhiftorifer (wovon unten) hinter Evagrius
aufgenommen. 8) Im Anfange des fechsten Jahrhunderts lebte der Kirchen
hiſtoriker Theodorus mit dem Beinamen Lector, weil er ein Lectoramt an der
Kirche von Conftantinopel verfah. Zuerft fertigte er in zwei Büchern einen Aus-
zug aus Soerates, Sozomenus und Theodoret, alfo eine historia tripartita, die
jedoch mit dem gleichnamigen Werfe Caſſiodors nicht zu verwechfeln ift. Uebrigens
geht diefer Auszug nicht foweit als Sperates 2c., fondern nur bis Kaiſer Julian,
Noch jetzt find mehrere Codices diefes Werkes vorhanden, da e8 jedoch nichts ent=
hält, als Stellen Anderer, des Socrates ꝛc., fo fand Valeſius nicht für nöthig,
es eigens abdrucken zu laffen, vielmehr nahm er nur die Barianten daraus in
feine Notamine zu Socrates ꝛc. auf. Wichtiger ift das zweite Werf Theodor's,
ein Driginalwerf, nämlich eine Fortſetzung des Soerates bis Kaiſer Juſtin L
(+ 527). Auch diefe Arbeit umfaßte zwei Bücher, ift aber nicht auf uns ge-
fommen, fondern es find nur noch die Fragmente übrig, welche Nicephorus
Ealfifti daraus machte. Valeſius hat fie Hinter den Philoftorgifhen Fragmenten
abdrucken laſſen. Mehrere der Alten (z. B. Joh. Damafe.) haben die erfle und
zweite Schrift Theodor's als ein Werf angefehen und darum von vier Büchern
feiner Kirchengeſchichte geſprochen. 9) Der letzte griechifche Kirchenhiftorifer der
alten Zeit war Evagrius (ſ. d. A.), ein Syrer, zu Epiphania (nicht Antiochien)
um’s J. 536 geboren, Er wurde Sachwalter, Scholaftieus, in Antiochien, war
verheiratheter Laie, fand in großem Anfehen, wurde Quäſtor und Erzaoxos
Präfeet), und ftand befonders mit dem Patriarchen Gregor von Antiochien in
naher Beziehung, der ihn öfter als feinen Syndieus und Advocaten benüßte,
Seine Rirchengefehichte gebt in ſechs Büchern von A31 (dritte allg. Synode) big
Kirchengeſchichte. 141
594, iſt alſo beſonders für die Neſtorianiſchen und Monophyſitiſchen Angelegen-
heiten wichtig. Nach J. 1. wollte Evagrius ausdrücklich eine Fortſetzung des
Theodoret/ Soerates und Sozomenus liefern. Er zeichnete ſich wie durch Ge⸗
lehrſamkeit ſo durch Rechtgläubigkeit aus, war aber nicht frei von Leichtgläubig-
keit und Wunderſucht. Auch nahm er viel zu viel Profanhiſtoriſches auf, ſo daß
in fechstes Buch faſt nur eine Geſchichte des perſiſchen Krieges iſt. Sein Styl
gebildet und angenehm und wurde ſchon von Photius (Cod. 29.) belobt, —
Die erſte griechiſche Ausgabe faſt aller bisher genannten kirchenhiſtoriſchen
Werke von Eufebius (das Chronicon ausgenommen), Socrates, Sozomenus,
Theodoret, Evagrius und Theodorus Lector beforgte Robert Stephanus (Paris
1544 Fl.) aus zwei alten griechiſchen Handſchriften. Border hatte man nur
lateiniſche Ueberfegungen, fo daß z. B. Baronius nur die mitunter unrichtige
Weberfegung der Eufeb’shen Kirhengefhichte von dem Biſchof Chriſtophorſonus
benützen konnte.) Mit verſchiedenen Varianten vermehrt erſchien 1612 eine neue
Auflage zu Genf; aber auch fie wurde wieder weit übertroffen von Henri de
Balvis (Valesius). Diefer franzöfifhe Advocat Hatte weit mehr Gefhmaf an
der Literatur ald an juriftifhen Gefhäften, und übernahm darum um die Mitte
des iTten Jahrhunderts vom franzöfiihen Episcopate den Auftrag, gegen an-
gemeffenes Jahrgeld die ganze Sammlung der alten griehifhen Kirchenhiftorifer
aufs Neue herauszugeben. Er benügte dazu eine beträchtliche Anzahl weiterer
Eodices, namentlich den Mazarinifchen aus dem zehnten Jahrhunderte, verbefferte
den Tert an zahliofen Stellen, und verband damit auch eine neue Iateinifche
Weberfegung. Aber faft noch mehr Verdienft erwarb er ſich durch die zahfreihen
Noten, in denen ein wahrer Schag von Gelehrfamfeit ftedt, und gab endlich
noch verfchiedene Differtationen bei. Das Ganze umfaßt drei Folivbände, Paris
1659 — 73, Bd. L: fämmtlihe Firchenhiftorifche Werfe des Eufebius (das Chroni-
con ausgenommen), Bd. Il.: Sperates und Sozomenus, Bd, UI.: Thevdoret,
Evagrius und die Ueberreſte von Philoftorgius und Theodorus Lector, Ein
fhöner und ziemlich correcter Nachdruck, ebenfalls in drei Foliobänden erfchien
1772—79 angeblich zu Mainz, in der That zu Frankfurt a. M., ein zweiter zu
Amfterdam 1695. Eine neue Ausgabe beforgte Wilh. Reading 1720 zu Cam-
bridge, indem er noch eine große Anzahl weiterer Noten, eigene und fremde bei-
fügte und den Druck bequemer einrichtete, fo daß die Noten nicht mehr an das
Ende jedes Bandes, fondern unmittelbar unter den Tert zu fliehen famen, Ein
zwar ſchöner aber uncorreeter Nachdruck davon erfihien 1746 zu Turin (Augustae
Taurinorum), 3 fol. Eine noch beffere Ausgabe, jedoch nur von Eufebins, wollte
mit Benügung weiterer Handfihriften der teutfche Gelehrte Fr. A. Stroth geben,
aber es erſchien nur der erfte Band (Halae ad Salam. 1779 8.). In unferen
Tagen haben zwei andere teutfche Gelehrte ebenfalls neue Ausgaben von Euſebius
(allein) beforgt, Zimmermann und Heinihen. Der Erftere gab jedoch nur
den griechifchen Tert des Valeſius fammt deffen Iateinifcher etwas verbefferter
Ueberfegung, aber ohne die gelehrten Noten (Eusebii hist. ecel. libri X, vita Const.
Ubri IV, nec non Constantini oratio ad sanctos et Panegyricus Eusebii. Francof.
' 1822. 6 Thlr.). Mehr Verdienft erwarb fi Heinichen. Er Fonnte zwar Feine
‚ aene Tertesrecenfion liefern, da ihm Feine alte Handfhrift zu Gebote ftand,
‚ Dagegen fuchte er doch eine Tertesrecognition vorzunehmen, d. 5. er bat unter
) Benügung des von Stroth und Balefius beigebrachten Fritifchen Materials den
VBaleſiſchen Text da und dort verbeffert. Sein Hauptaugenmerf aber richtete er
auf die Noten und vermehrte bier die Valefifchen durch eigene und fremde um
ein Beträchtliches. Auch fügte er einige gelehrte Ercurfe bei. Zuerft erfhien von
ihm Eusebii hist. ecel. X. libri, Lips. 1827, in drei Detavbänden (7 Thlr. 12 Gr.);
darauf folgte 1829 Eusebii de vita Const. libri IV et Panegyricus atque Constan-
ini ad sanctorum coetum oratio (3 Thlr,), Seine Ausgabe umfaßt alfo wie die
}
142 Kirchengeſchichte.
Zimmermann'ſche alle kirchenhiſtoriſchen Werke des Euſebius, mit Ausnahme der
Chronik; jedoch ohne Iateinifche Ueberfegung. ine wahre neue Tertesrecenfion
unternahm etwas fpäter der Anglicaner Eduard Burton, Er verglich einige
bereits von Valeſius, aber nicht vollftändig benüßte Eodices auf's Neue, nament- -
lich ven Mazarinifchen, verband Damit einige andere, welche Valeſius noch gar
nicht gefannt hatte und fuchte nun, unter Anwendung des gefammten Fritifchen
Apparats einen neuen beffern Tert der Eufeb’fchen Kirchengefchichte (nur diefer)
herzuftellen. Da er während diefes Gefchäftes flarb, wurde feine Arbeit von
einem Freunde edirt unter dem Titel: Eusebii Pamphili historiae ecel. libri decem.
Ad codices manuscriptos recensuit Eduardus Burton, S. T.P. ss. theol. nuper.
professor regius. Oxon. 1838. II Bd. 8. (8 Thlr.). Diefe Arbeit war jedoch
feine glücfliche; der Tert wurde zwar an manchen Stellen verändert, aber felten
verbeffert (vgl. Zeitfch. für Philoſ. u. kath. Theol. v. Achterfeld ze. 30. Hft.
©. 150 ff.). Mebrigens nahm Heinichen hievon Veranlaffung, im J. 1840 noch
einen Nachtrag zu feiner Ausgabe zu liefern unter dem Titel: Supplementa nota-
rum ad Eusebii historiam eccl. et excerpta ex editione Burtoniana cum ejusdem ac
Schoedelii vindiciarum flavianarum censura et cum collatione codieis Dresdensis. —
Endlich bemerfen wir noch, daß von der Rirchengefchichte des Euſebius auch zwei
teutfche Ueberfegungen eriftiren, von Stroth, Duedlinbg. 1799 und von Elof,
Stuttg. 1839. — Weit weniger als die Griechen Ieifteten die Lateiner in dem
erften Zeitalter der Kirchenhiftoriographie. Am meiften that fih noch 10) Rufi-
nus (ſ. d. U) um's Jahr 400 hervor, indem er die Kirchengefehichte des Eufe-
bins (frei und mit Zufägen) in's Lateinifhe überfegte, die zehn Bücher in neun
zufammendrängte und zwei neue Bücher eigener Compofition hinzufügte, vom
Beginne des Arianismus bis zum Tode Theodoſii d. Gr, (318—395) reihend.
Sie find bald auch in's Griechifhe überfegt worden, und enthalten, wie die
Rufin'ſchen Zufäge zu Eufebius (die neun Bücher), manche Unrichtigfeiten, chrono—
logiſche Fehler, auch ungerechte Urtheile, z. B. über Gregor von Nazianz und
Baſilius d. Gr., weßhalb Sperates, der Anfangs dem Rufin gefolgt war, feine zwei
erften Bücher wieder umzuarbeiten für gut fand. Die befte Ausgabe ift: Rufini, hist.
eccl. libri XI. (die 9 u, 2) ed. Petrus Thomas Cacciari (Carmelitund Prof, an
der Propaganda), Rom. 1740. 2 T. 4. In einer beigegebenen Dissert. de vita,
fide, ac Eusebiana ipsa Rufini translatione fuchte Caceiari den Rufin gegen mehrere
Anklagen des Valefius zu vertheidigen. Vgl. auch Kimmel, de Rufino Eusebii
interprete. Gerae 1838. — 11) Rufin's Zeitgenoffe Sulpitius Severus
(ſ. d. A.) fohrieb im 3. 403 eine historia sacra, auch chronica sacra genannt, in
zwei Büchern vom Anfange der Welt bis 400 n. Chr. Das ganze Werk ift klein
und der eigentlich Kirchengefchichtliche Inhalt von Chrifti Geburt an ſehr Klein,
nur Einzelnes, 3. B. über die. Priscillianiften, etwas ausführlicher; aber der
Styl, gedrängt und Har, erinnert an die claffifhen Zeiten, ſo daß der Verfaffer
den Ehrennamen des hriftlihen Salluftius erhalten hat. Ebenfalls kirchenhiſtoriſch
ift fein Werf de vita S. Martini Turon. Die beften Ausgaben find von Hieron.
de Prato, Veronae 1741 in zwei Duartb, und von Gallandius, in der Biblioth.
PP. 1772 T. VIH. p. 355 sqq. — 12) Nicht eigentlich Kirchenhiſtoriker, vielmehr
Profanhiftorifer mit chriftlich-apslogetifchem Intereffe war der ſpaniſche Priefter
Drofius, ein großer Verehrer des hl. Auguftin, auf deffen Wunſch er au im
J. 417 feine lib. VII historiarum adv. Paganos verfaßte, Gerade damals war
das römifche Reich von fehr vielem Unglücke heimgefucht (Völferwanderung, Hun-
ger und Seuchen), und die Heiden fihrieben alle diefe Calamitäten auf Rechnung
des Chriftenthums, als Strafe der Götter, weil man die Chriften dulde. Oro—
fing wollte nun Hiftorifch zeigen, daß auch in den vorchriftlichen Jahrhunderten
ähnliche Calemitäten vorgefommen ſeien; feit Chriftus aber Habe manches Elend
die Welt gerade vefhalb getroffen, weil man die Chriften verfolge, — Das
——
23
nn
SE 1 a
Kirchengeſchichte. 143
Werk des Drofins hat in mehreren Codicibus die räthſelhafte Auffchrift de
Ormesta oder Ormesia, auch Hormesta mundi, was wohl nur durch einen Schreib-
fehler aus de miseria mundi, und davon Handelt es ja, entftanden ifl. Befte
Ausgabe von Havercamp, Lugd. Bat. 1738 u. 1767. 4. — Wichtiger für die
Kirhengefchichte wurden die Bemühungen Caſſiodor's (ſ. d. A.). Nachdem er
feine hohen Staatsämter im oſtgothiſchen Reihe niedergelegt und Vorſteher des
von ihm gegründeten Klofters Bivarefe geworden war, fuchte er auf alle Weife
für Bildung feiner Mönche zu forgen, und ließ zu diefem Zwecke (Mitte des
jechsten Jahrhunderts) auch die Eirhenhiftorifchen Werke des Socrates, Sozo—
menus und Theodoret durch einen Scholafticus, Epiphanius, in's Lateinifche über-
ſetzen. Darauf fhmolz er ſelbſt diefe drei Fortjegungen des Eufebins, fie ab-
Fürzend und in Harmonie bringend, in ein mäßiges Werk von zwölf Büchern zu—
fammen, das feinem Urfprunge nah den Titel Historia tripartita erhielt. Der
Styl ift [hwülftig und hat Barbarismen, das Werf felbft aber wurde nebft den
genannten Rufin’chen Arbeiten für das ganze lateiniſche Mittelalter eine Haupt-
quelle der Kirchengefchichte,. Seit jedoch die Duellen der tripartita.(Soerates,
Spzomenus und Theodoret) uns zugänglich find, ift fie felbft immer mehr in den
Schatten getreten. Eine Ausgabe davon beforgte der gelehrte Beatus Rhenanus,
Basil. 1523 fol.; die befte aber findet fih in der Gefammtausgabe der Caſſiodor'⸗
hen Werfe von Garet, Rouen 1679. 2 fol. — B. Literatur des zweiten
Zeitalters. Hatten im erftien Zeitalter die Griechen wie in der chriftlichen Li—
teratur überhaupt, fo auch in der Rirchenhiftoriographie entichieden den Vorrang
vor den Lateinern inne gehabt, fo begann dagegen im zweiten Zeitalter die grie—
chiſche Kirche immer mehr zu erftarren, während die Iateinifche nach vielen Stür-
men wieder blühend daftand, und in den neuen germanifchen und romanifchen
Bölfern ihre fräftigen, zu junger, frifcher Eultur emporwachfenden Träger er-
bielt. In Griechenland geht darum jest die Kirchenhiftoriographie ihrem Tode
zu, während fie im Abendlande in den Anfang einer neuen Entwicklung einzutre=
ten beginnt. In der ganzen Zeit von 600—1500 n. Ehr., während des ganzen
Mittelalters hat Griechenland nur einen einzigen einigermaßen namhaften Kirchen-
hiftorifer erzeugt: 1) Nicephorus Callifti (Sohn des C.), einen Geiftlichen
zu Eonftantinopel um die Mitte des 14ten Jahrhunderts, der die Bibliothef der
Sophienkirche, woran er ange gedient hatte, benügte, und theils aus den alten
griechiſchen Kirchenhiſtorikern Eufebius ꝛec. (und zwar fehr häufig), theils aus
andern alten Urkunden und Duellen aller Art fchöpfte, von denen jetzt die meiften
verloren find, Er gibt fich felbft das Zeugniß großen Fleißes, foricht auch fehr
* von dem Werthe und der Würde der Kirchengefchichte und erklärte, ven Ver—
uf derfelben von Chriftus bis faft auf feine Zeit in einem Ganzen darftellen
zu wollen (I. 1.). Er gibt darauf fogleich eine Ueberficht feines Werkes, zählt
18 Bücher auf und deutet bei jedem den Hauptinhalt in Kürze an. Diefe 18
Bücher reichen aber lange nicht bis „faft auf feine Zeit“, fondern nur bis zum
Tode des Kaifers Phocas im J. 610. Wahrſcheinlich follten diefe 18 Bücher nur
die erfie Abtheilung des ganzen Werfes bilden. Der einzige griechifche Cover,
in welchem das Werk des Nicephorus noch vorhanden ift (zu Wien) hat nach den
Argumenten der 18 Bücher noch die Argumente von fünf weiteren, welche bis
911 n. Ehr. reihen. Man ſchloß daraus, daß es ehemals 23 Bücher von Ni-
cephorus gegeben Habe, aber nur mehr die erfien 18 auf ung gefommen feien,
Allein die uns erhaltene erſte Abtheilung fanı niemals mehr ald 18 Bücher
gehabt Haben. Nicephorus fagt nämlich felbft (I. 1.): „Um fein Werf vor Ver—
mifhung mit fremden Schriften zu verwahren, babe er jedes Buch acroſtichiſch
mit einem Buchftaben feines Namens angefangen”, fo daß alle zufammen vie
Worte Nıznpogov Kakklorov geben. Diefe zwei Worte beftehen aber aus 18
Buchſtaben, und es Fonnen darum auch nicht mehr als 18 Bücher gewefen fein.
144 Kirchengeſchichte.
I ——
Da jedoch Nicephorus, wie er ſelbſt ſagt CI. 1.), erſt 36 Jahre alt war, als er |
diefe 18 Bücher vollendete, und er die Kirchengefchichte bis „faft auf feine Zeit“
fortfegen wollte, fo ift alle Wahrfcheinlichkeit vorhanden, daß er diefer erften
Abtheilung von 18 Büchern noch eine zweite nachfolgen laſſen wollte; und wie
die erſte ſechs Jahrhunderte umfchloß, fo waren auch für die zweite noch netto
ſechs Jahrhunderte übrig, wenn fie bis in’8 13te Säculum reichen follte, Ob er
jedoch diefe zweite Abtheilung wirflich ausgearbeitet Habe, ift nicht zu entſcheiden.
Bielleicht waren jene fünf Bücher, von denen der Codex die Argumente mittheilt,
der Anfang diefer zweiten Abtheilung ; es iſt jedoch auch möglich, daß Nicephorus
gar nicht mehr felbft Hand anlegen konnte und ein Anderer eine Fortfegung in
fünf Büchern fertigte, Wie dem aber fei, wir haben nur mehr 18 Bücher, und
diefe in einer einzigen griechifch-Tateinifchen Ausgabe von dem Jeſuiten Frontoducäus
(Fronton le Duc f. d. A.), Paris 1630, 2 fol. Bloß eine lateiniſche Neberfegung
gab Joh. Lang, Bafel 1561, heraus, Bei all’ feinem Fleiße ließ fih übrigens
Nicephorus auch viele Fehler zu Schulden fommen und nahm befonders viel Un-
richtiges und Fabelhaftes auf, wie ſchon Baronius in feinen Annalen an manchen
einzelnen Puncten nachgewiefen hat, Außer feiner Kirchengefchichte ſchrieb Nice-
phorus auch ein Verzeichniß der byzantinifchen Kaiſer und Patriarchen und eine
Synopsis scripturae. Vgl. Fabricius, Biblioth. gr. T. VI. p. 437. — 2) Biel
werthloſer ift die Arbeit des melchitifchen Patriarchen Eutychius zu Alerandrien,
welcher um's Jahr 940 Alexandrinae ecclesiae origines sive Annales, von Er-
fhaffung der Welt bis 940 gehend, in arabifcher Sprache verfaßte. Es find
jedoch nur die Nachrichten über die mohammedanifchen Zeiten und Gegenden
brauchbar. Eine Ausgabe mit Iateinifcher Ueberfegung lieferte Pocnde, Oxford
1658 in 2Quartb. Vgl. Renaudot, hist. patriarcharum alex. Praef. 3. Mannig-
fache Firchenhiftorifche Nachrichten bietet ung in der griechifchen Kirche endlich die
lange Reihe der fog. Byzantiner, d.h. der von 500—1500 gehenden byzan-
tinifchen Profanhiftorifer und Kaiſergeſchichtſchreiber. Die befte Ausgabe derfelben
veranlaßte vor etwas mehr als zwei Decennien der berühmte Niebuhr, und fie
erfchienen feit 1828 zu Bonn in 46 Octavbänden. Es find dieß Agathias, Joh.
Cantacucenus, Leo Diaconus, Nicephorug Gregoras, Conftantinus Porphyroge-
nitus, Georgius Syneellus, Nicephorus von Conftantinopel, Dirippus, Joh,
Malala, Procopius, Ducas, Theophylact Simocatta, Geneſius, Nicetas Cho—
niates, Georg Pachymeres, Joh, Cinnamus, Michael Glycas, Merobaudus und
Eorippus, Conftantin Manaffes, Zofimus, Joh. Lydius, Paul Silentiarius,
Theophanes mit Anaftafins, Biblivthecar von-Nom, Georg Cedrenus, Georg
Phranges, Codinus, Anna Comneya, Ephräm, Zonaras, Leo Grammaticug,
Laonieus Chalcvenndylas, das berühmte Chronicon Paschale s. Alexandrinum und
einige Andere, Neltere gute Ausgaben erfchienen Paris 1648 in 23, Benedig
1727 in 28 Foliobänden (lettere Ausgabe numerirt die Bände niht, und fängt
in jevem Bande mehrmals mit den Seitenzahlen von vorne an, fo daß bald
mehr, bald weniger Bände der ganzen Sammlung gezählt werden). — Die la-
teinifche Rirchenhiftoriographie des Mittelalters verfolgte drei Hauptrichtungen,
1) Bor Allem entftanden jegt merfwürdige und bedeutende Werfe über die Kir-
chengefchichte einzelner Völker, Volfsfirchengefchichte, ohne ftrenge Scheidung des
profan- und kirchenhiſtoriſchen Stoffes, Sp ſchrieb a) Gregor von Tours
(ſ. d. A.), geft. 595, eine historia ecclesiastica Francorum, auch geradezu historia
oder gesta Francorum genannt. Das Werf umfaßt 10 Bücher, von denen Das
erfte eine kurze Chronif von Erfohaffung der Welt bis zum Tode des hl. Martin
von Tours (+ 400) ift, die 9 andern aber die fränkifche Volks-⸗ und Kirchen⸗
gefhichte von 397—591 in dem rauhen Latein jener Zeit enthalten. Trotz deut-
lich hervortretender Wahrheitsliebe hat Gregor doch auch Manches Unwahrfchein-
liche und Fabelhafte aufgenommen. Die neuefte Ausgabe beforgten Guadet und
Kirchengeſchichte. 4115
Taranne, Paris 1836, latein. und franz. Aeltere Ausgaben: von dem Mauriner
Ruinart, Paris 1699 fol., und im zweiten Bande der Bouquet'ſchen Sammlung
der rerum gallican. script. 1739 Cauch mit dem franzöfiichen Titel recueil des
historiens des Gaules etc.). Außerdem haben zwei teutſche Gelehrte, Löbelt,
Prof. in Bonn, in „Gregor von Tours u. |. Zeit”, Leipz. 1839, und Dr. Kries
in „de Gregorii Turon. vita et scriptis*, Bresl. 1839, das Leben und die Verdienſte
Gregors, namentlich auch als Hiftorifers, unterſucht. Bol. auch Bähr, die chriſtl.
Dichter und Geſchichtſchr. S. 138 ff. b) Wie man Gregor von Tours den Vater der
fränfifchen Geſchichte nennt, fo verdiente 150 Jahre fpäter Beda der Ehrwürdige
€. 9.4), Moͤnch zu Jarrow-Weremouth (zwei combinirte Klöfter in England, ſ.
den Art. Jarrow, und Lingard, Altertfümer der angelf. Kirche. ©. 209, Note
5.), geft. 735, den Ehrennamen des Vaters der englifchen Gefhichte durch feine
historia ecclesiastica gentis Anglorum, libri V. Das Werf geht von der Eroberung
Britanniens durch Zulius Cäfar bis zum J. 731. Befte Ausgabe von Stevenfon,
London 1838. c) Die Gefhichte der Longobarden, kirchliche und profane, be—
ſchrieb der Lombarde Paulus Diaconus. Er war früher Diaconus zu Aqui-
leja und Kanzler des Iegten Longobarbenfönigs Defiderius, gewefen. Nach deffen
Sturz gerieth er in die Gewalt Carls d. Gr., und wirkte nun am fränfifchen
Hofe längere Zeit als Gelehrter, bis er wegen Verdachts einer Verſchwörung
erilirt wurde und als Möndh in Monte-Caffino farb im J. 799. In Monte-
Caſſino ſchrieb er feine historia seu de gestis Longobardorum libri VI, von den
Anfängen diefes Volkes bis 773 reichend, die Hauptquelle, ja faft die einzige
Duelle für die Gefhichte der Longobarden. Eine Fortfegung davon lieferte Er-
chempertus, historia Longobardorum Beneventi oder de gestis principum Bene-
venfanorum von 774— 889. Beide Werfe finden fi in Muratori, scriptores
rerum ital. T. I. u. I; Erchempert auch bei Pertz, Monum. Germaniae, scriptorum
T. I. p. 240—264. Bol. auch Bähr, a. a.O. ©, 155 ff. d) Im die Kategorie
der Nationalfirhenhiftorifer gehört auch Adam von Bremen (f.d.A.), feit 1067
Domberr und Scholafticus zu Bremen, durch feine historia ecclesiastica libri VI. Es
ift dieß eine Kirchengefchichte des feandinavifhen Nordens, beſonders der Bis-
thümer Bremen und Hamburg, voll wichtiger documentariſcher Nachrichten, von
788—1076 gehend, Die befte Ausgabe findet fih in der von Fabricius im J.
1706 zu Hamburg neu beforgten Lindenborg’fchen (XVI Sec.) Sammlung ver
seriptores rerum german. septentr. Eine teutfche Ueberfegung gab Carften Mi-
fegäs, Brem, 1825, eine Differtation J. Asmussen, de fontibus Adami Bre-
mensis. Kil. 1834. e) Die nämlihen Erzbisthümer Hamburg und Bremen fan-
den um's Jahr 1500 einen zweiten Hiftoriographen an Albert Kranz (ſ. d. A.),
Domberr in Hamburg, geft. 1517. Seine Metropolis, ein berühmtes, oft gedrucktes
Werk, berücfichtigt aber mehr den teutfchen, als feandinavifhen Norden (Adam
von Bremen), und enthält die Rirchengefchichte Bremens, Hamburgs, Nieder-
ſachſens und Weftphalens von 780—1504. Am beften find die Franffurter Aus—
gaben nach dem Jahre 1576, f) Endlich zählen wir hieher auch Flodoard (ſ. d. A.).
In der Schule von Rheims gebildet, wurde er Priefter, Pfarrer und Abt, 951 zum
Biſchofe von Noyon und Tournay erwählt, aber von König Ludwig Trangmari-
nus welcher den Stuhl an einen Andern vergab, an der Befisnahme gehindert.
i Er far im 3. 966 und fihrieb eine historia ecclesiae Remensis bis 948, eine
Specialtirchengeſchichte zwar nicht eines Volkes, aber eines großen Erzbisthums,
edirt von Sirmond, Paris 1611, und Colvenar, Douai 1617, 8., auch in der
Biblioth. max. PP. Lugdun. 1677. T. XVI. 2) Die zweite Ciaſſe der Firhen-
biftorifchen Werke des Mittelalters bilden einzelne Verſuche einer allgemeinen
Kirhengefhihte. a) Haymo, feit 840 Bifchof von Halberftadt (. Haymo),
beſchrieb in 10 Büchern, meift aus Rufin fchöpfend, die Kirchengeſchichte ver vier
erften Jahrhunderte, libri X. de christianarum rerum memoria oder Breviarium
Kirchenlexikon. 6. Dr, 10
146 Kirchen geſchichte.
historiae eccles. in einem für feine Zeit guten Latein. Beſte Ausgabe von Ma—
der, Helmſt. 1671. 4. b) Um diefelbe Zeit Iebte der gelehrte Anaſtaſius,
Bibliothecar der römischen Kirche, von Nicolaus I. zum Abte eines Klofters jen-
feits der Tiber erhoben. Er ſchrieb um die Mitte des neunten Jahrhunderts
(872) eine historia ecclesiastica seu chronograpkia tripartita, eine aug ben brei
byzantinifhen Geſchichtſchreibern Nicephorus (Patriarch v. Conftantinopel), Georg
Syncellus und Theophanes Confeffor Cihre Werfe find in der Sammlung der
Byzantiner), in's Lateinifche übertragene, theils Rirchen- , teils Profangefchichte,
Sie geht bis in den Anfang des neunten Jahrhunderts, das Hiftorifche Material
ift aber nicht fo chronologiſch zuſammengeſtellt, wie in der Caſſiodor'ſchen Tri-
partita, fondern die Ueberſetzungen aus den drei Byzantinern ftehen hinter ein-
ander und find nicht zu einem Ganzen verarbeitet. Bei weitem das Meifte hat
Theophanes geliefert, Die befte Ausgabe ift die des berühmten Philologen Imm.
Deffer in der Bonner Byzantinerfammlung, Bd. IL. der Chronographie des Theo—
phanes. — Gewöhnlich wird dem Anaftafius auch das berühmte Pontifical-
buch, liber pontificalis, auch de vitis Romanorum pontificum betitelt, zugefchrieben,
ein für die Kirchengefchichte Cauch die allgemeine) Höchft wichtiges Werft, Es ent-
ke Ba dla a nme nam nn dd non
FE
halt Lebensbefchreibungen aller Päpfte bis Stephan VI. (feit 885), deffen Tod
(891) nicht mehr darin angegeben iſt. Es ift jedoch ſchon von den gelehrten Ver=
faffern der Origines de l’eglise Romaine (Paris 1826) und geftüßt hierauf von
mir in der Tübinger Quartalſchr. 1845, ©. 320 ff. gezeigt worden, daß Anafta=
fing Höchftens die Lebenshbefchreibungen einiger der letzten Päpſte verfaßt Habe,
daß aber der ganze übrige Inhalt viel älter fer, die zwei letzten Biographien
(Hadrians II. und Stephans VL) ausgensmmen, welche nach Anaftafius von den
Bihlivthecaren Zacharias oder Wilhelm gefchrieben fein müffen, Gedrudt wurde
ZEIT —
das Pontificalbuch öfter, fo in Muratori, script. rerum ital. T. IH., die neuefte
Ausgabe ift von Blanchinus und Vignolius, 4 fol. Auh hat Manfi in feiner
Coneilienfammlung vor den Decreten jedes Papftes das ihn betreffende Stüf
aus dem liber pontificalis abdrucken laſſen. — Endlich fertigte Anaſtaſius auch noch
ginige ſpecialkirchenhiſtoriſche Werke; die Sammlung der Acta synodi sextae, sep-
timae et oclayae (fie findet fich in den Eoncilienfammlungen), ferner Collectanea
ad controversiam et historiam Monothelitarum spectantia (in der Bibl. max. Lugd.)
und einige Firchenhiftorifche Biographien. Vgl. Bahr, Geſch. der Literatur im
earoling, Zeitalter, ©. 261 ff, c) Um’s Jahr 1142 ſchrieb Oderieus Vitalis
(Orderic Vital), von Geburt ein Engländer, aber Abt zu St, Eyroul (mona-
sterium Uticense) in der Normandie, 13 Bücher historiae ecclesiasticae, welche
von Chriftus bis in's zwölfte Jahrhundert gehen und auch viel Profanhiftorifches
enthalten, Sie finden fih in Du-Chesne’d Sammlung der Scriptores historiae
Normannorum, Paris 1619 fol. p. 319—925. — d) Ungefähr 150 Jahre fpäter
verfaßte der Dominicaner Bartholomäus von Lucca, auch Ptolemaeus de
Fiadonibus genannt, eine ziemlich große allgemeine Rirchengefchichte in 24 Büchern,
von Chriftus bis 1312. Sie fteht bei Muratori, rerum ital. script. T. XI. pag.
741 sqq. — e) Das größte Firchenhiftorifche Werk des Mittelalters endlich Tie-
ferte der Erzbifchof Antonin von Florenz im 15ten Jahrhundert in feiner
Summa historialis, aug drei Folianten beftehend, eine Welt- und Kirchengeſchichte
von Erfhaffung der Welt bis 1459, Vgl, den Art, Antonius von Florenz,
und Stäudlin’s Geſch. und Lit, der Kirchengeſch. ©, 128 ff. Bei Antonin zeigt
fih bereits das Erwachen der hiftorifehen Kritif, wie denn kurz vor ihm Lauren-
tins Balla (fd) und Nicolaus von Eufa (f. d. A.) diefelbe zuerft an=
geregt und die Unächtheit der fogenannten donatio Constantini und anderer angeb-
lichen Urkunden des Altertfums aufgedeckt hatten, — 3) In die dritte Elaffe
der kirchenhiſtoriſchen Werke des lateiniſchen Mittelalters gehören die Anna=
fen, Chroniken und Biographien, Ihre Zahl ift wahrhaft Legion und fie
Kirchengeſchichte. 147
bilden eine höchſt reichhaltige, faft unermeßlihe Duelle der mittelalterlihen Kir⸗
chen⸗, theilweiſe auch Profangeſchichte. Häufig iſt in dieſer Zeit der Begriff von
Chronik und Annalen ganz identisch genommen, indem die meiften Chronifen die
Begebenheiten genau nach Jahren verzeichnen, alfo annaliftifh find, und anderer=-
feits die Annalen ſich nicht über die Furze, trodene Darftellung der Chronik zu
einer zufammenhängenden, vollftändigen und pragmatiſch-hiſtoriſchen Dar ſtellung,
wie eiwa die Annalen des Taeitus, erheben. Doch gibt es auch Chroniken, die
nicht annaliftifch find, alfo die Ereigniffe nicht nad dem einzelnen Jahreszahlen
aufzeichnen, fondern in Fleinen Epochen, z. B. nach den Regierungsperioden der
einzelnen Kaifer, zufammenftellen, wie Beda’s Chronik. Uebrigens werben bie
taufend Annalen und Chronifen des Mittelalters theils nach ihren Berfaffern,
theils nach dem Orte, dem fie angehören, theils nach dem Gelehrten, der ‚fie
auffand, genannt, z. B. Annales Tiliani, Petaviani. Cine Ueberfiht über diefe
Ehroniften ze. gab Marquard Freher, nen edirt von Köler, Nürnb, 1720,
und Hamberger, Gött. 1772, unter dem Titel: Directorium historicorum mediü
potissimum aevi. Ueber den Eharafter diefer Chroniken ꝛc. fhrieb Roesler: de
annalium medii aevi varia conditione, Tubg. 1788; nicht minder handelt davon
Schröckh, Kirchengeſch. 24, 474 ff. 30, 312 ff.; Auszüge gab Fr. v. Naumer,
Handb, merfw. Stellen aus den latein. Schriftftellern des Mittelalters, Brest,
1813. Die berühmteften Chroniften waren Beda d. Ehrwürdige, Regino
von Prüm (Sec. IX.), Otto von Freifingen (neue Biographien und Unter-
fuhungen über ihn lieferten Huber, Münd. 1847, Wiedmann, Paffau 1849),
Hermannus Eontractug (Sec. XD, Lambert von Afchaffenburg (Sec.
XD, Siegbert von Gemblour (Sec. XI u, XI) u, 4. Eben fo berühmt iſt
das Chronicon Montis Casini, das Chr. magnum Belgicum, Saxonicum, Usbergense,
die Annales Hirsaugienses von Trithemius ꝛc. Den Chronifen an Zahl und Wich—
tigkeit ftehen gleich die unendlich vielen Biographien, fo daß ſich Faum irgend eine
firchenbiftorifch- wichtige Perfon des Mittelalters finden wird, wovon nicht eine
Biographie auf ung gefommen wäre, fehr oft fogar deren mehrere, Bon diefen
Chroniken, Annalen und Biographien find viele einzeln herausgegeben worden,
32. die Ehronif des Hermannus Contractus (f.d.A.) in der vortrefflihen Ausgabe
von Üffermann, Benedietiner in St. Dlafien, 1796, 2 Duartb., und die Trithen—
beim’fchen Annales Hirsaug. in der St. Galler Ausgabe 1690 in 2 Fol, Aber bei
weitem die meiften find in den großen Sammelwerfen abgedruckt, namentlich in
Germaniae historicorum illust. tomus, ed. Urstisius, Francof. 1585 fol.; Gold-
ast, rerum alam. script. Francof. 1661. 5 fol. Pistorii, scriptores rerum ger-
man. Ratisb. 1731. 3 fol. Meibomii, rer. germ. script. Helmst. 1688. 3 fol.
Freher, M. rerum germ. scriptores, cur. Struvio. Strassb. 1717. 3 fol. Eck-
hardt, corpus historicorum medii aevi, 1723, und Commentarii de rebus Franciae
orientalis et episcopatus Wirceburgensis 1729. 2 fol. Leibnitz, script. rerum
Brunsvic. 1707. 3 fol. Du-Chesne, historiae Francorum scriptores, Paris 1636.
5fol. Bouquet, rerum gallicarum et francicarum scriptores, auch unter dent
Titel: Recueil des historiens etc. Paris 1738. 19 fol. Muratori, rerum italic.
seriptores, Milan. 1723 sqq. 28 fol. H. Canisii, lect. antiquae, new edirt von
Jacob Basnage, thesaurus monum. Antverp. 1725. 4 fol. Martene et Du-
rand, vet. script. et monumentorum amplissima collectio, Paris 1724 u, 1734,
9 fol., und thesaurus novorum anecdotorum, Paris 1717, 5fol. D’Achery und
Mabillon, acta Sanctorum Ord. S. Benedicti, Paris 1666—1701, 9 fol., Acta
Sanctorum ({.d. A.) etc. Die vollftändigfte und trefflichfte Sammlung der auf
die teutfhe Geſchichte von 500—1500 bezüglichen alten Documente und Scrif-
ten edirt gegenwärtig Heinrich Perg in Berlin in f. Monumenta Germaniae
historica, Hannover 1826 ff., in zwei Abtheilungen, leges (2 fol.) und scriptores
(9 fol.). — Literatur des dritten Zeitalters, Eine neue Aera für die
10*
148 Kirchengeſchichte.
kirchliche Hiſtoriographie begann mit dem 16ten Jahrhundert aus drei Veranlaf-
fungen, 1) Mit dem Wiedererwahen der griehifhen Literatur im
Abendlande wurde die Möglichkeit gegeben, gerade die Hauptquellen der Kirchen-
gefchichte wieder zu benügen, und zugleich wurden diefe Hauptquellen felbft von
den griechifchen Gelehrten, die aus dem zufammenfallenden byzantinifchen Neiche
nah Stalien ıc. überfiedelt waren, in das Abendland mitgebracht, Zugleich forgte
2) die eben neu erfundene Buchdruckerkunſt für Verbreitung diefer Firchen-
Hiftorifchen Duellen, und während früher felten Jemand fo glüdlih war, zu
vielen folchen Duellen Zugang zu erlangen, fo flanden diefe von nun an in Bälde
ganz allgemein und in al’ ihrer Vielheit Allen zu Gebote, Eben um viefelbe
Zeit gab 3) auch die Reformation einen neuen flarfen Anftoß zum Studium
der Kirchengefchichte, indem der Proteflantismus mit der Prätenfion auftrat, fel-
ber und ausfchließlih die wahre Urform des Chriſtenthums zu fein, und dieſe
feine Behauptung mit hiftorifchen Gründen zu vertheidigen fuchen mußte, Dadurch
wurden aber auch die Katholifen gendthigt, die Firchenhiftorifchen Studien mit
neuem und größerem Eifer zu betreiben, um ihr gutes altes Necht zu ſchützen und
nicht durch Sahrläffigfeit zu verlieren, I. Literatur der Neformationszeit,
Mit einem bisher nie gefehenen Aufwande von Gelehrfamfeit und Duellenfenntni
bearbeiteten fchon die Magdeburger Centuriatoren um die Mitte des 16ten
Jahrhunderts die riftliche Kirchengefchichte, aber auf dem entfchieden und par—
teiifch-proteftantifchen Standpunct, Das ganze Werk follte eine hiftorifche Apolo—
getif des ftrengften Luthertfums fein, Gründer und Oberdireetor dieſes großen
Titerarifchen Unternehmens war Mathias Flacius (ſ. Flacius) aus Illyrien.
Mitten in feinen Kämpfen mit Melanchthon und andern weniger flarren Luthera-
nern faßte er, als er eben Prediger in Magdeburg war, im J. 1552 den Plan
zu diefem Werke, fchaffte dazu eine Menge von Duellen theils felbft, theils durch 4
feine Helfer und befondern Emiffäre herbei, und organifirte dann eine Art Fabrif,
indem die jüngern Gelehrten Auszüge machen, die Altern das fo Gemwonnene in
die einzelnen Abfchnitte zufammenftellen, die Direetoren aber diefe Arbeit wieder |
prüfen und die einzelnen Abfchnitte je zu einer Centurie zufammenfegen mußten,
Der ganze Stoff wurde nämlich nach Jahrhunderten in Centurien, jede Cen-
turie aber in 16 Realabſchnitte eingetheilt. Das nöthige Geld gaben die prote- i
ftantifchen Fürften und Städte, auch Schweden und Dänemarf, Die erften fünf
Centurien wurden in Magdeburg ausgearbeitet, daher der Name, die fpätern
anderwärts, da Flacius feinen Aufenthalt oft wechfeln mußte; in Bafel aber
wurden fie gedruckt 1559 ff. unter dem Titel: Ecclesiastica historia etc. congesta
per aliquot studiosos et pios viros in urbe Magdeburgica, in 13 Folianten 13 Jahr
Hunderte umfaffend. Die 14te, 15te und 16te Centurie, von Wigand bearbeitet,
wurden nie gedruct und follen als Manufeript noch in Wolfenbüttel liegen. Eine
zweite Ausgabe, den Calviniften zu lieb etwas abgeändert, gab Lucius zu Bafel
im J. 1624 in 6 Folianten heraus; eine dritte Ausgabe vom J. 1757 blieb un-
spllendet, und auch alle Verfuche, die Centurien fortzufegen, mißglüdten (f. Cen-
iurien). Der heftige Parteiftandpunct der Centurien rief fowohl von Melanch—
thonifcher als katholiſcher Seite Gegenſchriften hervor (ſ. Centurien gegen
Ende). Die weitaus berühmtefte darunter aber wurde das große Werk, welches,
Cäfar Baronius (fpäter wegen diefes Werkes zum Cardinal erhoben) auf den
Wunſch feines geiftlihen Vaters Philipp von Neri mit einem faft wunderbaren
Fleiße (ohne fremde Beihilfe) bearbeitete, Die ungemein zahlreichen Urkunden,
die er in verfchievenen Archiven gefunden und hier eingerüct hat, gaben feiner
Arbeit einen vorzüglichen Werth als Arfenal der wichtigften Documente, fo daß
feine Annalen jeßt noch auch von Proteftanten hundertmal benügt werden, bis
die Centurien einmal, Die erfte Ausgabe diefer Annales ecclesiastiei erſchien zu
Rom 1588— 1607, in 12 Foliobänden bis in's 12te Jahrhundert (1198) reichend,
A nk re
Kirchengeſchichte. 149
Bald folgten neue, etwas vermehrte Ausgaben und Nachdrücke. Eine Fortſetzung
lieferte der polniſche Dominicaner Abraham Bzovius, in 8 Folianten Nom
1616 (9 Fol. Rom. 1672) bis zum J. 1564 reichend, eine zweite der Biſchof
Henrieus Spondanus von Pamiers (früher Proteftant), in 2 Fol. Paris 1640
(3 #01. Lugd. Bat. 1678), bis 1640 gehend. Derfelbe hat auch einen ziemlich
umfaffenden Auszug aus Barpnius bearbeitet. Die dritte und beſte Fortfegung,
namentlich an Urkunden reich, ift die von dem Dratorianer Odericus Raynal-
dus, Rom. 1646—1677, in 9 Fol. bis 1566, und endlich gab Jacob Laderchi,
ebenfalld Dratorianer, noch 3 Foliobände Fortfegung, Rom 1723—37,. Diefe
drei Bände umfaffen jedoch nur fieben Jahre (1566-1571 incl.) und zeugen
von nicht gar großer Gewandtheit. Eine höchſt gelehrte Kritif, mit zahlreichen,
befonders chronvlogifhen Berichtigungen, lieferte der franzöfiihe Franciscaner
Anton Pagi. Er erlebte jedoch nur die Herausgabe des erften Bandes (+ 1699),
worauf fein Neffe Franz Pagi, ebenfalls Franeiscaner, das hinterlaffene Ma—
nuſeript feines Oheims da und dort verbeilerte und das Ganze in 4 Fol, unter
dem Titel herausgab: Critica historico-chronologica in universos annales etc. Ba-
ronii. Antw. 1705, neue Ausg. 1724. Die befte Ausgabe der Annalen des Ba—
zonius fammt der Fortfegung von Raynaldi Caber ohne Laderchi) und der Kritif Pagi's
lieferte der Erzbifhof Manfi, neue Noten und Apparatus hinzufügend, in 38 Fol.
Luccae 17338—59, Ein feltenes und fehr foftbares, leider nicht immer fehlerlog
gedructes Werk (f. Baronius), — Es war natürlich, daß Baronius von den Pro-
teftanten fehr heftig angegriffen wurde, namentlich von den Lutheranern Kortbolt
(1. 8.4.) und Tribbechov, fowie von den Reformirten Cafaubon, Sam. Bas—
nage (f. d. A.) und Montacutius. Die Katholifen dagegen waren durch feine
Annalen fo ſehr befriedigt, daß fie Auszüge aller Art daraus fertigten und hundert
Sabre vergingen, bis wieder felbfiftändige Werfe über allgemeine Rirchengefhichte
erſchienen. IL. Die großen Kirchenhiſtoriker Frankreichs. Die große und
allgemeine wiffenfchaftliche Blüthe unter Ludwig XIV., und die vielen gelehrten
kirchenhiſtoriſchen und patriftifchen Specialwerfe der Mauriner, Jeſuiten G. B.
Petavius), Dratorianer (z. B. Morinus), Gallicaner (z. B. Rider), kurz der
franzöfifchen Theologen aller Richtungen, all’ dieß mußte auch eine neue und ge=
ſchmackvollere allgemeine Kirchenhiftoriographie in Frankreich in's Leben rufen,
Die Reihe der großen franzöfifhen Kirchenhiftorifer eröffnete aber 1) Anton
Gpdeau (f.dv.A.), Bifhof von Benge, mit feiner nur bis in's neunte Jahrhundert
gehenden histoire de l’eglise depuis la naissance de J. Ch., Paris 1663, 3fol., eine
vierte von Godeau felbft verbefferte Auflage erfhien 1672 ff. in vier Bänden zu
Paris, eine teutfche Weberfegung in 38 Octavbänden zu Augsburg 1768 ff. -
2) Noch größere Verdienfte erwarb fih der gelehrte Dominicaner (langjähriger
aufrlr und Ordensprosineial) Natalis Novel) Alerander (f. Natalis),
in großes Werk erfchien zuerft, Paris in 30 Octavb., 1676 ff., die alt- und
neuteftamentlihe Kirchengefchichte His Ende des 16ten Jahrh. enthaltend, Die
\ Ießten Abtheilungen waren noch nicht erſchienen, als Papft Innocenz XL dag
| Werf im 3. 1684 wegen der gallicanifchen Anſichten des Verfaffers und feiner
‚ öfter zu Tage tretenden Oppofition gegen Rom in den Inder fegen lief. Dieß
‚ veranlaßte den Pater Natalis in einer zweiten Auflage in 8 Fol. Paris 1699 je
bei den betreffenden Artifeln gegen die Ausftellungen der „religiosissimi censores®
ſich in befondern Scholien zu vertheidigen. Weitere Ausgaben diefer Art erſchie—
‚nen Paris 1714 und 1730 in 8 Fol. Weil man aber das an fich treffliche, auch
im Allgemeinen voll Eifers für die katholiſche Kirhe, namentlich den Häretifern
‚ gegenüber gefchriebene Werk nicht gerne entbehren wollte, veranftaltete Roncaglia,
| ein Mönd zu Lucca, eine neue Ausgabe (Lucca 1734 in 9 Fol.); worin zwar der
Text des Verfaffers unverändert wiedergegeben, feinen irrigen Behauptungen aber
Berichtigungen, theilweiſe in ganzen Differtationen entgegengeftellt wurden, Die
150 Kirchengeſchichte.
mit dieſem Noncaglia’fchen Gegengift Cut ita dicam) verſehene Ausgabe wurde
von Benedict XIII. (einem Ordensgenoſſen des P. Natalis) aus dem Inder be-
freit, allgemein erlaubt und öfters gedruckt, Aber auch der berühmte Erzbifchof
Manfi von Lucca beforgte eine neue Ausgabe, mit Beifügung eigener Noten
(Lucca 1749 in 9 Fol.), und endlich fügte ein Anonymus noch zwei Supplementbände
hinzu, welche theils die Kirchengefchichte bis in's 18te Jahrhundert fortfegen,
theils nur verfchiedene Differtationen Anderer enthalten, z. B. Veronii regula
fidei catholicae, Reginaldi Diss. de catechismi romani authoritate, auch Vindiciae
librorum deutero - canonicorum a. f. f. Das fo vervollſtändigte Werf wurde nun
zu Venedig 1778 in eilf Foliobanden (oder zehn, da die zwei dünnen Supple—
mentbände gewöhnlich zufammengebunden find), und zu Bingen am Rhein in 20
Cnicht immer ganz Ieferlich gedrucften) Duartbänden 1734 gedrudt. Eine Abhand-
ung über die Verbienfte des P. Natalis von Touron iſt dem dritten Bande der
Venetianer Ausgabe vorangefiellt. Die Eigenthümlichkeit des Natalis Alerander
erhellt aber am beutlichften, wenn wir ihn mit Fleury vergleichen. 3) Clau—
dius. Fleury (ſ. Fleury, Claude), souspr&cepteur der franzöfifchen Prinzen
und Prior von Argenteuil, befchrieb in franzöfifcher Sprache in 20 Duartbänden
(100 Bücher enthaltend) die Gefchichte der riftlichen Kirche von der Himmel-
fahrt des Herrn bis 1414, Paris 1691 — 1720. Seine Darftellung ift einfach,
nur referirend, felten raifonnirend, der Styl faft immer elegant und concis, die
Erzählung außerordentlich ruhig, ferne von aller franzöfifchen Wortmacherei, ohne
Tiraden und rhetorifche Ergüffe, Dabei hat Fleury jedoch nicht in trockener Ge-
Vehrten- und Schulmanier gefhrieben, fondern für Gebildete aus allen Ständen ;
darum legt er feinen gelehrten Apparat nirgends zur Schau, vermeidet Fritifche
und chronologiſche Unterfuchungen, und wo er fie führen mußte, gibt er nur dag
Refultat, ohne den Lefer mit dem Wege befannt zu machen, auf dem er e8 gefunden,
In diefer Rückſicht bildet er einen wahren Gegenfag zu Natalis Alexander, Letz-
terer fehreibt in der Manier der damaligen Schule, vielfach geradezu in ſyllogiſtiſcher
Form, ohne Vermeidung der hieraus entflehenden Härte und GSteifheit, Fleury
Dagegen ift der angenehme Erzähler, in einem abgerundeten, glatten, freundlichen
und durchfichtigen Style, Jener fihrieb dasjenige nieder, was er in den gelehr—
ten Conferenzen bei dem jungen Abbe Colbert, dem Sohne des Minifters,
vor den erften Yiterarifchen Notabilitäten vorgetragen hatte, Fleury dagegen hatte
das ganze gebildete Publicum im Auge, Natalis hat ferner feine Stärfe nicht in
der fortlaufenden Gefchichtserzählung (dieſe ift im Gegenteil bei ihm fehr mager),
fondern in den gelehrten Unterſuchungen einzelner hiftorifcher und dogmenhifto-
rifcher Puncte und Fragen, in den Differtationen nämlich, die er jedem Jahr—
hunderte beigegeben hat, während die acht Differtationen, die auch Fleury ver-
faßte, mehr nur Ueberſichten als Fritifhe Detailunterfuhungen find, Natalis ift
vffenbar gelehrter, in vielen Dingen aceurater und ein weit ſchärferer Kritifer
als Fleury; aber diefer ift unvergleichlich angenehmer, für die Mehrzahl weit
brauchbarer, an mitgetheiltem hiſtoriſchem Material reicher und in der eigentlichen
Geſchichtserzählung viel ausführlicher. Beſonders anziehend find feine trefflihen
und häufigen Auszüge aus den wichtigften Werfen der Kirchenväter und den in-
tereffanteften Martyracten, fowie die gelungenen und conereten Sittenfhilderun-
gen, welche Fleury mit feinem Tacte und vielem Gefchicke feinem Werfe einver-
Yeibt hat, Er fand bald viele Bewunderer und viele Tadler, felbft Anfläger,
namentlich in dem Carmeliten Honoratus a S. Maria, und wenn auch Fleury
von Gallicanismus nicht ganz frei nnd andererfeits zu oft von Baronius und
Labbe abhängig ift, fo waren die Angriffe auf ihn doch weit übertrieben und
darum erfolglos, Nach Fleury’s Tod (1723) feste der Dratorianer Claude
Faber, mit foharfer Feder, aber nicht mit fcharfem Geifte, ein übertriebener
Gallicaner, dag Werf fort, Fam aber in 16 Ouartbänden nur bis 1595, Dabei
Kirchengeſchichte. 151
iſt das Nöthige, namentlich Dogmenhiſtoriſche zu Furz, das Außerweſentliche und
Profanhiftorifche viel zu weitläufig behandelt. Den 37. Duartband, die fehr
ausführliche und gute Table generale des malieres lieferte Ron det. Das Ganze
umfaßt demnach 37 Duartbände, Paris 1722 ff. und 1750 ff. Eine Ausgabe in 40
Dupdezbänden, wovon vier das Negifter enthalten, erfchien 1714 ff. und 1724 ff.
zu Paris und Brüffel, in 25 Duartbänden zu Caen. Eine Iateinifche Leberfegung
in 50 Detavbänden lieferten der Carmelit Nlerandera S. Joh. de Eruce und
P. Bruno Paroda zu Augsburg 1758 ff., ja erflerer und P. Benno fügten noch
eine Iateinifche Fortfegung (v. 1596—1768) in 36 Detanbänden und eine latei-
nifche Ueberfegung von Calmet’$ introductio in historiam ecclesiasticam seu hi-
storiam Vet. et N. T. in fünf Detavbänden bei, fo daß nunmehr das Ganze aus
91 Bänden und 2 Bänden Indices befteft. Aber diefe Fortfegung Fonnte bei
ihrem Mangel an Geift und Geſchmack fein Anfehen erwerben, und es war mehr
der gute Wille zu Toben, als Geſchick und Tüchtigfeit zu erfennen, Um fo mehr
Intereſſe erregte es, als vor etwa zehn Jahren von Franfreih aus die Nachricht
verbreitet wurde, man babe eine von Fleury feldft verfaßte Fortfegung bis zum
5. 1517, alſo bis Luther gehend, aufgefunden. Sie wurde fofort in einer neuen
Auflage des ganzen Fleury’ihen Werkes (nicht appart) gedruckt (Histoire ecclé-
siaslique per PAbbé Fleury, augmentee de quatre livres... publies pour la pre-
miere fois d’apres un manuscrit de Fleury appartenant ä la Bibliotheque royale;
avec une table generale des matieres (die jedoch fehr unvollftändig ift). Paris,
Didier 1840, ſechs Bände in groß Octav. Diefe vier Bücher find jedoch nichts
anderes, als der erfte noch fehr lückenhafte Entwurf zu einer Fortfegung, wie
ih an einem andern Orte (Tübing. Quartalſch. 1845 S. 331 — 347) nachge⸗
wiefen zu haben glaube. Ziemlich wertlos ift endlich eine teutfche Ueberfegung
der von Fleury felbft herausgegebenen erften 100 Bücher, welche um die Mitte
des vorigen Jahrh. zu Frankfurt und Leipzig in Duart erfhien. — Bon Fleury’s
Werk wohl zu unterfiheiden ift das unchriſtliche Buch Abrege de Vhistoire eccl.
par Mons. Fleury. II Tom. Berne (eigentlich Berlin) 1766, auf Befehl Friedrichs II.
von Preußen von dem Sorbonner Doctor Abbe de Prades, der fih Iange Zeit in
Berlin aufbielt, verfaßt, Die berüchtigte Vorrede aber, um deren willen das Buch
1766 zu Bern verbrannt wurde, rührt unftreitig vom König ſelbſt Her, und findet fich
darum auch im vierten Supplementband zu feinen Werfen. 4) Zu den größten
franzöfifhen Kirchenhiftorifern gehört auh Tillemont (Sebastian le Nain de
Tillemont) , aus einer adeligen franzöfifchen Familie, Priefter, Schüler und Freund
derSolitaires dePort royal, aber doch nicht ſelbſt Janſeniſt (ſ. d. A). Ohne Amt, nur der
Wiffenfhaft und dem Gebete auf feinem väterlichen Schloffe Iebend, fammelte er
mit flaunenswerthem Fleiße alle in den alten Duellen enthaltenen Notizen über
die Kirchengefchichte der erften Jahrhunderte, und theilte num das gewonnene un-
geheure Material fo, daß er in ſechs Duartbänden die Gefchichte der römifchen
Kaifer (1690 ff.) und in 16 Duartbänden die eigentliche Kirchengefchichte, Paris
1693 ff., behandelte. Beide Werfe reihen bis in den Anfang des fechsten Jahrh.,
die Histoire des empereurs (mehr Profangefhichte) geht bis auf K. Anaftaflus,
die Kirchengefihichte bi8 zum J. 513. Legtere hat den Titel: M&moires pour
servir à l’histoire ecclesiastique ete., und die fpätern Bände davon erfihienen erft
nach dem Tode des Verfaffers. Man wünfchte, daß die Dauriner das treffliche
Werk fortfegen möchten, das alsdann bei weitem die befte und gründlichfte Kir-
hengefhichte geworden wäre; allein felbft Couſtant wagte fih nicht daran, Ein
anderer Mauriner, le Saint, aber flarb, nachdem er feine Fortfegung faum be-
gonnen hatte, Die Methode Tillemonts war ganz eigenthümlich. Er ftellte näm-
lich je über einen Punct die betreffenden Worte der alten Duellen und fpäterer
Sceribenten auf eine fo geſchickte Weife zufammen, daß diefe Mofaif immer das
möglichft vollftändige Bild jedes Gegenftandes Tiefert, Es ift alfo alles aus den
152 Kirchengeſchichte.
Quellen geſchöpft, und aus Quellenſtellen die ganze Erzählung zuſammengefügt.
Genaue Citate am Rande geben an, woraus jedes einzelne Sätzchen genommen
ſei, und jedes Wort, das Tillemont ſelbſt beifügte, iſt ſorgfältig zur Unterſchei—
dung mit Klammern umſchloſſen. Dazu kommt noch ein zweiter Hauptvorzug,
die meiſt treffliche Kritik, welche namentlich in den am Ende jedes Bandes ange-
hängten Notes zu Tage tritt, in denen natürlich der Verfaffer ſelbſt fprechen, alſo
von feiner fonftigen Manier abgehen mußte. — Eine zweite Ausgabe der M&-
moires erſchien Paris 1770 ff., ein Nachdruck fowohl der Kirchengeſchichte als
der M&moires, jener in 6 diefer in 16 Duartbänden zu Venedig 1732, zwei an—
dere Nachdrücke der M&moires zu Brüffel in 24 Dupdezbänden und in 10 Duart-
bänden (1726 u. 1732) find unvollſtändig. Die 24 Duodezbändchen entfprechen
nämlich nur den 8, die 10 Brüffeler-Oxartbände nur den 10 erfien Bänden der
Parifer Ausgabe. Vgl, meine Abhandlung über Tilfemont in der Tübinger
Quartalſch. 1841 ©,243 ff. 5) Hinter den genannten großen franzdfifchen Kir-
chenhiſtorikern fliehen die des 18ten Jahrh. beträchtlich zurück. Gie erzählen zwar an—
genehm, mitunter fogar elegant, wie Choify, aber e8 fehlt ihnen an Kritik, Genauig-
feit und Duellenftudium, Hieher gehören Franz Timoleon de Choify, Mit-
glied der franzöfifchen Arademie und Domdechant zu Bajeur, mit feiner histoire
de l’eglise, Paris 1706—23, in eilf Bänden big in's 18te Jahrh. reichend, Et—
was jünger ift der Zanfenift Bonaventura Nacine, deffen abrege de V’hist.
eccl. Cologne (Utrecht) 1748 ff. in 15 Octavbänden gedruckt und auch in's Teutſche
überfegt wurde, Wien 1724 ff. in 20 Octavbänden. — Kirchlicher, überhaupt
mehrfach Iobenswerth ift Ducreux, les siecles chretiens, Paris 1775 in 9 De-
tavbänden, auch 1785 in 10 Bändchen; teutfh: Wien 1777 ff. in I, Landshut
1781 ff. in 10 Octavbänden. — Noch weiter verbreitet iſt jedoch die histoire de
löglise von Berault-Bercaftel, Domberrn zu Noyon, Paris 1773 in 24
Duodezb. fortgefett von Pelier de Lacroix, Paris 1830, Robiano (Paris 1836
in vier Octavb.) und Henrion in vier Detavb,, von legterem auch ganz neu edirt
fammt Fortfegung in 13 Detavb,, Paris, Gaume 1841. Sie geht jebt bis auf
unfere Zeit. Eine teutfche Ueberfegung erfchien zu Wien 1784 in 24 Fleinen
Octavb., ein teutfoher Auszug zu Augsburg 1821 ff. und Insbruck 1841 ff.
6) Ein fehr gutes und ausführliches Werk Lieferte in Frankreich neuefter Zeit der
auch mit der teutfchen Literatur vertraute Abbe Rohrbacher, Profeffor am Se—
minar zu Nancy, Seine histoire universelle de l’eglise etc. Paris 1842 — 48
umfaßt 29 Detavb, und geht bis zum J. 1848, Die drei erften Bände ent—⸗
halten die altteftamentliche Kirchengeſchichte. — Weit weniger als die Fran-
zofen Leifteten IH. die italienifchen Kirchenhiſtoriker. a) Der berühmtefte
darunter ift der Cardinal Orſi, deffen storia ecel. Rom. 1748 ff. in 20 Duartb,
nur die ſechs erften Jahrh. umfaßt. Eine Fortfegung lieferte der Dominicaner
Bechetti (Nom 1770 ff.) in 17 Quartb. bis zum J. 1378. Nachher Fam noch
von ihm Hinzu: Istoria degli ultimi quatro seculi della chiesa. Rom. 1788 ff, in neun
Bänden nur bis zur Trienter Synode reichend. b) Ebenfalls unvollendet ift des
Dratorianers Caſpar Saccarelli Iateinifch gefchriebene historia ecelesiastica,
per annos digesta etc. Rom. 1770 ff. in 25 Quartb. bis 1185 reichend. c) Obgleich
Franzoſe von Geburt fohrieb doch in Stalien Hyacinth de Gravefon (ſ. d. A)
im Anfange des 18ten Jahrh. feine jebt ziemlich vergeffene, jedoch nicht unange=
nehme historia ecclesiastica V. et N. T. bis 1721 reichend, Sie wurde öfter und
in verfchiedenen Formaten gedruckt. d) Ein viel verbreitetes, oft gedrucktes, je=
doch wenig bedeutendes lateiniſches Compendium lieferte Lorenz Berti]. u. U),
in zwei Oetavb. bis in's 18te Jahrh. reichend, Wichtiger find feine kirchenhiſto—
rifhen Differtationen,, Florenz 1753 ff. in drei Quartb. Endlich e) erfihienen
in neuefter Zeit einige ordentliche Werfe mäßigen Umfangs von Delfignore
(instituliones historicae, Rom. 1837) und Palma Cpraelectiones hist. ecel, Rom.
—
Kirchengeſchichte. 153
1838 ff. in vier Octavb.) Auch ein anonymes italieniſches Werk „über die neueſte
Geſchichte der Kirche Ehrifti” (teutfh in fehS Bändchen, Augsburg 1836), vom
5. 1800—1833 reichend, enthält manches fehr gute Material, ohne jedoch wifjen-
ſchaftlich zu fein. Biel Wichtigeres haben dagegen einzelne Italiener in Firchen-
hiſtoriſchen Specialwerfen geliefert, 3. B. Pallavieini, Toſti (storia di Boni-
facio VIIL. Rom. 1846) u. A. IV. Teutſche katholiſche Kirchenhiſtoriker.
Wie anderwärts fo begnügte man fih auch in Teutfchland lange Zeit mit Auszügen
aus Baronius, und erft feit Maria Therefia und Kaifer Joſeph II. datirt fich eine
eigentliche teutfche Kirchenhiftoriographie. a) Ihr Anfang, d. h. die jofepbinifche
Epoche theilte jedoch Joſeph's Gegenfäglichkeit gegen Rom, und iſt oft unhiſtoriſch—
bitter-polemifch, bloß compendiarifch, auf das Tiefere nicht eingänglich, viel zu wenig
auf Duellenfiudium gegründet, und darum großentheild wieder der Vergeffenheit
anheimgefallen, Dieß gilt namentlich von Royfo, Profeffor in Prag (synopsis hist.
rel. et ecel. Chr. Prag 1785, teutfch 1739), der in feiner derben Weife auch eine Hi=
forie der Conſtanzer Synode ſchrieb, welche, obgleich jünger als die des Calviniſten
Lenfant, doch fehr weit Hinter diefer zurückſteht. Noch oberflächlicher und trivialer
find die Büchlein von Michl in Landshut (München 1811, zwei Bände) und P.
Wolf (Zürih, zwei Bände). Legterer fchrieb au ein größeres Werf über
- Pins VI. Unbedeutend find ferner Shmalfug (Auguſtiner und Profeffor in
Prag), historia religionis, Prag 1792 6 T. in 8., und Gmeiner, Profeffor in
Gratz, epitome hist. ecc., 1787 und 1803 in zwei Octavb. Am beften find noch
die institutiones hist. eccl. von Dannenmayer, Wien 1788 und 1806, teutſch:
Rottweil 1826, vier Theile. 6) Eine neue Aera der teutſchen Kirchenhiſtorio—
graphie begründete fofort im Anfange des gegenwärtigen Jahrhunderts der be-
rühmte Graf Leopold zu Stolberg dur feine eben fo geiftreiche als tief-
Hriftlihe und warm⸗kirchliche „Gefchichte der Religion Jeſu Ehrifti, Hamburg
und Wien 1806 ff.“. Die 15 Octavbaͤnde, die er felbft ausarbeitete, geben von
der Weltfhöpfung bis zum J. 430 n. Chr, Die erfien vier Bände insbefondere
enthalten die altteftamentliche Kirchengeſchichte. Nach Stolberg’s Tod (+ 1819)
feste Friedrich von Kerz (penfionirter Major), das große Werk fort und fam
in 32 Bänden bis zum dritten großen Kreuzzug incl., fo daß jest alle 46 Bände
zufammen (Mainz, bei Kirchheim u. Schott) bis zum Ende des 12ten Jahrh.
reihen. Kerz hatte fehr fleißig gearbeitet, befaß jedoch weder den Geſchmack noch
den Geift Stolberg’s, und fchrieb breit und oft Iangweilig. Er farb, in hohem
Alter, eben an dem ATten Bande arbeitend; und nach einiger Unterbrechung
unternahm Fürzlih Repetent Dr. Briſchar in Tübingen auf Einladung der Ver—
lagshandlung die weitere Fortfegung des Stolberg-Rerz'fhen Werkes, fo daß es
raſchen Fortgang haben ſoll und der ATte Band bereits beinahe vollendet iſt. Ein
Regifter zu den 15 erften Bänden des ganzen Werkes Iieferte 3. Mori; 1825,
ein zweites über Band 16—23 Franz Saufen 1834. c) Unter Stolberg’s Ein-
flug bildete fih Theodor KRaterfamp, Anfangs Hofmeifter im Haufe Drofte-
Viſchering, fpäter Profeffor und Domdechant zu Münfter (+ 1834), Seine Kir-
chengeſchichte in fünf Octavb. und einem Bändchen Einleitung (Münfter 1819 —
1834) geht bis zum Jahre 1153 und iſt ausgezeichnet durch Geſchmack und Ele—
ganz der Darftellung und Tiefe der Auffaffung. Die eigenthümliche Diathefe,
die bier befolgt ift, gab jedoch dem Werke faft eben fo viele Mängel als Vorzüge,
h Raterfamp theilt nämlih den ganzen zeitlichen Verlauf der Kirche in gar zu
viele Heine Epochen, läßt fomit die chronologiſche Abteilung zu ſehr über die
Realabtheilung vorherrfchen, und liebt es, ganze Zeitabfihnitte in Monographien
einzelner hervorragender Perfonen zufammenzufaffen. Gerade in diefer mono—
graphiſchen Behandlung hat er auch feine befondere Stärke und gibt dadurch und
durch feine meifterhaften Schilverungen überhaupt feinem Werfe viel Frifhe und
Lebendigkeit, Aber er wurde dadurch auch fehr häufig an richtiger Placirung des
154 Kirchengeſchichte.
Stoffes gehindert. Außerdem hat er ähnlich wie Fleury, ja noch mehr als dieſer,
die Quellen, aus denen er ſchöpfte, verſchwiegen, und ganz im Gegenſatze zu
dem ſonſtigen teutſchen Citatenreichthum allerdings die Schwerfälligkeit vermie—
den, aber mit dem abusus auch den usus aufgehoben, Leider fand ſich Niemand,
der die Raterfamp’fche Kirchengefchichte hätte fortfegen und beendigen wollen.
Gerade die fo ſcharf ausgeprägte Eigenthümlichfeit diefes Werfes, in die fih nicht
Seder finden kann oder mag, war das Hinderniß. (Vgl. über die Katerkamp'ſche
Kirchengefchichte die Tüb, Duartalfc, 1823 ©. 484, 1825 ©, 486, 1831 ©, 519,)
d) Ebenfalls unvollendet blieb die Kirchengefchichte von Loch erer, früher Pfarrer
im Badifchen, fpäter Profeffor in Gießen (4 1837). Aus der jofephinifchen
Schule hervorgegangen, hat Locherer befonders in den erſten Bänden diefe Rich-
tung ungemein flarf hervortreten Taffen, Zudem fehlte e8 ihm aber auch an Ge-
ſchmack, Quellenſtudium und Selbftftändigfeit, Namentlich iſt er zu fehr von
Schröckh abhängig. Seine neun großen Octavbände (Ravensburg 1824 ff.) gehen
bis 1073. e) Große Hoffnungen erwerte JZofeph Othmar von Rauſcher,
Profeffor in Salzburg, durch feine Gefchichte der chriftlichen Kirche in zwei Bänden,
Sulzbach 1829, bis Eonftantin d, Gr. gehend, Da jedoch Rauſcher bald darauf
Direetor der prientalifhen Academie in Wien, 1846 Lehrer des jebigen Kaifers,
im J. 1849 endlih Bifhof von Sedau (Gray) wurde, unterblieb die Fortfegung.
f) Ein fehr brauchbares Compendium fihrieb Hortig, damals Profeffor in
München, fpäter Domherr, auf zwei Bände berechnet, Landshut 1826. Dem
zweiten Bande mußten jedoch zwei Abtheilungen gegeben werben, wovon bie
letztere Hortig’8 Nachfolger im Lehramte, Profeffor Döllinger, bearbeitete, g) Als
dieß Compendium vergriffen war, wollte Döllinger e8 ganz umarbeiten, behielt
darum den Hortig’fchen Namen neben dem feinigen noch bei, Tieferte aber in der
That ein ganz neues Werk unter dem. Titel: „Handbuch der chriſtlichen Kirchen—
gefchichte, Landshut 1833, Leider erfchienen jedoch nur zwei Abtheilungen (Bände),
wovon die erfte bis Eonftantin d. Gr. geht, die zweite aber nur die äußere
Kirchengefihichte der zweiten Periode bis zum J. 680 enthält, Ein treffliches,
gründliches und gelehrtes Werk, deſſen Hauptfehler ift, daß es bis anher von dem
Berfaffer nicht fortgefegt wurde, Inzwifchen unternahm Döllinger auch ein Com—
pendium, oder „Lehrbuch der Kirchengefchichte”, wovon ebenfalls bisher zwei Abthei-
Yungen, nicht ganz bis auf Luther gehend, erfchienen find (1836, 2te Aufl, 1843).
Bon vorzüglihem Werthe ift endlich Dölfinger’s großes Werf über die Refor—
mation, wovon bis jegt drei Bände erfihienen find, der erfte bereits in zweiter
Auflage, h) Die zwei beften vollendeten Compendien der Kirchengefchichte
lieferten 30h. Ig. Ritter, Profeffor und Domdechant in Breslau (Ste Aufl.,
Bonn 1846 in 2 Octavb.) und Alzog, Profeffor und Domherr in Hildesheim
Cöte Aufl., Mainz 1850 in einem großen Detavband). Alzog ift reihhaltiger in
Angabe der Literatur ſowohl als in Betreff des Materials, aber Ritter's Dar-
ftellung ift Harer und zum Selbftunterrichte paffender, (Vgl. Tüb, Quartalſch.
1836 ©, 339, 664, 1841 ©, 335, 1844 ©, 102, 1847 ©, 507.) iD) Gute
lateinifch gefchriebene ECompendien haben wir von Ruttenſtock (4 Prälat von
Kiofterneuburg)) , institutiones h. e. Vienn. 1832 ff. in vier Octavb.; Klein (jegt
Domherr in Wien), hist. ecel. Graeci 1828 in zwei Detaob, und Cherier (Pro-
feffor am Seminar zu Tirnau) instit. hist. ecel. Pesth. 1840, vier Octavb. k) Un-
vollendet ift Ginzel's (Profeffor in Leitmerig) Gefhichte der Kirche, Wien
1846; 1) ziemlich werthlos und unaceurat Annegarn’s C+ Profeffor zu Braung-
berg) Gefchichte der hriftlichen Kirche, Münſter 1842 in drei Octavb.; m) mehr
populär als wiffenfchaftlich die Kirchenhiftorien von Berthes (Mainz 1840,
2 Bde,), Sporfchil (Leipzig 1846, 3 Bde), Haas in Augsburg (2te Aufl,
1846) u. A. n) Endlich gehört auch Riffel in Mainz durch fein großes Werk
über die Kirchengefchichte feit ver Reformation, wovon bis jetzt drei Bände er—
———
Kirche ngeſchichte. 155
ſchienen ſind, zu den namhaften Kirchenhiſtorikern Teutſchlands (vgl. Quartalſch.
1847 ©. 483). V. Proteſtantiſche Kirchenhiſtor iker. Die Magdeburger
Eenturien brachten bei den Proteftanten diefelbe Wirkung hervor, wie die An-
nalen des Baronius bei den Ratholifen. Man ruhte auf den Lorbeeren und be—
gnügte fih mit Exrcerpten. Nur in Specialwerfen, z. B. von Korthold, Ittig,
Sedendorf (hist. Lutheranismi 1692) zeigte fi wieder Duellenftudium. Neues
Leben brachte a) der Pietift und Myſtiker Gottfried Arnold (f. Arnold, ©.),
Profeffor in Gießen (+ 1714), durd feine höchſt parteiifche „unparteiiſche Kirchen-
und Ketzerhiſtorie“ voll Ungerechtigkeit gegen die Fatholifche Kirche und noch mehr
gegen das fog. orthodoxe Lutherthum. Die ganze Zeit feit Eonftantin d. Or. ift
ihm eine große Periode des Abfalls vom wahren Chriſtenthum, das allein in der
Urkirche Herrlich geftrahlt Habe Cin den drei erften Jahrh. fieht er Feine MängeN.
Luther habe zwar verſucht, die Urkirche zu reftituiren, aber fein Unternehmen fei
völlig mißgluͤckt, und nur in einzelnen Secten, die er alle vertheidigt, habe ſich
das wahre Chriſtenthum noch erhalten. — Diefe Eoloffale Einfeitigfeit Arnold's
feste zabllofe Federn gegen ihn in Bewegung, er regte damit zu neuem Firchen-
biftorifchem Leben an, hat aber auch außerdem ein pofitiveres Verdienſt, daß er
den Andern wirflih ein Mufter im Duellenftudium und in der freieren, freilich
noch nicht geſchmackvollen Behandlung der Kirchengefihichte war. Die befte und
‚mit vielen Nachträgen vermehrte Ausgabe ift die von Schaffhaufen 1740 in drei
Solivbänden. b) Einen Gegenfat bildete der milde und gelehrte Tübinger Theo—
Inge Weifmann durch feine introductio in memorabilia ecel. hist. in zwei Quart-
bänden, 1718 und 1745. Unverhältnißmäßig ausführlich find darin das 16te
und 1Tte Jahrh., auch die Geſchichte der Gelehrfamfeit behandelt. c) Einen
noch viel größeren Namen erwarb fih aber Joh. Lorenz Mosheim, Kanzler
in Göttingen, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts (+ 1755). Er beſaß un-
gemein viel Duellenfenntnig und viel Scharffinn, und von ihm her datirt ſich
ein befferer Geſchmack in der Kirchenhiftorisgraphie. Sein Hauptwerk find die
institutiones hist. eccl. antiquae et recent. in einem Duartbande (1754 u. 1764),
die bald nah ihrem Erfcheinen von zwei Schülern Mosheims (unabhängig von
einander) auch in's Teutfche überfegt, mit Notizen aus den Eollegienheften und
andern Werfen Mosheims erweitert, auch fortgefegt wurden, nämlich von dem
Herrn 5. A. Eh. von Einem (Leipzig 1769 ff. 9 Bde.) und noch beffer von
dem Heilbronner Rector 3. Rud. Schlegel, Heilbronn 1770 ff. in fieben Bän-
den, bis in's 18te Jahrh. reichend. Der Ieste (Tte) Band enthält ausſchließlich
die Miffionsgefchichte,, befonders der Fatholifchen Kirche im 18ten Jahrh. Aufßer-
dem Tieferte Mosheim einen trefflihen commentarius de rebus Christianorum ante
Constantinum M., eine Anzahl ausgezeichneter Differtationen, zwei Octavbände
füllend, und mehrere Specialwerfe, 3. B. über die Beguinen. d) Um diefelbe
Zeit machten fi auch der Tübinger Kanzler Pfaff, die beiden Walde, Baum-
garten, Eramer, Semler u. A. um die Kirchenhiſtoriographie verdient. Ins—
befondere lieferte Chrift,. Wild, Franz Walch (der Sohn) eine fehr ausführliche
und in vielfacher Beziehung trefflihe Keßergefchichte in eilf Bänden (Leipzig
1762 ff.); auch eine fehr beachtenswerthe und reichhaltige „neuefte Neligions-
geihichte” von Clemens XIV. an (Lemgo 1771 ff.), in neun Octavbänden, wozu
Plank noch drei weitere Bände, auch unter einem befondern Titel hinzufügte
(1793). Ihm verdanfen wir ferner auch eine jegt noch fehr brauchbare Hiftorie
der Kirhenverfammlungen (Leipzig 1759) und eine freilich minder ſchätzbare
Hiftorie der römischen Papfte (Gött, 1758). Sein Vater Georg Wald fer-
tigte unter Anderem eine ausführliche Geſchichte der Religionsftreitigfeiten zwi-
ſchen Katholiken, Lutheranern, Reformirten ꝛc. in zwei Abtheilungen zu vier und
zu fünf Bänden; Cramer zu Kiel aber überfegte Boſſuet's Einleitung in die
Geſchichte der Welt und Neligionen bis auf Carl d, Gr, (in einem Bande) und
156 Kirchengeſchichte.
gab dazu eine Fortſetzung in ſechs Bänden, mit beſonderer Berückſichtigung der
mittelalterlichen Gelehrſamkeit (Leipzig 1757 ff.) e) Das umfaſſendſte und voll-
ſtändigſte Werf unter den Proteftanten Lieferte Matthias Schröcdh, Profeffor
in Wittenberg CH 1808), ein Schüler Mosheims, in A5 Octavbänden (Leipzig
1772 — 1812). Die 35 erften gehen big Luther, die 10 legten bis in den An—
fang des 19ten Jahrh., Band 35 und 45 find Negifterbände, Es ift dieß ein
Werk von ungemeiner Gelehrfamfeit und Duellenfenntnif (nur die vier erften
Bände find ziemlich dürftig), ein wahres Arfenal Firchenhiftorifcher Erudition,
darum jebt noch im höchften Grade brauchbar, aber auch viel zu breit gefchrie-
ben, und da und dort richtiger Beurtheilung ermangelnd. Die zwei legten Bände
rühren von Tzſchirner in Leipzig ber. ſ) Schon Schrödh und Tſchirner waren
von der rationaliftifchen Richtung jener Periode berührt, noch mehr aber prägte
fih diefelbe in Henke's allgemeiner Gefchichte der -hriftlichen Kirche aus
(Braunfhweig 1788 ff. 8 Bde,, revidirt und fortgefegt von Severin Vater),
g) Gleichfalls rationaliftifh, wenn auch weniger graß find die Werfe von L. T.
v. Spittler (Papftgefihichte und Grundriß der Gefchichte der riftlichen Kirche,
Gött. 1782, in ter Auflage von Planck beforgt und fortgefegt) und Schmidt,
Profeffor und Prälat in Gießen (Handbuch der riftlichen Kirchengeſchichte 1800
ff. 6 Bde,, einen Tten gab Nettberg 1834), Weitere Fortfegungen erfchienen
nicht, und das Werk blieb unvollendet, Auh Stäudlin in Göttingen gehört
noch dieſer Richtung an, h) Um ein Bedeutendes erhob fih über fie ſowohl durch
riftlihe Gefinnung als durch geiftige Auffaffung der Geſchichte und doch gerech—
tere Beurtheilung auch der Fatholifchen Kirche, der berühmte Gottlieb Jar,
Planck in Göttingen, geft. 1832. Außer der bereits genannten Forfegung der
Walch'ſchen neueften Religionsgefchichte in drei Bänden haben wir von ihm noch
zwei hiftorifche Hauptwerfe: Gefchichte der hriftlichen Neligionsverfaffung 1803 ff.
fünf Octavb., und Gefchichte der Entſtehung und Veränderung des proteftantifchen
Lehrbegriffs ꝛe., ſechs Bände in acht Theilen, i) Nachdem durch die teutfchen
Freiheitsfriege mit der neuangefachten Liebe zum Vaterlande auch eine neue reli=
gidfe Wärme in Teutfchland heimifch zu werden begann, erhielt diefe innigere
und tiefer hriftliche Nichtung bei ven Proteftanten ihren Ausdruck in den Eirchen-
biftorifchen Werfen Auguft Neander’s in Berlin. Ausgezeichnet an Geift wie
an Gelehrfamfeit hat er anerfannt Großes geleiftet, durch Schrift und Wort auf
viele Hunderte anregend gewirkt, und ift leider viel zu früh für die Wiſſenſchaft
und lange vor Vollendung feines Hauptwerfes (14. Juli 1850) zu Berlin im
6iten Jahre geftorben. Bei aller Anerkennung dürfen wir aber auch nicht
verfchweigen, daß Neander in Folge feiner pectoraliftifehen Richtung vor
jeder angeblichen „Eryftallifirung des Dogmas und Verfnöcherung des hriftlichen
Lebens im Kirchthum“ angftlich zurücichauderte und dadurch gerade gegen Erſchei—
nungen der Fatholifchen Kirche oft ungerecht war, Wir haben von ihm Mono—
graphien über Kaiſer Julianus Apoſtata, über die gnoftifchen Syſteme, über Ter-
tulfian (2te Aufl.), Chryfoftomus (2te Aufl.) und St. Bernhard (2te Aufl), auch
drei Bände Denfwürdigkeiten aus der Gefchichte des Chriftentfums (Ste Aufl,
1845 f.)3 fein Eirchenhiftorifches Hauptwerk aber ift feine allgemeine Gefchichte
der hriftlichen Religion und Kirche in zehn Theilen (Band I. 1—V. 2) bis Bo—
nifaz VII. (1294) reichend. Bon der erften Auflage (Hamburg 1825 — 1845)
erfchienen zweierlei Ausgaben, eine ſchöner gedrudte und eine wohlfeilere, Die
zweite verbefferte Auflage dagegen (Hamburg 1843— 1847) hat diefen Unterſchied
nicht mehr beibehalten und auch eine andere Bändeeintheilung eingeführt, In
diefer neuen Auflage erfchienen nur Band 1 und 2, d. h. die fechs erften Theile
der alten Edition (folglich ungefähr die Hälfte), und diefe zwei erften Bände der
alten Auflage find jegt in vier Bände abgetheilt, fo daß nunmehr auf Band IV
der neuen Auflage der dritte Band der alten zu folgen bat, — Weil aber diefes
Kirchengeſchichte. 157
Werk die Geſchichte der apoſtoliſchen Zeit nicht berückſichtigt, lieferte Neander
hierüber noch eine beſondere Arbeit: „Geſchichte der Pflanzung und Leitung
der chriſtlichen Kirche durch die Apoſtel“, 2 Bde. Ate Aufl, Hamburg 1847 f.
k) Unter Grundlegung der Neanderfhen Schriften und Collegienhefte bearbeitete
©uerife fein aus zwei Bänden beftehendes Handbuch der allgemeinen Kirchen-
gefhichte Cöte Aufl. 1843) in der fectirerifh warmen Richtung der preußifchen
Altlutheraner. ID Einen fürmlihen Gegenfa dazu bildet Engelhardt’s Cin
Erlangen) fehr ruhig und Falt gefihriebenes Handbuch der Kirchengeſchichte (1834),
vielfah ein Auszug aus Schroöckh. Die drei erften Bände geben den Tert, der
vierte die Belegftellen, und fowohl Guerife als Engelhardt führten ihre Werfe
bis auf die neue Zeit fort, m) Das geſchmackvollſte Compendium lieferte Carl
Hafe in Jena (Ste Aufl. 1844, vgl. auch Tüb. Quartalſch. 1836 S. 643),
n) ein neueres umfangreicheres Niedner in Leipzig 1846, anderer minder be-
deutender nicht zu gedenken. 0) Einen eigenthümlihen Plan verfolgte nach dem
Vorgange von Danz (Lehrb. d. Kirchengefh. 1818 ff. 2 Bde.) Profeffor Gie-
feler, jest in Göttingen. Seine Geſchichtserzählung ift äußerft furz, das wei-
tere Material aber in den großen und vielen Noten enthalten, die oft geradezu
Abdrücke aus den Duellen find, Bis jegt erſchienen ſechs Abtheilungen (Bd. I—II. 1)
bis zum weftphälifhen Frieden (1648) reihend. Bon Band I erfdien bereits .
die vierte Auflage, vom zweiten Bande, welcher vier Abtbeilungen hat, die dritte
Cogl. Tüb. Duartaffh. 1837 ©, 92). p) Ebenfalls noch unvollendet ift Gfrö-
rer’Sallgemeine Rirhengefchichte, Stuttg. 1841 in fieben Theilen (Bd. I—IV. 1),
bis Gregor VII. (excl.) gehend, Sie enthält Proben ausgedehnter Gelehrfamfeit
und großen Scharffinns, aber auch fehr viel Willfürliches, Gewagtes und Un—
richtiges. Weitaus am beften ift der legte Band, das Zeitalter Gregors VIL
darftellend. — Theilweife wenigftens gehört auch Gförers Gefhichte der Caro—
linger, zwei Bände (Freiburg 1842) und feine gute Monographie über Guſtav
Adolph, 2te Aufl. 1845, der Firchenhiftorifchen Literatur an. q) Weniger als
die Lutheraner haben die Reformirten für allgemeine Kirchengefchichte ge-
than, während fie in Specialwerfen mitunter fi ungemein auszeichneten, 3. B.
Pearfon, Dalläus, Dodwell, Beveridge, Usher, Cave u. A. Allgemeine Kir-
chenhiſtorien aber Lieferten: Hottinger, hist. ecel. N. T. (Hannov. 1655 ff.) in
neun Detavb, bis in's 16te Jahrh. reichend; Jac. Basnage, histoire de Féglise
depuis Jesus Christ jusqu’a present. Rotterdam 1699, 2 Fol.; Sam. Basnage,
annales politico-ecclesiasticae. Rott. 1706 3 Fol. (f. Basnage); Fried. Syan-
beim, hist. ecel. Lugd. Bat. 1701 f.; ferner feine introductio ad historiam et an-
tiquitates sacras, cum perpetuis castigationibus Annalium Baronii etc. Lugd. Bat.
1687 und andere firhenhiftorifhe Schriften Spanheims; Milner history of the
church etc. 5 Bde., auch ins Teutfche überfegt. Endlich gehören noch hieher meh-
zere Compendien von Turretin, Jablonsky, Hofflede de Groot (in Iatei-
nifher Sprade Groning. 1835), Matter (franzöf,, Strasb. 1829 in 4Octavb.)
und Schleiermaher, nah feinem Tode herausgegeben von Bonnell, Berlin
1840, — VI. Specialwerke. Neben den bisher angeführten allgemeinen
Werfen entftand feit der Reformation auch eine faft unüberfehbare Menge von
kirchenhiſtoriſchen Specialwerken, die an Werth und Gründlichfeit die allgemeinen
Werke gar häufig übertreffen, Beinahe alle einzelnen Richtungen, Momente und
Epochen der kirchenhiſtoriſchen Entwicklung wurden befonders in Unterfuchung ge-
zogen ‚, aus den Duellen erörtert und Fritifch beleuchtet, das Wirken der hervor—
ragendſten Perfonen in zum Theile wahrhaft trefflihen Biographien und Mono—
graphien beſchrieben, viele einzelne wichtige Begebenheiten zum Gegenftande ganz
detaillirter Behandlung gewählt, namentlich auch die Kirchengeſchichte einzelner
Länder mit meift ungeheurem Fleiße behandelt, ja öfters erſt aus den Archiven
ins Leben gerufen, In letzterer Beziehung wird die Gallia christiana der Sammar-
158 Kirchengeſetz — Kirchenglaube.
thaner (e Congr. S. Mauri) in 13 Fol. und die Espanna sagrada von Florez in
46 Duartb, ewigen Ruhm behalten; aber auch Teutfchland ift nicht ganz Teer hier
ausgegangen, namentlich haben die Benedictiner von St. Blafien auf dem Schwarz-
walde (ſ. Blafien, St.) u. A. die Kirchengefchichte einzelner Bistümer meifterhaft
bearbeitet, Eine Rirchengefchichte Bayerns lieferte Raderius in feiner Bavaria sacra,
an einer Rirchengefchichte von ganz Teutfehland aber arbeitet gegenwärtig Dr. Rett-
berg (bis jegt 2 Octavb.), und auch Adolph Menzel’s treffliche „neuere Geſchichte
der Teutfchen vor der Reformation 26,” (Breslau 1826—48) in zwölf Bänden, trägt
ebenfowohl einen firchen- als profanhiftorifchen Charakter, — Unter ven Mono-
graphien zeichnen fih befonders aus neben den Neander’fchen die von Möhler,
über Athanafius d. Gr., von Ullmann, über Gregor von Nazianz, von Arendt,
über Leo d, Gr., von Boigt über Gregor VII, von Rofeve, über Leo X., von
Hurter, über Innocenz III., von Artaud, über Pins VU., von Höfler, über
Kaiſer Friedrich II, und über die teutfchen Päpfte, von Fr. v. Naumer, über
die Hphenftaufen u. f. f, — Die Eoneilien betreffend traten jetzt die herrlichen
Sammlungen von Labbe, Harbuin und befonders Manſi in's Leben, die Gefchichte
der Zrienter Synode insbefondere befchrieben Sarpi und Pallavicint, bie
Geſchichte der Pifaner und Conftanzer der reformirte Prediger Lenfant, Zur
Dogmengefhichte gab der Jeſuit Divnyfius Petavius den Anftoß, die Patri-
ftif wurde von den Maurinern, von Du-Pin, Cave, Dudin, Nemi-
Eeillier, Lumper u. U. gefördert. Endlich aber find auch die Hilfswiffen-
ſchaften der Kirchengefchichte, die Firchliche Geographie, Statiftif, Paläographie,
Diplomatif, Archäologie ze. auf einen gegen früher unvergleichlich höhern Stand-
punct erhoben und für die großen Zwede der Rirchengefchichte erft wahrhaft nüß-
lich gemacht worden. [Hefele.]
Kirchengefegß, f. Canon,
Kirchengewalt, f. Gewalt, £
Kirchenglaube, Kirchenlehre. Es werden, wenn von Kirchenglauben die
Nede ift, drei Fragen zu beantworten fein, Erftens was ift Inhalt des Kirchen-
glaubens? Die Antwort auf diefe Frage ift äußerft einfach. Inhalt des Kirchen—
glaubens find die unmittelbaren göttlihen Dffenbarungen oder die Wahrheiten,
welche durch diefelben befannt geworben, Wenn gefagt ift „die unmittelbaren
göttlihen Dffenbarungen”, fo ift gemeint, unter den Dffenbarungen, welche den
Inhalt des Kirchenglaubens bilden, feien nicht die fogenannten mittelbaren oder
factifchen, d.h. nicht jene Offenbarungen zu verftehen, welde in den Werfen
Gottes als folhen in der Welt enthalten find, wie fie ift und fortbefteht, fon-
dern Offenbarungen, welche Gott in Worten, in beftimmten Erklärungen, un-
mittelbar an den denfenden und verftehenden Geift gerichtet, macht. Den Inhalt
diefer Dffenbarungen bilden durchaus religiöfe Wahrheiten; was geoffenbart wird,
ift Gott felbft und fofort das in der Creatürlichfeit begründete Wefen und das
biernach geftaltete oder zu geftaltende Verhältniß des Menfchen zu Gott, Alles,
was nicht diefes Höchfte iſt oder wenigflens in enger Beziehung zu bemfelben
fteht, gehört nicht zum Inhalt des Kirchenglaubeng, wie e8 auch, weiter zurück,
nicht Gegenftand unmittelbarer göttlicher Offenbarung gewefen iſt. Aber wie ift,
zweitens, die Kirche zur Kenntniß jener göttlichen Offenbarungen und zur Er-
fenntniß der darin befannt gemachten Wahrheiten ‚gefommen? Natürlich durch
Bernehmung des göttlichen Wortes oder des in beftimmten Erklärungen ſich offen-
barenden Gottes. Wenn man fagt, die Kirche habe das, was fie glaubt oder im
Glauben weiß, von den Propheten und Apofteln ald denjenigen empfangen, wel-
chen die göttlichen Dffenbarungen geworben feien, fo ift das fehr ungenau ge—
fprochen, denn es Täßt eine Vorftellung zu, welche grundfalfch ift, die Vorſtellung
namlich, daß die Propheten und Apoftel etwas ganz Anderes feien, als die Kirche,
Diejenigen Menfhen bilden die Kirche, welche der unmittelbaren Offenbarung
Kirhenglaube, Kirhenlehre, 159
. Gottes theilhaftig geworden und dadurch in die zerfiörte Vereinigung mit Gott
zurückgebracht, reflituirt find. Diefelben zerfallen aber in zwei Elaffen: die erfte
bilden diejenigen, welche den fprechenden, ſich offenbarenden Gott felbft oder un-
mittelbar vernehmen; die zweite diejenigen, welche durch jene Erften unterrichtet,
alfo mit den Dffenbarungen Gottes mittelbar befannt werden. Jene ift die ur—
ſprüngliche oder erfie, diefe die fpätere Kirche, Wir werben uns etwas näher
erflären müffen. Streng genommen bat fi Gott nur ein Mal und auf eine
Weife geoffenbart, nämlich in und dur Jeſum Chriſtum, d. h. dadurch, daß der
Sohn Gnttes Menſch geworden und fofort als Gntt-Menfch teils in Thaten, theils
im Reben die nöthigen Erflärungen deutlih und verfiändlich gegeben hat. Die-
jenigen Menfhen nun, welche dieſen fo fih vffenbarenden Gott vernommen und
verftanden haben, bilden die Kirche, und der Glaube, den fie Chriſto geſchenkt
und das religiöfe Bewußtfein, das fie dem entfprechend fich gebildet haben, find
der Ölaube und das Bewußtfein der Kirche. Haben fie dann, was fie ver-
nommen, weiter verfündigt und wurbe auch ihnen Glaube gefchenft von denen,
die fie hörten, fo gingen ihr Glaube und ihr Bewußtſein auf diefe Iegtern über,
der Kirchenglaube wurde fortgepflanzt und damit die Kirche felbfi permanent ge—
macht; die jest Hörenden und Glaubenden find ebenfo die Kirche, wie Jene,
welche Chriſtum felbft gehört. So ift die Sache äußerſt einfach. Indeſſen ift die
vorgelegte Anfhauung doch noch mangelhaft und dur nähere Beflimmung zu
vervollſtändigen. Weil die Eriftenz des Menfhengefchlechtes nah der Sünde in
Ehrifto begründet ift und demgemäß die ganze vordriftlihe Gefhichte als Ent-
wicklung der Menſchheit durch und für Chriſtus erfcheint, fo zieht ſich nothwendig
durch jene ganze Gefchichte die mit Ehrifto gegebene göttliche Dffenbarung hin-
durch. Die vorchriſtliche Menſchheit iſt nothwendig göttliher Dffenbarung theil-
haftig, und alle Offenbarung, welche ihr wird, iſt nothwendig chriſtliche Offen-⸗
barung. Verſteht fie Etwas davon und bildet ſich demgemäß ein irgendwie wahres
Gottesbewußtſein, fo ift dieß hriftlihes Bewußtfein; wie die Kirchenväter ganz
richtig und fehr gut gefagt haben: wenn die vorchriſtlichen Menfhen, auch die
Heiden, etwas Wahres befigen, fo gehört es nicht ihnen, fondern ung Chriſten.
Unmittelbare, in Worten oder befiimmten Begriffen beſtehende Dffenbarung ift,
wie befannt, nur Wenigen zu Theil geworden. Es find dieß die Patriarchen,
Mofes und die Propheten, Inwiefern fie den fich offenbarenden Gott unmittel-
- bar vernommen haben, fliehen fie, bei aller Berfchievenheit, denjenigen gleich,
welche in unmittelbarer Berührung mit Chriſto geflanden. Weil aber fämmt-
lihe ihnen gewordene Dffenbarungen von Chriſto ausgegangen find und darum
in dem endlich fihtbar erſchienenen Chriſtus ihre Vollendung gefunden haben, fo
fommen fie nicht weiter abgefondert in Betracht, fondern fallen für uns mit
Jenen zufammen, welde den in dem perfönlichen Ehriftus offenbaren Gott ver—
nommen und, wie oben angegeben, die urfprünglihe oder erfte Kirche, nämlich
fihtbare Kirche, gebildet Haben, Wenn nun aber oben gefagt wurde, diefe Kirche
fei dadurch permanent geworden, daß diejenigen, welde Chriſtum gehört, das
Bernommene und Wahrgenommene weiter verfündigt, Glauben gefunden und fo
ihren eigenen Glauben und ihr eigenes Bewußtſein, alſo den urfprünglichen
Kirchenglauben auf Andere übergetragen haben: fo ift jegt die genauere Bemer-
kung beizufügen, jene Function der Mebertragung des Kirchenglaubens auf Andere
ſetze Befähigung und Autorifation voraus, Daß diefe einigen wenigen Männern,
den Apofieln, zu Theil geworden, ift befannt, und daß die Nothwendigkeit der⸗
felben permanent fei, verfieht fi von felbft (ſ. Kirche, Hriftlihe). Iſt aber
hiernach als Kirchenglaube der zuerft in den Apoſteln vorhandene, dann von ihnen
aus zunähft auf ihre Nachfolger in der Hierarhie und fofort auf femmtliche
Mitglieder der Kirche übergegangeue Glaube, ober als Inhalt des kirchlichen Be-
mwußtfeins die Wahrheit zu erflären, welche zuerft die Apoftel, in unmittelbarem
DE N E
160 Kirchenglaube, Kirchenlehre.
Umgange mit dem Herrn, erkannt haben: ſo fragt es ſich näher, wie jene Fort—
pflanzung zu denken ſei, wie jene Uebertragung ſtattgefunden habe. Dieß führt
ung zu der dritten Frage, die wir noch zu erörtern haben, Es fragt ſich näm—
lich dritteng, wie der Kirchenglaube als folcher erfannt werde, wie man be-
ftimmt wiffen fünne, was den Inhalt des kirchlichen Bewußtfeins bilde, Diefe
Trage aber iſt identifch mit der Frage, wie bie Kirche ihren Glauben an den
Tag lege, wie fih das Bewußtfein äußere, denn diefes ft die Bedingung von
jenem, der Rirchenglaube wird nur dann, dann aber auch von felbft befannt
und erkannt, wenn er Rirchenlehre geworben iſt. Was nun dieß betrifft, fo ift,
was Kirchenglaube fer, zunächſt factifch ausgefprochen in der Wirklichkeit als
folder, in ver Berfaffung und dem Leben der Kirche, in dem Gottesdienft, der
Diseiplin ıe. Sehen wir z. B., daß in der Kirche Chriftus angebetet wird, fo
wiffen wir, die Kirche glaube an die Gottheit Chriftiz Iegen die Gläubigen (Mit-
glieder der Kirche) Sündenbefenntniffe vor Prieftern ab, um Losfprechung zu
empfangen und mit Gott verföhnt zu werden, fo erfennen wir, die Kirche glaube,
daß Chriſtus den Prieftern die Vollmacht ertheilt habe, in feinem Namen Sünden
nachzulaffen u. f. w. Biel deutlicher und beftimmter aber fpricht die Kirche ihren
Gfauben in beftimmten Worten und Begriffen aus; was fie thut, indem fie lehrt,
fei e8 Außenftehende, fei eg Mitglieder ihrer ſelbſt. Hier ift nun aber zwifchen
der urfprünglichen und der fpätern Kirche zu unterfcheiden, Die urfprüngliche
Kirche äußert ganz einfach, was fie von Gott vernommen, fpricht einfach das
Bewußtfein aus, welches in ihr durch die Gefchichte des Herrn gebildet worden;
die Apoftel erzählen, was fie gefehen und gehört, und erläutern, felbft vom Herrn
belehrt, die erzählte Gefchichte, indem fie die Darin geoffenbarten Wahrheiten er-
fennen laſſen. Wir wiffen, daß die Apoftel folhe Erzählung und Belehrung
nicht nur mündlich, fondern auch fchriftlich gegeben haben, wie e8 ſchon durch
Mofes und viele Propheten gefchehen iſt. Die fpätere Kirche hat zunächſt ganz
daffelbe Gefhäft und die nämliche Weife, fich deffelben zu entledigen; die Nach—
folger der Apoftel (durch alle Zeiten herunter) verfündigen ganz ebenſo, wie dieſe
felbft, was fie von eben diefen empfangen haben, und Iehren alfo ganz ebenſo,
wie fie, was ihr Glaube, was Inhalt des Firchlichen Bewußtfeins ſei. Auch diefe
Dffenbarung des Firchlichen Bewußtſeins gefchieft, wie wir wiffen und wie fich
ohnehin von felbft verfteht, mündlich und fchriftlich, Aber Hiezu Fommen bei der
fpätern Kirche noch zwei Momente, welche in der urfprünglichen nicht vorhanden
waren, Erſtens hat die fpätere Kirche, haben die Nachfolger der Apoflel das
von diefen Weberlieferte unverfehrt zu erhalten, und zweitens die Lehre der
Apoftel, die mündlich wie die fehriftlich gegebene, richtig zu erflären. Wie ge-
wiffenhaft und forgfältig die Kirche Erfterem nachgekommen, wie fie namentlich
die von den Apofteln Cund Propheten) Hinterlaffenen Schriften als die älteften
und als unbedingt zuverläffige Urfunden des Firchlichen Bewußtfeins von Anfang
an bis heute wie Heiligthümer behandelt und unverfehrt erhalten habe, ift be=
kannt, bier aber nicht näher zu erörtern (f. Integrität), Nicht minder ift be—
fannt, daß auch das Zweite von jeher auf's Vollftändigfte gefchehen fer, dermaßen,
daß die heutige Kirchenlehre genau daſſelbe Bewußtſein ausfpricht, welches dag
Dewußtfein der Apoftel gewefen ift, genau denfelben Glauben an den Tag legt,
den die Offenbarung Gottes dur Chriftum in den Apofteln gefchaffen hat, Aber
in Betreff diefes Zweiten entfteht die fehwierige Frage: wie hat die Kirche ſolche
Erklärung zu geben, damit fie glaubwürdig, damit fie als richtig anzuerkennen
fei? mit andern Worten: wie wird der Beweis geliefert, daß das in der Kirchen»
Iehre ausgefprochene Bewußtfein mit dem apoftolifchen Bewußtfein iventifch fer?
Wiffenfhaftlich natürlicher Weife einfach durch Vergleichung. Dadurch aber wird
der Gläubige nicht befriedigt. Hiezu wird erfordert, daß die Kirche als folche
die Ueberzeugung ausſpreche, ihr Bewußtſein fei von ben Apoſteln an ununter-
Kirhengut — Kirchenjahr. 161
brochen und unverändert das kirchliche Bewußtfein geweſen. Aber wie, durch
wen, anf welche Weife? Man fagt wohl, durch die Hierarchie, denn dieſe fer
das Drgan ber Kirche wie zur Neinerhaltung des apoftolifgen Glaubens, fo auch
zum Ausfprechen ihres Bewußtſeins. Da aber hiemit zwar eine Wahrheit, aber
fireng genommen doch faft fo viel als Nichts gefagt ift, fo erflärt man näher:
durch die zu einem allgemeinen Coneil verfammelten Bifhöfe. Da aber die ver-
fammelten Bifchöfe nur dann ein allgemeines Eoneil bilden, d. h. da die Bifchöfe
nur dann zu einem allgemeinen Eoneil verfammelt find, wenn der Papft biefelben
zufammengerufen hat und nun der Verfammlung prafidirt: fo wird doch wohl
richtiger fein, zu fagen, durch den Papft in Gemeinfchaft mit den um ihn ver-
fammelten Bifchöfen. Das Nähere hierüber und namentlich über die Frage, ob
der Papft oder ein allgemeines Eoncil unfehlbar fei, ob jener über oder unter
diefem flehe, vgl, d. A. Kirche, chriſtliche. Da aber, wie wir gefehen, nicht
nur die Kirchenlehre, fondern auch die Wirflichfeit als ſolche Ausdruck
des Kirchenglaubens oder des Firchlich-hriftlichen Bewußtfeins ift, fo ift hierüber
noch die Bemerfung beizufügen, es feien diejenigen Wahrheiten, welche fo ihren
Ausdruck oder ihre Bezeugung in der Wirklichkeit gefunden haben, ganz ebenfo
feftzuhalten und zu refpectiren, wie die in der Lehre begrifflih ausgefprochenen;
aber daß diefe oder jene beftimmte Wahrheit in der Wirklichkeit, im Firchlichen
Leben, Gottesdienſt 2, wirklich ausgefprochen, als Wahrheit bezeugt fer, ift nicht
immer mit voller Gewißheit zu erkennen, weßhalb große Vorficht erfordert wird,
wenn es gilt, ven Glauben oder das Bewußtfein der Kirche aus der Wirklichkeit
als folcher zu abſtrahiren. — Hiemit find die drei Fragen beantwortet, die wir
uns ftellen mußten. Nunmehr hätten wir aber erfi noch die Aufgabe, nachzu—
weifen, daß die Kirchenlehre mit der apoftolifchen auch dann iventifch fer, wenn
fie fih von derfelben in der Form, im Ausdruck unterfcheidet, oder allgemeiner:
nachzumeifen, daß das heutige Bewußtfein der Kirche, wie e8 immer ausgefprocen
fei, mit dem urfprünglichen Bewußtfein derfelben Kirche identiſch und folglich
das Bewußtfein göttlich geoffenbarter Wahrheit ſei. Hierüber aber enthält der
Art, Dogmengefhichte genügenden Auffchluß. Vgl. überhaupt die Art. Dog-
ma, Dogmatif und Dogmengeſchichte. [Mattes,]
Kirchengut, f. Kirchenvermögen.
"Kircheninventar, von inventarium, — in der Gefegesfprache auch reper-
torium, synopsis bonorum, &vaygapn genannt, — ift überhaupt ein Verzeichniß
von dem Eigenthum einer Kirche, und zwar ift daffelbe eine unter öffentlicher
Auctorität verfaßte Beſchreibung aller nugbringenden Rechte und aller beweglichen
und unbeweglichen Habe einer Kirche, oder es ift die Befchreibung der Utenfilien,
die zum Kirchengebrauche vorhanden find, Da der Ausdruck inventarium häufig
von dem Complere beweglicher Gegenftände, z. B. bei einem Landgute gebraucht
wird, fo fann man unter Kircheninventar auch die einer Kirche angehörigen
Gegenſtände und Geräthfchaften verftehen, ohne daß dabei an ein beflimmtes
Berzeihniß zu denken iſt. Nach dem römifchen Rechte wird von jedem Verwalter
- fremden Vermögens, der zur Nechnungsablegung verbunden ift, von jedem Ge—
ſchäftsführer, fowie überhaupt von jedem, der einen Complex von Gegenftänden
in Verwahrung und diefelben wieder auszuliefern hat, die Fertigung eines In—
ventariums gefordert, das er denen einzuhändigen hat, die an ihn Anſpruch zu
machen haben. Hat diefe Verordnung den Zweck, den Eigenthümer in feinen:
Beſitze fiher zu ftellen, fo dient das Kircheninventar ebenfalls als Controle für
die Berwaltung und Aufbewahrung des einer Kirche zugehörenden Eigenthums
und Vermögens,
[Khuen.]
Kirchenjahr. Das Leben der Kirche bewegt fih in Zeit und Naumz; Zeit
und Raum find die großen Subftrate ihrer auf das Heil der Menfchheit gerich-
teten Thätigkeit. Obgleich fie nun aber an und für fih ſchon der Zeit überhaupt
Kirchenlexikon. 6. Bd. 11
162 Kirchenjahr.
die Richtung auf die Ewigkeit gibt, und fie dadurch von dem Fluche der Nichtig-
feit befreit Cogl, Röm. 8, 21.), fo muß fie doch auch aus der Maffe ver Tage
einzelne ganz befonders herausheben und ihnen ein höheres göttliches Gepräge
geben durch die Beflimmung, die fie ihnen zu Theil werden läßt, die Hauptthat-
fachen und Hauptwahrheiten der Dffenbarung in lebendiger Erinnerung oder
eigentlich mehr thatfächliher Erneuerung den Gläubigen vor Augen zu ftellen
and die an jene Thatfahen und Wahrheiten gefnüpften Gnaden ihnen lebendig
zu vermitteln, Die regelmäßig im Lauf von einem Fahreszeitraum ſich begebenve
Wiederkehr diefer dem Dienfte Gottes ganz befonders gewidmeten Tage — Feſte
mit ihren Vor⸗ und Nachfeiern bildet das chriftliche Kirchenjahr mit feinen drei
Feſteyelen, dem Werhnacht-, Dfter- und Pfingftfeftfreis, anfangend mit dem erften
Adventfonntag und ſchließend mit dem legten Sonntage nach Pfingften, Für diefe
. Feftkreife oder Heilige Zeiten bildet, mit Ausnahme des Weihnachtfeftfreifes, alle-
mal der betreffende Sonntag wieder den Mittelpunet, indem der Sonntag bie
allgemeine Feier der erlöfenden Hauptthatfahen des Chriſtenthums darſtellt,
während das Dreieinigfeitsfeft als die folenne Zufammenfaffung der Weihnachts=,
Dfter- und Pfingftfeier betrachtet werden muß, Es verfteht fih, daß das rift-
liche Kirchenjahr als ein durchaus wefentlihes Moment der neuteftamentlichen
Heilsöeonomie (die ſymboliſchen Bücher der Proteftanten verfennen dieß ganz und
gar, vgl. Augsb, Confeff. Art. 26 u. 28, Apologie derf. Art, 4 u, 8, solid.
declar. Art. X.) fein Vorbild in der altteftamentlichen Feftordnung gehabt haben
muß, und daß feine Säulen durch die pofitive Anordnung Jeſu Chrifti gefegt
fein müffen — Wahrheiten, welche die Darftellungen der einzelnen Feſte zur
Evidenz nachweifen. Das Kirchenjahr ift nicht bloß eine todte Erinnerung an bie
©rundthatfachen der hriftlihen Offenbarung, fondern eine lebendige Vergegen-
wärtigung derfelben mit ihrem ganzen Gnadenreichthum, namentlich deßwegen,
weil die Feier eines jeden Feftes ihren Mittelpunet im unblutigen Opfer hat, in
welhem alle die großen Thatfachen der Erlöfung thatfächlich erneuert werben
(„quoties hoc sacrificium celebratur, toties opus nostrae redemtionis renovatur*),
Oft wird auch der Zweck, um deffen willen das Kirchenjahr gefeiert wird, fehr einfeitig
bezeichnet; offenbar ift er in Beziehung auf Gott ein latreutifcher, (ſ. Cultuslatriae)
in Beziehung auf den Menfchen aber befleht er in der Zuwendung der Gnaden des
Chriſtenthums an den Einzelnen, der in fo vollerem Maße derſelben theilhaftig
wird, je mehr er ſich mit feinem innerfien Wefen in die kirchliche Ordnung hinein-
verlebt, woher die Erfheinung, daß auch die Heiligen fich nie über diefe hinweg—
zufegen wagen, fondern ganz darin leben und weben. Die kirchliche Feftordnung
ift das von Oben georbnete Geräfte, auf dem die Gnadenordnung des neuen
Bundes aufgebaut werden muß. Das Kirchenjahr ift eine die triumphirende,
ftreitende und leidende Kirche berührende Ordnung, ja eine Ordnung, welde
felbft die Hölle Teiven macht, weßhalb auch die Firchlichen Fefte in allen myftifchen
Zuftänden, in ver Gefchichte der Geiftererfcheinungen u. f, w. eine fo große Rolle
fpielen. Wenn wir bei Kirchenfchriftftelfern und Kirchenvätern wie Clemens von
Alerandrien, Drigenes, Hieronymus und Auguftinus Stellen finden, welche gegen
die Anordnung einzelner feftliher Tage zu fprechen ſcheinen, weil der Chrift fein
ganzes Leben hindurch ein Feft feiern müffe, weil für ihn immer des Herrn Tag
(Sonntag), ſtets Parafceve, ſtets Oſtern fer u. f. w. (ſ. Augufti, Denkwürd. I.
©, 21 f.), fo wird jeder Unbefangene einfehen, daß foldhe Aeußerungen, denf-
würdig um ihrer erhabenen Auffaffung des menfchlichen Lebens und der Zeit
willen, nicht mißzuverfiehen find, Denn allerdings iſt der Zweck der Firchlichen
Feſtordnung fein anderer, als die Chriften dahin zu führen, wo das ewige Oſtern
mit dem nie endenden Alleluja gefeiert wird, Der ſchöne und erhabene Grund-
gedanfe übrigens, welcher dem Ausdrucke „ein ewiges Feft feiern” zu Grunde
Viegt, ift 68 auch ohne Zweifel, welcher zur Benennung der gewöhnlichen durch
Kirchenkaſten. 163
Nichts —* Tage im Kirchenkalender mit „feriae“* Veranlaſſung gegeben
hat. — Daß das Kirhenjahr einerfeits unabhängig vom bürgerlichen Jahr mit
dem erflen Adventfonntage beginnt, andrerfeits in Beziehung auf feine Dauer
mit dem bürgerlichen Jahre parallel läuft, fcheint darauf Hinzudeuten, fowohl daß
die Beziehungen zwifchen beiden weder zu überfehen noch auch zu überfchägen find
(ſchon bei dem HI. Auguftinus serm. 288 findet man in dem Zeitpuncte der Feier
des Feftes Johannes des Täufers, in dem Monate nämlih, wo die Tageslänge
ihren Gipfelpunct erreicht hat, eine Beziehung auf das „oportet Christum cres-
cere, Joannem autem minui* herausgefunden). — Das driftlihe Kirchenjahr,
welches wefentlich mit der Einfegung des Frohnleichnamsfeftes (ſ. d. A.) abgefchloffen
worden ift, ein voller Mond geworden, an dem der legte dunfle Fleck verfchwunden,
ift von vielen zum Theil berühmten Namen bearbeitet und bald mehr wiffenfchaft-
ich, bald mehr erbaulich dargeftellt worden; befonders hervorzuheben find die
Shriften eines Gretfer de festis christianorum (polemifch gegenüber von den
Proteftanten gehalten), Benedict XIV., de festis, Staudenmaier (Geift des
Chriſtenth.), Nickel, „die Heiligen Zeiten“, Auguftiund Binterim (Denfwürd.).
Schon der verdienftvolfe Jeſuit Gretfer (f.d. A.) beftiimmte den Grund der Feier
der Fefttage gegenüber der banalen Auffaffung der fymbolifhen Bücher der Pro—
teftanten, wonach fie bloß um der äußern Zucht und Ordnung willen gefeiert
werden, dahin, daß fie auf göttlicher Anordnung beruhen und „des Geheimniffes
wegen” dafeien, Im Fatholifchen Kirchenjahr Liegt eine folhe Poeſie, daß man
fagen muß, daffelbe fei das eigentliche Salz und die Blüthe des Lebens, weß-
wegen auch die Fatholifche Erziehung, wenn fie anders ihre Zöglinge nur den ge—
bührenden warmen Antheil an feiner Feier nehmen läßt, vor jeder andern fo un-
endlich viel voraus hat, wenn es fih darum Handelt, den zu Erziehenden eine
ideale Richtung zu geben; dabei ift das Fatholifche Kirchenjahr gleichfam eine hei-
lige Atmofphäre, welche das ganze Leben des Fatholifchen Chriften auch in feinen
- ambedeutenderen Bethätigungen umfließt und ihnen die höhere Weihe gibt, in
welcher Beziehung ja nur daran zu erinnern ift, daß fogar das kirchliche Tiſch—
gebet von der befondern Feftzeit feine befondere Farbe annimmt. Durch das
Kirhenjahr mit feinen Liturgifchen Einrichtungen und Anftalten wird der Fatho-
liſche Glaube fo recht Allgegenwart im Leben. Aus dem Gefagten folgt von
felbft, von welcher Bedeutung e8 namentlich für den Seelforger ift, das Wefen
des Kirchenjahres tiefer zu erforfchen, fich feldft in daffelbe hineinzuleben und
feine Pflegempfohlenen in daffelbe einzuführen, womit ſchon bei den Kindern im
katechetiſchen Unterrichte begonnen werden muß. Es ift übrigens befannt, wie
mit dem herrlichen laub⸗ und blüthereichen Baume des katholiſchen Kirchenjahres,
unter welchem einer unter der Hitze und Laſt des Tages ſeufzenden Menſchheit
bis zu den Zeiten der Aufflärerei und des Induftriatismus fo wohl gewefen, in
der neueren Zeit umgegangen worden, wie man ihn feiner Zierde beraubt, nackt
und kahl, als einen dürren Strunf darftellen wollte; es ift aber nicht gelungen,
unter der Pflege wachſamer Hirten treibt er wieder feine Blätter und Blüthen,
und manche kirchliche Andacht, welde fo ganz geeignet ift, den Charakter diefer
oder jener Feftzeit auszubrüen, ſieht man wieder mit großer Theilnahme des
Volkes begehen, nachdem eine dvünfelhafte Zeit fie als „unwefentlich“ und „Reben
ding“ befeitiget hatte, Wir fünnen hier nicht im Einzelnen die Beziehungen nam—
haft machen, welche das Kirchenjahr für die Predigt, für den Beichtſtuhl, für den
Krankenbeſuch, für die Selbſtheiligung in Betrachtung und Aſceſe darbietet: es
fe im Allgemeinen fo viel bemerkt, daß fih alle wohlgeordnete Thätigkeit zu
feinem und Anderer Heile an die Beachtung des Kirchenjahres anfhließen muß. —
Bon den einzelnen Feften ift in befonderen Artikeln die Rede (vgl. auch den Art.
Fefle), Ferner vgl, die Artikel: Advent, Cyelus und Kalender. [Maft.]
Kirchenfajten, f. Fabrica ecclesiae.
411*
164 Kirhenfaftenmeifter — Kirchenlehen.
Kirchenfajtenmeifter, oder auch bloß Kaftenmeifter heißt der Ver—
walter und Verrechner des Einfommens einer Kirche, Vgl. die Art, Fabrica
ecclesiae, und Kirchenvermögen.
Kirchenlehen (Krummftabsiehen, Lehen, infeudatio), Der Charakter des
Lebens (feudum) befteht in dem Vorhandenfein eines durch das gemeine Recht
genauer beftimmten dominium direcium und dominium utile einer Sache, welches
zugleich für die Lehensperfonen ein perfönliches Verhältniß, die gegenfeitige Ver—
pflichtung zu einer befondern Treue (fidelitas) begründet, Die Nechte des Lehens—
herrn, ſowohl diejenigen, welde aus feiner Proprietät, als auch die, welche aus
der Lehenstreue entfpringen, nennt man die Lehensherrlichfeit (jus domini in
feudo); und die Verbindlichkeit des Bafallen, welche jenen entfpricht, heißt die
Lehenspfliht. Das dominium utile im Gegenfaß der Proprietät des Lehensherrn
umfaßt die Ausübung aller Eigenthumsrechte, foweit die Sache dadurch nicht ver-
fehlechtert wird, Lehen können ſowohl phyfifche als moralifche Perfonen errichten,
wenn fie nur überhaupt zu veräußern berechtigt und der Iehensherrlichen Gewalt
fähig find, Die fürmliche Uebertragung des dominium utile einer Sache gegen
das Berfprechen der Lehenstreue gefchieht durch die Inveftitur und heißt auch Be—
lehnung, Infeudatio — datio in feudum. Das particulariftifche Lehenrecht ver—
bindet den Bafallen häufig, ein fog. Handgeld (Claudemium) an den Lehensherrn
oder die Lehensfanzlei zu entrichten, welches für die empfangene Belehnung oder
Renovation der erften Znveftitur gegeben wird, Durch die Inveftitur erlangt der
Lehensmann (vasallus) das Recht, den Beſitz des Lebens zu ergreifen, und ge-
Iobt die Erfüllung der Verpflichtungen, welche in der Lehenstreue enthalten find,
durch den Lehengeid, Die Verlegung diefer Verpflichtungen heißt Felonie, welche
die im gemeinen Nechte näher angegebenen Folgen unfehlbar nach fich zieht, CF.
Eichhorn, Einleitung in das teutfche Privatrecht mit Einfchluß des Lehensrechtes,
Tit, 4 — Das Kirhenlehen (feudum ecclesiasticum) ift a) ein active, wenn
die Kirche felbft eine Sache zu Lehen ausgibt, Nicht felten Haben die Bifchöfe,
um entweder einen mächtigen Schirmvogt, oder eine anfehnliche Dienfimannfchaft,
deren fie als Neichsfürften bedurften, zu gewinnen, biefen einen Theil der Zehn-
ten oder anderer Kirchengüter zu Lehen gegeben, wobei alsdann ber Prälat Na—
meng der Kirche die Stelle des Lehensherrn Cprodominus) vertrat, und beffen
Rechte und Jurisdietion ausübte, Solche Lehen nannte man ehemals Krumm—
ftabslehen, weil fie gleichfam von dem gefrümmten bifchöflichen Stabe (pedum)
als Zeichen der bifchöflihen Würde abhingen., Sie haben einige Berwandtfchaft
mit den Rirchenpfründen:. beide werben auf Lebenszeit gegeben, nur daß diefe
den Clerifern pro officio sacro, jene Dagegen propter servitia saecularia übertragen
werden. — Will ein Kirchengut zu Lehen ausgegeben werden, fo kann es nur ge—
ſchehen mit Beobachtung der zu ihrer Veräußerung nad den Rirchengefegen er—
forderlichen Solennitäten, c. 5. 8. 11. 12. X. 3. 13; c. un. Extrav. comm. 3. 4;
doch erlaubt das canoniſche Necht die Wiederverleihung auch ohne jene Formen,
wenn eine bereits rechtmäßig infeudirte Sache zurüdfällt, fo lange fie von dem Kir-
chenobern dem Rirchenvermögen (ſ. d. A.) nicht wieder incorporirt worben ift, 0.2.X.
3.20. Bei einem Todesfalle iſt nur der Succeſſor berechtigt, die Inveftitur, um
deren Renovation binnen Jahr und Tag nachgefucht werden muß, zu erneuern,
ohne deffen Zuftimmung jede Veräußerung oder Verpfändung des Lebens durch
den Vafallen ungültig ift, c. 7. X. 1. 2. Auch ift der Nachfolger nicht verpflich-
tet, eine von feinem Vorfahrer ertheilte Anwartfchaft für den Fall der Eröffnung
eines Lebens zu confirmiren, e8 fei denn, die Anwartfchaft wäre ertheilt werben
wegen großer der Kirche geleifteten Dienfte., — Das Kirchenlehen kann b) ein
paffives fein, indem der Kirche bona saecularia zu Lehen gegeben werben, wo—
durch diefe an dem Charakter der Kirchengüter fchon in fofern partieipiren, als
das dominium utile der Kirche alle Rechte und Vorrechte der Kirchengüter genießt,
Kirchenlehre — Kirdenpatron. 165 |
Hier ift der Rirchenprälat Namens der Kirche der Lehensmann (provasallus) und
erfüllt in ihrem Namen alle Lebhenspflichten, bat den Lehenseid zu leiften, c. un.
$ 2. in VI? 3. 16, den Dienft durch einen Stellvertreter verfehen zu Iaffen oder
mit Geld abzulöfen, und die Lehensherrlichkeit anzuerfennen, c. 6. X. 2, 2. Fe—
Ionie konnte die Rechte der Kirche nicht beeinträchtigen. Durch die Säcularifation
ift der Firchliche Lehensverband aufgelöst worden. Zu bemerfen ift noch, daß viel
Streit und Wirrwar in die firchlihen Verhältniffe dadurch gebracht worden ift,
daß der Lehensherr bei einem Todesfall fo lange die Früchte einzog, bis das
Lehen wieder ausgegeben war, Zu diefen „fructus feudi* zählte man aber auch
das Recht, Beneficien zu vergeben, felbft Bifchöfe einzufegen, überhaupt die Kirche
fowohl circa officia sacra al® bona ecel. zu providiren, und fuchte damit eine
Lehenshoheit über die Kirche zu begründen, was man „jus regium* zu nennen
pflegte. Die Kirche war indeffen ftetS bemüht, diefen widerrechtlichen Anfprücden
gegenüber ihr gutes Necht zu wahren, Cf. Schmidt, thesaurus juris ecclesiastici,
tom. 5.0.6. Bgl. hierzu den Art, Emphyteuſe. [Kreuger,]
SKirchenlehre, f. Kirchenglaube.
SKirchenlebrer (doctores ecclesiae), f. Kirhenväter,
Kirchenlied, f. Hymne und Poefie, hriftl.
Kirchenmuſik, ſ. Muſik, chriſtliche.
Kirchenpatron iſt der Engel oder Heilige, deſſen Schutze eine Kirche (oder
Gemeinde) vorzugsweiſe anvertraut iſt. Ihre Einführung fällt mit der Heiligen-
verehrung und Ermwählung von Namenspatronen in gleiche Zeit. Die Kirche zu
Nom verehrte die Apoftelfürften nicht bloß als Heilige, fondern auch als Kirchen—
patrone, wie der hl. Leo mehr als einmal ausfpricht (Credimus atque confidimus...
nos specialium patronorum orationibus adjuvandos etc. serm. 1.); die Kirche
zu Smyrna war der Obforge des HI. Polycarpus übergeben, Ignatius und Cy—
prian wurden fchon fehr bald als Patrone ihrer Gemeinden verehrt, und fo wählte
jede Gemeinde den aus ihrer Mitte hervorgegangenen Martyrer zum befonderen
Beihüser. Die kirchliche Einrichtung, Reliquien der Heiligen (zumal der Mar-
tyrer) unter den Altären aufzubewahren, begründete das Patroeinium dieſes
Heiligen (Patronfchaft von Seite des Heiligen und Feftfeier von Seite der. Ge—
meinde) für die betreffende Kirche. Die Synode zu Mainz (813) und ein De-
eretum apostolicum machte das Patroeinium zur Firchlichen Obſervanz und reihte
daffelbe den erften Feften ein. Aus fehr begreiflichen Gründen ift an vielen Orten
die feligfte Jungfrau, als Königin der Heiligen, zur Rirchenpatronin erwählt.
Sonft hängt die Wahl von den Umftänden der Gründung einer Kirche ab. Daß
Heilige in ihrer Heimath, Wirkungs- oder Berflärungsfphäre als Patrone er-
wählt werden, verſteht fih von ſelbſt. Nitterlihe Kirchenerbauer bevorzugten
ritterliche Heilige, z. B. den hl. Martin und Georg; Landleute folhe, denen ein
befonderer Einfluß auf Bedürfniffe ihres Lebenskreifes zugefchrieben wird, 3. Be
den hl. Leonard, Sebaftian, Rochus, Florian; Joh. v. Nepomuk, Joſeph, Bar—
bara ꝛe. Drden wählten hl. Ordensmänner als Kirchenpatrone. Es gibt übrigens
auch Kirchen, die feinen Patron sensu strietiori haben, fondern auf einen ſog.
titulus Ecclesiae gebaut find, 3. B. der Hl. Dreifaltigfeit, dem HI. Kreuze u. ſ. w.
Canoniſche Vorſchriften über Ernennung eines Kirchenpatrons beftehen folgende:
1) muß der Patron ein Heiliger fein, 2) muß die Meinung der betheiligten Ge—
- meinde und 3) die Genehmigung der Congregatio Rituum eingeholt werben,
Dogmatiſch gründet fi die Praris, Kirchenpatrone zu erwählen, einerfeits auf
bie Herrfchaft der Heiligen dur ihre Theilnahme an der Herrlichkeit Chrifti, an-
dererſeits auf die Communio sanctorum, die der ftreitenden Kirche die Antheil-
nahme der Heiligen an ihrem Leben und ihren Geſchicken fihert. Der Vorwurf,
bie Kirchenpatrone feien ein Ueberbleibfel des heidnifchen Lareneultus, widerlegt
ſich hiedurch von felbft Cogl. den Art. Patron). [Xavier Schmid.]
166 Kirhenpfleger — Kirchenrecht.
Kirchenpfleger oder Heiligenpfleger, ſ. Kirchenvermögen.
Kirchenpfründe, f. Beneficium ecclesiasticum und Kirhenamt,
Sirchenpolizei, f. Disciplin,
Kirchenprovinz. Damit bezeichnet das Kirchenrecht ven Complex mehrerer
Bisthumsfprengel — Didcefen — , welche unter einem Bifchofe, der jegt Erz-
bifchof Heißt und felbft Bischof einer diefer Didcefen (Erzdidcefe) ift, vereinigt
find. Lesterer übt über diefe Didcefen, deren Oberhirten Suffraganbifchöfe hei—
Ben, c. 11. X. 1. 6., eine gewiffe Oberauffiht und Jurisdietionsgewalt aus, Die
Bildung Firchlicher Provinzen iſt ſchon im apoftolifchen Zeitalter wahrzunehmen
und hat ſich von da naturgemäß aus dem Leben der Kirche heraus entwicfelt und
eonfolidirt, Will man auch nicht gerade annehmen, daß fich die Apoftel bei der
Berfündigung der hriftlihen Lehre und der Organifation der Firchlichen Gemein-
den an die flaatliche Eintheilung angefchloffen haben (Dupin, de antiqu. eccl.
discipl.), indem die Metropole der römifhen Provinz auch die Metropole der
firchlichen Provinz geworden wäre — was indeffen in vielen Fallen das Wahr-
fcheinlichere ift, indem die Glaubensboten fich zuerſt an die Hauptflädte wandten
und von diefen aus das Chriftentbum fich in der Provinz verbreiten Tiefen; —
fo liegt e8 doch in der Natur der Sache, daß die Kirchen eines beftimmten geo—
graphifchen Umfanges, die großentheilg von der Hauptfladt aus gegründet worden
find, zu diefer mit ihren Bifchöfen in ein gewiffes Abhängigfeitsverhältnig ge—
treten find und ihr einen höhern Nang zuerfannt haben, Zur Zeit der Ehriften-
verfolgungen und des fpätern Umfichgreifeng der Härefien war eine ſolche Ver—
bindung notwendig, Dazu fommt das Synodalwefen, welches fih immer mehr
ausbildete, und das Firchliche Leben in folchen Bezirken auch zu einer äußern Ein-
beit abfchloß, fo daß fihon auf der Synode zu Nicda 325 die Jurisdiction der
Metropoliten näher beftimmt und auf der Synode zu Antiochia verordnet worden
ift, daß in jeder Provinz unter der obern Leitung des Metropoliten alle Jahre
zweimal Synoden gehalten werben foffen. Die Bildung von Kirchenprovinzen ift
daher ihrem Urfprunge nach wie das Product des Firchlichen Geiftes, der überall
nach Vereinigung des Getrennten firebt, fo auch die naturgemäße Folge der
äußern geographifchen und flaatlichen Lagen und Verhältniffe. Die Hauptftädte
Cuntgonolsıs) wurden demnach nicht bIoß die Pflanzfehulen des Chriſtenthums,
fondern auch die Mittelpunete — Centren — der wichtigern Firchlichen Verhand-
lungen, fie bildeten das Centrum in einem Fleinern Kreife, Später gefhah die
Eintheilung und Abgrenzung der Kirchenprovinzen meift auf den Synoden, heut—
zutage gefchieht fie nach vorangegangener Verhandlung mit den betreffenden Re—
gierungen durch den Papft in den fog. Cireumferiptiongbulfen, Gegenwärtig exi—
fliren in der Fatholifchen Welt 114 Erzdidcefen und 462 Suffraganbisthümer,
wovon auf den heutigen Umfang der teutfchen Bundesftaaten 8 fommen, Siehe
Permaneder, Kirchenrecht I, 439, In der Regel ift jede Didcefe einer Pro—
vinz zugetheilt, nur ausnahmsweife find einzelne Bisthümer erempt, die zu Feiner
Provinz gehören, fondern unmittelbar unter dem Papfte ftehen, Die meiften
folcher erempter Bisthümer hat Italien (ſ. d. A.) ; in Teutfchland find erempt: Laibach,
Görz, Trieft, Breslau, Hildesheim und das eoncordbatmäßig verfprochene, aber
noch nicht errichtete Bisthum Osnabrück; f. Permaneder, l.c. ©, 438, Glei—
cherweife gibt e8 auch Erzbifchöfe ohne Suffraganbifchöfe, wie z. B. Olmütz in
Mähren. Ueber die rechtlichen Berhältniffe f. den Art, Erzbiſchof. [Rreuger,]
Kirchenraub, f. Sacrilegium.
Kirchenrecht. Das Kirchenrecht im objeetiven Sinne ift der Inbegriff
aller derjenigen Nechtsnormen, welche die Drbnung der von Gott gegründeten
Kirche und die durch diefelbe zu bewerfftelligende Erziehung des chriſtlichen Volkes
zum Zwede des ewigen Heiles deffelben betreffen. Seinen Quellen nad ift es
theils ein göttlicheg, theilg ein menfhlihes Recht, je nachdem e8 auf ben
Kirchenrecht. 167
unmittelbar von Gott gegebenen Geſetzen und getroffenen Anordnungen beruht
oder von den in der Kirche gefegten Obrigfeiten feftgeftellt wird, Es find für
daffelbe verfehiedene Bezeichnungen gebräuglich geworden: Jus sacrum, eine in
fofern paffende Benennung, als der Kirche überhaupt und fomit auch das fie be—⸗
treffende und von ihr ausgehende Necht den Charakter der Heiligkeit an ſich trägtz
Jus pontificium, weil eine große Zahl der kirchenrechtlichen Beſtimmungen von den
Papſten ausgegangen iſt und dieſer Ausdruck ſich in früherer Zeit im Gegenſatze
zu dem Jus Caesareum eignete, dann Jus canonicum und Jus ecclesiasticum. Der
erftere diefer beiden Ausdrüde rührt davon her, dag das Wort Canon überhaupt
die Bezeichnung eines kirchlichen Gefeges im Gegenfage zu Lex, der weltlichen
Rechtsvorfchrift, geworden iſt. Sp paffend derfelbe auch für jene Zeit war, wo
das Corpus juris canoniei als eine gefchloffene Sammlung die fämmtlichen gelten-
den Kirchengefege enthielt, fo ift er doch, da auferdem noch viele andere Duelfen,
insbefondere die Concordate des Papftes mit weltlihen Regierungen entfcheidende
Normen für kirchenrechtliche Verhältniffe aufgeftellt Haben, nicht mehr völlig zu⸗
treffend und eben deßhalb die Bezeichnung Jus ecclesiasticum, als die umfaffen-
dere, vorzuziehen. — Es pflegen in Betreff des Kirchenrechtes mehrere Unter-
ſcheidungen gemacht zu werben, und zwar wird zunächft der befannte Unterſchied,
den das römifche Recht zwifchen gefhriebenem und ungefhriebenem Rechte
macht, auch auf diefes Gebiet übertragen, Eine befondere Art des ungefchriebenen
Rechtes ift das Gewohnheitsrecht (ſ. d. A.), welches jedoch Hier nur eine durch-
aus particulare Richtung haben kaun. Obgleih nämlich auch bei dem Kirchen-
rechte die Eintheilung in allgemeines und particulares Recht durchaus zu-
Yäffig ift, indem unter jenem die Vorſchriften verftanden werden, welche fih auf
die Geſammtheit der ganzen Kirche erfirefen, unter diefem ſolche, die nur in ein-
zelnen Ländern, Gemeinden oder kirchlichen Inftituten Geltung haben, fo darf
doch das particulare Necht mit jenem in feinen dogmatifchen Widerfpruch treten
und in Feinerlei Weife die Kraft der kirchlichen Diseiplin verlegen. Man pflegt
ferner die Verhältniffe der Kirche zum Staate und zu den von ihr getrennten
Eonfeffisnen unter der Bezeichnung äußeres, und die Rechtsverhältniffe der
Kirche innerhalb ihrer felbft unter vem Namen inneres Kirchenrecht zu verftehen,
Eine andere Eintheilung, nämlich die in öffentliches und Privatkirchenrecht,
nad welcher die Rechtsverhältniffe der Kirche als folcher zu denen ihrer einzelnen
Glieder in einen Gegenfag geftellt werden, ift nicht in der Natur der Kirche ge-
gründet, Noch viel weniger aber iſt es flatthaft, bei der ohnedieß ganz fehler-
baften Haupteintheilung des gefammten Nechtsgebietes in öffentliches und Brivat-
recht das in ſich durchaus felbftfländige Kirchenrecht dem einen oder andern jener
beiden Zweige unterzuordnen, — Was fodann das Kirchenrecht im fubjectiven
Sinne oder ald Wiſſenſchaft anbetrifft, fo nimmt daffelbe in feiner Stellung zu
andern Wiffenfhaften einen befonders Hohen Rang deßhalb ein, weil es das
eigentlich verbindende Glied der Theologie mit der Jurisprudenz bildet. Iſt es
daher öfters mit dem Namen Theologia rectrix oder Theologia practica bezeichnet
worben, fo folgt zugleich aus diefer feiner Stellung, daß die übrigen theologi—
ſchen ſowohl als auch juriftifchen Disciplinen einerfeits als eben fo viele Hilfs-
wiffenfchaften des Kirchenrechts zu betrachten find, andererfeits ſelbſt wiederum
aus diefem vielfahe Nahrung ziehen. — Bei der wiffenfchaftlichen Behandlung
1 des Kirchenrechts fommt es wefentlih darauf an, daß Feine Richtung einfeitig
verfolgt werde. Es genügt nicht, daß die Wiffenfchaft bloß Iehrt, was gerade in
dem gegenwärtigen Augenblide geltendes Recht ift, fondern fie muß auch zeigen,
wie diefes Recht geworden ift, und wie es mit der Natur und dem Zwecke der
Kirche übereinftimme. ‚Eben fo wenig aber genügt es, wenn bargethan wird, wie
das Recht entftanden ift, dabei jedoch der Gefichtspunet auf dasjenige, was davon
ſich bis zur Gegenwart erhalten hat, aus dem Auge verloren und in einem be—
Be
‚168 Kirchenrecht.
liebigen Zeitraume der Vergangenheit ausſchließlich verweilt oder gar die Forde—
rung geſtellt wird, dieſer oder jener Zeitabſchnitt ſei in Betreff des kirchlichen
Rechtes als der einzige normale zu betrachten. Noch weniger aber, als es zu-
läſſig ft, eine beftimmte, bloß hiftorifche Erfcheinung als die allein nothwendige
anzunehmen, darf die Wiffenfchaft den Weg einfchlagen, daß fie ein, lediglich
durch philofophifche Speceulation gewonnenes Prineip als die Bafis für das Kir-
chenrecht aufftellt und fih num bemüht, darnach die einzelnen gefeglichen Beſtim—
mungen befjelben zu beurtheilen, Das Nefultat wäre ein durchaus unpraftifcheg,
und abgefehen davon, daß dabei alle Gefchichte außer Acht gelaffen wird, auch
in fofern ein völlig unhiftorifhes, als die Kirche auf feinem son der menfchlichen
Bernunft erfindbaren Gedanken, fondern auf der in die Gefhichte als Factum
eingetretenen Idee der Menſchwerdung Gottes beruht, Diefen Gedanken der Er-
löſung des Menfchengefchlechtes Fonnte Feine Speculation erbenfen, und fomit
erweist fih dadurch das fogenannte „natürliche Kirchenrecht” ganz von felbft als
eine Chimäre; eine wahre Wiffenfchaft des Kirchenrechts Fann aber nur auf dem
Wege erreicht werden, daß man die drei Methoden: die practifche, hiſtoriſche und
philofophifche, mit einander verbindet, — Als das Kirchenrecht zuerft Gegenftand
academifcher Lehrvorträge wurde, war bie practifche Methode allerdings die vor—
herrſchende; das hiftorifche Element wurde dabei vernachläßigt. Diefer Nachtheil
wurde indeffen dadurch weniger fühlbar gemacht, als alle dieſe älteren Lehrer
feft auf dem unwandelbaren Dogma der Kirche und fomit auch zugleich auf dem
biftorifchen Boden jenes großen Factums ſtanden; dadurd wurde wenigftens bie
Gefahr einer deftructiven Philofophie vermieden, Es haben auch noch jest meh—
rere der älteren Bearbeitungen des Kirchenrecht, die fih ganz und gar an die
Ordnung der Decretalen anfchließen, einen fehr bedeutenden Werth, ja fie find,
wo es ſich um practifche Fragen handelt, als unentbehrlich zu bezeichnen, Es
gehören dahin außer den Commentarien von Gonzalez Tellez (Commentaria
perpetua in decret. Gregor. IX. Venet. 1699) und Profper Fagnani (Jus canon.
sive Commentaria absolutissima in V. libr. decret. Rom. 1659. 5 Voll. fol.), ganz
vorzüglich die Werfe mehrerer teutfchen Canoniften, namentlich E. Pirhing, Jus
canon. Dilling. 1675.:5 Voll. fol., Anacl. Reiffenstuel, Jus canon. univ. juxta
titul. libr, V. decret. Venet. 1704. 3 Voll. fol., und F. Schmalzgrueber, Jus
eccles. univ. Ingolst. 1726. 5 Voll. fol. Bon proteftantifchen Schriftftelfern diefer
Zeit verdient befonderg J. H. Böhmer, Jus eccles. protest. Hal. 1756. 5 Voll. 4.,
der ebenfall$ der Ordnung der Decretalen folgt, Erwähnung, Unter den Fran-
zofen ift zu nennen: Cabaffut (’Theoria et praxis jur. canon. Lugd. 1679); unter
den Spaniern: Barbofa (Collectanea doctorum in jus pontif. univers. 5 Voll. fol.
Lugd. 1656) und $ermofint CTractatus. Colon. Allobr. 1741. 14 Voll, fol.),
und unter den Stalienern: Ub. Giraldi (Expositio jur. pontif, juxta recentior.
eccles. discipl. Rom. 1769. 3 Voll: fol. ed. 3. 1829). Der neuefte Schriftfteller,
welcher das Syſtem der Decretalen beobachtet hat, ift 3. Devoti; fein Werf
Jur. canon. univ. libr. quinque (Tom. I. Rom. 1803. U. 1804. II. 1815) ift leider
unvollendet geblieben; es ift eine vortreffliche Arbeit, die insbefondere in ihren
Prolegomenen fehr ſchätzbares Material enthält. Solches wird auch in dem äl—
teren Werfe deffelben Autors: Institution. canonic. libri IV (ed. 5ta. Rom. 1818.
A Voll. 8.) angetroffen; in diefem Buche ift das Syſtem der Decretalen auf-
gegeben, was überhaupt ſchon häufig in den canonifchen Werfen des vorigen Jahr-
hunderts geſchah. Namentlich ift dDieß der Fall bei Ban Espen (Jus eccles.
univ. Col. Agripp. 1702. fol.) , welcher troß feiner verderblichen Grundſätze Cer kann
mit Recht für ven Vater des Febronianismus gelten, denn Hontheim (ſ. d. A.) war
fein Zuhörer gewefen) dennoch als einer der gebildetften Canoniften bezeichnet
werden darf (ſ. Espen). Seine hiftorifche Erudition verdankt er vorzüglich dem Dra=
torianer 8, Thomaffin, der, obfchon ihm der auch um die Duellen des canpni=
Kirhenregierung — Kirchenſache. 169
ſchen Rechts hochverdiente Bifchof von Tarragona, Antonio Agoftinn, in feiner
Epitome juris pontif. veteris vorangegangen war, doch als der eigentliche Begrün-
der einer Hiftorifchen Bearbeitung des canonifchen Rechtes anzufehen ift. Sein
Werk: Ancienne et nouvelle discipline de l’eglise (zuerft Lyon 1778 3 Vol. fol.),
von welchem die Iateinifche Bearbeitung (zuerft Paris 1685) verbreiteter ift, ift
ein auch jedem neuern Schriftfteller diefes Faches völlig unentbehrlihes Buch. —
Bon den Ffürzern Bearbeitungen des canonifchen Rechtes haben die dem vorigen
Jahrhunderte angehörigen im Ganzen nicht fehr großen Werth, doc find als
fehr rühmliche Ausnahmen zu nennen die Werfe von C. S. Berardi (Commen-
taria in jus eccles. univ. Aug. Taurin. 1766 4 Vol. 4.), $. Zallinger (Insti-
tution. jur. natur. et ecclesiastici. Aug. Vind. 1786 8.) und Bine, Lupoli (Juris
ecclesiastici praelectiones. Neap. 1787 4 Vol. 8.). Außerdem ift aber ein Bud,
welches fich ſcheinbar nur auf einen fehr fpeciellen Gegenftand bezieht, als eines
der wihtigften für die gefammte Wiffenfchaft des canonifchen Rechtes auszuzeich-
nen, nämlich das Werf des Papftes Benedict XIV. de synodo dioecesana. Im
Ganzen genommen hat aber die wiffenfchaftlihe Cultur des Kirchenrecht erft wie-
derum in neuerer Zeit einen neuen Aufihwung genommen; es bleibt aber noch
Vieles zu thun übrig. Insbeſondere fehlt es noch an einer vollftändigen Ge-
ſchichte der Duellen des canonifhen Rechts, indem leider die von Bickell begon—
nene Arbeit (Gef. des Kirchenrechts Bd. I Heft 1, Gießen 1843) durch den
Tod des Verfaſſers unterbrochen worden ift, Unter den neuern Werfen über dag
Kirchenrecht find ganz befonders auszuzeihnen: F. Walter, Lehrbuch des Kirchen-
rechts aller chriftlichen Confeffionen (1te Aufl. Bonn 1818. 10te 1846), 4. &,
Richter, Lehrbuch des Fatholifhen und evangelifchen Kirchenrechts (1te Aufl,
Leipz. 1841 3te 1848), und M. Permaneder, Handbudh des gemeingültigen
katholiſchen Kirchenrechts (2 Bde, Landsh, 1846). Ein neuer Verfuch eines voll-
fändigen Handbuchs des Kirchenrechts ift die Arbeit des Unterzeichneten (Rirchen-
recht, bis jest 3 Bde. Negensb, 1845 u. ff.), wofelbft in den einleitenden Para-
graphen auch eine Heberficht der Literatur fowohl des allgemeinen, als auch des
partieularen Kirchenrechts einzelner Länder gegeben iſt. Als eine erfreulihe Er—
fheinung darf noch hervorgehoben werden, daß nunmehr auch in Deftreich die
Wiffenfchaft des Kirchenrechts mehr und in beffern Prineipien als früher angebaut
wird. Dafür geben Zeugniß die Werfe von J. Beidtel (Unterfuchungen über
die kirchlichen Zuftände in den Faiferlich öftreichifchen Staaten, Wien 1849 und:
das canonifhe Recht, betrachtet aus dem Standpuncte des Staatsrechts, der Po—
litik, des allgemeinen Gefellfhaftsrechts und der feit dem Jahre 1848 entftan-
denen Staatsverhältniffe. Negensb. 1849, und von TH. Pahmann, Lehrbuch
des Kirchenrechts Bd. I. Olmütz 1849). [Phillips.)
Kirchenregierung, ſ. Hier archie.
Kirchenſache, auch Kirchenvermögen (ſ. d. A.) genannt, begreift theils heilige
Sachen, theils einfache Kirchengüter, je nachdem fie entweder unmittelbar zum gottes—
dienftlichen Gebrauche beftimmt find, oder nur mittelbar zur Beförderung des Gottes—
dienſtes und anderer kirchlicher Zwede dienen. Die erftern (res sacrae) find je
nach der Wichtigkeit der heiligen Haudlungen, für welde fie dienen, entweder ge=
weihte (res consecratae) oder gefegnete Sachen (res benedictae), Zu den geweihten
gehören die Kirchen, Altäre, Kelch und Patena ; zu den gefegneten die Glocken,
Gottesäcker, die geifilihen Gewänder und übrigen gottesdienftlihen Geräth-
ſchaften. Diefe Heiligen Sachen find mit Ausnahme einiger Fälle unveräußerlich,
find dem gemeinen Berfehre entzogen und Berlegungen derfelben werden auch
durch die Staatsgefege ftrenger geahndet. Die übrigen Rechte und Güter, auf
welche einer Kirche oder kirchlichen Genoffenfhaft ein Eigentbumsrecht (ſ. d. A.) zu⸗
fteht, und welche dazu dienen, die äußern Bedürfniffe der Kirche, wie den Unterhalt
der geiftlichen Perfonen, die Eultfoften, die Baulichfeiten an den Rirchengebäuden
470 Kirchenſatz — Kirdenfprade,
zu beftreiten, nennt man einfache Rirchengüter (res ecclesiasticae in specie, pa-
trimonium oder peculium ecelesiae). Hieher gehören die Pfründgüter, Opfer,
Stolgebühren, Zehnten ꝛc. In Betreff diefer Güter gelten im Allgemeinen die
gewöhnlichen Eigenthumsrechte, die nähern gefeßlichen Beftimmungen find bei den
einzelnen Artifeln „Pfründe, Opfer, Zehnten u. ſ. w.“ nachzuſehen. Zu den Kir-
chenfachen werden im weitern Sinne auch diejenigen religiöfen Sachen gerechnet,
welche nicht zu einem unmittelbaren gottesdienftlichen, fondern überhaupt zu einem
frommen Zwecke — causa pia — gehören, mittelbar aber doch zu Verwirklichung
religiöſer Gottes- und Menfchenliebe beitragen, wie die verfchiedenen milden
Stiftungen, Diefe ſtehen nah canoniſchem Rechte gleichfalls unter der Aufficht
der Kirche cf. Trid. sess. 22. c. 8 et 9 de ref. Leider hat der Staat vielfach dieſe
Güter mehr oder weniger der unmittelbaren Aufficht der Kirche entzogen und fie
ihres kirchlichen Charakters oft fehr beraubt, daß derſelbe nur noch an ber
Derlaration „Kirchenſache“, „Stiftungsfache” im amtlichen Verkehre zu erfen-
nen iſt. Vgl. hiezu den Art, Geiftlihe Sade, ‚ [Rreußer,]
Kirchenfag, ſ. Patronatrecht.
Kirchenſchatz, ſ. Fabrica ecclesiae.
Kirchenſpaltung, ſ. Shisma,
Kirchenſprache kann 1) genommen werden als die der Kirche eigenthüm—
liche Ausdrucksweiſe in Wort und Schrift für ihr inneres und unſichtbares Leben,
ſei es daß dieſes durch die Anſprache des Vorſtehers an die Gemeinde in der
Predigt, im Segensſpruche, im begleitenden Worte bei der facramentalen Cult⸗
handlung und Werbung, im Lehr- oder Hirtenfchreiben in jener erſt äußerlich an-
geregt und zum Theil vermittelt werben fol, fei e8 daß die Gemeinde felbft unter
der Leitung des Vorftehers ihren Glauben und ihre frommen Gefühle im gemein-
famen Gebete (f. die A. Gebet, Gebet der Kirche, Gebetsformeln) oder im Ge—
fange darlegt. In diefem Sinne hat die Rirchenfprache wefentlich ein biblifches,
patriftifches und dogmatifches Gepräge, beftimmte traditionelle Formen der An-
rede und Begrüßung, der Dorologie (ſ. d. AU) u. ſ. w,, ja felbft beftimmte ſtets
wiederfehrende Gleichniffe und fymbolifche Bezeichnungen für kirchliche Anſchauun—
gen und Zuftände, fowie für die Gegenfäße der letzteren z. B. in dem päpftlichen
Erlaffen, Der Begriff der Kirchenfprache hat in dieſem Sinne einen weitern
Umfang als der Begriff der Liturgifhen Sprache, da diefe nur eine befon-
dere Art von jener if, Es find aber auch an der liturgiſchen Sprache noch ins—
befondere gewiſſe ftyliftifche Eigenfchaften wohl zu beachten, Diefe laffen fi) etwa
auf die fletige Angemeffenheit der Sprache zu dem Charakter und der Tendenz
der verfihiedenen einzelnen Beftandtheile des Cultus, auf die weife Unterordnung
des didactifchen Momentes überhaupt und auf das harmonifche Verhältnif des-
felben zum Iyrifchen insbefondere, auf Einfachheit und Gedanfentiefe, auf würde-
sollen Ernft und heilige Salbung und endlich auf prägnante Kürze zurückführen
Lüft, Liturgik LH 219). Parallel mit der Kirchenfprache in dem oben ange-
gebenen Sinne läuft der Eurialftyl cf. d. A. Breve, Bulle, Canon, Curia
Romana, Eurien, Deeretalen u, ſ. w.), ferner die firdenrechts- und theolo—⸗
gifch-wiffenfhaftlihe Terminologie, — 2) Weit häufiger aber verjteht man
unter Rirchenfpradhe das Sprachi diom, oder beffer Die Sprachidiome, in welchen
herkömmlicher Weife die Firchlichen Gebete, Gefänge, Lefungen und Anfprachen,
die begleitenden Worte der facramentalen Handlungen, Segnungen und Weihungen,
namentlich die Liturgie im engern Sinne oder das h. Meßopfer, ferner die Acte
der allgemein Firchlichen Geſetzgebung und Regierung vollzogen und dargelegt
werben. Unter diefem Gefichtspuncte iſt alfo nicht fo faft von der Kirchenfprache,
als vielmehr von den Kirchenfprachen die Rede; und da diefe immerhin einen
bedeutfamen Gegenftand der kirchlichen Disciplin und feit länger auch ein Object
der wiffenfchaftlihen und practifhen Controverfe bilden, fo bedürfen fie einer
u N a man Le u ln um
L
{
Kirhenfprade, 171
kurzen gefchichtlichen Beleuchtung, damit aus diefer eine principielfe Löſung der
eontroverfen Fragen angebahnt werde, — Gefhichtlih muß nun zuvörderft in’g
Auge gefaßt werden, daß zur Zeit der Apoftel die ſyrochaldäiſche, die griechifche
und die lateinische Sprache, und unter diefen wieder befonders die beiden letzteren
durch ihre große und weite Verbreitung fowohl für die Predigt des Evangeliums
als für das Eultwort ein höchſt günftiges Vehikel bildeten, deſſen eifrige Be-
nüßung ſchon aus der Aufgabe der Apoftel folgt. Ob aber die Apoftel und ihre
unmittelbaren Nachfolger in den Ländern, wo die ſyrochaldäiſche, griechifche oder
lateiniſche Sprache weniger oder gar nicht einheimifch war, in Predigt und Eult-
handlung nur der Landesfpracdhe (lingua vulgaris) ſich bedienten, oder ob fie die
Liturgie wenigftens theilweife und wo es Noth that, unter gleichzeitiger Berwen-
dung eines Jnterpreten für die etwa vorgelefenen Schriftflüde überall in Einer
der genannten Sprachen feierten, fcheint zur Stunde noch nicht zweifellos ent-
fhieden zu fein. Das in der Controverfe fo oft und in fo verfchiedener Abficht
aufgeführte 14te Capitel des erften Corintherbriefes beweist auch hier nicht das,
was man auf beiden Seiten wünfchte und wollte. Card, Bona, Edm. Martene
(de antiq. eccles. ritib. 1. I. c. 3 art. 2), Rihard Simon, Le Brun, Bocquillot
und Benediet XIV. (de sacrif. Miss. sect. I. c. 73— 85) find für die flattgefun-
dene durchgängige Anwendung der Landesfprahe, auch Thomas v. Aquin (in
Comment. ad I. Cor. 14) deutet darauf hin, Dagegen find Binterim (d. vorzügl.
Denfw, der Fath. Kirche Ater Bd, 2 Th. S. 93 ff.) und Lüft A. c. $ 209) für
das vorhin bezeichnete Gegentheil, — Geſchichtlich fteht weiter feft, daß wir für
die allgemeine firchliche Gefeggebung und Regierung faft nur das griechifche und
lateiniſche Sprachidiom zu bezeichnen haben, weil thatfächlich nur diefe beiden
Sprachen in den Schriften des N, T., in der Meberfegung der 70 und in der
alten versio Itala, aus welcher die vulgata erwuchs (vgl. Conc. Trident. Sess. IV.
de edit. et usu ss. libb.), auf den allgemeinen Synoden (ſ. d. A.) , in den ver-
fhiedenen Eanonenfammlungen (ſ. d. A.) und für die Eorrefpondenz der Kirchen-
vorſteher verfihiedener Zungen untereinander und mit ihrem Oberhaupt recivirt
find und im Hinblicke auf die älteften fchriftlihen Grundlagen der hriftlichen Re—
ligion und Kirche in Bibel und materialer Tradition auch nur diefe beiden reci-
pirt bleiben können, damit das Merkmal der Firchlichen Einheit, Allgemeinheit
und fletiger Jdentität des Bewußtfeins auch in der abgefchloffenen Form einer
dem Wechfel und der Vieldeutigfeit entrückten Sprache fich ausprägen möge, —
Ebenſo iſt e8 gefchichtlih ermittelt, daß als liturgiſche Spradidiome im
reſtrictiven Sinne des Wortes aus ältefter Zeit hauptſächlich die fyrochaldäifche,
die altgriehifche und die Yateinifche, endlich feit dem neunten Jahrh. auch die alt-
flavifhe gelten, Der Begriff der ſyrochaldäiſchen Kirchenſprache, welche von
Altern kirchlichen Schriftftellern geradezu die hebräifche genannt und neben der
griechiſchen und Yateinifhen zu Joh. 19, 19. 20 in allegorifche Beziehung gebracht
wird, ift jedoch ein generifcher und faßt außer der fprifchen und haldäifchen, noch
die armenifche, koptiſche und Habeffinifche Kirchenſprache in ſich, fei es daß man
eine größere oder geringere Berwandtfchaft ver Ießteren mit der hebräiſchen (fyro-
chaldaͤiſchen) Sprache vorausfegte, fei e8 daß diefe den abendländifchen Schrift-
ftellern vorzugsweife befannt war, fei e8 daß die Liturgie des 5. Jacobus als
gemeinfame Grundlage aller betrachtet wurde, Ebenfo ftehen unter dem altfla-
viſchen Idiom fowohl die Liturgien der Fatholifchen oder ſchismatiſchen Gräco-
flaven, welche eine Ueberſetzung der griechifchen Liturgien der HH. Baſilius und
Johannes Chryfoftomus durch den Slavenapoſtel Cyrillus (ſ. d. A. Mähren) in
den von dieſem erfundenen Lettern enthalten und bei den Groß- und Klein-Ruffen,
bei ven Bulgaren und Serben im Gebrauche find, als die Heiligen Bücher einer gerin-
gern Anzahl Fatholicher Südflaven in Croatien und Dalmatien, welche auf die römifche
Liturgie gegründet und mit hieronymitaniſchen (glagolitiſchen) Lettern gedrusft find,
172 Kirhenfprade,
Ja diefer altſlaviſchen Liturgienfamilie affılirt fich auch die Liturgie der Rumainen
(Wallachen) als eine Ueberfegung der eyrilliſchen Liturgie in ihrer übrigens latini—
firenden Mundart, In älterer Zeit nahm man alfo nur drei, fpäter aber vier
Haupt-Rirhenfprachen an. Diefe fowohl als ihre früherhin genannten Zweige
waren offenbar zur Zeit ihrer Einführung in der Kirche wenigftens theilweife
Bolfs- und Landesfpracdhe. Sie find es aber, wenn man die Einmifchung ruffi-
ſcher Wörter in die altflavifche Liturgie und die Berwandtfchaft zwifchen der alten
und neuen Sprache der Griechen und der Armenier nicht zu hoch anfchlägt, zur
Stunde nirgends mehr, ein Umftand, welcher bei Beurtheilung der neuerlichen
Berfuhe, die Landesfprache in den Cultus einzuführen, nicht überfehen werben
darf. Im Morgenlande tritt faft überall den verſchiedenen Kirchenfprachen die
arabifche als Volksſprache gegenüber; in Africa war ſchon zu Auguftins Zeiten
neben der lateiniſchen Eultusfprache das punifche Volksidiom (Conf. I. 14. ep. 84
ad Novat.). Ebenfo treten der altflavifchen Liturgie die neuflavifchen Sprach—
familien, dem Altarmenifchen das Neuarmenifche, dem Altgriechifchen das Neu—
griechifche, dem Lateinifchen feine Töchter: die romanifchen und die teutfche Sprache
gegenüber, fo daß felbft das Gewicht, welches für die Einführung der teutfchen
als Cultſprache aus ihrer Verfchiedenheit von der Iateinifchen abgeleitet wird,
von diefen Thatfachen überboten werden mag. Die fortwährende Neftrietion der
Eultfprache auf die drei zuerft genannten Idiome gibt fich ferner durch die in Auf-
nahme gefommene Anficht fund, daß man felbft im Privatgebete Gott nur in
drei Sprachen verehren dürfe, eine Behauptung, welche auf der Synode zu Franf-
furt im 5. 794 (cap. 52) ausdrüclich widerlegt werden mußte. Nicht minder
fpricht der Kampf gegen die neuaufgefommene flavifche Rirchenfprache im neunten
Sahrh. (ſ. d. A. Mähren), welher im eilften Jahrh. neuerdings auflebte, an
Gregor VIL eine Auctorität fand und erft 1148 dur Innocenz IV. beigelegt
wurde, für die früh in der Kirche herrfchend gewordene Abneigung gegen die Ein-
führung der Landessprache in den Eultus, Nimmt man nun noch die Beftimmun-
gen des Conecils von Trient (Sess. XXII. de sacrif. Miss.): Non expedire visum
est patribus, ut (missa) vulgari passim (theilweife, wie Catharina von Me-
dieis und der Kaifer verlangt hatten) lingua celebraretur (cap. 8) und: si quis
dixerit.... lingua tantum vulgari missam celebrari deberi..... anathema sit
(can. 9), ferner die Sorgfamfeit, mit welcher in Rom auf die möglichft ausge-
dehnte Beibehaltung der Tateinifchen Sprache in den Didcefanritualieu gefehen
wird , hinzu, fo erhelft zur Genüge, daß die vorerſt von den Proteftanten ange-
regte und unter ihnen völlig durchgefete, fpäter von den Janfeniften (vgl. die Bulle:
Unigenitus. prop.86) und von der Synode zu Piftoia (Pii VI. constitutio: Auctorem fidei
prop. 33. 66) wieder aufgenommene und in Teutfchland bis in die neuefte Zeit
beantragte Erhebung des Volksidioms zur Kirchenfprache dem Geifte der Kirche
durch eine Neihe von Jahrhunderten und noch fortwährend fremd geblieben ei.
Damit will aber feineswegs gefagt werden, daß die gefammte Kirchenidiomsfrage
über den Bereich der Firchlichen Disciplin Hinausliege ; dafür bürgt nämlich fchon
die vorſichtige Faffung der obenangeführten triventinifchen Beftimmungen und
die Gefchichte der dahin bezüglichen Vorverhandlungen (Pallavieini, 1. XVII. c. 2.
n. 13. c. 10. n. 1. 5. XXX. co. 41. n. 11), und das der Kirche überhaupt zuge-
forochene Reformationsrecht in Cultusſachen (Conc. Trident. Sess. XXI. cap. 2. de
Commun.) ; dafür weiter die Thatfahe, daß es überhaupt mehrere Kirchenfpra=
chen gibt, und daß außer diefen, welche in fofern als todte betrachtet werden
fönnen, in wiefern fie im bürgerlichen Leben außer Uebung gefommen find, überall
auch die Iebendige Volks- oder Randesfprache wenigftens einen mehr oder minder
großen Antheil bei den Cultacten hat. In den Bereich der Iegtern fallen nämlich
der chriftliche Volfsunterricht, die Predigt, die gemeinfamen Gebete der Laien,
namentlich das Gebet des Herrn und das apoftolifhe Glaubensbekenntniß, das
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Kirdhenfprade. 173
Kirchenlied im Gegenfag zum Choralgefang und einzelne Partien bei der Ausfpen-
dung der 5. Sacramente, in wiefern nämlich das didactifhe Moment oder die
farramentale Mitwirkung des Laien diefes erfordert. (Vgl. hiefür die Anordnung
des Avoftels der Teutfhen auf der Synode zu Liptinä (742) stat. 27 S. Bonifac.
Conc. Germ. fol. 74, ferner die Verordnungen der Synoden von Frankfurt
(813) und Mainz (847) Conc. Germ. T. I. p. 17 und 154.) Zu diefem fird-
lich gewährten Antheile der lebenden Volksſprache an dem Eultus tritt
noch die vorforgliche Anordnung der Trienterfynode (Sess. XXII. de sacrif. Miss.
cap. 8. Sess. XXIV. cap. 7. de reformat.) , zufolge welcher dem chriſtlichen Volke
das 5, Mefopfer und die h. Sacramente au in der Volksſprache oft, fleißig
|
und gründlich erklärt werden follen, ferner die Thatfache, daß eine Vermittelung
zwifchen der Kirchen- und Landesſprache nicht bloß durch den mündlichen Unter-
richt, fondern auch, ſchon feit langem und faft überall durch viele Heberfegungen der
Mefgebete, fowie durch gründliche Erklärungen der firhlichen Ceremonien und Ge—
Bräuche (vgl. 3. B. das Paroissien Romain, den Roman catholic, das teutfche Chor=
und Meßbuch der Fath. Kirche) eingeleitet ift, und es Täßt fich fomit der Uebergang
zu dem peincipiellen Urtheile über die Zuläffigfeit der lateinifchen Sprache für den
liturgiſchen Gebrauch und über die gegenfägliche Forderung einer durchgängigen
Anwendung der lebenden Volksſprachen beim Eulte leicht finden. Die letztge—
nannte Forderung ftüst fih auf das unbeftreitbare Ariom, daß der hriftliche
Eultus wegen feiner durhweg practifchen Tendenz mit Bewußtfein oder Gemein-
verftändlichkeit aufgefaßt und vollzogen werden müffe, und daß zu diefer Tendenz
die Sprade in einem nothwendigen Berhältniffe ſtehe. Es ift aber damit noch
feineswegs gefagt, daß der Eultus feine Gemeinverftändlichfeit und Deutlichkeit
allein durch die Sprache und nicht zugleich durch die ım HI. Mefopfer und in den
HI. Sacramenten fo bedeutfame fymbolifhe Handlung erhalte, oder daß diefe
Gemeinverftändlichfeit und Deutlichfeit nur durch die unmittelbare Anwendung
‚der Bolfsfprache erzielt werden fünne, Es ift damit noch feineswegs zugegeben,
daß eine fremde Sprache, wie 3. B. die Iateinifhe, zum Eultgebraude
nicht zuläffig fei, oder daß dem oft fo bornirten, weil ſtets engherzigen Iocalen
Utilitätsprincipe die Idee und das Bewußtfein der Einheit, Gemeinfamfeit und
Allgemeinheit das vorzugsweife Katholifche (ſ. d. A.) und der RKatholicismus
(Ci. d. 9.) wenn nicht geopfert doch nachgefegt werden müffe, Und wenn auch
nah dem hochherzigen Ausſpruche Benedicts XIV.: ut omnes catholici sint, non
ut omnes latini fiant, est necessarium, der höhere Zweck der kirchlichen Gemein-
Thaft die allgemeine Kirchenregierung hie und da zur Gewährung von Ausnahmen
veranlaffen mag, fo darf dabei nicht überfehen werden, daß es fich bei derlei
Eoneceffionen immer nur um die Belaffung nit um die Einführung der Landes-
ſprache in die Kirche gehandelt Hat, Es fpricht aber namentlich für die Beibehal-
tung der lateinifchen Sprache in der römifch-fatholifchen Kirche das Einheits- und
Univerfalitätsprineip derfelben, weil die Einheit der Kirche die Einheit des Cultus,
die Einheit des Eultus den Gebrauch Einer und zwar einer feſtſtehenden und ab-
geihloffenen Sprache fordert, Dazu fommt noch, daß die facramentalen Beftand-
theile des Eultus die nothwendige Beftimmtheit Einer Sprache erheifchen, daß der
Cultus als folder ein objectiv-Firhliches Moment hat und ein Act der Kirche ift,
weßhalb auch von dem Minifter die Intention gefordert wird das zu thun, was
unfere Mutter die HI. Kirche thut. Es gilt alfo auch Hier der Sag: salus rei-
publicae — die Einheit — suprema lex esto, in deffen Befolgung felbft die Mif-
ſionäre upter völferfremden Zungen ſchon feit Jahrhunderten ihre heimathliche
Liturgie mitbringen. Nicht minder ift e8 das eben aus der Einheit ſich entwicfelnde
Univerfalitätsprineip der Kirche und das hiemit verfnüpfte katholiſche Bewußtſein
des Einzelnen, ferner das an und für fih Erhebende und Ehrfurchterweckende,
das ahnungsvolle Helldunfel einer fremden und gleichfam geheiligten Sprache für
174 Kirhenfprade,
das zur’ &Eoyıv Geheimnißvolle, was für die Beibehaltung der wegen ihrer
Kürze und Harmonie felbft von Griechen (Plutarch. in vita Demosthen.) und von
Luther (Werke X. Th. ©. 266 ff.) gepriefenen Tateinifchen als Cultfprache der
Katholifen redet, Es iſt der innere und wefentliche Unterſchied zwifchen dem
Mittelpunete des Fatholifchen und proteftantifchen Cultus, welcher auch in Teutfch-
land eine VBergleihung beider und ihrer ſprachlichen Vehikel unzuläffig macht,
Wo das didactifhe Moment über das farramentale herrfcht, wo der Prieſter in
dem bloßen Wortsdiener untergegangen ift, da ift die lebende Volksſprache eben
fo natürlich als nothwendig; nicht aber fo beim Gegentheile. Wer anders ein
tieferes Verſtändniß der Kirchengefchichte, als der Gefchichte des chriftlichen Men-
fhen, errungen hat, wem der diametrale Unterſchied zwifchen Eatholifcher und
proteftantifher Dogmatik Elar geworden ift, wer die facramentale Stelfung der
Kirche zu Chriftus und zu den einzelnen Gläubigen im Fatholifchen Sinne begreift,
der fann ſich durch die ſcheinbaren Vortheile, welche die Landesfprache dem prote-
ftantifchen Eultus bringt, nicht blenden Iaffen. Und am Ende verräth es nicht
bloß den Mangel an tieferer Einficht in das Grundverhältnif einer einheitlichen
und für fih abgefchloffenen Eultfprahe zu dem Wefen der Fathofifchen Kirche,
fondern zugleich einen nicht geringen Mangel an Vertrauen auf die Bildungs-
fähigkeit und Bildungswilligfeit des Fatholifchen Volkes, Gebt diefem nur erft
wieder feine alte hriftliche Zucht und Sitte, feinen kindlichen Glauben, und die
gewöhnlich nur dem halbgebilveten Bielwiffer fo anftößige Iateinifche Eultfprache
wird, unter fletiger und gewiffenhafter Vermittlung nah der Anordnung der
Trienterfynode, die wahre, hriftlihe Andacht und Erbauung jest und in Zufunft
ebenfowenig verhindern als in der glaubensvollen Vergangenheit; die parallele
Theilnahme der Gemeinde am HI, Dpfer im teutfchen, dabei aber acht Firchlichen
Geſang-⸗ oder mittelft des Leitfadens eines zwerfmäßig eingerichteten Gebetbuches
für den einzelnen Gläubigen erfegt hier alle Vortheile des Volksidioms im Culte,
und genügt wenigflens jenem, der aus der Fatholifchen Dogmatik weiß, worin
das Wefen des Fatholifhen Prieftertfumes befteht und welches die Natur und der
Antheil des Mitopferns von Seite des Volkes bei der hl. Meffe ift und fein fan,
Der Gottesdienft hat, wie Sailer (neue Beiträge zur Bildung der Geiftlichen,
Münden 1810 11. 250 u. ff.) eben fo ſchön als richtig bemerkt, eine Grund-
und Mutterfprache, die weder Yateinifch noch teutfch, weder hebräifeh noch grie-
chiſch, kurz gar Feine Wortfprache, fondern der Totalausdruf der Neligion in
dem Leben und in dem ganzen Aeußern des Menfchen, vornehmlich des Prieflers
ift, und in fofern bleibt das übrigens zu häufig angewendete argumentum ad ho-
minem in feiner Wahrheit, nämlich daß die Iateinifche Meffe des frommen Prie-
fters mehr erbaue als die teutfche des auf feine Reformen erpichten Liturgifafters,
Die Gründe, welche in den Borverhandlungen zu Trient rücfichtlich der durch-
gängigen Beibehaltung der beftehenden Kirchenfprache im hl. Meßopfer für felbe
geltend gemacht wurden, beftätigen unfere eben entwickelte Anficht. "Sie lauten:
1) bei der großen Berfchiedenheit der Sprachen in.der Welt, und bei der beſtän—
digen DVeränderlichfeit der Iebenden Sprachen würde nicht felten die Gleichheit —
des Sinnes und fomit die Einheit der Kirche verlegt werden. 2) Die Mehrzahl
der Priefter fönnte die Meffe nicht außer dem Geburtslande leſen, weil fie im
jedem Lande in einer andern Sprache gelefen würde, 3) Die hl, Myfterien,
wovon das hl. Meßopfer das erhabenfte ift, dürften dem Volkshaufen nicht im
feiner Mutterfprache geboten werben, weil bei deffen Unfähigkeit, das Geheimniß-
solle zu begreifen, den neuern Ketzern Gelegenheit gegeben würde, die heiligften
Gegenftände in diefer Sprache zu profaniren (Göſchl, geſch. Darftell. d. Cone,
9, Trient. Regensb. 1846 2te Abth. ©. 135). — Daf übrigens die Kirche weit
entfernt fei, der Volksſprache alfen und jeden Antheil an dem Culte zu verwei-
gern, brauchen wir bier nicht zu wiederholen, und wenn auch das Tridentinum
Kirchenſtaat. 175
- (Sess. VII. de Sacr. can. 13, Sess. XXI. cap. 4. 5. 8. canon. 6. 7. 9) die refor-
matoriſche Willfür einzelner Bifhöfe und Priefter fern zu halten fuht, fo haben
die ſchon früher und neuerlichft veranftalteten Ausgaben von Ritualien für meh—
rere teutſche Didcefen wenigftens foviel gezeigt, daß ſich mit dem treuen Fefthalten
an dem trefflichen römischen Ritual auch die nöthige Rückſicht auf die Volks ſprache
verbinden laffe, — Zur Literatur gehört außer den Sammlungen der verfchie-
denen morgen- und abendländifhenkiturgien (ſ. d. A.), außer Martene, Bona,
Binterim und Lüft noch hieher: F. X. Schmid, Liturgif 1. Th. 3. Aufl,
1843 ©. 319—330. Auch Hat Köffing die Eiferer für die Feier der Liturgie in
der Bolfsiprahe als unbewußte und bewußte, und diefe wieder als verlarvte Kir—
henfeinde oder als gutmüthige Neoterifer mit durchgreifender Schärfe gefenn-
zeichnet und widerlegt Cliturg. Vorleſ. üb. d. Hl. Meſſe. 2. Aufl. 1850 S. 1—9).
Bol. auch Mone, lateinische und griechifche Meffen aus dem zweiten bis ſechsten
Jahrh. Frankfurt 1850, — Durch die uralte Einführung der Iateinifhen als
Kirhenfprahe und aus den ebenfalls uralten oft zu wortgetreuen Ueberfegungen
der Bibel in das Lateinifche, fowie aus der Iateinifchen Schriftfprahe der Väter
und Lehrer der Kirche hat fich das fogenannte Kirchenlatein gebildet, das ſich
zum claffifhen Latein ungefähr fo verhält, wie das Helleniftifhe und die Sprache
der fpätern griechiſchen Kirchenfchriftfteller zur Sprache der griechiſchen Claſſiker.
Die Einheit und Allgemeinheit der Iateinifchen Kirchenfprache hat es denn au
mit fih gebracht, daß man bis in die neuefte Zeit die lateiniſche Sprache, etwa
mit Ausnahme von Teutfchland, in allen Fatbolifchen Ländern als theologifch-
wiffenfihaftliches Vehikel beibehalten Hat, und erft neuerlichft Haben die äftreicht-
fhen Biſchöfe das Latein abermals als die ordentlihe Sprache der theologifchen
Lehrvorträge erklärt, und in wie weit die Anwendung der Landesfprachen noth=
wendig fei, um den Seelforger zu feinem heiligen Berufe zu befähigen, der Ver—
einbarung zwifchen den Bifchöfen derfelben Kirchenprovinz überlaffen (Aetenftüde,
die bifhöfliche Verfammlung in Wien betreffend. Wien 1850 ©. 16). Es laffen
fih im Allgemeinen für die Beibehaltung der Iateinifchen Sprache in den theolo—
giigen Schulen manche und triftige Gründe beibringen; für Teutfchland aber
dürfte der wenigftens facultative Gebrauch der Landesſprache, der proteftan-
tifchen Theologie, der immer neu fih geftaltenden PHilofophie, fowie der ge-
ſammten Eigenthümlichkeit teutſcher Wiffenfchaft gegenüber, ernftlich zu bevor-
worten fein, [Häusle.]
Kirchenitaat ift die Bezeichnung derjenigen Länder, welche der weltlichen
Herrfhaft des Papftes untergeben find. Die Souverainität des Papftes über
diefelben bat fich nicht plöglich und auf einmal, fondern ganz allmählig und durch
das Zufammenmwirken von Umſtänden gebildet, welche fo völlig außerhalb aller
menfhlichen Berechnung lagen, daß die Päpfte auch ohne ihr Zuthun zu diefer
weltlihen Herrfchaft Hingeführt wurden, und nicht one den größten Nachtheil für
Kirche und Religion fie von fich weifen fonnten. Nachdem fich feit Jahrhunderten
Alles für diefe Spuverainität vorbereitet hatte, ſtand fie bereits feftgewurzelt in
ihrem hiſtoriſchem Boden da, als einzelne Acte ihr ganz unzweifelhaftes Bor-
Handenfein fund gaben. Hatte es der Papft mit allen Bifchöfen im römifhen
Reiche gemein, daß ihm durch die Faiferliche Gefeggebung ein bedeutender Antheil
an der bürgerlichen Verwaltung zum Wohle des Bolfes verliehen worden war,
fo lag es in feiner Stellung, daß fein Einfluß in diefer Beziehung der größte
werden mußte, Die wurde zugleich auch durch den Mäglihen Zuftand, in wel-
chem fih das abendländifhe Kaifertfum befand, und insbefondere au dadurch
fehr befördert, daß Eonftantin feine Reſidenz nach Byzanz verlegte und auch nad
der Theodoſianiſchen Reichstheilung Rom nur noch auf einige Decennien der Auf-
enthaltsort von Kaiſern war, Diefer Einfluß der Päpfte wurde ferner auch ganz
vorzüglich durch den Reichthum der römischen Kirche vermehrt, deren Befigungen
176 Kirchenſtaat. 3
(Patrimonium S. Petri) durch ganz Stalien zerftrent Tagen, Dadurch wurbe ver
Papft in ven Stand gefegt, den Nothleidenden überall zu Hilfe zu kommen, fo
daß, wenn je, fo inbefondere zur Zeit Gregors des Großen der Sat wahr ge-
worden ift, daß das Kirchenvermögen dag Patrimonium Pauperum fei (vgl. Tho-
massin, Vet. et nov. disc. eccles. III. 3. 29). Bornehmlich bot aber das Kirchen-
vermögen dem Papfte auch die Mittel zur Landesvertheidigung gegen den äußern
Feind, gegen die feit dem Jahre 568 in Italien eingebrungenen Langobarden,
Diefe waren bis zum Anfange des achten Jahrhunderts in der allmähligen Er-
pberung der Halbinfel immer weiter porgefchritten und fehienen nunmehr die legte
Hand an die Vollendung diefes Werfes Iegen zu wollen, Nur den Bemühungen
der Päpſte allein, fei e8 durch Nüftungen zur Gegenwehr, fei e8 durch Vermitt—
Yung des Friedens, verbanften e8 die griechifchen Kaiſer, daß ihnen ihre Befigungen
in Italien noch erhalten blieben. Sp waren die Päpfte bereits feit geraumer
Zeit die Beſchützer des mittleren Jtaliens gewefen, als Leo III., der Sfaurier,
nicht rechtmäßiger als viele feiner Vorgänger, im 3. 717 den griechifchen Kaiſer—
thron beſtieg. Mit ihm begann die Neihe der bilverflürmenden Kaiſer; die Ver—
folgung, welche er über alle diejenigen, die der Lehre der Kirche gemäß den Bil-
dern der Heiligen Verehrung erwiefen, verhing, traf auch ven Papft Gregor II. Und
dennoch war Diefer e8, welcher den gegen alle feine Ermahnungen taub bleibenden
Kaiſer lange vor dem gänzlichen Abfalle feiner Untertbanen in Pentapplis, Aemi—
lien, indem Exarchate und in dem Ducatus Romanus bewahrte, Endlich aber brach
und zwar gleichzeitig mit dem Eindringen ver Langobarden in dem Erarchat (ſ. d. A.)
der Aufftand aus, Unter diefen Umftänden und aus der gänzlichen Ohnmacht des
Kaifers, das Land gegen die Langobarben zu behaupten, erflärt e8 fih, wie die
Bewohner jener Gegenden fih nach und nach immer mehr an den Papft, als
ihren natürlichen Schutzherrn, anfchloffen. Auf diefem Wege bildete ſich zuerft
eine Dberhoheit über die Stadt Nom und deren Umgebung , dann auch über jene
entfernteren Landftriche. Zugleich aber mußte e8 dem Papfte Flar werben, daß
auch feine Macht für die Dauer nicht allein gegen den Andrang der Langobarden
ausreichen würde; es lag daher nahe genug, daß er ſich, auch im Intereſſe der
Kirche, nach einem zur Hilfeleiftung fähigen Schugherrn umfah, Papft Gregor I.
wendete fich daher an Carl Martell (ſ. d. A.), der den Schu zwar zufagte, ſich aber
Doch nicht in der Lage befand, ihn wirklich gewähren zu können. — So flanden die
Dinge, ald Zacharias im J. 741 den päpftlichen Thron beſtieg. Schon waren
die Langobarden bis in die Nähe von Nom vorgedrungen, ald e8 dem Papfte
gelang, ihren König Liutprand zunächft für den Ducatus Romanus zu einem zwan=
zigjährigen Waffenftillfiande und zur Herausgabe der Städte Orta, Bomarzp,
Dlera und Amelia zu bewegen. Als der Iangobarbifhe König im folgenden Jahre
in den Erarchat einftel, vermittelte der Papſt auch bier den Waffenftillftand und
die Herausgabe von Städten, nämlich von Navenna und Cefena, Nur die drin—
gendſte Nothwendigfeit , nicht etwa die Herrfchfucht der Päpfte hat diefe Verhält-
niffe, die fih nunmehr unter Liutprands Nachfolger, Rachis, in gleicher Weife
fortentwidfelten,, herbeigeführt, und die Päpfte dadurch zur Ausübung einer wah—⸗
ren Souverainität gendthigt. Als endlich aber die völlige Unterwerfung aller
jener Gegenden unter die langobardiſche Herrfchaft durch König Aiftulf in nächfte
Ausficht geftellt war, die griechifchen Raifer aber nach wie vor viel zu ohnmächtig
waren, um Hilfe bringen zu können, da rief Papft Stephan IL, der ſich feldft
nach Franfreich begab, in feiner und der ihm untergebenen Völker höchſten Be-
drängniß den König Pipin herbei, Diefer überwältigte die Langobarden in zwei
Feldzügen (754, 755) und ftellte jene berühmte Urkunde aus, in welcher er
Navenna mit dem Exarchate und die übrigen Städte, welche die Langobarden
feit Lintprand erobert hatten, dem Papfte übergab, Wurde diefer Act als eine
Schenkung bezeichnet, fo ift Dabei doch zu bemerfen, daß darunter nach allen gleich“
Anz
* Kirchenſtaat. 177
- zeitigen Schriftftellern eigentlich eine Reſtitution verſtanden wurde, — Zu biefen
Befigungen find im Laufe der Zeit noch mehrere andere hinzugekommen, insbe—
ſondere Benevent, welches, ſchon feit Pipin von dem langobardiſchen Reihe unab-
hängig, eine Zeit lang von erblihen Fürften regiert wurde, die zu den Papſten
in Lehnsabhängigfeit ſtanden, dann aber nach deren Ausſterben (1077) von päpſt-
lichen Rectoren. Eine bedeutende Arquifition ging für den paͤpſtlichen Stuhl aus
dem Vermächtniß der Markgräfin Mathilde von Tufeien (+ 1115) hervor; es
erforberte indeffen einen langen bis in die Zeiten Friedrichs II. dauernden Streit
mit den Kaiſern, um nur einige Beftandtheile der unterdeffen zerfplitterten Marf-
grafjhaft mit dem Kirchenſtaate zu vereinigen. Öregor X. erwarb fodann von
König Philipp IN. von Frankreich die Grafſchaft Venaiffin, und fein Nachfolger
Nicolaus I. ſchloß mit König Rudolph im J. 1278 den befannten Vertrag, in
welhem die Romagna, der Erarıhat, die mathildinifchen Güter, die Marf An-
cona, Spoleto und Eomacchio als die den Kirchenſtaat bildenden Beftandtheile
anerfannt wurden. Zu Benaiffin Fam im 14ten Jahrh. noch eine andere fran-
zöfifche Befigung, nämlih Avignon (ſ. d. A.) Hinzu. Philipp IV. hatte diefe Stadt
im 3. 1290 dem Könige Earl I. von Neapel überlafjen; hier ſchlug Clemens V.
im J. 1308 oder 1309 feinen Sis auf, Clemens VI. aber erwarb im J. 1348
die Stadt durch Kauf von der Königin Johanna I. von Neapel. Es hatte den
Päpften im Laufe der Jahrhunderte oft große Mühe gefoftet, fih im Befige ihrer
Staaten zu erhalten oder die in den Kriegsflürmen verloren gegangenen wieder
zu erlangen. Nach und nach wurde es ihnen aber doch möglich, fo manche der
ihnen zuſtehenden Anſprüche durchzuführen und einzelne erledigte Lehen wiederum
einzuziehen. Sp unterwarf fih Julius U. im 3. 1512 Bologna, Clemens VII
Ancona (1532), Paul II. Camarino (1545), Clemens VIII. Ferrara (1598),
Urban VII Urbins (1636), Innocenz X. Caftro und Ronciglione (1649). Un—
glücklicher geftalteten fih die Berbältniffe im 18ten Jahrh.; es wurden wiederum
mehrere Städte abgeriffen, namentlih Benevent im 3. 1768 durch Neapel, wel-
ches zwanzig Jahre darauf den feit Papſt Leo IX. beftehenden Lehensverband zum
HI. Stuhle auflöste, Napoleon aber vollendete das Werf der Zerftüdelung, in-
dem er, der den Papft in die Gefangenfchaft fortführen Tief, durch ein Decret
vom. 5. 1809 die völlige Auflöfung des Kirchenftaates ausſprach. Indeſſen we—
nige Jahre darauf erfolgte durch die Wiener Schlußacte (9. Zuni 1815) die
Reftitution deffelben, und zwar wurden dem Papfte zurücdgegeben: die Marken
von Ancona und Camarino, das Herzogtfum Benevent und Pontecorvo, und die
Legationen mit Ausfhluß eines Stüdes des Ferrarefifhen Gebietes auf dem
linken Po-Ufer. Diefes blieb Deftreich, welches auch das Beſatzungsrecht in Fer-
rara und Comacchio erhielt; hiergegen, fowie gegen den Vorenthalt jenes Ferrare=
ſiſchen Gebietstheiles, Venaiſſins und Avignons erhob unmittelbar darauf der
Papft Protefl. — Ueber die gegenwärtigen Berbältniffe des Rirchenftaates f. d. A.
Italien, über deſſen allmählige Entftefung: Orsi, della origine del dominio e
della soyranitä de’ Romani Pontefici sopra gli stati loro temporalmente soggetti. —
Cenni, Monumenta Dominationis Pontificiae sive Codex Carolinus. Rom. 1760
2 Vol. 4 — (Gosselin), Pouvoir du Pape ou moyen age. (Paris 1845) p. 193
et suiv. — Des Unterzeichneten teutfche Gefhichte Bd. 2 S. 215 u. ff. und Kirchen⸗
recht Bd. 3 ©, 37, — Die Frage über die große Wichtigkeit des Kirchenſtaates für
die ganze Kirche behandelt: Alf. Muzzarelli, Dominio temporale del Papa, Rom.
1789. — Sp richtig es ift, daß der Kirchenſtaat für die Kirche nicht abfolut noth=
wendig ift, indem diefe auch von den Päpften von den Katafomben (ſ. d. A.) aus
regiert worden iſt, fo hat dennoch derfelbe gerade für das Geſammtwohl der
Kirche eine fehr hohe Bedeutung. Es fpricht fih dieß vorzüglich in der freien
Stellung aus, welche der Kirchenftaat dem Papſte gewährt, wodurch der firchliche
Verkehr allein gefichert erſcheint. Bietet der Aufenthalt der Päpſte in Avignon,
Kirchenlexikon. 6. Bd. 12
4178 Kirchenſtaatsrecht — Kirhenftatuten.
welche Stabt ihnen gehörte, ſchon eine fo Tehrreiche Erfahrung in Betreff ver Ge—
fahr, welche der Freiheit der Kirche durch die Nachbarfchaft der Könige Franf-
reichs drohte, um wie viel mehr müßte diefe in Frage geftellt fein, wenn ber
Papft innerhalb des Territoriums eines weltlichen Fürften in der Weife wohn
daß er biefem unterthan wäre, Außerdem gewährt der Kirchenftant die Mittel
zur Beflreitung einer Menge von Ausgaben für kirchliche Bedürfniſſe, welche
der gefammten Kirche zu Gute fommen und außerdem von den Fatholifchen Fürften
und Völfern getragen werden müßten, [Phillips.]
Kirchenſtaatsrecht, ſ. Jura circa sacra.
Kirchenftatuten find gewiffe, auf das canonifhe Recht fih gründende, von
den Mitgliedern einer Tirchlichen Corporation (ſ. den Art, Corporation) feft-
geſetzte Sabungen, nach welchen die geiftlichen und weltlichen Gefchäfte und An-
gelegenheiten der Corporation geleitet und verhandelt werden, Sie haben den
Charakter von Verträgen, weil fie auf der freien Einwilligung der Intereffenten
beruhen, obgleich fie Feine eigentlichen Verträge zu nennen find, indem zu dieſen
Einftimmigfeit erforderlich iſt; und unterfcheiden fich vor den Gewohnheitsrechten
dadurch, daß dieſe nicht durch freie Befchlußfaffung, fondern durch ſtillſchweigende
Annahme eingeführt find, Jede approbirte Corporation hat vermöge ihrer Auto-
nomie das Net, folde Statuten innerhalb der ihr zuftändigen Nechtsfphäre zu
errichten, In den neueften yäpftlichen Umfchreibungsbullen ift des Nechts für die
Capitel, Statuten zu verfaffen, fie zu erflären, auszulegen und zu verbeffern,
ausdrüdffih Erwähnung gethan. Zur Errichtung gültiger Statuten müffen alle
in loco feienden fig- und flimmfähigen Mitglieder der Corporation geladen fein.
Iſt Einer, welcher hätte berufen werben Fünnen, nicht geladen, fo Fann er
die in feiner Abwefenheit gefaßten Entfchlüffe beftreiten, o. 18. 36. X. 1. 6. Aus-
gefchloffen waren bei den ſog. nichtgefchloffenen Capiteln jene, welche, obwohl
dem Capitel einverleibt, dennoch theils wegen nicht vollendeter Studienzeit, theils
wegen Mangels an gefeglihem Alter noch Fein Stimmrecht Hatten. Nach Trid.
Sess. 22. c. 4. de ref. ift die Erlangung der höhern Weihen nothwendig. Den
neuern Circumferiptionsbulfen zufolge fommt die Befugniß, Statuten zu errichten,
den Capiteln als Gefammtheit zu, weßhalb der Eintritt fhon Sig und Stimme
ertheilt und fonach alle präbendirten Canoniker Sig und Stimme haben, Sn be-
flimmten Fällen find auch die Abwefenden einzuberufen, z.B, bei Aufnahme neuer
Mitglieder, Pfründverleifungen, oder wenn Gegenftände zur Verhandlung fom-
men, welche die Rechte Einzelner betreffen, c. 33. in VI. 3. 4; c. 36. X. 1. 6.
Zur gültigen Beſchlußfaſſung müffen zwei Drittheile ver Mitglieder anmwefend fein,
Stimmenmehrheit ift indeffen gewöhnlich hinreichend, c. 1. X. 3. 11. „nisi a pau-
cioribus et inferioribus aliquid rationabiliter objectum fuerit et. ostensum* cf. 0. 4.
lc. Somit fommt ein Statut gültig zu Stande, wenn die Mehrzahl der gegen-
wärtigen Mitglieder (pars sanior c. 1. X. 3. 11.) dafür geftimmt Hatte und die
Minprität nichts Gegründetes dagegen einzuwenden weiß. In letzterem Falle
wäre die Entfoheidung dem Kirchenpbern vorzulegen; nur wenn ein bie wohl-
erworbenen und ausgeübten Rechte Einzelner benachtheiligender Beſchluß gefaßt
werben wollte, wäre Stimmeneinhelfigfeit notfwendig, c. 29. de Reg. Jur. in VI.
„quod omnes tangit, debet ab omnibus approbari.* Die verfaßten Statuten
unterliegen nach dem gemeinen Rechte fofort der höhern Genehmigung, obwohl
dieſe in der Folgezeit vielfach umgangen wurde, An und für fich zwar fließt aus
dem Begriff der Corporation das antonnmifche und damit auch das flatutarifche
Recht, weßhalb die Approbation folcher Statuten ſchon mit der Verficherung des
Autonomierechtes gegeben ſcheint; alfein aus der potestas jurisdictionis ergibt ſich
für den Kirchenobern das Necht und die Pflicht, von der innern Einrichtung Fird-
licher Corporationen ftets Kenntniß zu erhalten und fi) von der rechtmäßigen und
canoniſchen Einführung ſowohl als auch von der Zwerfmäßigfeit ihrer Statuten
Kirchenſtrafen. 179
zu überzeugen. Es muß ihnen daher rechtlich die Prüfung der Statuten zuſtehen.
Die neuern päpſtlichen Bullen Haben dieß als ein weſentliches Erforderniß be—
zeichnet. — Gegenſtand der Statuten kann Alles fein, was den Zweck der Cor-
rn die Leitung und Anordnung der Gefhäfte, die Handlungsweife und
liegenpeiten der Mitglieder als folder betrifft; ihr Inhalt kann geiftlicher,
weltliher und gemifchter Natur fein. In Betreff des Umfanges können nad ca—
noniſchem Rechte Statuten errichtet werben, entweder mit dem Inhalte des ge—
meinen Rechtes übereinflimmend, wodurd diefer oder jener Artikel diefes Rechtes
als für die Corporation zur fihern Erreihung ihres Zweckes befonders wichtig
und förderlich erklärt wird; oder fog. Statuten praeter jus fein, d. h. fih mit
Gegenftänden befaffen, welche im gemeinen Rechte nicht erledigt, aber doch von
folder Befchaffenheit find, daß ein dießfallfiges Statut für die Corporation nüß-
ih oder gar nothwendig fein kann; endlich können fie gegen die Beflimmungen
des gemeinen Rechtes ſtreiten. In legterem Falle find fie feine eigentlihe Sta-
tuten mehr, fondern tragen den Charakter von Privilegien oder Difpenfationen,
und erhalten ihre verbindende Kraft nur durch die Genehmigung des Inhabers
der gejeßgebenden Gewalt, In den Bullen „de salute animarum“ und „provida
solersque* ift ausdrücflich beigefügt, daß die zu errichtenden Statuten den HI.
Canonen, den apoftolifchen Conftitutionen und Decreten des Triventinums nicht
‚widerfireiten dürfen. Auch dürfen nicht Statuten gegen die Rechte Fremder er-
richtet werden, was der Fall gewefen fein dürfte in jenen Statuten, wornach
abelige Geburt ein Haupterfordernig zur Aufnahme in ein Domftift war, und
fomit Nichtadelige von felbft von folhen Präbenden ausgefchloffen waren. — Ber-
bindlihe Kraft hat das Statut nicht nur für die Statuenten, fondern au für alfe
Neueingetretenen, c. 1. 4. X. 3. 11. Gewöhnlich mußten diefe die Beobachtung
der Eorpprationsftatuten eidlich geloben, Für Uebertretungsfälle ſteht der Eor-
poration eine Strafgewalt zu („de salute animarum“); diefe Strafe kann indeſſen
nur in folhem beftehen, worüber die Corporation disponiren darf, wie Entziehung
eines Theils der Einfünfte ꝛc. In Betreff der Dispenfation von flatutarifchen
Beftimmungen gelten die allgemeinen Regeln von Ertheilung der Dispenfation.
Die Statuten find strietae interpretationis. Bei obwaltendem Zweifel ift auf den
von den Berfaffern beabfichtigten Zwer, auf den Wortlaut, den Sprachgebrauch
zur Zeit der Abfafjung derfelben, und auf die in diefer Beziehung geltend ge—
worbene Gewohnheit zu fehen, consuetudo est optima legum interpres. — Aus
dem Rechte, Statuten zu verfaffen, folgt für die Corporation auch das Recht,
die frühern Statuten durch andere auf ordentlihem Wege ganz oder theilmweife zu
verändern, fobald fie Hinlängliche Gründe der Zwerfmäßigfeit vorfindet, c. 8. 12.
X. 1.2. Solde erneuerte oder abgeänderte Statuten unterliegen gleicherweife
der höhern Genehmigung. Spätere Gefege heben an und für fih das Statut
nicht auf, c. 1. in VI®. 1.2., es fei denn, daß diefes ausdrücklich für derogirt
erflärt, oder der Corporation die Beobachtung des erlaffenen Geſetzes aufgelegt
wird „non obstantibus statutis et consuetudinibus.* Vgl. Gregel, de re statu-
taria capitulorum Germaniae, Herbip. 1796; Würdtwein, nova subsidia dipl.
Ueber Didcefanftatuten f. den Art, Didrefanftatuten und Phillips, Didcefan-
fynode Cap. 6. [Kreuger.]
Sirchenftrafen. Die Kirche übt die ihr von Chriſto verliehene Strafgewalt
in doppelter Abſicht; einerfeits, indem fie überhaupt da, wo fie zurechtweifend
und flrafend einzufhreiten gezwungen ift, zunächft die Befferung des Sünders be—
zweckt; andererſeits, indem fie zugleich als die Rächerin des verletzten Rechtes
dem Frevler gebührend vergilt. Hierauf gründet fich der Unterfhied zwifchen den
Zudt- und Befferungsmitteln (poenae medicinales) und den eigentlichen Strafen
(poenae vindicativae); obſchon bei legteren der wenigft mittelbare Zweck der Kirche
ebenſowohl die Befferung des Straffälligen ift, als die ER Falle hart⸗
2*
480 Kirchenſtrafen.
näckiger Renitenz den Charakter der Strafe annehmen, 1) Ueber die vorzugs-
weife fo genannten und theils gegen Geiftliche und Laien, theils ausſchließlich
gegen Erftere anwendbaren Zuchtmittel f. den Art. Cenfuren, kirchliche,
Bd. H. ©, 426 f., und die einzelnen Gattungen derfelben unter ven Art, Bann,
Snterdiet und Sufpenfion. 2) Theils in Verbindung mit dem Fleinen Banne,
theils als Bedingungen der Wiederaufnahme gänzlich Ausgefchloffener, theils un-
abhängig vom Banne waren in den früheren Jahrhunderten der Kirche die öffent-
lichen Büßungen in Uebung (ſ. Bufgrade, Bd. IL. ©, 229 f.). Allmählig
aber verloren fie fich als felbfiftändige Sühn- und Befferungsmittel, und wurben
theilweife nur gegen große Verbrecher, die der Ercommunication verfallen waren,
als Uebergangsftufen zur Wiederaufnahme in die Gemeinfchaft angewendet, Aber
auch in diefer Eigenfchaft fommen fie nicht Teicht mehr vor, da das Tridentinum
deren Öffentliche Verhängung der Diseretion der Biſchöfe anheimſtellt. 3) Auch
die eigentlichen Strafen (poenae im engeren Sinne) waren, wie die Cenfuren,
nach dem älteren Rechte theils allgemeine für Geiftlihe und Laien beftimmte,
theils folhe, welche ihrer Natur nach nur Geiftliche treffen Fonnten, a) Al
Strafen ſowohl für Laien als für Elerifer fommen ſchon feit dem fechsten Zahr-
Hunderte, befonders aber im fpäteren Mittelalter, wo ſich die Strafeompetenz
der-Rirche fo fehr erweiterte, daß die meiften Vergehen und Verbrechen vor ihren
Nichterfiugl gezogen werden fonnten, Ausweifungen aus Pfarrbezirfen, Did-
eefen ze. (Conc. Aurel. IV. a. 541. c. 29; c. 9. Dist. LXXXI; c. 9. c. II. qu. IV.),
Einfperrung auf beflimmte und unbeflimmte Zeit Co. 15. $ 1. X. De haeret,
V.7; 0.27. $1. X. De verb. sign. V. 40), u. a, zunächft bürgerliche Strafmittel
vor. Ebenfo war es ſchon frühzeitig geftattet, für folde, deren Alter, Leibeg-
befchaffenheit und Gefundheit zur Uebernahme der eigentlichen Büßungen zu ſchwach
war, auch verhältnigmäßige Geldbußen zu frommen Zwecken zu verhängen (f.
Geldfirafen, Bd. IV. ©, 375). Diefe Strafmittel find jedoch Heutzutage,
wenigftens in ihrer Anwendung auf Laien, nicht mehr in Uebung. Dagegen ift
eine eigenthümliche, auch noch gegenwärtig unter gewiffen Einfchränfungen zu
Recht beftehende Kirchenftrafe Die Entziehung des hriftlichen Begräbniffes, über
deren geſchichtliche Entwicklung und jegige Praris der letzte Abfag des Art, Be-
gräbniß (Bd. J. ©.737.) nachzulefen iſt. b) Unter den Strafen gegen Diseiplinar-
vergehen (ſ. d. A.) der Geiftlichen insbefondere, deren Beahndung wie ehemals, fo
auch noch jetzt ausschließlich den Firchlichen Oberen zufteht, heben die Canones
außer den dem Ermeffen der Bifchöfe überhaupt anheimgegebenen poenis arbitrariüis
namentlich hervor: Gefängnißftrafen in den Hiefür eigens beftimmten Did-
‚eefan-Strafhäufern (ſ. d. AU, Eorrertionsanftalten, Bd. I. ©, 894 f,;5
Decanica, Bd. II. ©, 56 f.; Gefängnißftrafen, Bd, IV. ©, 348 f.); Kör-
perftrafen, befonders gegen jüngere noch unter der Schulzucht ftehende Cleriker,
-pder auch für eigentliche Verbrecher mit Abfegung, Creommunication u, a, Stra—
fen als Schärfung der leßteren verbunden (ſ. Züchtigung, körperliche); Ver—
fesung, infofern fie nicht bIoß aus adminiftrativen Rückſichten oder auf Bitten
des Betheiligten felbft Ctranslatio), fondern gegen deffen Willen als Strafe ver-
‘fügt wird (ſ. Translocatio); zeitliche Enthebung eines bereits angeftellten Geift-
lichen von feiner Pfründe (ſ. Privation), oder Tebenslängliche Amtsentfegung
wegen ſchwerer Verbrechen (ſ. Depofition, Bd. II. ©. 106 f.); Entziehung
fogar der geiftlichen Standesrechte durch die nur im älteren Nechte übliche Zurück—
verfegung des Clerikers in den Laienfland (ſ. Communio laica, Bd. II. ©,
718 f.) oder durch die auch im neueren Decretalenrechte beibehaltene Ausſtoßung
aus dem Clericalftande (f. Degradation, Bd, II. ©. 77 f.)5 endlich die meift
in Verbindung mit der Amtsentfegung oder Degradation als Straffcehärfung oder
zur Förderung des Bußeifers verfügte, jetzt aber nicht mehr practifche Detrusio
in monasterium (ſ. Kloſterverweiſung) | [Yermaneber,]
te a
J
Kirhenftühle — Kirdentrauer, 181
+ Kirchenftühle. Man verfteht darunter jene Sigbänfe in den Kirchen, die
zugleih Betſchemeln mit Lehnen find. Sie find in Teutfchland (es wird auch
in andern Ländern in der Negel nicht anders fein) in allen Gotteshäuſern üblich,
und häufig fo zahlreich angebraht, daß nur in der Mitte des Schiffes ein freier
Gang übrig bleibt, auf dem man einerfeits zu den Thüren und andererfeits zum
Presbyterium fommen kann. Im Presbyterium felbft. follen nur Stühle für
den Clerus und die Sänger ſich befinden (Chorftüßle, ſ. d, A.), jedoch bat fi
auf dem Lande auch Hier das Volk häufige Stühle zu verfchaffen gewußt. Wo
Emporkirchen find, find auch diefe gewöhnlich mit Stühlen befegt. Wo die Kir—
chenſtühle zwei durch den freien Gang in der Mitte getrennte Reihen im Schiffe
bilden, und Ordnung herrſcht, nimmt das männliche Gefchlecht in der rechten
und das weibliche in der Iinfen Reihe Pas: leider ift diefe Ordnung faft nur
mehr in Dorf- und Marktkirchen zu fehen. Vorzugsweiſe und regelmäßig nehmen
die Verehelichten und Betagten in den Stühlen Play, während die Kinder im
oder zumächft dem Presbyterium ftehen, und die erwachfene Jugend in der Nähe
der Stühle dem Gottesdienſte beimohnt. Als Betftühle dienen die Kirchenftühle
zum Knieen, was jedem Chriften im Gottesdienft ald Regel ziemt, als Sitzbänke
gewähren fie dem Alter und der Ermattung jene Ruhe, die fie notbwendig haben,
um einem längern Oottesdienfte aufmerffam beiwohnen zu können. — Die Natur
der Sache bringt es mit fih, daß man auch ſchon in den älteften Zeiten Sige
und Stühle hatte, Es genüge folgende Stelle, die um der fymbolifchen Auf-
faffung willen, die fie diefer Sache gibt, um fo wichtiger ifl. „Cum ecclesiam
Dei convocas“, redet der Berfaffer der apoftolifchen Conftitutionen den Bifchof an
dl. 2. e. 57.) „tanquam magnae navis gubernator, jube cum omni prudentia con-
gregari, praecipiens diaconis, veluti nautis, ut loca fratribus tanquam navigantibus
valde accurate et honeste disponant. Ac primum quidem sit aedes oblonga orien-
tem versus navi similis. Sit solium episcopi in medio positum, et ex utroque ejus
latere sedeant presbyteri, et astent diaconi succineti, et expediti sine multa veste;
sunt enim illi similes nautis, hi illis, qui per foros navis cursitant. Adolescentes
quidem seorsum sedeant, si locus sit; sin autem non sit, stent. Aetate vero pro-
vecti ordine sedeant; pueros autem stantes patres et matres eorum suscipianf,
Rursus adolescentulae seorsum, si fuerit locus; si vero non fuerit, post mulieres
locentur. Nuptae jam et matresfamilias item seorsum. Virgines autem et viduae
et anus primae omnium stent aut sedeant“. Bgl. Cyriffus von Jerufalem (pro-
eatech.), Gregor von Nazianz (carm. 9). Hie und da waren fogar die einzelnen
Stände dur hölzerne Wände von einander gefihieden, z. B. die Männer von
den Frauen (Chrysostom. hom. 73 al. 74 in Matth.), die Jungfrauen von den Ge—
ſchwächten (Ambros. 1. de lapsu virg. consecr. c. 6). Ueber das Faldiftorium und
die Sie der Geiftlichen fiehe den Artifel Faldiftorium. [är. & Schmid]:
Kirchentrauer. Wenn ein Mächtiger der Erde in frevfem Uebermuthe die
bifhöflihe Kirche ſchwer verlegte, oder den Bifchof oder das Capitel injurirte,
und jede Genugthuung hartnäckig verweigerte, fo wurde von letzterem bisweilen
die Einftellung des öffentlichen Gpttesdienftes verfügt, um den Widerfpänftigen
durch die ihm zugefehrte Mißſtimmung des Volkes zur Ausfühnung zu bewegen
Ch. Cessatio a divinis). Diefe Waffe durfte jedoh nur aus fehr wichtigen
Gründen uud nach vorgängiger Anfündigung und fruchtlofem Verfuche der Sühne
gebraucht werden, und beide Theile mußten fih in Monatfrift vom Tage des
eingeſtellten Gottesdienftes an perfönlich oder dur fpeciell Bevollmächtigte vor
dem päpftlichen Stuhle fiftiren und deffen Entfheidung entgegennehmen (Sext.
— €©.2.8. De off. ord. 1.16). So fehr diefes Zuchtmittel an dag Interdiet erinnert
99), fo wurde daffelbe doch nicht unter dem Gefihtspuncte einer Cenfur
aufgefaßt, fondern war im Grunde nur der fchärffte Ausdrud der Entrüftung und
des Schmerzes über die erlittene Gewaltthat. An deſſen Stelle ift in neuerer Zeit
182 Kirchenvater.
die mildere Form der einfachen Kirchentrauer getreten, wenn nämlich zum
öffentlichen Ausdruck tiefſter Betrübniß wegen Vergewaltigung der Kirche oder
des Bifchofes zwar nicht der gewöhnliche Gottesdienft unterbrochen wird, aber
das Glockengeläute und die feierliche Kirchenmuſik ganz oder zum Theil verftummt,
und das Innere der Kirche durch Entfleidung ihres Schmurfes die Spuren der
Trauer zur Schau trägt. Das jüngfte Beifpiel der Art gab das Metropplitan-
eapitel Onefen-Pofen, nachdem der dortige Erzbifchof Martin son Dunin (f.
d. 4. Bd. IM. ©, 334 ff.) auf Befehl der preußifchen Staatsregierung nach der
Feſtung Colberg abgeführt worden war, [Permaneder,]
Kirchenvater. Das Verhältniß des Vaters zu feinen Kindern hat man
mit Recht als ein paffendes Bild mehrerer Verhältniffe in der Kirche betrachtet,
und im Firhlichen Sprachgebrauch ift eine ſolche bilvliche Bezeichnung des Na-
mens „Vater“ fehr gewöhnlich, Schon feit den älteften Zeiten werden namentlich
die Priefter und noch mehr die Bifchöfe fehr oft Väter der andern Gläubigen
genannt, weil fie die Leiter und Erzieher in der Kirche und die Spender der
firchlichen Güter und Gnaden find, wie der wirkliche Vater das Haupt und der
Erzieher und Erhalter der Familie; und nach derfelben Anfchauungsweife Heißt
der Papſt vorzugsweife der allgemeine Vater aller Gläubigen, Der Name
„Rirchenvater” insbefondere ift aber durch den Firchlichen Sprachgebraud dahin
beſchränkt, daß nur folde Männer damit bezeichnet werden, welche in der hrift-
lichen Wiffenfchaft Väter der andern geworben find, Kirchenvater fann darum
einer fein, der nicht Biſchof oder Priefter ift, und umgefehrt heißen manche aus-
gezeichnete Bifchöfe nicht Rirchenväter, weil fie fih nicht als Schriftfteller aus-
gezeichnet haben, Die Kirchenväter gehören alfo zu den Kirhenfchriftftellern
(seriptores ecclesiastici), und man nennt fo diejenigen Kirchenfchriftfteller der
ältern Zeit, welche von der Kirche wegen ihrer Verdienfte um die Firchliche Wiffen-
fchaft, verbunden mit Heiligkeit des Wandels, als Zeugen und Vertreter der kirch—
lichen Lehre anerfannt werden. Zerlegt man biefe Definition in ihre Theile, fo
ergeben fich folgende nothwendige Eigenfchaften eines Kirchenvaters: Erftens Ver-
dienfte um die Firchliche Wiffenfchaft. Dadurch werden aus der Zahl der Kirchen
väter ausgefihloffen: a) die nichtehriftlichen, häretiſchen und heterodoxen Kirchen-
ſchriftſteller, und b) diejenigen chriſtlichen Schriftftelfer, welche fich nicht um die
firhliche, fondern nur um die profane Wiffenfchaft verdient gemacht haben, Es
wird aber nicht gefordert, daß die Verbienfte eines Kirchenvaters um die hrift-
liche Wiffenfchaft gerade ſubjectiv fehr ausgezeichnete feien und namentlich bei
den älteften Kirchenvätern erfeht die hohe Wichtigkeit, welche ihre Schriften eben
um ihres Alterthums willen haben, den Umfang und die wiffenfchaftlihe Bedeut-
famfeit derfelben. Man drückt fich darum nicht genau aus, wenn man von einent
Kirchenvater „vorzügliche Gelehrfamfeit” fordert, Es handelt ſich hier weniger
darum, daß der Kirchenvater perfünlich fehr gelehrt war, als darum, daß feine
Schriften für die hriftliche Lehre und die chriſtliche Wiffenfchaft von Bedeutung
find, Sp werben gewiß mit Necht Clemens von Rom, Ignatius von Antiochien
und Polycarp, obgleich fie nicht große Gelehrte waren und ihre Schriften von
geringem Umfang find, zu den Kirchenvätern gezählt, weil ihre Schriften ihres
Alterthums wegen für die firchliche Wiffenfchaft wichtiger find, als manche um—
fangreichere und gelehrtere Werfe fpäterer Kirchenfhriftftelfer. Einzelne Abwei-
ungen von der Kirchenlehre, welche nicht gegen erflärte Dogmen verfisßen und
meift auch nicht apodictifch vorgetragen find, ſchließen ebenfowenig Kirchenfchrift-
fteffer, die ſonſt orthodox und ausgezeichnet find und die übrigen Nequifite haben,
Hon der Neihe der Kirchenväter aus; fo heißen Kirchenväter: Irenäus trog feiner
chiliaſtiſchen Meinungen, Gregor von Nyffa troß feiner vrigeniftifchen Anklänge
und andere, (Cf. M. Canus loci theol. 7, 3. coneil. 2: Nempe aliud fuit errare in
rebus obscuris et quae non erant eo tempore explicitae ao definitae, aliud in aper-
a ·⸗⸗v⸗⸗
Kirhenvater, 183
tis et quae func etiam in ecclesia firmissime eredebantur. Nlut aut Cypriano auf
Ambrosio aut Augustino aceidit: hoc Origeni, Eusebio ac Ruffino. Cyprianus item,
Ambrosius, Hieronymus in nullo a S. Romanae eccelesiae consortio deviarunt nes
ab ejus fideli praedicatione sejuncti sunt, sed communionis ipsius semper fuere
participes.). — Mit diefem Requifit hängt das zweite zufammen, die Approbation
der Kirche: ald Vater der Kirche, oder näher der kirchlichen Wiffenfchaft kann nur
der gelten, der von der Kirche felbft, fei es ftillfehweigend durch den allgemeinen
Ufus, fei e8 durch eine ausdrüdliche Erklärung, als ein Vertreter und Förderer
ihrer Lehre anerfannt iſt. Eine ausdrüdliche derartige Approbation haben wir
3 D. in der Erflärung eines römifchen Concils unter Gelafius J. (in Oratians
Deeret c.3.D. 15.), in der die „opuscula ss. patrum® aufgezähtt werden, „quae
in ecclesia calholica recipiuntur; namentlih werden erwähnt die opuscula des
Eyprian, Athanafins, Gregor von Nazianz, Bafılius, Johannes (Ehryfoftomus),
Theophil von Alerandrien, Eyrill von Alerandrien, Hilarius, Ambrofius, Augu-
ſtinus, Hieronymus, Profper, Leo I., item opuscula atque tractatus omnium patrum
orthodoxorum, qui in nullo a s. Romanae ecclesiae consortio deviaverunt nec ab
ejus fideli praedicatione (beffer: fide vel praedicalione) sejuncti sunt, sed com-
munionis ipsius gratia Dei usque ad ultimum diem vitae suae participes fuerunf. —
Drittens nennt man Kirchenväter nur diejenigen Rirchenfihriftfteller, welche fich
zugleich durch Heiligkeit des Wandels ausgezeichnet haben (M. Canus loci theol.
' 7, 3: quos in hunc usque diem tot seculorum consensus approbavit, quos praeter
admirabilem sacrarum literarum perifiam vitae quoque pietas mira commendat.),
Nach der Anfchauung der Kirche ift nämlich wahre Firhliche Gelebrfamfeit, weil
die Firchliche Wiffenfchaft nicht bloß Sache des Erfennens, fondern des ganzen
Geiftes ift, unzertrennlidh von einem heiligen Wandel, und fünnen darum nur
diejenigen als Repräfentanten der kirchlichen Wiffenfchaft gelten, welche die Kir—
chenlehre nicht bloß in Schriften entwickelt und vertheidigt, fondern auch im Leben
befolgt und durchgeführt Haben. (Qui autem fecerit et docuerit, hie magnus
vocabitur in regno coelorum, heißt es darum im Evangelium der Meffe de com-
muni doctorum Matth. 5, 19). Darum gehören denn auch alle Rirchenväter zu
den Firchlichen Heiligen und bei ältern Schriftftellern, wie bei Thomas von Aquin
und noch bei M. Canus werden fie oft unter dem Namen sancti auctores, sancti
antiqui oder noch häufiger ſchlechthin Sancli eitirt. Diejenigen, denen diefes oder
das erfte und darum auch das zweite Merkmal fehlt, heißen nur scriptores eccle-
siastiei (Rirhenfhriftfteller), nicht patres ecclesiae; fo Tertullian, Clemens
son Alerandrien, Eufebius, Ruffin und andere. — In der nähern Beftimmung
des vierten Nequifits, des Alterthums, ift man aber ebenfo uneinig, als in Be-
zug auf die andern einig. Während einige, namentlich Proteftanten, die Periode
der Kirchenväter mit dem vierten, andere mit dem fechsten, andere endlich mit
dem 13ten Jahrhundert fihließen, haben andere jede Zeitbefiimmung für unzu-
läffig gehalten, und Möhler (Patrologie S. 20.) meint, indem er diefes vierte
Requifit ganz fallen laͤßt, „nach dem urfprünglichen uud reinen Sinne des Worts
müſſe es fo lange Kirchenväter geben, als die Kirche dauere, und dem Papſte
ſtehe deßfalls daſſelbe Recht zu, wie früher, wenn fich die Kirche einer fo groß—
artigen Erfiheinung in dem Gebiete ihrer Wiffenfchaft wieder, ähnlich wie früher,
zu erfreuen haben follte.” Daß es, fo lange die Kirche dauert, Männer geben
könne undewerbe, welche ſich durch Firchliche Gelehrfamfeit und Heiligkeit hervor⸗
thun und darum von der Kirche als Nepräfentanten ihrer Lehre anerfannt werden
können, iſt nicht zu Ieugnen, aber ob man diefelben auch Kirchenväter nennen
ſolle, ift eine andere Frage, Es handelt ſich hier nicht um den „urfprünglichen
und reinen Sinn des Wortes”, fondern um den hergebrachten und allgemein
üblihen Sprachgebrauch, und gegen diefen würbe es doch ficher verftoßen, wollte
man Männer der neueflen Zeit, die fonft in alfen Stücken den alten Kirchen—
-
184 Kirchenvater.
vätern gleich find, Kirchenväter nennen, da man bei dieſem Namen nur an Män-
ner des Alterthums zn denfen gewohnt ift, Für große Firchliche Gelehrte der
ſpätern Zeit iſt vielmehr der Name Doctor üblich, und das Mittelalter Fennt wohl
einen doctor angelicus, seraphicus u, ſ. w,, feiner diefer großen Gelehrten wird
aber Kirchenvater genannt. Hauptfächlich fcheint Möhler zu diefer Ausdehnung
des Begriffs dadurch gekommen zu fein, daß, wie er angibt, Thomas von Aquin,
DBonaventura und andere durch päpftliche Bullen ausdrücklich zum Range von
Kirchenvätern erhoben ſeien; und wenn diefes der Fall wäre, fo wäre allerdings
fein Grund vorhanden, den Papſte das Necht abzufprechen, auch in Zukunft noch
Kirchenväter zu ereiren. Jene Angabe beruht aber auf einem Mißverftänpniß:
Thomas und Bonaventura find nie zu Kirchen vätern erhoben, fondern zu Kir—
chen lehrern (doctores ecclesiae), und in der Bulle, durch die Sixtus V. den
Hl. Bonaventura zur Würde eines Kirchenlehrers erhob, iſt ausdrücklich auf die
Stelle Eph, 8, 11.: et ipse dedit quosdam quidem apostolos,.... alios autem
pastores et doctores, Bezug genommen, — Der Sprachgebrauch, nur die durch
Gelehrſamkeit und Heiligkeit ausgezeichneten Männer der älteften Zeit der Kirche,
diejenigen, qui calholicam ecclesiam in ejus infantilibus annis educarunt, wie ſich
ein älterer Schriftſteller ausdrückt, zu den Kirchenvätern zu rechnen, tft aber auch
ganz in der Bedeutung des Namens gegründet, Ein bedeutender Kirchenfchrift--
ftelfer der fpätern Zeit Fann von denen, die von ihm gelernt haben, als ein
‚geiftiger Vater angefehen werden; aber Rirchenväter im abfoluten Sinne, geiftige
Väter der ganzen Firchlichen Wiffenfchaft find Doch nur Die großen Kirchenfchrift-
fteller der erften Jahrhunderte, Die Neihe der Kirchenväter ift alfo nicht eine
noch fortlaufende, fondern eine abgefchloffene. Es fragt fih nun noch, mit wen
‚oder in welcher Zeit die Reihe zu fchließen ift, Jedenfalls würde man zu weit
gehen, wollte man erft mit Thomas und Bonaventura fließen, und Diejenigen,
welche die Reihe der Kirchenväter bis auf fie fortfegen, ſcheinen dazu durch die
oben berichtigte Meinung veranlagt zu fein, daß die genannten Männer vom
Papfte ausdrücklich zum Nange von Kirchen vätern erhoben ſeien. Die Reihe
der Kirchenväter aber fchon mit dem vierten Jahrhundert zu ſchließen, iſt eben-
fowenig thunlich; denn in diefer Zeit findet fich gar Fein Abſchluß, und der Sprach—
gebrauch, auf den es hier hauptfächlich ankommt, zählt ficher die großen Männer
der nachfolgenden Jahrhunderte noch zu den Kirchenvätern. Es gibt in der Ge—
ſchichte der ganzen Altern Eirchlichen Literatur gar feinen fo bedeutenden Abfchnitt,
als den, welcher durch den Eintritt der germanifchen Völker in die Kirche und
Das Aufhören der griechifch-römifchen Bildung bezeichnet wird, Sp lange die
antifen Völker die Träger der Firchlichen Wiffenfchaft find, finden wir eine durch—
aus ftetige und naturgemäße Fortbildung derfelbenz mit dem Untergang der an—
tifen Nationen wird diefe Stetigfeit der Entwicklung ganz unterbrochen; die un-
gebildeten germanifchen Völker können die Ausbildung der Firchlichen Wiffenfchaft
nicht da fortfegen, wo die griechifch-römifchen Kirchenſchriftſteller aufgehört Hatten,
fie müffen gleihfam aufs Neue beginnen, Die ältere kirchliche Wiffenfchaft iſt
für fie ein abgefchloffenes Ganzes, das ihnen unvermittelt gegenüber ſteht und
welches fie fih aneignen müffen; ihnen lag es darum auch ganz nahe, Die großen
Männer diefer vergangenen Literaturperiode als Väter der Firchlichen Wiffenfchaft
zu bezeichnen; fie gehen gleichfam bei denfelben in die Schule und von dem Ex—
cerpiren und Zufammenftellen des Vorhandenen beginnend, fommen fit erft ganz
allmählig zu einer felbfiftändigen Geftaltung der Firchlihen Wiffenfchaft, Die
Tradition der Kirchen lehre leidet zwar Feine Unterbrechung, wohl aber die Tra-
dition der Firchlichen Wiffenfchaft, der wiffenfchaftlichen Darftellung der Kirchen—
lehre. Die griechifcherömifche Periode der Firchlichen Literaturgefchichte wird ja
auch allgemein mit vem Namen „die patriftifche Periode” bezeichnet; confequent
Tann man alfo and) Patres nur Schriftftelfer aug diefer Zeit nennen, Ganz ge-
——
NE NEIEESR-
— —
Kirchenvater. 185
nau läßt fih nun freilih die Gränze nicht angeben, wo die griechiſch-römiſche
Bildungsperiode, alſo auch die Reihe der Rirchenväter aufhört und die germanifche
Periode beginnt; der lege bedeutende Repräfentant der antifen Bildung unter den
Kirchenſchriftſtellern des Abendlands ift aber Papft Gregor der Große; in der
griechifchen Kirche würde fich die Reife der Kirchenväter noch weiter ausdehnen
Jaffen, da dort die antife Bildung ſich länger erhielt, Fönnte dort, im Schisma,
überhaupt von Kirchenvätern die Rede fein; man nennt darum insgemein den HL.
Sohannes von Damascus den legten griechifchen Rirchenvater, — Der Begriff
von Kirchenlehrer, doctor ecclesiae, ift in einer Beziehung weiter, als der
von Rirchenvater, fofern namlich dazu nicht das Merkmal des Alterthums gehört
und heiligen Männern aller Zeiten, die durch fhriftftellerifche Thätigkeit ſich aus—
gezeichnete Verdienfte um die firchlihe Wiſſenſchaft erworben haben, diefer Titel
gegeben werben kann; in einer andern Beziehung aber ift er enger, indem nur
diejenigen, welche das erfte Requifit eines Kirchenvaters, Verdienfte um die kirch⸗
liche Wiffenfchaft, in einem ausgezeichnet hohen Grade verwirklicht haben, zu den
Kirchenlehrern gezählt werben, Weber die Zahl der griechiſchen Kirchenlehrer
iſt man nicht ganz einig; allgemein werden dazu gezählt: Athanafius, Bafılius,
Gregor von Nazianz und Chryſoſtomus. Unter den lateiniſchen Kirchenvätern
beißen Ambrofius, Auguftinus, Hieronymus und Gregor d. Gr. vorzugsweife die
großen lateinifhen Kirchenlehrer. Daß die Zahl hier genau firirt ift, iſt
bauptfählich dem Umftande zuzufchreiben, daß man ſchon früh anfing, diefelben
mit den vier Evangeliften zufammenzuftellen und in der chriſtlichen Kunft die
Attribute diefer (Löwe, Stier, Menſch und Adler) auf fie zu übertragen, Später
find ihnen Leo d. Gr., Thomas von Aquin (dur Pius V.), Bonaventura (dur
Sirtus V.) und Bernard von Clairvaur (durch Pins VII. 1830) beigezählt, alfo
drei, die nicht zugleich Kirchenväter find, Das Decret Pins’ VI. über den HL.
Bernard (bei Roms&e, opera liturgica t. 5. p. 296.) zeigt auch die Bedeutung
Diefes Titels: nad Angabe der Auszeichnungen eines doctor in der Liturgie heißt
es nämlich: Ac praeterea hujus doctoris libros....opera denique omnia, uf
aliorum ecelesiae doctorum, non modo privatim, sed plublice in gymnasiis... om-
nibusque aliis ecelesiasticis studiis christianisque exercitationibus citari, proferri
atque, cum res postulaverit, adhiberi volumus et decernimus. Ein Kirchenlehrer
fol alfo in der Kirche als vollgültiger, authentifher und officielfer Zeuge und
Dolmetfiher ihrer Lehre anerfannt werden. — Größer als die Zahl derjenigen,
welche in der Geſchichte der Firchlichen Literatur Kirchenlehrer genannt werden,
iſt die Zahl der Kirchenlehrer nach Titurgifchem Sprachgebrauch. Im Brevier
und Miffale bilden nämlich die doctores eine Unterabtheilung der confessores,
indem von diefen mehrere, die, wie fie dag Martyrologium Romanum bezeichnet,
nicht nur durch Heiligkeit, fondern auch durch Gelehrſamkeit fih ausgezeichnet
haben (sanctitate et doctrina clari), befonders dadurch hervorgehoben werden, daß
fie eine eigene Antiphone zum Magnificat: O doctor optime, ecclesiae sanctae
lumen etc., und in der Meile, als Symbol ihrer Berdienfte um den hriftlichen
Glauben, Credo haben. Das Miffale Hat eine eigene fehr ſchöne Meſſe de com-
muni doctorum: In medio ecclesiae, — Zu diefen doctores werden nach römiſchem
Ritus außer den obengenannten noch folgende gezählt: Iſidor von Sevilla (4.
Apr), Anfelm von Canterbury (21. Apr.), Petrus Chryfologus (4. Dee.) und
Petrus Domiani (23. Febr). Nach dem Decret Leo's XII. vom J. 1828, durch
welches der Iegtere zum doctor erhoben wird (bei Romsee l. c. p. 293.), fommt
der Rang eines doctor denjenigen zu, qui non vivae tanftum vocis officio caetero-
rum pastorum instar sibi commissam plebem, sed cunctos Christifideles omnium-
que saeculorum posteritatem conseriptis libris sapientia et doctrina refertis etiam
exstincti erudire non cessant; übrigens enthält diefes Decret Feine Beftimmungen,
wie fie Pius VII. in Betreff des HI. Bernard gibt, fondern nur liturgiſche Vor-
186 Kirhenverfaffung — Kirchenvermögen.
ſchriften. Hilarius von Poitiers hat zwar die Meffe de communi doctorum, aber
fein Credo und nicht die Antiphone O doctor und wird auch nur als confessor
pontifex bezeichnet, Beda Venerabilis fehlt im römischen Miffale; fein Feft ift
für England indulgirt (29. Det.), er hat aber die Meffe de communi abbatum
(Os justi) ohne Credo und heißt nur in der Dration confessor atque doctor; ähn«-
lich verhält es fich mit dem Hl, Eligius für einige belgiſche Dibeeſen. [Reufh.]
Kirchenverfaſſung, ſ. Hierardie.
Kirchenvermögen im weiteren Sinne heißt alles, was eine Kirche an
Grundbeſitz, Capitalien, nutzbringenden Rechten und Renten theils urſprünglich
zu ihrer Dotation erhielt, theils ſpäterhin durch was immer für Rechtstitel als
Eigenthum erwarb. J. Von dem Vermögens-Erwerb der Kirche und
ihrem Eigenthumsrechte. Die Kirche hat 1) die rechtliche Fähigkeit, Ver—
mögen zu erwerben, Nur fo lange die chriftliche Kirche im römifchen Neiche ver—
folgt war, und die hriftlichen Neligionsgemeinden noch als ſtaatswidrige Vereine
(collegia illicita) betrachtet und behandelt wurden, war begreiflih von einem
ftantsrechtlichen Bermögenserwerb derfelben nicht die Rede. Als aber das in
Berbindung mit Conftantin erlaffene Edict des Kaifers Lieinius 312 dem dhrift-
lichen Befenntniffe freie Entfaltung geflattete, befahl e8 zugleich die Herausgabe
der den hrifllichen Gemeinden entzugenen Güter (Lactant. De morte persecutorum
c. 48), und Conftantin M. gab dem, was factifch beftand, die gefegliche Anerken-
nung, indem er das Privilegium, Fraft deffen einzelne heibnifche Götter die Erb-
fähigfeit hatten, fofort auf den Einen wahren Gott übertrug (l. 1. Cod. De ss.
Eccl. I. 2). Seitdem blieb die Erwerbs- und Eigenthumsfähigfeit der Firchlichen
Eorporationen und Anftalten herrſchender Grundſatz, Den auch die neueften Ver—
faffungsurfunden ausdrücklich anerkennen (z. B. Preuß, A, %-R, IL. 11. $ 1935
Bayer. Berf,-Urf, IV. $ 95 Baden. Ediet v. 1807, $ 9, u. a.). Bei dem Er-
werbe richtet fih übrigens die Kirche nach dem bürgerlichen Rechte, und ift in
diefer Hinficht weder durch Verjährung bevorzugt, noch genießt fie eine befondere
Eremtion bezüglich der Infinuation der ihr gemachten Schenfungen. Indeß traf
Doch Schon das römische Recht manche Beftimmungen zu ihren Gunften, nament-
lich daß letztwillige Vermächtniffe zu frommen Zweden vom Abzuge der Quarta
Falcidia und Trebelliana befreit fein ſollen (ſ. Faleidiſche Duart und Quarta
Trebelliana), Zur tefamentarifchen oder codicillarifchen Erbeinfegung einer
Kirche oder kirchlichen Anftalt bedurfte e8 zwar nach römiſchem Nechte immerhin
noch der eivilrechtlichen Form, nämlich der Gegenwart von fieben — beziehentlich
von fünf — Zeugen; doch traten auch bier durch die hriftlich-römifchen Kaifer
mehrere VBergünftigungen ein, welche fpäterhin das canonifche Necht noch anfehn-
Yich erweiterte, die neueren Landesgefege aber zum Theil wieber befeitiget haben
Cf. legtwillige Verfügungen), 2) Die Arten des Vermögenserwerbs
der Kirche find mannigfach. Außer demjenigen, was fie gleich anfänglich zu ihrer
Ausftattung befommen, kann fie noch aus verſchiedenen Anläffen und Rechtstiteln
mehr oder weniger reiche Zuflüffe erhalten, namentlich durch außerordentliche Ge—
ſchenke von befonderen Wohlthätern (ſ. Schenkungen); durch Erbſchaft, theils
mittelft ausdrücklicher Iegtwilliger Beftimmungen in Form von Teflamenten oder
Codieillen (f. Tegtwillige Verfügungen), oder als einzelne Vermächtniſſe
(ſ. Fideicommiſſe und Legate), theils mittelft gefeglichen oder obſervanz⸗
mäßigen Erbanſpruchs an geiftliche Verlaſſenſchaften (ſ. Inteftaterbfolge);
ferner durch Fundationen von Wochenmeffen, Jahrtagen und anderen Andachten
(f. Stiftungen und insbefondere Jahrtagsftiftungen); durch den Anfall
eines Theiles des Ertrags von Pfründen während ihrer Bacatur (ſ. Interealar-
gefälle); endlich durch Erfisung (f. Verjährung) ıc, 3) Die Frage, wem
das Eigenthum am Kirchengute zuſtehe, wird fehr verfchieden beantwortet,
Diefe Verfchiedenheit aber hat ihren Grund zunächſt in der dem Katholiken und
a
Kirhenvermögen, 187
Proteſtanten eigenthümlichen verfihiedenen Auffaffung und in der Verwechslung
der Begriffe des Eigenthums und der bloßen Nugniefung. a) Das Eigenthum
(proprietas, dominium directum) der den einzelnen Kirchen gemachten Widmungen
fteht nach Fatholifcher Anfiht der Geſammtkirche zu. Denn alles, was und in
welcher Weife es den einzelnen Kirchen zugewendet wird, iſt (wenn wir vorerft
son der befonderen Zweckbeſtimmung einer folhen Widmung abfehen) nach der
hoöchſten und legten Intention des Gebers Gott dem Herrn gewidmet, beffen
irdifcher Leib die Kirche in ihrer Allgemeinheit iſt. Nach Fatholifcher Anfhauung
gibt es Feine abfolut abgefchloffene, unter jelbfiftändigen Dberen und nad felbft-
ftändigen Sonderzwecken ftrebende firchlihe Gemeinden, auf welche der Ausdruck
universitates im römifch-politifchen Sinne paßte, Jene Stelle im Toleranzbeerete
des Heidnifch-römifchen Kaifers Licinius 312, welde das Kirchenvermögen als
Gefellfchaftsgut der einzelnen Kirchengemeinden, als res universitatum, bezeichnet,
fteht ganz vereinzelt da, und verfäwindet in der unabfehbaren Reihe von Aus-
fprüchen der Kirchenvaäter, der Concilien, der Päpfte und der hriftlichen, ſowohl
morgen- als abendländifhen Kaiſer, welche alle das Eigenthumsrecht des Kirhen-
vermögens einzig dem Herrn sindiciren, und in den Biſchöfen die zeitlichen Ver-
walter deffelben erblicken. Erſt die von proteftantifhen Canoniften, namentlich
von dem älteren Böhmer, eingefchlagene Tendenz, aus den vorriftlichen Zu-
ftänden des römifchen Reiches Confequenzen für die nachconſtantiniſchen Zeitalter
abzuleiten, und letztere nach den erfleren zu beurtheilen, erſt diefe ven Afatholifen
eigene Auffaffung der Hriftlichen Kirche als eines bloßen Aggregates von ifolirten
Kirchengemeinden, unterftügt von dem juriftifchen Materialismus neuerer Zeit,
der feine mit ihm verwachfenen Ideen des römischen Rechts au in alle Verhält-
niffe der Kirche Hereintrug, Eonnte fih darin gefallen, jede einzelne Kirhen-
gemeinde als felbftftändiges Rechtsſubject zu betrachten, und ihr das Eigenthums-
recht am Kirchengute zuzufprechen, ine ſolche Auffaffung aber widerftreitet dem
ganzen Geifte der wefentlich auf dem Principe der Einheit beruhenden Fatholifchen
Kirche. Es Hat ſicher nicht in der Abficht des göttlichen Stifters der Kirche ge-
Tegen, eine Vielheit von einzelnen rechtlich abgefihloffenen Gemeinden — jede
mit corporativer Selbftftändigfeit — zu gründen; und die Theilung der Gefammt-
firche in größere und Fleinere Diftriete (Diöcefen und Parochieen) hat offenbar
nur in der phyfifchen Nothwendigkeit einer folhen Abgrenzung ihren Grund. Nir-
gends weifet weder die ältere noch die mittlere Kirchengeſchichte ein Beifpiel auf,
daß eine Gemeinde fih Eigenthumsrechte am Kirchengute angemaßt, vder der
Biſchof oder Pfarrer fi anders denn als bloßen Verwalter deffelben betrachtet
hätten, Wäre das Loealkirchengut Eigenthum der betreffenden Gemeinde, ſo müßte
auch die Verwaltung deſſelben in ihre Hände gelegt und nicht ausſchließlich dem
für Chriſtus auf Erden ſtellvertretenden Sacerdotium anvertraut worden ſein, da
doch die Geſchichte aller Jahrhunderte bis in die neuere Zeit herab in conſtanter
Tradition bezeugt, wie immer und überall die Biſchöfe, und unter ihrer Reſpicienz
die Pfarrer an der Spitze dieſer Verwaltung geſtanden, und die allgemeinen
Normen der Verwaltung durch die höchſte geſetzgebende Auctorität in der Kirche
vorgezeichnet worden waren. Wäre das Kirchengut Eigenthum der einzelnen
Kirhengemeinden, fo wären von jeher alle Ineorporationen, Unionen, Suppref-
fionen, Theilungen als wahre Berlegungen der Privat-Eigenthumsrechte ſchlecht-
hin unerlaubt gewefen, während fie doch im Grunde nichts anderes waren, als
Veränderungen in der bloßen Adminiftration des allgemeinen Kirchenärars. Ya,
wäre das Kirchenvermögen wirklich Eigenthum der Gemeinden, fo hinderte nichts,
fi über das feit jeher beftehende Verbot der Veräußerung des Kirchenguts hin—
wegzufegen, und über die Subftanz wie über die Renten deffelben zu beliebigen
— aud etwa rein weltlichen Zwecken zu verfügen, Und in der That auch mußte
das Kirchengut erſt feines Heiligen Charakters entfleidet werden, um bie gewalt-
188 Kirhenvermögen,
famen Säeularifationen in Teutſchland und anderwärts durchzuführen. — Von
dem Eigenthumsrechte wohl zu unterfcheiden iſt b) das Necht des Nießbrauches
Cususfructus, dominium utile). Jede der Kirche zugewendete Gabe ift ein Weih-
geſchenk Gottes; aber der Früchtegenuß einer ſolchen Widmung kann allerdings
durch Die nähere Zweckbeſtimmung des Gebers oder Stifters auf eine beftimmte
- Gemeinde oder eine beftimmte Firchliche Anftalt beſchränkt, oder den Kirchen einer
Didcefe insgefammt oder eines ganzen Landes eingeräumt fein. Vermögensmaſſen
der letzteren Art find die hie und da durch weltliche Verordnungen entfiandenen
pber durch einfeitige, von der Gtaatsgewalt verfügte Centralifiung von Local-
ftiftungen gebildeten fog. allgemeinen Kirchenfondg, Neligivng-, Central- 20. Fonds,
Dergleichen Verfügungen fonnten wohl die Örenzen der Nusnießung erweitern,
aber weder die der Stiftung inhärirende Natur eines Gott geweihten Opfers ver-
ändern, noch den hierarchiichen Dberen das ihnen nach canonifchem Nechte ge-
bührende Verwaltungsrecht entziehen. 4) Was die wirklichen und zum Theil por»
geihüsten Rechte des Staates bezüglich des Kirchengutes betrifft, fo
legt a) ein allgemeiner Grundſatz des heutigen öffentlichen Nechtes dem Staate
die Befugniß bei, dem Gütererwerbe der Kirche beftimmte Schranken zu feßen,
und ihr theils die Acquifition von Immobilien zu erſchweren oder auch ganz zu
verbieten, theils den Erwerb von Capitalien nach einer quantitativen Beftimmung
von der Staatsgenehmigung abhängig zu machen (ſ. Amortifationsgefege),;
b) Ueber dag von der Kirche erworbene Gut kann der Staat Fein anderes Recht
anfprechen, als daß er deſſen Berwaltung und beftimmungsgemäße Verwendung
feiner Mitaufficht unterwerfe, — ein Recht, welches das chriſtliche Staatsober-
haupt vermöge feiner Stellung zur Kirche als höchſter Anwalt derfelben übt,
Zwar hat eine neuere Theorie das Kirchengut ohne weiters als Staatsgut, und
den Landesherrn als Eigenthümer deffelben erklärt, und mit ihr hat man nament-
lich die jüngfte Säcularifation in Teutſchland zu beſchönigen geſucht. Allein diefer
durchaus verwerflichen Lehre haben die neueften Gefesgebungen mit Recht in ihren
Berfaffungsurfunden die feierliche Zuficherung der Unverleglichfeit des Kirchen—
gutes entgegengeftellt, Ein eben fo entfchiedener Mißgriff it das aus dem an-
gemaßten Titel eines Mit- oder Obereigenthums des Staates ‚abgeleitete jpg:
Heimfalisrecht, wonach die Güter und Capitalien folder Stiftungen, deren Zweck
nicht mehr realifirbar ift, dem Staate zur beliebigen Verfügung anfallen: follten,
Auch diefes haben die neueften Stantsgefeggebungen verworfen, und ausdrücklich
erklärt, daß überall, wo die fliftungsmäßige Beftimmung nicht mehr erreicht wer—
den kann, die betreffenden Fonds und deren Nenten nur wieder zu ähnlichen
frommen und milden Zwerfen verwendet werben ſollen. c) Dagegen ift ver Staat
für den öffentlichen Schuß, den er der Kirche gewährt, ohne Zweifel berechtiget,
von ihr auch zu verlangen, daß fie zur Erleichterung der Staatslaften nach Ver—
hältniß ihres Vermögens beitrage., Gegenwärtig find die älteren Immunitäten
des Kirchengutes faft überall aufgehoben, Das Maß und die Befchaffenheit der
Befteuerung aber beflimmt das Particularrecht (ſ. Abgaben, Bd. 1. S. 35 f.)
I. Bon der Subftanz des Kirchenvermbgens und deffen Verwendung,
Das Kirchenvermögen läßt fih 1) fpecificiren in folche Gegenftände, welche
bei dem Dienfte des Herrn unmittelbar gebraucht werden, und daher ihre feier-
liche Beftimmung bald durch eine Confeeration (ſ. Weihung), bald durch eine
Benediction (ſ. Segnung) empfangen. Dadurch wird ihnen der Charakter ber
Heiligkeit und Unverleglichfeit verliehen, weßhalb fie auch heilige Sachen (res
sacrae) heißen (f. den Art, geiftlihe Sache). Ihnen gegenüber ſtehen bie ein-
fachen Kirchengüter (res ecclesiasticae genannt), welche mittelbar zu kirchlichen
Zwecken dienen, indem durch fie der Unterhalt der Geiftlichen und die Kirchen-
bebürfniffe beftritten werden, Unter ben Begriff kirchlicher Sachen werben endlich
auch die im Eigenthume der frommen Stiftungen (piae causae) befindlichen Güter
2 le a
Kirhenvermögen, 189
geſtellt (res religiosae), weil fie nach gemeinem Rechte unter ber Aufficht der
9 ſtehen. Jetzt hat zwar der Staat dieſelben größtentheils oder ganz der
unmittelbaren Aufſicht der Kirche entzogen; doch find ihnen die Rechtswohlthaten,
deren fie fih früher als Firchliche Inftitute erfreuten, in der Regel geblieben,
a) Von den heiligen Sachen unterfheiden wir erfiend die geweihten (res con-
secratae, f. den Art. geweihte Sach e). Dahin gehören: die Kirchen (f. Kir-
he), zunächft jene, in welchen das hl. Opfer dargebracht wird (ſ. Bafilifen,
Cathedralen oder Domfirhen, Eollegiatfirden, Pfarr- und Klofter-
kirchen); dann die Altäre (ſ. d. A), und die unmittelbar zur Feier der Meſſe
nöthigen Gefäße (f. Kelch und Patena). Eine andere Gattung der res sacrae
Hilden die gefegneten Sachen (res benedictae), namentlich die Nebenkirchen, Ca-
pellen und Dratorien (f. Bethaus), die Glocken (ſ. d. A), verfchiedene zum _
Altardienft nöthige Gewänder (f. Mefgewänder) und Utenſilien (ſ. Altar-
ſchmuck und Rirhengeräthe), dann die Begräbnißftätten (ſ. Kirchhof).
b) Die gemeinhin fo genannten Kirchengüter haben im Laufe der Zeit gar man—
nigfache Veränderungen erlitten. Anfangs beftanden die Kircheneinkünfte zunäch
aus den freiwilligen Oblationen der Gläubigen, Brod, Wein ꝛe., welche theils
bei dem jedesmaligen HI. Opfer auf den Altar gelegt, theild von Zeit zu Zeit in
Naturalien oder Geld dem Bifchofe behändiget, oder in die Rirchencaffe (Carbona)
gelegt, tHeils beim Empfang der Taufe oder bei andern religiöfen Acten geopfert
wurden, Eine befondere Art der Oblationen waren die der Kirche und ihren
Dienern an Gottes Statt dargebrachten Erftlinge der Feldfrüchte und Thiere,
eine bei den Sfraeliten gefeglihe Abgabe (ſ. Erftlinge), welche von den Ehriften
freiwillig nachgeahmt wurde, Diefe freiwilligen Reichniſſe haben ſich größtentheils
bis Heute — nur im veränderter Form — erhalten. Die Naturaloblationen- bei
der hf, Meffe verwandelten fi nach und nach regelmäßig in Geldfpenden, und
erhielten ſich Ken in der Form von freiwilligen Opfern und Mefftivendien
(f. diefe Art,). An die Stelle der beliebigen Gaben für andere farramentafe
Handlungen und fonftige gottesdienftliche Functionen traten die jetzt gefeglichen
oder durch Obfervanz firirten Stolreichniffe (f. Stolgebüßrenm). Die Primitien
dagegen und anderweitige Feine Opfer in Naturalien, wie fie ehemals beftanden,
famen allmählig ganz außer Gebrauch, oder haben fich zum Theil in der Geftalt -
freiwilliger Sammlungen erhalten (f. Eollecten). Mit der Emancipation der
Kirche und ihrer Erwerbfähigfeit mehrten ſich die Einfünfte derfelben bald auch
an liegenden Gründen und nusbringenden Rechten. Bon da ab unterfcheidet man
am Kirchenvermögem ce) das Dotalvermögen und die fpäteren Stiftungszuflüffe.
Das Vermögen nämlich, welches einer Kirche gleich bei ihrer Stiftung angewiefen
wird, um aus deffen Renten den feelforglichen Fortbeftand und die bauliche Inter-
haltung derfelben, fowie die Suftentation des dabei angeftellten Geiftlichen ficher
zu ftellen, Heißt die Kirchenmitgift (ſ. Dotalgut) im Gegenſatze zu den fpä-
teren Erwerbungen. Die eine wie die anderen Fünnen der Kirche theils in Capi-
talien, theils in Nealitäten, theils durch Meberweifung von Renten und Nusungs-
rechten zugewendet fein. Activcapitalien beliebte man ehedem für fünftigen Noth=
bedarf zurüczulegen, oder als unverzinslihe Vorſchüſſe an Hilfsbedürftige Kirchen
und andere milde Stiftungen auszuleihen, oder in Kirchenornamente, Pretiofen
oder Grundeigentum umzufegen. Heutzutage werden fie in der Regel verzinslich
angelegt, oder dafür vortheilhafte Realitäten Behufs rentirender Benügung an—
gekauft. Nicht felten famen auf dem Wege von Schanfungen, Verlaffenfchaften
und Verträgen auch Gewerbe, Zölle, Jagden, Fifhereien, Tafernen, Mühlen,
Holz - und Weide⸗Rechte ıc. an die Kirche, Die meiften diefer Rechte aber find
in Teutſchland durch die Säcularifation der Stifter, Abteien und Klöfter in welt-
liche Hände, theil$ an den Staat, theild an Privaten übergegangen, Eine andere
Duelle des Einfommens bildeten die verſchiedenen fländigen und nichtfländigen
190 Kirhenvermögen,
Renten und Reichniffe, welche die Kirchen aus grund- oder zehntherrlichem Titel
an Stiften, Gilten, Küchendienften, Scharwerken, Grund- und Bodenzinfen,
Handlöhnen, Laudemien oder Leibgedingen, Maierfchaftsfriften, Zehnten ze. be-
faßen. Diefe Dienfte und Gefälle find in jüngfter Zeit Behufs der Entlaftung
des Grundbefißes durch vertragsmäßiges Uebereinkommen der Betheiligten theilg
in fire Bodenzinfe verwandelt, theils von den Pflichtigen pder vom Staate gegen
verhältnigmäßige Entſchädigung abgelöst worden, Der größte Theil des Kirchen—
vermögens aber ruhte feit dem fünften Jahrhunderte auf Grundbeſitz, der theils
in Gebäuden, theil8 in grundherrlichen und nußbaren Ländereien beftand, In
erfterer Beziehung laſſen fih an den Cathedral- und Collegiatkirchen und Klöftern
die erzbifchöflichen oder bifchöflichen Nefidenzen, die. Stiftsprälaturen und Con—
ventgebäude, die Höfe der Dignitarien Ccuriae praepositi; decani ete.), die Häu-
fer der Dom- und Eollegiatftiftsheren und Präbendirten, die bifhöflihen Semi-
nare (seminaria clericorum, puerorum), die biſchöflichen und eapitlifhen Land-
bäufer, und die Klofterhöfe oder Dbleien mit den verſchiedenen Wirthfchafts-
gebäuden oder Maiereien; an den Parochialkirchen aber die Pfarrhöfe (Wohn- und
Deronpmiegebäude), die Beneficiatenhäufer, Mefnerwohnungen ꝛc. unterfcheiden,
Zu den bedeutendften VBermögensfubftanzen endlich gehörten noch die Gärten,
Felder, Wiefen, Waldungen, Weideplätze, Weinberge und andere Grundſtücke,
an welchen der Kirche entweder das Grundeigenthum oder die Nußnießung zufteht,
Bei den meiften diefer verfchiedenartigen Befigungen wird Die Kirche jetzt in der
Regel ganz nach den Civilrechten der betreffenden Provinzen und Länder beurtheilt,
Nur einige find theils durch die fingulären Rechtsgrundſätze, welde auf fie an-
gewendet werben, theils durch die eigenthümliche Stellung, in welche dadurch die
Kirche gefegt wird, ausgezeichnet, wie namentlich die Eirchlichen Precarien, Em—
phyteufen, Lehen und Zehnten (f. diefe Art.). — Was nun 2) die Verwendung
Des Kirchenvermögens betrifft, fo ift e8 ein von Anbeginn feftgehaltener und
burchgreifender Grundfag, daß das Rirchengut in feiner Subſtanz in der Negel 4
unangreifbar ift, und nur der Fruchtertrag oder Die Zinfen zu den genannten
Zwecken der Kirche verfügbar find. Anfangs und fo lange das Vermögen ber
bifhöflichen Kirche meiftens nur in den fog. Primitien und Opfern an Naturalien
und Geld befand, wurde daſſelbe nach Bedürfniß zur Unterhaltung des Gottes—
dienftes, des Bifchofs und feiner Elerifer, zur Unterflügung der Armen, Wittwen
und Waifen verwendet, Die Oblationen in Bictualien wurden — nad Abzug
des gottesdienftlichen Bedarfs — in täglichen oder wochentlihen Spenden (spor-
tulae), die Gelvbeiträge aber gewöhnlich jeden Monat, fo wie fie eingingen (di-
visiones mensurnae) vertheilt (c. 6. c. XXI. qu. I; Can. Apost. c. 4). Als fi
aber im Laufe des vierten und fünften Jahrhunderts die Kirchen in Städten und
auf dem Lande vervielfältiget, und in eben demfelben Maße auch das Bermögen
derfelben durch Grundbeſitz bedeutend ſich gemehrt Hatte, gefhah die Vertheilung
der Einkünfte regelmäßig in vier Theilen, wovon der eine dem Bifchofe, der
andere dem an der Kirche bebienfteten Clerus, der dritte den Armen der Ge-
meinde, ber vierte zur Beftreitung der Cultusbedürfniffe und der Kirchenbauten
beftimmt war (ec. 25>—29. c. XI. qu. 1). Vom fechsten Jahrhunderte an aber
wurde — anfänglich nur einzelnen Pfarrern und Prieftereonventen — auf dem
Lande die Nugnießung gewiffer Grundſtücke überlaffen (c. 61. c. XVI. ul;
11. 12. c. XVI. qu. I), bis zulegt feit dem neunten Jahrhunderte die Anweifung
von Zehnten und Ländereien zur Gelbftbewirthfchaftung an die Inhaber fländiger
Kirchenämter allgemein wurde, Noch war übrigens die alte BVertheilung ber
Kircheneinfünfte eine Zeit Yang diefelbe, fo daß aufer dem Theil, der dem Kir-
chenbeamten in fefter Bewidmung angewiefen war, ein Theil an die bifchöfliche
Kammer entrichtet, ein anderer Theil der Kirche für ihre Bebürfniffe, und ein
dritter den Armen Crefp, Armenanftalten und Klöftern) zugewenbet wurde, Da
a Ne VE
—
Kirchenvermögen. 191
jedoch in der Folge den Pfarrkirchen eine Menge Zehnten, gerade die ergiebigſte
Quelle ihres Einkommens, entzogen und dadurch die Pfründen der Seelſorger
bedeutend geſchmälert wurden, fo verzichteten die Biſchöfe in der Regel zu Gunſten
der letzteren auf ihren treffenden Antheil; und da einerſeits die Klöfter allmählig
ſelbſt durch übertragene Zehnten, durch Schanfungen und Vermächtniſſe, befonderg
durch Incorporation vieler Säcularpfründen zu folhem Wohlftand erblühten, daß
fie Hilfsbedürftige jeder Art zu unterflügen im Stande waren, andererfeitd bie
Privatwohlthätigfeit der Weltgeiftlichen, foweit nur immer ihr Einfommen es mög-
ich machte, der Armen fich thätigft annahm, fo fonnte auch die fürmliche Aus-
ſcheidung einer Armen-Duart wegfallen. Durch diefe Veränderung wurbe bie
gegenwärtig noch übliche Zerlegung des Geſammtvermögens einer Kirche in zwei
Maffen — in Pfründegut und Fabrifgut — herbeigeführt, Unter erſterem ver-
ſteht man jenen Antheil an den Einfünften einer Kirche, welcher dem angeftellten
Geiſtlichen als das mit feinem Kirchenamte verbundene Einfommen zur ftändigen
Nutznießung überlaffen ift (f. Beneficium ecel. und Dotation der Kirchen—
ämter); unter legterem aber begreift man jene Vermögensmaſſe einer Kirche,
deren Renten zur Deckung der Eultusbedürfniffe und zur baulichen Erhaltung des
Gotteshaufes beftimmt ift, und daher — mit Ausfhluß des Pfründevermögens —
das Kirchenvermögen im engeren Sinne heißt (f. Fabrica eccl.). Il. Bon
der Verwaltung des Kirhenvermögens. 1) Als den Berwalter des
Kirchengutes feiner Didcefe bezeichnen die Eoneilien fchon feit dem vierten Jahr-
bunderte den Bifchof, der Anfangs fih der Adminiftration und Bertheilung der
Einfünfte in eigener Perfon unterzog (ec. 5. c.X. qu. I; c. 23. e. XI. qu. 1), dann
aber nach der allgemeinen Vorſchrift des chalcedonifchen Eoncils hiefür einen
eigenen Deconomen aus feinem Clerus beftellte (c. 21. c. XVI. qu. VII). Mit
der nachhin eingetretenen Specialifirung des Kirchenvermögens, da erſt den Pa-
rochien, dann den Stiftern und Bilhöfen beſtimmte Bermögensmaffen zufielen,
änderte ſich nothwendig auch diefes Verhältniß, und es ging jegt die unmittel-
bare Verwaltung des Pfarrfirchenvermögens auf die Pfarrer über, welche die-
felbe mit Zuziefung einiger befonders hiefür verpflichteter Mitglieder der Kirchen-
gemeinde beforgten und darüber alljährlich bei der Bifitation der Didcefe dem
Biſchofe oder dem Archidiacon Rechnung abzulegen hatten (Carol. M. Capit. a. 779.
c. 7; Capp. Reg. Francc. Lib. I. c. 143), In den Capiteln fam die Verwaltung
des Stiftsgutes gewöhnlich an den Propft, an deffen Stelle fpäter manchmal der
Decan trat. Die Adminiftration der abgefonderten bifhöflichen Einfünfte oder
der mensa episcopalis führte regelmäßig ein Hausbeamter, der fog. Vicedominus,
Diefer, fowie der Vogt (advocatus), der die Intereffen der bifhöflichen Kirche
nach außen zu vertreten hatte, wurde vom Bifchofe ernannt (Carol. M. Capit. I.
a. 802. c. 13. Cap. Lothar. I. a. 824. c. 9), Seit dem 14ten Jahrhunderte findet
fih die regelmäßige Einrichtung, daß die Verwaltung des zur fabrica ecclesiae
beftimmten Antheils am Kirchenvermögen einigen hiefür beeidigten Männern der
Gemeinden übertragen wurde, Diefe unter dem Namen Rirchenväter, Heiligenpfleger,
Kaftenvögte, Kaftenmeifter, Kirchenpröpfte (vitriei, jurati, provisores, magistri
- fabricae) beftellten Adminiftratoren mußten jedoch über ihre Amtsführung jährlich
dem Pfarrer oder Decan genauen Nachweis geben, der fofort an den Bifchof oder
deffen Official zur Nevifion eingefchieft wurde (Conc. Trid. Sess. XXI. c. 9. De
ref.). In der neueften Zeit Haben die Staatsregierungen die unmittelbare Ver—
waltung des Kirchenvermögens den Magiftraten und Landgemeinden übergeben,
pder dafür eigene Verwaltungsausſchüſſe unter Mitwirkung der Pfarrer angeord-
net; die Oberaufficht und Leitung derfelben aber durchgängig nur Staatsbehörden
als fogenannten Euratelftelfen zugewiefen, den Bifchöfen aber überall nur eine mehr
oder weniger befhränfte Iheilnahme, zuweilen fogar — mit vffenbarer Verfen-
nung des Rechtes der Kirche — ein bloßes Erinnerungsrecht eingeräumt. Diefe
192 Kirchenvermögen.
Einrichtung, bei Loealkirchenſtiftungen auch ein Collegium von Gemeindegliedern
als Unterverwaltungsbehörden heranzuziehen, ſteht nur dann mit dem Geiſte der
kirchlichen Satzungen im Einklange, wenn ein ſolcher Ausſchuß ſämmtlich aus
Mitgliedern derſelben Religionsgenoſſenſchaft beſteht, und nicht in der Eigenſchaft
magiſtratiſcher oder landgemeindlicher Civil- oder Communalbeamten eingeſetzt,
ſondern aus eigens hiezu gewählten und verpflichteten Individuen unter ſtändigem
Vorſitz des Pfarrers conſtituirt if, Ebenſo ſollte die Oberaufſicht über dieſe
Localkirchenverwaltungen, ſowie die Adminiſtration der den Kirchen und frommen
Stiftungen eines Landes gewidmeten Centralfonds nicht von Staatsbeamten als
ſolchen, wie dieß jetzt noch der Fall iſt, beſorgt werden; in beiden Fällen aber
den Biſchofen das ihnen gebührende Recht, die Intereſſen der Kirchen zu wahren,
in ausgebehntefter Weife zuerkannt fein, 2) Ueber den Wirfungsfreig der
unmittelbaren Berwalter des Kirchenvermögens enthält a) das gemeine canonifche
Recht nur einige allgemeine Beflimmungen, Sie folfen in Allem auf den Vor—
theil der Kirche bedacht fein Ce. 2. pr. X. De donat. III. 24.), Unter diefer Vor-
ausfegung find fie befugt, Mobilien von geringem Werthe ohne weitere Förm-
lichkeit zu veräußern (co. 20. 58. c. XII. qu. II.); Grundſtücke auf nicht alfgulange
Zeit zu verpachten (Clem. c.1. De reb. eccl. non alien. III. 4.); uncultivirtes Land
zu Erbzinsrecht zu verleihen (c.7. X. De reb. eccl. non alien. IH. 13.)5 heim-
gefallene Lehen wieder zu vergeben Cc. 2. X. De feudis I. 20.), und erlofchene
Erbpachten wieder aufzurichten (Extrav. comm. c. un. De reb. non alien. III, 4).
Der Verwalter ſteht zur Kirche, deren Vermögen er abminifirirt, ganz in dem
Berhältniffe eines Vormunds zu feinem Mündel. Er muß daher au, wie diefer,
beeidiget werden, ein Inventar aufnehmen, und alljährlih dem Bifchofe Nech-
nung ftelfen (Glem. c.2. $ 1. De rel. dom. II. 11; Conc. Trid. Sess. XXI. c. 9.
De ref.), Er hat übrigens die nicht etatsmäßig zu verwendenden natürlichen
Früchte zu verwerthen, aufgefündigte oder freiwillig heimgezahlte Capitale in
Empfang zu nehmen, legtere, fowie andere Baarvorräthe unter gehöriger Sicher-
ſtellung (ſ. Hypothecarifhe BVerfiherung der Kirchendarlehen) verzing-
lich anzulegen, die ausftändigen Zinfen und. andere Präftationen (nöthigenfalls
- durch gerichtliche Nequifition) einzutreiben. Gemeinrechtlich hat zwar die Kirche
an dem Vermögen ihrer Schuldner weder eine gefegliche Hypothek, noch ein per-
fünliches Prioritätsrecht; wohl aber Haben ihr Staatsgefege in neuerer Zeit diefe
Bergünftigung eingeräumt (ſ. Hypothek, gefeglihe, der Kirde). In dem
Wirkungskreiſe der Kirchenverwaltung Tiegt auch die Auffiht über Die Kirchen-
gebäude und das Necht und die Pflicht, Fleinere Baufälle ungefäumt zu wenden,
über die Nothwendigfeit größerer und Eoftfpieligerer Reparaturen aber an ben
Bifchof zu berichten. Wie der Bormünder feinem Pupillen, fo ift auch der Kirchen—
verwalter zur Schabloshaltung verpflichtet, und die Kirche iſt rückfichtlich derſelben
durch ein ftillfehweigendes Unterpfandsrecht an deffen Bermögen gefichert. Ge—
ſchäfte, die er einfeitig. abſchließt, verpflichten die Kirche, falls daraus Die Ber-
bindlichkeit einer Zahlung entftünde, gar nicht (wie 3.8. c. 2. X. De solut. I. 23;
c. 4. X. De fidejuss. II. 22.); wenn aber eine Reftitution zu leiſten ift, nur dann,
wenn eine versio in rem nachgewiefen wird Cc. 1. X. De depos. III, 16.). Selbft
gegen eine an ſich rechtsbeftändige, aber die Intereſſen der Kirche verlegende
Handlung des Verwalters kann diefelbe fich in integrum reftituiren laſſen (ſ. Re-
stitutio in integr.), Endlich bedarf er zur Proceßführung Namens feiner Kirche
jedesmal der Genehmigung feines Bifchofes (des fog. Streiteonfenfes), womit er
fich zu legitimiren hat (f. Confens der Betheiligten), Ueber die Betheili-
gung des Patron bei der Verwaltung des Kirchenguts |, Patronatsredt
(Rechte des Patrons); über die Verwaltung des kirchlichen Pfründevermögens
durch den zeitlichen Inhaber des Kirchenamteg f. Beneficium eccl. b) Die
Partienlarrechte der teutfchen Staaten haben in allen vorgenannten Beziehungen
Kirhenvermögen. 193
nähere, den Gefchäftsfreis der Localfirchenverwaltungen befhränfendere Normen
gegeben. Namentlich find den Rirchenverwaltungen der Fleineren Städte, Märkte
und Dörfer bald in eigens zufammengefegten Stiftungscollegien, bald in den
Landgerichten und gutsherrlichen Beamten, den Stiftungsadminiftrationen größerer
Städte aber in den Provincial- oder Kreisregierungen fog. Curatelen aufgeftelft,
deren Zuftimmung fie bei Anfauf und Verpachtung von Realitäten, bei Neubauten
und Hauptreparaturen an Eultgebäuden, bei Ablöfungen des Dbereigenthums an
Erbpachtgütern und Lehen, bei Capitalsdarlehen und Aufnahme von Paffivcapita-
lien, bei Nachläffen und Moderationen der an die Kirche ſchuldigen Abgaben, bei
Zehntfirationen und Ablöfungen, fowie bei eigentlicher Veräußerung von Kirchen-
gütern zu erholen haben, Diefen Euratelbehörden find dann gemeiniglih für den
Fall, daß die Kauf-, Paht-, Ablöfungs-, Darlehens- zc, Summe einen gewiſſen
Betrag überfteigt, in den höheren und beziehungsweife höchſten Verwaltungs-
ftellen, den Provincialregierungen und Minifterien, fog. obere oder oberſte Cu—
ratelen vorgefegt, welche die von den niederen Curatelbehörden bereits bewilligten
Anträge und revidirten Rechnungen einer nochmaligen Prüfung und Superreviſion
zu unterwerfen haben. Ebenſo follen die von den Localfirchenverwaltungen ge=
fertigten Anträge, Etatsentwürfe, Rechnungen ze. dem biſchöflichen Ordinariate
mitgetheilt werden, damit diefes davon Einfiht nehmen und feine alfenfallfigen
Erinnerungen dagegen der einfchlägigen Obercuratelftelle übergeben kann, Jus—
befondere follten alle vbenerwähnten Fälle irgend einer Veränderung in den Ver—
mögensbeftandiheilen oder Renten geiftlicher Pfründen, bei denen der Biſchof
immer als Eollator betheiliget ift, nur nah vorgängiger Vernehmung des Bi—
ſchofs von den Dbercuratelen befchloffen und vollzogen werden. Vgl. für Oeſtreich:
Helfert, von dem Kirchenvermögen ze. Prag 1834, I. 8; für Preußen: allg.
ER, Th. I. Tit. 11. 5618. und die Fürftenthal. Samml. aller das (preuß.)
Kirhen- und Schulwefen betr. Gefege, Bd. I. S. 467 abgedrudte Verordnung;
für Bayern: Haberftumpf, die neuen (bayer,) Kirshenverwaltungen ıc. Sulzb.
18385 für die oberrheinifhe Kirhenprovinz: Longner, Darftellung der
Rechtsverhaͤltniſſe der Bifhöfe ıc. S. 315 ff. IV. Bon der Veräußerungdes
Kirhenvermdgens. 1) Nah canoniſchem Rechte iſt das Vermögen der
Kirche in der Regel unveräußerlich (c. 20. 25. 50. 51. c. XI. qu. II; c. 6. 12.X.
De reb. eccl. non alien. III. 9; Xvagg. comm. c. 1. eod. III. 4.). Unter Beräuße-
zung wird aber bier alles, was nicht Schon durch die Canones ausdrücklich der
freien Berfügung der Berwaltungsbehörden eingeräumt ift (ſ. oben III. 2. a.),
alfo nicht allein die wirkliche Hingabe eines Gutes durch Schenfung, Tauſch, Ver-
fauf (Nov. VIL c. 1. 5; 0.5. X. De reb. ecel, non alien.), fondern auch die zwan-
zig- und mehrjährige Verpachtung von Grundflürfen (Conc. Trid. Sess. XXV. e.
11. De ref.), die Verleihung eines neuen Lebens (ce. 2. X. De feud. III. 20.), die
Beftellung einer neuen Empbyteufis (ſ. d. A.) oder Erbverpadtung (c. 5. 9. 17.
X. De reb. ecel. non alien. Ill. 13, Sext. c. 2. eod. IH. 9.), Belaftung von Ser-
vituten (z. B. 1. ult. Cod. eod. IV. 51.), Einräumung einer Specialhypothek E.
21. Cod. eod.; Nov. VII. 5. 6; c. 5. X. eod. IH. 13.), alfo überhaupt jede Hand-
Jung verfianden, durch welche das Kirchenvermögen befchwert oder deffen Beftand
verringert würde. Nah allen diefen Richtungen Hin faun eine Veräußerung nur
ausnahmsweife geftattet werden und fegt vor Allem eine gerechte Urfache (justa
causa alienandi) voraus; erfilih, wenn Noth oder Pflicht gebietet, beifpielswerfe
zur Erbauung einer nothwendig gewordenen neuen, vder zur Reparatur einer
baufälligen Kirche (c. 6. X. De eccl. aedif. III. 48.), zur Bezahlung der von der
Kirche gemachten Schulden (c. 2. c. X. qu. I.), zur außerordentlichen Unterftägung
der Armen in Hungersnoth Cc. 70. c. XH. qu. IL), oder Losfaufung son Ge-
fangenen (c. 14.15. 16. c. XII. qu. IL), in welchem Falle fogar die res sacrae
angegriffen werben Dürfen dl. 21. Cod. De reb. ecel. non alien. IV. 51; Nov. CXX.
Kirchenlexikon. 6. Bo, 13
194 Kirhenvermögen.
©. 9.); zweitens, wenn für die Kirche ein augenfcheinficher Vortheil erzielt wird
(Ce. 52. c, XII. qu. IL), was da anzunehmen ift, wo die Kirche mehr und Befferes
erhält, als fie Hingibt. Aber auch in alfen diefen und ähnlichen Fällen müffen die
vorgefchriebenen Formlichkeiten (solennitates ecel.) beobachtet werden, namentlich
Die Nachweifung des dringenden Bedarfs und die Bewilligung des cumpetenten
Kirchenoberen, des Biſchofs, für welchen felbft dag Capitel sede vacante nicht
Handeln kann (Sext. c. 1. De reb. non alien. IM. 9.), Die Kirchengeſetze verlangen
aber eine forgfältige und genaue Unterfuchung von Seite des Ordinarius über
den Grund der Veräußerung und über das zu veräußernde Object (c. 52. c. MI.
qu. II, Sext. c. 1. cit.), ehe er feinen Confeng — und zwar in einem förmlichen
Veräußerungsdecrete — ausfpricht Cc. 8. X. De his quae fiunt a prael. III. 10.),
Bei der Veräußerung des einer Patronatsfirche gehörenden Gutes iſt auch die
Genehmigung des Patrons, und bei der Veräußerung von Gütern des Capitels
oder der Cathedrale, oder überhaupt des Bisthums die Zuftimmung des Capitels
nothwendig (f. Eonfens der Betheiligten und Conſens des Eapitels),
Endlich wenn mit dem bifchöflihen Menfalgut (mensa episcopi), deſſen freilich
jegt gar viele Bifchöfe in Teutſchland gar nicht Haben, eine Veräußerung vor—
genommen werden wollte, fo find die Bifchöfe wie ehemals (c. 8. X. De reb. non
alien.; c. 2. X. De feud. II. 20.) auch jegt noch durch ihren Subjectionseid ver-
pflichtet, die Einwilligung des apoftolifchen Stuhles zu erholen (ſ. Biſchof Br.
1. ©, 31). Dagegen ift die von Paul II. erlaffene Verordnung, daß zur Ber-
Außerung Firchlicher Güter überhaupt die päpftliche Genehmigung erfordert werde
(Xvagg. comm. c. un. eod. II. A.), in Teutfchland nie practifch geworden, Inter
den vorerwähnten Vorausfegungen aber Fonnen fogar geweihte Sachen und Im—
. mobilen angegriffen werden; es folfen jedoch in der Regel immer bewegliche
Sachen, felbft geweihte, vor Jmmobilien veräußert werben (Nov. XX. c. 10;
Auth. „Praeterea“ ad 1. 21. Cod. De ss. Eccl. I. 2.), Jede Veräußerung, melde
ohne gerechte Urſache oder mit Umgehung des onfenfes der Betheiligten,
worunter heutzutage allgemein auch die Zuftimmung der Staatsgewalt (der Cu—
Yatel- und refp. Obereuratelftellen) begriffen wird, vorgenommen wurde, hat nicht
allein Nichtigkeit des Geſchäfts zur Folge, und berechtiget die Kirche ohne weiters
zur Vindicationsklage Co. 6. 12. X. De reb. non alien. III, 13; Sext. c. 2. eod. IH.
9; Xvagg. comm. c. un. eod. Il. 4.), fonvern eg greifen auch perfönliche lagen
auf Schadenerfaß gegen den Veräuferer Pag Ce. 18. c. XI. qu. .), und felbft
nachfolgende Kirchenvorfteher können fich ihrer noch bedienen Ce. A. X. evd. II.
413.) Aber auch jene Nachtheile, welche die Kirche durch eine ex justa causa und
mit Beobachtung der gefeglichen Formen vorgenommene Veräußerung erleidet,
können durch das Geſuch um Wiedereinfegung in den vorigen Stand (f, Resti-
tutio in integr.) abgewendet werden. — 2) Die neueren Staatsgefeg-
gebungen haben die eben vorgetragenen Grundfäße des canonifchen Rechtes an-
erfannt, wenigftens im MWefentlichen, Nur ift es überall zunächft nicht mehr der )
Bifhof, von deffen Genehmigung die als nothwendig oder vortheilhaft nachgewie-
fene Veräußerung eines Firchlichen Vermögenstheiles abhängig gemacht if, fon-
dern die Staatsregierung als oberfte Verwaltungsſtelle. Sp in Deftreih (bis
in die jüngfte Zeit herein) die k. k. Hoffanzlei, an welche die betreffende Landes-
ftelfe die deßfalffigen Anträge mit gutachtlichem Berichte einzubringen hatte (Hof—
Tanzleid. 9. 30. Dee, 1806 und v. 27, Juni 1822), In Preußen ift bei Ver-
außerung ganzer Landgüter oder Häufer die Genehmigung der geiftlichen Departe-
ments nothwendig; bei einzelnen Gutsparzeffen ober bloßen Gerechtfamen reicht
auch der Conſens der unmittelbaren geiftlichen Oberen bin (Allg. L-R, Tb, I.
Tit. 11. $ 220.) Das bayerifhe Civilrecht (L-R. Th. T. Cap. VIE $ 13,
Nr, 1 ff. u. $ 36,) adoptirt die Beftimmungen des Decretalenrehts, bat aber :
die Gultigkeit und Erlaubtheit der Veräußerung zugleich an bie Genehmigung der
a a ee
Kirchenverſammlung — Kirchenviſitation. 15
- Euratel- und refp. Obereuratel-Behörden gefnüpft (Allh. Entſchl. v. 9. Dez. 1825
$ 63. 74, 82; revidirtes Gemeinde- Ediet 9, 1. Juli 1834 SH 12. 21). Im
Königreih Sahfen erteilt die Veräußerungsgenehmigung das Minifterium
des Cultus und des öffentlichen Unterrichts auf den durch die Mittelverwaltungs-
behörden hierüber erftatteten Vortrag (Inſtruct. der Kreisdirect. v. 20. Juni 1835
$ 6 lit. d). In Baden fünnen Güterveräuferungen und fländige Veränderun-
gen im nutzbaren Eigenthume der Kirche nur von der großherzoglichen Fatholifchen
Kirchenfection auf den durch das Amt an das Kreisdireetorium geftellten und
durch diefes an das Minifterium einbeförderten Antrag bewilligt werden (Inſtruct.
9. 16, Dez. 1326 nr. 15) ze. Die Bifhöfe find dabei in der Regel auf das
Recht befchränft, von beantragten Veräußerungen Kenntniß zu nehmen, und nö-
thigenfalls durch Gegenvorftellungen und Befchwerde das Intereſſe der Kirche zu
wahren, Nur Bayern hat nicht bloß ein ſolches Erinnerungsrecht der bifchöf-
lichen Steffen im Allgemeinen anerkannt, fondern auch die Wirffamfeit folcher
Remonftrationen bei allen wirklichen oder Duafi-Beräußerungen gefeslich ausge-
ſprochen, und insbefondere Erbverpachtungen oder auch die Beftellung einer Spe—
eialhypothef auf Kirchengüter ohne biſchöflichen Conſens als ſchon in formelfer
Hinſicht ungültig erklärt (Miniſt.Entſchl. v. 4. Mai 1832 und v. 21. Juni 1841),
Der ungehemmtefte Einfluß aber auf eine felbftftändigere Verwaltung des Rirchen-
vermögens ift dem Episcopate in Deftreich durch die füngfte Faiferliche Verord—
nung, die Freiheit der Fatholifchen Kirche betreffend, eröffnet, [Permaneder,]
Kirchenverfammlung, f. Synode,
Kirchenvifitation. Die firhlichen Dbern Haben fowohl das Necht als die
Pflicht, über die Befolgung der Firchlichen Vorföpriften zu wachen, und innerhalb
der ihrer Amtsgewalt angewiefenen Sphäre das fittlih religiöfe Leben ihrer
Untergebenen zu beauffichtigen. Deßhalb ift es nothwendig, daß fie fich entweder
perfönlich an Drt und Stelle begeben, um von den innern Zuftänden der ihnen
untergeordneten Gemeinden oder Eorporationen Einficht zu nehmen, oder dur
Bevollmächtigte fih darüber berichten zu laſſen (f. Berichte). Dieß thaten ſchon
die Apoftel, indem fie von Zeit zu Zeit die von ihnen gegründeten Gemeinden
sifitirten oder über diefelben fich bei zuverläffigen Perfonen erfundigten (Apoftelg.
15, 36. 1 Eor. 1, 11. Eoloff, 1, 4). Das Gleiche gefhah von ihren Nahfol-
gern, und zwar I. von den Bifchöfen innerhalb ihrer Didcefen, In den erften
drei Jahrhunderten zwar, in welchen es noch Feine befondern Landgemeinden gab
und jede Kirche unmittelbar unter der Leitung des Bifchofs fund, war das Be—
dürfnig zu einer befonderen Bifitation durch den Bifchof nicht vorhanden. Als
fih aber außer der Cathedralfirhe Landgemeinden zu bilden anfingen und die
Dideefen fih immer mehr erweiterten, wurde es als eine der erften Pflichten des
Bischofs betrachtet, von Zeit zw Zeit feine Didcefe zu durchreiſen und die ein-
zelnen Gemeinden zu vifitiren, Es ift befannt, mit welcher Gewiffenhaftigfert
und unermüdeter Sorgfalt 3. B. der HI. Auguftinus fih diefem Gefhäfte unter-
zog, fowie auch das Gleiche dem HI, Athanafius und Martin von Tours nachge—
rühmt wird. Im Driente fanden nach der Beftimmung einer Synode von Lao—
dieäa aus der zweiten Hälfte des vierten Jahrh. (347— 81) in größeren Sprengeln
dem Bifchofe eigene Reifepriefter (remodevreı, circuitores, ſ. d. A.) zur Seite,
deren Geſchäft die Viſitation der Landgemeinden gewefen zu fein fiheint (c. 5.
Dist. LXXX u. c. 42 $ 9 Cod. de epist. et cler. I. 3). In der abendländifchen
Kirche dagegen, namentlich in Spanien wurde darauf gedrungen, daß die Bi—
ſchöfe nach altherfommlicher Weife in eigener Perfon jährlich ihre Diöcefen vifi-
tirten c. 10 ©. X. qu. 1 (conc. Taracon. a. 516) c. 12 eod. (Con. Bracar. II.
a. 572), Nur in Berhinderungsfällen oder wegen Krankheit follten fie dazu zu⸗
verläffige Priefter oder Diaconen aufftellen c. 11 eod. Cconc. Tolet. IV a. 633).
Auf ähnliche Weife wurde auf fränfifhen Concilien und — —— die jähr⸗
196 Kirchenviſitation.
liche Vornahme der biſchöflichen Viſitationen gedrungen (ck. Cap. Carlom. (742)
c. 3. Capit. Pipini (744) c. 4; Capit. Carol. M. (769) c. 7. 8; Capit. Aquisgr.
(813) ce. 1; Capit. Synod. Tolos. (844) c. 4—6 in Ferd. Walter Corp. jur,
German. antig. Tom. Il. pag. 20. 30. 54. 261. Tom. III. pag. 17 sqq.), Bet feinen
Bifitationen unterfuchte der Bifchof die Amtsführung der Geiftlichen, die Bedürf—
niffe der Kirchen, fowie bie fittlichen und religidfen Zuftände der Gemeinden ; in
der Negel war mit der Bifitation zugleich die Ausfpendung des hl. Saeraments
der Firmung verbunden, Ihre weitere Ausbildung erhielten diefe Vifitationen
feit dem Ende des achten Jahrh. durch das Inftitut der fogenannten Send- oder
Synodelgerichte, wie dieß aus zwei Vifitationsorbnungen aus jener Zeit, der des
Hincmar von Rheims (opp. Tom. I. p. 716) und der des Regino (Lib. II, Gap. II. sqq.)
zu erfehen if. Denfelben zufolge wurde von dem vifitirenden Bifchofe zwei oder
drei Tage vorher der Archidiacon (ſ. d. U.) oder Archipresbyter (ſ. d. A.) in die
zu vifitirende Gemeinde geſchickt, um die Ankunft des Bifhofs anzumelden , und
die Parochianen zum Erfcheinen auf der Synode einzuladen, Um dem Bifchofe
theils fein Gefchäft zu erleichtern , theils um daffelbe abzufürzen, wurden von dem
Archiviacon im Namen des Bifchofs die minder wichtigen Gefchäfte bereinigt.
Der Bifchof wählte dann fieben oder auch mehrere unbefcholtene und glaubhafte
Männer als fogenannte Synodalzeugen oder Sendfchöffen (testes synodales),
welche nach geleiftetem Eide die verfchiedenften Fragen über den Zufland ber Ge—
meinde zu beantworten hatten, und die ihnen befannt gewordenen Sünden und
Lafter anzeigen mußten, Mit der Entwiclung und Steigerung der Amtsgewalt
der Archidiaconen gefihah es allmählig, daß diefelben innerhalb ihrer Sprengel
ein ordentliches Vifitationsrecht erlangten, nachdem fie ſchon früher zu denfelben
in VBerhinderungsfällen delegirt wurden (vgl, Ant. Schmidt, de synodis archi-
diaconalibus etc. in feinem Thesaur. dissert. jur. ecel. Tom, Ill. p. 314 sqq.).
Diefe fodann flellten wiederum innerhalb der fogenannten Chriftianitäten (ſ. Ar-
chipresbyter) als Commiffäre die Archipresbyter auf, oder räumten denfelben
ein ordentliches Vifitationgrecht über beftimmte Diftriete oder über Perfonen der
niedern Stände ein, Jedoch war es nicht felten der Fall, daß fih Perfonen aus
ven höhern Ständen den Bifitationen der Archidiaconen entzogen und auf einer
eigenen Sende unmittelbar unter dem Bifchofe zufammenfamen, und fomit nach
dem bürgerlichen Stande der Perfonen eine dreifache Art von Senden entflund,
Die Willfür und die Erpreffungen, die ſich die Archidiaconen auf ihren Viſitatio—
nen erlaubten, veranlaßten allgemeine Klagen auf dem dritten Lateranenfifchen Eoneil
(1179), weßhalb Alerander II. ihnen verbot, mehr als einmal im Jahre, außer-
ordentliche Falle ausgenommen, Vifitationen vorzunehmen c, 6X de officio archid.
dl. 23). Seit dem 13ten Jahrh. ging daher das Streben der meiften Synoden
dahin, die Amtsbefugniffe der Archidiaconen zu befchränfen und bie ordentlichen
biihöflichen Vifitationen wieder herzuftellen. Diefe hatten übrigens nie ganz auf-
gehört; dieſes beweist daſſelbe dritte Iateranenfifche Eoneil, auf welchem die Bifchöfe
gleichfalls vor Erpreffungen auf ihren Bifitationen gewarnt werben oc. 6 X. de
censibus (II. 39). Eine Synode von Würzburg (1287) co. 10 fihärft e8 den
Biſchöfen ein, jährlich oder wenigftens alle zwei Jahre ihre Didcefen zu vifitiren
und dabei zugleich das HI, Sarcrament der Firmung zu fpenden, Das Triventinum
bat in diefer Sache einzelne wichtige Beflimmungen erlaffen, und den Bifchöfen
aufs Neue die Vifitationen eingefchärft (Sess. XXIV ce. 3. de reform.). Daffelbe
verorbnete, daß jeder Didcefanbifchof entweder in eigener Perfon, oder in gefeß-
lihem BVerhinderungsfalfe durch feinen Generalvicar jährlich wenigſtens den
größten Theil feiner Didcefe und innerhalb von zwei Jahren die ganze vifiticen
müffe. Die Arhiviaconen, Decane und andere niedere Kirchenbeamte, welche
bis dahin die Vifitation gefeglich geübt haben, follen diefes mit Beiziehung eines
Notars mit Genehmigung des Biſchofs auch ferner, jedoch immer in eigener
Kirchenviſitation. 197
Perſon zu thun gehalten fein, Dem Biſchof bleibt es nichtsdeſtoweniger unbe-
nommen, auch noch felbft oder durch feinen Bevollmächtigten eine Viſitation vor—
zunehmen, fowie jene zugleich die Verpflichtung haben, innerhalb eines Monats
nach beendigter BVifitation einen umfaffenden Rechenfchaftsbericht nebft ſämmtlichen
Bifitationsacten vorzulegen (ſ. Berichte). Als Hauptfächlicher Zweck diefer Viſi—
tationen wird angegeben Erhaltung und Förderung der Neinheit der Lehre, des
Eultus und der Disciplin, Hebung des fittlich-religiöfen Lebens in den Gemeinden,
befonders aber Unterfuhung der Amtsführung und des Wandels der Geiftlichen,
Zugleich werden die BVifitatoren ermahnt, die Bifitation fo ſchnell als möglich
und auf möglichft einfache Weife vorzunehmen, um Niemanden unnöthige Koften
zu verurfachen und dabei firengflens verboten, außer einer einfachen und mäßigen
Procuration während der Dauer der Bifitation irgend etwas anzunehmen,
Denjenigen dagegen, welchen die Bifitation gilt, bleibt es unbenommen, ob fie
lieber wirklich die Procuration Ieiften, oder dafür die bisher übliche Tare bezah—
len; an folden Drten aber, wo bisher weder die Procuration noch eine Entfchä-
digung dafür üblich war, foll diefes fein Berbleiben haben. Wer in den genannten
Fällen etwas annehme und fordere, foll außer der doppelten Neftitution innerhalb
eines Monats nah c. 2. VI. de cens. (II. 20) auch noch mit andern Strafen
nah Ermeſſen der Provincialfynode beftraft werden (f. Abgaben Bd. I. ©. 32).
Endlich wird außer den regelmäßigen Bifitationen den Bifhöfen auch noch
das Necht eingeräumt, außerordentliher Weife, wenn und fo oft es nöthig,
ihre Bifitationen auch auf die erempten Capitel (Sess. VI. c. 4. de ref.) und an=
dere erempte Secularkirchen (Sess. VII. c. 8. de ref.), fowie auf die erempter
Klöfter bezüglich der ihnen außer dem Klofterbereiche zufländigen Seelforge
(Sess. XXV. c. 11. de ref.), ferner auf die erempten Frauenklöfter rückſichtlich
der Clauſur (Sess. XXV. o. 5. 9. de ref.), endlich auf die nicht unter unmittel-
barem Iandesfürftlihen Schuge ftehenden Armen- und Kranfenhäufer auszudehnen
Gess. XXI. c. 8. de ref.), Gegen die bifhöflichen Vifitations-Monita findet feine
Appellation Statt, jedenfalls hat diefelbe feine fufpenfive Wirkung (Sess. XII. c. 1.
XIV. c. 10 de ref.) Mit mufterhaftem Eifer fuchte namentlich der Hl, Carl Bor-
romäus (ſ. d. X.) diefe Beftimmungen des Triventinums zur Ausführung zu bringen,
wie es von ihm felbft Heißt, daß er in der Negel die Zeit von Pfingften bis Ad-
vent auf feine Bifitationen verwendet, und unter den größten Gefahren und Be-
ſchwerden fich diefem Gefchäfte unterzogen habe, Leider find die Beftimmungen
des Tridentinums binfichtlih der bifchöflichen Kirchenvifitationen, die einftens
30h. Gerfon den „cardo totius reformationis“ nannte, in neuerer Zeit in Teutſch⸗
land wenigftens größtentbeils außer Uebung gefommen. In Bayern allein ift mit
der Ertheilung der HI, Firmung zugleich die Didcefanvifitation verbunden, welche
vorſchriftmäßig alle zwei Jahre in der ganzen Diöcefe flattfindet, Es ift zwar
auch in andern teutfchen Didcefen die Berechtigung des Bifchofs zur perfün-
lichen Bifitation feiner Didcefe anerkannt, allein nur außerordentliher Weife darf
. er Gebrauch davon machen, und mußte bisher, wie in Deftreich und im Großher—
zogthum Sachſen, einen Iandesherrlihen Commiffär beiziehen, oder zuvor, wie in
der oberrheinifchen Kirchenprovinz, die Genehmigung der Staatsbehörde einholen.
Die prdentlihen Vifitationen werden durch die Decane alljährlich, bisweilen
aber auch bloß alle drei Jahre vorgenommen, die dazu von dem bifchöflichen Or—
dinariate mit Inſtruetionen verfehen find. Die amtliche Wirkfamfeit des vifiti-
renden Decans ift dann felbft wieder einer befondern Infpection unterworfen,
die entweder durch einen benachbarten Amtsgenoffen jährlich, wie in Deftreich,
oder alle fünf Jahre, wie in der Didcefe Mainz, durch ein Mitglied des Dom-
eapiteld oder einen andern Decan, oder alle drei Jahre, wie in der Didcefe Rot-
tenburg durch ein Drbinariatsmitglied und ein Mitglied des Föniglichen Fatholifchen
Kirchenraths vorgenommen wird, Zu eigenmächtigen Verfügungen find die unter-
198 Kirchenviſitation.
geordneten Viſitatoren, mit Ausnahme proviſoriſcher Maßregeln in eiligen Fällen,
nur in ſoweit berechtigt, als ihnen dieſes ihre Inſtruction geſtattet; in allen andern
Fällen haben fie zuvor befonders an bie geiftliche oder weltlihe Behörde zu
berichten, und von diefer eine Entfcheidung zu erwirfen. Sodann haben fie über
die Refultate der Viſitation entweder gleich nach deren Beendigung oder in einem
allgemeinen Bifitationsberichte jährlich dem Ordinariat Bericht zu erftatten (vgl.
die Dienftvorfhrift für die Landderhanten der Erzdibeeſe Coln vom 24, Februar
1827 in der Sammlung der wichtigften allg. Verord. u. ſ. w. Eöln 1837 ©. 45.
Für Oeſtreich: Helfert, von den Rechten und Pflichten der Bifchöfe Bd. 1. S. 430 ff.
Erz. Freiburg: Inftruction für die Decane vom 24, Febr, 1837 im Archiv für
die Geiftlichfeit der oberrheiniſch. Kirchenprov. Bd. I. 9, IV. ©, 287 ff. Mainzer
Diveefanftatuten von 1837 ©, 22 ff. Lang, Sammlung 20, ©. 530 ff. 668 ff.
Longner, die Rechtsverhältniffe der Bifchöfe in der oberrheiniſch. Kirchenprovinz
©. 191 f. Müller, Lexicon des Kirchenrechts d. A, Bifitationen), — II. Erzbi—
Thöflihe Viſitation. Wie die Bifchöfe innerhalb ihrer Diöceſe, fo übten Die
Metropoliten innerhalb ihrer Provinzen das Vifitationgrecht aus, Indeß hob das
achte allgemeine Eoneil (869 c. 19) für die Metropoliten diefes Necht auf, weil
ftarfe Klagen über Erpreffungen und Mißbräuche, die fie fih bei Ausübung des—
felben zu Schulden kommen Liegen, erhoben wurden. Im Abendlande wurde es
ihnen übrigens feit dem zwölften Jahrhundert wieder ausdrüdlih anerkannt
c. 16. X. de praescript. (II. 26), c. 14. 15. X. de cens. (III. 39). Auf dem vier-
ten Tateranenfifchen Coneil unter Innocenz II. wurde den Metropoliten beſon—
ders die Abhaltung der Provincialfynoden eingefchärft, und ihnen die Weiſung
gegeben, daß in jeder Didcefe eigene Synodalzeugen ernannt werben follten,
welche dann auf derfelben dem Metropoliten die gemachten Erfahrungen mittheil-
ten c. 25. X. de aceusat. (V. 1). Innocenz IV. erließ über die erzbifchöflichen
Bifitationen ausführlichere Beſtimmungen c. 1. VI® de cens. (II. 20). Diefen
zufolge hat der Erzbifchof zuerft feine eigene Didcefe, und dann erft die feiner
Suffraganen zu viſitiren; ferner darf er eine bereit$ ganz oder auch nur theil=
weiſe vifitirte Didcefe nicht früher einer neuen Bifitation unterwerfen, bis alle
Didcefen der Provinz der Neihe nach und feine eigene vifitirt find, Nach vollen-
deter Bifitation feiner ganzen Provinz kann er diefelbe nah eingeholtem Rathe
der Provincialfynode wiederholen, wenn auch diefe es nicht gerade für befonders
notbwendig halten follte, Bei der neuen Bifitation hat er in jener Gegend an-
zufangen, die von ihm bei der frühern übergangen wurde oder bei der fie am
meiften nöthig iſt. Uebrigens kann er zu jeder Zeit eine Bifitation vornehmen, wenn
ein dringendes Bedürfniß dazu vorhanden und er von feinen Suffraganen darum
erfucht wird; ift aber das Legtere nicht der Fall, fo bedarf er dazu der Erlaubniß
des hl. Stuhles, Bonifaz VIIL Hat dieſe Eonftitution von Innocenz IV. erneuert
und den Erzbifchöfen das Recht zu wiederholten Bifitationen beftätigt c. 5
Vlo- de cens. (II. 20). Das Tridventinum räumte zwar ebenfalls den Metropo—
liten das Necht zur Viſitation ihrer Provinzen ein, allein mit der Einfehränfung,
daß zuerft die Bifitation ihrer eigenen Didcefe beendigt fein müffe, aber auch
dann nur aus einem beftimmten Grunde, der zuerft dem Provineialeoneil zur
Kenntniß gebracht werden und deffen Billigung verlangt haben muß (Sess. XXIV.
c. 3. de ref.), Mit dem Aufhören der Provincialeoneilien mußten deßhalb noth—
wendig auch bie erzbifchöflichen Vifitationen außer Hebung fommen. Ein Verſuch,
diefelben wieder einzuführen, wurde in neuefter Zeit von den bei der Conſtitui—
zung der oberrheinifchen Kirchenprovinz betheiligten Staatsregierungen gemacht,
und zwar in der Weife, daß fich diefelben die jedesmalige Genehmigung zur Bor-
nahme einer Bifitation und nach Umftänden die Beiorbnung eines Iandesherrlichen
Eommiffärs vorbehielten (Frankfurter Kirhenpragmatif vom 3, Det. 1818 $ 13).
Allein der HI, Stuhl hat mit gerechtem Mißtrauen dieſe beabfichtigte Steigerung
Kirchenvogt, Kloſtervogt. 199
der Metropolitangewalt aufgenommen und ſich deßhalb nicht veranlaßt gefunden,
son den Beſtimmungen des Tridentinums abzugeben. — I. Papſtliche Bifi-
tationen. Wie den Biſchöfen innerhalb ihrer Didcefe, den Metropoliten inner-
halb ihrer Provinz, fo ſteht auch dem Papfte als der oberfien kirchlichen Auf-
figtsbehörde das Necht zu, Einficht zu nehmen von den Zufländen der einzelnen
Didcefen,, und zu diefem Zwecke Männer feines Vertrauens abzuordnen, die ihm
hierüber berichten und den Vollzug feiner Anordnungen, fowie der Kirchengeſetze
überhaupt überwachen. Diefes Recht übten früher die Päpfte durch ihre Legaten
ce. 17. X. de cens. (11. 39), c. 1. Extrav. comm. de consuet. (I. 1), deren Wirf-
famfeit bald eine fländige, bald eine vorübergehende war. Hebrigens gibt es Feine
regelmäßigen päpftlichen Bifitationen innerhalb der ganzen Kirche, wie z. D. die
jährlichen Bifitationen der Bifhöfe in ihren Diöcefen, fondern diefelben befchrän-
fen fih immer auf außerordentliche Fälle: Bisweilen wurden von den Biſchöfen
ſelbſt apoſtoliſche Viſitatoren verlangt, wie z. B. vom HI. Carl Borromäus für
die Dideefe von Mailand; er felbft wurde zum apoſtoliſchen Bifitator für Rhätien
und die Schweiz aufgeftellt. Die heutigen päpftlihen Nuntien haben weniger dem
Charakter fiehender Auffichtsbehörden, als vielmehr die Beftimmung, den diplo—
matifchen Verfehr der Höfe mit dem hl. Stuhle zu vermitteln, Durd ein über-
triebenes Miftrauen von Seite der weltlichen Regierungen iſt es dem kirchlichen
Oberhaupte vielfach unmöglich gemacht worden, eines feiner wefentlichften Rechte
in Ausübung zu bringen, fowie umgefehrt dur den gehemmten oder erſchwerten
Berfehr der Biſchöfe mit dem HL. Stuhle gleihfam die Lebensader unterbunden
wurde, durch welche die kirchliche Ordnung bedingt iſt. (Vgl. Thomassin, vet.
et noy. ecel. discipl. P. II. L. HI. cap. 77 sqq. Permaneder, Handbuch des kathol.
Kirchenr. $ 457 ff. Richter, Lehrbuch des Kirchenr, F 186 ff. Ferd. Walter,
Lehrbuch des Kirchenr. $ 187). [Khuen.]
Kirchenvogt, Kloſtervogt, nannte man im Mittelalter denjenigen Be—
amten, der eine Kirche oder ein Kloſter in weltlichen Angelegenheiten bei den
weltlichen Gerichten zu vertreten hatte, und zugleich innerhalb eines kirchlichen
Territoriums die bürgerliche Gerichtsbarkeit ausübte. Faſt dieſelbe Aufgabe hat—
ten ſchon in früheren Zeiten die fogenannten defensores ecclesiae und zum Theil
auch die Deconpmen, nur mit dem Unterfhiede, daß dieje beiden in der Regel
Elerifer, jene aber Laien waren (f.d. Art. Defensor und Kaftenvogt). Carl d. Gr.
verorbnete, daß in wichtigen Rechtsſtreiten von Firchlicher Seite an den Kaijer
das Erfuchen um tüchtige Nechtsgelehrte geftellt werde, die dann den Proceß zu
führen hätten (1. T. c. 308); in der Negel aber blieb: die Wahl des Kirchenvogts
dem Biſchofe oder den Klöftern überlaffen. Derfelbe hatte fein beſtimmtes Ein-
fommen, fowie ein Drittel von den Strafgeldern oder Schuldforderungen. Bis—
weilen fam es au vor, daß die Kaiſer einem Klofter das Privilegium ertheilten,
einen feiner Hofbeamten zum Rirchenvogte zu wählen, und feine Rechtsſtreitigkeiten
ausfhlieglih dem Hofgerichte zuwiefen, Wegen des ungeorbneten und unſichern
Rechtszuſtandes des Mittelalters fah fih die Kirche in der Lage, ihr Eigenthum
und Recht mit Gewalt gegen die Eingriffe raub- und habſüchtiger Nachbarn ver—
theidigen zu müffen, und fo Fam zu der obigen Aufgabe des Kirchenvogts die wei—
tere hinzu, nämlich die Vertheidigung der Kirchen und Klöfter gegen Anmaßung
und Gewalt. Zugleih hatte er im Namen der Kirche den Heerbann zu Jeiften,
und ihre Dienftleute (ministeriales) im Kriege anzuführen. Daher denn auch die
Unterfheivung zwifchen advocatus ecel. togatus (forensis, civilis) und advocatus
eccl. armatus, die aber öfters eine und diefelbe Perfon waren. Der Kirchenvogt
war bemnad zugleich Schirmvogt, und da derfelbe immer im Befige einer größern
‚Macht fein mußte, war derfelbe faft immer ein weltlicher Fürft oder auch der
Kaifer ſelbſt. Durch diefes Schugverhältnig erlangte dann auch der Kirchenvogt
ein gewiffes Hoheitsrecht über die feinem Schuge anvertrauten Klöfter, weßhalb
200 Kirdenwürde — Kirder.
3. B. Bifchöfe oder auch weltliche Fürften, wenn fie ein Klofter einem Abt
ſchenkten, fi und ihren Nachfolgern ausdrücklich die Ernennung des Kirchenvogte
oprbehielten. Diefes Schugverhältniß war oft auch ein mittelbares, indem 3.
ein Klofter einem benachbarten Eolfegiatftifte fih anſchloß, und auf diefe Weife
unter den Schuß des letztern geftellt wurde, das felbft wieder unter einem mäch—
tigern Schirmherrn ſtund. Uebrigens hörte die vben genannte Eigenfchaft des
Kirchenvogts, Vertreter der Kirche vor dem weltlichen Gerichte zu fein, nie ganz
auf; nur geftaltete fich das Verhältniß dahin, daß z. B. Kaifer oder Fürften, die
fih als Schirmvögte irgend einer Kirche oder eines Klofters erwählen ließen oder
fi als ſolche betrachteten, für die bürgerlichen Nechtsftreitigfeiten derfelben, und
dann je nach ihrer Entfernung auch zum Friegerifchen Schuge, Stellvertreter auf-
flellten, die man Untervögte (subadvocati) nannte, Bisweilen geſchah es fogar,
daß folche, welche bereits mit dem Amte des Kirchenvogts delegirt waren, wieder
Andere fuhdelegirten, was jedoch von den Raifern verboten wurde, Webrigens
war das Snftitut der Kirchenvögte für die Kirche gar oft das Gegentheil von
dem, was es fein follte; die Schirmpögte wurden für fie die härteften Bedrücker.
Schon das Eoneil von Mainz im J. 813 c. 50 machte es den Biſchbfen und
Aebten zur Pflicht, folde Schirmvögte zu wählen, welche einerfeits im Stande
feien, die Kirche vor Gewalt zu fohügen, und von denen andererfeits feine Gewalt
gegen fie felbft zu befürdten ſei. Dft ließen fie fi die größten Erpreffungen
und Unterfohleife zu Schulden fommen und beraubten die Kirchen und Klöfter
ihres Eigentums. Da ihr Amt in der Regel dur Gewohnheit auf den jeweiligen
Inhaber eines beftiimmten Gutes over Schloffes überging, wurde es nicht felten
in den adeligen Familien als Lehen betrachtet und deßhalb geradezu als Lehen .
an Andere verfauft, fo daß fich die Klöfter diefer Laft nur dadurch zu entledigen
vermochten, daß fie das Lehen felbft Fäuflich an ſich brachten. Im zwölften Jahr,
bedurfte e8 der ſtrengſten Cenfuren von Seite der Päpfte, fowie der Fräftigen
Unterftügung der Kaifer, um die Firchlichen Inftitute gegen die Gewaltthätigfeiten
ihrer Vögte zu ſchützen und fie von ihrem Drude zu befreien 23. X. de jure pa-
tronatus (II. 28) c. 12. X. de poenis (V. 37) c. 13. VIo* de electione (I. 6).
Vgl. Thomassin, vet. et noy. Eccl, discipl. II. L. II. cap. 55. Van Espen, J. E.
P.1: Ti: XXV: 6 4. [Khuen.]
Kirchenwürde, ſ. Dignität und Capitelswürden.
Kirchenzucht, ſ. Dis ciplinargeſetze.
Kircher, Athanaſius, Jeſuit, einer der ausgezeichnetſten Ge—
Schrten und fruchtbarſten Schriftſteller ſeines Ordens und feiner
Zeit, wurde 1601 zu Geyßa bei Fulda geboren, trat 1618 zu Würzburg in den
Drden der Zefuiten und wurde dafelbft zum Lehrer der Mathematif und Philo-
Sophie aufgeftellt, Yon da floh er vor den Schweden nah Frankreich, hielt fi
einige Zeit zu Avignon auf und fam dann nah Nom, wo er ald Profeffor der
Matbematif 1680 farb, Seine Schriften, voll Scharffinn und tiefer Gelehr-
ſamkeit, aber auch voll Sonderbarfeiten verbreiten fich vorzüglich über Mathe-
matik, Phyſik, Naturgefhichte, Kosmographie, Philofophie, Philologie, Geſchichte
and Archäologie. Darunter find Die vorzüglicheren: Praelectiones magnelicae;
mundus magnes; ars magna lucis et umbrae, ein ausgezeichnetes Werf; magia ca-
toptrica; primitiae gnomicae catoptricae; musurgia universalis; phonurgia nova;
obeliscus pamphilius; obeliscus aegyptiacus; oedipus aegyptiacus;; iter exstalicum ;
ınundus subterraneus, eine Schrift, woraus Buffon und Andere gefchöpft habenz
China illustrata; arca Noö; turris Babel; ars magna sciendi; polygraphia; La-
tium; scrutinium physico - medicum contagiosae luis, dem Papft Alerander VII.
Dedicirt und zu feiner Zeit fehr geſchätzt, etc. Zu feinen Erfindungen gehören
der ſogenannte maltefifche oder kircher'ſche Brennfpiegel, worüber er in feiner
Schrift „specula melytensis enoyolica“ Handelt, und der fogenannte kircher'ſche
Kirchgang — Kirchhof. 201
gbrunnen, wo ein Vogel fo viel Waſſer ſchluckt, als eine Schlange in ein
zecken ausfpeit. Außerdem Iegte er im römifchen Collegium das feinen Namen
ragende Mufeum an, welches er mit Maſchinen, Antiquitäten und Naturfelten-
heiten bereicherte, Kircher genoß zu feiner Zeit in ganz Europa großes Anfehen
und hatte mit allen Gelehrten Verbindungen, felbft mit einem Duirin Kuhlmann
(f. d. A.), den er zwar lobte aber auch warnte, mit feinen Wiffenfhaften nicht
fo viel Rühmens zu machen (f. Arnolds Rirchen- u, Kegerhift. Th. 3. Cap. 19,3).
Dagegen haben Moderne, die gar Manches aus Kirchers Schriften benüsten, ſich
vereinigt, feinen Ruhm zu verbunfeln, Kirchers Autobiographie nebſt Briefen von
ihm erfhien 1684 zu Augsburg im Drud, Seine zwei Drdensmitbrüder und
Zeitgenoffen, Fr. M. Grimaldı (+ 1663) und ©, Riccioli (+ 1671), beide
Profefforen zu Bologna, wovon der erfte die Beugung der Lichtftrahlen entdeckte
und der zweite die Geographie und den Kalender nach mathematifchen Grund-
fügen umzubilden anfing, ftanden mit Kircher in Verbindung. Vgl. Fellers Dic-
tionnaire hist. Art, Kircher, Grimaldi und Riccioli, [Schrodl.]
Kirchgang, ſ. Ausſegnung der Wöchnerinnen.
Kirchhof (atrium ecclesiae) heißt der um die Kirche nächſtgelegene, gewöhn—
lich durch eine Ringmauer abgeſchloſſene Raum, der feit dem vierten Jahrh. den
Ehriften regelmäßig zugleich als pfarr- oder orts-gemeindliche Begräbnißftätte
diente. I. Nach dem früheren heidniſch-römiſchen Rechte, dem auch die Chriſten
der drei erfien Jahrhunderte folgten, Fonnte ſich Jedermann feine Grabftätte
nah Gefallen wählen, nur nicht innerhalb der Städte (Fr. 3. $ 5. Dig. De se-
puler. viol. XLVM. 12). Daher fegte man die Leichen, um das Andenken an die
Abgeſchiedenen möglichft zu erhalten, gern in der Nähe von Landftraßen oder an
andern befuhten Orten bei. Die erften Chriſten erforen fich ihre Ruheſtätten
beſonders gerne an den Gräbern der Martyrer, wo fie von den überlebenden
Freunden fleißig befucht, und der Fürbitte der mit Gott triumphirenden Blut—
zeugen empfohlen zu werden hoffen fonnten (c. 19. $ 3. c. XII. qu. 2). Auch als
die Chriftenverfolgungen aufgehört hatten, und man die Reliquien der Martyrer
in die Kirchen der Städte überfegte, fuhr man fort, die Leiber der Abgeftorbenen
in der Nähe der Martyrer und anderer frommen Glaubenshrüder, jest alfo um
die Kirchen herum oder in den Vorhöfen und Kreuzgängen derfelben zu begraben,
da eine Beerdigung in der Kirche felbft — wie im Driente fo auch regelmäßig
im Abendlande — verboten (1. 6. Cod. Theod. De sepulchr. viol. IX. 17; Conc.
Bracar. I. ao. 561. c. 15, Conc. Nannet. c. a. 660. c. 6) und nur als befondere
Auszeichnung den Bifhöfen, Aebten, verdienten höheren Geiftlichen, fürftlichen
oder ſonſt hochanſehnlichen Perfonen und den Stiftern der Kirchen geftattet war
(Cone. Mogunt. ao. 813. c. 52, Conc. Meldens, ao. 845. c. 72). Sp entftanden
allmählig im nächften Umfreife der Pfarr- oder Hauptfirche die gemeinfamen
Ruheſtätten, welche daher Kirchhöfe (atria ecclesiae) , oder im tropifchen Sprach—
gebrauche Stätten des Friedens (Friedhöfe), auch Freithöfe d. i. gefreiete
Höfe, weil an dem Afylrechte der Kirchen (f. diefen A.) participirend ; deßgleichen
Schlaf- oder Ruheftätten (zorumrrjore, coemeteria, dormitoria) und Gottes-
äcker hießen, Ueber den Urfprung der chriftlichen Leichenbeerbigung, über die
Vorbereitungen und die bürgerliche und rituale Feier des kirchlichen Begräbniffes
ſ. Begäbniß, chriſtliches, Bd. I. ©, 734 ff. — II. Neben ven Leichenbeftat-
tungen auf dem gemeinfamen Kirchhofe erhielt fi die fihon von den Alten für
ſchicklich erachtete Sitte, fih an der Seite ver Seinigen begraben zu laſſen (e. 2.
- 3. c. XII. qu. IL; c. 1 X. De sepult. II. 28), in fortwährender Uebung (f. Fa—
miliengrabftätten Bd. II. ©. 894 ff). Auch ließen Viele fih in der Im-
gebung von größeren Kirchen, Stiftern und befonders Klöftern beerdigen, weil
da die für die Abgefchiedenen geftifteten Wochen- oder Jahr-Meſſen leichter per-
folsitt werden Fonnten, Nur mußten in diefen Fällen, wenn das Begräbniß nicht
202 Kirchhof.
bei der Pfarrkirche flattfand, an diefe ein beftimmter Theil der Vermächtniſſe,
welche der Berfiorbene dem gewählten Stifte oder Kloſter widmete, abgegeben
werben (eo. 1.2.4. 8. 10. X. De sepult. III. 28; Sext. c. 2. eod. III. 12). Die
Größe diefer Abgabe an die Pfarrkirche richtete fich nach dem Iocalen Herfommen
Ce. 9. X. eod. II. 28), wo aber diefes nicht entfchied, betrug fie gemeiniglich den.
4. Theil, dieQuarta funeraria (f, Abgaben) genannt (Clem. c.2. De sepult. III. 7.) —
II. Abgefehen von den Fällen, wo Staatsgefege die Verweigerung der firchlichen
Beerdigung als Strafe beftimmen (vgl, 3. B. Oeſterr. Strafgefegbuh Th. I.
88 143. 150, Th. IL $ 925 Preuß, allg. Landrecht Th. I. Tit, 20 $ 803 f.,
Criminal⸗Ordn. $ 5505 Bayr, Ally, Entfohl, v. 16, Apr, 1820, v. Nov, 18455
Churheffen R. A. vom 29, Jänner 1818, $$ 2, 3. 20.) ift durch die neueren
polizeilihen Verordnungen alferwärts das Begräbniß auf dem Kirchhofe zu einer
Nothwendigfeit geworben, fo daß in praxi der Kirche nur noch dieß belaffen
ift, bei Begrabung öffentlicher unbußfertiger Verbrecher ihre Mitwirkung zu
verweigern, Dieß ift wenigflens im Allgemeinen noch von den meiften Staat$-
gefeßgebungen anerfannt, und muß ihr fortan überlaffen bleiben, Es bat daher
jedes Mitglied der bürgerlichen Gemeinde, ohne Unterfchied des riftlichen Be—
kenntniſſes, Anfpruch auf den gemeinfamen Ortsfichhof; aber Fein Geiftlicher
fann gezwungen werben, das Begräbniß eines fremden Neligionsgenpffen nach
den Feierlichkeiten feiner Kirche zu verrichten. Ebenfo mag jede öffentlich aufge-
nommene hriftliche Kirchengemeinde bei ihren Leichenfeierlichfeiten fih Cwie dieß
3. B. in Bayern geſetzlich ausgefprochen iſt) der Glocken auf dem Kirchhofe gegen
Bezahlung der Gebühren bedienen, Der Natur der Sache gemäß find aber hier—
unter die auf den Rirchhöfen in den eigentlichen Gpttesader - Kirchen und Kirch—
hof-Capellen befindlichen Glocken d. 1. das Kirchhofgeläute zu verſtehen; nicht
aber fünnen die Glocken der auf dem Lande gewöhnlich in Mitte des Kirchhofs
ftehenden Fatholifchen Pfarrkirchen, alfo das volle Pfarrkirchengeläute von einem
Afatholifen beanfprucht werben, Näheres über den Simultangebraud der Kirch—
höfe von Seite verfhiedener hriftlicher Neligionsgenoffenfchaften geben die par-
tieularrechtlihen Beftimmungen der teutfehen Staatsgefeggebungen. Ein folches
Simultaneum zwifchen Katholifen und Mfatholifen ift vom Standpunete des ca=
nonifchen Rechtes aus fehlechthin verwerflich Ce. 1. c. XXIV. qu. Il.; c. 12, pr. X.
De sepult. II. 28). Auch hier, wie bei den Communficchen verfihiedener Con—
feffionen, war es nur der Iocale Nothftand, der Anfangs da, wo eine Ausfcheidung
der materiellen Erigenzen der verfchiedenen Rirchengefelffchaften zur Befriedigung
ihrer Cultbedürfniffe unthunlich war, zu vertragsmäßigen Vereinbarungen trieb,
und die im Leben kirchlich Getrennten nach ihrem Tode in gemeinfame Ruheſtätten
vereinigte, bi8 es allmählig den modernen Örundfäßen einer laxen Kirchen-
disciplin gelang, die hohe katholiſch-dogmatiſche Bedeutſamkeit des kirchlichen
Begräbniſſes als einer auch über das Grab hinaus fortgefeßten communio in sacris
zwifchen den Lebendigen und Abgeftorbenen mehr und mehr in Vergeffenheit zu
bringen, — IV. Für todtgeborne oder vor empfangener Taufe verfiorbene Kinder
mußte entweder ein gefonderter Friedhof außer dem Umfang des gewöhnlichen
Gottesackers hergeftellt, oder doch in Teßterem eine befondere Abtheilung für ſolche
ausgemittelt und durch eine Feine Einfriedung von den übrigen Grabftätten der
bereit der Kirche einverleibt gewefenen Mitglieder gefchieden werben (Statut,
Colon. ao. 1662, in Hartzheim. Coll. Conc. Germ. T. IX. p. 1003). „In ambitu
ejusdem (coemeterii) paretur locus separatus, muro cinctus et clausus, non con-
secratus pro parvulis sine baptismo decedentibus.‘“ (Epitome constitutionum ecel,
pro archidioec. Monaco -Frising. ao. 1826 recognita, P. II. c. 1. $.4 nr. 125) in
der Generalien- Sammlung der Erzdideefe München-Freyfing, Bd. I. (Münden
1847 gr. 4.) ©, 681, Diefes mit dem Fatholifhen Dogma zufammenhängende
Statut, welches in Bayern weder durch eine allgemein geltende Landesverordnung
Kirchliche Sache — Kirchweihe. 203
abrogirt, noch aus polizeilichen Rückſichten beanſtandet (Bayer, Miniſt. Reſer.
v. 20. April 1837, in Döllingers Verordn. Samml. Bd, VIH. ©. 1177 $ 1302),
und daher in neuefter Zeit durch das erzbifhöfliche Drdinariat München-Freyfing
wiederholt angeregt worden ift (Drbinariats-Erlag v. 19. Juni 1843 Nr. IL. b.
in der erwähnten Generalien - Samml. S. 540), ift in Deftreih (Hofdeer. vom
31. März 1785), Preußen (allg. L. R, Th. U. Tit, 11. $ 472), Würtemberg
(Reggsbl. v. 1814 Nr. 17. ©, 149) ausdrücklich abgeftellt. — V. Die Kirch-
böfe werden ihrer religiöfen Beftimmung wegen, alfo auch da, wo fie (wie in
Städten und Märkten und überhaupt bei größeren Pfarrgemeinden) aus fanitätg-
polizeilicher Rückſicht von den Pfarrfirhen abgetrennt und außer die Städte ver-
Vegt worden find, feierlich eingefegnet. Der altübliche Ritus ift bei Martene,
De antigg. eccl. ritt. Lib. H. c. 20 befchrieben, und in den Didcefanritualen ent-
halten, Was von der Beflefung und Neconeiliation der Kirchen und Altäre er-
innert wurde (f. Entweihung, Bd. II. ©, 601 f.), gilt auch von den Kirch—
höfen. Da, wo der Friedhof noch die Kirche umschließt, wird durch eine Befleckung
der Kirche zugleich der Kirchhof als polluirt betrachtet, und muß daher auf's Neue
gefegnet werden; nicht aber wirft die Beflefung des Kirchhofes auf die Kirche
zurück (Sext. c. un. De conseer. ecel. III. 21) — VI. Die Herftellung und Unter-
haltung des Kirchhofes Tiegt da, wo er wirklich um oder an der Kirche Liegt,
alfo buchſtäblich ein accessorium ecclesiae bildet, und unter der weiteren Boraus-
fegung, daß die Gebühren für die Begräbnißpläge an die Kirche entrichtet wer-
den, auch in der Negel diefer allein mit Ausfchluß aller anderweitigen Eoncur-
renzen ob, Anderſt geftalteten fih die Verhältniffe vielfach in den Städten,
Märkten und anderen volfreiheren Ortſchaften, feitdem die Transferirung der
Friedhöfe aus dem Bereiche derfelben angeordnet iſt. Hiebei entfcheidet das Par-
tieularreht und Herfommen, Dan vgl. 3.2. für Deftreih: Helfert, von
der Erbauung ꝛe. der kirchlichen Gebäude, II. Aufl, S. 213 ff; für Preußen:
allg. U R. Th. I. Tit. 11. SS 183, 190. 761 — 7635 für Bayern: neues
Umlagegefeg vom 22, Juli 1819 Art, I. lit. b. nr. 7, im Gef. BL, 1819 St. VI.
col. 86. u. f. w. Größtentheils werden Heutzutage die ifolirten Friedhöfe aus
den Gemeindecaffen, denen aber auch die Taren für die Begräbnifipläge zufließen,
angelegt und unterhalten, Wo für Katholifen und Afatholifen ein gemeinfamer
Kirchhof befteht, tragen die Afatholifen, wenn fie eine eigene Abtheilung davon
innehaben, auch nur die Koften der Anlage und Unterhaltung diefes Antheils nebft
einem verhältnigmäßigen Beitrag zur gemeinfamen Umfangmauer ; außerdem con-
tribuiren fie pro rata in demfelben Maße wie die Katholiken. Aehnliches gilt von
der Errihtung und baulichen Erhaltung der auf den Kirchhöfen volkreicher Stadt-
gemeinden aus fanitätspolizeilihen Gründen eingeführten Leichenhäufer (f. Lei-
Hen-Beifeghänfer). Vgl. biezu auch den Artifel: Grab, das hriftliche, und
in Betreff der Grabberaubung den Art, Sacrilegium. [Permaneder.]
Kirchliche Sache, f. geiftlihe Sache.
Kirchipiel, f. Pfarrei.
Kirchweihe. Diefer Ausdrud bezeichnet dreierlei: I. den Act der Weihe
einer Kirche; I. die gefammte, mit diefer Weihe verbundene liturgiſche Feierz
IM. die jährliche Gedächtnißfeier der Einweihung einer Kirche, — I. Die fichere,
biftorifche Beglaubigung für den Gebrauh der Einweihung der Kirchen haben
- wir ziwar erfi von ber Zeit an, als der große Conftantin der Kirche die Freiheit
geſchenkt. Indeß wenn auch beftimmte, äußere Zeugniffe für ein höheres Alter
dieſer Weihe abgehen, fo doch Feineswegs innere, Denn es ift nicht wahrfchein-
lich, daß man fih im Altertfum nicht follte gerichtet Haben nach den Vorgängen
des alten Bundes, Genef, 28. III. Reg. 8, 8. 1. Esdra. 6, 16 ff. Wenn ſodann
felbft die Heiden, gezogen von einem gewiffen Schielichfeitsgefühle, durch ihre
Priefter und Bolfstribunen ihre Steine, Statuen ꝛc. weihen Tiefen, fo gilt wohl
204 Kirhweihe
Aehnliches für die älteften Chriften in Betreff ihrer Kiturgifchen VBerfammlungs-
häufer , die fie fo Heilig Hielten, Wenn Baſilius (J. I. de Bapt. qu. 8) son der
Feier der chriftlihen Geheimniffe an ungeweihten Stätten abmahnt, fo mag wohl
eine ſolche Sprache und eine diefen Grundſätzen conforme Praxis auch in den
frühern Zeiten geherrfcht Haben. Auch ift die Sprache, welche uns feit dem
vierten Jahrhundert in den Zeugniffen für den Gebrauch diefer HI. Handlung be—
gegnet, der Art, daß fie ein höheres Alter vermuthen läßt. Bona ift dieſer Mei-
nung und fucht fie auch durch äußere Zeugniffe zu unterftüßen (Rer. liturg. 1. I.
c. 19). Das erfle, unzwerdeutig forechende Zeugniß für den allgemeinen Ge-
brauch der Kirchweihung bietet Eufebiug, „Post haec,“ fihreibt er, „votivum nobis
ac desideratum spectaculum praebebatur, dedicationes sc. festivitas per sin-
gulas urbes, et oratoriorum recens structorum consecrationes“ (h. e, 1. X. c. 3),
Derfelbe gibt auch Schilderungen über die Art und Pracht, womit einzelne Kir-
chen, 3. B. die in Jerufalem (vit. Constant. 1. IV. c. 43) geweiht wurden. Bom
vierten Jahrh. an könnten Zeugniffe in Fülle für den Gebrauch der befprochenen
Weihe angeführt werden; e8 genügt aber die Bemerfung, daß dieſer Gebrauch
bald fogar Gegenftand der Firchlichen Geſetzgebung geworden, in der Weife, daß
bis zur Stunde eine Kirche, in welcher celebrirt werden will, confeerirt ober
mindeftens benedicirt fein muß; nur mit Erlaubniß des Bifchofs darf für den
Nothfall auch außerhalb einer Kirche, jedoch auf einem eonfeerirten Altar die HI,
Meffe gelefen werden. — Das Ceremoniell diefer hl. Weihe, fo erhebend
und entfprechend dem Gegenftand es immer gefchilvert wird (Euseb. h. e. 1. X.
c. 3) unterlag natürlich der gefehichtlichen Entwicklung, bis e8 im römifchen Pon=-
tiftcal feinen Abfchluß erreichte, Wie hoch man fehon im vierten Jahrh. in dieſem
Puncte den Ritus der römiſchen Kirche ſchätzte, erhellt aus dem Briefe des HI,
Ambrofins an Marcellus: „Cum ego basilicam dedicare vellem, multi tanquam
uno ore interpellare coeperunt: Sicut in Romano, sic Basilicam dedices. Re-
spondi: Faciam, si mariyrum reliquias invenero.* Hieraus fehen wir, daß unter
Anderm die Berfegung von Reliquien einen Hauptbeftandtheil bildete, wozu
nah Gregor I., der die Kirchen mit den gehörigen Leremonien eingeweiht .
wiffen will Cl. 14. ep. 17), die Befprengung der Tempel mit geweihten Waffer
Cl. 11. ep. 76. cf. Beda hist. Angl. 1. V. c. 4), nach Anderen verfihiedene Sal-
bungen und Gebete (unter welch’ Teßtern bei Auguflin serm. 336 und 337 der
109, Pfalm genannt ift), nach dem Sacramentar Gregor's die doppelte Einzeich-
nung des lateiniſchen Alyhabetes Fam, Fixirt finden wir den Ritus der alten
Kirhe im Sacramentar Gregor's, die weitere Entwiclung in den verfihledenen
Ordines, deren Martene aus verfchievenen Zeiten und Didcefen einige gefammelt
hat, De antiq. Ecel. Ritib. 1. IL. c. XII. Ihr Verhältniß zu einander erklärt ſich
aus dem Entwiclungsgang, den die abendländifche Liturgie überhaupt nahm: im
Allgemeinen find es diefelben Ceremonien, nur verfchiedene Pfalmen, Antiphonen
und Drationen, Das römifche Pontifical hat die alten Gebräuche mit Abände-
rung einiger und Zufügung einer Heinen Anzahl anderer beibehalten, Das Ur-
theil eines Sachverftändigen über den Ritus der Kirchweihe lautet: „Unter allen
feierlichen Gebräuchen der Kirche, die zum Frommen der Gläubigen eingefegt
find , übertrifft faum ein Ritus den der Kirchweihe. Dan betrachte ven Gegen-
ftand der Weihe felbft, oder die Menge der damit verbundenen Gebräuche oder
die Würde der Rirchendiener: alles haucht einen heiligen und der Neligion Chriſti
geziemenden Geift, wodurd auf wunderbare Weife das Gemüth vom Frdifchen
zum Himmlifchen hingezogen wird“ (Martene 1. c. $. 1). Dem Ritus der grie-
hifhen Kirche, welcher fih mit Ausnahme der Beräucherung der Kirche und
Salbung der Wände oder Säulen der Kirche, größtentheils auf die Weihe des
Altares befchränft (ſ. Goar. Euchologium p. 832—844), geht, trog der mannig-
fachen Aehnlichfeit mit dem der römifchen der Reichthum der großartigen Symbolik
Kirchweihe. 205
des letztern ab. Die im Pontifical bezeichneten Gebete und Ritus bilden nur,
was man die forma der Weihe, dieſe als Sacramentale gefaßt, nennt. Gegen—
ſtand der Weihe ift die auf dem befonders gefegneten Grundſtein (ſ. röm. Pon-
tificale: De Benedictione et Impositione primarii lapidis eto.) vollendete oder der
Bollendung nahe Kirche. Minifter ift der Biſchof. Die Ritual- und Pontifi—
calbücher ; die älteften wie die neueften, erwähnen zwar bloß eines Biſchofs;
es ift indeß gewiß, daß ehedem wenigftens zur Weihe vornehmerer Kirchen. meh—
rere Bifchöfe berufen wurden, Zur Weihe der Kirche in Jerufalem wurden alle
auf dem Coneil in Tyrus anwefenden Bifchöfe von Eonftantin geladen, Weitere
Zeugniffe für den Orient, wie auch für den Deeident f. bei Martene J. c. $ 3.
Sie waren zwar feineswegs bloß Zeugen der Weihe, fondern coadjutores dedi-
cationis; doch war einer und zwar der Didrefanbifchof der consecrator principalis
1.0. $5. So ift es noch heut zu Tag; indeß kann der Biſchof jedem Priefter
die Vollmacht erteilen, eine Kirche zu benediciren, in Folge deifen fie auch
vor der Eonfecration zum gottesdienftlihen Gebrauche dienen kann. Der in jedem
Ritual fih findende Benedictionsritus ift natürlich viel einfacher, doc der Art,
daß er die dem Tempel des Herrn fihuldige Ehrerbietung immerhin zu pflanzen
geeignet if. Die Wirkungen diejer Weihe gibt Thomas Aqu. (Summ. P. UL
qu. 83. art. IL) dahin an: ecolesia et altare — ex consecralione adipiscuntur
quandam spiritualem virtutem, per quam apta redduntur divino cultui, ut sc. ho-
mines devotionem quandam exinde pereipiant, ut sint paraliores ad divina, nisi
hoc propter irreverentiam impediatur. Die Weihe wirft alfo mit andern Worten
die zuborfommende Gnade zu hl. Arten der Anbetung, zu der Sehnſucht nad
dem ewigen Tempel ꝛc. Auch führt Thomas als wahrfcheinlihe Meinung an,
daß man durch den andächtigen Eintritt in eine geweihte Kirche Nachlaffung läß—
licher Sünden erlangen fünne, und endlich erwirfe fie Befreiung von dem Andrang
dämoniſcher Gewalten, Neben der bezeichneten Haupibedeutung diefer Weihe darf
aber das untergeordnete, fymbolifche Moment an ihr nicht unberüdfichtigt bleiben,
Es Liegt dieß in dem, aus der richtigen Würdigung der Euchariftie hervorgehen—
den Gedanken, daß die Verhüllung des im Sacramente gegenwärtigen Gottes
dem Naturgrunde enthoben werden und dem gläubigen Auge in ein anderes, heh—
res Gebiet verflärt erfheinen fol. Die Liturgie läßt die Kirche nicht undeutlich
erfcheinen als Abbild des Tempels der ewigen Herrlichkeit, fodann als Sinnbild
der Heiligkeit der Kirche oder der Gefammtheit der Gläubigen und damit als Vor—
bild der Heiligung- für die einzelnen Glieder der Kirche, Thomas faht a. a. O.
diefe Seite der Weihe mit Recht vorzugsweife bloß im Zufammenhang mit der
Euchariſtie, indem er fagt: die Kirchen werden mit Recht geweiht tum ad reprae-
sentandam sanctificationem, quam Eoclesia consecuta est per passionem Christi,
tum etiam ad significandam sanctitatem, quae requiritur in his, qui hoc sacramen-
tum suseipere debent. Il. Feſt der Kirchweihe (fest. dedicationis, encaenia,
nach Leo serm. de Macchab: „Natale Ecelesiae“), Das Alter diefes Feftes betref-
fend, fo ſprechen alle für das Weihen der Kirche fprechenden Zeugniffe zugleich
für die feftliche Begehung diefes Tages, z. B. Euſebius h. e.1.X., Ambro-
fius ep. 22. ad Marcell., dann Athanafius apol. ad Constant. Augustin. ep. 269.
al. 251. ad Nobil. eto. Die Bedeutung diefer Feier erhellt unter Anderm au
aus der Theilnahme der Bifhöfe, der Großen und des Volkes, welche ehedem
in der Weiſe zu Tage trat, daß feine Feierlichfeit mit größerm Pompe begangen
wurde, als die Einweihung einer Kirche, Und mit Net: eine neu errichtete
Kirche erfchien und. erfiheint als eine mit Opfern errungene Station, welche den
Beſitz der kirchlichen Heilsgnaden ſichert; und dieſen Sieg dürfen Alle mitfeiern.
Sie erſcheint als der eentrale Mittelpunct des geiſtigen Lebens einer Gemeinde,
von wo auf Öenerationen die unverfieglihe Duelle der Gnade ausftrömt. Und
an diefer Freudenfeier dürfen Alle Theil haben, Sie erfcheint als das äußerlich
u
a:
\
206 Kirchweihe.
fixirte Erinnerungszeichen des Bundes einer Gemeinde mit Gott, Und dieſe Bun—
desfeier verlangt noch der Bezeugung durch die Kirche, In der Kirche iſt nichte
Sfolirtes , daher ift es, abgefehen von der berührten Mitfeier mit der beglücklen
Gemeinde durchaus nicht zufällig, daß gerade der Biſchof minister diefer Weihe
ift. Durch ihn, den Träger der apoftolifchen Gewalt, fol der religiöfe Herzpunct
einer Gemeinde und damit fie felbft eingegliedert werden in den firchlichen Or—
ganismus, Behalten wir dieſe Bedeutung der Kirchweihe, als des Tauffeftes
einer Gemeinde im Auge, fo iſt ung auch die Auszeichnung, welche die Kirche
diefem Fefte gibt, erflärlih, Der Rang deffelben iſt Dupl. I. Class. cum Octav.
Es iſt mit Indulgenzen bevorzugt, Ueber ven Kirchweih-Ablaß f. Fr, Kap,
Schmid's Liturgif II. Bd, p. 214, Die Titurgifhe Feier beginnt wie bei
den höchſten Feſten mit einer Vorfeier. Diefe befteht in dem, den consecrator
und die Gemeinde, welder die Kirche angehört, verpflichtenden Faſten, in ven
Borfehrungen auf die Weihe, befonders in Beziehung auf die Neliquien ıe., im
Abbeten des Officium vom dies dedicationis. Zur leßtern f, Gavanti Thesaur.
sacr. Rit. cum Addit. Merati tom. II. Sect. VII. c. 5. Novae observ. $ 18,' Das
Officium ift mit Ausnahme von ganz wenigen Theilen fehr altz Durandus hat
fon in feinem Rationale 1. VII. c. 48 eine Erflärung dazu gegeben, welche jetzt
noch paßt. Pins V. gab ihm verfchiedene Lefungen für die ganze Detan: es iſt
dieß ein Vorzug, den fein andere Commune Sanctorum hat, Die Palmen in
der Matutin find Danf- und Jubellieder und eine Iyrifche Auslegung der Epiftel:
Vidi Jerusalem novam descendentem de coelis, fehr paffend gewählt: „resonantes
portas, atria et aedificia‘, und wo dieß nicht flattfindet, fo bilde der Bittpfalm die
practifche Auslegung des: „domus mea domus orationis erit.“ Durandus, Die Hym⸗
nen zeichnen den Aufbau des geiftigen Tempels. Die Officium iſt eines der
fhönften im Brevier, Ehedem wurde die ganze der Weihe vorangehende Nacht,
mit Wachen und Gebet zugebracht; nach dem Pontificale wird nur mehr vor den
in eine anliegende Kirche oder unter ein hiezu gefertigtes Zelt verfegten Reli-
quien die Matutin cum Laudibus von dem Heiligen, deffen Reliquien in die zu
weihende Kirche gebracht werden follen, gebetet, — Am Tag der Weihe, wel-
her nach einem Concil von Aurerre 688 ein Sonntag fein follte, nad dem Pon—
tifical aber jeder beliebige Tag, doch fehieflicher ein Sonn- oder Fefttag fein kann,
tritt die mit der Meßfeier endende Weihe hauptfächlich in Vordergrund, Die
Weihe erfreut fih einer, in paffender Wahl der Pfalmen und Antiphonen be—
fiehenden, glänzenden Umfleivung und Verzierung. Wir geben hier bloß Die
Acte, weldhe auf die Weihe der Kirche Bezug haben, Es wird zwar nie eine Kirche
geweiht, ohne daß zugleich der Altar als ihr Herzpunct, mitgeweiht wird; da indeß
von der Altarweihe ſchon im Befondern die Rede war (f, Altareinweihung) und
fie bei der Kirchweihe, nur mit Zufügung von mehreren Pfalmen, wiederfehrt,
fo Fann die Bezeichnung diefes Theil des Nitus füglich wegbleiben. Der Bifchof
halt, geſchmückt mit dem vollen Drnat und zwar, wie es fich an diefem Vermäh—
lungsfeſte geziemt, von weißer Farbe, zuerſt, nach Verrichtung der in den Buß—
pfalmen und der Allerheiligen-Litanie beftehenden Vorbereitungsgebete, einen drei-
maligen Umzug um die Kirche, deren Wände er mit vorher gefegnetem Waffer
befprengt und in deren Pforte er allemal einzutreten verfucht. Hienach folgt
die Deffnung der Kirchpforte und der Eintritt des vom Clerus begleiteten Bi-
ſchofs, indem diefer die Schwelle der Thüre mit dem Kreuz bezeichnet und dem
Segenswunſch: Pax huic domui fpricht, Nach Abbetung des Veni creator spiritus
und nach der, mit der Litanie verbundenen Segnung der Kirche zeichnet er das
Fateinifche und griechifche Alphabet in die auf dem Boden der Kirche in Kreuzes—
form Tiegende Afche. Nach Segnung von Salz, Waffer, Afche, Wein, und ihrer
Miſchung mit einander befreuzt er im Innern der Kirche den obern und untern
Theil der Rirchenthüre, Und nun folgt eigentlich die Eonfeeration des Altares,
- | Kirchweihe. 207
mit welcher aber noch einige auf Die Weihe der Kirche bezügliche Acte verbunden
find, Nachdem der Eonfecrator mit jener Mifhung von Salz, Waffer ꝛc. an
fünf Stellen den Altartifch befreuzt und fieben Mal den Altar umgehend, die
Altartafel und den Fuß des Altars damit befprengt Hat, umzieht er drei Mal die
Kirche auch von Innen, indem er mit der angezeigten Mifchung die Wände unten,
in der Mitte und nach oben befprengt. Bon der Mitte der Kirche thut er daſſelbe
auf den Fußboden nah Morgen, Abend, Mitternacht und Mittag. Diefem Acte
folgen Segnungsgebete, deren drittes in Form der Präfation gefungen wird,
Darnach folgt eine zur Altarweihe gehörige Segnung (von Mörtel) und
die Abholung der Reliquien. Bor dem Eintritt in die Kirche mit diefen wird
eine Anrede an das Wolf gehalten über die dem Gott geweihten Tempel ſchuldige
Ehrerbietung ꝛc., beim Einzug des jest auch vom Volk begleiteten Biſchofs ſalbt er
die Rirchenpforte von außen mit Chrifam, Nach Niederlegung der Reliquien in das se-
pulchrum, den verfchiedenen auf die Altarweihe bezüglichen Beräucherungen und Sal-
bungen folgt die Salbung der zwölf, mit flammenden Kerzen verfehenen Kreuze
an den Wänden der Kirche mit Ratechumen-Del und die Beräudherung derfelben.
Was im Ritus noch folgt, bezieht fich gleichfalls auf die Altarweife, Die Litur-
gifer haben fich befanntlich feit der älteften Zeit mit der Erflärung der Ceremo—
nien der Rirchweihe abgegeben (ef. 3. B. den bei Martene 1. c. c. XII. abgedrud-
ten Tractat von einem Mönde Nemigius, dann Guil. Durandus Rationale 1. I.
ec. VI. ete.; unter den Neuern befonders Fr. &. Schmid, Liturgif Bd. II. p.
500 sqq. Marzohl und Schneller: Liturgia sacra. B. V. S. 195 sqq. Nickel,
Rom, Bontifical, ze.) und in der Erflärung des Einzelnen viel Geift und Scharf-
finn an den Tag gelegt. Indeß als ein im ſich abgerundeter Organismus, als
ein zufammenhängendes Ganze erfcheint diefer feierliche Act doch nicht in jenen
Darftellungen. Vielleicht Tiefe fich eine Auffaffung der Ceremonien nach dem be—
zeichneten Geſichtspunct erzielen durch Zugrundlegung des Satzes vom HI. Thomas
(Summa 1. c.): consecratio altaris repraesentanf sanclitatem Christi, consecratio
vero domus sanetitatem totius Ecclesiae. Aehnlich Hat ſchon der HI. Bernhard
(In Dedie. Ecel. serm. I.) die Weihe der Kirche gedeutet und dabei die im Ritus deut-
lich Hervortretenden Haupttheile hervorgehen. In nobis, fagt er, spiritualiter impleri
necesse est, quae in parietibus visibiliter praecesserunf. Ef si vultis seire, haec utique
sunt: aspersio, inscriptio, inunctio, illuminatio, benedictio. — Was außerdem noch
zur liturgifchen Auszeichnung diefes Feftes gehört, ift das Formular der Meffe, wel-
ches das unverdiente (Evangel.) Glüf (Epiftel) des BDefiges eines Gotteshau—
Tes ꝛc. bezeichnet, — II. Die Kirchweihe als anniversariusdedicationis —
fann natürlich nur in Kirchen gefeiert werden, welche eonfecrirt find; wo e8 gewiß ift,
daß die Confeeration nicht vollzogen wurde, oder wo e8 zweifelhaft ift, da unter-
bleibt die Feier, (Die Benediction einer Kirche hat weder Oetav noch Jahresfeier).
Sie fällt auf den jährlich wiederfehrenden Tag der Weihe, welcher übrigens vom
Biihof beim Acte der Confecration geändert werden kann, wogegen er dieß extra
actum consecrationis inconsulta sede apostolica nicht thun fann, Gavantusl. c.
P. I. Sect. VIL-c. V. Da ſich indeß ſchon frühe eine von der Kirche vielfach miß—
bilfigte (Du Cange: Glossarium s. v. Dedicalio), mit Schmaufereien ıc, verbun-
dene bürgerliche Feier an die Kirchweihen anſchloß, fo wurde da und dort in’s
Leben eingeführt, was ſchon im J. 1536 ein Eölner Concil befchloß: „Et cum in
diebus festis, qui dedicationi ecclesiarum peculiariter, dedicati sunt, plerumque in-
digna committantur, adeo, ut videafur populus pofissimum comessationis causa con-
venire: visum nobis est, ut per Dioeceses nostras uno certo die anni, quo ejusmodi
festum dedicationis in mefropolitana nostra. colitur, in reliquis quoque ecclesiis
omnibus extra civitatem nostram Coloniam Agrippinam constitutis observefur (Ger-
bert Vet, Lit, Alem.. P. IL. Disqu. VI. n. 2.). Im, vorigen Jahrhundert wurde
daffelbe in der Didcefe Bafel und Conſtanz angeordnet; in Sranfreih wird in
208 Kirjath — Rifon,
Folge des Concordates von 1801 die Kirchweihe am Sonntag nad der Detav
vor Allerheiligen in allen Kirchen gefeiert und eine Ausnahme gilt bIoß für die
Cathedralkirchen. In Beziehung auf allgemeine Durchführung diefer Praris in
allen Didcefen werden Gründe „Für” und „Gegen“ geltend gemacht; fo viel
wird jedenfall8 zugeftanden werden müffen, daß das, in der Theilnahme fremder
Semeinde-Angehörigen an der religiöfen Feier einer Gemeinde liegende Fatholifche
Element auch durch gleichzeitige Abhaltung einer Feier in allen Gemeinden zu Tage
tritt, daß alfo andere, als rein kirchliche Gründe, in der Sache entfcheidend fein
müffen. Das Alter diefer Feier betreffend, fo wurde es in der von Conftantin
erbauten Kirche zu Serufalem von Anfang her begangen (Sozomen. h. c. 1. II. ce.
26. Niceph. 1. VII. c. 50), Wenn e8 auch nicht gewiß ift, daß fie in allen Kirchen
von Anfang an üblich gewefen, fo doch fehr wahrfcheinlich ; man richtete fich wohl
auch hierin nach dem Borbild der Synagoge, Joh. 10, 2%, Auch diefer Tag ift
von der Kirche durh Nang (Dupl. I. Cl. cum Oct.), Indulgenzen und dur
die Liturgie ausgezeichnet (Offieium und Meßformular wie am Natale Eccle-
siae); und tritt auch durch das Anzünden der zwölf Lichter an den Wänden
während des Gottesdienſtes, durch das Ausſtecken der Kirchenfahnen, durch Auf-
fiellen von Baumzweigen außer der Kirche Clegteres fchon Gregor I. befannt 1.
11. 0. 76.), wie durch die damit verbundene häusliche Feier als ausgezeichnet
dem finnlichen Auge entgegen, — Was die Bedeutung diefes Feftes betrifft,
fo liegt diefe nicht allein in einer Beziehung zu der Gemeinde, die fih im Befig
eines Gotteshauſes zugleich im Befis der Wahrheit und aller Gnaden des Heilg
glücklich weiß, fondern au in feiner Beziehung zur ganzen Kirche, Es iſt oben
ſchon bemerkt worden, wie dur den Ritus der Kirchenweihung (und daffelbe
gefchieht auch durch das Offieium) die Kirche als materielles Gebäude vor dem
Auge des Glaubens ſchwinde und bie in ihr verfammelte Gemeinde erfcheine als
Glied der großen Familie, die ihr Wohnhaus in dem geiftigen Tempel der einen
Kirche hat. Bon diefem Geſichtspunet aus muß e8 auch gefaßt werden, wenn bie
ganze Didcefe den anniversarius dedicationis ‚ver Cathedralfirche feiert. CAuch
Dupl. I. Cl. für die ganze Didcefe; die Oetav aber wird bIoß in der Cathedrale
gehalten, ſ. Savantus J. c.). Ebenfo verhält e8 fih, wenn die ganze Kirche
zufammen al’ ihre Andacht fo zu fagen auf einen Punet concentrirt in Feiern von
gewiffen Kirchweihen. In Martyrologium Romanum find als ſolche angegeben:
Dedicatio S. Mariae ad Martyres. Romae. 13. Maii. Dedic. Basilicae 8. Martini
Turonis. 4. Juli. S. Petri ad Vincula. Romae. 1. August. S. Mariae ad. Nives.
Romae. 5. August. Basilicae Salvatoris. Romae. 9. Novemb. Basilicarum Petri et
Pauli. Romae. 18. Novemb. Es Tiegt etwas Großes darin, daß die ganze Did-
cefe durch die Hinlenfung des Blickes an den Sig des Trägers der apoftolifchen
Gewalt den durch ihn gefchloffenen Bund mit der Kirche erneuert, und darin, daß
die gefammten Kirchen die Hl, Gemeinfchaft mit der Mutter aller Kirchen geiftig
bethätigen. Diefe geiftige Einheit, neben welcher die räumlichen Beziehungen
fo ftarf in den Hintergrund zurücgebrängt werben, iſt nur in der Fatholifchen
Kirche; Ueber die Kirchweihfefte der Proteftanten f, Daniel, Cod. Liturg. tom.
I. p. 47 sgq. [Frist]
Kirjath, nrap Cap = Stadt, Feftung) Stad im St. Benjamin, Joſ.
18, 28, Nofenmüller und Maurer halten es für Kirjath Jearim (Vulg. Caria-
thiarim), allein diefes ift Zof. 15, 60. unter den Städten Juda's aufgezählt und
€, 18, 14. ausdrürdfich die Stadt der Söhne Zuda’s genannt,
Kifon, jrörp, Kıowv, Cison, Grenzfluß zwifchen dem St, Sebulon und
St, Napthali, entfpringt am Thabor (juxta montem Thabor, Hieron. Onom.
Shaw, Reife 238 ff. wollte feinen Urfprung an der ſüdöſtl. Spite des Carmel
finden), durdftrömt son D, nach W. die Ebene Jesreel (Esprelon), bricht dann
a
Kiftemafer. 209
in engem Felsthal zwifchen dem Carmel und den Bergen Weft-Galiläa’s dur und
fließt zulegt über die Ebene von Ptolemais am Fuß des Carmel in's Meer, Bol,
Richt. A, 7. 13. 5, 21. Pf. 83, 10, 1 Kön. 18, 40, Jetzt Mokata, Mefatta,
Kiftemafer, Zohann Hyacinth, geboren zu Nordhorn in der Graffchaft
Bentheim am 15. Auguft 1754, ftudirte zu Münfter Theologie und zugleich mit
befonderer Vorliebe Philologie, wobei er fich befonders dem Studium der latei—
nifchen ‚.griehifchen und teutfchen Sprache ergab. Aber auch die meiften der leben-
den Sprachen Europas fprach er. Im J. 1775 ward er zum Priefter geweiht
und 1780 als Lehrer am Gymnafium zu Münfter angeftellt. Auf diefem Poften
flieg er bald zu dem des Gymnafial-Direetors und Bibliothecars empor, 1786
wurbe er auf den Lehrftuhl der Philologie an der Univerſität Münfter promovirt.
Auch den orientalifhen Sprachen wandte er fich zu; denn er wollte feine ſprach—
lichen Kenntniſſe auch für das theologische Gebiet benügen, dem er als eifriger
Prieſter ſich nicht entfremdet Hatte. Dem Studium der HI, Schrift und Väter
widmete er fich mit gewohnten Fleiße, daher ihm fein Fürftbifchof das Fach der
Eregefe übertrug. Paderborn ehrte ihn mit dem Diplom eines Dortors der
Philoſophie, Breslau mit dem eines Doctors der Theologie, die hurpfälzifche
teutfhe Gelehrtengefellfchaft in Mannheim wählte ihn zu ihrem Mitgliede
und 1815 ward er Canpnicus am Stifte in Münfter, bierauf Confiftorial-
rath. Seine philologifchen Kenntniffe verfhafften ihm den Beinamen „Erasmus
der Zweite”, fein theologifches und kirchliches Wirfen, namentlich auch in feiner
Eigenfchaft als Commiffär bei der Vollftresfung der Bulle de salute animarum, fein
raftlofer Fleiß, fein eifriges und doch anfpruchslofes Wefen verfhafften ihm all-
gemeine Achtung und die ehrende Freundfchaft edler Zeitgenoffen, wie der Brüder
Drofte, Dverbergs, Stollbergs, Katerfamps u. ſ. w. Bis in fein 70. Jahr
wirkte Kiftemafer mit ungefohwächter Geiftes- und Körperfraft, bis er von einem
Schlage gerührt wurde im J. 18245 dennoch Tebte er noch beinahe zehn Jahre, -
indem er im 80, Lebensjahre farb am 2. März 1834, Bei ausgedehnten Ge—
ſchäften hinterließ Kiftemafer noch viele Denfmäler feines Fleißes in feinen
Shriften, die in folgender Ordnung erfihienen find: 1) Lateinifhe Sprachlehre
zum allgemeinen Gebrauche für Gymnafien und Schulen. Franffurt und Leip-
zig 1787. 2) Lateinifche Sprachlehre für die Trivialfchulen 1787, zweite ganz
umgearbeitete Auflage 1798. 3) De origine ac vi verborum, ut vocant deponen-
tium et mediorum graecae liguae, praescotim latinae 1787. 4) Teutfche Sprad-
lehre für die Trivialfhulen im Hochftifte Münfter, 1787, zweite ganz umgear-
beitete Auflage 1809. 5) Thucydides editionis Bipontinae illustratus et emen-
datus. Pars I. Complectens quatuor libros priores. 1791. 6) Griedifhe Sprad-
lehre für die Schulen, 1791. 7) Anleitung zum heiligen Lebenswandel, Aus dem
Sranzöfifhen 1792, 8) Kritik der griechifchen, Iateinifchen und teutſchen Sprache,
Preisihrift, 1787, zweite Auflage 1794. 9) Sammlung Iateinifcher Wurzelwörter
1794, 10) Chrestomathia oratoria in usum 4 et 5. Class. 1798. 11) Dratorifche
Ehreftomathie oder Sammlung auserlefener Stellen in teutſcher Sprache 1798.
12) Barrathon, ein Gedicht Oſſians, metrifch überfegt 1800. 13) Chrestomathia
poelica latina in usum scholarum superiorum 1800. 14) Poetiſche Chreftomathie
zum Gebrauche der vierten und fünften Schule 1800. 15) Chrestomathia latina
pro infima et secunda classe Grammatices 1801. 16) Teutſche Chreftomathie für
die erfie und zweite Claffe. 17) Commentatio de nova Exegesi praecipue veteris
testamenti ex collatis scriptoribus graecis et romanis 1806. 18) Exegetiſche Ab-
handlung über Matth. 16, 18. 19. und 19, 3—12,, oder über den Primat
Petri und das Eheband, Göttingen 1806 (wurde auch in’s Holfändifche über-
fest). 19) Exegesis critica in Psalmos LXVII et CIX et excursus in Dan. 3. de
fornace ignis 1809. 20) Weiffagung Jeſu som Gerichte über Judäa und die
Weltz nebft Erklärung der Nede Marc, 9, 42—49, und Prüfung der van Eß'⸗
Siräenlerifon. 6. 3%. 14
210 Kittim — Klage, proceffuale,
Schen Leberfegung des neuen Teftaments 1816, 21) Canticum Canticorum illu-
stratum ex Hierographia Orientalium 1818. 22) Die HI, Evangelien überfegt und
erffärt 4 Bde. 1818—20. 23) Die Apoftelgefehichte überfegt und erflärt 1821,
Ebenfo 24) die apoftolifchen Briefe, Arbeiten, die er in Anderer Werfe nieder-
legte, find von ihm: 1) Auszug aus dem fiebenten Briefe Plato's an Dion und
deſſen Angehörige : in F. L. Stollberg's auserlefenen Gefprächen Plato’s I. Thl.
2) Ueber die zweifache Stammtafel Jeſu Ehrifti bei Matthäus und Lucas in Stoll-
berg's Geſch. der Relig. Jeſu Chrifti im IV. u. V. Bd. 3) Bemerkungen über
das Buch Eſther, ebenfalls in Stollberg's Geſch. der Nelig. Jeſu Chrifti,
4) Vorrede zu Drivers Bibliotheca monasteriensis. 5) Ueber Horazens 10. Ode
des II. Buchs, Im pfälzifhen Mufeum Bd, II. Heft 7, Außerdem lieferte er
viele Abhandlungen in Zeitfchriften und viele Manuferipte fand man noch in
feinem Nachlaſſe über griechifche und Iateinifche Claſſiker. [Haas,]
Kittim, f. Chittim,
Klage, proceffuale, im weiteren Sinne heißt jedes Mittel, wodurd ein
Nechtsanipruch geltend gemacht und verfolgt werden kann; im engeren Sinne
aber dasjenige Nechtsverfolgungsmittel, wodurdh man die Verurtheilung eines
anderen zu einer beftimmten Leiftung oder Unterlaffung, die man von ihm ver-
Yangt, oder zur Anerfennung eines gefeglich begründeten Nechtes zu bewirken
ſucht. Eine Klage Cactio) ift daher der Nachweis von dem Dafein eines gefeglich-
begründeten, jedoch angeblich oder wirklich auf irgend eine Art verlegten Rechtes,
und wird entweder dem Nichter fchriftlich überreicht (Klageſchrift, libellus), oder
mündlich zu Protocol gegeben. I. Die allgemeinen Beftandtheile einer Klage
find demnach: 1) der Rechtsgrund (fundamentum juris) oder das Gefeg, worauf
der Kläger feinen Anfpruc fügt; 2) der Klagegrund (fundamentum agendi) oder
die hiftorifche Darlegung, daß die Vorausfegungen des angezogenen Rechtsſatzes
* in concreto wirflich exiftiren; 3) dag Gefuch (petitum), welches den Zwed der
Klage enthält. Ad 1. Db der Rechtsſatz, unter welden der Kläger feinen
Klagegrund fubfumirt, ein gefchriebenes Geſetz oder eine rechtsgültige Gewohnheit
iſt, ift gleichviel, Jedes von dem Gefeßgeber anerfannte Recht, dem nicht das
Geſetz felbft ausdrücklich die Klagbarkeit abfpricht, Fann durch eine Klage verfolgt
und aufrecht erhalten werden, wenn gleich nicht für alle möglichen Nechtsverhält-
niffe fpecielle Klagen gefeglich beftimmt find, Ebenfo braucht der Rechtsgrund,
obfchon das Dafein eines folchen zur Begründung einer Klage unerläßlich ift,
Doch nicht nothwendig vom Kläger ausdrücklich angeführt zu werden (ce. 6. X.
De judic. II. 1.), weil das, was zur rechtlichen Beurtheilung einer Sache gehört,
der Nichter von Amtswegen ergänzen muß, Nur wenn ein Privilegium oder
ein folches Particularrecht dem Anfpruche des Klägers zur Seite fände, welches
dem betreffenden ©erichte wahrfcheinlicher Weife nicht befannt wäre, dürfte be-
greiflich die Anführung und Nachweifung deffelben nicht umgangen werben.
Ad 2. Schlechthin unerläßlich dagegen ift die Anführung des Klagegrundes
oder des Inbegriffes der Thatfachen, welche der Klage rechtliche Geltung ver-
fchaffen; der Klagegrund ift der juriftifhe Kern der Gefchichtserzählung. Man
unterfcheidet aber einen nächften, entfernteren und mittelbaren Klagegrund, Der
nächfte (fundamentum agendi proximum) bezeichnet das Verhältnig, woraus der
Kläger feinen Anfpruch ableitet, im Allgemeinen (causa actionis generalis), Der
entferntere Klagegrund (fundamentum agendi remotius) gibt überdieß die Art an,
wie jenes Verhältniß entftanden ift (causa specialis), Namentlich ift e8 bei per-
fönlichen Klagen nicht genug, zu behaupten, daß der Beflagte das ſchuldig fer,
was der Kläger von ihm fordert, fondern es muß auch die Obligatio rei, d. i.
der Grund dargethan werben, warum er es fihulbig ift (c. 3. X. De libell. oblat.
U. 3.). Aber auch bei dinglichen Klagen muß nicht nur die Sache nach Umfang
and Inhalt genau bezeichnet Co. 3. X. eod.), fondern nach Umfländen auch bie
ie ee ee en
Klage, proceffuale 211
befondere Erwerbsart (adjecta causa) erwähnt werben (Sext. c. 3. De sent. et re
jud. U. 14.). Der mittelbare Klagegrund endlich (fundamentum agendi inter-
medium) legt das Berhältniß dar, wie das behauptete Recht an den Kläger über-
gegangen ift, und muß daher in den Fällen angegeben werben, wo der Kläger ein
ihm urfprünglich nicht zuftehendes Recht verfolgt. Ad 3. Der in vem Geſuche aug-
zubrüdende Zwed der Klage ift auf Verurtheilung des Beklagten in Haupt- und Neben-
fache gerichtet. Der Hauptzweck geht bei dinglichen Klagen auf Zu= oder Aberfennung
des beanfpruchten Rechtes oder Zuftandes, bei perfönlichen Klagen auf die Erfüllung
der behaupteten Verbindlichkeit, bei gemifchten, d. i. folchen, die aus der Zufammen-
feßung perfönlicher und dinglicher Klagerechte entftehen, vermöge deren man Eigen«
thum und zugleich ein Recht aus einer obligatio geltend macht, ift auch der Hauptzweck
zufammengefegter Natur. Das Petitum muß übrigens als Schlußfolge aus dem
Klagegrunde, d. h. durch Subſumtion des Hiftorifchen Klagefundaments (als
Unterfages) unter den Rechtsgrund (als Dberfag) fich ergeben, und beftimmt und
deutlich geftellt fein. Der Nebenzwer aber begreift alles, was dem Kläger durch
die Rechtsſtörung entzogen wurde, 3. B. die Früchte, die Zinfen, Erſatz alles
Schadens, insbefondere die Erftattung der Proceffoften, welche ebenfalls aus-
drücdlich erbeten werden follen, da fie vom Richter zwar auch ex officio berück-
fihtiget werden dürfen, aber nicht berüdfichtiget werden müffen, und wenn der=
felbe im Endurtheile darüber fchweigt, als aberfannt zu betrachten find. Das
Gefuh der Klage darf feine Zuvielforberung enthalten Das canonifche Recht
(ec. un. X, De pluspetit. II. 11.) unterſcheidet aber vier Arten der Zuvielforderung,
nämlich eine pluspetitio re, wenn der Kläger ein anderes, oder werthvolleres
Object, oder eine größere Summe in Anſpruch nimmt, als er zu fordern berech—
tiget iſt; eine pluspetitio tempore, wenn er vor Eintritt der Verfallzeit Klage
ftellt; eine pluspelitio caussa, wenn er eine andere Leiftung fordert, als der Be-
klagte zu präftiren fhuldig iſt; endlich eine pluspetitio loco, wenn er auf Leiftung des
Schuldigen an einem anderen Drte dringt, als wo der Beklagte fie zu entrichten
verpflichtet ift. Im erften Falle würde nur auf das wirklich ſchuldige Object oder
Duantum erfannt; im zweiten der Kläger vor der Hand mit feiner Klage zurüd-
gewiefen und in die Roften eondemnirt; im dritten und vierten Falle kann der
Richter entweder bloß vom Unſtatthaften abfirahiren, oder auch die Klage „an—
gebrachter Maſſen“ abweifen, II. Es können aber in einem und demfelben Klag-
libelle auch mehrere Klagen zugleich angebracht und in demfelben Proceſſe er-
fediget werden. So z. B. geftattet das canonifche Recht eine Verbindung petito—
riſcher und poſſeſſoriſcher Anfprüche Ce. 2.3.5. 26. X. De caus. possess. et propr.
II. 12.; c. 36. X. De testibus..II. 20.). Man nennt dieß Klagenhäufung
(eumulatio actionum), welche wohl zu unterfcheiden ifl von dem concursus actio-
num) oder dem Zufammentreffen mehrerer Klagen in derfelben Verfon. Die
Klagenhäufung ift 1) entweder eine objective, wenn zwar nur Ein Kläger gegen
Einen Beklagten, aber mit verfihiedenen in derfeiben Rlagefohrift vorgetragenen
Anfprüden auftritt; oder 2) eine fubjective Cumulation, wenn mehrere Kläger
gegen Einen Beflagten, oder umgekehrt Ein Kläger gegen mehrere Beflagte, oder
endlich mehrere Kläger gegen mehrere Beklagte auftreten, Ad 1. Die objective
Klagenhäufung ift entweder eine fimultane, oder alternative oder ſucceſſive. Die
fimultane befteht darin, daß mehrere Klagen in derfelben Procedur neben einander,
jedoch fo, daß jede der mehreren Klagen unabhängig von der anderen ihren felbft-
fändigen Zweck verfolgt, verhandelt und durchgeführt werden, vorausgefeßt, daß
alle zur nämlichen Procefart und zur Competenz deffelben Richters gehören, und
durch die Cumulation Feine Verwirrung entfteht. Letztere zu vermeiden, müßten
die einzelnen Klagen, fofern fie auf verfehiedenen Fundamenten beruheien, nach
ihren einzelnen Rlagegründen unter Anhängung des felbftftändigen Petitums einer
jeden gejondert dargeftellt werden, Die alternative Ringehänfung ift diejenige,
14 ?
212 Klage, proceffuale
wodurd mehrere Klagen fo mit einander verbunden werben, daß fie zwar in dem
Gange deffelben Verfahrens und in denfelben Acten inftruirt werben, der Kläger
aber nur die Anerkennung der einen oder der anderen fordert, entweder fo, daß
es ihm gleich ift, welche Klage Anerkennung finde, ober fo, daß er die fernere
Klage nur eventuell, nämlich für ven Fall wolle angeftellt haben, daß die zunächft
angeftelfte rechtlich nicht zu dem vom Kläger angeftrebten Ziele follte durchgeführt
werben fünnen, Auch die Anwendung diefer Klagehäufung ift durch die Gleich-
artigfeit der Procedur und die Einheit der richterlihen Competenz bedingt, Die
fueceffive Cumulation endlich befteht darin, daß mehrere Sachen, von welchen
die eine zu der andern in einem präparatorifchen oder präjudiciellen Verhältniffe
ſteht, in Einem Klaglibell angebracht, jedoch nacheinander (oder, wenn möglich,
auch nebeneinander) verhandelt werden, ohne daß eine neue Anftellung der dem
sorbereitenden oder präjubicirlichen Streite nachfolgenden Klage nöthig ifl. —
Ad 2. Die fubjective Klagehäufung wird zwar von vielen Nechtslehrern ver—
worfen; alfein die Stellen (fr. 6. Dig. De exc. rei jud. XLIV. 2. und fr. 1. $ 4.
Dig. Quod legat. XLIII. 3.), auf welche fie ſich deßhalb berufen, paffen nicht hie—
ber. Dagegen fprechen gewichtige allgemeine Gründe vffenbar für deren Zuläßig-
feit, wenngleich Fein poſitives Gefeg hiefür angezogen werben fann; denn Durch
fr. 25. $ 3. Dig. De famil. hercisc. X. 2., worauf ſich die Vertheidiger der fub-
jeetiven Klagecumulation fügen, erfcheint diefe zunächft nur bei den Theilungs-
Hagen gerechtfertigt, III. Die Aufhebung der Klage für einen befonderen Fall
tritt ein: 1) durch richterliches Erfenntniß; 2) durch den Tod der Parteien;
3) durch Verjährung. Ad 1. Das Klagerecht erlifcht durch ein rechtsfräftiges
Endurtheil Cre judicata), welchem auch ein rechtsgültiger Vergleich (res trans-
acta) vder die Entſcheidung dur Ableiftung des freiwilligen Haupteides (res
finita) gleichkommt; fowie durch eine Ausſchließung (praeclusio), foweit fie der
Richter wegen verfäumter Nechtsverfolgung verfügen Fann, Ad 2. Dur den Tod
der Parteien wird das Klagerecht in der Negel nicht aufgehoben, fondern geht
per successionem universalem ſowohl auf die Erben des Klägers (translatio actionis
activa) als auf die Erben des Beflagten über (translatio passiva). Diefe Regel
leidet indeß folgende Ausnahme : a) Der paffive Mebergang fällt weg, wenn die
auf eine Leiftung gerichtete Klage perſönliche Eigenfchaften vorausfegt, oder ber
Vebergang freiwillig von den Eontrahenten befchränft if, b) Die actiones poe-
nales gehen zwar, mit Ausnahme der Injurienflage, auf die Erben des Berlesten
über, fünnen aber nicht gegen die Erben des Verbrecher angeftellt werden, es
wäre denn, daß diefe durch das Deliet ihres Erblaffers bereichert worden. Die
actiones, quae vindictam spirant, d. h. folche Klagen, welche man, ohne einen
wirflihen Vermögensverluft erlitten zu haben, bloß aus Empfindlichfeit wegen
perfönlicher Kränfungen anftellen Fann, gehen nicht auf die Erben des Klägers
über, fünnen aber doch von biefem felbft gegen die Erben des Beklagten angeftellt
werben, ausgenommen infofern fie in einem Delicte ihren Grund haben, Wenn
aber eine actio poenalis oder quae vindictam spirat einmal anhängig gemacht wor-
den ift, fo geht fie unbedingt auf und gegen die Erben über, c) Bei der querela
inofficiosi testamenti und inoffic. donationis bewirft ſchon die bloße Erflärung,
Hagen zu wollen, den Uebergang. Ad 3. Das Aufhören eines Klagerechtes durch
Verjährung fegt voraus, daß die Klage rechtlich möglich war (c. 13. c. XVI.
qu. III.; c. 10. X. De praeseript. U. 26.), aber die ganze gefegliche Frift hin-
durch — nach römifchem Nechte im Allgemeinen 30 Jahre lang — nicht angeftelft
wurde (fr, 6. Dig. De oblig. et act. XLIV. 7.). Auf den guten oder böfen Glauben
des Gegners des Berechtigten kommt nach römiſchem Nechte nichts an, Nach
eanonifchen Rechte aber ift anzunehmen, daß alle dinglichen ſowohl als perfün-
lichen Klagen, welche auf Reftitution einer Sache gerichtet find, nicht verjähren,
wenn der Befiter der Sache ſich in mala fide befindet, Bei allen anderen perfün-
a
Klagenfurt — Klee. 213
lichen Schulöflagen ſchadet dem Kläger feine Nachläffigfeit ſchlechthin, wenn auch
der Beflagte in mala fide fein follte Ce. 5. 20.X. De praescript. II.26.). Ausführ=
Vicheres f. unter Verjährung. Vergl. auch den Art, Einreden. [Permaneder,]
Klagenfurt, f. Rärnthen.
Slaglieder, f. Jeremias.
Klappern in der Charwoche, f. Charwoche Br. Il. ©, 458.
Klee, Heinrich, geboren am 20. April 1800 zu Münftermaifeld, einen
Städtchen bei Coblenz, von braven, dem Gewerbeftand angehörigen Eltern, Im
5,1809 fam der talentvolle Knabe in das damalige bifchöfliche Seminar in Mainz,
mit welchem die acht Elaffen des Knabenfeminars verbunden waren. An diefen
Elaffen wurde das Lehramt den vorzüglichften Alumnen nah Abfolvirung ber
Theologie übertragen; bei Klee aber wurde wegen eminenter Befähigung eine
Ausnahme gemacht, fo daß er ſchon 1819 (nach andern Angaben erft 1823)
Brofeffor am Heinen Seminar in Mainz und 1825 Profeffor der Philofophie und
Theologie wurde. Unermüdet, bei einem Gehalte von höchſtens 200 fl., Leiftete
er Außerordentlihes, Am 21. Mai 1823 empfing er die Priefterweihe, Dur
feine Differtation im 3. 1825 de chiliasmo primorum saeculorum und eine glän-
zende Disputation in Würzburg erwarb er fich die theologifhe Doctorwürbe,
Im Jahr 1827 erfchien feine gründliche Arbeit über die Beichte nebft einzelnen
Auffägen in Zeitfehriften. Sein Commentar über das Evangelium nad Johannes
erfchien 1829 (Mainz); in weldem Jahre von Preußen und Baden ihm Pro—
feffuren angetragen wurden; auch Sailer fuchte ihn für Münden zu gewinnen,
Sein Commentar über des Apoftels Paulus Sendfchreiben an die Römer fam
heraus Mainz 1830, und bei wiederholten Antrage von Preußen aus und ber
ihm überlaffenen Wahl zwifhen Breslau und Bonn entfchied er ſich für letzteres,
wo er Dogmatik und Eregefe vortrug. In Bonn fhrieb er: „Syftem der Fatho-
liſchen Dogmatif” (Bonn 1831), „Encyelopädie der Theologie” (Mainz 1832),
„Auslegung des Briefes an die Hebräer” (Mainz 1833), „Die Ehe“ (Mainz
1833, 2te Aufl, 1835), „Die Fatholifhe Dogmatik“ (3 Bde., Mainz 1834—
1835) 5 „Dogmengefhichte” (2 Bde., Mainz 1837— 1838). Himioben gab nah
Klee's Tod deffen „Grundriß der Ethif“ 1840 heraus, In Bonn vertrat Klee das
Syftem feiner Kirche, Hermes (ſ. d. A.) fein eigenes, um durch Zweifel und Ber-
nunftfchlüffe wieder zum Pofitiven zu gelangen, gleich als ob dieß möglich und das
Poſitive dabei noch pofitiv und nicht viel mehr fubjectiv wäre. Hermes fuchte den ge=
waltigen aber edlen Gegner voll Einfalt, Durch Invectiven und Intrigen zu meiftern,
wobei gegen den Arglofen ehrlofe Streiche geführt wurden, denen er nur Opfer und
Muth entgegenfette, wobei ich auf die biographifchen Notizen verweife, welche feiner
Dogmatif (Mainz 1844) im erften Band vorangeftellt find S. XXIV—XLIN. Auf
Bitten feiner Zuhörer las er auch Ethik (denn Achterfeldt's hermefifche Moral paßte
für das Firhlihe Syftem nicht), auch allgemeine Religionslehre für Nichttheologen
trug er mit großem Segen vor, Clemens Auguft beftellte ihn als Erzbifchof von Coln
zum Sraminator und bald fanden die Hörfäle der Hermefianer leer. Sogleich nach
Möhler’s Tod erhielt Klee im Jahr 1838 einen Nuf an deſſen Stelle nad
Münden, den er aber ablehnte, weil er trotz der mißlihen Umftände (Clemens
Auguft’s Gefangennehmung) noch in Bonn zu wirken hoffte. Bald aber fah er,
wie feine Wirkfamfeit immer mehr beſchränkt werde und daher fiedelte er freudig
nah Münden über im 5, 1839, wo er fih fehr glücklich fühlte, Er erlag aber
wie Möhler dem Klima, indem ein nervöfes Schleimfieber ihn am 28. Juli 1840
nach fchweren Leiden hinwegraffte. Er ruht neben feinem Vorgänger Möhler.
Klee war ein liebenswürdiger Menſch, einfach in feinen Sitten, gerade im Um-
gange, heiter im Freundeskreife. Scharffinn, Gewandtheit und ſchöne Darftel-
lung ſprachen aus feinen Vorlefungen wie aus feinen Schriften. Sein fhönftes
Denkmal hat er in feiner Dogmatik hinterlaffen, welche in drei Auflagen erſchie—
1A Kleid, das weiße — Kleider, heilige,
nen ift, 1835, 1839 und nach feinem Tode unverändert 1841, Sieht man auf
Klee's Vorgänger in Bearbeitung der Fatholifhen Dogmatif, fo darf man fagen:
Klee hat durch Eintheilung, wie durch lichtvolle und wiffenfchaftlihe Behandlung
des Stoffes eine neue Bahn auf diefem Felde gebrochen, wenn er gleich fie
nach ſcheinbar antiquirter Weife eintheilte in Generaldogmatif und fpecielle Dog⸗
matif, — Schärfe und Milde, Wiffenfchaftlihfeit und Gläubigfeit waren in
diefem Lehrer fchön vereinigt. Aecht Fatholifche Bildung theilte er feinen Schülern
mit und gewöhnte fie an eigenes Denfen und Studiren. [Haas.]
Kleid, das weiße, der Neugetauften, Da in der Vorzeit gewöhnlich durch
Antertauchung getauft wurde, und die Täuflinge nat im Waffer ftanden over
Cie Säuglinge) gehalten wurden, fo wurde es ſchon in den früheften Zeiten im
Morgen: und Abendlande Sitte, denfelben, wenn fie aus dem Waffer kamen,
ein weißes Kleid (Hemd) anzuziehen: ſchon die Unfchuld, die durch die Taufe dem
Menfchen zu Theil wird, Tieß ein Kleid von diefer Farbe dazu wählen, „Acce-
pisti“, fagt 3. B. der heil, Ambrofius (I. de myst. c. 7.), „vestimenta candida,
ut esse indicium, quod exueris involucrum peccatorum, indueris innocentiae casta
velamina, de quibus dixit propheta: Asperges me hyssopo et mundabor, lavabis
me, et super nivem dealbabor.“ Vgl. Eufebius (1. A. c. 62. vit. Constantini M.),
Cyrillus von Jeruſalem Ceatech. myst. 4.), Auguftin (serm. 81. de div. al. 228.).
Der e8 ihnen Anziehende war der Pathe (Sacram. Gregor. cum not. Hug. Menardi.),
Es wurde (wenigftens von den zu Dftern Getauften) acht Tage Yang getragen,
ſo daß der Sonntag nah Dftern, an welchem es abgelegt wurbe, noch jeßt hie—
von den Namen „Dominica in albis sc. vestibus* (weißer Sonntag) hat, Dffen-
bar follte das längere Tragen deffelben den Neugetauften eine Aufforderung fein,
fih Zeit Lebens eines fündenreinen Wandels zu befleißen, „A sabbato usque ad
sabbatum“, fagt der Pſeudoalkuin (de sabb. in alb.), „portantur albae vestes, quae
nobis speciem praestant, quales esse debeamus in novo testamento, et qualia cor-
pora recepturi in octava die, in qua repraesentari nos opportet ante Dominum cum
ipso pignore, quod accepimus in Baplismo*. Vgl, Cyrillus von Jeruſalem (caiech.
1 mystag.), Auguftin (I. c.), Rabanus Maurus (de instit. cler. 1. 2. c. 39.) u.ſ. w.
Auch heut zu Tage wird es noch den Neugetauften im Morgen- und Abendlande
gereicht, ja bei den Griechen fogar noch am achten Tage feierlich unter Gebet ab-
genommen. Sinnvoll fpricht dabei der Tateinifche Priefter die ſchon in uralten Kirchen-
vröonungen üblichen Worte: „Accipe vestem candidam et immaculatam, quam perferas
ante tribunal D. N. J. Chr., ut habeas vitam aeternam“. Die Sitte, daß die Pathen
ihren Tauffindern, wenn fie zu den Jahren der Vernunft fommen, ein fogenann-
tes Taufhemd fherfen, hängt unverfennbar auch damit zufammen, [Fr. X. Schmid.]
Kleider, heilige, bei den Hebräern, ſ. Hoherpriefter, Priefter, Le—
viten.
Kleider, heilige. Es iſt eine Streitfrage, ob die Cultuskleidung in der
katholiſchen Kirche von Anfang an von der gemeinen bürgerlichen Tracht verſchie—
den gewefen? Während die Einen entfchieden mit Nein antworten, behaupten
Andere einen uranfänglichen Unterfchied in Beziehung auf den Stoff und wieder
Andere in Beziehung auf Stoff und Form zugleih. In der That feheint das
Vebergewicht der Gründe auf Seite derjenigen zu fern, welde fi für das uran-
fängliche Streben der Kirche nach einer ausgezeichneten Cultkleidung ausfprechen,
Juden und Heiven hatten diefe (Ruben de re vestiar. II. 14.); auch bei den
Peruanern fanden die Entdecker des neuen Welttheifes diefen Unterſchied vor
(Lipsius de monument. et exempl. polit. 1. I. c. 3.). Die Erhabenheit des neu—
teftamentlichen Prieftertfums war gewiß fein Grund, den Standpunet, welpen
in diefer Beziehung das Licht der natürlichen Vernunft und das Geſetz Moſis an
die Hand gaben, zu ändern, Nach dem Zeugniffe eines Clemens von Alexandria
(paedagog. 1. II. pag. 256) zogen felbft die Gläubigen, wenn fie dem Gottes—
Kleider, heilige, 215
dienft anwohnen wollten, andere und beffere als die alltäglichen Kleider an, und
die bierarchifche Rangordunng unter den Altardienern machte von Anfang an dem
Unterfohied der Cultkleidung von der gewöhnlichen bürgerlihen Tracht beinahe
nothwendig. Daß aber der Unterfhied beider nur allmählig ſich ſchärfer ent-
widelte, liegt in der Natur der Sache wie in der mit der Zeit immer deutlicher
bervortretenden Sonderung der hierarchiſchen Stufen, der man auch im Aeußern
einen entfprechenden Ausdruck zu fhaffen bemüht fein mußte, wie endlich in dent
Umftande, daß die bürgerliche Kleidung den Launen der Mode fi) fügte, wäh—
rend die firchlihe nach dem der Kirche innewohnenden Lebensprineip fich gleich
blieb Cim Wefentlihen). Sp fonnte e8 auch nicht fehlen, daß der Quellpunet
des myftifchen Lebens der Kirche, welcher in dem unblutigen Opfer beruht, auch
über die heilige Kleidung feinen verflärenden Nimbus ergießend, diefelbe in. einen
höheren Lebensfreis erhob, fo daß die myftifche Deutung und Bedeutung derfelben
jest als eine wefentliche Seite daran erfcheint. Alfo der in der Kirche fortlebende
ewige Hohepriefter Jeſus Chriftus ift es, welcher fih in den heiligen Cultkleidern
als derjenige repräfentirt, von dem gefchrieben ſteht: Dominas regnavit, decorem
indutus est, indutus ‘est Dominus fortitudinem et praecinxit se. Und um diefer
höhern Bedeutung der Cultkleider willen, damit fie ein wirffames Vehikel werben,
dem funetionirenden Altardiener felbft wie dem gläubigen Bolfe die Idee nahe
zu legen, daß er die Perfon Jeſu Chriſti vertritt, werden fie auch benedicirt, eine
Sitte, die nah Sozomenus (die Beweisftelle bei Binterim IV. IL ©. 198 f.)
ſchon im vierten Jahrhundert nicht mehr unbefannt gewefen zu fein fheint, wäh-
rend man die erfte gefegliche Vorſchrift dafür erft im Pontificalbuch des Biſchofs
Egbert von York (8. Jahrh.) findet, Die Griechen weichen hierin von dem Ge—
brauche der Tateinifchen Kirche infofern ab, als fie die Eultfleider einzeln jedes=-
mal beim Gebrauch benediciren (Marzohl und Schneller V. 1. ©. 344, cf.
liturg. S. Chrysost.). Die Benediction der Eulifleider ift Sache der Biſchöfe,
kann jedoch auch an Priefter übertragen werden (übrigens vgl. Prosp. Lambertinä
institut. eceles. 21. p. 127, de sacrif. Missae I. cap. 52. fol. 28. edit. Patavin.). —
Die einzelnen Theile der priefterlihen Meßkleidung find der Amictug
oder das Humerale (f. Amictus), die Alba, das Cingulum, der Manipel, die
Stola, das Meßgewand. Die Alba (camisia, poderis) ift der weiße Iinnene
Rock (alba vestis), welcher vom Halfe bis auf die Knöchel geht, den fhon Gregor
von Nazianz (orat 5.) und die vierte Synode von Carthago (a. 398. c. 41.) als
tirchliches Feftgewand fennen. Sie ift das Bild der durch das Blut des Herrn
erworbenen Gerechtigkeit und der ganz befondern Heiligkeit, welche an dem Diener
Gottes erglänzen fol (vgl. das beim Anziehen derfelben vorgefhriebene kirchliche
Gebet „dealba me, Domine.. .), Im fechsten Jahrhundert ſchon trugen wenig-
ftens in Franfreih auch die Lectoren und Subdiaconen Alben (concil. Narbon.
de a. 585. c. 12,), welche fürzer als die der Priefter waren, Aus der Albe ift
durch Abfürzung der Chorrock (superpelliceus, rocchetum) entftanden. — Das
Cingulum (baltheus, zona) ift ein Iinnener (S.R. €. 22. Januar. 1701) Gürtel,
der einerfeits zur Auffhürzung der Albe dient, andrerfeits die in dem Gebete
„Praecinge me Domine cingulo purilatis“... ausgefprochene fymbolifche Bedeutung
bat, — Der Manipel (manipulus, sudarium, fanon, mappula) war Anfangs
nichts Anderes als ein Schweißtuh, das am Iinfen Arme herabhängend getragen
wurde, in welcher Bedeutung es noch Ivo von Chartres CH 1115) kennt. Aber
fon zur Zeit Gregor’s des Großen erfoheint er als Auszeichnung der Priefter
und Diaconen (Binterim IV. 1. ©. 204.). Wohl feit dem neunten Jahrhun—
dert befteht er aus demfelben Stoffe wie Stola und Mefgewand, nahdem er
Anfangs aus Linnen geweſen. Der Gebrauch, den jest mur noch die Bifchöfe
beibehalten Haben, den Manipel erft am Altar nach gebetetem Confiteor anzuziehen,
war Anfangs allgemein, Der Manipel finnbildet den „fructus bonorum operum‘*
216 Kleider, heilige,
(I. Liturgie der Subdiaconatsweihe), der nur durch den Schweiß der apoſtoliſchen
Arbeit gewonnen werben kann. — Die Stola ift aus dem orarium entflanden,
einem von der Schulter herabhängenden, mit einem Streifen von anderer Farbe
verbrämten Linnengewande (Hieron. ep. 52. ad Nepot. et in Mich. c. 3., Ambros.
in obit. Satyr.n. 43.), von dem jeßt nur mehr der ſchmale Streif geblieben, Er wird
nun von den Prieftern von beiden Schultern herabhängend getragen, von den Diaconen
aber auf der linken Schulter über die Bruft und den Rücken (wie dieß in Beziehung
auf die Diaconen ſchon die alten Abbildungen bei Aringhi ze, auswerfen). Das
Concil von Laodicen fah fich gendthigt (can. 3.), den Leetoren und Cantoren zu
verbieten, das Drarium zu tragen, andere Concilien thun dieß in Beziehung
auf die Subdiaconen (Braccar. III. c. 1. 4. Aurelianens. I. c. 20.). Früher
wurde die Stola auch) außer der Kirche und dem Gottesdienſt von den Prieftern ge-
tragen Cauf der Synode von Mainz 813 c. 28. wird ihnen dieß fogar geboten); jet
ift fie ein Hauptzeichen der priefterlichen Amtsgewalt, wird aber nur bei Functionen
gebraucht, Auch wenn der Priefter more laicorum communieirt, muß er nach einer
Verordnung des dritten Concils von Braga mit der, Stola befleivet fein, Nur der
Papſt trägt die Stola heutzutage immer, — Das Meßgewand (casula, planeta)
hatte früher fo ziemlich die Form unferes Pluvials, umfaßte alſo ven ganzen Leib,
woher auch der Name casula. „Planeta graece et latine dicitur casula, quae totum
hominis corpus tegit“. Isidor. lib. 19. c. 24. Noch im neunten Jahrhundert beftand,
wie aus Abbildungen hervorgeht, die alte Form; erft um das zehnte Jahrhundert
fcheint die Abänderung erfolgt zu fein, die nach und nach) die gegenwärtige Ge-
ftalt herbeigeführt, und zwar durch Ausfchneidung auf den Seiten. Die alte
Form des Meßgewandes machte bei der Elevation den Dienft des Miniftranten
im Hinaufheben deffelben nothwendig, was bis jet geblieben ift, obwohl es
eigentlich nicht mehr nothwendig wäre, Schon alte Abbildungen weifen das Kreuz
hinten und vorn auf dem Meßgewand aus, entweder in Gold oder mit feiner
Seide geftirft, eine Zierbe, weldhe Thomas von Kempen (A, Buch, 5. Cap.) ſo
fchön deutet. Auch von einer Cafula der Diacpnen und Subdiaconen ift bei den
Kicchenfchriftftellern die Nede (vgl. Binterim IV. 4. S. 212 und 213), und noch
jest tragen die Leviten an Feſttagen und in Bußzeiten die Planeta, aber etwag
am Rücken aufgerollt (daher planetae plicatae), — Aus der Cafula älterer Form
ift auch das Pluviale entflanden, urfprüngli eine mit einer Kopfbedeckung
verfehene Cafula (casula cucullata), die man bei Proceffionen zum Schuß gegen
fchlimme Witterung gebrauchte (Gregor. Tur. in vita S. Nicet. Lugdun.), jegt ein den
ganzen Leib bedeckender Fefimantel, der auf der Vorderfeite offen ift und bei
Proceffionen, feierlichen Befpern, bei Ausfpendung des geweihten Waffers u, |. w.
angezogen wird, — Bei vielen Cultacten trägt der celebrirende Priefler nur
Chorrock und Stola, Der Unterfchied zwifchen superpelliceus und rocchetum
beide zu teutfch „Chorrock“) wird dahin angegeben, daß jener weite, biefer enge
Aermel hat, — Andere heilige Kleider find die, -welche den Diacpn und Sub-
diacon auszeichnen. Das jenen befonders zierende Gewand ift die Dalmatif,
welche wohl von ihrem Entftehungsorte den Namen trägt; fie ift nach) Krazer
fchon im vierten Jahrhundert gefannt, dem Meßgewande ähnlich, aber mit Aer-
meln verfehen, ihre myftifche Bedeutung beruht in den Worten, bie der ordini—
rende Bifchof zum neugeweihten Diacon fpricht, während er fie ihm anzieht:
„induat te Dominus indumento“ ... Das Feftgewand des Subdiacons iſt Die
Tunicella (auch Subtile genannt), gegenwärtig von der Dalmatif nicht viel
unterſchieden, auch wohl von derſelben myflifhen Bedeutung, ſchon Gregor dem
Großen befannt (ef. IX. epp. 107. 12.). — Der Bifchof trägt, wenn er Meffe
Yiest, zu den priefterlichen Gewändern hinzu, die ſchon genannt worden, bie
Dalmatif und Tunicella, unmittelbar unter der Cafula; fonft zeichnen ihn noch
aus die Schuhe, d. h. eigens für den Eultus beftimmte Ceine Erinnerung an
Kleider d, morgenl. Geiſtlichen — Kleider d. prot. Geiftl. 217
das biblifche „quam speciosi pedes“...), die Handſchuhe, welde erft das
Mittelalter Fennt, Symbol der erft durch Eprifi Mittlertod erlangten Fähigkeit,
ein Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen, die Mitra Cinfula), die ohne
Zweifel, wenn auch nicht gerade in der gegenwärtigen Form, tief in's chriftliche
Alterthum hinauf reicht (ef. Baron. ad ann. 34. n. 298.), Symbol der geiftlihen
Feldherruwürde der Bifchöfe (vgl. das beim Auffegen derfelben im Confecrations-
ritus gefprochene Gebet), der Hirtenftab, der Ring, das Bruſtkreuz (f. die
befond,. Art.). — Die Eultkleiver waren mehrere Jahrhunderte hindurch von
weißer Farbe, nach und nach bildeten fich die fünf Kirchenfarben (f. d. A. Farbe).
— Die meiften heil, Kleider müffen vor dem Gebrauche benedicirt fein (der Chor-
rock und das Birett [f. d. Art.] find ausgenommen) und zwar entweder vom
Biſchof oder einem Priefter, dem diefe Vollmacht delegirt worden; ferner ganz,
reinlih, nett und fauber, wie die Rubrifen des Miffale vorſchreiben. Der
Stoff ift verſchieden, nur für den Amict und die Albe ift Linnen oder Hanf vor-
geſchrieben. — Wenn im Ganzen und überhaupt geſagt wird, daß unſere gegen—
wärtige Meßkleidung ein Alter von acht Jahrhunderten habe ‚ fo ift gewiß nicht
zu viel gefagt. (Vgl. hierzu den Art. Kirhengeräthe,) [Maft.]
Sleider der morgenländifhen Geiſtlichen. So groß auch der Unter⸗
ſchied der priefterlichen Eultfleivung bei den Griechen von der in der Tateinifchen
Kirche ift, fo eorrefpondiren doch den meiften Theilen der Meßkleidung bei den
romiſchen Katholiken einzelne heilige Kleider der Griechen. So entfpricht der
Alba in der lateiniſchen Kirche das griechifhe oroıyaoıov (orıyagıovy — Goar
überfest es freilich immer mit dalmatica), das ſchon der Lector vekommt, der
Stola das Wodgıov der Diaconen (orarium ift aus einer Corruption entftanden,
das Wort fommt von wor, der Gebetzeit, welche durch das Tragen diejes heil.
Kleides angezeigt wird) und das ZreiroayiAuov der Priefter (ein Doppelorar),
die Zurıuvizıe dem Manipel (Muralt ftellt dieß in Abrede), die Covn dem
Eingulum, das gekomıov, gaıkayıov der Eafula. Ein befonderes Ehrenzeichen
für vornehme Prieſter iſt das Erzıyovarıoy, auch vrroyovarıov, eine Art von
dierefigem, von der [av auf das Knie herabreichenden Schilde, nah Simeon
Metapbraftes den Sieg über den Tod und die Macht des Böjen andeutend, Die
Infignien der Bifhöfe find bei den Griechen das WuopogLor, ſchon von Iſidor
von Peluſi um genannt (7 gegen 450), von Goar mit pallium überſetzt, der aux-
»0S, ein Gewand ohne Aermel mit Glocklein und der Saßdog vder Hirtenftab.
Den Gebraud der Mitra fennen die Griechen nicht, nur der Patriarch von
Alerandrien trägt das Le00v (zu bemerken aber, daß in Muralt's Lerivion Taf. IV.
der Biſchof eine Mitra trägt, während Glen— Ring den Bischof ohne Kopfbederfung
darſtelltz fo ift auch auffallend, daß bei Muralt a. a, DO, der bifchöfliche
Sakkos Aermel Hat). Die Eultfleidung bei den Kopten, Syrern u. f. w. ift
wenigſtens nicht ſehr verſchieden von der griechiſchen. Es iſt nicht zu läugnen,
daß die heiligen Kleider der Griechen den äſthetiſchen Anforderungen in hohem
Grade genügen. [Maft.]
Sleider der proteftantiihen Geiftlihen beim Gottesdienſte. Die
proteftantifchen Miniftri tragen bei den gottesdienftlichen Functionen meift den
ſchwarzen Talar, wie er zu Luther’ Zeiten von den katholiſchen Prieftern all-
gemein getragen wurde, auch wohl die Albe, ja fogar in gewiffen Gegenden die
Eafula; die Reformirten aber haben das Alles verworfen und begnügen fih mit
dem einfachen ſchwarzen Rod, der zur Auszeihnung höchſtens etwa einen zwei
Hände breiten Streifen von fpwarzem Zeuge hinten berabhängen läßt. Zu be-
merfen ift außerdem noch der weiße Halsfragen oder die beiden Eleinen weißen
Streifen, welde vorn am Halfe getragen werden, In der englifch = bifchöflichen
Kirche trägt der Priefter über der Albe ein Furzes rothſeidenes Schulterkleid.
218 Kleidung, geiftliche,
Das Barett der proteftantifchen Prediger ift nichts Anderes als Die Kopfbedeckung,
wie fie zur Zeit der Reformation allgemein üblich war,
Kleidung, geiftliche, außer den Firchlichen Functionen. Es ift anzunehmen, |
daß im Anfange des Chriftenthums die Priefter im gewöhnlichen Leben eine von
der Laientracht entweder gar nicht oder nur wenig verfehiedene Tracht hatten; fo
verlangte es ſchon die Nücficht auf den Zuftand der Verfolgung, Als diefer er-
loſch, machte fih im Verhältniß zu der immer wechfelnden und Iururiöfer fich ge-
ftaltenden Mode die Firchliche Disciplin geltend, welche auf Unterſcheidung der
Tracht der Geiftlihen von der der Laien drang. Diefe Unterfheidung aber bil-
dete fih fo, daß die Geiftlichen, den Wechfel der Mode nicht beachtend, im We-
fentlichen bei der becenten antifen Kleidung blieben. Aus dem vierten und fünften
Sahrhunderte haben wir Ermahnungen wie von Eoneilien fo von Kirchenvätern,
daß der Cleriker fich flandesgemäß Fleiven folle. Im Allgemeinen galt der Grund-
faß des hl, Hieronymus (ep.2. ad Nepot.); „ornatus et sordes pari modo fugiendae
sunt; quia alterum delicias, alterum gloriam redolet‘“ (cf. Possidon. in vita Augustini
„vestis ejus et calceamenta et lectualia ex moderato et competenti habilu erant,
nec nitida nimium nec-abjecta plurimum‘“). Bald finden wir bei ben Firchlichen
Schriftſtellern den Ausdruck „habitus ecclesiasticus“ pder „tunica, tota sacerdotalis“.
Die Farbe der Kleidung anlangend, trugen, wie Abbildungen aus dem dritten
und vierten — ausweiſen, die lateiniſchen Cleriker die weiße, jedoch
nicht glänzendweiße (cf. Hieron. ad Nepotian. n. 5.), Tunica ohne Aermel, wäh—
rend in der griechiſchen Kirche von Anfang an die ſchwarze Farbe den Vorzug ge—
habt zu haben ſcheint, der ihr allmählig dann in der ganzen Kirche eingeräumt
worden. Beſonders verboten für die Kleidung der Geiſtlichen wurden die rothe,
grüne und bunte Farbe (constitut. Gallonis legati a. 1208, concil. Montispessul.
can. 3, concil. Colon. a. 1280, conc. Lateranense sub Leone X. 1514), Schon
die Synode in Trullo verhängt die Suspenfion über die Geiftlihen, welde fi
der Standestracht nicht bedienen (cf. can. Nullus causa 21. qu. 4.), Das Eoneil
im Lateran unter Papft Innocenz II. beftimmt im 16, Canon, daß die Cleriker
gefhloffene Kleider tragen follen. Am deutlichften und beftimmteften hat fich über
diefen Punct der Disciplin das Coneil von Trient (Sess. 14. c. 6. deref.) aus⸗
gefprochen, indem e8 unter Bedrohung mit Suspenfion, Beraubung der Firhlichen
Einfünfte ꝛc. allen geiftlichen Perfonen einfchärft, zu tragen „honestum habitum
clericalem illorum ordini et dignitati congruentem“, d. h. wie Sirtus V. in der
Bulle „sacrosanclam“ (a. 1589) ausdrücflich erklärt hat, und wie aus der Er—
Härung einer Menge von Provincialeoncilien hervorgeht, den Talar,
das lange, ſchwarze, gefhloffene Gewand, Weiter entzieht Diefelbe Synode (von
Trient) allen Geiftlihen, welche außer der Tonfur das geiftliche Kleid nicht tra—
gen, das fog. privilegium fori (Sess. 23. de reform. c. 6.), In manchen Ländern
bat diefe gefeglihe Beftimmung auch Eingang gefunden, am wenigften iſt dieß
der Fall gewefen in Teutfchland, wo es mit diefem wichtigen Disciplinarpunct
zeitenweife fehr willfürlich gehalten worden if, Im nämlichen Grade, in welchem
das Bewußtfein von dem eigentlichen Wefen der priefterfihen Würde in Folge
jofephinifcher Aufffärerei abhanden gefommen, wurde die geiftliche Kleidung zu
den reinen adiaphoris gerechnet, und der einfeitige Orundfaß hervorgehoben, daß
das Kleid nicht den Mann mache, gegen welchen das claffifche Wort des Hl, Ber-
narbug gefagt werden muß, der auf die Trage: num de vestibus est cura Deo et
non magis de moribus? antwortete: at forma haec vestium deformitatis mentium
et morum indicium est (lib. 3. de consid. c. 5). Mag nun auch den Bifchöfen
‚der einzelnen Didcefen geftattet fein, mit Berüfichtigung der Verhältniffe gewiffe
Milderungen des allgemeinen Kirchengefeges eintreten zu Iaffen, fo muß doch das
Weſen deffelben ſtets aufrecht erhalten werden, welches in ben zwei Beftimmungen
beruht, daß das geiftliche Kleid einmal von dem der Laien unterſchieden, ſodann
Kleidung der Männerund Frauen beidenalten Hebräern. 219
daß es vom Biſchof approbirt fei. Und davon kann nur im Falle der Verfolgung
Umgang genommen werden. Die Einwendungen, welde gegen die geiftliche Klei-
dung erhoben werden, fließen aus der Duelle des Weltgeiftes. — Die kirchlichen
Vorfchriften Hinfichtlich der geiftlichen Kleidung beziehen ſich auch auf die Kopf-,
Hals- und Fußbekleidung; fie find aber in den verfchiedenen Bisthümern ver-
ſchieden. [Maft.]
Kleidung der Männer und Frauen bei den alten Hebräern. In
den altteftamentlihen Büchern finden fih über diefen Gegenſtand nur zerftreute
furze Angaben und Andeutungen, aus denen fih eine vollftändige fihere Kenntniß
der Sache nicht gewinnen läßt. Da jedoch der Drient, wie in Anderem, fo au
in den Kleidertrachten fehr flabil ift, und dießfallſige Rückſchlüſſe von der fpätern
Zeit auf die frühere wohl geftattet, auch die Abbildungen auf den alten Ruinen
son Babylon, Perfepolis zc. mandhe Aufſchlüſſe geben, fo wird ſich wenigftens
das Wichtigſte mit befriedigender Sicherheit angeben Iaffen. A. Kleidung der
Männer. Das frühefte und einfachfte Kleidungsftüf in Arabien und andern
heißen Ländern, und darum wohl auch bei den Hebräern, war 1) das Ihr am
N, welches in Arabien noch jetzt oft das einzige Kleidungsſtück der ar-
beitenden Claſſe ift. Es befteht nur aus einem Fleinen Stüf Tuch, weldes um
die Hüfte gebunden wird und bis zu den Knieen hinabreicht (Befchreibung und
Abbildung bei Niebuhr, Behr. von Arabien. ©, 364. Tab, 15. 16. Reife-
befär. I. 268. Tab. 54.). Später wurde es nah oben bis über die Schultern
verlängert, und fo entftund 2) das gewöhnlihe Unterkleid (nin> oder nınz,
yıraw). Es hatte eine rockartige Geftalt und Aermel, war aber nach vorne nicht
offen, fondern ringsum zugenäht nach Art unferer Hemden, In der Regel reichte
es vom Hals bis über die Kniee oder auch bis an die Knöchel hinab, wurde auf
bloßem Leibe getragen und war das gewöhnliche, oft einzige Kleid der gemeinen
Leute, Der Stoff, aus dem es beftund, war gewöhnlich Kattun oder Leinwand,
und baper dat es wahrſcheinlich auch ſeinen Namen, denn das verwandte arabiſche
— *
oder („223 bedeutet Baumwolle und baumwollenes Zeug (Cotton, Kattun).
Seine Farbe war wohl, wie bei den Arabern gewöhnlih (Jahn, biblifhe Ar-
häologie I. 2. S. 79 f.) weiß oder blau, oder mit beiden Farben geftreift. Solide
Kleider wurden übrigens auch ganz gewoben, fo daß fie nirgends zufammengenäht
zu werben brauchten (305. 19, 23.), und eine jüdifche Tradition fagt fogar, dag
die Kleider des Hohenpriefters ganz gewoben gewefen und zu ihrer Verfertigung
Feine Nadel gebraucht worden fei (Sebachim f. 85. a.). Außer diefem Unterfleive
wird zuweilen noch ein anderes, eine Art Hemd (7770) erwähnt (Richt. 14, 12.
Jeſ. 3, 23. Sprüchw. 31, 24.), das gewöhnlich. von Vornehmen, zuweilen aber
auch von gemeinen Leuten getragen wurde, wie z. B. von Fifchern, um das eigent-
liche Unterfleid (erevdvzng Joſ. 21, 7.) ablegen zu konnen, ohne ſchon ganz
nadt zu fein. Vornehme trugen aber über dem gewöhnlichen Unterkleide oft noch
ein anderes, längeres, bald mit, bald ohne Aermel (Hy oder mauy2 genannt
1 Sam, 15, 27. 18, 4. 24, 5. 2 Sam, 13, 18, Jeſ. 3, 22. Das gewöhnliche
Unterffeid war in der Negel ziemlich weit und Iang, weßhalb 3) ein Gürtel
nöthig war, um es aufzubinden und an den Leib zu befefligen. Die allgemeine
Benennung deffelben iſt 371 oder 257, bei Männern irn, bei Frauen D’Qw7.
Er war Anfangs, und bei ärmeren Leuten und Afceten auch fpäter noch, ganz
einfach, beftund nur aus Leder oder einem Streifen Tuh, und war mit einer
Schnalle verfehen, um ihn weiter oder enger zu machen; fo trugen Elias und
Johannes der Täufer Iederne Gürtel (2 Kön. 1, 8. Matth, 3, 4). Bei Reichern
dagegen beftund er aus Linnen oder Baumwolle, vielleicht, wie fpäter, auch aus
220 Kleidung der Männer und Frauen ıc
Seide, oder war doch mit Seide geftickt, mit fünftlichen Figuren, wohl auch mit
Sitber, Gold und Ebdelfteinen geziert, ziemlich breit, fo daß er einigemal über-
einander gelegt und Geld oder Aehnliches in ihn gewickelt werden fonnte, und er
zugleich auch als Börfe und Tafche diente (Matth. 10, 9. Marc, 6, 8.). Er
wurde entweder vorne zugefchnalft, oder wie der priefterlihe Gürtel (f. Priefter)
zugefnüpft; oft war er auch ziemlich lang, fo daß er zwei- big dreimal um den
Leib ging (Shaw, Reif, S. 199), Man trug ihn ziemlich tief, daher das häu—
fige „die Lenden umgürten”; und wenn man ein Schwert, einen Dolch u. dgl.
bei fich hatte, war es am Gürtel befeftigt, weßhalb derfelbe auch zur Kriegs-
rüftung gehörte (Jeſ. 5, 27.). Das Unterfleid und der Gürtel galten auch als
Sinnbild der Treue und Freundfchaft, als welches z. B. ſchon Jonathan diefelben
dem David zum Gefihenfe gab (1 Sam, 18, 4.). Ueber dem Unterfleive und
Gürtel trug man 4) das Oberkleid (Taniv oder mabw, auch mıo2 oder 712
genannt). Diefes befteht in feiner einfachften Geſtalt in einem viereckigen Stüd
Tuch, das entweder über den Rücken gelegt und um ben Leib gefchlagen, oder
auf die Iinfe Schulter genommen und unter dem rechten Arme mit den zwei ent-
gegengefeßten Ecfen zufammengefnüpft wurde. Stoff und Farbe waren je nad
Bermögensumftänden verfchieden. Bei Armen beftund es, nach der fpäteren Sitte
und einzelnen Andeutungen der Schrift zu fehließen (Jahn, biblifche Archäologie,
1. 2, ©. 89), aus Wolle oder Kameelhaaren, bei Reihen und Vornehmen da-
gegen aus feinem Kattun von weißer oder blauer oder purpurrsther Farbe, war
auch weiß und ſchwarz geftreift, zuweilen auch bunt oder geſtickt und mit ver-
fehiedenen Figuren geziert. An den vier Eden deffelben mußten die Hebräer eine
dunfelblaue Schnur mit Duaften tragen, um durch deren Anblick an die Erfüllung
des Gefebes gemahnt zu werden Num, 15, 37 ff.). Aermeren Leuten diente
dieſes Dberfleid zugleich als Schlafverfe und durfte daher yon einem Gläubigen
nicht über die Nacht als Pfand behalten werben (Exod. 22, 25 f. Deut, 24, 13.).
Nöthigen Falls konnte man e8 auch als Tafche oder Sad gebrauchen, wie z. B.
Nuth, welche eine ordentliche Duantität Gerfte in ihrem Oberkleide heimtrug
(3, 15. vgl. Pf. 79, 12.). Mit der Zeit wurde diefes Kleidungsſtück verfchieden-
artig geändert; man fehnitt e8 zunächſt in zwei Theile und ließ den einen über
den Rüden, den andern über die Bruft bis an die Kniee hinabhängen, und hef—
tete beide über den Schultern mit Schnallen zufammen; dann machte man noch
andere Aenderungen, bis man endlich ein camifplartiges Kleid erhielt, wie ſolches
ſchon auf den perfepolitanifchen Ruinen zu fehen ift (Jahn, a. a. O. ©, 91f.).
Eine eigene Art von Oberkleid war nyın, weiter Mantel (Joſ. 7, 21. 24,),
namentlich fommt als Prophetenkleid Asa my7S vor (Zach. 13, 4.), worunter
man ficherlich nicht einen mit Pelz gefütterten Mantel zu denken Hat, fondern
einen härenen, aus Ziegen- oder Kameelhaaren verfertigten, wie dieß z. B. ſchon
die fonftige Weife des. Elias, der einen folchen trug (Rnobel, Prophetismus I.
48), erwarten läßt, 5) Die Kopfbedeckung war bei den Drientalen fchon in
früher Zeit nicht fo leicht und einfah, wie die übrige Kleidung. Anfangs zwar
galten die Haare als die natürliche und genügende Kopfbedeckung. Später aber
band man fie, zuerft mit einer einfachen Schnur, dann mit einer breiten Tuch—
binde fünftlich zufammen und an den Kopf hin, Erfteres, auch noch auf den per-
fepolitanifchen Ruinen zu fehen (Winer, Nealw. 5. v. Turban), war ohne Zwei-
fel bei der arbeitenden Claffe das Gemwöhnlihe. Die genannte Tuhbinde aber
wurde mit der Zeit auch ziemlich lang und breit genommen, mehrere Male um
den Kopf herumgewickelt, Ffünftlich gefaltet und oben zufammengebogen und ge=
fchloffen, over auch fo gewunden, daß das Ganze in eine Fegelartige Spige aus-
Yief; und fo entflund die bei den Orientalen noch jetzt gewöhnliche Kopfbedeckung,
vie man Turban nennt, Die Turbane der Hebräer waren aber von verſchiedener
Kleidung der Männer und Frauen ıc Me
Geftalt, die ſich jedoch nicht mehr genau angeben läßt, und hatten auch verſchie—
dene Namen, 7x ift der allgemeine Name derfelben und kommt vor vom Tur-
ban der Männer (Job 29, 14.), der Weiber (Jeſ. 3, 23.), und felbft des Hohen-
priefters (Zah. 3, 5.), feheint aber doch zugleich auch für eine eigene Art von
Turban gebraucht worden zu fein (vgl. Je. 3, 20. 28.). x2 wird ebenfalls
vom Zurban der Männer (Joſ. 61, 10. Ezech. 24, 17.) und Weiber (Jef. 3, 20.)
gebraudt. >23 ift der Turban der Priefter (f. Priefter), und na:zn der
Zurban des Hohenprieſters (f. Hoherpriefter). Die fpigauslaufenden Turbane
fcheinen die älteren gewefen zu fein, denn andere zeigen fih noch nicht auf den
verfepolitanifchen Ruinen. Es war daher wahrſcheinlich auch bei den alten He—
bräern eben diefe Art üblich. Außer folhen Turbanen hatte man aber auch ſpä—
ter noch einfachere Kopfbedeckungen, Mützen von verfchiedener Art, deren Geftalt
jedoch, wie fie bei den Hebräern üblich gewefen fein mag, ſich nicht mehr näher
angeben läßt (Jahn, a. a. O. ©. 120 ff.). Die Kopfbedeckung vor Andern, na-
mentlih Höhern und Vornehmern, abzunehmen, war im’alten Orient nicht nur
nicht üblich, fondern wäre fogar eine grobe Verlegung des Anftandes gewefen
(Jahn, a.a,D, ©. 129 f.). 6) As Fußbefleidung hatten die Hebräer,
wie noch jetzt die Araber, gewöhnlich bloße Schnürſohlen (or>>2, DY>>2, Uro-
Öruare, vavdahıc), theil aus einem dünnen Brette, theild aus andern Stof-
fen, befonders aus Leder beftehend, Sie wurden dur Bänder (7) auf ver-
ſchiedene Weife an die Fußfohlen gebunden (Abbildungen bei Niebuhr, Beſchr.
von Arabien, Tab. 2.). Nah Amos 2, 6. 8, 6. müffen fie in der Regel ſchlecht
und wohlfeil gewefen fein; daß es jedoch auch Foftbare Sandalien gab, erhellt
aus Ezech. 16, 10. Hohesl. 7, 2. Judith 10, 3. 16, 11. Und da nah Teno—
pbon (Cyrop. VII. 1, 41.) und Strabo (XV. 734) bei den Perfern fogar ordent-
liche Schuhe vorfamen, fo ift es wahrfcheinlih, daß die beffern Sandalien au
bei den Hebräern wenigftens mit einem Seiten- und Dberleder. verfehen und fo
unfern Pantoffeln ähnlich geworden feien, wobei fih dann auch foftbareres Leder
und fonflige Verzierungen anbringen ließen (Jahn, a.a.D. ©. 101). Sie ab-
zulöfen, war Gefchäft der Sclaven, und wer feinen folden zu unterhalten ver-
mochte, war in der Regel auch ohne Sandalien, Abgelöst wurden fie aber jedes-
mal, bevor man in ein Haus ging, denn in den Zimmern war man immer ohne
Fußbekleidung, die Pafhamahlzeit ausgenommen (Erod. 12, 11.). Trauernde
aber waren überhaupt ohne folde (2 Sam. 15, 30. Jef, 20, 2. Ezech. 24, 17,
23.), und wenn man eine heilige Stätte betrat, zog man fie aus (Erod. 3, 5.
Sof. 5, 15.). Es Hat daher die jüdifche Ueberlieferung, daß die Priefter den HI.
Dienft baarfuß verrichtet haben, wenigftens große Wahrfiheinlichkeit. Eine mit
dem Tragen der Sandalien zufammenhängende Sitte war das häufige Fußwaſchen,
befonders wenn man als Gaft in ein fremdes Haus Fam. In diefem Falle be—
fund eine der erſten Chrenbezeugungen darin, daß ein Diener des Haufes, oder
je nah Umftänden der Hausvater felbft dem Gafte die Füße wufh (Genef. 13,
4 f. Luc. 7, 44.). In der alten Zeit wurden Raufverträge dadurch befräftigt,
daß der Verfäufer dem Käufer einen Schub (Sandalie) übergab (Ruth 4, 7.).
Bol. Bynaeus, de calceis vet. Hebr. Dordr. 1682. 1715, auch in Ugolini the-
saurus. XXIX. Ob die Hebräer auch 7) Beinfleider oder Hofen getragen
haben, wie ſolche an den Abbildungen auf den perfepolitanifchen Ruinen vorfom-
men, fann zwar nicht gerade verneint werden, ift aber unwahrſcheinlich; denn
wo in der Bibel folche erwähnt werden, erfcheinen fie als eigenthümliches Kfei-
dungsſtück der Priefter, und waren auch für diefe nur während ihres Dienftes
beim Heiligtum vorgefchrieben (Exod. 28, 42. 39, 28, Levit. 6, 3. 16, 4.).
Zudem find Die 72 »O2>72, um bie es ſich dabei handelt, nad) Exod. 28,42, nicht
einmal eigentlich Beinkleider, fondern eher Hüftfleider zu nennen. Und König
222 Kleidung der Männer und Frauen ıc,
David fcheint nah 2 Sam, 6, 20, feine Beinfleiver getragen zu haben. Die bei
Daniel erwähnten DYZ2no find zwar ohne Zweifel Beinkleider, allein es handelt
fih an diefer Stelle nicht um hebräiſche, fondern um chalväifch-perfifche Sitten,
So fehr daher auch im jegigen Drient die Beinfleiver bei Männern und Frauen
allgemein find, fo waren fie doch bei den alten Hebräern fchwerlih in Hebung
(Jahn, a. a. O. © 75f.). 8) Handſchuhe Fannten die Hebräer zwar, jedoch
nicht als regelmäßiges Kleidungsſtück, oder einen Theil des Puges, fondern nur
als Schugmittel gegen Beihmugung oder Verwundung der Hände bei gewiffen
Arbeiten (Chelim 16, 6, 26, 3.). Sehr Häufig und beliebt waren aber bei ihnen
9) die Feier- oder Wechſelkleider (Hixarn ober mi2rhT, auf mann my”
gef. 61, 3.). Sie waren von den gewöhnlichen Kleidern in der Form nicht ver-
ſchieden, fondern nur etwa aus feinern Stoffen verfertigt und reichlich mit Sticke—
reien verziert. Häufig wurden fie auch parfümirt (Genef. 27,27, Hohesl. 4, 11.),
namentlich mit Myrrhe, Aloe und Kafia (Pf. 45, 9.). Sie wurden ohne Zwei-
fel, wie bei den heutigen Morgenländern, befonders gebraucht bei Gaftmählern,
Hochzeiten und fonfligen ungewöhnlichen Feierlichkeiten, manchmal in großer
Menge, fo daß wohl acht- bis zehnmal bei einem einzigen Gaftmahle die Kleider
gewechfelt wurden (Jahn, a, a. O. ©, 162). Einigen Grund hatte diefes zwar
in der Befchaffenheit der Kleidung und dem warmen Klima, gefchah jedoch meiftens,
um Pracht und Reichthum zur Schau zu tragen. Vornehme hatten gewöhnlich
einen großen Vorrath von folhen Kleidern (ob 27, 16, Luc. 15, 22.), wohl
Trriıy=-
45, 22. 2 Kön. 5, 5. Eſth. A, 4. 6, 8.). Angellagte, die unfchuldig erfunden
wurden, erhielten zuweilen zum Zeichen der ihnen wieder zugewendeten Gnade
ein folches Kleid zum Geſchenk (vgl. Zah. 3, 1—5. 1 Maccab. 10, 61—64.).
10) Zrauerfleider (pw, DEW) werben ſchon in der Geneſis erwähnt (37,
34.). Sie waren, wie ihr Name befagt, faft bloße Säcke, beſtunden aus ganz
rauhem Zeug von Ziegen- oder Kameelhaaren, hatten Feine Aermel, fondern nur
Deffnungen für den Kopf und die Arme, und reichten kaum bis an die Kniee.
Shre Farbe war ſchwarz oder dunfelbraun, wie auch die Trauerfleider der Griechen
und Römer (vgl. Welte, dag Buch Job 5, 11.), und fie wurden mit einem
Strif an den Leib gebunden, Uebrigens trugen nicht bloß Trauernde ſolche
Kleider, fondern auch Propheten (Jeſ. 20,2), Afceten und Bußprediger (Matth.
3, 4). B. Kleidung der Frauen. Daß diefe von jener der Männer ver-
fchieden gewefen fein müffe, erhellt fchon aus dem Verbote, die Kleider des andern
Gefchlechtes zu tragen (Deut, 22, 5.). Allein fehr bedeutend kann dieſe Ver—
Tchiedenheit Doch nicht gewefen fein, denn die Frauen hatten Unterffeiver, Gürtel
und Dberfleiver wie die Männer, und eine wefentliche Verfchiedenheit der Ge—
ftalt wird nirgends bemerflich gemacht, Selbft noch im heutigen Orient find die
Kleider der Männer und Frauen nur wenig verfchieden, und auf den perfepplita-
nifchen Ruinen find die weiblichen Figuren ganz fo gefleidet wie die männlichen
(Jahn, a. a. O. S. 130 f.). Der Hauptunterfchied beftund wohl nur darin,
daß die Unterfleider der Frauen verhältnigmäßig länger und weiter ald bei Män-
nern, aus feinerem Stoffe verfertigt und wohl auch mit Sticfereien verziert waren,
Der Gürtel (OAWR) war in der Regel foftbar und ging einige Male um bem
Leib. Das Oberfleid (nn20n) beflund ebenfalls aus befferem Stoffe als bei
den Männern, war weiter und länger und oft mit einer Schleppe verfehen, Die
gewöhnliche Kopfbederfung war, wie bei den Männern, ein Turban, nur daß
derfelbe etwa fchöner geformt war und aus befferem Stoffe beftund, Was die
Archäologen über Neghauben und Stirnbänder der Frauen fagen, hat wenig
Sicherheit, Die Sandalien waren oft aus farbigem Leder verfertigt und wohl
a nn =
Kleidung ber Männer und Frauen ır, 223
auch fonft noch mit edlen Metallen und Edelfteinen verziert, Ein den Frauen
eigenthümliches Kleidungsſtück aber, welches in Verbindung mit manchen Putz-
ſachen ihren Anzug ſehr merklich von dem männlichen unterſchied, war ber
- Säleier, der noch jest im ganzen Drient wefentlih zur weiblichen Kleidung
gehört, Die Hebräer hatten aber mehrere Arten von Schleiern, und vornehme
Frauen trugen wohl auch, wie noch heutzutage, mehrere zugleich. Ueber ihre
Beſchaffenheit und Verſchiedenheit von einander laͤßt fid nur muthmaßlich nad
Maßgabe der fpäteren und jegigen Sitte urtheilen. In den altteftamentlihen
Schriften fommen zur Bezeichnung berfelben die vier Ausdrüde >97 (oder 97),
AL, max und 7777 vor, beren Bedeutung aber, fofern nach der Beſchaffenheit
gefragt wird, feinen Aufſchluß gibt, fondern nur auf Allgemeinheiten führt. Unter
222Geſ. 3, 19.) ift wahrſcheinlich, wie unter —* ein aus zwei Stücken be—
ſtehender Schleier gemeint, wovon das eine den Kopf von den Augen an bedeckt
und frei über die Schultern und den Rüden hinunterhängt, das andere aber in
der Gegend der Augen fo mit ihm verbunden ift, daß die Augen frei umherfehen
Tonnen, und von da an über das Angefiht und die Bruft herabhängt. or
(Genef. 24, 65. 38, 14. 19.) und ax (gef. 47, 2. Hohesl. 4, 1. 3. 6, 7.)
bezeichnen wahrſcheinlich folhe Schleier, wie fie noch in neuerer Zeit in Syrien
und Aegypten vorfommen. Sie bedecken nur den unteren Theil des Angefichtes
von der Nafe an und hängen frei über Hals und Bruft hinab. Solde finden
fih au auf den perfepolitanifchen Ruinen. 7773 Gef. 3, 23. Hohesl. 5, 7,)
fiheint ein florartiger Ueberwurf über die andern Kleider und mehr ein Dberfleid
oder Mantel als ein eigentlicher Schleier gewefen zu fein, Einen oder auch zwei
bis drei folder Schleier trugen ehrbare Frauensperfonen von befferem Stande
immer, wenn fie ausgingen, und felbft in der eigenen Wohnung fo lang Fremde
anwejend waren. Nur vor Sclaven wurde der Schleier abgelegt und wohl auch,
wie bei den Moslims vor denjenigen Anverwandten, mit denen das mofaifche
Gefeg die Ehe verbietet (f. Warnefros, hebr. Alterthümer. Ite Aufl. ©.
501 f.). In der patriarhalifhen Zeit übrigens fiheinen die Frauensperfonen
häufig unverjihleiert ausgegangen zu fein (Genef. 12, 14. 24, 15 f.), und das-
felbe wird bei Frauen von gemeinem Stande wohl auch in fpäterer Zeit, fo wie
jest noch (ogl. Robinfon, Paläftina II. 404.), der Fall gewefen fein (Bucher,
antiquitt. hebr. et graec. de velatis feminis. Budiss. 1717.). Ueber die Pugfachen
der Frauen f. Putzſachen. Vgl. Schroeder, de vestitu mulier. hebr. Lugd.
Bat. 1745. Hartmann, die Hehräerin am Pugtifche und als Braut, Amfterd,
1809—10. — Berfertigt wurden die Kleider gewöhnlich von den Frauen (1 Sam,
2, 19. Sprüchw. 31,21. Apg. 9, 39.), und es beftund dießfalls nur die Vor-
ſchrift, zu einem Kleidungsſtück nicht Wolle und Finnen zugleich zu nehmen (Levit.
19, 19. Deut. 22, 11.). Befonders gefhägt waren aber bunte und gefticfte (Nicht,
5, 30. 8, 26. 2 Sam. 1, 24. Sprühw, 31, 22. Eſth. 8, 15. Ejech. 16, 10.),
fo wie auch ganz weiße Kleider aus Flahs und Baumwolle (ef. J. Schmid, de
usu vestium albarum in Ugolini thesaurus. XXIX.). Eine befondere Amtsfleivung
hatten die Priefter (f. d. A.) und Hohe Fönigliche Beamten (1 Kön. 10, 5. Jef.
22, 21.). Unter den fpäteren Königen kam übrigens bei den Hebräern ein großer
Kleiderluxus auf (Zeph. 1, 8. Jer. 4, 30, Klagl. 4, 5.) und noch die Apoftel
warnen vor demfelben (1 Tim, 2, 9. 1 Petr. 3, 3.). — Im Ventateuch findet
ſich auch eine Vorſchrift in Betreff des Kleideransfages (Levit. 13,47 ff.).
Er foll in grünen und röthlihen Flecken an Linnen- und Wollenzeugen, Häuten
und Leder beftehen. Ueber feine wahre Befchaffenheit iſt man im Ungewiſſen.
Die darüber aufgeftellten Anfichten find nicht befriedigend, auch die von Michaelis,
daß der Kleiderausfag von der Sterbewolle, d. h. yon der Wolle der an einer
>>) Kleinzehnten — Klerus.
Krankheit gefallenen Schafe, herrühre (Mof, Necht. IV. 265 ff.), und die von
Sahn, daß er durch Heine „dem unbewaffneten Auge unfichtbare” Inſecten, welche
die Haare abfreffen, bewirkt werde Ca, a. D, ©. 165.), haben den Umftand
gegen fih, daß nicht bloß wollene, fondern auch Iinnene Zeuge, und Haute und
Leder dem Uebel ausgefegt find, — Don griehifchen und römischen Kleidungs-
ſtücken kommen in der Bibel vor: yAruvs (2 Macc. 12, 35.), ein weites Ober-
Heid, namentlich der Soldaten und befonders der Neiter, und xAuuvg x0xxivn
(Matth. 27, 28.), ein fharlachfarbiger mit Purpur verbrämter Mantel, den bie
römifchen Feldherren, und vor Diveletian auch die Kaifer, trugen (ſ. Winer,
Nealw. s. v. Kleiver). Vgl. Soprani, de re vestiaria Hebr. bei fein. Comment.
de Davide. Lugd. 1643—44. und den einfchlägigen Abſchnitt in den Archäologien
von Jahn, Warnefros, de Wette ꝛc. nebft den dortigen Titerarifchen Nach—
weiſungen. [Welte.]
Kleinzehnten, ſ. Zehnten.
Kleophas, ſ. Cleophas und Alphäus.
Klerus (x4n005, sors Loos) iſt die Bezeichnung für denjenigen der beiden
ficchlichen Stände, in weldhem das Prieſterthum, Prophetenthum und
Koönigthum Chriſti fich fortpflanzt, der deßhalb im Befige der von Ehrifto den
Apofteln verliehenen Vollmachten Hinfichtlich des Opfers, der Lehre und Dis—
eiplin, die man unter dem allgemeinen Namen der Kirchengewalt begreift,
fih befindet. Die Mitglieder diefes Standes werben Klerifer Geiſtliche)
genannt, während die Mitglieder des andern Laien heißen, Die Beftimmung
des Klerus alfo ift es, die Sarramente zu fpenden, die heilbringende Lehre zu
verfündigen und die Disciplin zu handhaben. Die Klerifer haben nicht alle ein
gleiches Maß von Vollmachten; fie theilen fich vielmehr in verſchiedene Elaffen,
je nach dem größeren oder geringeren Maße derfelben (Conc. Trid. Sess. 23.
cap. 2. et can. 2.). Der höchſte diefer Grade ift das Presbyterat, an den das
Episcopat fih anſchließt, mit welchem die elerifalifche Reihenfolge ihre Bollen-
dung erhält. (Vgl. den Art, Hierarchie.) Das Verhältniß des Elerifalftandes
zum Laienftande ergibt fih aus dem Zwecke des Erfteren: Die Geiftlihen find
die Hirten, Lehrer und Führer, und e8 würde dem Zwerfe der Einfegung völlig
widerfprechen, wenn die Laien fie nicht als ſolche anerkennen wollten. Es iſt
ausdrückliche Lehre der Fatholifchen Kirche, daß nicht alle Chriften gleiche geift-
Yihe Gewalt haben (Conc. Trid. Sess. 23. cap. 4.) und daß der geſchilderte Unter-
fchied auf göttlicher Einfegung Cib. can. 6.) beruhe. Diefe Lehre hat das gefammte
chriſtliche, vechtgläubige Altertfum (Bellarmin de membr. ecel. lib. I. c. 1.) für
fi. Wenn die entgegengefegte Anficht fich bisweilen geltend machte, fo gefhah
es nur im Bereiche der Secten, oder e$ hatte feinen Grund in vorübergehenden
Mißſtimmungen. Diefes bezeugt ganz deutlich Tertullian, wenn er (de monog.
c. 12.) fagt: Cum extollimus adversus clerum, tunc unum omnes sumus, tune
omnes sacerdotes, quia sacerdotes nos Deo et Patri fecit (Apoc. I. 6.); quum ad
peraequationem disciplinae sacerdotalis provocamur, deponimus infulas et
impares sumus. Ueberdieß bezeugt es auch der Apoftel (1 Cor. 12, 28.
Ephef. 4, 11), daß Gott in der Kirche die Einen zu Apofteln, Andere zu
Propheten, Andere zu Lehrern eingefegt habe. Die Thatfache, daß Chriſtus die
geiftlichen Vollmachten nicht Allen, fondern nur einer Heinen, von ihm erwählten
Schaar übertragen habe, fegt die Fatholifche Lehre außer allen Zweifel, Gegen
die Lehre, daß die Kirchengewalt nicht der Gefammtheit, fondern nur einzelnen
Individuen zufomme, erhoben ſich die Neuerer des 16ten Jahrhunderts und für-
derten eine Art von geiftlihem Communismus zu Tage, deſſen Confequenzen
unmöglich auf das kirchliche Gebiet befchränft bleiben konnten. Beſonders zeich-
nete fich Luther Hierin aus, wie feine Schriften „an den Adel teutfcher Nation“
(Wittenb. A, 1559, Thl. 6; Fol, 545), „vom Mißbrauch der Meſſe“ (Wittenb.
Kleſel. 225
a, 1561. Thl. 7. F. 263. 266. 283.) und in der 1524 für die Böhmen heraus-
gegebenen Schrift, „wie man Diener der Kirche welen und einfegen ſoll“
(Witteb, AU. Thl. 7. Fol. 352.) beweifen. Geradezu erklärt er (Wittenb. A.
Thl. 7. Fol. 266.) den Ausſpruch des Papfies Pelagius, daß die geiftlihe
Obrigkeit Gehorfam verlangen fünne, für eine Erfindung des Teufels. Weniger
rabical zeigte ſich Calvin; den theocratiſchen Ideen, mit deren Realifirung er ſich
abquälte, würden Luthers Anfichten feinen Vorſchub geleiftet haben. Auch in
Wittenberg Fam man nach und nach auf andere Ideen. Sp lange es fih darum
handelte , durch zerflörende Operationen das zum Aufbau der neuen Kirche nöthige
Terrain zu gewinnen, wurde dem Hochmuthe damit gefchmeichelt, da man lehrte,
der Firchlihe Functionär fei der Gemeinde unterworfen und ſchuldig und ver-
bunden, ihr zu gehorchen. Sobald aber eine mächtige Partei gewonnen und con-
folidirt worden war, ließ Luther die „Laien”, die im allgemeinen Prieſterthum
untergegangen waren, wieder aufleben und fprah ihnen (Hagen, Teutſchlands
Iiterarifche und religiöfe Berhältniffe im Reformationszeitalter, Erlangen 1844,
3, 1. ©, 164.) alles Recht ab, über ihren Pfarrer zu urtheilen. Die Iutheri-
ſchen Symbole adoptirten (Conf. Aug. de abus. Art. IV. ed. Rechb. p. 39.) die
Lehre, welche Luther als eine Erfindung des Teufels bezeichnet Hatte und beriefen
ſich für diefelde auf Chriſti Wort: Wer euch Hört, höret mid, Zur. 10, 16. —
Die Rangoronung unter den einzelnen hierarchiſchen Graden beruht nach der
Lehre der katholiſchen Kirche (Conc. Trid. Sess. 23. can 6.) auf göttliher Ein-
fegung, während die Proteflanten (Duerife, Comparative Symbolif, Leipzig
1839. ©. 571 ff.) die hierarchiſche Rangordnung nur jure humano beftehen laſſen.
Nur die Anglicaner machen eine Ausnahme, indem fie die Superiorität der Bi—
fhöfe als eine göttlihe Snftitution betrachten. (Bol. den Art. Hoch kirch e).
Aus dem Kampfe mit den Presbyterianern, an dem fid Blondel, Salmaſius
und Uſher betheiligten, ging die Fotholifche Lehre über diefen Punct’ fiegreich
hervor. Bon Fatholifcher Seite wurde diefer Punct von dem Carbinal de Ia
Luzerne in der Schrift: Dissertations sur les droits et devoirs respectives des
Evöques et des pretres (les devoirs des ev&ques und les droits des prötres find
mit Stilfihweigen übergangen) publices par M. l’abbe de Migne, Paris. 1844. 4.
p- 1—146. gründlich erörtert. — Der Act, mittelft deffen die Vollmachten über-
tragen werben, heißt Ordinatio, und ift nicht nur ein Sacrament, fondern ver—
leiht auch einen character indelebilis (ſ. d. A). Die Sarramentalität wurde felbft von
den Secten des Morgenlandes (Perpetuite de la foi de l’öglise sur les Sacrements,
der Perpetuit& de la foi T. V. Paris 1713; ed. Migne. Paris 1841. T. IV.) ange-
nommen; nur bezüglih der den Proteftanten eigenthümlichen Oppofition gegen
den character indelebilis feinen ſich ſchon früher Spuren bei einigen Secten zu
finden, wie aus einer Aeußerung Tertullians (de praeser. haer. c. 41. opp. ed.
Migne. Paris 1844. T. H. p. 56.), hervorgeht die alfo lautet: Ordinationes eorum
temerariae, leves inconstantes... alias hodie episcopus, cras alius, hodie dia-
conus, qui eras lector, hodie presbyter, qui eras laicus, nam et laicis sacerdotalia
munera injungunt. Zertullian führt diefes an, um zu zeigen, quam futilis, quam
terrena, quam humana, sine auctoritate , sine disciplina die conversatio haeretica
ſei. Luther meinte, „daß einer allweg Priefter bleiben müſſe, fei ein ertichtet
- Ding“ und die Seinen glaubten es ihm. Witeb. A. Ih. 7. Fol. 358. Die wei-
tere Ervofition, daß er es nur fo lang bleiben fünne, „als es der Gemeinde ge-
fällig iſt“, fand gleichfalls Anklang, war aber von fehr wefentlichen Incon—
venienzen begleitet, daß es Fein Wunder war, wenn er für die Einführung der
ordinatio vaga wenig Dank von feinen Schülern erntete, — Vergl. hierzu die
Artikel: Clericus, und Geiftlider. Buchmann.]
Kleſel, Melchior, Biſchof von Neuſtadt und Wien, Cardinal,
Staatsmann, geboren zu Wien 1553, war der Sohn eines lutheriſchen Bäckers
Kirchenlexikon. 6. Bd. 15
226 Kleſel.
daſelbſt, wurde ſchon als 16jähriger Jüngling von dem Jeſuiten Georg Scherer,
einem eifrigen und glücklichen Prediger wider das Lutherthum, zum katholiſchen
Glauben bekehrt und führte Dann ſelbſt feine Eltern zur katholiſchen Kirche zurück,
Seine geiftliche Erziehung erhielt er im Convicte der Zefniten zu St. Barbara
in Wien und ftieg fchon 1579, da er erfi 26 Jahre zählte, zur Würde des Dom-
propftes von Wien empor; als folder war er zugleich Kanzler der Univerfität,
Zwei Jahre nachher ernannte ihn Bifchof Urban von Paffau zu feinem geiftlichen
Rath und Generalsicar für Deftreih unter der Enns, Sein ftets fittenreiner
Wandel, feine Talente und fein Glaubenseifer für die Wiederherftellung der ka—
tholiſchen Religion, der aber jederzeit innerhalb den Schranfen der Berftändigkeit
blieb — unverftändigen Eifer tadelte er ſtets — trugen ihn ſchnell von Würde
zu Würde hinan, Im J. 1588 wurde er zum Bifchof von Neuftadt, und im J.
1598 zum Bischof von Wien ernannt; doch führte er lange nur die Verweferfchaft
beider Bisthümer und erhielt erft 1614 die päpftliche Beſtätigung. Auf Ver-
wendung des Kaiſers Matthias, deffen allmächtiger Meinifter er geworden war,
ſchmückte ihn der Papft 1616 mit dem Cardinalshut. In allen diefen Stellungen
war Rlefels Thätigkeit groß. In einem hohen Grade ausgerüftet mit der Gabe
der Rede, befämpfte der Dompropft in Predigten die proteftantifche Lehre und
befuchte unermüdet, zu dem Zwecke, Neugläubige zu befehren, die Kranfenhäufer
und die Umgegend von Wien, Als Kanzler der Wiener Univerfität forgte er
dafür, daß das Profefforen-Colfegium bIoß aus Katholiken beftände, Als Official
und Generalvicar des Bifhofs von Paffau fäuberte er Pfarren und Klöfter im
Lande unter der Enns und gab im J. 1590 im bifchöflichen Auftrage für den
dortigen Elerus eine Ritual- und Paftoral-Anweifung in den Drud, Als Ber-
wefer des Neuftädter Bisthums brachte er e8 durch feine Predigten, Belehrungen
und andere Mittel dahin, daß endlich alle Bisthumsangehörigen, die nicht aus—
wanderten, zur Fatholifchen Kirche zurückkehrten; zugleich bemühte er fich, bie
Eommunion unter beiden Geftalten abzubringen, und hielt zu diefem Zwerfe am
Palmfonntag 1590 feine berühmte Predigt, wodurch er den größten Theil der
Stadt Neuftadt für die Communion unter einer Geftalt gewann, Im J. 1590
erhielt er die oberfte Leitung der landesfürftlichen Commiffion, welche beauftragt
war, die Einwohner der landesfürftlichen Drte und überhaupt alle zu einer dem
Landesfürften oder einem Fatholifchen Ständeglied gehörigen Kirche Eingepfarrten
zur Fatholifchen Neligion zurüczuführen. Im J. 1596 bewirkte er ein Ediet,
welches viele der fihon lange vorher gegen die Uebergriffe des Proteftantismug
erlaffene Verordnungen neuerdings einfchärfte, und 1602 erfchien gleichfalls auf
Kleſels Betrieb ein Decret für die Tandesfürftlichen Drte ober und unter der Enns,
worin aufs Neue der proteftantifhe Gottesdienſt, die proteftantifhen Schulen
und Bücher verboten wurden, Als Kaifer Rudolph eine ihm von dem üftreichi-
ſchen Iutherifhen Adel im 3. 1604 überreichte Befchwerdefhrift dem Erzherzog
Matthias nah Wien überfandte und deffen Gutachten über diefelbe und über die
ganze Neligionsangelegenheit abverlangte, ertheilte Matthias auf Klefels Ein-
gebung dem Kaifer den Nath, die den Proteftanten früher ertheilte Religions—
freiheit wieder aufzuheben, und man muß geftehen, die Gründe, welche Kleſel
für diefe Aufhebung anführte, waren wenigftens viel ftärfer als jene, auf welche
geftügt alfe damaligen proteftantifchen Fürften ihren katholiſchen Unterthanen alle
und jede Neligionsfreiheit verweigerten, Indeß gingen die meiften Bemühungen
Klefels für die Emporbringung der Fatholifhen Neligion in Deftreich dadurch
wieder verloren, daß Matthias, von den ungarifchen und dftreichifchen proteflan-
tifhen Ständen gedrängt, troß aller Gegenbemühungen Kfefels, im J. 1609
ihnen freie Neligionsübung geftattete, während Kaiſer Rudolph den Böhmen den
Majeftätsbrief ertheilte, — In fpätern Jahren erfcheint Kleſels früherer Eifer
merflich gedämpft und der fühle und berechnende Staatsmann manchmal felbft in
Klingelbeutel. 227
kirchlichen Angelegenheiten zu fehr in den Vordergrund geftellt; daher Fam es,
daß Kleſel zulegt auch bei vielen Katholiken das Vertrauen verlor, ohne das der
Proteftanten zu gewinnen. Befonders mißftel fein Vorſchlag, den geiftlihen Vor—
bebalt aufzuheben und den proteftantifhen Inhabern der Stifter Sig und Stimme
am Reichstag einzuräumen; auch wurde ihm von Vielen zum Vorwurf gemacht,
daß er die Vertreibung der Nichtkatholifhen aus Steiermarf mißbilligte und nur
ihre Prediger entfernt wiffen wollte, Außerdem haßte man in Kleſel den bei dent
Kaifer Matthias und der Kaiſerin allvermögenden erften Minifter, der vom
Bädersfohn bis zu diefer Stufe und dem Cardinalate fih emporgefhwungen, der
ſelbſt den Erzherzogen gegenüber nichts von Dem vergab, was das Anfehen des
Cardinals hätte ſchmälern fönnen, und deffen Politik und Amtsführung bei Vielen,
felbft bei König Ferdinand und dem Erzherzog Marimilian, immer größere Un—
zufrievenheit erregte, Als daher die Böhmen bereits die Fahne des Aufruhrs
aufgefterft Hatten und Klefel dem Kaifer dennoch immer zur Nachgiebigkeit riet,
während Ferdinand, Maximilian und der fpaniiche Gefandte vergebens den Kaiſer
aufforderten, dem Aufruhr Gewalt entgegenzufegen, führten Ferdinand und Ma-
ximilian einen Gewaltftreich gegen Klefel aus: fie ließen ihn am 20. Juli 1618
feftnehmen und in das Schloß Ambras bei Innsbruck abführen, wo er zwar fürft-
lich behandelt wurde, doch in enger Haft blieb und erft nach etlihen Fahren im
die Abtei Georgenberg bei Schwaß überjegt wurde, Zur Rechtfertigung diefes
Schrittes, den der davon ſchmerzlich berührte Kaiſer nicht hindern konnte, ward
ein Mempire erlaffen, worin dem Kleſel eitle, hochmüthige, frevelhafte, der Re—
putation des Kaiſers nachtheilige Aeußerungen, Mißbrauch des Faiferlihen Ver—
trauens, Anzettlung von Uneinigfeit zwifchen der ſpaniſchen und teutjchen Linie
des öftreihifchen Haufes, ſchlechte Kriegs-, Juſtiz- und Finanzverwaltung ꝛc. zur
Laft gelegt wurden. So trat diefer merfwürdige Mann von dem Schauplatz des
öffentlichen Lebens ab; mit Matthias, bei deſſen Gewaltthat gegen Rudolph er
fi betheiliget, geftiegen, ging er auch mit Matthias als politifhe Größe unter,
Auf Verlangen des Papfles Gregor XV. wurde Klefel aus Tyrol nah Rom ent-
- Iaffen. Hier befam er zwar feine Wohnung zuerft in der Engelsburg, wurde
jedoch von Fürften, Cardinälen und —* dem Papſte beſucht, und, nachdem er
ſich über fein ganzes vormaliges Verfahren gerechtfertiget Hatte, ein Kläger aber
gegen ihn nicht erfchienen war, für unfchuldig erflärt und in Freiheit gefegt. Er
erhielt einen päpſtlichen Palaft zur Wohnung und wurde Mitglied bei der Con—
. gregation de propaganda fide. Gregors Nachfolger Urban VIII. fohnte ihn mit
dem Raifer Ferdinand aus, worauf er nach Deftreich zurücfehren durfte und am
25. Januar 1628 feinen feierlichen Einzug in Wien hielt. Er war damals 75
Sabre alt, predigte in der Folge noch einige Male, lebte in Achtung und An—
fehen, und felbft Kaifer Ferdinand bediente fih feines Rathes. Er flarb am
18. Sept. 1630 zu Neuftadt, Zu feinem Univerfalerben feste er das Wiener
Bisthum ein, 50,000 Gulden vermarhte er dem Bistum Neuftedt, und in dem
Conviet der Jefuiten zu St. Barbara in Wien fliftete er zwölf Freipläge, — ©.
A, Klein, Geſch. des Chriſtenth. in Deftreih und Steiermark, Bd. IV. u. V.;5
K. A. Menzel, N, Gef. der Teutfhen, Bd. V. u, VL; 3. Gr. Mailäth,
Geſch. d. öfter, Kaiferftantes, Bd. I. S. 357 10.5 vorzüglid Hammer-Purg-
fall, Leben des Card, Khlefel, A Bände, [Schrödl.]
‚ Klingelbeutel. Sp nennt man die mit fleinen Schellen verfehenen Büchfen,
die in vielen Gotteshäuſern während der hl. Meffe, hie und da fogar (was num.
freilih nirgends geduldet werden follte) während der Predigt berumgetragen
werden, und in die die Gläubigen eine Feine Geldfhanfung legen, die fie der
Kirche machen wollen. Staft ihrer trägt man in Bayern eine fogenannte Tafel
herum (daher der Ausdruck „auf die Tafel legen”), d. h. eine mit einem langen
15*
228 Klodwig — Klofter.
Stiele verfehene, und auf einer ganzen Seite offene hölzerne Büchfe ohne Schel-
Ien, Vgl. „Eollecten.”
Klodwig, ſ. Chlodwig.
Klopfen an die Bruſt, ſ. Bruſtklopfen.
Kloſter iſt ein Gebäude oder auch ein Complex von Gebäuden, welches
einer Genoſſenſchaft von Ordensperſonen zum Aufenthalte dient. Das Wort iſt
aus der lateiniſchen faſt in alle lebenden Sprachen übergegangen, und weist in
ſeiner Grundbedeutung: „verſchloſſener Platz“, auf eine der Hauptbeſtimmungen
dieſer Einrichtungen, nämlich die, welche ſich dahin zurückgezogen haben, von
allem dem Geiſte des Berufs nicht entſprechenden Verkehr mit der Welt abzu—
ſchließen, und fie — die geiſtliche Miliz — darin wie in einem wohlverſchloſſenen,
mwohlbehüteten castrum vor der Uebermacht der andringenden böfen Welt zu
Thüsen. — Das Mönchthum hat die Klöfter in's Dafein gerufen, ift jedoch älter,
als fie, da es von Begründung der chriftlichen Kirche an einzelne fromme Seelen
gab, welche fich die evangelifchen Räthe tiefer zu Gemüthe führten, und nachdem
fie den Verkehr mit der Welt abgebrochen, in tieffter Zurückgezogenheit, oft als
Einfiedler (uovaxoı) in den Wüften einer höhern Bollfommenheit und vollkom—
menen Vereinigung mit Gott nachftrebten, Als ihre Zahl, wohl auch aus Anlaß
der Chriftenverfolgungen, ſich mehrte, felbft manche unreine Elemente — ich
erinnere an die Gyrovagi (f. d. A.), die müffig umberfhwärmenden Mönche —
fich einmifchten, ftellte fih das Bedürfniß gemeinfamer Leitung durch einen im
geiftlichen Leben erfahrenen Mann heraus, Mean baute feine Einfieblerzelfen in
die Nähe derjenigen Altväter, die mit dem Ruhm ihrer Weisheit und Heiligkeit
die Wüfte erfüllten — wie eines Paulus und Antonius: es entftanden die lauren
(1.8.4), welche eine Art Asceten-Colonieen waren unter der Leitung eines Abbas,
Die einzelnen Afceten wohnten jeder noch abgefondert in feiner Zelle, roh aus
Baumſtämmen gezimmert, halb in die Erbe gegraben, die Lücken mit Gras ver-
flopft und gedeckt mit Zweigen und Raſen; aber die Zellen waren alle doch in
der Nähe beifammen, fo daß das Ganze einem ärmlichen Dorfe — woher auch
der griehifhe Name — glich. Bon den Lauren führte das Bedürfniß der Eini-
gung, der beftändigen Auffiht und Ermunterung zu den Cönobien (zowößıe),
in denen fämmtliche Afceten unter einem gemeinfamen Oberhaupte (xowoßıLaoyns,
cBPas) in dem nämlihen Gebäude ein gemeinfames Leben führten (ſ. die Art,
Cönpbiten und Anahoreten), In weiterer Ausbildung des Moönchthums
vereinigte ſich das anachoretifche und cönobitifche Leben, die Laura und das Cö—
nobium, Es wurde nämlich an entlegenem Orte ein großes Cönobium mit Kirche
errichtet, im Umfreife aber die Reihen der abgefonderten Zellen. Die der Welt
erft jüngft Entflohenen, alfo die Novizen, mußten erft eine Zeit lang im Cono—
bium gemeinfame Hebungen machen, ehe fie gleich den älteren Afceten eine ab-
gefonderte Zelle angewiefen erhielten. Diefe felbft aber Iebten fünf Tage in
Faſten und Arbeiten in der Laura, am Sabbath und Sonntag aber famen fie zur
Kirche zu Lturgid und Chorgefang, und zum Cönobium zum gemeinfamen Liebes-
mahl. Diefe Hlöfterliche Einrichtung, wie fie Surins im Leben des paläftinifchen
Adtes Gerafimus befchreibt, wurde namentlich durch Pahomius im Drient bald
die herrfihende, und nur bei ihr läßt fich begreifen, wie Eine Afceten-Colonie
mehrere hunderte, ja mehr als taufend Büßer begreifen Fonnte, Die erfte Hei-
math der Klöfter war der Orient und vorzugsweife die Thebais, Aegypten, der
Berg Nitria, die Nilinfel Tabenna, der Berg Caſſius bei Antiochien, und mehr-
ten fih, zum Theil auch durch Unterſtützung fürftlicher Perfonen, wie der Kai—
ferin Eudoeia, immer mehr, Durch den HL. Baſilius (ſ. d. A.) erhielten bie
Klöfter, feither rein afcetifche Inſtitute und nur auf die Selbftheiligung ihrer
Glieder berechnet, auch eine practifche Richtung, und in Folge davon erhoben fie
ſich, die man vorher nur in Wüften und auf einfamen Bergen gefehen, auch in
Klofter, 229
Städten und Dörfern, ja wurden, da in der griechifchen Kirche der Biſchof ge—
meinhin aus dem Negularelerus genommen wird, die gewöhnlichen bifchöflichen
Reſidenzen. Indeſſen befteht denn doch in der orientalifch-griechifhen Kirche noch
die alte Form des Klofterlebens, fo auf dem Berge Athos in Macedonien, im
Klofter auf dem Sinai, dem Klofter Saba u. a, In der Wüfte find fie gewöhn-
lich wie förmliche Feftungen gegen die Anfälle der räuberifchen Araber verwahrt,
Im Abendlande, wohin das Monchthum zugleih mit dem Chriftenthume drang,
in feiner Ausbildung aber hauptſächlich durch den HI. Athanafius (ſ. d. A.) be=
kannt wurde, und in dem Hl. Eufebius von Vercelli, Ambrofius von Mailand,
dem HI. Auguftinus von Hippo eifrige Beförderer fand, wurde der hl. Benedict
von Nurfia (ſ. d. A.) der große Neformator und Patriarch des Drdenswefeng,
was der hl. Bafılius für das Morgenland gewefen. Auch feine Reformation er—
zielte eine Verbindung des thätigen mit dem befchaulichen Leben, was auch auf
die Errichtung und Einrichtung der Drdenshäufer, der Klöfter, von wefentlichem
Einfluffe fein mußte. Anfangs waren wohl auch im Abendlande die Klöfter denen
im Morgenlande nachgebildet, d. h. vereinigten den Anachoretismus mit dem
Conobitismus, wie die bafilianifchen Klöfter in Sieilien, Italien und Spanien,
die von Caffianus (f. d. A.) im füdlichen Franfreich errichteten, In Spanien bot
das berühmte Mönchsinftitut von Montferrat in Catalonien bis zu feiner Auf-
bebung wenigftens nach feinen äußern Verhältniffen ein Mufter der alten Ein—
richtung dar, Bald aber wurde die cönobitifche Form die alleinherrfchende, und
nur im Drden der Carthäufer und Camaldulenfer (ſ. diefe Art.), welde in ab—
gefonderten Zellen wohnen und nur in der Kirche und an einzelnen Tagen auch
im Hauptflofter zufammenfommen, war die ältere feftgehalten und refp. erneuert,
Noch viel größer, als im Morgenland, warb im Abendlande der Einfluß des
Mönchtsums auf alle Geftaltungen des Lebens und feiner Geſchichte. Da das
Chriſtenthum Hauptfählih durh Mönche im Abendlande Verbreitung fand, und
mit dem Chriftenthum Ackerbau, Wiffenfhaft, Kunft, Eivilifation überhaupt, fo
wurden die von folhen Mönhen — Miffionären geftifteten Klöfter Lichtpuncte,
vor denen die Finfterniffe des Heidenthums und der Barbarei zurückwichen. Ur—
fprünglih angelegt im wilden Urwald oder auf unwirthlicher Heide, entftand rings
um fie fruchtbares Feld, erhoben fih Städte und Dörfer, Sonft auch errichtete man
die Klöfter gerne in wohlbevölferten Gegenden, in Städten und Märkten, theils
der practifchen Wirffamfeit, theils aber auch in rauhen Zeiten der größeren Sicher-
beit wegen, was namentlich bei Frauenklöftern der Fall war. So erklärt die Ge—
ſchichte den Gegenfaß gegen das Morgenland, welches feine Klöfter, wenigftens in
der Periode ihrer fchönften Blüthe, in den Wüfteneien auffuhen mußte, Indeſſen
Hatten denn doch die verfihiedenen Orden ihre Gewohnheiten, nach denen fie bei
Errichtung neuer Klöfter den Ort wählten, wie aus nachſtehenden Verſen erhellt:
— — — Valles sylvestribus undique cinctas
Arboribus divus Bernardus amoenaque prata;
Colles et montes Benedietus amavit et arces
Coelo surgentes, ex quarum vertice late
Prospectus petitur; secessum plebis uterque.
Brussel. tract. de mon. Germ. Over:
Bernardus valles, montes Benedietus amabat,
Oppida Franeiscus, magnas Ignatius urbes.
Der Styl, in dem die Klöfter des Abendlandes erbaut wurden, war beſtimmt
durch den Charakter der zur Zeit der Erbauung herrfchenden Architectur. In der
älteften Zeit waren Klofterbauten möglichft einfach, und manche Orden haben auch
bierin die Armuth und Einfalt des Evangeliums bewahrt, wie Franeiscaner, Ca-
pueiner, Hierongmiten u. a. Als aber der hriftliche Geift auch bis in’s Gebiet
der Kunft gedrungen war und fie nach allen ihren Zweigen beherrfihte, konnte es
wicht ausbleiben, daß auch in vielen Klöftern herrliche Denkmale chriſtlicher Ar-
230 Klofter
chiteetur fich erhoben, dem göttlichen Namen zur Ehre; und dem Lande, welches
fie trug, zur Zierde, da die Orden in ihrem reichen Beſitzthum alle Mittel zur
Ausführung folcher Prachtbauten in vollfommenem Maße befaßen, Die innere
Einrichtung des Klofters muß fich natürlich modifieiren nach dem Gefchlechte feiner
Dewohner, den befonderen Forderungen der Drbensregel, der Beſtimmung des
Ordens, entweder bloß für Contemplation, oder auch für die Seelforge, den
Sugendunterricht, die Krankenpflege u. f. f. Was fih jedoch bei jedem Klofter
finden wird, ift, außer der Klofterfirhe, ver Chor, d. i. der mit der Kirche ver—
bundene zugleich aber auch durch den Hochaltar oder durch Verſchläge von ihr
gefhiedene Raum, in welchem bie Ordensglieder das tägliche Officium fingen
ober beten, der Capitelſaal oder auch das Kapitel, das Zimmer, in dem ben
Herfammelten Brüdern oder Schweftern die Hauptſtücke — Capitel — der Ordens—⸗
regel vorgelefen, Erinnerungen gemacht, Bußen auferlegt, Wahlacten u. dgl.
vorgenommen werben, bie Zellen, d. i. die Wohnungen der Ordensglieder, das
NRefertorium, der gemeinfame Speifefaal, öfter auch ein gemeinfamer Schlaf-
faal oder Dormitorium, Kranfenzimmer Infirmarien, Sprad- und Con—
verfationszimmer, da in Frauenklöftern die Nonnen von den Befuchenden
durch ein Gitter getrennt find, Beichtzimmer, Bibliotheken, Schagfam-
mern, ber Kreuzgang, die ruft, gewöhnlich unter dem Chor, wenn bie
Beerdigung der Berftorbenen nicht im Kreuzgange geſchah. Auch fürſtliche Fa—
milien vertrauten gern ihren Staub der Obhut der Klöfter, in deren Gebet fie
ihre Seelen empfahlen. — Auch das Klofter ift der Fatholifchen Anſchauung ein
Heiliger Ort theils wegen feiner Weihe, theils wegen feiner Beftimmung — ein
Gotteshaus. Den Namen führt e8 entweder von dem Drben, dem es gehört,
oder von dem Heiligen, unter deſſen Schuß e8 geftellt ift. Die Klöfter find, wie
ihre Eigenthümlichfeit auch ſchon nicht anders erwarten läßt, auch Gegenftand der
firchlichen Gefeßgebung geworben, und fo haben wir eine große Anzahl gefeg-
licher Beftimmungen, die alle darauf abzielen, die Klöfter und ihr Gut gegen
ungerechte Angriffe jeglicher Art zu ſchützen und fie felbft im Geiſte der Voll—
Tommenheit zu bewahren, Unter diefen Geſetzen nimmt jenes einen vorzüglichen
Nang ein, welches die Elaufur, d. i. die Abfchließung der Klöfter von der Welt
durch Aufhebung oder doch Befchränfung des wechfelfeitigen Verkehrs anordnet.
Am firengften ift dieſes Gefeg der Claufur für Frauenflöfter aus Gründen, bie
zu nahe liegen, als daß eg nöthig wäre, fie weitläufig zu erörtern, Es verbietet
den Nonnen, ihr Klofter, Notbfälle, die das Gefeg anführt, wie Feuersgefahr,
Heft und Seuche, wohl auch Kriegsgefahr ausgenommen, je zu verlaffen, den
MWeltleuten aber ohne Unterfchied des Gefchlechtes und des Standes, ein Frauen-
kloſter ohne Erlaubniß zu betreten, Die Erlaubniß ertheilt nur der Biſchof aus
gerechten und wichtigen Gründen, und felbft dann, wenn der Bifchof felbft aus
rechtlichen Gründen die Claufur betritt, 3.2, um eine Bifitation vorzunehmen,
oder der Beichtvater, um einer franfen Nonne die bl. Sacramente zu abmini-
ftriren, oder der Arzt, um die Hilfe feines Berufes zu leiſten, find noch befondere
Borfihtsmaßregeln, insbefondere Begleitung durch zwei ältere Ordensſchweſtern,
angeordnet. Beſuche werden nur im Sprachzimmer por dem Sprachgitter em—
pfangen, Wer in böfer Abficht die Clauſur eines Frauenklofters verlegt, iſt der
dem Papfte vorbehaltenen Strafe der Ercommunication verfallen, Die Claufur
in Mönchsflöftern befteht hauptfächlich in dem Verbot, Frauensperfonen in bie
innern Räume berfelben zuzulaffen. Die Befugniß und die Pflicht, über die
Beobachtung der Claufur zu wachen und auf den Grund der bezüglichen kirch—
lichen Geſetzgebung Verfügungen zu treffen, hat das Coneil von Trient den Bi—
fchöfen übertragen, — Der Sturm der Säcularifation zerftörte oder entoölferte
und entweihte viele Klöfter, und Häufer, in denen früher nur Gott, dem Heil der
Seelen, der Wiffenfchaft und Kunft gedient worben, wurden in Kafernen, Zuchte,
Klofterbruder — Klüpfel, 231
häuſer, Luftfhlöffer und Deconomiegebäude umgewandelt. Die wiedererwachte
Religiofität unferer Tage ließ indeß auch wieder viele Klöfter erfiehen. Vgl. hierzu
die Art, Doppelflöfter, Eigenthumsrecht der Klöfter. [Dirnberger,]
fterbruder, f. Conversi.
Kloſterfrauen des Hofpitals von der Obfervanz, f. Humiliaten,
Klpitergeiftlicher,, ſ. Geiftlider.
Klojtergelübde, f. Gelübde, und Räthe, evangelifche,
Kloſterhöfe, f. Grangia.
Kloſterleben, ſ. Mönchthum.
Kloſterſchulen, ſ. Domſchulen.
Kloſterverweiſung (detrusio in monasterium) wurde ſchon frühzeitig, be—
ſonders im Mittelalter, theils als ſelbſtſtändiges Strafmittel gegen Geiſtliche und
Laien, namentlich wegen unkeuſcher Vergewaltigung ehrſamer Jungfrauen und
Wittwen (c. 2. X. De adult. et stupr. V. 16), und fleiſchlicher Vergehen mit
Gottgeweihten und Nonnen (c. 28. c. XXVII. qu. 1); theils und noch öfter in
Berbindung mit anderen ſchweren Strafen gegen folche Elerifer verfügt, welche
fih von der Anflage der Härefie nicht reinigen Fonnten oder rüdfällig geworden
Ce. 10. X. De purg. canon. V.34), oder des Ehebruchs (c. 10. Dist. LXXXI), der
Berlesung des Beichtfiegel$ (c. 12. fin. X. De poen. et remiss, V. 38), der Fäl-
ſchung, des Meineids oder anderer Capitalverbrechen Ce. 7. Dist. L; e. 6. X. de
poenis. V. 37) geftändig oder überführt, und in Folge deffen abgefett oder de-
grabirt worden waren. Diefe detrusio in arctum monasterium, verbunden mit
Amtsentfesung oder felbft mit Ausftoßung aus dem Elericalftande wurde immer,
wie die angeführten Stellen befagen, als Zuchtmittel zur Förderung der Bußfer-
tigkeit des Delinquenten auf unbeftimmte Zeit (Conc. Cabilon, ao. 813. c. 40)
und nah Umftänden auf Lebensdauer (Conc. Agath. ao. 506. c. 16), zuweilen
aber auch außer dem Zwedfe der Buße zugleich als Straffchärfung auf eine Reihe
von Sahren Ce. 6. $ 7. X. De homicid. V. 12) verhängt. Vgl. hiezu die Artifel:
©efängnifftrafen, und Kirchenſtrafen. [Vermaneder.]
Kloſtervogt, f. Kirchenvogt.
— Klüpfel, Engelbert, einer der gründlichſten Theologen des verfloſſenen
Sahrhunderts, wurde geboren den 18. Januar 1733 zu Wipfelden, einem Dorfe
am rechten Ufer des Mains, in Franfen. Sein Taufname war Johann Andreas;
feine Eltern Michael Klüpfel und Dorothea Pfriem, Sieben Jahre alt begann
er die Studien auf dem Gymnafium zu Würzburg, wo er auch ſodann auf der
Univerfität in zwei Jahrescurſen die Philofophie abfolvirte, Liebe zur Wiffen-
Schaft und zu flillen Forfchungen bewogen ihn, daß er die Aufnahme in den Orden
der Auguftiner zu Würzburg nachſuchte und erhielt, Der Ordensvorſteher ſchickte
ihn nun — damit er fogleich von allen heimathlichen Verbindungen fich Iostrennen
Verne — nad Dberndorf am Nedar, in Schwaben, wo er vom 13. November
1750 bis 14, November 1751 fein Noviciatsjahr beftand, und am letztgenannten
Tage die Drvensprofeffion, mit Annahme des Namens „Engelbert”, ablegte.
Zur Wiederholung des ganzen Studiums der Philofophie in den Schulen der Au-
guftiner wurde er nun zuerft nach Freiburg im Uechtland (Schweiz) gefendetz
bald darauf aber — da er bier feinen Lehrer bald überragte — nach Erfurt in
das dortige Eonvent verfegt. Zum Studium der Theologie wurde er im J. 1754
dem Auguftinerffofter zu Freiburg im Breisgau einverleibt. Die Priefterweihe
erhielt er zu Conſtanz in der Faftenzeit des Jahres 1756. Durch Talent und
Kenntniffe hervorragend wurde Klüpfel, fobald er feine Studien beendigt und die
Prieſterweihe erhalten Hatte, zum Lehramte beſtimmt. Diefes begann er auf dem
Gymnaſium der Auguftiner zu Münnerftadt, in Franfen, wo er fünf Jahre wirkte,
Hierauf lehrte er — als Profeffor der Philofophie wieder nach Oberndorf ge-
ſchickt — innerhalb zweier Jahre Logik, Metaphyſik, allgemeine und fpecielle
232 Klüpfel.
Phyſik; hielt eine öffentliche glänzende Diſputation nach Sitte damaliger Zeit,
auf welche er feine erſte Schrift in den Druck gab: „Eng. Klüpfel. Aqua rerum
corporearum primum principium. Dissertatio physica. ad diem 18. Septembr. 1764,
4. Rottwilae, typis Thaddaei Feyrer.“ In diefer Abhandlung vertheidigte Klüpfel
die Anficht des Philofophen Thales. Nach beendigtem philofophifchen Lehramts-
eurfe wurde ihm das Lehramt der Theologie zugewiefen, und zwar zuerft bei den
Auguftinern zu Mainz; dann zu Conſtanz, wo er für eine öffentliche Difputation
Thefen, zumal aus der Gefchichte des hriftlichen Eultes, herausgab, „Assertiones
theologicae; ad diem 6. Maji 1767. Constantiae litt, Lobhart. 4.“ In diefer Dig-
putation, worauf fich eine große Zahl von theologiſchen Profefforen aus Klöftern
Schwaben und der Schweiz eingefunden hatte, erregte Klüpfel ſolches Auffehen,
daß er im nämlichen Jahre als öffentliher Profeffor ver Dogmatif an
der Albertinifhen Univerfität zu Freiburg im Breisgau aufgeftelt
wurde, Cosmas Schmalfus, Affiftent des Generalobern der Auguftiner zu Rom,
hatte Klüpfel'n Hiezu der Kaiſerin Therefia vorgefchlagen. Den 15, December
1767 auf der Univerfität Freiburg mit dem Doetorat der Theologie beehrt,
begann er den 17. December fogleich mit einer öffentlichen Antrittsrede feine theo—
logiſchen Vorlefungen, Allſeitig und vollſtändig entwickelte er jegt feine litera—
rifche Thätigfeit. Zuerft erfchien von ihm: „Eng. Klüpfel, Dissertatio Augusti-
niano-theologica de statu naturae purae, cum theses propugnaret ex universa
Theologia P. Pantaleon Dietz Ord. Erem. Augustin. A. 1768. mense Augusto. 4,
Typis J, Andr. Satron.* Diefe Abhandlung z0g ihm Gegner und Verdruß zu, fo,
daß er eine Vertheidigung zu fihreiben gezwungen war, „Eng. Klüpfel, de exi-
miis dotibus humanae naturae ante peccatum, liber apologeticus adversus nuperri-
mum accusatorem. 8. Frib. Typ. J. Andr. Satron. 1769.“ Nach diefem Kampfe
fonnte er unangefochten feinem Lehramt und feiner fihriftftellerifhen Thatigfeit
eben, Nach diefer Zeit gab er in den Druck: „Engelb. Klüpfel, Christus Do-
minus Sacerdos secundum ordinem Melchisedech, Dissertatio cum thesibus ex uni-
versa theologia. A. D. 1772. mense Januario. 4. Friburgi J. Andr. Satron.“ —
Sodann „Engelb. Klüpfel, Dissertatio theologica de precibus pro defunctis, una-
cum positionibus ex universa theologia. A. D. 1773. Frib. 4. Satron.“ — Zugleich
begann Klüpfel eine theologiſch-kritiſche Zeitfchrift zu begründen, worin er im Verein
mit Gelehrten auf die wiffenfchaftliche Richtung jener Zeit mächtig einwirkte. Die mei-
ſten Abhandlungen und Recenfionen in diefer Zeitfehrift floßen aus feiner Feder, Be—
fonders befämpfte er darin die rationalifirende und zerflörende thenfogifche Rich—
tung des Profeffors zu Halle Johann Salomon Semler (Institutio ad doctrinam
Christianam liberaliter discendam, auditorum usui destinata. Halae. Hemerde. 1774.
8.), an welchen er vierzehn ausführliche Epifteln in der vorerwähnten Zeitfchrift
richtete. Die foeinianifche und deiftifche Schule jener Zeit verließ fogar das Feld
der Wiffenfohaft, und rief die Hilfe der Regierung von Preußen an, fo daß der
Gefandte des Königs von Preußen bei der Raiferin zu Wien Klage gegen Klüpfel
einlegte, Wahrheit und Gerechtigkeit fiegten; Klüpfel erhielt den Schuß feiner
Monarchin. Die oben erwähnte Zeitfchrift Klüpfels führt den Titel: „Nova
Bibliotheca ecclesiastica Friburgensis, Fasciculus I. Frib. Brisg. Typis J. Andr.
Satron. 1775. 8. Fascicul. II. II. IV. 1775. — Volum. II. Ulmae apud Stettin 1776.
Volum. II. 1777. Volum. IV. 1779.“ Das Ende diefer Zeitfchrift erfchien nach
langer Unterbrechung im J. 1790, „Nov. Biblioth. ecolesiast. Friburg. Volum. VII.
Fascicul. II. IV. 1790.“ — Klüpfels alffeitiges Einwirfen auf die Geftaltung
der Theologie hatte die Aufmerkfamfeit der Kaiſerin Therefia erregt, welche ihn
dafür unter dem 30, März 1780 mit der goldenen Medaille anszeichnete, Wäh—
rend der Herausgabe feiner Zeitfchrift erſchienen von ihm verfchienene Abhand-
ungen, als: „Eng. Klüpfel: Tertulliani mens de indissolubilitate matrimonii infide-
lium altero converso“ (gedruckt in Rieggeri oblectamentis historiae et juris ecole-
Klüpfel. 233
siastici. P. I. Ulmae 1776. 8.). — Ferner: Eng. Klüpfel, Dissertatio historico-theo-
- logica de libellis Martyrum. Frib. Brisg. 1777. 8. Satron. — Dann gegen J.
Lorenz Iſenbiel: „Eng. Klüpfel, Vindiciae Vaticinii Jesajae VII. 14. de Emmanuele.
- Frib. Brisg. 1779. 4. Satron.“ — Und im folgenden Jahr „Eng. Klüpfel, Commen-
tatio historica, sistens Lutheranorum novissima dissidia de canone divinarum scrip-
turarum. Constantiae 1730. 8. Lydolph. — Zugleich begann er eine theologifche
Zeitfehrift über ältere theologifche Literatur, unter dem Titel: „Engelb. Klupfelüi
vetus Bibliotheca ecclesiastica. Vol. I. Pars prior. Friburg. 1780. 8. Satron. Wag-
ner.“ — Bei der Anwefenheit des Kaiſers Joſeph IL. zu Freiburg erſchien: „Pane-
gyricus Josepho II. Rom. Imperatori nomine musarum Friburgens. A. 1777. dictus
ab Engelb. Klüpfelio. Friburg. Fol.“ — Bei dem Tode der Kaiferin Maria The-
refia wurde ihm die traurige Ehre zu Theil, Namens der Univerfität die Ge-
dächtnißrede auf diefe Hohe Gönnerin und Mitftifterin zu halten. Diefe Trauer-
rede Klüpfels erfihien unter dem Titel: „Oratio in obitum Mariae Theresiae Ro-
manor. Imperatricis, cum Academia Friburgensis diebus 16. 17. 18. Januarii 1781.
eidem solemniter parentaret. Friburg. Fol. Satron.* — In diefe Zeit — 3. 1780 —
fallt fein Urtheil, welches er in der theologischen Streitfahe („Selbftliebe ift der
einzige urfprüngliche Grundtrieb des Menfhen“) Martin Wiehrl's, Profeffors zu
Baden, abgab, welchem fpäter die Facultäten von Prag, Fulda, Salzburg und
Göttingen beiftimmten. — Der weitverbreitete gelehrte Ruf Klüpfels hatte zur
Folge, daß der Bifhof Fr. Ludwig von Erthal zu Würzburg im J. 1780 den-
felben als Profeffor an die Univerfität Würzburg berief. Klüpfel blieb in Frei-
burg. Eine große Anerkennung und ein großer Reiz lag darin, als fein Kaifer
Joſeph I. ihn im J. 1789 an die Univerfität Wien verfegte, von wo zwei Vor-
gänger der dogmatifchen Lehrfanzel (Gervafio und Bertieri) auf die bifchöflichen
Stühle Gallippli und Como befördert worden waren. Der befeidene Klüpfel,
der ganz den theologiſchen Wiffenfchaften lebte, erbat fih als Gnade feines Kai—
fers, Profeſſor der Dogmatik in Freiburg bleiben zu dürfen. Hier gab er nun
fein dogmatifches Lehrbuch Heraus, welches auf allen öftreichifchen Univerfitäten
eingeführt wurde. Daffelbe erfihien unter dem Titel: „Engelb. Klüpfelii Institu-
tiones theologiae dogmaticae in usum auditorum. Pars I. et Il. Vindobonae 1789. 8.
Binz. Editio secunda 1802, tertia 1807. — Nach feinem Tode erfhien das Buch
in vierter‘ Ausgabe, mit Zufägen von dem Profeffor Gregor Thomas Ziegler
Wachherigem Bifhof zu Linz) zu Wien 1821. — Da Klüpfel die Iateinifche
Sprache claſſiſch fehrieb, fo erhielt er den Auftrag, die PaftoraltHeologie von
Profeffor Giftfhüg zum allgemeinen Gebrauch der Univerfitäten des Kaiferftants —
zumal in Ungarn und Polen — zu überfegen. Diefe Ueberfegung trägt den Titel:
„Franc. Giftschütz institutiones theologiae pastoralis, latine redditae. Viennae 1789.
P.1L.H. 8“ Schon vor diefer Bearbeitung der Paftoraltheologie hatte Klüpfel
für die Erfpeinungen im Gebiete des Paftoralwirfens die Schrift Herausgegeben:
„Sammlung bifhöfliher Verordnungen und Hirtenbriefe, welche feit 1780 befon-
ders in Zeutfchland erfchienen find, zur Aufklärung des Kirchenrechts und des
teutſchen Staatsrechts ; herausgegeben von Engelbrecht Klüpfel, I. Th. Stras-
burg, im Berlag der academifchen Buchhandlung 1786. 8. Während feines viel-
beſchaftigten academifchen Lehramtes und feiner Thätigfeit als theologifcher Schrift-
fteller war feine Erholung die Poeſie. So ſchrieb er: „Elegia de Urbe Brisacensi
(1793) deleta; et adhortatio ad Germaniam. Constantiae 1794. 4.“ — Mit großer
Vorliebe fammelte er und fchrieb das Leben des erften gefrönten teutfhen Dich-
ters Conrad Celtes, der mit ihm das gleiche Vaterland — Franken — ja fogar
den gleichen Geburtsort, Wipfelden , hatte, — Diefe Lebensbefchreibung verräth
eine folche Belefenheit in den verfhiedenartigften Drudfchriften, Manuferipten,
Inſchriften u. d., und eine folhe Kenntnig der Gefchichte und Zuftände des 15ten
Jahrh., dag man darüber flaunen muß, Während der Lehzeit Klüpfels erfchien
234 Knabenfeminarien — Knapp.
diefe Biographie nicht im Druck, worüber ihr Verfaffer frühzeitig die Gründe
angab, in der Zufeprift: „Engelb. Klüpfel Theologi Friburgensis ad D. Michaelem
Feder, Bibliothecar. Academ. et Theolog. Professorem Würzburgi, Epistola de causa
dilatae editionis vitae Conradi Celtis Protucii. Friburgi 1799. 4.“ Nach des Ver—
faffers Tod ließ die Univerfität Freiburg diefe höchſt merkwürdige, an gelehrten
Kenntniffen fo reichhaltige Biographie als Programme druden, Sie erfchien in
zwölf Fascikeln, unter Obforge der Profefforen Nuef und Zell, unter dem Titel:
„De vita et scriptis Conradi Celtis Protucii, praecipui renascentium in Germania
literarum Restauratoris, primique Germanorum Poetae laureati, opus posthumum
B. Engelberti Klüpfelii. Particula 1. Friburgi 1813. Typis academicis big
Partic. XI. 1827. Typis Wanglerianis, 4.“ — Nachdem Klüpfel fein 70, Alters-
jahr zurücfgelegt hatte, erbat er fich * Verſetzung in den Ruheſtand, weil —
wie er in feiner Eingabe fagte — „oportet esse interstitium, mortem inter et offi-
cium.“ Sein Wunſch wurde im Jahr 1805 erfüllt, In diefer Ruhezeit bereitete
er fich näher auf die Ewigfeit, und pflegte zur Erholung noch der Wiffenfchaft,
Aus diefen Abendfiunden feines Lebens erfchienen: „Commonitorium S. Vincent
Lerinensis, praemisit epistolam et prolegomena ac notis illustravit Engelb. Klüpfel.
Viennae 1809 8.5“ und in eben diefem Jahr: „Engelb. Klüpfel, Theologi Fribur-
gensis, Necrologium sodalium et amicorum litteratorum, qui auctore superstite
diem suum obierunt. Friburgi et Constantiae, in officina libraria Herderiana. 1809, 8.“
Seine legte Schrift, die auch erft geraume Zeit nach feinem Tode in den Drud
gegeben wurde, war: „Engelberti Klüpfel, Theologi Friburgensis, septem Psalmi
poenitentiales, paraphrasi elegiaca et exposilione prosaica illustrati, Accedunt in
eosdem notae crilicae, una cum oratione: Ante Oculos tuos, Domine. Vindobonae,
Typis congregationis Mechitaristicae. 1823 8. — Engelbert Klüpfel ftarb den 8. Juli
1811. — In feiner Lebensweife war er höchſt einfach, genügfam, Tag und Nacht
den Studien obliegend, tugendftreng, Firchentreu, gottesfürdtig, Von ihm gilt:
didici,.docui. In feinem Teftamente vermachte er feine reichhaltige, ausgezeich-
nete Bücherfammlung der Univerfitätsbibliothef zu Freiburg; darunter eine ſchätz-
bare Sammlung gelehrter, theilweife höchft feltener , Differtationen; über 5000
an der Zahl. Sein theologifches Wirken lebt fort in feinen Schriften. CM f.
Dr. Jo. Leon. Hug, Elogium Engelberti Klüpfelü. Friburgi et Constantiae, in offi-
eina libraria Herderiana. 1811. 8. Und Dr. Jo. Casp. Ruef — Vita Klüpfelii, in
der Praefatio zu Fascic. I. De vita et scriptis Conradi Celtis Protucii. Friburgi
1813. 4.) [L. Buchegger.]
Sunbenfeminarien, f. Seminarium, clericalifches,
Kuapp, Dr. Georg Ehriftian, proseftantifcher Theolog, den 12, Sep-
tember 1753 zu Glaucha bei Halle geboren, ftudirte hier und in Öttingen. Nach
einer Reife durch Teutfchland erwarb er fi) 1775 auf der erftern Univerfität bie
philofophifche Magifterwürde und wurde 1777 außerordentlicher, 1782 in einem
Alter von 29 Jahren ordentlicher Profeffor der Theologie, Zwei Jahre darauf
erhielt er die theologifche Doetorwürde, In kurzen Zwifchenräumen wurde er
Director zuerft der franfifhen Stiftungen und hernach zugleich des theologifchen
Seminars. Mit Treue und unermüdetem Eifer lag er diefem feinem Wirfungs-
freife ob, Im J. 1816 wurde er mit Niemeyer und Wagnitz Confiftorialrath vom
Königlich Preußifhen Eonfiftorium der Provinz Sachfen, nacheinander Mitglied
mehrerer gelehrten Gefellfhaften und 1820 Senior der Facultät. Im J. 1825,
wo er fein fünfzigjähriges Lehrerjubiläum feierte, empfing er neben vielen andern
Ehrenbezeugungen von Friedrich Wilhelm III. den rothen Adlerorden zweiter Claſſe
mit Eichenlaub, Er litt viele Jahre hindurch an einer Krankheit vieler Gelehrten,
die fich bei vielem Sigen gerne und häufig einftellt und die in ihrer Steigerung
ihm den 14, Detober 1825 den Tod herbeiführte. Seine Fächer, in denen ſich
der fleißige, gründliche und ſcharfſinnige Lehrer einer zahlreichen Zuhbrerſchaft
Kneph — Kniebeugung. 235
erfreute, waren Exegeſe des A. und N. T. Dogmatif und Kirchengefchichte. Der
Grundzug feines Charakters war Neligiofität und damit zufammenhängend Ge-
wiffenhaftigfeit und Unparteilichfeit, Ehrgeiz und Ruhmſucht waren ihm fremd,
Nicht bloß zu lehren, fondern auch fegensreich zu wirken, war fein Beftreben und
feine Freude. — Bon feinen Schriften und Schrifthen, dreiundzwanzig an der
Zahl, führen wir an: die Ueberfegung der Pfalmen mit Anmerkungen, Halle
1778, 3. Aufl. 1789; fein Novum test. graece. Recognovit alque insigniores lec-
tionum varietates et argumentorum notationes subjunxit, editio tertia Halae 1824;
Neuere Gef. der evangel. Miffionsanftalten ze. Halle, 1799—1825, 18 Stüde;
feine Borlefungen über die chriſtl. Glaubenslehre, herausgeg. von Dr, Carl Thilo,
Halle 1827, 2 Bde. (Vgl. Fuhrmann, Handwörterbud der Religions- u. Kir-
hengefh. 2. Bd. S. 587 f.; die gelehrten Theologen Teutfchlands von Dr. Heinr,
Dpering I. Bd. ©. 134 ff.5 Pierer, Univerfallexieon 16. Bd, ©. 248.)
Kneph, f. Emanation,
Knidus, f. Cnidus.
Kniebeugung (genuflexio), eine im öffentlichen Cultus übliche Ceremonie,
und zwar unterſcheidet man zwiſchen der einfachen Kniebeugung (g. simplex),
bei welcher bloß das rechte Knie bis zur Erde geſenkt wird, und wobei man ſich
alsbald wieder erhebt, und der doppelten (g. duplex), bei der man ſich mit
beiden Knien niederfenkt, und in diefer Stellung einige Zeit verbleibt. Das Beu-
gen der Knie als religiöfe Ceremonie kommt häufig fchon im A, T. vor, z. B.
Genef. 17, 3 und 17, Num. 16, 225 wie denn der Ausdrudf 772 — das Knie
beugen überhaupt identifch ift mit Segnen, Anbeten, Ebenfo finden wir im N,
Bunde diefe Ceremonie durch das Beifpiel des Herrn felbft geheiligt, und auch
fonft wird derfelben öfters erwähnt Luc, 22, 41. Act, 7, 59, — 9, 40. — 21, 5.
Past. Herm. L. I. Vis. 1. c. 1. Euseb. hist. ecel. II. 33. Chrysost. serm. 4 de Anna;
Aug. de eivit. Dei 22. c. 8. Nah dem Zeugniffe Tertulliansg (de corona milit.
6. 3) wurde immer kniend gebetet, mit Ausnahme des Sonntags und der Zeit
von Dftern bis Pfingften, in welcher man fiehend betete, Eben weil die Gebete
in der alten Kirche Iniend verrichtet wurben, findet fich in unferer Liturgie heut-
zutage noch die Aufforderung des Diacons: flectamus genua! und dann die des
Subdiacons: Levate! wenn das Gebet zu Ende war. Uebrigens fcheint diefe
Aufforderung zum Knieen aus Lauigfeit und Bequemlichkeit nicht immer beachtet
worden zu fein, wie diefes aus den Worten des Cäfarius von Arles erfichtlich ift,
welcher feine Zuhörer deßhalb alfo tadelt: „Wenn der Diacon ruft: Laffet ung
die Kniee beugen! fo fehe ich den größten Theil der Gemeinde wie die Säulen
fiehen, was den Chriften, wenn in der Kirche gebetet wird, weder erlaubt noch
geziemend iſt.“ Ihrer ſymboliſchen Bedeutung nach wird diefe Handlung ge-
wöhnlich als Zeichen der Bußfertigfeit aufgefaßt, und deßhalb nennt fie Rhabanus
Maurus „poenitentiae et luctus indieium“ (1. II. c. 41. de instit. cleric. cf. Cone.
Carthag. a. 398 c. 82. Honor. gem. anim. I. c. 117). Das Knieen wäre demnach
der äußere Ausdruck der innern Demüthigung des fündhaften Menfchen, der fo-
wohl feine Schuld als Unmacht fühlt, wenn er ſich Gott nahen will, und unfähig
ſich zu wehren, fih ganz in die Gewalt deffen gibt, vor dem er knieet. Diefe
Anfhauung und Bedeutung liegt jener alten Einrichtung der Kirche zu Grunde,
wornach die Büßer der dritten Elaffe (substrati) und die Katechumenen der 2. Claſſe
(genuflectentes) felbft da, wo die andern Chriften ftanden, knieen mußten (ſ. Katech u⸗
menen). Die einfache Genuflerion ift das Zeichen der Anbetung (adoratio) und findet
deßhalb immer coram Sanctissimo Statt, wie die Neigung des Hauptes (inclinatio
capitis) der Ausdruck der Verehrung (veneratio) ift. Deßhalb genuflectirt auch
der Prieſter während der hl. Meffe, wenn nicht ſchon das Sanetiffimum ausge-
ſetzt ift, erft bei und nach der Confecration bis zur Kommunion, und zwar fo oft
er den Kelch entblößt oder bedeckt, oder bei jenen Stellen, in welchen von dem
7
⸗
236 Knieen — Knox.
Geheimniß der Menſchwerdung die Rede iſt, wie im Credo und dem Evangelium
des hl. Johannes. Nach der Deutung des hl. Bafılius wäre die einfache Knie—
beugung ein Sinnbild , daß wir zwar burch die Sünde gefallen, jedoch durch die
Menfchwerdung Gottes wieder vom Falle aufgerichtet worden find (de spiritu s.
0.27). — Nebenbei ift hier noch der fogenannten Kniebeugungsfrage zu erwähnen,
welche in neuefter Zeit in Bayern Gegenftand einer weitläufigen Erörterung zwi—
ſchen Katholiken und Proteftanten wurde, Eine Kriegs-Minifterial-Ordre vom
14. Aug. 1838 und Minift,-VBerfügung vom 19. Jan. 1839 verlangte nämlich
ſowohl von dem Heere als der Bürgermiliz das Niederfnieen während der Wand-
lung und VBorbeitragens des Sanctiffimums bei Kirchen- und Frohnleichnams—
proceffion-Paraden, Durch diefe Verordnung glaubten fih die Proteftanten in
ihrer Gewiffensfreiheit verlegt, obgleich diefelbe als rein militärifches Reglement
beachtet fein wollte, und eine an fich indifferente und auf Commandowort hervor—
gerufene Handlung erft durch die Intention des die Kniee Beugenden zu einem
religidfen Acte wird. Auf dem bayerifchen Landtag von 1843 wurde biefer
Punct zur Debatte gebracht, und gab nachher die Veranlaffung zu einer Menge
von Broſchüren. (Diefelben find angeführt bei Permaneder, Handbuch des ka—
thol, Kirchenr. $ 91. 5). Um übrigens die Proteftanten zu beruhigen, und um
den entfernteften Schein einer Gewiffensverlegung zu vermeiden, beſtimmte eine
Cabinetsordre vom 28. März 1844 und 3, Nov. 1844, daß in Zufunft zu Pro-
eeffionen,, bei welchen das Sanctiffimum vorgetragen wird, Bürger und Soldaten
proteftantifcher Confeffion nicht mehr ſollten ausrüden dürfen, [Rhuen,]
Snieen, f. Gebet.
Knigge, ſ. Slluminaten,
Knipperdolling, ſ. Wiedertäufer,
Knox, Johannes, Neformator in Schottland, wurde im Jahr 1505
aus bürgerlichem Stande, wahrfcheinlich zu Grifford, einem Dorfe im öftlichen
Lothian, geboren, fludirte Philofophie und Theplogie zu St. Andrews, wurbe
noch vor 1530 zum Priefter geweiht und trat jegt als Lehrer der Philofophie an
derfelben Univerfität auf. Auguftinus und Hieronymus wurden ihm fein Lieb-
lingsſtudium. Das angeblich unpriefterliche Leben des fehottifhen,Elerus foll ihn
zuerft der alten Kirche abgeneigt gemacht haben; gewiß ift, daß er bereits 1535
fich innerlich von verfelben Iosfagte und in den beftehenden Mißbräuchen der
Kirche, wie er vorfhüste, feine Rechtfertigung für diefen Schritt ſuchte; doch
fheint es nicht, daß er fich felbft vor 1542 als Proteftant erklärte, Um diefe
Zeit hatte die Neuerung bereits bedeutend in Schottland an Boden gewonnen,
Als er auch in feinen philofophifchen Vorlefungen das Wefen der alten Kirche an—
zugreifen begann, glaubte er fich durch das wachfame Auge des Cardinals Beatoun
dafelbft nicht mehr ficher und zog fich daher in das ſüdliche Schottland zurück,
befannte ſich daſelbſt öffentlich als überzengungstreuen Anhänger der Neuerung
und wurde dafür auf Antrag des Clerus von demfelben Kardinal degradirt, Nun-
mehr beffeidete er in einer reformirten Familie die Stelle eines Erziehers und
faßte endlich den Plan, fich der ftrengen Aufficht der Kirchenbehörbe dadurch zu
entziehen, daß er ſich nach England an die Grenzen von Schottland begab, wo
alfe von den fehottifchen Bifchöfen verfolgten Abtrünnigen ein Afyl fanden; allein
mit der Baftard-Neformation Heinrichs VII. unzufrieden und gegen deffen dem
Papfte abgenommene Suprematie eingenommen, wollte er feine Studien auf einer
teutfchen Univerfität fortfegen, Tieß fich jedoch von diefem Entfchluffe wieder ab=
bringen und zog fih um Oftern 1547 mit den Söhnen einiger Gönner in, das
Caftell St. Andrews zurüd, das von den aufftändifhen Mördern des Carbinals
Beatoun (er wurde am 29. Mai 1546 ermordet) im Befig erhalten wurde, Wenn
e8 fich auch nicht genau erweifen läßt, daß Knox einen direeten Antheil an biefem
Morde hatte, fo muß doch felbft fein Lobredner M’Crie zugeben, daß er den⸗
nor, 237
felben gebilligt Habe, weil er überhaupt mit feinem Freunde Buchanan die Recht⸗
maͤßigkeit des Tyrannenmordes felbft foweit vertheidigt Habe, daß jedem Einzelnen
das Recht zuftehen follte, den tyrannifchen Verbrecher zu tödten (ſ. Leben des
ſchottiſchen NReformators Johann Knox von Thomas M’Erie im Auszuge von
Pland, Göttingen 1817, S. 71). Seinen Bemühungen dafelbft gelang es, die
e Garnifon für die Neuerung zu gewinnen; allein das Caftell fiel im die
inde des franzoͤſiſchen Hilfsheeres, und au Knox wurde als Kriegsgefangener
abgeführt und befand fih 19 Monate auf den Galeeren. Als er im Febr. 1549
die Freiheit wieder erlangt hatte, begab er fih nah England, wo unterdeffen
das NReformationsfgftem fih ganz geändert hatte, und nahm hier unter Eduard VL,
deſſen Kaplan er wurde, bis 1554 regen Antheil an der Durchführung des cal-
viniftifchen Lehrbegriffes, kam aber wegen feiner wüthenden Ausfälle in feinen
Predigten gegen alle Gegner feines Syſtems felbft dem Hofe gegenüber manchmal
in Berlegenheit und Unterfuchung. Allein nah dem am 6. Juli 1553 erfolgten
Hintritte Edwards VI. änderte fih wiederum das Religionsiyftem in England.
Das englifche Volk äußerte über die Thronbefteigung einer Fatholifchen Königin
eine fo unbändige Freude (f. Großbritannien), daß fih Knox, um die erften
Regierungsmaßnahmen abzuwarten, in den Norden zurückzog; als fih aber der
e Geift derfelben zeigte, kehrte er auch in die füdlichen Provinzen zurüdf und
vs den Herbfimonaten in Kent und Buckingham, begab fich ſelbſt im
November nach London, wo er fich bei befreundeten Kaufleuten aufhielt. Während
fofort nach der Wiedereinführung des Katholicismus durch das Parlament feine
Stellung vollends unficher wurde, hatte er auch Unangelegenheiten mit dem Vater
feiner Frau, der die eheliche Verbindung nicht öffentlich befannt geben wollte aus
Gründen, die nicht genau befannt geworden find. Endlich verließ er England
und landete am 28, Juni 1554 glüflih zu Dieppe in der Normandie, machte
von bier aus einen kurzen Befuh in der Schweiz, kehrte jedoch nah Dieppe
zurück, verfügte ſich Hierauf zum zweiten Male nach Genf, wo er fich bei feinem
Freunde Calvin aufhielt und gegen Ende des Jahres feine „Ermahnung an die
englifhe Nation” herausgab, in der feine ganze ungemäßigte Heftigfeit zu Tage
trat, (Rurze Zeit hatte er fih auch zu Franffurt am Main aufgehalten, war
aber mit der dortigen englifchen Gemeinde in Streit gerathen.) Im Herbfte 1555
machte er auch einen Beſuch in Schottland und predigte dafelbft in verfchiedenen
Orten, kehrte aber im Juli 1556 wieder nach Genf zurüf. Neben manchen
Brieffhaften und Schreiben an feinen Anhang in England und Schottland ver-
faßte er bier außer dem Anfange einer englifchen Bibelüberfegung feinen „erften
Trompetenftoß gegen das monfiröfe Weiberregiment”, wodurch das kummervolle
Leben Mariens noch mehr verbittert wurde. Den Hauptgrundfag des Buches
bildet die Behauptung: „Die Uebertragung jeder obrigfeitlichen Gewalt und jede
Art von Oberherrſchaft über ein Königreih, über eine Nation oder eine Stadt
an ein Frauenzimmer ift gegen das Gefeg der Natur, gegen den geoffenbarten
Willen Gottes und gegen die von ihm beftätigte Ordnung, ift alfo eine Berfpot-
tung Gottes und widerfirebt zugleich aller Billigkeit und Gerechtigkeit.” Allein
ſowohl die darin ausgefprochenen Grundfäge, als auch die grobe tief verlegende
Sprache beleidigten die Engländer, welche nach dem Tode Maria’s fich unter der Herr-
[haft der „jungfräulihen” Eliſabeth befanden. Unterdeifen hatte er auch feine Frau
und Familie nach Genf fommen Iaffen, wo er indeß im Januar 1559 zum legten
Wal Abſchied nahm und das Chrenbürgerrecht erhielt, worauf er im Mari in
Schottland anfam. Bon nun an beginnt feine eigentliche Neformationsthätigfeit.
Stets hatte er feinen Glaubensgenoffen offene Gewalt zum Schuge gegen den
Gögendienft (Ratholicismus) und die gößendienerifhe Obrigfeit empfohlen, fo
daß der engliihe Geſchichtſchreiber Hume von ihm fagt: „Die Staatsgrundfäge
diejes Mannes, die er feinen Brüdern mittheilte, waren eben fo aufrüßrerifch
238 Kur
als die theologiſchen unfinnig und heuchleriſch“ (Geſchichte von Großbritannien,
Sranfenthaler Ausgabe 1787. Bd, X. ©, 90). Während des Bürgerfrieges
zwifchen der Negentin, der Königin Mutter, und dem Adel ſchloß fih Anor an
ven letzteren an; feine heftigen Predigten hatten die Mlünderung und Zerftörung
der Klöfter und Kirchen zur Folge, beſonders als die bewaffnete Macht gegen fie
aufgeboten wurde, Es bildete fich der Bund „der Congregation Chrifti”, deren
Mitglieder die Kirche in ihren Gebieten mit Gewalt abfehafften; ja fie bemächtig-
ten fich fogar Edinburgh's, und die Negentin mußte mit ihren Truppen nah Dun-
bar abziehen, worauf Knox zum Prediger der Hauptftadt ernannt wurde, Als
jedoch die Stadt wieder in die Hände der Negentin gefallen war, zog er predigend
und Aufruhr verfündigend im Lande umher und fprach von England Hilfe gegen
die Rebellen anz nachdem aber der vormalige Regent Graf Arwan, der ſchon als
folcher die Neuerung begünftigt hatte, zu der Eongregation Chrifti übergetreten
war, wurde die Negentin abgefegt, ein neuer Negentfchaftsrath gefchaffen und
Knox zu deffen Mitgliede ernannt. Bald darauf ftarb die Königin Mutter; ge=
mäß dem zwifchen England, Schottland und Frankreich darauf gefchloffenen Ver—
trage follten die franzöfifchen Hilfstruppen Schottland verlaffen, die Aufftändifchen
amneftirt und ihre Befchwerden befeitigt werden. Noch zwölf Monate wüthete
der Bürgerfrieg und endigte damit, daß das Land von der Kongregation Chrifti -
unterworfen wurde, Damit war der Fatholifchen Kirche der Todesftreich verfegt
worden, Die noch übrigen Fatholifchen Priefter gaben ihre Sache als eine ver-
Yorene auf und überließen ihre Kirchen den Proteftanten; das Parlament, das fih
fhon im Juli verfammelt Hatte, aber durch den Vertrag bis auf den 1. Auguft
prorogirt worden war, fanctionirte dag von den reformirten Predigern entworfene
Slaubensbefenntniß (17. Aug), und durch einen Befchluß vom 24, Aug. wurde
die päpftliche Zurisdietion im Königreich aufgehoben, das Anhören einer Meffe
unter Strafe, das erſte Mal durch Confiscation des Vermögens, das zweite Mal
durch Verbannung und das dritte Mal durch Hinrichtung verboten, und alle zum
Bortheil der Katholiken und zum Nachtheil der Neformirten erlaffenen Geſetze
abgefchafft. Sp war die Reformation in Schottland dur Empörung, Gewalt,
Feuer und Schwert eingeführt worden! Wahrlih, Mohammed und feine Nach—
folger waren im Kampfe gegen das Chriſtenthum duldfamer als diefe Reforma—
toren, — Nach dem Tode ihres Gemahls Franz U. von Franfreich Fehrte Maria
Stuart, vom Adel herbeigerufen, in ihr Erbreich Schottland zurüd (1561). Als—
bald eiferte Knox gegen den Fatholifchen Gottesdienft in der Föniglichen Capelle,
und rief dadurch Exceffe und Tumulte herbei, bei denen das Volk felbft in die
Capelle eindrang. Vergebens Tief fih Maria fo weit herab, ihn verfönlich vor
fich zu rufen und mit dem harten Manne zu verkehren; „der bäuerifche Apoftel,
fagt Hume a. a. O. ©, 91, trägt fein Bedenken, ung zu benachrichtigen, daß er
ihr einmal mit folcher Strenge begegnete, daß fie alle Faffung verlor und vor
ihm in Thränen zerfloß, und da er diefen Umftand erzählt, zeigt er einen ficht-
baren Stolz und eine Zufriedenheit mit feiner eigenen Aufführung.” Die Kanzeln
wurden nun bloße Schaubühnen der Schmähungen über die Lafter des Hofes,
Knox erhielt dadurch in den Augen des Publicums, das fih zu alfen Zeiten an
Scandalen gefällt, großes Anfehen, Leider bot ihm das Benehmen des Hofes
Stoff dazu, namentlich die Verheiratbung Maria’s mit Bothwell, dem Mörder
ihres Gemaͤhls. Während einige bei den verübten Exceſſen Betheiligte vor Ge-
richt gezogen wurden, erließ Knox ein maßlos heftiges Schreiben, Nunmehr
wurde er des Hochverrathes angeflagt, aber im Dec, 1563 zum wahren Triumphe
für ihn und feine Partei freigefprochen. Das traurige Ende der Regierung der
Maria Stuart ift befannt; fie mußte zu Gunften ihres einjährigen Sohnes Jacob VI.
(ſ. Jacob L) entfagen und fand endlich bei Elifabeth, ihrer unverföhnlichen Feindin,
ſtatt eines Aſyls Gefängniß und Tod, Am 29, Juli 1567 hielt Knox bei ber
Knut — Kohler, 239
Krönung Jacobs VI. in der Parohialfirhe zu Stirling die Predigt. Befonders
thaätig wirkte er auch in den Beratungen über das fünftige Schickſal der Königin,
die vorläufig in das Schloß Lochlevin gebracht worden war; eine Partei wollte,
daß fie das Königreich verlaffen dürfe, eine andere beantragte ihre lebenslängliche
Gefangenfhaft, Knox und mit ihm die meiften Prediger dagegen ihre Hinrichtung,
und zwar nicht wegen ihrer fchlechten Regierung, fondern wegen ber perfönlichen
Verbrechen, deren fie fih ſchuldig gemacht Habe, namentlih wegen Mord und
Ehebruch, die auch an den höchſten Perfonen nicht ungeftraft bleiben dürften. Ja
nach ihrer Flucht erflärte Knox öffentlich, daß man den daraus entflandenen Bür-
gerkrieg als die gerechte Strafe für die gegen fie bewiefene unverantwortliche
- Milde anzufehen Habe, Den 15, Der, hielt er bei Eröffnung des Parlamentes
die Predigt und forderte daffelbe auf, alfererfi die Religionsfahe vorzunehmen.
Diefes beftätigte dann alle Acten, welche im Jahre 1560 zu Gunften der Pro-
teftanten und zum Nachtheil der Katholiken erlaffen worden waren; auch wurde
zum Grund» und Staatsgefeg gemacht, daß in Zufunft die fhottifchen Könige
noch vor dem Regierungsantritt die Aufrechterhaltung des Proteflantismug be—
fhwören müßten, und zugleich verordnet, daß alle nicht erbliche Staatsämter nur
mit Proteftanten befegt werden dürften. Auch wurden die anderweitigen kirch—
lichen Berhältniffe geordnet. Damit hatte Knox das Ziel feiner Beftrebung er-
reicht; der Katholicismus war factifh und wenn man wollte auch rechtlich in
Schottland ausgerottet. Gleihwohl predigte er mit der ihm eigenthümlichen
Heftigfeit fort und erwarb fih dadurdh bei den Anhängern Marien’s ftets
neue Feinde, In Folge eines Streites mit diefer Partei zu Edinburgh, die
er auf öffentlicher Kanzel angriff, mußte er am 5. Mai 1571 noch einmal nad
St. Andrews fliehen und fonnte erft im Auguft 1572 zurüdfebhren, nachdem die
Anhänger der Königin abgezogen waren. Er ftarb jedoch ſchon im Herbfte 1572
im 67. Jahre, und hinterließ feine zweite Gemahlin als Wittwe und fünf Kinder,
Eine unparteiifche Gefhichte diefes Mannes fehlt; das fchon genannte Werf von
MErie ift ein Panegyrieus. Sonft vergleihe noch Knox, Hist. of the ref. of
Scotl. 1567. Niemeyer, Leben des Joh. Knox, Leipz. 1824. Böhme, adt
Bücher von der Reformation der Kirche in England, Altona 1734. S. 363—69,
| Bol. hierzu den Art. Schottland. [$ebr.]
Knut d. Gr., f. Canut.
Knutſen, f. Conscientiarii.
Kodde, f. Collegianten.
Koheleth, f. Ecclesiastes.
SKoben, f. Cohen,
Kohler, Hieronymus, ein Schwärmer aus Brügglen, Cantons Bern,
Stifter der Brüggler Secte, wurde den 16. Januar 1753 auf Befehl des Schult=
heiß, des Kleinen und Großen Raths von Bern öffentlich Hingerichtet, und zwar
an einem Pfahle erwürgt und dann verbrannt „als Verführer, Betrüger und ab—
fheuliher Gottesläſterer.“ Das Todesurtheil hebt folgende fieben Puncte als
die Hauptverbrechen des Schwärmers hervor: 1) „Daß er fich eines außerordent-
lichen Berufs und Erleuchtung, wie auch fonderlicher hohen Dffenbahrungen, und
unmittelbabren Umgangs mit Gott und unferem Heyland berühmet. 2) Sich und
feinen Bruder Chriftian Kohler, vor die zwey Zeugen der Offenbahrung Joh.
Cap. 11. ausgegeben. 3) Gottes Gerichte und der Welt Ende etliche mahl auf
Zeit und Tage vorgefündet, mit Beyfügen, daß er alddenn Gott werde helfen
bie Welt richten. 4) Daß er gelehret: Wer nicht ihn und feine Lehre annehme,
werde nimmermehr feelig werden. 5) Daß die Sünden wider den Sohn Gottes
fonnen Vergebung erlangen, was aber wider fie, Kohler und die Elßbet Kißling
geredet werde, fünne in Ewigfeit nicht vergeben werden, 6) Das Lefen, Beten,
und andere Chriftliche Hebungen taugen nichts; das Predigtgehen ſey auch nichts
210 Koıvn, &xdocıs -Kolocza.
werth, zumal die Predicanten nur Schriftgelehrten feyn, aber Fein Leben haben,
ja alle die, fo in die Kirche gehen, feyn verdammt. 7) Hingegen können die
Begnadeten ohne Abbruch ihrer Seeligkeit thun, was fie wollen, Unter andern
gehe das Verbot der Hurerei nur die an, fo annoch unter dem Geſetze feyn, die-
jenigen aber nicht, fo unter der Gnade ftehen,” In letzterem Punete feden wir
das Vorſpiel des heutigen Mukerthums, und wie unſere Muker ließ es auch
Köhler nicht bei der Theorie, verführte vielmehr ſehr Viele zu den Werken der
Unzucht. Uebrigens ſehen wir aus dem Ganzen, wie auch die proteſtantiſche Re—
publik Bern noch im J. 1753 die Inquiſition ausübte, und einen Ketzer, ber
weit weniger Unheil anrichtete, als Hus, nahezu auf diefelbe Weife, fage faft
350 Jahre fpäter, hingerichtet hat, und zwar, was wohl zu beachten, trotz
feiner Neue und feines Widerrufs, während fih Hus durchaus zu feinem
Widerrufe verfland, Vgl. Neue Beiträg e von theol, Sagen, Auf das J. 1753,
Leipzig ©. 848 ff, und auf das J. 1754,
Koıvn Exdooıs, f, Alexandriniſche Ueberſetzung und Handfchrif—
ten des neuen Teſtaments.
Kolberg, nunmehr eine ſtarke Feſtung in der preußiſchen Provinz Pommern,
war ſchon im zehnten Jahrh. Sitz eines chriſtlichen Biſchofs. Die erſte Kunde
vom Chriſtenthum war nämlich von Polen aus nach Pommern gedrungen; als
nun Otto II. mit Abſchluß des zehnten Jahrh. zum Grabe des hl. Adalbert
(I. d. U.) wallfahrtete, erwirfte er, daß Gnefen (ſ. d. A.) zu dem Range eines
Erzbisthums und ihm Kolberg, Krafau und Breslau (ſ. diefe Art.) untergeordnet
wurden, Indeß ging das Bisthum Kolberg ſchon mit feinem erften Bifchof Nein-
bert unter, Im J. 1227 wurde Kolberg von dem pommerifchen Herzoge an das
Stift Kamin vertaufht und das alte Schloß in ein Klofter verwandelt; im 3
1530 wurde die Stadt proteftantifch.
Kollyridianer, f. Antidicomarianiten,
Köln, ſ. Cöln.
Kol-Nidre, ſ. Col-Nidre.
Kolocza, Kirchenprovinz Ungarns (ſ. * den Art, Erlau und Gran),
umfaßt nebft vem gleichnamigen Erzbisthum im Süden, die Didcefen Cfanad und
Groß-Wardein Iateinifchen Ritus im oft-fühlichen Theil Ungarns, das Bisthum
Siebenbürgen Yat, Ritus im gleichnamigen Lande, und die drei eroatiſch-ſlavo—
nifhen Bisthümer: Agram, Diakovar und Zeng.
loeza und Bac$ (Archiepiscopatus Colocensis et Bacsiensis canonice uniti) ver-
ehrt in den hi. Königen Stephan und Ladislaus feine Stifter, Der erftere baute
zu Kolocza eine großartige Cathedrale zu Ehren der Himmelfahrt Mariä, und
ernannte zum erften Bifhof von K. den einfligen Mönch von St, Alexius zu
Rom, ſpäter erſten Abt des Martinsberger Benedietiner-Erzſtiftes in Ungarn:
Anaflafi ins oder Aftricus, der ihm bie HI. Krone vom Papft Sylvefter geholt hat,
und bei dieſer Gelegenheit zu Nom zum Bifchof geweiht ward, Aftricus erlangte
fpäter als Verwefer des Graner Erzbisthums den Titel eines Erzbiſchofs; kommt
als folher auf dem Frankfurter Coneil „4007 vor; hat aber diefe Würde auf feine
Nachfolger nicht vererbt. — Erft im J. 1135 if das Bisthum Kolocza (als e8
mit der, nach Einigen vom hl. Stephan errichteten, und vom HI. Ladislaus zur
erzbifchöflihen Würde erhobenen, nach Andern aber erft vom HI. Ladisfaus am
Ausgang des eilften Jahrh. geftifteten, Bacfer Erzdibceſe canonifch vereinigt warb),
zum Erzbisthum geworden, Bis 1135 zählte es 7 Bifchöfe, feither aber 64 Erz⸗
biſchöfe. Es erſtreckt ſich über den Bacſer, einen Theil des Peſther, und eine
geringe Strecke des Cſongrader Comitates, hat 10 Real-, 8 Ehrencanonicate,
8 Titular-Abteien, 10 Titular-Propfteien; in 3 Nrchidiaconaten (das Cathedral
oder Eoloczaer, Bacfer und Theifer), 103 Pfarren, 246 Didcefanpriefter, 38
Alumnen, 5 Ordenshäufer ; 355,474 Katholifen, 6626 Griechiſch-Unirte, 26 Ar—
Kolocza 24
menier, 131,591 Nit-Unirte, 51,922 Lutheraner, 35,601 Ealviner, 9675 Juden,
zuſammen 590,915 Seelen Cim 3. 1847). — B. Suffragan-Bisthümer:
a) Die Efanader Didcefe verdanft ihren Urfprung dem apoftoliihen König
Stephan, der, nachdem er den übermüthigen Fürſten Achtum oder Ahton über-
wunden hatte, deffen Nefivenzort Moroſſena (ſpäter Cenad, Cfanad) zum’ Bi-
ſchofsſitze beſtimmte, und hierauf den hl. Gerardus, früher Abt zum HI. Georg
in Benedig, dann Einfiedler zu Bakonybeel, berief, gegen das J. 1035. Die-
‘fer erlangte in der Vatha'ſchen Chriftenverfolgung — durch die zum heibnifchen
Aberglauben zurüdgefehrten Ungarn vom Blocksberge nächſt Ofen (Mons S. Ge-
‚rardi) herabgeſtürzt — die Martyrerpalme. Die Didcefe umfaßt den Temejer,
Torontaler, Kraffver, Arader, Cſanader, und einen kleinen Theil des Cſongrader
Comitats, die illyriſch⸗, teutfch- und walachiſch-banater Grenz-Diftricte, zählt 6
Real⸗, 6 Ehren-Canpnicate, 7 Titular-Abteien, 1 Real-, 2 Zitular- Propfteien;
in 21 Dechanteien 182 Pfarren, 259 Didcefangeiftlihe, 54 Alumnen, in 11 Dr-
denshäufern 120 Religiofen, 434,418 Ratholifen, 23,502 unirte, 976,852 nicht-
unirte Griechen, 31,630 Lutheraner, 32,633 Calviner, 12,288 Juden, zufammen
1,511,323 Seelen (im 3. 1846). — b) Das Groß-Wardeiner Bisthum
Yateinifchen Nitus (Dioec. Magno-Varadinensis 1. r.) wurde nach der wahrſchein-
liheren Annahme vom HI. Stephan geftiftet, der zu Byhor (Bihar), dem ehe-
maligen Sige des Fürften Menumorouth, Arpad's Schwiegervaters, eine Kirche
zu Ehren der feligften Jungfrau errichtet, und fie zur Cathedrale des neuen By—
borer Bischofs beftimmt Haben foll; feinen jegigen Namen erhielt das Bisthum
vom hl. König Ladislaus, der eine zweite Kirche der Mutter Gottes geweiht,
diefe zur Eathedralfirche des hinfüro Wardeiner Bistums gemacht, und 24 Dom-
berren mit einem Probften allda eingefegt haben foll. Nach Andern ift der HI.
Ladislaus (1077— 1095) Stifter diefes Bisthums. Ueber den Namen und der
Zahl der Bifchöfe vor Sirtus (um 1103) ſchwebt ein tiefes Dunkel. Das Bis—
thum, in deffen Bereich die Comitate: Bihar, Bekes, Kraszna und Mittel-Szol-
nof fallen, bat 16 Real-, 6 Ehren Canonicate, 1 Real-, 13 Titular- Abteien,
3 Real-, 14 Zitular-Propfteien ; in den 4 Archidiaconaten (dem Cathedral, Be—
keſer, Rrasznaer und Mittel-Szolnofer) 57 Pfarren, 4 Curat-Raplaneien, 110
Dideefanpriefter, 59 Drdensgeiftlihe, 16 Didcefan-Alumnen, 66,730 Katholiken,
119,238 unirte, 141,473 nichtunirte Griechen, 62,111 Lutheraner, 342,538
Ealviner, 8011 Juden, zufammen 740,591 Seelen (im 5. 1842). — c. Auch
die Dideefe Siebenbürgen Iateinifhen Ritus (Episcopatus Ultrasylvanus, Tran-
sylvanus) verdanft ihre Entftehung dem Eifer des HI. Stephan. Nachdem er näm-
lich den, dem heidnifchen Aberglauben hartnädig ergebenen Herzog von Sieben-
bürgen, Gyula den Jüngern (ein Gefchwifterfind mit feiner Mutter) überwunden
batte, beftrebte er fich, die Bewohner des Herzogthums dem hriftlihen Glauben
zu gewinnen; um aber zugleich das weitere Gedeihen diefer neuen Gottespflan-
zung zu fihern, gab er derfelben einen Bifchof, errichtete eine Cathedrale zu Alba
Gyulae oder Alba Julia, wo Gyula feinen Sig hatte (fväter Alba Carolina,
Earlsburg) und dotirte fie reichlich aus den Befigthümern des überwundenen
Herzogs. Die Dideefe dehnte fih urfprünglich auf ganz Siebenbürgen aus, mit
Ausnahme der zur Zeit der Gründung derſelben noch wüften, dann aber von den
Szeflyern und Sachſen befegten Streden im füdöftlihen Theile des Landes,
welde den walahifh-moldauifchen Bifchof von Milkovia, fpäterhin den Erzbifchof
von Gran, als ihren Dberhirten verehrten, und erft im J. 1771 in dem Herman
ſtädter und Kronftädter Decanate der Didcefe Siebenbürgen einverleibt wurden.
Jetzt begreift das Bisthum ganz Siebenbürgen in fih, bis auf die Comitate
Kraszna und Mittel-Szolnof, welche zur Großwardeiner Diöcefe gerechnet wer-
den, Es zählt 10 Real⸗, 10 Ehren-Canonicate, 6 Titular-Abteien, 2 Titular-
Propfteien, 15 Archidiaconate, 208 Pfarren, 244 Didcefanpriefter, 44 Alumnen,
Kirgenleriton, 6. Bd. 16
2412 Kolocza.
267 Ordensgeiſtliche und 221,986 katholiſche Seelen (im J. 1844), — d) Die
Agramer Didcefe (D. Zagrabiensis) wurde vom h. Ladislaus in dem — durch ihn
nah dem Tode des letzten Zweiges der Könige von Eroatien unterworfenen —
Lande wahrſcheinlich im 3. 1092 errichtet. Ihr erfter Oberhirt hieß Dub, der
gegenwärtige ift in der Neihe der A, Bifchöfe der 74, Das Cathedral-Capitel
zu Agram befteht aus 28 Neal- und 6 Ehrencanonicaten, das Chaszmaer Colle-
giat-Capitel aus 7 Neal- und 6 Chrendomherren. Es gibt in der Didcefe ein
Privrat, 9 Abteien, 6 Propfteien, 15 Archidiaconate, 343 Pfarren, gegen 700 °
Weltpriefter, 143 Alumnen und in 18 Häufern 238 DOrdensgeiftlihe (im J.
1845). Das Bisthum umfaßt den Varasder, Kreuger und den größeren Theil
des Agramer Eomitats in Croatien, den Pofegaer und einen Theil des Verbezer
Comitats in Slavonien; den zwifchen der Mur und der Drau gelegenen Strich
des Kalader Comitats in Ungarn; dann aber die Bezirfedes erſten und zweiten
Banal, des Kreuger, Gradiscaner, Sanct-Öeorger, und einen Theil des Sluiner
Grenzregimentes, e) Das Bosnifhe over Diafovarer und Syrmier Bis—
thum (Episcopatus Bosnensis seu Diacovariensis et Syrmiensis) errichtete im J. 1773
Papft Elemens XIV. auf die Verwendung Maria Therefia’S aus den zwei Bis-
- thümern Bosnien und Syrmien, 1) Die Didcefe Bosnien, deren Anfänge
nach Einigen fogar in das fehste Jahrhundert Hinaufreichen follen, fah auf feinem
Biſchofsſitze im zwölften Jahrh. Bifhöfe des griechifchen Ritus, deren einige,
der Patarener-Secte angehörend, dem weiteren Umfichgreifen diefer Ketzerei Vor—
ſchub Teifteten. Dieß veranlaßte den Papſt Innocenz IN. und feine Nachfolger
Honprius IN. und Gregor IX., wie auch die Könige Ungarn’s, in deren Beſitz
Bosnien in früheren Jahren gefommen war, durch die neue Begründung des
bosnifhen Bisthums, und deffen Befegung mit rechtgläubigen Bifchöfen für die
Ausrottung jener Keberer zu forgen. Sp fam, nachdem zu diefem Zwecke Erz-
biſchof Ugrinus von Roloeza eifrig vorgearbeitet hatte, gegen das J. 1234 Joan⸗
nes Teutonicug, als der erfte der neuen Reihe Tateinifcher, katholiſcher Bifchöfe
auf den bosniſchen Biſchofſtuhl. Seine Nachfolger hatten ihren Sit zu Serajevo
"in Bosnien bis zur Mitte des 15ten Jahrh., wo fie vor den Türfen flüchtig,
über die Save gingen, und in dem zur Fünffirchner Didcefe gehörigen Diafovar
ſich niederlaffendn, ein kleines Gebiet zwifchen der Drau und Save zuerft mit
Birarial-Gewalt, dann aber als eigentliche Bifchöfe verwalteten. — Die bos—
nifchen Bifchöfe gehörten früher bald unter die Metropplitan-Gewalt der Erz-
bifchöfe von Ragufa, bald jener zu Spalato, bis fie um den Anfang des 14tem
Jahrh. der Koloezaer Kirchenprovinz zugetheilt wurden, — 2) Das Bisthum
Syrmien verdankt feinen Urfprung dem Erzbifchof Ugrinus von Kolocza, der,
um die von Bosnien herübergreifende Kegerei der Patarener um fo erfolgreicher
zu befämpfen, von Gregor IX. die Errichtung eines neuen Bisthums (deſſen Sit
zuerft in dem Klofter Euchet, oder Keu, oder Köw an der Donau, dann zu Mitro-
wis (9) und Banmonoftra in Syrmien war) erlangte, gegen das J. 1230, Der
Umfang deffelben , urfprünglich fehr gering, vergrößerte fich fpäterhin in dem
Lande zwifchen der Drau, der Save und der Donau öſtlich von der Didcefe Dia-
fovar, und dehnte ſich nach der Vertreibung der Türken mit dem angehenden 18ten
Sahrh. auf ganz Bosnien aus. Der erfte befannte Bifchof Dliverius kommt
gegen das J. 1247 vor, — Die jegige bosniſch-ſyrmiſche Didcefe erſtreckt ſich
auf Syrmien, dann auf den Brooder und Peterwardeiner Grenz-Negimentsbe-
zirk, und zum Theil auf das DVerdezer Comitat und den Gradisfaner Grenz-
Negimentsdiftriet, Sie zählt 8 Neal-, 6 Ehren-Lanonicate, 7 Titular-Abteien,
1 Real-, 3 Titular » Propfteien ; in 4 Archidiaconaten (das Cathedral, Brooder,
Dber- und Unter-Syrmier) 82 Pfarren, 170 Didcefanpriefter, 21 Alumnen,
7 Ordenshäufer, 161,002 Katholifen, 1138 unirte Griechen, 161,130 nicht»
unirte, 4577 Rutheraner, 3930 Calviner, 590 Juden, zufammen 332,367 Seelen
a”
Koloffä — Königgrätz. 13
£ #
- (im J. 1849. —D) Die Zeng-Modrufer Diöcefe (D. Segniensis et Modru-
siensis seu Corbaviensis perpetuo per aequalitatem unitae) entftand im J. 1600
aus dem @) Zenger Bisthum, deffen Uranfinge Manche in das fünfte Jahrh.
zurückführen zu fönnen glauben, deffen nah Namen und Zeitalter befannter Bi-
ſchof Miracus aber erft im J. 1150 vorfommt, und aus der 2) Modruſer
Dideefe, welche im 3. 1185 in der durch Peter VII, Erzbifchof von Spalato,
abgehaltenen Provincial- Synode geftiftet, ihren Bifhofsfig bis gegen 1460 zu
Eorbavia, dann aber zu Modrus Hatte, und fhon lange vorher im 3. 1600
- definitiv ausgefprochenen durch die Zenger Bifchöfe verwaltet wurde. Bis 1600
verehrte Zeng in dem Erzbifchof von Spalato, von da an in dem Erzbifchof von
Gran feinen Metropoliten, feit dem Ende des vorigen Jahrhunderts aber gehört
e8 unter die Zurisdietion des Koloczaer Erzbifchofs. Es befigt 2 Cathedralcanitel,
jenes zu Zeng mit 6 Real- und 6 Ehrendomherren, und das der Modrufer Kirche
zu Novi, Buccari und Bribir mit 9 Neal-Canonicaten; ein Collegiat-Capitel zu
Fiume mit 5 Domberren. Dann bat es 5 Titular-, 1 NReal-Abtei, in 4 Aridia-
eonaten (das Zenger- Cathedral, Licca-Eorbaver, Modrufer-Cathedral und Buccarer)
132 Pfarren, 4 Euratien, 261 Weltpriefter, 30 Alumnen, 68 Religiofen, 209,351
Katholiken, 16 Griechifch - Ratholifen, 91,578 nichtunirte Griechen, 22 Luthera-
ner, 44 Calviner und 138 Juden Cim J. 1847). — Die Diöcefe erſtreckt fih
über das ungarifhe Küftenland, den Ottochaner, Dguliner, Liccaner und zum
Theil den Sluiner Grenz-Regimentsbezirt, wie auch einen Theil des Agramer
Eomitates in Eroatien. (S. Georg. Fejer, religionis et ecel. Christ. apud Hun-
garos initia. — Dr. Lanyi’8, Ungarn’s Kirchengefhichte im Zeitalter des Haufes
Deftreich ꝛc., ungarifch. — Georg.Pray, Specimen Hierarchiae Hung. Pars secunda.
- Farlattilllyricum sacrum unddie bezüglichen Didcefan-Schematismen,) [Daynald.]
Koloſſä, f. Coloſſä.
Konarski, Adam, Biſchof von Poſen (1562—1574), wendete alle Sorg-
falt darauf, der Jugend eine religiöfe Erziehung und Bildung zu verſchaffen,
und da die Lubrauskiſche Schule damals wegen Mangels an fähigen und glau—
benseifrigen Lehrern diefe Abfichten nicht erfüllte, fo befchloß er, zu diefem Be—
hufe in Poſen ein Collegium der Fefuiten zu gründen, von deren ausgezeichneter
Wirkfamfeit er fih bei einem Befuhe in Braunsberg, wo fie dur den be=.
rühmten Cardinal und damaligen Bifhof von Ermeland Hofius (ſ. d. A.)
zuerft in Polen eingeführt worden waren, überzeugt hatte. Diefe Gründung des
Jeſuiten⸗Collegiums in Pofen erfolgte 1572, indem Bifhof Konarski zur
Dotation deffelben vier zur bifchöflihen Tafel gehörige Dörfer überwies. Aber
er war nicht nur ein eifriger Bifchof, fondern auch ein ausgezeichneter Diplomat,
ALS nah dem Tode des Königs Sigismund Auguft, des letzten Jagellonen
(l. d. 4), der franzöfifhe Prinz, Heinrih von Balvis, Herzog von
Anton, zum Könige von Polen erwählt war und zwölf polniſche Magnaten
zur Abholung deffelben nah Frankreich abgeordnet wurden, ftand Bifhof Ko—
narsfi an der Spige diefer Gefandtfchaft und entledigte fih des ihm geworde—
nen Auftrags mit dem höchſten Ruhme,
Könige, Bücher der, f. Regum.
Könige, Feit der beil. drei, f. Dreifönigsfeft.
Königgräg (Bisthum in Böhmen). Die noch zu fhreibende Kirchengeſchichte
diefer Didcefe ift eine der merfwürdigften des Kronlandes, deffen norböftliche
- Grenze fie bildet. Die Kreisgebiete Gitfhin and Pardubiz umfaffend, zählt fie
. 1,213,686 katholiſche Bewohner, mit 1031 Prieſtern. Sie hat eine meift flavifche
BDevölferung und war zur Zeit des Huſſenthums der Schauplag fürdterlicher
Berheerungen (f. Hufitenfriege), gleihwie fpäter der Sig der fog. böhmifchen
oder mährifchen Brüder (f. d. A.), welcher Name in neuefter Zeit durch den
Tanatifchen Prager Paftor Koffuth wieder neu aufzuleben drohte. Kaifer Carl IV.
Be - 16
244 Königlihes Amt Chriſti — Königthum.
erhob den Stuhl feiner geliebten Hauptftabt Prag zu einer Metropole und wünfchte
derfelben zu ihrem höhern Glanze auch Suffragane ee
dem alten von Olmüz, 1334 noch ein neues in Leitomiſchel fliftete, indem er
den dortigen Prämonftratenfer Abt zum Bifhof und die Canonifer des Gtiftes
zu Domberren ernannte. In den Huffitenflürmen verfiel 1425 auch diefe fromme
Stiftung den wüthenden Taboriten, nachdem der Bifchof mit der Stadt lange
getreuen Widerftand geleiftet, und die Befisungen famen in die Hände welt-
licher Herren. Schon der Katfer Ferdinand III., der 1655 das Leitmerizer Big-
thum errichtet, unternahm es, die ehemalige Didcefe Leitomifehel wieder herzu-
fielen, was aber erſt feinem Nachfolger Kaifer Leopold I. 1664 unter Papft
Alexander VII. auszuführen vorbehalten war, Diefer ernannte 1660 den Prager
Benedictiner-Abt Matth. Ferd. Saubek von Bilenberg zum erſten Bifchof, der
jedoch erſt 1664 präconifirt wurde, Seit 1832 ift Carl Hanl der 17, Bifchof
diefer Didcefe, welche früher aus den Königgräßer und Bidſchover Kreifen be—
ftehend, unter dem Bifhof Joh, Leop, von Hay C+ 1794) gemäß Anordnung
Kaiſer Joſeph II. durch Ausfheidung von der Erzdiöcefe mit den Chrudimer und
Gzaflauer Kreifen vergrößert wurde, In 31 Eonfiftorialbezirfe (Vicariate) zer-
fallend, hat fie 1 Archidiacon (zu Kuttenberg), 247 Pfarren, 30 Ehrendechante,
in allem 908 Welt-, 114 Drdensgeiftliche, In der 1803 errichteten Priefterfchule
(Alumnat) befinden fih 107 Seminariften in 4 Fahrgängen der Theologie, Das
Gymnafium zu Leitomifchel, aus 8 Claſſen beftehend, wo früher ſchon eine philo-
ſophiſche Lehranftalt fich befand, und das zu Reichenau mit 6 Claſſen verfehen
die Piariften, Der Proteftanten gibt es dafelbft 44,391, der Juden 14,500.
Sn neuefter Zeit verfuchte auch die hufitifche Secte der Adamiten (ſ. d, A.) wieder
aufzuleben. [8.]
Königliches Amt Chriſti, f. Amt und Chriftus,
Königtbum, König bei den Hebräern. Die Negierungsform bes
Bolfes Iſrael, wie fie dur) das Geſetz beftimmt wurde, war Theveratie (Heo—
»oarie, diefe Bezeichnung findet ſich zuerft bei Joſephus, c. Apion I. 16), Je-
hova felbft ift König ünd Herrſcher (vgl. Deuter, 33, 5. Exod. 19, 5. ff.), ver⸗
einigt in fich alle Machtfülle des Staates, die regierende, gefeßgebende und rich-
terlihe Gewalt; f. die Art, Mofaifches Geſetz, Theveratie, Diefe Grundbeftim-
mung fohließt aber nicht aus, daß auch ein fihtbares, das unfihtbare repräfen-
tirende Königthum beftehe und das Gefeg hat nicht unterlaffen, darüber dag
Nothwendige feftzufegen (Deuter. 17, 14— 20); nur follte diefe Beftimmung nicht
fofort zum Vollzug gebracht werden, damit durch die Vorftellung von einem end⸗
lichen und menfchlihen Königthum die lebendige Idee des unfichtbaren nicht ge-
rübt oder gar verdrängt würde; um dieſe Fünftighin bei der wirklichen Confti-
tuirung des irdifchen Königthums zu wahren, beftimmt das Gefeg: zum König
des Bolfes darf nur der gefegt werden, den Jehova wählen wird; er muß
aus der Mitte der Brüder und kann fein Ausländer fein, weil ein folder Fein
Bewußtfein von feiner Stellung im Volke Gottes und zwar weder zu Gott noch
zu dem Volke Haben konnte. Daß er aber mit dieſem Bewußtfein erfüllt fein
müffe, ift fhon an fich Har und wird durch eine weitere Beſtimmung ausdrücklich
verlangt: „Und wenn er figet auf dem Throne feines Königreiches, fo made er
fih eine Abfchrift diefes Gefeges von dem Buche, das bei den Prieftern, den
Leviten if, Under habe es bei fich und leſe darin all fein Leben lang, auf daß
er lerne, Jehova feinen Gott fürchten, und alle Worte diefes Gefeges und dieſe
Satungen beobachte und thue; daß fein Herz ſich nicht erhebe über feinen Bruder
und daß er nicht abweiche vom Gebote weder zur Rechten noch zur Linken,“
Durch diefe Stelle ift zugleich das Verhältnif genau beſtimmt, das der irdiſche
König gegen das Gefeg und Jehova einzunehmen hat, er darf fein neues Gefeg
geben, das von Johova gegebene hat ewige Öeltung, er ift nur Bafall Jehovas;
x
Königthum. 245
ne: er * (vreng&rng vis cutoũ Bavıkelas, Weish. 6, A).
Rör iſt ſonach durd das Gefeg nicht bloß möglich gemacht,
adern eventue! —— * und normirt; näher betrachtet hat es eine Inſti⸗
ion, deren Ausgeftältung mit in der Beflimmung des Bolfes lag, welche dem
‚el innig verflochten war, dem feine Entwicklung entgegen zu gehen hatte, nur
geregelt; dad Königthum Sildete ja einen Gegenftand der Verheißung an die Pa-
triarchen Cögl. Gen, 17, 6. 16. 35, 11), in dem Baticinium Jacobs (Gen. 49,
10) ift die Spige aller Segnungen in ein glanzvolles, ewiges Königthum Juda' 8
gelegt ‚die Inſtitution erfcheint ſchon hier wie vielfach bei den fpätern Prophetien
als Zypus des meffianifhen Reiches, Es iſt darum ganz irrig, ber Idee des Kö—
nigthums und feiner Stellung in der altteftamentlihen Deconomie wie dem Geift
der mofaifchen Conſtitution gleich ſehr entgegen, wenn behauptet wird, Moſes habe
in dem Koͤnigthum nur ein nothwendiges Uebel erkannt, durch deffen Anordnung
er den gänzlichen Abfall von Jehova hindern wollte, fein Wunſch fei aber ſicher⸗
lich die beftändige Erhaltung der Republif gewefen Cogl. Michaelis, moſaiſches
Recht, L Th. $ 54); oder das Konigsgeſetz fei geradezu unverträglid mit den
übrigen ſtaatsrechtlichen Beſtimmungen Moſis (ſelbſt noch Kalthoff findet das Kö—
nigthum im Ganzen gegen den Geiſt der moſaiſchen Conſtitution, Hebr. Alter-
thümer ©. 296). Diefe Anficht mußte die rationaliftifhe Kritik betätigen, die
Stelle Deuter. 17, 14—20 wurde dem Mofe abgefprochen, das darin enthal-
tene KRönigsgefeg Fönne erft nach Salomo entflanden fein, es fei der von Samuel
entworfenen Eonftitution und fpätern Ereigniffen (wie 1 Kön. 11,1. ff. u. and.)
nachgebildet. Vgl. Vater, Commentar zum Pent, II. S. 257. Hartmann, hiſt.
frit, Forfh. S. 714. Bohlen, Comm, zur Gen, Einl, S. 69. Winer, bibl.
R. Wes. v. u. A. Neben der vorgeblichen Unverträglichfeit des Inhaltes wird
als Hauptgrund der Unächtheit angegeben das Betragen Samuels und des Bolfes
bei der erſten Königswahl (1 Sam. 3). Samuel hätte dur das Verlangen der
Aelteften nicht fo in Unwillen geraten fönnen, "wären fie durch eine fchon von
Mofes gegebene Beftimmung dazu berechtigt gewefen, Das Wahre hingegen ift
längſt (3. B. von Ealmet zu Deut. 17, 14) bemerft worden: Samuel war nicht
gegen das Königthum an fih, fondern gegen die Gefinnung, mit welcher daffelbe
vom Bolfe verlangt wurde; diefes wollte einen König ſtatt des von Gott beftellten
Richters, darin Tag ein Unrecht gegen Samuel, fowie eine Sünde gegen Jehova,
der ihn gefandt ; das Begehren entiprang weiter dem fündigen Wahne, Gott fei
ohnmächtig ihnen zu helfen, ihr Unterliegen fei nicht Folge des Abfalles von dem
unfihtbaren König, fondern der mangelhaften Berfaffung, das Königthum eine
Hilfe neben Gott (vgl. 1 Sam, 8, 5.7.8). Die ausführliche Vertheidigung
der Aechtheit des Königsgefeges f. m. bei Welte, Nahmofaifhes, ©. 208 ff.
Hengftenberg, Beiträge ze. III. 246. ff. Die wiederholt gemadte wörtlide
Rückbe ziehung auf das pentateuhifhe Königsgefe Cibid. 10, 24 u. 25), die ein-
dringliche Hinweifung, daß Jehova es ift, der ihnen den Königgegeben, daß nur dann,
wenn fie und der über fie herrfchende König in treuem Gehorfam gegen Jehova ver-
harren, fich feiner Hilfe erfreuen werden (1 Sam. 12,13—15), zeigt deutlich, wie
Samuel fein Verfahren in ebereinfiimmung mit dem Gefege wußte, fowohl wenn er
das fündlich motivirte Verlangen mißbilligte, ald wenn er das Berlangte gleichwohl
bewilligte, — Die zwei erften Könige, Saul und David, wurden durch göttliche
Wahl zu ihrer Würde berufen (1 Sam. 9, 10, 16. 1 Ehron. 11), dem Stamme
Davids wurde die Herrfchaft für alle Zeit zugefihert (2 Sam, 7, 12—16); bei
mehreren Söhnen ernannte der König felbft noch feinen Nachfolger (1 Kön. 1;
17 f.2 Ehron, 11, 22), gewöhnlih war dieß aber der Erfigeborne (2 Chron.
21, 3). Auch im Reiche Sfrael, wo der erfte König durch einen Propheten ge=
wählt wurde (1 Kön. 11, 31. ff.), erfcheint die erbliche Ihronfolge (2 Kön. 3, 1).
Diefe Ordnung wurde freifich ‚ befonders in den Zeiten des ſtaatlichen Verfalls,
216 Königthum.
mannigfach geftört von Innen und von Außen (2 Kön. 21, 24. 28, 30. 34, 24,
17, u. a.). Wie die Priefter wurde auch der König bei der Tpronbefteigung
feierlich geſalbt, theils vom bisherigen Herrfcher, theils von den Aelteften, theils
von dem Hohenpriefter im Tempel (1 Sam, 10, 1. 16, 13. 2 Sam. 5, 13,
1 Kön. 1, 39. 2 Kön. 11, 12)5 die Salbung war ein Symbol, daß er Reprä-
fentant Iehova s ſei, er Heißt daher der Gefalbte, der Geſalbte Zehobas, mn),
ma min (1 Sam. 24, 7, 11,2 Sam. 1, 14.16. Pſ. 2, 2, Klagl. 4, 20. u. a);
diefe Ceremonie fand nicht bloß bei den „nicht ereeptiongfreien Thronfolgern“
Statt (Winer), fondern war wegen ihrer fombolifchen Bedeutfamfeit ficherlich
eine allgemeine, wenn fie gleich nur bei einigen (Saul, David, Salomo, Joas,
-Soahas und im Reiche Iſrael von Jehu) ausdrücklich erwähnt tmird, Bei der Sal-
bung wurde ohne Zweilfel das Diadem, 7: (2 Sam, 1, 10. 2 Kön, 11, 12)
am das Haupt gebunden, die Krone, — (2 Sam, 12, 30. Hohesl. 3, 11.
Ezech. 21, 26, u. a.) aufgefegt, und das Scepter, bau J— Die —
Inſignien der königlichen Würde waren: der Thron, no2 (Spr. 16, 12, Der
Salomonifche ift befchrieben 1 Kön. 10, 18 ff. 2 Chron. 9, 17) 5 das prachtvolle
Eoftüm mit reihem Schmuck (Armbänder 2 Sam, 1, 10, in fpäterer Zeit der
Purpurmantel, 1 Macc. 10, 22. 62. 14, 43). Bon andern bei der Königs-
weihe üblichen Seierkiipteiten werden erwähnt: das freudige Nufen des Volkes
„88 lebe der König“ (Haar m 1 Sam, 10, 24, 1 Kön. 1, 25. 34. 39. u. a.);
Freudenmufif (1 Kön. 1, 40); Danfopfer (1 Sam, 11, 15. 1 Kön. 1, 25);
Darbringung von Gefdjenfen (1 Sam. 10, 27); das Seßen auf das Srachtpferb
(1 Kon, 1, 38. 44)5 der Huldigungsfuß A Sam, 10, 1. vgl. Pf. 2, 12). Nah
einer durch Michaelis (moſ. Recht) aufgeftellten und feitdem ziemlich allgemein
gewordenen Anfiht hätte der König bei der Befteigung des Thrones eine Wahl-
capitulation beſchwören müffen, wodurd ihm von Seite des Volkes eine Befhrän-
fung feiner föniglichen Macht auferlegt worden fei, Diefe, modernen Staatsver-
hältniffen entnommene Theorie, wenn fie fich auch recht gut hört, Fennt die Bibel
nicht, die dafür alfegirten Steffen find nicht beweifend ; der Bund, den David
(2 Sam. 5, 3) mit den Stämmen bei ihrer Huldigung vor Jehona ſchließt, ift
ebenfowenig eine die Föniglihe Macht befchränfende Wahlcapitulation, als der
Bund, den der Hohepriefter Jojada (2 Kön, 11, 17) bei der Salbung des Kb—
nigs Joas zwiichen Jehova, dem Könige und dem Volke ſchloß; vgl, Keil, Com-
mentar zu den BB. der Kön. ©, 188. Die nöthige Befchränfung der Gewalt
des theveratifchen Königthums war dur die Natur der Sache ſelbſt gegeben,
der König war ja nur Stellvertreter, Bafall Jehova's; nicht minder hatte das
Königsgefeß (Deut. 17, 16, ff.) auf pofitive Weife die Serefhergemwalt geregelt,
beſonders nach jenen Seiten bin, wo Willfür in Anwendung derfelben im theo—
eratifchen Staate am wenigften ftatthaben durfte; dem Königthum ftellte fich gleich
im Beginn das Prophetenthbum als die höhere Controle zur Seite, Saul war ab-
bängig von Samuel, er machte fih unabhangig und wurde verworfen, mit dem—
felben Nachdruck verwalteten die fpätern Propheten (3. B. Nathan, Yefaias) ihr
Mittleramt zwifchen Jehova und König und Volk; fo lange daher und foweit
der theveratifhe Herrfher ein Iebendiges Bewußtfein feiner Würde und feiner
Stellung hatte, war Despotismus nicht möglih; in der Wirklichfeit verlor fich
allerdings biefeg Bewußtſein häufig, wie die Geſchichte der Könige in beiden Rei—
chen zur Genüge zeigt. — Die Koͤnige, als Träger der höchſten Gewalt, übten
die Richterwürde in letzter Inſtanz (2 Sam, 15, 2. 1 Kön. 3, 16, ff.), dag Be-
gnadigungsrecht (2 Sam, 14), das Net, atieg und Frieden zu befchließen
(1 Sam, 11, 5. ff.), waren gewöhnlich) Anführer im Kriege (1 Sam, 8, 20).
Als Statthalter Jehovas betrachteten fie fih auch als Schugherren und Förderer
Königthum. 247
der Religion und des Cultus, fo befonders David (2 Sam. 6., 1 f. 7,1. fi)
und Salomo (1 Kön. 5,1. ff. 8, 1. ff); unter den fpätern Joas (2 Kön. 12, A,ff, Ir
Hiskias (2 Kön, 18, 4. F. >; Hof as (2 Rön.23, 1. ff.), nie aber war in der. voreri=
liſchen Zeit die priefterliche mit der föniglihen Würde in Einer Perfon vereinigt
(wie 3. B. Juſtin, 36. 3. behauptet: mos apud Judaeos fuit, ut eosdem reges et
sacerdotes kaberent, quorum justitia religione permixta incredibile quanlum coa-
luere, auch de Wette, Archäol. $ 146), in Folge außerordentliher Berhältniffe
geſchah dieß in den Zeiten der Maccabäer. — Der hohen Würde entfprechend war die
Achtung, welde den Königen gezolft wurde: Fürchte Jehova und den König (Spr.
24, 21); man näherte fich ihnen unter tiefer bis zur Erde gehender Verbeugung
(Fer oft mit dem Zuſatze TrIn Dias mit bem Angefiht zur Erde, zrgoozuveir,
1 Sam, 24,9, 25,:23..2 Sam, 9, 6. 19, 18, 1 Kön. 1, 16), flieg denfelben
begegnend som Reitthiere (1 Sam, 25, 23) ‚, begrüßte fie mit Segenswünfchen
(Dan, 2, 4, 3, 9. 308, b. j. 2, 1. 1); den Königen wurde vollfommene Kennt-
niß aller nur möglichen Dinge beigelegt, ihre Ausfprücde als gerecht geachtet:
wie ein Engel Gottes ift der König, daß er Höret das Gute und das Böſe
(2 Sam. 14, 17), fo weife, daß er Alles weiß, was im Lande gefgieht (ib. v.20);
die Läfterung des Königs gilt als Oottesläfterung und wird wie diefe mit dem
Tode beftraft (1 Kön. 21, 10); das Gedächtniß der guten Negenten bleibt in
Ehren, fie wurden in Gerufalem in den „Gräbern der Könige von Iſrael“ bei-
geſetzt Kön.2, 10. 11, 43. 14, 31), andern widerfuhr dieſe Ehre nicht (2 Chron,
28, 27. 26. 31); man beging ihren Todestag dur Klaggefänge (vgl. 2 Chron.
35, 25). Die hebräifchen Könige waren aber aud) ihrerfeits nicht durch fo fchroffe
Schramen vom Volke geſchieden, wie dieß ſonſt im Alterthum der Fall war, ſie
zeigten ſich oft unter dem Volke (2 Sam, 18, 4. 19, 8), waren für Jedermann
leicht zugänglich (1 Kön, 3, 16. 20, 39, Jerem. 38, 8. ff.). — Bon den Per-
fonen des Föniglihen Hofflantes und der Beamtung find als die bedeutendſten
folgende zu nennen: 1) Der Reichsverweſer oder Stellvertreter des Königs bei
dem Volke (77=7, welches Wort in der Beamtenlifte Salomo’s, 1 Kön. 4, 2,
ebenfowenig die Bedeutung „Hoherpriefter, Priefter” hat, wie die D7> 2 Sam.
8, 18 nicht „Haus- vder Palafipriefter, Hoffapläne oder geiftliche Räthe” find,
fondern, wie die Chronif [1 Chron. 18, 17] paraphrafirt: die Erften zur Hand des
Königs, vgl. Movers, krit. Unterfuhungen über die bibl, Chronif, S. 301. ff.);
der Kohen iſt als exfier Beamter der Nächfte des Königs (72a >71 Rön. 4,5),
weil er ihm (nach orientalifcher Sitte) wegen feiner Würde zunächſt figt, vgl.
Eſth. 1,14. 8, 14. u. a. 2) Der Haushofmeifter oder re des föniglichen
Hauſes (man en TER ober mar >> 72 1 Kön. 4, 6,16, 9.2 Rön, 18, 18.
ef. 22, 15.). 3) Der Feldherr (sr by Sun, nar7 90,2 Sam. 8, 16.
20, 23. 1 Kön. 4, 4. 1 Chron. 27, 355 welcher ——— zugleich der Oberſte
der Leibwache war (vgl. 2 Sam, 8, 18. mit 1 Kön. 4, 4). 4) Der Neidhs-
annalift, Kanzler ("232 2 Sam. 8, 16. 20, 24.1 Kon. 4, 3. 2 Kön. 18, 18.
Jeſ. 36, 3). 5) Die Foniglichen Seeretäre (2723, Schreiber, 2 Sam. 8, 17.
20, 25. 1 806.4, 3.2 Ron, 12, 11. 19, 2. 22, g, ff.), der Sopher erfcheint
in der Zeit Davids und Salomos nirgends als Mititärbeamter (wie Michaelis,
mof. Recht I. $ 176 und Studer 3. Buch der Richter 5, 14 annehmen), als
folder (8227 A) wird er erſt unter Zedekias aufgeführt Cogl. Keil, BB, der
Kön. ©. 43, Note). 6) Der Frohnmeifter (0a7 >> nun 2 — 20, 24.
1 Kon. 4, 6. 12, 18). ) Die Verwalter der föniglichen Domänen, welche die
verföiebenen Borräthe, die Heerden u. f. w. unter Aufficht hatten (1 "Chron. 2a,
25— 31). 8) Die zwölf über ganz Iſrael gejegteu Präfecten (orax:), welde
die Fönigliche Hofhaltung mit Lebensmitteln verforgten Cogl, 1 Kön. A, 7—19).
218 Konon — Kopten, TR
9) der Kleidermeiſter anna 59 Dun 2 Ron, 10,22). 10) Die königl. Leib-
wache, die Crethi und Plethi (owurropviexeg. Jos. antt. 7, 5.4), welche die
Palaftwache zu verfehen hatten, aber zugleich die Erecution der Todesurtheile und
die Verbreitung der Fönigl. Befehle in den Provinzen beforgten, (vgl. 2 Sam.8, 18,
15, 18. 20,7. 23. 1Rön. 1, 38,44, 1 Chron. 18, 17. und den Artikel: Cerethi
und Phelethi). Die Einkünfte der hebräifchen Könige waren: die Erträgniffe
der Domänen, beftehend in Aderland, Weinbergen, Delgärten, Weidetriften u, a,
(1 Sam, 8, 14. 1 Ehron, 27, 25—31. 2 Chron, 26, 10. Ezech. 45, 7); Nega-
lien (nach Amos 7, 1. gehörte dem Könige die erfte Schaffhur) ; Die ordentlichen
Abgaben, vorzüglich die Zehnten (1 Sam, 8, 15. 17, 25. ſ. d. A. Abgaben bei
den Hebr.); Gefchenfe der Unterthanen, die im Drient häufig und reichlich gege-
ben wurden (1 Sam, 10, 27, 16, 20. 1 Kön. 10, 25. vgl. Herod. 3, 89); es
mußten ihnen Frohndienfte geleiftet werden (1 Sam. 8,12. 1 Kon. 5, 13);
unter Umftänden wurden außerordentliche Steuern erhoben (2 Kon. 23, 35. Kopf-
fleuer, 2 Kön. 12, A); von der im Kriege gemachten Beute blieb dem Könige
ein großer Theil (2 Sam. 8,2 ff.), ebenfp die eonfiseirten Güter (2 Sam, 16, 4,
1 Kön, 21, 16). [Rönig.]
Konon, f. Conon.
Konrad, f. Conrad.
Konvertit, ſ. Eonvertit.
Kuppe, Johann Benjamin, geboren zu Danzig am 19, Auguft 1750,
batte zum Vater einen Tuchbereiter, Nachdem er das Gymnaſium feiner Vater-
ftadt befucht hatte, fiudirte er feit 1769 zu Leipzig und feit 1773 zu Göttingen.
Hier ward er Nepetent an der thenlogifchen Facultät, 1774 erhielt er die Profeffur
der griechifchen Sprache am neuerrichteten Gymnaſium zu Mietau, 1775 ward er or⸗
dentlicher Profeffor der Theologie zu Göttingen, 1777 auch erfter Univerfitätsprediger
und Director des Predigerfeminars, 1784 Doctor der Theologie und General-
fuperintendent, Obereonfiftorialrath und Dberpfarrer zu Gotha, 1788 Confiftorial-
rath und Hofprediger zu Hannover, Er flarb am 12, Februar 1791. Mehreres
über fein Wirfen- enthalten die Annalen der Braunſchweig-Lünneburgiſchen Chur-
Yande, VI. Jahrg., Bayer’s Magazin für Prediger, Schlichtegroll Nekrolog.
Seine Schriften flehen in Meuſel's Lerif, VI. ©.270 ff. ©. 9. W. Noter-
mund's Gelehrtenlerifon, II. Bd.
Kopten, im Drient, Jacobiten (ſ. d. A.) genannt, heißen die monophy-
fitifchen Ehriften in Aegypten. Sie haben, wie die übrigen Monpphifiten des
Drients, Eutyches zu ihrem Stammvater, Der Patriarch Dioscurus von Aleran-
drien (ſ. 9.9.) war ein eifriger Verfechter des Eutychianismus, und wußte durch feinen
großen Einfluß faft ganz Aegypten für diefe Irrlehre, und gegen die Feinde des
Eutyches, die jegt kurzweg Neftorianer fein mußten, einzunehmen, Als das Eon-
eilium von Chalcedon (ſ. d. A) Dioscurus feines Stuhls entfette, fo entfland darob
im ganzen Lande Unruhe und Gährung. Die firengen Geſetze der Kaiſer gegen bie
Feinde des Concils von Chalcedon entflammten noch mehr den Haß der Anhänger
Dioscurs gegen die Verfechter des Concils. Die erftern erlagen zwar dem ener-
gifchen Einfchreiten der Faiferlihen Macht, indem man von Conftantinopel aus
Patriarchen, Bifchöfe, Statthalter und Beamten nach Aegypten fandte, und bie
Landeseingebornen von allen bürgerlichen, militärifchen und Firhlichen Stellen aus—
ſchloß. Allein die Schwärmerei der Feinde des Conecils ward dadurch fo wenig
gedämpft, daß ein Theil derfelben fich nach Oberägypten zurücdzog, ein anderer
aber der freien Neligionsübung wegen nach Africa zu den Arabern fih begab,
Die oft graufam verfolgten und hart gedemüthigten Kopten nährten nun in ihren
Herzen einen brennenden Nachedurft gegen ihre Dränger, die Griechen oder Nöner,
welche alle Stellen und Würden des Staates inne hatten; riefen endlich bei guter
Kopten. 249
Gelegenheit die Saracenen in’s Land, und fpielten ihnen baffelbe in die Hände,
Griechen und Römer mußten das Land räumen, und unter faracenifhem Schuge
ward den Konten der Patriarchenftuhl zu Aerandrien zurücdgegeben, Diefe feier-
ten in kurzer Zeit, nachdem die griehifhe Sprache außer Gebraud gekommen,
ihren Gottesdienft in der Landesfprache, die noch heutzutage üblich ift. Die Kopten
erfreuten fich anfänglich aller von Omars Feldherrn, dem fie fih ergeben hatten,
zugeftandenen Borrechte; allein nur zu bald mußten fie es empfinden, daß das
Gefchenf der Saracenen nicht der Ausflug von Duldfamfeit, fondern vielmehr von
politifher Berechnung war; denn bald wurden die Saracenen die Tyrannen diefer
Chriſten, welche für die Duldung ihrer Neligionsübung fih die ſchwerſten und
willfürlichften Erpreffungen mußten gefallen laſſen. Sie harrten deffenungeadtet,
fih ihrer Martyrer rübmend, ftandhaft bis zum heutigen Tage in ihrem Befennt-
niffe aus, und beftehen, obgleich die mit der Herrfchaft der Kaliphen und fonft
feitvem vorgegangenen Veränderungen ihr Loos nicht wefentlich erleichtert haben,
noch heute in Aegypten, wo fie, ungefähr ein Zehntel der Bevölferung ausmachend,
den Stamm der alten Ureinwohner Aegyptens repräfentiren, und trog ihrer Ver—
miſchung mit andern Völfern, z. B. mit Griechen, Römern, Perfern — in ihrem
Aeufern einen eigenthümlihen Typus durch ihre braune Farbe, dies Geficht,
aufgeworfene Lippen, platte Stirn u. dgl. m. bewahrt haben. — Ihre Lehre betref-
fend, fo befchränft fich ihre Abweichung von der Fatholifhen Lehre auf den mono-
phyfitiſchen Irrthum, Fraft deffen fie die zwei Naturen in Chriſto läugnen, obgleich
fie anerkennen, daß die Gottheit und die Menfchheit in feiner Perfon nicht ver-
mifcht find. In den übrigen wefentlihen Glaubensleßren ſtimmen fie mit den
Katholiken, mit den orthodoren und fchismatifchen Griechen überein; insbefondere
nehmen die Kopten, wie aus ihren Bekenntnißſchriften und Ritualien hervorgeht,
die perfönliche Gegenwart Chriſti in der Euchariſtie an, deßgleichen die Verehrung
der Heiligen und der Bilder, das Gebet für die Verftorbenen u. f. f. Bezüglich
des Kirchenregiments haben die Foptifchen Chriften ihre anfängliche Einrichtung
beibehalten. Das Kirchenoberhaupt ift der Patriarch von Alerandrien, Nachfolger
des hl. Marcus; dann folgen die Bifhöfe, welche in der größten Abhängigkeit
vom Patriarchen fiehen, da diefer diefelben abfegen und aus der Kirche ſtoßen
kann; hierauf kommen die Priefter, Diaconen, niedere Geiftlichfeit, Mönche; end-
lich die Laien, Zur Wahl des Patriarchen verfammeln ſich die Biſchöfe, Priefter
und die Hervorragenden aus dem Volke zu Cairns. Der Patriarch wird, da er
fein ganzes Leben in der Enthaltfamfeit zugebracht haben muß, jederzeit aus den
Mönchen gewählt, Den Prieftern ift der ehelofe Stand nicht zur Pflicht gemacht,
wird aber dennoch von vielen gewählt. Der Priefterfiand erhält feinen Nachwuchs
meiftens aus dem gemeinen, von der Hände Arbeit lebenden Stande, Da der
Priefter für feinen und feiner Familie Unterhalt von der Kirche faft gar nichts
bezieht, fo ift die Bewerbung um den Priefterfland, der von der Handarbeit
abzieht, Feinesweg häufig. Manche Arbeiter, als: Leinenweber, Kleidermacher,
Kupferſtecher, Goldarbeiter ꝛc. begeben fich oft erft in einem Alter von dreißig
Jahren in den Priefterftand, und werden, wenn fie das Koptiſche — die Sprade
für die Meffe und Tageszeiten — verflehen, gerne aufgenommen. — Als ein
hochverdienſtliches Werf gilt bei den Kopten das Faften; fie haben vier große
Saftenzeiten, Die vor Oſtern fallende Faften nimmt neun Tage vor jener der
Lateiner ihren Anfang; bei diefer enthalten fie fih alles Eſſens, Trinfens und
Tabakrauchens bis nah dem Gottesdienfte, d. h. bis gegen 1 Uhr, Eigenthümlich
ift den Kopten noch die Art der Spendung des Bußfacraments: mit diefem erthei=
Ien fie nämlich zugleich die Hl. Delung. Da fie aufer den Leibesfranfheiten
auch die Seelenkrankheiten, die Sünden, und die Gemüthsfranfgeiten, von dem
Trübfalen herrührend, unterfcheiden, fo halten fie die Delung gegen alle drei
Öattungen von Krankheiten für heilfam, Ferner ift ihnen eigenthümlich der Ge—
250 Koptifhe Bibelüberfegung — Koran.
brauch der Weihe des Waffers am Fefte der Erfeheinung des Herrn. Die Segnung
gefchieht über große Becken Waffers in den Kirchen, oder auf dem Lande über
den Nil, worauf das Volk fi badet. Die Ceremonie der Beſchneidung fcheinen
die Kopten den Mohammedanern zu Gefallen angenommen zu haben, Die Löfung
der Ehe halten fie nicht bloß im Falle des Ehebruchs für erlaubt, fondern auch wegen
langwieriger Krankheiten, wegen Widerwillen ıc. (S. Fritz, Keßerlexif.) Zur Zeit
des Conciliums zu Florenz zeigte fich auch bei den Kopten der löbliche Vorſatz, ihr
Schisma aufzugeben, und mit der Iateinifchen in Einigung zu treten, Zu diefem
Behufe fam Andreas, Abt des Klofters St. Anton in Negypten, und Legat des Patriar-
hen der orientaliſchen Jacobiten, 1441 nach Florenz zu Engen, um in feinem und
aller Jacobiten Namen die Einigung mit der römischen Kirche nachzufuchen, Da die
Union mit den Griechen und Armeniern bereits vollzogen war, fo legte ihnen Eugen
in feinem Decvete Cantate Domino in Kürze diefelben Glaubenspuncte vor, welche
in feinem Deerete für die Armenier enthalten waren (f. Ferrara-Florenz). —
Die Kirchenſprache, das Koptiſche, iſt im Wefentlichen die altägyptifche,
mit mehreren Dialecten, fehr biegfam, zu allen Arten von Zufammenfegungen
‚geeignet. Die noch vorhandenen Foptifchen Bücher find Ueberſetzungen der bibli-
{hen Schriften, Homilien, Synodalbefhlüffe, Leben der Heiligen und Werfe der
Gnoftifer, Ihre Abfaffung fällt nach der Periode der Befehrung der Kopten zum
Chriftenthum, welche ım 3. u, Aten Jahrh. n, Chrifto erfolgte, Das Verzeichniß
diefer Schriften gibt Zvega’$ „Catalogus codicum Borgianorum* (Rom 1810).
Die Palmen erfchienen im Drud zu Rom 1744. Der Franzofe Dujardin hat
in neuerer Zeit (1838) aus Auftrag der franzöſ. Regierung viele foptifche Manu—
feripte erworben; eben fo der franzöf, Gelehrte Dulaurier, — Literatur: Makrizii
historia Goptorum Christianorum in Aegypto, arab, et in linguam lat. translata ab
H. J. Wetzer. Solisbaci 1828. [(Dür.]
Koptifche Bibelüberfegung, ſ. Bibelüberfegungen, B. 1. ©, 942.
Korach, ſ. Core,
5702
Koran, genauer: Kor—an* (ol) ift der Name, welhen Mohammed
ſelbſt ** dem Buche gab, worin er feine vorgeblichen Dffenbarungen niederlegte,
Er Tief ungefähr vom 40, bis 60. Jahre feines Lebens die Ergießungen feines
bewegten Geiftes einzeln auffchreiben. Mehrere Männer dienten ihm in den
fpätern Jahren als Schreiber, Dsman, Ibn Afan (URS), Zen, Alt und
Moawia zeichnen fich unter venfelben am meiften aus, Abulfeda zählt im Ganzen
deren neun (Annal. t. I. p. 194.) Navavı aber 33. (Ed. Wüstenfeld I, p. 37.).
Die Schreiber mochten auf die Abfaffung nicht ohne Einfluß fein. Mohammed
vertheidigt fih gegen den Verdacht, ald wenn Ausländer ihn infpirirten (Bol.
Sura 16. V. 106. Vgl. ©, 25. V. 4. 5, und Maraccius de Alcorano p. 37.) Er
legte großen Werth auf das dur ihn vom Himmel gefommene Buch und empfiehlt
es als fihere Norm für alle Menſchen. Gleihwohl trug er feine Sorge dafür,
daß die einzelnen Aufjchreibungen zu einem Ganzen vereinigt wurden, Der erfte
Kaliphe, Abubeker (f. d. A), ließ die zerftreuten Aufzeichnungen, wie fie fih auf
Pergament, Palmblättern und andern Materialien fanden, fammeln, und in Ein
Buch zufammenfchreiben. Bei diefer Arbeit wurde die chronologiſche Ordnung
der Abfchnitte ganz vernachläffigt, es feheint, die Sammler gingen von dem
Streben aus, die größern Suren vor den Fleinern aufzuführen, Jedenfalls Famen
an den Anfang folche, welche gegen das Ende von Mohammeds Leben entftanden
waren, Die ältefte ift wohl Sure 96, Es wurben bei ber durch Abubefer
* Lane fihreibt immer Ckoor-än, Br
** Sure 10, 16. 38. 62, 17, 9. 43. 49, und unzählige Mal. Auch Furkan d. i. „Unter-
ſcheidung/ nämlich ver Lüge und der Wahrheit wird er genannt, 3.8. Sure 2, 50, u, ö.
EEE UT. N
Koran, 251
* Ben. ;
seranftalteten Sammlung auch mündliche Relationen von gebächtnigftarfen Män-
nern benügt ( Ji> N 3431 (o Abulf. I. p. 212. und p. 250. Vergl. den Art,
Gefährten Mohammeds). Das fo gedonnene Eremplar wurde bei Haphſa
(Ka2>), einer von den Gemahlinnen Mohammeds, hinterlegt. Es verbreiteten
fich bald viele Abſchriften, in welchen ſich aber fo bedeutende Verſchiedenheiten bemerf-
bar machten, daß der drifte Kaliphe, Osman, ſich veranlaßt fand, eine bleibende
Recefion zu veranftalten, Vier Männer wurden beauftragt, mit Zugrundelegung
der bei Haphſa deponirten Urfchrift einen feften Tert herzuftellen. Wenn fie unter
den fonft gebrauchten Abfchriften ſprachliche Verſchiedenheiten wahrnahmen, mußten
fie fih nad Osmans Auftrag für den koreiſchitiſchen Dialect entjheiden, Bon
dem auf diefe Weife gewonnenen Terte wurden Abfihriften nach allen Richtungen
hin verbreitet, Die ältern Exemplare wurden vernichtet (ef. Abulf. I. p. 214. und
Maraceius 1. c. p. 39.) Seit diefer Zeit hat der Koran Feine wefentliche Ver—
änderung mehr erlitten; die Varianten, welche bisher aufgetrieben werden fonnten,
find nicht bedeutend. Er befteht aus 114 Suren, oder Capiteln.* Die Com-
poſition des zufällig zufammengefegten Buches iſt fehr ungleich, bald gedrängte
Kürze, bald ermüdende Weitfchweifigfeit, zahlloſe Wiederholungen derfelben Ge—
danken, oft derfelben Ausdruͤcke. Die Araber finden die Dietion unübertrefflich
Schön, Mohammed felbft behauptete, die Unnahahmlichkeit des Korans fei der
Wunderbeweis feiner Sendung; felbft Europäer werden in einzelnen Suren den
Stempel ächter Poeſie anerkennen; voransgefegt, daß fie nicht die unbehilfliche
Ueberfegung Wahls, fondern Hammers Uebertragung in den FZundgruben des
Drients benügen fünnen, Die erfte Ueberfegung für den Occident ift die latei—
nifhe, welche auf Antrieb des Petrus Venerabilis, Abtes von Elugny, Zeitge-
noffen des HI. Bernhard, in Spanien verfaßt und fpäter im Drude veröffentlicht
wurde, („Haec translatio Basileae impressa in Indice Romano merito prohibetur.“
Maraccius, de Alcorano p. 33.) Diefelbe fann jedoch jo wenig, als überhaupt
irgend eine bloße Ueberfegung, zum Verftändniß des ganzen Koran führen, da
derſelbe taufend dunfle Anfpielungen auf Thatfahen und Einrichtungen enthält.
Außer einem gründlichen Studium der Sprache fann nur die Erflärung der mo-
bammedanifchen, die einheimifhe Tradition bewahrenden Commentatoren zum
Ziele führen. In neuefter Zeit hat Fleifcher den arabifhen Commentar von Beid-
havi vollftändig herausgegeben. Sp wichtig jedoch diefes Unternehmen war, fo
ift dadurch feineswegs jene Bearbeitung des Koran überflüffig geworden, welche
Maraceius 1698 in Padua herausgab, Maraccius bietet den Tert, eine gründ-
liche lateiniſche Heberfegung, einen Commentar, welcher den bedeutendften arabifchen
Erflärern entnommen iſt; dazu eine Einleitung über den Koran, das Leben Mo-
bammeds und vier Prodromi zur Kenntniß des Islam, ſammt Widerlegungen bei
jeder Sure, Noch immer das Hauptwerk der europäifchen Koransfunde. Der
Islam felbft hat eine unermeßliche Literatur der Koraneregefe hervorgebracht.
Die Fächer derfelben überblickt Hammer: Encyelopädifche Neberfiht der Wiſſen—
fhaften des Drients, Leipz. 1804. 2. Thl. 176—620. Schon ehe Mohammed
geftorben war, wurden einzelne Suren auf verfhiedene Weife gedeutet (vergl.
Sure II. Anf.) Später bildete fih eine ebenfo mannigfadhe Hermeneutif aus,
wie auf chriſtlichem und jüdifhem Boden Hinfichtlih der Bibel, Samachſchari
ſcheint Hiftorifch-grammatifch zu verfahren, während Beidhavi vielfältig fcholaftifch,
bie und da fabbaliftifch erklärt. Je freier fih einzelne Männer von dem Glau—
ben an die Ewigfeit des Koran hielten, defto Leichter mußte es ihnen fein, gut
* Eine 115te Sure im Intereſſe der Aliven geſchrieben hat Garein de Taſſi im
Journal Asiatique (Mat 1842) aus dem Dabiſtani Maſahib mitgetheilt. In Weils Ein-
leitung zum Koran ©, 82 ff, fteht die teutfche Ueberſetzung.
252 Korbfeſt — Kornmann.
zu erklären. Hätten wir Commentare aus der erſten Zeit der Abbaſiden, fo wür-
den wir fiher manches ganz anders erflärt finden, als z. B. bei Beidhavi. Die
Kaliphen Mamun* und Vaͤthek nahmen fich der aufgeflärten, den Motafalen fi
annähernden Meinung an, daß der Koran eine zeitliche Entftehung habe; aber
die Stimme der großen Mehrheit des Volfes war fo fehr gegen die freifinnige
Anfiht, daß Motevaffil die dogmatifchen Erlaffe feiner Vorgänger abrogiren
mußte. Seit diefer Zeit ift e8 herrfchende Meinung der Mohammedaner, wenig-
fteng der fonnitifchen, daß der Inhalt des Korans vorzeitlih, im Wefen Gptteg
beftehend fei, In der Nacht ga fei er von dort zum untern Himmel herab»
Helaffen und von da aus durch den Engel Gabriel ſtückweiſe gepffenbart worden,
Diefe Annahme begünftigt natürlich außerordentlich einerfeitS die Fabbaliftifche,
andererfeits die fholaftifche Erflärungsweife, das heißt jene, welche jeden Aus-
druck als eine Thefis behandelt, durch welche und an welcher Theorien entwickelt
werben fönnen, Außer der genannten Ausgabe von Maraccius gibt e8 mehrere
Handausgaben. Die von Flügel (1834 in 4.) ift durch Redslob in Fleinerer
Br er,
Form wieder gegeben (1837 in 8.). Flügel bat uns auch mit einer Concorbang
verſehen (Concordantiae Corani Arabicae. Lips. 1842), ein Buch, das bei der
Lectüre mohammedanifcher Schriftfteller jedem nüslih ift, welcher Fein Hafiz
bsla), d. i. Auswendigwiffer, ift. Von den Heberfegungen find außer der von
Maraceius befonders bemerfenswerth die franzöfifhe von Kaſimirski (Paris
1840), und die englifche von Sale, Teutſch: „Der Koran aus dem Arabifchen
wortgetreu neu überfeßt und mit erläuternden Anmerfungen verfehen von -Dr. 2,
Ullmann”, Crefeld, 1840, 12. [Haneberg.]
Korbfeit, f. Fefte der Hebräer Bd. IV. ©, 52,
Koribut, f. Hufiten.
Korinth, f. Corinth.
Kornmann, Rupert, letter Abt des Klofters Prifling unweit von
Regensburg, geboren zu Ingolſtadt 1759, trat 1776 zu Prifling in das Kloſter,
Tegte dafelbft 1777 die Gelübde ab, erhielt nach rühmlich zurücfgelegten theo- Fi
Iogifchen Studien 1780 die Prieflerweihe, wurde zu weiterer wiffenfchaftlicher
Ausbildung an die Univerfität Salzburg gefihieft, wo er zugleich die Kaplanei
am Nonnenberg verfah, befleidete nach, feiner Nückfehr von 1785—1790 das
Amt eines Hausprofeffors, als welcher er Philofophie und Mathematik, fpäter
Phyſik und practifche Philoſophie, auch vrientalifche Sprachen und das Franzöfifche
. Iehrte, und wurde am 8, Febr, 1790 zum Abt gewählt, So fehr Kornmann für
Wiffenfrhaften und Künfte eingenommen war, fo galt ihm doch für fi, feine
Conventualen und die zum Stifte gehörigen Unterthanen und Pfarreien die Reli-
gion, der Gottesdienſt, die Tugend und das Seelenheil als die Hauptfache, und
hielt er daher ftrenge auch auf die Erhaltung der Flöfterlihen Disciplin. Nur in
dieſem Geifte war er mit aller Sorgfalt darauf bedacht, fein Klofter zu einer
Pflanzſchule der Wiffenfchaft zu machen. Das fhon feit langem zu Prifling be—
ftehende Seminar, worin 12—15 Zöglinge unentgeldlich unterrichtet und ver-
pflegt wurden, erhielt durch ihn eine verbefferte Einrichtung. Alle feine Neligio-
fen mußten , je nach ihrem Alter und ihren Fähigkeiten, ein wiffenfchaftlihes Fach
betreiben, Prifling fchien damals ganz den Künften und Wiffenfchaften anzuge- .
hören, Literarifche und artiftifhe Sammlungen wurden von Kornmann theils be»
reichert, theils neubegründetz jeder Kenner bewunderte die Vollftändigfeit der-
felben. Ein Theil der Stiftsherrn Tehrte zu Haufe, der andere Theil ftand mit
Beifall Profeffuren zu Münden, Salzburg, Ingolftadt und Amberg vor. Und
folche Klöfter, deren e8 damals fo manche andere in Bayern und Teutfihland gab,
# ©, über das Verfahren Mamund Abulfeda, II. ©. 156.
— Körperſtrafe — Kos. 253
wurden aufgehoben und zerſtört! Weiteres über die Wirkſamkeit dieſes ausge—
zeichneten Prälaten kann man in den „Nachträgen zu den beiden Sibyllen der
Zeit und Religion“ und in dem Gelehrten- und Schriftfteller-Lericon von Felder,
Bd. I. Iefen. Nach der Säcularifation feines Klofters zug er fih nah Kumpf-
mühl bei Prifling zurüd, wo er am 23. Sept. 1817 ſtarb. Kornmann genoß ſo—
wohl wegen feines edlen Charafters als auch feiner ausgebreiteten Kenntniſſe,
namentlih im Face der Geſchichte, und feiner Schriften halber großes Anfehen,
ſelbſt bei fürftlihen Perfonen. Unter feinen vielen Schriften ragen hervor 1) die
Sibylle der Zeit aus der Vorzeit, oder politifche Grundfäge, dur die Geſchichte
bewäßret, nebft einer Abhandlung über bie politifche Divination, Frankfurt und
Leipzig 1810, II Bde, Eine zweite Ausgabe diefed Buches erfhien 1814 zu
Regensburg in drei Bänden. 2) Sibylle der Religion aus der Welt- und Menfhen-
geſchichte, nebft einer Abhandlung über die goldenen Zeitalter, Münden 1813; die
zweite vermehrte Ausgabe erfchien zu Regensburg 1816. 3) Nachträge zu den beiden
Sibylien der Zeit und der Religion, nebft der Biographie des Verfaffers, Negens-
burg 1818. In Bezug auf die Sibylle der Zeit bemerkt die Biographie, es dürften
jenige Schriftfteller die Gefchichte mit mehr Fülle, Scharffinn und Wahrheit zur Be-
feſtigung der gehaltooliften Darimen benügt und treffender die Zufunft in dem Spie-
gel der Vergangenheit gezeigt haben. In der Sibylle der Religion feste fich der Ver—
faffer zum Zweck, die Religion als das Eine Nothwendige von ihrer liebenswürdigen
Seite zu fhildern und in den Kreis der höhern Gefellichaft einzuführen. [Schrödl.]
Körperjtrafe bei den alten Hebräern, ſ. Leibesftrafe,
Körperjtrafe, f. Zühtigung, körperliche.
Kortholt, Chriftian, proteftantifcher Theolog, ift den 5. Januar 1633
zu Bergen auf der Inſel Femern geboren, wo fein Bater Kaufmann war, Er
fiudirte zu Stettin und Roftod, In Jena las er philofophifche und theologiſche
Fächer. Seine Streitfuht fand ihre erfte Gelegenheit durch Timotheus Lauben-
berger. Diefer Apoftat der Hundertjährigen Kirche ſchrieb fein „kohlſchwarzes
Lutherthum“. Ihm antwortete Kortholt mit feinem „kohlſchwarzen Papſtthum“.
Im Jahr 1660 reiste er nach Leipzig, Wittenberg und Roſtock, an welch’ Iegte-
rem Orte er „den römischen Beelzebub Luther's“ gewaltig vertheidigte. Der
Eifer für den großen Reformator des 16ten Jahrhunderts und defien Sache em-
pfahl K. dem Herzog von Schwerin, Chriftian Ludwig. Diefer berief ihn zu
einer Disputation mit dem Katholifen Eggefeld und dem Polen Ellermitzky.
Darauf wurde 8. 1662 zu Roſtock Profeffor der griechifchen Sprache und 1669
auf der von Herzog Ehriftian Albrecht gegründeten Univerfität Kiel Profeffor der
Theologie und Procanzler. Mehrere Berufungen lehnte er ab. Der nah Weif-
mann durch Gelebrfamfeit und Frömmigkeit gleich ausgezeichnete Mann verblieb
und ftarb zu Roftof den 31. März 1694. Aus feiner ſchriftſtelleriſchen Thätig-
feit führen wir an: De persecutionibus eccles. primaevae sub imperat. ethnicis,
Kiel 1669, teutſch Hamb. 1698; de columniis paganorum in veteres Christianos, _
verm, A, Kiel 1668, umgearb. unter dem Titel: paganus obtrectator, Kiel 16985
tractatus de vita et moribus Christianis primaevis per gentilium malitiam afflietis,
Kiel 1683; tractatus de natura et origine Christianismi, Kiel 1677; de tribus
impostoribus magnis (Ed, Herbert, Thom. Hobbes und Ben. Spinvza) Hamburg
‚ 17013 de pastore fideli s. officio ministrorum eccl.; de canone scripturae; de variis
script. sacrae editionibus ; de lectione bibliorum in linguis cognitis und feine historia
ecel. N. T., an deren vollftändigen Ausarbeitung ihn der Tod verhinderte, Lips.
- 1697. Vergl. Christ. Eberh. Weismanni introductio in memorab. ecel. historiae
sacrae I]. pars ©. 958 und 12585 biftorifhes und geographifches Lericon
von J. Chr. Iſelin IL Bd. S. 525 Handwörterbug von W, D. Fuhrmann
"18. ©. 593. [Stemmer.]
Kos, ſ. Cos.
254 Kosri — Krakau—
Kosri, ſ. Cosri. | ®
Koftbaren Blut, Eongregation von dem, f, Eiftereienferinnen.
Koſtnitzer Erneil, ſ. Conftanzer Eoneil, i
Krain, ſ. Kärnthen.
Krakau, Bisthum. Der polniſche Geſchichtsſchreiber Dlugoß (ſ. d. Art),
und nach ihm die meiſten Polen berichten, daß der erſte chriſtliche Polenherzog |
Mieczyslav neben dem Erzbisthum Gneſen Krakau als zweites Erzbistum, oder
wenigftens als Bisthum, nebſtdem mehrere andere Bisthümer geftiftet habe.
Diefe Tradition ift heute aufgegeben, Nah Dithmar von Merfeburg wurde
(fd, A, Gnefen) Krakau im 3.1000 als Bisthum gegründet, und nebft Breslau
and Kolberg in Pommern dem Erzbisthume Onefen unterftellt. Vorher Eonnte
Krakau Fein polnifches Erzbisthum fein, ſchon aus dem einfachen Orunde, weil
Kleinpolen mit Krakau vor dem J. 1000 nicht zum polnifhen Piaftenreiche ge-
hörte, Erft Boleslaus der Große nahm diefe Landfıhaften mit Krakau und Ober-
fchlefien im 3. 1000 den Böhmen ab, die fie wahrfcheintich fchon vor dem J. 973
erobert hatten, In dem Stiftüngsbriefe für das Bisthum Prag, den wir aber
nur in einer Ernenerungsurfunde Kaifer Heinrich's IV. vom J. 1086 befigen,
werben die Flüffe Styr und Bug als die Grenzen bes Prager Sprengels, die
Stadt Krafau mit dem zugehörigen Lande als in das Bisthum eingefchloffen, ge=
nannt, Vor dem 3. 1000 kann es alfo ein eigenes Bisthum Krakau nicht ge—
geben haben. Das um diefe Zeit unter Boleslaus gegründete Bisthum aber
wurde und blieb Gnefen unterftellt, Die Namen der erften Biſchöfe wiffen indeß
die Polen felbft nicht fiber anzugeben. Sp fagt Martin Eromer in feiner poln,
Geſchichte 1. III.: „Der Cardinal Aegidius feßte die erften Erzbifchöfe und Bifhöfe
ein, Staliener, vielleicht auch einige Gallier und Teutfche, da unfere Leute noch
ungebildet waren”, Nachdem Biſchof Rachelin um 1045 oder 1046 geftorben
war, berichten polnifhe Duellen, wurde Aaron, der Abt des berühmten bei
Krakau liegenden Klofters Tinini, als Bifchof poſtulirt. Diefer wurde vom
Papſte beftätigt ; und habe, fer es im J. 1046, fei es fpäter — etwa 1059 —
das Pallium erhalten, babe fogar vorübergehend den Primat über ganz Polen
erhalten, Die ganze Gefchichte mit Aaron ift dunkel; die als Beweis angeführte
Bulle Benedict’S IX. vom J. 1046 entfchieden unächt. Jedenfalls’ konnte ver
Primat Gnefen’s in Rom nicht ohne Weiteres ignorirt werden, Wir treten der
Anficht Röppel's bei, daß die Notizen polnifcher Chronifen — Annal. Cracov.
major. — wegen Erhebung Aaron's zum Erzbifchof Zufäge einer fpäteren Hand
feien, Iſt dem alfo, fo zerfällt auch die weitere Nachricht, daß Aaron’s Nach—
folger, Lambertus Zula, es vernachläßigt habe, das Pallium von Rom zu er-
bitten, und daß durch dieſe Verſäumniß Krakau die erzbifchöflihe Würde wieder
verloren habe, Unter den folgenden Bischöfen ragt der Bifchof und Martyrer
CH 1079) Stanislaus hervor (f. d. Art.). Sein Andenken und feine Verehrung
umgab das Krafauer Bisthum mit hohem Glanz, Die Bedeutung des Bisthums
bob fich ferner durch die Erhebung der Stadt Krafau, weldhe vom J. 1320 bis
1609 Refivenz der polnifchen Könige, und bis in die Teste Zeit wenigftens ihre
Krönungs- und Orabesftätte war. — Das Bisthum Krakau erftredte ſich nörd—
Lich im Weften der Weichfel bis an die Grenzen von Gneſen. Weſtlich ſtieß es
an Breslau; Benthen gehörte noch zu Krafau, Der Fluß Cocawa, der bei
Beuthen entfpringt, und bei Koſel in die Dver mündet, war im 15ten Jahr-
hundert die Grenze der beiden Bisthümer, Südlich der Weichfel ging das Bis—
thum mit der Herrfchaft von Dunajee bis in's Gebirge, und umfaßte noch den
Bezirk von Scepus. Gegen Ende des 13ten, oder Beginn des 14ten Jahrhun«
deris ging diefer Bezirk zum Theil an das Erzbisthum von Gran verloren,
Deftlich reichte das Bisthum an den San, Der Bifchof von Lebus (ſ. d. A.) hatte nach
einer päpftlichen Urfunde vom J. 1373 in der terra Lemburga die Jurisdietion.
1:
ee
Bee 2 44 f "3
Kranfenbefud. 255
Sm Dften der Weichfel gehörten die Landfchaften Sendomir und Lublin zu dem
Bisthume Krakau, deffen Grenzen fih nah Nordoften etwa bis zur Wieprz er-
firesften, Seit dem 3. 1443 war der Bifhof von Krafau zugleich fouveräner
Herzog von Severien, dem Lande zwifchen Krakau und Schlefien. Vgl. Röpell,
Gefchichte Polens. 1840. — Starovolscii, vitae Antist. Cracov. Crac. 1655. —
Rzepnicki s. J. vitae Praesulum Polon. 1. W. comp. — Posn. 1761. 1.1. ec. 5.
de episcop. Cracoviensi. [(Gams$.]
Sranfenbejuh. Im Kirchendienfte bei der einzelnen Gemeinde (Pfarr-
amt) ſtellt fih neben die Thätigkeiten für die Unmündigen (Katechefe) und die
verfammelte Gemeinde (Predigt und Liturgie) — die Seeliorge, welche die von
jenen übrig gelaffenen befondern religiös-fittlihen Bedürfniffe der einzelnen Glie-
der der Gemeinde durch Wort, Cult und Sacrament, und Disciplin im Auftrage
und Namen Chrijti und feiner Kirche zu befriedigen bat. Der Krankenbeſuch
aber nimmt in der Seelforge nad dem Beichtftuhle die Hauptitelle ein. Der-
Geiftlihe Hat, fo viel an ibm Tiegt, die Kranfen und Sterbenden zu befehren
oder deren guten Zuftand zu reinigen, zu erhalten und weiter zu fördern, ins-
befondere Hriftliches Verhalten in Bezug auf Leib und Seele in der Krankheit,
im Wiedergenefen und Sterben zu vermitteln, die erforderlihen Sacramente und
Segnungen zu fpenden und deren würdigen Empfang und nahhaltige Wirkungen
anzubahnen, Teiblich und geiftig zu tröften, zu rathen und zu helfen, für Kranfe
und Sterbende zu beten, zu opfern und die Mithilfe Anderer anzurufen, auch
venfelben den öffentlichen Gottesdienſt möglichft zu erfegen, auf die Angehörigen:
aber religiös-fittlich Heilend und fördernd einzuwirfen und fie befonders zu einem
chriſtlichen Verhalten bei der Krankheit und dem Tode der Ihrigen anzumweifen
und zu ermuntern —, Alles zum Heile der Kranfen und Sterbenden, der An-
gehörigen und ganzen Gemeinde, zur Erbauung des Leibes Chrifti und zur Ehre
Gottes. Uebrigens ift e8 auch eine der wichtigften Pflichten der Laien, vor allem
der Angehörigen, die Kranfen und Sterbenden zu befuchen, die bezeichnete Auf-
gabe nah Kräften zu löfen und die Thätigfeiten des Geiftlihen vorzubereiten, zu
unterflüßen, zu ergänzen und nach Umftänden möglichft zu erfegen. Wir find ja
Alle Eim Leib mit vielen Gliedern zu verfchiedener Dienftleiftung und überall
bildet unter den Factoren, welche vor, mit und nach dem Geiftlihen wirfen, die
Thätigkeit der hriftlichen Gemeinfhaft neben der Gnade Gottes den Hauptfactor.
‚Der Geiftlihe Hat zu diefem Laienbeiftande zu ermuntern und anzuleiten. Beweg-
gründe zum Kranfenbefuch find für Laien und Geiftlihe der Wille Gottes, Wille
und Beifpiel Chrifti, feiner Kirche und der Frömmften und Beften aus allen
Ständen, Ländern und Zeiten, zeitliche und ewige Vergeltung, fowie die drift-
liche Liebe, welche in den Kranken und Sterbenden Kinder Gottes, Erlöste und
Miterben Jeſu Ehrifti, Tempel des HI. Geiftes, Brüder und Schweftern, an
Leib und Seele Gefhlagene und Bedrängte, den Testen Dingen, dem ewigen
Heile oder Verderben Nahe, baldige Anfläger oder Fürbitter vor dem Throne
Gottes, gerade jegt noch zu Nettende und Nettbare erblickt. „Alles, was ihr
wollet, daß euch die Leute tun, das follt ihr ihnen thun.”- Matth. 7, 12.
„Freuet euch mit den Fröhlihen, und weinet mit den Weinenden.“ NRöm. 12, 15.
„Selig find die Barmherzigen, denn fie werden Barmherzigkeit erlangen.” Matth.
5, 7. „Dieß ift mein Gebot, daß ihr euch einander liebet, wie ich euch geliebet
babe.“ Joh. 15, 12, „Wir foffen für die Brüder das Leben laſſen.“ 1 Joh. 3,
16. Ein unübertrefflicher Beweggrund endlich Tiegt in dem Worte Jefu Ehrifti:
Was ihr einem meiner geringften Brüder gethan habt, das habt ihr mir ge=
than“, und in dem Worte des Weltenrichters: „Ich war franf, und ihr befuchtet
mi“, und „ich war frank, und ihr befuchtet mich nicht.“ Matth. 25, 34 ff. Den
Geiſtlichen aber verpflichtet zum Kranfenbefuch nicht bloß, wie den Laien, Liebe
und Barmherzigkeit, allenfalls in erhöhten Maße, fondern vor allem fein Amt,
256 Kranfengebete,
vermöge deſſen er Organ und Stellvertreter Jeſu Chrifti und feiner Kirche ift,
- Die Kranken nahten ſich Jeſu mit ihren Angehörigen aus allen Gegenden des
Landes mit Vertrauen und Bitte, er aber heilte fie und alles Volk lobte Gott,
„Wie mich der Vater gefandt hat, fo fende ich euch.” Der gute Hirt gibt fein
Leben für feine Schafe, und verläßt Die 99 und geht dem einen verlorenen nad,
„Kranken werden fie die Hände auflegen und fie werben genefen.” Und das eigent-
liche Ritual der Kirche, das römifche, fagt: „Parochus in primis meminisse debet,
non postremas esse muneris sui partes, aegrotantium curam habere.“ Am Kran—
fen- und Sterbebett ift geiftliche Hilfe oft alleinig möglich, jedenfalls am nöthig-
ſten, wirffamften und entfcheidendften, gewinnt und überwindet da am meiften
die Welt und fchafft ganz befonders Liebe, Vertrauen, Gemeindefenntniß und
eigene Erbauung. Blicken wir endlich von den Theilen aus auf das Ganze, fo
find der Kirche, der wahren Mutter, wie die Armen, fp noch mehr bie Kranken
und Sterbenden die liebſten Kinder, die theuerften Schäbe, und fie forgte für
diefelben zu allen Zeiten nicht bloß dur die Liebe und Barmherzigkeit, die fie
in den Einzelnen pflanzt und nährt, und durch den ordentlichen amtlichen Bei—
ftand des Geiftlichen, fondern auch durch Gründung der Klöfter, Spitäler, Stif-
tungen, eigener Orden und Bruderfchaften; und ihre leibliche und geiftige Kran-
fen- und Armenpflege war immer, bis herab auf unfere barmherzigen Schweftern,
eine ihrer glänzendften Seiten, ein befonderer Sauerteig des Evangeliums, ein
nicht geringer apologetifcher Beweis der Göttlichfeit des Chriftentbumes und der
Fatholifchen Kirche, und kann auch allein in der traurigen Gegenwart retten und
den drohenden Communismus mit al’ feinen Gräueln und feiner Barbarei über-
winden, — Kurze Anweifungen zum Krankenbeſuch mit einem größern oder klei—
nern Reichthum von Materialien, Zufprüchen, Betrachtungen, Gebeten, Litaneien,
BDeifpielen u. |. w. geben die Ritwalien. Ausführlihe Anweifung zur Pflege
der Kranken überhaupt, und der Kranken nach Verſchiedenheit des Alters, Stan-
des, der Krankheit und des Seelenzuftandes insbefondere, fowie ber Sterbenden —
enthalten die Werke über Paftoraltheologie, Die verfchiedenen Kranfen-
bücher aber geben Materialien und Formulare für den Beiftand am Kranfen-
und Sterbebett mit oder ohne Anweifung, und find theils nur für die Geiftlichen,
theil8 auch zugleich für Laien, wohl auch unmittelbar für die Kranken gefhrieben.
Ausführlicher find die wichtigften Kranfenbücher beurtheilt in der Tüb, Duartal-
ſchrift Jahrg. 1844. ©. 315 ff. Beſonders zu empfehlen find Ullenberg’s
„Troſtbuch für Kranfe und Sterbende, vollftändig herausgegeben von M. Kauf—
mann, Luzern 1835“ (ausführlich, fehr reich und trefflich, vorzugsweiſe für Geift-
liche); ein Auszug deffelben von Stifl, „Heilfamer Springbrunnen zum Trofte
und zur Erbauung der Kranfen von S. Bohn, Frankfurt 1840“ (kurz und vor-
zugsweife ein Handbuch); „Vollſtändiges Gebet- und Betrachtungsbuch für Kranke
u. f. w. von einem Fatholifchen Priefter, Nottenburg 1843”; das Krankenbuch
von J. N. Beftlin, von Lohner, neu bearbeitet von Auer; Sailer’s Kran-
fenbibel. Andere Kranfenbücher haben wir von Köhler, Haßl, Elpelt, Da-
rup, Stempfle, M. Hauber u, f. w. [Graf.]
Kranfengebete, die firchlichen, für die Kranfen. Sie find doppelter Art:
Gebete für Kranfe bei dem öffentlichen Gottesdienfte, und Gebete für Kranfe am
Kranfenbette. Unter den erftern fleht obenan die fihon den älteflen Sacramen-
tarien der römifchen Kirche befannte Missa pro infirmis Cinfirmo, infirma); auch
gehört hieher die Heutige Sitte, Franke Perfonen bei dem Gottesdienſte in das
Gebet der gläubigen Gemeinde ausdrücklich zu empfehlen, und zugleich einige
Baterunfer nach diefer Meinung vorzubeten. Für die Firchlichen Gebete für Kranfe
am Kranfenlager gibt unftreitig der hl. Apoftel Jacobus in folgender Stelle die
ältefte Vorſchrift: „Infirmatur quis in vobis, inducat presbyteros ecelesiae, et orent
super eum, ungentes eum oleo in nomine Domini, et oratio fidei salvabit infirmum,
Kranfenheilung — Rrang, 257
et alleviabit eum Dominus, et si in peccafis sit, remittentur ei“ (5, 14. 15.).
Defwegen find au die mit der Spendung der letzten Delung verbundenen Ge-
bete zu allen Zeiten die wichtigften kirchlichen Gebete am Kranfenlager. Ja fieht
man von den Gebeten ab, die in den Ritus der Krankencommunion eingeflochten
find, fo find fogar alle übrigen Gebete, die im römifchen Brevier und in den
Ritualien ſich Hiefür finden, nicht einmal geboten, fondern bloß nah Umftänden
empfohlen, Sp ift es namentlich mit dem fogenannten Ordo commendationis.
Der Wunſch und Auftrag der Kirche geht in foweit nur dahin, daß jeder Seel-
forger allen feinen Pflegempfohlenen im Falle der Krankheit bis zum Tode oder
zur Wiedergenefung ein liebevoller geiftliher Samaritan fei. „Reponet aegro-
tanti“ , fagt das römifhe Ritual, „prout infirmi conditio feret, aliquas breves
orationes et pias mentis ad Deum exercitaliones; praesertim versiculos e psalmorum
libro vel orationem dominicam et salutationem angelicam, symbolum fidei, vel pas-
sionis Domini nostri meditationem, et Sanctorum martyria et exempla, ac coelestis
gloriae bealitudinem. Haec famen opportune et discrete suggerantur, ne aegroto
molestia sed levamen afferatur.“ Wollen Laien einem Kranken vorbeten, oder
wünfcht diefer felbft, fo lang es feine Kräfte geftatten, Gebete zu verrichten, fo
finden fih in den Gebetbüchern der neuern Zeit mitunter fehr gute Formu-
lare, [ör. X. Schmid.]
Krankenheilung durch Gebet, ſ. die Art. Gebet, Gebet im Namen
Jeſu, Fürbitte, Geiſtesgaben (Charismen) und Wunder.
Kräuterweihe, ſ. Würzweihe.
Krautz, Albert, ſtammte aus einer angeſehenen Familie in Hamburg. Er
bereiste, um fich zu bilden, viele Univerfitäten, und wurde um das Jahr 1490
zum Doctor des canonifhen Rechtes und der Theologie ernannt. Seit dem J.
1482 war er Rector an der Academie zu Roftod, wo er eine geraume Zeit Theo—
logie und canonifches Recht lehrte. In feine Vaterfiadt Hamburg zurückgekehrt,
wurde er dafelbft Lehrer der Theologie, Domherr und Syndicus, Er wurde in
verfchiedenen Angelegenheiten feiner Vaterſtadt verwendet, die er alle mit eben
fo viel Einfiht als Eifer beforgte. Er war Schiedsrichter in Streitfragen, eine
Hilfsguelle für die Armen, und ein Vorbild des Capitels. Bon diefem wurde er
zum Decane erwählt, welche Stelle er bis zu feinem — im December 1517 —
erfolgten Tode befleidete. Es wird berichtet, daß er, felbft ein für Reformation
der Kirche begeifterter Mann, noch vor feinem Ende von dem Unternehmen Luthers
vernommen, darüber aber feine Mißbilligung in den Worten ausgefprochen habe:
„Druder, Bruder, gehe in deine Zelle und ſprich: erbarme dich meiner, o Herr!“
Die Schriften des geachteten Mannes beziehen ſich meift auf die KRirchengefchichte
des Nordens. Sie beginnen mit dem J. 780 n. Chr. oder mit Earl d. Gr., und
gehen bis zu dem J. 1504. Das wichtigſte und befanntefte feiner Werfe ift:
Metropolis, sive historia ecclesiaslica Saxoniae, Francof. 1575. 1590. 1627. Das
Werk umfaßt in zwölf Büchern die Kirchengefichte des Erzbistums Hamburg
und Bremen, fowie der damit verbundenen Bisthümer in Niederfachfen und Weft-
phalen. Ferner ſchrieb er 2) Historiae Saxonicae libri XII. Colon. 1520. Fran-
cof. 1575; teutſch von Anfelm Faber, Leipz. 1563, fortgefegt von Dav. Chy-
träus, Wittenb, 1585. 3) Wandalia sive historiae Wandalicae 1. XIV. Colon.
1600. Francof. 1619; teutfch von Stephan Macropus, Lübeck 1600, 4) Chro-
nicon aliarum gentium septentrionalium sive regnorum Daniae, Sueciae, Norvegiae.
Francof. 1575 ; teutſch Straßb. 1545. Diefen Schriften wird nachgerüßmt eine
ſcharfe und fihtende Kritifz doch geräth der Verfaffer nicht felten bei der Unter-
fuhung des Urfprungs der Völker auf Irrwege. Die in der Kirche, für deren
Erhebung er den lebendigſten Eifer bethätigt, gegen Ende des Mittelalters ein-
geriffenen Mißbräuche hebt er mit zu grellen Farben hervor. Defwegen kamen
feine Schriften in den index „donec expurgentur“; oder nach einer andern An-
Kirchenlexilon. 6. Br. 17
258 Kränze — Kremsmünfter.
gabe, weil die Irrlehrer fie verfälfcht Hatten, Noch fihrieb er 5) Ordo missae
secundum ritum ecclesiae Hamburgensis. Rostock 1505. Vgl. Georg. Fabricius
Saxonia 1. I. Pantaleon Illustrium Germ. Seript. P. II. — Ger. Jo. Vossius Lib. II.
de histor. lat. cap. 10. [Gams.]
Kränze der Brautleute, ſ. Hochzeit. ar
Krell, Nicolaus, f. Rryptocalviniften,
Kremsmünfter, berühmte Benedictinerabtei an dem kleinen Fluffe
Krems im Lande ob der Enns, hat den um das Chriftentbum hochverdienten Her-
309 Taffilo I. von Bayern zum Stifter (f. den Art. Bayern). Die Stiftung
fallt in das 3. 777 oder 778. Die nächfte Veranlaffung dazu foll ver Top Gun-
thers, des Sohnes Taſſilo's, der auf der Jagd durch einen Eher getöbtet worden
fei, gewefen fein; doch gefchieht hievon in der Stiftungsurfunde feine Erwähnung,
fondern darin heißt es, Taffılo habe diefe Abtei errichtet und dotirt, um der Hölle,
zu entgehen und mit Chrifto die Wohnung im Himmel zu erhalten, wie auch feine
Borgänger Kirchen und Klöfter geftiftet hätten, Von allen Stiftungsurfunden
Taſſilo's ift die von Kremsmünfter die feierlichfte, und die darin ausgeſprochene
Dotation mit Land und Leuten (zum Theil Slaven) von der Trafen big an bie
innere Enns eine der reichlichften, Die erſten Mönche, mit welchen Kremsmünfter
befegt wurde, waren aus dem berühmten Klofter Niederaftaih in Niederbayern
(ſ. d. A.), zwölf an der Zahl, und ihr erfter Abt wird in der GStiftungsurfunde
„Fater“ genannt. Noch bewahrt das Stift ein Gefchent Taſſilo's, den fog.
„Stifterbecher” aus Kupfererz, von Außen mit Silber belegt, theilweife eifelirt
und vergoldet, mit Abbildungen Chrifti und der Heiligen geziert und am untern
Rand die Umfchrift tragend: „Tassilo Dux Fortis Livtpirc Virga Regalis“; daraus
pflegten die Stiftsheren am fogenannten Stiftertag (11. Dee.) zu trinken, an
welchem auch bis 1772 die Spende vertheilt wurde, wozu öfter an 30,000 Men-
ſchen zufammenftrömten und 100 Ochſen gefchlachtet wurden, Carl der Grofe
beftätigte die Befigungen des Stiftes, und er wie feine Nachfolger fügten auch
neue Schanfungen hinzu. Bald errang Kremsmünfter fowohl in Folge feines
ausgedehnten Befiges wie feiner Thätigfeit unter den zur Didcefe Paſſau gehöri-
gen Stiftern den erften Platz, fo daß zur Zeit Bernhards des Norifers die Se-
nioren zu Rremsmünfter behaupteten, die Aebte diefes Stiftes hätten in Abweſen—
beit der Bifchöfe von Paffau „per Capitulum vocati“ in spiritualibus vicarirt.
Nachdem das Stift auch im Lande unter der Enns, wo ihm Carl der Große zum
Behufe der Eolonifation und Verbreitung des Chriftentbums nad Beflegung der
Avaren Befisungen gefhenft hatte, dem Schankungszweck entfprochen, wurde e8
im zehnten Jahrhundert durch die Einfälle der Ungarn zerftört und die Brüder
zerftreut, worauf unter Herzog Arnulph von Bayern CH 937), der die Güter der
Klöfter zwifchen fih, den Bifchöfen, den Grafen und feinen Dienfimannen ver-
theilte, die Befigungen von Kremsmünfter und andern Stiften an den Bifchof
von Paſſau famen. Im 3. 1007 brachte es der HI. Abt Godehard von Nieder-
altaich (f, den Art, Godehard) bei dem Kaiſer Heinrich I. und bei Biſchof
Ehriftian von Paffau dahin, daß das Kloftergebäude zu Kremsmünfter wieder her—
geftellt und den darin verfammelten Mönchen ein Abt, und zwar in ber Perfon
Godehards felbft gegeben wurde, Diefer richtete num Alles nach der Negel des
hl. Benedict wieder ein, und fand hierin, wie er felbft in einem Schreiben an _
das Kloſter Tegernfee — das er nebft andern Klöftern ebenfalls reformirt — bei
den Mönchen alle Verehrung, Liebe und Willfährigfeit. Daß Godehard zu
Kremsmünfter auch die Liebe zu Kenntniffen und Wiffenfchaften anfachte, fieht
man aus dem Schluffe des erwähnten Schreibens: „Mittite nobis librum Horatii
et epistolas Tullii“ (f, Mabill, Vet. Analecta in uno tomo Parisiis 1723, p. 435).
Im J. 1012 ging Godehard wieder nach Niederaltaich zurück; feitvem bis 1040
ſtund dem Stifte Kremsmünfter der aus Niederaltaich gefommene Abt Sigmar
Kremsmünfter. 259
vor. Bon diefem Abte befist man ein Inventar des ziemlich magern Kirchen-
ſchatzes, den er bei dem Antritt der Abtei vorfand, nebft einem Cataloge der da-
mals im Klofter vorhandenen Bücher, die über 60 Bände betrugen; fowohl unter
ihm wie auch unter feinem Nachfolger Gerard (1040—1050) erhielten die Sa—
eriftei und Bibliothek einen Zuwachs (f. Pez, Script. rer. Austr. t. II. p. 57.
Lips. 1725). Merkwürdig ift, daß fhon der Abt Erenbert I. (1050—?) den
Gebrauch der Infel erhielt. Unter dem Einfluffe der Zeitverhältniffe trat nad
Erenberts Tod ein gräulicher Verfall der Flöfterlichen Diseiplin ein; die Mönde
von Kremsmünfter, erzählt der anonyme Biograph des fel. Bifhofs Altmann von
Paſſau, lebten weltlicher als die Weltleute, allen Laftern fröhnend, das Klofter-
gut verfchleudernd, und ſteckten zulegt das Klofter in Brand. Altmann feste die-
ſem Berderbniffe ein Ziel, vertrieb die unverbefferlihen Vorfteher und Tieß aus
dem -Rlofter Goize (Gorz) eine Anzahl Mönche nah Kremsmünfter fommen,
durch die allmählig wieder eine beffere Zucht und die Beobachtung der Statuten
‚von Clugny eingeführt wurde, Ueber die heilfamen Folgen diefer Reform berich-
tet derfelbe anonyme Biograph: „Unter Abt Alram (1093—1121) behauptete
Kremsmünfter ringsherum vor allen Abteien an Zucht und Frömmigkeit, an Prä-
dien, Gebäuden, Büchern, Gemälden und andern Zierden, ingleichen an Fennt-
nißreichen und funftverftändigen Männern den Vorzug." Aus diefer Zeit ſtammt
auch eine von einem Stiftsherrn zu Kremsmünfter verfaßte Chronik, die fich gegen-
wärtig zu Wien befindet (f. das Wirken der Benedictinerabtei Kremsmünfter vor
Th. Hagn, Linz 1848, S. 20). Der felige Berthold, erfter Abt des Klofters
Garſten im Lande ob der Enns (+ 1142) fludirte einige Zeit zu Kremsmünſter
und empfing bier die Priefterweihe (f. Pez, Script. rer. Austr. I, 132). All-
mählig nahm jedoch die Klofterzucht und wiffenfchaftlihe Thätigkeit wieder ab,
Unter Abt Friedrich von Aich (1274—132%,) blühte das Stift wieder auf.
Diefer Abt bereicherte die Bibliothek mit vielen Werfen, unter ihm befand im
Stifte eine der großartigften Schreibfchulen, deren Einfluß fih über ganz Deft-
reich ausdehnte, und mehrere Stiftsherrn thaten ſich als Schriftfteller hervor, fo
der Groffelfner Sigmar, der außer einem gefchichtlichen Werfe (ſ. Adr. Rauch
Script. rer. Austr. II. p. 339—81) ein Klofter-Urbarium verfaßte, fo namentlich
Bernhard Noricus (+ 1327), der fih um die öftreihifche und bayerifhe Kir—
chen⸗ und Brofangefchichte durch verfihiedene Feine Schriften verdient gemacht hat
€. Pez, Script. rer. Austr. II.). Als Hauschronift hatte Bernhard Fortfeger bis
zum 5. 1488. Im J. 1391 erhielt Kremsmünfter für feine Aebte das Recht der
Iufel. Nach der 1419 erfolgten Neform hob fich unter dem thätigen Abte Ja—
eob Treutlfofer (1419—1454) das ziemlich herabgefommene Stift in jeder
Beziehung wieder empor; die Stiftsherrn Friedrich Kerfperger, Erhard Paum-
gartinger u. a. m. waren damals fleifige Abfchreiber und Schriftfteller. Abt
Ulrih Schoppenzaun (1454—1484), felbft ein gelehrter Mann, Magifter
der freien Künſte und Baccalaureus des cansnifchen Rechtes, erhielt und ver-
mehrte die geiftige Thätigfeit feiner Conventualen und nahm zur Leitung der
Studien den jungen ausgezeichneten Johannes Schreiner, Magifter der freien
Künfte, auf, der nachher (1505— 1524) Abt wurde, und deffen Werf es war,
daß beim Beginn der Reformation die Stiftsfhule in einem blühenden Zuftand
fi befand, Ueberhaupt verdienen die Aebte von Kremsmünfter feit der Refor-
mation des 16ten Jahrhunderts bis auf die Gegenwart mit wenigen Ausnahmen
das Lob warferer und thätiger Kloftersorftände, emfiger Förderer der Künſte und
BWiffenfhaften, des Studien- und Schulwefens, und Achter Patrivten, die im
allen Nöthen des Faiferlihen Haufes und zum Beften des Landes fein Opfer
fheuten. Sp erhielt fi das Stift dur den Eifer feiner Aebte Johannes
Shreiner, Leonhard Hunzdorfer, Johann Habenzagelunddem treff>
lihen Gregor Lehner, welder die bisherige Kloſterſchule in eiür öffentliche
17
%0 Kreta — Kreuz, als Bild und graphiſches Zeichen.
umwandelte, ungeachtet des in Deftreich überhandnehmenden Proteftantismus
Yange in einem guten Zuftande, und nicht einer ber dafigen Stiftsherrn trat wäh-
rend diefer Zeit aus der Fatholifchen Kirche aus, Erft unter vem Abte Marcus
Weiner (1558—1565), der dem Luthertfume und dem Glauben „allein“
Huldigte, riffen im Stifte Neligionsneuerung und Gittenverberbniß in ſolchem
Grade ein, daß es feiner Auflöfung nahe fam. Indeß richtete es fih durch die
eifrige Sorgfalt feiner Aebte Jodoe Sedelmayr, Erhard Boit und Jo—
hann III. Spindler noch im Verlaufe des 16ten Jahrhunderts wieder auf, und
erreichte im 17ten Jahrhundert unter den Aebten Alerander vom Gee, An-
ton Wolfradt und Placivus Buehauer einen hohen Grad von Blüthe;
der erfte von den drei letzten (1601—1613) führte feine Unterthanen größten-
theil8 wieder zum Fatholifchen Glauben zurüf, entfernte alle verdächtigen Seel—
forger, führte die Kinderlehren ein und nahm zur Abhilfe des Prieftermangels
Knaben aus Bayern zu Oblaten (f. Conversi) auf; ber zweite (1613—1639)
machte fih um das Stift nach jeder Seite hin fo verdient, daß er deffen dritter
Stifter genannt wurde; der dritte (1644—1669) war von gleichem Eifer befeelt
und leiftete für Studien und Wiffenfchaft fo viel, daß ihm Fr. Mezger ohne
Vebertreibung fihreiben Fonnte: „In tuo monasterio omnes aut docent aut discunt.“
Bon den Aebten des 18ten Jahrhunderts hat fih Alerander IN. Fixlmillner
(1731—1759) unftreitig den erften Play fowohl durch fein erbauliches Beifpiel,
wie durch die eifrigfte Beförderung der Schulanftalten und durch große Wohl-
thätigfeit gegen die Armen erworben, Abt Erenbert Ill. Meyer (1771— 1800)
hatte den Schmerz, durch die jofephinifchen Neuerungen fein Stift am Rande des
Abgrundes zu fehen, doch wurde es nicht aufgehoben, Die folgenden Aebte festen
ſich's zum Ziele, eine Umfehr zum Beffern zu bewirken, und ihr Bemühen blieb
nicht ohne Erfolg. Der gegenwärtige Abt ift Thomas Mitterndorfer und
fteht dem Stifte feit 1840 vor, Ueber die bedeutenden und zahlreichen wiffen-
Tchaftlichen Leiftungen der Stiftsherrn von Kremsmünfter feit der Zeit der Ne-
formation bis auf die Gegenwart, fowie über die Lehr- und Erziehungsanftalten
des Stiftes fiehe die Schrift: „Das Wirken der Benedictiner-Abtei Kremsmünfter
für Wiffenfhaft, Kunft und Zugendbildung” von Theodorih Hagn, Capitular
des Stiftes und Archivar, Linz 1848, von welchem auch ein „Urkundenbuch für
die Gefchichte des Benedictiner-Stifteg Kremsmünfter, feiner Pfarreien und Be—
figungen vom Jahre 777 bis 1400” erfcheint, Ueber das Gtift Kremsmünfter
haben außerdem gefehrieben: Rudhard, Geſch. Bayerns S. 307— 310; Koch⸗
Sternfeld, Beiträge zur Völfer- und Länderfunde I, 2375 Simpn Retten-
pacher, Annales monasterii Cremifanensis, Salisb. 1677; Marian Pahmapyr,
Historico-chronologica series abbatum et religiosorum monasterii Cremif.. Styriae,
1777—1782, in vier Foliobänden; Gabriel Straffer, Kremsmünfter aus fei-
nen Zahrbüchern, 1. Thl. Steyr 18105 Ulrih Hartenfohneider, hiſtoriſche
und topographifche Darftellung des Stiftes Kremsmünfter in Deftreih ob der
Enns, Wien 1830. [Schrödl.]
Kreta, ſ. Creta.
Krethi und Plethi, ſ. Cerethi und Phelethi.
Kreuz, Bisthum, ſ. Gran.
Kreuz, als Bild und graphiſches Zeichen, heißt in der Schulſprache
crux exemplata, im Gegenſatze zu dem wirklichen Kreuze, an welchem Chriſtus
ftarb (crux realis) und zu dem Kreuzzeichen (ſ. d. A.) als wunderbarer Erfchei-
nung (apparilio erucis, f. den Art, Eonftantin d. Gr.), oder als fegnendes
Zeichen im Privat» und liturgifchen Gebrauche (signum crucis und crux usualis),
Mit dem Bilde des Erlöfers heißt die crux exemplata — imago crucifixi, das
Erueifixr (ſ. d. 9), ohne jenes das einfache (nackte) Kreuz. Es fallt nah
feiner äußern Erfcheinung dem Gebiete der zeichnenden und bildenden Künfte,
Kreuz, als Bild und graphifhes Zeichen, 261
namentlich der Plaftif, Malerei, Graphik, Architectur u. f. w., ja felbft den ana⸗
logen Wiffenfhaften der Diplomatif, Heraldif und Numismatif anheim. Das
Allgemein-Gefhichtlihe und Apologetifche über die Bedeutung des Kreuzes als
Bild und Symbol mit Hinweifung auf deffen urfprüngliche und figürlihe Bezeich—
nung in der Bibelfprache (f. d. A.), ferner über das Hohe Altertfum ſowohl der
Kreuzbilder als des graphifchen und fegnenden Kreuzzeichens, über das häufige
Borfommen beider in und außer der Kirhe*, endlich über die üblichften Formen
des zufammengefegten Kreuzes (crux compacta) im Gegenfage zu dem einfachen
Kreuzpfahl (lignum oder crux simplex), an den der Martyrer entweder bloß an—
geheftet (affixio) oder der ihm von unten auf durch den Leib geſtoßen wurde
Ginfixio, ox6lowıs) — als eines Marterwerkjeuges (X — corux decussata, T=
crux commissa, } = crux immissa) und des Kreuzes ald Bild und Symbol
(3. B. + = das griehifche Kreuz) findet fih, inwiefern es in eine Encyelopä-
die der Fatholifchen Wiffenfchaften gehört, theild unter den aufgezählten Schlag-
wörtern: als felbftftändigen, theils unter verwandten Artifeln, z. B. Altäre bei
den Ehriften, Altareinweifung, Altarfchmuf, Andreas d. Ap., Baufunft, hrift-
liche, Bilder in den Kirchen, Bifchof, Bittgänge, Chriftusbilder, Erueifir, Erz-
bifchof, Feldfreuze, Grab, das chriſtliche, Gottesurtheile, Kirche ald Gebäude,
Kirchhof, Kirchweihe, Legatus, Papft, Patriarch, Ritterorden u. f.w. — Aus-
führlicheres und ganz Specielles namentlich in gefohichtlicher und liturgiſcher Be—
ziehung über das Kreuz Chrifti nach feiner dreifachen Bedeutung: a) als Kreuz
Chriſti Cüber deffen Form, Höhe, Holz, Nägel, tabula sappedanea, ferner über
deſſen titulus in der collateralen oder fenfrechten Ordnung aus der griechifchen
Bolfs-, lateiniſchen Reichs- und Hebräifchen Tempelfprache, über die Schimpflich-
keit des Kreuztodes, über die graufam erfonnenen Verſchärfungen der Kreuzesftrafe
u ſ. w.), b) als einfaches Kreuz- und als Erucifirbild, c) als liturgiſches oder
felöftfegnendes Zeichen findet fih befonders bei Jac. Gretfer, S. J. de sancta
cruce Tom. Ill. fol. Ingolstad. 1608 (ed. 3.), 1616. Ratisbonae 1734 (die erften
* 3.8. als Altar und Tabernakelſchmuck, als äußere Faffung des Kreuzpartikels und
des Kranfenciboriums, auf dem altare portatile und auf dem Altarfteine über ven Reli-
quien, als fogenanntes Apoftelzeichen an den Kirhenwänden, im Ehorbogen über dem Leitner
(Leetionarium) oder auf dem Kreuzaltare, auf dem Faftentuche, auf dem Erevenztifhe, auf
der Kanzel, auf dem Sarge, auf der Tumbadecke, auf dem Katafalf, in der Sarriftei, auf
dem Mepkleide, auf dem einzelnen Meßgeräthe aus Leinwand, Seide und Metall; auf Fahnen
und Fahnenftangen, ald Proceffionstreuz (erux stationalis), ald Todtenkreuz, als Capitel-
Freuz,: als erzbifhöfliches Proceffionsfreuz, als Carpinallegatenfrenz, als Patriarhalkreuz
mit zwei Querbalken, als päpftliher Hirtenftab mit drei Duerbalten; als Giebelſchmuck
auf Kuppeln und Thürmen, auf Kirchen und Klöftern, an Kirchenthüren und Klofterpforten;
auf Gottesäckern, auf Gräbern und Grabcapellen, an Miffions- und Bolfderercitienplägen,
an Walfaprisbrunnen, an Öffentlichen Wegen und auf großen, freien Räumen der Städte,
Märkte und Dörfer, auf Felvern, in Wäldern, auf Hügeln mit und ohne Capellen, auf
Selfen und Gebirgspöhen, an Weg- und Wafferfheiven, als Botiobild zur Erinnerung an
epidemiſche Krankpeiten, z. B. Peſt und Cholera, an unerwartete Errettung aus augen-
ſcheinlicher Todesgefahr oder an plögliche Unglücks- und Sterbefälle einzelner Perfonen,
auf Schlachtfeldern, an der Stelle ehemaliger Kirchen, Klöfter und Kirchhöfe, bei den ein—
zelnen und an ver Haupt-Station des fogenannten HI. Kreuzweges; als Sterbablaßfreuz in
der Hand des Verſcheidenden, als Mitgift in ven Sarg auf der. Bruft oder in den ge-
Freuzten Händen des Zodten, als Miffionskreuz in der Hand und an dem Halfe des Mif-
fonärs, als Vectorale der Bifchöfe und Aebte, auf den Kleidern der Kreuzfahrer, ald Capi-
tularzeihen für wirklihe und Ehrencanonifer;z als Grundform in dem Kreuzbau der chriſt⸗
lichen Kirchen, als architectonifche und ornamentale Verzierung an öffentlichen und Privat-
gebäuden; als Emblema an Schiffen, auf Kronen und auf dem fogenannten Reichsapfel,
auf häuslichen Geräthſchaften, Warten, Werkzeugen, Büchern und Kleidern, ald Schmud-
face bei Männern und Frauen, auf Münzen und in Wappen, ald Drvengzeichen für geift-
liche und weltliche Ritter, als Auszeichnung für Civil- und Militärverbienfte, als Loos in
der Kreugprobe, als ſtellvertretende Namensfertigung auf Urkunden, als heraldiſches und
muficalifches Zeichen. RR
er
ne
262 Kreuz, als Bild und graphiſches Zeichen.
drei Bände feiner fimmtlichen Werke). Die Ingolflädter-Ausgabe von 1616 um—
faßt 2771 Columnen ohne die Indices für alle drei Theile, — Tom. I. handelt
in fünf Büchern: 1) de cruce Christi, 2) de imagine crucis, 3) de apparitionibus
crucis, 4) de signo crucis, 5) de cruce spirituali. Dazu fommen als Beilagen:
1. disputatio de vino myrrhato et vasis murrhinis, II. apologia pro Christi cruce,
imagine et signo adv. Franc. Junium Calvinistam, eine Vertheidigung Bellar-
mins wegen feiner hieher bezüglihen Behauptungen (I. IL de ecclesia trium-
phante). — Tom. II. enthält im griechifchen Driginalterte und in lateinifcher Ueber—
feßung verfchiedene Lobreden griechifcher Authoren auf die hl. Kreuz- Erfindung und
Erhöhung (ſ. diefe Art.), auf die Kreuzadorirung in der Mittelwoche der Faften und
auf das hl. Kreuzfeft am 1. Auguft bei den Griechen, auf den Charfreitag, auf das
HI. Kreuz überhaupt, über Die Krenzerfcheinungen, endlich einige Beigaben folcher nicht
ganz authentifchen Reden, und zwei über die Neftitution der Bilder in der griechiſchen
Kirche, — Tom. II. in fünf Büchern: 1) de nummis crucigeris, 2) de expeditio-
nibus cruciatis, 3) apologia pro expeditionibus crucialis, 4) de usu et cultu crucis
gegen Hofpinianus, Dandus und Marbach, 5) hymni et encomia Graecorum et
Lalinorum in sanctam crucem. Der Anhang zum dritten Theile gibt unter dem
Titel: hortus sanctae crucis: 1) acrostichides graecolatinae veterum iconomachorum
et orthodoxorum in s. crucem cum commentario et refutatione edictorum de cultu
imaginum, quae nuper sub imperatosum et regum nomine quidam Calvinista evul-
gavit, 2) erux Schyrensis, 3) crux Donawerdensis (bie uralten Kreuze von
Scheyern und Donauwörth) cum annotationibus, 4) florilegium de s, cruce cum po&ticis
lusibus in florem Indicum, quem Granadillam (Paffionsblume) vocant. Endlich
Noten zu Tom. U. und abgefonderte Indices zu allen drei Bänden. — An Gret-
ſer's gelehrtes Werk fchließen fih: Justi Lipsii de cruce libri tres ad sacram
profanamque historiam utiles una cum notis. Antwerp. 1694 eine, wenn auch weit
fürzere, Doch fehr gelehrte Arbeit, Hieher gehört ferner eine Monpgraphie unter
dem Titel: Joan. Ciampini de cruce stationali investigatio historica, und außer
diefen felbfifländigen Schriften noch Binterim’S Denkw. d. kath. Kirche IV. Bd.
1. Th. u. VII. BD, 1. Th.; F. X. Schmid’s Liturgif, 3 Bde, 3. Aufl, und Lüft's
Liturgik II. — Wir haben hier nur einige Bemerkungen beizufügen. Das Kreuz
als Bild und graphifches Zeichen ift ſtets eine crux immissa, weil das wirkliche
Kreuz Chrifti von diefer Form war, Bei'm Erueifirbild ift der fenfrechte Balken
ſtets länger; das einfache Kreuz nimmt manchmal, befonders als graphifches Zei—
hen, die Form bes griechifchen Kreuzes an. Auf dem Boden einer Kirche Kreuze,
Bilder oder Abzeichnungen heiliger Perfonen anzubringen ift nicht geftattet Cconc.
Trull. c. 73). Die Aufftellung von neuen Kreuzen, Statuen und Bildern an Eult-
plätzen hängt von der Genehmigung des Biſchofs ab (conc. Trident, sess. 25. decr.
de imag.). Neuaufgeftellte Kreuze werden feierlich eingeweiht, An dem Sterb-
ablaßfreuze muß das Bild des Gefreuzigten von einem edlern Metalle fein; die
Ermächtigung, Sterbablaßfreuze zu weihen, wird vom hl. Stuhle ertheilt. Die
großen Proceſſionskreuze der Cathedralen und Pfarrkirchen find ſchon feit den
älteften Zeiten mit befonderer Sorgfalt gefhmüct und geziert. Auf dem alten
Kreuze der St. Clemenskirche zu Nom finden fih 12 Tauben angebracht, oben
auf eine Krone, unten am Fuße des Kreuzbildes entfpringen vier Flüffe, an denen
zwei Hirfche ihren Durft Löfchen, das ganze Kreuzbild wächst gleihfam aus Blu—
men hervor, Die Beziehung auf Pf, 41, 2 und Offenb. 22, 1. 2 Tiegt nahe,
Heutzutage fieht man über die Proceffiongfreuze häufig einen Baldachin gefpannt.
Die großen Feld-, Miffions- und Kirchhoffreuze find nicht felten mit dem foge-
nannten Leidenswerkzeugen Chrifti umgeben. Mit den Kreuzwegftationen flehen
manchmal Capellen und ein fogenannter Calvarienberg mit einer Kreuzeapelle in
Verbindung. Zuweilen trifft man Brunnenfreuze, an denen aus den Wunden bes
Heilandes Waffer fließt, Auf Bergespöhen, an Weg- und Wafferfheiden trifft
Kreuz in der Bibelſprache. 263
man oft drei einfache Kreuze oder mit den entfprechenden Bildern nebeneinander;
das mittlere Kreuz pflegt im Widerfpruche zu der gefchichtlich begründbaren Gleich⸗
heit aller drei Kreuze meiftens höher zu fein, Ueber die Berhüllung des Kreuzes
vom Paffionsfonntage bis zum Charfreitag und über die feierliche Kreuzadorirung
an biefem Tage f.d. A. Paffionsfonntag und Charwoche. Der Hahn, welcher
fich zuweilen auf den Kirchthürmen flatt oder neben dem Kreuze findet, Hat eine Be—
ziehung auf den Fall und die Befehrung des Petrus und auf Mare. 14, 38.— Die
allgemeine und vielfältige Anwendung der crux exemplata einerfeits, der Mangel
an Runftfinn und technifhem Geſchick und oft Iocale Eigenheiten andererfeits
haben es mit ſich gebracht, daß man häufig fehr unäfthetifhe und vft fogar auch
minder anftändige Darftellungen des gefreuzigten Heilandes in Statuen, Gemäl-
den und Zeichnungen findet. Es ift nun allerdings zu wünfchen und fogar eine
nicht unbedeutende Anforderung an die Seelforger, daß bei dem allgemeinen Fort-
fohreiten der technifch -Fünftlerifchen Ausbildung und bei der fteigenden Wohlfeil-
heit des Steindrudes und der Holzfchnitte der Geſchmack des Volfes auch in
Bezug auf die bildlihe Darftellung religiöfer Gegenftände möglichft geläutert und
veredelt werde. Die unäfthetifchen Kreuzbilder thun jedoch der Form des Kreuzes
feinen Abbruch, denn diefe ift, wie Sailer richtig bemerkt, im hohen Grade äfthe-
tiſch weil fie der einfachfte Ausdruf der erhabenften Lehre ift (Neue Beitr. 3.
Bildg. d. Geiftl. I. S. 286— 287, Münden 1810), und das einfache ſchwarze
Kreuz auf dem Grabe des Katholiken fpricht noch immer mehr zum- Herzen, als
die eiferne Stange mit der aufgefchlagenen Bibel oder dem Zwiefalter obenauf
über dem Grabe des Neformirten. Die Kreuzung der Priefterfiola bei'm heiligen
Mefopfer flieht in der Mitte zwifchen der crux exemplata und der crux usualis;
der Biſchof Freuzt die Stola nicht, weil er das Pectorale auch bei der hl. Meffe
trägt, [Häuste,]
Kreuz in der Bibeliprache. Der biblifhe Sprachgebrauch fennt eine
fünffahe Bedeutung des Ausdrudes: Kreuz (savoos) in Verbindung mit den
Ausdrüden: das Kreuz tragen, Freuzigen und gefreuzigt werden: 1) Das mate-
riale Kreuz überhaupt als das fhimpflichfte Marterwerfzeug, als das Holz und
den Pfahl des Fluches und der Schande, 3. B. Phil, 2, 8 und Hebr. 12, 2, ver»
glihen mit 5 Mof. 21, 23. Cal. 3, 13 und ferner mit 1 Cor. 1, 23. — 2) Das
materiale Kreuz, an weldem Chriftus flarb, z. B. Matth. 27, 32. 40, 42,
Marc, 15, 21. 30. 32. Luc. 23, 26. Joh. 19, 17. 19. 25. 31. vgl. 1 Cor. 2, 8.
Hebr, 6, 6. Dffend. 11, 8. — 3) Das Kreuz gleichbedeutend mit dem Berföh-
nungstode Chrifti, 3. B. Ephef. 2, 16. Col. 1, 20. 2, 14, vgl. 1 Eor, 1, 13
oder mit der Predigt von diefem Sühnungstode, der als eine Thorheit und als
ein Aergerniß erfcheint für jene, welche verloren geben, aber als eine Kraft und
Gnade für die Gläubigen, 3. B. 1 Eor. 1, 22—25. 2,2. Gal. 3, 1. Phil. 3,18,
verglihen mit Rom. 1, 165 endlich als die Gnade, welche aus dem Kreuztode
hervorgeht, 3. B. 1 Eor. 1, 17, 18, welde allein rettet und Feineswegs das
äußerlihe, wenn auch beredte Wort, 3.3. 1 Tor. 1, 17—31, verglihen mit
1 Cor, 2, 13, 14 und 2 Petr. 1, 16 und Feineswegs die Befchneidung, 3. B.
Gal. 5, 11 und 6, 12. 14. 15. — 4) Das Kreuztragen überhaupt ift a) das
Bild alles Schmerzlichen im mehr paffiven Sinne, das Bild des bitterften Leidens
wie das finnverwandte: den Kelch des Leidens trinfen bei Matth. 20, 22. 23,
oder die tentatio (rreroaaıos) bei Jac. 1,2 oder die Ausdrüde: Leiden (passio),
Zuchtruthe (virga, baculus), Bedrängnif (tribulatio), Verfolgung (persecutio)
und Heimfuhung Gottes (neaıdere, disciplina Hebr. 12, 6.7. 8.11) ein Gefreu-
zigt werden; b) das Bild des Leidens im activen Sinne des Wortes durch frei-
willige Selbftübernafme, durch Dulden und Kämpfen, als Selbftüberwindung und
Selbfiverläugnung, als freies Kreuztragen, als Selbftfreuzigung, Hieher gehören
namentlich die Stellen: Matth. 10,38, 16,24, Marc, 8, 34, Zur, 9, 23, 14,27, —
264 Kreuz in der Bibelfprade.
Zu der Zeit, als Chriftus die von ihm geforderte Nachfolge, Jüngerſchaft und
Selbſtverläugnung mit dem activen: das Kreuz auf fi nehmen bezeichnete, fonnten
feine Jünger unter dem Kreuze noch nicht wohl den ihnen bis dahin unbefannten
fpeciellen Kreuzestod des Herrn verftehen, fondern das fehimpfliche Marterwerf-
zeug des Kreuzes mußte ihnen als das Sinnbild des Leidens und der gänzlichen
Selbftentfagung gelten, wie diefe fich überhaupt und in der Gefammterfcheinung
des Menfchenfohnes darftellte. Eine Flarere Beziehung auf den Leidensgang und
Kreuztod des Herrn Fonnte dieſe Aufforderung erft gewinnen, nachdem ihnen der
Herr ſein Leiden vorausgefagt hatte (Matth. 20, 18,19. 26, 2, vgl. Luc, 24, 7. 20)
und nachdem an Ihm die Schrift war erfüllt worden. Für uns aber wirb bie
Aufforderung zum Kreuztragen geradezu eine Hinweifung 5) auf das wirkliche und
nachgebildete Kreuz Chrifti in feiner figürlichen Bedeutung als crux Christi
spiritualis in dem sub 4) a) und b) angegebenen Sinne. Dahin bezüglich fagt
der HI. Auguftinus eben fo richtig als fhön: Crux domini'non tantum illa dieitur,
quae passionis tempore ligni affixione construitur, sed illa quae totius vitae curriculo
cunctarum disciplinarum virtutibus coaptatur (Sermo 12. de Sanctis), und: Quid
est ‚‚tollat crucem suam“? Ferat quidquid molestum est — — toleret in
mundo pro Christo quidquid intulerit mundus (in Ps. 45), ferner: Numquid Apo-
stolus Paulus crucifixus fuerat, cum dicebat:. mihi autem absit gloriari nisi in cruce
domini nostri Jesu Christi, per quem mihi. mundus crucifixus est et ego mundo?
(Galat. 6, 14:) Hoc autem dieit ut intelligas, crucem non ligni esse patibulum sed
vitae virtutisque propositum (serm. 32. de Sanctis). Das geiftliche Kreuz Chrifti,
die Lehre und Schule des Kreuzes faßt eben fowohl das Gefreuzigtwerden als
die Selbftkreuzigung, eben fowohl das Leiden als das Kreuztragen in fih, und
wenn der hl. Paulus in 2 Cor, 14, 4 auf das Erftere bloß bindeutet, fo Tegt er
auf das Legtere um fo mehr Gewicht in Gal. 2, 19, welche Stelle durch das
ganze 6te Kapitel des Nömerbriefes eine vorzügliche Beleuchtung erhält, ferner in
‚Sal. 5, 24. 6,14. Phil, 3, 18. — Die Schule des Kreuzes, in welde nad
Luc, 14, 27 und 2 Tim. 3, 12 alle wahren Chriften gehen müffen, Holt ihren
ganzen Unterricht aus der Schrift, denn diefe Tehrt uns 1) ganz deutlich Die ver-
fchiedenen Arten des geiftlichen Kreuzes. Diefes ift nämlich zuvorderſt ein
inneres (Nom, 9, 2), oder ein äußeres (2 Cor, 4, 8—11), oder ein inne-
res und Aufßeres zugleich (Sprüchw. 17, 22). Es kommt weiters entweder
son Gott (2 Kön. 12, 11), oder von den Menfchen (Pf. 55, 2, 3), oder
von uns felbft (306 7,20, Röm.7,3), oder vom böfen Feinde (Job, 1. Cap,
Eph. 6, 10—18, 1 Petr, 5, 8.9. Das geiftliche Kreuz ift ferner ein gutes
Kreuz (Matth. 5, 10. Phil. 2, 8. 1 Petr. 2, 19—25. 3, 14, 4, 13, 14, 16),
oder ein böfes (Luc, 8, 13. Gal. 3, 1—4. 1 Petr, 2, 20, 4, 15). Das geift-
Yiche Kreuz ift überdieß verfchieden, bald größer und ſchwerer, bald geringer
und Heiner, Es ift weiters bald ein dffentliches, 3. DB. Krieg, Hunger, Miß-
wachs, Peft, bald ein Privatfreuz. Diefe Arten des geiftlihen Kreuzes laffen
fih an den Heimfuchungen, welche Gott über das ifraelitifche Volk oder über ein-
zelne biblifche Perfonen verhängte, hundertfältig aus der heiligen Schrift nach—
meifen, Ebenfo biblifch begründet ift folgende Bemerkung des heiligen Auguftin:
Alia est crux, quam tu invenis, alia quae te invenit. In utraque famen cruce — —
ut utramque -depellas, ille rogandus est, qui’est adjutor in tribulationibus ; nam et
ille, cum invenit (Ps. 114, 3. 4), hoc dixit: „et nomen domini invocavi‘, et hi
in tribulationibus, à quibus se inventos esse dixerunt, hoc dixerunt (Ps. 45, 1):
„Deus noster refugium et virtus, adjutor in ftribulationibus, quae invenerunt nos
nimis“ (S. Aug. in Ps. 45). — 2) Die Thatfahe, daß jederwahre Chrift fein
Kreuz hat, ja die Verpflichtung des Ehriften, den füniglichen Weg des Kreuzes
(Thom. ä Kempis de imit. Chr. 1. Il. 6, 12) zu wandeln, geht aus Luc, 14, 27,
Röm. 5, 6, Gal, 2, 19, 5, 24, Col. 3, 1—10, 2, Tim, 3, 12 klar hervor und
| Kreuzbild — Kreuzbulle. 265
Auguftin fagt daher mit Recht: Tota vita Christiani hominis, si secundum Evange-
lium vivat, crux est atque martyrium (Sermo 32 de Sanctis). — 3) Warum
Gott dem Chriſten fo viel Kreuz ſchicke, Hat der Hl. Auguftinus Cin Pf. 43) mit
folgenden Worten ausgeſprochen: Deus ideo huic vitae male dulci miscet amari-
tudines tribulationum, ut alia quae salubriter duleis est requiratur, und daß das Kreuz
zur Prüfung und Bewährung den Guten geſchickt werde, geht aus Sprüchw. 17,3.
Sir, 27, 6. Luc, 22, 28, Rom. 5, 3.4.5 hervor, — 4) Wie das Kreuz getra-
gen werden müſſe, Iehrt ung die HL. Schrift unter mannigfachen Gefichtspuneten.
Das ganze Leben Jeſu war Ein Kreuzgang, Ein Weg der Selbftverleugnung,
darum foll auch unfer ganzes Leben Ein Weg des Kreuzes fein (Hebr. 12, 1—13);
wir follen auch in diefer Hinficht nichts Anderes zu willen verlangen als Ehriftum,
und zwar Chriftum den Gefreuzigten (1 Cor, 2,2). Seine Einladung zum täg-
liden Gas nusgav) Kreuztragen, zur täglihen Selbftverleugnung ift höchſt
dringlich; Luc. 9, 23. vgl. Matth. 16, 24. — Das Kreuz muß ferner geduldig
getragen, die passio muß zur patienlia werden: Röm. 5, 3—5. 2 Cor. 6, 4—11,
Hebr. 6, 12. 10,36. 12,1. — Das Kreuz muß freudig (2 Eor.12,10. Jar. 1,2.
1 Ver. 4, 13), beftändig Cconstanter) (Matth, 10, 22. Röm. 8, 35 — 39,
2 Eor. 12, 10), mit Dankbarkeit (Dan. 3, 51. Apg. 16, 25) und dffent-
lich (Matth. 10, 32. Gal. 6, 17. Hebr, 10, 32—39. 1 Petr. 4, 16) getragen
werben. Es darf und weder die Größe, noch die Ungewohntheit, noch die
Andauer des Kreuzes abhalten, daffelbe zu tragen: Joh. 16. Cap. 2. Cor. 4,
16-18, Phil. 3,17 —21. Hebr. 3, 713, 1 Petr. 1, 6.7. 5, 8-10. —
Man muß endlich das Kreuz tragen, e8 mag von wem immer fommen: Röm,8.
35—39. 1 Getr, 4, 19. Der hl. Chryfoftomus gibt (hom. I. ad Antioch.)
zehn Gründe an, warum Gott befonders den Heiligen fo viele Kreuze ſchickt.
Diefe Gründe Iaffen ſich theilweife aus folgenden Bibelftellen erheben: 1) Damit
fie ih nit etwa übernehmen, 2 Cor, 12, 7. — 2) Damit die Menfchen von
ihnen feine falfche Meinung faſſen. Apg. 3, 11. 12. 14, 10—14, — 3) Damit
Gottes Kraft offenbar würde, Apg. 16, 21— 30. — 4) Damit e8 niht den
Anschein Habe, daß die Heiligen Gott wegen irdifcher Bortheile dienen. Job 1, 9—11.
- and 2, 4 5. — 5) Um die Hoffnung der Auferftehfung und Belohnung in uns
zu beleben. — 6) Um uns Beifpiele der Geduld zu verfchaffen. Tob, 2, 12.—
T) Um das befannte: Si potuerunt hi et hae, cur non et ego? in ung anzuregen.
Sae. 5, 11.17.— 8) Damit wir das wahre Glück und Unglüdf erfennen lernen. —
9) Weil die Trübfal die Heiligen noch mehr läutert und reinigt. — 10) Weil
die Mehrung der himmlifchen Seligkeit nach dem Maße der irdifchen Trübfal
wähst. — 5) Die Früchte des geiftlichen Kreuztragens find Troft, Freude,
Ruhm und Hilfe (Matth. 5, 10—12. 2 Cor. 1, 3—7), ferner die Kind-
haft Gottes (2 Cor. 6, 4—10, Hebr. 12, 5—8), Schuß vor der Sünde
(1 Cor. 11, 32) und Tilgung der begangenen Sünden (Tb. 3, 13. 21.
Sir. 2,133, 10). Das Kreuz Fräftigt und vollendet den Menfchen:
2 Cor. 12, 9, 10. 1 Petr. 5, 10. Das Kreuz führt zur Gleihförmigfeit
mit Chrifto, ja es wandelt uns gleihfam in Chriftum um: Röm. 8, 28.29.
2 Epr, 4, 8— 11. Gal. 2, 19. 20. Phil. 2, 21.3, 10. Dem Kreuze ift die
ewige Seligfeit zuerfannt: Luc, 24, 26. 2 Cor. 4, 16—18. Phil. 1, 19. 20,
— Bergleihe: Jac. Gretseri de sancta cruce. Tom. I. lib. V. de cruce spiri-
tuali. — Dr. Schlör, die Schule des Kreuzes in fieben Lectionen. Graz.
2te Auflage, [Häusle,]
Kreuzbild, f. Crucifix.
Krenzbrüder, f. Geißler. |
Kreuzbulle (Eruzada). Papſt Calixtus III. hatte gleich mehreren feiner Vor—
fahren und Nachfolger ſich's zu einer der evelften Aufgaben feines Hohenpriefter-
thums gefegt, fowohl durch materielle, als befonders durch geiſtliche Mittel der
266 Kreuzerfindung.
Bekämpfung der drohenden Türfenmacht durch die hriftlichen Fürften den möglich-
ften Nachdrud zu geben. In diefer Abficht ertheile er im Jahre 1457 unter dem
Könige Heinrich von Eaftilien allen denen, welche die Waffen gegen die Feinde
des chriftlichen Namens ergreifen, oder dem genannten Könige eine gewiffe Geld-
fumme zur Beftreitung der Kriegsfoften verabreihen würden, einen Ablaß für
Lebendige und Verftorbene durch eine eigene Bulle, weldhe von ihrem Ziele, dem
Kreuzzuge gegen die Ungläubigen, Kreuzbulle genannt wurde, Der Ablaß ward
zunächft auf fünf Jahre verliehen, aber fpäter von Zeit zu Zeit erneuert, und auf
andere Freiheiten, 3. B. Befreiung von der Firhlichen Abftinenz u. ſ. f. ausgedehnt.
Die durch die Kreuzbulle erzielte Abgabe bildete in Spanien einen beträchtlichen
Theil der öffentlichen Einkünfte, Seit dem Jahre 1753 erfolgten Erneuerungen
diefer Bulle nicht mehr. Eine ähnliche Bulle erließ 1514 Papft Leo X, zu Gun-
ften des Königs Emanuel von Portugal, welchem dadurch für feine Bemühungen
in Belehrung der Ungläubigen in Africa der dritte Theil der Kirchenzehnten, und
der zehnte Theil der den Kirchen und geiftlichen Beneficien zugehörigen Zölle
zufiel. Ueberhaupt fuchten öfter die Päpfte durch ſolche Onadenbezeigungen den
Slaubenseifer hriftlicher Fürften zu belohnen. [Dür.]
Kreuzerfindung. Die Entdefung des Kreuzes und des Grabes unfers
Heilandes beruht auf fo vielen, fo frühen und fo ehrwürbigen Zeugniffen, daß
diefe Thatfahe, wenn auch in einigen Nebenumftänden verfchiedenartig erzählt,
nicht in Zweifel gezogen werben Fann. Zeugen find der HI, Eyrillus von Jeru⸗
falem, der hl. Paulinus, Sulpitius Severus, Ambrofius, Chryfoftomus, Rufin,
Theodoret, Sperated und Sozomenus. Bei dieſer Wolfe der unverdaͤchtigſten
Zeugen hat es nicht fo viel auf fih, wenn Eufebius von Cäſarea zwar die Ent-
decfung des hl. Grabes erzählt, aber über die Auffindung bes HI. Kreuzes ſchweigt.
Gleichwohl Cbemerft Stolberg X, 257, Kircheng. Hambg.) ſcheint eine Stelle des
fowohl von ihm als von Theodoret und Sperates aufbewahrten Schreibens Con—
ftantin’s an Bifhof Macarius von Serufalem beffer auf die Auffindung des
Kreuzes als des Grabes zu paffen, fie lautet: „Sp groß ift die Gnade unfers
Heilandes, daß die Sprache ihren Dienft zu verfagen feheint, das jegt gefche-
bene Wunder würdig auszudrüdfen. Denn daß das Denkmal feines aller-
beiligften Leidens fo viele Jahre unter der Erde verborgen geblie-
ben, bis e8 nach Vertilgung des dffentlichen Feindes (Licinius) den nun befreiten
Dienern Chrifti hervorſchimmern follte, das ift wahrlich über alle Bewunderung
erhaben.“ Ebenfo wenig thun die ſchon frühzeitig von einem unwiffenden Griechen
gefchmiedeten fabelhaften Acten über die Erfindung des Kreuzes der Wahrheit
diefer Thatfache einen Eintrag, vielmehr beftätigen fie diefelbe, wurden übrigens
ſchon durch des Papftes Gelafius I. „decretum de libris recipiendis vel non reci-
piendis“ für appfryph erklärt, doch aber nachher von Gregor von Tours, Florus,
Rhaban Maurns und Notker in ihren Martyrolpgien benüßt (f. Boll. ad 3. Maii
de invent. crucis, c. 2; ad 4. Maii de S. Juda-Quiriaco). — Raifer Hadrian (ſ. d. A.)
batte die Stätten des Todes und des Begräbniffes Jeſu Chrifti entweihen und
unfenntlich machen laſſen; verfehüttet war die Höhle des hl. Grabes und über ihr
und auf Golgatha waren der Benus und dem Jupiter Tempel und Statuen
errichtet. Kaifer Conftantin (f. d. A) befhloß, den Gräuel an den hl, Orten
nicht mehr zu dulden und auf Golgatha eine Kirche zu erbauen, Demnach unter-
nahm es im Auftrage Eonftantin’s deffen Mutter Helena (ſ. d. A.), die heiligen
Stätten aufzuſuchen und zu reinigen, die heidniſchen Tempel und Idole niederzu-
reißen und dem Heilande geweihte Kirchen zu errichten, - Dabei ftand ihr der
durch Frömmigfeit und feinen Eifer gegen den Arianismus ausgezeichnete hl. Maca-
rius, Bifchof von Jerufalem, vom Kaiſer dazu beauftragt zur Seite, Es hielt
aber ſchwer, die Stätten, wo Chriſtus gelitten hatte und auferftanden war, zu
finden, indem ſich während der 200jährigen Entweihung derfelben die chriſtliche
Kreugerfindung. 267
Tradition hierüber verlor; noch weniger wußte irgend Jemand zu Jeruſalem der
Kaiferin, in welcher das fehnfüchtigfte Berlangen nach Auffindung des HI. Kreuzes
entftanden war, hierüber Befcheid zu geben. Dennoch gelang es ihr, nach Aus-
rottung der heidnifhen Gräuel, nad Reinigung des Orts vom Schutte und nad
Aufgrabung des Bodens die Felfengruft des HI. Grabes zu entdecken, und groß
war ihr. und des anwefenden Volkes freudiges Erſtaunen, ald man nahe bei dem
hl. Grabe drei Kreuze fammt Nägeln und der vom Kreuze getrennten Juſchrift
fand, welche über dem Kreuze geftanden hatte! Es mag fein, daf, wie Ambrofius
‚meint, die Infchrift dem einen Kreuze beffer als den andern anzupaffen gefchienen
babe, allein dieß war nur eine unfichere Spur und fonnte den Schmerz nicht heben,
welcher fich der Freude über die koſtbaren Entderfungen dadurch beigemifcht Hatte,
daß man nicht wußte, welches von den drei Kreuzen dasjenige fei, an welchem der
Heiland gelitten habe. Da gerieth Macarius auf den Gedanken, die drei Kreuze
zu einer der vornehmften Damen von Jerufalem, welche auf den Tod Frank lag,
bringen zu laffen. In Gegenwart der Kaiferin und des Bolfs ließ man fie die
Kreuze berühren; bei den beiden erften ohne die geringfte Wirkung, als fie aber
das dritte berührt hatte, fand fie vollfommen genefen auf. Auch ein Todter foll
damals durch die Berührung des Kreuzes erweckt worden fein; Paulin erwähnt
irrtbümlich nur des letztern Wunders, Einen Theil des heiligen Kreuzes ließ
Helena in Silber einfaffen und übergab ihn dem Biſchofe von Jerufalem, daß er
für alle Zeiten aufbewahrt würde; einen andern Theil des Kreuzes fammt den
Nägeln fandte fie ihrem kaiſerlichen Sohne; diefer foll zum Schuge der Stadt
die Kreuzreliquie in eine feiner Bildfäulen zu Conftantinopel, einen der Nägel in
einen prachtvollen Zügel feines Pferdes und dem andern in ein reiches Diadem
oder einen Helm eingefegt haben. Wahrfcheinlich brachte Helena bei ihrer Nüd-
kehr nah Rom auch dahin einen Theil des HI. Kreuzes. Die Kreuzerfindung
geſchah im Jahre 326, Auf Eonftantin’s Befehl fing man fogleich und noch unter
den Augen der HI. Helena mit dem Bau der prächtigen Kirche zu HI. Grabe (au
Kirche der Auferfiehung, Bafılica des HL. Kreuzes genannt, f. den Art, Grab, das
heilige, zu Jerufalem) an, die nach ihrer Vollendung im Jahre 335 mit
. großer Splemnität eingeweiht wurde. In diefer Kirche ward nun der Theil des
bl. Kreuzes niedergelegt, den Helena zu Jeruſalem gelaffen hatte. Nur mit befon-
derer Erlaubniß des Bifchofs von Jerufalem durften Eleine Stückchen davon abge-
ſchnitten werden, die man als den Foftbarften Gnadenfhag bewahrte. Sp über-
brachte die HI. Dielania dem HI. Paulin eine Kreuzpartifel, die fie vom Bifchof
Sohann von Jerufalem erhalten Hatte, und Paulin fendete ein Theilhen hievon
in goldener Einfaffung an Sulpitius Severus, unter Anderm bemerfend, daß unge-
achtet des Abfchneidens folder Partikeln eine Abnahme an dem HI. Kreuze nicht
bemerkt werde. Indeß waren ſchon zu Eyrills von Serufalem Zeit Stüdchen
vom HI. Kreuz in der ganzen Welt verbreitet, wie derfelbe erzählt, Für dag
Volk zur öffentlichen Verehrung wurde das Kreuz zu Gerufalem öfter im Fahre
ausgefegt und zwar 1) am Dftermontag; 2) in der Mittelmoche der großen Faften ;
3) außerorbentliher Weife für die aus weiter Ferne herbeigezogenen Pilger und
A) am 14, September, An dem Iegtern Tag wurde, wohl ſchon feit Conftantin’s
Zeit ber, das Hauptfeft zu Ehren des hl. Kreuzes gefeiert, welches den Namen
„Exaltatio s. crucis“ „oravgwaruog vusga“ trug und wahrfheinlih ſowohl der
Entdeckung des HI. Kreuzes als dem Gedächtniß der Einweihung der HI. Grabes-
kirche galt. Ein anderes und eigenes Feft unter dem Titel der Kreuzerfindung
wurde bei den Griechen nie gefeiert, wenigftens nicht allgemein und mit Solem⸗
nität. Zu Rom dagegen, wo zum Gedächtniß des dem Kaifer Conftantin erfchie-
menen Kreuzes eine Kirche erbaut worden war und wohin Helena au ein Stück
des HI. Kreuzes gebracht Haben mag, kommt im Sacramentar und Antiphonar
Gregor des Gr. fhon ein eigenes Feft der „inventio sanctae crucis“ am
268 Kreuzerhöhung.
3, Mai vor (f. Greg. M. opp. edit. Maur. t. III. 86. 391. 693), welches ſich alf-
mählig über die ganze abenbländifhe Kirche ausbehnte, — ©, die Bollandiften
zum 3. Mai und Tillemont's Memoires, VI, 1—21;5 vgl. Stolberg’s Geſch.
d. Rel. 3. Chr. X, 253 20. Hamb, 18155 Butler’g Leben der Väter u, Mar-
igrer v. NAß u. Weis, 3. Mai u. 14, September, [Schrödl.]
Kreuzerhöhung. Als die Perfer im Jahre 614 die Stadt Jerufalem erobert,
geplündert und mit Chriftenblut getränft hatten, fehleppten fie unter den vielen
Gefangenen auch den Patriarchen Zacharias von Jeruſalem und felbft das von
der hl. Helena aufgefundene HI. Kreuz weg. Jedoch waren die Perfer, in ber
fihern Hoffnung eines ungeheuern Löfegeldes, für die Erhaltung der hl, Kreuz—
reliquie fehr beforgt: fie wurde in einen befonders dazu gefertigten Kaſten gelegt,
welcher unter den Augen der Perfer von dem Patriarchen Zacharias mit dem
Siegel der Patriarchalticche verfiegelt werden mußte, und dann nach einem feften
Schloß in Armenien gebracht. Als endlih Herachus (ſ. d. A.) im Jahre 627
die Perfer befiegte, wurde im Friedenstractat mit Perfien auch die Rückgabe des
hl. Kreuzes ausbedungen, und als der Kaifer im Triumphe auf einem prächtigen
Wagen, mit vier Elephanten befpannt, in Conftantinopel einzog, ließ er das in
der Lade verwahrte Kreuz vor dem Wagen einhertragen. Im Frühjahr 629 (630)
reiste der Kaiſer mit glänzendem Gefolge nach Zerufalem, um das hl. Kreuz
wieder zurüczubringen und für den verliehenen Sieg zu danfen, Und nun fand
eine unvergleichliche Feierlichfeit Statt. In feierlicher Proceffion wurbe das wieder
eroberte Heiligtum an feine frühere Stelle auf Golgatha oder in Die Kirche des
hl. Grabes gebracht, und der Raifer felbft wollte das durch feine Siege gewonnene
Kreuz tragen, Allein es widerfuhr ihm etwas dem Aehnliches, was der berühm—
ten Büßerin Maria von Aegypten im Jahre 383 begegnet war, da fie am Fefte
der Kreuzerhöhung (f. Kreugerfindung) das zur Adoration ausgefegte HI.
Kreuz in der HI, Grabeskirche fehen wollte und durch eine unfichtbare Gewalt ſich
von dem Eingang in. die Kirche zurücfgebrängt fühlte (Boll. 2. Apr. d. S. Maria
Aeg. 0.2? u.3). Wie nämlich die Proceffion unter Mufifgetön und Freudenhym-
nen an das nach dem HI. Berg führende Thor gefommen war, vermochte Hera-
elius feinen Fuß mehr zu heben, unfichtbare Arme fchienen ihn aufzuhalten, Der
nebft allem Volk erftaunende Patriarch Zacharias, der mit dem Kaifer aus der
perfifchen Gefangenfchaft zurücfgefehrt war und feinen Patriarchenftuhl wieder ein-
genommen hatte, blickt zum Himmel empor und wie von Oben erleuchtet Spricht
er: „Bedenk, o Kaifer, ob du in deinem Schmude eines Triumphzuges Aehnlich-
feit mit dem Heilande habeft, der das Kreuz auf eben dem Wege als der ärmfte
und demüthigfte getragen.” Heraclius legte fogleich feine Pracdtgewande ab, und
in einen geringen Mantel gehülft und mit bloßen Füßen fohritt er nun mit dem
hl. Kreuz ohne Anftand vorwärts und brachte e8 an die geziemende Stätte, Diefe
Wiedererlangung des Kreuzes aus der Gewalt der Perfer und das wunderbare
Ereigniß, welches fich bei der Feier der Zurücbringung deffelben mit Herackius
zugetragen, gaben dem Fefte der Kreuzerhöhung (exaltatio, oravgopewsre)/einen
neuen Glanz. Seitdem wurde der 14. September als Feft der „Exaltatio
crucis“ auch im Abendlande gefeiert, aber hier an diefem Tage nur das Gedädht-
niß an die Zurücführung des HI, Kreuzes aus Perfien begangen, wie z. B. erſicht-
lich wird aus dem Martyrologium Wandelbert’s, wo es zum 14, September
heißt: „Exaltata crucis fulgent vexilla relatae, Perside ab indigna viotor quam vexit
Heracleus,“ und aus Notfer’s Martyrologium: „Eodem die (i. c. 14, Sept.)
exaltatio sanctae crucis, quae ab Helena inventa ita per medium secta est, ut et
crux Jerosolymis conservata et crux Constantinopolim sit deportata. Post multa
temporum curricula Persarum gens ‘cum rege suo Chosdro& .. . etiam Jerosolymam
invadunt. De qua plurimis ornamentorum insignibus ablatis, crucem quoque Domi-
nicam abducunt. Quam Chosdroö'in turrem argenteam constituit sibique in eadem
Kreusgänge — Kreuzherren. . 7089
turri sedem ex auro paravit, in qua velut collega Dei sedere consuevit. Heraclius
igitur Romanus Imperator contra Persas bellum aggressus, occiso Chosdroö vene-
rabile lignum cum magna veneratione reportavif, et in eodem die caecis, para-
Iytieis, leprosis, daemoniacis pluribus sanatis, etiam mortuus vitam recepit“ (Basn.
Canis, lect. antig. II, III, 174.), Befremdend ift, daß Notfer den Vorfall nicht
erwähnt, der dem Raifer beim Tragen des HI. Kreuzes begegnete; freilich iſt diefe
Thatfahe auch nicht durch fo viele und fo unabweisbare Zeugen verbürgt, wie
die Auffindnng des HI. Kreuzes, ©. die Ehronographie des Theophanes; Dam-
bergers ſynchroniſt. Gefch. der Kirche und der Welt, Regensb, 1850, B. J. ©. 3845
Fleury, hist. Eccl. zum Jahr 628 — 629; Sollerius in Martyrologio Usuardi ad
14. Sept.; Butlers, Leben der Väter und Martyrer zum 14. Sept. [Schrödl,]
Kreuzgänge, f. Bittgänge.
Kreuzherren, Kreuzträger (Gruciferi). Das Zeichen des Kreuzes genof
bei den gläubigen Chriften von jeher eine fo große Verehrung, daß es nicht be=
fremden darf, daß ſich auch eine religidfe Genoffenfchaft nah ihm benannte, In—
deß müffen mehrere Congregationen von Kreuzherren unterfohieden werden. Wir
nennen bier zuerft die Kreuzherren mit dem rothen Stern. Was zunähft die
Zeit ihrer Stiftung anlangt, fo wollen fie in Paläftina entftanden und von da
nach Europa ausgewandert fein, was an fih nach dem Vorbilde der Carmeliter
möglich wäre, wogegen aber Hiftorifche Thatjachen zeugen, Hier hätten fie die
Regel des Hl. Auguftin angenommen und in Böhmen viele Klöfter gebaut. Hiſto—
rifch gewiß ift, daß die böhmiſche Princeffin Agnes, bevor fie das Kleid der
Sranciscanerinnen nahm, im 3. 1234 bei Prag, am Ende der Brüde, ein Ho—
fpital fliftete und dieß den Kreuzträgern übergab (Helyot, Klofter nnd Ritter-
orden Bd. II. ©. 280 ff.). Alsbald wurde die Stiftung fehr reich begabt und
beſchenkt. Schon im 3. 1241 erhob fih ein zweites Spital der Kreuzträger zu
Breslau durch Anna von Böhmen, der Schwefter Agnefens und Wittwe des Her-
3098 Heinrich II. zu Breslau und wurde gleichfalls fehr reich dotirt. Papft Inno—
cenz IV. beftätigte die Stiftung und gab ihren Mitgliedern in Böhmen zur Unter-
fheidung von andern Kreuzträgern einen rothen Stern, Nahmals erhielt die
Eongregation, mit den großen Reichthümern, auch großes Anfehen und im 17ten
Jahrhundert bezog der Erzbifchof von Prag als General der Kreuzberren von
diefen ein jährliches Einfommen von 12,000 fl., fie wußten es jedoch fo weit zu
bringen, daß fie einen General aus ihrer eigenen Mitte wählen durften und zu-
gleich von der läſtigen Abgabe befreit wurden. Allmählig erhielten fie zahlreiche
Häufer in Böhmen, Deftreih, Schlefien und Mähren. Ueber ihren gegenwärtigen
Stand in der öftreichifchen Monarchie Haben wir leider Feine Notizen. Neuerlich
bat der Orden eines feiner Mitglieder Auguftin Smetana durch Abtrünnigfeit
von der Kirche verloren (f. Neue Sion, Jahrg. 1850, Aprilheft, erſte Hälfte,
©. 219.). — Die Rreuzträger in Frankreich und den Niederlanden haben
gemeinfchaftlichen Urfprung. Sie wurden im 5. 1211 von dem P. Theodor von
Eelles, aus freiherrlihem Gefchlechte, geftiftet. Nachdem er den Kaiſer Friedrich
Barbaroſſa in den heiligen Krieg begleitet hatte, erhielt er zu Lüttich ein Canoni-
sat und vermochte jet vier feiner Eollegen zu einem firengen gemeinfchaftlichen
Leben. Dann trat er eine Miffton bei den Albigenfern an und fand nach feiner
Zurüdfunft feine vier Genoffen bereit, die Welt zu verlaffen. Der Biſchof von
Lüttich gab ihnen für diefen Zwerf die Kirche zu St. Thibald, auf einem Hügel,
Elair-Lieu genannt, in der Nähe der Stadt Huy. Hier nun legten fie den Grund
zu dem Drden des hl. Kreuzes, der ſich nachmals in Franfreich und den Nieder-
landen ausbreitete. Anfangs Iebten fie bloß von Almofen und frommen Spenden,
da fie ohne alle Einkünfte gelaffen worden waren und auf ihre Güter verzichtet
hatten, Allein allmählig wurde diefes Klofter durch reichliche Schenfungen eines
der reichften und prächtigſten. Papft Honarius II. beftätigte die Stiftung, die
270 Kreuzigung.
noch zu Theodors Lebzeiten (geſt. 1246 oder ſchon 1244) weite Verbreitung
gefunden hatte. In Frankreich traten ihre Mitglieder zuerſt mit dem hl. Domini—
eus als Miffionäre bei den Albigenfern auf und richteten fih dann nach ben
Eigenthümlichfeiten des Dominicanerordeng, was der Gleichfürmigfeit wegen auch
die niederländifchen Klöfter nahahmten, Innocenz IV. beftätigte dieß. Als eifrige
Prediger fanden fie in Frankreich fo großen Beifall, daß fie Ludwig der Heilige
felbft nach Paris berief. Nachmals erhielten die Franzofen einen eigenen Pro—
vincial, während ber General zw Clair-Lieu refidirte, Sie trugen einen weißen
Leibrof mit fhwarzem Scapulier und beim Ausgehen einen ſchwarzen Mantel
darüber, Urfprünglih, vor ihrer Berührung mit den Domincanern, hatten fie
einen ſchwarzen Leibrod getragen. Außer den Niederlanden verbreiteten fie fich
auch in Teutſchland, als in Cöln, Aachen ıc, Sie nannten fih Hofpitaliter (f.
Helyot, a. a. O. I. ©, 269 ff.). — Was ferner die italienifchen Kreuzträger
anlangt, fo ift die Zeit ihrer Gründung nicht zu ermitteln, diefe jedoch Feinenfalls
vor die Periode der Kreuzzüge zu datiren. Alexander VIL ſah fich bei gänzlichem Zer-
fall der Disciplin genöthigt, die italienifche Congregation aufzuheben (1656); ihre
Güter fchenkte er der Republif Venedig, um fieim Türfenfriege zu unterflügen, Sie
wurden auch regulirte Chorherrn genannt und folgten der Negel des HI, Auguftin,
erftreeften fi) aber nicht außerhalb Italiens, wo fie indeß in fünf Provinzen
zerfielen,. Ihre Klöſter waren zugleich Spitäler, — Auch Irland und England
hatten Kreuzherren, deren Gefchichte jedoch dunfel und unbedeutend ift (f. Helyot,
a. a, D. 1. ©, 267 f.) Alle diefe Congregationen von Kreuzherren nun wollen
in Paläftina und zwar ſchon zur Zeit der Auffindung des HI. Kreuzes durch die
hl. Helena entftanden fein, eine Annahme, die faum einer Widerlegung bedarf,
©, jedoch Helyot, II. 263. Auch Ordensritter, wie die Teutfchherren, wurden
zuweilen wegen ihres Kreuzes Kreuzherren genannt, [$ehr.]
Kreuzigung. Die Todesftrafe der Kreuzigung hatten außer den Römern
auch die Griechen, Syrer, Perfer, Indier, Aegyptier und Carthaginienfer, Dem
mofaifchen Gefete ift fie fremd, denn das Aufhängen der Verbrecher an einen
Pfahl Hat damit nichts gemein, indem dieſes erft nach der Hinrichtung zur Be-
fchimpfung der Leiche geſchah (vgl. 4 Mof. 25, 4 f. 5 Mof. 21, 22 f.)5 do
haben fie endlich die legten Hasmonäifchen Fürften von den Römern angenommen
(Joseph. Antt. XHI. 14, 2.) und fie war fofort unter den Herodiaden und wäh-
rend der römifchen Herrfchaft auch bei den Juden gewöhnlich (Joseph. Bell, jud.
I. 14. 9. V. 11,1.) Dem jüdifhen Gerichtshofe war von den Römern die Aus—
übung der Todesftrafe ganz entzogen (vgl. Joh. 18, 31.); zwar fonnte das
Synedrium, wie wir aus der Gefhichte Jeſu fehen, die Todesſtrafe nad) dem
väterlichen Gefete zuerfennen (vgl. Matth. 26, 65. Joh. 19, 7.), allein die
war nichts weiter als eine leere. Form, weil fofort der römifche Proeurator die
Unterfuhung von Neuem führte und ein eigenes Urtheil fällte, die Todesftrafe
auch felbft vollziehen ließ (vgl. Joh. 19, 13. 23. Matth, 27, 27. 35.). Jeſus
mußte eben deßhalb, weil er nach den damaligen Rechtsverhältniſſen in Judäa
an den Procurator Pilatus überliefert und von ihm zum Tode verurtheilt wurde,
die Kreuzigung erbulden, da er fonft wegen angefehuldigter Blasphemie (Matth.
26, 65. parall.) gefteinigt worden wäre (3 Mof, 24, 16.). Indem wir unfern
Gegenftand mit Rückſicht auf den Tod Chriſti behandeln, fo haben wir es vor—
nehmlich mit der römifchen Kreuzigung zu thun. Sie galt als die härtefte und
ſchimpflichſte Todesſtrafe (crudelissimum, teterrimum supplicium. Cicero in Verr.
V. 64. cf. Arnob. adv. gentes I. 36.), und war für Sclaven, Straßenräuber,
Meuchelmörder und Aufrührer beftimmt, weßhalb die Juden, um fie über yefum
zu bringen, die religiöfe Anſchuldigung vor dem Procurator in eine politifche
Klage umwandelten (Matth, 27, 11. parall.). Die für den Urtheilsſpruch üb-
liche Formel war: ibis ad crucem, und unmittelbar darauf wurde zur Strafere-
Kreuzigung. 271
eution geſchritten. An Orten, wo der Richter Feine Lietoren hatte, wurden dazu
Soldaten gebraucht, und zwar gewöhnlich vier, eine quaternio, mit einem centurio,
welcher bei diefer Function exactor morlis oder supplicio praepositus hieß (Taecit.
Annal. Ill. 24. Senec. de ira I. 16.); fo geſchah es in Judäa (vgl. Matth. 27,
27 ff. 35. Joh. 19, 23. 24.). Die Strafereeution begann mit einer Geißelung
im Prätorium, welche öfters mit unmenfchliher Graufamfeit vorgenommen wurde,
fo daß viele darunter ftarben (Philo contr. Flacc, $ 10. Joseph. B. j. I. 14, 9.
ef. Heyne opusc. acad. vol. Il. n. 11.). Bon diefer Geißelung, die einen Be—
ſtandtheil der Todesftrafe ausmachte, ift jene verfchieden, die Pilatus noch wäh:
rend des Berhörs Jeſu den Juden für Jefum proponirte (Luc. 23, 16, 22.),
und ebenſo diejenige, welche er nachher, aber noch vor der Aburtheilung, an ihm
wirklich vollziehen ließ (Joh. 19, 1.)5 die erfte follte als befondere Strafe, wie
fie die Römer wegen geringerer Vergehen anwendeten, die Juden befriedigen,
daß fie von der Forderung eines firengeren Berfahrens abfländen,, die andere ift
ein peinliches Geftändnigmittel, — quaestio per tormenta (vgl. meinen Comment.
3. Joh. I. ©. 367 f.). Weil Jefus furz vor dem Urtheilsſpruche eine Geißelung
erlitten, fo ift die zuerft erwähnte unterblieben. Als Werkzeuge dienten bei der
römischen Geifelung entweder Ulmenruthen, oder Geißeln aus Riemen, deren
Enden mit Knochen oder Dleiftüden verfehen waren (Lipsius de crucel.. 0. 3.).
Die Krenzigung wurde dann immer außerhalb der Stadt an einem volfreichen
Drte volibradpt (Plaut. Miles glor. Act. I. Sc. IV. v. 6.7. Cicero pro Rabir.
6. 3.)5 die Richtſtätte von Jerufalem hieß an532 3, ToAyoda, Schädelort (Matth,
27, 33. 309. 19, 17.)5 f. d. Artikel Calvarienberg. Die Berurtheilten
mußten das Kreuz felbft auf die Rictftätte tragen (Plut. de sera numin. vindict.
©. 9. Artemidor. Oneiroecrit. II. c. 56.); auch Jeſus trug anfangs das feinige
Goh. 19, 17.), aber e8 verliehen ihn die Kräfte, und nun nöthigten die Sol-
Daten einen gewiffen Simon von Cyrene, der eben vom Felde Fommend dem Zuge
begegnete, ihm das Kreuz abzunehmen (Matth. 27, 32 parall.), wie derartige
Gewaltthätigfeiten bei dem römifchen Militär in den Provinzen - öfters vorfamen
(Arrian. Epictet. IV. c. 1.). An ihrem Halfe hing oder es wurde ihnen voran=-
getragen eine Tafel, titulus, oavis, Aevxzwur und airiz genannt, welche mif
einer Aufſchrift die Urfache der Hinrichtung befannt machte (Socrat. H. E. L 17.
Euseb. H. E, Y. 1. Sueton. Galig. c. 30. Dio Cass. LIV. 3.), und nad voll-
brachter Kreuzigung an das Kreuz über das Haupt befefligt wurde (Matth. 27,
37 parall,). ALS Fefus auf dem Richtplage angelangt war, reichte man ibm
Morrhenwein (Zouvousvos olvos Marc. 15, 23. ÖEos uera Koks newy-
‚usvov Matth. 27, 34,), um ihm durch diefen betäubenden Tranf (vgl. von der
Wirkung der Myrrhe Dioscorid. I. ce. 72.) das Todesleiden zu erleichtern, den
er jedoch ablehnte. Das Darreichen eines folhen Tranfes bei Hinrichtungen war
nicht römische, fondern jüdifche Sitte, und zwar follen ihn Frauen aus Jeruſalem
freiwillig beigebracht Haben (Gem. Babyl. Sanhedr. VI. 1.). Davon ift jene Labung
u unterfheiden, welche Jeſus am Kreuze von einem Soldaten angenommen;
ier wurde ihm von der posca, dem Getränke der Soldaten, gereicht (Luc. 23, 36,
30h. 19, 29.). An der Richtflätte zog man den zu Kreuzigenden die Kleider aus
(Artemidor. Oneiroerit. I. c. 55.), welcde den Soldaten gefeslih als Eigen-
thum zufielen (Matth. 27, 35 parall, Dig. XLVIH. 20, 6 sqq. de bonis damnat.
1. VL); nur wurde ihnen des Anftandes wegen meiftens des fog. Lendentuch, sub-
ligaculum, lumbare, gelaffen, wie es auch bei Jeſu gefchehen zu fein fcheint
Cost. 305. 20, 15. und dazu Hug, Zeitſchr. für die Geiftlichfeit der Erzdiöcefe
Freiburg Hft. 5. ©. 162 ff.); die Hinrichtung mit vollftändiger Kleidung gehört
5 den Ausnahmen (Justin. histor. XVII. 7.). Auf diefe Vorbereitung und die
wiſchen gefchehene Aufrihtung des Kreuzes folgte die eigentlihe Kreuzigung.
Das Kreuz hatte entweder die Geſtalt des Buchſtabens X, oder es glich dem
272 Kreuzigung.
Buchſtaben T, und eine dritte Form ift diejenige, bei welcher der Kreuzſtamm über
das Duerholz hinausragte, wie das Kreuz Chriſti gewöhnlich abgebildet wird,
(Lipsius dt a. a. O. J. J. c. 3. 4. u. 5. diefe Kreuzformen nach der voran-
ſtehenden Ordnung mit den Ausdrücken crux decussata, commissa und immissa
bezeichnet.). Wahrſcheinlich gebrauchte man aber auch zuweilen einen einfachen
Stamm (was das griechiſche aravgös bedeutet) und dieß mag vornehmlich flatt-
gefunden haben, wenn Hunderte und Tauſende auf einmaligefreugigt wurden, —
eine Execution, bie bei gefangenen Feinden vorkam Joseph. BI
11, 1. Antt. xl. 14, 1. Oros. VI. c. 18.); auch dienten in folchen Fällen Bäume
flatt der Kreuze (ef. Lipsius a. a. O. J. J. c. 5.). Nah der herrfchenden Tra-
dition iſt Jeſus an einem Kreuze von ber dritten Form (exux immissa) geſtor-
ben (Justin. dial. c. 111. Tertull. Apolog. c. 16. de idol. ce. 12. Minucius
Felix Octav. c. 29. u. A.); doch findet fi die zweite Kreuzform ſchon auf
Münzen der Kaifer Eonfland und Eonflantin (Münter, Sinnbilder ze. Hft. 1;
©. 71.) und fie fommt auch auf alten Ringen und Leichenfteinen vor (Aringhi
Roma subterranea novissima, Il. p. 387. Boldetti Osservationi sopra i cimiteri
de’ santi martiri et antichi Christiani di Roma, p. 353.), während man hinwieder-
um nad Lactanz (de mortib. persec. co. 44.) annehmen müßte, daß Conftantin
das Kreuzzeichen am Himmel in der erfien Form gefehen hätte, Das Kreuz war
in der Regel nicht fehr Hoch, fo daß der Gefreuzigte mit den Füßen der Erbe
nahe war; nur für ausgezeichnete Verbrecher wurde ein höheres genommen
Custin. histor. XVII. 7. Sueton. Galb. c. 9.). Mitten am fenfrechten Balfen
war ein Stück Holz oder Pfahl Csedile) angebracht, welches den Körper flüge,
damit feine Schwere nicht die Hände aus den Nägeln riß (Justin. dial. c. 91,
Jren. adv. Haeres. II. 42. Tertull. adv. Marc. II. 18; darauf beziehen fich auch
die Nedensarten bei den Alten: acuta cruce sedere, eruci inequitare, invehi, re-
quiescere), Der an das aufgerichtete Kreuz Hinaufgehobene oder mit Striden
»Hinaufgezogene wurde feftgebunden, damit er bei der fofort vorgenommenen An-
nagelung der Hände und Füße feinen Widerſtand Teiften konnte (Lucian. Pharsal.
T. VI. 543 sqq. Plin. H. N. XXVIII. 11.). Daß nicht bloß die Hände, fondern
auch die Süße angenagelt wurden, was einige Neuere mit befonderer Beziehung
auf Chriſtus in Abrede ſtellen wollten, wird durch viele alte Zeugen, welche
theils die Kreuzigung noch geſehen, cheiis doch der Zeit ihres Beſtandes ſehr nahe
find, vollkommen beſtätigt (Hilar. Pict. Tract. in ps. 143. Ephraem. Syr. Serm.
UI. 3. XII. in nativit. Dom. Euseb. Emes. de persona J. Christi p. 38. ed. Aug.
Athanas. de incarnat. verbi c. 35. u. 37. Euseb. Caes. Demonstrat. evang.
1.X. sub fin. Tertull. adv. Jud. c. 10. Novatian. de trinit. c. 10. Justin.
Dial. c. 97. Apol. I. c. 35. — Plaut. Mostell. Act. II. Se. 1. v. 12. 13.; — vgl.
Hug, a. a. O. Hft. 5. S. 19 ff. Bahr in Heydenreih’S und Hüffel’s
Zeitſchr. Bd. II. Heft 2, u, 3. Friedlieb, Archäologie der Leidensgeſch. Jeſ. Ehr.
©. 144 ff). Eine Schärfung der Strafe war die Kreuzigung mit dem Kopfe
nach unten (Senec. ad Marc. c. 20. Euseb. H. E. VII. 8. u. 9.), die auch Petrus
erbuldete (Euseb. ibid. II. 1.), oder wenn man ben cruciarius dur wilde
Thiere zerfleifchen Tieß, oder ein Feuer unter dem Kreuze anzündete Cogl. Lip-
sius 1. IH. c. 10. 11.). Wenn ſolche Graufamfeiten nicht hinzufamen, fo lebten die
Unglücklichen oft noch bie ganze folgende Nacht oder auch noch den andern Tag
über (Origen. Comment. in Matth. 27, 54. Opp. T. MI. p. 923. de la Rue); ja
es bieten fih fogar Beifpiele dar, daß der Tod erft am. dritten Tage eintrat
(Petron. Sat. c. 111: 112. Justin. Histor. XII. 7.). Wie man in Nom bie
Sclaven am Kreuze hängen ließ, bis ihre Leiber vermodert oder von Raubvögeln
verzehrt waren (Horat. Epistt. I. ep. XVI. 48. Juvenal. Sat. XIV. 77. Senec.
excerpt. controv. 1. VII. contr. 4.), fo feheint es in den Provinzen in der Negel
mit allen Gefreuzigten gehalten worben zu fein (Philo adv. Flacc. $ 10), Do
>
Bu
HE
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Ur,
ur
Kreuzmachen — Kreuspartifel, 273
machten die Römer davon in Judäa eine Ausnahme, indem fie fih den Juden
accomodirten, denen durch ihr Gefeg geboten war, einen Aufgehängten noch vor
Sonnenuntergang herunterzunehmen, damit er, ald mit dem Fluche behaftet, das
Land nicht verunreinige (5 Mof. 21,23). Diefe Anbequemung führte die Anwen-
dung der Beinbrehung, crurifragium, herbei, welche den Tod befchleunigte, aber
zugleih als eine Erfagftrafe für die Tängern Leiden am Kreuze gelten follte, In
Berbindung mit der Kreuzigung finden wir das crurifragium nur in Judäa, wo
es die Juden für Jefum und die mit ihm gefreuzigten Miffethäter von Pilatus
forderten, um die Leiber noch vor Ablauf des Tages ablöfen zu fonnen, was
diegmal um fo dringender nothwendig fihien, weil der nachfolgende Tag ein Sab-
bath war und zudem das Pafıha darauf fiel (Joh. 19, 31), fonft war e8 eine
befondere, für fich beftehende Strafe, die an Sclaven. und bisweilen auch an
Sreien verübt wurde (Seneca, de ira III. 32. Sueton. Octav. c. 67. Tiber c. 44.
Euseb. H. E. V. 21). Das Zerfhlagen der Beine allein wirfte den Tod gewöhn-
Gh nur langſam, aber wenn es bei einem cruciarius vorgenommen ward, fo
mochte der Tod, wenn auch nicht augenblicklich, doch nach fehr Furzer Frift ein-
treten. Es ift aber dann bei Jefu unterblieben, weil die damit beauftragten Sol-
daten die Zeichen des bereis erfolgten Hinfcheidens wahrnahmen; die feiner Kreu—
zigung vorangegangenen Leiden mußten den Tod befchleunigen und erflären es,
daß er ſchon nad) ſechs Stunden verfchieden war (Mare. 15, 25. 34. 37 parall).
Einer von ihnen flieg ihm aber mit der Lanze in die Seite (Joh. 19, 34); dieß
ift der bei andern Hinrichtungen übliche Gnadenftoß (vgl. Hug a. a. O. ©, 697 f,,
Sriedlieb a. a. D. 166 f.), der bei Jefu angewendet wurde, um die etwa noch
int Berborgenen vorhandenen Lebensfunfen auszulöfhen. In Nom war es gefeg-
lich, die Leichname der Hingerichteten (mit Ausnabme der Sclaven) den Ber-
wandten zum Begräbniffe auszuliefern (Digest. XLVIII. tit. 24); deßhalb wurde
auch dem Joſephus von Arimathia die dießfällige Bitte ohne Anftand gewährt
- Matt$. 27, 57. fi parall.). — Die Kreuzigung beftand im römifchen Reiche
- fort bis auf Conftantin d. Gr., welcher fie aus Ehrerbietung für Chriftum im 13.
Sahre feiner Herrſchaft abgefchafft Hat (Sozom. I. 8). [A. Maier.]
Krenzmachen, ſ. Kreuzzeichen
Kreuzpartikel. Wie Socrates (hist. eccl. 1. 1. c. 17), Sozomenus (hist.
ecel. 1.2. c. 1), Rufinus Chist. ecel. 1. 1. c. 7), Ambrofius (de obitu Theodos.),
Paulinus (ep. 31.al. 11), Cyrillus von Jeruſalem (ep. ad imperat. Const.) u. ſ. w.
berichten, fand die Raiferin Helena, die Mutter Conftantins d. Gr., das Kreuz,
an dem Ehriftus geftorben ift, unter den Trümmern eines Benustempels, den die
Heiden zur Berfpottung des Chriftenthumes auf Golgatha erbaut Hatten (f. Rreuz-
erfindung). AS es aufgefunden war, wurde es um fo mehr als ächt erfannt,
als eine vornehme ſchwerkranke Frau, auf den Rath des hl. Macarius, Biſchofs
von Jerufalem, damit berührt, augenblicklich gefund wurde. Man bewahrte es
nicht bloß bis zur Zeit des Perferkönigs Chosroes forgfältig in Zerufalem auf,
fondern hielt es auch für ein großes Glüf, Stücklein davon abfchneiden zu kön—
nen, und diefe fo in's Unendliche zu vermehren, daß fie bald bloße Splitter wur—
den, Sagt ja ſchon Paulinus Cl. c.): „Aceipite magnum in modico munus, et in
segmento paene atomo astulae brevis sumite munimentum praesentis et pignus ae-
ternae salutis.“ Diefe Splitter nennt man nun Kreuzpartikel (Parliculae crucis).
Gar viele Gotteshäufer, ja felbft nicht wenige Privatperfonen rühmen fih, ſolche
zu befigen, Sie werden gewöhnlich in einem monftranzartigen Gefäße aufbewahrt,
Damit fo viel als möglich nur ächte von den Gläubigen verehrt werden, ift dag
Gefäß mit päpftlichem oder bifchöflihem Siegel gut verfchloffen. Die gewöhnlichfte
Verehrung derfelben befteht darin, daß man das Glas, innerhalb weldem ver
Partikel fi befindet, Füßt, Mitunter wird auch derfelbe bei brennenden Lichtern
auf dem Altare erponirk, und vom Priefter den Gläubigen zum Kuffe angeboten,
Kirchenlexikon. 6. Br. 18
274 Kreuzprobe — Kreuzweg.
Wird der Altar während einer ſolchen Expoſition beräuchert, fo iſt auch ver Par—
tifel ftehend zu incenfiren (S. R. C. 15. Sept. 1736). Wo das feit unvordenk⸗
lichen Zeiten Sitte ift, darf man ihn auch mit oder ohne Baldachin, es fei dann
mit oder ohne Velum, umgeben von zwei Rauchfaßtraͤgern in Proceffion herum—⸗
tragen (S. R. C. 16. Sept. 1741; S. R. C. 26. Aug. 1752). Auch ift es erlaubt,
mit ihm, wenn er erponirt oder in Proceffion herumgetragen wurde, das Segens-
kreuz über das Volk zu machen, [ör. & Schmid.]
Kreusprobe, f. Onttesurtheile,
Kreuzträger (Crucifer), Sp nennt man den Träger bes Kreuzes oder
Erucifires, welches bei kirchlichen Proceffionen dem Zuge vorangetragen wird,
Nach der Vorſchrift der Nubrifen foll er ein Subdiacon, und deßwegen auch als
folcher geffeivet fein. Auf dem Lande find die meiften Kreuzträger Laien, die mit
einer Rutte und Chorrock fammt Birret angethan find; der Mangel an eigentlichen
Subdiaconen oder diefen Dienft wenigftens verfehenden Geiftlihen macht dieß
nothwendig. Zu beiden Seiten des Kreuzträgers geht, um ſymboliſch darzu=
ftellen, daß Jeſus das Licht der Welt fei, ein Acolyth (Miniftrant) mit brennen-
dem Wachsleuchter: fo war es ſchon im vierten Jahrh. CCfr. Sozom. hist. ecel.
1. 8. c. 8). Iſt das Kreuz ein Erucifir, fo wird das Bild des Gefreuzigten in
der Art getragen, daß Chriſtus den die Proceffion Begleitenden den Rücken wendet;
nur das unmittelbar vor dem Papfte oder Erzbifchofe oder fonft hiezu Ermäch—
tigten getragene macht eine Ausnahme: jenes fol erinnern, daß Jeſus als unfer
Lehrer und Tugendvorbild ung gleihfam den Weg zum Himmel vorangehe; diefes,
daß die höchften Prälaten der Kirche durch den immerwährenden Blick auf den
Gefreuzigten fletS neu gefräftigt werden, dem Heile der Seelen alle ihre Kräfte
zu widmen (Cfr. Gavant. Comment. in rubr. Miss. p. 1. lit. 19. ad 3; Cerem. episc.
1.1. c. 15,1.2. c. 16), Daß man fchon in der früheften Zeit das Tragen des
Kreuzes nicht dem Nächftbeften überließ, bringt die Natur der Sache mit fi.
Es darf uns daher nicht wundern, ſchon in einer Novelle (122. n. 32) des Kai—
fers Juſtinian zu lefen, daß es beftimmte Kreuzträger gab, nur diefe nach dem
Inhalte der Novelle es tragen durften, und die heiligften Bifchöfe und ihre Elerifer
fowie auch die Drtsrichter e8 eben fo hielten, [Fr. X. Schmid.]
Kreuzträger-Orden, ſ. Kreuzherren.
Kreuzweg (Via crucis, Via calyarii). Sp nennt man die Geſammtheit einer
beftimmten Anzahl von Bildern oder Statuen, welche eben fo viele Momente in
der Leivensgefchichte Jeſu vorftellen. Die Zahl der Bilder oder Statuen ift nicht
immer diefelbe: gewöhnlich find derfelben 14 oder 15, im Erzbisthume Wien (fo
will es wenigftens eine Verordnung des dortigen erzbifchöflichen Ordinariats vom
25. Februar 1799) nur eilf. Der Inhalt der gewöhnlichen 14 Bilder oder Sta—
tuen, die man Kreuzwegsftationen zu nennen pflegt, ift folgender: 1) die von dem
Landpfleger Pilatus ausgefprochene Verurtheilung Chrifti zum Tod am Kreuze,
2) die Uebernahme des Kreuzes von Seite Chrifti, 3) der erfte Fall Chrifti unter
dem Krenze, 4) das Zufammenfommen des Freuztragenden Jeſu mit feiner Mutter,
5) die Unterftügung Chrifti im Kreuztragen von Simon von Cyrene, 6) die Dar-
reihung des Schweißtuches von Veronica, 7) der zweite Fall Chrifti unter dem
Kreuze, 8) die Worte Ehrifti an die weinenden Frauen von Jeruſalem, 9) der
dritte Fall Chrifti unter dem Kreuze, 10) die Entblößung Chrifti vor der Kreu—
zigung, 11) die Kreuzigung Ehrifti, 12) der Tod Chrifti am Kreuze, 13) die Ab-
nahme des Leichnames Chrifli vom Kreuze, und 14) die Orablegung des Leich-
names Chrifti, Wo der Kreuzweg 15 Stationen zählt, folgt als 15) die Auf-
findung des hl, Kreuzes durd die Kaiferin Helena (f. Kreugerfindung). Die
durch den oben angeführten Erlaß des Wiener-Ordinariats vorgefihriebenen Sta-
tionen haben folgenden Inhalt: 1) Chriſtus betet zum Vater im Garten auf dem
Delberge, 2) Chriftus wird von Judas verrathen und ‚gefangen genommen,
Kreuzweg. 275
3) Ehriftus wirdigegeißelt, 4) Chriſtus wird mit Dörnern gefrönt und verfpottet,
5) Chriſtus wird von Pilatus zum Tode verurtheilt, 6) Chriftus wird von Si-
mon dem Cyrener im Kreuztragen unterflüßt, 7) Chriftus warnt und unterrichtet
die ihn beffagenden Weiber, 8) Chriſtus wird mit Galle getränft, 9) Chriſtus
wird am bas Kreuz geheftet, 10) Chriftus hängt und ftirbt am Kreuze, 11) der
Leichnam Ehrifti wird begraben (vgl. Hnogek's Lit. 1. Th. S. 570). — Der
Drt, wo der Kreuzweg aufgerichtet wird, find vorzugsweife die Gptteshäufer,
Es gibt dermalen (wenigftens im füdlichen Teutſchland) wenige Gotteshäufer,
deren Wände nicht damit in der Art geziert find, daß die Stationen in einiger
Entfernung von einander ald Bild oder Statue fih befinden, gewöhnlich auf der
Epiftelfeite in der Nähe des Hochaltares beginnen, und auf der Evangelienfeite
gleichfalls in der Nähe des Hochaltares fich ſchließen, und daher denjenigen, der
fie zu feiner Erbauung von Station zu Station betrachtet, veranlaffen, den Weg
des Kreuzes, den Chriſtus gegangen ift, gleihfam auch in foweit zu gehen, als
er von einem Bilde zum andern zu gehen hat. Diefer letztere Umftand ift wohl
auch die Urfahe, warum diefe Bilder oder Statuen in ihrer Gefammtheit den
Kamen „Kreuzweg“ erhalten haben, Außer den Gotteshäufern findet man diefe
Bilder oder Statuen bisweilen auch in Feldcapellen und auf Wegen, zumal ſolchen,
die zu einer auf einem Berge gelegenen Kirche führen (Calvarienberg, f. d. 4.).
Das Hriftlihe Volk liebt das andächtige Beſuchen des Kreuzweges (die Kreuz-
wegandacht, Pium exercitium viae crucis) überaus, wenn auch nicht gerade alle,
die ihn befuchen, forperlich von einer Station zur andern gehen. Der natürliche
Drang eines Jeden, der Chriftum als feinen Erlöfer und Herrn aufrichtig an-
betet, ſich recht oft den leidenden Jefum und überhaupt alle Ereigniffe feines
irbifhen Lebens vorzuftellen, erklärt diefen Eifer. Aus diefer Urfahe wollen
fogar unzählige Laien ze, nur folhe Gebetbücher für ihre Privatandacht, in denen
die Stationen des Kreuzweges abgebildet, und zugleich Gebetsformulare als An-
leitung vorgemerft find, die Kreuzwegandacht mit Nusen vorzunehmen. An vielen
Drten bildet überdieß diefe Andacht, zumal in-der Faftenzeit, felbft eine gemein-
fame Nachmittags- oder Abendandacht, bei der der Seelforger beſtimmte Gebets-—
formulare bei jeder Station vorbetet, während der Stationen geeignete Lieder
fingen läßt, und vor und nach diefer Andacht den Segen mit dem VBenerabile gibt,
Auch eigene Büchlein, die einzig und allein Gebetsformulare für diefe Andacht
enthalten, gibt es: auch der Berfaffer dieſes Artifels hat ein folches in Paſſau
in Drud gegeben. — Die Urheber der Kreuzwegandacht find die Franciscaner,
Da nämlich in neuerer Zeit die durch die Geſchichte Jeſu merfwürdigen Drte im
hl. Lande nicht mehr fo Häufig als in frühern Jahrhunderten befucht werden, fo
glaubten die Söhne des HI. Franciscus einiges Surrogat dafür gefunden zu haben,
‚wenn die Gläubigen diefe Drte fih im Zufammenhange mit dem leidenden Jeſu
im Bilde oder in der Statue vergegenwärtigen fünnen. Auch hatten fie hiebei (wenn
nicht vom Anfange her, doch gar bald) den Wunfch, den apoftolifchen Stuhl zu
vermögen, den Beſuchern diefer Bilder oder Statuen diefelben Abläffe zu bewilli-
gen, welche den Befuchern der Orte im HI. Lande , die auf den Kreuzwegsftatio-
nen abgebildet find, in neuerer Zeit bewilligt worden find. Es mußte diefer
Wunfh bei dem allgemeinen Streben vieler Orden und Corporationen in diefer
Zeit, fo viel als möglich befondere Abläffe von Rom zu erhalten, um ſo mäd-
tiger hiebei fich geltend machen, als den andächtigen Beſuchern vieler dur
das Leiden und Sterben Jeſu jedem Chriften ehrwürdig gewordenen Pläge im
BE. Lande fogar vollfommene Abläffe angeboten find, und ſich mit Recht hoffen
Tief, e8 werde das 'gläubige Volk nur eine Aufmunterung erhalten, die Francis-
eanerfirchen fleißig zw befuchen, wenn auch die neue darauf Bezug habende An-
dacht mit Abläffen begnadiget würde, Es genüge, hier einige diefer Abläffe, die
) auf die gewöhnlichen Abbilvungen bei dem dermaligen — Bezug haben,
1
276 Kreuzwoche — Kreuzzeichen.
anzuführen, wie fie Lucius Ferraris in feiner Bibliotheca aufzählt. Sp heißt es
in diefer (ad verbum „Indulg.“ art. 5 n. 8): „In ecclesia s. sepuleri, ubi D. N.
J. Chr. triduo jacuit, est indulgentia. In loco, ubi inventa fuit crux dominica una
cum clavis, quibus in illa fuit confixus, est indulgentia plenaria. In domo:Pilati,
ubi Dominus noster fuit flagellatus et spinis coronatus ac morti adjudicalus, est
indulgentia plenaria. In monte Calvario, ubi Christus crucifixus est, indulgentia
plenaria, Ubi fuit super vestem Christi missa sors, sunt septem anni et totidem
quadragenae. Item in loco, ubi angariaverunt Simonem Cirenaeum, ut portaret crucem
Christi, sunt septem anni et septem quadragenae. In loco, ubi Dominus conversus
et ad mulieres lamentantes super eum dixit „Nolite flere super me“ sunt septem
anni et septem quadragenae. In loco, qui dicitur spasmus B. Virginis, ubi videns
Christum bajulantem cecidit velut mortua, sunt etiam septem anni et totidem qua-
dragenae.“ Der Wunfch der Franciscaner ging in Erfüllung, Papft Innocen-
tins XI. erließ am 5. September 1686 ein Breve, durch das den Franciscanern
und den mit ihrem Orden Affiliirten die Gewinnbarfeit der den Befuchern gewiffer
Drte des HI. Landes bewilligten Abläffe an ihren Drten, bei jedem ihrer Altäre
und in jeder ihrer Kirchen zugeftanden wurde, Innocentius XI. erläuterte im
December 1694 (Sua nobis), daß im Breve feines Vorgängers Innocentius XI.
auch der andächtige Beſuch der Kreuzwegsftationen zu verfichen fei. Benedict XIIL
erflärte im März 1726, e3 fünnen die von Innocentius XI. und Junocentius XU.
zu Gunſten der Franeiscaner und ihrer Affilüirten bewilligten Abläffe von allen
Gläubigen an den Orten, vor den Altären, in den Kirchen und insbefondere bei
den Kreuzwegen der Franeiscaner und ihrer Afftliirten gewonnen werben (Inter
plurima). Noch weiter ging Clemens XI. am 16. Januar 1731 (Exponi nobis),
verfügend, es können diefe Abläffe bei jedem Kreuzwege gewonnen werben, der
wo immer mit Gutheißung oder Zuftimmung des eompetenten Didcefanbifchofes,
Ortspfarrers, fowie überhaupt des Vorftehers der Kirche, des Klofters, Spitales
und Drtes durd einen Franciscaner errichtet wird, Auch erflären die ge=
nannten päpftlichen Befchlüffe, es fünnen diefe Abläffe fürbittweife ven Verſtor—
benen zugewendet werben, So ift es noch jest. Es bietet alfo die Kirche Jedem,
der einen folchen Kreuzweg andächtig befucht, diefelben Abläffe dar, welche der—
jenige gewinnen kann, der die Plätze im hl. Lande andächtig beſucht, an denen
dasjenige vorgegangen ift, was im Bilde oder in der Natur dargeſtellt if, Da
nun mehrere der Pläge im HL, Lande, die auf den Kreuzwegsfiationen dargeftellt
find, mit vollkommenem Ablaffe begnadiget find, fo ift Far, daß jedem andäch—
tigen Befucher eines folhen Kreuzweges nicht bIoß Hfters Ablaß von 7 Jahren
und 7 Quadragenen, fondern auch bei mehr als einer Station vollfommener Ab—
laß felbft, fo oft er diefen Beſuch macht, angeboten und daher diefe Andachts-
weife dringendft empfohlen iſt. ‚Soll ein Kreuzweg, den fein Franciscaner einführt,
diefelben Privilegien haben, fo ift hiezu päpftliche Bewilligung nothwendig. Reu—
müthige Beicht und andächtige Communion find nicht vorgefchrieben, noch auch
ein beftimmtes Gebet, Wer die Stationen beſuchend fich Tebendig den leidenden
und fierbenden Jeſus vergegenwärtigt, herzlich feine Sünden bereut, entſchiedene
Befferung gelobt, furz den Sündenmenfchen bei diefem Befuche zum Kreuze trägt
und an's Kreuz fohlägt, erhält Nachlaß und diefer allein, Gebetsformulare find
auch bier nur ein Stab, dem man auch Hier nur dem im Gehen Ungeübten in
die Hand gibt, und der daher der Mehrzahl der Chriften in die Hand gegeben
werben muß. Hat ein folcher Fein Gebetbuch, das ihm ein Formular bietet, fo
mag er bei jeder Station die drei Haupttugenden erwerfen, und ein pder mehrere
Baterunfer und Avemaria beten, [Fr. X. Schmid,]
Kreuzwoche, f. Bittgänge.
Kreuzzeichen, das, als Selbſtſegnung und als kirchliche Bezeichnungs- und
Segnungsform Corux usualis), Weber das hohe Alterthum des Kreuzzeichens
Kreuzzeichen. 277
in der angegebenen zweifahen Bedeutung f. d. A. Erueifir. Man fannte ſchon
im zweiten Jahrh. den Urfprung diefes Gebrauches nicht mehr. Die Selbftfeg-
nung in dem Kreuzzeihen, verbunden mit dem Gedanken an den Kreuztod des
Erloͤſers, färfte den Bekenner und Martyrer, fie verbrängte die häufig und
felbft bei alltäglichen Berrichtungen vorkommenden kraß abergläubifchen Gebräuche
der Heiden; die in den Martyreracten oft conftatirte wunderbare Kraft des
eichens erwerte den Glauben und das Bertrauen. Darum finden wir in
der älteften Kirche die Selbftfegnung in dem Kreuzzeichen viel häufiger als jest;
bei den Griechen ift fie jedoch. noch heutzutage fehr haufig im Gebraude, ja felbft
der Zahl nach vorgefchrieben, während fie von den Proteſtanten faft ganz aufge-
geben wurde, Sie eröffnet bei uns das Gebet, den Gottesdienft, den Eintritt
in die Kirche, das Vorüberziehen vor dem Alferheiligften u. f. w., in oder ohne
Berbindung mit der Kniebeugung und mit dem reuigen Klopfen an die Bruft.
Bei den Liturgifchen Segnungen und Weihungen befteht der Gebrauch des Kreuz-
zeichens feit den älteften Zeiten unverändert fort, Die nahe Beziehung diefes
Zeichens zu den Eultacten wird von Auguſtinus (Tract. 118. in Joann.) fehr
fignificant ausgefprochen: Postremo quid est, quod omnes noverunt, signum Christi
nisi erux Christi? Quod signum nisi adhibealur sive frontibus credentium,
sive ipsi aquae, qua regenerantur, sive oleo, quo chrismate unguntur, sive sacri-
ficio, quo aluntur, nihil eorum rite perficitur. — Das Kreuzzeichen wird ſtets
mit der rechten Hand gebildet, weil diefe im gefammten Leben mehr gebraucht
wird, In den erſten riftlichen Jahrhunderten pflegte man bloß die Stirne mit
dem Kreuzzeichen zu fegnen, um dadurch Chriſtum gleichfam öffentlich zu befennen,
und dur) das Zeichen feiner Erniedrigung Demuth zu lernen (S. Aug. in ps. 30.
-serm. 3; serm. 32. al. 30. de div.). Es wurde dabei mit dem Daumen ein
gleichſchenkliges fogenanntes griehifhes Kreuz gezogen, während die übrigen
_ Finger gebogen und miteinander verbunden gehalten wurden. Bei liturgiſchen
Handlungen ift diefes Kreuzzeichen noch jest im Gebraude, fo oft der zu fegnende
Gegenftand unmittelbar berüßrt wird (signatur). Seit dem fechsten Jahrh. fommt
die Selbftfegnung der Stirne, des Mundes und, der Bruft in der eben angege-
benen Weife vor. Diefe Art von Seldftfegnung mit dem Kreuzzeichen hat eine
wahrhaft anthropologiſche und theologifche Bedeutung, in wiefern wir dadurd
‚gleihfam unfere Gedanfen, Worte und Werfe dem dreieinigen Gotte weihen und
den Si des Nachdenkens über Gottes Schöpfergedanfen in dem Namen des
Urgrundes für alles Sein, die Schwelle des gleihfam körperlichen und gefchaffe-
nen Wortes in dem Namen des immanenten göttlichen Logos, den Sig der Liebe
‚aber in dem Namen der wefenhaften Liebe fegnen, welche Vater und Sohn wechfel-
I feitig verbindet. Man nennt diefe Selbfifegnungsform gewöhnlich das Fleine
‚oder das teutſche Kreuz. Seit dem achten Jahrh. ift bei der Selbftfegnung au
das fogenannte große vder lateinifche Kreuzzeichen im Gebrauch. Bei diefem
wird mit der flachen Hand zuerft die Stirne, dann in gerader Linie abwärts die
Bruſt, fofort in horizontaler Linie die linfe und die rechte Schulter berührt, fo
daß dadurch die plaftifche Kreuzesform gleihfam anfchaulicher dargeftellt und fo
das Kreuz gleihfam „geſchlagen“ wird. Dem lateinischen Selbftfegnungs-Rreuz-
zeichen analog ift das große Kreuz bei liturgiſchen Handlungen, weldes über dem
‚zu fegnenden Gegenftand mit der ganzen Hand gezogen wird (producitur), ohne
ihn zu berühren. Die Hand wird dabei entweder horizontal oder fenfrecht erhoben
gehalten, fo daß der Feine Finger dem zu fegnenden Gegenftande am nächſten
5 Hiegt und die innere Fläche der Hand zur Seitenfläe wird. In der ältern Krift-
lichen Zeit wurde jedoch das. große liturgiſche Kreuzzeichen nur mit dem Daumen
und den nähftfolgenden zwei Fingern gebildet, fo daß diefe beiden ausgeſtreckt,
‚die folgenden zwei aber gebogen wurden, während der Daumenfinger an den Zeige-
finger ſich auſchloß (distrietis duobus digitis et pollice intus recluso, per quos Tri-
278 Kreuzzüge.
nitas annuifur. Leo IV. Tom. I. Supplem. Concil. Mansi fol. 911). — Die Lateiner
unterfcheiden fich vom den Griechen und Ruſſen bei dem Kreuzmachen darin, daß
jene den Duerbalfen von der Iinfen zur rechten, dieſe aber von der rechten zur
Iinfen Seite ziehen. Bis in die Zeiten Innocenz IM. feheinen jedoch beide Arten
in der Yateinifchen Kirche gebräuchlich gewefen zu fein (1. II. de sacrif. Miss, c. 25).
Es iſt aus der Kirchengefchichte befannt, welche Fleinliche Vorwürfe hieraus den
Lateinern von Seite der Griechen erwuchfen (ſ. griech, Kirche), Die Selbftfeg-
nung in dem Kreuzzeichen gefehieht feit uralter Zeit und gewöhnlich mit den
Worten: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des HI. Geiſtes Amen, Bin-
terim zählt übrigens noch acht andere, ebenfalls fehr alte, meiftens nicht mehr
gebräuchlihe Formeln auf, welche bei der Selbftfegnung mit dem Kreuze ge=
fprochen wurden, 3. B. im Namen der HI. Dreieinigfeit, im Namen unferes Herrn
Jeſu Chrifti, adjuforium nostrum in nomine Domini (Pf. 123, 8) oder Deus in
adjutorium meum intende (Pf, 69, 2). — Die verfchiedenen Arten des Kreuz-
zeichens, die Zahl der dabei verwendeten Finger u. ſ. w. haben von jeher zu
verfchiedenen Deutungen Anlaß gegeben, Man hat namentlich auch Epheſ. 3, 18
auf das Kreuz und auf das Kreuzzeichen angewendet und nad) dem HI, Auguſtinus
(serm. de tempor. 181) ift die Breite des Kreuzes ein Sinnbild, wie weit ſich
die Nächftenliebe ausbreiten müffe, nämlich bi8 zur Liebe der Feinde; die
Länge des Kreuzes ift ein Sinnbild der Geduld im Leiden, welche fo lange an-
dauern muß, bis die Pilgerfahrt vollendet, das gute Werk vollbracht und das
Sehnen des Geiftes nach dem Baterlande erfüllt fein wird; die Höhe des Kreuzes
ift ein Sinnbild, wie erhaben über die vergänglichen Dinge der Flug unferer
Zuverficht fein müffe, damit wir in das Heiligthum des ewigen Friedens ein-
dringen; endlich die Tiefe des Kreuzes ift ein Sinnbild von der Tiefe des ewi-
gen Rathfchluffes, die Welt, die ihren Gott in der Weisheit ver Schöpfung verloren
hatte, durch" die Thorheit des Kreuzes felig zu machen (Sailer, Beitr. z. Bild, d,
Geiſil. I. 249. Münden 1810). — Dem Kreuzzeichen wurde von jeher eine be-
ſondere Kraft zugefehrieben (Binteriml.c.515—518 und in beffen: Epistolarum
'eath. de probat. theol. I. de vi rectoque usu probationis per Acta MM. Dusseldorp.
1820. p. 84. seq.); diefe Kraft Liegt jedoch keineswegs in dem plaftifchen Zeichen
felbft, fondern in der Segnung mit dem Kreuzzeichen durch die Organe der Kirche, in
dem Iebendigen Glauben an die heilbringende Wirffamfeit des Kreuztodes Chriſti
und in der innigen Beziehung, in welche man fich Durch den Glauben zu dem Werfe
Chriſti feßt, fowie in Dem Vertrauen der Gläubigen (Lüft, Liturgif II. 578). Das
fegnende Kreuzzeichen wird bei einzelnen Eultacten auch mit Naturfymbolen ver-
bunden, 3. B. Salz, Del, Wafler u, ſ. w., und es ift fehr bezeichnend, daß alfe
Segnungen, Salbungen, Begießungen, Anhauchungen u. ſ. w. in Kreuzesform zu ge-
Tchehen haben. Zur Literatur: Gretfer, Binterim, Schmid, Lüft u. A, [Yäusle,]
Kreuzzüge. Belanntlich verfteht man darunter die Züge der abendländifchen
Bölfer unter dem Zeichen des Kreuzes nach dem Morgenlande zur Eroberung
Serufalems und Befreiung des heiligen Grabes vom Schluffe des Liten bis gegen
das Ende des 13ten Jahrhunderts, Die Aufzählung und Darftellung der ein-
zelnen Züge, ihrer Schickſale und Erfolge bleibt der Profan- und allgemeinen
Gefhichte überlaffen. Hier Handelt es ſich um die Idee der Kreuzzüge nad) ihrer
Entſtehung, geiftigen Leitung und ihren Ergebniffen., Zweierlei Anfichten machen
fich dießfalls Hauptfächlich geltend: die rationaliftifche und die Firchlicherefigiöfe,
Sene hat ihre Vertreter von Abälard (ſ. d. A.) herab bis auf unfere Zeit ge—
funden und Hat e8 nicht weiter gebracht, als zu einer geiftlofen, dürren, gräm—
lichen Anſchauung fragliher Bewegung. Weil fie nicht fähig iſt, fie in ihrer
Höhe und Tiefe zu erfaffen, fo zieht fie diefelbe in’s Gewöhnliche herab und hat
an Urfprung und Folgen derfelben nur Ausftellungen zu machen. Sie weiß immer
etwas Klügeres und verräth damit Die oberflächlichſte Kurzſichtigkeit; fie weiß
Kreuszüge. 279
ſiets etwas Befferes und verräth damit ihren trivial-fittlihen, wenn nicht gar
unſittlich⸗ irreligisſen Standpunet. Diefer rationaliftifhen Anfhauung gegenüber
ſteht die Firhlich-religiöfe. Sie allein wirft das rechte Licht auf alle Schatten
des großen Völferdramas und gibt dem Beſchauer die Stellung, welde überbliden
laßt und nicht blendet. Wenn irgendwo, fo gilt hier das Wort eines Hiftoriferg
unferer Zeit (9. Leo): „Die Geſchichte der Hriftliden Kirche ift feit
Confantindem Großen durchaus der Kern, die Seele und daseigent-
lich Lebendige in der Univerfalgefhichte.” Man hat die Kreuzzüge die
Bölferwanderung des Abendlandes genannt, was in-fofern auch richtig ift, als
der befannten Völkerwanderung vom vierten Jahrhunderte an und den Kreuzzügen
ein verwandter Zug zu Grunde liegt. Jene vernichteten die entarteten Chriften
des Abendlandes und faßten das Chriftentfum in neue ' — —
vernichteten oder läuterten ebenfalls die Maſſen des Abendlaudes Man muß
aber folhe Erfoheinungen nach zwei Hauptfactoren auffaffen, Der eine Tiegt in
der Vergangenheit, der andere in der Zeit ihrer Entftehung. — Wie die Liebe
Altes fhägt, was mit dem geliebten Gegenftand in irgend einer Beziehung fteht,
fo konnte auch die Sehnfuht nah Paläftina und feinen Heiligthümern nie in den
Herzen der Chriften untergehen. Es fanden alfo zu allen Zeiten Wallfahrten
dahin Statt. Diefe wurden natürlich feit Conftantin dem Großen erleichtert und
dur die Hl, Helena noch anziehender gemacht. Unter dem Kaliphate wurden fie
nicht erfehwert, denn es ehrte die heilige Stadt, den Tempel und Chriſtum als
Propheten. Auch die Blüthe diefes Kaliphats in Kunſt und Wiffenfchaft bot dem
chriſtlichen Abendlande einen Anfnüpfungspunet; man denfe nur an Harum al
Raſchid. Auch blieben die Fürften des Abendlandes im fechsten, fiebenten und
achten Jahrhundert in Verbindung mit Jerufalem, befuchten es und machten Stif-
tungen dahin, Als aber die Dynaftie der Fatimiden von Aegypten aus Paläftina
und Syrien ſich unterworfen hatte, veränderte fih die Lage der morgenländifchen
Ehriften, denn die Fatimiden nahmen eine andere Stellung zu ihnen als das Ka—
liphat. Unter den ganz rohen Seldfhuffen aber wurde die Lage ber Ehriften
Palaſtina's und aller Wallfahrer nah dem gelobten Lande eine unerträgliche,
Nicht bloß einzelne Gläubige wurden fhmählih und graufam mißhandelt, auch
größere Züge, wie z. B. der unter Bifhof Otto von Bamberg mit ziemlich flar-
ter Heeresmacht, endeten überaus traurig und legten den Gedanken an einen
förmlichen Kriegszug nahe, welchen ſchon Papſt Sylveſter II. gehegt haben fol,
und der auch in Gregor VII. fehr Iebendig war. Indeſſen war diefem Papfte ein
anderer Kampf befchieden, deifen fiegreiher Ausgang den Kreuzzügen zu flatten
Sam. Hiezu gefellten fi die immer Lauter und häufiger werdenden Klagen ber
Wallfahrer und der Jammer der Chriften in Paläftina, und auf dem Concile von
Piacenza erfchienen zum erften Male griechifche Gefandte mit der Bitte um Hilfe
gegen die Türfen. Sp waren alfo die Kreuzzüge vorbereitet und angebahnt in den
früeren Berhältniffen und Kämpfen der Chriften mit den Mohammedanern,
Chriftentfum und Mohammedanismus find fo diametral in ihrem innerften Grund
und Wefen verfihieden, daß die Kreuzzüge ein Principien- und Neligionsfampf
find, beftimmt, aufleben und Tod früher oder fpäter geführt zu werden, wie einft
Iſraels Kampf mit den Bölfern Canaans. Beide Kämpfe kamen nicht zum vollen
gottgewollten Refultate: Bequemlichkeit, Feigheit, falſche Politif und gefunfener
- Religionseifer traten hier wie dort hemmend in den Weg der Entfchiedenpeit,
- daher au) verwandte geiftige und Teiblihe Nachwehen in der Chriftenheit wie
einſt in Iſrael. Wenn irgend einer Zeit, fo follte das jest der unfrigen zum
- Bewußtfein fommen, Denn was fünnten wir fein in Verbindung mit Aſien und
ohne die Türken im Garten Europa’s! — Die Grundidee der Kreuzjüge war
alſo: Sieg des Chriftentfums über den Halbmond, der ſchmachvoll das Heiligfte
grundfäglich entweihte und graufam die Chriften bedrürte, In jener Zeit der
280 Kreuzzüge.
Kreuzzüge kannte man auch zum Glücke im Allgemeinen noch keine atomiſtiſche
Lebensanſicht, ſondern Alles ging vom Glauben aus, ſetzte ſich mit ihm in Ver—
bindung oder führte auf ihn zurück. Deßhalb ſahen geſunden Blickes die Chriſten
jene Entweihung der heiligſten Orte als ſchwere Sündenſtrafen an, und die Buße
dafür fand man in dem ſo großartigen Unternehmen, in dem Anſchluß an die
Kreuzzüge. So alſo waren ſie vorbereitet durch frühere Jahrhunderte und ver—
mittelt zunächſt durch eine ächt chriſtliche Idee. Der Hauptfactor der Gegenwart
aber, der ſich dem der Vergangenheit anſchloß, lag in den Mißſtänden der Zeit,
die Jedermann mehr oder weniger empfand, ohne irgend eine ruhige Abhilfe in
Ausſicht zu haben. Dieſe Mißſtände gingen hervor aus den Zeiten der unglück—
lichen Carolinger, dem unſeligen päpſtlichen Schisma, franzöſiſcher perfider Po—
litik, dem heißen Inveſtiturſtreite, dem Gefahr drohenden Adels- und Lehens—
weſen, einem ſittlichen und religiöſen Verfalle, einer ſichtbaren Gährung aller
Verhältniſſe, einem Mißverhältniſſe unter den einzelnen Ständen und einem ſich
anſetzenden Proletariat. Nächſtdem darf man nicht überſehen, daß die Kreuzzüge
den Zeiten angehören, da Univerſitäten erſtunden, Scholaſtik, Myſtik und Kunſt
in neue Blüthen trieben, deren größte Träger eben damals auftraten. Wer aber
faßte das Alles in einem Brennpunct zuſammen zur Hebung der Frömmigkeit,
Wiſſenſchaft und Kunſt, wie zur Abhilfe der vorhandenen drückenden Mißſtände?
Die Kirche und nur die Kirche. Wir fanden bereits als Grundidee der Kreuzzüge
eine ächt chriſtliche, nämlich das gemeinfchaftlihe Sündenbewußtfein. Die Trä—
gerin dieſer Idee ift und bleibt die Kirche. Aber damals machte fie diefe Idee
eoneret, brachte fie unter einen Gefichtspunet, machte fie flüffig fozufagen und
mundgerecht für die ganze abendländifche Chriftenheitz denn fie legte diefelbe in
einen Act der Demuth und Buße, und fo ergriff fie alle Stände und durchdrang
alle Berhältniffe. Der Impuls lag alfo fiher in der Kirche; aber der Antheil
am fehwereren Werfe: am Erhalten und Fortführen der Kreuzzüge fo lange als
möglich, gebührt wieder nur ihr. Sie fhuf das riftliche Ritterthum, das welt-
liche wie das geiftliche, und verband auf die großartigfte Weife den allgemeinen
Heerbann mit ihm, ein fo charakteriftifches Merfmal der Kreuzzüge, daß trotz
allem Antheile der Fürften, Könige und Kaifer daran im Grunde doch das Nitter-
thum ſtets den Ausfchlag gab und die daraus hervorgehenden Reiche eigentliche
Nitterreiche waren, Vergleichen wir die einzelnen Kreuzzüge unter fi nach ihrer
Yeitenden dee, Anlage und Ausführung, fo finden wir, daß die Reinheit der
frommen Begeifterung hauptſächlich im erften waltet, daß bereits im zweiten dieſe
Begeifterung fehr getrübt war, indem Pracht, Stolz und Selbftvertrauen dabei
bervortraten, daß die Unglücsfälle immer lähmender, die Opfer immer fchwerer,
die Erfolge immer zweifelhafter wurden, und daß nur die höhere Macht der Kirche
folhe Schwierigfeiten befiegen und die geiftlofer und fchwerfälliger werdende
Maffe immer wieder in Bewegung fegen und fo lange darin erhalten Fonnte,
Der erfte Kreuzzug ferner ging befonders von Franfreich aus und ergriff von da
aus England. Der zweite gehörte mehr den germanifchen Völfern an. Daß
dieſe fpäter kamen, daran war das Schisma ſchuld, indem Teutfehland am Gegen-
papſte fefthielt damals, und fich daher nicht fogleih am großen Kampfe betheiligte,
ein Beweis, wie das Fefthalten an Kirche und Papftthum fchon am Anfange der
Kreuzzüge eine Hauptbedingung für deren Begreifen und Eingreifen war, Und
wenn die Rreuzzüge mit dem reinften hriftlichen Nitter, der Jerufalem eroberte,
fich dabei die Hände nicht verunreinigte und die Ehrenfrone fih da zu tragen
weigerte, wo fein Herr die Schmachkrone getragen, wenn fie mit einem Gottfried
von Bouillon (ſ. d. A.) fich eröffneten und mit einem Ludwig dem Heiligen ſchloſ—
fen, fo iſt doch klar, welcher Antheil daran der Kirche gebührt, War endlich Alles
längſt vorbereitet und gleichfam von der Kirche zur großen Entwicklung disponirt,
fo erhielten die Wallfahrten die Kunde vom heiligen Lande in ſteter Erinnerung
Kreuzzüge. Br
und trugen ben Schmerz der Brüder dafelbft in das Herz der abendländifchen,
und das Wort Peters von Amiens (ſ. d. A), des Einfiedlers, feine kirchliche
— Erziehung und überirdifche Begeifterung warf den brennenden Funken unter den
im Bolfe angehäuften Stoff, während des Papftes Hohes Wort zu Clermont (f.
Elermont) Priefter, Adel und Fürften zum feurigften Entſchluſſe fortrig. Wel-
chen Sinn fhon Gregor VII für die Kreuzzüge hatte, was ein Bernard von Clair-
vaur (f. d. A.), die Päpfte Urban I. und Innocenz IL, Meifter Fulco und fo
herab bis zum blinden Greife, dem Benetianer Seehelvden Dandolo für fie thaten
und Fämpften, ift befannt. Der Geift diefer Kirchenfäulen fammelte jene Schaa-
ren, goß Heldenmuth über fie, gab dem Ritterthum eine feiner innerften Anlage
gemäße Richtung und ſchuf aus einem dem ficheren Untergange bereits nahen
Volke ein Heer, das in diefer Erhebung Achtung verdient. Ueberbliden wir die
Schaaren und ihre verfhiedene Heimath, fo viele Völker fih fo nahe gebracht,
fo ungeheure Kräfte bei der Wildheit, Rohheit und theilweifen Berfommenheit
jener Zeiten, fo wächst unfere Bewunderung für die Kirche, welde hier bändigend
und ordnend einzugreifen vermochte. Wie fie verfchiedene Bölfer umſchlang,
Feinde in Freunde verwandelte, fo fämpfte fie auch den ſchweren Kampf mit der
Härte, dem Ehrgeize und den fonftigen Verirrungen der Großen; Verföhnung
und Ereommunication, Lohn und Strafe, Freiheit und Bann wandte fie an, und
mit dem Erfolge, Alles zu einem Ziele hingedrängt zu haben; Jedermann ftellte
fih unter ihren Schug und Gehorfam, Groß und Klein, und ein Bild vom großen
Gottesfrieden wandelte dur die eben noch im Haffe zerriffene Menſchheit. —
Wer endlich fchaffte die unermeßlichen materiellen Opfer zu diefem Werfe? Wer
anders, als die Kirche, welche den Opfergeift taufendfach erweckte, indem fie
Zehnten, Gaben und Beiftenern aller Art zu beſchaffen und fo den allgemeinften
Antheil an dem verdienftlihen Werfe zu vermitteln wußte, und das nicht allein
mit ihrem liebevollen und feurigen Worte, fondern auch mit ihrer Höheren Gewalt
und thatkräftigem Beiſpiele. Denn was fteuerte fie nicht bei, mit welcher Mühe
betrieb fie den Einzug, mit welcher Sorgfalt die Verwendung der Gelder! Die
Befhuldigung des Eigennuges ift fo leer, daß fie von jedem befferen Hiftorifer
zurüdgewiefen wird. Statt vieler Zeugniffe verweife ich dießfalls nur auf Fried-
rich von Raumer, Gefhichte der Hohenftaufen III. 195. 196. Fragen, wie z. B.,
ob e8 für Europa's Entwicklung nicht beffer gewefen wäre, wenn die Rreuzzüge
nicht ftattgefunden Hätten, führen zu nichts, befchäftigen bloß die Phantafie und
bringen auch nur Phantafiegebilde hervor. Für dem Katholiken haben fie kaum
einen Sinn, und er hat feinen für fie; wenn er weiß, wie fie entflanden find,
und welden Antheil feine Kirche daran genommen hat, Eine andere Frage ift die
nah dem Nugen oder Schaden der Kreuzzüge. Beides müffen fie als irdiſche Er-
ſcheinung aus dem Plane der Vorſehung hervorgegangen gehabt haben, und es
fragt ſich hiebei nur, was überwiegend iſt. Das aber werden wir fehen, wenn
wir die hauptfählichften ung befannten Folgen der Kreuzzüge vor das Auge füh-
ren, Eine fo außerordentliche Erfcheinung kann nur einigermaßen richtig aufge-
faßt werden in Beziehung auf ihre Folgen, wenn wir fie mit der Weltlage, unter
der fie auftraten, zufammenhalten. Wir fehen in jener Zeit einen gefährlichen
Kampf ſich vorbereiten, eine Art von Sclavenfrieg, da es wieder nur Herren
und Knechte geben wollte. Diefem Kampfe beugten die Kreuzzüge vor, indem fie
die Gewalt des Ritterthums ablenften und dem Bolfe Freiheit verfhafften. Des-
gleichen halfen fie einer drofenden Maffenarmuth und einem ſich bildenden Pro—
- Ietariate ab, Wenn wir mit Wehmuth fo viele Abendländer, Männer und Wei-
ber, Kinder und Greife, in diefen Kämpfen dem Tode verfallen fehen, fo tröftet
ung der Gedanfe, daß fie wohl noch unglüdlicher an Leib und Seele dahin ſchmach-
tend, in der Heimath langfam aufgerieben worden wären. Wenn wir fo viele Aus-
brüche der Maffen bei diefen Zügen bedauern, fo müffen wir dennoch anerfennen,
282 Kreuzzüge.
daß ſie doch noch für eine würdige Sache der Begeiſterung fähig waren, und daß
das angezündete Feuer das dürre Holz verzehren mußte, bevor es faulend das
geſunde anſteckte oder das friſch nachwachſende aufhielt. Der Europamüde fand
einen erfriſchenden Zug und gleichgeſinnte Genoſſen, der Fromme eine heilige
That, der Muth ſein Abenteuer, der Büßende eine würdige Bußgeißel. Es er—
wachte ein Miſſionseifer, es trat an die Stelle des Haſſes die Chriſtusliebe, und
aus der Zerriſſenheit ward Vereinigung. Die Kreuzzüge ſchufen ferner eine inni—
gere Vereinigung des Ritterthums und der Kirche in der Entſtehung der drei geift-
lichen NRitterorden. Sie trugen zur Nealifirung der Fatholifchen Idee einer Vol—
ferfamilie das Ihrige bei, indem fie die Völfer fo vieler Länder mit einander in
Berührung brachten und mit einem Gedanfen durhdrangen. Sie waren eine
wahre Völkerſchule. Neue Staaten, wie in Sieilien, England, Portugal, Je-
rufalem, Cypern, Griechenland, Rhodus, Malta, Preußen und Liebland, er-
fanden. Der Austaufch der Kenntniffe, Lebensart und Ideen erweiterte den Ge-
fihtsfreis des Abendlandes, freie Städte und Bürgerfchaften breiteten fih aus,
teutfhe Stämme wurden chriftianifirt, die romanifchen Sprachen entfalteten fich,
und römifche Elemente wurden vom teutfchen Geifte aufgenommen und verarbeitet,
Das Abendland Iernte Vieles vom Morgenlande, der befchränfte Blick verlor ſich,
Helventhaten begeifterten, die Dichtkunſt erwachte, und die arabifche Poefie und
Kunft wirkte auf die Provengalen und Künftler Europa's, der Handel befam, be—
fonders in den Seeftädten Jtaliens, Schwung. Auch von dem griechifchen Reiche
lernten die Kreuzfahrer Vieles, wenngleich es hauptfächlich Lurusartifel waren,
In Aegypten fah man den Danme- und Schleußenbau, und unfere Gärten fanden
neue Nutz⸗ und Zierpflanzen. Ein Reife-, Miffiong- und Entdeckungseifer er-
wachte, der meiftens an der Hand der Kirche bis zur Entdeckung America’s (f. d. A.)
führte und feinen Firchlichen Charakter nie ganz verlor, Er trieb einen Pater
Ascolin mit feinen Franciscanern in’s ſüdliche Aften bis nach Perfien, einen
Pater Carpia (1246) durch das nördliche Aften bis Tibet. Pater Andreas und
Wilhelm von Nubriquis gingen als Abgeordnete Ludwigs des Heiligen in die
Mongolei, und felbft Marco Polo's Züge dur Syrien, Perfien, Indien bis
Peking hingen mit dem Vorgange der Kreuzzüge zufammen. Entftanden auch nur
Bisthümer in partibus infidelium, die Kirche deutete-doch damit an, was fie grün-
den wollte und was ihr gehöre, Es ıft wahr, mohammebanifche Künfte und Wif-
fenfhaften halten auch ihr eigenthümliches Gift in fih und ihrem Gefolge, die
Befanntfihaft mit den Morgenländern und ihrer Ueppigfeit wirkte verderblich,
neue Lebensgenüffe machten fich geltend, und namentlich war ed der Hohenftaufe
Friedrich IL., der dem prientalifchen Gefchmacke mehr einräumte, als einem chriſt
lichen Fürften ziemte. Das Alles fand bald einen Bundesgenpffen in der darauf
folgenden Erfchlaffung, verirrenden Philofophie und dem einbrechenden Indifferen—
tismus, Aber hiemit war eben wieder ein Kampf eröffnet, den die Kirche zu be—
ſtehen hat, bis fie ihn fiegreich beendet. Auch die fpätere Eroberung von Eon-
fantinopel durch die Türken folfen die Kreuzzüge verfchuldet haben, Das iſt nur
in fofern wahr, als die griechifche Perfidie in den Kreuzzügen ihre eigene Grube
grub und den legten Neft von Credit im Abendlande einbüßte, fo daß diefes, Nom
ausgenommen, den Untergang des griechifhen Neiches ziemlich theilnahmslos an-
fah, Wahr ift es vielmehr, daß die Kreuzzüge den Fall Conſtantinopels noch um
einige Jahrhunderte Hinausfchoben, und daß diefe Cataftrophe ihren eigentlichen
Grund im griechifhen Schisma hat, weiches Kraft, Begeifterung, Frömmigkeit
und Wiffenfchaft beugte und das ganze Volf dempralifirte, fo daß Conftantinopel®
Eroberung ein Strafgericht ift, das fo lange dauert, bis Einficht in das Orauen-
volle eines Schisma's und mit der Einfiht Buße und Demuth kommen; dann
erft ift der Herr gefühnt und gibt Rückkehr und Erhebung aus den Trümmern,
Es ift wahr: Afien warb nicht von dem Chriftentbume erobert durch die Kreuze
Kreuzzüge. —8
züge, der Islam nicht niedergerungen von ber Lehre des Kreuzes; ſei es, daß
es Gott an und für fih noch nicht wollte, oder daß der Menfchen Schwäche nicht
feft genug das Hohe Ziel im Auge behielt, und nicht fo weit Gott folgte und ver-
traute, oder fei es, daß diefe Länder nicht zum zweiten Dale die Leuchter der
Heilslehre bei fi aufgerichtet fehen ſollten. Die Kirche bat und flehte: die Kreuz-
züge hatten gegen das Ende des 18ten Jahrhunderts ihr Ende erreiht. Die
Blüthe der Scholaftif und des Ritterthums war dahin und machte ſchwachen Um—
trieben und Auswüchfen Pag. Es trat an die Stelle der Frömmigkeit und Be-
‚geifterung jene Richtung, welche in Seldftfuht die Kraft vom Höchſten ablöst
und im Niedrigen fich auflöst. Es erhielt fih nicht einmal das durch fo viele
Dpfer errungene morgenländifhe Reich; ein Beſitzthum fiel nah dem andern.
Kein Wunder. Die Duelle, aus der das Eroberte erhalten werben fonnte und
mußte, lag zu ferne. In diefen Reichen und um fie herum Tagen die verfchieden-
artigften Beftandtheile, die ſich nie einigen, Feine Stärfe geben, nur ſchwächen
fonnten. Chriften vom Morgen- und Abendlande, griehifhe Tücke, Juden, Tür-
fen und Heiden rannten durch einander, und diefe alle felber noch in politifche
Parteien und religiöfe Secten gefpalten. Die Reſte Hriftlicher Eroberung waren
ferner nicht mehr von jenem Nittertfum bewahrt, das fie errungen hatte, da—
gegen von Feinden umgeben, die mit ritterlicher Tapferkeit fämpften. Dazu noch
‚die ftete Eiferfuht der Lateiner und Griechen, Sp mußte Alles zu Grunde gehen.
Die rationaliftifhen Gefhichtsanfhauer nun und die Hugen Rüdwärtsconfirnirer
ziehen daraus den Schluß, daß die Kreuzzüge feine großartige Erſcheinung feien.
Dieß widerlegt fi aus dem Obigen und beruft auf der ganz philifterhaften
‚Meinung, daß nicht Zee, fondern Erfolg eine Sache fröne. Um ſolche triviale
Anfiht haltbar zu machen, fegen fie an die Stelle der Höheren Idee die bloße
Holitif und Schlauheit. Aber wann haben diefe ſolche Kräfte aufgeboten und ge-
Ienft, und zwar Jahrhunderte ang? Andere finden nur Aberglauben als Grund
der Kreuzzüge, der die dunfeln Köpfe jener Zeit in Kampf und Tod gejagt habe.
Das ift der Standpunct einer abgelebten Zeit, welche Begeifterung und Fröm-
migfeit Aberglauben ſchilt. Sie würde vielleicht Fanatismus darin finden, wenn
fie Kraft genug hätte, den Fanatismus zu faffen. Mit Fluger Miene, die ge-
ſcheidter vom Rathhauſe kommt, als fie Hinaufging, fagen Andere: ed war Un-
verftand, der die Schwierigkeiten des Unternehmens gar nicht fannte und ſich alfo
toll in die Sache flürzte, um am Ende viel zu verlieren und nichts zu gewinnen,
Hätten denn aber die Leute damals ſchon wiffen follen, was man nah fieben
Sahrhunderten erft nach und nach inne wurde? Um endlich die ganze Profa oder
vielmehr den eigenen Unrath auf den religiöfen Duft der Kreuzzüge auszugießen,
"bemühte man fi, nachzuweiſen, wie viel Gemeines und Unreines mit unter-
gelaufen fei, Aber das läugnet man nit Der Abenteurer wurde von dieſem
Zuge angezogen, der unruhige Ritter vom Gottesfrieden (ſ. d. AU.) zu verhaßter
Ruhe gebracht, ergriff die Kreuzzüge zur Stillung feines Thatendurftes, der Pro-
Ietarier zur Erleichterung feiner Lage und wohl auch zu Raub und Plünderung,
da und dort ein Fürft zur Befriedigung feiner Länderfucht, ein und der andere
Mönch zur Erlöfung von der ihm zu enge gewordenen Zelle, und daher denn
auch die Verirrungen des Kreuzheeres, Aber waren denn diefe unreinen Beftand-
theile nur an den Kreuzzügen? Waren fie nicht vor und nach ihnen da? Hätten
fie zu Haufe Befferes gewirkt, oder wären fie in gänzlicher Unthätigfeit leidlicher
oder leichter zu heilen gewefen? Sie wirkten, aber nur mit der Hauptfraft, und
dürfen mit diefer feineswegs verwechfelt werden. Keine irdifche Erfcheinung ohne
menſchliche Beimifhung. Je Heiner wir find, defto geringer tariren wie das
Große, Das großartigfte Epos mit einer Unzahl von Epifoden -aller Art hat
Europa in den Kreuzzügen aufzuweifen, und eine tbatenreiche Apologie der Kirche
biegt in ihnen, wenn je eine ſolche nöthig ift, [Haas.]
284 Krieg bei den Hebräern.
Krieg bei den Hebräern. Dem Volke Iſrael war mit feiner Erwählung
zum Bunbesvolfe zugleich auch das Terrain angewiefen, auf welchem das Bundes-
verhältniß focial und ſtaatlich zur wirklihen Ausgeftaltung fommen follte, das
Land Canaan (f. d. A.); innerhalb feiner Grenzen, in firengem Abſchluß gegen
alles Fremde hatte fich die Theocratie zu geftaltenz Krieg war im theocratifchen
Staat nur möglih, fofern der wirkliche Beſitz des göttlich angewiefenen Landes
erft zu erringen oder gegen Aufere Angriffe zu vertheidigen war, traten dieſe
Fälle ein, fo war der Krieg nicht bloß erlaubt, fondern befohlen, der äußere
Deftand der Theveratie erheifchte denfelben, Jehova der unfichtbare König des
Staates will und ordnet ihn, zieht aus an der Spige feines Volkes (Exod. 23,
27. ff, vgl. Pf. 44, 3. u. 4. 68, 12. ff.), der Krieg iſt fo ein „Krieg Jehovas“
(Hm) nanam 1 Sam. 25, 28), die Streiter, welche ihn führen, heiligen fich
vorher durch Waſchungen * Opfer (Joſ. 7, 13. 1 Sam, 7, 3 ff) und heißen
deßhalb „Geweihte (oruiap 2) Jehovas“ (Sef. 13, 3, vgl. Zeph, 1, 7. Jerem,
51,27); diefelbe Anfhauung liegt zu Grund, wenn das an den Befiegten zu
vollziehende und. vollzogene Gericht ald Bann (f. d. U.) bezeichnet wird (vgl.
Deut. 7, 2. 20, 17. of. 6, 8. 9. 11, 23). Aus dem Wefen und der Bedeu—
tung des theveratifhen Krieges folgt die Allgemeinheit ver Verpflichtung dazu,
diefe trifft jeden männlichen Sfraeliten vom 20. bis zum 50. Lebensjahre (Num,
1, 3. 26, 2. 2 Chron. 25, 5. vgl. Jos. antt. 3, 12, 4), für gewiffe Falle war
jedoch Befreiung möglich (Deut. 20, 5—8, vgl. 1 Mace, 3, 55)3 die Aushebung
leitendie Vorſteher (ornaiwrı Deut. 20, 5, 8, 9) und die Schreiber (077552 Chron.
20,18. 388,92 ,,203 Jeſ. 33, 18);3 nad den einzelnen Stämmen wird die nd-=
thige Mannfchaft aufgeboten (Rum. 31, 4. ff. Sof. 7, 3. Richt, 20, 10)5 bei
plöglichen Ueberfällen rufen überallhin ausgefenbete Boten (Richt. 6,35), Trom⸗
petenſchall, auf den Bergen aufgepflanzte Signale (2:) zu den Waffen (Richt, 3,
27.0, 34, 7,24, 2.800,53, lesen A, De dt, 1:0 7 IE Te
45. u. A.). Das ausgehobene "Heer fondert e ch theifs nad) Stämmen und Gegen-
den (2 Chron, 25, 5, 26, 12. 13), theils nach den Waffengattungen (2 Chron,
14, 8) in größere und fleinere Haufen (von 1000, 100 und 50 Mann, vgl.
Num. 31, 14, Nicht. 20, 10. 1 Sam. 8, 12, 2 Kön. 1, 9. u. a.); jede Abthei-
fung hatte ihren Anführer (Dies Tv uf. f. 2 Kön. 1, 9. 2 Chron, 25, 5
1 Macc, 3, 55), und das ganze Heer feinen Feldherrn ns Sb, Na DD
2 Sam. 2, 8. 24, 2.1 Kon. 1, 19); im Kriege war e$ häufig ber König. felbſt;
die Anführer der Taufend und der Hundert bildeten mit dem Feldherrn den Kriegs-
rath (1 Chron. 13, 1) 5 dem Könige und dem Feldherrn zur Seite ift der Waffen-
träger (D5>2 sid), gewählt aus den Tapferften, hatte er nicht bloß die Waffen
zu tragen, fondern begleitete ungefähr die Charge eines heutigen Adjutanten
gl. 2 Sam, 16,21. Polyb. 10, 1). — Neben der Volkswehr findet fich feit Ent-
flehung des Königthums auch die Einrichtung eines ftehenden Heeres; Saul bil-
dete ein folches von 3000 Mann (vgl. 1 Sam. 14, 52, 13, 2. 24, 3); David
und Salomo behielten neben fiehenden Truppen (vgl. 1 Chron, 27, 1 ff. 1 Kön,
4, 26) noch eine Leibwache (f. Cerethi und Phelethi); von fpätern Königen
wird daffelbe erwähnt (vgl. 2 Chron. 17, 14 ff. 2 Kön. 11, 4. 2 Chron, 25, 5.
26, 11)5 unter diefen Truppen waren auch Ausländer (2 Chron. 25, 6). In
der nachexiliſchen Zeit geftaltete fich die Militärverfaffung vielfah um; Simon
Maccabäus hielt ein ftehendes Heer auf eigene Koften (1 Marc. 14, 32), Joh.
Hyrian ließ fremde, befonders arabifche Söldner anwerben (Jos. antt. 13, 10. 4),
ebenfo Alexander (Jos. ibid. 13, 13. 5.), Herodes d. Gr. (felbft teutfhe Sol-
daten dienten unter ihm Jos. ant. 17, 8. 3. bell. j. 2, 1. 2); die Truppen biefer
jüdifchen FZürften mußten nach Umftänden den römischen Legionen ſich anfchließen
Krieg bei den Hebräerm, 285
(Jos. bell. j. 2, 18. 9. 3, 4. 2. antt. 17, 10. 3); die Soldaten wurden wie bei den
Römern auch zur Bewadhung der Gefangenen verwendet (Apg. 12, 4. ff.). Seitdem
Judäa (mit Samaria) der Provinz Syrien zugetheilt und fo unter unmittelbare
römische Dberhoheit geftelit war, befand fi zu Eäfarea ein Procurator mit der nö—
thigen Truppenmacht (Ang. 10, 1), von welder ein Theil zur Zeit der Fefte, um
Unruben zu verhüten, nach Serufalem verlegt wurde (Apg. 21, 31. Jos. b. j. 2,
12. 1). — Das ifraelitifhe Heer befand anfänglih nur aus Fußvolk (>34
Erod.12, 37. Num, 11, 21. 1 Sam.4, 10. 15, 4), die Canaaniter und Philifter
batten eiferne (nicht Sichelwagen, wie man gewöhnlich erklärt, fondern mit Eifen
beſchlagene Wagen, f. Bertheau zu Richt. 1, 19) Streitwagen (of. 17, 16.
Richt. 1, 19. A, 3. 13. 1 Sam. 13, 5) und Reiterei (2 Sam. 1, 6), deßgleichen
die Syrer und Aegyptier (of. 11, 9. Richt. 4, 3. 2 Sam. 10, 18). So aus-
gerüfteten Feinden gegenüber mochten fi die Iſraeliten wohl Häufig im Nachtheil
fühlen (ogl. Sof. 17, 16), allein fie waren nicht berufen über Canaan hinaus-
gehende Eroberungen zu machen, wozu eine flarfe Militärmacht Leicht verleitet
hätte, und dann follten fie nie vergeffen, daß fie an die Hilfe ihres unfichtbaren
Kriegsherrn gewiefen waren, gegen welden die ftärfften Weltmächte nichts ver-
mögen (die Antwort Joſua's Joſ. a. a. D. V. 17 und Pf. 68, 15—25). Salomo
und fpätere Könige haben auch hierin Aenderungen ſich erlaubt, fie hielten Reiterei
(1 Kön. 4, 26. 9, 19. 10, 26. 16, 9. 2 Kön. 13, 7). — Die Waffen (a>>
ara 53) find folgende, Shugmwaffen: 1) Schilder, der größere, fehwere,
mx Zinna (1 Kön. 10, 16. 17. 2 Chron; 14, 7. 26, 14), ungefähr daffelbe
was ugeos (bei Homer 0u205), scutum; der Fleinere, leichte 532 Magen, Comıs,
elypeus; der (nur Pf, 91, 4 genannte) runde Schild, TYTO (as Umgebende),
parma ; die Schilde, gewöhnlich aus leichtem Holz gemacht, mit ftarfem Leder über-
zogen, welches mit Del gefalbt wurde (2 Sam. 1, 21. Jeſ. 21, 5), um fie glatt
zu erhalten und vor Näffe zu fügen; Prunffhilde, mit feinem Gold überzogen,
ließ Salomo fertigen (1 Kön. 10, 16), Sifaf von Aegypten nahm mit den übrigen
Schägen au diefe und Rehabeam ließ an ihre Stelle eherne für feine Leibwache
machen (1 Kön. 14, 25— 28). 2) Der Helm, »2227, >25>, galea, aus Erz
(1 Sam. 17, 5.38) ; 3) der Panzer, j1779, >75, häufig auch das Erz (1 Sam,
17, 5), wie der Schild oft Bild des Schuges (ef. 59, 17. Eph. 6, 14 1 Theff.
5, 8. Apocal. 9, 17), Kettenpanzer beim fyrifch-feleucidifhen Heere (1 Macc. 6,
35). 4) Schienen an den Armen und Beinen, rn (1 Sam, 17, 6. Jeſ. 9, 4,
TO caliga). Trug» und Angriffswaffen: 1) das Schwert, an die TO
dafür u@ysıoa, wurde an einem befondern Gürtel getragen (2 Sam, 20, 8),
war furz, bisweilen zweifchneidig (nra> Richt. 3, 16)5 2) die Lanze, der
Speer, 72, gehört wie der große Schild zu den ſchweren Waffen (1 Sam. 17,7.
2 Chron. 14, 7); 3) der Wurffpieg, a2 (Cl Sam. 18, 11. 19, 10. 20, 33),
auch als Stoßwaffe gebraucht; 77772 wahrſcheinlich der Tängere Wurfſpieß (Joſ.
18, 18. 1 Sam. 17, 6. Job. 39, 33. 41, 20. u. a.) 5 diefe Waffen hatten einen
Schaft son Efchen- oder Tannenholz (2 Sam. 17, 7. Nah. 2, 4) und eine eherne
Spige (1 Sam, 17, 7.2 Sam. 21, 16)5 H der Bogen, nip, mit den Pfei-
Ien, yırz, bren, gehören zu den älteften Waffen (Gen, 21, 16. u. a.). Die
Bogen gewöhnlih aus zähem Holz, feltener aus Erz (Pſ. 18, 35. Job 20, 24),
wurden gefpannt mit der Hand oder mit dem Fuß (727 treten, gewöhnlicher
Ausdruf von Spannen des Bogens, vgl. Pf. 7, 13. 11, 2. 37, 14. u. a.); auf
das BVergiften der Pfeile war befannt (Pf. 7, 14. Job 6, 4); mit dem Bogen
ift genannt der Köcher "m (Gen, 27, 3), oft Foftbar mit Gold verziert, Die
286 Krieg bei den Hebräern.
Bogenfhüsen nö, Dren 592, waren im hebräiſchen Heere immer zahlreich;
die Beften waren aus dem Stamme Benjamin (2 Chrom, 14, 8, 17, 19). 5) Die
Schleuder, »bp vorzüglich für das Teichtere Fußvolk (2 Kon. 3, 25. 2 Chrom,
26, 14); auch im Gebrauch diefer Waffe zeichneten fich die Benjaminiten aus
Richt, 20, 16), nach Plinius Ch. n. VII. 56) ift die Schleuder eine phönieifche
Waffe, 6) In der fpätern Zeit ift auch Feftungsgefhük (miyasn 2 Chrom. 26,
15) befannt; in der Zeit Nebucadnezars die Mauerbrecher, ba>2 Ez. 4, 2,
»ap nn 26, 9. ſ. d. A. Feſtungen). — Den Gebraud der Waffen lernte der
Einzelne theils durch feine, Lebensweife, wie durch Jagd und das Hirtenleben,
theils fanden auch befondere Waffenübungen Statt, Darauf führen Ausdrücke,
wie man>n 25 ben Krieg lernen, Jeſ. 2, 4. Mid, A, 3, mans Inh des
Krieges fundig, 1 Chron. 5, 18. vgl. 1 Sam. 20, 20. 35—40, 2 Sam, 22, 35.
Worin diefe gemeinfhaftlihen Uebungen beftanden, iſt nicht näher zu beſtimmen;
im Laufe der Zeit wurde Mandes fremden Heeren abgelernt; die frühere Kriegs-
führung befand in vereinzelten unzufammenhängenden Gefechten, erft Saul und
David begründeten eine Tactif. — Bor Eröffnung des Krieges, der mitunter
förmlich erflärt wurde (1 Richt. 11, 12. ff. 1Kön. 20, 2. 2 Kön. 14, 8), wurbe
meift Jehova um feinen Willen befragt (Richt. 20, 27, 1 Sam, 14, 37, 23, 2.
28, 6. dur die Propheten 1 Kon. 22, 6. u. a.), in deffen Namen ja der Krieg
geführt wird; vor Beginn des Kampfes werben Opfer dargebracht (1. Sam. 7, 9,
13, 8), der Feldherr (2 Chron. 20, 20) oder ein Priefter (Deut. 20, 2, ff.)
hielt eine kurze begeifternde Anfprache, die Trompete gibt das Zeichen des Angriffs
Rum. 10, 9,2 Chron. 13, 12), der fofort unter Erhebung des Schlachtgefrhreis
casa 1 Sam. 17,52. Jeſ. 42, 13, Am, 1, 14. u, a. vgl. Iliad. 3, 3. 4 452.
Liv. 5, 39. Curt. 3, 10. 1. Tacit. Germ. 3.) erfolgt. Die Schlachtordnung (7>7>%
1 Sam. 4, 2. 17, 8) ift nicht näher befannt, war aber wohl ganz einfach, in
der Nichterzeit ift fchon die Abtheilung in drei Heereshaufen befannt (Nicht. 7,
16, 19. 1 Sam. 11, 11. 2 Sam, 18, 2); von andern ftrategifchen Künften wer-
den genannt der Hinterhalt (27> Joſ. 8, 2. 12. Richt, 20, 36. ff. 1 Sam, 15,5),
Kundfhafter (Dr>372 Joſ. 6, 22. Richt. 7, 10. ff. 1 Sam. 26, 4. 1 Macc, 5,
38), plöglicher Ueberfall (Richt. 7, 16. ff.). — Die Einrichtung des hebräiſchen
Lagers betreffend, fo Fann das mofaifhe (Num. 1, 52. 2, 2. ff. 10, 14) als
Borbild aller fpätern betrachtet werden; ausgeftellte Poften hielten Wache (Nicht.
7, 19. 1 Sam, 14, 16. 1 Mace. 12, 27), während des Rampfes blieb eine Be-
deckung zurück (1 Sam, 30, 24). Die Gefallenen wurden feierlich beerdigt,
Gebete und Opfer für fie dargebracht (1 Kön. 11, 15. 2 Mace. 12, 42. ff);
gebliebenen Anführern die Waffen in's Grab mitgegeben (Czech. 32, 27), und
Heerestrauer für fie angenrbnet (2 Sam. 3, 31). Der Sieg wird glänzend ge-
feiert, mit Oefang und Tanz (Exod. 15, 1. Richt. 5, 1.11, 34,1 Sam, 18, 6. ff.
2 Sam, 22, 1 Mace, 4, 22), durch Errichtung von Trophäen (1 Sam, 15, 12.
2 Sam, 8, 13), im Heiligthum wird ein Theil der erbeuteten Waffen als Weih-
geſchenk niedergelegt (1 Sam, 21,9. 31, 10. 2 Kön, 11, 10. 1 Chron. 10,
10); befondere Auszeichnung trifft die, welche ſich durch Muth und Tapfer-
feit hervorgethan (Joſ. 15, 16. 1 Sam, 17, 25. 18, 17. 1 Chrom, 11, 6. vgl.
2 Sam, 23, 8. ff.) (Ueber die Vertheilung der Beute f. d. Art. Beute). Hart
war das Loos, welches die Befiegten traf; ihr Land wurde verwüftet (Nicht, 9,
45. 2 Rön, 3, 25. 1 Chron. 20, 1), die Einwohner getödtet (Nicht. 9, 45. pft
fehr graufam 2 Sam. 12, 31. 2 Chron. 25, 12), verftünmelt (Nicht. 1, 6,
1 Sam. 11, 2. Graufamfeiten gegen Werber und Kinder, 2 Kön. 8, 12. 15,
16. Sef, 13, 16. Rlagl. 5, 11. Amos 1, 13. Hof. 10, 14, 14, 1, Neb. 3, 10,
2 Mace, 5, 13), in Sclaverer weggeführt (Deut, 20, 14); die eroberten Städte
Kritik, 287
Häufig verbrannt: oder zerflört (Richt. 9, 45. 1 Mace. 5, 28. 52, 10), ſtets ge-
ſchah diefes den Heiligthümern (2 Sam, 5, 21, vgl. 1 Chron. 14, 11. 2 Chron.
25, 14 Jeſ. 46, 1. Hof. 10, 5. 2 Kom. 25, 9. 1 Macc. 10, 84. vgl. Jos. Antt.
Xu. 9, 1); Sriedensfhlüffe (1 Kön. 20, 31. ff. 2 Kön. 18, 14. 24, 1), dabei
beobachtete Grundfäge und Formalitäten (2 Sam, 10, 4. ff. 8, 10, Jeſ. 30, 6.
57,9. .)- [Rönig.]
Kritik, bibliſche. Kritif (zouzıx) sc. Ermiornun vder TEyv7) von zeivs
Cheuriheilen, richten, entfcheiden) iſt im ſubjectiven Sinne die Kenntnig und
Fähigkeit, eine Sache nah beflimmten feften Regeln und Grundfägen richtig zu
beurtheilen , im objectiven Sinne die Darftellung und Anwendung diefer Regeln
und Grundfäge. Ihr Gebiet ift daher begreiflih ein fehr großes, und fie erſtreckt
fi nicht bloß auf Gegenftände der äußern Wahrnehmung, hiftorifche Thatſachen,
Leiftungen der Wiffenfhaft und Kunft sc., fondern auch auf die Bermögen und
Thätigfeiten des menſchlichen Geiftes ſelbſt. Lesteres iſt namentlich der Fall in
der fog. Fritifchen Philoſophie, deren Gründer Kant durch feine Kritif der reinen
Vernunft, der practifchen Vernunft, und der Urtheilsfraft geworden ift. In er=
fierer Richtung läuft die Kritif wieder je nach dem Gegenfiande, mit dem fie fi
befaßt, in befondere Zweige auseinander, und es entfteht eine philologiſche, eine
biftorifche, eine äfthetifche ze. Kritif, Ein großes Feld hat befonders die philo—
Iogifhe Kritik. Sie hat es mit alten Literaturwerfen zu thun, und ift theils
niedere oder Verbalfritif, fofern fie fi bloß mit den-einzelnen Ausdrüden
beſchäftigt, die verfchiedenen Lefearten prüft und ausfcheidet, und fo die urſprüng-
liche Geftalt eines fehlerhaft gewordenen Tertes wieder berzuftellen fucht, theils
böbere oder Realkritik, fofern fie die Entſtehungszeit, Aechtheit, Glaubwür-
digkeit zc. eines claffiihen Literaturwerfes in Unterfuhung zieht. Auf die bibli-
fhen Schriften angewendet, wird fie biblifche Kritik. Und mit diefer bloß
haben wir es Hier zu thun. Ihre Notbwendigfeit ift von jeher factifch aner-
fannt worden, obwohl theoretiiche Bearbeitungen der älteren Zeit unbefannt find;
denn gleichwie die Frage nah Verfaſſer und Aechtheit ꝛc. bei den einzelnen bibli-
[hen Schriften die Ausleger von jeher befchäftigen mußte und wirklich befchäf-
tigte, fo auch bei zahlreichen einzelnen Stellen die Frage, welche von den ver-
fhiedenen Lefearten, die nah dem Berlufte Ler Autographen in die Eremplare
gekommen waren, den Borzug verdiene und als die urfprüngliche zu betrachten
ſei; und fo erfcheint die Kritif in ihrer Anwendung von jeher als unzertrennliche
Begleiterin der Auslegung der hl. Schrift und als wefentliher Beftandtheil der-
felben. Ihre Aufgabe ergibt fih aus dem Gefagten von felbft. Was die philo-
logiſche Kritif überhaupt in Betreff der claffifchen Literaturwerfe des Alterihums
zu leiften bat, liegt ihr insbefondere in Betreff der biblifchen Schriften ob. Sie
muß ald niedere oder Wortfritif zunächft den biblifchen Tert im Einzelnen
fefiftellen , „die eingefchlichenen Fehler befeitigen, von den verfehiedenen Lefearten
die richtige ausmitteln und den Tert in feiner urfprünglichen Reinheit wieder her-
ftellen, Die Hilfsmittel dazu find ſowohl für's alte als neue Teftament, alte
gute Handſchriften (f. Handſchriften der Bibel) und alte Neberfegungen
(fe Bibelüberfegungen), und für's alte Teft. noch insbefondere der famari-
taniſche Pentateuch, die Schrifteitate im Thalmud und in den Midrafhim und die
Mafora, fürs neue Teft. die Schrifteitate bei den Kirchenvätern. Das aus diefen
Hilfsmitteln zur Erzielung eines richtigen Bibeltertes gefchöpfte Material nennt
man den Fritifchen Apparat. In neuerer Zeit find namhafte dießfallfige Sammel-
werke an’s Licht getreten, von denen für das alte Teft. befonders die maforethifche
- Bibel von Salomp Norzi, die Bibelausgabe von Benjamin Kennicott und die Ba-
ziantenfammlung von B. de Roffi (f. Bibelausgaben I. 918. ff.), für den griechifchen
Text der deuterocanoniſchen Bücher insbefondere die Holmes’she Ausgabe der Septua-
ginta (ſ. Alerandr, Ueber ſ.) von Wichtigkeit find, Zür’s neue Teft. verdienen befon-
288 - Kritik,
ders genannt zu werben die Ausgaben von Bengel, Wetftein, Griesbach, Matthät,
Scholz und Tifchendorf (ſ. Bibelausgaben I. 923, ff). Ueber die Art und Weife,
wie das in diefen Werfen gefammelte Material zur Wiederherftellung des ur- -
fprünglichen Schrifttertes zu benüßen, oder über die Negeln und Grundfäße, nad
denen dabei zu verfahren fer, haben die Gelehrten nicht immer gleiche Anfichten
gehabt und in Praxi befolgt, welche jedoch ausführlich zu befprechen nicht hieher,
fondern etwa in ein Lehrbuch der biblifchen Kritif gehören fann. Da die Aufgabe
der bibliſchen Wortkritik darin befteht, ven bibliſchen Text in feiner urfprünglichen
Reinheit wieder herzuftellen, fo hat diefelbe als thoologiſche Disciplin, als An-
weifung zur fritifchen Behandlung des Bibeltertes, vor alfem zu zeigen, wie die
verfchiedenen Lefearten veranlaßt und ntflanden feien, und fofort die Regeln feft-
zuftelfen, nach welchen die richtige ausfindig gemacht werden fünne, Bei diefem
Gefchäfte wird es fich aber um eine umfichtige Beurtheilung und Würdigung der
verfchiedenen Arten des Fritifchen Materials Handeln, und die Kritif wird vor
Allem zu beſtimmen haben, welcher Werth den verfchiedenen Lefearten in den
Handfhriften zufomme und auf was es bei der Auswahl derfelben hauptfächlich
anfomme, 3. B. weniger auf die Zahl der Handfhriften, die für eine Lefeart zeu-
gen, als auf die Beichaffenheit, das Alter, die Eorrectheit ꝛc. derfelben, fo daß
unter Umftänden fogar die Lefeart einer einzigen Handfchrift gegen alle übrigen
den Vorzug verdienen kann. Beim A, T. hat fie namentlich noch den Unterfchied
zwifchen Synagogenrolfen und Privathbandfchriften und wiederum zwifchen mafo-
rethifchen und nichtmaforethifhen Handfchriften hervorzuheben und den relativen
Werth derfelben für die Löfung ihrer Aufgabe zu beftimmen; beim N. T. wird
fie vor Allem die Frage nach den Familien oder Necenfionen der Handfhriften
in Unterfuchung ziehen, ihren gegenfeitigen Werth und ihr Gewicht bei der Ent-
foheidung über verfchiedene Lefearten feftfegen und zeigen müffen, ob und in wie
weit man fich an die eine oder andere diefer Familien zu halten habe, Sodann
in Betreff der alten Ueberfegungen hat die biblifche Wortkritif zu zeigen, wie und
wie weit biefelben zur Herftellung des urfprünglichen Textes brauchbar feien, welche
Borfihtsmaßregeln mit Nückficht auf den Charakter und die Schieffale der zu ge—
brauchenden Meberfegung zu beobachten feien, in welchen Fällen das Zeugniß der
Meberfegung jenem der Handfohrifp zur Beftätigung diene, oder ihm vorzuziehen
oder naczufegen fei. Denn es ift Flar, daß es in diefer Beziehung mit jeder
einzelnen Ueberfegung eine andere Bewandtniß hat, und daß felbft bei wörtlichen
Meberfegungen nicht jeder, vom jegt verbreiteten Urtext abweichende Ausdruck au
zum Beweife dient, daß das Driginal der fraglichen Ueberſetzung entſprechend
gelautet habe, da auch wörtliche Ueberſetzungen ſich zuweilen freier bewegen, oft
auch das Driginal nicht genau auszudrücken vermögen, und überbieß auch im
Laufe der Zeit ihre urfprüngliche. Geftalt mehr oder weniger ändern, Beim A. T.
wird fie dann insbefondere noch den famaritanifchen Pentateuch in Unterfuchung
ziehen und beftimmen müffen, in welchen Fällen feine Abweichungen vom maſo—
retbifchen Tert den Vorzug vor diefem verdienen, und in welchen fie als Fehler
oder wilffürliche Aenderungen des richtigen Textes zu betrachten feien. Eben fo
wird fie die Eitate in alten rabbinifchen Schriften (wie Thalmud, Midrafchim,
Salut, Siphri ꝛe.) berücfichtigen und die Regeln aufftellen müffen, nach denen
die etwaigen Abweichungen diefer Citate vom maforethifchen Text: zu beurtheilen
feien, und endlich in Betreff der Mafora zeigen müffen, was von ihrer Behand-
Yung des hebräifchen Bibeltertes zu halten fei, nach welchen Grundſätzen die Vo—
califation, Accentuation, und die befannten Keri und Ketib zu beurtheilen feien,
In ähnlicher Weife wird fie beim N. T. in Betreff der patriftifchen Schrifteitate
zeigen müffen, nad) welchen Grundfäßen und mit welchen Borfichtsregeln fie zur
Berbefferung des Schrifttertes zu gebrauchen ſeien. Mit der Feftftellung aber
der Negeln und Orundfäße für den rechten Gebrauch des Fritifchen Materials
t Kritik, 289
and die Ausfheidung des Wahren vom Falfchen ift die bier in Frage ſtehende
Aufgabe der bibliſchen Kritif noch nicht ganz gelöst. Der fritiihe Apparat für
ſich reicht in gar mandhen Fällen zu einer fichern und befriedigenden Entfcheidung
nicht aus, und es muß, um eine ſolche zu erzielen, auch noch der Context, die
ſprachliche Eigenthümlichfeit, die Darftellungsweife, der Gedanfen- und Jdeen-
kreis ze, der betreffenden Schrift in Betracht gezogen werden ; und die biblifche Kritif
bat wiederum die Grundfäge und Regeln feftzuftellen, nach denen fih aud in
diefer Beziehung das kritiſche Berfahren richten muß. Die Aufftelung und
Rechtfertigung jedoch folder Grundfäge und Regeln in all den angedeuteten
verfchiedenen Richtungen kann nicht hieher, fondern wiederum etwa in ein Lehr-
buch der biblifchen Kritif gehören, Für die altteftamentliche Kritik verdienen
dießfalls die 93 Canones critici, welche B. de Roffi in den Prolegom. zu fei-
nen: trefflichen Werfe: Variae lectiones veteris testamenti. Parmae 1734. p. XLIX.
sqq. aufgefiellt hat, befondere Beachtung, und find felbft von Proteftanten mit
vielem Beifall aufgenommen worden, „Denn diefe Grundfäge, die ſich auf die
fämmtlihen Duellen der Emendation des hebräifhen Textes, nämlich auf Hand-
ſchriften, alte und bewährte Ausgaben, den famaritanifchen Tert, alte Berfionen,
Parallelſtellen, Analogie des Eontertes, Maſora, und kritiſche Conjectur ver-
breiten, und jedes derfelben mit Unbefangenheit würdigen, bewähren nicht allein
den umfaffenden Blick ihres Urhebers, dem der ganze Reichthum der verfchiedenen
Hilfsmittel für die altteftamentliche Kritik lebhaft vorfchwebt; fondern beweifen
auch großentheils deffelben geläuterte Begriffe von altteftamentlicher Kritif, nad
welchen er das Verhältniß diefer verfchiedenen Hilfsmittel zu einander gehörig
beftimmt, und Jedem feinen ihm gebührenden Rang anzumweifen fucht” (Meyer,
Geſchichte der Schriftauslegung V. 463). Für die neuteflamentlihe Kritif find
unter der Menge von Abhandlungen über diefen Gegenftand in kritiſchen Aus-
gaben des N, T. und Lehrbüchern der neuteftamentlihen Einleitung befonders
lehrreich: Griesbachüi Prolegomena ad N. T. ed. secunda, Sect. III. Conspectus po-
tiorum observationum criticarum et regularum,, ad quas nostrum de discrepantibus
lectionibus judicium conformavimus. p. LIX—LXXXI., Hug’s „Orundfäge der Kritik“
im erften Theile feiner Einleitung in's N. T. 3. Ausg, ©. 525—35 und Scholz’s
Brolegomena zu feiner Ausgabe des NR. T. 1830—36. — Die höhere Kritik
bat, wie ſchon bemerft, eine andere Aufgabe als die nievere, und muß demge-
mäß auch ein anderes Berfahren einfchlagen und anderartige Beweismittel in
Anwendung bringen, um zu ihrem Ziele zu gelangen. Ihre Beweismittel
find theils äußere theils innere. Jene find Hiftorifche Zeugniffe über Zeitalter,
Berfaffer ꝛc. einzelner biblifher Schriften aus folchen Zeiten und von folchen
Seiten her, wo das Richtige unläugbar oder doch aller Wahrfcheinlichfeit nach
befannt fein fonnte, Auf welche Weife und mit welcher Vorſicht aber ſolche Zeug-
niffe, zumal wenn fie von verfchiedenen Seiten her nicht mit einander im Ein-
Hang ftehen, zum Behufe der Fritifchen Beweisführung zu gebrauchen feien, bat
wiederum die biblifche Kritik, als theologiſche Disciplin, in's Licht zu fegen.
Die inneren Gründe find folhe, die je in der betreffenden Schrift feldft Liegen,
um die e8 fih Handelt, und zwar gehören dahin vor Allem ausdrückliche und be=
flimmte Ausfagen der fraglichen Schrift felbft über ihren Berfaffer. Nur ift dabei
wohl zu beachten, ob folhe Ausfagen vom Berfaffer felbft herrühren, wie diefes
3. D. befanntlih beim Pentateuch und vielen prophetifhen Schriften der Fall ift,
oder ob fie fpäter Hinzugefommen feien, wie 3. B. in manchen Pfalmüberfchriften,
Daß fie im erflern Falle volle Zuverläffigfeit Haben, bedarf faum der Bemer-
fung, und etwaige Stelfen in der betreffenden Schrift, die damit in fohlechthin
unvereinbarem Widerſpruch ſtünden, müßten als fpätere fremde Zuthat betrachtet
werden, Im letzteren Falle dagegen läßt fih im Voraus die Möglichkeit denken,
daß eine zunächſt nur vermuthungsweife Ausſage allmählig das Anfehen einer
Kirchenlexikon. 6, Br, 19
290 Kritik,
⸗
hiſtoriſchen Ueberlieferung erhalten habe und ungeachtet dieſes Anſehens wohl
auch eine Unrichtigkeit enthalten könne, wie ſolches z. B. bei der einen und an-
dern Pfalmüberfehrift der Fall if. Wo aber eine in Frage geſtellte Schrift ſelbſt
nichts über ihren Verfaſſer, Zeitalter ꝛe. ausfagt, Fonnen die innern Gründe, auf
welche die höhere Kritif bauen muß, bald in einzelnen zufälligen Direeten oder
indireeten Hinweifungen auf die Entftehungszeit, bald in der etwa eigenthümlichen
Sprache und Darftellungsweife, bald in Hindeutungen auf gewiffe Sitten, Ge—
wohnheiten, Einrichtungen, die nur einer beflimmten Zeitperiode angehören, bald
auch in dem Zufammentreffen mehrerer folcher Erfcheinungen beftehen, So ift
3. D. die Bemerfung im B. Joſua, daß die Canaaniter zu Gafer in der Mitte
Ephraims wohnen „bis auf diefen Tag“ (16, 10) ein Beweis, daß diefes Buch
vor der Zerftörung Gafers durch Salomo (1 Kon, 9, 16) gefhrieben fein müſſe;
und ebenfo die Bemerkung im Buch der Nichter, daß die Zebufiter zu Jeruſalem
no nicht bezwungen feien und dort unter den Benjaminitern wohnen bis auf diefen
Tag, ein Beweis, daß diefes Buch vor der Eroberung Jeruſalems durch David
(2 Sam. 5, 6—9) entftanden fein müffe. Weniger ficher find die Entfcheidungs-
gründe, die von der Sprache und Darftellungsweife hergenonimen werden, weil
diefe viel zu fehe mit der Individualität zufammenhängt und auch bei einem
und demfelben Individuum fih nicht immer gfeich bleibt, fondern je nach dem
behandelten Gegenftande, dem angeftrebten Zwede 2c,, wohl auch eine merf-
Yich andere Färbung annehmen kann, wie fich dieſes z. B. in den propheti=
ſchen Reden des Jeſaias zeigt, Mehr Sicherheit geben die Hindeutungen auf
beftehende oder nicht mehr beftehende Sitten, Gewohnheiten 2c.; wenn z. B, im
Buch Ruth eine alte Sitte als foldhe erwähnt und erflärt wird, fo iſt klar, daß
das Buch lang nach dem Ereigniß, das es zum Gegenftande hat, entflanden fein
müffe. In diefen verſchiedenen Beziehungen hat nun wiederum die biblifche Kritik
im ſchon berührten Sinne dem Fritifhen Verfahren durch Aufftellung fefter Re-
geln und Grundfäße einen ſichern Weg vorzuzeichnen, Uebrigens ift befannt, daß
die biblifche Kritik namentlich auf vffenbarungsgläubigem Standpunete nicht felten
mit argwöhniſchem Auge betrachtet und nicht ungern als eine dem göttlichen An—
fehen der Schrift und dem Dffenbarungsglauben überhaupt gefährlihe Wiffen-
fchaft bezeichnet wird, Anlaß und Grund zu diefem Mißtrauen gab allerdings
der grobe Mißbrauch, den man auf rationaliftifhem Standpuncte lange genug
mit der Bibelfritif getrieben, und fie mitunter zur fürmlichen Bekämpfung des
Snfpirationscharafters der Schrift und des Glaubens an pofitive Offenbarung
überhaupt benügt hat, Allein des Mißbrauchs wegen foll nach einer befannten
Regel der gute Gebrauch nicht aufhören, und Fein Gebilveter wird erſt einen
Beweis dafür verlangen, daß die höhere Kritif, auf die rechte Weife geübt, ge—
rade am meiften im Stande fei,. das Anfehen und die Authentie der Schrift zu
befeftigen und gegen deftructive Angriffe in Schuß zu nehmen. Wer aber einen
Beweis dafür verlangt, Fann ihn finden in jeder der vielen Fritifchen Leiftungen,
welche namentlich in neuerer Zeit, auf vffenbarungsgläubigem Standpunet fi
bewegend, die Aechtheit, Glaubwürdigkeit ze. einer oder mehrerer bibliſcher
Schriften oder auch nur einzelner angeforhtener Schriftſtellen darzuthun verfucht
haben, Das Nähere in Betreff der rationaliftifchen Bibelkritif ſ. in dem Artikel:
Eregefe Bd. 11. ©. 830. ff. Vgl, ferner die Artifel: Authentie, und Integri—
tät der hl. Schrift: — Was endlich noch die Gefhichte und Literatur
der biblifchen Kritik betrifft, fo ift auch hier die Praxis der Theorie vorausge—
gangen. Letztere ift dem Altertum unbefannt, aber Fritifches Verfahren und
Beſchäftigung mit Fragen der niederen fowohl als der höheren Kritik zeigt fich
mehr oder weniger in allen patriftifchen Schriften, die fich mit der Bibeleregefe
befaffen. Schon Tertullian vergleicht gelegenheitlich die Iateinifche Heberfegung
mit ihrem Originale und tabelt oder berichtigt Die vorkommenden Abweichungen
Kritik. 291
- Hug, Einleitung ins N. T. 1. 462, fi). Etwas fpäter fuchen Luctan und
- Hefyhius den griechifhen Tert fowohl des alten ald des neuen Teftamentes
kritiſch zu verbeffern; und die Behauptung, daß eine Verbefferung des letzteren
durch fie nicht flattgefunden Habe, Hat viel zu beftimmte und entfchiedene Aus-
fagen aus dem Altertgum gegen fi, als daß fie viel Beachtung verdienen könnte.
Namentlich aber Haben fich im diefer Hinfiht Drigenes und Hieronymus aus-
gezeichnet, erfterer zum Theil in feinen Commentarien, wo er namentlich auch
verfchiedene Lefearten anführt und beurtheilt, befonders aber in feinem berühmten
bibel⸗kritiſchen Werke, welches unter dem Namen Herapla befannt ift (f. Alerandr,
Neberf.), letzterer ſowohl in feinen Commentarien als auch in feinen Präfationen,
Fritifchen Epifteln und andern Schriften. Und auf diefe Weife wurde auch nachher
bibliſche Kritif geübt von folden, die Fähigkeit und Kenntni dazu Hatten, und
wenigftens, wenn fie der biblifhen Grundſprachen nicht mächtig waren, verfchie-
dene Ueberfegungen mit einander verglichen und die Abweichungen nah Maßgabe
des Zufammenhanges, der fonftigen Ausdruds- oder Lehrweife des betreffenden
Schriftſtellers ıc. beurtheilt, wie wir dieß 3. B. bei Gregor d. Gr. in feinen
Expositiones in Job fehen. In diefer Weife ging es fort bis über die Zeiten des
- Mittelalters herab; mit Löfung verfchiedener fritifcher Fragen, ſowohl die Wort-
kritik als die höhere betreffend, beichäftigte man fich immer, und mit erneuten
Eifer namentlich feit dem 13tem Zahrh., nachdem auf den Univerfitäten eigene
Lehrſtühle für die bibliſch-orientaliſchen Sprachen errichtet worden waren. Theo-
retiiche Bearbeitungen aber der biblifchen Kritif wurden immer noch nicht verfucht,
und feldft als bedeutendere Fritifche Arbeiten an’s Licht traten, waren es nicht fo
faft Schriften über Rritif als vielmehr Fritifhe Schriften über Gegenftände kri—
tifcher Fragen. Dieß gilt gleich von dem erften bedeutenden Werfe diefer Art,
welches ver gelehrte Dratorianer Joh. Morinus unter dem Titel: Exereita-
tiones Biblicae de Hebraei Graecique Texfus sinceritate, pars prior. Paris 1633.
berausgab, und welches fpäter, nachdem der zweite Theil furz vor des Verfaffers
Tod vollendet worden, vollftändig herausgegeben wurde von dem Pater Fronto
(Tanonicus regularis zur Hl. Genovefa) unter dem Titel: mar nY70%2 Consig-
natio foederis: Exercitationum Biblicarum de Hebraei Graecique Textus sinceritate
libri duo, quorum Prior in Graecos sacri Textus Codices inquirit, vulgatam eccle-
siae versionem antiquissimis codicibus Graecis conformem esse docet, germanae
LXX. Interpretum Editionis dignoscendae et illius cum vulgata conciliandae metho-
dum tradit, ejusdemque divinam integrifatem ex Judaeorum Traditionibus confirmaf.
Posterior explicat quidquid Judaei in Hebraei textus criticen hactenus elabora-
runt, Talmudis ufriusque, Paraphrasium Chaldaicarum, Midraschim et omnium
librorum, quos jactant antiquissimos aetatem examinat: portenfosam apud eos
historiae ignorantiam aperit, Masoretharum opus universum recenset: unde et
quando occasionem Accentuum, Versuum, et Punctorum Vocalium textui sacro in-
scribendorum sumpserunt. Hinc primum apud eos ortos esse Grammaticos. Varias
enarrat sacri textus recensiones a Judaeis factas etc. Paris 1669. Diefes Werk,
deifen Inhalt aus diefem Titel fchon erfichtfich ift, verwidfelte den Morinus im
einen hitzigen Streit mit feinem auch fonftigen Gegner Simeon de Muis, der
ſchon im J. 1634 feine Assertio hebraicae veritatis altera gegen die Exercitationes
berausgab und den Morinus zu einer Erwiederung unter dem Titel Diatribe elen-
chica de sinceritate Hebraei Graecique textus dignoscenda et animadversiones in
Censuram exereitationum ad Pentat. Samarit. Paris 1639. veranlaßte, und gegen
diefe wiederum feine Assertio tertia castigationis animadversionum M. Jannis Morini
Blesensis etc. herausgab. Webrigens ift das Werk des Morinus ungeachtet man-
Her Schiefheiten und Uebertreibungen ein fehr brauchbares, und wenn gleich Feine
eigentliche Theorie der Bibelkritik, doch auch für eine ſolche nicht unwichtig. Von
nun an erfhienen auf proteftantifcher Seite mehrere DIDERRERNGE Werke, zuerft
19
2 Kritik,
der Crilicus sacer von Abr, Calovius (Lips. 1646), dann die Crilica sacra
von Louis Capelle (Ludovicus Capellus, Paris 1650) und die Critica sacra
von Aug. Pfeiffer (Dresdae 1680, dann Lips. 1688). So fehr man aber hier
dem Titel zufolge auch Erörterungen über das Wefen und die Aufgabe der Bibel-
feitif erwarten fünnte, fo findet man doch bloß Fritifche oder auch nur Fritifch fein
follende Berhandlungen über Gegenftände der biblifhen Einleitung, Hermeneutif
und Kritif, Die Critica sacra von Capelle wurde fpäter von Vogel und Schar-
fenberg (Hal. 1775—86) neu herausgegeben und verdient im diefer verbeflerten
Geftalt ungefähr eben fo günftig beurteilt zu werben, als die Exercitationes des
Morinus, Aehnliches gilt von der Critica sacra vet. Test. von Gottl. Carpzov
(Lips. 1721), obwohl feine mitunter bi8 zur Ungerechtigkeit gehende proteftantifche
Parteifucht oft anwidert und abſtoßt. Den größten Namen als Bibelkritifer hat
aber fchon etwas früher Rich. Simon erlangt, wiewohl auch er mit einer Theorie
der Bibelkritif fich nicht befaßte. Seine wichtigften hieher gehörigen Schriften
find: Histoire critique du vieux Testament. Paris 1678, Amfterdam 1679 (fehler-
baft und entftellt) ; Yateinifch von Noel Aubert de Verfe 1681 Ceben fo fehlerhaft);
am eorrecteften und vollftändigften, wahrfheinlich vom Verf, ſelbſt beforgt, iſt
die Notterdamer Ausg. vom J. 1685. Histoire ceritique du texte du nouveau
Testament, oü l’on &tablit la verite des Actes, sur lesquels la Religion Chretienne
est fondee. Rotterdam 1689. Als Fortfegung oder zweiter Theil davon erfchien
Histoire critique des versions du nouveau Testament, oü Fon fait connoitre quel a
et Yusage de la lecture des livres sacres dans les principales Eglises du monde.
Rotterdam 1690. Ueber Simons Verdienſte fd. U. Einleitung, biblifche, 111.490,
Don fpäteren hieher gehörigen Schriften find noch zu nennen die Prolegomena in
sacram scripluram von C. F. Houbigant, die feiner hebräifchen Bibel: Biblia
Hebraica cum notis criticis. Paris 1753. vorangeftellt find und fammt den notis
nachher befonders abgedrucft wurden, Francof. a. M. 1777, Es ift ein verbienft-
liches Werk, und zeichnet fich namentlich durch einen ausgedehnten Gebrauch der
alten Neberfegungen zur Berichtigung des biblifchen Urtertes aus, worin freilich
auch zugleich feine ſchwache Seite liegt, indem es der Subjectivität einen zu
großen Spielraum einräumt, Es konnte daher nicht fehlen, daß Sebald Rau
(Ravius) in feinen Exercitationes philologicae (Lugd. Bat. 1785), die er gegen
Hpubigant richtete, zu manchem Tadel über vorſchnelle Urtheile und Entfchei-
dungen deffelben Anlaß nehmen fonnte, Um diefelbe Zeit, wo die Houbigant'ſche
Bibel erfhien, begann Benjamin Kennieott feine biblifch-kritifchen Arbeiten
zu veröffentlichen, zuerſt: The state of the printed Hebrew Text of Ihe old Te-
stament considered. A Dissertation in two parts etc. Oxford 17535 ſodann: The
state of the printed Hebrew Text of the old Testament considered. Dissertation
the second, wherein the Samaritan Copy of the Pentateuch is vindicated ele. Ox-
ford 1759 (beide Differtationen wurden von A. Teller in's Lateinifche überfegt.
Zeipz. 1756. 1765); endlich: Dissertatio Generalis in vetus Testamenlum cum variis
lectionibus ex codicibus manuscriptis et impressis auctore Benjamino Kennicott. Oxo-
nii 1780, vor dem zweiten Bande der Kennicott’fhen Ausgabe des A, T. bejon-
ders abgedruft und mit manchen Zugaben bereichert von P. J. Bruns unter
dem Titel: Dissertatio generalis in V. T. hebraicum cum variis leclionibus ex c0-
dicibus manuscriptis et impressis. Auctore Benjam. Kennicott. Recudi curavit et notas
adjecit Paulus Jacobus Bruns. Brunsvici 1783. Eine eigentliche Theorie der Bibel-
kritik findet fi aber in al’ diefen Schriften noch nicht, Uebrigens wurden it
Dezug auf das N. T. doch ſchon früher partielle Verfuche in der Theorie der
MWortfritif Kamen: von C. M. Pfaff in feiner Dissertatio critica de genuinis
librorum N. T. lectionibus etc. Amstelod. 1709, von Mäftricht in feiner Aus—
gabe des N, T. Amstel. 1711, von Bengel in feiner introductio in erisin N. T,,
beigegeben feiner Ausg. des N, T, Tübing, 1734, und von Wesftein in ben
Kroaten. ’ 293
Zugaben zu feiner Frit. Ausg. des N. T. Amstel. 1752. In Bezug auf das
alte Teftament aber machte erft der Dominicaner Gabriel Fabrici im vierten
Theile feines Werfes: Des Titres Primitifs de la Revelation, ou Considerations
Critiques sur la puret& et lintegrite du Texte Original des Livres Saints de P’Ancien
Testament etc. Rome, 1772, einen anfangsweifen Verſuch zu einer Theorie der
Kritif, indem er zeigte, wie die alten Handfchriften des hebräiſchen Tertes und
die alten Ueberfegungen deffelben zu gebrauchen und die verfchiedenen Lefearten
zu beurtheifen und auszuwählen feien. Endlich erfchien ein Lehrbuch der Kritik
des A. T. von W. F. Hezel. Leipz. 1783, und einige Zeit fpäter eine Anwei-
fung zum rechten Gebrauch der Fritifchen Hilfsmittel bei der Berbefferung des alt=
teftamentlichen Bibeltertes im dritten Tractat der Critica sacra von 2. Bauer,
Leip. 1795. Bon jest an wurden Anweifungen zur Fritifchen Behandlung der
biblifchen Bücher gewöhnlich in die Handbücher der biblifchen Einleitung aufge—
nommen, z. B. von Zahn, Einleitung in die göttlihen Bücher des A. B. J.
420 f.5 Bauer, Entwurf einer Hiftorifch-Fritifchen Einleitung in die Schriften
des A. T. 3. Aufl. 292.5 Gerhaufer, biblifhe Hermeneutif, Erfter Theil,
Einleitung in die heiligen Schriften des alten und neuen Bundes, S. 258— 263,
und 296—307;5 Hävernid, Handbuch der Hiftorifch-Fritifchen Einleitung in das
alte Teftament. I. 2. S. 123—135; Glaire, introduction historique et critique
‚aux livres de l’ancien et du nouveau Testament. Paris, 1843. t. I. p. 345—402;
de Wette, Lehrbuch der Hiftorifch-Fritifchen Einleitung in die canoniſchen und
apoeryphiſchen Bücher des alten Teftamentes. 6. Ausg. S. 147—166; Hug,
Einleitung in die Schriften des neuen Teftamentes, 3. Aufl. L 525—5355
Seilmofer, Einleitung in die Bücher des neuen Bundes, S. 651—655. Eine
Art Lehrbuch der biblifchen Kritif hat vor einem Decennium Prof. Löhnis zu
Gießen veröffentlicht in feinen „Grundzügen der biblifhen Hermeneutif und Kri—
tif ꝛc.“ Gießen, 1839. Vgl. Rofenmüller, Handbuch für die Literatur der bib—
liſchen Kritif und Exegeſe. I. 439 ff. ©. W. Meyer, Gefhichte der Schrift-
erflärung feit der Wieverberftellung der Wiffenfchaften. II. 268 ff. IV. 289 ff.
V. 337 ff. [Relte.]
Kroaten, Chriftentgum bei denfelben. Die Kroaten (Chrowaten,
Chorwäten), ein flavifcher Volfsftamm, zugen zur Zeit des Kaiſers Heraelius
aus Polen oder Südrußland aus und nahmen das Land zwifchen dem adriatifchen
Meere und der Donau und Sau in Befis. In eilf Gemeinen unter Supanen
(Banen) eingetheilt, erfannten fie mitunter gleich den alten Einwohnern, welde
fi in die Meeresftädte zurücdgezogen hatten, die Dberhoheit des griechifchen
Kaiſers anz fpäter foll Carl der Große, nachdem er das Reich der Hunnen zer-
flört, auch hier um fich gegriffen Haben, und fein Sohn Ludwig, fagt man, band
die dalmatifche Provinz an das Königreich Bayern. Gleichwie bürgerlich, ſchwaukte
man auch Firchlich zwiſchen Rom und Byzanz hin und her (f. Dambergers Fürften-
buch, Regensb. 1831, S. 430). Schon der Kroatenfürft Porga verlangte bei dem
Raifer Eonftantin Pogonatus hriftlihe Miffionäre; diefer aber verwies ihn an
den römischen Stuhl, welcher Priefter abfandte, die um 670 den Fürften Porga
ſammt einem großen Theil des Volkes tauften. Darauf foll der Papft Kroatien
als Eigenthum des römifchen Stuhls unter feinen Schug genommen und die Neu—
getauften verpflichtet Haben, fich aller Räubereien und Angriffsfriege zu enthalten
Döllingers Lehrb. der Kirchengefch. Negensb. 1836, I, 364). Wohl wirkten
zur Chriftianifirung der Kroaten auch die Kirche von Aquileja und die Einflüffe
des früher durchaus chriftlichen Bodens ein; andererfeits ſchickte man zuweilen
auch von Conftantinopel aus Geiftliche zu ihnen. Kroatiſche Bifchöfe werden jedoch
erft feit 879 erwähnt, zur Zeit, da die Oberfürften der Kroaten fich durch Reich—
thum, Macht und Anfehen hervorthaten. Nach dem Tode des Froatifchen Fürften
Zwoinimir CH 1088), welder im 5. 1076 von dem päpftlichen Legaten Gebizo
29” Kroncarbinäle — Krönung der Raifer und Könige,
zum König von Aroatien und Dalmatien gekrönt worden war und babei dem
Papfte (Gregor VIL) den Vaſalleneid geſchworen hatte (Baron. Annal. ad a. 1076.
or. 66—67), rief deffen Wittwe Helena im Einverfländniffe mit mehreren kroa—
tifhen Großen ihren Bruder, den hl. Ladislaus, König von Ungarn, zu Hilfe,
da fie unvermögend war, die ausgebrochenen Parteifämpfe zu beſchwichtigen. La—
dislaus eilte herbei, eroberte 1089—1091 Kroatien, feßte den Almos, den jün-
gern Sohn feines Bruders Gejſa, zum Fürften ein, ordnete die bürgerlichen und
kirchlichen Angelegenheiten und gründete zur Befeftigung des Chriſtenthums in
Kroatien das Bisthum Agram (Mailath's Gef. der Magyaren I, 865
Kerchelich, Hist. episc. Zagr.; vgl. den Art, Koloeza, Erzbisthum). — Außer
diefem berühmten Bisthum beftehen im dermaligen Kroatien noch a) das Iatei-
nifhe Bisthum Zeng (Segnia, Seny) an der adriatifchen Meeresfüfte, womit
die Bisthümer Modruffa und Korbawia verbunden find; b) das unirt-griechiſche
Bisthum Kreuz (dioecesis Crisiensis), deffen Anfänge in die Zeit des Papftes
Paul V. fallen, und welches gleich allen unirt-griechifchen Bisthümern Un—
garns, Siebenbürgend, Kroatiens und Slavoniens unter dem Erzbisthum Gran
fteht (f. den Art, Gran); 0) das nichtunirte griehifhe Bisthum Carl-
ſtadt, welches wie alle andern nichtunirten griechifchen Bisthümer der öſtreichi—
Shen Monarchie unter dem nichtunirten griechifchen Erzbisthbum Carlo wiz ge—
fteiit iſt. [Schrodl.j
Kroncardinäle, ſ. Cardinal.
Krone, dreifache, des Papſtes, ſ. Tiar a.
Krone des Prieſters, des Mönches, ſ. Tonfur,
Kronen der Brautleute, f. Hochzeit.
Krönung der Raifer und Könige, Die Sitte, die Landesherrn in ihre
Amt durch eine religiöfe Feier einzuführen, findet fich fchon im alten Teftamente,
Sp wurde ſchon Saul, der erftie König der Juden, durch Salbung zum Könige
geweiht (1 Kön. 10, 1.), eben fo feine Nachfolger (2 Kön. 2, 4. 5, 3, 3 Kon,
1, 39.). Unter den chriſtlichen Negenten bewarb fih um die kirchliche Segnung
zuerft Kaiſer Theodofius der Jüngere (Theodor. Lect. collect. 1. 2).. Wer e8 unter
den hriftlichen Rönigen zuerft that, iſt ungewiß. Martene nennt den Schotten-
könig Aidanus (de ant. ecel. rit. 1.2. c.10.), Fleury den Gothenkönig Wamba
(hist. ecel. 1. 39. $ 51), Habert den Franfenfönig Chlodoväus (Archier. p. 627).
Die Könige (Raifer) des ehemaligen teutfchen Reiches wurden dreimal gefegnet:
in Aachen, fodann wegen der Lombardei in Mailand, und endlich wegen des rö-=
milchen Kaifertiteld in Rom. Die Segnung der franzöfifhen Könige ging in
Rheims vor fih, Dermalen gibt e8 viele Negenten, die fich diefer Segnung, die
man von den dabei üblichen Gebräuchen bald Salbung, bald Krönung nennt,
nicht unterziehen, — Die Idee, die diefer Feier unterliegt, ift die chriſtliche
Ueberzeugung, daß ein jeder Fürft aus Anordnung oder Zulafjung Gottes regiere,
und fomit ein Werkzeug in der Hand des Allmächtigen fer, die Volker zu belohnen
oder zu beftrafen. Als Stellvertreter Gottes im weltlichen Reiche ehrt ihn der
Gläubige, als folchen fieht er demüthig ſich felbft an. Folgerichtig durchdringt
daher Priefler und Volk derſelbe Wunfh, Gott möge feinen ſichtbaren Stell-
vertreter leiten, auf daß er, fo viel an ihm ift, Segen und Wohlfahrt auf Erde
verbreite, Sa diefer Wunfch drängt den Negenten, Gott bei dem Antritte feiner
Regierung feierlich um diefen Beiftand zu bitten, und zu biefem Behufe fih von
einem Bifchofe (dem Papfte) als Stellvertreter Jeſu im Gebiete der Kirche fegnen
zu laſſen. Die Ceremonien bei diefer Feier find befonders folgende, Erſtens
macht der Bifchof, der die Segnung vornehmen foll, den Fürften auf die Pflichten
eines hriftlihen Negenten aufmerffam. „Sumis“, heißt es z. B. in biefer Er—
mahnung (Pontif. Rom.), „praeclarum sane-inter mortales locum, sed discriminis,
laboris atque auxietatis plenum, Verum si consideraveris, quod omnis potestas a
a
Krönung des Papſtes — Krüdener, 295
Domino Deo est, per quem reges regnant, ef legum conditores justa decernunt, tu
quoque de grege tibi commisso ipsi Deo rafionem es redditurus. Primum pietatem
servabis. Omnibus te adeuntibus benignum, mansuetum alque affabilem pro regia
tua potestate praebebis.“ Sodann Ieiftet 2) der Fürft das Verfprechen, ein ächter
Landesvater im Geifte der Religion Jeſu zu fein. Dierauf wird 3) die Aller—
heiligenlitanei verrichtet, während der Fürft vor dem Altare auf das Angeficht
bingeftreeft liegt. Gewiß ein rührender Act! Während der Fürft felbft um den
Geift ver Weisheit, Frömmigkeit und Ausdauer als ein Wurm der Erde bittet,
zuft die gläubige Gemeine zum Himmel, daß der Herr, welcher auch die Herzen
der Könige wie Wafferbäche Teitet, fi des neuen Fürften erbarmen wolle. Nach
der Allferheiligenlitanei fommt 4) die Salbung mit Del, die ſchon bei der Seg-
nung des Judenfönigs Saul üblih war und die Bitte fymbolifirt, es möge Gott
den neuen Fürften mit dem hl. Geiſte ölen, damit er erfenne, was ihm und fei-
nem Lande wahrhaft frommt, und dasjenige, was er ald das Gute und Redte
erfannt hat, auch gewiffenhaft vollziehe. Bon minderem Belange ift es, daß ehe-
mals in Aachen der neue Fürft am Haupte, auf der Bruft, zwifchen den Schul-
tern, den Ellenbogen und an den Händen gefalbt wurde, während das römifche
Pontifical nur die Salbung des rechten Armes vorſchreibt. Dem neuen Fürften
werden 5) die Infignien der Regentenwürde dargereicht. Als ſolche kennt das
römiſche Pontificale das Schwert, die Krone, -den Scepter und den Thron, fowie
der Aachener Ritus noch überdieß den Ring und den Reichsapfel. Das Schwert
fombolifirt die Pflicht des Fürften, Necht und Unſchuld zu fihügen, und den Miffe-
thäter zu firafen. Die Krone als Kopfihmuf (Diadem) ift ein Zeichen des Ruh»
mes und der Majeftät, gleihfam der Siegesfrang eines mächtigen Triumphators,
Indem fich diefelbe der neue Fürft vom Bifchofe aufiegen läßt, erflärt er, fi
nur dann eines Triumphfranges würdig zu halten, wenn er fowohl über Unrecht
und Unterdrückung fiegt, als au das Neich der Wahrheit, Tugend und Selig-
keit im Lande blühend macht. Der Scepter (Ixjnzgov) vder Hirtenftab fordert
den neuen Fürften auf, das ihm von Gott anvertraute Volk mit der Liebe, Treue
und Sorgfalt eines Hirten zu weiden, und im Falle der Noth das Leben für fie
zu laffen. Läßt fich derfelbe vom Bifchofe zum fürftlihen Throne führen, fo
beurfundet er hiemit, daß er glaube, den Thron durch Gottes Gnade einnehmen
zu dürfen. Mit der Darreihung des Ringes wird die Bitte ausgeſprochen, es
möge der neue Fürft die Fatholifche Kirche als die unverfehrte Braut Jeſu Chriftt
mit aller Liebe, Aufmerkfamfeit und Treue befhüsen. Mit der Uebergabe des
Reichsapfels endlich, über welchem ſich ein Kreuz befindet, wird angedeutet, es
möge der neue Fürft fein Reid, das wie ein Apfel feiner Herrſchaft übergeben
wird, als hriftlicher Monarch regieren. Den Schluß der Feier machen endlich
6) Gebete und die Feier der HI, Meffe, bei der der Gefrönte oder Gefalbte
eommunieirt, [ör. X. Schmid.]
Krönung des Papſtes, f. Papft.
Kruzifir, f. Crucifir.
- Krüdener (Juliane, Freifrau von), eine überfpannte Pietiftin, ift 1766
in Riga geboren. Die talentvolle Tochter des Baron von Bietinghoff, eines der
reichften Gutsbefiger in Rurland, erhielt eine forgfältige, nur zu gebildete Er-
ziehung. Durch ihre fchnellen Fortfchritte und ihre Kenntniffe war fie ſchon in
ihrem neunten Jahre der Gegenftand der Bewunderung. In diefem Alter kam
fie nad Paris, wo das Haus ihres Baters die fchönen Geifter; ‚wie Büffon,
Marmontel u, A. um fie verfammelte, Juliane bliebin der Nähe der Eneyelopä—
diften (ſ. d. A) zwar religiös und fromm, aber ver Same zu ihrer baldigen fittlichen
Berirrung mag bier in ihr empfängliches Herz ausgeftreut worden fein. Sie be-
faß die Bildung der hohen Stände, ihr feiner Wuchs, ihre zarten Züge und ihre
Srömmigfeit verliehen ihr Anmuth und Liebenswürdigfeit, In ihrem vierzehnten
296 — Krüdener
Jahre bat Baron von Krüdener, ein Livländer, um ihre Hand. Bald nach der
Vermählung folgte ſie dem viel älteren Gatten als ruſſiſchem Geſandten zu Ve—
nedig nach Italien. Allein dieſer hatte natürlich keine Hausfrau. Die feingebil—
dete Dame umringten Verehrer, die religibſe Schwärmerin, die ſich bald als
Mutter der Armen betrachtete, begleiteten Volkshaufen, fo oft fie fih öffentlich
zeigte, Nachdem fie einen Sohn und eine Tochter geboren, wurde die Ehe ge—
trennt, Die Geſchiedene kehrte 1791 in's elterliche Haus nach Niga zurüd, Hier
fpielte fie die Liebenswürdige Frau und verfiel als ſolche den Verirrungen des Le—
bens. Um die Ruhe des Herzens zu finden, veisterfie nach Paris, Vergnügen
und wechfelnde Verbindungen bereiteten ihr neue Schmerzen und neue Unruhe,
Nachdem fie 1798 einige Zeit mit einem Franzofen in Leipzig und dann in Ruß—
Yand verlebt hatte, ging fie 1801 wieder nach Paris. Annoch gehörte fie der fei-
nen Welt und deren ausgefuchten finnlichen Freuden anz denn der Teichtfinuige
Sänger Garat foll damals ihr Herz befeffen haben. Um diefe Zeit fehrieb fie
ihren Roman: Valerie, ou lettres de Gustave de Linar à Erneste de G., der ung
ein Verhältniß fihildert, das vordem der ehrfüchtigen Schriftftelferin theuer ge=
wefen fein mag, der aber auch von ihrer überfpannten Geiftesrichtung Zeugnif
ablegt. Mit dent Feuer der Begeifterung ſchildert fie darin die hriftliche Religion
und deren Geheimniffe, preist fie die riftlihe Kunft, das Wallfahrten und be=
ſchauliche Leben der Carthäufer. Wenn wir nicht vergeffen, daß fie religiös er-
zugen war, eine lebhafte Phantaſie und ein tiefes Gemüth nah Ftalien brachte,
das der Fatholifche Cult weit mehr als der Fable proteftantifche anzog — wie fih
dieß auch in ihrer Verehrung der Heiligen und Seligen, der feligften Jungfrau
Maria ausfpricht —, fo kann uns al’ das den Schlüffel zu ihrer Umkehr aus
der Irre wie zu ihrer fpätern Thätigfeit geben, Die Unruhe drängte, nöthigte
fie innerlich zum Beſſern. Aber die Ertreme berühren fih. Die eitle, ehrgeizige,
weil von früh angebetete, immer tiefer gefalfene Sünderin wird zur Pietiftin und
Schwärmerin, zur Predigerin und Pflegerin der Armen und Kranfen, Sie fehrt
zur Wahrheit und chriſtlichen Sitte zurück, aber das weibliche Wefen, einmal vers
bildet, hatte feinen Halt verloren. Sie findet die ihr gehörige Sphäre nimmer,
Im Jahre 1806 finden wir fie in der Umgebung der Königin von Preußen, Louiſe,
die fie ob den damaligen Schlägen der preußifhen Monarchie auf eine höhere
Macht verwies. Troft und Muth gewähre nur die Religion. Nach einem Eurzen
Aufenthalt in Dresden lebte fie abermals in Paris, ihren Verwandten in prophe-
tifchem Geifte große Ereigniffe verfündend, darauf zu Genf, wo fie unter Gebet
und Werken der Barmherzigkeit dem Berlaufe des nordiſchen Kampfes folgte,
Hier Ternte fie den nachmaligen Momier, Empeytas, Tennen, Mit Nenderung
der politifchen Lage Teutſchlands kehrte fie 1813 dahin zurück. In Carlsruhe befhäf-
tigte fie im Umgange mit Jung-Stilfing die Idee des taufendjährigen Neiches, in
Heidelberg ging fie in die Oefängniffe der größten Verbrecher, fie zu tröften umd
noch auf dem Wege zum verdienten Tode zu befehren, Um diefe Zeite wurde
Alexander durch einen Brief auf fie aufmerffam gemacht. Der Kaifer begab fich
nad der Schlacht von Leipzig zu Ende des Jahres 1813 an den Rhein, Krübener
tröftete den mißftimmten Herricher und fprach ihm Muth zu. Sie folgte ihm im
Herbft 1814 nach Paris, ſprach vor ihm von Geiftererfiheinungen, Durch ihre
Brophezeiungen und Wahrfagungen foll fie zur HI. Allianz viel mitgewirkt haben,
Gewiß ift, daß fie anftatt der früheren Vergnügungseirkel in ihrem Hauſe reli=
gidfe Berfammlungen hielt. Befannt von früher und vertraut mit den Höchſten
und Hohen, mag die neue Priefterin in ihren helldunkeln Betfälen manchen
Samen für die Verwirklichung obiger Idee ausgeftreut haben. Von dem Fefte,
das die ruffifchen Armeen in der Ebene von Chalons feierten, gab fie eine Be—
ſchreibung „le camp de Vertus, Paris 1814”, worin fie ihre Anficht über bie
Zeitgefchichte deutlich ausfpricht, Ihre Auffaffung ift eine religiöſe. Chriſtliche
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Gefinnung foll Herrfcher und Völfer beleben, Chrifti Gefet die Befehlenden und
Gehorchenden verbinden. Wehe den Staaten, die vergeffen, daß nur Gott Ge-
fege geben fann! Alerander wird gepriefen, aber er dient dem König der Könige,
— Krüdener erfannte wahrfheinlich die trüben Ausfichten für die Verwirklichung
ihrer ſchwunghaften Ideen. Sie wanderte in die flillen Thäler der Schweiz. Von
da an beginnen ihre Verfolgungen. Als fie im Herbft 1815 in Bafel angefommen
war, fand fie bald einen fehr großen Anhang. Der berührte Empeytas ſchloß ſich
an fie an, Sie ſprach hier wie an andern Orten in ihren Vorträgen von großen
Plagen, von einem fehredlichen Gericht, fo über Europa Fomme, Gie flehte, die
Züchtigung durch Neue abzuwenden, Nur wer fih befehre, unter das Kreuz fliehe,
werde gerettet. Allein diefe und ähnliche Predigten über die Nichtigkeit des Reich—
thumes, über die Habfucht und den Egoismus der Reichen, ihre Aufforderung zu
Werfen der Barmherzigkeit gegen Arme und Nothleidende machten die unbefugte
Richterin Anderer verhaßt. Die Obrigkeit befahl ihr, Bafel zu verlaffen. Außer
Empeytas und ihrem GSecretär Kellner, einem Braunfchweiger, von Profeffor
Lachenal begleitet, ging fie nach Lörrah, bald darauf nad Aarau und von da
nach Liebegg, einem Schloffe im Thale Kulm. Taufende famen und hörten fie,
Neben der damit gegebenen Anftrengung unterbielt fie noch einen häufigen Brief-
werhfel. Sp fihrieb fie damals an einen Fatholifch gewordenen Juden: „Die Welt
befteht aus Nullen, Zahlen find nur die, in denen Gott Iebt. Beten fie, daß
noch viele vor dem Kreuz ſich niederwerfen. Beten fie für mich.” Allein au
bier und in Bern verfolgt, Tieß fie fih Mitte Juni 1816 in dem auf badifchem
Gebiete gelegenen Grenzaher Horn nieder, das nur eine Stunde von Bafel ent-
ift. Sie fpeiste und beherbergte Arme und Arbeitslofe, verlaffene Kinder,
abgelebte Greife und Pilger zur Mutter Gottes nach Einfiedeln, fie tröftete und
betete mit Kranken und fhweren Sündern. Natürlich täufchte fie auch mander
Arbeitsſcheue. Allein ähnliche Vorträge vor fol’ zahlreihem Publicum machten
die Obrigkeit aufmerffam, Am Abend des 23. Fan. 1817 umringten Landjäger
das Hörnlein und führten die Bettler, Lahmen und Siechen nah Lörrach. Sie
legte auf das hin dem badifchen Minifter von Berckheim ein ausführliches Schrei-
ben ihres Denfens und Thuns vor, aus dem wir am Schluffe eine Stelle au
führen werden. Sie verwahrt ſich davor, daß fie fih den Anordnungen der Obrig⸗
keit babe widerfegen wollen, fie bedauert, daß menfchlihe Gefege mit göttlichen
im Widerfpruche ſtehen. Bevor fie mit ihren Begleitern abreiste, ermahnte fie in
einem Aufruf und in einer Armenzeitung (wovon nur Ein Blatt erfhien) die
Armen zur Arbeit und zum Gebet. Jegt zug fie von Ort zu Drt, ohne daß ihr
irgendwo ein bleibender Sit geftattet wurde. Sie fam nad Warmbach, nach dem
Canton Argau, über Laufenburg nach Aarau, nach Solothurn und Luzern, © Ge—
walt und Unterbrüdung auf der einen, Noth und Elend der Zugelaufenen auf
der andern Seite fteigerten ihre Efftafe im Ausmalen der verdorbenen Zeit. Die
Behörde fand in ihren Reden eine verbrecheriihe Tendenz, öffentliche Blätter
nannten fie eine VBerführerin, fprachen von Faftnachtfpielen und verbreiteten über
fie die einfältigften Gerüchte. Man brachte fie unter polizeilicher Aufficht nad
Zürih und von da auf badifches Gebiet, Je nah 24 Stunden von badifchem,
ſchweizeriſchem, öftreichifchem Boden verwieſen, führten fie den 22. Auguft ſechs
Landjäger bei Rheinau über den Rhein, über den fie nicht mehr zurüdfam, Zwar
verfuchte fie es am Oberrhein nohmals, aber die Behörden des Elfaßes wiefen
fie fogleih aus, Man fohicte fie nach Freiburg im Breisgau, Empeytas und
‘ Lachenal wurden nebft einem Theil der Dienerfchaft von ihr. getrennt, badische,
würtembergifche und bayerifche Polizei begleiteten fie durch die verfchiedenen Län-
der nach Sachſen. Mitte Decembers kam fie nach Leipzig, wo man ihr geftattete,
ſich zu erholen, ihren Schwiegerfohn, den Kammerherrn von Bergheim, von
Moskwa und zugleich ihre Wechfel zu erwarten. Do fellte man bald Wache
298 | Krummſtab.
vor ihre Wohnung. Der theilweiſe noch geſtattete Beſuch wurde zuletzt ganz ver-
boten, Gegen Frühjahr 1818 wurde fie in Eilenburg einem preußifchen Com—
miſſär übergeben und ſo nah Königsberg gebracht. Als man ihr bedeutete, fie
dürfe nicht nach Berlin, brachte man fie über die ruffifhe Grenze, und als von
Petersburg und Moskau Daffelbe verlautete, zugleich Kellner und neun andere
Perſonen son ihr getrennt wurden, begab fie ſich nebft ihrer Tochter nach Mitau,
Das Predigen hatte fie aufgegeben, Später Tebte fie noch kurze Zeit in Peterg-
burg. Bon da verwiefen, weil fie fich Tebhaft für die Griechen intereffirte, ging
fie nach Liefland und von bier im Juni 1824 mit Tochter, Schwiegerfohn u, A.
in die Krim, wo fie am 13, Jan. 1825 zu Karafubafar an einer fchmerzlichen
Krankheit ſtarb. — Wenn wir uns aus diefer Skizze ein Urtheil erlauben dürfen,
fo ift e8 folgendes: Krüdener war feine Betrügerin und feine Verführerin, fon-
dern eine Betrogene, Sie heuchelte nicht, e8 war ihr ernft. Ihr tiefes Gemüth,
ihre guten Geiftesanlagen, ihre Bildung, ihre reichen Erfahrungen und ihre fel-
tene Energie in dem, wie fie glaubte, von Gott ihr angewiefenen Berufe laſſen
uns in ihr Feine Alltagsperfon erbliden, Ihr Proteft an den badifchen Miniſter
fagt an einer Stelle: „ES beburfte eines Weibes, das gedemüthigt durch ihre
Sünden und DVerirrungen befennen follte, daß es Selavin und Betrogene der
Eitelfeit diefer Welt gewefen, und, um Niemand zu verachten, ein einfältiges,
durch falfches Wiffen nicht verblendetes Weib, das die Weifen diefer Welt ver-
wirren kann, indem es ihnen zeigt, daß die tiefflen Geheimniffe ihm durch Die
Liebe und dur das Gebet am Fuße des Kreuzes zu Theil geworden find, Es
bedurfte eines muthvollen Weibes, das, nachdem e8 auf dieſer Erde alles be—
feffen hatte, felbft den KRönigen fagen fonnte, daß Alles Nichts fer, das die Blend».
werke und Götzen der Prunfzimmer entthronte, und das noch jegt erröthet, daß
es einft mit etwas elenden Talenten und ein wenig Geift hatte glänzen wollen,”
Sie fohließt mit den Worten: „Ih will nichts Anderes, Fenne feinen andern
Wunſch, als Chriftum, Chriftum den Gefreuzigten, den Juden ein Aergernif, den
Heiden eine Thorheit, aber ewig Weisheit, König der Könige und aller Ewig—
feiten,” Darneben fünnen wir nicht verhehlen, fie war nicht bloß eine einfache
Pietiftin. DBlieb fie darum fern von der Engherzigfeit, fo theilte fie auf der an-
dern Seite den Dünfel und die Selbftgenügfamfeit diefer Partei, zufolge der fie
fih für ein augerwähltes Werkzeug Gottes hielt. Sie war eine Schwärmerin
mit einem übergewöhnlichen Beigeſchmack von Narrheit, der das Necht der freien
Forſchung auf der einfamen Kammer nicht genügte, Sie war begeiftert für bie
Zeit, wo Ein Hirt und Eine Heerde fein wird, Diefe herbeizuführen, ſprach fie
aus, was fie. als wahr erkannt hatte, Sie war unermübdet dafür thätig. Sie
weiß, daß Gott in ihr Iebt, ihre Gebete erhört, in Traumgefhichten die Straf-
gerichte der Gpttvergeffenheit und Berblendung ihr offenbart, die nicht bloß bei
den hartherzigen Neichen, fondern in den Cabinetten und Gerichtshöfen herrfchen.
Diefer legte Punet machte fie wohl wie fonft Feiner zur Verfolgten der Polizei,
(Bol. Zeitgenvffen 3. Bd.X. S. 107— 1745 Handwörterbud von Fuhrmann
U. Bd. ©. 603 f.; Pierer, Univerfallericon XV. Bd, S. 12.) [Stemmer.]
Krummpftab (baculus s. virga,pastoralis, pedum, cambutta, dızavixıov) ift
ein Tanger, oben frumm gebogener, metallener Stab, und gehört zu den Infig-
nien der Bifchöfe und Aebte, Derfelbe ift eine Nachahmung des Reifeftabes der
Apoſtel und zugleih Symbol des Hirtenamtes, In den erften Zeiten war biefer
Stab gewöhnlih von einfachem Holze, wie e8 3. B. von dem hl. Patritius
beißt, daß ihn die Irländer „an feinem frummfpigigen Holze” erkannt hät—
ten. Diefes „Irummfpisige Holz” ift aber nichts anderes als fein hölzerner
Hirtenftab, den jedoch fpäter fromme Chriften mit Gold und Evelfteinen ver-
zierten. Ebenfo berichtet der Biograph des hl. Burfard, Biſchofs von Würz-
burg, daß derfelbe aus Demuth einen Hirtenflab aus Holunderholz (virga sam--
Krummſiab. 299
- bucea) gehabt habe, und rühmt diefe demüthige Einfachheit gegenüber der Prunf-
ſucht anderer Bifchöfe. Je mehr übrigens die ſymboliſche Bedeutung des Hirten-
ſtabes hervortrat, und die andere, zugleich als Stüge beim Geben zu dienen, in
den Hintergrund geftellt wurde, defto mehr Zierde wurde fowohl nah Stoff und
Form auf denfelben verwendet. Ohne Zweifel fuchten auch die Kaiſer und Kö—
nige während der Jnveftiturftreitigfeiten durch Ueberreichung foftbarer Stäbe die
von ihnen belehnten Bifchöfe zu blenden, wodurch diefe fih den bittern Vorwurf
eines Hl. Mannes zuzogen: „Sonft trugen goldene Bifhöfe hölzerne Stäbe, jetzt
haben hölzerne Biſchoͤfe goldene Stäbe,” Eine Befhreibung der Stäbe im 12ten
Jahrhundert findet fich bei Honorius Auguftodunus: „Hic baculus ex osse et ligno
efficitur, christallina vel deaurata sphaerula conjunguntur, in supremo capite insig-
nitur, in extremo ferro accuitur“ (Gemma animae c. 219). Innocenz IH. führt
die Uebergabe des Hirtenftabes an die Bifchöfe auf den HI. Petrus zurüf, der
feinen Stab dem hl. Martialis übergeben haben foll, um den mit ihm zur Be—
fehrung Teutſchlands ausgefendeten Maternus, der unterwegs ftarb, durch Be—
rührung mit dem Stabe vom Tode zu erweden. Es ſoll damit auch zugleich die
Erſcheinung erklärt werden, warum die Päpfte als Nachfolger des hl. Petrus und
oberſte Hirten der Kirche den andern Bifhöfen zwar den Stab übergeben, ſelbſt
aber ihn nicht gebrauchen, cf. c. unic. X. de’ sacr. unct. (I, 15). Jedenfalls aber
ift der Gebrauch des Hirtenftabes ein fehr alter; der Ordo Rom.-thut feiner Er—
wähnung, das vierte Eonecil von Toledo (633) c. 28. rechnet ihn zu den bifchöf-
lichen Jufignien, und Iſidor von Sevilla erwähnt feiner Hebergabe bei der bifchöf-
lichen Confeeration., Nah dem Zeugniffe des Balſamon war bei den Griechen
der Gebrauch des Stabes bloß den Patriarchen geftattet; dagegen nah Jacobus
Spar auch den Bifchöfen und Aebten. Jedenfalls erwähnen der hf. Ephräm und
der bi. Gregor von Nazianz mehrmals eines Hirtenftabes. Sicher ift nur, daß
bei der Drdination der Biſchöfe bei den Griechen die Hebergabe des Stabes nicht
gebräuchlich war, und auch in den Euchologien bei der Drdination eines Pa-
triarchen nichts davon enthalten iſt. Der Stab eines griehifchen Erzbifchofs hatte
nach der Abzeihnung Montfaucon’s die Geftalt eines T, während ihm Goar mehr
die gabelförmige Geftalt eines Y gibt, die mehr mit der Befchreibung des Simon
von Theffalonih übereinftimmt, Im Unterfihiede von den oben krumm gebogenen
Stäben der Biſchöfe und Aebte in der abendländifchen Kirche, find die der Erz-
bifhöfe gerade, und oben mit einem, die der Patriarchen mit einem doppelten
Kreuze geziert. Bei den Päpften ift der Hirtenftab längſt außer Gebrauch ge-
fommen, obgleich er bis in das zehnte Jahrhundert bei ihnen üblich gewefen zu
fein foheint. Die Krummftäbe der Aebte und Aebtiffinnen wurden im Unterfchiede
von denen der Bifhöfe mit einem Schweißtuch (sudarium) ummwunden, und es
follte dur diefe Umbüllung das Zeichen der Unterwürfigfeit unter die bifhöfliche
Jurisdietion ausgedrücft werden, weßhalb die Stäbe erempter Aebte diefe Binde
nicht hatten. Die ſymboliſche Bedeutung des Hirtenftabes ift in den Worten aus—
gedrückt, mit welchen derfelbe bei der Eonfecration dem Bifchof überreicht wird:
„Accipe baculum pastoralis officii, ut sis in corrigendis vitiis pie saeviens, judicium
sine ira tenens, in fovendis virtutibus auditorum animos demulcens, in tranquilli-
tate severitatis censuram non deserens.“ Sogar die Form deffelben benügte man
zu myſtiſchen Ausfegungen, wie 3. B. der hl. Antonius fagt: ideo acutus in fine,
rectus in medio, retortus in summo: quia Pontifex debet per eum pungere pigros,
. regere debiles et colligere vagos (Part. 3. tit. 20. cap. 2). Der Hirtenftab fol
den Biſchof ſtets an feine Hirtenpflichten erinnern nach dem alten Spruche: collige,
sustenta, stimula vaga, morbida, lenta. Nach den Griechen ift derfelbe ein Bild
von dem Rohr, weldes die Kriegsfnechte dem Herrn ftatt des Scepters in die
Hand gaben. Zu bemerken ift noch, daß der Bifchof in einer fremden Diöcefe
ohne Erlaubniß des betreffenden Ordinarius den Hirtenflab nicht tragen darf.
300 Krummſtabslehen — Kryptocalvinis mus.
Bol. Binterim, Denkwürdigkeiten u. ſ. w. J. Bd. 2,Thl, S. 339 ff. Thomas-
sin, vet. et nov. Ecel. discipl. P. I. L I. cap. 58. Van-Espen, J.E.P. I. Tit.XV.
cap. 3. n. 14 sq. Tit. XVI. cap. 3. n. 12. Tit. XXXI cap. 6. n. 6.sq. [Khuen.]
Krummſtabslehen, f. Kirchenlehen.
Krypten (zounteı, von »ounto, verbergen). Darunter verſteht man zu-
nächft verborgene, abgefonderte, in der Regel unterirdifche Räume, Sie dienten unter
diefem Namen den Alten zu verſchiedenen Zwecken. Zur Zeit der Chriftenverfolgun-
‚gen flüchteten fich die Chriften in folche unter der Erde befindliche Krypten, um hier
—
—
ihren Gottesdienſt abzuhalten oder auch ihre Todten zu beſtatten. Später wurden
nicht ſelten Kirchen über denſelben erbaut, und in der Folge entſtand der Gebrauch,
häufig bei Erbauung von Gotteshäuſern zugleich ſolche unterirdiſche größere oder
kleinere Capellen anzulegen. Man ſteigt von den innern Räumen der Kirche in
dieſelben hinab, und ſie dienten einestheils zu Begräbnißplätzen ausgezeichneter
Perſonen, hauptſächlich geiſtlichen Standes, anderntheils zu gottesdienſtlichen
Zwecken. Nicht ſelten wurden zur Feier des Meßopfers ein oder mehrere Altäre
in ihnen errichtet. Zuweilen find fie befondern Schugheiligen gewidmet, Wegen
der in folchen abgefonderten Räumen herrfchenden Stilfe und Dunkelheit gelten
fie als befondere Beförderungsmittel der Andacht. Solche Krypten befinden fi
3. B. in Würzburg in der Kirche des hl. Kilian, in der Ulrichskirche zu Augs—
burg, in Gandersheim, Hildesheim, Ellwangen, im Münfter in Bonn, in St,
Maria im Capitol und in St. Gereon in Cöln ıc, Sie find oft reich an monumen-
talen Verzierungen und nicht ohne Intereffe für die Gefchichte der hriftlichen Kunſt.
Bol. die Art, Ratafomben, Grüfte, Bafilifen. Nardini Rom. vet. IV. 3,
Aring. Rom. subter. IV. 42. $2. Gerbert, Crypta San-Blasiana. [erfer.]
Kryptocalvinismus. Die Lehre Calvin’s vom Abendmahle fegen wir als
befannt voraus (f. die Art. Abendmahl, und Calvin). Diefer Anficht neigte
fih Melanchthon befonders zu, während er fich der Anficht Zwingli's abhold
zeigte, „Doch die wahre Gegenwart des ganzen Chriſtus war auch bei Calvin
beftritten — aber in augenſcheinlich geringerem, doch aber weſentlich ziemlich
gleichem Maße, wie bei Zwingli” (Guerike). Melanchthon änderte, auf Zureden
de8 Landgrafen von Heffen, im 3. 1540 den 10. Artifel der Augsburger Eon-
feffion eigenmächtig. Diefer hatte gelautet: „quod corpus et sanquis Christi vere
adsint et distribuantur vescentibus in coena domini et improbant secus docentes*;
nunmehr fohrieb Melanchthon: „quod cum pane et vino vere exhibeantur corpus
et sanguis Christi“. Nach Luthers Tode, der fich noch vorher, wie in einem Tefta=
mente über feine AbendmahlsIehre, ausgefprochen, dauerte der äußerliche Friede
zwifchen den ftreng Lutherifchen, und den Philippiften, den Anhängern Melanıh-
thon’s bis zum J. 1552, Im diefem Jahr griff der Prediger Joachim Weftfal
zu Hamburg offen Melanchthon's Abendmahlsichre an in |. Farrago confuseanarum
et inter se dissidentium opinionum d. 1. D. ex Sacramentariorum libris congesta,
Magd. 1552, und andern Schriften, Zugleich griff er auch andere Tutherifche
Theologen wegen geheimer Begünftigung des Calvinismus an, Es entbrannte
heißer Streit zwifchen den Lutheranern und Philippiften, u. a. auch über die
Ubiquitätslehre und die communicatio idiomatum. Mitten unter den Kämpfen ftarb
Melanchthon den 19, Apr. 1560. Doch feine Partei überlebte ihn, Diefe Partei
war mächtig zu Wittenberg und auch zu Leipzig. An der Spige diefer Philippiften,
die bald bezeichnend Kryptocalviniften genannt wurde, fand der Schwieger-
BR!
ſohn Melanchthon’s, der gelehrte Caspar Peucer, hurfürftlicher Leibarzt, und
Srofeffor der Mediein und Mathematit, der durch feinen Einfluß auf den fireng
{utherifchen Churfürften Auguft regierte von 1553 bis 1586), fowie durch hohe
Berbindungen allmählig die Pläne feiner Partei förderte. Noch ehe Melanchthon
geftorben, gaben feine Anhänger das „Corpus doctrinae Misnicum oder Philippicum“
heraus, als dogmatifche Mufterfchriften, darunter Melanchthon's veränderte Augs-
Kryptocalvinismus, 301
burger Confeffion, und feine loci theologiei nad} einer fpätern Ausgabe; dagegen
waren die Schmalfaldifhen Artifel aus diefer Sammlung ausgefchloffen. (Bergl.
den Art, Corpus doctrinae.). Nachdem der Naumburger Fürftentag (1561)
für die gehoffte Vereinigung der Lutheraner und Reformirten ohne Erfolg geblieben
war, wußte Peucer die theologifche Facultät zu Wittenberg, die ſchon vorher den
Eher, Major und Paul Crell als feine Anhänger zählte, mit noch eifrigern
Philippiften zu befegen. Im 5. 1571 gab diefe Partei einen lateiniſchen Katechis⸗
mus (catechesis), von Chriftoph Pezelius verfaßt, heraus, in welchem die
ealvinifirende Lehre vom Abendmahl und von der Perſon Chriſti hindurchblickte.
Die Lutheraner fchwiegen nicht dazu. Noch in demfelben Jahre vertheidigten fich
die Philippiften durch die Schrift: „Bon der Perfon und Menfchwerdung unfers
Herrn Zefus Chriftus, der wahren riftlihen Kirche Grundfefte”. Der Churfürft,
ein ſtrenger Lutheraner, ahnte nichts von den Bemühungen feiner Theologen, Er
wurde mehrfach nachdruckſam gewarnt, er glaubte aber der Anklage nicht. Die
PHilippiften verfaßten in ihrem Sinne eine Art Glaubensbefenntnif (Consensus
Dresdensis), und wieder ließ fich der Churfürft täuſchen. Er vertrieb felbft die
eifernden Lutheraner Heßhus (f.d. A.) und Wigand aus Jena, da er feit dem
Tode Wilhelms die vormundfchaftliche Regierung in dem Herzogthume Sarhfen
führte (1573). Die Philippiften glaubten ſich fiher, und waren ihres Siegs
gewiß. Im 5. 1574 erfhien ihre „Exegesis perspicua de coena Domini“, worin
die Wittenberger, ohne fich zu nennen, unter allerlei Täufhungen, mit Genfer
Lettern, und auf franzöfifches Papiers die calvinifche Lehre vom Abendmahl un-
geſcheut vortrugen, und die Iutberifchen Unterfcheidungspuncte ausdrücklich, felbft
mit Hohn verwarfen. Da gingen dem Churfürften die Augen auf, und fein Zorn
entbrannte gegen feine faljchen Freunde, Peucer, der Geheimerat$ Cracan,
zwei Hofprediger, Shüg und Stößel, wurden in das Gefängniß gefegt. Die
Wittenberger und Leipziger Theologen wurden, nachdem fie furze Zeit auf der
Pleißenburg gefangen gefegt wurden, abgefegt und des Landes verwiefen. In
allen fähfiihen Kirchen wurde die Ausrottung der Härefie mit Bitt- und Danf-
feften gefeiert, und ob des Sieges wurde eine Denfmünze gefchlagen. Der Ge-
heimerath Craeau, nachdem ihm der Berfuh des Selbſtmords mißlungen, hun-
gerte fih im Gefängniffe zu Tode (1575). Stößel widerrief, erfranfte aber
noch im Gefängniffe, und ftarb dafelbft (1576). Peucer ſaß zwölf Jahre (bis 1586)
im Gefängniffe, eine Gefangenfchaft, die er felbft in feinen: „Peuceri historia
carcerum ed. Pezel.* Tig. 1605, bejchrieb. Er ftarb im J. 1602 als anhaltifcher
Leibarzt zu Deffau, Auch Schüg wurde wieder frei: — Der Calvinismus war,
fo lange Auguft lebte (bis 1586) in Churfachfen unterdrüdt, Auguſt's Nad-
folger, Chriftian J. war durch den Churfürften von der Pfalz, feinen Schwager,
für den Ealvinismus gewonnen, Nie, Erell, des Churfürften Kanzler, der mit
Ausſchließung des Adels regierte, hatte den Plan, das Lutherthum mit dem Cal-
vinismus zu verfehmelzen, und gab diefem auf kurze Zeit den Sieg in Churfachfen.
Die einflußreichften geiftlihen Aemter wurden mit Philippiften befegt: die theo—
logiſchen Zänfereien auf den Kanzeln verboten; unter dem Unwillen des Volks
der. Exoreismus bei der Taufe befeitigt; an der Herausgabe einer Bibel mit cal-
viniſtiſchen Anmerkungen gearbeitet. Aber Chriftian, noch jung, ftarb ſchon im
3. 1591. Der Herzog Ehriftian Wilhelm I. übernahm ald VBormund die Regie
zung; ein ftrenger Lutheraner, brachte er mit Gewalt das Luthertfum wieder zu
Ehren. Im J. 1592 wurden fogenannte Bifitationsartifel ausgegeben, in wel-
chen der Gegenfag zwifchen Luther und Calvin aufs Schroffite ausgeſprochen
war, und welche von allen Kirchen- und Stantsdienern beſchworen werden muß—
ten. Der Adel, der fih an Crell zu rächen hatte, ftand auf Seite der Lutheraner.
Nah zehnjähriger Gefangenfhaft wurde Erell als Hochverräther enthauptet
Cim 3. 1601). Sp endete der Kryptocalvinismus, — Ad, Menzel, N. Geſch.
302 Kuchen — Kuhlmann,
d. Teutfhen, Bd. IV. ©. 110 u. ff. Bd. V. ©, 176 fi 206 ff. Guerike,
Kirchengeſch. 7. Aufl. 1849, IN. Thl. ©, 446 ff, [Gams,]
Kuchen, f. Baden, g
Küchenmeifter, f. Rellermeifter, i
Kugelherren, (Gogelherren) hießen die Canoniker des. gemeinfamen
Lebens, eine im Sinne des Gerhard Groot durch deffen Schüler Florentiug um
1386 nach der Regel des HI. Auguftin eingerichtete religibſe Genoffenfhaft. (Vgl,
den Art. Clerici et fratres vitae communis.). Sie ift als eine Ergänzung des be-
rühmten Inſtituts der Fraterhäufer zu betrachten. Während nämlich der eine
größere Stamm vom Inſtitute Gerhard des Großen von der in das Volfsleben
eindringenden und freier fich bewegenden Genoffenfchaft der gewöhnlichen Brüder
som gemeinfamen Leben gebildet ward, fo follte der andere Stamm nad Ger-
hards Meinung alle jene umfaffen, welche dauernd dem.gemeinfamen Leben fich
widmen wollten, und deßhalb Elerifer wurden, Diefe hießen ſodann die Cano—
nifer vom gemeinfamen Leben, und waren in der flrengern Form des Mönchs—
lebens in Klöftern vereinigt, während die gewöhnlichen Brüder vom gemeinfamen
Leben auch außerhalb der Brüderhäufer ihre Zwerfe verfolgten und verſchiedene
Handwerfe betrieben. Jedoch fand auch bei den Canonifern Fein Gelübde auf
Lebenszeit Statt; jeder Fonnte ohne canonifche Strafe wieder austreten, doch
mußte er fi) durch Zurüclaffung einer gewiffen Geldfumme mit den Brüdern
- abfinden, Auch war in Kleidung und Lebenseinrichtung größere Freiheit als bet
‚ den Möndhen. Die gewöhnliche Kleidung "war ein graues Dbergewand, Rock
und Beinfleider ohne alle Verzierung, das Haupt mit einer grauen Rappe bedeckt,
wovon fie auch Cucullati hießen, Wegen diefer eigenthümlichen Kopfbedeckung
mit einer Art von Cuculla hieß man diefe Kanonifer in Teutſchland auch nur: die
Kugel- (auch Rogel-) Herren, oder Övgelherren, auch Rappen- und Rappelherren,
Die Stiftungen der regufirten Chorherren flanden mit den Fraterhäufern in fort-
währender Verbindung und Wechfelwirfung. Aus den Bruderhäufern gingen
Manche zur Negel der Canonifer über, Andere durch die Priefterweihe zum eigent-
lich geiftlichen Wirkungskreiſe. Ihre Zeit war zwifchen Gebet und Andachtsübun-
gen, Lefungen der HI. Schrift und anderer erbaulichen Schriften, gegenfeitigen
Anregungen durch fogenannte Collatiovnen, Handarbeit, Bücherabfhreiben und
dem AJugendunterrichte getheilt. (S. Ull mann's Reform, vor d. Reform, II. Bd.
S. 94 ff). Das Stammflofter diefer Canonifer war auf dem Agnetenberg
bei Zwoll, Andere Klöfter diefes Ordens, welcher ſich hauptſächlich im nörd—
lichen Teutfchland ausbreitete, waren u, a. in Marburg, Cöln, Wefel, Münfter,
Roͤſtock, in Mariahaufen im Rheingau, wofelbft bereits im J. 1474 eine Druderet
diefes Ordens beftand, in Brüffel, Lübeck und Nürnberg, wo ebenfalls typo-
graphifche Werkſtätten entflanden. Die Brüder befchäftigten fih viel mit Ab-
fchreiben von theologifchen Handſchriften, deren noch viele exiſtiren, z. B. aus
dem Fraterhaufe zu Münfter, welches ad fontem salientem hieß. Thomas a
Kempis war Mitglied dieſes Ordens, und verlebte feine Drdenstage auf dem
St. Agnes-Berge. Vid. Delprat, over de Broederschafft van Gerard Grote en
over den Invloed der Fraterhuizen. Utrecht 1830. Auch Kist u. Rooyards, kerk-
licke Geschiedeniss etc. Die Bruderhäufer, welche nur im Schooße der Fatho-
liſchen Kirche ihr ſtilles aber fruchtfpendendes Leben entfalten Fonnten, mußten
in der Folge in dem Maße fehwinden, in welchem über Norbteufchland der Sturm
der neuen Lehre dahinbrauste, und den Fathorifchen Kirchenbau zerftörte, fo daß
diefes kirchliche Inftitut in jenen Gegenden nach der fogenannten Reformation
des 16ten Jahrhunderts nur noch in einzelnen Eremplaren übrig blieb, [Dür.]
Kuhlmann, Duirin, geboren zu Breslau den 25. Februar 1651 von pro=
teftantifchen VBürgersleuten, zeigte in früher Jugend Talent und fepnellen Fort-
gang in den Wiffenfehaften, Er befuchte das Magdalenen-Oymnafium, und ſchrieb
Kuinöl. 303
ſchon im 13ten Jahre ein Buch: himmliſche Liebesküſſe, ein Vorzeichen feines
- Später auffallend abenteuerlihen und fhwärmerifchen Charakters, Er ging auf
die Univerfität Jena, wo er jedoch, flatt Vorlefungen zu befuchen, feinen Contem-
plationen nachhing. Dur Privatfleig fuchte er im Studiren, befonders in der
Rechtswiſſenſchaft, vorwärts zu kommen. Die ordentlihe Bahn der Wiſſenſchaft
verachtend, getröftete er fich göttlicher Eingebungen, und verfiel in Schwermuth.
In einer ſchweren Krankheit, von der er 1670 befallen worden, glaubte er ſchreck—
liche Gefihte vom Teufel und der Hölfe, von Gott und dem Himmel zu haben.
Bon nun an trug er fih mit dem Gedanken, ein Träger überirdifcher Weisheit
zu fein, und Iegte der Reihe nach eine Menge von Beweifen ercentrifcher Geiftes-
richtung an den Tag. In Leipzig, wohin er ſich 1673 begab, difputirte er über
theologifche Säge, welche Niemand und er felbft nicht verftand, In demfelben
Jahre reiste er nach Leiden, um ſich da den Titel eines Doctors beider Rechte zu
holen. Nun las er die Schriften von Jacob Böhme (f. d. A.) und war ohne
Rettung verloren, In Folge der aus den erwähnten Urfachen entftandenen Ueber—
fpannung ſchloß er fih an einen Geiftesbruder, den fogen. Propheten Zohan
Rothe in Holland an. Er träumte von einer an ihn ergangenen Aufgabe, Rom
und Babylon zu flürzen, und die fünfte Monarchie der Frommen zu beginnen,
Er glaubte, Hand an diefes Werk legen zu müffen, und durchwanderte fofort in
feinem QTaumel einen großen Theil von Europa, und trieb fih feldft in Aſien
herum. Als man ihn feiner Träumereien wegen von Leiden wegjagte, ging er nach
Franfreih, England, Italien, und von da wieder nach Holland, wo er in Ge-
fangenfchaft gerieth. Immer quälte ihn die neue Monarchie, zu deren Aufrichtung
er als Prinz Gottes beftimmt wäre, und bereits 10,000 Siraeliten zur Ber-
fügung hätte, Dabei forderte er alle Kaifer, Könige uud Fürften zur Unter-
flügung auf. Im J. 1678 gerieth er nach Conftantinopel, Smyrna und in andere
Gegenden des Morgenlandes, Fehrte von da nah Schlefien, Preußen und Lief-
Sand zurück. Endlih im J. 1689 führte ihn fein Unglüdsftern nah Rußland,
wo er wegen feiner Schwärmereien gefangen genommen, graufam gemartert, und
am 4, Detober 1689 in Moscaun mit Conrad Nordermann lebendig verbrannt
wurde, Bergl, J. C. Harenberg. de Q. Kuhlmanno. Wernsdorf. diss. de Fana-
ticis Silesiorum et specialim Q. Kuhlmanno. Adelung’s Gefhichte der menſchl.
Narrheit, V. Thl. ꝛe. Kuhlmanns fhwärmerifher Trieb veranlafte ihn zur Her-
ausgabe vieler Schriften, welche fämmtlih das traurige Geiftesgepräge ihres
Berfaffers an fich tragen, und gegenwärtig zu den Seltenheiten gehören, als:
der neubegeifterte Böhme, Prodromus quinquennii mirabilis, David redivivus, ab-
ominatio desolationis in loco sancto, Pseudosophia mundi in sede sua deturbata,
Christus mystieus, Lehrhof der Hohen Weisheit u. f. w. Da Weitere in Not-
mund’s Gelehrtenler. UI. Bd. [Dür,]
Kuindl, Dr. Chriftian Gottlieb, geboren zu Leipzig den 2. Januar 1768,
großherzoglich heſſiſcher Conſiſtorialrath, vdentlicher Profeffor der Theologie in
Gießen, hat als proteftantifher Theolog fi einen Namen erworben durch feinen
neuteftamentlichen Commentar (Commentarii in libros N. T. historicos. 4 voll. Lip-
siae 1807 sq. ed. II. 1816 sq. ed. III. 1823 sq. ed. IV. 1837. und Comment. in
epist. ad Hebraeos. Lips. 1831.), welcher die Evangelien, Apoſtelgeſchichte und
den Hebräerbrief umfaßt. Kuindl gehört zu den neueren Commentatoren der pro—
teftantifchen Confeffion und ſteht chronologiſch und geiftig vermittelnd zwifchen
Paulus und Tittmann, Er vermeidet die Seichtheit, rationaliftifhe Spielerei,
Verlegung der Grammatif, der Geſchichte und chriſtlichen Anfhauung eines Pau-
lus, fteht aber unter Tittmann’s geordneter und gemüthlicher Auffaffung, befümmert
fd weniger um den grammatifhen Sinn und läßt in Beziehung auf Schönheit
und Fluß der Iateinifhen Sprache, deren er fih bedient Hat, Manches zu wünfchen
übrig. Mit Recht macht Dr.
viedrich Türe, fein nächſter Nachfolger unter den
304 Kuldeer — Rumanen.
proteftantifchen Commentatoren über die Johanneiſchen Schriften, diefe Ausftel-
ungen an ihm.
Kuldeer, f, Euldeer, auch Freimaurer,
Kulm, f. Brandenburg und Önefen,
Kultus, ſ. Cultus.
Kumanen, Chriſtenthum bei denſelben. Die Kumanen, ein aſiatiſches Step-
penvolk, fielen bereits noch im eilften Jahrhundert zu wiederholten Malen in
Ungarn und den angrenzenden Ländern ein, Alles mit Feuer und Schwert ver-
wüftend, aber fie wurden von König Salamon (1070) und von dem heiligen
Ladislaus (1089) total gefhlagen. Lesterer Tieß den gefangenen Kumanen nur
die Wahl zwifchen Rnechtfchaft oder Annahme des Chriſtenthums, und Diejenigen,
welche das Chriftenthum vorzogen, erhielten im heutigen Jazigien Wohnpläße,
Die zu Haus gebliebenen Rumanen begehrten racheglühend ihre gefangenen Lands—
leute zurücd und drohten mit einem neuen Einbruch, wenn ihr Begehren nicht
erfüllt würde, Aber Ladislaus fam ihnen zuvor, griff fie an der untern Donau
an, zerfprengte ihr Heer, tödtete im Zweifampf ihren Führer Afos und befreite fo
das Land auf lange Zeit von ihren Einbrüchen. Eben hatte der Erzbifchof Robert
von Gran (1226—1238) an der Befehrung der heidnifchen Kumanen gearbeitet,
weßhalb ihn Papſt Gregor IX. zum appftolifchen Legaten in Kumania und Brodi-
nia aufftellte und die Rumanen unter feinen befondern Schug nahm, als eine
fumanifche Gefandtfhaft an Bela’s IV. Thron erfchien, erzählte, daß die Kuma—
nen von den Mongolen gefchlagen worden feien, und im Namen ihres Königs
Kuthen um Wohnpläge in Ungarn bat. Bela bewilligte ihr Geſuch, ordnete eine
Gefandtſchaft und Geiftliche, die das Volk befehren follten, an Kuthen ab, und fo
fanden neuerdings und zwar nicht weniger als 40,000 kumaniſche Familien zum
Aerger der Eingeborenen im Jahre 1239 Aufnahme in Ungarn und hatten an
Bela einen großen Gönner, Einen noch größern Gönner hatten diefe Wildlinge
an König Ladislaus IV., der Kumaner zugenannt, weil diefe und befonders ihre
Schönheiten fo viel bei ihm galten. Da es bald fo weit Fam, daß die Magyaren
fumanifche Sitten annahmen, fatt daß die Kumanen, auch die getauften, hriftliche
angenommen hätten, da ferner die Kumanen flatt dem Reiche zur Stüse vielmehr
zum Schaden gereichten und gemeinfame Sache mit den Patarenern und den ſchis—
matifchen Griechen machten: fendete Papft Nicolaus II. zu ihrer Bekehrung Mino-
riten, und in diefer und andern Angelegenheiten den vortrefflichen Legaten Philipp
Bifhof von Fermo im Jahre 1278 nad Ungarn ab, der nach vielen Bemühun-
gen den König Ladislaus zu den durcgreifenden Befchlüffen vermochte: fämmt-
liche Rumanen follten den Götzenbildern und abgöttifchen Gebräuchen entfagen,
getauft werden und den hriftlichen Unterricht anhören und befolgen, ihre wandern=-
den Filzgezelte mit ftehenden Wohnungen vertaufchen und in geordneten Gemein-
den leben, den Kirchen und Klöftern das Geraubte zurüdfgeben, alle Chriftenfelaven
frei Iaffen, Fein Chriftenblut fürder vergießen u, dgl. m. Zwei kumaniſche Haupt-
linge gelobten vor dem König und dem Legaten, fie wollten ihre Landsleute bere-
den, daß fie fih alle dem fügen, nur bedingten fie fich die Freiheit aus, auch in
Zufunft ihre Köpfe zu fiheeren, den Bart zu fingen und bei der gewohnten Kleider—
tracht zu verharren. Zu den feften Wohnplägen wurde jet eine Strecke zwifchen
der Donau und Theiß angewiefen; jenfeits der Theiß waren ihre bereits von
Bela IV. bewilligten Lagerpläße an der Körös, zwifchen der Körds und der Mars
und von der Maros bis an bie Temes; die durch den Einfall der Mongolen
herrnlos gewordenen Ländereien in jenen Gegenden ſprach man ihnen, mit Aus-
nahme der geiftlichen Güter, ebenfalls zu. Troß aller Befchlüffe und anderer
Vorkehrungen ging e8 aber noch lange her, bis alle Kumanen Chrifti Lehre und
Gefeg annahmen, denn noch um bie Mitte des 14, Jahrhunderts forderten die
Papfte die ungarifhen Minpriten auf, den noch ungläubigen Kumanen und Tar—
Runibert — Rurland, 305
- taren das Evangelium zu predigen. Noch jest bewohnen die Nahfommlinge der
Kumanen das fogen. Groß - und Kleinfumanien. — S. Raynaldi Annal. Ecel.
- ad a. 1227, n. 50; 1229, n. 60; 1231, n. 40; 1241, n. 21; 1264, n. 51; 1273,
n. 12; 1179, n. 30; 1348, n. 24; Mailath, Gef. d. Magyaren, I, 71, 86,
173,234; Damberger, ſynchr. Geſch. d. Kirche u.d. Welt, XI, 294. [Schrödl.]
Sunibert, f. Cunibert.
Kunſt, Hriftliche, f. Aeſthetik, Baukunſt, Malerei, Mufif, Poeſie
und Sculptur,
Kurland, glei den andern an der Dftfee bis zum finnifchen Meerbufen
gelegenen Ländern Liefland, Efihland und Litthauen von Lettifhen Stämmen
bewohnt, nahm das Chriſtenthum an, nachdem dafjelbe bereits in Efihland (f. d.
Art. Eſthen) und Liefland (f. d. Art.) eingeführt worden war. inerfeits die
dänifche oder ſchwediſche Herrfchaft, andrerfeits den kräftigen Arm der lieflän-
diſchen Schwertritter fürdtend, erklärte ſich Lamechin, ein Fürft der Kurländer,
bereit, die riftlihe Religion anzunehmen, den Papft als Oberherrn anzuerkennen
und fih dem Erzbifhof von Riga und den Schwertrittern zu unterwerfen, Bal-
duin, der Pönitentiar und Nuntius des päpſtlichen Cardinallegaten Dito in Däne-
marf, von diefem nach dem Tode des Biſchofs Albert von Apelvdern (+ 1229) als
Bisthumsperwefer nah Riga gefendet, nahm im Einverftändniffe mit der Kirche
von Riga, dem Abte von Dunemund, allen Kaufleuten, den Rittern Chrifti, den
Fremden und Bürgern von Riga den Antrag Lamechin’s im Jahre 1230 unter
folgenden Bedingungen an: 1) die Kurländer follten die Priefter, die man ihnen
ſchicken werde, aufnehmen, unterhalten, fhügen, ihnen Gehorfam Ieiften und ſich
mit Weib und Kindern alle von ihnen taufen laffen; 2) follten fie den Bifchof,
welchen ihnen der Papft fenden würde, als ihren Herrn und Bater verehren und
ihm und den andern Geiftlihen gewiſſe Abgaben entrichten; 3) hätten fie zur
Vertheidigung Hriftlicher Länder oder zur Ausbreitung des Glaubens Kriegsdienfte
zu leiften und A) innerhalb zwei Jahren fi dem Papfte zur Huldigung zu ftellen
und nah deffen Vorſchriften fih in Allem zu richten. Die übrigen Rurländer
traten au bald bei. Papft Gregor IX., dem fie dem Verfprechen gemäß durch
eine Gefandtfhaft als ihrem Oberherrn Huldigten, beftätigte Alles und ernannte
den eifrigen Balduin zum Bifhof von Semgallen und zugleich zum päpftlichen
Legaten über Finnland, Gothland, Liefland, Eſthland, Semgallen und Kurland.
Die firhliche Eintheilung Kurlands wurde von dem päpftlichen Legaten Wilhelm
von Modena 1245 in der Art vorgenommen, daß er ein Drittheil zum Bisthum
Niga und eines zur Didcefe Semgallen ſchlug und aus dem dritten ein neues
Bisthum Kurland bildete, — Die Einführung der Reformation in Rurland konnte
nach dem böfen Beifpiele, das der Hochmeifter des teutfchen Ordens Albrecht
von Brandenburg (f. d. A.) gegeben hatte, nicht ausbleiben, Schon unter -
dem Tiefländifchen Heermeifter Walter von Plettenberg, der 1520 die Un-
abhängigfeit von den Teutſchherrn erfauft hatte (ſchon 1237 hatte die Vereinigung
des liefl. Schwertordens mit dem Teutfchorden ftatigefunden), fand das Luthertfum
auch in Kurland Eingang. Der Tiefländifche Heermeifter Gotthard Kettler, der
dur den Vertrag zu Wilna 1561 alles Drdensland bis auf Kurland und Semgallen
aufgab und fih zum erblihen Herzog von Kurland und Semgallen unter pol-
nifher Oberhoheit erklärte, hob den Drvensverband und die Fatholifche Religion
vollends auf. Würdig fand ihm, dem Abtrünnigen, der den an feinem Orden
begangenen Raub auf ewige Zeiten auf fein Geflecht überpflanzen zu können
wähnte, der legte Biſchof Kurlands Johann von Mönnighanfen (oder Münd-
haufen) zur Seite, Derfelbe verkaufte im 5. 1559 um 30,000 Thaler fein Bis-
thum an den König von Dänemark und ging darauf nah Teutfhland, wo er
Proteftant wurde und fih ein Weib beilegte. Befanntlih ift jetzt Kurland eine
zuffiihe Provinz, und was das für den Beftand des Proteftantismus fagen will,
Kir henlexikon. 6. Bo. 20
306 Kuſch — Kyrie eleyson.
iſt leicht begreiflich und zeigt ſich täglich mehr in den Fortfchritten der griechifch-
ruffifhen Kirche in den Oftfeeproningen, Vgl. die Art, Efthen, Liefland, Teutfch-
herren. ©, Raynaldi Annal. Eccl. ad a. 1232. n. 1—6.; Tetſch, Kurl. Kirchen⸗
geſch. Riga 1767, A. L. Schlözer und Gebhardi, Gef. v. Litth., Liol, u,
Kurl. Hal, 1785, Voigt's Geſch. Preußens. Lioland und die Anfänge teutfchen
Lebens im baltifchen Norden, von Curd von Schlözer, Berlin 1850, [Schröpl,]
Kufch, f. Cuf. |
Kuſchan-Niſchathaim, ſ. Cufgan-Rifhathaim,
Kuß, ſ. Friedenskuß.
Küſſen des Altares, des Evangeliums. Der Kuß, ſeiner Natur nach ein
Zeichen der Liebe und Ehrfurcht, wird zu allen Zeiten auch ſolchen lebloſen Gegen-
ftänden gegeben, die man lieb hat und in Ehren hält. Sp ſpricht ſchon Tertullian
(1. 2. ad uxor. c. 4.) vom Küffen der Bande der Martyrer. Auch die Kirchen-
thüren foheint man zur Zeit des HI. Chryfoftomus gefüßt zu haben Chom. 30 in
ep. 2. ad Cor.). Gewiß iſt, daß fowohl das Küffen des Altars als auch das des
Evangeliums fehr alt ift, beide finden ſich z. B. ſchon in den älteften römifchen
Ordines vorgefchrieben. Den Altar fügt nach dermaliger Vorſchrift der Celebrant
nad) dem Stufengebete der hl. Meffe, und fo oft er fih in diefer zum Volke
wendet, Bei dem erften diefer Küffe betet derfelbe: „‚Oramus te, Domine, per
merita Sanctorum fuorum, quorum reliquiae hic sunt, et omnium Sanclorum, ut in-
dulgere digneris omnia peccata mea.“ Hiemit wird Har, daß diefe Küffe, Salu-
tationes genannt, nicht bloß ein Zeichen der Liebe und Ehrfurcht für den Altar
als Opferherd des neuen Bundes find; fondern auch die Hochfhägung für bie
Reliquien der Heiligen, die im Altare hinterlegt find, und das gläubige Sehnen,
durch die Fürbitte diefer Heiligen unterflüßt zu werden, fund zu geben haben.
Das Küffen des Evangelieneoder (Miffale) fchreiben die Nubrifen vor, wenn das
Evangelium vorgelefen iftz nur im Requiem ift e8 zu unterlaffen. Ehemals wurde
das Buch, aus dem das Evangelium vorgelefen wurde, dem gefammten Clerus,
ja dem gefammten Volke zum Kuſſe geboten, „Porrigit‘“, heißt e$ im Ordo Rom.
U. ‚„evangelium osculandum primum episcopo, deinde omnibus per ordinem gra-
duum, qui steterint, et universo clero, nec non et populo, deinde conditur in loco
suo.“ Dagegen küſſen e8 heut zu Tage Cabgefehen von einigen wenigen fran-
zöſiſchen Kirchen) nur mehr der Celebrant und der etwa anwefende Fürft, ober
flatt des erften der anwefende Papft, Cardinal oder der Legat des apoſtoliſchen
Stuhles, Patriarch, Erzbifchof oder Bifchof der Gegend. Die Liturgie des hl.
Chryſoſtomus Fennt auch diefen Ruß. [Fr. X. Schmib.]
Küſter (Küſterer) leitet ſich vom lateiniſchen Custos ab. Man verſteht dar—
unter jenen Kirchendiener, welcher unter Oberaufſicht des Pfarrers das Gottes—
haus öffnet und fchließt, die HI. Gefäße und Paramente aufbewahrt, für bie
Neinlichfeit und Schmürfung des Gotteshauſes forgt, und die Geiftlichen bei dem
Gottesdienfte entweder perfönfich oder dur Subftituten an= und auskleidet. Da -
die hi. Gefäße und Paramente ſich größtenteils in der Sarriftei befinden, ſich
in diefer auch die Geiftlihen Cabgefehen von den Bifchöfen) bei Gottesdienften
an- und ausfleiven, und auf diefe Weife der Küfter befonders in der Saeriſtei
befchäftigt ift, fo wird er auch. haufig Sacriftan genannt, Ebenfo gibt man
ihm in vielen Gegenden den Namen Meßner; weil die wichtigfte und gewöhn-
lichte Feier im Gotteshauſe, wegen der er Dienfte zu machen hat, die hl. Meſſe
iſt. Verſchieden von dem Küfter ift der Custos (Summus Custos) in Gtiftern,
Sener ift ein Laie, diefer ein geiftliches Mitglied des Stiftes, Diefer iſt Oberauf⸗
ſeher (wie es in Pfarreien der Pfarrer iſt), jener der Vollzieher feiner Aufträge,
Bol. die Art, Custos und Kirdendiener,
Myrie eleyson, ſ. Meffe:
L.
Labadiſten, die, eine pietiſtiſche Seete der reformirten Kirche,
hatten den Johann von Labadie zum Stifter. Derſelbe war der Sohn eines ge—
meinen Soldaten und wurde den 18. Febr. 1610 zu Bourg in Guienne geboren.
Nachdem er 15 Jahre Mitglied der Geſellſchaft Jeſu geweſen, trat er, ungeachtet
die Jeſuiten ſich viele Mühe gaben, ihn von dieſem Schritte zurückzuhalten, im
J. 1639 aus dem Orden. Hatte ihn ſchon im Orden ſein unruhiger, turbulenter
und phantaſtiſcher Geiſt, obgleich durch den klöſterlichen Gehorſam eingezwängt,
in die Bahnen einer falſchen Myſtik und eines affectirten Rigorismus und zu dem
Wahn verleitet, den Geiſt Johannes des Täufers und den Beruf einer außer—
ordentlichen Miffion zu haben: fo verlor er nach feinem Austritt aus dem Or—
densverband bald allen Halt und wurde endlich aus einem betrogenen und be—
trügenden Schwärmer ein Calvinift, dem es auch in der neuen Kirche nicht be—
un und daher nothwendig fehien, eine eigene Secte in der Secte zu errichten,
abadie, der Welt und feinem Eigenwillen zurüdgegeben, trat in mehreren Städten
als Prediger auf, und da er nicht ohne Geift und Nednertalent war und mit der
Miene und dem Apparate eines Gottesgefandten von Gnade, Prädeftination,
firenger Buße und Befferung auf eine Weife predigte, wie fie ſchon damals bei
den Janfeniften den Jeſuiten gegenüber üblich war, fo Fonnte es an vielfeitigem
Applaus nicht fehlen, wiewohl die Klarfehenden den Wolf in Schafsfleidern bald
berausfanden, Daß die Jefuiten zu den Iegtern gehörten und gegen den Prediger
ihre Stimme erhoben, fchrieb man ihrem Neide und Berfolgungsgeifte zu, wäh-
rend Labadie ohne Gefährde für feine Heiligkeit gegen fie nach Vergnügen los—
ziehen fonnte. Indeß verſtand fich Labadie auf feine Rolle fo gut, daß ihn feldft
Biſchöfe in ihre Didcefen Inden und zum Prediger und Leiter von Nonnenflöftern
beſtellten. Allein überall fanden fich zulegt die Biihöfe (von Amiens, Tonloufe
und Baza) nicht wenig getäufcht und fogar in die Nothwendigkeit verfegt, gegen
die Lehre und das Leben des vermeintlichen Heiligen Unterfuhungen anzuftellen,
indem er fogar in den Verdacht gerieth, Nonnen und fromme Perſonen zu einem
fleifhlihen Myftieismus ärgfter Art in Wort und That verführt zu haben. Sol—
hen angeblichen Berläumdungen aus dem Wege gehend, flüchtete er fich zu den
Sanfeniften zu Port-Royal, und ein andersmal in eine bei Baza gelegene, von
Earmelitern bewohnte Einfiedelei, wo er, um unentderft zu bleiben, einige Mo—
nate den Carmeliter fpielte, den Gott zum Neformator des Elerus berufen und
dazu mit außerordentlihen Vifionen und Gnaden ausgerüftet habe, Einige der
guten Väter wünfchten fih Glück zu dem neuen Elias; als aber diefer merfte,
daß ihm der Erzbifchof von Touloufe auf der Spur fei, in deifen Diörefe er ein
ihm zur Leitung anvertrautes Nonnenflofter demoralifirt. hatte, floh er nah Mon—
tauban und trat im Detober 1650 zur reformirten Kirche über. Calviniſt ge—
worden, weil, wie er jegt vorgab, die Fatholifche Kirche ganz und gar. verderbt
fei, erblickte er bald in der neuen Kirche auch nichts anders als Verderben, pre=
digte und fchrieb in diefem Sinne, befhuldigte die Prediger der Unwiffenheit,
Saulheit und Verderbtheit, drang auf eine Reformation des Lebens durch Teben-
20 *
308 Laban.
digen Glauben und die Liebe Gottes, und erregte ſo überall, wo er als Prediger
angeſtellt war, zu Montauban, Orange, Genf und Middelburg in Holland, Hän-
del und Spaltungen, Ueberall verjagt und zulegt feines Amtes zu Middelburg
entfegt und aus der Gemeine ausgefchloffen, bildete er eine eigene Secte, erhielt
namentlich zu Middelburg, Amfterdam und Bremen einigen Anhang und flarb zu
Altona im 3. 1674. Seine befondern Anhänger waren Peter Yon, Peter Du-
lignon, Heinrich und Peter Schlüter, und unter feinen Verehrerinnen, an denen
es ihm nirgends fehlte, vagte Die damals wegen ihrer außerordentlichen Gelehr-
famfeit und Kenntniffe als „zehnte Muſe, vierte Huldgöttin, holländiſche Minerva
und Prinzeffin der Gelahrtheit” angeftaunte A. M, Schurmann hervor. Nah
Labadie's Tod ließen fich feine Anhänger im Weftfriesland auf einem Schloffe
nieder und lebten da in Handarbeit und Gütergemeinfchaft zufammenz im 18ten
Sahrhunderte erlofch die Heine Serte gänzlich, Für die-Beurtheilung ber eigen-
thümlichen Lehren diefer Secte, welche der Hauptfache nach bei dem ealviniſchen
Lehrſyſtem ftehen blieb, find die im Namen aller Labadiſten verfaßten Schriften
wichtig: Declarations-fchrifft oder eine nähere erflärung der reinen lehre und des
gefunden glaubens Johannis de Labadie, Petri Yvon, Petri du Lignon, Pastores,
Henrici Schlüter, Petri Schlüter etc., Herford 16715 — Veritatis sui vindex s.
solennis fidei declaratio, aucta etc. Herf. 1672. Nach dem Inhalt diefer Schrif-
ten ift Niemand ein Glied der Kirche des neuen Teftamentes, als der in Chrifto
Neugeborene, der durch die Liebe Gottes und den Iebendigen Glauben Bekehrte,
und nur für folde gehört die Taufe und das Abendmahl; die hl. Schrift ift zwar
Gottes Wort, aber nicht der einzige Grund der Religion, da fie nicht zu allen
Zeiten gewefen ift und auch einmal nicht mehr fein kann; nicht die Schrift ift das
ewige Leben und gibt es, fondern Chriftus und der HL, Geiſt; allerdings aber ift
fie eines der vorzüglichften Mittel zur Erlangung des ewigen Heiles, jedoch Fein
abfolut nothwendiges, indem Chriſtus noch immer wie früher unmittelbar durch
feine Erleuchtung Iehren kann; zudem enthält die Bibel nicht nothwendig und aus-
drücklich alle göttlichen Wahrheiten im Einzelnen, aber der göttliche, innerlich
wirkende Geift führt auf wunderbare und übernatürliche Art in alle befondern
Wahrheiten ein und vffenbaret Dinge, welche felbft ven Verftand der Engel über-
fteigen; endlich iſt auch nicht die Bibel, fondern die Authorität Opttes der Grund
des Glaubens. In Betreff des Sabbaths heißt es, die Chriften feien zur Hal-
tung eines Sabbaths (Sonntags) nicht verpflichtet, da jeder Tag ohne Unter-
fchied ein Sabbath Gottes fein müſſe; die Gütergemeinfchaft wird zwar nicht
förmlich gelehrt, aber doch ein Approximativ mit Befchränfung auf die Kirche des
neuen Teftamentes (d. i. Labadiften) als hriftliches Gebot aufgeftellt; die Be—
jchuldigung der Verwerfung des Cheftandes wird als eine Verläumdung abgewie-
fen, chiliaftifchen Träumereien das Wort geſprochen. S. Arnolds RKirchen- und
Kegerhiftorie, Th. 11; Joh. Möllers Cimbria literata t. I u. I; Walchs Ne-
Iigionsftreitigfeiten außer der Iuth, Kirche, Th. IV; die Schriften Labadie's, Pe—
ters von Yvon und Peters Dulignon; das apologetifhe Buch der Schurman
„EvxAmgı seu melioris partis electio“, Alton. 1673; Fr. X. Feller, Diclionnaire
hist.; Cl. Fleur. hist. Eccl. contin. a P. Alexandro a S. Joh. d. Gruce, ad a.
1644 etc. [Schrödl.)]
Laban (j2>, LXX. Acpev), Sohn Bethuels und Enkel Nahors, des Bru—
ders von Abraham (Geneſ. 22, 20—22), ſomit ein Bruder der Rebecca, und
Bater der Lea und Nadel, Als Jacob, fein Schwefterfohn, zu ibm Fam, nahm
er ihn zwar freundlich auf (Geneſ. 29, 9—14.), übte aber bald fehr unfreund-
liche Arglift gegen ihn. Als ihm namlich Jacob auf fieben Jahre feine Dienfte
anbot, wenn er ihm feine jüngere Tochter Nachel zur Frau geben wolle, ver—
fprach Laban diefes zwar, hielt es aber nit, Denn am Abend nach dem Hoch—
zeitstage ließ er die ältere Tochter Lea in's Brautgemac bringen, und Jacob
Labarum. 309
bemerkte erſt am folgenden Morgen, daß er betrogen war. Wollte er nun bie
NRachel dennoch zur Frau, fo mußte er dem Laban noch fieben weitere Jahre die—
nen, wozu er ſich auch entſchloß (Geneſ. 29, 15—30.). Als die zweiten fieben
Jahre vorüber waren und Jacob mit den Seinigen von Laban fortziehen wollte,
bat ihn diefer, noch länger bei ihm zu bleiben, denn er hatte gemerft, daß ihm
Sehova um Jacobs willen fegne. Jacob verlangte ald Lohn die gefprenfelten und
gefleckten Schafe und Ziegen, die Laban befommen werde. Laban fagte diefes zu,
damit aber Jacob wenig oder nichts befomme, ließ er fein gefprenfeltes und ge—
flecktes Thier in der Herde, die er dem Jacob zur Beforgung übergab, Jacob
aber legte zur Zeit, wo fich die Schafe begatteten, Stäbe, an denen er weiße
Streifen gefchält hatte, in die Tränfrinnen, und in Folge davon warfen fie bunte
und gefleckte Junge, fo daß Jacob in furzer Zeit zu einem großen Herdenrei-
thum gelangte (Genef. 30, 26—43.). Als er aber merkte, daß Laban und feine
Söhne deßhalb gegen ihn aufgebracht waren und Schlimmes von ihnen beforgte,
zog er auf einmal mit feinen Angehörigen und Herden davon, fo daß Laban erft
am dritten Tage nachher Kunde davon erhielt. Er ſetzte ihm eilends nach und
traf ihn nach fieben Tagreifen auf dem Gebirg Gilead, richtete jedoch Feine harte
Rede an ihn, denn Gott hatte ihm diefes unterfagt, fondern beſchwerte ſich bloß
über feine heimliche Flucht, und daß er ihm die Theraphim entwedet; Jacob da-
gegen beklagte fich über Labans Härte, und daß er feinen Lohn beftändig geändert
babe, und ihn befiglos in die Heimath entlaffen haben würde, wenn nicht Gott ſich
feiner erbarmt und feine Arbeit gefegnet hätte, Endlich fchloffen fie einen Bund
and verpflichteten fich gegenfeitig, in Zufunft einander auf Feine Weife zu be-
feinden und zu beſchädigen (Genef. 31, 1—55.). — Wenn behauptet wird, „daß
Sacob und Laban einander an Seldftfuht, Eigennug und Lift nicht eben viel nach-
geben" (Winer, Realw. s. v. Laban), fo bat diefe Behauptung den betreffenden
Bericht in der Genefis entjchieden gegen fih, welhem gemäß Laban es ift, der
mit Täufhung und Trug beginnt und fortfährt, und fo auch den Jacob zur An-
wendung von Lift veranlaßt. — 2) Laban hieß auch ein Ort in der Wüfte, welche
die Zfraeliten unter Mofes durchzogen (Deut. 1, 1.); wahrſcheinlich ift diejes
72> einerlei mit 25, dem 1Tten Lagerplage der Iſraeliten.
Labarum, etymologiih ein dunkler Name, den man aus verfchiedenen
Sprachen herzuleiten verfucht bat, heißt die berühmte Kreuzesfahne, welche Kaiſer
Conftantin der Grofe (f. d. A.) zuerft in der Schlacht gegen Marentius und dann
in den übrigen Kriegen als fchirmendes Hauptbanner führte, und deren fih auch
Conftantins Nachfolger als Neichsfahne bedienten. Um das, was Eufebius von
dem Urfprung des Labarums in feinem Leben Eonftantins erzählt, zu entfräften,
führt man, außer wenig erheblichen Vernunftbeweifen und einigen erft nach Eu—
febius bei Rufin (hist. eccl. I, 9), Sozomenus (hist. eccl. I, 3) u. m, A. vor—
fommenden Berichten über die Kreuzerfcheinung Conſtantins, gewöhnli den Lac—
tantins an, welcher bloß erzählt (de mort. persec. c. A4), der Kaiſer habe im
Traume von Gott die Mahnung erhalten, die Schilde feiner Soldaten mit dem
himmliſchen Zeichen Gottes zu bezeichnen und fo die Schlaht (gegen Marentius)
zu liefern, und habe diefer Mahnung Folge geleiftet („transversa X littera, summo
capite circumflexo, Christum in scutis notat“). Und auch die von dem Heiden
Nazarius 321 abgehaltene Lobrede auf Eonftantin pflegt man anzuführen, worin
der Drator nur berichtet, es fei in ganz Oallien befannt, daß vor der Schladt
gegen Marentius am Himmel himmlische Heerfhaaren zum Dienfte Conftanting
gefehen worden feien, Indeß möchten diefe Zeugniffe, genau erwogen, die Er—
zählung des Eufebius eher unterftügen als entfräften. Euſebius nun erzäßlt,
zwar nicht in feiner Kirchengefchichte, aber in dem Leben Conſtantins aus dem
Munde des eidlich die Wahrheit befräftigenden Kaifers Folgendes:
Eonftantin, fürchtend die Zauberfünfte des Maxentius, der bei den Kriegsrüftungen
310 . Rabbe,
die heibnifchen sacra forgfältig anwandte, und um fo mehr die Nothwendigfeit
einer höhern als bloß menschlichen Unterflügung fühlend, wendete fih nach dem
Deifpiele feines dafür gefegneten Vaters zu dem Einen wahren allmächtigen Gott
mit der Bitte, fih ihm zu offenbaren und ihn zu berathen. Da erfchien ihm und
feinem auf dem Zuge nach Italien begriffenen Heere um die Mittagsftunde ein
Veuchtendes Kreuzeszeichen am Himmel mit der Umfchrift: „Durch diefes fiege!“
und febte Alle in Staunen. In der darauffolgenden Nacht erfchien ihm im Traume
Chriſtus mit jenem Kreuzeszeichen und befahl ihm, fich ein Bild nach demſelben
machen zu laſſen und dieſes als ein Schugmittel gegen die Feinde zu gebrauchen,
Demgemäß berief Conftantin gleich am andern Morgen Goldſchmiede und Künſiler,
befchrieb ihnen das ihm gezeigte Bild und verlangte ein Nachbild. Gene hierauf
nahmen einen langen Speer, den fie mit Gold überzogen, befeftigten an ihm eine
Duerftange, und über der höchſten Spike eine Krone-(Kranz) aus Gpld und
Evelgeftein, und in ihr das Sinnbild des beglücfenden Namens, die ineinander
geihlungenen Anfangsbuchftaben des Namens Chrifti X Caus XP = Chr.), ein
Monogramm, welches zugleich die Geftalt des Kreuzes darftellte. An die Duer-
fange felbft aber hefteten fie ein reichgewirftes und Foftbar befeßtes ſeidenes Pur-
purtuch, an deffen Rand die goldenen Brufibilder des Kaifers und feiner Kinder
waren, Diefes Zeichen, nach welchem fogleich mehrere für die verfchievenen Le-
gionen gemacht wurden, diente dem römifchen Heere von nun an zur fohirmenden
Fahne, — Mag man nun die wunderbare Rreuzeserfiheinung Conftantins deuten
wie man will, gewiß bleibt, daß Conftantin zuerft im Kriege mit Maxentius und
dann in feinen fpätern Kriegen fi des Labarums mit feinem myſtiſchen Mono-
gramm als Haupt- und Reichsfahne bedient habe, welche er abwerhfelnd von 50
der auserlefenften Soldaten tragen ließ, die diefelbe ſtets in ihrer Mitte führten,
Auch Conſtantins Nachfolger ließen das Labarum als Neichsfahne in ihren Kriegen
wehen, ließen es jedoch fpäter als ehrwürbige Neliquie aufbewahren, Abbildun-
gen des Labarums und der nach deffen Muſter gemachten römifchen Fahnen fieht
man auf Münzen und Bildfäulen des vierten Jahrhunderts. Conftantin trug das
Monogramm des Labarums auch auf feinem Helme, wie er auch nach dem Giege
über Marentius feine Bildfäule auf dem Forum zu Nom mit einer Fahne in der
Geftalt eines Kreuzzeicheng in der rechten Hand aufftellen ließ, mit der Unter—
ſchrift: „Durch diefes heilbringende Zeichen, das wahre Zeichen des Muthes, habe
ih eure Stadt vom Joche des Tyrannen befreit“ (Euseb. hist, Eccles. IX, 9),
©, Baron. Annal. ad a. 312; Tillemont, hist. des Emp. IV; Voisin, diss. erit.
sur la vision de Constantin, Paris 1774; Gibbon, Abnahme und Fall des röm,
Reiches, c. 205 Schrbckh's Kirchengefh. V; Neanders Kirchengeſch. Bd. II.
Abth. 15 Manfp, Leben Conftanting d. Or, [Schrödl.]
Labbé, Philipp, Jeſuit. Er wurde geboren zu Bourges im J. 1607.
Im 1Tten Fahre trat er in den Orden der Jeſuiten. Er lehrte nacheinander die
freien Wiffenfchaften, Philofophie und Theologie. Er ftarb in feinem Orden im
J. 1667 den 25. März. — Seine vorzüglichen Schriften find: 1) De Byzantinae
historiae scriptoribus. Paris 1648. f. 2) Nova bibliotheca Msc. in 2 Bänden f.
1653. 3) De scriptoribus eccles. Bellarmini philolog. et histor. dissertat. 4) Ga-
leni vita. 5) Bibliotheca Anti-Janseniana. 6) Notitia dignitatum Imperii Romani
cum comment. Guidonis Pancirolli. 7) Bibliotheca bibliothecarum. ‚Par. 1664 Fol,
ein Werk, das verfchiedene Auflagen erlebte, 8) Le chronologiste frangais. 1665.
9) Concordia chronologica, technica et histor. Paris. 1670. 5 Bde. Fol, 10) Sein
Hauptwerk ift die oben eitirte Concilienfammlung (f. d. A. IV. Bd, ©, 738), 17
Theile in 18 Bänden Fol,, wovon bei feinen Lebzeiten 11 Theile gedrudft mur-
den, bie übrigen durch den P. Eoffart deffelben Drdens zu Stande kamen: Sa-
erosancta Concilia stud. Ph. Labbei et Cossarti. Paris. 1672. 18 Bände Fol, —
Laborans — Lactantius Firmianus, 311
- Venet. 1723—1732. 25 Bde. Fol. — Bl. die Vorreden des Coffart, des Ba—
Inzius in feiner „Nova collectio conciliorum.“ Par. 1683. 1f., welde aud als 18ter
— Band der Labbe-Coffart’fchen Sammlung gilt; endlich die Praefatio der „Concil.
colleclio regia maxima“ des Harduin p. VI sqq.
Zaborans, Cardinal, f. Canonenfammlungen II. S. 309.
Sachis, Ür>>, 70. Auyis, Aayns, bei Jos. Antt. 9, 9. 3. auch Acysıoa,
Vulg. Lachis, Hauptftadt des canaanitifhen Königs Japhia, der mit vier andern
Königen bei Gibeon (ſ. Gabaon) gefhlagen und bei Mafeda gehenft wurde
(Sof. 10, 3—27.), lag in der Niederung (des nachherigen) Juda's (Joſ. 15,
399, wurde von Joſua erobert (Joſ. 10, 31 ff.), dem Stamme Juda abgetreten
(Sf. 15, 31.), von Rehabeam befeftigt (2 Thron. 11, 9.), belagert und erobert
non Sanherib (2 Kön. 18, 14. 19, 8. 2 Ehron, 32, 9. ef. 36, 2.), ebenfo von
Nebucadnezar (Jerem. 34, 7, vgl. die Weiffagung Micha 1, 13.), eriftirt noch
nad dem Exil (Nehem. 11, 30.)5 ift wahrfcheinlih erhalten in der Ruine Um
Lakis, weftlih von Adſchlan, anders beftimmt Robinfon II, S. 653.
Zacombe, f. Guyon.
2acrvir, Claudius, geboren im J. 1652 zu St. Andre, einem Dorfe
zwifchen Herve und Dalem in der Provinz Limburg, ward 1673 Magifter der
Philoſophie, ließ fih in demfelben Jahre zu Trier in die Gefellihaft Jeſu auf-
nehmen, lehrte zu Coln und Münfter mit vielem Beifall die Moraltheologie, ward
1698 zu Cöln Doctor der Theologie, und flarb dafelbft 1714 am 1. Juni, Er
fchrieb einen Commentar zur Moraltheologie von Bufembaum (f. d. A.), Cöln
1719, 2 Bde, in Fol. Lacroix gibt den vollftändigen Tert Bufembaums, und
fnüpft daran feine Erklärungen, Eine caftigirte Ausgabe der Lacroir’fchen Moral-
theologie erfihien 1767 zu Bologna von Angel. Franzoja, Lehrer der Theo-
Iogie in Padua, in Fol. Bufembaum und Lacroix wurden als laxe Cafuiften viel-
fa und bitter getadelt. Franz Anton Zaccaria nahm fich diefer beiden Jeſuiten
an, und verfocht mehrere ihrer Meinungen, welche von Concina und Patuzzi lei—
denſchaftlich waren Fritifirt worden. Viele der angeftrittenen vorgeblih laxen
Entſcheidungen erfheinen in einem milderen Lichte, wenn man erwägt, daf die—
felben eben nur jedesmal auf einen gegebenen beftimmten Fall beichränft find,
und auf eine allgemeine unbefchränfte Anwendung feinen Anfpruc machen, Uebri—
gend waren diefe fogenannten Iaren Meinungen ſchon vor den Jefuiten in der
Säule einheimifh, und brauchten nur von den letzteren aboptirt zu werden. Auch
ift nicht zu bezweifeln, daß die feharfen Gegner der laxen Moraliften in das
gegentheilige, vielleicht noch mehr Schaden anrichtende Extrem verfielen, Die
Rigoriften Haben wenigftens dadurch, daß fie die Fehler der fog. Lariften ſcho—
nungslos aufdeckten, und dasjenige, was in dem Dunfel der Schulſprache ein-
gehüllt dem Volke wenig oder nichts fchadete, öffentlich zernagten, zur Erbauung
der Gläubigen gewiß nicht das Mindefte beigetragen, wohl aber viele Seelen
feandalifirt. Beide Theile aber fehlten durch einfeitiges, Gott vorgreifendes und
leichtfertige8 Decidiren über die Moralität menſchlicher Handlungen, über die
Größe oder Leichtigfeit der Sünde, wie wenn fie e$ mit einem: materiellen
Maße und Gewichte zu thun hätten, [Dür.]
Lactantius Firmianus (in einigen Handiriften fteht noch der Vorname
Lucius Cäcilius oder Lucius Cälius) ffammte nah feinem Beinamen aus
Firmum (Fermo) im picenifchen Gebiete, und nach feinen eigenen Aeußerungen
(de ira dei c. 2. Institutt. div. VI, 2) von heidnifhen Eltern. Nach Hieronymus
(catal. c. 80) war Lactantius ein Schüler des Rhetor Arnobins (ſ. d. A.), alſo
wahrjheinlih im letzten Viertel des dritten Jahrhunderts, Eine Schrift mit dem
Titel: Symposion (100 Räthfel, je aus drei Herametern beftehend, zur Erheiterung
bei der Tafel) erregte die Aufmerffamfeit Diveletians und veranlafte die Er-
nennung des Lartantins zum Lehrer der Beredtfamfeit in Nicomedien in Bithy—
312 Lackantius Firmianus,
nien, der damaligen Nefidenz des Kaiſers. Allein in der Stadt von überwiegend _
griehifcher Bildung hatte der Lehrer der Inteinifchen Redekunſt wenige Zuhörer,
Aber auch er felbft wurde unzufrieden mit einer bIoß formellen Befchäftigung, Die
Geift und Herz leer ließ und den Drang nad realer höherer Erfenntniß nicht
befriedigte. Dieß ſcheint unfern Gelehrten ſchon vor der dioeletianiſchen Ver—
folgung ($. 303) dem Chriſtenthume zugeführt zu haben (f, Divcletian), Was
er aber beim Ausbruche derfelben und gerade in der Reſidenz Nicomedien, wo
die Verfolgung mit der Zerflörung des herrlichen chriftlichen Tempels begann,
ſah, las und hörte, mußte feine Hingebung an die Kirche Gottes nur befeftigen,
Hören wir ihn felbfi! „Während meines Aufenthaltes in Bithynien als Lehrer
der Beredtfamfeit zu der Zeit, ald das Gotteshaus zerflört wurde, verhöhnten
dort zwei Männer die verachtete und verftoßene Wahrheit mit dem empdrendften
Vebermuthe, Der Eine gab fih für einen Lehrer der Philoſophie aus; aber der
Lehrer der Enthaltfamfeit war voll Habgier und finnlicher Lüfte, der Vertheidi—
ger der Sparfamfeit und Demuth führte ein Höchft verfchwenderifches Leben; feine
fittlichen Gebrechen fuhte er durch die grauen Haare, den Philofophenmantel und,
was fich Hiezu ganz befonders eignet, dur Neichthum zu verhüllen. Er gewann
fih die Gunft der Gerichtsbehörden und verdrängte feine Nachbarn aus ihrem
Eigenthume. Diefer Mann, durch feine Philofophie fein eigener. Anfläger, ſchrieb
gerade zu der Zeit, als man die Chriften auf das Frevelhaftefte zu martern an-
fing, drei Bücher gegen die hriftliche Religion, um, wie er meinte, den Ver—
irrten zu Hilfe zu fommen und fie von jenem Starrfinne zu befreien, in welchem
fo Viele um des Glaubens willen die größten Martern dulden. D des ſchmeich—
Ierifchen, dem Zeitgeifte huldigenden Philofophen!..„.. Der Andere, der noch
beifender gegen den hriftlichen Glauben fchrieb, gehörte zu den Gerichtsbehörben
und war ein Haupturheber der Verfolgung. Er wollte in der Schrift, die er
Aöyoı pıhahm$eis zu betiteln fich nicht fehente, zeigen, „daß das Chriſtenthum
eine Sache voller Widerfprüche und daher nur eine Religion für Ungebildete fei“
Cinstitutt. V, 2. 3.). Gemeint ift Hieroeles (ſ. d. A.), der damalige Präfeet von
Bithynien, Die Entrüftung über eine fo gleißnerifhe Sprache mitten unter dem
fchreiendften Unrecht gegen die Chriften erweckte in dem redlichen Manne ſchon
damals den Entfchluß, in die Reihe der chriftlichen Apologeten einzutreten und
fih einem Berufe zu widmen, „der weit beffer, nüglicher und ehrenvoller ſei, als
das lange verwaltete Lehramt der Beredtfamfeit, in welchem er die Jugend nicht
zur Tugend, fondern zur raffinirteften Bosheit heranbifdete, , .. Nicht um bie
Dachtraufe oder Abhaltung des Waffers Handelt es ſich hier, fondern um Hpff-
nung, Leben, Heil, Gott und Unfterblichfeit“ (I. c. I, 1.). Die —— Beſchäf⸗
tigung hat für ihn nur noch Werth, foferne fie ihn mit größerer Beredtſamkeit
die Sache der Wahrheit vertheidigen lehrt, Doc nicht bloß widerlegen will Lac—
tantius, wie Tertullian und Cyprian, fondern belehren (instituere), er will „bie
Gelehrten zur wahren Philofophie,' die Ungelehrten zur wahren Religion hin-
führen“ (I. c.). Die Belehrung aber oder die poſitive Apologie muß die ganze
Glaubensſubſtanz darlegen, fie darf fich nicht, wie Cyprian gegen Demetrianus
ungeeignet gethan hat, auf Anführung von Schriftſtellen befchränfen, die ber
Gegner als erdichtet zum Voraus verwirft. Sie muß mit dem Gegner ganz von
Bornen anfangen, muß ihm aufbellende Principien geben, ihn durch Ver-
nunftbeweife widerlegen, damit er nicht, wenn ihm die volle chriftliche Wahrheit
auf Einmal vorgehalten wird, ganz und gar erblinde (I. c. V, 4). In diefer po—
fitiven Methode will Lactantius Bahn brechen und zur Nahahmung aufmuntern,
Sein letztes Ziel ift (V, 1.) Berföhnung der Philoſophie und Religion,
„Wie Niemand wahrhaft Menfch ift, der nicht ein Philoſoph iſt, fo ift Keiner ein
wahrer Philofoph, der nicht die Wahrheit bei Denen ſchöpft, welche die Welt
Thoren und Barbaren nennt” (1. c. IV, 1. 2.). Während aber im Heidenthume
Lactantius Firmianus. 313
- Religion und Philofophie in zwei feindliche Gegenfäge auseinander gegangen find,
ſtellt nur das Chriftentfum die urfprünglihe und wahre Harmonie beider
wieder her (V, 1.). Die bisher angegebenen Grundgedanfen führt Lanctantius
in den fieben Büchern institutiones divinae fo aus, daß er zuerft mit Ueber—
gehung der, wie er fagt, ſchon vom Eicero in der Schrift de natura Deorum big
zur Evidenz geführten Beweife für das Dafein Gottes den Nachweis der Ein-
beit Gottes aus den Propheten und Ausfprüchen der heidnifchen Dichter und
Philoſophen beibringt (1. Buch: de falsa religione) und (im 2, Bude: de origi-
me erroris) die Duellen des Polytheismus in dem Materialismus, der Unfittlih-
feit und Gottvergeffenheit findet, die feit dem mit des Vaters Fluche beladenen
Cham ihren Anfang genommen hätten, Nah einem Blicke auf die heidniſche Phi-
Iofophie (3. Buch: de falsa sapientia), welche, wie das Wort ſchon andeute, nicht
der Befis, fondern nur das Streben nah Weisheit fei, und im Heidenthume
den Befig der Weisheit unmöglich Habe erreichen können, weil fie von feinen un-
beftrittenen Sägen ausgegangen ſei, da ſchon die verfchiedenen formalen Principien
den Weg zur Wahrheit verfperrt hätten, gelangt er im Aten Bude: de vera sa-
pientia zu feinem Hauptthema, der Einheit von Religion und Philofophie, deren
Erläuterung ihn auf die Thatfache der Incarnation der ewigen, perfön-
lichen Weisheit, des Aöyos, und die Lehre von der Perfönlichfeit des Gott—
menfchen hinführt. Mit dem fünften Buche geht die Betrachtung auf das prac-
tifhe Gebiet über: Gerechtigkeit, im juriftifchen Sinne, die einft im goldenen
Zeitalter geherrfiht, von der Heidenwelt aber in ihrem Benehmen gegen die fhuld-
Iofen Chriften mit Füßen getreten werde, wahre Gottesverehrung — An-
erfennung der von Gott geoffenbarten Wahrheit und freudige Erfüllung ihrer
Gebote, Hingabe feiner felbft an Gott, endlih Unfterblichfeit und ewig glück-
ſeliges Leben als Lohn der Gottesverehrung, Alles diefes ift erft durch Chriftum
am’ Licht gekommen oder zur Wahrheit geworden. Die der Inhalt der drei
letzten Bücher: de justitia, de vero cultu, de vita beata. (Vgl. hierzu den Art.
Chiliasmus), Die Eleganz der Darftellung läßt in der ganzen Schrift nichts
zu wünfhen übrig, weßhalb Lactantins der hriftlihe Cicero genannt worden
iſt; wohl aber bleibt derfelbe im fachlicher Hinficht Hinter dem Ziele, das er fi
ſelbſt geſteckt hat, zurück. Die Wefenlehren des Chriſtenthums find, wie ſchon
Hieronymus (ep. 13. ad Paulin.) bemerkte, zu wenig erörtert, und wenn er auch
fehr zeitgemäß auf die eben damals fich verbreitende neuplatonifche Idealiſirung
des alten Göttercultus (im zweiten und fechsten Buche) Rückſicht nimmt, fo find
doch die Beweife für die Glaubwürdigkeit der Bücher des neuen Teftamentes
durchaus nicht mit der Sorgfalt beigebracht, zu welcher die neueften Angriffe des
Hierocles aufforderten. Gleihwohl ift diefe Schrift des Lactantius wegen der
fhönen Darftellung eine Lieblingslectüre in der Hriftlihen Welt geworden, was
die mehr als Hundert Ausgaben beweifen, in denen fie erfchienen iſt. Sie ift, da
die dioeletianiſche Verfolgung als eine fhon geraume Zeit verfchwundene dar-
geftellt wird (V, 2. 3.), mithin die Verfolgung, welche zur Zeit der Abfaffung
wüthete (VI, 6. 17.), nur die des Licinius fein kann, um das Jahr 320 gefchrie-
ben, als Lactantius bereits bejahrt am Hofe des Kaifers Eonftantin zu Trier als
Erzieher des Prinzen Crispus fih aufhielt. Gewidmet ift fie Conftantin, dem
erſten chriſtlichen Fürften und Wiederherſteller der Gerechtigkeit. Ihr Verfaffer
felbft Hat aus ihr einen Auszug (Epitome) in Einem Buche verfertigt, der erft
in neuerer Zeit von Kanzler Pfaff vollftändig herausgegeben worden ift (vgi.
Hieron. catal. c. 80). Bor den Inftitutionen fohrieb Lactantius eine Eleinere Ab-
haudlung: de opificio Dei, welche aus der Funftvollen Organifation des Men-
ſchen ſowohl nah feiner geiftigen als Teiblichen Seite gründlicher, als es Ticero in
feinen Schriften gethan Habe, gegen die Epicuräer (ſ. d. A.) den Beweis einer die Welt
leitenden Borfehung führen will, Nach den Inflitutionen abgefaßt iſt die Schrift:
314 Ractieinien,
de ira Dei, welche die Begriffe von göttliher Gerechtigkeit und Güte zu
vereinigen fucht, Eine treffliche Duelle für die Gefihichte der Chriftenverfolgungen
ift die Schrift: de mortibus persecutorum, die zum Theil aus eigener An—
fhauung ſchöpft und bis zur Herfiellung des Friedens für die Kirche fortgeführt,
alfo nicht vor 314, wohl aber auch nicht lange nach diefem Jahre abgefaßt ift,
Das tragifhe Ende aller Derer, welche die Kirche verfolgt haben, wird als Be-
weis für die Wahrheit des chriftlichen Glaubens angeführt, Nach de opif. Dei
c. 15. 20. Institutt. VII, 1; IV, 30. hatte Lactantius noch mehrere Schriften gegen
die heidniſche Philofophie, gegen die Häretiferzc, beabfichtigt, von denen wir nicht
wiffen, ob fie wirklich gefchrieben worden find, Hieronymus erwähnt im Catalo-
gus noch ein itinerarium und acht Bücher Briefe, die wir nicht befigen, während
die einigen Ausgaben beigefügten Gedichte: de Phoenice, de Pascha, de passione
domini entfchieden unächt find. Dfann Cin den Beiträgen zur griechiſchen
und römifhen Literaturgefchichte, U. Band, Caffel u, Leipzig 1839, ©,
365— 367) glaubt unfern Schriftfteller auch den römifhen Grammatifern
beizählen zu fünnen. Die’ beften Ausgaben von Lactantius find die von Le
Drun und Lenglet Dufresnoy, Paris 1648. 2 Bde,, und die zu Nom 1755 —
1760 erfchienene von Eduard a St. Kaveriv, Die Ausgabe für die Bibliothef der
Iateinifchen Kirchenväter von Gersdorf hat D, Fridolin Fritſche (Prof. der
Theologie in Zürich) beforgt. Vgl. über ihn Dupin, bibl. eccles. I. p. 205 sqg.
le Nourry, Apparat. ad Bibl. Patr. II, Dissert. I. p. 571 sqq. Möhler's Pa—
trologie, herausg, von Reithmayr. Negensb, 1840, ©. 917— 933, [Scharpff.]
Ractieinien. Zum Begriff des Firhlichen Faftens gehört neben Anderem
auch das Sich: Enthalten von gewiffen Speifen (delectus ciborum. Trid. Sess. 25.).
Zu diefen gehören, um es bier nur kurz mit dem bi, Thomas zu bezeichnen
(Summ. H. II. qu. 147. art. 8.): carnes animalium in terra quiescenlium et respi-
rantium et quae ab eis procedunt, sicut laclicinia ex grassibilibus et ova ex avi-
bus. Unter Lacticinien begreift man das, was als Speife aus den Säugethieren
gewonnen werden fann: Milch, Butter, Schmalz, Käfe = Milchfpeifen, Das
Verbot des Genuffes von Lactieinien wurde zwar vielfach auf alle Faſttage aus—
gedehnt, doch galt es vorzugsweiſe und gilt e8, wenigftens im Derident, nurmehr
als Auszeichnung der Duadragefimalfaften vor Oftern. Was zunächſt die grie—
chiſche Kirche betrifft, fo gebot ſchon die Synode von Laodicea (367. c. 50.),
man folle die ganze Faftenzeit vor Oftern in der Kerpphagie zubringen, d. h. nur
trockene Speifen effenz das Trullium (706. c. 56.) verbot den Genuß der Lae—
tieinien (Räfe) wie des Fleifches und der Eier unter Strafe der Ercommunication
bei Laien und der Depofition bei Elerifern, Die Enthaltung von den Lactieinien
beginnt bei den Griechen nach Ablauf der fog. Butterwoche (Tugoyayos, Tv-
e17), welche mit dem Montag nach unferem Sonntag Seragefimä anfängt und
mit unferem Sonntag Duinguagefimä endet. Diefe firenge Faftendiseiplin, welche
übrigens hiemit noch nicht einmal befchloffen ift (ſ. Goar, Euchol. pag. 207),
wird von der, auch in diefem Punct am Aeußerlichen ftarr fefthaltenden, griecdhi-
ſchen Kirche auf die übrigen Faften gleichfalls ausgedehnt (Goar l. c.). In ber
abendländiſchen Kirche bildete fih allmählig die Praxis, welde Thomas Ag.
d. c.) folgendermaßen befchreibt: In jejunio quadragesimali interdicuntur univer-
saliter etiam ova et lacticinia, circa quorum abstinentiam in aliis jejuniis diversae
consueludines existunt apud diversos. Demzufolge erneuert der HI. Carl Borro-
mäus, biefer große „Interpres Concilii Tridentini“, nur ein altes Gebot (ef. z. B.
Conc. Quintil. 1085. ete.), wenn er (in Conc. Mediol. I.) fagt: Nos auctoritati et
S. S. Canonum decretis innitentes edicimus, uf omnes a carne caeterisque omni-
bus, quae in carne trahunt originem, ut ovis, lacte, caseo, butiro et hujusmodi
per totam Quadragesimam abstineant. Außerdem fei noch bemerkt, daß Papft Ale-
xander VII. folgende Sentenz (32,) proferibirt hat: Non est evidens, quod consue-
Lactieinien. 315
tudo non comedendi ova et lacticinia in Quadragasima obliget. Daß außer ver
40tägigen Faftenzeit an vielen Drten auch an den übrigen Fafttagen die Enthal-
tung von den Lacticinien geboten war, geht unter Anderem aus dem allgemein
gehaltenen Schreiben Gregors d. Gr, an Auguftin in England (aufgenommen von
Gratian ep. 6. D. IV.), fodann aus den Dispenfen hervor, worin der päpftliche
Stuhl 3. B. im 3. 1344 den Didcefen Cöln und Trier, im J. 1485 der Land—
Schaft Meißen Milchfpeifen und Eier an allen Fafttagen, die Duadragefima aus-
genommen, erlaubte, ſ. Marzohl, Lit. sacr. Bd. IV. p. 304. Das Verbot der
Enthaltung von den Lactieinien in der Duadragefimalfaften ruht fonach auf einem
allgemeinen Kirchengeſetz, welches Benediet XIV. und Clemens XII. neu einfchärf-
ten, Der Zweck diefes Gebotes ift ganz derfelbe, der dem delectus ciborum
überhaupt zu Grunde Liegt, f. Thomas 1. c. und den Art, „Faſten.“ Indeß ift
es allgemeine Anficht der Theologen, daß die Enthaltung von den Lacticinien, ja
ſelbſt som Fleifche nicht als eine zum Wefen des Faftens gehörige Sache von der
Kirche anbefohlen werde, fondern nur als eine Sache, welche in höherem Maße
zur Abtödtung des Fleifches beitrage, Hieraus erwuchfen denn die vielen Aus—
nahmen von dem angegebenen Gefege. Es zeigt fih auch bier der liberale Sinn
der lateiniſchen Kirche, welche mit Rückſicht auf die Berhältniffe die Strenge ihrer
Disciplin milderte, um mit Leberfehung des Aeußerlichen und Unwefentlihen das
Wefentlihe und den Geift zu erhalten und zu pflegen. In diefem Sinne handelte
die Kirche immer, wie aus den mancherlei Dispenfen hervorgeht. Eine ſolche
erhielten 3. B. im J. 1456 die Eantone Luzern, Schwyz und Zug und alle be=
nahbarten Orte durch Calixt IL, f. Marzohl, I. co. Die von derartigen Dis-
penfen herrührenden, fo benannten Butterthürme, 3. B. in Rouen, erinnern noch
eine kirchlich ungezogene Zeit an die nachfichtige Milde der Kirche und an die An—
erkennung der kirchlichen Gewalt von Seite gewiffenhafter Altvordern. Was die
Faftendisciplin im befprochenen Punct in den teutfchen Gegenden anlangt, fo ift
der Genuß der Lactieinien und Eier fowohl durch Gewohnheit als durch den aus-
drücklich erflärten Willen der kirchlichen Vorgefegten feit langer Zeit (ef. 5. B.
Conc. Bamberg. a. 1491. tit. 37.) erlaubt (f. Butterbriefe). Benedict XIV.
fchreibt (Instit. 16.): Non ignoramus, regiones quasdam in septembrione positas
oyis et lacticiniis uti, quod crebris assiduisque immunitatibus Romanorum Pontificum
liberalitate concessis tribuendum est, illas deinde populi, pluribus annis interjectis,
eum Pontifices rem dissimularent vel scienter paterentur, in Privilegium perpetuam-
que facultatem converterunf. Haeo aufem immunitas iis potissimum causis innititur:
coeli temperie, diversa corporum habitudine, earumque regionum indigentia, ita
tamen, ut medium quoddam iter insistant et abstinentiam, qua possunt ratione,
sequantur. Wollte übrigens je bezweifelt werden, daß jenes Gebot durch) Ge—
wohnheit, auf welche doch der HI, Liguori beinahe in jeder Frage über das Faften
Rückſicht nimmt, abrogirt fei, fo fpricht der in den bifchöflihen Faften-Mandaten
alljährlich ausgefprochene Wille der Kirche die Enthebung von jenem Gebote aus,
Hiezu find die Biſchöfe durch die 19te der Duinquennalfacultäten (ſ. Facultäten)
vom hl. Stuhle ermächtiget: habent Episcopi facultatem dispensandi, quando expedire
videbitur, super esu carnium, ovorum et lacticiniorum tempore jejuniorum et
praesertim quadragesimae, Die Gründe folder Dispenfen, in denen fogar der Ge-
brauch der Fleifchfpeifen erlaubt wird, find natürlich feine andern, als die, welche
Benedict XIV., der überhaupt das Verdienſt hat, die Faftendiseiplin geordnet zu
haben (in vier Conftitutionen, sc. „Non Ambigimus“, „In Suprema“, „Libentissime“
und „Si Fraternitas‘), zur gültigen Freifprechung einer Communität vom delectus
ciborum angeführt Hat, nämlich Mangel an Speifen, welche für die Faften beſtimmt
find, fodann ärztlich erwiefener Nachtheil für die Gefundheit, Die Frage, ob ſich
diefe Dispenfen auch auf die fog. Collation am Abend beziehen, muß bejaht wer-
den, Der HI. Liguori bemerkt in Betreff des Abendeſſens: „es müffe Zweierlei
316 Ladung — Lainez.
in's Auge gefaßt werden, die Duantität und Qualität, Es fei aber vor Alfem \
zu bemerfen,, daß man hierin befonders auf die Gewohnheit der Orte fehen müffe,
wie Cajetan und Andere bemerfen”. Bonacina (päpftlicher Nuntius in Wien ıc,)
bemerft (Ct. III, de praes. eccl. punct, II): „man müffe in der Faftenzeit bei ver
refectiuneula mehr auf die Ouantität als Dualität fehen, wenn man nur feine
Speifen genieße, die am Mittagstifch verboten find.” Dieß gilt auch vom Fleifch-
effen am Abend, wo die Gewohnheit dafür ift und dieß wird wohl in den meiften
Didcefen Teutfchlands der Fall fein. Unferes Wiffens wird nur in der rhein-
preußifchen Kirchenprovinz und in Salzburg in Betreff des Fleifcheffens am Abend
eine ftrengere Ordnung eingehalten. Das Faftenmandat von Salzburg vom J. 1843
(„Sion“ Nr. 43.) erlaubt zwar das Fleifh am Mittag, Dagegen am Abend nur eine
Suppe vom Fleiſch. — Wenn fihon die Alten das senescit mundus ausfprechen,
fo kann unfere Zeit im Spiegel der alten Faftendisciplin Manches Iefen, (Frick.
Ladung, gerichtl., f. Citation,
Laetare nennt man häufig den vierten Sonntag in der Faften, Es kommt
dieß davon ber, daß der Introitus in der HI. Meffe diefes Tages, oder vielmehr
die aus Iſaias (66, 10. 11.) genommene Antiphon diefes Introitus (fie lautet:
Laetare, Jerusalem, et conventum facile omnes, qui diligitis eam; gaudete cum
laetitia, qui in tristitia fuistis, ut exulletis et satiemini ab uberibus consolationis
vestrae) mit dem Worte „Laetare* beginnt. Da der Introitus jederzeit mehr
pder weniger eine Auffchrift ift, welche die Idee andeutet, die bei der Feier der
einzelnen hl. Mefje befonders herportritt, fo folgt fihon daraus, daß der Name
Laetare ein Winf ift, daß der vierte Sonntag in der Faften in feiner Feier viel
Freudiges hat, *
Laibach, Bisthum, ſ. Kärnthen.
Laien, ſ. Klerus,
Laienbruder, ſ. Conversi.
Laiencommunion, ſ. Communio laica.
Laienpräbende, ſ. Präbende.
Laienſchweſter, ſ. Conversi.
Laimann, ſ. Laymann.
Lainez, Jacob, einer der erſten Genoſſen des hl. Sgnatius von Lojola
und zweiter General der Gefellfhaft Zefu, Er war zu Almazan bei Siguenza
in Caftilien im 3. 1512 als der Sohn reicher und frommer Eltern geboren, er-
Yangte auf der hohen Schule zu Alcala die Magifterwürde und entſchloß fi, da—
felbft Theologie zu fludiren. Da hörte er von dem Ruhme des Ignatius, der
damals in Paris ſtudirte und entfchloß fih, efwa 19 Jahre alt, in Ueberein-
flimmung mit feinem Freunde und Mitfchüler Salmeron, mehrere Hochſchulen
und insbefondere die zu Paris zu beſuchen. Dafelbft angelangt, traf er gleich in
feinem Abfteigequartier den Ignatius, den er nach feinem Bildniß erkannte, und
fogleich ſchloß fich nach gegenfeitigem Bekanntwerden das Band der Freundichaft,
die immer inniger werben follte., Als ſich Ignatius nach Nom begab, befand fich
auch Lainez, obwohl kaum von einer ſchweren Krankheit genefen, unter feinen
Begleitern und betrat aus Ehrfurcht baarfuß die Hauptftadt der Chriftenheit,
Dafelbft erhielt er vom Papfte den ehrenvollen Auftrag, an dem Collegium
della Sapienza ven Lehrftuhl der biblifchen Eregefe einzunehmen, während Faber
(f. den Art, Faber, Peter) den der fcholaftifhen Theologie erhielt, Als aber
Ignazens Genoffen anfingen, in verſchiedenen Theilen Italiens zu predigen, be—
gleitete Zainez mit Faber den Cardinal von St. Angelo auf feiner Legation nad
Parma, blieb aber zu Piacenza und prebigte daſelbſt mit großem Erfolge, fpäter
ebenfo zu Venedig und in vielen andern Städten und war zugleich überall für
Gründung neuer Collegien thätig, fehlug aber ein ihm angebotenes Bisthum und
fpäter die Cardinalswürbe ang, ja nach dem Tode Paul's IV. erhielt ex bei der
a
af
rl
Laing — Lamaismus, 317
neuen Papftwahl mehrere Stimmen. Endlih wurde er wegen feiner auggezeich-
neten theologifchen Kenntniffe und feines Eifers für die Sache der Kirche mit den
- päpfilichen Abgeorbneten nebft Salmeron vom Papfte auf das Coneil zu Trient
gefandt, wo er auch in der That ausnehmend thätig war und in fehr großem An—
fehen ftand. Nach einer höchſt fegensreichen Wirkſamkeit folgte er nach dem Tode
des HI. Ignatius diefem, zuerft als Generalvicar und im J. 1558 als General
des Ordens, fam 1561 in Begleitung des Cardinallegaten von Ferrara nach
Frankreich und betheiligte fich mit großem Ruhme an dem Neligionsgeipräh zu
Poiffy (f. d. Art. Hugenstten Bd. V. ©. 365), ohne jedoch bei der Gereizt-
beit der Gemüther eine Berfühnung erwirfen zu fönnen, erhielt aber für feine
außerordentlihen Bemühungen für feinen Orden wieder den Zutritt in Franfreich,
Hierauf erfchien er zum dritten Male auf dem Trienter Eoncil, vertheidigte da—
ſelbſt die Nothwendigfeit eines einzigen Dberhauptes der Kirche und den Vorrang
des Papftes vor allen andern Bifhöfen, fowie feine Unfehlbarfeit. Als General
machte er fih um feinen Orden befonders durch feine Sorge für deffen weitere
Berbreitung verdient, auch begann er die einzelnen Beftimmungen der von dem
hl. Ignatius feldft verfaßten Drdensftatuten näher zu entwideln und fhärfer zu
beftimmen. (Bgl. den Art, Je ſu iten). Auch auf dem im J. 1555 zu Augsburg
gehaltenen Reichstag war er anweſend. Als er fein Ende berannahen fühlte, ver—
fammelte er feine Genoſſen um fi, ertheilte ihnen die legten Ermaßnungen und
verichied am 12, Januar 1565, in einem Alter von nur 53 Jahren. Er war ein
Dann von klarem Berftande und gefundem Urtheile; auch war er fehr beredt;
feine Mitbrüder rühmen befonders ‚feine Demuth, Sanftmuth und Frömmigkeit.
In den Acten des Trienter Coneils finden fi mehrere Reden von ihm; auch
binterließ er mehrere unvollendete theologifhe Werke. Sein Leben ift ſpaniſch
geihrieben von P, Ribadeneira, in's Lateinifche von Andreas Schott und in's Fran-
zöfifhe von Michel d'Esne, seigneur de Bettancourt, Douai 1597 überfegt. [Fehr.]
2aing, f. Fleetheirathen.
Lais oder Leſem, f. Dan Stadt und Stamm.
Zaifirung, f. Communio laica.
Lamaismus. Sp nennt man eine Religion, welche fih bei mehreren Völ—
fern Hinterafiens, bei den Mongolen, Kirgifen, Ralmüfen, wohl auch in China
Cin den weftlihen und nordweftl, Grenzdiftricten), vorzugsweife aber in Tibet
findet. Die Priefter derfelben, welche zugleich gewiffermaßen die Götter find,
heißen Lamas, Daher die Benennung. Lama heißt Mutter. Sind alfo die Prie-
ſter Lamas genannt, fo ift damit ausgefprochen, diefelben nehmen zn dem Volfe die
gleiche Stellung ein, als die Mütter zu den Kindern. Die Priefter find für das
Bolf der Grund der Eriftenz, die Duelle des Heils, die Subftanz des geiftigen
Lebens. Alles fließt von ihnen aus und auf fie zurück. Demgemäß ift ſelbſtver—
ſtändlich die fociale und politifhe Verfaſſung eine theoeratiihe; Tibet ift von
„jeher ein vollfommener Priefterftant gewefen und ift es noch Heute, obgleich es
längft unter Chinas Dberhoheit ſteht. Dem entfprechend find die Mitglieder der
Prieſterſchaft (Chubarag) fehr zahlreih; faft aus jeder Familie wird einer der
Söhne ein Lama, Hauptbefhäftigung der Priefter ift Betrachtung, Meditation,
Gebet, Umgang und Affimilation mit dem Göttlihen. Daher Ieben fie zurüd-
gezogen von der Welt, ohne Theilnahme an den weltlich materiellen Beſchäf—
tigungen, größtentheils in Klöftern, mäßig, enthaltfam, büßend, oft fich ſelbſt
peinigend, ehelos. (Nur wenige Stämme erlauben ihnen die Ehe). Da aber die
ganze leitung des Volfes, auch die politifhe, in ihrer Hand Liegt, fo haben fie
ſich auch pofitio geiftig zu beſchäftigen. Ihre Yauptarbeit ift die geiftige Bildung
des Volfes, Unterricht und Erziehung, mithin auch Pflege der Wiffenfhaft. —
Daß fie hierarchiſch geordnet feien, verfteht fi vom ſelbſt. An der Spike ſteht
der Großlama. In Tibet gibt es deren zwei, naͤmlich Dalai-fama, welcher
318 Lamaismug, &
in der Nähe von Hlaffa, im norböftl, Tibet, (120 Gr. öſtl. &. u. 30 Gr, nörbl,
Br.), und Bogdo-Lama, welder im füblichen Tibet refivirt und herrſcht.
Anderwärts führen die Oroflamas andere Namen, 3. B. in Butan Dharma-
Lama, Es ift aber nicht wahrfcheinlich, daß diefe mehrfachen Großlamas einander
gleichftehen. Sicherlich gab es urfprünglih nur einen Großlama, nämlich den
Dalai⸗Lama (meergleiche Lama); im Laufe der Zeiten mögen, hauptfächlich wohl
in Folge weiter Entfernung von Hlaffa, Einzelne der höchftgeftellten Lamas ſich
von jenem mehr oder weniger unabhängig gemacht haben, Aber auch noch heu—
tigen Tags gilt doch im Grunde der Dalai-Lama als der abfolut höchſte. Wäh—
rend 3. B. der Bogdo-Lama von den Chinefen ziemlich geringfhäsig behandelt
wird, empfängt der Dalai-Lama felbft durch den Kaifer göttliche Verehrung.
(Der Kaiſer niet vor ihm, während er ſich nicht erhebt, fondern figend die Hand
auf des Kaifers Haupt Iegt, um ihn zu fegnen). — Mit göttlicher Verehrung ift
'e8 überhaupt, daß dem Dalai-Lama begegnet wird; daher nie Jemand aus dem
Volke ihn zu fehen befommt, — Was hiemit ausgefprochen iſt, nämlich daß er
Gott fer, iſt buchftäblich zu nehmen; er ift der incarnirte, als Menfch exiftente
Gott. Stirbt er, fo ift es nur, um alsbald in einem andern Menfchen wieder
zu erſcheinen. Daher beftimmt in der Regel er felbft, furz vor dem Tode, feinen
Nachfolger, d.h. er gibt (mehr oder weniger beftimmt) an, in wem er nad
feinem Hinſcheiden forteriftiren werde, Die Lamas haben dann dieſen neuen
Dalai-Lama zu erkennen, Nicht felten ift e8 ein Kind, wo dann während der
Minderjährigfeit eine Bormundfchaft regiert, Gerade gegenwärtig ift dieß der
Fall, Vgl. die Berichte des Miffionäars Huc in den Annalen der Lyon. Gefellfh.
zur Verbr. des Glaubens Jahrg. 1849. Der Gott, welder in dem Dalai-Lama
als Menſch eriftirt, ft Buddha, Buddha aber ift, wie befannt, eine der In—
earnationen des Wifchnu, welch’ letzterer eine der Erfcheinungsformen der indifhen
Gottheit if, Hiemit find wir auf das indifhe Gnttesbewußtfein hingewiefen. In
der That, der Lamaismus ift nichts Anderes als eine befondere Geftalt des Bud-
dhaismus, und diefer nichts Anderes, als eine befondere Geftalt des Brahmais-
mus, der uralten indifhen Neligion, Mithin müffen wir, um den Lamaismus
zu verftehen, einen Blick auf das indifche Gottesbewußtfein und deffen Geſchichte
werfen. — Die Indier haben, wie alle Heiden, in Ermanglung wahrer Gottes-
erfenntniß die Elemente der phyfifchen Welt, die Grundfioffe und Grundurſachen
des Dafeienden, vergöttert: Erde, Waſſer, Luft, Feuer, Sonne u. ſ. w. Daß
ein fo geftaltetes Gottesbewußtfein Anfangs fehr bunt Habe ausfehen und un-
fiher fein müffen, Teuchtet von felbft ein, Wie vielerlei Fann als Element be-
trachtet werden und auf wie vielerlei Weife! Es hat aber bei den Indiern bald
die beftimmtere Geftalt angenommen, daß als das Göttliche der Proceß als
folcher galt, in welchem fich das Univerfum ununterbrochen bewegt, Derfelbe
verläuft fich in drei Momenten: Entftehen, Beftehen und Vergehen, und zwar fo,
daß Iegteres immer wieder der Anfang eines Neuen ift, mithin ein ewiger Kreis—
Yauf flattfindet, Daß das Univerfum fi in ſolchem Proceffe befinde, Fann jedem
finnenden Beobachter nicht entgehen. In ausgeprägtefter Geftalt aber tritt er ung
vor Augen in demjenigen Theile der Natur, der gerade den Indiern am meiften
vor den Augen liegt, in der vegetativen Natur, In der Pflanze tritt ebenfo Die
beftimmte Unterfchiedenheit und Getrenntheit, wie die wefentliche Einheit und
Zufammengehörigfeit jener drei Momente Har zu Tage Cin Kern, Pflanze und
Frucht). Diefe drei Momente nun vergöttert, fo waren bie drei Götter Indiens
gefchaffen: Brahma, Wifhnu und Schiwa — das Princip der Entftehung,
der Erhaltung und der Zerftörung, welch’ Tegtere zugleich die Bedingung eines
neuen Lebens, die Erneuerung des abgelaufenen Proceffes iftz und von felbft
waren diefelben als Dreinigfeit (Trimurti), als integrirende Erfeheinungsformen
des Einen Göttlichen begriffen, weldes das Parabrakma if, — Da jeder
Lamaismus. 319
Menſch begreiflich es für Pflicht Hält, diejenigen Gedanken in dem Leben auszu-
prägen, zu verwirklichen, welche den Inhalt feines Gottesbegriffes bilden, fo hat
ſich hiernach das Leben der Indier nothwendig dem Pflanzenleben nachgebildet.
Hiernach muß jeder Indier es für wefentlihe Beftimmung halten, fih in das
Ganze zu vertiefen, ſich aufzulöfen in der unendlichen flüffigen Subftanz, als
Individnum zu verfhwinden, wie der Waffertropfen in dem Ocean verſchwindet.
Dieß ift der Grundgedanfe, der das ganze Leben der Indier trägt, durchdringt,
harakterifirt. Gleichen Schrittes aber mit der Geftaltung des Gpttesbewußtfeins
zu dem beftimmten Brahma -Wifchnu- und Schiwa - Bewußtfein bildeten fi die
Kaften als concreter Ausdrud der drei Momente des in der Pflanze repräfen-
tirten Naturproceffes. Die ganze Nation ift eine Pflanze; die Brabmanen find
das erſte, die Kſchatrvas und Bayfyas das zweite, die Sudras das dritte
Moment derfelben, (Die Parias bilden nicht ein Glied im Organismus). Es
mag wohl fein, was neuerdings mehrfach vermuthet und behauptet worden, daß
zufällige Hiftorifche Ereigniffe und örtliche Verhältniffe die Kaften-Bildung veran-
laßt haben, Trotzdem ift in den Kaften der foeben genannte Grundgedanfe aus-
gefprochen, Das früher erwähnte Lebensprineip der Indier aber hat fih in allen
Kaſten zumal, in jeder aber auf eigenthümliche Weife verwirklicht und ausgeprägt:
bei den Brahmanen in ſtiller Meditation und abftracter Speculatioh, bei den
Kſchatryas und Vayfyas in concreter, aber werthlofer und verfhwindender Wirf-
famfeit, bei den Sudras in gewaltfamer, ſchmerzlicher Selbftzerftörung. — Es
leuchtet von feldft ein, daß die Mitglieder der nievern Kaſten, vor Allem die
Sudras (Taglöhner, Diener), aber au die Vayſyas (Handwerfer und Adfer-
bauer) ſich durch diefe Kafteneinrichtung, nachdem diefelbe erblich geworden und
‚unabänderlich befeftigt war, haben beengt fühlen müſſen. Warum follen die ver-
ſchiedenen Arten, fih mit dem Göttlihen zu affimiliren, einerfeits die bequeme
der Brahmanen, andererfeits die mühevolle und fehmerzliche der Sudras, erblich
fein? Warum fol fih Gott in den andern Gefihlechtern nicht ebenfo manifeftiren,
wie in dem der Brabmanen, und in diefem nicht ebenfo wie in jenen? Mit
andern Worten: man fieht nicht ein, warum das Brahmanenthum erblih, warum
nicht jeder Menſch ein Brahmane foll fein fünnen, Bon diefem Gedanfen ift
die Buddhaiftifche Reformation (c. 600 v. Chr.) ausgegangen, Dem Buddha,
‚der ohne Zweifel ein Bayfya oder, wahrfheinliher, ein Sudra gewefen ift (er
ſoll Gautama geheißen haben), ift es gelungen, ſich als vollffommene Manifeftation
Gottes, beftimmter als Incarnation des Wiſchnu, darzuftellen und geltend zu
machen, indem er ein den Brahmanen vprbehaltenes Leben führte und es darin
zu tadellofer Bollfommenheit brachte. Damit aber war das Kaftenwefen mit
einem Schlage vernichtet, während der Grundgedanfe des indifchen Gottesbe—
wußtfeins völfig unverfehrt blieb. Diefe buddhaiſtiſche Anfhauung nun wurde
zwar fogleich als‘ Irrlehre erfannt und verfolgt, und, freilich erft nach taufend-
jährigem Kampfe, aus Indien verdrängt; allein in dem übrigen Afien hat fie fich
weit verbreitet und bis auf den heutigen Tag, theils in der urfprünglichen, theilg
in mannigfach modificirter Geftalt erhalten; man hat berechnet, daß fie gegen-
wärtig 300 Millionen Anhänger zähle, Eine diefer Geftalten nun des Buddhais⸗
mus ift, wie oben bemerft, der Lamaismus. Hiemit haben wir diefen in feinem
Weſen erfannt, Jeder Menfh kann Brahmane, Nepräfentant des Göttlichen an
ſich fein, d. 5. fih in den Weltproceß vertiefen, mit demfelben iventifch werden
und fo ihn im fich darftellen. In dem Maße als es vielen gelingt, ift das Volk
glücklich, denn in ſolchen Brahmanen ift ja das Göttliche ſichtbar gegenwärtig,
und darum mit ihnen dem Leben ein fefter, firherer Grund, eine Duelle ge=
geben, aus welcher alles Heil fließt. Ebendarum heißen fie Lamas, und eben=-
darum gibt es eine fo enorme Anzahl Lamas, Streng genommen find diefelben
nichts anderes als Wiſchnu ſelbſt, denn Wiſchnu iſt ja eben die Manifeftation
320 Lamaismus.
Brahmas, der offenbare Gott. Selbſtverſtändlich aber kann Wiſchnu ſeine volle
Repräſentation nicht in Vielen, ſondern nur in Einem haben, denn fein voll-
fommener Repräfentant fann nur er felbft fein und ift nur er felbft, wenn er in
irgend einem Menfchen eriftent iſt. Natürlicher Weife aber kann er gleichzeitig
nur in einem Menfchen exiftent fein. Diefer Eine ift dann der vollfommene
Wiſchnu; und dieß nun ift der Dalai-Lama. Hieraus ergibt fich von ſelbſt, in
welchem Sinne die übrigen Lamas NRepräfentanten Wiſchnus feien, Sie find es
als Abbilver des im Dalai-Lama eriftenten Urbildes, ähnlich wie die das Sonnen-
Yicht widerftrahlenden Tautropfen Sonnenlicht find. Aber auch der Dalai-Lama
ift, wie wir bereits gefehen, nicht unmittelbar, fondern mittelbar Wifchnn, Un—
mittelbar Wifchnu, nämlich der incarnirte Wiſchnu, ift Buddha; der Dalai-Lama
ift nur der als Menſch forteriftirende Buddha; und dieß wird nur fo lange dauern,
His Wifchnu ſich wieder incarniren wird, — Weiter fünnen wir Die Sache nicht
verfolgen, auch nicht eingehen in das unendliche Detail ver mythologifchen Theo—
logie. Darüber find die unten zu bezeichnenden ausführlichen Werke zu Rathe zu
ziehen. Hier muß e8 genügen, die Örundgedanfen gegeben zu haben, — Man
liebt e8, Vergleichungen zwifchen dem Lamaismus und dem Chriftenthume anzu—
ftellen. Wir fünnen uns in diefem Puncte furz faſſen. Die Lamar’fche (indiſche)
Trinität ift jene Trinität, welche in der Creatur überall ausgeprägt ift und Zeug-
niß für die Wahrheit des hriftlihen Gottesbewußtfeins gibt, inwiefern man von
der Annahme ausgehen darf, Gott offenbare fi in feinen Werfen als den, der
er if, Wer die Iamaifch-indifhe Incarnationslehre nicht als eine der unzähligen
Hindeutungen auf Chriſtum erfennt, welche überall im Heidenthume wie im Juden-
thume liegen und Zeugniß für die Wirklichkeit der chriſtlichen Offenbarung geben,
fondern im Gegentheile zum Vorwand nehmen will, die chriftlihe Gefchichte zu
einem Mythus zu ftempeln, mit dem fann man fich ebenfowenig in eine Erörte-
rung einlaffen, als mit Jenem, der beim Anblick eines Schattens nicht auf das
Dafein eines Körpers fchlüße, fondern gerade aus dem Dafein des Schatteng
den pofitiven Beweis zu führen unternähme, es exiſtire überall fein Körper,
Sn jener Incarnationslehre ift das Bewußtfein ausgeſprochen: Gott muß Menſch
werben; ' daran hängt das Heil des Menſchen. Dieß Bewußtfein führt fih auf
das weitere zurück, der Menfch wie er ift, fer nicht was er fein foll und vermöge
nicht durch fich felbft zu werden, was er werben müffe, Iſt hierin eine Wahr-
heit ausgedrückt, fo folgt doch wohl nicht, daß die chriſtliche Gnadenlehre unwahr
fei, denn die Wahrheit, die ich befige, wird dadurch, daß ein Anderer fie gleich-
falls, fei e8 ganz, fei e8 zum Theil, befigt, nicht Unwahrheit. Vollzieht ſich aber
diefes Bewußtfein bei den Lamas in einer Selbftertödtung, welche dag Nachbild
der beftändigen Selbftauflöfung der einzelnen Naturproducte, vorzugsweife der
Pflanzen, ift, fo erfennt als Grund hievon wohl Jedermann das oben erklärte
indifche Gottesbewußtfein; und das Chriſtenthum iſt dafür ebenfowenig verant-
wortlich als für das Andere: daß man zwifchen der lamai'ſchen und chriſtlichen
Ascefe nicht nur äußere Aehnlichkeit, fondern eine Gleichheit gefehen bat, welche
nicht exiftirt. Das Wefen der hriftlichen Ascefe iſt nicht Selbftauflöfung, fon-
dern Unterwerfung des menfchlichen unter den göttlichen Willen, Selbfterhaltung
im Dienfte diefer Unterwerfung. Der Unterfchied ift nicht minder wefentlich, als
es der zwifchen der hriftlichen und indifhen Trinität beftehende if, Was das
lamaiſche Prieftertfum betrifft, fo Fann man in bemfelben den Gedanken ausge-
drückt finden, die Beforgung der geiftigen, insbefondere der religiöfen Angelegen-
heiten der Menfchen erfordere ebenfo wie jedes andere beftimmte Gefhäft ein
befonderes Organ. Diefen Gedanken, fowie die hierarchiſche Ordnung jener
Priefterfchaft wird Jedermann vernünftig finden und als einen ber vielen Be—
weife erkennen, daß durch die Sünde die Vernunft nicht vernichtet worden, Die
Rohheit, welche den Dalai-Lama mit dem Papft oder vielmehr diefen mit jenem
Lambeeius. 394
vergleicht, kann nicht in Betracht Fommen. Dagegen wäre ein Wort zu fagen
- über den Vorwurf, den man den Miffionären gemacht hat darüber, daß fie, wie
auch anderwärts, fo befonders in Tibet an die Iandläufigen Begriffe angefnüpft
haben, um, wie man fagt, die chriftlihen Begriffe gleihfam einzufhwärzen,
Woran foll denn der Miffionär feinen Unterricht knüpfen, wenn nicht an die vor=
bandenen Begriffe? Der Heide kann wohl am Teichteften vom heidnifchen, der
Jude vom jüdifchen Gottesbewußtfein, näher ein Jeder von der Wahrheit aus,
welche fein Gottesbewußtfein (mehr oder weniger) enthält, zum riftlihen Got—
tesbewußtfein geführt werden. Bon dort hat alfo auch der Miffionär auszugehen,
wie fchon die Apoftel gethan Haben. Daß der Lamaismus befonders viele An—
fnüpfungspuncte biete, muß allerdings aus Vorſtehendem Far geworden fein.
Daß jedoch jenes Anfnüpfen an Iandläufige Begriffe fih nicht dahin erftreden
dürfe, daß dadurch die hriftliche Lehre beeinträchtigt werde, oder eine irrige Ver—
wechſelung oder Bermifchung flattfinde oder möglich werde, verfteht fih von felbft.
Bergl. hierzu die Artifel: China, Indien, und Tibet. — Die Literatur über
den bier behandelten Gegenftand ift fehr umfangreig. Man findet eine ziemlich
vollftändige Angabe derſelben in Haunſch, Gefhichte der Philoſophie. Olmütz
1850, S. 119 ff. Im weitern Sinne gehören hieher alle Schriften, welche fi
mit Indien und der indifchen Religion befchäftigen. Wir nennen von denfelben
nur, als die neuejten und beften: Benfey, Jndien, in der allg. Eneye. v. Erf
und Gruber, Bd, XVI., und Laffen, indifche Alterthumskunde. 1843 ff. (Bonn),
Speciell den Buddhaismus und Lamaismus behandeln: Hüllmann, hiſtoriſch—
fritifcher Verſuch über die lamaiſche Religion. Berlin 1796; Stäudlin, de reli-
gione lamaica. Göttingen 1808; Schmidt, Forfhungen im Gebiete der ältern,
religiöfen, polit. und literar. Bildungsgefchichte der Mongolen und Tibeter,
Petersburg 18245 Bochinger, la vie contemplative, ascetique et monastique
chez les Indous et chez les peuples buddhistes. Strasbourg 1831; Schott, Bud-
dhaismus in Hochaſien und in China, Berlin 1846. Außerdem enthalten die
Annalen der Lyoner Gefellfchaft zur Verbreitung des Glaubens intereffante und
belehrende Beridte, [Mattes,]
Lambeeius (Lambef) Peter, 1628 zu Hamburg geboren, war der Sohn
des Nechenmeifters Heino, machte in der Wiſſenſchaft fo ftarfe Fortfiritte, daß
er bereits in einem Alter von 19 Jahren feine gelehrten „Lucubrationen” über
Aulus Gellius herausgab (Paris 1647). Bom Privatunterrichte trat Lambecius
in die Johannisfhule, von da 1644 auf’s Gymnafium, wo Friedrich Lindenbrog-
und Lucas Holftien, feiner Mutter Bruder, mit dem Lambecius fhon im 13. Jahre
eorrefpondirte, feine Lehrer waren. In Amflerdam, wohin er ſich 1645 begab,
machte er mit Johann Bolfius, Cafpar Barläus und Bartholomäus Nihuſius ge-
naue Befanntihaft. Bald darauf wandte er fich nach Paris, wo er auf die Em—
pfehlung Holftens mit den erften Gelehrten in Verbindung trat. In Touloufe
warb er zum Doctor der Nechte creirt. Er durchwanderte Ligurien und Etrurien,
und verweilte zwei Jahre in Nom bei feinem Oheim Holften (f. Holftenius),
fehrte nah Hamburg zurüd, ward bier 1652 zum Profeffor der Geſchichte er-
nannt, und heirathete eine reihe, aber alte und geizige Frau. Diefe verließ er
ſchon 15 Tage nad der Hochzeit, reiste abermals nah Nom, wo er fi der
Gunft des Papftes Alerander VII. und der Königin Chriftina von Schweden
(1.2 9) erfreute, Er trat dafelbft öffentlich in die Fatholifche Kirche über,
Leicht vergaß er bier der Heimath, wo inzwifchen der Neid feine Studien un-
gunſtig Fritifirt, und ihn als Häretifer, ja fogar als Atheiften angeklagt hatte,
Hierauf verfügte er fih nah Wien, ward vom Raifer Leopold fehr ausgezeichnet
empfangen, zum Faiferlihen Rath, Biblivthecar und Gefchichtfchreiber ernannt.
Auf diefem Poften farb er zu Wien 1680, 52 Jahre alt. Zahlreihe Schriften
verſchaffen ihm ein rühmliches Andenfen, unter andern feine: Origines Hambur-
Kirchenlexikon. 6. Bo. 21
322 Lambert von Afhaffenburg — Lambert, Franz.
genses ab anno 808 ad annum 1292, 2 vol. in A., 1652 et 1661; und 2 Bde,
in Fol, 1706 u, 1710. Dann feine gelebrten: Animadversiones ad Codini Ori-
gines Constantinopolitanas, Paris 1655 in Fol, Ferner Commentariorum de Bib-
liotheca Caesaria Vindobon. libri VII. mit dem Supplement von Daniel v. Neffel;
ſo wie auch fein: Prodromus Historiae litterariae etc. [Dür,]
Lambert von Afhaffenburg, Mönd zu Hersfeld, blühte im eilften Jahr—
Hundert, Sein Vaterland ift unbefannt; man vermuthet, daß er aus den Gegen-
den der Maas, vielleicht aus dem Bisthum Lüttich flammte, Gewiß ift, daß
Aſchaffenburg nicht feine Vaterftadt war, Die Zeit feiner Geburt wird mit ziem-
Sicher Wahrfcheinlichfeit in die Jahre 1034—1038 verlegt, Im J. 1054 trat
er in das Klofter Hersfeld (ſ. Hirſchfeld) ein, angezogen durch den Ruf des
Abtes Megieher, den er einen Mann großer Tugenden in Chrifto nennt, In
demfelben Jahre, im Herbfte, erhielt er zu Aſchaffenburg durch den Erzbifchof
Liutpold yon Mainz die Priefterweihe, Alsbald trat er, ohne Vorwiſſen feines
Abtes, in heiligem Eifer eine Pilgerreife nach Jerufalem an, Den 24, Der. 1058
befand er fih an den Grenzen der Bulgarei; den 17. Sept, 1059 war er wieber
in Hersfeld, Noch traf er feinen Abt am Leben, der ſchon am 26, deffelben
Monats zur ewigen Nuhe einging. Auf Megieher folgte Abt Nuthardt, den
Lambert befonders wegen feiner Kenntniß der hl. Schrift und feiner Beredtfam-
feit Iobt, Die wichtigen Ereigniffe, welche feit dem 3. 1071 in dem Kampfe
zwifchen Heinrich IV. (ſ. d. A) und den Sachſen in dem nördlichen Teutſchland
und der Umgegend von Hersfeld vor fih gingen, veranlaßten den Lambert, die—
felben in Verſen zu befchreiben, Diefe Schrift ift verloren, Hierauf fohrieb er
die Gefchichte feines Klofters, welches damals Heinrich IV. fehr oft befuchte,
Diefe Schrift „Libellus de institutione Hersveldensis ecclesiae“ reichte bis zum
J. 1074. Bon diefer Schrift befigen wir nur die VBorrede des BVerfaffers; und
einen Auszug von einem Mönche in Hamersleben, der übel gerathen iſt. Hierauf
verfaßte Lambert fein berühmteftes ung erhaltenes Werf, feine „Annales“ oder
Jahrbücher, deren Inhalt die damalige Gefchichte, befonders Teutſchlands ift.
Nach ver Gewohnheit jener Zeit beginnt diefes Werk mit Adam, behandelt aber
die in fünf Alter getheilte Gefhichte nur fo, daß es bis zum J. 703 n. Eh.
die bloßen Namen gibt. Von 703 bis 1039, dem Zodesjahre des Kaifers
Conrad, gibt e8 nah den einzelnen Jahren nur furz die Thatfachen, welche
fih auf die teutſchen Volksſtämme, die Familien der Fürften, auf Klöfter und
Kirchen u. f. w. beziehen. Dieß alles aber iſt nichts Anderes, als die faft
wörtlihe Uebertragung von Jahrbüchern, welche früher in Hersfeld verfaßt
worden waren, und. verfihievene DVerfaffer oder Fortfeger hatten, Vom J.
1040 an erzählt Lambert felbftftändig die Gefchichte feiner Zeitz aber vor ber
Zeit Heinrichs IV. ift er weder ausführlich noch genau. Die Zeiten Heinrichs IV.
aber, die er befchreibt, der sortrefflichfte Theil feines Werkes, hatte er felbft er-
lebt; die Begebenheiten aus fernern Ländern aber, aus Lothringen, Italien, Slan-
dern erfuhr er durch glaubwürdige Zeugen, Er erzählt die Geſchichte bis zu der
Wahl des Gegenfaifers Rudolph (März 1077). „Damit, wer nachher das
Werk fortfegen wollte, einen paffenden Anfangspunet habe”. — Das Todesjahr
Lamberts ift unbekannt. Die Darftellung Lamberts wird mit Necht gerühmt; er
bat die römischen Gefehichtfchreiber gelefen, und mit natürlihem Geſchicke fie nach—
geahmt, er ift zierlich und Doch ungefucht, Er verbindet Anmuth mit Klarheit
und Ordnung. Er zählt unter die beften Schriftfteller der mittlern Zeit, —
Bgl, Pertz M. G. scriptor. T. I. p. 22. T. V. p. 134—263. Diefe Ausgabe
ift von Heffe. In's Teutſche ift Lambert überfegt von Buchholz, 1819, cf.
Piderit, De Lamberto Schaffnaburgensi, rerum germanicarum saec. XI. seriptore
locupletissimo. Hersfeld. 1828. | [(Gams,]
Lambert, Franz, apoſtaſirter Franeiscaner und Hauptreformator
Lambert, der heilige. 323
von Heffen, geboren zu Avignon 1487, trat, 15 Jahre alt, in den Orden ber
- Minoriten feiner Vaterftadt und war einer der erften in Frankreich, der feinen
Orden und die Kirche verließ (1522), um dem Lutherthum und der Frauenliebe
zu huldigen. Zur Rechtfertigung feines Schrittes fchrieb er: Rationes, propter
quas minoritarum conversationem rejecit; Evangelici in minoritarum regulam
commentarü; und einen Commentar über die Ehe und gegen den Cölibat,
Nachdem er ſich einige Zeit in der Schweiz aufgehalten, ging er noch im J. 1522
nach Eifenah und 1523 nah Wittenberg, wo er ſich Luthers Gunft erwarb, ein
Weib nahm und theologifche Vorleſungen hielt. Bon da ging er nah Mies und
von Luther, empfohlen, erfchien er 1524 in Straßburg, wo er über zwei Jahre
verweilte, bis er, vom Landgrafen Philipp gerufen, Reformator Heffens wurde
€: d. Art. Heffen), und als Profeffor zu Marburg den 18, April 1530 an der
Peft ftarb, Lambert war fein firenger Lutheraner, fondern neigte zum Zwing-
lianismus hin, in feiner Schrift „de symbolo foederis nunguam rumpendi, quam
communionem vocant, confessio* fagte er fich förmlich von der Iutherifchen Abend-
mahlslehre los und äußerte, die Lehre von einer leiblichen Allgegenwart Chriſti
fei eine viel ärgere Lehre als das, was die Papiften Iehrten. Bucer bezeichnet
den Lambert in einem Brief an Zwingli als einen leeren, nichtigen, von Eigen-
liebe aufgeblafenen Menſchen; auch andern Reformatoren foheint er mißfallen zu
haben, fowohl wegen feines Verfahrens und des Tones, den er anftimmte, als
auch weil er ohne Rückhalt aus den Principien der Neformation Confequenzen
308, welde Melanchthon, Bucer und Andere der gemäßigteren Richtung theils
verabfcheuten, theils verhüllten. Sp ſprach er es keck aus, daß ſchon ganz furz
nad der Zeit der Apoftel die ganze Welt von dem reinen Evangelium abzufallen
begonnen habe, erft zu Wittenberg fei das ganz verloren gegangene göttliche
Wort wieder aus dem Grabe erftanden. In fpätern Jahren flimmte aber auch
Lambert herbe Klagen über die Früchte der Reformation an: „Ich lebe in Schmer—
zen und Wehflagen“ , fhreibt er an Myconius, „denn ich fehe nur äußerſt Wenige
von der Freiheit des Evangeliums den rechten Gebrauh machen; ich fehe, dag
faft gar feine Liebe mehr vorhanden, fondern Affes voller Berläumdung, Lüge,
Schmähfuht und Neid if“, Düftere Schilderungen des Zuftandes, worin ſich
das neue Kirchenwefen und die proteftantifchen Gemeinden befanden, kommen be—
fonders in der Schrift de symbolo foederis etc. vor. Uebrigens find Lambert's
Schriften Far und präcis abgefaßt und gehen ohne Umfchweife auf ihr Ziel los.
Außer den ſchon erwähnten Schriften und mehreren Briefen und biblifhen Com—
mentarien ſchrieb er noch de fidelium vocatione in regnum Christi; de regno, civi-
tate et domo Dei ac D. N. J. Christi; farrago omnium fere rerum theologi-
carum; theses theologicae in synodo homburgensi pro ecclesiarum reformatione
1526 disputatae et propositae S. Schelhorn's amoenit. lit., worin eine Bio—
graphie Lamberts; Döllinger, die Reformation, ihre Entwicklung ze, I. 17. 2.5
IB. Baum, Fr. Lambert, Straßburg 18405 vgl. d. Art. Heffen. [Schröpl.]
Zambert, der heilige, in früheren Zeiten Landebert, war der Sohn edler,
zeicher und frommer Eltern in Maftriht. Wann er geboren, ift nicht befannt,
wahrfcheinlich nach der Mitte oder gegen das Ende der erften Hälfte des fiebenten
Jahrh. Seine Studien machte er unter der Leitung des HI. THeodard, der zuerft
Abt von Malmedi und Stablo, zulest Bifchof in Maſtricht war und als folder
im Jahre 669 anf einer Reife gemeuchelt wurde. Sein Schüler Lambert war
fein Nachfolger auf dem bifchöflichen Stuhle, welcher die Schwere feines Amtes
und feiner Zeit wohl erfannte, welche in das Sinfen der Merovinger fiel. Be—
reits herrſchten die Hausmeier und die Fürften hingen verblendet ihren Thor—
heiten und Sünden nah, weil fie zum Untergange reif waren. In Auftrafien
berrfchte damals Childerich II. oder vielmehr fein Hausmeier Wulfoad, in Neu—
rien und Burgund Theodorich II. unter dem Hausmeier Ebroin, deſſen Tyrannei
21
324 Lamennais.
eine Empbrung der Unterthanen herbeiführte, in Folge der Beide ihrer Würden
entfegt und in die Klöfter von St. Denis und Lureul geftecft wurden, Childe-
rich II. wurde von feinem Adel gemeuchelt 673. Dieß hatte mehr als eine fchlimme
Folge für Lambert, Childerich zugethan oder treu geblieben, mußte er auch unter
deffen Sturz leiden. Bon feinem Bifchoffige vertrieben, auf den fich ein Ein—
dringling Namens Faramund erheben ließ, zog er fich in's Kloſter Stablo zurück,
wo er fieben Jahre in tiefſter Demuth und Frömmigkeit zubrachte, glücklich und
zufrieden in diefer Abgefchiedenheit, die nichts ftörte, als der Schmerz über die
Bedrückung und das Sinfen der Kirche in Frankreich, Denn Theodorich benügte
Childerichs Tod, verließ das Klofter St. Denis und ließ ſich wieder als König
von Neuftrien anerkennen. Dieß bewog auch Ebroin, fein Kloftergelübde zu bre—
hen und Lureul zu verlaſſen. Im J. 677 ward er zum zweiten Male Majordomus
in Neuftrien und Burgund und nach Dagoberts II. meuchlerifhem Tode, an wel-
chem Ebroin großer Antheil zugefchrieben wird, herrſchte der ſchlimme Ebroin
nun auch über Auftrafien und ließ unfern Heiligen, wie alles Heilige feinen’
Haß und feine Nahe fühlen, bis ihn 681 Hermenfried, ein von ihm feiner Güter
beraubter Edelmann meuchlings ermordete, An feine Stelle trat Pipin von Heri-
ftal, welcher Ebroins Werf möglichft gut zu machen fuchte und unter andern ver-
jagten Bifchöfen auch Lambert 681 oder 682 wieder auf feinen Sig nah Maftricht
zurüdfehren ließ, der mit neuem Eifer fein Amt verwaltete und namentlich für
die Chriftianifirung Seelands wirkte, fih auch mit dem hl. Wilfibrord, dem Apoſtel
Frieslands, in Verbindung feste, Die Zeit und die Großen jener Zeit waren
äußerlich Firchlich und gut gefinnt, aber noch nicht frei von rohen Anhängfele
des Heidenthums. Sp hatte Pipin eine Concubine, Namens Alpais, die ihm
Carl Martel gebar,. Bei aller Güte Piping gegen die Kirche Fonnte Lambert ein
ſolches Verhältniß nicht überfehen, fondern mahnte mit apoftolifhem Freimuthe
zu feiner Auflöfung, und daher follen fih Günſtlinge oder Verwandte der Alpais
zu feinem Tode verfchworen haben. Nach einer andern Sage follen zwei Brüder
die Kirche von Maftricht geplündert und hart bedrückt Haben, in Folge deffen einige
Berwandte des hl. Lambert diefe Brüder erfihlugen. So wenig Lambert Antheil
an diefer That gehabt, fo rächte Dodo, ein Berwandter der Erfchlagenen und
der Alpais, diefelbe am Bifchofe, indem er ihn beim Dorfe Leodium, wo jet
Lüttich ſteht, mit einer Schaar Bewaffneter überftel, als eben der Bifchof aus der
Mette zurückehrte, Lambert verbot feiner Umgebung alle Gegenwehr, indem er
fagte: „Wenn ihre mich wahrhaft Liebt, fo liebet Jeſum und befennet vor ihm
eure Sünden, für mich ift es Zeit, daß ich Hingehe, um vereinigt mit ihm zu
leben.“ Nach diefen Worten foll er fich niedergefniet und betend für feine Feinde
mit ausgefpannten Armen unter vielen Thränen den Tod von einem Wurffpieße:
durchbohrt empfangen haben am 17. September 703 oder 709, nachdem er 40
Jahre Bifchof gewefen war, Adv in feinem Martyrologium und übereinfiimmend
mit ihm Regino von Prüm in feiner Chronik behaupten, Lambert fei gemartert
worden ob reprehensionem domus regiae, was man auf die Unordnungen der
hohen Hofbeamten, ihre Bedrückungen der Kirchen und des Volkes bezieht, da
wahrfcheinlich Alpais damals fchon von Pipin entfernt worden war. (Gall. christ.
nova. p. 827.) Lamberts Leichnam wurde nah Meaftricht gebracht und in der
Kirche zum hl. Petrus beigefegt. An feinem Grabe gefhahen Wunder und man
erbaute über der Stätte feiner Ermordung eine Kirche, in welche fein Nachfolger,
der hl. Hubertus (f. d. A.), 721 die irdifchen Nefte Lamberts verfegte und auch
eben dahin feinen Bifchofsfig, den der hl. Servatius von Tongern nah Maftricht
übertragen hatte, verlegte. (S. Leben der Väter und Martyrer von A. Butler,
bearbeitet v. DD. Räs und Weis, Bd, XI. unter dem 17. Sept.) [Haas.]
Lamennais, Felicite Nobert Abbe de, geb. den 19, Juni 1781 zu
St, Malo, gehört zu den merfwürbigften und außerordentlichften Erfeheinungen
Lamennais, 325
der neuern Zeit. Er ſtammt aus einer vermöglichen Familie, welche von Lud⸗
wig XV. in dem Adelftand erhoben worden war. Als der geiftlihe Erzieher, dem
- er und fein älterer Bruder Jean anvertraut war, beim Ausbruch der Revolution
nach England entfloh, gingen die Knaben bei fich felbft in die Schule, und über-
ließen fih nun einer freien und wohl auch ungeregelten Lectüre. Befonders war
es Rouffeau, der fchon fehr früh auf den Geift des jungen Lamennais einen fo
gewaltigen Einfluß ausübte, daß er bald einem öden und falten Jndifferentismus
anheimfiel. Doch vermochte diefer einen fo reichen und glühenden Geift nicht
lange zu bannen. Schon die im Jahr 1801 von Lamennais herausgegebene Ueber—
fegung des Guide spirituel von Louis von Blois befundete den Umfhwung, der
in feinem Geifte vor fi) ging, in den Reflexions sur l’etat de l’eglise en France
pendant le XVII. siecle et sur la situation actuelle. Paris 1808. gewannen feine
Ideen die erfte beſtimmte Geftalt; an der nämlichen Krankheit, die er von ſich
abgeftreift, fah er fein Volk leiden, und fo fuchte er im genannten Werk in dem
Smdifferentismus demfelben die Wurzel und den gemeinfamen Grund feines ganzen
Unglüdfs aufzuzeigen. Während er auf folde Weiſe Franfreich zur erneuten Liebe
für feinen fatholifchen Glauben, der Bedingung aller feiner Wohlfahrt, aufruft,
tritt fhon im Beginne feiner fchriftftellerifchen Laufbahn der eigenthümliche Cha—
rakter feines Wirfens und Thuns zu Tage; es fat diefes immer das Volk in
feiner Beziehung zur Religion, den Staat zur Kirche doch fo, daß das erfte Mo—
ment faft durchaus den Ausgangspunct bildet und das letztere nur eben nad dem
genannten Zufammenbang zur Sprade fommt. In den Reflexions hatte Lamen-
nais die organifchen Artifel, die dem Concordat Napoleons mit Rom vom Jahr
1801 beigefügt waren (f. d. Art. Frankreich), vom Gefichtspuncte der Achtung
Ticchlicher Rechte einer fehr ſcharfen Beurtheilung unterzogen, Die Polizei verbot
daher alsbald das dem Geift des Faiferlihen Regimentes fo entfchieden entgegen
teetende Buch, und der Berfaffer felbft zog fih in Folge davon als Lehrer der
Mathematif nah St. Malo zurück. Aber auch Hier bereitete er nur einen neuen
Schlag gegen das die Kirche verlegende Berfahren Napoleons vor; in der „Tra-
dition de Feglise sur linstitution des Evöques“, an dem er feit 1808 mit feinem
Bruder arbeitete, fuhhte er aus der Tradition nachzuweifen, daß die kirchliche
Hurisdietion allein dem hl. Stuhle zufiehe, und daß nur von ihm die Uebertra—
gung der bifhöflihen Würde zu gefhehen Habe. Der Drud diefer Schrift er-
folgte im Anfang des J. 1814, Am 11. April deffelben Jahres fank indeffen,
wie befannt , die Herrfchaft Napoleons in Trümmer. Bon der Reftauration war
eine Rückkehr des Bolfes und der Regierung zur Religion im Geifte der alten
Zeit zu erwarten, und Lamennais zögerte nicht, mit großem Eifer für diefelbe
Partei zu ergreifen, Während der hundert Tage floh er nach England, und hatte
‘hier mit ziemlich großer Dürftigkeit zu Fämpfen, Nah dem zweiten gänzlichen
Sturz Napoleons nah Franfreich zurüdgefehrt, empfing er 1817 die Priefterweihe,
Im Jahre darauf erfhien der erſte Band feines berühmteften Werfes; es führt
den Titel: „Essai sur lindifference en matiere de religion“. Seine Jdee, daß
die Religion die allein wahre Grundlage der Geſellſchaft und des Staates ſei,
wie der Indifferentismus deren unfehlbaren Untergang mit fich führe, verfocht
er bier mit fo viel Talent und Beredtfamfeit, daß fein Name bald überall mit
Auszeichnung genannt wurde; überdieß tritt der ergänzende Gedanfe, daß biefe
Religion eine ganz ſpecifiſche, auf äußerer Auctorität ruhende fein müffe, bier
mit der gleichen Schärfe und Beftimmtheit hervor. In den fpätern Bänden diefeg
Werkes, das erft im Jahr 1823 feine Vollendung erhielt, bewies er, daß die
geforderte Religion Feine andere fein fünne, als die katholiſche. Dieſem letztern
Beweis unterbreitete er indeffen als Grundlage eine Philofophie, die, wie wir
ſchon jetzt bemerken, wenn auch allmählig und Lamennais felbft lange unbewußt
doch mit unerbittliher Gewalt den Bau, den ſie fragen follte, untergrub und.
326 Lamennais.
zerflörte, — Was die Neftauration anlangt, fo lieh fie den Grundſätzen des
Abbe nichts weniger als ein geneigtes Ohr, und fo trat diefer bald in die ganz
gleiche Stellung zu derfelben, die er gegen Napoleon eingenommen hatte, Schon
im 3. 1823 fland er wegen eines Artikels im Drapeau blanc vor Gericht und
wurde zu vierzehntägiger Haft und einer Gelvftrafe verurtheilt, Als er aber
drei Jahre fpäter mit feinem Werfe: „De la religion considerde dans ses rapports
avec l’ordre publique et civile. Paris 1826“ auftrat, und bier der Behauptung,
daß in der päpſtlichen Auctorität die ganze Religion ſich gleichſam verförpere,
und daß fie darum die legte Stüße der Geſellſchaft fei, die Wendung gab, daß
der Staat in ein Abhängigfeitsverhältniß zum Papft zu treten babe; als er dem
Regierungsſyſtem zum Trog zu gleicher Zeit die gallicanifchen Artikel (ſ. Galli—
eanismus), die Carl X. unter die Staatsgrundfäge aufgenommen, mit rüdf-
ſichtsloſer Schärfe als einer Verrätherei an der Kirherund Vernunft geißelte,
Hagte der Juſtizminiſter Corbiere vor der Polizei ihn wegen Beleidigung der
Würde des Königs und Aufreizung zum Ungehorfam gegen die Staatsgefege an,
Das Gericht erfannte ihn unter dem Eindrudf von Berryer’s glänzender Ver—
theidigungsrede nur des zweiten Punctes für fohuldig, fo daß er eine Strafe im
Ganzen von 30 Franfen zu entrichten hatte, Der Minifter der geiftlichen Ange-
Vegenheiten, Frayſſinous (ſ. d. A.) fuchte auf eine andere Weife den Vorwurf
der Unfirchlichkeit und vor Allem der Verachtung der dem Papft zuftehenden Ge⸗
rechtſamen zu neutralifiren, Er berief 14 Bifchöfe nach Paris, welche in einer
Declaration vom 3, April, die gallicanifchen Artikel ihrem Wefen nach wieder-
bolend, insbefondere die Lehre, daf die weltliche Macht der religidfen unterwor-
fen fein fol, als dem Schooß der Anarchie entwachfen bezeichneten. Lamennais
ging nun nad) Rom, wo er von Leo XII. fehr ehrenvoll empfangen wurde; es
fol ihm fogar ein Bisthum, oder wie Andere wollen, ein Carbinalshut angeboten
worden fein (7). Bon Nom begab er fich nach La Chenaye, einem in der Bre-
tagne gelegenen Dorfe, Hier arbeitete er vor Allem an der weitern Entwicklung
feiner. Philoſophie. In feinem „Essai sur lindifference“ hatte er die Frage nach
der Wahrheit der Kirche auf die allgemeine, was das Prineip der Gewißheit fei,
zurüdgeführt, Diefe Ießtere wurde im Allgemeinen dahin beantwortet, daß die
Uebereinftimmung der menſchlichen Vernunft als das alleinige Richtmaß der
Wahrheit in jegliher Sphäre zu betrachten fei, das Chriftentfum aber, wird
nun weiter behauptet, hat in der That das Zeugniß der Vernunft des Menfchen-
gefchlechtes für fih. Die Religion nämlich ift nach dem Essai durchaus eine
einige von Gott urfprünglich der Menfchheit geoffenbarte, Die Auetorität, der
fih darım in religiöfer Beziehung die individuelle Vernunft zu unterwerfen hat,
ift Das Zeugniß, das die ganze Menfchheit über die Thatfachen ihres religiöfen
von Gott gefegten Gefammtbewußtfeins ablegt. Diefes Legtere hat fich nie ge—
ändert, e8 hat nur feinen eigenen urfprünglichen Gehalt entwiefelt, und als eine
folhe weiter entwickelte Form des religidfen Bewußtfeins unfers Geſchlechts ift
das Chriſtenthum näherhin die Fatholifche Kirche aufzufaffen. Das Organ aber
der in der Kirche ſich darftellenden Auctorität ift ihr Oberhaupt, der Papſt. Es
fpringt in die Augen, wie damit der Charakter des Chriftenthums als einer in
Chriſto vollbrachten Offenbarung bedroht, und daffelbe im Grund auf das Heiden«
thum geflügt und zurüdgeführt wird. In diefen Ideenkreis gehört der Gedanke
von drei Kirchen, den Lamennais um jene Zeit feinem Freund, dem Abbe Nohr-
bacher mittheilte; darnach wäre die fogenannte primitive Kirche, der die Tradition
und bie alten Völker angehören, Duelle und Norm der jüdifchen und der aus
diefer hervorgehenden hriftlichen Kirche, In dem philofophifchen Unterricht, den
er damals ertheilte, fprach fich diefe Verirrung in der allgemeinen Frage von
Natur und Gnade aus, Wenn anders die jeßt vorliegende Esquisse d’une phi-
losophie die Lehre, die er damals vortrug, auch nur annähernd getreu wieber
Lamennais. 327
gibt, fo war er fhon damals im Begriff, die übernatürlihe Gnadenordnung in
das unaufpörliche urfpränglihe und ununterbrochene Einwirken der unendlichen
Subſtanz auf das Endliche aufzulöfen, und fo dem Chriftentgum als Lehre und
Thatfache feinen Nerv, die Erlöfung vom Böfen, auszuſchneiden. Rohrbacher er⸗
zählt, daß er Lamennais mehrmals auf dieſe in ſeinen Manuſeripten und Vor⸗
iefungen vorgetragenen Irrthümer aufmerkſam gemacht und ihn auch wirklich be⸗
en babe, ganze Partien aus feiner Philoſophie umzuändern; immerhin aber
befand fich das chriſtliche Bewußtfein des Iegtern mit den Principien feines Sy-
ſtems in einem Kampf, deffen Ausgang bei Tamennais’ ftolzem und energifchent
Geifte nicht zweifelhaft fein fonnte; feine Theorie der Gewißeit trug aber noch
den Keim zu einer andern Neihe von Confequenzen in ſich. Wenn die Völfer die
Inhaber der Wahrheit vor Allem der religiöfen find, wenn biefe letztere die
©rundlage aller politifhen Inſtitutionen bildet, fo war es nur ein Schritt zu der
Behauptung: daß im Volk allein auch der Geift wurzle, der den Staat frei aus
fi zu geftalten habe. Diefen Schritt hat auch Lamennais in feinem „Essai“ be=
reits ziemlich deutlich gethan, Damit war denn aber auch der zweite Pfeiler
feiner bisherigen Weltanſchauung, welche von dem Bund der monarchiſchen Regie—
rung mit dem HI. Stuhl das Glüf der Nation hoffte, zum Wanfen gebracht.
Bon Außen rüttelte an demfelben die Widerfpenftigfeit der Reflauration, auf
feine Ideen einzugehen. Noch im Jahre 1821 erhob er ſich wider diefelbe in
feiner Schrift: „Progres de la r&volution et de la guerre contre Péglise. Wäß-
rend aber fo in feinem Innern eine große Umwälzung ſich vorbereitete, erfolgte
die Juliusrevolution vom J. 1830, in der die Demveratie in der Geftalt des
Liberalismus über das alte Syftem den Sieg errang. Bekanntlich ift einer ihrer
erfien Säge die Sndifferenz des Staates gegenüber von allen Glaubensbefennt-
niſſen oder mit andern Worten die Lostrennung des Staates von der Kirche,
Lamennais begrüßte mit Begeifterung die neue Zeit, die ihm die Vorgänge feines
eigenen Innern erft recht Flar machte, Er gründete mit Lacordaire und dem Grafen
son Montalembert einen Verein für religiöfe Freiheit; und vom Detober jenes
Jahres erfchien unter der Redaction der genannten Männer das berühmte Journal:
YAvenir. Mit unermüdlicher Energie und glänzendem Talente fuchte es die Hie-
rarchie zu überreden, von den in Trümmer gehenden Staaten ſich loszureißen,
die von feldft fich auflöfenden Concordate zu vergeffen, auf das Budget zu ver-
zichten, die Zeiten des alten und armen Chriftentgums zurüdzuführen und auf
den Grund der gebotenen. Eultus- und Unterrichtsfreigeit einen Bund mit den
- fliegenden Völfern einzugehen. In der Zeit, von der wir eben fprechen, beftrebt
fih Lamennais noch ernſtlich, das Chriſtenthum in der Form der Kirche feftzubalten
- und mit der Demoeratie zu vermäßlen, ja der Avenir betonte die einzig berech—
tigte und unfehlbare Auctorität des Papſtes, als des Hauptes der Kirche, mit
einer oft rückſichtsloſen Schärfe. Die Ideen des Journals aber wußten bei dem
befonnenen Theile des franzöfifhen Elerus fih feinen Eingang zu verfchaffenz
überdieß führte e8 gegenüber von dem Episcopat eine fo freie und verwegene
Sprache, daß bald eine immer größere Reaction, die ſich als ihres Organs des
Ami de la religion bediente, fi) dagegen erhob. Kaum Hatte daher Gregor XVL
am 10, Februar 1831 den päpftlihen Stuhl beftiegen, als die Redacteure fi
beeilten, ifre Grundfäge der Entfcheidung Roms vorzulegen, und fo wo möglich
gegen alle Angriffe zu ſichern. Zu diefem Behuf fandten fie ein ziemlich einlen-
kendes Glaubensbefenntnig nah Nom, worin fie zugaben, daß Kirche und Staat
im normalen Verhältnig zufammengehörten, die Legitimität der Gewalt indeffen
in bemoeratifcher Weife offen auf die Achtung der Volfsrechte zurüdführten, Da
vom Papſt nicht alsbald eine Beftätigung zu erhalten war, warb der Avenir
proviſoriſch eingeftellt und Lamennais, Lacordaire und Montalembert reisten gegen
Ende des Jahres 1831 nah Nom, um ihre Sache perſonlich zu betreiben, Nach
328 Lamennais,
Lamennais hatten Die Regierungen von Frankreich, Rußland, Deftreih und Preußen
ſchon vor ihrer Ankunft diplomatiſche Schritte gethan, um die Curie zu einer Ber-
werfung der Tendenzen des Avenir zu vermögen, Jedenfalls war bie Unter-
ſuchung über diefe bevenflihen Theorien noch ſchwebend und der hl. Vater empfing
die Nedacteure erſt in einer Audienz, nachdem fie verfprochen hatten, nichts von
den Angelegenheiten zu erwähnen. Am 3. Februar 1832 überreichten fie dem
Cardinal Pacca eine neue faft ganz von Lacordaire verfaßte Denkſchrift; ber
Cardinal verficherte fie bei diefer Gelegenheit der Prüfung ihres Glaubensbekennt—
nifjes, erflärte ihnen aber, daß der hl. Vater ihr früheres Benehmen nicht bil-
lige. Unterveffen ſprach fih ein großer Theil des franzöfifchen Episenpates, den
Erzbifchof von Touloufe an der Spige, in einem Schreiben an den päpftlichen
Stuhl vom 22, April 1832 in umfaffender Weife über die gefährlichen Irr—
thümer des Lamennais aus, Die Nedacteure felbft wollten dag Ende der Unter-
fuhung nicht abwarten, und verließen Nom im Monat Zuli, um den Weg nad
Teutfchland einzufchlagen. In der Eneyelica vom 15. Auguft, in der Gregor
dem gefammten Episcopat feine Erhebung zur päpftlihen Würde fundthat, fand
auch der fragliche Streit feine Entſcheidung. Die Lehren des Avenir find darin
ſämmtlich natürlich ohne Nennung der Namen ihrer Urheber in ven entfchiedenften
Ausdrüden verworfen. Der hl. Vater beauftragte den Carbinal Pacca, mehrere
Eremplare der Encyelica dem Lamennais zuzufenden; im Begleitfchreiben wies
der Kardinal noch befonders auf die Tactloſigkeit Hin, mit der die Nedaction die
zarteften ragen, deren Entſcheidung nur den Firchlichen Obern zuftehe, vor dem
Volke verhandelt hätten, auf ihre Auffaffung der politifchen Freiheit, als fchlöße
fie das Recht der Revplution in fi, auf ihre Lobpreifungen der Freiheit der
Preffe und des Cultus, als wäre diefe der wünfchenswerthefte und normale Zu—
ftand, und insbefondere auf ihr Benehmen gegenüber der Theilung Polens, die
fie noch als einen Meuchelmord öffentlich bezeichneten, da fie fihon im Begriffe
waren, nah Nom abzureifen. Schließlich gibt fih der Carbinal der Erwartung
bin, daß Lamennais nicht ſäumen werde, der von ihm felbft fo hoch erhobenen
Auctorität fih zu fügen. Beide Schreiben erhielten die Nedacteure in München,
Am 10. September erflärten fie „gehorfam der höchſten Obrigfeit, dem Stell-
vertreter Chrifti”, daß der Avenir, der nach dem Erfcheinen der Eneyclica in
allen Dibeeſen verboten worden, zu erfheinen aufhöre und daß die Hauptver-
waltung für Vertheidigung der religidfen Freiheit eingeftelft fei. Lamennais fandte
diefe Erklärung mit der Bitte an Pacca, fie dem hl. Bater mitzutheilen. Am
27, Detober erwiederte der Cardinal, daß der Papſt von dem Schritte der Re—
daction mit Zufriedenheit Kenntniß genommen habe, — Indeffen z0g fich der Abbe,
fo wenig e8 fcheinen mochte, mit tief verwundeter Seele vom Schauplatz zurück,
die Demperatie hatte einen leichten Triumph über feine Liebe zur Kirche errun-
gen, In einzelnen Schriften und Journalartifeln zeigte er auch alsbald, daß er
fih dem Geifte der Eneyclica feineswegs unterworfen habe, zu den erſtern ge—
hört vor Allem der Pelerin polonais. Gregor XVI. erhielt davon Kunde und drückte
in einem Breve an den Erzbifchof von Touloufe vom 5. Mai über diefe Gerüchte,
die er übrigens ganz im Allgemeinen berührte und ohne Lamennais zu nennen,
fein Befremden und feinen Schmerz aus, Darauf fandte der Abbe durch die Ver—
mittlung feines Oberhirten, des Biſchofes von Nennes, ein Schreiben an den
Papft, in dem er unter Verfiherung feiner Unſchuld fortan allen Angelegenheiten
der Kirche und ihres Dberhauptes fremd bleiben zu wollen erklärt, dem hl. Stuhl
in feinen Gefegen und Entſcheidungen, foweit fie fih auf Glaube und Liebe be-
ziehen, Gehorfam gelobt und ſchließlich um eine Unterwerfungsformel bittet, falls
Rom fih noch nicht zu beruhigen vermöge, In einem Breve vom 5. Detober
an den Bifchof von Nennes machte der Papft die verfchiedenen Schriften nam—
baft, welche das allgemeine Gerücht Lamennais zufehrieb, ohne daß dieſer auch
*
Lamennais, 329
nur mit einem Wort gegen die Antorfchaft fih verwahrte; nachdem die bittere
Verſicherung des Abbe über feine fünftige Gleichgültigfeit gebührend berüdfichtigt,
geht das Breve fhließlich auf die Bitte des Abbe ein und flellt an ihn das Ver—
langen, daß er ſich verpflichten möge, „die in der Encyelica vorgetragenen Leh—
ren einzig und unbedingt zu befolgen und nichts zu fihreiben oder zu billigen,
was nicht jener Lehre gemäß ſei.“ Damit hatte denn auch jenes bedingte Ver-
ſprechen der Unterwerfung feine thatfächlihe Antwort erhalten, Lamennais aber
trat nun aus feiner Zweideutigfeit klar hervor; in feinem Briefe vom 5. No—
vember, den er mit Umgehung feines Biſchofs dur die Nuntiatur von Paris
nah Rom fandte, unterfcheidet er ausprüflih an dem Inhalt der Encyelica und
vindicirt ſich in rein politifchen und zeitlichen Dingen die Freifeit der Meinungen,
Worte und Thaten, Diefes Schreiben übergab er überdief der Deffentlichkeit,
Am 28. November Tief die Antwort Paccas ein, welche es der Ehrlichkeit des
Abbe überläßt, ob die gegebene Erklärung dem Verlangen Roms und feinem
eigenen Berfprechen gemäß fei und eine unbedingte und uneingefchränfte Unter-
werfung unter die Encyelica verlangt. Und in der That abgefehen davon, daß
es Lamennais bei feiner Nefervation frei geftanden hätte, jedes mißliebige
Dogma als eine Entſcheidung über nicht rein firchliche Gegenftände darzuftellen,
fo hingen ‘ja die von dem Papft verworfenen Lehren auf das Innigfte mit der
- Religion überhaupt und insbefondere der Fatholifhen Tradition zufammen, in
deren Bereich, wie Lamennais felbft fo oft gelehrt, nicht bIoß reine Dogmen und
Moralgrundfäge gehören. Nachdem der Abbe durch eine etwas einlenfende Denf-
fohrift umfonft verfucht hatte, dem Spruche Noms auszuweichen, ließ er ſich end-
Lich den 11. December herbei, wie es ſchien, den Bitten des Erzbifchofes von
Paris und feines edlen Bruders nachgebend, im Valaft des erftern die gewünfchte
- Formel zu unterzeichnen, Lamennais berichtet indeffen in feinen Affaires de Rome,
daß er diefen Schritt nur aus Nüdficht für den Frieden gethan und au aus—
drülich bei der Unterzeichnung erklärt habe, er würde dem Frieden zu lieb ſelbſt
die ausdrückliche Behauptung unterfchreiben, wie fie die Forderung Noms nur
fhweigend vorausfege, daß der Papft Gott fei. Zu gleicher Zeit, berichtet er in
den Affaires, babe er dem Erzbifchof gefagt, daß er an den Grundfägen des Ka—
tholieismus irre geworden fei und feine Pflichten gegen das Vaterland und die
- Menfchheit ſich vorbehalte. Wie man auch davon denfen mag, fo ift ſoviel klar,
daß Lamennais nur des GStreites mit der Kirche einmal los zu werden fuchte,
- Der hl. Vater, in der reinen Freude über die Unterwerfung, wünfchte in einem
ſehr liebevollen Breve vom, 20. December ihm Glück zu feinem Sieg über fi
ſelbſt. Als aber bald das Gerücht verlautete, daß Lamennais auf feinen verworfenen
- Anfichten beharre, forderte der Erzbifchof von Paris, der bei jener Unterzeichnung
vielleicht höchſtens Verdacht zu faffen Urfache hatte, ihn auf, dem HI. Vater für fein
Breve zu danfen. Damit war ihm Gelegenheit gegeben, den erhobenen Verdacht,
wenn er falfch war, niederzufchlagen. Allein Lamennais dachte nicht entfernt mehr
daran, auf einen folhen Schritt einzugehen; feine Gefinnungen legte er in den
Paroles d’un croyant nieder, die im J. 1834 erfchienen. Es follte darin den
Täufhungen feines Lebens eine furchtbare Rache bereitet werden. Die Fürften
erfcheinen dort als die Kinder des Satans, die Kirche als die erfaufte Verrätherin
an der Menfchheit; unfer Jahrhundert ift das verfunfenfte in der Weltgefchichte,
die Revolution ift nicht nur ein Recht, fondern eine heilige Prliht, aus ihrem
Schooß erhebt fih ein neuer Staat und ein neues Chriftenthum, ein Evangelium,
gedeutet von den Bölferm, über die der HI. Geift in neuer Kraft fih ausgießt.
Lamennais fpricht in diefem Buche in der Weife der Propheten, feine Dietion
zeichnet fih dur eine faft fchauerlihe Pracht aus, Die Regierungen unter-
drüdten wie begreiflich die bald in faft alle Sprachen überfegte mit Gier ge—
lefene Schrift. Der hl. Vater aber erhob den 25. Juni in einer Encyelica feine
330 Lampe,
Stimme, er verwirft und verdammt das Machwerk von Nuchlofigfeit und Ver-
wegenheit, indem er laut über den treulofen Wortbruch und den tiefen Fall des
faum der Kirche gerettet geglaubten Sohnes Hagt, Lamennais aber fihritt auf
der betretenen Bahn rafch vorwärts, In feinen Affaires de Rome. Paris 1836,
in feinen Schriften: Le livre du peuple. Paris 1840; De la religion. Paris 1841;
Du passe et de l’avenir du peuple. Paris 18425 Ariechapands et Darvands. Paris
1843 und andern entwidelt er die Idee eines demoeratifchen und communiftifchen
Chriſtenthums, dem die jegige Tyrannei zu weichen habe, mit nie ermüdender
Bitterfeit. Nachdem er anfänglich der Kirche noch einen göttlichen Nrfprung ge-
Vaffen und bloß ihre endlihe Dauer behauptet hatte, verwarf er endlich auch
eonfequent den erftern, und da ihm fomit die Grunddogmen des Chriftenthums
unter der Hand ſich verflüchtigten, fuchte er e8 als die Religion der Bruderliebe
feftzuhalten und in diefer Form als den Erben des Dahinfinfenden Proteftantismus
und Katholicismus darzuftellen, Die Esquisse d’une philosophie, 3 Bde. Paris
1841 — 43 kleidet diefe Gedanken in das philofophifche Gewand, und gibt der
ganzen Theorie des Abbe den Abſchluß. Der Glaube der Kirche wird als eine
Entwicklung des denfenden Menfchengeiftes begriffen und die ewige und ewig
gleiche Harmonie des Unendlichen und Endlichen, wie fie fich durch das Ziel der
beiden Principien der Individualität und Einheit fortwährend realifirt, in einer
Weife entwickelt, welche jeden Gedanfen auch an eine nur primitive Offenbarung
zurückdrängt, und troß aller Anflänge an ven Glauben eines perfönlichen Gottes
und der Unfterblichfeit fehr vielfach an den Pantheismus erinnert, Der Wider-
fpruch, den Lamennais in den Zeiten des Avenir noch feftgehalten, iſt auf ſolche
Art endlich gelöst und die Principien find befriedigt; die religidfe und bürgerliche
Ordnung ruht auf dem nämlichen menfchlihen Grund, fo daß das Volk Alles in
Allem if, Wir haben es fchon gelegentlich angedeutet, daß Lamennais von je
mehr Politifer als Theolog war. Die Verirrungen feiner politifhen Ueberzeu—
gungen finden eine gewiffe Entfchuldigung in den außerordentlichen und ſturmvollen
Zeiten, denen feine Kindheit und fein ganzes Leben angehört, und die von Außen
wenigftens diefe Entwicklung feines Geiftes ‘befürderten, Das Bewußtfein aber
des Gläubigen und befonders des Priefters, fo entfohieden er e8 eine Zeit lang
geltend machte, fo Yange die Kirche noch in feinen politiſchen Ideen verwoben
war, hatte doch nicht fo tiefe Wurzeln in ihm gefchlagen, daß er jener finftern
Macht zu widerfiehen vermocht hätte, die den Moment des gefränften Selbftge-
fühls fo gut zu benugen weiß. Sein großes Herz, das immer mit Feuer geliebt
und gehaßt hat, hat ven Haß zu feiner Liebe auserforen, feit e8 der Liebe des
Erlöfers fich verfchloffenz gerade wie der Glanz feines großartigen Talentes, das
früher gleich mächtig in Gedanke und Wort fich erwiefen, feit er in die Maffe
gewöhnlicher Revolutionäre übergetreten ift, zu verbleichen begonnen hat. Möchte
Gott den Wunſch, den der felige Papſt Gregor am Schluffe feiner gegen die
Worte eines Gläubigen gerichteten Encyelica ausfpricht, erfüllen, und den Unglück—
lichen noch in feine Kirche zurückführen! (Ueber Lamennais vgl, außer den im Lauf
angeführten Werfen Rohrbacher: Histoire universelle de l’öglise eatholique.
tom. 28. Paris 1848. Gerbet: der Abfall von den Lebensprincipien der Kirche
und des Staates, teutfch. Augsburg 1839, Vorleſungen über die neuefte Kirchen-
gefchichte von Scharpff. Freiburg i. B. 1850.)
Lampe. In jenen Kirchen, in denen das euchariftifhe Sacrament aufbe-
wahrt wird, brennt vor dem Tabernafel oder auch zur Seite eine Lampe, Sie
wird „Gotteslampe“ oder weil fie ununterbrochen bei Tag und Nacht brennen
fol, „ewige Lampe” (f. ewiges Licht) genannt, Ihr Urfprung Tiegt fehon in
der voreonftantinifchen Periode der Gefihichte der Kirche, und fand fiher ſchon
am mofaifhen Cult (Erod, 27, 20) ihre Berechtigung für den Gebrauch, wenn
auch das Bedürfniß für dieſelbe Anfangs mit größerer Nothwendigkeit ſprach, als
—
—
Lampetianer — Samy, Bernhard, 331
jene alte Analogie. Ihr Gebrauch ift im vierten Jahrh. ein allgemeiner und
alter, Daß bei dem geheimen Gottesvienft der Chriften unter der Erde oder zur
Nacht an verborgenen Orten zur Zeit einer heftigen Verfolgung die Lampe geeig-
neter war als Leuchter mit Kerzen, bringt die Natur der Sache mit ſich. Der
Hl. Paulinus von Nola erzählt nicht nur, daß in der Kirche des hl. Felix eine
ewige Lampe aufgeftellt war, — „Continuum scyphus est argenteus ad usum‘“ —
fondern daß fie auch bei Nacht, da die Kirche leer war, gebrannt habe, An den
vornehmſten Feften pflegten diefe Lampen mit Balfamdl und andern wohlriechen-
den Delgattungen gefüllt zu werben, wofür ein eigener Fond angewiefen war.
Sp gab Gregor I. den ganzen Ertrag, welcher jährlich aus den öffentlichen Waf-
fern „Aquae salviae“ gezogen wurde, für die Lampe in der St, Paulsfirche zu
Nom, Zuweilen ftellten die Gläubigen auch vor den Bildern der Heiligen ſolche
immer brennende Lampen auf, und fogar bei den Neftorianern blieb diefer Ge—
brauch und wurde ſtreng befohlen, Nicht felten waren die Lampen wunderbar
künſtlich gefertigt. Die einen waren von Glas „eicindelae“, worin das Licht im
Dele gleihfam ſchwamm; andere von edlem Metall, Silber und Gold. Bald
hingen fie an ſchönen Ketten mitten vor dem Altare des hl. Sacramentes, bald
fanden fie um den Altar und an beſtimmten Drten in der Kirche. Nach ihren
verfchiedenen Formen hießen fie cantarus, delphinus, Iychni, lychnici; jene Lampe,
die mit Kerzen im Kreife herum befegt vor dem Hochaltar hing, corona — Kron=
lampe, Kronleuchter. Die vielen Lampen zu unterhalten, opferten die Gläubigen
zu beflimmten Zeiten Del, Wachs und andere wohlriechende brennbare Gegen-
ftände, worauf der zweite der apoftolifchen Canonen ſich bezieht: „Non sit licitum
offerri aliquid ad altare, nisi oleum ad sanctam lucernam“; und e$ galt die An-
nahme diefes Opfers als Zeugniß der Rechtgläubigfeit, denn von Ketzern durfte
diefe Gabe nicht genommen werden, Die Bedeutung der Lampe in der Kirche
ift hienach von felber Far, als eine practifche und ſymboliſche zugleich. Lestere
ift befonders aus dem Gebrauch erfichtlich, daß am Charfamftag alle Lampen aus—
gelöfcht, mit frifhem Dele neu gefüllt und von dem neuen Feuer wieder angezündet
werden, „Laeli hodie lampades ornemus“, fagt Eyrill von Jeruſalem. Sie deutet
bin auf die facramentale Gegenwart des Gpttmenfchen, der durch Tod und Aufer-
ftehung das Licht und Heil der Welt geworden und zum Unterpfand deffen, daß uns
- einft das ewige Licht im Reiche des Baters Teuchten werde, fich felber ung gab, um
fletS unter uns zu wohnen, Jene Lampe foll dem Gläubigen den Drt anzeigen,
wo der Gegenftand feiner höchften und reinften Liebe wohnt. Daß wir fie auch
zuweilen noch in einer proteftantifhen Kirche antreffen, ift ein Zeichen, daß fie
zugleich geeignet ift, einen Tempel zu zieren. Darum und aus Treue gegen die
alte firchlihe Tradition fordert die Kirche durch ihr competentes oberftes Organ:
„Omnino lampadem esse retinendam intra et ante altare sanctissimi sacramenti, ut
. continuo ardeat. Et ita decrevit et servarimandavitS.R.C.22. Aug. 1699.“ [Rolfmann.]
Lampetianer, |. Meffalianer,
Lamp, Bernhard, Dratorianer,, ffammte aus der Provinz Maine. Mit
reihen umfaſſenden Gaben verband er von Jugend auf großen Fleiß, und erlangte
in Kurzem eine bewunderte Gelehrfamfeit in den verfchiedenften Gebieten des
Wiffens, von dem auch die Schönen Wiffenfchaften keineswegs ausgefchloffen waren,
Er lehrte Philofophie in dem Haufe feines Ordens zu Saumur, fodann Theologie
in dem Seminar zu Grenoble, Zuerft ließ er Werke ſchönwiſſenſchaftlichen und
mathematiſchen Inhalts erfcheinen, Er fchrieb eine „Kunſt zu fprechen“ und eine
„KRunft zu denfen“; über Poeſie; über dag Gleichgewicht und die Größe, fowie
über die Grundlinien der Mathematif, ſodann „Unterhaltungen über die Wiffen-
haften und über die Methode zu ſtudiren“. Ferner verfaßte er „eine Beweisfüh-
rung der Wahrheit und Heiligfeit der hriftlihen Moral“, befonders aber ver-
faßte er geſchätzte Schriften über die HI, Schrift, Des erfte feiner dießfallſigen
332 Lamy, Frans
Werke ift ein Apparat für die HI. Schrift, beftehend aus 20 großen Tabellen, ge-
druct zu Grenoble im 3. 1686, befonders archäologiſchen Inhalts, Sein zweites
bedeutendes theologifhes Werk war feine „Harmonie oder Uebereinſtimmung ver
vier Evangeliften“. Paris 1639. Die drei Annahmen Lamy’s von einem doppel⸗
ten Gefängniffe Johannes des Täufers, daß Magdalena, Maria des Lazarus
Schweſter und die öffentliche Sünderin diefelbe Perfon feien, endlich daß Chriftug
an dem Tage, an welchem die Juden das Ofterlamm aßen, gelitten habe, ver-
anlaßten bedeutende literarifche Kämpfe, Zu feiner Bertheidigung fchrieb Lamy u. A.:
Trait& historique de l’ancienne Päque. 1692, eine Reihe yon überaus gelehrten
Streitſchriften, woran ſich noch andere Abhandlungen ähnlichen Inhalts anfchloffen.
L. ließ feine Evangelienharmonie wieder druden im J. 1699 mit großem Com-
mentare, worin er den Text der Evangelien paraphrafirt, ferner die Schwierig-
feiten entwicelt, welche einzelne Stellen und die evangelifche Geſchichte darbieten,
fodann die Gebräuche und Sitten der Inden, felbft einzelne Eontroverspunete
des Chriſtenthums behandelt. — Ferner fehrieb %, ein Werf über ven Tempel zu
Serufalem in fieben Büchern, in welcher ausführlichen Schrift fich auch eine Be—
ſchreibung der Stadt Jerufalem findet, wonon er im J. 1699 fein Project her-
ausgab, Das Werk felbft, woran er eine Reihe von Jahren gearbeitet, erfchien
wegen ungünftiger Zeitverhältniffe erft nach dem Tode des Verfaffers zu Paris,
Lamy ftarb den 29, Jan. 1715 zu Rouen, wo er in der letzten Zeit feines Lebens
in dem Haufe feines Ordens, lehrend und erziehend, ſich aufgehalten hatte, Er
erreichte ein Alter von 74 Jahren. Wie dur umfaffende Wiffenfchaft zeichnete
er fich auch Durch feine Frömmigkeit aus. — Gefammtausgaben feiner Werke er-
fihienen zu Lyon und zu Paris. Vgl. Dupin T. XIX. p. 117—136. [&ams,]
Lamy, Franz, Mauriner, Er flammte aus altem freiherrlichen Gefchlecht;
wurde geboren in der Provinz Perche im J. 1636, Nach dem frühen Tode feines
Baters erhielt er von feiner Mutter eine forgfältige Erziehung , um in der Welt
fein Glüd zu machen. In zwei Feldzügen, die er unter dem Herzoge von Richelieu
machte, zeichnete er fich aus, Der glücliche, wie er glaubte wunderbare Ausgang
eines Duells bewog ihn, der Welt zu entfagen, Er trat im J. 1658 in die Mau-
riner-Abtei St. Remi in Rheims, und ein Jahr fpäter legte er dort im 25, Lebens=
jahre die Gelübde ab, Aus der Einfievelei zu St. Basle bei Meaux berief ihn |
der Prior von St. Nemi, um die jungen Benedietiner Philofophie und Theologie
zu lehren. Philofophie Lehrte er fpäter in den Klöftern Mont St. Duentin und
St, Medard in Soiffons, Theologie endlich zu St. Germain des Pres, Er ftarb
im J. 1711 zu St, Denys in einem Alter von 75 Jahren; dur feine Fröm—
migfeit und Wiffenfchaft, wie durch den Adel feines ganzen Wefens hochgeachtet.
Seine Schriften zeugen insbefondere von einer tiefen Selbft- und Weltfenntnif, -
Sein berühmteftes Werf ift: De connaissance de soi-möme. Par. 1694 — 1698.
2. Ausg. 1700, 12. in 6 Bon, Diefes Werk ift nicht bloß ascetifchen, fondern
auch philofophifchen Inhalts, in dem der Berfaffer die Wichtigkeit und Noth—
wendigfeit der Gelbftfenntniß darlegt und die Wege aufzeigt, auf welchen fie zu
erlangen fei, Ferner verfaßte er eine Schrift über die offenbare Wahrheit der
riftlihen Neligion: Verite &vidente de la Religion chretienne, ou Elite de ses“
preuves et de celles de sa liaison avec la divinite de Jesus-Christ. Par. 1694. 12.—
Ein Zefuit in Caen hatte behauptet, daß die Wahrheit der hriftlichen Religion
nicht mathematifch fireng bewiefen werden fünne, ein Sat, welchen Lamy für
verfänglich hielt, Im 3.1695 erfehien die Widerlegung des neuen Atheismus gegen
Spinvza, Ferner: „Fromme Betrachtungen über den Drdensftand“, 1697, As-
eetifhen Inhalts ift die Schrift: Les saints gemissements de’l’ame sur son &loig-
nement de Dieu, 1701. 12. „Die Vorfchriften der Weisheit“, 1703, Im 1708
erfchien „eine Sammlung von religidfen und moralifchen Briefen”, gefchrieben
unter dem Namen eineg Einfievlers an einen Freund, In der Schrift: „L’inore-
A Du en ——
d
Lancellot — Landdecane. 333
dule amen& à la Religion par la raison, en quelques entretiens, ou !’on traite de
Yalliance de la raison avec la foi. Par. 1710. 12. find die Beweife für das Ehri=
ſtenthum mehr aus der Philofophie entnommen. Noch erjhienen von L. Schriften
philoſophiſchen und verſchiedenen Inhalts. L. verfaßte feine Schriften in fran-
zoͤſiſcher Sprache; der Tieffinn und Geift ihres Inhalts wird gehoben durd eine
treffliche Form. Bgl. Herbft über „die Verdienfte ver Mauriner um die Wiffen-
fchaften“. Tüb, theol, Duartalfh, 1834, S. 4 ff. [Oams.]
Sancellot, 30h. Paul, ein berühmter Rechtsgelehrter zu Perugia, wo er
4511 geboren war, und 1591 ftarb. Auf Befehl des Papftes Paul IV. bearbei-
tete 8, in lateinifcher Sprache ein Werf unter dem Titel: Instituliones juris ca-
nonici und gab demfelben die Einrichtung, nach welcher einft Kaiſer Juſtinian
derlei Inftitutionen Behufs der Einführung von Anfängern in das bürgerlide
Recht hatte entwerfen laffen. Diefer Kaifer bethätigte nämlich feine Sorgfalt für
die Feftftellung und Ausbildung. der bürgerlichen Rechtspflege dadurch, daß er
einer Commiffion von Rechtsgelehrten verfchiedene Rechtsfammlungen auftrug.
Die erfie Sammlung, der „Codex Justinianeus“ (f. d. A.), beftand aus zwölf
Büchern. Die zweite, ſehr weitfchichtige Sammlung beftand in Excerpten aus
den beften Schriften ver Nechtsgelehrten;z fie war materienweife geordnet und follte
als Norm bei den Gerichtsftellen gebraucht werden, bejtand aus 50 Büdern,
und führte den Namen: Pandecta juris enucleati ex omni veteri jure collecti.
Aus diefen Pandecten ließ Zuftinian wieder eine ſyſtematiſche Zufammenftellung
der Hauptrehtsfäge veranftaltenz fie führte den Titel: Inftitutionen, und
follte ald Compendium dienen. An feinen canoniftifhen Jnftitutionen num
arbeitete Lancellot 15 Jahre lang, und unterftellte dann feine Arbeit der päpft-
lichen Approbation. Es warb auch eine eigene Commilfion zur Prüfung des
Werkes aufgeftellt. Allein es fanden fih Gegner, welche die Hoffaung Lancellots
vereitelten. Das veranlaßte ihn, von Rom nach Perugia zurüdzufehren, und
noch vor dem völligen Abfchluffe des Eoneiliums von Trient (im Auguft 1563)
fein Werk auf eigene Koften drucen zu laffen, Als eine Eigenthümlichkeit wird
von Lancellot erzählt, daß er nicht zu überreden gewefen fei, dasjenige, was auf
dem Coneil geändert worden, in fein Buch aufzunehmen, Man hat von Lancellot
auch ein Corpus juris canonici in 4. Seine Jnftitutionen eriftiren in verfchiedenen
Ausgaben mit Noten, als da find: Perouse 1563. Antwerp. 1566. 8. Lugduni
Batav. 1588. Genev. 1650. Wittenberg 1669. Paris 1705. fol. Als die befte
Ausgabe gilt die von Johann Doujat in 2 Bon. in 12. Der Parlamentsadvocat
Durand de Maillane lieferte eine franzöfifche Ueberfegung. Vgl. Hierzu den Art,
Corpus juris canonici. i [Dür.]
Land, gelobtes, f. Canaan.
Landbiſchof, f. Chorbiſchof.
Landeapitel, ſ. Landdecane.
Landdecane. Das Inſtitut der Landde eane, ſowie das der Landeapitel,
deren Vorſtände jene ſind, ſchließt ſich in ſeiner hiſtoriſchen Ausbildung an meh—
rere verſchiedene Verhältniſſe des älteren Kirchenrechts an, Urſprünglich find die
Landdecane die Archipresbyter (ſ. d. A.) auf dem Lande, dieſe aber zugleich die
älteſten Pfarrer, Sp wie nämlich das Presbyterium dem Archipresbyter an der
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bifhöflichen Cathedrale untergeordnet war, fo wurden au die Geiftlihen auf
dem Lande der Aufficht eines der auf verfhiedenen Puncten der Diöcefe feft an—
geſtellten Presbyters untergeordnet, der dann im Berhältniffe zu ihnen, wie jener,
- Archipresbyter (ruralis) hieß. Als nach und nach die Gründung der Pfarreien
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weiter fortfchritt, war für die neu entflehenden Archipresbyter fchon von felbft
ein Einheitspunct gegeben. Der Bezirk, welcher unter einem ſolchen Erzpriefter
ftand, hieß Christianitas oder Decania, er felbft wurde dann Decanus, und zwar
da der Archipresbyter in der Stadt ebenfall$ Decanus (civitatensis, urbanus) hieß,
334 Landderane.
im Gegenfaße zu ihm Decanus ruralis genannt; Ob diefe Bezeichnung von der
politifhen Landeseintheilung hergenommen oder ob ſie auf jene Verhältniffe aus
den Flöfterlichen Einrichtungen übertragen worben iſt, darüber herrſcht Meinungs-
verſchiedenheit. Das Letztere dürfte um fo mehr das Waprfcheinlichere fein, al
mit diefen Einrichtungen auch der Urfprung der Landeapitel zufammenhängt. Die
Vita canonica als eine Nachbildung oder Annäherung an die Vita religiosa für den
weltlichen Clerus beftand für die Geiftlihen auf dem Lande der äußeren Form
nach darin, daß fie fih in ähnlicher Weiſe wie die an der bifchöfeichen Cathedrale
nach Verſchiedenheit der einzelnen Bezirke zu Capiteln vereinigten, als deren
natürliche Vorſtände die Archipresbpter, nunmehr Decane hervortraten, Obgleich
die Vita canonica fich vollſtändig nur in den wieder hergeftellten Negularftiftern
erhielt, fo hat fih doch die Einrichtung der Landeapitel d. h. die Vereinigung der
Pfarrer eines beſtimmten Bezirfes (Decanat) unter dem Landdecan als ihrem
Borftande bis auf den heutigen Tag erhalten. Die gegenwärtige Verfaſſung
diefer Landeapitel und die Art und Weiſe der Beftellung ihrer Vorftände ift nicht
überall diefelbe, fondern es bat fich dieß nach particularem Recht verfchienentlich
geftaltet, Der Decan iſt feiner eigentlichen Bedeutung nach Stellvertreter des
Biſchofs, wie er denn auch in Deftreich unter der-technifchen Bezeichnung: „bi=
fhöflicher Bezirks viear“ vorfommt, und wird Daher, wo nicht für das Landcapitel
ein Wahlrecht hergebracht iſt (wie 3. B. in Bayern) von dem Bifchofe ernannt,
im letzteren Falle beftätigt. Es hat nicht ausbleiben Tonnen, daß nicht auch, we-
nigftens in Teutichland, die Landesregierungen einen bedeutenden Einfluß auf die
Beftellung diefer Firchlichen Beamten, die mit ihnen in einen vielfachen Verkehr
zu treten haben, erlangt hätten. In Deftreich bedürfen die Decane, in foweit
auch die Schulangelegenheiten zu ihrem Wirfungsfreife gehören, der landesherr-
lichen Beftätigung, in Preußen, wo fie no Erzpriefter, bisweilen auch Pröpfte
genannt werben, werben fie in den päpftlichen Monaten von der Regierung er-
nannt, in den übrigen beftätigt; in Baden fommen ebenfalls erzbifchöfliche und
Yandesherrliche Decane vor, in Bayern bedarf e8 für die von den Capiteln Ge-
wählten nur der Beſtätigung. Im zulegt. genannten Staate fleht dem Decan
noch ein Rämmerer oder Definitor (f. d. A.) zur Seite, welchem die Ver-
waltung der Deranatscaffe und im Verhinderungsfalle des Decans deſſen Stell-
vertretung übertragen ift. Diefer kann, wie der Decan überall, nur aus der
Zahl der wirklich angeftellten Pfarrer hervorgehen, wohingegen der in Bayern
die Stelle des Secretärs bei den Capitelfigungen einnehmende Synodalzeuge
nicht zu jenen, fondern überhaupt nur. zu den Mitgliedern des Capitels zu ge—
hören braucht, Zu diefen zählen nämlich nach der Verfaffung vieler Capitel nicht
bloß die eigentlichen Pfarrer mit Einfluß der als ſolche beftellten Drdensgeift-
Yichen, fondern auch die Beneficiaten des Bezirks, welche dann, wo das Wahlrecht
dem Kapitel zufteht, ohne paffiv wählbar zu fein, activ an der Ausübung des-
felben Theil nehmen. Die Wahl wird durch die abfolute Majorität und zwar
entweder fogleih und öffentlich in der Capitelsfisung oder nach Einfendung der
verfchloffenen Stimmzettel an das Ordinariat entfchieden, welche letztere Form
in Bayern für die Decanate aller Dibcefen geftattet, in Speyer und Würzburg
aber berfümmlich iſt. Die VBerfammlungen der Capitel, welche von dem Decan
geleitet und von ihm auch in außerorbentlichen Fällen berufen werben fönnen,
fanden ehevem monatlich Statt, weßhalb fie auch Calendae hießen (f. Confe-
renzen, geiftliche); jegt find fie viel feltener, Sie dienten früher wefentlich
dazu, die auf der Didcefanfynode befchloffenen Statuten zur allgemeinen Kenntniß
zu bringen, womit es auch zufammenhängt, daß es nach der Verfaffung vieler
Didcefen vollkommen genügend war, wenn nur bie Decane, nicht auch die übri—
gen Pfarrer, auf der Synode erfihienen. Aber noch jebt ift eine bejondere Db-
Viegenheit des Decans, in feinem Bezirke die bifchöflichen Verpronungen, fei es
Landelin und Landoald, 335
auf der Berfammlung des Capiteld oder durch Eircular befannt zu machen; fonft
gehört zu feinem Gefhäftsfreife im Einzelnen noch Folgendes: dem Decan fteht
die Aufficht über die Kirchen, die Beneficien und die Geiftlichen feines Bezirkes
zu; er wacht über die Handhabung der kirchlichen Disciplin und die Admini-
firation der Sacramente und hat von dem Biſchofe das für mehrere derfelben
erforderliche Hl. Del in Empfang zu nehmen und an die Pfarrer zu vertheilen,
Nicht minder find die Schulen des Bezirks feiner Auffiht und Obhut anvertraut,
ja ſehr häufig ift er zugleich landesherrlicher Schulinfpeetor, in welchem Falle
fih feine Thätigfeit nach der ihm ertheilten Inftruetion richtet. Der Decan weist
ferner die Pfarrer in ihr Amt ein und forgt, wenn ein folches erledigt ift, pro—
siforifch für die Verwaltung deffelben ; ihm Liegt die Beerdigung des verfiorbenen
Pfarrers ob, Als Mittel zur Ausübung feiner Obliegenheiten kann der Decan
da, wo fie hergebracht iſt, nach der Vorfihrift des Conciliums von Trient (Sess.
24. c. 3. d. Ref.) mit Genehmigung des Biſchofs und gegen gewiffe Gebühren,
die ihm aus den Fonds der einzelnen Kirchen zufallen, Bifitationen (f. Kirchen—
vifitationen) vornehmen. Ueber den Firchlichen Zuftand feines Bezirkes und
über alle in diefer Hinficht wichtigen Vorkommniſſe hat er an den Biſchof ſorg-
fältigen Bericht abzuflatten (ſ. Berihte). In Deftreih und Bayern find die
Decane auch durch ihre Amtsfleidung vor den übrigen Pfarrern ausgezeichnet;
fie haben dort den Dechantsfragen, hier, wo die gleiche Auszeichnung auch dem
Kammerer zufteht, den fogenannten Beff, Bol. Hierzu den Art. Deputatus in
den Landcapitelm [(Phillips.]
Landelin und Landoald, die Heiligen, Prediger des Chriſtenthums in
Belgien im fiebenten Jahrh. Obwohl in Belgien fchon feit dem Anfang des
vierten Jahrh. mehrere biſchöfliche Sige beflanden und das Chriſtenthum fehr ver-
breitet war (f. die Art, Servatius, Bifhof von Tongern, Vietric ius, Biſchof
von Rouen), fo ging doch noch im vierten und dann im fünften Jahrh. durch die
verheerenden Einfälle der Hunnen, Bandalen, Alanen und zulegt der Franken
und. anderer Teutſchen die chriftlihe Religion in Hennegau, Brabant und dem
größern Theil von Flandern wieder großentheils zu Grunde, fo daß es einer neuen
Predigt bedurfte, Diefe neue Predigt begann zum Theil fchon bald nach Chlodwigs
Taufe (f. d. Art. Chlodwig, Franken), dur den HI. Eleutherius, Bifchof
von Zournay und deffen Nachfolger, den hl. Medardus (f. d. Art.), ferner
durch den HI. Vedaſtus, Bifhof von Arras (ſ. Chlodwig, Franfen) u. A;
am meiften geſchah aber erft im fiebenten Jahrh. und zwar vor allen durch den
5. Amandus, Bifhof von Maftricht (f. d. Art.), und dann durch Männer wie
Audomar und Bertin (ſ. Art. Bertin), Eligius v. Royon (f. d. A),
den Irländer Livin (ſ. d. Art. Lebuin) und nebft andern durh Landoald
und Landelin. Als der Hl. Amandus im F. 651 nah Rom zu Papſt Martin L
reiste, brachte er von da mehrere Gehilfen für die Miffton zurück, worunter fich
der Presbyter Landoald, wahrfheinlih ein Angelfachfe, befand. Für die
eifrige und erfolgreiche Predigt Landoalds in der Gegend von Maftricht fteht die
ihm gleich nach feinem Tode gezollte Verehrung, leider weiß man aber des Nä-
bern wenig von ihm, weil deſſen alte Biographie verloren gegangen ift und Abt
- Heriger von Lobbes (ſ. Art. Heriger), der im zehnten Jahrh. über Landvald
ſchrieb, in Ermanglung des Hiftorifhen Materials nur wenige Notizen Liefert,
Heriger befpricht nämlich vorzugsweife die Elevation und Translation der Ge—
beine des HI. Landoald und berichtet nur noch, Landoald fer in feiner Miffion
beſonders von König Childerich II. reihlih mit Geld unterftügt worden, habe
einige Zeit den HI. Bifchof und Martyrer Lambert von Maftricht (ſ. d, Art.) zum
Schüler gehabt und nach dem Rücktritte des Hl. Amandus vom Episcopate neun
‚Sabre lang das Bisthum verwefen. Legteres aber ift falfh, da Remaclus nad
Amandus das Bisthum verwaltete, und die Unterweifung Lamberts durch Lan-
336 Sandeshern,
doald wird bezweifelt. ©. über Landoald die Boll. vita S. Landoaldi ad 19. Mar-
tii; item Boll. 6. Febr. vit. S. Amandi, comm. praev. $ 12 und»vit. S. Lamberti
ad 17. Sept: comm. praev. $ 3; %. A. Warnfönig, flandr, Staats- und Nechts-
geſch. Tüb, 1835. Bd. I. ©, 83 — 105. — Was den Landelin anbelangt, fo
geben die Bollandiften zum 15. Juni eine alte und glaubwürdige Biographie,
deren Hauptinhalt ſich auf Folgendes zurücführen läßt, Dem frommen Bifchof
Audebert von Cambrai und Arras C+ um 668) übergaben die vornehmen EI-
tern Landelins diefen ihren Sohn zur Erziehung. Anfangs ging es fehr gut, fo
daß Audebert dem Landelin die Tonſur ertheilen wollte, allein dieſer ließ fih von
einigen Berwandten feines Alters verführen, entlief dem Audebert und trieb ſich
mit feinen Genoffen als Wegelagerer und Naubritter herum, Als fie einft nächt—
licher Weile in dem Haufe eines Reichen einbrechen wollten, gefihah e8, daß einer
von der Bande plöglichen Todes ftarb, und diefes Ereigniß in Verbindung mit
einem Traume, worin Landelin fah, wie die Seele des Geftorbenen von den
Teufeln zur Hölfe geführt werde, brachte ihn wieder zur beffern Gefinnung zurüd,
Er fiel dem Bifchof Audebert weinend zu Füßen, that in einem Klofter ſtrenge
Buße, empfing nachher die Tonfur, und machte eine Bußreife nah Nom. Später
zum Diacon und Presbyter geweiht, reiste er noch zwei Mal nah Rom, das
legte Mal mit feinen Schülern Adelenus und Domitianus. Seine ſegens—
sole Wirkfamfeit beurfundet fich in der Stiftung mehrerer Kföfter, worunter
Lobbes und Erepin die vornehmften waren, Als Landelin Lobbes verließ, um
Erepin zu errichten, hinterließ er zu Lobbes feinen trefflihen Schüler Ursmar,
dem fodann feit 713 der ebenfo lobwürdige Ermin nacfolgte. Sp richtete fih
Lobbes allmählig zu großer Eelebrität empor Cogl. d. Art, Heriger). Landelin
ftarb um 686 auf afchebeftreutem Boden und im härenen Bußkleid. Bol. mit d,
Boll, 1. cit. die Script. v. Perg VI. (IX.), ©. 409, 425, 463— 46435 Dörle,
Landelin, Appftel der Teutfchen, Augsburg 18385 Chr, v. Schmid, Apoftel der
Teutſchen; Werfers Legendenbud, [Schrodl.]
V
— c—
SLandesherr, Gebet für ihn, Die heidniſche Obrigkeit hatte eine Stel—
lung zur mythifchen Gätterwelt und zum Gößendienfte angenommen, welche die
Ehriften nicht anerfennen durften. Dieß brachte fie in mannigfachen Verdacht der
Nenitenz, daher diefer Punct zu einem der erften gehört, den hriftliche Apologeten
zu berichtigen hatten. Des ChriftentHums Wurzel, Wefen und Geift, feine aus—
drüdliche Lehre und flete Praris weifen nach, daß die Unterthanen für ihre Obrig-
Zeit zu beten haben. Die Wurzel der hriftlichen Kirche, das Judentum, ging
dabei mit feinem Beifpiele voran, wober ich nicht auf die Palmen hinweifen und
bei den Stammfürften des Volkes ftehen bleiben will; nein, auch für Könige,
welche Heiden und ihre Befieger waren, in deren Gefangenfchaft fie ſchmachteten,
verrichteten die Juden dffentlihe Kirchengebete, Im Propheten Baruch 1, 10,
lefen wir, wie die in Babylon friegsgefangenen Jfraeliten eine Summe Geldes
nach Serufalem an den Hohenpriefter Alcimus fandten, damit für den König Na-
buchodonofor und feinen Sohn Balthafar Opfer und Gebete vargebracht würden.
Aus dem Buche Esdras erfehen wir, daß die Juden unter Darius, König von
Perfien, daffelbe für diefen Negenten und feine Söhne thaten, und zwar nach dem
ausdrücklichen Wunfche deffelben, Joſephus Flavius führt einen Brief der Juden
an den Landpfleger Petronius an, worin fie fagen, daß fie täglich zweimal für
den Raifer und das römifche Volk opfern (De bell. jud. Lib. I. c. 11.). Hieran
ſchließt fich die Vorfchrift des Apoftels Paulus 1 Timoth.2, 1. 2. 3. „Bor Allem
ermahne ich nun, daß Bitten, Gebete, Fürbitten und Dankffagungen gefchehen für
alfe Menfchen, für Könige und alle Obrigfeiten, damit wir ein filles und ruhiges
Leben führen in aller Oottfeligfeit und Ehrbarfeit, denn dieß ift gut, und Gott
und unferem Heilande wohlgefällig.” Biele Kirchenväter haben biefe Stelle fo
verſtanden, daß der Fürften auch in der Meffe gedacht werben foll, Damit fie
| Landes herr. 337
gläubig würden, was Paulus in V. 11. andeute, wenn er ſage: „Welcher will,
daß alle Menfhen gerettet werden und zur Erfenntnig der Wahrheit gelangen.“
So 3.3. Auguftin, Chryſoſtomus, Theodoret u. A. Befonders aber ift der Um—
fand zu beachten, daß der Apoftel Paulus diefe Borfhrift zunächſt den Chriſten
in Ephefus gibt, die unter heidniſcher Obrigfeit, den Römern, damals ftanden,
und daß dieſe Vorfhrift ganz allgemein gegeben ift. Und fo faßten auch die
Chriſten diefes Gebot, für die Heidnifche Obrigfeit zu beten, als ein allgemein.
verbindliches auf, wofür wir die Belege in den Kirchenvätern finden. Polycarp
gebietet den Philippern in feinem Briefe an fie €; 12.: „Orale etiam pro regibus et _
potestatibus et principibus, atque pro persequentibus et odientibus vos, et pro
inimieis crucis, ut fructus vester manifestus sit in omnibus, et silis in illo perfecti.*
Der Apologet Zuftin führt in feiner dem Kaifer Antoninus Pius gewidmeten Apo—
Ingie felbft Heiden als Zeugen für die Chriften auf und erinnert an ein Schreiben
des Kaiſers Mare Aurel an den römifchen Senat, worin es heißt: die Chriſten
haben für ihn und alle Anwefenden gebetet. Apolog. Il. n. 71. Wenn nun diefes
Schreiben auch nicht acht iſt, fo beweist feine Anführung doch, daß die Chriſten
zu Juſtins Zeiten für dem heidniſchen Kaifer gebetet, und daß dieß auch die Hei—
den gewußt haben, Cfr. Apolg. I. n. 17. Daffelbe bezeugt Athenagoras in feiner
Legatio pro Christianis n..37.: „Die Kaiſer (Mare Aurel und Commodus) ver—
ſichern, daß die Chriften für ihre Herrfchaft beten, damit fie vom Vater auf den
Sohn übergehe, ftets wachſe und fih vermehrte, Daran fei den Chriften felber
gelegen, um eim friedliches Leben führen und Gottes Befehlen freudig nachkommen
zw Eönnen.“ . Das Gebet der Chriften für den Kaifer hebt auch der Apologek
Theophilus (ad Autol. I. n. 11.) hervor, Weiter finden wir Zeugniffe für diefes
Gebet in Tertullian Apolog. c. 30. 31:32. u, 39. Lib. I. ad Scapul., in Origenes,
adversus Celsum VIll, Cyprian, epist. ad Demetrium, Arnobius, Eufebius, Kirhen-
gef. VII. Bd, 1. ECap., Lucius Cäcilius Lactantius, de mortibus persecutorum
- cap T. u. 0. 34., wo wir finden, daß Kaiſer Galerius ausdrüflih das Gebet
der-Ehriften für fein Heil und das Wohl des Staates verlangt. Daß aber die
Chriſten in ihrer öffentlichen wie in ihrer Privatandacht für den Kaiſer beteten,
beweiſen einfach und Har die alten Martyreracten. Der hl. Biſchof Achatius er⸗
klaͤrt dem Conſul: „Unter allen Unterthanen des Reiches find feine, die den Kai—
ſer mehr ehren , als die Chriften. Wir begehren immerdar von Gott in unferem
Gebeten, er möge ihm ein langes, thatenreihes und glückliches Leben fchenfen,
ihm den Geift der Gerechtigkeit und Weisheit verleihen, auf daß er feine Völker.
gut. regiere und Alles eines blühenden Friedens genieße (Ruinart I. p. 350). Sp
fpricht fi auch Cyprian im Angefichte feines Martertodes aus (Ruinart Il. 43),
wie auch fein Zeitgenoffe, der HI. Dipnyfius, Bifhof von Alerandrien, und Victor
von Maſſilia (Ruinart II. p. 196). Das Gebet für den Landesherrn finden wir
auch in den Liturgien. Was wir von diefen aus den drei erfien Jahrhunderten
haben, das enthält vortreffliche Gebete für Kaiſer und Könige, fo 3. B. die dem
Clemens I. (Ende des dritten oder Anfang des vierten Jahrhunderts) zugefchrie-
bene Liturgie Cotelerii Patr. apost. T.I. p. 265. Const. apost. II, 57. Ein fol-
ches Gebet warb auch nach der Wandlung geſprochen. Const. apost. L. 8. c. 12.
Aus dem Deeident haben wir Feine Reſte einer fo alten Liturgie; indeffen ſpricht
doch Tertullian in cap. 39. feines Apologet. von Gebeten für den Raifer, die
Obrigkeit u. ſ. w. Während aber die Griechen nad der Aufopferung fragliches
Gebet verrichteten, ſcheinen es die Abendländer vor der Aufopferung geſprochen
zubaben. Es verfteht fih son felber, daß die Chriſten, welche für heidniſche
Kaiſer gebetet hatten dieß bei chriſtlichen nicht unterliegen; fondern es Fam jegt
die Sitte auf, von Conſtantin an die Namen der Fürften in die Diptychen (f. d. A.)
einzutragen, was natürlich bei ungläubigen Fürften nicht anging, bei denen mar
ſich im Gebet allgemein: faßte, während Die Namen chriſtlicher Herrſcher abgelefen
Kirchenlexikon. 6. Bd. 22 —
338 Landesherr.
wurden, Verfiel aber einer der leßteren in Härefie, fo ward fein Name aus den
Diptychen geftrigen und für ihn gebetet, wie man e8 bei heidnifchen Regenten
gewohnt war. Die Griechen hatten im 13ten Jahrhundert in ihren Dipiycher
die Namen der mohammedanifchen Kaifer von Chalcedon eingetragen, Die X
teiner beteten ihren Diptychen zufolge für den lebenden Kaifer zu Anfang de
Canons, für den verſtorbenen nach der Wandlung; bei den Griechen fand dieß
in beiden Fälfen vor dem Canon, in Jerufalem nad der Wandlung Statt, Wäh-
rend die Diptychen bei den Griechen beinahe bis zu den neueren Zeiten ſich er-
- hielten, kamen fie im neunten Jahrhundert bei den Lateinern außer Gebraͤuch;
ihre Stelle vertrat ſodann Das Memento für die lebenden, in welches der Name des
Biſchofs und Negenten eingefehrieben wurde; nicht aber, wie in den Diptychen,
wurde der Name des verfiorbenen Bifhofs und Negenten in dem Memento pro
defunctis eingetragen. Aus den morgen- und abendländifchen Vätern Haben wir
Deweife genug für das liturgiſche Gebet der Kirche für die chriftlichen Kaifer,
3. B. Euseb. vita Constant. IV. 45. Chrysost. homil. 23 in cap. 13. Ep. ad Rom.
Cyrill von Zerufalem ex vers. Cla. Toutt6e opp. Cyrill. fol..p. 327. Hilar. Lib. 1.
äd Constant. p. 61. ed. Colon. Athanas. apol. ad Constant. T. I. p. 303. ed. Paris,
Libell. Episp. Aegypt. ad Leon. impr. apud Evagr. IH. 8. Maruthas führte für
den perfifchen König Isdegerd das Kirchengebet ein, welches verrichtet wurde,
bis die Mohammedaner das Neich eroberten. Selbft in Häretifchen Kirchen, z. B.
der Jacobiten, Neftorianer ꝛc., blieben die Kirchengebete für die Fürften und er-
hielten fich bi8 auf diefen Tag in ihren Liturgien, Aus der abendländifchen Kirche
haben wir folgende Zeugniffe: Leo J. ep. 25. ad Theodos. imperat, Nicolaus L,
Schreiben an Michael IL. Noch im Iten Jahrhundert betete man für Conftantin,
- onftanz, Theodoſius, Valentinian und die übrigen Kaiſer. Rom und der ganze
Deeivent waren auch hierin conform, Dptatus yon Mileve rechnet e8 unter die
abſcheulichſten Schandthaten des Donatus, daß er das Gebet für die Fürften
abgefchafft Habe. Auguftin zeugt für dieſes Kirchengebet Ep. 149. edit. Bened.
T. II. p. 586. $ 16. Nach Harduin II. p. 1798 befiehlt das Concil von Toledo,
daß täglich für ven König und die Föniglihe Familie das Opfer verrichtet werde,
In Spanien follen zuerft die eigentlichen Votivmeſſen für die Könige aufgefom-
men fein. Im erften Gefete feiner Capitularien fchrieb Carl M. 801 ſolche
Gebete vor pro vita ef imperio domini imperatoris et filiorum ac. filiarum salute
Baluz. T. U, p. 217. Die Synode von Mainz 888 verordnet, daß täglich ein ge—
wiffes Gebet für den König und die Königin verrichtet werde, Conc. Germanic.
T. U. p. 370. Sn England beftand ebenfalls dag Kirchengebet, noch bevor
Eduard I. am Ende des neunten Jahrhunderts ein befonderes Gefeg über das
Gebet für das Fönigliche Haus erließ, In den fpanifhen, mozarabifchen, galli-
ſchen (für England und Teutfehland), ambrofianifhen und vömifchen Liturgiem
finden wir ausprücdliche Gebete für den Landesherrn, Sp lange in den Diptychen
die Namen der Kaiſer verlefen wurden, enthielt das darauffolgende Titurgifhe
Gebet für die Fürften nicht nochmals deren Namen, fondern bloß I. — Ilius,
oder Il. = Illorum. Als die Diptyehen nicht mehr verlefen wurden, wurde in den
Nitualien feit dem zehnten Jahrhundert ftatt I. das N. und zwar jest in dem
Canon eingefihrieben, was früher nicht darin fland, Im Mittelalter wurden bie
Liturgien fürzer, auch die fpanifche und gallifche von der römischen verbrangtz
aber das Gebet für die Obrigfeiten blieb im Anfang des Canon und fehlte nur
in wenigen Meßbüchern. Nah der Trienter Synode gab zunächſt für Nom
Pins V. ein neues Miffale heraus, in welchem natürlich das Gebet et pro rege
nostro N. fehlte, da im Kirchenftaate der Papft und Regent in einer Perfon ver-
einigt find. Ohne diefen Punct zu berüdfichtigen, nahmen die übrigen Provinzen
dieſes Miffale an und wagten nichts beizufegen, da die dießfallſige Bulle fagte:
Neque in Missae celebratione alias caeremonias vel preces, quam quae hoc Mis-
J 4 —
Landesherrliche Rechte — Landeskirche. 339
sali confinentur, addere vel recitare praesumant. So ging alſo der Name des
Regenten aus dem Canon verloren, und das Gebet für den Fürften in der Meffe
erlofh. Man meinte, nur mit päpftliher Genehmigung dürfe der Beifag pro
e in einzelnen Ländern in den Canon aufgenommen werden, und Gavantus
it. 8. verteidigte diefe Meinung. Daher fol, was aber fehr zweifelgaft
fipp I. von Spanien ſich diefes Privilegium in Rom erbeten haben. Die-
en hume flimmten aber Bellarmin, Suarez und andere Theologen nicht bei,
daher wurde in Spanien, Frankreich und Teutfchland im vielen Miffalien des
16ten und 17ten Jahrhunderts der Name des Regenten reftituirt. — Hieher gehört
auch die feierliche Begehung der Fefte der Negenten, als da find das Gedachtniß
ihrer Geburt, ihres Regierungsantrittes u, dgl. Nach Tertullian (Apolog. e. 35)
feierten die -Chriften die Fefte der Kaiſer, aber auf chriſtliche Weiſe und ohne
öffentliche Freudenzeichen (conscientia potius quam lascivia). Vom vierten Jahr—
hunderte an feierte die Kirche auch deren Geburtstage und Negierungsantritt mit
großem Gepränge, wofür du Cange Diss. de numismatibus medii aevi die Be—
weife führt. Nach Verdrängung des Gögendienftes fiel auch der Schein des heid-
nifhen Gebrauhes weg, daher fanden auch vom fechsten Jahrhunderte an äußere
Freudenbezeigungen Statt an den Fefltagen der Kaifer und der Kirche felber.
FSeftlichfeiten der Art erhielten fih daher überall und zu allen Zeiten. Auch ge-
hören hieher die Missae votivae pro Rege, welche fich nach einem Cover des Tten
Jahrhunderts fhon in dem Sacramentarium des Papftes Gelafius finden, wie
auch in allen alten Sacramentarien des HI. Gregor. An die Stelle diefer Votiv—
meffen traten die in andere Meffen einlegbaren drei Orationen pro Rege des rö-
mischen Miffale. Bon den Votiomeffen ift zu unterfcheiden die Missa quofidiana
pro Rege, welche nach der Synode von Toledo und den alten Statuten von Cfugny
täglich für den König und die Königin von Spanien gelefen werden mußte, was
vielleicht von Franfreich aus nah Spanien ſich verpflanzt hat; denn die Könige
von Frankreich ertheilten den Mönchsklöftern nur unter der Bedingung Privi-
legien, daß fie täglich für das Foniglihe Haus Meffe Iafen. Aehnliches treffen
wir auch in Teutfchland, zum Theil fchon von Carl dem Großen angeordnet. —
Endlich gibt es noch befondere Kirhengebete für die Negenten, z. B. am: Ehar-
freitage, in der Mette des Ferial-Offieiums, der Befper und den Litaneien, na-
mentlih beim jährlichen vierzig- oder dreizehnflündigen Gebete, wo nicht nur für
die Könige gebetet, fondern in der Meffe noch eine befondere Dration für den
König eingelegt wird, — Das fchönfte Bindemittel zwifchen Fürft und Volk Hat alfo
die Kirche im Gebete angeordnet und durch alle Zeiten aufreht erhalten. Das
päpftlihe Rundſchreiben Benedict’s XIV. vom 23, März 1743 fehärft diefe Pflicht
ein, bemerft aber ausdrücklich, daß ſolche Gebete nicht von der weltlichen Gewalt
ausgehen dürfen, was bei den Proteftanten nicht nur vorfommt, fondern ihnen als
in der Drdnung erfcheinen muß, da fie die Episcopalrechte den Fürften pindieiren.
Siehe die Abhandlung Pellicia’s über das öffentlihe und geheime Gebet für
Könige und Fürften in der Liturgie in Dr. A. J. Binterim’s Denfwürdigfeiten
der hriftfatholifchen Kirche Bd. IV, 2, Thl. Zweite Ausgabe Mainz 1838. An-
Yang. ©. 1—214, [Haas,]
Randesherrliche Mechte, f. Jura circa sacra.
Landesherrlicher Tifchtitel, ſ. Tiſchtitel.
Landesherrliches Nominationsrerht, f. nominatio regia.
Landesherrliches Patronatrecht, ſ. Patron und Patronatrecht.
Landesfirche. Das neuere Staatsfirhenrecht Hat dem im Zeitalter der
Reformation geltenden Grundfag: cujus regio illius et religio in den fogenannten
„Landesfirchen” feine erneuerte Anwendung zu geben verfucht, Als nämlich nach
Auflöfung des teutfchen Reiches die fäcularifirten Churfürftenthümer und Bis—
thümer vornehmlich proteftantifhen Negierungen zugefallen WERNE ; hatten legtere
22
m - AP;
340 Landeskirche.
nichts Angelegeneres zu thun, als die alte Kirchenverfaſſung in den katholiſchen
Landestheilen möglichſt verſchwinden zu machen und unter der Firma „organiſcher
Ediete“ und „neuer Landesorganiſationen“ eine Adminiſtration der kirchlichen An-
gelegenheiten herbeizuführen, bei welcher ein Glied der Fatholifchen Kirche Teutfch-
lands um das andere von der römischen Kirche abgetrennt und nach Befeitigung
des ranpnifchen Nechtes auch dem Fatholifhen Glauben fein Ende bereitet werden
follte, Zu dieſem Ziele fanden ſich die teutfhen Spuveränitäten in den Verord—
nungen des Kaifers Joſeph IL (ſ. d. A) und noch mehr in der Häglichen Stellung
den Weg vorgezeichnet, in welche die geiftlichen Churfürften fich gegen Ende des
vorigen Jahrhunderts durch das an ihren Höfen wuchernde Illuminatenthum
gegenüber vom hl. Stuhle hatten hineintreiben Iaffen (f. den Art, Emfer Con—
greß und Punetation), Ganz aus derfelben Duelle, aus welcher Joſeph und
die verblendeten Churfürften ihre Firchlich-politifche Weisheit fich geholt hatten,
ſchöpften fie auch die dienftbefliffenen Handlanger geiftlihen und weltlichen Stan»
des, welche fih um den Preis von Aemtern und Würden den Regierungen zur
Derfügung ftellten, das „Papſtthum mit der Wurzel auszurotten“, pder, wie man
fih euphemiftifch auszudrücken pflegte, „die Ratholifen gegen die Anmaßungen der
römifchen Curie in Schuß zu nehmen,” Hiezu mußte eine Art Cordon um bie
einzelnen Landestheile gezogen werden, welcher gegen jedwedes römische Miasma
undurhdringliche Schranfen bot, und ſolchartig umfchriebene Gebietstheile nannte
man „die Landeskirche.” Die obgenannte Duelle diefer Weisheit war die „Auf-
Härung“ des 18ten Jahrhunderts, jene fhlechtefte Erfcheinung der ganzen Welt—
geſchichte, für welche es feinen Glauben, Fein Recht, Feine Vernunft, Feine Wiſ—
fenfchaft, ja felbft feinen Gott gibt, denn Nichts kann vor biefer Richtung Gnade
finden, was fi über die Gemeinheit alltäglichen Treibens und Genießens er-
hebt und der Plattheit des Verſtandes oder der Frivolität der Öefinnung unfaßbar
iſt. Nicolai hatte für diefe Verfunfenheit die „teutſche Bibliothek” geſchrieben,
und in den Geheimbünden der Illuminaten (f. d. A.) und Logen (f. den Art,
Freimaurer) hatte fie Propaganda gemacht: beinahe die ganze Preffe der Testen
Sahrzehnte des 18ten Jahrhunderts ftand ihr zu Gebot; und fo groß war Deren
Macht, daß nur jene Katholifen Gnade fanden, welche fi) entweder ihres Olau-
bens fhämten, oder der rationaliftifchen Frivolität huldigten und in gleihem
Maße ihre Kirche Yäfterten. Die Logen bahnten den Weg zu den höchſten Stellen
nicht bloß an den proteftantifch-weltlichen, fondern auch an den geiftlich- hurfürft-
lichen Höfenz und befonders gefchah es von letztern aus, daß im Verein mit den
jofephinifchen Generalfeminarien (ſ. d. 4.) die ſchlechteſte Sorte der genannten
Aufklärung, die der Hoftheologen und Hpfcanpniften, in das 19te Jahrhundert
herübergerettet wurde, Kaum war das teutfche Neih in Trümmer zerfallen, fo
finden wir apoftafirte Mönche, ungläubige Priefter und Firchenfeindliche Laien als
die unermüdetfien Werkzeuge der atheiftifhen Staatsgewalt, um die „Landes-
firche” zu etabliren, d. h. die kirchlichen Verhältniffe der Katholiken in foweit nach
den Grundfägen der rationaliftifchen Opttlofigfeit zu beftimmen, als es mit Hinter»
gehung des hl. Stuhles nur immer möglich ‘war. Die magna carta dieſes Sy=
ftemes ift die zu Frankfurt im Jahre 1818 entworfene „Pragmatik“; ihr intellec-
tueller Urheber war der württembergifche Oberkirchenrath Werfmeifter, früher
Benedietinermönch. — Es iſt hier nicht zu überfehen, daß das durch die Zer-
theilung des teutfchen Neiches entflandene Souveränitätsrecht der einzelnen Re—
gierungen fih auch dahin äußerte, daß es eine politifche Abfperrung der teutſchen
Lande unter einander felbft erzeugte, welcher fich die Firhlichen Verhältniſſe, zu-
mal bei der. religiöfen Zerflüftung Teutſchlands, nicht zu entziehen vermochten.
Der Hl. Stuhl nahm auf diefe Sachlage au in foweit Rückſicht, daß ex in den
Eireumferiptionsbullen der neuen Bisthümer. Die Landesgrenzen nach Möglichkeit
maßgebend fein ließ. Es Hätte dieß auch ohne allen Firchlichen Nachtheil geſchehen
Landoalb — Landpfleger. 341
fonnen, würden nicht die Regierungsgewalten durch ihr unfeliges Staatsfirchen-
foftem nicht bloß den Zufammenhang der einzelnen teutfhen Bisthümer unter ein=
ander feldft, fondern auch mit dem HI. Stuble, fo weit fie e8 erreichen Fonnten,
unmöglich gemacht haben. Die „Landesfirchen” follten nicht bloß dem Territorium
nach, fondern auch geiftlich ifolirt und als bloße Staatsanftalten geduldet werben,
Der Staat, durch den Reichsdeputationshauptſchluß in den Befig des fäcrularifir-
tem Kirchengutes gefegt, hatte zwar die Pflicht übernommen, aus diefem Gute
die Bisthümer und kirchlichen Anftalten zu fundiren; allein er befchnitt der Kirche
als eine Färgliche Wohlthat zu, was fie als Recht fordern Fonnte, und er nahm als
Preis feiner Unterftügung die Leitung und Beauffichtigang des gefammten Erziehungs=-
wefens mit Ausfchluß jeder kirchlichen Einmifhung in Anſpruch. Dadurd war es
leicht, die Sfolirung der einzelnen Theile ver Fatholifchen Kirche Teutfchlands auf
das Höchfte zu treiben. Ganz befonders aber hat das den „Landesfirchen“ zum Grund
Viegende Staatsfirhenfyftem in der „Dberrheinifhen Kirchenprovinz“ eine unge-
bemmte Entwiclung und möglichft vollendete Darftellung erhalten, Es iſt nicht zu
bezweifeln, daß diefes Syftem in feiner Eonfequenz, menfhlicher Berechnung nad,
zum allmähligen Untergang des Fatholifchen Glaubens in Teutfhland geführt haben,
oder, wenn es wieder fortgefegt werden follte, führen würde. Landeskirche, auf
die katholiſche Kirche angewendet, bedeutet fonach: ein von der Staatsgewalt be—
drücktes, und aus der organifchen Verbindung mit dem Oberhaupte abgetrenntes
Glied der Kirche. Wäre die Erbarmung Gottes nicht unendlih größer als bie
Berfehrheit der Menſchen, fo wäre die Fatholifche Kirche in Teutfchland ſchon
längſt ausgerottet. — Nach dem proteftantifhen Kirchenrecht gibt es allerdings
Landeskirchen im buchftäblichen Sinne des Wortes, da der weltliche Regent zu-
gleich oberfter Biſchof ift und ihm die ganze Leitung des proteflantifchen Kirchen-
wefens zufteht, Eine Fatholifche Landeskirche kann es im buchftäblichen Sinne des
Wortes nicht geben, denn die Fatholifche Kirche als ſolche erkennt Feine Landes-
grenzen; ihre einzelnen Theile fünnen äußerlich durch geographiſche oder poli—
tifche Grenzen gefchieden fein; in dem gemeinfamen Dberbaupte aber find alfe
diefe Theile ohne Rückſicht auf Stamm, Sprache, Nationalität und Grenze zu
Einem Leibe geeiniget. | [S.]
2andvald, der Heilige, f. Landelin.
Sandpfleger. Diefer Ausdruck ift fiehende Ueberfegung für folgende in der
Bibel vorfommende Amtsnamen geworden; 1) 2, nah Meier (Wurzelwörter-
buch S. 709) ein affyrifhes Wort, wahrſcheinlich compositum yon „3 pars po-
stica, tergum, und LS” solum regium, officium, munus, daher paigah eig. wer
unter dem Throne fteht, Unterherrfiher. In der Zeit Salamo's ift es auch Be—
zeichnung der hebräifchen Statthalter (1 Kön. 10, 25.); in der Periode der chal—
däiſchen und perfifchen Herrfchaft bezeichnet es vermuthlich den Gpuverneur einer
Provinz, der dem Satrapen untergeordnet war (vgl. Dan. 3, 2 ff. Efib. 3, 12.
8, 9.). Im Anfang der verfifchen Oberhoheit war Paläftina mit andern ihm
nahe liegenden Provinzen dem Landpfleger der transeuphratenifchen Provinz (T2>
7972) untergraben (Er, 5, 3. 6, 6. cf. Ne, 2, 7. 9.); in der Folge wird Se—
zubabel (Esr. 5, 14. 6, 7.) und Nehemias (Neh. 5, 14. 12, 26.) als eigener
Landpfleger Judäa's (87777 n72) genannt, 2) nysuov, ryeuovevov im N. T.
Dieß war der Titel der feldftftändigen Verwalter der römifchen Provinzen, der
Proconſuln und Proprätoren. Judäa mit Samaria gehörte feit dem Jahre 12
a. Chr, zur römischen Provinz Syrien, und fand eigentlich unter der Hoheit des
ſyriſchen Proprätors, die Juden erfreuten ſich jedoch des Vorrechts, daß fie ſtets
durch einen in Cäfarea (Jos. Antt. 18, 2, 2. 5, 3.) refidirenden Procurator, der
unter jenem Prätor fand, regiert wurden, biefer führt nun bei den neuteſtament⸗
342 Landſperger — Lanfranf,
lichen Schriftſtellern gleichfalls den Titel 7yauum und jysnovevon, obwohl ihm
zunächſt nur die Benennung Errirooros zulam. Der Procurator Fam zur Zeit
der Fefte regelmäßig in Begleitung von Truppen nach Jeruſalem, um etwaige
Unruhen niederzuhalten, und wohnte im ehemaligen Palafte des Herodes, nun
Prätorium (Jos. b. j. 2, 14. 8. autt. 15, 9. 3.), das neben der mit dem Tempel
verbundenen Burg Antonia lag, von wo aus Alles Leicht beobachtet werden Fonnte,
was in dem großen Vorhofe vorging. — Der erſte diefer Proeuratoren über
Judäa war Coponius (Jos. antt. 18, 1, 1.)5 die Evangelien nennen nur den
Pontius Pilatus, den fünften in diefem Amte; unter Tiberius und Caligula folg-
ten noch drei weitere, Hierauf fam Judäa mit Samaria zum Reiche des Herodes
Agrippa, nach deſſen Tod wieder römifche Procuratoren genannt werben (Jos.
antt. 19, 9, 2.), von diefen Fennt die Apoftelgefhichte zwei, Felie und Feftus:
Diefe Landpfleger waren meift eine Landplage; grauſam, ‚beftechlih, fangten das
Volk in jeder Weife aus, mifchten fih namentlich auch in die Wahl der Hohen
priefter u. f. w. (Jos. antt. 18, 2,2. 5, 3.20, 11, 1. bell. j, 2, 14, 2.). Die
Klagen dagegen wurden verhindert oder blieben ohne Erfolg Cantt. 14, 10, 6.
20,1, 1.8, 4). [Rönig.]
- Randfperger, Johann, Carthäuſer, fruhtbarer ascetifher
Sähriftfteller des 16ten Jahrhunderts, geboren zu Landsberg in Bayern,
machte feine Studien zu Cöln, trat bier in den Orden der Carthäufer, wurde
unweit Jülich Ordensprior und farb zu Coln 1534 (1539 9). Wegen feiner
großen Frömmigkeit und Gottesfurcht erhielt er den Beinamen des Gerechten.
Obwohl außer den Kloftergefihäften die meifte Zeit der Betrachtung und dem
Gebete obliegend, fo pflegte er doch auch raſtlos die Studien und ſchrieb fehr
viele werthvolle Bücher, die in mehreren Ausgaben zu Cöln und theilweife auch)
an andern Orten edirt wurden, Genannt mögen werben: Sermones capitulares
in praecipuis anni festivitatibus — Vita Servatoris N. J. X. — Enarrationes in
Evangelia et Epistolas — Paraphrases in dominicales epistolas et evangelia —
Alloquia Jesu Christi ad fidelem animam — Enchiridion vitae 'spiritualis ad per-
fectionem — Pharetra divini amoris. Gegen die Proteftanten ſchrieb er: Demon-
stralio, quaenam vera sit religio evangelica ad Garolum V. — Dialogus inter mili-
tem lutheranum et monachum. Auch bat Landfperg zuerft das Buch der Dffen-
barungen der hl. Gertrud herausgegeben (f, den Art, Gertrud). ©, Raderus,
Bavaria sacra; Kobolt's bayerifches Gelehrten-Lericon, [Schrödt.]
Landulph, f. Pataria. '
Lanfrank. Im J. 1041 begegnen wir in der Normandie, auf dem Wege
von Aoranches nach Nouen, einem friedlich wandernden jungen Gelehrten. Der-
felbe wird in einem Walde von der Nacht übereilt, von Näubern angegriffen,
gänzlich beraubt, an einen Baum gebunden und fo dem Untergange preisgegeben,
wenn nicht Hilfe fommt, Der Himmel erhört fein Flehen um Errettung. Des
andern Morgens ziehen Neifende vorüber und Töfen, um Hilfe angerufen, die
Bande des Gefeffelten. Befreit bittet er feine Netter um das Einzige, daß fie
ihm ein Kloſter, am liebſten ein niedriges und armes, zeigen mögen, denn er ift
entfchloffen, der Welt Lebewohl zu fagen. Sie weifen ihn nad Bee, weldes in
der Nähe Liegt. Angelangt dafelbft, trifft er den Abt Herluin fammt den Brü-
dern an dem Baue des Klofters befihäftigt. Er bittet um Aufnahme und erhält
diefelbe, nachdem er die ihm vorgelegten Satzungen, die Negeln des HL. Benedict,
genau zu beobachten verfprochen hat, Sp ift er Mönd im Klofter Becz nicht
Lange nachher wird er Prior deffelben Kloſters, fodann Abt zu Caön und endlich
Erzbifchof von Canterbury, nach dem Könige der mächtigfte Dann in England,
Diefer Mann ift Lanfrank. — Einem vornehmen Geſchlechte zu Pavia entfprof-
fen, hatte er edle Bildung empfangen, Der frühzeitige Tod feines Vaters, eines
Senators yon Pavia, erfeirhterte ihm die Ergreifung eines Berufes nach Anlage
u. Age TER - WM— =
ganfranf. | 343
and Neigung. Wenig Gefhmad findend an den Geſchäften eines Rechtsgelehrten,
verläßt er bald die Jurisprudenz, um ſich den freien Wiſſenſchaften zuzuwenden.
Ausgerüftet mit einer Bildung, wie fie damals verftattet war, geht er über bie
Alpen; er fuht Abenteuer und Ruhm. Nahdem er Frankreich durchwandert hat,
welches damals Heinrich 1. beherrfchte, wendet er ſich nad der Normandie. Ohne
Zweifel hat ihm der Ruhm des maͤchtigen Normannen-Herzogs Wilhelm, nad-
maligen Königs von England, angezogen. In Aorandes errichtet er eine Schule,
Wie lange er hier gelehrt, wiffen wir nicht. Immerhin Tange genug, um fi
einen Namen zu erwerben, und nachher eine Maffe Schüler an -den Drt feines
Aufenthaltes zu ziehen, Es mag einige Jahre gedauert haben. In dem Eingangs
genannten Jahre fehen wir ihn auf dem Wege nad Rouen. Ohne Zweifel: fucht
er in diefer Stadt einen größern Wirfungsfreis, Da tritt das erzählte Ereigniß
ein und veranlaßt ihn, einen andern Beruf zu ergreifen, feinem Leben eine andere
Richtung zu geben. Der Finger Gottes läßt ſich nicht verfennen, Es wird er=
zählt: Als die Räuber dem Lanfranf Alles bis auf einen alten Mantel abgenom=
men, babe fich diefer einer Geſchichte erinnert, welche fih in feinem Baterlande
zugetragen. Räuber hatten nämlich einem Reifenden das Pferd abgenpmmen, die
Reitpeitfche aber gelaſſen. Da Iegtere für den Beraubten entbehrlich war, rief
diefer die Räuber zurück, um ihnen auch noch die Reitpeitfche einzuhändigen.
Theils durch diefe Gutmüthigfeit, theils durch eine höhere Warnung erfchüttert,
gaben die Räuber das Pferd zurück. An diefe Geſchichte alfo Habe fich Lanfranf
erinnert: und fofort den Räubern au noch den Mantel angeboten, den fie ihm
gelaffen, hoffend, er werde fo glüdlich fein wie jener Neifende in Italien. Aber
diefe Lift hat gänzlich fehlgefchlagen. Glaubend, er wolle ihrer ſpotten, wurden
die Räuber zornig, entblösten erft jest den Beraubten vollfommen und banden
ihn unter Mishandlungen an einen Baum. Das war entfcheidend. Lanfranf er-
wog, daß er fündhaft gehandelt, indem er wahre Gutmüthigfeit aus Eigennug
liſtiger Weife nachgeahmt, und verbehlte fih, in Folge diefer Betrachtung , nicht,
daß all’ feine bisherigen Unternehmungen von Eigenliebe geleitet gewefen und
Befriedigung eitler Selbftjuht zum Zwede gehabt, Daher fein Entſchluß, fich
in ein Klofter zurüdzuziehen und allen Egoismus abzuthun, wenn Gott ihn retten
würde, Wie dieß geſchehen, Haben wir gefehen. — Lanfranf bleibt feinem Ent—
fchluffe treu, — Obgleich dur feine gelehrte Bildung, welche in Ber etwas Un—
befanntes iſt, auf's Höchfte imponirend, ift er doch unter allen Brüdern der be—
fheidendfte und demüthigfte und zollt dem Abte wahrhaft Findliche Verehrung und
einen Geborfam, welcher feine Grenzen fennt. Nicht minder ift er auch in Fleiß,
Mäßigkeit und den andern flöfterlihen Tugenden ein Mufter für die Uebrigen,
Bald indefjen ift fein Hauptgefhäft der Unterricht. Daß feine Schule eine der
berühmteften und geſuchteſten geweſen, ift befannt. Bon allen Seiten her, aus
Frankreich, Teutſchland, felbft aus Italien famen Schüler nah Ber; Söhne aus
den vornehmſten Familien, Laien: wie Cleriker fuchten Lanfranfs Unterricht; viele
nachher berühmte Männer, Aebte und Bifhöfe find feine Schüler gewefen. Wir
nennen nur zwei: Anfelm, fpäter Nachfolger Lanfrank's in Canterbury, und Papft
Alerander II. (ſ. diefe Art). — Ein Mann wie Lanfranf iſt überall für die Vielen
zu gut, Es fund nicht lange an, fo wurde der Bortreffliche von dem Neid und
Haffe träger und ungeordneter Mönde verfolgt. Ihm feinerfeits war der Anblick
eines difjoluten Kloftervolfes unerträglih. Da er aber nicht Hoffen fonnte, ander=
waärts beffere Möncde zu treffen, fo entfchloß er fi, in die Einfamfeit zu gehen,
Eremit zu werben. Er gibt Magenſchwäche vor, laßt fih vom Gärtner Wurzelm
geben und übt fi, zur Vorbereitung auf das Eremitentfum, im Wurzelefjen.
Abt Herluin wird dur eine Vifion über Laufrank's Plan unterrichtet, und es ge=
lingt deffen Bitten, den Mifmuthigen zurückzuhalten. Lanfranf wird bald darauf
zum Prior des Klofters ernannt, und in dieſer Eigenfhaft gelingt es ihm, beffere
344 Lanfrank.
Ordnung herzuſtellen und zu erhalten. — Unterdeſſen hatte Berengar (ſ. d. 4.)
ſeine Irrlehre öffentlich vorgetragen, und Lanfrank wurde gleich Anfangs in die
Angelegenheit verwicelt. Berengar hatte Lanfrank brieflich aufgefordert, ihm in
Her Bertheidigung des Johannes Seotus Erigena gegen Paſchafius Radbertus
. beizuftehen, Lanfranf war bei Ankunft des Briefes nicht zu Haufe gewefen und
dieſer von etlichen Mönchen gelefen worden, Hiedurch gefchah es, daß Lanfranf
verdächtigt wurde, Er fteht, hieß es, mit einem Srrlehrer in Berbindung; alfo,
Die Sache fam nach Nom. Lanfranf wurde eben fo wie Berengar zur DBerant-
wortung vorgeladen, Da die Verläumdung zwar boshaft genug, aber noch viel
mehr thöricht war, fo hatte feine Vertheidigung feine Schwierigkeit; und es ift
ihm auch aufs VBollfländigfte gelungen, die beiden Eoneilien von Rom und Ber-
celli Cunter Leo IX. im J. 1050) von feiner Rechtgläubigkeit zu überzeugen.
[Das Nähere in Betreff der genannten zwei Coneilien und des weiteren Ber-
laufes der Berengar'ſchen Irrung ſ. im Art. Berengarvon Tours.) — Dem
eben fo weifen als tapfern Wilhelm konnte der gelehrte und auch juriftifch ge—
bildete Lanfrank nicht verborgen bleiben; er bediente fih feines Nathes in den
wichtigften Angelegenheiten (Lanfrank war, fagt fein Biograph Milo Erispinus,
summus consiliarius ad administranda totius patriae negotia), Eine Ungnade, in
welche Lanfranf bald verfiel, ging ſchnell vorüber. Er follte, wir wiffen nicht
genau warum, verbannt werben (entweder weil er den unwiffenden und eitlen
Hofkaplan als unwiffenden Menfchen behandelt Hatte, oder, was wahrfcheinlicher,
weil er war verläumbet worden). Es wurde ihm ein hinfendes Pferd zugeftellt,
damit er auf demfelben das Land verlaffe. Während er nun fo elendiglich in bie
Verbannung reitet, begegnet ihm zufällig der Herzog. Diefer kann nicht umhin,
einen Augenblid die Complimente zu betrachten, die ihm von dem hinfenden Thier
gemacht werben, Lanfranf benüßt diefen Augenblid, dem Herzog zu. fagen:
„Wenn du willft, Daß ich dein Land verlaffe, fo mußt du mir ein befferes Pferd
geben, denn diefes da ift nicht im Stande, mich über die Grenze zu bringen,”
Diefer Scherz veranlagt ein Gefpräh und Erflärungen, deren Folge iſt, daß
Lanfranf wieder in Onaden aufgenommen wird, Und von jest an ift er ununter-
brochen der Höchfte, aber auch treuefte Nathgeber des „Eroberers.“ — Bald
darauf erhält er eine Miffion, deren wir um der Folgen willen erwähnen müffen;
Um's Jahr 1060 nämlich wird er nach Nom zu Papft Nicolaus U. gefandt, um
feinem Herzog Dispens behufs der Verehelihung mit einer Anverwandten, einer
Prinzeffin von Flandern, zu erwirfen. Der Papft willfahrt der Bitte, fügt aber
Die Forderung bei, daß der Herzog zwei Klöfter baue, ein Möndhs- und ein
Srauenklofter. Wilhelm, diefer Forderung nachkommend, erbaut fogleich ein bem
hl. Stephanus geweihtes Klofter zu Caem, Nach ungefähr drei Jahren ift das—
- Felbe fertig, und als Abt wird ihm vorgeſetzt Lanfrank. Lanfrank ift nun Abt
zu Caön vom Jahr 1063 oder 1064 big 1070, Daß er das Klofter vortrefflich
eingerichtet und geleitet, nicht minder, daß er eine Schule gegründet und‘ forg-
fältig gepflegt habe, würden wir annehmen, wenn es auch nicht ausdrücklich be—
zichtet wäre. — In diefe Zeit fällt die Abfaffung einer Schrift, welhe dem Lanz
frank eine Ehrenftelle in der hriftlichen Literärgefchichte fihert, Wir meinen bie
Schrift über das Abendmahl gegen Berengar (De corpore et sanguine Domini,
advers. Berengar. Turon.),. Berengar hatte auf einem Coneilium zu Rom 1059
das orthodoxe Glaubensbekenntniß in Betreff der Euchariſtie beſchworen, bald
aber nad) der Rückkehr feine Irrlehre auf's Neue vorgetragen und in einer aus—
führlichen Schrift zu begründen gefurht (f. den Art. Berengar, Bd. I. ©, 823),
Dagegen num tritt, in der genannten Schrift, Lanfranf auf, Lanfrank wendet
ſich an Berengar, wirft ihm feine Unbeftändigfeit oder vielmehr Meineivigfeit vor,
indem er den bisherigen Gang der Verhandlungen barftellt; bezeichnet hierauf
Tehr genau das Verhaͤltniß zwifchen der Fatholifchen Lehre, welche Transfuhften-
Lanfranf. 885
tiationslehre ift, und der Berengar'ſchen Irrlehre, und ſchließt mit einer dog-
matliſch⸗ hiſtoriſchen Begründung der erftiern, wobei er die von Berengar vorge⸗
brachten Argumente widerlegt und insbefondere die Perfidie aufdeckt, womit Be—
rengar bie Kirchenväter, namentlich Ambrofius und Auguſtinus, für feine Irrung
aufgerufen hatte. Diefe Schrift Lanfranfs gehört zu den jhönften Denfmälern
der chriſtlichen Wiffenfchaft im Mittelalter, und noch heute wird jeder Theologe
fie mit Nutzen und Vergnügen leſen. Wenn Leffing (Berengarius Turonon. oder
Ankündigung eines wichtigen Werkes deſſelben. Braunſchweig 1770), Neander,
Stäudlin ıe,, neuerdings befonders Sudendorf (Berengarius Turonensis, oder eine
Sammlung ihn betreffender Briefe. Hamburg u. Gotha 1850) die Gegenſchrift
son Berengar (Bereng. Tur. de sacra coena adv. Lanfrancum. Ed. Vischer. Bero-
lini 4834), eine Cumulation von pöbelhaften Läfterungen, in freundlihen Schuß
und forgfältige Pflege nehmen, fo werden wir und hiedurch nicht nur nicht beirren,
fondern im Gegentheil beftimmen Iaffen, Lanfrants Schrift nur um fo höher zu
ſchätzen. — In diefelbe Zeit ift ohne Zweifel auch die Abfaffung der Decreta pro
ordine S. Benedicti zu fegen — ziemlich ausführlihe Vorſchriften für die Mönche,
zur Regelung der TIhätigfeit, des Gottesdienſtes sc. — Ebenfalls in diefer Zeit
follte Lanfranf Erzbifchof von Rouen werden. Er weigerte fih ftandhaft, indem
er geltend machte, die bifchöflichen Gefchäfte vertragen ſich nicht mit dem Mönds-
leben, von welchem er nicht Iaffen wolle. Hierauf wünfchte Herzog Wilhelm den _
Biſchof Johannes von Avranches nach Rouen zu verfegen, und fandte Yanfranf
nah Rom zu Papft Alerander II., um die erforderliche Dispens zu erwirfen, —
Ohne Zweifel aber Hatte diefe Miffion noch einen andern Zweck. Wilhelm Hatte
unterdeffen England erobert (1066) und die Firchlichen Berhältniffe dafelbft in
größter Unordnung angetroffen, die Bifchöfe verweltlicht, träge, nachläſſig, den
niedern Clerus, den Oberhirten gleich, verfommen, roh, unwiffend, mehr zer-
flörend als erbauend, und ließ es nun feine erfte und vorzüglichfte Aufgabe fein,
in diefem Gebiete Ordnung zu ſchaffen; und ohne Zweifel war es vorzugsweife
wegen diefer Angelegenheit, daß er Lanfranf nah Rom ſandte. Sp erflärt es
fi, daß der Papft dem zurücfehrenden Lanfranf drei Legaten mitgab. Diefelben
Hatten den Auftrag, zunaͤchſt den König zu Frönen, dann aber vorzugsweife die
Kirche in England zu reformiren. Demzufolge hielten fie alsbald eine Synode
zu Windfor, festen auf derfelben mehrere Bifhöfe ab, darunter auch, wegen
ſchlechten Lebenswandels und eben fo fchlechter Verwaltung, den Erzbifhof von
Canterbury, Primas von England, Nun glaubt König Wilhelm nicht beffer für
die Kirche Englands forgen zu fönnen, als dadurch, daß er Lanfranf auf den erz⸗
bifhöflichen Stuhl von Canterbury berief. Allein Lanfranf verweigert die An—
nahme aus denfelben Gründen, die ihn früher beftimmt haben, das Erzbisthum
Rouen zurüdzumeifen. Lange Zeit ift er auf feine Weife zu bewegen, felbft des
Papſtes Wille ift nicht entfcheidend. Erft der Befehl feines alten Abtes Herluin
bricht feinen Widerftand. Was oder wer den Herluin zur Erlaffung des Befehls
bewogen babe, ift leicht zu errathen. Lanfranf aber war gewohnt, feinem Abte
und geiftigen Vater unbedingt, blindlings zu geboren. Sp ift er denn Erz=-
bifchof von Canterbury und Primas von England geworden, Es war im Jahre
1070, — Nun beginnt Lanfranf eine Thätigfeit zu entfalten, welche in Erſtaunen
fest. Sein erftes Gefchäft ift Wiederberftellung und Befeftigung der zeifallenen
kirchlichen Ordnung, zunächft die Geltendmachung feiner eigenen Auctorität, Siche-
rung der Primatialrechte. Dieß Hatte einige Schwierigkeit, indem Thomas,
Erzbiſchof von York, wo nicht den Primat, fo doch Unabhängigkeit von Canter⸗
J bury in Anſpruch nahm. Es gingen zwei Jahre darüber hin, bis Lanfranf all-
gemeine und unbedingte Anerkennung des Primates von Canterbury erwirft hatte,
Mit diefem Erften verbindet er fogleih das Zweite, die Reform der entarteten
Mönde und Elerifer im ganzen- Reiche; er forgt für Unterricht, hebt das wiffen-
346 Lanfrank.
ſchaftliche Streben, überwacht Lehre und Diseiplin; die Bibel und die Schriften
der hl. Väter, die voll Fehler, dem Staube und den Würmern preisgegeben ſind,
läßt er abſchreiben, das Brevier vervollſtändigen u. ſ. w. Dann ſtellt er die
zerfallenen Kirchen und Klöſter wieder her, vor Allem in Canterbury ſelbſt, wel-
ches ihm als zweiten Gründer anzufehen hat; forgt überall für die Mönche und
die Armen, baut Spitäler, Armen-, Kranfen- und Fremdenhäufer — Alles im
Sntereffe der Ordnung und Gittlichfeit des Volkes, nach dem Ausdrucke feines
Biographen: totam intentionem suam ad mores hominum corrigendos et compo-
nendum ecclesiae statum convertit. „Bon feiner Befehrung an, fagt derfelbe Bio—
graph, Alles zufammenfaffend und unter der Beiftimmung Anfelms und Eadmers,
widmete er fich ganz der Pflege der Religion, fuchte immer das Beffere und war
beftrebt, in der Tugend mehr und mehr zu wachfen, Wer ift im Stande, würbig
zu befchreiben das Licht feiner Weisheit, die Schärfe feines Geiftes, feine Herzens-
güte, feine Gerechtigkeit im Handeln, die Reinheit feiner Seele! Er war ange-
nehm durch Heiterkeit, befcheiden in Demuth, verfchwenderifch im Almofen, im
Glauben katholiſch, ein Wiederherfteller der chriſtlichen Religion, "eine Stüge ber
Armen, Befhüser der Waifen, Tröfter der Wittwen.“ Fürwahr das Bild eines
vortrefflichen Menfchen und Kirchenfürften! Leffing will den Heiligenfchein von
deffen Haupte geriffen haben (vgl. die oben genannte Schrift von Sudendorf),
Es thut uns leid um den gelehrten Wolfenbüttler; er hat durch folches Beginnen
nur ſich felbft befhmugt. — Indeß fünnen wir doch nicht abfchließen, ohne noch
einen Punet fpeciell zu beleuchten, der die Feuerprobe für jeden Kirchenfürften
ift, wir meinen das Verhältniß Lanfranfs zu Nom, Nachdem Lanfrank das Erz-
bisthum Canterbury endlich angenommen hatte, bat er fchriftlih den Papft um
Veberfendung des Palliums, erhielt aber (durch den Archidiacon Hildebrand) die
Antwort, man pflege das Pallium nicht zu verfendenz; jeder Erzbifchof ſei ver-
pflichtet,, e8 felbft von Rom zu holen; er möge alfo perfönlich nah Nom kommen.
Lanfrank Fam diefer Weifung ohne Zögerung nach. Aber es kann auffallen, daß
ex folher Weifung und Zurechtweifung überhaupt nur bedurfte. Indeſſen aus
dem Empfange, der ihm in Rom geworden ift, geht zur Genüge hervor, man habe
dafelbft fein Benehmen nicht als Unbotmäßigfeit angefehen, wornach zu urtheilen
ift, er werde genügende Gründe zu dem Wunfche gehabt Haben, das Pallium zu-
gefchieft zu erhalten. Der Papſt nämlich (Alexander IL) empfing ihn mit befon-
derer Auszeichnung und ertheilte ihm zwei Pallien: Das gewöhnliche und das—
jenige, deſſen er felbft fih bei der Celebration der Meffe zu bedienen pflegte,
Dagegen ift gewiß, daß der folgende Papft, Gregor VIL., mit Lanfranf nicht ganz
zufrieden gewefen, Er hatte ihn wiederholt nach Rom eingeladen, immer ohne
Erfolg. Darüber beſchwert er fih am Ende ziemlich bitter, woher er zugleich
dem Lanfranf vorwirft, daß er zu nachgiebig gegen die weltliche Gewalt die Rechte
der Kirche nicht genugfam gegen die Eingriffe des Königs ſchütze, daß er nicht
ohne Schuld zu fein foheine an der Verweigerung der Fidelitas von Seite feines
Königs König Wilhelm Hatte nämlich zwar den fog. Peter-Pfennig verabreicht,
die Fidelitas aber verweigert, d. h. fein Reich nicht zu Lehen von dem Papfte an-
genommen — allerdings gegen das vorher gegebene Verfprechen), daß es über-
haupt ven Anfchein habe, er fer, zur bifchöflichen Würde erhoben, dem römifchen
Stuhle nicht mehr fo treu ergeben, al8 er es vorher gewefen (vgl. Epp. Gre-
gor. VI. L. VI, ep. 30; L. IX, ep. 20). Es wird nicht fiber auszumachen fein,
in wieweit diefe Vorwürfe gegründet feren. Lanfranf antwortet, an feiner Ge—
finnung gegen Rom fei feine Beränderung vorgegangen, er fei noch eben fo treu,
als er es vorher geweſen; dagegen ſcheine ihm, der Papſt hege nicht mehr das
alte Wohlwollen gegen ihn (vos vero a pristino amore nonnulla ex parte defe-
eisse); was Die vom Rönig-verweigerte Fidelitas betreffe, fo habe er zur Leiftung
derſelben gerathen; daß er nicht durchgedrungen, fei nicht feine Schuld (suasi,
a
Lanfrank. 347
er, sed non persuasi). Die beiden andern Punete übergeht er mit Still-
weigen. Es läßt fih wohl begreifen, daß er auch bei dem beften Willen nicht
immer im Stande gewefen, den gewaltthätigen Normannen gegenüber alle Rechte
und Güter der Kirche völlig unverfehrt zu erhalten; nicht minder, daß er feine
Zeit gefunden habe, eine Reife nach Nom zu unternehmen; denn die vielen Ge—
fchäfte, die er fhon als Erzbifhof und Primas hatte, wurden noch bedeutend da-
durch vermehrt, daß er immer bei Abwefenheit des Königs Reichsverwefer war.
Allein Gregor kannte Feine Rückſichten. Daher mag es Lanfranf für das Beſte
gehalten haben, über die genannten zwei Puncte zu fohweigen. Daß er im Ge-
willen gerechtfertigt und beruhigt gewefen, ift für uns nicht zweifelhaft. Papſt
| Alerander II. war der Schüler Lanfranfs gewefen. Das batte ein perjönliches
Verhältniß zwiſchen beiden begründet, weldes natürliher Weife zwiſchen Gregor
und Lanfranf nicht beftehen Fonnte, Hierin wird e$ begründet fein, daß Gregor
etwas Argwohn gegen Lanfrank hatte, — Nachdem Lanfranf fein hohes Amt bis
in's 19te Jahr auf die angegebene Weife verwaltet, Fräftig und nicht ohne Er-
folg zum Wohl der Kirche gewirkt Hatte, flarb er den 28. Mai 1089, zwei Jahre
nah dem Tode Wilhelms des Eroberers. Die Gemwaltthaten und Ungerechtig—
keiten Wilhelms II. Haben, ſcheint es, den Tod des Kirchenfürften beſchleunigt.
Wie alt er geworden, iſt nicht auszumahen. D'Achery vermuthet 92 Jahre. Er
nimmt nämlich an, Lanfrank fei bei der Anfunft in Bee 45 Jahre alt gewejen.
Andere nennen, mehr wahrfheinlih, aber gleichfalls völlig ohne Grund, das Jahr
1006 als fein Geburtsjahr. Nehmen wir am, was ohne Zweifel das Wahr-
foheinlichfte ift, er fei bei der Ankunft in Bee hochſtens 30 Jahre alt geweien
(find 30 einmal überfhritten, fo pflegt man das Reifen in’s Ungewiffe nicht mehr
zu lieben), fo wäre er 73 Jahre alt gefiorben. Der Wohlgerud feiner Gebeine,
welche unter feinem zweiten Nachfolger, bei Einweihung der vergrößerten Kirche,
„erhoben wurden, beweist, daß er felig geſtorben, quod anima illius in magna sua-
vitate requiescit, wie fein Biograph fagt. — Zum Schluffe ift noch mit wenigen
Worten der literarifihen Thätigkeit Lanfranfs zu erwähnen. Zwei feiner Schriften
- find bereits genannt, Außer dieſen befigen wir von ihm: Commentarius in epis-
iolas B. Pauli — kurze Anmerkungen, größtenteils den Schriften des HI. Am-
broſius und Auguftinus entnommen, wobei zu bemerfen, daß die dem Ambrofius
entnommenen Citate fich in den uns erhaltenen Schriften diefes Vaters nicht fin-
den; Annotatiunculae in nonnullas Joannis Cassiani Collafiones Patrum — ein fehr
fleines Fragment ohne weitere Bedeutung; Epistolarum liber — 60 Briefe, wovon
44 von Lanfranf an verfchiedene Perſonen, Päpſte, Bifchöfe, Aebte, Könige ıc,,
und 16 an Lanfranf, alle aus der Zeit des Episcopates Lanfranfs, theilweife von
Wichtigkeit für die Gefhichte; Pericope Orationis quam in concilio anglicano habuit
L. — Bruchſtück einer Rede zur Vertheidigung feiner Vrimatialanfprühe; de
celanda confessione libellus — eine furze Abhandlung über das Beichtgeheimniß
ſowohl von Seite des Beichtenden als des Beichtvaters. Dabei fommt Lanfranf
auf die Frage zu fprechen, wen zu beichten fei, und fpricht u. A. folgenden Sat
aus: „Visibilia namque sacramenta et operantur et significant invisibilia. In hoc
cognoscimus quia de occultis omni ecclesiastico ordini confiteri debemus, de aper-
is vero solis convenit sacerdotibus, per quos Ecclesia, quae publice novit, et sol-
vit et ligat“‘ (D’Achery pag. 381). Diefe Aeußerung bat den Theologen viel zu
ſchaffen gegeben (ogl. D’Achery Annotat. ad h. 1.; Nat. Alex. H. E. Saecul. XL
et XU, cap. V, art. 6). Ohne Zweifel will Lanfranf nur fagen, über die fünd-
hafte Neigung, Begierde, verkehrte Gefinnung u. dgl. fei es gut, fich auch Laien,
- Sreunden, ernften und tugendhaften Männern zu entdecken; die wirklichen Sünden
dagegen, das offenbar gewordene Böfe fei nur den Prieftern zu befennen, weil
nur dieſe yon der wirklichen Sünde abſolviren können. — Alle diefe Schriften
hat zum. erfien Male vollſtändig herausgegeben D’Achery (B.Lanfranci opp.
|
|
|
318 Lang. &
omnia. Lut. Paris. 1568. 1 fol.). Neuere Ausgaben: Venet. 1745; Oxonüi 1844—
45. 2 Vol. 8. von J. A. Giles. Verloren gegangen find ein Commentar zu den
Palmen, eine Kirchengeſchichte und eine Biographie Wilhelms des Eroberers
cogl. D’Achery Amnot. ad Vitam Lanfr. p. 41). Die Duellen, woraus Nach—
richten über Lanfrank zu fhöpfen, und woraus auch wir die obigen Angaben ge- 4
nommen haben, find vor Allem bie Vita B. Lanfranci von Milo Erispinus,
Hann die Vita S. Anselmi von Eadmer (f. d. A.), die Gesta Anglor. von Wilh.
Malmesbury lib. II. und das Chronicon Beccense. D’Ahery hat alles hieher
Gehörige gefammelt, Vgl, auch Möhler, gefammelte Schriften und Aufſätze.
Br, 1. ©, 32 ff. | Mattes,
Lang, Matthäus, Cardinal und Erzbifhof von Salzburg, geb.
41469 zu Augsburg aus der Familie der Patricier von Lang, wurde, nad vollen⸗
deten Studien zu Ingolſtadt, Secretär bei Kaiſer Friedrich II. und nach deſſen
Zod der vertrautefte Rath des Kaiſers Maximilian J., welcher ihn zu den wichtig⸗
ſten Staatsgeſchäften gebrauchte. Nachdem Lang die Dompropſteien von Augs-
burg und Conftanz und verſchiedene einträgliche Commendatorien erlangt, erhielt
er 1505 das Bisthum Gurk, Wenig fland es ihm als Geiftlihen und Biſchof
an, daß er das ſchismatiſche Coneil von Pifa (ſ. Julius IL) förderte, doch
machte er die Sache dadurch wieder gut, daß er e8 auch war, welder eine Aus—
gleihung zwiſchen Kaifer und Papft zu Stande brachte, zufolge welcher Marimi-
Yian fih vom pifanifchen Aftereoncil losſagte und der vom Papfte verfammelten
Lateranfgnode beitrat (1513). Um den allmächtigen und der Eitelfeit nicht un—
zugänglichen kaiſerlichen Minifter für fi zu gewinnen, hatte ihn Papft Julius
Schon 1511 zum Cardinal gewählt und als er vom Kaiſer zum Abſchluſſe des
Friedenstractates bevollmächtigt nad Rom kam, wurde er mit Föniglichen Ehren
empfangen. Nach unterzeichnetem Tractat wohnte er einer Seffion des Coneils
an. Auf dem zu Augsburg 1518 gehaltenen Reichstage, wo er im Faiferlichen
Auftrage die Stände zur Türfenhilfe und zur Wahl Earls zum römifhen König
zu bewegen fuchte, fuchte er auch den Luther zurechtzumeifen, es gelang
ihm nicht, Bei Carls Kaiſerwahl fand er an der Spite der von
ige zur Wahl bei, Schon 1514 beim Concil im Lateran zum Coadjutor des
Erzbifchofs Leonhard Keutſchach von Salzburg ernannt, war er inzwifchen nach
deffen Tod C+ 8. Juni 1519) Erzbifchof von Salzburg geworden und nahm nach
Earls Wahl Poſſeß von der Erzkirche. Fortwährend das Vertrauen des Kaiſers
und des Erzherzogs Ferdinand geniepend und zur Bereinigung der wichtigften
Reichs⸗ und Familienangelegenheiten von ihnen verwendet, bethätigte er zugleich
feinen Eifer für die alte Kirche auf verfihiedenen Neichstagen, Auf dem Reichs—
tag zu Augsburg 1530 trat er mit Melanchthon in Verhandlung. Ob er bier,
wie Lutheraner berichten, Aeußerungen gethan, wie, die meiften Klagen der
Proteftanten über Mißbräuche feien wahr, aber unausftehlich fei es, daß ſich Die
Kirche durch einen efenden Mönch veformiren laſſen folfe, an den Pfaffen fet
nichts zu reformiren, denn fie feien nie gut gewefen, mag dahingeſtellt bleiben;
gewiß ift, daß Lang damals wie jederzeit für die katholiſche Kirche eiferte, fo daß
Luther ihn ein Ungeheuer nannte und die proteftantifchen Stände ihm fehr abhold
waren; nur wäre es ihm Tieb gewefen, durch Wal he; wirffiher Mißbräuche
eine Vereinigung zwiſchen den Neligionsparteien erbeizuführen, und hätte er
gerne ſchwankende Männer der Kirche wieder zugeführt, was ihm mit Johann
Staupit gelang, welchen er als Hofprediger und Abt von St. Peter nad
Salzburg brachte. Für die Erhaltung der Fatholifchen Religion in feiner Erzdid-
cefe und in Südteutſchland wirkte er dadurch, daß er auf Neformation des
Elerus drang, 1524 dem Fatholifchen Fürftenbunde beitrat, energifch den Aufruhr
der Salzburger 1523 unterdrückte und mit Bayerns Hilfe ven Bauernaufftand
| arl hiezu be⸗
ſtimmten Geſandtſchaft und trug durch ſeine Beredtſamkeit und Klugheit das Sei⸗
Lange Tag der Juden — Langhton. 349
1525 bezwang. Reich an Verdienften ftarb diefer auch durch Wohlthätigkeit und
Gelehrfamfeit ausgezeichnete Prälat, 72 Jahre alt im März 1540. S. Hanſitz,
Germania sacra. I.; Duͤcker s Chronik ». Salzburg; Pl. Braun, Geſch. d. BB,
9. Augsburg. II. [Schrödt.]
Zange Tag der Juden. Diefes ift in Teutfchland der gewöhnlide Name
des ur der Juden, welder nah dem mofaifhen Gefes auf den
‚zehnten Tag des fiebenten Monats fällt, und welchen die fpätere Beobachtung
mit manchen neuen Ceremonien ausgefhmüct hat (ſ. die Art, Faſt en Bd, IL
S. 915 und Fefte Bo. IV. ©. 50 und das Ende des Art. Judenthum). Er
hat darin feinen Grund, weil die Juden an diefem Tage von früh Morgens bis
Abends nichts effen und trinfen dürfen, Diefe Benennung ift, wie gefagt,
in Teutfchland volfsthümlich, und kömmt nicht erft bei Bodenfhas (I. ©. 199),
fondern ſchon in des ehemaligen Regensburg. Rabbiners Antonii Margarithii:
„Der gang Jüdiſch glaub“ 1530. Lit. E. I. vor, wo es heißt: „Wais aber nit
grüntlich warumb er der lang tag genennt wurt. Ich laß mi aber gebunfen
28 gefchehe darumb das die Juden an diefem ganzen Tage fo ein jhwer, hart
und peinlich Ieben, mit faften beiten, füren müffen.“
. Bange, Joachim, ein Iutherifcher Theolog, geboren zu Gardelegen am
26. Detober 1670, erhielt feinen erften Unterricht bei feinem Bruder Nicolaus,
dann befuchte er die Schule in Oſterwick, 1687 fam er nah Duedlindurg, 1639
nach Magdeburg. Hierauf ging er fehr arm an die Univerfität Leipzig mit einer
Empfehlung an Aug. Herm, Franke, welcher ihn umfonft auf feine Stube nahm,
Als diefer Diaconus in Erfurt wurde, folgte er ihm dahin nah, und fegte dort
feine Studien fort; fpäter ging er nach Halle, wo er ſich durch Unterrichtgeben
forthalf. Später (1693) war er in Berlin Hofmeifter bei den Kindern des ge—
heimen Rathes von Canitz, und benügte Speners Vorlefungen, ein Umftand, der
auf feine fpätere theologiſche Richtung nicht ohne Einfluß war. Denn Lange er=
ſchien in feiner Mannesfraft als ein nachdrücklicher Bertheidiger des Pietismus
und als ein heftiger Gegner der Wolfifchen Philofophie. Ueberhaupt war 2. ein
Fampfluftiger, aber auch ein geübter, bejonders im Latein und in den orientali—
n Sprachen erfahrener Theolog. Im J. 1696 ward L, Eonrector zu Cöslin
in Hinterpommern, 1697 Rector am Friedrihswerther Gymnaſium in Berlin,
1699 Adjunet der theologiſchen Facultät zu Halle, fpäter Paftor bei der Iutheri-
ſchen Gemeinde in der Friedrihsftadt; 1709 Fam er als ordentlicher Profeffor
der Theologie nah Halle, die ihm angetragene theologiſche Profeffur in Copen-
hagen fchlug er aus. Sein Tod erfolgte am 7. Mai 1744. Seine Lebensbe-
| ſchreibung erſchien noch in demfelben Jahre zu Halle, Seine zahlreichen Schriften,
von denen mehrere gegen das Wolfiſche Syſtem gerichtet find, find verzeichnet in
Rotermunds Gelehri,-Ler. [Dür.]
Sanghton, Stephan, Cardinal und Erzbifhof von Canterbury
zur Zeit des Königs Johann ohne Land, aus einem nicht unbedeutenden
Geſchlechte in England entfproffen, ſtudirte gleichzeitig mit dem nachherigen Papft
Innocenz II. zu Paris, lehrte hier die freien Künfte und mit großer Auszeichnung
die Theologie und wurde, nachdem er eine zeitlang das Kanzleramt der Univer-
fität verwaltet hatte, von feinem Freunde Papft Innocenz II. (ſ. d. U.) wegen
feiner Kenntniffe, feiner Lehre und feines Wandels nah Nom berufen und zur
Tardinalswürde erhoben. Ein nah Nom gebrachter Streit über die Befegung
des Erzbisthums Canterbury gab dem Papfte die Gelegenheit, eine neue Wahl
nach feinem Wunſch auf den ausgezeichneten Cardinal Langhton zu Teiten, den. er
dann in eigener Perfon zu Viterbo confecrirte (1207), Dbwohl der Papft in
Diefer Angelegenheit mit großer Nüdfiht für die Ehre des Königs zu Werfe ging,
fo feßte diefer doch der getroffenen Wahl einen wüthenden Widerfland entgegen,
in Solge deſſen über England das Interbist und über den König der Bann aus-
350 _ Lanze. b
gefprochen wurde, Erft 1213 fühnte fih Johann wieder mit der Kirche aus und
konnte Langhton, welcher fich unterdeß im Klofter Pontiniae, der Didcefe Autün
aufgehalten, von der Kirche Canterbury Befis nehmen. Bei dem Rampfe der
englifchen Barone mit König Johann, wodurch fie diefem die fogenannte Magna
charta abdrangen, fund Langhton auf Seite der Barone: er war der erfte,
welcher auf diefe Urkunde aufmerffam machte, und er war es auch, welcher
im Namen aller die Urkunde dem König zu Unterzeichnung vorlegte, Als er fih
weigerte, die Bannbulle zu verfündigen, welche der von König Johann übel be-
richtete Papft gegen die Barone erlaſſen hatte (1215), ward er fufpendirt, doch
Am folgenden Jahre wieder Insgefprochen, Im J. 1215 wohnte er der allgemei=
nen Kirchenverfammlung im Lateran bei, Merkwürdig ift die Nationalfynode,
welche er 1222 mit den englifhen Bifhöfen in einem Kloſter bei Oxford abhielt
und worin 49 Canones zur Wiederherftellung der Kirchen- und Kloſterdisciplin
aufgeftellt wurden, Zwei Jahre vorher hatte er in Beiſein des Königs und der
geiftlichen und weltlichen Großen des Reiches den Leib des hl. Thomas Becket
aus dem Marmorfarg, worin derfelbe bisher geruht, in einen goldenen mit Edel-
geftein gezierten transferirt. Langhton farb den 9, Juli 1228 nnd hinterließ
eine bedeutende Anzahl von Schriften, namentlich viele biblifhe Commentare,
leider find aber die meiften nur in Handfchrift vorhanden, Ein bleibendes Ver—
dienft hat er fih um die HI. Schrift dadurch erworben, daß er der Erſte war,
welcher die HL. Schrift in Eapitel eintheilte, wie fie jeßt noch im Gebrauche find,
Der berühmte Girald von Cambrien (f. d. A.) Hat mehrere feiner Werfe unferm
Langhton gewidmet, fchreibt von ihm überall mit großem Lob und ftellt in einem
Briefe an ihn (bei Gelegenheit der Neife Langhtons nah Nom) die Bitte, von
feinem Vorhaben, die Welt zu verlaffen und fi in Flöfterliche Einfamfeit zurück-
zuziehen, abzuftehen. — ©. Hurters Innocenz II. Bd, I.z Lingard, Gef,
9, Engl,; Wharton, Anglia sacra I, et I.; Wilkins, Concil. Brit. I.; Cave,
hist. lit. I.; Oudin, Comment. de script. Ecel. N. [Schrödl,]
Zange, die heilige, Tanzenfeft. Ueber bie Lanze, womit der Heiland
bei der Kreuzigung durchſtochen worden, gibt es doppelte Nachrichten. Nach der
einen hat die hl. Kaiferin Helena bei der Entdeckung des HI, Kreuzes auch die
Lanze, womit die Seite des Heilands durchſtochen worden, entdeckt. Man be—
wahrte die Lanze im Portieus der HL, Orabfirde, bis fie in der Folge nach
Antiochien Fam, Hier blieb fie bis zum J. 1098 in der Petersfirche verborgen
und wurde, gerade als die Chriften fich im höchſten Elende befanden, zufolge einer
Erſcheinung, welche ein franzöfifcher Elerifer, Petrus Bartholomäus mit Namen,
hatte, entdeckt und die Urfache eines glänzenden Sieges der Kreuzfahrer über die
Saracenen, Später wurde fie wieder nach Conftantinopel gebracht und die Spige
davon, früher an die Venetianer verpfändet, dem König Ludwig dem Heiligen
zum Geſchenk gemacht. Nah der Eroberung Conſtantinopels durch die Türken
überſchickte Bajazid II. das Eifen von diefer Lanze dem Papft Innocenz VII. nad
Rom, wo es feitdem in der vaticanifchen Bafllica aufbewahrt wird (Raynald.
Annal. Ecel. a. 1492 nr. 15 et 16). ©» lautet eine Nachricht. Nach der andern
wird die hl. Lanze zu Prag aufbewahrt, und hiemit hat es folgende Bewandtniß:
Biſchof Auitprand von Cremona (ſ. d. A.) und andere Chroniften und Schrift-
fteffer alter und neuer Zeit berichten, K. Heinrich I. habe die Lanze des Kaiſers
Eonftantin, in welche Theile von den bei der Kreuzigung Chrifti gebrauchten
Nägeln verarbeitet worden, von König Rudolph Burgund (der fie von einem
Grafen Samſon gefchenft erhalten habe) zum Geſchenk befommen (Perg, Seript.
II. 322; Boll. in vit. S. Gerh. ad 3. Oct. t. II. p. 310, 314; Baron. Annal, 'ad
a. 929). Daffelbe wiederholt auch Otto v. Freyfing und ſetzt Hinzu, dieſe Lanze
hätten die teutfchen Könige noch bis jet — fie galt nämlich als ſchützendes
Kleinod des Neiches (Dito Fris. VI. 18), Im Verlaufe der Zeit Fnüpfte ſich
Ze | vr = 1 A Fe N a aa
Laodicen. 351
daran die Idee, daß dieß die Lanze fer, womit die Seite des Heilandes durch⸗
flohen worden, wie man aus Heinrich v. Nebdorf (chron. ad a. 1350) erſieht,
welcher zu zeigen ſucht, daß die in Teutſchland aufbewahrte Lanze wirklich ivdem-
tiſch mit derjenigen fei, womit der Hauptmann die Seite Jeſu eröffnete. Unter
Kaifer Carl IV. kam diefe Lanze fammt einem Stüde vom HI, Kreuze und einem
Nagel, womit Chriſtus an das Kreuz gefhlagen worden, nah Prag, und num
1354) eoneedirte Papſt Innocenz VI. auf Bitten Carls IV., daß in jenen Länder-
theilen Ci. e. Teutfchland und Böhmen) „in quibus instrumenta ipsa (i. e. Lanze
und Nagel, wovon die betreffende Bulle handelt) dieuntur haberi — welde
HI. Reliquien „imperiales vulgariter nuncupantur, quaeque tamquam pretiosissi-
mus imperii Romani thesaurus consueverunt per Romanorum Regem seu Impera-
torem, qui est pro tempore, conservari ac reverenlissime etiam honorari“ — ein
eigenes Feſt de lancea et clavis am Freitag nach der Oſteroctave celebrirt werden
dürfe (Raynald. Annal. ad a. 1354 nr. 18). Ob nun eine von diefen zwei Tanzen
wirklich diejenige fei, die bei der Rreuzigung des Heilandes zur Durchftehung
feiner Seite gebraucht worden, fleht dahin, auch hat man in Nom feine von beiden
als iventifch mit der bei der Kreuzigung gebrauchten Lanze erflärt (ſ. Benedict XIV.
de canoniz. 1. IV. c. 24. nr. 5 et 6; c. 26. nr. 55). Rüdfichtlich der zu Antio-
chien aufgefundenen Lanze mag noch beigefügt werden, daß fon bei ihrer Auffin-
dung und noch mehr, als der Auffinder zur Verſcheuchung der Zweifel die Feuer-
probe übernahm und einige Tage darauf farb, von Vielen gezweifelt wurde,
ob die die ächte Lanze fei. Ebenfo wurden Zweifel in Rom Taut, als das Eifen
der angeblich ächten Lanze von Eonftantinopel nah Rom überfchirft wurde (Rayn.
Annal. ad a. 1492), [Schrödl.]
Lavdicen, Acodizeıc, Den Alten waren fünf Städte dieſes Namens be—
Kannt ; die Hier zu nennende ift beigenannt 7) Errl Avuzıp oder 7) roös zo Avzp
(Strabv 578), am Fluffe Lyeus, auf einem langen Bergrüden zwifchen den
fhmalen Thäfern der in jenen einmündenden Flüßchen Afopus und Raprus (Plin.
V. 29), wurde bald zu Lydien (Step. Byz.p.509), bald zu Carien (Ptol. V.2),
bald zu ia Pacatiana gerechnet wegen feiner Lage zwifchen diefen drei in
ihren Grenzen ſchwer zu ſcheidenden Landſchaften; früher Divspolis, dann Rhoas
genannt, erhielt es feinen fpätern Namen vom fyrifchen Antiochus II. zu Ehren
feiner Gattin und nachherigen Mörderin Laodice (Plin. 1. c.). In der legten Zeit
der römischen Republif war Laodicea eine Stadt zweiten Ranges, neben Apamea
bie bedeutendfle in Großphrygien (celeberrima urbs, Plin.), Hauptort eines rö-
miſchen Gerichtsbezirfes (Cic. ad div. IM. 7. IX. 25. XII. 54, 67. ad Attie. V.
15, 16, 20. or. Verr. I. 30). Bei diefer Bedeutung und weil von Juden bewohnt
(Jos. Antt. XIV. 10, 20) wurde es bald Anhaltspunet des Chriſtenthums (Apoc.
1, 11. 3, 14)5 Paulus erwähnt der Gemeinde namentlich als Gegenftand feiner
beſondern Sorge (Col. 2, 1. vgl. &, 13. 15), wie er denn auch ein Schreiben (ob
iventifh mit dem an die Ephefer, oder ob ein befonderes? ſ. darüber den Art.
Paulus) an fie erließ (Col. 4, 16). Das Evangelium Hatte hier mit einem viel-
geftaltigen Cultus zu Fämpfen (Mionnet, descr. des Medailles ant. suppl. IV.
Pp- 313. sqq.), befonders mit dem in den drei Nachbarprovinzen verbreiteten des
Jupiter Laodie. (Eckhel, doctr. numm. IM. 160), fowie gegen die Raifervereh-
. rung der AaodızEov veonzögwv (Mionnet IV. 326). Die Stadt, wie das ganze
Gebiet um den Mäander war oft von Erdbeben heimgefucht, z. B. unter Auguftus
(Strabs 578), unter Nero 61 p. Chr. (Taeitus, Ann. 14, 27. Oroſ. 7, 7); zur
Zeit Wilhelms son Tyras (Willermi Tyr. hist, 16, 24) noch beftehend, ging es
während der Verheerungen durch die Türfen und Mongolen allmählig unter
Mannert, Geogr, 6 Thl. 3. 132). Ueber die im heutigen Eski Hiffar erhal-
tenen Nefte ſ. m, Richter, Wallf. 521—23, Hamilton S,468— 470 u.a, [Rönig.]
Saodicea, Synode zu. In den Canpnenfammlungen des fünften Jahrh.
352 Laodicea.
finden ſich auch die Canones einer Synode von Laodicea (in der Provinz Phrygia
Pacatiana, zu unterfeheiden von Laodicea in Syrien). Weber die Zeit, in welcher
diefe Synode gehalten wurde, ift man nicht einig. Die Altern Gelehrten nehmen
meift an, fie fei vor dem Nicänum, um das J. 320, gehalten; allein der Inhalt
der Canones ſcheint auf eine Zeit hinzuweiſen, wo die Kirche ſchon länger unter
friedlichen Verhältniffen befanden hatte, und die Erwähnung der Photinianer
(Can. 7) nöthigt dazu, Die Synode in bie zweite Hälfte des vierten Jahrh. zu
verſetzen, weßhalb fie von den Neuern meift in die Jahre 360—370 verlegt wird,
Schon Gratian (Ce. 11. et 16) fegt fie den Synoden von Nicäa, Sardica und
Antiohia nah. Es follen auf derfelben 32 Biſchöfe zugegen gewefen fein, und
Theodoſius, oder nach Andern Numachius den Vorfig geführt haben; fonft ift über
die Veranlaffung und Gefchichte der Synode nichts befannt. — Die Canones
diefer Synode, 60 an der Zahl (Oratian c. 11. et 16, gibt 59 an; der 60),
das Verzeichniß der canonifhen Schriften enthaltend, ift auch eigentlich nur eine
Ergänzung des 59.), find zum Theil eine Wiederholung und Furze Zufammen-
ftellung älterer Canones und beziehen fih alle auf Disciplinarſachen. Namentlich
werden folgende Gegenftände behandelt: das Bußwefen (1, 2)5 die Kegertaufe
Novatianer, Photinianer und Duartodeeimaner follen nach Abſchwörung der
Ketzerei durch Salbung mit Chrisma wieder aufgenommen, Rataphryger aber ge-
tauft werben, (7. 8); das Verhalten gegen Reber (6. 9, 32—35, 37), Juden
und Heiden (29. 37 — 39); Verbot der Magie und Zauberei (36) 5 gemifchte
Chen (viefelben find unerlaubt, wenn der bäretifche Theil nicht „Chrift” CRa-
tholik) werden will, (10..31)5 die Drbnung des Gottesdienſtes (11. 14— 19,
44, 59, Verbot der Agapen, 27, 28); das Katechumenat und die Taufe (5,
45 — 48); die Firmung (48) 5 die Adtägigen Faften (49 — 52) ; die Wahl und
Weihe der Biſchöfe und Priefter (Neophyten follen nicht Priefler werden, 3.)5
die Bischöfe follen nach dem Urtheil (zoiosı) des Metroppliten und der benach—
barten Bifchöfe, nicht durch das Volk gewählt werben (11, 12); die Sitten der
Elerifer und Mönche (Verbot des Wuchers, 5., des Beſuchs der Wirthshäuſer
und Schaufpiele, 24. 54, u. dgl, 30. 55. 58); die Rangordnung und Pflichten
der einzelnen Ordines [Bischöfe und Priefter, 40—42, Diaconen 20, Subbia⸗ i
eonen (vrınoerei) 21.22. 25. 43, Leetoren und Sänger (arvayvworal al
Wahral) 23,5 außer diefen werden 24. noch Ersogxıorai, nach der lateiniſchen
Ueberfegung exorcistae, nach den griechifchen Commentatpren = »ernxıozai vgl.
26., und Ivgwooi, ostiarii, erwähnt; auf dem Lande und in Heinen Städten
folfen nicht Bifchöfe, fondern zregrodevzaı angeftellt werden, die unter dem -
Bifchofe ftehen, 57]. — Bemerfenswerth für die Gefchichte des biblifchen Canons
ift der letzte (60,) Canpn: im 59, wird befohlen, daß nur die canpnifchen Schrif-
ten des alten und neuen Teflaments, und nicht auh axavovıora Bıßkla, na=
mentlich nicht Idewzıxoi Yakuol, in den Kirchen gelefen werben follen; der 60,
Canon zählt dann die Schriften auf, welche vorgelefen werben follen, und zwar
in der folgenden, zum Theil ungewöhnlichen, Ordnung: aus dem alten Teftament
der Pentateuch, Joſue, Nichter, Nuth, Efiher, die 4 Bücher der Könige, die 2
Bücher der Chronik, die 2 Bücher Esdras, die Palmen, Sprüchwörter, der Pre—
diger, das Hohelied, Job, die 12 Heinen Propheten, Iſaias, Jeremias, Baruch,
Hoyvoı zab.Eersıorohei (nad Zonaras: ErrioroAn), Ezechiel und Daniel (eg
fehlen alfo Tobias, Judith, Sirach, das Buch der Weisheit und die Bücher der
Maccabäer) ; aus dem neuen Teftament die 4 Evangelien, die Apoftelgefchichte,
die 7 Fatholifchen Briefe Cin der jebigen Reihenfolge) und die 14 pauliniſchen
Briefe (der Hebräerbrief ſteht vor den Paftoralbriefen) ; die Apocalypſe fehlt, —
Eine ziemlich große Zahl diefer Canones iſt in Oratian’s Decret aufgennmmen,
Sie ftehen griechifeh und Iateinifch bei Harduin t. 1. p. 777, Bgl. Nat. Alex;
saec; 4. Du Pin Bibl, tı 2. p. 340, [Reufh.]
Te >
3 Lapide — Laſius. 353
Lapide, ſ. Cornelius a Lapide.
Lappländer, Belehrung zum Chriſtenthum, ſ. Schweden.
Lapſi, ſ. Abgefallene. * =:
Lardner, Nathanael, ein englifcher Theolog, ift den 6. Juni 1684 54
Kent geboren und den 18. Juli 1768 ebendafelbft geftorben. Ein etwas älterer
Zeitgenoffe, Toland, z0g die Aechtheit der Bücher des N. T. in Zweifel. Gegen
ihn ſchrieb 8, fein apologetifches Werk: „The credibility of the gospel history.
London 1727 — 55, 12 Bde.“, das mehrere Auflagen erlebte, durch Nachträge
vermehrt, durch Wefterborn in’s Holländifche, durch Chr. Wolf in’s Lateiniſche
durch David Bruhn und J. D. Heilmann, mit einer VBorrede von Baumgarten,
5 Bde. (die Nachträge fehlen), in's Teutfche überfegt worden iſt. 2. zeigt darin
weit ausführlicher als feine Vorgänger, Richardfon und Jones, die Glaubwürdig-
feit der evangelifchen Gefchichte. Daß nur die vier canonifchen Evangelien gleich
anfänglich als ächt aufgenommen worden feien, dagegen die apoeryphiſchen Schrif-
ten nie zu diefem Range gelangten, dafür fei nicht bloß die innere Glaubwürdig-
feit der erftern, fondern es befagen dieß die älteften Verzeichniffe und Zeugniffe,
Rückſichtlich des letztern Punctes weist L. aus den Schriften der älteften Kirchen—
väter nah, welche neutefiamentlihe Schriften, Begebenheiten und Stellen, fie
- anführen und welche nicht. Zugleich gibt L. jedesmal das Leben und die Schriften
des betreffenden Kirchenvaters. Aus den häufigen Schriften L.'s führen wir noch
an: a large collection of ancient Jewish and Heathen testimonies of the truth of
the Christ. rel. Vol. L—IV. 1764—67. 4. Bal. Schröckh, Krg. feit der Reform,
6. Thl. S. 182; Handwörterbuh von Fuhrmann I. Bd, ©. 617. f.
2ajäa, Acoeie, in andern Codd. Alaooe, Vulg. Thalassa, nur Apg.
27, 8. genannt, Ort im Often von Ereta, unweit des Vorgebirgs Samonium.
Nach der Vermuthung Höcks (Ereta I. S. 441 u. 434) ift es iventifch mit dem Orte
Lafos, den Plinius CIV. 20) als eine Stadt im Innern ‚der Infel neben Holo-
pyros aufführt und dem die Tab. Peut. Lifia nennt und in die Nähe des Hafenortes
Lebena fest.
Lascaſas, f. Cafas.
. Bajius, Chriſtoph, einer der bedeutendften fynergiftifch-melanhthonifchen
- Prediger und Gegner der Flacianer, geboren zu Straßburg, fand fhon 1531
bei Melanchthon in Gunft und wurde von diefem angelegentlih dem Bucer em—
pfohlen. Im J. 1537 wurde er Rector in Görlig und 1543 Pfarrer zu Greußen
im Schwarzburgifchen. Abgefegt 1545 wurde er Pfarrer in Spandau, mußte
aber auch von bier weichen und erhielt die Superintendentur zu Lauingen, wo
ihn gleichfalls die Abfegung traf. Nach längerem Aufenthalt zu Augsburg be—
kleidete er die Stelle eines Superintendenten zu Cottbus, hatte auch Hier Feine
Ruhe und flarb in Senftenberg 1572. Seine Predigten und Schriften gegen die
Flacianer waren die Urſache feiner vielfachen Verfolgungen und Bertreibungen.
In feinen Schriften verbreitet er fich ausführlich über den unfäglihen Schaden,
welchen die von fo vielen Kanzeln und in zahlreichen Büchern gepredigte Lehre
von der Paffivität des Menſchen bei der Befehrung unter dem Volfe —
| Sp wird in feiner Schrift: „Fundament wahrer Befehrung wider die flacianiſche
h
Klotzbuße, Franff, a. d. Oder 1568% diefe Lehre eine flacianifhe Sammetbuße,
ein füßmündiger Bubentroft, weit über allen vorigen papiftifchen Gräuel und eine
Belehrung genannt, wobei der Menfch nichts thun darf, fondern auch das Gegen⸗
theil treiben kann, und aus dieſer Lehre das große Verderben der Zeit abgeleitet,
R In einer andern Schrift: „Güldenes Kleinod, Nürnberg 1556” ſchildert Laſius den
Zuſtand der Lutheraner überhaupt als einen höchſt fohlimmen, die Welt müffe bald
ein Ende nehmen, es wolle fchier feine Zucht mehr helfen, Niemand ſcheue Gottes
Zorn, fleifhliche Freiheit fei bei vielen Evangelifchen das Befte, was vom Evan-
gelio gefucht werde, am liebſten höre man von ber eillen füßen Gnade predigen,
Kirchenlexikon. 6, Br, 23
354 Lasfary — Lasko.
wobei von einer ernftlichen Buße nichts erwähnt werde, wiffen ja bie zungen-
gläubigen Gnadenfünder, die vom Papft abgefallen, nun das Evangelium wieder
haben, daß gute Werfe nicht felig machen und Gott gnädig fei zꝛe. Außerdem
verfaßte Lafins noch mehrere andere Werfe: Grundfefte ver reinen enangelifchen
Wahrheit — Symbolum Apostolicum den Augsburgern dedieirt u. A. m. Vgl. d.
Art. Flacius Illyricus; f. Döllingers Reformation, ihre innere Ent-
wicklung ꝛe. II. 262, III. 462. Merkwürdig ift, daß Mosheim, Schröcdh,
Guerike u. a, proteſt. Gefchichtfhreiber des Lafius nicht gedenken, [Schröpl.]
Lasfary, Andreas, Biſchof von Pofen (1414—1426) ein ebenfo frommer
als gebilveter und fittenreiner Bifchof, wohnte dem Concil von Conftanz bei,
wo er gelegentlich die verfammelten Väter durch eine Predigt in teutfcher Sprache
erbaute, Nach Beendigung des Coneils kehrte er gleich den übrigen Bifchöfen,
welche am Eoneil Theil genommen, im Purpurfleive in feine Didcefe zuruͤck;
fehnte fich indeß fo fehr nach der Stilfe des Flöfterlichen Lebens, daß er auf das
Bisthum refignirte und in das Klofter Mölk in Deftreich eintreten wollte.
Sein Vorhaben ward jedoch dur die Weigerung des Papftes, feine Refig-
nation anzunehmen, vereitelt. Ein in Mafowine belegenes bifchöfliches Dorf,
früherhin Rorczyezewo genannt, welches er 1418 zu einer Stadt mit teutſchem
Rechte erhoben hatte, erhielt nach ihm den Namen Laskarzewo. |
Lasko (poln, Laski, fat, Lascus) Johannes von, Erzbifchof von Gneſen und
Primas von Polen, ſtammte aus einer adeligen Familie, Er ward in der erften
Hälfte des Jahres 1466 geboren und flarb, 75 Jahre alt, am 19, Mai 1531.
Veber feine Studien und feine Vorbereitung zum geiftlichen Stande finden ſich in
den Duellen Feine beftimmten Angaben. Lasko ward zuerft Propft zu Skalbimierz
und war Stiftspropft zu Pofen, als Andreas Roza von Boryszewice Erzbifchof
von Gneſen und Primas des Königreichs ihn zu feinem Coadjutor machte, Darauf
(das Jahr der Ernennung ift nicht befannt) warb Lasko Erzkanzler des Reichs,
nachdem er zuvor als Kanzler fich tüchtig bewährt hatte, und Iebte lange Zeit bei
Hofe unter den Königen Caſimir IV., Johann Albrecht und Alerander, und hatte
fo die befte Gelegenheit fich vielfeitig auszubilden und die reichften Erfahrungen
zu fammeln, ALS der vorgenannte Erzbifhof von Gnefen im J. 1510 geftorben
war, folgte ihm Lasfo in diefer Würde nach, Im J. 1513 ward Lasfo zugleich
mit Stanislaus Oftrorog auf das fünfte allgemeine Eoneilium im Lateran ge—
ſchickt. Lasfo hielt dort vor dem Papfte leo X. eine Rede, in welder er bie
ehriftlichen Fürften auf das Dringendfte auffordert, fie möchten ihre Kriege unter
einander beenden und dafür den Polen und Ungarn zu Hilfe kommen, welche
durch die Einfälle der Türken und Tataren fo viel Titten. Der Gegenftand feiner
Rede ergriff ihn fo ſehr, daß er häufig Thränen vergoß, der Papft aber tröftete
ihn und hieß ihn gutes Muthes fein, Ueber denfelben Gegenftand ſprach er auch
vor dem Senate von Venedig (Raynaldus ad ann. 1513. nr. XXXIL), Auf diefem
Yateranenfifhen Eoneil erhielt Lasko für fih und feine Nachfolger im Erzbisthum
Gnefen die Würde eines legatus natus sedis apostolicae. Es eriftirt noch von
ihm: Relatio de erroribus Moschorum, facta in concilio Lateranensi a Joanne
Lasko Archiepiscopo Gnesnensi. Wie thätig 4 in feinem erzbifchöflichen Amte
war, läßt fih ſchon daraus ermeffen, daß er fo viele Provineialfynoden hielt,
auf denen er felbft den Borfis führte: 1) Zu Gnefen im 3. 1506, 2) zu Petri-
fau 1510, 3) ebendafelbft 1511, M zu Lenezye 1523, 5) ebenbafelbft 1527,
6) zu Petrifau 1530. Außerdem Hielt er noch eine Didcefanfynode zu Onefen
im J. 1513, Luthers Schriften und Lehrfäße wurden ſchon im 3. 1518 in Polen
befannt, Als nun bereits Mehrere fich für Luther erflärten, wurde auf dem
Reichstage zu Thorn 1520 eine Fönigliche Verordnung erlaffen, daß Niemand bei
Strafe der Landesverweifung und Verluft feiner Güter Luthers Schriften in das
Land einführen, verkaufen over Tefen follte, eine gleiche Strafe war denjenigen
u Si 2
Lasko. 355
beftimmt, welche Luthers Irrlehren billigen, verbreiten und verteidigen würde,
Auch der Erzbiſchof Lasko that von feiner Seite Alles, um der bereits eingeriffenen
Lehre Luthers einen Damm enigegenzufegen, und eine firenge Disciplin im ein-
heimiſchen Clerus zu erhalten. Mehrere von den zw diefem Ende erlaffenen
Deereten und Canones finden fih in dem Buche: Constitutiones synodorum metro-
politanae ecclesiac Gnesnensis. Cracoviae 1630. Befonders zu beachten ift Lib.
IV. de hareticis; namentlich werden die Didcefen Breslau und Cujavien hervor—
gehoben, als von der neuen Lehre befonders berührt. Auch ward der Beſchluß
gefaßt, Fein Geiftlicher folle Keger oder Schismatifer in Dienft nehmen. Um
feine Zwecke noch beifer zu erreichen, gab Lasko folgendes Bud heraus: Sanctiones
ecclesiasticae tam ex pontificum decretis quam in constitutionibus synodorum pro-
vineiae imprimis autem statuta in diversis provincialibus synodis a se sancita.
Cracoviae 1525. 4. In der damaligen Zeit war ein fo erleuchteter und that-
Fräftiger Erzbiſchof durchaus nothwendig. Viele Geiftliche hatten ſich zu Luthers
Lehre befannt und hatten Weiber genommen, Mönche waren aus den Klöftern
entſprungen und hatten auf gleihe Weife gehandelt. Lasko brachte es nur dur
feine oberhirtliche umfichtige Einwirkung dahin, daß Särular- und Regulargeift-
liche erffärten, fie wollten Luthers Irrlehre abfhwören, die Weiber entlaffen, und
“nicht nur private, fondern auch öffentliche Kicchenbufie thun. Leichter jedoch er-
reichte er diefes bei den Weltgeiftlichen als bei ven Mönchen, Einige Mönche,
| welche fih zur Abfhwörung der Jrrlehren Luthers, Entlaffung der Weiber
und Berrihtung öffentlicher Kirchenbuße bereit erflärten, wollten aber nicht in
die Klöfter zurücffehren, fondern fuchten um die Erlaubniß nah, in Zukunft als
Weltgeiſtliche zu leben. Lasfo wendete fih nun an den Papft Clemens VII. und
erhielt durch Breve vom 29. Januar 1526 die Erlaubnif, den Mönchen zu ge-
Hatten, daß fie nicht in die Klöfter zurüczufehren brauchten, fondern in Zufunft
die Weltpriefterfleivung tragen dürften (Raynaldus ad ann. 1526. nr. CXXVIL.).
Bon der Provincialfynode zu Lenezye im 3. 1527 wurden die früher genannten
sanctiones ecclesiast. etc. als Richtſchnur des Verfahrens gegen die Häretifer und
überhaupt für Belebung der FKirchendisciplin feierlih angenommen, Als das
Augsburger Glaubensbekenntniß erfihien, welches der Kaifer felbft dem Könige
Sigismund überſchickte, verordnete die Provincialfynode von Petrifau 1530,
welche der Primas Erzbifchof von Onefen zufammenberufen hatte, die Biſchöfe
foliten forgfältiger als je auf die Iutherifche Ketzerei Acht haben, und insbefondere
den Inquiſitoren, oder, wo deren nicht vorhanden wären, den Archidiaconen auf-
tragen, diefelbe genau auszuforfhen, damit fie unterbrüdt werden fünnte. Da
damals viele junge Polen die Univerfität Wittenberg befuchten und dort für
Luthers Lehre gewonnen wurden , erfuchte Lasfo, welcher durch Cochläus (ſ. d. A.)
bierauf aufmerkffam gemacht worden war, den König , Mafregeln zu ergreifen,
wodurch dieſes verhindert werben fünnte, Diefes geſchah aber erft im J. 1534.
Der König beftimmte, daß die Polen, welche in Wittenberg fludirten, nie irgend
eine Anftellung im Baterlande erhalten fünnten. Gegen diejenigen aber, welche
fpäter dorthin reifen würden, wurden Landesverweifungen und noch fchärfere
Strafen angeordnet. Wenn Lasfo fih fo um die Kirche außerordentlich verdient
machte, erwarb er fih um den Staat auch dadurch ein ausgezeichnetes Verdienſt,
daß er auf Verlangen des Königes Alerander von Polen die erfte Sammlung
der Haterländifchen Gefege herausgab. Diefes wichtige Werk erfchien unter dem
Titel: Commune Poloniae regni privilegium constitutionum et indultuum. Cra-
coviae 1506 bei Haller. Seine bedeutenden Patrimonialgüter verwendete Lasko
nur für kirchliche Zwecke; er bauete mehrere Kirchen und Hofpitäler, gründete ein
Emeritenhaus für alte Geiftlihe u. f. w. Wenn Lasfo wegen feiner Wirkfamteit
gegen die Reformation bei den Proteſtanten nicht beliebt war, fo erwarb er ſich
dagegen von den ausgezeichneifien Männern feiner Zeit ein woblverbientes Lob,
23 *
356 Lasko.
Erasmus von Rotterdam dedieirte ihm 1527 feine Ausgabe der Werke des hl.
Ambroſius und nennt ihn da unter andern: Pietatis antistitem, eruditionis eximium
patronum, omnis pudicitiae exemplar incomparabile, episcopum pacis et tranquilli-
tatis publicae studiosissimum. Vgl. auch Stanislai Hosii opera, Colon.'1585. tom. 2.
und epist. 118. fol. 268. und Damalewicz, Vitae archiepiscoporum Gnesnensium,
pag. 278. [Hedind.]
Lasko (poln. Laski, lat, Lascus) Johannes, der Reformator Polens, ſtammte
aus einer abeligen polnifchen Familie, der Erzbifchof von Gnefen und Primas von
Polen Johannes Lasko (ſ. Den vorigen Artikel) war fein Oheim, und warb 1499,
geboren, Nachdem er in feiner Jugend einen guten Unterricht genoffen hatte,
machte er feine thenlogifchen Studien auf den beveutendften Univerfitäten von
Teutſchland, Stalien und Franfreih. In Bafel 1525 ward er mit Erasmus von
Rotterdam befannt, welcher ihn fehr hoch ſchätzte. In Zürich trat er dem Zwingli
und Oecolampadius, und in Wittenberg dem Melanchthon näher, und gewann fo
Borliebe für die Grundfäße der Neformation, Als er im J. 1526 in fein Vater-
land zurüdfehrte, ward er bald nachher Propft zu Gneſen und darauf erhielt er
diefelbe Würde zu Lenezyez. Im J. 1536 ward Lasfo zum Bifchofe von Veß—
prim in Ungarn beftimmt. Doch hatten feine Anfichten über Neligion in dieſer
Zeit eine folhe Richtung genommen, daß Lasfo zur Ueberzeugung fam, er könne
ohne Verlegung feines Gewiſſens diefe hohen kirchlichen Würden nicht übernehmen,
Er verließ daher fein Vaterland wieder, verweilte 1537 zu Mainz und zwei
Jahre fpäter zu Löwen, wo er fich verbeirathete, Nach 1540 begab er fih nach
Emden in Oſtfriesland und wirfte dort fehr eifrig für Die Verbreitung der Nefor-
mation, und hatte bei dem Landesherrn Grafen Enno und nach deffen Tode bei
der Gräfin Anna den beveutendften Einfluß, fo daß die proteftantifchen Gemein-
den alle unter feine Aufficht geftellt wurden. Zugleich war. er Prediger in Emden.
Bei feinen Einrichtungen traf er jedoch auf Hinderniffe theils yon Seiten ber
Hpfleute, theild von Seiten eifriger Lutheraner, weil Lasfo in Beziehung auf
das Abendmahl der Anfiht Zwingli's huldigte. Vom Herzoge Albrecht von
Preußen erhielt er den Ruf zu einer Lehrerftelle, als er aber fein Glaubensbe-
fenntniß eingefchiekt hatte, warb die Sache rüfgängig. Wenn Lasfo nun bei
diefer Gelegenheit Oftfriesland nicht verließ, fo fah er fich Durch die Einführung
des Augsburgifchen Interim doch bald dazu genöthigt. Er folgte daher einer ihm
im Namen des Königs Eduard von England vom Erzbifchofe von Canterbury
Thomas Eranmer (f.d. A.) gewordenen Einladung und begab fich 1548 nad) England
und erhielt die Stelle als Prediger bei der Gemeinde ausländifcher Proteftanten.
Hier erhob er bald Widerfpruch gegen die anglicanifche Liturgie (ſ. Hoch kirche) und
war namentlich Dafür, Daß das Abendmahl figend empfangen werden follte, Dadurch
wäre ihm vielleicht bald der Aufenthalt in England verleidet worden, aber er follte
noch eher dieſes Land verlaffen, denn König Eduard ftarb, und die Fatholifche
Königin Maria übernahm die Regierung, Lasko fah fich nun gendthigt, aus England
fortzugehen. Zunächft wendete er fih nach Dänemark (ſ. d. A.), wo er eine Freiftätte
zu finden hoffte, fich jedoch in diefer Hoffnung fehr getäufcht fand. Da Lasko
nicht nur in Glaubensfachen, fondern auch in der Liturgie von der lutheriſchen
Gtaatsreligion Dänemarks bedeutend abwich, warb ihm eine freie Religiong-
übung verfagt. Doc ſchenkte ihm der König Neifegeld, aber erlaubte nur Lasko's
beiden Söhnen und deren Lehrer den Winter hindurch in Danemarf zu verweilen,
Nicht beffer erging es ihm in dem Yutherifchen Städten Wismar, Roſtock, Lübeck
und Hamburg. Er fehrte deßhalb nah Emden zurück und begab ſich von dort
nah einem Furzen Aufenthalte dafelbft nach Frankfurt am Main (1555); er warb
bier Prediger der aus England entflohenen Proteftanten, Lasfo, der fo vielfach
im Leben umhergetrieben war, fand auch bier Feine ruhige Stelle; denn wieder
traten die Lutheraner gegen ihn auf, befonders der Intherifche Prediger J. Weite
Lafter, Lafterhaftigfeit — Lateran, Lateran-Synoben. 357
phal in Hamburg, welcher behauptete, vem Lasko könne der Nürnberger Religions-
friede nicht zu Gute fommen, da er ja fein Lutheraner fei. Dadurch entfland
zwifchen Lasko und Weftphal ein Streit, welcher ſich befonders auf die Abend-
mahlslehre bezug. Im J. 1556 hielt Lasfo in Stuttgart mit den würtem-
bergifchen Theologen ein Eolloguium, in welchem er namentlich die Ubiquitätsiehre
des Brenz (f. d. A.) beftritt, Endlich kehrte er unter ftillfehweigender Erlaubnig
des Königs im J. 1556 in fein Vaterland zurüf, Lasko fland mit Calvin und
Melanchthon in freundfchaftlicher Verbindung, von letzterem überbrachte er dem
Könige einen Brief nebft der Augsburger Eonfeffion. Lasfo nahm den Schein
an, als flimme er mit diefer vollfommen überein, obgleich der Wahrheit nach
Zwingli’s Lehre vom Abendmahle auch die feinige war. König Sigismund hielt
viel auf Lasfo und fegte ihm über alle proteftantifchen Gemeinden in Großpolen.
Er gerieth aber auch Hier bald wieder in mannigfachen Streit, weil er das Sigen
beim Empfange des Abendmahls einführen wollte, die Liturgie der böhmischen
Brüder (f. d. A.) tadelte u. f. w. In feiner Stellung verfuchte er auch die ver-
fhiedenen proteftantifchen Parteien unter einander zu vereinigen, was aber, wenn
es auch nicht an ſich unmöglich gewefen wäre, ihm bei feiner Gemüthsart nicht
gelingen fonnte. An der auf Koften des Fürften Nicolaus Radzivil zu Brzeffe
im 3. 1563 erfchienenen focinianifchen Ueberfegung des neuen Teftamentes hatte
and Lasfo Theil, Endlich nach einem viel bewegten und unfteten Leben ftarb er
im 3. 1560. [Uedind.]
Laſter, Lajterhaftigkfeit. Unter dem Worte „Lafter” (vitium) verfteht
man die Fertigfeit im Sündigen, Bezieht fich diefe Fertigfeit auf eine einzelne,
beftimmte Sünde, fo ergibt fih, im Gegenfage zu jener abftracten Faffung, der
eonerete Begriff eines Lafters, wozu z. B. Trunffuht, Wolluft, Lügenhaftigkeit,
Geiz als einzelne Lafter gehören. Wird aber nicht die einzelne, aus einer ſolchen
Sertigfeit hervorgegangene Thatfünde, fondern der bleibende Zuftand, die be—
barrende Fertigkeit, bei jeder Gelegenheit und in jeder Richtung dem Neize zur
Sünde zu folgen, in's Auge gefaßt: fo bietet fih ung der Begriff dar, den das
Wort „Lafterhaftigfeit“ (zaxie, vitiositas) bezeichnet. Das Tat. virtus drückt den
Gegenfag zu Beidem aus, während wir Tugend und Tugendhaftigkeit (f. d. Art,
Tugend) unterfheiden. Sp hat z.B. der Bifhof Halitgar von Cambray
G 831) ein Bud) gefhrieben unter dem Titel de virtutibus et vitiis. Unter diefem
Geſichtspuncte treten einzelne Fertigkeiten im Guten einzelnen Fertigkeiten im
BDöfen gegenüber. Cicero beftimmt in feinen tusculanifhen Unterredungen
dl, 15.) die vitiositas als Gegenfag der virtus, die er die rechte Vernunftthätig-
keit nennt und behauptet von diefem Ausdrude, daß er alle beftimmten Lafter
umfaffe, der Gemeinbegriff fei. Das Lafter unterſcheidet fih von der Sünde
(peccatum), unter einem andern Gefichtspunct aufgefaßt, wie Bosheit (malitia)
son der fittliden Schwäche (f. den Art. Bosheit). Der Verrath des Judas ift
ein Beifpiel des erfleren, der Fall Petri ein Beifpiel des Iegteren Begriffes.
Man fann fündigen, ohne laſterhaft zu fein; der Begriff des Lafters fest den
der Sünde voraus, ©, den Art. Sünde, [Fuchs.)]
Läßliche Sünde, ſ. Sünde,
Lateiniſche Sprache beim Gottesdienſte, ſ. Kirchenſprache.
Lateiniſches Kaiſerthum, ſ. Griechiſches Kaiſerthum und Rom,
Lateran, Lateran-Synoden. Unter „Lateran“ verſteht man theils den
Palaft Conſtantins zu Rom, der dieſen Namen trug und den Conſtantin dem
Papfte Sylvefter gefchenft Hat, theils die daran von Conftantin angebaute Kirche,
Nah römifher Tradition Hat diefe Kirche der genannte Papft eonfeerirt und haben
feitdem die Päpfte im Lateranpalafte gewohnt, woraus allein fchon deutlich genug
hervorgeht, daß die Lateranfirche die eigentliche Cathedralkirche des Papftes ſchon
urfpränglich war, Uebereinſtimmend hiemit fagt Prudentius in feinem Gedichte
358 Lateran, Lateran⸗Synoden.
gegen Symmachus, das Volk eile zahlreich zu dem Bau des Lateran, um die
Firmung zu empfangen: „unde sacrum referat regali chrismate signum“, und
erzählt der HL Hieronymus von büßenden Frauen, welche vor Dftern in der
Lateranfirche öffentlich Buße thaten (ep. 30). Da auch alle fpätern Päpfte bis
auf die Gegenwart herab bie Tateranfirche in ihrer Würde als päpſtliche Cathe—
drale beließen, ja fogar zu wiederholten Malen erflärten „sacrosanctam Lateranen-
sem ecclesiam, praecipuam sedem nostram, inter omnes alias Urbis et orbis eccle-
sias ac basilicas, etiam super ecclesiam seu basilicam principis Apostolorum de
Urbe, supremum locum tenere* (f, Greg. XI. bull. de 23. Jun. 1372, Pii V. bull,
1569), fo gilt noch immer, was als Infchrift über ihrem Eingang ſteht: „Omnium
Urbis et orbis ecclesiarum mater et caput*, und nehmen die neugewählten Päpſte
son ber Laterankirche als ihrer Cathedrale in feierlichfter Weife Poſſeß. S. Ph.
Gerbet, Skizze des chriſtl. Roms, Wien 1846, — In der Lateranfirche (fie
° Heißt auch noch basilica Constantiniana, ecclesia Salvatoris und weil Conftantin
in der Nähe derfelben auch noch ein Baptifterium erbaut hat, St. Johann in
Lateran) wurden fünf allgemeine Synoden gehalten, I. Die erfte allgemeine
Synode im Lateran hielt Papft Ealixt IL. im 3. 1123. Anmwefend waren mehr
als 300 Bifhöfe, mehr als 600 Aebte, im Ganzen 1000 Prälaten, Zwerf der
Berfammlung war die endliche volfe Bereinigung und feierliche Beftätigung des
fogenannten Wormfer-Concordates, Erneuerung der Rirchendisciplin durch Wieder-
einfhärfung der auf frühern Synoden erlaffenen Canones, Tilgung der Heberrefte
des zu Folge des Inveſtiturſtreites entftandenen Schisma’s, 11. Die zweite Late-
ranenfifche Synode wurde von Papft Innocenz II. im 3. 1139 abgehalten, Auch
diefer Synode wohnten an 1000 Prälaten an. Sie galt der Herftellung der
firhlichen Einheit, welche abermals dur die fhismatifhe Wahl des Afterpapftes
Anacletus U. gegenüber dem rechtmäßig gewählten Innocenz IL. erfehüttert wor-
den war, Ueber den vornehmften Beförderer des Schisma, den König Roger von
Sicilien, wurde der Bann ausgefprochen, die von Anaclet und feinem Anhänger,
dem Bifchof Gerhard von Angouleme, zu Eirchlichen Würden Erhobenen erflärte
man für abgefegt, die Irrlehren Arnolds von Brescia wurden verdammt. Die
Kirchenzucht wurde mit 30 Canones bedacht, II. Die dritte Lat. Synode berief
Papft Merander IH. im J. 1179, nachdem fich Kaifer Friedrich I. mit ihm aus-
geföhnt hatte, Zu diefer Synode verfammelten fih 300 Biſchöfe aus allen Theilen
des Oceidents und aus Syrien, Zur Verhütung Fünftiger Spaltungen wurde
verordnet, daß zur Gültigkeit einer Papſtwahl eine Stimmenmehrheit von zwei
Drittheilen gehöre, und ein Gewählter, der fih ohne diefe Stimmenzahl die
päpftliche Würde anmaße, nebft feinen Wählern für immer aus der Kirche aus—
gefchloffen fein folle. Darauf wurden alfe Drdinationen der Gegenpäpfte für uns
regelmäßig erflärt und die von ihnen Beförderten fowohl als die, welche freiwillig
im Schisma zu verharren gefhworen hatten, abgefegt, Die von biefer Synode
erlaffenen 27 Canones, welche die Kirchenzucht betreffen, find von großer Widh-
tigfeit. IV. Die vierte Lateran-Synode verfammelte P. Innocenz III. die größte,
die das Abendland je gefehen, ein wahrer Reichstag der gefammten Chriftenheit,
befucht von 71 Primaten und Metropoliten (darunter der Patriarch der Maro—
niten), 412 Bifchöfen, 900 Aebten und Prioren, Boten des Kaiſers zu Eonflan-
tinopel, den Königen von England, Franfreih, Aragon, Ungarn und Cypern,
den Abgeorbneten vieler andern Fürften und Städte. Hauptgegenftand war bie
Beförderung eines neuen Kreuzzuges, — weßhalb auch ein Gottesfriede (ſ. d. A.) unter
allen hriftlichen Fürften und Völfern auf vier Jahre geboten wurde, Die Wahl
Friedrichs II. zum Kaiſer wurde genehmigt, die Kegereien der Albigenfer (ſ. d. A.), die
Irrthümer Amalrichs von Bena (f. d. A) und des Abtes Joachim von Floris
(f. d. A.) verdammt, die Kirchen-, Elerical- und Klofter-Diseiplin durch herrliche
Cannes, 70 ander Zahl (mit Einſchluß der Glaubensdecrete) bereichert, V. Die
Latitudinarier. 359
- fünfte allgemeine Lateran-Synobe eröffnete Papſt Julius II. im J. 1512, der fie
dem Pifanerconeil gegenüber berufen hatte, und beendigte Papſt Leo X. im J.
1517, Sie war nicht flarf und größtenteils nur von italienischen Biſchöfen be=
ſucht. Die pifanifhen Befhlüffe wurden annullirt, die Aufhebung der ſoge—
nannten (franzöfifhen) pragmatifchen Sanction beftätiget, Disciplinar-Canoneg
erlaffen u, ſ. w. ©. die Eoncilien-Sammlungen von Labbe, Harduin, Coletti,
[Schrödl.]
Satitudinarier, eine Partei unter den engliſchen Theologen, welche unter
dem Einfluſſe arminianiſcher Grundſätze und tiefen Ekels an dem heilloſen Ge—
zänke der proteſtantiſchen Secten gegeneinander in der Arche bes Fundamental-
Artikelſyſtems Verſohnung und Ruhe herbeizuführen ſuchten. Den Namen er—
hielten ſie ſpottweiſe von ihren Gegnern, von denen ſie damit als Religionslehrer
von der breiten Straße bezeichnet wurden. Die nächſte Veranlaſſung zu dieſem
Namen gab jedoch ein Genoffe diefer Partei Arthur Burg durch feine Schrift:
the naked gospel, 1694, welcher Jurieu entgegentrat dur die Schrift: la reli-
gion du Latitudinaire, Rotierd. 1698. Ihr Entftehen fällt-in die Zeit Carls L,
da Episcopalen, Presbyterianer, Independenten u. ſ. w. wider einander wütheten,
und nach und nach gefiel die von ihnen gepredigte Mittelftraße fo fehr, daß fehr
anfehnliche Lehrer der englifhen Kirche diefelbe betraten, Diefe vermeintliche
Mittelftraße beftand darin, daß zwifchen wefentlihen und unwefentlihen Glau—
benslehren unterfchieden und die wefentlichen auf fehr wenige reducirt wurden, fo
dag man das apoftolifche Symbolum für hinreichend zur Seligfeit erklärte; dabei
galt es als Grundfag, ſich firenger Polemik gegen Andersdenfende zu enthalten
und in Predigt und Schrift mit Milde religidfe Gegenflände zu behandeln. Da
ein ſolches auf breitefter Bafis aufgeführtes Syſtem jedem einzelnen Anhänger
eine große Freiheit geftattete, wichen die Latitudinarier in den einzelnen Glau—
benslehren auch fehr von einander ab und ift ed auch nicht zu verwundern, daß
der Latitudinarismus, ohnehin per se eine Brüdfe zum Indifferentismus, oft in
diefen überfchlug und in weiterer Entwiclung dem Deismus und Antichriftianis-
mus den Weg bahnte. Der Hauptfig der Latitudinarier war der Sprengel von
Cambridge, Unter die vornehmften Latitudinarier zählt man den Profeffor und
Eanonieus Johann Hales und deffen Freund Wilhelm Chillingworth.
Sohann Hales ſprach ſich befonders in feinem Werfe über das Schiema aus,
worin unter Anderm als vornehmfte Duelle des Schisma's der Ehrgeiz der Bi-
ſchöfe bezeichnet, das göttliche Recht der bifhöflihen Regierung geläugnet und
behauptet wird, daß nicht jede befondere VBerfammlung zum Gottesdienfte für
unerlaubt gehalten werden dürfe, wenn man gegen die öffentlichen gegründete
Bedenklichkeiten habe, Hales flarb 1656. Sein Freund Chillingworth nimmt
unter den Latitudinariern einen noch bedeutenderen Plag ein. Zu Orford 1602
geboren, wurde er 1628 Mitglied eines Collegiums dafelbft, widmete fih außer der
Theologie auch den mathematiihen Wiffenfchaften und der Poeſie, ging zur katho—
liſchen Kirche über, Fehrte aber wieder zum Proteftantismus zurück, obgleich er
felbft über diefen Schritt mit feinem Gewiffen nicht im Reinen war und auch
noch nachher gegen einen feiner Freunde mehrere Zweifel darüber äußerte und
fi mit einem Reifenden verglich, der auf dem Wege nad einer fernen und un—
befannten Stadt die rechte Straße verfehlt zu Haben befennt und daher eine
andere wählt. Im J. 1638 erfhien feine Schrift: „die Religion der Proteftanten,
ein fiherer Weg zur Seligfeit” , worin er feinen Latitudinarismus entwicfelt und
namentlich die freie Prüfung in Neligionsfahen und die Unabhängigkeit von dem
Lehren der Reformatoren und den eingeführten Glaubensbefenntniffen vertheidigt;
er ftarb 1644. Andere Latitudinarier waren Rad. Cudworth, + 1688, ©. Bull,
+ 1710, Th. Burnet, + 1715 u, a, m, Bol, Mosheims, Schröckhs, Gue—
rife’s u, A. Kirchengeſch. [Shrödl.]
360 Laubhüttenfeft — Laud.
Laubhüttenfeſt, ſ. Fefte der Hebräer, 53
Laud, William, geboren 1573 zu Reading, der Vorkämpfer des englifche
Episcopalfyftems unter den englifhen Königen Jacob und Carl, bis er dem
fiegenden Presbyterialfyfteme unterlag. Sein erfter öffentlicher Schritt im $, 1605
war leider eine große Berirrung : in feiner abhängigen Lage gab er ſich dazu her,
die Hand zu bieten zu einer fogenannten Heirath feines Befhüsers Mountgoy
mit Lady Rich, deren Gemahl noch lebte. Indeſſen bereute er diefe Verirrung
bis zu feinem Tode, nicht aber bie Öefinnung, aus ber fie hervorgegangen war,
die ihn zum bienftwilligen Werkzeuge der Großen machte und bie entgegengefete
Richtung feiner Zeit nicht erkennen ließ. Naile, Biſchof von Nochefter , vem fich
Laud nüglich erwiefen hatte, machte den Köniz Jacob auf ihn aufmerkſam. Eifer
und Dienftfertigfeit erhoben ihn 1621 auf das Bisthum St. Davids. Nach Zacobs
Tode 1626 flieg er raſch vom Biſchofſitze St. Davids auf den von Bath und
Wells, von diefem auf den von London, ward Mitglied des geheimen Raths und
zulegt Erzbifchof von Canterbury, Carl erfannte in ihm den Mann, der den
Thron fügen und die Eingriffe der Puritaner zurücweifen fonnte, Dazu paßte
fein ganzes Wefen, wie fein Religionsfyftem, in welchem der unbebingte Gehor-
fam eine Rolle fpielte, Beide verrechneten fih, wie Alle, die da meinen, bie
Kirche fei nur dazu da, die Vorrechte der Könige durchzufechten. Auch in den
Mafregeln vergriff fih Laud gewaltig: fo wußte er es durchzufesen, daß die
Sammelgelver zum Unterhalte der Geiftlichen den dazu beftellten zwölf Ver—
waltern, weil fie die Episcopalfirche mit Hilfe dieſer Gelder untergraben, ge-
nommen wurden und dem Könige zufielen, um fie zum Beften der Kirche zu ver-
wenden. Hart und graufam verfuhr Laud mit dem unglüdlichen Geiftlichen Leigh-
ton. Diefer hatte, ein puritanifcher und fanatifcher Eiferer, eine Schrift her—
ausgegeben unter dem Titel: „Appellation an das Parlament oder Sions Klage
gegen die Prälaten „worin den Bifchöfen, dem Könige und der Königin bittere
Vorwürfe gegenüber den Gläubigen, dem reinen Glauben und dem Volkswohl
gemacht wurden, Laud ließ Leighton vor die von ihm damals abhängige Stern-
fammer bringen, wo er zu entehrenden und graufamen Strafen (wiederholte Ver—
ftümmelung, Brandmarkung und Gefängniß) trog feiner Entfcehuldigungen ver-
urtheilt wurde, Zehn Jahre fehmachtete er im Gefängnif und das Parlament
ließ ihn erft frei, als es fih mit den Waffen in der Hand dem Könige entgegen-
geftellt hatte. Trat man auf der einen Seite fo graufam dem Puritanismus ent-
gegen, fo gab man ihm auf eine fhmähliche Weife nach und gerade da, wo er
am meiften Unrecht hatte, Die Puritaner hatten oder fimulirten die Furcht, der -
König Carl wolle mit Hilfe Laud's den alten Glauben und Gottesdienft wieder
herftelfen, wofür überall Feine Thatfachen vorgebracht werben fonnten, und doc
vpferte man diefem Wahne oder diefer Bosheit die Katholifen, über die wieder
Berfolgungen verhängt wurden, um fich antipäpftlich zu erweifen, Dennoch ver-
Tohnte Laud die Puritaner nicht, welche fortfuhren,, in Allem, was er nach feinem
Amte that, z.B. Anfrechthaltung der Kirchenordnung, Ordination ohne Titel,
Ausbefferung der Kirchen, Beftätigung der Rechte der geiftlichen Gerichtshöfe,
nur Papismus zu finden, Vergebens fuchte er ſich durch gefchärfte Wachſamkeit
gegen die Katholifen als aufrichtigen Proteftanten zu erweifen, Der Proceß und
die Verurtheilung des Bischofs Williams von Lincoln, Laud's gefährlichfter Neben-
buhler, mit aller Härte und Ungerechtigkeit ausgeführt; ebenfo die Verurtheilung
des alle Pracht und Ergöglichkeit züchtigenden düfteren Eiferers, des Advocaten
Wilhelm Prynne und feiner Nachtreter — Baſtwick's und Burton’s — und ihrer
Freunde, die Inquifition des hohen Commiffionshofes, die unter eine Commiffion
geftellte Schaglammer, an deren Spige ſich Laud felber ftellte, die Erhebung
feines Schulfameraden, des Dr. Juxon, Bifhofs von London, zum Kanzler der
Schatzkammer, al’ das erregte Haß und Unmuth, untergrub das Anfehen bes
Lauda Sion. — 361
Erzbiſchofs und ſchadete der Episcopalkirche, der nach Laud's Meinung dieß alles
zu gut kommen ſollte. Ein ſchweres Ungewitter zog ſich gegen dieſelbe von Schott-
land ber zufammen 1638 in der Convenant (f. d. A.) genannten Verbindung der
Schotten gegen die von Earl I. unter Laud angeorbnete Liturgie, und die bifchöflichen
Ceremonien und das Kirchenregiment (ſ. Hochkirche). Carl und Laud mußten nach⸗
geben und Ießterer rietb dem König fogar vom Kriege gegen die Schotten ab,
wiewohl vergeblich, fo gut dießmal fein Rath gewefen war, Die Eröffnung des
Parlaments 1640 und deffen Verhandlungen zeigten ihm, worauf es abgefehen
ſei. Er ward in Anflage auf Hochverrath gefegt und nah 6 Wochen in den
Tower gebracht. Im Februar erfchien eine heftige Schrift der Schotten ——
Strafford, Laud und die ganze Bauk der Bifhöfe. Am 11. Mai endete Straf-
ford auf dem Blutgerüfte. Auch feine Bemühungen für die Episcopalfirde ſah
Laud zufammenfinfen;z die Liturgie ward abgefhafft und da der Erzbifchof eine
Entfheidung in der fireitigen Wahl eines Rectors von Chartham in Kent geben
follte, die Entſcheidung aber von Laud abfichtlich Hinausgefchoben wurde, fo ward
fein Proceß am 21. April 1643 eingeleitet. Seinem Todfeinde, dem oben ge=
nannten Prynne, warb der Auftrag gegeben, Beweife zu fammeln und vorzu=
bereiten, defjen wilde Nachgier mit aller Kraft auf ihr Opfer ſtürzte. Am 12,
März 1644, nach mehr als dreijäßriger Verhaftung, ftand der Erzbifchof vor den
Schranken des Haufes. Sämmtlihe Anflagen fommen auf die Puncte hinaus:
Laud⸗ habe verfucht die Rechte des Parlaments und die Gefege und Religion der
Nation zu ſtürzen. Prynne's Rache hatte Beweife herbeigezerrt. Erft ermannten
fi) die Lords gegen das Haus der Gemeinen und den Pöhbel; aber der Fanatis-
mus der puritanifchen Geiftlichen wußte fein Opfer feftzubalten und beide Häufer
vereinigten fih darüber, daß Laud’S Vergehen Berrath zweiter Gattung fei, und
die Ueberführungsbulf ging am A, Januar 1645 durch, wie man fagt, mit einer
Majorität nur von ſechs Mitgliedern. Laud erhob ſich in der That mit Seelen-
ftärfe über fein Gefchie, und mit Heiterfeit und Würde, beftieg er am 10. Januar
1645 das Blutgerüfl. Den Enthaupteten erhielten feine Freunde zur Beerdigung.
Sein Tod fihmerzte den König tief. Lingard (Gefhichte von England Bd. IX.
und X.) fohreibt wohl mit Recht feinen Tod mehr religiöfem als politifchem Groll
zu; fein Eifer als Erzbifchof war in feiner Gegner Augen unverzeihlih. Seine
Feinde mußten zugeben, daß Laud gelehrt, fromm, feiner Pflicht treu und in
feinen Sitten untadelig war; feine Freunde aber fonnten nicht läugnen, daß er
beftig und rachfüchtig, hartnäckig in feinen Meinungen und unerbittlich in feiner Feind-
ſchaft war. Bol. Hiezu den Art. Großbritannien Bd. IV. ©. 797 f. [Haas.]
Lauda Sion. Diefer herrlihe Hymnus auf das hl. Sarrament wird
allgemein dem HI, Thomas von Aquin zugefchrieben; jedenfalls verdankt er dem
13ten Jahrhundert feinen Urfprung. Er fallt alfo in jene Periode Firchlicher
Dichtkunſt, in welcher diefe ſich von der der altclaffifchen Welt eigenen Form zu
entfernen längſt angefangen hatte. Wie jene Zeit, fo trägt auch diefer Lobgefang
einen vorberrfhend dogmatifchen Charakter an fih. Man wollte es Mangel an
Poefie nennen, daß einzelne Strophen der profaifchen Darftellung des Dogma’s
fo nahe treten, wie dogma dafur christianis ete., — Nulla rei fit seissura etc.
Allein jener Geift, dem der Hymnus entquoll, bat ficher auch Hier mehr wahre
Poefie in diefen Strophen gefunden und empfunden, als wir nach unfern Be-
griffen von Poefie zu finden und zu empfinden im Stande find. Unbeftreitbar ift
aber derſelbe einer der großartigfien Hymnen aus der Poeſie des frommen Mittel-
alters. — In muficalifher Hinficht ift er ein wahres Meifterftüc der claffifchen
Kirchen-Compofition, wenn die Melodie auch gerade nicht ganz mit den wahren
Grundregeln des gregorianifchen Gefanges übereinftimmt. Sie ift mixolydiſch
und hypomixolydiſch gemifcht, und als ihre muficalifch gelungenften Stellen kann
man wohl die Strophen: Mors est malis, vita bonis etc., und: Ecce panis Ange-
362 Laudemium — Launoi.
lorum etc. anfehen. — Die Kirche macht Gebrauh von dieſem Hymnus in der
Liturgie des Frohnleichnamsfeftes, wo er ald Sequenz in der HI, Meffe ſteht. Hier
wird in der feierlichen Meffe in vielen Didcefen befonders in Teutfchland, Belgien,
Frankreich, mit dem hl. Sarramente in der Monftranz feierlicher Segen ertheilt,
wenn der Priefter bei der Strophe: Ecce panis Angelorum etc. angelangt iſt;
weßhalb natürlich diefer Segen nur da vorkommen kann, wo das Mefformular
des Tages die Sequenz Lauda Sion hat, alfo weder am Sonntag in der Octav
noch auch an einem auf irgend welchen Tag innerhalb der Octav fallenden Doppel-
fefte. Wo diefe Segenertheilung vorfommt, Fann fie nur dazu dienen, die heilige
Andacht zum wunderbaren Geheimniß zu erhöhen, - TRolfmann.]
Laudemium — Lehen-Waare, Lehen- Geld, Pfundgeld, Handlohn,
Anfall, Aufzug-Geld, Auf- und Abfahrt, bezeichnet jenes Geld, welches von
einem Hpfmaier, Hofmann, an den Grundherrn, die Grundherrfihaft, entweder
bei dem Antritt eines Erbpachtgutes oder bei der Erneuerung der Emphyteufe
(ſ. d. A.) abgetragen werden muß, Es führt diefen Namen von laudatio oder
approbatio des Grundherrn, durch welche diefer den Hofmann (Emphyteuta) auf
das Gut einführt, Diefes Geld beträgt nach dem gemeinen Nechte den fünfzigften
Theil, 2 Proc, des Werthes, zu weldem das Gut zur Zeit des Antrittes der
Emphyteufe oder in dem gegenwärtigen Beftande, wenn Veränderungen eingetreten
waren, gefhägt worden iſt. Nach dem Partieularrechte einzelner Länder jedoch
beträgt das laudemium auch. mehr, nach dem bayerifchen Rechte z. B. und nach
der Praris in einem großen Theile Teutſchlands betrug e8 fünf vom Hundert, -
Auch gibt das Particularrecht in verfchiedenen Ländern auch verſchiedene Be—
flimmungen darüber, wie oft dag laudemium entrichtet werben muß; fo mußte
3. B. nach bayerifchem Rechte daffelbe fo oft entrichtet werden, als der Hofmaier
wechfelte, mochte dieß gefchehen durch einen actus inter vivos, ober durch den Tod
deffelben und Nachfolge eines Erben, eines Sohnes oder eines Fremden, Auch
erlaubt das bayerifche Recht ein folches laudemium zu nehmen unter dem Titel
„Abfahrt“ von dem Hofmann, wenn er den Hof verläßt durd Auswandern, wenn
er denfelben verfauft oder vertaufcht, oder einem Sohne, einer Tochter denfelben
übergibt. Dem Grundherrn ift indeffen nirgends geftattet, dag laudemium zu er»
höhen, es jei denn, daß das Hofgut durch Vergrößerung oder durch Verbefferung
der Eultur oder andere Umftände an Werth zugenommen babe, (Pichler, jus
can. lib. II. tit. XVII. n. 24. 37. 44). Vgl. auch den Art, Kirchenlehen. [Marx]
Laudes, f. Brevier.
Launodi, Johann v., geboren zu Balognes in der Normandie 1603, war
ein gelehrter Theologe an der Univerfität zu Paris und ein eifriger Vertheidiger
der „gallicanifchen Freiheiten”. Seine erften Studien machte er zu Coutanze,
begab fich dann nach Paris, verlegte fich bis in's fechste Jahr auf das Studium
der Theologie, wurde fihnell nach einander Licentiat, Priefter und Doetor der
Theologie an der Sorbonne, und ergab fih von da an ganz ausſchließlich dem
Studium der Väter und firhlicher Schriftfteller, wie der Ausarbeitung Fritifcher
Werke über einzelne Materien der Theologie, der Kirchendisciplin und der Kirchen—
gefhichte, namentlich von Franfreich, In diefen Studien, in literariſchen Arbeiten,
in wiffenfchaftlichen Conferenzen, die er allwöchentlich mit feinen Freunden hielt,
und in vielfältigem Briefwechfel mit Gelehrten über wiffenfchaftliche Gegenftände |
fand er Befriedigung aller feiner Wünfche, fo daß er niemals um eine Pfründe
fich bewarb, und jede ihm angebotene ausfhlug, theil® um durch andere Dienfte
nicht von feinen Lieblingsbefchäftigungen abgezogen zu werben, theild weil ihm
die phyfifche Begabung zum Predigen und Singen fehlte, und er, wie er ſelbſt
erflärte, von der Kirche Feine Einkünfte ziehen wolle, one ihr die entfprechenden
Dienfte Ieiften zu Fünnen. Aus dieſer ausfchlieglichen Hingabe an die Studien:
und Viterarifche Arbeiten, in welcher er bis zu feinem Tode (1678) bebarrte, fo
Launoi. 363
daß er gleichſam mit der Feder in der Hand geſtorben iſt, läßt ſich begreifen, wie
Launvi eine fo große Menge Schriften ausarbeiten fonnte, und zwar in Fächern
und über Daterien, dieeine große Belefenheit erheifchen. Dagegen aber ift er auch
nicht frei geblieben von jener Einfeitigfeit, in welche Theologen zu verfallen
pflegen, wenn fie, ohne alle active Betheiligung an dem wirklichen Leben der
Kirche, einzig in den todten Buchftaben ihrer Wiſſenſchaft fich vertiefen. Diefes
mußte bei Launoi um fo mehr der Fall fein, ald er in feiner ganzen literariſchen
Zhätigfeit weit weniger Neues fchafft, als VBorhandenes Eritifirt. — Seine erfte
Schrift ift eine Verteidigung des Durandus (ſ. d. A.), eines berühmten Theo-
logen des 14ten Jahrh., in feiner Sentenz, daß Gott zu böfen Handlungen freier
Gefhöpfe nicht unmittelbar eoncurrire, die er, ihren Gegnern gegenüber, als
probabel feftzuhalten fucht. In feiner zweiten (einer Differtation) zeigt er, daß
in Gemäßheit des Concils von Trient, der Lehre der mit demfelben übereinftim-
menden Theologen und der gegenwärtigen Praris der Kirche die Genugthuung
der Abfolution im Bußfarramente nicht vorberzugehen brauche. Als um das 5. 1653
unter den Theologen in der Diöcefe Chalons ein Streit über den Sinn des Con-
eils von Trient bezüglich der Eontritiv und der Attritio entflanden war, indem
die Einen die Attritio für hinreichend, die Andern die Eontritiv für nothwendig
bei dem Bußfarramente erflärten, fohrieb er einen Tractat, in welchem er zeigt,
daß das Comeil nichts darüber entſchieden und die beiden Lehren den Theologen
frei gelaffen Habe, daß jedoch diejenige, welche die Eontritio für nothwendig er-
Häre, mehr begründet fei, als die andere, Diefer Schrift ift ein Tractat über
den häufigen Gebrauch der Sacramente beigefügt. Ein anderer Tractat handelt _
de varia Aristotelis in Academia Paris. fortuna, worin er zeigt, daß das Urtheil
der Theologen über Studium und Anwendung des Ariftoteles bis in’s 16te Jahrh.
durchgängig ein ungünftiges gewefen fei, Dann tritt er in einer andern Schrift
auf gegen die Erzählung der Tarthäufer von der Bekehrung des Hl. Bruno, nad
welcher diefe durch das Wiederaufleben eines verftiorbenen Canonicius zu Paris
erfolgt fein fol. In einer fernern Schrift über die unter den erften fränkischen
Königen in Frankreich gegründeten Kirchen griff er auch zuerft die bis dahin all-
gemeine Anficht von der Gründung des Chriftentfums in Gallien im apoſtoliſchen
Zeitalter an, wie auf die Meinung, daß der Divnyfins Martyr zu Paris iden⸗
tiſch fei mit dem Dionyfius Arevpagita der Apvftelgefhichte; und im Zufammen-
bange damit gibt er eine Gefchichte der Erbauung der Kirchen zu Paris bis zum
10ten Jahrh. Um diefelbe Zeit (1658) griff er auch die in der Provence her-
kömmliche Meinung an, daß Lazarus, Marimin, die Hl. Magdalena und die hl.
Martha bald nach dem Tode Jeſu nach Frankreich Cin die Provence) gefommen
feien, und zeigt, daß diefe Erzählung, voll fabelhafter Ausfagen, erft nach dem
10ten Jahrh. entflanden ſei. Ebenſo ſchrieb er mehrere Fritifhe Differtationen
über die erfien Verfündiger des CHriftentgums und die erſten Kirchen in Gallien.
Ferner einen Tractat darüber, welches Concil vom HI. Auguftin gemeint fei, wenn
er fage, durch ein Coneil. plenarium fei die Streitfrage über die Ketzertaufe ent-
ſchieden worden, das zu Arles nämlich, nicht jenes zu Nicäa. In einem andern
Tractate handelt er von der Sorge der Kirche um die Armen und Nothleivenvden,
ſtellt die Canones der Concilien, die Decrete der Päpfte und Maßregeln der Bi-
fhöfe über Pflege der Armen und Leidenden von den älteften Zeiten herab zu—
ſammen, fügt diefen dann viele Beifpiele von der Hospitalität und Mildthätig-
keit der Chriften bei. Auch ſchrieb er über die Streitfrage, wer der BVerfaffer
ber weltberühmten imitatio Christi ſei, fich entfcheidend für Johannes Gerfon, gegen
Thomas von Kempen, Dann fchrieb er ferner ein Fritifches Werk gegen die fabel-
haften Traditionen der Carmeliter über das Scapulier und die Scapulierbruder-
ſchaft, gegen die Bifion, welhe Simon Stock gehabt haben foll, in welcher die-
fem die feligfte Jungfrau erfehienen fei, ein Seapulier ihm überreichend mit den
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364 Launoi.
Worten: „Hier das Privilegium der Carmeliter; wer in dieſem re
wird nicht in die Hölle kommen,“ wie auch gegen bie fogenannte Bulla Sabba-
tina , weldhe jenes Privilegium beftätigt, und die Launoi fchlagend als unächt
nachmeist. Eines der intereffanteften Werfe Launvis ift fein Tractat über den
Canon des vierten Concils im Lateran: Omnis utriusque sexus (von 1215),
worin er bie Deerete, die Bullen der Päpfte und die Anfichten der Theologen
über diefen Canon feit der Erlaffung deffelben zufammenftellt. Es hatten nämlich
die beiden bald nach jenem Concil entflandenen Orden der Franeiscaner und Dvo-
minicaner Privilegien im Beichthören und Predigen erhalten, die mit jenem Canon
fihwer zu vereinbaren waren, Der Canon fprach die Verpflichtung für die Gläu-
bigen aus, die dfterliche Beicht nnd Communion bei dem proprius sacerdos oder
bei einem andern mit deffen Erlaubniß zu halten: nach jenen Priviligen aber
fonnte der sacerdos proprius und beffen Erlaubniß umgangen werden. Daher
find feit dem Erlaffe jenes Canons vielerlei Klagen und Streitigkeiten über die
gegenfeitigen Nechte der Pfarrer und Bifchöfe einerfeits und der Religioſen an—
dererfeits entflanden; daher denn auch die ſchwankenden Entfcheidungen der Päpfte
felber in diefem Puncte, indem die Einen die Religiofen bei ihren Eremptionen
und Privilegien zu erhalten fuchten, die Andern, den gerechten Klagen der Bi-
fhöfe und Pfarrer über Schmälerung ihrer Nechte und Loderung der Kirchen—
digeiplin Gehör gebend, jene Privilegien befchränkten. — Mit Ss Erudition
ift ein anderes Werf von ihm gefchrieben, über die berühmten Schulen, welche
im Abendlande unter Carl d, Gr, und feit der Regierung diefes Kaiſers gegrün—
det worden find, die Gefchichte der Entftehung der Univerfitäten in Franfreich und
Teutſchland, dann insbefondere der Univerfität Paris und bier fpeciell der theo—
Iogifchen Facultät, welche Ießtere über die Hälfte des ganzen Werfes bildet, —
Eine fernere Schrift handelt über das Sarrament der Rranfendlung, ift rein
theologiſch und ftellt die Lehre und Praxis der Kirche über diefelbe nach der Hl.
Schrift, den Vätern und den fcholaftifchen Theologen dar. — Biel Auffehen und
Anftoß hat erregt fein im J. 1664 erſchienenes größeres Werf: Puissance royale
sur le mariage, worin er das Necht der weltlichen Fürften, trennende Ehehin-
derniffe aufzuftellen, nachweist. In diefer Schrift Hat ihn fein Gallicanis-
mus (f. d. A.) zu offenbarer Verlegung der Rechte der Kirche verleitet. Den
Contract bei der Ehe als das Urfprüngliche und Wefentliche, die Sacramentalität
als Accefforium erfaffend, Iegt er der weltlichen Macht größeres Recht bei, als
ihre in Wahrheit zufommt, beraubt die Kirche eines ihrer wefentlichften Rechte,
um bie weltliche Macht zu bereichern; er geht darin fo weit, daß er behauptet,
das Eoneil von Trient habe, als es über die matrimonia clandestina Decrete er—
Yaffen, ein Necht der potestas saecularis ausgeübt, und daß er am Ende feines
Werkes behauptet, daß, wenn das Eoneil von Trient erkläre: daß die Kirche
das Recht habe, impedimenta derimentia aufzuftellen, bier unter
„Kirche“ die Fürften (1) gemeint feien. ine feiner legten Schriften war: ve-
nerable tradition de l’&glise romaine contre la simonie, worin er die Canones ber.
Concilien, die Deerete der Päpfte gegen die Simonie durch alle Jahrhunderte
zufammenftellt, Er greift darin die Annaten freimüthig an und legt fie der Curie
zur Laſt. Außer den genannten Schriften hat er aber auch verfchiedene Fritifhe
Differtationen und Denkfchriften gefehrieben , in denen er manche Privilegien und
Eremtionen von Klöftern und Capiteln einer foharfen Prüfung unterwirft, und
die er als unächt oder als mißbräuchliche nachweist. Ueberhaupt war er durch
feinen ftrengen Gallicanismus ein entfchiedener Gegner aller Privilegien und
Eremptionen der Neligiofen, indem er in ihnen einen Ausfluß und eine Bethäti- |
gung übergreifender Papalhoheit erblickte. Wo daher ein Biſchof mit einem Klofter
wegen Privilegien und Exemptionen von ber bifchöflichen Jurisdietion in Eonflict
geriet, wurbe gewöhnlich Laundi um eine Fritifihe Begutachtung angegangen.
L2aura — taurentius, 365
arch machte er ſich unter den e Feinde, rief verſchiedene Gegen-
(öriften 9 v welche alle es Wert gegen die Privilegien
und Eremtionen rieben hat. Endlich hat Launoi acht Bände Briefe
gen aus der Geſchichte, der Kritif
und der Kirchendiseiplin. Der größte Theil derfelben handelt über die Appella-
glossarium medise et infimae latinitatis von Du Cange s. v. Laura). Sonft unter-
fchied fih Laura, wie Eyrilfus in dem Leben der hl. Saba bemerkt, dadurch vom
monasterium, daß in dem letztern ein gemeinfchaftliches Leben geführt wurde, wäh-
rend jene in der Laura Iebten, welche ein einfiedlerifches Leben führten, fo zwar,
daß jeder in einem eigenen Hüttchen oder Zelle wohnte, und daß den Bewohnern
fämmtliher Zellen ein Abt vorſtand. Nachdem das Anachoretenleben fih zum
Eönpbitenleben entwickelt hatte, behielten mehrere Orden ſolche Zellen bei, in
welde fih dann auf eine beflimmte Zeit befonders fromme und meift ältere
Mönde zurürfziehen durften (f. den Art, Inclusi). Nur der gemeinfame Empfang
des hl. Abendmahl und der gemeinfame Gehorfam gegen den Abt war das Ber-
einigungsband diefer Einfiedler. Ueber die Etymologie diefes Wortes vgl. Du
Eange a, a. D, Die erften Lauren fcheint der HI. Charito gegründet zu haben;
die erfte befand fih am todten Meer, welche nachher Laura von Pharan genannt
wurbe, weitere erbaute er bei Jericho und in der Wüfte von Thecue, die nachher
unter dem Namen Laura von Seufa befannt wurde. Vgl. hiezu den Art, Klofter.
Saureacum, f. Daffan.
| Saurentius, der heilige, Diacon und Martyrer. Man fünnte es
I beklagen, daß feine eigentlichen und ächten Martyrer-Acten des Heroen unter den
chriſtlichen Martyrern auf uns gelangt find, hätte man nicht einen reichen Erfag
- dafür in dem fchönen Hymnus des Prudentins auf den hl. Laurentins und in den
vielen Zeugniffen der HI. Väter, wie der Päpfte Damafus, Leo I. und Gregor IL,
und der Bifchöfe Ambrofius, Auguftin, Petrus Chryfologus, Marimus von Turin,
Gregor von Tours, Venantius Fortunatus u. A. In folgenden Puncten flimmen
Prudentius und alle die genannten Päpfte und Bifchöfe zufammen : I. Laurentius
war ein Schüler des Papftes Sirtus II., der ihn wegen feiner Vorzüge und na=
mientlich wegen feiner Keufhheit fehr liebte und deßhalb in die Zahl der fieben
xvmiſchen Diacone aufnahm, vielmehr zum Erzdiacon machte. Als folder hatte
Laurentius den unmittelbaren Altarsdienft an der Seite des HI. Papftes Sirtus,
wenn diefer das HI. Opfer darbrachte und nebſtdem auch die Verwaltung des
Kirchengutes und die Armenpflege. II. Laurentius wünfchte fehnlichft mit feinem
geiftlihen Vater Sirtus zu ſterben, als diefer (in Folge einer blutigen Chriften-
verfolgung des Kaifers Balerian 257 — 258) in Rom zum Martyriod geführt
wurde: „Vater, wohin gehft du ohne deinen Sohn? Wohin eilft du, Priefter,
ohne den Diacon? Du Haft ja fonft nie das Opfer ohne den Diener verrichtet!“
— —
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366 Laurentius Valla.
Diefe vpferfreudige und todesmuthige Liebesklage beantwortete Sirtus mit der
Prophezeiung, ihm als Jüngling flünden noch größere Kämpfe für den Glauben
bevor und in drei Tagen werde der Diacon dem Priefter folgen, III. Urfache des
graufamen Martyriums war außer dem Bekenntniß Chrifti die Weigerung des
Laurentius, die Kirchenfchäge den Richtern auszuliefern, Ex erflärte fich bereit,
diefelben zu übergeben, bat um eine Frift, und zeigte dann eine Menge von Ar-
men vor mit den Worten: „Das find die Schäße der Kirche!“ Und wohl konnen -
es fehr viele Arme gewefen fein , da furz vorher der Papft Cornelius über 1500
Arme, Wittwen und Kranfe zu Rom unterhielt Cep. Cornelü bei Euseb. hist. VI.
43.) IV. Laurentius wurde drei Tage nach dem Tode des hl. Sixtus am 10. Au-
guft Iebendig auf einem Noft gebraten, blieb dabei ruhig und heiter und ſprach
zum Richter: „Sieh, die eine Seite ift genug gebraten, wende mich nun auf die
andere und iß!“ — Gemartert wurde Laurentius, auf dem Viminalifchen Hügel
und in ber via Tiburtina begraben, Der Ruf feines Martyriums verbreitete ſich über
die ganze hriftliche Welt: „Vom Aufgang bis zum Miedergang, fagt Papft Leo J.
iſt Rom durd den ftrahlenden Glanz im Chore der Leiten ebenfofehr durch fei-
nen Laurentius verherrlichet worden, wie einft Zerufalem durch feinen Stephan“
und Auguftin fagt: „Sp wenig Nom felbft verborgen werden kann, fo wenig fan
die Krone des Laurentius verborgen bleiben.” Zu Rom wurde ſchon zu Eonftan-
tins Zeit eine Kirche über feinem HI, Grabe erbaut, welche zu den fieben Haupt-
bafilifen gehört und St. Laurentii extra muros heißt; eine andere ihm dafelbft
geweihte Kirche ift die St. Laurentit in Damaso, Ebenſo entftanden bald auch im
allen andern Theilen der chriftlichen Welt Laurenti-Rirchen und rühmen fich viele
Länder des Beſitzes von Reliquien diefes Heiligen, Papft Gregor I., zu deffen
Zeit von Nom aus noch Feine Reliquien von den Leibern der Heiligen verfendet
wurden (ep. II. 30, an die Kaiferin Eonftantia), fendete an den Patrieier Dy—
namins Partikeln von dem Nofte des HI, Laurentius. ©, Boll. ad 10. Aug., Acta
Mart. 9, Ruinart u. Tilfemonts Mem. IV. [Schrödl.]
Saurentius Balla, geboren 1415, einer der berühmteften Humaniften des
15ten Jahrh., der mit außerorbentlicher Regſamkeit die alte claffifche Literatur
wieder in Aufnahme zu bringen und aus dem Grabesdunkel des nächftoorgehenden
Zeitalter$ zu erwecken ſtrebte. Befonders forgte er für die Wiederherftellung der
elaffifchen Reinheit und Schönheit der lateinifchen Sprache. Allein das drangvolle
Streben nad Wiedererwerfung des claffifchen Alterthums zog Laurentius: V. hin—
über in eine Art heionifcher Richtung der Wiffenfhaft, wie dieſes auch andern
feiner Gefinnungsgenoffen nur zu häufig begegnete, Die beißende Satyre, womit
er den Anhängern der ſcholaſtiſchen Philofophie, und namentlich dem Elerus zu
Leibe ging, feine Teivenfchaftlihe Herabwürbigung des Ariftoteles, fowie feine
übermüthige Vergdtterung des heidniſchen Altertfums erweckten ihm bald eine
Menge von Gegnern. Ebenfo galt fein VBerfuh, an das neue Teftament den
profan philologifchen Mafftab anzulegen, als ein neues unerbauliches Beginnen,
Er fand fich gendthigt, Nom, wo er Bürger war, zu verlaffen, und ging an Den
Hof des Königs Alphoͤns von Neapel, der als ein großer Forderer der Wiffen-
Schaft befannt war, und welcher noch in einem Alter von 50 Jahren bei Balla
Latein lernte. Valla war auch in Neapel nicht zurüchaltender als in Nom, ex
geißelte die Geiftlichfeit mit feiner cauftifchen Feder und dogmatifirte allzu keck
über das Geheimniß der Dreieinigfeit, über den freien Willen, über die Gelübde
der Enthaltfamfeit und über mehrere andere delicate Puncte, Vorzüglich auf Bes"
trieb der Negulargeiftlichfeit ward er öffentlich der Ketzerei angeflagt; durch das
fonigliche Verwenden ward zwar die Lebensgefahr von ihm abgewendet, aber nicht
bie Schmach, daß er um das St. Zacobs-Klofter herum eremplarifch mit Ruthen
gepeitfcht wurde, Nach einer folchen Demüthigung Fonnte Valla nicht Länger in
Neapel bleiben; er ging wieder nach Nom, wo er Gönner fand, welche ihn ber
Lauretaniſche Litanei — Lauſanne. 367
Papſt Nicolaus V. empfahlen, und ihm die Erlaubnif zu lehren fammt einem
Sahrgehalt erwirkten. Valla Iehrte öffentlich die Beredtfamfeit, und ward Ca—
nonicus an der Lateranfirhe. Es währte nicht lange, fo gerieth er mit Poggius
in heftigen Streit. Diefe beiden Männer zankten ſich auf die gemeinfte Weife
berum, und warfen ſich gegenfeitig Ehrgeiz, einen unruhigen und fhwarzgalligen
Charakter vor; fie hatten darin beide Recht; und wenn Abbe BVigerini und Du
Pin dahin arbeiteten, Balla zu rechtfertigen, fo iſt's wohl vergeblihe Mühe, feine
Werfe zeugen wider ihn. (S. Feller dicit. hist. tom. 8). Er ftarb zu Rom 1457
oder 1465. Unter feinen Werfen machte viel Auffehen jene Schrift, worin er
die Falfchheit ver fog. Schenfungsurfunde Eonftantins d. Gr. zu beweifen fucht: de
falso credita et ementita Constantini donatione Declamatio. Diefe Schrift ließ Ul-
rich v. Hutten 1517 auflegen, und dedicirte fie dem Papfte Leo. Seinen Ruhm
als Humanift ficherte er fich durch feine: Elegantiae latini sermonis in 6 Büchern,
Benedig 1471. Fol. Paris 1575. 4. Ferner bat man von ihm die Schriften:
De libero arbitrio, de voluplate et vero bono libri II., worin er, wie nicht anders
zu erwarten, eine durch und durch epicuräifche Philofophie predigt (f. Epicuräis-
mus); ferner eine im Nebnertone gefchriebene Geſchichte des Königs Ferdinand
von Arragonien, dann Ueberfegungen, oder beffer ungetrene Paraphrafen des
Thucydides, des Herodot und Homer, Noten zum neuen Teftament; eine Ab-
handlung über das Wahre und Falſche; endlich fabulae und facetiae u, f. w.
Seine gefammelten Schriften erfchienen zu Bafel 1540. Fol. Venedig 1592. [Dür.]
SZauretanifche Litanei, f. Litanei.
Laus tibi Christe, laus tibi domine, ſ. Meffe.
Lauſanne, Bisthum. (Auszug aus einer neuern noch ungedrudten, ur-
kundlich bearbeiteten Gefchichte des Bistums Laufanne,) Gründung des bi-
ſchöflichen Siges in Aventicum. Schon frühe fommt in Aventicum (Avenches,
Wifflisburg im Kanton Waadt) unter Kaifer Vespaſian die Colonia pia, Flavia,
Constans, emerita Aventicum Helvetiorum vor und Tacitus nennt hist. 1. I c. 68
Aventicum caput gentis, es mag die vornehmfte Stadt Helvetiens gewefen fein,
weil dort die Conventus der Nation gehalten wurden; auch die Ruinen laffen auf
prachtvolle öffentlihe Gebäude ſchließen (Haller, Helvetien unter den Römern L
144), was fchon um die Mitte des vierten Jahrh. Ammianus Marcellinus aus
eigener Anſchauung bezeugte: Aventicum, desertam quidem civitatem, sed non
ignobilem quondam ut aedificia semiruta nunc quoque demonstrant. Schon unter
römischer Herrfchaft Hatte das Chriſtenthum fich in diefer Gegend feftgefegt, wel-
ches durch die Soldaten der römifchen Legionen in Folge des Verkehrs von Aven-
ticum mit Rom und Stalien und von Lyon und Vienne her verbreitet wurde, wo
Thon am Ende des zweiten Jahrh. ſich Chriftengemeinden gebildet hatten, Wirf-
lich foricht der HL. Irenäus adv. haeres. lib. I. c. 10 von Kirchen unter den Celten
und Germanen &v [eguavıcıs, in Germaniis, was nicht vom großen Germanien
auf dem rechten Rheinufer, fondern von den zwei Provinzen Germania superior
und inferior auf dem linfen Ufer muß verfianden werden, zu Germania superior
gehörte aber Aventicum, Augusta Rauracorum und Beſançon. Unter Kaiſer Con
ſtantin erhielt die chriftliche Religion einen neuen Auffhwung ; in diefe Zeit fällt
die Erbauung der Kirche zu St. Moris in Wallis, Die Wiederherftellung einer
Bafilica in Sedunum , die Errichtung des Bisthums von Detodur (Martiniach),
die Gründung des Bisthums Genf und der uralten Kirche des hl. Petrus dafelbft.
War Aventicum auch von den Zerflörungen der Barbaren hart mitgenommen,
Denfmäler aus dem vierten Jahrh. beweiſen, daß es noch bewohnt war, es war
noch nicht bde und wird fpäter in der alten notitia Galliae als die erfte Stadt
nach der metropolis Befangon in der feguanifchen Provinz aufgezeichnet. Im Leben
des HL. Romanus kommt um das Jahr 440 Celidonius ſchon als Bifchof von
Defangon por, fpäter erfiheint der dortige Bifhof als Metropolit, was ſchon auf
*
368 Laufanne,
einen bifchöflihen Sit in Aventicum ſchließen läßt, das nach der metropolis Be-
fangon die bedeutendfle Stadt der Provinz war, Zur Zeit der großen Völfer-
wanderung erhielten die Burgunder (406—407) dur ein Vorkommniß mit den
Nömern das weftlihe Helvetien, nahmen bald das Chriſtenthum an und lebten
mit den Urbewohnern im Frieden. Zwar verfielen die Burgunder in den Arianis⸗
mus, doch ward diefer durch eifrige Biichöfe bald überwunden, und daß die ka—
tholifche Religion große Fortfchritte machte, beweist das Leben des HI. Romanus,
welcher zwifchen 440—460 in dem Bisthum Aventicum das Klofter Romainmötier
gründete, feine Andacht in St, Moriz verrichtete, in Genf vom Biſchof und Volt
feierlih empfangen wurde u.f.f. Im J. 517 wurde zu Epapna eine Nativnal-
ſynode aller Biſchöfe Burgundiens gehalten (ſ. Epapn) ; unter den Unterfhriften
finden wir jene des Priefters Peladius, welcher flatt des Bifchofs von Avennica
zugegen war. Avennica ift nun aber nicht Avignon, weil Avignon wahrfcheinlich
nicht zu Burgundien gehörte, und einige Handfchriften ſtatt Avenniea — Aven—
tica geben. Peladius hätte alfo auf der bezeichneten Nationalfynode den Salu—
taris, Bifchof von Aventicum, vertreten. Ein alte Handfchrift, wahrfcheinlich ein
Abriß der Chronif der St, Mariuskirhe von Laufanne Liefert ein kurzes Ver—
zeichniß der Bifchöfe, wie folgt: Prothafius, Chilmegifilus, Superins, Gundus
oder Guido, Martinus und Marius, Marius ftarb im J. 593 oder 594 nad
zwanzigjähriger Amtsführung; nach einer alten Sage Cchronic. cartul. edit. Ma-
tile p. 25), welche Cono von Eſtavajel, Propft von Laufanne, 1228 in fein
Chronicon chartularii ecelesiae Lausannensis aufgenommen hat, follen 22 Bifchöfe
in der Kirche des hl. Symphorianus in Aventicum begraben liegen. Da man
nach Neuton und Nitter Stuart bei Wahlregierungen jevem Gewählten durch-
fpnittlih 10—12 Negierungsjahre annehmen kann, fo fallen fonach die 18 erften
Biſchöfe mit eilf Jahren bifchöflicher Regierung zwifchen 330—516 n. Chr. , der
19. Salutaris 516—527 , der 20, Superius 523—539, der 21. Gundus 539 —
550, der 22. Martinus 551 —562 — 570, fomit fiele die Gründung des Bis-
thums in die erfte Hälfte des vierten Jahrh. unter die Regierung Conſtantins
d. Gr, oder feiner Söhne, — Uebertragung des bifhöflihen Sites nad
Lauſanne. Aventicum ſcheint immer mehr gefunfen zu fein, während fich unweit
Vidy am Lemanerfee, wo einft das alte Lonfonium fland, ein neuer Drt erhob
und den Namen Laufanne erhielt. Hieher wurde der bifhöfliche Sig von Aven-
ticum verlegt. Willimann (de rebus helvet. 1. I. c. 3) fihreibt hierüber: „Ma-
rium (Bifchof von 573—594) esse volunt, qui primus Losannae sedem collocavit
jussu et auctoritate Hildeberli Austrasiae et Burgundiae regis, qui Guntramno suc-
cessit I. anno regni ejus Burgundici, quique eam urbem cathedralem esse voluerit.“
Chilvebert begann feine Herrfchaft in Burgund im J. 593, im gleichen Jahr am
29. März ftarb Guntramnus, Childeberts 1tes Regierungsjahr lief alfo vom 29, März
593 bis 29. März 594, Bifchof Marius flarb am Ende des Jahres 594. Ferner,
Biſchof Marius unterfihrieb das Concilium II. Matisconnense im J. 585: Marius
episcopus ecclesiae Aventicae subscripsi (Mansi Coll, Conc. IX. 958), alfo noch
als Bifchof von Aventicum; um das J. 650 auf der Synode zu Chälons fur Saöne
unterzeichnete Arricus episcopus ecclesiae Lausannensis (l. c.). Die Uebertragung
des bifchöflihen Sites fand alfo zwifhen 585 — 650 Statt. Dem Chronicon
cartularii eccles. Lausann. zufolge machte ſchon Bifchof Marius der Kirche von
Laufanne verfihiedene Schenkungen und wurde auch in Laufanne begraben. Diefe
Umftände begründen die Vermutung, der bifhöflihe Sig fei nach dem Eonei-
lium I. von Mäcon im J. 585 und vor des Marius Tode im J. 594 — alfo
gegen das Ende des VI. Jahrh. von Aventieum nach Laufanne übertragen wor—
den, — Die alten Örenzen des Bisthums find aus Urkunden vom J. 816—
1536 und dem Verzeichniß der Pfarreien zu entnehmen, das in dem Chronicon
cartul, eceles. Lausann, vom J. 1228 enthalten iſt. Norbwärts fing der Bis—
Laufanne, 369
thumsſprengel an in der Gegend von Attiswyl nahe bei Flumenthal und erftrerfte
ſich bis an das nörblihe Ende des St, Imerthals (Kanton Bern) bei Sonceboz
und Pierre periuis, wo es das Bisthum Bafel berührte. Eine von hier big zum
Ausflug der Aubonne in den Genferfee gezogene Linie bildete die weftlihe Grenze,
In dem Weiler Biaufond, Pfarrei des Bois (Pruntrut), ſieht man am Ufer der
Doubs einen Felfen, feit 2000 Jahren die Grenzfcheide zwifchen den Sequanern,
Raurachern und Helvetiern, fpäter zwifchen Franchecomte, dem Fürftentbum Prun—
trut und der Graffhaft Neuenburg, und in unferer Zeit zwifchen den Bisthümern
Bafel, Befangon und Laufanne und zwifchen Franfreich und den Kantonen Neuen
burg und Bern. Südwärts war die Grenze der Genferfee von der Aubonne bis
Bivis, noch Billeneuve gehört in den Laufanner Sprengel und von hier zog ih
die Orenzlinie über die Alpen, Dberfaanen bis an die Grimfel und ſchied das
Bisthum Laufanne von dem von Sitten, Deftlihe Grenze war die Aar von ihrer
Duelle bis an den Siggerenbach bei Flumenthal, auf dem rechten Aarufer dehnte
fih das Bistum Conftanz aus. Das Bistum Laufanne begriff fomit die Stadt
Solothurn und einen Theil ihres Gebietes, Bern und das auf dem linken Aar-
ufer gelegene Bernergebiet, Biel, das St. Jmerthal, in der Franhecomte
Jongue, Longueville, die Grafſchaften Neuenburg und VBallengin, das ganze heit-
tige Waadtland, den Kanton Freiburg, die Graffchaft Greyerz und einen Theil
des Berneroberlandedg, Die gegenwärtige Grenze fließt in das Bisthum
Laufanne die Kantone Freiburg, Waadt, Neuenburg und die Stadt Bern fammt .
einigen am linfen Aarufer zerftreut Iebenden Ratholifen und Genf — et est videre
miseriam! — Gefhihte der Bifhöfe und des Bistums. Wir haben
oben den Salutaris als den erften eigentlichen Bifchof bezeichnet, ifm mögen wohl
18 Biſchöfe vorangegangen feinz nach Superius und Gundus if der hl. Marius
als Biſchof von Laufanne im J. 574 hervorzuheben. Bon ihm eine Fortfegung
des Chronicon Prosperi vom 3. 455—581, welches Gallandi in feine Sammlung
aufgenommen; er fol auch das Leben des HI. Sigismund (Bolland, 1. Mai) ver-
faßt haben, 585 wohnte er dem zweiten Coneil von Mäcon bei, 587 weihte er
die Kirche zu Päterlingen, verlegte den bifchöflihen Sis von Aventicum nach
Lauſanne. Er ftarb im 3. 594, wurde in der Kirche zum HI. Thyrfus (jet eine
Eaferne!) begraben und wird im Bisthum als Heiliger verehrt. Nach ihm wird
in der mehrbenannten Chronik die Reihe der Bifchöfe bis auf die Zeit Carl d. Gr,
unterbrochen. Man fuchte diefe Lücke auszufüllen durch eine Namenslifte von
Biihöfen, die aber auch die gelindefte Kritif nicht aushält. Sicher ift, daß Pro-
thafins um das J. 640—648 das Bisthum verwaltete, Arricus dem Concil von
Chalons (649 — 650) beiwohnte und CHilmegifilus um das J. 666 Biſchof von
Lanfanne war. Um das J. 771 wird in einem amtlichen Schreiben an den Erz-
biſchof von Befangon Meldung gethan von einem vor Kurzem verftorbenen Bifchof
von Lauſanne und dem nach ihm ernannten Nachfolger; diefer war clericus regis
(Caroli) und hatte dem noch jungen Carl, den es einft auf der Reife bungerte,
ein gutes Mahl veranftaltet, Carl verſprach: quia si aliquando sibi facultas sup-
peteret hos ei prandium recompensaret. Bon Carl d. Gr, an find als Bifchöfe
von Laufanne vorzüglich zu nennen Ulrich bis zum J. 814, er war ein Bruder
der Hildegard, Gemahlin des Kaifers, und foll 794 dem Eoneil von Frankfurt
beigewohnt haben, David (827—850) wurde von einem Herrn von Tagernfeld
im Rampfe erfehlagen, Hartmann (851—873) war Almofenier auf dem St. Bern-
bardberg und hielt mehrere Diöcefanfgnoden. Bofo (892 — 927) wahrſcheinlich
im Kriege von den Ungarn erfchlagen; unter ihm gewährte König Rudolph von
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Burgund dem Capitel von Laufanne freie Bifhofswahl. Eginolph von Kyburg
(968— 985) war im Klofter St. Gallen erzogen, pilgerte als Bifhof nah Nom,
Fam von da am Montag der vierten Woche nah Dftern am 8, Mai 982 in
St, Gallen an, blieb bis über Pfingften, befchenfte das Klofter mit Reliquien,
Kirchenlexikon. 6. Bo, . 24
370 Laufanne,
fliftete refectiones pro fratribus und vergabte an St. Galfen die Güter in Hun-
zifen (Kanton Bern) (Neugart. cod. diplom. Alem.). Hugo (1019—1037) war
ein Sohn Königs Nudolph II. von Burgund und nennt fich in einer Urfunde
Julius unicus regis, wohnte einer Synode bei Laufanne (1030 — 33) bei, auf
welcher die Erzbifchöfe von Vienne und Befangon vereint mit den Bifchöfen ihrer
Provinzen den Gottesfrieden (trengam Dei) einführten. Burkart von Oltingen
(Stammhaus der Grafen von Neuenburg (1057 — 1089), von ihm fihreibt der
Propft Cono von Taufanne: erat vir ferus et bellicosus et habuit uxorem legiti-
mam, darum finden wir ihn unter den geheimen Näthen Kaifer Heinrichs IV. ; er
blieb im Kirchenbann, als ſich Kaiſer Heinrich bereits unterworfen hatte; endlich
mußte er nach Canoſſa und erhielt die Losſprechung. Später fiel er aber wieder
mit Kaifer Heinrich ab, wurde von biefem zum Faiferlichen concellarius regni
Italiae ernannt und flarb in der Belagerung des Schloffes Gleichen auf dem
Schlachtfeld, wo er im Treffen die HI. Lanze trug, am Vorabend vor Weihnachten
1089, Cono von Vinelz, aus dem Haufe der Grafen von Neuenburg (1001 —
1106), ftiftete die Abter St. Johann von Erfah, Benedictinerordeng, eine Co—
Yonie von St. Blaſien. Guido von Marlanie (1129—1143) ſchrieb an den HI,
Bernhard einen Furzen, inhaltsreichen Brief, Amadeus von Clermont- Tonnerre
(1144 — 1158), aus hohem Adel gebürtig, Ciftercienfer von Clairvaux, ein
guter Hirt und gerechter Staatsmann, als Heiliger jegt noch in hoher Verehrung,
er ſchrieb Homilien über Maria, Der hl. Bonifacius (1231—1239) lehrte die
Theologie an der Univerfität von Paris, ward Scholafticus in Coln und wurde
som Papfte zum Bifhof von Laufanne ernannt, refignirte fein Bisthum in die
Hände Gregor’8 IX. zu Anagni 1239 und farb in Flandern den 19, Februar
1258 oder 59, er wird im Bisthum als Heiliger verehrt, Wilhelm von Champvent
(1273 — 1302), ein unerſchrockener Vertheidiger der Firchlichen Rechte. Noch
folgen in der Lifte der Bifchöfe eilf andere bis zum J. 1431, Ludwig de Ia
Palud (1432—40) war Benedictiner, Abt in Ambronay 1404, in Tournus 1414,
in diefer Eigenſchaft auf dem Concil von Conſtanz, fpäter als Deputirter der
franzöfifhen Nation auf jenem von Pavia und Siena, im J. 1432, Vom Ba-
feler Coneil zum Bifchof von Laufanne ernannt, war er einer der thätigften Prä-
Taten in diefer Synode, und wurde 1432 an Eugen IV. und 1437 nah Conftan-
tinopel gefandt, Er wohnte als Vicecamerarius dem Eonelave bei,, in welchem
Amadeus VII, Herzog von Savoyen (Felix V.), zum Papft gewählt wurde, von
welchem er fodann zum Cardinal ernannt ward, er flarb 1451. Johann von
Prangius kommt im J. 1433 als Biſchof von Lauſanne vor, der fein Bisthum
mit Georg von Salmes gegen jenes von Aofta im J. 1440 permutirte, 1445
Erzbifchof von Nizza wurde, wo er bald darauf flarb, Der ebenbenannte Georg
war elector im Namen der italienifchen Nation bei der Wahl Felix V. (Her-
3098 Amadeus VII. von Savoyen) auf dem Coneil von Bafel, fand nach) erfolgter
Permutation dem Bisthum Laufanne mit Eifer vor, gab Synodaleonftitutionen
zur Reform des Clerus und Volkes; die Neceffe feiner Paftoralvifitationen wer-
den in einem Folioband Manufeript in der Stadtbibliothef zu Bern aufbewahrt,
+ 1461. Vom J. 1472—1476 ftand Julius de Roverea, Enfel Sirtus IV.,
dem Bisthum Laufanne vor, ward Cardinal tit. S. Petri ad Vincula und wurde
im 5. 1503 unter dem Namen Julius IL zum Papft erwählt, — Die Zeit
der Reformation, Seit dem 13ten Jahrh. fuchten die Grafen (fpäter Her-
zöge) von Savoyen fowohl ihr Gebiet als auch ihre Rechte auf Koften der Bi—
ſchöfe von Laufanne auszudehnen und deßwegen entweder Söhne ihres Haufes
oder Günftlinge auf jede Weife auf den bifchöffichen Stuhl von Lauſanne zu be—
fördern. Andererfeits befaßen die Bifchöfe von jeher große Nechte auf die Stadt
Zaufanne und verfchievene Fleinere Städte des Wandtlandes, welche Nechte bald
anerkannt, bald heftritten, bald geläugnet wurden; im Bisthume waren auch noch
Lauſanne. 371
andere Städte, wie Freiburg, Solothurn, Murten und das mächtige Bern, end-
lich fanden noch die gemeinen Bogteien Orandfon und Tſcherlitz (Echallens)
unter der abwerhfelnden Herrfchaft von Bern und Freiburg. Lange ſchon hatten
die Bifchöfe den Anmafungen der Herzöge von Savoyen Widerftand geleiftet,
lange auch ihre Rechte gegen die Anforderungen ber ihnen in weltliher Hinficht
untergebenen Städte und Landestheile gehandhabt; doch mehrten fih gegen das
Ende des 15ten Jahrh. diefe Zwifte und Anſprüche, und mehrmals fam es zu
blutigen Auftritten, Das Beifpiel der Unabhängigkeit von Freiburg und Bern
reiste die Bürger von Laufanne und brachte fie gegen den Bifchof auf, Diefe
Spannung benugte der Herzog von Savoyen und ließ fih von den Bürgern der
Stadt als Oberherrn anerkennen, Bifhof Sebaftian von Montfaucon (1517)
zernichtete den Plan, erklärte und bewies zugleich, daß er unmittelbar den Kaifer
und nur diefen zum Oberheren habe (1518). Gegen den Willen des Biſchofs
ſchloß auch Laufanne fih dem Bund der umliegenden Städte an. Den fleigenden
Forderungen der Stadt Laufanne konnte der Bifhof, geftügt auf feine erwor—
benen Rechte, nicht entforehen; Bern, Solothurn und Freiburg mifchten fi
in den Handel, drängten fih als Schiedsrichter auf und verfegten den Biſchof in
ein Abhängigfeitsverhältnig (1536). Indeffen Hatte die neue Lehre der Refor-
matoren ſich in den Städten eingeniftet; Bern ward 1523 für den Abfall gewon-
nen und drängte ihn gewaltfam oder Hinterliftig feinen Unterthanen auf, Solo—
turn war in Gefahr, in Neuenburg gewann die neue Lehre die Oberhand, im
den gemeinen Vogteien herrſchte Berwirrung. In Laufanne blieben die Bürger
dem alten Glauben getreu, aber der Herrfihaft des Krummftabes abgeneigt. Frei=
beit war die Lofung und Bern unterftügte die Bürger gegen den Biſchof. Lau—
fanne follte den Berner Magnaten fih nun dadurch erfenntlich zeigen, daß es
einem Prädicanten geftatten möchte, in der Stadt das fogenannte reine Wort
Gottes zu verfünden, doch die Stadt weigerte fih. Laufanne machte gegen den
Willen des Bifhofs bald gemeine Sache mit Bern und Genf gegen den Herzog
von Savoyen. Auf dem Durchzug der Truppen nah Genf (1536) nahm Bern
Das ganze Wandtland ein, was dem Biſchof oder dem Herzog von Savoyen zu—
gehörte, jedoch wurde Religionsfreiheit vorbehalten. Indeſſen fchrieb der Bifchof
feinem Vogt in Vivis, man folle fih an den Herzog halten und ihm gegen die
Berner Hilfe leiften. Der Brief fam in die Hände der Berner, die nach erfoch-
tenem Siege über den Herzog von Savoyen fih nun auch an dem Bifchof rächen
wollten, Bor den heranrüdfenden Berner Truppen nahm der Bifchof die Flucht.
Die Berner zogen in Laufanne ein und nahmen von dem Schloß und der Stadt
und der ganzen weltlichen Herrfchaft des Bifchofs Beſitz. Lauſanne wähnte, nah
erfolgter Flucht des Bifchofs eine freie Stadt zu werden, wie groß war daher
die Beftürzung, ald Bern der Stadt bedeutete, e$ trete in die Rechte des Biſchofs
und fhon am 17, Mai einen Bogt fandtel Das Gleiche erlebten die übrigen
Städte, In der Stadt trieb unterdeffen der Prädicant Viret fein Unweſen, die
Herfündete Religionsfreigeit fam Hier wie anderswo nur den Neugläubigen zu
gut. Bern wußte, wie feine eigenen Schriftfteller eingeftehen, die eroberte Land=
ſchaft nicht beffer an ſich zu feſſeln, als durch die Einführung der Reformation,
Nah einer am 1. Detober abgehaltenen Religionsdifputation wurden alle Bilder
und Altäre zerftört, am 24, December das Hl. Mekopfer unter zehn Gulder
Strafe verboten, die Adeligen, die widerfirebten, mit Landesverweifung bedroht;
der Kirchenſchatz der Domkirche nach Bern gefchleppt, der fih auf 125,000 Louisd'or
vder 2 Millionen Schweizerfranfen belief. Standhaft widerfegte fih das arme
Bolf, die Priefter, wenige ausgenommen, flanden der Verwüflung entgegen,
bis endlich alle verbannt wurden. In diefer wirrevollen Zeit ſcheint Biſchof
Sebaftian Freiburg und feine Didcefe verlaffen und fih bald in Frankreich, bald
in Savpyen aufgehalten zu haben, denno vergaß er feine Heerde nicht, er wollte
24*
372 Lauſanne.
den noch katholiſchen Theil ſeines Sprengels viſitiren und einen Weihbiſchof in
Freiburg aufſtellen, konnte den Plan aber nicht ausführen, Yon 1537—1557
fielen noch mehrere Gemeinden in den gemeinen Vogteien duch Mehrheitsbe-
ſchlüſſe vom katholiſchen Glauben ab, Biſchof Sebaftian flarb 1559 — 60 in
Virieux le petit, einem Dorfe des Bal romey, Bisthums Belley. — Nach der
Reformation zeichneten fih unter den Bifhöfen von Laufanne aus Johann von
Watteville (Wattenwyl), aus einer vornehmen Kamilie von Bern, wovon ein
Zweig nach Burgund gefommen war; er war Abt de la charite, wurde am
18. April 1610 zum Bifhof von Laufanne eonfeerirt, und hielt 1613 feinen erften
Einzug in Freiburg. Ihm gelang e8 endlich, durch ein freundfhaftliches Ueber—
einfommen in Freiburg feine Reſidenz zu erhalten und „feine Zurispiction
nach der Vorſchrift des HL, Eoneils von Trient ausüben zu fünnen“,
was die jetzigen Gewalthaber (1850) von Freiburg wider alles urkundliche Recht
beftreiten, Zodocus Knab, Propft von Luzern, Ieitete das Bistum von 1653—
1658, auch er behauptete vor den Negierungsdeputirten, das Coneilium von Trient
fei in ver Didcefe auch quoad decreta disciplinaria angenommen worden, Johann
Baptiſt Strambino, aus einer gräflihen Familie in Piemont 1662 erwählt,
wurde ein wahrer Neformator feiner Kirche, Bertheidiger ihrer Nechte, darum
flarb er auch, von der Regierung in Freiburg verbannt, im Exil aux höpitaux in
der Franchecomté am 29. Jan. 1634. Fünf Jahre lang blieb der biſchöfliche
Sitz erledigt, bis Petrus Montenach, Propft zu St. Nicplaus, in Freiburg 1688
zum Bifchof erwählt wurde, Bernard Emanuel von Lenzburg, Abt von Altenryf,
ward vom J. 1782 — 95 Bischof von Laufanne und zugleich während der fran-
zöfifhen Schreckenszeit Adminiftrator von Befangon und Belley, Johann Baptift
von Odet, ein Eluger und eifriger Hirt (1795— 1803); Marimus Onifolan, Ca—
puciner , ein mäßiger, fräftiger und unermübdeter Bifchof, gründete ein Priefter-
feminar aus feinen Erfparniffen. Petrus Tobias Yenni von Mirlon, feit 20. März
1815 Bifchof von Laufanne, Unter ihm wurde durch apoftolifches Breve vom
20. Sept. 1819 die Stadt Genf und 20 Fatholifche Pfarreien des Kantons Genf
dem Bisthum Laufanne einverleibt, und er nahm von daher den Titel Biſchof
von Taufanne und Genf an, Yenni war ein im hohen Grade gelehrter,
frommer und Fluger Hirt, Die Reihe der Bifchöfe von Laufanne ſchließt endlich
Stephan Marilley von Chatel St. Denys, erſt Vicar in Genf, dann Director
des Seminars in Freiburg, endlich Pfarrer und Erzpriefter in Genf und vom
hl. Stuhl 19. Jan, 1846 zum Bifhof ernannt, Die traurigen Befeindungen,
die feit vielen Jahren die katholiſche Kirche in andern Kantonen zu erdulden hatte,
wandten ſich nach dem unglüclichen Ausgange des fog. Sonderbundsfrieges auch ge=
gen ihn und feine Kirche, er wurde im Detober 1848 von der radicalen Freiburger
Negierung abgefaßt, von einer Commiffion der Regierungen von Bern, Genf,
Waadt, Neuenburg und Waadt ald abgefegt erklärt, in das Schloß Chilfon am
Genferfee eingefperrt und von da an die Grenze von Frankreich transportirt, wo
er in dem nahe gelegenen Schloß Divonne bis zur Stunde in Verbannung lebt,
bis ein Höherer den Gewalthabern ein Ziel wird gefeßt haben, — Metropoli—
tanverband vom Bisthum Laufanne. War vor dem dritten Jahrh. ein Bifchof
in Aventicum , fo fland diefer wahrfcheinlich unter dem Metropolitan von Mainz,
welcher metropolita Germaniae superioris gewefen zu fein ſcheint. Seit der Errich-
tung der Provincia maxima Sequanorum, worin Befangon metropolis war, mußte
der Bifchof von Aventicam unter diefe zu fliehen kommen. Sicher und unbezweifelt
ift der Metropolitanverband zwifchen Laufanne und Befangon vom neunten Jahrh.
bis zur Zeit des franzöfifchen Conceordates im Anfang des 19ten Jahrh. (ſ. Befan-
son). Einige Bifhöfe von Laufanne hatten das pallium; in einem alten Manufeript
des metropol. Archivs in Befangon wird die Drdnung ad mensam, bie bei der
Eonfecration eines neuen Erzbifchofes zu beachten ift, angegeben ,. . hoc ordine
Lauſanne. 373
sedent: ad dexteram Domini Archiepiscopi Lausannensis (episcopus sedeat), quia
utitur pallio et per ejus manus consecratur Archiepiscopus. Eintheilung
des Bisthums am Anfang des 18ten Jahrhunderts (fiehe chron. car-
tul. Eccles. Laus.): Decanat Laufanne mit der Dompfarrei 5 Pfarreien intra
muros, 14 Pfarreien extra muros — 20 Pfarreien, im Decanat Avenches (Aven-
tieum) 36 Pfarreien, Decanat Solothurn 33, Decanat Vivis 40, Decanat
Neuenburg 72, Decanat ultra Venopiam (weftlih gegen Genf und Jura) 31,
Decanat Ogo (Hochgau — Oberland — Greyerz) 28, Decanat Fribor (Frei-
burg) 16, Decanat Bern 29 Pfarreien, zufammen 305 Pfarreien; ferner Prop⸗
fleien und Collegiateapitel 4, zu Solothurn, Amfoltingen, St. Imer und Neuen-
burg. Am Ende des 1äten Jahrhunderts (aus der Lausanna christianna
von Bifhof DB. E, von Lenzburg cod. manuser.): Decanat Laufanne 20 Pfar-
zeien, Decanat ultra Venogiam 27, Bivis 40, Neuenburg 64, Ogo 29, Avenches
35, Freiburg 16, König (flatt Bern) 37, St. Imer (ftatt Solothurn) 31, zu-
ſammen in 9 Decanaten 299 Pfarreien, Propfteien und Collegiatfirhen zu Solo—
thurn, Neuenburg, St. Imer, Amfoltingen, Bern, Freiburg (feit 1512), Bal-
Iengin (feit 1505). Im 3. 1850 im Decanat Stäfis 12 Pfarreien, Greyerz 8,
Romont 12, Part Dieu 12, teutfches Decanat 11, Avenches 13, St. erucis 10,
des hl. Heinrich 8, des hl. Marius 12, des HI, Prothefius 11, der Val fainte 8,
des Hl, Amadeus 11, von Neuenburg 5, zufammen in 13 Decanaten 129 Pfar-
zeien, dazu die Stabtpfarrei von Freiburg — 130, fomit 169 weniger als vor
der Reformation, heu prisca fides! — Klöfter und Spitäler (aus Urkunden und
Chroniken). Benedictiner, Eongregation von Elugny: 1) Romainmötier
(Ranton Waadt), geftiftet um das J. 460—470, kam gegen 640 an Jünger des
Hl. Eolumban, 929 an Elugny unter Abt Odo; unter ihm fanden 7 oder 8
Heinere Priorate; e8 wurde 1537 aufgehoben. 2) Päterlingen (Kanton Waadt),
Heftiftet um 962 von Königin Bertha, vergrößert durch Kaiferin Adelheid, ihre
Tochter, war der Lieblingsaufenthalt des HI. Odilo, Abt von Elugny, hatte meh—
rere Privrate unter fih und wurde 1537 aufgehoben. 3) Bevay (Kanton Neuen-
burg) , geftiftet 998—1005, aufgehoben 1530. 4) Rüeggisberg (Ranton Bern),
geftiftet um 1074, wurde 1485 vom Papfte dem Eollegiatftift von Bern incor-
porirt, 5) Münchenweiler (Ranton Bern), geftiftet 1085, dem Collegiatftift St,
Bincenz in Bern einverleibt 1485. 6) Rougemont (Kanton Waadt), geftiftet
zwiſchen 1073—1085, aufgehoben 1556—58, als Bern einen Theil der Graf-
ſchaft Greyerz erwarb. 7) Corcelles (Kanton Neuenburg), geftiftet 1092, auf-
gehoben um 1530. 8) St, Petersinfel auf dem Bielerfee, geftiftet 1107, dem
Eollegiatftift zu Bern zugetheilt 1485. Congregation von Savigny: zu
diefer gehörten die Priorate: 1) Lutry bei Laufanne, geftiftet 1025, aufgehoben
1537. 2) Broe (Kanton Freiburg), geftiftet im grauen Altertfum, Fam nad
1577 an das Eollegiatftift St. Nicolaus in Freiburg. 3) Eoffonay (Kanton
Waadt), gegründet 1096, aufgehoben 1536. 4) St. Chriſtoph (Kanton Waadt),
vor 1250 geftiftet, ſchon 1404 mit Coffonay vereinigt und mit ihm aufgehoben.
Zur Eongregation von la Chaife Dien (casa Dei) in Auvergne gehörten
die Privrate: 1) Baur Travers (Vallis transversa) (Kanton Neuenburg), gegrün-
det um das J. 1178. 2) Grandfon beftand ſchon 1202. Bon der Abtei Mo—
lesme hing ab das Privrat St. Sulpice bei Laufanne, ferner die Benedictiner-
Privrate Berlai, Blonay, Burier, Eolombier und Dalley. Zur Congregatio
Fruttariensis gehörten die Abteien: 1) Johann yon Erlach in der Graffchaft
Neuenburg, geftiftet zwifchen 1090 — 1106, aufgehoben durch die Herren vor
Bern 1528. Ciftercienfer-Klöfter waren: 1) Montherond, geftiftet 1115,
bei Laufanne, aufgehoben 1536. 2) Hautereft Calta crista), geftiftet 1134, auf-
gehoben 1536. 3) Hauterive (alta ripa, Altenryf), geftiftet 1137, von der radi-
ealen Freiburger Regierung aufgehoben 1848 (1). Frauenflöfter deſſelben Ordens:
374 Lauſanne.
1) Die Wegerau bei Freiburg, geſtiftet 1255, das noch beſteht. 2) Fille-Dieu
bei Romont, geftiftet 1265, befteht noch. 3) Bellevaur bei Laufanne und St,
Boir-Dien bei Freiburg, Carthäufer: 1) Valfainte (Kanton Freiburg), ges
ftiftet 1294, aufgehoben mit Bewilligung Pius VI. im 3. 1778. 2) La Part-
Dien, geftiftet 1307, aufgehoben im Sonderbundsfriege 1848 und la Lance (Kant,
Waadt), geftiftet 1320 und 1538 von den Herren von Bern aufgehoben. Nitter-
und Spitalorden. Johanniter waren in Montbreloz (Kanton Freiburg,
am Tela bei Laufanne), in der Pfarrei Orbe in Croze, in Magnadnus bei Frei=
burg, in St, Johann auf der Matte in Freiburg und in La Chaur (Kanton
Waadt). Hospitaliter vom HI, Geift befaßen Häufer in Neuenburg, in Bern
und in Laufanne, Teutfihe Drdensherren (fratres teutonici) waren in Fräſchelz
(Kanton Freiburg), in König bei Bern feit 1227, überlebten die Unfälle der
Neformation und beftanden bis 1729, in welchem Jahr die Regierung von Bern
ihre Güter für 240,000 Reichsgulden an ſich brachte, in Bern felber; ein Spital
beftand "auch zu Vilfeneuve am Genferfee, von regulirten Chorherren verfehen.
Der Sarmeliter- Orden befaß ein Klofter zwifchen Laufanne und Milden
(Meudon). Auguftinerflöfter, Die Eremiten hatten feit 1224 ein Klofter in
Freiburg, bier wohnte im 16ten Jahrh. der berühmte P. Eonradus Tregarius;
es wurde von der Freiburger Gewaltherrfihaft 1848 aufgehoben, Regulirte
EChorherren waren zum hl. Marius in Laufanne, zu Interlafen (Kanton Bern),
zu König bei Bern, zu Därftetten und zu Münchenkappeln. Canoniffinnen des
HL, Auguſtin waren zu Interlafen, Frauenkappeln; Privrate der Auguftiner Chor⸗
herren von St. Bernardsberg zu Sivay (Kanton Freiburg), Semfales (Kanton
Freiburg), Montpreveyres (Kanton Waadt), Bettens (Kanton Waadt), Eſtoi
(Kanton Waadt), Biere (Kanton Waadt), Aory devant Pont (Kanton Freiburg)
und Favernah (Kanton Freiburg). Diefelben Drdensgeiftlihen verfahen auch
die Spitäler in Laufanne, Vivis, Boren, Milden, La Tor und Freiburg. Die
Antoniter hatten ein Haus in Bern, die Prämonſtratenſer befaßen Klöfter
in Lac de Joux (Kanton Waadt), in Humilimont (Kanton Freiburg), in Fon—
taine Andre bei Neuenburg, in Opttftatt (Locus Dei) (Kanton Bern), Frauen-
öfter in Belfevaur bei Laufanne, Rueyres (Kanton Waadt) und in Poret (Ran-
ton Freiburg). Der Franciscanerorden hatte Conventualen in Freiburg,
Bern, Laufanne, Solothurn und im Waadtlande zu Grandfon, Drbe, Morges,
Yverdon, Slariffinnen zu Vivis, Orbe, Solothurn, Beguinen oder Waldſchweſtern
waren zu Bern, in Freiburg und in Solothurn. Die Capuciner haben Klöfter
zu Freiburg feit 1609 und zu Boll, und Hpspitien in Nomont und Landeron
(Kanton Neuenburg), die alle noch beftehen. Frauenflöfter diefes Ordens be-
ftehen zu Freiburg und Solothurn, Dominicanerflöfter waren in Lauſanne
und Bern, Frauenflofter deffelben Ordens in Stäfis und in Bern, Die Gefell-
ſchaft Jeſu hatte in Freiburg ein Collegium feit 1581 bis zur Aufhebung des
Drvens durch Papſt Clemens XIV.; 1818 erhielten die Jeſuiten das Collegium
wieder, errichteten 1828 ein großes Penfionat, dag eine vom Collegium unabhängige
Communität war und europälfchen Ruf gewann, Beide erlagen den Gewaltthaten
des ſchweizeriſchen Nadicalismus im J. 1847, Ein Heineres Gymnaſium be=
forgten die Sefuiten auch in Stäfis. Die Pifitantinnen haben ein Klofter zu
Freiburg und eines zu Solothurn, die Urfulinerinnen eines zu Freiburg und eine
Abtheilung zu Stäfis, wo fie in legten Jahren die Mädchenſchule Teiteten, Die
Berfammlung des hh. Erlöfers oder Nedemptoriften bezogen die von den Trap-
piften verlaffene Valfainte 1818, kamen 1825, um beffer ihrem Berufe nachleben
zu können, nach Tſchoupern im teutfehen Decanat (Freiburg), 1828 in das alte
Seminar nah Freiburg felbft, bauten 1840 ein neues Haus und wurden 1847
unter dem Vorwande boshafter Erfindung — fie feien Affiliirte ver Jeſuiten —
von den Machthabern Freiburgs verbannt, Die Dames du s. coeur de Jesus
*
Lauſanne. 375
famen 1830 in den Kanton Freiburg, Fauften ſpäter ein Schloß ſammt Gütern
in Montet bei Stäfis, wo fie die Primarfchule hielten, eine höhere Tüchteranftalt
gründeten und fodann als Affiliirte der Jefuiten, wie man vorgab, von der radi=
cealen Intoleranz vertrieben wurden. Die barmherzigen Schweftern wurben 1842
nach Freiburg berufen durch den Biſchof Tobias Yenni, der ihnen das von der Gräfin
de ia Poype geftiftete Waifenhaus zur Obforge übergab, fie beforgten auch arme
Kranke in den Häufern , beforgten die Mädchenfchulen in Toray und St. Aubin,
fanden aber vor dem fiegestrunfenen Uebermuthe der neuen Zwingherren 1847
feine Gnade und wurden vertrieben. Die grauen Schweftern verjehen jest noch
den Stadtfpital zu Freiburg, Die Brüder der Gefellihaft Mariä wurden,
nachdem man die Verwüftungen radicaler Schulmeifter gewahrte, durch Decan
Aeby aus dem Elfaß 1835 nach Freiburg berufen, eröffneten dort eine Schule,
die bald durch ausgezeichnete Leiftungen der Stadtfhule den Vorrang abgewann,
Sie mußten als Affıilürte der Jeſuiten (1) aus dem Lande der Freiheit fliehen,
Brüder der riftlihen Schulen, geftiftet von P. La Salle, hielten feit einigen
Sabren die Primarfohulen in Stäfis und in EChätel St. Denys, wurden ſodann
1847 in die Kategorie der Affiliirten der Jeſuiten geftelt und gleihem Schickſal
übergeben. Gleiches gilt von ven Schweftern des HI. Joſeph, die in Chätel St. Denys
und in Boll Schule hielten, und von den Schweftern von der Aufopferung Mariä,
die in Laufanne eine Fatholifhe Primarfchule beforgten, Sp viele und große
religiöfe Inſtitute beftanden in der Didcefe Laufanne! Die meiften zerflörte die
Reformation, die noch übrigen und feit dem Abfall neu entſtandenen zerftört der -
Radicalismus, der wohl zu zerftören, aber nichts zu bauen vermag, fein Name
möchte fein: Apollyon. — Die weltlihe Herrfhaft der Biſchöfe von
Lauſanne (fiehe Recueil des chartes, statuls etc., concernant l’ancien evech&
de Lausanne par Frederic de Ginzings La Sarra et F. Forrel im VII. Bande der
memoires publ. par la societ& doct. d’histoire de la Suisse romande, Lausanne 1846)
dehnte fih nur über einen verhältnigmäßig Fleinen Theil der Diöcefe aus, in
verfchiedenen Zeiten verfchieden fand fie in der Mitte des eilften Jahrh. auf dem
Gipfel ihrer Macht. Schon im 3. 1011 ſchenkte Rudolph IIL, König des trans=
juranifchen Burgundiens, dem Bifchof von Laufanne die Grafihaft Waadt (co-
mitatum Waldensem), zu der nad einem Diplom von Heinrich II. vom J. 1079
alle früher dem Herzog und Gegenfaifer Rudolph zugehörigen Befigungen zwifchen
der Saane, dem St, Bernarbsberg, der Brüdfe zu Genf, dem Jura und den
Alven in fih begriff. Nach mehreren Aenderungen waren die unmittelbaren Be—
fisungen des Bisthums folgende: Laufanne und: die Dörfer des Stadtbannes,
La Baur und die Dörfer und Weiler diefes Bezirks, Avenches (Wifflisburg), als
erfie Reſidenz der Biſchöfe, Lucens, Eurtilfes und Villarzel, zwifchen Päterlingen
und Murten gelegen; dann Bulle Albeuve und La Roche Cim Kanton Freiburg).
Neben diefen unmittelbaren Befigungen hatte das Bisthum noch viele Herrfchaften,
welche als Lehen vergeben wurben, Lehensträger waren die Edelften des Landes,
ſelbſt die mächtigen Häufer der Grafen von Savoyen, Greyerz, Fancigny, Neuen-
burg, Kyburg, Montfaucon u. f. fe Auch das Domcapitel befaß beträchtliche
Güter, e8 waren Dörfer und Kirchen, eine Bulle Papft Lucius II. vom 3. 1182
nennt deren 30 Kirchen und 11 Dörfer oder Weiler (villas) fammt andern klei—
nern Gütern. Schon frühe waren die Bifhöfe von Laufanne reihsunmittelbar
und übten im Namen des Kaifers ihre Hoheitsrechte (regalia) aus, wählten zu
ihrem Schuß einen Kaftenvogt (advocatus), dem fie den dritten Theil der Straf-
gefälfe überließen. Unter diefen fommen die Grafen von Genevois, die Herzöge
von Zähringen, die Herren von Fancigny, Kyburg u. f. f. vor, die oft die er-
worbene Kaſtvogtei unter ſich verfauften oder erblich zu machen fuchten, Als das
Haus von Savoyen immer mehr feine Rechte und Befigungen im Waadtlande
erweiterte , mußte ſchon Biſchof Johann von Coffonay die Hälfte feiner oberherr⸗
376 Lauſanne.
lichen Rechte im J. 1260 dem Grafen Peter von Savoyen überlaſſen und die
Hälfte der Todes- und Strafgefälle. Die Grafen von Savoyen gewannen ſodann
1343 auch das Net, einen Commiffär oder Richter nach Laufanne zu ſchicken,
der zwar im Namen des Biſchofes die Appellationsentfcheive gab. Sie erlaubten
fich im Laufe der Zeit immer größere Eingriffe, denen fih die Bifchöfe von Lau—
fanne bald mit bald. ohne Erfolg widerfegten. Bei obwaltenden Zwiften zwifchen
den Bischöfen und ihren Unterthanen wußten fie jedesmal ihren Einfluß zu wah-
‚ren und fuchten fi befonders 1517 als Dberherrn von Laufanne geltend zu
machen. Es gelang ihnen aber nicht. Als endlich 1526 die Gemeinde von Lau-
fanne ein Bündniß mit Bern und Freiburg eingegangen hatte, erkannte fie ven
von dem Herzoge von Savoyen gefegten Richter nicht mehr an, und entfagte für
immer der Verbindung mit Savoyen, So hatte das Land 28 beſonders den Bi—
ſchöfen zu verdanfen, daß es nicht allmählig ganz unter fremde Herrſchaft fiel,
wie dieſen aber dafür vergolten wurde, ift befannt, — Die Verfaffung und
Negierungsform Tann nad) den recognitiones praepositi Lausannensis Arducii
vom J. 1144 in folgenden Grundzügen gefchildert werden: Die ganze Stadt und
Umgebung von Laufanne war dos et allodium freies Eigenthum der Kirche von
Lauſanne; obwohl den Domherren die freie Wahl des Bifchofs zugefichert war,
batte in früherer Zeit auch das Volk einigen Antheil an der Wahl, den aber in
Folge der Mißbräuche, die dabei vorfielen,. die Päpfte immer mehr befehränfen
mußten, Nach der Neformation, als die Bischöfe von Laufanne von den Her-
zögen von Savoyen Penfion bezogen, ſchlug diefer dem hl. Stuhle einen oder
mehrere Candivaten vor, fpäter fiel die Wahl des Bischofs ganz dem hl. Stuhle
zu, Die weltlichen Spuveränitätsrechte Teitete der Bifchof von Laufanne vom
römifchen Könige ab, wie es in den recognitiones heißt: a rege tenet regalia quae
sunt stratae, paedugia, vendae, nigrae sylvae (Hochwälder), moneta, mercata
banni veteres vel de communi consilio constituti, cursus aquarum, fures, raptores.
Die Regierungsgewalt des Bifhofs war befchränft durch die Gewalt ver Stände
(Geiſtlichkeit, Adel und Bürgerfhaft), welche das Placelum generale oder den
großen weltlichen Hof ausmachten (la grande cour seculiere), Ihre Einwilligung
mußte der Bifchof haben, wenn er neue Statuten auffegen, Strafen feftfegen,
Münzen prägen oder hohe ©erechtigfeit Chaute justice) ausüben wollte. Die all-
gemeine Berfammlung wurde alljährlich unter Vorfig des bifhöflihen Syndieus
(Cadvocatus) drei Tage lang im Mai zu Laufanne gehalten, Die waffenfähige
Mannfchaft mußte für den Bischof ausziehen, doch nur für einen Tag auf eigene
Koſten, dauerte der Auszug länger, fo mußte die allgemeine Bewilligung einge-
holt werden und der Biſchof die Koften tragen, Es befanden in der Gerihts-
barfeit verfihiedene Privilegien, die Domberren und Geiftlichen waren nur den
geiſtlichen Gerichten unterworfen; Nitter, Edle und ihre Dienerſchaft durften nur
vor den Hof der Adeligen gezogen werben, auch die Cit& oder der Stabttheil der
bifchöftichen Nefivenz hatte Örtliche und perfönliche Freiheiten. Der geiftlichen
Gerichtshöfe gab es mehrere, curia officialis, curia capituli, curia decanorum
und die curia der verſchiedenen Privrate des Bisthums. Appellationen Fonnten
ftattfinden an die curia metropolitana in Befangon und von biefer an den hl.
Stuhl zu Rom. Die Einfünfte des Bisthums follen fih vor der Nefor-
mation auf 160,000 Thaler (zu 2 Schweizerfranfen) belaufen haben, doch werh-
felte der Geldwerth befländig in Laufanne, Profeffor Bulliemin fegt felbes auf
30,000 Goldgulden C&cus d’or) an. Nach der Reformation traf der Biſchof mit
der Regierung von Freiburg eine Webereinfunft, nach welcher er eine gewille
Summe jährlih bezog, dann erhielt er einen Theil der Einkünfte der aufgebo-
benen Carthaufe von Valſainte, jedoch werden fich feine gegenwärtigen Einkünfte
faum auf 40006000 Schweizerfranfen belaufen, und bie Stiftungen davon
haben die Freiburger Machthaber feit 1848 mit Beſchlag belegt, Das Dom-
Lauſitz. 377
eapitel geftaltete fich im Laufe der Zeit verfcjiebenartig aus. Im zehnten Jahrh.
lebten die Geiftlichen an der Domfirche in gemeinfamem Leben unter der Leitung
des Propftes; im J. 1228 war das Domecapitel zufammengefegt aus 30 Cano⸗
aifern (10 Prieftern, 10 Diaconen und 10 Subdiaconen). Würdeträger waren
der Propft, der Cantor, der Thefaurar und der Sarriftan. Ihr Einfommen be—
lief fih nach dem chroniqueur auf 4000 Goldthaler. Im J. 1536 waren 30
Domberren mit 24 Kaplänen, von diefen fielen nur 2 oder 3 vom Fatholifchen
Glauben ab, die übrigen verließen Lauſanne. Jetzt hat der Bifchof weder Dom-
kirche noch. Domcapitel, fondern 2 oder 3 Generalvicarien, einen Kanzler, einen
Seeretär, einen weltlihen Anwalt und einen Pedell; ferner einen bifchöflichen
Rath von 8 Mitgliedern, darunter einen Official und einen Promotor fiscalis,
Möge das uralte Bisthum aus den jüngften Prüfungen unter Gottes Walten
fiegreich hervorgehen ! ; [Sreith.]
Lauſitz, die (Budiffin und apoftolifches Bicariat von Sadfen). Die Ka—
tholifen des heutigen Königreichs Sachſen wohnen theils in den fähfifhen Erb—
landen, theils in der (Ober-) Laufig. Dort wohnen fie zerfireut und faft nur in
den größern Städten, hier mehr gefchloffen und auf dem Lande, Bor der Refor—
mation gehörte das heutige Königreich Sachſen größtentheils zu dem Bisthum
Meißen; nur die Stadt Leipzig und deren nächſte Umgebung fand unter dem
Bisthum Merfeburg. Merfeburg und fein Fatholifches Domeapitel verfhwanden
faft ganz in den Stürmen der Glaubensfpaltung, von dem ehrwürdigen Bisthum
Meißen erhielt fih eine geringe Zahl von Katholifen mit dem alten Domcapitel
zu St. Petri in Budiſſin (Baugen). Der Propft und die Canpnifer des Capitels
zu St. Petri fielen zur Zeit der Glaubensfpaltung ab; nur der Decan Leife-
tritt blieb Katholik — und ihm verdankt die Kirche die Erhaltung des Capitels.
Das heutige Capitel „der freien und eremten Kirche zu St. Petri in Bupiffin”
befteht aus einem Decan, zur Zeit der hochwürdige Bifhof Joſeph Dittrid,
einem Senior, einem Cantor, einem Scholafticus und fünf Canonifern. Der
Propft des Capitels ift immer ein Proteftant, die Domfirche ift den Proteftanten
zum Theil zum Mitgebraucdhe überlaffen, nur die Schlüffel des Doms find in
Fatholifchen Händen. Das geiftlihe Eonfiftorium zu Budiffin befteht aus einem
Praͤſes und drei Affefforen aus dem Priefterfiande. Die unter dem Domftifte
ftehende Pfarrgeiftlichfeit der Föniglih-fächfifchen Oberlaufig zählt an 30 Priefter.
Neben dem Dome zu St. Petri und der Kirche „B. Mariae Virginis in foro salis“
zu Budiffin gibt es neun Pfarreien, und zwei Stationen für Kapläne, welche
die Pfarrrechte ausüben, Die Pfarreien find: Kroftiz, Oftrow, Nebelfhüs, Ral-
big, Radibor, Oftris, Grunau, Königshain und Seitendorf; die Raplaneien find
zu Drauna und Strahwalde. An mehreren Orten der Laufig, z. B. in Zittau,
wird zu Zeiten Gottesdienft gehalten. — Aus den fähfifhen Erblanden war die
Kirche völlig verfhwunden; fie wurden ihr wieder eröffnet durch die gegen Ende
des 17ten Jahrh. erfolgte Rückkehr des Churfürften Friedrich Auguft IL zu der
Kirche (f. d. Art. Auguft, Friedrich IL). Katholiſche Kirchen, um die ſich alf-
maͤhlig Gemeinden fammelten, wurden gegründet zu Dresden, zu Morizburg und
Leipzig; fpäter zu St. Hubertusburg. Die berufenen Priefter waren ſämmtlich
Jeſuiten, deren Oberer zugleich Vicarius apostolicus war. Nach der Aufhebung
des Ordens traten die Zefuiten in Sachfen in den Stand der Weltgeiftlichen über,
und wirkten in der Seelforge fort. Der erfte apoflolifche Vicar von Sachſen, der
zugleich die bifchöfliche Würde erlangte, Bifhof Joſeph Alvis Schneider,
gehörte gleichfalls der Gefellfhaft Jeſu an, der gegenwärtige Bifchof Joſeph
Dittrich, geweiht als Bifhof von Corycos i. p. i., ift der dritte Nachfolger
Schneiders. Heutzutage gibt es in den fächfifchen Erblanden-eilf Pfarreien mit
23 Prieftern. Sie find: Altftadt-, Neuftadt- und Friedrihsftadt-Dresden, Pirna,
Meißen, Leinzig, Hubertusburg, Chemnig, Freiberg, Zwickau und Annaberg.
378 Lavalette — Lavater.
Von dieſen Pfarreien aus werden die zerſtreuten Katholiken der umliegenden Orte
paſtorirt. Zu Dresden beſteht neben dem apoſtoliſchen Vicariate ein katholiſches
Conſiſtorium; im Cultusminiſterium wurde auch ein katholiſcher Rath angeſtellt.
In Dresden befindet ſich ein von Geiſtlichen geleitetes Progymnaſium, ein Wai-
fenhaus für Knaben, und eine weibliche Erziehungsanftalt im Sofephinen-Stifte,
Der Hofelerus in Dresven befteht heute nur noch aus einem Domprebiger, zwei
Hoffaplänen, einem Inſtruetor der jüngern Glieder der föniglichen Familie, Meh—
rere Priefter führen den Titel „Königliche Kapläne“. — Die beiden berühmten
Eiftercienfer-Nonnenklöfter Marienthal und Marienftern in der Oberlaufis ftehen
unter dem Abte von Dfegg im Leitmeriger Sprengel (ſ. Leitmeris). Beide
Klöfter befigen je ein Penfionat für Mädchen, Die Seelforge leiten ein Propft
und mehrere Kapläne, Die Zahl der Katholifen in der Laufig wird auf mehr
als 20,000 geſchätzt. Katholiken befinden fih im ganzen Königreiche 32,545,
Daneben Lutheraner 1,799,121 5 Reformirte 25685 Teutſchkatholiken (Nongeaner)
10985 Griechen 1135 Juden 998. Katholiken befinden fih in dem Kreife Dres-
den 67335 die Fatholifhe Gemeinde in Dresden zählt an 6000 Seelen. Der
Leipziger Kreis zählt Ratholifen 21975 die Fatholifche Gemeinde in Leizig zählt
1136 Seelen. Im Zwidauer Kreife befinden fi) Katholiken 24955 im Kreife
Bauten 21,138 Katholifen. Der Gefammtelerus Sachſens zählt 62 Mitglieder,
Katholiſche Schulen Hat Sahfen 36 mit 54 Lehrern. — Zu dem apoftolifchen
Vicariate von Sachſen gehören noch die etwa 200 Katholifen des Herzogthums
Altenburg, und die 100 Katholiken der reuffifhen Lande, — ©, „Katholik“
1844. Nr. 18 der Miffionen; 1846 Nr, 32, — „Katholik“ 1847 Nr. 138,
„Benealogifcher Kalender von Gotha“ 1849, S. 630, [&ams,]
Zavalette, f. Balette, la.
Lavant, f. Kärnthen.
Zavater, Johann Caſpar, ift den 15. Nov. 1741 zu Züri geboren,
Während er das academifche Gymnaſium befuchte, übte Bodmer großen Einfluß
auf fein poetifches Talent, Nach Beendigung feiner philofophifchen und thenlogi-
fhen Studien reiste er, von F. Heß und 9. Füßli begleitet, 1761 nach Leipzig
und Berlin, um den Ranzelredner Spalding fennen zu lernen, bei dem er einige
Monate verweilte, Der vielfache Umgang mit Gelehrten, die Lavater auf dieſer
Neife fennen lernte, bot ihm Stoff für feine phyſiognomiſchen Beobachtungen,
Zurüdgefehrt, wurde er 1769 Diacon, 1775 Pfarrer an der Waifenhaus-Kirche
zu Zürich, und wenige Jahre fpäter Diacon, darauf Pfarrer an der Peterskirche
dafelbft, Er ftarb den 2. Jan, 1801 an einer Schußwunde, die ihm 1799, als
Maffena in Zürich einrücte, von einem franzöfifchen Soldaten beigebracht wor-
den war, — Lavater war ein Mann mit mannigfarhen fohönen Talenten, die er in
einer raftlofen Thätigfeit ausbildete und für's Gute verwendete. Dafür zeugen
feine Schriften, aus denen wir anführen: Allgemeine Betrachtungen über bie
Evangelien, Deſſau 1783; Kern der chriſtl. Sittenlehre, Bafel 17905 feinen
Pilatus; Handbuch für Leidende; Morgen» und Abendgebete; feine Predigten
und nachgelaffenen Schriften, herausgegeben von Geßner, Züri 18015 fodann
feine Schweizerlieder und eine Menge geiftlicher Gefänge und größerer Gedichte,
In allen religiöfen und theologifchen Schriften verräth Lavater eine befchauliche,
myſtiſche und fohwärmerifche Geiſtesrichtung. Wer Gott haben wolle, müffe ihn
lebendig haben, und nur der habe ihn Iebendig, der feiner fo erfahrungsmäßig
gewiß fei, als hätte er mit ibm in einer fortgefegten Correfpondenz geflanden,
Diefe Vereinigung mit Gott und Chrifto werde dem wahrhaft Gläubigen, Dem
Gebete ſchrieb er eine außerordentliche Macht zu, mit der ihm jegliches gelingen
ſollte; denn pofitive äußerliche Wirkungen feien die Folgen jedeg wahrhaftigen
Gebets. Daraus ift es begreiflich, wenn Lavater dem Erorciften Gaßner vol»
len Glauben fchenfte, wenn er fehnlichft wünfchte und ungetheilt dafür wirkte,
Larismus, 379
daß Chriſti Reich komme. Wenn er deßhalb Andere für feinen Glauben zu be-
wegen und zu gewinnen fuchte, fo verdient das in unfern Augen fo wenig Spott,
daß wir es.vielmehr ganz natürlich finden. Am_ meiften Auffehen aber machten
feine phyſiognomiſchen Fragmente zur Beförderung der Menſchenkenntniß und
Menfchenliebe, Lavater zeigt darin in geiftreichen Bemerfungen und überrafhen-
den Vergleichungen die Bedeutung der Förperlihen Züge und Geſtalten. Wenn
er aber die Nafe zum Hauptfriterium feiner Urtheile macht, fo fünnen wir die
Bemerkung nicht unterdrüden, daß felbft das Wahre, aufs Extrem gefteigert,
falſch, abgeſchmackt und lächerlich wird. Ueber die ganze ſchriſtſtelleriſche Thätig-
feit Lavaters fügen wir noch das Urtheil Göthe's bei. „Es finde fich, fagt diefer,
in feinen Schriften die wunderbarfte Mifhung von Stärke und Schwähe des
Geiftes,; von Schwung und Tiefe der Gedanken und tiefer Schwärmerei, von
Edlem und Lächerlihem.” — Die raftlofe Berufstreue diefes Mannes als eines
Predigers bezeugt das, daß er nicht bloß feiner Pfarrgemeinde, fondern auch
auf Reifen das Wort Gottes verfündete und durch feine geift- und gemüthvollen
Reden, durch die feltene Kraft feiner Sprache und den Zauber feiner Perfönli-
feit bei Hoch und Nieder fehr viel wirfte. Ueber feine Predigten bemerkt Schröckh:
„Seine brennende Phantafie, die vft feine Beurtheilungsfraft mit ſich fortriß,
ließ ihn feinen feften Schritt auf dem Wege eines faßlichen Predigers thun.
Schwerlih ift bei einem proteftantifchen Prediger fo viel Licht und Schatten,
Geiftesftärfe und Schwähe, trefflihe Anlage, außerordentliher Eifer für die
Religion, Eraftvoller Ausdruf mit Schwärmerei und Wunderglauben, unbedacht-
famem Religionsfyneretismus und andern Seltfamfeiten verbunden gewefen als
bei ihm. Dennoch wird fich fein Andenken nie verlieren; man wird fo vieles
Gute, Sinnreihe und Erbauliche, das in feinen Predigten und andern Schriften
vergraben liegt, defto fleißiger auffuchen, je mehr die unzähligen, von ihm er-
richteten Luftgebäude daffelbe zu verdecken drohen.“ — In Allem aber wollte La—
Yater nur das Gute, das, daß mehr und mehr Ehriftum erfennen, Chriften wer-
den und fo das Heil finden. Es Fonnte daher nicht fehlen, das Edle und Schöne
feines Charakters fand allgemeine Anerfennung. Er war einer der bebeutendften,
gefeiertfien, einflußreichften Männer feiner Zeit und ſtand mit den damaligen
Größen in freundlicher Verbindung. Aber während ihn ein Theil, befonders das
weiblihe Geflecht, bewunderte, beinahe vergötterte, übergoß ihn ein Anderer
mit Spott und höhnendem Wis. Das Ercentrifhe und Phantaftifche feiner Neden
und Schriften, wenn nichts als die Fühne Behauptung, aus der Gefihisbildung
den Geift zu enträthfeln, bot hiezu geeignete Gelegenheit, Vgl. Lavaters Lebens-
befpreibung von G. Gefner, 3 Bde. Winterthur 18025 Fubrmanns Hand-
wörterbuß I. Bd. ©. 627 f.5 Schröckh, Kirchengeſch. 7. Thl. feit der Reform,
©, 334, und 8, Thl. ©, 658, [Stemmer.]
Laxismus. Den Forderungen des fittlihen Gefeges gegenüber find zwei
diametral entgegengefeäte Beftrebungen möglih, wovon die eine jene in dem—
felben Maße fleigert und verfchärft, als die andere fie herabſtimmt und lockert.
Geſchieht dieß auf dem practifchen Lebensgebiete, fei es Kinfichtlich der fubjestiven
Gewiffensausfprühe, vder fei ed in Bezug auf Geftaltungen der öffentlichen
Sitte, fo nennt man das erftere Beftreben Rigorofität, das Iegtere Hingegen
Larität, Entwickeln ſich diefe practifhen Extreme zu Syſtemen und Theorien,
fo entfteßt auf der einen Seite der Rigorismus, auf.der andern der Laris-
mus. Wir fönnen nun im Allgemeinen diefen Richtungen gegenüber fagen, daß
ihnen die chriſtliche Moral fremd fei. Indeß würden wir ihren Geift und ihr
Weſen ſchlecht harakterifiren, wenn wir fagen wollten: die hriftlihe Moral fer
weder zu fireng noch zu ſchlaff; fie Halte zwifchen beiden Ertremen die Mitte:
und darin Tiege ihr Vorzug und ihre Eigenthümlichfeit. Dagegen ift Folgendes
zu bemerfen, Der fittlihe Geift des Chriſtenthums iſt ein fo eigenthümlicher,
380 Sarismug,
daß er durch Alles in der Welt eher charakfterifirt werben mag, als durch folche
Gemeinpläge, Nur Eines ſteht in diefer Hinficht unzweifelhaft feft und muß in
der obfchwebenden Frage als Leitender Gefichtspunet unverrüsft feftgehalten wer-
den, nämlich das: daß die riftlihe Moral die reinfte, erhabenfte und voll—
fommenfte ift, daß fie die Moral der heiligen Liebe ift. Man mag fie
nun um ihrer Reinheit und Vollkommenheit willen „fireng”, oder wegen ihres
Liebegeiſtes „mild“ nennen: fo kann das ihr auf einem Standpunct, der über
diefen ausfchließenden Gegenſätzen und einfeitigen Auffaffungsweifen fteht, im
Grunde gleichgültig fein. Durch jene Prädicate ift über den Grundcharakter, über
den eigenthümlichen Geift der chriftlichen Moral nichts ausgefagt, da beide in
Hinficht auf diefen ebenfo wahr als falfch find, Daraus erhellt ſchon, wie Teer
und unfruchtbar ein Streit fein muß, den man namentlich im vorigen Jahrhundert
mit großer Heftigfeit über die Frage geführt hat, ob bie hriftlihe Moral der
sententia benigna oder der entgegengefesten günftig fer, (Ueber das Pro und
Contra diefer Controverfe vgl. unſ. Institutiones theologiae Christ. moral. Vol. I.
p. 154—165. Augsb. 1848.) Das Sciefal diefes Streites Fonnte fein anderes
fein, als es wirklich war: Fein Theil namlich Eonnte fi) des Sieges rühmen.
Wenn man nämlich einzelne Stellen des neuen Teftaments zu Nathe zieht, fo
wird man mit dem gleichen Nechte Beides fagen Tonnen: die hriftliche Moral
ftellt die firengften Forderungen, und fie ftellt die mildeften Forderungen.
Wo gäbe es firengere Forderungen, als die: das ärgernde Auge auszureißen
(Matth. 5, 29. 30.), dem, der ung auf die rechte Wange ſchlägt, auch die an-
dere darzubieten (Matth. 5, 39.), die Feinde zu lieben (Matth, 5, 44), und
Bater und Mutter, Weib und Kinder, Brüder und Schweftern, ja fogar bie
eigene Seele zu haffen (Luc, 14, 26.), alle Habe zu verfaufen ober zu verlaffen
(Matth. 19, 21: 4, 20.), das. Kreuz zu tragen (Matth, 16, 24. Luc, 9, 23.),
die lieder zu ertödten (Col. 3, 5.) u. ſ. w.? Und was fünnte dagegen milder
tönen als das Wort: „Rommt zu mir Alle, die ihr mit Mühe und Arbeit beladen
ſeid, ich will euch erquicken. Mein Zoch ift füß, und meine Bürde iſt Teicht
(Matth. 11, 28: 2932 — Bei folden in der neuteftamentlichen Moral zu Tage
Yiegenden Antinomien ift es fiherlich eine Leichte Sache, für die eine oder die an-
dere in die Schranfen zu treten, für die sentenlia benigna oder die sententia rigida
einzuftehen. Dan braucht nur die vom Gegner angeführten Stellen ebenfo hart-
näckig zu ignoriren, als man die eigenen an Einem fort wieberholt, fo wird man
ſich und feine Anhänger auf eine ebenfo nachhaltige als leichte Weife von ber
Wahrheit der einen oder der andern ber entgegenftehenden Anfichten überreden
und überzeugen fünnen, Um indeß das Wahre an der Gache kurz zu bezeichnen,
fo befteht e8 darin, daß dem Chriftentfume der firengfte fittlihe Ernft eignet,
der aber von der Art ift, daß er die größte Milde in fich ſchließt. Das
Chriſtenthum Iehrt ung die Groͤße des Elendes fennen, in das bie Sünde ben
Menfchen ſtürzt; daffelbe ruht mit feinen fittlichen Forderungen auf dem Bewußt⸗
fein, daß der Uebel größtes die Schuld und das einzige wahre Unglü für ben
Menfchen die Sünde, die Lostrennung von Gott, in dem er allein Ruhe für fein
vielbewegtes Herz finden mag, ſei. Yon dieſem Stanbpunete aus predigt Die
chriſtliche Moral glühenden Haf gegen das Böfe und findet Feine Anforderung
zu fireng, wo es gilt, von diefem Abgrunde den Menfchen zurückzuhalten. Aber
gerade biefe ihre Strenge ift vom Geifte der beforgteften, zärtlichften Liebe die—
tirt, ja ift nur die negative Seite deffelben, Das Chriſtenthum wäre bei feinem
Bewußtfein von dem fittlichen Oegenfage graufam, wenn es mit dem Kampfe
gegen die Sünde nicht Ernft, vollen Ernft machen würde, Daß es dieſen macht,
ift feine Milde, Wer in den Ernft des chriftfich-fittlichen Geiftes nicht eingeht,
begreift auch feine Milde nicht, Freilich fehlt es nicht an Solchen, die von dem
Schrecken, den die oben für die in Rede flehende Frage angeführten Ausfprüche
Larismus, 381
des Evangeliums einzujagen geeignet find, ſich durch ein fehr einfaches Haus-
mittel zu euriren wiffen: mit etlichen Tropfen Humanitätswaffer, das überall
gratis zu haben ift, jene flarren Buchftaben vermifcht, und fie löſen ſich in die
mildefte und gefihmeidigfte Subftanz auf, die fich zur Allerweltsmoral vortrefflich
qualificirt. — Sowie man bei der Frage über die Strenge oder Milde der rift-
lichen Moral (wir fönnen fie die Antinomienfrage nenten) die immanente Dia-
Yectif des hriftlichen Geiftes, zufolge der er beide Antinomien im fich aufhebt und
zur höheren, lebendigen Einheit verföhnt, nicht gehörig erfannt hat, fo hat man
es auch nur zu vielfach überfehen, daß das Chriftentfum Hinfichtlich der Mittel,
ihren geiftigen Heilszwed zu erreichen, fo zu jagen auf der breiteften Baſis
fteht und fich in feinen Borfhriften auf das geringfte Maß derfelben befchränft,
Es ift dieß der Fleine Kreis der göttlichen Heilsmittel, der HI. Sacramente; diefe
find mit mehr oder minder bindender Notäwendigfeit dem Chriften vorgefchrieben,
Was die fonftigen, menfhligen Mittel betrifft, fo bemißt ſich Alles nach dem in-
dividuellen Bedürfniß. Was dem Einzelnen nach feinen befondern fittlichen Ver—
hältniffen, Kämpfen und Gefahren zur Erreichung feines Heiles Noth thut, das
in Anwendung zu bringen ift er verpflichtet, und wäre es auch mit den größten
- perfönlihen Opfern verfnüpft. Wo es das Seelenheil gilt, da muß jedes Mittel
aufgeboten werden; Zahl, Art, Strenge und dergleichen Categorien kommen hiebei
gar nicht in Frage. Diefer Gefihtspunet kann nicht ſcharf genug betont werden,
weil er allein es ift, der ung ein gerechtes, der Wahrheit gemäßes Urtheil über
die auf den erſten Blick fo auffallenden Differenzen der Firchlichen Disciplin zu
verfchiedenen Zeiten fällen läßt. Die ältere Disciplin der Kirde wird nämlich
ebenfo der übertriebenen Strenge bezüchtigt, als die gegenwärtige einer zu großen
Schlaffheit. Beide Vorwürfe find gleich unbegründet, Der Geift der kirchlichen
Disciplin ift fih durch alfe Zeitem gleich geblieben; ihr Geift ift aber fein an-
derer, als das Beftreben, die Gläubigen gegen die fittlihen Gefahren zu ſchützen
und den fittlichen Ernft des Chriſtenthums im Leben durchzuführen. Da aber der
Strom jener Gefahren bald mehr, bald minder anfhwillt, und die forialen Ver-
bältniffe und Bedürfniffe im Wechfel der Zeiten fih ändern, fo ift es eine noth—
wendige Folge, daß die Kirche nach Umftänden flärfere Damme entgegenfegen,
engere Schranfen ziehen, ftrengere Maßregeln ergreifen, Täftigere und befchwer-
lichere Verpflichtungen auferlegen muß, Nie thut fie das willfürlich oder zwed-
los; was eine Laft ſcheint, ift doch, näher betrachtet, nur eine Erleichterung, ein
Förderungsmittel auf dem Wege des Heils; eine Laft würde eine kirchliche Sagung
oder Vorſchrift erſt dann, wenn fie den fittlihen Auffhwung des Geiftes, anftatt
zu unterflügen, lähmen würde, Was nicht zu Chrifto führt oder auf dem Wege
zu Ihm mehr hindert als fördert, iſt in Wahrheit eine Laft, die der Chriſt je
eher je beifer abwerfen fol. Dazu kommt noch, daß die Wege zu Chriſto ver-
ſchieden find und nicht Jeden jeder an’s Ziel führt, nicht zu jeder Zeit jeder paßt,
In der einen wie der andern Beziehung wird ohne Zweifel die Kirche am beften
zu beurtheilen wiffen, was ihren Zweck, der fein anderer ift, als Alle, die ſich
ihrer göttlich autorifirten Leitung und Erziehung anvertrauen, zu Chrifto, zum
Heile zu führen, frommt oder nicht frommt, was „zeitgemäß“ ift oder es nicht
iſt. Bon diefem Gefichtspuncte aus Fann die alte Kirchendisciplin nicht des „Ri—
gorismus“, die moderne nicht des „Laxismus“ angeklagt werben; eine folche
Klage kann nur ein Solcher führen, der Firchlicher fein will als die Kirche, und
der es beffer zu verſtehen fih einbildet, als die, welche der HI. Geift als Bifchöfe
gefegt hat, die Kirche Gottes zu regieren und die anvertraute Herde Gottes zu
meiden, Apg. 20, 28. 1 Petr. 5, 2. (Vgl. unf, Institt. theol. moral. a, a, DO. p.
146— 51.) — Nach dem, was wir im Bisherigen auseinandergefegt haben, wird
die aus Thomas (1, 2, qu. 107. art. 4.) anzufüßrende Stelle von ſelbſt in ihr
rechtes Licht treten und nimmermehr zu Gunften eines falfchen Firchlichen Lihera-
382 Laxismus.
lismus verſtanden werden können. Thomas nämlich, nachdem er hinſichtlich der
die innere Geſinnung betreffenden göttlichen Forderungen das neue Geſetz für
ſchwerer als das alte erklärt hat, ſpricht in Bezug auf die Zahl und Menge
äußerer Satzungen und Werke ſich folgendermaßen aus: Quia ad plures actus ex-
teriores obligabat lex vetus in multiplicibus caeremoniis, quam lex nova, quae
praeter praecepta legis naturae paucissima superaddit in doctrina Christi et Aposto-
lorum: licet aliqua sint postmodum superaddita ex institulione sanctorum Patrum,
in quibus etiam Augustinus (Epist. 119. cap. 19) dicit esse moderationem atten-
dendam, ne conversatio fidelium, onerosa reddatur. Dicit enim ad inquisitiones Ja-
nuarii de quibusdam, quod ipsam religionem nostram, quam in manife-
stissimisetpaucissimis celebrationemsacramentis, Dei voluit miseri-
cordia esse liberam, servilibus premunt oneribus, adeo ut intolera-
bilior sit conditio Judaeorum, qui legalibus sarcinis, non humanis
praesumptionibus subjiciuntur.. (gl. August. Epist. 118. [al. 54.] ad
Januarium. c. 1.). — Was die Kirchenväter und die kirchlichen Möoraliften der
fpätern Zeiten betrifft, fo waren weder die Einen noch die Andern je über die
fittlihen Grundprineipien des Chriſtenthums uneins, noch irgendwie über die
Heiligkeit und den Ernft der hriftlichen Lebensbeflimmungen zweifelhaft. und
ſchwankend. Indeß Eonnte eine Erfoheinung, die fih aus dem oben bezeichneten
Sefihtspunet fehr einfach erklärt, im Verlaufe der Zeit nicht ausbleiben: theils
die geiflige Individualität und die eigenthümlichen Lebenserfahrungen der Ein-
zelnen, theils die fittlichen Bildungsverhältniffe ihrer Zeit und Umgebung brach—
ten es mit fih, daß von dem Einen frengere und gemeffenere Lebensregeln auf-
geftellt und geltend gemacht wurden, als von dem Andern, Diefe Differenz
mußte insbefondere das Gebiet der Adiaphorie treffen, das feiner Natur nah
veränderlich ift und nach Maßgabe der werhfelnden BVerhältniffe und Umftände
die Grenzen des Erlaubten bald weiter, bald enger zieht. Sp fehr nun auch die
Moraliften Hinfichtlich einzelner Beftimmungen und Regeln des practifchen Lebens
Yon einander abweichen, fo mag doch Fein Einziger unter ihnen erfunden werben,
den der Vorwurf des Larismus oder des Nigorismus mit Recht träfe, Inner—
halb der Firchlichen Schranfen find derartige Ausschreitungen geradezu unmöglich;
fie koönnen jedenfalls nur ald momentane Verirrungen des Einzelnen vorkommen,
die aber unausbleiblih am Gefammtgeifte der Kirche ihr Correctiv finden und
nur durch einen Abfall von ihr verewigt werden fünnten. Wir brauchen uns in
diefer Hinficht nur an Tertullian zu erinnern, der befanntlich von feinem auf
eigene Hand ausgebildeten Nigorismus in's montaniftifche Heerlager binüber-
getrieben ward, wo er erft die Möglichkeit fand, das Kind feiner düfteren Welt-
anſchauung an's Licht zu bringen, Ließen fich befonders im Laufe der legten zwei
Sahrhunderte, durch eine falſche Accommodation an die Praxis einer verweichlich-
ten Zeit verleitet, einzelne Fatholifhe Moraliften zu laxen Beflimmungen fort-
reißen, fo fanden fie doch an dem bald genug erfolgten Firchlichen Verwerfungs-
urtheil eine Schranfe, die einem weiteren Umfichgreifen einer zum Larismus hin-
neigenden Moral Eräftig genug zu fleuern geeignet erfihien Cogl. unſ. Institt. theol.
moral. 1. c. p. 77 sq.). Der Mißbrauch, den man mit den Schlagwörtern Rigo—
rismug und Larismus vielfach gemacht hat, darf bier nicht unerwähnt bleiben.
So ift 3. B. die Bezeichnung der Jefuitenmoral als einer „laren” zur flereotypen
Phrafe geworden, die aber am widerwärtigften aus dem Mund gewiffer Phari-
fäer klingt. Wir verfiehen darunter Solhe, die z.B. wegen minder firengen
Grundſätzen, die fich ein Jeſuit über einzelne Momente des Beichtinftitutes auf-
zuftellen erlaubt, ihn unbarmherzig des Larismus bezüchtigen, während fie doch
feinen Anftand nehmen, das ganze Inftitut über Bord zu werfen, Heißt das
nicht Rameele verfchlucden und Muͤcken feihen, Anderen Laften auferlegen, an bie
man felbft mit feinem Finger rührt? (Matth. 23, 4.). Auf der andern Geite
4
Laybach — Lazariſten. 383
wird die katholiſche Moral überhaupt, namentlich wegen ihrer Grundſätze über
das eheliche und jungfräuliche Leben, über Eheloſigkeit und Drdensgelübde, eines
unchriſtlichen Rigorismus beſchuldigt; ja man geht fo weit und muß confequent
fo weit gehen, diefen Vorwurf nicht nur dem Apoftel Paulus, fondern der „Mo—
ral Zefu“ feldft zu machen, womit freilich die Abfurbität fattfam zu Tage tritt
Cogl. 9. Ammon, Handb. der chriſtl. Sittenlehre. I. ©. 50. 2. Aufl). Der be-
fagte Vorwurf ift an feinem Drte bei den Pharifäern, die Ehriftus um deffent-
willen rügt, fowie bei den Anhängern jener falfchen, dualiftifchen und weltſcheuen
Ascefe, welche der Apoftel (1 Tim, 4, 1—4.) fo nachdrücklich befämpft. Das
unverbrühliche Feftgalten an der ſchon von Paulus gemachten Unterfcheidung
zwiſchen Gebot und Rath (ſ. Gelübde) Hinfichtlich der in Frage ſtehenden Puncte
ſchützt die Fatholifche Moral gegen rigoriftifche Ausartungen, die nur da eintreten
Tonnen, wo „alle Schritte und Tritte mit den Zußangeln der Pflicht beftreut“ und
anftatt dem lebendigen Geifte der freien Liebe, dem flarren Buchſtaben des ſo—
genannten moralifchen Imperativ unterworfen werden. [(Fuchs.)]
Laybach, Bisthum, ſ. Kärnthen.
Laymann (Laimann), Paul, ein Jeſuit, geboren zu Innsbruck 1576,
lehrte die Philoſophie, das canoniſche Recht und die Moraltheologie an verſchie—
denen Schulen, fo zu Ingolſtadt, München, Dillingen, Bamberg, Cöln. Mit
19 Zahren trat er in die Gefellfchaft Jefu ein. Man rühmt von Laymanns Cha=
rafter eine ungemeine Offenheit, Befcheidenheit und Demuth; von feiner wiffen-
fchaftlihen Seite befonders eine tiefe Kenntniß des canonifhen Rechts, worin er
fih ein ſolches Anjehen erworben hatte, daß die weltlichen Lehrer an andern Hoch—
fohulen feine Dietate um Geld fih zu verfchaffen fuchten, und daß man ihn von
weiter Ferne her in den fohwierigften Fragen als ein Drafel confulirte. Zu Con—
fanz überfiel ihn die Peſt und raffte ihn im 60ten Lebensjahre am 13. Nov. 1635
dahin, nachdem feine Nächftenliebe ihn beftimmt Hatte, wegen Anftefungsgefahr
Andere von fih abzuhalten, und in einen ganz abgelegenen Ort fih zurüdzuziehen.
Seine Moraltheologie, welche nicht bloß für Theologen, fondern auch für Cano—
niften fehr brauchbar ift, erfchien zuerfi zu Münden 1625 in 4., verbeffert ſchon
1626, und noch mehr bereichert 1630 in Fol., und fpäter noch in mehreren Aus-
gaben, als zu Mainz 1723 in Fol, Weiter haben wir von ihm: Quaestiones
canonicas de praelat. eccles. electione, institutione et potestate ex libr. I decre-
talium, Diling. 1626; processum juridic. contra sagas, Colon.; justam defensionem
Sanctissimi Romani Pontificis efc. in causa Monasteriorum et bonorum ecclesiastic.
vacantium etc. Diling. 1631. Gegen diefe Schrift verfaßte der Benedictiner Ro—
man Hay aus dem Klofter Ochfenhaufen eine Gegenfhrift unter dem Titel:
Astrum inextinctum, welcher Laymann feine Gensura Astrolog. ecclesiasticae, et
Astri inextincti entgegenfegte. Ohne feinen Namen gab Laymann heraus die
„Pacis compositionem inter Principes et Ordines Imperii Romani catholicos atque
Augustanae Confessioni adhaerentes* etc. Nach feinem Tode erfchien fein Jus ca-
nonicum (Dil. 1643) und fein Repertorium (Ibid. 1644). [Dürx.]
Lazariſten oder Prieſter von der Miſſion. Einer der lieblichſten Na—
men in der Geſchichte Frankreichs im 17ten Jahrhundert iſt Vincenz von Paula,
der durch ſeinen allgemeinen und ſegensreichen Einfluß im weiteſten Sinn des
Wortes ein Wohlthaͤter feines Vaterlandes war, Er, der Stifter der barmher—
zigen Schweftern, der Seminarien nach der Vorfihrift des Trienter Coneils, der
allgefeierte Miffionär auf den Galeeren, ift auch der Gründer der Lazariften oder
der Priefter von der Miffton, welche fo zu fagen alle Zwecke der einzelnen Orden
in fih vereinigen, Weber das thatenreiche, bewegte Leben des heiligen Stifters
f. den Art. Vincenz v. Paula, Nah fegensreihem Wirken wurde diefer Priefter
aus der Congregation der Dratorianer auf Empfehlung des Stifters der letzteren,
Berülle (ſ. d. 9), Erzieher und Hausgeiftlicher bei dem Grafen Gondy, Ge—
384 Razariften.
neral der königlichen Galeeren, Neben trefflicher Einwirkung auf Kinder und
Eltern übte Vincenz auf den zahlreichen Gütern der Familie durch geiftlichen
Troft für die Kranken, Katechiſiren der Kinder u. dgl, unzählige Werfe der Liebe,
Hier nun war es, daß die allgemeine Beichte eines Kranfen, der, ohne es zu
verdienen, in allgemeiner Achtung fland, ihm Veranlaffung zu Miffionen gab.
Erfreut über ſolche herrliche Früchte thätigen Wirfens, fete die gräfliche Familie
eine Summe aus, nach deren Empfang eine religiöfe Genoffenfchaft verpflichtet
fein follte, alle fünf Jahre in ihren Herrfchaften eine Miffton zu halten. Ver—
gebens bot Vincenz diefe Summe den Dratorianern, feinen Ordensbrüdern und
den Jeſuiten an; diefe waren bereits fo fehr mit Gefchäften überhäuft, daß fie
nicht einwilligen fonnten. Hierdurch fowie durch den Wunſch der gräflichen Fa—
milie und des Erzbifchofs von Paris, eines Bruders des Grafen Gondy, be—
wogen, fliftete Bincenz im Jahre 1624 die Gefellfchaft der Miffionspriefter, bie
fi) befonders dem Geelenheil des Landvolkes und der nievern Stände überhaupt
widmen follten. Bald erhielt dag neue Inſtitut die königliche Beftätigung, und
Papft Urban VI. erhob daffelbe zu einer befondern religiöfen —— unter
dem Namen Prieſter der Miſſion, die wir von nun an in allen Gegenden
Frankreichs, ja in den entlegenſten Ländern der Welt in apoſtoliſcher Wirkſamkeit
und Einfachheit erblicken. Im Jahre 1632 erhielten ſie das Collegium St.
Lazarus zu Paris, wovon ſich ihr gewöhnlicher Name Lazariſten herſchreibt.
Das große Local und die vermehrten Einkünfte machten nun auch eine erweiterte
Wirkſamkeit der Congregation möglich. Neben der Neubelebung des religiöſen
Sinnes im Volfe wirkten diefe Miffionspriefter auch befonders fegensreih auf
den Clerus dur Conferenzen und durch Gründung von Seminarien nach ber
Vorſchrift des Trienter Concils. Noch zu Lebzeiten des HI. Vincenz waren bei-
nahe alle Didcefen Frankreichs von feinen Schülern befuchtz aber auch Stalien,
Corfica, Piemont, Polen, Irland, Schottland, Algier, Tunis, Madagascar er=
hielten an ihnen Miffionäre, und diefe wetteiferten an Africa’s Küften mit den
Brüdern vom Orden der Gnade um Auslöfung der Sclaven, Nah Polen Fam
auf Bitten der Königin Marie Lonife, Gemahlin des Königs Johann Cafimir I.
(1648—68), eine Miffionsanftalt unter dem Vorſtand des dem hl. Vincenz
fo theuren Lambert, während Peft und Hungersnot befonders in Warſchau
wütheten, Lambert und fein Nachfolger Ozenne fielen als Opfer derſelben; den—
noch blühte die Miffion in Polen auf. Die erften Nachfolger des HI. Bincenz als
Generalfuperior waren Nene Almeras (1672), Edmund Zolly (1697), Nico—
laus Pierron, lauter würdige Männer; zur Zeit der erften franzöfifhen Revolu—
tion war oberfter Vorfteher Abbe Cayla de la Garde, Auch diefe Eongregation
ging indeß in Revolutionsflurme mit den andern religiöfen Genoffenfchaften unter,
folfte fih jenoch fehon bei der erfien Reftauration wieder erheben, und zwar
durch ein Decret vom Jahre 18045 ja fie erhielt fogar aus der Staatscaffe eine
Nnterftügung von 15,000 Franks; ferner überließ man ihr zu Paris ein Hofpital,
das der Staatsdomäne gehörte, zur Errichtung einer Centralanftalt mit einem
Noviciate, und mehrere Häufer in den Departements jenſeits der Alpen; endlich
ertheilte man ihr auch wieder das Necht zur Annahme von Vermäctniffen und
Legaten. Sp fehr hatte Napoleon in ihren Mitgliedern die tüchtigften Mitglieder
zur abermaligen Chriftianifirung Frankreichs erfannt, und in der That haben fie
fich darum dur ihre außerordentliche Thätigfeit ganz befondere Verbienfte er-
worben, Allein nachdem der Raifer auf die ungerechtefte Weife mit dem Papfte
gebrochen hatte, fo erneuerte man auch die eben fo ungerechte Aufhebung biefer
Eongregation durch ein Decret vom Jahre 1809, das jenes von 1804 wieder
annullirte. Das Haus wurde den Prieftern entzogen, die Dotation vernichtet,
die erhaltenen oder erworbenen Güter wurden confiseirt, Erſt im Jahre 1816
erhielt die Congregation ihre Iegale Exiſtenz wieder; zwar fonnte fie St, Lazare
Lazarus. 385
nicht mehr zurüderhalten, erlangte aber dafür zu Paris ein anderes Haus in der
Straße Sévres, wohin nunmehr auch das Seminar verlegt wurde, Sofort fonnte
fie ihre gewohnte Thätigfeit wieder entfalten; noch aber fehlte der Generalobere,
Nach dem Tode des Cayla de la Garde waren nämlih im Drange der Umftände
zwei Generalvicare eingefegt worden; erft im 3. 1829 wurde vom Papfte ein
Generalfuperior ernannt, da die Zufammenberufung eines Generalcapitels be=
fondern Schwierigfeiten unterlag. Was ihren gegenwärtigen Beftand anlangt,
fo zählt fie wohl 700 Mitglieder in Italien, Franfreih, Polen, Africa (Algier
und Aegypten). Zu Miffionsdiftrieten haben fie gegenwärtig die Levante, feit
1784 China, und die neueften Miffionen in Abyffinien, find aber auch in Nord-
america und Brafilien thätig. In Betreff eines andern Ordens des HI. Lazarus
f. den Art. Johanniter. Bd, V. ©. 771. [3ehr.)
Lazarus, Adlaegos (322, abgekürzt flatt Arsn von In und S7>, deus .
auxilium), der Bruder der Maria und Martha in Bethanien bei Jerufalem, ein
Freund des Erlöfers. Wir finden den Herrn zum erften Male in diefem Fami—
lienfreife um die Zeit des Hüttenfeftes, im erften Jahre feiner öffentlichen Wirf-
famfeit Luc 10, 38 ff.), und wahrfcheinlich verweilte er dort auch bei dem dar⸗
auffolgenden Beſuche ber: Tempelweihe, Während fich Jeſus nah dem letzteren
Fefte in Peräa aufhielt, war Lazarus erfranft, flarb und lag bereits den vierten
Tag im Grabe, als der Herr, von den Schweftern zu Hilfe gerufen, in Betha—
nien anlangte; aber der Machtruf des Göttlichen erweckte den Todten wieder zum
Leben (oh. 11, 1—44.). Diefe Begebenheit führte eine entfcheidende Wendung
in der Entwirflung des Schicfales Sefu herbei; denn als die Hierarden in Je—
rufalem davon und von dem Glaubenserfolge bei den Augenzeugen Nachricht er—
halten, fo wurbe in einer Sigung des Synedriums nach dem Anfrage des Raia-
phas fein Untergang beichloffen (daf. 11, 46 f.). Nachdem Jeſus, welder fi
inzwifchen in das Städtchen Ephraim an der jüdifchen Wüfte zurüdgezogen hatte,
ſechs Tage vor Dftern wieder nad Bethanien gefommen war, fo bereiteten die
neuen Wirkungen feines Wunders auch dem Lazarus Gefahr; * nämlich auf die
Kunde von der Anweſenheit des Herrn in jenem Flecken Jeruſalemiter und fremde
Feſtbeſucher in Menge hinausſtrömten, um ſowohl ihn als auch den thatſächlichen
Zeugen ſeiner Wundermacht zu ſehen, und ſofort zum begeiſterten Glauben er—
weckt wurden, ſo faßten die Synedriſten den Beſchluß, den Lazarus mit Jeſus
aus dem Wege zu räumen (daſ. 12, 1 ff.). Die Wiederbelebung des Lazarus iſt,
als hiſtoriſche Thatſache und als Erweckung aus dem wirklichen Tode aufgefaßt,
der offenbarfte und unwiderfprechliche Beweis für die göttlide Macht in Chrifto,
und fo weiter für die Göttlichfeit feiner Lehre und feines ganzen Werkes. Die
große Bedeutung diefer evangelifchen Erzählung hat auch Spinoza anerfannt, von
welhem Bayle (Dielion. Spinoze not. R.) erzählt: On m’a assure, qui’ disaif
a ses amis, que s’il eüt pu se persuader la resurrection de Lazare, il aurait bris&
en piece tout son system, il aurait embrass& sans repugnance la foi ordinaire des
Chretiens. Allein er vermochte es nicht über fich, fein philoſophiſches Syftem auf
einige Augenblide zu vergeffen, um ohne alle Vorausfegung ein Urtheil zu fällen,
und wenn er fih nun von der objectiven Wahrheit des Wunders nicht überzeugen
fonnte, fo liegt der eigentlihe Grund davon gerade darin, daß daffelbe mit fei=
nem Syfieme, von welhem aus er es beurtheilte, nicht übereinſtimmte. Auf
einem wefentlih gleichen Standpuncte ſtehen auch die neueren Gegner dieſes
Wunders, welche es theils auf eregetifhem, teils auf Fritifhem Wege zu be=
ſeitigen ſuchen, denn fie gehen wie Spinoza von dem Sate aus, daß wirkliche
Todtenerwerfungen in das Gebiet des Unmöglichen gehören, oder daß Jeſu eine
übermenfchliche und übernatürlihe Kraft nicht inwohnen Fonnte, In Anbetracht
diefer Borausfegung erflärt es fih, wie die rationaliftifhen Ausleger Hier nicht
anſtehen, den Wortfinn der Erzählung mit größter Willfür zu verbrehen, um
Kirchenlexikon. 6, Br. 25
386 Lazier.
ſtatt des Wunders einen glücklichen Verſuch der Wiederbelebung eines Schein-
todten herauszudeuten, und wie fie ſelbſt ſich mit einer Exegefe befriedigt fehen,
bei welcher fie fih in einen augenfälligen Widerſpruch mit dem Neferenten fegen.
Mit Rückficht auf das vor alfer Unterfuhung fertige Urtheil kann es auch an den
neuern deftructiven Kritifern nicht auffallen, wenn ihnen Beftreitungsgründe ge—
nügen, in welchen der unbefangene Forſcher zwar Schwierigkeiten anerkennt, ohne
fie aber für unüberwindlich zu halten, die für fich betrachtet gegen den hiftorifchen
Charakter der Erzählung nichts entfcheiden, und keineswegs Die Berechtigung
geben, darin ein mythifches Product oder eine freie fchriftftefferifche Compofition
anzunehmen, Der Haupteinwurf gegen die Glaubwürdigkeit der Erzählung ift -
Cabgefehen von der Natur des Erzählten) überall das Stillfehweigen der Synop-
tiker; er verliert aber feine Schärfe und Kraft, wenn wir den Iocalen Gefichts-
kreis der fonoptifchen Evangelien bis zur Leidensgeſchichte im Allgemeinen in's
Auge faffen, und bei Matthäus insbefondere in Erwägung ziehen, daß er bie
Geſchichte Jeſu nicht pragmatifh behandelt (ſ. im Uebrigen meinen Commentar
zu Joh.). Was die Tradition dem evangeliſchen Berichte über Lazarus hinzufügt,
kann nicht als zuverläſſig gelten. Er ſoll bei ſeiner Wiederbele 30 Jahre
alt geweſen fein und dann noch weitere 30 Jahre gelebt Haben (Epiphan. Haeres,
LXVI. 34.) 5; als fein nachmaliger Aufenthalt wird Massilia (Marfeilfe) in Gallien
genannt, wo er dag Evangelium gepredigt hätte (Fabr. Cod. apocr. N. T. IL, p.
475 sq. und Lux evang. p. 388 sqq.), wogegen ihn aber andere Nachrichten nach
Cypern verfegen, wo man fpäter feine Gebeine aufgefunden zu haben meinte
(Suicer. Thesaur. II. p. 208.), — Außer dem hiftorifthen Lazarus haben wir im
neuen Teflament in der Parabel Luc. 16, 19 ff. noch eine erbichtete Perfon dieſes
Namens, B IA. Maier.]
Sazier, zum ChriftentHum befehrt. Die Lazier, zu den Zeiten des Pli—
nius, Arrian und Ptolomäus ein befonderer Stamm am nördlichen Nande von
Kolchis, herrfchten zu Juſtinians Zeit über ganz Kolchis, ftanden aber unter per-
fifher Oberherrſchaft. Lange vorher hatten ſich ſchon viele der benachbarten Vol—
ferfchaften dem Chriftentgume zugewendet, als endlich auch Zathus (Tzathus),
Fürft oder König der Lazier, freilich auch in der Hoffnung, ſich fo der perfifchen
Dberherrfchaft zu entledigen, aber doch überzeugt von dem Vorzug der riftlichen
Religion vor den Gebräuchen der Magier, zwifchen 520—522 nach Conftantino-
pel reiste und fich taufen ließ, wober der Kaiſer felbft fein Taufpathe war, Zu-
gleich bat er den Kaiſer, ihn zu Frönen, damit er nicht, wenn er nach früherer
Sitte die Krone aus den Händen des perfifchen Königs empfange, an den damit
serbundenen Opfern und heidnifchen Ceremonien Theil zu nehmen gendthiget wäre,
Bon dem Kaifer gefrönt, reichlich befchenft und mit einer vornehmen chriftlichen
Griechin vermählt, kehrte Zathus nach Lazien zurück (Theophan. Chronogr.).
Gleich darauf erfiheinen die Lazier ſchon als eine chriftliche Nation, und Praco—
pius Cbell. Pers. II, 28) nennt fie „die aflereifrigften Chriften”, was er auch, und
noch in einem höhern Grade, von ihren Nachbarn, den Zberiern (ſ. d. A.), rühmt
Cb. Pers. I, 12). Für den criftlichen Eifer der Lazier zeugt ferner, daß ber
Perſerkonig Chosroös im Schilde trug, fie von Kolchis weg in das Innere Per-
fiens zu verpflanzen, um fie auf diefe Weife von den chriftlihen Iberern, mit
denen fie eine Mauer gegen das Perferreich bildeten, zu trennen (ib. II, 28);
ingleichen daß fie fih, als ihr König Gubazes durch die Unthat eines römiſchen
Feldherrn getödtet worden war, dennoch nicht an die Perfer anfchloffen, vorzüg-
lich aus Furcht, e8 möchte fo bei einer Verbindung mit den Perfern ihr hriftlicher
Glaube in Gefahr fommen (Agathias II, 12). Aus dem, was Procopius (b.
Goth. IV, 2) erzäßlt, daß die Bifchöfe der Lazier bei einem benachbarten freien
Sriftlichen Volke, welches weder von den Römern noch den Laziern abhänge, bie
Priefter einfegen, ſcheint hervorzugehen, daß von Lazien aus für die Verbreitung
Leada. 387
des Chriſtenthums in der Nachbarſchaft gearbeitet worden ſei. Andere Nachbarn
der Lazier, die Suani oder Tzani (Tzannen), Apſilier, Abasgen u. a. m. wurden
damals ebenfalls zur chriſtlichen Religion bekehrt oder waren ſchon Chriſten. So
empfingen unter Juſtinians Regierung die Abasgen, von Alters her Unterthanen
der Lazier, das Chriſtenthum, indem ihnen Juſtinian Geiſtliche ſendete, eine Kirche
erbaute und das Volk dadurch dem Chriſtenthume ſehr geneigt machte, daß er ihren
Fürſten den ſchändlichen Handel mit verſchnittenen Knaben, den ſie bisher als Hei—
den getrieben hatten, ſtrenge unterfagte (Procop. b. Goth. IV, 3). I(Schrödl.)]
Seada, Jane, Stifterin der fogenannten philadelphifhen Ge-
fellfohaft, geboren 1623 in England, fihweifte lange in der Irre und Unruhe
herum — wie fie von ſich ausfagt — bis fie in ihre eigene Tiefe einfehrte und
da dasjenige traf, was fie auswärts nicht finden Fonnte, das innere Licht und die
Salbung des HI. Geiftes, Aus diefer Duelle und einer nicht gemeinen Eitelfeit
floffen ihre vermeintlichen Geſichte, Offenbarungen, Weiffagungen und Verheigun-
gen, die fie auf göttlichen Befehl der Welt fund und zu wiffen machen mußte,
wobei fie nicht läugnete, fondern geftand, daß fie auf gleiche, höchſt fublime Weiſe,
wie der Apoftel Johannes auf der Inſel Pathmos, im Geifte öfter entzücft werde
und ohne alle Bilder Gott unmittelbar in feinem Wefen und in diefem Wefen
Alles ſchaue. Solche Gnade in Liebe theile nun Jeſus, nachdem dieß feit Jo—
- Hannes nicht mehr gefchehen, wirklich wieder mit, und dadurch werde angedeutet,
daß ein neues geiftliches Reich nahe vor der Thüre ſtehe. In diefem neuen Reiche
werde unter der ausjchließlichen Leitung des innern göttlichen Lehrers das taufend-
jährige Reich Ehrifti zur Erfüllung gelangen. Wie damals alle die zahllofen pro—
teftantifchen Bifionäre und Schwärmer ihr Publicum fanden, fo fehlte es auch der
Zeada nicht an Anhängern felbft aus dem gebildeten Stande, und fie ftiftete daher
1697 die fogenannte „philadelphifhe Gefellihaft” als den Anfang und die Bafıs
der von ihr im Namen Gottes verheißenen mafellofen Braut des Lammes, Die
Urſachen und Gründe ihrer Stiftung machte fie im J. 1698 bekannt. Ihre after-
myftifhen Träumereien hat fie in zahlreichen Zractätleins niedergelegt, wovon
einige in's Holländifhe und in andere Sprachen übertragen worden find; vor=
üglich wurde ihre Schrift, „ver Gartenbaum”, von ihren Anhängern geſchätzt.
D fie reich war, fo ließ fie alle ihre fogenannten Dffenbarungen und neuen Auf-
ſchlüſſe über die göttlihen Wahrheiten auf eigene Koften druden, Die Zeit, die
ihr vom Schreiben übrig blieb, verwendete fie auf die Lectüre von Böhme’s
Schriften, die fie nicht genug empfehlen konnte (ſ. Böhme). Nachdem fie fih
bei Iebendigem Leibe eine Leichenpredigt gehalten, farb fie 1704 in einem Alter
von 81 Jahren, Einer ihrer vorzüglichften Verehrer und Anhänger war Por-
dage, ein Prediger, welcher, wegen feiner Schwärmerei abgefegt, ein Arzt wurbe
und den Böhmismus und die philadelphiſche Gefellihaft in England eifrig be—
förderte, wobei ihm freilich das dunkle myftifhe Kauderwelſch in feinen Schriften
wenig zu ftatten kam. Nach Pordage ragte deifen Anhänger und Schüler Thom,
Bromley hervor, der Vieles über die Bibel ſchrieb. In Holland war der Arzt
Roth Fifcher ein befonderer Beförderer des Philadelphismus. S. Mosh. Kir-
chengeſch. IV; Arnold 8 Rirchen- und Kegerhiftorie UI; Jöcher s Gelehrten-Lericon
im Artikel Leada, — An Leada möge hier füglich die noch fonderbarere Schwär-
merin lee, Anna, angereiht werben, Stifterin der Secte der Shaferg,
In England bedrückt, z0g fie nah Nordamerica, ftiftete Hier 1774 ihre Seete
und flarb 1784, ehe noch ihre Weiffagung in Erfüllung gegangen, daß fie, als
Weib des Lammes, den neuen Meffias gebären werde. Die Shafers (i.e. Schüt-
teler) wohnen, 6000 an der Zahl, in einigen Dörfern am Hudfon, halten fich
für die allein wahre und reine Kirche, leben in Gütergemeinfhaft und Ehelofig-
feit, träumen in düfterer Schwärmerei, deren abſchreckender Ausdruck auf ihren
geifterbaften Gefichtern fih darſtellt, von unmittelbaren gottlichen Eingebungen
* 25
388 Leander.
und von der Ankunft des neuen Meſſias, und ſetzen einen weſentlichen Theil
ihres Gottesdienſtes in ſchaurige Tänze, welche theils das Erzittern vor dem
Zorne Gottes über die Sünde, theils nach Analogie Davids vor der Bundeslade
und des Johannes im Mutterleibe den Jubel über die Erſcheinung des neuen
Meſſias ausdrücken follen, [Schrödl.)
Leander, der heilige, Erzbiſchof von Sevilla, Bruder des hl.
Iſidor von Sevilla, der angeſehenſte ſpaniſche Biſchof feiner Zeit,
war aus der Provinz Carthagena gebürtig, aber den Drt feiner Geburt weiß
man nicht. Sein Vater hieß Severianus, feine Mutter Turtura, und man fagte
feit dem 13ten Jahrhunderte, daß fein Bater Herzog oder Statthalter der er—
wähnten Provinz gewefen ſei. Nach dem Bericht feines Bruders Iſidor (de
script. Ecel. c. 28) war Leander vor feiner Erhebung zum Bischof von Sevilla
Mönch; in welhem Jahre er Biſchof geworden, ift unbefannt; gewiß nur, daß
er 578 bereits die bifchöfliche Cathedra zu Sevilla inne hatte, In diefem Jahre
ward ihm die hohe Freude zu Theil, den Prinzen Hermenegild, Sohn des Kö—
nigs Leovigild von Spanien, aus dem Arianismus zur katholiſchen Kirche zu be—
fehren, wozu auch Hermenegilds eifrig-Fatholifhe Gemahlin Ingundis, eine frän-
kiſche Prinzeffin, mitgewirkt hatte. Seitdem blieb Leander dem Hermenegild auch
im Unglü treu ergeben und machte in deffen Auftrag 583 eine Reife nad Con—
ftantinopel. Damals weilte hier der nachherige Papft Gregor der Große als
Apverifiar der römifchen Kirche, zu dem nun Leander in das innigfte Freund-
fhaftsverhältniß trat, und den er damals bewog, die Exposilio in beatum Job zu
reiben. Mußte er 585 den tiefen Schmerz erleben, daß Hermenegild auf Be—
fehl feines Vaters hingerichtet wurde, fo befchied ihm das folgende Jahr heilige
G©eiftesfreuden, indem Leovigild bie an dem Sohne verübte Unthat bereute, feinen
Haß gegen die Katholifen ablegte, die vertriebenen Fatholifchen Biſchöfe zurüd-
berief und den Leander an fein Todbett herbeirufen ließ, ihn bittend, er möge
feinem Sohne und Nachfolger in der Negierung, Reccared, diefelben Dienfte
leiften und ihn durch feine Mahnungen zur Fatholifchen Kirche befehren, wie er
an Hermenegild gethban, Ob Leander bei diefer Gelegenheit auch den Leovigild
felbft zur Ablegung des Fatholifchen Glaubensbekenntniſſes vermocht habe, laßt
fih bei den widerfprechenden Berichten nicht beftimmt behaupten, Kurz nach Ley
vigilds Tod befehrte fih der neue König Reccared, ein trefflicher Fürft, unter
Leanders Anleitung und Unterweifung vom Arianismus zum fatholifchen Glauben,
und bewog die meiften arianifchen Bifchöfe und Weftgothen mehr dur Gründe
als durch Gewalt zu dem nämlihen Schritt (ſ. Gothen). Beſiegelt wurde das
große Werk der Belehrung des weftgothifchen Volkes auf der großen Synode zu
Toledo 589, wobei die „Summa synodalis negotii penes S. Leandrum, Hispalen-
sis ecclesiae episcopum, et beatissimum Eutropium, monasteriiServitani abbatem‘“
war (Joh. Bicl. in chron. bei Basnage-Canis. I, 341). Im folgenden Jahre 590
hielt Leander eine Synode zu Sevilla, Auf die Kunde von Gregors, feines
Freundes, Erhebung auf ben tust des hl. Petrus fendete er an ihn ein Gratu—
lationsfchreiben, worin er zugleich das freudige Ereigniß der Befehrung Neccards
und der arianifhen Weftgothen meldete und- die Frage zur Entſcheidung vorlegte,
ob bei der Taufe eine einmalige Untertauchung (wie ſie bei den Katholiken in
Spanien den Arianern gegenüber vorherrſchend geworden war) oder eine drei—
malige beſſer ſei, worauf der Papſt mit einem lieb- und freudenvollen Gegen-
ſchreiben antwortete und bezüglich der Taufe erwiederte, er billige die einmalige
Immerſion, ob auch die römiſche Kirche die dreimalige habe, die einmalige und
die dreimalige ſei gut, aber für Spanien ziehe er die einmalige vor, weil bie
Arianer dafelbft bisher die dreimalige beobachtet hätten und damit es nicht den
Anſchein gewinne, als hätte der arianifche Brauch über den Fatholifchen geſiegt
(Greg. M. opp. edit. Maur, epist. I, 43), Aus andern Briefen Gregors an Leander
Lebbäus — Leben, 389
Cep. V, 49. u. IX, 121) erfiebt man, daß Leander öfter an den Papft ſchrieb,
welch’ intimes Verhältniß zwifchen diefen zwei trefflihen Männern herrfchte und
welch’ hohe Meinung der Papft von Leander hatte, Als vorzügliche Beweife fei-
ner Achtung und Liebe überfendete ihm der Papft das erzbifchöfliche Pallium (ep.
IX, 121, 122), die Hirtenregel und einen Theil der Erpofition des Buches Job,
das er ihm bedicirte (ep. I, 43, V, 49; praefat. in I. mor. Job), Ferrera fegt
Leanders Tod auf das J. 597. Leider ift von Leanders Schriften, deren fein
Bruder Iſidor (de script. eccl.) mehrere erwähnt, nichts weiter auf uns gefom-
men, als die Rede, welche er am Schluffe der großen Synode zu Toledo 589
bielt, und eine für Nonnen aufgefegte Regel: „Regula sive de inslitutione virgi-
num et contemtu mundi ad Florentinam sororem“ in Holst. cod. reg. II. ©. bie
Ehronif des gleichzeitigen Abtes Johannes von Biclar in Basn.-Canis.
lect. ant. I; Isid. Hisp. d. script. Eccl.; Greg. M. dial. IN, 31; $errera, Gef,
v. Spanien; Bolland. ad 13. Marti; vgl. Aſchbachs Gef. d. Weftgothen, und
Lembfe, Gef, v. Spanien. [Schrödl.)]
Lebbäus, ſ. Judas.
Leben, chriſtliche Lebensanſicht. Wenn wir den Begriff des Lebens als
Sein oder Dafein beftimmen, fo haben wir ihm bloß nach einer Seite hin fein
Necht widerfahren Iaffen. Sind nämlich die Grenzen, die der Sprachgebrauch
diefem bedeutungsvollen Worte einräumt, um nichts, oder um nicht viel enger,
als die des Seinshbegriffes, fo findet diefer zugleich, fowohl an innerer Tiefe und
Sntenfität als an äußerer Fülle und Reichhaltigfeit, fih von dem Begriffe des
Lebens weit überboten. Das Seiende, das Eriftirende erhält erft als das Leben-
dige feine wahre Bedeutung, die felbft in vem Maße fteigt, als das Leben auf
der Stufenleiter der Wefen zu höheren und reicheren Entwicklungen feines Be—
griffes fih emporarbeitet, Verftehen wir unter Leben — Bewegung, Kraftäuße-
zung, Thätigfeit, fei es in receptiver oder ſpontaner Geftalt, fo ift, fo weit unfer
Auge die Erfcheinungswelt überfchaut, nichts ganz ohne Spur von Leben. Selbft
da, wo jetzt traurige Erftarrung und regungslofe Stilfe herrſcht, Hat einft ficher-
lich lautes, quellendes Leben gearbeitet, oder fchlummert der zufunftsoolle Keim
neuer Lebensregung. Wo aber diefe einmal erwacht ift, da fihreitet fie von Stufe
zu Stufe unaufhaltfam bald einem näheren, bald einem entfernteren Ziele ent-
gegen, und firebt energifch die unmittelbar engeren Schranfen der Thätigfeit zu
durchbrechen, oder ihnen zum wenigften einen erhöhten innern Gehalt zu fichern,
Unter Allem aber, was fich unter der Sonne regt und bewegt, lebt nichts ein
intenfiveres, innerlich wie äußerlich reicheres und bewegteres Leben als der
Menſch, die Krone der Erdſchöpfung. Vgl. Thomas v. Aquin, Summ. c. Genf.
II, 68. Ed. Venet. a. 1775 sqq. p. 147. Raymund von Sabunde, Theolog.
natural. c. 27 sqq. Ed. Venet. p. 23 sqg. Herder, Ideen zur Phil, d. Menfch-
heit, Bd. 11. ©. 258 f. Leipz. 1812. Zugleich aber drangen fih in ihm alle
Räthfel und Geheimniffe des dunfeln Lebens zufammen und geftalten fih um fo
verworrener, als fich in feiner Bruft zwei Welten berühren, die mit ihren An—
fprüchen an ihm nicht felten in Conflict gerathen und ſchwer zu verfühnenden Zwie-
fpalt erregen, Auf den erften Anblick fcheint er ganz der Erde und dem flüchtigen
Augenblife anzugehören; er erfcheint der fih vor feinen erftaunten Blicken aus—
breitenden Unendlichkeit der cosmiſchen Berhältniffe gegenüber kaum als ein
„Tropfen am Eimer,“ Gefchweige, daß er mit dem großen, die Sonnen und
Sterne umfaffenden Leben, dem Macrocosmus, fich meſſen Fönnte, fo iſt ſchon
der telfurifche Mierocosmus mit feinen riefigen Kräften und feinen ungeheuern
Wirkungen im Stande, ihn feine Kleinheit und Befchränftheit fühlen zu laſſen.
Und doch — ein aufmerkfamer Blick in die Tiefen feines innern Lebens zeigt ung,
wie in dem ſchwachen Ervenfohne ein Etwas fich regt, deifen Bewußtfein ihn auf
der andern Seite in den Stand fest, allen Mächten und Gewalten der Sichtbar—
390 Leben,
feit fühn die Spitze zu bieten: es ift die in ihm unfihtbar wohnende Kraft des
freien, felbftbewußten, perfünlichen Geiftes. Während alles um ihn her, das
Sonnenſtäubchen wie das Sonnenfyflem, die Feffel der eifernen Nothwendigkeit
trägt, ift er, nach Herder's Ausdruck, „der erfle und einzige Freigelaffene der
Schöpfung”, der mit Bewußtfein fich felbft Beftimmende, mit der Freiheit eines
vernünftigen Willens Wirfende und fo im höchſten Sinne des Wortes Lebendige,
Und weil er dieß ift, fo fühlt er, daß ein Dafein, wie das feinige, das den Keim
einer unendlichen Entfaltung in ſich fchließt, ein Dafein, das an Werth und Be—
deutung den Sonnen und Sternen wenigftens gleichfommt, um nichts weniger
verdient erhalten zu werben. Ziehen die leuchtenden Welten dort oben ſchon Jahr—
tanfende ihre einförmigen Bahnen, fo kann ihm, der fich ihnen an geiftiger Vir—
tualität unendlich überlegen weiß, für feine Eriftenz und Lebensthätigfeit nicht
bloß die Spanne Zeit, wie fie zwifchen Wiege und Grab mit raſchen Schritten
dahineilt, zugemeffen fein. Durchdrungen von dieſem hohen Selbftgefühl, dehnt
er feine fünftige Eriftenz felbft über die Trümmer der Sichtbarkeit aus und fucht
über den Sternen einen Schauplag für feine erhöhte, vollfommenere Thätigfeit,
„Richt zufrieden mit den Gärten diefer Erde, verlangt der Menfh, wie Jean
Paul fhön fagt, ein Paradies und einen Himmel,” Doc noch haben wir deffen
nicht gedacht, was in der vor unferer Betrachtung aufgetauchten großen Lebens—
geftalt des Menfchen den Teuchtenden, allverflärenden Mittelpunet bildet; wir
brauchen nicht erft zu bemerken, daß wir damit das ihm einwohnende Gpttes-
bewußtfein meinen. Der menfhliche Geift, „die Blume einer höheren Natur,
die ihren Kelch der ewigen Sonne, der Gottheit, öffnet und ihre Strahlen trinkt“
(Worte von Görres), ift eben damit das Heiligthum der fichtbaren Welt und
zugleich der Vorhof zum unfichtbaren Allerheiligften, Zwar ift Gott allgegen-
wärtig (Pf. 139, 7.), und wie die Himmel feinen Ruhm erzählen, fo ift die Erde
voll feiner Güte (Pf, 19, 2. Pf. 33, 5.); aber erſt über dem Menfchen Teuchtet
Gottes Antlig und fpiegelt fih in der Tiefe des gottähnlichen Menfchengeiftes,
Erft der Menſch, der Teste Ring in der unendlichen Kette der fihtbaren Geſchöpfe,
denkt Gott und vermag ihn zu lieben. Wenn Carteſius in feinem berühm—
ten Cogito, ergo sum an die Thatfache des felbfibewußten Denfens die Idee der
felbftftändigen, perfönlichen Exiftenz fnüpft, fo verbürgt ung wohl mit nicht ge—
ringerem Necht die andere Thatfache, daß wir Gott denfen und Gott Fieben, die
höhere Wahrheit, daß wir göttlichen Gefchlechtes und zu einem ewigen Sein be—
ſtimmt find, „Wär' nicht, bemerkt in erflerer Hinfiht Göthe, wär nicht das
Auge fonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken? Lebt’ nicht in uns des
Gottes eigene Kraft, wie könnt' ung Göttliches entzücken?“ — Und auf Letzteres
bezieht fich Fr, Stollbergs Motto: „Wir lieben, alfo werben wir fein” (Büch-
lein der Liebe). Trägt nun der Menfh auf der einen Seite den Keim eines
ewigen, unvergänglichen Lebens in fich, fo ift auf der andern die Idee feines
wahren Lebens feine geringere, al$ das Leben in Gott. Darauf, nämlich auf
der freien Hingabe an Gott, die Urquelle alles Lebens und Lichtes, auf dem
innigen, freudigen Leben und Weben in Gott beruht die letzte, große Beftimmung
der geiftigen Perfönlichfeit des Menfchen, Das Gegentheil, die Gottentfrembung,
die Losfagung von dem Vater und Born des Lebens, ift der geiftige Tod, und
wenn die Scheidung der Seele und des Leibes der erfte Tod ift, fo Heißt bie
Scheidung der Seele von der Gemeinfhaft mit Gott, der das Leben der Seele
ift, der „zweite Tod,“ Chriftus felbft, der gottmenfchliche Mittler zwifchen Gott
und den Menfchen, nennt fi das „Leben“, indem er fagt: „Sch bin der Weg,
die Wahrheit und das Leben.“ Er nämlich bahnt durch feine erlöfende und
verfühnende Thätigfeit den Weg zu dem in feiner urfprünglichen Wahrheit er-
neuten Leben, das in Folge des Sündenfalld zum Scheinleben herabfanf und der
Tobesherrihaft anheimfiel, Diefe muß zuerft gebrochen und die Gemeinſchaft der
Leben, 3
Menſchheit mit Gott wieder Hergeftellt fein, ehe das neue Leben erblüßt, das
göttliche Leben, das, fowie es der Erregung des uveuue @yıov, Felov feinen
Urfprung verdankt, fo fih als ein Hep, 101070, sv bethatigt, in weldhem bie
Berechtigung zum ewigen, feligen Leben, Son) aiwwıos oder Son fhlehthin,
gl. Reitymayr, Commentar zum Römerbrief S. 260) Liegt. Rom. 5, 18. —
Nachdem wir auf diefe Weife die allgemeinen Momente in dem Begriffe des
Lebens, ihrem innern Zufammenhange nah, angedeutet haben, find wir in den
Stand gefegt, auf die befonderen, eigenthümlihen Geſtalten und Au—
fhauungen des menfchlichen Lebens einzugehen und fie eines Näheren zu be=
leuchten und zu würdigen. Unfer Standpunct fann und wird bei diefer Detrad-
tung fein anderer fein, als der Hriftlihde Glaubensftandpunct, in deſſen
Licht das Leben allein feinen Sinn und feine Bedeutung aufjchließt. Bei den eben
fo zahlreihen als dunkeln Raäthfeln, bei den mannigfachen, fir) verworren durch—
freuzenden und fihreienden Gegenſätzen, wie fie unfer gegenwärtiges Erden-
leben in ſich ſchließt, ift es nichts Leichtes, ſich zurecht zu finden und feine wahre,
zur leichten, barmonifchen Einheit vermittelte Bedeutung zu erfennen und feft-
zubalten. Nicht Wenige find an der jegigen Lebensgeftalt mit feinen Dunfelheiten,
Härten und Diffonanzen irre geworden und damit am fich felbft und ihrer höheren
Beſtimmung. Allerdings, die Klage über die Bergänglichfeit und Hinfälligfeit,
die Eitelfeit und Nichtigkeit des menfchlichen Lebens ift fo alt als die Welt; und
wo die Betrachtung ernfter und tiefer finnend weilt, da kann fie die Klagelaute
nicht überhören, wie fie dur alle Kreife des Naturlebens, wo die gleichen auf-
löfenden und vernichtenden Gewalten herrfhen, mit dumpfem Schmerze ertönen,
Alles, was die lebende Natur aus ihrem Mutterfchooße mit berben Wehen gebiert,
zerrinnt ihr wieder nah flühtigen Momenten in-ihren ängftlich pflegenden Liebes-
armen und wird die traurige Beute des Todes, den Alles mit bangen Aengften
flieht, und dem doch nichts zu entfliehen vermag. Daher „geht, wie der Dichter
Gr. Schlegel) fingt, ein allgemeines Weinen, fo weit die ftillen Sterne ſchei—
nen — durch alle Adern der Natur; es ringt und ſeufzt nach der Verklärung,
entgegenfhmachtend der Gewährung, in Liebesangft die Ereatur.” Ueberaus fin-
nig find diefe fhönen Worte, ein Wiederhall von Rom. 8, 19—22,, wo von dem
tiefempfundenen Leiden und dem ängftlihen Sehnen und Darren der dem Lopfe
der Verwefung unterworfenen Schöpfung die Rede ift, der jungfräulihen Mutter
des göttlichen Welterlöfers, der neuen, göttlichen Lebensmutter, die zugleich die
Mater dolorosa ift, in ven Mund gelegt. — Wenn nun jener die Natur wie die
WMenſchheit durchdringende „Weltſchmerz“ uns innerhalb des ernften, unter harter
Zudt gehaltenen ifraelitifchen Lebens begegnet, mag es uns nicht Wunder nehmen;
defto mehr aber, wenn unter jenem Bolfe, defjen Leben im heiterſten Glanze
ſtrahlt, jene Klage, weit entfernt, zum Schweigen gebracht zu fein, wo möglich
noch lauter, tiefer und berber als im Koheleth hervorbricht und fich in den trüb—
fien, verzweiflungsvollfien Worten Luft macht. Sp fagt Zeus bei Homer:
„Denn fein anderes Wefen ift jammervoller auf Erden,
2 Als der Menfh von Allem, was Leben haucht und ſich reget.“ .
Daher denn Theognis in einem feiner Sprüche wohl fagen und klagen mochte:
„Das Befte von Allem für den Sterblichen ift es, nicht geboren zu fein; wer
aber geboren ift, für den ift das das Befte, fo bald als möglich in’s Schatten-
reich Hinabzuwandern und tief zu ruhen in der Erde Schooß.“ — Schade indef
nur, daß diefer Trofi dem Hellenen, bei feiner eigenthümlichen Anficht von dem
Leben im Hades, nichts weniger als ein erfledlicher fein Fonnte. Will denn doc
Homer's Achill „lieber ein Bettler unter den Lebendigen, als ein König unter
den Schatten fein,“ Und derfelbe Dichter nennt den Aides den verhafteften
unter den Göttern, und macht Fein Hehl daraus, daß Niemand mit Luft fterbe,
Denn welhen pofitinen Troft ſoll der Hingang zur Todesruhe gewähren, wenn
392 Leben,
fie erfauft ift um den Preis des individuellen Selbſtbewußtſeins, das im Schat-
tenreiche erlifcht und für immer untergeht? Nur in folhen Fällen, wo das Leben
durch Unglück unerträglich, oder durch Schande werthlos geworden, "mochte der
vernichtende Todeskelch minder haſſenswerth erfcheinen, fofern er doch negative
Erlöfung bringt. (Bol. €. Fr. Näg els bach's Schrift: „pie homeriſche Theo—
logie“, Nürnberg 1840. Abth. VIEL). Werfen wir nun, ehe wir in der Ausein-
anderfegung der vorchriftlichen Lebenganficht weiter gehen, einen vergleichenden
Blick auf das ifraelitifhe Bewußtfein, fo treffen wir Puncte innerhalb deffelben
an, die ung das dießfeitige Leben in feinem freundlicheren, günftigeren Lichte, das
jenfeitige Schattenleben aber jedenfalls in einer düftern, nichts weniger als fon-
derlich einladenden Geftalt erfiheinen laſſen. Was jenes betrifft, fo greifen die
altteftamentlihen Schriftfieller nach alfen möglichen Bildern und Tonarten, um
feine Hinfälligfeit und Bergänglichfeit auszufprechen, Bald vergleichen fie des
Menfchen Leben mit einer Blume des Feldes, die beim erſten Windhauch dahin⸗
welft (Pf. 102, [103], 14, 15. Job. 14, 2. Iſ. 40, 6, 7. Sir, 14, 18.), bald
mit einem Schatten, der dahinſchwindet (Pf, 143, 4. 38, 7, 108, 23: Job 8, 9.
1 Chron. 29, 15. Weish, 5, 9.), bald mit dem Rauche, der verweht (Pf, 101,
4), mit dem Spinnengewebe, das wie Nichts Teicht zerreißt (Pf. 89, 9.), oder
mit der fpurlog verfihwindenden Bahn eines bahingleitenden Schiffes, eines bie
Luft durchfliegenden Vogels, oder eines nach dem Ziele abgefchoffenen Pfeiles
(Weish. 5, 10—12.). Der Menfh — Staub und Aſche ift er (Pf, 102, 14.
1 Mof, 18, 27. Sir, 10, 9. 17, 31.) , überaus kurz find feine Lebenstage (Job
14, 1, 5. Sir. 18, 8.), vol Unruhe und Streit (Pf. 38, 7. Sir. 40, 6, Job 7,
1), vol Mübhfeligfeit und Plage (Pred, 2, 23. Sir. 40, 1—2, Job 14, 1
Im Hinblicke auf diefe Erfcheinungen, auf den unaufhörlihen Wandel und Wechfel
alles Irdiſchen, auf das eben fo fruchtlofe als unermüdliche Drangen und Treiben
des Menfchen fallt Roheletb das trübe Endurtheil: „Eitelfeit der Eitelfeiten,
Altes ift eitel!“ und erklärt in Folge deffen den Tag des Todes für beſſer, als
den Tag der Geburt (Pred. 7, 2.). So erfcheint das Leben in den altteflament-
lichen Urkunden, und der Tod? — Kein Glücklicher wünfcht ihn, und nur dem
Unglücklichen und Schwerbelafteten ift er eine erwünfchte Zufluchtftätte (Yob 7,
15. Sir. 30, 17. 41, 3,4). Was den Scheol betrifft, fo ift er allerdings ein
Drt der Ruhe (Job 3, 17—19,), aber immerhin eine finftere, jammer- und
ſchreckenvolle Behaufung (Job 10, 21. 22, Pf. 87 [83], 13.)5 der Zuftand fei-
ner Bewohner ift ein dumpfer Zuftand der Kraftlofigfeit und Schlaffheit, die fih
nicht einmal mehr zum Gedanfen und Lobe Gottes zu erheben vermag CPI. 6, 6.
87, 12. Iſ. 38, 18.), ein troftlofer Zuftand der Berlaffenheit und des Bergeffen-
feins (Pf. 87, 13.). — Der durchgreifende Wendepunct in der altteftamentlichen
Lebensanficht und Scheolslehre trat erſt mit der aufleuchtenden Sonne des Chriften-
thums ein; einzelne Strahlen derfelben dämmern ſchon früher auf und zerfireuen
mehr und mehr die den Scheol düfter umhüllenden Schatten, Das Bewußtfein,
daß auch im Todtenreich der Allgegenwärtige waltet Pf. 138 [139], 8.), no
mehr aber die Hoffnung auf den Fünftigen Erlöſer, den Meberwinder des Todes
und den Befreier aus den Banden des Scheol (Dfee 13, 14, Zach. 9, 11. vol.
Pſ. 40, 4. Job 19, 25—27, 14, 12%, Iſai. 26,14, 19, Weish, 1, 13.14.)
gaben dem gläubigen Sfraeliten in fraglicher Hinficht einen Troft und eine Be—
zuhigung, wie ihn der Heide nicht Fannte, Plutarch, einer der entfchiedenften
Kämpfer gegen die troftfofe Vernichtungslehre feiner Volksgenoſſen, weiß zunächft
die Schredfen des Hades nur durch den Gedanken zu befiegen, daß es doch beffer
fei, traurig zu Ieben, als gar nicht zu eriftiren. „Wenn Epicur, fagt er (in
feiner Schrift: Non posse suaviter vivi secundum Epicurum), ung durch Die Auf-
Lofung in Atome von den Schrecken des Hades heilen will, fo muß er wiffen, daß
eben unfere Natur dag am meiften fürchtet, aufgelöst zu werden. Ich glaube
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Leben, 393
daher, daß alle Menfhen, Männer und Weiber, Lieber werden wollen in den
Tartarus fleigen und vom Eerberus fich beißen Laffen, als gänzlich vernichtet
werden,“ Indeß glaubt er über diefe ganze, nur für gewöhnliche Menfchen be-
rechnete Anſchauungsweiſe fich erheben zu follen, und erklärt von feinem gebilde-
teren Standpunet aus, daß erſt nach dem Tode die Seele wahrhaft leben und
wach fein werde, während fie jegt fih in einer Art von Traumzuftand befinde,
Wenn wir aber in Betracht ziehen, daß Plutarch diefe fhöne Hoffnung nur auf
ein Abftractum, wie da „die Wahrheit und das wahrhafte Sein“ ift, zu bauen
weiß, jo dürfte fie wohl wieder fehr wanfend werben, „Wer — dieß find feine
Worte — wer die Wahrheit liebt und das wahrhafte Sein, hat ſich bier auf
diefer Erde noch nicht genug mit dem Anſchauen deffelben erfüllen fünnen, indem
fein Geift trüb und feucht durch den Körper hindurch wie durch einen Nebel oder
eine Wolfe blifen mußte, Ein folder Menſch kann feine Seele nur dadurch
wohlgeordnet und von den irdifhen Dingen abgewendet machen, daß er der wah-
ren Weisheit fih als Vorbereitung zum Tode bedient und dabei wie ein Vogel
den Blick aufwärts richtet, um aus dem Körper heraus in die große und glän-
zende Unermeßlichkeit fich zu fchwingen.” An ähnlichen, von einem tiefern Le—
bensernfle zeugenden Stellen ift namentlich die fpätere griechifche Literatur nicht
arm; aber fo lange in dem bellenifchen Bewußtfein Feine reinere, lebensvollere
Gottesidee, als die eines Homer, aufgegangen war, konnte überhaupt an feine
befriedigendere Lebensanficht gedacht werben, und nur in dem Maße, als jene
ſich aufflärte, mochte diefe fittliher, Halt- und troftooller ſich geſtalten. Die
Sonne unferes geiftig-fittlichen Lebens ift Gott; und alles kommt darauf an, wie
fih der Menſch die Gottheit uud fein Verhältniß zu ihr denkt, welche Beichaffen-
heit und Bedeutung diefes tieffte und eingreifendfte Verhältniß für ihn hat, Was
diejenigen religiöfen Anfchauungen des Altertfums betrifft, welche Göttliches und
Weltliches zu einer unperfönlichen Einheit verfchmelzen und Eines in dem Andern
untergehen laffen, fo begreift ficy leicht, daß es innerhalb derfelben zu einem
activen, lebendig freien religiöfen Verhältniß gar nicht fommen kann. Die andern
Religionsſyſteme anlangend, die an der Perfönlichfeit des Göttlichen feftgalten,
fo mag ung ein flüchtiger Blick auf das unftreitig durchgebildetfte Götterfyftem
des alten Hellas belehren, wie ungünftig diefer außer dem Dffenbarungsfreife
liegende Grund und Boden fei, darauf fein Lebensgebäude zu gründen. In Ho—
i
\
mer's ſchöner Götterwelt — wie troftlos, wie ohne allen fihern Halt, wie ohne
alle freudige Zuverficht fteht der Menfch da! Seufzend und erliegend unter dem
Joche der taufendfahen Mühfeligkeiten und Leiden, die fein natürliches Loos find,
ſucht er vergebens bei den Unfterblichen Troft und Hilfe; ficher wenigftens kann
er nicht darauf zählen. Denn wenn fie auch feiner achten und feiner fih an—
nehmen, fo ift es nicht ein beiliger, gnädiger Wille, fondern Teidenfchaftliche
Willfür, was fie dazu beftimmt und antreibt. Es pflegen aber die Götter mit
neidifhem Auge auf des Sterblichen blühendes Glück zu ſchauen; und wenn fie
ihre überlegene Macht nur dazu gebrauchten, den Glüdlichen von der Höhe feines
Glanzes und feiner Herrlichkeit herabzuftürzen in die Abgründe des Elendes und
Berderbens, fo wäre das noch ein Geringes; aber was follen wir dazu fagen,
daß fie diefelbe auch dazu mißbrauden, ihm mit verführerifchem Reiz und arg-
Kiftiger Bethörung zu Frevel und Sünde zu verloren, in der Abfiht, den Stachel
ber Schuld in feine befleckte Bruft zu drüden und der llebel höchftes auf fein ver-
haßtes Haupt zu Iaden? Und ihr weiteres Verhalten — in dem Göthe'ſchen
Liede des Harfners ift e8 gefagt und geklagt: „Ihr Laßt den Armen fchuldig wer-
ben, dann überlaßt ihr ihn der Pein; denn alle Schuld rächt fih auf Erden.“
Und mag er auch die fehmerzlichften Opfer bringen, feine Schuld zu fühnen; mag
er auch Alles aufbieten, ſich die feindlichen Götter wieder in Gnaden gewogen
gu machen: nie und nimmer kann er der Verfühnung gewiß, nie der erlangten
394 Leben,
Gnade ſicher fein; und fo brennt die Wunde in feiner Bruft fort mit ungeftilitem
Schmerz; und fo muß der Unglüdliche, der es dadurch, daß Alles feine Nabe,
als Die eines von der Hand des göttlihen Zornes Getroffenen flieht, doppelt wird,
— biefer doppelt Unglüdlihe, fage ih, muß, in ſchrecklicher Gott- und Welt-
verlaffenheit, Hilf- und troftlos zu Grunde geben, Do ein Troft iſt ihm doch
noch geblieben: die Nefignation in den Schickſalsſchluß! Wie arm und Ieer aber
diefer Troft iſt, begreift fich Teicht, wenn wir bedenken, daß das Fatum (ſ. dA),
auf dem er beruht, blind, herzlos und unerbittlich ift, und die Nacht felbft, in
deren finfterm Abgrund alle Elemente und Geſchicke des Lebens chaotiſch, ohne
Plan und Negel, durcheinander gähren (ogl, Nägelsbach a. a, D, ©, 310—
326. 306 f.). Wenn fih aus dem Gefagten die trogige Prometheusftimmung,
wie fie ein berühmtes Gedicht Göthe's bezeichnet, unfchwer erklärt, fo wird noch
leichter einzufehen fein, daß unmöglich der Menfch auf die Länge es in diefer
troftlofen Dede aushalten Tann, daß er bei feiner unverläugbaren Hilfsbedürftig-
feit einen erquicklicheren Standpunet fuhen muß. Daß diefer Schritt im griedhi-
fhen Bewußtfein wirklih geſchehen ift, beweifen, um nur Eines anzuführen, die
Spphocleifihen Tragddien, mit welchen die Ahnung einer höheren Lebensanficht
durchbricht. Diefe hatte in dem tfraelitifchen Bewußtfein an dem Lichte der gött—
lichen Dffenbarung bereits ihre erften hellftrahlenden Funken entzündet, als fie in
und durch Chriſtus, den menfchgewordenen Logos, im vollſten Glanze aufleuchtete,
um mit fiegreich umgeftaltender Macht das Antlig der Erde zu erneuern und ein
höheres, göttlich verflärtes und verföhntes Dafein darauf zu begründen, - Der
Gedanfe, daß Gott denen, die ihn Lieben, alle Dinge zum Beften gereichen läßt,
der Gedanfe, daß eine Borfehung über ung wacht, die ung mit weifer, liebevoller
Hand durch das Leben leitet, der Gedanfe, daß ein heiliger, gnädiger und erbar-
mungsreicher Wille waltet, diefer licht- und troſtvolle Gedanke ift erft mit dem
Siege des Hriftlihen Glaubens zum allgemeinen Bewußtfein gekommen; er war
es, der der menfchlichen Bruft wieder neuen Lebensmuth einhauchte und Dem ent-
waffneten Unglück feinen verwundendften Stachel nahm, Jener Wurm, den wir
an der heiterften Lebensblüthe nagend fanden, der den Frieden in ber tiefften
Bruſt zu zerftören wußte, — der Fuß des göttlichen Schlangentreters hat ihn
zertreten, hat den alten Fluch aufgehoben und der mit Gott ausgeföhnten Welt
den Frieden, die Freude eines guten Gewiffens, die Duelle aller Freuden, ge—
ſchenkt. Unter dem fehöpferifchen Einfluffe des im Glauben an den göttlichen
Welterlöfer begründeten neuen Lebensprincips hat das menfchliche Leben in feinen
innerftien Wurzeln und Grundlagen eine Umgeftaltung erfahren, deren unaus-
bfeiblihe, nächfte Wirkung eine neue Welt- und lebensanfhauung fein
mußte. In Folge derer erfchienen dem erleuchteten Auge des Chriften alle Ber-
bältniffe und Formen des menfhlichen Dafeins in einem andern Licht und er felbft
in einem andern Verhältniffe zu ihnen, Mafgebend in Allem war ihm der gött-
liche Wille; im Einflange mit diefem zu wirfen und zu handeln, war feine erfte
und einzige Sorge. Sein Leben hatte in Gott den Schwer- und Mittelpunet,
und in der hingebungsvollen Abhängigkeit von ihm die wahre Freiheit gefunden;
daher mußte die Welt und das Leben fich unter feinen weihenden Händen umge-
geftalten und verflären, zwar nicht mit einem Schlage, fondern in ruhiger, ftilfer
Entwiclung, wie Alles, was von innen heraus, mit geiftiger Freiheit ſich ent:
wickelt. Diefen Gang befolgte die Bildungsgefihichte des hriftliden Lebens
und fo gelang eg ihm, troß der ungünftigften äußern Verhältniffe, ohne ſich dei
geringften Verlegung der beftehenden Ordnungen und Einrichtungen der Gefell:
ſchaft fhuldig zu machen, die „Seele der Welt“ zu werden, nach dem Ausdruck
des DVerfaffers des Briefes an Diognet (f. d. A), der und von dem Leben de
erften Chriften, aus dem bezeichneten Gefihtspunet, ein treffendes Gemälde ent
wirft, aus dem wir einige charakteriftifhe Züge, zur Beleuchtung des Gefagten
FRE EL EEE EL.
& . Z } *
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„een SE N
Leben. 395
hervorheben wollen: „Die Chriſten ſondern ſich weder durch ihren Wohnſitz, noch
durch Sprache, noch durch bürgerliche Sitten von den übrigen Menſchen ab, Ob
ſie gleich in den Städten der Griechen und Barbaren wohnen, wie es ſich gerade
trifft, und in Nahrung, Kleidung und der übrigen Lebensweiſe den Landesſitten
folgen, fo zeichnen fie ſich doch durch einen wunderbaren und allgemein auffallen-
den Lebenswandel aus. Denn das eigene BVBaterland bewohnen fie, aber wie
Fremdlinge; fie nehmen an Allem Theil, wie Bürger, und fie dulden Alles, wie
Auswärtige, Ein jedes fremde Land iſt ihnen Vaterland, und jedes Vaterland
wie ein fremdes Land, Gie befinden fih auf der Erde, aber ihr Leben iſt im
Himmel. Sie geboren den beftehenden Gefegen, aber dur ihr Leben über-
bieten fie die Gefege, Sie lieben Alle, und werden von Allen verfolgt; fie wer-
den geſchmäht und fegnen, Mit einem Worte, was in dem Körper die Seele
ift , das find in der Welt die Chriftenz fie wohnen in der Welt, fie find aber nicht
von der Welt,” — Es kann nach dem bisher Erdrterten feine Schwierigfeit haben,
den Werth und die wahre Bedeutung des menfhlichen Lebens zu beftimmen
und näher feftzuftellen. Was nun zunächft das Leben in feiner zeitlichen Erſchei—
nung betrifft, fo ift es nur ein Punet in unferer Gefammteriftenz, der darum
feinen tieferen Werth nicht in fich felbft Hat, fondern nur in feinem organiſchen
Zufammenhange mit dem Ganzen. Sp gewiß es aber ift, daß der Hauptſchau—
platz des menfchlichen Gefammtlebens in das Jenſeits und in eine zufünftige Ent-
wiclungsperivde, die in der hl. Schrift als neue Erde und neuer Himmel (Off.
21, 1.), als Altoollendung (1 Cor. 15, 28.) bezeichnet wird, fällt, fo gewiß hat
das gegenwärtige irdifhe Dafein nur eine vorbereitende Bedeutung; es ift die
Zeit der Ausſaat auf den Tag der großen Ernte (Matth, 13, 24—30. Gal. 6,
8. 9. 2 Cor. 9, 6.), der Tag des verbienftreichen Arbeitens im Weinberge des
Herrn (Matth. 20, 1—16.), die Onadenfrift zum Wuchern mit den anvertrauten
Talenten (Matth. 25, 14—30.), und zum Einfammeln unvergänglicher Lebens-
ſchätze (Matth. 6, 20. Col. 3, 2.). Aber gerade gegen diefen Cardinalpunct der
hriftlichen Lebensanficht haben befanntlih in unfern Tagen zahlreiche, mächtige
Stimmen fi erhoben und ihn zu erfhüttern gefucht. Einer aus diefem Chorus
Laßt fih mit vornehmer Miene alfo vernehmen (Strauß, Dogm. I. ©, 68.)
„Diefe Erde ift Fein Jammerthal mehr, deffen Durchwanderung ihren Zweck außer
fih in einem Ffünftigen himmlischen Dafein Hätte, fondern bier ſchon gilt es, den
Schatz göttliher Lebenskraft zu heben, den jeder Augenblick des irdifchen Lebens
in feinem Schooße beherbergt.” Dieß lautet denn doch gewiß recht fchön, und
nichts in der Welt wäre vortreffliher, als fo ein goldener Meifterfpruch, wenn
er zauberfräftig die Erde aus einem Jammer- und Thränenthale in ein Paradies
umwandeln und fie zu diefem Endzweck von dem mühfeligen, langweiligen Kreis—
lauf um die transcendentale Sonne entbinden fönnte, fo daß von nun an Mutter
Erde fonverän, in fich felber ruhend und aus fich felber Leuchtend wäre. Bis zur
Stunde aber haben alle, darunter ungleich ſtolzer Flingende Machtfprüche der
modernen Dieffeitigfeitsphilofophie nicht verfangen, und wir zweifeln fehr, ob in
den morgenrothen Kreifen, wo das neue Evangelium erflungen ift, auch nur eine
Thräne weniger flo, oder eine mehr getrocfnet worden ift. Was das alte Evan-
gelium betrifft, fo hat es fih eine viel befcheidenere, dafür aber deſto würdigere
Aufgabe geſetzt. Die Boten deffelben machen gar feinen Anfpruch darauf, das
Unmöglihe möglich machen und alle Leiden und Mühſale verbannen zu fönnen;z
aber die Laft derfelben nach Möglichkeit zu erleichtern und zu verfüßen, Muth
und Kraft zur Ertragung des Unvermeidlichen einzuflößen und zu verleihen, Leid
in Freud zu verwandeln, den Schmerz zu. verflären und felbft dem Tode ‚feinen
Stapel zu nehmen und ihn als Friedensengel erfcheinen zu Iaffen, — zu dem
Allem befigen fie Mittel, die die Welt nicht Fennt, die aber ihre Probehaltigfeit
dor aller Welt unwiderleglich erwiefen haben, Sie erachten es unter ihrer Würde,
396 Reben,
die Welt zu einen fybaritifchen Freudenmahl einzurichten und Mephiſto's Weis-
heit zu predigen: „So lang man lebt, fei man lebendig“; fie öffnen aber bie
Duelle des ewigen Lebens, und, indem fie das gegenwärtige Leben um feine ein-
zige wahre und reine Freude ärmer machen, bereichern fie es mit taufend neuen,
aus ber innern Geiftesfülle fließenden Freuden und Wonnen (Philipp. 4, 4, 1 Theff.
2, 20. Rom, 14, 17. 15, 13, Gal. 5, 22.). Wenn fie hinausgehen auf alle
Wege und im Namen Deffen, der da gerufen hat: „Rommet alle zu mir, bie ihr
mühfelig und beladen feid, ich will euch erquicken!“ — alfe Irrenden zu fich ein-
laden, fo thun fie e8 in der lebendigen, in der eigenen Erfahrung gegründeten
Veberzeugung, die der hriftliche Sänger Novalis mit den begeifterten Worten
ausfpricht: „Der Himmel ift bei ung auf Erden, im Glauben fohauen wir ihn
an; die eines Glaubens mit und werden, auch denen ift er aufgethan.“ Ya, durch
das Chriſtenthum ift der Himmel auf Erden! Hören wir den hl. Chryfofto-,
mus hierüber CHom. Hebr. 16.): „Auch jest ſchon Fann Jeder, wer will, nicht
länger auf der Erde leben, denn es hängt von der Gefinnung, von der Richtung
des Willens ab, ob wir auf der Erde leben oder nicht. Ich meine es fo: man
fagt: Gott ift im Himmel. Weßhalb dieß? Nicht als ob er an einem Drie ein-
gefchloffen wäre und die Erde feiner Gegenwart ermangeln Tieße, fondern wegen
feines Verhältniffes zu uns und feiner Verwandtfhaft mit den Engeln. Wenn
alfo auch wir Gott nahe find, fo find wir im Himmel, Denn was fümmert mic
der Himmel, wenn ich den Herrn des Himmels habe, wenn ich felbft zum Him—
mel werde, Ich und mein Vater, fpricht der Herr (Joh, 14, 23), wir werben
zu ihm fommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ — Der Chriſt macht aber da=
durch feine Seele zum Himmel, daß er all’ fein Thun und Laffen, all’ fein Han-
deln und Wandeln auf Gott, auf die Ehre Gottes bezieht (1 Cor. 10, 31.), den
göttlichen Willen zu dem feinigen macht und ihm mit Freuden dient (1 Petr, 4,
2. Eph. 5, 17, Mare, 14, 36. 1 Theff, 4, 3. Zac, A, 9. Pf. 99, 2.). In der
durch den- Geift Chriſti geftifteten Gemeinfchaft des wiedergebornen Menfhen mit
Gott wird er höherer, bimmlifcher Kräfte theilhaftig und tritt in eine über der
Bergänglichfeit und Eitelfeit des natürlichen Dafeins ftehende, höhere Weltorbnung
ein, wie fie aus ihren feimenden Anfängen in ftillem Wachsthume ihrer, der Zu—
funft angehörigen vollendeten Entwicklung entgegenreift, mit ihren Erftlingen
aber fihon der lebendigen Gegenwart angehört, Sp berührt in dem „neuen Leben”
(Rom. 6, 4.) in Wahrheit ver Himmel die Erde, das Jenſeits ift ein Dießfeiti-
ges, das Zufünftige ein Gegenwärtiges, das Göttliche ein Menſchgewordenes;
feine Kluft befteht mehr und feine Scheidewand, die Schranken der Zeit und des
Raumes find vor dem Auge des Glaubens, vor der Zuverficht der Hoffnung und
dem allumfaffenden Herzen der Liebe gefallen: Altes ift in eine Tebendige, har—
monifche Einheit des Wirfens und des Lebens aufgelöst und zu einer freudigen,
befeligenden Wirkſamkeit entfaltet, um aufzubauen das Neid Gottes auf Erden,
das legte und höchſte Ziel der Weltgefhichte. An diefem Bau aber kann man
auf verfihiedene Weife fir) beteiligen: einig in dem Streben nad dem Einen
Höchften, im Trachten nach dem Neiche Gottes und feiner Gerechtigkeit gehen
Berfchiedene verfchievene Wege, je nach Verfchiedenheit der empfangenen Gaben
und Fähigkeiten der Einzelnen, fowie der mannigfahen Bedürfniffe des Ganzen,
Diefe Bemerfung führt ung zu der berühmten Eintheilung des Lebens in ein be—
ſchauliches und thätiges Leben (vita contemplativa et activa), oder vielmehr
zu dem Lehrpunet von dem hriftlichen Lebensheruf, was feinerfeits auf das
zurückweist, was im Allgemeinen über Lebensberuf, über das Ständeleben und
die entfprechenden Pflichten zu fagen iſt. Da ſowohl diefer Punet, als auch jener
über die Grundverhältniffe des Einzel- und Gefellfhaftslebens in andern Artikeln
(ſ. die Art. Beruf, Gefellfhaft, Familie, Ehe) ihre Erledigung finden, fo
erübrigt nur die Erörterung der beiden zuerft erwähnten Gegenſtände. Was num
Leben. 397
den „ihriftlichen Lebensberuf” betrifft, fo Fönnen wir uns um fo fürzer faffen, als
theils aus früher Erörtertem, theild aus dem, was über feine beiden Haupt-
richtungen, das active und contemplative Leben, im Folgenden auseinanderzufegen
ift, das nöthige Licht hierüber von felbft hervorgeht, Daß alle Chriften eine fitt-
liche Aufgabe gemein haben, zu der die gleiche Verpflichtung für Jeden befteht,
und worin diefes Gemeinfame und Allgemeine, die Subftanz der hriftlichen Berufs-
und Lebenspflicht zu fuchen iſt, fpricht Nicolaus Cabafilas Cin feiner Schrift:
Tleoi zis &v Aguoro Sons, IV. $ 7.) mit folgenden Worten aus: „Was allen
von Chrifto Benannten gemeinfam zufommt, wie felbft der Name, was Alle gleicher-
weiſe beifteuern müffen, über deffen Vernachläſſigung die darauf Verpflichteten Nichts
entfchuldigen darf, nicht Alter und Befchäftigung, nicht Glücksumſtände, nicht Krank-
heit noch Wohlbefinden, nicht ferner Aufenthalt und Einfamfeit, nicht Stadt- und
Weltgeräufh noch etwas Anderes von dem Allen, worauf Getadelte fich zu berufen
pflegen, da doch diefem Nichts im Wege ftehen fann, und es Allen möglich ift, — das
befteht darin, daß fie nicht widerftreben dem Willen Ehrifti, fondern die von daher
gegebenen Gefege bewahrend, ihr Leben nach feiner Weifung einrichten.” Dazu
ermahnen denn auch die Apoftel die Chriften (Röm. 6, 13. Gal. 1, 10. 1 Joh.
5, 3. 1 Petr, 4, 2,), auf daß fie würdig wandeln mögen des Berufes, wozu fie
berufen find (Eph. 4, 1. 1 Cor. 7, 20. Ph. 1, 27. 2, 15. 16). Im Hinblid
auf den unerläßlihen Kampf mit einer feindfelig gegenübertretenden Welt betrach-
teten fi die erfien Chriften als Streiter Gottes und Chrifii (milites Dei et
Christi) und ihren Beruf als geiftlihe NRitterfchaft (militia Christi), als Kampf
gegen die Finfternig mit den Waffen des Lichtes (Rom, 13, 13.). Wird das
durch das ganze Leben des Ehriften fich Hindurchziehende Bedürfniß fteter Herzens⸗
erneuerung und fortfchreitender Reinigung und Läuterung vornehmlich in's Auge
gefaßt, fo können wir, mit den Vätern der Synode von Trient (Sess. XIV. de
extrem. unction. praef.), das ganze hriftliche Leben eine fortwährende Buße (per-
petua poenitentia) nennen, (Vgl. Neander, Denfwürdigfeiten aus der Geſch. d.
Chriſtenth. Bd. I. Abth. I. ©. 56— 58,’ Pascal, Pensees XXVII, 49. Ed. Lyon.
1831. p. 166.). — Gehen wir zu dem andern der in Rede ſtehenden Puncte fort,
fo ift vor allen Dingen befannt, wie bereits Ariftoteles drei Hauptlebensarten unter=
fheidet, das Genufleben, das contemplative und das bürgerliche Leben
(Eihie. ad. Nicom. I, 13. X, 17.). Wa$ die erfigenannte, bloß auf Genuß und
Vergnügen abzielende Lebensart betrifft, fo Tann unter ernfteren und edlern Ge—
müthern fein Zweifel über ihre Gehaltlofigfeit und Berwerflichkeit fein. So fagt
Kant (Kritik d. Urth. TH. I. $ 83. Anm. Gefammtausg. Bd. VIL ©, 316.):
„Was das Leben für ung für einen Werth Habe, wenn diefer bloß nach dem ge-
Ihägt wird, was man genießt, ift Leicht zu entfcheiden. Es finft unter Null;
denn wer wollte wohl das Leben unter denfelben Bedingungen, oder auch nach
einem neuen, felbft entworfenen Plane, der aber auch bloß auf Genuß ge-
ftellt wäre, auf's Neue antreten?“ Wo möglich noch ſtärker fpricht fih Jacobi
Cim Woldemar)) gegen das Genußſyſtem aus, indem er bemerkt: „Jeder Menſch
fühlt unwiderftehlih, daß er nicht bloß um zu genießen da ift, und daß er in fi
ſelbſt etwas werth fein müffe, wenn die Erde ſich nicht weigern ſoll, ihn
zu tragen.” Während der Stagirite, wie von feinem fittlihen Ernfte zu er—
warten ftebt, über die erfie der von ihm unterfchiedenen Lebensweifen den Stab
bricht, weil fie des Menfhen, als eines vernunftbegabten Wefens, unwürdig ift,
ſchwankt er, fo fheint es wenigftens, unentfchieden darüber, welcher der beiden
andern die Palme gebühre. Je nach der Verſchiedenheit des Geſichtspunets von
dem feine Betrachtung ausgeht, gibt er bald der einen, bald der andern den Vor—
zug; im Ganzen genommen aber ift ihm doch das contemplative Leben das
Höchfte. Während das active Leben auf den wollenden Kräften, den ethifchen
Tugenden beruft, Hat das contemplative Leben in den höheren Erfenntnißfräften
398 Leben.
feinen Sig. Diefes ift in feiner Thätigfeit fich felbft genug und von Außern
Gegenftänden ebenfo unabhängig, als jenes abhängig; die Contemplation ift der
intenfioften und andauerndſten Thätigfeit fähig und genießt dabei der Ruhe, wäh-
rend die Befchäftigung mit practifhen, äußern Dingen bald ermattet und vielfach
mit Mühfeligfeiten und Unruhen verknüpft ıft. Wenn es nun in der menfchlichen
"Natur nichts Edleres und Vortrefflicheres gibt, als den Geift und die geiftige
Erfenntnif, und wenn Unabhängigkeit und Ruhe, fowie der intenfiv und ertenfiv
höchſte Grad der intellectuellen Thätigkeit die Grundbedingungen der Glückſelig—
feit ausmachen: fo kann e8 wohl, nad) dem Gefagten, Feine Frage mehr fein, daß
die Lebensart, welche der. forfchende Weife, durch die äußern Umftände begünftigt,
fi wählt, die würdigſte und wünfchenswerthefte iſt; mit einem Wort, das der
Betrachtung und Erfenntniß gewidmete Leben erfcheint im Vergleich mit dem ge-
wöhnlichen menfchlichen Leben als etwas Göttliches. Vgl, Cicero, de fin.
V, 4. Diefe ihren Grundzügen nach entwicelte Anfhauungsweife des Ariftoteleg
ift um fo bemerfenswerther, dä fie den gewichtoollen Beflimmungen eines Thomas
son Aquin (Summ. theol. 2. 2. qu. 179—182) unverfennbar zur Grundlage
dient. Jene erhält aber unter den Händen dieſes großen hriftlichen Denfers nicht
bloß Hinfichtlich ihrer Innern geiftigen Momente, fondern auch in formeller Be-
ziehung eine burchgebifvetere Geftalt. Den beiden Orundfräften des menfchlichen
Geiftes, der Erfenntniß- und Thatkraft, entfprechen die zwei Hauptrichtungen der
menfhlichen Lebensweife. Während eine Elaffe von Menfchen fich vorzüglich. der
Erfenntniß und der Betrachtung der Wahrheit weiht, übt die andere mehr eine
äußere, practifche Thätigfeit aus. Das befhauliche Leben, fofern fein Wefen in
der Betrachtung der Wahrheit befteht, ift Sache des Verftandes (intellectus). Da
aber ver Wille es ift, der vermittelft der Liebe zur Sache und zur Erfenntnif
den Verftand in Bewegung fest, fo ift auch er bei der Befchaulichkeit betheiligt.
Das gilt auch, aus einem ähnlichen Grunde, von den moralifchen Tugenden; fie
wirfen disponirend auf diefelbe ein, indem fie ihr dadurch, daß fie die innern
und Außern Störungen, befonders die durch die Heftigkeit der auf's Sinnliche
gerichteten Leidenfchaften erregten, befeitigt, die erforderliche Ruhe und Stille zu
verfihaffen wiffen. Der Eine höchfte Grundact der in Nede flehenden Lebensweife
ift die Eontemplation (die intelleetuelfe Anſchauung), zu deren Gipfel eine Reihe
verfchiedener Geiftesthätigfeiten hinanführt; unter biefen zahlt Hören, Lefen,
Beten, Nachdenken, Betrachten, Denfen u, ſ. w. Den erften und vorzüglichften
Gegenftand der Contemplation bildet Gott und die göttliche Wahrheit; doch find
andere Gegenftände und Wahrheiten nicht ausgefhloffen, fofern ihnen eine dis—
ponirende Beziehung zukommt, wie dieß bei der Betrachtung der göttlichen Werfe
der Fall ift, in deren Spiegel wir die Eigenfchaften und Vollfommenheiten ihres
Urhebers fchauen und erfennen, Die Contemplation des Göttlihen iſt das Ziel
und die Beftimmung des ganzen menfhlihen Weſens, erreicht aber erft im fünf- 7
tigen Leben ihre vollfommene Entwicklung. In ihr fließt die Duelle des feligften
Genuffes für ven Menfchen. Hat diefer von Natur aus Freude an der Wahrheit,
fo muß feine Freude in demfelben Grade wachfen, als die Fertigkeit, fie zu er-
fennen, mit der fortgefegten Contemplation wächst, Dazu kommt, daß fie einen
geliebten Gegenftand anfchauen Yäßt, und zwar feinen geringern, als Gott felbfl,
deffen Liebe jede andere Liebe überfteigt. Die Contemplation ift die auch jenfeitg,
im Rreife der Seligen, fortvauernde Lebensform des Geiftes, wogegen das active
Leben mit feinen äußerlichen Befchäftigungen drüben aufhört oder nur den Zwecken
der erfteren dient, Was ihr gegenfeitiges Werthverhältniß betrifft, fo ift erfilich
das contemplative Leben an fich Csimpliciter) beffer, obgleich nach der Beſchaffen-
heit der eigenthümlichen Bedürfniffe des gegenwärtigen Dafeins (praesenlis necessi-
tatis) das active Leben eher zu wählen. ift. Zweitens iſt e8 verbienftlicher,
weil es in feiner direeten, unmittelbaren Beziehung auf die Liebe Gottes geht,
ae ee
Beben | 399
während das active Leben direct auf die Liebe des Nächſten gerichtet if. Den
fördernden und vermittelnden Einfluß, den die beiden Lebensweifen auf einander
gegenfeitig ausüben, deutet Thomas (a. a. O. qu. 132. art. 3.) bloß in Einer
Hinfiht anz Iſidor von Hifpalis bemerkt Cin feiner Sentenzenfammlung
II, 15. vgl. de different. spirit. II, 29.) hierüber, wie über ihr Sonderverhält-
niß unter Anderm Folgendes: „Das active Leben befchäftigt fih mit der Uebung
guter Werke, das contemplative ift ganz in die Liebe Gottes verfenft; jenes übt
die Liebespflichten, diefes fchaut die unwandelbare Wahrheit an; das erftere ift
des Weges Anfang, das Iegtere die Erreichung des Ziels. Wer in die Ruhe
der Contemplation eingehen will, muß der Uebung guter Werfe fich befleißen und
fein Herz reinigen, um Gott fohauen zu können. Jene leiftet auf die Welt Ver—
zicht und freut fih Gott allein zu leben, diefe weiß die weltlichen Dinge gut zu
gebrauchen, Man kann nur durch das active Leben zur Contemplation gelangen,
jenes ſchärft ven Blick zu diefer, Gleichwie der Adler fein Auge unverrüdt auf
die Sonne heftet, und daffelbe nur dann wegwendet, wenn ihn nach Speife ver-
langt: fo kehren die Heiligen zuweilen ihren Blief von der Contemplation zum
thätigen Leben; jene betrachten fie als das Höchfte, dieſes als etwas Niedereg,
was aber für unfere Bedürfniffe nothwendig iſt.“ Diefe zeitweilige Abwechfelung
der ceontemplativen Lebensweife mit der activen und umgefehrt, die Iſidor im
Auge hat, finden wir bei den gefeiertften Namen der chriftlichen Gefchichte. Der
HL. Auguftin, fo fehr er auch von dem höhern Werth der Eontemplation über-
zeugt war, trat gleiiywohl vor der Laft des thätigen Lebens nicht zurück, indem
er das DOberhirtenamt übernahm; aber er wußte mit den Gefchäften deffelben die
Muße des befhaulichen Lebens zu verbinden; er hielt die Einkehr in ihren flilfen
Srieden hin und wieder für ein Bedürfniß, um unter den vielfach laſtenden Ge—
ſchäften feines Amtes nicht zu unterliegen und fich felbft zu verlieren. In gleicher
Weife fehen wir den HL Bernhard von Elairvaur abwechfelnd aus feiner
einfamen Zelle in das Geräufch der Welt hervortreten, um ihre Händel zu fchlich-
ten und ihre Angelegenheiten zu ordnen; nah vollbrachtem Tagewerk fehrt er
wieder in die ftille Einfamfeit zurüd. Und fo haben viele andere Heilige bald
die Rolle der gefhäftigen, irdifch thätigen Martha, bald die der fill zu den
Füßen des Herrn figenden Maria übernommen, je. nachdem der Winf von Oben
und die Noth der Zeiten ihnen gebot. — Hat im Bisherigen der Baum des
irdifchen Lebens fih in einer reichen, mannigfaltigen Formenfülle von Blättern
und Blüthen, von Aeften und Zweigen vor unfern betrachtenden Blicken entfaltet,
fo ift es nun an der Zeit, auch feiner verborgenen, den Eriftenzgrund in ſich
fließenden Wurzel einige Anfmerkfamfeit zu fohenfen, Mit der Lebenseriftenz
fallt Alles weg, was aus ihr und vermittelft ihrer ſich entwickeln ſoll; fie ift die
Bedingung und das Werkzeug der fittlich geiftigen Ausbildung, fie das Aderfeld
für die Ausfaat der Ewigfeitz fie ift ein Gefchenf und eine Gabe des Himmels,
Unter folhen Umftänden Fann die Pflicht der Lebenserbaltung nicht in Zweifel
gezogen werden. Die Dauer des Lebens kann verfürzt und fie kann verlängert
werben, Der Menſch Hat die Pflicht, fein Leben fo lange zu erhalten, als er
Tann, und es ift ihm verboten, fein Leben abfichtlich zu verfürzen und ihm will-
fürlih eine Grenze zu fegen, wie dieß namentlih beim Selbftmord geſchieht
Ci. über „Selbftmord“ den Art, Mord). Unter die rechtmäßigen und zugleich
fittlih mehr oder minder in fi werthvollen Mittel, die Pflicht der Selbfter-
haltung zu erfüllen und das Leben zu verlängern, zählt die HI, Schrift die Mäßig-
feit (Sir. 37, 34,), den Frobfinn (Sir. 30, 23. Sprüchw. 17, 22.), die Recht-
ſchaffenheit (Sprüdw. 16, 31. 11, 19.), die Weisheit (Sprüdw. 3, 16. 9, 11.),
Pietät gegen die Eltern (2 Mof. 20, 12. 5 Mof. 5, 16. Matth, 15, 4. Eph.
6, 2.) und die Gottesfurcht (Sprüchw. 3, 1.2. 10, 27. 3 Kon. 3, 14. Jerem,
21, 8.)5 auf der andern Seite ftellt fie Unmäßigfeit (Sir. 37, 34), Geſchlechts-
400 Lebensbaum — Lebrija.
ausfhweifung (Sprüd. 5, 3—11. 6, 26—35. Sir, 19, 3, 4, 1 Cor, 6, 18,),
Gottloſigkeit (Sprüchw. 10, 27.) und heftige Affeete (Job. 5, 2. Pf. 30 [31],
10, 11. Sir. 30, 26. 38, 19.) als Dinge dar, die das Leben verfürzen und feine
frifche Kraft und Blüthe untergraben, Daß das Leben ein der Erhaltung werthes
Gut ift, Teuchtet auch daraus ein, daß für die Erhaltung des Lebens Gott Dank
dargebracht wird, wie Pf. 114 (116), 3. 4, 8. 9, Pf. 117 (118), 18. If. 38,
9— 20, Indeß wird der Chrift bei der Sorge für fein Leben von Aengftlichkeit
oder Todesfurcht um fo freier fein, je tiefer und lebendiger er davon überzeugt
ift, daß fein Leben in Gottes Hand flieht, und daß er lebend vder flerbend dem
Herrn angehört. „Denn Reiner von ung, wie der Apoſtel fagt (Röm. 14, 7. 8.),
Yebt fich felber, und Keiner ſtirbt fich felber. Leben wir, fo leben wir dem Herrnz
fterben wir, fo fterben wir dem Herrn; wir mögen alfo leben ober fterben, wir
gehören dem Herrn an.“ Den Werth des Lebens mißt der Chrift nach der Be—
ziehung zu den Zweden feines göttlichen Berufes, welcher Fein anderer ift, als
die Verherrlihung Gottes und Chrifti, die Förderung des göttlichen Neiches. Ob
er biefem diene durch fein Leben oder durch feinen Tod: gleichviel, zu Allem iſt
er bereit; überall hin folgt er dem Rufe des Herrn, Iſt für denjenigen, ber in
und für Chriftus lebt (Gal. 2, 20. Col, 3, 3. 4.), das Sterben auch Gewinn,
da es der Mebergang zur vollfommenen, feligen Bereinigung mit dem Geliebten
ift: fo wird er doch, wie und das Beifpiel eines Paulus (Phil. 1, 20— 26.)
zeigt, das Leben vorziehen, wenn es für die Zwede der Heilsförberung, für dem
Dienft des Neiches Chrifti zuträglicher erfheint, Wo aber“ diefelben Rüdfichten
verlangen, fich einer Todesgefahr auszufegen, die Gefundheit, das Leben auf-
zuopfern, da wird der Chrift mit Freuden bereit fein, und Treue bewahren fei-
nem Herrn um jeden Preis, bis in den Tod (Apg. 21, 13.). Das Leben, fofern
es nur durch Pflichtverlegung gerettet werben kann, verliert in feinen Augen
Werth und Bedeutung; diefen fichert er ihm aber gerade dadurch, daß er daſſelbe
auf dem Altar der heiligen Pflicht zum Opfer bringt, nach dem Wort des gött-
lichen Heilandes: „Wer fein Leben retten will, der wird es verlieren; aber wer
fein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten.” Luc, 9, 24. 17, 33,
Matth. 10, 39. Mare. 8, 35, Joh. 12, 25. vgl, Mare, 8, 36. 37. Matth. 10,
28. In die Fußftapfen Deffen eintretend, der fein Leben geopfert für die Gei-
nigen (Joh. 10, 12—15. 15, 13), opfert au der Chrift fein Leben für feine
Brüder (1 Job. 3, 16, Ang. 20, 24.). Und von eben diefer in dem Opfertode
Chrifti bewährten Liebe Gottes zu und zur innigften Gegenliebe entflammt, iſt
er fiarf genug, das Aeußerfte zu tragen und zu erdulden, In biefem Gefühle
ruft der Apoftel: „Wer wird ung ſcheiden von der Liebe Chrifti? Trübfal? oder
Angft ? oder Hunger? oder Blöße? oder Gefahr ? oder Verfolgung? oder Schwert?
Wie gefehrieben fteht: Um deinetwilfen werben wir getöbtet den ganzen Tag,
werben geachtet wie Schlachtfehafe. Aber in diefem Allem überwinden wir um
desjenigen willen, der ung geliebt hat.” Nom. 8, 35—37. vgl. 38. 39. Beis
fpiele aufopfernder Gpttesfurcht enthält auch das A. T. Dan. 3, 18. 6,14. 2 Mace.
6,1731. Zur Literatur: Fr. Schlegel, Philofophie des Lebens, Wien 1827,
% ©. Fichte, Anweifung zum feligen Leben. Berlin 1806, [Fuchs.)
Lebensbaum, ſ. Baum des Lebens.
Lebensberuf, ſ. Beruf und Leben,
Lebrija, Aelius Antonius von, wurde, wie fein neuefter Biograph Munoz
zeigt, im J. 1442, nicht erft 1444, wie man gewöhnlich angibt, aus einer abe-
ligen mittelmäßig begüterten Familie des Städtchens Lebrija (lat. Nebrissa) in
Spanien geboren. Nachdem er fünf Jahre lang in Salamanca ftudirt hatte, be=
gab er fich namentlich der claffifhen Studien halber nach Italien, befuchte bie
berühmteften Schulen diefes Landes, und erwarb fich in einem zehnjährigen Aufent-
halte eine feltene Kenntniß der elaffifchen Literatur und der hebräiſchen Sprache
RR ET u =
Lebuin. 401
YUm’s 3, 1470 in fein Vaterland zurücgefehrt, ward er zuerfi Hofmeifter eines
Neffen des Erzbiſchofs von Sevilla, und erhielt nach deſſen Tod im 5. 1473 eine
Lehrſtelle für Inteinifche Literatur am Collegium zum HI. Michael zu Sevilla,
Sein Wunſch war aber auf einen Lehrſtuhl in Salamanca gerichtet, den er au
zur Zeit der Thronbefteigung Iſabellas der Katholiſchen erlangte und mit großer
Wirkung zur Vertilgung der Barbarei Cim philologifhen Sinne) inne hatte, Er
befiegte fie durch feine humaniſtiſchen Borlefungen ze, fo fohnell, dag man auf ihn
Eäfars befannte Worte anwendete: veni, vidi, vie. Hier veröffentlichte er 1481
feine Methode des Iateinifchen Unterrichts unter dem Titel: introductiones latinae,
welche fehr großen Anklang fanden und öfter aufgelegt wurden, Sehr großen Bei—
fall fanden auch feine eregetifchen und Fritifchen Borlefungen über die Iateinifhem
Dichter, namentlich Virgil, Terenz und Perfins, fo wie feine Vorträge über die
chriſtlich en lateiniſchen Dichter, die er der Reihe nach erklärte, und zu einigem
felbft Commentare herausgab, Hier in Salamanca war es, wo er fih mit Doña
Iſabel Solis verehelichte, und mit ihr Söhne zeugte, welche dem Vater in der
Liebe zu den Studien nachfolgten. Um fich ganz der Abfaffung eines großen Iatei-
nifchen Lexicons widmen zu fönnen, Iegte er um's 3. 1488 feine öffentliche Lehrſtelle
nieder und lebte in Muße bei dem Grogmeifter des Alcantara-Drdens (ſ. d. A.), dem
nahmaligen Cardinale Zuniga, nach deffen Tod er die Erziehung des ſpaniſchen
Erbprinzen Juan übernahm und Neihshiftoriograph unter Ferdinand und Iſabella
wurde, Nachdem letztere geftorben, kehrte Lebrija 1505 in die Profeffur zu Sala-
manca zurüf, aber im 5. 1508 gewann ihn der berühmte Cardinal Kimenez
(f. d. 9.) für feine neue Hochſchule zu Alcala (Complutum), fo wie für die große
Polyglottenbibel (ſ. d. A.). Wohl verließ Lebrija nach einiger Zeit auch dieſe
neue Stellung wieder, um nach Salamanca zurüdzufehren, da er aber bei feiner
Bewerbung um den dort erledigten erften Lehrfiuhl der Humanitätswiffenfchaften
durch Chicanen der Studirenden unglüflih war und gegen einen minder Tüch—
tigen zurücfgefegt wurde, fo ſchloß er fih 1513 wieder an Kimenes an, und blieb
jest zu Alcala bis an feinen Tod 1522, Er wurde von Ximenes fürftlich belohnt
und freundlich behandelt. Dft ging der große Cardinal an feiner Wohnung vor—
über und befprach fih durch's Fenfter Hinein mit dem gelehrten Manne, bald
über Puncte, die ihm beim Lefen aufgeftoßen, bald über Angelegenheiten der
Univerfität. Ximenes befchügte ihn auch gegen Verfolgungen von Seite der In—
quifition. Die Dffenbeit, womit Lebrija in feinen Fritifhen Bemerfungen über
einzelne Stelfen der HI. Schrift Heberfegungsfehler der Bulgata aufdeckte, 305
ihm von mehreren Theologen heftige Vorwürfe der Vermeffenheit zu, und der
zweite Großinquiſitor Deza verbot die zwei erſten Quinquagenen der biblifchen
Unterfuhungen Lebrija’s. Die Folge war, daß Lebrija andere Werfe, die er aus—
gearbeitet Hatte, nicht eher veröffentlichte, als bi8 Rimenes die Großinquifitorftelle
erhielt. Uebrigens ift es unrihtig, was Llorente erzählt, daß Lebrija eigentliche
Mißhandlungen von Deza erfahren Habe. Nah dem Urtheile des fpanifchen
Schriftſtellers Gomez verdanfte Spanien dem Lebrija faft alles, was es am _
elaffifcher Bildung befaß, und noch jetzt find feine zwei Decaden über die Negie-
zung Ferdinand’s und Iſabella's eine höchſt ſchätzbare Duelle für die Geſchichte
- jener Zeit. Vgl. über ifn: Antonii, Biblioth. hispana T. I. p. 104—109. Cave,
hist. lit. Appendix p. 137. ed. Genev. 1705. Du-Pin, nouv. Bibl. T. XIV.p.
- 120—123.; dann die neuefte Biographie Lebrija’s von Juan Bautiſta Munog
in den Memorias de la real Academia de la historia T. III. Madrid 1799. p. 2 sqq.
Auch Habe ih von dieſem Manne mehrmals geſprochen in meiner Schrift über
den Cardinal Zimenes, S. 116 f. 124. 379. 458, -- [Hefele.]
2ebuin (Liafwin), der heilige, Miffionär bei den Friefen und
Sahfen, ein Angelfachfe, Fam nicht gar lange vor dem Anfange der fähfifchen
Kriege Carls des Großen von England herüber nach dem Enntinent und erbat
irchenlexikon. 6. Br. 26
402 Lebuin
fi von Gregor von Utrecht (ſ. d. A) die Miffion an der Yfel, wozu ihn Gott
berufen habe; es wat das Grenzland der falifchen Franken und der benachbarten
Weftphalen. Als Genoffen der apoflolifchen Arbeit gefellte ihm Gregor den Angel-
fahfen Marhelm (Marcellin, unter deffen Namen ein Betrüger bie Bip-
graphie des HI. Suiberts herausgegeben bat, ſ. Bolland. ad 1. Martii in vit. 8.
Suiberti, au Binterim, Denkw, V. Rettberg, Kgſch. IL. 396) bei. Angelangt
auf dem Schauplas ihrer Miffion fanden Lebuin und Marcellin bei einer Wittwe
Abachilda eine gute Aufnahme, predigten ohne Furcht vor der Wildheit der Be-
wohner und befehrten mehrere von ihnen, auf deren Roften ein Feines Oratorium
zu Wulpen am weftlichen Ufer der Yifel erbaut wurde, Da die Zahl der Gläu-
bigen zunahm, erbauten biefe bald darauf am öſtlichen Ufer zu Deventer eine
größere Kirche und darneben eine Wohnung für Lebuin. Während indeß vie
Predigt des Evangeliums gute Fortſchritte machte und felbft die Vornehmen den
gelehrten und liebenswürdigen Prediger fehr Tieb gewannen, fehlte es auch nicht
an Gegnern, welche die von Lebuin bewirkten Befehrungen deffen Zauberfünften
zufchrieben, und im Bunde mit eingefallenen räuberifchen und chriftenfeindfichen
Sachſen verbrannten fie die Kirche zu Deventer und verfagten die Ehriften. Lebuin
rettete fih und befchloß, nun gerade erſt recht der Gefahr entgegen zu gehen und
ſich nah Marklo zur fachlichen Volksverſammlung zu begeben. Die Sachſen
(erzählt Lebuin’s Biograph) haben Feinen König über ſich, fondern find in bie
drei Stände der Edlinge, Frilinge und Laffi getheilt; nach Gefallen wählt fich
jeder Gau feinen Gaugrafen; alljährlich zur beftimmten Zeit halten fie zu Marklo
an der Wefer eine allgemeine Berfammlung, wozu aus jedem Gau und aus jedem
der drei Stände zwölf Männer erfcheinen und worin über Krieg und Frieden und
alle wichtigen Angelegenheiten Befchlüffe gefaßt werben. Lebuin wußte, daß in
Bälde eine ſolche Verſammlung flattfinden werde, wandte ſich mehr nördlich in's
Sadfenland an die Wefer und fand gaftliche Aufnahme bei einem reichen und
angefehenen Manne, Folkbert mit Namen, der, wie es ſcheint, ein Chrift war
und ihn dringend bat, von feinem Vorhaben abzuftehen und ſich bis nach geendig-
ter Volfsverfammlung bei feinem mehr der Grenze zu wohnenden Freunde Davo
zu verbergen, Dennoch erfihien Lebuin auf der Verfammlung zu Marklo. Als
er bier fah, wie „omnis concionis illius multitudo ex diversis partibus coacta primo
suorum proavorum servare contendit instituta, numinibus videlicet suis vota sol-
vens ac sacrificia®, trat er, angethan mit dem Prieftergewand, in einer Hand
Das Zeichen des Kreuzes und unter dem Arme das Evangelienbuch tragend, in die
Mitte der Berfammlung vor und verfündete kühn und mit erhobener Stimme,
fich für den Gefandten des wahren Gottes erflärend, den Einen wahren Gptt
und Schöpfer aller Dinge, zu dem fie fich mit Verlaffung der eitlen Götzen bekehren
müßten, „wenn ihr aber — fo ſchloß er — hartnädig in eurem Irrthume ver-
harret, fo werdet ihr es bald fehwer zu büßen haben, denn in Fürzefter Frift
wird ein tapferer, Eluger und firenger König aus der Nähe wie ein reißenber
Strom über euch hereinftürzen, Alles mit Feuer und Schwert zerflören, Noth und —4
Exilirung über euch bringen, eure Weiber und Kinder zur Knechtſchaft vertheilen
und den Ueberreſt von euch feiner Herrſchaft unterjochen.“ Wüthend über dieſe
Rede, fihrieen die verfammelten Sachſen zufammen: „Seht den Verführer, den
Feind unferer Religion und unfers Vaterlandes, er fol feinen Frevel mit feinem
Blute bezahlen” und fanden: ſchon in Begriff, mit zugefpisten Pfählen ihn zw
tödten, wenn dieß nicht Einige verhindert hätten, unter welchen fih beſonders
Buto hervorthat, der: vom einer Anhöhe herab ſprach: „Dft ſchon kamen Ge-
fandte der Normannen, Slaven und Friefen zu ung und wir haben: fie friedlich
and ehrenvoll entlaffen, dagegen haben wir biefen Geſandten des höchften Gottes
verachtet und mit dem Tode bedroht. Daß fein Gott mächtig fei, bat er gezeigt,
ändem er ihn ber Todesgefahr fo wunderbar entriffen bat, und daher wirb auch
Lebus) av 403
wohl bald die Weiffagung diefes Gefandten feines Gottes in Erfüllung geben”;
Lebuin Fehrte nun wieder nach Friesland zurüf, erbaute die abgebrannte Kirche
zu Deventer new und fand Hier auch feine Ruheſtätte. Im J. 776 war er ſchon
todf, denn da in diefem Jahre die Sachſen einen neuen Einfall machten und die
Kirche zu Deventer abermals niederbrannten, ſuchten fie drei Tage lang ver=
gebens um Lebuin's Gebeine. Erft Ludger (f. d. A.) baute die Kirche wieder
anf und entdeckte den HI. Leib. Die, wie man fieht, fo merfwürdige vita s. Lebuini,
gefchrieben von dem Mönche Huchald (f.d. 4.) hat zuerſt Surius VI, 277—256,
und dann Perg mit einigen Weglaffungen herausgegeben (Pers, Script. II. 360
364); fiehe ferner Perg ibid. p. 4085 NRettberg, Kgſch. Teutſchl. I. 405.
536, — Mit Lebnin iſt nicht zu verwechfeln Livin, der heilige, welcher um
die Mitte des fiebenten Jahrhunderts den Heiden in Brabant das Evangeliunt
predigte. Geboren in Irland, foll er von St. Auguftin, dem Apoftel der Angel-
ſachſen, als Kind getauft und fpäter auch zum Priefter oder Bifchof geweiht wor=
den fein, was jedoch bei dem nur zwölfjährigen Aufenthalt Auguftin’s in Bri—
tannien eine falſche Angabe if. Nachdem Livin, wie der Biograph angibt, einige
Zeit einem Erzbisthum in Irland vorgeftanden, faßte er den Entſchluß, auf Mif-
fionsreifen zu gehen, beftellte einen Vicar für die Erzfirhe und traf furze Zeit
nach dem Tode St. Bavo's im Klofter zu Gent ein, vem damals St, Flore—
bert (+ 660) als Abt vorftand. Hier hielt er fih 30 Tage auf und zog dann,
som Klofter mit dem Nöthigen unterflügt, in die Gegend von Hauthem, einem
Dorfe drei Meilen von Gent, wo er mit Erfolg Heiden und Chriften predigte,
öfter in Todesgefahr geriet und zulegt um 659 von den heidnifchen Gegnern
getödtet wurde, Iſt die poetifche Eyiftel und die damit verbundene Grabſchrift
auf den HI. Bavo, welche den Namen Living tragen (bei Uffer epist. Hib. sylloge
und in Mabill. Act. Ord. S. B. II. 404 abgedrudt), ächt, was freilich der oft hyper—
itiſche Rettberg in feiner Kirchengeſch. Teutfchlands II. 510 bezweifelt, fo muß man
ſich von der Bildung Living und feinem Dichtertalent eine Hohe Vorftellung machen.
Ueber Livins Biographie (Mabill. Act. I. 449 etc.), welche bis zu deſſen Ankunft
auf dem Continent ziemlich fabelhaft ift und einen Angelfachfen oder Jrländer
wegen ber vorfommenden Berflöße gegen die englifche und irifche Rirchengefch, nicht
zum Berfaffer haben kaun, daher auch nicht den HI. Bonifaz, Apoftel der Teutfchen,
f. befonders Seiters Bonifacius ©. 566 und Rettberg 1. cit. [Schröpl.]
Lebus, einft eine anfehnlihe Stadt Brandenburgs, in der Mittelmarf ge-
legen, jest ein armfeliges Fifcherftädtchen von kaum 2000 Seelen. Keine Spur
mehr vom feiner Bedeutung als Bisthum. Seine Stiftung foll in das Jahr 965
fallen und wird dem Polenkönig Miecislav zugefchrieben, wenigftens ift fo viel
gewiß, daß die Piaften fih dur Errichtung von Bisthümern rühmlich auszeich-
neten. Der erſte Bifchof foll Hiacynth geheißen und bis auf den legten, Zohan
nes VI. von Harneburg (1555) 29 Nachfolger ununterbrochen gehabt haben,
Nach der Mitte des 14, Jahrhunderts, ungefähr um 1365, verlegte der 13. Bifchof
Heinrih von Banz den Sig des Bisthums nach Lebus, da aber unter Raifer
Earl IV. die Domkirche dafelbft zerftört ward, verlegte Banz's Nachfolger, Peter
von Opeln, den Sit nach Fürftenwalde, wohin nach 1382 auch das Stift felber
- folgte. Im J. 1432 wurde Fürftenwalde und Lebus von den Hufiten eingeäfcherk, -
Die Domkirche in Fürftenwalde ward unter Bifchof Johann VII. von Dehr (geft. 1455)
wieder hergeftellt. — Alle Stürme roher Zeiten fonnten das alte Bisthum nur
erfhüttern, wobei e8 ftets und ſchnell wieder aufblühte. Den Todesſtoß Fonnte
ihm auf die gewaltfamfte Weife nur die fogenannte Reformation des 16ten Jahr»
hunderts geben, die nirgends eine Töbliche, in Brandenburg aber (f. d. A.) eine
beſonders widrige Rolle fpielte. Am Tängften war das Bisthum Lebus dem
Tutheranifiren widerflanden, Alfo brach man es mit Gewalt, Der treulofe Joachim,
eidbrüchig an feinem Vater und Glauben, gab das Stift im J. 1555 dem un⸗
26*
404 Lectionarium Gallicanum — Lectionen.
münbigen Prinzen Joachim Friedrich, und der Knabe ſchrieb fich bis zu feinem Regie⸗
rungsantritt Bischof von Lebus, Damit waren die fhwer errungenen Bisthümer
der Mark vernichtet. (S. Jfelin, Hiftor, geograph. Lexicon. Preuß, und Bran-
denbrg. Staatsgengraphie.) [Haas,]
Lectionarium Gallicanum. So nennt man eine von Mabillon
(de liturg. Gallic. tom. 2.) in dem berühmten Klofter Luxeul gefundene und in
den Drud gegebene Sammlung im Jahre hindurch bei der Meffe und den übrigen
größern Feierlichfeiten zu gebrauchender Tefeftüce aus den Propheten, apoftolifchen
Driefen und Evangelien, Sie gilt als gallicanifches Lectivnarium; weil fie, nur
fehr wenige Heiligenfefte aufzählend, Lectionen für das Feft der HI. Genovefa
anprbnet, das vorzugsmweife in Gallien begangen wurde und noch begangen wird,
Auch rührt fie, mit merovingiſchen Buchftaben fomit in Gallien gefihrieben, aus
einer: Zeit her, in ber die gregorianifche Kirchenordnung in Gallien noch nicht
eingeführt war, Sodann merft fie nach alter gallicanifcher Sitte beinahe für jede
Meſſe drei Lefeftücde vor. Schade ift, daß dem Manuferipte die erften. Blätter
(Somit auch der Titel) fehlen, und auch nicht mehr aufgefunden werden Fonnten,
Mehr hierüber bei Mabilfon CI. c.).
Lectionarium Romanum. Dan verfteht darunter jenes Kirchen-
bu, das entweder fämmtlihe Epifteln und Evangelien, die im Jahre hindurch
nach den Vorfohriften der römischen Liturgie bei der HI. Meſſe gelefen werben,
ober bie im Jahre hindurch bei der HI, Meffe in diefer Liturgie üblichen Epifteln,
oder (Lectionarium plenarium) fämmtliche Lefeftücde enthält, die nach den Vor-
fohriften des römifchen Ritus überhaupt im Gottesbienfte üblich find, Das ältefte
und wichtigfte Leetionarium ift der fogenannte Comes (Liber comitis) der Comes
major genannt wird, wenn er bie Leſeabſchnitte volfftändig enthält, und Comes
minor, wenn in demfelben bloß die Anfangs- und Schlußworte diefer Abſchnitte
vorgemerkt find. ALS Berfaffer deffelben nannte man in früherer Zeit den HI.
Hieronymus (gemm. anim. 1. 1. c. 88.). Sehr alt ift er jedenfalls; da ſchon
die Charta Carnutiana, die ſchon im J. 471 gefchrieben war, ihn kennt (ef. Mabill.
de re diplomat. 1. 6.). Nur muß man zugeben, daß er im Laufe der Zeiten be—
deutende Veränderungen und Zufäße erlitten hat, So wiffen wir mit Beftimmt-
heit, daß Alcuin im J. 797 und noch fpäter Priefter Theotinchus ihn revidirt
haben (Mabill. annal. Benedict. 1. 26. c. 61. Stephan. Baluz. Capit. reg. Franc.),
Die ältefte Ausgabe ift von Pamelius.
Leetionarius comes, ſ. Lectionarium Romanum, ar
Lectionen, die biblifhen, in der Liturgie, — Öleichwie ſich Die Juden
in den Synagogen zu gemeinfchaftlihem Gebete, gemeinfchaftlicher Lefung und
zur Betrachtung der HI, Schrift verfammelten (5 Mof. 31, 28, Luc, 4, 16.), fo
lieben auch die Chriften bei ihrem Gottespienfte die biblifchen Lefungen, „Cum
lecta fuerit“, fehreibt der HI. Paulus an die Eoloffer, „apud vos epistola haec,
facite, ut et in Laodicensium ecclesia legatur, et etiam, quae Laodicensium est,
vos legatis (4, 16.)*. Und an die Ehriften in Theffalonich fihreibt er: „Adjuro
vos per Dominum, ut legatur epistola haec omnibus sanctis fratribus“ (1 Theff,
5, 27.). Auch die in Betreff des HI. Lucas gefprochenen Worte „Cujus laus est
in evangelio per omnes ecclesias“ (2 Cor, 8, 18.) dürften auf dieſe Sitte hin—⸗
deuten, „Cogimur“, fagt Tertullian (apol. c. 39.), „ad litterarum divinarum com-
memorationem“, und wieder (praescript. c. 36): „Legem et prophetas cum evan-
gelicis et apostolicis litteris (Ecclesia) miscet, et inde potat fidem“. Spätere Zeug-
niffe find überflüffig. Sie bieten fih in allen Jahrhunderten in folcher Menge,
daß nicht der mindefte Zweifel hierüber obwaltet, Höchſtens könnte man fragen,
9b diefe Lefungen ſchon damals, wie es heut zu Tage der Fall iſt, einen Be—
ftandtheil der Abendmahlsfeier oder Liturgie bildeten, Bedenkt man aber, daß
die Abendmahlsfeier zu alfen Zeiten die Krone bes chriſtlichen Cultus ift, ſo
a sh) ee a a 5 Di A a
EEE
Lectionen. 405
unterliegt es feinem Zweifel, daß ſchon damals diefe Lefungen vorzugsweife bei
der Feier der Meſſe vorgenommen wurden. Auch berichtet dieß ſchon ausdrücklich
Zuftin der Martyrer in feiner Schilderung des Sonntagsgottesdienftes (apol. 1.
n. 67). — In Betreff der Abſchnitte, welche bei der Liturgie gelefen werden,
iſt der Unterfohied zwifhen Ehemals und Jegt etwas größer, In den erſten
‚Zeiten las man den Brief, das Evangelium oder überhaupt die Schrift, die man
ſich Hiezu auserfehen hatte, nah und nah vom Anfang bis zum Ende, fo daß
man bei der nädhften Liturgie fortfuhr, wo man bei der legten aufgehört hatte,
Biele Vorträge des HI. Auguftin, Chryfoftomus u. dgl. bafıren auf diefer Praxis,
Selbft die fürzere oder längere Dauer des Leſeabſchnittes hing von den Forde—
zungen des Augenblicfes und andern Umftänden ab, Die Worte des HI. Mar-
tyrers Juftin „Commentaria apostolorum aut seripta prophetarum leguntur, quoad
licet per tempus (ap. 1. n. 6)* bezeugen es deutlich. Nur wenn Feftzeiten ein-
fielen, geſchah es, daß man die gewöhnliche Ordnung verließ, um ſolche Ab-
fehnitte vorzulefen, die dem Inhalt der Feftfeier befonders entfprachen. „Meminit
sanctitas vestra“, fagt der HI. Auguftin (praef. ad expos. in 1 Joann.), „evan-
gelium secundum Joannem ex ordine lectionum nos solere tracfare. Sed quia nunc
interposila est solemnitas sanctorum dierum, quibus certas ex evangelio lectiones
‚oportet recitari, quae ita sunt annuae, ut aliae esse non possint, ordo ille, quem
susceperamus, ex necessitate paululum intermissus non omissus est.“. Vgl. Auguftin
tract. 9 in epist. Joann. Sp wählte man zu Oſtern folhe Abfchnitte aus den
Evangelien, die von der Auferftehung Jeſu handelten (Augustin. serm. 139. 140.
148. 194). Zwifchen DOftern und Pfingften fennen Auguftin (tract. 6 in Joann.)
und Chryfoftomus Chom. 63. 66 ed. Francof. p. 849) die Apoftelgefhichte als
‚jährlich wiederfehrendes Lefeftüf. Die Genefi$ las man in der Faftenzeit, das
Buch Job in der Charwoche u. f.f. Heut zu Tage Iefen nur mehr die Griechen
die Evangelien in ſolcher Reihenfolge, daß diefelben das Jahr Hindurc ganz ge-
-Iefen werden, und nennen fogar hievon ihre meiften Sonntage (erfter, zweiter
Matthäusfonntag u. ſ. w,, dritter, vierter Lucasfonntag u. f. f.). Die Lateiner
haben für jede hl. Meſſe, fie fei Temporal-, Ferial-, Feft- oder Votiomeffe, regel-
mäßig eigene Abfchnitte oder Pericopen. Wer die erſten Anordnungen diefer Art
getroffen hat, läßt fich nicht beftimmen. Die gewöhnlihe Meinung vindieirt diefe
Ehre dem HI. Hieronymus (efr. Microlog. c. 25.). Gewiß ift, daß fhon der
Dftercanon (Canon paschalis) des im dritten Jahrhunderte Iebenden Bifchofes
Hippolytus Leſeſtücke für die Fefttage im Jahre hindurch vormerkt, und Priefter
Mufäus von Marfeilfe (Gennad. de scriptor. eccl. c.79), fowie Bifhof Mamer⸗
tus von Vienne (Sidon. Apollin. 1. 4. ep. 11) ſich Hierin verdient machten. Ferner
fordern {hen die Synode von Braga im J. 561 (ec. 2) und die von Toledo im
3 633 (Ce. 17) auf das Strengfte, daß man fi Hiebei überall an diefelbe Norm
‚halte. Auch hat Gregor der Große feine Homilien ſchon größtentheils mit Zu—
grundlegung der dermaligen Evangeliumspericopenorbnung bearbeitet. — Die Zahl
der biblifchen Lefungen ift gleichfalls nicht überall diefelbe. Die Lateiner halten
‚zegelmäßig zwei: eine, bie gewöhnlich ein Bruchſtück aus einem Briefe der Apoftel
oder aus der Anoftelgefchichte, feltener aus der Offenbarung des HI, Johannes oder
aus einem Buche des alten Teftamentes genommen ift, und daher häufig „Eviftel”,
„Apoftel” oder auch „Leetion” im engern Sinne genannt wird, gebt voran; bie
zweite, ſtets aus einem der vier Evangelien ausgehoben und daher gemeinhin
„Evangelium“ genannt, folgt nach einer mit Gefang oder durch ftille Recitation
‚einiger Verſe aus den Palmen ausgefüllten Pauſe. Es reicht diefe Sitte in die
‚erfien Jahrhunderte der chriftlichen Zeitrechnung hinauf. Sagt ja ſchon der BI.
-Auguftin (serm. 176): „Primam lectionem audivimus apostoli,... deinde canta-
vimus psalmum, ... post haec evangelica lectio decem leprosos mundatos nobis
„ostendit“, Vgl, serm, 165 deffelben Kirchenlehrers, die Conftitutionen der Apoſtel
406 Lectionen.
G. 2. c. 61), Gregor von Tours (hist. Franc. I. A c. 16) u. ws Die moz⸗
arabifche Liturgie hat drei Lefeftüre, der Syrer Marp redet von vier (Primo
propheta, deinde praxis seu actus apostolorum, postea Paulus, ac postremo
evangelium .legatur; exposit. c. 9). Renaudot fagt aber gar (tom.-2, p. 68):
„Lectiones in orientalibus ecclesiis. plures fieri solent, ‘prima ex veteri testa-
mento, secunda ex actis apostolorum, tertia ex epistolis Pauli, quarta ex 'catho-
licis, quinta ex evangelio. — Leſer war urfprünglich der Lector, der hievon
fogar feinen Namen hat, Bol, den Art, Lector. Heut zu Tage wird bei
den Lateinern die Epiftel, wenn höhere Cleriker affiftiven, vom Subdiacone und
das Evangelium vom Diacone gelefen, Affiftiren Feine Leviten, fo Tiest beide
der Celebrant ſelbſt. Die Sitte, die Epiftel durch die Subdiaconen Tefen zu laſſen,
verbreitete fich nach und nach: es kennen fie eine zur Zeit Gregors des Großen
gehaltene Synode in Nom (Harduin. tom. 3. p. 496)3 fo wie der erſte, zweite
und gemeine römifche Drdo, und der Kirchenrath von Rheims im J. 813 (c. 4);
nur war fie Damals noch nicht allgemein, und wurde aud) angefeindet, So ſagt Ama-
larius, es gefihehe „Frequentissime“, und wundert ſich, daß es gefchehe, obwohl
zu jener Zeit auch mitunter niedere Elerifer oder Schulfnaben den Leferdienft
verfahen (Ord. Rom. Vulg.; Regin, qu. 26). Aelter ift die Sitte, daß die Dia-
eonen das Evangelium leſen: es reden davon als einer befannten Sache die apoſto—
liſchen Conftitutionen (I. 2. c. 61), Hieronymus Cep. 147, al. 48. ad Sabinian.),
Sozomenus (hist. ecel. 1. 7. c. 19), Iſidor von Sevilla (de div. of. 1.2. 0.8).
Bei den Griechen Liest dermalen der Lector die Epiftel und der Diacon das Evan—⸗
gelium (Goar. fol. 428. Lit. Chrysost.), Bei den übrigen Orientalen wird die
Epiftel von dem Diacon gelefenz namentlich aber ‚auch noch bei den Syrern dag
Evangelium von dem Priefter (Renaud. coll. orient. lit. tom. 2. p. 68. 69). —
Der Drt zur Vornahme der Lefungen war ehemals der Ambon (ſ. d. A), Hatte
derſelbe mehrere Stufen, fo blieb der Lefer der Epiftel auf einer niebrigern, als
die war, auf der das Evangelium gelefen wurde (Ord. Rom. H.), Heut zu Tage
gefchehen im Abendlande beide Lefungen, wenn der Celebrant felbft den Leſer
macht, auf dem Altare; jedoch ſo, daß die Epiftel auf der Tinfen und dag Evan-
gelium auf der rechten Seite des Altares gelefen wird, fo daß fich hievon die
Sitte herleiten dürfte, die linke Seite des Altares Epiftelfeite und die rechte Evan
gelienfeite zu nennen. Subdiacon und Diacpn Tefen auf der Fläche (in plano)
des Presbyteriums, und zwar jener gleichfall8 auf der Epiftel-, diefer aber auf
der Evangelienfeite, — Sowohl die Epiftel als das Evangelium haben im Laufe
der Zeit verfchiedene Formeln erhalten, mit denen die Lefung eingeleitet oder
befchloffen wird, Sp nennt die Lateinifche Kirche zunörberft das Buch, aus bem
das Lefeftürf ausgehoben wurde (3. B. Lectio actuum apostolorum, Lectio &pistolae
beati Pauli apostoli ad Hebraeos, Sequentia sancti evangelii secundum Matthaeum)
und fegt der Lefung felbft ein paar Worte als Einleitung voraus (In diebus illis,
Fratres, Haec dieit Dominus, In illo tempore, Dominus vobiscum): bie "Gemeine
betheiligt fich Durch den Mund des Miniftranten oder der Sänger Antwort gebend
G: 8. Deo gratias, Et cum spiritu tuo, Gloria tibiDomine, Laus tibi Christe),
Im Driente haben fich ähnliche Formeln entwickelt. Sp fehreibt die Liturgia com-
munis Syrorum Jacobitarum das Ceremoniell bei der Lefung des Evangeliums in
folgender Weife vor: „Diaconus: Accedite ad me fratres, tacete et auscultate
annuntiationem Salvatoris nostri ex evangelio sancto,'quod vobis legitur. Sacer-
dos: Pax vobiscum.. Populus: Et cum spiritu tuo. Sacerdos: Ex evangelio
sancto Domini nostri Jesu Christi, Dei nostri’veri, praedicatione facta a N. apostolo
et praecone vitae aeternae, annuntialionem vitae et salutis audimus pro animabus
-nostris. Diaconus: Estote in silentio auditores, hoc est enim evangelium sanc-
tum, quod legitur. Fratres mei festinate, audite et confitemini verbum Dei vivi.
Sacerdos: Igitur in tempore 'conversationis in terra Domini Dei et: Salvatoris
Lectionen. 407
nostri Jesu Christi, dixit discipulis suis (Renaud. fom. ll. p. 9).“ Manche dieſer
Formeln find erweisbar fehr alt. Sp Fennt ſchon das gallicanifche Sarramen-
tarium bei Mabillon manche derſelben. — In der feierlihen Meffe des
Papftes werden Epiftel und Evangelium lateinisch und griechifch gelefen, um die
Einheit der Fatholifchen Kirche bei der Berfchiedenheit ihrer gottesdienftlichen
Sprachen darzuftellen. Es war ehemals an hohen Fefttagen in mehreren Kirchen
fo (Anselm. Havelb. dial. 3. c. 16; Ordo Rom. XI.). Bei der Krönungsfeier des
Papftes Alerander V. fang man fogar das Evangelium lateiniſch, griechiſch und
„hebräifch CConc. Pisan. a. 1409. sess. 18), Wichtiger ift es für das kirchliche
Reben, daß Heutzutage auch das Evangelium oder auch noch überbieß die Lection,
nachdem fie Iateinifch gelefen worden find, wenigſtens an Sonn- und Fefltagen,
zumal bei dem Hochamte und der Frühmeffe, in der Landesſprache vorgelefen
werden. — Die Lefung des Evangeliums, ald die dem Chriften wichtigfte und
ehrwürdigfte, iſt noch mit befondern Gebräuchen begleitet. Obenan fteht die
fromme uralte (Ordin. Rom.) Sitte, daß der Lefer fi) durch ein eigenes Gebet
zur 2efung vorbereitet (Munda cor meum ac labia mea, omnipotens Deus, qui
labia Isaiae prophetae calculo mundasti ignito, ita me tua grata miseratione dignare
mundare, ut sanctum evangelium tuum digne valeam nuntiare. Per Christum ete.),
and um den Segen bittet (der Celebrant bittet, wenn er den Lefer macht, Gottz
der Diacon den Celebranten). Ein anderer, Priefter und Volk gemeinfchaftlicher
und mindeftens eben fo alter (Ord. Rom. 1]; Horor. gemm. anim. 1. 1. c. 23) ©e-
brauch befteht darin, daß fih die Gläubigen bei dem Beginne der Lefung auf
Stirne, Mund und Bruft befreuzen, um fowohl finnbildlih ihren Glauben fund-
zugeben, daß die Lefung wirflich die Worte Jeſu CHrifti, der die Wahrheit feiner
Lehre durch den Opfertod am Kreuze verfiegelt Hat, enthalte, als au ihre Ge—
finnung auszufprehen, fig der Anhörung und Befolgung der Lehre des Gefreu-
zigten nicht ſchämen, fondern denfelben furchtlos in Werfen und Worten befennen
CBefreuzung der Stirne und des Mundes), und ihm das Herz in Liebe weiber
zu wollen (Befreuzung der Bruft). Auch ſtehen nad einer in die frübeften Chriften-
zeiten hinaufreichenden Sitte (Const. apost. 1. 2. c, 61; Sozom. hist. eccl. 1. 2.
c. 19; Nicephor. hist. ecel. 1. 12. c. 34) während diefer Lefung alle Gläubigen,
um theils ihre Ehrfurcht für das Wort Gottes, theils ihre Bereitwilligkeit, es.
zu befolgen, auszubrüden, Nah vollendeter Lefung wird der Evangeliencoder
Cnur die Requiem machen eine Ausnahme) (das Miffale) gefüßt, früher von allen
Anwefenden (Ord. Rom. I. 11.), heutzutage Cabgefehen von einigen wenigen Kirchen
in Sranfreih) nur mehr vom Celebranten und dem etwa anwefenden Fürften oder
Papſte Cardinal oder Legaten des apoftolifhen Stuhles, oder vom Patriarchen,
Erzbifhofe oder Bifchofe des Ortes. Jedenfalls ift diefer Kuß ein Zeichen der
Ehrfurcht und Liebe für das Wort Gottes. Sind Soldaten bei der Lefung zu—
gegen, fo halten fie während derfelben Das Schwert oder Gewehr präfentirt, um ihre
Bereitwilligfeit an ven Tag zu legen, für das Evangelium freudig jeden Kampf zu
wagen. Im Hochamte brennt auf jeder Seite des Evangeliencoder (nur die Re—
quiem machen eine Ausnahme) ein Licht, um fowohl die Heberzeugung der Ge—
meinde auszubrüden, dag das Evangelium die Lehre desjenigen fei, der fih im
Wahrheit das Licht der Welt nennen Fonnte, als auch den frommen Borfas fund-
zugeben, fo Ieben zu wollen, daß auch wir Lichter im Haufe Gottes find (Joh.
8, 12, Matth. 5, 14). Hieronymus fpricht von diefem Lichterbrennen als einer
in-allen Kirchen des Drients üblihen Sitte dl. adv. Vigilant.). Ferner beräuchert
man im Hochamte (die Neguiem machen auch bier eine Ausnahme) fowohl das
Evangelienbuch als auch den Celebranten; jenes wohl zum Zeichen der unbeding-
ten gläubigen Annahme und ehrfurchtsvollen Anhörung der evangelifchen Lehre;
Diefen, um freudig zu befennen, daß uns durch das Evangelium jenes Opfer be=
Fannt geworden iſt das der Celebrant zu entrichten vorhat. [Fr, & Schmib,]
—— J
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2. Lectionen im Brevier — Lecturae.
Leetionen im Brevier, f. Brevier,
Leetor (Lefer) nennt man jenen niebern Cleriker, der den Ordo des Leeto—
rates erhalten hat, und deſſen Gefchäft e8 urfprünglih war, die Lectionen (ſ. d. A.)
in der Kirche vorzulefen. Solche Lectoren kennen ſchon Juſtin Capol. 1. n. 67),
Zertullian (praescript. c. 41), Cyprian (ep. 24. al. 29), Papft Cornelius (Euseb.
hist. ecol. 1. 6. 0. 43) u. |. w. Sie wurden fhon damals den Clerikern beigezählt,
und durch Eirchlihen Ritus aufgeftellt (Cyprian. ep. 33; Conc. Antiochen. a. 341.
c. 10); nur ausnahmsweife ſcheint Hin und wieder ein Nichtorbinirter Lectors-
dienfte verfehen zu haben (Augustin. ep. 64. al. 235. ad Quintian.; Conc. Nicaen.
a. 787. o. 74), Da in fpäterer Zeit das Vorlefen bei dem Gottesdienſte im
Abendlande faft ausſchließlich (nur am Charfreitag erwähnt das Miffale noch des
Lefens durch den Lector) Sache der Diaconen und Subdiaeonen, ja der Priefter
ſelbſt geworben ift, fo ift die Weihe zu biefem Amte mehr eine der Stufen, die
den Candidaten des Priefterfiandes dem Heiligthume um einen Schritt näher
bringt, und auf denen er höchftens einige Zeit lang den Leuchterträger macht und
andere niedere Altardienfte verfieht. Auch bei den Griechen ift es nicht anders
(Goar. Euchol. fol. 243). — Ueber die Ertheilung des Lectorates gab die Synode
son Carthago im J. 398 folgende Vorſchrift: „Lector cum ordinatur faciat de
illo verbum episcopus ad plebem, indicans ejus fidem ac vitam atque ingenium.
“Post haec, spectante plebe, tradat ei codicem, de quo lecturus est, dicens ad eum:
Accipe, et esto lector verbi Dei, habiturus, si fideliter et utiliter impleveris offi-
cium, partem cum eis, qui verbum Dei ministraverint (c. 8).“ Faſt mit denfelben
Worten wird noch jest dem Drdinanden diefer Ordo in der lateiniſchen Kirche
übertragen, jedoch fo, daß der Hebertragung eine Unterweifung des Drdinanden
oprausgefchickt, und nach der Vebertragung Gebete angereift werben (Pontif.
Rom.). In der Unterweifung werben die Gefchäfte eines Lectors in folgender
Weife aufgezählt: „Lectorem oportet legere ea, quae praedicat, et lectiones can-
tare, et benedicere panem et omnes fructus novos.“ Die bier erwähnte Segnung
des Brodes und der neuen Früchte dürfte den Lertoren erft fpäter, und zwar
zuerft in Teutfehland und Frankreich übertragen worden fein (Pontif. Salisburg.
annor. 700; Pontif. Camerac. annor. 600). Der Ritus, nach welchem die Drien-
talen ihre Lectoren CAvayvoorzaı) vrdiniren, ift natürlich von dem des Abend-
landes fehr verſchieden. Sp beginnt z. B. der Bifchof bei den Kopten die Drbi-
nation mit einer Frage über die Würbdigfeit des Kandidaten, fhreitet hierauf nach
günftiger Ausfage der Gemeinde zu der im Driente überall mit dieſer Ordination
verbundenen Tonfur, verrichtet fodann zwei Gebete, bei dem einen gegen Weften,
bei dem andern nach Oſten ſich wendend, Hält den Kandidaten - unter Fortfegung
von Gebeten an den Schläfen, reicht ihm das Evangelienbuch dar, damit dieſer,
es vor der Bruft tragend, den Altar, die Hände des Bifchofes und alle Gegen-
wärtigen füffe, und verabfchiedet ihn zulegt mit der Mahnung, feinem neuen
Amte mit Würde vorzuftehen. Vgl. den Art, Anagnoften. — Verſchieden von
diefem Lector find der Vorlefer bei Tifeh (Lector mensae) in geiftlihen Commu-
nitäten (Cefr. Udalr. Consuet. Cluniac. 1. 2. c. 34), der hie und da in Cathedralen
übliche Lector dignitarius, welcher die fämmtlichen Kirchenlefungen regelte, und
endlich die Lectoren oder Profefforen in Klöftern, welde die jungen Clerifer un-
terrichten. [Fr. X. Schmid.]
Lecturae. Es handelt ſich hier von einer Reihe von Schriften, bie in
einer gewiſſen Zeit eine Hauptquelle der Erkläärung des römiſchen und canonifchen
Rechts waren. Der Ausdruck lectura fommt von legere; er bedeutet zuerft dag
Verſtändniß der Stelle nah Grammatik und Syntar, dann aber die Erklärung
des Sinnes nach der Abficht des Nedenden Chanc literam ita lego). In biefer
Beziehung entftand der Begriff „Vorleſung“, lectura. Die Gloſſen (ſ. Gloſ fen
und Gloſſatoren) enthielten Fein Raifonnement, in ihnen war eine traditionelle
Ledigfeitseid — Legaten. 409
Fortentwicklung des Rechts, eine Anwendung des älteren Rechts auf bie neuere
Zeitz die lecturae dagegen ftellten ſchon die Anfichten des einzelnen Inter—
preten dar, obgleich derfelbe es auch nicht unterließ, alte und neue Meinungen
darneben anzuführen. Die lecturae über das römische Necht hatten eine andere
Bedeutung wie die über canonifches Recht; jene fchloffen fih den Gloffen mehr
an, und waren in der That eregetifh, wie man am beſten aus der lectura des
Azo über den Eoder fieht; jedoch fie waren umfangreih, und deßhalb oft nicht
intereffant; die lecturae über das canonifche Recht aber waren mehr dogmatifch,
weil fie einer ähnlichen Eritifhen und geſchichtlichen Entwicklung nicht bedurften,
wie diefes bei dem römifchen Rechte der Fall war. Vom Syſteme und von ber
diefem zu Grunde liegenden Abftraction wußte man in jener Zeit Nichts; eben-
deßhalb ergoß ſich die Beftrebung in die Einzelheiten jeder einzelnen Entfcheidung.
Da man aber damals das Firhliche Syftem felbft mehr im Leben wahrnahm, und
da die ganze Erziehung des Menfchen darauf berechnet war, fo war es vortheil-
haft, fich in die Einzelheiten der Cafuiftif einzulaffen. Man theilte in diefer Art
des Unterrichts und der Methode dasjenige, worüber man eine genaue und
oollſtändige Anficht erhielt und darüber feinen Lehrer (Borlefer) fand, und das—
* jenige, wo man durch eigene Hilfe fpäter fich felbft unterrichten mußte, und fo
kam es denn auch, daß die lecturae nur über einzelne Theile des canonifchen
Rechts gegeben wurden. Wir, die wir gleich Alles überfhauen und bemeiftern,
und mit einem philofophifchen Blife das Mannigfaltige ung unterorbnen (fubjee-
tiviren und identificiren) wollen, finden in ben lecturis fehr Vieles, was ung un-
gefällig erfiheint. Dennoch läßt fih auch nicht Iäugnen, daß in den lecturis die
wiffenfchaftliche Methode als gealtert erfcheint, und fo mußte ein neuer Weg ge-
funden werden, Die Philologie übte zwar auch bier ihr Recht, wie man aus den
Beftrebungen des Antonius Auguftinus und Anderer, namentlich der Franzofen,
ſieht; allein da das Kirchenſyſtem in beftändiger Hebung war und blieb, fo nahm
die Sache eine ganz andere Richtung, wie im römifhen Rechte durch Cujacius
und Andere. Nur das war beiden Rechtsquellen (d. i. des römischen und cano—
nifhen Rechts) gemeinfam, daß man fich jest bloß an die Titelüberfchriften der
Duellen, nicht an die einzelnen Stellen hielt, was man am durchgreifendften ein-
fießt, wenn man die in diefer neuen Art gefchriebenen Werke eines Reiffenftuel und
Schmalzgrueber mit den lecturis eines Baldus, Petrus de Ancharono, Joonnes ab
Imola, Nicolaus de Tudeſchis, Alerander Tartagnus, Barbatia Siculus, Franziscus
de Aecoltis, Petrus Sandeus, Philippus Decius vergleicht. Endlich find die lecturae
ſchon deßhalb ungefällig, weil fie nicht für den Drud, fondern für die mündliche Dar-
ſtellung beftimmt waren, wodurd fich hauptfächlich die neueren Commentationen
unterfcheivden. Es würde auch bei uns ungefällig und Iangweilig fein, wenn die
Borlefungen der Lehrer unmittelbar in den Druck übergehen würden, [Roßhirt.]
Ledigkeitseid, f. Eid,
2ee, Anna, ſ. leada,
Lefevre, f. Faber Stapulensis.
Zegate, ſ. legtwillige Verfügungen.
Legaten. Das Recht des Papftes, zu verfchiedenen Zwecken nach einzelnen
Puncten des kirchlichen Gebietes Gefandte abzuordnen, folgt von felbft aus der
ihm über die gefammte Kirche zuftehenden höchſten Regierungsgewalt; diefe wäre
gehemmt und beſchränkt, ja unter Umfländen unmöglih, wenn der Papft jene
Befugniß nicht follte ausüben Fonnen, In diefem Sinne fpricht fih Innocenz II.
bierüber aus, wenn er fagt: „Da das Oberhaupt der Kirche menfhliher Natur
gemäß nicht an verfchiedenen Orten fich zugleich befinden, noch auf Windesflügeln
in entlegene Gegenden fi begeben kann, fo fendet es, damit der Gang der Ge-
ſchäfte nicht Noth leide, feine Legaten als abgeorbnete Richter.” — Es laſſen ſich
drei verſchiedene Arten. päpftlicher Legaten, wie dieß auch in Cap. Officii. 1.
410 ; Legaten.
d. off. leg. in 6to I. 15. vorgezeichnet iſt, von einander unterſcheiden: 1) Die Le-
gati alatere, in der angeführten Geſetzesſtelle von Papſt Innocenz IV., da fie aus
der Zahl der Cardinäle genommen werben, fratres nostri genannt, 2) die Legati
missi oder Nuncii apostolici, auf einer niederen Rangftufe Internuncii,,.und 3) die
Legati nati, für welche die Legation mit dem Kirchenamte, welches fie befleiden,
dauernd verbunden ift (qui suarum praetextu ecclesiarum legationis sibi vindicant
dignitatem); in diefer Beziehung flehen die Legati nati mit dem Inſtitute der Vi-
carii apostolici, wie das ältere Necht e8 Fennt, in Verbindung. Es wurbe näm—
lich frühzeitig — wovon beftimmte Nachrichten bis in's vierte Jahrhundert reichen —
üblich, daß der Papft in verfchiedenen Gegenden einzelne Bifchöfe Damit beauftragte,
an feiner Statt gewiffe, ihm unmittelbar obliegende Jurisdictionsrechte auszuüben und
ihm über die Verwaltung derfelben von Zeit zu Zeit Bericht zu erflatten, Dadurch,
daß der Nachfolger eines ſolchen Biſchofs ſtets denfelben Auftrag erhielt, wurde
diefes apoftolifche Vicariat mit beftimmten Bifchofsfigen verbunden. Die älteften
Beifpiele find die Bicariate von Theffalonich über Illyrieum und von Arles über
Gallien (f. Hilarius von Arles u, leo 1.), welche beide bis gegen das fiebente
Sahrhundert Hin Beftand hatten; andere Vicariate aus diefer Zeit waren entweder,
wie das des heiligen Auguftinus, des Apoſtels der Angelfachfen, perfönlich oder,
wie das des Biſchofs von Sevilla, ohne eigentliche Zurisdiction, Wo dieſe vor—
fam, beftand fie in der Oberauffiht über die gefammte Firchliche Disciplin des
Vicariatsbezirkes; an die Zuftimmung des Vicars war die Ordination der Bi—
ſchöfe durch die Metropoliten, die von ihm zu confeeriren waren, gefnüpftz ber
Dicar berief Synoden und nahm Appellationen von den Provincialeoneilien an,
er hatte unter den Bifchöfen feines Sprengels den erften Rang, auch feheint bie
Ertheilung des Palliums, als eines Zeichens papftlicher Jurisdiction, zuerft an
die apoftolifchen Vicarien erfolgt zu fein. — Im achten Jahrhunderte trat dann
der heilige Bonifacius als päpftlicher Legat mit den umfangreichften Vollmachten
ausgerüftet auf; da er feinen bleibenden Sit zu Mainz nahm, fo gründeten ſich
hierauf die Prärogativen dieſes erzbiſchöflichen Stuhles. Mainz trat, wie feit dem
heiligen Dunftan die Nachfolger des Heiligen Auguftinus auf dem erzbiſchöflichen
Stuhle von Canterbury, in die Neihe der Legati nati ein, Mit diefem Ausdrude
werben feither diejenigen Bilchöfe bezeichnet, welche gleich den älteren apoſtoliſchen
Bicarien mit einer an ihr Kirchenamt gefnüpften Legation befleivet wurden, Wie
weit die Befugniffe folcher Legaten reichten, wurde für die einzelnen Fälle durch
befondere Inftruetionen näher beſtimmt. Als die wichtigften Beifpiele folcher Le—
gationen laſſen fich folgende anführen: Toledo, wenn auch vielfach beftritten, für
Spanien, Rheims für die Dazu gehörige Provinz, Bourges für Aquitanien,
Dienne für Septimanien, ferner Lyon und Send, die aber mehr Titularlegaten
waren; fodann Canterbury für England, ©, Andrew für Schottland, Mainz,
Trier, Coln, Salzburg, Magdeburg und Prag für Tentfihland, Gneſen für
Polen, Gran für Ungarn, In Italien findet fich die fogenannte Monarchia Sicula
(ſ. d. A.) als ein Beifpiel einer an einen weltlichen Fürften verlichenen Legation.
Ein anderer Fall der Art, aber ganz vorübergehend, war der, als Papſt Ale-
xander II. dem König Heinrich IL. von England die Legation für fein Reich ver-
Vieh, und zwar unter der Bedingung, fie nicht auf den Erzbiſchof von York zu
übertragen; für diefen hatte Heinrich das Begehren um die Legation geftellt, wo—
mit eine Kränfung der Gerechtſame Thomas Bedets, als des Erzbifhofs von
Canterbury, beabfichtigt war. — Da viele der Legati nali fi) in ihrer hohen
Würde überhoben, fo trug dieß dazu bei, daß das Inſtitut allmählig feine Be—
deutung verlor und die Legation bald faft nur zum Befite eines höheren Titels
diente, Die Päpſte fahen fich nämlich veranlaßt, in den meiften wichtigen An—
gelegenheiten nicht auf bie Berichte ver Legati nali zu warten, fondern Cardinäle
yon ihrer Seite zu fenden, die, mit einer Fülle yon Primatialrechten verfehen,
Logatem | 411
in dem ihnen angewieſenen Legationsbezirfe unmittelbar die Stelle des Papftes
verträten, Hierin liegt die Beranlaffung, daß man diefen Legatis a latere eine
Jurisdictio oordinaria beilegte, die nach Cap. Legatos. 2. d. off. leg. in 6to auch
durch den Tod des Papftes, von welchen die Sendung ausgegangen war, nicht
erlifcht. "Die Legati a latere repräfentirtem demnach in ihrem Miffionsbezirfe den
Primat und übten daher mit geringen Befchränfungen eine Mehrzahl der päpft-
lichen Refervatrechte aus, Sie abfoloirten von refervirten Cenfuren, ertheilten
Indulgenzen, übten Jurisdietion über Erimirte , Dispenfirten neben den Bifchöfen
von Ehehinderniſſen, verliehen Beneficien, befonders die an den Papft devolvirten
Pfründen, eonfirmirten Erzbifchöfe und Bifchöfe u. ſ. w. Diefe einzelnen Befug-
niffe pflegten in den Inftruckionen der Legaten nicht immer aufgezählt zu werden,
fondern man begnügte ſich mit der allgemeinen Efaufel cum facultatibus solitis et
consuetis. Indeſſen bald fah man ſich genöthigt, in Betreff der Legati a latere,
welche ultra montes ‚gefendet wurden, einen andern Weg einzufchlagen. Die Aus—
übung jener großen Vollmachten gab zu fehr vielen Conflicten mit den Bifchöfen
die Beranlaffung, auch wurden bei der zunehmenden Spannung zwifchen geiftlisher
und weltliher Gewalt die päpftlichen Legaten von den Fürften immer weniger
gern gefehen, weil fie ſich durch fie in ihren vermeintlichen Nechten in Betreff
der Kirche beeinträchtigt fühlten, und fo geſchah es, während manche Legaten fi
auch mancher Webergriffe fchuldig machten, daß bei der Bereinigung der Intereſſen
der Könige und Bischöfe zu gemeinfhaftlihen Nationalintereffen man weltlicher
Seits fogar fo weit ging, die Legaten zurücdzumeifen, Es ſah fih daher Papſt
Johann XXIL. veranlaßt, in der Extrav. Super gentes. 1. d. consuet. (c. 1.)
eine folhe Gewohnheit für nichtig zu erflären und diefenigen Fürften mit der Er»
communication, ihr Land aber mit dem Interdiete zu bedrohen, welche den päpft-
lichen Legaten den Zutritt verweigern würden, Trotz dem dauerte in Frankreich
der Gebrauch fort, daß die Legaten nur bis Lyon reifen durften, und nachdem fie
ihre Vollmachten zur Prüfung nach Paris eingefendet hatten, dort die Entfchei-
dung über ihre Zulaffung abwarten mußten. Es war dieß Verfahren um fo un-
geeigneter, als ſchon längſt auch auf gefeglihem Wege eine Befchränfung der
Juris dietion der Legaten eingetreten war ; das Concilium von Trient ging darin
noch weiter als die Derretalen, indem es Sess. 24. c. 20. de Ref. alfe und jede
eoneurrirende Jurisdietion der Legaten mit den Bifchöfen aufhob, — Nah und
nach find diefe außerordentlichen Legationen immer feltener geworben; defto mehr
ift in neuerer Zeit der Gebrauch an die Stelle getreten, daß der Papſt in ein-
zelnen Staaten fländige Nuntiaturen unterhält. Schon das ältere Recht Fannte
in den Apocrisiarii (f. d. A.) oder Responsales, mit welchen Ausdrücken nament-
lich die päpftlihen Gefandten am Faiferlihen Hofe zu Conftantinopel bezeichnet
wurden, ein den Nuntien ähnliches Inſtitut. Diefe, fowie die niedere Nangftufe
der Iuternuntien haben eine doppelte Stellung; fie find einestheils Mitglieder
des diplomatifchen Corps in dem Staate, wo fie refiviren, und zwar nehmen fie
in der betreffenden Abftufung der Gefandten, zu welcher fie gehören‘, die erfte
‚Stelle ein; anderntheils find fie von dem Papfte mit Iuftruetionen über Aus-
Übung kirchlicher Jurisdietionsrechte verfehen, zu denen insbefondere auch die
Führung des Informatioproceffes in Betreff der erwählten oder ernannten Bi—
Thöfe ihres Nuntiaturbezirfes gehört; fie felbft führen in der Negel den Titel
eines Erzbiſchofes oder Bifchofes in partibus. — In Teutfchland war die Errih-
tung einer neuen Nuntiatur zu München (1785) die Veranlaffung zw dem: be—
kannten Nuntiaturftreit (f. d. A.), der feine wiffenfchaftlihe Erledigung in der
vortrefflichen Antwort Pius’ VI. an die zum Emfer Eongreffe verfammelten Erz-
bifhöfe fand (Responsio — super Nuntiaturis apostolicis. Romae 1789; ſ. ven
Art, Emfer Congref), — Vgl, noch Hiftor,=polit, Blätter, Bd, VIIL ©. 564 ff,
S. 665 ff. S. 722 ff. Phillips.
412 Legenda aurea — Legende.
Legenda aurea, f. Jacobus de Voragine und Legenden,
Legende heißt nach der allgemeinen Wortbedeutung alles dag, was bem
Bolfe bei dem Oottesdienfte vorgelefen werden fol, Das Buch, welches bie
Lefe-Abfehnitte enthielt, nannte man Lectionarium, auch Epistolarium, weil bie
meiften Lefeflüdfe aus den Briefen der Apoftel entnommen waren, Man las die
Abſchnitte nach einer beftimmten Eintheilung, ähnlich der Eintheilung des alten
Teftaments nach Parafchen und Haphtaren, bei den Kiturgifchen Zufammenfünften
ab, Im engern, heutzutage fat ausschließlich gebräuchlichen Sinne verfieht man
unter dem Wort Legende eine Sammlung von Lebensbefchreibungen ber Heiligen
der Fatholifchen Kirche, der Martyrer, der Kirchenväter und Bekenner. In den
erſten chriftlichen Jahrhunderten hieß man folhe Sammlungen Acta Sanctorum,
ober Martyrum, deren Urfprung bis in's zweite Jahrhundert zurüdführt, wo man
von einzelnen Blutzeugen und Befennern ſchon das Merfwürbigfte aufzeichnete,
und diefe Berichte als ein Heiligthum für die chriftlihe Mit- und Nachwelt auf-
bewahrte. Eufebius fpricht von einer folhen Sammlung, die er ouvayoyn Twv
oxaıwv uagrvgwv benennt, Das ältefte Martyrologium wird dem BI. Hie-
ronymus zugefihrieben. Daß die Lebensbefchreibungen der Heiligen mit der Zeit
immer ausführlicher wurden, bat in verfchiedenen Umftänden feinen Grund. Im
Mittelalter Hat ſowohl die griechifche als die Tateinifche Kirche derlei Heiligen-
Biographien erhalten, die erfiere durh Simenn Metaphraftes, die lestere
durch Jacobus de Voragine (ſ. d. A), den Berfaffer der goldenen Legende,
Unverfennbar Flebt diefen Sammlungen der Charakter ihrer Entftehungszeit an,
der ſich allzuhäufig im Aufregen der Phantafie und im Hervorheben des Außer-
prdentlihen und Ueberrafchenden bezeugt. Hiftorifch werthvoller ift die Samm-
Yung, weldhe Boninus Mombritius 1474 lieferte. Spätere Sammlungen find
Schon die edlen Früchte geläuterter Wiffenfchaft und forgfamen Forſchergeiſtes, wie
die Acta Martyrum primor. (f. d. 4.) son dem gelehrten Benedictiner Theod.
Nuinart, und die Vitae Patrum, auch die Fasti Sanctorum von dem Sefuiten
Herib, Rosweid, dem Vorläufer und Anreger der vollftändigften aller Samm-
Jungen, der Acta Sanctorum, welche von dem Sefuiten Johannes Bollandus
im J. 1643 begonnen, und von andern Vätern der Gefellfchaft Jeſu (Henſchen,
Papebroef u.a. m.), den fog. Bollandiften, fortgefegt worben find (ſ. Acta
Sanctorum). Das großartige Werk erfihien zu Brüffel und Tongerlop yon
1643—1794 unter wechſelvollen, zuletzt ſehr ungünftigen Zeitumftänden in 53
Foliobänden, Es ift eine reiche Fundgrube nicht nur für die Kirchengefchichte,
fondern au für die Profangefhichte, für Chronologie, Geographie u, f. w. Bol-
landus felbft war mit feiner Arbeit bis zum Anfange des Monats März gekommen,
als er am 12, September 1665 das Zeitliche fegnete, Seine Fortfeger führten
das Werf bis zur Mitte des Monats Detober, der Zufunft die Vollendung über-
laſſend. Wirklich erfchien 1845 zu Brüffel bei Muquardt zum Detober die werth-
oplle Ergänzung unter dem Titel: Acta Sanctorum Octobris, ex lat, et gräec. etc.
monum, collecta, a Jos. Vandermoere et Jos. Vanheke Soc. Jes. Tom. VII. Octobris.
Nicht fo voluminös, aber fehr brauchbar ift das gleichfalls Fritifch gearbeitete, ur-
fprünglich englifch gefchriebene Werf von Alban Butler, nad dem Franzöfifhen
von Godescard für Teutfchland bearbeitet und mit reichhaltigen Anmerkungen
vermehrt von Dr. Räß und Dr. Weis (Mainz 1823—27, 21 Bde). — Die
Hauptaufgabe einer Legende für das Volk ift Popularität, mit Vermeidung
aller rein gelehrten Unterfuchungen und mit Befhränfung auf richtige Reſul—
tate, eine edle Iebensfrifche Darftellung der großen Charaktere der Heiligen,
darauf berechnet, die evelften und heiligften Gefühle und Gefinnungen im Volke
zu weden, und ihm fo die Macht und Größe des Chriſtenthums in dem einzelnen
Heiligen in der mannigfaltigften Form vor Augen zu ftellen. Sp wird jede Hei-
ligen-Biographie zum angewandten Evangelium. Zwei Extreme find zu vermeiden:
—
Leges barbarorum — Legio fulminatrix. 413
ein trockenes Aneinanderreifen der Lebensbegebenheiten ohne Geift, Leben und
Anwendung, fowie die Scheu vor dem Wunderbaren und Hintanhaltung alles
Poetiſchen in der Auffaffung der heiligen Charaktere, auf der andern Seite das
abfichtlihe Ausgehen auf Wunderbares, das fortwährende Hervorheben außer-
ordentlicher Zuftände, das Hafchen nad dem Romantifhen, das indiscrete Ver—
wechfeln frommer Sagen und Ueberlieferungen mit wirfliher Geſchichte. Die
fromme Sage fei nicht ausgefchloffen, denn fie trägt tiefe Poefie und die Kraft
in fih, in dem für religiöfe Lebenspoefie oft fo empfänglihen Gemüthsboden des
Volks tiefe Negungen hervorzurufen; nur trete fie ald Sage, nicht als ausge-
machte Gefchichte hervor, dann wird eine billige Kritif nichts einzuwenden haben;
fie wird dazu dienen, auch dem pſychologiſchen Elemente fein Recht zu gewähren,
und die Einförmigfeit der Situationen und einzelnen Befehrungs-, Büßungs- und
Berfolgungsgefchichten ze. zu mäßigen. [Dür.]
Leges barbarorum, f. Lex barbarorum.
Legio fulminatrix. Diefen Namen foll eine ganz aus Ehriften be—
fiehende Legion vom Kaiſer Marc Aurel erhalten haben, weil fie durch ihr Gebet
das Entftehen eines Gewitterd und dadurch die Rettung des römischen Heeres
bewirkte, Im marsomannifchen Kriege nämlich wurden die Römer (im 3. 174)
durch die Duaden an einem Orte eingefhloffen, wo es ihnen ganz an Waffer
mangelte, fo daß das Heer in Gefahr war, dur Durft und Hige aufgerieben zu
werden. Es wurde gerettet durch ein plöglich entftiehendes Gewitter; die Römer
wurden dadurch mit Waffer verfehen, die während deffelben angreifenden Duaden
aber durch Hagel und Blitze zurüdgetrieben. Sp erzählt mit einigen Ausfhmüdun-
gen Div Caſſius (71, 8.). Eufebius (hist. eccl. 5, 4.) fügt Folgendes bei: In
jener Noth Hätten die Soldaten der melitinifchen Legion, welche aus Chriſten be-
fand, zu Gott gebetet und durch ihr Gebet die Rettung bewirkt, Er erwähnt
dann noch", daß Apollinaris, ein Zeitgenoffe Mare Aurels, erzäßle, jene Legion
babe feitvem den paffenden Namen „die bligende” erhalten, Noch weiter aus—
geſchmückt ift die Erzählung des Kiphilinus, eines byzantinifchen Schriftftellers,
der im 11ten Jahrhundert einen Auszug aus Div Caffius verfaßte: der Kaiſer
habe die riftliche Legion, von der er gehört Habe, daß fie durch ihr Gebet Alles
bewirken fönne, gebeten, für das Heer zu Gott zu flehen, babe ihr nach dem
Wunder jenen Beinamen gegeben und eine fehr ehrenvolle Verfügung zu Gunften
der Chriften erlaffen. Die Auctorität des Kiphilinus ift natürlich nur gering ; daß
damals fon eine ganze Legion aus Chriſten beftanden Habe, ift unwahrfcheinlich,
I und den Namen „fulminatrix“ führte die zwölfte Legion ſchon unter Auguftus,
Die ältefte Hriftlihe Nachricht von dem Borfall haben wir bei Tertullian (Apol.
c. 5. cf. ad Scap. 4.); er fagt nur, es fei noch ein Brief von M. Aurel vor⸗
handen, quibus illam germanicam sitim Christianorum forte militum precationibus
impetrato imbri discussam contestatur. Aehnlich drüdfen fih Hieronymus (Chron.
ad a. 174) und Drofius (7, 15.) aus. (Der Brief M. Aurels, welder ven
Apologien Juſtins beigefügt ift, ift aber ſicher unächt.) Die Heidnifchen Schrift-
fteller, welche das Factum erwähnen, fohreiben das Wunder theils einem ägyp-
tifhen Zauberer zu (Dio Cass.), theil® der Tugend (Claudian. de VI. Cons. Hon.)
oder dem Gebete des Kaiſers (Capitol. M. Aur. Themist. or. de reg. virt.); auf
I der zu Ehren M. Aurels errichteten Säule wird der Jupiter pluvius dafür ver—
9 Herrlicht, Wir finden auch nicht, daß der Kaifer dadurch zu wefentlich milderen
4 Gefinnungen gegen die Chriften gebracht worden fei; das forte in der Stelle Ter-
tullians deutet auch fchon darauf Hin, daß M. Aurel wenigftens nicht mit voller
Ueberzeugung oder nicht mit beftimmten Worten das Wunder den Chriften zu-
Trieb. — Die wahrſcheinlichſte Erklärung der Sache ift wohl die, welde Stol-
berg (Bd. VII. ©, 90) gibt: „In jener Noth mochten ſich die Heiden theils an
ihre Götter, theils an Zauberer wenden; die Chriften im Heere — wahrſcheinlich
414 2 Legio Thebaiea. I. T
waren ihter befonders viele in der zwölften (melitinifchen) Legion, die den Bei-
namen „bie bligende” führte — beteten zu Gott. Die wunderbare Rettung ſchrie⸗
ben nun natürlich die Heiden ihren Göttern, dem Gebet des Kaiſers oder den
Zauberern zu, die Chriften mit Recht ihrem Gott. Apollinaris hörte davon, und,
wurde dadurch, daß ihm der Name der Legion fehr paffend erſchien, zu dem Glau⸗
ben verleitet, fie habe ihn erft bei dieſer Gelegenheit erhalten.“ Vieleicht hat
auch Eufebins den Apollinaris mißverftanden oder ungenau citirt; e8 wäre näm—
lich wohl denkbar, daß Apollinaris! Worte nur den Sinn hatten: ſeitdem habe
der Name, den die Legion führte, erft einen recht paffenden Sinn befommen. —
Bemerfenswerth ift übrigens noch, daß Gregor von Nyffa in der zweiten Rede
auf die 40 Martyrer von Gebafte (Opp. ed. Paris. 1638. t. II. p. 505) erzählt,
diefe Martyrer hätten zu einer Legion gehört, die durch eine wunderbare Erfchei-
nung zum Chriftentbum befehrt worden fei und in einem Kriege mit den Bar-
baren durch ihr Gebet ein Gewitter bewirkt Hätte, Wenn ſich diefes, wie es
den Anſchein hat, auf daffelbe Fartum bezieht, fo würbe die Angabe, daß die
Legion ganz oder größtentheils aus Chriften beftanden habe, an Unwahrfcheinfich-
feit verlieren. — Vgl, Tillemont, hist. des emp. t. II. M. Aurel art. 15. —
Stolberg, Gefhichte der Rel. Jeſu 8, 80 ff. — Rohrbacher, hist. de Fegl.
5,425. [Reuſch.]
; Legio Thebaica. Dieſen Namen führte eine römiſche Legion (wahr-
fcheinlich weil fie fih aus der Thebais reerutirte), welche ganz aus Chriften be—
flanden und unter Kaiſer Marimian das Martyrium: erlitten haben fol, Die
älteften Nachrichten darüber haben wir in einem Bericht des HL. Eucherius, Bi—
Tchofs von Lyon CH gegen 450, f. den Art, — Rettberg, Kirchengefhichte von
Teutfhland 1, 97, ſchreibt denfelben einem jüngern Eucherius im Anfang des
fechsten Jahrhunderts zu, ohne aber feine Meinung zu begründen —) an den
Biſchof Salvius, abgedruckt bei Ruinart in den Acta SS. 22, Sept. und bei
Migne Patrol. t. 50.. Die Aechtheit und Glaubwürdigfeit deſſelben, obwohl dieſe
noch von Stolberg (IX, 305.) beanftandet wird, ſteht nach den Unterſuchungen
der Bollandiften (22. Sept.) wohl feſt. Eucherius nun erzählt Folgendes: Ma-
ximian hatte im Kriege gegen die Gallier in feinem Heere auch die legio Thebaica,
die früher im Drient geftanden hatte und ganz aus Chriften befand. (Daß die
Legion auf ihrem Marfche aus dem Drient nach Gallien zu Rom vom Papfte im
Glauben beftärkt worden fei, fagen erft fpätere Nachrichten.) Marimian wollte
nun diefe Legion gleich andern zur Einziehung und Berfolgung der Chriften ver—
wenden, fie weigerte fich aber, diefen Befehl auszuführen. Der Kaifer war da=
mals zu Detodurum (Martigny oder Martina an der Rhone oberhalb des
Genferſees), die Legion fland in Acaunensibus angustiüs, jegt St. Maurice im
Kanton Wallis. (Nach fpätern Nachrichten Hätte der Kaifer zu Detodurum ein
großes Opferfeft feiern und die Chriften zur .Theilnahme daran zwingen wollen.)
Wüthend über die Weigerung der Soldaten, ließ Marimian die Legion decimiren.
Deßungeachtet blieben die übrigen bei ihrer Weigerung, Namentlich beftärkten
Mauritius, der primicerius der Legion, der campidoctor (nad du Cangeisqui _
scienfiam armorum militibus tradebat) Exuperius und der senator (nach Hiero—
nymus war diefes der nächfte im Range nach dem primicerius) Candidus bie
Shrigen im fandhaften Fefthalten am Glauben, Die Decimirung wurde wieder
holt, aber wieder vergebens, Die Soldaten Tiefen dem Kaiſer fagen, fie feien
zwar feine Untergebenen , zugleich aber auch Knechte Gottes; fie würden ihm, wie
bisher, auf's Pünctlichfte gehorchen, nur dürfe fein Befehl nicht dem göttlichen
Willen widerſprechen; denn fie hätten früher den Glaubenseid als den Fahneneid
abgelegt. Darauf wurben fie alle, ohne Den geringften Widerftand zu- Ieiften,
niebergemacht. Gleich darauf Fam Victor, ein Veteran einer andern Legion,
des Weges, befannte fih als Chrift und wurbe an bemfelbem Orte getöntet, Ans
} Legio Thebhaica. 415
dere Namen find nicht bekannt. Zu derfelben Legion follen, fügt Eucherius bei,
Urſus und Victor gehört haben, die zu Salodurum an der Arula, nicht weit
vom Rhein (Solothurn an der Aar), getödtet wurden (fie ſtehen im Mart. rom.
unter dem 30. Sept). — Diefer Borfall wird von Einigen (Zillemont, Rui-
nart, Bunus in den AA. SS. 4, Det.) in das J. 286, von Baronius in dag
j J. 297, von Job. Eleus (AA: SS. 22, Sept.) in das J. 303 verfegt. — Schon
im fünften Jahrhundert war das Grab des HI. Mauritius und feiner Genoffen
zu Agaunum fehr berühmt; Eucherius erzählt fhon Wunder, die dort gefchehen
feien.. ‚Gegen Anfang des fehsten Jahrhunderts beftand fchon das Klofter St.
Mauriz am Fuße des St, Bernhard; Avitus von Bienne (c. 500) erwähnt eine
passio diefer Martyrer, die man zu feiner Zeit vorzulefen pflegte; in einem von
Mabillon herausgegebenen Miffale, welches im neunten Jahrhundert gefchrieben
ift, findet ſich ſchon eine Missa S. Mauritii cum sociis suis. Die Heiligen wurden
beſonders in der Schweiz, in Gallien und Savoyen verehrt; in Italien beftand
ein Ritterorden unter dem Schuß des hl. Mauritius, von dem Gegen—
papſt Felix V., Herzog Amadeus VII. von Savoyen (f. d. A.) gegründet, durch
Herzog Emmanuel PHilibert erweitert und auf fein Anfuchen von Papft Gregor XIII.
1572 beftätigt. — Daß Marimian fihon vor dem Beginn der allgemeinen Ver—
folgung (303) gegen die Chriften wüthete, und daß er eine ganze Legion feinem
Chriftenhaß opferte, ift bei einem fo rohen und graufamen Tyrannen gar nicht
unglaublich. Daß aber das Schweigen früherer Schriftfteller, wenn es auch na—
mentlich bei Lactanz und Oroſius etwas auffallen muß, doch fein genügender Be—
weis gegen die Glaubwürdigkeit der Erzählung des Eucherius iſt, haben die Bol—
landiſten (ad 22. Sept. p. 324 sqq.) nachgewieſen. — Die Zahl der mit Mau—
ritius Gemarterten wird gewöhnlich auf 6600 angegeben; Eucherius fagt nur,
eine Legion habe damals aus 6600 Mann beftanden, nicht aber, daß die ganze
thebaiſche Legion damals zu Agaunum zufammen gewefen ſei; jedenfalls fiel aber
nach ihm dort, wenn nicht die ganze Legion, fo doch der größte Theil derſelben.
Es werden aber außer den von Eucherius genannten Martyrern im römifchen und
andern Martyrologien noch viele andere Martyrer der thebaifchen Legion bei—
gezählt; fo nennt das Martyrol. rom. außer Victor und Urſus, die auch Euche—
rius erwähnt, noch Vitalis und Innocentius als Genoffen des Mauritius,
— ferner Antoninus zu Piacenza (30, Sept), Secundus zu Albintimilium
Wintemiglia) in Ligurien, und Alerander zu Bergamo (26. Aug). Auch
ein Felix mit feiner Schwefter Regula, die zu Zürih den Martertod erlitten
haben follen, werden den Thebäern beigezählt (f. den Art. Felix Bv.IV. ©. 1).
Am berüuhmteſten find nach Mauritius noch folgende zwei Gruppen: 1) Tyr⸗
I ins, Bonifacius und ihre Genoffen. Nah dem Martyrium des Hl. Mauritius
I fol Marimian den Rietius Varus (Rictivvarus, der bei vielen andern gallifchen
Martyrien erwähnt wird, und, wie Nettberg a. a. D. ©. 108 richtig bemerft,
in den dortigen Marteracten als ein Colfectioname zur Bezeichnung tyrannifcher
Beamten aus der Zeit der Verfolgung erfcheint) nach Trier gefchicft Haben, um
au dort die Chriften, namentlich zwei Cohorten der thebaifchen Legion unter
Tyrſus und Bonifacius, zu verfolgen. Derfelbe foll am 4, Det. die thebaifchen
Soldaten, an den zwei folgenden Tagen den Conful Palmatius, mehrere Se—
natoren und viele andere hriftlihe Trierer haben Hinrichten Iaffen. St. Felir,
I Bifhof von Trier, fol die Leiber diefer Martyrer gegen Ende des vierten Jahr»
4 Hundert in die Paulinskirche Haben bringen Iaffen, wo fie 1071 aufgefunden
I wurden. An dieſer Tradition ſcheint das ficher zu fein, daß damals zu Trier viele
I Ehriften als Martyrer farben; nicht unmöglih ift es auch, daß darunter ein
Theil der tbebaifchen Legion war, der dann von Marimian vor dem Vorfall bei
Detodurum dorthin geſchickt wäre; es wäre aber auch Leicht möglich, daß die Le=
I gende diefe und die andern erwähnten und noch zu erwähnenden Martyrer aus
416 - Legio Thebaica.
dem Soldatenftande darum zu der berühmten thebaifchen Legion zählt, weil fie
um diefelbe Zeit und aus demfelben Grunde das Martyrium erlitten, wie St.
Mauritius und die Seinigen. — 2) Caffius, Florentius und fieben andere
(nach dem Martyrol. rom. plurimi alii) Soldaten der thebaifchen Legion follen bei
Berona, d. i. Bonn, gemartert fein (den Ort ihres Martyriums bezeichnet noch
jest die fogenannte Martercapelle), Bictor und andere zu Troja, welches von
diefen Heiligen, Sancti, den Namen Kanten erhalten haben fol; endlih Gereon
mit Andern zu Cöln, Die ältefte Erwähnung derfelben findet fih bei Gregor
von Tours (+ 595) glor. mart. 1, 62. 63; nähere Angaben darüber Haben erft
mittelalterliche Martyrologien, die aber vielfach und namentlich in der Angabe
der Zahl der Martyrer von einander abweichen, (Die Zahl der Genoffen Gerenn’s
gibt die Sequenz Gaude felix Agrippina im cöfnifchen Miſſale, übereinftiimmend
mit dem Martyrol. rom., auf 318 an.) Einige nennen auch einen Mallofus
oder Mallufins als Genoffen des Victor, während Andere, minder wahrfhein-
lich, Diefes als einen Beinamen Gereon’s anfehen, Schon im fechsten Jahrhun—
dert war, wie Gregor von Tours (1. c.) erzählt, in Cöln eine ſchöne Baſilica,
welche die hl. Helena zu Ehren diefer Martyrer erbaut haben fol, und welde
wegen der reichen Vergoldung „ad aureos sanctos* genannt wurbez fie wurde
fpäter Stiftskirche und ift jetzt Pfarrfirhe, Einen ausführlichen, aber fpäten Be—
richt über diefe Martyrer haben wir in einer Rede des Ciftereienfers Helinand,
+ 1227 (bei Surius, und in den AA. SS. 10. Oct.) — Auch diefer Tradition
Viegt wohl ficher das Factum zu Grunde, daß damals viele chriſtliche Soldaten
an den genannten Orten das Martyrium erlitten; ob dieſelben aber wirklich zur
thebaifchen Legion gehörten oder nur der angegebenen Analogie wegen von der
Legende derfelben beigezählt worden find, muß bei vem Mangel an alten Nach—
richten bahingeftellt bleiben. — Im Jahre 1121 wurden, da der hl. Norbert Ne-
liquien von dieſen Martyrern zu erhalten wünfchte, einige Sarfophage in der
Gereonskirche geöffnet; man fand, wie Rudolph, Abt son St, Pantaleon, der
dabei zugegen war (in den AA. SS. 10, Det), erzählt, die heiligen Leiber in
ihren purpurnen Soldatenmänteln mit einem Kreuz auf ber Bruft nebſt einem
biutbefprigten Raſen. — Bald nah St. Gereon follen zu Cöln 50 „der 300
oder 360 (dieſe Zahl gibt die erwähnte Sequenz an, fie war auch zur Zeit des
HL. Anno traditionell) Soldaten aus Mauritanien, Mauri, als Martyrer
geftorben fein, deren Leiber in derfelben Bafilica beigefegt und von dem hl. Anno
erhoben wurden. Auch diefe Tradition Hat gar Feine innere Unwahrfcheinlichkeitz
diefe Martyrer werden aber fiber mit Unrecht in einigen Martyrologien der the-
baifchen Legion beigezählt Cof. AA. SS. 15, Oct.); noch Helinand unterſcheidet fie
deutlich von derfelben, und auch das römische Martyrologium (15. Det.) nennt
fie nicht Thebäer, Spätere nennen ihren Anführer Gregor oder Georg. —
Rettberg (Kirchengeſch. von Teutfhl. Bd. I. ©, 94 ff.) unterwirft die ganze
„Sage” von der thebaifchen Legion einer fehr firengen Kritif, die zum Nefultate
bat, daß die Gefchichte des hl. Mauritius, der mit 70 Genoffen zu Azamen in
Syrien gemartert wurde, und deſſen Feft die Griechen den 21. Febr, feiern, der
hiftorifche Kern, alles Andere Iegendenhafte Ausfhmürung fei. Die Bermuthun-
gen und Combinationen, auf die er diefe Meinung flügt, find fehr geiftreichz
wer aber den Schriftftellern früherer Jahrhunderte und kirchlichen Traditionen
etwas mehr Auctorität zugefteht, als den Dichtungen der griechiſchen Cyeliker und
Homeriden, der kann unmöglich die Wahrheit einer folchen Legende auf ein folches
Minimum reduciren, wenn er auch gern zugefteht, daß Legende Feine Gefhichte
ift, und daß fich die Grenze, wo die Gefchichte aufhört und die Legende beginnt,
felten mit Sicherheit angeben läßt. — In das römifche Brevier ift von biefen
Martyrern nur Mauritius cum sociis suis aufgenommen (22, Sept.) ; dagegen fin-
den fih im cölnifchen Brevier und Miffale außerdem am 4, Oct, S. Tyrsus cum:
Kesif und Dee retiſt — Legitimation durch nachfolgende Ehe, 47
is, am 10. Det, S. Gereon cum sociis suis (von denen in 7 ration
Viet aſſius und Florentius, und in den alten Ausgaben Malluſius nament-
lich erwähnt find), und am 15. Det. die SS. Mauri. Am 24. Nov. wird nah
denſelben Brevier die oben erwähnte elevatio. SS. Thebaeorum (a. 1121) ge—
feiert, f den 2. Mai war früher eine translatio SS. Cassii, Florentii et Mal-
Jusii angefeßt, die jegt aufgehoben ift. Mauritius, Gereon, Victor und Caffius,
ein jeder cum sociis, und die SS. Mauri find auch in die cölnifhe Alferheiligen-
Iitanei aufgenommen. — Vgl. über die legio Thebaica die Acta Sanctorum, Su-
ring a Martyrologium Usuardi, ed. J. B. du Sollier S. J. zum 22. Sept. und
zum 4,, 10, und 15. Oet., ferner Tillemont, me&moires t. IV., Stolberg IX,
302 f, und Rettberg..D.©.94ff., wo au die über diefen Gegenftand
verfaßten Streitfchriften aufgezählt find. [Reufd.]
Legiſt und Deeretiſt, f. Decretift. re
itimation durch nachfolgende Ehe — legitimatio per subsequens
matrimonium.g Die aus einer Iegitimen Che bervorgehenden Kinder find ſelbſt
legitim, fie haben die Rechte der ehelihen Geburt, Anfpruh auf Namen und
Stand des Baters, flandesmäßigen Unterhalt, Erbredte u. f.w. Die in einer
außerebelichen Verbindung erzeugten Kinder gelten für illegitim und fönnen
die ebengenannten Rechte gefeglich nicht in Anfpruch nehmen; aber obſchon die
Kirche jede außerehelihe Gefhlehtsverbindung als fündhaft verdammt, fo läßt
fie doch den aus ſolchen Verbindungen hervorgehenden Kindern die Rehtswohl-
that der Legitimation angedeihen, wenn ihre Erzeuger nachher wirflid
ſich ebelich verbinden; tanta est vis matrimoniü, fagt Papft Alerander III., ut,
qui antea sunt geniti, post confractum matrimonium legitimi habeantur (e. 6. X.
qui filii sint legitimi. 4. 17.). Die nachfolgende Ehe Hat die Legitimation ipso
facto zur Folge, die Einwilligung der Kinder ift nicht notbwendig (Ce. 1. 6. X. h.
1.4.10), fie werben rechtlich den ehelichen Kindern überall gleichgeachtet und
Fonnen in öffentlichen Urkunden nach der übereinftimmenden Anficht der Canoniſten
als folche bezeichnet werden, die von Anfang an aus einer ehelichen Verbindung
I entfproffen find, quia subsequens matrimonium omnia praecedenlia purgat (Glossa
adeil.c.6.X.h,t). Da die BWirfung der Legitimation an das matrimonium
legitimum gefnüpft ift und das canonifhe Recht allgemein den Grundfag aus-
I Foriht, daß im Falle des Zweifels immer zu Gunften der ilfegitimen Kinder
entſchieden werden ſolle Co. 14. X. h. t. 4. 17), fo ift es für die Legitimation
öllig gleihgültig, ob die nachfolgende Ehe wirklih confumirt worden iſt oder
nicht, weßhalb die Ehe betagter oder franfer Perfonen, felbft wenn fie erft auf
17 dem ZTodbette gefchloffen worden wäre, die unehelihen Kinder legitimirt; ebenfo
I if es gleihgültig, ob das matrimonium subsequens mittelbar oder unmittel-
1 bar nadhfolge, daher find die iffegitimen Kinder eines Vaters, der nicht mit deren
I natürlichen Mutter, fondern mit einer andern Perfon ſich verbindet und erft nach
dem Tode d n mit jener eine Ehe eingeht, durch diefe Ehe als Iegitimirt
zu betrachten; gar ein matrimonium putativum, d. h. eine an fich ungültige, aber
son den Eontrahenten bona fide eingegangene und von ihnen für gültig gehaltene
Ehe (ſ. Ehe, putative) hat die Wirkung der Legitimation; denn wenn die in
einer putativen Ehe erzeugten Kinder vom Geſetz (c. 2. 14. X. h. t. 4. 17) für
I Tegitim erflärt werden, fo ift, wie die Canoniſten mit Recht bemerken, nicht ab-
9 zufehen, warum das matrimonium 5* die außerehelichen Kinder nicht auch
I Tegitimiren ſollte. — Wenn dieſes die rechtlichen Beſtimmungen in Betreff der
I nachfolgenden Ehe find, fo fragt fih weiter, fonnen dur diefelbe alle außer-
I ehelichen Kinder ohne Unterſchied Tegitimirt werden? Das römifche und eanoniſche
I Reht weichen hierin von einander ab. Um den — wiewohl geſetzlich erlaubten
5 amd begünftigten — Coneubinat (f. d. A.) zu verdrängen und die Ehe zwifchen
den in demfelben Tebenden Perfonen zu erleichtern, verordnete Eonflantin der
Kirgenlerifon. 6. Br. 27
418 Regitimation durch nachfolgende Ehe,
Große, daß durch die nachfolgende Ehe die im Concubinat erzeugten Kinder —
liberi naturales — zu Legitimen erhoben werben ſollen; Zeno, Anaflafius, Ju—
ſtinus wiederholten. diefe Beftimmung, und Juftinian machte fie zu einer allge-
meinen (c. 5. 6. 7. 10. 11. Cod. de naturalibus liberis. 5. 27; Nov. 12. c. 4, 18.
c. 11, 78. 0.4). Sp konnten nach römiſchem Rechte nur die liberi naturales le—
gitimirt werben, alle andern außerehelichen Kinder (spurü, vulgo quaesiti, fili ex
damnato coitu) waren von biefer Wohlthat ausgeſchloſſen. Das canonifche
Recht dagegen Fennt diefe Bevorzugung der Conceubinenfinder nicht; Die Kirche
halt jede außerehelihe Geſchlechtsgemeinſchaft für unerlaubt, insbefondere war
dieß in Betreff des Concubinats immer der Fall, und wenn fie auch Anfangs der
äußern Verhältniffe wegen ihn noch dulden mußte Ce. 4. 5. 6. Dist. 34; c. 6.
Caus. 32. q. 2), fo trat fie ihm doch, je größern Einfluß fie auf das Leben der
Bölfer gewann, immer mehr und mehr entgegen (J. H. Boehmer, J.E. P. Lib.
I. tit. 2. $ 22) und erflärte ihn wie jede andere außereheliche Verbindung für
durchaus verboten (c. 1. de concubinariis in VII. 5. 16). In Folge — An⸗
ſchauung konnte ſie die Legitimation durch nachfolgende Ehe nicht mehr auf die
Epnenbinenfinder beſchränken, ſondern erweiterte fie auf alle außerehelich Ge—
bornen Co. 1. 6. 9. X. h. t. 4. 17). Bald gewannen die Beflimmungen des ca-
nonifchen Nechts auch in den weltlichen Gerichten Aufnahme (vgl, Schwaben-
fpiegel, Art, 378), und gegenwärtig find fie in allen Gefeßgebungen anerfannt.
Sndeffen gilt diefe allgemeine Ausdehnung doch nicht unbedingt, vielmehr fügte
ihr Alexander IN. eine wichtige Befchränfung bei; nachdem er .6.X%. ht. 4.
17 jene ausgefprochen, fährt er alfo fort: „Si aufem vir, vivente uxore sua, aliam
cognoverit, et ex ea prolem susceperit, licet post mortem uxoris eandem duxeritf,
nihilominus spurius erit filiWs et ab haereditate repellendus, praesertim si in
mortem uxoris prioris alteruter eorum aliquid fuerit machinatus: quoniam matrimo-
nium legitimum inter se contrahere non potuerunt.‘“ Hienach können alſo die im
Chebruc erzeugten Kinder durch die nachfolgende Ehe nicht Tegitimirt werben,
Zwar hat 3. 9. Böhmer (J. E. P. Lib. IV. tit. 17..$ 20 sqq.) diefe Aufaffung
der Deecretale beftritten und behauptet, e8 folge gerade das Gegentheil aus der—
felben; „denn zur Zeit Alexanders II. fer die Ehe zwifchen Chebrecher und Ehe-
brecherin überhaupt verboten gewefen, und der Papſt verorbne von die ſem
Standpuncte aus weiter nichts, als daß, wenn eine folde Ehe trog des allgemei-
nen Verbots gefchloffen worden fei, fie jedenfalls die Legitimation der Aneheliche
Kinder nicht bewirken Fünne; nun habe aber Innocenz III. im c. 6. X. de eo, q
duxit in matrim. 4. 7. das ältere canonifche Recht dahin geändert, daß ſolche
Chen, mit Ausnahme zweier Fälle, erlaubt feien, — e8 falle alfo die Beftim-
mung Aleranders III. vollftändig hinweg, und e8 müffe mit diefen Ehen auch die
Legitimation der im Chebruch erzeugten Kinder verbunden fein.“ Allein die Vor⸗
ausſetzung, auf welcher diefe ganze Argumentation beruft, ift hiſtoriſch unrichtig ;
fhon vor Alerander galten die Ehen zwifchen Ehebrechern im Allgemeinen für
erlaubt, ſchon Gratian fpricht dieß aus c. 2. Caus. 31.9. 1, Alerander, der
nicht lange nach Gratian fohrieb, muß fein Decret gefannt haben; war dieß aber
der Fall, fo fönnen feine Worte nur den Sinn haben: die Ehen zwiſchen Ehe—
brechern find zwar in der Negel jegt erlaubt, aber die Legitimation der Kin-
der fünnen fie nicht bewirken, und diefes ganz befonderg nicht, si in morlem
uxoris prioris alteruter eorum aliquid fuerit machinatus. Was ſodann Innocenz IL
betrifft, fo fann die Behauptung, er Habe die bisherige Praxis ändern wollen,
auch nicht die geringfte Wahrſcheinlichkeit für fi in Anfpruch nehmen; denn wäre
Alexander I., wie behauptet wird, wirklich noch auf den Standpuncte besälteren 7
Nechtes geftanden, und hätte Innocenz II. in dieſer für die Kirchliche Disciplin
ſo wichtigen Angelegenheit eine Aenderung machen wollen, ſo würde er dieſes
Hoch irgendwie in feiner Decretale angedeutet haben, da ihm die Geſetzgebung
Legitimation durch nachfolgende Ehe. 419
feines Vorgängers nicht unbekannt fein konnte; die genannte Deeretale enthält
aber von einer folhen Andeutung auch nicht eine Spur, vielmehr fagt fie unter
ausdrüdlicher Berufung auf die bereits geltende Praris (secundum formam cano-
nicam taliter respondemus etc.) genau daffelbe, was ſchon Gratian gelehrt und
Alexander I. beftimmt hatte, nämlich daß, zwei Fälle ausgenommen, die Ehen
zwifhen Ehebrechern erlaubt feien. Demnach ftehen beide Paͤpſte auf demſelben
Standpuncte, und die beftrittene Verordnung Aleranders II. entzieht alfo den
adulterinis die Legitimation durch nachfolgende Ehe, eine Anficht, welche die Ca—
aoniften einftimmig aussprechen (Van-Espen, J. E. U. P.Il. tit. X. c. 4), und
Benediet XIV. in der Conflitution Redditae nobis vom J. 1744 mit unwiderleg=-
lichen Gründen vertheidigt hat, Fragen wir aber nach dem eigentlichen Grunde,
der die Päpfte beftimmte, die adulterini von der Legitimation auszufchließen, fo
liegt er im Begriff und Geift der Legitimation felbft. Der nachfolgenden Ehe
wird nämlıh in der Weife eine rüfwirfende Kraft beigelegt, daß die nun-
mehrigen Gatten ſchon zur Zeit der Conception der illegitimen Kinder gleichfam
als verehelicht gedacht werden; war num zur Zeit der Conception, wie diefes bei
Ehebrechern der Fall ift, zwifchen den Erzeugern eine Ehe gar nicht möglich, fo kann
die nachfolgende Ehe bis dahin auch nicht zurückwirken, d. 5, die legitimatio prolis tft
mit ihr nicht verbunden. Diefer Grundfaß ift allgemein anerfannt, fowie die aus
ihm nothwendig folgende Confequenz, daß, wenn zur Zeit der Conception die
Che zwar an fich nicht möglich war, aber nachher in Folge einer Dispenfa-
tion doch eingegangen wurde, mit ihr die Legitimation verbunden fei, denn eben
die eingegangene Ehe beweist ja, daß fie durch Dispenfation ſchon damals mög-
lich gewefen wäre; fo können z. DB. die incestuosi legitimirt werden, wenn. ihre
Erzeuger naher zum Zwede der BVerehelihung die Dispens erlangt haben,
Uebrigens wurde ſchon im 13ten Jahrhundert die Legitimation der incestuosi bis-
weilen in Abrede gezogen, und was die adulterini betrifft, fo werden fie von der
neuern Staatsgefeggebung vielfach in allen den Fällen für Iegitimirt erflärt, im
welchen der Ehebruch Fein Ehehinderniß mehr ift, z. B. in Preußen nach Reſcript
vom 28, Februar 1818. — Bon befonderer Bedeutung ift die Lehre von der le-
gitimatio per subsequens matrimonium in Beziehung auf die irregularitas ex de-
fectu natalium. Als im neunten und zehnten Jahrhundert einerfeits die weltlichen
Großen ihre außerehelihen Nachkommen nicht felten in die Firchlichen Beneficien
einzudrängen fuchten, um fie fo anftändig und reichlich zu verforgen, und anderer-
Weite unenthaltjame Priefter bemüht waren, die eigenen Beneftcien an ihre Con—
eubinenfinder zu vererben (Van-Espen, J. c.), fo war die Kirche genöthigt,
Diefem eben fo unwürdigen als gefährlichen Treiben entgegenzutreten; ſchon Ur-
ban II. verbot den illegitimen Söhnen der Priefter geradezu den Eintritt in dem
geiftlihen Stand, und das Concil von Poitiers (1073) dehnte daffelbe Verbot
auf alle außerehelichen Kinder aus, von Innocenz II. wurden diefe Beftimmun-
gen wiederholt, und durch die Deceretalenfammlung Gregors IX. gingen fie in’s
gemeine Recht über (c. 1. 18. X. de filiis presbyterorum 1. 17). Daher fünnen
noch gegenwärtig nur ehelich Geborne zu dem heiligen Weihen und Firchlichen Be—
neficien gelangen; für die unehelichen Kinder ift hiezu die legitimatio per sub-
sequens matrimonium nothwendig; it die nachfolgende Ehe nie eingetreten oder
find fie adulterini, fo legitimirt für die höhern Weihen, Euratbeneficien und Dig-
nitäten die Dispenfation des Papftes, für die minores, einfache Beneficien und
Canonicate an Collegiatkirchen, falls für letztere die höhern Weihen nicht erfor-
dert werden, die bifchöfliche Dispenfation Ce. 18. X. de filiis presbyt. 1. 17,
ee. 1. h. t. in VI. 1. 105 endlich Tegitimirt auch der Eintritt in ein Klofter, aber
zur Erlangung der Prälatur befähigt er nicht cc. 1. X. h.t. 1.17), und nad
einer Verordnung von Sirtus V. kann ein Ilegitimus, auch wenn er durch die
nachfolgende Ehe oder eine päpftlihe Dispenfation Tegitimirt pen wäre, nie
27
420 Lehen — Leibesftrafen,
zur Carbinalswürbe erhoben werben (Bulla Sixti V. Postquam verus, in Bullar,
Rom. Tom. IL), — Vgl. über die Legitimation Reiffenstuel, Jus Can, Lib. IV.
tit. 17. $ 1. 2; Ferraris, Prompta biblioth. s. v. Filius, Filii; Georg. Jordens,
de legitimatione disput. II. Trai. ad Rhen. 1742, 1743; Died, Beiträge zur Lehre
von der Legitimation durch nachfolgende Che, Halle 1832, [Kober.]
Reben, ſ. Kirchenlehen.
Lehengeld, ſ. Laudemium.
Lehnin, Hermann, ſ. Hermann v. Lehnin.
Lehramt Chriſti, ſ. Chriftus,
Lehramt der Kirche, ſ. Kirche und Exegeſe.
Lehre der Kirche, ſ. Kirchenglaube.
Lehre, Priefter der hriftl, Lehre, f. Bäter der chriſtl. Lehre,
2eibesjtrafen bei den alten Hebräern. 1) Eine der Art nach unbe-
ſtimmte Leibesftrafe war durch das Wiedervergeltungsgefes angeoronet. Wer
nämlih einen freien Iſraeliten am Leibe verlegt hatte, follte durch die gleiche
Verlegung an demſelben Theile des Leibes (jus talionis) beftraft werden; denn
Das Geſetz fagt in diefer Beziehung: Leben um Leben, Aug um Auge, Zahn um
Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um
Wunde, Beule um Beule (Exod. 21, 23—25. Levit. 24, 19 f. Deut, 19, 21),
und fügt hinzu, daß hierin gleiches Necht für Fremde und Einheimifche beftehen
ſoll (Levit. 24, 22). Diefes Wiedervergeltungsrecht galt aber aller Wahrfchein-
lichkeit nach nur für Diejenigen Fälle, wo die Verlegung vorfäßlich gefchehen war;
denn ſchon für Verwundungen bei Schlägereien, wo im Allgemeinen beide Theile
als gleich fehuldig präfumirt werben können, wurde nur eine Vermögensftrafe
als Schadenerfa für den Verletzten vorgeſchrieben, nur feine Verſäumniß ſoll
er bezahlen und ihn heilen laſſen (Exod. 21, 18. f.). Uebrigens ift jene Wieder-
yergeltung nur als Recht, nicht als Pflicht angeordnet, Der Beſchädigte Fonnte
auf dieſelbe Flagen, war aber, wenn ber richterfiche Ausspruch fie geftattete, noch
feineswegs zur Vollziehung verpflichtet; wie verfehrt es wäre, folde Verpflich-
tung in jenem Gefege finden zu wollen, erhellt aus Matth. 5, 38 —40. Ohne
Zweifel wurde das firenge Necht höchſtens nur felten ausgeübt und in der Negel
für die körperliche Verlegung, die der Befchädiger ſich hätte gefallen laſſen müffen,
ein Löfegeld von ihm angenommen (cf. Lighifoot, horae hebr. p. 294). Das
Geſetz geftattet zwar dieſes nicht ausdrücklich, allen da es in einem gewiffen Falle
fogar Losfaufung von der Todesſtrafe durch ein Löfegeld geftattet (Exod. 21,
29. f.), ſo muß nach dem Geift des Gefeges Losfaufung von Förperlichen Ver—
Segungen um fo mehr erlaubt fein. 2) Die gewöhnlichfte Leibesftrafe bei den
Hebräern beftund aber nach der allgemeinen Sitte des alten Drients in Schlägen,
fo daß Schlagen auch geradezu im Sinne von Strafen gebraucht wird (Pf. 89,
33. Sprüchw. 10, 13. 17, 26). Das Werkzeug dazu waren ohne Zweifel Stäbe
oder Stecken, wie noch jest in Perfien, Arabien und Aegypten (Zahn, biblifche
Archäologie. II. 2. S. 339), denn „der Stecken dem Rüden des Thoren” Sprüchw.
10, 13, iſt augenfällig ein Strafwerfzeug, und ebenfo „der Stab meines Zornes
und der Stecken meines Grimmes“ Gef. 10, 5. Nur ebebrecherifhe Sclavinnen
wurden mit dem Ochfenziemer (9) gezüchtigt (Levit. 19, 20). Dagegen die 1 Kön.
12, 11. 14. 2 Ehron, 10, 11. 14. erwähnten D’3Ip> (nah Ephram zu 1 Kön,
12, 14. darmartige, mit Sand ausgeftopfte und mit Stacheln verfehene Leder—
inftrumente) waren allem nach ein ausnahmsweiſes jedenfalls nicht gerichtliches
Strafwerkzeug. Diefe Strafe, Die übrigens nicht entehrend war, wurde vom
Richter nach Verhältniß der Schuld zuerkannt, nur durfte er feinem Schuldigen
mehr als vierzig Streiche geben Iaffem Die Streihe aber wurden nicht, wie im
Leibnik. 421
heutigen Orient, auf die Fußfohlen, fondern auf den Rücken gegeben und die Boll-
ziehung der Strafe mußte in Gegenwart des Richters ftattfinden (Deut. 25,
1—3). Sn der naderilifhen Zeit bediente man ſich ftatt der Stecken oder Stäbe
Heflochtener lederner Riemen oder Geißeln, fo daß die Strafe der Schläge jegt
eine Geißlungsftrafe wurde. Sie war die gewöhnliche Strafe für Gefegesüber-
trefung und wurde mitunter auch in ſolchen Fällen angewandt, in welchen nach
dem Gefege die Todesftrafe Hätte eintreten follen (Maccoth 3, 15). Wie e8
fheint, wurde fie gern in den Synagogen vorgenommen (Matth. 10, 17. 23,
34) und war jet entehrend (Jos. Antt. IV. 8, 21. 23). Der Sträfling war in
einer vorwärts gebeugten Stellung, und damit das vom Gefeg beflimmte Mari-
mm von 40 Streichen nicht durch falfches Zählen überfchritten werde, gab man
nur 39 Streiche (Maccoth 3, 10), und bediente ſich dabei, wie es ſcheint einer
Geißel mit drei geflochtenen Riemen, wo dann 13 Streiche ſoviel ald 39 waren.
Die Miſchna fagt diefes zwar nicht ausdrücklich, aber die Zahl 39, und die Be—
merfung, daß der Verbrecher immer eine folhe Zahl von Streichen befommen
habe, die fih durch 3 theilen ließ (Maccoth 3, 11), fpricht dafür, Mit Rückſicht
auf jene Zahl 39 Heißt die Strafe au: vierzig (Streiche) weniger einer (2 Cor,
41, 24). DBerfchärft wurde die Strafe der Geißlung, wenn Jemand diefelbe
wegen deffelben Berbrechens fchon zwei Dial erhalten hatte und das Verbrechen
zum dritten Dal beging; für diefen Fall beftund die rabbinifche Verordnung, daß
er in den Stock gefegt und ihm Gerfte zu effen gegeben werde, bis er zerberfte
(Sanh. 9, 5). Ob das Drei- Männer- Gericht Cef. Sanhı. 1, 1), welches feine
Sigungen in der Synagoge hielt (Lightfoot, horae hebr. p. 332), die Geiflungs=-
firafe babe verhängen können, ift unter den Thalmudiften felbft ftreitig (Sanh.
1, 2)5 daß fie aber vom hohen Rathe oder Synedrium verhängt werben Fonnte,
erhellt aus Apg. 5, 40. — Wohl zu unterfcheiden von der jüdifchen Geißlung
iſt die römische, die während der römifchen Oberherrſchaft in Paläſtina auch an
Juden vollzogen wurde (Matth. 27, 26. Joh. 19, 1. Apg. 16, 22). Sie gefhah
theils mit Ruthen, theils mit Lederriemen, welche Ießtere zuweilen noch mit Blei
und eifernen Hafen verfehen waren (Scorpione), und war auf feine beftimmte
Zahl von Streiden eingefchränft (ogl. Drafenborch zu Livii histor. L. XXIX.
€. 18). — Ausländifhe Strafen waren: 1) Die Verftümmelung, wovon ein
Beifpiel (das Abhauen der Daumen und großen Zehen) ſchon im Buch der Richter
4 6, f.) vorfommt. Gewöhnlich beftund fie im Abfchneiden der Nafe und Ohren,
aber auch anderer Glieder, namentlich der Hände und Füße, oder der rechten
Hand und des Iinfen Fußes, oder der Iinfen Hand und des rechten Fußes. Diefe
Strafe, fowie die höchſte Steigerung derſelben, die Dichotomie (Abſchneidung
eines Gliedes nach dem andern, bis der Tod erfolgt), war befonders in Aegypten
üblich, wo gewöhnlich das Glied, womit das Verbrechen begangen worden, ab—
geſchnitten wurde (Diod. Sic. I. 78), und in Perfien, wo oft noch die Leichen der
Hingerihteten verflümmelt wurden (Jahn, a. a, D. S. 357). 2) Das Blenden,
was fchon dem jüdischen König Zedekia von den Chaldäern widerfuhr (2 Kön.
25, 7. Jerem. 52, 11), und in Perfien noch bis in die neuefte Zeit, namentlich
an den Föniglihen Prinzen in Anwendung fam, um fie zur Regierung unfähig
zu machen. Die Blendung befteht darin, daß man mit einem glühend gemachten
Stift von Metall über den Stern des Auges hinfährt, fo daß die Sehfraft ent-
weder sans verloren geht, oder nur noch im einem fo geringen Grade übrig bleibt,
daß die Gegenflände zwar noch wahrgenommen aber nicht mehr von einander
unterſchieden werden fünnen. [elte.]
Seibnitz und fein Verhältniß zur katholiſchen Kirche, Gotifried
Wilhelm Leisnig: ift geboren zu Leipzig den 21. Juni 1646, geflorben zu Han-
nover den 14. November 1716, Sein Vater Friedrich Leibnig war Profeffor
der Moral und Actuar der Univerfität Leipzig. Schon in den Studien des Knaben
422 Leibnitz.
zeigte ſich die künftige Größe. „Ich war noch Kind,” fo ſagt Leibnitz von ſich
ſelbſt, „als ich den Ariſtoteles kennen lernte, ſelbſt die Scholaſtiker ſtießen mich
nicht zurück. Den Suarez las ich ſo leicht, wie man mileſiſche Mährchen liest.“
Später gaben ihm Plato und Plotin Befriedigung, und wie er die niederen
Schulen verließ, gerieth er auf die neuere Philoſophie. Insbeſondere las er
fleißig Theologen von beiden Bekenntniſſen und befeſtigte ſich ſo in den gemäßig—
ten Meinungen der Parteien der Augsburger Confeſſion. Mit 15 Jahren ſchon
ein vielfeitiger Gelehrter, bezog Leibnig die Univerfität feiner Vaterſtadt. Mit
17 Jahren wurde er durch Vertheidigung feiner Differtation de principio individui,
welche eine ungemeine DBelefenheit in der Scholaftif zeigt, Baccalaureus ber
Philoſophie. Nun widmete er fih dem Studium der Nechte, Leipzig verweigerte
ihm hierin den Doetorgrad, Dagegen promovirte er in Altdorf auf's Glänzendſte
als Doctor der beiden Rechte. Bald darauf trat er mit dem Fatholifch gewor-
denen Baron Joh. Chriſt. v. Boineburg, lange Zeit erfiem Minifter des
großen Churfürften von Mainz, Joh, Philipp v. Schönborn, in die engfte
Berbindung und zog mit ihm nach Frankfurt, Im J. 1670 trat er in churmain—⸗
zifhe Dienfte, Von bier aus Tegte er Ludwig XIV. einen Plan zu einem Kreuz-
zug gegen die afrieanifchen Naubnefter und zur Eroberung Aegyptens vor, und
begab fich felbft zu Ludwig, konnte aber natürlich nichts ausrichten, Leibnis blieb
übrigens als churmainzifcher Nath in Paris bis 1676, wo er von dem gleichfalls
fatholifch gewordenen Herzoge Johann Friedrich als Rath und Bibliothecar
nah Hannover berufen wurde, In einem Empfehlungsfchreiben Arnaulds heißt
es, daß „Leibnitz nichts als die wahre Religion fehle, um in Wahrheit einer der
größten Männer des Jahrhunderts zu fein.“ Im Intereffe des Haufes Braun-
fchweig unternahm Leibnig 1688 eine Reife nah Rom und Stalien. In Rom
wurde er mit größter Achtung behandelt. Es wurde ihm fogar durch den Car—
dinal Caſanata die Stelle eines Cuſtode der Vaticaniſchen Bibliothek angetragen,
„Allein”, fehreibt er, „es war eine Bedingung daran gefnüpft, welche die Sache
unmdglih macht — ich habe die Aufficht über die Bibliothek des Vatican abge-
lehnt, von welcher man oft zur Cardinalswürde übergeht. — Aber diefes Alles
bleibt unter ung, denn ich prahle nicht gerne, obfchon ich Papiere in Händen
babe, um zu beweifen, was ich behaupte.” — Im J. 1690 fam Leibnig nach
Hannover zurüf, Sein Kopf und feine Feder wirkten mit zur baldigen Erhebung
des Haufes Hannover zur Churfürftenwürde, In der Mitte diefes Jahrzehents
trat Leibnig in Verbindung mit dem brandenburg-preußifchen Hofe, den er Dazu
zu benügen fuchte, jenes eitle Phantom der Trennung zwifchen den beiden prote=
ftantifchen Parteien immer mehr zu zerflören und die Union berfelben zu bewerf-
ftelligen. Leibnig nimmt drei Grade der Union an, „Der erfte Grad ift rein
eivil, er befteht in guter Harmonie und einem aufrichtigen Beiftande, und dahin
muß e8 dem Wahsthum der römifchen Partei gegenüber bei beiden Secten kom—
men. Der zweite zielt auf das kirchliche Einverfiändniß und lautet dahin, daß
man fich gegenfeitig nicht verdamme: die tolerantia ecclesiastica. Der dritte
Grad befteht in Einheit des Glaubens. Diefen letzteren Grad zu erreichen, hielt
Leibnig nicht für möglich, und hätte fi) mit dem zweiten begnügt. Allein auch
diefe Genugthuung ift ihm nicht geworben, Die 1701 erfolgte Erhöhung des
Haufes Brandenburg zur Königswürde hält Leibnig für „eine der größten Be—
gebenheiten der Zeit und für eine Zierde des neuen Säculi.“ War ihm ja ſchon
der Churfürft von Brandenburg das Haupt der Proteftanten im Reiche, — In
den letzten 20 Jahren feines Lebens befuchte Leibnis Feine evangelifche Kirche,
ging nie zum Abendmahle. Es mag ihm dieß den Vorwurf des Unglaubens zu-
gezogen haben. Den Sterbenden erinnerten feine Diener, ob er nicht das hl.
Abendmahl nehmen wolle, Er erwieberte: fie follen ihn zufrieden Yaffen, er habe
Niemand etwas zu leide gethan, Habe nichts zu beichten, Die Art des Begräb—
Leibnitz. 423
niſſes war des großen Mannes durchaus unwürdig. — Die Unſterblichkeit ſeines
Namens aber hat ſich Leibnitz insbeſondere geſichert durch feine Leiſtungen in der
Philoſophie, in welcher er gebrochen hat mit dem todten Mechanismus und dem
ſtarren Dualismus des Descartes, gebrochen mit jedem Syſtem bloßer Immanenz.
Bon bleibendem Werthe iſt, was er in der ſpeculativen Theologie, namentlich
in feinem Hauptwerfe, der Theodicee geleiftet hat, fowie in der höheren Mathe-
matik, Geſchichte, Rechtswiſſenſchaft ꝛc. An Univerfalität, Driginalität und Tiefe
des Wiffens fommen ihm nur Wenige gleih. Zugleich ſteht aber Leibnig auch
mitten auf dem Schauplage des gefammten Lebens und Strebens feiner bewegten
Zeit, Er war ebenfo Staatsmann wie Philoſoph. An allen forialen, politifchen
und firhlichen Berhältniffen nahm er den thätigften Antheil. — Der Streit, wel-
chem Glaubensbefenntniffe diefer große Geift zugethan geweien, ift faft fo alt,
als Leibnig felbft. Im neuefter Zeit find diejenigen ſchmählich verhöhnt worden,
welche Leibnig für einen heimlichen’Katholifen gehalten und nur äußere Umftände
als Urfache angefehen haben, warum er nicht offen zur Fatholifchen Kirche über-
getreten ift. „Weber Leibnigens Glaubensbefenntnig” , ſchreibt Perg, „Eann fein
weiterer Zweifel fein! Er war Katholif, wie Luther und Melanchthon, und wie
Die ganze proteftantifche Kirche, nämlich auf der Grundlage des Evangeliums,”
Das Recht, das lange unentfhiedene Problem mit folder Zuverficht als gelöst
zu verfünden, gibt Pertz'n eine Stelle in einem Werfe Leibnigens, das er noch
in feinen legten Jahren ausarbeitete, nämlich in feinen Annales imperii Bruns-
wicensis Ocecidentalis. Die Stelle ift allerdings der Art, daß wir fie herfegen
müſſen. Baronius erflärt die 963 geſchehene Abfegung des Papftes Johann XII.
für unrechtmäßig, weil der Papft als der Höhere von dem Geringeren nicht ge-
richtet werden Fönne. Dagegen führt Leibnig an, daß ſolche Stimmen der Schmeidh-
ler und Unfundigen längft von denen widerlegt feien, die in der Gemeinfchaft
der römifchen Kirche feldft das Eoneil über den Papft fegen. Die Bifhöfe feien
dem Papft durch Fein göttliches Recht untergeben, er felbft nenne fie feine Brüder,
Die ihm dur den Willen der Fürften und Völker des Oeeidents übertragene
Gerihtsbarfeit höre auf, wenn der Hirte fih in einen Wolf verwandle (wie
Johann XIL), dann flehe der römifche Bifchof unter dem Urtheile des römifchen
Kaifers und der Brüder, Des Bolfes Heil fei im Staate, der Seelen Heil in
der Kirche das höchſte Geſetz. Leibnig fährt fort: „Ich, der es nicht billigen fann,
Daß dur Noms Veranftaltung oder Zulaffung die Reinheit der Gottesverehrung
unterdrückt, das Chriftentbum bei dem Zwiefpalte der Völfer des Drientes und
Südens verabfcheuenswerth oder lächerlich gemacht und eine unvernünftige und
den Apofteln Chrifti unbekannte Theologie dur die Barbarei der Zeiten in die
Welt gebracht ift; ich Habe doch immer das Anfehen des erften Biſchofsſitzes und
die Wiederherftellung der alten Form der Firchlihen Hierarchie unter der Bedin—
gung gewünſcht, unter welcher Melanchthon die fchmalfaldifchen Artikel unter-
ſchrieb, wenn die Päpfte dem Evangelium Chrifti Raum geben, Warum Fönnte
nicht wieder nach Carl und Dito ein dritter großer teutfiher Kaiſer aufftehen,
der Rom wieder Fatholif und apoftolifh machte?“ Weiter urtheilt Leibnig von
dem zehnten Jahrh.: „Damals ward der Papft noch für Petri, nicht für Gottes
Statthalter auf Erden gehalten, und unerhört war der Traum feiner Unfehlbar-
leit, nicht wurde das Anfehen der Kirche durch Blut oder graufamer durch Feuer
befräftigt, nicht zu öffentlicher Anbetung das Sarrament des Altars ausgefegt
oder herumgetragen, noch verftümmelt, indem der Kelch dem Volke entzogen
wurde, 3a e8 war noch die alte Taufform vorhanden, die Biſchöfe Teutſchlands
lehrten nach alter Sitte in den Tempeln, die Canonifer führten ein gemeinfames
Leben, und an den Cathevralficchen und in ausgezeichneten Klöftern blühten
Säulen, denen trefflihe Männer vorftanden. Alles diefes aber ftürzte zuſam⸗
men, als die römiſchen Biſchofe die Herrſchaft der Kirche ergriffen, und ihre Emif-
424 Leibnitz.
ſäre, die Bettelmönche, der Schulen ſich bemächtigten. Da traten lächerliche Spig-
findigfeiten an die Stelle der verfiändigen Lehre, da ward von ber thörichtſten
Graufamfeit mit Feuer und Schwert gegen Andersgläubige gewüthetz warb
Zeutfchland durch des Clerus Künfte herrenlos und durch beftändige Spaltungen
zerriſſen; zugleich mit dem Staate fiel die Gelehrfamfeit und an die Stelle des
Rechts trat das Fauftrecht oder die Barbarei der heimlichen Gerichte, welche Hebel
im 14ten Jahrh. bei uns faft bis zum Aeußerften gelangten.“ Diefe Stelle ift
alfo für Pers und Andere das „Eirchlihe Teſtament“ Leibnigens. Alfein biefe
Stelle kann für fich allein für die Gefinnung Leibnigens zu Gunſten des Prote-
ftantismus nicht den Ausfehlag geben, da er denſelben an andern Stellen tief be-
Hagt und da fie augenfoheinlih den Stempel einer momentanen Gereiztheit an
fich trägt und daher ohne Gewicht iſt; fie iſt nichts als der Wiederhall der ge-
meinüblichen Tiraden der Proteftanten gegen den Papft und die Fatholifche Kirche,
zu denen fich der große Mann in einem unbewachten Augenblicke feines Ge-
müthes herabließ, und welche auf Unwahrheit und falfcher Auffaffung der That-
ſachen beruhen, und fleht mit feinen fonftigen und oft wiederholten Aeußerungen
zu Gunften des Papſtes und der katholiſchen Kirche in dirertem Widerſpruch —
Aeußerungen, mit denen der Proteftantismug ſchlechterdings nicht beftehen Tann,
Da müffen wir ung alfo bei Leibnig weiter umfehen! Die Tradition der fatho-
liſchen Kirche verwirft Leibnig nicht nur nicht, fondern fagt, daß er fie unendlich
hochſchätze, daß ſelbſt gemäßigte Proteftanten eine apoftolifche Tradition anneh-
men. Darım anerfennt Leibnig die Unfehlbarfeit der Fatholifchen Kirche, weil fie
von Chrifto regiert werde, und unterwirft fich dem Anfehen der Concilien. Deß—
wegen deutet er das Evangelium nicht fo, als Iehre e8 einen ohne die Werfe
feligmachenden Glauben und fagt fo ſchön in feiner Theodicee: „Es Fann Feine
Frömmigkeit flattfinden, wo Feine Liebe ift, und ohne Dienftfertigfeit und Wohl-
thätigfeit kann man feine wahre Gfückfeligfeit zeigen.” Wie aber einen mit thä=
tiger Liebe verbundenen, fo will Leibnig auch einen vernünftigen Glauben ſo—
wohl im Gegenfaß zu Luther als zu Bayle. Das natürliche Licht der Vernunft
ift ihm ein Geſchenk Gottes wie die Offenbarung, Die Glaubenswahrbeiten
müffen in der Vernunft begründet fein, können wohl über, aber nie gegen bie
Vernunft fein, Wie die Rechte der Vernunft, fo vertheidigt Leibnis auch Die des
freien Willens, Wer will Täugnen, daß feine Theodicee nicht weniger der luthe—
rifchen Lehre de servo arbitrio als dem Prädeftinatianismus entgegentritt ? Mit
al’ dem -ift aber die Grundlage des „Evangeliums“ aufgegeben, Wir fünnen
Dagegen die frappanteften Belege geben, wie Leibnig mit dem Begriffe, der Hie⸗
rarchie und Lehre der Fatholifchen Kirche übereinſtimmt. Mit 23 Jahren fhreibt
Leibnig: „Katholiſch ift, der in der allgemeinen Einheit und in der Gemeinfchaft
des apoftolifchen Stuhles ein Theil der hriftlichen Kirche iſt. Ein Ketzer ift außer
der Fatholifchen Kirche, alfo außer Chriftus. Alfo ift für einen Ketzer fein Heil.
Katholiſch zu fein, ift das größte Gut.“ Die ganze Kirche Halt er 1677 für einen
einzigen Staat unter dem Papfte als „Gottes Stellvertreter”, während der Kaiſer
als weltliher Stellvertreter Gottes zu betrachten fei, Die Faiferlihe Macht ſchließe
die Advocatie der römiſchen, Das ift: der allgemeinen Kirche in ſich. Die
Hierarchie ver Fatholifchen Kirche mit der Auszeichnung des höchſten Biſchofes ift
ihm 1683 eine Sache des gewöhnlichen göttlichen Nechtes, weil ein Director
der Bifchöfe und Priefter notwendig fer. Im J. 1691 gibt er zu, daß es dem
Papfte zuftehe, Bifchdfe anzuerfennen und zu beflätigen. Im J. 1697 erklärt
er fich alfo: „Da Gott ein Gott der Ordnung ift, und da es göttlichen Rechtes
ift, daß der Körper einer einzigen katholiſchen und appftolifchen Kirche durch Eine
Regierung und eine allgemeine Hierarchie zufammengehalten werden foll, fo folgt,
daß in diefem Körper deſſelben göttlichen Rechtes ſei das geiftliche Oberhaupt,
wenn es fih in Ausübung der Gewalt in gerechten Grenzen Hält und mit bex
Leibnitz. 425
Kraft verſehen iſt, alles zur Erfüllung feines Amtes Nothwendige zum Heile der
Kirche zw vollziehen, Das Angeführte mag die von Pers ausgehobene Stelle in
Betreff der Hierarchie in ihr rechtes Licht fegen. Man fieht, mit welcher Wärme
Leibnig die Idee der Katholieität und der mittelalterlihen Thevcratie fefthält,
Die Idee der Kirche mit ihrer Hierarchie entfpricht aber auch am Beften feinem
Syſteme. Die Bereinigung der Geifter bildet ihm gegenüber dem Reiche der
Natur die Stadt Gottes, d. 5. den vollkommenſten Staat, welcher möglich ift
unter dem vollfommenften Monarchen, eine wahrhaft univerfelle Monarchie, Diefe
Gemeinfhaft der Heiligen iſt Fatholifch oder allgemein und verbindet die ganze
menfhlihe Geſellſchaft. Sie hätte wohl auch ohne Dffenbarung unter den Men-
ſchen beftehen, und durch Fromme und Heilige unterhalten und fortgepflanzt wer-
den fönnen. Kommt indeß eine Offenbarung dazu, fo wird das vorige Band
nicht zerriffen, fondern verftärft. Auf diefem Grunde feiner Natur- und Rechts—
philofophie baut nun Leibnig eine allgemeine Republif der riftlihen Völker in
dem Berbande der allgemeinen Kriftlihen Kirche unter den zwei oberſten Ge—
walten. Daraus laſſen fi Teicht die großen Anftrengungen Leibnigens für Ver-
einigung mit der katholiſchen Kirche erklären, fowie die Aeußerung von ihm,
daß wir mit al’ unferen Thränen die Trennung nicht genug beweinen fönnen. Der
für die katholiſche Kirche und ihre Hierarchie fo begeifterte Leibnig war alfo doch
gewiß Katholik? „Sie Haben Neht, wenn Sie glauben, ich fei im Herzen ein
Katholik. Ich bin es ja fogar öffentlich,“ fchreibt Leibnig 1691 an Madame
de Brinon. Den gründlichften Auffchluß über die Katholicität Leibnigens gibt
fein Briefwechfel mit dem Convertiten Landgraf Ernft von Heffen-Rhein-
fels, der die Periode von 1680 — 1693 umfaßt. Der Landgraf fordert Leib-
nigen öfters und mit einer faft wehethuenden Zudringlichkeit auf, Gott die Ehre
zu geben, fich gleichfalls in den Schooß der Fatholifchen Kirche zu retten. Leibnig
fagt, daß man in der inneren Communion der katholiſchen Kirche fein könne,
ohne in der äußern zu fein, Er Halte fich der inneren Communion der Kirche
für verfichert, wie derjenige, welcher ungerecht ercommunieirt fei, weil es nicht
an ihm liege, auch der äußeren zu genießen, Es würden nämlich einige philo—
fopbifhe Meinungen, von welchen er die Beweife zu haben glaube, die er alfo
unmöglich aufgeben Fönne, die übrigens weder der hl. Schrift, nach der Tradi-
tion, noch der Definition eines Conciliums widerfprächen, von einigen Theologen
der Schule cenfurirt, als gehörte das Gegentheil davon zum Glauben. Wäre
er in der Fatholifchen Kirche geboren, fo würde er nur austreten, wenn man ihm
wegen biefer Meinungen die Communion verweigern würde, Sp aber müßte er
entweder feine Gedanfen verbergen, oder einem: Turpius ejicitur, quam non ad-
mittitur hospes ausfegen, Wie an den Landgrafen, fo ſchreibt Leibnig auch an
Madame de Brinon: „Das Wefen der Katholicität befteht nicht darin, äußerlich
mit Rom zu commitnieiren, fonft würden diejenigen, welche ungerecht ereommuni-
eirt werden, wider Willen und gegen ihre Schuld aufhören, Katholiken zu fein.
Die wahre und wefentlide Communion, welche macht, daß wir zu dem
Körper Jeſu Chriſti gehören, ift die Liebe," Wir fönnen demnach das BVBerhält-
niß leibnigens zur katholiſchen Kirche ziemlich genau beftimmen. Leibnig ift Ka-
tholik, aber — in feinem Sinne, Zwei Begriffe, die Leibnig feldft nicht immer
genau auseinander gehalten und dadurch felbft Anlaß zu Mißverfländniffen gege-
ben hat, müffen wohl von einander gefchieden werden: nämlich der hiftorifch ge—
gebene Begriff der römifch-Fatholifchen Kirche, und der Begriff ver Fatholifchen
Kirche, der Stadt Gottes, der Gemeinfchaft der Heiligen, wie er aus dem fbe-
culativ politifhen Syfleme Leibnigens folgt und deffen Schlußftein bildet. Leib-
nigens Kirche Gottes bindet die ganze menſchliche Geſellſchaft auf Erden zufam-
men, das Poftulat der Idee derfelben ift allerdings die hiftorifch gegebene katho—
liſche Kirche, und Leibnig anerkennt in derfelben die Verwirklichung feiner Idee.
426 Leibnitz.
Daher iſt ihm der Papſt der Stelloertreter Gottes, der Primat des Papſtes, ja
die ganze römiſche Hierarchie göttlichen Rechtes, und die Wiedervereinigung mit
dieſer Kirche nach Kräften herzuſtellen für Leibnitz ein ſpeculatives Bedürfniß.
Allein der Widerſpruch geſellt ſich gleich dazu. Er ſchreibt an den Landgrafen
Ernſt, daß „die ſichtbare katholiſche Kirche in all' den Glaubensartikeln, welche
zur Seligkeit nothwendig ſeien, durch einen beſondern, ihr verheißenen Beiſtand
des hl. Geiſtes untrüglich ſei/. Wie kann aber dann immer noch von „ungerecht
Ereommunieirten” , von philofophifchen Meinungen die Nede fein, die, wenn auch
fireng bewiefen, doch eenfurirt werben Fönnten ? Auf diefe „ungerechte” Exreommuni-
cation und Cenfur fih berufend, behauptet Leibnig freilich, wenn nicht in der
äußeren, fo doch in der inneren Communion der Kirche zu fiehen. Allein wenn
die Kirche wirflih den äußeren Verband mit ihr fordert und fordern kann, wenn
fie in einem fo wefentlihen Puncte, wie die Excommunieation ift, fich nicht irren
kann, wenn fie das gefammte Gebiet ihres Glaubens, ihres Eultus ꝛc. zu beſtim—
men hat, und jede Abweihung des Subjectes cenfuriren fann, und wenn all’ diefes
aus dem Zugeftändniffe folgt, daß fie ſich des befondern Beiftandes des hl. Geiftes
erfreue, fo ſteht Leibnig nicht nur nicht im äußeren Verbande mit der Kirche,
fondern nicht einmal im inneren, Dann wird zum Wefen der inneren Communion
noch etwas mehr erfordert, als das Band der Liebe, Mag daher Leibnig in vie—
Ien, ja in allen Glaubenspuneten mit der Fatholifchen Kirche übereinftimmen, der
Eine formale Grund beweist feine Unfatholicität, daß er fich der Auctorität der
Kirche nur mit Vorbehalt unterwerfen, nicht auf dem pofitiven Grunde des Glau-
bens, fondern auf dem fubjectiven der Liebe fich mit ihr vereinigen will, — Diefe
unerquiliche Stellung zur Fatholifchen Kirche zeigt fih am deutlichften in feiner
Anfiht von dem Coneil zu Trient, Daffelbe ift ihm Fein deumenifches, weil
meiftentheils italienifche, Faum ein Paar teutfche Bifhöfe auf demfelben zugegen
waren, weßhalb es auch nicht allgemein angenommen worden ſei. Die Prote-
ftanten feien auf Demfelben ungerecht ereummunieirt worden. Die Unauflöslichkeit
der Ehe, wie fie das Tridentinum feftfegt, feheint ihm von den gefährlihflen
practifchen Folgen zu fein. Die Aufnahme der deuterocanoniſchen Bücher in den
Canon griff er Boffuet gegenüber aufs Heftigfte an. Diefe Bedenken find frei-
lich alle von Boffuet gehoben und Leibnit zum Schweigen gebracht worden. Bon
welchen Puncten feiner Philofophie Leibnig befürchtete, fie möchten die Cenfur
nicht beftehen, war ſchon Arnauld’n ein Näthfel, das auch ich nicht zu Löfen wage.
Leibnitz ſchreibt übrigens 1684 an den Landgrafen, daß feine philofophiichen
Zweifel nichts enthalten, was den Geheimniffen des Chriſtenthums widerſpräche,
nämlich der Dreieinigfeit, der Menfhwerdung, dem Abendmahl und der Aufer-
ftehung der Leiber, Die Abendmahlslehre verurfachte aber Leibnitzen nicht bloß
die Hauptſchwierigkeit bei dem Reunionswerke, ſondern war für ihn ſein ganzes
Leben hindurch Gegenſtand einer Unterſuchung, mit der er bis zu ſeinem Tode
nicht in's Reine kommen konnte. Zuerſt meinte er, die Lehre der Conſess. Aug.
falie mit der Transfubftantiation der katholiſchen Kirche zuſammen, was ihm bald
wieder anders vorkam; dann befannte er ſich zu der erfteren und in den legten
Jahren fuchte er in einem intereffanten Briefwechfel mit einem Sefuiten, De$-
boffes, die Möglichkeit der Transfubftantiation aus feiner Naturphilofophie
zu beweifen, Aber hic haeret aqua. Den Prineipien feiner Naturphilofophie zu-
folge ift ein zufammengefegter Körper das Nefultat aus den rein ideal beftimm-
ten, ihn conftituirenden Monaden, Was dem empirifchen Bewußtfein an dem—
felben als Materie erfcheint, ift daher ein bloßes Phännmen, wie etwa ber
Regenbogen. Auf diefe Weife gefteht aber Leibnig felbft die Transfubftantiation
Cund folgerichtig auch die Incarnation) nicht erklären zu Fönnen, und nimmt daher
zu einem fog. vinculum unionis feine Zuflucht, das den Körper- Phänomenen Nea=
Yität verleihen fol, Diefes Einheitsband würde bei der Verwandlung bleiben,
Leibnitz 427
während an die Stelle der durch daffelbe anfänglich verbundenen DMonaden (des
Brodes ꝛc.) die Monaden des Leibes CHrifti träten. Allein diefe Hypothefe er—
Härt nicht nur die Transfubftantiation nicht, denn es findet nur eine Vertauſchung,
nicht aber eine Verwandlung der Monaden, d. h. der Subftanz Statt, fondern
jenes vinculum ift, weil in der Leibnitz'ſchen Naturphilofophie nicht begründet und
nicht berechtigt, felbft etwas, das der Erklärung bedarf. Gelang es alfo Leib—
nigen nicht, die Fatholifche Abendmahlslehre mit feiner Philofophie in Einklang zu
bringen, fo wäre leicht nachzumweifen , daß diefe Schwierigkeiten fih nur häufen,
wenn die Abendmahlsiehre des Augsburger Befenntniffes im Sinne der Leibnig’-
ſchen Naturphilofophie erklärt werden fol. Wir wollen aber um den traurigen
Borzug nicht rechten, ob Leibnig in diefem Punete der Fatholifchen oder der prote—
ſtantiſchen Lehre weniger ferne ftehe. Dagegen darf behauptet werden, daß Leibnig
in den übrigen dogmatifchen Differenzpuncten entweder geradezu auf katholiſchem
Boden, jedenfalls aber der Fatholifchen Kirche viel näher fteht, als der proteflan-
tifhen. Zu dem bereits Ausgeführten Tiefert ung das vielbefprocdene „systema
theologiae‘“ Leibnigens ein neues Beweisinftrument, Diefe Schrift, welder
ein Bibliothecar die Auffchrift systema theologiae gab, enthält eine Darlegung,
wenn man nicht fagen will, eine Vertheidigung und philofophifche Begründung
der Fatholifchen Glaubenslehre. Das Manufeript lag ungedrudt in der Bibliothek
zu Hannover, bis es 1810 an Emery nah Paris gefandt und 1819 mit einer
franzöfifchen Heberfegung gedruckt wurde, Gleich darauf wurde das syst. Ih. in
Teutſchland in zwei fchnell aufeinander folgenden Ausgaben, die Räs und Weis
nah dem franzöfifchen Abdrucke beforgten, verbreitet, Man fonnte nicht wohl
den Leibnig’fhen Urfprung der Schrift läugnen, fuchte aber um fo mehr Zweifel
in die Acchtheit des Abdrudes zu fegen. Lacroix veranftaltete 1845 zu Paris
eine neue Fritifche Ausgabe nach dem Autographon Leibnigens. Die Handſchrift
iſt der Föniglichen Bibliothek zu Hannover wieder zugeftellt worden. Um ſich
wegen des Fatbolifchen Inhaltes der Schrift eines unliebfamen Zugeftändiffes er-
wehren zu fonnen, hat man ſich auf die eigenthümliche Tendenz derfelben berufen,
Selbſt die katholiſche Zeitfchrift für Philof. und Theol. von Braun und Achterfeld,
Bonn 1843, S. 113, empfiehlt große Borfiht und forgfältige Vergleichung bei
Benutzung des syst. theol., wenn die Frage fei, was aus demfelben als die eigent-
fihe und volle Ueberzeugung Leibnigens zu betrachten fei und was nicht, da das—
felbe doch immer eine Diplomatifche Seite darbiete, während es Lacroir ein herr—
liches Zeugniß des Fatholifchen Glaubens nennt. Mit dem diplomatifhen Cha—
after der Schrift verhält es fich aber alſo. Zur Zeit, da fich Leibnig fehr lebhaft
an den Reunionsverhandlungen betheiligte, im 3. 1683, fohreibt er an den Land-
grafen: e8 follte ein meditativer Mann fo genau und fo aufrichtig als möglich
über die bei der Reunion ftrittigen Artikel ſich ausfprechen und fie einigen der
gemäßigften und gelehrten Fatholifchen Bifchöfen vorlegen, mit Verheimlihung
feines Namens und feiner Kirche, und fie fragen, ob fie feine Meinung in ihrer
Kirche für zuläſſig halten. Im September 1684 ſchreibt Leibnitz, er habe wirf-
lich vor, eine derartige Schrift abzufaſſen; wiederholt aber, man dürfe durchaus
nicht wiſſen, daß der Verfaſſer nicht zu der römiſchen Kirche gehöre, Dieſe ein-
äige Angabe mache die beſten Dinge verdächtig. Man hat diefe Erklärungen
immer auf das syst. theol. bezogen; ob man aber berechtigt fei, deßwegen dem=,
felben eine fo zweideutige Abficht zu unterſchieben, während doch Leibnig ſelbſt
„aufrichtig” zu Werfe zu gehen verfpricht, weiß ich nicht. Entweder fpricht
Leibnig feine eigene, volle Heberzeugung aus, und dann hat Lacroir Recht, wenn
er ‚die Schrift ein praeclarum catholicae fidei testimonium nennt, „der Leibnit
ſpricht gegen ſeine Ueberzeugung, dann fällt auf ſeinen Charakter eine Makel,
die man nicht fo leicht wegwiſchen wird, Ein Drittes gibt es nicht. Denn Leib-
mg Halt mit Nichts Hinter dem Berge, fondern Alles wird mit feftem, entſchie—
428 Leihen.
denem Tone zur Sprache gebracht. Wer den Entwicklungsgang der Leibnitz'ſchen
Philoſophie Fennt, wird geftehen, daß die philofophifche Begründung, insbefondere
der Transfubftantiation, auf's Genaueſte der betreffenden Entwiclungsperiode ent-
ſpricht. Die theologiſche Ueberzeugung Leibnigens Tiegt in dem jegt vollftändig
erfehienenen Briefwechfel mit dem Landgrafen vor, Man weife alfo den behaup-
teten Widerfpruch nach. Auf den Inhalt der Schrift felbft des Nähern einzugehen,
iſt nicht möglich, — An der Reunion der Katholiken und Proteftanten bethei-
ligte fich Leibnig eine Reihe von Jahren hindurch mit großem Eifer, und wir
haben das fpeeulative Intereffe kennen gelernt, das ihn dabei Teitete, Die fchroffe
Trennung der Hriftlihen Eonfeffionen ſteht nämlich in zu großem Contraſte mit
feiner Idee von der Kirche Gottes, in welcher die Oeifterwelt zur Harmonie
verbunden iſt. Die Vorzüge der römischen Hierarchie machten e8 ihm erwünfcht,
auf dem Boden dieſer Kirche Die Wiederbereinigung zu bewerkftelligen. Die dogma⸗
tifchen Differenzen famen ihm, die Schwierigkeiten mit Der Abendmahlslehre ausge-
nommen, weniger bedeutend vor. Die etwa in der Praris der Kirche vorkommenden
Mißbräuche fonnten entweder gehoben, oder um des höhern Zweckes willen, nach⸗
fichtig beurtheilt werben, Die Zeit ſelbſt ſchien günftig, die Heftige Polemik Hatte
aufgehört, von beiden Seiten zeigte fich größere Verfühnlichfeit und Luft zur An-
näherung. Das DBerfehlte und Bodenlofe des Standpunctes der gepflogenen
Unterhandfungen wurde von Boffuet (ſ. d. A.) in feinen Briefen an Leibnig
vffen aufgedeckt. Die Angelegenheiten der Religion Laffen fich nicht wie die welt-
lihen Angelegenheiten behandeln, fagt Boffuet, welche man oft beilegt, indem
jede der beiden Seiten etwas nachgibt. Die Kirche Tonne auf Feinem andern, als
expofitorifchem und explicatorifhem Wege eine Reunion zugeben, Treffend be-
merkt Boffuet gegen den Vorſchlag, das Eoneil von Trient zu umgehen, daß die
ftrittigen Artifel von der Kirche fohon in ven vorhergehenden Concilien, die
alfo wieder aufzuheben wären, befinirt worben feien, „Finden Sie ein Mittel
. gegen diefe Unordnung, gegen dieſe Verwirrung, ober verzichten "Sie auf dag
Ausfunftsmittel, welches Sie vorſchlagen!“ ſchreibt er hierüber an Leibnitz. Der
1694 von Boſſuet unterbrochene, von Leibnig fünf Jahre ſpäter wieder aufge-
nommene Briefwechfel befchränfte fich bald auf die befondere Frage, ob das Zri-
dentinum das Necht gehabt Habe, die deuterocanoniſchen Bücher in ven Canon
der Hl, Schrift aufzunehmen. Boſſuet ſteht in diefem ganzen Briefwechfel nicht
bloß durch die einzig richtige Stellung, die er einnimmt, fondern auch durch
Ruhe und perfönlihe Würde weit über Leibnig, der dem großen Bifchofe die bit-
terfien Dinge nicht erlaffen hatte, ſowohl was ihn felbft, als die katholiſche Kirche
betraf, wie Guhrauer richtig bemerkt, — Sp beftätigt fich denn auch hier das
oben ausgefprochene Urtheil, daß, fo nahe Leibnit auch in einzelnen Puncten der
Lehre und Berfaffung der katholiſchen Kirche fteht, wir dennoch weit entfernt find,
bloß äußere Umftände als Urfache anzugeben, warum er nicht in den Verband
der Kirche eingetreten ift, oder eine einzelne Schrift, wenn nicht gar eine einzelne
Stelle als fein Firchliches Teftament zu betrachten, Wir faffen ven Mann nach
feiner Gefinnung, nach der Neinheit feines Willens, nach feinem innerſten Wefen,
und beurtheilen darnach fein Glaubensbekenntniß, ohne die Freude derjenigen
ſtbren zu wollen, welche an Leibnigens Proteftantismug glauben, — Wir machen
noch auf die vortrefflihe Biographie Leibnigeng von Guhraner — Breslau
1846 in Hirt’8 Verlag — aufmerkſam. — Zur Philoſophie Leibnigens vrgl. dem
Art, Harmonia praestabilita. [Münft.]
Leichen, ihre Behandlung bei den alten Hebräern und neuern
Juden. Es ift hier zu dem, was bießfalls fchon in den Artifeln Begrabniß
b. d. Hebr. und Grab, jüdiſches 20, vorkommt, nur noch Einiges nachzutragen
über die Zubereitung der Leichen zum Begräbniffe, In den biblifchen Schriften
fommen jedoch hierüber nur wenige vereinzelte Andeutungen vor, nach denen ſich
Leihen. 429
die betreffenden Dbfervanzen mehr nur muthmaßen als mit Sicherheit angeben
laſſen. Nah diefen Andeutungen zu ſchließen, drüdte man dem BVerfiorbenen
zuerft die Augen zu und Füßte ihn (Genef. 46, 4, 50, 1. Tob. 14, 15. Vulg.),
wufch dann die Leiche und wickelte fie in Leinwand (Matth. 27, 59. Marc, 15,
46, Luc, 23, 53.), umwand die Glieder wohl auch noch befonders mit breiten
Binden (Joh. 11, 44.) und that zwifchen die Leinwand und die Binden oft auch
no föftlihe Salben und Specereien (Joh. 12, 1. 7. 19, 39 f.). Die Leichen
vornehmer und befonders fürftlicher Perfonen erhielten häufig außer einer großen
Menge folder Specereien auch noch fehr Foftbare Todtenfleider (Jos. Antt. XVII
8, 3. Bell. Jud. I. 33, 9.). Jacob und Joſeph wurden fogar auch einbalfamirt
(Genef. 50, 2. 26.), doch war dieß offenbar nur ägyptifche Sitte, denn die Ein-
balfamirung (f. d. A.) fommt fonft bei den alten Hebräern nie vor. Nachdem
die Vorbereitungen zum Begräbniffe zu Ende waren, wurde diefes felbft ſobald
als möglich vorgenommen, Diefe Eile wurde aber ohne Zweifel erft in der mo—
faifchen oder nachmofaifchen Zeit üblih, und Hatte ihren Hauptgrund in den mo-
ſaiſchen Verordnungen über die Verunreinigung dur Todtenberührung (Num. 19,
11 ff.), denn in der patriarchalifchen Zeit ſcheint man nichts von derfelben ge-
wußt zu haben (Geneſ. 23, 2 ff.). Die Leiche wurde dann in einem Garge
(00005 Luc, 7, 14. Augve& Jos. Antt. XV. 3, 2.), der nad Luc, 7, 14. oben
offen gewefen zu fein, und nah 2 Sam. 3, 31. auf einer Bahre (Tao) gelegen
zu haben fcheint, zum Grabe getragen (Luc. a, a. D, Ang. 5, 6. 10.), und die
Anverwandten und Freunde gaben das Geleit unter Weinen und Wehflagen
(2 Sam. 3, 32, Baruch 6, 31.). — Die Behandlungsweife der Leihen vor dem
BDegräbniffe bei den fpätern und heutigen Juden ift nicht überall ganz die gleiche.
Am gewöhnlichften befteht fie in Folgendem. Nachdem man fich überzeugt hat, daß
der Tod wirklich eingetreten fei, fprechen die Anwefenden: „Gepriefen ſei, der in
Wahrheit richtet” (mas 777 7172), und die etwaigen Erben des Berftorbenen
- fagen: „Geprieſen feift du Herr unfer Gott, König der Welt, der du gut bift
und Gutes thuſt· ran Dar mas 82). Dann nimmt man den Todten aus
dem Bett und legt ihn auf den Boden des Zimmers, den man zuvor mit Stroß
oder mit einem Tuche bedeckt hat und ftellt zum Kopfe hin ein Licht, Nachher
fommt die „heilige Genoffenfhaft”“ Crosp man), deren Gefchäft es ift, mit
den Leihen umzugehen, legt den Todten auf einen Tifch oder ein Brett, wafcht
ihn mit warmem Waffer, pußt ihm die Haare, fihneidet ihm die Nägel an den
Fingern und Zehen ab, und gießt zulegt noch Faltes Waffer über die Leiche hin—
unter; die Anwefenden aber beten unterdefjen Pfalmen und andere Gebete für
‚den Berfiorbenen, Darauf wird ihm das Sterbefleid angezogen, das immer bloß
aus Leinwand beftehen darf, und die TallitH umgehängt, nachdem man zuvor die
Zizith weggeriffen, zum Zeichen, daß er nicht mehr unter dem Geſetze ſtehe, und
zulegt wird er noch in ein weißes Leintuh gewidelt, Nach, einer Verordnung
Gamaliels foll diefe Todtenfleivung immer diefelbe fein, der Verftorbene mag ge-
ring oder vornehm, arm oder reich gewefen fein. Nur ein Ermordeter ſoll mit
feinen blutigen Kleidern, eine Kindbetterin mit einem Theile ihrer Kindbettkleidung,
und eine Braut, die während der Hochzeit geftorben ift, mit ihrem Hochzeitſchmuck
begraben werben. Bevor man die Leiche zur Beerdigung fortnimmt, mandmal
auch gleich nach der vorerwähnten Wafhung, kommen die Anverwandten und An-
dere, bie mit dem Berfiorbenen vielen Umgang gepflogen, berüßren feine Füße
und bitten ihn um Verzeihung, wenn fie ihn etwa follten beleidigt und von ihm
noch nicht Verzeifung erhalten haben. Vgl. Bodenfhas, kirchliche Verfaſſung
der heutigen Juden, fonderlich derer in Teutfchland sc. Erlang. 1748, Thl. IV.
©. 170 f. — B. Mayer, das Judenthum in feinen Gebeten, Gebräuhen, Ge—
ſetzen und Ceremonien. Regensb. 1843, S. 458, [Welte.]
430 Leihenbegängnig — Leidrad,
Reichenbegängniß, f. Begräbniß.
Leichenhäuſer oder Leichenballen heißen die Gebäude, welche man in
neuerer Zeit auf Kirchhöfen größerer Städte errichtet zum Zwecke der Verhütung
des Lehendigbegrabeng und des Wiedererwachens im Grabe, Die Leihen werben
in der Negel bald nach eingetretenem Tode dahın verbracht, gewöhnlich in aller
Stilfe, da und dort (z. B. in Münden) unter Begleitung eines Priefters; eigens
aufgeftellte Wärter haben Wache zu halten; durch an Händen und Füßen des
Todten angebrachte Klingelzüge werden fie von jeder etwaigen Bewegung ber
Leichname in Kenntniß gefebt; brennende Wachskerzen, Blumen u, ſ. w. bilden
den Schmurf, womit riftlihe Pietät diefe Kammern des Todes ausftattet, die
Angehörigen der ausgefeßten Verftorbenen finden fih ein, um für fie zu beten;
nad Ablauf der gefeglihen Zeit oder in befondern Fällen bei unzweideutigen
Zeichen des Todes erfolgt dann vom Leichenhaufe aus die Firchliche Beerdigung. —
Die Einrichtung der Leichenhäufer ift neu; das erfte in Teutfchland wurde auf
Hufelands Vorſchlag 1792 in Weimar errichtet. Im Mittelalter blieben die Lei-
hen oft wochenlange in den Kirchen ausgeflellt, Die der Ercommunicirten unter
freiem Himmel; vgl, Binterim, Denkwürdigfeiten ꝛc. VI. 385, und den Art,
Begräbniß, Bo, 1. 734 ff. — Die Leichenhäufer. auf Fatholifchen Gottesäckern
folfen wie diefe Eirchlich eingeweiht werden; das Nituelle wird daffelbe fein wie
bei den Kirchhöfen (f. d. A), und fo gehören fie zu den geweihten Sachen (ſ. die
Art, Geweihte Sahen und Kirhenvermögen). Weber die ſanitätspolizei—
liche Bedeutung der Leichenhäufer vgl. P. 3. Schneider, medieiniſch-polizeiliche
Würdigung der Leichenhallen ꝛc. Freiburg i. B. 1839,
2eichenrede, |. Grabrede.
Leichnam, Gebete vor ihm ıc., f. Begräbniß.
Leiden, Johann v., f. Wiedertäufer.
Leidensgefchichte Sefu, ſ. Jeſus Chriftus.
Reidrad, Erzbifhof von Lyon, einer der vorzüglichften Prälaten unter
Carl dem Großen, geboren in Noricum („Noricus hunc genuit* fagt Biſchof
Theodulph von Orleans, fein Freund, Sirmond. opp. Venet. 1728. II. p. T41—
742), alfo wahrfcheintihft ein Bayer, wie auch aus feinem innigen Verhältniß
zu Erzbifhof Arn von Salzburg (ſ. d. A.) bervorzugehen ſcheint, war Bibliothe-
car Carls des Großen und wurde von biefem im J. 798 auf den erzbifhöflichen
Stuhl von Lyon erhoben, Nach Neugart (episcop. Const. I, 89—91) wäre Leidrad
vor dem Episcopate eine Zeit lang Decan des Münfters zu Zürich gewefen.
Gleich nach der Befteigung des erzbifchöflihen Stuhles mußte Leivrad im Auf-
trage Carls als Missus Dominicus zugleich mit dem Bifchof Theodulph von Or-
leans mehrere Provinzen des fränfifchen Reiches bereifen (ſ. Sirmond. 1. cit.).
Weil der Adoptianismus (ſ. d. A) auch in den an Spanien grengenden Provinzen
des fränfifchen Neiches vielen Eingang gefunden hatte, fendete Kaiſer Carl im
% 799 den Erzbifchof Leivrad, den Biſchof Nefried von Narbonne und den Abt
Benedict von Aniane in diefe Provinzen ab, fowohl um der Verbreitung der Irr—
lehre entgegenzuarbeiten, als auch um den Felix von Urgell, den Urheber diefer
Serlehre felbft (f, den Art, Felix), zur Reife nach Frankreich zu bewegen, wo
nicht mit Gewalt gegen ihn verfahren, fondern eine ruhige Unterfuchung über den
fireitigen Gegenftand gehalten werben follte, Wirklich vermochte Leivrad den
Felir, mit ihm nach Frankreich zu gehen, wo dann zu Aachen 799 in Gegenwart
Carls die befannte Synode gehalten wurde und Felix feinen Irrthum befannte,
Weil man aber Lesterem doch nicht recht fraute, übergab ihn das Concil dem
Erzbifchof Leidrad „ut secum teneret eum et probaret si verum esset quod se ait
credidisse et si per epistolas suas damnare voluisset pristinum suum errorem* (f.
a de ne ER
Leipziger Disputation — Leipziger Interim, 431
Epist. Alcuini ad Arnon. p. 113—114, 238, 917 in opp. Alcuini edit. Frob. 1.).
Sm 3. 800 wurde Leidrad mit den zwei genannten Gefährten abermals nad
jenen Gegenden gefendet und brachte da nah Alcuins Bericht (ibid. p. 136)
20,000 Anhänger des Adoptianismus zur rechten Lehre zurück. Aus einem Briefe,
welchen Leivrad nicht Tange vor Carls Tod an dieſen fihrieb, erfieht man, mit
welchem Eifer er das bifhöfliche Amt verwaltete, „Ich habe alles Mögliche ge-
than, fagt er darin, um fo viele Cleriker, ald zur Feier des Gottesdienftes nöthig
waren, zu erhalten, und Gott fei Dank, ich habe fehr viele und es fehlen nur
noch wenige, Ich habe die Pfalmodienordnung, wie fie in deinem Palaſte beobach⸗
tet wird, zurückgeführt und Schulen von Sängern errichtet, von denen die meiften
3 fähig find, andere Anfänger zu unterrichten. Ich Habe Schulen von Lectoren,
welche nicht bloß die gottesdienftlihen Lectionen zu recitiren, fondern auch die
heiligen Schriften zu meditiren und zu erffären verfiehen, und von denen einige
den geiftlihen Sinn der Evangelien, viele den Sinn der Propheten, der Bücher
Salomons, der Pfalmen und des Job faffen. Ich habe fo viele Bücher als ich immer
konnte, für den Gebraud der Lyoner Kirche abfihreiben Iaffen, Prieſtergewänder
und hl. Gefäße herbeigefchafft, und es. nie, wo es möglich war, unterlaffen, Kir—
chen zu repariren,” Unter den reparirten Kirchen und Klöftern zählt er auch die
Reparation einer „domus episcopalis“ und den Neubau einer andern domus episc.
auf, worin, wenn der Raifer in diefe Gegenden fommen würde, er abfteigen
bkönnte; ferner die Erbauung eines „peristylium“ für die Eferifer, wo alle zu=
fammen wohnen fünnen, und die Reftauration des Kloſters Insula Barbara (l’Isle-
Barbe bei Lyon), das er durch Benedict von Aniane (ſ. d. A.) reformirte, welchem
er auch die Binde- und Löfegewalt und für den Fall der Sedisvacanz des erz⸗
biſchöflichen Stuhls das Recht der Mitregierung über die Didcefe verlieh (vgl.
{| bie vita S. Bened. Anian. Mabill. Act. SS. IV. 1). Nach dem Tode Carls, deſſen
I Xeftament Leidrad unterzeichnete, refignirte er dem erzbifchöflichen Stuhl und zog
fi in das Klofter des Hl, Medardus zurüf, wo er ftarb, ohne daß man das
Todesjahr angeben könnte. Mabillon hat in feinen Vet. Analectis die treffliche,
auf Carls Geheiß gefchriebene Abhandlung Leidrads über das Sarrament der
Taufe mit den darauf bezüglichen Briefen des Verfaſſers an den Raifer veröffent-
licht. Baluzius bat im Anhang zu den Schriften Agobards auch die übrigen
- opuscula und Briefe Leidrads herausgegeben. Leidrad’s Styl ift klar und bündig
und feine Schriften beurfunden einen Mann von Geift, folider Frömmigkeit und
großer Kenntnig der Hl. Schrift und Väter, ©. Mabill. Annal. IIz Alcuini epp.
bei $rob. I; hist. lit. de la France IV. [Schrödl.]
Leipziger Disputation, |. EA, Carlftadt, Luther.
Seipziger Interim. Um den religiöfen Verfall Teutihlands zu Kindern,
war Raifer Carl V. bemüht, auf frievlihem Wege den Zwiefpalt der Gemüther
auszufühnen und fo die Religionseinheit zu wahren. Zu diefem Ende Hatte er
bereits das Regensburger und Augsburger Interim zugeftanden, d. h. die Bier
aufgeftellten Säge follten bis zur Beilegung der Händel auf canonifhem Wege
einſtweilen Cinterim) Geltung haben. Da aber die Halbheiten des Augsburger
Interims (ſ. d. A.) Niemanden befriedigten und nur neue Streitigfeiten, zumeist
unter den Neuerern, bervorriefen, fo entftand auch das Leivziger Interim.
5 Daffelbe Heißt eigentlich: Beſchluß des Landtages zu Leipzig. Als nämlich
1 Earl V. dem Churfürften Moriz von Sachſen das Augsburger Interim vorgelegt
I Hatte, nahm diefer dafjelbe nicht unbedingt an, fondern berief feine Landftände
I und Theologen, um ihr Gutachten darüber zu vernehmen. Sie famen am 22, Dec.
1548 zu Leipzig zufammen. Da nun die Theologen in vielen Stüden mit dem
Augsburger Interim einverftanden waren, hieß man ihren Beſchluß auch Interim,
nur zum Unterfhiede von jenem das Leipziger; es hieß auch das neue oder junge,
432 Leitmerig,
weil das Augsburgiſche als feine Mutter galt, Aus ihm entwidelten ſich bie
adiaphoriſtiſchen Streitigkeiten Ci. den Art, Adiaphoriften), Zu Grund lag
demfelben zunächft das fog. Feine Interim, das am 16, Nov. die Meißnifchen
Theologen auf Befehl des Churfürften zu Zelle zu Stande gebracht hatten, weß-
wegen das Leipziger Interim au das große genannt wurde, wiewohl das Augs-
burgifehe gewöhnlich mit diefem Attribute bezeichnet ward und das Leipziger dag
Heine hieß. Die Verfaffer der Testen find: Melanchthon, Paul Eher, Bugen-
bagen, Georg Major, Theologen von Wittenberg, Pfeffinger, Superintendent zu
Leipzig, und der Churfürft Georg von Anhalt, Um es mit dem Kaiſer nicht noch
weiter zu verderben, glaubten fie wenigſtens in den Mitteldingen (res mediae)
das Augsburger Interim anerkennen zu follen, Zwar erhob ſich Widerſpruch da=
gegen; allein dennoch fiegte die adiaphoriftifche Partei, In diefem Interim nun
erklärten die Theologen, daß man in Betreff der Adiaphora, d. h. der an ſich
gleichgültigen oder mittfern Dinge, wie gottesdienftliche Gebräuche und Cere—
monien, fich einverftanden erklären fünne, Zugleich zeigte man fih auch in Be-
treff der Lehre höchſt nachgiebig, um dem Kaifer einen Beweis unterthänigen
Gehorſams zu Kiefern. Bon der Rechtfertigung heißt es: „Wiewohl Gott den
Menſchen nicht gerecht macht Durch Verdienſt eigener Werfe, die der Menſch thut,
fondern aus Barmherzigkeit, umfonft, ohne unfer Verdienft, daß der Ruhm nicht
unfer fet, fondern Chrifti, Durch deffen Verdienſt allein werden wir von der Sünde
erlöfet und gerecht gemacht; gleihwohl wirft ber barmherzige Gott nit
alfo mit dem Menfhen wie mit einem Plocke, fondern zieht ihn alfo,
daß fein Wille auch mitwirkt, fo er in verftändigen Jahren iſt.“ Mit
diefem Satze, der fofort weitläufig bewiefen wird, war Luthers Lehre vernichtet,
Gott wirfe nicht mit ung, wie mit einer Mafchine, hieß es, obwohl Chrifti Ver-
dienft ung allein gerecht made; die von Gott gebotenen Werke feien gut und
ndthig, die Tugenden, Glaube, Hoffnung und Liebe, zur Seligfeit nothwendig;
andere (gute) Werfe aber, die Gott nicht geboten habe, können ohne Verlegung
des Gewiffens geübt werden. Dieß bildet den dogmatifch-moralifhen Theil des
Interims. Dann folgt die Erflärung von der Gewalt und Auctorität der Kirche
dahin: „Was die wahre hriftlihe Kirche, die, im heiligen Geifte verfammelt, in
Ölaubensfachen erkennt, anorbnet und Iehrt, das foll man auch lehren und pre-
digen, wie fie denn wider die heilige Schrift nichts ordnen foll noch kann.“ Au
die früher verworfenen Sacramente der Firmung und Delung wurden wieder an—
genommen; die Meffe follte nach alter Art, nur mit teutfchen Liedern, wie 3. B.
für das Graduale zu Weihnachten: Ein Kindlein fo löbelich; zu Oftern: Chriftus
ift erftanden, gefeiert werden; der Gebrauch der Bilder wird geftattet, das Fleifch-
effen unter den gewöhnlichen Befchränfungen am Freitag und Samftag und wäh-
rend der Faftenzeit verboten, Sp war das Interim entftanden, dem man wohl
anmerfte, daß Luther bereits vom Schauplage abgetreten war und es bloß aus
Rückſicht oder Furcht vor dem Kaifer abgefaßt worden war; allein von Seiten
der Iutherifchen Prediger entftand ein fürmlicher Aufftand dagegen und der heftig
geführte adiaphoriftifche Streit (|, d. A). Vgl. Died, das dreifache Interim,
fo in Regensburg, Augsburg und Leipzig... . zum Vorſchein gekommen. Leipz.
1721, Das Gefhichtlihe S. 132—199, die Beſchlüſſe felbft S. 361—386,
J. A. Schmidt, historia interimistica. Helmst. 1730. [8ebr.]
Leitmeritz, Bisthum. Der erzbifchöfliche Stuhl von Prag, zu dem bie
bifhöflihen Stühle von Leitomifchl in Böhmen und Olmütz in Mähren als
Suffraganftühle gehörten, war durch die Verheerungen der Hufiten um alle feine
Güter gefommen und über 140 Jahre unbefegt geblieben, Kaiſer Ferdinand I.
dotirte denfelben aufs Neue mit jährlich 6000 Thalern, und Papft Pius IV. über-
trug am 5, Sept, 1561 dem Kaiſer und allen feinen Nachfolgern auf dem Throne
Bohmens das Necht, die Erzbifchöfg yon Prag zu ernennen, Die Prager Mes
Zu Bub le u a an DE
Leitmeris, 433
tropole ſtand aber auch da ohne eine Suffraganfirche in Böhmen ‚ denn auf das
Bisthum Leitomifl war, feit die Stadt 1425 von den Taboriten war eingenom⸗
men worden, eine Beute des Huſitenthums geworden. Die dringende Noth,
Suffraganftühle in Böhmen zu errichten, wußte insbefondere der um die Wieder-
geburt der böhmifchen Kirche Hochverdiente Cardinal und Erzbifhof von Prag
Erneft Il. (1623—1667) aus dem Haufe der Grafen v. Harrach, dem Kaiſer
Ferdinand II. an’s Herz zu legen. Im Folge deſſen wies dieſer aus dem Er-
trage der Salzftener in Böhmen den Betrag von 15,000 Ducaten an, welde
jährlich an die Congregatio de propaganda fide zu dem Zwede gezahlt werden
follten, daß, wenn unter ihrer Verwaltung die zur Dotation eines Bisthums
nöthige Summe angewachfen, ein folhes in Böhmen gegründet werde. So foll-
ten im Laufe der Zeit nach und nad) vier neue Bisthümer im Lande dotirt und
geftiftet werden, Das erfte Bistum, das auf diefe Weife gegründet wurde,
war das Bistum von Leitmerig. In diefer uralten, am rechten Ufer der Elbe
gelegenen Stadt (Litomerice, Litomericium) des nördlichen Böhmens hatte ſchon
Herzog Spitih aew IL 1057 zu feinen Andenfen und zur Ehre des HI. Proto=
martyr Stephanns eine Collegiatfirche geftiftet. Der apoſtoliſche Stuhl war mit
Raifer Ferdinand II. dahin übereingefommen, daß die Einfünfte ver bisherigen
Leitmeriger Propftei dem zu errihtenden Bisthum zugewiefen werden follten. Und
fo erhob denn Papft Innocenz X. 1654 die Leitmeriger Collegiatfirche zu einer
Eathedrale. - Das Gebiet des Leitmeriger Kreifes (12 teutfhe Meilen Tang und
8 Meilen breit) aus der Prager Erzdideefe ausgefchieden, bildete den netten bi-
fhöflichen Sprengel, und Cardinal Erzbifhof Harrah erwarb aus feinem Ver-
mögen die Herrfhaft Drum und ſchenkte fie für immer zur Deckung des bifchöf-
lichen Tiſches von Leitmerig, Zum erften Bifchofe ernannte der Kaifer den letzt⸗
gewefenen Propft von Leitmerig Marimilian Rudolph Freiherrn v. Schleinig,
welcher fih 1655 perfonlih nah Rom begab, wo er von Papſt Alerander VIL
beftätigt wurde und am 9; Juli d. J. durch Cardinal Franz Brancacci die Bifchofsweihe
erhielt. Er nahm am 25. Mai (Chrifti Himmelfahrt) 1656 feierlich Befis von
feinem Stuhle. Er war ein eben fo eifriger als erleuchteter Kirchenfürft, und
wie er für den innern Ausbau feiner Didcefe (ſ. instructio parochialis. Vetero-
Pragae 1674) forgte, fo verwendete er auch die reichen Einfünfte feiner Familien-
herrſchaften Schlufenau und Tollenftein zum Beften des Bisthums. Die Cathe-
dralficche zum hl. Stephan baute er 1671—79 von Grund auf new, flattete fie
foftbar im Innern aus und forgte auch für immerwährende Unterhaltung derfelben,
Er farb ven 13. Det. 1675. Seine bifhöflihen Nachfolger waren: Jaroslaus
Franz, Graf v. Sternberg (1676— 1709), Hugo Franz, Graf v. Rönigsegg
und Rothenfels (1716—1720), Johann Adam, Graf Wratislam v. Mitrowig
(1722— 33), Morig Adolph Carl, Herzog zu Sahfen-Zeit (1734—59),
Emanuel Ernft, Graf v. Waldftein (1759—89), Ferdinand Kindermann,
Ritter v. Schulftein (1790-1801), Wenzel Leopold Chlumizanffy, Ritter
v. Preſtawlk und Chlumizan (1802—15), Joſeph Franz Hurdalef (1816—
1821), Vincenz Eduard Milde (1823—31). Der jegt regierende Bifchof,
Herr Auguftin Bartholomäus Hille, ward 1832 am 16, Sept. confeerirt und
beſtieg den bifhöflichen Stuhl am 7. Det. deffelben Jahres. — Das Leitmeriger
Bisthum, welches in den erfien Zeiten feines Beftandes nur etlihe SO Pfarr- -
kirchen und einige 50 Filialen zählte, erhielt 1784 einen bedeutenden Zuwachs,
indem auf Betreiben des Bifhofs Waldſtein Kaiſer Joſeph U. mit Genehmigung
des römischen Stuhls den ganzen Bunzlauerund Saazer Kreis dem Dioceſan⸗
gebiete zuwies. Daffelbe ift gegenwärtig in 24 Vicariatshezirfe (Decanate) ab-
1 geteilt, und es zählt die Didcefe laut Schematismus von 1849: 1 Propftei,
308 Pfarreien, 75 Toealfeelforgsftationen, 25 Erpofituren und 14 Schloßcapellen,
Bon diefen Kirchſprengeln find 310 von Gläubigen rein teutſcher Zunge, 90.
Kiräenleziton. 6. Up, 28
A34 Reitomifhl — Le Long.
rein cehifcher bewohnt, und in 23 iſt gemifchte Bevölkerung; die Zahl aber aller
Gläubigen beträgt eine Million und 19,527, — Das Domcapitel hat 6
Canpnicatpräbenden und 6 Ehrencanonicate; der Dechant und Senior der Capitu-
laren find infulirt. Die Diöcefe hat ein Elericalfeminarium am Bifchofg-
fie (mit 3 Vorſtehern und in der Negel 100 Alumnen), mit dem eine theolo-
gifche Lehranftalt verbunden ift, an welcher 8 Profefforen doeiren. — Der
Stand des Clerus überfteigt die Zahl von 1000 Prieftern — mit Inbegriff des
Negularcelerug, An Ordensinftituten und Klöftern zählt die Didcefe 1 Cifter-
eienferabtei zu Dffegg (geftiftet 1197), 3 Piariftencollegien zu Hayda,
Zungbunzlau und Brür, 2 Predigerordensconvente zu Leitmerig und Außig,
4 Auguftinerflöfter zu Böhmiſchleippa, Biela, Rotſchow und GStranfa, 3
Franeiscanerkflöfter zu Haindorf, Turnau und Kaaden, 1 Minoriten-
Eofter zu Brüx, 6 Capuecinerflöfter zu Leitmerig, Ruinburg, Reichftadt,
Melnif, Brür und Saaz, 1 Elifabethinerinnenkflofter zu Raaden, 4 Häufer
der barmberzigen Schweftern von der Kongregation des hl. Carl Borromäus
zu Leitmeritz, Podoll, Oſſegg, Reichenberg. (Vgl. Berghauer, Protomartyr etc.
Augustae Vindelicorum 1736 fol. de episcopatibus Litomeric. etc. pag. 278 sqq.
Series episcoporum Litomer. Vetero-Pragae 1804. und Umriß einer kurzen Ge-
fohichte des Leitmeriger Bisthbums von Franz G Freiherr v. Bretfeld,
Wien 1811.) [&inzel,]
Keitomifchl, ſ. Röniggräz und Leitmerig, FIR ;
Lellis, Camillus de, ſ. Camillus, |
Le Long, Jacques, Priefter des franzöfifhen Dratoriums, und ausgezeich-
net durch feine bibliographiſchen und Hiftorifchen Leiftungen, war zu Paris den
19, April 1665 geboren, und wurde fchon als Knabe von feinem Vater, einem
bemittelten Parifer Bürger, nah Malta geſchickt, um dafelbft im Sohanniter-
Nitterorven als Elerifer erzogen zu werden, Als aber in Malta die Peft aus-
gebrochen war, und überdieß das Klima diefer Inſel der Gefundheit des Knaben.
nicht zufagte, bat er um die Erlaubniß, in feine Heimath zurüczufehren. Dieſe
wurde ihm von dem Großmeifter des Drdens, Gregor Caraffa aus dem Haufe
der Fürften son Nucella auf ſechs Jahre ertheilt, um zu Paris den Studien ob—
zuliegen, und nach dem Verlaufe diefer Zeit noch auf vier Jahre verlängert, um
den philofophifchen und theologiſchen Curſus zu vollenden. Le Long kehrte Daher
im 5. 1676 nach Frankreich zurück, widmete fih mit Fleiß und Auszeichnung in
feiner Geburtsftadt den Wiffenfhaften, und erwarb fich den Grad eines Magiſters
der freien Künſte. Doch je länger er in Paris verweilte, deſto geringer wurde
feine Neigung, nad Malta zurückzukehren, und ba er unterdeffen mit mehreren
gelehrten Dratorianern befreundet worden, dem Johanniterorden aber durch Die
Gelübde noch nicht verbunden war, fo trat er im 3. 1686 zu Paris in die Con-
gregation der Priefter des Dratoriums, Nach vollendetem Probejahre wurde er
in das Colfegium zu Zuilli in der Didcefe Meaur geſchickt, um an der dortigen
Lehranftalt die Jugend in den mathematifchen Wiffenfhaften zu unterweifen. Hier
erhielt er auch bie heiligen Weihen und wurde im J. 1689 zum Priefter ordinirt.
Bald nach feiner Priefterweihe verfiel er in eine fihwere Krankheit, welche ihn
dem Tode nahe brachte; doch wurde er gerettet, umd zu feiner Erholung in dag
Seminar de Notre Dame des Vertus in der Nähe von Paris geſchickt, um in un—
geftörter Ruhe feinem Lieblingsftudium obliegen zu Tonnen. Zugleich wurbe unter
feine Aufficht die Bibliothek des Seminars geftellt. Hier verlegte er fich nun mit,
großem Eifer auf das Studium der alten und neuern Sprachen, ſtudirte fleißig
die franzöfifchen Gefhichtsquellen, und erwarb ſich fo bedeutende bibliographiſche
Kenntniffe, daß ihn feine Ordensobern im 3. 1699 nach Paris riefen und zum
Borfteher der Bibliothek des Parifer Dratoriums Saint Honoréè machten, welde
eine der anfehnlichften in Paris und befonders reich an orientaliſchen Handfihrif-
Lemberg. 435
ten war, Diefem Amte widmete er durch volle zweiundzwanzig Jahre, zurüd-
gezogen von der Welt, doch im lebhaften Verlehre mit den meiften Gelehrten des
In- und Auslandes, feinen Fleiß und feine ununterbrochene Thätigfeit, und ſtarb,
geliebt von feinen Mitbrüdern und geachtet und geehrt von der gelehrten Welt,
zu Paris den 13, Auguft 1721. Mit feiner großen Gelehrfamfeit verband Le
Long ſtets wahre Frömmigkeit, ein durchaus anſpruchsloſes Wefen, und ein be=
ſcheidenes, gefälliges Betragen gegen Jedermann, Befonders freigebig zeigte er
fich gegen die Armen, und freute fih nur deßhalb über die bedeutenden Erbfchaf-
ten, die ihm von feinen reichen Anverwandten zufielen, weil fie ihm die Mittel
verichafften, Nothleivenden zu helfen und Andere zu beglüden, denn er feldft
hatte die wenigften Bedürfniffe. — Sein Hauptwerf ift: Bibliotheca sacra
in binos Syllabos distinota, quae (1.) omnes sive Textus sacri sive Versionum ejus-
dem quavis lingua expressarum Editiones, nec non praestantiores MSS. Codices
cum notis historieis et eriticis, — (II.) omnia eorum opera quovis idiomate con-
scripta, qui hucusque in s. Scripluram quidpiam ediderunt, et grammaticas et Lexica
linguarum praesertim orientalium, quae ad illustrandas sacras paginas aliquid ad-
jumenti conferre possunt, continet. Parisiis 1723. Diefes für das Bibelftudiun
fo nüglihe Hilfswerk, deffen vollftändigen Inhalt der Titel gibt, erfchien zuerft
zu Paris 1709 in 2 Bänden in 8. und enthielt bloß die Ausgaben und Ueber—
feßungen der hl. Schrift (Syllab. 1). Da aber die teutfche- Bibelliteratur dem
Berfaffer nur unvollftändig befannt war, fo veranftaltete Profeffor Chrift. Fried,
Börner, überzeugt von der Trefflichfeit diefes Werkes, noch in demfelben Jahre
zu Leipzig eine vermehrte Ausgabe deffelben, Le Long felbft vervollſtändigte fein
Werk durch Beifügung aller das Bibelftudium betreffenden Schriften (Syllab. IL)
und bereitete die zweite vollftändige Ausgabe deffelben vor, welche jedoch erſt nach
feinem Tode durch den Dratorianer Desmolets vollendet wurde und zu Paris
1723 in zwei Foliobänden erfihien. Die neuefte Ausgabe mit fortgefegter Litera-
tur (emendata, suppleta et continuata) ift von A. G. Maſch, Halae 1778 -90,
in vier Duartbänden, — Seine übrigen Schriften find: Biblioth&que histo-
rique de la France, contenant le catalogue des ouvrages imprimes et manu-
scrits, qui traitept de l’histoire de ce royaume, ou qui y ont rapport; avec des
notes critiques et historiques. Paris 1719 in Folio. Dieſes Werf erregte in ihm
den Entfohluß, die scriptores coaetaneos der franzöfifhen Gefchichte in einem Sam-
melwerfe herauszugeben, von dem er jährlich zwei bis drei Foliobände dem Drucke
zu übergeben gedachte, weßhalb er auch eine genaue Chronologie der franzöfifchen
Könige verfaßte; doch der Tod verhinderte ihn, diefes Corpus scriptorum historiae
Francicae zu Stande zu bringen. Vorarbeiten dazu und die Chronologie der Kö—
nige bat Frevet de Fontette in die zweite Ausgabe der Bibliothöque hist. de
la France, Paris 1768. 5 Vol. fol. aufgensmmen,. — Discours historiques sur les
prineipales editions des Bibles polyglottes. Paris 1713 in 12, — Supplement a
Phistoire des dictionnaires hebreux de Wolfius, im Journal des Savans, Paris 1707
de Janvier. — Lettre a Mr. Martin ministre d’Utrecht, über die Stelle 1 Joh.
5, 7. im Journal des Sav. 1720. Jan. — Auch gab er des Dratorianers Jo han—
nes Renou von Anjou Novam methodum discendi linguam hebraicam et chal-
daicam, Paris. 1708 in 8, und Adrian Baillet’$ Histoire des demeles du Pape
Boniface VIII. avec Philippe le Bel. Paris 1718. in 12. heraus, Seine Biogra—
pbie bat P. Desmolets gefhrieben und der zweiten Ausgabe der Bibliotheca
sacra beigegeben, [Sebaf,]
Lemberg, politiſch-kirchliche Verhältniſſe; griechiſch-katholiſches,
armeniſches, lateiniſches Erzbisthum. Geſchichtlich und ftatiftiich,
Lemberg, Hauptſtadt des öſtreichiſchen Königreiches Galizien, am Bache Peltew
in einem von Hügeln umſchloſſenen Keſſel, polniſch Lwow (Löwenburg), nicht
vom Löwen, dem Könige ber Thiere, ſondern »o« Leo Danilowiez (+ 1301),
28*
436 Lemberg.
Fürften von Halicz in Nothreußen, welcher die Stabt gegründet hat, fo genannt,
— AS nämlich im 13ten Jahrhunderte die Alles zerftörenden Tataren ganz
Europa bedrohten, das Fürſtenthum fammt der Hauptftadt Halicz mehrmals ver-
wüfleten, verlegte Leo, vor dem Feinde nach Nordweften fich zurücziehend, feinen
Sit nach diefer Stadt (1269), welche ſchon von feinem Vater Daniel einige
Sabre früher gegründet worden fein fol, und die damals Leontopolis, in der
Landesforahe Lwihorod (löwenburg) hieß (dux Leo mihi fundamenta jecit, po-
steri nomen dedere Leontopolis; dieß war eine alte Aufichrift auf dem ehemaligen
halizifchen Thore von Lemberg) und durch den fortwährenden Andrang der vor
den wilden Horden der Tataren fich hieher flüchtenden und anfäßig machenden Ru⸗
ihenen, Armenier und Juden in kurzer Zeit bedeutend vergrößert und zu einer
Hauptftadt des Fürſtenthums wurde. 1339 oder 1340 fam Lemberg durch Cafimir
den Großen, und zwar durch Eroberung, an Polen, es blieb von num an bie
Hauptftadt der polnifchen Provinz Nus und wurde durch Begünftigungen und
Privilegien von Caſimir und feinen Nachfolgern eine der erften Städte des pol—
nifchen Reiches, befonders im 17ten Jahrhunderte, wo es zum Hauptftappelplag
des damals fehr Iebhaften Handels mit dem Driente für's ganze Königreich diente,
Seit 1772 bei der erften Theilung Polens fiel es an Deftreih, und blieb die
Hauptſtadt der Rönigreiche Galizien, Lodomirien und Bufowina, Heutzutage ift
88 die fiebente Stadt der dftreihifchen Monarchie mit einer auf 60,000 Seelen
ſich belaufenden Einwohnerfchaft, worunter Juden. Hier befindet fi der Sig
de8 vierten Generaleommandos der Statthalterei und oberen Gerichtsſtelle. —
Diefe Stadt ift eine Reſidenz von drei Erzbifhöfen von eben fo verſchiedenem
Ritus, L Die griehifh-unirte Metropolie, Urfprünglich in Halicz, wahr-
fcheinlich von Jaroslaus Wladimirowicz (1152-1180) entweder als einfaches
Bisthum oder Ehrenmetropolie, und vom Kijower Metropoliten abhängig ge=
gründet; jedoch ſchon im Jahre 1293 in einem Diplom von Leo Danilowiez wird
Sofeph und 1301 in einem andern Diplom von eben vemfelben Leo wird Gregor
als Metropolit von Halicz gleichzeitig mit dem Kijower Metropoliten als von
demfelben unabhängig genannt, Diefe Metropolie blieb alfo damals, wie bie von
Kifow, bloß dem Patriarchen von Conftantinopel ſubordinirt. Durch die fort⸗
waͤhrenden Einfälle der Tataren ging dieſe Metropolie von 1361—1539 allmäh-
Yig ein, und hatte während dieſer Zeit nur unterbrochen und feit Ende des 15ten
Sahrhunderts bis 1539 Feine Vorſteher mehr, bis fie im J. 1539, jedoch nur als
ein einfaches Bisthum, wieder in's Leben trat. Seit 1570 unter Sigmund Auguft
verlegte der Bifchof Johann Lopatka Oſtalowski das Bisthum von Halicz nach
Lemberg, welcher fowie auch feine Nachfolger nebft dem Titel eines Biſchofs von
Lemberg auch den eines Bifchofs von Halicy führten, dann auch von Kamieniee in
Podolien, weit ſich bis dorthin ihre Jurisdietion ausdehnte, Im J. 1807 wurde
diefes Bisthum von Lemberg zu feiner urſprünglichen Würde einer Metropolie
wieder erhoben, und dauert als ſolche bis auf den heutigen Tag fort, — In dem
Ilten Jahrhundert, wo die Befehrung der Ruthenen unter Wladimir dem Großen
vollendet wurde, beharrten diefelben (wiewohl einige ältere und neuere ruſſiſche
Geſchichtſchreiber das Gegentheil behaupten) in dem fatholifhen Glauben, wie
dieß eine Gefandtfchaft Jaroslaw's, Fürſten von Kijow, welche fein Sohn an den
Papft Gregor VII. ausrichtete, und die darauf vom Papſte an denſelben erfolgte
Antwort in einem Briefe hinlänglich beweist. Die Sciſſion begann erft, feit-
dem bie Kijower Metropoliten, von welchen bie ganze ruthenifche Kirche abhing,
dem römischen Stuhle ihren Gehorfam verfagten, und don dem eonftantinppolita=
nifchen Patriarchen beftätigt, eonfeerirt, ja fogar gerade gefchieft zu werden an—⸗
fingen, — Im 13ten Jahrhundert ift ſchon das Schisma zufolge diefes Berhält-
niffes zu Conftantinopel unter den Neußen tief eingewurzelt gewefen; und feit
diefer Zeit theilte die griechiſche Kirche daſelbſt und folglich auch die Metropolie
Lemberg. ; 437
in Halicz ein gleiches Schickſal mit Conftantinopel. Seit der Florentiner Kirchen⸗
verfammlung (f. d. A.), wiewohl die Patriarhen von Eonftantinopel bald ab»
trünnig wurden, blieb doch die ruthenifhe Kirche den Bemühungen der polniſchen
Könige, fowie Iſidors, Metropoliten von Kijow (welcher felbft dem Eoneil bei»
wohnte), dann Cardinals und Patriarhen von Eonftantinopel zufolge, der Ver-
. einigung mit Rom ein halbes Jahrhundert getreu; dur moskovitiſche Emiffäre
jedoch wurde fie allmählig, und zwar nicht ohne Erfolg, zur Abtrünnigfeit ver-
leitet, welche bis in die andere Hälfte des 16ten Jahrhunderts fortvauerte, bis
endlich die Patriarchen durch ihre Erpreffungen felbft einen Anlaß der ruthenifchen
Kirche darboten, fih von Eonftantinopel zu befreien. Als nämlich der conftantino-
politanifche Patriarch Feremias (ſ. den Art. Jeremias 1.) 1588 von Amurat III.
abgefegt, nach Lithauen ſich flüchtete, und zu Wilno den Michael Rahoza zum
Kijower Metropoliten orbinirt hatte, und bald wieder denfelben wegen Weigerung,
ihm 14,000 polnische Gulden (nach Andern eben fo viele Ducaten) zu zahlen, zu
entſetzen drohte (diefe Summe forderte Jeremias als Weihtare, unter dem Vor—
wande jeboc zur Wiederberftellung der Kirche Pantofrator in Conftantinopel), rief
Michael Rahoza 1590 zu Brzesc in Lithauen eine Synode zufammen, welder er
die Anmaßungen und Ungerehtigfeiten des conftantinopolitanifhen Patriarchen zur
Beurtheilung vorlegte, um ſich über die Mittel, denfelben zu feuern, zu berathen.
Es wurde beſchloſſen: Jeremias den Gehorfam zu verfagen, und um ſich des Er-
folges mehr zu vergewiffern, das ganze polnifhe Ruthenien der Dbforge des rö-
mifhen Stuhles anzuvertrauen. Dem Metropoliten Michael war befonders der
eifrige und fireng Fatholifch gefinnte Hipacius Pociej, Biſchof von Wlodzimirz,
Hilfreich an die Hand gegangen. Jeremias dagegen, nachdem er, durch die Weih-
tare eines gewiffen, vom Fedor Jwanowicz, Czaren zu Moskau, zum Metropo—
liten von Moskau ernannten Zob bereichert (die war das erfte Beifpiel der Er-
nennung eines Metropoliten dur den Ezar), fih die Rückkehr nah Conſtantino⸗
pel erfauft Hatte, ſchickte ein Sendfchreiben an die reußifchen Bifchöfe, worin er
zuerft alle Bifchöfe, welche an der Synode zu Brzese Theil genommen, ſcharf rügte,
dann aber Michael, theils wegen der ohne fein Wiffen und feine Einwilligung zufam-
mengerufenen Synode, theild wegen der verweigerten Weihtare feiner Würde
entfegte und ercommunicirte. Die ruthenifchen Bifchöfe, Dadurch aufgefordert, ver-
fammelten fih mit Rahoza zum zweiten Male in Brzesc 1595, welde Verſammlung
König Sigmund II. durch einen föniglihen Erlaf billigte, und zu welcher er fogar Ia=
teinifche Präfaten, nämlich Kainkowski, Primas von Polen, Solikowski, Erzbifchof von
Lemberg, Maciejowsti, Biſchof von Luk, und Gmolnisfi, Biſchof von Chelm, ab⸗
ordnete, und wo die Erneuerung der Florentiner Union befonders motivirt wurde. —
Die Berfammelten fandten ven Hipacins (Bifhof von Wlodzimirz) und Cyrill
Terlecki (Biſchof von Lu) zum König Sigmund IH., welcher der griechifchen
Geiſtlichkeit unter der Bedingung der Union gleihe Rechte und Privilegien mit der
lateiniſchen zuſicherte. Mit Empfehlungsfihreiben vom König und apoftolifhen
Nuntius verfehen, gingen diefe Gefandten nah Rom, wo fie von Clemens VII.
auf eine freundliche und ihrer Würde angemefjene Weife aufgenommen wurden;
und nachdem fie dem Gottesdienfte im Batican beigewohnt, und feierlich die ka—
tholifche Treue, und Gehorfam dem römifchen Oberhaupte gefihworen, gab, der
hl. Vater feine Beftätigung dur die berühmte Bulla unionis mit anderen Privi-
legien, jedo mit dem Auftrage, fo bald als möglich eine Synode zufammen«-
zurufen, um alle noch etwa obwaltenden Schwierigkeiten auszugleichen. — Michael
Rahoza ermangelte nicht, alfogleih 1596 in Brzese eine neue Verfammlung der
rutheniſchen Bifchöfe zu dieſem Zwecke zu veranftalten, welcher der Lateinifche
Erzbifchof von Lemberg, dann die Iateinifchen Bifhöfe von Luk und Chelm als
päpftliche Gefandte, dann Fürft Nicolaus Radziwill, Leo Sapieha, Dymitr Cha-
lecki als Föniglihe Commiffäre beiwohnen follten, als plöglich der Geift der Un-
438 Lemberg
einigfeit auf Anftiften der griechifhen Bifchöfe Gedeon Balaban von Lemberg und
Michael Kopyſtynski von Przemysl eines großen Theiles der Verſammlung fich
bemädtigte; ihn unterftügten Conflantin, Fürft von Oſtrog, und Nicephor, Kanz—
fer (protosigillarius) des ceonftantinopolitanifchen Patriarchen, welcher durch das
Anfehen Conftanting den Titel eines ruthenifchen Erarchen erlangte; vorzüglich aber,
wiewohl nur heimlich, fohürten Die Zwietracht Arianer (Speinianer), Lutheraner
und Calviniſten. — Sie hielten in einem Privathaus ihre Berathungen, wo fie
Michael fammt fünf Bifhöfen von Wlodzimirz, Lu, Plock, Chelm und Pinsk
ihrer Würde verluflig erflärten und ercommunieirten, und zugleich den Vorfas
foßten, die Abtrünnigfeit uneingevenf der früher in Brzesc gefaßten Befchlüffe
hartnäckig zu vertheidigen, — Michael Rahoza dagegen, diefes vernehmend, be=
ftätigte in Gegenwart der obengenannten päpftlichen und königlichen Legaten mit
eigenhändiger Unterfehrift die Union und belegte Nicephor mit den genannten zwei
Biſchöfen von Lemberg und Przemysl und ihren Anhängern feierlich mit dem
Banne. — Sp endigte diefe Synode in Brzesc. Ihre Befchlüffe wurden, mit dem
königlichen Edicte verfehen, dem ganzen polnifchen Reiche veröffentlicht, Dieß
gab zu vielen, felbft blutigen Streitigkeiten und Verfolgungen von Seite der
Nichtunirten Anlaß, welchen fih Hipacius Pociej, Nachfolger Michaels in der Me-
tropolie von Kijow, mit apoftolifcher Begeifterung, Weisheit und Mäßigung mil-
dernd entgegenftellte, Unter Welamin Rudi, Nachfolger des Hipacius in der
Metropolie, nahm die Sache dur Intriguen der Ufrainer Koſaken ein noch trau—
rigeres Schieffal; in Kijow, Nowoyrodek (Lithauen), Wilno wurden von den
Nichtunirten Gräuelthaten verübt, im Witebsf wurde Zofaphat Konczewicz, ihr
eigener Erzbifchof (von Polo) graufam ermordet; bis endlich der König Sig-
mund II. der Unirten fich väterlih annahm, ihre Verfolger des Majeftätsverbre-
chens ſchuldig erflärte, und eine neue Synode in Lemberg 1629 den 2, Det, an—
ordnete, — Es erfihienen dafelbft Welamin Rudi, zwei Erzbifchöfe von Smo—
lensk und Polo nebft den Bifchöfen von Wlodrimirz, Lu, Przemysl und Pinsk,
und viele von der unirten nieveren Geiftlichfeitz der nicht unirte ruthenifche Adel war
zahlreich vertreten; die nichtunirten Bifchöfe ſchickten bloß Stellvertreter, Nach
feierlihem, vom Metropoliten felbft abgehaltenen Gottesdienſte in der Cathedrale
zum hl. Georg, und nach einigen öffentlichen Sigungen trat der größere Theil
vom ruthenifchen Adel, durch authentifche Briefe Cyrill's Lucaris (ſ. d. U), Pa—
triarchen zu Conftantinopel, von deffen Heterodoxie und Calvinismus überwiefen,
zur Union; der andere Theil feßte die Bedingung bei: er wolle nicht früher die
Union anerfennen, bis eine Antwort und Rechtfertigung vom Patriarchen über
die Anflagepuncte, welche er ihm kurz vorher in einem Briefe mittheilte, an—
gelangt wäre, — Die Ablegaten der nichtunirten Bifchöfe überreichten der Synode
ein NRefeript in der Art eines Concordates, worin fie jedoch folche Forderungen
ftellten, welche ohne großen und offenbaren Nachtheil für den Glauben und das
Anfehen der Fatholifchen Kirche auf Feinen Fall berückfichtigt werben konnten; fie
⸗
verlangten: daß ganz Ruthenien (Rus) vom Patriarchen in Conſtantinopel ab⸗
hängig fein ſollez daß man den Kijower Antimetropoliten Job Borecki und bie
nichtunirten Biſchöfe als legitim anerkenne, während indeſſen ganz Ruthenien von
ihrer Illegitimität volllommen überzeugt war. Sie wurden nämlich von einem
Griechen Theophanes (der, indem er ſich für einen Hieroſolimitaniſchen Patriar—
chen ausgab, von den Ukrainer Koſaken aus Moskau nach Kijow gerufen war)
mit offener Verhöhnung der Kirchencanonen und der königlichen Gewalt daſelbſt
heimlich und unwürdig eonfeerirt. Aus diefen und andern Gründen würbigte man
diefes Nefeript von Seite der Lemberger Synode Feiner Antwort. Indeſſen farb
Sigmund, einer der eifrigften Beförderer der Union, deffen Tod die Nichtunirten
zu vielen Zerwürfniffen theils in Firchlicher, theils politifcher Hinficht am Wahl-
reichstage 1632 benüsten, Ladislaus IV., vor feiner Erwählung im Einverftänd-
=
Lemberg. 439
niffe mit dem Metropoliten Rucki, verfäumte nichts, um fie zu gewinnen; fo ver-
ſprach er ihnen den freien Befig einiger Kirchen, ſelbſt das Bisthum von Lemberg
follte ihnen übergeben werden, was fie aber, übertrieben in ihren Sorderungen,
bartnädig verwarfen. Als er aber ſchon zum König erwäßlt war, ertheilte er
den Nichtunirten am Krönungstag zu Warſchau ein befonderes Privilegium, fraft
deffen ihrem neuen Metropoliten Peter Mohila die Cathedrale zur HI. Sophia in
Kijow, dann die Bisthümer von Przemysl und Luck übergeben, ja fogar eine
Academie für Nichtunirte in Kijow gegründet werden ſollte. Unterdeffen beauf-
fragte er feinen Gefandten in Rom, die Beftätigung diefer präliminären Puncte
zur Union von dem apoftolifhen Stuhle zu erwirfen, Urban VII. aber, die
Scähwierigfeiten der weiteren Verfühnung, dann aber auch die fleigende Macht
des Schisma daraus nur zu fehr einfehend, mißbilfigte diefe Bedingungen, als
dem göttlichen und menfchlichen Rechte zumwiderlaufend, Wie fehr der König, um
dem Neiche den fo lange entbehrten Frieden zu geben, die Nichtunirten zu ge=
winnen trachtete, beweist feine 1635 denfelben trog dem entfchieden entgegen-
gefegten Decrete des Papftes ertheilte Eonftitution, welde er aber auf dringende
Bitten des Metropoliten Nudi, und Proteftationen der Iateinifchen und griechifch-
unirten Bifhöfe, fowie der erſten Reihsbeamten bald widerrufen mußte. Diefer
Eonftitution folgten jedoch nah dem Tode Rucki's bald vier andere, welche nebft
der erwähnten Eonftitution von 1635 noch andere Conceffionen den Nichtunirten
geftatteten, gegen welche aber Anton Sidawa, Kijower unirter Metropolit, mit
allen Tateinifchen Biſchöfen einen feierlichen Proteft im Senat einlegte, indem fie
erflärten, daß die Neihsftände in diefer als einer rein kirchlichen Angelegenheit
feine Macht hätten, Beſtimmungen zu treffen. Bald überzeugte ſich Ladislaus,
daß diefe Eonceffionen, abgefehen von dem ungerechten Eingriffe in die Rechte
der Kirhe, auch nur eine neue Farfel der Zwietracht in die Hände der leiden—
ſchaftlichen Parteigänger fpielen würden, er fing daher an, die Forderungen von
beiden Seiten allmählig zu mäßigen; und um den, durch lange Wirren in diefem
Theile des Reiches zerftörten Frieden endlich Kerzuftellen, verordnete er eine neue
Berfammlung nah Warfhau (30. Mai 1647), deren Zuftandefommen jedoch
fein plöglicher Tod Cihon den 20. Mai deffelben Jahres) verhinderte, Die
Uneinigfeit zwifhen den Unirten und Nichtunirten nährten neue Kriege mit den
Ufrainer Koſaken; und das bis jegt mit fo vieler Mühe und Anftrengung an-
gefirebte Werf der Union fing an gewaltig zu fheitern, als Johann Cafimir dur
die fogenannten Pacten von Zborow und Hadriaf erflärte, in ganz Polen und
Lithauen die Union aufzuheben, fünf nichtunirten Bifhöfen (unter ihnen auch dem
von Lemberg) im Senat den Sitz einzuräumen, fowie den Nichtunirten alle früßer
den Unirten angehörigen Kirchen und Güter übergeben zu wollen. Als aber die
Koſaken, eidbrüchig gegen ihr feierliches Verſprechen, und verrätherifch gegen den
König, auf die Seite der Mosfowiter übergingen, fo wurde dadurch nicht nur die
Beftätigung der obgenannten Pacten von Seite der Reichsſtände vereitelt, fon-
dern fie wurden auf dem Tandtage zu Warfchau 1661 durch eifrige Bemühungen
des Kijower Metropoliten Gabriel Kolenda dahin erklärt, daß alles dasjenige,
was in denfelbeu von der griechifchen Religion enthalten war, von den Unirten
ausſchließlich zu gelten habe. — Das nun neuerdings angefangene Werf der
Union Rutheniens verfolgte viel Fräftiger Johann II. (Sobieski), zu welchem Ende
er 1680 am 24, Januar eine Berfammlung in Lublin veranftaltete. Es er-
ſchienen daſelbſt alle unirten Bifhöfez von den Nichtunirten, den Lemberger Bi-
ſchof ausgenommen, kamen mehr Laien als Geiſtliche. Es hatten die Berathungen
bereits begonnen, als plöglich die Abgeordneten von Luck, wegen der Einwilligung
auf den Patriarhen von Eonftantinopel fih berufend, den König erfuchten, einen
andern Ort für die Verfammlung zu beftimmen, wozu auch der König aus un-
befannten Gründen für's fünftige Jahr Warſchau beflimmte, was jedoch nicht zu
440 Lemberg.
Stande fam. Nach einigen Jahren wurde zwar vermöge des Tractates Cin Grzy-
multow 1686) mit Moskau einigen nichtunirten Bifchöfen Cunter diefen auch dem
von Lemberg) bie freie Uebung ihres Ritus und dem Kijower Metropoliten bie
Jurisdietion über diefelben verwahrt; als aber einige Bedingungen deſſelben Trac-
tates von Seite Moskau's nicht erfüllt wurden, fo wurde im Reichsrathe zu War-
ſchau 1710 unter Auguft IL der Inhalt diefes Tractates in Bezug auf den grie-
chiſchen Ritus dahin erklärt, Daß er nur von der unfrennbaren Einheit des grie-
ehifch-Fatholifchen Ritus zu verſtehen ſei; denn ſchon bald nach dieſem Tractate
(von Grzymultow) hatte der griechiſche Biihof von Lemberg, Joſeph Szum—
lanski, fich mit der römifchen Kirche vereinigt, und auf dem Landtage in Warfchau
1700 öffentlih in Gegenwart des Erzbifchofs von Onefen, Radziejowski, und
des apoftolifhen Nuntinus Anton Davia das Fatholifche Glaubensbekenntniß ab-
gelegt mit dem DBerfprechen, feine ganze Exarchie (Didcefe) zur Einheit zu
bewegen. Sp wurbe endlich der über ein Jahrhundert mit fo vielem Wechfel und
Leidenſchaft verfochtenen Abtrünnigkeit Nutheniens und den graufamen Wirren
des Bürgerfrieges ein Ende gemacht. Die Einheit von Lemberg mit dem römifchen
Stuhle dauert bis auf den heutigen Tag unerfchütterlich fort. Die übrigen griechifch-
katholiſchen Bisthümer Rutheniens, welche feit der Theilung von Polen an Ruß—
Sand verfielen, verharrten nicht ohne großen Muth und Entfchloffenheit, trotz der
vielen und langwierigen Berfolgungen von Seite der Nichtunirten, bei der Union,
bis fie 1839 den Künften und der Gewalt von Petersburg endlich unterlagen (vgl.
Persecution et souffrances de l’Eglise catholique en Russie ... par un ancien conseiller
d’etat de Russie [S, 80—136, 182 ꝛc.] Paris 1842.), wodurch die vielen Anftrengun-
gen und Aufopferungen der polnischen Könige und Kijower Metropoliten für die fa-
tholiſche Kirche neuerdings zerftört wurden. — Das griechifh-Fatholifche Metropoli-
tancapitel von Lemberg beſteht aus vier Prälaten: dem Archipresbyter CDompropft),
Archidiacon (Domdechant), Scholiarcha (Scholasticus), Chartophylar (Kanzler, ſ.
d. Art, Chartophylar) und eben fo vielen Gremialdomherrn (d. i. den bei der
Cathedrale refidirenden wirklichen Domherrn, numerariü residentiales; vgl. den Art,
„Sanonici“); dann aus 12 Ehrendomherrn, welche letztere gewöhnlich als Pfar-
rer bei den Kirchen der Didcefe fungiren, Zum Pfarrdienfte bei der Metropplitan-
eathedrale befinden fich noch 2 Prediger, 1 Pönitentiarius und 2 Bicare, Die
griechifch-Fatholifche Didcefe von Lemberg, die fih über 9 Kreife: Lemberg, Stryf,
Stanislau Kolomea, Brzezany, Zlvezow, Tarnopol, Czartkow, Bukowina erſtreckt,
mit einer Seelenzahl von 1,317,000, wird eingetheilt in 48 Decanate. Auch be—
finden fich in derfelben 8 Drdenshäufer des HI. Bafilius für Männer und eines
für Frauen; das Drdenshaus in Buczacz bat zugleih ein Gymnafium daſelbſt
mit Lehrern zu verfehen. — Ju Lemberg befteht feit 1783 ein griechiſch—
katholiſches Generalfeminar, in: welhem über 150 Zöglinge für den geift-
Yihen Stand gebildet werden. — I. Das armenifhe Erzbistum. Die
Gründung deffelben reicht beinahe bis an die der Stadt felbft, indem die Armenier
wie die Ruthenen zu den erften Einwohnern der Stadt gehörten, Cafimir d. Gr.,
der ihnen eine vollfommene Freiheit der Uebung des Gottesdienftes nach ihrem
Ritus gewährte, ertheilte zugleich ihrem Biſchof Gregor 1367 Erlaubniß zur
Gründung einer Cathedrale in Lemberg. Ueber ihre Ortho- ober Heterodoxie
läßt fich zwar für jene Zeiten nichts mit Gewißheit ausmitteln, wahrſcheinlich
jedoch find fie unirt gewefen. — Gewiß ift es, daß fie um's Jahr 1535 mit
Nom vereinigt waren; als Beleg dafür ıft in ihrer Cathedrale ein Grabmal
eines gewiffen Stephan, der als Patriarch von Großarmenien diefer Würde ent-
fagte, nach Nom ging, und, nachdem er dort den Eid des Gehorfams abgelegt
hatte, nach Polen fam, wo er 1535 in Lemberg als armenifcher Erzbifchof ein-
gefegt und als ſolcher 1551 ftarb, Sie flanden unter der Furisbietion des Pa-
triarchen in Großarmenien, der in Etfehmiabin in Irwan feinen Sig hatte, fo
Lemberg. 441
ange er nämlich mit Rom in Gemeinfhaft blieb. Bald jedoch, entweder aus
Mangel einer gehörigen Wachſamkeit und Auffiht, oder in Folge fchismatifcher
Emiffäre, wurde das Einvernehmen der Lemberger Armenier mit dem römiihen
Stuble unterbrochen, und in diefem Zuflande der Abtrünnigfeit verblieb die ar-
menifche Kirche in Ruthenien bis zum J. 1624, Seit diefem Jahre wurde die
Union wieder bergeftellt durch Melchiſedech, ebenfalls früher Patriarch von Groß-
armenien, welcher wegen Erpreffungen des perfiichen Königs nah Rom floh, und
nach dafelbft abgelegtem Gehorfam das in Lemberg erledigte armeniſche Erzbis-
thum übernahm. — Im Jahre 1626 vrdinirte er unter feierlihem Eide der Treue
und Einheit mit der römischen Kirche den Nicolaus Toroszewicz zum armenifchen
Erzbifchof, wodurd die Union einen feften Pfeiler gewann, als plöglih ein Ab-
gefandter des großarmenifchen Patriarchen Mofes, ein gewiſſer Chriftoph, Bifchof
von Afpahan, erfhien, welcher das zufälligerweife nicht befte Einvernehmen der
Armenier mit ihrem Oberhirten benügend, die Union mit allen Kräften zu trüben
anfing. Toroszewicz jedoch, vomP. Elias, Prior der barfüßigen Earmeliter, vom
Inteinifchen Erzbifhof und vom Lemberger Staroften nebft anderen Magnaten
‚und Räthen der Stadt fraftig unterftügt, gab feierlich fammt zwei armenifchen
Prieftern 1630 am 2, Det. in der Kirche der Carmeliter das Berfprechen der ka—
tholifhen Treue; und als Chriftoph deffenungeachtet nichts unterließ, verbrecheri-
ſcher Weife im Geheimen den Samen der Abtrünnigfeit und Uneinigfeit zu ftreuen,
wurde er endlich auf immer von der weltlihen Behörde als Unruheftifter des
Landes verwiefen. Die Anhänger Chriſtophs, dadurch aufgereizt, gingen fo
weit in ihrer Leidenfhaft, daß fie dem Erzbifchof die Thüre der Cathedrale
verfperrten. Der Erzbifchof wendete fih in diefer Angelegenheit an die Stabt-
räthe, welche im Eifer für die Union weder auf Drohungen, noch auf Ber-
ſprechungen der Abtrünnigen achtend, die Rirhenthüre ohne weiteres mit Gewalt
öffnen ließen und dem Erzbiſchof die Cathedrale fammt dem bifhöflihen Sig
zurüdftellten, Um jedoch das Werk der Union auf immer zu befefligen, ging
Toroszewiez nah Rom, von wo er, von Urban VII. in feiner Würde beftätiget,
nah einigen Jahren in Gefellihaft zweier Theatiner nah der Stadt Lemberg
zurückkehrte, welchen er die Erziehung der dem geiftlichen Stande ſich widmenden
Eandidaten anvertraute, wodurd das angeftrebte Werf der Vereinigung feiner
Didcefe mit dem römifchen Stuhle glücklich vollendet wurde und bis auf den heu-
tigen Tag fortdauert. Die Didcefe, mit einer geringen Seelenzahl von 5000
und einigen Hundert Seelen, zählt bis jest 20 Erzbifchöfe. Der erfte von ihnen,
Johann (feit 1365), ſtammte aus einer Föniglichen Familie, Sie wurden An—
fangs in Großarmenien confeerirt und als ſolche nach Lemberg auf den erledigten
Stuhl geſchickt, wo fie noch von den polnifchen Königen die Beftätigung einholten;
feit der Union aber ertheilte die Beftätigung bloß der HI. Vater, Unter der öft-
reichiſchen Regierung pflegt der Kaifer einen aus den dreien von der armenifchen
Geiftlichkeit vorgefchlagenen Kandidaten zu wählen. Die Zurisdietion des arme-
nifhen Erzbifhofs von Lemberg erſtreckte fich früher über Roth- und Weifruß-
land, Polen, Lithauen, Podolien und Wolhynien; heutzutage ift fie bloß auf die
in der Lemberger Didcefe zerfireuten Armenier befchränft, Nebft ver Cathedrale
zur Himmelfahrt Mariä in Lemberg befteht die Diöcefe aus fieben in der Lem-
berger Diöcefe zerftreuten Pfarrfirhen: in Stanislawow, Brzezany, Tyrmienica,
Kutty, Lyfiee, Horodynfa und Sniatyn. Neben der Cathedrale fieht ein Klofter
armenifcher Nonnen, welche die Regel des HI. Benedict beobachten, und fich mit
der Erziehung armenifcher Töchter befaffen. Das armenifhe erzbiſchöfliche Cathe—
dralcapitel befteht aus vier Prälaten: d. i. dem Dompropfte, Domdechant, Ardi-
diacon und Pönitentiarius, zugleih aus zwei oder mehreren Ehrendomberrn,
welche entweder bei der Eathedrale wohnen, oder als Pfarrer auf dem Lande
fungiren. Zur Seelforge find vier Bicare an der Cathedrale, und ein Katechet
442 Lemberg.
an der Mädchenſchule angeſtellt. — II. Das Yateinifche Erzbisthum. Es
gibt kaum ein Factum in der Gefchichte, wie das der urfprünglichen Gründung
diefes Bisthums, über weldes fo viele und fo von einander abweichende Nach-
richten und Anfichten herrſchen. Bzovius berichtet, daß noch 150 Jahre vor Ca—
fimir d. Gr. in Halicz ein lateiniſches Erzbisthum beftand, deffen erfter Vorfteher
ein gewiffer Bernhard aus dem Predigerorden, den der HI. Hyacinth 11208) aus
Stalien mit fih gebracht hätte, gewefen fein foll. Ihm foll ein zweiter Bernhard
aus eben demfelben Orden gefolgt fein, welche Beide von den Tataren den Mar—
tyrertod geftorben. Diefes jedoch ſtimmt mit der Lebensgefchichte vom HI. Hyacinth
in fofern nicht überein, als derfelbe erft 1219 in Nom in den Prebigerorden ein-
trat, — Sfrobiszewsft Cein Lemberger Domberr in der erften Hälfte des 17ten
Jahrhunderts, der die Biographien der Iateinifchen Erzbifchöfe von Halicz und
Lemberg fchrieb) behauptet: daß ein gewiffer Chriflinus- aus dem Franeiscaner-
orden für den erften Iateinifchen Erzbifchof von Halicz feit 1361 CH 1375) zu halten
fei. In dem Regifter der Lemberger Erzbifchöfe wird von den Nubriciften der—
felbe Ehriftin als erfter Iateinifcher Erzbifchof von Halicz, und zwar als gewiß
angeführt (von 1361—1375). Baszko, Fortfeger der polnifchen Chronik von
Boguchwal, macht von einem gewiffen Gotthard, Liftereienferabt von Opatow,
als erftem Iateinifchen Erzbifchof in NRothreußen Erwähnung, über deffen Perfon
jedoch nichts Gewiffes ausgemittelt werden kann; wahrfcheinlich ift es derfelbe
mit Gerhard aus dem Predigerorven, deffen Bzovius erwähnt, und welcher auf
Bitten Salomea’s, der Gemahlin des haliziſchen Königs Coloman, von Gregor IX.
zum ruſſiſch-lateiniſchen Bifchof, jedoch nicht in Haliez, fondern in Kijow, ernannt
wurde, Die polnischen Gefchichtfchreiber Diugosz und Kromer fprechen von zwei
Iateinifchen Erzbisthümern in Nuthenien, und zwar: in Lemberg, welches 1361
von Cafimir d. Gr., und dann in Halicz, welches von dem ungarifch-polnifchen
König Ludwig 1376 gegründet fein fol, was jedoch am unwahrſcheinlichſten iſt
und aller Hiftorifchen Grundlage entbehrt, Naruszewicz (der polnifhe Tacitus,
Erzbifchof von Gneſen und Primas von Polen) und Oſtrowski (dzieje i prawa
Kosciota polskiego) widerfprechen jedoch den obigen Berichten, namentlich dem von
Sfrobiszewstt, und behaupten, daß das lateiniſche Erzbisthum in Halizien nicht
von Caſimir d. Gr, gegründet fein könne, da derfelbe früher flarb, als die Grün-
dung diefer Metropolie nach hinreichenden Hiftorifchen Zeugniffen anzunehmen fei,
Es iſt zwar gewiß, daß Cafimir d. Gr. nad) der Eroberung Rutheniens fehr eifrig
mit dem Gedanfen umging, in der neuen polnifchen Provinz, in der fih fchon
ohnehin fehr viele Tateinifche Kirchen und Gemeinden befanden, auch eine zweite
Metropolie im Reiche nebft der von Gnefen (f. d. A.) zu gründen, weßwegen er
auch mit Innocenz IV. in diefer Hinficht unterhandelte; als aber diefer 1362 fein
Leben endete, fo erreichte Caſimir von Urban V. feinen Wunſch und foll (jedoch
nicht 1361, fondern um ein Jahr fpäter) den obgenannten Chriftin zum erften
Erzbifchof ernannt haben, Wenn wir jedoch erwägen, daß von einer fürmlichen
Erection der Tateinifchen Metropolie in Halicz erft unter Gregor XI. die Rede ift,
fo verliert die Angabe von Skrobiszewski an hiſtoriſchem Gehalte eben fo viel,
als die von Naruszewic, und Oſtrowski, auf unläugbare hiſtoriſche Documente
fih flügend, daran gewinnt. Aus allen diefen, auf den Urfprung der latei—
nifchen Metropolie in Halizien fich beziehenden, und fo fehr von einander ab-
weichenden Berichten kann jedoch diefes mit Gewißheit entnommen werden, daß
ſchon, von der zweiten Hälfte des 11ten Jahrhunderts angefangen und im 12ten
Sahrhundert, der Gottesdienſt nach dem Iateinifchen Ritus in zahlreichen Kirchen
Rutheniens abgehalten worden fei, was auch die internationalen Verhältniffe zwi-
fchen ven Polen und Nuthenen in jenen Zeiten hinreichend erklären, Beſonders aber
im 13ten Jahrhunderte iſt durch die Anftrengungen Colomans, des Sohnes des un—
garifchen Königs Andreas, welcher 1214 vom Graner Erzbifchof zum König vom
BT RE ECTS RT
ee
Lemberg. 443
Halizien gekrönt worben ift, dann des mazowifchen Prinzen Boleslaw Trojden,
welcher durch die Vermählung mit Maria, der Schwefter des ruthenifchen Fürften
Leo, in den Befig Rutheniens gelang, endlich der römischen Päpſte für die Aus-
breitung der Fatholifchen Kirche nach dem Tateinifhen Ritus in Ruthenien fehr viel
geſchehen. Biele Verdienfte erwarben fih in diefer Hinficht die neu errichteten
Drden der Dominicaner und Franciscaner, von denen einige zwar mit der bifchöf-
lichen Weihe verfehen waren, jedoch mehr den Charakter von Miffionären, als
eigentlihen, an Sig und Stelle und an genau begrenzte Didcefen gebundenen
Biihöfen an fi trugen, Sol’ ein Bifhof mag auch der obgenannte Epriftin
gewefen fein. — In den erften Zeiten fanden diefe römifch-Fatholifchen Gemein-
den in Ruthenien unter der Jurisdiction des Krafauer Bifhofes; feit 1228, als
der Fürft von Breslau, Heinrich der Bärtige (Bormund des minderjährigen Kö—
nigs Boleslaw’s V. oder des Züchtigen) die Zügel des Reiches führte, übertrug er
diefelbe an den Bifchof von Lebus (Bisthum in der Marf Brandenburg, 6 Meilen
von Franffurt a. d. O., im J. 966 von Mieczyslaw J. gegründet, f. Lebus), wie
dieß auch aus einem Briefe Aleranders IV. (1257) an Johann, Bifchof von Lebus,
in welchem er ihn wegen einer zu großen Entfernung von der canonifchen Vifitation
dispenfirt, zu erfehen ift. — Und als nach dem Tode Chriſtins derfelbe Johann
feine Jurisdiction über die römifch-Fatholifhe Kirche in Ruthenien zu behaupten
ſuchte, und der Wahl eines neuen Biſchofs Hinderniffe in den Weg legte, wandten
fih die Lemberger Bürger fammt andern römifch-Fatholifchen Gemeinden an Papft
Gregor XI. mit der dringenden Bitte: Er möge ihnen Fatholifhe und von Lebus
unabhängige Bifhöfe zufenden, bevor aber diefes geſchähe, den Prieftern aus dem
Prediger- und Franciscanerorben Vollmacht ertheilen, die kirchlichen Angelegenheiten
dafelbft zu verwalten, Diefe Bitte gewährte der HI. Bater in einem Schreiben
an die Lemberger. Er ſchickte auch ein Breve an den Generalvicar der Francis-
eaner, worin er ihm die Vollmacht ertheilt, felbft gegen Einfprache des Bifchofs von
Lebus die Kirche dafelbfi zu regieren. Nachdem nun auf diefe Weife die Iateinifche
Kirche in Ruthenien einige Selbftftändigfeit erlangt hatte, wandte fich Ladislaus, Fürft
von Oppeln, des ungarifch-polnifchen Königs Ludwig Stellvertreter in Ruthenien,
im Einverftändniffe mit dem König an denfelben Papft Gregor XL, und ftellte
ihm die Notbwendigfeit eigener und felbftftändiger Iateinifcher Bifhöfe in diefem
Lande dar, Es delegirte nun der HI. Bater in diefer Hinfiht eine Commiffion,
beftehend aus dem Erzbifhof von Gnefen und den Bifchöfen von Krafau und Plod,
um nad angeftellter Unterfuhung ihm abermals den Sachbeftand genau mitzuthei-
Ten. — Nach einer forgfältigen Unterfuchung berichtete die Commiffion dem HI. Vater
Folgendes: Daß die Zahl der römifch-Fatholifhen Seelen in diefem Lande fehr
beträchtlich feiz daß die römifch-Fatholifchen Kirchen in Kijow, Halicz, Przemysl,
Wlodzimirz und Chelm ſchon früher ſich der biſchöflichen Sige erfreut hätten;
daß die Bifhöfe von Lebus ſich die Jurisdietion über diefe Sprengel unrechtmäßig
aneigneten, und daß fie diefelbe wegen der allzumweiten Entfernung nicht einmal
ausüben fönnten, — Dur) die Wichtigkeit dDiefer Gründe bewogen, erließ Gre-
gor XI. (13. Febr. 1375) aus Avignon eine Bulle, Fraft welcher die Kirchen in
Halicz, Przemysl, Wlodzimirz und Chelm ihre eigenen Bifchöfe Haben und von
Lebus unabhängig fein follten; nebftdem beftimmte er, daß der von ihm zum la⸗
teinifchen Erzbifchof ernannte Antonius die Jurisdiction eines Metropoliten über
die drei übrigen Bisthümer von Przemysl, Wiodzimirz und Chelm ausüben folle,
Hieraus ift alfo erfichtlih, daß die Gründung einer wirflichen Iateinifchen Me—
tropolie in Rothreußen erft in diefe Zeit zu fegen fei, wiewohl es damit nicht im
Widerſpruche fteht, daß der obgenannte Chriftin fhon zu Cafimirs Zeiten als
Biſchof von Halicz eine gleihfam Metropolitanjurisdiction über die benachbarten
Kirchenſprengel ausgeübt haben mochte. Wegen der fortwäßrenden feindlichen
Einfälle der Tataren Fonnte die Metropolie nicht Iange in Halicz verbleiben. Schon
Aula Lenfant,
derfelbe Ladislaus von Oppeln firebte die Hebertragung der lateiniſchen Metropolie
nach Lemberg an, zu welchem Zwede er fein. eigenes Haus dem Erzbifchof und
feinen Nachfolgern fchenfte, ja fogar die Einwilligung von Gregor XI. einholte;
deffenungeachtet wohnten die ſechs erften lateiniſchen Erzbifchöfe: Antonius, Ma—
thias, Bernardus, Petrus, Jacobus Strepa und Nicolaus Tromba in Halicz. —
Sohann Rzeszowski war der erfte, der fih 1411 (unter Ladislaus Jagello) Erz-
bifchof von Lemberg nannte; die eigentliche und feierliche Uebertragung des Erz=
bisthums nach Lemberg jedoch gefchah erft 1414, nachdem Johann XXI. (23, Der,
1414) feine Einwilligung dazu gegeben hatte, Nebft den drei oben erwähnten
Bisthümern wurden in Folge der Zeit noch andere, wie das in Kamieniec, Kijow,
Seret (in der Moldau), der Jurisdietion des Iateinifhen Lemberger Erzbifchofs
untergeorbnet, was aber bei den damals fo oft vorfommenden politifchen Um—
wälzungen durch Kriege nicht immer Beftand hatte. Seit der Theilung Polens
1772 blieb dem Lemberger Erzbifchof die Zurisdietion bloß über Przemysl, feit
1783 wurde fie auch über das in demfelben Fahre neu errichtete Bisthum von
Tarnow erweitert, Vermöge eines Neferiptes des KRaifers Franz. vom 13, Febr,
1817 bei der Einführung der galizifchen Stände wurde der damalige Tateinifche
Erzbifchof von Lemberg Andreas Aloyfins Graf Sfarbef Ankwicz auch für feine
Nachfolger mit der Würde eines Primas der Königreiche Galizien und Lodomirien
befleivet, welche Würde feit 1849 dem griechifch-Fatholifchen Metropoliten Michael
Lewicki verliehen wurde, Das lateiniſche Metropolitancapitel von Lemberg zählt
4 Prälaten: einen. infulirten Dompropft, einen infulirten Domdechant, einen
Eufios und einen Scholafticus nebft 6 Gremialdomherrn — dann find noch 8
Ehrendomherrn. Die Iateinifche Lemberger Erzdidcefe, welche fih über 10
Kreife, nämlich: Lemberg, Zolfiew, Brzezany, Stryj, Stanislawow, Kolomea,
Tarnopol, Czortkow und Bufowina erſtreckt, wird eingetheilt in 25 Decanate,
und zählt 91 Pfarreien, von denen 18, dann 30 Localcapellanien, von Denen
eine den Drbenscollegien incorporirt iſt. In der lateiniſchen Erzdidcefe von Lem-
berg find 6 Männerorden: I. Dominicaner mit 8; II. Carmeliter (antiquae regu-
laris observantiae) mit 35 IH. Minoriten (ordo minorum cenventualium) mit 35
IV. Bernardiner (ordo minorum observantium) mit 75 V. ordorecollectorum seu re-
formatorum mit einem; VI. Capueiner mit 2 Drbenshäufern; dann 4 Frauenprden,
und zwar J. Benedictinerinnen mit einem; II. Vom Hochwürdigften Gut mit einem;
IH. Bom Herz Jeſu mit einem Ordenshauſe; IV. barmherzige Schweftern mit 8
Collegien; ein Jateinifches Seminar, worin 50—60 Zöglinge zum geiftlichen
Stande gebildet werden; und ein Knabenfeminar für ungefähr 20 Zöglinge. —
Nebftvem befindet fich in Lemberg der Sig eines proteftantifhen Superintendenten
und eines ifraelitifchen Oberlandesrabbiners, An Unterrichtsanftalten befigt Die
Stadt Lemberg die feit 1784 geftiftete und 1817 wieberbergeftellte Univerſität
(Alma Franciscea), an welcher AO Profeſſoren angeftellt find. Das Univerfitäts-
gebäude fammt einer reichen Univerfitätsbibliothet wurde (1848) während bes
Bombardements ein Raub der Flammen; eine Privatlehranftalt für Ordenscandi—
daten, für die Theologie mit 7, für die Philofophie mit 3 Profefforen; eine ftän-
diſche Academie mit landwirthſchaftlichem Inſtitute; zwei Gymnaſien und eine
Realſchule. — Endlich ift noch bemerfenswerth das berühmte Dffolinskifhe In—
flitut mit einer 45,000 Bände ftarfen Bibliothek, [Öwiazdon.]
2enfant, Jacob, am 13, April 1661 zu Beauffe in Frankreich geboren,
war der Sohn eines reformirten Predigers, welcher, nachdem Ludwig XIV. das
Ediet von Nantes widerrufen hatte (1685), nah Marburg in Heffen auswan-
derte und dafelbft ſchon im J. 1686 flarb. Der Sohn hatte Anfangs zu Saumur
in Frankreich unter dem berühmten hugenottifchen Theologen Jacob Eapellus,
fpäter zu Genf und Heidelberg fludirt, und war in Yegterer Stadt im J. 1684
Kaplan der verwittweten Churfürftin yon der Pfalz und Paftor an der franzfl-
Leo L 445
ſchen Kirche geworden. Als im J. 1688 die Franzofen in die Pfalz einfielen
and Melac dieſelbe Cauch Heidelberg) verheerte, floh Lenfant nach Berlin und
erhielt Hier 1639 eine Predigerftelle an der franzöfifch-reformirten Kirche, die er
auch bis an feinen Tod, 39 Jahre lang verwaltete, Daneben ward er fpäter
auch zum Hofprediger der Königin Charlotte Sophie, und zum Dberconfiflorial-
rath erhoben, überdieg Mitglied mehrerer gelehrten Gefellichaften. Im 3. 1707
bereiste er Holland und England, predigte Hier vor der Königin Anna, und er-
hielt von ihr den ehrenvollen Auftrag, ihr Hoffaplan zw werden. Er wollte
jedoch feine feitherige Stellung nicht verlaffen, machte aber noch mehrere andere
Reifen, um Materialien für feine gelehrten Arbeiten zu fammeln, bie er am
7. Auguft 1723 an einem Schlagfluffe ſtarb. Er war ein tüchtiger, meiſt gründ-
licher und fehr fruchtbarer Gelehrter, namentlich in kirchenhiſtoriſchen Special-
werfen ausgezeichnet. Seine vorzüglichftem Arbeiten find die Histoire du Concile
de Pise in 2 Duartbänden, 1724 (zugleich eine Gefhichte des großen vorange-
gangenen Schismas) und die Histoire du Concile de Constance. 1727, ebenfalls
in 2 Dnartbänden (auch in's Teutfche überfegt, Wien 1735). Das dritte große
Hauptwerk follte die Gefchichte des Basler Eoneild und der Hufitenfriege werben,
aber das firhtlihe Herannahen feines Todes veranlaßte Lenfant, mit Beendigung
diefer Arbeit zu eilen, und fo ift denn die Histoire de la guerre des Hussites et
du Concile de Bäle (die nach feinem Tode ebenfalls in 2 Duartbänden 1731 er-
ſchien), weniger gründlich, namentlich weniger reichlich auf Duellenftudium bafirt,
als die beiden erfigenannten Werfe, Außerdem fihrieb Lenfant: Histoire de la
Papesse Jeanne 1694; L’£loquence chretienne dans PIdee et dans la Prafique par
le P. B. Gisbert de la compagnie de Jesus, nouvelle edition, oü Yom a joint- les
remarques de Mr. Lenfant, 1728; Traduction du N. Testament evec des remarques;
Poggiana 1728; Pröservatif contre la Reunion avec le Siege de Rome 1723;
Lettres entre Mr. d’Artis et Mr. Lenfant sur les matieres du Socinianisme und noch
ziemlich viele andere, jegt meift vergeffene Werke. (Hefele.]
Leo L—XIE, Päpſte. Leo L, mit dem Beinamen der Große, ſtammte
vom einer fehr angefehenen toscanifhen Familie ab und wurde gegen Ausgang
des vierten Jahrhunderts in Rom geboren, Sein Leben und Wirken bis zum
Diaeonat ift ganz unbefannt. Daß er bei feinen außerordentlichen Fähigkeiten
und feltenen Charafterftärfe ſchon unter Papſt Cöleftin (423—432) großes An=
fehen genoß und auf die Leitung der Firchlihen Angelegenheiten einen bedeutenden
Einfluß Hatte, fpringt aus mehreren Thatfachen in die Augen, So wandte fi
Cyrill von Alerandrien an ihn, um durch feine Vermittlung den Papſt zu be—
wegen, den unbefcheidenen Anfprühen Juvenals von Jeruſalem auf ven Primat
in der paläftinenfifhen Rirchenprovinz nicht zu willfahren; und wie er von dem⸗
felben Papfte, als Prosper von Gallien die Hilfe des römifchen Stuhles gegen
I den in Gallien überhandnehmenden Semipelagianismus anrief, mit der Unter«
I. fuhung und Entfcheidung darüber betraut wurde, fo wußte er auch im J. 439
I unter Papft Sirtus II. den Bemühungen des wegen feiner Anhänglichfeit an den
Pelagianismus ausgefhloffenen Julianus von Eclanum, der fi wieder in die
Kirche einſchleichen wollte, ſehr glücklich entgegen zu wirken. In demſelben Jahre
wurde Leo als die hiezu tauglichfte Perfon auch nah Gallien geſchickt, um eine
zwifchen dem römifchen Feldherrn Aetins und dem Senator Albinus ausgebrochene
Streitigfeit zu ſchlichten. Während feiner Abwefenheit war Sirtus im Monat
März 440 geftorben, und nun wählte die gefammte Geiftlichfeit, wie von Einem
Geiſte befeelt, den Diacon Leo zum Nachfolger des verftorbenen Papftes, Rom
und die ganze Ehriftenheit jubelte bei der Nachricht der getroffenen Wahl, Es
war ein in mehr als einer Beziehung Fritifcher Zeitpunet, der von dem oberſten
Biſchofe der ganzen Kirche vor Allem überlegendes und dabei doch entſchiedenes
Handeln und große Thätigfeit, ein Bewußtfein feines Berufes und feiner Auf«
446 Leo J.
gabe in Bezug auf die in Lehre und Verfaſſung gleich ſchwierigen und verwickelten
Angelegenheiten erforderte, wie ſie, da zu Allem die große Gährung der Ge—
müther in Staat und Kirche ſelbſt und die in jeglicher Weiſe immer wachſende
Noth und Bedrängniß der Zeit hinzukam, ſpäter nicht oft wieder verlangt wurde.
Wie aber Leo in der innerften Tiefe feines Fräftigen Geiftes die Aufgabe und die
Pflichten feines Berufes erfannt hatte, was ſchon aus feiner in der Octav feiner
Confeeration an das Volk gehaltenen Rede erhellt, fo bot er auch alle Kraft auf,
feine Aufgabe in einer ihrer Wichtigkeit angemeffenen Weife zu Iöfen. — Die
Kirche in Africa zog zuerft feine Aufmerffamfeit auf fih. An den Einfall der
arianifchen Barbaren in diefes Land (429) knüpfte fih Noth und Bedrängniß;
eine furchtbare Verfolgung erging über die Orthodoxen und eine Menge von
Nachläffigfeiten und Mißbräuchen ftellte fih ein. Zwar ſchloß Valentinian II.
mit dem Bandalenfönig Genferich einen Frieden, in Folge deffen die drei mau—
ritanifchen Provinzen den Römern zurückgegeben wurden, aber bie kirchliche Drd-
nung war damit noch nicht hergeftellt; bedeutende Unregelmäßigfeiten und Ab—
weichungen von dem, was in Bezug auf die Weihung der Geiftlichen ꝛc. durch
gefeglihe Beftimmungen feftgefegt war, dauerten fort, Darum erließ Leo kurz
hinter einander zwei Nundfchreiben an die mauritanifchen Bifchöfe, um den dieß-
fallfigen Firhlichen Beftimmungen Geltung zu verſchaffen. Wie aber die kirch—
liche Disciplin durch die immer ſich erneuenden Unruhen und politifchen Umwäl—
zungen und durch die ganze und allgemeine Zerriffenheit des Lebens eigentlich in
der ganzen Ausdehnung der abendländifchen Kirche bedeutend in Verfall gefommen
war, fo fuchte auch der Papſt in Gallien wie in Africa, in Stalien wie in Spa=
nien diefelbe wieder herzuftellen und größere Strenge und Gefesmäßigfeit wieder
einzuführen. Im nämlichen Jahre noch (443) hatte Leo für die Reinigung und
Aufrechthaltung der Lehre einzutreten, Nach der Eroberung Nordafrica's durch
die Vandalen waren viele Manichäer nach Stalien, befonders nah Rom gekom—
men; fie gerirten fich äußerlich als Katholifen und, um ihre Gräuel im Verbor—
genen defto ficherer üben zu fünnen, nahmen fie den äußern Schein einer ganz
vorzüglichen Enthaltfamfeit an. Sp gelang es ihnen, ihre fchändliche Seetirerer
Sahre lang zu verbergen, Aber dem erleuchteten Eifer und der unermüdeten Wach—
famfeit Leo's konnte diefe im Stillen immer mehr um fich greifende Peft nicht
lange entgehen. Sobald er deßhalb die nöthigen Vorbereitungen getroffen, Tei-
tete er eine ftrenge Unterfuchung ein, und nach Beendigung derfelben verfammelte
er die Geiftlichfeit Noms und der Umgegend, Senatoren, Patrizier und einen
großen Theil-des Bolfes, Ein manichätfcher Biſchof und die angefehenften Mit-
glieder der Secte wurden vorgeführt, Sie geftanden nicht bIoß ihre Ketzerei ein,
fondern auch abfcheuliche Verbrechen der Unzucht, welche bei ihren Feftverfamm-
lungen verübt worden feien, Recht Viele entfagten fofort ihrem Irrthume und
fehrten bußfertig zur Kirche zurück. Um aber die Widerfpenftigen, die mit dem
Banne belegt und aus Nom vertrieben wurbeh, fowie jene, die noch vor Beendi=
gung des Proceffes aus der Hauptftadt geflohen waren, unſchädlich zu machen,
feste Leo die Bifchöfe der morgen- und abendländifhen Kirche von dem in Nont
Borgefallenen in Kenntniß, forderte fie zur ftrengfien Wachſamkeit auf und wirkte
bei den Kaifern Valentinian II. und Theodoſius dem Jüngern ein Gefet aus,
welches alle früher gegen irgend welche Keger verfügten Strafen erneuerte und
verfehärfte. Kurze Zeit nach diefer Unterbrüdung der Manichäer befam Leo von
dem Biſchofe Septimus Kunde, daß in Oberitalien der Pelagianismug unter Cle—
rus und Volk Anhänger zähle, er forderte deßhalb die Biſchöfe zu wiederholten
Malen auf, mit vereinten Kräften auf die von ihm bezeichnete Weife dieſer Irr—
lehre entgegenzumwirfen. Auch von Spanien aus erhielt er eine dringende Ver—
anlaffung, feine Aufmerffamfeit und Thätigfeit der Widerlegung und Hemmung
bäretifcher Beftrebungen zuzuwenden. Um die Mitte des fünften Jahrhunderts
Leo J. 447
nämlich breitete ſich wieder die priscillianiſtiſche Ketzerei, begünſtigt durch die
Einfälle der Barbaren, mit Macht in Spanien aus, Turribius, Biſchof von
Aftorga, kämpfte in Wort und Schrift Dagegen an, und forderte auch feine Mit-
bifchöfe Hiezu auf, ohne aber bei ihnen großen Anklang zu finden, Deßhalb
brachte er die Sache zur Kenntniß des römifchen Stuhles, die Entſcheidung des-
felben erbittend. In einem längeren Schreiben entwidelt der Papft das Eigen-
thümliche diefer Härefie, und wie fehr fie der Fatholifchen Rechtgläubigfeit wider—
fireite; fofort unterrichtet er den Bifchof, wie er es anzugreifen habe, um bie
weitere Ausbreitung der Secte zu hemmen, Zn Toledo wurde eine Synode ge—
halten, welche ein Fatholifches Glaubensbekenntniß nebft 18 Anathematismen
gegen die Priscillianiften abfaßte; da aber die Bifchöfe von Gallizien, in welcher
Provinz die Ketzerei am meiften um fih gegriffen hatte, fi) dabei nicht hatten
einfinden fönnen, fo ließ der Papft jenes Glaubensbefenntnig dem Metropoliten
von Gallizien überfenden, damit e8 von ihm und feiner Geiftlichfeit unterfchrieben
werde; etwas ſpäter fprach ſich dann eine gallizifche Provincialfynode gegen die
priscillianiftifche Härefie aus. Daß Leo im obigen Schreiben zuerft und haupt-
fählih von Seite der Kirche zur Ergreifung der ſtrengſten Maßregeln gegen die
Srrlehrer aufgefordert und die Beftrafung derfelben mit dem Tode von der welt-
lichen Macht verlangt habe, ift ein ungerechter Vorwurf, erflärte er ja vielmehr
ausdrücklich, daß die Kirche ſich mit dem geiftlichen Urtheile begnüge und bfutige
Rache fliehe. Wenn man ihm aber verübeln will, daß er gegen das firenge Ver—
fahren des Staates nicht mißhilligend auftrat, fo ift zu bedenken, daß eben Nie-
mand, feldft die geiftig am höchſten Geftellten, nicht über ihre Zeit hinausfönnen,
und daß der Maßftab für die Würdigung irgend welcher Handlung nicht in der
Anfiht und dem Wefen unferer Zeit, fondern in dem Sein derjenigen zu fuchen
ift, in welcher fie gefchehen. — Noch gegen Ende des Jahres 444 war unter den
galliſchen Bifchöfen ein Streit entfianden, in welchem Leo als oberſter Schieds-
richter aufzutreten Hatte, Schon früher buhlten die Stühle von Arles und
Vienne um den Vorrang; Papft Zofimus (417—413) entſchied fih für Arles,
ernannte den Bifchof diefer Provinz zu feinem Vicar in Gallien und ftellte die
drei Provinzen Biennenfis und Narbonenfis I et II. unter die Gerichtsbarkeit des
Erzbifchofs von Arles. Hilarius (ſ. d. A.), feit 428 Erzbifhof von Arles, ver-
I anftaltete nun im Sommer 444 zu Veſontio (Bafangon, f. d. A.) eine Synode,
welche den Chelidonius, Biſchof von Befangon, den kirchlihen Canonen gemäß
auf die motivirte Anklage Hin, daß er vor feiner Weihe eine Wittwe geheirathet,
und früher, da er noch römifcher Beamter war, ein Todesurtheil gegen einen
Berbrecher gefällt und vollzogen habe, abfegte. Chelidomius ging nach Nom und
legte hiegegen bei Leo Appellation ein; auch Hilarius war dahin gegangen, um
die Beftätigung des von der genannten gallifchen Synode gegen den Chelidonius
erlaffenen Urteils auszumwirfen, Auf dieß Hin veranftaltete Leo eine Synode zu
Rom, auf welcher Chelivonius durch Zeugen die Unwahrheit der ihm zur Laft
gelegten Befchuldigungen darthat, während Hilarius, unzufrieden über die päpft«
lie Annahme der Appellation, auf der Synode, ob auch vom Papfte ausdrücklich
biezu aufgefordert, gegen Chelidonius nicht nur als Kläger nicht auftrat, fondern
ſogar heimlich aus Nom fich entfernte, Chelidonius wurde für unſchuldig erklärt
and von Leo wieder in fein Amt eingefegt, Konnte Leo ſchon mit diefem Betragen
des Hilarius nicht zufrieden fein, fo waren noch andere Klagen eingelaufen, welche
I ihn zu einem firengeren Verfahren gegen Hilarius beftimmten. Projectus näm—
lich, ein anderer gallifcher Biſchof, beklagte ſich bei Leo auf das Bitterfie, daß
Hlarius willfürlih einen andern Bifchof zu feiner Stelle geweiht Habe, als er,
I Projertus, an einer Krankheit darnievergelegen habe, ohne den Ausgang derfelben
abzuwarten, In einem Schreiben fest Leo die Bifhöfe der Viennenfifhen Kirchen-
provinz son dem Dergange und wahren Verhalten der Angelegenheiten des Che—
418 Rep].
lidonius und Projeetus in Kenntniß, ſpricht ſich ſehr ſcharf gegen Hilarius aus,
entzieht ihm die Metropolitanrechte und trägt fie auf ven Stuhl von Vienne über,
Diefe Mafregel erſchien Vielen ſchon als eine unrechtmäßige Anmaßung; während
Onesnell den Hilarins gegen Leo fehr in Schug nimmt und Baronius zum Jahre
464 durchblicken läßt, als wäre Leo bei dem ganzen Streite nicht immer gut be—
sathen gewefen, haben bie Ballerini in der Ausgabe der Werke Leo’s den Papſt
und fein Verfahren gelehrt und gründlich verteidigt, Durch ein Geſetz Balen-
tinians IIL., welches am 6. Juni 445 aus Beranlaffung diefes Streites erfchien,
thätige Weife aus. Bald liefen deßhalb Klagen über Klagen in Rom ein; be=
fonders beflagte ſich der Bifchof Atticus von Nicopolis, den Anaſtaſius, weil er
an einer Provinciaiſynode nicht Theil genommen, im Winter mit Gewalt nach
Theſſalonich hatte bringen laſfen, in Nom bei dem Papſte bitter über bie ihm von
Seiten des Metropoliten widerfahrene Harte Behandlung. Nun ſah ſich Leo ver-
anlaßt, in einem Schreiben feinen Bicar zu maßregeln, die Bande der Abhängig-
keit Schraffer anzuziehen, die Berhältniffe der Metropoliten zu den Biſchöfen ihrer
Provinz und mehrere andere Digciplinarpunete von Neuem feftzufegen. — Gegen
das Jahr A48 begannen Streitigfeiten, welche bald bie größten Folgen haben
folften und die Kirche fange Zeit hindurch mit Zwift und Unruhe erfüllen, die des
Eutyches (ſ. d. A.) nämlich. Nachdem er auf der Synode zu Eonftantinopel im
November 448 aus der Rirchengemeinfchaft ausgefchloffen worden war, fuchte er,
unterflügt von Kaiſer Theodsfing, den Papft für feine Sache zu gewinnen. Les
verlangte nun im Febr. 449 von Flavian (f, d. A.) einen ausführlichen Bericht,
aus dem er in der Folge, fowie aus den mitgeteilten Synodalacten die Richtig-
feit des gegen Eutyches gefäfften Urtheils erkannte, Eine Synode, welche den
Eutyches reftituiren folfte, wurde noch im März 449 von Theodoſius auf den
4. Auguft deffelben Jahres nach Epheſus ausgeſchrieben. Leo gab ſich alle Mühe,
daß das neue Concil entweder in Jialien abgehalten werde, oder ganz unterbleibe,
aber vergebens, darum ordnete er zu der Synode (ſ. den Ark, Ephefus, Räu—
berſynode daſelbſt) Geſandte ab und erließ unterm 13. Juni 449 an Flavian
fein berüßmtes Schreiben, weldes mit Necht als das wichtigfte dogmatifhe Do⸗
enment des Jahrhunderts betrachtet werben muß, da durch dieß einer Der wichtigften
und fehwerften Punete des chriftlichen Glaubensſyſtems entſchieden und feſtgeſetzt
wurde. Kaum hatte Leo über das in Epheſus Vorgefallene Kunde erhalten, als
er dem Kaiſer auf's Beftimmtefte erflärte (Br. 42, 43), daß er die Beſchlüſſe
diefer Synode als null und nichtig betrachte; zugleich verlangte er die Verfamm-
fung einer beumeniſchen Synode in Italien, und in gleichem Sinne ſchrieben auf
feine Bitte auch Valentinian HI, und die Kaiſerin Placidia und Eudoria ah den
Vater ver letztern, Theodoſius. Ebenſo ſchickte Leo Briefe ireniſchen Inhalts an
Pulcheria, die Schweſter des Theodoſius, an die Gemeinde und Aebte der Klöfter
in Eonftantinopel, Aber Theodoſius war von einer eutychianiſchen Partei be⸗
ur = Les I 449
herrſcht und Leo hatte fo nicht die mindefte Ausficht auf deſſen Beiftand zur Unter-
drückung jener unruhigen und unkirchlihen Bewegungen im Drient, Damit aber
wenigftens der Dccident nicht auch in die Irrlehre mit hineingezogen werde, ſchickte
der vapſt Abfchriften feines Briefes an Flavian als Ausdruck der gefunden Lehre
an alle abendländifchen Bifchöfe. Unverfehens aber änderten ſich die Verhältniffe
in Eonftantinopel, Pulcheria gewann wieder mehr Einfluß am Hofe, Chryſaphius
aber fam-in Abnahme, und Anatolius, bisher eine Creatur Dioscurs und Nach—
folger Slavians, bewarb fih um die kirchliche Gemeinfhaft mit Rom, Auf diejes
bin ſchickte Leo eine Geſandtſchaft nach Eonftantinppel mit einem Briefe an den
Raifer, worin die Anerkennung des Anatolius unter der Bedingung zugefagt war,
daß diefer das Schreiben Leo's an Flavian fowie die zwei Briefe Cyrills an Ne-
ſtorius feierlich anerfenne und die Keßerei des Eutyhes verdamme, Che no die
Gefandten anfamen, war Theodofius geftorben, und fein Tod wurde ein höchſt
wichtiger Wendepunct für die Firhlichen Angelegenheiten. Das neue Herriher-
paar, Marcian und Pulcheria, trat in ein fehr freundliches Verhältnig zu Leo
und verſprach alle Mitwirkung zur Beilegung der Firhlichen Wirren. Nun wußte
- Anatolius nichts Eiligeres zu thun, als Leo's Forderungen nachzufommen; auch
viele Bischöfe, die fih damals in Eonftantinopel befanden, um die neuen Herr-
fher zu beglüfwünfchen, vermochte er, daß fie ihm nachahmten; wieder andere
Bifhöfe, welche ebenfalls die Beihlüffe von Ephefus unterzeichnet hatten, wand—
ten ſich jest theils unmittelbar, theils mittelbar durch Anatolius an den Papſt,
verficherten reumüthig, nur durch Furt und Gewalt überwältigt feien fie ge-
fallen, und baten um Wiederaufnahme in die Gemeinfhaft der Kirche und des
römifchen Stuhles. Jetzt hielt Leo unter den gänzlich veränderten Umftänden eine
allgemeine Synode ganz natürlih, zumal da die abendländifshen Biſchöfe nicht
daran Theil nehmen fonnten, für Höchft überflüffig ; allein Marcian berief fie, ehe
er noch das abrathende Schreiben des Papftes erhalten hatte, zuerſt nach Nicäa,
dann, der Nähe wegen, nach Chalcedon (ſ. d. A.). Nah Beendigung derfelben
ſchickten Marcian, Pulcheria und Anatolius Briefe, und die fämmtlichen Bifchöfe
ein Synodalihreiben und eine griechifhe Abfchrift der Arten an den Papft mit
der Ditte, das von der Synode Feſtgeſetzte zu beftätigen; befonders beflagte fich
Anatolius in feinem Briefe bitter über die päpftlichen Legaten, die Allem, was
das Concil in Anfehung der Kirche von Conftantinopel verfüget, fih eigenfinnig
viderſetzt hätten. Sp bereitwillig Leo Alles beftätigte, was in den ſechs erſten
Siztzungen des Concils gefhehen war, fo entfhieden war er gegen den 28ten
Canon, und zwar mit Net. Lie fih auch vom Standpuncte augenbliclicher und
drtlicher Nüslichkeit Viel für den Canon fagen, fo hatte ihn der Papft von einem
höheren Gefihtspuncte aus in feinem Berhältniß zum Ganzen der Kirche zu be—
traten, in wiefern er diefem und feiner Entwicklung für die Zukunft frommen
oder haben Fönnte, Leo glaubte, durch diefen Canon fei die Möglichkeit einer
Trennung ber orientalijchen und veeidentalifhen Kirche fehr nahe gelegt, und die
Geſchichte beweist, daß der Riß zwifchen der lateiniſchen und griechifchen Kirche
in Wahrheit feinen erfien Grund in der Erhöhung des Stuhles von Conftantinopel
bat, Der Papft bat deßhalb in einem wohl motivirten Schreiben den Kaifer auf
das Angelegentlichfte, diefe der Einheit und dem Frieden der Kirche fo nachthei—
ligen Beftrebungen mit aller ihm zu Gebote flehenden Macht zu unterdrücken, dem
Anatoling aber verwies er auf eine eben fo ernfte ald würdige Weife feine eiteln
Sorderungen und flolzen Anmaßungen, Bevor noch die Angelegenheiten der orien—
talifhen Kirche für vollklommen geordnet gelten fonnten, zogen die politifchen Ner-
haltniſſe Italiens des Papftes Aufmerkfamfeit und Sorge auf fih. Dem fo oft
erſchütterten weftrömifhen Reiche drohte ein naher und furchtbarer Untergang,
Attila ([. d. A, aus Gallien vertrieben, z0g nach Stalien, und der Schrecken
war allgemein, Aquileja mit Feuer und Blut verheert, Mailand, Verona, Man—
Kirchenlexikon. 6, Bd. — 29
450 Leo L
tua und Piacenza geplündert, bezeichneten bald wie rauchende Scheiterhaufen den
Zug des Triumphators, Die Völker flohen vor ihm her und juchten am Meere
die Sandbänfe auf, um nicht von der „Geißel Gottes” erreicht zu werben, Der
hl. Leo warf ſich jegt als Schüger der Schwachen auf und ging ihm entgegen;
wie ein Gefandter des Himmels zug er mit Verfprechen und Drohung vorwärts,
und Attila vor ihm zurück, Die von Vielen verſuchte Nahweifung, Attila habe
aus äußerer Nothwendigkeit Frieden gefchloffen, fo plaufibel fie beim erfien An-
blick auch fein mag, ift nicht ftihhaltig, vielmehr iſt der ganzen Perfönlichkeit des
Papſtes, feiner Meberredungsfraft und geifligen Ueberlegenheit die Rettung Noms:
zuzufchreiben. Ein paar Jahre fpäter mußte Leo unter ähnlichen Verhältniffen
Rom zu Hilfe fommen. Der flumpffinnige Balentinian II., welcher fich über ven
Berfuft der Provinzen in Ausfchweifungen entfihädigte, war den 17. März 455
yon der Hand des Marimus gefallen, und der Mörder hatte den Throm und das
Ehebett feines Schlachtopfers beftiegen; doch Eudoria, die Wittwe Valentinians,
empörte fich darüber und rief ven Genferih (ſ. d. U.) herbei, Diejer kam Mitte:
Sunius, und Rom hatte alfe Urfache, vor dieſem beutegierigen Zerftörer zu zittern.
Leo ging mit dem Worte des Friedens in's feindliche Lagerz aber dießmal Fonnte,
er mit allem Bitten und Flehen nur die Rettung der Bevölkerung und ber drei
Hauptlicchen erlangen, Nom wurde während 14 Tagen ein Raub der Plünderung.
Damals verſchwanden die goldenen und filbernen Gefäße des Tempels von Jeru-
falem; damals wurde au) das eherne vergoldete Dach auf dent Tempel des ca=
pitolifchen Zupiters mit allen übrigen Reichthümern der Stadt hinweggeichleppt.
Taufende wurden mit den griechifhen Statuen und den Schägen ber Kirchen auf
die Schiffe ald Gefangene gebracht, und Leo forgte aus allen Kräften dadurch für
ihre geiftigen und Förperlichen Nöthen, daß er ihnen eifrige Priefter und reich“
Yiche Almofen nach Africa fendete; die Kirchen ließ er wieder aufbauen und ver-
ſah fie mit neuen Gefäßen und Ornaten. — Die oben berührte abſchlägige Ant«
wort des Papftes machte ven Anatolius fehr unzufrieden; er fuchte deßhalb das,
was in dem päpftlichen Schreiben fih auf den 28ten Canon bezog, ber Kunde
alfer morgenländifhen Kirchen zu entziehen, und wie er bei den Bifhöfen Illy⸗
riens die Anerkennung des fraglichen Canons auszuwirfen fuchte, fo machte er
auch wieder mehr gemeinfhaftlihe Sache mit den Häretifern, Auf diefes hin
forgte der Papft feldft für die möglichft größte Publicität feiner nach Conftanti-
nopel erlaffenen Schreiben, ſchickte Abſchriften davon an mehrere morgenländifche
Biſchbfe, auch das Herrfiherpaar forderte er auf, durch gütliche Borfiellungen den
Anatolius von feinem verkehrten Verfahren abzubringen. Um aber fortan die ehr⸗
füchtigen Beftrebungen des Biſchofes von Conftantinopel zu beauffichtigen, über-
haupt aber um bie allgemeinen Intereſſen der Kirche und bie befondern des Papftes
an dem bortigen Kaiferhofe zu vertreten, rief Leo jegt eine Inſtitution in's Leben,
welche ſpäter bei veränderter kirchlicher und ſtaatlicher Beziehung weiter aus⸗
gebiidet und für die Leitung der Angelegenheiten von großer Wichtigkeit geworden
iſt, die Sitte nämlich, beftändige päpſtliche Legaten bei den Höfen zu unterhalten.
Dem Julian von Kos, einer der Cycladen, der ſich ſchon längere Zeit gleichſam
als paͤpſtlicher Geſchäftsführer zu Conſtantinopel aufgehalten hatte und in die dor⸗
tigen Berhältniffe eingeweiht war, wurden nun von Leo ausführliche Inſtructionen
gegeben, der Raifer aber gebeten, demfelben Wohlwollen und Schuß zu gewähren.
Wie wenig der Friede in der vrientalifchen Kirche durch das Coneil von Chalcedon
bergeftelft worden, follte fih bald in Paläſtina Syrien und Aegypten zeigen.
Wie hier der Monch Timothens Aelurus, fo ftellte ſich dort der Mönch Theodo⸗
fius an die Spige der mit dem Concil Unzufriedenen, das Volk wurde durch
Ligen, namentlich durch eine verfälſchte griechiſche Ueberſetzung von Leo's Brief
an Flavian getäufcht, als hätte man zu Chaleedon den rechten Glauben über Bord
geworfen, der Fanalismus fteigerte fih bis zu ſchauerlichen Greuelfeenen, und
Leo L 451
nur den vereinigten Bemühungen des Kaiſers und Papſtes gelang es, die Ruhe
und Ordnung wieder herzuftellen. Das gute und innige Berhältnig zwifchen Papſt
und Kaifer ließ nachgerade auch dem Anatolius ein gutes Vernehmen mit Leo alg
vortheilhaft erfcheinen, und er fuchte deßhalb durch Vermittlung des Kaiſers die
Ausfohnung mit dem Papſte nah; Leo erffärte fih in einem Antwortſchreiben
hiezu bereit; weil er aber gewiffe Bedingungen ftelfte, fo blieb es vorderhand
bei diefen Annäherungsverfuchen; auch dadurch, daß Anatolins etwas fpäter nach-
gab, wurde das Berhältnig zwifchen ihm und dem Papfte nicht viel freundlicher;
Leo Fam ihm zwar freundlich entgegen, aber er fonnte doch den BVerfiherungen
deffelben nicht volffommen trauen. Um diefe Zeit follte auch die Feftfegung der
Paſchafeier für das Fahr 455 zur Entfheidung fommen. Die Beflimmung des
Tages, an welchem Dftern gefeiert werden follte, hing größtentheils von aſtrono—
mifhen Berechnungen ab, das Refultat diefer Berechnungen war aber oft ver-
fhieden, und darum wurde auch Oſtern nicht überall am nämlichen Tage gefeiert.
Um diefe Ungleichheit zu vermeiden, hatten fihon frühere Päpfte dem Biſchof von
Alerandrien den Auftrag gegeben, die Dfierzeit zu berechnen und die gefundenen
Tage dem römifhen Stuhle anzuzeigen. So hatte Bifhof Theophilus von Ale-
xrandrien feit 379 auf 100 Jahre hinaus das Pafıha berechnet, und man hielt ſich
geraume Zeit lang daran; fpäter aber machten fich theilmeife andere Berechnungen
geltend, und der alte Mißſtand war wieder da. Um diefem zu begegnen und
Conformität Herzufteller, ließ Leo durch mehrere erfahrene Männer Berechnungen
anftellen und befeitigte fo einen Zanfapfel vieler Streitigfeiten. Im J. 457 flarb
der trefflihe Kaifer Marcian, und die dem Frieden und der Ordnung feindliche
Partei, deren Unterdrückung eine Folge von feiner und des Papſtes Bemühungen
geweſen, veranlaßte eine neue hartnädigere Empörung. Aegypten ift der Schau-
platz; der fhon genannte Mönch Timotheus Aelurus wird zum Patriarchen aus-
gerufen, und Proterius, der nah Divscur’s Sturz auf den Metropolitanftußl
gefommen war, in dem Baptifterium feiner Kirche mit ſechs Geiftlichen ermordet.
Hierauf wüthete Timotheus gegen das Andenken feines Opfers, nahm alle Feinde
der Synode von Chalcedon in feine Gemeinfhaft auf, die orthodoxen Biſchöfe
und Geiftlihe feßte er ab; vier Bifchöfe feiner Partei erfchienen zu Conſtantinopel
vor dem neuen Kaifer Leo (diefer hatte ſich jedoch gleich nach feiner Thronbeftei=
I gung für ven Befhüger des Coneils von Chalcedon erklärt) mit der Forderung,
daß ein neues Concil berufen werde; auch betheuerten fie, Alerandrien genieße
der vollfommenften Ruhe, die dort eben gefchehenen traurigen Vorfälle feien allein
I der Schuld des Proterius und feiner Partei zuzufchreiben. Alfein auch viele der
I sethodoren Bifhöfe, die aus Aegypten geflohen waren, Hatten dem Raifer ven
| wahren Hergang mitgetheilt, befonders war e8 aber Papſt Leo, der unterbeffen
von Anatolius und feinem neuen Legaten, Aetius, über die Vorgänge im Drient
Kunde erhalten Hatte, und fih nun an den Raifer wandte mit der Bitte, die Au-
torität des Coneils von Chalcedon aufrecht zu erhalten, und durch Fräftiges Ein-
foreiten den Frieden in Aegypten wieder herzuftellen. Da jedoch auch in der
Hauptftadt eine fehr mächtige eutychianiſch gefinnte Partei nicht unthätig war, fo
forderte der Kaiſer ſämmtliche Metropoliten durch ein Rundſchreiben anf, in ihren
- Provinzen Synoden zu veranftalten, und fich fowohl über die Autorität der De-
| erete son Chafcedon als über die Perfon und Sache des Aelurus frei und ge—
wiffenhaft zu erklären. Sobald auch der Papſt diefes Rundſchreiben erhalten, for-
} derte er zu wiederholten Malen den Anatolius auf, allen feinen Einfluß auf ven
Kaiſer dahin zu verwenden, daß er nicht zugäbe, daß jene häretiſchen und ge-
I waltthätigen Bifchöfe irgend eine Gewalt ausübten; auch ſchrieb er jetzt wieder
I am den Raifer, ihn an feine Pflicht erinnernd, und in einem noch etwas fpäteren
Briefe feste er ihm die dogmatifche Wahrheit auseinander, welche von den Eu-
tychianern befämpft wurde, Auch die Antworten der Metropoliten and Biſchöfe,
29
452 Leo L
die ſich für Chalcedon und gegen Aelurus erklärt hatten, waren unterdeſſen ein-
gelaufen, aber der Kaiſer, von Freunden des Aelurus bethört, wollte dieſen ſich
rechtfertigen laſſen, und ſchrieb deßhalb an den Papſt, zu der von Aelurus pro—
ponirten Conferenz Geſandte nach Eonftantinopel zu ſchicken. Noch im März 458
beantwortete Leo in angemeffener, aber fehr nachdrücklicher Weife dieſes Faifer-
liche Schreiben dahin, daß das nicht mehr von Neuem unterfucht werben bürfe,
was durch das allgemeine Coneil von Chalcedon ſchon feftgefeßt fei; er wolle zwar
Legaten fenden, aber nicht um mit irgend Jemanden zu disputiren, fondern um
Die Gläubigen zu unterrichten. Bei der Anfunft der papfllichen Legaten war be—
reits Anatolius gefiorben, und Gennadius hatte den Stuhl von Conftantinopel
beftiegen. Diefer und die Gefandten vermochten nun den Kaifer, entfchiedene
Mafregeln gegen Aelurus zu ergreifen; die Mörder des Proterius wurden be—
ftraft; Aelurus ward nah Gangra und fpäter nach dem taurifchen Cherfones ver-
bannt, und der aufrichtig Fatholifche Timotheus Salophaciolus beftieg 460 ben
Stuhl von Alexandrien. — Während der leßtern Zeit wandte der Papſt feine ganze
Aufmerkfamfeit auf den innern Zuftand der abendländifchen Kirche, Die häufigen
Züge der Barbaren und die durch diefelbe hervorgebrachte Unficherheit aller Ver-
hältniffe hatten auf das Firchliche Leben der Geiftlichen fowohl wie des Volfs einen
höchſt nachtheiligen Einfluß ausgeübt; darum erließ jeßt Leo mehrere Decretalen
und Verordnungen, um jenem ungeorbneten Zuftande Firchlicher Dinge ein Ende
zu machen, Nun war aber auch der Abend feines thatenreichen Lebens gefommen,
denn er endete feine Laufbahn im J. A615 der Tag feines Todes wird verſchieden
angegeben, entweder III. Idus April., oder III. Idus Nov.; die römifche Kirche feiert
fein Gedächtniß am 11. April, Papft Benediet XIV. verordnete, feinen großen
Vorgänger den Lehrern der Kirche in der höchften Bedeutung des Wortes (Doctores
Ecclesiae) beizuzählen (f. Kirhenvater), und beftimmte außerdem die Firchliche
Beier feines Gedächtniffes genauer als bisher, Aus dem Gefagten dürfte einleuchten,
daß, wenn je Einer, gewiß Leo I. den Beinamen „der Große” verdient hatz groß
waren feine Verdienfte in dogmatifcher Beziehung dadurch, daß er einen der wich»
tigſten Puncte der Lehre, recht eigentlich ihren Mittelpunct in mehreren Briefen,
namentlich in dem an Flavian, in einer Weife feftfegte, die eben fo fehr dem
wahren Bewußtfein der Kirche über die Perfon ihres Stifters entſprach, wie fie
die häretifchen Auffaffungen verfelben widerlegte; groß waren feine Verdienfte um
die Entwicklung der Firchlichen Organifation und Berfaffung. In diefem Puncte
wirft man ihm zwar dfters „Anmaßung“, „Herrſchſucht“, „Berfchlagenheit ohne
Öleichen” u, ſ. w. vor, allein mit Unrecht, Abgefehen von aller durch die Glau—
benslehre felbft gegebenen Gewähr hat es der Verlauf der Gefhichte hinreichend
bewiefen, daß in dem Primat, troß alles Widerſpruchs und aller Anfeindung, die
böchfte und vollkommenſte aller Firchlichen Verfaffungsformen zu finden fei. Inner—
lich von der Gründung der Kirche an gegeben und feinem Wefen nach vorhanden,
fonnte er fich als folcher feinem ganzen Umfange nach erft geltend machen und
zur Anerfennung bringen, als die Verfaffung der Kirche im Allgemeinen ſchon
alle andern möglichen Formen der Entwicklung durchlaufen, die an fich befchränft
und unvollfommen, dadurch gerade, daß fie fih als nur für gewiffe Zeit und
Localverhältniſſe Wahrheit habend erwiefen, jenen gerade als die höchſte und voll-
fommenjte Verfaffungsform bewährten, indem fie in ihn über- und in ihm auf-
gingen, Gerade zur Zeit Leo's aber war die organifirende Bewegung in der Kirche
an einem Punete angelangt, daß er e8 für feine Höchfte Pflicht Halten mußte, fie
ihrem Ziele, der Realifirung der vollfommenften kirchlichen Berfaffungsform, des
Primats, zuzuführen, — Unter den Schriften, welche Leo I. zum Verfaſſer haben,
find zu nennen: a) 96 Reden (sermones), welche er während feines 20jährigen
Pontificats und bei verſchiedenen Veranlaffungen an das römifche Volk hielt, Alle
diefe Reden, deren homiletiſcher Werth fehr Hoch anzufchlagen ift, haben einen
Leo. 453
gemeinfchaftlichen Charakter, der mehr noch als die durchgängige Gleichheit des
Styls für einen und denfelben Verfaſſer zeugt. Leo's Schreibart ift durchaus an-
gemefjen und gehalten, wie die Gegenftände, welche er behandelt, es mit ſich
bringen, Seine Bergleihungen find treffend, feine Definitionen in einem Hohen
Grade fharf und beftimmt, aber in dem Ganzen herrfcht das der Zeit eigenthüm—
liche Beftreben vor, die Rede mit Antithefen, Beziehungen, Wortfpielen und
einem rhetorifchen Prunf zu fohmüden, der den Zuhörer hinreißt und blendet,
aber ihrer Einfachheit und Würde ſchadet. Die Zweifel, welche gegen die Aecht-
beit der Reden fohon erhoben worden find, haben gar fein Gewicht. b) 41 Briefe,
die für die Gefchichte der Zeit und die nähere Kenntniß des Charakters, des Wir-
fens und der Anfichten des Papftes von der höchſten Wichtigkeit find, Es bleibt
aber felbft nach den gelehrten und Fritifch-gründlichen Arbeiten der Ballerini (ſ. d. A.)
noch fehr viel für die Reinheit des Tertes und die richtige Ordnung der Briefe der
Zeitfolge nach zu thun übrig. c) Mehrere andere in den Ausgaben Leo's auf-
genommene Schriften können nicht in gleicher Weife auf Aechtheit Anfpruch machen,
müſſen ihm vielmehr vielleicht ganz abgeſprochen werden. Hieher gehört die Schrift
von der Berufung aller Völfer (de vocatione omnium gentium, libri duo). Diefe
Schrift, die flets eine fehr große Achtung genoß, wurde bald Leo, bald dem Am—
brofius, bald dem Prosper von Aquitanien zugefehrieben; ältere Zeugniffe fehlen
aber gänzlich, und nur die Aehnlichfeit der Schreibart des Buches mit der der
ächten Schriften Leo's läßt auf Leo als den Verfaſſer ſchließen. Auch den Brief
an die Jungfrau Demetrias (epistola ad S. Demetriadem seu de humilitate trac-
tatus) fuchte Duesnell dem Papfte, wiederum geftügt auf die Aehnlichkeit der
Schreibart, zu vindieiren, die Ballerini haben ihn aber mit fehr trifftigen Grün-
den widerlegt, Ein fehr altes Sacramentarium (codex sacramentorum, ritus Ro-
manae ecclesiae), ebenfalls Leo zugefchrieben, rief viele und gelehrte Unterfuchun-
gen hervor, befonders befchäftigten fih damit Muratori (dissert. de reb. liturg.
c. IV) und die Ballerini. Nach dem Refultate diefer Unterfuchungen ift dieß Sa—
eramentarium die ältefte derartige Sammlung der römifchen Kirche (f. Liturgien),
Einzelne Stellen und Theile deffelben find ganz in dem Geifte und der Schreibart
Leo's abgefaßt, fo daß fie von ihm herrühren fonnen, Das Ganze ift aber erft
unter Felir II. oder unter Gelaſius (433— 493) zufammengeftellt worden, Edit. pr.
Rom. 1479. edit. Quesnel. Paris. 1675, 2 vol. 4. edit. Rom. 1753—55 per
Petr. Thom. Caceiari 3 tom. fol. edit. Venet. 1757. von den Gebrüdern Bal-
Terini, 3 tom. fol. — Die Duellen, die wir oft wörtlich benüßten, find: Opera
1: Leonis, edit. Ballerini. Arendt, Leo der Große und feine Zeit. Mainz 1835,
Gfrörer, Kirchengefch. 2ten Bdes 1te Abth. Stolberg, Gefch. der Religion
Jeſu Chrifti, 16. u. 17. Thl. Papft Leo's I. Leben und Lehren, von E. Per-
thel. Acta Sanctor. mens. April. T. II. Schröckh, Kirchengeſch. 16.14.17. Thl.
Tillemont’$ memoires T. XV. Bower’s Hift, der röm, Päpfte, 2, Thl. —
Leo II., aus Sieilien gebürtig, war zuerft regulirter Chorherr, dann Cardinal-
priefter an der römifchen Kirche, und beftieg nach dem Tode Agatho's den päpft-
lichen Stuhl im Auguft 682. Die Nachrichten der Alten lauten fehr verfchieden
in der Angabe des Tages feiner Wahl, Ordination und feines Todes. Anaſtaſius
und Andere berichten, daß nach Agatho (+ im Januar 682) der päpftliche Stuhl
1 Jahr, 7 Monate und 15 Tage unbefegt geblieben fei, dann fei Leo erwählt
worden und babe fofort 10 Monate und 17 Tage höchſt rühmlich die Kirche re=
giert, Allein man hat nicht nur feinen Grund für eine fo lange Vacatur des
päpftlihen Stuhles, fondern Anaftafins felber fügt an einer andern Stelle eine
Zeitbeftimmung bei, womit er mit fich felber in Widerfpruch kommt und fo gegen
| Die gewößnlihe Annahme, Leo fei Furze Zeit nach dem Tode Agatho's zum Papfte
gewählt worden, Feine Inftanz bildet. Auf die Nachricht von dem Tode Aga-
thos und. der neuen Papftwahl kehrten die päpftlichen Legaten, welche ver ſechsten
454 Leo II.
allgemeinen Synode präfivirt hatten, von Conſtantinopel mit den Synodalaeten
und einem Briefe von Kaiſer Conftantin IV., Pogonatus (der Bärtige) nach Nom
zurück. In diefem Briefe ftellte Conflantin an Papft Leo II. das Anfinnen, er
möchte einen Botfchafter mit unumfhränfter Vollmacht nah dem Hofe fenden,
damit man mit demfelben im Nothfalle ohne Verzug über dogmatiſche, canoniſche
und andere firchliche Angelegenheiten verhandeln könne (Harduin. II. 1463), Der
Papſt mochte Hierin eine Schlinge fehen und fihicte flatt des gewünſchten Bot-
fchafters einen Subdiacon nach Conftantinopel, der ohne Anfrage in Nom nichts
Wichtiges unternehmen konnte, mit einem Schreiben, worin Die Beſchlüſſe der 6ten
allgemeinen Synode von Leo beftätigt wurben (Hard. IN. 1470 sqg.), Ordinirt
wurde Leo erft im Auguft 682, und zwar, wie ausdrücklich berichtet wird, durch
den Bischof von Oſtia, unter dem Beiftande des Biſchofs Johannes von Porto,
der auf der fechsten allgemeinen Synode päpftlicher Legat gewefen war, und eines
andern Biſchofs. Die Sitte, daß der Papſt von drei Bifchöfen ordinirt wird,
nahm jedoch nicht mit Leo II, wie Sigonius und Andere behaupten, ihren An-
fang, fondern beftand ſchon von früher her. Die Synodalacten der ſechsten alls
gemeinen Synode überfeßte Leo aus der griechifhen in die lateiniſche Sprache
und fhiefte eine Copie davon durch feinen Bevollmächtigten, Petrus mit Namen,
an die Bifchöfe Spaniens, zugleich gab er feinem Geſandten vier ziemlich gleich
Yautende Briefe mit (Mansi XI, ©. 1050—1058), von denen. der eine an bie
Biſchofe des weftgothifchen Reichs, der andere an den Örafen Simplicius, der
dritte an König Erwig, der vierte endlich an den Metropoliten Quirieus von To—
ledo gerichtet war. In allen vieren erftattet der Papſt längern „der kurzen Be⸗
richt über die glücklichen Ergebniſſe des fechsten allgemeinen Coneils und ſpricht
ſodann den Wunſch aus, daß ſämmtliche Biſchöfe Spaniens dag Glaubensbefennt-
niß des eben erwähnten Coneils, das er ihnen beiliegend zufende, unterfihreiben
möchten. Baronius ad ann. 683, $ 16 ff. erflärt dieſe vier Briefe Leo's IL, weil
fie für das auf der ferhsten allgemeinen Synode über den Papft Honorius (ſ. d. A.)
ausgeſprochene Anathem Zeugniß ablegen, für unterſchoben; aber ex behauptet
dieß ohne Grund, wie fihon Pagi bewiefen hat. Auffallend mag Leo's Verfahren
nur in fofern erſcheinen, als er erſtens von den fpanifhen Biſchöfen ſchriftliche
Anerkennung des ſechſsten Concils fordert, während doch daffelbe Anfinnen an
feine der andern Iateinifch-germanifhen Kirchen geftellt worden iſt, und zweitens
den oben erwähnten Brief an den Metropoliten Duirieus richtet, der doch, was
zu Rom im 3. 682 befannt fein mußte, [on im J. 679 geftorben war, Gfrörer
macht es „mit Hilfe der Hiftorifhen Rechenkunſt“, da die Nachrichten der Alten
hierüber nur fpärlich find, wahrſcheinlich, daß Leo dem Julian die Ehre nicht
anthun wollte, ihn, fei e8 auch nur durch ein Schreiben, als Erzbifhof von To—
Yedo anzuerfennen. Bei dem Kaiſer wirkte Leo die Verorbuung aus, daß die
Erzbifchöfe von Ravenna, die fih von Rom ziemlich unabhängig gemacht hatten,
nach ihrer Wahl nad Nom fommen mußten, um fi) dort, wie früher gebräuch⸗
ih, weihen zu laffen, wogegen der Papfi den erzbifhöflihen Stuhl Ravenna's
von der Entrichtung der Abgabe, welche fonft bei jener Weihe bezahlt worden
war, dispenfirte. Leo war ber lateiniſchen und griechifchen Sprache fehr mächtig,
hatte auch fehöne Kenntniffe in der Mufif, wie er denn auch den Gregorianifchen:
Kirchengefang verbefferte und mehrere Hymnen verfaßte, Er führte auch nah
alten Nachrichten den Friedenskuß bei der Meffe und die Befprengung des Volks
mit geweihtem Waffer ein, beſonders aber erwies er fich als Vater der Armen;
er farb in der Mitte des Jahres 683, der Tag feines Todes aber wird nicht
übereinftimmend angegeben; die Kirche feiert fein Andenken am 28. Juni, Vgl.
Breviarium historico-chronologico-eriticum etc. Fr. Pagi; Vitae et res gestae pon-
tificum Rom. ete. Alphonsi Ciaconii; Rerum lItalicar. soriptores etc. Mura-
torius; Gesta ponlificum Rom, ete, Jo, Palatius; Anastasius, de vilis Romanor, ;
Leo IL 455
£ pontific. Auf diefe Duellen fei auch für das Folgende verwiefen. Gfrörer,
= Kirchengeſch. 3. Bandes 1. Abthl. Schröckh, Kirchengeſch. 19. Thl. Geſchichte
der röomiſchen Paͤpſte von Artaud von Montor, herausgegeben von J. A.
Booſt, L Bd. 1. Lieferung. — Leo HL, ein geborener Römer, war anfänglich
regulirter Chorherr von St. Johann im Lateran, dann Benedictinermönd, zuletzt
Eardinalpriefter an der Kirche der hl. Sufanna, Wegen feines wiffenfhaftlichen
Strebens, feiner theologifhen Bildung und feines biedern, menfchenfreundlichen
Wefens fland er bei Clerus und Bolf in hoher Achtung, befonders erwarb er fi
die Liebe des Iegtern durch feinen Eifer im Kranfenbefuh und durch feine reich-
lichen Almoſen. Hieraus begreift es ſich auch leicht, daß er gleich nad dem Tode
feines Vorgängers, des Papftes Hadrian I., um 26. December 795 einftimmig
zum Papfte gewählt und Tags darauf confeerirt wurde, Alsbald zeigte Leo dieſes
dem Könige Carl vem Großen (f. d. A.) an und überſchickte ihm auch die Schlüf-
fel des Grabes Petri fammt dem Banner der Stadt Rom und andern Geſchenken
mit der Bitte, einen feiner Großen zu ſchicken, um den Römern den Eid der
Treue (ob gegen den Papſt oder gegen den König als Patricius ift eben fo wenig
- Har, als die Schriftfteller darüber einig find, was die Schlüffel gewefen, vb,
wie Bellarmin und Baronius behaupten, fchlüffelförmige Käftchen, welche mit
Reliquien gefüllt waren, und welche die Päpfte aus Gold und Eifenftaub von
den Ketten des Apoftels verfertigen ließen, oder wirkliche Schlüffel, mit welchen
man die Thore des Baticans öffnete und ſchloß) und Unterwerfung abzunehmen.
- Earl ſchickte zu diefem Zwecke feinen Erzfaplan Angilbert nah Rom, auch gab er
ihm einen großen Theil des Schages mit, den er in diefem Jahre den Hunnen
Ollvaren) abgenommen hatte; zugleich war Angilbert, wie aus dem Briefe ar
| 8 erhellt, beauftragt, in Gemeinfchaft mit dem Papfte Alles anzuordnen, was
I zur Erhöhung der Kirche Gottes, zur Befeftigung des römischen Stuhles und
zur Sicherung des Patriciats nöthig ſcheine. Wenn fodann Earl dem Angilbert
no die weitere Inftruction gab: „Du folft den Anoftolicus fleißig ermahnen,
daß er ein reines Leben führe und den hl. Canones Genüge thue. Auch treib’ ihn
an, die Simonie abzufhaffen, welche jegt den heiligen Leib der Kirche an vielen
Drten befleckt!“ fo fcheint doch der Schluß, den ein neuerer Schriftfteller hieraus
zieht, Leo Habe auch in den Augen Carls mit Geld den Stuhl Petri erfauft und
I flehe nicht fittenrein da, mehr als gewagt, zumal da die alten Nachrichten das
1 Gegentheil bezeugen. Gegen Ende des Jahres 798 oder im Anfange des folgen-
I den hielt Leo in Rom eine Synode. Alcuin Hatte nämlich nicht bloß mündlich,
ſondern auch dur einen Brief den Felir von Urgel (f. den Art. Adoptianer)
I von feinem Irrthume abzubringen gefucht, diefer aber verfaßte als Antwort hier⸗
1 auf ein Bud, das eben von der berührten Synode verworfen wurde, während
über Felir das Anathem ausgefprohen wurde, wenn er nicht retractire. Bald
follte Leo's IN. Pontificat durch traurige Unruhen beimgefucht werden. Zwei im
Palafte angeftellte Hohe Beamte, Anverwandte des Papftes Hadrian J., der Pri-
micerius Pafhalis und der Schagmeifter Campulus, die fich wohl felbft auf den
Stuhl Petri Hoffnung gemacht und in Leo den glücklichen Nebenbuhler haften,
faßten den Entſchluß, Leo zu tödten. Als der Papft am 25. April 799 nach ver
I Kirche des HI. Laurentius ritt, um den Gottesdienft und die große Proceffion zır
balten, fielen fie an der Spige einer Schaar Bewaffneter über ihn her, warfen
+ ihn zu Boden, zerriffen feine Kleider und verfuchten ihm die Augen und die Zunge
I berauszureifen. Das Volk, welches ihn umgab, ftäubte bei dem Ueberfall aus—
einander, die Mörder glaubten ihren Zweck erreicht zu haben, als fie den Papft
- bewegungs- und ſprachlos daliegen fahen, und zogen fi zurüd; aber Paſchalis
I amd Campulus erfchienen bald wieder auf dem Schauplag, ſchleppten Leo in die
benachbarte Kirche des HI. Syivefter in capite und ſchlugen ihn am Fuße des Al-
tares blutrünſtig; da fie fürdteten, er möchte fie erfennen und verrathen, fo:
456 Leo.
wütheten fie am fihreeffichften gegen diefe Organe (Nugen und Zunge) des un-
glücklichen Papftes, Des Abends brachte man Leo in das Alofter des HI, Eras-
mus auf dem Berge Cölius; er war noch am Leben und Gott hatte ihm Geficht
und Sprade erhalten, oder, wie bie Alten berichten, durch ein Wunder von
Neuem wieder gegeben, inigen Gläubigen, voran der treue Kämmerer Albinus,
war es indeffen gelungen, genau die Bewegungen der Verſchworenen zu beobach⸗
ten, des Papfies habhaft zu werden, und fie brachten ihn nach St, Peter. Leo
ſah ſich hier mit Huldigungen alfer Art umgeben; der Herzog von Spoleto, Wi-
nigis, brachte denfelben in feinen Palaft, und von da machte fich Leo auf die
Reife nach Paderborn, wo fich damals Carl d. Gr, aufhielt; eine glänzende Auf-
nahme wurde ihm bier zu Theil, Diefer Schritt des Papftes brachte Schreifen
unter Paſchalis und feine Mordgenvffen; um denfelben nach Kräften unſchädlich
zu machen und den Papft in der Meinung des Königs zu verderben, richteten fie
an Carl eine ſchreckliche Klagefhrift gegen ihn. Sie legten ihm Meineid und
Ehebruch zur Laft und verlangten, Leo folle freiwillig vom Stuhle Petri, den er
durch Berbrechen befledt Habe, Herabfteigen und feine Schande in dem Dunfel
eines Klofters verbergen. Leo zögerte indeffen nicht, nah Nom zurüdzufehren ;
überall, in Städten und Dörfern, wurde er wie ein Martyrer empfangen. Die
ganze Bevblkerung Noms, Männer und Frauen, Welt- und Kloftergeiftliche, die
Fremden aller Nationen zogen ihm bis Ponte-Molle mit Fahnen entgegen und
führten ihn im Triumphe nach St, Peter, wo er die hl. Meffe feierte, Mehrere
Erzbifchöfe, Bifhöfe und Grafen, die den Papft nach Nom zurücdbegleitet hatten,
ſtellten nun, von Carl hiemit beauftragt, eine richterliche Unterfuchung in Betreff
der blutigen Auftritte an, die im vorigen Jahre dafelbft fich zugetragen hatten;
die fchuldig Befundenen wurden ergriffen und nach Frankreich abgeführt, Diefe .
leichte Strafe erklärt fih, wenn man bedenkt, daß Leo felbft für feine Gegner
intercedirte, Bald darauf, am 4. November, fam Carl felbft nah Rom, um bier
in der Eigenfchaft als Patricier und höchfter Beſchützer der römischen Kirche auf-
zutreten, Eine große Berfammlung von Erzbifchöfen, Bifchöfen und Aebten, fowie
auch vom weltlichen Adel fand in der Bafılica des HI. Petrus Statt; ſchon hatten
fih Papft und König neben einander nievergelaffen, das Volk die Kirche erfüllt
und an die verfammelten geiftlichen Würdeträger war die Aufforderung ergangen,
die Ankläger Leo's zu hören und die Verbrechen zu unterfurhen (declinare), deren
man Leo zieh, als fich plöglich die Bifchöfe und Aebte erhoben, einflimmig er-
Härend, daß fie feine eompetenten Richter in diefer Sache fein Fönnten, Niemand
darf e8 wagen, den hl. Vater anzuflagen, viefen fie einflimmig; der apoftolifche
Stuhl ift jegt noch wie früher oberfter Schiedsrichter und kann von Niemanden
gerichtet werden. Tags darauf wurde eine zweite Verfammlung gehalten; Leo
beftieg einen Ambo und ſchwur, das Evangelium in der Hand, mit lauter Stimme,
er fei fich durchaus Feines der Verbrechen bewußt, die man ihm zur Laft gelegt
habe. Diefe Worte des Papftes bewegten das Volk, und die ganze Verfammlung
flimmte den ambrofianifhen Lobgefang an, In diefem ganzen Verfahren mit
Gfrörer nur eine abgefartete Poffe zu fehen, dazu liegt Fein trifftiger Grund vor.
Leo lebte nun der Ueberzeugung, die Ruhe und Ordnung, welche jegt it Nom
völlig Hergeftelft war, bleibe nur dann gefichert, und ähnlichen Scenen, nament=
Lich den Unruhen, welche die Papftwahl öfters begleiteten, Tünne nur dadurch
vorgebeugt werden, wenn dem ſtolzen Rom wieder ein Kaiſer gegeben werde und
das abendländiſche Reich von Neuem in ſeinem Glanze erſtehe. Darum nahm er
am Weihnachtsfeſte im J. 800 während des Gottesdienſtes, dem Carl im Pracht-
gewande eines Patriciers beigewohnt hatte, eine goldene Krone vom Altar und
feßte fie demfelben auf, und die zahllofe, im Dome verfammelte Volksmenge brach
in den Zubelruf aus: Heil Earl, dem von Gott gefrönten Auguftus, dem großen
und Friede bringenden Kaiſer Leben und Sieg! Dann falbte der Papft Carl'n und
rn.
tes I. 457
feinen Sohn Pipin mit dem heiligen Dele und betete nach einer alten Sitte für
den Raifer, Nach Eginhard Ccefr. Einhardi vita Caroli M. c. 28) und Andern Hätte
Earl diefe Krönung gar nicht erwartet, und es läßt fih wohl denfen, Leo habe
aus freien Stüdfen, aus Dankbarkeit gegen Carl und in der Abſicht, der Kirche
einen mächtigen Schüger zu geben und das abendländifche Kaiſerthum wieder her-
zuftellen, diefen Schritt getban. Neuere Schriftfteller dagegen, geftügt auf das
Chronicon Joannis Diaconi, abgedruct bei Muratori scriptores rerum Italicar. II. a.
p. 312, glauben, die Erneuerung der Kaiferwürbde fei fihon früher zwifchen Leo
und Carl verabredet worden. Mag dem fein, wie ihm will, die eigentliche und
wahre Erflärung ift außerhalb der menfchlihen Verhältniffe zu fuchen, in der
Lenkung der göttlichen Vorfehung, die, nachdem fie Alles dazu vorbereitet, den
Gedanken in die Seele des Papftes Iegte und durch ihn ein Werf vollführte, wo—
durch der Schlußftein des politifchen Staatengebäudes, welches nach dem Sturze
des römifchen Reichs im Abendlande entflanden war, gefegt wurde, Der Eid der
Hulde, den Earl dem Papfte Ieiftete, war aber nur ein Act perfönlicher Ehr—
erbietung und Ergebenheit und bezog firh auf die von ihm übernommene Pflicht,
die Kirche in allen weltlihen Dingen zu ſchützen, zur Ausbreitung derfelben über
ben ganzen Erdfreis beizutragen; untertban in zeitlihen Dingen oder gar ein
Bafall des Papftes, wenn er gleich feine Würde und Gewalt mittelft feiner er-
hielt, wurde der Kaifer keineswegs, gleichiwie auch der Papft, was feine weltliche
Gewalt über Rom und den Kirchenftaat betrifft, durchaus nicht ein Bafall des
Kaifers wurde, Nur in fofern der Kaiſer als oberfter Herr in weltlichen Dingen
über das ganze chriſtliche Abendland angefehen wurde, in fofern war ihm auch
der Kirchenſtaat auf gewiſſe Weife untergeben, ja-die Stadt Rom war gleichfam
aufs Neue der Mittelpunct des chriſtlichen Reiches, weldhes fogar den Namen
des römifchen führte, geworden, Daher erklärt fih die Ausübung gewiffer Hoheits-
reihte der Raifer in Rom und dem Kirchenftaat, unbefchadet der weltlichen Hoheit
des Papftes, wie auch die Römer nur mit ausdrüdlihem Vorbehalte der dem,
Papſte als ihrem Oberherrn ſchuldigen Treue dem Kaifer einen Eid der Treue
ſchworen. — Im 3. 801 verfpürte man durch ganz Italien ein fehr heftiges
Erdbeben, viele Gebäude flürzten alfenthalben ein, namentlih wurde auch die
Bafılica des Hl. Paulus außer ven Mauern zerflört. Um fortan von ähnlichen
Uebeln frei zu bleiben, ordnete jet Leo nach dem VBorgange des HL. Mamertus von
Bienne die drei Bittgänge (ſ. d. A.) vor Chriſti Himmelfahrt an. Daß Leo im J. 804
bei Earl in Frankreich Weihnachten gefeiert und darauf mit diefem nach Teutfch-
land gefommen fei, ift richtig, nicht aber, daß er bei diefer Gelegenheit den
Suidbert feierlich canonifirt Habe. Um dem Teftamente, worin Carl im J. 806
beftimmt Hatte, in welcher Weife fein Reich nach feinem Tode vertheilt werden
folle, mehr Kraft zu geben, fchiefte es der Kaiſer nah Rom zur Unterfohrift, und
Leo erklärte fih mit den Beftimmungen deffelben einverftanden. Auch in dog⸗
matifher Beziehung hatte Leo fein Urtheil abzugeben. Dem nicäno-conftantinn-
politaniſchen Symbolum waren zuerft in Spanien, nach und nach auch in Franf-
reich die Worte „filloque* beigefügt worden, Fränkiſche Möndhe auf dem Oel—
berge bei Jerufalem wurden von griechiſchen Klofterbrüdern wegen diefes Zufages
der Ketzerei befchuldigt, und fie wandten fih nun in ihrer Verlegenheit an Leo;
diefer brachte die Sache auch zur Kenntniß Carls, und es wurde fofort von ihm
im 3. 809 zu Aachen eine Synode veranftaltet, Hatte gleich Theodulph, Bifchof
von Orleans, in einem eigenen Buche (liber de Spiritu S. in Sirmond. opp. T.I.
p- 695—730) durch lauter Stellen der Hl. Schrift und der Kirchenväter den Be—
weis zu liefern gefucht, daß der HI. Geift auh vom Sohne ausgehe, fo wollte
I Boch die Synode nicht eher ein Urtheil fällen, bis der Papft geſprochen. Es wur-
den deßhalb die Bifchöfe Bernhard von Worms, Jeſſe von Amiens und der Abt
Adelhard von Eorbie als Gefandte des Aachener Concils nah Rom abgeſchickt.
458 Leo IV.
Leo hieß natürlich die franfifche Lehre, daß der Hl, Geift auch vom Sohne aus-
gehe, volllommen gut, er ſprach auch das Anathem über Alle aus, welche nicht
eben fo dachten, wie er auch bald nachher an die morgenländifchen Gemeinden
und an die Mönche auf dem Delberg ein Glaubensbekenntniß fchiefte, das bie
Lehre von der Dreieinigfeit fehr ausführlich entwirfelt und das den Abendländern:
Eigenthümliche (Spiritum Sanctum a Patre et Filio aequaliter procedentem) noch
einmal wiederholt; dagegen erklärte er fich gegen den Beiſatz im Symbolum, wohl
mit Rüdficht darauf, daß von dem deumenifchen Coneil zu Ephefus ein Fluch
darauf gefegt war, wenn Jemand fich erfühnen würde, den allgemeinen Kirchen—
glauben und die Öffentlichen Bekenntniſſe deffelben zu ändern (Harduin, I. 152595
er wünfchte deßhalb auch, man möchte in der franfifchen Hpfcapelle ven Gebrauch,
die Worte filioque mit dem Symbolum abzufingen, nach und nach abfchaffen,
indem man dann anderwärts fchon nachfolgen werde, Doc die Einſchaltung, weil
fachlich richtig, erhielt fi in jenen Ländern, wo fie einmal aufgenommen war,
bis fie endlich felbft von einem allgemeinen Concil fanctionirt wurbe, Leo ſelbſt
ließ in der Petersfirche zwei filberne Tafeln aufftellen, von denen bie eine im
griechifcher, die andere in lateiniſcher Sprache die Worte des conſtantinopolitani—
ſchen Symbolums, ohne den toletanifchen Beifag, enthielt, Nach dem Tode Carls,
gegen Ende des Jahres S14, wurde eine Verſchwörung vornehmer Nömer gegen
den Papft entdeckt; dießmal aber ftellte Leo fogleich eine Unterfuhung an und
ließ die Schuldigen hinrichten. Kaiſer Ludwig, der darin einen feiner Jurisdietion
als Schirmvogt vorbehaltenen Fall fehen mochte, fandte deßhalb feinen Neffen,
den König Bernhard von Stalien, nah Nom, um an Ort und Stelle eine genaue
Unterfuhung einzuleiten, Bevor aber diefer anfam, hatte Leo eine Gefandtfhaft
nad Aachen gefchieft, um dem Kaifer den näheren Hergang darzulegen, und Lub-
wig gab fih damit zufrieden, In der legten Zeit, wo namentlich die Römer auch
dadurch ihren Zorn gegen ihn ausließen, daß fie über feine Landhäuſer herfielen:
und diefelben verbrannten, pflegte Leo, um in feiner gedrückten Lage mehr Troft
und Stärfe zu fchöpfen, des Tages mehrmal die hl. Meffe zu leſen. Diefe Sitte,
fpäter öfters nachgeahmt Cof. Card. Bona lib. I. de reb. liturg. c. 18) wurde in
der Folge von Papft Alexander II abgefchafft, Aus dem Verzeichniß des Anaſta—
ſius erhellt Leo's ungemeffener Eifer, kirchliche Gebäude, Paramente ze, verfertigen
zu laffen, auf dem fihriftftellerifchen Gebiete that er fich jedoch nur wenig hervor;
man hat von ihn einige wenige Briefe; das ſog. Enchiridion Leonis Papae, wegen
feines dunfeln und myfteriöfen Charakters ehedem viel citirt und mißbraucht,
rührt nicht von ihm her, Er flarb den 11, Juni 816 und die Gongregatio rituum
Vieg im 17ten Jahrhundert feinen Namen in das römische Martyrofogium ſetzen;
die Feier feines Andenfens ift den 12, Juni. Vgl. Phillips, teutfhe Gefchichte,
mit befonderer Rückficht auf Religion, Recht und Staatsverfaffung, IL Bd, ©.
75ff. Dillinger, Lehrbuch der Kirchengeſch. Bd. Möller, Geſchichte des
Mittelalters. 1. Bd. Das hriftliche Nom von Eugene de la Gnurnerie, I. Bi,
Gfrörer, Kirchengefhichte, Schröckh, Kirchengeſchichte. ꝛc. — Leo IV. ſtammte
aus einer vornehmen römiſchen Familie ab, Um dem Sohne eine tüchtige Er—
ziehung und Bildung zu Theil werden zu laſſen, brachten ihn feine Eltern ſchon
frühe in das Benebictinerflofter des hl. Martinus, und bier zeichnete ſich Leo
durch fein mufterhaftes Benehmen wie durch feinen Fleiß und feine Fortfehritte
auf dem Gebiete des Wiffens fehr vortheilgaft aus. Papft Gregor IV. wurde
bald auf feine moralifche und feientivifche Gediegenheit aufmerkfam, zug ihn deß⸗
halb in feine Nähe und weihte ihn zum Subbiacon; Papft Sergius aber eon⸗
feerirte ihn zum Carbinalpriefter an der Kirche der vier gefrönten Heiligen, in
welchem neuen Wirkungsfreife er eine höchſt fegensreiche Thätigkeit entfaltete,
Bei dem Tode des Papftes Sergius (+ 27. Januar 847) waren: bie römifchen
Berhältniffe fehr mißlicher Art; neue Einfälle der Saracenen, die fhon im Jahr
Leo IV. 459
846 bis Rom vorgerüsft waren, die Petersfirche, welche außerhalb der Mauern
fand, verwüftet und die filbernen Altäre, Goloverzierungen, Edelſteine ıc, mit
fortgenommen hatten, wurden befürdtet, und es war deßhalb von großer Be—
deutung, wer jeät auf den Stuhl Petri erhoben wurde, Bald waren die Römer
mit fi im Reinen; einftimmig wählten fie Leo IV.; allein ihm fofort ohne Faifer-
liche Erlaubniß die Weihe zu ertheilen, wagten fie nicht, weil der vor drei Jahren
abgeichloffene Vertrag fie band, und weil die legte Züchtigung noch in friſchem
Andenken war, Kaifer Lothar hatte nämlich, weil Sergius II. den päpftlihen
Stuhl beftieg, ehe feine Wahl vom Kaifer gutgeheißen war, feinen Sohn Lud-
wig und feinen Oheim Drogo nah Nom geſchickt mit der Aufforderung, daß für
die Zufunft fein neuer Papft anders confeerirt werden folle ald nad erfolgter
faiferlicher Zuftimmung und in Gegenwart faiferliher Gefandten (Annal. Bertin.
ann. 844). Dritthalb Monate lang dauerte daher eine Art Zwiſchenreich Cinter-
pontificium). Endlich aber, da Lothar, wie es fcheint, nichts von fi hören ließ
und doch andererfeits der befürchtete neue Einfall der Saracenen die Nothwendig-
keit auferlegte, entſcheidende Maßregeln zu ergreifen, fohritten die Römer zur
That und weihten am 11. April 847 den neugewählten Papſt; fie fanden indeß
zugleich für gut, ausdrücklich das Beſtätigungsrecht des Kaiſers vorzubehalten,
Die erfie Sorge Leo's ging nun dahin, die von den Saracenen verurfachten Ver—
wüſtungen wieder herzuftellen, Er gab dem Culte in der Bafılica des HI, Petrus
feine ganze Würde wieder, aber auch an andere Kirchen der Stadt machte er be—
deutende Schenkungen in Drnamenten u. dgl. Sofort fihuf der Papft Vertheidi-
gungsanftalten gegen die Saracenen ; er ließ die alten Stadtmauern Noms aus-
beffern, die Thore befeftigen, fünfzehn Thürme Herftellen, zwei andere führte er
an dem Ufer der Tiber auf und verband fie dergeftalt mit eifernen Ketten, daß
fein Schiff durchkommen fonnte, Um ferner die Petersfirche vor aller Verheerung
zu fhüsen, befehloß er, das Stadtviertel des Baticans, in deffen Mitte fie lag,
mit einer Mauer zu umgeben. Bon allen Seiten vereinte man ſich eifrig zu die—
fen, fhon von Leo IL projectirten Werfe, Der Kaifer Lothar und feine Brüder
ſchickten Geld, die Großen und Klöfter Arbeiter, und der Papft überwachte, ſtets
I zu Fuß oder zu Pferd gegenwärtig, die Arbeiter. Im J. 852 verfammelten fich
eines Tags die Biſchöfe und das Bolf barfuß und das Haupt mit Aſche beftreut,
- fie umſchritten in einer Proceffion, Litaneien und Palmen fingend, den neuen
Bau; Leo fegnete die Mauern, Thore und Häufer diefer neuen Stadt, die von
I da an Leo'sſtadt, civitas Leonina, hieß, Die Einwohner der Stadt Centumcellä,
jest Eivita vechia, irrten fchon längere Zeit aus Furcht vor den Saracenen in
den Wäldern und auf den Gebirgen umher; Leo erbaute ihnen eine ftarf befeftigte
| Stadt, die Leopolis genannt wurde, Auch Andern wußte Leo feinen fühnen und
thatigen Geift mitzutheilen. Durch feinen Eifer Fam eine Verbindung mehrerer
Seeftädte des mittleren und unteren Staliens zu Stande. Die Bürgerfchaften
von Amalphi, Neapel und Gaeta ließen ihre Schiffe zu den päpſtlichen ſtoßen;
der Papft nahm fie fehr freundlich auf, und nachdem er zuvor, auf ihr ausdrück-
liches Verlangen hin, der ganzen Mannſchaft das HL. Abendmahl gereicht, erftrit-
ten im Sommer 849 die vereinigten Flotten auf der Höhe von Oſtia einen herr-
lichen Sieg über die Saracenen; viele diefer famen um, und die, welde dem
Schiffbruche entgangen waren, wurden gefangen genommen, und diefelben Hände,
welche Nom hatten zerfiören wollen, mußten nun an feiner Befeftigung und Ber-
| - fhönerung arbeiten, Im 3. 850 frönte Leo Ludwig IL, der im vorhergehenden
Jahre von feinem Bater Lothar zum Mitfaifer erklärt worden war. Wie die Ein-
I wohner von Eentumcellä hatte au eine Menge Corfen aus Furcht vor den räu-
I beriſchen Landungen der Saracenen ihre Heimath verlaffen und in Rom Schuß
geſucht. Leo fiedelte fie im J. 852 in der wohlbefeftigten Stadt Porto am Aus-
fluffe der Tiber an und fopenfte ihnen Weinberge, Wiefen, Acer, Pferde ır.,
460 Leo V. — Leo VL
wogegen die braven, Friegsluftigen Corfen ihm ihre Hilfe und Unterwürfigfeit zu-
fagten. Im folgenden Jahre hielt der Papft in der Petersfirche zu Nom eine
Synode, auf weldher 67 Bifchöfe verfammelt waren und 42 Canones in Betreff
der RKirchendiseiplin gegeben wurden; auch der Carbinalpriefter Anaftafius, ver
fih an den kaiſerlichen Hof begeben hatte und alle Hebel in Bewegung feste, um
fpäter auf den päpftlichen Stuhl zu fommen, wurde deponirt, nachdem fihon vor⸗
her zwei Synoden und Leo felbft ihn an feine Pflicht, aber vergebens, ermahnt
hatten. Leo's Bethätigung am Streite zwifchen Ebbo und Hincmar ift aus dem
Artikel „Hinemar von Rheims“ zu erfehen; vie Nachricht des Flodvarbus aber,
als habe Leo dem Hinemar auf Verwenden Lothars das Pallium zum täglichen
Gebrauche eingeräumt, hat ſchon Cardinal Bona lib. I. rerum liturg. c. 24. als
eine falfche dargethan. Schon im Anfange feines Pontificates war Leo in den
Auf eines Wunderthäters gefommen, Neben der Kirche der HI. Lucia hatte ein
Baſilisk feine unterirdifhe Behaufung, und wer nur ein wenig in feine Nähe
fam, deffen Tod war fiher. Nachdem ſich der Papft durch Faften und Gebet vor-
bereitet, hielt er an Mariä Himmelfahrt eine Proceffion zu dem gefürchteten Drte,
ſtellt ſich an deſſen Deffnung, ohne Schaden zu nehmen, und erflehte vom Himmel
die Befreiung feines Volkes von dieſer Plage, Zum Danke biefür erhielt das Feft
Maris Himmelfahrt eine Octavfeier. Ein anderes Mal foll er durd Gebet und das
Kreuzzeichen einer fehr heftigen Feuersbrunft ein Ende gemacht haben, Unter Leo
fom auch eine Veränderung im römischen Ranzleiftyl auf. Während frühere Päpſte,
wenn fie an Kaifer oder andere mächtige Fürften fchrieben, in den betreffenden Briefen
gewöhnlich die Namen der Empfänger voranftellten und den ihrigen folgen ließen,
ftellte Leo in allen feinen Schreiben feinen Namen voran, auch gibt er den Für-
ften, an welche er fchreibt, nicht mehr den fonft üblichen Titel Dominus. Im
J. 855 wollte noch eine Verſchwörung gegen die fränkifche Herrfchaft entdeckt
werben. Nach dem Bibliothecar Anaftafius Fam nämlich der fränfifhe Vefehls—
haber Daniel von Nom zum Kaifer Ludwig II. mit der Anzeige, daß zu Nom
eine Verſchwörung gegen die fränfifche Herrfchaft angezettelt werde; auf Diefe
Meldung bin fei Ludwig wie ein Rafender nach Nom geeilt, aber Daniel habe
feine Anflage nicht beweifen fönnen, worauf der Kaiſer wieder im Frieden abge-
veist fei, Gfrörers Beweis, daß die Verſchwörung ernftlih gemeint gewefen,
und daß namentlich Leo ſelbſt dadurch) Unabhängigfeit habe erftreben wollen, hinkt.
Nicht Lange nach Ludwigs Heimkehr aus Nom farb Leo, den 17. Juli 855, an
welchem Tage auch fein Andenken gefeiert wird, Dean hat von ihm noch eine
Homilie, welche nach feiner Abſicht die Bifchöfe auf den Didcefanfgnoden ihren
Elerifern vorleſen follten, um ihnen fo ihre kirchliche Pflichten in's Gedächtniß
zurüczurufen. Unmittelbar auf Leo IV. folgte Benediet IH., nicht die vermeint-
liche Papftin Johanna (ſ. d. A). Vrgl. das chriſtl. Nom von Eugene de Ta
Gpurnerie 1. Bd, Gfrörer, Kirchengefh. 3. Bandes 2, Abthlg. Gfrörer,
Geſchichte der oſt- und weftfränfifchen Carolinger. I. Bd. ©. 285. ff. Phillips
teutfche Geſchichte IL. Bd. Geſchichte der römifchen Päpfte von Artaud von
Montor, von Booft, I. Bd, I. Lieferung. Schröckh, Kirchengeſch. 22. Thl. —
Leo V., beftieg am 28, October 903 den päpftlichen Stuhl; geboren zu Priapi
bei Ardea in der Campagna di Roma, nicht zu Arezzo, war zuerft einfacher Bene-
dietinermönch, hierauf wurde er Cardinal; als Papft foll er wenig Geſchick zur
Regierung gezeigt haben, und unter diefem Vorwande Ließ ihn der Cardinalpriefter
Chriſtophorus (f. d. A.) in's Gefängniß werfen, um ihn fo zu zwingen, der päpft-
Yihen Würde zu entfagen und das Verfprechen abzugeben, wieder in fein Kloſter
zurüczufehren. Nah Sigonius flarb er ſchon nach vierzig Tagen im Gefängniß
aus Gram über die Behandlung, welche er von Chriftoph erfahren, der ſich noch
im nämlichen Jahre auf den päpftlihen Thron ſchwang. Frodoard. de Pontif.
Rom. Sigeb. Gemblac. in Chronico ad a. 905. — Te» VI, ein geborner Ro—
Leo VII. 461
mer, wurde im Juni 928 zum Papſte gewählt, nahm jedoch den römifchen Stuhl
nur fieben Donate und fünf Tage ein. Der Verdacht, die berüchtigte Marozia
mit ihrer Partei habe etwa durch Gift feinen Tod herbeigeführt, läßt ſich aus
Mangel an Hiftorifhen Zeugniffen nicht zur Gewißheit erheben; daß er in's Ge-
fängniß geworfen worden und dort geftorben fei, wie Baronius berichtet, davon
finden wir bei feinem Gewährsmann Flodoardus nichts. Nah Platina, Johan-
nes Stella ıc. war Leo ein guter, friedliebender Deann, der die römifchen Bürger
zur Eintracht zurücdzubringen, in Jtalien Ruhe und Ordnung herzuftellen und die
Feinde von Italien abzuhalten ſuchte. — Leo VIL, ebenfalls ein Römer von Ge-
burt und dem Benedictinerorden angehörend, wurde nach dem Tode Johann's XI.
wider feinen Willen auf den päpſtlichen Stuhl erhoben, und zwar fand feine Eon-
feeration, wie aus einem Briefe von ihm an Hugo, den Abt des Martinsflofters
zu Tours, hervorgeht, noch vor dem 9. Januar 936 Statt. Die Leiden und
Drangfale, unter welchen die Kirhe damals fohmachtete, gingen ihm fehr zu
Herzen, er hatte auch den beften Willen, einen beffern Zuftand herbeizuführen,
alfein fein Pontificat währte nur drei Jahre, 6 Monate und 10 Tag. Nachdem
ihre zweiter Gemahl, der Herzog Guido von Tuſeien geftorben war, theilte die
berüchtigte Marozia die weltlihe Herrfhaft Roms mit ihrem Sohne Alberich.
Als fie aber fpäter, in der Hoffnung ihr Anfehen über ganz Italien auszudehnen,
— dem Könige von Niederburgund und Stalien, Hugo von Provence, ihre Hand bot,
und diefer fie annahm und fo die von der Kirche verbotene Ehe mit der Wittwe
feines Halbbruders einging, da erhob fich fein Stieffohn Alberich gegen ihn und
die römischen Berhältniffe ſchienen noch trauriger werden zu wollen, Nun ließ
Ley den hl. Odo, zweiten Abt von Elugny, fommen, um zwifchen beiden Parteien
ein leidliches Verhältnig Herzuftellen. Wirklich Fam auch ein Friedensvertrag zwi—
Then dem König Hugo und dem Fürften Alberih von Rom zu Stande und erfterer
gab diefem feine Tochter Alda zur Gemahlin, Zugleich beauftragte der Papft den
Dodo, für die römischen Klöfter die Ordensregeln zu verbeffern und das Klofter,
weldhes ehevem neben der Kirche des HI. Paulus befand, wieder aufzubauen.
Auch die firhlihen Verhältniſſe Teutfchlands nahmen Leo's Aufmerkfamfeit in
Anſpruch. Biſchof Gerhard von Lorch in Ober-Deftreih war zu ihm nach Nom
gekommen, theils um dort zu beten und die Schwellen des HI. Petrus zu ehren,
theils um die Mißbräuche, „durch welche gegenwärtig die bayerifche Kirche ver-
unreinigt werde,” aufzudeden und Mafregeln einzuholen. Bald darauf erließ
Leo zwei Schreiben, das eine ift an den genannten Gerhard gerichtet und beehrt
I denfelben mit vem Namen Erzbifchof und mit dem Pallium, fowie mit einer An-
weifung, diejes Föftlihe Unterpfand erzbifchöflicher Würde auf canonifche Weife
zu brauchen ; das andere Schreiben trägt die Heberfhrift: an die Könige, Fürften,
Bifhöfe, Aebte ıc., an Egilolph von Salzburg, Iſengrim von Negensburg, Lant-
bert von Freifing, Wifund von Seben und die übrigen Kirchenhäupter von Gal«-
lien, Germanien, Bayern, Alemannien. Nachdem Leo im Eingange auseinander-
gefegt, daß Gerhard nah Rom gefommen und ihm über verfchiedene Mißbräuche
Mittheilung gemacht habe, gebt der Papft auf einige Abweichungen in den Cere-
I monien und dem Eherecht näher ein, erklärt befonders die Priefterehe für einen
abſcheulichen Gräuel und Fündigt ihnen fofort an, daß er Gerhard von Paſſau
zum apoſtoliſchen Stellvertreter in ihren Bezirken aufgeftellt Habe, die Aufforde=
rung beifügend, von nun an demfelben ven pünctlichften Gehorſam zu leiften,
1 Schließlich bemerkt Leo noch, Herzog Eberhard von Bayern fei beauftragt, diefe
I Berfügung in Vollzug zu fegen (Harduin. acta concil. Tom. VI. P. 1. p. 575 sqq.).
I An diefe neue Anordnung Leo's, welde dem Stuhle von Salzburg feine alten
1 Borreihte entzog und auf den von Lorch übertrug, ſchloß ſich ein bitterer Kampf
I am, der nicht eher rubete, bis Papſt Benediet VI. die Metropolitanhoheit Salz-
burgs wiederherftellte, Leo farb den 18, Juli 939 und wurde im Batican bei-
162 Les VII.
gefegt. Vrgl. Möller, Gefchichte des Mittelalters. Gfrörer, Kirchengeſch.
II. Bandes 3. Abthlg. — Leo VIII., ein Afterpapft. Auf der Synode, melde
Raifer Otto der Große im November des Jahres 963 zu Rom hielt, war Papſt
Sohann XU., der bei der Annäherung des Kaifers aus Nom geflohen war, troß
zweimaliger Vorladung nicht erfchienen. Das Winfeleoncil fegte nun den Papft,
welcher der fihwerften Verbrechen angeklagt war, ab und wählte an feine Stelle
Leo VII. Schon Baronius (annal. eceles. ad ann. 963. n. 31. sq.), Petrus de
Maren (de concordia sacerdot. et imper. Lib. I. c. 11), Pagi (Crit. in annal.
Baron. ad ann. 963), Muratori (Geſch. von Stalien. Thl. 5) und Andere haben
Har dargethan, Daß der Kaiſer und die Synode hier eine ungefeglihe Handlung
begingen, infofern fie ein Necht fih anmaßten, das fie nicht beſaßen; Leo kann
daher auch nicht als rechtmäßiger Papft angefehen werden. Er war bei feiner
Wahl noch ein Laie, Secretär der römifchen Kirche und eine Creatur Otto's.
Die Römer waren deßhalb mit ihm auch fo wenig zufrieden, daß ein großer Theil
verfelben, von Johann XII. bearbeitet, fogar während des Aufenthaltes Otto's
in Rom eine Berfchwörung anzettelte, die jedoch vom Kaiſer mit der größten
Strenge unterbrüdt wurde. Acht Tage nach dem Aufftande verließ Dito die
Stadt, nachdem er zuvor auf Bitten Leo's VII. die Geißeln zurückgegeben hatte,
Raum hatte aber Dito den Kirchenftaat verlaffen, fo riefen die Römer Johann XU.
zurück, und Leo fah fih gezwungen, die Flucht zu ergreifen; nur mit genauer
Noth, von Allem entblößt, Fam er in das Faiferliche Lager zu Camerino. Als
aber Johann XI. nicht gar Tange nach feiner Wiedereinnahme des päpftlichen
Stuhles farb, wählten die Römer alsbald zu feinem Nachfolger Benedict V.
(ſ. d. A.); doch Dito glaubte die Rechte Leo's unterflügen zu müffen, und ver-
weigerte deßhalb nicht nur die Beftätigung des Neugewählten, fondern fanmelte
ein Heer, rückte im Mai 964, begleitet von feinem Papfte Leo, vor Nom, und
ſchloß die Stadt aufs Engfte ein, Die Römer, vom Papfte Benedict angefeuert,
Teifteten den hartnädigften Wiverftand ; als fich aber zu den Leiden der Belagerung
noch der Hunger gefellte, ergaben fie ſich, und Leo VII. wurde von Neuem auf
den Stuhl des hl Petrus gefegt. Leo hielt fofort ein Concilium in der Bafllica +
des Lateran, dem italienische, lothringiſche, fächfifche ze. Biſchbfe und Cleriker,
die Angeftellten der Stadt und das Bolt beiwohnten, Benediet V. wurde das
Pallium, die Stola und das Meßgewand abgenommen, den Hirtenftab aber, den
derfelhe getragen, zerbrach Leo und ſprach: Wir entfegen hiemit den Räuber des
Heiligen apoftolifhen Stuhls Benediet der bifhöffichen und priefterlihen Ehren,
auf die Fürbitte des Kaiſers jedoch, durch deffen Bemühung wir auf unfern Stuhl
wieder eingefegt worden find, Iaffen wir dem Abgefegten die Würde eines Dia-
con, aber zu Nom darf er nicht bleiben, fondern er wird in die Verbannung ab⸗
geführt werden, Ob auf dieſem Eoneil oder auf dem vom Jahre 863 ſchon Dito’8
Befugniffe von Leo und den Römern erweitert wurden, ift weniger wichtig, als
der Inhalt diefer Befugniffe. Diefe lernt man aber fennen aus einer Urfunde
Leo's, abgedruckt bei Perg, leges I, Anhang S. 167, und ihr Hauptinhalt ift:
Dtto darf fih nah Wunfh und Willen Nachfolger für das Königreich Italien
wählen, die Päpſte und Bifchöfe inveftiren, Wenn der Clerus und das Volk
einen Biſchof erwählt, ohne daß derſelbe vom Könige gutgeheißen und belehnt
würde, ſo darf Niemand bei Strafe der Excommunication und des Todes dem
Gewählten die Weihe ertheilen. Baronius und andere katholiſche Schriftſteller
fuchten die Unächtheit dieſes Actenſtückes zu erweifen, und auch proteftantifche
Säriftftelfer erhoben gegen feine Aechtheit aus formellen Gründen Zweifel; allein
die Anfict derer, melde das Stück für ächt Halten, Hat fehr viel für ſich; eine
Creatur wie Leo konnte Teichtlich nach dem Beifpiele aller Ufurpatoren bie Macht
und das Anfehen, welche er dem rechtmäßigen Befiger geraubt hatte, wohlfeilen
Raufes dahingeben. Aber auch fo viel fieht man ein, daß, wenn es Otto's Ge
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Leo IX. 463
fhlehte gelungen wäre, diefen Grundfägen des Vertrags mit Leo dauernde Gel-
tung zu verfhaffen, die Nationen des Abendlandes den Papft nicht mehr als
Statthalter Eprifti und Haupt der ganzen Kirche Hätten verehren können, fondern
als Knecht teutfcher Ehrſucht verabſcheuen müffen. Leo farb im März 965,
Bol. das hriftl. Nom von Eugene de la Gournerie. Möller, Gef. des
Mittelalters. Schröckh, Kirchengeſch. 22.THl. Gfrörer, Kirchengeſch. 3. Bandes
3. Abth, Neander, Kirchengeſch. IV. Bd. Liutprand, histor. Ottonis cap. 16.
— Leo IX. Bruno, geboren den 21. Zuni 1002, ftammte aus dem Gefchlechte
der im Elſaße höchſt begüterten Grafen von Dachsburg ab, ein Blutsserwandter
des Kaiſers Conrad I. und auch verwandt mit dem Habsburgifhen Haufe. Seine
Erziehung und Bildung genoß er bei Berthold, Biſchof von Toul, und deffen
Nachfolger Hermann, Bald befam er am Ffaiferlihen Hofe einen bedeutenden
Einfluß, und der Weg zu den höchften kirchlichen Würden fand ihm offen, aber
er ftrebte nicht nach äußerer Auszeichnung und war nur deßhalb fo zufrieden, als
im J. 1026 Clerus und Bolf von Toul ihn zum Biſchofe wählte, weil er fich in
der Leitung diefer kleinen Didcefe fiher glaubte, zu dem glängenderen Stellen
nicht befördert zu werden, Nachdem er fein bifhöflihes Amt 22 Fahr lang fehr
rühmlich befleivet hatte, follte er auf den Höchften Leuchter geftellt werden. Papft
- Damafus IL. war unvermuthet bald geftorben, und die Römer ſchickten Gefandte
- an Heinrich II. (1039— 1056) mit der Bitte, ihnen einen neuen Papft zu geben.
Der Raifer berief deßhalb im December 1043 eine große Berfammlung nad
- Worms, und hier bezeichnete der Wille Heinrihs und die Stimme der weltlichen
und geiftlihen Fürften unfern Bruno zum Dberhaupte der Chriftenheit. Bruno
gab ſich alle Mühe, diefe Wahl rüdgängig zu machen, ald aber Heinrich und die
| Großen darauf beftanden, bat er fich drei Tage Bedenfzeit aus, und nachdem er
fie im firengften Faften unter Gebet und Betrachtungen zugebracht, legte er unter
| einem Thränenguffe ein öffentliches Sündenbefenntniß ab, damit man beim An-
blife feiner Unwürdigfeit einen Würdigeren auf den papftlihen Stuhl erhebe,
- Allein das Volk antwortete diefem demüthigen Geftändnig nur mit Thänen und
Beharrlichkeit in feiner Forderung. Auf dieſes Hin erflärte fih Bruno zur Ueber—
nahme des hohen Amtes unter der Bedingung bereit, wenn Elerus und Bolf von
Rom feine Wahl einftimmig gutheiße. Weihnachten feierte Bruno noch zu Toul,
dann trat er, nachdem er noch die nöthigen Anftalten zur Leitung feiner Diöcefe
während feiner Abwefenheit getroffen hatte, im Pilgerkleide feine Reife nah Rom
} an, begleitet von dem Erzbifchofe Eberhard von Trier, Hildebrand von Sana
I und Andern (ſ. den Art. Gregor VII). Seine Reife war ein wahrer Triumph
zug chriſtlicher Demuth und Einfalt, und auf der ganzen Reife fam fein anderes
Wort über feine Lippen als Gebete, In der Nähe von der Stadt Augufta (ob
darunter Augsburg, oder Turin, oder Aoſta zu verfichen fer, ift eine offene Frage)
hörte er eine Stimme, welche ihm die Worte bei Jeremias 29, 11. 12. 14, zu=
rief, und fihöpfte daraus nicht wenig Troft und Beruhigung. Die ganze Be-
völferung der Stadt Rom z0g ihm in Feftffeivern entgegen, Hymnen fingend,
Bruns aber ging barfuß unter der jubelnden Menge und forderte fie auf, ihren
I Willen offen auszufprechen. Aber zu Rom wie zu Worms war eine Stimme;
der Archidiacon der römifchen Kirche rief unter dem Namen Leo IX. den Bruno
I zum Papfte aus, und das Volk gab mit dreifachen Zurufe feine Zuftimmung.
I Sofort wurde Bruno am 2, Febr. 1049 confecrirt und am 12. Febr. auf ven
I päapftlichen Stuhl erhoben. ine feiner erften Amtshandlungen war, daß er Hilde-
brand zum Subdiaeon weihte und zum Güterverwalter des Stuhles Petri er-
nannte, Auf ein unabhängiges Vermögen mußte vor Allem gefehen werden, wenn
das Papſtthum vom weltlihen Joche frei werden follte; nun fand aber Leo in
Rom feinen Pfenning päpftlicher Einkünfte vor; fein Bisthum Toul, das er bis
zum Jahre 1051 beibehielt, warf ihm auch nicht gar viel ab, und deßhalb war
A464 Leo IK.
Hilvebrands Amt ein eben fo fehwieriges als wichtiges. Die Hauptforge Leo's
aber ging dahin, die Simonie, den Coneubinat der Geiftlihen, die Erpreffungen
des Adels. und die abfiheulichen Lafter des Volkes ernftlich zu unterdrücken. Zu
dieſem Zwecke berief er auf die zweite Woche nah Oſtern eine Synode nah Rom,
an welcher namentlich auch die Bifchöfe Galliens Theil nehmen follten. Bor dem
Zufammentritt der Synode befuchte Leo verfchiedene Kirchen und Klöfter, nament-
lich auch Monte Caſſino, und beftätigte einzelnen Abteien ihre Privilegien. Auf
der Synode felbft wurden die Befchlüffe der vier älteſten allgemeinen Concilien
und die Decrete früherer Päpfte feierlichft beftätigt, die unter Clemens II. (ſ. d. A.)
gegen die Simonie getroffenen Beftimmungen erneuert mit der befonderen Ver—
ordnung für die Stadt Nom, daß alle Perfonen weiblichen Gefchlechts, welche im
Bereiche der Stadt Rom verbotenen Umgang mit Geiftlichen hätten, fogleich unter
die Leibeigenen des Iateranenfifhen Balaftes aufgenommen werben follten. Andere
Befchlüffe betrafen überhaupt das Zufammenwohnen der Priefter mit Weibern,
Aufrechthaltung der Firchlichen Ehegefese, regelmäßige Entrichtung ber Zehnten
und die Behandlung folcher Clexiker, die fich gewiffer Ketzereien ſchuldig gemacht
(Mansi,, XIX. p. 722 sqq.). Während feines Pontificats fortwährend auf Reifen
begriffen, um durch feine Gegenwart an Ort und Stelle die Firchliche Reformation
mit größerem Nachdrude durchzuſetzen, hielt Leo bald Darauf neue Synoden, zuerft
in Pavia. Von bier aus ging er über den Bernhardsberg in's teutſche Reich nach
Sachſen zum Kaifer, und von da in feiner Gefellfehaft nah Cöln, Wie mehrere
Bifchöfe Brabants und Lothringens zu Anfang des Jahres 1049 gegen den Her—
zog von Dberlothringen, Gottfried, und gegen den Grafen Balduin von Flandern
zu Felde gezogen waren, fo wendete auch jetzt Leo IX. ſelbſt geiftliche Waffen
wider die Empörer an, bei Gottfried mit Erfolg, während Balduin mit Hilfe
der Könige von England und Dänemark erft noch von Heinrich bekämpft und be-
fiegt werden mußte. Che Leo Cöln verließ, ernannte er den dortigen Erzbifchof
zum Kanzler der römifchen Kirche und zum Carbinal, geftattete, daß täglich in
der Cathedrale zu Cöln an dem Altare des hl. Petrus fieben Carbinalpriefter mit
Sandalen angethan die Meffe lefen dürften, gab dem Erzbifchof den Vorrang auf
den Coneilien, die innerhalb feines Sprengels gehalten werden würden, fowie bie.
Befugniß, teutfche Könige zu Frönen, und die Unmittelbarkeit unter dem römifchen
Stuhle; auch fprach Leo dem Cölner Capitel das Recht zu, in Erledigungsfällen
mit vollfommener Freiheit Erzbifchöfe zu wählen. Bon Aahen oder Chln aus
fam Leo Ende Auguſts nah Mainz; da aber die Verhältniffe wegen des Feld—
zuges gegen Balduin noch nicht günftig waren für Abhaltung einer Synode, fo
feste er eine folche erft für die Mitte Detobers an und ging vorher über Toul
nach Rheims, um ein Verfprechen, das er noch als Bischof gegeben, zu erfüllen.
Er wollte nämlich Die Grabftätte des HI. Nemigius befuchen und das Feſt dieſes
Heiligen mit Erhebung feiner Gebeine feiern; zugleich follte aber auch eine Sy⸗
node gehalten werden, und darum hatte er noch von Toul aus durch Rundſchreiben
die Bifchöfe und Aebte Neuftrieng und der benachbarten Provinzen aufgefordert,
unverweigerlih den 3. Oet. 1049 in Rheims zu erfcheinen. Lep traf am 29. Sept,
im Rlofter zum hl. Remigius ein, die Feftfeier diefes Heiligen wurde unter einem
ungeheuren Andrange von Wallfahrern aus dem ganzen Abendlande begangen,
und am 3, Det, begann das Eoneil, das viele franzöfifche Prälaten, welche ſich
fhuldig fühlten, durch Vorfehiebung des Königs zu Hintertreiben geſucht hatten,
Auf diefem drei Tage dauernden Eoneil, einem der wichtigften für die galliſche
Kirchenentwicklung, zählte Leo die Gebrechen des franzöfifchen Kirchenweſens auf
und ermahnte die Bifchöfe und Aebte, die fih ſchuldig wüßten, es offen zu be—
fennen; dieß thaten Einige und refignirten zugleich ; die Bifchöfe von Langres und
Nantes wurden abgefegtz die, welche ſchuldbewußt nicht erfchienen, wurden ex—
eommunieirt, Noch wurde eine Neihe Firchlicher Gefete, die Simonie, wider⸗
Leo MR. 465
rechtliche Befigergreifung von Altarpfründen durch Laien, verbotene Chen, Ent-
weihung von Kirchen, ungefeglihe Eheſcheidungen und zweite Heirathen, Rücktritt
der Mönche von ihren Gelübden, Kriegsdienfte der Geiftlihen, Beraubung und
Einferferung der Armen, Sodomie und gewiffe Regereien betreffend, erneuerf,
Bon Rheims z0g Leo über Verdun und Meg, da und dort Kirchen einweihend,
Klöfter beftätigend, nah Mainz, und die hier abgehaltene Synode bezweifte
Aehnliches wie die zu Rheims, auch wurden einige Streitigkeiten der Prälaten
entfchieven. Bon Mainz zog Leo nach den Bogefen hinauf, nah Straßburg, dem
Schwarzwald und Bodenfee, überall Merkmale feiner Frömmigkeit und feines
Eifers zurücklaſſend, verfhiedenen Kirchen und Klöftern Privilegien ertheilend.
Bon Neichenau trat Leo dann über Donauwörth, Augsburg die Nüdreife nad
Stalien an, und feierte in Verona Weihnachten. Einige Tage nad) Dftern 1050
eröffnete Leo in Rom das Coneil, weldes ſchon zu Rheims mit dem größten Ge-
fhicfe vorbereitet worden war. Lanfranf reinigte fih vom Verdachte der Härefie,
Dagegen wurde aber über Berengar von Tours (ſ. d. U.) einftimmig das Ber-
dammungsurtheil ausgeſprochen, zugleich Tieß ihm der Papſt die Aufforderung
h zugehen, vor einer im fünftigen Herbfte zu Vercelli abzuhaltenden Synode per-
ſonlich zu erſcheinen und ſich zu rechtfertigen. Auch gegen Simonie und Eon-
enbinat wurden Mafregeln ergriffen, war doch der Mailänder Sprengel Haupt-
ſitz verbeiratheter Cleriker, und hielt e8 ja der Erzbifchof von Mailand, Guide,
and Humfried von Ravenna nur dadurd für möglich, ihre Unſchuld darzuthun,
daß fie mit einem ftarf bewaffneten Gefolge nah Rom gefommen waren,
gleihfam um durch daffelbe mit Gewalt die gegen fie erhobenen Anklagen nie-
derzufchlagen; in Uebereinſtimmung mit dem Concil fprach Leo die Canonifation -
des im 3. 994 geftorbenen Bifhofs von Toul, Gerardus, aus und feste feft,
dag fein Andenfen durch die ganze Fatholifche Welt am 23. April jeden Jahres
gefeiert werben folle. Nach diefem Ofterconeil ging der Papſt nach Apulien, Tieß
mehrere Städte fih und dem Kaifer ſchwören; Benevent, das in der Empörung
wider ihn bebarrte, belegte er mit dem Kirchenbanne, und wie er den Einwohnern
des Landes gegen die Normannen Schuß bringen wollte, fo follte namentlich auch
kirchlichen Mipftänden abgeholfen werden, daher hielt er Synoden zu Sipont und
Salerno. Nach einem zwar furzen, aber für Unteritalien höchſt wichtigen Auf-
15 enthalte Fehrte Leo, ohne feinen Wunfh, Sieilien den Saracenen zu entreißen,
erfüllt zu fehen, zurüf, fhloß mit den Pifanern gegen die africanifchen Sara-
eenen ein Schus- und Trugbündniß, und eröffnete fofort Anfangs September
das Eoneil in Verceli, Berengar war nicht erfhienen, zwei Geiftliche aber füßr-
ten feine Sache mit fo geringem Erfolg, daß feine Lehre wie die von Johannes
Erigena verdammt wurde; Simonie, Coneubinat und verwandte Puncte famen
auch hier zur Sprade, Humfried von Ravenna wurde mit dem Kirchenbanne be-
legt. Bon Bercelli begab fih Leo nach Toul, um die vorausserfündete Erhebung
der Teiblihen Ueberreſte Gerards vorzunehmen; Kirchenfürften von überall her
und zahliofe Gläubige hatten fich bei diefer Feier eingefunden. Auch dießmal be-
ſuchte Leo verſchiedene Kirchen und Klöfter und flattete fie mit Gnadenbriefen und
I Privilegien aus. Lichtmeß 1051 feierte der Papft mit Kaiſer Heinrich und vielen
I geiftlihen und weltlichen Fürften in Augsburg, und hier ertheilte er auch, aber
1 mehr gezwungen als frei, dem vom Raifer herbeigerufenen Humfried son Ra—
I venna die Losſprechung. Nach feiner Nücfehr nah Nom ernannte Leo den Pri-
micerius Udo von Toul flatt feiner zum Bifhofe von Toul, dem Hildebrand
7 übertrug er die Abtei des HI, Paulus, an der Straße nah Oſtia gelegen; die
rage aber, was mit jenen gefchehen folle, die, ohne felbft Simonie geübt zu
I Haben, von fimoniflifchen Bifhöfen geweiht worden waren, wurde auf dem un-
I mittelbar nah Dflern zahlreich befuchten römiſchen Concil aufs Neue erörtert;
7 am Eompetenzftreitigfeiten wurden auf diefer Synode geſchlichtet, und König
Kirchenlexikon. 6. Br, 30
A66. Leo XR
Eduard von England von feinem Gelübde einer Wallfahrt nach Rom entbunden
Nach diefem Concil nahm das Güterwefen des Stuhles Petri die Thätigfeit des
Papftes auf lange Zeit faft ausſchließlich in Anſpruch, Benevent Fehrte zum Ge—
horſam gegen ihn zurüd, er z0g den 5. Juli in diefer Stadt ein und ſuchte eine.
feftere Drbnung herzuftellen. Da die Normannen aber ihre Herrfchaft immer
mehr auszubehnen, namentlich gegen Benevent von mehreren Geiten ihre Netze
auszufpannen ſuchten, ging Leo im Frühling 1052 abermals nach BDenevent, um
mit jenen eine leidliche Uebereinkunft zu treffen, auch wurden mit dem Hofe von
Conftantinopel Unterhandlungen angefnüpft, um im Nothfalle gemeinfchaftlich mit
den Griechen der normanniſchen Gewaltherrſchaft über Unteritalien ein Ende zu
machen, Nachdem aber der Papft alle Gründe der Meberrevung und der Güte
erfchöpft, nachdem er e8 bei der Feigheit und der geringen Anzahl feiner italieni-
fen Truppen vergebens verſucht hatte, die Normannen durch Schredfen zur Nach-
giebigfeit und zur Ruhe zu bewegen, richtete er feine Blicke auf teutfche Hilfe,
die ihm vom Kaiſer auch veriprochen aber nicht gewährt wurde, Im Sommer
1052 nämlich war Leo nach Teutfehland geeilt, um zwifchen dem Kaiſer und dem
Könige Andreas von Ungarn einen Frieden zu vermitteln, Nachdem ihm dieß
nicht gelungen, ging er mit Heinrich, der aus Mangel an Lebensmitteln die Be-
lagerung von Preßburg aufgeben mußte, nach Regensburg, und fprach hier zwei
ehemalige Bifchöfe diefer Stadt, Erhard und Wolfgang, heilig. Gemeinſchaftlich
fegten dann Raifer und Papft ihre Neife über Bamberg, Tribur nah Worms
fort, wo fie Weihnachten feierten. Pier war es, wo der Papft das Bisthum
Bamberg nebft der Abtei Fulda dem Kaifer abtrat und dafür von ihm eine Ver-
zichtleiftung aller Faiferlichen Nechte auf Benevent und andere italienische Orte
empfing, Zugleich gab ber Kaifer hier das DVerfprechen, ein Heer nach Stalien
zu fhiden, um die Normannen mit Waffengewalt aus den ehemaligen Beſitzungen
des Stuhles Petri, namentlih aus dem Gebiete Benevents zu vertreiben. Allein
bald mußte Leo die traurige Erfahrung machen, wie wenig Ernſt e8 dem Heinrich
mit diefem Berfprechen gewefen; er entließ nämlich die aufgebotene Mannfhaft
wieder, und nur ein Haufe von etwa 700 Mann Freiwilliger, theils Verwandte,
theil8 Befreundete Leo's, folgten dem Papfte nach kurzer Zeit nah, um für dag
Oberhaupt der Kirche und ihren Stammgenoffen zu fechten. Nachdem der Papft
Lichtmeß zu Augsburg gefeiert, ging er über die Alpen nach Padua, wo er drei
längſt Verſtorbene heilig ſprach. Bon da begab er fih nah Mantua, wohin er
ein Iombardifches Coneil ausgefhrieben hatte, um dem moralifchen Berberben der
Geiſtlichkeit zu feuern; doch viele Kirchenhäupter Lombarbiens widerfegten ſich
dem Reformationseifer des Papftes mit fürmliher Gewalt, und nur mit Mühe
gelang e8 dem Papfte, den Aufruhr zu flillen, Noch während der Faftenzeit
kehrte Leo nach Rom zurück und hielt in der Woche nach Dftern eine Synode, um
gemeinfam mit andern Bifchöfen die Angelegenheiten der Kirche in Berathung zu
ziehen, Neue Verwicklungen hatten ſich nämlich unterbeffen im Driente vorberei—
tet; das griechifhe Schisma wurde von dem ehrgeizigen Michael Cerularius er-
neuert und vollendet. Was Leo hiegegen gethan, erhellt aus deu Artikeln Ce—
rularius, Michael“, und „griehifhe Kirche.“ Diefe Ofterfynode von 1053
beftimmte auch, daß Grado für immer als Haupt und Metropole von Venetien
und Iſtrien geehrt werden, der Stuhl von Aquilefa dagegen fih mit den ihm
untergebenen Sprengeln des Tombarbifchen Feftlandes begnügen folle, womit, zum
Wohle Staliens und aus Rückſicht auf die Freiheit Europa’s, der im April 1097
auf der unter Kaifer Conrad IL. gehaltenen römifhen Synode zu Ounften des
Patriarhats von Aquilefa gefaßte Beſchluß zurücfgenommen war, Da son
Apulien fortwährend die gränlichften Schilderungen von den Verwüflungen der
Normannen eingelanfen, die teutfihen Freiwilligen in Rom aber angefommen
waren, fo gab Leo nach der Synode dem teutfchen Heere den Befehl, die Grenze
Leo X. 467
Apuliens zu überſchreiten; zugleich bot er alle römifchen Dienſtmannen auf, über
welche Petri Stuhl noch verfügen fonnte, und fhlenderte den Kirhenbann gegen
die Normannenz Leo felbft begab fih zuerft nach Monte Eaffino, und nad einer
Beſprechung mit dem griechiſchen Oberſtatthalter Calabriens, Argyrus, nah Ci—
vitella. Unweit dieſes Städtchens kam es den 18. Juni 1053 zur Schlacht. Die
Italiener flohen beim erſten Anlauf der Normannen auseinander, die Teutſchen
aber kämpften wie Löwen, doch konnten fie bei der zu großen Ungleichheit der
Streitfräfte den Sieg nicht erringen, Leo felbft wurde von den Normannen ge=
fangen genommen und blieb faft neun Donate zu Benevent in ihrer, wenn auch
milden, Haft. Er war dur dieſe Niederlage und den Tod fo vieler theurer
— Berwandten, die für ihm und die Kirche bluteten, aufs Tieffte erfhüttert; nie
ruhte er zur Beuevent in einem Bette, hüllte feinen Leib in ein härenes Gewand,
fchlief, das Haupt auf einen Stein geftügt, über einer Matte, faftete über die
Mafen, betete oft ganze Nächte durch und verfhenkte, was er erübrigen fonnte,
an Arme, Aber mitten unter diefen Werfen ungewöhnlicher Frömmigkeit ver—
fäumte der Papſt die allgemeinen Angelegenheiten der Kirche nicht. Unter den
20 Bisthümern in Africa hatten nach den Eroberungen der Bandalen und Sa-
reacenen nur fünf ihe Dafein bewahrt, aber unter diefen felbft war in Betreff des
— Borranges Streit und heftige Spaltung ausgebroden. Kaum war diefe Sade
am den Panft gebracht, als er fie mit eben fo großer Umficht als fiherem Tacte
I in Dronung brachte, Mansi XIX, 657 ff. Auch mit dem Hamburger Erzbifchof
Adalbert wurden die fihon früher begonnenen Unterbandlungen fortgefegt; der
Papſt war geneigt, ihn zum Patriarchen oder päpftlichen Legaten für den Norden
Eurspa’s aufzuftellen; weil aber Adalbert feine Bürgſchaft unverbrüchlicher Trene
gewährte, fo zerfchlug fich die Sache. Wihrend feines Aufenthaltes in Benevent
I merfte er ein befchleunigtes Hinfchwinden feiner Kräfte, er verließ daher den
I 12. März 1054 Benevent, um nah Rom zurüdzufehren. Der Normanne Hum=
fried geleitete ihn nach Capua, von wo er in Gefellichaft des Abtes von Monte
I Eaffino die Reife fortfegte. In Rom flieg er in feinem bifchöflichen Palafte am
Lateran ab, bald ließ er fich aber in die St. Petersfirche tragen und brachte hier die
I Testen Tage unter brünftigen, wahrhaft hohenpriefterlihen Gebeten und Ermaß-
I nungen zu, bis er den 19, April 1054 felig im Herrn entfhlief. Seinem Wunfche
gemäß ward die Leiche neben dem Altare Gregors I. beigefegt. Wie Leo während
I feines Lebens Wunder wirfte, fo gefihahen auch nachher noch ſolche bei feinem
I Grabe. Mit- und Nachwelt ift einftimmig in feinem Lobe. Die Kirche verehrt
I ihn am 19. April ald einen Heiligen. Vgl. Gfrörer, Kirchengeſch. IV. 1. ©.
484 ff. Höfler, die teutfchen Päpfte. I. S. 3—214. Eugene de la Gour—
I nerie, das chriſtl. Rom. L 2. 8,409 ff. Möller, Gef. des Mittelalters,
849 ff. Döllinger, Lehrb. der Kirchengefh. . S.479 f. Wiberti vita
S. Leonis P. IX. S. Leonis P. IX. vita a S. Brunone Signiensi episc. Pagi, bre-
viar. T. I. p. 327—357. — leo X., hieß früher Johannes und ift geboren den
11. Derember 1475 zu Florenz, der zweite Sohn des dortigen Großherzogs, des
Lorenz von Medici, der den Beinamen des Großen und eines Vaters der Wiffen-
ſchaft führte, Ber einem mufterhaften Fleiße zeigte Johannes von feiner früheften
I Jugend an ausgezeichnete Anlagen, welche zur Reife zu bringen er eine attifche
I Erziehung genoß, wie fie nur ein Pericles zu denfen vermochte und wie fie in
7 jener Familie nicht ausbleiben fonnte, nad welcher das damalige Jahrkundert,
I um ihres großen Einfluffes auf Künfte und Wiffenfohaften willen, feinen Namen
erhielt. Chalcondyl und Eginent, zwei griehifche Flüchtlinge, führten ifn in die
Schönheiten der homerifhen Sprache ein; Politianus Iehrte ihn die „Sprache ver
I Götter“, die er ſelbſt eorreet und mit Eleganz ſprach; Bernardo Dovizi, der
foäter unter dem Namen Cardinal Bibiena berühmt wurde, lehrte ihn das ele—
gante und ungenirte Sappir-viore, mit dem ſich natärfih die volle Sanftmuth
30*
468 Leo X.
und Güte des Schülers verſchmolzen. Auch Marfilins Ficinus, Pico de la Mi-
randola u. a, m, hatten bedeutenden Einfluß auf feine Entwicklung und Aus-
bildung. Bon feinem Vater für das Prieſterthum beftimmt, erhielt Johann ſchon
mit fieben Jahren Tonfur und Anwartfchaft auf firchlihe Würden; und wie ihm
Ludwig XI, König von Franfreih, im J. 1483 die Abtei Font douce übergab,
fo belehnte ihn bald nachher Papſt Sixtus IV, mit dem reichen Klofter Paffignanp,
und Innocenz VII. verlieh ihm noch im J. 1488 die Würde eines Cardinals
Bevor er jedoch die Infignien diefer Hohen Würde erhielt, mußte er noch drei
Jahre lang die Theologie und das canpnifhe Recht findiren, was er auch zu Piſa
mit ebeh fo großem Fleiß als Erfolg that, Am 9. März 1492 erfolgte fofort
feine Aufnahme in's Carbinalscollegium. Am 8, April deſſelben Jahres ftarb fein
Bater Lorenzo, und mit dem Tode diefes Mannes ſollte bald eine Kataſtrophe
höchſt trauriger Art wie für Stalien überhaupt, fo namentlih für Florenz und
das mediceifhe Haus eintreten, Der Cardinal begab fich alsbald nach Florenz,
um durch feine Gegenwart das Anfehen und den Einfluß feiner Familie aufrecht
zu erhalten, was um fo nöthiger war, als fein älterer Bruder Pietro nicht der
rechte Mann war und die Einwohner immer fchwieriger wurden, ja eine von Sa—
vonarola's Predigten aufgehete Partei mit dem Sturze feiner Familie umging.
Um diefe Zeit hatte fi Ludwig Sforza an die Spike Mailands und feiner ſchö—
nen Provinzen geftellt und war fo wenig geneigt, die rechtmäßigen Anfprüche ſei—
nes Neffen Galeas zu achten, fo dringend er auch vom König Ferdinand von
Neapel hiezu aufgefordert worden war, daß er ven König von Franfreich, Carl VII.,
nah Stalien einlud, um als Erbe des Haufes Anjou feine Anſprüche auf das
Königreich Neapel geltend zu machen. Die Uneinigfeit und das gegenfeitige Miß-
trauen der kleinern italienischen Fürften erleichterten Carls Kriegszug, und die
italienifchen Völfer, von Savonarola bethört, erwarteten in ihm den von Gott
Hefandten Würgengel, das heilige Land zu befreien. Ber diefer Sachlage hielt
es Pietro von Medici für das Gerathenfte, mit Earl fih in eine Unterhandlung
einzulaffen,, aber der abgefchloffene Vertrag rief bei den Florentinern allgemeinen
Unwilfen hervor, ein Aufftand der verheerendften Art brach aus, bis Carl am
17, Nov. 1494 in Florenz einzog. Nur mit Mühe hatten Pietro und der Car
dinal noch nach Bologna entfliehen fünnen, und da fie hier nur fehr kalt aufge-
nommen wurden, ſo vertauſchte Johannes von Mediei fein rothes Kleid mit der
Kutte eines Franciscaners und fand einige Tage nachher eine Zufluchtsflätte zu
Caſtello bei den Vitelli, Nun lebte der Cardinal während einer Zeit von fünf
Sahren bald da, bald dort, bei den alten Freunden feines Haufes, in Rom felbft
mochte er fih nicht aufhalten, da er fich mit dem neuen Papfte Alexander VL,
der das Haus Medici hate, nicht gut zu fielen wußte, Mehrmals fihien es
während diefer Zeit, als könnten die Medici wieder nach Florenz zurücffehren,
fie verfuchten e8 auch mit Gewalt, aber umfonftz ein Bündniß der Florentiner
mit König Ludwig XI. benahm ihnen vollends die Hoffnung. Um nun die ſchwar—
zen Gedanfen zu entfernen, die fein Gemüth verbüfterten, befchloß der Carbinal,
Stalien zu verlaffen und, den Undank feiner Mitbürger vergeffend, im fremden
Lande die Sitten, Einrichtungen und geiftige Bildung der übrigen Nationen zu
fludiren, Mit noch eilf Genoffen trat er eine Titerarifche Reife an und befuchte
die vorzüglichften Städte in Teutfehland, wie Mm, Augsburg, Innsbruck ꝛc. in
den Niederlanden und in Frankreich, Bei feiner Rückkehr fand der Carbinal die
politiſchen Verhältniffe in Stalien bedeutend verändert; er begab ſich nach einem
fürzern Aufenthalte in Genua nah Nom, wo Alexander, äußerlich wenigfteng,
fortan fih freundlich gegen ihn betrug. Dieß und noch mehr der Umftand, daß
28 der Negierung in Florenz an Einficht und burcgreifender Thätigfeit fehlte,
daß die Stadt in ihren Finanzen erfihöpft und durch innere Unruhen zerrüttet
war, richtete Die Mediei zu der Hoffnung auf, ihrer Zamilie bie vorige Gewalt
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imn Florenz wieder zu verſchaffen; allein auch dießmal mißglückte ihr Verſuch.
Gunſtigere Ausſichten eröffneten ſich dem Cardinal unter dem Papſte Julius IL
Zu diefem ſtand er in einem guten Einverſtändniß, und da fein Bruder Pietro
geftorben war, fo lief der Cardinal nicht länger Gefahr in den Maßregeln, die
er nahm, um feine Rückkehr nach Florenz zu bewirken, zumal er nur langfaur
and mit großer Mäßigfeit vorfuhr, und die Florentiner großentheild mehr auf
Pietro wegen feines unruhigen Ehrgeizes und heftigen Leidenfchaften als gegen
feine Familie erbittert waren. Nachdem Julius am 12, Sept. 1506 in Perugia
eingezogen war und von der Oberberrfchaft darüber Befig genommen hatte, über-
trug er diefelbe bald nachher dem Cardinal von Medici, und diefer übt von nun
an einen größern Einfluß, als bisher, auf die Angelegenheiten Italiens. Unter
dem Titel eines Legaten von Bologna wurde unfer Cardinal zum päpftlichen Feld-
miarſchall ernannt und ihm die Leitung jenes ganzen Feldzuges überlaffen, dur
den der Papft die Franzofen aus Stalien vertreiben wollte, Doch der Feldzug
endete, nachdem das Kriegsglüdf öfters gewechfelt, unglüdklih für das päpftliche
Heer, der Cardinal wurde in der Schlacht bei Ravenna gefangen genommen,
441: April 1512, Zuerft wurde der Cardinal nach Bologna, dann nah Mailand
geführt, und von hier aus follte er nah Franfreich gebracht werden, gemäß dem
Befehle Ludwigs XII.; doch er wurde noch zur rechten Zeit und zur größten
Freude des Papftes aus der Gefangenschaft befreit, kehrte nach Nom zurück, und
Städte, Eitadellen und Menſchen, die fich bald dem heiligen Stuhle wieder unter-
warfen, fanden an ihm einen Fräftigen Vermittler, Nun follte auch das Haus
Medici wieder in die Herrfchaft über Florenz eingefest werben, die heilige Ligue
nahm die Sache in die Hand, und in Folge hievon Fonnte der Cardinal am
31. Auguft 1512 wieder in fein theures Florenz zurücfehren, Damit hatte die
1 Bolfsherrfchaft ein Ende; eine Verſchwörung von mehreren Unzufriedenen wurde
noch zur rechten Zeit entverft, und die Anftifter derfelben fanden die gebührende
Strafe. Auf die Nachricht von dem Tode des Papftes Julius II. eilte unfer Car-
Dinal von Florenz nah Rom zur Papftwahl. Rauſchender Beifall erfüllte die
I] Lüfte, als der Decan der Cardinaldiaconen das Fenfter des Conclave öffnete und
I feierlich ausrief: ich verfündige euch eine große Freude; wir haben einen Papft,
| ven verefrungswärdigen Herrn Johannes von Medici, Cardinaldiacon ad Sanctam
] Mariam in Dominica, der den Namen Leo X. angenommen bat, Da rief die
I Menge, Geiftlichkeit, Adel und alles Volk: es Iebe Leo! und Palle! Palle! wor⸗
] unter man die Wappen der Medici verftand; man zündete Freudenfeuer an, und
unter den Donner der Kanonen von der Engelsburg mifchten fih taufend Bom—
1 barben, Dean begrüßte die neue Regierung als die Aurora friedlich-ruhiger Tage,
I als eine Aera des Glücks, die fih Allem öffnen follte, was Charakter, Geift,
Wiffenfhaft, Talent und Tugend des Menſchen erheben kann. Am 15. März
1 1513 erhielt Leo, da er bisher nur Cardinaldiacon gewefen, die Priefterweihe,
1 am 17. die bifhöflihe Weihe und am 19. Hatte die Krönung Statt. Seine Thron
beſteigung weckte mit einem Male allen Ehrgeiz der Künftler und Literatoren.
I Man erinnerte fih nur an die gnädige Aufnahme, welche alle Männer von Ber-
4 dienft bei ihm fanden, als er noch Cardinal und fein Palafl auf der Piazza Na—
I sona der Mittelpunet aller Gelehrten und Künftler geworden war. Bor Alfem
berief Leo den gelehrten Lascaris nah Rom, um das Studium der griechifchen
4 Sprache und Literatur dafelbft zu erneuern; zu gleicher Zeit erhob fih auch die
4 große römifche Univerfität, die Sapienza, zu neuem Glanze, feine Koſten wurden
> som Papſte gefcheut, um einen eben fo tüchtigen als zahlreichen Lehrförper zu
I arquiriren; über Theologie, bürgerliches und Firchliches Recht, Arzneifunde, Sit-
tenlehre, Logif, Beredtfamfeit, Mathematik ze. wurden Vorleſungen gehalten, ein
I Beweis, wie falfch die Behauptung ift, Leo babe feine Freigebigfeit nur auf die
4 Feihte und ſchoͤne Literatur beſchränkt. Mit befonderer Sorgfalt Tief er auch die.
je :
470 Leo X.
Handſchriften ver alten griechiſchen und römiſchen Schriftſteller ſammeln, ſo be—
zahlte er z. B. für die fünf erſten Bücher der Annalen des Tacitus, welche man
in der Abtei Corvey in Weſtphalen aufgefunden hatte, und wovon noch Fein Ab-
druck eriftirte, 500 Zechinen. Kurz Leo bot Alles auf, daß Nom, wie in anderer
Hinficht, fo auch in Beziehung auf Gelehrfamfeit die erſte Stadt wurde, Wie
fehr Leo auch die Kunft, Muſik, Architeetur ꝛc. ſchätzte und beförderte, dafür
zeugen Raphael, Michel Angelo, Leonardo da Vinei ꝛc. Do ift es unmöglich,
alle die geiftreichen Männer, voll Wiffen und Genius, auch Hier nur zu nennen,
welche die Großmuth des Papſtes anzog, Man follte bei dem Anblick dieſes
hohen Geiftesauffihwunges meinen, unter der Regierung Leo's X. habe fih das
Chriſtenthum eines innigen Friedens zu erfreuen gehabt, und Fein Ungemach, fein
trauriges Ereigniß habe diefe Ruhe getrübt, Und doch verarmten bie mweftlichen
Provinzen Staliens immer mehr unter der Laft eines langen biutigen Krieges,
Belgrad fiel unter ven Schlägen der Türfen, und die Stimme Luthers Hatte Die
Farfel der Zwietracht in Teutfchland angefacht. Leo's höchſter Wunſch wäre es
freilich gewefen, die Herzen aller chriftlichen Fürften durch die Bande einer hei-
ligen und gegenfeitigen Freundſchaft vereinigt zu fehen, ganz Europa follte Frie-
den genießen; aber diefer Wunfch wurde zuerft vereitelt durch die Frangofen, Um
fih in den Befit des Herzogtums Mailand zu fegen, hatte Ludwig XII. zu Blois
am: 15. März 1513 mit der alten Nebenbuhlerin Roms, Benedig, einen Bertrag
gefchloffen; fobald der Papft hievon Kunde erhalten, gab er fih alle Mühe,
Stalien vor dem Ausbruce neuer Kriegsflammen zu bewahren und ſchloß deßhalb
auch am 5, April 1513 zu Mecheln ein Bündniß mit Heinrich VII. von England,
dem Kaifer Marimilian und dem Könige Ferdinand von Spanien, Die Schlacht
bei Novara fiel für die Franzofen ungünftig aus, und Benedig fand bie verdiente
Züchtigung. Am 6. April eröffnete Leo die fechste Sitzung des Coneils im La-
teran, welches fchon Julius IL. veranftaltet hatte; die ſchismatiſchen Carbindle
fehrten größtentheils zum Gehorfam zurück, das Coneciliabulum von Pifa wurde
für aufgehoben erflärt und dagegen die Nechtmäßigfeit der lateranenſiſchen Sy-
node ausdrücklich anerkannt, Ludwig felbft hielt e8 für gerathen, fih mit dem
Papfte auszufühnen. — Bei feinem unermüdlichen politifhen Streben Tieß Leo
nie das Ziel aus dem Auge, Italien von dem Joche der Frembherrfchaft zu be=
freien und aus der Erhaltung des europäifchen Gleichgewichts für feine weltliche
Macht Vortheil zu ziehen, Höchſt unlieb war e8 daher dem Papfte, als Franz.
von Franfreih nah dem Tode Ludwigs XI. CH 1. Januar 1515) den Plan
Yoieder aufnahm, Mailand zu erobern; fihnell ſchloß jeßt Leo mit dem Könige
von Spanien und dem Kaiſer von Teutfihland ein Schug- und Trugbündnif, und
es fam jet Alles darauf an, ob die verbündeten Schweizer den Franzofen wider-
fiehen würden, Bei Marignano fam e8 im September 1515 zur Schlacht, und
diefe ift deßhalb fo wichtig, weil die Schweizer feit diefer Niederlage nie wieber
einen felbftftändigen Einfluß in Stalien ausgeübt haben. Hätten die Franzofen
diefen ihren Sieg ernftlich verfolgt, fo würden ihnen weder Toscana noch der
Kirchenftaat viel Wiverftand geleiftet Haben, und e8 würde auch den Spaniern
ſchwer geworben fein, fich in Neapel zu behaupten, Um diefes abzuwenden, nahm
Leo in der fo äußerſt fohwierigen Lage feine Zuflucht zu Unterhandlungen mit
Franz L; er begab fich fpäter felber zu ihm, wider den Rath feiner Carbindle,
nad Bologna. Hier fhloffen fie das Concordat (ſ. den Art, Concordate), im
welchem fie die pragmatifche Sanetion aufpoben (f. den Art. Frankreich). Au
mußte Leo Parma und Piacenza aufgeben, doch gelang es ihm, den Sturm zu
beſchwören, den König zum Ruͤckzuge zu bewegen und unangetaftet in dem Befige
feiner Länder zu bleiben. Wenn man aber dem Papfte vorwirft, er habe fein
Franz I. gegebenes Wort nicht gehalten, als im Frühjahre 1516 Maximilian gen
Italien zug, um die Franzofen aus Mailand zu verbrängen, fo iſt biefer Vor—
7
Leo X 471
wurf Tange nicht fo erwiefen, als man glauben follte, Audin fucht vielmehr auch
hierin die Unſchuld des Papftes darzutfun. Wie Leo die Integrität des Kirchen⸗
aates zu erhalten, ja ihn zu vergrößern flrebte, wobei er gegen manche Große,
die in einigen Städten des Kirchenftaates ihre Herrfhaft begründet hatten, oder,
wie der Herzog von Urbino, obwohl Bafallen, im Augenblide der Entſcheidung
abtrünnig wurden, den Krieg erflären mußte; fo fegte er feinen Stolz; au auf
die Bergrößerung des Haufes Medici; fein jüngerer Bruder Julius von Medier
wurde zum Erzbifhofe von Florenz ernannt; fein Neffe Laurentius von Medici,
Herzog von Urbino, erhielt die Stelle des Rovere, der ein Neffe Julius II. war,
und die weltliche Gewalt der Medict über Toscana wurde durch Gefege und
Berbindungen befeftigt. Diefer Familienftolz z0g dem Papfte Heftige Feinde zu;
bald wurde das Haus des Cardinals Petrucci der Schürherd des heftigften und
befeidigendften Haſſes. Diefer Cardinal Hatte ſich entfchloffen, um feinen aus
Siena vertriebenen Bruder zu rächen, den Papft öffentlich in einem Eonfiftorium
zu erdolchen. Hierzu gebrach es ihm freilich an Muth, aber fein Wille blieb un-
verändert derfelbe. Er beſtach einen Chirurgen und erhielt von ihm das Ver—
ſprechen, den Papft zu tödten, entweder bei Behandlung einer Fiftel, an der Leo
litt, oder durch Gift an der Tafel, Die Verfhwörung wurde entdeckt, ehe das
- Berbrechen zur Ausführung fam, Petrucci wurde mit Vercelli, dem Chirurgen,
— mit dem Tode beftraftz mehrere Eardinäle wurden ihrer Würden beraubt, weil
ſie um das Complott gewußt, ohne es zu verhindern, Wenige Tage fpäter, den
26. Juni 1517, ernannte leo, um die Würde der Kirche und feine Sade auf-
recht zu erhalten, 31 Carbinäle, lauter durch Geift, Rang, Erfahrung und Ge-
lehrfamfeit ausgezeichnete Männer, worin eine Haupturfache fowohl der Ruhe
amd Glückſeligkeit feiner noch übrigen Lebenstage, als des Ruhmes und Glanzes
feiner Regierung liegt. Um diefe Zeit befchloß der Papft auch zwei große Unter-
nehmungen, die vom Beginne feiner Regierung an vor feinem Geifte ſchwebten,
auszuführen, Es war dieg die Bewaffnung der chriſtlichen Fürften zur Befämpfung
der Türfen, welde fih um jene Zeit unter Selim II. furdtbarer als je zuvor
erwiefen, und dann die Berfhönerung Roms, vor Allem aber die Beendigung des
Baues der St. Peterskirche. Zu diefem Zwede ließ Leo in Europa einen fünf-
jährigen Waffenftilfftand ausrufen‘, und fuchte durch Briefe und tüchtige Gefandte
- die Großen diefer Welt in's Intereſſe zu ziehen, und eine Zeit lang ſchien fein
- Bemühen mit einem ſchönen Erfolge gekrönt werben zu wollen. Ebenfo hatte
Leo noch im J. 1516, da die dffentlihe Schatzlammer erfchöpft, feine Privat-
beſitzungen aber verfihuldet waren, um jene große Unternehmungen dennoch zu
ermöglichen, einen Ablaß ausgefchrieben, und es ift als eine Verläumdung zurüd-
zuweifen, ald wäre das für die Abläffe eingegangene Geld für die Schwefter des
Yapftes beftimmt gewefen. An diefer Ablaßpredigt und dem Almofenfammeln
durch Albert (ſ. d. U.), beziehungsweife Tegel (f. d. A.) nahm Luther (f.d. 9.)
Anſtoß und bewirkte dur feine Thefen, daß der fo reichlich vorhandene Brenn-
ftoff bald in eine fo ungeheure Flamme ausbrach. Ob es wahr ift, daß Luther,
wenn er anftatt Leo X. Papft gewefen wäre, die Kirche gegen einen weit gefähr-
licheren Feind gefhügt haben würde, als der Mönch von Wittenberg war, mag
dahingeſtellt fein, aber irrig iſt jedenfalls die fo oft wiederholte Behauptung,
man babe von Anfang an den Vorgängen in Sachſen Feine Wichtigkeit in Rom
beigelegt. In Nom Ffonnten Luthers Thefen kaum befannt geworden fein, als
1 Leo dur ein Schreiben som 13, Febr, 1518 an Gabriel von Venedig, Pro-
FT magifter der Auguftinermöndhe, den Auftrag gab, das von Luther angefchürte
I Teuer zu dämpfen, denn „nichts fcheine fo gefährlich zu fein, als der Verzug.”
Gabriel folle dur Briefe und Unterhändler Luthern zum Schweigen Bringen,
Doch ertheilt ihm Leo Feine beftimmte Inſtruction. Bon feiner erften Forderung,
3 daß Luther perſonlich in Rom zur Vertheidigung ſich ſtellen follte, ging Leo, von
472 Leo X.
verſchiedenen Seiten darum angegangen, ab, und bewilligte, daß die Vernehmung
Luthers in Teutſchland ſtattfinde, und Cajetan (ſ. d. A.) wurde damit beauftragt.
Da in Augsburg die Sache nicht beigelegt wurde, fo übertrug der Papft bald
darauf dem Miltitz diefe Verſohnungsmiſſion, und diefem gelang es im ber That,
den beiven Hauptgegnern Luthern und Tetzeln das Verſprechen abzugewinnen,
binfort zu ſchweigen. Doc diefes Friedensgebäude flürzte in Folge der Leipziger
Disputation bald zufammen und Luther ging in feiner Oppofition immer weiter,
nicht hörend auf Staupig, Spalatin u.a. m.; darum erlich Ley am 15. Juni
1520 eine Bannbulle gegen Luther, die diefer, nachdem er ihre Aechtheit eine
Zeit lang in Zweifel gezogen, am 10. Dee. 1520 verbrannte (ſ. den Art, Ed).
Nun ſuchte Leo vor Allem den Kaifer Carl V. (ſ. d. A.) zu gewinnen und zum
thätigen Schuge des römifchen Stuhles zu bewegen, und Hieronymus Aleander
(ſ. Aleander) wurde ald Nuntius abgefandt, um die Ketzerei Luthers und feiner
Anhänger auszurotten; aber weder ber Rirchenbann, den diefer über Luthern aus—
ſprach, noch der Neichstagsabfhied von Worms vom 26. Mai 1521 Fonnte die
geftörte Drbnung wieder herftellen. Wie die Firchlichen fo hatten auch bie politi-
ſchen Angelegenheiten in der leßtern Zeit die Thätigfeit des Papftes in Anſpruch
genommen. Neben Frankreich eonſolidirte fich eine zweite große Macht, Oeſtreich.
Noch zu den Lebzeiten Marimiliansg wurde Alles aufgeboten, die Erhebung des
Hauſes Deftreih dadurch zu fördern, daß der Papſt, des Kaifers Enkel, ven jun-
gen König von Spanien, Carl, mit Neapel belehnen und ihm zur Würde eines
römifchen Königs verhelfen follte, Franz I. von Frankreich fuchte diefen Plan zu
hintertreiben, und Leo felbft bezeugte au Feine beſondere Luft dazu; als aber Ma-
ximilian am 12, Januar 1519 ftarb, traten beide, Carl und Franz, als Bes
werber um die Kaifersfrone aufz biegegen fuchte Leo zu wirken, indem er über-
zeugt war, bie Wahl eines diefer beiden Fürften werde die Freiheit Europa's, die
Unabhängigkeit des bl. Stuhles und die Ruhe Italiens in Gefahr fegen; allein
Carl wurde am 5, Juli zum Kaiſer von Teutfchland ausgerufen, und die Macht
von Deftreich feßte fih dem Uebergewicht von Frankreich auf der Stelle entgegen,
Durch die Faiferlihe Würde befam Carl V. gefegliche Anfprüche auf ein »ber-
herrliches Anfehen, wenigftens in der Lombardei; aber über diefe italienifchen
Angelegenheiten eröffnete fih ohne viel Zögern’ der Krieg, Wohl fuchte Leo noch
eine Zeit lang fein Heil in gefchiefter Benugung der Lage der Dinge, aber von
zwei bei weiten überlegenen Gewalten in die Mitte genommen, fonnte er bei
dem Kampfe derfelben nicht neutral bleiben. Es mußte dem Papfte unendlich viel
daran liegen, Parma und Piacenza wieder zu erlangen, und das Berfprechen
Carls V., einen Italiener in Mailand einzufegen, war ihm fehr genehm, auch
lag in dem Firchlich-politifchen Zuftande Teutſchlands der Grund einer natürlichen
Annäherung zwifchen dem Papfte und dem Kaiſer; es beburfte nur noch einer
Beranlaffung, ven Bruh Noms mit Frankreich zu entfeheiden, und diefe war ge—
geben durch den unglüdlichen Ueberfall Reggio's. Die kaiſerlich-päpſtlichen Waf-
fen waren in Italien glüdlich, Einer der nächften Verwandten des Papſtes,
Sohn des Bruders feines Vaters, Cardinal Julius Medici, war felbft im Felde,
und z0g mit in das eroberte Mailand ein. Parma und Piarenza waren wieder.
erobert, die Franzofen entfernt; auf den neuen Fürften in Mailand mußte ber
Papft unausbleiblich einen großen Einfluß erlangen. Es war einer der wichtigften
Momente, Eine neue politifche Entwicklung war begonnen: eine große kirchliche
Bewegung eingetreten. Es war ein Augenblid, in welchem Leo ſich ſchmeicheln
konnte, jene zu leiten, diefer Einhalt gethan zu haben. Er war noch jung genug,
um zu hoffen, ihn ganz zu benugen. Aber fonderbares, trügerifches Geſchick des
Menfchen! Leo war auf feiner Villa Malliana, als ihm die Nachricht von dem
Einzug der Seinen in Mailand gebracht ward, Er gab ſich dem Gefühl hin, in
das ein glücklich zu Ende geführtes Unternehmen zu verfegen pflegt: Mit Ver—
ar
ıh
—
F
Leo XI. —Leo XII. 473
gnügen ſah er den Feſtlichkeiten zu, welche ſeine Leute deßhalb anſtellten; bis tief in
die Nacht ging er zwiſchen dem Fenſter und dem brennenden Kamin — es war im
November — hin und her. Etwas erfchöpft, aber überaus vergnügt fam er nach Nom,
wo drei Tage hindurch öffentliche Luſtbarkeiten flattfanden. Eine Unpäßlichfeit (Ea=
F tarrh) nahm bei Leo fchnell einen gefährlichen Charafter anz noch am Sonntage den
1. Dee. 1521 Morgens richtete er die Augen gegen Himmel, faltete die Hände,
murmelte einige Worte frommen Gebetes, ſank auf das Ropffiffen zurück und ftarb.
Der Catarrh hatte eine Erftifung herbeigeführt. Er hatte fein 46tes Jahr
vnllendet und 3 Jahre, 3 Monate und 19 Tage regiert. Niemals hat der Tod
eines Bapftes fo großes Bedauern erregt. Das Volk ergriff in dem erſten Aus—
; bruche feiner blinden Wuth den Mundfchenf des Papſtes, weil es eine Vergiftung
vermuthete; allein es fanden fih feine Beweife hiefür. Betrachtet man alle
Thaten feines Pontificates, fo möchte man glauben, es babe ein Jahrhundert
dauern müffen; fein Wunder, wenn er auch, wie andere große Männer, fhon fo
verſchieden beurtheilt worden ift; vor dem Richterftubl der unparteiifhen Ge—
fihichte erfcheint er als ein fehr wohlwollender, hochgebildeter Fürft, an dem man
kaum etwas anders tadeln möchte, als daß er in hriftliher Beziehung etwas auf
der Oberflächlichkeit blieb, zu fehr die humaniſtiſche Bildung pflegend; eigentliche
Shhattenfeiten bietet jedoch fein Charafter nicht dar. Vergl. Gefhichte des Papftes
Leo X. von 3. M. Audinz aus dem Franzöfifchen überfegt von Brug. Augsburg
1845. Leben und Regierung des Papftes Leo des Zehnten von W. Roscoe;
aus dem Engliſchen überfegt v. ©. Glafer. Leipzig 1806, 3 Bde. Die römi-
Shen Päpfte, ihre Kirche und ihr Staat im 16ten und 17Tten Jahrhundert, Bon
2% Rante, I. Bd, Berlin 1844. Das Kriftlihe Rom von Eugene de fa
Gournerie, teutfh von Müller, I. Bd. Franffurt a. M. 1844. Smet’s Ge-
ſchichte der Päpfte, II. Bänden. C. Riffel, Kriftlihe Kirchengeſchichte der
meueften Zeit, 1. Bd. Petri Bembi Cardinalis epistolarum Leonis Decimi Pon-
tifieis Maximi nomine seriptarum libri sexdecim. — Leo XI, ebenfalls aus Florenz
gebürtig und dem Haufe der Mediceer angehörig, folgte Clemens VIH. auf dem
päpftlihen Stuhle. Bor diefer Erhebung war er Erzbifchof von Florenz, und wie
ihn fhon Gregor XI. zur Würde eines Cardinals erhoben, fo übertrug ihm fein
\ Vorgänger Clemens VIII. das äußerſt fhwierige Gefhäft, vermittelnd und friede-
ſtiftend zwifchen den Königen von Franfreih und Spanien aufzutreten. Diefe
Wiſſion führte er eben fo weife als glüdlih aus, fo daß er bei feiner Rückkehr
- aa Ferrara unter allgemeinem Jubel empfangen wurde. Obwohl der König von
— Spanien gegen feine etwaige Wahl ausdrücklich Proteft eingelegt hatte, wurde er
doch von den unter franzöfifhem Einfluffe ftehenden Cardinäfen am 1. April 1605 -
zur päpftlihen Würde erhoben. Boll Jubel find die Briefe, in denen der Car-
dinal Du Perron diefen unerwarteten Erfolg Heinrich IV. meldet: in Frankreich
beging man ihn mit öffentlichen Feftlichkeiten. Nur war e8 ein kurzes Glüf,
Leo überlebte feine Wahl nur 26 Tage, Nach Platina wäre er in Folge einer
Erfältung geftorben, nach Andern hätte, wie Ranfe bemerkt, der Gedanke feiner
Würde und das Gefühl der Schwierigkeit feines Amtes feine alterfhwachen
Lebensfräfte vollends erdrückt. Vergl. Ranke, die römifchen Päpfte, ihre Kirche
und ihr Staat, Bd. I. S. 312, Platina de vitis pontificum. — Le» XIL
Hannibal Franz Clemens Melchior Nicolaus della Genga, geboren am 22. Auguft
1760 auf dem Schloffe della Genga in dem Gebiete von Spoleto, zeigte ſchon
| früße einen äuferft aufgewerften Geift, und erwarb ſich bei feinem großen Fleiße
T und vortrefflihen Gedächtniffe im Collegium Campana d'Oſimo, dann im römi-
I hen Collegium Piceno und dann in der geiftlihen Academie fehr ſchöne Kennt-
niffe; am 14. Juni 1783 erhielt er die Prieſterweihe. Bald z0g er die befondere
| Aufmerlſambkeit des Papſtes auf ſich und Pius VI. ernannte ihn zu feinem ge-
beimen KRämmerling. Im J. 1790 hielt er in der Sirtinifhen Capelle vor dem
474 Leo XI
Papſt und dem HL. Collegium die Leichenrede auf Kaiſer Joſeph I., und erregte
allgemeine Bewunderung durch feine Berebtfamfeit und das Geſchick, der Wahr-
heit nichts zu vergeben, ohne das öſtreichiſche Cabinet zu beleidigen, Im J. 1798
wurde della Genga vom Papſt zuerft zum Prälaten, dann zum Erzbiſchof von
Tyrus ernannt, und im darauffolgenden Jahre als Nuntius nach Cöln gefandt,
um Pacca zu erfegen, In diefer Eigenfchaft traf er am 28, September 1794 in
Augsburg ein, hielt fih, da Cöln und die ganze Rheingegend fihon von ben ba-
mals Alles vor fich niederwerfenden Franzofen überfhwemmt war, hier längere
Zeit auf und feffelte bald Alfer Herzen an fi; Teutfelig gegen Jedermann, ohne
fich von feiner hohen Würde etwas zu vergeben, ernfthaft ohne Stolz, gebildet
in jedem Fache der Wilfenfchaften, Freund, Kenner und Befchüger der Künfte;
dabei ganz anſpruchslos, fehr heiter und voll Wig in der Gefellichaft, ohne ſich
je einen beleidigenden Scherz zu erlauben; fireng in Beobachtung aller feiner
Pflichten, die ihm Religion und fein erhabener Stand auferlegt hatten; ſich zu-
rüdfziehend von jedem dffentlichen Vergnügen, wo feine hohe Würbe auch nur
anfcheinend hätte compromittirt werden können; dagegen überall erfiheinend, wo
feine Gegenwart zur Erbauung beitragen fonnte, herablaffend gegen Gelehrte und
Künftler, ohne auf ihre Neligion Nüdfiht zu nehmen; mitleidsvoll und groß-
müthig gegen Alle, die feiner Hilfe bedürftig waren; Bifchof im firengften Sinne
des Wortes und Fuger Staatsmann in jeder ihm anvertrauten Angelegenheit,
nachgebend, wo es Stand und Gemiffen erlaubten, und fireng auf das Net
haltend, wo es das Wohl der Kirche und feines Souveräns ihm zur Pflicht ge-
macht hatte, — fein Wunder daher, daß er die Hochachtung Aller genoß, die
ihn näher zu beobachten Gelegenheit hatten, Er wurde ſowohl vom Churfürften
Clemens Wenceslaus, als vom damaligen Beherrſcher Bayerns, Carl Theodor,
und allen benachbarten Fürften nicht allein verehrt, fondern auch wahrhaft geliebt
und bewundert, Noch zur rechten Zeit, als die Franzofen im Auguft 1796 gegen
Augsburg anrürten, verließ er diefe Stadt und begab fih, vom Ehurfürften
Friedrich Auguft von Sachſen eingeladen, nah Dresden; doc noch im nämlichen
Sabre konnte er wieder nach Augsburg zurüdfehren. Bald follten noch trau—
rigere Berhältniffe eintreten. Pins VI. wurde gefangen genommen, der ganze
Kirchenſtaat als Nepublif erklärt, auch della Genga’s Befigungen und felbft feine
Mutter und Gefhwifter geriethen in die Gewalt der Feinde und er mußte
darum aus Mangel an Zuflüffen fowohl aus der päpftlichen Kammer als auf
yon feinen Patrimonial-Nenten fich fehr einfchränfen. Als Moreau fpäter in dag
Herz von Schwaben vordrang und Augsburg befeste, ging Genga nach Wien,
wo er vom Raifer Franz mit ausgezeichneter Achtung behandelt wurde, dann
wieder nach Sachfen und Augsburg, Nachdem Pins VII. den päpftlihen Stuhl
beftiegen, fehrte della Genga nah Nom zurüd, um dem Papfte zur huldigen,
auch war ihm bei feiner gefehwächten Gefundheit eine Tängere Ruhe von Ge—
fehäften fehr nothwendig. Aber nicht Iange war ihm dieſe Nuhe gegönnt, Die
kirchlichen VBerhältniffe in Teutfehland trübten fih immer mehr, die Bisthümer
yerwaisten nach und nach, die Stifte wurden geleert, die Kirchen und ihre Güter
in ven Säcularifationsabgrund hinein gefrhleudert. Zur Negulirung diefer Ber-
hältniffe fhien fein Dann geeigneter als eben della Genga, daher wurde er im
3.1805 von Papft Pins VIL als anßerordentlicher Nuntius beim teutfchen Reichs—
tag zu Regensburg acereditirt. Allein alle Bemühungen, alle Unterhandlungen,
alle Anftrengungen waren vergeblich, Die Cabinete der Großen hatten damals
alle ihre eigenen Anfichten, von denen fie nicht abzubringen waren, Nur den
König von Würtemberg, Friedrich I, gewohnt felbft zu handeln, war willfährig zu
einer Convention mit dem päpftlichen Stuhle. Zu diefem Zwecke traf della Genga
unterm 25, Sept. 1807 in Stuttgart ein und die Conferenzen nahmen den glüd-
Vichften Fortgang, als der Nuntins am 1, November ganz unerwartet erkfärte,
Leo X. 475
neue Befehle von Rom erhalten zu haben, welde ihn verbänden, feine Vollmacht
für erlofchen anzufehen, alle Unterhandlungen abzubrechen und fich ohne Zeitver-
luſt nad) Paris zu begeben. Hier follte ex vereint mit den Cardinälen Caprara
und Bayane einige Gefhäfte des hl. Stuhles mit dem Kaifer behandeln; aber
die Eonferenzen wurden bald abgebrochen und della Genga mußte ganz fehnell
Paris verlaffen. Nach Italien zurücfgefehrt, wurde er wie ein Staatsgefangener
behandelt und während Pius VIL in der Gefangenfhaft ſchmachtete, hielt er fich
in der äbtlichen Pfarrei Monticelli in der Didcefe Fabriano auf, Zur Reftau-
rationgzeit erhielt della Genga den Auftrag, Ludwig XVIL Namens Pius VI.
ein Beglüdwünfhungsfchreiben zu überbringen, Mit diefer Miffion war der
Cardinal Conſalvi (ſ. d. A.), der zu Paris bei allen dort anmefenden Fürften
accreditirt war, fehr unzufrieden und er ließ diefe feine Unzufriedenheit auf eine
unwärdige Weife merken; in Folge diefes Streites erfranfte della Genga und
ward fo verhindert, dem großen Monarcen-Congreffe in Wien beizumohnen,
Sm 3.1816 wurde della Genga der erfte Carbinalpriefter, auch erhielt er das
Bisthum Sinigaglia, und im J. 1820 das Amt eines Vicars Sr. Heiligkeit, mit
welchem Amte die geiftliche Adminiftration Roms verbunden if. Noch eine höhere
Würde follte ihm gegen feinen Willen zu Theil werben, Pius VIL flarb den
20, Auguft 1823 und es folgte ihm della Genga auf dem päpftlihen Stuhle als
Leo XI, zur größten Freude nicht bloß Roms, fondern der ganzen Ehriftenheit,
23, Sept. 1823, Eine der erften Handlungen feines Pontificats war die Er-
neuerung der fehönen und frommen Sitte, die einft Gregor der Große eingeführt
hatte, daß jeden Tag in einem Saale des apoftolifhen Palafles für zwölf Arme
der Tifch gedeet werden ſolle. Um ihm in der Regierung beizuftehen, ernannte
er den Carbinalderan Somaglia zum Staatsfeeretär und den Cardinal Zurla zum
Generalvicar von Rom und beftätigte die übrigen Beamten in ihren Stellen,
Bald wurde der von Natur aus Franfliche Papft fo gefährlich Frank, dag man ihm
die HI. Wegzehrung reichte und an feinem Aufkommen zweifelte. Doch Gott hatte
es anders befchlofien. Leo genas allmählig und entfaltete fofort eine fehr große
Thätigfeit. Noch am 6. März 1824 wurde mit Baron von Reden, Gefandten
Sr. Majeftät des Königs von England, in der Eigenfchoft eined Königs von
Hannover ein Concordat abgefihloffen (ſ. d. A. Hildesheim). Am 3. Mat des-
felben Jahres erließ der Papft ein Rundfchreiben an alle Patriarchen, Primaten zr,,
worin er biefe Träger der Kirchengewalt an verfchiedene Pflichten erinnert und
fie befonders ermahnt, dem Umfichgreifen des Indifferentismus und der Bibel-
gefellichaft Fraftigft entgegen zu treten. Um ven Gläubigen der Kirche das Jubel-
jahr zu verkünden, erließ er am 27. Mai 1824 eine Jubiläumsbulle. Bon vielen
Seiten hatte man dem Papfte hievon abgerathen, aber vergebens, und der Erfolg
zeigte auch, daß man ungerechte Befürchtungen hatte, Groß war die Anzahl
derer, welche in diefem Jubeljahre nad Rom pilgerten, um aber allen Gläu—
bigen es möglich zu machen, aus dem Gnadenfchage der Kirche zu ſchöpfen, erließ
Leo am 25, Dec. 1825 eine Bulle, wodurch das Jubiläum über Die ganze
Ehriftenheit ausgedehnt wurde. Um die Bafılica des HI. Paulus an der Straße
nach Dftia wiederherzuftellen, erließ er am 15. Januar 1825 ein rührendes Rund»
ſchreiben an alle Bifchöfe der Fatholifchen Welt, worin er feine erhabene Abſicht
fundgab und zugleich fein Vertrauen ausſprach, daß die Gläubigen mit groß—
müthigen Beiträgen zur Ausführung diefes frommen Unternehmens mitwirken
würben, Zu den wichtigften Verordnungen Leo's XU. gehört der denfwürdige Erlaß
gegen die Freimaurer (ſ. d. A.) und Carbonari vom 13, März 1825, Diefes Acten-
ſtück, voll Entfchiedenheit, Willensfeftigfeit und Liebe, umfaßt Alles, was die
Päpfte zu verfihiedenen Zeiten über diefen Gegenftand erlaffen und verordnet
aben, Wenn man die Note liest, worin Cardinal Caprara am 18. Auguft 1803
gegen Heren von Talfeyrand feine Befchwerbe geäußert Hat, und welche Note
476 Leo XI.
Leo nicht annullirte, fo begreift man, wie ungerecht der Vorwurf ift, ber Kl.
Stuhl habe gegen die. im 3. 1801 gleichzeitig mit dem Concordat zu Paris be-
kannt gemachten „organifchen Artikel” Feine Einfprache erhoben, Wie der Papft
die kirchlichen Intereffen in Frankreich nie aus dem Auge ließ, fo forgte er auch
für die oberrheinifche Kirchenprovinz durch die unterm 11. April 1827 von ihm
erlaffene Bulfe „ad dominici gregis custodiam*; befonders aber Yeiteten er und
fein Vorgänger mit ihren Miniftern Confaloi und della Spmaglia den Eman—
eipationsact der englifchen Katholiken ein, Was auf den Tod eines Papſtes er-
folgt, gehört zwar dem nächſtfolgenden Pontificat an, aber Leo hatte ſo thätig
an der Rückkehr des englifchen Volks zu billigern Gefegen gearbeitet, daß ber
Emaneipationsact als der ſchönſte Kranz auf Leo's Sarg niedergelegt werben
muß, weil die Katholifen den Sieg unter feiner Anführung errungen haben.
Mit dem Könige der Niederlande wurde ein Concordat gefchloffen den 18, Juni
1827 und wenigftens von Seite Noms gehalten, Nicht gering anzufhlagen find
auch die Erfolge, welche Leo's Beftreben dem Wiener Cabinet, Rußland und
Preußen gegenüber für die Kirche hatte, Doch nicht bloß Europa, auch die andern
Welttheile erfreuten fi des Segens feiner oberhirtlichen Sorgfalt, Wie er das
Miffionswefen überhaupt zu fördern fuchte, ſo vereinigte er namentlich einige
fchismatifhe Kirchen Aftens mit der Mutterfiche zu lebensvoller Verbindung.
Und als die ehemaligen fpanifchen Befisungen in America fich die Freiheit er-
fampft und zu Republifen erhoben hatten, da ging er in einem Confiftorium
(Suni 1827) mit väterlihem Wohlwollen auf ihren Wunſch ein, ihnen recht⸗
mäßige Hirten zu geben und die Wunden zu heilen, welche der Religion gefchlagen
waren. In gleicher Weife forgte er nach dem Verlangen Dom Pedro's I. für Die
Bläubigen Brafiliensz weniger glüdlich war fein Bemühen, die legten Nefte des
janfeniftifchen Schigmas (f. Janfenismusg) in den Niederlanden zu unterbrüden,
Wie Ley der ganzen Chriftenheit ein wahrer Vater war, fo befonders den Jtalienern,
Er führte eine heilfame Reform der Staatsverwaltung, des Eivilrerhtsganges und
der Gerichtstaren ein; Ließ vom 1. Januar 1826 an ein Viertheil der Grund-
fteuer nach, hob mehrere drückende Laften auf, errichtete Hofpitäler, verwendete
altjährlih große Summen für Hffentliche Arbeiten; er vollführte den von Pius VIL
fo oft gehegten Plan, den Orden der Hofpitaliterinnen zur Beforgung der Krau—
fen in den Spitälern zu begründen, wie er in Frankreich beftand, Er berief
ebenfalls die Frauen zum Herzen Jeſu aus Paris zur Leitung der Erziehung junger
Mädchen aus der römifchen Arifiveratie, und die Brüder der hriftlichen Lehre
für den Unterricht der Kinder aus der Volfsclaffe. Auch die Juden find Zeugen
feiner Humanität und weifen Toleranz, ließ er doch im J. 1825 das Juden-
quartier in Rom erweitern, gefunder machen und einen Brunnen anbringen. Auch
für die Studien traf er wichtige Verfügungen, Er ftellte das Collegium Romanum
den Sefuiten wieder zu, nachdem fie 54 Jahre daraus waren verbannt gewejen,
und wies ihnen nebft Bibliothef und Sternwarte ein jährliches Einfommen von
12,000 Seudi an. Unfterbliches Verdienft Hat fich Leo auch dadurch erworben,
daß er das Erziehungswefen des Kirchenftaates neu conftituirte, Die von ihm in
diefer Beziehung am 28. Auguft 1824 erlaffene Bulle ift ein bleibendes Denkmal
der Umficht und Weisheit diefes Kirchenfürften und feiner Liebe zur Wiffenfchaft
und Bildung. Nicht nur befteht die von Leo erlaffene Drganifation des Er-
ziehungswefens im Kirchenſtaate großen Theils noch gegenwärtig in Kraft, ſondern
fie ift auch in einigen andern Staaten als Vorbild adoptirt worden, Diefe Con-
ftitution über das Erziehungswefen, fowie die von Leo erlaffene Cireumferiptiong-
bulfe des Bisthums Bafel vom 7. Mai 1828 hat Scherer dem Werke des Artaud
son Montor: „Papft Leo der Zwölfte” als Beilage beigegeben, Leider. flarb
Lep, in religidfer Beziehung über allen Tadel erhaben, ſchon am 10, Febr. 1829,
Doc fein kurzes Pontificat war fo ſegensreich daß fein Andenken in den reichen,
ar 3
Les der Armenier — Les VL 477
und ruhmwürdigen Annalen der Päpfte fortleben und von der chriſtlichen Menfch-
heit fort und fort gefegnet werben wird, Bol. Athanafia, eine theologiſche
Zeitfchrift v. Benfert, I. Bd. 1. Heft. Papft Leo der Zwölfte. Nah Artaud
yon Montor, bearbeitet und herausgegeben durch Theodor Scherer. Schaff-
baufen 1844. Eugene de la Gournerie, das chriſtliche Rom, teutſch von
Müller. Bd. II. Abth. 1. S. 172 ff. Alzog, Univerſalkirchengeſchichte, 3. Aufl.
©. 1066 f. Reyfher, vollftändige Sammlung der würtembergifhen Gefege,
Einleitung des zehnten Bandes, [Sris.]
2ev der Armenier, f. Bilderftreit.
2eo der Sfaurier, f. Bilderftreit,
Leo VI., von feinen Schmeichlern auch der Weife oder Philoſoph ge—
nannt, der Sohn und Thronfolger des griechifchen Kaifers Bafılins Macedo,
regierte von 886 bis 911, in welchem Jahre er an der Dyfenterie ftarb, Zahl-
reiche Barbarenvölfer bedrohten das griechifche Reich, befonders die Ungarn, Bul-
garen und Saracenen; vergeblich fuchte fie Leo zu bezwingen. Die zu Hilfe ge—
rufenen Türfen drangen in Bulgarien ein, verheerten Alles mit Feuer und Schwert,
machten eine ungeheure Beute und unzählige Gefangene, welde fie an Leo ver-
kauften. Indem fich Leo der Waffen diefer Barbaren bediente, bahnte er ihnen
den Weg nach Eonftantinopel, das fie fpäter eroberten. Eine That diefes Kai—
fers fleht preiswürdig da, die Vertreibung des Patriarchen Photius von Eon=-
ſtantinopel. Diefer verfhmigte Eindringling, der durch die Ränfe des entfittlich-
ten Hofes den Sig des frommen Patriarchen Ignatius fih angemaft hatte, war
zwar vom Papfte Nicolaus I. und durch das achte dcumenifche Eoneil zu Conftan-
tinopel als Ufurpator abgefegt worden, hatte fich nichtspeftoweniger nach dem
Tode des Patr. Ignatius abermals auf den Patriarhenftuhl gefhwungen, ward
aber som Papfte Johann VII. mit dem Banne belegt. Dur die Unterſtützung
Leo's VL, der feinem Bruder Stephanus das Patriarchat zutheilte, gelang ihm
nun die völlige Abfegung des fihlauen Photius, (S. den Art. Griechiſche
Kirch e). Einer feiner Nachfolger, der Patriarh Nicolaus (Myfticus), that
Leo in den Bann, weil er wider das Verbot der griechifchen Kirche fich zum vier-
ten Male verbeirathet hatte, wogegen der Kaiſer den Patriarchen abfegen Tief.
Leo fuchte fich das Anfehen eines Gelehrten zu geben, worin er jedoch nicht viel
glüflicher war, als in feiner Politif, Statt das Reich zu ſchirmen, fihrieb er
; mittelmäßige Reden, deren 33 von Baronius aus den Handfhriften der Batira-
niſchen Bibliothek verzeichnet, und wovon einige dur Combefis, Savil, Maffer
und Gretfer Herausgegeben worden find. Diefelben beziehen fih auf die Haupt-
fefte des Herrn, der feligften Jungfrau Maria, und auf mehrere andere Heilige,
wie 3. D. auf den HI. Johannes Chryſoſtomus. Leo vollendete die von feinem
Bater angefangene Gefegesfammlung, die aus den griechifchen Ueberſetzungen
von Juftinians Gefegbuh aus den Commentarien der Rechtsgelehrten über
dafjelbe, aus den Gefegen der fpäteren Kaifer, den Ausfprüchen der Kirchenväter
und den Decreten der Concilien zufammengetragen war. Sie führte den Namen
„taiferlihe Verordnungen“ (Baoıkızal dierakeıs vder ſchlechtweg Ba-
oukıra). Fabrotti Hat diefelben überfegt und 1747 zu Paris in fieben Folio—
banden griechiſch und Iateinifch herausgegeben, Dazu Famen die Novellae Con-
stitutiones als Correctionen mehrerer von Juſtinian eingeführten Neuerungen,
Bon Leo's eigenen Schriften erregte das meifte Intereffe fein Buch über bie
Kriegsfunft, von Meurfius beransgegeben zu Leiden 1612, Es enthält vie
Drdnung der Schlachten feiner Zeit, und den Plan, wie die Ungarn und Sara-
cenen follten gefchlagen werden, Auch hat man von ihm ein Schreiben an ben
- Saracenen Omar über die Wahrheit der chriſtlichen Religion und die Irrthümer
der Saracenen (enthalten in der Biblioth. PP. Lugdun. I. XVII). Ferner ein Ge-
dicht über das letzte Gericht, dann Vorherfagungen über das Schieffal Conſtan⸗
478 Leoben in Steyermarf — Leodegar,
tinopels, herausgegeben von Georg Codinus in feinem Werke: de Imperatoribus
Constantinopolitanis, Paris. 1655. | [Dir]
Leoben in Steyermarf, Bisthum, f. Kärnthen. *
Leodegar, der Heilige und Martyrer, ungefähr um's Jahr 616 geboren,
ſtammte aus einer berühmten franzöſiſchen Familie. Noch ſehr jung kam er an
den Hof Chlotar's II. und hierauf zu feinem mütterlichen Oheim Dido, Biſchof
von Poitiers, unter dem er trefflich erzogen und Abt eines Klofters im Bisthum
Poitierd wurde, Nach ſechs Jahren feiner eifrigen Klofterverwaltung warb er
unter dem unmündigen Chlotar II. der Reichsverweſung beigefellt und 659 zum
Bifchof von Autun erwählt, wo er viel in Drbnung zu bringen hatte und 670
eine Synode hielt, befonders zur Sittenbefferung, namentlich der Mönde, Nach
dem Tode Chlotar’s III. eilte er an den Hof und erflärte ſich für Childerich I,
während der Hausmeier Ebroin auf Theodorich's Seite fand, Childerich ward
König und Ebroin auf Leodegar's und anderer Bifchöfe Bitten begnadigt, aber
in's Klofter Luxeul gefperrt. Childerich, der fi anfangs weife von Leodegar
leiten ließ, fanf bald in Wolluft und heirathete fogar feine Nichte. Leodegar er-
mahnte ihn im Stilfen und da folches nichts fruchtete, rügte er öffentlich. Natür-
Lich mißfiel dieß dem Könige, und elende Hofleute, vor Alfen der Hausmeier
Wulfvad, fohürten das Feuer. Leodegar ward nach Luxeul verbannt, wo er
Ebroin traf, der ihm ewige Freundfchaft fhwur, Wie er diefen Schwur hielt,
werden wir fehen, Nach Childerich's Ermordung durch Bodilo fand eine Um—
wälzung Statt, welche Leodegar feiner bocherfreuten Didcefe zurücftellte. Auch
Ebroin kam los, fihaffte den Hausmeier Leudes aus dem Wege, ftellte einen
Chlodwig, als angeblichen Sohn Chlotar's III., als Gegenfönig auf und ließ
unter Waimer, Herzog von Champagne, ein flarfes Heer gegen Burgund rürfen,
das zuerft Autun belagerte, Es war auf Leodegar wegen feiner Treue gegen
feinen Fürften abgefehen, der, da die Stadt wiederholt beftürmt wurde, das hl;
Abendmahl empfing und fih im Lager der Feinde ftellte, Diefe ftahen ihm Die
Augen aus, was der hl. Bifchof ohne Seufzer und Gegenwehr duldete, indem er
unter der entfeglihen Marter die Pfalmen betete. Waimer führte ihn nach
Champagne und erhielt von Ebroin den Befehl, ihn in einem Gehölze verhungern
zu laffen, Waimer aber behielt ihn in feinem Haufe und ftellte ihn fogar das
aus der Kirche zu Autumn geraubte Geld zurück, welches Leodegar dahin zurück-
fandte zur Vertheilung unter die Armen. Waimer ward ſchändlich und graufam
von Ebroin erfihlagen, Leodegar aber fortgefchleppt durch raue Wege, ſo daß
feine Füße ganz wund wurben. Hierauf wurden ihm bie Lippen und ein Theil
der Zunge abgefihnitten. Der Graf Vanning mußte ihn bewachen, ehrte aber
in ihm einen Blutzeugen Jefu und barg ihn in dem von ihm geftifteten Klofter
Fecamp im Ländchen Caur, wo Leodegar drei Jahre zubrachte, von feinen Wun-
den genas und fogar wieder fprechen konnte. Er brachte feine Zeit mit dem Unter-
richte der Nonnen, beftändigem Gebet und Darbringung des hl. Meßopfers zu,
Ebroin Flagte Leodegar und deffen Bruder Guerin der Mitfchuld an Childerich's
Tod an, Guerin "ward gefteinigt und flarb als Martyrer unter Gebet. Leodegar
tröftete darüber in einem Schreiben feine Mutter Sigrada, die damals Klofter-
frau war in der Abtei zu Unferer lieben Frau in Spiffons, voll apoftolifcher
Salbung. Einige beftochene Bifchöfe wurden verfanmelt, und da fie ihn nicht
zum Geſtändniß der Mitfehuld an Childerich's Tod bringen konnten, zerriſſen fie
ihm fein Gewand als Zeichen feiner Entfegung. Hierauf follte ihn der Haus—
meier Chrodobert heimlich hinrichten, damit man ihn nicht als Martyrer verehren
fonnte, Aber fein Benehmen rührte Chrobobert fo, daß er ihn vier Soldaten
übergab, um ihn im Gehölze zu ermorden. An Ort und Stelle. angefommen,
fielen drei zu Leodegar’s Füßen und baten rührend um Vergebung. Der Heilige
betete für fie, erflärte fich nun zum Tode bereit und der vierte Soldat enthaup-
Leonian — Leopold L 479
tete ihn. Dieß gefhah im Jahre 678 im: Fveliner Walde, im Bistum Arras,
an der Grenze der Dideefe Cambrai, und heißt nun der Forft des HI. Leodegar,
Chrodoberts Gemahlin, die ihn ſchmerzlich beweinte, hatte er um Beftattung
gebeten und die Gräfin ließ ihn alfo zu Sarein in Artois beftatten. Bei einem
Streite der Bifhöfe von Arras, Autumn und Poitierd um diefe HI. Ueberrefte
fielen fie dur das Loos dem Biſchofe von Poitiers zu, der fie an das Kloſter
zum hl. Maxentius übertragen ließ. Gott verherrlichte den Heiligen dur Wun-
der, und es erhoben fih an verjhiedenen Orten Kirchen zu feiner Verehrung,
- wamentlih in Franfreih und den Niederlanden, Zu den Zeiten Lubwig des
Frommen foheint man fein Anvdenfen am 3. Detober gefeiert zu Haben; in den
— Martyrologien des neunten Jahrhunderts findet fi der 2, October, was die
mieiſten neueren in Uebereinſtimmung mit dem römischen beibebielten. (Leben der
- Bäter und Martyrer von A. Buttler, bearbeitet von Dr. Räß und Dr. Weis,
XIV. Bd, ©. 86—97.). [Haas.]
2 Leonian, auch Leunian genannt, Abt zu Vienne. Nach den äußerft dürftigen
Nachrichten, welche über ihn auf uns gefommen find, ift Panonien fein Bater-
laud (ſ. v. A. Gran, B. W. ©, 661.); in der zweiten Hälfte des fünften Jahr—
hunderts begegnet er uns aber in Gallien. Bei der VBerwilderung und Barbarei,
welche fi daſelbſt um jene Zeit auszubreiten fuchte, hatte auch er zu leiden; er
wurde gefangen genommen, und eine einfache Zelle, bald in Vienne, bald in
YAutun, war über 40 Jahre lang fein Aufenthaltsort. War er auch auf diefe
Weiſe vom menſchlichen Verkehr abgefhloffen, fo fanden fih doh in der Nähe
feiner Zelle bei Vienne bald mehrere Mönche zufammen, die er von feiner Zelle
aus als ihr geiftlicher Vater leitete, und fo der erfte Abt des Klofters St. Peter
bei Bienne wurde, Auch ein Nonnenflofter wurde jest in der Stadt Bienne er-
richtet und fand gleichfalls unter feiner Leitung. Vergl. Histoire ecclesiastique par
Fleury, Tome VI. Acta SS. Bol. T. I.
J Leopold I, teutſcher Kaiſer 16681705. Die lange Regierung Leopold's
zeichnete ſich zwar nicht wie die feines Zeitgenoſſen und Gegners Ludwig's XIV.
durch befondere Thatkraft, Glüd und Genie aus, aber doch durch mehr wie eine
I tief eingreifende Geftaltung. Der Aufruhr der Ungarn unter Rafoczy ſchien zuerft
SDeſtreich und Teutſchland in den Abgrund des Verderbens zu fihleudern, da er
die Türken zu jener furdtbaren Entfaltung ihrer Streitfräfte brachte, die 1683
den legten Kreuzzug veranlaßte, und „wo endlich Wien der Damm wurde, an
dem ſich die barbarifche Fluth brach.“ — „Das Haus Deftreih, das fih durch
150 Jahre gegen die Osmanen nur vertheidigt Hatte, befreite nach der Belage-
rung im raſchen Siegeslauf Ungarn von der türfifhen Obergewalt und fo erhielt
die Hflreihifhe Monarchie im Großen genommen jene Geftalt, die fie jest hat.
Wenn nun die Belagerung von Wien in Bezug auf die Monarchie als eines der
beveutendften Momente hervortritt, fo war diefes Kriegsereigniß nicht minder be—
deutjam für ganz Europa. Die Eroberung diefer Stadt durch die Türfen hätte
die Monarchie unfehlbar aufgelöst. Es unterliegt wohl feiner Frage, daß als—
dann Ludwig XIV. zur Rettung Teutfchlands und Europa’s mit feiner ganzen
- Kraft aufgetreten wäre — Teutſchland, im Falle daß Ludwig gefiegt Hätte, ſei—
nem Despotismus heimgefallen fein würde, — Die Selbftftändigfeit Teutſchlands
lag damals in den Mauern von Wien“, (Mailath, Gefchichte des öſtreichiſchen
1 Kaiferftaates IV. ©, 167 20., wo man das Nähere über diefe herrliche Waffenthat
I des Hriftlihen Abendlandes nachleſen mag.). Wie heutigen Tages die Ungarn,
— Polen und Franzofen wider ihren König aufgerufen, gefhah es fchon damals und
I wie 1849 Deftreih „nicht durch eigene Kraft, fondern durch fremde Hilfe gerettet
wurde“, war es auch 1683, nur mit dem Unterfchiebe, daß im bezeichneten Jahre
F ein Ludwig XIV., der Erbfeind Teutfchlands, über den Sieg der Teutfhen und
I Polen bei Wien tranerte, und das teutſche Neih mit den Faiferlihen Schaaren
480 Leopold IL — Leopold IV.
gleichen Antheil an den glorreichen Ungarfämpfen nahm, während 1849 die Teutſchen
unpatriotifch und undanfbar genug waren, Deftreih, das Schild Teutſchlands,
im Unglüde ftesfen zu laffen und Hilfe von dem andern Erbfeinde, von Rußland zu
begehren zwangen. Nachdem aber die Schlachten von Wien, Parfany, Gran und
Mohaz, die Lorbeeren Carl's IV., Leopolds, Herzogs von Lothringen, Ahnherrn des
jeßt regierenden Kaiferhaufes, + 1690, Ungarn nach 150jähriger Knechtſchaft
der Dsmanen entriffen, war es nur billig , daß das auch nicht durch eigene Kraft
befreite ftolze Bolf der Ungarn, die Wahlmonardie, welche es in die Knechtſchaft
geftürzt hatte, mit der Erbmonarchie vertauſchte. Als drittes großes Ereigniß
der Negierung Leopolds ſtellt fi dann noch der unheilvolle Kampf gegen die
franzöfifche Suprematie dar (fiehe Ludwig XIV.), deffen Höhepunet für Leopold
die Iette teftamentarifche Beflimmung Carl's U. von Spanien war, dur die bie
teutfche Linie des Haufes Habsburg nicht ohne päpftlichen Einfluß von der Suc—
ceffion in Spanien ausgefchloffen wurde, Das Ende des darüber geführten
Kampfes erlebte Leopold nicht mehr. Wohl aber fand bereits unter ihm jene
merkwürdige Wendung in der Faiferlichen Politit Statt, daß diefelbe nicht bloß
fih an die proteftantifchen Niederlande, bisher die erffärteften Gegner aller katho—
liſchen Staaten, anfchloß, fondern au an Wilhelm IV., König von Großbritannien,
der den Fatholifchen Jacob I. entthront hatte — eine Wendung in der natürlichen
Stellung, welche zwar dem unheilvollen Berwirrer Eurppa’8, Ludwig XIV., zur
Laft fällt, aber unter Joſeph I. und deffen Nachfolger bald noch weiter ging,
übrigens ihr Vorbild darin fand, daß im Anfange der Regierung Leopold's bie
geiftlihen Churfürften für Carl Guftav von Schweden gegen Johann Caſimir
von Polen Partei genommen hatten, wie fie auch bei der Kaiſerwahl nach dem
Tode Kaiſer Ferbinand’s II. nicht für Leopold, fondern für Franfreih fih er-
Härten. Das Zeitalter fündigte fih an, in welchem e8 für Weisheit galt, alle
ererbten Grundfäge aufzugeben, erft von Seiten der Cabinete, dann von Seiten
der Völker, bis die unheiluofle Verwirrung unferer Tage fertig wurde, [Höfler.]
Leopold II, teutfcher Kaifer 1790— 1792. Erſt Großherzog von Toscana,
welches nach der Beflimmung feines Vaters Franz (1763) Secundogeniturbeſitz
des öftreihifchen (lothringiſchen) Kasferhaufes geworden war, erwarb er fi den
fhönen Beinamen eines Neformators, durch viele Einrichtungen im Geifte jener
Zeit, als die Fürften glaubten, das Necht, umzuwälzen, gehöre zu den geheiligten
Prärpgativen der Krone, und wo, was wirkliches und tief begründetes Bedürfniß
war, durch Haß und Gewalt nur zu oft aufhörte, Wohlthat zu fein, Ueber die
unter ihm auf dem Firhlichen Gebiete vorgehenden Bewegungen fiche den Art:
Piftoja, Synode daſelbſt, die weltlichen gehören nicht hieher.
Reopold IV., der Heilige, aus dem Geſchlechte ver Babenberger,
Markgraf von Oeſtreich, ein Sohn Leopold's II. des Schönen, geboren 1073,
erhielt feine Erziehung unter dem Einfluffe des berühmten Bischofs Altmann von
Paſſau, und gelangte 1096 nach dem Tode feines Vaters zur Negierung, Gottes
furcht, Eifer für die Religion und eine wahrhaft väterlihe Liebe zu feinen Unter—
thanen im Bunde mit Muth und Tapferfeit, Demuth und Weisheit ſchmückten
diefen Fürften in ausgezeichneter Weife und verbreiteten während feiner A0jährigen °
Regierung Friede und Gegen über die son ihm regierte Marf, Als er die
Regierung antrat, zugen eben die erfien Kreugfahrer durch Deftreich und Ungarn
nach Paläftina: er verfah die durchziehenden Schaaren mit Speis und Trank und
überfendete an Gottfried von Bouillon ſoviel an Geld, um damit 300 Reiter
auf ein Jahr zu unterhalten, Um der gefährlichen ungarifchen Grenze nahe zu
fein; erbaute er um 1101 auf der letzten von der Donau herauf ſich erhebenden
Höhe des Kahlengebirges (ubch jeht Leopoldsberg genannt) eine Burg und ©t,
Georgscapelle und verlegte hieher feine Reſidenz, die er vorher zu Melk Hatte, <
wo ſchon der Babenberger Leopold ver Erlauchte CH 994) nach Vertreibung ber
Leopold IV. 481
Ungarn feinen Aufenthalt genommen und eine Collegiatkirche erbaut hatte. Indem
Leopold's neue Burg unweit von der alten Fabiana Tag, damals fhon Wien
genannt, aber durch die Ungarn ganz herabgebracht, Iegte Leopold den erften
Grund zu dem Glanze diefer KRaiferftadt, Alle Kirchen und Klöfter feines Landes
empfingen Beweife feiner Freigebigkeit. Befonders erfreute fih das Klofter Dielf
ef. d. 4.), wo fein Vater Benedictiner eingeführt hatte und er felbft fih ven
1. Mai 1106 mit Agnes, der Tochter des K. Heinrich IV. trauen ließ, feiner
Gunft, erhielt von ihm anfehnliche Schenkungen und vorzüglid auf fein Betreiben
die Eremption von der Gerichtsbarkeit des Bifchofes von Paffau. Betete Leopold
zuweilen mit den Mönchen zu Melt im Chor, fo wußte er, der, Muthige und
Tapfere, welcher nach einem unter feinem Bildniß zu Klofterneuburg befindlichen
Map faft 7 Schuh Hoch war, auch gar wohl fiegreich das Schwert zu ſchwingen,
was er im J. 1117 bewies, da er die in Deftreich eingefallenen Ungarn tapfer
zurückſchlug. Einen Angriffsfrieg führte er nie; fein Volk unter dem Schuße des
Friedens auf eine Höhere Stufe der Ordnung und Eultur zu heben, galten ihm
unendlich mehr. Wohl Teiftete er aber auswärtigen, von ihren Feinden ungerecht
bedrängten geiftlichen Fürften Hilfe mit den Waffen, Was man ihm vorwirft,
iſt, daß er fih von Heinrich V. habe verleiten laſſen, zulegt den K. Heinrich IV.
zu verlaffen (1105), um dafür von dem aufrührerifchen Sohne deffen Schwefter
Agnes, die Wittwe Friedrihs von Hohenftauffen, zur Gemahlin zu befommenz
indeß hatten ihn zu diefem Schritte ſowohl das Beifpiel der andern Fürften als
I au Heinrichs IV. flets eitle Verheißungen einer Verfühnung mit dem Papfte
vermocht. Nach Kaifer Heinrihs V. Tod im J. 1125 brachten die zu Mainz ver-
fammelten NReichsfürften durch eine Vorwahl drei Fürften, und unter diefen den
Markgrafen Leopold, in VBorfchlag, aus denen der Kaifer gewählt werden follte,
allein Leopold bat unter Thränen und auf den Knieen, ihn mit_biefer Würde zu
verfihonen! Durch diefe weife Demuth wurde der hriftlichfte Fürft, der Vater
der Geiftlihen und Armen (wie ihn fein Sohn Otto Bifchof v. Freyfing nennt), er,
den die Hffentlihe Stimme feiner und der folgenden Zeit mit den Beinamen des
Frommen, des Gütigen, des Freigebigen beehrte, feinem Lande erhalten, Hier
wirfte er in gewohnter Weife eifrig fort, ftiftete das Ciftercienferflofter Heiligen-
freu; und in Gemeinfchaft mit feinen Vettern Heinrih und Rapoto die Bene-
dietiner-Abtei Rleinmariazell, und führte in der wichtigften feiner Stiftungen,
zu Klofterneuburg, regulirte Chorherrn von der Regel des HI. Auguftin ein,
Den Bau einer Collegiatkirche für 12 weltliche Chorherrn und einen Propft hatte
Leopold ſchon 1106 begonnen und 1108 vollendet; fie Tag nicht ferne von Wien
und dem Leopoldsberge an der Stelle, wo Leopold auf der Jagd den Schleier
wieder gefunden, welchen eines Tags ein Windſtoß, da Leopold und Agnes eben
von der Burg auf ihr ſchönes Land herabſchauten, von Agnes’ Haupte geriffen
hatte, Der erſte Propft diefer Stiftung (Klofterneuburg) war Otto J. Sechs
Jahre nachher (1114) ließ Leopold durch den genannten Propft, weil er felber
fich deffen unwürdig hielt, den Grundftein zu einer größern Bafilica Iegen. Nach
dem Tode des erften Propftes ernannte Leopold feinen 14jährigen Sohn Dtto
(den nachherigen Bischof v. Freyfing, f. d. A. Freyfing, Bisthum) zum Propft,
ftellte aber zugleich als deſſen Stellvertreter den Mönch Opold auf. Als Otto
einige Jahre darauf von Paris, wo er ftudirte, mit Reliquien für Klofterneuburg
heimfehrte, wurden diefelben mit großer Feierlichkeit hier zur Verehrung reponirt,
Nachdem Dito Abt im Klofter Morimund geworden, führte endlich Leopold im-
3 1133, weil ihm die Säcular-Canonifer zu Tau fohienen, Regular-Canpnifer
des HI. Auguftin ein. Die neue, ſchon 1114 begonnene Bafılica wurde erft 1136
vollendet und eingeweiht. Als erfter Propft fund dem regulirten Chorherrnftift
Hartmann vor, bei Paſſau geboren, dafeldft zu St. Nicola Chorherr, nachher Propft
zu Ehiemfee (ſ. d. A.), von da nad Klofterneuburg berufen und feit 1141 Bifchof
Kirchenlexikon. 6. Br. - 31
482 | Leovigild — Lerinum,
von Brixen: er war ein heiliger Mann, der feinen Conventualen zu Klofternen-
burg Conſuetudines aufzeichnete und den Marquard zum Nachfolger hatte, einen
Bruder des berühmten Abtes Gerhoh (ſ. Gero) von Neichersberg. Leopold
der Heilige farb am 15. Nov. 1136 allgemein betrauert. Bon 19 Kindern, die
ihm Agnes geboren, überlebten ihn ſechs Söhne und fünf Töchter, unter denen
Otto, der Bifhof von Freifing und Geſchichtſchreiber, Leopold und Heinrich
(Safomirgott), die beide nad) einander dem Vater in der Regierung folgten, und
Conrad, Erzbifchof von Salzburg, hervortraten. Agnes, feine Gemahlin, folgte
ihm den 24. Sept. 1157 in das Grab nad. Beide erhielten ihre Nuheftätte in
der Gruft zu Klofterneuburg. Durch Bulle des Papftes Innocenz VII. dd.
6. Jan. 1485 wurde Leopold in die Zahl der Heiligen aufgenommen und ſeitdem
als Landespatron von Deftreich verehrt, Am 15. Febr. 1506 erfolgte die feier-
liche Erhebung feiner Reliquien in Oegenwart des Kaifers Marimilian'l., der
im berzoglihen Mantel, mit einer Zinfenfrone auf dem Haupte und mit gefalteten
Händen andächtig hinter Leopolds Sarg einherfohritt. Noch bewahrt das ehr—
würdige Stift diefen Foftbaren Schaß und andere Leberrefte, wie den Reifealtar
des Heiligen, den Schleier der Agnes, die Brautkleider Leopolds und Agnefens
in Meßkleiver verarbeitet, S, über Leopold Cuspiniani Austria; Surius 15. Nov.; _
B. Polzmann, compend. vitae et mirac. S. Leop, 1591; Raderi Bavaria s;;
Scharrer Adam, öftreihifhe Marfgrafen, Wien 1670; Pez, Hier. Script.
rer. Austr. t. I. u. II; Leopold der Heilige, Schußpatron v. Deftreih, Wien
1835 bei d. Mechit. Buchhandlung; Klein, Gefch. des Chriſtenth. in Deftreih
und Steiermark, Bd, L—I. Vgl. den Art. Neuburg, und die Schrift von
Marimilian Fifher, Schatzmeiſter und Archivar zu Nlofternenburg: „Merk-
würdige Schirffale des Stiftes und der Stadt Klofterneuburg, zwei Bände,
Wien 1815.” [Scröbl.]
Levvigild (Leuwigild), f. Gothen.
Leporius, f. Pelagianer,
Lepton, ſ. Geld.
Le Quien, Michael, wurde zu Boulogne den 8. Detober 1661 geboren,
Seine Studien machte er in dem Eolleg du Pleffis zu Paris, und trat zu St
Germain im 20, Jahre in den Orden der Dominicaner, Er fludirte befonders
das Hebräifche, Oriehifhe und Arabifhe. Wegen feiner Gelehrfamfeit und fei-
ner Berbienfte weit berühmt, ftarb er als Bibliothecar feines Convents zu St.
Honpre den 12, März 1733, Er fand mit den berühmteften Gelehrten feiner
Zeit in beftändigem Briefwechfel. Bon feinen Schriften find Die wichtigern:
1) Panoplia contra Schisma Graecorum, contra Nectarium, Patriarcham Hieros.
unter dem Namen des Stephan von Altimura. 2) Joannis Damasceni opera
omnia, gr. et lat. Par. 1712 in zwei Bänden Fol., mit Anmerkungen und bei-
gefügten Differtationen, Ein dritter Band, der die unterfchobenen Schriften die—
fer bis jeßt beften Ausgabe des J. D, liefern follte, ift nicht erfchienen. 3) Hi-
stoire abröge des comtes de Boulogne. 4) Bon feinem wichtigen und umfaffenden
Werfe: „Oriens Christianus, insuper el Africa* machte Le Duien im J. 1713 den
Profpeet unter demſelben Titel befannt. Der erfte Theil des großen Werkes er-
fchien noch zu Lebzeiten des DVerfaffers, der zweite bald nah feinem Tode, Im
% 1740 war das ganze Werk in drei Fol, gedruckt. Die Mauriner hatten dem
te Duien vorgearbeitet. Die Sammlungen für dfe orientalifhe Statiftif, welche
Mitglieder dieſes Ordens zum Behufe ihres großartigen Werkes „Orbis Chri-
stianus“ angelegt hatten, wurden dem Le Quien übergeben und von ihm in feinem
Werke verarbeitet, Noch ift derfelbe Verfaffer verfhiedener Streitfhriften, be—
fonders über die Weihe der englifhen Bifchöfe, Vgl. Echard, biblioth. prae-
dicat. T. II. Nova acta erudit. 1734. Jan. + [®ams.]
Lerinum, berübmtes gallifhes Kloſter. Der hl. Honoratus, nachher
Leſſing. 483
Biſchof von Arles, errichtete dieſes Klofter an der Südküſte Galliens auf der
Juſel Lerins um 410, Nachdem er fih als Füngling gegen den Willen feiner
Eltern Hatte taufen laffen, begann er ein fehr firenges Leben zu führen, und an
ihn ſchloß fi fein Bruder Venantins an. Sie theilten ihr Vermögen unter bie
Armen aus und übergaben fih zur Unterweifung dem hl. Eremiten Caprafius, der
die Infeln bei Marfeille bewohnte und in deſſen Gefellfhaft fie einige Zeit zu
Adaja fih aufbielten, Auf der Rüdreife nah Gallien farb Venantius zu Mou—
don. Honoratus, in die Provence zurückgekehrt, wählte die Eleine verlaffene und
mit Schlangengezücht erfüllte Inſel Lerins zum Aufenthalte und erbaute dafeldft
das Klofter, welches bald eine Niederlaffung von Mönchen ans allen Nationen,
das Mufter aller gallifchen Klöfter und eine Schule wurde, aus welcher viele
Heilige, Gelehrte und Biſchöfe Hervorgingen. Als Abt Honoratus gegen feinen
Willen Bifhof von Arles werden mußte (+ 428), folgte ihm als Abt der Hl.
Marimin, der nah fiebenjähriger VBorftandfchaft den bifhöflihen Stuhl von
Niez beftieg. Marimins Nachfolger zuerfi in der Leitung des Klofters und dann
der Didcefe Riez war Fauſtus (ſ. d. A. und die Art. Hilarius von Arleg,
Hormisdas, Day). Auf Fauftus folgten im fünften Jahrhunderte noch die
Aebte Nazarius und Porcarius, denen im Anfange des fechsten Jahrhunderts
Abbo ſuccedirte. Unter diefen Aebten, die felber ausgezeichnete Männer waren,
entfaltete fih in diefem Kloſter, welches Caſſian (f. d. 4.) bereits ein „ingens
fratrum coenobium et congregationem“ nennt, und deſſen Inwohner theils gemein-
ſchaftlich theils abgefondert als Anachoreten lebten, ein reiches Leben, denn aus
diefem Klofter gingen die Zierden der gallifchen Kirche hervor, wie Hilarius von
Arles, Lupus von Troyes, Vincentins (Lirinensis, f. d. A.), Eucherius von Lyon
4.» U) mit feinen zwei Söhnen Salonius und Beranius, Valerianus, Bifchof
von Cimelia, Cäfarius von Arles (ſ. d. A). Noch im fehsten Jahrhundert gab
Lerinum der Kirche mehrere vorzügliche Männer, wie den Virgilins von Arleg,
aber gegen Ende diefes Jahrhunderts und im darauffolgenden verfiel diefe einft
fo blühende Anftalt mehr und mehr, wie man unter Anderm aus den Briefen
Gregors des Großen entnehmen kann Cep. V, 56, IX, 8.). Dabei fehlte es aber
doch auch nicht in diefer Zeit an einzelnen trefflichen Mönchen, und noch immer
befuchte man Häufig ein Klofter, deſſen Ruf fih über die ganze Chriftenheit ver-
breitet hatte. Wie zahlreich noch im achten Jahrhunderte Hier die Mönche waren,
erhellt daraus, daß bei dem Einfall der Sararenen in Gallien 732 das Klofter
unter dem Abte Porcarius 500 Mönche zählte, welche fammt dem Abte theils
getödtet, theils zerfprengt wurden. Leber die weitern Schickſale diefes Klofters
f- Mabill. Annales. Den erften Anfang zu den fpätern Eremtionen und Smmuni-
täten diefes Klofters Iegte das Decret des 461 zu Arles abgehaltenen Concilg,
wonach ein Bifhof von Frejus, in deffen Didcefe das Klofter lag, fein anderes
Recht über daffelbe in Anfpruch zu nehmen habe, als das der Ordination der
Elerifer, der Diftribution des Chrisma, der Firmung etwaiger Neophyten und
der Mitwiffenichaft der Aufnahme auswärtiger Eferifer in den Kloſterverband;
in allem Uebrigen ſtehe die Jurisdiction über die ganze Brüdergemeinde dem Abte
zu und dürfe ohne deſſen Erlaubniß der Bischof feinen Mönch in den Eferical-
d aufnehmen. ©. Fleury ada. 428, 461 w. Mabill. Annal.I. [Schrödl.]
Leſſing (GGotthold Ephraim), der Sohn eines fireng Iutherifchen Paftors,
wurde den 22. Januar 1729 zu Kamenz in der Dberlaufig geboren, Im Sabre
1741 bezog er die Fürftenfchule zu Meißen, und fünf Jahre fpäter die Univerfi-
tät zu Leipzig, wo er fih, ohne fih einem befiimmten Fachſtudium Kinzugeben,
vorzugsweiſe mit Fiterarifchen Arbeiten beichäftigte. Im Jahre 1750 begab er
ſich nach Wittenberg, um ſich nach dem Wunſche feiner Eltern um die Magifter-
würde zu bewerben. Nachdem er fih in den folgenden Jahren bald zu Berlin,
Bald zu Leipzig, bald wieder zu Berlin, in welch’ Ießterer <a er mit feinen
1
184 | geffing.
Freunden Nicolai und Mendelfohn die Literaturbriefe Herausgab, und zum Mit-
Hliede der Föniglichen Academie der Wiffenfchaften ernannt wurde, aufgehalten
hatte, wurde er im Jahre 1761 Secretär des Generals Tauenzien in Breslau,
Hier unternahm er zeitweife philofophifche und theologifche Unterfuchungen, wäh-
rend er auf der andern Seite fih in hohem Grade den Vergnügungen und be-
fonderd dem Hazardfpiele hingab, 1765 Fehrte er nach Berlin zurück. Zwei
Sabre fpäter begab er ſich nach Hamburg, wo er feine berühmte „Dramaturgie”
verfaßte. Doch trafen bier verſchiedene Umftände zufammen, welche eine un—
muthige Stimmung in ihm hervorriefen, Schon hatte er den Entfhluß gefaßt,
alle feine Habfeligfeiten loszuſchlagen, um nach Stalien zu reifen und in Rom
ganz für fih zu leben, ald er 1770 unerwartet als Bibliothecar an die berühmte
Bibliothek in Wolfenbüttel berufen wurde, Die Iiterarifchen Kämpfe, in welche
er bier durch feine fohriftftellerifchen Arbeiten verwicelt wurde, und welche ihm
mancherlei Unannehmlichfeiten und Berfolgungen zuzogen, fowie förperliche Nebel
hatten ſchon Tängere Zeit die Kraft und den Humor feines fonft fo frifchen und
lebhaften Geiftes gebrochen, ehe er den 15. Febr. 1781 ftarb, Seine fämmt-
lichen Schriften wurden herausgegeben von feinem Bruder 8. ©, Leffing, J. J.
Eſchenburg und Fr. Nicolai, Berlin 1771 ff., und in einer neuen Auflage in 30
Bänden 1796 ff.; von 3. J. Schink in 32 Bänden ebend, 1825 ff. Die neuefte
Ausgabe von K. Lachmann erfchien ebend, in 13 Bänden 1837—41, Zu feinem
Gedächtniſſe wurde ihm 1823 zu Kamenz ein Kranfenftift und zu Wolfenbüttel
ein Denkmal errihtet. — Leffing ift obenan unter den Schriftftellern des vorigen
Sahrhunderts zu nennen, welche ihren Zeitgenoffen auf den verfehiedenften Ge-
bieten des geiftigen Lebens neue Bahnen brechen halfen. Es Liegt ung hier nicht
ob, die Verdienfte, die er fih als Kritifer und Dichter um die teutfche Kunſt und
Wiffenfchaft erwarb, zu ſchildern. Was feine Philoſophie betrifft, fo hat er
zwar fein vollſtändiges Syſtem derfelben aufgeftellt, jedoch eine Menge von frag-
mentariſchen Arbeiten hinterlaffen, welche ihn uns als einen felbfiftändigen und
tiefen Denker erfennen laffen. Im engften Zufammenhange mit feinen philoſo—
phiſchen Anfichten fanden feine religiöfen Grundfäge, welde er fi gegenüber
den herrfchenden theologifchen Syftemen feiner Zeit ausbildete, Leffing’s eonfequent
denfender Geift fonnte fi) weder der flarren Orthodoxie der lutheriſchen Con-
feffion anfchließen, noch auch mit den Aufflärungsverfuchen des damals in voller
Frifche aufblühenden Nationalismus ſich befreunden, Zwar hatte er ſich durch die
Herausgabe des für die Kirchengefhichte Höchft wichtigen Werkes Berengars de
sacra coena, aus welchem fich herausftellte, daß der genannte mittelalterliche
Theologe fo ziemlich der nachmals von Luther aufgeftellten Abendmahlslehre hul—
digte, bei den Theologen feiner Eonfeffion großen Beifall erworben, da er die»
felbe mit einem testis veritatis bereicherte, den bisher die Ealviniften für ſich in
Anſpruch genommen hatten, Sein alter Lehrer Ernefti in Leipzig wurde über
diefes Unternehmen fo erfreut, daß er erflärte, Leffing verdiene defwegen zum
Doctor theologiae creirt zu werden, Der Lestere dagegen fehrieb hierüber an
feine nachmalige Frau nah Wien: „Sie glauben nicht, in was für einen Tieb-
Iihen Geruch der Nechtgläubigfeit ich mich durch diefe Arbeit bei unferen Iutheri-
ſchen Theologen gefest habe. Machen Sie fich nur gefaßt, mich für nichts Ge-
ringeres als für die Stüge unferer Kirche ausgefchrieen zu hören. Ob das mich
aber fo recht Fleiden möchte, und ob ich das gute Lob nicht bald verlieren dürfte,
das wird die Zeit Iehren.” Diefer Fall trat ſchon einige Jahre fpäter ein, als
Leffing mit der Herausgabe der Wolfenbüttler Fragmente begann (ſ. den Art.
Fragmente, Wolfenbüttler). Eine Reihe von Streitfchriften, in denen Leſ—
fing feinen Hauptgegner, den durch diefe Kämpfe berüchtigt gewordenen Haupt-
paſtor Götze von Hamburg, völlig vernichtete, da er die innere Unhaltbarkeit
des altlutherifchen Standpunctes gegenüber ben Angriffen ber Freigeifter (ſ. d. A.)
—
Leffing. 485
aufs Ueberzeugendſte nachwies, fnüpfte fih an diefes, man darf wohl fagen wich-
tige und folgenreihe literarifhe Ereigniß. Leffings Gegner gingen in. diefem
Streite zulegt fo weit, daß fie über ihn das Gerücht ausfprengten, er babe ſich
von der Zudenfhaft zu Amfterdam ein Gefchenf von 1000 Ducaten überreichen
laffen, weil er jene Fragmente an’d Tageslicht gezogen habe, in denen ja doc
die jüdifhe Religion noch fhonungslofer angegriffen wurde als die chriſtliche. Zu
feiner Rechtfertigung wollte Leffing unter dem Namen feines Stiefſohnes König
die Heine Schrift: „Wahre Berichtigung des Mährchens von 1000 Ducaten oder
Judas Iſchariot IL“ in das Wiener Diarium einrüden Iaffen. Der Auffag wurde
jedoch nicht aufgenommen, und ed wurden dann von Regensburg aus, wo er im
Drude erfhien, eine Anzahl Eremplare deffelben nah Wien geſchickt. Mit kluger
Berehnung auf das Fatholifhe Publicum, jedoch der Wahrheit nicht ungetren,
wurde in diefem Auflage der Verlauf des Streites mit Göge furz dargelegt, und
befonders darauf aufmerkffam gemacht, daß die Leffing’fchen Gegenfäge zu dem
Fragmenten in den Augen des Iutherifchen Paftors nur deßhalb „weit mehr Gift
enthielten, als die Fragmente felbft“, weil fie demfelben „mit einem Worte zu
gut Fatholifch ſeien.“ Es fer überhaupt notorifh genug, aus welchem Geſichts—
puncte diefer überfpannte Lutheraner zum Aergerniß feiner eigenen Glaubens-
genoffen die Fatholifche Kirche fowohl in feinen Predigten, als in feinen Schriften
anzufehen gewohnt fei, und wie weit er gebe, ihr alle Anfprüche auf den Namen
und die VBorrechte einer hriftlichen Kirche abzufprechen. Außerdem zieht er weiter
unten eine Stelle aus feinen Streitfchriften gegen Göge an, in welchen er den
fanatifhen Haß der Proteftanten gegen die Katholiken mit folgenden Worten
tabelte: „Dover find die Ratholifen Feine Chriſten? Wär’ ich Fein Eprift, wenn
ich in diefem Stüfe — daß die heilige Schrift nicht der einzige Grund der chriſt⸗
lichen Religion ſei — mich auf die Seite der Katholifen neigte? Unartig genug,
daß viele Proteftanten den Beweis für die Wahrheit der hriftlichen Religion fo
führen, als ob die Ratholifen durchaus feinen Theil daran hätten,“ Gegenüber
dem fhmählichen Benehmen feiner Gegner, welde, wie e8 bei Leuten diefer Art
gewöhnlich ift, den weltlihen Arm da angewendet wiffen wollen, wo ihre geiftige
Macht nicht Hinreicht, Hatte er in gerechtem Unmuthe fich folgende Aeußerung er—
laubt, welche au in unferer um 80 Jahre ältern, aber deffenungeachtet nicht um
eben fo viel weiter vorgefihrittenen Zeit ihre Wahrheit noch nicht verloren hat:
Und nun möchte ih gerne wiffen, mit welchem Zuge ein Intherifher Paftor und
verborbener Adoocat einem Manne mit dem Reichsfiscale drohen könnte, weil er
aufrichtig genug ift, als Lutheraner Lieber feine Zuflucht zu einem Lehrfag der
zömifchen Kirche zu nehmen, als die ganze chriſtliche Religion unter Einwürfen
der Freigeifter unterliegen zu laffen, die bloß die Bibel und nicht die Religion
treffen; die bloß das Bud treffen, in welhem, nach dem höchſt neuen und bis
auf diefen Tag unbewiefenen Lehrfage der firengen Lutheraner, die Religion einzig
und allein enthalten fein fol, Diefe Herrn mögen fih nur felbft vor dem Reichs—
fiscale in Acht nehmen, Denn es wird dem Neichsfiscale Leicht begreiflich zu
machen fein, daß nur fie und ihres Gleichen die Stänfer find, welche den Groll,
den bie im teutfchen Reich geduldeten Religionsparteien gegen einander doch end—
Ich einmal ablegen müffen, nähren und unterhalten: indem fie Alfes, was ka—
tholiſch iſt für undriftlih verdammen und durchaus feinen Menfhen, auch nicht
einmal einen armen Schriftfteller, dem es nie in den Gedanfen gefommen ift,
fih eine Partei zu machen, auf den aus feiger Klugheit verwüfteten und öde ge=
laſſenen Confiniis beider Kirhen dulden wollen.“ Ganz befonders empfindlich
aber mochte e8 Göge berühren, als Leifing ihm zurief: „Wenn Sie es dahin
‚bringen, daß unfere Iutherifchen Pastores unfere Päpfte werden — daf fie ung
vorſchreiben fonnten, wo wir aufhören follten, in der Schrift zu forfhen — daß
diefe unferem Forſchen der Mittheilung unferes Erforfchten Schranfen fegen dürf-
a Leffing.
ten: fo bin ich der Erfte, der die Päpftchen wieder mit dem Papfte vertaufcht.” —
Wie nun Leffing das von Luther yroclamirte Prineip der freien Forſchung als
Proteftant gegenüber der ftarren Orthodoxie der Lutheraner für fih in Anfpruch
nahm und überhaupt wieder in Fluß und Geltung gebracht wiffen wollte, damit
aus dem Kampfe der Geifter und Meinungen die Wahrheit hervortrete, fo fprach
er fich auch auf der andern Seite mit großer Bitterfeit gegen die Aufklärer feiner
Zeit aus, Wenn er der lutheriſchen Orthodoxie vorwarf, daß fie offenbar mit
dem gefunden Menfchenverftande ftreite, und ihr unreines Waffer längſt nicht
mehr brauchbar fer, fo verglich er die neumodifche Religion der Aufklärer fogar
mit Miftjauche, Er fah in der leßteren ein Machwerf von Stümpern und Halb»
philoſophen, welche unter dem Vorwande, ung zu vernünftigen Chriften zu machen,
zu höchſt unvernünftigen Philofophen ung machen. Beſonders tadelte er ihre Nei-
gung zu der Lehre der Unitarier, zum Arianismus und- Speinianismus, deſſen
feichte PHilofophie ihm verhaßt war, und in dem er mit Leibnis (ſ. d. A.) nicht
ohne Grund Abgötterei fand. Daher fahen denn auch die Aufklärungstheologen
jener Zeit in Leffing fo wenig einen Parteigenoffen, daß einer ihrer Wortführer,
Semler, mit welhem Walch ihn auf eine Linie ftellte, denfelben vielmehr
in’s Berliner Tollhaus bringen ließ. — Wie Leffings Stärfe überhaupt in feinem
fritifchen Geifte lag, fo war er, der nie die Verbindung mit dem Chriftenthume
aufgab, ohne fih jedoch zu einer der beftehenden Confeffionen zu befennen, Zeit-
lebens immer in einem Ringen nah Wahrheit begriffen. Ja, er hielt diefes
Suchen fo fehr für die eigenfte Natur des menfchlichen Geiftes, daß er in feinen
theologifchen Streitfchriften jene berühmte Stelle ſchreiben konnte: „Wenn Gott
in feiner Rechten alle Wahrheit und in feiner Linken den einzig immer regen
Trieb nah Wahrheit, obſchon mit dem Zufag, immer und ewig zu irren, ver-
ſchloſſen Hielte, und fpräche zu mir: Wähle, — ich fiele ihm mit Demuth in
feine Linfe und fagte: Vater gib, die reine Wahrheit ift ja doch für dich allein.”
Aus diefem Grunde find denn auch feine philofophifchen und religiöfen Grund»
ſätze und Anſichten, die er an verfchiedenen Orten, oft nur gelegentlih, aus—
ſprach, mehr nur als Verfuche zu betrachten, der Wahrheit habhaft zu werben,
Auch Fonnte es ebendefhalb nicht fehlen, daß diefelben nicht immer in engem Zu-
Sammenhang, fondern vielmehr zuweilen fogar in innerem Widerſpruche zu ein-
ander fanden, — Was nun zuvörberft feinen Gottesbegriff anlangt, fo foll der-
felbe nach der befannten Mittheilung Jacobi's der fpinoziftifche gemwefen
fein, Doch möchte immerhin mit Heinrich Nitter angenommen werben können,
daß, wenn auch Leffing felbft fih Jacobi gegenüber einen Spinoziſten nannte, er
fich doch bei der unhiftorifchen Richtung jener Zeit über das Wefen des Spinozis-
mus feldft nicht Har war. Wenigftens finden fih bei Leffing Aeußerungen vor,
welchen zufolge er eine Transcendenz Gottes annahm. Die Lebendigkeit feines
Gottesbegriffes Ließ ihn auch den fpeculativen Gedanken der Trinität auffaffen,
in fofern er eine folche transcendentale Einheit Gottes verlangte, welche eine Art
von Mehrheit nicht ausfchließe. Daß er deffenungeachtet Jacobi gegenüber feinen
Unwillen gegen den Gedanfen eines perfönlichen Gottes zu erfennen gab, dürfte
darin feinen Grund haben, daß er über dem diefer Auffaffung Gottes anklebenden
Anthropomorphismus die Diomente des Bewußtfeins und des Willens, welde
den Begriff der Perfönlichfeit eonftituiren, zu wenig in's Auge faßte: wie er denn
überhaupt noch nicht zu einer den religiöfen und weiterhin hriftlichen Wahrheiten
entfprechenden Erfenntnißthegrie vorgedrungen war, Bon der Theologie wurde
dann Leffing weiter zur Cosmologie geführt, Entweder denkt Gott alle feine Boll-
Iommenpeiten auf einmal und ſich als den Inbegriff derfelben, oder er denkt feine
Bollfommenheiten zertheilt, eine von der andern, und alle nach Graben abgefondert,
Wenn dag erftere der Grund der Trinität, fo iſt das Iegtere der Grund der Welt,
Diefe ift ihm ver Inbegriff alfer Gedanfen Gottes, welche feine Volllommenheiten
Leffing. 487
zertheilt denfen, oder der endlichen Dinge, deren Endlihfeit daraus hervorgeht,
weil die — nothwendigerweife fhöpferifhen — Gedanken Gottes, welche nicht
feine ganze Vollkommenheit denken, nur ein befchränftes Weien, gleichiam einen
eingefehränften Gott Heroorbringen fünnen, In Uebereinftiimmung mit dem idea⸗
liſtiſchen Charakter, den feine Anfichten über die Dinge der Welt an fih tragen,
nahm er nur belebte und befeelte Wefen in der Welt an. In der Reihe der Wefen,
welche feinen Sprung zuläßt, müffen num aber auch folge Weſen fein, welche fih
ihrer Bollfommenheiten nicht deutlich genug bewußt find, diefe Wefen find ihm
die Menfchen, denen die Duelle ihrer Vergehungen, nämlich die Macht der finn-
lichen Begierden, der dunfeln Vorftellungen über alle noch fo deutliche Erfenntnig
angeboren worden fer, — weßhalb es heiße, wir hätten Alle in Adam gefündigt,
- weil wir Alle fündigen müßten, denen jedoch das Ebenbild Gottes inſofern zu—
komme, weil fie doch eben nicht nichts Anderes thäten, als fündigen, fondern Etwas
in fich Hätten, durch welches die Macht der dunklen Borftellungen geſchwächt wer-
den fünnte, Deßwegen und weil nah ihm ein allmächtiges, aber aud lebendiges
und feineswegs blindes Gefeg alle — in Harmonie mit einander ftehenden —
Dinge der Welt beherrfeht, dem ſich nicht das Geringfte, weder Gutes noch Böfes
entziehen fann, nahm er auch eine doppelte Duelle des Handelns für die morali-
fhen Gefhöpfe an, theils in ihren dunfeln Vorftellungen und natürlichen Begier-
den, weil fie von Gott in einer bejchränften Natur verfegt find und erhalten werden,
theils in ihren dunfeln Begriffen, weil fie innerhalb ihrer Schranfen doch ihres
Geſetzes und ihrer Bollfommenpeiten bewußt find. Die Abhängigkeit der ganzen
Welt nun von dem einen göttlichen Gefeg war ihm die metaphyfifhe Grundlage
feiner Lehre „von der Erziehung des Menfchengefchlechts”. In der diefen Titel
führenden Schrift machte er fich ganz befonders die Aufgabe, das Verhältniß der
Bernunft und Offenbarung zu einander, welches die Cardinalfrage jener Zeit war,
aufzufuhen, Der Gedanfe_ einer Erziehung des Menfchengefhlehts durch Gott
war zwar nicht neu, vielmehr war derfelbe, wenn es auch Leffings Zeitgenoffen
entging, ein Gemeingut der alten Kirche gewefen, und es ift höchſt wahrfchein-
lich, daß Leffing, welcher mit dem Studium der Kirchenväter fich viel befchäftigte,
und wie er felbft geftand, befonders dur Irenäus und Tertullian zum Verftänd-
niffe des Berhältniffes zwifchen Bibel und Tradition, fowie zur tiefern Auffaffung
des Wefens der Kirche geführt wurde, die Grundgedanken jener Lehre bei denfel-
ben gefunden oder wenigftend wiedergefunden habe.- Wenn wir nun die wich-
tigften Gedanfen der genannten Schrift in ihrem Zufammenhange furz heraus-
heben, fo verglich er die pofitive Religion mit der poſitiven bürgerlichen Verfaf-
fung. Wie es eine Bereinbarung über Verfaſſung und Gefeg im Staate geben
muß, jo muß man eine folche auch bei der Religion annehmen. Die bürgerliche
Berfaffung verlangt zur Einigkeit unter den Menfchen eine Uebereinfunft über
eonventionelle Dinge in der Verehrung Gottes. Daher mußte man aus der natür-
lichen Religion eine pofitive Religion bauen, wie man aus dem Rechte der Natur
aus demfelben Grunde ein pofitives Recht gebaut hatte, Das Pofitive in der Re—
ligion erhielt feine Sanction durch feinen Stifter, welcher vorgab, daß die conven-
tionellen Vorſchriften feiner Religion durd ihn von Gott fämen, und die Unent-
behrlichfeit der pofitiven Religion verfchaffte ifm Glauben. In ihr, wie fie modi-
fleirt wird, nach der natürlichen und zufälligen Befchaffenheit jeden Standes, be-
ſteht das, was man ihre innere Wahrheit nennen kann. Daber find alle pofitiven
Religionen gleich wahr und gleich falſch: erfteres, weil es überall gleich notbiwen-
dig gewefen ift, über verfchiedene Dinge fich zu vergleichen, um Uebereinftimmung
in der öffentlichen Religion hervorzubringen; Ießteres, weil das Conventionelle
in der Gottesverefrung das Wefentlihe der Religion nicht allein vervollſtändigt,
fondern au verdunfelt, ſchwächt und verdrängt. Nach diefen allgemeinen Grund-
fügen wird nun auch die chriſtliche Religion beurteilt, Sie entipricht der Abficht
A88 Leffing.
einer geoffenbarten Religion fo gut als irgend eine andere. Ihre hiftorifchen Be-
weife laſſen fih durch Feine gleichen Beweife überbieten; daher befennt Leffing,
daß er fie glaube und für wahr halte, fo gut man irgend etwas Hiftorifches glau-
ben und für wahr halten könne. Aber nicht minder hält er auch andere pofitive
Religionen für wahr, Wie er es feinem Nathan in den Mund gelegt hatte, fonn-
ten verfchiedene Religionen zur Seligfeit führen. Auch konnte es gute Leute geben,
welche über alle geoffenbarten Religionen fich Hinweggefest hatten. Wenn nun
aber gleich alle pofitiven Religionen Hinfichtlich der Wahrheit einander gleich feien,
fo fei dennoch ein Unterfchied zwifchen fchlechteren und befferen zu machen. Und
zwar ift ihm diejenige bie befte geoffenbarte Religion, welche die wenigften con-
ventionellen Zufäge zur natürlichen Religion enthält. Diefer Unterfhied begrün-
det denn auch den Vorzug, welchen das Chriftentfum vor den andern geoffen-
barten Religionen behauptet. Leffing ift hiebei nicht, wie es den Anfıhein haben
könnte, der Anficht der Politifer unter den Freidenfern, welche die conventionellen
Zufäge zur natürlichen Religion als Ausflüfe einer gefesgeberifchen Thätigkeit
erleushteter Menfchen betrachten, die Alles wußten, was von Gott und feinem
Geſetz gewußt werden kann, fondern er entfcheidet fich dafür, daß wir alle dur
jene Zufäße hindurchgehen mußten, weil wir nur unter finnlicher Hülle die Wahr-
heit begreifen Iernen, Bernunftwahrheiten mußten Anfangs geoffenbart werden,
um nachher als Vernunftwahrheiten erfannt zu werden. Ohne eine folhe Dffen-
barung und fich felbft überlaffen,- würde die menfchliche Vernunft nie auf ſich ſelbſt
gefommen fein, Da nun aber die conventionellen Zufäge zur natürlichen Religion
von den Religionslehrern nicht willfürlich zugefegt werden, fo können ſie nichts
anders als Vorſchriften fein, welche wirflih von Gott fommen. Für die Wahr-
heit der Offenbarung zeugt die Gefihichte, welche eine Führung, eine Erziehung
der Menfchheit unter Gottes Vorfehung ift. Und zwar fieht Leffing den Beweis
hievon nicht fo faft in den Wundern und Prophezeiungen, welde nur Gerüfte
find, deren fih Gott bedient, um auf feine Propheten aufmerffam zu machen,
als vielmehr in der Kraft der Ueberzeugung, welche fie gewährt, in ihrer Dauer
und ihrem Siege. Die göttliche Leitung der menfhlichen Angelegenheiten kann
nicht zulaffen, daß eine Religion fiege, welche nicht ein wirffames Erziehungs-
mittel für die Menfchheit in fich trägt. Bon diefem Gedanfen der göttlichen Lei—
tung ift Leffing erfüllt. Weder das viele Uebel, das er fießt, kann ihn irre
machen, noch das Böſe, welches ebenfalls von Gott gebilligt werde. Die Schritte
der Vorſehung foheinen ung zumeilen zurückzugehen; aber wir follen nicht ver—
zweifeln; es ift nicht wahr, daß die kürzeſte Linie immer die geradefte ift. Wenn
nun aber der menfhlihe Verſtand einer langen Erziehung bedarf, um zur rich-
tigen Einfiht über Gott und das göttliche Gefeg zu gelangen, und infofern in
demfelben Fein fiherer Führer gegeben ift, wodurch wird Gott ven Menfchen leiten?
Leffing recurrirt hier auf das innere Gefühl, auf das Herz des Menſchen; in
diefen findet er die Erfahrungen, welche uns die Wahrheit einer religidfen Ueber—
zeugung verbürgen. Das Gemüth ift gleihfam eine Burg, welde gegen alle
Zweifel und Angriffe des Verftandes fih zu halten vermag. Die Gefühle find es,
durch welche Gott die Herzen der Menfchen Ienft, und fie für die Pläne erzieht,
welche er mit ihnen ausführen will. Nun ift es aber freilich unentſchieden, was
Leffing unter religiöfem Gefühle verfland: ob er es in dem Sinne nahm, im
welchem es ſpäter Schleiermacher feinem theologifchen Syſtem zu Grund legte,
oder aber ob er, was nicht unwahrfcheinlich if, es als das unmittelbare Bewußt-
fein des Göttlichen in ung auffaßte, welchem Ideen zu Grunde liegen, die durch
die Thätigfeit des philofophirenden Geiftes auf eine immer höhere Stufe des Er-
fennens erhoben werben follen, Diefes hängt wohl mit feiner Forderung zuſam—⸗
men, daß die Wahrheit der geoffenbarten Religion fich an ihrer Vernünftigfeit
erweifen müßte, Was wir Anfangs als Offenbarung anftaunten, fol bie Vernunft
Leffing. 489
aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten Herleiten, und mit ihnen verbinden
lernen, Die geoffenbarte Religion hat ja nur den Zweck, die Vernunft zu erziehen;
würde fie aber nicht zur Einficht erzogen, welche fie erreichen fol, fo würde die
Abſicht Gottes, zu welcher er die Offenbarung gab — VBernunftwahrheit zu wer-
den — nur vereitelt werden. — In der Erziehung der Menfchheit im Ganzen,
in welche nicht allein die Juden, fondern auch die Heiden und überhaupt alle
Bölfer der Welt eingreifen follen, ſoll durchgehends eine fortfihreitende Entwicf-
lung flattfinden, Ein mächtiger Hebel in diefer Bewegung ift das Chriftenthum,
welches ebenfalls einer immer größern Vervollkommnung fähig if. Immer mehr
drängt e8 zur Erleuchtung, zur Einfiht in feine eignen Dffenbarungen vor. Diefe
Einfiht, welche nicht bloß Bedingung, fondern Ingredienz der Seligfeit ıft, iſt
der Offenbarung Ziel, welches gewiß erreicht werden wird, Wenn Leffing diefes
Ziel fonft auch das neue ewige Evangelium nennt, fo ift diefes nicht, wie fchon
geihah, fo zu faſſen, als ob er eine neue Stufe der Entwicklung annähme , in
- welcher das Chriſtenthum einer vollfommeneren Religion weichen würde, vielmehr
ſprach er feine Ueberzeugung dahin aus, daf die chriftliche Religion ewig fort-
dauern werde. Er denkt fi unter dem neuen ewigen Evangelium nichts anderes,
als die Erfüllung der Verheißung des Chriftentfums! Dur die Speculationen
über die Lehren des Chriſtenthums fol das menſchliche Gefhlecht zu der höchſten
Stufe der Aufflärung und NReinigfeit gelangen und die Zeit der Vollendung er—
reichen, da der Menfch, je überzeugter fein Berftand einer immer beffern Zufunft
fi fühlt, von diefer Zufunft gleihwohl Beweggründe zu feinen Handlungen zu
erborgen nicht nöthig haben wird, da er das Gute thun wird, weil es das Gute _
iſt, nicht weil willfürliche Belohnungen daran gefegt find, die feinen flatterhaften
Blick ehedem bloß Heften und ftärfen follten, die inneren befferen Belohnungen
deſſelben zu erfennen. — Da Leffing nicht zugeben fonnte, daß in der Deconomie
des Heiles auch nur Eine Seele verloren gebe, fo erfchien ihm auch die Erzie—
hung durch die Dffenbarung nur als der gewöhnliche Weg, welcher freilich am
fiherfien führe, aber nicht ſchlechthin nothwendig ſei. Uebrigens wollte Leffing
deßwegen nicht irgend einer Seele die Möglichkeit eröffnen, ohne durch die Stufen
der güttlichen Erziehung, aljo auch ohne durch das Chriſtenthum hindurch zu gehen,
ihre Seligfeit gleihfam als Geſchenk zu erhalten. Denn eben die Bahn, auf
welder das Gefhleht zu feiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne
Menih, der eine früher, der andere fpäter, erft durchlaufen haben, ehe er zur
Vollkommenheit feiner Einfiht und feines fittlihen Lebens gelangen kann. Da
es ihm nun aber nicht entging, daß fo viele Menfchen fterben, die wir für wahre
aufrichtige Chriften nicht Halten köͤnnen, fo nahm er zur Hypothefe der Seelen-
wanderung feine Zuflucht. Der Bevdenklichfeit, daß wir eines frühern Lebens
I uns nicht bewußt werden, glaubte er durch die Annahme zu begegnen, daß, was
wir gegenwärtig nicht im Gedächtniß Haben, deßwegen nicht immer für ung ent-
fhwunden fein müffe. Unfer fei die Ewigkeit; wenn es ung gut fei, werden wir ung
wohl unfers frühern Lebens wieder eingedenf werden. Sonderbarer Weife wollte
Leffing feine Forderung, daß alle Menfchen felig werden müffen, mit der dhrift-
lien Lehre von der Ewigkeit der Höllenftrafen in Einklang bringen. Er ſtützte
diefe Lehre auf die Behauptung der Notbwendigkeit, alle Folgen und alfo auch
die natürlihen Folgen des Böfen, die Rückſchritte, welche wir in unferer Ent-
wicklung zugelaffen haben, als ewig zu fegen. Da nun aber nicht bloß die natür—
lichen Folgen und Strafen des Bofen, fondern auch die des Guten ewig fein
müffen, und aud das Gute, welches felbft den fihlechteften Menfchen nicht ganz
verlaſſen hat, feine ewigen Folgen Haben muß, fo Eonnte Leffing eine völlige Ab-
| fonderung des Himmels von der Hölle nicht zugeben. Eine Erflärung diefer An=
nahme einer Miſchung des Guten und des Böfen, des Himmels und der Hölle,
werden wir dann finden, wenn wir bedenken, daß Leffing zwar eine reine und
290 Leſſius.
vollkommene Sittlichkeit als das Ziel unferer Erziehung fordert, dagegen den
Menſchen einer reinen und vollkommenen Erkenntniß nicht fähig hält, und in dieſer
Beziehung nur eine immer weitere Entwicklung unſers Bewußtſeins, aber nie ein
vollkommenes Schauen der Wahrheit in Ausſicht ſtellt. Freilich hat er hiebei den
großen Widerſpruch überſehen, welcher darin liegt, daß eine reine Sittlichkeit
ohne reine Erkenntniß angenommen wird. So iſt Leſſing auch hier von der reinen
hriftlichen Wahrheit abgewichen, wie er auf der andern Seite Die Lehre von dem
Sünvenfalle ausſchloß, und den Menfchen urfprünglich aus einem in Bezug auf
Erfenntniß und Willen, wenn nicht verkehrten und fündhaften, fo doch jedenfalls
fehr unvollfommenen Zuftand ausgehen ließ. Deßhalb geht auch durch die ange-
führten Lehren Leffings ein naturaliftifher Zug hindurch, welchen auch Herder
(f. d. U), der auf deffen Anfichten von der Erziehung des Menfchengefchlechts
fortbaute, in feinen berühmten „Ideen zur Philofophie ver Geſchichte der Menfch-
heit“ nicht zu verwifchen gewußt hat, Immerhin aber liegen in Leffings religiöfen
und philofophifchen Anfichten manche trefflihe Keime zu tiefern Unterfuchungen,
wie fie denn auch wirklich auf den in der neueflen Zeit eröffneten Gebieten der
Religionsphilofophie und chriftlichen Apologetik fowie der Bhilofophie der Ge—
fchichte der Menfchheit Fräftige Wurzeln gefchlagen haben, Vgl. unter den vielen
Schriftſtellern, welche Leffings Anfchauungen zum Gegenftande von Unterfuhungen
gemacht haben: „Leffings Erziehung des Menſchengeſchlechts“, kritiſch und philo—
fophifch erörtert von Guhrauer, Berlin 1841, und Heinrih Ritter: „über
Leffings philofophifche und religiöfe Grundſätze“. Göttingen 1847. GBriſchar.]
Leſſius, Leonhard, geboren 1554 zu Brechten, einem Flecken in Brabant,
zeigte ſchon in zartefter Zugend eine ſolche Frömmigkeit, daß ihn feine Mitfchüler
den „Propheten“ nannten, und eine folhe Liebe zum Studium, daß er oft die
Zeit der Erholung vergaß und den nöthigen Schlaf fich entzog. In feinem 14,
Sahre kam er nah Löwen, wo er in einem Collegium einen Freitifch erhielt und
dem Studium der Humaniora und der Philofophie mit großem Erfolg oblag, bis -
er in feinem 18. Jahre 1572 in den Jefuitenorden eintrat, Nach feinem No—
viciate von 1574 an lehrte er fieben Jahre hindurch in Douay Philofophie, Als
er während der religiöfen Unruhen in den Niederlanden 1578 fich flüchten mußte,
zog er fich ein fehmerzliches Leiden zu, das ihn nie mehr ganz verließ, Als er
nach feinem Aufenthalt in Douay die Priefterweihe erhalten hatte, warb er nad
Nom berufen, wo er unter dem befannten Franz Suarez zwei Jahre lang Theo—
Ingie ſtudirte. Im Jahre 1585 kamen er und fein Orbensgenoffe Johannes
Hamelius als Lehrer der Theologie nah Löwen, wo fie, als die Bafifchen
Streitigkeiten (f. Bay) eben erfi waren beigelegt worden, durch die in ihren
Borlefungen vorgetragenen Lehren zum Ausbruch neuer Unruhen Anlaß gaben.
Bisher waren es hauptfählich die Franciscaner gewefen, die als Anhänger des
Duns Scotus eine der ftrengen Auguftinifchen Gnadenlehre abgefehrte Richtung
einhielten, und fie hatten fich in derfelben um fo mehr befeftigt, als fie im Gtreite
mit Bajus in der Verwerfung feiner Säte eine Befräftigung ihrer Lehrart zu
finden glaubten. Diefe Richtung fchlugen nun auch vielfach die Jefuiten ein, ins—
befondere Leffius und Hamelius. Der von Aquaviva (f. d. A.) 1586 für bie
Geſellſchaft Jeſu entworfene Studienplan: Ratio atque institutio studiorum ver⸗
Yangte zwar, daß im Allgemeinen der Lehre des Hl. Thomas zu folgen fei, er-
Yaubte aber, im einzelnen Puncten von ihr abzuweichen, und führte unter den—
felben insbefondere den Sa des hl. Thomas auf: secundas causas esse proprie
et univoce instrumenta Dei, et cum operantur, Deum in eas plurimum influere auf
eas movere. Hatte Bajus, ftatt die wahre Lehre Auguftins zur Geltung zu
bringen, diefelbe vielmehr an Strenge überboten und fo entftellt, fo wich jegt
Leſſius nach der entgegengefegten Seite von der Auguſtiniſch-thomiſtiſchen Lehr-
weife ab, Als darüber unter feinen Zuhörern Streitigkeiten entftanden, Teitete
Leſſius. 191
die theologiſche Facultät von Löwen unter Mitwirkung des Bajus eine Unter—
ſuchung ein, indem fie aus den Borlefungen des Leffins 34 Säge aushob, die fie
ihm zufandte. Als Leffins diefe Säge im Allgemeinen als die feinigen anerfannte,
ä verfaßte H. Gravius über diefelben eine Cenfur, die fofort die Billigung der Fa—
eultät erhielt. Im Eingange derfelben drückt die Facultät ihren Schmerz aus
über die in den cenfurirten Säten enthaltene Verkehrung der firchlihen Gnaden-
lehre und rechtfertigt ihren Schritt damit, daß die verworfenen Säge der durch
fo viele Eoncilien und Papſte und durch die berüßmteften Lehrer der Kirche body
ä gefchäzten Lehre und Auctorität des heiligen Auguftin zuwiberlaufen und alle jene
Einwendungen und Vorwürfe erneuern, mit denen einft die Semipelagianer im
oermeintlichen Intereſſe der menschlichen Freiheit die Auguftinifhe Lehre befimpft
hätten. Zulegt erinnert fie den Leffius und Hamelius an ihren Ordensgenoſſen
Bellarmin, der einft in Löwen die entgegengefegte Lehre über die Gnade und
Prädeftination vorgetragen habe, (D’Argentre, Collectio judiciorum de novis errorib.
tom. IL.) Der belgifhe Episcopat nahm von diefem Vorgange in Löwen Kennt-
niß insbefondere wandten fih die Erzbifchöfe von Mecheln, Cambrai und Gent
an die Facultäten zu Paris und Douay um Gutachten. Während erftere eine
Beurtbeilung ablehnte, erfolgte von der Facultät in Douay im Januar 1588
eine Cenfur, welche Eftius in ihrem Auftrage verfaßt hatte, und in welcher die
Lehre des Leffius noch viel entfchiedener und ausführliher abgewiefen wurde
(D’Argentre Collect). Um diefe über ihre Lehre ergangenen Cenfuren zu entfräf-
ten, fuchten au die Jefuiten ihrerfeitS von den Facultäten in Mainz, Trier
und Ingolftadt für fih günftige Gutachten zu erlangen. Ein weiteres Umſich-
> der entitandenen Aufregung wurde durch das Einfchreiten Roms, das die
ache vor fein Forum 308, verhindert. Der päpftlihe Nuntius in Cöln, Fran-
gipani, erhielt im April 1558 von Sirtus V. ein Breve, worin er beauftragt
| wurde, fih fobald als thunlich nach Löwen zu begeben und die ftreitenden Par-
teien mit einander zu verfländigen, und wenn diefes nicht gelänge, ihnen zu er-
Hären, daß es nur dem Nachfolger des Heiligen Petrus zufomme, in Glaubens-
ftreitigkeiten zu entfcpeiden, und daß fie bis zu einer Enticheidung durch den apo—
ſtoliſchen Stuhl vom Streit ablaffen follten; zugleich follte er in dieſem Iegtern
Fall zum Zweck einer Entſcheidung durch den römifchen Stuhl die den Streit be-
treffenden Schriften nah Rom fenden. Als vie Parteien bei der Anfunft des
| Nuntius in Löwen im Juni 1588 fich nicht mit einander verftändigen fonnten, fo
verfaßte die Facultät eine fchriftliche Rechtfertigung der von ihr ergangenen Cen-
‚für, die fodann Leffius übergeben wurde, um ſich gegen diefelbe gleichfalls fchrift-
lich zu vertheidigen. Bei feiner Abreife (Nov. 1588) ermahnte der Nuntius
beide Theile, die Entfcheidung des päpftlihen Stuhles, dem er ihre Schriften
überfenden werbe, ruhig abzuwarten, Zur Herftellung und Befeftigung der Ruhe
| Hatte der Nuntius außerdem ſchon im Zuli ein Decret ergehen laffen, in dem
alle, die die Lehren des einen oder andern Theils in öffentlihen Verfammlungen,
in Predigten, Disputationen oder Schriften fo vertheidigten over befämpften, daß
fie die entgegenftehenden Lehren als Häretifch, verdächtig und gefährlich bezeich-
neten, oder jene, die ihnen anhingen, der Härefie befchuldigten oder verbächtigten,
mit der excommunicatio latae sententiae bedroßt wurden. Die Leffifhen Streitig«
feiten nahmen dafjelbe Ende, wie jene, welche durch das in eben jenem Jahre
1588 erfchienene Werk des Molina: Concordia liberi arbitrii cum donis gratiae
veranlaßt wurden, nnd zu denen die Leffiihen Streitigkeiten nur das Vorfpiel
bildeten. Achnlih wie in der Moliniftifchen (f. den Art, Congregatio de
auxiliis divinae gratiae), ift au in der Leffifchen Angelegenheit die von
Rom in Ausficht geftellte Entfeheidung nie erfolgt. — Leffius ftarb 1623 zu
Löwen, wo er 38 Jahre Yang mit Ruhm gewirkt hatte, Sein Leben zeichnete fi
durch tiefe Frömmigkeit, durch Strenge gegen fih ſelbſt und unermüdliche Thätig-
492 | Leſſius
keit aus, und man hatte bei feinem Tode eine ſolche Meinung von feiner Tugend,
daß man gleihfam metteiferte, von ihm etwas zu befigen, Leffius hatte zwei
Generalverfammlungen feines Ordens beigewohnt und großes Anfehen genoffen,
fo daß die ausgezeichnetftien Mitglieder feines Ordens es für Pflicht hielten, nach
feinem Rathe zu handeln, Zu feinem Anſehen Hatten insbefondere die verfchie-
denen Schriften beigetragen, in denen er wie Schärfe und Klarheit des Geifteg -
fo auch einen großen Umfang des Wiffens an den Tag legte. Er verftand fehr
gut griechifch und befaß außer der Theologie auch in der Geſchichte, in dem ca=
nonifchen und bürgerlichen Rechte, in der Mathematik und in der Medicin aus-
gebreitete Kenntniffe. Seine Schriften, die einzeln oft erfchienen, find von Balth.
Moretus gefammelt und 1625 und 1630 zu Antwerpen in zwei Bänden heraus-
gegeben worden. Die bedeutendften derfelben find: das vielfach aufgelegte Werk
De justitia et jure ceterisque virtutibus cardinalibus libri IV. ad Sec. Sec. Thomae
a Qu. XLVII: usque ad CLXXI. Aus diefem Werfe wurden mehrere Propofitionen,
3. B. überden Diebftahl, Mord u, f. w., von Bifchöfen und theologifchen Facul-
täten cenfurirt, Appendix: De licito usu aequivocationum et menlalium restric-
tionum. — Dissertatio de montibus ‚pietatis. — Quae fides et religio sit capessenda,
consultatio. — De gratia efficaci, deorelis divinis, libertate arbitrii et praescientia
Dei conditionali disputatio apoligetica- 1620. — De praedestinatione et reprobalione
angelorum et hominum ; item de praedeslinatione Christi. — Hygiasticon seu de
vera ratione valetudinis bonae et vitae una cum sensuum, judicii et memoriae
integritate ad extremam senectulem conservandae. Subjungitur: tractatus Ludovici
Cornari Veneti. (Weber das Leben und die Streitigfeiten des Leffius f. Alegambe,
bibliotheca scriptorum Societalis Jesu. — Sotwel, bibliotheca scriptor. Societ.
Jesu. — De vita et moribus R. P. Leonardi Lessii. Paris. 1644. Le Blanc, hist.
congregat. de auxil. div. grat. — Habert, defense de la foi etc) — Was. die
Lehre des Leffius und Hamelius betrifft, fo bezogen fich die erften drei der cen—
ſurirten Säge auf die Infpiration der heiligen Schrift, welde fo lauteten:
1) „Damit etwas heilige Schrift ſei, ift nicht nothwendig, daß die einzelnen Worte,
2) noch auch, daß die einzelnen Gedanken und Wahrheiten dem Schriftfteller un-
mittelbar vom heiligen Geift:infpirirt worden feien.. 3) Es fann ein Buch, wie
vielleicht das zweite Buch der Maccabäer, zur Hl. Schrift gehören, wenn es mit bloß
menschlicher Kraft ohne Beiftand des hl. Geiftes niedergefchrieben worden iſt und
der Hl. Geift nachher nur erffärt hat, daß in demfelben nichts Unmwahres enthalten .
ſei.“ Ganz befonders wurde diefer letzte Sag anftößig gefunden. — Den Haupt-
gegenftand des Streites bildete die Lehre des Leffins über Gnade und Präde-
ftination. Diefe Lehre, wie fie theils in den übrigen 31 cenfurirten Sägen,
theils und zwar ausführlicher in feinen Schriften: De praedest. et reprobat. und
De gratia efficaci eto. enthalten ift, kommt der des Molina im Wefentlichen gleich,
was fchon daraus hervorgeht, daß Leffius die zulegt genannte Schrift eigens zur
Bertheivigung der Moliniftifchen Lehre gegen die Angriffe der Thomiften verfaßte,
Seine Lehre ift folgende: Unverdient und auf zuvorkommende Weife verleiht Gott
Allen, wenn auch nicht in gleichem Maße, die gralia sufficiens, d. h. eine folde
Gnade, mit der der Sünder ſich befehren und das Gute thun fann, wenn er
will. Denn könnte fi) der Sünder mit ihr nicht wirklich befebren, wäre dazu
aufer ihr noch eine weitere Gnade nothwendig, fo wäre diefe Gnade nicht hin
veichend. Bon ſich aus oder in aclu primo will Gott, daß jede Gnade Erfolg
habe; daß fie aber in actu secundo bald wirkſam wird, bald nicht, bat feinen
Grund nicht in einer befondern Wirkſamkeit oder Beihaffenheit der Gnade, fon-
dern hängt von dem Einflimmen oder Nichteinſtimmen des freien Willens ab,
Die Gnade ift gleichfam ein Inſtrument, das der Wille gebrauchen oder nicht ge—
brauchen kann, gleichwie er die natürlichen Anlagen bethätigen oder nicht bethäti=
gen kann, Es ift aber nicht fo zu verſtehen, fagt Leſſius weiter, als ob der Wille
Leifius, 493
der Gnade eine Kraft mittheile, wenn er fie wirffam macht, oder als ob er fie
directe verurfache. Efficacia gratiae in actu secundo non pendet per se primo
et secundum suam rationem supernaturalem directe a libero arbitrio, sed secundum
eircumstantiam temporis modi ete. Hinc fit, ut rafio, cur gratia hic et nunc in-
fluat in opus, referenda sit in liberum arbitrium gratia sic utens, sicut vicissim ,
ratio, cur liberi arbitrii,opus sit supernaturale et meritorium, referenda sit per se
primo in gratiam. Sunt enim haec dua principia partialia ac proinde agunt cum
matua dependentia et in ipso opere effectus sibi correspondentes habeat, Wie
Leffius im Gegenfas zu Auguftin und Thomas die Gnade überhaupt ald eine
folche faßte, die bloß bewirkt ut possimus fatere, si velimus, fo befteht nad ihm
insbefondere auch die Gabe der Ausdauer nur in einer folhen Gnadenhilfe, durch
die wir ausdauern fönnen, wenn wir wollen. In statu innocentiae sufficiebat
homini ad salutem gratia, qua poterat perseverare, si vellet, ergo et nunc. ass.
22. — Wenn Auguftin fagt, wir bedürfen nicht bloß einer Gnade, qua possi-
mus, fondern auch qua faciamus, fo ift diefes nach Leffius davon zu verftehen,
daß wir das Gute nicht thun fünnen sine concursu vel auxilio gratiae concomi-
tantis, qui (concursus) peccatori ita praeparatus est, ut generalis et naturalis
. eoncursus praeparatur naturali potentiae, v. gr. potentiae videndi. Gott ift bereit,
die begleitende Gnade in actu secundo ung zu ertheilen, wenn wir wollen. Daß
wir wirklich wollen, dazu ift feine wirffame, den Willen unfehlbar determinirende
. Gnade nothwendig, wie diejenige etwa war, durch welche Paulus, Magdalena
u. 9. befehrt wurden; es genügt eine viel geringere Gnade, die der vollften
Freiheit Plag läßt, ass. 8, 9, 10. Gegen die legten Worte bemerft die Eenfur
der Facultät von Douay: Wird, wie ed der Urheber der Affertionen zu thun
fcheint, bei der Befehrung Pauli und anderer ohne Beeinträchtigung oder Auf-
bebung der Freiheit eine wirffame, den Willen unfehlbar determinirende Erregung
durch die Gnade anerfannt, warum follen wir eine folde Erregung bei der Be-
kehrung Anderer beftreiten und die Worte Auguftins gewaltfam verdrehen? Mit
diefer Lehre über die Wirkfamfeit der Gnade hängt die Prädeſtinations lehre
des Leifius auf das Engfte zuſammen. Wenn Gott nah ihm in diefem Leben
Allen, wenn auch nicht Jedem in gleihem Maße, die hinreichende Gnade zuvor=
fommend und unverdient verleift, fo hat er diefe Gnade auch von Ewigkeit her
unverbient aus reinem Wohlwollen zubereitet — praedestinatio ad gratiam (primam)
mere gratuita. Die Prädeftination als Vorberbeftimmung zur Gnade ift aber noch
incomplet; ihr Complementum bildet die Vorherbeftimmung zu den weitern Gna-
denmitteln, und insbefondere zum ewigen Leben, Diefe Iegtere Vorberbeftiimmung
geſchieht nach Leſſius ex praevisis meritis grafia comparatis. Nam jasti possunt,
fagt er, nova auxilia mereri et beneficia, quibus crescant, et istis rursus alia et
sic deinceps usque ad mortem; ergo in potestate justorum est complere suam prae-
destinationem i. e. per gratiam efficere, ut conditionata Dei voluntas, illa beneficia
conferendi,‘quibus ad salutem perducantur, transeat in absolutam. Defhalb hat
nad ihm der Saß: si non es praedestinatus, fac ut praedestineris, Geltung, nicht
als ob Jemand die Prädeftination zur erſten Gnade‘ verdienen Fonnte, fondern
weil die Prädeftination zu den fpätern Gnaden und endlih zum ewigen Leben
von dem Borherfehen der treuen Mitwirkung zu der erfien oder der je vorber-
gehenden Gnade abhänge. Für diefe Auffaffung der Prädeftination berief fi
Leffius auf ſämmtliche griehifhe Väter; auch bei Auguftin glaubte er feine Lehre
zu finden, Quod si tamen, fügt er hinzu, contraria sententia est D. Augustini, non
admodum referret, ass. 20. Was ihn Hierin über die Auctorität Auguftins fo
leicht wegfehen Tief, war die Meinung, daß nur bei feiner Auffaffung der Gnade
und Prädeftination die menfchliche Freiheit beftand, und das Streben des Men-
Shen in der Zeit für die Ewigfeit eine Bedeutung habe, während bie fireng Au⸗
guſtiniſche und die Thomiftifche Lehre von einer unfehlbaren abfoluten Wirkfamfeit
494 nenn
der Gnade und von einer unbedingten Prädeftination ad gloriam die Freiheit und
das fittliche Streben des Menſchen beeinträchtige und in Bezug auf Erlangung
des Heils entweder zu Verzweiflung oder zu gottlofer Zuverficht führe, Haec sen-
tentia de praedestinatione maxime consentanea est divinae bonitati, scripturarum
auctoritati, patrum testimoniis, et nafuralis rationis aequitati, in nulla re omnino
Pelagio favens et quam longissime a sententia Lutheri et Calvini et reliquorum
haereticorum nostrae tempestatis recedens, a quorum sententia et argumentis diffi-
cile est alteram sententiam (die Auguftinifch-thomiftifche) vindicare. ass. 31. Das
Weitere fiehe in dem Art. Molina, { [8198.]
Leß, Öottfried, proteftantiicher Theolog, geboren zu Conis in Weftpreußen
am 31. Januar 1736, fludirte zu Jena und Halle unter Baumgarten, war 1756
ordentlicher Profeffor der Theologie in Gdttingen und 1766 Doctor der Theologie,
1784 erfter Profeffor der Theologie und Confiftorialrath, zulegt 1792 erfter Hof⸗
prediger in Hannover, Er farb den 28, Auguft 1797 nach einem fehr thätigen
und achtungswerthen Leben bei fteter Kränflichkeit. Schriften hinterließ er fol-
gende: Die Ehre der Bekenntnißbücher der evangelifch-Iutherifchen Kirche, Leipzig
1758, Betrachtungen über einige neuere Fehler im Predigen, welche das Rüh-
rende des Kanzelvortrags verhindern, 1765, Abriß der chriftlihen Moral, 1767
(mit übertriebenem Rigorismus),. Entwurf eines philofophifchen Curſus der chriſt—
Vichen Religion, 1790. Chriftlihe Religionstheorie für's gemeine Leben, oder
Verſuch einer practifhen Dogmatik, 1779 (3. Auflage 1739 - unter dem Titel:
Handbuch der riftlihen Religionstheorie für Aufgeflärtere), Ueberſetzung der
Briefe Pauli an die Nömer und Eorinther. 1778. Ueber hriftliches Lehramt,
deffen würdige Führung und ſchickliche Vorbereitung dazu, 1790, „Ueber den Zus
ftand der Söhne- und Töchterfihule. 1796. — Leß war fein gelehrter, fondern
mehr practifcher Theolog; fein Gemüth zog ihn zur Myſtik, feine Zeit und Bil-
dung zum Nationalismus, fo daß Orthodoxe wie Heterodore ihn zu dem ihrigen
rechneten, fo lange er blühte; nachher verläugneten ihn beide Theile. Seine
Schriften befagen nicht viel; nicht felten fiehen an der Stelle der Beweiſe baare
Tiraden und Decelamationen mit allerlei Unarten und Sonderbarfeiten des Styls
und der Sprache. Am Beften nahm er fi als Kanzelredner aus, weil er mit
Eifer und Wärme ſprach. (S. Necrolog auf das Jahr 1797. 8: Jahrg. IL Bd,
©. 219. ff.) [Haas]
Leti, Öregor, Gefchichtfhreiber. Er wurde geboren zu Mailand im 3.1630, |
Seine erfte Bildung genof er bei ven Jeſuiten zu Eofenza, wo er bis zum J. 1644
blieb, In den nächften Jahren weilte er meiftens zu Nom, Unfteter Sinn und
andere Gründe trieben ihn im J. 1657 zu Reifen nach Frankreich und im die
- Schweiz. Zu Laufanne, wo er mit einem Arzte, Joh. Ant, Duirin, befannt
wurde, trat er zu den Neformirten über, und heirathete die Tochter des Duirin,
Bom J. 1660 wohnte er in Genf. Im J. 1674 erhielt er das Chrenbürgerreht
daſelbſt. Im J. 1679 ging er nach Franfreich auf Reifen; im J. 1680 nad) Eng-
land, wo er am Hofe Carls I. wohl empfangen wurde. Der König gab ihm
1000 Thaler zum Gefchenfe, und verfprad ihm die Stelle eines Hiftoriograpben,
Da er in der Geſchichte Englands, die er fofort fihrieb, durch feine Sprache Anftoß
gab, fo erhielt er Befehl, in zehn Tagen das Reich zu verlaffen, Im 3. 1682
fam er nach Amfterdam, wo er als Geſchichtſchreiber eine Stelle fand, die er bis
zu feinem am 9. Juni 1701 erfolgten Tode begleitete. Von feinen italieniſch ver—
-
N
faßten Schriften nennen wir: Das Leben der Donna Olympia; Das Leben Sixtus V.5
Der Cardinalismus; Hiftorifche Geſpräche; Politifhe Geſpräche ; Reife des rö-
mifhen Hofes; Das regierende Italien; Leben Philipps I.; Britannifches Theater;
Die Monarchie Ludwigs XV. ; Gefchichte von Genf; Teutfches Theater; Ge-
fhichte von Brandenburg; Saͤchſiſche Geſchichte; Belgifhes Theater; das Leben N
Cromwells; Das Leben der Königin Elifabeth; Das Leben Carls V., und vieles i
Lettner — Restwillige Berfügungen. —
Andere. Leti war Tendenzfchriftfteller, deffen Werfe auf Hiftorifche Glaubwürdig-
feit feinen Anſpruch machen. Er ſchrieb eilfertig, und nahm es mit der Wahrheit
nicht fehr genau. Vrgl. Iſelin u. d. A. [Gams.]
Lettner, ſ. Kirche als Gebäude,
Letztwillige Verfügungen. Die Lehre von den letztwilligen Verfügungen
iſt beſonders im römiſchen Rechte von großer Bedeutung und von ſehr beträcht-
lichem Umfange. Das Kirchenlericon kann fih auf diefe ganze Lehre nicht ein-
laffen, fon aus dem einfachen Grunde, weil es feiner Tendenz nah das welt-
liche Recht, infofern diefes nicht mit kirchlichen Berhältniffen in Verbindung fteht,
von ſich ausſchließt. Daher können auch die Iegtwilligen Verfügungen nur mit der
gleichen Einſchränkung hier behandelt werden. Nebſtdem wird aber noch von Allem
Umgang genommen, was in den Art. „Erbredt, Erbfhaft“ und „Fidei-
eommiffe” vorgefommen if, Im Allgemeinen ift eine legtwillige Verfügung
nach mehreren Stellen im Tit. X. de-testam. et ult. volunt. 3. 26. ultima v. ex-
trema v. suprema voluntas) die Willenserklärung einer Perfon auf den FL ihres
Todes, namentlich in Anfehung ihres zeitlichen Bermögens, Vgl. L. 1. Dig..qui .
testam. fac. poss. (28.1). Eine ſolche Dispofition ift in der Regel eine einfeitige,
und die dabei vorfommenden Perfonen find einestheils der Disponent, von welchem
der letzte Wille ausgeht, anderntheils die Honorirten, welche zu ihren Gunften
darin bedacht find, Jener muß die Fähigkeit haben, zu disponiren, und bei diefen
wird die Fähigfeit erfordert, mit Wirfjamfeit bedacht zu werben. Beides nennen
die Römer testamentifactio, L. 16. Dig. qui testam, fac. poss. (28. 1.), wobei
die Neueren eine active und paffive unterfheiden. Vgl. Schweppe, Röm, Pri-
vatrecht. IV. Ausg. (Götting. 1823— 1833) Bd. V. $ 737T—788. Bon den ein-
zelnen Arten Iegtwilliger Verfügungen, von Teftamenten, Legaten u, ſ. w. wird
weiter unten die Rede fein, nachdem vorher die Geſchichte derfelben dargeftellt
fein wird. Das Inſtitut folder Verfügungen war bei den Römern feit den älte-
ſten Zeiten begründet. Wir finden es ſchon in den Gefegen der zwölf Tafeln.
Ulpian. fragm. XI. 14. Gaji comment. II. 224. Cic. de invent. H. 50. Daß es
fodann in das juftinianifche Recht überging, ift aus dem Corpus juris civilis be=
kannt. Dagegen galt bei den alten Teutfchen nur die von dem Willen des Ver—
ftorbenen unabhängige Inteftat-Erbfolge. Tacit. Germ. 20: „Heredes tamen suc-
cessoresque sui cuique liberi, et nullum testamentum. Si liberi non sunt,
proximus gradus in possessione, fratres, patrui, avunculi.* Man findet heut zu
Tage auch noch in der Schweiz, wo fo viele alttentfche Elemente fih erhalten
haben, daß die gefegliche Erbfolge die Regel bildet, und daß legtwillige Dispo—
fitionen verhältuigmäßig felten find. Bluntſchli, Staats- und Rechtsgeſchichte
der Stadt und Landſchaft Züri. 2 Thle. Zürih 1838 und 1839. Th. I. $ 51.
©. 294. Imdeffen bei den Römern zur heidnifchen Zeit hatte die Kirche Chriſti
überhaupt noch feine rechtliche Erwerbfähigkeit, konnte alfo auch durch letztwillige
Verordnungen nichts erwerben. Jedoch hatten die Heidnifchen religiöfen Phantome
und Perfonen bereits eine gewiffe Erwerb- und Erbfähigfeit. Sp z. B. fonnten
nad Ulpian. fragm. XXI 6. ausnahmsweife gewilfe Götter und Göttinnen als
Erben eingefegt werden, Auch ift an gewiffen Stellen von an Tempel refp. deren
Priefterichaft überwiefenen Feideicommiffen und von Sclaven und Freigelaffenen
der Tempel die Rede. L. 20. $ 1. Dig. de ann. legat. (33. 1.) Varro de ling.
lat. Ed. Ottfr. Mueller. Lips. 1833. VII. (ſonſt VIL) c. 41. $ 83. Cie. divin.
in Caecil. 17. Mit der Einführung des Chriftentbums und mit der in ibm wur-
zelnden Einheit und Selbftftändigfeit der Kirche, fowie in Folge feiner hervorra—
genden Macht über die Gemüther und Herzen der Menſchen änderten fich die Ver-
hältniffe. Die Kirche kam befonders dur das Ediet des Lurinius vom J. 313
in eine andere Lage, Diefes Ediet Tautet bei Lactant. de mortib. persecut. 48:
„Et quoniam iidem Christiani non ea loca fanfum, ad quae convenire consueveranl,
496 gestwillige Verfügungen.
sed alia etiam habuisse noscuntur , ad jus corporis eorum, id est ecclesiarum, non
hominum singulorum pertinentia, ea omnia lege, qua superius comprehendimus,
eitra ullam prorsus ambiguitatem vel controversiam hisdem Christianis, id est cor-
pori et convenliculis eorum reddi jubebis.* Damit war alfo fchon Die rechtliche
Perfönlichkeit der Gefammtlirche, wie der Tocal- Kirchen und einzelner Inftitute
anerfannt, die in der Folge unter dem allgemeinen Namen pia corpora hervor⸗
traten. Bol. Schilling, Inſtit. u. Geſchichte des röm. Rechts. Bd. I. $ 49,
Endlich im J. 321 ertheilte der Kaiſer Eonftantin fpeciell den Teftamenten zu
Gunften der Kirche rechtliche Kraft, welche fie bis dahin nicht hatten, L. 1. cod.
de ss. eccles. (1. 2.) Vgl. üb, d. Oanze u. Savigny, Syflem d, röm._ Rechts,
Br I. S. 267—272. Mit der Neception des römischen Rechts in Teutfchland
famen auch bier die Teftamente und andere letztwillige Willensverorbnungen auf,
und es ift anzuerkennen, daß bei der frommen und mildthätigen Richtung des
Mittelalters auf diefem Wege der Kirche große Vergabungen zufloßen. Alles
dieß ift feit der fogenannten Reformation durch die Verweltlihung der Menſchen,
durch den einreißenden Unglauben und durch die maßlofen Webergriffe der welt-
lichen Gewalt zwar anders geworden. — Die wichtigfte letzte Willensverordnung
ift ohne Zweifel das Teftament, d. h. eine Dispofition über den Nachlaß, ver-
bunden mit der Einfegung eines directen Erben. Erbe aber ift derjenige, welder
in das Vermögen und damit auch in alfe Nechte und Verbindlichfeiten des Ver—
ſtorbenen, fofern fie nicht höchſtperſönlich find, wie z. B. die väterlihe Gewalt,
eintritt, und fofort den Verftorbenen repräfentirt, L. 37. Dig. de adquir. v. omilt.
hered. (29. 2.) Nov. 48. pr. Weiter ift ein dir eeter Erbe ein folder, der un-
mittelbar von dem Erblaffer felbft die Erbſchaft erlangt, nicht alfo aus den Hän-
den eines -Andern, welchen der Erblaffer dazu beauftragt hat. Die Einfegung
eines direeten Erben ift bei vem Teftamente weſentlich, und eben dadurch unter-
ſcheidet es fih von dem Codieill, d. h. einer letztwilligen Verfügung ohne Ein-
feßung eines directen Erben. $ 34. Inst. de legat. (2. 20.) $ 2. Inst. de codic.
(2. 23.) L. 14. Cod. de testam. (6. 23.) L. 7. Cod. de codie. (6. 36.). Auch
muß das Teſtament den ganzen Nachlaß erſchöpfen, nach dem Grundſatze: Nemo
pro parte testatus, pro parte intestatus decedere potest, d. h. von mehreren Erben
des nämlichen Erblaffers fönnen nicht Einige als Teftamentserben und die Uebri—
gen als Inteflaterben fuccediren, und wenn daher über einen Theil nicht disponirt
ift, fo erhält ihn dennoch der Teftamentserbe, $ 5. Inst. de hered. instit. (2. 14.)
L. 7. Dig. de reg. jur. (50. 17.) — In Teftamenten und auch in Eodicillen fün-
nen Bermächtniffe angeordnet fein, und diefe find entweder eigentliche Le—
gate oder Fideicommiffe,. Nach den römifchen Duellen ift Die Definition der
Legate fehr mangelhaft. $ 1. Inst. de legat. (2. 20.) Legatum est donatio quaedam
a defuncto relicta. L. 36. Dig. de legat. I. (31.) — donatio testamento relicta.
Der Begriff wird am Beflen negativ gegeben: Legat ift nämlich eine letztwillige
Beftimmung, durch welche Jemanden, der nicht Erbe ift (dem Legatar), etwas
zugewendet wird, fo daß der Erbe es ihm überlaffen muß. L. 116. pr. Dig. de
legat. I. (30.) L. 2. Cod.,de his, quae sub modo leg. (6. 45.) ‚m älteften rö-
mifchen Rechte wurde unter legare jede letztwillige Dispofition verftanden. L. 120.
Dig. de verb. signif. (50. 16). Den Legaten hat Juftinian bie Fideicommiffe
gleichgeftefft. L. 2. Cod. Commun. de legat. et fideicomm. (6. 43.) Es befteht
aber doch noch bei ung im Begriffe ein Unterfchied fort. Ein Fideicommiß ift da
gegeben, wo Jemanden etwas in der Art vermacht ift, daß es erft vorher ein
Anderer befömmt, 3. B. wenn nach dem Tode des Legatars das Legat an einen
Dritten falfen fol, Bemerfenswerth ift das Univerfal-Fideicommiß, wenn nämlich
verordnet ift, daß die Erbſchaft von dem directen Erben auf einen nachfolgenden
Erben (héres obliquus v. fideicommissarius) übergehen foll. Vgl. den Art, „Fidei⸗
commiſſe“. Endlich find noch die Schenkungen auf den Todesfall zu er⸗
Letztwillige Verfügungen. 497
waͤhnen, d; 5. Schenfungen, die erft nad dem Tode des Schenfers in Erfüllung
gehen. Schenkungen auf den Todesfall zu frommen Zweden, wenn fie über 500
Solidos (nach der gemeinen Uſual⸗ Interpretation 500 Ducaten) betragen, müffen
gerichtlich infinuirt werben. L. 19. Cod. de ss. eccles. (1. 2.) L. 34. pr. $ 1.
%.-36. pr. Cod. de donat. (8. 54.) — Im Verlaufe der Zeit wurden den letzt⸗
willigen Verfügungen zu Gunften der Kirche und ihrer Inftitute manderlei ma-
terielle und formelle Borrechte eingeräumt. Jede ſolche Dispofition, wenn auch
die Perfonen und Inſtitute nicht genau bezeichnet waren, z. B. bei Erbeinfegun-
gen Jeſu Chriſti, bei Vermächtniffen für die Armen oder für den Loskauf von Ge-
fangenen, wurde für gültig erklärt, und die Bergabung fiel alddann an die Local-
kirche des BVerlebten oder an den Bifchof der Didcefe, als Ereeutor. War über-
dieß der mit einem frommen Legate beſchwerte Erbe fäumig, und von dem Bifchofe
oder feinem Deconomen durch öffentliche Perfonen fhon zu zwei verſchiedenen
Malen vergebens gemahnt worden, fo follte der Erbe unbedingt alles ihm Zuge—
dachte verlieren, und zwar mit allen Früchten und allem Zuwachs der Zwifchen-
zeit. Die Ereeutoren follten Alles zu Handen nehmen, und zu den angeoroneten
Zwecken verwenden. L. 26. Cod. de ss. eccles. (1. 2.) L. 24. 28. 46. 49. Cod.
de episcop. et cler. (1. 3.) Nov. 131. c. 11. Aug follte bei frommen Bermädt-
niffen die fogenannte Quarta Falcidia (ſ. Faleidiſche Duart) nicht in Anreh-
nung gebracht werden, L. 49. Cod. de episc. et cler. (1. 3.) Nov. 131. c. 12.
Bol. Marezoll in der Zeitfhrift f. Civilrecht und Proceß v. Linde u. And,
- (Gießen) B>. V. S. 76—106. Noch ein Privilegium hat die Praris eingeführt,
darin beftehend, daß in dem Falle, wenn ein Teftament nichtig ift, gleichwohl
das darin ausgefeste fromme Legat bei Kräften erhalten wird. Ueber das Privi-
Tegium, welches in Cap. 4. de sepult. in VI. enthalten fein foll, vgl. Frig im
Archiv f. d. civiliſt. Prax. Bd. V. S. 211— 212. Was die Form der Tefta-
mente betrifft, fo kam feit dem fechsten Jahrhunderte die Anficht auf, daß man
es der Religiofität wegen bei frommen Dispofitionen mit den Formalitäten nicht
fo genau nehmen dürfe, wie bei gewöhnlichen Teftamenten, vorausgefegt nur,
daß der Wille des Erblaffers gewiß fei. Conc. Lugdun. II. a. 567. e. 2., wo e$
beißt: „Quia multae tergiversationes infidelium ecclesiam quaerunt collatis privare
donariis, id convenit inviolabiliter‘observari, ut testamenta, quae episcopi, pres-
byteri, seu inferioris ordinis clerici, vel donationes aut quaecunque instrumenta
- propria voluntate confecerint, quibus aliquid ecclesiae aut quibuscunque conferre
videantur, omni stabilitate consistant. Id specialiter statuentes, uf etiamsi quorum-
cunque religiosorum voluntas aut necessitate aut simplieitate aliquid a saecularium
legum ordine videatur discrepare, voluntas tamen defunctorum debeat inconcussa
manere et in omnibus Deo propitio custodiri.“ Unter Gregor IX. wurde fogar die bloß
mündlich Hinterlaffene Berfügung für rechtsbeftändig erflärt. Cap. 4. X. de testam.
@. 26.) Endlich im zwölften Jahrhundert wurde es Grundfaß, dag vor zwei
oder drei Zeugen zum Beften der Kirche gültig teftirt und legirt werden könne.
Cap. 11. X. de testam. (3. 26.) Auch geftattete Innocenz II. im 3. 1202, den
legten Willen der Dispofition eines Dritten anheimzuftellen. Cap. 13. X. eod.
Diefe beiden Privilegien wurden auch von den weltlichen Gerichten anerfanntz
nur ift bei dem erfteren darüber Streit entftanden, ob die zwei oder drei Zeugen,
wie die fieben Zeugen bei den Teftamenten nach römifchem Recht, der nothwen-
digen feierlichen Form wegen, oder nur, um nöthigen Falls den Beweis des Testen
Willens führen zu können, beigezogen werden. Die legtere, dem Geifte des ca-
nonifhen Rechtes am meiften entſprechende Meinung führt zu der Folgerung, daß
die Beiziebung der Zeugen auch unterbleiben fünne, und das Teftament dennoch
gültig fei, wenn der Wille des Teftators durch andere Beweismittel außer Zweifel
gefest ift. Die Literatur diefer Controverfe findet man bei Richter, Lehrb. des
Kirchenrechts. IH. Aufl, $ 286. Note 7. und Permaneder, Handb. d, Kirchen-
Kiräeufeziton. 6, 3b. ! 32
48. | | Leuchter.
rechts, Bd. IL $ 706. Das canoniſche Recht Hat übrigens noch überhaupt und
ganz abgefehen von Iegtwilligen Verordnungen zum Beften der Kirche eine alfge-
meine einfache Form der Teftaments-Errichtung vor dem Pfarrer und zwei Zeugen
eingeführt, Cap. X. 10. de testam. (3. 26) und wenn fie gleich nicht gemeinvechtlich
geworben ift, fo wurde fie doch im einzelne Landes- und Provincial- Gefeßgebungen
aufgenommen, 3. B. in das Bamberger Landrecht, An den meiften der bisher
aufgezählten Privilegien haben in den neueren Zeiten die weltlichen Gefege und
Verordnungen viele Befhränfungen gemacht, bisweilen diefelben gänzlich aufge-
hoben, und die Amortifationsgefege haben überhaupt Die Erwerbsfähigfeit der
Kirche vielfach unterdrüct und verlegt. Namentlich wurde der Einfluß der Geift-
lichen auf Errichtung und Vollſtreckung der Teftamente befeitigt, obgleich noch
neuere Coneilien darauf verweifen, Clem. c. un. de testam. (3. 6.) Conc. Trid.
Sess..XXIl, c. 6. de reform. Was jeßt die Kirche von Todeswegen erwirbt, er—
Yeivet nicht mehr den Abzug der Quarta legatorum für den Bifchof, Cap. 14. 15.
X. de testam. (3. 26). Dafür mußte aber in Bayern der vierte Theil deg Be—
trags für die Armen (quarta pauperum) und ein weiterer vierter Theil für die
Schulen (quarta scholarum) gegeben werden. Diefe die Freiheit und das Recht
gröblich verlegende Einrichtung ift feit 1840 aufgehoben. Gefegblatt f. d. Kö⸗
nigreich Bayern v. 1840, Col. 21. — Alle Teftamentsfachen reffortiren nach den
Decretalen, Cap. 3. 6. 17. X. de testam. (3. 26) zur geiftlichen Gerichtsbarkeit,
diefe Einrichtung ift aber lange ſchon durch die weltliche Gewalt außer Wirkfam-
feit gelegt, i TSartorius.]
euchter (Candelabra, Cereostata, Cereofala, Cerostala), auf denen während
des Gottesdienſtes Wachsferzen (Candelae, Cerei) brennen, hat man im Driente
und Occidente feit den früheften Zeiten (Baron. ad a. 324 n. 64; ad natal. S.
Felic. 3; Hier. contra Vigil. e. 3: August. contr. Crescent. 1. 8. c. 29, Bgl. Bin»
terims Denkw. 4 Bd. 1. Th, 124. ff.): fowohl die Natur der Sache, daß ein
Kerzenlicht auf einem Behälter ruhe, als auch das Beifpiel der Synogoge (2 Moſ.
25, 31. ff.) munterten zu ihrem Gebrauche auf, Sie find dermalen vorzugsweiſe
ein nothwendiger Schmuck eines jeden Altares; jedoch fo, daß die Hauptaltare
gewöhnlich mit 6, 12 oder bei feftlichen Anläffen mit noch mehr Leuchtern geziert
find, während auf Seitenaltären bloß 2 oder A Leuchter ſtehen. Ueberdieß werben
auch dem Celebranten im Hochamte 2 Leuchter mit brennendem Lichte von Mini-
ftranten bei der Proceffion zum und vom Altare vorgetragen, während des Amtes
ſelbſt auf dem Crevenztifhe niedergeftelft, und nur während des Evangeliums
son demfelben weggenommen, um in ber nächften Nähe des Evangelienbuches
gehalten zu werben (Miss. Rom.). Minder wichtig find die Leuchter, die in ein-
zelnen Gotteshäuſern theils an der Kirchenwand angebracht find oder in maffiver
Größe vor dem Hochaltare ſtehen. Es hat fich der heutige Gebrauch erft nach
und nad) entwicelt, So fpricht Hieronymus nur von Anzünden von Lichtern wäh-
rend des Evangeliums (l. c.). Amalarius läßt vom Anfange der hl. Meffe bis
nach gelefenem Evangelium Lichter brennen Ceclog.). Iſidor von Sevilla zeugt
für das Brennen der Lichter während des Evangeliums und Opfers (orig. 1. T.
c. 12). Biel fpäter fommen erſt Nachrichten, daß nah römifcher Sitte an den
meiften Orten während der ganzen Meffe Lichter gebrannt werben (Microl. c. 11;
Rath. Veron. ep. Syn.; Regin.l. 4. c. 60). Befonders alt ift im Morgen- und
Abendlande die Sitte, die Leuchter durch fogenannte Kerzenträger (Kngogögoı)
bei der Proceffion zum und vom Altare vortragen zu laffen. So heißt es ſchon
im gregorianifhen Sacramentarium: „Pontifex procedit cum 7 cereostalis ad
Missam“, und dann weiter: „Duo semper procedunt®. Dagegen ift Innocentius II,
der ältefte Zeuge, daß Leuchter auf den Altar geftellt werden (de myst. Miss. 1. 2.
e. 21), früher ſtellte man fie nämlich einfach auf den Boden nieder (Aocolythi po-
nunt cereostata in pavimento ecelesiae, tria quidem in dexteram partem, et tria
— Leusden — Leveller. 499
in sinistram, unum vero in spatium, quod est inter eos; Ord. Rom. Vulg. cfr,
Amalar.-(eclog.). Der Stoff, aus dem die Leuchter gefertigt werden, ift fehr ver⸗
ſchieden: e8 gibt folhe von Holz, Meffing, Zinn, Silber u, dgl. Der Reichthum
oder die Armuth eines Gotteshaufes find hier maßgebend. Uebrigens hatte man
auch fhon in früher Zeit foftbare Leuchter. Sp beriätet z. B. Anaftafius (in
vit. Hormisd.) von filbernen Leuchtern, deren jeder 70 Pfund wog. Wie viele
Leuchter auf dem Altare während der hl. Meffe brennen, ift an und für fich gleich-
giftig (Conc. Trid. Sess. 22. decret. de observ. et evit. in celebr. M.). Beil man
nun aber bie und da deßwegen eine größere Anzahl Lichter anzündete, um geift-
lichem Hochmuthe frößnen zu fönnen, fo hat Nom geboten, daß Priefter (mit
Einfluß der niedern Prälaten) die ſtille Meffe nur mit 2 brennenden Kerzen
celebriren dürfen (S. R. €. 7. Aug. 1627; 27. Sept. 1659). Bei gefungenen
Meſſen find der brennenden Lichter 4, bei Hochämtern 6 oder noch mehr, bei der
bifhöflichen feierlichen Meffe haben nach alter Sitte mindeftens 7 Lichter zu bren-
nen (S. R. €. 6. Aug. 1763). (Fr. X. Schmid.]
Seusden, Johann, Orientaliſt. Er wurde geboren zu Utrecht im J. 1624,
und bildete ſich daſelbſt neben den Sprachen beſonders in der Mathematik aus,
Nachdem er in Amſterdam in ſeinem Fache ſich weiter umgeſehen, wurde er im
J16409 Profeſſor des Hebräiſchen und der Alterthümer zu Utrecht, welchem Amte
er zeitlebens mit vielem Erfolge vorſtand bis zum J. 1699. Sein Bemühen war
beſonders, auf dem von den Buxtorf gelegten Grunde (ſ. I. Bd. ©. 238) fort-
zubauen. Seine zahlreihen Schriften beziehen fich meiftens auf das Hebräiſche
und das A. T.
2eute, gute, f. Bons hommes.
2eutard, Vorläufer der Neu - Manichäer oder Ratharer, Im J. 1000
n. Ch. fand in einem gallifhen Dorfe im Gebiete von Chalons (apud vicum Vir-
tutis vocabulo, in pago Catalonico), ein Mann auf mit Namen Leutardug, der
unter dem Scheine der Verrücktheit undriftliche Lehren zu verbreiten fuchte. In
diefen Lehren, ob fie uns auch verftümmelt berichtet werden, treten doch unver-
fennbar manichälfche Elemente hervor. Er felbft berief fih auf höhere Dffen-
barungen, die ihm geworden; auch auf die HI. Schrift berief er fih; doch nur fo=
weit, als fie zu feinen Anfichten ftimmte, Die Propheten, meinte er, haben neben
vielem Nüglihen zum Theil Unglaubwürdiges gelehrt. Bon feiner Frau trennte
er fich, angeblich auf Befehl des Evangeliums, Dann zog er aus, wie zum Gebet,
trat in eine Kirche, ergriff das Kreuz, und zerträmmerte das Bild des Heilandes;
die es fahen, erfchraden und hielten ihn für wahnfinnig. Er wollte fie glauben
machen, daß er all’ das in Folge einer Offenbarung thue. Viele aus dem Volfe
hingen ihm anz hatte er ja auch gelehrt, Zehnten zu geben fei überflüffig und
unfinnig. Der Bifchof der Didcefe, Gebuin, rief ihn zu fih. Bor ihm hielt er
mit Bielem zurüf, und fuchte fonft feine Meinungen durd das Zeugnif der HI,
Schrift zu erhärten. Dem Bifchofe gelang es, feine Anhänger ihm abwendig zu
machen, und fie zu der Kirche zurüdzuführen. Leutard aber flürzte ſich in einen
Brunnen und ertränfte fid. — 3. Glaber Rodulph. I. c. 11 bei Bouquet X. £.
23. cf. Pertz, monum. T. IX. p. 61. Hahn, Geſch. d. neu-manichäifchen Keger,
I. ©. 31. Stuttgart 1845. [Gams,]
Leutomiſchl, Bistyum, f. Königgratz.
Zeuwigild, f. Gothen. |
Zeveller, religiös -politifhe Secte in England. Allmählig traten
während der Kämpfe des englifhen Parlaments mit König Carl I. im. Gegenfage
gegen die englifhe Hochfirche und die Presbyterianer die fogenannten Sndepen-
denten hervor (vgl, Art. Jndependenten), eine religiös -politifhe Partei,
deren Anhänger bei aller fonftigen Verſchiedenheit in den religidfen Meinungen
doch darin übereinfamen, daß fie die Unabhängigkeit jeder einzelnen veligiöfen
32?
500° | Levi. | -
Gemeinde und Enngregation von jeder andern fowie von ben Synoden und Pres-
byterien behaupteten, Feinen eigenen geiftlichen Stand annahmen, nach Ouädfer-
Art jedem Erleuchteten und Begeifterten das Auftreten als Prediger geftatteten
und in politifher Beziehung nach Abfchaffung der Monarchie und Ariftveratie und
Einführung einer allgemein gleichberechtigenden und freien Nepublif zielten. Inter
den Independenten thaten fih aber als bie entfchiedenften die Nationaliften
hervor , welche fich felbft diefen Namen gaben, weil fie fih, wie fie meinten und
porgaben, nach ben Befehlen der Vernunft richteten, wogegen fie von ihren Wider-
ſachern Teveller, d. i. Gleichmacher, benannt wurden, weil fie die Abſchaffung
alles geiftlichen und weltlichen Regimentes, die Gleichheit der religidfen und bür-
gerlihen Nechte Aller, die damit zufammenhängende Bolksfouverainetät und zum
Theil auch eine größere Öleihmäßigfeit des Befiges predigten. Die Herrfchaft
der Könige, fagten fie, mit der Bibel in der Hand, fei Gott verhaßt, Gott felbft,
der Herr der Schlachten, habe über Carl den Stab gebrochen, Carl habe feine
Anſprüche auf den Thron verwirkt, indem er den bei feiner Thronbefteigung gelei=
ſteten Eid, die Freiheit feiner Interthanen zu ſchützen, gebrochen habe, er habe
in ungerechten Schlachten das Blut feiner Unterthanen vergoffen und müffe dafür
nah Gottes Befehl im 5. Buche Mofis zur Nechenfchaft gezogen und beftraft
werben. Diefe fo Fategorifch und blutdürftig ausgefprochenen Anfichten machten
große Fortſchritte, bald Huldigte ein großer Theil des Volkes und die Mehrzahl
des erommellifchen Heeres diefen Lehren mit wüthender Begeifterung, bald faßen
die Häupter ber Leveller im fogenannten NRumpf-Parlamente, wo fie fih von dem
Prediger Hugh Peters als die zur Befreiung des Volks aus der Knechtſchaft
Argyptens von Gott beftimmten Werkzeuge begrüßen ließen. Aber wie fol —
prebigte der Fanatifer weiter fort, dieß in Erfüllung gehen? Das ift mir noch
nicht offenbart worden. Hier Iegte er fein Haupt in die Hände und beugte ſich
auf ein vor ihm Liegendes Kiffen. Nach einer Weile fuhr er empor und ſprach:
„Jetzt eben erhalt’ ich die Offenbarung und will fie euch verkünden. Diefes Heer
wird die Monarchie ausrotten, nicht bIoß hier, fondern auch in Frankreich und
den übrigen Rönigreichen, die ung umgeben. Dadurch wird es euch aus Aegypten
führen. Dan fagt, daß wir einen beifpiellofen Weg einfchlagen. Was aber fagt
ihr zu der Jungfrau Maria? Gab es früher ein Beifpiel, daß ein Weib ohne
Zugefellung eines Mannes empfangen konnte? Diefe unfere Zeit wird fünf-
tigen Zeiten zum Beifpiele dienen,” Man fieht, diefe Rationaliften ver»
Banden es, mit größter Leichtigkeit außerordentlich gottfelig zu than und fromme
Betrügereien ald Mittel zu ihren Zwecken nicht zu verſchmähen; dabei herrfchte
bei den Levellern ein noch viel größerer religiöfer Fanatismus als bei den Pres-
böterianern, wie Cromwells betendes, fingendes, vifionäres und mordendes Heer
bezengt. Endlich erreichten die Leveller in der Hinrichtung Carls und in der Eon-
ſtituirung Englands zur Republik ihr Ziel, aber bald befand fih Crommell im
Beſitze einer Macht, wie fie die Könige vorher nicht gehabt hatten, Aus den Le-
vellern gingen, wie es feheint, „Die Männer der fünften Monarchie“ her-
vor, welche die nahe Ankunft CHrifti und das taufendjährige Neich erwarteten,
die Kirchen und den Clerus als überflüffig und fchädlich verwarfen und 1658 ſich
zur Ermordung des Protector und zum Umfturz der Verfaffung verfhworen, was
jedoch entdeckt und vereitelt wurde, Vgl. hiezu d. A. Großbritannien. [Schröbl.]
Levi (775 Anfohließung), , LXX. Aevi, Vulg. Levi) wurde der dritte Sohn
Jacobs von der Lean genannt, weil Ietere bei feiner Geburt gefagt: jest wird
fih mein Dann an mich anſchließen (Ha urn 757 Genef. 29, 34), Er hatte
drei Söhne, Gerſchon, Kehat und Merari (Genef. 46, 11), und wurde Urheber
und Haupt des nach ihm genannten ifraelitifchen Stammes, der fih nad jenen
drei Söhnen in drei levitiſche Familien oder Gefchlechter theilte (Exod. 6, 16),
Levin — Leviten. 501
Er ſtarb, wie die übrigen Söhne Jacobs in Aegypten, nachdem er ein Alter von
137 Jahren erreicht hatte (Exod. 6, 16). Bon feinen ſonſtigen Lebensverhält-
niffen und Schickſalen wird in der Schrift weiter nichts gemeldet, als die Gräuel-
that, die er in Verbindung mit Simeon an den Sichemiten verübte. Dina näm—
lich, eine Tochter Jacobs von der Lea, mithin Schwefter Simeons und Levis
son väterlicher und mütterlicher Seite, wurde von Sihem, dem Sohne Hemors,
entehrt; und als er fie zur Frau verlangte, gaben der Vater und die Brüder ihre
Einwilligung nur unter der Bedingung, daß fih die Sihemiten befchneiden laſſen.
Letztere fügten fich auch wirklich diefem harten Anſinnen. Am dritten Tage aber,
als die Wunden am ſchmerzlichſten und gefährlichften waren, überfielen Simeon
und Levi die Stadt, tödteten alles Männliche, auch Hemor und Sichem felbft,
und nahmen ihre Schwefter Dina mit fich fort, worauf die übrigen Söhne Jacobs
die ganze Stadt plünderten und große Beute machten, während Simeon und Levi
um den Tadel ihres Vaters ſich nicht viel Fümmerten (Benef. 34). Außerdem
erwähnt die Genefis in Betreff Levi's nur noch den auf ihn und Simeon zugleich
bezüglichen Ausfpruch Jacobs, als er am Ende feines Lebens feine Söhne fegnete,
der aber mehr einem Fluch als einem Segen gleicht (Genef. 49, 5—7), und na=
mentlih gegen den Ausſpruch über Levi im Segen Mofes (Deut. 33, 8— 11)
auffallend abſticht. Jacob nämlich weiffagt Zerftreuung Levi's unter die übrigen
Stämme zur Strafe für fein Unrecht und feine hinterliftige Grauſamkeit an den
Sichemiten, Mofes dagegen preist Levi glücklich als Inhaber des Prieftertfums,
Berwalter des HI. Dienftes, Lehrer des Volfes und Eiferer für Gottes Ehre. Die
Weiffagung Jacobs erfüllt fih nun zwar in der Folgezeit, aber auf eine Weife,
daß auch Mofe’s Glüdlichpreifung volle Wahrheit behält; die Zerftreuung Levi's
unter feine Brüder tritt ein, aber nicht als Strafe, fondern als Folge des Priefter-
thums, nicht nur ohne Nachtheil für Levi, fondern als Auszeichnung und Bevor—
zugung. Was alfo ald Strafe angedroht war, nahm den Charakter des Lohnes
an, wo das bedrohte Subjeet durch Eifer für Gott und fein Geſetz die Straf-
würbigfeit verloren und fich des Lohnes würdig gemacht hatte, (Bol. L. Reinke,
die Weiffagung Jacobs. über das zufünftige glückliche Loos des Stammes Juda ꝛc.
Münfter: 1849. S. 36, ff.) Levi aber (als Stamm) hatte diefes gethan bei Ge—
Vegenheit der Anbetung des goldenen Kalbes in der Wüfte (Exod. 32, 26 — 29),
Was in dem apoeryphiſchen Teftament der 12 Patriarchen über Levi vorkommt,
3: B. daß er feinen Söhnen ihre Schiefale bis zum Gerichtstage vorhergefagt
und feinen Tod vorbergefehen habe, daß er von einem Engel zur Rache an den
Sichemiten aufgefordert worden fei, daß er in einer Efftafe durch den erflen und
zweiten Himmel bis in den dritten geführt worden fei und über die noch höheren
Hier Himmel Auffehlüffe erhalten habe ꝛc. Ccf. Fabricii codex pseudepigraphus vef.
Test. 1.544) gehört in’8 Gebiet der Fabeln und verdient Hier feine weitere Erwähnung.
Im N. T. kommt Levi als Eigenname wiederholt vor (Luc, 3, 24.29), nament-
Ih wird von Marcus (2, 14) und Lucas (5, 27. 29) ein Zolleinnehmer fo ge—
nannt, der vom Herren zum Apoſtel berufen wurde. Da diefe Berufung ganz
unter denfelben Umftänden und auf diefelbe Weife erfolgt, wie die des Matthäus
(Matth. 9, 9. f.), fo kann es faum einem Zweifel unterliegen, daß diefer Levi
einerlei fer mit dem Apoftel Matthäus und wahrfheinlich in Folge feiner Beru—
fung zum Apoftelamte einen andern Namen angenommen babe, [Welte,]
Zevin, der heilige, f. Lebuin.
Leviratsehe, f. Che bei den Juden,
Leviten (arı7>, gewöhnlicher 775 2,LXX. Aevizaı, Vulg. Levitae) find
im weiteren Sinne die ſämmtlichen Nachkommen Levi's (ſ. d. U), die den Stamm
Levi bilden. Sie theilten ſich ſchon in Aegypten nach den drei Söhnen Levi's,
Gerſchon, Kehat und Merari, in die drei Familien oder Geſchlechter der Gerſcho—
niten, Kebatiten und Merariten (Exod. 6. 16, Num. 26, 57), deren zweiten
502 Reden
Mofes und Aaron angehörten (Exod. 6, 18— 20). Zur Zeit Mofe’s belief fi
die Zahl der männlichen Angehörigen des Stammes Levi von einem Monat und
darüber auf 22,000 (Num, 3, 39)5 nur um weniges höher (22,273) war die
damalige Zahl der männlichen Erftgebornen der Jfraeliten, ſtatt deren die Leviten
zum hl. Dienfte gewählt wurden (Num, 3, 41—45). Der Grund diefer Bevor-
zugung Levi's Tag ohne Zweifel theils darin, daß Mofes und Aaron diefem
Stamme angehörten , theils in dem Eifer, den die Leviten gegen die abgöttifchen
Berehrer des goldenen Kalbes bewiejen (Erod. 32, 26—29). Erfteres erhellt
ziemlich deutlich aus Num. 18, 2—6, wonad die Leviten um Aarons willen zum
Dienfte beim heiligen Zelte berufen wurden, und für Letzteres (worauf ſchon Philo
das Hauptgewicht legt Vita Mosis c. 3) ſpricht die nachbrüdlihe Hervorhebung
jenes Eifers der Leviten (I. 0.). Damit wilf natürlich nicht behauptet werben,
Daß das Prieftertfpum vom Stamm Levi eigentlich verdient worden fei, und die
dagegen gemachte Bemerfung Bährs, das Prieftertfum fer „eine Würde, bie
Sehova ertheile, die ganz und gar von feinem freien Willen und Rathſchluß, wie
von feiner abfoluten Macht abhänge” (Symbolif des mofaifhen Eultus, II. 18),
fpricht ebenfowenig dagegen, als fich ihre Wahrheit beftreiten läßt. Als ein dem
Sehova und feinem Dienfte geweihter und geheiligter Stamm follte der Stamm
Levi nicht, wie die übrigen Stämme, durch Aderbau für feinen Unterhalt zu for-
gen haben, und erhielt daher bei der Austheilung des Landes an die Stämme
Iſraels fein eigenes Stammgebiet oder Erbtheil (par, am: Num, 18, 20, 26, 62,
. +
Deut, 12, 12. 14, 27. Joſ. 13, 14, 14, 3). Sehova wollte fein Antheil und
Erbe fein, und trat daher das, was das Volf ihm als dem oberfien Herrn und
König der Theocratie zu leiften hatte, an die Leviten als Diener feines Heilige
thumes ab (Num. 18, 20. 20, 23. f. Joſ. 13, 33), weßhalb ebenfp wie Jehova
auch der priefterlihe Dienft Gm n3772) als ihr Erbe bezeichnet wird (Sof,
18, D. Der ganze Stamm Levi theilte fih in Bezug auf den heiligen Dienft
wieder in zwei Claffen, in Leviten im engeren Sinne und Priefter, In diefer
Hinficht bilden die Priefter die höhere, die Leviten die niedere Stufe des Dienft-
yerfonals, fo daß diefe bei ver Vornahme von Opfern und andern priefterlichen
Functionen im Heiligtfume nur ald Gehilfen von jenen erſcheinen. Ihre Ein-
weihung zum Amte wird Num, 8, 5—22, genau befchrieben, Sie wurden zuerft
mit dem Entfündigungswaffer (nxem 2), deffen Zubereitungsweife nicht ange-
geben wird, befprengt, mußten dann die Haare ihres Leibes abfcheeren, fich ſelbſt
und ihre Kleider wachen, und fo in Gegenwart der ganzen Gemeinde Iſraels
vor das hl, Zelt treten, wohin zugleich zwei junge Stiere, der eine fammt dem
zugehörigen unblutigen Opfer zum Brandopfer, der andere zum Sündopfer, ge=
bracht wurden, Dann Iegten ihnen die Söhne Iſraels die Hände auf und fie
wurden von Aaron als Webe vor Jehova Cungewiß auf welche Weife) dargebranht,
Durch beides (die Handauflegung und die Webe) wurben fie als fombolifches
Dpfer für Jehova und feinen Dienft behandelt, zum Zeichen, daß fie die Stelle der
männlichen Erftgeburt in Sfrael vertraten, die wie alfe Erftgeburt (ſ. d. A) dem
Jehova als Opfer gehörte. Hernach mußten fie ihre Hände den beiden Opferthieren
auflegen, welche fofort zur Sühne für fie gefchlachtet wurden. So deutete dieſer
Einweihungsritus theils auf den Opfercharafter der Einweihenden, theilg anf die
Reinheit und Heiligkeit hin, deren fie fich als Diener des Heiligtbums zu befleißi-
gen hatten. Die Weihe galt aber nicht bloß ihnen felbft für ihre Perſon, fondern
auch allen ihren Nachkommen, wenigftens zeigt fich in der Folgezeit nirgends eine
Spur, daß Leviten beim Antritt ihre® Dienftes wären geweiht worden. Die Ob—
liegenheit der Leviten beftund im Allgemeinen darin, die Priefter in der Ver-
waltung des hl. Dienftes zu unterftüßen Mum. 8, 19. 22. 18, 6), nur eigent-
liche priefterlihe Handlungen, die am Altar und mit den heiligen Geräthen ver—
Leviten. 503
richtet werben mußten, waren ihnen unterſagt (Num. 18, 3). Indeſſen waren
ihre Gefchäfte nicht zu allen Zeiten ganz diefelben. Anfangs war außer der
Unterflügung der Priefter beim HI. Dienfte ihre Hauptobliegenheit die Beauffih-
tigung des HI. Zeltes, weßhalb fie auch unmittelbar um daffelbe gelagert waren,
die Gerfhoniten gegen Abend Num, 3, 23), die Rehatiten gegen Mittag (Num,
3, 29) und die Merariten gegen Mitternacht (Num. 3, 35), während Mofes und
Aaron mit feinen Söhnen gegen Morgen vor dem Eingang des HI. Zeltes fi
befanden, Bei den Wanderungen in der Wüfte hatten fie dann das Zelt abzu-
brechen, feine Beftandtheile und Geräthe fortzufhaffen, und e8 am erforderlichen
Orte wieder aufzurichten. Und diefes war fo ausschließlich ihr Geſchäft, daß jeder
Angehörige eines andern Stammes, der fich daſſelbe anmaßen würde, mit dem
Tode geftraft werden follte (Num. 3, 10. 38). Damit aber die diepfallfigen
Berrichtungen in gehöriger Ordnung vor fi) gingen, war für jede der drei levi—
tifchen Familien ihr Gefchäft genau beftimmt, Die Kehatiten hatten die Geräthe
im Alferheiligften ,-im Heiligen und im Borhofe und den Abtheilungsvorhang des
Zeltes zu beforgen (Num. 3, 3. f. 4, 1—16). Die Gerſchoniten hatten die Deden
des Zeltes, den Eingangsvorhang an demfelben, die Umbänge des Vorhofes und
den Vorhang an deffen Eingang fammt allen dazu gehörigen Seilen, Nägeln und
andern Geräthen zu beauffichtigen und beim Weiterziehen des Lagers fortzufchaffen
Rum, 3, 25. f. 4, 24— 28). Die Merariten Hatten die Bohlen, Säulen und
Fußgeſtelle des Zeltes, die Säulen des Vorhofes nebft ihren Fußgeftellen und
fonftigem Zubehör zu beauffihtigen und nöthigenfalls fortzufhaffen Num, 3,
33. 37.-4, 29—32). Da den Gerfhoniten und Merariten die genannten Gegen-
fände zu tragen zu befehwerlich gewefen wäre, fo erhielten erflere zwei, letztere
vier bedeckte Wagen, mit je zwei Rindern befpannt, zu ihrem Gebraude (Num,
7,3—8). In der befhpriebenen Amtsthätigfeit treffen wir die Leviten auch in
der nachmofaifchen Zeit bald da bald dort an (vgl. 1 Sam, 6, 15. 1 Chron. 15,
2. 27. 2 Ehron. 5, 4). Als jedoch fpäter der Tempel an die Stelle der Stifis-
hütte trat, und damit das Heiligtum eine bleibende Stätte erhielt, verwandelte:
fih für die Leviten zunächſt die Beauffihtigung der Stiftshütte in die Bewachung
des Tempels. Derfelbe wurde nah allen vier Himmelsgegenden hin an den dort
befindlichen Thoren bewaht; gegen Aufgang hielten fehs, gegen Mittag und
Mitternacht je vier, gegen Abend zwei Leviten die Wache (1 Chron, 26, 12—19),
und die Wachehaltenden fcheinen jeden Sabbath durch andere abgelöst worden zu
fein (2 Chron. 23, 4. Im zweiten Tempel wurden nah Middoth 1, 1. die
Wachen. bedeutend vermehrt, und es wurde an einundzwanzig Orten Wache ge—
halten, nämlich an den fünf Thoren des Tempelberges, an den vier Eden des-
felben innerhalb der Mauer, an den fünf Thoren des Vorhofes, an vier der Eden
außerhalb, dann bei der Opferfammer, bei der Vorhangfammer und hinter dem
Allerheiligften. Die Warhehaltenden fiunden unter dem Vorfteher des Tempel—
berges, der zuweilen bei Nacht umberging und nachſah, ob fie nicht fehlafen ; die
er fchlafend antraf, konnte er geifeln laffen und ihre Kleider verbrennen (Mid-
doth 1, 2.) Außerdem hatten die Leviten den Tempel zu öffnen und zu fehließen
ci Chrom. 9, 27), die Heiligen Geräthe und das vorhandene DOpfermaterial
Mehl, Del, Wein und Weihrauch) zu beauffihtigen (1 Chron. 9, 23. f.) und
für die nöthige Reinigung der erfteren, fowie der Tempelgebäude überhaupt, zu
forgen (1 Ehron. 23, 28, 2 Chron. 29. 16), fodann die nöthigen Dele und Spe-
cereien, die Schaubrode und das erforberlihe Backwerk zu bereiten (1 Chron. 9,
30—32, 23,29), fowie überhaupt die Tempelvorräthe zu beauffihtigen (1 Chrom.
26, 20. f.). Bei der Feier des Gottesdienſtes Tag ihnen einerfeits die Tempel:
muſik und der Vortrag Heiliger Gefänge ob (1 Chrom. 15, 16. ff. 25, 1. ff.
2 Ehron. 5, 12. 7, 6. Esra 3, 10. Neh, 12, 27), andererfeits mußten fie die
Priefter beim Opferſchlachten unterflügen, namentlich den Opferthieren die Häute-
504 Leviten.
abziehen (2 Chron. 29, 34. 35, 11) und das Blut derſelben für die Prieſter
auffammeln (2 Chron. 30, 16. 35,11), auch für die Unreingeworbenen die Pafcha-
lämmer ſchlachten (2 Chron. 30, 17. 35, 11). Endlich wenn Collecten für Tem-
pelreparaturen .nöthig wurden, hatten die Leviten biefelben einzufammeln, und
dann bei den Neyaraturen felbft die Aufficht zu führen (2 Chron, 34, 9, 12, f).
Zum Behufe des Dienftes beim Heiligthum und der regelmäßigen Abwechslung
in bemfelben wurden nad Joſephus CAnt .VIL 14, 7) die Leviten wie die Priefter
in 24 Claffen oder Ephemerieen abgetheilt, die einander je nach 8 Tagen ab-
lösten, Außer diefen verfchiedenen Dienftleiftungen beim Heiligthum hatten aber
die Lesiten auch noch anderartige Dbliegenheiten. Sie waren nämlich, und zwar
wie es ſcheint zu allen Zeiten, auch als Richter thätig (Deut, 17, 18, f. 1 Ehron.
23, 4. 2 Chr. 19, 11), und hatten das Volk im Geſetz zu unterwerfen (2 Chron,
17, 8. f. 35, 3), und nah dem Exil namentlich‘ das Geſetz nicht bloß vorzuleſen,
fondern auch in der dem Volke geläufigen aramäiſchen Sprache zu erflären (MNeb,
8, 7. f.). — Dienftfähig waren die Leviten nach mofaifchem Gefege vom 25.
bi8 zum 50. Jahre (Num, 8, 24); nachher wurden fie zwar vom gefeglichen
Dienft beim Heiligthum entlaffen, durften aber ihren Familiengenoffen, wenn fie
noch Fräftig waren, in biefem Dienfte Hilfe leiften (Num. 8, 25. f.). Wenn
Dagegen nah Num, 4, 2. f. ihre Dienftfähigfeit erfi mit dem 30. Jahre beginnt,
fo iſt damit nicht der Dienft überhaupt, fondern eine beflimmte Art deffelben,
nämlich die Fortfchaffung der Stiftshütte und ihrer Geräthe gemeint (vgl. Welte,
Nachmpfaifches im Pentateuh S. 145, f.). Später, wo die Zahl der Leiten
größer und ihr Dienft leichter wurde, begann ihre Dienftfähigfeit ſchon mit dem
20. Jahre (2 Chr, 31, 17), was auch in der nacherilifchen Zeit wieder fo ge—
halten wurde (Esra 3, 8). Wenn dagegen 1 Chron. 23, 3. das 30. Jahr als
Anfang ihrer Dienflzeit genannt wird, fo ift dieß bIoß ein Schreibfehler, der in
demſelben Capitel ®, 24 noch berichtigt wird, wo in Uebereinſtimmung mit 2 Chron.
31, 17. und Esra 3, 8. das 20. Jahr als folder Anfang genannt wird. Beach—
tenswerth ift aber, daß weder die Chronik noch das Buch Esra bei ihren Angaben
über die Dienftzeit der Lesiten das Ende derfelben beſtimmen. Es wird dadurch
die alte rabbinifche Behauptung wahrſcheinlich, daß feit dem Beftande des Tem-
pels ein beftimmtes Lebensjahr als Dienftaustritt für die Leviten nicht feftgefegt
gewefen fer (Rabboth, 182, b.). — Eine befondere Amtskleidung ſchreibt das
Geſetz für die Leviten nicht vor. Samuel trug als Diener der Stiftshütte ein
feinenes Ephod (1 Sam. 2, 18), ebenfo die Leviten, welche die Bundeslade aus
dem Haufe des Obed-Edom abholten (1 Chron. 15, 27). Diefes fiheint daher
obfervanzmäßig ihre gewöhnliche Kleidung gewefen zu fein. Erft gegen das Ende
des jüdischen Staates fuchten und erhielten die beim Tempelgefang thätigen Le—
viten von Agrippa I. die Erlaubniß, die priefterliche Kleidung tragen zu dürfen
(Jos. Ant. XX. 9,6). — Zu Wohnfigen erhielten die Leviten 35 in den 9 Stamm
gebieten, außer Juda, Benjamin und Simeon, zerſtreut liegende Städte nebft
deren Umgegend zu Lagerftätten und Weideplätzen für ihre Herden (Hof. 21, 5—7).
Die Ausdehnung der Umgegend wird dahin beftimmt, daß fie von der Mauer
an nach allen vier Himmelsgegenden hin taufend Ellen betragen müffe (Num. 35,
4. 5. vgl, Rosenmüller , Scholia in lib. Num. Excursus Il. p. 447. sqq.). Wenn
im Buch Numeri für die Leviten 48 Städte beflimmt werden (35, 7), fo find bie
Lesiten im weiteren Sinne mit Einſchluß der Priefter gemeint, denn 13 von jenen
48 Städten in den Stammgebieten Juda, Benjamin und Simeon waren Priefter-
ftädte (Sof, 21, 4, 19). Nah der Trennung des Reiches aber entfernten fi
die Lesiten aus dem Reich Iſrael und zogen ins Neid Juda und nah Jeruſalem
(2 Chron. 11, 13, f.), und ebendort (in und um Jerufalem) ließen fie fih auch in
der nacherilifchen Zeit wieder nieder (Ne. 11,18. 20.22.36). Für ihren Unter-
haft forgte, wie ſchon bemerkt wurde, Jehova felbft, indem er gleihfam feinen
Leviten, | 505
Naturalbezug von den Sfraeliten als deren oberfter Landes- und Lehensherr an
die Leiten abtrat. Derfelbe beftund in. der Zehentabgabe, die entrichtet werden
mußte nicht bloß von Feld- und Oartenfrüchten, fondern auch von reinen Haus—
thieren. Bon letzteren wurde je das zehnte Stüf, ohne auf die beffere oder
ſchlechtere Befhaffenheit zu achten, genommen, und ein Umtaufch durfte nicht
fattfinden, fonft fielen beide Stüde an das Heiligtfum, Bei den Feldfrüchten
fonnte man den Naturalzehnten ablöfen, mußte aber dann den fünften Theil über
den Schägungspreis geben (Levit. 27, 30—32. Num. 18, 21—24). Außerdem
follten aber die Iſraeliten noch einen weitern Zehenten von ihrem Feldertrag,
oder das aus ihm erlöste Geld zum Hejligtfum bringen und zu Mahlzeiten ver-
wenden (Deut. 14, 22—26), und in jedem dritten Jahre außerdem noch an ihren
Wohnorten Zehentmahlzeiten veranftalten und unter andern namentlich auch die
Leviten an demfelben Theil nehmen Iaffen (Deut. 14, 28, 26, 12). Daher unter:
ſcheiden auch die Thalmudiften einen erften (rosn Tr», Sota f. 49. b. Jebamoth
86. a. oder einfah Awsn), zweiten Co Yo>n, Maaser scheni, 1, 1.2. 7. 2, 1.
2. 3. 4. etc.) und dritten Zehenten (">> mo», Armenzehnte Pheah, 8, 2. 3. 8.
Demai 4, 3. 4.). Ob aber der letztere ihrer Meinung nach in jedem dritten Jahre
zum zweiten binzufommen oder an deffen Stelle treten follte, iſt nicht ganz klar.
Man hat fogar die Entrihtung des zweiten und dritten Zehenten als eine Sache
bezeichnet, die in der Wirklichkeit nie vorgefommen fei; allein da auch das Bud
Tobiä einen zweiten (devrioe dezarn 1, 7) und dritten Zehenten (Toirn dexarn
1, 8) kennt, und ebenfo FI. Joſephus CAntt. IV. 8, 8. 22), auh im Thalmud
der Hohepriefter Jochanan es tadelt, daß Einige zwar den zweiten Zehenten ent-
rihten, Andere aber es unterlaffen (Sota f. 49. b.); fo foheint es Faum bezwei-
felt werden zu können, daß die verſchiedenen Zehentabgaben wirklich in Hebung
gewefen feien, wenn gleich der Thalmud gelegenheitlich auch zeigt, daß und wie
man die Zehententrichtung zu umgehen gefucht habe (Berachoth f. 35. b.). Die
zum Theil etwas allgemeinen und unbeftimmt gehaltenen gefeglichen Beftimmun-
gen in Betreff der Zehenten haben den alten Rabbinen zu einer Menge von nä-
bern Deftimmungen und Zufägen Anlaß gegeben, die im Thalmud an verfchiedenen
Stellen, namentlich in den Tractaten Pheah, Maaſeroth und Maafer fcheni vor-
fommen; 3. DB. e8 müffe alles verzehntet werden, was eßbar fei, und werde zehent⸗
ſchuldig, fobald es genießbar zu werden anfange, Feigen z. B., wenn ihre Spigen
weiß werden, Trauben, wenn man die Kerne in ihnen fehen fonne, Datteln, wenn
fie Risen befommen, Mandeln, wenn fih am Kern eine Haut zeige (Maaseroth
1, 1. 2); namentlih wird unter anderem Kraufemünge (7:7:7 Schebiith 7, 1.
- 3Ödvoouov), Anis (n20 Maaseroth 4, 5. &v790v), Kümmel (712> Demai 2, 1.
zuvor), Gemüfe (>77 Joma 83. b. Aayavov), wovon nah Matth. 23, 23. und
Luc. 11, 42, die Schriftgelehrten und Pharifäer den Zehenten gaben, als zehent-
ſchuldig bezeichnet, dagegen von der Nautes(D3>, uryavor), die jene ebenfalls
verzehnteten (Luc. 11, 42), ausdrücklich gefagt, daß fie zehntfrei fer (Schebiith
9, ) u. ſ. w. Diefes Zehenteinfommen gehörte jedoch noch nicht ganz den Le—
viten, fondern fie mußten den zehnten Theil davon (Auyaz Ta ur) an die
Priefter abtreten (Num. 15, 26. ff. Neh. 10, 39), und erſt das Uebrige war ihr
Eigentum. Nach Joſephus (Vita, c. 15) und dem Thalmud (Jebam. f. 86.-a.
Kethub. f. 26, a.) hätten übrigens zur Zeit des zweiten Tempels die Priefter den
Zebenten auch unmittelbar vom Volk bezogen. Was hieran Wahres fer, wird
wohl, da jo Manches dagegen fpricht, dahin geftellt bleiben müffen. Zum Behufe
pünctlicher Entrihtung der Zehentabgabe ordnet übrigens das Gefeg weder eine
befondere Eontrolirung noch wegen Unterlaffungen eine beſtimmte Strafe an; die
Zehententrihtung war Religions- und Gewiffenspfliht, und wurde auch nur als
ſolche eingefhärftz Borenihaltungen waren nicht bloß eine Beeinträchtigung der
Leviten, fondern gewiffermaßen Jehova's ſelbſt, weßhalb auch die richtige Erfül-
506 Levitenamt.
lung dieſer Pflicht wiederholt als verdienſtlich und ſegenbringend bezeichnet wird
(Deut. 26, 12—15, Sprüchw. 3, 9. f. Mal. 3, 8—12). Deßungeachtet konnte
es an Unterlaffung derfelben in unruhigen Zeiten und unter abgöttifchen Königen
nicht fehlen, und es war gewiß nichts Weberflüffiges, wenn einzelne Könige, wie
3. B. Hisfia (2 Chron. 31, 4—10) die richtige Abtragung der Zehenten und
Erftlinge einfchärften. Vrgl. dazu die Art. Hoherpriefter u. Priefter, [Welte.]
Levitenamt. Wenn das hl. Mefopfer feierlich vom Priefter unter Affiftenz
eines Diacons und Subdiacons, der Leviten, mit Gefang und Räucherung dar-
gebracht wird, fo ift dieß ein Levitenamt (f. d. Art. Hohamt). Die Levitenämter
unterfcheiden fi wieder von einander, je nachdem der Celebrant ein Priefter,
oder ein Biſchof CPontificalamt) oder der Papft ift (Papalamt). Bei jedem diefer
legtern fteigert ſich einerfeits die Liturgifche Fülle, andererfeits die hiftorifche Treue
im firhlichen Eult der Meßliturgie, Schon bei dem gewöhnlichen Levitenamt tritt
diefe Wahrnehmung der Privatmeffe eines einzelnen Priefters gegenüber fehr
augenfällig hervor, Von der wefentlihen Dienftleiftung des Diacons bei der Li—
turgie im Altertbum (f. Art. Diaconat) find feine Functionen in der feierlichen
Meffe abzuleiten. Er war immer der nächſte Diener des celehrirenden Bifchofs
per Priefters, darum ift er auch jest am Altare, wie es das Verhältniß feiner
facramentalen Weihe zum Prieſterthum mit fich bringt, der Nächfte am Celebran-
ten und der eigentliche und einzige Minifter deffelben, während der Subdiacon,
wie er Anfangs nicht gefannt, fpäter unter die niedern dem Diacon im Ganzen
und Einzelnen untergeordneten Kirchendiener gezählt ift, auch jest, nad feiner
Erhebung zu den höhern Drbnungen des hl, Dienſtes, immer nur als Minifter
des Diacons oder an gewiffen Stellen der Liturgie als deffen Stellvertreter beim
Gelebranten erſcheint. Diefes Verhältniß, wie es einerfeitS in den hl. Weihen
des Subdiaconats, Diaconats und Presbyterats gegründet if, erfcheint im Levi—
tenamt auch Titurgifch ausgefprochen in der Stellung, welde die Leviten da zum
Gelebranten einnehmen, wo fie feine Functionen vorzunehmen haben, Der Diacon
ſteht nicht auf der oberfien Stufe des Altars, Suppedaneum , wo der Priefter ftebt,
fondern eine Stufe weiter unten, während die Stelle des Subdiacons Feine Stufe
des Altares, fondern der freie Raum unten am Altare hinter dem Diacon ift,
zum Zeichen, daß fein Minifterium feine unmittelbare Beziehung zum Priefter
alfp auch nur mittelft des Diacons am Dpferact dienend Theil zu nehmen hat,
Seine einzelnen Berrichtungen haben wie die des Diacons ihre Hiftorifche Grund-
lage und Berechtigung (fd. Art. Subdiaconat). Uebrigens fleht der Subdiacon
von jeher dem Diacon und durch ihn dem opfernden Priefter näher als irgend
ein Elerifer der niedern Weihen. Er erhält in feiner Weihe die Vollmacht, Kelch
und Patene, den ganzen Meßapparat dem Diacon darzubieten, denfelben in der
Mifhung des Weines mit Waffer zu unterflügen, wie er urſprünglich die Hl.
Gefäße bereit halten und in den Opferwein das Waffer zu mifchen hatte. Daher
denn auch feine Function beim Dffertorium, das Tragen der Patene big zur
Brodbrechung (ſ. d. A.) nah dem Gebet des Herrn, und nah der Communion
die Reinigung, Bederfung und das Wegtragen der hl. Gefäße vom Altare. Bei
am diefen VBerrichtungen ift er begleitet und unterftüßt von einem Acolythen, der
als Ceremoniar am Altare bald den Diacon, bald auch den Celebranten, bald
den Subdiacon in ihren Functionen unterftügen muß, den Eelebrant jedoch nur
da, wo der Liturgifche Gefang feine Hilfe dur Halten des Buches verlangt, Wie
früher der Diacon die Obforge hatte über den ganzen Öottesdienft, fo hat jest
an feiner Statt der Ceremoniar. die Obliegenheit, dafür beforgt zu fein, daß bie
Liturgie ihren gefegmäßigen Verlauf habe; hat alfo das Meßformular zuzurichten,
die Gebete zu bezeichnen, die Funetionen der Leviten zu begleiten, und bie übri-
gen Acolythen zu dirigen, Allen aber, wenn fie fih vom Altare Hinwegbegeben,
um auf den hiefür bereit ſtehenden Sitzen auf der Epiftelfeite fih zu feßen, das
-
gevitenrod — Lex Romana. 507
Zeichen Hiezu, zur Bedeckung des Hauptes und zum Abnehmen des Birets bei den
HE Namen u. f. w. und am Schluffe des Theiles, während deffen geſeſſen wird,
zum Erheben und Hinfchreiten an den Altar wieder zu geben. Er vertritt beim
Levitenamt die niedern Weihen , während die Leuchterträger und Thuriferare nur
als Acolythen erfcheinen. So ift dann die ganze Ordnung der hierarchiſchen
Stufen in der Kirche am HI, Acte des Opfers thätig und repräfentirt, [Kollmann.]
Levitenrock, f. Kleider, Heilige,
2eviticus, ſ. Pentateuch.
Lex barbarorum. Barbaren wurden bekanntlich von den Griechen
und demnach von den Nömern überhaupt alle Bölfer genannt, die außerhalb des
Bereiches ihrer Herrfihaft und der griechifch -römifchen Eivilifation flanden. Im
engern Sinne aber wurden von den Römern feit des Cäſars Conſtantius
Chlorus Zeiten die Burgunder, Franfen und die andern in Gallien eingewan-
derten Bölfer Barbaren genannt. Seit diefer Einwanderung hießen Romani die=
jenigen, welche im Lande geboren, barbari die, welche in die römifchen Provinzen
eingewandert waren. Da die Römer die Herrfchaft verloren hatten, unter der
Botmäßigfeit der Eingewanderten flanden und daher auch alle Bevorzugung jener
aufgehört hatte,"fo verlor auch jene Benennung barbari das Gehäffige und Ver—
ächtliche, das fie in früherer Zeit gehabt Hatte, und nannten fich jegt die einge-
wanderten Bölferftämme, die Burgunder, Franken, Weftgothen, Vandalen ꝛc.
felbft Barbaren zur Unterfoheidung von den eingeborenen (römifchen) Landesbe-
wohnern. Barbari hieß alfo jeßt nichts Anderes, als Eingewanderte. Lex
barbarorum ift daher au, im Gegenfage zu lex Romana, das eigene Recht der
in’ die römischen Provinzen eingewanderten Völferftämme (vgl. den Art, lex Ro-
mana), Noch unter der Regierung Ludwig des Frommen führt Agobard
Cin feiner Schrift De lege Gundobadae) Klage über die große Verſchiedenheit der
im fränfifhen Reiche geltenden Geſetze. Erſt allmäplig ift es dem Chriſtenthume
gelungen, die noch aus den frühern uncivilifirten Zuftänden diefer Völker herrüß-
renden Härten auszufcheiden, und Einheit und Gleichförmigfeit in denfelben her—
beizuführen. [Marr.]
Lex dioecesana, f. Abgaben und Didcefanredt.
- —— Jurisdictionis, ſ. Biſchof, Dibceſanrecht und Gerichts—
arkeit.
Lex Romana. Unter dieſem Namen wird das römiſche Recht begriffen
im Gegenfage zu den Gefegen der im fünften Jahrh. in die römifchen Provinzen
des Abendlandes, befonders in Gallien, eingewanderten Völker (f. Lex barba-
rorum), wo den eingeborenen Bewohnern der Provinzen (den Römern) noch
lange Zeit hindurch von den neuen Eroberern geftattet wurde, nach ihren früher
Gefegen (den römifchen) zu leben, während der eingewanderte Theil der Bevöl-
ferung nad feinen eigenen Gefegen regiert wurde, Diefe lex Romana ift dann
aber nicht das römifche Recht, wie es in fpäterer Ausbildung in den Pandecten
und dem Rechtsſyſteme Juſtinians vorliegt, fondern ein Breviarium des Codex
Theodosianus, welches im 20. Jahre des Weftgothenfönigs Alarich II. zu Ton-
louſe zufammengeftellt und zwei Jahre fpäter (506) veröffentlicht worden ift und
zuweilen Auctoritas Alarici regis, zuweilen Liber legum, gewößnlich aber lex Ro-
mana genannt wird. Diefes Breviarium hat aus den 16 Büchern des Codex. Theod.
(1.8. A) und aus den fpätern Novellen Theodoſius (des jüngern) und Balen-
tinan II, die jenem Codex als Anhang beigefügt waren, ausgehoben und zu—
ſammengeſtellt, was in den durch die Eroberung berbeigeführten veränderten Zu—
fänden noch als beftehendes römifches Necht für den römifhen Theil der Landes-
bewohner gelten follte, Daffelbe findet fi abgedruckt in Walter s Corpus juris
germanici antiqui Vol. II. p. 691 — 756. Diefe lex war nun aber in Gebraug
bei den romiſchen Galliern, d, i, bei jenen Galfiern, die vor Einwanderung der
508 Leyfer — Libanius,
Burgunder und Franken zum römischen Reiche gehört hatten, Sie war nament-
lich in Gebrauch in den Provinzen Galliens, welche zu dem weftgothifchen Reiche
gehörten Cin Süd - Gallien bis an die Pyrenäen). Auf diefe lex ift nun auch in
kirchlichen Canones Bezug genommen und biefelbe als Nechtsquelle angezogen:
z. B. im Coneil zu Arles (511) can. 1. in Betreff des Aſylrechtes; im Concil,
Turon. II. (567) can. 20. 21. in Betreff gottgeweihter Zungfrauen, welche hei-
rathen oder entführt worden find, wo Die lex Romana Tobesftrafen auf Entführung
folcher Zungfrauen und Wittwen feßt, und gegen Ehen in nahen VBerwandtfchafts-
graben. [Marx,]
Leyſer (Lyſerus und Leiferus), eine ziemlich zahlreiche Gelehrten - Familie
des 16ten, 17ten und 18ten Jahrhunderts, wovon mehrere den Zunamen Poly-
carp führten. Der erfte bemerfenswerthe ift Polycarp Leyſer, geb. zu Winenven
in Würtemberg den 18. März 1552, Sein Stiefvater war Lucas Dfiander, Leyfer
wurde Pfarrer zu Göllersdorf bei Wien, hierauf Fam er zum Confiftorium in
Wittenberg als Affeffor, wo er fich die Anerfennung der fogenannten Concordien⸗
formel fehr angelegen fein Tieß. In Streit gerieth er mit Johann Major, Samuel
Huber (ſ. d. A.) und Jacob Gretfer (ſ. d. A.). Verheirathet war er mit einer Toch-
ter des Lucas Cranach. Er ftarb am 22. Februar 1610, Seine Schriften, meift
bibliſche Bearbeitungen und Streitfipriften, find Längft vergeffen, — Sein Sohn
(ebenfalls Polycarp) war Dr. theol, und zuletzt Superintendent zu Leipzig, wo er
1633 ftarb. Seine Hauptfohpriften find: Centuria quaestionum theol. de artieulis
Christianae consordiae und feine Analysis theologica et scholastica in epist. ad
Galatos. — Ein Johannes Leyfer aus obigem Gefchlechte zeichnete fih Durch Ver-
theidigung der Polygamie aus, wodurd er viele Federn wider fi in Bewegung
fegte, Er flarb in den bürftigften Umftänden 1684 zu Amfterdam, — Leyfer,
Polycarp, geb. 1660, geftorben 1728 als Profeffor in Helmftädt, Er war Pro-
feffor ver Philofophie, Dr. medicinae und Dr. juris und hinterließ viele Titerär-hifto-
rifche Schriften. Mit einer für feine Zeit und Glaubensgenoffen feltenen Unpar«
teilichfeit fehrieb er feine Oratio de ficta medii aevi barbarie. Die übrigen Leyfer
fönnen wir füglich übergehen und verweifen auf Iſelins hiftorifch, Lexicon Bd, IIL
und Supplementband II. [Haas.]
Libanius, berühmter griechifcher Sophift aus dem vierten Jahrhundert n,
Chr, Er wurde zu Antiochien aus vornehmen Geſchlechte geboren, zwifchen
314—316 n, Chr. Nachdem er in feiner Vaterſtadt feine erfte Bildung erhalten,
ging er nach Athen, wo er befonders die alten Elaffifer ſtudirte. Bald wurde er
fo befannt, daß er ein öffentliches Lehramt zu erhalten hoffen konnte, Der Rhetor
Nicoeles bewog ihn, nach Conftantinopel zu ziehen. «Aber der Neid feiner Gegner,
die den ihm gefpendeten Beifall nicht leiden mochten, vertrieb ihn bald, Er wurde
ber Magie befchuldigt, und durch den Präfeeten Limenius verwiefen — um 346,
Er begab fih nach Nicomedien, wo er mit vielem Beifall Tehrte, und von wo ex
nach fünf Fahren nah Conftantinopel zurüdgerufen wurde, Müde der dortigen
Kämpfe, und einen Nuf nach Athen ablehnend, wirkte er von Cäſar Gallus fich
die Erlaubniß der Rückkehr in feine Vaterſtadt aus. Dort blieb er auch nad) dem
Tode des Gallus (354) bis an fein Ende, welches bald nach dem J. 391 ers
folgte, in welch’ letzterem Jahre er noch lebte. Kaifer Zulianus (ſ. d. A.) war
Gönner und Bewunderer des Libanius; er machte ihn zum Quäſtor und fand in
Briefwechfel mit ihm. Von Kaifer Valens wurde er zuerft verfolgt, erlangte
aber fpäter deffen Gunft. Er verfaßte eine Lobrede auf den Kaifer, und ver—
anlafte ihn zu einem Gefege, das den natürlichen Kindern ein gewiſſes Erbrecht
ſicherte, wobei Libanius perfönlich betheiligt war. Libanius, obwohl Hellenift
und Anhänger des Julianus, war nicht befonders intolerant gegen bie Chriften,
Er war Lehrer des Baſilius und Chryfoftomus, und blieb mit ihnen befreundet,
Bon einer großen Eitelfeit, in Folge deren er empfindlich und ſtreitſüchtig war,
Libanon. 509
ift er nicht freizufprechen. — Schriften: 1) rooyvuvaouerwv nagadeiyuare,
Muſterſtücke als Vorübungen zur Beredtſamkeit, in 13 Abfchnitten. 2) Reden,
im Ganzen 65, zu denen noch zwei weitere hinzufamen, die fpäter aufgefunden
wurden. 3) ueltrar vder Derlamationen, Reden über fingirte Gegenftände, und
mannigfadhe Schilderungen, im Ganzen 51. 4) Ein leben des Demofthenes und
Smbaltsangaben zu deffen Reden — auch den meiften Ausgaben des Demofthenes
beigegeben, — Ju feinen Reden zeigt fih Libanius als gewandter Nahahmer der
Alten, befonders des Demoſthenes. Seine Sprache iſt rein und attifch elegant;
doch wird Einfachheit und Natürlichkeit vermißt, die feiner Zeit überhaupt fremd
waren, Seine Reden enthalten viel über die gleichzeitige Gefchichte und Literatur,
3. B. die Lobreden auf Conftantins und Conftans, die Reden an und über Ju—
lianus, mehrere auf Antiochien ſich beziehende Neden, mehrere gegen Jcarius,
den Comes Orientis um 384 oder 385, und gegen andere Gegner, die er wegen
feiner politifchen Haltung unter den höhern Beamten oder als Lehrer fich zu—
gezogen. Auch verfaßte er mehrere Reden moraliihen Inhalts nah dem Ge—
ſchmacke jener Zeit, 3. B. über die Freude, über den Reichthum, über die Ar—
muth u. f. w. 5) Faſt noch wichtiger in Beziehung auf die Zeitgeſchichte find die
Briefe des Libanius, wovon ung eine große Zahl (1605 bei Wolf, in griechiſcher
Sprade, wozu noch 522 in Iateinifcher Ueberfegung fommen) erhalten iſt. Diefe
Briefe find zum großen Theil gerichtet an die politifch oder Literarifch bedeutendften
Männer der Zeit, 3.3. Julianus, Athanafins, Baſilius, Gregor von Nyffa,
Ehryfoftomus u. a. m., neben denen auch viele ganz Furze Briefe, bloße Em-
yfehlungen, Höflichfeitsbezeugungen oder perfönlihe Nachrichten vorfommen ; alle
diefe Briefe find mehr oder weniger anziehend und zierlich gefchrieben. Dazu ge=
hören noch die von W. Morell herausgegebenen errısokızoi Xagaxrıjgss oder
Briefformulare. Andere noch nicht befannt gewordene Briefe follen fih noch in
manchen Bibliothefen finden; ebenfo auch Reden deffelben. — Bon den Schriften
des Libanius erfihien bis jest Feine Gefammtausgabe. Die befte Ausgabe feiner
Reden ift von Reiske: Libanii sophistae orationes et declamationes ad fidem opt.
cod. recens. et perp. adnot. illustravit Reiske. Altenburg. 1734 sqq. IV vol. —
Die befte Ausgabe feiner Briefe iſt: Libanii Epp. Gr. et Lat. ed. et nott. ill. Wolf.
Amstel. 1738 fol. — Das Leben des Libanius findet ſich befchrieben in einer Art
Selbſtbiographie — Buös 7; L0yoS nregl eis Euvrov TuynS, fowie bei Suidas
und Eunapius (Vit. Sophist.), Bon Neuern haben e8 gefchrieben: Berger, de
Lib. Disp. VI. — 696; Reisfe vor feiner Ausgabe. T. I. und Peterfen, Comm.
de Libanio soph. P. I. Havn. 1827. [&ams.]
SLibanon, 75:22, Alßavos, Libanus; der Name nicht etwa von Alßavog,
der Weihrauchbaum, fordern von j2> canduit; 712 heißt fomit der weiße Berg,
entweder wegen des ewigen Schnee’S auf feinen (bef. des Hermon) Gipfeln (vgl.
Alpes = albi montes), oder vielmehr, da der Schnee nicht in fo großer Menge vor-
handen ift, um dem ganzen Gebirge ein ſtets markirtes Ausſehen zu verleihen,
wegen des weißen Kalkſteins, aus dem es befteht, und wodurch die felfige Ober-
flache überall weißlich erſcheint (Robinfon III, 723). — Der Libanon, das große
Gebirg (der Berg Ar zer. 28. Ezech. 17, 25. Hagg. 1, 8.) an der nördlichen
Grenze des alten Paläftina (Deut. 11, 24. Joſ. 1, 4.) zerfällt in zwei von
Nordoft nah Südweſt parallel fih binziehende Bergfetten, deren weftlihe, der
eigentliche Libanon Ciegt LU) >, Dſchebel Libnan) füblih von Sidon an-
hebt und fih Tängs dem mittelländifchen Meere Hinzieht, bald mehr, bald weniger
F gegen die Küfte hervortretend und mehrfach mächtige und fteile Vorgebirge in’s
I Meer ausfendend; die öftliche Höhere Kette, bei den Griechen und Römern Arrı-
Aßevos, Antilibanus (die Schreibung Antilibanen iſt den Alten nicht befannt,
iegt PA N/ Oſchebel eſch Schurky, d. i. der oͤſtliche Berg) fällt gegen
510 Libanon.
Nordoſt und Oſt nach der Wüſte und Damascus zu ab. Letzterer Stadt beinahe
gegenüber theilt ſich die öſtliche Kette in zwei Rücken, die etwas auseinander
laufen und den fruchtbaren Wady et-Teim einſchließen. Der öſtlichſte ver beiden
Rüden fegt feine fünweftlihe Richtung fort und iſt die eigentliche Verlängerung
des Antilibanus, diefes ift der majeftätifhe Hermon ET) des A. T, (Deut
3, 9. Pf. 29, 6. 89, 13. Hohesl. 4, 8. 9.), auh Baal Hermon (Richt. 3, 3,
1 Chrom. 5, 23.) und, weil er nicht eine einzelne Bergfpige, fondern eine Berg
fette, fo erklärt fih der Plural (oraan Pf. 42, 7.). Die Eanaaniter nannten
Cnad Deut. 3, 9.) den Hermon jo, Schirjon Cogl, Pf. 29, 6,), und bie
Amoriter Ani, Senir (Ezech. 27, 5. vgl. Hohesl. 4, 8. noch erhalten in der
arab, Form Sunir zu Abulfed, Zeit), auch jin”w, Sion (Deut, 4, 48,), wahr-
fcheinlich weil diefe befondern Spigen ihnen die nächften waren; der höchfte Punct
des Hermon erhebt fih 10,000 Fuß über dem Mittelmeer, fein Anblick entzückt
jest noch alle Reifenden und erflärt Stellen, wie Hphest. 5, 15. Der Gipfel ift
mit ewigem Schnee bedeckt; daher führt der Hermon ſchon von Alters her Die
Benennung Schneeberg (chald. ab "10, Tur Talga, Targ. Hieros. Deut, 4,
48., arab. zZ! > Digpebel es⸗Saldſch, jeht al M> Digebet eſch⸗
Scheikh, vgl. Robinfon II, 505, II, 609 ff. 625 ff. u. a.). Bon diefem bibl,
Hermon ift zu unterfcheiden der fog. „Eleine Hermon“ der h. Dfehebel ed Duby,
im Norden der Ebene Jesreel, eine Stunde fühlih vom Thabor. Die Bibel
fennt diefe Bezeichnung nicht, fie entftand wahrfcheinlich im vierten Jahrhundert
aus unrichtiger Deutung von Pf. 89, 13, (Thabor und Hermon jauchzen ob dei-
nem Namen); da fie hier zufammen erwähnt find, fo wurde angenommen, fie
müßten auch nahe bei einander gefucht werden; in den Tagen des Hieronymus
war die Verwechslung fhon allgemein üblich (vgl. ep. 44. ad Marc. ep. 86. ad
Eustoch. Robinfon III, 404 ff.). — Zwifchen beiden Bergrüden, dem eigentlichen
Libanon und dem Antilibanus, Tiegt die äußerſt fruchtbare „Ihalebene des Li—
banon“ (Joſ. 11, 47.), das alte Coleſyria (xoidn Svoie Plin. 5, 17. Str. 16,
754), jest — „el⸗Bukaa, vom Fluß Litany (d. alten Leontes) bewäſſert.
Traurige Reſte der ehemaligen Herrlichkeit dieſes Thales find die Ruinen von
Baalbek (Heliopolis). — Der nördlichſte Theil des Libanon, wo Canaaniter und
Sfraeliten vermifeht wohnten, hieß Grenzmarke der Heiden (DYa7 2723 Jeſ⸗
8, 23,, daraus der Name Galiläa Matth, 4, 15.). Das herrfchende Geftein des
Libanon ift weißlicher Zurafalf (Nichter, Wallfahrt S. 683), es finden fih
Mufcheln und Fifchverfteinerungen auf 3000 Fuß Höhe (Korte, Reife, 270),
Die Höhe erhebt fih, der Gebirgsart gemäß, ftufenweife und endet in wellen-
förmigen Plateau’s. Die Höhen bleiben ſtets mit Schnee bedeckt (Tacit. hist. 5,
6. ipsa aestas eorum [jugorum Libani] est hiems), in alter Zeit Holte man ihn
son dort, um die Getränke zu fühlen (vgl. Spr. 25, 13. 3a3U nz, Gähnee-
abfühlung); in den nievern Regionen ſchmilzt er zur Sommerzeit, ſpendet reich-
liche Bewäfferung (Hohesl. 4, 15.), und erzeugt eine fehr üppige Vegetation
(Hof. 14, 6. Nah, 1, 4.); arabifhe Dichter fagen daher vom Libanon: er trage |
den Winter auf feinem Haupte, auf feinen Schultern den Frühling, in feinem
Schooße den Herbft, der Sommer aber fhlummere zu feinen Füßen am Mittel-
meer (BoIney, Reife ꝛc. I, 243), Namentlich ift jegt der Weſten vortrefflich
bebaut, die fteile und felfige Oberfläche wird durch gemauerte amphitheatralifch
fich erhebende Terraffen für den Anbau zugerichtet, diefe find von oben mit Erde
belegt, von unten angefehen ift die Vegetation nicht fichtbar, man. glaubt nur
Maſſen nackter weißliher Felfen durch tiefe, wilde, nach der Ebene hinlaufende
Schluchten getrennt vor fi zu haben, hinter welchen eine Menge betriebfamer
i _ Libellatiei — Liber diurnus Romanorum Pontificum. 541
Dorfer mit ausdauernden und fleifigen Bewohnern verborgen iſt; am meiften
wird der Maulbeerbaum gepflanzt und viel Seide erzeugt, faft die einzige Er—
werbsquelle; außerdem ganze Haine von Gilberpapeln, Platanen, Eichen, Cy—
preffen, Acarien; au die Rebe gedeiht in den tiefern Lagen und liefert treff-
lihen, ſchon in alter Zeit (Hof. 14, 8. Hohesl. 8, 11.) gefannten Bein, Nahe
beim nördlichen und vielleicht höchſten Gipfel des Libanon beim Dorfe Bſchirrai,
zwei Tagreifen von Beirut, liegt der altberühmte Cedernhain. In der neueften
Zeit fcheint die Zahl diefer herrlichen Bäume wieder im Zunehmen, Robinfon
fand ihrer mehrere Hundert. Lange hielt man diefen Hain für den einzigen Ueber—
reft der alten Cedern des Libanon; im J. 1805 entdedte Seetzen noch zwei an-
dere von großem Umfang (Zachs, monatl. Eorrefpondenz;, XII, 549, f. d. Art.
Cedern). Der Libanon ift reich an manderlei Thieren, auf den Triften weidet
Schaf- und Ziegenvieh (Jerem. 40, 16.); in den Wäldern, fowie in den vielen
Höhlen und Schluchten Haufen Bären, Wölfe, Schafale, Löwen ꝛc. (Hohes. 4,
5 ff. vgl. 2 Kön. 14, 9.). — Libanon und Antilibanus fenden Flüſſe nah allen
Richtungen; gegen Norden den Drontes, gegen Südweften den Leontes, beide
in's Mittelmeer; der Antilibanus entfendet oftwärts die Waſſer Amana und Phar-
phar nach dem alten Damascus; gegen Süden endlih ſtrömt der Jordan dur
den Genezareth in's todte Meer. Zn der falomonifgen Zeit gehörte der Libanon
dem Hiramz jegt bewohnen ihn Hauptfählih die Maroniten; im Diftrict Kesra—
wän find fie faft die einzigen Einwohner; der gewöhnlihe Wohnfig ihres Pa-
triarchen ift das Klofter Ranöbin auf dem Libanon Hinter Tripolis, Früher waren
die Drufen (ſ. d. A.) die Herren des Gebirges; feitvem aber die herrfchende
Emirsfamilie, das Haus Schehäb, zu dem maronitifchen Glauben übertrat, und
in Folge Hievon der ganze höchfte Adel des Berges, werden fie an Zahl und
Macht von den Maroniten übertroffen (Robinfon II, 744 ff. 753 ff.). [Rönig.]
Libellatiei, f. Abgefallene, *
Libelli paecis. f. Abgefallene.
Libelli poenitentiales, ſ. Beichtbücher.
Liber diurnus Romanorum Pontifiecum — eine fehr alte
Sammlung son Formularien der römifchen Kirche, nach welchen die beftändig
fih wiederholenden Gefhäftsfchreiben der Päpfte abgefaßt wurden. Diefes For-
mel- oder Kanzleibuch der römifchen Kirche zerfällt in fieben Capitel, welche
wiederum in Titel abgetheilt find: das erfte Capitel (indiculum scribendae epi-
stolae) enthält die ſtehenden Formularien der päpftlihen Schreiben an den Raifer,
die Kaiſerin, den Patricius, Exarchen, Conful, König, Patriarhen, Erzbifchof
von Ravenna ꝛc.; das zweite Kapitel (de ordinatione Summi Pontificis) handelt
von der Wahl und Drvdination des Papſtes und den dabei vorfommenden Ge-
ſchäftsſchreiben an den Kaifer, Erarchen ꝛc.; in derfelben Weife Handelt das dritte
Capitel (de ordinatione Episcopi Suburbicarii a Summo Pontifice) son der Wahl
und Confecration der fuburbicarifhen Bifhöfe; im vierten Capitel (de usu Pallü)
finden ſich vier Formularien für die Verleihung des Palliums; das fünfte Capitel
(de praeceptis Summi Pontifieis ad Episcopos suae ordinationis, de sacris locis ef
Sanctorum reliquiis) umfaßt 21 Formeln für die verfchiedenen Gefchäftsverhält-
niffe, in welchen der Papft zu den von ihm ordinirten italifchen Bifchöfen ſtand;
das fechste Capitel (de rebus ecelesiae procurandis et alienandis) bezieht fih auf
; die Verwaltung und Veräußerung der römifchen Kirchengüter; und endlich das
fiebente (diversa privilegia apostolicae autoritatis concessa Monasteriis, Diaconiis
et Xenodochiis) auf die Ertheilung von Privilegien und Conceffionen an einzelne
tirhliche Inftitute und Corporationen. — Ber diefe für die Kenntnif der Nechts-
verhältniffe dersrömifhen Kirche im fechsten und fiebenten Jahrhundert höchſt
wichtige Sammlung veranftaltet Habe, läßt ſich nicht ermitteln, und ebenfo ift
auf die Zeit ihrer Abfaffung unbeſtimmt; indeffen ſetzt fie der Jeſuit Garnier
512 "Liber pontificalis — Liber septimus.
mit großer Wahrfcheinlichkeit bald nach dem J. 714. In den Oefegesfammlungen
des Zoo von Chartres, Gratian, Anfelm von Lucca u, A. finden ſich einzelne
Bruch ſtücke aus dem Liber diurnus, aber die Sammlung in ihrer Bollftän-
digkeit blieb lange unbekannt; Baluzius bemerft zu Petrus de Marca CL. 1.
e. 9. n. 8), ſchon Lucas Holftenius habe im J. 1660 eine vollftändige Ausgabe
des Liber diurnus zu Nom veranftaltet, allein fie fei unterbrücdt worden, Die
erfte, mit einer ausführlichen Einleitung und gelehrten Noten und Differtationen
serfehene Ausgabe beforgte der fehon erwähnte Jeſuit Joannes Garnerius:
Liber diurnus Rom. Pontif. ex antiquissimo codice. MS. nunc primum in lucem
editus. Parisiis, 1680. Nachträge hiezu Iieferte J. Mabillon, Museum Italicum,
T.I. P. II. p. 32. Mit diefen erfehien er in Christ. Godof. Hoffmann, Nova
scriptorum et monumentorum collectio, Lips. 1733. T. II., und zulegt von P. J.
Riegger, Viennae, 1762. 3 [Rober.]
Liber pontificalis, ſ. Kirchengeſchichte.
Liber septimus. Unter diefem Namen ift eine Sammlung päpftlicher
Derretalen befannt, die gegen das Ende des 16ten Jahrhunderts Petrus Mat-
thäus von Lyon ohne Öffentliche Auctorität verfaßte. Er nahm in fein Werf alle
diejenigen päpftlichen Conftitutionen auf, die von Gregor XI. bis auf Sirtus V.
erfchienen waren, ohne in's Corpus juris canonici (ſ. d. U.) aufgenommen zu fein;
er theilte fie nach dem Mufter der bisherigen Sammlungen in fünf Bücher und
Titel ein und Hatte die Abficht, einen Anhang zu den im Corp. jur. befindlichen
Ertravaganten zu geben. Zum erftien Male wurde diefe Sammlung in Lyon im
J. 1590 gedrudt, aber obwohl fie bald nachher auch in die Gefammtansgaben
des canonifchen Gefegbuches aufgenommen wurde, fo hat fie doch weber in ben
Schulen noch in den Gerichten fich gefegliches Anfehen verfhaffen Tonnen und be⸗
ſitzi ſolches auch heutzutage in keiner Weiſe; die in ihr enthaltenen Deeretalen
haben nur diejenige öffentliche Geltung, die fie einzeln für fi in Anſpruch
nehmen fönnen, auch wenn fie nicht in der Sammlung flünden. Der Werth der
Compilation, wenn überhaupt von einem folhen die Rede fein kann, iſt demnach)
lediglich ein Hiftorifher — und wenn fie als Anhang zu den Ertravaganten in
den Ausgaben des Corp. jur. von Petrus Pithöus und J. 9. Böhmer noch auf⸗
genommen wurde, ſo wurde ſie in der neueſten Edition von Richter mit Recht
hinweggelaſſen. — Mit dieſer Sammlung des Petrus Matthäus iſt ein anderer
Liber septimus, welcher derfelben Zeit angehört, nicht zu verwechfeln. Gre—
gor XIII. hatte drei Carbinälen den Auftrag ertheilt, eine officielle Compilation
der neuern päpftlichen Eonftitutionen zu verfaffen. Nach feinem Tode ſetzte Six⸗
lus V. im J. 1587 eine neue Commiſſion von Rechtsgelehrten zu demſelben Zwecke
nieder und wählte zum Vorſtand derſelben den Cardinal Dominicus Pinelli;
unter Clemens VIII (1592—1605) wurde die Sammlung, die nach der Form
der bereits vorhandenen in Bücher und Titel eingetheilt war, vollendet. Aber
obwohl fie im J. 1598 unter dem Namen Liber septimus Decretalium Clementis VII.
bereits gedruckt war, fo erfolgte ihre Publication doch niemals. Pins IV. hatte
nämlich, und zwar vollfommen im Sinne des Triventinums (Sess. XXV, decret.
de recipiendis et observand. decret. Conc.), ſchon im 3. 1564 „ad vitandam per-
versionem et confusionem® die Anordnung getroffen, daß die Befchlüffe diefes
Concils, über welche Zweifel entftehen follten, nur durch ben römifchen Stuhl
interpretirt werben bürften und diejenigen mit der Ercommunication bedroht,
welche Privateommentare, Gloffen und was immer für Snterpretationen der be=
treffenden Befchlüffe veröffentlichen würden (Magnum Bullar. Rom. Tom. Il. p. 111).
Nun enthielt der in Frage ſtehende Liber septimus gleichfalls die Beſchlüſſe des
Tridentinums, und es Tag die Gefahr nahe, daß die Sammlung, wenn fie ver-
bffentlicht würbe, nach ber bisherigen Praxis alsbald mit Commentarien und
Gloſſen verfehen und ebendamit in Betreff der Trienter Deerete das wohlbegrüns
4 512
dete Verbot Pius’ IV. mißachtet würde. Um hiezu Feine Veranlaſſung zu geben,
unterblieb dje Publication. — Vgl. Prosper Fagnani, Comment. ad c. 12.X.
de judie. (2. 1.) ar. 61 sqq. und Prosper tambertini, Instit. eccles. Ingolstad,
1751, p. 304. BE [Rober.]
- Liber sextus — der dritte Theil des Corpus jur. can. (ſ. d. A.). Nach⸗
dem im Jahr 1234 die große Deeretalenfammlung Gregors IX. erfhienen und
überall als Gefegesbuh anerfannt worden war (f. den Art. Gregorii IX. de-
eretales), floffen die Duellen des Eirhlihen Rechts ununterbrochen fort. Die
feit dem bezeichneten Jahre erfchienenen päpftlihen Deeretalen wurden wie bisher
efammelt, jedoch nicht mehr von Privatperfonen, — denn dieß hatte die
blicationsbulle Gregors IX. ausdrüdlich unterfagt, — fondern auf Veranlaffung
und unter Mitwirkung der Päpfte ſelbſt. Die Gefhichte des canoniſchen Rechts
kennt drei folder Decretalenfammlungen. Die erfte ift von Innocenz W.
(1243—1254) veranftaltet und enthält die Befhlüffe des erften Lyoner Concils
(1245) nebft einigen Deeretalen defjelben Papftes; er fandte fie an die Univer—
fitäten von Bologna und Paris zum Gebrauche in den Gerichten und Schulen.
Sie wurde von Henricus, Cardinal von Oſtia (+ 1254) gloffirt und von J. 9.
Böhmer in feinem Corp. jur. can. (Tom. Il. App. Nr. 3. p. 349 sqqg.) nad einem
Manuferivte der Berliner Bibliothek zum erſten Male edirt, — Die zweite ift von
Gregor X. (1271— 1276), begreift bloß die Decrete des zweiten Lyoner Eon-
eils (1274) und wurde von der Synode feldft redigirt. Wilhelm Durantis hat
zu ihr einen Commentar gefhrieben, fie findet fih in den Eoncilienfammlungen,
3.3. bei Manfi, Tom. XXIV, p. 81; ein Berzeihniß der Varianten gibt Boh—
mer 1. o. Nr. 4. p. 369. — Die dritte ift bloß aus einer Handfhrift der. Er-
langer Bibliothek: befannt und enthält fünf Deeretalen Nicolaus’ HI.; an der
Spige der Sammlung ftehen zwar die Worte: incipiunt constitutiones NicolailV.;
da aber in den Conftitutionen feldft immer der Name Nicolaus’ IH. ſteht, und da
fie auf im Liber sextus (ec. 16. 17. de elect. 1. 6; c. 1. de jurejur. 2. 11.) dem-
felden Papſte zugefhrieben werben, fo ift Far, daß die betreffende Ueberſchrift
aus der Unfenntniß eines Abfchreibers entftanden und Nieplaus III. (1277 — 1280)
ihr Berfaffer if. Sie wurde, wie die voranftehende Publicationsbulle beweist,
an die Pariſer Univerfität geſchickt. — Diefe Sammlungen follten nun nach dem
Willen der Päpfte nicht abgefondert für fich beftehen bleiben, vielmehr waren fie
- bereits in Bücher und Titel abgetheilt und mit dem ausdrüdlichen Befehl an die
Univerfitäten geſchickt worden, die einzelnen Stüdfe in die Sammlung Gregors IX.
an den geeigneten Stellen einzurüden; „uti velitis, fagt die Bublicatioushulle Inno⸗
‚senz’ IV. bei Böhmer 1. c. p. 351, a modo tam in judiciis, quam in scholis, ipsas
‚sub suis titulis, prout super qualibetexprimitur, inserifacientes.“
Allein diefe Einverleibung wurde nie vollzogen, fondern jede einzelne Sammlung
abgefondert gefhrieben, gloffirt und ver Sammlung Gregors IX. angehängt,
fo daß das Corpus Decretalium jegt aus vier Theilen beftand. Diefer Umftand,
und noch mehr die Thatſache, dag feit Abfchluß der gregorianifhen Sammlung
viele Deeretalen erlaffen worden waren, die fih in feiner der feinen Samm-
lungen vorfanden und über deren Aechtheit in den Gerichten und Schulen vielfach
Zweifel erhoben wurden, veranfaßten Bonifaz VIII zu dem Entſchluß, eine
umfaffende authentiſche Sammlung ſämmtlich er feit Gregor IX. erfchienenen
Decretalen zu veranfialten und fo die entftandene Rechtsunſicherheit zu bejeitigen,
Die Ausführung diefer Arbeit übertrug der Papft im J. 1297 drei gelehrten
Prälaten, dem Erzbifhof von Embrün, Gutlielmus de Mandagots, dem Bifchofe
| yon Bezierd, Berengarius Fridellus und dem Cardinal-Virefanzler Richardus von
Siena, Ueber den Antheil des berühmten Legiften Dinus f. d. Art. und Sa-
Yigny, Gefhichte des römischen Rechts, V. Bd. S. 399, 405, Das Materiale,
welches die Redactoren benügten, find die drei bereit$ erwähnten Compilationen,
Kirchenlexikon. 6. Br. 33
514 Liber status animarum — Libera.
einzelne Extravaganten Gregors IX. (z. B. c. 1. de rescript. VI. 1. 3; ec. 1de
testib. VI. 2. 10.) und feiner Nachfolger, hauptfädhlich aber die von Bonifaz
felbft erlaffenen Conftitutionen. Bon den Deeretalen, die fih vorfanden, wurden:
jedoch nicht alle aufgenommen, fondern nur Diejenigen, die zu allgemeinen Ge—
fegen geeignet fehienen, und an den aufgenommenen wurden, um fie dem all-
gemeinen Gebrauche anzupaffen, viele Veränderungen vorgenommen, theils
durch Ausſcheidung ungeeigneter Gtellen (3.8, c. 1. de decimis VI. 3. 13.),
theils durch Beifügung neuer Zufäße (3. 3. c. 2. ne clerici. VI. 3. 24.), fo daß
die weggelaffenen papftlihen Verordnungen hinfort ihre Wirffamfeit gänzlich ver-
Toren und die aufgenommenen nur in der Form gefegliches Anfehen erhielten, im
welcher fie aufgenommen wurden, ein Verfahren, gegen welches lediglich Nichts
einzuwenden ift, und weldes Bonifaz in, feiner, Publicationsbulle (bei Böhmer):
offen darlegt. Die neue Sammlung wurde genau in biefelben Bücher und.
Titel eingeteilt, wie die Sammlung Gregors IX., nur mußten einzelne Titel
wegen Mangels an Stoff binweggelaffen werden, das Ganze aber wollte Bonifaz
nur als Anhang zu der Sammlung Gregors betrachtet wiffen und gab ihm deß⸗
halb mit Rüdficht auf die fünf Bücher der Iegtern den Namen Liber sextus
decretalium. Binnen Jahresfrift war die Arbeit vollendet, am 31. März 1298
publicirte fie Bonifaz in einem Eonfiftorium, und nad einer genauen Prüfung
durch die Cardinäle wurde fie nach Bologna und Paris geſandt; ob fie auch an
die legtere Univerfität geſchickt worden fer, wurde wegen der heftigen Streitig-
feiten zwifchen dem Papfte und Philipp von Frankreich vielfach bezweifelt, allein
ohne Grund, denn das in der Bibliothek zu Gießen befindlihe Manuſcript ent⸗
hält die Publicationsbulfe für Paris, welde mit der für Bologna beſtimmten,
die in den Ausgaben des Sextus gewöhnlich vorangedruckt ft, wörtlich überein-
flimmt. — Alsbald wurde die Sammlung gloffirt, in den Schulen erflärt und in
den Gerichten als Geſetzesbuch gebraucht, fo daß fie, wie die Sammlung Gre—
gors IX., allgemeines Anfehen erlangte und noch heute einen integrirenden
Beftandtheil des Corp. jur. can. bildet, Weber die Eitirart gl, den Art, Corp.
jur. can. II. Bd. ©. 891. — Eine Gloſſe zum Sextus fhrieb Guido de Baifo,
feit 1283 Archidiacon zu Bologna; die Glossa ordinaria verfaßte Johannes An-
dreä (f. den Art, Andrei Joh.), Profeffor des canonifhen Rechts zu Bologna
(+ 1348); Apparate lieferten Johannes Monahus, Picardus und Zen-
zelinus de Caſſanis. — Vgl. über den Liber sextus: Van Espen, Commen-
tarius in Canones, dissertaf. histor. in Lib. sextum. J. H. Böhmer, Corp. jur.
can. dissertat. de decrelalium Pontif. Rom. variis collect. p.XXX. Koch, opuscula
juris can. p. 43 sqg. [Rober,]
Liber status animarum, f. Kirchen bücher. ae
Libera. Darunter verfteht man das feierliche, mit den fymbolifchen Arten
der Befprengung mit Weihwaffer und der Beräucherung begleitete Gebet, welches
am Tag des Begräbniſſes erwachfener Perfonen, wie auch am 3. 7. und 30.
darnach, am Jahrestag und am Gedächtnißtage aller Abgeftorbenen nad dem
Requiem verrichtet wird, Es heißt Libera vom Anfangswort des dabei gefungenen
Refponforium, auch Absolutio; das Iegtere wohl deßhalb, weil die Dration bei
den Erequien mit Absolve anfängt. Absolvere defunctos est dicere collectam
mortuorum: „Absolve etc.“ Du Cange s. v. Absolutio. Weber das hohe Alter
einer derartigen, von der Darbringung des hl. Meßopfers verfchiedenen Fürbitte
ſ. Fr. X. Schmid, Liturgif, Bd, I. ©, 470, Heut zu Tage befteht fie in einem
Refponforium und einer Eoflecte, ©, die Art, Erequien und Abfolution, Dag
Refponforium Yautet: „Errette mich, v Herr, von dem ewigen Tode, an jenem
furchtbaren Tage, wenn Himmel und Erde bewegt werden, da du fommen. wirft,
die Welt zu richten durch Feuer. Zittern und Furcht überfälft mich, wenn ich
gedenfe an das Gericht und die kommende Rache an jenem furchtbaren Tage,
Liberius. 515
Sener Tag, der Tag des Zornes, der Tag des Elends und bes Jammers, der
große und bittere Tag, da du fommen wirft ꝛc.“ Es wird von Chore, der Bier,
wie fonft, die gefammte Kirche repräfentirt, gefungen und hat als lyriſcher Erguß
im Ritus der Erequien feine paffende Stellung und findet da feine Erflärung,
Die Kirche, wenn fie eines ihrer Glieder in das über ihr flehende Bereich auf-
genommen weiß, fucht zunächft den Herrn deffelben zur Milde zu beftimmen durch
das große Dpfer des neuen Bundes (Requiem), ſchaut aber auch die Noth ihres
Kindes, Als Mutter veräußert fie fih ganz in diefe Noth; fie empfindet das
Bangen und Zagen einer Seele, welde, geftellt vor den dreimal Heiligen und
durchleuchtet vom Lichtglanz ewiger Wahrheit als reinftes Eigenthum nur Nichtig-
feit und Sünde an fich erfennt; fie fühlt, wie groß der Befig des erfannten In—
begriffs alles Guten ift: beides drängt die Bitte hervor, nur nicht ewig von Gott
gelondert zu werden, fomme dann der Befig, wann er wolle. Die Kirche fegt
Alles ein, um diefe ihre Bitte Fräftiger zu machen. Faſſen wir dad Officium divin.
als Opfer der Kirche und diefes Reiponforium ald Surrogat des ganzen Officium
Defunctorum (aus welchem es auch entnommen ift); fo kann diefe Fürbitte als
die fräftigfte angefehen werden. Aus dem Gefagten erklären fih die Ausdrücke:
libera me, a morte perpetua etc. wohl von felbft zur Genüge. Man hat für
den Chor an die Stelle des Libera in gewiffen Gefangbücern gefegt: „Hier
Menſch, bier lerne, was du bift! Lern’ Bier, was unfer Leben ift: Ein Sarg nur
and ein Leichenfleid Bleibt dir von aller Herrlichkeit 0.” Wo mehr Geift, Poeſie
und mehr Einheit mit den übrigen Eulttheilen fei, kann füglih dem Urtheil des
Lefers überlaffen werden. Die römifche Liturgie zeigt fih großartig auch im
Heinften, ſcheinbar unbedeutendften Theil. [Frid.]
Siberius, Bapft, ein geborener Römer, gelangte nach Papſt Julius. 352 auf
St. Peters Stuhl, für welchen ihn feine Frömmigfeit und fein Glaubenseifer in
reihem Maße befähigten. Das Kirchenhaupt bedurfte aber aud damals einer
befondern Glaubensfraft. Grimmig war der Haß der arianifchen Hofbifchöfe
gegen Alle, welche nicht in ihre Gemeinfhaft treten wollten; der Kaifer Con—
fantius cf. d. Art. Conftantius II.) war der tyrannifhe Bollftreder ihrer Ge—
füfte, die geiftlichen Höflinge aber feine fügfamen Werkzeuge, die in ihrem feigem
Hochmuthe dem Kaiſer gerne das Prädicat „ewig” beigelegt hätten, was fie dene
Sohne Gottes verweigerten. Der Hauptgegenftand ihres Haffes war der glau—
benstreue Bifhof Athanafius (f. d. A.). Um die dur die Verfolgung diefes
katholiſchen Glaubenshelden entftandenen Wirren beizulegen, verlangte der Papft
Liberius die Synode von Arles (353). Durch Erfhöpfung alfer Mittel der
Liſt und Gewalt fegte Conſtantius die Abfegung des Athanafins durch, felbft der
päpftliche Legat unterzeichnete diefe. Auf einer neuen Synode zu Mailand (355)
trat der Despotismus des Kaifers gegen die Kirche ganz offen hervor; er fagte
es den Bifchöfen rund heraus: Was Ich will, muß euch Kirchengefeg fein! Unter-
zeichnet, oder weichet von euren Kirchen! Einer folhen Sprade gegenüber er—
Härt fi wohl die Sprache eines Hofius von Eorbuba, der dem Kaiſer muthig
erflärte: „Mifche dich nicht in Eirchliche Dinge, und gib uns darin feine Vor—
ſchriften, fondern lerne das lieber von uns. Dir hat Gott das Reich übertragen,
uns aber. die kirchlichen Angelegenheiten” u. ſ. w. Der tyrannifhe Wille des
Kaiſers erwirkte die Verbannung des Athanaſius und die Unterzeichnung eines
arianifhen Symbolums. Papft Liberins war nicht zu gewinnen, dafür mußte er
nach Thrazien in's Eril wandern, aus welhem ihm jedoch der Kaifer auf die Für-
bitten der römifchen Frauen und wegen der unruhigen Bewegungen des Bolfs
die Rückkehr nah Rom geftatten mußte. Auch andere muthige Bifhöfe, wie der
I 100jährige Hofius, Hilarius von Poitiers, Lucifer von Eagliari, Eufebius von
I Bercelfi (f. diefe Art.), Divnys von Mailand, mußten ihre Glaubensftärfe dur
Verbannung: büßen, Die arianifchen Bifhöfe fannen auf eine zweckdienliche
: 33*
516 Libertiner.
Weiſe, wie fie den von ihnen ausgehenden Glaubensformeln eine minder an-
flöffige, den Sinn mehr verdedende Faffung geben möchten, um bie Katholiken
zum Unterzeichnen zu locken. Man verwarf die bisher im Streite Tiegenden Aus»
drücke Öuoovoırog und ororovauog (f. Homouſianer und Hompiufianer)
als unbibliſch, die Synode zu Ancyra (358) erflärte ſich gegen die an ombiſche
Lehre, d,i. gegen ben firengen Artanismus, und entſchied, daß der Sohn dem
Bater dem Wefen nach ähnlich feiz ja die dritte firmifhe Formel, ein Ergebniß
der Unterhandlungen des Urfacius und Valens mit den femiarianifchen Biſchöfen,
erffärte fpgar, freilich in verfänglicher Abficht, daß der Sohn dem Vater in
Allem (zaıa svavce) ähnlich ſei. Wirklich ließen fih Männer, welche zuvor
jeder Drohung unbeugfamen Widerftand geleiftet hatten, von der arianifchen Lift
fangen; felbft der greife Hoſius (ſ. d. A.) unterzeichnete in feiner Verbannung
die zweite firmifche Formel, Liberius dagegen, wie berichtet wird, die im Jahre
351 von den Arianern (f, d. A.) mit ausgefuchter Feinheit gefertigte erfte For-
mel, welche felbft nach dem Zeugniffe eines Hilarius noch eine Fathofifche Deutung
zuließ. Liberius trat auf diefe Werfe, jedoch nur getäufcht, in die Gemeinfchaft
der Arianer, und flimmte zur Verurtheilung des Athanaſius. Allein abgefehen
davon, daß das ganze Factum von mehreren Gefhichtfchreibern als eine arianifche
Erfindung angefehen wird, da Sulpieius Severus, Socrates und Theodoret nichts
davon melden, zeugt für Die ungefchwächte Glaubenstreue des Papftes Liberius
fein Betragen vor und nach dieſem, wenn auch wirklich flattgefundenen factifhen
Irrthum. Ein formales Jrren im Glauben fann ihm die fchärffte Kritik nicht
nachweiſen. Er ſetzte vielmehr das Anathem auf Alle, welche behaupteten, daß
der Sohn dem Bater nicht gleich fei in der Subftanz (dieſes ging gegen jene
Arianer, welde das Wort ovoie ganz entfernt haben wollten) fo wie in allen
andern Stücken. Als fpäter (359) auf der Synode zu Nimint die vecidentalifchen,
größtentheils katholiſch gefinnten Bifchöfe durch das fortwährende Drängen und
Drohen des Kaiſers Conſtantius trog ihres anfänglichen Feſthaltens an dem
nicänifchen Symbolum fi dennoch beftimmen ließen, die zweidentige Formel zw
unterzeichnen: „daß der Sohn Gottes dem Vater ähnlich fei gemäß der Schrift”,
wo alfo, wie Hieronymus fagt, der Erdfreis flaunte, daß er arianifch fei: da
war es neben den Bifchöfen Vincentius von Capua und Gregor von Elvira der
einzige Liberius, der ftandhaft geblieben. Eine vorübergehende und tief bereute
Schwäche ift alfo bei Liberius Hinlänglich erfegt dur fo ftandhaften Glaubens—
muth, und durch fo viele Proben von Ausdauer und Pflichttreue in den unzähligen
Gefahren feines 14jährigen PontificatS (er regierte von 359— 366). Sp fam
es, daß er ſchon bei den Vätern in dem Rufe eines flandhaften und feligen Be—
fenners ftand, welchen Ruf er niemals von da an in der Fatholifchen Kirche verloren
hat. Sein Name fteht deßwegen in den älteften Tateinifhen Martyrologien.
Seine Briefe hat D, Couftant in die Sammlung der papftlichen Epifteln auf
genommen. Ka
Zibertiner, Aıßsorivor, werben Apg. 6, 9. als Inhaber einer Synagoge
zu Serufalem genannt. Es find libertini im gewöhnlichen Sinne, d. i. Frei-
gelaffene, und zwar freigegebene Juden oder Nachkommen von folhen, Unter
Pompejus wurden fehr viele Juden als Sclaven nah Rom gebradt, in der Kolge
aber wieder in Freiheit gefeßtz der größere Theil derfelben Tieß fih in Nom
nieder jenfeitS der Tiber Cof. Philo Legat. ad. Caj. II. p. 568 ed. Mang. Taeit.
Annal, II. 85.), andere fehrten in ihr Vaterland zurüd, Bon diefen Anfünm«-
lingen muß jene Synagoge gegründet worben fein, welche das Eigenthum und der
religiöfe Berfammlungsort ihrer Nachkommen geblieben if, Weil neben den
Libertinern a. a. D. Cyrenäer und Alerandriner angeführt werden, die gleichfalls
Synagogen in Jeruſalem hatten, fo glaubte man auch in jenem Ausdrucke einen
geographiſchen Namen annehmen zu müffen, und es wurde erklärt: Juden aus
|
min
Lihertiner unter ben Reformirten. 517
Lbertum, wie eine Stadt oder Landſchaft in Africa proconsularis heißen foll,
was aber nur aus dem auf einer carthaginenſiſchen Synode vorkommenden Titel
episcopus Libertinensis erſchloſſen wird (Gerdes de synag. Libert. Groning.
1736 u. A.); Andere braten eine Aenderung des Tertes in Vorſchlag: in
Außvorivom, Libyer GOecumenius, Beza, Clericus, Valkenar), ober in
Außvw» TOV xara zuvonvnv (Säulthef, de charism. "Spirit. S. p. 162 sqgq.),
wogegen aber die Lebereinftimmung aller Fritifchen Zeugen die gewöhnliche Lesart
vollkommen ſichert. [A. Maier.]
Libertiner unter den Reformirten. Calvin bekämpft in mehrern feiner
Schriften, beſonders in feiner „Instructio adversus fanaticam et furiosam sectam
Libertinorum, qui se Spirituales vocant“ die Seete der Libertiner oder Spiritualen,
die unter ihren Anführern und Stiftern Podes, Ruffi, Duintin u, N., gleich
dem Calvinismus und dem Lutherthum felbft, aus altem Sauerteig und neuer
Zuthat um 1525 in den Niederlanden entftanden war, fich von da nach Franf-
reich verbreitete, wo fie bei Margaretha, der Königin von Navarra, Eingang
fand, und auch in andern Gegenden der Reformirten Befchüger erhielt. In den
Niederlanden nämlich waren noch aus alten Zeiten Ueberbleibfel der antinomiſti—
ſchen Begharden (f. d. A.) und Brüder des freien Geiftes (f. d. A.) vorhanden
oder doch die Erinnerung an fie und ihre Lehren nicht untergegangen, als die
NReformatoren des 16ten Jahrhunderts die evangelifche Freiheit, den Glauben
ohne Werfe und zum Theil auch wie Calvin die abfolute Prädeftination procla=
mirten und Gott zum Urheber der Sünde machten. Eine gewiffe Berwandtichaft
diefer Lehren mit denen der Begharden und Brüder des freien Geiftes mußte bald
in die Augen fallen, und ed war daher fein Wunder, daß es einigen Nachzüglern
des mittelalterlihen Tibertinismus fehr gelegen kam, ihre Geiſtesfreiheit unter
den Reformirten zu verkünden. Wenn man alle nicht immer ganz deutlichen
Streitfihriften betrachtet, welche Ealvin und einige Andere wider diefe Libertiner
verfaßt haben, fo beftand ihre Lehre in Folgendem: Gott wirft Alles in allen
Menſchen felbft oder er ift die Urfache aller menfhlichen Handlungen; was man
alſo von dem Unterfihied zwifchen guten und böfen Handlungen fagt, ift falſch
und nichtig; die Menſchen können alſo im eigentlichen Sinne gar nicht ſündigen;
die Religion beſteht in der Vereinigung der Seele des Menſchen mit Gott, und
wer durch Betrachtung und Erhebung der Seele zu dieſer Vereinigung gelangt
ift, der fann feinen Trieben frei folgen, bleibt bei allen feinen Handlungen un=
fhuldig und wird nach dem Tode des Leibes mit Gott vereiniget werden; zudem
werben die Libertiner befchuldiget, die Auferfiehung der Leiber geläugnet, die
HE Schrift für Fabelwerk erflärt und den Ihrigen geftattet zu haben, fih nad
Umftänden Ratholifen, Lutheraner oder Reformirte zu nennen, da die äußerlichen
Handlungen ganz in der Willfür des Menfchen flünden und Alles nur auf dem
Geift, auf das innere Leben und auf das Leben Cprifti in uns anfomme, Bon
diefer Art Tibertiner find die Genfer-Libertiner zu unterfeiden, mit wel-
Sen Calvin, fo lange er lebte, im heftigften Kampfe lag. Zwar mögen auch zu
Genf Libertiner jener Art gewefen fein, doh im Ganzen waren die Genfer-
Tibertiner jene Partei zu Genf, welche mit Calvins Cäfareopapismus, mit feiner
Glaubens- und Sittenpolizei, mit feinem tyrannifchen und Hlutdürfigen Regimente
unzufrieden waren. Diefe Partei beftand aus verfchiedenen Elementen, theild aus
. ganz ungläubigen und fittenlofen Denfchen, theils aus folden Neugläubigen, welche
von Calvins Lehren abwichen, theils aus folhen, welche in Calvins Verfahren
eine Beeinträchtigung der durch die Reformation errungenen natürlichen und evan⸗
geliſchen Freiheit und die Einführung eines neuen Papismus viel ärgerer Art als
der vorige gewefen erblickten. Vorzüglich befanden ſich unter den Libertinern
viele von Jenen, welche, ehe noch Calvin nad Genf gefommen war, zuerft und
am bereitwilligften die Reformation ergriffen hatten und wie aus den Wolfen
518 Libna — Libri Carolini.
fielen, als Calvin der Fremdling, der Präbeftinatianer,, der Läugner der menfch-
lichen Freiheit, der Prediger einer Lehre, die Gott zum Urheber der Sünde
machte und bei allem dem ber Tobredner der evangeliſchen Freiheit das düſterſte
Snquifitionstribunal errichtete. Vergl. ferner die Art, Antinomismus, und
Bemeinfgaft ver Güter, [(Schröbt.]
Libna, 7:25, LXX. Aeßve, Aoßsd, Vulg. Lebna, Lobna, canaanitifche
Königsftadt af. 10, 29, 12, 15.), in der Niederung Zuda’s Gb. 15, 42),
wurde von Joſua erobert (10, 29. 30.) und zur Priefter- und Freiftadt beflimmt
Goſ. 21, 13. 1 Chron. 6 [7], 57.), fiel unter Joram ab von Juda (2 Kön.
0,22. 2 Ehron. 21, 10.), und wurde ſpäter von Sanherib belagert (2 Kon.
19, 8. ef. 37, 3). Die genaue Lage diefer Stadt ift big jet noch nicht er-
mittelt; vgl. Robinfon, I. 654, Eufebiug und Hieronymus (im Onom.) be-
zeichnen fie als villa in regione Eleutheropolitana, quae appellatur Lobna, Aoßava.
Liborius, der Heilige, vierter Bischof von Mans, fuecebirte feinen
Borgänger, dem HI. Pavacius, etwa feit 348, und farb am Ende des vierten
Sahrh. um 397. Die vorhandenen Berichte über fein Leben find unfiher und
wenig verbürgt und enthalten im Wefentlichen nichts Anderes, als daß Liborius
ein frommer, fenntnißreicher und wohlthätiger Bifchof gewefen fer, viele Kirchen
gebaut, auch Wunder gewirft und ‚den Hl, Martin von Tours zum vertrauten
Freunde gehabt habe, Siehe hierüber die Bollandiften z. 23. Jul. in vita s.
Liborii, Tillemonts Memoiren X. 307, Mabillons Analecten de Pontif. Geno-
mannensibus. Im neunten Jahrh. wurde der Leib des hl. Liborius von Mans nad
Paderborn trangferirt, und wir befigen hierüber einen glaubwürdigen und intereffan-
ten Bericht, verfaßt auf Befehl des Biſchofs Bifo von Paderborn von einem
Elerifer daſelbſt. Der anonyme Berfaffer, der am Ende des neunten Jahrh.
fihrieb, empfing feinen Bericht aus dem Munde des Priefters Ido, welder an
der Spitze der mit Erlaubniß Ludwigs des Frommen vom Bifchof Baduradus von
Paderborn nah Mans abgefhickten, aus Elerifern und vornehmen Laien beftehen-
den Gefandtfhaft fund, die einen HI. Leib für die im chriftlichen Glauben noch
rohen und zu heidnifchem Aberglauben geneigten Sachſen erbitten follten, damit
fie durch die Wunder, gewirkt durch die Fürbitte des Heiligen an feinem Sarge,
von ihrem Irrthume abftünden (og. d. Art, Felicitas mit ihren 7 Söhnen).
Im Eingange viefes Berichtes Fommen über die Anfänge des Chriſtenthums bei
den Sachſen und der Kirche von Paderborn nicht unbedeutende Nachrichten vor,
fodann folgt der anziehende und merkwürdige Bericht über die Hin- und Herreife
der Gefandtfchaft im J. 836 und über die zahlreichen Kranfenheilungen, welche
bei der Erhebung des h. Leibes zu Mans,’ bei deffen Durchzug dur Franfreich
und auf dem ganzen Wege bis nach Paderborn gefhahen. Die Bürger von Mans
wollten den HI, Leib gar nicht Herlaffen, bis der Bifchof von Mans fih auf den
erlaffenen Faiferlichen Befehl berief und auseinanderfegte, daß es ein Irrthum fer
zu glauben, die Heiligen legten bei Gott ihre Fürbitte bloß da ein, wo ihre Leiber
ruhen, Als der Bifchof Alderich von Mans die hl. Gebeine den ſächſiſchen Ab—
georbneten übergab, gefhah dieß unter der feierlihften Befhwörung, dem hl.
Leibe nie die gebührende Ehre zu entziehen: „Dehinc inter utriusque ecclesiae,
Cenomannicae videlicet et praefatae Patherbrunnensis, congregationes firmata kari-
late perpeluae fraternitatis, ad patriam eis redeundi licentiam dedit.* Schon auf
der ganzen Reife und fodann auch in Sachſen eilten zahllofe Schaaren zur Ver—
ehrung des HI. Leibes herbei und des Jubelns und Betens war fein Ende, be=
fonders als der Bifchof von Paderborn mit feiner Clerifei und unzähligem Volke
dem anfommenden Zug feierlihft entgegenging und feiner Cathedrale den Schatz
einverleibte, den fie noch befigt. Siehe den Translationsbericht bei den Boll.
Leit. und bei Pertz Script. IV. (VL) ©, 149, ꝛc. [Schrödl.]
A bꝛeĩ Carolini, ſ. Bilderfireit, B*
Libyen. 519
09 2ibyen, Außie, Aßun. Die ältefte Geographie der Griechen theilte die
Erde in zwei Hälften, wovon die nörblige Europa, die füdlihe Aſien war, Teg-
teres begriff Alten im engern Sinne, und Libyen; in fpäterer Zeit gilt Libyen
als für fich beftehender Erdtheil (fo bei Pindar, Pyth. IX. 13, 14); feit Eratofige-
nes wurde dieß allgemeine Anfiht und Libyen entweder durch die Landenge von
Suez, oder durch den Nil oder die Weſtgrenze Aegyptens von Aſien gefchieden ;
erftere$ wurde die Herrfchende Annahme, Das libyſche Gebiet, auch den jüngern
Griechen nur wenig befannt, war fehr ausgedehnt. Herodot läßt daffelbe im S.
und W, vom atlantifchen Meere umftrömt fein und theilt es in drei Striche: das
bewohnte Libyen am Mittelmeer, das Libyen der wilden Thiere ſüdlich davon
und das fandige Libyen noch füdlicher (ib. U. 32. IV. 181); die libyſchen Bölfer
find einzeln aufgezählt lib. IV. 168— 151, 186. Nah der fpätern Eintheilung
umfaßt Libyen: Marmarica weſtlich vom ägyptifchen Libyen (ſ. unten), weſtlich
von dieſem Cyrenaica, weiterhin Africa propria (Tripoli, Tunis). mit Carthago
(ie Libyer waren hier die älteften Einwohner, bei ihnen fiedelten fih die Phöni-
eier an und es entfland das mixtum Punicum Afris genus der Libyphönicier, Polyb.
8, 33. Strabo 17, p. 835. Diod. Sic. 20, 55), darauf Rumidien und zulegt Maure-
tanien (Algier, Fez, Marocco), fowie das von diefen Ländern ſüdlich gelegene
Libyia interior, welches auch von Aethiopiern bewohnt war (Ptol. 4, 1—6. Strabo,
2,p. 131. Plin. 5, 1— 6. ete.). Das A. T, erwähnt die Libyer (A fveg, die
eodd. lefen au Aößızs) in folgender Weife. In der Völfertafel (Gen. 10,13)
iſt or27> Lehabim der dritte Son von Mizraim, identiſch mit Lehabim ift aran>
Lubim Coom St. 275, 285, ar5 brennen, die Lihyer daher Bewohner eines
dürren Landes, der Name fam wahrfiheinlich durch die Phönicier zu den Griechen,
Die ihn auf ganz Africa ausdehnten); diefe Lubim CLehabim) find in der Bibel
immer neben den Aethiopiern und ANegyptern genannt (2 Chron. 12, 3. 16, 8.
Dan, 11, 43), gemäß ver Völfertafel, erfchöpfen aber feineswegs die ganze libyſche
Nation, fondern bezeichnen nur den ägyptifgen Theil derfelben, welder
das Land auf der Weftfeite der weftlichften Nilmündung, den Nomos Mareotis
und den nach ihm genannten Nomos Libya inne Hatte, Diefer Bezirf wird, ob⸗
wohl zu Aegypten gehörend, daher zu Libyen gerechnet und Libyen genannt (Ptol.
4, 5. 2—10, 22. Herod. 4, 168). Biblifche Bezeihnung nun des ganzen Bol-
tes der Libyer ift =>, Put, in der Völfertafel (Gen. 10, 6) nad Cuſch (Aethiopier)
und Mizraim (Aegypter) der dritte Sohn Chams (f. d. A.), womit die Anfichten
des übrigen Altertfums ganz übereinftimmen, welche außer diefen drei Bölfern
feine eingeborne Nation in Africa erfennen (vgl. Herod. 4, 197). Die angegebene
Bedeutung von Put ift durch den Namen felbft gefordert; ägyptifche Bezeichnung
des Libyers ift Phet, welches ſich aus dem ägyptifchen pet, pelte und koptiſchen
pitte, phit, phätte d, i, Bogen (womit in der ägyptifchen Bilderfprache der Libyer
vornehmlich bezeichnet wird), erflärt. Von den Kopten wird das ägyptifche Libyen
und deffen Bewohner phaiat, niphaiad, auch phaiad genannt, welch’ legterem das
bibliſche Dovd (im Buche Judith 2, 23. und bei den LXX. zu Gen. 10, 6. und
4 Chron. 1, 8) fehr nahe fommt. Die weitere Erwähnung Put’s im A, T, bes
flätigt die vorige Beftimmung; er wird genannt unter den Bundes- und Hilfe-
völfern der Aegypter (Ser. 46, 9. Ezech. 30, 5), im Heere der Tyrier, welde
auch fonft africanifche Söldner hielten (Czech. 27, 10), erfcheint überhanpt im
AT. als ein africanifches Volk, verſchieden von den Aethiopiern, Nubiern, Aegyp⸗
tern, Ludim, Numidiern und Phöniciern. Die Tradition folgt derfelben Auf⸗
faſſung: die griechifche MHeberfegung der LXX. und die Bulgata geben (zu Ser.
46, 9. Ezech 27, 10. 30, 5. 38, 5) v2 durch Aidves, Libyes; Joſephus
Cantt. 1, 6. 2) berichtet, Libyen fei durch Dovzrg bevölfert worden, im Lande der
Mauren fei ein Fluß gleichen Namens (vgl. Ptol. A, 1, 3. Plin. 5, 1), nach wel-
chem die Gegend benannt worden, dafür fer aber der libyſche aufgefommen nach
520 Licentiat — Lightfoot.
Libys, einem Sohne des Mizraim, ebenfo Hieronymus (quaest. in Gen. 10. 6),
Sfivor Hisp. (Cetymoll. 9, 2. 11). — Bl, Knobels Unterfuhungen über die
Bölfertafel der Genefis, 1850. S. 282—285 und 295—305. [Rönig.] >
Licentiat, f. Gnade, gelehrte.
Licentiatoriae literae, f. Dimifforialien,
Richt, das ewige, f. Ewiges tigt,
Licht beim Gottesdienft, ſ. Kerzen und Leuchter,
Lichtmeß, ſ. Marienfefte.
Licinius, Kaiſer, ſ. Conſtantin der Große,
Liebe, ſ. Tugenden, die drei göttlichen.
Liebesfamilie, Serte in England, ſ. Familiſten.
Liebesmahle, ſ. Agapen.
Lied der drei Jünglinge im Feuerofen, ſ. Loblied.
Liefland. Da die Bekehrung Lieflands in den Artikeln Albert (Albrecht),
Apoſtel der Liefländer, und Berthold, Apoſtel der Liefen, beſprochen iſt, ſo iſt
hier nur mehr von der Einführung der Reformation die Rede. Dieſe wurde von
dem Heermeiſter Walther von Plettenberg, der ſich 1521 feine Unabhängig-
feit von dem Hochmeifter des teutfchen Ordens erfauft hatte, fehr begünftigt, in⸗
dem er darin ein Mittel fah, um Herr über den Erzbifchof von Riga, dem bie
Stadt felbft unterworfen war, und über feinen Clerus zu werden. Die erften
eifrigen Berbreiter des Luthertfums waren der pommerifhe Schullehrer An-
dreas Knöpken und Silvefter Tegetmeier aus Roſtock; Iegterer fo voll des
Eifers, daß er zu Riga und Reval einen Bilderſturm verurſachte. Demungeanhtet
fand Tegetmeier bei dem Nath zu Riga und bei dem Heermeiſter Schug, welcher
1523 feinen Kanzler an Luther fendete, wodurch Luther veranlaft wurde, den
neuen Gemeinden zu Niga, Neval und Dorpat ein Gratulations- und Mahn-
fchreiben zuzufenden, Eine andere Aufmunterung, auf der Bahn des Fortſchrittes
zu beharren, gab den Bürgermvon Riga der Hauseomthur des Heermeiſters —
er überfendete ihnen ein große Knute mit der Vermeldung, damit den Fatholifchen
Clerus aus der Stadtzu peitfhen! Dieß gefhah zwar nicht, doch wurde ange-
ordnet, daß die Geiftlichen entweder das reine Evangelium annehmen oder ihren
Gottesdienſt nur bei verfähloffenen Thüren halten oder auswandern müßten!
Darüber flarb der tugendhafte und friedliche Erzbifhof Caspar (Linde) den
29. Zuni 1524, betrübt über den geringen Erfolg feines Eifers für den Fatholi-
fchen Glauben, Seinen Nachfolger, Johann VI. Blanfenfeld, Bifhof von
Dorpat und Neval, erkannte der Nath von Niga als feinen Landesherrn gar
nicht an und ließ ihn in Niga nicht ein, während gleichzeitig auch zu Reval und
Dorpat gewaltthätig fortreformirt wurde ; im J. 1525 nahm man den Erzbifchof
fogar gefangen. Aber doch erſt nach dem Tode des Erzbiſchofs Thomas Scho—
ning (+ 1539) unter dem neuen Erzbifchof Markgraf Wilhelm von Branden-
burg breitete ſich die Reformation über ganz Liefland aus; er, der legte Erz-
bifhof von Riga, ftarb 1563 mehr als zur Hälfte tutheraner, Zwei Jahre vorher
hatte der Heermeifter Kettler Liefland durch einen Vertrag an Polen unter der
Bedingung abgetreten, daß das ganze Land bei dem Lutherthum gelaffen werben
folfte. Im J. 1566 wurde von König Sigismund Auguft das Erzftift völlig ſäeu—
Yarifirt, nachdem die übrigen Tiefländifchen Bisthümer ſchon früher ein Ende ge—
nommen hatten, Vgl, Schröckhs Kirchengefch. feit der Reform, IL; 5. 3. Dam-
bergers Fürſtenbuch, Regensburg 1831. ©. 814. ꝛc. Vgl. hiezu noch die Artikel:
Bruno, Xpoftel der Preußen ꝛc., ferner Eſthen, und Kurland, [Schrödl.]
Liga, die katholiſche, ſ. dreißigiähriger Krieg.
Lightfoot, Johann, berühmter Vicefanzler der Univerfität Cambridge
und großer Drientalift, wurde 1602 zu Stock in der Grafſchaft Stafford geboren,
fiudirte zu Cambridge, Iegte den erften Orund zu feiner rabbiniſchen Erudition
Ligue — Liguori, 521
als Kaplan bei Cotton, fegte mit unermübetem Eifer, während er zugleich als
Vrediger und Pfarrer wirkte, das Studium der orientalifhen Sprachen, des Thal-
muds und der Rabbiner fort und öffnete fo, einer der erften, für die Eregefe
eine noch wenig benüste reichliche Duelle. Zu den berühmteften Gelehrten feiner
Zeit fand Lightfoot in freundfihaftlihen Berhältniffen. Als er 1642 zum Pre—
diger an der Bartholomäusfirhe zu London ernannt worden war, wurde er in
die Berfammlung der Theologen in Weftmünfter berufen. Den wilden Enthu—
fiaften feines fturmbewegten Baterlandes war er abhold. Er flarb am 6. Decem-
ber 1675 zu Ely, wo er eine Canonitatspfründe befaß. Bon feinen Schriften,
welche größtentheils den biblifhen Studien gewidmet find, erfhienen mehrere
Editionen, von denen die Utrechter 1699 die befte ift. Johann Strype hat zu
London 1700 einen Supplementband geliefert. Unter diefen Schriften haben einen
befondern Werth die „Horae Hebraicae et Talmudicae“, worin die Schriften des
N. Teftamentes aus dem Thalmud und der Schriften der Rabbiner erläutert
werden. Auch in den andern zahlreihen Schriften Lightfoots werden aus dem
rabbinifchen Schriften und dem Thalmud die jüdifshen Gebräude, Sitten, Re—
densarten u. dgl. zum Behufe des Berftändniffes der Bibel beleuchtet. Wenn
dabei gleich, bemerft Schröckh (Kirchengeſch. ſ. d. Reform. VIH. 561) die Ber-
gleihungen zu freigebig, auch wohl am unrechten Drt oder ohne firenge Prüfung
angeftelit find, fo hätte doch Richard Simon Lightfoots Arbeit nicht zu gering-
ſchätzig behandeln follen. [Schrödl.]
Ligue in Frankreich, f. Hugenotten.
2iguori, Alphonfus Maria, der heilige und Stifter der VBerfammlung
des allerheiligften Exrlöfers , geboren zu Neapel den 27. September 1696 und
geftorben den 1. Auguft 1737. Das Leben des HI. Alphonſus umfaßt bis auf
wenige Jahre ein volles Jahrhundert und zwar das trübfalreihfte, welches die
Kirche Gottes feit ihrer Gründung zu durchlaufen hatte, Nicht bloß der Unglaube
und die Gnttesläugnung waren gegen die Kirche in allen Ländern in die Schranfen
getreten, fondern auch der weltlihe Arm hatte feine Waffen den Feinden der
Kirche geliehen, um den Stuhl Petri zu flürzen und ein Glied um das andere
vom Leibe der Kirche zu reißen, Mit Ausnahme der Gefellihaft Jeſu und ein—
zelner Zweige des Benedictinerordens waren die geiftlichen Genoſſenſchaften viel-
fah von dem Geifte und der Strenge ihrer Stifter abgefallen und ihrer Negel
untren geworden: und nicht wenige Kirchenfürften hatten durch ein weltliches
üppiges Leben die Strafgerichte felber herabgerufen, von denen die Gläubigen in
allen Ländern fo ſchwer betroffen wurden, In diefem höchſt betrübten Zeitraume
gehört der HI. Alphonfus zu den leuchtenden Erfiheinungen, durch welche offenbar
wird, wie der die Kirche leitende HI. Geift zu allen Zeiten feine Auserwählten
beruft, um in ihnen die nie untergehende Heiligkeit und Schönfeit der Braut
Chriſti darzuftellen und deren unverirrlihe Wahrheit dem Irrthum und der Lüge
gegenüber zu bezeugen. — Alphonfus war der Sohn frommer Eltern aus adeli=
gem Geſchlecht: wie fo viele Heiligen verdanft auch er die erfien Keime einer tie=
fen und innigen Frömmigfeit feiner trefflihen Mutter, welche ihn eben fo fehr durch
ihren gottjeligen Wandel und die im Geifte Gottes geleitete Erziehung in die
Uebung aller Tugenden einzuführen wußte. Später übergab fie ihren Sohn den
Prieftern vom Dratorium des hl. Philipp Neri, unter deren fehr forgfamer Lei—
tung Alphonſus im geiftlihen Leben fo ſchnelle Fortſchritte machte, wie in Erler-
nung der Wiffenfchaften, fo daß er, unterflügt von den beiten Geiftesanlagen:
und dem regften Eifer, fchon im 16. Jahre den Doctorgrad der Nechte zu erlan-
gen im Stande war. Nah dem Wunſche der Eltern follte er die Laufbahn eines
Rechtsgelehrten betreten, da ihm hier der Zugang zu den höchſten Ehrenämtern
um fo ficherer ſchien, als er neben feinen Kenntniſſen alle Vortheile eines be—
rühmten Namens und hoher Verbindungen hatte, Es hatte den Anfchein, Als
522 2 Ligusrk
würde Alphonfus ganz den ſtolzen Erwartungen feines ihn zärtlich Liebenden Ba-
ters entſprechen, denn um legterem zu gehorchen, fuchte er fogar in allen ritter-
lichen Künften eine Fertigkeit zu erlangen, durch welche die natürliche Anmuth
feiner ganzen Perfönlichfeit in den Augen der Welt nur um fo mehr gewinnen
mußte. Der junge Rechtsanwalt zog au bald Aller Blicke auf fih; erwarben
ihm feine feltenen Kenntniffe, feine glänzende Beredtfamfeit allgemeines Ver—
trauen, ſo war er aber auch durch die bewunderungswürbige Reinheit feiner Sit-
ten das nahahmungswürdigfte Beiſptel feiner Altersgenoffen, Sein Vater gab
fih immer mehr den fühnften Hoffnungen hin und fuchte bereits in den erften
Familien des Reiches nach einer Tochter, mit der Alphonfus die Ehe fchließen
follte, Allein Gott hatte ihn zu Höherem berufen: nicht an dem Hofe eines Kö—
niges follte Alphonfus zu Glanz und Ehren gelangen, fondern vermählt mit der
Kirche die höchſte Stufe der Heiligfeit erkllimmen. Darum berief ihn Gott aus
dem Dienfte der Welt in den Dienft feiner Kirche, doch nicht, ohne ihm zuvor
eine fehr empfindliche Befhämung bereitet zu haben, Alphonfus war eben mit
Führung eines bedeutenden Proceffes befchäftigt, zu deffen vorausſichtlich fehr-
glängender Beendigung er bereits beglückwünſcht wurde, Er hatte alle Mühe und
Beredtfamfeit aufgeboten, allein deßungearhtet ein unbeveutendes Verſehen ge—
macht, an dem feine ganze Beweisführung in dem Augenblick feheiterte, als er
den Sieg bereits erfämpft zu haben glaubte, Das Geſtändniß feines Irrthumes
war das Teste Wort, das Alphonſus auf der Nebnerbühne fprah, denn nach
Veberwindung des heftigften Widerftandes feines fehmerzlich getäufchten Baters
trat er im J. 1725 in den Priefterftand und bald darauf ließ er fi in die Eon-
gregation der Propaganda zu Neapel aufnehmen, um Miffionär zu werben, Von
bier beginnt die apoftolifhe Wirkfamfeit des Heiligen, welche der Kirche zu fo
großem Segen gereichen ſollte. Vor Allem fuchte er die Armen und Verlaſſenſten
auf, umd nicht leicht mochte ein Herz feiner heiligen Berebtfamfeit und noch we—
niger feiner Alles gewinnenden Milde widerſtehen. Mehrere Jahre wirfte Al-
phonfus fo mit ganz außerordentlichem Segen, bis er ſich auf höhere Eingebung ent⸗
Schließen mußte, eine eigene geiftliche Genoffenfchaft zu gründen, Es war im J. 1732,
als er nach Meberwindung der größten Hemmniffe zu Scala mit zwölf gleichgefinn-
ten Gefährten die Berfammlung vom allerheiligften Erlöfer gründete, deren Haupt-
aufgabe e8 fein follte: dem Dienfte der ärmflen und verlaffenften Seelen
fih zu weihen. Drei Jahre darauf entfland das zweite Haus zu Cionani im ber
Didcefe Salerno; die Regel der neuen Genoffenfchaft, welche Alphonfus unter
Beiziehung erleuchteter Männer forgfältigft ausgearbeitet hatte, erhielt im J. 1759
durch Papft Benedict XIV. die Firchliche Gutheißung. Alphonfus wurde auf Le—
benszeit als Generaloberer beftätiget, aber fchon 1762 berief ihn Clemens XIIL
frog feiner flehentlihen Bitten auf den biſchöflichen Stuhl von St. Agatha ber
Gothen. Ein Generalcapitel feiner Congregation erklärte einftimmig, feinen
neuen Generaloberen wählen zu wollen, vielmehr follte Alphonfus auch als Biſchof
mit feinen von ihm aufs Zärtlichfte geliebten Brüdern dadurch verbunden blei-
ben, daß von ihm ein Generalvicar ernannt werden follte, der in feinem Namen
die Verfammlung zu leiten hätte. Diefer Befchluß erhielt die Beflätigung vom
hl. Stuhle und erfeichterte dem Heiligen die fo fhmerzlihe Trennung von feiner
Eongregation. — Als Bifchof vereinigte Alphonfus den brennenden Eifer eines
hl. Carplus Borromäus (f. d. A) mit der rührenden Milde eines Franciseus
son Sales (ſ. d. A.), und ſetzte troß feiner fehr anftrengenden Hirtenarbeiten das
arme büßende Leben in derfelben Strenge fort, wie er es als Miſſionär zu üben
fih gewöhnt hatte, In Allem war er ein getreues Nachbild des hi. Apoftels,
der fich berufen hielt, Allen Alles zu werden. Er wurde der Miſſionär feiner
ganzen Didcefe, die er von zwei Jahren zu zwei Jahren durchreiste, um alle
Bedürfniffe Fennen zu Iernen und allen Uebelſtänden abzuhelfen, Es läßt fich Teicht
Liguori. | 523
denken, daß er fein Hauptaugenmerk auf die Erziehung eines fittenreinen und
feeleneifrigen Clerus fegte; zur Befferung der Gefallenen wendete er alle Mittel
einer erfinderifchen Baterliebe an, aber er trat auch nicht vor der äußerſten
Strenge zurück, wo liebreihe Bitten und Mahnungen nichts fruchten wollten,
Den Armen war er ein helfender Engel, der gewohnt war, den bitterften Mangel
zu leiden, am überall der Noth zu flenern. Durch unausgefegte Anftrengung
zieb der Heilige feine ohnehin abgefhwächten Körperfräfte alfo auf, daß während
der Testen 17 Jahre feines Lebens fein Kopf durch unheilbare Krümmung des
Nackens bis auf die Bruft herabgedrückt wurde; aber auch in diefer immer ſehr
fhmerzenden Lage unterlieg er nie, den Pflichten feines erhabenen Berufes mit
ängfiliher Gewiffenhaftigkeit zu obliegen, Wenn der gebeugte Greis die Kanzel
betrat, fo wirfte feine Erfcheinung mehr als feine Worte, obwohl der fieche Körper
das Feuer feiner Liebe nicht zu dämpfen oder zurücdzuhalten vermochte, Die
immer wachfende Furcht jedoch, durch die Förperlichen Leiden an der vollen Aus-
übung feines bifhöflichen Amtes gehindert zu fein, trieb den Heiligen zu flehent-
lichen Bitten an den HI, Stuhl um Enthebung — aber fange vergebens; bis
endlich Papft Pius VI im J. 1775 feine Abdanfung annahm, nachdem Alphonſus
13 Jahre lang Biſchof gewefen war. In derfelben Armuth, in der er gefommen
war, verließ er auch feine trauernde Didcefe, um den Reſt feiner Tage im Schooße
der Eongregation zu Nocera de Pagani zuzubringen. Sp lange er feine Ölieder
zu rühren vermochte, benügte er jede Gelegenheit, zum Heile der Seelen zu
wirfen; und als er fein Schmerzenslager nicht mehr verlaffen fonnte, fuchte er
durch Schriften die Ehre Gottes zu fördern. Es ift erftaunlih, wie fruchtbar
der Heilige an fohriftftellerifchen Arbeiten war, und man begreift faum, wie er
zu ihrer Abfaffung bei feinem fo thätigen und mühevollen Leben als Miffionär
und Biſchof Zeit finden Fonnte. Es gibt aus der neueren Zeit feinen Heiligen,
defien Schriften fo allgemein verbreitet find, wie die des HI, Alphonſus, welche
durch ihre Einfalt, Tiefe und Gründlichfeit den Ungelehrten wie den Gelehrten
erbauen und ſchon Unzähligen der Weg zum Heile geworden find. Wo immer
ein tieferes religiöfes Leben erwacht, wo immer mit regerem Eifer die Gnaden-
Thäge der Kirche gefucht werden — die Schriften des HI. Alphonſus haben ent-
weder ben Sinn hiefür aufgefchloffen, oder fie find für die Erweckten das Mittel
weiterer Förderung und ernftlihen Fortfchrittes geworden, Dieß ift ver Fall bei
Laien’ wie bei Prieftern, denn die Erfahrung bezeugt, dag wo immer auch nur
ein Fünklein priefterlichen Eifers lebt, er durch die Schriften des Heiligen er-
halten und allmählig zur Flamme angefacht wird. Das Geheimniß diefes ganz
» außerordentlihen Segens beruft in jenen Gegenftänden, welde Alphonfus mit
befonderer Liebe und befonderer Tiefe zu behandeln pflegt, nämlich das allerhei-
ligſte Sacrament des Altars und die allerfeligfte Jungfrau Maria. Durch fie ift
Alphonſus der Heilige des Jahrhunderts des Nationalismus geworden, denn durch
fein anderes Geheimniß unferer Kirche wird der Menfch fo fiher vor der Duelle
jedweden Unglaubens und aller Berirrung bewahrt, als durch dem euchariftifchen
Epriftus. Wer vor dem Altare Fnieet und Gott im Sacramente anbetet, der if
für die Flachheit des Nationalismus nimmer zu gewinnen, und wer die jungfräu—
liche Gottesmutter wahrhaft ehret, ift für immer von der Hoffart und üppigen
Weltluf gerettet, Darum war Alphonfus während feines ganzen Lebens vor
Allem darauf bedacht, Aller Herzen dem heiligften Sacrament und Maria zu ge-
winnen und allen Schwanfenden und Verirrten die Fülle des Lebens und ewiger
Schönheit zu enthüllen, welche ihnen in diefen Schätzen der HI, Kirche geboten iſt.
- Die glühende Begeifterung, welde er in feinem eigenen Herzen hiefür trug,
vermochte ihn zu jener zärtlichen den Seelen fi einfchmeichelnden Beredtfamfeit,
von der auch feine einfältigen Schriften Zeugniß geben, und der Niemand wider-
ſtehen kann, der guten Willens if, Je mehr noch in unfern Tagen der Kampf
524 Liguorianer ober Nebemptoriften,
des Unglaubens gegen die Kirche Gottes fich entzunden wird, um fo fruchtbarer
wird der Heilige für ung und fpätere Gefchlechter werben, und ein um fo rei-
cheres, gefegneteres Feld muß fich feiner Congregation eröffnen, je vollkommener
fie die Glut der Liebe ihres Stifters zum heiligften Sarrament und zu Maria zu
wahren weiß. — Alphonfus wurde im J. 1839 von Gregor XVI. heilig geſpro—
hen. : Die Geſchichte der Congregation fiehe im nachfolgenden Artifel, [Schm.]
> Ziguprianer oder Nedemptoriften. Zu den vielen Mitteln, welche im
18ten Jahrhundert die italienifchen Bifchöfe zur Erneuerung und Erfrifchung des
religiöfen Lebens anwandten, gehören befonders die Miffionen, Zu den Congre—
gationen aber, welche ſchon früher ſolche Miffionen beforgt hatten, kam jest noch
die der Nedemptoriften, oder, wie fie auch nach ihrem Stifter Alphonſus Ma-
via von Liguori genannt werben, der Liguprianer hinzu, Das Leben des hei—
tigen Stifters fiehe in dem vorigen Artikel. Nachdem er am 23, Sept. 1724
die Tonfur und im 1725 die Priefterweihe erhalten hatte, trat er in das
Miffionsinftitut der Propaganda zu Neapel, und hielt auf Anfuchen des Erz-
bifchofs von Neapel mit dem Clerus diefer Stadt Erercitien und prebigte da—
ſelbſt. Einige Zeit nachher begab er fih, um feine angegriffene Gefundheit wieder
berzuftellen, in die Didcefen Amalft und Scala; hier befchäftigte er fih, von
einigen andern Prieftern unterftüßt, befonders mit Unterweifung der Landleute
und Schäfer, Die Früchte diefer feiner apoftolifchen Thätigfeit nun befriedigten
ihn fo fehr, daß er fich entfchloß, einen Verein von Miffionären zu gründen,
welche in gleichem Geifte mit ihm wirfen follten. Zu diefem Ende ftiftete er am
8. Nov. 1732 zu Scala, im Bezirk von Benevento, die Congregation unferes
alferheiligften Erlöfers (Redemptoris, wovon ihre Mitglieder „NRedemptorifien“
genannt werden), ungefähr nach denfelben Regeln, wie die Stiftung des hl. Vin—
cenz von Paula. (S. die Eonftitution und Regel in der Sion von 1842, Ja—
nuarheft Nr. 7 ff). Indeß fam dieß weitausfehende Werf nicht ohne große
Schwierigfeiten zu Stande, indem es felbft in hohen Würbeträgern Gegner fand,
Dagegen erhielt e8 den Beifall und die Genehmigung des Erzbifchofs von Neapel;
Liguori zählte Anfangs zwar nur wenige Gefährten; allein fie erbauten durch Wan-
del und Predigten fo fehr, daß ihre Anzahl fehnell wuchs. Außer den einfachen
Gelübden der Armuth, Keufchheit und des Gehorfams, welche fie ablegten, ver-
pflichteten fie fich noch, Feine Würde, fein Amt, Fein Benefictum außerhalb der
Eongregation annehmen zu wollen, außer auf ausbrürlichen Befehl des Papftes
oder des Generalfuperiors, und bis zu ihrem Tode in dem Vereine zu bleiben,
wovon jedoch fowohl der Papſt als auch der Generalfuperior dispenfiren konnte.
Am 21. Zuli 1742 fand die erfte Gelübdeablegung Statt, und bald darauf ward
dem Stifter in der Eigenfchaft eines Generalfuperiors die Oberleitung des Gan-
zen anvertraut. Benediet XIV. beftätigte durch ein Breve vom 25. Febr, 1749
die Stiftung, gewährte ihr viele Privilegien und veranlaßte ihre Mitglieder, fich
zum Unterfchiede von den Canonifern des allerheiligften Erlöfers Redempto—
riften zu nennen. Bald verbreitete fich die Anftalt im Königreich Neapel, in
Sieilien und im Kirchenftaate, Bon Papft Clemens XI. im Jahre 1762 zum:
Bifchof von St. Agatha de Goti (Neapel) erhoben, behielt Liguori noch fort-
während die Oberaufficht über feine Stiftung, nur daß er von einem General-
vicar hierin unterflüßt wurde. Wegen. feiner zerrütteten Gefundheit erhielt ex
von Papft Pius VI. die Erlaubniß, die bifhöfliche Würde niederzulegen (1775),
Nunmehr zog er fih nach Nocera in ein Haus feiner Genoffenfchaft zurüd, von
wo aus er derfelben auch fortwährend vorſtand. In feinem hohen Alter wurbe
er noch durch die in feiner Congregation eingetretene Spaltung betrübt. Die
neapolitanifche Regierung, von den in Frankreich fich geltend machenden neuen Lehr⸗
meinungen angeſteckt, beabſichtigte nämlich die Vernichtung der religiöſen Ge—
noſſenſchaften. Als nun die Congregation bie Beſtätigung der Regierung nahe
Liguorianer oder Redemptoriſten. 525
ſuchte, Fonnte fie diefe nur durch bedeutende Veränderungen in der Negel er-
wirken, und dafür wurden die neapolitanifchen Nedemptoriften von dem Papfte
aus derfelben ausgefchloffen, und erft durch ein Fonigliches Edict vom 29, Det.
1790 Fam die Wiedervereinigung zu Stande. Diefe aber erlebte Liguori nicht
mehr, denn er ftarb am 1. Aug. 1787 in feinem 91, Lebensjahre. Pius VI. er⸗
Härte ihn fhon am 4. Mai 1796 ehrwürdig, und am 6. Sept. 1816 made
Pins VH. feine Seligfpredung fund, die am 15. Sept, in der Baticanfirche flatt-
fand, Sein ruhmgefröntes Wirken aber ift in gutem Andenken geblieben, und
daher war die Freude feines Vaterlandes überaus groß, als Gregor XVI. im J.
1839 den Drodensftifter heilig ſprach, der durch feine falbungsreihen Schriften
ZTaufenden eine Duelle des Troftes, der Ermunterung und der Erweiterung ihres
Willens geworden if. Seine Schriften erfchienen complet zu Paris 1835 in
16 Bänden in Octav und Duodez; ſämmtliche Werfe teutih zu Regensburg
1842 ff.5 einzelne Werfe in vielen teutfchen Ueberfegungen und Bearbeitungen,
Sein Leben haben befchrieben A. Giatini vita del. b. Alfons Liguori, Rom, 1815.
4. teutfh Wien 18355 Jeancard, vie du b. Alfons Liguori, Cono 1829,
teutfh von M. Haringer, Regensb. Vgl. Sion 1839. Nr. 86—88. In Be-
treff feiner Heiligfprehung f. „Heiligfprechung des HI. Alphons Maria Liguori,
enthaltend das Feftprogramm, die Heiligfprehungsbulle und 11 Reden”, Wien
1842, Auf diefe Weife war die Congregation der Redemptoriften in Stalien ver-
breitet worden; nad Polen, Teutfchland und der Schweiz wurde diefelbe durch
P. Elemens Maria Hoffbauer verpflanzt. Diefer erfte teutfche Redemptorift
wurde am 26, Dec, 1751 zu Taßwitz in Mähren als der Sohn ſchlichter, aber
frommer Landleute geboren und erhielt als das fchönfte Erbtheil eine vortreffliche
Erziehung. Nah dem frübzeitigen Tode feines Vaters führte die Mutter den
Knaben vor ein Erucifir und ſprach: „Siehe, diefer ift von nun an bein Vater;
gib acht, daß du auf dem Wege wandelt, der ihm wohlgefällig if.“ In der
Schule zeichnete er fih durch Sittlichkeit und Fortſchritte vortheilhaft aus; früh—
zeitig faßte er den Plan, auf irgend eine Weife geiftlih zu werden. Da aber
feiner Mutter die Mittel fehlten, ihn ſtudiren zu laſſen, begab er fich in feinem
16ten Jahre 1767 nah Znaim, einem Städtchen in Mähren, und erlernte da=
felbft das Bäckerhandwerk. Nach feiner Freifprechung arbeitete er eine Zeit lang
in der Bäderei des Prämonftratenferffofters Bruck; der Prälat gemwahrte feine
Luft zum Studiren, nahm ihn in feine Dienfte und ließ ihm in der untern Elaſſe
der Klofterfchule das Lateinifche erlernen; allein nunmehr ergriff ihn die Sehn-
ſucht nad einer einſiedlerichen Lebensweife; er verließ daher das Kloſter, begab
ſich nad) dem eine Stunde von demfelben gelegenen Wallfahrtsort Müplfrauen
und fuchte bei der Regierung um Baubewilligung nach (1775 oder 1776), wurde
aber, wie bei dem damaligen Firchenfeindlihen Syfieme der Regierung zu er-
warten fland, abfchläglich beſchieden. Nachdem er zwei Jahre die umliegende
Bevölkerung durh Wandel und Ermahnungen erbaut hatte, begab er fih nad
Wien, und arbeitete wieder in feinem Handwerfe; allein auch hier fand fein Geift
feine Nahrung, vielmehr wünſchte er eine Wallfahrt nach Nom zu unternehmen
und erfparte fi zu diefem Ende mit einem Freunde mehrere Monate den Ar-
beitslohn zufammen; dann traten beide Jünglinge die Pilgerfahrt an und ar-
beiteten Hierauf nach ihrer Zurücfunft wieder im ihrem Handwerfe. Aber Hoff-
bauer ergriff immer mehr das Berlangen, die Welt zu verlaffen. Nochmals
ging er mit feinem erften Reifegefährten nah Rom, um im Kirchenſtaate Ein-
‚ Fiedler zu werden, und erhielt von dem Bifhof von Tivoli, dem nachmaligen Papfte
Pius VIL, wirklich die Erlaubniß, fih in feiner Didcefe nieverzulaffen. In inbrün-
fligem Gebete flehte er Hier zu Gott, ihn bei der Wahl feines Standes zu erleuchten,
fühlte ſich Hernach immer mehr und mehr zu dem Priefterfiand hingezogen und kehrte
ſchon nach einem halben Jahre nach Wien zurück, um feine früher begonnenen Stu=
526° Ligudrianer oder Nedemptoriften.
dien fortzufegen, was ihm durch die Unterflügung einer frommen Wittwe auch
gelang. Die Ferienzeit brachte er dann meiftens in der Einſiedelei bei Tivoli zu,
Während diefer feiner Studienzeit in Wien lernte er einen armen aber frommen
Züngling Namens Zohannes Taddäus Hibel fennen, der nun fein innigfter
Freund wurde und mit dem er feine Studien fortfegte, Nach Beendigung der:
philofophifchen Studien begab fih Hoffbauer in Begleitung. feines Freundes aber-
mals nah Nom. Die erfle Kirche, die fie hier zufällig befuchten, war die der
Revdemptoriften, Hoffbauer war von ihrer Andacht fo ergriffen, daß er den Obern
des Haufes zu fprechen wünſchte; alle Einrichtungen und Berhältniffe des Hauſes
wurden ihnen gezeigt und endlich bot ihnen der Rector unaufgefordert, obwohl fie
Fremde und Ausländer waren, die Aufnahme in daffelbe an. Hoffbauer, obwohl
ſchon 32 Jahre alt, fchrieb fich ſogleich als Candidat ein, Hibel dagegen war noch un-
entfchloffen, wurde jedoch gleichfalls mit feinem Freunde ine J. 1783 in dag Noviciat
zu Frofinone aufgenommen, Alphons Liguori feste felbft in diefe Aufnahme die
Hoffnung, feine Stiftung auch in Teutfchland verbreiten zu Fünnen, was ihm um
fo erfprießlicher erfchien, als diefes Land durch Aufhebung der Geſellſchaft Jeſu
feine Miffionäre verloren hatte. In der That war Hofbauer faum zum Priefter
geweiht, als er auch fehon mit dem Gedanken umging, in Wien ein Haus feiner
Eongregation zu errichten. Im J. 1785, alfo noch zu Lebzeiten Liguori’s, reiste
er mit dem gleichfalls zum Priefter geweihten Hibel und zwar ald Superior nach
Wien ab, um wo möglich den gefaßten Plan auszuführen ; allein damals war,
da Kaiſer Joſeph U. eben erft die Zahl der Klöfter durch ihre Aufhebung fo ftarf
befchränft, die Verbindung der öftreichifchen Klöfter mit den auswärtigen Obern
aufgehoben und dadurch den Nero des Klofterlebens zerfchnitten hatte, für die
Ausführung deffelben der ungünftigfte Zeitpunet eingetreten, Daher begab ſich
Hoffbauer mit Hibel und einem Laienbruder nah Warfhau und erhielt hier
durch Vermittelung des päpftlichen Nuntius bie Kirche des hl. Benno, woher fie
in Warfhau „Bennoniten” genannt wurden, und ein Haus zur Wohnung,
Obwohl fie in übergroßer Armuth leben mußten, verloren fie dennoch den Eifer
für die Heilige Sade nicht und wirkten mit glänzendem Erfolge; insbefondere
nahm fih Hoffbauer der Erziehung der Waiſenkinder an, Zuerft predigten fie auf
der Straße, bis ihnen diefes von der Regierung verboten wurde; hierauf hielten
fie jeden Sonn- und Feiertag in ihrer Kirche zwei Predigten für die Polen, zwei
für die Teutſchen und fpäter auch eine franzöfifche; ihr Beichtftußl war beftändig
umlagert und ſchon im J. 1796 belief fih die Zahl der Communicanten auf
19,000. Für ein fo ausgezeichnetes Wirfen ließ ihnen noch Pius VI. einen jähr-
lichen Beitrag von 100 Seudi aus der Caſſe der Propaganda anweifen. Nach
acht Jahren meldeten fich viele polnifche Jünglinge zur Aufnahme in die Congre=
gation. Zulegt errichtete Hoffbauer auch noch ein Conviet für Elerifer, Schon
im J. 1794 wurden die Bäter nah Mietau in Rurland berufen, erhielten in
Warſchau felbft eine zweite Kirche und ein Haus, zählten im J. 1799 25 Mit-
glieder dafelbft, genofen die Achtung der Gutgefinnten und erbuldeten die Ver—
folgungen der Böfen mit apoftolifher Sanftmuth. Der Ruf einer ſolchen fegens-
reichen Wirkfamfeit verbreitete fih fehnell und fo erging an Hoffbauer von dem
apoftolifchen Nuntius in der Schweiz die Einladung, in Eonftanz ein Collegium
zu gründen; ebenfo bot auch der Propft des Capitels in Lindau ein Haus an
und der Bifchof von St. Pölten wünfcte die Patres zur Abhaltung von Exer⸗
eitien für die Priefter feiner Didcefe und zur Heranbildung von Feldfaplänen, ein
Plan, der indeß wegen der Landesgefee wieder aufgegeben werden mußte, Vom
Nector Major mit der Vollmacht ausgerüftet, Collegien zu errichten, war Hoff-
bauer im J. 1792 zum Generalvicar der Congregation jenfeits der Alpen er-
nannt worden, Im J. 1803 gründete er in Teutfehland im Gebiete des Für—
fen yon Schwarzenberg an der Grenze der Schweiz nächſt dem Dorfe Jeftetten
Ligusrianer oder Nedemptoriften. 527.
auf dem Berge Tabor die erfte Niederlaffung in Teutſchland; im J. 1804 wurden
die Redemptoriften auch an der Wallfahrtsfirhe zu Tryberg im Schwarziwalde
- angeftellt. Allein gegen beide Nievderlaffungen erhob ſich joldhe Anfeindung, daß
fih Hoffbauer entihloß, diefelben wieder aufzugeben und dafür eine andere zu
gründen. Dieß follte zu Babenhaufen gefchehen, wo fie vom Volke mit Freu
den begrüßt, aber auch alsbald fo fehr mit Verdächtigungen und Berläumdungen
überbäuft wurden, daß zur gerichtlichen Unterfuhung geſchritten werden mußte,
die jedoch die Unfchuld der Väter Far berausftellte. Man hatte einmal in ihnen
eine Abart der Zefuiten entdeckt, und diefer Umftand allein fhon genügte, um fie
in der öffentlichen Meinung zu verderben, während ihr Acht Fatholifches Wirken
in dem. Zeitalter der feichten Aufflärung und des Unglaubens von felbft Anftoß
erregen mußte. Im J. 1806 begab fih Hoffbauer nah Warfchau zurück. In
Teutſchland wollten indeß die Niederlaffungen nicht recht gedeihen und find faft
bloß als vorübergehende Miffionsftationen zu befragten; die Väter wanderten
von Tabor, Tryberg und Babenhaufen hinweg, um der Verfolgung zu entgehen
und in der Schweiz am Heil der Seelen zu arbeiten. Allein aud in Chur,
wo fie eine freundliche Aufnahme gefunden hatten, mußten fie der VBerläumdung
weichen; fie zogen nah Wallis, erhielten ein Haus zu Vi ſpach, wurden aber
von hier durch den Kriegslärm hinweggeſcheucht. Auch in Polen follte ihr Schickſal
entſchieden werden. Als im 5. 1807 hier die durch Napoleon angeordnete neue
Regierung in's Leben trat, wurde am 15. Juli eine Unterfuchung gegen fie einge-
leitet, ihre Papiere hinweggenommen und hierauf erfolgte der Befchluß der Re—
gierung, daß diefe Congregation aufgehoben fei, und zugleich wurde diefer Beſchluß
militärisch erequirt. - Unter Bedefung wurden die Bäter auf einem Leiterwagen
auf die Feflung Küftrin gebracht, wo fie einen Monat in Gewahrfam blieben
und hart behandelt wurden; hierauf wurden fie je zwei und zwei entlaffen und im
ihre Heimath gefendet. Hoffbauers Begleiter war der Elerifer Martin Starf,
er begab fih nah Wien und wurde hier vom Erzbifhofe Grafen Sigismund
yon Hohenwart mit väterlicher Liebe aufgenommen, Dur Verwendung des Hof-
rathes Baron Penfler befam er in dem Gebäude der italienifchen Nationalkirche
eine Feine Wohnung. Anfangs las er in der Kirche Mariahilf Meffe, und ge—
wann durch feine Andacht Aller Verehrung; im 3. 1809 wurde ihm bie Beforgung
des Gottesdienſtes in der italienischen Kirche übertragen. Auch bier wirkte er
ungemein fegensreich. Endlich zeigte fich wieder ein Strahl der Hoffnung, feiner
- Eongregation ein Haus in Wien verfchaffen zu fonnen. Es hatte nämlich die
Tamilie Klinfowfirom bei ihm convertirt und nun redete er Friedrich von Klin—
kowſtrom zu, für feine Congregation ein Haus zu Faufen. Ein Proteftant ſchoß
Geld dazu und fo wurde in einer Vorſtadt ein Haus gefauft und in demfelben
eine Erziefungsanftalt errichtet, die bis zur Wiedereinführung der Jeſuiten in
Oeſtreich ſich erhielt. Im J. 1813 wurde Hoffbauer Beichtvater bei den Urſu—
lerinnen und bald wurde die Kirche derſelben zu einem Miſſionsort; ſein Einfluß
wuchs ungemein, fein Anhang ſteigerte ſich bei Laien und Geiſtlichen ungeheuer,
er erfchien als der geiftlihe Vater derſelben. Im 5. 1815 fandte er einige feiner
Priefter nach Bufareft in der Wallachei. Zu befonderem Trofte gereichte ihm,
daß die in verfhiedene Pfarreien zerfprengten Nedemptoriften in der Schweiz zu
Balfainte eine Niederlaffung erhielten, welche jedoch fpäter wegen des dortigen
I rauhen Klimas nah Freiburg verlegt wurde, Den größten Gewinn aber follte
1. Hpffbauer aus einer fchmerzlichen Kränfung ziehen. Die Menge der bei ihm Aus-
I and Eingehenden Hatte nämlich die Aufinerfjamfeit der Polizei erregt und nun ent-
deckte diefe bald, daß P. Hoffbauer einer auswärtigen Congregation angehöre
I und gegen das Gefeg mit einem ausländifhen Ordensgeneral in Verbindung
| fliehen fünne. Es warb daher eine Unterfuchung gegen ihn eingeleitet, die aber
I Fein Bergehen deffelben aufdecken konnte. Da er indeß feinem Orden nicht ent-
528 Lilienthal.
fagen wollte, follte er nad) dem Spruche der Unterfuchungscommiffion Deftreich
verlaffen, America hatte er fih zum Ziele feiner Reife gefegt, um dort für dag
Chriſtenthum zu wirken; allein der Erzbifchof verwendete fih für ven Schwerge-
kränkten bei Raifer Franz und diefer, von allen Seiten auf den apoſtoliſchen Mann
aufmerffam gemacht, entfchloß fih, demfelben eine Gnade zu erweifen, Auch
geſellten fich viele hochflehende Männer um Hoffbauer, um die Einführung feiner
Eongregation durch ihre Verwendung möglich zu machen, Am 29. October 1819
richtete nun diefer ein Mempriale an feinen Kaifer mit einer teutfchen Neberfegung
feiner Ordensregel, worauf dieſer am 22, April 1820 die Errichtung eines Colle-
giums genehmigte, Allein diefe Freude hatte der fromme Mann nicht mehr erlebt.
Er ftarb am 15. März 1820. Vgl. Friedrich Post: Clemens Maria Hoff-
bauer, der erfte teutfche Redemptorift, Regensburg 1844, Am 23. December 1820
erhielt die Eongregation auf Befehl des Kaifers die reftaurirte Kirche zu Maria-
fliegen in Wien und das daneben flehende Haus und im Herbft 1826 ein zweites
Haus zu Frohnle ithen in Unterfieiermarf, Seither wirkten die Väter der Con-
gregation unter heftigen Anfeindungen fegensreich in der Hauptftadt Oeſtreichs,
bis fie in den Märztagen 1848 unter der Herrfihaft der Aula und des Pobels
auf eine höchſt ungerechte und fchmähliche Art aus derfelben vertrieben wurden,
©, hierüber hiftorifch-politifhe Blätter, Bd. XXIL Hft. 5, 6 u. 7. Die erſte Niever-
laſſung der Redemptoriften in Frankreich war zu Bifhenberg in der Didcefe
Straßburg, einem berühmten Walfahrtsorte; diefelbe wurde in Folge der Zuli-
revolution aufgehoben, ift aber jest wieder hergeftellt und hat noch mehrere
Niederlaffungen in Frankreich erhalten, Haupthaus und Sitz des Generalvor-
fiehers ift gegenwärtig Nocera de Pagani im Königreich Neapel; von ihren
übrigen Häufern mögen genannt werben Altötting in der Didcefe Paffau, Fal-
mouth in England, Vgl. über ihren gegenwärtigen Beſtand P. Carl vom HI.
Alois, Statiſtik ꝛe. S. 596 ff, und nah ihm Henrion- Fehr, Gefchichte ver
Mönhsorden, Bd, U. ©. 224. Auch in America haben fie Niederlaffungen zu
Baltimore, Philadelphia, Pittshburg, New- York, Rocheſter, Albany,
Buffalo und Monroe; bier ift eine ihrer. vorzüglichften Beftrebungen, teutfche
Zünglinge zum Priefterfiande heranzubilden, um dem Mangel an Seelforgern
für die teutfchen Katholiken daſelbſt wo möglichft abzuhelfen. — Vgl. Salz-
bachers Reife nach Nordamerica. Wien 1845. ©, 343. — Auch einen Verein
von Redemptorifiinnen hat Liguori 1732 gleichfalls zu Scala geftiftetz fie
hatten gleichfalls in Wien und in Stein Niederlaffungen, theilten aber im
J. 1848 daffelbe Schieffal mit den Nedemptoriften in Oeſtreich; ein weiteres Haug
derfelben befteht zu Brügge in Belgien, [&ebr.]
Lilienthal, Theodor Chriſtoph, Profeffor der Theologie zu Königsberg,
1717 geboren, nimmt unter den Apologeten des 18ten Jahrh. einen rühmlichen
Platz ein, In raſchen Fortfhritten griff damals der Deismus und Naturalismus
die biblifhe Gefchichte in ihren einzelnen Theilen an. Lilienthal verfaßte gegen
diefe Angriffe feine Schrift: „Die gute Sache der göttlichen Offenbarung gegen
die Feinde derfelben”, 1750— 1782. 16 Thle. Mit vielem Fleiß, großer Be—
lefenheit, Gelehrfamfeit und meiftens richtigem Urtheile geht er auf alle einzelnen
Einwendungen und Einwürfe ein, die hauptfächlich von englifchen Deiften gegen
den Text des A. u. N. T. vorgebracdht worden waren. (Vgl. den Art. Deis-
mus und Deiften), Es ift nicht zu läugnen, daß diefe umfangreiche Vertheidi-
gung auch Meberflüffiges und weniger Stichhaltiges in ſich befaht, Indeß ift fie
für uns jedenfalls infofern lehrreich, als fie zeigt, die Feinde des Pofitiven un-
ferer Zeit wärmen nur die Säge ihrer Urväter auf, Außerdem find von Lilien—
thal herausgegeben eine große Anzahl Differtationen, wie der Kampf Jacobs
mit einem Engel und gleich viele Journalartikel. (Vgl, chriſtl. Kirchengeſch. feit
Limburg. 29
der Reform. von Schröckh. 6. Thl, ©; 2915 Biographie universelle. T. 24;
pP. 495 ; Vermiſchte, Scpriften von Tholud. 1. Thl. ©. 363. ff.
Limburg, Bisthum. Daffelbe umfaßt die Fatholifchen Einwohner des Her—
zogthums Naffau und der freien Stadt Frankfurt a. M. Es ift gegründet durch
die päpftliche Bulle „Provida sollersque* vom 16. Aug. 1821, ift eines der drei
oberrheinifchen Bisthümer, fonah ein Beſtandtheil der oberrheiniihen Kirchen-
provinz, und nebft den Bisthümern Mainz, Rottenburg und Fulda dem neuge-
gründeten erzbifchöflichen Sige in Freiburg i. B. unterftellt. In der obigen Bulle
beißt es in Beziehung auf Limburg: „Ebenfo errichten und beftimmen wir Lim-
burg an der Lahr, im fruchtbarer Gegend und in der Mitte des Herzogthums
Nafſau gelegen, welches 2700 Einwohner zählt, zur bifhöflihen Stadt und die
daſelbſt befindliche St. Georgsfirche zur Cathedrale.“ Das Domeapitel in Lim
burg foll aus einem Decan und fünf Canonifern beftehen. Ihnen follen zur Aus-
hilfe für die Seelforge zwei Dombicare beigegeben werden. Das Bisthum follte
aus liegenden Gründen mit einer Ertragsfumme von 21,606 Gulden ausgeftattet
werden. Davon fallen dem Bifchofe zu: 6000. Der Domderan erhält 2400 fl.,
der erfie Domperr , zugleih Stabtpfarrer von Limburg, foll 1800 fl., der zweite
ebenfoviel ; der dritte, zugleich Pfarrer in Dietfirchen, ebenfoviel; der vierte Ca⸗
nonifer , zugleich Pfarrer in Eltville, fol 2300 fl.; der fünfte, zugleih Stabt-
pfarrer im Frankfurt, fol das Einfommen der dortigen Pfarrei erhalten. Für
das Seminar in Limburg find 1500 fl., für die bifchöfliche Kanzlei und die übri-
gen Berwaltungsfoften find 2130 fl. beftimmt. Die Bulle vom 11. April 1827
„Ad dominici gregis* enthält befonders nähere Beftlimmungen über die Art und
Weife der Erwählung fowohl der Biſchöfe als der übrigen Würdeträger der Kir»
chenprovinz. — Nach einer Zählung vom J. 1843 hatte das Herzogtum Naffau
184,282 Ratholifen, neben 215,632 Proteftanten, 160 Mennoniten, 6630 Juden.
Sranffurt zählte bei 65,524 Einwohnern an 6500 Katholifen. Nach dem genea—
logifchen Kalender vom J. 1849 zählte Naſſau Katholifen: 183,466 — Prote-
ftanten: 218,894 — Mennoniten: 151 — Juden: 6733 — zufammen: 424,817
Einwohner. Das Bisthum Limburg umfaßt in Naffau (nah dem Stande vom
1. Zuli 1850) 15 Decanate mit 143 (140) Pfarreien. Die Decanate find:
4) Braubah mit 7 Pfarreien; 2) Eltville mit 11 Pfarreien; 3) Hadamar mit
41 Pfarreien; 4) Höhft mit 10 Pfarreien; 5) Idſtein mit 9 Pfarreien;
I 6) Königftein mit 12 Pfarreien; 7) Langenfhwalbah mit 9 Pfarreien; 3) Lim⸗
burg mit 12 Pfarreien; 9) Meudt mit 10 Pfarreien; 10) Montabaur mit 11
Pfarreien; 11) Rennerod mit 6 Pfarreien; 12) Rüdesheim mit 11 Pfarreien;
43) Selters mit 9 Pfarreien; 14) Ufingen mit 7 Pfarreien; 15) Wiesbaden
mit 8 Pfarreien. In Frankfurt wird die Dom- oder St. Bartholomäi-Gemeinde
verwaltet von dem Stadtpfarrer, Geiftl. Rath und Domcapitular (zur Zeit Herr
Beda Weber), mit 3 Raplänen. Die Liebfrauenfirhe fteht unter einem Director
und 2 Kaplänen; die St. Leonharbsfirche fteht unter einem Director, 2 Raplä=
nen und 1 Auspilfsfaplan; endlich die Teutfh-Hausfirhe in Sachfenhaufen unter
einem Pfarrer und einem Kaplan. Regularclerifer hat das Bisthum Limburg
bis jegt nicht befeffen; doch hat unter Iebhaftem Widerfireben der weltlichen Be—
hörden der hochwürdigſte Bifchof von Limburg in den legten Tagen 2 Redemp-
toriften an den Walffahrtsort Bornhofen, Gemeinde Lamp, eingeführt. Gegen-
wärtiger Bischof ift Peter Joſeph Blum, geboren zu Geifenheim den 18.
April 1808, Priefter ſeit 1832, zum Biihofe gewählt und eingefegt im J. 1842,
I nachdem eine vorausgegangene uncanonifhe Wahl verworfen worden war (S. Hiſt.⸗
pol. Blätter, Bd. VI. S. 297. „Die Limburger Bifhofswahl.”). Den guter
unter den Katholiken Naffaus herrfchenden Geift zeigten die im Taufenden Jahre
in diefem Bishum durch die Patres Nedemptoriften gehaltenen Miffionen, (Siehe
Katholik, Zuli 1850.). Die obigen Bullen find abgedrudt in Phillips, Kirchen»
Rirhenlsziton. 6. Sd. 34
530 Limbus — Lindſey.
recht, II. Bd, 1850, im Anhange. Vergl. au: Hand- und Adreßbuch über alfe
Berhältniffe der kath Kirche, — Eine Statifif der kath. Kirche f. d. Jahr 1850.
von Dr. J. A. M. Brühl. ſGams.]
Limbus iſt der Name für jene Oertlichkeit des Jenſeits, die den ohne
ihr Verſchulden außer dem Kreife der Erlöfung ſtehenden Seelen zum Aufenthalte
angewiefen iſt. Da innerhalb der bezeichneten Beziehung ein doppeltes Verhält⸗
niß flattfindet, fo unterjcheivet fi ein limbus patrum und ein limbus infantium.
Die Angehörigen der erften Abtheilung ſtehen gefchichtlich außerhalb ver Er-
löſung; diefe iſt noch nicht vollbracht und fo der ihnen beftimmte Ort der An-
ſchauung Gottes, der Himmel, noch verfchloffen Nachdem nun die große Ver-
fohnung auf Golgatha vollbracht worden und die bisher beftehende Scheinewand
zwifchen Gott und dem Menfchen gefallen, hat ſich ihnen der durch den Ueber—
winder der Sünde und des Todes wieder zugänglich gemachte Himmel, an deſſen
Saum (daher der Name) fie bis zu deſſen Hölfenfahrt (ſ. die Art, Höllenfahrt
und Erldfung) geweilt, unter dem froben Jubel der feligen Geifter genffnet,
Der jetzt leer flehende limbus patrum trägt auch den Namen Vorhölle, Fonnte
aber auch „Vorhimmel“ heißen. Was die Angehörigen der zweiten Abtheilung
des limbus anlangt, fo find dieß ſolche, auf welche das Ergebniß ver gefihichtlich-
objectiv vollbrachten Erföfung feine Anwendung finden kann, weil fie ohne Waffer-
ober Bluttaufe aus dem Leben gefchieven und zur Begierdtaufe in Ermangelung
des reifen Vernunftgebrauches die fubjertive Fähigkeit nicht befaßen, Solche in
einem Findlichen Alter ohne Taufe dahingeſchiedene Seelen befinden fih nun zwar
nicht in der eigentlichen Hölle, wohl aber gleichfam am Saume, am Rande der-
felben, (Das Nähere hierüber im Art. Hölle.). [Fuchs.
Lindſey, Theophilus, Stifter einer unitariſchen Gemeinde in
London, In England wurde die Ausbreitung der Speinianer und Unitarier
frühzeitig durch die härteften Gefege gehindert und in Folge davon Fonnten fi
die Unitarier noch bi8 gegen Ende des 18ten Jahrhunderts in Feine Secte zur-
fammenthun, obgleich der Unitarismus von Siebenbürgen, Polen und Holland
ber durch Flüchtlinge und Schriften auch auf die britifche Infel eingefhmuggelt
worden war, arianifhe und forinianifche Anfichten fih unter dem Einfluß der.
Sreivenferei und Freimaurerei (f, dieſe Art.) feit dem Ende des 17ten Jahr-
hunderts fehr verbreiteten und Johann Biddle CH 1662) (f. d. Art) und
Thomas Emlyn CH 1741) den Verſuch, der ihnen aber theuer zu ſtehen Fam,
gemacht Hatten, eine eigene Gemeinde auf unitarifcher Bafis zu gründen, All—
mählig famen indeß die gegen die Arianer und Soeinianer erlaffenen Geſetze
außer Brauch, wiewohl man fie nicht förmlich abfehaffte, und es bedurfte nur
mehr eines Führers, um endlich eine unitarifche Gemeinde zu fammeln. Ein
folcher Führer erſchien im J. 1773 in der Perfon des anglicanifchen Pfarrers zu
Carterick in Yorkfhire, Theophilus Lindfey, Er Iegte fein Amt mit der Erflärung
nieder, daß er dazu von feinem Gewiffen gebrungen fei, weil fih feine Ueber—
zeugung in Betreff der 39 Artikel (ſ. Hochkirche), befonders in Anfehung des
athanafifhen Glaubensbefenntniffes geändert habe, begab fih nach London, wo
Thon genug vorgearbeitet war, und machte befannt, daß er einen eigenen
Gottesdienſt nach der Lehre des unitarifchen Syftems in feinem Haufe einzuführen
entichloffen fei, Er eröffnete ihn auch wirklich im April 1774 unter dem Zus
fammenftrömen einer Menge von Zuhörern, Aus biefen bildete ſich allmählig
eine zahlreiche Gemeinde, welche regelmäßig in Lindfey’s Haus zum fonntäglichen
Gottesdienſt zufammenfam und nach einigen Jahren durch Subfeription die Koſten
zur Herftellung einer eigenen Capelfe zufammenbradte, wo Lindfey feit 1778
wohnte und alfe Sonntag nach einer eigens von ihm verfaßten Liturgie den
Gpttesdienft hielt. Lindfey’s Beifpiel fand Nachahmung nicht bloß in England,
wo nun auch mehrere Geiftliche fich erfaubten, die Liturgie im antitrinitarifchen und
Lingard. 531
unitariſchen Siun (f. Antitrinitarier) zu verändern, und Joſeph Prieſtley, be—
Fannt durch feine Gefhichte der Verfälfhungen des Chriſtenthums, die unitarifchen
Prineipien noch weiter fortbildete ald Soeinus felbft, fondern auch in Schottland, wo
William Ehriftie, ein Kaufmann zu Montrofe, im J. 1781 eine unitarifche Ge-
meinde fliftete und für den Gottesdienft die Liturgie Lindfey’s einführte, Der er-
wähnte Prieftley, geftorben 1804 in America, wohin er vor dem Volksunwillen 1794
hatte flüchten müſſen, bahnte dem Unitarismus in America den Weg an, ©,
Schröckh's Kgſch. feit der Reform. TH. IX.; Mosheim’s Kgſch. fortgef, v,
Schlegel, Bd, VI; Plant, neue Religionsgefh. Th. 1. €, [Schrödt.]
Lingard, John. Der Mann, der fo viele Notizen für Mit- und Nad-
welt gefammelt und binterlaffen hat, war nie zu vermögen, Notizen über fein
eigenes Leben mitzutheilen, Was wir von ihm wiffen, verdanfen wir einem
feiner Jugendfreunde, dem ihm im Tode längſt vorangegangenen Gradwell, Coad⸗
jutor des Bifchofs von London, veröffentlicht in der Bonner Zeitfchrift für Philo—
fophie und Theologie, Eöln 1834. 9. Heft ©. 101 ff. Lingard entflammte
C5. Febr, 1771) einer frommen und ebrfamen Fatholifchen Familie zu Wincefter,
Gemäß feiner Neigung und trefflichen Anlagen übergaben die Eltern den zwölf:
jährigen Kuaben dem englifhen Collegium zu Douai in Franzöfifh-Flandern, der
beiten Pflanzfchule englifcher Katholiken. Durh Talent, Fleiß und Liebens-
| würbigfeit ausgezeichnet, durchlief er die philologiſchen und philofophifchen Studien
nebft einem Theile der Theologie bis zum Frühjahre 1793, wo er das Collegium
verließ und als Erzieher und Neijegefellfchafter des Lords Stourton nach England
zurückkehrte. Nah 1'/,jährigem Aufenthalt auf dem Landfige diefer Familie bei
Jorkſhire, wo eine trefflihe Bibliothek feine Mußeftunden ausfüllte, begab er
ſich nad Croof-Hall, um in diefem Collegium das Studium der Theologie zu
vollenden. Sogleich nad) feiner Priefterweihe wurde er bei den glänzenden Proben
feines Predigertalentes nach London eingeladen. Aber bei der Berrichtung aller
| Fatholifchen Collegien auf dem Feftlande, die fonft Engländer befucht Hatten, fegte
er eine glänzende Laufbahn dem Verdienfte nach, zur Bildung Fünftiger Priefter
mitzuwirken. So ward er im Elerical-Seminar Vicepräfident, Profeffor der
Philoſophie und General-Studiendirertor, wo er, mit Einfluß der drei Tegten
Jahre, die er im neuen Coffegium zu Uſhaw zubrachte, über 15 Jahre voll Eifer
und Segen wirfte, ohne feine Studien und Ausbildung zu vernachläfigen, Ge-
ſchichte war fein Lieblingsfach, und die feines Vaterlandes fand er reichlich aber
ſehr einfeitig bearbeitet vor, entflelft durch Religionshaß und eine darnach fich
richtende politifche Anſchauung. Im 3. 1806 trat Lingard als Hiftorifer auf und
ſelbſt die geachtetften englifchen Zeitfihriften, obwohl antikatholiſch gehalten, fprachen
fih -mit Hoher Anerfennung über Lingard's Gelehrfamfeit, Scharffinn, Fleiß,
Duellenftudium und edlen Freiheitsfinn aus, Ein glänzendes Zeugniß ftellte
ihm auch das Journal des Debats aus. — Kaum war Lingard’s Nuf als Hiftorifer
begründet, fo follte er gleiche Lorbeeren fih auch als theologifcher Polemiker
fammeln, Eine Anzahl englifcher Bifhöfe, ihren Collegen Durham an ver
Spige, derlamirten und fihrieben Heftig gegen alles Ratholifche im J. 1807.
Mit einer Ruhe, Klarheit, Leichtigkeit, einem Ernfte und Fronie wies der junge
‚Mann die gewaltige Schaar feiner Gegner zurecht, daß ſelbſt proteftantifche
Kritiker ihm die Palme des Sieges über die gefchloffene Phalanx feiner Gegner
zuerfannten, Seine dießfallfigen Brofchüren, die er nur wie zur Erholung ohne
Beeinträchtigung feiner fonftigen Gefchäfte fchrieb, wurden von Ratholifen und Pro—
teſtanten verfchlungen und mußten in ftarfen Auflagen wiederholt gedruckt werden, —
Nah dem Tode feines Freundes und Collegen Thomas Eyre mußte Lingard im
3. 1810 Präfes des Colfegiums werden. Im J. 1811 trat er den Kleinen Poften
| der Fatholifchen Eapelle zu Hornby trog der Armuth der Gemeinde und des ganz
I geringen Einfommens an, um ſich mehr der Abfaffung feiner engliſchen Geſchichte
34
532 Linie — Linus,
widmen zu können. Hier Iebte er treu feinem Berufe ald armer Landpfarrer und
glüclich in feinen Studien bis in fein hohes Alter, Im 3. 1821 machte er eine
gelehrte Reife nach Italien und wurde in Nom auf das Zuvorkommendſte auf-
genommen, Pius VII. hatte ihm die Würde eines Prälaten der römifchen Kirche
zugebacht, wegen des Auffehens aber, was diefe Würde in England erregen
Tonnte, lehnte fie Lingard beſcheiden ab. Dagegen erhielt er aus der Hand des
hl. Vaters das Doctorbiplom der Theologie und beider Rechte. Im J. 1822
ward er zum Mitglied der Fatholifchen Academie zu Rom und 1824 zum Mit-
glied der füniglichen Speietät der Wiffenfchaften zu London ernannt. Auf feine
ftilfe Pfarre zurücgefehrt, Tebte er wieder ihr und feinen Studien bei befter
Befundheit und. widerlegte fo die Zeitungslüge, daß er fih ausgehungert habe,
Bei aller Schärfe und Gelehrfamfeit war fein Styl edel, Far und einfach. 1806
erfchienen feine: The Antiquities of the Anglo-Saxon Church, in zwei Banden;
1831 auch in's Franzöfifche überfegt. 1806—1820 erfchienen feine apologetiſchen
Schriften, gefammelt unter dem. Titel: A collection of Tracts, on several Sub-
jects, connected with the civil and religious principle of Catholics by the Reve-
rend D. Lingard (in zwei Auflagen zu London erfchienen, auch 1829 in's Fran-
zöfifhe zum Theil, aber an manchen Stellen unrichtig überfegt), Remarks on
the „St. Guthbert“ of Reverend James Raine, Zurückweiſung der Angriffe Naine’s
auf die Fatholifche Kirche. Sein Hauptwerf aber, zu dem er als Rechtfertigung
ſchrieb Vindication of the History of England, iſt: A History of England, from the
first invasion of the Romans. By John Lingard, D. D. erfchien in England, Paris
und Heidelberg in verfihiedenen Auflagen, auch in franzöfifcher und auf Befehl
Papſt Leo's XI. auch in italienifcher Sprade, in teutfher von Salis, fortgeſetzt
von Berly, Frankfurt 1823—1833, 15 Bde. und Duedlinburg 1827—1837,
10 Bde. Die Fortfegung von 1688 bis auf unfere Tage erfchien in Franfreich
von de Marles, in's Teutfche überfegt von Pfarrer Ste I. und II. Bd,, Tübingen
bei Laupp 1847, [Haas.]
Linie, ſ. Verwandtſchaft.
Linus, Papſt. Die verſchiedenen Verſuche, die Reihenfolge und die Regie—
rungszeit der erſten Päpſte feſtzuſtellen, ſehe man in den Artikeln: Anaclet,
Clemens J. und Cletus. In Bezug auf Linus iſt, wenn nicht ſicher, ſo doch
höchſt wahrſcheinlich, daß er, wie das römiſche Brevier fagt, primus post Petrum
gubernavit ecclesiam, ſei es nun, daß er bei Lebzeiten des Apoſtels als deſſen
vicarius der Kirche vorfland, fei eg, daß er nach dem Tode deffelben Papft wurde,
Sei e8 endlich, daß er, wie Stilting (Acta Sanctorum 23. Sept.) nad dem
iberianifchen Catalog annimmt, anfangs vicarius des HI. Petrus, dann aber nah
deffen Tode noch zwei Jahre wirklicher Papft war. Mit ziemlicher Sicherheit
fann man auch die Dauer feines Pontificats auf ungefähr 11 Jahre anfegen,
Nach einem alten Papal- Catalog war er aus Etrurien gebürtig, der Sohn eines
Hereulanus, nach dem römifchen Brevier aus Voleterrä in Etrurien. Nach
ſpätern Nachrichten wurde er in einem Alter von 22 Jahren von feinem Vater
nah Rom geſchickt, um fich dort auszubilden, wurde von Petrus befehrt und
wegen feines Glaubens und feiner Beredtfamfert zum Bifchof geweiht und zum
Stelfvertreter des Apoflels ernannt, Ferner wird von ihm in dem erwähnten
Catalog erzählt, er habe den Frauen verboten, unverfchleiert in die Kirche zu
kommen. Nah dem römifchen Brevier heilte er Befeffene und erweckte Todte
und wurde auf Anftiften des Eonfularis Saturnin, deffen befeffene Tochter er
geheilt hatte, enthauptet und auf dem Vatican neben dem Apoftelfürften beerbigt.
Daß er als Martyrer geftorben, dafür fpricht auch die Tradition und feine Auf-
nahme unter die martyres im Canon; die von Tillemont (Mem. t. II. S. Clement
Mote A) dagegen vorgehrachten Bedenken find nicht erheblich und von Stilting
{l. 0.) wiverlegt, Das Martyrologium Romanum nennt mit alten Nachrichten den
BT a ge _ EEE EN FE
| Binz 533
28. Sept. als dies natalis des HI. Linus, andere (denen das cölnifche Brevier
folgt) den 26. Nov., andere den 7. Det,, die Griechen den 5. Nov. Es wird
dem Linus eine Gefhichte des HI. Petrus, namentlich feines eng mit Simon
Magus zugefhrieben; die in der Biblioth. PP. Paris. 1644 t. 7. abgedrucften
Mariyracten der Apoftel Petrus und Paulus find aber fiher nicht von ihm
G. Henſchen, Acta Sanct. Jun. t. 5.; Tillem. Lc.), und wahrſcheinlich, wie
Bellarmin (de script. eccl.) vermuthet, an die Stelle der ächten unterfchoben.
Daß der 2 Timoth. A, 21. erwähnte Linus unfer Linus fer, fagt ſchon Irenäus
dl, 3, 3.). [Reufch.]
Linz, Didcefe in Dberöftreih. Der größte Theil der Diöceſe Paſſau
ag feit ihrem Entftehen in Deftrei, und diefer öfreicpiiche Theil des Bisthums
Paſſau blieb damit bis auf 1783 größern Theils verbunden. Als in diefem
Sabre der Cardinal und Fürftbifhof von Paffau, Leopold Ernft Graf von Firmian,
mit Tod abging, ließ Kaifer Zofeph IL unverzüglich erflären, daß Oeſtreich ob
und unter der Enns von der Paſſauer-Diöceſe nunmehr getrennt ſei und eigene
Biſchöfe erhalten werde; zugleich wurde durch Faiferlichen Befehl die bifchöflich-
paſſauiſche Gerichtsbarkeit in ganz Deftreich eingeftellt und alles paffauifhe Bis—
thums- und Domcapiteld-Gut in Befig genommen. Auf die gerechten Gegen-
vorſtellungen des Domcapitels von Daffau erfolgte die Antwort, der Kaiſer könne
| und werde vermöge feiner Regentenpflichten und im Hinblif auf das Befte feiner
I Untertbanen nicht anders handeln, Das Eapitel wandte fih nun um Unterftügung
an einzelne churfürftlihe Höfe, und wählte im Mai 1783 den bisherigen Bifchof
son Gurf, Grafen Joſeph Franz Anton von Auersberg, zum Bifchof
von Paffau, in der Hoffnung, demfelben werde es beffer gelingen, mit dem
Kaifer einen annehmbaren Vergleich abzufchließen. Alfein der Vergleich, welchen
Diefer mit dem Kaifer am 4, Juli 1784 abfhloß, war dem Bisthum Paſſau
außerft nachtheilig: Auersberg entfagte in demfelben für fich und alle feine Nach—
folger jeder bifchöflichen Gerichtsbarkeit in ganz Deftreih, und verpflichtete fich
fogar, in dankbarſter Anerfennung der alferhöchften Gerechtigfeitsliebe und Gnade
des Kaifers, gegen Zurüdgabe der von diefem dem neu zu errichtenden Bisthum
Linz beftiimmten paffauifchen Güter die Summe von 400,000 Gulden zum Behufe
der Ausftattung des neuen Bisthums Linz zu bezahlen! Doc ließ nachher Kaifer
Leopold U. die Hälfte diefer Summe nad. In's Leben trat das neue Bisthum
Linz im 3. 1785. Zu feinem Sprengel unter dem Metropolitanrecht der Erz-
Fire von Wien erhielt es ganz Oberöftreih. Zum erſten Bifchof von Linz er-
nannte der Raifer den Grafen Ernft Johann von Herberftein. Zur Cathe-
drale beftimmte man die ehemalige Jefuitenfirche zu Linz, und- die Zahl der Dom—
‚eapitularen wurde auf fieben feftgeftellt, mit dem Chrenrechte der Jufel für den
Generalvicar, den Dompropft, Domdechant und Domſcholaſter. Nach Ernſt
Johann (4 1783) folgte Anton Joſeph Gall. Als dieſer 1807 ſtarb, blieb
| Das Linzer-Bisthum acht Jahre lang ohne Oberhirten, indem der 1809 zum
Bifchofe ernannte Sigismund von Hohenwart wegen der Zeitumftände fein
Amt erft 1815 antreten fonnte, Sigmund (+ 1825), unter deffen Regierung die
Shwärmerifchen Serten der Boofianer ( Kempten) und Pöſchelianer
€. d. Art, und Kleins Gef. d. Chriſtenth. in Deftr. u, Steiermark, VIL. 200 :6,)
in der Linzer-Didcefe zum Vorſcheine famen, erhielt im J. 1827 zum Nachfolger
den eifrigen und gelehrten Biſchof Gregor Thomas Ziegler, der noch gegen-
wartig den bifchöflichen Stuhl von Linz ziert. Laut Schematismus der Linzer-
Dideeſe vom J. 1850 befteht gegenwärtig das Domcapitel aus drei Dignitätens
Dompropft, Domdechant und Domfcholafticus, und aus vier andern Domecapitu-
lJaren, fammt einigen Ehren-Domberren. Die Diöcefe ift in 24 Decanate getheilt
und zählt 294 Pfarren, 46 Pfarrvicariate, 43 Localftationen, 25 Erpofituren
und 40 Bensficien, Die Gefammtzahl des Secularelerus beträgt 694, des
531 Lippomani.
Regularelerus 323 Prieſter und die Seelenzahl der Dibeeſe 706,566. Klöſter
hat die Didcefe folgende: Benedietinerklöſter 2, Kremsmünſter und Lambach,
regufirte Canoniker 2, zu St. Florian und Neichersberg, Ciftercienfer 2, Wil-
hering und Schlierbach, Prämonftratenfer 1, Schlägel, Carmeliterflofter 1, zu Linz,
Sapueinerflöfter 2, zu Linz und Gmunden, Piariften-Collegium 1, zu Freiftabt,
Barmherzigenflofter 1, zu Linz, Urfulinerinnen 1, zu Linz, Elifabethinerinnen 1,
zu Linz, Carmeliterinnen 1, zu Omunden, Salefianerinnen 1, zu Gleink, Barm-⸗
herzige Schweftern 2, zu Linz und Steyr. Im J. 1834 wurden durch Erzherzog
Marimilian die Zefuiten auf dem Freinberge bei Linz eingeführt, nachdem er bie
fchöne Kirche dort erbaut und ben dortigen Thurm in ein Collegium umgeftaltet
hatte; allein die fogenannten März - Errungenfchaften follten den armen Jefuiten
nicht gelten, fie wurden ſchmählich vertrieben, ©. Klein, Gef, des Chriſtth.
in Deftreih und GSteiermarf VIL, Prig, Geſch. des Landes ob ber Enns,
B. I.ʒ Verzeichniß über den Geiftlichen- Perfonalftand der Linzer-Dibceſe auf das
% 1850. [Schrödl.)]
Lippomani, Aloyſius oder Ludovieus, wurde zu Venedig im J. 1500 ge⸗
boren, Er ſtammte aus einer Familie, welche im J. 1381 nah dem Kriege mit
Genua unter den Adel Venedigs aufgenommen war, In den Sprachen hatte er
fich tüchtige Kenntniffe erworben, war fehr bewandert in der Gefhichte, ſowohl
der Rirchengefchichte als der Profangefhichte, und beſonders gründlich unterrichtet
in der Theologie. Wegen feines fittenreinen Lebens war er ebenfo berühmt: als
wegen feiner Gelehrfamfeit. Lippomani war nacheinander Bifhof von Modon,
Berona und Bergamo, Wegen feiner ausgezeichneten Eigenfchaften warb Lippo—
mani zu wichtigen Gefchäften verwendet. Als das allgemeine Eoneil von Trient
nach Bologna verlegt wurbe, erhielt Lippomani den Auftrag nach Rom zu reifen
und diefen Schritt vor dem Papfte zu rechtfertigen. Ber der Unterbredung des
Eoneils ging Lippomani 1548 als Nuntius nach Teutſchland, wo er zwei Jahre
verweilte, Im folgenden Jahre war Lippomani einer der drei Präfidenten des
allgemeinen Coneils zu Trient. Zugleich bekleidete er die Stelle eines Geeretärs
des Papftes Julius IN. Papſt Paul IV. fhicte ihn im 3. 1556 nach Polen, um
dort den Fortfchritten der Neformation entgegen zu arbeiten. Früher war das
Neifen auf proteftantifche Univerfitäten verboten (vergl. Lasko, J. Erzbiſchof),
im 5. 1542 aber wurde das Neifen in's Ausland erlaubt, nur follte Keiner nach
feiner Rückkehr neue Lehren ausftreuen. Mit der Thronbefteigung Sigismund's II.
pder Sigismund Auguft’8 breitete fich der Proteſtantismus immer mehr aus,
Durch die Aufnahme der Hufiten oder böhmifchen Brüder (1548) erhielt der
Proteftantismug eine Verſtärkung in der Zahl, aber es trat zugleich eine Schei-
dung in ber Lehre ein, denn bis dahin hatten die Proteftanten ın Polen das Augs-
burgifche Glaubenshbefenntnig angenommen. Später fand auch Lälius Soeinus
willige Aufnahme. Daß dadurch die Fatholifhe Neligion Nachtheile erleiden
mußte, liegt in der Natur der Sache. Es zeigte ſich diefes auf den Reichstagen
zu Petrifan 1550, 1551 und befonders 1555, wo ein Nationaleuneilium bean-
tragt wurde ganz nach proteftantifchem Zuſchnitt; die Fürften follten die Nichter
in Glaubensſachen fein, und die Religionsftreitigfeiten bloß nach der hl. Schrift
entfchieden werben; die Fatholifchen Biſchöfe follten mit den proteftantifchen Theo-
Ingen berathfchlagen, und auch auswärtige Theologen, wie Calvin, Melanchthon,
Beza u. ſ. w. follten hinzugezogen werden fönnenz zum Schluffe follte dann auch
ein Glaubensbefenntniß aufgeftellt werden, Der König genehmigte diefes nicht
nur, fondern ließ durch feinen Gefandten beim Papfte noch weiter gehende An-
träge ſtellen, welche der Papft nur abweifen Fonnte, Die Bemühungen der Bi-
Thöfe beim Könige waren dagegen ohne: einen bedeutenden Erfolg, Auf der
Provincialfynode zu Petrifan 1551 Tießen fie durch Stanislaus Hofius (ſ. Hoſius,
Stan.) ein Glaubensbekenntniß auffegen, weldes bald fo beliebt wurbe, daß
Lipſius. 535
man es in den verſchiedenſten Sprachen und Ländern druckte. Die Biſchöfe er—
fuchten auch den Papft um Abfendung eines Nuntius, als folcher Fam Lippomani
1556 nach Polen, Lippomani mußte gegen fchändlichen Mißbrauch einer con-
feerirten Hoftie von drei Juden und einer Chriftin die Strenge der Gefege an
rufen, und wurde durch feine Wirffamkfeit gegen den Proteftantismus den Häre-
tifern fo verhaßt, daß fie mehrere Male Nachſtellungen gegen fein Leben berei=
teten, welche glücklicher Weiſe nie ihren Zweck erreichten. Lippomanı ward 1558
Bifhof von Bergamo und ftarb den 15. Auguft 1559, Bon feinen Schriften
find zu nennen: Catena sanctorum Patrum in Genesin. Parisiis 1556. fol. — Catena
sanctorum Patrum in Exodum. Parisiis 1550. fol. — Catena in aliquot psalmos.
Romae 1585. — Vitae sanctorum. Venetis 1551. 8 voll. 4. — Constitutiones
synodales super reformatione cleri. — Confirmatione di tutti gli dogmi catho-
liei etc. Venezia 1555. — Espositioni volgari sopra il simbolo Apostolico, ibid.
1541. 4. ; [Uedind.]
Lipſius, Zuftus, berühmter Gelehrter des 16ten Jahrhunderts,
geboren 1547 zu Iſch, einem Dorfe bei Brüffel, hatte ein folches außerordent-
liches Genie, daß er in einem Alter, in welchem andere Rinder zu leſen anfan-
gen, fhon zu fohreiben begann; denn neun Jahre alt, machte er fihon einige
Gedichte, in einem Alter von zwölf Jahren arbeitete er Reden aus; 19 Jahre
alt edirte er fein Werk: Variae lectiones. Weberrafpt und eingenommen von
diefem Genie, nahm ihn der Cardinal Granvella (f. d. Art.) als Seeretär mit ſich
nah Rom, wo er feine Kenntniffe fehr erweiterte, Bon Nom zurüdfgefehrt, ward
er durch den Kriegszuftand feines Baterlandes bewogen, die Profeffur der Be—
redtfamfeit und Geſchichte an der Univerfität Jena zu übernehmen und befaunte
fih hier äußerlich zur Iutherifchen Kirche. Indeß nöthigte ihn diefer gezwungene
Religionszuftand, feine Stelle im 3. 1574 heimlich zu verlaffen, Im J. 1579
beriefen ihn die Stände von Holland zur Profeffur der alten Literatur nach
Leiden; bier wendete er fih äußerlich zum reformirten Befenntnif. Nachdem er
bier 13 Jahre gelehrt, verließ er Leiden, um zu Löwen die Profeffur der ſchönen
Wiffenfchaften zu übernehmen, Fehrte aber vorher wieder zur katholiſchen Kirche
zurüf, Seine Borlefungen verſchafften ihm fo großen Ruhm, daß der Erzherzog
Albert mit feiner Braut, der Infantin Jfabella, und dem ganzen Hof diefelben
beſuchte, ihn auch zum Staatsrath machte. Philipp I. zeichnete ihn mit dem
Titel eines Hiftoriographen aus; Heinrich IV., Paul V. und die Nepublif Bene-
dig bemühten fich vergeblich, ihn in ihre Dienfte zu ziehen. Seitdem er wieder
zur fatholifchen Kirche zurücgefehrt, blieb er big zu feinem Tode 1606 aufrichtig
derfelben ergeben und wurde ein außerorbentliger Verehrer der jungfräulichen
Gottesgebärerin; er fihrieb fogar die Gefchichte der Frauenkirche von Hall, worin
er aber, gleichfam als gehörte diefes zum Wefen eines guten Ratholifen, ohne
alle Prüfung alle noch fo ungewiffen Traditionen aufnahm, und weihte diefer
Kirche, doch nicht ohne überfchwengliches Selbftlob , feine filberne Feder, Lipfius
war einer ber vorzüglichften Commentatoren der römifchen Claſſiker; fein Meifter-
werk in diefer Beziehung ift fein Commentar über Tacitus, Diefen Hiftorifer
wußte er von Wort zu Wort auswendig, und furhte auch feine und Seneca’s
Schreibweiſe nachzuahmen, verfiel aber dabei in einen falfch-Iaconifchen, abge—
brochenen, zugefpiäten und gefünftelten Styl, welcher demungachtet allenthalben
Nachahmung fand. Für die Gefhichte der Philofophie ift Lipfins deßwegen nicht
I ohne Bedeutung, weil er den Stoicismus wieder in Aufnahme zu bringen fuchte,
edoch fo, daß er ihn foniel wie möglich dem Chriftenthum anzupaffen fih bemühte,
Zu diefem Behufe gab er außer feiner Schrift „de constantia* eine „manuductio
} ad philosophiam Stoicam“ und eine „physiologia Stoica“ heraus und beleuchtete in
ber von ihm beforgten neuen Ausgabe der Werfe des Seneca das ſtoiſche Syftem
in einer Weife, wie es vor ihm noch Fein Commentator gethan hatte, Aus den
530 Liquoriſtiſcher Streit — Lismanin.
ungemein zahlreichen andern Schriften des Lipſius ſeien nur noch angeführt ſeine
Schriften de una religione, de cruce 1. III., de erucis supplicio apud Romanos.
©, Aubert, Miraei vita J. Lipsii, Antw. 1609; Dupin, bibl. Ecel. XV; Bayle,
dict.; Feller, diet. hist.; Rixner, Geſch. d. Philofophie; Schröckh's Kgſch
feit d. Ref. II. [Shröpt.]
Siqupriftifcher Streit, Derfelbe dreht fih um die Frage, ob auch andere
Slüffigfeiten Cliquores) als Wein zum Abendmahle gebraucht werben dürfen
und hat fomit Berwandtfhaft mit den hydroparaſtatiſchen Streitigkeiten in der
alten Kirche (f. d. Art. Eneratiten). Kaum war Schweden von der Fatho-
liſchen Kirche abgefallen, fo gab ein in diefem Reiche um's J. 1560 entflanvener
Weinmangel die Beranlaffung, daß mehrere der Neuerer auch an der Materie
des Abendmahls neuern und ihre fubjectiven Anfichten der Firchlichen Objee-
tioität auch in diefem Puncte überoronen wollten. An der Spige biefer Partei,
die das Abendmahl auch im Bier, Waffer, Meth und Milch abhalten wollte,
ftanden der Iutherifhe Theologe Dionys Beurius und der Iutherifche Bifchof
Johann Nicolaus Dfreg oder Dfeg von Wefteräs, Die Biſchöfe von
Upſala und Stregnäs aber, Lorenz Petri und Helfing, traten ihnen entgegen
und wollten, daß man dag Abendmahl für einige Zeit Tieber gar nicht halte, als
daß man von der GStiftungsform abweiche. Der Streit wurde higig und viele
Schriften wurden gewechfelt, die fhwedifhe Synode vom J. 1563 aber entfchied
gegen die Liquoriften und erließ darüber ein ſymboliſch Buch unter dem Titel:
De fundamentis fidei de sanguinis dominici participatione in vino et non in alio
potu. Vgl; Schinmeyer, Lebensbefhreibung der drei ſchwediſchen Neformatoren,
—— n, Geſch. der drei Parteien, und Fuhrmann, kirchenhiſt. Lexicon,
dv, I.
Lismanin, Franz, Speinianer. Er ſtammte aus Corfu, wurde, als Doctor
der Theologie und Franciscaner, nachdem er in Stalien feine Studien gemadht,
Beihtvater bei der Königin Bona, der Gemahlin Sigmund's I. von Polen, Auf
ihre Verwendung erhielt er neben andern Aemtern die Würde eines Provincials
feines Ordens in Polen. Durch das Leſen der Schriften Ochin's und der teutjchen
Reformatoren wurde fein Eirchlicher Glaube erfchüttert; er trat jedoch aus Rüd-
fichten mit feinen neuen Anfichten nicht offen hervor. Die Königin, welde an
feinen Abfall nicht glauben wollte, ſchickte ihn im 3. 1549 nah Rom, um dem
Papfte Julius III. zu feiner Erhebung Glück zu wünfhen. Im J. 1550 kehrte
Lismanin nach Polen zurüf, wohin im nächften Jahre auch Lälius Soein Tam,
Mit diefem wurde Lismanin in Krakau befannt, und nahm ihn fogar in feine
Wohnung auf, Lismanin wußte fih das volle Vertrauen des Königs Sigmund II.
Auguft (feit 1548) zu erwerben. Der König fandte ihn um das J. 1553 nad
Stalien und in die Schweiz, um für bie fönigliche Bibliothek Bücher zu kaufen,
und um über den Firhlichen Zuftand fremder Länder Bericht einzuziehen. In
Benedig weilte Lismanin feh8 Monate, Ueber Padua und Mailand, wo er an—
gehalten und wieder freigelaffen wurde, zog er in die Schweiz. Er hatte vorher
zu ben Lutheranern gehalten; doch der einfache Gottesdienft der Neformirten zog
ihn zu Diefen hinüber, Bon Zürich reiste er nach Bern und Genf, hierauf über
Lyon nach Paris. Bald fehrte er nach Genf zurück, und heirathete daſelbſt auf
Zureven Calvin's und Socin's, obwohl ihm fein Secretär Stan. Budzinski die
Ungnade des Königs vorgehalten hatte, Wirklich zog der König auf diefe Nach—
richt feine Hand von ihm zurück, und fandte ihm Fein Geld mehr; er wurde in bie
Acht erklärt, und durfte e8 nicht mehr wagen, nach Polen zu kommen; befonders
war bie Königin Bona fehr wider ihn erbittert, Er felbft fhrieb öfter an ven König;
auch Calvin, Bullinger und Geßner verwendeten fih umfonft für ihn: die An—
Hänger der Augsburger Confeffion hielten im 3. 1555 eine Synode zu Pinczow
in Polen, zu welcher, auf Calvin’s Betreiben, Lismanin geladen wurde, Im
Liſoi — Liſt. 537
Februar reiste dieſer über Straßburg nach Polen, und hielt ſich eine Zeit lang
im Lande verborgen. Auf mächtige Fürbitte hin wurde ihm der Aufenthalt in
dem Lande wieder erlaubt. Allein da er in der Lehre vom Abendmahl Calvin
huldigte, und in der Lehre von der Dreinigfeit zu den Socinianern neigte, fo
zerfielen feine bisherigen Befchüger bald mit ihm. Blandrata (f, d. A.), der im
3. 1558 nah Polen fam und bei Lismanin Aufnahme fand, wirfte befonders
auf Lismanins fhon gefhwächten Glauben ein. Als diefer auch andere zum
Sprinianismus verleiten wollte, fo wurde er vor das Eonfiftorium in Krakau
gerufen, Es gelang ihm nicht, fich zu vertheidigen; er fah fih gezwungen, Polen
zu verlaffen, und zog fih nah Königsberg zurüf, wo er auf Verwenden des
Paul Scalih zum Rathe des Herzogs Albrecht ernannt wurde, Hier führte er
den hoben Titel: F. L. SS. Theologiae Doctor, quondam Sereniss. Reginae- Poloniae
Confess.; etiam lllustris Ducis Consiliarius, ex nobil. et antiquiss. Patacina Familia
Dalesmaninorum oriundus. Bald indeß verfiel er in eine Gemüthsfranfpeit, wozu
er eine Anlage hatte, wie Manche berichten, durch die Schuld feiner Gemahlin,
Er flürzte fi in einen Brunnen, und endigte fo fein Leben (1563). — Lismanin
hat fat Nichts geſchrieben. — Friefe, Reformations-Gefchichte von Polen
1. Th 1.30. ©. 247 f. : [&ams.]
Liſoi, Keger zu Orleans, f. Orleans,
Liſt, abfiract aufgefaßt, ift ein den Begriff der Klugheit ergänzendes Moment,
das in dem geſchickten Verbergen der mit einer Handlung oder Handlungsweife
verknüpften Abfihten befteht. Faßt man aber das Wort „Lift“ concret und ob—
iectio, jo bedeutet es ein beftimmtes Mittel, feinen Zweck zu verſtecken und
heimlich zu demfelben zu gelangen, Weder in der einen noch in ber andern Be—
‚deutung ift mit diefem Begriff an und für ſich etwas Unfittliches oder Unftatt-
haftes verbunden. Aber wohl nicht leicht ein anderer Begriff flreift näher an
diejes Gebiet, daß man fchon von vornherein fich geneigt finden möchte, ihn als
die Schattenfeite der Klugheit zu faffen. Jedenfalls muß zugeflanden werden,
daß Lift und Klugheit in vielfacher Hinfiht ſchwer von einander zu unterfcheiden
find. Abgefeben aber davon, fo müffen die bei einem Flugen oder liſtigen Be—
nehmen in Anwendung fommenden Mittel an und für ſich erlaubt und fittlich
flattbaft fein. Solhe für die Zwecke des Reiches Gottes anzuwenden und die
gewöhnlihen Rüdfihten der menfhlihen Klugheit zu beobachten, empfiehlt der
göttlihe Heiland ſelbſt feinen Züngern mit den Worten: „Seid Flug, wie die
Schlangen!” Matth. 10, 16. Indeß vergißt er feineswegs, vor den Abwegen
dieſer Art von Klugheit zu warnen, indem er fie mit der anempfohlenen Schlan-
genflugheit Taubeneinfalt, d. h. Sinnesreinheit und Arglofigfeit zu verbinden an-
mahnt. Derjelben Bedingung und Befhränfung unterwirft der Apoftel Paulus
die Anwendung der von der Klugheit und Verftändigfeit des menfhlichen Geiftes
dargebotenen Mittel und Wege, indem er den Gläubigen einerfeits vorſchreibt,
an der Bosheit Kinder zu fein, am Verftändniß aber vollfommen (1 Cor. 14,20),
weije zu fein auf's Gute, einfältig aber auf's Böfe (Rom. 16, 19), andererfeits
fie ermahnt, vor der Schalkheit der Menfhen und arglifiigen Runftgriffen ver
Berführung auf der Hut zu fein (Epheſ. 4, 14). — Der offene Gegenfaß zu der
mit der menfhlihen Verftändigfeit und Klugheit in Betreff der Erreichung guter
Zwede iventifchen Liſt ift die Arglift, Die auf einen böfen, unerlaubten Zweck gerichtet
ift und zu Erreichung deffelben fih Täuſchung und Verftelfung jeder Art erlaubt,
Iſt die Schlange das Symbol der argen, auf Verderben lauernden Lift im Natur-
gebiet Cogl. Sir. 25, 21. Gen. 3, 1), fo ift Satan der Vater der feelenmörde-
I zifhen Arglıft auf dem moraliihen Gebiet, weßhalb er auch die alte Schlange
heißt (Off. 12, 9. vgl. Joh. 8, 44. Apg. 13, 9. 19. Eph. 6, 11—12). Ueber
die arge eitle Liſt feiner Widerfacher Hagt der Pſalmiſt (38, 13. u. a. DO.) und
538 Liszezynski — Ritanei,
Sira (25, 18) fagt von den Frauen, wohl nicht um ihnen ein Compliment zu
machen, aus, daß feine Lift über die ihrige gehe, -[8J
Liszezynski, ſ. Lyszezynski.
Litanei. Dieſes Wort hat eine mehrfache Bedeutung; es bedeutet ein in-
brünftiges Bittgebet, eine Bittandaht, Bittgänge (ſ. d. A.), fogar Elaffen
der Gläubigen bei Proceffionen (f. Lüft, Liturg. Bd. I. S. 64). Hier wird
darunter verftanden jene Art von Wechfelgebet, in welchem der Vorbeter die
Perfonen, an welde die Bitte gerichtet ift, auch den Inhalt der Bitte wie den
Beweggrund zur Gebetserhörung namhaft macht und die Gemeinde in furzen,
dfter wiederfehrenden Refpenforien mit der Bitte felbft antwortet, welches ſodann
mit einem oder mehreren zufammenhängenden Gebeten gefihloffen wird, Der
Form nad, als Wechfelflehen, ift die Litanei fo alt als der chriſtliche Cult, kommt
indeß in der alten Kirche nur in ber eigentlichen Liturgie vor, Doch mit der
äußern Entfaltung des Cultes und der innern Abrundung und Vollendung der
einzelnen ultformen finden wir fie auch außerhalb der Meſſe verwendet, An—
fangs befonders bei Proceffionen, Bitt- und Bußgängen. Im Antiphonar Gre-
gors d. Gr, find fchon mehrere Formulare angegeben. Binterim, Denfw.
Br. IV.1. ©, 578. Beliebt war befonders das dftere Kyrie eleison-Rufen. Bei
einer Proceffion, welche Mabillon (Comment. in ord. Rom. t. 2. p. XXXIV.)
befchreibt, fang das Volk abwechfelnd 300 Mal Kyrie eleison und Christe eleison.
Nach ven Eapitularien Carls d. Or. t. VI. cp. 197. foll bei Leichenbegängniffen, wenn
man feine Pfalmen wiffe, von den Männern Kyrie eleison und von den Frauen
Christe eleison Yaut gefungen werden, Im Mittelalter fand diefe Art zu beten
nicht allein große Verbreitung, fondern wurde auch in folche wichtigere Theile des
Eultus eingefchaltet, die für die Kirche oder die einzelnen Glieder derfelben von
größerer Bedeutung find, Man fehe die Gefchichte derjenigen Theile der Litur-
gie, wo jeßt noch die Litanei vorkommt. Allmählig nahmen auch die Formulare,
welche eine fleißige Bearbeitung fanden, die Geftalt an, welche fie jetzt noch haben,
Es kann nicht geleugnet werden, daß die Litanei, abgefehen davon, daß fie eigent-
lich mit dem riftlihen Cult entftanden ift, ſchon als Wechſelflehen, eine in-
nige Beziehung zum hriftlichen Cult hat, ganz befonders aber ift fie für das
Bittgebet, welchem fie den Charakter ver Gemeinfamfeit und Beharrlichfeit auf-
drückt, angemeffen ; fie erhält außerdem und fürdert ganz befonders den Geift der
Andacht und die Sammlung. Was nun die Formulare für die Litanei anlangt,
fp lag gegen Ende des 16ten Jahrh. eine folhe Maffe vor, daß fih Papft Ele-
mens VIII veranlaßt ſah, im 3. 1601 eine eigene Eonftitution (Sanctissimus)
zu erlaffen: „Weil heutzutage Viele, auch fogar Private, unter dem Vorwand,
die Andachtsweifen zu erweitern, täglich neue Litaneiformulare verbreiten, fo daß
diefelben faft nicht mehr zu zählen find, und in einigen unpaffende, in andern
fogar anftößige Gebetfprüche Aufnahme gefunden Haben, fo findet fi der apoſto—
liſche Stuhl bewogen, zu gebieten, daß die uralten und allgemeinen Litaneifor-
mulare, die in den Miffalen, Pontificalen, Nitualen und Brevieren enthalten
find, wie auch jene der hl. Jungfrau, welche in der Lorettocapelle pflegt gefun-
gen zu werben, beibehalten werden follen, Wer übrigens andere Litaneien heraus—
geben oder der fihon herausgegebenen bei'm Gottesdienſte ſich bedienen will, fol
gehalten fein, folche der Congregation für die Ritus zu überfenden ; fie ſollen fi
nicht unterftehen, folhe ohne Erlaubniß genannter Congregation an's Licht zu
geben oder öffentlich vorzubeten unter firenger Strafe, welche die Biſchöfe oder
Drts-Drdinarien auflegen werben,“ Zu den genannten, Firchlich autorifirten For-
mularen gehört auch die Litanei vom Namen Jefu, in Beziehung auf welde
von Rom aus eine eigene Conceffion erging 14, April 1646, Was den Gebrauch
anderer Litaneien zum öffentlichen Gottesdienſt anlangt, fo hat man ſich an obige
Regel zu binden; doch iſt für den Einzelnen bie bifchöfliche Approbation eines
Litanei, 539
zum öffentlichen Gottesdienft beftimmten Buches Grund genug, eine darin aufge-
nommene, etwa durch Gewohnheit oder frühere Billigung fanctionirte Litanei zu
gebrauchen. „Warum doch immer ſolche Litaneien?” Hat eine vergangene Zeit,
welche den Gebetsgeift der Kirche nicht mehr verſtand, gefragt. „Pflichten-
Litaneien wären beffer.” „Jedoch ſolche,“ antwortet Sailer: Beiträge ıc. I.
©. 125, „welche immer nur vom Soll, aber wenig von Gott, fo viel als nichts
von Chriſtus, und gar nichts von dem Geifte Chrifti zu fingen wiffen, find feine
Kirchenlieder; es fehlt ihnen das Wefen des Kirchenliedes: die HI. Muſe der Re-
ligion hat fie nicht eingegeben , und die hl. Muſe der Religion kann fie auch nicht
fingen,“ Was vom Singen, gilt vom Beten; was der hl. Geift nicht eingegeben,
fann auch nicht als Ausdruck der Andacht benügt noch zur Förderung derfelben
verwendet werden. Dem Gefagten zufolge find es befonders 3 Formulare, welche
allgemeines Anfehen und kirchliche Sanction erlangt haben, nämlih: 1) die fog.
Allerheiligen-Litanei, Sie heißt fo, weil im erften Theil beſonders die
Heiligen und ihre Fürbitte angerüfen werden, worauf dann bie Bitten felbft, die
Gründe zur Gebetserhörung und das erneuerte Rufen um Gnade und Erbarmen
folgt. Gegenſtand der Bitte find alle Anliegen eines Chriften und der Kirche; offen-
bar hat ver Abfaffung derfelben das allgemeine Gebet (ſ. d. A.) in der alten Liturgie
vorgeſchwebt. Sie ift die älteſte; wenn fie auch nicht die jegige Geftalt von An-
fang an hatte, fo findet ſich Doch in uralten Ordd. bei Martene eine der jegigen
Form ganz übereinftiimmende, Sie ift eigentlich die einzige Litanei, welche in der
kirchlich firirten Liturgie als Beftandtheil aufgenommen wurde (heißt deßhalb auch
im kirchlich en Sprachgebrauch bloß Litaniae ohne nähere Bezeichnung), hat aber
da bie vielfeitigfte Verwendung gefunden, namentlih wo es fih um Abwendung
großer, leiblicher und geiftlicher Noth (Proceſſionen ꝛc.), um das Wohl der Kirche
und ihrer Glieder handelt, bei wichtigen Weiheacten, bei Ertheilung der höhern
Weihen, bei der Conſecration der Bifchöfe ze., bei der Confecration von Kirchen zc.,
bei der Segnung des Taufwaſſers zc., bei Ertheilung der legten Delung ıc. Diefe
Litanei ift ein ächt Fatholifches Erzeugniß und der erhebendfte Ausdrud des Glau—
bens an die Gemeinfchaft der Heiligen. Einfhaltungen und Zufäse zu machen,
ift durch einen Befchluß der C. S. R. 22. Mart. 1671 verboten. 2) Die Lau re—
tanifche Litanei, fo genannt von dem Ort, wo fie ihren Urfprung zu haben
ſcheint; jedenfalls war fie am früheften in ver Eapelle der hl. Jungfrau zu Lo-
rettp (Lauretum) im Gebraud, Der Berfaffer und die Zeit der Abfaffung ift
- ganz unbefannt, Wegen der darin bemerflichen fymbolifhen und allegorifchen
Form Datirt man ihre Abfaffung in das 13te oder 14te Jahrh. Ihrem Inhalt
nah ift fie eine feierliche Anrufung Mariä und befonders eine Lobpreifung der-
felben. Nach der Iegtern Seite bildet diefe Litanei einen feierlichen Hymnus auf
die Gottes⸗ und Gnadenmutter, entfirömt einer vom höhern Geifte gehobenen
Seele, Das nevlogifirende Anfämpfen gegen diefes alt hergebrachte Gebetsfor-
mular hängt fih nur an einzelne, aus dem Zufammenhang herausgeriffene Stellen
dieſes prächtigen Hymnus, Er Täßt fih nicht unſchwer in zwei Theile zerlegen ;
im erfien erfheint Maria als geheiligte Perfönlichkeit nach ihrer irdiſchen Erfchei-
nung, d.h. als Gottesmutter in ihrer Tugend- und Gnadenfülle; im zweiten Theil,
der mit Rosa mystica beginnt, erfcheint fie in ihrem Zufammenhang mit der ge-
ſammten Heilsordnung und mit der, Himmel und Erbe umfaffenden Kirche, deren
Typus, Mutter uud Königin fie iſt. Es find unverfennbar in der zweiten Ab-
theilung die drei Hauptmomente des Erlöfungswerfes hervorgehoben, die Einlei-
I tung und der Beginn deffelben im A. B., die Verwirklichung deffelben im N. B.
I amd die Bollendung defjelben im Reiche der Seligfeit. Der Glanz, der aus der
Mutter des Schlangenzertreters fließt, wirft fih auf alle diefe drei Momente ;
bie mittelalterliche Theologie hat ihn erfannt und eine heilige Seele hat ihn zum
Gegenſtand des Preifes gemacht. Die Sprache diefer Anſprache on Maria ift
540 Literae commendatitiae — Literae formatae.,
jungfräulich zart, wie e8 fi geziemt. Man fehe übrigens die über diefen Punct
erfchienenen Monographien, welche ſich zur Aufgabe fegen, die Waffen, die. man
aus biefer Litanei gegen den Mariendienft geholt hat, ftumpf zu machen, In bie,
von der Kirche firirte Liturgie iſt dieſe Litanei nie übergegangen, dagegen hat fie
dur Empfehlung und dur die mit ihrer Abbetung verbundenen Indulgenzen
(ſ. Bulle von Sixtus V. Reddituri) einigermaßen kirchliches Anfehen erhalten,
3) Die Litanei vom Namen Jefu. Ob fie zur Zeit des hl. Bernhard be-
kannt gewefen, ift äußerft zweifelhaft; jedenfalls war fie vor Stiftung des Je—
fuitenordens in manchen Kirchen im Gebrauch. Vielleicht ift fie am Anfang des
15ten Jahrh. von den Predigern ded Namens Jeſu Bernardinus (ſ. Bernharbin)
and Johannes Capiftran (ſ. Capiſtran) verfaßt worden, Den Gebrauch anlan-
gend, fo gilt, was von der lauretanifchen Litanei; der allgemeine Gebrauch hat
fie geheiligt, und Päpfte haben das Vorbeten derfelben bei öffentlichen Andachten
in der Kirche erlaubt; Sixtus V. (ſ. oben) hat einen Ablaß von 300 Tagen an
ihre Abbetung gefnüpft, Diefes Formular hat die formellen und materiellen Eigen-
ſchaften eines kirchlichen Gebetes mit den genannten gemein; es ift einfach, an-
ſchaulich, reichhaltig; es iſt zugleich Bitt-, Lob- und Danfgebet, fett aber auch
einen Findlichen Sinn voraus. Vgl. hiezu den Art. Gebetsformeln. [Frie,]
Literae commendatitiae, f. Commendatitiae literae,
Literae encycelicae, Rundfhreiben , heißen dem Wortlaute nad
folhe Schreiben, welche einen Kreis zu durchlaufen haben, vom griechifchen Worte
Eyrunlı0s — was die Reihe herumgeht, die Runde macht, Im kirchlichen Sinne
gefaßt verfieht man darunter NRundfchreiben des Papftes an alle Oberhirten der
Fatholifhen Kirche als feine Mitarbeiter. In diefen Encyclifen legt das Ober-
haupt der Kirche feinen geiftlihen Mitbrüdern feine Anfichten über gewiffe alfge-
meine Bebürfniffe der Kirche, oder über beflimmte herrſchende Meinungen dar,
oder es eröffnet ihnen feinen Schmerz, feine Mißbilfigung und Verwerfung herr—
fchender Vorurtheile, Mißſtände oder bevenflicher Zeitbeftrebungen wider Reli—
gion, Sitte und Kirche, es warnt vor falfchen, den wahren Glauben gefährbenden
Nichtungen innerhalb der Kirche ſelbſt, oder es deutet auf Gefahren hin,
die von Außen drohen, Sn allen diefen Verhältniffen nimmt dag Rirchenober-
haupt die Theilnahme und apoftolifhe Thätigfeit feiner Gehilfen im heiligen
Amte zur Vorkehrung und Befeitigung der Zeitübel in Anfpruh, mahnt zur
Wachſamkeit über die gläubige Herde, und deutet die Gegenmittel gegen die
Krankheiten, fowie die Art ihrer Anwendung im Allgemeinen an. Die Encyclifen
werden, was ſchon das Wort bedeutet, für die gefammte Kirche, reſp. zunächft
an die RKirchenvorfteher, in Folge allgemeiner Anliegen und mißlicher Lage der
katholiſchen Kirche, erlaffen, während Breven und Bullen eine mehr oder weniger
Iocale und ſpecielle Veranlaſſung und Beftimmung haben. In neuerer Zeit er—
ließ Papſt Pius IX. eine denfwürdige Encyelica, deren Inhalt man nur zu be-
trachten hat, um fich über die Natur und Tendenz der Encyelifen überhaupt eine
Heutliche VBorftellung zu machen, [Dür.]
Literae formatae, epislolae formatae, nennt man heutigen Tags jene
Urkunden, welche den Elerifern, die eine Weihe empfangen, von dem ordinirenden
Bifchof ausgeftellt werden und in welchen bezeugt ift, daß eben eine rechtmäßige
Drdination flattgefunden. Sie werden ebenfp von den eigenen Biſchöfen der Or—
dinanden wie von den fremden ausgeftellt, Ehemals wurben formatae auch die
lit. commendatitiae (f, Commendatitiae) und dimissoriae (ſ. Dimifforialien)
genannt, Diefe Benennung ift darin begründet, daß die genannten Urkunden oder
Briefe, zur Abwehr möglichen Betrugs, gewiffe Zeichen enthielten, welde aur
die Bifchöfe verftehen follten, in der Regel griechiiche Buchftaben, zur Bezeich-
nung des Urfundenftellers, des Empfängers, des Ortes und der Zeit u. dgl.
- Bol, c. 1, und 2, D. 73, Die erfte diefer Stellen enthält ein Formular, deſſen
Literae testimoniales — Litis consortium. 541
Schluß Tautet: see vestram Christus nobis incolumem conservet. 7. v.
a. m. B. ©. C. E. aunw. Data Wormatiae“ etc. Das Formular, weldes die zweite
Stelle enthält, Seginnt mit den Worten: „Sanctissimo in Christo fratri summa
dulcedine caritatis amplectendo, «, illius civitatis episcopo, v, illius ecclesiae prae-
sul... @v. @. w. De caetero noverit“ etc. Affe diefe Briefe heißen auch literae
oder epistolae canonicae, ehemals, weil fie Beweife der unter den verfchiede-
nen Biihöfen und Kirchen beftependen Freundfchaft und Berbindung waren,
daher im Griehifchen Eipnvıza; fpäter weil fie von den Canones vorgeſchrieben
find, [Mattes.]
Literae testimoniales, f. Commendatitiae literae.
Lithauen, ſ. Jagello.
Lithoſtroton, ArIborewrov, wörtlich Steinpflaſter, nach xb. 19, 13
die Stätte, auf welcher von Pilatus Gericht über den Herrn gehalten wurde, in
der Sprade der Juden (Efoeior: d. i. aramaiſch) yaßßaya, d. h. entweder
mna5 von 23 Nüden, ober nnm23 von 25 hoc fein, oder Nn>23 von 7933
Hügel, immerhin rüßrt der aramäifche Name von der Erhöhung des Drtes ber;
über die Bedeutung des Griechiſchen an unferer Stelle beftehen verfchiedene An—
ſichten. Viele Erflärer denfen an einen Marmor-Mufivboden (aus farbigen vier-
eigen Stücfen zufammengefegt, parvulae crustulae, Plin. 36, 25. 60); bei den
‚Römern feit Sulla gebräuchlich (Plin. 1. c.), befonders in den Srachtjimmern; die
Beamten und Feldherren führten dergleichen pavimenta tessellata mit fih auf ihren
Reifen in den Provinzen und im Kriege, um darauf den Gerichtsſtuhl (Arjue)
zu feßen (Suet. Caes. 46). Andere (vgl. Winer, Bibl. R. W. s. v.) halten diefe
Erklärung an der berübrten Stelle des oh. für unftatthaft, die Beifügung des
ſyrochald. Namens wäre allerdings ganz überflüffig, weil befagten Lurusgegen-
ftand nicht bezeichnend. Dieß Hebt fih, wenn man annimmt, es fei in der Nähe
des Prätoriums ein etwa mit Steinplatten, die nicht gerade aus Marmor fein
mußten, belegter Pla& gewefen, den die aramäiſch Nedenden Gabbatha, die
griehifh Nedenden Lithoſtroton nannten, auf welhen Pilatus den Richterſtuhl
aufftellen Tieß. Jo ſephus erwähnt (hell. j. 6, 1, 8. et 3, 2) ein foldes Litho—
firoton zwifhen der Burg Antonia und dem weftlihen Vorticns des Tempels,
diefe Lage paßt ganz treffend zu der des Prätoriums in dem mit der Burg An—
tonia zufammenbängenden Palaſte des Herodes, bier fand das Berhören und das
Anhören des Angeklagten Statt, der feierliche Richterfpruch wurde dort im Freien
som Richterftuhle herab gegeben. — Winer erhebt (1. c.) unnöthige Bedenflih-
feiten gegen diefe (von Hug, Einl. I. 17. binlänglich nachgewiefene) Lage des Li—
thoftroton. [Rönig.]
Litis consortium, Im Civilproceffe gibt es befanntlih zwei Strei-
‚tende, welche man Parteien nennt, nämlich den Kläger und den Beflagten;
jener if dabei derjenige, welcher vor dem Richter einen Anſpruch mittelft der
Klage geltend zu machen fucht, der Beflagte dagegen ift der Gegner, gegen wel-
hen die Klage gerichtet iſt. Nicht aber immer ift die eine oder die andere Partei
Eine Cohyfifhe oder moralifhe) Perfon, fondern auch mehrere Perfonen
Tonnen gemeinfhaftlih die Rolle des Klägers vder Beflagten übernehmen,
Solche in der nämlichen Parteiroffe vereinigte Perfonen heißen Streitgenpf-
fen (litis consortes), und ihr Verhaltuiß ift das der Streitgenoffenfhaft
(litis consortium), und zwar ift die Streitgenoffenfchaft eine active, wenn
Mebrere klagend auftreten, eine paſſive, wenn Mehrere beffagt werden, und
eine beiderf eitige, wenn Mehrere gegen Mehrere Hagen, Die Streitgenoffen
bleiben indeffen immer noch Einzelne, fie bilden daher Feine moraliſche Perſon, ja
nicht einmal eine formliche Societät. Das litis consortium iſt auch in den meiften
Sällen ein freiwillig eingegangenes Verpältniß; denn 1) wenn Jemand auf das
Ganze ein Recht Hat, fo braucht er im Falle der Klage feine correos credendi
542 | Litis contestatio.
nicht beizuziehen,, 2) wer mehrere ihm folidarifch Verpflichtete Hat, muß nicht alfe
diefe correos debendi beflagen ; 3) wer an einer theilbaren Sache oder Forderung
mitberechtigt ift, darf ohne die übrigen Berechtigten auf feinen Theil lagen, und
4) eben fo, wenn mehrere zu gewiffen Theilen Verpflichtete eriftiren, kann jeder
auf feinen Theil beflagt werben. L. un. Cod. Theod. de dom. rei, quae posc.
(2.5) L. 1. Cod. Just. de consort. ejusd. lit. (3.40). Streitig ift dagegen, ob bei
untheilbaren Sachen oder Forderungen, bei welchen Mehrere berechtigt oder verpflich-
tet find, dem einzelnen Kläger dien Einrede (f. d. A.) der mehreren Streitgenoffen
mit Erfolg entgegengefegt werben fünne, fo daß nad Umftänden die Klage von allen
Berechtigten oder gegen alle Berpflichtete angeftellt werden muß, — Im Falle
der Streitgenoffenfhaft wird nun zwar der Proceß formell in denfelben Acten
zugleich verhandelt und entfchieden, allein die materielle Entfcheivung fällt nicht
immer für jeden Streitgenoffen gleich aus, z. B. wenn ein einziger Streitgenoffe
minderjährig ift, und die Einrede der Minderjährigfeit vorgefhüst hat, kann für
ihn der Proceß ein weit günftigeres Nefultat Haben, als für die übrigen volljäh-
rigen Beklagten. [Sartorius.]
Litis contestatio beftand nach dem claffifchen römifchen Rechte in einer
Zeugenaufrufung am Ende des Verfahrens vor dem Magiftrat von Seite beider
Parteien, um vor dem nun in Wirffamfeit tretenden judex dasjenige zu confla=
tiren, was bereits in jure d, 5. vor dem Magiftrat in der zu behandelnden Sache
gefchehen war. Man beruft fih dabei auf eine Stelle bei Feftus, de verb. signif.
v. Contestari, wo es heißt: „Contestari est, cum uterque reus dicit: Testes estote.
Gontestari litem dicuntur duo aut plures adversarii, quod ordinato judicio utraque
pars dicere solet: Testes estote.* Diefer Begriff veränderte ſich aber mit dem
Berfahren und im Laufe der Zeit fo, daß in der heutigen litis contestatio jene
alte gar nicht mehr zu erfennen und herauszufinden if. Im gemeinen Civilpro—
ceffe der Gegenwart ift die litis contestatio (Rriegsbefeftigung, Einlaffung auf die
Klage) die gerichtliche Antwort des Beklagten auf die der Klage zum Grunde lie—
genden Thatfachen. Ram, Ger, Ord. v. 1555. Th. II. Tit, 13, $$ 1.4, Züngfter
Reichs-Abſch. $ 37. Die früheren Juriften bezeichneten indeffen die litis conte-
statio noch als von beiden Parteien ausgehend, z. B. Pillius de ord. judicior,
P. II. pr. „Post haeo lis contestatur, quae fit per narrafionem actoris ei respon-
sionem rei.“ Tancred. ord. jud. P. II. tit. 1. $ 2. „Litis contestatio fit per nar-
rationem et responsionem partium in judicio factam.“ Wefentlich ift e8 bei dem
Begriffe, daß die litis contestatio nur Antwort iſt, alfo nicht, wie bei der Ein-
rede (f. d. A.), die Angabe neuer, in der Klage nicht enthaltenen Thatfachen,
Ihrem Inhalte nach ift die litis contestatio entweder bejahend (confessio), oder
verneinend (defensio), oder auch der Beklagte bejaht weder, noch verneint er,
fondern er erflärt, von den fraglichen Thatfachen nichts zu wiffen, endlich kann
die litis contestatio auch gemifcht fein, wenn einige Thatfachen zugeflanden, andere
widerfprochen find. Die bejahende litis contestatio muß ſtets ausdrücklich und fac-
tifch erfolgen, die verneinende kann auch als erfolgt fingirt werden, wenn nämlich
der Beflagte ungehorfam ift, und auf die Klage gar nicht antwortet, fo wird auf
Antrag des Klägers angenommen, daß jener ſich negativ eingelaffen habe. Kam:
Ger. Ord. v. 1555, IN. Th. Tit, 43,5 4. Züngfter Reichs-Abſch. $ 36. — Wenn
die Klage beantwortet ift, fo find auch die Streitpunete feftgeftellt, d. h. es Liegt
nun vor , über welche Puncte der Klage die Perteien einig und uneinig find. Um
aber dieſes Nefultat gehörig zu erlangen, iſt der Einlaffung eine beftimmte Be—
fchaffenheit vorgeſchrieben. Wenn e8 nämlich auch geftattet ift, fich auf Die Klage
im Allgemeinen bejahend einzulaffen, fo ift doch die allgemeine negative litis con-
testatio unterfagt, der Beklagte foll vielmehr feinen Widerfpruch ganz fpecielf jeder
einzelnen Thatfache entgegenfegen. Jüngſter Reichs-Abſch. $ 37. — Die wihtig-
ften Wirkungen der litis contestatio find folgende ; 1) Uebergang der fonft nicht
Liturgien. 543
vererblichen Klagen auf des Beklagten Erben. L. 58. Dig. de oblig. et act. (44.7)
L.29. Dig. de novat. (46.2) L. 87. 139. pr. Dig. de reg. jur. (50. 17); 2) Ent=-
fiehung der mora und mala fides. Arg. L. 82. $ 1. Dig. de verb. oblig. (45. 1)
L. 25. $ 7. vgl. mit L. 20. 6. $ 11. Dig. de hered. pet. (5. 3) L. 2. Cod. de
fruet. et lit. expens. (7. 51); 3) die Haftung für die omnis causa, d. h. für
Früchte und Zinſen ſelbſt mit Einſchluß der verſäumten Früchte. S 2. Inst. de off.
jud. (4. 17) L. 17. $ 1. L. 20. 35. $ 1. Dig. de rei vind. (6. 1) L. 25. $ 9.
L. 27. pr. L. 29. Dig. de hered. pet. (5. 3); 4); Vergütung von Seite des Be—
Hagten, wenn durch dolus oder culpa deffelben die Sache noch während des Pro—
eeffes untergeht,, vgl. v. Savigny, röm, Recht. Bd, VL $ 272; 5) Vergütung
auch bei zufälfigem Untergang der Sade, wenn der Beflagte mala fide befaß,
v. Savigny a. a. D. $$ 273, 2745 6) endlich die Nechtshängigfeit (litis pen-
dentia) mit ihren mancherlei Folgen. [Sartorius,]
Liturgien. Die Vieldeutigkeit diefes Wortes macht es nothwendig, die be=
grenzte Bedeutung, in der e8 hier genommen wird, ein für allemal zu bezeichnen,
Wir bedienen ung dazu der Worte Nenaudot’$, welcher fagt: „Liturgiarum
nomine intelligi debent officia seu Rituales libri autoritate publica ecclesiarum
scripli, earumque usu comprobati, quibus rilus et preces ad consecrandam et ad-
ministrandam eucharistiam continentur.‘“ (Liturg. oriental. collectio. Tom. 1. p. 152.
Edit. secunda. Francofurti 1347). Obgleich das euchariftifche Opfer vom Anfange
an nicht nur dem Inhalte, fondern au der Grundform nach unverändert das-
felbe geblieben, fo lag es doch in der Natur der Sache, daß feine Feier ſowohl
an verichiedenen Orten und bei verfchiedenen Völkern fih verfchieden geftaltete,
als auch am gleichen Orte mit der Zeit fo zu fagen von Innen heraus fich er-
weiterte oder entwickelte. Rückſichtlich ihrer urfprünglichen Heimath zerfallen die
oprhandenen befannten Liturgien in zwei Hauptflämme, von denen der eine die
morgenländifhen, der andere die abendländifchen enthält. Doch ift diefe
| Eintheilung feineswegs bloß auf die Dertlichfeit des Urfprunges, fondern zugleich
| auf die dem Drient und Derident je eigenthümliche Auffaffung der HI. Handlung
gegründet, L Morgenländifohe Liturgien, Um die Grenzen eines Tericali=
ſchen Artikels nicht ungebührlich zu überfchreiten, Haben wir aus der reihen Samm—
lung vrientalifher Liturgien eine Auswahl zu * wobei das Alter und der
kirchliche Gebrauch entſcheiden. Es werden, wie fih von feldft verfteht, die Litur-
| gien der Haupt- und Mutterfirchen nicht bloß in erfter Reihe, fondern auch vor-
| zugsmweife zur Sprache kommen; andere nur nebenher und im Vorbeigehen er-
wähnt werben. — a) Die Liturgie der Rirhe von Jerufalem, gewöhnlich
„Liturgie des hl. Jacobus“ genannt, Sie ift in griechifcher Sprache vorhanden
| Chei Jos. Al. Assemani, „Codex liturgicus universae ecclesiae.“ L. IV. P. I.
p. 1, sqq. Romae 1752); ob fie urfprünglich in diefer oder in der gemeinen Lan-
desſprache Palaſtina's abgefaßt gewefen fei, ift nicht abfolut entfchieden, die mei-
fien Gründe fprechen für die griechifche Sprache. — Die erſte lateiniſche Ueber—
ſetzung, die 1560 zu Paris herauskam, hat der Canonieus Johannes a Sancto
1 Andrea unter Mitwirkung des Claudius de Saintes, nahmaligen Bifchofs
I von Eoreur und des Theologen Gentian Hervet gefertigt, Die Authorität
| einer Liturgie hängt nicht davon ab, daß fie aus der Feder irgend eines berühm—
I ten Mannes gefloffen fei, fondern davon, daß fie einer Kirche angehöre, die öffent-
liche Anerkennung und den öffentlichen Gebrauch für fih Habe. Für das Anfehen
} der in Rede ſtehenden Liturgie iſt daher die Frage entſcheidend: War fie in der.
Kirche von Jeruſalem im Gebrauch? Die ung so lautet bejahend. In der Li—
turgie felbft Heißt e8 nach der Confecration u. A: „Wir opfern Dir, o Herr,
auch für Deine HL, Orte, welhe Du durch die göttliche Erfcheinung Deines
Gefaldten und durch die Ankunft Deines Hl. Geiftes verberrlichet Haft u, f. mw.”
Diefe Worte, weil fie ihr ausſchließlich eigen find, hat man von jeher und mit
544 Liturgien.
Recht auf den Ort der Feier bezogen, — Der Ritus, welchen der hl. Cyrill
von SJerufalem in der fünften myſtagogiſchen Katechefe erklärt, flimmt in der
Hauptfahe mit unferer Liturgie überein, Warum bloß in der Hauptfache, nicht
auch in allen Einzelheiten? Weil der HI. Lehrer Feine Darftellung oder Befchrei-
bung der Liturgie, fondern einen Unterricht, eine Erklärung über einzelne Theile
derfelben beabfichtigte und deßhalb die wichtigften Puncte und ſolche, die eine paf-
fende Unterlage für die Belehrung darboten, aus dem gefammten Ritus hervor—
bob; fodann, weil er ſich, wie eine forgfältige Vergleichung erkennen läßt, nicht
an ein einziges Titurgifches Formular band, fondern auch andere berückfichtigte,
Mehr als das Bisherige zeugt die Tradition der Griechen und Orientalen für
die Liturgie von Jerufalem, die fie dem HL, Jacobus zufchreibt und der höchften
Achtung werth hält; die Trullanifhe Synode vom Jahr 692 beruft fih auf
fie, um den Armeniern zu beweifen, daß der Dpferwein mit Waffer gemiſcht
werben müffe; die griechifchen Gelehrten, wie Nicolaus von Methone, Mar-
eus von Ephefus u. A. bis herab auf den conflantinopol, Patriarchen Jer e—
mias anerkennen fie. Im Laufe der Zeit gelang es den Patriarchen von „‚Neu-Rom”,
die Liturgie ihrer Kirche den Patriarchaten des Orients aufzubringen ; nichts defto
weniger wurbe in Jeruſalem die alte Liturgie einmal im Jahr, am Feſte des hf.
Jacobus, den 23. October, fortan gefeiert. — Der Titel, der die Liturgie der.
Mutterkiche Paläſtina's dem HI. Jacobus zueignet, hat zu einem höchſt uner-
quicklichen Streite Anlaß gegeben. Proteftantifche Gelehrte eröffneten den Kampf;
fie hoben einzelne Säße, Ausprüde und Namen aus dem Ganzen hervor und
argumentirten dann: Dieß und das, was in der Liturgie vorkommt, 4. B. das
Trifagion, Ouoovosos und Heoroxog, die Erwähnung der Confefforen und Ana-
ehoreten u. dgl, ift nicht vom HL. Jacobus, folglich iſt die Liturgie ſelbſt nicht von
ihm, iſt unterfchoben, ift das Werk eines Betrügers und verbient als ſolches
feinerlei Beachtung. — Wir wollen, um möglichft furz die Sache abzuthun, ohne
Weiteres zugeben, die beanftandeten Partien ſtammen nicht aus der apoftolifchen
Zeit: folgt nun daraus, daß die Liturgie unterfchoben, daß fie das Werf eines
Iiterarifchen Freibeuters fer und mit Unrecht den Namen des HI. Jacobus an der
Stirne trage? Es fragt fih zunächſt, ob die Kirche von Jeruſalem fie anerfannt
und gebraucht habe, und ob fih etwa nachmweifen laſſe, daß fie dort in fpäterer
Zeit eingeführt worden ſei; das eine ift eben fo entfchieden zu bejahen, als das
andere zu verneinen, was zu dem Schluffe bereihtigt, daß die fragliche Liturgie
die ältefte und urfprüngliche der Kirche von Jeruſalem fei, Weil aber diefe Kirche
den hl. Jacobus als ihren erſten Bifchof verehrt, auf ihn ifre Gründung zurüdführt,
ſo behauptet fie auch, von ihm Die Drbnung ihres Gpttesdienftes empfangen zur
haben. Die Liturgie von Jerufalem kann gewiffermaßen als das Vorbild oder als der
Grundriß der befannteften Liturgien des Drients betrachtet werden. Nach der alt-
üblichen Eintheilung zerfällt fie in die Liturgie der Katechumenen und in die der
Gläubigen (ſ. Gläubigen-Meffe). Jene befteht aus Gebeten, Öefängen und Lefun-
gen aus den Büchern des alten und neuen Bundes; diefe beginnt mit der Darbrin-
gung der Dpfergaben, an die das Glaubensbefenntnig und der Friedensfuß fich
anfchließen ; dann wird durch die Präfation und eine paränetifhe Darftellung der
göttlichen Heilsanftalten die Conſecration eingeleitet, Nach den Einfegungsworten,
die mit lauter Stimme ausgefprochen, und von Seite des Volfeg mit „Amen“
beantwortet werben, folgt das Andenken an das Leiden, den Tod, die Auferfte-
bung, die Himmelfahrt und zweite Ankunft Jeſu Chriſti mit der Bitte um Til—
gung der alten Schuld und Verleihung der Himmlifhen Gaben, Nun fommt die
vielbefprochene, den morgenländifchen Liturgien eigenthümliche „‚Anrufung des
heiligen Geiſtes“, worauf der Priefter einige Gebete und Fürbitten verrichtet
und zur nähern Vorbereitung auf die HL, Communion übergeht, Mit ven Worten:
„Das Heilige Dem Heiligen” , werben bie hl. Gaben emporgehoben, ſodann
Liturgien. 545
die Theilung der Hoftie, von ber ein Theil in den Kelch getaucht wird, vorgenom⸗
men. Unter verfchiedenen Gebeten und Gefängen folgt jegt die Communion des
Priefters und des Bolfes, Danffagung, Segnung und feierlihe Entlaffung der
Gemeinde bilden den Schluß. — Mit der Liturgie der Kirche von Jerufalem wird
die im achten Buche der apoſtoliſchen Conftitutionen (Gallandii, Bibl. Patr. Tom. II.)
enthaltene gewöhnlich in Verbindung gebracht. Die Verwandtſchaft zwiſchen beiden
ift nicht der Rede werth, ift nicht größer, als die der orientaliſchen Liturgien
überhaupt zu einander. Die Abfaffung der Liturgie der Eonftitutionen wird in
das Ende des dritten oder den Anfang des vierten Jahr. gefegt. Goar und
Renaudot behaupten , die Liturgie der Conftitutionen fei in feiner orientalifchen
Kirche im Gebrauche gewefen; man hat dieß einen großen Mißverſtaud genannt
und das Gegentheil behauptet, aber nicht bewiefen. Im annehmbar zu machen,
daß fie älter fei, als die übrigen Liturgien, die auf ung gefommen, wird unter
Anderm bemerkt, fie habe das „Vater unfer” vor der Communion noch nit; im
dem Memento der Hingefchiedenen werden „noch Feine befondern Namen von Hei-
ligen, am wenigften die Gottesmutter erwähnt”, und in den Fürbitten für die
Lebenden ſtehen die Afceten ftatt der Mönde; auch jene VBorbereitungsgebete des
Prieſters, die in der Liturgie des HI. Jacobus fich finden und auf die fpätere Ge—
ftaltung des Gottesdienftes Hinweifen, fommen in ihr nicht vor. Allein, was dag
Water unfer” betrifft, fo ift die Borausfegung, als ob es erft fpäter, etwa im
vierten Jahrh. der Liturgie einverleibt worden, ganz unbegründet und widerfpricht
der älteften Firchlichen Tradition. ES wird zugegeben, daß die Erwähnung der
„Oottesgebärerin“ im öffentlichen Gottesdienfte nach dem Concilium zu Epheſus
(431) allgemein üblich wurde, daß die namentliche Aufzählung von Heiligen, die
Fürbitte für die Mönde, die angedeuteten Vorbereitungsgebete des Priefters ſpä—
tere Zufäge find; folgt nun unfehlbar, ein Titurgifches Formular, welches nichts
von diefen Zufägen hat, fei älter, als andere, die fie aufgenommen haben? Kann
man nicht eben fo gut fchließen, die Liturgie der apoftolifchen Conftitutionen fer
son Zufägen und Veränderungen deßhalb freigeblieben, weil fie nicht öffentlich
gebraucht worden, darum dem Einfluffe der Bewegungen und Entwickelungen im
Tirchlichen Leben entrückt gewefen fei? — b) Die Liturgie von Antiochia fallt
mit der bierofolemitanifchen zufammen, befanntlich gehörte Paläftina in den drei
erften Jahrhunderten zum Patriarchate von Antiochien (ſ. d. Art, Antiochien,
Patriarchat), bis dem: Bifchofe von Jerufalem zuerft dur die Synode von Nicäa
ein Ehrenvorrang (ohne Eremption von der Gerichtsbarkeit des Erzbifchofs von
. Eäfarea), fodann aber durch die vierte allgemeine Synode von Chalcedon das
Patriarchat über die drei Provinzen von Paläftina zuerfannt wurde. — Außer der
griehifchen Liturgie des. HI. Jacobus war im antiochenifchen Sprengel auch eine
fprifhe diefes Namens im Gebrauhe. (Bei Affemana. a. O. ©, 131. ff.ʒ
lateinifch und vervollffändigt bei Renaudot a. a. O. Bd. 1.6.29. ff.) Sie
ift eine freie Bearbeitung der erftern für die Syrer. Da fie nach der monophyſi—
tifchen Spaltung nicht nur von den Melchiten (damals — Orthodoxen), fondern
auch von den Häretifern anerkannt und gebraudt wurde, fo ift anzunehmen, daß
fie zur Zeit des Conciliums von Chalcedon im J. 451 nicht nur vorhanden ge⸗
weſen fei, fondern auch in hohem Anfehen geftanden Habe, Die Monophyfiten,
in der Folge Jacobiten genannt, produeirten eine Menge von Liturgien unter
erbichteten Titeln; Abraham Echellenfis gibt ihre Zahl auf fünfzig an, Re—
naudot zählt etliche und dreißig auf. Die Melditen hielten fih an die alther-
gebrachte Liturgie, bis es den Patriarchen von Eonftantinopel gelang, die Ein-
führung der ihrigen durchzufegen. — c. Die Liturgie des hl. Marcus, dv.
der Kirde von Alerandrien, Sie wurde im J. 1583 zu Paris mit einer
Tateinifchen Ueberfegung von dem Canonieus Johannes a Saneto Andrea
herausgegeben. Das griechifche Manuſeript hatte ſich in einem Klofter der Mönde
Kirchenlexikon. 6. Dr. 35
546 Liturgiem,
des hl. Bafılins in Kalabrien vorgefunden und der Cardinal Wilhelm Sirlet
ließ eine Abfchrift deffelben für den Heransgeber fertigen. Die Scheidung der
ägyptiſchen Chriften nach der Synode von Chalcedon in Melditen und Monophy—
fiten (gewöhnlicher Jacobiten oder Kopten, ſ. d. U.) darf hier als befannt voraus-
gefegt werben. Die genannte Liturgie nun ift allem Anfehen nach die alte, vor
der monophyfitifhen Spaltung in Aegypten eingeführte, die von den Melchiten
auch nah der Spaltung beibehalten und erft im 12ten Jahrhunderte durch die
Liturgie von Conftantinopel verdrängt wurde, Sie wird dem HL. Marcus zuge-
fhrieben, weil er die Kirche von Alerandrien gegründet hat, Daß fie fpätere
Zufäse aufgenommen und dem Wahsthume und den Bewegungen des kirchlichen
Lebens nicht verfhloffen geblieben, ift fein Beweis gegen ihren apoſtoliſchen Ur—
fprung. Die Kopten haben viele Liturgien verfaßt, von denen aber nur drei
gebraucht werben dürfen: bie Liturgie des HL, Bafilius, die an gewöhnlichen
Sonn- und Wochentagen, fowie zum Gottesdienfte für die Verftorbenen genom-
men wird; bie Liturgie des bl, Gregor, des Theologen, die an den Feften
des Herrn und andern hohen Feiertagen vorgefchrieben ift; die des HL, Cyrill
endlich, die für die Faftenzeit und den Weihnachtsabend beftimmt ift. Gabriel,
Tarichs Sohn, der 7Ofte foptifhe Patriarch, verbot bei Strafe der Excommuni—
eation den Gebrauch jeder andern Liturgie, Während die Melchiten fortwährend
den Gottesdienft in der griechifchen Sprache feierten, entfchieden fih die Häretifer
für die fog. Foptifche Sprache, die zur Zeit des Einfalles der Araber in Negypten
Umgangsfprache war. Uebrigens wurde in weniger als 200 Jahren die Sprache
der Eroberer die herrſchende, fo zwar, daß felbft die Priefter die alte Landes-
fprache nicht mehr verflanden und man fich gendthigt ſah, dem Eoptifchen Texte
der liturgifchen Bücher eine arabifche Heberfegung beizufügen, Es ift mehr als
naiv, wenn man ſich da und dort auf die Foptifche Liturgie beruft, um die Ein-
führung der Landesſprache bei'm Gottesbienft zu urgiren (vgl. d. Art, Kirch en—
ſprache). Einmal ift die Foptifhe Sprache feit dem Ende des neunten oder.
Anfang des zehnten Jahrh. aus der Reihe der lebenden Sprachen verſchwunden;
wäre dieß aber auch nicht der Fall, fo follte fih ein Katholik doch befinnen,
ehe er feiner Kirche zumuthet, daß fie das Beifpiel der Häretifer nachahme. Mit
der Kirche von Negypten hängt die abyffinifche von ihrer Gründung an zufammen,
Der hl. Frumentius, dem Abyffinien (ſ. d. A.) feine Befehrung verdankt, wurde
in Merandrien durch den großen Athanaſius zum Biſchofe geweiht und von da an
empfing Abyffinien von Aegypten feine Oberbirten, feine kirchliche Verfaſſung,
feine Gottesdienftordnung und zulegt die monophyfitifche Härefie, der es zur
Stunde noch verfallen if. Die Zahl der abyffinifchen Liturgien wird von Einigen
auf zwölf von Andern wohl richtiger auf zehn angegeben, nämlich 1) die Liturgie
des hl. Johannes des Evangeliften; 2) der 318 Väter von Nicäa; 3) des Epi-
phanius; 4) des Jacob von Sarug (f. d. A.)5.5) des Johannes Chryſoſtomus;
6) eines Ungenannten; 7) der bh. Apoftel; 8) des Cyriak; 9) des Gregor von
Nazianz und 10) des Patriarchen Divseur, Die unter 7 genannte Liturgie der
65. Apoſtel wurde in Rom 1548 durch den abyffinifchen Archimandriten Petrus,
auch Tesfa — Sion genannt, äthiopifch herausgegeben. Im folgenden Jahre
erfchien eine Tateinifche Ueberfegung. Sie enthält den vollfiändigen „Ordo‘‘ des
abyffinifchen Oottesdienftes und die übrigen Liturgien müffen aus ihr ergänzt
werden, Ohne Mühe fann man in ihr eine Nachbildung der Foptifchen Liturgie.
des hl. Baſilius erkennen. — d) Die byzantinifhen Liturgien, Die Kirche
von Conftantinopel over Byzanz hat feit mehr denn 1300 Jahren zwei Liturgien,
Hon denen bie eine dem hl. Bafilius, die andere dem hl. Chryfoftomus zu-
gefchrieben wird. a) Daß der HI. Bafilius, vom J. 370—379 Biſchof zu
Cäfarea in Cappaborien, eine Liturgie verfaßt habe, fteht außer Zweifel, und
wird von Proclns, (rrcob ragad00EwS TyS Felas Asırovpyias in. Gallandii
u er ee
Liturgien. 547
Biblioth. efe. Tom. IX. p. 680.), von dem Diacon Petrus, (De incarnatione
et gratia D. n. J. Chr. etc. cap. 8.) vom zweiten Eoneilium von Nicde
(Harduin, Tom. IV. col. 370) und vielen Andern bezeugt, Ob aber die Liturgie,
welche unter dem Namen des heiligen Baſilius in der eonflantinopolitanifchen
Kirche gebraucht wird oder ein anderes Eremplar deffen aͤchtes Werk fei, iſt
völlig ungewiß, und ohne Rüdfiht auf die Tradition der Griechen glaubt
Goar, (Eucholog. p. 158,), einem Cremplare der Bafilianifchen Liturgie,
das ihm Iſidor Pyromalus mitgetheilt, den Vorzug geben zu müffen,
— Immerhin zeigen die fehr bedeutenden Abweichungen der Codices von
einander, daß die Liturgie durch den Namen, mit dem fie geſchmückt iſt,
gegen die Verbefferungsverfuhe Feineswegs gefhügt worden fei, — Der Got—
tesdienft wird nach der Liturgie des hl. Baſilius gefeiert: an den Sonntagen der
HI. und großen Faftenzeit mit Ausnahme des Palmfonntags; am hohen Grün-
donnerftage; am großen Sabbath, d. i. am Charfamflage; an den Vigifien von
Weihnachten und Epiphanie, und am Fefte des heil, Bafılius, welches nach dem
griech. Kalender am Neujahr, — dem Todestage des Hl. Bafılins, begangen wird,
2) Die Liturgie des Hi. Chryfoftomus, welde, die genannten Tage ausge-
nommen, das ganze Jahr hindurch im Gebraude ift, wird im fiebenten Jahr⸗
hunderte no von Leontius „die Liturgie der hl. Apoſtel“ genannt und ſcheint
erft im achten ven Namen des Johannes „mit dem goldenen Mund“ erhalten zu
haben. Dur die Ueberlieferung der Drientalen, durch die gläubige Annahme
der Deeidentalen und durch die Zeugniffe fehr vieler Schriftfteller wird dem hl.
Chryſoſtomus die Bearbeitung einer Liturgie, und zwar der in der Kirche von
Eonftantinopel gebräuchlichen, zuerfannt, Er Habe, fagt Proclus, wegen der
Schlaffheit der menfhlihen Natur und in der Abficht, jede teuflifche Ausflucht
gleihfam zu entwurzeln, den Gottesdienft in Vielem abgefürzt. Uebrigens iſt
die Berfihiedenheit der vorhandenen Eremplare diefer Liturgie fo groß, dag Goar
zweifelhaft war, welches derfelben er einer Vergleihung zu Grunde legen follte
und erflärt: „tanta... varielas, ut nos qui octo sola (sc. exemplaria) ex illis tibi,
Lector..., ob oculos ponimus, cunctfa illa simul, tantae dissimilitudinis aspectu
territi, inter sese conferre, vitandae nimiae confusionis grafia, non potuerimus“ efe.
— Es ift daher nit nur unrichtig, fondern faft lächerlich, wenn der Verfaffer
der „Briefe über den Gottesdienft der morgenländifhen Kirche“
(Andreas Nikolajewitſch Murawieff) Bd. II. fagt: „Im folgenden Jahrhunderte
ließ der HL. Johann Chryfoftomus, Erzbifhof von Conftantinopel, einiges aus
der Liturgie des HI. Baſilius weg, und diefe feine Gsttesdienftordnung Fommt
alle Tage bei ung vor, Denn nad diefem Hierarchen wagte es feine Hand
mehr, und wird es feine wagen, die Liturgie anzutaften, da in ihr der
Gpttesdienft die höchſte, dem Menfchen mögliche Stufe der Vollkommenheit
erreicht Hat.” — Nur zu Häufig Haben die Griechen die dem Altertum und den
überlieferten Jnftitutionen ſchuldige Pietät perfönliher Eitelfeit zum Opfer ge-
bracht, nur zu häufig die wahre Authorität, die Trägerin des Gefeges des geiſtigen
Lebens, mißachtet, bis fie zulegt einer Art Erftarrung anheimfielen, — Die Ord-
nung der beiden Liturgien von Eonftantinopel if jener der Liturgie des 5. Jacobus
ähnlich. Wir begegnen der Eintheilung in Ratechumenen- und Gläubigen-Liturgie
(Cl. Gtläubigenmeffe); der Friedensfuß, dem hier das Symbolum folgt, wird
nach der erfien Oblation ertheilt; die Prafation und die unmittelbare Vorbe—
reitung auf die Eonferration befteht im Dank und Preis für die Heilsanftalten
Gottes; die Einfegungsworte werden laut gefprogen.und mit „Amen“ beant-
wortet; dann folgt die „Anrufung des Hl. Geiftes“; die Aufopferung zu Ehren der
Heiligen; die Fürbitten für die VBerftorbenen und Lebenden; die Elevation und
Brechung der Hoftie (f. Brodbrehung); die Communion und zuletzt die Danf-
fagung und Segnung. — Die Liturgie von Conftantinopel wurde in ſlaviſcher
35*
548 Liturgien.
Ueberfegung von den heiligen Eyrill und Methodius zuerft in Pannonien
und Mähren eingeführt, Methodius mußte fih in Rom im 3. 880 ſowohl
wegen feiner Lehre als auch- wegen der Sprache des Gottesdienſtes verantworten.
„Wir hören auch“, fchrieb ihm Papft Johann VIIL unter'm 14. Juni 879, „daß
du die Meffe in einer fremden Cbarbara), d. i. in der ſlaviniſchen Sprache feierft,
weßhalb wir ſchon durch unfer Schreiben unterfagt haben, daß du die HI. Feier
der Meffe in jener Sprache begeheft, fondern entweder in der Tateimifchen oder
griechifchen Sprache,” u. f. w. Es gelang dem Apoftel der Slaven, den Papft
in diefem Puncte zur Nachgiebigkeit zu bewegen, Ohne Zweifel leitete ven hl.
Bater hiebei hauptſächlich die Rüdficht auf die Erhaltung der Kircheneinigfeit,
welche gerade damals durch Photius gefährdet war, Es fei, erffärte er, dem
wahren Glauben oder der Lehre nicht entgegen, in der ſlaviſchen Sprache die
Meffe zu feiern, das Hl. Evangelium und die gut überfegten Stücke aus dem
alten und neuen Teftamente vorzulefen, fowie die Tagzeiten zu beten ober zu
fingen, — Jedoch follte das Evangelium zur größern Verherrlichung erft lateiniſch,
dann flavifch gelefen werden. „Und wenn eg bir gefällt”, heißt es am Schluffe
des päpftlichen Briefes an Swatopluf, „und deinen Beamten, die Meffe lieber in
Iateinifcher Sprache zu hören, fo befehlen wir, daß dir die HI. Meffe lateinisch
gefeiert werde,’ (S. Cyrill und Method, der Siaven-Apoftel von Joh. Do—
browsfy. Prag, 1823. ©. 98 ff.) Die flavifche Meberfegung der griechiſchen
Liturgie fand auch in Rußland Eingang, wo fie heute noch gebraucht wird, —
e) Die Liturgie der Armenier, wahrfcheinlich im vierten Jahrhunderte ver-
faßt, doch fo, daß fie im fünften ihre Vollendung erhielt, hat große Aehnlichkeit
mit der byzantinischen, was nicht befremdet, wenn man bedenkt, daß der Dann,
dem die Befehrung von Groß-Armenien vorzugsweife zugefchrieben wird, Gregor
der Erleuchter (ſ. d. A.), in Cäſarea unterrichtet und geweiht worben und daß der
hl. Ehryfoftomus zu Romana in Pontus flarb und bei den Armeniern Hoch verehrt
ward. — Die befannteren Ueberſetzungen find: 1) die unter dem Titel „Codex.
mysterii Missae Armenorum, sive Liturgia Armena* 1677 aus der Typographie.
der Propaganda hervorgegangen. Sie ift in zwei Bücher gefondert, wovon dag
eine für den Priefter, das andere für die Diener beftimmt ift. 2) Die Iateinifche
Ueberfegung des Theatiners L. M. Pidon, mit dem Zunamen von St. Dion
(geb. 1659, geft. 1717.), welche Lebrun in den fünften Band feiner „Expli-
cation de la Messe“ aufgenommen und mit gelehrten Unterjuchungen begleitet
bat, Sie ift betitelt: „Liturgia Armena, cum rilu et cantu ministerüi, ex originali
Armeno manuscripto.“ Die Handfchrift enthielt bloß die priefterlihen Gebete
und Formeln, das Uebrige mußte -aus der rom, Ausgabe von 1677 und aus
dem Gedächtni des Meberfegers ergänzt werben. 3) Die italienifche Heberfegung
des P. Gabriel Avedichian, Mechitariften im Klofter St. Lazaro bei Venedig.
Sie wurde von J. B. E. Paſcal nah der Ausgabe v. 1832 in's Franzöſiſche
übertragen. 4) Eine teutfche Meberfegung von F. X. Ste: „Die Liturgie.
der Fatholifchen Armenier,” Tübingen, 1845. Der Werth jeder Ueberſetzung ift
durch Die Treue, mit der fie das Driginale wiedergibt, bedingt, Ohne ung ein
TE TEN RE HTTREENNE
Urtheil über die genannten Ueberſetzungen zu erlauben, bemerken wir bIoß, daß.
fie in einem wichtigen Puncte von einander abweichen, wir meinen „die Anrufung
des HI. Geiſtes.“ Die erſte und vierte drücken die bereits vollzogene Conſecration
aus, nämlich jene: „Quo (sc. Spiritu Sancto) benedicens corpus vere fecisti
Dom. nostri et Redemtoris J. Chr.‘“; diefe: „Durch Welchen (hl. Geift) Dur dieſes
gefegnete Brod wahrhaftig zum Leibe unferes Herrn und Erlöſers Jeſu Chriſti
gemacht haſtz“ — u. ſ. w. — In der zweiten und dritten lautet die Formel:
„Durch welchen Du dieſes gefegnete Brod wahrhaft zum Leibe unferes Herrn und
Erlöfers Jeſu Ehrifti mach eſt,“ — oder: „Durch welchen diefes gefegnete Brod
uw, gemacht werde,“ Es ift fein Zweifel, daß hier die Armenifche Liturgie,
-Liturgien. 549
wie fie ift, dort, wie fie gewünſcht wurde, vernommen wird. f) Die Serte ber
Neſtorianer, deren eigentlihe Geburtsftätte Syrien iſt, hatte nach dem Con—
eilium von Ephefus (431) ihre Hauptniederlaffung in Mefopotamien, von wo fie
ſich über Perfien, die Tartarei, China und Dftindien ausbreitete, Ihr Oberhaupt
Bagdad ufurpirte den Titel Patriarch oder Katholicos, Jetzt ift fie fehr zufan-
mengefehmolzen, Sie hat drei Liturgien: 1) Die der Hl. Apoſtel, die zugleich
den „Ordo“ und die allen gemeinfchaftlihen Gebete enthält, fo daß in den beiden
andern vielfach auf diefe verwiefen wird. Bei Renaudot (Tom II. p. 578 sq.)
führt fie eine doppelte Auffchriftz vor dem Eingang: „Liturgia apostolorum sanc-
torum, seu ordo sacramentorum“: vor der Anaphora (Missa fidelium): „Liturgia
beatorum apostolorum, compositä a. S. Adaeo et S. Mari orientalium doctoribus.*
Der Titel fündigt fie alfo als das Werf des Hl. Adäus oder Thadäus, des
Apoftels son Mefopotamien an, und es ift nicht unwahrfcheinlich, daß fie in Mes
ſopotamien fhon im Gebrauche war, ehe fih die Neftorianer dort niederließen.
2) Die Liturgie des Theodor von Mopsveſte, der feiner eregetifchen
Leiftungen wegen den Zunamen „Interpres‘ erhielt und nicht bloß ein Anhänger
des Neftorius war, fondern ald der Urheber der Härefie, die von legterem den
Namen erhielt, zu betrachten ift. Sie ift überfchrieben: „Liturgia Theodori Inter-
pretis, und beigefügt: „‚Quae celebratur a dominica prima Annuntiationis usque ad
dominicam Oschanae (i. e. Palmarum.)* Sie wird alfo vom erſten Adventsfonn-
tage an bis zum Palmfonntag, und zwar, wie Renaudot meint, bloß an Sonn=-
tagen gebraudt, 3) Die Liturgie des Neftorius, Die dem Titel: „Liturgia
Nestorii“ angehängte Rubrif bezeichnet die fünf Tage im Jahr, an welchen der
Gpttesdienft nach diefer Liturgie gefeiert wird. Doch macht fich hier eine Ab-
weichupg bemerkbar, In dem Miffale, welhes R. Simon von einem Priefter
aus Babylon erhalten, heißt die Rubrik: quae celebratur quinquies per annum:
in Epiphania; in festo divi Joannis Baptistae; die festo doctorum Graecorum; feria
quarta rogationum Ninivae, et Paschate.“ Bei Renaudot (l. c. p. 620.) werden
die Vigilien vom Hl. Johannes d. Täufer und von den griechifchen Kirchenlehrern
angegeben. Die „Doctores Graeci‘, deren Andenfen die Neftorianer am Freitag
der fünften Woche nah Epiphanie feiern, find: Divdor von Tarfus, Theodor vor
Mopsvefte und Neftorius, Die Bitt- oder Bußtage von Ninive find drei Faft-
tage, die vor der großen Faſten zur Erinnerung an die dreitägige Buße der Nini-
viten gehalten werden. Die malabarifchen Neftorianer nennen fie „Kafttage des
Jonas“, was zum Verſtändniß der angeführten Nubrif bemerkt fei. — Die Sprache
des neftorianifchen Gottesdienſtes ift allenthalben die fyrifhe. — I. Liturgien
des Abendlandes, Der Decident iſt bei weitem nicht fo reich an Liturgien,
als der Drient, und die wenigen, die er zählt, gehören nach Charakter und Ab—
ffammung theilweife dem Morgenlande an, wie fich zeigen wird, — 1) Wir
reden zuerfi von der römifchen Liturgie, deren Pflanzung mit Recht dent
Apoſteln zugefhrieben wird, doch fo, daß fie unter dem Beiftande des HL. Geiftes
mit der Zeit herangewachfen ift und in allen Jahrhunderten neue Zweige und
Blüthen erhält. Die älteften ſchriftlichen Aufzeichnungen der römifchen Liturgie
fiegen in drei Sacramentarien vor, die nach dem drei Päpſten Leo, Gelaſius
und Gregor genannt werden. a) Das „Sacramentarium Leonianum“, auch „Saer.
> Veronense“ wurde zum erfien Mal im J. 1735 von Joſeph Blanhini aus
einem Codex der Bibliothek des Kapitels von Verona herausgegeben. Die Auf-
ſchrift, welche Leo J. als den Author bezeichnet, ift eine Zugabe des Herausgebers,
welcher den gemachten Fund wohl etwas zu hoch werthete, J. A. Or ſi und mit
I ihm Caj. M. Merati und J. A, Affeman halten Gelafius für den Verfaffer,
Euſebius Amort ift ver Anficht, es fei nicht das Werk eine s Papftes, ſondern
das Sarramentarium der röm. Päpſte überhaupt, Lud. Ant. Muratori hat
die Frage über das Alter und den Urheber diefes Sarramentariums einer umſich—
550 Liturgien.
tigen Prüfung unterzogen, deren Ergebniß dahin geht, es ſtamme daſſelbe aus
der Zeit Felix II. (483—492,), ſei das Werk eines ungenannten und dazu noch
ungeſchickten Privaten, der, was er an Orationen, Präfationen und dgl, vorge-
funden, ohne Wahl und Ordnung zufammengeftellt, Diefes Urtheil, mit welchem
das der Brüder Ballerini, — Herausgeber ber Werfe Leo's J. wefentlich über-
ſtimmt, erſcheint bei genauerer Einficht in das Buch gerechtfertigt, Das Ganze
ſtellt fi als das Bruchſtück einer, man möchte faft fagen planlofen Sammlung
liturgifcher Zormularien dar, Während einzelne Nummern eine Collecte, ein
Dpferungsgebet (Seereta), eine Präfation und Pofteommunion enthalten, dem
hergebrachten röm, Ritus gemäß, — zeigen andere die größte Unregelmäßigfeitz
Nummer VII. z. B, befteht aus drei Collecten, zwei Seereten und zwei Präfationen;
Nr. IX. aus zwei Collecten, einer Seereta und einer Präfation; Nr, X aus einer
Seereta, zwei Präfationen und zwei Poftcommunionen; Nr, XIX. aus vier Eolfecten,
einer Secreta, zwei Präfationen und zwei Poftcommunionen, — Sp durch das
ganze Buch. Ein ſolches Dperat konnte nur dadurch entfichen, daß Jemand die
liturgiſchen Formularien, die ihm da und dort begegneten, zufammenftellte. An
eine Beftimmung zum kirchlichen Gebrauche ift nicht zu denken, weßhalb ihm auch
der Name „Sacramentarium‘, fofern darunter ein Kirchenbuch verflanden wird, .
DE ET
BT N
firenge genommen nicht gebührt. — Uebrigens find in vorliegender Sammlung
die Alteften Monumente der röm. Liturgie gegeben. Für das hohe Alter zeugt
der Umſtand, daß weder Fefte der Confefforen, noch die Feſte des HI. Kreuzes
und ber Geburt der fel. Jungfrau Maria in der Sammlung vorkommen, und
daß die darin enthaltene Reihenfolge der Fefte dem Feftverzeichniffe des Aegidius
Bucherius, angeblich aus der Mitte des vierten Jahrhunderts, fehr ähnlich ift. —
Daß man in der Sammlung Beftandtheile der röm. Liturgie vor ſich habe, wird
aus dem Inhalte mehrerer Gebete und Präfationen, fowie ans der Angabe der
Cömeterien und hl. Orte, wo einzelne Fefte gefeiert wurden, unwiberleglich be-
tiefen. — Vergl. L. Ant. Muratorii de rebus liturgieis dissertatio. Cap. W.—
b) Das „Sacramentarium Gelasianum.“ Die eigentliche Auffchrift Iautet:
„Innomine Domini nostri Jesu Christi. Incipit liber Sacramentorum
Romanae ecclesiae ordinis anni circuli.“ — Es wurde von Joſeph
Maria Thomafins im J. 1680 zu Nom dem Drucde übergeben. Die Hand-
Thrift, früher Eigentbum des Parifer Senators Petavius (Petau), fam in der
Folge in die Bibliothef der Königin Chriftina von Schweden. Wird diefes Sarra-
mentarium mit Recht dem HI. Gelaſius I. zugeeignet? — Ja, antworten die Fathol,
Gelehrten einftimmig, denn daß Gelafius ein Sarramentarium verfaßt, bezeugen
Gennadius, der Bibliothecar Anaftafius, Johannes der Diacon und die alten Ver—
zeichniffe der römifchen Päpſte bei ven Bollandiften (Tom. I. Aprilis p. 34.). Nun
‚fennt aber die röm. Kirche bloß zwei offieielle, d. h. für den Hffentlichen Gebrauch
beftimmte und herausgegebene Saeramentarien, das Gregorianifche und das vor
Gregor gebrauchte, von ihm emendirte Gelaſianiſche. Das vorliegende ifl ein Sa-
eramentarium der röm. Kirche, was nicht bloß aus dem Titel, fondern auch aus
den darin vorfommenden Feften erfichtlich if. Daß es das Gregorianifhe fei, be-
bauptet niemand; es muß alfo das Öelafianifche fein. — Die ungefalzenen Mei-
nungen des Jacob Basnage und des Tübinger Profeffors Mathias Pfaff hat
L. A. Muratori in der angeführten Differtation cap. V. gebührend abgefertigt.
Für das Alter des Cover führt der Heransgeber Thomafius in feiner Vorrede
Tolgendes an: 1) in dem Symbolum fehlt der Zufag „Filioque“, 2) Der Eoder '
enthält die Meffen für Die Donnerftage der Faftenzeit noch nicht. 3) Es fehlen
mehrere Meffen (Fefte), die vom fiebenten Jahrhunderte an üblich waren. 4) Es
find weniger Heiligenfefte aufgenommen, als in bie fpäteren Saeramentarien,
5) Nur die Martyrer haben eigene Feſte. — Aber der Eoder hat Beftandtheile,
die auf eine fpätere Zeit hinweiſen ? Allerdings; der Coder iſt eben wicht zum
ech:
— a ET;
EEE rei ee a
‚Liturgien. 551
Zwecke der Erudition, fondern für den Öffentlichen Gebrauch abgefaßt worden;
. er konnte und follte daher der Erhaltung des gottesdienftlichen Lebens nicht ver-
ſchloſſen bleiben. — Das Gelafianifhe Sacramentarium iſt in drei Theile ge-
theilt, wovon der erfte „De anni circulo* überfohrieben, die Firhlihe Zeit von
der Weihnachtsvigil bis zur Pfingftoctav umfaßt; der zweite mit der Aufſchrift:
„De natalitiis Sanctorum“ die Fefte der Heiligen und der dritte „De dominieis
Diebus“ betitelt die Gebete für die Sonntage nah Pfingften, fowie den Canon
der hl. Meffe enthält: — c) Das „Sacramenlarium Gregorianum.“ Die gewid-
tigften Stimmen bezeugen einhellig, daß fich der HI, Gregor L, der von 590 big
604 auf dem Stuhle des Apoftelfürften faß, ganz vorzüglich um die Liturgie ver-
dient gemacht habe, Namentlih wird diefem außerordentlihen Manne, diefem
nicht minder bewunderungsmwürdigen Lehrer als großen Hirten, deſſen Geift in
die ewigen Wahrheiten, in die himmliſchen Geheimniffe vertieft, zugleich die irdi=
ſchen Anliegen, die Leiden und Bedürfniffe der Kirche forgend und helfend um—
faßte, — die Bearbeitung eines Sacramentariums zugefährieben. „Er hat auch“,
ſchreibt ſein Biograph, der Diacon Johannes (L. II. cap. 17) „den Gelafianifchen
Mefeoder in ein Buch zufammengedrängt, wobei er Vieles ausgelaffen, Weniges
geändert, Einiges für die Erläuterung der evangelifchen Leſeſtücke hinzugethan.“
Welches Eremplar der Gregorianifhen Meſſe aus der Zahl der vorhandenen am
wenigften interpolirt fer, ift fehwer zu entfcheiden. 8. A. Muratori gibt einem
Codex der vaticanifchen Bibliothek, welchen er in feiner „Liturgia Romana vetus“
Tom. I, abdruden ließ, den Vorzug. Er beginnt mit einer Rubrif, welche die
Beftandtheile der hl. Meffe vom „Introitus“ an bezeichnet, darauf folgt die Präfation,
der Canon, das Vater unfer mit dem Embolismus (f.d. A.) und das „Agnus Dei“,
— Nach diefem fommen die Formularien für einzelne Tage und Anläffe von der
Weihnachtsvigil anfangend. Jede Meffe Hat in der Regel nur eine Eoffecte,
eine Serreta und eine Pofteommunion, Manchmal find mehrere Drationen an-
gehängt, über deren Gebrauch nichts Beftimmtes aufzubringen ift. Daffelbe gilt
von den Präfationen, die am Ende des Coder in großer Anzahl verzeichnet find,
Außer dem, was zur HI. Meffe gehört, enthält der Codex viele Benedictionen,
Eroreismen, Gebete u. f. w. — Die Sacramentarien der alten Kirche enthalten
nicht den vollftändigen Ritus ver HI. Meffe, fondern bloß das, was der Priefter
zu beten oder auszufprechen hatte; e8 waren defhalb neben ihnen noch andere
Bücher bei der Feier des Gottesdienftes erforderlih, — namentlich drei: das
Antiphonarium (f. d. A.) mit den Gefängen zum Eingang, nach der Epiftel,
zur Opferung und zur Communion; das Lectivonarium (ſ. d. 9.) mit den
Leſeſtücken aus dem alten Teftamente, der Apoftelgefchichte, den Briefen der Apoftel
und der Offenbarung des HI. Johannes, und das Evangeliarium(f. d. A.) mit
den Abfchnitten aus den vier Evangelien. Jedes diefer einzelnen, zur Feier der HI,
Meffe verwendeten Bücher wurde mitunter „liber Missalis“, „Meßbuch“ genannt,
Es war aber, wie begreiflich, ein Bedürfniß, man kann fagen, eine Notbwendigfeit,
die vier befondern Bücher zu vereinigen, zumal für Orte und Anläffe, wo ein Prie-
fter ohne Affiftenz von Diaconen und Subdiaconen zu celebriren hatte. Diefes,
das Ganze umfafjende liturgiſche Buch hieß dann „Missale plenarium“, und fpäter
einfach „Missale.“ Dergleihen „Meßbücher” waren lange vor der Zeit der Rir-
SHenverfammlung von Trient allenthalben vorhanden; allein fie ließen, obſchon
fie ven Gregorianifhen Ritus zur Grundlage hatten, fo viele Abweichungen er-
Tennen, waren da und dort mit fo ungeeigneten Zufägen bedacht worden, daß der
Ruf nach einer Reform immer lauter wurde, und nachdem er bereits auf dem
Eoneilium von Bafel und 1536 auf einer Synode zu Cöln fih erhoben, ward er
wiederholt auf dem Eoneilium von Trient, In der erften Periode der Rircdhen-
verfammlung konnten fi die Bäter nicht mit diefem Gegenftande befaffen; in
der achtzehnten Sigung ernannten fie eine Commiffion, die aber das ihr auf-
552 Siturgien,
getragene Werk nicht zu vollenden vermochte ,-weßhalb in der fünfundzwanzigſten
Sigung beſchloſſen wurde, die Reform des Breviers, des Miffale und Rituale
dem Papfte anheimzuſtellen. Da es fich nicht um die Anfertigung einer neuen
Liturgie, fondern darum handelte, die vorhandene zu reinigen, die alte und zwar
die römifche in ihrer Einfachheit und Würde wieder herzuftellen, fo konnte dag
Gefhäft nirgends beffer als, in Nom bewerfftelligt werben, Bon Pius IV. über-
nommen, wurde es unter Pius V. beendigt, Aus der Commiffion werden bIoß
der Kardinal Bernarbin Seotti, und Thomas Golduelli, Bischof von Afaph, ge-
nannt, Zaccaria meint, auch dem Cardinal Wilh. Sirlet und dem Gelehrten
Julius Poggi fei ein erheblicher Antheil an dem Werke zuzufchreiben. — Die
Herausgabe des neuen Miffale gefhah unterm 14, Zuli 15705 ihr folgten zwei
Reviſionen unter Clemens VII. (Bulle v. 7, Juli 1604) und Urban VII. (Bulle
9. 2. September 1634), Daffelbe zerfällt in die Einleitung, drei Haupttheile
und in den Anhang. Die Einleitung gibt den Kalender, die ‚allgemeinen Ru—
brifen, ein Summarium des Ritus und einen Unterricht über die möglicherweife
vorkommenden Defecte. Die drei Haupttheile find: a) das „Proprium mis-
sarum de tempore“ mit den Formularien für die fortlaufende Feier des Kir-
chenjahres. Es ift nach den Sonntagen geordnet, fangt an mit dem erſten Sonn—
tag des Advents und ſchließt mit dem Testen nach Pfingften. Uebrigens bewegt
fih das Kirchenjahr um die drei Hauptfefte: Weihnachten, Oftern und Pfingften,
unter denen das Ofterfeft der Mittelpunet ift, Zwifchen dem Charfamftag und
Dftern ift der „Ordo Missae“ eingeſchvben. b) Das „Proprium missarum de
sanctis“ enthält die Kormularien für die Feier der hl. Meffe an einzelnen Feten
der Heiligen u. f. w. Diefer Theil des Deiffale ift nach den Monaten und Tagen
des bürgerlichen Jahres geordnet, denn die Kirche pflegte von jeher die jährlich
wieberfehrenden Todestage ihrer Heiligen als Natalitien, d.i. als Geburtstage
zum ewigen Leben zu feiern. c) Das „CGommune sanctorum“, zur Ergänzung
des vorhergehenden Haupttheiles für folche Heiligenfefte, die fein eigenes Meß—
formulare im „Proprium“ haben. Die Eintheilung halt fih an den Charakter der
Heiligen und an die Nangorbnung der Alferheiligenlitanei, E8 find Mepformu-
larien darin: für die Vigil eines Apoftelfeftes; für die Fefte der Martyrer außer
und während der öfterlichen Zeitz für die Fefte der Confefforen, der Jungfrauen
und derer, die nicht als Jungfrauen farben. — Der Anhang des Miffale ift fehr
reichhaltig, — er bietet. die Jahrestagsmeffe einer Kirchweihe, — verſchiedene
Botivmeffen und die Meffen für die Verftorbenen; dann fommen mehrere Bene-
dietionen, und endlich die Meffen für folhe Fefte oder Commemorationen, Die an
gewiffen Orten mit -päpftlicher Genehmigung begangen und deßhalb „Missae ex
indulto ‚apostolico“ genannt werden. — 2) Die mailändifhe oder ambrofia-
nifche Liturgie, welde bis auf den heutigen Tag in der Kirche von Mailand
gebraucht wird, verdankt ohne Zweifel dem HI. Ambrofius, der im J. 374 Bi-
fchof wurde, ihre Vollendung. J. Visconti behauptet, der HL. Barnabas fei der
Urheber diefer Liturgie, der Hl. Miroclet habe fie erweitert und Ambrofius voll⸗
endet, Wie fie vor Ambrofins befchaffen gewefen, was er an ihr geändert, mit
was er fie bereichert habe, läßt fich nicht ermitteln... Die Anfpielungen auf die
Liturgie in den Werfen des großen Kirchenlehrers Liefern ein höchſt unfiheres
Ergebniß, Gewiß iſt, daß er den Wechfelgefang der Pfalmen und Hymnen ein»
geführt, wahrſcheinlich, daß er nicht nur die Meffen der hl. Martyrer Nazarius
und Celfus, Gervaflus und Protaſius, Vitalis und Agrieola, fondern auch eine
beträchtliche Anzahl von. Drationen, Präfationen u, ſ. w. verfaßt habe. — Die
mailändifche Liturgie flimmt in der Hauptfache mit der römifchen überein, nament-
Lich Hat fie ven Canon von dieſer. Die Abweichungen find untergeorbneter Art,
3: B. im Staffelgebet ftatt des. Pſ. 42. bloß der Vers 1. des Pf, 117 „Confite-
mini“ .eto.; nach dem Confiteor und der -Abfolution find andere Verfifel, und auch
Liturgien. 553
die Dration weicht nicht dem Sinne, aber dem Wortlaute nah ab. Nach der
Ingreffa (dem Introitus) folgt ein „Dominus vobiseum“, dann das „Gloria“, nach
diefem ein dreimaliges „‚Kyrie eleyson.“ Viele Meffen haben vor dem Evangelium
zwei Lertionen, eine aus dem alten und eine aus dem neuen Teflament; die Ge-
bete zur Darbringung der Dpfergaben find von den römifhen verſchieden; das
Symbolum wird erft nach der Opferung reeitirtz in die Heiligenverzeichniffe des
Canon find einige Didcefanheilige aufgenommen; das „Haec quotiescunque“ nad
den Eonfecrationsworten ift paraphrafirt; das Schlußgebet des Canon „Per quem
haec“ etc. hat eine doppelte Erweiterung; die Theilung der Hoftie gefchieht vor
dem „Pater noster“ mit eigenem Formulare; das „Agnus Dei“ ift bloß in den
Seelenmeffen vorgefchrieben; die zweite Dration vor der Communion und die
zweite Sumtionsformel weichen ab, auch in dem, was nad der Communion folgt,
find einige Eigenthümlichfeiten. — Die Mailänder, Clerus und Volk, haben ſtets
eine folhe Anhänglichfeit an ihre Liturgie bethätigt, daß die wiederholten Ver—
fuche, fie zu verdrängen, nie von Erfolg waren. Schon Carl der Große mußte
feinen Plan, den römifhen Ritus auch in Mailand einzuführen, wieder aufgeben,
Sm J. 1060 machte Nicolaus II. den gleichen Berfuh, der aber ebenfalls miß-
Yang, obgleich der eifrige, umfichtige und thatkräftige HI. Petrus Damiani zur
Bollführung auserfehen worden war. Später unternahm es der Cardinal Branda
de Eafliglione, welden Eugen IV. im 3. 1440 als Legat in die Lombardei ab—
geordnet hatte, den römischen Ritus in Mailand einzuführen; die Folge feines
Berfuches war, daß er ſich aus der Stadt flüchten mußte. — Im 3. 1497 wurde
der matländifche Ritus von Alerander VI. feierlich anerfannt und gutgeheißen, und
da der hl. Pius V. in feinen Bullen, mit denen er das verbefferte Miffale und
Brevier einführte, die Erklärung gab, daß von der Pflicht, die Iiturgifchen Bücher
der römifchen Kirche anzunehmen, alle Kirchen erimirt feien, die feit 200 Jahren
einen eigenen Ritus haben, fo ward damit auch die ambrofianifche Liturgie im
ihrem Beftand gefichert, — Der Hl. Earl Borromäus fhügte und vertheidigte mit
größtem Eifer den Ritus feiner Kirche, und als der damalige Gouverneur von
Mailand die Erlaubniß von Rom erwirkt Hatte, die HI. Meffe in jeder Kirche, die
er befuchen würde, nach römiſchem Ritus celebriren zu laffen, reclamirte der Hei-
lige Eräftig gegen diefe Conceffion, wie aus feinem Briefe vom 12. Nov, 1578
an den apoftolifchen Protonotar Speciand zu erfehen iſt. Der mailändiſche Ritus,
fagte der HI. Carl bei einem andern Anlaß, fei nicht bloß mailändifh, fondern
fraft der päpſtlichen Authorität und Beftätigung römifh und apoſtoliſch. Die
neuefte Ausgabe des ambrofianifhen Miffale erfchien unter vem Tegtverftorbenen
Erzbifhof, Tardinal Carl Eajetan von Gaisruf im J. 1831. — 3) Die go—
thiſche, fpäter mozarabiſche Liturgie. Als „gothifche“ wird fie bezeichnet,
weil ihre Ausbildung, ihre Blüthe in die Zeit der gothifchen Herrfihaft in Spa—
nien fällt; „mozarabijche” Liturgie wurde fie nach der Eroberung Spaniens durch
die Mraber genannt. Die Einwohner des Landes, die fih den Mauren unter-
worfen hatten, befamen nämlich den Namen Mozaraber (Mostarabes oder Must-
arabes), gleihfam „arabifirende Araber” zum Unterfchiede von den wirklichen,
ächten, urfprünglichen Arabern, Das Wort ift nicht aus der Verbindung von
„mixti“ und „Arabes“, oder von „Muza“ (Name des maurifchen Heerführers, der
Spanien unterjochte) und „Arabes“, fondern von dem Zeitworte „araba“,' deffen
Participium der zehnten Conjugation es entipricht, Herzuleiten, — Die Frage
ch dem Urfprunge der mozarabifchen Liturgie führt zu unlösbaren Schwierig-
eiten, Das Hauptgepräge diefer Liturgie weist auf ihre Abftammung aus dem
Meorgenlande Hin, Wann und durch wen ift der anatolifche Ritus nach Spanien
gefommen? Habem ihn die Gothen im Anfange des fünften Jahrhunderts‘ erf
son Kleinafien und Conftantinopel Her nah Spanien gebracht, oder fanden fie ihn
bei ihrem Einfalle in diefes Land fchon vor? Joh. Pinius in feiner ausgezeich-
“
554 Liturgien.
neten Abhandlung: „De Liturgia antiqua Hispanica.“ Acta Sanct. Juli Tom. VI.
p. 1—112. vertheidigt die Anficht, daß in den vier erften Jahrhunderten der rö-
mifhe Ritus in Spanien üblich gewefen ſei; daß die Gothen im fünften Jahr—
hundert eine der griechifchen ähnliche Liturgie mitgebracht hätten, und daß durch
diefe die alte, urfprüngliche verdrängt worden ſei. Uebrigens habe die von den
Gothen eingeführte Liturgie namhafte Veränderungen erfahren und fiheine be-
fonders durch die hl. Bifchöfe Leander und Iſidor von Gevilla überarbeitet und
—
Be
ausgebildet worden zu fein, Alexander Lesley behauptet das Gegentheilz
nach ihm hat das alte Spanien feinen Ritus aus dem Orient befommen, und bie
Gothen haben fih um fo leichter Damit befreundet, alg er dem ihrigen in ber
Hauptfache ähnlich war. Auf die beiderfeits geltend gemachten Gründe fann hier
begreiflich nicht eingegangen werden. — In der zweiten Hälfte des eilften Jahr—
hunderts, unter Alexander II. und Gregor VII, fing man an, den römifchen Ritus
auf der Halbinfel einzuführen; als aber im 5. 1088 ein Synodalbefchluß die Be-
feitigung der mozarabifchen Liturgie auch in Toledo anprdnete, fand die Maß—
regel heftigen Widerftand, und man entfchloß fi nach der Sitte der damaligen
Zeit, die Entſcheidung erft von einem Zweifampfe, dann von einer Feuerprobe
abhängig zu machen. Beide fielen zu Gunften der mozarabifhen Liturgie aus,
der König Alphons VI. aber ſprach fich dahin aus, daß beide Liturgien, die rö-
mifche und mozarabifche, in feinem Reiche neben einander beftehen follten. —
Don da an wurde der Önttesdienft zu Toledo in ſechs Pfarrkirchen, namlich:
St. Marcus, St. Eulalia, St. Juſta und Nuffina, St, Lucas, St. Sebaftian
und St, Torquatus, nah mozarabiſchem Ritus gefeiert. Als in der Folge der
römifche Ritus auch in den genannten Kirchen mehr und mehr in Gebrauh Fam,
machte der Cardinal Franz Kimenes im Anfange des 16ten Jahrhunderts groß-
artige Anftrengungen, um die Erhaltung der mozarabifchen Liturgie zu fichern.
Er veranftaltete nicht bloß eine neue, revidirte Ausgabe des mozarabifchen Mif-
fale und Breviers,- fondern er baute auch eine Capelfe (ad Corpus Christi), bie
er mit einer Fundation für dreizehn Kapläne, welche täglih das Dfficium und
die hl. Meffe nach mozarabifhem Nitus verrichten follten, — ausftattete. — Auch
in Salamanca und Valadolid wurden nach dem Beifpiele des Kimenes Stiftungen
zur Erhaltung diefes Ritus gemacht, wenngleich von geringerem Umfange. ©.
Pinius, 1. c. p. 66. 67. und C. 3. Hefele, „der Cardinal Kimenes” u ſ. w.
Tübingen 1844. S. 161 ff. — Die mozarabifhe Meffe beginnt ähnlich der unf-
rigen mit dem Staffelgebete, darauf folgt der Introitus, das „Gloria in excelsis“
(legteres jedoch nicht immer); die Dration des Tages, die Prophetie, d. 1. Le—
fung aus dem alten Teftamente, das Pfallendum, unferm Grabuale ähnlich, die
Epiftel und das Evangelium, — nad diefem die Zubereitung und Darbringung
der Gaben, die aber noch nicht als eigentliche Dpferung zu betrachten ift und der
vor Alters die Ratechumenen noch beimohnen durften. — Für die Oläubigenmeffe
(ſ. d. A.) ift folgende Ordnung: eine Dration, „Missa“ genannt, die nach dem
Zeiten und Feften wechfelt; eine andere Dration, die Commemopration der Hei-
ligen und Abgeſtorbenen; die „Oratio post nomina“; die „Oratio ad pacem“ mit
dem Friedensfuß; die Präfation unter dem Namen „Ilatio“, mit dem Trifagion
——— — —
ee re
endend; die Dration „Post sanctus“; die Conferration und Elevativn und während %
der legtern das „Post pridie“, ein Gebet, welches dem Schlußgebete unferes
Canon nicht unähnlich iſt; das Symbolum, die Brechung der Hoftie in neun
Theile, von denen jeder den Namen eines Geheimniffes des Glaubens bekommt,
(. den Art, Brodbrehung); Memento der Lebenden, befonders der Anwefen-
den; das Vater unferz Vermifchung des neunten Partifels mit dem hl. Blute;
Segnung des Volkes; Communion mit Gefang und Gebet, Danffagung; Schluß-
anfündigung und feierliche Segnung mit den Worten: „In unitate sanoti Spiritus
benedicat vos Pater et Filius, Amen.“ — 4) Die galliſchen Liturgien, Hier
Liturgif. 555
begegnet und zuerft das „Missale Gothicum“, von Mabillon „Gothico-Gallicanum“
genannt, welches ohne Zweifel vor den Zeiten der Carolinger im narbonenfifchen
Gallien gebraudt wurde. Sein Charafter beurfundet den orientalifchen Urfprung,
wie ja auch die erfien Glaubensprediger und Bifhöfe Galliens, die hl. Trophi—
mus, Crescentius, Pothinus, Irenaͤus und Saturninus vom Morgenlande ge—
fommen find. Das zweite Denkmal, das „Missale Gallicanum vetus“, wie Tho—
mafius und Mabillon es betitelten, ftimmt gleich dem erflern der Hauptfache nach
mit den Liturgien des Drients überein. Zwei andere Liturgifche Urkunden, das
„Missale Francorum“ und das „Sacramentarium Gallicanum“, ftellen nicht mehr
den älteften gallicanifchen Ritus dar und find deßhalb minder wichtig. Beide ge-
bören wahrfcheinlich der Periode des Ueberganges von der urfprünglichen Liturgie
zur römifchen; jenes, meint Lebrun, fei zwifchen 768 und 771 verfaßt; dieſes,
von Mabillon im Kloſter Bobbip in der Lombardei gefunden, fcheint älter zu fein;
wo es im Gebrauche gewefen, bleibt unentfchieden. Von großem Werthe für die
Kenntnif der gallifchen Meſſe ift die Erpofition des HI. Germanus (ſ. d. A.), der im
3 555 Bifchof zu Paris wurde, Man fand fie im Klofter St. Martin zu Autun,
wo Germanus 533 zum Diacon und 536 zum Prieſter geweiht worden war,
Ed, Martene und Urfin Durand haben fie im „Thesaurus Anectodorum‘“ Tom. V.
veröffentlicht, — Einen unfhägbaren Beitrag zur Kenntnif der Liturgie des alten
Oalliens verdankt die Firchliche Literatur dem gelehrten Archivdirector Fr. 5,
Mone zu Carlsruhe. Es find diefes eilf Mekformularien aus einem referibirten
Eoder des ehemaligen Klofters Reichenau. Obgleich nur Bruchſtücke und nur die
veränderlichen Gebete enthaltend, gewähren fie doch ein getreues Bild des älteften
Gpttesdienftes im füdlihen Franfreih. Sie erſchienen unter dem Titel: „Latei-
nifche und griechifche Meffen aus dem zweiten bis fechsten Jahrhundert.“ Frank-
furt a. M. 1850, Der Herausgeber hat ihnen werthvolle Abhandlungen bei—
gegeben über die gallicanifche, africanifche und römiſche Meffe u. ſ. w. Wenn er
auch, wie Dr. Denzinger in der Tübinger Quartalſchrift, 1850. 3. 9. ©. 500 ff.
darzuthun unternommen hat, das Alter der Formularien zu hoch anfegt und mit feinen
Beweiſen nicht immer durchdringt, fo find diefe Meffen doch älter, als die bisher
edirten Monumente der alten gallifchen Liturgie. — Ueber die Liturgie der gallifchen
Kirchen f. „Missale Gothicum, Francorum et Gallicanum vetus.“ Cura et studio Jos. Mar,
Thomasii. Romae 1680. — „De liturgia Gallicana.‘“ Opera J. Mabillon. Paris. 1279.
Deffen „Museum Italicum.“ Tom. I. p. 278 sq. Lutetiae Parisiorum, 1724. [Röffing.]
Liturgif — seientia liturgica — ift die Darftellung der Liturgie einer
xeligiöfen Gemeinfhaft. Auf Fatholifhem Gebiete ift demnach Liturgif die
Erpfition des Fatholifchen Cultus feinem ganzen Umfange nah, Sie bat die
Aufgabe, darzuftellen, wie die Liturgie der Kirche geftaltet ift und geftaltet fein
und durch den Priefter und die Gemeinde ausgeführt werden muß, um ihrem
Ziel und Geifte wirkfich zu entfprechen. Die Liturgif, als eine wiffenfhaft-
lie Darftellung des Eultus, unterfcheidet fih von der bloßen populären Aus-
legung des Gottesdienſtes und feiner einzelnen Theile; fie geht von beflimmten
Prineipien aus, faßt das Ganze in ein geordnetes Syſtem, erponirt, prüft und
beleuchtet die einzelnen Beftandtheile der Gottesdienftordnung nach ihrem gefchicht-
lichen , dogmatifchen, facrramentalen, fombolifchen und äfthetifhen Gehalte. Bon
der Archäologie unterſcheidet fich die Liturgif, indem bei jener das gefchichtliche
Moment Zwed iſt. — Die Liturgif zerfällt in einen allgemeinen und befon-
dern Theil, Die allgemeine Liturgif hat zu ihrem Objecte zunächſt die all-
gemeinen Titurgifchen Prineipien; fie entwickelt die eonflitutiven und Teitenden
Grundfäge über Begriff, Zwed, Nothwendigfeit, Wefen und Form des Eultus;
fie behandelt dann in ihrer zweiten Abtheilung die Grundlagen, Formen und
Thätigfeitem des Eultus, die den einzelnen Ganzen deffelben gemeinfam find, wie
Dpfer, Sarrament, Segnung und Weihung, — Gebet, Gefang und
556 Liturgik.
heilige Muſik, Predigt, liturgiſcher Bibelgebrauch; — und die be—
gleitenden und dienenden, außerweſentlichen Formen — Kniebeugung, Kreuz—
zeichen, Kirche und kirchliche Baukunſt uf. w. — Die unmittelbaren
Duellen der Liturgik find die beftehenden, von der Kirche fanctionirten und zum
firchlichen Gebrauche beftimmten Liturgifchen Bücher; die mittelbaren — bie
heilige Schrift, die Schriften der Kirchenväter, die verſchiedenen alten Liturgien,
die Coneilien und Synodalbefhlüffe, Bullen und Breven, bie Praxis ecolesiae
und befonders die Decrete der Sacra Riluum Congregatio. Die vorzüglichften
Hilfswiffenfhaften find Dogmatif und Moral, Archäologie, Kirchengefchichte,
Aefthetif, namentlich Poetik und Tonfunft, Maler-, Bildhauer- und Baufunft. —
Der Fatholifchen Liturgie ift von jeher eine vielfeitige Titerarifche Thätigfeit zu—
gewendet worden, Die hieher gehörigen Leiftungen find aber von ſehr verfchie-
dener Art, Sehr Viele befaßten fich mit der bloß einfachen populären Darftel-
lung des Cultus oder feiner einzelnen Theile, ihres Sinnes und Geiftes; Andere
fammelten die Liturgifchen Formulare und commentirten fie; die fog. Rubriciften
befaßten fih mit der Erklärung und Anweiſung über die wirkliche Befhaffenheit
und canonifche Ausführung des Eultus, Ein befonderer Fleiß wurde der geſchicht—
lichen Darftellung gewidmet, Schon in den Schriften der Kirchenväter finden fich,
jedoch meiftens beiläufig und zerfireut, fehr viele der trefflichften Notizen über
einzelne Theile des Gottesdienſtes. Namentlich gehören dahin Clemens von Nom,
Ignatius, Zuftinus M,, Irenäus, Clemens von Alerandrien, Tertullian, Cy—
prian, Bafılins, die Gregore von Nyffa und Nazianz, Chryfoftomus, Leo d. Or,
Auguftinus, Gregor d. Gr. u. A. Der erfte, der eine geordnete Beſchreibung
der wichtigften Theile der Gottesdienſtordnung herausgab, war der heilige Iſidor,
Erzbifchof von Sevilla im fiebenten Jahrhundert (De divinis s. ecelesiasticis oſſi-
eiis 1.11.). Aber eigentlich erft vom achten Jahrhundert an beginnt für liturgiſche
Bearbeitungen eine fruchtbarere Periode, Beſonders genannt zu werden verdienen
Alcnin, Rhabanus Maurus, Walafried Strabo, fpäter der Verfaſſer des Miero-
logus de ecclesiastieis observationibus; Honoring von Autun, Odo von Cambray,
Hildebert von Tours, Nupert von Deug, Hugo von St. Victor, Johannes Be—
leth, Innocenz III., Wilhelm Durandus, Albertus Magnus, Johannes de Lapide,
Gabriel Biel, Cochläus, Joh. Stephanus Durandus u, A.; fpäter befonders
Bona und Martene. Die mittelalterlihen liturgiſchen Schriften Haben das
mit einander gemein, daß fie der hiftorifchen Kritif entbehren und bie myftifche
Auslegungsweife vorwalten laffen. Vom 16ten Jahrhundert an wurde der ka—
tholiſchen Liturgik die thätigfte Pflege zugewendet durch die Herausgabe und Fri-
tifche Beleuchtung der alten Titurgifchen Formulare, Als Rubricifien haben
ſich befonders hervorgethan Gavantus, Merati, Lohner, Romfee, In der neuern
Zeit find eine Menge populärer Schriften über den Gottesdienſt, jedoch nur theil-
weife mit Geift und Geſchick geſchrieben, erfihienen, und bie paftoral-theologifchen
Werfe geben Anleitungen zur richtigen und würdigen Verwaltung bes Eultus,
Eine fehr ausgedehnte Verbreitung hat davon Rippels Schrift: Altertfum, Ur-
fprung und Bedeutung aller Ceremonien u, |. w. Augsburg und Freiburg 1764,
ganz neu bearbeitet von Himioben unter dem Titel: die Schönheit der kathol.
Kirche u. ſ. w. Mainz 1841, erhalten, Durch Geiſt und Auffaſſung ausgezeichnet
find Staudenmaiers Geiſt des Chriſtenthums u. ſ. w. Mainz 1835, und
Wiſemann's Vorträge über die in der päpftlichen Capelle übliche Liturgie ber
ſtillen Woche (aus dem Engl. von J. M. Aringer, Augsburg 1840); Cha—
teaubriand, die Schönheiten des Chriftentfums oder Religion und 55
t
der Katholiken (aus d. Franz. Münden 1828), und Sailer, Geiſt und Kraft
der Fatholifchen Liturgie, Münden 1820, fowie deffen Beiträge zur Bildung des
Geiftlichen, ebendaf. 1820, — Den erften Verſuch einer wiſſenſchaftlichen
Darftellung der gefammten katholiſchen Liturgie, alfo den erfien Verſuch einer
Liturgifhe Büher — Llorente, 557
eigentlichen Liturgif machte 5. Lav. Schmid in feiner Liturgif der chriſtkatho—
liſchen Religion, Paffau 1832 ımd 1833, Iſt diefer Verfuh auch nicht ganz ge—
lungen, fo verdient der Berfaffer bei dem Gedanfen, daß es eben der erfte Ber-
ſuch ift, doch ehrende Anerfennung. Befonders fehlte bis jest noch immer die
allgemeine Liturgif, die, gleichfalls als ein Berfuh, von 3. B. Luft in
zwei Bänden 1344—1847 erſchienen ift unter dem Titel: Liturgif oder wiffen-
ſchaftliche Darftellung des f. Eultus, Mainz. Köſſing's BVorlefungen über die
hl. Meile (Billingen 1843) verdienen no befonders ehrend erwähnt zu wer-
den. — u der legten Hälfte des vorigen und im Anfange diefes Jahrhunderts
traten, der flachen moralifirenden Richtung ihrer Schule folgend, einzelne katho—
liſche Shhriftfteller gegen den beftehenden Fath, Cultus auf. Als die beveutendften
müffen Werfmeifter (über die Meß- und Abendmahlsanftalten in der kath.
Hpfeapelle zu Stuttgart, 1787, und defjelben Beiträge zur VBerbefferung der
Fath. Liturgie in Deutfhland, Um 1789), und Winter (kiturgie, was
fie fein fol u. f. w. Münden 1808; die Theorie der öffentlichen Gottesverehrung,
Münden 1809, und: Erftes teutfches kritiſches Meßbuch, Münden 1810) be-
zeichnet werden. Wäre es den Männern jener Richtung gelungen, den Prin-
eipien ihrer flachen Lichtmacherei auf dem Gebiete des Cultus wirflih Geltung
zu verfchaffen, er würde aller Sarramentlichfeit und heiligen Myftif, alles Geiftes
und aller Salbung, aller höhern Weihe und Göttlichkeit entfleidet worden fein.
Diefe Richtung hat die Liturgif Tängft bewältigt und überwunden. Indeſſen ift
dem Studium und der wiffenfhaftlihen Bearbeitung der Liturgif und ihrer
einzelnen Theile immer noch nicht die ganze gebührende Thätigfeit zugewenvet
worden, [£uft.]
2iturgifche Bücher, f. Ceremoniale, Kirchenbücher und Liturgiem,
2iturgifche Sprache, f. Kirchenſprache.
Sintprand von Cremona, f. Luitprand,
Zivin, der heilige, f. Lebuin.
2ivland, f. Liefland.
Llorente (ſprich: Liorente), Johann Anton, ward aus einer adeligen Familie
Aragoniens am 30. März 1756 geboren, ftudirte das weltliche und canoniſche
Recht zu Zaragoza, wurde 1779 Priefter der Didcefe Ealahorra und Doctor des
canoniſchen Rechts zu Valencia. Schon damals gehörte er zu den fogenannten
aufgeklärten Prieftern, und da die fpanifche Regierung eben diefe Richtung be-
günftigte, fo eröffnete fih ihm fihnell die Bahn der bürgerlihen und Firchlichen -
Ehren. Schon zwei Jahre nach feiner Priefterweihe ward er zu Madriv Advocat
bei dem Hohen Rath von Laftilien und Mitglied der Academie zum HI. Iſidor,
welche fih nach Vertreibung der Jeſuiten gebildet und von Anfang an dem Jan—
fenismus gehuldigt Hat. Im folgenden Jahre 1782 wurde Llorente, obgleich erft
26 Jahre alt, Generalvicar des Bistums Calahorra, und fol im 5. 1784 nad
feinem eigenen Geftändnig durch Verbindung mit einem unterrichteten Manne,
von den Testen Reften des ultramontanen Sauerteig fih vollends gereinigt
haben. Nach feinen eigenen Worten ift Faum ein Zweifel, daß er damals mit
Freimaurern (f. d. A.) in Verbindung gefommen fei. Seine Fortfchritte in der
neuen Richtung bewirkten aber, daß er jegt von dem Könige auch zum Domherru
von Calahorra, von dem aufgeflärten Minifter Graf Florivablanca zum Mitglied
der neuen Academie für Gefhichte, von dem Großinquifitor (Auguftin Rubin de.
Cevallos, Bifchof von Jaen) aber zum Generalfecretär des Tribunals zu Madrid
ernannt wurde (1789). Die Stelle eines Inquifitionsfecretärs befleidete er big
1791, wo er aus der Hauptfladt verbannt und in fein Canonicat nad Calahorra
gewiefen wurbe; aber von dem aufgeflärten Großinguifitor Manuel Abad y Ia
Sierra 1793 wieder berbeigerufen, arbeitete er mit diefem, und nah feinem
I Sturze mit dem Minifter Jovellanos, der Gräfin Montijo u. A, an der Herbei-
558 Llorente.
führung einer kirchlich- und politiſch-liberalen Umgeſtaltung Spaniens. Durch
aufgefangene Briefe compromittirt, wurde Llorente, obgleich er ſchon auf dem
Verzeichniß der Candidaten für ein Bisthum ſtand, verhaftei, ſeiner Stelle bei
der Inquiſition entſetzt und zu einer einmonatlichen Bußübung in einem Kloſter
verurtheilt. Die Ungnade dauerte bis 1805, wo der berüchtigte Friedensfürſt,
der ſpaniſche Miniſter Godoy, den baskiſchen Provinzen ihre Freiheiten (fuéros)
zu rauben und fie feinem Deſpotismus zu unterwerfen beſchloß. Damit das Werk
der Tyrannei leichter gelinge, follte die Gewaltthat von einer fogenannten wiffen-
fhaftlihen Begründung begleitet und gerechtfertigt werden, und Godoy warf
biezu feine Augen auf Llorente, der jeßt nah Madrid berufen und ſchnell zum
Domherrn an der Primatialfirhe von Toledo, zum Scholafticus des Erzftifts,
Kanzler der Univerfität und Ritter des Ordens Carl's II. erhoben wurde, weil
er in einem breibändigen Werfe Noticias historicas sobre las tres provincias bas-
congados (Madrid 1806) die Freiheiten der genannten Provinzen beftritten hatte,
Der freifinnige Llorente Hatte fih als Werkzeug des Defpotismug gebrauchen
laffen, und wurde nun dafür, den beraubten Provinzen zum Hohne, zum Mit-
glied ver patriotiſchen Gefellfchaft der basfifhen Provinzen ernannt. —
Bekannt ift, wie Napoleon am 10. Mai 1808 den König Ferdinand VII. von
Spanien zu Bayonne zur Abdanfung zwang, um den fpanifchen Thron feinem
Bruder Joſeph geben zu können. Muthig erhoben fih die fpanifchen Patrivten
gegen den aufgebrungenen Fremdling, aber e8 gab auch eine Partei, welche, der
Nationalehre vergeffend, fih an den frangöfifchen Zwingherrn verfaufte, und zu
diefer gehörte Llorente. Die geiftlihen Drden wurden jetzt unterdrüdt, bie
Klöfter ihrer Güter beraubt, und der Priefter Lorente übernahm den ſchönen
Auftrag, das Kloſteraufhebungsdecret in Vollzug zu fegen, einen Naubzug durch
Spanien zu machen und das feeularifirte Gut zu verwalten, wobei mancher Edel-
flein von Rirchenparamenten in feine Privatcaffe gefallen fein fol, Er zeigte
ſolche Tüchtigfeit im Confiseiren, daß er bald zum Generaldirector der foge-
nannten Nationalgüter erhoben ward, mit welchem Titel man das eonfigeirte
Eigenthum der Patrivten belegte, Einer Unterfhlagung von 11 Millionen Realen
angeflagt, verlor er dieß Amt nach einiger Zeit wieder, erhielt dagegen, da feine
Schuld nicht erwiefen wurde, das Amt eines Generalcommiffärd der Kreuzbulle
(ſ. 9. U), durch welche einft die Papfte den fpanifchen Königen befondere Ein-
fünfte zum Zwere der Maurenfriege geftattet hatten, Der Zweck war ver-
ſchwunden, aber die Abgabe geblieben. Bon 1809 an beihäftigte ſich Llorente
auf Befehl des Königs Joſeph neben Abfaffung verſchiedener franzöfifirender
Flugſchriften hauptſächlich mit Bearbeitung feiner Geſchichte der Jnquifition,
wofür er mit mehreren Gehilfen Documente fammelte, Diefe Arbeit nahm er
mit, als er nach dem Sturze der. Jofefinos aus Spanien als Hochverräther ver-
bannt, im J. 1814 fih nad Paris begab. Hier edirte er nun feine berühmte
Histoire critique de YInquisition d’Espagne in 4 Octavbänden, die er felbft ſpaniſch
nievderfihrieb und Alexis Pellier (1817—18) unter feinen Augen in's Fran-
zöfifche überfegte Cteutfch von J. K. Höck, Gmünd 1819 ff. in 4 Octavb.). Die
bifchöfliche Behörde von Paris unterfagte ihm wegen diefes Buchs das Recht,
Beicht zu hören und Meffe zu Iefen, und als er nun durch Privatunterricht in
der fpanifchen Sprache ſich ernähren wollte, verbot ihm die königl. Univerfität
auch den Unterricht in Privaterziehungsanftalten, fo daß er jetzt theils von der
Fever, theils von der Unterflügung der Parifer Freimaurerlogen zu leben ges
nöthigt war. Obgleich feit 1820 mit den andern Verbannten amneftirt, blieb er |
dennoch in Paris, überfegte in dieſer Zeit die unfittlichen Aventures de Faublas
und gab feine nicht minder verwerflichen Portraits politiques des Papes im 3. 1822
heraus, Letztere Schrift veranlaßte die franzöfifche Regierung in December 1822
zu feiner Verweifung aus Frankreich. Kaum in Madrid wieder angefommen, ſtarb
re
J
Loayſa — Loblied. 559
er daſelbſt am 5. Febr. 1823. — Ein hervorſtechender Zug in Llorente's Schrift-
flelferei ift feine ungewöhnliche Bitterfeit gegen die Kirche, welde feiner Feder
eine Reihe von Unwahrheiten und Unrichtigfeiten entlodte. Wie unter feiner
Hand die Gefchichte zum Zerrbilde wird, mag das zeigen, was er in feiner In—
quifitionsgefhichte CT. I. p: 26) über die Kreuzzüge fhreibt: „Diefer Krieg (der
erfte Kreuzzug), fagt er, und die andern Erpeditionen der nämlihen Art, die
daranf folgten, würden Europadurd ihre Ungerechtigkeit empört haben,
wenn nicht den Völkern ſchon die widerfinnige Idee beigebracht gewefen wäre,
daß zur Verherrlihung und Ehre des Chriſtenthums das Kriegführen erlaubt
ſei.“ Sch möchte fragen, wo noch eine zweite Feder fei, die fo zu fchreiben ſich
nicht fhämen würde? In feinem Werfe über die Päpfte (Portraits etc.) nennt er
Papft Gregor dv. ©, (I. p. 166) den „feilften Schmeichler“, Gregor VII. aber
„Das größte Monftrum, welches der Ehrgeiz zu erfchaffen vermochte, die Ur-
fahe von taufend Kriegen und Mordthaten, einen Menjhen, der mehr Unheil
geftiftet, als irgend ein anderer in der ganzen Geſchichte.“ Rom ift dem Llorente
le centre des intrigues, und die Gefchichte, meint er, werde den europäiſchen
Monarchen die Wiederberftellung des Kirchenſtaats niemals verzeihen. Erfennen
wir hieraus den höchſt unfirchlichen Sinn Llorente's, fo zeigt und Anderes feine
Ungenauigfeit und Leichtfertigfeit als Hiftorifer, Mit der Wahrheit nimmt er es
gar nicht genau. In den Portraits des Papes (I. 66) berichtet er ung, daß Paul
von Samoſata in die Irrlehre des Sabellius verfallen fei, eine Angabe, deren
lächerliche Thorheit jeder Anfänger in der Kirchengeſchichte Hinlänglich begreift.
An einer andern Stelle erfehen wir, daß Zuftin ſchon vor Ignatius von Antiochien
feine Bücher gefchrieben habe, daß Apollonius von Tyana ein Häretifer gewefen
fein. |. f. An ähnlichen Fehlern iſt auch feine Znquifitionsgefhichte reich: Gregor VII.
muß bier 3.3. (1. 23) mit 8, Heinrich IH. in Kampf gerathen, die pfeudoifi-
dorifchen Deeretalen werden ſchon im achten Jahrhundert verfaßt ꝛc. Was aber
deßungeachtet diefem Werfe große Bedeutung gibt, find die ungemein vielen Aus—
züge aus den Driginalurfunden der Inquifition, und gerade diefe festen ung in
Stand, ein richtigeres Urtheil über die fpanifche Inquifition zu gewinnen, als big-
ber gewöhnlich war (ſ. d. Art. In quiſition). Llorente hat nach feiner ganzen
Geiftesrichtung jene Arten, welche die Inquifition am meiften anflagen Fönnten,
gewiß nicht unterfchlagen, er ftrebte vielmehr, gerade die famofeften Proceffe ur-
kundlich mitzutheilen. Und doch laſſen alle von ihm mitgetheilten Urkunden,
Statuten u. dgl. die Inquifition in einem befferen Lichte erfcheinen, als ihm felbft,
feinen beigegebenen einfeitigen Reflexionen gemäß, lieb gewefen ift. — Näheres
über Lorente und feine vielfältigen Unwahrheiten gerade in der Inquiſitions-
geſchichte findet fich in meiner Schrift über den Cardinal Ximenes, ©. 257 ff.
Eine Biographie Llorente's lieferten feine Freunde Mahul und Laujuinais in
der Revue encyclopedique (1823), überfegt im Katholifen, 1824. Bd. XII.
S. 1-35. [Hefele.]
2vayfa, f. Garcia,
Loblied der drei JZünglinge im Feuerofen. Das dritte Capitel im
Buche Daniel bat in der alerandrinifchen Neberfegung und der Iateinifchen Vul—
gata Hinter V. 23. einen ziemlich großen Abfchnitt, der im chaldäiſchen Urterte
fehlt. Seinem In halt nach fohließt er fich fehr gut an das Vorausgehende an,
Nachdem nämlich berichtet worden, daß Nebucadnezar die drei jüdifchen Jüng-
Iinge, die zugleich mit Daniel an feinem Hofe erzogen worden waren (f. Daniel),
in einen brennenden Feuerofen habe werfen laffen, wird gejagt, ein Engel des
Herrn babe ſich denfelben beigefellt und fie mitten im Feuer unverfehrt erhalten,
‚zugleich wird ein Gebet mitgetheilt, in welchem Afaria die Strafe des Erils zwar
als eine wohlverdiente anerkennt, aber do um Gnade und Erbarmen für bie
zerfirenten und verfolgten Sfraeliten fleht, und ein Lobgeſang, den alle drei aus
560 | Loblied
Freude über ihre wunderbare Erhaltung anſtimmten, und in dem ſie die ganze
Schöpfung zum Lobe Gottes aufforderten. Die Urſprache dieſes Abfchnittes ſt
allen Anzeichen nach die hebräiſche oder vielmehr die chaldäiſche, die jenen Jüng⸗
lingen nad) dem bereits langen Aufenthalt in Babylonien wohl die geläufigere
geworben fein muß. Denn für's Erfte fhimmern in dem ganzen Abſchnitte, wie
ſelbſt Eichhorn bemerkt (Einleitung in's A. T. IV. 532), hebräifche oder, was
bier im Ganzen daſſelbe ift, chaldäiſche Ausdrücke durch, zum Theil in folder
Weife, daß man die griechifchen Worte wieder hebräiſch ober chaldäiſch denken
muß, wenn man fie erläutern will, Sodann finden fih in dem Abfchnitt mehrere
Stellen, die fih wie unrichtige oder ungenaue Weberfegungen eines hebräifchen
ber haldäifchen Driginals ausnehmen, Die Babylonier z.B, werden drro-
orereı genannt (V. 34.), was unpaffend fcheint, weil fie nie den wahren Gott
verehrt hatten; denft man nun das Wort als Ueberfegung von 7772, fo ift es
zwar an fih richtig, aber in Nüdficht auf den Zufammenhang doch unrichtig
überfegt, indem 7777 allerdings „Abtrünnige”, aber auch „Harte, Graufame“
beveutet und vom Weberfeger im letzteren Sinne hätte genommen werben follem,
Sodann V. 37. erwartet man flatt zameıvoi Ev naon cn yi den Superlativ
Tarssıvoraror ; dieſer aber ift wirklich in der Stelle ausgebrückt, wenn man bie
Worte als Meberfegung etwa von aan bon 77729 denft, wobei ber Ueberſetzer
» mit 2 verwechfelt Haben mag. Ferner V. 40, ift Exzeitoas Drıodev an fi
faum verftändlich, als Ueberfegung dagegen etwa von 73 Yarın ab ober —J
>73 enyna ma ganz deutlich. Ferner V. 44. iſt bei Zvdeuzvinevor zwar aus
dem Zufammenhang deutlih, daß es „zufügen, erfahren laſſen“ bedeuten müffe,
wie es aber zu diefer Bedeutung fomme, ſieht man erft, wenn man e8 als Ueber⸗
fegung etwa von j1na ober jan (fehen Yaffen ſ. m. a. erfahren Iaffen) denkt,
wo e8 dann zwar eine richtige, aber, auf den Zufammbang gefehen, ungenaue
Meberfegung ift, Endlich kommt es vor, dag mitunter diefelben Gegenftände mehr
als einmal erwähnt und zum Lobe Gottes aufgefordert werden, wie d00008
V. 64, 68, Wixos B. 67. 69,, worüber ſchon Bertholdt mit Recht bemerkt,
daß einerlei Gegenftände nicht fchicklich zweimal nach einander zum Lobe Gottes
aufgefordert werben (Einleitung IV. 1569,), Denkt man nun ein bebräifches
oder chaldäiſches Original, wo je zum zweiten Male ein anderer aber ähnlicher
Gegenftand wie vorher mit einem Worte genannt wurde, das ber Ueberfeger
falſch oder ungenau wiedergab, fo ift alles in Ordnung. Dazu kommt noch, daß
fi im Codex Chisianus auch bei diefem Abfchnitte die Fritifhen Zeichen des Ori—
genes finden (of. Javın) zara« reg Eßdounzovre. E Codice Chisiano et secun-
dum versionem syriaco-hexaplarem recognovit etc. H. A. Hahn. Lips. 1845.),
welde nur in Hinficht auf einen hebräifchen oder chaldäiſchen Urtert hinzu fommen
konnten. Iſt aber der Abfchnitt urfprünglich hebräiſch oder chaldäiſch gefchrieben
worden, fo Fann die Frage nach feinem Verfaffer feine große Schwierigkeit
mehr haben. Der Abfchnitt will als ein Werk deffelben Verfaffers gelten, wie
das Buch felbft, in dem er vorkommt, alfo des Propheten Daniel, und die Gründe,
die man dagegen vorgebracht, haben Feine genügende Beweiskraft. Man bat
nämlich gefagt, der Tempel und Tempeldienft werde als beftehend vorausgefegt
(V. 53, 55. 84. 85.), das Prophetenthum aber habe aufgehört (V. 38.), die
führe fchon in Die nachexiliſche Zeit; in Uebereinſtimmung damit beziehen fich die
Verſe 33 und 38 auf die Neligionsbedrüdungen unter Antiochus Epiphanes, und
vom Berfaffer des Buches Daniel felbft könne der Abſchnitt jedenfalls nicht her-
rühren, weil er bie drei Jünglinge mit ihren hebräiſchen Namen nenne, während
fie im chaldäiſchen Text haldäifhe Namen erhalten, Allein daß Gott preiswürdig
genannt wird in dem Tempel feiner heiligen Majeftät und fisend auf den Cheru-
bim (V. 53, 55.), und die Priefter zu feiner Lobpreifung aufgefordert werben.
—
* * u Be
ee ae
Lobfied, 561
AB. 84 f.), beweist fo wenig etwas für das wirkliche Beftehen des Tempels und
regelmäßigen Opferdienftes, als z. B. die Bemerkung des Jeremias, daß nad
der Zerfiörung des Tempels Leute aus Sihem, Silo und Samarien nad
Serufalem gefommen feien, um Opfer darzubringen im Haufe Jehova's
(Serem. 41, 5.);5 zudem zeigt V. 38. deutlich, daß der regelmäßige Opferdienſt
nicht befieht, und was dießfalls gefagt wird, paßt vollfommen auf die Zeit des
Erils und führt nicht über daffelbe herab, Sodann die Bemerfung, daß Fein
Prophet vorhanden fei, kann Teichtlich den Sinn haben, daß den Propheten feine
Dffenbarungen zu Theil werden (vgl. Klagl. 2, 9.), denn wenn dieſes der Fall
war, waren fie fo viel wie nicht vorhanden, oder es kann damit auch bloß gefagt
werden wollen, daß ihre ordentliche regelmäßige Wirkfamfeit aufgehört habe,
Beides konnte von den Gefährten Danield zu Babylon gefagt werden, zumal
wenn ihnen Daniel nicht als eigentliher Prophet (8727) galt und Ezechiel ihnen
etwa unbefannt war. Damit fällt die Behauptung von felbft weg, daß die-Verfe
33 und 33 auf die Lage der Juden unter Antiohus Epiphanes fig beziehen,
Die hebraiſchen Namen endlich der drei Zünglinge fönnen für einen befondern
Verfaſſer des Abfchnittes, verfhieden vom DVerfaffer des Buches Daniel, nichts
beweifen; denn gerade son diefem felbft Täßt ſich am eheften erwarten, daß er
natur= und fahgemäß die drei Jünglinge einander mit ihren eigenen hebräiſchen,
nicht mit ihren chaldaͤiſchen von ihren Berfolgern ihnen gegebenen Namen anreden
Taffe, Ein pofitiver Grund aber für die Urfprünglichkeit des Abfchnittes im Bude
Daniel, und fomit für feine Abfafung durch den Propheten Daniel, ift der
Umftand, daß fih nicht nur der Abfchnitt ganz natürlih an das Vorhergehende
anjchließt, fondern eben fo auch an ihn wieder der Paſſus 3, 24 ff. des chal⸗
daiſchen Tertes, der in feiner jegigen Geftalt eine ziemlich merkliche Lücke Hat,
indem 3, 24 ff. fich gerade fo ausnimmt, als ob vorher bereits über das Be-
nehmen der Zünglinge und das Hinzufommen einer vierten Perſon Aufſchluß
gegeben worden fe. — Sind wir demnach nicht befugt, den Abſchnitt dem Pro—
pheten Daniel abzufprechen, fo iſt auch die Frage nad dem Hiftorifhen Gehalt
defielben nicht mehr ſchwer zu beantworten, Die Hauptgründe, warum man dem
Abſchnitt für unhiſtoriſch erklärt Hat, Liegen theils in feinem wunderbaren In—
halte, theils in feiner vorgeblichen Unangemeffenheit zur Lage der Betenden,
Das Hauptwunder jedoch, die Erhaltung der Zünglinge im Feuerpfen, wird, ab-
gefehen von unferem Abfchnitt, auch im chaldäiſchen Texte des Buches berichtet,
und e8 gilt dießfalls die ſchon oben gemachte Bemerfüng (f. Daniel), Daß die
Junglinge mitten im Feuer beten und Gott preifen, ıft nicht einmal eitte Ver- -
Hrößerung des Wunders, vielmehr wäre es zu verwundern, wenn eine fo wunder-
bare Rettung für fie fein Antrieb zum Danf und zum Lobe Gottes gewefen wäre,
Unangemefjen aber ift ver Inhalt des Gebetes und Liedes gar nicht zur Lage der
drei Zünglinge. Wenn man behauptet, es follten fih in beiden nur Jammer,
Klage und Todesangft vernehmen laffen, fo ift das ganz verfehrt. Gerade dieſes
wäre der Lage der ünglinge ganz unangemeffen; denn wo fie fi wunderbar
erhalten und durch einen Engel gegen die Macht des Feuers geſchützt fahen,
fonnten fie feinen Grund zur Wehflage, fondern umgefehrt nur zum Danf und
Lobpreifung Gottes haben, und zu Bitten um Gottes Erbarmung nit bloß
fir fie ſelbſt, fondern auch für ihr bedrängtes Volk. Demnad liegt fein Grund
vor, den Hiftorifchen Charakter des Abſchnittes in Abrede zu fielen. — Der
Iateinifhe Tert der Bulgata rührt hier wie beim ganzen Daniel von Hieronymus
E ‚ bat aber nicht die alerandrinifche, fondern Theodotion’fche Heberfegung zur
Grundlage, aus welcher au die armenifche, und die in den Polyglotten gedrudte
yrifhe und arabifhe Ueberſetzung gefloffen if. Der alerandrinifhe Text Tiegt
bloß der hexaplariſchſyriſchen Ueberfegung zu Grunde, Vgl. Herbft, Einleitung
ms A. T. Thl. II. Abth, 3, S, 239—245. Welte.]
Kirchenlexikon. 6. Bd. 36
562 Lobreden — Loci theologici.
Lobreden, ald Cafualreden (ſ. d. A), werden zur Verherrlichung Gottes
und zur Verehrung der Heiligen gehalten; ihr Zweck ift zunächſt die Verehrung
eines Heiligen zu befördern und nüglich zu machen, und dadurch Gott felbft zu
verherrfichen und zu preifen. Sie fünnen gehalten werben: a) Bei einer Canpni-
fation, einer Selig- oder Heiligfprechung eines Menſchen. b) Bei Mebertragung
ober Ausfegung eines heiligen Leibes oder einer großen Reliquie, oder fogenann-
ter Heiligthümer, c) Am Feſttage eines Patrons einer Kirche, unter deſſen Schug
das Gotteshaus bei der hl. Weihe empfohlen wurde, und von dem daſſelbe den
Titel hat; diefe Reden heißen auch Patrpeiniumspredigten. d) Am Fefte des
Patrons, oder am Schußfefte einer Bruderſchaft oder Congregation oder Sodali—
tät. — Gegenftand diefer verfchiedenen Predigten kann fein entweder das Leben
des betreffenden Heiligen, oder fein Gefammtcharafter, oder eine einzelne Tugend,
welche in feinem Leben befonders hervorragend ift, oder die Abficht, welche feinem
Leben und Wirken zu Örunde lag, oder die Reliquie, die in der Kirche aufgeftellte
Statue oder das Bild des Heiligen, weldes dann in der Rede erflärt wird, oder
eine religiös-moraliſche Wahrheit, welche fih in feinem Leben ausfpricht u, f. w.
Die Lebensſchickſale und Handlungen, Beftrebungen, Abfichten, Die Denf-, Ge-
finnungs- und Handlungsweife des Heiligen bieten dann ben weitern Stoff zur
Ausführung des gewählten Thema’s, fo daß fie palfend vertheilt, den Inhalt der
Predigt erläutern, begründen oder motiviren; anzufchließen find dann die fi
aus dem Leben des beftimmten Heiligen ergebenden practifhen Anwendungen
auf die Gemeinde, wobei auf die in ihrem Gefühle mehr aufgeregte Stimmung
derfelben Rüdficht genommen werden dürfte, Den Schluß fann das Lob Gottes
bilden, der fich in feinem Heiligen verherrlicht. Styl und Vortrag feien lebhaft
und tbeilweife feierlich und ergreifend, Was fonft noch zu beachten kömmt, ſiehe
in dem Art, Feftpredigten, [Schauberger.]
Loca pia, f. Causae piae.
Loeci theologiei — find ein Erzeugniß der Tutherifchen Reformation.
Das Prineip diefer Reformation ift befanntlih vollfommener Subjectivismus
Jeder macht fich feine Religion zurecht, wie e$ ihm zufagt und wie es gehen mag.
Wird in der Kirhe das Wirfliche als wirklich angenommen, geglaubt, weil es
wirklich ift, fo wird bei den im 16, Jahrhundert Neformirten für wirklich ge—
alten, was man glaubt; man glaubt, folglih muß, was man glaubt, wahr fein,
as Gott fei, was er gethan, wie er ſich geoffenbart Habe, ift ganz gleichgültig,
an diefer Objectivität iſt Nichts gelegen; unfer Verhältniß zu Gott, unfere Re—
ligion und Neligiofität, beſtimmt fich nicht darnach, fondern lediglich nach unfern
BDedürfniffen, nach dem Bedürfniß eines jeden Einzelnen, Damit ift von feldft
gegeben, daß die Theologie aufhöre, Syftem zu fein. Das Syflematifche, srga-
niſch Wiffenfchaftliche ver Theologie beruht wefentlich auf der Wirflichfeit Gottes
und der Objeetivität der göttlichen Offenbarung. Iſt Gott an fih wirklich, d 6,
wirklich ohne unfer Zuthun, und hat er fich wirklich, in wirklichen Werfen und
Thaten, alſo objectiv, genffenbart; iſt es demgemäß nicht in unfer Belieben ge-
ſtellt, unſer Verhältniß zu Gott zu beflimmen, ift dieſes vielmehr durch Die Ob—
jeetivität, durch das, was wirffich ift, beſtimmt: fo iſt ein objectives Syſtem vorhan⸗
den, die Wirklichkeit als folche ift Syftem; und folglich ift die Thenlogie, als Er-
kenntniß diefer Wirklichkeit, wefentlih Wiffenfchaft d, 1, ein Organismus von Begrif-
fen. Das ift der Grund, warum die Fatholifche, die auf die riftlihe Offenbarung
gegründete Thenlogie Wiffenfchaft, Syftem, Scholaftif geworden ift, Im Gegenfaße
biezu Fennt der Proteftantismus „Fein ewiges ©efeg in der Vergangenheit, bat alfo
auch Fein Bedürfniß, jene nach der Gegenwart zu deuten“ z wovon ausgegangen wirb
und was allein Befriedigung fucht, ift das fubjective religidfe Bedürfniß ; und worin
biefe Befriedigung gefunden wird, ift das ebenfo ſubjective, das unmittelbare religiöfe
Bewußtſein. Diefes „unmittelbare religidfe Bewußtfein herrſchte bis zur Ahnung
Loci theologici. 563
por, daß nur, was in demſelben als nothwendig nahgemwiefen werden
Könne, religiöfe Wahrheit fei“ (Haſe, Hulterus redivivus S, 38), Dem-
gemäß werden einzelne Puncte, wie fie fih zufällig anbieten oder Intereffe bieten,
vorgenommen, betrachtet, erörtert, begründet — 3. B. das Bewußtfein der
Sünde, der Erlöfungsbedürftigfeit ze. und die Behandlung folder einzelner Puncte
— der Eine wird diefe, der Andere jene intereffant finden und vornehmen, je nach
dem religiöfen Bewußtfein, welches Jedem zu Theil geworden —, ſolche Be—
handlung alfo einzelner Puncte ift dann Die Theologie. Folglich ift die Theologie
nicht mehr Syftem, nicht ein einheitliches Ganzes, fondern Erörterung, Neflerion
über einzelne religidfe Gegenftände, die Beſprechung einzelner Fächer, Diefe
erſcheinen mithin als Derter, loci, bei welchen der reflectirende Theologe ver-
weilt. Folglich find an die Stelle der alten hriftlichen fyftematifchen Theologie
loci theologici, einzelne theologiſche Tractate, getreten. — Der Erfte, bei welchem
das vorgelegte Bewußtfein ausgeprägte Geftalt und volle Klarheit empfing, if
Melanchthon. Wozu, fagt diefer Gottesmann, foll es gut fein, zu fragen, was
Gott fei, was von der Einheit und Dreifaltigkeit Gottes zu halten, welche Be—
wandtniß e8 habe mit der Schöpfung, der Menfhwerbung u. dgl. (Proinde non
est, cur multum operae ponamus in locis illis supremis, de Deo, de unitate, de
frinitate Dei, de mysterio creationis, de modo incarnationis). Was ein Chrift
fennen muß, ift die vis peccati, lex, gratia — und was etwa fonft noch dem Me-
lanchthon ald wichtig erfcheinen mag. Daber ift Melanchthon der erfte Verfaffer
son loci theologici. Er hat fie indeffen nicht loci theologiei, fondern loci com-
munes genannt, um anzudeuten, es handle fih nicht fowohl um Erkenntniß Gottes,
als um Erplication fogenannter religiöfer Gefühle; und hypotyposes theologicae,
um zu erfennen zu geben, feine Schrift foll Gott und der objectiven göttlichen
Dffenbarung gegenüber diefelbe Stellung einnehmen, als des Sertus Empiricug
berühmte hypotyposes Pyrrhoniae gegenüber der Natur und deren Erfenntniß,
der Philoſophie. Sei die Wirklichkeit was fie wolle, das Subject ſtellt ſich ihr
ffeptifch gegenüber und anerfennt als wirklich eben nur, was ihm beliebt, nur ſich
ſelbſt. Wenn Melauchthon fpäter Mehreres in feine loci theologici aufgenommen
bat, was in der erften Auflage ausgefchloffen war, unter Anderm auch die Lehre
von Gott, fo hat ihn das nicht, wie man behauptet hat, in Widerfpruch mit ſich
felöft gebracht, fondern den Beweis geliefert, fein „unmittelbares religiöfes Be—⸗
wußtfein“ habe fpäter mehr enthalten als früher. — Die faft göttliche Auctorität,
deren Melanchthon fich erfreute, mag der Grund fein, daß fehr viele Proteftanten
bis ins 17, Jahrhundert hinein ihre theologifchen Lucubrationen loci theologici
genannt haben: Musculus, Strigel, Chemnis, Gerhard, Hutter, Hafenreffer,
Makowsky u, f. w. — Nur um den direrten Gegenfag auszubrüden, hat Joh,
Eck feine gegen Melanchthons loci gerichtete Schrift (1525) enchiridion locorum
communium genannt, Die fpätern loci theologici des Melchior Canus haben
mit den Schriften Melanchthons und Ecks Nichts gemein; fie find nicht eine
Dogmatik, fondern eine Einleitung in die Dogmatik (f. d. Art. Bd, I. ©. 316 ff.)
Außerdem befigen wir dann freilich mehrere Schriften von Fatholifchen Theologen
aus jener und der fpätern Zeit, welche mehr oder weniger den Charafter von loci
theologici an fich tragen. Es find dieß die Eontroversfäriften, alfo Schriften, welche
proteftantifchen locis theologicis entgegengefegt find. Sp z. B. die Controverfen
Bellarmins, Die Fatholifche Dogmatik als ſolche aber ift nie eine Sammlung von loci
theologiei geworben, fondern, wie billig, immer ein fyftematifches Ganzes geblieben,
Allerdings gibt es dogmatifche Lehrbücher, welche beinahe ausfehen wie loci theolo-
gici, ſo 3. B. die praelectiones von Perrone, welche als Sammlung einzelner theo—
Ingifcher Trartate erfcheinen ; allein näher angefehen verläugnen fie denn doch nicht,
- Wollen ohnehin nicht verläugnen den organifhen Zufammenhang der einzelnen
amd in einzelnen Tractaten behandelten Materien, [Mattes.]
36 *
564 Locke.
Locke, John, einer der ſcharfſinnigſten und berühmteſten Philoſophen Eng-
lands, war geboren zu Wrington 1632, unweit Briſtol; ſtudirte auf der Uni—
verfität zu Oxford, wo er jedoch ber ſcholaſtiſchen Philoſophie wenig Geſchmack
abgewinnen konnte. Erſt die Lectüre der Schriften des Cartefius flößte feinem
Geifte wieder Liebe zur Philofophie ein. Er wurde im Jahre 1658 Magifterz
widmete fih ferner der Mediein und dieß mit glänzendem Erfolg, fo daß felbft
Sydenham feine Kenntniffe in derfelben als bedeutend anerfannte. Doch ward
er wegen feiner fhwächlichen Gefundheit Fein practifcher Arzt, Er machte eine
Reife nach Teutfchland und Franfreih, Seinen Kenntniffen aus der Anatomie,
Chemie und Naturgefhichte verdankte er feine Bekanntſchaft mit Lord Ashley,
nachmals Grafen von Shaftesbury. ALS diefer Großkanzler (1672) geworden,
gab er ihm eine einträgliche Gefchäftsftelle, und nachdem derfelbe als erfter Minifter
in Ungnade fiel, fo ward auch er entlaffen und folgte dem Verbannten nad Am—
ſterdam (1682). Dort hielt er fich verborgen, um den Verfolgungen der Hof-
partei zu entgehen, Nach dem Tode des Grafen blieb Lore no‘ ferner in
Holland, wo er auch mit Limborch und Te Elere in freundfchaftlichen Verkehr trat,
Der Brief über die Toleranz, welchen er urfprünglih in Tateinifcher Sprache
fohrieb, war an Limborch gerichtet. Von feinem „Verſuch über den menfhlichen
Verſtand“ gab er die erfte Probe in le Clere's Bibliotheque universelle (1688),
Doch vollftändig erſchien diefes berühmte Werf erft 1690 in London, gewidmet
feinem Freunde Herbert, Die Nevolution, welche Wilhelm IN. zum Könige erhob,
machte e8 ihm möglich, wieder in fein Vaterland zurüczufehren, Er erhielt hier-
auf das Amt eines Commiffärs des Handels und der Colonien, dag er jedoch bald
wieder aufgeben mußte, da die Luft von London feiner Geſundheit nicht zuträglich
war, Er hielt fih von nun an faft befländig zu Dates in der Grafſchaft Effer
auf dem Landfige feines Freundes, des Sir Masham, auf, wo er auch 1704,
zweiundfiebenzig Jahre alt, farb, Er warb im Haufe von Masham fehr ge=
Ihäst. Lady Masham, die Toter des berühmten Cudworth, erzog felbft nach
Locke's „Gedanken über die Erziehung” *) ihren einzigen Sohn. m den legten
Jahren feines Lebens befchäftigte er fich einzig mit der Lefung der Bibel; er ver-
faßte auch Commentare über die Briefe Pauli, nämlich über den Brief an bie
Römer, Galater, Ephefer und über beide an die Corinther aber in rationaliſtiſcher
Richtung, (im VII. Vol. der Oefammtausgabe von 1824, London, unter dem
Titel: The Works of John Locke in Nine Volumes). Die Hauptquelle für feine
Lebensgefchichte fiehe: Jean le Clerc, Eloge historique de feu Mr. Locke in feiner
Bibliothöque choisie, 6 Bde, Seine Schriften zeichnen fich befonders durch Klar—
beit in der Darftellung und durch Scharffinn aus, — Wir erfehen hiernach, daß
Locke's Literarifche Arbeiten fich auf Philoſophie und Theologie bezogen, Wir
wollen zuerft feine Leiftungen in der Philoſophie würdigen. In diefer nun fpricht
er zwei Grundgedanfen aus: erftens, es gibt Feine angebornen Ideen und Grund»
fäße; zweitens, alfe unfere Erfenntniß ftammt aus der Erfahrung. Dieß ſucht
er zu beweifen in dem obbefagten Werfe: An Essay concerning Human Under-
*
standing (Verſuch betreffend das menſchliche Erkenntnißvermögen oder über den
menfchlichen Verftand) **), Diefes Werf ward aus dem Engliſchen in's Fran-
zöfifche überfegt von P. Coſte, wozu Locke ſelbſt einige erläuternde Anmerkungen
noch hinzufügte **xx). Es zerfällt in 4 Bücher, Das erſte beftreitet die Annahme,
*) Toughts on education. London 1693, teutfe von G. 5. Rudolphi, Braunſchweig 1788.
*N Ueberſetzt in's Teutfche von 9, E. Poley, Altend. 1757, Bon ZTennemann, Jena
1796. 1. Leipzig 1797. IE Thle,
*x) Essay philoso
parvenons, traduit de l’anglais par Mr. Coste sur la quatrieme edition, revue, corrigee
et augmentee par l’auteur. Amst. 1700, 4,
58 eoncernant l’entendement humain, ou Lon montre,
quelle est l’etendue de nos. connaissances certaines, et la maniere, dont nous y
Lode 565
daß ed angeborne Ideen gibt; das zweite befhäftigt fih mit bem Urſprunge der
mienſchlichen Ideen (Borftellungen); das dritte handelt von der Sprade, von
ihrem Zwecke und von der Verbindung zwifchen den Borftellungen und Worten;
das vierte endlih vom Wiffen und Meinen, d, i. von der Erkenntniß, Wahrheit
und Evidenz, von dem Umfange derfelben, von dem Fürwahrhalten, den Gründen
und Graden deffelben. Diefe Unterfuchung ift ſonach eine Fritifche, pſychologiſch⸗
philofophifche Betrachtung des Erfenntnigoermögens, Sie ift nöthig, um zu willen,
- wie weit der menfhlihe Verſtand zur Erfenntniß der Wahrheit fih erheben
fann, und wo die Grenzen feines Gebrauches find. Die Annahme der ange-
bornen Ideen befämpft Locke befonders gegen Cartefins. Seine Gründe dagegen
find: a) Die Berufung, daß gewiffe Ideen bei Allen eine Geltung haben, be-
weife noch gar nichts, fobald man aufzeigen kann, dag die Menfchen auch auf
einem andern. Wege noch zu. diefem allgemeinen Fürwahrhalten gelangen fünnen,
b) Auch iſt e8 falſch, daß es Grundfäge gebe, in welchen alle Menfchen allgemein
einftimmig wären. Dieß fünnen wir im theoretifhen Gebiete daraus erfehen,
daß felbft foldhe Säge, welche noch am erften und meiften auf allgemeine Geltung
Anſpruch machen fönnten, nicht einmal von Allen anerfannt werben. Dahin ge-
bören z. B. die Site: „Was ift, das if.“ — „Es ift unmöglich, daß ein und
daſſelbe Ding fei und nicht fei.“ Die Kinder wie die Ungebilveten wiſſen von
dieſen abftracten Principien nichts, alfo fonnen fie denfelben nicht von. Natur
eingeprägt fein. Wären gewiffe Ideen wirklich angeboren, fo müßten Alle ſchon
yon der frübeften Kindheit an davon wiffen. Denn „im Berftanden fein”, heißt
nichts anderes, als „gewußt werden.“ Daher nützt die Ausflucht gar nichts:
Sene Ideen feien wohl dem Verſtande eingeprägt, aber nur wiffe man es nicht.
Entgegnet man: Sobald die Menſchen ihre Bernunft richtig anwenden, fo kommen
aud jene angebornen allgemeinen Grundfäge ihnen fogleih zum Bewußtfein; fo
ift zu bemerken, dag Kinder viel früher ſchon mehrere Erfenniniffe gewonnen,
und auch lange Zeit ihre Vernunft gebraucht haben, ehe fie von diefen Principien
wußten. Sm Gegentheile find die erfien Erfenntniffe feine allgemeinen Säge,
fondern beziehen fih mehr auf einzelne Eindrüfe, Meint man.aber mit dem
Einwand, daß der Gebrauch der Vernunft bewirke, daß jene allgemeinen Grund»
ſatze entdeckt werben; fo bezeugt dieß gerade, daß fie nicht angeboren find. Denn
wären fie diefes, fo brauchten fie ja nicht erft durch Vernunftſchlüſſe entdeckt zu
„werden; indem man nur ſolches zu erfihließen fucht, was man bicher nicht gewußt
hat. — Noch leichter läͤßt es fich aber auf dem practifchen Gebiete darthun, daß
es feine angebornen allgemeinen Grundfäge gibt. Denn wir finden feine mora-
liſche Regel, welche bei allen Volkern Geltung hätte, Sp wird die Heiligkeit der
Berträge feineswegs von Alfen beobachtet; indem die Banditen diefelben wohl
gegen ihre Mitgenoffen, aber nicht auch gegen alle andern Menſchen erfüllen,
Die practifhen Grundfäge fonnen aber ſchon deßhalb auch nicht angeboren fein,
weil fie eines Beweifes bedürfen; mithin find fie nicht durch ſich ſelbſt evident,
fondern beruhen auf Bernunftfihlüffen (Essais I. liv. chap. 2, $ 4). Ebenfo wenig ift
‚Der practifhe Grundfag: „Gott foll verehrt werden”, angeboren (1. 0.3, ST). Denk
‚Die Idee Gottes, welche gewiß die wichtigfte ift, ift nicht augeboren. Die zeigen
die Atheiften, und fowie auch jene, welche eine Mehrheit von Göttern lehren.
Und würden auch alle Menſchen diefe Idee haben, fo beweist dieß noch gar nicht,
daß fie angeboren iftz da man diefelde ja auch durch die Betrachtung der werfen
Einrichtung der Welt gewinnen kann. — Wollte man dieß daraus folgern, daß
alle weiſen Männer fie befigen, fo fünnte man dann auch behaupten, daß die
Idee der Tugend angeboren ift (I. c. 3, $ 16). Was jedoch die Idee der Ber-
ehrung Gottes betrifft, fo willen oft feld erwachfene Menſchen nicht Har und
beftimmt, worin fie beftehe. Wie follte dann jener Begriff angeboren fein? —
Locke geht nun zur Beantwortung der Frage über: Wie gelangt der Berfland zu
566 Tode,
Ideen? Er fucht zu erweifen, daß die Erfahrung der Urfprung aller unferer Er-
fenntniffe fei. Alle Ideen kommen aus der Erfahrung. Diefe ift aber eine dop⸗
yelte: eine äußere und eine innere, Die äußere wird erzeugt durch die Wahr-
nehmung der äußern (förperlichen) Gegenflände, alfo durch die Vermittlung der
Sinne, Sie heißt Senfation. Die innere Erfahrung iſt die Wahrnehmung der
Thätigfeiten unferes eigenen Verſtandes (der Seele), und fonnte als innerer
Sinn paſſen oder aber als Neflerion bezeichnet werden. In beiden Fällen ver-
hält fich der Verftand bloß paſſiv. Der Geift ift nur ein Spiegel der Außenwelt,
vder wie ein Papier, auf welchem nichts geſchrieben fleht, Die Ideen aber werden
eingetheilt: in einfache und complexe (zufammengefeste). Einfache Ideen find
folche, welche dem Verftande von Außen fo aufgedrungen werben, wie dem Spiegel
die Bilder derjenigen Gegenftände, welche fich in ihm abſpiegeln. Gie entfpringen
a) aus der Senfation, und zwar entweder aus der Wahrnehmung eines einzigen
Sinnes, z.B, die Ideen der Töne, welche dem Berftande durch das Ohr zufom-
men; oder aus der Wahrnehmung mehrerer Sinne zugleih (I. 0.3, 8 1:2), 3. B.
die Ideen des Raumes und ber Bewegung, indem hier der Gefichts- und Taft-
finn zugleich thätig iſt; oder b) aus der Reflexion, nämlich die Ideen des Denkens
und Wollens; oder c) endlich aus der Senfation und Reflerion zugleich, wie 3.
DB, die Ideen von der Eriftenz, Kraft u. ſ. f. Die einfachen Ideen bilden den
Stoff aller unferer Erfenntniffe, Aus den einfachen Ideen entftehen die com=
plexen, durch die Thätigfeit des DVerftandes, und zwar 1) durch die Verbindung
einfacher Vorftellungen in eine, Das Reſultat hievon find: die Begriffe von den
Eigenschaften Cmodi—Xeeidenzen) und hierauf die Begriffe von den Subftanzen,
Unter den Ideen der modi betrachtet Lore hauptſächlich die Modificationen des
Naumes (Entfernung, Längenmaß, Unermeßlichkeit u. |, w.) und der Zeit (Suc—
eeffion, Dauer, Ewigfeit). Den Urfprung des Subftanzbegriffes erflärt er alfo:
Der Verſtand bemerkt fowohl bei der Senfation als Neflerion, daß mehrere ein-
fache Ideen, welche er hat, immer zufammengehen und mit einander verbunden
beftehen, Nun fann er aber feineswegs fich denken, daß felbe durch ſich felbft
getragen werben, daher gewöhnt er fich, ihnen ein für fich beftehendes Subject zu
Grunde zu legen, welches fie gleichfam trägt, und in welchem fie beflehen, und
aus welchem fie hervorgehen, Diefes Subftrat bezeichnet er fodann mit dem Wortes
Subftanz. Nach diefem Begriffe iſt die Subftanz ein rein Unbefanntes, Wir
fennen nur ihre Attribute, Man kann zwei Arten von Subftanzen unterfcheiden:
denfunfähige Cmaterielfe) und denkfähige (geiſtige). Die Attribute der Körper
find: Solidität und Beweglichkeit; die des Geiftes: Denken und Wille, Die
Frage, ob der Geift materiell oder immateriell fei, läßt fich nicht auf eine ent»
ſcheidende Art beantworten, Nur die Subftanz Gottes iſt abfolut immateriell, weil
fie frei von jeder Paffivität if. In der Materie liegt Fein actives Vermögen,
Die Idee Gottes bilden wir auf folgende Weiſe: Nachdem wir die Begriffe von
Eriftenz, Dauer, Macht, Intelligenz, Vergnügen und Glück erzeugt haben, als—
dann erweitern wir diefelben vermittelft der Zdee des Unendlichen und vereinen fie
alle in eine complexe Zdee. — Weiterhin entftehen die compleren Ideen auch
2) dur Entgegenfegung und Vergleichung der Vorftellungen der Dinge, woraus die
Berhältnißbegriffe, als z. B. Urſache und Wirkung, Identität und Verſchiedenheit,
hervorgehen. Und endlich 3) werben fie durch Abftraction von den Zufälligfeiten
gebildet, Dieß gibt die allgemeinen Begriffe, Die complexen Ideen laſſen ſich
daher auf 3 Hauptelaffen zurüdführen: auf die Ideen der modi, der Subſtanzen
und der Verhältniffe, — Mit der Erfenntniß fleht die Sprache in Verbindungz
die. Worte bezeichnen nur das Allgemeine der Gegenftände, Sie find größten-
theils Zeichen der Alfgemeinbegriffe, Diefe find nicht Bilder von etwas Nealem,
denn nur die einzelnen Dinge (Individuen) eriftiren. — Bisher wiffen wir, wie die
Ideen gebildet und bezeichnet werben, Es frägt ſich nun; wie werben fie ver-
ee us 1 ab ‚
Ze ne
Locke. 567
bunden? Dieſe Combination der Ideen unter einander gibt den Begriff des Er—
kennens. Die Erkenntniß iſt das Erfaſſen der Verbindung und Uebereinſtimmung,
I oder des Widerſpruches und der Unvereinbarkeit zwiſchen irgend welchen unſerer
einfachen oder abgeleiteten Jdeen. Bon unferem eigenen Dafein befigen wir eine
intuitive, von der Eriftenz Gottes eine demonftrative, und von der Eriftenz an=
derer Dinge eine fenfitive Erfenntnig (Liv. IV.). Den Beweis für das Dafein
Gottes führt Locke CIV. c. 10, $ 1—6) alſo: der Menfh weiß mit anſchaulicher
Gewißpeit, daß er felbft eriftirt; aber Nichts kann nicht etwas (ein reales Wefen)
hervorbringen, fondern es muß ein ewiges Wefen eriftirt haben, Diefes muß
den höchſten Grad von Macht befigen, da es nur fo der Urfprung alles Daſeins
und aller Kräfte ſein kann. Und ebenfo muß es auch die höchſte Jutelligenz
fein; denn ein nichtdenfendes Wefen kann Fein denfendes hervorbringen, Ein ewig
| denfendes Wefen iſt fonach nothwendig; mit diefem fann aber die Materie nicht
gleihewig fein: es muß alfo eine Gottheit geben. — Nach Locke's Prineipien
ſtammt alles Willen von Gott und göttlichen Dingen, fo wie auch die ethifchen
Begriffe aus der Erfahrung, Nur nimmt er nicht durchgängig den Standpunct
des reinen Empirismus ein, da er auch ein demonftratives Wilfen von Gott und
- son den religiöfen und fittlichen Verhältniſſen für erreichbar halt. Uebrigens
erhebt er fih aber nicht über die empirifche Beobachtung. Daher fagt er au,
daß das Gewiffen noch Fein Beweis für das Angeborenfein der practifhen Grund-
ſätze fet, da oft manche Menfhen nur in Folge der Erziehung, ihrer Gefellichaft,
und der Sitten des Baterlandes dazu gelangen, derfelben Meinung zu fein,
Denn fo werden oft Lehren, deren Duelle der Aberglaube einer Amme ift, durch
die Uebereinftimmung der Nachbarn und durch die Länge der Zeit zur Würde von
- Grundfägen der Moralität erhoben. Das Gewiffen felbft ift nichts anderes als
unfere eigene Meinung oder unfer Urtheil über die fittlihe Rechtichaffenheit oder
Verkehrtheit unferer eigenen Handlungen (I. c. 2, $ 8). Der Geift ift-e8, der
allein den Willen zu etwas beftimmt. Er felbft aber wird zum Wollen beftimmt
durch den Mangel, in welchem er fich findet. Der Wille ift die Fähigkeit, Hand-
Iungen und Bewegungen zu beginnen. Die Freiheit ift felbft ein Vermögen, und
fommt nur dem Wollenden, aber nicht dem Willen, welder auch nur ein Ver—
mögen ift, zu. Die Gefege, nah welchen die Menfhen über die Rechtſchaffenheit
und Berfehrtheit ihrer Handlungen urtheilen, find das göttliche und bürgerliche
Geſetz, und hierauf das Gefeg der öffentlihen Meinung und Adtung. Durch
die Vergleihung einer Handlung mit dem göttlichen Gefege ergibt fih: ob fie
Hfliht oder Sünde ift, und ob die Glüdfeligfeit son dem Allmächtigen biefür zu
erwarten fteht. Nach dem vom Staate gegebenen Gefege wird entfihieden: ob
eine Handlung Berbrechen ift oder nicht. Nach dem Gefege der öffentlichen
Meinung wird erfannt: ob eine Handlung Lob oder Schande nad ſich ziehe, und
welche fie als Tugend oder Lafter bezeichne (I. c. 28, $ 5—13). Weiter bleibt
Locke die natürliche Religion und Offenbarung feftftehen. Auch behauptet er die
Creation: „ES ift Fein Widerſpruch, eine Schöpfung aus Nichts anzunehmen,
Denn wenn wir das, was Gott thun fann, auf das einfchränfen, was wir davon
begreifen Fünnen, fo machen wir unfern Berftand unendlich, und Gott zu einem
- befchränften Wefen.” Wichtig ift für den Theologen noch, zu wiffen: welche Au—
ſchauung Lore von dem Verhältnif der Vernunft zur Offenbarung, der Erkenntniß
zu dem Glauben bat. Lore fagt: Der Glaube fann nie der Vernunft entgegen
fein. Bernunftmäßig find folhe Säge, deren Wahrheit wir entdeefen Fonnen durch
- Prüfung und Entwicklung der Begriffe, welche aus der Senfation und Refleriom
- entftehen; die fonach durch natürliche Deduction als wahr oder wahrſcheinlich
edacht werden fönnen, Ueber die Vernunft find folhe Säge, deren Wahr:
Beit und Wahrfcheinlichkeit wir nicht durch die Vernunft aus jenen Prineipien
ableiten Fönnen, Gegen die Vernunft aber find folhe Säge, die im Wider-
568 Lock +
fireit mit fich find, oder -fonft mit deutlichen Begriffen nicht vereinbar find
(IV. c. 17,.8.23) Der Glaube ift die Zuflimmung, welde man einem
Satze im Vertrauen auf denjenigen, alfo auf deffen Anfehen gibt, der ihn als
auf einem außerprbentlichen Wege von Gott mitgetheift vorträgt. Diefe Art,
den Menfchen Wahrheiten zu entdeden, nennen wir Offenbarung. Es kann Fein
von Gott infpirirter Dann durch Offenbarung den Menfchen etwas mittheilen,
wovon fie vorher gar Feine Vorftellung gehabt haben. Eine ganz neue Vorftel-
Yung können die Worte nicht bezeichnen. Auch können wir etwas. nicht als wahr
and als göttliche Offenbarung annehmen, das mit. einer evidenten Erkenntniß
unferer Vernunft in directem Widerſpruche flieht, indem dieß alle Grundſätze der
Erfenntniß und des Zürwahrhaltens umftoßen würde, Die Vernunft kann ung
bewegen, eine Offenbarung anzunehmen. Sie hat zu urtheilen, ob etwas wirf-
lich Offenbarung, und dann, was der Sinn diefer Offenbarung fei. Locke gibt
auch zu, daß es Dinge gebe, von welchen wir fehr unvollfommene oder gar Feine
Begriffe Haben, und deren Wirkfichfeit wir daher nicht durch den natürlichen Ge-
brauch unferer Vernunft zu erfennen vermögen. Diefe Dinge find deßhalb über-
vernünftig, und der eigentliche Gegenfland der Offenbarung und des Glaubens,
z. B. die Lehre von dem Abfalle eines Theils der Engel. Die Offenbarung ver-
Dient demnach gehört zu werden, wo die Vernunft gar nicht, oder nur mit Wahr-
fcheinlichkeit urteilen Tann CIV. c. 18. $ 9). Die Schwärmerei möchte gerne die
Dernunft verdrängen und eine Dffenbarung ohne Bernunft aufftelfen CIV. co. 19.
$ 3). Die Bernunft iſt die natürlihe Offenbarung, durch welche Gott dem
Menfchengefchlechte dasjenige Maß von Wahrheiten mittheilt, welches er in ven
Bereich ihrer natürlichen Kräfte niedergelegt hat. Die Offenbarung aber ift die
natürliche Vernunft, erweitert durch eine neue Reihe von Entdeckungen, welche
Gott unmittelbar mitgetheilt hat, und deren Wahrheit die Vernunft dur das
Zeugniß und durch die Beweife, daß fie von Gott kommen, verbürgt, Der
Schwärmerei fehlt e8 an Evidenz, daß fie wirklich eine Eingebung Gottes iſt.
Zum Schluffe feines Werkes fucht Locke noch den Inbegriff des Wiffens auf ein
Syſtem zu bringen, und fo die Wiffenfchaft zu gliedern, Nach ihm gibt e8 drei
Arten der Wiffenfihaft: 1) Die Phyfif der Körper und Geifter, Hier handelt er
auch die Erfenntniß des Wefens Gottes ab, 2) Die Ethik, Diefe Hat Locke
wenig bearbeitet. Er neigt fih übrigens in derfelben zum Eudämonismus (fd. A).
3) Die Logif (Semistid. — Locke's Syſtem ift ein empirifher Verſtandes
Realismus, Sein Verdienft um die Philofophie befteht hauptſächlich darin, daß
durch ihn eine neue Epoche für die Piychologie begründet ward. Seine Philofo-
phie fand große Verbreitung in England, Franfreih, und nach und nach auch in
Teutſchland Eingang. Doch folgte feinem intelfectuellen Empirismug auf dem
Gebiete der Logik nun alsbald auch der practifche auf dem Felde der Ethik (Sa-
muel Clarke ſ.d. A.). Seine Lehre von dem Urfprunge alfer menfchlichen Erkenutniß
aus unmittelbaren Sinnesempfindungen ward befonders in Frankreich ausgebildet,
fo jedoch, daß der Empirismus in den craffeften Senfualismus und Materialismus
überging, wodurch die Verwerfung alles Leberfinnlichen entftand, wie dieß aus dem
Werke des unbefannten Berfaffers: „Systeme de la nature“ ‚ erfichtlich iſt (f.d. Art.
Hol bach). Wird Locke's Empirismus confequent durchgeführt, fo ift eine Erkenntniß
mit dem Charakter firenger Allgemeinheit und abfoluter Nothwendigkeit nicht möglich,
Die innere Erfahrung hatte nach Rode feinen felbftftändigen Inhalt, fondern die—
fer war nur das Product der Reflexion des Verftandes über die von äußern und
Hon innern Zuftänden des Körpers: gewonnenen Vorftellungen. Hätte aber Locke
erfannt, daß auch die innere Erfahrung ihren felbfiftändigen Inhalt Habe, da ja
auch der Geift feine eigenen Lebenserfcheinungen befigt, fv würde er die Duelle
und Leitung der fogenannten angebornem Ideen gefunden haben, — Was feine
politiihen Grundfäge betrifft, fo. hat er dieſelben in feinen „Two Trealises on govern-
BE N Ing
a
Tode, 569
ment“, London 1691 (Vol IV. in d. Geſammtausg. von 1824) ausgeſprochen. Sie
lauten kurz alfo: Die Staatsmacht kann feinen andern Grund haben, als den
Gefammtwillen aller, die fi ihr unterwerfen. Der Zwed ver Errichtung der
bürgerlichen Gefellfhaft ift die Erhaltung des Eigenthums und der Freiheit.
Das Bolk Hat vermöge feiner fouveränen Gemalt wenigftens Antheil an der Ge-
fesgebung. Doc die gefeßgebende Gewalt foll von der vollziehenden getrennt
fein. Diefe Trennung conſtituirt das Weſen der beſchränkten Monarchie und der
beſten Regierung überhaupt. Die abſolute Monarchie iſt mit dem Zwecke der
bürgerlichen Geſellſchaft unvereinbar, weil hier wieder Alles der unumſchränkten
Gewalt eines Einzigen übergeben iſt. Hiedurch iſt aber den Nachtheilen nicht
abgeholfen, welche im natürlichen Zuſtande ſtattfinden, daß Jeglicher in eigener
Sache Richter iſt. Uebrigens bilden feine politiſchen Anſichten ſonſt ven geraden
Gegenſatz gegen die Theorie von Hobbes. — Doch Locke nahm nicht bloß Einfluß
auf die weitere Entwicklung der Philoſophie, ſondern auch auf eine nachfolgende
Richtung der chriſtlichen Theologie, die ſich zum Deismus gewandt hat. Beachtens⸗
werth find daher auch feine Leiftungen auf diefem Gebiete. Hieher gehören nun
befonders folgende Schriften von ifpm: „A Discourse of Miracles“ (im VIIL Vol.
der Geſammtausg. von 1324). In diefer Abhandlung zeigt er den Begriff, den Zweck,
die Nothwendigkeit und die Criterien der wahren Wunder auf. Er ſagt, daß wir
nur alsdann eine Offenbarung als eine göttliche anzuerkennen vermögen, wenn
der Bote, der ſie überbringt, von Gott geſendet iſt. Dieß aber kann nur aus
gewiſſen Creditiven erkannt werden, welche ihm als von Gott ſelbſt gegeben ſich
erweiſen. Dieſe Creditive find die Wunder, Sollen fie den Zweck der Legitima—
tion erfüllen, fo müffen fie zum Zeugniß der göttlichen Sendung gewirft worden _
fein. Ein Wunder ift eine finnlih wahrnehmbare Wirkung, welche über das
Saffungssvermögen des Zufhaners, und feiner Meinung nah dem beftehenven
Laufe der Natur entgegen ift, von ihm jedoch als von Gott herſtammend genom—
men wird. Bon folhen, welche im Namen des Einen, allein wahren Gottes ge—
fommen find, behauptend, daß fie ein Gefes von ihm überbringen, hat man in
der Geſchichte eine klare Nahrit nur von Dreien, nämlih von Mofes, Jeſus
und Mohammed. Mohammed hat jedoch Feine Wunder gewirkt, und fih auf
nicht darauf zum Zeugniß feiner höhern Sendung berufen. Es find daher die
- einzigen Dffenbarungen, welche durch Wunder befräftigt find, die von Mofes und
Chriſtus. Demjenigen aber, welcher mit einer Botjchaft von Gott fommt, daß
fie der Welt übergeben werden foll, Fann nicht füglih der Glaube verweigert
werden, wenn er feine Sendung durch Wunder befräftigt, weil dann diefe Ere=
ditive ein Recht dazu haben. Ein genügender Grund ift aber dann vorhanden,
eine außerordentliche Wirkung für ein Wunder zu Halten, wenn fie die evidenten
Merkmale einer größeren Macht trägt, als die Wirkung, welde auf Seiten der
Oppoſition erfcheint. Denn von der Güte und Würde Gottes läßt es fih mit
vorausfeßen, daß er feinen Gefandten und feine Wahrheit durch Erfcheinung einer
größern Macht auf Seite eines Betrügers und zu Gunften der füge werde unter-
drücken laffen. So zeigte fih 3. B. die größere Macht auf Seite des Mofes zur
Beglaubigung feiner göttlihen Sendung, als feine Schlange jene der ägyptifchen
Zauberer fraß. In gleicher Weife tragen auch die Wunder, gewirkt zur Befräf-
tigung der durch Chriſtus überbrachten Lehre, die Merkmale einer außerordent-
lichen, einer höhern, d. 5. der göttlichen Macht. Es bleibt daher die Wahrheit
feiner göttlichen Sendung unzweifelhaft ſtehen. Wie weit die Macht der natür-
lichen Agentien, oder der gefhaffenen Wefen reiche, weiß man zwar nicht, aber
daß diefe nimmer der Allmacht Gottes gleichfomme, ift jedem Verſtande far,
Die höhere Macht ift daher ein eben fo leichter als fiherer Führer zur göttlichen
Dffenbarung. Uebrigens darf a) feine Miſſion als eine göttliche angefehen wer-
den, bie der Ehre Gottes Eintrag thut, oder deren Botjchaft der natürlichen
570 Tode,
Religion und den Gefeten der Vernunftmoral widerfpricht. b) Auch wirb eine
wahre göttlihe Offenbarung feine indifferenten Dinge, oder foldhe, deren Er-
fenntniß durch den Gebrauch der natürlichen Vermögen leicht erreichbar wäre, ent-
halten. Denn zu diefem Unterricht wird Gott Niemand in die Welt ſenden. Dieß
würde nur die Würde feiner Majeftät zu Gunften unferer Trägheit verringern,
c) Deßhalb muß eine wahre göttliche Sendung die Mitteilung übernatürlicher
Wahrheiten zum Zwede haben, Sie muß entweder die Verherrlichung Gottes
oder eine große Angelegenheit ver Menſchen betreffen. Nur übernatürkiche Wir-
fungen, bezeugend eine folhe Offenbarung, mögen mit Necht als Wunder an-
genommen werben. Hieraus erhellt, daß Lore zwei Kennzeichen eines wahren
Wunders aufftellt: 1) die Superiorität der Macht und 2) die Wichtigkeit, Ver—
nunftmäßigfeit und Heiligkeit der Lehre, zu deren Beftätigung daſſelbe gewirkt
wird, — Eine fpecielfle Anwendung feiner im „Verſuch über den menfhlichen
Berftand” aufgeftellten Grundfäge auf die hriftfiche Religion machte Lore in fei-
ner Schrift: The Reasonableness of Christianity, as delivered in the scriptures
(„die Bernunftmäßigfeit des Chriftentbums, wie es in der Schrift überliefert ıft“,
vom Jahr 1695, im VI. Vol. ver Gefammtausg. v. 1824, überfegt in's Teutfche von
Dr. 3, Ch, Meinigen, Braunfchweig 1733, in’s Franzöfifhe von einem un-
befannten Berfaffer, Amfterdam 1731, 2 Bände). In der Vorrede diefer Schrift
erklärt Locke, daß er, als er fich durch die Syſteme der Theologen unbefrienigt
fand, indem er aus denfelben erfehen, daß fie oftmals nur Spisfinbigfeiten zu
nothwendigen und wefentlichen Theilen der Religion erhoben haben, fich zur Le—
fung der hl, Schrift wandte, um aus ihr ausfchließlih das Chriftentfum Fennen
zu lernen, Als Nefultat feiner Forſchung aber ergab fih ihm, daß der einzige
wefentlihe Glaubensartikel des Chriftenthbums der ſei: „Jeſus ift der Meffias,”
Und an den Sohn Gottes glauben, Heißt nichts anderes, als an den Meffias
glauben (IV. Cap.). Alle andern Wahrheiten der Schrift können Einem, unbe—
Schadet des Seelenheiles, unbefannt bleiben, Jene Glaubenswahrheit aber iſt
die wichtigfie und nothwendigfte zu wiffen, um ein Chrift werden zu fonnen. Dieß -
wird befonders erfannt, wenn wir beachten, was uns Chriftus wieder geſchenkt
hat (I. Cap.). Der erſte Menſch Adam verlor dur die Sünde den Zuftand der
Glückſeligkeit und der Unfterblichfeit. In Folge diefes Falles wurden auch feine
Nachkommen fterblih, Es geſchah aber hiedurch Keinem Unrecht, weil Niemand
einen Nechtsanfpruch auf den Zuftand der Unfterblichkeit hatte, Deßhalb iſt der
Tod nach dem Falle Adams auch feine Strafe um fremder That willen, Chriftus
erwarb uns das Leben wieder und wird uns vom Teiblihen Tode am Tage
der allgemeinen Auferftehung befreien. Urfprünglih war dem Menfchen das
Gefeg der Vernunft oder der Natur gegeben, welches er jedoch nicht erfüllt Hat.
Die Erfenntniß deffelben war in verfihiedenen Gegenden verfhieden, Die Ver— #
nunft allein vermochte die Mängel und Irrthümer der fittlichen Negeln nicht zu.
heilen, Es fonnten weder die bürgerlichen Gefege, noch die Vorſchriften der
Philoſophen ihre Auctorität ganz geltend machen. Denn nirgends warb bie Ber-
pflichtung hiezu allgemein anerfannt, noch galten fie als Norm des höchſten Ge-
ſetzes, des Naturgeſetzes. Dieß zu erfennen war auch nicht möglich, Die Men- #
fchen hatten noch nicht die Elare Erfenntniß des höchſten Gefeßgebers, des Ur
hebers vom natürlichen GSittengefege, Der Religion der Heiden fehlte eg am
fittlicher Wahrheit, fowie an der Beziehung der fittlichen Erfenntnif auf Gott als
Gefesgeber, Die Philoſophen redeten in der Ethif wenig von Gott, Das Ceres
monialgefeß des Mofes war nur von temporärer Bedeutung und Verpflichtung.
Das mofaifhe Moralgeſetz allein ift bleibend, weil es der ewigen Negel des
Rechten entfpricht, und gilt daher auch unter dem Evangelium. Doch Keiner hat
das Geſetz der Werfe ganz erfüllt. Niemand Fann aber gerecht fein ohne voll—
fommene Erfüllung diefes Geſetzes. Jeder bedarf deßhalb einen Erfag (Ergan-
Locke. 571
9) zum vollen Gehorfam, Diefer ift nur erreichbar durch den Glauben an
Jeſum als Meffias. Denn diefer Glaube wird den Chriften als Gerechtigkeit,
d. 1. als vollfommene Erfüllung des Gefeges, angerechnet. Daß die Wahrheit:
Chriſtus ift der Meffias, der wefentliche Inhalt des reihifertigenden und felig-
machenden Glaubens fei, fucht Locke ausführlich zu beweifen. Er bemerkt, daß
diefe Wahrheit bereits durch Johannes den Täufer, durch Chriſtus felbft und die
Apoftel ift verfündet worden, Chriſtus fagte ed Anfangs nicht frei heraus, daß
er der Meffias fei, um fich hiedurch nicht einer Hemmung in feinem Predigtamte
durch feine Feinde auszufegen (VI. Cap.). Wer aber an feine Auferftehung
glaubt, kann es nicht in Abrede flellen, daß er der Meffias fei. Doc der Glaube
alfein genügt noch nicht zur Rechtfertigung. Es iſt biebei auch nöthig, das Ge-
ſetz zu erfüllen. ChHriftus fchreibt den Gläubigen auch Gefege vor. Diefe find
ebenfalls verbindlich. Denn er wird am jüngften Tage darnad fein Gericht Hal-
ten (XH. Cay.).: Do wird Niemand verdammt werden, weil er nicht geglaubt,
fondern bloß, weil er böfe gelebt hat. Die Menfhen, welde nichts vom Meffias
gehört, werden mit Gott durch die Buße und durch die Bitte um Verzeihung ver-
fühnt. Bon ihnen fann der Glaube nicht gefordert werden, wohl aber von denen,
welchen die Verheißung des Meffias im alten Bunde befannt geworden. Wurden
dieſe aber durch das Vertrauen und die bloße Hoffnung auf die Erfüllung dieſer
- Berheifungen von Seite Gottes felig, fo fann Gott allerdings au ſolche Men-
ſchen gerecht machen, welche nicht gerade jeden Glaubensartifel für wahr halten,
den irgend einige aus einem fymbolifhen Glaubensbuche vortragen (XIII. Cap.).
faube und Buße find die nothwendigen Bedingungen des neuen Bundes zı
figfeit Calfo predigte auch Vaulus, Act. 17, 30.). Das Gefes des Meffiade
reiches befteht tHeils in dem durch Chriftus beftätigten, und von den verborbenen
Traditionen gereinigten natürlichen Sittengefege, theils aber in neuen Geboten,
welche Chriſtus felbft gegeben, nebft dem Beweggrunde unausfprehlicher Be-
Iohnungen und Strafen in der Ewigfeit. Die Welt verdanft Chrifto dem Erlöſer
die reine Erkenntniß des Einen unfichtbaren, wahren Gottes, welche die heid—
nifchen Priefter früher ob ihrem Nugen gehindert; die Flare und vollftändige Er—
fenntniß der Pflihtz die Verbefferung des veräußerlihten Eultus zur Anbetung
im Geifte und in der Wahrheit; die Fräftigeren Beweggründe zur Tugend durch
die VBerbürgung einer vergeltenden Unfterblichkeit, durch feine eigene Auferſtehung
und Himmelfahrt, fowie endlich die Verheißung der Hilfe des Geiftes Gottes zur
Hebung der Tugend und Religion. Hieraus ergibt fih zur Genüge, wie noth—
wendig es war, daß Chriftus in diefe Welt gefendet worden (XIV. Cap.). Denn
foll die Sittlichkeit allgemeine Geltung gewinnen, fo ift es ohne Zweifel der
fürzefte und ficherfie Weg für die Vorftellungen der Menge, daß Einer, der von
Gott gefendet und mit Wunderfraft von ihm ausgerüftet ift, als Gefeggeber und
Herr (König) auftritt, und ihnen ihre Pflichten fundgibt. Denn der gemeine
Mann ift nicht fähig, eine ganze Neihe von verwicelten Beweisgründen der Ver—
nunft zu überfehen und zu prüfen, Irrig ift es aber, zu glauben, daß die Ver-
nunft uns die erfte gewiffe Erfenntnig von den fittlihen Wahrheiten, welche die
Dffenbarung lehrt, ertheilt Hat, deßhalb, weil fie diefelben beftätigt. Der erfte
Borzug der übernatürlihen Offenbarung befteht darin, daß fie Wahrheiten mit-
theilt, deren Erfenntnig die Vernunft nur mit Mühe, oder auch vielleiht gar
nicht entderft Hätte, Dazu fommt ihr zweiter Borzug, daß fie ihren Inhalt in
populärer Form gibt. Fundamentalartifel find nur jene, welche der Erlöfer und
feine Apoftel von denen gefordert Haben, welche fie zum chriſtlichen Glauben be—
kehrten (XV. Cap). (In den Briefen der Apoftel noch andere neue Zundamental-
artikel zu ſuchen, hat man Feineswegs Urfache,) In Bezug auf die übrigen gött-
lichen Wahrheiten wird nur gefordert, daß man bereit fer, alle Wahrheiten, welche
von Öott fommen, anzunehmen, Die Religion darf den Verſtand der gemeinen
>
572 | Locke.
Leute nicht überſteigen. Der Satz aber: „Chriſtus iſt der Meſſias und der Rich—
ter der Welt“ — ift für alfe Menfchen Leicht faßlich, daher auch annehmbar und
practiſch. — Locke ſchrieb dieſe Abhandlung, wie e8 fheint, zum Zwecke der Union.
Denn fo fpricht es auch der von uns bereits erwähnte Ueberſetzer dieſes feines
Werkes in's Franzöfifche aus, indem er in einer hinzugefügten Differtation be-
merkt, daß felbes das einzige und wahre Mittel enthalte, alle Chriften, ungeach-
tet der Differenz ihrer Glaubensgefinnungen, zu vereinen. Lode gab durch, feine
Behauptung in diefem Werke: daß ſich der übrige Glaubensinhalt außer dem be-
fagten Fundamentalartifel nicht mit voller Sicherheit ermitteln laſſe, offenbar
Beranlaffung zum Indifferentismus gegen die Glaubensfymbole, fowie auch zum
Skeptieismus. Denn nach feiner Anficht hat jeder Chriſt die Schrift auszulegen
nach feiner individuellen Erkenntniß, und ıft nur an dieſes rein hiedurch gewon-
nene Refultat gebunden, daher Keiner das Recht hat, den Andern, der fie anders
erklärt, für einen Jrrgläubigen oder Häretifer zu halten, Viele von den ver-
ſchiedenen Secten waren deßhalb mit Locke's Theorie nicht einverftanden, und es
wurde ihm auch der Einwurf gemacht, daß e8 auch andere Fundamentalglaubeng-
artifel noch gebe, deren Annahme eben fo notbwendig ift, um. ein Chrift zu wer-
den, außer jenen zwei, „daß es Einen Gott gibt”, und daß „Chriftus der Mef-
fias it“, — Doch gleichwie Locke's Tendenz in dem Werfe über „die Vernunft—
mäßigfeit des Chriſtenthums“ dahin ging, die-Chriften von verfchiedenen Glau—
bensbefenntniffen zu vereinen, ebenfo ſuchte er diefe Idee auch auszuführen in
einem Plan einer Conftitution im Werfe: Fundamental Constitution of Carolina
(im IX. Vol. 9. d. Gefammtaugg. v. 1824), die er in Folge eines Auftrags von den
acht Lords (unter denen auch Lord Ashley, fein Gönner, war), welden Carl I.
die nordamericanifche Provinz Carolina gefchenft hatte, verfaßte. Sie warb von
den Lords im J. 1669 beftätigt. In diefer fanden ſich folgende Beftimmungen
in Betreff der Religion: Nur wer das Dafein Gottes glaubt und anerfennt, daß
er Öffentlich verehrt werben foll, Fann freier Bürger in Carolina fein und Land»
gut und Wohnung dafelbft Haben, Zur Eonftituirung einer Kirche oder Confeffion
wird Die Uebereinftimmung von fieben oder mehr Perfonen in einer Religion ver-
langt. Jede Kirche oder Confeffion muß, wenn fie als folde angefehen werben
will, folgende Kundamentalartifel anerfennen: 1) daß ein Gott ift, 2) daß Gott
öffentlich und feierlich verehrt werben fol, und 3) daß jeder Menfch verpflichtet
ift, der Wahrheit Zeugniß zu geben (Eid), fobald er hiezu von der Regierung
“ aufgefordert wird, — Wer nicht Mitglied irgend einer Kirche iſt, kann Feinen °
Anfpruh auf Genuß von bürgerlichen Rechten mahen. Niemand darf den An-
dern wegen feiner Glaubensmeinung oder wegen feiner Art der Gottesverehrung °
verfolgen, und die religiöfe Verfammlung ‚einer andern Eonfeffion ſtören. —
Diefes Princip von Locke: die völlige Neligionslofigfeit des. Staates, oder die
Öleichgültigfeit der Negierung gegen alfe Unterfchiede der Glaubensparteien,
fand feine Verwirklichung in den norbamericanifchen Freiftaaten, Dieſelben
Grundgefege fprach Lore auch 20 Jahre fpäter in feinen vier Briefen über bie
Toleranz aus Cim V. Vol. der Gefammtausg. v. 1824). Der erfte ift in Holland 7
1685 geſchrieben; der zweite (1690) ift gerichtet gegen die Gegenfhrift des Dx- 7
forder Theologen, Jonas Proaft; der dritte erfchien auf eine Replik 16925 end 7
lich der vierte Tautete gegen denfelben Gegner, als er 12 Jahre fpäter wieder 7
auftrat, Locke empfiehlt in diefen Briefen Duldung gegen jede religiöfe Mei-
nung und Gemeinſchaft. Er bemerkt, daß eine unbefchränfte und gleichmäßige
Duldung Bedürfniß, Recht und Pflicht ſei. Deßhalb follen allen religiöfen Be- 7
fenntniffen Verſammlung, öffentlicher Gottesdienſt, Feſte mit gleicher Freiheit 7
geftattet werden; alfo den Presbyterianern, Jubependenten, Quäckern und auch
den Andern; feldft die Heiden, die Mohammenaner und Juden follen ihrer Re—
ligion wegen nicht ven Genuß von den Nechten der Staatsbürger verlieren, Dieg 7
—
Locke. 573
ſucht Locke zu erweiſen 1) aus dem Begriffe der Kirche. a) Denn das Haupt-
unterfcheidungszeichen der wahren Kirche ift Duldung. Niemand kann Chriſt fein
ohne Bruderliebe, CHriftus hat feine Krieger nur mit dem Evangelium des Frie=
dens aber nicht mit dem Schwert ausgerüftet. b) Dann ift die Kirche ein frei=
wilfiger Verein, zum Zwecke der öffentlichen Verehrung Gottes, welde man als
Gott wohlgefällig und feligmachend erkennt. Deßhalb darf fie nicht durch Gewalt
Semand zu ihrem Belfenntniffe zwingen, Sie will bloß mittelft der freien Gottes—
verehrung das ewige Leben erwerben, Daher darf die Ercommunication Feine
bürgerlichen Nachtheile nach fich ziehen. Uebrigens hat jede Kirche als freie Ge—
ſellſchaft nur Gewalt über foldhe, die ſich als ifre Glieder befennen. 2) Leitet
Rode die Pflicht ver Duldung auch aus dem Begriffe des Staates ab, Deun der
Staat hat bIof die bürgerlichen Intereffen zu wahren, Zur Sorge für die Seelen
hat die weltliche Obrigkeit eine Vollmacht weder von Gott, noch von dem Volfe,
Religion ift Sache der freien innern Ueberzeugung. Daher ift es Pflicht des
Staates, die verfehiedenen religiöfen Gefellfchaften zu dulden. «) Deßhalb darf
der Staat feine religidfen Ceremonien einführen und befehlen, weil ſolche Hand«-
Jungen nur in fofern religiös find, als fie von Gott angeordnet worden, Selbſt
den Götzendienſt darf der Staat nicht beftrafen, obgleich er Sünde if. 9) Auch
kann der Staat fpeeulative Meinungen und Glaubensartifel weder befehlen noch
verbieten, Denn etwas zu glauben oder nicht zu glauben, hängt nicht von unferer
reinen Willfür ab. Ebenfo fann der Staat das Bekenntniß von fpeculativen Mei-
nungen nicht verbieten, indem fie zu den bürgerlichen Rechten der Unterthanen in
gar Feiner Beziehung ftehen, Denn wenn ein Ratholif das für den wirffichen,
wahrhaftigen Leib Chrifti Hält, was die Leute von anderer Eonfeffion nur ein⸗
faches Brod nennen, fo thut er hiedurch feinem Nachbar Fein Unrecht. )) Do
anders verhält es fich mit den practifchen Meinungen, Die fittlichen Handlungen
gehören zur Gerichtsbarkeit fowohl des äußeren (der Obrigkeit) als des Innern
Gerichtshofes (Gewiffens), Ueber practifhe Meinungen hat die Geſetzgebung
des Staates in fofern zu wachen, als fie die Pflicht Hat, für die äußere Sicher—
heit und das äußere Wohl der Unterthanen zu forgen; deßhalb Hat die Obrigfeit
das Recht, Feine Meinung zu dulden, welche den zur Erhaltung einer bürger-
lichen Geſellſchaft nothwendigen Gefegen widerftreitet, Der Staat kann z. B.
die Meinung nicht dulden, daß man den Häretifern fein Wort zu halten nicht ver-
pflichtet werden fünne. — Locke zeigt auch außerdem noch die Wohlthätigkeit und
Ungefährlichkeit der Toleranz. Er meint: Sobald die Duldung aller Kirchen feft-
geftellt wäre, fo würden alle jene Beforgniffe aufhören, daß derlei neue religiöfe
Verſammlungen nur Pflanzfchulen von Aufruhr bilden. — Auf diefe Art hätten
wir denn auch die theologischen Anfichten Locke's Fennen gelernt, Ein Jeglicher
wird Hieraus Teicht entnehmen, daß man ihm darin gewiß Unrecht gethan, wenn
man ihn des Atheismus verdächtigt hat. Auch ift er keineswegs reiner, abflracter
Deift, wie Manche e8 von ihm behaupten, obſchon ein Element der negativen
Kritik der Freidenferei (f. d. A.) ſich in ihm findet, Nur mag er zum Deismus
(f. 9. 4.) den Grund gelegt haben durch feine Behauptung, daß e8 zum Seelen-
heile einzig nothwendig fer, an Einen Gott und an Ehriftum als Mefftas zu
glauben, Doch nimmer fann man fagen, daß er alles Supranaturale im Chriften-
thume verworfen, da er die Wunder, fowie die göttliche Sendung Ehrifti an-
erfannte. Aber die Gottheit Chrifti fiheint er bezweifelt zu haben, da er fih
nirgends hierüber direete ausfpricht, auch felbft wo er Veranlaffung hiezu hatte;
deßhalb ſchreibt Leibnitz (ſ. d. A.) von ihm nicht ohne Grund: Inclinasse eum ad
Socinianos (Anti-Trinitarios). Auch ung dünft es: er Habe vom Meffias bloß an-
genommen, daß er einzig Menfch gewefen, der aber auf wunderbare Weife (durch
göttliche Kraft gezeugt) in die Welt eingetreten ift. Denn er bemerkt: daß Chri-
ſtus nur in fofern dem Vater gleich, d. 5. nach feinem Ebenbilde iſt („Sohn Got⸗
574 Loen.
tes”), als er unſterblich wie der Vater iſt. Es Heißt in feinem Werke über „die
. Bernunftmäßigfeit des Chriſtenthums“ (XI. Cap.) ausdrücklich: „Der größte Be-
weisgrund, daß Jeſus der Sohn Gottes fer, wird von feiner Auferftefung her—
genommen, Denn da erfihien ganz Far das Bild feines Vaters in ihm, weil er
alsdann fihtbarlicher Weife in den Stand der Unfterblichfeit ift verfegt worden,“
— Die posihumous Works von Lore wurden herausgegeben zu London 1706,
find von Le Clerc zum Theil in's Franzöfifche überfegt, und enthalten mehrere
philofophifche Abhandlungen über die Leitung des Verſtandes über die Freiheit
u. ſ. w. Seine fämmtlichen Werfe erfchienen zu London 1714 in 3 Foliobänden,
jedoch ohne die Collection of several pieces; dann ebend, 1812, 10 Bände; zu⸗
legt 1824, 9 Bände, [Zulrigl.]
Loen, Johann Michael, Unionift der verfchiedenen chriſtlichen Religions—
parteien, geboren zu Frankfurt a. M. 1695, geftorben als preußifcher Geheim-
rath und Kammer- und Negierungspräfident zu Lingen in Weftphalen, trat, nach—⸗
dem er fohon früher Mehreres gefchrieben, im Jahr 1724 als Schriftſteller über
die Religion auf, indem er unter dem fingirten Namen Gottlob von Friedenheint
„den evangelifchen Friedenstempel nach der Art der erften Kirche” herausgab, dem
er im Jahr 1725 eine andere Schrift nachfendete: „Höchftbedenflihe Urfachen,
warum Lutherifche und Neformirte in Fried und Einigfeit zufammenhalten und
einerlet Gottesdienft pflegen follen.” Nach einer langen Paufe erfchien im Jahr
1748 eine Abhandlung ähnlichen Inhalts von ihm über die „Vereinigung der
Proteftanten”, worin er zeigte, wie leicht eine folche Vereinigung wäre, wenn bie
Eontroyerfen abgefchafft würden. Diefe und andere theologifche, moraliſche, po—
litiſche und ähnliche Auffäge find in eine zweifache Sammlung feiner Heinen
Schriften vom Jahr 1749 und 1751 eingerücft worden, Aber Feine von feinen
bisher erfchienenen Schriften erregte fo viel Auffehen, als die, welche er 1750
berausgab: „Einzige wahre Religion, allgemeinin ihren Orundfägen,
yerwirret durch die Zänfereien der Schriftgelehrten, zertheilet in
allerhand Secten, vereiniget in Chriſto.“ In diefem merfwürbigen
Buche, das den Anbrucd einer neuen Zeit für Teutfchland verkündete, errichtet
Loen auf den Trümmern aller pofitiochriftlichen Bekenntniſſe die einzig wahre
Religion Chrifti, bei welcher es nur auf das Gebot Chrifti von der Liebe Gottes
und des Nächſten anfomme und deren Glaubensinhalt fih nur auf diejenigen
Wahrheiten erftredfe, welche alle vernünftigen Menfchen, au die einfältigften
und fhwarhfinnigften, anzunehmen vermögend find. Für diefe einzig wahre Re—
ligion (ſ. d. Art, Freimaurer) zeuge auch die Gefchichte, da die Grundwahr-
beiten der Neligion zu allen Zeiten diefelben geweſen feien, und die natürliche
Religion felbft bei den heidnifchen Werfen mit der geoffenbarten übereinftimme,
Dagegen habe man freilich vor ‚Zeiten die Religion in äußerliches Geſpräch und
Ceremonienweſen verfegt, auch die Neformatoren hätten mehr ihre eigenen Meinun-
gen als den Grund des Glaubens vertheidiget, weßhalb feit ihren Zeiten die geift-
liche Zank⸗ und Disputirfucht aufgefommen fei, und auch jet fege man die Re—
ligion mehr ing Gehirn und disputire darüber nach der Kunſt. Allein ungeachtet
aller diefer Differenzen im Außerwefentlichen, fommen doch alle Ehriften im Grund
des Glaubens überein, weil fie alle die HL, Schrift annehmen und fie nur ver-
fchiedentlich auslegen, und daher fei denn auch eine Vereinigung aller verfchiedenen
hriftlichen Secten bald geſchehen: fobald man ſich erflärt, daß man fih an
Chriſtus und fein Wort Halten wolle, fei man einig. Bon den Geiftlihen fei
aber diefe Vereinigung nicht zu hoffen, da diefe für ihre ſymboliſchen Bücher und
befondern Lehrfäge kämpfen, fondern dieß fei das Werf einer werfen Regierung,
welche diefe Aufgabe auch ohne Zuziehung der Geiftlichen löſen koönne, zumal die
Theologie jegt eine allgemeine Wiffenfhaft geworden fei. Im Zufammenhang
mit Diefen Orundfäsen macht dann Loen verfchiedene Vorſchläge für die Einrich-
Löffler — Logos. 575
tung des Kirchenwefens ‚der vereinigten Kirche, Reinigung der Bibel von den
vielen Druck⸗ und Veberfegungsfehlern, Berbot aller Eontroverfen, furze Syn=-
bola mit Auslaffung aller ftreitigen Punete, Beſchränkung der Ceremonien, doch
fonne man vor der Hand die Kindertaufe noch beibehalten, dagegen fei das Abend-
mahl, als vorzüglichfter Gegenftand ewiger Zänfereien, aus dem öffentlichen
Gottesdienfte auf fo lange auszulaffen, bis man ſich hierüber vereiniget habe;
Herflellung der Kirchenzucht nach dem Mufter der erften Kirche, wobei aber be-
merft wird, man habe fie mit Recht der weltlichen Obrigfeit überlaffen, weil die
Geiftlichfeit ihren Eifer nicht zu mäßigen wiffe und ohnehin Fein Recht zu ercom-
municiren habe, wie auch die Kirchenzucht hauptfächlich die Geiftlichfeit felbft be—
treffe. Unter Anderm tadelt es Loen an den Proteftanten fehr, daß fie die hohen
geiftlihen Standeswürden aufgehoben hätten, -indem dadurch das Lehramt ganz
verächtlich geworden ſei; man müffe fie wieder einführen, damit auch vornehme,
beffer erzogene Perfonen dem geiftlihen Stande fih zuwendeten, ja man könne
fowie zur Leitung der gemeinen Clerifei Bifchöfe und Prälaten, fo auch felbft einen
Papſt oder oberften Biſchof fih gefallen laſſen und ihn den Statthalter Chriſti,
den Nachfolger Petri und das firhtbare Haupt der Kirche nennen, nur müffe immer
die geiftliche Macht der weltlichen unterworfen bleiben. Die neuen Bifchöfe und
Prälaten follten aber nicht in den Cheftand treten dürfen; überhaupt habe man
nicht wohlgethan, bei den Proteftanten alfen Geiftlihen ohne Unterfihied die Ehe
zu erlauben, Ebenſowenig billigt e8 Loen, daß man die Klöfter insgefammt ftatt
fie zu reformiren abgefhafft Habe; er fchlägt daher mancherlei Gattungen von
Klöftern vor, folhe, worin fromme Leute allein der Religion Ieben fönnten, ſolche,
worin vornehme bejabrte Perfonen von Verdienſt den Neft ihrer Tage zubringen
fönnten, wieder andere zur Verpflegung der Armen und Kranfen oder zur Uebung
| der Öaftfreiheit an Drten, wo feine Herbergen und Gafthöfe angelegt werden
können, endlich auch Klöfter zur Unterwerfung der Jugend. So fehr der religiöfe
Indifferentismng im proteftantifchen Teutfchland zu Loens Zeit ſchon um fich ge—
griffen Hatte, fo konnte damals doch noch nicht Loens Unions-Project realifirt
werben, aber deßhalb war es gar nicht umfonft ausgehedt, es erlebte in Einem
Sabre drei Ausgaben, und hat der in unferm Jahrhundert durch „weife Obrig-
keiten” unter Anwendung von Bajonetten bewerfftelligten Union als Mufter und
Borarbeit wohl gedient. ©. Krafts theol. Bibl. B. V.5 Schröckhs Kgſch. f.
d, Reform, VIII. Mosheims Kgſch. fortgef. v. Schlegel, VL [Schrodl.]
Söffler, Friedrich Simon, proteſtantiſcher Theolog. Er iſt geboren den
9. Auguſt 1669 zu Leipzig, wo fein Vater Licentiat der Theologie und Archidiacon
an der St, TIhomasfirhe war. Seine Studien machte er in feiner Baterftadt,
wurde dafelbft im Jahr 1689 Magifter der Philofophie und fpäter Baccalaureus
der Theologie. Nachdem er noch im Jahr 1694 pro loco in der philoſophiſchen
Faeultät eine Differtation: „de iis, qui inter gentes in vitam rediisse perhibentur“,
gehalten, als deren Verfaſſer der Baron von Leibnig bezeichnet wurde, erhielt er
1695 die in der Nähe von Leipzig gelegene Pfarrei zu Probfl-Heida, fpäter pa-
prirte er in Holtz⸗ und Zudelhaufen, trat 1745 in den Ruheftand und flarb zur
Leipzig den 26, Februar 1748, Er war ein Neffe und ab intestato einziger Erbe
des berühmten Gottfr. Wil, von Leibnis (ſ. d. AI Bon feinen Schriften iſt
anzufübren: Specimen exegeseos sacrae de operariis in vinea. Epistola ad G.
Serpilium de versibus, qui in soluta N. Foederis oratione habentur. Dissertatio de
litteris Bellerophonteis; und „doppelte Nachricht von der römifchen Kirchen Zubel-
Sabre.“ Leipzig, 1725. Vgl. JZöcher, allgemeines Gelehrten-Lericon, 2, Thl.
und 2, Supplementband zu dem biftorifchen Lericon von Iſelin. [Srig.]
Logos. Der Hl. Evangelift Johannes nennt die zweite Perfon der Gott-
beit, den Sohn Gottes, einige Male Logos, Wort Gottes, Verbum Dei, nämlich
Offb. 19, 13; Joh. 1, 1 und 14 und unter Voransfegung der Aechtheit, 1 Joh.
576 29998,
5,7. Da diefer Johanniſche 20/05 vollfommen daſſelbe ift, ald vıös zov Ieov
und LovoyerynSg, wie die zweite Perfon der Gottheit fonft überall in der HL, Schrift
von Johannes ebenfo wie von den übrigen Apofteln und Evangeliften genannt
wird: fo haben wir hier über das Dogmatifche und Theologiſche als ſolches,
nämlich über die Einheit und Dreifaltigkeit Gottes, über das Verhältniß des
Sohnes zum Vater und zum Geifte, ebenfo über die Menſchwerdung des Sohnes
nicht zu handeln; von all diefem ift anderwärts die Nede (vgl, die Art, Chriftus,
Sefus Chriſtus und befonders Trinität). Was ung demnach hier befchäftigt,
ift nur die Frage: warum hat Johannes die zweite Perfon der Gottheit, welche
fonft überall Sohn Gottes oder Eingeborner Gottes heißt, etliche Male Aöyos
genannt ? Die nächfte Antwort auf diefe Frage lautet: er Hat e8 gethan, weil ex
es thun Eonnte, Der Sohn Gottes namlich ift die Macht und Weisheit Gottes,
dvvanig al ooplae voü Heod (1 Cor, 1, 24), in der Geftalt Gottes ſeiend,
&v uoopN; IEoV vunaoywv; fo daß es nicht ein Raub ift, wenn er fi) Gott
gleich fest (Phil. 2, 6), das Bild des unfichtbaren Gottes, zindv Tod Heod
Tod aoparov (Col, 1, 15), in dem die ganze Fülle der Gottheit fubftantiell
wohnt, &9 adzd zaroızel av TO nAyowue CAS HeornTog OWwuarırdg
(Ent, 2, 9), ebendeßhalb der Abglanz der Herrlichkeit und das Abbild over der
Ausdruck der Subſtanz Gottes, arradyaoua TTS Ö0EnS al Xapaxırg NS
vrrO0Ta 0808 alzov (Hebr. 1, 3), fo daß wer ihn ſieht, den Vater fieht, 0 &w-
DaxoS Eus Emgaxe Tov rarega (305, 14, 9). Kurz, der Sohn Gottes oder
die zweite Perfon der Gottheit, welche in der Negel Sohn Gottes genannt wird,
ift der offenbare Gott, Diefen Begriff aber fann man und konnte alfo au
Johannes mit Aoyog bezeichnen. Aoyos ift zunächſt Wort, Rede, Aeußerung,
verbum, oratio, sermo, dietum ete. dann aber ebenfo der Grund folder Neußerung,
das urſächliche oder das noch nicht feiende, aber fein werdende Wort, Wenn
man als diefen Grund die Vernunft, ratio, bezeichnet, fo iſt das richtig inwie—
fern unter Vernunft die geiftige Energie überhaupt verflanden wird, unrichtig
dagegen, wenn man nur den wiffenden Geift darunter verflünde, Wenn fi
der Geift nicht frei beftimmte, d. 5. wollender Geift wäre, fo kaͤme er nicht zur
Aeuferung und Offenbarung feiner ſelbſt. Die doppelte Beflimmung aber, die
wir Wiffen und Wollen nennen, macht eben das Geiftfein oder die geiflige
Energie ang; und diefe nun ift es, was als Grund des nach Außen erſchei—
nenden Adyos, des Wortes, zu bezeichnen ift und in fofern felbft als Aoyog
erfcheint. Demgemäß ift Aoyos zunächſt in beiden angegebenen Bedeutungen zu-
fammen, dann aber auch in jeder derfelben für fich, (weil die eine in der andern
enthalten ft), Offenbarung des Geiftes oder der offenbare Geiſt. Iſt nun Gott
Geift, fo ift der offenbare Gott Aoyos und kann alfo auch Aöyog genannt werden.
Der vffenbare Gott aber iſt, wie wir oben gefehen Haben, der Sohn Gnttes,
Alfo konnte Zohannes diefen mit Aoyog bezeichnen, Wir aber thun recht daran,
diefes Aöyos mit Wort zu überfegen. Ueberſetzen wir es mit Wille oder Ber-
nunft, fo wäre dieß wenn auch nicht geradezu unrichtig, fo doch mißverſtaͤndlich.
Wollten wir fagen: Kraft, Geiftegerweifung u, dgl., fo wäre damit foviel als
Nichts gefagt. Das Wort dagegen ift das Nefultat der geiftigen Energie, gleich-
ſam die Spige, in welche diefe ausläuft, und fo ift es in dem Worte, daß Gott
als Geift am volfftändigften und beftimmteften offenbar if, Demgemäß brüden
wir den Begriff, den Johannes mit Aoyog verbunden hat, unftreitig am vollflän- |
digften und beften aus, wenn wir Aoyog mit Wort überfegen. — Iſt nun aber |
die Benennung des Sohnes Gottes mit Aoyog ſchon genügend erflärt, went fie
als möglich erfannt ft? Sehen wir die Sache näher an, fo erfennen wir ohne |
Schwierigkeit den Grund, warum der Apoftel wirklich gethan, was er thun Fonnte,
Es iſt derfelbe Grund, warum auch dev Apoftel Paulus nicht bei der gewöhn⸗
lichen Benennung „Sohn Gottes“ fliehen geblieben iſt, fondern diefen, wie
Logos. 577
wir oben gefehen, Abglanz der Herrlichkeit, Ausdruck der Subftanz Gottes u. bel,
genannt hat. Die Apoftel hatten, weil fie Augenzeugen der Offenbarung Gottes
in Chrifto gewefen waren, das Evangelium zunächft und vorzugsweife hiſtoriſch
Horzutragen, zu erzählen; und in wieweit fie diefes thaten, fonnten fie Chriftum
nicht anders denn ald Sohn Gottes, als Eingeborenen ded Vaters bezeichnen,
als göttliche Perfon beſchreiben. Unmöglich aber Fonnten fie im Verlaufe ihrer
gt den Berfuch umgehen, Erklärungen zu geben, welche geeignet wären, den
Brit Sohn Gottes an fih näher zu erklären und insbefondere der Frage zu
genügen, wie die Einheit Gottes nicht aufgehoben werde, wenn von Vater und
Sohn (und Geift) die Rede fei. Diefen wiffenfhaftlichen Anforderungen — denn
fo muß man fie doch wohl nennen —, welde fhon an die Apoftel geftellt wor-
den, find diefe mehr oder weniger nachgefommen, am entfchiedenften und voll-
fländigften Paulus und Johannes; jener dur die mehrgenannten Benennungen,
womit er das Wefen des Sohnes anfhaulih zu machen fucht, diefer durch die
Bezeichnung deffelben als Logos. Man beachte: er bedient fi dieſer Bezeich-
nung nur da, wo er nicht Hiftorifch referirt, fondern Erklärungen, Begriffsbeftim-
mungen geben will, Im Evangelium erzählt er die Gefhihte des menſchgewor—
denen Gottesfohnes, und da nennt er diefen fortwährend vios FeoV, LoVoyErng,
Sm Prologe aber, d. i. in der Einleitung zum Evangelium will er angeben, was
diefer Sohn Gottes, deffen Gefhichte eben erzählt werden will, an ſich fei, was
man ſich unter demfelben beftimmt zu denfen habe. Und diefe Erklärung nun fallt
dahin aus, daß man ihn zu denken habe als Logos, als die perfönlihe Dffenba-
zung Gottes, als den offenbaren Gott. Ebenfo deutlich ift Dffb. 19, 13. Nad-
dem Chriſtus befchrieben, in feinem Auftreten dargeftelt und zulegt gefagt iſt
ner war befleidet mit einem blutbefprengten Kleide”, heißt es zum Schluſſe:
fein Name aber ift Wort Gottes”, zai zalsizaı TO bvoua wvroö 0 A0yos
Tov Yeod. Diefe Iegten Worte fließen fih als Begriffsbeftimmung an bie
boransgegangene Beſchreibung. — Hiemit ift die Frage, die wir aufgeworfen
en, zur Genüge beantwortet, und wir hätten nicht nöthig, uns in der Ge-
chichte der Philofophie-umzufehen, um auch noch eine äußerliche Veranlaffung
fraglicher Bezeichnung aufzufuhen, Weil indeffen eine ſolche immerhin als Ac-
eivenz denkbar ift, befonders aber weil eine übel berichtete Wiſſenſchaft die Frage
an dieſem Puncte angefaßt und ganz falfh beantwortet hat, fo müffen wir furz
darauf eingehen. Dean Hat gefagt, der Zohanneifche Logos fei ein Philonifcher
Begriff. Um diefe Behauptung annehmbarer zu machen, hat man folgende Com=-
bination vollzogen: unter den alerandrinifchen Juden fei Tängft vor Chriſto der
Begriff einer perfonificirten Vernunft Gottes, eines Aöyos Heov, einheimifch ge-
weſen. In Alerandrien habe fodann zur Zeit Chriſti Philo jenem Begriffe Aus-
bildung und beftimmte Geftalt gegeben. Therapeuten aber und. Effäer haben
denfelben nah Paläflina getragen, Bei diefen aber fei Johannes in die Schule
gegangen. Folglich erfcheine fein Logos als aus derfelben Duelle gefloffen, wie
der Philoniſche Logos. Diefe Combination ift fo durch und dur abgeſchmackt,
dag man faum im Stande ift, fie anzufaffen. Wenn Johannes die Dffenbarungen,
die ihn fo Hoch erheben, von Eſſäern, Therapeuten oder einem ähnlichen Volt em=-
p hat, wie kommt er dann dazu, ſie auf Jeſum zurückzuführen, wie iſt er
dann im Stande, Alles, was ihn erhebt, erfreut, beglückt, einem landfremden
Menſchen zu verdanfen? Solche Undankbarkeit, ſolche Verläugnung der Eltern,
der geiftigen Väter, ift unerbört. Noch mehr: fie ift fo rein unmöglich, daß die
Annahme derfelben ebenfo rein abfurd ift. Nur in einem Falle wäre der be-
yauptete Zohanneifche Efäismus oder Therapeutismus nicht eine Abgeſchmackt-
eit, dann nämlich, wenn Jeſus feldft ein Iharapeute oder Effäer gewefen wäre,
Ä m weist man dieß nicht nah? Es Haben allerdings in neuerer Zeit Einige
auch felbft dieß behauptet, aber nur einige leichtfertige Individuen, die fonft Nichts
Kirchenlexikon. 6. Br, 37
578 20908
aufzubringen wußten, Jeder ernflere Mann wendet fih von diefem Abſurdum
mit Indignation hinweg. Gefegt aber au, es nähme Einer, der effäifch-thera-
peutifhen Hypotheſe zu Lieb, Zuflucht zu ihr, er hätte wenig genug, hätte Nichts
gewonnen, denn er müßte es doch umbegreiflih finden, daß der therapeutifche
Lehrer des Johannes fich ſelbſt nicht ein einziges Mal Logos nennt, daß ſich Jo—
Hannes diefes Ausdrucks nur da bedient, wo er in eigenen Worten fpricht. —
Weiterführung diefer Kritif wäre eine Beleidigung der urtheilsfähigen Menſchen.
Es wird als unbeftritten erklärt werben dürfen, daß das Evangelium des
Sohannes Nichts gemein habe mit Philo's Philoſophie, Feine Anklänge an den
Philoniſchen Logos enthalte, Wenn aber das Evangelium, dann auch der Prolog,
denn beide bilden ein ungertrennliches Ganzes, Das Evangelium gibt die Ge-
fihichte des menfchgewordenen Gottesfohnes. Damit aber diefe Geſchichte be-
griffen werbe, belehrt der Prolog über denfelben Gottesfohn an ſich — eine
Theologie, welche dem Johannes eben durch den menfchgeworbenen Gottesfohn
geoffenbart ift, deffen Gefhichte er zu geben im Begriffe fteht. Geſetzt aber es
ließe fi, wenn auch nur zum Scheine, barthun entweder, der foeben behauptete
Zufammenhang zwifhen Prolog und Evangelium beftehe nicht, oder, das Evan—
gelium enthalte ebenfo wie der Prolog philoniſch-eſſäiſch-therapeutiſche Philoſophie,
auch dann wäre man der Abfurbität noch lange nicht entronnen, welcher man mit
jener Theorie verfallen iſt. Lehrt denn nicht der Apoftel Paulus über den Sohn
Gottes vollkommen daſſelbe als Johannes? Stellt er nicht mit feinem erzauyaanıe,
XaEaRTno, Eixwv 2. denfelben ganz ebenfo ald den vffenbaren Gott dar, wie
Johannes mit feinem Aoyog? — Bringen wir die Sache zu Ende, indem wir
ung zur Philoniſchen Philofophie felbft wenden, um eine kurze Vergleichung
anzuftellen. (Mit den Effäern und Therapeuten können wir ung nicht weiter
beſchäftigen, weil wir Nichts von ihnen wiffen. Dean kann fih nur an Wirkliches
halten, nicht an Phantafiegebilde). Logos iſt der Eentralbegriff der Philoniſchen
Philofophie; man kann fagen, dieſe fei weſentlich Logoslehre. Was ift aber
diefer Philonifche Logos? Nichts Anderes, als die göttliche Vernunft, welde
realifirt d. 5. in der Materie ausgeprägt die Welt iſt. Zwei Elemente, fagt
Philo, find der Grund oder die Urfache der Welt (Urwelt over Welt an fih),
nämlich ein Bildendes und ein Bildungsfähiges, doaozngıov und masnzızör.
Senes ift Vernunft, reine, abfolute Vernunft, voüg Eilızgıveoraros zul argaı-
gyveoraros, erhaben über alles gegenwärtig Wirkliche ; diefes ift Teblofe, unbe-
wegte und umgeftaltete Materie, fähig jedoch, durch die Vernunft belebt, bewegt,
gefaltet zu werden, Kıluyov zul axivnzov EE Eavrov (xal aruoıov zul au0g-
por), zırnd&v dE nal OXnuatıadEv nal Wuywdev vd Tov vov. In ber Ver-
bindung diefer beiden Elemente befteht die Weltbildung. Die Vernunft, auch
Gott genannt, dringt belebend, bewegend und geftaltend in die Materie ein;
fo wird diefe zur Welt, uerißaksv eis To Teheıörarov Eoyov, TOVdE Tov no0uov.
Diefem Acte geht aber natürlicher Weife die Entwerfung eines Planes voraus,
groövore, Aoyos, Aoyıowös. Das Erfte ift, daß die Vernunft (Gott) denke, ein
Gedankenſyſtem fchaffe, das heißt eben jene Geftalt als Gedanfenfpftem ſchaffe,
welche fofort der Materie eingedrüdt werden fol, Diefes Gedankenſyſtem
ift alfo nichts Anderes, als die im Bewußtfein Gottes enthaltene, bloß ge—
dachte oder ald Gedanke feiende Welt, xomuos »onzos. In wiefern nun
die Bernunft den genannten Act vollzieht, erfeheint fie als Aoyos. Tod wer
yag yeyovovos Eruueriioger (dieß ift namlich das Hauptmoment, fozufagen
die Seele des Weltplans) Tov mareon xab moımenv aigei — instruit, docet |
— Aöoyog. Aber auch der entworfene Weltplan felbft erfcheint als Logos, |
denn er ift ja nichts Anderes, als ein. Gedankenſyſtem. Wil man fic, fagt
Philo, genau ausprüden, fo muß man fagen, die Gedanfenwelt fei nichts
Anderes als die Bernunft des bereits im Weltbilden begriffenen Gottes
Logos. 579
(ei ö2 rıg 29ehrjosız youvorzgois ygraaosaı Tois ovöuacıw, oοαν @v Ere-
009 &imoı Tor vonzov elvaı x0ouov, 7 Feod koyov 761 Xo0uoroLoÜvros, 00dE
Yag 7) vonen rrökıs (der Bauplan eines Werkmeifterd) Eregov zu Eoriv, 7) 6
too doyırizuovog hoyıouös, 7dn zyv elodneny mokıv vn vonch zuilen
dievoovusve. Etwas fpäter ebenfo deutlih: drjkor d2, OTı zal —
Öv pauev elvaı x00U0v vonTov, aUTOS Gy En TO aoyETUrTOV raQd-
deryue, lId&a zov dev, 6 Heov Aöyog. De mundi opif.). Es verhält ſich mit
der weltbildenden Thätigfeit Gottes ganz genau wie mit der bildenden Wirkſam—
feit des Menfchen, eines KRünftlers, Baumeifters ze, (a. a. D,); womit eine voll-
fommen are Anſchauung des göttlichen Logos gegeben if. Vernunft und Ges
danken des Menfchen auf Gott, die abjolute Vernunft, übergetragen d. 5, ver-
Höttert, fo haben wir den göttlichen Logos des Philo. Alles Weitere ergibt fi
aun von felbft. Der Logos, den wir foeben fennen gelernt haben, muß, um welt-
bildende Kraft zu fein, beflimmter mehrere Momente in fich vereinigen. Weis-
heit (drıorzun, vopıc), Güte, (dyatorng als divanıs momrızn Abfiht),
Macht (dexn, efovaie, xgaros, ald duvauıs Baikırmn), Gnade (img),
und zwar näher gebietende (mooozarrovoa a dei) und verbietende
(eneyogevovse & um dei). Die find dann die fogenannten Kräfte, dunaucıs,
koyor, auch Mittelfräfte genannt, weil eben der göttliche Weltgedanke und die
Gedanfenwelt d. 5. der ganze Logos, 6400 Aoyos, in der Mitte zwifchen ver
Bernunft als folder und der Materie als folder ſteht, uEoos zov &xowv
(Quis rerum div. her. p. 502. M.). Die näheren Prädicate, welche dem fo beftimmten
Logos gegeben werben, Organ, Säule und Band, Sigilf, Ordner der Dinge, Orf
der göttlichen Gedanfen u. f. w., verftehen fich ohnehin von felbft und bedürfen
feiner Erläuterung, fowie auch die Perfonification des Logos ſchon jegt dem Miß—
verftändniß enthoben ift, als ob fie mehr als bloße Perfonification wäre. (vgl.
u. a. de saerif. Ab. et Cain. p. 177. M.) Das Beitere iſt ebenfo einfach. Der
in die Materie eingedrungene und in ihr ausgeprägte Gedankencomplex oder
die durch die Vernunft geftaltete Materie ift die Welt, x00u0S, und diefe mithin
gleichfalls nichts Anderes, als göttlicher Logos. Sieht man freilich auf die Materie,
welche die Subftanz der Welt ift, fo wäre diefe das Andere Gottes, Gott geradezu
entgegengefegt. Allein die Materie als ſolche ift ja Nichtfeiendes, ur) Ov, was
mithin an der Welt ift, iſt nicht die Materie, fondern das andere Element, der
Gedanke, die Form. Folglich if, wie gefagt, die wirkliche Welt, der x0auog
6guros, wioInTös, ebenfo Aoyos deov, wie die Gedanfenwelt, Der einzige
Unterfchied iſt, daß der zö0uoS vonzog früher, der zoouos elosınros fpäter iftz
jener ift der Erfigebprene, diefer der Zweitgeborene; jener VioS rosoßuregog;
diefer vios vewzegog Feoö (Quod Deus immut. p. 277 M. De migrat. Abrah. p.
437 M.). Hiemit find wir an dem Puncte angelangt, wo der Fundige Lefer vor
ſelbſt erkennt, die Philoniſche Philoſophie fei wefentlich nichts Anderes, als Wie-
derholung Platonifcher Gedanken (vgl. Tim. p. 30 ff. 38 f. 47 f. 925 Philab. p.
30; Epin. p. 986). Die Welt if realifirte Vernunft, d. h. als das die Materie
geftaltende und belebende Prineip ift Vernunft begriffen. Das ift Alles. Jetzt
exit verfiehen wir Ausprüde, wie folgende: „Gott erfüllt Alles und geht durch,
Alles Hindurch, und Nichts ift, worin er nicht wäre” (nase yag rerringwrey
0 E08, zei dıc navraw dusknavdev nal xevOv oÜdEy ovdE Eonuov Arrolk-
horse Euvrod); „er ift das Prineip und das Begrenzende von Allem” (aoxn-
xl sregas anavrov — ein Lieblingsbegriff des Plato); „er ift Einer, und er
ſelbſt das Univerfum (eis zul To av euros @r. Leg. alleg. III. p. 88 M; de
Plantat. p. 341 M; Leg. alleg. I. p. 52M.) Alle diefe und ähnliche Säge, wie fie
fih zu Hunderten bei Philo finden (der fog. Pantheismus des Philo) wollen
nichts Anderes fagen, als: Alles was ift, ift vernünftig; und das verſteht fich bei
Philo ebenfo wie bei Plato von felbft, nachdem als weltfchöpferifches oder viel=
37*
580 Logos.
mehr weltbildendes Princip die Vernunft, vous, bie als A0yog wirfenbe Kraft,
erfannt war, Das Eigenthümlihe der Philoniſchen Philofophie, das von
Plato Abweichende in der Ausdrucksweiſe hat feinen Grund einfach darin, daß
Philo Jude gewefen ift und fih an die Sprache des A. T. angefchloffen hat (vgl,
über Philo Dähne, gefhichtl. Darftellung der jüd.-alex. Relig.-Philof, Halle
1834, Semifh, Juſtin d. Mart, Breslau 1839 und befonders Stauden-
maier, Philofophie des Chriftenth, I. Bd, Gießen 1840). — Nunmehr find wir
in den Stand gefegt, die entfchievene Erklärung abzugeben: Johannes kann
weder aus Philo, noch aus einer ihm und dem Philo gemeinfchaftlichen Duelle
gefhöpft Haben; er und Philo haben Nichts gemein, als das Wort; die Begriffe
find toto coelo verfchieden. Der Zohanneifhe Logos ift Perfon, Gptt, in ewigem
Verhältniffe zum Vater flehend (rrgos 7ov Heov), der Philonifche dagegen ift
Product der (fireng genommen unperfönlichen) Vernunft, Gedanke; der So:
banneifche Schöpfer der Welt, der Philonifche die Welt felbft. Wir brauchen das
Evangelium nicht ein Mal herbeizuziehen; fchon der Prolog ift entfcheidend. (Vgl.
hierüber Staudenmaier a, a, D. u. A. Maier, Commentar über d, Ev, d. Joh.
Bd. I. S, 115—119.) — Indeſſen fann man diefes erfennen und dennoch in
Detreff des Sohanneifchen Logos im Irrthum fein. Nicht zufrieden mit der un—
mittelbar vor Augen Tiegenden Wirftichfeit, wie wir fie oben erkannten, und dem
Hang zum Dichten folgend, haben Einige, da fie dem foeben Vorgetragenen die
Anerfenntniß nicht verfagen Fonnten, dem HI. Johannes die Thargumim der R.
Onkelos und Jonathan Ben Ufiel als Duelle angewiefen, aus welder er feine
Logoslehre fhöpfen follte. Jene beiden Rabbi haben, bald nach Chriſto, Para
phrafen verfaßt, der Erfte zum Pentateuch, der Zweite zu den Propheten. Diefe
Paraphrafen find die fog. Thargumim. Und diefe nun, wie gefagt, follen bie
Duelle fein, aus der die Johanneiſche Logoslehre gefloffen. Jene Thargumim
nämlich ſetzen faft überall, wo in den altteftamentlichen Schriften Gott, Geift
Gottes ze. fteht, Wort Gottes, Memra (822) und perfonificiren Diefes, Jo—
hannes aber, fo argumentirt man nun, machte fih während feines Aufenthaltes
in Judäa mit diefen theologiſchen Vorftellungen, welche eine tiefere Erfenntnig
der altteft. Schriften enthalten, befannt, und fo wurden und waren diefelben ein
Bildungselement feines Logosbewußtſeins, fo daß die Logoslehre des Johannes
weiter nichts ift, als eine höhere Entwicklung der thargumiftifchen Lehre von der
Memra, Diefe Annahme ift grundfalfch und wenig beffer, als die philoniſch—
effäifch-therapeutifhe Hypothefe. Wenn Johannes außer dem Chriflus, den er
gefehen, gehört, berührt hat, noch einer Lehre oder Lehrmweife bedurfte, um zu
dem Begriff und Worte Logos zu kommen, fo brauchte er doch feine Zuflucht
nicht zu den Thargumiften zu nehmen; er fonnte fih an die altteſt. Schriften
ſelbſt, namentlich die Deuterocanonifchen, anfchließen, woſelbſt Aeußerungen Gottes
(Weisheit, Wort) im Ueberfluſſe perfonifieirt find. Einem Apoſtel nachchriſtliche
Juden zu Lehrern geben, heißt das Wefen des Chriftenthums total verfennen,
denn nach Chriftus gibt es Feinen Propheten, Feinen Lehrer mehr, fo wenig als
einen Priefter, Wer immer nach Chriſtus die Wahrheit Iehrt, thut e8 als Drgan
Chriſti. Davon aber abgefehen: wie konnte aus der thargumiſtiſchen Memra der
Sohanneifche Logos entftehen? Ganz ebenfo wenig, als aus dem Philonifhen
Logos. Man entwirle das unperfünliche Wort Gottes fo weit over hoch als
man wolle, man perfonificire e8 aufs Vollftändigfte, e8 wird nie zum Sohne
Gottes, nie zu Gott werden, was ber Sohanneifhe Logos if. Der Begriff,
ven Johannes gibt, hat fih aus Feiner fremden Duelle fchöpfen, fondern nur aus
der Wirklichkeit, dem menfchgeworbenen Logos, abftrahiren Yaffen, mit andern
Worten: nur durch den Logos felbft geoffenbart werden köͤnnen. Das alte Te-
ftament weist auf Chriftum Hinz was wir daher in ihm erblicken, was auch R.
Onkelos und R. Jonathan in ihm erblickt haben, ift der Schatten des in Chriſto
Logotheta. 581
erſchienenen und von Johannes wie den übrigen Apoſteln geſehenen Körpers. —
Daß indeſſen zwiſchen dem Philoniſchen und altteſtamentlich-thargumiſtiſchen Logos
einerſeits und dem Johanneiſchen andererſeits gar feine Beziehung ftattfinde,
wollen wir nicht behaupten. Es iſt allerdings denkbar, ſogar wahrſcheinlich, daß eine
ſolche vorhanden ſei, aber nur eine negative. Die Apoſtel hatten Chriſtum als den
Sohn Gottes, dem Vater weſensgleich, verkündigt, und zwar ſo, daß derſelbe als der
offenbare Gott erſchien und daß an der Einheit Gottes feſtgehalten wurde. Da lag
nun Beides ganz nahe: daß man einerſeits den Philoniſchen, anderſeits den altteſt.
thargumiſtiſchen Logosbegriff auf den fo verfündigten Chriſtus anwende. Ju dem
einen wie in dem andern Falle aber hatte man nicht mehr den wirklichen Chriſtus,
nicht den wahren Gottesſohn. Die Apoftel mußten folglich gegen das Eine wie
das Andere proteftiren, ALS ſolchen Proteft kann man den Prolog anfehen, wel-
hen Johannes feinem Evangelium vorausſchickt. Der Apoftel würde damit er—
Hören: der Sohn Gottes, deffen Gefhichte im Folgenden erzählt werden foll,
kann allerdings Wort Gottes, Logos, genannt werden; aber unter diefem Logos
iſt nicht das unperfönliche und bloß perfonificirte Wort des alten Teftaments, und
eben fo wenig das Bernunftproduct oder die ‚Bernunftäußerung des Philo zu ver⸗
fliehen, vielmehr iſt derſelbe abſolut ſeiend (Ev aoxn 7v), in ewigem Verhältniffe
zum Vater fiehend (oös zov 3er), kurz, flehthin Gott (Feög 7v 6 A0yog),
der Schöpfer des Univerfums (navre di’ aurov Eyevero) u. !. w., und diefer
Logos ift es, welcher Menſch zu (zei 0 A0y0S 0aoE Eyevero) und als
Chriſtus unter uns gelebt Hat. Es ift Elar, der Apoftel Eonnte den angedenteten
Srrlehren nicht wirffamer entgegentreten, als auf die angegebene Weife. Nehmen
wir nun dazu, was wir gleich Anfangs erfannten, daß es wiſſenſchaftlich erlaubt
gewefen, den Sohn Gottes Logos zu nennen, fo haben wir mit genügender
Sicherheit erfannt, wie Johannes dazu gefommen, fi einige Male, namentlich
im Eingang zu feinem Evangelium, des Ausdruckes Logos zu bedienen, Daß
dann aber freilich gerade an diefen Ausdrud fpäter fi vielfahe Mißverſtändniſſe
geknüpft haben, lehrt die Dogmengefhicte. Man denfe nur z. B. an den Aoyos:
Evdi@IEToS und TTEOPOgLxOS des Theophilus, an das Mittelwefen der Arianer
u. dgl. Hier kommt dieß nicht weiter in Betradt. [Mattes.]
Logotheta — ift einer der zahlreihen Titel am byzantinifchen Hofe und
heißt nach dem Wortlaute (AoyoIErns) Rehenfhaftsgeber, Amtsvorſteher. Es
gab mehrere Logotheten: Aoy. rou yerızov, aerarii generalis — Vorſteher über
das Steuerwefen; A. roü doouov, publici cursus — Borfteher über die Courier-
oder Poftanftalt; A. zwv oizsıazcov, rerum domesticarum familiarium — Vor-
fieher über die Faiferlihe Haushaltung, Haus- und Hofminifter; A. cov oroa-
TıorıxoV, logotheta castrensis — Kriegsminifter oder (im eigentlichen Sinn ge=
nommen) Feldzeugmeifter; 4. ov ayskov, rei pecuariae — Auffeher über die
Domänen ꝛc. Der wichtigfte Logothet aber war der große, hoyoFErns uEyaS.
Eodinus bezeichnet deffen Amt in folgenden Worten: „Der große Logothet be—
forgt die kaiſerlichen Erlaſſe und goldenen Bullen an die Könige, Sultane und
Statthalter“ (6 ueyas hoyoFErns dtararzeı vo rrag« Tov Baoıkkas AT0—
srehköueva MOOGTEYuaTE zei zovooßovAhe rrgög Te oNnyaS (reges), vovVl—
Tavovug za Torragyas). Er war demnach Sigelbewahrer oder Kanzler, wie er
in der That foäter genannt wurde — zayxeilagıos. — Diefem Logotheta pala-
tinus entfprach der Logotheta ecclesiasticus. Derjelbe war Vorſteher der biſchof⸗
lichen Kanzlei, des kirchlichen Gerichtes (eis TO Aoyoygagpeiv zal eis Tag dn—
UODLERUS ze Kpxovrıras UnoFEosıs koyoyoapeiv — was Gretſer fo über-
fest: praeest discutiendis et conscribendis rationibus, tam quas reddunt qui ex plebe
quam qui ex ordine ecclesiastico principali), bewahrie das re des Patriarchen,
und beforgte die biſchoflichen Erlaſſe Goxgerc nv BovAk av TOU EEXLEQEWS,
el Eirtı av youpeı 6 dpyısgsös, opguyilera rag avrov), ſprach wohl au
m. Lohner — Lollharden.
ſelbſt zu dem Volke (vermuthlich durch Hirtenbriefe) als Stellvertreter des Pa-
iriarchen (mov Aöyovs zarmyntızovS 70008 zov Auov, Ölxuıog — vicege-
rens — TOD mergLaoxov), war alfo mit einem Wort der Kanzler (Syndicus)
und Generalvicar des Patriarchen, und flund zu dieſem in demfelben Verhältniffe,
als der Groß-Logothet zum Kaifer. In der Kirche hatte er die Patene zu halten,
wenn der Patriarch felbft das Abendmahl austheilte, Bol. Georgii Godini
Curopalatae de officiis magnae Ecclesiae et aulae Gonstantinopolilanae. Cum ver-
sione et comment. P. Jac. Gretseri S. J. Ed. Jac. Goar. Par. 1648. Ferner:
Joh. Meursii Glossarium graeco-barbarum. Mattes.]
Lohner, Tobias, Jeſuit, geboren 1619 zu Neuötting in Bayern, erhielt
1637 die Aufnahme in den Orden, in weldhem er verfchiedenen Lehrftellen und
dem Neetorate zu Luzern und Dillingen vorftund und um 1680 ftarb, Außer
verfehiedenen ascetifhen Schriften in teutfcher und Iateinifher Sprache hat er auf
dem Gebiete der practifchen Theologie mit großer Thätigfeit gearbeitet und Werfe
geliefert, die noch immer fehr gefchägt und gebraucht werben, Dbenan flieht die
Bibliotheca manualis concionatoria, in qua copiosa et selecta pro concionibus, ex-
hortationibus aliisque spiritualibus instructionibus materia facili, ordinata et grala
methodo proponitur. Diefes trefflihe Werk, das manche Prebigerlexiea der neuern
Zeit weit übertrifft, ift in Teutfchland und Italien oft aufgelegt worden, zu
Augsburg in drei Foliobänden 1712, 1717, 1771, und aus dem Lateinischen
überfegt und neu geordnet zu Wien erfihienen unter dem Titel: Handbibliothek
für Prediger, überfegt und neu geordnet von L. Leopold Lauſch, 3 Bände gr. 8,
Wien 1838—1839,. Die andern nicht weniger geſchätzten Werke Lohners find:
Instructio practica de ss. missae sacrificio; instructio practica de officio divino juxta
ritum breviarii Romani recitando; compendium ritualis pro administratione sacra-
mentorum; instructiones practicae varii argumenti, partes XI cum compendio ri-
tuali, worin über folgende Materien gehandelt wird: 1) de sacrificio missae,
2) de horis canonicis, 3) de conversatione apostolica, 4) de munere pastorali pie
et fructuose obeundo, 5) de confessionibus rite excipiendis, 6) institutiones quin-
tuplieis theologiae posilivae videlicet, ascelicae, polemicae, speculalivae et mo-
ralis, 7) de munere concionandi et catechizandi, 8) theologiae mysticae institu-
tiones, 9) de sacerdotii origine et praestantia, 10) de summa doctrinarum asceti-
carum, 11) de armamentario seu panoblia spirituali, cum compendio ritualis pro
administratione sacramentorum. Auch diefe Werke Lohners find Hfter im Drucke
aufgelegt worden, [Schrödl.]
Lollharden. Im Beginne des 14ten Jahrhunderts bildeten ſich zuerſt zu
Antwerpen und dann in andern Theilen Niederlands beghardiſche Vereine fuͤr
Krankenpflege und Todtenbeſtattung, deren Mitglieder den Namen Alerianer
(ſ. d. A.) und Celliten trugen und vom Volke häufig Lollarden, Lollharden i. e.
Luller, Loller, Nollbrüder, Sänger, von ihrem Todtengeſang bei den Begräb—
niſſen her, genannt wurden. Ob gerade dieſen Vereinen, die ſich auch nach
Teutſchland verpflanzten, der Name Lollharden zuerſt gegeben worden ſei, und
ob fie denſelben Anfangs ausſchließlich getragen, läßt ſich nicht ermitteln; gewiß
ift, daß diefer Name felbft fehon im erften Decennium des 14ten Jahrhunderts:
vorzüglich zur Bezeichnung herumziehender fectirerifcher Heuchler und Andächtler
gebraucht und bald ganz allgemein als identiſch mit verſteckten, ſcheinheiligen und
betrügerifhen Schwärmern, Sectirern und Kegern genommen wurde, Insbeſon⸗
dere fommen die Lollharden bald als iventifch, bald in Verbindung mit den Beg-
harden, Beghinen (f. d. A.), Fraticellen (ſ. d. A) und verwandten Seeten vor,
und von diefer Art Lollharden mögen diejenigen gewefen fein, von denen ber Ca-
nonicus Hocſemius von Lüttich in feinen Annalen zum Jahr 1309 fhreibt:
‚eodem anno quidam hypocritae gyroragi, qui Lollardi sive Deum lau-
dantes vocabantur, per Hannoniam et Brabantiam quasdam mulieres nobiles. de-.
| Lombarden — Lombardus. 583
| eeperunt.“ Ferner wird der Name Lollharden öfter von den gnoſtiſch-manichäiſchen
| Regern und Abfümmlingen der Albigenfer, wie auch von verdeckten Waldenfern
gebraucht; fo gab man dem Erzfeger Walther, welder 1322 zu Cöln verbrannt
wurde, und den ihm gleichgefinnten manichäiſchen Regern ſchlechteſter Art, die im
| Anfang des 14ten Jahrhunderts in Deftreih zum Vorſchein kamen, wohin fie aus
den Niederlanden her fich eingefchlichen hatten, ven Namen Lollharden (f, Rayn. Annal.
a. 1318, nr. 44, und Klein, Geſch. d. Chriftenth, in Oeſtr. u. Steierm, Bd. I.
©. 395). Es ift daher wohl ein Irrthum, wenn man früher häufig den genannten
Walther zu Cöln als den Stifter der Lollharden angefehen oder auch gemeint hat,
der Name Lollharden fehreibe fich erft von ven Wiclefiten ber, weil diefe in England
allgemein fchimpf- und fpottweife mit dem Namen „Lollharden“ bezeichnet wurden.
Demnad find es vor Allen die Wiclefiten, welden der Name Lollharden beigelegt
worben ift, worüber Mehreres im Art, Wielef, Wiclefiten, Val. auch vie Art,
Ehriftenverfolgungen ©, 505 und Großbritannien S,782, [Schröpl.]
Lombarden, f. Longobarden,
Lombardifch-Benetianifches Königreich, f. Stalien.
Lombardus, Petrus, und die wihtigften feiner Commentatoren,
Petrus Lom bardus war im Gebiete der Iombardifhen Stadt Novara, woher
er feinen Beinamen führt, aus einer armen und unbefannten Familie geboren,
Ein Wohlthäter gab ihm die Mittel, in Bologna feine Studien zu beginnen;
von da begab er ſich nach Frankreich mit Empfehlungsfchreiben an den heiligen
Bernardus, welcher ihn in die Schule von Rheims ſchickte. Der Ruf der Pro-
fefforen von Paris zog ihn in diefe Stadt, welche ihn fo fehr feffelte, daß er die-
felbe gegen feine anfängliche Abficht nie mehr verlieh, Seine Gelehrfanfeit ver-
ſchaffte ihm bafd eine thevlogifche Lehrfanzel, welche er mehrere Jahre lang mit
der größten Auszeichnung inne hatte, Im Jahre 1159 wurde er auf den Bor-
flag des Bruders des Königs Philipp, welcher Archidiacon an der Cathedrale
von Paris war, zum Biſchofe der genannten Stadt gewählt; er ſtarb jedoch ſchon
im Jahre 1164. Ueber feine Wirffamfeit als Biſchof ift nichts befannt; doch
reicht der einzige Zug, welden ein ferrarefifcher Chronift über ihn aufgezeichnet
bat, Hin, einiges Licht über feinen Charakter zu verbreiten. Einige Edelleute
aus feiner Vaterftadt reisten nach Paris, um ihrem berühmten Landsmanne ihre
Ehrerbietung zu bezeugen, und nahmen auch feine Mutter mit, Da ihnen aber
diefe gar zu ärmlich geffeidet fchien, fo Tegten fie derfelben dem Range ihres
Sohnes entfprechendere Kleider an, obwohl diefelbe verfiherte, fie kenne ihren
Sohn; ein folder Aufzug werde ihm nicht gefallen, Als man ihm diefelbe als
feine Mutter vorſtellte, bemerkte er, er kenne fie nicht; er fei der Sohn einer
armen Frau, und erft, nachdem fie ihre alte Ländliche Kleidung wieder angezogen
hatte, erfannte er fie als feine Mutter und umarmte fie. — Petrus Lombar-
dus iſt der Verfaffer der vier berühmten Sentenzenbücher (libri IV sen-
tentiarum). Zur Zeit des Lombarden herrfähten in den Schulen zwei Methoden,
welche einander feindfelig gegenüberflanden: die der Kirchlichen oder Pofitiviften
und die fueculative oder dialectiſche. Die erfte befand darin, dag man die Firch-
liche Lehre aus der Heiligen Schrift und aus der Tradition zufammenftellte. Die
zweite, welche durch Abälard (f.d. A.) auf ihre Spige getrieben wurde, erörterte
die Gegenftände der Religion auf dem Wege des Ratfonnements, ftellte Sag und
Gegenfag einander gegenüber und fuchte dann die fheinbaren Widerfprüche dia-
leetifch zu Töfen, Petrus Lombardus ſuchte nun beide Methoden mit einander zu
vereinigen, Nachdem Borgange früherer Gelehrten, welche Sammlungen von Sen=-
tenzen der Rirchenväter und Concilien veranftalteten — Wilhelm von Cham-
peaur, Hugo von St. Victor, Robert Pulleyn (f, diefe Art.) — wollte er
„die ſicheren Säge des Glaubens gegen die Regerei der Meinungen” zufammenftel-
len, Das dialectiſche Moment aber nahm er in fofern in fein Werk auf, als er aͤhn⸗
584 Lombardus.
lich dem von Abälard in feiner berühmten Schrift: „Sic et non“ beobachteten
Berfahren, die ſcheinbaren Widerſprüche feiner Auctoritäten nicht übergeht, Ton-
dern ausdrücklich Hinftellt und zu Löfen ſucht. Er ſelbſt gibt in feiner Einleitung
als Zweck feines auf Verlangen feiner Ternbegierigen Brüder verfaßten Werkes
an „die Feftigfeit des kirchlichen Glaubens darzuftellen, das Verborgene theolo—
giſcher Unterfuchungen zu Öffnen und die Sacramente der Kirche verfländlih zu
machen.“ Entfprechend dem großen Anfehen, welches der heilige Auguftin im
Mittelalter genoß, ift die Orundanlage feines Werkes vorherrfchend Auguftinia-
niſch, wie fhon Daraus hervorgeht, daß derfelbe Die Slaubenswahrheiten in
Lehren von Sachen und von Zeichen eintheilt, Die drei erſten Bücher und
der Tractat von der Auferftehung des vierten behandeln die Lehre von den Sachen,
während der übrige Theil des vierten Buches die Lehre von den Zeichen Cunter
welchen befonders die Sarramente verflanden werden) enthält. (Eine Analyfe
des ganzen Werkes fiehe in der Hist. lit. dela France X, 509—601. Era=
mer in feiner Fortfegung der Einleitung ber Weltgeſchichte Boſſuets VI,
591— 782. Flügge, Verſuch einer Geſchichte ber thevlogiſchen Wiffenfehaften
Iu, 443—465. Schröckh, Rirhengefichte 28, 489—518. Ritter, Ge⸗
fhihte der Philoſophie VII, 480-499. Kuhn, Dogmatit I, 1. 260 fi) —
Als Mangel an dem Werke des Lombarden wird hervorgehoben die oberflächliche,
nicht in der Natur der Sache begründete Eintheilung des Stoffes und die Zu⸗
fammenfafjung der Dogmatik und Moral, welche von ihm auf das ganze Mittel-
alter fich forterbte. Das außerordentliche, faft fymbolifche Anfehen, welhes
die Sentenzenbücher unter den Scholaſtikern erhielten, legt übrigens den ſprechen⸗
den Beweis ab, daß der Lombarde, wenn er auch fein productiver Geiſt war,
doch einem wirklichen, viefverbreiteten Bedürfniffe feiner Zeit entſprochen habe,
Die Nüchternheit und Mäßigung der theologiſchen Anſchauung, die Reichhaltigkeit
des aufgenommenen Stoffes und der geſchickte Tact, mit welchem eine Menge
ſpitzfindiger, unfruchtbarer Fragen von der Erörterung ausgeſchloſſen wurden,
gaben dieſem Werke eine ſolche Bedeutung, daß daſſelbe faſt in allen theologiſchen
Schulen des Mittelalters den Vorleſungen als Lehrbuch zu Grunde gelegt wurde.
— Uebrigens fanden bie Sentenzenbücher ſchon bei Lebzeiten ihres Berfaffers
Anſtoß. Einer der ausgezeichnetfien Schüler des Lombarden, Johann von
Cornwallis, fuchte zwölf Jahre hindurch bei dem Papfte Alexander II. es durch⸗
zuſetzen, daß ſein Lehrer als der Ketzerei des Nihilismus ſchuldig verdammt
werde, Endlich vermochte er den Papſt, daß er im Jahre 1170, am Ende feines
Pontificats, durch ein Reſeript allen Profefjoren verbieten ließ, den Satz, daß
Jeſus Chriftus, als Menſch betrachtet, Nichts ſei, vorzutragen. Kurz
darauf erneuerte Walter von Mauritanien, damais Prior in dem Stifte
der regulären Chorheren des HI. Bictor zu Paris, welcher einer der erfien Geg-
ner Abälards gewefen war, denfelben Angriff in dem gegen ihn, gegen Abälard,
Peter von Poitiers und Gilbert de la Porrée EG. d. A.) gerichteten Bude
„contra quatuor Galliae labyrinthos.“ Auch warf er den genannten Theologen, die
er ungerechter Weife in eine Linie mit einander ftellte, insgefammt vor, daß fie
durch die Art und Weife, wie fie die Dialectit anwendeten, überall Gegenfäge
aufftelften und über Alles Fragen aufwürfen, Alles in Der Religion ſchwankend
machten, Endlich erhob ſich der Abt Joach im von Calabrien (f. d. A), ein.
bekannter Myftifer jener Zeit, gegen den Rombarden. In einer der Kirchen-
verfammlung im Lateran (1179) überreichten Schrift behauptete der genannte
Abt, Petrus nehme eine Biereinigfeit (quaternitas) in Gott an, da er gelehrt
habe, der Vater, der Sohn und ber hl. Geift feien ein höchftes Ding (summa
quaedam res), welches nicht zeuge, nicht gezeugt werbe und nicht ausgehe. Das
Eoneil ging nicht auf dieſe Anfhuldigung ein, Auf einer fpätern Kirchenverſamm⸗
fung im Lateran, welche unter Innocenz II. 1215 gehalten wurde, ward bie Lehre
un a Ze en en 0 h nr * * er — äVä— EZ rn Wr Te a u en ee ce A he
= 3 a
Lombarbus, 585
des Lombarden gebilligt und die Schrift des Denuncianten verdammt, Obgleich
diefe Angriffe das Anfehen des Lombarden nur hatten erhöhen helfen, fo. Famen
doch im Jahre 1300 die Profefforen der Theologie zu Paris darin mit einander
überein, 16 Säge der Sentenzenbücher nicht vorzutragen. Doc hatte diefe Maß—
regel nah D’Argentree nicht fo faft einen eigentlich theologifhen, als viel-
mehr einen öconomifchen Grund; auch findet man nicht, daß andere theologifche
Säulen derfelben beigetreten wären. Die fpäteren Theologen tadelten außerdem
no an dem Lombarden, daß er mehrere wichtige Lehrftüde, z. B. über die hei-
lige Schrift, die Kirche, den Primat und die Coneilien, in fein Werk nicht auf-
genommen habe und einen großen Mangel an Kritik an den Tag lege. Allein
beide negative Eigenfchaften hat derfelbe nicht bloß mit feiner Zeit, fondern über-
haupt mit dem ganzen Mittelalter gemeinfam, da auch die größten Scholaftifer,
3. DB. der heilige Thomas von Aquin, auf einem niedern Standpuncte der Kritif
fiehen, und die Lehren von der heiligen Schrift, von dem Primat u, ſ. w. erft
durch die Beftreitung derfelben durch die Reformatoren ein Gegenftand der gründ-
licheren Unterfuhung wurden, — Ueber die verfchiedenen Ausgaben der Senten-
zenbücher fiehe Hist. lit. 1. c. 607— 617. — No haben wir hier eines Iiterari=
ſchen Streites zu erwähnen, welcher über die eigentlihe Urheberſchaft der
Sentenzenbüder erhoben worden iſt. Dr. Eck Hatte in der Abtei Mölk ein
„summa magistri Bandini‘‘ betiteltes Danufeript gefunden, welches außerordentlich
große Aehnlichkeit mit den Sentenzen des Lombarden darbot und dur den Abt
der Schotten zu Wien, Chelidonius, im Jahre 1519 zum Drude befördert wurde.
Eramer, welder einen Auszug der summa des Bandinus in fein oben genanntes
Werk aufgenommen bat und beide Schriften mit einander vergleicht, vermag den
Streit nicht genügend zu fohlichten. Doch geht aus einem von dem befannten
Bernhard Bez aufgefundenen Manuferipte, welches den Titel führt: „Abbreviatio
magistri Bandini de libro sacramentorum magistri Petri Parisiensis episcopi fideliter
acta“, welche von dem genannten Gelehrten in dem erften Bande feines thesaurus
anectodorum novissimus abgedruckt wurde, hervor, daß die Arbeit des Bandinus,
eines fonft gänzlich unbekannten Theologen, nur ein Auszug aus den Sentenzen
des Lombarden fei. Gewiß“, fagt in diefer Beziehung Neander (Kirchengeſch.
VI. 795) mit Recht, „war Peter der Lombarde niht der Mann, der einer
ſolchen Borarbeit bedurft Hätte,“ — Petrus Lombarbus ift außerdem der
Berfaffer von Commentarien über die Pfalmen und das Hohe Lied, ſo—
wie über die Briefe des heiligen Apoftels Paulus, welche 1537 und 41
zu Paris gedruckt wurden. Doch haben diefe eregetifchen Werfe feinen bedeutenden
wiſſenſchaftlichen Werth, da fie faft nur in Auszügen aus den Schriften der Kir—
chenväter und Theologen des Mittelalters beftehen. In Beziehung auf feine Er—
Härung der Briefe des heiligen Paulus, in welchen Lombardus befonders dem
heiligen Ambrofius, Hieronymus und Auguftinus folgte, bemerken übrigens die
gelehrten Benedictiner in der ſchon angeführten Literärgefchichte Franfreichs, die—
felbe fei klar, methodiſch und enthalte außer den Gedanfen der Väter fehr gute,
dem Verfaſſer eigenthümliche Anfichten. Leber die ungedrucdten Werke des Petrus
— Gloſſen zu dem Buche Job, Sonn- und Fefttagsprebigten,, einige Briefe, eine
Methode der practifchen Theologie und eine Selbfivertheidigung gegen die An-
griffe des Johann von Cornwallis — fiehe das fo eben genannte Werf ©. 603.
— Hinfihtlich der bisher von und noch nicht angeführten Altern Literatur über
den Lombarden verweifen wir auf Gräße's Lehrbuch einer Literärgefchichte der
berühmteften Völker des Mittelalters, II. Abth. 1. Halfte, S. 211 ff. — Unter
den zahliofen Commentatoren der Sentenzenbücher des Lombarden heben wir
mit Umgebung derjenigen, welche, wie die großen Scholaftifer Alerander von
Hales, Thomas von Aquin u. f. w., in eigenen Artifeln dargeſtellt werben, als
die bedeutendften hervor: Peter von Poitiers (nicht zu verwechfeln mit feinem
586 Lombardus.
ältern gleichnamigen Zeitgenoſſen, einem Dichter aus dem Orden son Clugny),
einer der ausgezeichnetfien Schüler des Petrus Lombardus, welcher dem leßteren
auf feinem Lehrfiuhle folgte und als Kanzler der Kirche und Univerfität von Paris
im Jahre 1206 ſtarb. In feinem Commentare zu den Sentenzen des Lombarden
fihließt er fih ganz getreu an den Vortrag feines Lehrers an, den er zu begrün-
den und zu beftätigen fucht. Einen Auszug aus diefem Werfe fiehe bei Cramer
a0. O. VI. 754 ff. Auch verfaßte er eine „genealogia und chronologia sanctorum
Patrum ab Adamo ad Christum* und noch einige unbedeutende Werke eregetifchen,
theologifchen und philofophifhen Inhalts, S. Schröcdh 28, 540 ff. Flügge
0,0. O. II. 484 ff. — Petrus Aureolus, zu Vermeria in Franfreich ge-
boren, trat frühzeitig in den Franciscanerorden, war von 1516—21 Profeffor
an der Univerfität zu Paris, wurde dann Erzbifchof von Air, wo er 1345 ftarb,
Wegen feiner Beredtfamfeit hatte er den Beinamen Doctor facundus erhalten,
Er hinterließ außerdem „quodlibeta varia“, und einen „‚tractatus de immaculata
Virgine.“ Cfr. Oudinus de script. saer. III. 850 sqg. — Johannes Baffolig,
ein Schüler des Duns Scotus, wahrfcheinlich ein geborner Schotte, Derfelbe
lehrte in der erften Hälfte des 14ten Jahrhunderts als Profeffor der Theologie
zu Rheims und Mecheln mit folhem Beifalfe, daß er den Ehrennamen Doctor
ornatissimus erhielt, — Petrus von Aquila aus dem Franciscanerorden, Bi—
ſchof von St. Angelo im Neapolitanifchen und 1338 von Trivento, fehrieb einen
„Scotellus“, in welchem er die Lehren des Seotus zufammenfaßte, und ein „com-
pendium super magistrum sententiarum“, fowie ein eng damit verbundenes Werk
„quaestiones in IV lib. sent. juxta Scoti doetrinam.‘“ — Johannes Bacon oder
Bacon Thorpe, fo genannt von feinem in der Nähe von Norfolk gelegenen heimath-
lichen Dorfe, trat frühzeitig in den Carmeliterorden, wurde zu London 1329 zum
Provincial feines Ordens gewählt und flarb 1346 mit dem Beinamen eines
Doctor resolutus. Er fchrieb außer feinem Commentar über den Lombarden ein
„compendium legis Christi“ und „quodlibeta*, welche öfters gedrunft wurden. —
Gerardug Odonis aus Rodez in Frankreich gebürtig, wurde 1329 General
des Minoritenordens, in den er frühzeitig getreten war, und flarb 1349 als
Adminiftrator der Kirche von Catanea in Sicilien, Er führte den Titel Doctor
moralis. — Johannes Canon, ein Minprite und Schüler des Duns Scotus,
wurde 1329 zu Paris Doctor der Theologie und flarb als Profeffor der Theo-
logie zu Orford, — Petrus Paludanus aus Burgund, Dominicaner und
Thomift, war feit 1314 Lehrer der Theologie zu Paris, feit 1330—42 Patriarch
zu Serufalem, ſchrieb außerdem ein „directorium terrae sanotae*, einen „trao-
tatus de causa immediata ecclesiasticae potestatis* und eine „determinastio facult.
Paris. de visione beatifica contra Joh. XXI. — Adamus Goddam aus Nor-
wich, wegen feiner Abfunft gewöhnlich Anglicus genannt, ein Minorit, Schüler
Oecam's und Lehrer der Theologie zu Drford um die Mitte des Uten Jahr»
bunderts, — Robert Holeot aus Northampton, Dominicaner, farb 1349 als
Profeffor der Theologie zu Drford und Hinterließ mehrere moraltheologifche
Schriften. — Thomas de Argentina, aus Straßburg gebürtig, Profeffor der
Theologie zu Paris, ftarb 1357 als General des Auguſtinereremitenordens. ©;
Tiedemann, „Geift ver fpeeulativen Philoſophie“ V. 235 ff. — Gregorius
von Rimini, Nachfolger des vorigen, den er nur um ein Jahr überlebte, ver—
faßte außerdem Commentarien zu den Briefen des heiligen Apoftels Paulus und
Jacobus. — Alphonfus Bargas aus demfelben Orden, früher Profeffor der
Thenlogie zu Paris, zuletzt Erzbifhof von Sevilla, wo er 1359 ftarb, — Jar
cobus von Teramp oder auch von Ancherano, wo er 1349 geboren wurde,
wurde 1384 Archidiacon zu Averfa, dann Bifchof in verſchiedenen Didcefen und
zulegt in Spoleto, wo er 1417 farb, Derfelbe ift befonders berühmt durch feine
„eonsolatio peccatorum s. liber Belial, processus luciferi contra Jesum judice Sa--
ck. — ii
Lombarbug, 587
lomone*, in weldem nah Gräße der Prophet Jeremias der Sahwalter des
Teufels und Ariftoteles der Advocat Chriſti iſt. Siehe die ziemlich reichhaltige
Literatur bei Oräße a. a. D. II. 1, 319, — Johannes Capreolus, ein fran=
zöfifeher Dominicaner, zuerfi Profeffor der Theologie zu Paris, danı Rector fei-
ner Ordensſchule zu Touloufe, farb 1444 in feinem Profeßhaufe zu Nodez, im
das er fih 1326 zurüdgezogen hatte. — Dionyfins von Rykel, fonft au
de Leewis genannt, trat in feinem 2iten Lebensjahre in das Carthäuferflofter
zu Ruremonde, wo er 1471 ftarb. Derfelbe führt gewöhnlih den Beinamen
eines Doctor ecstaticus und ift befonders auf dem ascetifchen und moralifchen Ge—
biete ein außerordentlich fruchtbarer Schriftfieller. — Heinrih Gorcum oder
von Gorchheim Ceiner gleichnamigen Stadt in Holland oder Bayern) war ein zu
feiner Zeit — er lebte um die Mitte des 1äten Jahrhunderts und war im Jahre
1460 Bicefanzler der Univerfität zu Cöln — fehr berühmter Scholaftifer. — Ein
ebenfalls angefehener Theologe feiner Zeit war Petrus Aquilanus aus dem
Minpritenorden, welcher zulegt 1337 —44 Jnquifitor zu Florenz wurde und den
Beinamen Doctor sufficiens, oder auch wegen feiner Anhänglichfeit an die ſco—
tiftifche Lehre Scotellus führte. — Gabriel Biel zu Speyer, nah Einigen zu
Tübingen oder Conftanz geboren (ſ. Biel). Derfelbe wurde zuerft Prediger an der
Martinskicche zu Mainz, dann Propft an der Eoflegiatfirche zu Urach. Der Graf
und nachherige Herzog Eberhard von Würtemberg bediente fich feiner bei Errich⸗
tung der Univerfität zu Tübingen (1477); im folgenden Jahre war er einer der
Begleiter diefes Fürften auf feiner Reife nah Rom, Er lehrte feit 1484 die Theologie
zu Tübingen und trat fpäter unter die fratres de communi vita (f. Clerici et fratres
vitae communis), in welcher Bruderſchaft er 1495 farb, Mit Gabriel Biel wird
gewöhnlich das dritte und letzte Zeitalter der Scholaftif als abgefchloffen betrachtet.
Derfelbe war ein Nominalift und ſchrieb eine „epitome scripti Guielmi de Occamo et
collectorium super IV lib. sent.“ Außerdem war er ein berühmter Ranzelredner. Seine
Predigten wurden in zwei Sammlungen gedrudt („sermones Gabrielis de tempore*
herausgegeben von Wendelin Steinbach, Profeffor der Theologie zu Tübingen,
1500, und „sermones Gabrielis de festivitate gloriosae virginis Mariae*), und
find vorherrſchend moralifch gehalten. S. Schröckh a. a. O. 33, 533 ff. Die
freimüthigen und öfters von den Meinungen der übrigen Lehrer abweichenden Ur—
theile, welche Gabriel Biel Hinfichtlich mehrerer Firchenrechtlichen Fragen in feiner
„iectura super canone missae in alma universitate Tubingensi ordinarie lecta®* —
und in feiner „sacri canonis Missae literalis et mystica expositio*, cfr. fein „de-
fensorium contra aemulos suos de obedientia sedis apostolicae* — ausſprach,
haben demfelben die zweideutige Ehre verfchafft, von den Proteflanten unter ihre
fogenannten testes veritalis aufgenommen zu werden, Bon Wernsdorf und Hie-
ronymus Wigandus wurden nämlich alle feine von den Beftimmungen des Eon—
cils von Trient abweichenden Meinungen in einer in Heftigem polemifchen Tone
abgefaßten Schrift gefammelt, welche 1719 zu Wittenberg unter dem Titel: „de
Gabr. Biel celeberrimo Papista Antipapista* abgedruft wurde, S. Schrödg
a. a. O. 34, 215 ff. Biographie universelle 4, 472 suiv. — Johannes
Zach ariä, Auguftinereremit, von 1400—1428 Profeffor der Theologie in fei-
ner Baterfladt Erfurt, wegen feiner auf dem Eoneil von Conſtanz gegen Hus an
den Tag gelegten Heftigfeit Hussomastix genannt, — Unter die Commentatoren
des Petrus Lombarbus wird gewöhnlich auch Paulus Eortefius gerechnet,
welcher zu Rom, wo fein Vater päpftliher Serretär war, 1465 geboren wurde
und 1510 als apoſtoliſcher Protonotar auf feinem Eaftell Eortefiano in Toscana
ftarb, Derfelbe ift unter dem Namen des Eicero der Scholafifer bekannt.
Er verfaßte „disputationes in IV lib. sentent.“, welche im Jahre 1540 zu Bafel
unter dem Titel: „P. Cortesius in sententias; qui in hoc opere eloquentiam cum
theologia conjunxit; boni igitur ac studiosi gaudento et emento* gedruckt wurde,
588 Lombardus.
Doch hat dieſes Werk mit Petrus Lombardus faſt nur die Eintheilung und An-
ordnung des Stoffes gemein. Statt dem Lombarden zu folgen, macht er fi
vielmehr über die Scholaftifer an vielen Stellen luſtig. Ueberhaupt gehört diefer
Theologe einer von der der bisher angeführten Scholaftifer abweichenden Geiftes-
richtung an. Ein Auszug aus feinem obengenannten Werke fiehe bei Schröckh
a. a, S. 34, 219 ff. Außerdem verfaßte verfelbe: „Dialogus de hominibus doc-
tis* und „de sacrarum lillerarum omniumque disciplinarum scientia.* — Conrad
Summenhart aus Calw in Schwaben, 1465 geboren und 1511 als Profeffor
der Theologie zu Tübingen an der Peft geftorben, der Verfaffer vieler theologifcher
Schriften. ©. Gräße a. a. O. I. 1. 395. — In Spanien, wo die Scholaftif
noch fortblühte, nachdem die theologifchen Wiſſenſchaften zum Theile in Folge der
Einwirkung des Proteftantismus in andern Ländern großentheil® eine andere
Richtung erhalten hatten, traten während des ganzen 16ten und im Anfange des
ATten Jahrhunderts noch eine Menge Theologen auf, welde den Zußftapfen des
Lombarden folgten und feine Sentenzenbücher ceommentirten. Unter diefen heben
wir hervor: — Dominieus Soto. Diefer, einer der gründlichften Theologen
feiner Zeit, im Jahre 1494 in Segovia von armen Eltern geboren, ſtudirte
zuerft zu Alcala Philofophie, und erhielt zu Paris, wohin er einen reichen Mit-
ſchüler begleitet hatte, die Magifterwürde, Nach feiner Rückkehr lehrte er die
Philoſophie zu Alcala, trat 1524 in den Dominicanerorden und erhielt dann eine
Lehrkanzel auf der Univerfität zu Salamanca, wo er Commentarien über bie
ariftotelifche Philofophie herausgab. Im Jahre 1545 ſchickte ihn Earl V. mit dem
Titel feines erften Theologen auf das Coneil von Trient, wo er mit der Erdrte-
rung der fohwierigften dogmatiſchen Fragen beauftragt wurde und mit dem befannten
Catharinus (ſ. d. A.) öfters in gelehrten Streit gerieth. Carl V. wählte ihn fpäter
zu feinem Beichtvater und wollte ihn zum Bifchofe von Segovia erheben. Auch
ftelfte ihn diefer Fürft, deffen volles Vertrauen er beſaß, als Schiedsrichter in
der Streitfache des Lascafas (ſ. den Art, Cafas) und Sepulveda hinfichtlich der
unglüdlichen Indianer auf. Im Sabre 1550 zog er fih von dem Hofe nad Sa-
Yamanca zurüd, wo gr 1560 flarb, Sein Commentar über die Sentenzen des
Lombarden hat einen bedeutenden wiſſenſchaftlichen Werth, Ferner verfaßte er
einen Commentar zu dem Nömerbriefe, in weldhem er befonders die Erflärung
Cajetans (ſ. d. A) zu widerlegen ſuchte, eine Abhandlung über die Natur und Gnade,
in welcher er die Lehre des Concils von Trient über die Erbfünde, den freien Wil-
Yen und die Rechtfertigung vertheidigte, und einen Tractat „de justitia el jure.*
Cfr. Nicolai Antonii „bibliotheca Hispana“ 1. 255 sqq. Biographie univer-
selle Tom. 43, 143 suiv. — Antonius de Eorduba, aus dem Drden der
Minoriten, deffen Provincial er wurde. Derfelbe genoß zu feiner Zeit ſolches
Anfehen, daß ein Zeitgenoffe von ihm behauptete, er habe in der. Theologie wie
ein pythifches Drafel gegolten, bei dem man fih von allen Seiten her Raths
erholt habe. Er verfaßte außerdem ein „quaestionarium theologieum sive silva
casuum conscientiae“; eine „expositio regulae fratrum minorum“; „annotaliones in
Dominicum Sotum de ratione tegendi et detegendi secretum“ etc. Cfr, Antonius
1. c. 1 88. — Bartholomäus de Ledesma, ein Dominicaner, welcher den
erften Lehrſtuhl auf der Academie zu Mexico inne hatte und vom Könige zum
Bifchofe von Guaxaca ernannt wurde, — Didacus de Leon aus dem Carme-
Yiterorden, wohnte als Bifchof von Eoimbra dem Concil von Trient bei, auf
welchem er mehrere Neden hielt, und farb 1589 im Rufe großer Gelehrfamfeit,
— Der legte bedeutende Commentator des Lombarden ift der niederländifche
Theologe Wilhelm Eſtius, welcher überhaupt den ausgezeichnetften Gottes-
gelehrten feines Zeitalters beizuzählen iſt. Derfelbe wurde 1652 zu Goreum in
Holland geboren, fudirte zuerft zu Utrecht, dann zu Löwen, wo er 1580 die
Doelorwuͤrde der Theologie erhielt, Bald darauf wurde er nach Douai auf eine
London — Longobarden, 589
theologische Lehrkanzel berufen, welche er mit großer Auszeihnung inne hatte,
Er wurde Superior des dortigen Seminars, Propſt an der St. Petersfirhe und
zulegt Kanzler der Univerfität, und farb 1613 in feinem T2ten Lebensjahre,
Zuerft befchäftigte er fih mit der Herausgabe der Werke des HI. Auguſtin,
dann verfaßte er eine „historia martyrum Gorcumensium“, d. h. eine Geſchichte
son 19 Prieftern und Ordensleuten, welche 1552 wegen ihrer Anhänglifeit an
die Fatholifche Kirche bei der Einführung des Ealvinismus in feiner Vaterſtadt
ermordet worden waren, Seine „commentaria in IV lib. sentent. Pet. Lomb.
Doct. Paris. II Vol. fol.“, welche öfterg gedrudt wurden, werben von den Theologen
auch in unferer Zeit noch fehr gefhägt. Sie find überhaupt dem Beſten bei-
zuzäßlen, was die fpeculative Theologie feit der Reformation zu Tage gefördert
bat. „Die biblifche und patriftifche Beweisführung ift in diefem Werfe mit großer.
Sorgfalt behandelt, und das dialectifche fpeculative Moment einfach und klar ge-
halten; dagegen ift die Anordnung und Aufeinanderfolge der einzelnen Lehrſtücke
und Lehrpuncte, der Zufammenhang und die fyftematiiche Einheit offenbar ver-
nahläßigt“ (Kuhn, kath. Dogm. I. 282.). Nicht minder berühmt find die
Eommentare des Eftius zu den Briefen des Heiligen Apoftels Paulus, welde
zwei Foliobände umfaffen, In der Ausarbeitung eines Commentars über die
katholiſchen Briefe wurde er bei dem fünften Capitel des erfien Briefes Jo—
bannis durch den Tod unterbrochen. Minder werthvoll find feine „annotationes
in praecipua et difficiliora scripturae loca“, an welchen jedoch die überhaupt in
allen feinen Werfen herrſchende Klarheit und Gründlichkeit gerühmt wird, Noch
find endlich zu erwähnen feine „oraliones theologicae* XIX. Cfr. Biographie
univers. Tom. XII. 400 suiv. Dupin, nouvelle biblioth. des auteurs ecclesia-
stiques Tom. XVI. 45 suiv. [Brifar.]
SLondon, Bisthum, f. Angelfahfen Bd. J. S. 245, 246, 250, Groß⸗
britannien Bd, IV. ©, 803, und Hochkirche.
2ong, ſ. Le Long.
Longobarden, Chriftentbum bei denfelben und Religionszuftand
bis auf Carl den Großen. Die Longobarden, ein teutſcher Bolksftamm, von
der Elbe Her allmählig gegen die Donau rückend, nahmen gegen Ende des fünften
Sahrhunderts das Land der im J. 487 von König Odoaker unterworfenen und
zerfireuten Rugier in Befig, i. e. das fogenannte Rugiland, das heutige Unter-
dftreich etwa mit Theilen von Mähren und Ungarn. Bald darauf gerieihen fie
in Abhängigkeit von den Herulern, befiegten fie aber im J. 512, festen um 526,
aufgefordert von Raifer Zuftinian, auf die rechte weftliche Seite der Donau, führ-
ten da häufige Fehden mit den Gepiden, und madten etwa um 566—567 dem
Gepidenreich ein Ende. Und nun, nachdem ſchon früher Iongobardifche Hilfs-
truppen im Kriege des Narfes gegen die Oſtgothen in Jtalien auf Seite der
Römer gefämpft und das oſtgothiſche Reich hatten flürzen helfen (553), verließen
die Longobarden unter ihrem König Alboin im 3. 568 die Donauländer, um fi
in Italien ein Reich zu gründen (Lombardei). — Wie andere teutfhe Stämme
an der untern Donau feit dem vierten und fünften Jahrhundert arianifhe Chriſten
waren (f. über die Gothen die Art. Fridigern und Gothen; über die Ge-
piden den Sornandes de reb. Get. c. 25. und Schloffers Arhiv für Gef.
und Lit, VI Abth. 25 über die Nugier die vita S. Severini von Eugippius;
Kleins Kirchengefch. von Deftr. und Steierm, I und den Art, Bayern, Bd. J.
©. 700), fo fennt Procop (bell. Goth. II, 14) auch die Longobarden fhon als
Ehriften zu der Zeit, da fie von den noch Heidnifchen Herulern unterjocht wurden,
„und nun kann man auch die Glaubwürdigfeit der, obwohl fpäten, Angabe in der
Gothaer Handſchrift (des longob. Gefegb.) nicht mehr beanftanden, wonach die
Longobarden während ihres Aufenthaltes in Rugiland, alfo gegen das Ende des
fünften Jahrhunderts, unter König Godehoc oder Elaffo zum Chriſtenthum über-
590 Longobarden,
getreten fein ſollen“ (Abel, Gefchichtfchreiber ver teutſchen Vorzeit, 8, Jahrh.
Paulus Diaconus, Berlin 1849, ©, 241), Ohne Zweifel gefhah die Ein-
führung des Chriſtenthums bei den Longobarden von Oben herab durch den König
und Adel, und mögen wohl feit Godehoe oder Claffo alle Iongobardifchen Könige
Chriſten gewefen fein, Bon König Wacho 4. B. ſcheint eg gewiß, da feine
zwei Töchter mit fränfifchen Königen vermählt wurden, alfo wohl getauft waren,
Ebenfo weiß man es von König Alboin felbft, weldyer die Chlodeswinda, Enfelin
des großen Chlodwigs, zur Gemahlin hatte, an die der Hl, Biſchof Nicetius von
Trier das befannte Mahnſchreiben erließ, ihren Gemahl von dem arianifchen
Irrthume zum katholifchen Glauben zu befehren (ſ. Schriften des hl. Nicetius,
überf. von 5. M. Mandernach, Mainz 1850). Leiver hatten aber auch die
Longobarden, wie man fieht, das Chriftentfum in arianifcher Form empfangen,
und wie wenig das eigentlich ein Chriſtenthum war, und-wie fehr daffelbe nur in
einigen ceremoniellen Aeußerlichkeiten beftand, mit welchen ber eraffefte heidniſche
Aberglaube und alle mögliche heidniſche Unſitie, Rohheit und Grauſamkeit Hand
in Hand ging, wird ſich ſogleich zeigen. Außerdem waren viele Longobarden und
mit ihnen ziehende Slaven und Teutſche aus andern Stämmen, als fie in Stalien
einwanderten, noch völlige Heiden. — Bei diefen religiöfen Zuftänden der Lon—
gobarden iſt e8 zu verwundern, daß der fiegreihe König Alboin nach den erften
Stürmen des Einfalls in Jtalien, wobei die Tatholifche Kirche ſchrecklich mitgenom⸗
men wurde, allmählig anfing, die katholiſchen Biſchöfe milde zu behandeln, Sp
fonnte der Patriarch Paulus von Aquileja, der Anfangs aus Furcht vor den Lon-
gobarden mit den Kirchenfchägen geflohen war, wieder zurückkehren. Dem Bifchof
Selig von Treviſo beftätigte Alboin alle Kirchengüter. Und als er nach dreijahri—
ger Belagerung Tieinum (Pavia) eingenommen, begnabigte er die ganze Fatho-
liſche Bevölferung, gegen den Eid, den er gefhworen, fie fämmtlich umzubringen.
Allein weder war Alboin im Stande, die Wildheit und Graufamfeit und den Ka—
tholikenhaß feiner Longobarden burchgreifend zu zügeln, noch lebte er lange, Nach
feinem Tod begannen die Longobarden unter ihrem König Kleph CH 575) und
der auf ihn folgenden Herzogen- Herrfchaft ein graufames Ausrottungsfyftem gegen
die römifchen Decurivnen und Poffefforen, und wiederholten an der Fatholifchen
Kirche das graufame Schaufpiel, welches die arianifchen Vandalen (f. d. A.) in
Africa gegeben hatten, Im Allgemeinen bemerkt hierüber Paulus Diaconus (IV,
6): „Die Tongobarden hatten, als fie noch im heidniſchen Unglauben be-
fangen waren (fie waren ja auch Heiden, obgleich fie größtentheils die Taufe
empfangen hatten!), faft das gefammte Kirchenvermögen in Befig genommen,
aber, durch das fruchtbare Flehen der Königin (Theodelinde) beftimmt, hielt der
König Agilulph) fett am Fatholifchen Glauben, begabte die Kirche mit vielen
Defisthümern, und wies ben (katholifchen) Biſchöfen, die bisher gedrückt
und mißachtet gewefen waren, ihre alte ehrenvolle Stellung wieder ein,“
Noch wichtiger ift, was Paulus (IV, 32) erzählt: „Die Longobarden blieben nach
Kleph's Tod zehn Jahre ohne König und flanden unter Herzögen, ;. Zu jener
Zeit wurben viele vornehme Nömer aus Gewinnfucht ermordet, die Uebrigen
zinsbar gemacht und den Longobarben in der Art zugetheilt, daß fie den dritten
Theil ihrer Früchte an fie zu entrichten hatten, Unter diefen Iongobardifchen Her-
zögen und im fiebenten Jahr feit dem Einbruch Alboins und des ganzen Volkes
geſchah es, daß die Kirchen geplündert, die Priefter ermordet, die Städte zer-
fört, die Einwohner, die den Saaten gleich aufgefchoffen waren, umgebracht und
der größte Theil Italiens von den Longobarden erobert und unterjocht wurbe,
ausgenommen die Gegenden, die ſchon Alboin eingenommen hatte,“ Die beften
und detaillirteften Nachrichten über die damalige Schrecfenszeit, über bie von
den Tongobarden verübten Gränel, über ihre religiöfen Berhältniffe und ihre Ver-
folgungen der Katholiken, namentlich der Geiftlihen und Mönche, theilt der be=
d
p
’y
Longobarden. 591
rühmte Zeitgenoſſe, Papſt Gregor der Große, in ſeinen Dialogen und Briefen
mit (ſ. Dial. 1, 4; U, 17; HI, 11, 26, 88; IV, 21, 23; epp. I, 3, 31; B, 29;
II, 29; IV, 16; V, 16, 20, 21,40, 41; VI, 60; VII, 26 eto.); namentlich
möge nur Folgendes angeführt werden; Nah Dial. HI, 27 wurden einmal von
den Longobarden 40 Bauern aufgefangen und aufgefordert, den Götzen geopfertes
Fleiſch zu effen, da fie aber davon nichts anrührten, tödtete man fie fämmtlich,
Weiter erzählt Gregor Cibid. II, 28): „Als einft die Longobarden 400 Gefan-
gene gemacht Hatten, fo opferten fie nah ihrer Weife unter Gefang und Tanz
dem Dämon den Kopf einer Ziege und tödteten hierauf, weil die Gefangenen ſich
weigerten, das Gleihe zu thun, Alle ohne Ausnahme, Da, wo Gregor dieſe
blutige Thatſache erzählt, läßt er den Diacon Peter auftreten und bemerken, es
fei doch eine wunderbare Fürfehung Gottes, daß wenigftens die Geiftlichen der
Longobarden die orthodoxe Lehre nicht verfolgten, entgegnet aber hierauf: „Das,
mein Petrus, haben fie wohl auch fehr häufig verfucht, allein bimmlifhe Wunder
haben ihrer Graufamfeit Widerftand geleiftet,“ und führt als Beifpiel an, ein
arianiſcher Biſchof der Longobarden habe von dem Fatholifhen Biſchof yon Spo—
leto eine Kirche für die Arianer begehrt und fei, da fie ihm verweigert worden,
mit einem Haufen Longobarden gewaltthätig in die Paulsfirche eingedrungen, aber
plöglih erblindet, zum heilfamen Schreden der Longobarden in der ganzen Um—
gegend, welche die geheiligten Stätten der Katholifen nicht mehr zu entweihen
wagten.” Etwas befonders Merfwürdiges berichtet Gregor «ibid. HI, 37) von
dem Briefter Sanctulus, feinem Freunde, Ein fatholiiher Diacon wurde von
den Longobarden gefangen und zum Tode beſtimmt. Vergebens flehte Sanctulus
für den Diacon; Alles, wad man ihm zugeftand, war, daß ihm der Diacon in
Gewahrfam übergeben wurde unter der Bedingung, Sanetulus feldft müffe im
alle der Entweichung des Diacons mit feinem Leben büßen. Sanctulus forderte
aber den Diacon auf, nächtlicher Weile zu fliehen, und wurde dafür von den Lon—
gobarden wirklich zum Tode verurtheilt, jedoch nur zur Enthauptung, indem fie
fagten: „Du bift ein guter Menſch, wir wollen dich daher nicht durch verfchiedene
Deinen um das Leben bringen.“ Schon famen alle Longobarden der Umgegend
freudig zum blutigen Schaufpiele, ſchon knieete Sanctulus, um den Todesftreich
zu empfangen, aber fiehe da, als er den HI. Johannes anrief, vermochte der Lon—
gobarde, der ihn tödten follte, das Schwert nicht zu fihwingen , feine Hand war
erlahmt. Ehrfurcht und Verwunderung ergriff die Longobarden, fie flehten, Sane-
inlus möge den Arm des Unglüdlichen heilen; aber nicht eher betete Sanctulus
für deſſen Heilung, als bis er gefhworen hatte, daß er feinen Ratholifen mehr
umbringen werde, und erlangte dann auch deffen Heilung. Nun wetteiferten die
Longobarden,, dem Diener Gottes Gefchenfe mit geraubtem Vieh zu machen, doch
diefer nahm es nicht an, fondern erbat fi von ihnen die Losgebung aller Ge—
fangenen und erhielt fie, — Selbſt der nach der zehnjährigen Herrfchaft der Her-
zöge im 3. 585 von den Longobarden gewählte König Authari, der fih im Mar
589 mit der bayerischen Princeffin Theodelinde verheiratete, ein im Uebrigen
von Paulus Diaconus belobter Fürft (II, 16), blieb fortwährend ein fefter
Arianer und den Ratholifen abgeneigt, obgleich die Fatholifche Theodelinde es nicht
an Bemühungen gefpart haben wird, ihn zur Fatholifchen Lehre zu befehren, Doc
geihahen unter Authari's Regierung, wie es fcheint von Seite vieler Longo-
barden, annähernde Schritte zur Fatholifchen Kirche, was aus einer Anordnung
Authari's vom 3. 590 abzunehmen ift, worin er den Longobarden verbot, ihre:
Kinder auf den Fatholifchen Glauben taufen zu Iaffen (ſ. ep. Greg. M. 1, 17):
Einzelne Longobarden hatten ſich fhon früher zum Fatholifhen Glauben be—
fehrt (ſ. Paul. Diac. II. 27; II, 2). — Nach Authari's Tod C+ 590) überliegen
es die Langobarden der Königin Theodelinde, „weil fie ihnen fo wohl gefiel”,
einen Gemahl und König zu wählen; fie wählte den tüchtigen Herzog Agilulph
592 Longobarden.
von Turin, Jetzt machte die Bekehrung der arianiſchen Longobarden zur katholi—⸗
hen Kirche rafchere Fortfchritte, befonders in Folge des großen Eifers der Theo-
delinde, Durch diefe Königin, fagt der Diacon Paulus (IV, 5), erlangte die
Kirche Gottes viele Vortheile, durch ihr Flehen beftimmt, hielt König Agilulph
feft am katholiſchen Glauben, gab der Kirche ihre Befigungen zurüdf, und wies
den bisher gedruͤckten und mißachteten Fatholifchen Bifchöfen ihre alte ehrenvolle
Stellung wieder an. Hieraus allein fchon erhellt, daß Theodelinde die Befehrung
Agiluphs zum Fatholifchen Glauben bewirkte, und beftärkt wird dieſes dadurch,
daß ihre Tochter Gundiperga und der 603 geborene Thronerbe Adelwald auf den
Fatholifchen Glauben getauft wurden. Die Taufe des Prinzen geſchah in ver von
Theodelinde neugebauten prächtigen St. Johannesfirce zu Monza Gibid. IV, 27).
Bon diefen freudigen Ereigniffe fegte Theodelinde den großen Papſt Gregor I.
in Kenntniß, mit dem fie überhaupt, insbefondere bezüglich der religiöfen Ver-
hältniſſe im Iongobardifchen Neiche in Briefwechfel fund, und der fowohl durch
feine Briefe an fie, wie auch durch Mahnfchreiben an die Fatholifchen Bifchöfe
Italiens (ſ. ep. Greg. I, 17; II, 2; IV, 2, 4, 38; IX, 42, 43; XIV, 12) eifrig
zur Befehrung der Longobarden mitarbeitete. Gregor erwiederte Theodelindens
Brief mit einem freudigen Gratulationsſchreiben, wiederholt den fchon in früheren
Driefen an Theodelinde und Agilulph ausgefprochenen Dank für den mit ihm
(Gregor) abgefchloffenen Friedenstractat Cabgefchloffen vorzüglich durch Theode—
lindens Vermittlung bei ihrem Gemahle), und legte als Geſchenk für ven kleinen
Prinzen eine Kreuzpartifel und ein Evangelienbuch in Foftbarer Lade, und für
deffen Schwefter drei mit Evelfteinen verzierte Ringe bei, Früher ſchon hatte
Gregor der Theodelinde feine vier Bücher Dialogen zugefendet, „weil er wußte,
daß fie dem Glauben an Chrifto treu ergeben und flarf in guten Werfen fer”
(Paul. Diac. IV, 5). Nur Eines wäre zu wünfchen gewefen, daß ſich Theodelinde
und Agilulph nie hätten verleiten laffen, aus Mißverftändniß und Anhänglichkeit
an die vier erften allgemeinen Synoden, alfo eigentlich aus zu großem Eifer für
den Fatholifchen Glauben, e8 einige Zeit mit jenen fchismatifchen Bifchöfen ihres
Reiches zu halten, welche in dem fogenannten Dreicapitelftreit (f, d. A.) dem
apoftolifchen Stuhle gegenüberftanden, Papft Gregor bemühte fich fehr, die Kb—
nigin rücfichtlich der Dreicapitel-Angelegenheit aufzuflären (f. Greg. ep. IV, 2,
4,38), und der Hauptfahe nach mit glücklichem Erfolg, denn in den fpätern
Briefen zwifchen dem Papft und der Theodelinde ift ferner nichts mehr von einer
Art Zwiefpalt betreffs diefer Sahe zu bemerfen, Erft als nach Gregors Tod
der hl, Columban (f. d. A) um 612 nah Italien in das Neich der Longobar-
den fam, der bei Agilulph eine ehrenvolle Aufnahme fand, fcheint das Tongobar-
difche Königspaar, befonders Agilulph, wieder von einem Iebendigeren Intereſſe
für die Dreicapitelfache eingenommen worden zu fein, denn Columban fehrieb im
Namen Agilulphs zwifhen 612—615 an Papft Bonifarius IV., ihn mahnend,
von der Verdammung der Dreicapitel abzuftehen und dadurch den Wünfchen des
Königs und der Königin zu entfprechen, die verlangen, daß der Fatholifhe Glaube
erhöht und befeftiget werbe, während die frühern Inngobarbifchen Könige das
KRatholifche unter die Füße getreten hätten (ſ. Mabill. Annal. t.I. 1.11. n. 4), Im
Uebrigen ift aus dem Gefagten zu erfehen, mit welchem Ungrund Abel Paulus
Diaconus, Gefchichtfchreiber der teutfchen Vorzeit, 8. Jahrh. S. 243 1.) die
Dreicapitel-Angelegenheit als eine Gefahr für Theodelinde, gar zum Arianismus
abzufallen, erklärt und den Brief Columbans an Papft Bonifacius als einen Be—
weis anſieht, daß Agilulph noch in feinen letzten Jahren ein Arianer gewefen fer,
Eben fo falfch ift es, wenn Abel bemerkt, Paulus fohreibe zwar, der König habe
feftgehalten am Fatholifchen Glauben, flechte aber unmittelbar darauf einen um
599 gefchriebenen Brief Gregors an Theodelinde ein, worin fie der Papft er-
mahne, e8 bei ihrem Gemahle dahin zu bringen, „daß er nicht länger fi
Longobarden. 593
ER balte von der Gemeinſch aft der Chriſten“, denn diefe Ueberfegung
der Worte „horfamur ut apud excellentissimum conjugem vestrum ita agatis, qua-
tenus Christianae reipublicae societatem non rejiciat* iſt offenbar
ganz verfehlt und widerfprigt dem ganzen Contert (f. Greg. ep. IX. 43). Der
erwähnte Columban, ehrenvoll von Agilulph aufgenommen, erhielt von ihm die
Erlaubniß, überall im ganzen Neiche der Longobarden, wo ed ihm nur gefalle,
fich niederzulaffen. Er ſchlug zuerfi bei Mailand feine Wohnung auf und fand
fogleih Gelegenheit, gegen den Arianismus durch Herausgabe einer Schrift auf-
zutreten, Unterdeß zeigte ein gewiffer Jocundus dem Könige einen in den Ape-
ninnen gelegenen, für ein Klofter paffenden Ort an, Bob bio genannt, wo noch
die Ruinen einer ehemaligen Bafllica ftanden. Da au Columban den Drt zur
Errichtung eines Klofters fehr geeignet fand, machte ihm der König damit eine
Schenkung, und fo entftand das berühmte Klofter Bobbio, welches nah Colum—
bans Tod (+ 615) unter den ausgezeichneten Aebten Attala, Bertulph und
Bobolenus zu großer Blüthe gelangte und mächtig zur allmähligen Ausrottung
des longobardiſchen Arianismus und Heidenthums wirfte (ſ. die vit. Columbaus
und der genannten Aebte bei Mabill. Act. II. und Annal. I.). — Agilulph ftarb im
Anfang des Jahres 6165 ihm folgte unter der Bormundfchaft und Negentfchaft
Theodelinde's fein junger Sohn Adelwald. Unter diefem, berichtet der Diacon
Paul (IV, 42), wurden die Kirchen wieder hergeftellt und viele reihe Schenfun-
gen an heilige Stätten gemacht. So wirkte Theodelinde bis zu ihrem Tod, wel-
er zwiihen 622—624 fiel, fort, und ſuchte durch die Kraft der Religion, durch
BDegünftigung der Fatholifchen Geiftlichkeit, die allein Bildung befaß und ver—
breitete, und durch Friedensliebe ihre Longobarden zu entwildern, Nach ihrem
Tode ſcheint eine Reaction des arianifchen Sertenhaffes und der Iongobardifchen
Raubfuht und Unbändigfeit eingetreten zu fein; Adelwald wurde entthront und
farb etwa um 628, Dennoch lebte Theodelinde in ihrem Gefchlechte und in der
Adtung, welche man diefem zollte, noch lange Zeit fort, und ift die Blüthezeit
des Iongobardiihen Reiches fowie vorher an fie felbft, fo auch noch nachher an
ihr Geflecht geknüpft. Dem Adelwald fuccedirte König Ariowald (+ 636),
Schweftermann Adelmalds, zwar ein Arianer, der als Herzog den Mönch Blituff
von Bobbio infultirt, aber ihn doch wieder um Verzeihung hatte bitten laſſen (ſ.
die vit. s. Attalae bei Mabill. Act. U. und Boll. 2. Jan.), allein als König die Ra-
tholiken ſchonend behandelte und die Dazwifchenfunft bei einer zwifchen dem Bi-
ſchof von Tortona und dem Abt Bertulph von Bobbio entftandenen Jurisdictiong-
ftreitigfeit ablehnte und die Streitenden an eine Synode oder den Papft verwies
Gi. vit. s. Bertulfi, Mabill. Act. II; Boll. 19. Aug.). Nach feinem Tode wurde feine
fromme Gemahlin Gundeberga, die Tochter der Theodelinde, die er nicht gut
behandelt zu haben fiheint, gebeten, gleich der Mutter denjenigen zu erfiefen,
welchen fie ihrer Hand und des Thrones für würdig hielte. Ihre Wahl fiel auf
den tapfern Herzog Rothari (636—652), welcher zwar auch ein Arianer war,
von dem aber Oundeberga vermuthen mochte, er werde wie Ariowald die Katho—
liken gut behandeln. Kaum aber hat er diefer Erwartung entfproden, denn „in
den Zeiten Rotharis, fagt Paulus Diaconus (IV, 43), waren faft in alfen Städ-
ten feines Reiches zwei Bifhöfe, ein Fatholifcher und ein arianifcher; bis auf
diefen Tag zeigt fi das in der Stadt Tieinus (Pavia), wo der arianifhe Bi-
ſchof am der Kirche des HI. Eufebius ift und das Baptifterium Hat, während ber
katholiſchen Kirche ein anderer Biſchof vorfteht; der arianifche Bifchof jedoch, mit
Namen Anaftafins, trat zum Fatholiihen Glauben über und regierte nachmals
| die Kirche Chriſti.“ Ueberdieß verftieß er bald feine fromme Gemahlin, welche
| gottjelig 642 zu Pavia flarb, wo fie dem Hauptpatron des Iongobardifchen Nei-
I-Hes, dem HI. Johann dem Täufer, eine prächtige Kirche erbaut batte (IV, 49).
Rothari, der zuerft das Iongobardifche Volksrecht aufzeichnen ließ hinterließ das
Kirchenlexikon. 6. Bo. 38
594 2008 — Lope de Vega,
Neich feinem Sohne Rodoald, der ſchon nach einigen Monaten getödtet wurde,
— Mit Rodvald Hatte die Nachfommenfhaft der Thendelinde ein Ende, Aber ihr
Andenken ſcheint noch fo lebhaft bei Longobarden und Nömern gewefen zu fein,
daß man auch jest noch in der Thronbefeßung bei ihrer Familie blieb, und ihren
Brudersfohn Aripert zum König wählte. Unter Aripert, einem eifrigen Kalho—
Yifen, wurben viele Arianer katholiſch; in einem uralten Rythmus zum Lobe der
Könige Aripert, Bertari und Eunibert heißt e8: „Rex Haribertus, pius-et catho-
licus, Arrianorum abolevit haeresem et christianam fidem fecit crescere,* (Döl—
lingers Geſch. der riftl- Kirche, Bd. J. Abth. 2, ©, 172), Zu Pavia erbaute
er dem Heilande eine Kirche und flarb dafelbft 661. In der Negierung folgten
ihm feine zwei Söhne Bertari und Gundepert, allein fie entzweiten ſich, und
dieſe Entzweiung benügend, fhwang fih Herzog Grimoald (+ 671) auf den
Thron. Durch den frommen Bifhof Johann von Bergamo vom Arianismus zum
Tatholifchen Glauben befehrt und von feiner Gemahlin Theodata darin beftärft,
begünftigte Grimoald den katholiſchen Glauben und die Fatholifche Geiftlichkeit,
erbaute zu Mailand eine ſchöne Ambrofiusficche und verbefferte das longobardiſche
Geſetzbuch. Unter ihm wurde der Hauptfache nach die Befehrung der Longobarden
vollendet; von da an verlieren fich Die arianifchen Bifchöfe und befteigt fein Arianer
mehr den Föniglichen Thron (Paul. Diac.V, 33); vielmehr thaten ſich mehrere der
folgenden Könige, wie Bertari (+ 688), der von der Geiftlichfeit und dem
Bolfe vielgeliebte Eunibert (+ 700), Aripert IL, Luitprand CH 744) und
deffen Bruder Rachis (geſt. als Mönch im Klofter Monte Caſſino) durch ihre ka—
tholifche Gefinnung hervor, Insbeſondere verdient, ungeachtet feiner auf ganz
Stalien mit Einfhluß Roms gerichteten Eroberungsplane, Der große Luit-
prand (713—744) hervorgehoben zu werden, Bon ihm fagt Paulus Diaconus
am Schluffe feiner Gefhichte ver Longobarden: „Er war ein Dann von großer
Weisheit, Flug im Nath, fehr gottesfürdtig, ein Freund des Friedens, im Streite
gewaltig, gegen Fehlende milde, keuſch und züchtig, wachſam im Gebet, frei=
gebig gegen die Armen, mit der Wiffenfchaft zwar unbekannt, aber. den Philo—
fophen gleich zu achten, ein Vater feines Volfes und ein Verbefferer der Gefege.”
Alles, was ſich in den Geſetzen auf geiftliche und Firhlihe Angelegenheiten be—
zieht, zeigt die Fatholifche Gefinnung Luitprands und namentlich auch feine Sorge,
die noch immer zahlreichen Ueberreſte des Heidenthums auszurotten. Er erbaute
mehrere Klöfter und Kirchen und innerhalb feines Palaftes eine Capelle, wobei
er zum täglichen gefungenen Gottesdienft Priefter und Kirchendiener anftellte,
Dem Papfte beftätigte er die Schenfung der Fottifchen Alpen und fland auf feiner
Seite gegen die bilderflürmenden Kaifer, Um hohen Preis brachte er den Leib
des hl. Auguftin an fih und Tief ihn zu Pavia beiſetzen. Die auf der Reife nah
Rom begriffenen Pilger und Miſſionäre nahm er freundlichft zu Pavia auf. Kurz,
Luitprand befchloß glanzvoll die Neihe der tüchtigeren Negenten des longobardi—
{hen Reiches, das nach ihm eiligen Schrittes feinem Untergange entgegenging.
Veber den Untergang des Iongobardifchen Neiches Tefe man den Art, Defideriug,
König der Longobarden, Bd, TIL des Lericons nach, S. außer den bereits ſchon
eitirten Duellen und Schriften: Erchemperti, historia Longobardorum bei
Pers, Scriptores MI (V); Muratori, Scriptores I und Antiquitates IV; Manzoni,
opere, discorso storico , in verfchiedenen Editionen; Leo, Heinrich, Gef, von
Stalien, I; Kerz, Fortf. der Gefch. der Nel, J. von Stolberg Bd, VIL—XI;
Koch⸗Sternfeld, das Neich der Longobarden in Italien; Damberger, ſynchr.
Geſch. der Kirche und Welt im Mittelalter, I. u. I. Vgl. hierzu auch die Art,
Italien und Kirchenſtaat. [Schrödl.]
Loos, ſ. Önttesurtheile,
Lope de Vega, hochberühmter ſpaniſcher Dihter, Im Zweige ber
dramatiſchen Poeſie Hat die ſpaniſche Nation am Höchſten eulminirt und dabei Die
Lope de Vega. 595
Poeſie des Fatholifhen Chriftenthums zu Höhen emporgetragen, zu welchen bie
Maſe anderer Bölfer wie zu unerreihbaren Zielpuneten hinaufſchaut. In Spa«
nien, wie überall in den hriftlichen Ländern, ging die Dramaturgie (gleich. der
Tonkunft und den zeichnenden und bildenden Künften) ans der Religion und dem
Eultus hervor, welcher in gewiffem Betracht nicht mit Unrecht ein großes, heiliges
Kunfl- und Schaufpiel genannt werden kann. Schon fehr frühzeitig begegnet man
in Spanien, neben dem heiligen dramatifchen Elemente im Gottesdienfte felbft,
Spuren von geiftlihen Schaufpielen; fo wird folcher Schaufpiele, aber zum Theil
mit weltlichen Poſſen vermifcht, ſchon in Alphons' X. Gefegen gedacht, und ven
Prieftern nur heilige Darftellungen, wie die Geburt, die Epivhanie und das
Leiden und die Auferftehung Chrifti, ohne profane Deimifhung, erlaubt, Wäh—
rend in andern Ländern das heilige Schaufpiel fpäter fih immer mehr verwelt-
lihte und deßhalb, aus der Kirche verlegt, im Verlaufe der Zeit in ein ganz
weltliches und zulest felbft antichriftliches umfchlug, fo fanf es in Spanien, ob
auch aus der Kirche eingeführt in die Salons und fäcularifirt, doch nie fo tief,
und ftellte fih big auf die neuere Zeit in zahllofen Bühnenſtücken, von den erſten
Genies der Nation verfaßt, dar, welde, allerdings mit weltficher Einführung und
Beimiſchung, Gegenftände der Religion, dramatifirte Lebensläufe der Heiligen
und die fogenannten „autos sacramentales‘, i. e. allegorifhe Dramen zu Ehren
des Frohnleihnams Chrifti zum Inhalt Hatten. Der erfte wirfliche Dramatifer
Spaniens, welcher zuerft das Drama in die Welt einführte und mehrere Weih-
nachts⸗ und Paffionsipiele dichtete, war der berühmte Tonfünftler und Dichter
Juan de la Eneina, geb. 1468 zu Salamanca, ein Priefter. Zum höchſten
Ruhme ald Berfaffer heiliger Schaufpiele brachte es Lope de Bega, einer der
genialften Yramatifhen Dichter aller Zeiten und Bölfer, Geboren zu Madrid
1562, erhielt er, obgleich feine Eltern nicht reich waren, eine Literarifche Erzie-
hung, hörte, nach deren früßzeitigem Tod, unterftügt von dem Biſchof Geronymo
Deanrique, die PHilofophie zu Alcala, Fehrte ſodann nah Madrid zurück, traf
als Serretär in die Dienfte des Herzogs von Alba und verheirathete fih. Im
Folge eines Duells mußte er einige Jahre Madrid verlaffen, ging fpäter wieder
nach Madrid, und nahm dann, ebenfo patriotifch als katholiſch gefinnt, Militär-
dienfte bei der fogenannten unüberwindlichen Flotte. Zuruͤckgekehrt ward er wieder
Secretär und. lieg ih nah dem Tode feiner zweiten Gemahlin zum Priefter 2
weihen. Bon Kindheit an ſchon mit den poetifhen Studien befchäftiget, hatte er
ſchon vor der Priefterweige durch poetifhe Werke verfchiedener Art ſich einen
großen Namen gemacht, zuerft durch feine „Arcadia, eine Mifhung von Verſen
und Profa, Romanze, Schäfer- und Heldengedicht, worin die Schäfer mit ihrem
Duleineen die Sprache des Amadis reden und Unterfuchungen über Theologie,
Grammatif, Rhetorik, Poefie, Mufif, Arithmetik und Geometrie anſtellen, dan
neben andern befonders durch feine Lobgefänge und Schaufpiele auf ven HI. Iſidor
bei Gelegenheit der Canonifation deffelben im 3. 1598, Nachdem er nun Priefter
geworden, nahm feine dichterifhe Thätigfeit dergeftalt zu, daß die Menge feiner
Dichtungen an das Wunderbare grenzt. In alfen damals üblichen Dichtungsarten
verfuchte er fih und erntete Beifall; aber zum höchſten Enthuſiasmus ward das
ſpaniſche Volk dur feine geiftlihen und weltlichen Schaufviele Hingeriffen, worin
er den Ton des Fatholifchen fpanifchen Volkes getroffen hatte, Haufen bewundern-
den Volks umgab ihn auf den Straßen, jubelnd Liefen ihm die Knaben nach , die
Großen wetteiferten ihn zu ehren und auszuzeichnen, und da er in feinen Werfen
ein fo begeiftertes Intereſſe für den Triumph der Fatholifhen Religion zeigte, fo
wurden ihm auch geiftlicherfeits mancherlei Auszeichnungen zu Theil, indem er
zum capellan mayor, zum Familiar der Inquifition, und vom Papft Urban VII,
dem er ein Gedicht auf die unglückliche Königin Maria Stuart dedicirt hatte, zum
Doetor der Theologie und zum apoftolifhen Rammerfiscal ernannt und mit dem
38*
596 Lorch — Boretto,
Maltheſerkreuz gefhmüct wurde. Bis zum 3. 1635 fuhr Lope ununterbrochen
fort, Gedichte und Schaufpiele herauszugeben, aber von da an befchäftigte er ſich
bloß mit religiöfen Gedanken und Uebungen und ftarb den 26. Auguft deffelben
Jahres, Obgleich ihm feine Schaufpiele fehr viel Geld eingetragen hatten, fo
hinterließ er doch wenig, da die Armen Madrids bei ihm ftets eine offene Caffe
getroffen Hatten. Sein Leichenbegängniß war fürftlih; drei Tage dauerten die
Erequien, wobei drei Biſchöfe in Pontificalibus fungirten, Man ſchlägt Lope's
Theaterftüce auf 1800 und deffen Frohnleichnamsſtücke auf 400 an, und dazu
fommen eine Menge geiftliche und profane Gedichte, Daß die ungeheure Frucht-
barfeit des Dichters ihn gehindert habe, im Dichten und Reimen Bollfommeneg
bervorzubringen, ift wahr, aber doch lebt auch in dem fihlechteften feiner Werfe
ein poetifcher, Achter Spaniergeift und hat er durch feine unerfchöpflihe Phan—
tafie und die fiegende Leichtigfeit feiner Tebendigen Darftellung das fpanifche
Schauſpiel zu dem gemacht, was es bis auf das Einreißen des franzöfifchen Ge—
ſchmackes blieb, indem die auf ihn folgenden Schaufpieldichter in feine Fußftapfen
traten und fein Werf eigentlih nur verfeinerten, Derjenige, welcher unter den
nach Lope aufgetretenen fpanifhen Schaufpieldichtern und Verfaffern heifiger Co—
mödien durch die Feinheit der Erfindung, der Ausführung und des Styls der ſpa—
nifhen Comodie ihre letzte Bildung gab und im den heiligen Schaufpielen das
Sinnreichfte und Größte Teiftete, war Pedro Calderon de la Barca, geb,
1600, geft. 1687, feit dem 52, Jahr feines Alters Geiftliher, ©, Ludwig
Clarus, Darftellung der ſpan. Literatur im Mittelalter, Mainz 1846, Bd. I.
©. 290. 225; Schaf, ſpan. Theater, 2 Bde.; Schlegel, Vorlefungen über dra—
matifhe Kunſt; Bouterwec, Geſch. der Poeſie und Beredtfamfeit feit Ende des
43ten Jahrh. Bd, I. — Zwei Jahrhunderte vor Lope de Vega zeichnete ſich
Durch poetifche und profaifche Schriften aus Lopez de Ayala, aus hochadeligem
caſtilianiſchem Gefchlehte, geb. um 1332, geft. 1407 zu Calahorra, nachdem er
unter vier Königen in Anfehen und Würde geftanden, Sein vorzüglichftes poe—
tifhes Werk „das Buch vom Palafte” ift.ein Zeitfpiegel, worin die damaligen
Gebrechen in Kirche und Staat Iebendig gefchildert und die Regeln für eine hrift-
Tich-mweife und gerechte Regierung aufgeftellt werden. Seine Fleinern frommen Ge—
dichte und Lieder, befonders zur jungfräulichen Gottesgebärerin Maria, find volf
Innigkeit religiöfen Gefühles. Außerdem hat er fhäsbare Chroniken von Peter
dem Graufamen, Heinrich IL., Johann I. und Heinrich II. gefehrieben., ©. Ela-
ru$ I. 432, ꝛc. [Schrödl.])
Lorch, Bisthum, ſ. Paſſau.
Lorettinerinnen, ſ. Frauen von Loretto.
Loretto, Uebertragung des Hauſes, worin das Wort Fleiſch ge-
worden, aus Nazaret nach Loretto. Das Haus, oder vielmehr nur ein Theil
oder ein Zimmer deſſelben, worin Maria den Sohn Gottes vom hl. Geiſt empfing, ſei
nach dem unglücklichen Ablauf der Kreuzzüge auf wunderbare Weiſe nach Europa
übertragen und zulegt nach Loretto in Italien gebracht worden ;diefe Sage verbreitete
fich feit dem 14ten Jahrh. mehr und mehr und machte Loretto allmählig zu einem
der berühmteften Wallfahrtsorte. Der Inhalt diefer Sage ift folgender, Im
J. 1291 wurde nächtlicher Weile diefes Heiligthum, das fchon die Apoſtel in hohen
Ehren hielten und einweihten, von Engeln nah Dalmatien übertragen und auf
einer Anhöhe zwifchen den Städten Terfato und Fiume niedergelaffen. Ueber
diefe allen Bewohnern diefer Gegend unerflärlihe und wunderbare Erfcheinung
erhielt der Bifchof (oder Pfarrer) Alexander von Terfate in einer Viſion durch)
die Mutter Gottes felbft Aufſchluß und wurde zum Zeichen, daß die Viſion Fein
leerer Traum gewefen, plöglich gefund, Eine eigene Gefandtfchaft wurde nach
Nazaret abgefendet, welche die Grundlage des hl. Haufes dafelbft und die Länge
und Breite des Plages, worauf es geftanden, ganz übereinftimmend mit dem in
Lorinus — Lorſch. 597
Dalmatien angekommenen neuen Heiligthume fand. Allein ſchon nach 3 Jahren
und 7 Monaten wanderte die sanla casa in der Nacht des 10. December 1294
hinüber über das adriatifhe Meer in das picenifhe Gebiet und ließ fich in der
Nähe der Stadt Recanati in einem Lorbeerwalde nieder, welcher einer reichen
und frommen Matrone Laureta gehörte, woran fih dann der Name „Lauretani=
fches Haus, Loretto“ anfnüpfte. Bei der Anfunft des HI. Haufes beugten ſich
die Bäume ehrerbietigft und noch lange nachher erblidte man an ihnen die Spuren
davon. Hirten, welche Nachts über ihre Herden wachten, waren die erſten Zeu-
gen des Wunders und bald fonnte fih ganz Recanati und Umgebung davon über-
zeugen. Da aber zahlreiche Pilger fi einftellten, weil an der HI. Stätte auf
viele Wunder gefhahen, fo fanden fih bald Räuber ein, welche die Wallfahrt
unfiher machten, und das Hl. Haus erhob fih nach 3 Monaten von neuem und
ließ ſich auf einen benachbarten Hügel nieder. Allein die Befiger des Grund-
ſtücks, zwei Brüder, geriethen wegen der fallenden Dpfergaben in Streif, das
Heiligtfum erhob fih nach zwei Monaten abermals und fenfte fih an die Stelfe
nieder, wo es noch fieht. Eine nene nah Dalmatien und Nazaret abgeſchickte
Gefandtfchaft Fehrte mit dem nämlihen Nefultate zurüdf wie die frühere. Sp
lautet die Sage, die aber dur Zeugniffe gleichzeitiger Schriftfteller nicht ver-
bürgt if. — Papſt Paul H. (+ 1471) verlieh den Befuhern des lauretaniſchen
Haufes Abläffe und führte aus den reichlichen Opfern der zahlreihen Pilger die ,
jegige prächtige Kirche auf, welche das lauretanifhe Haus umſchließt. Auch
Papft Sirtus IV. CH 1484) und Julius IL Cr 1513) ertheilten Indulgenzen;
zudem erimirten fie die Lorettoficche von der Jurisdietion des Biſchofs von Reca—
nati, wobei Julius II. in der hierüber erlaffenen Bulle (Raynald. Annal. ad. a. .
1507 no. 27 etc.) die erzählte Loretto-Sage mit dem Beifage anführt: „ut pie
- ereditur et fama est“. Die fpätern Päpfte, namentlih Sirtus V. deifen colof-
fale Bildfäule von Bronze am Eingang zur Kirche fteht, haben die santa casa
durh das Aufgebot aller Künfte verherrlichet, und Papft Innocenz XIL hat für
die Gedächtnißfeier der Translation des HI, Haufes ein eigenes Offictum cum
missa am 10. December concedirt. ©. Turselini S. J. Lauretana. historia;
Raynald. Annal. ad a. 1291 no. 68, 1294 no. 24, 1295 no. 58, 1296 no. 35,
1471 no. 58, 1507 no. 27, 1533 no. 37; Benediet. XIV. de Servorum Dei bea-
tif. et B. canoniz. 1. IV. pars II. c. 10. no. 11—17. [Schroͤdl.]
Lorinus, Johann, Jeſuit, einer der vorzüglichen Exegeten feiner
Zeit, geboren zu Avignon 1559, Lehrer der Theologie zu Paris, Rom, Mai—
land u. a. D,, geftorben 1634 zu Dol 75 Jahre alt, verfaßte Commentarien zu
dem Lesiticus, den Numeri, Palmen, Prediger, Weisheit, Apoſtelgeſchichte und den
- Fatholifchen Briefen. Dupin in feiner bibl. ecel. XVII, wo er von den Eregeten
aus der Gefellfhaft Jeſu während der erfien Hälfte des 17ten Jahrh. Ribera,
Sa, Vilfalpande, Juſtinien, Mariana, Lorin, Zirin, Cornelius a Lapide, Pi-
neda, Bonfrer, Menohius, Gourdon und Phelippeaur handelt, bemerft von den
Commentarien des Lorinug: „Il y explique les mots hebreux et grecs aver beau-
Coup de precision et en crilique, et s’etend sur diverses questions d’histoire, de
dogmes et de discipline“; dazu fest Feller (dict. hist.) hinzu: „mais plusieurs
de ces questions pouvaient &ire trail&es d’une maniere plus concise, et quelques-
unes n’ont qu’un rapport eloigne à leur sujet.‘“
Lorſch (Lauresbam, Lauresheim, monasterium Laureacense, Laurissense, Lau-
rissa), wurde im J. 763 von Cancor, einem Grafen im Oberrheingau und
feiner Mutter Williswinda, Wittwe des am Hofe Pipin’s einft fehr einfluß-
zeichen Grafen Ruprecht geftiftet und auf einer Inſel der Wafhnig, eine
Stunde weftlih von Heppenheim an der Bergftraße, erbaut, Im folgenden Jahre
übergaben fie die Stiftung ihrem Verwandten, dem berühmten Biſchof Chrode—
gang von Mes (ſ. d. A. und Codex Lauresham. T. I. p. I1.), damit derfelbe die
598 Lorſch.
klöſterliche Ordnung einführe, Er weihte die Kloſterkirche nach dem Wunſche der
Stifter zu Ehren des hl. Petrus ein und berief 16 Mönche aus dem vom ihm zur
Gorze in Lothringen geftifteten Benedirtinerfipfter, Durch feine Vermittlung
ſchenkte Paul I. der neuen Stiftung die Reliquien des HI. Nazarius, In einer
feierlichen Proceffion wurden diefelben auf den Schultern der Grafen Cancor,
Wariund und anderer Adeligen in die Klofterfirche gebracht, wo fie nun der
Grgenftand zahlreicher VBerehrer aus Nah und Ferne und der Anlaß zu fo vielen
und bedeutenden frommen Schenkungen wurden, daß bald ein neuer größerer
Kirchenbau auf einer Fleinen Erhöhung ausgeführt werben fonnte. Gundeland,
Hon dem vielfeitig befchäftigten Bruder, der nach den erften Anordnungen wieder
in fein Bisthum zurüdgefehrt war, zum Abte eingefegt, vollendete den Neu-
bau und leitete das Klofter mit vieler Umſicht. Der erfte Gegner der from-
men Stiftung war Cancor's eigener Sohn, Heinrich, der das Ganze zu
feinem Privatbefige umzuwandeln fuchte. Allein durch die Vorſicht der Stifter
war fohon vorgebeugt: die Stiftung war von ihnen dem Biſchof Chrodegang
(„sub traditionis titulo‘“, fagt der Codex Lauresh. 1. c.) förmlich vermacht und da-
durch mittelbar dem Schutze des franfifchen Hpfes, mit welchem Chrodegang ver—
wandt war, übergeben worden. Gundeland wählte aber überdieß ausdrücklich
Carl d, Gr, zum Schußherrn des Kiofters, der daffelbe, nachdem Heinrich allen
Anfprücen feierlich entfagt hatte, mit zwei Freibriefen ausftattete, von welchen der
eine die freie Abtwahl, der andere Freiheit von jedem fremden Gerichtszwange
zufierte (772). Außerdem ſchenkte er dem Kiofter die anfehnliche Heppenheimer
Marfung (773). Auch verherrlicte er die Einweihung der neuen Kirche durch
Erzbifchof Lullus von Mainz, dem noch vier benachbarte Biſchbfe affıftirten, am
14, Auguſt 774 nach Beendigung des Longobardenfriegs durch feine Gegenwart,
Unter einer Reihe trefflicher Aebte gelangte das Klofter nach Innen und Außen
zu großem Anſehen; wir heben aus den nächſten Nachfolgern Gundeland's, der
den dritten Theil der Einkünfte für die Armen verwendete, Helmreich, zugleich
Architect, der damals in feinem der beffern Klöfter fehlte, Rich bod, der ſtatt
des hölzernen Haufes für Die Mönche ein anderes Gebäude in fühlicher Lage er—
baute und es mit Mauern umgab, hervor. Er wurde fpäter Bifchof von Trier,
behielt aber feine Stelle als Abt bei (+ 803), Unter diefem Abte war e8, daß
der bayerifhe Herzog Taffilo um Gnade flehend vor Carl d, Gr, in Lorſch er-
erfhien, Er wurde damals in ein Klofter verwiefen und nur das fonnte er von
Carl erlangen, daß der Act des Haarabfehneidens nicht in Gegenwart der frän—
fifchen Großen, fondern zu St. Goar anggeführt wurde (vgl. die Annales Naza-
riani bei Pers I. ©, 44), An Richbod reiht fih an Abt Adelung und der
gelehrte Sammel, Bifchof von Worms. Unter Abt Thiodrich (Dietrih), der
eine Kirche zu Oppenheim baute, erhielt das Klofter von Ludwig dem Teutfchen
(870) Seeheim und Bickenbach. Die Befigungen des Klofters nicht nur an
der Bergſtraße, fondern auch in entfernteren Gauen, müffen damals fhon fehr
bedeutend gewefen fein, wie aus dem intereffanten Codex Laureshamensis zu er-
Sehen ift, der über 3000 einzelne Schenkungen, größtentheils aus der Zeit Carl's
d. Gr, und Ludwigs des Frommen, aufzählt, Zu Lorfch gehörten außer den fchon
erwähnten Befigungen Hohnheim an der Selz (Bezirk Oppenheim), die erfle
Schenkung Cancor's, Bürftadt, Biblis, Weinheim, Sedenheim, Virnheim, Groß-
ſachſen, Hirfchhorn, Fürth, Wißloch, Laudenbach, Crüfftel 22.5 außerdem hatte es
Tiegende Güter im Nahe- und Speierergan, im Nerfargan, in der Wetterau, im
Kocher- und Jaxtthale, dann auch Giengen an der Brenz. — Die erfte bedeit-
tende Störung in der Klofterzucht trat im neunten Jahrh. ein; das Klofter verlor
zur Strafe das Wahlrecht und Adelbero, Bifchof von Augsburg, erhielt som
Kaifer die Leitung des Kloſters. Er ftellte während feiner fünfjährigen Verwal—
fung die Ordnung wieder ber, feine dringende Bitte jedoch um Zurückgabe des
Lorſch. 599
I Wahlrechtes ging erſt 914 unter König Conrad in Erfüllung. Eine Zierde für
das Klofter war der gelehrte Abt Salomon, der drei Bücher moralia ſchrieb
1 und 28 Jahre mit dem beften Erfolge regierte. Bald nad feinem Tode fonnte
es den Ditonen Bruno, Erzbifhof von Coln, wiewohl nur furze Zeit, 949 —
50, unter feinen Aebten aufzählen. Eine große Gefahr für die Selbfiftändigfeit
und gute Ordnung des Klofters erhob fih in der Mitte des eilften Jahrh.: der
länderſüchtige Erzbifchof von Bremen, Adalbert (f. d. U), Hatte feine gierigen
Augen auch auf diefes ſchöne geiftlihe Gut geworfen und Heinrich IV. hatte ihm
bereits die Erfüllung feines Wunfches zugefagt. Aber das Klofter, unter Abt
Ulrich, widerfegte fih mit der Außerften Anftrengung: zur Schugwehr wurde
damals die Starfenburg erbaut (1066). Muthig und kühn ſchlug fie mehrere
Angriffe der Belagerer zurück, bis der verhaßte Erzbifchof auf dem Reichstage
zu Tribur, auf welchem befanntlih die meiften teutfchen Reichsfürften dem von
Gregor VI. gebannten Kaiſer (f. Heinrich IV.) die Ausfohnung mit der Kirche
empfablen, auf den dringenden Wunfch der Fürften aus der Umgebung des Kai—
fers entfernt wurde, -Damit fhwand auch die Gefahr für Lorfh. Im 3. 1090
wurde die Klofterfirche durch Unvorfichtigfeit einiger Soldaten, weiche am Schluffe
eines Volksfeſtes Feuerfugeln warfen, ein Naub der Flammen. Doch war diefer
Berluft durch reihliche fromme Spenden bald wieder erfegt, Schwieriger war
die Wiederherfiellung der abermals bedeutend erfchütterten Drbnung und Disciplin.
Der im J. 1110 gewählte Ermenold, ein Mönch aus Hirfhau, entließ eine
Anzahl Mönche aus Lorſch und feste andere aus Hirfhau an ihre Stelle. So
berichtet ung Tritenheim (chronic. ad ann. 1114). Anders freilich erzählt die
Lorſcher Chronik, welche erft dur unwürdige aus Hirfchau gewaltfam eingedrun-
gene Mönde die Ordnung geftört werden läßt. Aber bald nachher fehen wir den
beſſern Theil der Brüder, als er bei der Abtwahl die Majorität erlangte, ſchon
wieder zu einem Auswärtigen feine Zuflucht nehmen. Im J. 1153 wurde der
gelehrte und fromme Heinrich aus dem Klofter Sinsheim gewählt. Er war ein
treuer Anhänger Friedrich’ I., führte bei der Belagerung Cremona's perſonlich
ein Corps und erhielt dafür von dem von den Kaiferlichen gewählten Victor IV.
eine Inful. Nach ihm zerfiel das Klofter fittlich und finanziell immer mehr, es
verlor dadurch feine Selbftftändigfeit und Fam an das Erzftift Mainz. Abt Con—
rad wurde bon Gregor IX. 1229 abgefegt und Erzbifchof Sigfried I. von Mainz
mit der Berwaltung und Reformation des Klofters beauftragt. Friedrich I. über-
gab Siegfried die „fürftliche Abtei” Lorſch 1232. Erzbifchof Siegfried III entließ
fämmtlihe Benedietiner und feste an ihre Stelle Eiftereienfer, die fih aber
wegen forfgefegter Gehäffigfeit und felbft gewaltfamer Angriffe der vertriebenen
Monde bald wieder zurücdzogen, worauf der Erzbifhof Prämonſtratenſer
Chorherren aus dem Klofter Allerheiligen in der Straßburger Didcefe berief
(1248). Aus der fürftlichen Abtei wurde eine Propſtei. Noch lange hatte aber
Mainz gegen benachbarte Großen, namentlich die Pfalzgrafen, welde unter eini-
gen ſchwachen und nachläffigen Aebten bereits mehrere Befisungen von Lorfh an
fih gebracht hatten, für die neue Erwerbung mande blutige Fehde zu führen.
Endlich erreichte Churpfalz doch fein Ziel: als ver von Rom 1462 abgefeßte
Erzbiſchof Dietrih von Mainz (ſ. d. A.) gegen den an feine Stelle gefegten
Adolph von Naffau eine Fehde begann, mußte, um Geld zu befommen, Lorfch
an Churpfalz (1463) verfegt werden. Daher follte Lorſch im 16ten Jahrh. auch
den Glauben von Churpfalz annehmen, Die Prämonftratenfer wurden ver-
trieben und 1555 wurde ein Jutherifcher Prediger aus Worms, Johann Car-
pentarius zum Propfte in Lorfch eingefegt, die Verwaltung ging an eine
„Hurfürftlide Adminiftration” über, bis im J. 1623 Lorfch wieder an Mainz
gelangte, was im weftphälifchen Frieden (Bergfträßer Vertrag von 1650) beftätigt
wurde, Im J. 1664 Cfaiferlihes Deeret vom 31, März) wurde Churmainz wegen
600 Löſcher.
des Beſitzes dieſer fürſtlichen Abtei mit Sig und Stimme in den Reichsfürſten—⸗
rath aufgenommen, Nun machten auch die Prampnftratenfer Verſuche, wieder in
ihre frühere Behaufung zu fommen. Der Öeneralvicar des Ordens, Abt Johann
David zu Ninau, beftellte einen neuen Propft in der Perfon des Johann Silvius,
der aber wegen der ſchwediſchen Unruhen nicht zum Befise gelangen fonnte, Das
Generalcapitel des Ordens ſchickte den von demfelben beftellten Provft an Ale-
xander VIL, um bie Sache zu verfechten. Es Fam zu mehrjährigen Verhandlungen
zu Rom, Wien und Mainz, die zu feinem Nefultate führten, Das Kloftergebäude
war 1621 abgebrannt und die Erbauung eines neuen war wohl in den dama—
Ligen fihweren Zeiten zu koſtſpielig. Nachdem fi) die Bergſtraße von ven Ver—
beerungen des dreißigjährigen Krieges (Guſtav Adolph eroberte 1631 die Veſte
Gernsheim, Starfenburg und die ganze Bergftraße) etwas erholt hatte, Famen
neue Leiden über fie durch den Einfall der Franzofen unter Turenne 1674. Tu—
renne blieb Sieger bei Sinsheim und Meifter der Pfalz und Bergftraße, 1688
famen die wilden Schaaren Melae's; alle Drtfchaften ver Bergftraße litten auf's
Neue furchtbar dur Feuer und Schwert, Starfenburg behauptete Damals
feine Ehre gegen eine harte Belagerung. Im J. 1803 erhielt Heffen-Darmftadt
die churmainzifchen Befigungen an der Bergfirafe und damit auch die Propftei
Lorfh. Duellen: Codex. principis olim Laureshamensis Abbatias diplomaticus,
edid. Academia elect. Theodoro-palatina. Mannh. 3 Tom. 1768-—70. Annales Lau-
resham. bei Berg T. L.; Hiftorifch = topographifch = ftatiftifche Beſchreibung des
Fürſtenthums Lorfh, von C. Dahl, Stadtpfarrer zu Gernsheim, Darmftadt
1812. [Scharpff.]
Löſcher, Caspar, ein berühmter Iutherifcher Theolog. Er ift geboren den
8, Mai 1636 zu Werda im Vogtlande, und bezog 20 Jahre fpäter Die Academie
Leipzig, wo er unter bürftigen Umftänden feine Studien mit recht gutem Erfolge
machte. Noch im 3. 1660 ward er Magifter, 1662 Baccalaureus der Theologie,
1668 Superintendent zu Sondershaufen und zu Leipzig Licentiat der Theologie.
Sm 5. 1674 erhielt er zu Leipzig die Doctorwürde und 1676 das Paftorat an
der Predigerfirche, auch die Infpection an dem Gymnaſium zu Erfurt, 1679 die
Superintendur zu Zwickau. Endlich Fam er 1687 als Generalfuperintendent und
Profeffor der Theologie nach Wittenberg, wo er auch als Professor primarius,
Senior der Academie und des Eonfiftoriums, Paftor an der St. Marienkirche
und Generalfuperintendent des ſächſiſchen Churfreifes den 11. Juli 1718 flarb,
Wie er in den pietiftifchen und terminiftifchen Streitigfeiten feiner Zeit eine Rolle
fpielte, fo ließ er auch das Literarifche Gebiet nicht unangebaut; er ſchrieb fehr
viele Differtationen, auch mehrere Abhandlungen verfchiedenen, meift theologifchen
Inhalts, die natürlich jegt von fehr untergeorbnetem Werthe find, — Eine ganz
ähnliche Laufbahn, wie er, ſchlug auch fein Sohn, Valentin Ernft Löſcher,
ein, und gelangte zu noch größerem Nuhme, Geboren den 28. December 1672
zu Sonvershaufen, genoß er gleich Anfangs eine trefflihe Erziehung, ftubirte
fpäter zu Wittenberg und wurde hier auch 1692 Magifter, und 1695, nachdem
er fih inzwifchen zu feiner weitern Ausbildung noch eine Zeit lang zu Jena auf-
gehalten, Adjunet der philofophifhen Facultät. Im J. 1698 wurde er Paftor
und Superintendent zu Jüterbock, 1700 Doctor der Theologie zu Wittenberg,
1702 Superintendent zu Delitfh, 1707 Profeffor der Theologie zu Wittenberg
und endlich 1709 Superintendent zu Dresven, wo er den 8, Februar 1749 farb,
Die theologiſche Zeitfchrift, betitelt: „das Alte und Neue aus dem Schage ber
theologiſchen Wiſſenſchaften“, fpäter „unfchuldige Nachrichten von alten und neuen
theologifhen Sachen, Büchern, Urkunden u, f. w.“ wurde von ihm gegründet,
Wie er in diefe Zeitfehrift viele Arbeiten Tieferte, fo erwies er fich auch fonft als
fruchtbarer Schriftfteller, hatte dabei aber manden Strauß zu beftehen ſowohl
mit Fatholifchen als reformirten, und ſelbſt proteftantifchen Schriftftellern und
2-3 Sunigher ae r u Ya a re m
Losfprehung von den Sünden — Lot. 601
Theologen. Befonders befämpfte er alle von den Pietiften herrührende Schriften
auf eine fehr heftige Weife, und verlor dadurch fehr an Anſehen bei den „From-
men“, wenn er glei auf ein thätiges Chriftenthum mit aller Entfchiedenheit drang
und eine Menge afcetifher Schriften abfaßte. Bon feinen vielen Werfen wollen
wir nur folgende anführen: Hiftorie des römifchen Hurenregiments, Leipzig 17045
geheime Gerichte Gottes über das Papſtthum, Leipzig 1706, wogegen fich die
P. P. Krauſe und Nonhard erhoben. Bollftändiger Timotheus Verinus oder
Darftellung der Wahrheit und des Friedens in den bisherigen pietiftifhen Strei-
tigfeiten. 2 Thle, Wittenberg 1718 u. 26, Bol. Fuhrmann, Handwörterbug
der chriſtl. Religiong- und Rirchengefh. 2, Bd, Jöch er, allgemeines Gelehrten-
lerieon. I. Thl. Iſe lin, hiſtor. Lericon. (Fritz.]
SLosſprechung von den Sünden, ſ. Abſolution und Beicht.
Lot (S, LXX. Aor, Vulg. Lot.), ein Sohn Horans, eines Bruders Abra-
bams (Genef. 11, 27), begleitete Iegteren und feinen Vater Terab, als fie von
Ur in Chaldäa, ihrer Heimath, nach Horan zogen und dort fich niederließen (Ge-
nef. 11, 283— 31). Und fpäter, als Abraham auf Gottes Geheiß auch von da
wieder fortzog, während fein Vater und feine Berwandtichaft blieben, begleitete
ihn fein Brudersfohn Lot ebenfalls bis in’s Land Canaan (Genef. 12, 4. f.).
Es dauerte jedoch nicht lange, fo entſtunden Streitigkeiten zwifchen den Hirten
Albrahams und Lots, in Folge deren fie fih von einander trennten, und Lot den
Sordanfreis bezog, bi8 gegen Sodoma hin, eine Gegend, gut bewäſſert und
fruchtbar, wie ein Garten Gottes (Genef. 13, 5—12). Bald aber traf ihn Bier
ein großer Unfall, Fünf Städte des Jorbanfreifes, Sodoma, Gomorra, Adama,
Zeboim und Bela, wurden von Keborlaomer und feinen Verbündeten mit Krieg
überzogen, weil fie nach zwölfiähriger Dienftbarfeit von ihm abgefallen waren.
Im Thale Siddim fam es zum Treffen. Die Könige von Sodoma und Gomprra
fielen, die übrigen flohen, die eroberten Städte wurden ausgeplündert, und da
Lot zu Sodoma wohnte, wurde auch er fammt feiner Habe fortgeführt. Als Abra—
ham hievon Kunde erhielt, fegte er mit feinen Leuten und feinen Verbündeten
den Feinden nach, überfiel fie unvermuthet bei Nacht in der Gegend von Dan,
flug fie und verfolgte fie bis Choba in der Nähe von Damascus, und nahm
ihnen alles Geraubte, namentlich auch Lot und feine Habe, wieder ab (Genef.
14, 1—16). Später al$ die vier Städte des Jordankreiſes, Sodoma, Gomorra,
Adama und Zebvim, wegen ihrer Lafterhaftigfeit zerflört werden mußten, wurde
Lot auf eigenthümliche Weife davon in Kenntniß gefegt und vor dem Untergange
bewahrt. Zwei Engel nämlich famen als unbekannte Fremdlinge nah Sodoma
und folgten der dringenden Einladung Lots, in feinem Haufe zu übernachten.
Als aber die Bewohner von Sodoma einen vergeblihen Verſuch machten, die
yermeintlihen Fremdlinge zu mißhandeln, Fündigten diefe den nahen Untergang
der Stadt an und führten am frühen Morgen Lot mit den Seinigen hinaus, wobei
jedoch Lots Weib, weil fie das Verbot der Engel nicht beobachtete, in eine Salz-
fäule verwandelt wurde (Genef. 19, 1— 28). Jene wunderbare Nettung für
einen Mythus zu erflären, und mit dem beidnifchen Mythus von Philemon und
Baucis auf gleiche Linie zu ftellen Cogl. Winer, Realwörterb. s. v. Lot), hat
man feinen andern Grund, als die rationaliftifhe Wunderfcheue; und der Ver—
ſuch, die Verwandlung in eine Salzfäure hinweg zu eregefiren (vgl. Roſen—
müllers Scholien zu Genef. 19, 26. und Winer a, a, O.), verfioßt in alfen
feinen Wendungen gegen die Tertesworte. Nah Sodoma's Zerftörung begab ſich
Lot mit feinen beiden Söhnen zunächft nach Zoar, und fpäter von da auf das nahe
| Gebirge, wo er in einer Höhle ſich aufhielt, Hier wußten es feine beiden Töchter
dahin zu bringen, daß er ihnen beiwohnte, ohne es zu wiffen. Beide befamen
Söhne, der Sohn der älteren wurde Stammvater der Moabiter, und der Sohn
der jüngern Stammpater der Ammoniter (Geneſ. 19, 22. fe 30— 38). Auf
EEE TER —
602 Lothar LIE 3
bier hat man eine aus Nationalhaß entfprungene Bolfsfage, eine fehr gehäffige
und garflige Dichtung finden wollen, deren etymologifches Fundament felbft ver
grammatifhen Wahrjcheinlichfeit entbehre (de Wette, Beiträge zur Einleitung
in das Alte Teftament. II. 94, f. Winer a. a. DJ. Mlein daß gegen dag ety-
molsgifhe Fundament nichts einzuwenden fei, behauptet felbft Tuch (Commentar
über die Genefis ©. 370), und Baumgarten bemerkt mit Recht, „diefe Mei-
nung fei rein aus der Luft gegriffen” , und fügt bei: „denn nirgends wird dieſen
Volkern ihr biutfhänderifher Urfprung zum Vorwurf gemacht, im Gegentheil
wird den Ifſraeliten unterfagt, das Gebiet zu betreten, welches Jehova „ven
Söhnen Lots“ gegeben hat (ſ. 5, 2. 19—21), Erſt nachdem fie fih unbrüderlich
gegen Iſrael bezeugt haben, wird ihnen und zwar ausdrücklich aus diefem Grunde
der Eingang in die Gemeinde Iſraels unterfagt (ſ. 5, 23, 4,5)%, (Theologiſcher
Eommentar zum Pentatend. Kiel 1843, ©, 216). Weber die rabbinifhen und
mohammedanifchen Zuthaten zu dem biblifchen Berichte über Lot vgl, Calmet,
Dictionarium Biblicum s. v. Loth. [Welte,]
Lothar J. II. Lothar L, weftrömifcher Kaifer, Sohn König Ludwig des From-
men, Die Regierung Lothar’s zerfällt in zwei Perioden, die der Mitregentfchaft mit
feinem Bater, der ihm im J. 817 die Kaiſerwürde neben fih verlieh, und die
feiner Alleinregierung als Kaifer nach dem Tode feines Vaters 84L0— 855, Bon
dem Tage an, als er fich verleiten Tieß, den Eid zu brechen, welchen er feinem
Vater zu Gunften des jüngften Bruders (aus zweiter Ehe) Carls des Kahlen
geſchworen, wurde das Franfenreich, deffen Vereinigung nach Carls d. Gr. Tode
König Ludwig nicht ohne gewaltfame Mittel bei feiner Familie herbeigeführt, den
heftigften Stürmen zweier Bürgerfriege, mehrfachen Theilungen, der zeitweifen Ent-
thronung Ludwigs wie der Entfernung Lothars nach Italien Preis gegeben (ſ. Ludwig
der Fromme). Als aber endlich der alte Kaiſer nach fo vielen Kämpfen mit feinen
Söhnen auf dem Feldzuge gegen Ludwig den Teutſchen geftorben war, gedachte
Lothar das Gefammtreich (universum imperium. Nithardi hist. II.) an fich zu reifen,
Er betrieb deßhalb den Krieg feiner Brüder Pipin und Carl und hoffte den dritten,
Ludwig, felbft aus feinem Neiche zu vertreiben. Allein er bewirkte nur, daß fi
die drei Brüder verfländigten, Lothar, der fie mit einem fehändlichen Spiele fal-
ſcher Eide hintergangen, in der gewaltigen Schlacht bei Fontanetum, welche dem
Tranfenlande den Kern feiner krieger iſchen Mannſchaft Foftete, 25, Juni 841 be=
fiegten und zulegt den Kaiſer zwangen, zur Vermittlung die Hand zu bieten,
welche er nicht nur vor ber Schlacht beharrlich abgewiefen, fondern zu deren
Fernhaltung er nach derfelben die Normannen wider das fränkiſche Reich aufbot.
Erft im 3. 843 fam der Friede zu Verbun zu Stande und durch ihn die befannte
Theilung des Carplinger- Neihes in drei große Theile, Frankreich, Teutſchland
und Lothringen mit Italien; letztere Länder mit der Kaiſerkrone behielt Lothar,
War fo zum zweiten Male, den Brüdern wie zuerft dem Bater gegenüber, der
Pan des Ehr- und Ländergeizigen gefiheitert, fo war er nun in der letzten Zeit
feines Lebens gezwungen, auch den Sturm zu ernten, den er in der Mitte feines
Lebens ausgefäet. Der Bruderfrieg der Carplinger hatte den auswärtigen Fein—
den des Neiches Gelegenheit gegeben, ihre Krafte zu fammeln und das weite
Küftenland wie herrenlofes Gut zu behandeln. Nur die größte Eintracht Eonnte
ein fo großes Reich erhalten, nur ein fortwährender Kampf gegen Außen die
ziwieträchtigen Beftandtheile zuſammenhalten. Lothar fah ſich genöthigt, um Jta-
lien gegen die Saracenen zu vertheidigen und bie Italiener an’s Reich zu knüpfen,
dem wichtigen Rande, deffen Beſitz die Kaiferfrone verlieh, feinen Alteften Sohn
Ludwig IT. zum Herrfcher zu geben; er felbft aber wurde in Lothringen dermaßen
im Rampfe mit den von ihm entfeffelten Normannen — namentlich nach der Er-
mordung des mit friesfändifchen Diftrieten belehnten Haralds (845) verwidelt,
daß Kummer über feine Unfälle und wohl auch Neue über feine ſchweren politi—
Louvois — Löwen. 603
fchen und moraliſchen Miſſethaten ihn bewögen, 15 Jahre nach dem Tode feines
Baters in ein Klofter zu gehen, Hier in der nothgedrungenen Zufluchtsftätte feines
Baters vor feinen Söhnen, und wohin die Carolinger ihre befiegten Gegner,
wie ihre Blutsverwandten, Halbbrüder, Schweftern, Vettern gewöhnlich zu ent
fernen pflegten (per monasteria sub libera eustodia etc. Nith. I. 2), endigte au
er, ber dritte Kaiſer des wiederhergeftellten weftrömifchen Neihes 855 fein Leben. —
Lothar U, König von Lotharingien, zweiter Sohn des Vorigen (855—869).
Berfiel der ältere Lothar in den einen Fehler feines Geſchlechtes, unbegrenzte
Herrſchſucht, die Treulsfigfeit und Zwietracht gebärt, fo verfiel der jüngere au
noch in den andern Fehler, finnliche Ausſchweifung. Statt nah einem fruchtlofen
Berfuhe, wie fein Vater 840 geftrebi, das ganze Erbe fich allein zuzueignen,
das ihm zu Theil gewordene Neih von der Nordfee bis zu den Vogeſen defto
rühmlicher gegen die äußern Feinde zu vertheidigen, flürzte ſich Lothar II. um der
Waldrade feiner Concubine willen in einen heftigen Streit mit dem römifchen
Stuff, Obwohl nämlich die Erzbifhöfe von Cöln und Trier, Verwandte Wald-
rada’8, fih gegen Theutberge, die rechtmäßige Gemahlin Lothars erklärt hatten,
jene ſelbſt die Legaten Papft Nicolaus I gewonnen hatte und die Synoden von
Aachen und Mes 862 und 863 gleichfalls gegen die verftoßene Königin auftraten,
and Lothars Ehe bei Lebzeiten der rechtmäßigen Gattin mit der früheren Concu—
bine billigten, erflärte fich nicht nur Hinemar, Erzbifhof von Rheims (ſ. d. 4.),
gegen diefe Procedur, fondern ſprach fih Papft Nicolaus I. auch fo entſchieden
für die Heilighaltung der ehelichen Bande und den Beruf des romifhen Stuhles,
der Hilfeflehenden Recht zu verfchaffen, aus, daß felbft der Heereszug König
Ludwigs I. nah Rom zu Gunften feines Bruders Lothar, Drohungen und Ge—
walt ihn nicht bewegen fonnten, von dem wider die Synoden, die beiden Erzbifchöfe,
Lotharn und Waldraden ausgefprochenen Urtheile abzugeben, (S. Nievfaus 1).
Und als nun König Ludwig felbft, hiedurch erfchüttert, fih mit dem Papfte ver-
föhnte und nach deffen Tode Papft Adrian H. den widerfirebenden König von
Lothringen zu fich berief, diefer in guten Treuen gehandelt zu haben vorgab, fo
theilte mit ihm der Papft, gleihfam daß ein Gottesurtheil zwifchen ihm und dem
Könige entfheide, das Hl, Sacrament in der Communion, Beide riefen das Ge-
richt Gottes über den Schuldigen herab, und zum Entfegen des Jahrhunderts
5 nicht nur Lothar, ehe er die Heimath wieder gefehen, fondern auch feine
jefährten, die ihm im der Unterdrüdfung Theutbergens die Hand gereicht, mit
ihnen das Gericht Gottes zur Entfheidung angerufen hatten (869), [Yöfler.]
Louvois, f. Tellier,
Sovt (Lavtus, Loftus), Dudley, Rechtsgelehrter und Drientalift, wurde zu
Refernham bei Dublin um das J. 1683 geboren. Auf Beranlaffung des berühm—
ten Ufferius fandte ihn fein Vater nach Orford (1639). In feinem Vaterlande
erlangte er fpäter hohe Würden, unter andern bie eines Vicarius generalis in
Irland, die er bis zu feinem im 5. 1695 erfolgten Tode mit großem Ruhme
bekleidete. Er war auch Profeffor des Rechts und der morgenländifchen Sprachen
zu Dublin. Bon feinen verfihiedenen Schriften über das Morgenlaͤndiſche nennen
wir: Ueberfegung der Palmen aus dem Armenifchen in das Lateinifche; Ueber—
fegung des äthiopifchen N. T. in das Lateiniſche; Dionyſius des Syrers Reden
und Erflärung der Evangelien und mehreres Andere überfegte er aus dem Sy-
riſchen; aus dem Arabifchen das Leben des Abulpharadfh. Noch befigt man von
ihm: Reductio litium de praedestinatione et libero arbitrio; Aıyaulas adızla u,
m, a. cf. Wood. ath. Oxon. Taylor, Life of Jesus.
Löwen (Lovanium), eine alte Stadt in der Provinz Brabant, Die dortige
Univerfität wurde von dem Herzog Johann IV. von Brabant geftiftet, am
9, Derember 1425 von Payft Martin V. beftätigt und am 7. September 1426
eröffnet, Sie wurde im Laufe der Zeit durch zahlreiche Stiftungen bereichert und
=
604 | Löwen,
hatte bei der Aufhebung 42 zum Theil fehr reich dotirte Collegien (eines der 17
Eollegien für Theologen hatte 36,000 Gulden Einfünfte), Im 16ten Jahrh.
hatte fie an 6000 Studenten. Sie zählte viele berühmte Männer unter ihren
Lehrern, 3. B. den Papft Adrian VI. (ſ. d. A.) und Zuftus Lipfius (ſ. d. A).
Namentlich ftand die theologiſche Facultät immer in einem ausgezeichneten Nufe,
der indeß fpäter durch die theologiſchen Streitigfeiten des Michael Bajus, Eor-
nelius Janſenius und Leſſius (ſ. diefe Art.) befledt wurde, Durch Joſeph IL |
wurde zu Löwen ein Öeneralfeminar (f. d. A.) errichtet und im Juni 1788 für
einige Zeit die Univerfität mit Ausnahme der theologifhhen Facultät nach Brüffel
verlegt (f. d. Art, Joſeph II. Bd, V. 805. 806. und Franfenberg). Nach
der franzöfifhen Revolution rückten die Franzofen in Belgien ein. Am 4. Bru-
maire des Jahres VI. (25. Det. 1797) bob die Sentral-Verwaltung des Depar-
tements de la Dyle die Univerfität auf, weil fie nicht den republicanifchen Grund—
fäßen gemäß Iehre: die Hallen, Collegien, Sammlungen u. |. w. wurden ge—
fchloffen, die Hauptwerfe der Bibliothek, welche ſchon 1794 und 95 von fran-
zöfifchen Commiffären geplündert war, nah Brüffel gebracht, den Präfiventen
der Collegien wurde geboten, binnen zehn Tagen die Collegien zu räumen, ber
Reetor J. J. Havelange wurde nach Brüffel und von da nach Frankreich geführt,
mehrere geiftliche Profefforen deportirt; das Vermögen der Univerfität wurbe der
Direction der National- Domänen überwiefen. Später wurde zu Löwen ein Ly—
ceum errichtet, — Nachdem Belgien unter niederländifche Herrfchaft gefommen
war, bemühten fi) in den Jahren 1814 und 15 mehrere Profefforen bei der Re—
gierung für Wiederherftellung der alten Univerfitätz durch eine Verordnung des
Königs Wilhelm I. vom 25. September 1816 wurde aber eine neue Univerfität
mit vier Facultäten (einer philoſophiſch-philologiſchen, mathematifch -naturwiffen-
Schaftlichen, medieinifchen und juriftifchen) errichtet und am 6, Det. 1817 eröffnet,
Sie zählte im erfien Jahre 230, kurz vor der beigifchen Nevplution 6— 700
Studenten, Seit der Revolution im J. 1830 hat Belgien nur zwei Staatsuni-
verfitäten, Gent und Lüttich, Die Bifchöfe benüsten die von der Verfaffung
gewährleiftete Unterrichtsfreiheit und befchloffen mit Genehmigung des hl. Stuhles
die Errichtung einer rein Fatholifchen Univerfität als Fortfegung der alten Uni-
verfität Löwen. Im Februar 1834 forderte ein von dem Erzbifchof von Mecheln
und den Bifhdfen von Tournay, Gent, Lüttich, Namur und Brügge ergangener
Aufruf zu freiwilligen Beiträgen für diefen Zweck auf, Troß des Lärms der
„Liberalen” wurden am 4. November 1834 zunächſt die philoſophiſche, natur-
wiſſenſchaftliche und theologiſche Facultät zu Mecheln eröffnet; fie zählten 86 Stu-
denten, Im folgenden Jahre wurde die Univerfität nah Löwen verlegt und
dort am 1. December vollftändig eröffnet. Die Zahl der Studenten betrug gleich
im erſten Jahre 261 und flieg in der Folge auf 700. Die katholiſche Uni-
Yerfität wird noch fortwährend durch freiwillige Beiträge der Fatholiihen Geift-
lichen und Laien unterhalten; alljährlich wird in ganz Belgien eine Richen-Col-
leete für fie abgehalten. Die Bifhöfe fuchten im Januar 1841 bei den Kammern
für die Univerfität Corporationsrechte nach, nahmen aber wegen des Wiberftandes
und der Verdächtigungen der „Liberalen“ im Februar 1842 ihr Geſuch zurüd,
Die Univerfität zählt fünf. Facultäten, Theologie, Jurisprudenz, Medien, Philo—
fophie und Philologie und Sciences (Mathematif und Naturwifienfchaften). An
der Spite ſteht der Rector (Prof, de Nam), ein Conseil rectoral (der Vicerector,
die fünf Decane und der Seeretär) und der Senat, ber aus allen Profefforen be—
ſteht. Die Profefforen werben von den Biſchbfen auf ihren jährlihen Zufam-
menfünften ernannt, Die Studenten müffen alle Fatholifch fein und werden zur
Erfüllung ihrer religiöfen Pflippten, zum Befuch der Vorlefungen und zur Beob—
achtung der academiſchen Disciplin angehalten. Ein Theil wohnt in Eollegien,
deren drei beftehen, das College du St. Esprit für Theplogen, das Collöge du
Loyola — Lübeck. 605
Pape Adrian VI. für Studenten der Philoſophie und Jurisprudenz und das College
de Marie-Therese für Studenten der Mediein und Sciences. Im J. 1839 wurde
mit der Univerfität eine Art von Gymnafium, das Collöge de la Haute - Colline
mit einem Snternat und Erternat verbunden; es zählte Anfangs 125, fpäter am
160 Schüler. Seit dem Detober 1844 ift auch ein Institut philologique, philolo-
gifches Seminar, ähnlich wie an teutſchen Univerfitäten, errichtet. Ferner befteht
an der Univerfität eine „Literarifche Geſellſchaft“ von Profefforen und Studenten,
‚unter einer Direction von drei Profefforen und vier Studenten, welche alle vier-
zehn Tage wiffenfchaftlihe Zufammenfünfte Hält; in ähnlicher Weife ein „Verein
für flämifche Literatur“ und ein „Verein vom hl. Vincenz“ zur Unterflügung ber
Armen und Kranfen, Für die Promotion, namentlich in der Theologie und dem
canonifchen Recht, befteht ein firenges Neglement : das Baccalaureat in diefen beiden
Fächern Fann erft nach A, das Licentiat nad 6, das Doctorat nah I—10 Stu-
dienjahren erworben werden, Der Erteilung der Doctorwürde, welde unter
großen academiſchen und kirchlichen Feierlichkeiten geſchieht, geht eine dreitägige
Dispütation über 72 Thefen vorher, Die Fatholifche Univerfität Hat von den
Päpften Gregor XVI. und Pius IX. mehrfadge Zeichen des Wohlwollens erhalten ;
Pins IX. Hat befanntlich die iriſchen Biſchöfe zur Errichtung eines ähnlichen Ju—
flituts aufgefordert. Die Anfeindungen der liberalen Partei, welche in gleicher
Weife eine freie Univerfität zu Brüffel errichtet Hat, haben das Aufblühen der
katholiſchen Univerfität nicht hemmen fonnen. Die Eramina, welche alljährlich von
einer Jury für alle belgiſchen Univerfitäten gehalten werden, fallen immer für Lö-
wen ſehr günftig aus, (Vgl. die Annuaires de l’Universit& catholique de Louvain.)
2oyola, Ignaz v., ſ. Jefuiten
Lübeck, Bisthum, und Reformation daſelbſt. Der eigentliche Gründer Lü—
becks iſt Heinrich der Löwe (ſ. d. A.), der die Stadt ſeit dem J. 1158 beſaß.
Derſelbe erwirkte die Verlegung des Bisthums Aldenburg (in Wagrien) nad
Lübeck 1163, und gründete die Domkirche 1173, nachmals die Grabſtätte der
Lübecker Bifhöfe. Im J. 1342 hielt der Biſchof Johannes von Muhl Hier eine
Dideefanfynode gegen die Angriffe auf geiftlihe Perfonen (Con. Germ. T. IV.).
Ebenſo wurden im J. 1420 durch den Biſchof Johannes Schele auf einer Synode
verfhiedene aus andern Coneilien entnommene Befchlüffe erneuert (T. V.). Das
Bisthum Lübeck ftand unter dem Erzhistfume Hamburg-Bremen (ſ. d. A). Der
Magiftrat von Lübeck widerfegte fih lange der Einführung der Neformation. Im
J. 1525 wurde ein gewiffer Johann von Osnabrück, der nach dem Wunſche des
Volkes Iutherifh predigte, vom Rathe eingefperrt und auch auf Anfuchen des
Ehurfürften von Sachſen nicht freigegeben. Hierauf traten Andreas Wilhelmt,
Paſtor zu St. Aegidi, Michael Fund und Johann Walhof als Neformatoren auf,
Sie wurden, auf Anzeigen der Geiftlichfeit, der Stadt verwiefen ; Luthers Po-
ftilfe und andere Schriften wurden durch Henfershand auf dem Marfte verbrannt.
Die Unzufrievenen aus Lübe zogen nun in die Nachbarorte zu dem [utherifchen
Opttesdienfte. Ein aus Belgien geflohener Prediger, Peter Friwersheim, follte
in die Stadt eingeführt werden, wozu fih bald Wege fanden. Die Stadt war
verſchuldet; neue Steuern follten eingeführt werden, die proteftantifche Parter
benügte die Gäfrung, um Leute von ihrer Farbe in den Bürgerausfhuß zu
bringen, Diefe mußten die Aufftellung von Predigern verlangen, die das Evan—
gelium rein und lauter verfündigten, wie das in Braunfhweig, Hamburg und
Wismar geſchehe. Der Rath widerftand. Als er aber den Bürgern die Artifel
in Betreff der Steuern vorlegte, worüber er fih mit dem Ausfhuffe von 48
- Bürgern geeinigt Hatte, erffärten die lauteſten Stimmen jener, fie würden nichts
bezahlen, wenn nicht die vertriebenen Prediger zurücgerufen, und die Nebung
der neuen Lehre freigegeben werde. Alle Gegengründe des Nathes halfen nichts;
Wilhelmi und Walhof wurden zurückberufen; jener Prediger in St, Peter, diefer
606 2ubienidi,
zu St. Maria, unter der Bedingung jedoch, daß fie Frieden Halten, Doch —
fie griffen den Fatholifchen Glauben an; die Geiftlihen der Kirche vertheidigten
ihren Glauben, und mußten auch gegen die neue Lehre wegen Gefahr der Ver-
führung der Gläubigen anfämpfen, Die Neuerer beflagten fich über Läfterungen
ihrer Gegner; fie verlangten vom Nathe eine Disputation, und daß denen Stilf-
fhweigen geboten werde, welche ihre Lehre nicht aus der HL. Schrift beweifen
könnten. Die Stiftsherren verweigerten dag Erflere und überreichten ein Schrei»
ben des Herzogs Heinrich von Braunfchweig des Inhalts, daß er die Stiftung
feiner Ahnen befhügen werde, Alfein das Volk fehritt zu Drohungen; es fam-
melte fih zum Deftern in hellen Haufen vor dem Dome, und verlangte Abftellung
der Schmähungen und des Göhendienftes der Pfaffen. Es erzwang endlich ven
Beſchluß: das Predigtamt dürfe nur der verwalten, der vom Nathe, von eigens
beftellten Bürgern und den Predigern des reinen Wortes tüchtig erfunden wor-
den; denen, Die. es wünſchen, folfe dag Abendmahl in der Kirche des hl. Aegidius
unter beiden Öeftalten gereicht werben; in den andern Kirchen folle es, unter Vor—
behalt fpäterer Reform , vorerft bei'm Alten bleiben — 2, April 1530. Die für
die Katholiken günftigen Beflimmungen wurden nicht erfüllt; Aus dem größern
Ausſchuſſe der Bürger verfügten ſich zwölf Abgeorbnete zu den katholiſchen Geift-
lichen und verboten ihnen, bis auf Weiteres Die Kanzel zu befteigen. Bald wurde
die Meſſe ald Götzendienſt in allen Pfarr= und Kloſterkirchen — 27. Juni, und
auch im Dome — 2, Juli abgeſtellt. Ein fiharfes Eaiferliches Ediet — Detober,
verlangte die Wiedereinführung des alten Gottespienftes. Umſonſt. Der große
Ausſchuß wurde um 100 Mann vermehrt und Johann Bugenhagen (ſ. d. U.)
herberufen, der den neuen Gottesdienſt ordnete und ſogleich eine Schule grün-
dete.. Da der Senat noch immer dem Neuen wiberfiand, fo fehritten Die 164 des
Ausfchuffes gewaltfam vor, und feßten die Glieder des Raths in Haft, Der
Rath wurde völlig eingefchüchtert und mußte zu Allem fein Jawort geben,
Neue entfprechende Mitglieder wurden ihm einverleibt und bald war alfer Wider—
ftand gebrochen. Der ehrgeizige fihlaue Wollenweber, der in Kurzem Bürger-
meifter wurde, beutete die Religion für feine weltlichen Zwecke aus; unter feiner
Herrfhaft wurden die Kirchen in der Stadt und dem ganzen Gebiete geplündert,
Lübeck nahm die Befchlüffe des (1535) zu Hamburg gehaltenen Convents an, durch
welche die neue Lehre im Gegenſatz gegen die Katholiken und Wiedertäufer be-
ffimmt wurde. Nach ihnen folle jeve Obrigfeit die Sacramentirer und die Katho—
liken aus ihrem Gebiete verbannen; jeder Prediger folle an das Augsburgifche
Bekenntniß gehalten fein; von dem alten Gottesdienſte und der alten Kirchenprd-
nung follten noch beliebige Stücfe beibehalten werden, damit nicht alle Zierbe des
Gottesdienftes fehle, und öffentliche Sünder mit dem Kirchenbann belegt werben
fönnten, Die Fatholifche Kirche war aus der Stadt und dem Gebiete Lübecks ver-
ſchwunden. In neuefter Zeit haben fih wieder einige Katholiken Dort zufammen-
gefunden, Ihre Zahl wird auf 200 angegeben, Bgl. Chytraeus Sax..L. XII.
et XIV. Niffel, Kirchengeſch. U. Bd. Schlegel, Kirhen- und Neformationd-
geichichte von Norbteutfchland, I. Bd, [Oams.]
Lubienicki, (lat, Lubienicius) Stanislaus, ward aus einer abeligen Familie
im J. 1623 den 23. Auguft zu Rakow (nicht zu Krakau, wie bie Biographie uni-
verselle, Bd. XXV. ©. 328. und Feller, dictionnaire historique S. v. haben),
dem Sige der polniſchen Antitrinitarier im Gebiete von Krakau geboren, In
feiner Zugend befuchte er das Gymnafium feiner Vaterftadt, Später ſchickte ihn
fein Vater Chriſtoph Lubienicki, welcher Prediger in Rakow war, nah Thorn,
wo er zwei Jahre blieb, damit er dort in der teutſchen Sprache ſich vervoll⸗
kommnen möchte. Hier ward er mit Jonas Schlichting und Martin Ruar, den
bekannten Antitrinitariern, welche ſich wegen des Colloquium charitativum dort
aufhielten, befreundet. Dieſes Colloquium hatte den Zweck, die Abgefallenen mit
Lubienicki. 607
den Katholiken wieder zw vereinigen (vgl. €. A. Menzel, neuere Geſchichte der
Zeutfhen, Bd. VIII. ©. 105 ff.), erreichte aber eben fo wenig diefen Zwed, als
die vielen andern abgehaltenen Colloquia. Lubienicki war bei diefem Colloquium
Schriftführer von Seiten der Soeinianer, Darauf ging er als Hofmeifter des
iungen Grafen Niemyryez nach Franfreih und Holland, Als aber 1645 fein
Bater ftarb, kehrte Lubienicki wieder nach Polen zurück und verheiraihete ſich mit
der Tochter des Paul Brzeski Zegota, welcher aus einem Lutheraner ein eifriger
Unitarier geworden war, In demfelben Jahre ward er dem Prediger in Sied-
liaka, Soannes Ciachowski, zum Coadjutor gegeben. Nicht lange nachher übertrug
ihm die antitrinitarifche Synode zu Charfow das Amt eines Predigers in diefer
Stadt (Rubieniki war nie Prediger in Lublin, wie die Biographie universelle aus
einer VBerwerhfelung mit Andreas Lubienicki Hat.). Während des ſchwediſchen
Krieges begab ſich Lubienicki ebenfo wie die meiften Proteftanten unter den Schuß
des Röniges von Schweden und fam mit ifm nach Krafau. Hier fihrieb er den
Brief, welcher vem Eommentare des Jonas Schlihting zum Evangelium Johannes
vorgedrugft ift und fuchte für feine Seete möglihft zu wirken, Als aber Krakau
1657 von den Polen wieder eingenommen wurde, folgte Lubienidi mit andern
Speinianern der ſchwediſchen Garnifon und begab fih zum Könige von Schweden,
um ihn dringend zu bitten, er möge doch beim Friedensſchluß mit Polen dahin
wirken, daß für alle Unitarier Amneftie ausbedungen werde, Sp kam Lubienidi
nad Stettin und traf am 7. Det. 1657 in Wolgaft ein. Er warb vom Könige
von Schweden und deffen Miniftern recht gnädig aufgenommen und häufig zur
Tafel geladen, obgleich die Intherifchen Prediger diefes durchaus nicht gern ſahen,
da Lubienicki feine Gelegenheit vorbeiließ,, von feiner Religion zu ſprechen. Bon
dort reiste er nah Dliva bei Danzig, wo die Friedensunterhandlungen zwiſchen
Polen und Schweden ihren Anfang genommen hatten, Fonnte aber aller Anften-
gungen ungeachtet es nicht bewirken, daß die Unitarier in die Amneflie aufge-
nommen wurden, Als er fo die Hoffnung auf Rückkehr in fein Vaterland ver-
Ioren hatte, begab er fich nach Kopenhagen, hier traf er am 28, Nov. 1660 ein,
um. dort für. feine aus Polen vertriebenen Glaubensgenoffen vom Könige Fried-
rich II. von Dänemarf die Erlaubniß, dort fih aufhalten zu dürfen, zu erlangen.
Es gelang ihm aber nur für fih, nicht aber für feine Glaubensgenoffen, diefe
Erlaubnig zu erhalten. Der König bewilligte ihm auch eine jährliche Penfion,
unter der Bedingung, daß Lubienici, welcher einen fehr ausgedehnten Brief-
wechſel führte, ihm die merfwürdigfien in Abfihrift mittbeilte, Die Lutheraner
‚Liegen aber den Lubienicki in Kopenhagen nicht ruhig leben. Er wendete ſich deß-
halb nah Pommern, zuerfi nad Stralfund und dann nah Stettin 1661. Da er
aber auch bier Feine Ruhe fand, reiste er nah Hamburg und ließ 1662 feine
Familie nachkommen, Bon hier begab er ſich nochmal! nah Dänemark und fand
beim Könige wieder eine gnädige Aufnahme. Die Behörden in Friedrihsburg
erlaubten Lubienicki's Glaubensgenoffen in ihren Häufern Gottesdienſt zu halten.
Doch trat dem der Superintendent Johannes Rembott eifrig entgegen und in
Folge deffen erließ der Herzog von Holftein-Oottorf an Lubienicki den Befehl, die
Stadt zu verlaffen, Lubienicki wollte nun wieder nah Hamburg zurüdfehren,
allein auch Hier erwirften die Iutherifchen Prediger von der Obrigkeit den Befehl,
daß Lubienicki wieder aus der Stadt fortgehen follte, Aber noch ehe dieſer Befehl
zur Ausführung fommen Fonnte, farb Lubienicki, wie feine Glaudensgenoffen
felbft berichten, nebft zweien Töchtern an Gift, welches das Hausgefinde ihnen
beigebracht hatte, am 8. Mai 1675, Die Leiche ward zu Altona begraben, aber
nicht ohne heftigen Widerftand der Iutherifchen Prediger. — Bon feinen Werfen
- find zu nennen: Theatrum cometicum, Amstelodami 1688. 2 tom. fol, - Diefes
Buch ift dem Könige von Dänemark dedieirt und enthält die Geſchichten aller
- Kometen, und iſt gerade im Gegenſatz zu der früheren Meinung gefchrieben,
608 Lubranski — Lucia,
welche beim Erfcheinen der Kometen alferlei Unglück befürchtete. Historia refor-
mationis Polonicae, in qua tum reformatorum tum antitrinitariorum origo et pro-
gressus in Polonia et in finitimis provinciis narrantur, autore Stanislao Lubienicio,
equite Polono. Freistadii apud Joannem Aeonium 1685. Diefe Geſchichte ift im
Geifte feiner Secte gefihrieben, aber für die Gefchichte der Reformation in Polen
fehr wichtig. Außerdem hat Lubienicki noch eine. Menge yon Schriften hinterlaffen,
welde noch gar nicht einmal gedruckt find. [Uedind,]
Rubransfi, Johann, Bifhof von Pofen (1499—1520), verwendete große
Summen auf die Verfhönerung der Domkirche, ließ zum befferen Schuß des
Domes gegen räuberifche Anfälle eine große zum Theile noch beftehende Mauer,
welche alle Wohnungen der Domherren und Vicarien umfchloß, aufführen; fliftete
ein Collegium von 12 Pfalteriften mit einem befonderen noch jest flehenden Ge—
bäude u. f. w. Befonders aber machte er fich verdient durch Stiftung einer ge—
Iehrten Schule, Gymnafium oder Academie genannt, welche durch mehrere Jahr-
hunderte, wenngleich unter verfchiedenen Werhfelfällen, eine der berühmteften
Bildungsanftalten in Polen wurde. Das von ihm für dieſe Academie aufgeführte
Gebäude ift jegt der Sig des Clericalſeminars.
Sucaris, f. Cyrillus Lucaris,
Rucas, ſ. Evangelien,
Lucas von Tun (Lucas Tudensis) erhielt diefen Namen von der Stadt
Tuy in Gallicien, wo er Diacon und von 1239 an Bifhof war, Zuvor war er
Canonicus regularis im Klofter St. Iſidor zuleon, Er machte verſchiedene Reifen
in den Drient und nach) andern Ländern, um über die Religion und die Gebräuche
der verfchievdenen Völker Studien zu machen. Nach feiner Rückkehr fehrieb er mit
viel Urtheil und Genauigkeit I. ein Werk gegen die Albigenfer (epistola de
altera vita, fideique controversiis adversus Albigensium errores libr. I.), Sngol-
ftadt 1612, auch zu finden in der „Biblivthef der Väter”, wie in Gretſers
Werfen. I. Eine Gefhihte Spaniens von Adam bis 1236, eigentlich eine
Fortfegung vom Chronicon Isidori Hispalensis bis zum genannten Jahre; fie be-
findet ſich in Schotti Hispania illustrata. II. Vita et miracula S. Isidori, eingereiht
beim 4, April in den Actis Sanctorum und bei Mabillon in Saeculo II. Sanctor.
Ord. D. Bened. Lucas von Tuy flarb 1288,
Qucernarium, ſ. Brevier.
Lucia, hochverehrte HI. Jungfrau und Martyrin, Im Meßcanon,
wie er im Saeramentar Gregor's des Großen vorfommt und noch jetzt gebetet
wird, fommt unter den Namen der hl. Martyrinnen auch der Name der h. Lucia
vor (f. S. Greg. opp. ed. Maur. III, 4); ferner enthält das Sacramentar Gregors
(5.144) die Gebete auf ihr Feft, und der liber responsalis oder das Antiphonar
deffelben Papftes (ſ. S. 842) gibt für ihren Feſttag am 13. Dec, dieſelben Anti-
phonen, wie fie mit einigen Abweichungen noch jegt ad laudes et per horas im
Brevier vorkommen. Aldhelm, der berühmte englifche Dichter, Abt und Biſchof
son Sherburne C+ 709) führt in feinem befannten Brief an die Nonnen des
Kloſters Berkin über die jungfräufihe Neinigfeit unter den hochberühmten hl.
Jungfrauen auch die Lucia von Syracus an (ſ. Erſtes Jahrh. d. Engl. Kirche,
©. 295, und Basnage-Canifing, lect. antiq. I, wo von 709—754 Aldhelms
Brief, von ihm felbft in ein Gedicht übertragen, zu Iefen und ©, 743— 744 von
em Martyrium Lucia’8 die Rede ift). Beda in feinem Martyrologium, (Boll.
im II. Band des Monats März zum 13. Dec.), Ufuard, Wandelbert, Rhabanus
Maurus u. A. in den ihrigen, erwähnen alle am 13. December die Leidensge—
fchichte der HI. Lucia, Hieraus erhellt einerfeits, in welch’ hoher Verehrung feit
der älteften Zeit die hl. Lucia in der ganzen Kirche (auch die Öriechen gevenfen
ihrer zum 13, Dec.) fund, und andererfeits wie alt und ehrwürbig die von Surius
zum 13, Dec, gelieferten Leidensacten der hl. Lucia find, denn auf die ſe Duelle
BE SE
Lucianus. 609
gehen Gregor's Antiphonar, Aldhelms Schrift und alle martyrologiſchen Berichte
über Lucia zurück und mit dieſer Duelle ſtimmen fie alle der Hauptſache nach
überein; freilich mag etwa erft ein Jahrhundert nach Lucia’ Tod die in Nede
ſtehende Paffio abgefaßt worden fein, weßhalb, wie es ſcheint, einige Aus-
ſchmückungen und in Nebendingen einige Irrthümer unterlaufen, welche Ruinart
bewogen, biefelbe nicht in feine Martyreracten aufzunehmen. Das Wefentlihe
der Surianifhen Acten ift Folgendes. Lucia, aus vornehmem Gefchlecht der
Stadt Syracus entfproffen und Hrifilich erzogen und ſchon frübzeitig ihres Baters
durch den Tod beraubt, mußte mit Schmerz mehrere Jahre zufehen, wie ihre
fromme Mutter Eutychia ungeachtet aller ärztlihen Hilfe von einem Blutfluffe
nicht frei wurde, und beredete fie endlich, zu Cataneaı am Grabe der HI. Agatha,
der hochberühmten ficilianifhen Jungfrau und Martyrin, welde in der Berfol-
gung des Decius ihr Leben für Chriſtus opferte (ſ. die Bolland. zum 5. Febr.),
ihre Heilung zu erflehen. Als diefe wirklich erfolgte, entvedte Lucia ifrer Mut-
ter, welche fie mit einem vdrnehmen, aber heidniſchen Fünglinge zu vermählen
wünfchte, daß fie durch ein Gelübde Ehrifto ihre Keufchheit geweiht Habe, und
gerne gab nun die Mutter den Plan mit ihrer Tochter auf und willigte auch ein,
daß diefe Vieles von ihren Gütern verfaufen und den Erlös an die Armen ver-
iheilen durfte, Da der Züngling fih in feinen füßen Hoffnungen getäufcht fah,
Hagte er die feufhe Jungfrau wuthentbrannt bei dem Richter Paſchaſius als
Epriftin an. Es geſchah dieß während der Diorletianifchen Verfolgung. Stand-
| Haft befannte fich Lucia vor dem Richter zu Chriſtus, daher befahl Paſchaſius,
| fie, wie e8 der hl. Agatha gefihehen war, in ein Haus der Unzucht abzuführen,
allein als man fie dahin bringen wollte, war feine Gewalt im Stande, fie von
der Stelle zu fhaffen. Unverfehrt blieb fie au von dem Feuer, das hierauf
I Yafhafins rings um fie anlegen ließ. Beſchämt befahl der Tyrann, ihr einen
Dolch in den Hals zu ſtoßen, worauf fie no einige Stunden Iebte, den Leib
Ehrifti empfing und ein baldiges Ende der Verfolgung und den Verfolgern die
| nahen Strafgerichte vorausfagte. In der Folge kamen ihre Gebeine nah Meg
und Venedig. Vgl. Tillemont, Mem. V, 142; Butlers Leben der Väter und
Martyrer 13, Dee. — Mit der HI. Lucia von Syracus ift aicht zu vermiſchen
die HI. Wittwe Lucina, über welde man bei Tillemont IV, 554 sqq. nach-
lefen fann, _ ISchrodl.)
Lucianus (wie er bei Epiphanius haer. 43. und Johannes Damascenus
haer. 43. heißt) oder Lucanus (wie Andere ihn nennen, Tertullian. de resurrect.
carnis c. 2. Origenes c. Cels. 1. II. n.27. S, Philastr. haer. 46. ed. Fabricius)
war einer der vornehmften Anhänger des gnoftifchen Häuptlings Marcion (ſ. d. A.).
Diefer Lucian wird von den meiften alten Verfaffern eigener Werfe über bie
Regereien der erften Jahrhunderte und deren Urheber als Haupt einer eigenen
guoftifchen Secte (der Alt-Lucianiften) aufgeführt, die jedoch bald wieder erlofch,
da ſchon der eifrige Forfcher Epiphanius im vierten Jahrhundert nicht viel Sicheres
mehr davon aufzutreiben vermochte. Lucian behauptete, das Syſtem feines Mei-
ſters Marcion weiter ausbildend und ſchärfer entwidelnd, drei ewige Wefen oder
Prineipien. Diefe find ihm das oberſte gerechte Wefen (zugleid Schöpfer und
Richter), das oberfte gute Wefen, und das oberfte böfe Wefen, wofür er ſich
auf gewiffe Stellen der Propheten berief, Außerdem verwarf er die Ehe aus
prineipieller Oppofition gegen den Schöpfer, um nicht durch diefelbe, wie er fagte,
| die Macht des Schöpfers, indem Kinder gezeugt und die Geſchöpfe vermehrt
] werben, noch zu verftärfen (S. Epiphan. haer. 43.). In Betreff der fünftigen
Auferfiebung ließ er zwar für jest Leib und Seele des Menſchen untergehen,
dafür aber dermaleinft eine ganz neue Subftanz („tertium quiddam*) auferftehen
(Tertullian. de resurrect. carnis c. 2. ed. Semler). Endlih wird auch von ihm
und feiner Seete berichtet, daß fie gleich dem Anhang des Marcion und des Va—
Kirchenlexikon. 6. Bd. 39
610 Lucidus — Lucifer von Calaris,
lentinus das Evangelium verfälfchten (Origenes c. Cels.-1. IL.-n. 27. ed. Maur.).
Vgl. Tillemont les Marcionites Art. IX. (T. IL. p. 281—82). Vgl, hierzu ven
Art, Gnoſticismus. i [Seßler.]
Sueidus, ein pradeftinatianifher Priefter im fünften Jahrhun—
dert, Im Gegenfage zu den Semipelagianern, welche die auguftinifche Lehre
durch falfche Eonfequenzmacherei präbeftinatianifch deuteten und fie dadurch eines:
ganz unerträglihen Widerſpruchs mit dem allgemein-menfchlichen und dem chrift-
lich⸗ſittlichen Bewußtfein zu überführen fuchten, gab es in der zweiten Hälfte des
fünften Jahrhunderts in Galfien eine, wenn auch nicht gar große, Partei, die um
jeden Preis an dem Lehrbegriff des verehrten Bifchofs von Hippo hing. An ihrer
Spige ftand als befonderer Vorkämpfer und Vertreter ein fonft unbekannter Pres-
byter, Namens Lueidus, 0. 474, Weil aber diefe Anhänger der auguftinifchen
Lehre nicht die Geiftesfraft eines Prosper, Hilarius, Fulgentins ze. befaßen, um
die jener Lehre von den Semipelagianern aufgebürbeten Confequenzen als ſolche
zurückzuweiſen und den wefentlichen Unterfchied zwifchen dem wahren Auguftinis-
mus und dem femipelagianifhen Zerrbilde deffelben hervorzuheben, fo nahmen
fie, nur um den Auguſtinismus nicht fallen zu Yaffen, diefe fälfchlich gezogenen
Eonfequenzen Tieber als wefentliche Beftimmungen der auguftinifchen Lehre an,
und behaupteten alfo: 1) daß der freie Wille durch die Sünde Adams gänzlich
vernichtet fe — ex foto arbitrium voluntatis extinctum ; 2) daß das menfhliche
Thun und Streben neben der göttlichen Gnade unnüß ſei; 3) daß durch den
Willen Gottes verloren gehe, wer immer verloren gehe, indem das göttliche
Borherwiffen als ein abfolutes zugleich ein Vorherbeſtimmen fei und den Men-
fchen mit Gewalt zur Sünde treibe — praescientia Dei hominem violenter com-
pellit ad mortem; 4) daß Einige zum Tode, Andere zum Leben prädeſtinirt ſeien;
5) daß Chriftus nicht für Alle geftorben fei; 6) daß auch nach empfangener Taufe
alle in Adam fterben, welche wieder fündigen, d. 5. daß die Erbfünde in der
Taufe nur zugedeckt, nicht aber wahrhaft und mit der Wurzel ausgetilgt werde,
und daß folglich die facramentale Wiedergeburt nur in den Auserwählten eine
wahrhafte fei. — Aus der vollfommenen Nebereinftimmung diefer Säge, die man
als den Inbegriff des Prädeftinatianismus der damaligen Zeit betrachten muß,
mit den Confequenzen, welche die Semipelagianer aus der auguftinifihen Lehre
zogen, geht klar hervor, daß diefe Lehrbeſtimmungen nicht erft von Lueidus und
Seinesgleichen erfunden und felbftfländig entwicelt, fondern ſchon vorgefunden
und als wefentlihe Beftimmungen der auguftinifchen Lehre angenommen wurden.
. Während fich ſchon mehrere Bifchöfe über die Frage berathſchlagten, ob man Lu—
ridus nicht geradezu feines Amtes entfegen ſolle, um dur diefes Beifpiel der
Strenge weitere Anhänger zurückzuſchrecken, ſchlug Fauftus (ſ. d. A.) von Riez
vor, erſt ven Weg der Güte zu verſuchen. Ein Brief (abgedruckt bei Canisius
lectiones antiquae, Ausgabe von Basnage I, 352), den er zu biefem Zwecke
an Lueidus ſchrieb, feheint ohne Erfolg geblieben zu fein, darum fam die Sache
um 475 vor eine Synode zu Arles. Hier verbammten 30 Biſchöfe Die obigen
Site, Nun verftand fich Lucidus gerne zum Widerrufe fraglicher Lehrbeftim-
mungen, was aus feinem Schreiben an die gallifchen Bifchöfe Cofr. Mansi T. VII.
p. 1108 sgq.) deutlich erhellt, und damit war feine Rolle ausgefpielt; überhaupt
ſcheint die präbeftinatianifche Partei jebt bald ganz verfehwunden zu fein, denn
fonft Hätte fi) die zweite Synode von Drange 529 nicht fo zweifelhaft darüber
ausdrücken fünnen, ob es je Solche gegeben habe, welche Iehrten, daß Gott auch
zum Tode oder zum Verberben prädeftinire. Vgl, Natal. Alexand, histor. eccl.
Paris. TV. Schrödp, Kirchengefih, 18, Thl. S. 148 ff, Gfrdrer, Kirchen⸗
geſch. Bd. I. Abthlg. 2, (Fritz.]
Lucifer, ſ. Teufel,
Lucrifer von Calaris und das luciferianiſche Schisma. Bon dem
al nnd u Sie de ae due 2 .
Lucifer von Ealaris, 611
frühern Leben Lucifer’s Haben wir feine fihern Nachrichten; im Jahr 354 tritt
er fhon als Bifchof von Ealaris (Cagliari) auf der Inſel Sardinien auf,
Yapft Liberins fuchte damals von dem Kaiſer Eonflantius, der fih, von Va—
lens und andern Arianern umgeben, zu Arles aufhielt, nah dem unglüclichen
Ausfall der Synode von Arles im F 353 (f. d. A.), die Zuſammenberufung
einer neuen Synode zur endlichen Beilegung der arianifchen Streitigfeiten zu er-
fangen. Er ſchickte alfo Lucifer, der fih gerade zu Rom befand, und den Priefter
Pancratius und den Diacon Hilarius mit einem Briefe an den Kaiſer nach Arles;
zugleich gab er ihnen ein Schreiben an Eufebius, Bifchof von Vercelli (ſ. d. A.),
mit, welcher fih darauf der Gefandtfhaft anſchloß. Conftantins ging auf den
Borfhlag des Papſtes ein, und das Eoneil fam im Frühjahr 355 zu Mailand
zufammen, Lucifer war auf demfelben einer der Hauptgegner der Arianer, welche
befonders auf der Verdammung des Athanafius befanden; um die übrigen katho—
liſch gefinnten Bifchöfe feinem mächtigen Einfluffe zu entziehen, wurde er im
Faiferlihen Palafte eingefperrt, fand aber Gelegenheit, an feine Gefinnungsge-
noffen zu fihreiben und wurde nach einigen Tagen wieder freigelaffen. Bald nach«
ber wurde derfelbe Gewaltftreich wiederholt, und der Kaiſer hörte dießmal, hinter
einem Borhang verborgen, Lucifers furchtloſe Disputationen mit den Arianern
an, Er wurde nun noch einige Zeit militärifch bewacht und dann, da feine Stand-
baftigfeit gar nicht zu breiden war, verbannt, zuerft auf furze Zeit nach Cappa—
docien, dann nach Germanicia (Tomagene) in Cölefyrien, darauf nad Paläftina,
zulegt nach Aegypten. Da er überall feine Anfichten frei ausſprach und fland-
haft verteidigte, fo wurde er von den Arianern vielfach belaftigt und mißhandelt;
in Paläftina überfielen fie ihn fogar einmal in der Kirche während der hl. Meſſe,
zraubten die bl. Gefäße und Bücher und tödteten mehrere Anwefende, In der
Verbannung verfaßte Lucifer feine Schriften: de non conveniendo cum haereticis;
de regibus apostatis; pro S. Athanasio libri duo; de non parcendo in Deum delin-
quentibus und moriendum esse pro Dei filio. In dem erften Buche beweist er,
daß zwiſchen den Katholiken und Arianern ebenfowenig jemals Eintracht und Friede
fein fonne, als zwifchen den Siraeliten und Götzendienern. Das zweite Werk
widerlegt eine Aeußerung des Conftantins, daß Gott feine arianiſche Gefinnung
nicht fo fehr- mißfällig fein müffe, da er ja trotz derfelben glüdlich lebe und re=
giere, durch das Beifpiel vielermifraelitifchen Könige, die Gott auch troß ihrer
Schlechtigkeit ange am Leben und Regieren gelaffen habe, In den Büchern pro
S. Athanasio fest Lucifer die Gründe auseinander, warum er fich geweigert habe,
die Verdammung des Athanafius mitzuunterzeihnen. In dem vierten Werfe ant-
wortet er auf die- Einrede des Kaifers, daß es doch undriftlich von Lucifer und
den andern Orthodoxen fei, die Arianer fo hart anzufahren: man finde in der hl.
Schrift ebenfo Harte Ausfprüche und bei den Heiligen des alten und neuen Bundes
ein ebenfo unerbittlich firenges Auftreten gegen Gottlofe, Ketzer und dergleichen
Menfhen, die doch nicht ſchlimmer feien als die Arianer. In dem legten Werfe
endlich erklärt Lucifer, daß und warum er mit Freuden bereit fei, für feinen
Glauben das Martyrium zu erdulden. — Lucifer behandelt diefe Gegenftände in
einer ganz eigenthümlihen Weife: eine georbnete Aufzählung und Ausführung
son Gründen und einen ruhigen Beweis für feine Behauptungen ſucht man ver-
gebens; er führt in allen feinen Werfen eine ganze Reihe von Schriftftellen (und
zwar immer ganz ausführlih) an und wendet jede einzeln auf feinen Gegenftand
an. In den meiften Werfen folgen diefe Stellen faft ganz in derfelben Ordnung
E
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auf einander, wie fie in der hl. Schrift vorkommen, fo daß die Vermuthung nahe
Liegt, Lucifer Habe jedesmal die HI. Schrift durchgeleſen und dabei die Stellen,
die ihn paſſend fchienen, ausgewählt und der Reihe nach in feiner Weife commen-
. Das einförmige Wiederholen derfelben Gedanken in verfihiedenen Ausdrüden,
das ununterbrochene Drohen und Warnen, dazu der harte, ungefämeibige Styl
39
612 Lucifer von Calaris,
machen das Lefen diefer Werfe wenig erquidlich, wenn auch die eiferne Kraft
und unbeugfame Feftigfeit, die fich in jevem Satze ausfpricht, und Die fühne und
eigenthümliche Beredtfamfeit vieler Stellen Bewunderung erregen muß. Uebri—
gens hat fihwerlich jemals ein Fürft einen Biſchof in einer ſolchen Sprache mit
fich reden hören , wie fie Lucifer dem Conſtantius gegenüber führt: Anreden, wie
folgende: vos estis servi diaboli, spirituales adulteri, filii pestilentiae et tenebra-
rum ; intelligeris esse filius pestilentiae; apostatas (angelos) in aeternum tecum vi-
surus eris torqueri, nisi femet eripueris ab eis; non delegimus ardere, sicut tw
delegisti cum amatore tuo-diabolo, ftehen gar nicht vereinzelt, und doch meint Lu=
eifer felbft (de reg. ap.) , feine Schriften feien eher instructiones, als increpationes
zu nennen, Der ganze Charakter Lucifer’s, feine rückhaltloſe Dffenheit, feine
freimüthige Kühnheit, fein ſtandhaftes Feftgalten an feiner Neberzeugung, feine
Geringfohägung aller irdifchen VBortheile, aber auch fein gänzlicher Mangel an
ruhiger Ueberlegung und fein unbefonnener Eifer fprechen fich in dieſen Schriften
aufs Klarfte aus, — Er ſchickte diefelben Coder einige derfelben) auch direct an
den Raifer, der über diefe Kühnheit fo erflaunt war, daß er durch den Magister
officiorum Florentius bei Lucifer anfragen ließ, ob die Schriften wirklich von ihm
überfandt ferien. Lucifer war nicht der Mann, das zu läugnen; er fagt in feiner
Antwort an Florentius fogar: jam tuae erit generositatis, agnitum a me sine ulla
eunctatione defendere. Athanafius bat den Lucifer, als er von deſſen Schriften
hörte, um eine Abfehrift, und ertheilte venfelben in einem fpätern Briefe große
Lobſprüche; er fol fie auch in's Griechiſche überfegt Haben. Um biefelbe Zeit gab
Hilarius von Poitiers fein Werf de synodis heraus; obſchon feine Orthodoxie
gewiß über jeden Zweifel erhaben war, meinte Lucifer doch, er habe den Häre-
tifern in einigen Puncten zu vielnachgegeben, und veranlaßte dadurch den Hila—
rius, in furzen feinem Werfe beigefügten Erläuterungen die getabdelten Ausdrücke
zu erflären und zu rechtfertigen. Mit dem Tode des Conftanting (Ende 361)
endete Lueifer's Verbannung; Julian erlaubte allen Bifchöfen die Nüdffehr, Lu—
eifer ſcheint aber zunächft gar nicht oder nur auf ganz furze Zeit nach Calaris zu—
rückgekehrt zu fein; denn ſchon im J. 362 finden wir ihn wieder mit Eufebius von
Vercelli im Drient thätig, Diefer und zwei Diacone Lucifer's wohnten dem von
Athanaſius nach Alerandrien berufenen Concil bei; Lucifer felbft ſuchte unterbeffen
das in Antiochien entfiandene fogenannte meletianifhe Schisma (I. d. A.) zu heben,
Er wählte dazu das eigenthümliche Mittel, den zwei Bifchöfen einen dritten, Pau-
Yinus, beizugeben; berfelbe wurde indeß gleich in Aegypten und Cypern und im
Abendlande, auch vom Papfte, anerkannt, Eufebius mißbilligte diefe Mafregel. Zu
Alerandrien hatte man den Befchluß gefaßt, die reumüthigen Arianer follten, wenn
fie nicht Häupter der Härefie gewefen wären, nicht nur wieder in bie Kirche auf-
genommen, fondern auch in ihren Kirchenämtern belaffen oder darin wieder ein-
gefegt werden. Diefer Befchluß erregte Lucifers Unzufriedenheit im höchſten
Grade; aber er war durch die Unterfchrift der von ihm bevollmächtigten Diaconen
gebunden, Nach Rufin, dem auch Ambrofins (de Sat. 1. 1. p. 1127), Auguftin
Cep. 50. cap. 10), Hieronymus (dial. 6. Lucif. c. 20) und Profper (chron. p. 732)
beiftimmen, hätte fih nun Lucifer von der Gemeinfchaft derjenigen, welche das
alerandrinifche Eoncil annahmen, und damit auch von der Kirche — denn daffelbe
fand allgemeine Zuftimmung — ganz getrennt;- nach Sorrates und Sozomenus
aber wären nur feine Anhänger foweit gegangen, er felbft aber nicht ſchismatiſch
geworden. Sicher ift, daß man diejenigen, welche es für unerlaubt hielten, daß
die Bifchöfe, die einmal Arianer gewefen, oder die auf dem Coneil zu Ari—
minum fich zur Unterfehrift hatten zwingen laffen, jemals wieder als katholiſche
Bifhöfe anerfannt würden, und die wegen biefer Strenge fi von ber Gemein—
Schaft der Kirche Iogfagten, Luciferianer nannte. Hieronymus (dial. c. Lucif.
6,20) mißbilligt Lucifer's Verfahren, nimmt ihn aber gegen die Verbächtigung
Lucifer von Calaris. 613
in Schuß, als hätte er aus Ehrſucht und gefränfter Eitelfeit (weil Euſebius
feine Mafregeln in Antiochien mißbilligte), fo gehandelt, und in der That erflärt
ſich auch Lucifers Fehltritt, wenn er wirklich ſchismatiſch geworden ift, hinlänglich
aus feinem rigoriftiihen und harten Charakter, 363 fehrte Lucifer in fein Bistum
zurüd; er reiste über Neapel, wo er mit dem Biſchof Zofimus, welder ftatt des
unter Conftantius verbannten Marimus eingefegt war, jest aber wahrfcheinlich
den Arianismus aufgegeben hatte, in Gemeinfchaft zu treten fich geweigert haben
fol. Er flarb 370 oder 371. Db er ſich no vor feinem Tode, wenn diefes
aöthig war, mit der Kirche wieder ausgefühnt hat, darüber fehlen alle Nachrichten.
Ueberhaupt ift das Urtheil über Luciferd Benehmen und darüber, ob er zu dem
Heiligen zu zählen fei, oder nicht, getheilt. Urban VII. verbot 1641, bis auf
weitere päpftilihe Verfügung über die Heiligkeit und Verehrung Lurifers zu dispu-
tiren (f. Bened. XIV. de beatif. et canoniz. Set. t. 1.1.1. c. 40). — Die Secte
der Lurciferianer wird oft von Auguftinus erwähnt (de agone chr. c. 30; im
Ps. 57 nro. 39). Er fagt de haer. ad Quodr. c. 81, fie würden von Epiphanius
und Philafter im Verzeichniß der Häretifer nicht erwähnt, wahrfcheinlich weil diefe
fie nur für Schismatifer gehalten hätten; doch würden diefelben von Jemand
darum für Häretifer gehalten, weil fie Traducianer feien; auch Gennadius
(de dogm. c. 14) erwähnt diefes ald Meinung der Luciferianer, animus cum
corporibus per coitum seminari. — Wir haben noch (bei Migne Patrol. t. 13)
eine Bittfhrift von den Iuciferianifchen Prieftern Fauftin (ſ. d. A.) und Mar-
eellin, worin fie die Kaiſer Balentinian II., Thevdofius und Arcadius (383 vder
384) erfuchten, fie als orthodor anzuerfennen, Theodoſius ließ ſich auch täuſchen
und nahm fie in Schuß. Wir fehen daraus, daß ihr Schisma damals in Spa-
aien, Stalien, Palaftina, zu Antiochien und in Africa Anhänger zählte, daß fie
in Rom einen von Taorgius geweihten Biſchof, Epheſius oder Eurefius, hatten,
und daß wenigftens ein Theil ihrer Anhänger auch gegen Damafus für den Gegen-
papſt Urfinus oder Urfieinns Partei genommen hatte. Mit befonderer Auszeich-
aung erwähnen diefe Luciferianer Gregor, Bifhof von Elvira und Heracliveg,
Biſchof von Oxyrinchus in Aegypten. Die Schrift ift übrigens fehr gewandt und
beredt abgefaßt, wimmelt aber von Entftellungen und Verläumdungen, namentlich
gegen Papſt Damafus, und von fohresflichen Erzählungen über göttliche Straf-
gerichte, die über die Abgefallenen und ihre Gönner bereingebrochen feien; die
Menge der Abgefallenen fei fein Grund, gegen fie milder zu verfahren, zumal
diefelben doch meift nur aus irdifchen Rückſichten wieder Fatholifch würden, näm—
Th um des Rirchenguts willen, quod utinam nunquam possedisset ecelesia, uf
apostolico more vivens fidem integram inviolabiliter possideret; daß ihrer firengen
Anfiht nur ſehr wenige zugethan feien, Fonne der Wahrheit derfelben feinen Ein-
trag thun; die fogenannten Orthodoren feien unter fich gar nicht einmal einig und
hielten nur darum mit einander Gemeinfchaft, ne bonum pacis in ecclesia pereat,
aber fie glichen den falfchen Propheten, qui clamant: pax, pax; ei non est pax,
wf.f. — Bon Hieronymus haben wir einen Dialog contra Luciferianos; ob der=
felbe wirklich fo zu Antiochien zwifchen dem Luciferianer Helladius und einem
Ratholifen gehalten, oder ob diefe Situation von Hieronymus erdichtet ift, iſt
zweifelhaft; jedenfalls find darin die Grundfäge der Serte nach des Berfaffers
eigener Erfahrung dargeftellt. Es zeigt fih darin wieder ganz Lucifer’s hartes
und firenges Wefen: die ganze Welt, fagt der Luriferianer , ift des Teufels; die
Biihöfe, die ans dem Artanismus zurückkehren, find nicht beffer, als Gögen-
prieſter; ein arianifcher Bifhof mag Arianer bleiben, wenn er Bifchof bleiben
will; will er aber Katholif werden, fo verzichte er auf fein Bistfum. — Die
Secte erlofh übrigens bald. Noch weiter, als die eigentlichen Luciferianer, ging
der römische Diacon Hilarius, Lucifers Begleiter bei der Gefandtfhaft an Kaiſer
Eonftantins: er wollte feine Arianer in die Kirche aufnehmen ohne Wiederholung
614 Lueiferianer — Lucius J.
der Taufe, Da er aber felbft nur Diacon war und fein Bifhof ihm beitrat, fo
ftarb die Secte mit ihm aus, Diefem Hilarius werben von einigen der Com—
mentar über die paulinifchen Briefe unter den Werfen des Ambrofins und die
quaestiones in V. et N. T. unter Auguſtin's Werfen zugefchrieben (ſ. d. A. Am-
brofiafter). — Die erſte Ausgabe ver Werfe Lucifers beforgte Joh. Tiling,
Biſchof von Meaur (Paris 1568); diefelben finden fi auch in der Biblioth. PP.
t. 4, bei Galland t. 6 und bei Migne Patrol t. 13. — Man vgl, über Lueifer
und fein Schisma befonders die Einleitungen zu den Werfen Lucifers, der Priefter
Fauſtin und Marcellin und des Papſtes Damafus bei Migne, Tilfemont 1.7
und die Acta SS. 20. Maji. | ſReuſch.]
Luciferianer, Häretiker im 13ten und 14ten Jahrhundert, Unter
dieſem Namen kommen mehrere Secten des 18ten und 14ten Jahrh. vor, welche
die aus dem Morgenlande in das Abendland eingeſchleppten gnoſtiſch-manichäi—
Then Irrthümer bis zu dem Extrem fteigerten, daß fie den Lucifer wie ihren Gott
verehrten, feinen Sturz vom Himmel für eine Ungerechtigkeit hielten und behaup-
teten, er mit feinen andern gefallenen Engeln werbe einft wieder erhoben, dagegen
der Erzengel Michael mit feinem Anhange in das ewige Feuer geftürgt werden.
Daß fih die gnoſtiſch-manichäiſche Keserei in mehreren Sectirern und Secten bis
zu diefem Grade des Haffes gegen Gott und die fihtbare Kirche ausgebildet, ift
ganz glaubwürdig; nur fragt es ſich, ob Alfe, welche des Luciferianismus ange-
fhuldigt worden find, auch wirklich demfelben huldigten. Unter ven Luciferianern
werben obenan die Stedinger aufgeführt, Bewohner des Gaues Steding an
den Niederungen der Wefer, welche 1234 von einem gegen fie ansgezogenen
Kreuzheere gänzlich gefchlagen und großentheils aufgerieben wurben (f. den Art.
Stedinger). Hieher gehören auch die im Anfang des 1Aten Jahrh. in Deftreih
entdeckten und zahlreich verbreiteten Manichäer, welche ſich der gräulichften Blas—
phemien und Unfittlichkeiten ſchuldig machten, und vor dem Lucifer eine hohe Achtung
bezeigten, ihn dem Erzengel Michael vorzogen und feinen endlichen Triumph über
diefen behaupteten (Klein, Geſch. des Epriftenth. in Deftreih und Steiermarf,
Wien 1840. Bd. I. ©. 394—402;5 Raynald. Annal. Eccl. ada. 1318. no. 44).
Daß unter die Fraticellen (f. d. A.) und geiftesverwandtes Gefindel auch Luci-
ferianer ſich einſchlichen, hat alle Wahrfcheinlichkeit für ſich; vielleicht waren bie
14 Luciferianer beiderlei Gefchlechts, welche 1336 zu Tangermünde in der
Mark Brandenburg verbrannt wurden, folche Neberläufer; indeß reichte auch der
Fraticellismus, die Brüder- und Schwefterfchaft vom freien Geifte (f. d. U.)
allein ſchon hin, um aus fich heraus Luciferianer zu erzeugen. [Schrödt.]
Lucilla, ſ. Donatiften, |
Lucius 1.— IH, Päpſte. Lucius J. Nah dem Martertod des Papftes
Eornelius wurde Lucius an feine Stelle eingefegt — 25. Sept. — 28, Det, 252
n. Chr. Alsbald wurde er in die Verbannung geſchickt. Als der HI. Cyprian um
die gleiche Zeit feine Weihe und feine Verbannung vernommen, richtete er an ihn
in feinem und feiner Amtsgenoffen Namen theilnehmende Briefe, auf welche Cy-
prian felbft in einem fpätern Schreiben verweist (Cyp., Ep. 61. ad Lue. al. 58;
Constant. Ep.’Rom. Pont. 1. p. 207), in welchem er ihn nach feiner Rücklehr aus
der Verbannung beglückwünſcht. Wann diefe und fein vermuthlich baldiger Marter-
tod erfolgt fer, iſt nicht gewiß. Damit Liegt auch die Zeit feines Pontificats im
Dunkeln, Nicephorus CH. E. VI. 7) theilt ihm kaum 6 Monate zu; Eufebius 8
Monate (H. E. VI. 2), Sicher ftarb Lucius nicht unter Balerian den Martertod,
und der Liber pontif. und andere mit ihm irren, wenn fie dem Papfte Lucius
3 Jahre 8 Monate feiner Würde zutheilen. Ein (falfcher) Decretalbrief wird
dem Papfte Lucius zugefchrieben, Nach Eyprian Cep. 67) fiheint Lucius mehrere,
jegt verloren gegangene, Briefe über die Behandlung der Gefallenen gefhrieben
zu haben, Er trat auch den Novatianern entgegen, Lucius hielt 2 Ordinationen
—Laclns IL 615
im Monat December; er befielfte A Prieſter, A Diacone und an verfchiedenen
Drten 7 Bifhöfe. Das Papſtbuch fchreibt ihm die Verordnung zu, daß den Biſchof
allenthalben 2 Priefter und 3 Diacone begleiten follen als Zeugen feines Wan-
dels, Sein Martertod wird mit vielem Grund bezweifelt; die Bezeichnung Mar-
tyrer bei Eyprian (Baron. a. a. 257. num. 5) ift zu allgemein, und geht auch auf
die Befenner. Sein Todestag fällt auf den 4. März (des J. 253); am folgen-
I den Tage wurbe er beerbigt auf dem Leichenarfer des Calliſtus an der appiſchen
1 Strafe. (Bgl. Fr. Pagi breviar. Cypriani epist. ad L. bei Migne Tom. II. der
1 Ser. Pr. p. 969— 984.) — Lucius II. Nach dem Tode Eöleftin II. wählten die
Cardinäle nah 3 Tagen den Cardinal Gerhard, aus Bologna ſtammend, der fi
Lucius I. nannte — 12. März 1144. Bald erhoben die von Arnold von Brescia
Ci. d. Art.) gereizten Römer fich gegen den Papſt. Sie wollten zu dem Senate,
den fie hatten, einen Patricius als weltliches Haupt; fie verlangten von dem
Papſte, daß er alle Einfünfte in und außerhalb der Stadt ihrem Patricius ab-
trete; er folle felbft nah der Sitte der alten Priefter nur von den Zehnten und
freiwilligen Gaben leben. Zugleih wandten fih die Anhänger Arnolds an dem
Kaifer Eonrad IM. (ſ. d. A.), er möge nah Rom fommen, und dort den Sig
feiner Herrſchaft auffchlagen. Sie hatten das Capitol eingenommen, um nad
der Weife des Alten Roms von da aus zu herrfchen. Auch der Vapft, der aus
Nom hatte fliehen müffen, wandte fih an den Kaiſer um Hilfe und erhielt die
- Zufage derfelben. Borber wollte Lucius die Römer durch Gewalt zur Unterwer-
fung zwingen. Er drang mit Bewaffneten gegen das Capitol vor, wurde aber
zurüdgefhlagen, und in diefem Kampfe durch einen Steinwurf zum Tode ver-
wundet. Er farb den 25. Februar 1145. Lucius that Mehreres zur Reformation
der Kirche und -der Klöfter, und. intereffirte fih, foweit die Berhältniffe es er—
laubten, für das heilige Land, (Golfr. Viterbiens. chron. act. Vatic. ap. Baronium
ad a. 1145. Martene et Dur. coll. ampl. I. p. 396. sqq. Der hl. Bernhard von
Neander, 2, Aufl. 1848, Die Briefe des Lucius bei Mansi coll. c. XXII. Sein
Leben von Pandulph. Pis., Bern. Guidonis und Cardin. Arag.) — Lucius. Nah
dem Ableben des Papftes Alerander IH. wurde den 1. Sept. 1181 Humbaldus
zum Papfte gewählt, aus Lucca in Etrurien, Biſchof von Oſtia und Beletri und
Decan des HI, Collegiums. Im J. 1182 brach zwifchen dem Papft und den Rö—
mern Streit aus. Der Papft wurde genöthigt, aus Rom zu fliehen. Zu feinem
Schutze rüdte Chriftian, Erzbifchof von Mainz und Kanzler des Kaiſers, gegen
Rom mit einem großen Deere und bedrängte die Römer; doch ftarb er bald darauf.
Im Anfange des J. 1183 befand ſich der Papft zu Beletri, wo er Aci Reale
in Sieilien zum Erzbistfume erhob. In diefem Jahre fheint der Papft no
einmal nah Rom zurüdgefehrt zu fein; aber die Römer begingen neue Schand-
thaten und Verbrechen; fo flachen fie Anhängern des Papſtes die Augen aus,
und triebigen fonftigen Hohn mit dem Papſithum. Lucius belegte die Verbrecher
mit dem Banne, und verließ mit den Seinigen die Stadt für immer, Er begab
| fih nach Berona, weil er hier dem Schutze des Kaiſers Friedrih näher war. Er
reiste über Bologna, wo er die Kirche zum HI, Petrus weihte, und über Modena,
wo er die Kirche zum HI. Geminianus einweihte, und zwar beides auf Erfuchen
des Erzbifchofs von Ravenna, nah Verona, in welcher Stadt er im Juli des
J. 1184 ankam. Kurz darauf fam auch Kaifer Frievrih dahin, Es wurde in
Gegenwart des Papftes und des Kaiſers eine Verſammlung gehalten, welche be»
fonders die-damaligen Firchlichen Angelegenheiten behandelte, Die Römer wurden
als Feinde der Kirche erklärt, und den im Morgenlande nothleidenden Chriften
folle Hilfe gebracht werben. Leber die Angelegenheit der mathildifchen Güter
konnten fih Papft und Raifer nicht einigen. Bon diefer Verfammlung aus erlieg
der Papſt auch ein firenges Edict gegen die Katharer oder Neumanichäer; auch
gegen Die Armen son Lyon (ſ. Waldenfer) und gegen die Schüler Arnolds,
616 — Lucius, der Heilige,
Die Anhänger diefer Secten wurben mit beftändigem Anathem belegt. — Zwi—
Then dem Papfte einerfeits und den Sultanen Saladin und Seifeddin wurben
Verhandlungen gepflogen über die Behandlung und Auslöfung der Gefangenen, .
Im J. 1184 kam eine Gefandtfhaft der morgenländifchen Chriften zu dem Papfte
mit der Bitte um Hilfe. Der Papft fandte fie mit Briefen an ven König Hein-
sich II. von England, welchem zur Sühne für die Ermordung des Erzbifchofs Thomas
son Santerbury (ſ. Becket) ein Kreuzzug oblag. Die Gefandten famen im J. 1185
nach England. Indeß blieb diefes Vorhaben ohne Erfolg. Der Papft ftarb zu
Verona den 24. November des J. 1185, nach einem Pontificate von 4 Jahren,
2 Monaten, 8 Tagen. Er wurde zu Verona begraben, — Bol. Artaud de
Montor, Par. 1847. T. U. p. 278. Pagi Brev. T. II. Seine Briefe und Er-
Jaffe bei Mansi T. XXI. [®ams,]
Lucius, der Heilige, König, Biſchof und Apoftel von Noricum, Bindelicien
und Rhätien, Wag außer fagenhaften over glaubwürdigen Ueberlieferungen von
feinem Leben erhalten worden, ift in Beda's Gefchichte der Angelfahfen Bd, I.
Cap. 4 und in Gaufried's von Monmuth Geſchichte der altbrittifchen Könige
enthalten, Beda zog den einleitenden Theil feiner Gefchichte iS zur Belehrung
der Angelfachfen meiftens aus fehriftlichen Denfmälern der Vorzeit; er berichtet:
„unter der Regierung des Marcus Antonius Berus und feines Bruders Aurelius
Eommodus zur Zeit, da der HI. Eleutherus dem Pontificat der römischen Kirche
vorgeftanden,, habe Lucius, König der Dritten, ein Bittfchreiben an jenen Papft
Hefendet, daß er ihm zum chriftlichen Glauben verhelfen möge, Der König habe
alsbald das Ziel feiner Bitte erreicht, auch die Britten hätten ſodann die chriſt—
liche Religion angenommen und fie bis zur Zeit des Kaiſers Diveletian unverletzt
und im ungeftörten Frieden bewahrt,” Gaufried von Monmuth in feiner Ge—
fchichte der altbritannifchen Könige von Brutus his Cadrelader (450) ſchreibt
(ib. I. cap. 63): „Lucius, der einzige Sohn des gutmüthigen Königs Coillus,
ererbte alle guten Eigenfchaften feines Vaters, Er fandte Briefe an Papft Eleu—
therus und verlangte von ihm das Chriftenthum zu empfangen. Denn die Wun-
der, die die Schüler Chrifti unter den verſchiedenen Völfern wirkten, hatten feinen
Geiſt erleuchtet, und von Liebe zum wahren Glauben erglühend, erreichte er
das Ziel feiner Bitte, Denn der felige Papft, wahrnehmend die gottfelige Ge-
finnung des Königs, fandte zwei glaubenseifrige Männer Fuganus (Cauch Fega—
tius genannt) und Digamus Cauh Damian, Dumian, Duvian genannt, eine
Pfarrkirche zum Hl. Deruvian findet fih zu Dunftar, Grafſchaft Somerjet) zu
ihm, welche die Menfchwerbung des göttlichen Wortes verfündeten, ihn tauften
und zu Chriftus befehrten, Spgleich ftrömten auch feine Unterthanen, dem Bei-
fpiele ihres Königs. folgend, herbei und wurden durch daſſelbe Bad der hl. Taufe
dem Reiche Gottes einverleibt, Die heiligen Lehrer haben dann beinahe auf der
ganzen Inſel das Heidenthum zerſtört und die Götzentempel zum Dienfte des
Einen und wahren Gpttes und feiner Heiligen eingeweiht; an die Stelle der frü-
bern 27 Flaminen und der drei Archiflaminen haben fie eben fo viel Biſchöfe und
Erzbifchöfe aufgeftellt, Darauf find fie wieder nah Rom gegangen, um ihre An-
ordnungen vom Papfte beftätigen zu Iaffen und fpäter mit vielen andern Prieftern
nah Britannien heimgefehrt, durch deren Lehre das Volk der Britten in kurzer
Zeit im Glauben Chrifti ift befeftigt worden. Ihre Namen und Thaten find im
Buche Gildas „vom Siege Aurelius“ in erhebender Sprache zu lefen, darum fie
bier übergangen werben. Inzwiſchen bat der ruhmwürdige König Lucius, als er
von großer Freude überwallend den Dienft des wahren Glaubens in feinem Reiche
verherrlichet fah, die Befigungen und Güter der vorigen Götzentempel zu befferm
Gebrauche den Kirchen der Gläubigen übergeben, fie mit vielen andern noch ver—
mehrt und mit Gebäuden erweitert, Unter folchen verbienftlichen Thaten ift er
endlich zu Gloceſter (Claudiocestriae) aus dieſem Leben geſchieden und in ber
- Kirche des erften biſchöflichen Sites ehrenvoll begraben worden im Jahre nad
Ehrifto 156. Er Hinterließ feinen Sohn, der ihm in der Regierung nachgefolgt
wäre. Parteiungen brachen unter den Dritten aus, bis der Senator Severug
von Nom entfendet nah blutigen Kämpfen die römifhe Oberherrſchaft auf der
Snfel wieder berftellte ; fo viel aus der alten Chronif des Gaufrieds von Mon-
muth (f. d. Art. Oalfried von Monmuth), die im Wefentlihen mit Beda
übereinftimmt, Daß König Lucius einen Brief an Papft Eleutherus fandte zum
angegebenen Zwede, wird auch von einem unter Kaifer Zuftinian verfaßten Ca-
talog der römifchen Päpſte serbürgt und Lucius, der Einer jener Könige war, die
unter römifcher Oberherrlichfeit einzelne Landestheile Britanniens regierten, iſt
fona als der erfte hriftliche König in Europa anzufehen. Dieß darf keineswegs
auffallen. Denn ſchon zur Zeit der Apoftel drang das Licht der chriſtlichen Reli-
sion bis nach Britannien. Papſt Clemens (ep. ad Corinth.) verfihert, der HI,
Paulus habe das Evangelium an den äuferften Enden des Abendlandes verfündet,
Gildas (de exeidio Britanniae c. 8) behauptet: der erſte Strahl des göttlichen
Lichtes fei in Britannien um das achte Jahr der neronifchen Regierung erſchienen,
und außer Juflin (in dialogo cum Triphon.) und Jrenäus (adv. haeres. lib. 1. c. 2)
bezeugt Tertullian im Anfange des dritten Jahrh. (Clib. contr.' Judaeos c. 8),
„ielbft diejenigen Landestheile von Britannien, die den römifchen Waffen unzu-
gänglich waren, wurden Jeſu Chriſto unterworfen“, Dem Coneil von Arles
(314) wohnten drei brittifche Bifchöfe bei, Eborius von Yorf, Reftitutus von
London und Adelphius, wahrſcheinlich Bifchof von Lincoln. — Eine große Lücke be—
ſteht nun zwifchen dem brittifhen Könige Lucius und dem HI. Bifchof Lucius,
dem Apoftel von Noricum, Vindelicien und Rhätien, welche bei völligem Abgange
Weiterer hiftorifcher Denkmäler nicht mehr ausgefüllt werden kann. Alte Sagen
und Veberlieferungen, die bei Sprecher Paladis Rhaeticae 1. 2., Raderus Bavaria
Sancta Tom. I. p. 14 und im Churer Brevier propr. ad diem 3.Decemb. enthalten
find, verfnüpfen jene Beiden zu Einer Perfon und berichten: König Lucius habe
Äpäter der Krone entfagt, fich auf das Feftland begeben, einen großen Theil Eu-
ropas durchwandert, in Noricum, Bindelicien und befpnders zu Augsburg das
Evangelium verkündet und dort einen der Vornehmften der Stadt, Campeftriug
und viele Bürger zum chriſtlichen Glauben bekehrt. Bon dort vertrieben, feier
nach Rhätien gegangen, babe die Kirche und den bifhöflichen Sig von Chur
gegründet und in ganz Nhätien das Chriftentfum ausgebreitet. Bon den Heiden
verfolgt, babe er fi lange an dem Orte, der nah ihm St. Lucienſteig ge-
.nannt wird, verborgen gehalten, fei dann an feinen frühern Aufenthalt in eine
Höhle (St. Lucislöhlin) zurüdgefehrt, endlich von den Heiden ergriffen und
in der Feflung Martivla zu Chur, wo nun die bifhöfliche Kirche fteht, am 3. De—
eember des J. 182 gefteinigt worden, Das Bistum von Chur verehrt ihn als
feinen erſten Stifter und Gründer, hält feinen Fefttag am 3. Derember und
bewahrt einen Theil feiner Gebeine; ein anderer fam nah Augsburg in die -
Kirche zum HI, Franciseus und in die ehemalige Sefnitenfirhe, Die Dom-
kirche in Chur ift das ältefte Firhlihe Gebäude der Schweiz und fällt in das
fiebente Jahrhundert, Vrgl. hiezu die Artifel Angelfahfen Br. I. ©. 246,
Bayern Br, I. ©, 698, Chur und Eleutherus, Papfı, Bd. IM.
©. 520, [©reit6.]
Sud, -7>, LXX. Aovd, Vulg. Lud. Die Völfertafel (Gen, 10, 22) nennt
Lud 1) als vierten Sohn Sem's. Das A, T. fowie die alten Ueberfeger und Er⸗
Härer haben über diefen Stammnamen feine weitere Ausfunft gegeben; ‘die mei-
fien Autboritäten erfennen darin die Lydier, fo Joſephus Cantt. 1,6. 4. vis
Avdovs vor zahodcı, Aovdovg dt rore, Aovdas Exrıos); nad ihm Eufta-
thius im Hexaöm., Eufebius, Hieronymus u, Andere, Durch Bochart (Phal. 2. 12)
wurde biefe Erklärung faft zur herrfchenden erhoben; Neuere, wie Feldhoff (die
618 Lud.
Bölfertafel der Geneſis S. 125), Krücke (Erklärung der Völkertafeln S. 53)
haben fie ohne weitere Begründung beibehalten; Michaelis (Spicil. I. 14. sqq.)
vermuthet einen Schreibfehler flatt 7777 oder Ta ober 727> Indier (ogl. arab,
ag) ; Hißig (zu Jeſ. 66, 19) nimmt +5 = > Übyer; Simonis erklärt es
etymologiſch durch 73>° (geboren), Die neueften Unterfuhungen find auf mehr
gefiherte und befriedigende Nefultate gekommen, — Lud ift (nach Gen. ]. c.)
femitifcher Abftammung, die ihm vorausgehenden Söhne Sems: Elam, Arphach-
ſad, Affur Haben den Dften des Semitenbereichg befegt Cogl. die Art,), es fann
da fein bedeutendes Volk mehr nahgemjefen werden, Lud muß dem Weften des
femitifchen Gebieted angehören und zwar dem ſüdlichen, Aegypten nahe gelegenen
Theile, da es auch bier (ogl. N. 2) Ludim gab. Eine arabifhe Sage kennt Yaud
ober Lawad (Ss) als Sohn des Sem und läßt von ihm die Söhne Pharis,
Djordian, Tasm und Amlik oder Amlaf abflammen (Abulf. hist. anteisl, p. 16).
Lesterer habe anfänglich in Chaldäa gewohnt, von da durch die Affyrer veririe-
ben, in Bahrein, Oman, Jemen, befonders aber in Hedjaz und endlich au in
Paläftina und Syrien Cibid. p. 178). Von diefen Stämmen fennt das A. T.
die Amlik, d. 5; die Amalefiter, Amalek heißt zwar (Gen. 36, 12, 16) ein
Enfel des Eſau, damit fann aber nur ein Feiner amalefitifch-edomitifcher Miih-
ſtamm gemeint fein, nicht das Volk der Amalefiter, diefes war lang vor Eſau
vorhanden (Gen. 14, 7) und wird als Erftling der Bölfer (ovs mrunn Num,
24, 20) bezeichnet. Ueber feine Abftammung berichtet das A, T. nichts; was es
aber über die geographifche Lage der Amalekiter berüßrt, ftimmt ganz überein mit
den arabifhen Angaben; zur Zeit Abrahams wohnen fie auf der finaitifchen Halb- -⸗
infel (Gen. 14, 7), in der mofaifchen Periode befeinden fie Iſrael (Exod. 17,
8. ff. Num, 14, 25. Deut. 25, 17. ff), in der Richterzeit find fie mit den Moa-
bitern, Ammonitern, Didianitern und Söhnen des Oſtens verbündet gegen Sfrael
Richt. 3, 13, 6, 3. 33, 7, 12). Saul und David, legterer von Philiſtäa aus,
befriegten fie (1 Sam. 14, 48. 15, 1. 27, 8. ff. 30, 1. ff). Sie wohnten dem⸗
nach in hiſtoriſcher Zeit im norbweftlihen Arabien, Nach der arabifchen Sage
wohnten Amalefiter auch in Canaan, welde von Mofes und Joſua vertilgt wur-
den (Abulf. 1. e. p. 178)5 auch diefes ift durch das A. T. bezeugt; in Ephraim
gab es ein Gebiet oder Gebirge Amalek (Nicht. 5, 14. 12, 15); die LXX. (zu
2 Sam, 10, 6. 8) geben 7>>72 (maacha) dftlich vom Jordan, fonft ald aramäiſch
bezeichnet, durch Auadrz. Bol, zu dem Bisherigen Knobel, die Wölfertafel der
Genefis S, 198— 215, wo weiterhin die Amoriter, Pherefiter, Heviter, Philifter,
die Riefengefchlechter der Nephaim und Enalim, die Hyffos u, A. als Abfömm-
Iinge von Lud nachgewiefen werben, und Lud überhaupt ald das Voll der Ur-
araber, welches durch die Affyrer im Oſten verdrängt, weftwärts z0g, in Aegypten
einfiel und felbft in das nordweftlihe Africa vordrang; nach langer Herrſchaft
wurde es aus Aegypten vertrieben und Fehrte zu ven Stammgenofjen im Semiten-
bereiche zurück; diefe, die arabifchen und hebräifchen Völker, zeigten ſich ftets feind-
felig und fuchten es auszurotten, woher ſich vielleicht der Name 77> als part. pa.
son 5 = Ag) drücken, mißhandeln, ald Bedrückte, erffären läßt, oder von
ey) perversus, injustus fuit, wie denn die urarabifchen Stämme von den Arabern
Kr ungläubige, gottlofe Menfhen und die Amalefiter vom A. T. geradezu als
Sünder (1 Sam, 15, 18), die Amoriter als Uebelthäter (Gen. 15, 16, 1 Köm.
21, 26) dargeftellt werben, — Die Bölfertafel (Gen, 10, 13) kennt 2) Dys3>,
Aovdısın als Abkoömmling Mizraims, das übrige A, T. führt den Stamm auf
neben den Aethiopiern und Libyern als Kriegsgenoffen von Aegypten (Jer. 46,9.
Ezech. 30, 5); Ludim ift der ägyptifiete Theil des Cim Vorigen beftimmten) ſemi⸗
tifchen Lud, entftanden vielleicht durch Verfehmelzung von Hykſos mit Aegypten;
Ludgardis. 619
nach den von den alten Ueberſetzern gegebenen ethnographiſchen Umſchreibungen
von Ludim (z. B. durch Neutäer Thargum Jonathans, Tenniſiter Saad.) wohnten
fie im nordoſilichen Theile von Aegypten, wo nach Herodot (2, 165. ff.) die Krie—
ger Cals welche das A. T. die Ludim kennt) größtentheils ihre Wohnſitze hatten,
Bol. Knobel a. a. O. ©. 279. ff. [Rönig.]
Ludgardis (Ludgaris, Lutgardis), die heilige, eine der hervorragendſten
Geftalten auf dem Gebiete der chriſtlichen Myſtik, entfproffen 1182 zu Tongern
son anfehnlihen Eltern, wurde zwar ſchon frühzeitig von ihrem Vater zum Ehe—
flande auserfehen, aber doch theils durch das Zureden der Mutter, theils durch
innern Trieb zum Eintritt in das Catharinenflofter der Benedictinerinnen bei der
Stadt des hl. Trudo beftimmt. Sie war erft etwas über 12 Jahre alt, als fie in
diefes Klofter fam. Zwei Zünglinge, die ihr nachftelften, wies fie ftandhaft ab, wobei
ihr, im Gefpräch mit dem einen, Chriftus erfchien und auf feine blutende Geiten-
wunde zeigend fprach: „Hier betrachte, was du und warum du Lieben folleft, bier
wirft du die reinften Wonnen finden !“ Seitdem trat fie in ein immer innigeres
Wechſelverhältniß zu ihrem Heilande, der ihr oft erfchien und fie mit den außer-
ordentlichften Gnadengaben überhäufte. Auch die Mutter Gottes, die HI. Engel,
die Hl. Johannes der Täufer und Johann Baptift, die HL. Catharina und andere
Heilige pflegten mit ihr einen vertraulichen Verkehr. Sp erſchien ir einft Johann
der Evangelift in Geftalt eines Teuchtenden Adlers, der mit dem Schnabel ihren
Mund öffnend ihre Seele mit überirdifcher Weisheit erfüllte. Am Defteften ftellte
fih in ihren Efftafen Chriftus dar mit der offenen blutenden Seitenwunde, aus
welcher fie himmlifche Süße und Kraft einfaugte. Im Gebete und in der Be-
trachtung verkehrte fie mit Chriftus in naiver Einfalt — „warte, mein Herr, bis
ich wieder komme,” fprach fie, von einem nothwendigen Gefchäfte dem Gebete
entriffen! Einft goß fih in ihrem Gebete die Gnade fo über fie aus, daß es fogar
von ihren Fingern wie Del floß. Defter fah man fie frei über die Erbe erhoben
und nächtlicher Weile über ihrem Haupte einen Glanz wie den der Sonneuftraßlen.
Wenn fie zu Ehren Marias im Chor den Verfifel: Diffusa est gratia in labiis tuis
fang , fo hatte ihre Stimme etwas unbefchreiblih Schönes und Etgreifendes, wie
wenn himmlifhe Töne aus ihrem Herzen ftrömten, an das fich (wie es ihr ſchien)
während diefes Gefanges Chriftus in Geftalt eines Lammes legte, Ein myſtiſcher
Umtauſch ihres Herzens mit dem ihres himmlischen Bräutigam befiegelte den
Liebesbund zwifchen Gefhöpf und dem Schöpfer. Bei allen diefen Gnadenftrö-
mungen verharrte fie in Demuth und getrener Pflichterfülung. Nachdem fie um
1200 die Kiofterprofeß abgelegt, ward fie 1205 zur Priorin des Kloſters gewählt.
In diefem Amte geſchah es, daß, als der Abt von St. Trudo, unter dem ihr
Nonnenkloſter fund, aus Nom zurücffehrte und im Capitel alle Nonnen zum
Friedenskuß Herbeiließ, Ludgardis nur gezwungen den Kuß annahm und babei,
wie wenn die Hand bes Heilandes zwifchen fie und den Abt fich gelegt hätte, nicht
das Geringfie von dem Kuffe fühlte. Im J. 1206 trat fie auf den Rath des
berühmten Predigers Johann de Lirot und unter Zuthun der Hl. Ehriftina der
Wunderbaren (f. d. Boll. 24, Zul.) in das Eiftercienferflofter zu Agquirie un⸗
weit Brüffel. Hier genoß fie, was fie wünfchte, Freiheit von jedem VBorfteher-
amt, da fie die franzöfifche Sprache nicht verftand und nie erlernen fonnte, die
man hier redete, obgleich fie fonft in geiftlihen Dingen eine tiefere und höhere
als bloß menfhlihe Weisheit beſaß. Indeß dauerten die Gunftbezeugungen des
Heilandes gegen feine treue Magd auch in dem neuen Aufenthalte fort, Während
fie das Leiden Chriſti betrachtete, erfchien fie am ganzen Leibe mit Blut über-
goffen. Einft nad der HL. Communion vor Wonnen, wie gewöhnlich, überftrömt,
bat fie, da es Zeit zum Tifche war, aus Gehorfam und Demuth ihren Heiland,
fie zu verlaffen und bei einer andern Nonne einzufehren, und ihr Gebet fand Er-
börung, Im heftigften Verlangen nah dem Martyrium fprang ihr eine Herzaber,
e
—
620 Ludger, }
was ihr großen Blutverluft zuzog, und wobei fie von CHriftus die Verficherung
erhielt, er nehme diefes Blut als Martyrerblut auf. Einer Menge von Armen,
Kranken und Verfuchten verfchaffte fie durch ihr Gebet Befreiung von ihren Lei-
den. Durch Gebet und firenge Bußwerfe, zuweilen auch nur durch einen einzigen
Blick, befehrte fie die größten Sünder. Auf göttliches Geheiß übernahm fie drei-
mal ein fiebenjähriges firenges Faften, das erſte Dal wegen der Albigenfer,
hierauf für die Befehrung der Sünder, und zulegt zur Abwendung einer großen,
der Kirche bevorfichenden Verfolgung. Ausgerüftet mit der Einfiht in die Ge-
heimniffe der Herzen, fagte fie prophetifch Vieles voraus, und antwortete unter
Anderm dem Bruder Bernhard, der ihr fehr nahe fund und ihre Biographie re-
vidirte, auf deſſen ängſtliche Frage, ob die Mongolen auch in Teutſchland ein-
fallen würden, fie fei gewiß, daß dieß nicht gefchehen werde, Und während fie
nach allen Seiten hin den Lebenden half, ergoß fie ihre erfolgreichen Gebete auch
für die Verftorbenen, deren Seelen ihr oft bald Hilfefuchend, bald danfend und
mit himmliſcher Glorie umftrahlt erfihienen, Sp foll ihr unter Andern auch Papſt
Innocenz II. nach feinem Tode erfchienen fein und ihr feine VBerurtheilung in das
Fegfeuer bis auf den allgemeinen Gerichtstag gemeldet haben, mit der Bitte um
ihr Gebet (2). Ludgarbis ftarb am 16, Juni 1246 in einem Alter von 64 Jah⸗
ven, nachdem fie 40 Jahre zu Aquirie gelebt hatte, Ihre intereffante und merf-
würdige Biographie hat der befannte Dominicaner Thomas Cantipratanıs, ein
Zeitgenoffe und vertrauter geiftliher Freund Ludgardis, verfaßt und der vorher
erwähnte Bernhard revidirt. S. die Boll, ad 16. Jun. [Schrödl.) .
Ludger, Lüdiger, Liudger, erſter Bifchof von Münfter in Weftphalen,
Apoftel von Sachſen, Brabant und Friesland, Gründer der fo berühmten Bene-
dietinerabtei zu Werden an der Ruhr, war ein Friefe von Geburt, Seine Vor—
eltern gehörten zu den angefehenften Familien des Landes, mußten aber des
chriſtlichen Glaubens wegen fliehen und im fränkifchen Reiche Schug fuchen. Die
Eltern Ludgers, Theatgrim und Liafburga, wohnten Doch bereits wieder im Lande
ihrer Väter, als der berühmte Sohn, den die Kirche als verdienten Heiligen ver—
ehrt, zur Welt’ fam. Sein Geburtsjahr fällt zwifchen 744—49, Die erſte Zeit
feiner Jugend brachte Ludger, der ſchon frühe Spuren feines vortrefflichen Geiftes
und hohen Berufes verrieth, bei feinen Eltern zu. Dann fam er in die Schule
Gregors von Utrecht (ſ. d. A). Seine erften Dienfte leiftete er als Diacon an der
Kirche zu Deventer, Er ging darauf nach York in England zu feiner Fortbildung, und
als er im Jahre 774 von dort, wo er unter Alenin ſtudirt hatte, zurüdfam, ers
hielt er von Alberich, Gregors Nachfolger, eine abermalige Sendung nad) De—
venter, Ludger fammelte die in den damaligen Unruhen zerftreute Herde zum
zweiten Male und ging dann mit Alberih nach Coln. Alberih wurde daſelbſt
zum Bifchofe und Ludger zum Priefter geweiht (778). Das gab ihm wieder neuen
Eifer im heiligen Amte, und er trat nach feiner Rückkehr die Miffion im Dfter-
gau in Friesland an. Hier wählte er nun feinen Geburtsort Doffum zum Sitze
feines Pfarrfprengels. Der Ort war dadurch merfwürdig, daß Bonifacius (hd. A.)
an demfelben feine Martyrfrone erworben, und auch Ludger fuchte durch unermüd-
liche Arbeiten hier die Palme zu erringen, Er Ichrte vor dem Volle und ver—
einte die zerftreuten Glieder an feften Wohnfigen, fowie zur Eultur des Bodens,
Seine Verwandten aber leifteten ihm in diefem Werke fowohl dur ihren Einfluß
bei ihren Landsleuten, als den fränfifchen Königen die größten Dienfte, So ver-
blieb er denn fieben Jahre in diefer Stellung und fuchte fih in Allem des großen
Apoſtels der Teutfchen, den er eben noch gefehen hatte, würdig zu machen, Dabei
blieben nun die Prüfungen nicht aus. Denn während Carl in Spanien war,
erhob fi Wittefind,, der mächtige Sachfenführer, und machte einen wohlgelunge-
nen Einfall in das Land der Friefen. Alles, was fih nicht flüchtete, oder der
chriſtlichen Neligion nicht entfagte, wurbe niebergemacht, Alberih, Biſchof von
Er ui
Ludger. 621
Utrecht, ftarb vor Schmerz, und Ludger hielt ein längeres Bleiben nicht für rath-
fam, Er begab fih mit feinem Bruder Hildegrim, der ſpäter Bifchof von Halber-
ftadt ward, nah Nom, Auf diefer Reife traf er mit Pipin, einem Sohne Carls,
und dem Papfte Adrian zufammen und klagte feinen Schmerz. Der Teste gab
die Sache in Friesland doch noch Feineswegs verloren, fondern fröftete ihn mit
der Hoffnung eines fohnellen Werhfels der Dinge. Ludger aber begab fih nad
Montecaffino, wo er 2, Jahr zum Studium der Benedictinerregel verweilte,
Während diefer Zeit ward Wittefind gefchlagen und Ludger konnte wieder nach
Friesland zurückkehren. Da ftarb gegen das Jahr 789 Bernhard, Vorfteher der
Kirche zu Münfter, Earl dachte hier einen Bifchofsfis zu gründen, zu deſſen Be-
fegung war Ludger auserfehen, Er ließ ihn daher zu ſich kommen. Unterdeß war
aber auch Othegrim, Bifhof von Trier, geftorben, Carl bot ihm daher diefes
Bisthum an, weil er ihn für den würbigften hielt. Ludger aber wollte in feiner
Demuth die angebotene Stelle nicht annehmen, weil er glaubte, es feien andere,
die mehr geeignet wären, Sein einziger Wunfch ging nur dahin, die Sachfen zu
befehren. Das war Carl gerade recht, und das Bisthum Münfter als eine
Stütze dafür nicht ungelegen. Er beftimmte ihn daher für diefes Amt. Ludger
aber, wiewohl er fih lange nicht entfchließen Fonnte, die bifhöfliche Weihe und
mit derfelben ein Amt zu übernehmen, das felbft für die Schultern der Engel
zu ſchwer, befchäftigte fich nicht bloß mit den Friefen und Sachſen, er dachte auh
dem fernen Norden das Heil zu verfünden. Carl hielt jedoch die dortigen Zu—
fände nicht für fiher genug, und es war ihm lieber, wenn er feine ganze Kraft
auf die Sachſen verwendete, Hierin Teiftete er ihm auch jeden Vorſchub. Er
wählte ihn zu feinem vertrauten Rathgeber, ſchenkte ihm Helmftädt und was er
fonft noch bedurfte, Nun baute Ludger eine Kirche zu Münfter, theilte das Land
in Pfarriprengel und fammelte einen gottbegeifterten Clerus um fich herum. Aber
auch auf die bürgerliche Berfaffung Hatte er großen Einfluß. Er fammelte die
zerfireuten Höfe unter Ein Oberhaupt und mehrere derfelben wiederum zu einer
größern Genoffenfhaft, Er forgte für die Pflege der Armen, für das Unter-
fommen der Reifenden und fonftigen Hilfsbebürftigen, und beftimmte nicht nur
einen Theil der Zehnten zu jenem Zwede, fondern auch dasjenige, was er fich
bei feiner Einfachheit felbft entzog. Nichts fchien ihm aber fo wichtig, als die
Gründung einer eigenen Pflanzfchule für feine Miffionäre, zur Verbreitung und
Defeftigung Hriftliher Bildung, und zum Unterrichte des Volkes, Er hielt hiezu
die Stiftung eines Benedictinerflofterd am geeignetflen. Nur darüber war er
anfänglich noch nicht mit fich einig, wo er ein folches errichten follte, Er hatte
vermöge feiner frühern Wirkfamfeit Haltpuncte und Befisungen in Friesland und
in Brabant, links und rechts am Nheine im Theifterband und den fonfligen
Gauen, und es darf ung nicht wundern, wenn er jenes Klofter anfänglich außer
feinem fpätern Sprengel zu erbauen gedachte, Zudem waren die Zuftände bier
fiherer. Nachdem er lange mit fich zu Rathe gegangen, wählte er endlich auf
göttlichen Winf eine Stelle am Ruhrfluffe zu Weneswald, dem jegigen Werden,
in der eölnifchen Dideefe, aber auf der Scheide der Franfen und Sachſen und
der Grenze feines. bifchöflihen Sprengels, Aber auch hier zeigten fih, ungeachtet
der Genehmigung Carls, des Papftes und des Bifchofes von Coln, unglaubliche
Schwierigkeiten. Indeß Gottes Hilfe und Ludgers Segen war mit dem Klofter,
das-fpäter unter dem Namen der reihsunmittelbaren und eremten Abtei Werben
zu einer großen Berühmtheit gelangte. — Ludger gab doch endlich nach und Tief
fih im Jahre 801 zum Bifchofe weihen, Das war für ihn ein neuer Antrieb
feiner fegensreihen Wirkfamfeit. Er fehlte nirgends, wo er nöthig war, überall
war er mit Rath und That zur Hand, und fo beſchloß er fein fhönes Ende auf
einer biihöflichen Rundreife zu Billerbeck in: Weftphalen (809). Die Bewohner
von Münfter ließen ihn zu fih bringen und hätten die theuren Reſte gerne bei
622 Eudmilla,
ſich behalten, aber die Leiche wurbe da beerdigt, wo ber Lebende es gewünſcht
hatte, nämlich in dem Klofter zu Werben, wo feine fo berühmten Reliquien in
der dortigen Pfarrfirche, nachdem das Klofter im Strome ver Zeit feinen Unter-
gang gefunden, bis zur heutigen Stunde aufbewahrt und verehrt werben, —
Ludger hinterließ nach feinem Tode ein wohlgeorbnetes Bisthum, als deffen eigent-
‚licher Gründer er mit dem vollften Nechte zu betrachten ift. Er fand zwar eine
Heine Gemeinde vor, aber die Mehrzahl der Bewohner des Landes war durch
ihn zum Chriftenthume gebracht und durch feine Anordnungen darin befeftigt. —
Die Menplogien der Benedictiner, Mabilfon und Tritbem, nennen Ludger einen
Benedietiner. Er hat jedod nach dem ausdrücklichen Zeugniffe feines gleichzeitigen
Lebensbefchreibers und Retters, Altfred, nie das Ordenskleid getragen, und die
Annalen der Abtei nennen ihn und feine nächſten Verwandten, die ihm folgten,
nie Aebte von Werden, fondern Procuratoren, Auch als Schriftfteller hat Ludger
ſich ausgezeichnet, und unter feinen Schriften werden genannt eine Erklärung ber
Briefe des Anofteld Paulus, eine Lebenshefchreibung feiner Lehrer Gregor und
Alberih, und die Erftlinge von Bonifazens Wirkfamfeit, fowie einen Bericht über
die Erhebung der Reliquien des HI, Suitbert in Kaiſerswerth. — Bal, hierzu
die Art, Friesländer und Lebuin, Priſae.]
Ludmilla, erſte ſchriſtliche Herzogin von Böhmen und hl. Mar—
tyrin. Obwohl ſchon um die Mitte des neunten Jahrhunderts einige vornehme
Böhmen ſich zu Regensburg taufen ließen, ſo begann doch erſt mit der Bekehrung
der herrſchenden Familie des Landes in der zweiten Hälfte des neunten Jahr-
hunderts eine dauerhafte, wiewohl nur allmählige Chriftianifirung Böhmens (f.
den Art, Böhmen). Der erfte hriftliche Herzog war Boriwoy, und feine Ge—
mahlin Ludmilla, die Tochter eines Grafen von Melnif, ſäumte nicht, ihrem
Gatten in Annahme des Chriftentbums zu folgen. Chriftian de Scala (ſ. Bol-
land. 16. Sept. vit. s. Ludmillae) erzählt die Bekehrung der herzoglichen Familie
in folgender Weiſe. Boriwoy befuchte einft den chriftlichen Mährenfürſten Swa-
topluf und wurde von ihm zur Tafel geladen, durfte aber an der Tafel nicht
unter den hriftlihen Gäſten Play nehmen, fondern aß nach heidniſcher Art mit
den andern anwefenden Heiden am Boden, An der fürftlihen Tafel war eben
der große Slavenapoſtel Methodius gegenwärtig. Diefer drüdfte über die felbft-
verfchuldete Erniedrigung Boriwoy's fein Bedauern aus und redete ihm eindring-
Lich zu, fich mit feinen Begleitern taufen zu laffen, dann werde er und feine
Nachkommenſchaft zu Ruhm und Macht gelangen. Bon der Gnade berührt, Tief
ſich Boriwoy nach vorgängiger Unterwerfung und Vorbereitung fammt feinen Be—
gleitern taufen , und Methodins gab ihm den ehrwürdigen Priefter Catch mit
nach Böhmen, Die mag fih um 871 oder zwifchen 871—890 ereignet haben,
und es fcheint nicht, daß Ludmilla damals. ihren Gemahl an den mährifchen Hof
begleitet und dort die Taufe empfangen habe, Boriwoy, nach Böhmen zurüd-
gefehrt, bewies thatfächlich die Aufrichtigfeit feines Uebertrittes zur chriſtlichen
Religion; er Tieß im Caftell Königgrag zu Ehren des HI Papftes und Martyrers
Clemens eine Kirche bauen, an welcher Caich den Gottesdienſt verrichtete, und
war mit diefem und den aus Mähren zurücgefehrten Täuflingen eifrig auf die
Belehrung feiner Böhmen bedacht. Eine ver erften, die ſich beferte, war bie
Gemahlin des Herzogs, Ludmilla, früher eine eifrige Gdgendienerin, bald
durch chriftlichen Eifer felbft ihren Gemahl übertreffend, Allein während bei einem
Theile der Böhmen die chriftliche Neligion Fortfchritte machte, erhob ſich der über»
mächtige heidnifche Theil der Nation gegen den Herzog uud zwang ihn, das Land
zu derlaffen. An Boriwoy's Stelle beriefen jept die Böhmen den Fürften Stroy-
min ; da jedoch diefer durch feinen Tangen Aufenthalt bei den Teutſchen (in Bayern)
die böhmifche Sprache ganz vergeffen batte Cund wahrfcheinlich ferbft ein Chriſt
“ war), fo wurden die Böhmen auch feiner bald überdrüffig, daher vertrieben fie
—
Ze
N rn 623
ihn wieder und Boriwoy Fam mit Hilfe feines eifrigen Anhanges in Böhmen
(ſowie des teutſchen Königs Arnulph und des Mährenfürften Swatopluf) aus
Mähren, wohin er fih geflüchtet Hatte, nach Prag zurück, baute dafelbft, ein⸗
geben? feines in der Verbannung gemachten Gelöbniffes, der Mutter Gottes eine
3 Kirche und verbreitete das Chriſtenthum nach Kräften: „hie, fagt Chriftian, pri-
mus fundator locorum sanctorum congregatorque clericorum et tantillae, quae tunc
fuit, religionis institutor exstat.“ Ohne Zweifel gebüßrt der Ludmilla an dem
Eifer ihres Gemahles ein großer Antheil. Nach feinem Tod förderten feine zwei
Söhne und Nachfolger, die aber nur furze Zeit regierten, Spitihbnew (+ um -
912) und Wratislaw (+ 926) die neue Religion, mehr aber noch die Lud⸗
mille, Als Wittwe, erzählt Chriftian, beweinte fie ihre im Heidenthum began-
genen Sünden, forgte für die Llerifer wie für ihre eigenen Kinder, ſchmüuckte
Kirchen, Half ven Armen und übte Gaftfreundfchaft. Jedoch eine noch größere
Wohlthäterin für Böhmen wurde fie durch ihren Einfluß auf die Erziehung ihres
Enfels Wenzeslaus, des nahmaligen HI. Herzogs und Martyrers (ſ. d. A).
Nach dem Tode des Herzogs Wratislaw übertrugen die Böhmen (vorzüglich wohl
die Chriften, die alfo bereits ftarf waren) die Regierung und Bormundfchaft über
deffen zwei unmündige Söhne, den genannten Wenzeslaus und Boleslaus, der
Ludmilla, nicht der noch heidnifhen Drahomira, der Mutter der beiden Kinder,
So fhhien die Erziehung der Prinzen noch länger in Ludmilla's Händen zu bleiben,
allein Drahomira, begierig nach der Herrſchaft und dem Chriſtenthum feindlich
gefinnt, fann auf Rache an Ludmilla und den Chriſten. Vergebens erklärte Lud-
mille, auf Regierung und Vormundſchaft gerne Verzicht Leiften zu wollen, went
ihr nur geftattet werde, an einem beliebigen Drte Chrifto dienen zu dürfen, und
zog von Prag nach dem Caftell Tetin. Das Schlimmfte ahnend und fih darauf
vorbereitend,, empfing fie Hier aus der Hand des Prieflers Paulus (wahrſcheinlich
eine Perfon mit dem obengenannten Priefter Caich) am nämlichen Tage die HI,
Sacramente, an welchem Abends zwei heidnifche Fürften in Drahomira’s Auftrag
Ludmilla erdroffelten (15. Sept. 927). Bon da an mwüthete Drahomira gegen
die Chriften, vorzüglich gegen die Geiftlihen, und fuchte diefe namentlih aus
ihres Sohnes Wenzeslaus Umgebung zu entfernen; allein fie war, obgleich der
größere Theil der Böhmen noch dem Heidenthume anhing, unvermögend, das
Chriſtenthum auszurstten, und aus Ludmilla’s Gruft wehte ein himmliſcher Hauch
hervor, der die Gläubigen ſtärkte und ihre Zahl vermehrte, Endlich beftieg Dra-
bomira’s älterer Sohn, der hl. Wenzeslaus, den Thron und warb ein neuer
Apoſtel Böhmens, Er Lie Ludmilla's unverfehrt gefundenen HI, Leichnam von
Tetin (wo Drabomira über demfelben eine Capelle zu Ehren des hl. Erzengels
Michael erbaut Haben fol, um für die auf Ludmilla's Fürbitte gefchehenden
Wunder den HI. Michael einzufegen) nah Prag bringen, wo die hl. Gebeine von
dem eigends dazu berufenen Bifhof Tuto von Regensburg in der St. Georgi-
kirche feierlichft beigefegt wurden. Diefe Kirche, damals erft vollendet, nachdem
Schon Herzog Wratislaus den Bau derfelben begonnen hatte, erhielt bei biefer
Gelegenheit. durch den genannten Bifhof die Eonfeeration, S. die Boll. ad
16. Sept. in vit. s. Ludmillae, und ad 28. Sept. in vit. s. Wenceslai; Cosmas Prag.
chronicon Bohemorum; Palacky, Geſch. v. Böhmen, I; Pers, Script. IV. (VL)
p. 211. Gumpoldi vita s. Venceslavi ducis Bohemiae; Boll. 9. Mart. de ss. Cyr.
et Methodio. [Schrodl.]
Ludolph (Leutholph, de Saxonia, Saxo), aus Sachſen gebürtig, begab ſich
um 1300 in den Orden der Dominicaner, ob zu Mainz, oder Cöln, vder an⸗
derswo, weiß man nicht, Er verharrte in dieſem Orden 26 oder 30 Jahre,
eminirte durch Frömmigkeit und in der Wiffenfchaft der Heiligen und glänzte im
Kranze jener ausgezeichneten Dominicaner des 14ten Jahrhunderts, welche wie
ein Heinrich Sufo das Gebiet der chriſtlichen Myſtik durch ihr Leben und ihre
’
*
624 Ludwig der Bayer, . m
Schriften verherrlihten. Um noch ungehinderter, als es bei den Dominicanern
gefhehen fonnte, der Betrachtung des Göttlichen fih widmen zu fönnen, trat er
in den Orden der Carthäuſer zu Straßburg, Er flarb als Carthäufer-Prior, _
ohne daß man angeben kann, wo und wann, Er fehrieb: 1) vita Jesu Christi, e
sacris qualuor evangeliorum Sanctorumque patrum fontibus derivata, eine oft auf
gelegte und in mehrere Sprachen überjegte Schrift5 2) enarratio in psalmos Da-
vidicos ex SS. Hieronymo et Augustino ‘et ex Cassiodoro Petroque Lombardo col-
lecta. S. Quetif und Echard Script. Ord. Praed. t. 1.
Ludwig der Bayer und fein Kampf mit den Päpſten. Da feit den
Tagen 8. Heinrichs VI. eine ftrittige Königswahl bei den Teutſchen beinahe
als Regel angefehen werden mußte, fo konnte e8 auch nicht anders fein, als dag
das Königthum in dem Maße fank, in welchem fich die Kronprätenbenten bei den
Päpſten um Ertheilung ber Raiferkrone bewarben, diefe ein noch höheres fchieds-
richterliches Anfehen erwarben, als je die teutfchen Kaiſer bei den ftrittigen Papft-
wahlen der früheren Jahrhunderte (des 10ten, 1iten, 12ten) erlangt hatten.
Auch Ludwig, Herzog von Oberbayern, war nah dem Tode K. Heinrichs VII
im Schisma mit Herzog Friedrich von Deftreich erwählt worden (1314), und da
beide nach der aus den Händen, des Papftes Johann XXIL zu empfangenden Kai—
ferfrone trachteten, war es natürlich, daß diefer fie nicht als Preis für den Sie—
ger auf der Wahlſtatt in Ausficht fielfte, fondern beide Parteien zur friedlichen
Ausgleihung ermahnte, Da aber beide in einen fiebenjährigen Kampf mit ein-
ander gerietben, fo ſuchte Papft Johann XXII. nach ber Weiſe feiner Vorgänger
durch Aufftellung eines von ihm, dem Papfte, ernannten Reichsvicars für Stalien
wenigftens dieſes von Parteien zerfleifchte Land zur Ruhe zu bringen. Als aber
nun Ludwig in der Schlacht bei Ampfing 1322 feinen Gegner gefchlagen und ge-
fangen batte, und im Gefühle des Sieges den Iombarbifchen Ghibellinen im
Kampfe mit den päpftlichen Legaten Hilfe fandte, den Grafen von Neuffen zum
Reichsvicar in Jtalien ernannte, erfolgte der erfte feindliche Zufammenftoß des
erwählten römifchen Königs mit dem Papfte, der gleichfam unbefümmert um bie
in Teutſchland vor fih gegangene Kataftrophe in Ludwig nur einen „gewilfen
Herzog von Bayern” gewahrte, der fih gemäß feiner Aufforderung vom 8. Det,
1323 der Neichsverwaltung zu enthalten und fih binnen drei Monaten in Adig-
non zu ftellen habe, Gegen diefes maßloſe Benehmen, welches weder ein Juno-
cenz III. no ein Gregor IX. gutgeheißen hätte, gab es, um zum Siege zu fom-
men, nur einen, aber auch einen fihern Weg, ſelbſt fich alles Maßlofen zu ent-
halten, feine Sande zur Sache des Reiches zu machen und durch kluge Feftigfeit
den Papft zulegt moralifch zur Nachgiebigfeit zu zwingen, es zu machen, wie es
die Päpfte gegen Friedrich II. gemacht. Dazu war jedoch Ludwig der Bayer nicht
der Mann, Er glaubte am Flügften zu handeln, wenn er den bogmatifchen Streit
der Fraticellen (f. d. A.) über die Armuth chriſli zu dem ſeinigen mache und den
Papft, welcher ſich gegen die Anſicht einiger ſpuͤzfindiger Bettelmönche erklärt
hatte, als angeblichen, fomit nicht rechtmäßigen Papſt behandle, ohne zu gewah-
ren, welche Waffen er dadurch feinem von der ganzen Chriftenheit anerkannten
Gegner in die Hand gebe, und wie er fein eigenes gutes Necht durch Hdentifici-
rung mit einer von Anbeginn verlorenen Sache bloßſtelle. Diefer gewöhnlich fo
fehr gerühmte Schritt Ludwigs, feine Allianz mit Michael von Ceſena, Buona-
grazia, Wilhelm Decam ꝛc. war unzweifelhaft das Unglüdlihfte, was Ludwig
unternehmen fonnte; in einem Streite mit dem Papfte, der fich felbft fo viele
Dlößen gab und diefe mit denen feines Gegners Hug zu bedecken wußte, durfte
fih Ludwig am wenigften in Betreff feiner Kirchlichkeit und Nechtgläubigfeit eine
Bloͤße und dadurch der kirchlichen Partei im Reiche, die anfänglich für ihn ge—
weien, Anlaß geben, ſich von ihm abzuwenden, Der zweite politiſche Fehler war
der, wie aus Böhmers fontes hervorgeht, im Stegreife unternommene, mit
* Ludwig der Bayer. 625
einem ſchmachvollen Rückzug endende Römerzug, auf welchem zwar das ghibelli-
niſche Italien, die Bisconti in Mailand, Caſtruccio Caſtracani in Lucca fih an
Ludwig anfhloffen, auch, was feit Friedrich Barbaroſſa vom den Teutfchen nicht
mehr gewagt wurde, ein Gegenpapft, Nicolaus V. (Pietro von Corbara), er=
nannt, die KRaiferfrönung auf eine bisher ungefannte Weife empfangen wurde,
aber der ganze Zug entfhwand wie ein Schattenfpiel, Ludwig mußte vor dem an-
rücfenden König Robert von Neapel, von den Steinwürfen der Römer verfolgt,
aus Nom abziehen, fein Papft fih dem rechtmäßigen mit dem Strife um den
Hals unterwerfen, das Pfeudocardinalscollegium ging auch in Trümmer, bie
ghibelliniſchen Städte ſuchten fih mit Johann XXI. auszuföhnen, und Ludwii 74
felbſt, weit entfernt, feinen Gegner vernichtet zu haben, hatte fih nur lächerlich
und dem Papfte verächtlich gemacht, fo daß diefer jegt fih mit dem Plane be—
ſchaͤftigte, ihn abzufegen und das Kaiſerthum den Franzofen zuzuwenden. Als
Johann XXI. unter diefen Bemühungen im 3. 1334 geftorben war, ſuchte König
Ludwig durch äußerſte Nachgiebigfeit von deffen Nachfolger Papft Benedict XIL
zu erlangen, was Gewalt bei dem Vorgänger nicht erreicht hatte. Allein bereits
war ber kirchliche Streit ein politifcher geworden, und wurde jegt Ludwigs Los—
fprehung von der Zuftimmung der ſtammverwandten Könige von Franfreich und
Neapel abhängig gemacht. Aber gerade diefes Hineinziehen fremdartiger Elemente
amd die notorifche Abhängigkeit Papſt Benedictd von dem franzöfifchen Hofe be=
feftigten Ludwigs finfende Sade in Teutjchland, bis neue Hebergriffe von feiner
Seite, Verlegung der firhlihen Gerechtſame und feine Länderſucht felbft feine
Freunde in das feindliche Lager führten. Es war wie die ganze Zeit, die fih in
zwei feindliche Lager, Welfen und GHibellinen, gefpalten hatte, ein ftetes Auf
und Niederfleigen der Wagſchale, ohne daß es zu einer richtigen Mitte, zu einer
Ruhe, Ausgleihung und Verſohnung fommen konnte. Sp lange der teutſche
- König fo in die Enge getrieben wurde, daß das Königthum und die Rechte der
Teutſchen in Gefahr geriethen, war auch die Nation anf Ludwigs Seite, und die
Reichstage zu Franffurt, wie der Churverein zu Rhenſe 1338, wo die Erhaltung
der Wahlrechte der Churfürften erhärtet, die Unabhängigkeit der Königswahl vom
päpftliher Beftätigung ausgeſprochen wurde, find als der Ausdruck diefer Stim-
mung zu betrachten. Als aber nun Ludwig, fih einhüffend in die von den Fra—
ticellen verfochtenen Grundfäge Faijerliher Allgewalt, ſich erdreiftete, die Ehe
Margarethens ven Tyrol mit Johann Heinrich, Prinzen von Böhmen, zu tren-
nen und die Getrennte mit feinem gleichnamigen Sohne zu vermäßlen, brachte
er dadurch das Haus Luremburg (in Böhmen) wie den Papſt (feit 1342 Cle—
mens VL) gegen fih auf, gefährdete er dadurch auch die teutfche Rönigsfrone,
ohne Tyrol feinem Haufe in die Länge erhalten zu können. Erft fuchte ihn Papſt
Clemens zu einer beinahe unbedingten und überaus fhimpflichen Unterwerfung zu
zwingen, und als der Reichstag zu Frankfurt 1344 diefe verwarf, erfolgte am
Gründonnerfiage 1345 Abfegung und Bann in fihaudervoller Weife. Allein erft
der Umftand entfhied den Sturz Ludwigs, daß ihm an dem Luremburger Earl
von Mähren ein päpftlicher Prätendent entgegengeftellt wurde, deifen Wahl au
1 diejenigen befriedigen Eonnte, welche bisher fchon deßhalb für Ludwig waren,
I damit nicht ein Franzoſe Raifer werde. Fünf Churfürften wählten im Zuli 1346
I Earlnz er empfing zu Bonn die Krönung, und fhon war dem Ausbruch eines
neuen Thronfampfes, einer neuen Schlacht von Ampfing mit zweifelhaften Er—
folge entgegenzufehen, als Ludwig, vom Schlage gerüßrt, bei Fürſtenfeldbrück
Det, 1347 flarb, Seine Regierung bezeichnet fo recht die Löfung der Bande,
durch welche die niedern Ordnungen in der Kirhe wie im Neiche den höhern
gegenüber feitgehalten wurden; den Einbruch fogenannter revolutionärer Prin-
eipien, die fih unter dem Desfmantel des Kaifers breit zu machen wußten. Daß
ſeine Regierung von denjenigen gefeiert wird, welche der Städteentwicklung, dem
Kirchenlexilon 6. Bd. 40
626 Ludwig der Fromme, *
Kampfe der Bauern gegen Adel und Fürſten, überhaupt der Entfaltung des de—
mocratifchen Prineips mit Freuden zufehen, tft begreiflich ; darin ruht auch ihre
Bedeutung. Daß man aber, wenn man nicht unbedingt Ludwigs Auftreten gegen
die Päpfte beipflichtete, — und diefem verdankte das dbemocratifche Princiv feine
Entfaltung — politifch verdächtigt wurde und als fein guter Patriot galt, dieß
war nur bei einer Unfenntniß der Geſchichte und einer Verwirrung der Begriffe
möglich, wie fie heutigen Tages in den höhern Schichten der Gefellfchaft gleich-
wie in den niederften zu treffen iſt. Freilich feitvem man bayerifhe Geſchichte
und namentlich Negentengefchichte bi zur Mythologie verfehre, mußte eine nüch⸗
terne Anfchauung der Gefhichte König Ludwigs des Mißfallens der Herrſchenden
fiber fein; aber wird deßhalb, weil fih Creaturen finden, die nur den Ton ver-
Yangen, in dem gelehrt oder gefchrieben werden folf, die Hiftorifche Wahrheit eine
andere, und ift e8 da nicht doppelte Pflicht, unbefümmert um das eigene Schid-
fal, ver Wahrheit rückſichtslos Zeugniß zu geben? [Höfler.]
Ludwig der Fromme war der Sohn Carls des Großen und der Hilde-
gard. Schon im Jahre 813 war er von feinem Vater zur Nachfolge beftimmt,
batte aber weder deffen Fähigkeiten, noch fein Glück. Man kann nicht fagen, daß
er ganz ohne Anlagen gewefen, wie er denn auch Anfangs Glück im Kriege nad
Außen Hatte, aber Familienzwifte verdarben Alfes. Ludwig war, wie die alten
Ehroniften fagen, ftarf an Körperbau, thätig und gewandt, ein guter Reiter und
guter Bogenſchütze, auch geiftig nicht ohne Fähigkeiten. Er kannte Vieles, be-
forgte Alfes mit möglichfter Klugheit und Vorfiht, aber er hatte nicht die er-
forderlihe Kraft. War er langſam zum Zorne und leicht zum Mitleiven bewegt,
fo traute er feinen Rathgebern doch mehr, als nothwendig war, Endlich waren
28 die Weiber, welche das Glück feines Neiches ſtörten. Sein Vater Earl gab
ihm vor feinem Hinfcheiden in feierlicher Verfammlung der Fürften und Bifchöfe
die Mahnung, Gott zu ſcheuen und die Kirche gegen fihlechte Menfchen zu ver-
theidigen, die jüngern Gefchwifter und Verwandten zu ſchützen, die Priefter wie
Bäter zu ehren und das Volk väterlich zu lieben, ſtolze und böfe Menfchen auf
den Weg des Rechtes zurücdzuführen, ein Tröfter und Helfer der Armen und
Klöfter zu fein, nur ſolche anzuftellen, welche Gott Tiebten und die Gefchenfe ver-
arhteten, feinen vom Amte zu entfernen ohne hinlänglichen Grund, und fich feldft
untabelhaft vor Gott und allem Volfe zu zeigen, Ludwig verfprah Alles, was
der Vater verlangte, mit Hilfe Gottes im Herzen zu bewahren und zu beobachten.
Aber dennoch ging's ſchlecht, und daran waren theils die Schwäche feines Cha-
rakters, theils feine Frauen und Kinder, theils Ereigniffe Schuld, die er auch bei
größern Eigenschaften nicht hätte bewältigen können. Ludwig war zweimal ver-
beirathet, Seine erfle Gattin hieß Irmengard. Mit diefer hatte er drei Söhne,
Lothar, Pipin und Ludwig. Als Irmengard ftarb, Heirathete er Judith, die
Tochter des Herzogs Welf, Sie gebar ihm einen Sohn mit Namen Earl, Judith
war fhön und hatte viel Einfluß am Hofe, Das verdroß die Uebrigen und gab
den erften Vorwand zu Klagen. Einen andern bot Ludwig felbft, und der Taftet
allerdings ſchwer auf ihm. Im Jahre 817 Hatte er das Reich alfo unter feine
Söhne vertheilt: Lothar ward nach feinem Tode Kaifer, erhielt Italien und den
Strich Landes zwifhen Nhein und Maas mit ihren Flußgebieten. Die übrigen
Söhne follten bloß Könige genannt werden, und von ihnen befam Pipin Aquita-
nien und Ludwig Bayern nebft dem übrigen Theile von Tentfchland, der nicht
an Lothar fiel. Diefe Theilung wurde auf dem Neihstage zu Nymwegen 821
von den verfammelten Fürften feierlich anerfannt und befhworen. Daß er aber
fpäter nad) der Geburt feines Sohnes Carl diefen fo feierlich gefchloffenen Ver-
trag umwarf, war ber zweite Fehler. Lothar, der am meiften dabei Titt, hatte
zwar feinem Vater verfprochen, er werde nichts dagegen haben, wenn er feinem
Sohne Carl den Randestheil gebe, welchen er immer wolle; doch ward er unzu⸗
Ludwig der Fromme 627
x
8 frieden, als er Alemannien, Rhätien und einen Theil von Burgund zu Gunfter
Tarls abtreten follte, und es fam zu einem förmlihen Bruce zwifchen ihm und
feinem Vater, Auch Pipin war heftig aufgebracht gegen feine Stiefmutter Judith,
und die Sache ging fo weit, daß diefe den Hof verlaffen mußte, der Kaifer aber
der Regierung für unwürdig erklärt und abgefegt wurde, Doc bald gereute es
Pipin und feinen Bruder, daß fie den Vater abgefegt hatten, und er fam dur
ihre Vermittlung wieder auf den Thron, Auch Judith wurde zurücgerufen. Aber
das alte Wefen fing damit wieder an, und als Ludwig zu einer abermaligen Theilung
ſchreiten wollte zwifchen Lothar und Carl, da fand fich ein neuer Anlaß zur Empörung.
Die Söhne aber hatten das Volk vom Vater, der viel betete und wo er es vermochte
auf firenge Zucht hielt, abgewendet, und da es in der Gegend zwifchen Bafel und
Straßburg auf einer weiten Ebene zur Schlacht fommen follte, verließen alle
Anhänger den Kaifer und gaben ihn in die Gewalt feiner Söhne (833). Es
war aber daffelbe Feld, worauf fie ihre Treue gefhworen, und weil fie diefelbe fo
fhmählich gebrochen, befam es den Namen des Lügenfeldes, Lothar und Ludwig
führten den Vater gefangen mit fi) hinweg über Mes, Soiffon nah Compigny. Hier
verfammelten fih einige Biihöfe, die ihren Grund hatten, mit Ludwig unzufrie=
den zu fein, oder. weiter nichts waren, ald Werkzeuge treulofer Sieger, und
fprachen über den alten Kaiſer das Urtheil, er folle abdanfen und in ein Klofter
gehen. Ludwig aber wollte nicht, Da wurde er gezwungen, die Waffen nieder-
zulegen und auf den Anieen und im bloßen Hemde Buße zu thun. Nun entfegte
man ihn feiner Würde, Der ehrlofe Lothar aber ging noch weiter. Er hielt fi,
fo lange fein Vater noch Iebte, der Kaiferwürde nicht fiher genug. Er wollte
daher den Vater tödten. Das hintertrieb jedoch fein Bruder Ludwig. Es waren
damals fhlimme Zeiten, Schlechtigkeit und Berworfenheit allgemein. Earl der
Große felbft fühlte gegen Ende feiner Tage, was noch kommen würde. Die
Kriege, die zu vermeiden nicht ſtets in feiner Macht Tag, hatten nicht vortheilhaft
gewirft, und die rohen Franken, ungeachtet fie der fähigfte der teutfhen Stämme
waren, fonnten nur allmählig an die Zucht des Chriftenthums gewöhnt werden,
Die mit dem Hofe verwandten, durch Hofgunft emporgefommenen, oder vielfach
mit dem einen oder andern der ſich befämpfenden Söhne Ludwigs, des Frommen,
verwickelten Bifchöfe kannten auch nicht allenthalben ihre Pflichten, weßhalb der
apoſtoliſche Stuhl ernftlih einfchritt und den damaligen Erzbiſchof von Cöln als
einen Unwürdigen entiegte. Lothar aber handelte, nachdem Ludwig abgefegt war,
ganz nah Willkür. Er maßte fig des gefammten Reiches an, vernachläßigte die
Wohlfahrt der Bölfer und forgte bloß für feinen eigenen Bortheil. Das verdroß
aber Pipin und Ludwig, feine Brüder, und fie gingen damit um, ihren Vater
Hon Neuem auf den Thron zu fegen. Sie fammelten daher eine Kriegsmacht und
fchlugen den Lothar in die Flucht. Diefer ſchleppte feinen gefangenen Bater mit
nah Paris, Aber auch dahin kamen die Sieger und fchrieben Gefege vor. Lud⸗
wig ward in St. Denys von den Bifhöfen freigefproden, mit dem Schwerte
umgürtet und abermals in fein Reich eingefegt. Er fühnte fih mit feinem Sohne
Ludwig aus und führte ihn nach Aachen. Lothar Fam ebenfall® dorthin und bat um
Berzeihung. Er erhielt fie, aber der Zankapfel mußte wieder durchgefchnitten
werden, Es fam im Jahre 837 zu einer neuen Theilung. Nach diefer Theilung
follte Lothar, als der Aeltefte, die Kaiſerwürde erhalten, Italien und den Theil
von Francien, der zwifchen Nhein und Maas liegt, Ludwig Bayern, Sachen und
die angrenzenden Länder, Pipin Aquitanien, Gasconien und den Tandesftrih an
der Örenze von Spanien; Carl, der Sohn zweiter Ehe, aber Franfreih, Bur-
gund und Neuftrien, Lothar war dieß recht, aber feineswegs Ludwig, der fpäter
unter dem Namen des Teutfchen befannter wird, Er hätte gern noch ein Stüd
Land mehr gehabt. Dazu hatte fi auch unterdeß eine günftige Gelegenheit ge—
boten. Denn Pipin, der Bruder von feiner erfien Mutter her, war im Jahre
40*
623 Ludwig von Granada.
838 geftorben, Auch Judith fand neuen Stoff zur Intrigue, Sie fürchtete den
Tod des Kaifers und für den Fall Gefahr für fih und ihren Sohn. Sie ſuchte
daher einen von ihren Stieffühnen zu gewinnen. Lothar fchien ihr hiezu am
geeignetften. Sie berevete daher ihren Gemahl, den alten Ludwig, diefem noch⸗
mals Verſohnungsvorſchläge zu mahen. Ja, diefem follte jegliche Beleidigung
verziehen fein, wenn er nur den Willen des Vaters in Bezug auf die Carl’n an-
gewiefenen Länder unterflügen wollte. Auch follte das ganze fränfifhe Reich, nur
Bayern ausgenommen, welches Ludwig erhielt, zwifchen Lothar und Carl getheilt
werden. Als Ludwig dieß vernahm, fammelte er gegen das Jahr 840 ein Heer
und fiel in Alemannien ein. Da ward der alte Kaifer fehr aufgebracht. Er ging
über den Rhein und kam nach Thüringen, Der jüngere Ludwig aber fonnte das
Feld nicht Halten und floh. Der Kaifer hielt darauf nach diefer Waffenthat einen
Reichstag in Worms, Hier fühlte er, daß feine Kräfte fhwanden, und als er
fi feinem Ende nahe glaubte, ließ er fich auf eine Nheininfel bei Mainz bringen,
um daſelbſt in Ruhe feine Tage zu befchließen, Bevor er verfihied, hatte er voll⸗
ftändig über feine Güter verfügt und feine Seele in frommem Gebete Gott em—
pfohlen, Er bedachte die Kirchen und Armen reichlich und traf auch über Lothar
und Carl Verfügungen, Lothar erhielt von ihm Krone, Schwert und Scepter mit
dem Auftrage, Judith und Carl zu ſchirmen. Dann verfchied er im Juli des
Jahres 840, im 64ten Jahre feines Alters, und ward in Meg bei feiner Mutter
Hildegard begraben, Die Jahre Ludwigs waren voll Kummer, und es ıift nicht
leicht, fein Leben gerecht zu beurtheilen, Denn ſchon frühe Haben die gleichzeitigen
Schriftſteller, je nachdem fie diefer oder jener Partei angehörten, auch für pder
gegen ihn gefprochen. Aber felbft feine Feinde Iaffen feinen Fähigkeiten und fei-
nem guten Willen Gerechtigkeit widerfahren, Er meinte es überall gut, aber er
war feiner Zeit nicht gewachfen, Wir haben die obige Schilderung größtentheils
aus den Annales Francorum Fuldenses genommen, die dem ältern Ludwig nicht
ganz günftig find, weil fie fih auf Seiten des jüngern, befannter unter bem
Namen des Teutfchen, ftellen. Nach den Annalen von Met war Ludwig der
Fromme von mittlerer Statur, hatte große und klare Augen, einen feurigen Blick,
eine lange und gerade Nafe, weder große, noch dünne Lippen, eine ftarfe Bruft
und breite Schultern, Seine Arme waren fehr ftarf, im Bogenſchießen, in Hand-
babung der Lanze und im Reiten hatte er feines Gleichen nicht, Er war im
Griechiſchen und Lateinifchen erfahren, Letzteres fprach er fogar wie feine Mutter-
ſprache. Sein Gemüth war edel, und fein Herz mit allen guten Sitten aus—
geſchmückt, weßhalb er denn au der Fromme genannt wurde, Denn er betete
gerne, verziehb Teicht und war nicht bloß freigebig gegen die Kirche und milde
Stiftungen, fondern auch ernftlich darauf bedacht, die Sitten zu beffern und zu
mildern, was ihm jedoch nicht immer gelang, befonders da man ihn für aber-
gläubifch hielt, oder böswillig verſchrie. Für die Firchliche Geſetzgebung ift Lud—
wig der Fromme befonders wichtig, und man fieht daraus, daß es ihn wenigfteng
an gutem Willen nicht fehlte, hätte nur fein Charakter mehr Stahl gehabt und
er felbft unter andern Zeitumftänden gelebt. Ludwig war aber feinen Umftänden
nicht gewachſen, und feinem Gemüthe fehlte jene eiferne Kraft und Feſtigkeit,
welche allein einige —28 den damaligen Wirrniſſen hätten ſchaffen können.
Darum verfehlte er die Aufgabe feines Lebens, Priſae.]
Ludwig von Granada (Frai Luis de Granada, Ludovicus Granatensis)
ift gleich groß als ascetifcher Schriftftelfer und als fpanifcher Claffifer, Capmany
fagt im Teatro historico oritico de la Elocuencia espanola von ihm, er müffe noch
immer als der berebtefte Spanier des 16ten Jahrh. angefehen werben; wie hoch
er ald Ascet von der ganzen Fatholifchen Welt, von Pärpften, Fürften, befonders
auch von großen Heiligen, z. B. von ben I. Carl Borromäus und Franz v. Sales,
gejhägt wurde, ift den Freunden feiner Werfe befannt genug. Geboren im
>
Ludwig von Granada. 629
J. 1504 in Granada, der Sohn armer Eltern, hatte er als Knabe ſchon das
Glück, eine höhere Bildung zu befommen, weil ihn der Graf von Tendilla in
fein Haus aufnahm und mit feinen Söhnen erziehen ließ. Merfwürdig ift die Ber-
anlafjung zu dieſer Wohlthat, indem fih an ihm als Kind fchon bei diefer Ge—
Tegenheit die angeborne eminente Beredtſamkeit zeigte, Ludwig hatte namlich
einen heftigen Streit mit einem andern Knaben, wobei thätliche Mißhandlungen
nicht ausblieben. Der Graf, zufällig Augenzeuge des Eindifchen Zwiftes, Tief die
Erbitterten trennen ; Ludwig trat nun auf ihn zu und vertheidigte fich mit fo Ieben-
diger Beredtfamfeit, fo ſtarken und wohlgeordneten Beweifen, daß Tendilla in
Erftaunen darüber gerietb und den beredten geiftvolfen Knaben liebgewann. Im
19. Jahre trat Ludwig in den Dominicanerorden, den er als eine feiner erfien
Zierden verberrlichen follte. Nachdem er in Valencia Philofophie und Theologie
ftudirt hatte, wirfte er für feinen Orden als Lehrer, als Wiederherfteller des
verfallenen Convents Scala coeli bei Cordova, als Provincial in Portugal; für
die Außenwelt als eifervoller Prediger und unermüdeter Verfaſſer geiftlicher
Bücher. Zum Erzbifhof von Braga augerfehen, lenkte er die ehrenvolle Wahl
von fih ab und auf den berühmten Bartholomäus a Martyribus, Nachdem er
allgemein hochverehrt durch Wort und Schrift unglaublich Vieles und Großes ge-
leiftet hatte, endete er fein mufterhaft frommes, durch jede Tugend gefchmücktes
Leben am 31. December 1583 in Laffabon im hohen Alter von 84 Jahren, Die
Schriften diefes großen Mannes find theils in Tateinifcher, theils in fpanifcher
Sprache verfaßt; einige feiner urfprünglich Iateinifch gefchriebenen Werfe über-
feßte er felbft in's Spanifhe. Den erftien Rang unter feinen Schriften räumte
er felbft dem Werfe La guia de pecadores ein, das in teutfcher Ueberſetzung unter
dem Titel die Lenferin ver Sünder befannt ift, und von dem ein Schrift-
ftelfer bemerkte, es habe mehr Irrende auf den Weg des Heiles zurücfgeführt als
es Buhftaben enthalte, Ein anderes berühmtes großes Werk des geiftreihen
Mannes ift: EI Memorial de la vida Christiana = Gedenkbuch des chriſt—
lihen Lebens (Nahen, Cremer, 1834, 4 Bde), worin der Chrift eine volf-
ftändige Anleitung findet, wie er von den erfien Anfängen der Bekehrung an zur
höchſten Vollfommenheit gelangen kann. Seine Predigten überfeste befanntlich
Silbert in 5 Bänden, gr. 8. Landshut und Regensburg. Anftatt weitläufiger
feine Werfe einzeln aufzuzählen, mögen einige allgemeine Bemerkungen über feinen
fchriftftefferifchen Charakter hier ſtehen. Alle feine Werke zeichnen fich durch ſüd—
liche Lebendigkeit, nicht felten durch dichterifchen Schwung, immer durch ächt hrift-
liche Wärme aus. Man fieht, er war felbfi von dem, was er lehrte und ſchrieb,
innigft erfüllt und durchdrungen. Capmany fagt von ihm: „Nie hat ein ascetifcher
Schriftſteller mit folder Würde und Erhabenheit von Gott geredet. Wenn er
anfere Schwähe und Armfeligfeit mahlt gegenüber der Allmacht und Erbarmung
Gottes, wenn er Seine unendliche Liebe und unfere Undanfbarkeit darſtellt, ift
er groß, erhaben, unvergleihlih. Er ift unter den Myſtikern, was Boffuet unter
den Rednern.“ Nach einem langen, glänzenden Lobe feines ebenfo reinen als
erhabenen, Anmuth mit Pracht vereinenden Styles vergleicht er ihn an Leichtig-
Zeit, Rlarheit, Neichtbum und Fülle mit dem hl. Chryfoftomus. Das eifrige Stu=
dium Ciceros bildete ihn zum großen Nebner, das tiefe Studium der Hl, Schrift
und hl. Väter zum großen Asceten. Nebft den Ueberfegungen einzelner Schriften
in's Teutſche haben wir auch eine lateinische Ausgabe von Fr. VBalefius, als Nach—
druck in 3 Bänden in Fol. 1626 in Eöln erſchienen. Franzöfifch fam heraus
Sermons et Rhetorique des predicateurs, trad. par Girard. 5 Voll. 8. Paris 1809.
Spaniſche Ausgaben kenne ich die zwei folgenden: Luis de Granada Obras, pre-
cedente su vida escrita por Luis Munoz. 6 Tom. Fol. Madrid 1788—1800. Und
eine D ctavausgabe von 18 Bänden, wozu die nämliche Biographie von L. Munoz
den 19, Band bildet, Schon aus diefem kurzen Artikel geht übrigens hervor,
630 Ludwig, der Heilige,
wie fehr Ludwig von Granada befonders von Prieftern beachtet und gelefen zu
werben verbient. a [Zingerle,]
2udwig (IX.), der Heilige, König von Franfreich, folgte feinem frommen
Bater gegen das J. 1227 auf dem franzöfifhen Throne, Er war damals unge-
fähr 12 Jahre alt und wäre großen Gefahren preisgegeben gewefen, wenn ihn
nicht feine Mutter Blanca unter ihre vorforglihe Dbhut genommen. Diefe Tiebte
ihn zärtlich, aber fie war eine verftändige Frau und forgte vor allen Dingen für
eine hriftliche Erziehung ihres geliebten Sohnes, den fie durch fromme Männer
aus dem Franciscaner- und Dominicanerorben bilden ließ. Denn beide Genoffen-
fchaften Hatten damals noch alle jene geiftige Elaftieität, welche allen berühmten
Drden in ihrer Jugendzeit fo eigenthümlich ift, Ludwig, der fich durch viele Ga-
ben des Geiftes und des Herzens auszeichnete, widmete fich fchon früh den Werfen
der Frömmigfeit und verlebte feine Jugend in Unſchuld und Reinheit. Man
ſchreibt dieß größtentheild der Sorgfalt der Mutter zu, die ſich nicht wenig an
feiner Heiligkeit erbaute und ihm einftens in der Freude ihres Herzens fagte: Es
macht mich unendlich glücklich, Kieber Sohn, wenn du Gott dienft, und fei ver-
fihert, ich wollte dich Tieber todt fehen, als wenn du deinen Schöpfer durch eine
fhwere Sünde beleidigen würbeft. Ludwig vergaß dieß nicht, Gegen das J. 1234
heirathete er Margaretba von Province und nachdem er ſchon früh mit allerlei
Ungemach zu kämpfen gehabt, welches feinem Leben und dem Glücke feines Reiches
drohte, mußte er zunächft gegen den Grafen Hugo von der Marf, der fih gegen
den König empört hatte, zu Felde ziehen, Diefer ftügte fich vorzüglich auf feinen
Berwandten, König Nihard von England. Es kam zu einem Kampfe, in dem
Hugo und die Engländer unterlagen und um Frieden baten, der ihnen milde ge—
währt wurde, Bald darauf fiel Ludwig in eine ſchwere Krankheit, Einige hielten
ihn fogar für tobt, Aber er erholte fih bald und befchloß, gleich nach feiner Ge—
nefung dag Kreuz zu nehmen, Ludwig fonnte jedoch den Kreuzzug erft gegen das
J. 1248 antreten und landete im September auf Eypern. Hier befchloß er zu
überwintern, mehr Kräfte an fich zu ziehen und fichere Vorbereitungen zur Be—
hauptung des hl. Landes zu ergreifen, Auch Famen Gefandte verfhiedener Fürften
Kleimafiens und des Feftlandes dorthin, um mit ihm zu unterhandeln. Unglüd-
Ticherweife zog ſich aber die Sache fehr in die Länge, Ludwig glaubte endlich feinen
erften Angriff auf Aegypten machen zu müſſen. Er Tandete im Spätfrübjahr des
folgenden Jahres vor Damiette, Die Stadt ward mit Hilfe der Kreuzfahrer des
übrigen Europas, befonders auch der Teutſchen erobert und war der Schauplag
glänzender Thaten, Aber Ludwig blieb den ganzen Sommer bier, ohne weiter
vorzudringen, Der Nil fhwoll und das Heer gerieth in große Gefahr, Im Oe—
tober erhielt Ludwig Verftärfungen und z0g dann im November weiter. Im fol-
genden Monate kam es zur Schlacht, Ludwig und fein Heer waren Anfangs
Sieger, aber fie wagten fich zu weit vorwärts und erlitten einen großen Verluft,
obgleich fie am Ende an jenem Tage dennoch das Feld behaupteten. Die Lage
des Heeres wurde indeffen immer fohwieriger, Krankheiten rafften einen großen
Theil der Mannfchaft mit fich fort und von 32,000 Mann waren kaum noch 6000
übrig. Auch Lebensmittel fehlten und es farben viele vor Hunger, Denn die
Sararenen hatten alle Wege befett und die Verbindung mit Damiette abgeſchnitten.
Es blieb daher nichts übrig, als der Rückzug. Am 5, April machten die Sara»
cenen einen Hauptangriff, in welchem fie König Ludwig und zwei feiner Brüder
Alphons und Carl gefangen nahmen, wie ber Lebensbeſchreiber des frommen Königs
fagt, entweder wegen der Sünden einiger, bie in feinem Geleite waren, ober
um deſſen Tugend und Geduld in ein defto glänzenderes Licht zu ſtellen. Denn
Ludwig hätte für feine Perfon Leicht fi retten können. Er wollte ſich aber von
feinen Gefährten nicht trennen und ihnen feinen Troft nicht entziehen, ja möglicher
Weiſe durch Abſchluß eines günſtigen Waffenſtillſtandes zur Befreiung derfelben
TE) —
Ludwig, der Heilige. 631
beitragen. Der Waffenſtillſtand kam auch wirklich unter folgenden Bedingungen
zu Stande: Ludwig und fein Heer ſollten freien Abzug erhalten, den Chriſten
einige Drte des HI. Landes verbleiben, der König dagegen Damiette räumen und
zur Erftattung der Kriegsfoften 8000 Byzantiner zahlen, alle gefangenen Sara—
cenen zurüdgeben. Der Waffenftillftand follte zehn Jahre dauern. Diefe Bedin—
gungen fchienen jedoch einigen von den Saracenen zu günftig, Ste empörten fich
wider den Sultan und fuchten König Ludwig zu tödten. Sie bedachten fih aber
eines Andern und erfuchten ihn, daß es bei dem Frieden verbleiben möge. Ludwig
gab daher Damiette zurüd, Aber die Sararenen hielten fchleht Wort, Denn
son 12,000 Gefangenen fehrten die wenigften zurück. Bei folder Lage der Dinge
glaubte Ludwig noch eine Zeitlang im Morgenlande verbleiben zu müffen. Er
fchiefte daher feine Brüder Alphons und Carl zur Mutter nach Frankreich zurück.
Er felbft blieb noch fünf Jahre, indem er viele Sararenen zum Chriſtenthume
befebrte, manchen Chriften aus der Gefangenſchaft befreite, die noch geretteten
Städte und Burgen befeftigte und mit Hilfe der Seinigen die Werfe der Barm—
bherzigfeit an Lebenden und Todten übte, Da erfuhr er das Hinſcheiden feiner
Mutter Blanca, Nun war es Zeit, nach Franfreich zurüczufehren. Am dritten
Tage nah der Rüdfahrt jedoch ftieß das Schiff fo gewaltig wider einen Felfen,
oder eine Sandbanf, daß Alle und auch die Schiffer glaubten, es müffe unter-
gehen. Selbft die Priefter wurden erfchredt. Sie fuchten den König und fanden
ihn vor dem Afferheiligften Inien. Sie fhrieben aber ihre Rettung vorzüglich
dem Gebete des frommen Königs zu. Ludwig ward in Franfreich wohl empfan-
gen, Er war fieben Jahre abwefend gewejen, Aber der Ruf feiner Heiligkeit und
Milde Hatte durch feine Abwefenheit nicht verloren, Alfe Unglüdlichen und Hilfsbe- -
dürftigen fuchten daher bei ihm ihre vorzüglichfte Zuflucht. Auch baute er Hofpitäler,
Klöfter, ließ unter die Dürftigen Geld austheilen und widmete inshefondere ven Blin-
den eine große Sorgfalt, fo daß in jeder Stadt und Burg ein eigenes Haus zu ihrer
Aufnahme bereit geftellt wurde, ja er felbft entzog fich nicht der chriftlichen Liebes—
pflicht des Kranfendienftes. Er pflegte die Kranken perfönlich, wuſch fie, reichte
ihnen zu effen, umarmte und füßte fie und litt nicht, daß einem etwas fehle; nicht
einmal die ſchreckliche Plage des Ausſatzes erfchredte ihn, Wie gegen Arme war
er auch freigebig gegen die Kirche und frommen Ordensleute, unter denen beſon—
ders feine ehemaligen Erzieher die Franciscaner und Dominicaner bedacht wurden.
Sein religiöfer Sinn hatte fih während feines Aufenthaltes im Morgenlande nicht
wenig mit den chriftlihen Denkwürdigfeiten und den Werkzeugen der Erlöfung be—
ſchäftigt. Er brachte von daher mit fi) nach Paris die Dornenfrone, die HL, Lanze
und einen großen Theil des HI, Kreuzes, den er ſich mit bedeutenden Koften von Con—
ftantinppel verfchafft hatte, Zur Aufbewahrung feiner Heiligtümer erbaute er in
der Nähe feines Palaftes eine eigene Kirche, welche noch heutigen Tages unter
dem Namen der HI. Capelle befannt ift, wo er fo manche Stunde in Gebet und
Thränen zubrachte. Denn er hatte eine große Verehrung gegen das hl, Kreuz,
fo daß, wo er daffelbe am Boden gezeichnet fah, er es nie wagte, daffelbe mit
dem Fuße zu betreten und überall dahin wirfte, es nie auf den Boden zu zeichnen,
Ludwigs Frömmigfeit war aber nicht der Art, daß fie ihn von den Negierungs-
gefhäften abhielt. Er widmete vielmehr diefer die größte Sorgfalt und fchaltete
mit vieler Weisheit. Weil er aber fürdtete, die Sache der Armen möchte dennoch
nit gehörig vertreten fein, hielt er zweimal öffentliche Sitzung, wo er Jeden
anhörte und ſchnelles Necht übte, Auch wahrte er mit fräftiger Hand, wenn es
fein mußte, Frieden und Ruhe im Lande, Sonft vermittelte er in Güte, worin
er eine große Geſchicklichkeit beſaß. Die betrübenden Nachrichten aus dem HL.
Lande bewogen den König noch in hohem Alter zu einer Heerfahrt dorthin, die er
mit dreien von feinen Sößnen und vielen Vornehmen feines Neiches und großer
Kriegsmacht unternahm, Als fie im Begriffe waren, das Schiff zu befteigen,
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Lad
632 Ludwig, ber Heilige
blickte er freundlich auf feine Söhne Hin und redete den älteften und Nachfolger
alfo an: „Sieh, wie ich zum zweiten Male diefe Neife antrete, obfchon ich
ein alter Mann bin, die Königin, deine Mutter ebenfalls vorgerückt an Jahren
und wir ein Reich Haben, das wir mit Gottes Schuß ohne alle Störung befigen,
Freuden und Ehren in Ueberfluß genießen, Sieb, wie ich wegen der Sache Chrifti
und ber Kirche mein Alter nicht ſchone, ja felbft die Troftlofigkeit deiner Mutter
mich nicht abhalten kann, wie ih Freude und Ehren verachte und meine Schäge
für Chriftum verwende, Ich nehme euch und meine erftgeborne Tochter mit, ja
ih würde felbft den vierten Sohn nicht zurüdgelaffen haben, wenn er nur reifern
Alters wäre. Ich wünfhe aber, daß du dieſes zu Herzen nehmen mögeft, damit,
wenn bu nach meinem Tode die Negierung antrittfi, du für den Schug Chrifti,
den Schuß der Kirche und des Fatholifchen Glaubens nichts fchoneft, weder deiner
Gemahlin, noch deiner Kinder, noch deines Reiches, Ich will dir und deinen
Brüdern hiemit ein Beifpiel geben, das euch zur Nachahmung dienen möge,” —
Nicht abgeſchreckt von der frühern Niederlage, noch ungebeugt vom Alter zog
Ludwig im März des 3. 1270 zu Marfeille vor Anker, Er hielt es zuerft von-
nöthen, Tunis zu züchtigen, weil von dorther den Pilgern viel Abbruch geſchehen
war. Schon hatte er den Hafen von Carthago genommen, als eine verheerende
Seuche das Heer überfiel, zuerfi den Sohn des Königs, Johann, und dann ihn
ſelbſt ergriff und fortraffte. Damit war nun der Zwed des ganzen Zuges ver-
fehlt. Ludwig aber war eben ſo fromm und gottergeben geftorben, wie er gelebt
hatte, Denn von der Krankheit ergriffen, hörte er nicht auf Gott zu loben, indem
er ſich häufig der Seufzer bediente: „Mach' o Herr, daß wir das Glück der Erde
verachten und ihr Ungemach nicht ſcheuen!“ Auch für die, welche ihn begleiteten,
betete er, indem er ſprach: „Sei, o Herr, der Heiligmacher und Schüßer deines
Volkes!“ Dem Tode nahe, begehrte er den Leib des Herrn, Als der Priefter
ihm das hl. Sacrament entgegenhielt und fragte: ob er glaube, daß in bemfelben
der Sohn Gottes enthalten und er mit demfelben geftärft werde, fagte er: das
fei ihm eben fo wenig irgend einem Zweifel unterworfen, als er Chriftum in der
©eftalt erblide, worin er zum Himmel gefahren. Er felbft blickte gen Himmel
und ſeufzte: „Sch gebe, o Herr, in dein Haus, Ich werde dich in deinem Tempel
anbeten und deinen Namen befennen.“ Als er das gefagt, entfchlief er glüdlich
in dem Herrn. Es war am 25. Augufl. — Das Heer fehrte nach Ludwigs Tode
nad) Frankreich zurüd, Man nahm aber den Leichnam des Königs forgfältig ver-
wahrt mit fih und begrub ihn in St. Denys. Der Herr verberrlichte ihn durch
Zeichen und Bonifaz VI. verfegte ihn unter die Zahl der Heiligen, — Ludwig
hatte vier Söhne, an deren Erziehung er nichts verfäumt hatte, wenn fie ſchon
dem Vater nicht gleich famen. Er hatte fie durch Lehre und DBeifpiel forgfältig
zur Gottfeligfeit angehalten, Denn fo oft ihm das feine Zeit geftattete, befuchte
er fie und gab ihnen heilfame Ermahnungen, von denen diejenigen, bie er an
feinen Nachfolger richtete, noch heute als eine glänzende Probe feiner Heiligkeit
und Weisheit bewundert werden. Er warnte fie vor jeder Sünde als dem größten
Unglücde und ging ihnen befonders in der Hebung der Demuth, in den Werfen
der Mildthätigfeit und Barmherzigkeit voran, Bon feiner Verehrung gegen das
Kreuzzeichen haben wir fchon oben gehört. Er duldete aber auch nicht, daß Frei-
tage, an jenem Tage, wo fein Heiland eine Dornenfrone getragen, feine Söhne
fih mit Rofen und Blumen befräuzten und da er wohl wußte, welchen Gefahren
der Keufchheit von der Ueppigkeit, der Frömmigkeit von dem Neichtfume, ber
Demuth von den Ehrenftellen drohen, fo befliß er ſich ganz befonders der Nüch—
ternheit, der Befcheidenheit und Mäßigung, indem er fih forgfältig vor den Nach-
ftellungen der Welt, des Fleifches und des Satans in Acht nahm und der Mah-
nung und dem Beifpiele des Apoftels gemäß feinen Körper in Zucht hielt, Er ſelbſt
trug lange Zeit ein Bufibemb und als er diefes auf Anrathen feines Beichtvaters
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Ludwig XIV., König von Franfreid, 633
ablegen mußte, da fuchte er durch Reichthum der Spenden an die Armen einen
Erfag zu gewinnen. Vebrigens faftete er an allen Freitagen und wollte an jenen
Tagen, befonders in der Advents- und Faftenzeit, nicht einmal Fifche oder Früchte
genießen. Was er fih aber felbft entzog, das gab er den Armen, die er immer
um fih herum hatte und in denen er die Perfon Ehrifti verehrte. Es darf nach
dem Geſagten nicht auffallend fein, daß eine Perfönlichkeit, wie Ludwig, bald der
Lieblingsheilige des franzöfifhen Volkes und das Mufter des katholiſchen Franf-
reichs wurde, Priſae.]
Ludwig XIV., König von Frankreich 1643 — 1715. Wenigen Fürften war
es vergönnt, in einer ſo langen und glänzenden Regierung ihrem Jahrhunderte
einen fo eigenthümlichen Charakter zu verleihen, als Ludwig XIV., dem Begründer
des abfoluten Staates, der äußerſten Größe Franfreihs wie feines von nun an
unaufhaltſamen Verfalles. Fällt diefes zu zeigen der politfchen Geſchichte anheim,
fo wird bier diejenige Wirkfamfeit zu erörtern fein, welche Ludwig ald Mitgarant
des weftphälifchen Friedens , als Beherrfcher des mächtigſten katholiſches Reiches
in Firchlicher Beziehung übte. Der in feiner Jugend von Eardinal Mazarin ab-
geichloffene Friede von Münfter und Osnabrück hatte die Macht des Fatholifchen
Kaiſers des teutfchen Reiches durch die in weitem Umfange gehandhabten Grund-
füge der Säcularifation und die Occupation Nordteutfchlands durch die Schweden
auf das Heftigfte erfihüttert, als der flandrifche Krieg erft den Pyrenäen-, dann
den Aachner Frieden herbeiführte 1659 und 1668, in welchen die ſpaniſche Linie
des Haufes Habsburg an Macht und Anſehen kaum weniger verlor als die teutfche
dur den erwähnten Frieden des J. 1648. Bon diefem Augenblife an fand
Frankreich unbeftritten als der erfte Fatholifche Staat da und fonnte, wenn es wirf-
li die Grundfäge des Friedens und der Gerechtigkeit, der Mäfigung und Auf-
oferung für eine höhere Sache befaß, die feit 150 Jahren in den Fundamenten
aufgewühlte Ordnung der Dinge wieder herftellen,, der katholiſchen Sache einen
neuen und herrlichen Aufihwung verfhaffen. Ludwig dachte jedoch nur als Fran
z0fe, fannte fein anderes Ziel als das der Befriedigung franzöfifcher Ehrliebe,
fein anderes Streben als das, Franfreih um jeden Preis groß zu machen, Mit
dem Wiederausbruche des flandrifchen Krieges 1667 war bereits die unfelige Rich—
tung entfehieden, welche Ludwig von Krieg zu Krieg führte, zwar den Nymweger
Frieden 1678, den Ryswiker 1697 nach einer Reihe der glänzendften Schlachten
und überaus vortheilhafter Gebietserweiterung zur nächften Folge hatte, aber auch
Ludwig zur blutigen Geißel feiner Nachbarn machte und die heilloſeſte politiiche
Berwirrung über Europa brachte, DVergeblih fuchte ihn Leibnig von diefer ver-
derblihen Bahn hinweg auf jene Pfade Hinzulenfen, welche vor ihm ſchon Lud—
- wig IX., der Heilige, betreten (ſ. d. A.), nad ihm von einem großartigen politi=
fhen Inſtinete geleitet, Napoleon Bonaparte einfchlug. Ludwig zog es vor,
einerfeits die Proteftanten in ven Niederlanden und der Pfalz heimzuſuchen, anderer-
feits wider Papft Innocenz XI. den Tyrannen zu fpielen und als mädhtigfter Fatho-
liſcher Fürft den Papft bereuen zu machen, daß feine Vorgänger an dem BVerfalle
der teutfchen Schußherrlichfeit der Kirche Antheil genommen. Noch in der Zwi-
fchenzeit zwifchen dem Nymmeger- und dem Nyswifer Frieden wäre die Möglid-
keit einer großartigen Entfaltung wahrhaft hriftlicher Grundfäge vorhanden ge-
wefen, Ludwig, nachdem er den Papft (ſ. Innorenz XI. und Öallicanismus)
verfolgt, um ſich zum factifhen Haupte der Fatholifhen Kirche in Franfreih em⸗
porzufhwingen, fühlte fih aber jegt berufen, den unumftöglihen Beweis feiner
Katholicität dadurch zu Liefern, daß er, während er den Hauptgrundſatz ber
Glaubensfpaltung, den Sieg der Laien gegen die Geiftlihen auf dem Fatholifchen
Gebiete geltend machte, den Proteftanten (Hugenotten) die bisher von ihnen ge-
noffenen Rechte mehr und mehr zu entziehen fuchte. Sei es au, daß er darin
yon dem Volkswunſche getragen und die nachherige Nevpration des 1598 verlie-
4
634 Ludwig XIV., König von Franfreid,
henen Edictes von Nantes durch den Umftand erleichtert wurde, daß die Parla-
mente dafjelbe nur unter der Claufel einregiftrirt hatten, die Nachfolger Hein-
richs IV. hätten die Freiheit es zurücdzunehmen, wenn fie es dem Bortheile der
Religion und des Staates für angemeffen erachteten: nachdem der Gallicanismus
eine Fülle von Gewalten auf ihn übergetragen, welde die Bifchöfe ihm dienftbar
machte; nachdem bei Hofe, in der Adminiftration, im Heere wie in der Kirche,
in der Sache des guten Geſchmacks, wie der Sitte und ehelichen Treue fein Wille,
ja fein Winf allein geboten, war für die Hugenotten um fo weniger Heil zu finden,
als fie mit den Niederlanden in einer Verbindung flanden, welde dem Staats-
oberhaupte gefährlih dünfen mußte, Spanien hatte Tängft nicht ohne Applaus
Franfreihs feine Morisco's aus ähnlichen Gründen vertrieben; der furchtbare
Strafeoder. Englands gegen die irifchen Katholifen war im Werben begriffen und
das Haupt eines Fatholifchen Priefters dafelbft noch Tange dem Kopfe eines Wolfes
gleichgefegt. Ludwig XIV. verfuchte zuerft die Mittel der Ueberredung, der Beloh-
nung für die Hebertretenden, dann der fucceffiven Rechtsentziehung für die bei
dem calviniftifhen Glauben Beharrenden, ALS diefe Mittel nicht ausreichten,
ließ er die Miffionäre mit Dragonern begleiten (Dragonaden) und die Wiber-
firebenden dur Soldaten heimfuchen, bis fie der Gewalt wichen und an 195,000
den Nebertritt als Mittel der Rettung der Habe, der Ehre und des Lebens er-
griffen. Unterdeſſen hatte aber feine Gewaltthätigfeit nach jeder Seite furchtbar
zugenommen. Mitten im Frieden entriß er Straßburg den Teutfhen, die Os—
manen reizte er zum Zuge gegen Wien auf und bombardirte Luremburg, als bie
Osmanen Wien nicht erobern konnten. Wie den Hugenotten in Betreff ihrer
Rechte und Privilegien geſchah, gefchah zu gleicher Zeit der teutſchen Reihsritter-
fchaft und den teutfchen Neichsftänden durch die Neunionsfammern im Elſaß.
Ueberall daffelbe Verfahren grenzenlofer Willfür, ſchrankenloſen, Gott und die
Welt verhöhnenden Uebermuthes. Endlich wurde am 22, Detober 1685 das
Ediet zu Nantes aufgehoben, alle Privilegien der Calviniften unterbrüct, ihnen
die Erlaubniß entzogen, ihre Religion auszuüben, ihnen auferlegt, ihre Kinder
Fatholifch zu erziehen, kurz im Ganzen daffelbe vorgenommen, was mehr als ein
Sahrhundert das Fatholifche England, Irland ꝛc. von den Proteftanten zu leiden
hatte, Nur harrten die Infelbewohner unter dem furdtbaren Drude größtentheils
aus; die Hugenotten wanderten zu 100,000— 230,000 Menfchen aus und trugen
in den nachfolgenden Kriegen die Waffen gegen ihr Vaterland und deſſen Ge—
bieter. Diefe Politik, zu der fih, um das Unmaß der Schandthaten voll zu machen,
auch noch die Verbrennung von 1400 pfälzifchen Ortfchaften 1688 gefellte, brachte
endlich, was der religiöfe Zwift fonft nie geftattet hätte, hervor eine allgemeine
Conföderation gegen den allgemeinen Friedensftörer, Als Wilhelm von Dranien
den letzten Fatholifchen König Englands, den Stuart Jacob IL (ſ. d. U.) flürzte,
hatte er den teutfchen Kaiſer Leopold (f. d. A.) auf feiner Seite, und der Papft ließ
ihm (dem Ludwig) in feinem Miffionseifer bemerken, ſolche Mittel habe Ehriftus
der Herr nicht angewendet, die Welt zu befehren. Fünfunddreißig franzöſiſchen Bi⸗
fchöfen verweigerte Innocenz XI. die Beftätigung und Einfegung. Der König ließ
feine Gefandten mit Friegerifchem Gefolge in Nom einziehen, den Nuntius gefangen
fegen , wie der Großſultan die Gefandten der mit ihm zerfallenen Mächte, Doch
Innocenz XI. erklärte, lieber als Martyrer fterben zu wollen, als in die Forderungen
Ludwigs einzugehen (f. Chriftenverfolgungen), Auf diefem Gebiete erlitt denn
auch der ftolze König die erfte Niederlage, Die franzöfifhen Prälaten, welche ſich
von der milden Herrfchaft des Papftes Iosgefagt, um der Herrfchaft des Könige zu
verfallen, baten am 14, September 1653 dem Papfte ab und erflärten Alles,
was von ihnen 1582 über die geiftliche Gewalt des Papftes ausgeſprochen und
befhloffen worden, für nicht geſchehen; der König, welcher alle Lehrer der Theo-
logie, alle geiftlihen Würbenträger 0, auf fein neues Staatskirchenrecht hatte
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Ludwig be Leon. | 635
fhwören laſſen, nahm feine auf die vier Artifel der gallicanifhen Kirche gegrün-
deten Befehle zurück, und feßte dann wie zur Sühnung im Ryswiker Frieden die
Elaufel dur, daß in allen zurücfgegebenen Drten des teutfchen Reiches die (fran=
zöfifher Seits) eingeführte katholiſche Religion in ihrem dermaligen Zuftande
verbleiben folle. Als furze Zeit darauf der fpanifche Erbfolgefrieg ausbrach, er—
folgte auch die weitere Züchtigung des Uebermüthigen. Das Schlahtenglüd ver-
ließ ihn im Augenblide, als nach feinem berühmten Worte es Feine Pyrenäen
mehr geben follte, die Vereinigung Franfreihs und Spaniens angebahnt war,
Das Unglüf brach in feine Familie ein, die äußerſte Erfhöpfung im Staate,
Ale Hilfsquellen waren aufgezehrt, als es nochmal einer großartigen Anftren-
gung gelang, den Utrecht-Raftatter Frieden abzufhließen, Er verfchaffte dem Kö—
nige die Möglichkeit, im Frieden zu flerben, 1. September 1715, die Laft feines
erichöpften Reiches feinem fünfjährigen Urenfel Ludwig XV. Hinterlaffend, feinen
Nachkommen aber das traurige Verhängniß, daß fieben Generationen hin-
durch nicht mehr der Erfigeborne dem Vater folgte, endlich über fein ganzes Ge—
fchlecht, das überall dieſelben Grundfäge befolgte, ein ſchreckliches Gericht er-
ging. [Höfler.]
Ludwig de Leon, aus dem Orden der Eremiten des HI, Auguftin,
ein Stern erfter Größe am fpanifhen Dichterhimmel, wurde zu Gra—
nada aus einer der vornehmften fpanifhen Familien 1527 geboren und traf, der
ihm eingeborenen himmlischen Richtung folgend, ſchon als Jüngling von 16 Jahren
in das Auguftinerffofter zu Salamanca. Mit den theologiſchen Studien feste er
im Kloſter auch die claſſiſchen Studien fort und oblag der heiligen Poefie, Mit Ruhm
flund er dem Amte eines Profeffors der HI. Schriften zu Salamanca vor. Ju feiner
Schrift „de legitimo tempore utriusque agni typiei ac veri immolationis® (Salamanca
1587) wird diefe Frage mit großer Genauigkeit behandelt ; eine andere von ihm ver-
faßtetheologifche Schrift handelt in drei Büchern von den Namen Jefu Chrifti. Außer-
dem überfegte und commentirte er das hohe Lied, gerieth aber dadurch leider, obwohl
er nichts weniger als häretifch gefinnt war, bei der Inquifition in den Verdacht
der Härefie und wurde som diefem Gerichte in das Gefängniß geſetzt, wo er fünf
Jahre abgefondert von aller menſchlichen Gefellfchaft und des Tageslichtes beraubt
ſchmachtete, aber dennoch dabei im Gefühle feiner Unſchuld einer Seelenruhe und
Heiterkeit fich erfreute, wie er fie nachher nicht wieder empfand, Endlich warb
er freigefprochen, feinem Drden zurüdgegeben und in feine Aemter und Würden
wieder eingefegt. Er flarb am 13. Auguft 1591 zu Salamanca ald General-
und Provincialvicar feines Drdens.- Ein Zeitgenoffe des fpanifchen Geiftlihen
und berühmten Dvendichters Fernando de Herrera (+ 1578), hat Ludwig de
Leon durch feine poetifhen Erzeugniffe, welche größtentheils feinen jüngern Jahren
angehören, fi das Lob des correcteften fpanifchen Dichters verdient, wie fein
neuerer Dichter ein richtiges Gefühl für den wahren Geift der Nahahmung der
Alten in der neuern Poefie und eim ſolches Dichtergenie gezeigt, daß es, wie
Bouterwed bemerkt, fehwer zu entfcheiden ift, ob Horaz oder Ludwig de Leon als
Dichter im ganzen Sinne des Wortes höher ſtehe. Gewiß ſtehen Ludwigs Oden,
wenn auch die Oden des Horaz Funftreicher und durch die feinften Verhältniffe
der Gedanfen und Bilder anziehender find, durch hohen religiöfen Ernft und
Schwung und dur die unmittelbare Poeſie der reinften Erhebung des Geiftes
in die moralifch-religiöfe Ideenwelt weit höher als die Dven des epicuräifchen
Romers. Seine fämmtlichen poetifhen Werfe Hat Ludwig felbft in drei Bücher
abgetheilt. Das erfte Buch enthält feine eigenen Gedichte, die faft alle in die
Elafje der Dden gehören und mit folcher Zartheit und fanfter Liebesgluth ge—
ſchrieben find, daß fie den Lefer über das irdifche Dafein mächtig zu einer befjern
Belt erheben und in derfelben ganz einheimifh machen. Befonders berühmt find
die zwei Oden: „Die heitere Nacht” und „das Leben im Himmel,“ Das zweite
6236 Ludwig de Ponte — Lugduno.
Buch enthält metrifhe Ueberfegungen verſchiedener Gedichte alter Claffifer, und
das dritte metrifhe Neberfegungen von Pfalmen und Stellen aus Job, Zu er-
wähnen ift noch eine andere Schrift Ludwigs in Profa „la perfecta casada“, over
„das Weib wie es fein fol”, oder „die vollfommene Ehefrau“, ein treffliches
Buch, in teutfcher Ueberfegung herausgegeben von dem Verein zur Berbreitung
guter katholiſcher Bücher in ber Mecitariften- Congregationg - Buchhandlung zu
Wien 1847. — ©. Bouterweck's Gef, der Poefie und Nhetorif, Göttingen
1804, Bd. III. ©. 239—2535 Dupin, Bibl. Ecel. XVI, 157. [Schrödt.]
Ludwig de Ponte, (Luis de la Puente, Ludovicus de Ponte). Bei der
hohen Bedeutung der Ascetif für die Fathol. Theologie und das hriftliche Leben
dürfen wir diefen berühmten Asceten nicht übergehen. Er ift zwar Fein Elaffifer
der fpanifchen Literatur (wie Ludwig v. Granada f, d. A.) nimmt aber als
©eifteslehrer eine der erften Stellen ein und gehört zu den beliebteften ascetifchen
Sähriftftellern. Er wurde unter der Negierung des Kaifers Earl V. 1554 in
Baladolid geboren als Sprößling eines eben fo edlen als tugendhaften Gefchlechtes.,
Der frühe ungewöhnliche Ernft des Knaben war ein Vorzeichen der hohen chrift-
lichen Vollkommenheit, wodurch er fich einft auszeichnen follte, Im 20. Jahre
feines Alters trat er in die Gefellfchaft Jeſu ein, welcher er hernach durch die
Heiligkeit feines Lebens fowohl als durch feine Schriften zu fo großer Ehre ge-
reichte. Nach Vollendung der Studien, worin er unter andern den berühmten
Franz Suarez zum Lehrer hatte, wurde er feiner eminenten Gaben wegen bald
als Lehrer der Philofophie an der ausgezeichneten Univerfität von Salamanca
angeftellt. Später mußte er das wichtige Amt eines Novizenmeifters übernehmen,
wobei er vorzüglich feine Tüchtigfeit in Anleitung zur Vollkommenheit bewies,
Während der Verwaltung mehrerer anderer Stellen zeichnete er fich befonders
als Seelenführer aus, Unter anderm war er 30 Jahre Tang Beichtvater der
wunderbar begnadigten Marina von Escobar. Im letzten Drittel feines Lebens
endlich, da er Fürperlicher Gebrechen wegen zu andern Anftrengungen unfähig
war, begann er feine fegensreiche fchriftftellerifche Laufbahn, auf der er fo unermüdet
fortfchritt, daß die fpanifche Ausgabe feiner Werfe vom Jahr 1690 fünf Bände
in Folio beträgt. Durch teutfche Ueberfegungen befannt find davon: Der geift-
liche Führer, herausgegeben von JZoham in 4 Theilen, Sulzbach, Seidel,
Zweitens: Betrahtungen über die vorzüglichſten Geheimniffe des
Olaubens Neu überfegt von Fr. Dirnberger, Regensburg. Drittens:
90 Betrachtungen über das Leiden und Sterben Jeſu Chrifti nach den Betradh-
tungen des Ludwig del Ponte, Bon Etz in ger. Sulzbach. Dritte Auflage 1847.
Die Tatein. Heberfegung feiner Betrachtungen ift in den Händen vieler Priefter
und Ordensleute. Ludwig de Ponte ftarb 70 Jahre alt im Geruche der Heilig-
feit im Jahr 1624, Wer fein erbauliches Leben weitläufiger kennen lernen will,
findet e8 im Werke: „Leben des ehrw. Ludw, del Ponte, nach dem Lateini-
fchen (von Lamparte) frei bearbeitet von Magnus Jocham.“ 2 Theile, Sulz⸗
bach, Seidel, Die Betrachtungen Ludwigs de Ponte find in der einfachſten Far-
ften Sprache gefchrieben,, erörtern die Glaubens- und Sittenlehren und die
evangelifchen Pericopen mit alffeitiger Ausführlichfeit, athmen trog ihrer ruhigen
Haltung eine Kiebliche Wärme der Andacht, und ehren auf eine ungemein prac-
tifhe Weife die Ausübung der Tugenden. Sie bieten eine reiche Fundgrube für
Prediger die denfen und Gelefenes felbft verarbeiten, nicht bloß auswendig
Gelerntes wiedergeben wollen, In feinem Werfe über die Volllommenheit des
Ehriften in jedem Stande behandelt er die Pflichten der verfchiedenen Stände und
die Mittel zur Erlangung der Vollkommenheit in jeglichem derfelben mit ber
tiefften Menfchenkenntniß und erfhöpfender Bollftändigfeit. Darum find feine
Schriften wohl würdig, gründlich ſtudirt und fleißig benügt zu werben, [Zingerle,]
Lugduno, pauperes de, fs Waldenſer.
—
Lugo — Luitprand, 637
Zugo, Johann, gelehrter Jefuit und Carbinal, geboren 1583 zu
Madrid, Ins fhon als Knabe von 3 Jahren Bücher und verteidigte in einem
Alter von 14 Zahren in öffentlicher Disputation Thefen aus der Logik, trat 1603
in den Orden, lehrte nach abfolsirten Studien Ppilofophie und Theologie an ver-
ſchiedenen fpanifhen Collegien, und wurde fobann nach Rom berufen, wo er 20
Sabre als Profeſſor der Theologie im Römifhen Collegium großen Ruhm erntete,
Payfl Urban VIIL ernannte ihn 1643 ganz unvermuthet zum Cardinal und be-
diente fich feiner bei verfchiedenen Gelegenheiten. Die neue Hohe Würde änderte
in der Demuth und Befcheivenheit des damit Befleiveten fo wenig, daß er in feinem
Palafte feine koſtbaren und glänzenden Möbel duldete, dagegen war er deſto freige-
biger gegen die Armen. Sein ausgezeichneter Schüler, der berühmte Pallavieini,
welcher ſich ſtets rühmte, den Lugo zum Lehrer gehabt zu haben und diefem auf
dem theologifchen Lehrſtuhl nachfolgte, reichte ihm die Sterbfacramente, Lugo
farb 1660 in einem Alter von 77 Jahren, Man hat von ihm eine große Anzahl
von Schriften, welche in 7 großen Foliobänden gefammelt worden find und zur
Gattung der verbefferten und gereinigten fcholaftifchen und Moral-Theologie ge=
hören. Der Hl. Alphons Liguori fhägte Lugos Schriften fo hoch, daß er ihn
den Fürften unter den Theologen nach dem HI. Thomas nennt. Diejenigen, be-
merft Feller (Dict. hist.), welche dem Cardinal nachgeſagt, er habe in feinen
Schriften zuerft das fogenannte „peccatum philosophicum* vorgetragen, haben in
diefer Beſchuldigung vielmehr den Geift der Parteilichfeit als den Irrthum des
Cardinals bewiefen, der nie eine folche Lehre behauptet Hat. Zu unterſcheiden
von dem Cardinal ift deſſen älterer Bruder Franz Lugo, gleichfalls Jeſuit und
Schriftſteller, + 1652. Bgl. Alegamb. Bibl. Script. S. J. [Schrodl.]
Luitprand, König der Longobarden, ſ. Longobarden.
Luitprand (Liutprand), Biſchof von Cremona und berühmter
Geſchichtſchreiber des zehnten Jahrhunderts, geboren zu Pavia, ſtammte
von anſehnlichen Eltern her, da ſowohl ſein Vater als auch Stiefvater als Ge—
ſandte der Könige Hugo und Berengar fungirten, und wurde nach dem Tode
feines rechtſchaffenen und eloquenten Vaters (+ 927) von feinem Stiefvater in
den lateinischen und griechiichen Elaffifern unterrichtet, von deren Kenntniß feine
Schriften zeugen; fpäter fludirte er auch die HI. Schrift und die Väter, Im Jahr
931 fam der talentoolfe junge Luitprand wegen der Anmuth feiner Stimme an
den Hof des Königs Hugo und warb naher Cleriker und Diacon zu Pavia.
Nah Hugos Vertreibung 945 Ffaufte ihm fein Stiefvater eine Stelle am Hofe
Derengars von Foren. Bei diefem begleitete Luitprand die Stelle eines Se—
eretärs und ging zwifchen 945—950 in deifen Auftrag als Gefandter nach Con—⸗
ſtantinopel. Auf diefer Reife lernte er die Sitten und Einrichtungen der Griechen
fennen und verfchaffte fih eine nicht unbedeutende Kenntniß der griechiichen
Sprache und Authoren, die er in feinen Schriften durch Einflechtung griechifcher
Worte und Sentenzen und durch feinen oft blumen- und wortreichen Styl felbft-
gefällig zur Schau trägt. Nah Italien zurüdgefehrt, fiel er in Berengars Un-
gnade und floh zu Kaifer Dito I. nach Teutfchland, der ihn gerne aufnahm und
bei dem er zu großer Geltung gelangte. Damals Iernte er die teutfche Sprade,
An Otto's Hofe fam er 956 in vertraute Berührung mit Recemund, Bifchof von
Elvira und Gefandten Abderrhamans, und ließ fih von diefem bereden, die Ge-
ſchichte feiner Zeit zu beſchreiben und machte damit zu Frankfurt 958 den An»
fang. Zum Lohne für geleiftete treue Dienfte gab ihm Dito 963 das Bistkum
Cremona. Im Sommer 964 mit dem Bifchof Landohard von Minden an Papft
Johann XI. nach Rom abgefandt, nahm er an der gegen diefen Papft gehaltenen
Synode Theil und betheiligte fich im faiferlihen Auftrage bei der Wahl Leos VIIL,
der Abjegung Benedicts V., und nach Leo’s VII. Tod 965 abermals nah Rom
gefandt, an der Wahl Johanns XI. Nachdem er 967 der Synode zu Ravenna
6383 Lullus.
und Nom und dann der Krönung Otto's I. beigewohnt, ging er 968 als kaiſer⸗
licher Gefandter nach Conftantinopel, um für Otto I. um die Hand der griechi—
fchen Princeffin zu werben. Später foll er noch einmal oder gar zweimal als Legat
nach Conftantinopel gefchicft worden fein, Sein.Zod ift wahrfcheinlich auf das Jahr
972 zu fegen, Luitprands auf ung gefommene Schriften beftehen aus drei Werfen:
1) Der historia imperatorum et regum, von ihm felbft „Antapodosis“
genannt, weil er darin feine Freunde loben und an feinen Feinden ſich rächen zu
wollen befennt; diefe Gefchichte umfaßt in ſechs Büchern, von denen das lebte
nicht vollendet if, den Zeitraum von 893 — 950; 2) dem Bude „derebus
gestis Ottonis Magni imperatoris“, welches bei Muratori u, U. dem 6,
Buche der Antapodosis angefügt, bei Perg aber richtiger davon abgetrennt iſt;
3) dem Berichte über die conftantinopolitanifhe Geſandtſchaft vom
Sahr 968. Alle andern auf Luitprands Namen gefchriebenen Werfe find unächt;
vgl. den Art, Dexter, Luitprand, an Geift, Talenten und Kenntniffen einer der
erften Dänner feiner Zeit, fheint in Bezug auf feinen Charakter nicht auf gleicher
Höhe geftanden zu fein, vielmehr verräth eine gewiffe Behaglichkeit und Luftig-
feit, womit er in feiner Antapodosis die größten Schandthaten erzählt, Fein edles
und reines Gemüth, fowie auch feine auffallende Jagd nach Anecdoten (je ſchmutziger
defto Lieber!), feine Liebhaberei für Abenteuerliches und Romantifches, fein oft far-
eaftifcher und ironifcher Styl nicht geftatten, ihm durchgängig jene hiftorifhe Olaub-
würdigfeit zuzugeftehen, welche ihm Martini (Abhandl. der Münchner Acad, der
Wiffenfch. Jahrg. 1808 und 1809) gegenüber dem berühmten Muratori (Annal.
d'Italia V.) und fogar Perg zulegen, um die ſchönen Geſchichtchen von der
Marozia und Theodora nicht aufgeben zu dürfen, Uebrigens find bei Perg
Script. III. (V.) und bei Muratori Script. U. die Werfe Luitprands am beften
edirt. ESchröðdl.]
Lullus Raymundus (auch Lullius) iſt einer jener koloſſalen Menſchen,
wie fie das Mittelalter, vorzugsweiſe das 13, Jahrhundert, fo zahlreich hervor—
gebracht Hat. Um's Jahr 1235 zu Palma auf der balearifshen Infel Mallorca
(Majorca) geboren und einer vornehmen Familie angehörend, trieb er fich bis zu
feinem dreißigften Jahre als nichtsnugiger Cavalier am Hofe des Königs (Jacob
von Aragonien) herum, allen Thorheiten, Verfehrtheiten und Laftern fröbnend,
wie fie an den fürftlichen Höfen geliebt und gepflegt werden, Um's Jabr 1265
flößte ihm der Anblick einer gräßlich zerſtörlen Schönheit, die ihm bisher am
meiften gefeffelt Hatte, plöglich einen entfchiedenen Efel wider die Welt und alle
weltlichen Genüffe und Freuden ein; er floh vom Hofe weg in die Einfamfeit
und fuchte durch ernfte Betrachtungen fich felbft und Gott zu finden, Eine Er»
fcheinung des Gekreuzigten, weldhe ihm zu Theil wird, bringt in ihm fehr bald
den Entfhluß zur Reife, von nun an Chrifto allein zu dienen und zur Ver—
hreitung des Evangeliums nach Kräften beizutragen, Dazu aber bedarf er
Kenntniffe, die er nicht befigt, einer Wiffenfchaft, die ihm gänzlich unbekannt iſt.
Alſo entfchließt er fih zum Studium der Wiffenfehaft, von der Grammatif an,
Da er e8 bei der Fünftig zu unternehmenden Miffionsthätigkeit vorzugsweife auf
die Araber in Africa abgefehen hat, fo bildet die arabifche Sprache einen Haupt-
gegenftand feiner Studien, Zu dem Behufe Hält er fich, während er in Paris
Theologie ftudirt, einen arabifchen Bedienten. Nach ungefähr 10 Jahren hat er
feine Studien vollendet und begibt fih im Jahr 1275 auf's Neue in die Ein-
famfeit, um über die nunmehr zu beginnenden Unternehmungen zu meditiren,
Schon vorher hat er fein ganzes, fehr bedentendes Vermögen an die Armen wegge-
geben, um von der Verfuchung freizu fein, zur Welt zurüdzufehren. Sinnend, wie es
ihm gelingen möge, die Ungläubigen von der Wahrheit des Chriftenthums zu
überzeugen und zur Annahme deſſeiben zu beftimmen, verfällt er bier auf feine
weltberühmte Kunft, ars universalis seienliarum. Er geht von ber Ueberzeugung
Lullus, 639
aus, die Ungläubigen feien nicht zum Glauben anzuhalten, fondern durch Vernunft-
gründe zu überzeugen; man könne ihnen nicht zumuthen, ihren Glauben nur mit
einem andern Ölauben zu vertaufhen; Haben fie dagegen Etwas ald wahr und
nothwendig erfannt, dann fei es ihnen unmöglich, die Annahme zu verweigern
(Durum enim et periculosum infidelibus credulitatem suam pro altera credulitate
seu fide dimittere; sed falsum et impossibile pro vero et necessario non deserere
quis eorum poterit sustinere? De artic. fid. Edit. Argent. p. 965). #reilich ent-
ftehen hiebei fogleich die zwei Fragen, 1) ob durch ſolches Verfahren nicht der
Glaube und das Verdienftlihe deffelben beeinträchtigt, und 2) ob es nicht un—
möglich fei, die Wahrheit des Fatholifchen Glaubens zu beweifen. Raymund ver-
neint beide Fragen. In Betreff der erften macht er geltend, der Glaube erhalte
ſich bei alfer wiffenfchaftlichen Erfenntniß des Chriſtenthums ganz unverfehrt einer
Seits als Grundlage, anderer Seits als Spige; Jenes bleibe der Glaube als
biftorifcher, Diefes als ein das logiſche Denfen weit überfteigender reltgidfer Act,
Sp wenig dag Del durch Zufließen von Waffer nach unten fomme, fo wenig
verliere durch die Wiffenfchaft der Glaube die Priorität (I. c. passim, bef, am
Schluß). Die zweite Frage anlangend bemerft Raymund vorläufig, die Be—
bauptung, daß die Wahrheit des Fatholifchen Glaubens niht bewiefen werben
fönne (fides sancta catholica est magis improbabilis quam probabilis), eine Be-
bauptung, welche Teider von den meiften Theologen vernommen werde, verurſache
uns den Ungläubigen gegenüber große Schmach (unde sequitur infamia magna
apud infideles); ja auch Chriften koͤnnen dadurch verleitet werden, verächtlich vom
Glauben zu denfen, sinistre suspicari. Hierauf fucht er pofitiv zu beweifen, daß
begrifflihe Erfenntni und folglich Demonftration unferer Glaubenswahrheit im
der That möglich fei., Daß nämlich Gott fei, und daß er die und die Eigen-
ſchaften, perfectiones, habe, fann man ftricte beweifen; ift aber dieß bewiefen, fo
folgt alles Andere, was den Inhalt unferes Glaubens bildet, von felbft, und mit-
bin ift alsdann der verlangte Beweis geliefert. Wenn die Theologen fagen
Lullus hat Hier nicht undeutlich vorzugsweife den Thomas im Auge), die gegen
den hriftlichen Glauben erhobenen Einwürfe laſſen fi) per rationes necessarias
widerlegen, fo behaupten im Grunde auch fie die probabilitas des chriſtlichen
Glaubens als ſolchen, denn diefelbe ift mit jenem von felbft gegeben. Sagen
fie deßungeachtet das Gegentheil, nun fo widerfprechen fie fich felbft und ihre
ratio ift inanis (I. c. pag. 917 und 918). Iſt nun aber das Angegebene richtig, fo
handelt es fich weiter um eine rechte Methode, um folhe Demonftration, welche
allen Menſchen einleuchtend und zugänglich fei, Das kann von der gewöhnlichen
Schulwiffenfchaft nicht gelten — was allerdings einleuchtend iſt. Folglich muß
eine neue Methode erfunden werden, Das ift nun die bereits erwähnte große
Kunft des Lullus. Diefelbe befteht Furz in Folgendem, Es ift an allem Wirf-
lichen Viererlei zu unterfheiden, nämlich 1) Subftanz (Subject); 2) Aceidenz,
und zwar a) phyfifche, b) moralifche, und diefe wiederum ift «) Tugend, 9) Laſter;
3) Prädicat, und zwar a) abfolutes, b) relatives; 4) Fragen. Demnach ift es
alfo genauer Siebenerlei was überall in Betracht Fommt, Die Gegenftände aber,
an welchen diefe Sieben fih finden, find neun d. h. es gibt 9 Subjecte, 9 Acci-
denzen, I Prädicate und 9 Fragen, in folgender Weife: 1) Subjeete: Ott,
Engel, Himmel, Menfh, Bild, Animalifches, Vegetatives, Elementariſches, In—
ſtrumentales; 2) Phyfifche Accidenzen: Duantiät, Dualität, Relation, Acti-
sität, Paffivität, Zuftand, Lage, Zeit, Ort; 3) Tugenden (als erfte Claffe der
moralischen Aecivenzen): Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit, Mäßigkeit, Glaube,
Hoffnung, Liebe, Geduld, Frömmigkeit; A) Lafter (als zweite Elaffe der mora-
liſchen Accivenzen): Geiz, Fraß und Völlerei, Schwelgerei, Hochmuth, Trägpeit,
Neid, Zorn, Lüge, Unbeftändigfeitz 5) Abfolute Prädicate CI. Elaffe der
Prädieate): Güte, Groͤße, Ewigkeit (Dauer), Macht, Weisheit, Wille, Tugend,
640 Lullus,
Wahrheit, Herrlichkeit (gloria); 6) Nelative Prädicate CU. Claffe der Prä-
dicate): Unterfchiedenheit, Einftimmigfeit, Gegenſätzlichkeit, Urſächlichkeit, Mittel,
Zwed, Mehrheit Cmajoritas), Gleihheit, Minderheit; 7) Fragen: Ob, Was,
- Worüber, Warum, Wie groß (wie viel), Wie befhaffen, Wann, Wo, Wie oder
Womit. — Was immer fein und gedacht werben möge im Himmel und auf Er-
den, es fällt unter eine der genannten Kategorien. Lullus bezeichnet diefelben
mit den Buchftaben B, C, D, E, F,G, H, I, K, und hat alfo 7B, 7C, 7 Du, f.w,,
was er das Alphabet feiner Kunft nennt; und um was es fih nun allein handelt,
ift Combination, ift das Zuftandbringen von Sägen. Das aber ift äußerft Leicht,
ift einfacher Mechanismus, der fich freilich in's Unendlihe compliciren fann und
muß, aber doch immer ſehr Teicht vollziehbar iſt. Wir wollen die Sache kurz an—
fhaulih mahen. Es fei gegeben:
A. B. C. D.
1) Subject: Gott. Engel. Himmel.
2) Aceidenz: Größe. Beſchaffenheit. Relation.
ſo hätten wir hiemit unmittelbar etwa folgende Sätze: Gott iſt unendlich; die Engel
find reine Geiſter; der Himmel (sc. der Complex von Geſtirnen) übt entfcheiden-
den Einfluß auf das irdifche Leben. Nun denfe man fich die erfte der angeführten
Linien als unbeweglich , die zweite aber ald beweglich (Lullus macht zu diefem
Behufe Kreife oder vielmehr Drebfheiben, die ſich innerhalb einer. feſtſtehenden
Peripherie bewegen), und fofort diefe von Rechts nach Links bewegt, fo daß Be-
fhaffenheit unter Gott, Relation unter Engel zu ftehen fomme: fo hat
man etwa folgende Sätze: Gott ift gütig, iſt die Weisheit u, dgl.z die Engel
intercebiren für die Menfhen ꝛc. Nun fee man, um fogleich das Ganze zu haben,
alle fieben Linien in der angedeuteten Weife unter einander und denfe ſich ſechs
derjelben als concentrifh bewegte Kreife, fo daß jede Kategorie unter alle an-
dern, ſowohl allein als mit jeder beliebig andern, zu ftehen fommen kann; fo
fiebt man, daß die Combination geradezu unendlich mannigfach, und daß es doc
dabei äußerfi Leicht fer, alle nur erdenklichen Fragen augenblicklich zu beantworten;
und hierin num befteht die Lullifhe Kunft, Aber auch das: wird Jedermann
einfehen, daß ein wirkliches Wiffen mit diefem Mechanismus nicht gegeben fei.
Es müffen die 63 Kategorien ausgefüllt, d. h. es muß erfannt fein, was im Ein-
zelnen ald Güte, Weisheit, Trägheit, Element u, f, w. zu bezeichnen fei; man
muß im Stande fein, die Begriffe Relation, Differenz, Concordanz u. f. w. im
Einzelnen anzuwenden; man muß, mit einem Worte, von jedem Dinge vorher
wiffen, was es fei, und welche Prädicate ihm alfo zukommen, ehe man ben
Mechanismus anwenden fann. Alfo ift mit diefem, wenn man Gewandtheit im
Sprechen und Disputiren abrechnet, die er allerdings verleiht, im Grunde Nichts
gewonnen, Das zeigt fih auch an den Schriften des Lullus felbft am beften.
Er gibt vor, feine Abhandlungen, fo z.B. die allerdings nicht ungediegene de
artioulis fidei (vgl, 1. c. p. 966) auf feine Kunft gegründet und vermittelſt der-
felben durchgeführt zu haben, In Wahrheit aber begegnen wir in denfelben voll»
kommen den nämlichen Argumentationen, Begründungen, Erflärungen, wie in
den Schriften der übrigen Scholaftifer. Während er ferner auf feine (künftigen)
Disputationen mit den Arabern verweist, wo man fehen werbe, was feine Kunft
vermöge, zeigt der Erfolg, wie wir bald fehen werden, daß fie gar nichts ver»
mocht habe, Doch er war einmal davon überzeugt, und handelte diefer Ueber—
zeugung gemäß, — Nachdem er fih in dem oben angeführten Jahr 1275 fieben
Monate in der Einfamfeit aufgehalten und die Grundgedanken feiner Kunft Klar
gemacht hatte, begab er ſich in die Heimath zurück und beftimmte ben König
Jacob, in Majorca ein Klofter für 13 Franeiscaner (fratres ordinis minorum)
mit der Beftimmung zu gründen, daß dafelbft die arabifche Sprache gelehrt und
fo Miffionäre für die Mohammebaner gebildet werden. Die Einrichtung und
*
Lullus. 641
Leitung dieſes Inſtitutes mag ihn einige Zeit in Anſpruch genommen Haben,
Dann aber begegnen wir ihm in Montpellier, Paris und Genua, befchäftigt, feine
Kunft zu lehren, Im J. 1287 begibt er ih nah Rom zu Papſt Honorius IV.,
um fein Znflitut in Majorca zu empfehlen, die Errichtung ähnlicher an andern
Orten anzurathen und fih Erlaubniß zu Hffentlihem Bortrag feiner Kunſt zu
erwirfen. Da er in Rom feinen Anklang findet und namentlich feiner Kunſt die
erbetene Anerfennung verfagt wird, fo geht er nah Africa, um die Araber zu
befehren, Eine Disputation in Tunis bringt ihm Lebensgefahr. Mit Mühe er-
langt er Freilaffung, und nur unter der Bedingung, daß er nicht wieder komme.
Nun begibt er fih nah Neapel und lehrt dafelbft feine Kunft bis zum Jahr 1290,
Bon jest an aber treibt er fih an alfen Hauptorten Europa’S herum, in Rom,
Piſa, Genua, Paris, zeitenweife auch in feiner Heimath. Selbft nach Paläſtina
ift er gefommen. Während diefer Zeit gibt er zahlreiche Schriften heraus, alle
im Intereſſe feiner Kunſt, Abhandlungen, worin er die Anwendung letzterer in
allen Wiffenfhaften, Phyfif, Mathematif, Aftronomie, Medicin, Zurisprudenz ꝛc.
darzuthun verfucht, Halt viele Disputationen, befonders mit Juden und Sara-
cenen. In Eypern will er Jacobiten und Neftorianer befehren und geräth dabei
in Gefahr, vergiftet zu werden. Weil feine Kunft überall verachtet wird und
wenige Schüler findet, fo geht er zum zweiten Mal, zu Anfang des 14ten Jahr
hunderts, nah Africa, um es noch einmal mit der Praris zu verfuhen. Au
diegmal belehren ihn die Araber, daß feine Wiffensgründe fo gar ftarfe Auctorität
denn doch nicht befigen, als er ſich gefchmeichelt, daß fie ihre credulitas nicht bloß
gegen eine andere credulitas, fondern auch gegen rationes nicht hinzugeben gefon-
nen feien. Sie werfen in in’s Gefängniß (zu Mugid). Durch genuefifche Kauf-
leute wird er gerettet, Nach Europa zurücgefehrt, predigt er einen Kreuzzug.
Dabei findet er zwar, namentlich in Italien, vielen Anflang und bringt große
Summen Geldes zufammen; daß er aber in der Hauptſache doch nichts ausgerich-
tet, verſteht fi faft von felbft, Clemens V. in Avignon begegnet ihm mit Ge-
ringfhägung. Nicht beffer ergeht es ihm, da er fih im J. 1311 an das zu
Bienne verfammelte Eoneil wendet und außer dem Kreuzzug auch noch die Errich-
tung arabifher Seminarien und Verdammung und Verbot der Schriften des
Averroes, ohnehin Empfehlung feiner eigenen Kunſt in Antrag bringt. Nicht
ermüdend, betreibt er jegt an den Höfen von Spanien, Frankreich und England
die Veranftaltung eines Kreuzzuges. An die Reife nach England fnüpft fih die
Fabel, daß er Gold gemacht, eherne Säulen in goldene verwandelt habe. Daß
er fih mit den Naturwiffenfchaften, vorzugsweife mit der Chemie befchäftigt habe,
unterliegt feinem Zweifel, Eben fo wenig aber auch, daß das Meifte, was über
alchymiſtiſches Treiben von ihm berichtet ift, erdichtet und die meiften oder alle
alchymiſtiſchen Schriften, welche feinen Namen tragen, unterfchoben feien. —
Endlih nahdem er auch an dem Föniglichen Höfen Nichts ausgerichtet, verläßt er
im 5. 1314 die Welt gänzlich, tritt in den dritten Orden der Franciscaner und
geht bald darauf, das Martyrium wünfchend, nach Africa hinüber. Alsbald wird
er in Tunis eingeferfert und arg mißhandelt. Auch dießmal befreien ihn genue-
ſiſche Kaufleute, Er flirbt aber, in Folge der erlittenen Mißhandlungen, ſchon
auf der Nüdreife im J. 1315, achtzig Jahre alt. — Sein Leichnam wurde nach
Majorea gebracht und er dafeldft als Martyrer verehrt. Eine ihm zu Ehren
errichtete und nach ihm benannte Academie, Academia Lulliana, ift von den fpa-
niſchen Königen Alphons I., Ferdinand dem Katholifchen, Carl V., Philipp II., I.
u, ſ. w. reich befchenft und forgfam gepflegt worden, Die Urtheile der Gelehrten
über ihn find ſehr verſchieden; die Einen haben ihn über Alles erhoben, feine
Univerfalbildung bewundert und namentlich von feiner Kunft alles Heil für die
Wiſſenſchaft erwartet; die Andern haben micht verächtlich genug über ihn zu
ſprechen gewußt, ihn einen Abenteurer und Gaukler, und wenn fie milder fein
Kirchenlexilon. 6. Br, 41
642 Lullus.
wollten, einen verwirrten und fanatiſchen Menſchen genannt. Obige Darſtellung
bat, wie man hofft, von ſelbſt das richtige Urtheil über ihn an die Hand gegeben,
Dffenbar ift feine Stellung zur Scholaftif der des Roger Baco (f. d. A.) ähnlich,
and feine Wiffenfchaft hat in Betreff des Umfangs denſelben Charakter, als die
deffelben Baco und des früheren Gerbert (Sylvefter IL) und Albertus Magnus
Cſ. d. A). Daher hat er auch mit denfelben Männern den zweidentigen Ruhm thei-
Ien müffen, die Goldmacherkunſt, eine allgemeine Arznei, ein Lebensverlängerungs-
mittel u. dgl. befeffen, den Stein der Werfen gefunden zu haben u, f. w. Recht
gut fpricht fich hierüber der befannte Vers aus:
Qui Lulli lapidem quaerit, quem quaerere nulli
Profuit, haud Lullus, sed mihi nullus erit.
Auch das feheint nicht begründet zu fein, daß Gregor XI. eine Anzahl Säge aus
feinen Schriften ausgezogen und verdammt habe. Der merkwürdige Mechanis-
mus, in welchem fih alle wiffenfhaftliche Thätigkeit des Lullus concentrirt, ift
ein leicht erflärliches, faft nothwendiges Nefultat aus dem Gang, den die mittel-
alterlihe Wiffenfchaft genommen, und der Geftalt, die fie nah und nad empfan-
gen hatte, Es war eine beftimmte Summe von Begriffen erzeugt, und dieſe
waren in beftimmte feftftehende Worte und Formen gekleidet; und man müßte fich
wundern, wenn fih nicht Einer gefunden hätte, der eine Denkmaſchine aus ihnen
eonftruirte, Es geſchieht ja Daffelbe in einzelnen Wiffenfhaften zu allen Zeiten.
So ift die gewöhnliche Grammatik nichts Anderes als eine philologifhe Mafchine,
ganz deffelben Charakters als die Lullifche; eben fo viele Rechnungsbücher u. |. w.
— Raymund Lullus bat faft unzählige Bücher, d. h. Tractate, größtentheils vor
geringem Umfange, gefchfieben. Die Angabe, daß es 4000 feien, fiheint aller-
dings etwas zu übertreiben; die andere dagegen, daß es 400 feien, unter der
Wirklichkeit zu bleiben. Die meiften find, theils mittelbar, theils unmittelbar,
der Empfehlung feiner Kunft gewidmet, wie die ars brevis, ars magna (fürzere
und ausführlichere Darftellung derfelben Sache), de auditu cabbalistico (Einfei-
ung in alle Wiffenfchaften), logica, philosophiae principia etc. Die zahlreichen
chemiſchen und überhaupt naturwiffenfchaftlihen Schriften des Lullus, wie de se-
cretis naturae s. quinta essentia libellus, secretla secretorum, clavicula et aperto-
rium alchymiae, liber de mercuriis etc. muß man fritifch anfehen, denn viele der-
felben find unterfchoben, Nicht minder zahlreich find auch die theologiſchen Schrif-
ten aus allen Gebieten der Theologie: Psalterium s. liber de 100 nominibus Dei,
tractatus de confessione, viele Schriften de contemplatione et oratione, de con-
scientia, de consolatione eremitica, ars praedicandi (eine major und minor), de
sensibus s. scripturae, liber 52 sermonum contra omnes incredulos, de antichristo,
de articulis fidei, de Deo ignoto et mundo ignoto, de trinitate in unitate seu de
essentia dei, de spiritu s. contra Graecos, liber adv. Judaeos, de modo conver-
tendi infideles; de praedestinatione et libero arbitrio, de natura angelica, liber na-
talis pueri Jesu, de laudibus B. Virg. Mariae, commentaria in primordiale Evan-
gelium Joannis u, ſ. w. Viele find öfter gedruckt worden, theils einzeln, tbeils
mehrere zufammen, So die ars brevis, de auditu cabbalistico, duodecim principia
philosophiae Lullianae, dialectica s. logica, rhetorica, ars magna, artiouli fidei; zu
Straßburg 1617 unter dem Titel: Raymundi Lullii opera ea quae ad adinven-
talam ab ipso artem universalem seientiarum . . . pertinent, Zulegt bat Salzinger
fämmtliche Werke des Lullus in 10 Folianten herausgegeben, Mainz 1721 ff.
Raymund Lullus hat viele Commentatoren gefunden, Die befannteften find Jor«
danus. Brunus, P. Kircher, Agrippa, Valerius de Valeriis, ganz befonders La-
vinheta (Bernardi de Lavinheta opera omnia quibus tradidit artis Raymundi Lullü
compendiosam explicationem et ejusdem applicationem ad Logica, Rhetorioa, Phy-
sica, Mathematica, Mechanica, Medica, Methaphysica, Theologica, Eithica, Juri-
dica, Problematica, Ed. J, H. Alstedio. Cöln 1612) und Alfted (Clavis artis
Lumper — Luna. 643
Lullianae etc. Straßburg 1633). Vgl. auch Leibnig de arte combinatoria-
Biographien von Lullus haben wir mehrere. Die gefchägteften find Bouilly, Vita
Lullii, Par. 1514; Perroquet, la vie de R. L., Vendome 1667; und J. M. de Ver-
non, la vie etc. Paris 1668. Die gewöhnlichen Geſchichten der Philofophie,
Bruder, Tiedemann, Ritter ꝛc. haben wie das ganze Mittelalter, fo auch den
Raymundus Lullus nicht verftanden, deffen Bedeutung nicht erfannt. Unter den
Literärgefchichten verdient die von Cave den Vorzug, Namentlich gibt fie das
vollftändigfte Verzeichniß Lullifcher Schriften. [Mattes,]
Lumper, Gottfried, ein gelehrter Benedictiner des vorigen Jahrhunderts,
wurde am 9, Febr. 1747 zu Füffen im Allgäu, damald dem Fürftbifchofe von
Augsburg, jest zum Königreiche Bayern gehörig, geboren, und trat ſchon in fei-
ner Jugend in das durch Zucht und Wiffenfchaft blühende Benedictinerflofter zum
hl. Georg in Villingen auf dem Schwarzwalde ein (jetzt badifh). Viele Jahre
hindurch war er Präfeet des dortigen Gymnaſiums, das unter feiner Leitung
großes Anfehen genoß und viele tüchtige Männer bildete. Zugleich wurde er auch
zum Prior des Kloſters und zum Profeffor der Kirchengefchichte und Dogmatik
in der theologifchen Hauslehranftalt beftellt und verfah alle diefe Aemter mit
großem Eifer bis zu feinem frühen Tode am 8. März 1801. Er wurde nur 54
Sabre alt. Einen Beleg feines großen Fleißes und umfaffenden Gelehrfamfeit
gibt fein Hauptwerf, die Historia theologico-critica de vita, scriptis atque doctrina
SS. Patrum, aliorumque scriptorum ecclesiasticorum trium primorum seculorum,
eine fehr ausführliche Patrologie und Literärgefchichte der drei erften Jahrhunderte,
die in 13 Octavbänden zwifchen 1783—1799 zu Augsburg bei Rieger erfihien.
Lumper hatte fich befonders auf Zureden des berühmten Freiburger Theologen
Engelbert Klüpfel (f. d. A.) zur Herausgabe diefes Werfes entfchloffen und
darum auch feinem Freunde den vierten Band deffelben gewidmet, Nicht zu ver-
fennen ift übrigens, daß diefe historia critica in manchen Theilen mehr compila-
torifcher Natur als eigentliches Driginalwerf ift, und eine Reihe Differtationen
Anderer, 3. B. von Gallandius, Mosheim ꝛc., bier faft unverändert wieder ab-
gedruckt worden find. — Geringeren Werth haben einige Fleinere Schriftchen
Lumpers, nämlich feine Ueberarbeitung des Schröckh'ſchen Compendiums der Kir—
hengefchichte unter dem Titel: J. Matth. Schroekhii historia religionis, in usus prae-
lectionum catholicorum reformata et aucta. Es erfihienen davon zwei Ausgaben,
ebenfalls zu Augsburg, im 3. 1788 und 1790 je in einem ziemlich ftarfen Detav-
band, Außerdem gab Lumper anonym noch zwei teutfche Büchlein heraus: „die
römifch-Fatholifche HL. Meffe in teutfcher Sprache, nebft angehängten Gebeten,
Ulm 1784”, und: „der Chrift in der Faften, d. i. die Faften-Evangelia nach dem
Buchftaben und fittlihen Sinne, Ulm 1796”, Vgl. Jöchers Gelehrtenlericon,
fortgefegt von Adelung, und Klüpfel, Necrologium sodalium et amicorum efc.
p. 250. [Hefele,]
una, Peter de, Gegenpapft unter dem Namen Benediet XII., ſtammte
aus einem adeligen Geſchlechte Aragoniens und widmete fih Anfangs den Waffen.
Später trat er zu den Studien über und in den geiftlichen Stand ein, und brachte
es in legterem fo weit, daß ihn Gregor XI. im J. 1375 zum Cardinal erhob,
Dieß gefhah zwei Jahre vor dem Ende des Avignon'ſchen Exils (ſ. den Art,
Avignon); faum war aber Gregor geftorben und ein Jtaliener als Urban VI.
(f. d, WU.) gewählt worden, fo beftritten 13 Carbinäle, faft lauter Franzofen, die
Rechtmäßigkeit diefer Wahl, erhoben ihrerfeits den Bifchof Robert von Cambrai
als Clemens VII. (1378), und veranlaßten fo das große abendländifhe Schiema,
Und unter diefen 13 fhismatifchen Cardinälen war auch Peter de Luna, Er folgte
dem Afterpapfte nach Avignon, und wurde nach deffen Tod im J. 1394 felbft zum
Gegenpaft erhoben unter dem Namen Benedict XIII. Dem Schein nah war er
geneigt, für Wiederherſtellung der Firchlichen Einheit alle möglichen Opfer zu
41%
644 | Rund,
bringen, Schon beim Eintritte in's Eonclave ſchwur er, wie die übrigen Car-
dinäle, falls er gewählt werde, fogar abzubanfen, fobald die Majorität der Car—
dinäle es für nothwendig erachte, Außerdem äußerte er wiederholt: Ego si eli-
gerer, stalim ea celeritate et facilitate papatum abdicarem, qua cappam exuere
possem, und: „Wenn er auch taufend Pontificate Hätte, er würde gerne auf alfe
verzichten.” Als er nun ſchon am zweiten Tage des Conclaves, am 28. Sept.
1394, einftimmig zum Papfte gewählt worden war, rief er in fheinbarer Demuth
aus: Heu me! Domini mei, quid facitis? Heu me! Vos profecto destruitis ecele-
siam sanctam Dei! Allein nicht Tange, fo zeigte fih, daß Benediet fo wenig als
fein Gegner (Bonifaciug IX. und fpäter Gregor XI., ſ. diefe Art.) Luft hatte,
durch eigene Nefignation der Kirche den Frieden wieder zu geben, und beide trie=
ben fo lange ein die Chriftenheit Argerndes Spiel mit Vorſchlägen, projectirten
Zufammenfünften und Nichtworthalten, bis die Cardinäle beiver Dbedienzen ein
allgemeines Eoneil 1409 nah Pifa beriefen (ſ. den Art. Pifa, Eoneil), in deſſen
15ter Situng fowohl über Benediet XI. als Gregor XII. die Abſetzung ausge-
gefprochen und ein neuer Papft, Alerander V., gewählt wurde, Allein das Schisma
war dadurch nicht beendigt, im Gegentheil gab es jegt drei Päpſte ftatt den bis-
herigen zweien, indem Gregor XII. in Stalien, befonders Neapel, Benediet XII.
. aber in Spanien, Schottland und von einigen Örafen und Heren (Armagnac und
Foix) auch fortan noch als wahrer Papft anerfannt wurde, Nachdem unterdeifen
auf Alerander V. der berüchtigte Balthafar Coſſa als Johann XXI. (f. d. A,) ge=
folgt war, machte die Synode von Conftanz (1414—1418) einen neuen Verſuch,
das Schisma beizulegen (f. den Art, Eonftanzer Concil). Gregor XIL refig-
nirte, Johann wurde abgefegt und unterwarf fich, aber alle Berfuhe, auch den
Peter de Luna zur Refignation zu bewegen, blieben gänzlich erfolglos, unerachtet
jebt feine bisherigen Anhänger, nachdem fie mit Kaifer Sigismund deßhalb den
Vertrag von Narbonne gefchloffen Hatten (13. Der, 1415), von feiner Obedienz
feierlich abfielen (6. Jan, 1416). Einen Hauptantheil hieran und ein Haupt—
verbienft bei der nun erfolgten Rückkehr Spaniens zur Firchlichen Einheit hatte
der hl. Vincenz Ferrer (f. d. A.), welcher längere Zeit der Fräftigfte Verthei—
diger Benediets und fogar fein Beichtvater gewefen war. Benediet felbft aber
lebte fortan in der feiner Familie angehörigen, aus der Gefchichte Cid's berühmten
Berpfeftung Penisceola in der Nähe von Balencia. Die Conftanzer Synode ver-
fuchte e8 noch einmal, durch befondere Bevollmäctigte, die fie nach Peniscola
ſchickte, Benedicten zur Nefignation zu bewegen; aber auch diefer Verſuch miß—
Yang, und Benediet erflärte: „Nicht in Conflanz, fondern in Peniscola fei die
ganze Kirche verfammelt, wie fih einft. in der Arche Noe's die ganze Menfchheit
befunden habe.” Auf dieß hin fprach die Synode in ihrer 37ten Sigung den
26. Juli 1417 feierlich die Abfegung über ihn aus, und bald wurde Cam 11. Nov,
1417) Martin V. zum allgemeinen Dberbaupte der ganzen Kirche gewählt, Das
Coneil ſchickte noch einmal Gefandte nach Peniscola, um den Schismatifen zur
Anerfennung Martins zu bewegen; da jedoch der König von Aragonien in Balde
mit Papft Martin V. zerfiel, fo konnte fih Benedict in feinem Felfennefte, fogar
troß eines Kreuzzuges gegen ihn, halten, und als er im 3. 1424 flarb, ver-
ftattete der König von Aragonien, daß die drei Pfeudocardinäle von Peniscola
einen neuen Gegenpapft wählten, nämlich den Canonicus Munoz von Barcelona,
der fih Clemens VIH. nannte. Fünf Jahre fpäter (1429) refignirte jedoch Mu-
no;, und feine Cardinäle wählten in einem Scheineonclave den bereits allgemein
anerfannten Martin V., womit nun das traurige Schiema endete, — Vgl. bierzu
den Art, Albo und Clemangis, [Hefele.]
Lund, däniſches Erzbistbum. Das Bisthum Lund in Schonen, er-
richtet 1065 von König Svend Eftrithfon, hatte zum erften Bifchof einen gewiffen
Heinrich, welcher durch feine Trunffucht der bifchöflichen Würde wenig Ehre
Lüneviller Friede, 645
- machte und fich zu todt tranf, Ihm fuecedirte der gelehrte, Fromme und eifrige
Bifhof Egino von Dalby, indem derfelbe mit feinem Bisthum Dalby auch das
von Lund verband, dahin feinen Sig verlegte und fih den Ruhm der Befehrung
der Heiden in Dlefingen und Bornholm erwarb (Adam Brem. bei Pers Seript.
VI. [IX] 371). Als König Erif der Gütige ‚als Pilger Rom befuchte (1098),
erhielt er auf feine Bitte von Papft Urban I. das Berfprechen, daß die bisherige
tirhlihe Unterordnung Dänemarks unter dem Hamburg-Bremifhen Stuhl auf-
hören und an einem angemeffenen Ort in feinem Reiche ein eigener erzbifchöflicher
Stuhl aufgerichtet werden folle. Aber erft nah Erifs Ableben (+ 1103 zu Cy—
pern) erfhien der päpftliche Legat Alberih in Dänemarf und erfah Lund zum
Sig des däniſchen Erzbiichofes und befleidete auch den Biſchof Adcer von Lund
mit dem erzbifhöflichen Pallium. Allein Papſt Innocenz I. erflärte (1133) die
dem Hamburger Stuhle entzogenen Bistümer, mithin auch Lund, demfelben
wieder untergeordnet, und noch weniger wollte man von Seite des teutfchen
Reiches von einem Erzbistfum Lund etwas willen. Indeß Papft Hadrian IV. er-
fannte den Bifhof Eskil von Lund ſchon als Erzbifchof an. Eskil wurde auf der
NRüdfehr von Rom nah Dänemark in Burgund gefangen genommen und beraubt,
und da Raifer Friedrich I. diefe Unthat ungeahndet ließ und fih um die Befreiung
diefes Prälsten nicht befünmerte, erließ Papſt Hadrian IV. ein fehr ſcharfes
Schreiben an den Kaifer, Eskil refignirte fehr erbaulih 1177 und farb 1182
als Mönd zu Elairveaur; fein Andenken lebte in dem von ihm ausgegangenen
Schoniſchen Kirchenrechte und in der Stiftung mehrerer Eiftercienferflöfter fort. —
Ihm fuccedirte Bifhof Abfalon von Seeland, ein in jeder Beziehung aufer-
srdentliher Mann, der zwar viel Rauhes und Hartes an fich hatte und dem
Bolfe lieber im Panzer als im Bifchofsgewande war, der aber doch, kann man
mit Dahlmann fagen, vom Schuggeift Dänemarfs das Steuer, den Bi-
Thofsftab und das Schwert in die Hand befam. Er wurde in feinem
Klofter Soroe begraben, wo er 1201 ſtarb. Selbſt in der Theologie war er fehr
bewandert, war Beiftand und Duelle feines Gefchichtfchreibers und Erbauers der
Stadt Kopenhagen, — Erzbifhof Andreas (1201—1223), Stifter des erften
Dominicanerklofters in Dänemark zu Lund, betheiligte fih, voll Eifer für die Re—
ligion, an der Defriegung und Bekehrung Eſthlands, Livlands und der Inſel
- Defel, und befam in Folge der Eroberung Eſthlands durch den Dänenfönig Wal-
demar II. das däniſch-eſthiſche Bisthum Neval unter feinen Erzfprengel, wozu
dann nad Eroberung der Inſel Defel auch noch das Bistum Defel Fam. Andreas
reſignirte 1223 und farb 1228, — Erzbifhof Jacob Erlandfon (+ 1274)
hatte große Streitigkeiten mit König Chriftoph IL, die jenem eine ſchmachvolle
Einferferung und dem Lande das Interdiet zuzogen; erft 1274 fchlichtete Papft
Gregor X. auf dem Eoneil von Lyon diefe Sache, — Noch weit ärger wurde Erz=
bifhof Johann Grand (1239—1307) in den Zwiften mit König Erich Menved
von diefem mißhandelt — er wurde zwei Jahre, zuerft in einem dunflen feuchten
Thurm, Schwer gefeffelt, dann ein wenig beſſer, doch noch immer in Banden ge-
halten, bis er entfam. Des Friedens halber verfegte Papft Bonifaz VII. zuletzt
den Erzbifchof nah Riga, und 1307 wurde Grand Erzbifhof von Bremen. —
Der legte kathohiſche Erzbifhof von Lund war Johann, ein Nieder-
länder, der, aus Dänemark flüchtig, 1538 Bifchof von Conftanz wurde, Vgl.
Dahlmann, Gefh. von Dänemark; ferner den Art, Dänen, [Schrödf.]
Lüneviller Friede. Zwei Thatfachen hatten fih, lange ehe der franzöfifche
Revolutionskrieg ausbrah, in Teutichland Far heransgeftellt; einmal, daß das
Neich bei feiner tiefbegründeten Spaltung in eine Fatholifche und proteftantifche
Hälfte, in ein öftreichifches und ein preußifhes Syftem, in die Länge nicht mehr
fortdauern Fönne, und was Fürftbifchof Friedrih Earl von Bamberg 1742 ge=
646 Lüneviller Friebe
fchricben, „es habe mit dem teutfchen Reichsweſen eben die Befchaffenheit wie mit
einem alten Bettfermantel, welcher zum Zufliden feinen Stich mehr halte und
ungeflicft fein Mantel bleibe”, nur zu begründet fei. Für's Zweite, daß der nächſte
Sturm gegen die Neichsverfaffung den geiftlichen Stiftern gelte, zu deren Ver—
nichtung die Neformation die erfte, der weftphälifhe Friede die zweite Hand an-
gelegt hatte, und von letzterem an bald der Wunſch, bald thatfächlicher Verſuch
der Säcularifation fich immer mehr fund that. Schon bei dem öſtreichiſchen Suc-
eeffionskriege fürchtete man, daß die füdteutfhen Stifter als Entfhädigungsmaffe
für die beiden im Hader befindlichen Fatholifchen Höfe gelten follten. Im Jahr
1749 argwöhnte man die Eriftenz eines eigenen Bundes zwifchen Preußen, Pfalz
und Würtemberg zum Untergang der geiftlihen Fürften, durch deren Säculari-
" fation das Erbfürſtenthum gehoben, das Kaiſerthum bei dem Haufe Deftreich ver-
nichtet, die Macht der proteftantifchen Fürften auf den Höhepunct gebracht werben,
wenn auch Teutfchland untergehen follte, Niemand betrieb dieſes Project eifriger
als Friedrich II., der zwar zur Aufrechthaltung Bayerns und der geiftlihen Für-
ſtenthümer den Fürftenbund ftiftete, damit Deftreich nicht nehme, was er ſich vor—
behalten hatte, allein 1743 wie 1767 und 1775 in feinen Briefen an Boltaire
hievon als von der Sache ſprach, die im Auftrage jener Phifefophie unternommen
werben müffe, welche das Chriftentyum mit dem Titel des vorzugsweife Nieder-
trächtigen belegte, Als nun der franzöfifhe Revolutionskrieg ausbrah und das
2098 der Säcularifation mit ganz befonderem Betreiben der Directoren den Kir—
chenftaat traf, brauchte es nur diefes Anftoßes von Außen, um das längft vor-
bandene Project zu zeitigen. Herodes und Pilatus, das Erbfürſtenthum, weldes
die Faiferlihe Gewalt zur Null erniedrigt und Teutfchland in heillofe Schwäche
verfegt hatte, und die Republicaner, welche, fo weit fie fonnten, Thron und Altar
zugleich umftürzten, fanden bald den Punct aus, in welchem fie übereinftimmten,
um in entente cordiale einen Umfturz herbeizuführen. Vergeblich fuchten die Be—
theiligten fich dur engeren Anfchluß an einander zu retten, riefen fie die Hilfe
Rußlands, des teutfchen Kaifers an, der felbft von Preußen und Nordteutfchland
verlaffen, in Stalien wie in Teutfchland ſich der Früchte feiner früheren Siege
beraubt ſah, nach der Schlacht bei Hohenlinden nur mehr durch Preisgebung des
Reiches Hoffen Fonnte, fich felbft zu retten. Sp wurden denn am Testen Tage
des Jahres 1800 die Friedensunterhandlungen zu Lünevilfe durch den Faiferlihen
Gefandten eröffnet und am 8. Febr, 1801 zugleich für das — fonft nicht ver-
tretene teutfche Neich unterzeichnet, Legteres verlor alle Befigungen auf dem
Iinfen Rheinufer, da der Thalweg diefes Fluffes, fein mittlerer Lauf, ald Grenze
zwifchen Frankreich und Teutfchland gelten follte., Indem es aber daburd feine
drei erften Churfürftenthümer mit einem Schlage einbüßte, wurde eine Entſchädi—
gung nur für die Erbfürften (princes hereditaires) ausgefprochen, welde auf dem
kinfen Rheinufer Befigungen hatten, jedoch nicht für die am meiften einbüßenden
zahlreichen geiftlichen Stifter. So wurde denn der Anfang zu der burd ben
Reichstag von Negensburg nachher vollendeten Umwälzung des teutſchen Reiches
gelegt, feine zweite Theilung (die erſte 1648) eingeleitet. Der Friede felbft
wurde fobann auch auf die neugefihaffene batavifche, helvetiſche, eisalpinifche, li—
gurifhe Nepublif ausgedehnt, während er wie im VBorübergehen der uralten, nicht
von Franzofen geftifteten venetianifhen, zu Gunften Deftreihs den Todesftoß
verſetzte. Uebrigens muß, um auch die Kehrſeite des Bildes hervorzuheben, er—
wähnt werben, daß, wenn der Lünevilfer Friede Teutfchland am haͤrteſten traf,
gerade er dem democratifchen Principe die größte Niederlage zufügte, indem ber
von den republicanifhen Waffen erfochtene Sieg dem Militärdespotismus Napo«
leon Bonapartes den Weg bahnte, die alle Cultur Europa’s mit Bernichtung be⸗
drobenden Neuerungen der Nationalverfammlung, des Conventes ꝛc. noch zeitig
einſtürzen machte, aber erft nachdem fo auf's Neue die alte Lehre erhärtet worden,
Lupus, Chriſtian — Lupus, Servatus, 647
daß aller ſchwer zu erringende Gewinn der europärfchen Civilifation mit teutſchem
| Herzblute bezahlt werden müffe, [Höfler.]
Lupus, Chriftian, Auguftiner, Chriftian Wolf (Lupus) ſtammte aus der
Stadt Upern, geboren im J. 1612, trat mit 15 Jahren in den Orden der Ein—
fiedler des hl. Auguftin, und ftudirte in Löwen. Sofort wurde er nah Cöln ge—
ſchickt, um dort Philoſophie zu lehren. Er erwarb fich Hier große Achtung; Ale—
zander VII, damals Nuntius und Legatus a latere in den Nheingegenden, wür-
digte ihn feiner befondern Freundfchaft. Bon Cöln fehrte er nah Löwen zurück,
um dort Theologie zu lehren. So groß war fein Eifer, daß er 15 Stunden täg-
lich auf das Studium verwendete, Hierauf wurden ihm Gefchäfte feines Ordens
übertragen; zweimal mußte er nah Rom reifen, unter dem Papfttfum Aleran-
ders VIL und Innocenz XI. Welche Achtung er in Rom genoß, geht daraus her—
vor, daß der Papft, ald er in Nom erfranfte, ihm feinen erften Arzt fandte und
ihn reich befchenft aus Nom entließ. Trog anderweitiger Anerbietungen blieb
Lupus in Löwen. Er flarb dafeldft den 10. Juli 1681. — Lupus fohrieb 1) einen
Eommentar oder Bemerfungen zu den allgemeinen und befondern Eoncilien im
fünf Bänden in 4,, wovon die zwei erfien im J. 1666 erſchienen. An dem
Schluſſe jedes Concils fteht eine gefhichtlihe Abhandlung, worin er unterfucht,
aus welchem Anlaffe, wo und wann das Concil gehalten worden, und was fich
fonft noch der Forfhung darbot, 3. B. über die Befchläffe der Concilien, über
wichtige Fragen der Kirchenzucht und Kirhengefhichte Handelt. Dabei fieht er
überall auf ſtreng kirchlichem Boden. Diefe Schrift ift eine vortreffliche Anleitung
für das Studium der Kirchen-, befonders der Eonciliengefhichte, 2) Im Jahre
1681 erſchien feine Abhandlung über die Appellationen, worin er gegen Petrus
de Marca u. A. kämpft. 3) Im 3. 1675 erfihienen feine Bemerfungen zu dem
Buche Tertulliang „de praescriptionibus h.“ 4) Im $. 1666 erfchien zu Löwen
eine Abhandlung über den wahren Sinn der Väter von der Attrition und Con—
trition. 5) Im 3 1682 erfhien in Löwen eine Sammlung von Briefen und
Aetenftücen über die Eoneilien von Ephefus und Chalcedon, welche er zum erften
Male, die eine aus den Handfhriften von Monte Caffino, die andere aus dem
Batican, veröffentlichte. In einem zweiten Bande in 4. erfchienen von ihm Scho—
lien und Noten dazu. 6) In zwei Bänden in 4. erfhienen 1632 zu Brüffel das
Leben und die Briefe des Thomas Becket, des Papftes Alerander II, Ludwigs VIL
von Franfreih, und Heinrichs II. von England in Angelegenheiten der Kämpfe
zwifchen Staat und Kirche jener Zeit, 7) Noch erfihienen zu Brüffel (1699) ge—
fammelte Abhandlungen von Lupus, welche fih zum Theil auf die Firchlichen
Streitfragen jener Zeit: beziehen, Vgl, Dupin, n. B. T. 13. p. 131. Sabbatini
vit. Christ. Lupi. [®am$;]
Lupus, mit dem Vornamen Servatus, Abt vom Ferrieres, geborem
um 805 im’ Sprengel oder der Pfarre Sens von vornehmen Eltern, erhielt im
Klofter Bethlehem zu Ferrieres bei Sens unter dem Abt Aldrih, nachherigent
Erzbifhof von Sens, der ihm einen Lehrer der Grammatik und freien Künfte gab,
den Unterricht, und wurde zu weiterer Ausbildung, befonders im dem Hl. Schrif-
ten, nach Fulda in die Schule des berühmten Rhabanus Maurus geſchickt. Hier
gerieth ihm Eginhards Leben Carls des Großen im die Hände, was auf feine
Schreibart von Einfluß war und zwifchen beiden Männern: ein Freundfchafts-
verhältniß Fnüpfte, Theils Ternend, zulegt auch, wie es fcheint, die freien Künfte
lehrend, brachte er zu Fulda mehrere Jahre zu, nur befaßte er fich nicht mit dem
ihm zu fchwer fallenden Studium der teutfchen Sprache, fendete jedoch, Abt ge=
worden, mehrmals junge Leute zur Erlernung derfelben im teutſche Klöfter. Bald
nah dem Tode des Erzbifchofs Aldrih von Sens (+ 836) kehrte Lupus nach
Ferrieres zurüd und wurde daſelbſt mit dem Lehramte betraut; Bei der Raiferin
Judith, Ludwig dem Frommen und Carl dem Kahlen in Gunften, erhielt er vom
648 Lupus, Servatus,
letztern 842 die Abtei Ferrieres, mußte aber auf Carls Befehl erft den bisherigen
Abt Odo, einen Anhänger des Kaifers Lothar, aus dem Klofter fhaffen und that
dieß fo fchonend als möglich. Als Abt feste er zum Theil das Lehramt noch fort
und blieb fortwährend der Pflege der Wiffenfchaft fehr zugethan, wie aus feinem
brieflihen Verkehr mit den Gelehrten feiner Zeit erfichtlih iſt; beſonders war er
unermüdlich, fih Codices profaner und Heiliger Schriften, namentlih der Tatei-
nifchen Claffifer, der Hl. Schrift und der Bäter zum Vergleichen und Abfchreiben
zu verfchaffen, und wendete fich deßhalb überall hin, felbft nah Nom an Papft
Benediet III. Inzwiſchen mußte er vielfältig an den Hffentlihen Angelegenheiten
ſich betheiligen als Vorſtand eines Klofters, welches zu Gefchenfen und Kriegs-
dienft verpflichtet war, wider feinen Willen, „und obgleich er nicht gelernt, den
Feind zu verwunden und vom Kriegshandwerf nichts verftehe”, in's Feld ziehen,
in Gefchäften oft an Carls Hof erfcheinen, manderlei Aufträge Carls beforgen ;
diefer übertrug ihm unter Anderm gemeinfchaftlih mit: dem Biſchofe Prudentius
von Troyes im J. 844 die Vifitation der Klöfter in Burgund, und fendete ihn
SAT nah Nom an Papft Leo IL. Nicht weniger nahmen ihn die Biſchöfe in An-
fpruch, bei welchen er wegen feiner Gelehrfamfeit und Frömmigkeit in hohem
Anfehen ftand; er mußte an den Synoden Antheil nehmen, die Synodalcanonen
ausarbeiten, im Namen der Biihöfe Synodalfchreiben abfaffen. Die legte Sy—
node, welcher er anwohnte, war die zu Spiffons 862; bald darauf ſcheint er ge—
fiorben zu fein. Lupus’ Schriften find in einem für die damalige Zeit recht guten
Latein gefohrieben; man fieht darin den Liebhaber der alten Claffifer auf jeder
Seite, den fleifigen Lefer der HL. Schrift und Väter, den Gelehrten, der feinen
eigenen Ausſpruch befolgte, das Studium der ſchönen Wiffenfohaften müffe be—
gleitet fein von der Weisheit und Tugend, und während man die Sprachfehler
verbeffere, müffe man auch die Sitten beffern! Die befte Ausgabe der Schriften
des Lupus ift die von St. Baluzius, Paris 1664, Antwerpen (Leipzig) 1710.
Lupus’ auf ung gefommene Schriften find: 1) Briefe an Männer jeden Standes,
Papfte, Fürften, Bifchöfe, Aebte, Mönde, Lehrer, Freunde, Anverwandte über
ihre und feine, wiffenfchaftlihe, Kirchliche und andere Angelegenheiten; 2) das
Leben des HL. Abtes Wigbert von Friglar fammt zwei Homilien auf denfelben,
und etwa auch einigen Hymnen; 3) das Leben des HI. Bifhofs Maximin von
Trier; 4) das Buch „de tribus quaestionibus.* In Bezug auf die legtere Schrift
ift Folgendes zu bemerken: Carl der Kahle hatte fih bei dem Beginne der Gott-
ſchall'ſchen Händel von Lupus mündlich deffen Anficht von der Lehre des Möndhes
Gottſchalk (ſ. Gottſchalk) und von den dadurch angeregten Fragen über bie
Prädeftination, den freien Willen und den Umfang der Erlöfung durch Ehrifti Tod
mittheilen laſſen. Da die Anficht des Lupus bei Einigen Anftoß fand „qui me
pufant de Deo non pie fideliterque sentire*, beftimmte er fie um 850 in einem
Schreiben an den König noch genauer (ep. 123), und fhrieb in der gleichen Zeit
und Sache auch an den Erzbifchof Hinemar von Nheims Cep. 129). Endlich
führte er feine Anficht über den freien Willen, die Prädeftination und den Tod
Chriſti in der etwa um 852 vollendeten Schrift „de tribus quaestionibus‘‘ weit-
Yäufiger aus, In diefer Schrift nun und in den erwähnten Briefen ftellt er unter
Auguſtins Gewährſchaft folgende Säge auf: In Folge der Sünde Adams hat
das ganze von Adam ftammende Menfchengefchlecht die Strafe der ewigen Ver—
dammung zu den Höllenqualen verdientermaßen ineurrirt; in Folge diefer Sünde
bat nebft Adam auch fein ganzes Gefchlecht nur mehr den freien Willen zum Bd-
fen, aber zum Guten haben die Menfhen ohne die freimahende Gnade
Gottes fein liberum arbitrium mehr, weßhalb das Gute principaliler Gottes
Werk, consequenter jedoch auch ein Werk des menfhlichen Willens iftz Gott,
der nach feiner Gerechtigkeit alle Menfchen in der Verdammung, bie fie origina-
liter oder actualiter verdient, hätte belaffen und umgekehrt nach feiner Barm⸗
Lupus, der Heilige, 649
herzigkeit auch alfe befreien und falviren fönnen, hat von Ewigkeit her befchloffen,
einen Theil ver Menfhen felig zu machen, die Andern aber in der Berdammnif
zu Iaffen und ihnen die Gnade zu entziehen; — Jene, welche fagen, Gott habe
einen Theil der Menfhen zur Seligfeit prädeſtinirt, weil er vorausfah, daß fie
ihm treu bleiben würden, find ganz und gar nicht zu hören, wenn fie auch im
andern Stüden großes Anfehen befisen, denn nicht die Vorausficht ift der Grund
der Prädeftination, fondern die Präveftination ift der Grund des heiligen und un-
befleckten Lebens; die in der Verdammniß Gelaffenen fonnen Gott nicht der Un—
gerechtigfeit zeihen, weil fchon wegen der Erbfünde alle Menfhen die Berdamm-
niß verdient haben; auch können fie Gott nicht zum Urheber der Sünde machen,
denn der böfe Wille im Menfhen fommt nicht von Gott, fondern von der Sünde
Adams, und dann begeht der Menfh das Böfe nicht mit Nöthigung, fondern
sponte und libenter; obgleich „quaedam praeclara praesulum lumina* und über-
haupt die Meiften vor einer zweifachen Prädeftination Scheue tragen, damit
man nicht glauben möchte, Gott Habe einige Menſchen aus Neigung zum Strafen
erihaffen und verdamme diefenigen, welche der Sünde und Strafe nicht entgehen
fönnten: fo kann man doch mit Auguftin eine doppelte Prädeftination annehmen,
alfo auch eine Prädeſtination ad poenam, worunter man aber nicht eine „fatalem
periturorum necessitatem*, fondern bloß „immutabilem relietorum desertionem“
zu verfiehen hat; weder die eine noch die andere Prädeftination führt eine „fa-
talem necessitatem® herbei, weil dadurd die Willensfreiheit nicht aufgehoben
wird, indem die Guten das Gute und die Böfen das Böfe sponte und libenter
tun; durd die Lehre von der Präbeftination fol ein getaufter Chriſt fih nicht
von der Befferung abſchrecken Laffen, und felbft wenn man gewiß wüßte, daß
man verworfen wäre, follte man noch Gutes tun, weil mdn fih dadurd die
Höflenftrafen doch verringern könnte; Chriftus hat fein Blut nur für diejenigen:
vergoffen, die wirklich felig werden; Chryfoftumus und Fauftus von Rhiez, deffen
Schriften Papft Gelafius I. unter die apvergphifchen gefegt bat (vgl. die Artikel
Fauſtus, Hilarins v. Arles, Hormisdas), dehnen zwar den Tod Chriſti
> auf alle Menſchen aus, allein ohne Grund; im Uebrigen Hat die Meinung ; Chriftus
fei für alle getauften Ehriften, für die guten fowohl wie auch für die reprobirten,
geftorben, Wahrfcheinlichkeit für fih. Alferdings näherte fih alfo Lupus der Irr—
Iehre Gottfchalfs, aber keineswegs war er ein eigentlicher Gottjchalfianer, was
man ſchon auch daraus erfieht, daß er den Gottſchalk wegen feiner Sudt, Fragen
aufzuwerfen, tadelt, daß er im Briefe an Carl über die durch Gottſchalk angereg-
ten Fragen ausdrüdlih fagt, er wolle feine Meinung Niemanden aufdringen,
und am Schluffe der Schrift de tribus quaestionibus fich bereit erklärt, gerne auch
zur Meinung des Todes Chriſti für Alle übergehen zu wollen, wenn bewiejen
werden fünnte, „sanguinem redemptoris prodesse aliquid etiam perditis‘, mit dem
Beifage, für Jene, denen die Meinung von dem Tode Chrifti für alle Menſchen,
auch die Ungläubigen, gefalfe, führe er den hl. Chryfoftomus an: Jeder möge
nun wählen! Das Bud de tribus quaestionibus hat Mauguin irrtümlich dem
Abt Lupus von Ferrieres abgefprohen und einem Mainzer Priefter Lupus Ser-
vatus beigelegt, was Sirmond, Dupin, Mabillon ze, leicht widerlegen konnten.
Auch trug Lupus von Ferrieres, nicht ein anderer Lupus, den Namen Servatus,
Mabillon (Annal. III, 126 etc.) ift nicht ganz abgeneigt, einen Dialog de statu
ecclesiae, der für die Zeitgefhichte Intereffe hat, unferm Lupus zujueignen. ©,
Hist. litt, de la France, V; Mabillon, Annal. t. I. u. Ill; Dupin, bibl. Ecel. VII;
Sirmondi opp. Venet. 1728, t. U; Phillips, Borlefung über Abt Servatus
Lupus; f. gelehrte Anzeigen der fönigl, bayer, Acad, d. Wiffenfch, zu Münden,
Jahrg. 1847, Nr. 147 u. 148. [Schrodl.]
Lupus, der Heilige, Biſchof von Troyes. Lupus wurde um das Jahr
383 zu Toul in Lothringen geboren; er ſtammte aus einer ſehr angeſehenen Fa-
650 Lupus, der Heilige,
milie. Sein Bater Epirihius farb früh; deffen Bruder Aliftihins übernahm die
Sorge für die Erziehung feines jungen Neffen. Bei feinen guten Anlagen machte
Lupus in den Wiffenfchaften große Fortfchritte und war als junger Dann nament-
lih wegen feiner Beredtfamfeit berühmt, Er heirathete die Schwefter des Hl.
Hilarius von Arles, Pimeniola; nah einer fiebenjährigen, wie es ſcheint, kinder—
Iofen Ehe befchloffen beide, fi von der Welt zurüczuziehen, Lupus ging zu dem
Hl. Honoratus, dem Vorfteher des damals fehr blühenden Klofters Lerin (ſ. d. A.).
Nach ungefähr ſechs Jahren verließ er das Klofter, um fein Vermögen den Armen
zu verteilen, und wurde nun wider feinen Willen zum Bifhof von Troyes in
der Champagne erwählt (426). Dur feine Frömmigkeit und feinen Hirteneifer
gelangte er bald zu großem Anfehen: auf einer VBerfammlung der gallifhen Bi—
ſchöfe im 5. 429 erhielt er den Auftrag, mit dem Bifhof Germanus von Aurerre
nach England zu gehen, um bort dem Pelagianismus entgegenzumwirken. Weber diefe
Reife fehe man den Artikel: Germanus v, Aurerre und Großbritannien
Bd. W. ©, 777. — Auf der zweiten Reife nach England hatte Germanus einen
Schüler des HI. Lupus, den Bifhof Severus von Trier, zum Begleiter. Lupus
war ein Mufter von Frömmigkeit, Sittenftrenge und Abtödtung, dabei auch als
Gelehrter von feinen Zeitgenoffen geachtet; feine alte Biographie erzählt mehrere
durch ihn gewirfte Wunder, Als Bischof war er befonders bemüht, die hriftliche
Zucht, namentlich unter dem Clerus, firenge aufrecht zu erhalten. Große Lobfprüche
ertheift ihm namentlich fein Zeitgenoffe Sydonius Apollinaris (pater palrum et epis-
copus episcoporum et alter seculi tui Jacobus). Berühmt ift die Erhaltung, der
Stadt Troyes durch den HI. Lupus bei dem Einfalle Attila's (451). Die ältefte
Biographie des Heiligen erzählt darüber nur, er habe durch fein Gebet die Stabt
vor der Verwüflung’durd die Hunnen bewahrt, habe dann Attila auf feine Bitte
bis an den Rhein begleitet und fei dort unverlegt entlaffen. Nah fpätern Be—
richten ging Lupus mit feinem Clerus dem Hunnenfönige entgegen; als diefer auf
die Frage, wer er fei, antwortete: ich bin Attila, die Geißel Gottes, ſprach
Lupus: und ich bin Lupus Cein Wolf), der Verwüfter der Herde Gottes und der
Geißel Gottes wohl werth. Er befahl darauf, die Thore der Stabt zu Öffnen;
die Hunnen zogen aber, wunderbar mit Blindheit gefohlagen, mitten durch bie
Stadt und zu dem entgegengefegten Thore hinaus, ohne Jemand zu ſehen. Nur
ein Wolf (Lupus) und ein Löwe (Papft Leo J.), fagte man fpäter, habe den furdht-
baren Hunnenkönig zu ſchrecken vermocht. (Vgl. die Art, Attila, und Hunnen,)
Auch andere barbarifche Könige hatten vor Lupus große Achtung; man erzählt es
namentlich von Gebavult oder Gibuld, dem Könige der Alemannen, der auch dem
hl. Severin in Noricum große Achtung bewies: die Alemannen (f. d. A.) waren
auf einem Naubzuge bis Brienne in der Didcefe Troyes vorgedrungen und hatten
mehrere Einwohner gefangen genommen; Lupus fohrieb darüber an Gebavult, und
fie wurden gleich in Freiheit gefegt, Nach feiner Rückkehr von Attila's Heere
308 fih Lupus, um fi) den Danferweifungen der Bewohner von Troyes zu ent»
ziehen und dem Gebete obzuliegen, auf den Berg Latisco in der Nähe von Troyes,
und da das Volf auch da ihn nicht allein Tieß, nach zwei Jahren nach Mascon in
Burgund zurück. In Burgund traf er mit dem hl. Euphronius vom Autun zu⸗
fammen; fie antworteten in einem gemeinfamen Schreiben dem Biſchof Tarafius
von Angers auf einige Fragen über Liturgie und über die Heirathen der nievern
Elerifer. Wie es foheint, im J. 455, kehrte Lupus auf feinen biſchoflichen Sig
zurüc und leitete nun die Didcefe Troyes noch 24 Jahre. Im 3 471 wurde
Sivonius Apollinaris (ſ. d. Art, Apollinaris, Sidonius), mit dem Lupus in:
vielfachen freundfchaftlichen Beziehungen fand, Bifchof von Clermont; er beglüd-
wünfchte ihn in einem herrlichen Briefe, dem einzigen, dev uns (außer dem er-
wähnten, mit Euphronius gemeinfam erlaffenen Schreiben) von Lupus? Briefen
erhalten ift (bei Sirmond Cono, gall. t. 1., d’Achery Spie; t 5; Galland; u, Migue-
Luscinius — Luther, 651
Patrol; t. 58). Lupus farb im J. 479, nachdem er 52 Jahre Bifhof geweſen
war; die alten Martyrologien geben als feinen Todestag den 29. Juli an, an
welchem auch in mehreren Diöcefen fein Feft gefeiert wird. Die Kirche zu Troyes,
wo er beerdigt war, trug ſchon im fechsten Jahrh. feinen Namen; fie lag außer-
Halb der Stadt, wurde fpäter von den Normannen verwüftet und feine Reliquien
in die Stadt gebracht. Lupus hatte viele Schüler, die duch Tugend und Wunder
berüßmt wurden, namentlich St. Severus yon Trier, Polychronius von Berdun,
Albin von Chalons, St, Aventin u. A. Vgl. Tillemont mem. t. 16. AA. SS.
29. Jul. [Reuſch.]
Luscinius (Nachtigall), Othmar, fatholifher Theolog und bedeu—
tender Gelehrter in der erſten Hälfte des 16ten Jahrh., wurde 1487
zu Straßburg geboren und von Kindheit an durch die Predigten des trefflichen
Geiler von Kaifersberg (f. Geiler) und dur theilweifen Aufenthalt in deffen
Haufe gottesfürdtig erzogen, Noch fehr jung durchreisſte er den größten Theil
son Europa und fludirte auf den vornehmften Univerfitäten und fland in einem
Alter von 23 Jahren im Rufe eines ausgezeichneten Gelehrten; namentlich zeich-
nete er fich durch die Kenntniß der Hebräifchen Sprache und griechifchen Literatur
aus. Selbft in der Mufif war er fehr gefchieft und lehrte diefelbe unter großem
Zulauf zu Wien, Zu Augsburg in dem Benedictinerftift St. Ulrich lehrte er die
griechiſche Sprache, und in derfelben Stadt bekleidete er auch das katholiſche
Predigeramt zu St. Morig, bis ihm der Stadtmagiftrat das Predigen verbot,
weil er in einer Predigt gegen die Wiedertäufer auch die Lutheraner unter dem
Namen „Reger” mitbegriffen hatte, Er ſcheint um 1533 geftorben zu fein, Auch
Luscinius war Anfangs, wie fo manche edle Männer, der Sache der Reformation
gewogen, aber er erfannte die neue evangelische Freiheit und die Solafides früh—
zeitig genug an ihren Früchten, blieb dem Glauben der alten Kirche treu und
legte in Wort und That Zeugniß für denfelben ab, weßhalb Zwingli und Me-
lanchthon fich nicht entblödeten, in einfältigen Wigeleien über feinen Namen zu
fpötteln. Die zwei Hauptwerfe des Luscinius, worin er zugleich auch das Be—
fenntniß der Fatholifchen Lehre gegenüber dem proteftantifchen ablegt, find: 1) die
ganze evangelifhe Hiftorie, Augsburg 15255 2) Pfalter des Königs und Pro»
pheten David, eine Summari und furzer Inbegriff aller Heiligen Gfchrift, Augs-
burg 1524. Auch in's Lateinifche hat Luscinius den Pfalter aus dem Urterte und
der LXX. übertragen und die Iateinifche Ueberfegung im nämlichen Jahr zu Augs-
burg edirt. Durch diefe Schrift Ieiftete er für die Erklärung der Pfalmen mehr,
als irgend ein Teutfcher feiner Zeit. Andere Werke feiner Feder beurfunden eben-
falls feine Studien der Hl. Schrift und griechifchen Literatur, Eine Anregung zu
den humaniftifchen Studien hatte er durch Erasmus (f. d. A.) erhalten, aber
zulegt urtheilte er über diefen, dem er die Hauptfhuld an der hereinbrechenden
kirchlichen Anarchie beilegte, ſehr ungünftig. S. Strobel's Miscell. IV.; Döls
lingers Reformation. I. 5475 Jöchers Gelehrten-Lericon; Pl, Braun, Ge—
fhichte der Bifchöfe von Augsburg. III. 622. In J. Bruders Miscell. hist.
phil. und in Schelhornus amoen. lit. findet fih eine umftändliche Biographie des
Lusciniug, [Schrödf.]
Luſt, böfe, f. Begierlichkeit,
Luther. Martin Luther, der Sohn eines Bergmannes, geboren zu Eisleben
den 10. November 1483, hatte 1501 die Univerfität Erfurt bezogen, war 1505
hier Magifter geworden und follte fih nad dem Willen feiner Eltern der Rechts—
wilfenfchaft widmen. In einem Momente plöglichen Schredens und heftiger
Todesfurdt — ein Freund foll an feiner Seite vom Blig erfchlagen worden fein —
verband er fih durch ein Gelübde, Mönch zu werden, Nicht leicht mochte Jemand
weniger zu diefem Stande geeignet fein, als eben er; gleichwohl trat er wider
feines Baters Willen, und felbft fein übereiltes Gelübde Halb bereuend, in das
652 | Luther.
Auguſtinerkloſter zu Erfurt. Im Beginn ſeines Prüfungsjahres mußte er ſich
nach Kloſterſitte läſtigen Hausarbeiten und demüthigenden Verrichtungen unter—
ziehen, wurde jedoch bald als Magiſter durch den Provincial Staupitz davon
befreit. Im Mai 1507 empfing er die prieſterliche Ordination, die er ſpäter als
Malzeichen des apvcalyptifhen Thieres ſchmähte und verwünſchte; daß ihn und
den ordinirenden Biſchof damals nicht die Erde verſchlungen, äußerte er, das fei
unrecht und allzugroße Gpttesgebuld gewefen, Nach fleißigem Studium der ſcho—
laſtiſchen Theologie ward er 1508 auf Staupisens Vorfchlag an der neuerrichteten
Univerfität Wittenberg Lehrer der Dialeetif und Ethik, ging aber fchon im fol-
genden Jahre zu dem ihm viel mehr zufagenden Vortrage der Theplogie über,
Im Jahre 1516 gab er eine myftifche Schrift des 1Aten Jahrhunderts die „teutfche
Theologie” heraus, Es war wohl nicht der fpeculative Pantheismus diefer Schrift,
der ihn fo fehr anzogz es war dieß feiner ganzen Geiftes- und Lebensrichtung ein
allzufremdes Element, deffen wahre Befchaffenheit und Bedeutung er hier nicht
einmal verftanden zu haben ſcheint, fondern die Confequenzen, die in diefer Schrift
aus pantheiftifchen Vorderſätzen bezüglich des menfhlihen Willens gezogen wer—
den, diefe waren e8, die ihm das Buch fo wichtig und theuer machten: daß es
nämlich nur Einen Willen gebe, den göttlichen, daß nur diefer Eine, der gött-
liche Wille in der Creatur wirfe, daß alfo weder von Freiheit des menfhlichen
Willens, noch von einem den Willen bindenden Gefege die Nede fein Fönne,
Darum follte das „edle Büchlein übertröftlih in Kunſt und göttlihem Werth“
fein, — Che noch der Ablapftreit begann, hatte Luther fih von der bisherigen
Theologie und der allgemeinen Lehre der Kirche in einem Puncte entfernt, der
neben dem Dogma von der Perfon Ehrifti der wichtigfte im ganzen Firchlichen Lehr-
gebäude ift, und über die Auffaffung und Geftaltung des ganzen practifch-hrift-
lichen Lebens entfcheidet — im Dogma von der Nechtfertigung des Menſchen.
Der Reim, aus welchem fein ganzes nachheriges Syftem hervorwuchs, war be—
reits in den Jahren 1515 und 1516 bei ihm entwicelt, und feine Doetrin, wie
er fie an der Univerfität vortrug, hatte bereits Anftoß und Veranlaffung gegeben,
von einer neuen, auf Irrwegen befindlichen Theologie zu reden, er felber aber war
freifich noch nicht einmal der nächſten und unabweisbarften Confequenzen, die ſich
aus feiner Vorftellung ergaben, fih bewußt geworben, Diefe neue Lehre Luthers
von der Rechtfertigung und dem ganzen Verhältniffe des Menfchen zu Gott war
das Ergebniß eines peinigenden und troftlofen Geifteszuftandes, in welchem er
fih lange Zeit Hindurch befunden hatte. Er Hatte den Flöfterlihen Stand und
deffen ascetifche Vorfchriften und Uebungen mit der ganzen Energie feines hef—
tigen, tief-Teidenfchaftlichen und der größten Anftrengungen fähigen Charakters
ergriffen; es ift fein Grund vorhanden, feine deffallfigen Aeußerungen zu be=
zweifeln, aber die Geſtändniſſe, die er dabei über feinen damaligen Seelenzuſtaud
ablegt, geben auch hinlänglichen Auffhluß über die Urfache, warum fein asceti-
ſches Ringen und Arbeiten ihn nicht förderte, warum endlich ein Zuftand der
völligen Entmuthigung und Verzweiflung fich einftellte, der mit einem Umſchlag
in das gerade Gegentheil endigte. Jene Neigung zur Verzerrung, zur unnatür«
lichen und franfhaften Entftellung an fich wahrer Gedanfen und chriſtlicher Vor—
ftellungen und Empfindungen, die fich fpäter bei ihm immer wieder geltend machte,
findet fih Schon in feiner katholifchen und Föfterlichen Lebensperiode. Er verſichert
„B., es habe ihm, als er in Nom gewefen, leid gethan, daß feine Eltern noch
nicht todt feien, damit er fie durch feine Meffe aus dem Fegfeuer hätte befreien
konnen; er meint felber, wenn er Gelegenheit dazu gefunden hätte, würde er im
feinem Neligionseifer oder Fanatismus der graufamfte Todtfchläger geworben fein,
Wenn auch nach feiner Losfagung von der Kirche und nach dem gewaltjamen
Bruce mit feiner ganzen Vergangenheit eine große Veränderung in feinem fitt«
lichen Charakter vor fih ging, fo iſt doch nicht zu verfennen, daß jenes Feuer
Luther. 653
des Zornes und des bis zum Haffe ſich fleigernden Ingrimmes, das fpäter in
helfe Flammen auffhlug, damals ſchon, wenn auch noch niedergehalten und ge—
bändigt durch feine ascetifhen Anftrengungen, in ihm glühte, und daß er über-
haupt gegen fein mit edlen, wie mit bedenklichen und ſchlimmen Anlagen rei
ausgeftattete$ Temperament einen Kampf führte, der oft mit Niederlagen endete,
Er fagt es felbft, daß es außer den Verfuhungen der Wolluft vorzüglih Re—
gungen des Zornes, des Haffes und Neides gewefen, die er nicht zu überwinden
vermoct habe. Dabei fehlte es ihm feinem Geftändniffe nah an der Liebe Got—
tes, er habe — fihrieb er nachher an Staupig, ‚eigentlich vor Gott nur geheuchelt,
wenn er Buße zu thun verfucht und eine erdichtete und gezwungene Liebe
in Worte gefaßt. Im Klofter, erzählt er ferner, fei er Chrifto fo feind gewefen,
daß, wenn er fein Gemälde oder Bildniß gefehen, wie er am Kreuze hing, er
davor erſchrocken ſei, die Augen niedergefchlagen, und Fieber den Teufel gefehen
hätte. Das Gebet fonnte ihm nicht helfen, weil er, wie er jagt, in dem Wahne
befangen war, man müffe, um zu Gott zu beten und von ihm erhört zu werben,
bereit8 ganz rein und ohne Sünde, wie die Heiligen des Himmels fein. Alles
diefes verfegte ihn begreiflicher Weife in einen Zuftand düfterer Entmuthigung
und troftlofen Verzagens, der aber wieder mit trogiger Vermeffenheit und felbft-
gefälliger Einbildung abwechfelte; in ſolchen Momenten war er dann feinem Aus-
drucke nach ein höchſt anmaflicher Selbftgerechter (praesumtuosissimus justitiarius)
und fah nichts von dem Schalf in feinem Innern. Es iſt allerdings ein peinlicher
Zuftand, fih fo nad kurzer Beraufhung in trügerifcher Selbftzufriedenheit hinab—
geftürzt zu fehen in den Abgrund des Schreckens und der Verzweiflung und in
dem Kampfe mit der Hydra der Sünde ftatt der abgefchlagenen immer neue Köpfe
nachwachſen zu fehen. Die Pein diefes Zuftandes ward immer unerträglicher und
Luther forfchte und grübelte mit ängftlihem Bemühen, wie er den Stadel, der
die Wunde feiner Seele ſtets offen erhielt, aus der Bruft reifen oder ihm we-
nigftens die Spige abbrechen fünne. In diefer Stimmung las und fuchte er in
der Bibel, befonders in den Briefen Pauli an die Römer und Galater, und er,
der mit jo glühendem Durft, mit der Erwartung und dem Entfchluffe, eine für
feinen perfönlichen Zuftand erwünſchte und tröftliche Lehre in der Bibel zu finden,
an diefes Buch herangetreten, hätte noch jemals das gefuchte nicht auch gefunden,
oder zu finden gewähnt? Luthers Entdeckung beftand aber wefentlich in Folgendem:
der Menſch ift einmal in diefe Welt des herrfchenden Böfen, eine Welt, die nicht
in der Finfterniß, fondern die die Finfterniß felbft ift, verfegt. Er felbft ift in
Folge der Erbfünde durh und dur böfe, das Streben nah innerer Heiligung
und Reinigung von Sünde, in der Meinung, daß dieß vor Gott etwas gelte, ift
verfehrt und vergeblich; Gott bietet vielmehr dem Menfchen, der es zu feiner
eigenen, wirklihen inneren Gerechtigfeit zu bringen vermag, eine ſchon fertige,
fremde an, die er fich nur zuzurechnen braucht, und die durch diefe gläubige Zu—
rechnung fein Eigenthum wird, Das, was Chriftus auf Erde für ung gethan
und gelitten hat, das ift diefes Kleid der Gerechtigkeit, in welches der Menfch
ſich nur zu hüllen, mit weldem er feine ganze Schuld und ſtete Sündhaftigkeit
nur zuzudecken braucht, um fofort von Gott für gerecht erklärt zu werden. Denn
was immer Chrifius gethan und gelitten bat, das hat er alles an meiner Stelfe
gethan und geduldet, damit ich felber diefer ohnehin für mich unlösbaren Aufgabe,
innerlich wahrhaft gerecht und vermöge dieſer Gerechtigkeit gottgefällig zu werben,
überhoben wäre; mir aber liegt nur ob, dieſe Leiftung nunmehr durch den Act
des Glaubens zu meinem Eigentum zu machen, fie mir zuzurechnen und mich im
Bertrauen auf diefe zwar fremde, aber mein gewordene Gerechtigfeit vor Gott,
der mich fofort ald Gerechten anerfennt und behandelt, darzuftellen. Luther ver-
ftärfte und erweiterte diefe feine imputative Gerechtigkeit gerade in dem Maße,
als feine Berwerfung einer wirflichen Gerechtigkeit des Menſchen es erforderte;
654 Luther.
diefer weite Mantel der Gerechtigkeit Chriſti deckt feiner Vorftellung nach nicht
nur fortwährend alfe Sünden, die der Menſch begeht, zu, fo daß Gott fie nicht
ſieht, fondern fie ift auch ein volllommener und überflüffiger Erfas für ven Man-
gel einer pofitiven Gerechtigkeit im Menfchen, die ganz geeignet fchien, jeden
Zweifel, jede Beforgniß eines ängftlihen Gewiſſens zu befeitigen. Hier war
alfo eine Art der Nechtfertigung für den Menfhen gefunden, das große, bisher
unbefannte Princip war verfündigt; daß die wirkliche Güte der Perfon nichts mit
feinem von Gott für Gutgeachtetwerden zu thun babe, oder daß die Gerecht—
erflärung der Menfchen an Feine ethifchen Bedingungen gefnüpft fei, als nur die,
welche für den Act der Imputation felbft erforderlich find, nämlih an das Be—
wußtfein der eigenen Schuld und Ohnmacht und an die Erkenntniß, daß biefe
Zurechnung der Gerechtigkeit und Heiligkeit Chrifti der von Gott beftimmte Weg
der Errettung fe. Das war der Sinn der von Luther fo Fräftig vertretenen Ab=
fchaffung des Geſetzes, des moralifchen ſowohl als des ceremoniellen; daher der
abfolute Gegenſatz, in dem er Gefeg oder Mofes und Chriftus einander entgegen-
ftellte, das Gefeg, das dem Menfchen zumuthet, nicht zu fündigen, fromm zu
fein, dieß und jenes zu thun, und Chriftus, der zum Menfchen fpricht: du biſt
nicht fromm, ich habe aber alles für dich gethan, und du brauchſt dir dieſe meine
Leiftung nur zuzurechnen, Daher die fo oft wiederholte Zumuthung, dem Gefege
durchaus feinen Einfluß auf das Gewiffen zu geftatten, das Gewiffen „freudig
einfchlafen zu laſſen in Chrifto ohne ale Empfindung des Gefeges und der
Sünde,” Dieß alfo war die große Entdeckung, das zvonxa Luthers, mit ber
ihm die Löfung aller Räthſel des religiöfen Lebens volfftändig gelungen zu fein
ſchien; jegt erft waren Gefes und Gewiffen, diefe unverföhnlihen Feinde, ver-
ſöhnt; und zu der neuen, trofivollen Lehre bot fich fofort auch der rechte Name
son felbft dar — er nannte fie das Evangeliums denn welche fröhlihere Bot-
fchaft, meinte er, kann e8 geben, als daß der Menfch nicht durch Anftrengung,
durch die Arbeit der Buße und Befferung, fondern auf fo leichte und bequeme
Weife, durch einen bloßen Act des gläubigen Annehmens und fih Zurechnens
vor Gott gerecht und feines ewigen Heiles gewiß werde? Und diefe fröhliche
Botfchaft, fie war feit vielen Jahrhunderten ſchon verloren gegangen, und die
ganze Chriftenheit Hatte, in tiefer Nacht herumirrend, fich mit einer Gerechtigkeit
abgemüht, die dem Menfchen, nachdem er Alles gethan, nur das Gefühl lief,
daß er ein größerer Sünder ſei, als er vorher gewefen. Es war offenbar, fo
Schloß Luther weiter, Gottes fpecielle Wahl und Berufung, die ihn zum Ver—
fünder und Wiederherfteller diefer verſchollenen Freudenbotfchaft auserforen, und
ihm felber war diefe Einfiht und das rechte Verftändnig der Briefe Pauli an die
Römer und Galater nur durch höhere Infpiration zu Theil geworden. Zugleich
war nun auch der Prüfftein gefunden, der über den Werth oder die Verwerflich-
feit aller in der Kirche damals vorhandenen Dogmen, Einrichtungen und Uebun—
gen entfchied; Alles, was mit dem neuen Evangelium und feinen nothwendigen
Eonfequenzen fih nicht vertrug oder überflüffig erfchien, das war hiemit ſchon ge-
richtet und mußte fallen; die Kirche felber, die diefe Hauptlehre zum Verderben
fo vieler Millionen verfälfcht, und den armen Chriften ihren ficherften Troft, die
Duelle ihres Heils geraubt hatte, fie war nun gleichfalls gerichtet, fie konnte
unmöglich die wahre fein. Das Ablaßwefen Tezels und feiner Gehilfen, und ber
* Streit, in den er darüber verwicelt ward, war demnach nicht etwa die erfte Ver«
anlaffung für Luther, über den Firchlichen Lehrbegriff nachzudenken, mit Herab-
fegung, dann Verwerfung der Indulgenzen zu beginnen und fo fortfchreitend von
einem Lehrpunete zum andern das ganze beftehende Spftem umzugeftalten, fon-
dern geraume Zeit vor diefem Zwifte hatte Luther bereits eine Doctrin fih an-
geeignet, welche nur unter vielen andern Confequenzen auch die Verwerfung der
kirchlichen Lehre von der Buße und Genugthuung und damit dann freilich auch die
Luther. 655
Befeitigung der völlig überflüffig gewordenen Indulgenzen als nothwendige Folge
nad fi zog. Der Streit felbft Hatte für Luther nur die Wirfung, jene Entwie-
lung feines Syftems, welde ohne diefe äußere Veranlaffung langſamer und wohl
auch mit mehr Scheu und Bedenflichfeit ftattgefunden haben würde, zu beſchleu—
nigen, ihm eine höchſt populäre, durch die Hffentlihe Meinung in Teutfchland
und Europa mädhtig getragene und geſchirmte Stellung anzuweifen und feiner
Lehre, die nur aus einen gegen offenbare Mißbräuche in befter Abficht unter-
nommenen Widerftande hervorgegangen zu fein fhien, um fo größeren Beifall
und leichteren Eingang zu verſchaffen. Früher Hatte er die Mißbräuche in der
Kirche, die Unfähigfeit und Lafterhaftigfeit fo vieler Geiftlihen, die Berwahr-
Iofung des Volkes und Anderes gefühlt und beflagt, wie andere ber Kirche er-
gebene und einfihtige Männer fie empfanden und betrauerten; doch war ihm noch
nicht eingefallen, für ſolche Zufälligfeiten, die au damals je nach dem einzelnen
Ländern fehr verjchieden waren, die allgemeinen Snftitutionen der Kirche felber,
ihren Gottesbienft u. f. w. verantwortlich zu machen; indeß hatte er überhaupt
einen gefchärften Blid für das Böſe in allen Geftaltungen und Erfoheinungen des
Lebens, ein Temperament, das fih vorzugswerfe mit Erfpähung des felbftifchen,
unreinen Elements in den Handlungen und Zuftänden der Menfchen wie in den
öffentlichen Angelegenheiten des Staats- und Kirchenlebens befchäftigte und nährte,
Daß der Menſch, nicht bloß der noch Gott entfremdete, fondern auch der bereits
im Zuftand der Begnadigung befindliche, fortwährend in allen Handlungen, auch
den aufs Beſte gethanen fündige, und jeder That etwas Böfes, Gott an ſich
Mibfälliges beigemifiht fer, daß auch das leichtefte der göttlichen Gebote von den
Frommen nicht wahrhaft gehalten werden könne, das war bei ihm Lieblinge=
behauptung. In nächſter Verwandtſchaft mit diefer Anfıhauungsweife fand die
Neigung, auch in den firhlihen Zuftänden das vorhandene Gute über dem fi
ohnehin mehr hervordrängenden Böfen zu überfehen, die Schäden zu vergrößern,
und fie, ohne auf die mildernden Umftände zu achten, in grellen Farben aus-
zumalen. Sobald aber Luther einmal mit der Firchlihen Lehre in Zwiefpalt ge—
rathen war, fobald in Folge. davon eine argwöhnifhe und bittere Stimmung
gegen die Kirche felbft, als die Trägerin des ihm verhaßten Dogma, ſich feft-
gejest hatte, da mußte auch in feiner Betrachtungsweiſe der kirchlichen Zuftände
und Einrichtungen, in feinem Urtheile über das Firdliche Leben eine große Ver—
änderung eintreten. Wie nahe lag e8 jest, in allen Erfcheinungen und Geftal-
tungen des Firchlichen Lebens die fchlechten Früchte einer fehlechten Lehre zu ent-
decken und alles begierig zufammenzutragen, was nur immer als practifches Zeug-
niß gegen die Doctrin gebraucht werden konnte; wie nahe lag die Verſuchung,
durch übertreibende gehäffige Darftellung und Verzerrung der kirchlichen Zuftände
die Anklage gegen das Syftem, das ſolche Zuftände verfchuldet, zu verjchärfen!
Aus allen Aeußerungen Luthers, aus feiner ganzen Betrachtung von Natur und
Geſchichte ergibt fih, daß er fich das Reich des Satans als ein unermeßlich weit
ausgebreitetes dachte, daß der Einfluß des Teufels feiner Vorſtellung nah mit
unwiderftehlicher Macht Alles, was Gott ihm nicht entriß, fih unterwarf, Geit-
dem aber in Luthers Seele die Thatfache feftftand, daß die Kirche in den wich—
tigften Puncten von Chrifti reiner Lehre abgefallen fei, Fonnte auch der Glaube
an eine befondere göttliche Leitung und Bewahrung der Kirche fich bei ihm nicht
mehr halten, Sie war ihm nun ein Reich, in welches der Satan ſiegreich ein—
gedrungen, in welchem er feinen Sig aufgefchlagen, und weithin alles befudelt
und vergiftet Hatte, und immer mehr gewöhnte er fih nun, was ihm an den
kirchlichen Dingen irgend mißfiel, fofort als ein Erzeugnig fatanifher Einwir-
kungen darzuftelfen. Ohnehin ift, fobald man einmal die Gefühle der Ehrfurcht
und Anhänglichfeit an eine Inflitution abgefchüttelt Hat, nichts Teichter und be-
auemer, nichts für die Eigenliebe ſchmeichelhafter, als fich über fie zu Gericht zu
656 Luther,
fegen und von einem ganz Außerlihen Standpuncte aus jeden wirklichen oder
möglichen Mißbrauch an derfelben aufzudecken und nach Herzensluft zu fcheltem,
Die Bedenken, daß er hierin zu weit gehe, das Gute mit dem nur zufällig an»
Hebenden Schlimmen verwerfe, daß er Gebrechen, die ihren Grund nur in ber
allgemeinen menſchlichen Fehlerhaftigkeit und der Neigung der Menfchen haben,
auch das Befte zu mißbrauhen und in den Dienft ihrer Leidenſchaften zu ziehen,
der Sache felbft, dem Inſtitut oder Ritus zur Laft Iegen möchte — diefe Be-
denfen hielten ihn nicht mehr zurück; er hatte fi) ja mit alfer Kraft in die Vor—
ftellung hineingearbeitet, daß die Berunftaltung der Rechtfertigungslehre ein tödt-
liches Siechthum, ein zerflörendes Gift in alle Glieder und Säfte des kirchlichen
Drganismus getragen habe, daß die falfche Werfheiligfeit, die Lehre vom Zweifel
an der Gnade Gottes und die Verwerfung des Specialglaubend, die Verläug-
nung der imputirten Gerechtigkeit, der hochmüthige Dünfel, es zu einer eigenen
innern Gerechtigkeit vor Gott bringen, und fich die Seligkeit mit feinen Werken’
erfaufen zu wollen — daß dieß Dinge feien, die nothwendig ein allgemeines Ver—
derben über die Kirche bringen, ihre Berfaffung, ihre Sacramente und ihren
Gottesdienft verfälfchen und in das Gegentheil der urfprünglich von Chrifto ge—
troffenen Einrichtungen verfehren mußten, Er war alfo feiner Borftellung nad
ganz fiber, daß er auch bei den ftärfften und fchonungslpfeften Angriffen doch nie
zu tief in's Fleifch fchnitt, daß Feiner feiner Schläge ein noch gefundes Glied am
Körper der Kirche traf, „Es ift ja, fagte er, Fein Buchftabe fo Hein in ihrer
Lehre, und fein Werflein fo geringe, es verläugnet und läſtert Chriftum und
fohändet den Glauben an ihn,“ „Und vor Luther hatte ja Niemand gewußt, was
das Evangelium, was Chriftus, was Taufe, was Beichte, was Saerament, was
der Glaube, was Geift, was Fleifh, was die zehn Gebote, was das Bater
unfer, was Beten, was Leiden, was Troft, was weltliche Obrigkeit, was Ehe—
ftand, was Eltern, was Rinder, was Herr, was Knecht, was Frau, was Magdır,
fer, Summa! Wir haben gar nichts gewußt, was ein Ehrift willen fol,” —
Luthers erfte Schritte wurden mit Muth und Vertrauen auf die Güte feiner Sache
und in dem Bewußtfein, daß er in feinem Orden und außerhalb deffelben Gleich—
gefinnte habe, unternommen, Wenn in den erften Monaten nach Veröffentlichung
feiner Thefen die Zeichen der Theilnahme und Beiftimmung noch fparfam hervor—
traten, fo änderte fich dieß bald, Nicht nur durfte er auf den Schuß feines weit-
verbreiteten Ordens, aus deffen Mitte fich Feine einzige Stimme gegen ihn erhob,
rechnen: im Mai 1518 wußte er bereits, daß die ganze Univerfität Wittenberg,
mit Ausnahme eines Einzigen, daß fein Didcefan-Bifhof und mehrere andere
Prälaten auf feiner Seite ftanden oder fich beifälfig äußerten, ja daß fehr Viele
fagten: fie hätten vorher Chriftum und das Evangelium nicht gefannt, und nichts
davon vernommen. Seine Gegner gehörten dem zwar mächtigen, aber durch
eigene Schuld in der dffentlihen Meinung fehr gefunfenen Dominicaner-Drden
an, während Luther Mitglied eines in Teutfchland durch feine fittliche Haltung
und feine Gelehrfamfeit geachteten Ordens war. Sehr bald erfuhr er, daß die
Gunft und der Beiftand der einflußreichen Humaniften ihm in weiten Rreifen zu
ftatten fam, und nicht nur Freunde, auch Feinde arbeiteten ihm in bie Hände,
wie denn die plumpe und ungefchickte Gegenfchrift eines Sylvefter Prierias ihm
fiher mehr nügte als ſchadete. Luther felbft führte einige Monate hindurch die
Sprache demüthiger Unterwerfung unter das Urtheil der Firchlichen Dbern, und
verfiherte den Papft, daf er unbedingt über feine Perfon und Lehre verfügen
fonne; um fo leichter geftattete diefer auf die Verwendung des Chürfürften von
Sachſen, daß Luther, ftatt der Anfangs Auguft erlaffenen Vorladung gemäß ſich
perfönlih in Nom zu ftellen, feine Sache vor dem Cardinal Thomas de Bio, der
als Legat nach Augsburg ging, führen durfte. Jetzt mifchte fih das alte Mif-
trauen und ber Widerwilfe der Teutfehen gegen die fchlauen Italiener in's Spiel,
Luther. 657
- Luther erſchien nur mit einem Geleitsbriefe und weigerte fih, den Widerruf, den
- der Cardinal von ihm forderte, zu leiften, appellirte an den beffer zu unter=
richtenden Papft, und dann, als eine papftlihe Bulle die Ablaßlehre beftätigte,
an ein allgemeines Concil. Die Verhandlungen mit dem päpftlihen Rammer-
herrn Miltiz, die fi durch das Jahr 1519 Hindurchzogen, blieben ohne ein we—
fentliches Ergebniß; Luther verſprach zwar zu fohweigen, aber nur, wenn auch
alle feine Gegner ſchweigen würden; er richtete wirffih am 3. März 1519 ein
Schreiben an den Papft, worin er verficherte, er habe nie die Authorität des rö—
mifhen Stuhles antaflen wollen, die mit Ausnahme Chrifti über Alles im Him-
mel und auf Erden gehe, und zugleich geftand, er fei in feiner rauen Schärfe
wider die römifche Kirche bis zum Mißbrauche gegangen; er wolle dafür das Volk
in einer eigenen Schrift zur rechten Ehrfurcht gegen diefe Kirche auffordern, Dieß
war jedoch nicht fehr ernftlich gemeint, denn wenige Tage fpäter äußerte er in
einem Briefe an feinen Freund und Gönner, den hurfürftlichen Hofprediger Spa-
latin: „er wiffe nicht, ob der Papft der Antichrift felbft oder nur deſſen Apoftel
fei.” Indeß waren die Bande, die ihn an die Kirche feffelten, noch immer flarf
genug, am ihn von der entfchiedenen und offenen Behauptung mancher Säge, zu
denen ihn fein Lieblingsdogma mit Gewalt drängte, zurüdzubalten. Ueber diefen
Eonfliet feines bald von der noch haftenden Ehrfurcht vor der kirchlichen Autho—
rität, bald von der Confequenz feines Dogma beherrfihten und zerriffenen Ver—
ſtandes und Gewiffens äußerte er in fpäterer Zeit: Er habe damals den Geift
mit fo ftarfer Begierde, gleichfam verwirrt im Geift und beinahe finnlos, er-
wartet, daß er faum gewußt, ob er wache oder ſchlafe; nur mit großem Kampfe
und fehr ſchwer habe er endlich durch die Gnade Ehrifti den Gedanfen, dag mar
die Kirche Hören müffe, überwunden. Der Eintritt in diefes Stadium feiner
innern Entwiclung wurde befchleunigt durch äußere Anläffe, namentlich die Leip-
ziger Disputation, die zwar zuerft nur zwifchen Erf und dem jest noch eng mit
Luther verbündeten Carlſtadt geführt werden follte, an. ber aber Luther, und zwar
als Beftreiter des papftlichen Primats, theilnahm; dann durch die von den Uni-
verfitäten Cöln und Löwen ausgefprochene Verurtheilung feiner Säge. Den Ver-
ſuch, ſich an die Unterfcheidung zwifchen der römischen Kirche als der Braut Chriſti
und Gebieterin der Welt und zwifchen der römifhen Curia mit ihren ſchlechten
Früchten anzuflammern, ließ er bald wieder fallen, denn ſchon ſchien es ihm ge—
wiß, daß der päpftliche Stuhl der Sig des in der Schrift geweiffagten Antichrift
fei. Wenn fein Ruf und der feiner beiden Gehilfen Carlſtadt und Melanchthon
bis zum Beginne des Jahres 1520 bereits 1500 Studirende nah Wittenberg
gezogen hatte, wenn ihm immer häufiger werdende heiftimmende und bewundernde
Zufäriften aus den verfchievenften Gegenden zufamen, Sickingen und andere
Edelleute ihm Schuß und Aſyl anboten, fo wußte Luther wohl, daß er unbeforgt
noch weiter geben dürfe, und daß er ſchon an dem in Teutfchland damals unter
Geiftlihen und Weltlichen weit verbreiteten Widerwillen gegen Nom einen mäd-
tigen Bundesgenoffen habe, Die von Eck betriebene papftlihe Bulle, welche 41
Säte Luthers, darunter mehrere, die ſchon den ganzen neuen Lehrbegriff im Keime
I in fi trugen, theils als offenbar Häretifh, theils als ärgerlich und vermeffen
I. verdammte, und ihm, wenn er nicht widerrufe, die Ercommunication anfündigte,
bekräftigte ihn in dem Entfhluffe, den offenen Bruch zu vollenden, befonders,
nahdem ihm jene Zuficherungen eines mächtigen Schuges zugefommen waren,
Er, der am 15. Januar 1520 noch in einem Schreiben an den neuerwählten
Kaifer Earl erklärt Hatte, er wolle als ein treuer und gehorfamer Sohn der ka—
tholiſchen Kirche fterben, und fich das Urtheil aller nicht verdaͤchtigen Univerfitäten
I gefallen laffen, hatte im Juni deffelben Jahres die Schrift „An den teutfchen
I Adel von des Hriftlihen Standes Befferung” herausgegeben und ließ im Dectober
| das Buch von der babylonifchen Gefangenſchaft folgen, In beiden Büchern war
Kirchenlexilon. 6. Od. 42
658 Luihe =
neben der Aufdeckung und Rüge vieler wirklicher und ſchwer genug gefühlter Miß—
bräuche eine fo volfftändige Losfagung non ber Kirche, ihrer Lehre, ihrem Gottes-
dienfte und ihrer Verfaffung enthalten, daß Luther fpäter im weitern Verlaufe
feines neuen Kirchenbaues nicht viel mehr hinzuzufegen hatte, Als die Folge ber
im Iegten Buche ausgefprochenen Verwerfung des euhariftifchen Opfers, alfo
derjenigen Handlung der Kirche, welde den Mittelpunct des ganzen Gpttes-
dienftes bildet, gab er felber die Nothwendigfeit an, daß „der größte Theil ver
Bücher, die jego die Oberhand haben, und fihier der Kirche ganze Geftalt weg-
gethan und verändert werde. Dem auch in der Kirche behaupteten allgemeinen
Prieſterthum aller Chriften gab er einen folhen Umfang, daß damit das ganze
Gebäude der Kirchenverfaffung von Grund aus umgeftürzt wurde, jede kirch—
liche Hierarchie, jedes an einen befonderen Stand gefnüpfte Necht der Leitung
und Verwaltung der Kirche als Ufurpation wegfiel, Nicht ein geiftliher Stand
follte mehr exiftiren, fondern nur durch Auftrag der Gemeinden aufgeftellte
Beamte, die das verrichteten, wozu Alfe die gleiche Gewalt hätten, Dabei fchmei-
helte Luther mit kluger Berechnung den andern Ständen, den Fürften, dem Adel,
und den ftädtifchen Gewalten, denn diefen vorzüglich mußte, wenn nach feiner
Adficht ver Bau der teutfchen Kirche in Trümmer zerfiel, die reiche Beute zu—
falfen; der hundertſte Theil des gegenwärtigen Kirchengutes, meinte er, fei
hinreichend zur Erhaltung einer Kirche; ausdrüdlih behielt er zu Gunften des
Adels vor, daß die Domftifte als Verforgungsanftalten für die jüngeren Söhne
des Adels fortbeftehen ſollten; auch dem Kaifer hatte er eine Lockſpeiſe hingewor—
fen; Einziehung des Kirchenftaats, und Zerreißung des Lehnsverhältniffes von
Neayel, Ein neuer Verfuh Miltizens, der auch jegt noch nicht einfehen wollte,
daß Luther feine Schiffe verbrannt habe, und bereits durch eine breite Kluft von
der Kirche getrennt fer, veranlaßte nur ein höhnifches, an Papft Leo gerichtetes,
aber für das große Publicum beftimmtes Schreiben, worin Luther die gefuchteften
Ausdrücke der Schmah und Verachtung auf den römifchen Stuhl häufte. In
diefem Schreiben, welches er nach feiner Zufammenfunft mit Miltiz, alfo nad
dem 10. October, erließ, aber auf den 6. September vor Publieirung der Bulle
zurückdatirte, hatte er die Perfon des Papftes noch gepriefen, ihn einen Daniel
unter den Löwen, einen Ezechiel unter den Scorpionen genannt; aber ſchon am
17, November wurde Papft Leo, ohne daß irgend etwas Neues von Nom unterbef
ausgegangen wäre, in einer öffentlichen Appellation an ein Concilium ein ver-
ftocfter, verdammter Ketzer und Abtrünniger, ein Feind und Unterbrüder der hei-
ligen Schrift, ein Verräther, Läfterer und Schmäher der heiligen hriftlichen Kirche
und eines freien Concils genannt. Dazu fam die alles bisher in der Chriftenheit
Bernommene überbietende Schrift: „Wider die Bulle des Endechriſts“ und am
10, December die feierliche Verbrennung der Bulle und der. canonifchen Rechts—
bücher vor dem Thore von Wittenberg. Diefes Verbrennen der „gottlofen Bücher
des Firchlichen Nechts, worin nichts Gutes ift, und wenn auch etwas Gutes darin
wäre, alfes doch zum Schaden und Befeftigung ihrer antichriftlichen Tyrannei ver-
kehrt iſt“, wie Luther zur Vertheidigung diefes Schrittes drucken ließ, war eine
bedeutungsvolle Handlung ; fie drücfte aus, daß es jetzt um nichts geringeres als
um die völlige Zerftörung aller bisherigen, kirchlichen Nechtsverhältniffe und be—
ftehenden Einrichtungen fich handle, und daß eine kirchliche Genoffenfhaft ge»
gründet werden folfe, die ihren gefelffchaftlichen Bau rein von vorne anfange,
Nach Worms auf den Reichstag folgte Luther dem Nufe des Kaifers gerne; er
freute fi, vor den Fürften und dem Adel des Reiches, unter dem er bereits fo
viele Gönner zählte, als Bekenner feiner Lehre auftreten zu fünnenz feine Neife
dahin glich einem Triumphzug; im Bewußtſein perfönlicher Sicherheit und ge-
waltiger Popularität bewegte er fich auf der Verfammlung mit einer Zuverficht,
die Vielen als ein neuer Beweis für die Güte feiner Sache galt; den Verfuchen,
Luther. 659
die befonders der Erzbiſchof von Trier machte, ifn zum Widerrufe oder zu irgend
einer berufigenden Erflärung zu bewegen, ftellte er die Berufung auf die Bibel
und fein Gewiffen entgegen; felbft einem Eoncilium wollte er die Entfcheidung
nur dann überlaffen, wenn daffelbe nach Bibelftellen (er meinte natürlih: und
nad) feiner Auslegung diefer Stellen) den Ausſpruch thue. Auf feiner Rückreiſe
wurde er auf Anordnung feines Churfürften und mit feiner Zuftimmung aufgehoben
und als Ritter verkleidet nach der Wartburg gebracht, während in Worms der
Kaifer die Reichsacht über ihn verhängte, die aber erfi nach Abreife der meiflen
Fürſten von der geringern Zahl der Zurüdgebliebenen unterzeichnet wurde. Der
Fortgang der neuen Lehre wurde dadurch, daß ihr Urheber auf Furze Zeit den
Augen der Menfchen ſich entzog, nicht gehemmt, der Feuerbrand diefer Lehre
war einmal in das dürre Geftrüppe, deffen es allenthalben in Teutfchland genug
gab, Hineingeworfen, und bald da, bald dort fihlugen die Flammen auf, Es
war auch ein Schaufpiel, das billig Alle in Spannung erhielt, ein Contraft, der
au die Sympathien der Beften ihm und feiner Sache zumwendete, Da fand auf
der einen Seite eine ganze Schaar von Prälaten, Firchlichen Dignitären und
Pfründenträgern, die, mit irdiſchen Gütern überreich ausgeftattet, forglos dahin
lebten, fich wenig um die Noth und den Verfall der Kirche fümmerten, und auch
jest den flürmifchen Angriffen auf die Kirche in ruhiger Trägheit zuſchauten; auf
der andern Seite ftand ein einfacher Auguftinermönd, der Alles das, was jene
in Fülfe Hatten oder erfirebten, weder befaß, noch fushte, der aber dafür mit
Waffen firitt, wie fie jenen nicht zu Gebote ftanden, mit Geift, mit binreißender
Beredtſamkeit, mit theologiſchem Wiffen, mit feftem Muthe und unerfchütterlichem
Gelbftvertrauen, mit dem Schwunge der Begeifterung, der Energie eines zur
Herrfchaft über die Geifter berufenen Willens, und mit eiferner Arbeitfamfeit,
Teutſchland aber war damals noch ein jungfräulicher, durch Feinen Journalismus,
feine Brohürenliteratur überwucherter Boden; wenig noch und nichts von Be—
deutung war über öffentliche, Alle gemeinfam berührende Angelegenheiten ge—
fhrieben worden; Fragen von höherem Intereffe, welche die Geifter anderweitig
befchäftigt Hätten, Tagen nicht vor; um fo größer war daher in allen Ständen die
Empfänglichfeit für religiöfe Aufregung, um fo größer aber auch in einem noch
nit an pomphafte Declamationen und rhetorifche Uebertreibungen gewöhnten
Bolfe die Bereitwilligfeit, einem Manne, der als Priefter und Lehrer der Theo—
Iogie an einer Hochſchule mit Einfegung feiner Perfönlichfeit und mit im Ganzen
ſo geringem Widerfpruche die furchtbarften Anflagen gegen die Kirche erhob, alles
aufs Wort zu glauben, Und diefe Befhuldigungen, diefe Hinweifungen auf eine
troſtvolle, bisher boshafter Weiſe unterdrückte und verfchwiegene Lehre, die jetzt
in ſo ausgeſuchten Kraftworten vorgetragen wurde, waren verbunden mit ſteten
Berufungen auf Chriftum und auf das Evangelium, mit apocalyptiſchen auf das
Papſtthum und den ganzen Zuftand der Kirche angewendeten Bildern, welche die
Phantafie mächtig ergriffen; die Schriften aber, die jest zum erfien Male das
ganze Rirchenwefen und deffen Gebrechen befprachen, waren einerfeit$ mit bib-
chen Worten, Sprüchen, Gedanfen durchwebt, andererfeits mit der berechnenden
Kunſt einer ihrer Zwecke fi wohl bewußten, und die Schwäkhen des National-
charakters vollfommen fennenden Demagogie abgefaßt, und ebenfo gut geeignet,
in Wirthshäuſern und auf öffentlichen Plägen, als von den Ranzeln vorgelefen
zu werben. Mächtiger noch als die äußerlichen Mittel der Förderung wirkten die
inneren, die in dem Syfteme felbft gelegenen Motive; es waren füße, troſtvolle,
gern vernommene Lehren, wie fie feit zwei Jahren und noch entwickelter in den
nähftfolgenden Jahren von fo vielen Kanzeln, in Liedern, in zahlloſen Schriften
dem Volke beigebracht wurden, von der Rechtfertigung ohne alle Vorbereitung
durch bloße Jmputation der Leiden und Verdienfte Chrifti, von der unmittelbaren,
buch einen einzigen Ofaubensact zu erlangenden Gewißheit des Gnadenſtandes
42°
660 Luther,
und der Seligfeit, die Lehren ferner, daß die guten Werke von allem Einfluffe
auf die jegige Gerechtigkeit und Fünftige Seligfeit der Menfhen ausgefchloffen
feien, daß aber jeder Ehrift ſchon im Beſitze einer ohne alle Mühe durch einen
bloßen Glaubensact erworbenen, bloß zugerechneten Heiligkeit fei, wobei er aller-
dings fündhaft bleiben folle und müffe. Und dazu kam nun die neue chriftliche
Freiheit, wie fie Luther als felbfterwählter Schirmvogt der in der Kirche bisher
mit Füßen getretenen Chriftenrechte fo nachdrücklich verfündigte, die Freiheit, ſich
über die Sagungen und Ordnungen der Kirche wegzufegen, nicht zu beichten,
nicht zu faften u. f. f., oder dieß und Aehnliches nur nah Willfür und eigenem
Gutdünfen zu thun. „O eine feine Predigt war das, fchrieb Wicel fpäter, nicht
mehr faften, nicht mehr beten, nicht mehr beichten, nicht mehr opfern und geben
u. ſ. f. Solltet ihr doch wohl zwei teutfche Lande, nicht eines allein damit ge—
födert und in euer Netz gerüdet haben! Denn wenn man einem erſt feinen Wil-
len laßt, fo ift er wohl zu gewinnen!” — Das neue Evangelium verhieß aber
nicht nur einen viel Teichteren und ficherern Erwerb der geiftigen und Fünftigen
Güter, es eröffnete auch, befonders für die Fürften, den Adel und die ſtädtiſchen
Gewalthaber, lockende Ausfichten auf Gewinn an irdifchen Gütern; gar Viele
unter ihnen waren damals tief verfchuldet, und erblickten jegt im Kirchengute die
geöffnete Schatfammer, aus der fie ihre Schulden bezahlen fonnten, zugleich bot
die Einziehung der Bisthümer fich den Größern als erwünfchtes Mittel dar, ihre
Staaten zu arrondiren und ihre Territorialmacht erft jest feft zu begründen und
. auszubilden. Endlich hatte Luther in dem deftructiven Kampfe, den er gegen bie
Kirche führte, zwei mächtige Menfchenclaffen zu Bundesgenoffenz bie eine beftand
aus den Humaniften, Philologen und gelehrteren Schulmännern, wie fie vorzüg-
ih aus der Erasmifchen und in den nächften Jahren auch aus der Melanchthoni—
Then Schule hervorgingen, Männern, die dem bisher übermächtigen, und im Be—
fise aller einträglicheren Stellen befindlichen Clerus, dem fie ſich meiftens an
Kenntniffen überlegen wußten, von Herzen gram waren, und begierig mithalfen,
die Abneigung und das Mißtrauen des Volkes gegen diefen Stand zu fihüren,
Alle diefe fehen um fo mehr in Luther einen der Ihrigen und einen Beförberer
ihrer Nichtung wie ihrer Standesintereffen, ald er den Untergang der reinen Lehre
aus der Bernachläffigung des Studiums der griechifchen und hebräiſchen Sprade
ableitete, und die neue Theologie, fowie den Neubau feiner Kirche auf der Baſis
des Sprachſtudiums aufzurichten verhieh, Die andere Claſſe war noch weit zahl-
reicher, fie umfaßte eben die heranwachfende Generation, die ftudirende Jugend
und die jüngeren, feit Kurzem erft in's practifche Leben eingetretenen Männer;
alle diefe bewunderten und verehrten in Luther den Helden des Tages, die impo—
nirendfte Perfönlichkeit, die Teutſchland damals aufzuweifen hatte, den Mann,
der ein Schwert im Munde führte, dem Feiner feiner teutfchen Gegner irgend
ebenbürtig war, der überhaupt das Fraft- und lebensvolle Neue, dem Fortſchritt
und die Aufklärung repräfentirte, während die Fatholifche Kirche und ihre Ver—
theidiger als die Vertreter des Veralteten, der Neaction erfchienen — wenn man
das auch damals mit andern Namen bezeichnete. — Inzwiſchen hatte Luther auf
der Wartburg, feinem „Pathmos“, ſich mit Schriften gegen den Fatholifhen Theo-
Iogen Latomus und die Univerfität Löwen, dann gegen das kirchliche Opfer (von
Abfchaffung der Privatmeffe) befchäftigt. In der Iegtern Schrift verfierte er,
erft nach fihwerem Kampfe mit feinem Gewiffen fei er endlich dahin gefommen,
den Papft für den Antichrift, die Bifchöfe für feine Apoftel, die hohen Schulen
für feine Hurenhäufer zu halten, fein Herz habe gar oft gezappelt und ihm vor«
geworfen: „Wie, wenn du irrteft, und fo viele Leute im Irrthum verführteft,
die alle ewiglich verdammt würden!” Diefe Beforgniß und Ungewißheit Fehrte
auch fpäter noch oft wieder, doch nie mit folher Stärke und Dauer, daß fie ihn
auf der betretenen Bahn einzuhalten ober umzufehren vermocht hätte, Vielmehr
Luther, 661
entſchied er fih nun auch, den Cölibat der Geiftlichen und die Gelübde des Flöfter-
lichen Lebens mit aller Energie zu beftreiten und „zur Freiheit des chriftlichen
Glaubens zurüdzufehren“, d. 5. die von ihm abgelegten Gelübde felber zu brechen,
und Andere aufzufordern, das Gleiche zu thun. Damit verftärkte er feine Parter
unermeflih, denn ihm fiel fofort die Schaar der Geiftlihen zu, die bisher im
Coneubinat gelebt Hatte, und eine Lehre begierig ergreifen mußte, die ihr Gelegen-
heit bot, den Mafel dur Eingehung einer fürmlichen Ehe zu tilgen; ihm fielen
ferner Taufende von Mönchen zu, die der Föfterlihen Zucht und Einfchränfung
überdrüffig waren, Inzwiſchen drohte zu feinem Verdruffe die von ihm hervor—
gerufene Bewegung ihm felber über den Kopf zu wachfen und ihn bei Seite zu
ſchieben. Die erſten Wiedertäufer erhoben fih, und zwar in der Nähe von Wit-
tenberg; ganz mit denfelben Gründen und mit dem gleichen Rechte, mit dem
Luther bisher die Sacramente und Inſtitutionen der Kirche angegriffen und ver-
worfen hatte, beftritten fie die Kindertaufe, und brachten Melanchthon, der ihnen
nichts zu entgegnen wußte, in große Verlegenheit, Zugleih begann Carlſtadt
mit feinem Anhang die Bilder in den Kirchen zu zertrüämmern, die Altäre um—
zuftürzen, die Beichtflühle wegzufhaffen u. f. f. Da eilte Luther von der Wart-
burg weg, fam am 7. März 1522 nah Wittenberg, und bradte, vom Chur-
fürften dabei unterftüßt, die Reformation von der rafcheren Fortbewegung wieder
zurüc in den langfamern Gang, der die äußern Dinge und Zeichen mehr fchontez
man müffe nur die Lehre von der Nechtfertigung recht nachdrüdlich treiben und
predigen, meinte er damals und fpäter, dann werde Alles, was im Firchlichen
Leben diefer Lehre nicht entfpreche, fchon von feldft fallen, ohne dag man jest
dem Volfe das Joch eines neuen Zwanges und neuer Gefege aufzulegen brauche,
Carlftadt mußte Wittenberg verlaffen, Luther veranftaltete, daß ihm auch das
Predigen verboten und der Drud feiner Schriften unterfagt wurde, befämpfte ihn
dann zu Jena und Orlamünde, und nun wurde derfelbe Mann, der bisher Lu—
thers vornehmfter Gehilfe mit Rath und That gewefen, feitdem von ihm als
ein bitterer Feind behandelt; derſelbe Mann, den Luther bisher mit Lobeserhebun-
gen überhäuft, und für einen Theologen von unvergleichlihem Urtheil erklärt
hatte, wurde von nun an in den Schriften des Reformators als ein. fchändlicher,
mit alfen erdenklichen Laftern gebrandmarfter Menfch gefchildert, und Luther be—
theuerte: Wenn Carlftadt glaube, daß ein Gott im Himmel fei, fo folle ihm
@uthern) Chriſtus nimmermehr gnädig fein. — Luther pflegte von Anfang au
fi wenig auf die alte Kirche zu berufen, theils weil, wie er felbft geftand, feine
Hauptlehre der alten Kirche völlig unbefannt war, theils weil er fühlen mochte,
daß man die Tradition und Authorität der Kirche nicht flücfweife annehmen, nicht
gegen die gleichzeitige Kirche fih auflehnen und dafür beliebig fih an die Lehre
und Praris der Kirche eines frühern Jahrhunderts anfchließen könne. Ber feiner
geringen Kenntniß der altkirchlichen Literatur hatte er doch fo viel gefehen, daß
der ganze in jenen Schriften herrſchende Geift, daß die Praris der alten Kirche
in Oottesdienft und Disciplin feinem Syfteme ſchroff entgegengefeßt ſei; er hielt
ſich alfo ausfchlieflih an das neue Teftament, welches über die Zuftände, die
Einrichtungen und das religiöfe Leben der erſten Kirche fo Weniges und au
diefes Wenige oft in fo dunfeln Andeutungen enthält, daß er um fo freierem
Spielraum für die Entwidlung feines Syftems zu haben wähnte. Wie wenig
ihm das Zeugniß und die Autborität des Firchlichen Alterthums gelte, dieß zeigte
er recht augenfällig, als er nunmehr die bitterften Ausfälle feiner ſchmähſüchtigen
Polemik gegen dasjenige Document der Kirche richtete, welches gerade das ältefte,
und in feiner unverändert igebliebenen Geftalt und Univerfalität efrwürdigfte iſt,
gegen den Canon der Meſſe. Es ift Thatfahe, daß diefer Canon fhon am An=
fange des fünften Jahrhunderts, ein Paar kurze, erft nachher hinzugekommene
Sormeln abgerechnet, wörtlich fo Tautete, wie wir ihn jegt haben, daß in ven
662 Luther.
Gebeten und Formeln deſſelben ganz der gleiche Geiſt, dieſelbe Anſchauungsweiſe
herrſcht, wie in den übrigen alten Liturgien des Orients und Oceidents. Dieſen
Canon nun gab jetzt Luther in einer teutſchen Ueberſetzung und mit feinen An—
merfungen heraus, „damit Jeder fih davor entfege und fegne, wie vor dem Teufel
ſelbſt“. Faſt jeder Sat des Textes ward für einen Öräuel, eine Östtesläfterung,
eine Lüge, für ein heillofes und verfluchtes, von ungelehrten, tollen Pfaffen zu-
fammengerafftes Werf erklärt. Mit diefer negirenden und deſtructiven Thätigkeit
hielt aber die pofitive des Neformators gleichen Schritt; fo forgte er für die Pre-
diger feiner Lehre fowohl als für das Bedürfniß des Volkes durch die Heraus-
gabe feiner Poftille (1523); er brachte bald nachher feine Heberfegung der Bibel
zu Stande, ein Meifterftül in ſprachlicher Hinfiht, aber feinem Lehrbegriffe
gemäß eingerichtet, und daher in vielen wichtigen Stellen abſichtlich unrichtig und
ſinnentſtellend. Der Streit mit Erasmus über den menfchlichen Willen und deſſen
Freiheit oder Anechtichaft, der Luthern in den beiden nächften Jahren befchäftigte,
vffenbarte wieder die Eigenthümlichfeiten des Mannes; die einfachften, klarſten
Stellen der heiligen Schrift in ihr Gegentheil zu verkehren, war nie einem Men-
ſchen fo Teicht geworben wie ihm; wenn die Bibel voll von Ermahnungen ift, daß
der Menfch felber etwas thun, Sünde meiden, ſich reinigen folle, fo fer, behaup-
tete er, der Sinn: thut es, wenn ihr könnt, aber freilich ihr könnt es nicht; oder
Gott wolle damit nur der Ohnmacht der Menfchen fpotten, als ob er fagte: laßt
doch einmal fehen, ob ihr es thun Fonnt, Wenn ihm Erasmus die Stellen, nach)
denen Gott nicht das Verderben der Menſchen, fondern ihr Heil will, entgegen»
hielt, fo feste ihm Luther feine Unterſcheidung zwifchen einem geoffenbarten und
einem verborgenen Willen Gottes entgegen; vermöge des Iegtern wolle Gott
allerdings die ewige Verbammniß des größern Theiles der Menfchen, während
er freilich in der heiligen Schrift ganz anders rede, fein verborgener Wille alfo
feinem geoffenbarten geradezu widerfpreche. Den Glauben und zwar den höchſten
Grad des Glaubens fegte er darein, daß der Menfch auch das fich logiſch Wider-
fprechende dennoch für wahr und gewiß halte, alfo feft annehme, daß Gott nicht
nur gerecht, fondern auch barmherzig fei, indem er Millionen Menfrhen, ja die
große Mehrzahl des Menfchengefchlechtes erft durch feinen allmächtigen Willen
verdammenswürdig mache, und fie dann in die ewigen Dualen der Hölle ftürze.
Und bei diefer Gelegenheit fowie bei der Vertheidigung und Empfehlung feiner
Rechtfertigungsichre pflegte er gegen den Unglauben, der in folden Dingen auch
der menfchlichen Vernunft Gehör geben wolle, zu eifern; der Teufel fei es, der
die römischen Pfaffen verführe, Gpttes Willen zu meffen mit der Vernunft; „denn
daß zwei und fünf fieben find, kann ich faffen mit der Vernunft; wenn e8 aber
von oben herab heit: Nein es find acht, fo fol ih’S glauben wider meine Ver—
nunft und Fühlen,” Deßhalb müſſe man, verlangte er, als Chrift der Vernunft
den Hals umdrehen, ihr die Augen ausftechen und die Beſtie erwürgen, Ueber-
haupt trug er auch in diefen Schriften feine Behauptungen mit jenem Tone zweifel-
Iofer Gewißheit und Evidenz vor, den Niemand beffer zu handhaben wußte, als
er, Seinen Gegner, dem früher auch) er, wie das ganze Zeitalter, feine Hul-
digung und Bewunderung dargebracht hatte, behandelte er in dieſem Schriften-
wechfel mit jener wegwerfenden Oeringfhägung und ſchmähſüchtigen Seurrilität,
die ihm nun ſchon zur Natur geworden war; unbedenklich fhilderte er ihn als
einen Epicuräer, Sfeptifer und Atheiften, ſchrieb ihm aber dann einen entſchul⸗
digenden Brief, in dem er ihn mit Berufung auf die Vehemenz feines Tempera»
mentes, das er num einmal nicht in feiner Gewalt habe, zu verfühnen fuchte;
Erasmus aber hielt ihm in feiner Antwort einen Spiegel vor, und fehilderte mit
einigen treffenden, einfchneidenden Zügen fein ganzes Treiben. Geit dieſem bald
zur Deffentlichkeit gelangten Briefe war Erasmus für Luther einer jener Men-
fhen, deren er nie anders als mit dem Ingrimme eines brennenden Haffes ge—
Luther. 663
Sg dachte, eine giftige Schlange, ein Feind Chriſti und aller Religion, ein vollkom⸗
I - menes Ehenbild und Abdruck des Epieur und Lucian. Inzwiſchen hatte der Zwift
mit Erasmus feine weiteren Folgen für Luther und den Fortgang feines Unter-
nehmens; Erasmus felbft Hatte vorausgejehen, Daß er wohl vergeblich verfuchen
werde, gegen den Strom der Popularität, von dem fein Gegner getragen ward,
zu ſchwimmen; vielmehr diente die Anfiht, die Luther hier verfocht, ſichtlich dazu,
fein Syftem bei der Menge noch beliebter zu machen, denn die Folgerung Teuch-
tete Jedem ein, daß der Menfh, wenn er feinen freien Willen habe, auch Feiner
moralifchen Zurechnung und Berantwortlichkeit fähig fer. Bon viel größerer, ja
unberechenbarer Tragweite war aber der Hader über das Sacrament der
Eudariftie, der fi jest entipann. Luther hatte in den erfien Jahren gemäß
der Richtung feiner Doetrin, die Alles, was zum Heile des Menfchen dienen
fann, in den Act der gläubigen Aneignung der Leiftungen Chrifti zufammendrängte,
auf die fubftantielle Gegenwart des Leibes Chriſti im Sarramente nur geringen
Werth und untergeordnete Bedeutung gelegt; der Hauptzwerf des Abendmahles
folfte nur in der Hebung und Stärfung des Glaubens beftehen; die Meffe, meinte
er, fei bloß dazu gut, daß der Menſch da die Verheißung Gottes von der Ver—
gebung der Sünden vernehme, fie fei nur um der Predigt willen eingefegt; der
im Saeramente gegenwärtige Leib Chrifti follte nur als das Pfand oder Siegel
für die Wahrheit des Teftamentes, d. 5. der Predigt, dienen. Sp erflärt ſich
auch, daß er feiner eigenen Aeußerung nad eine Zeitlang ftarf zur Ergreifung
der Anficht verfuht war, im Abendmahle fer nichts als Brod und Wein, eine
Lehre, die ihm ſchon darum fehr willfommen gewefen wäre, weil er „damit dem
Papſtihume Hätte den größten Puff können geben.” Aber der Tert der Bibel,
der zu gewaltig fei, hielt ihn, wie er behauptete, gefangen. Indeß pflegten ihn
fonft die klarſten Bibelftellen, wenn fie mit feinen Lieblingslehren in Conflict ge—
riethen, nicht zurücdzubalten, und er hatte eben erft während des Streites mit
Erasmus in Mißhandlung und gewaltfamer Verdrehung klarer Schrifttexte das
Unglaubliche geleiftet. Es war die Oppofition, erft gegen Earlftadt, dann gegen
Zwingli und Decolompadius, die ihn antrieb, ſich mit aller Kraft feines Geiftes
in die Ueberzeugung bineinzuarbeiten, daß die flreitigen Terte der Schrift nur
von einer fubftantiellen Gegenwart und Mittheilung des Leibes Chriſti verſtanden
werben fünnten. Den Ölauben hielt er feſt, daB er ein von Gott auserforenes
und mit allen erforderlihen Gaben reichlich ausgerüftetes Werkzeug zur Wieder-
bringung des verlornen Evangeliums, zur Wiederherftellung der feit den Zeiten
der Apoſtel verfalienen Kirche fei, daß daher auch im langen Laufe der Jahr-
hunderte Niemand erfihienen, der mit ihm an Reichtum der Gaben und Erhaben-
heit der Sendung verglichen werden könne. Jetzt fah er in der Schweiz und in
Dberteutfchland eine von ibm unabhängig ſich entwicelnde Partei, an deren Spibe
Zwingli ftand, fich erheben und raſch um fich greifen; fo mifhte fih auch bie
Bitterfeit der Eiferfuht und des verlegten Stolzes in den Streit, und Luther
gab dieß felber durch den nachher ausgefprochenen Borwurf zu erfennen: Zwingli
trachte feinen Ruhm als Neformator zu fohmälern, er babe fih in das Werf,
welches ihm, Luthern, eigenthümlich fei, hineingebrängt. Die gereizte Gehäffig-
feit und Leidenfhaftlichkeit feiner Stimmung und feines polemifhen Verfahrens
ward aber dadurch noch erhöht, daß er jest eben die Waffen gegen ſich ‚gefehrt
ſah, die er felber gefchmiedet Hatte: willtürlihe, von aller Tradition Losgeriffene
Interpretation einzelner Schriftftellen , und daß er bald genug auch erfennen mußte,
wie auf diefem Boden der Streit ſchlechthin unausgleihbar und endlos werben
würde, Er felber hatte die Hauptbollwerfe ded Dogma’s, das er nun vertheidigte,
niedergeriffen, durch feine Berwerfung der Berwanblungslehre hatte er bereits den
einfachen fich zunähft darbietenden Sinn der Einfegungsworte verlaſſen und die
Figur einer Syneldoche angenommen; es fei, erläuterte er auf der Eonferenz zu
664 | Luther,
Marburg, eine eingefaßte Rede, wie man etwa von einem Schwerte rede, aber
mit dem Schwerte auch zugleich die Scheide meine; denn der Leib Chrifti fei im »
Brode, wie der Degen in der Scheide, Er hatte ferner die Euchariftie ihres
Opferharafters entlleidet, hatte durch feine Imputationslehre den ganzen Dr-
ganismus des Syftems, in welchem die fubftantielle Mittheilung des Leibes Chriſti
ein wefentliches Glied bildet, zerflört, und fah fih nun von ben Gegnern mit
Gründen, Analogien, Wahrfiheinlichfeiten und Confequenzen überfehüttet, die fo
nahe lagen, und fobald einmal Luthers Vorberfäge zu Grunde gelegt waren, fo
plaufibel erfchienen, daß es ein Wunder gewefen wäre, wenn fie nicht gleich in
den erften Jahren der neuen Bewegung hetvorgetreten wären, Jetzt begann er
eine feiner Schriften wider „Die Schwärmgeifter”, d. h. wider Zwingli und Decv-
lompadius, mit einem Weherufe über „alle unfere Lehrer und Buchſchreiber, die
fo fiher daher fahren, und fpeien heraus Alles, was ihnen in's Maul fället, und
fehen nicht zuvor einen Gedanken zehnmal an, ob er auch recht fei vor Gott“,
einen Weheruf, der, wenn irgend einen in jener Zeit, ihn vor Allen traf; er ver-
fiherte gleich im Beginne des Streites: Die einen von uns beiden müffen des
Satans Diener fein; er überhäufte fie alle zufammen, Zwingli aber ganz befon-
ders, mit den biffigften und plumpften Schmähungen; fie hätten, fihrieb er, ein
eingeteufeltes, durchteufeltes, überteufeltes Täfterliches Herz und Lügenmaul, fein
Ehrift folle für fie beten, und er müffe ſich felber in ven Abgrund der Hölle ver-
dammen, wenn er mit ihnen Gemeinfchaft haben follte, Im Einzelnen aber war
feine Widerlegung ihrer Gründe oft fehr ſchwach, feine Polemif, wie immer und
gegen Jedermann, im hohen Grade unredlich. Da er, um fein Prieftertfum zu—
geben zu dürfen und das Opfer zu befeitigen, auch die Eonfeeration in katholi—
Them Sinne verworfen hatte, fo mußte er nun, durch Zwingli's Einwürfe ge—
drängt, einen neuen Weg, auf welchem die Vereinigung des Brodes mit dem
Zeibe des Herrn vor fich gehen follte, erfinnen, und fo wurde er bis zur Behaup-
fung einer wirklichen Ubiquität fortgetrieben, d. 5, er lehrte ein fürmliches Aus-
gedehntfein des Leibes Chrifti in's Schranfenlofe, vermöge deffen er buchſtäblich
affenthalben zugegen wäre, fich alfo auch in jedem Brode, jeden Nahrungsmittel
überhaupt befände, — Luthers Verheirathung fiel mit dem erſten Anfange
diefes Zwiftes nahe zuſammen; fie fam fo plöglich, fie wurde mit folder auf-
fallenden, der allgemeinen Sitte widerfprechenden Eile vollzogen, daß Jedermann,
auch feine nächften Freunde überrafcht waren. Am 3, Juni 1525 batte er dem
Cardinal und Churfürften von Mainz, den er zum Heirathen aufforderte, fagen
laffen, er felber habe darum nicht geheirathet, weil er nur noch gefürchtet, er fer
nicht tüchtig dazu. Einige Tage nachher hatte er bereits die Ehe mit der aus
dem Klofter entwichenen Catharina Bora in größter Stilfe vollzogen, und etwa
14 Tage fpäter, am 27, Juni, hielt er erft das Hochzeitmahl, Was ihn zu die-
fem Schritte, und zu der Art, wie er ihn that, vermocht habe, ift nicht recht Harz
feine eigenen Erklärungen in feinen unmittelbar darauf erlaffenen Briefen find
nicht befriedigend: Durch Münzer und die Bauern, fihrieb er, fei das Evange-
lium fp unterdrückt (da hd. der Bauernaufruhr habe Luthers Lehre bei Vielen fo
verdächtig gemacht), daß er zu deffen thatfächlicher Bezeugung, und um den
triumphirenden Feinden feine Verachtung zu zeigen, eine Nonne gebeirathet babe;
dann beruft er fich wieder auf einen früheren Wunfch feines Vaters und auf die
Nothwendigkeit, denen das Maul zu ftopfen, die ihm und ber Bora ihres Ver—
bältniffes wegen Uebles nachgeredet; und ein anderes Mal fhreibt er: Plöglich
und während er an ganz andere Dinge gedacht, habe ihn der Herr wunderbarer
Weife in die Ehe mit der Nonne geworfen, und nun müffe er um biefes Gottes—
werfes willen Schmach und Läfterung erbulden. Er felber fcheint eine Art von
Triumph darein zu fegen, daß fie beide, er und feine Braut, ihre früheren Ge-
lübde gebrochen und eine Ehe geknüpft hatten, bie feit mehr als taufend Jahren durch
J Luther. 665
die kirchlichen wie durch die weltlichen Geſetze verpönt und für ungültig erklärt
war, Aber feine Freunde und Viele feiner Anhänger dachten anders. „Ich habe
mich, fehreibt er bald darauf, durch diefe Heirath fo niedrig und verachtet ge-
macht, daß ich Hoffe, die Engel werben lachen, und alle Teufel weinen.“ Selbſt
- an anftößig plumpen und widerlich rohen Aeußerungen über fein eheliches Ver—
hältniß fehlt es nicht in feinen damaligen Briefen; aber hinter all’ diefem Trotz
und diefer ſcheinbar Teichtfertigen Auffaffung feines Schrittes verbarg ſich doch
das demüthigende Gefühl einer fhweren, feinem perfünlichen Anfehen gefchlagenen
Wunde, und felbft feine unbedingteften Bewunderer fanden wenigftens die Wahl
des Zeitpunctes — mitten in den Stürmen und dem Blutvergießen des durch den
Bauernaufrußr entzündeten Bürgerfriegeg — unerflärlih, — Diefes Ereignif
des Banernaufruhrs griff erfihütternd in Luthers Leben ein; daß er mit Ab-
fiht und Bewußtfein die Bauern zu diefer Empörung aufgeftachelt habe, iſt hi—
ftorifch nicht ausgemittelt, obgleich eine auf eingefehene Procefacten fich berufende
Angabe bei Bodmann auch dieß Hinfichtlich der Bauern im Nheingau behauptet,
Daß aber in feinen für das Volk verfaßten Schriften und Pamphleten mande
Aeußerungen und aufmunternde Stellen vorfommen, die in eine ſchon gährende
Maſſe wie Zündftoff fielen, Fann nur parteiifche Befangenheit Täugnen, Er felber
hatte bereits von der Gefahr gefprochen, daß ein Aufruhr, freilich wie er meinte,
nur gegen die Bifchöfe und geiftlichen Fürften würde erregt werden, und mit einem
Ausdruf des Wohlgefallens und der Freude dem Ausbruche deffelben entgegen-
gefehen; er Hatte bereits Alfe , die zur Zerftörung der Bisthümer und Vertilgung
des bifchöflichen Negiments mithelfen würden, für liebe Gotteskinder erklärt,
Seine Hoffnung ging denn auch, wiewohl nicht ganz in feinem Sinne, in Er-
füllung; die empörten Haufen Fündigten Affe an, daß ihre Erhebung der Wieder-
berfiellung des reinen Evangeliums gelte; Prädicanten der Iutherifchen Lehre, aus
den Klöftern entfprungene Mönche, betheiligten fiih in anfehnlicher Zahl an dem
Aufruhre, und Luther — erlich im Mai 1525 eine Schrift (Ermahnung zum
Frieden), worin er zuerft die grelfften und übertriebenften Anflagen auf die Bi—
ſchöfe und auf diejenigen Fürften, die das Evangelium in ihren Staaten nit
predigen laſſen wollten, häufte, dann aber die bereitd unter den Waffen flehenden
Bauern aufforderte, fich geduldig zu fügen, weil alle Notbwehr oder Selbfthilfe
in der heiligen Schrift verboten fer, Es iſt ganz undenkbar, daß ein Mann, der
fo viel Menfchenfenntniß als Luther befaß, von diefer feiner Aufforderung irgend
eine bedeutende Wirfung auf die fanatifirten und bereits Durch arge Frevel com—
promittirten Bauernhaufen erwartet habe; auch hatte er in eben dieſer Schrift
Dinge einfließen laffen, die weit eher die Aufrüßrer zu ermuthigen, als fie ab-
zufchrerfen geeignet waren. Kaum aber war die Nachricht von der Niederlage der
Bauern erfchollen, als Luther in einer neuen Schrift die Fürften ermahnte, ein
erbarmungsiofes Blutbad unter ven Bauern anzurichten, denn jebt gelte e8 nicht
Geduld und Barmherzigkeit, fondern es fei des Schwertes und des Zorneg Zeit,
Jedermann ſolle dareinfchlagen, würgen und ftechen, und ein Fürft könne jest
den Himmel mit Blutvergießen beffer verdienen, denn Andere mit Beten, Die
Mahnung wurde nur allzugetreu befolgt. Als nun vielfacher Tadel laut wurde,
daß gerade er, der diefes Feuer anzünden helfen, von jeder Schonung und Barm—
berzigfeit gegen die Verirrten abmahne, überbot er fich noch in einem ausführ-
lichen Sendſchreiben, worin er die Tadler feines Büchleins gleich damit zu ſchrecken
ſuchte, daß er fie als Aufrührerifh-Gefinnte verbächtigte, und die Obrigfeit auf—
- forderte, denen, die fich der Aufrührerifchen annähmen und erbarmten, „auf die
: Haube zu greifen”, Nach der Bemerfung des Sebaftian Frank war die Anficht,
daß Luther erft die Bauern verführt und dann zu ihrer Vertilgung aufgefordert
babe, fo verbreitet, daß man an etlichen Drten, wo feine Lehre gepredigt wurde,
beim Läuten zur Predigt zu fagen pflegte: Da läutet man die Mordglocke. Kaum
666 i Luther,
war indeß der Bauernfrieg beendigt, als Luther eilte, den, wie er beforgte, etwas
erfalteten Eifer feiner Anhänger gegen die Fatholifche Kirche zu neuer Thätigkeit
anzufpornen, „Laßt uns, lieben Freunde, ſchrieb er zu Neujahr 1526, aufs
Neue wieder anfangen, fohreiben, dichten, reimen, malen, Unfelig fei, wer hier
fauf ift, denn das Papſtthum ift noch Lange nicht genug zerſcholten, zerfchrieben,
zerfungen, zerdichtet, zermalet,“ Auch verfuchte er, unter den Fürften und Kö—
nigen neue Förderer und Beſchirmer feiner Lehre zu gewinnen; in diefer Abficht
fhrieb er an den König von England, den er früher in feiner Antwort auf deſſen
bekanntes Buch, die Vertheidigung der Sarramente, arg mißhandelt und mit
Schmähungen überhäuft hatte, einen Iriechend bemüthigen Brief, und erbot fich
zu einem öffentlichen Widerruf; tief beſchämt wage er Faum die Augen vor ihm
aufzufehlagen; er fei ja nur ein Koth und Wurm, den der König am beften durch
bloße Beratung habe überwinden können, und er wolle in einer neuen Schrift
den Namen Sr, Majeftät wieder zu Ehren bringen, wenn ver König dieß nicht
verſchmähe. Die Antwort des Königs fiel ſcharf aus: Nicht zu feinen Füßen,
wie er fich erboten, fondern vor der göttlihen Majeſtät ſolle er Abbitte leiſten,
die unglücliche Nonne, die er verführt, in ein Klofter gehen laſſen, und fein
ganzes Leben hindurch Buße thun für die Zaufende, die er um ihr zeitliches
Leben, und die Zehntaufende, die er um ihr Seelenheil gebracht habe, Aehn—
lichen Inhaltes war die Antwort des Herzoges Georg von Sachſen, bei dem
Luther gleichfalls einen Verſuch gemacht hatte, die früheren Schmäßungen durch
einige freundliche und Verzeihung erbittende Phrafen zu mildern und den ſchwer
gefränften Fürften zu verfühnen, Georg zählte die fittlihen Wirkungen und
Früchte der neuen Lehre auf, wie er fie in feinem Lande fowohl als im Nachbar-
lande feit einigen Jahren beobachtet habe, und Fnüpfte daran die Nusanwendung.
Luther ſäumte nicht, nach feiner Weife Rache zu nehmen; feine Antwort auf die
Schrift des Königs follte zugleich auch den Herzog und vorzüglich die Zwinglifche
Partei, feine „goldenen Freunde, die Rottengeifter und Schwärmer”, treffen, die
ihm, während er gegen die Papiften zu Felde gelegen, die Stadt angezündet,
und Alles, was darinnen, gemordet hätten, Durch das Ganze zieht fich das Be—
wußtfein einer erlittenen und felbftverfehuldeten Demüthigung, der Ton der Schrift
ift aber darum nur um fo troßiger und hochfahrender, Inzwiſchen war es Zeit
geworden, dem Kirchenwefen, zunächft in Sachfen, eine dem Syfteme Luthers
entfprechende fefte Geftaltung zu geben, und an die Stelle der verworfenen und
thatfächlich bereits abgefchafften bifchöflichen Berwaltung eine neue Ordnung der
Dinge zu fegen. Die Lehre von der apoftolifchen Sueceffion und der daran ge—
bundenen Fortpflanzung der Gewalten in der Kirche Fonnte in dieſem Syſteme
feine Bedeutung mehr haben, die Nothwendigkeit einer bifchöflichen Ordination
mußte ohnehin fallen, und im Mat 1525 fand die erfte Ordination nah dem
neuen Lehrbegriffe an Norarius in Wittenberg Statt; ein Jahr nachher drang er
endlich mit feiner Forderung, daß der Churfürft eine Vifitation zur Feftftellung
des neuen Kirchenwefens vornehmen laſſe, durch, Nach einer frühern Anfiht Lu-
thers würde die Genoffenfhaft, die fih zu feiner Lehre befannte, eine abfolut
demoeratifche Kirchenverfaffung erhalten Haben; lauter vereinzelt ftebende Ge—
meinden, mit Predigern, die auf Nuf und Widerruf durch eine Majorität der
Kopfzahl gewählt und von diefer wieder nach Gefallen abgefegt worden wären,
Eine folche Einrichtung würden indeß die proteftantifchen Fürften felbftverftändlich
nicht geduldet Haben, und Luther felber drang nicht weiter darauf, fondern ge=
wöhnte fich, je häufiger die Fürften und die ſtädtiſchen Machthaber feiner Lehre
zufielen, immer mehr an die Vorftellung, daß diefe an die Stelle der Bifhöfe
treten und Träger der neuen Kirchengewalt werden follten, Immer bloß mit dem
Nächſten befchäftigt, und zufrieden, wenn nur das alte Kirchengebäude zu Trüm«-
mern zerfihlagen wäre, war er für jegt bamit einverftanden und bot felber bie
Luther. 667
I Hand dazu, daß fein Kirchenwefen und feine Prediger der Vormundſchaft der
Fürftenhöfe und der Herrſchaft der Juriſten unterftellt wurden ; das freilih ahn—
dete er damals noch nicht, daß gerade die Juriften und ihre Rirchengewalt ihm
fpäter fo verhaßt werden würde, In diefen erften Zeiten der beginnenden neuen
Drdnung wurde noch Alfes nach feinem Willen gehandhabt, man fragte bei ihm
über Alfes an, ftellte die Prediger an, die er empfahl; zudem war Melanchthon
einer der vier Vifitatoren, Nun hatte Luther bisher alle Gefege, alle bindenden
Einrichtungen und Anordnungen in der Kirche für ſchlechthin verwerflih und mit
der hriftlichen Freiheit unvereinbar erffärt; jest aber follte eine allgemein bin-
dende, von den Wittenbergern entworfene Kirchenordnung im ganzen Lande
eingeführt, Pfarrer und Gemeinden zur Beobachtung derfelben genöthigt, felbft
manches bisher auf den Grund jener criftlichen Freiheit Abgefchaffte (wie z. B.
die Privat-Abfolution) wieder hergeftellt werden. Diefen grellen Widerſpruch
einigermaßen zu befchönigen, fehrieb Luther eine Vorrede zu dem Pfarr-Unterrichte
Melanchthons, worin er erklärte: nicht als ftrenge Gebote fönnten fie diefe Ver—
ordnung ausgehen laſſen, damit fie nicht neue päpftlihe Deeretales aufwürfen,
fondern als eine Hiftorie und Gefhichte, und als ein Zeugniß und Bekenntniß
ihres Glaubens, Sofort werden nun aber die Pfarrer und Gemeinden darüber
verftändigt, daß diefe „Hiftorie” und diefes „Zeugniß“ allerdings für fie ver-
pflihtendes Gefet fei, fo lange nicht der Heilige Geift durch die Wittenberger
Theologen etwas daran ändere; denn der Churfürft müffe als chriſtliche Obrigkeit
darüber halten, daß nicht (durch Ungleichheit ver Gebräuche und der Lehre) Zwie-
trat, Rotten und Aufruhr fih erhebe, wie denn auch Kaifer Conſtantin die
Chriften zu einträchtiger Lehre und Glauben gehalten Habe, Dieß war die Form,
in welcher fich jegt die „Hriftliche Freiheit” in den Ländern Iutherifhen Belennt-
niffes entwickelte, Luther aber kam bald von feiner frühern Anficht über das Recht
der Gemeinden, ihre Pfarrer ein- und abzufegen, fo weit ab, daß er die, welche
dieß thaten, für Saerilegi erflärte, die fich felbft zum Heiligen Geift machten,
weil fie ihres Gefallens Prediger ab- und einfegen wollten. Ueberhaupt aber
find feine Aeußerungen über die Frage von der Berufung zum Kirchenamte fort und
fort ein Gewebe von Widerfprühen. Der Betrug des Dito von Par, der den
Landgrafen von Heffen überredete, die Fatholifchen Fürften hätten ein geheimes
Bündniß zur Verjagung der proteftantifhen FZürften und zur Theilung ihrer Län-
der gefchloffen, war für Luther eine willfommene und fogleih ansgebeutete Ge-
legenheit, feinem Grimme gegen die fatholifchen Fürften, vor Allem gegen Herzog
Georg, wieder Worte zu leihen, Während der vorfichtigere Melanchthon das
Lügengewebe bald durchſchaute, redete Luther von Todfchlägern, gegen welche
man beten müffe, und als die Erbichtung fo Far aufgedeckt war, daß ſelbſt er
nicht mehr wohl fih anftellen fonnte, als glaube er fie, da gab er fih noch
alle Mühe, den Herzog möglichft zu verbächtigen, und bediente fich eines für ihn
recht charakteriftifchen Kettenfchluffes, der ihm wie für diefen Fall, jo auch für
alle ähnlichen dienen Fonnte. Denn was er auch immer VBerläumbderifches und
Schmachvolles feinen Gegnern, den Eatholifchen Fürften, Bifhöfen und Theo—
logen, nachgefagt hatte oder künftig noch gegen fie druden ließ, das ließ fih auf
diefe Weife befchönigen, „Herzog Georg, fagte er, ift ein Feind meiner Lehre,
folglich tobt er wider Gottes Wort; ich muß alfo glauben, daß er wider Gott
ſelbſt und feinen Chriſtum tobet. Tobt er wider Gott felbft, fo muß ich heimlich
glauben, er fei mit dem Teufel befeffen; ift er mit dem Teufel befeffen, fo muß
ich heimlich glauben, daß er das Nergfte im Sinne habe” (Wald, Ausg. XIX,
642). — Das Gefpräh zu Marburg (Drtober 1529), in welchem Luther den
beiden Häuptern der zweiten Neformation, Zwingli und Oecolompadius, gegen-
überftand, lenkte inzwifchen feine Aufmerkfamfeit wieder auf den Abendmahlsftreit.
Die Berbindung mit den der Zwingli’fchen Lehre ergebenen Stäbten und Kantonen,
668 Luther.
die der Landgraf von Heffen, felbft zwinglifch gefinnt, betrieb, um dem Kaifer
und den katholiſchen Ständen ein mächtiges, compactes proteftantifches Bündniß
entgegenftellen zu fünnen, war ihm damals ein Gräuel, und er rieth daher auch
dem Churfürften von jedem Bündniß zur Vertheidigung wider den Kaiſer ab,
Bald folgte ver Neihstag zu Augsburg (1530); die Verlefung und Ueber—
gabe der von Melanchthon verfaßten Augsburgifchen Confeffion, während Luther,
auf dem noch die Neihsacht laftete, zu Coburg weilte, um dem Schauplage der
Ereigniffe näher zu fein, Daß Melanchthon in der Confeffion den neuen Lehr-
begriff in fo gemilderter, Vieles verfihweigender, über Anderes Teicht hinüber⸗
gleitender Form barftellte, duldete er; aber um fo fehärfer und drohender wurden
feine Briefe, als er von den dort gepflogenen Vergleichehandlungen vernahm
Nichts dürfe nachgegeben werden, fihrieb er: „Wenn wir nur den Canon oder
nur die Privatmeffe zugeben, fo genügt Beides, um unfere ganze Lehre zu ver-
werfen und bie ihre (die Fatholifche) zu beftätigen.” Was würde er erſt gefagt
haben, wenn er gewußt hätte, wie weit dort die Nachgiebigfeit Melanchthons eine
Zeitlang fih erſtreckte. Während er feine Anhänger in Predigten verficherte, jeder
der Bischöfe habe auf den Reichstag nach Augsburg eine ganze Legion Teufel
mitgebracht, erklärte fein Freund und Gehilfe im Namen der Partei ſich bereit,
das ganze Iutherifche Kirchenwefen wieder unter die Authorität und Gerichtsbarkeit
der teutfhen Bifchöfe zu ſtellen. Doch wurde an dem Beftand und der Entwid-
lung des nenen Syſtems und der Iutherifchen Kirche durch die Verhandlungen
und Beſchlüſſe des Reichstages nichts geändert, die Aufforderung des Kaifers
zur Nücffehr in den Schoß der Fatholifchen Kirche wurde nicht beachtet, und bie
fhmalfaldifhe Eonföderation der proteftantifchen Stände zu gemeinfamer Abwehr
erhielt nun auch Luthers Zuftimmung. In den nächften Jahren C1531—36) trat
für Luther der Streit gegen die alte Kirche, den er eigentlich in allen Haupt-
puncten bereits durchgeführt hatte, Hinter den zunächft practifch wichtigeren und
weit mehr drängenden Abendmahlsftreit mit den Zwinglianern zurüd, Die Nach—
richt von dem Falle Zwingli's in der Schlacht bei Kappel und von dem kurz dar-
auf gefolgten Tode des Oecolompadius hatte er mit Wohlgefallen vernommen ;
nur eines bedauerte er, daß nämlich die Fatholifchen Eidgenpffen ihren Sieg nicht
zur Unterbrüfung der Zwingli'ſchen Lehre bemüst hätten; wenn fie dieß getan
hätten, dann würde ihr Sieg „faft fröhlich und großen Ruhmes wertb fein.”
Beide Theologen, fehrieb er, feien im Irrthum vertieft in Sünden untergegangen,
und er müffe an Zwingli's Seligfeit verzweifeln, obgleich ihn feine Jünger zum
Heiligen und Martyrer machten, Inzwiſchen fühlte er immer deutlicher, daß der
Streit mit Bibelterten und über fie fich in’s Endlofe fortfpinnen müffe und un—
möglich zu irgend einem andern Ergebniß führen könne, als zur Verbreitung vor
Ungewißheit und von Zweifeln, die bald mehr um fich greifen und auch auf an-
dere Lehrpuncte fich erftreefen müßten. Er zog ſich daher auf den Standpunet
der früher fo gefchmähten und vernichteten Firchlichen Ueberlieferung, auf das
Alter und die Univerfalität der Lehre, die ein entfcheidendes und unfehlbares
Kennzeichen der Wahrheit fein müffe, zurück. Er, der fonft in den mannigfaltig-
ften Wendungen zu verfichern pflegte, es habe vor feinem Auftreten feit vielen
Jahrhunderten Kon ein aflgemeiner Abfall vom Glauben Chrifti flattgefunden,
im ganzen Papfttgume fei vom Glauben nicht ein Buchftabe, nicht ein Pünctlein
übergeblieben, e8 habe gar Feine Ehriften Cetwa mit Ausnahme der Feinen Kin—
der in der Wiege) mehr gegeben — er erflärte jegt (1532): Das Zeugniß der
heiligen chriftfichen Kirche, die von Anfang an in aller Welt bis auf diefe Stunde
die Gegenwart Chrifti im Sacramente einträchtiglich geglaubt und gehalten hätte,
ſei allein ſchon entfcheidend; wer daran zweifle, der thue eben fo viel, als glaube
er feine chriftfiche Kirche, und verdamme wicht allein die ganze Kirche, fondern
auch Chriſtum feldft und alle Apoftel, die den Artikel von der heiligen chriſtlichen
Luther. 669
| Kirche gegründet und ihr die Verheißungen gegeben haben. „Kann Gott nicht
lügen, alſo auch die Kirche nicht irren,“ So ſchrieb jegt der Mann, der fih im
I Streite mit Erasmus gerühmt hatte, wie er nach langem Kampfe es endlich dahin
gebracht habe, über diefe Authorität der ganzen Kirche fih wegzufegen; der Mann,
der felber befannte, daß feine Hauptlehre, die von der Rechtfertigung, der ganzen
Kirche fremd gewefen, und erft dur ihn an’s Licht gezogen worden fer, und daß
die entgegengefeste „Teufels-Lehre“ feit vielen Jahrhunderten weit und breit ge—
berrfcht habe, Freilich war er damals weit von dem Gedanfen entfernt, von
diefem Princip einer unantaftbaren allgemeinen Rirchenlehre irgend eine ernftlich
gemeinte und practifche Anwendung zu geftatten, und wer ihn an die Lehre vom
Prieftertfume und Opfer, vom Episcopat und der Ordination und Aehnliches
erinnert, und ihm die allgemeine Kirchenlehre bezüglich diefer Lebensfragen vor—
gehalten Hätte, würde von ihm mit jener Fülle von Schmähungen überfchüttet
worben fein, welche Luther für jeden bereit hatte, der ihm mit unwillfommenen
Einwürfen zuſetzte. Auch fam bald die Zeit, in der, Angefichts der drohender
werdenden Stellung des Kaiſers und der Fatholifchen Partei, Luther es rathſam
fand, fich gemäß der längſt vom Landgraf Philipp empfohlenen und gehandhabten
Politif den fonft fo verabfcheuten Zwinglianern wieder zu nähern und ein Ab-
fommen mit ihnen zu treffen, welches diefe im Beſitz ihrer Lehre ließ, Sp wurde
die Wittenberger Concordie gefhloffen, in der zwar Bucer mehr nachgab als
Luther, dann aber fchrieb diefer am 1. December 1537 jenen Brief an bie
Schweizer, der den Schülern Zwingli’s geftattete, die Concordie in ihrem Sinne
auszulegen, ließ fich diefe Auslegung, als fie ihm von dort mitgetheilt wurde,
gefallen, und äußerte ſich über feine eigene Lehre in einer diefelbe fo abſchwächen—
den und in's Ungewiffe ziehenden Weiſe, daß die Theologen zu Zürich fih ſchon
ihres Sieges freuten. Es war dieß die Zeit, wo der Raifer die teutfhen Pro-
teftanten drängte, ihre Sache auf die Entfeheidung des allgemeinen Conciliums,
mit deffen VBerfammlung es nun Ernft werden follte, zu ftellen. Diefe hatten fich
durch frühere Berufungen und Zufagen verftricft, während die Theologen recht
gut wußten, daß ein Coneil, wenn es nicht auf eine in der Kirche unerhörte und
alfen kirchlichen Prineipien widerjprechende Weife zufammengefest werde, bag
ganze neue Syftem unfehlbar verdbammen werde, Und felbft wenn man auf ein
günftigeres Ergebniß hätte rechnen fünnen, würde fohon die bloße Anerfennung
der Authorität eines Coneiliums, die vorausgegebene Zufage, fich feiner Entfchei-
dung zu unterwerfen, ein Abfall von der Grundlehre der Reformation gewefen
fein. Luther felbft vergaß am wenigften, daß er die Concilien überhaupt dem
Zeufel übergeben, daß er in feiner Kirchenpoftilfe dem Volke verfihert hatte,
Eoneilien feien „mit ihrer Lehre auch dem geringften Chriften, ob's gleich ein
Kind wäre von fieben Jahren, das den Glauben Hätte, unterworfen“, Daher
die neue Erbitterung gegen den Papft, der nun wirflih ein Concilium halten
wollte, eine Erbitterung, die fi bi8 zu einem an Naferei grenzenden Paroxysmus
ſteigerte. Wie er von feinen Anfechtungen zu fagen pflegte, in ſolchem Zuftande
wife er nicht, ob Gott der Teufel oder der Teufel Gott fei, fo ging es ihm jegt
mit dem Papfte; der Satan ſchien ihm mit dem Papfte dergeftalt Eins geworden,
daß er eine Art von fatanifcher Incarnation, die zu Nom auf dem Stuhle Petri
fise, fih und Andern einzureden fuchte, und noch beim Herausfahren aus Schmal-
kalden den ihn begleitenden Prebigern zurief: Gott erfülle euch mit Haß gegen
den Papft! In diefer Stimmung und diefem Geifte waren denn auch die Schmal-
kaldiſchen Artikel (Januar 1537) abgefaßt; wenn die Ieife und vorfichtig auf-
- tretende Augsburger Eonfeffion Melanchthons Sinnesweife reflectirte, fo verrieth
diefes neue Bekenntniß, das im Namen der teutfchen Proteftanten auf dem etwa
zu haltenden Coneil übergeben werden follte, auf den erften Blick, daß es Luthers
Werk fei, Aeußerlich ging indeß in diefem und den nächften Jahren Alles nach
670 Luther,
Wunfh, felbft weit über die Erwartung des Reformators. Ganze Königreiche,
wie Schweden und Dänemark, nahmen feine Lehre an, faft jede Woche brachte
Kunde von neuen Mebertritten; der Adel, die Fürften, die Städte — Älles ſchien
ihm in Teutfchland mehr und mehr zufalfen zu wollen, und dem Untergang ber
Fatholifchen Kirche, wentigftens in Teutfchland, Fonnte er und feine Freunde alg
einem ziemlich nahen Ereigniffe mit Zuverficht entgegenfehen, Wie triumphirte
er, als im Jahre 1539 fein alter Gegner H. Georg flarb, und num aud das
Meißner Land von der alten Kirche Iosgeriffen und unter die Herrfchaft feiner
Lehre geftellt ward, als wenige Donate nachher auch der Churfürft Joachim von
Brandenburg fein Land der neuen Lehre zuführte, Dafür wurde aber freilich ver
innere Zuftand der jungen Kirche immer bevenflicher, und die Freude an ben
äußern Siegen und Eroberungen wurde durch die Wahrnehmung fo vieler unheil-
barer innerer Schäden vergällt, Der Landgraf von Heffen, der Borfämpfer des
Proteftantismug, forderte 1540 ein Gutachten zur Nechtfertigung der von ihm
beabfichtigten Bigamie, und Luther Hatte nicht den Muth, es zu verweigern; Me—
lanchthon felbft wohnte der Vermählung bei, und Luther, der wenigftens auf Ber-
fchwiegenheit und Geheimhaltung der Gefchichte gerechnet hatte, mußte zu feinem
Berdruffe bemerfen, daß fie ruchbar werde; doch wollte er, wie er fagte, des
Teufels und der Papiften wegen feinen Kummer verbergen. Darüber fam das
wichtige, 1540 zu Worms begonnene, 1541 zu Negensburg fortgefegte Colloquium
herbei, welches für die Sache der Fatholifchen Kirche, in Teutfchland wenigſtens,
fehr bedenklich Hätte werden können, wenn Luther nicht, ganz einverflanden hierin
mit dem fächfifchen Churfürften, jede Annäherung und jedes Nachgeben zurück—
gewiefen hätte; daran fcheiterten die Tiftigen Künfte des Landgrafen Philipp und
Bucers. Dem Kaifer war damals fo fehr an der Heilung der kirchlichen Spal-
tung in Teutfchland gelegen, daß er in die Abfendung einer förmlichen Gefandt-
Schaft an Luther nach Wittenberg willigte; fie beftand aus dem Fürften Johann
von Anhalt, von Schulendburg und dem proteftantifchen Theologen Alefins, aber
Luthers Antwort fohnitt jede Hoffnung ab; die Fatholifchen Theologen, forderte
er, follten öffentlich befennen, daß fie bisher falfch gelehrt, und ihre Faſſung des
Dogma’s von der Nechtfertigung widerrufen. Ein Mann, der kurz nachher (20,
Januar 1542) in der fihranfenlofen Fülle feiner oberſten Kirchendictatur ſelbſt
einen Bifhof — in der Perfon feines Jüngers Amsdorf für das Bistum Naum-
burg — ordinirte, Fonnte freilich nicht geneigt fein, feine Authorität durch irgend
ein Aufgeben feiner bisherigen Behauptungen und Dogmen felber zu ſchwächen.
Damals war er überhaupt durch die raſchen glänzenden Erfolge feiner Lehre und
den Weihrauch, der feiner Perfon geftreut wurde, fo berauſcht, daß er z. B. in
einem Schreiben an den Prediger Lauterbach zu Pirna (7. Mai 1542) forderte;
Die Meißnifchen Staatsbeamten und Edelleute, die bereits das Lutherthum an—
genommen und zum Beweis davon unter beiden Geftalten communieirt hatten,
müßten nicht nur Buße thun, fondern auch Alles, was er und feine Collegen be—
reits gethan und in Zukunft noch thun würden, unbedingt gutheißen. Doch
die Gelüfte des Firchlichen Despoten reichten viel weiter als feine wirkliche Macht,
Man ließ ihn frei fchalten in Sachen der theofogifchen Controverfe und der Lehre;
er durfte nach Herzensluft an der fleten Erweiterung der Kluft zwifchen feiner
neuen Kirche und der alten arbeiten; foweit traf feine Gefinnung mit den Plänen
und Intereffen der Fürften zufammen, aber man ließ ihn feine Ohnmacht fühlen,
fobald er Miene machte, in das Gebiet, welches der Adel, die Juriften und
Beamten fich vorbehalten Hatten, hinüberzugreifen, bei der Verwendung bes
Kirchengutes mitzureden u, dgl, Der Verdruß, den er darüber empfand, wurde
noch gefteigert durch die Zwietracht, die unter feinen Anhängern und ſelbſt on
ſchen ihm und Melanchthon herrſchte. „Alle Glieder des Leibes in der Kirche
find wider einander, fagte erz' auch wir, fo ein Stü des Herzens find, plagen
Luther, 61
ung einer den andern.” Schon im Jahre 1537 Hatte er fih über die Lehre von
der Rechtfertigung, welche Melanchthon durch das Dogma von der Nothwendig-
- Feit der guten Werfe mildern, oder, vom Iutherifhen Standpuncte aus die Sache
betrachtet, verfälfhen wollte, mit diefem feinem vornehmſten Gehilfen entzweit.
Wenn zu deiner Zeit ſchon, fehrieb Melauchthon damals an Dietrih in Nürn—
berg, die Knechtſchaft Hier fchlimm genug war, fo ift Luther feitdem noch viel
härter geworden.“ Die Differenz in der Abendmahlsiehre Fam als neuer Stoff
- zu Argwohn und Spannung hinzu, denn Luthern fonnte es nicht verborgen blei=
ben, daß Melanchthon ſchon feit Fahren fih der Zwinglifhen Lehre zuneigte,
Während Melanchthon mehr als einmal von Wittenberg fortzuziehen gedachte,
ftand Luther im Jahre 1544 gleichfalls auf dem Puncte, in feinem Verdruſſe
über ihn, Eruciger und die meiften andern Theologen von dort wegzuzie-
ben; es bedurfte dringender Bitten und Borfiellungen, um ihn zum Bleiben
zu bewegen, „Es fann es — fhrieb damals Eruriger an Veit Dietrihd — faft
Keiner von uns vermeiden, fi) Luthers Unwillen zuzuziehen, und auch öffentlich
von ihm gegeißelt zu werden.“ — Früher ſchon hatte er fih mit feinem alten
Hausfreunde Agricola entzweit, und nun verfolgte er diefen Dann mit jener Be-
bharrlichfeit und Energie des Haffes, die ihm eigen war; er verläumdete feine
Lehre, furhte ihm jede Anftellung zu verfchließen und alfenthalben Feinde zu er-
I werden, verdächtigte ihn in Briefen und Tieß ihm die Herausgabe von Schriften
verbieten — denn Luther ließ durch den weltlichen Arm des Churfürften eine
firenge auf alfe ihm mißfälligen Schriften ſich erſtreckende Cenfur üben, und fuchte
Alles, was Bedenfen oder Zweifel gegen feine Lehre erregen fonnte, fo weit fein
Arm und der feiner Anhänger reichte, zu unterdrüfen, War irgendwo eine
ſchreiende Gewaltthat verübt worden, fo war er, falls fie nur im Intereſſe feiner
Lehre und Partei gefchehen war, fofort bereit, fie zu befohönigen. Als der König
son Dänemark alle Bifchöfe feines Landes ohne irgend einen gefeglichen Grund
an Einem Tage hatte gefangen fesen Iaffen, bloß um ſich ihrer Güter zu be—
mähhtigen und das Land ungehindert proteftantifch zu machen, bezeugte ihm Luther
brieflih fein Wohlgefallen, daß er die Bifchöfe „ausgerottet” habe, verſprach
auch gleich, er wolle „ſolches, wo er Fünne, zum Beften helfen deuten und ver-
antworten.” Im Auguft 1543 brach er denn auch noch einmal gegen die Zwing-
lianer los; die Beranlaffung gab ihn der Zürcher Buchhändler Froſchauer durch
Veberfendung der Bibelüberfegung von Leo Jud; in feiner Antwort drohte er den
1 Züridern mit dem Strafgerihte, welches ihren Meifter Zwingli erreicht habe.
| Einige Monate nachher erfchien fein „kurzes Befenntni vom Sacramente wider
die Schwärmer“, die vollftändigfte Losfagung von der Schweizer Fraction des
Proteftantismus und von der Wittenberger Concordie, denn durch die „über-
flüffige Liebe und Demuth, die er zu Marburg bewiefen, fei nur Alles ärger ge—
worden, und da er nun auf der Grube gehe, wolle er die Zeugniß vor den
Richterſtuhl Ehrifti bringen, daß er die Schwärmer und Sacrament- Feinde, Carl-
fladt, Zwingli, Oecolompadius, Stenffeld (der Schlefier Schwenffeld) und ihre
Zünger zu Zürich und wo fie find, mit ganzem Ernfle verdammt und gemieden
babe, fie und ihre Täfterliche und Tügenhafte KRegerei”, Noch im folgenden Jahre
(1545) fand Major, als er, im Begriffe nah Negensburg zum Colloquium zu
geben, fi von Luther verabfihieden wollte, an der Stuvirfiube des Reformators
die Worte von feiner Hand gefchrieben: Nostri Professores examinandi sunt de
coena Domini. Das galt Melanchthon und deffen Freunden. Während er fo volf
Argwohnes gegen feine alten Waffengefährten und nächften Umgebungen war,
faßte er noch einmal den ganzen Grimm, den er gegen die alte Kirche im Herzen
näßrte, in zwei Schriften zufammen; die eine war feine „Schrift wider die 32
Artifel der Theologiſten zu Löwen“; fie beftand aus 76 Thefen, in denen er die
son ihm verworfenen Fatholifhen Lehren nicht etwa widerlegte, fondern nur
672 Luther,
verneinte, verzerrte, und mit jenen giftigen und ungeheuerlihen Schmähworten,
wie fie nur ihm eigen waren, zu befudeln firebte; er meinte, ſcheint es, den durch
die Menge der theologifhen Schmähfchriften und polternden Predigten abge-
finmpften Gaumen des Volfes nur noch mit fo draſtiſchem Stoffe Figeln zu können;
oder er befand fih fortwährend in einer Stimmung, deren natürlicher Ausdruck
diefe Art der Polemik war, Faft gleichzeitig erſchien „das Papſtthum zu Nom
vom Teufel geftiftet”, eine Schrift, deren Entftehung ſich kaum anders als durch
die Annahme erklären läßt, daß Luther fie großentheilg im Zuftande der Erhitzung
durch beraufchende Getränfe gefchrieben habe, War er wirklich bei Abfaffung
diefes Buches nüchtern, fo verftand er es, ſich bis zu jener Stufe des eraltirteften
Ingrimmes hinaufzufhrauben, wo der Geift, der Selbfiherrfchaft baar, der Ver—
rücftheit zu verfallen beginnt. Gleich als ob es ihm an Objecten des Grolles
fehle, fohrieb er in jenen Testen Jahren feines Lebens auch noch gegen Die Juden.
Schon in den erftien der gegen fie gerichteten Schriften forderte er förmlich die
Chriften auf, die Synagogen der Juden mit Feuer zu verbrennen, und jeder,
der könne, folle Schwefel und Pech zuwerfen; dann folle man ihnen alle ihre
Bücher, auch die Bibel nehmen; ihnen allen Gottesdienſt bei Tobesftrafe ver—
bieten, mit ihnen nach aller Unbarmberzigfeit verfahren, und fie zuletzt aus dem
Lande jagen, Die zweite Schrift, „vom Schem Hamphoras” , begann gleich mit
der Erflärung, die Juden feien junge zur Hölle verdammte Teufel; im Verlauf
aber ergeht er fih in fo widerwärtigen, efelhaften, gemeinen Bildern und Schil-
derungen, daß felbft feine Anhänger fpäter diefer Schrift nur mit Scham gedach-
ten, Meberhaupt brachte Luther die legten Jahre feines Lebens in einer büfteren
Stimmung, in fortwährender Bitterfeit, in fruchtlofen Klagen und Zornesergüffen
und in dem ſtets wiederkehrenden Wunfche zu, recht bald durch den Tod dem Au—
blife fo vieler ihm unerträglichen Dinge entrüdt zu werben, Die katholiſche
Kirche hatte feine Hoffnung und Vorausfegung eines baldigen gänzlichen Zerfalles
getäufcht, und ihre Fortbeftand drückte feiner Genoffenfhaft das Brandmal einer
von dem alten Stamme der Kirche Losgeriffenen ahnenlofen Seecte auf; die
Schweizer Kirchenpartei breitete fich weiter aus, die Verſöhnung zwifchen ben
beiden großen proteftantifchen Körpern war mißlungen, die Spaltung eine voll-
endete Thatſache. Seine eigene Kirche aber — Luther ftand vor dieſem Werfe
feiner Hände mit dem Gefühle eines Mannes, dem die Macht und Herrſchaft
über feine Schöpfung genommen ift, und der der weiteren Entwicklung unthätig
zufehen muß. Fürften, Adel, Bürger und Bauern bereicherten fih mit der Beute,
des Kirchengutes, ließen die Prediger darben, oder mißhandelten fie, tröfteten ſich
fleißig mit dem neuen Evangelium und führten dabei ein Leben, das den ethi—
ſchen Charafter der proteftantifchen Lehre in ein höchſt ungünftiges Licht ftellte,
Die Prediger aber haderten allenthalben unter einander und brachten ihre Streit-
händel auf die Kanzel, Luther Fonnte den Zufammenhang, in welchem Alles dieß
mit feinen Lehren und Thaten ftand, fich nicht abläugnen, und fo wurbe ber
Kummer und zornige Mißmuth feiner fpätern Jahre nur bie und da dur ein-
zelne Lichtblide, wie z. B. die Niederlage und Gefangenfchaft des vom ihm fo ge-
haften und gefchmähten Herzogs Heinrich von Braunſchweig — aufgeheitert.
Wenn er mit ber ihm bereits zur andern Natur gewordenen DBitterfeit und
Schmähfucht auch die Zuriften zulegt noch anfiel, fo lag der Grund davon wohl
weniger in der nächften und aͤußerlichen Veranlaffung, dem Streite wegen ber
Gültigkeit der VBerlöbniffe, als in der Wahrnehmung, daß die Herrfchaft über
die neue Kirche und deren Prediger immer mehr diefem Stande zufalle, und daß
eben darum auch das gefammte Kirchenwefen in die Zwangswefte der juriſtiſch-
büraueratifchen Verwaltungsform fih einfchnüren laffen müffe — eine Wahr-
nehmung, doppelt drückend für einen Mann, der noch die alte bifhöflich-Eirchliche
Berwaltung gekannt hatte, und der fich geftehen mußte, daß er es fei, ber dieſe,
Luther. 673
bei allen ihren Gebrechen doch Kirhliches auf kirchliche Weiſe behandelnde Ver—
faſſung zertrümmert und der neuen fo durch und durch unkirchlichen Ordnung die
Wege gebahnt habe. In Wittenberg war unterdeß die Zuchtloſigkeit ſo arg ge=
worden, daß Luther, wie er feiner Frau im Juli 1545 ſchrieb, eher umher—
ſchweifend das Bettelbrod effen wollte, als in diefem Sodoma leben. Zulegt
trug er ſich noch mit manderlei Entwürfen: er wollte noch einmal wider die Pa—
piſten fchreiben, da ihm fein vor zwei Jahren erſchienenes Buch noch nicht derbe
genug zu fein ſchien, dann wollte er an der Austreibung der Juden arbeiten, am
19. Zanuar 1546 „übte er fih im Schreiben wider die Parififhen und Löwen’-
ſchen Efel”, und zwei Tage vorher hatte er fih mit den Worten des Pfalmes
felig gepriefen, daß er nicht im Rathe der Zwinglianer und auf dem Lehrſtuhle
der Züricher fite. In folder Stimmung ereilte ihn der Tod am 22, Februar
1546 zu Eisleben, wohin er, um einen Streit der Grafen von Mansfeld zu
ſchlichten, gekommen war. — Wenn man den mit Recht einen großen Menn
nennt, der mit gewaltigen Kräften und Gaben ausgerüftet Großes vollbringt,
der als ein Fühner Gefeggeber im Reiche der Geifter Millionen fih und feinem
Syfteme dienfibar macht — dann muß der Sohn des Bauern von Möhra den
großen, ja den größten Männern beigezählt werden. Auch das ift richtig, daß
er ein theilnehmender Freund, frei von Habfucht und Geldgier, und Andern
zu helfen bereitwillig war, Aber wir müffen ihn als öffentlichen Charakter,
als Neformator und Stifter einer neuen Kirche weiter zeichnen oder vielmehr
ihn fi felber fchildern laſſen. Die Sprache der zweifellofeften Zuverficht,
der unfehlbarften Gewißheit in allen feinen Behauptungen wußte Luther mit
der größten Leichtigkeit zu handhaben; er verfiherte in den mannigfaltigften
Wendungen, er babe feine Lehre vom Himmel und durch göttliche Eingebung,
er fei ganz gewiß, daß fein Wort nicht fein, fondern Chrifti Wort, fein Mund
alfo auch der Mund Ehrifti ſei; Ehriftus felbft Habe ihn zu einem Evange-
liſten berufen, mit feiner Lehre fei er Richter nicht nur der Menfchen, fondern
auch aller Engel, und wer fie nicht annehme, der fei unfehlbar verdammt. Mit
folden Aeußerungen war er ftets zur Hand, und es Foftete ihn Feine Ueberwin—
dung, fi alles Ernftes für den größten und begabteften Lehrer zu Halten, der
feit der Apoftel Zeiten unter den Ehriften aufgeftanden, Bei folhem Glauben
vermochte er Leicht fih und Andere zu überreden, Gott wirfe fort und fort Wun-
I der zu feinen Gunften, und hier fam ihm feine angeborene Neigung zum Arg-
wohn, und die Lieblingsidee, daß der größte Theil der Menſchen eigentlich unter
der Herrfchaft des Teufels ftehe, fehr zu ftatten, Er bildete fih nun ein, feine
Gegner feien nicht nur feiner Lehre abhold, fondern auch gegen fein Leben ver—
fhworen, und hätten viele Menfchen in Sold genommen, um ihn zu vergiften;
diefe Bergifiungsverfuhe aber wurden immer durch ein Eingreifen Gottes- wun—
derbarlich vereitelt; er babe, behauptete er, oft Gift getrunfen, es habe ihm aber
nie fhaden fonnen; ja die natürlichen Folgen eines allzureichlich genoifenen Abend-
fhmaufes ſchrieb er folden Vergiftungen zu; felbft die Predigtftühle und Lehnen,
auf denen er gepredigt, waren, wie er nicht zweifelte, oft vergiftet, und doch Fam
er immer wohlbehalten davon. Indeß eigneten fich dergleichen Wunder nicht zu
Beweiſen feiner göttlichen Sendung und der Wahrheit feiner Lehre, und Luther,
der e8 mehrfach theils als nothwendig, theils als fehr wünſchenswerth anerfannte,
daß feinem Syſteme au die Beftätigung durch Wunder und Zeichen nicht fehle,
ſah fich daher nach Ereigniffen um, die als folhe außerordentliche Wirkungen der
unmittelbar eingreifenden göttlichen Allmacht gelten Fönnten, „Denn — meinte
er — wenn es die Noth erforderte, fo müßten wir wahrlich daran, und müßten
auch Zeihen thun, ehe wir ung das Evangelium ließen [hmähen und unterdrücken.“
Er wußte jedoch nichts anzuführen, als daß es einzelnen Nonnen gelungen fei,
aus ihren wohlverwahrten Klöftern zu entfommen, Das feien Wunder, die fein
Kirchenlexikon. 6. Br, 43
a En ——
674 Luther.
Evangelium thue, die aber freilich die Gottloſen nicht ſehen wollten. Indeß be-
hauptete er auch wieder, es fei nicht mehr Noth, Wunder zu thun, und berief
fich dann Lieber auf die ſchnelle Ausbreitung feiner Lehre und auf die Uneinigfeit,
die fie in der Welt angerichtet habe, dieß fei der ftärffie Beweis und Wunder-
zeichen, daß er die Sache in Gottes Namen angefangen, und das rechte Wort
Gottes lehre. Er vergaß nur dabei, daß dieß bei fo vielen älteren und neueren
Irrlehren auch der Fall gewefen, oder, wie er felbft einmal fihrieb, „daß bie
Welt faft allen Kegereien anfänglich mit ausgebreiteten Armen, fie zu empfahen,
entgegengelaufen ſei.“ — Aber jene Zuverfiht und jener Ton einer unerfchütter-
lichen Feftigfeit war bei Luther zum großen Theil nur das Erzeugniß der pole—
mifchen Erhigung und eines künſtlich gefleigerten Taumels, fowie des Bewußtſeins
feiner natürlichen Ueberlegenheit, feiner dialectifchen Stärke und rbetorifchen Ge—
wandtheit. Es findet ſich in dieſer Beziehung die charakteriſtiſche Aeußerung von
ihm: „Die äußeren Anfechtungen machen mich nur ftolz und hoffärtig, wie ihr
das in meinen Büchern feht, wie ich die Widerfacher verachte; ich halte fie ſtracks
für Narren,” War er aber fich felbft überlaffen und im einfamen Verkehr mit
feinem Gewiffen, dann wollte diefe Zuverficht, die eben oft nur erzwingen und
ertrogt war, nicht Stich halten. Oft fhlug die Dual der Neue und der Ge-
wiffensangft ihren ſcharfen Zahn in feine häuslichen Freuden und Hffentlichen
Triumphe. Diefe mahnenden Stimmen eines erſchreckten und gequälten Gewiffens
nahmen verfchiedene Formen an, und immer fuchte Luther fich mit der Vorftellung
zu beruhigen, daß es fatanifche Berfuhungen, Einflüfterungen des Erzfeindes
feien, der ihm vor allen Menſchen auffägig fei, weil Niemand noch dem Neiche
Satans fo großen Abbruch gethan. Hauptfächlich war es der Zweifel an der Wahr-
heit feiner eigenen Lehre, ein beängftigendes Gefühl dogmatifcher Unficherheit, was
ihn peinigte; er geftand oft, er könne felber nicht glauben, was er Anderen Iehre;
als der Prediger Anton Diufa von Rochlitz einmal Luthern Flagte, er Tünne nicht
glauben, was er predige, erwieberte diefer: Gott fei Danf, daß es Andern au
fo geht; ich meinte, mir wäre allein fo, Der Satan, äußerte er ein anderes
Mal, habe ihn mit Sprüchen der Schrift alfo zerplagt, daß ihm Himmel und
Erde zu enge geworben, und im ganzen Papſtthum Fein Irrthum gewefen fet.
Dazwifchen war es dann wieder das fih aufprängende Bewußtſein, daß er ohne
Beruf und göttlihe Sendung fi zum Gründer einer neuen Lehre und Kirche
aufgeworfen habe, und die kläglichen Troftmittel, an denen er fih wie ein Ver-
finfender an einem Strohhalm zu halten fuchte, beweifen, wie niederbeugend diefes
Bewußtſein für ihn war, „Sch hab’ oft gefagt, und fag’ es noch, ich wollte der
Welt Gut nicht nehmen für mein Doetorat, denn ich müßte wahrlich zulegt ver—
zagen und verzweifeln in der großen und fohweren Sache, die auf mir liegt, wo
ich fie als ein Schleicher ohne Deruf und Befehl Hätte angefangen.” Der Teufel,
äußerte er ein anderes Mal, hätte mich mit diefem Argument getödtet: Du bift
nicht berufen, wenn ich nicht wäre Doctor gewefen, Er überfab nur dabei,
daß ıhm das Doctorat bloß für den gelehrten Bortrag in der Schule, und nur
mit der Bedingung und dem Auftrage, die heilige Schrift nach der Meberlieferung
and herrfchenden Lehre der Fatholifchen Kirche auszulegen, verliehen worden war,
— Häufig waren es aber auch die traurigen Folgen feiner Lehre, die mahnend
vor fein Gewiffen traten, die Zerreifung ber vor ihm einigen Kirche, die in ſei—
nem eigenen Kirchenwefen aufgehende Saat der Zwietracht, die allentbalben ſich
fundgebende Sittenfofigfeit, die mit dem neuen Rechtfertigungs-Dogma ſich trö-
ftende Sicherheit, und das Schwinden aller ernfleren Neligiofität, und dazu fam
noch das mehrfach von ihm ausgeſprochene, niederfählagende Bewußtſein, daß er
felber feit feiner Trennung von der Kirche ethiſch herabgekommen und erfaltet fer,
So geftand er zum Beifpiel: „Ich befenne für mich felbft, und ohne Zweifel auch
Andere müffen befennen, daß mir's mangelt an ſolchem Fleiß und Ernft, den ih
Luther. 675
jeßt viel mehr, denn zuvor, haben foll, und viel nachläffiger bin, denn zuvor
unter dem Papfitfum, und ift jest nirgend Fein folder Ernft beim Evangelium,
wie man zuvor hat gefehen bei Mönchen und Pfaffen.” Affe diefe Vorwürfe und
Gedanfen mit ihren daran fih Fnüpfenden unabweisbaren Conſequenzen fuchte
er num mit äußerfter Anftrengung dur die Vorſtellung zu entkräften und fi
aus dem Sinne zu ſchlagen, daß es der Teufel fei, der fie ihm eingebe, um ihn
damit irre zu machen und zur Verzweiflung zu treiben, Darum ift in feinen
Sihriften und befonders in feinen Briefen und vertrauten Aeußerungen fo viel die
Nede davon, daß er „in der Hand des Teufels fei, daß der Satan ſich in Chriſtus
ſelbſt umgeftalte, und er, Luther, mit feiner Kenntniß der heiligen Schrift gegen
ihn nicht ausreihe, daß er ganze Nächte hindurch mit dem Satan kämpfen müffe,
der es ihm oft mit feinem Disputiren fo nahe bringe, daß ihm der Angſtſchweiß
darüber ausgehe“ u. ſ. f. Mitunter fuchte Luther einen eigenthümlichen Troft und
eine Befriedigung feines Selbfigefühles in der Borftellung, daß der Teufel für
ihn ganz befondere große und außerordentliche Anfechtungen erfonnen habe, von
denen feine Gegner, die Papiften, freilich nichts wüßten, gleihwie auch die
Kirchenväter ehemals fie nicht gefannt hätten, Berglichen mit diefen Anfechtungen
feien Die gewöhnlichen Verfuchungen zu Fleifhes-Sünden und dergleichen nur
Kleinigkeiten; er befchreist nun diefe afferfchwerften Anferhtungen als einen Zu-
fland, in welchem man nicht wife, ob Gott der Teufel, oder der Teufel Gott
fer, und vor Angft glei den Geift aufzugeben fürdte, Aus allen feinen hyper—
bolifhen Wendungen und paradoren Beſchreibungen ergibt fih aber am Ende nur
dieß, daß es die Borwürfe ſeines Gewiffens und die Zweifel an der Richtigkeit
feines Syftemes, befonders feiner Nechtfertigungsiehre, waren, die er vor ſich
felöft und vor Anderen gerne dem Satan als deffen ganz befondere Kunftgriffe
zugefhoben hätte, Es waren alfo Verfuhungen, wie fie wohl jeder aufrichtige
und ernft gefinnte Chriſt zu beftehen Hat, nur mit dem freilich fehr großen Unter-
ſchiede, daß diefer nicht das zu verantworten hat, was Luther unternommen hatte,
und dag ein in der Kirche wurzelnder Chriſt Zweifel und Regungen des Un—
glaubens viel leichter überwindet, da fein Glaube von dem Zeugniß und Anſehen
der ganzen Kirche getragen wird, Wenn demnach Luther von jenen höchſten An—
fehtungen redet, die ihn an feinem Leibe fo erſchöpft und gemartert hätten, daß
er kaum Techzen und Athem holen Fonnte, wenn er in feiner Schwermuth gräu-
liche Gefihte gefehen haben wollte, fo Tiegt der Schlüffel dazu in der gleich
darauffolgenden einfachen Erklärung: „Der traurige Geift ift das Gewiffen felbft“,
und in dem Geftändniffe, daß er dem Satan, wenn diefer ihm fo zufege, dem
„Gräuel des Papſtes“ vorwerfe, der fo groß fer, daß er nad Chriſto fein größter
Zroft fei, „Darum — fügt er hinzu — find das heilloſe Tropfen, die da fagen,
man folle den Papft nicht fehelten. Nur flugs gefcholten, und fonderlih, wenn
dich der Teufel mit der Juſtification anfiht.” Es bedarf wohl feiner Ausführung,
welch' einen Blick uns diefe Aeuferungen in das Innere des Mannes thun laffen,
(Siehe Luthers Colloquia, beransg. von Förftemann, II, 102, 103, 116,
1 121, 136. IV, 62). Als Polemifer und Berfaffer theologifcher und beſonders
populärer Streitfhriften verband Luther mit einem unläugbaren großen dialectifch-
1 rhetorifchen Talente eine Gewiffenlofigfeit, wie fie auf diefem Gebiete wohl nur
felten im gleichen Grade vorkommt, Es ift einer feiner gewöhnlichften Kunſt—
griffe, eine Lehre oder Inſtitution erft bis zur abfurdeften Frage zu verunftalten,
und fi dann, vergeffend daß das, was er befämpft, in folder Geftalt nur ein
Phantom feiner gefolterten Einbildung fer, mit behaglihem Tadel darüber zu
verbreiten, Nur allzu oft finft er zum Tone eines geiftlichen Marktfchreiers herab,
und blaht fich mit Hyperbofifchen Phrafen und hohlen Uebertreibungen auf. So
wie er eine theologifche Frage anfaßt, verwirrt er fie auch, oft mit berechnender
Abſichtlichleit, und die Gründe der Gegner werden bis zum Unkenntlichen ver-
43*
676 Luther,
ftümmelt und verzerrt, Aber bei allen diefen Gebrechen, welche das Lefen feiner
Schriften jegt zu einer fo ermübdenden und widerwärtigen Beichäftigung machen,
fühlt man doch, daß er eine wunderbare Gabe hinreißender Popularität befaß,
und daß feine Demagogie auf die genauefte Kenntniß und Berechnung aller
Schwächen des teutfchen Nationalcharakters gebaut iſt. Die Art, wie er in diefen
Streitfhriften die Perfonen feiner Gegner behandelt, ift wirklich beifpiellos, Nie
ift e8 die trauernde Liebe, die, nur den Irrthum haffend, den Irrenden zu ge—
winnen fucht, fondern es iſt fhmähender Groll, trogiger, wegwerfender Hohn,
und eine mafjenhafte Häufung von Invectiven, oft der perfönlichften, oft zugleich
der pöhelhafteften Art, die wie ein Strom aus unverfiegbarer Duelle ſich er-
gießen. Es iſt durchaus unwahr, daß Luther in dieſer Beziehung nur einer in
jener Zeit überhaupt herrfhenden Unſitte gefrößnt habe; das Gegentheil weiß
jeder Kenner der gleichzeitigen und unmittelbar vorausgegangenen Literatur ;
Luthers Schriften erregten gerade durch diefen Charakter allgemeines Erftaunen,
und während Alle, die nicht zu feinen unbedingten Anhängern gehörten, ihr Be—
fremden darüber ausprüdten, oder ihm deßhalb die fohärfften Vorwürfe machten,
und auf die verderblihen Wirkungen diefer ſchmähenden Ergüffe hinwiefen, pfleg-
ten feine Jünger und Bewunderer fih mit dem „heroifchen Geiſte“ des Mannes
zu tröften, dem Niemand Maß oder Ziel zu fesen fich unterfangen dürfe, und
der eben durch eine Art von Inſpiration von der Beobachtung des Sittengefeges
dispenfirt, fich das geftatten dürfe, was bei Anderen unfittlih und frevelhaft fein
würde, In feinem andern Schriftftelfer findet fih ferner Begeifterung für den
unerfhöpflichen Reichthum und göttlichen Charakter der Heiligen Schrift mit der
gewaltfamften Mißhandlung derfelben fo dicht beifammen, wie bei Luther, Sein
Verſuch, ven Brief Jacobi aus dem biblifchen Canon zu werfen, die verächtliche
Sprade, in der er fich über dieſen Beftandtheil der HL, Schrift ausdrückt, ift be-
fannt; die neuerdings vorgebrachte Behauptung, daß er fpäter von diefer Ver-
irrung zurüdgefommen fer, ift grundlos; noch in feinem legten größeren Werfe,
feiner zweiten Auslegung des erfien Buches Mofis, äußerte er fich über den Brief
und deſſen Berfaffer in der alten, tadelnd-wegwerfenden Weiſe. Er hatte freilich
nur die Wahl, entweder den Brief ganz zu verwerfen, oder den ſchroffen Wider-
ſpruch, in weldem die Erflärung diefer heiligen Urkunde über Rechtfertigung mit
feinem Syfteme fteht, in der Weife, wie es die fpäteren proteftantifchen Theo-
Iogen gethan, durch gewaltfame Snterpretation zu entfernen. Warum er fich nicht
biefür, fondern für das erftere entfchied, ift nicht Harz; Gewiffenhaftigfeit der
Eregefe und Scheu vor der einfachen Klarheit des Textes war es fiherlih nicht,
was ihn beftimmte, denn die willfürlichften, Handgreiflich falfchen Interpretationen
find in feinen polemifchen Schriften ganz gewöhnlih. Es ift faum möglich, es
hierin ärger zu treiben, als er e8 z. B. in feinen Schriften gegen Erasmus in
den felbft von Planf angeführten Beifpielen gethan. Ja es läßt fih in feinen
Schriften eine förmliche Gradation eregetifcher Wilffür und Gewaltfamfeit an
zahlreichen Beifpielen nachweiſen. Wenn er allerdings am bäufigften dadurch falſch
interpretirt, daß er feine eigenthümlichen Vorſtellungen, die er fich feinem eigenen
©eftändniffe nach nicht durch ruhiges, unbefangenes Bibelftudium, fondern in dem
Zuftand einer peinlichen Geiftesverwirrung und Gewiffensangft gebildet hatte,
den biblifchen Stellen unterlegte, fo war es ſchon ein weiterer Schritt gewalt-
famer Wilffür, daß er den Text, den er zu feinen polemifchen Zwecken gebrauchen
wollte, erft dafür zurichtete, theils durch falfhe Ueberfegung, theils durch Inter-
polation, Reichte auch dieß nicht aus, dann fegte er Schrift und Chriſtus ein-
ander entgegen, wie 3. B. in folgender Stelle: „Da Papift pocheft faft (ſehr)
mit der Schrift, welche doch unter Chrifto als ein Knecht ift, daran kehre ich mich
gar nichts. Ich aber troge auf Chriſtum, der der rechte Herr und Kaiſer ift über
die Schrift, Ich frage gar nichts nach allen Sprüchen der Schrift, wann du ihrer
Luther. 677
noch mehr wider mich aufbräcteft, denn ich habe auf meiner Seite den Meifter
und Herrn der Schrift, mit dem will ich's Halten, und weiß, er wird mir nicht
fügen, noch mich verführen, ihm will ich Tieber die Ehr’ geben und glauben, denn
daß ich mich in allen Sprühen um ein Haar, breit bewegen Iaffen wollte.” —
Mitunter gefhah es auch, daß eine biblifhe Stelle, die einer feiner Lieblings-
lehren befonders Far widerfprach, ihm unruhige Stunden machte; zulest aber
wußte er fein eregetifches Gewilfen auch bier mit der Borftellung zu beſchwich—
tigen, daß diefe Beunruhigung nur eine Verfuchung des Teufels fei, der ihn mit
Schriftſtellen irre machen und zur Verzweiflung treiben wolle. Sp machte Luther
es mit der Stelle 1 Timoth. 5, 12. — Mit diefen Zügen zu einem Bilde des
Reformators müffen wir uns hier genügen laffen; nur das darf nicht unerwähnt
bleiben, daß er, befonders feit dem Jahre 1520, über Gefhlechtsverhältnig,
Ehe und Eölibat Behauptungen aufftellte und unter dem Wolfe verbreitete, die
in den weiteften Kreifen, nach dem Zeugniffe von Zeitgenoffen, einen höchſt nach—
theiligen moralifchen Einfluß ausübten. Er ift wohl feit der Stiftung der drift-
lichen Kirche der Erfte gewefen, der die Lehre aufftellte, der Menſch fei ein Sklave
feines mit unwiderftehliher Macht Herrfchenden Naturtriebes, und das Gebot, ſich
zu verheirathen, ſei daher nicht nur ein Jedermann verpflichtendes, fondern ver-
binde auch noch ftrenger, als jene Gebote des Decaloges, welche Mord und Ehe-
bruch verbieten. In einer im Jahr 1522 gehaltenen Predigt über die Ehe trug
er Dinge vor und geftattete Rechte, von denen das natürlihe Gewiffen eines
Heiden fi abwenden würde. Auch die Erlaubniß, die er dem Landgrafen Philipp
gab, war eine Folge feiner — freilih wieder mit feinem ganzen Syfteme zu—
fanımenhängenden — Anfiht, dag es — felbft für Ehriften — fein Gebot der
Monogamie gebe, Zum Schluffe nur noch die Erwähnung, daß zwifchen Luthers
Tateinifchen und feinen teutfchen Schriften ein großer Unterſchied ift, In den letz⸗
tern liegt feine Stärke und (theilweife) das Geheimniß feiner außerordentlichen
Erfolge, während die Theologen in Franfreih, England, Italien, Spanien,
welche bloß feine Iateinifhen Schriften lafen, und in denfelben weder befondere
Beredtfamkeit, noch glänzenden Scharffinn oder imponirende Erudition fanden,
vielfach ihre Verwunderung darüber äußerten, daß diefer Mann in Teutſchland
fo vergöttert werde, und felbft unter den Gelehrten fo viele Anhänger und Ver—
ehrer habe. Luthers Leben muß aus feinen eigenen Schriften, vorzüglich feinen
Briefen, gefhöpft werden — eine befriedigende und vollftändige Darftellung des—
felben eriftirt noch nicht. Unter den älteren Biographien ift die „Hiftorie von
Martin Luthers Anfang, Lehre, Leben“ von dem Prediger Matthefiug, der
Luthers Tiſchgenoſſe gewefen (eigentlich eine Reihe von Predigten, Nürnberg 1565),
brauchbar wegen einzelner Züge; die Historia de vita et actis M. Lutheri vor
Melauchthon (Wittemb, 1546) ift gar zu dürftig und oberflächlich; viel reich-
haltiger, aber freilich auch in hohem Grade parteiifch, iſt das Werf eines per-
fönlihen Gegners Luthers, des Cochläus (Commentaria de actis et scriptis M.
L. Mogunt. 1549 fol.), aber da es von einem Zeitgenoffen und Theilnefmer an
den Ereigniffen herrührt, immer wichtig und brauchbar, Auch das fpätere Werf
des Ulenberg, eines zur Fatbolifchen Kirche übergetretenen Lutheraners: Historia
de vita, moribus, rebus gestis, studüs ac denique morte M. L., Colon. 1622, hat
als Materialienfammlung Werth, Die „merkwürdigen Lebensumftände Luthers“
von F. S. Keil (4 Thle. 4., Leipzig 1764) beſchäftigen fih hauptſächlich mit
Luthers „Leibesconftitution, Krankheiten, geiftlichen und leiblichen Anfechtungen
und anderen Zufällen.” Das Leben Luthers von G. H. A. Ufert (Gotha 1817,
2 Thle,) bietet nur einen Wuft von großentheil® werthlofer Literatur. Die
Schriften von Pfizer (1836), Stang (1838), Meurer (1843), Ledder-
bofe (1336), Fönnen nur fehr genügfame Lefer befriedigen. Das Werk von
K. Jürgens, Prediger in Braunfhweig, würde unter den vom proteftantifchen
678 Lüttich.
Standpunet aus geſchriebenen weitaus das wichtigſte und brauchbarſte ſein, aber
die drei Bände (leipzig 1846—47) gehen nur bis zum Ausbruch des Ablaf-
flreites, Das bekannte Werf von Audin ift mit einer allzugroßen, mitunter am
Naivetät grenzenden Unfenntniß der Schriften Luthers, der gleichzeitigen Literatur
und des ganzen damaligen Zuftandes von Teutfchland gefchrieben. Die Mömoires
de Luther von dem Parifer Profeffor Michelet beftehen hauptfählich aus an-
einander gereibten Stellen der Colfoquien und derjenigen Schriften, in benen
Luther von fich felber fpricht, — Ueber den Charakter und Entwidlungsgang des
Reformatorg vergleiche man die Studien und Sfizzen zur Geſchichte der
Reformation, Schaffhaufen 1846, und die Darftellung im dritten Bande des
Werfes: „Die Reformation, ihre innere Entwidlung und ihre Wir—
fungen.” [J. Döllinger.]
Rüttich, (Leodium), Bisthum. Die Anfänge des nachmals fo berühmten
Bisthums Lüttich find in Tongern und Maftricht zu fuchen, denn erft im Anfange
des achten Jahrhunderts iſt der bifchöflihe Stuhl von da nach Lüttich. verlegt
worden, Der Sage zufolge foll die Kirche von Tongern ſchon im erften rift-
lichen Jahrhundert von Maternus I., einem unmittelbaren Schüler Petri, zugleich
mit der Kirche von Eöln geftiftet worden fein. Derfelbe Maternus fei dann auch
der erfte Bifhof von EChln und Tongern, und nach feines Freundes Balerius
Tod überdieß auch (der dritte) Biſchof von Trier geweien (vgl. den Art, Cöln,
Bisth.). Der Hiftsrifhe Maternus Tebte jedoch erft im Anfange des vierten
Jahrhe, und es ift zweifelhaft, ob derfelbe zur Kirche von Tongern irgend eine
nähere Beziehung gehabt habe, Die alten, freilich fabelhaften Eataloge nennen
ganz andere Namen alter Tongerſcher Biſchöfe aus den erfien Jahrhunderten
(Navitus, Marcellus, Metropolus, Severin, Florentius, Martin, Marimin,
Valentin), die mit denen der angeblichen uralten Trier'ſchen Biſchöfe ſo ſehr
übereinſtimmen, daß man die Vermuthung aufſtellen mußte, Tongern und Trier
ſeien lange unter einem Biſchofe geſtanden. Einen hiſtoriſchen Boden für die
Tongern'ſche Kirche gewinnen wir jedoch erſt mit ihrem Biſchofe Ser vatius oder
Servatio, der ſich um die Mitte des vierten Jahrh. an den arianiſchen Hän-
deln betheiligte, und nad dem Zeugniffe des Sulpitius Severus (historia sacra
lib. II) einer der muthigften Vertheidiger der nicänifchen Lehre auf dem Coneilzu
Rimini im 3. 359, darum aber auch dem Faiferlichen Statthalter Taurus befon-
ders verhaßt war. Auch Athanafius nennt unter den gallifchen Bifhöfen, deren
Zuftimmung er ſich auf der Synode von Sardiea erfreute, einen Gervatius, je-
doch ohne Angabe feines Bifchofsfiges; er wird auch wohl derfelbe fein, der zu—
gleich mit Biſchof Maximus nicht Darimin) von Trier als Gefandter an Kaiſer
Conſtantius gefchieft wurde (Athanas. Apolog. ad Constant. T. I. p. 300. Mansi,
Collect. Concil. T. IH. p. 63). Weiterhin erzählt Gregor von Tours (hist. Franc,
1. 5), daß Bifhof Servatins von Tongern bei dem Einfall der Hunnen unter
Attila dur eine Viſion über die dem Lande drohende Gefahr belehrt, nah Rom
gepilgert fer, um durch ein dort zu verrichtendes Gebet die Gefahr abzuwenden.
St, Petrus habe ihn aber belehrt, daß Gallien von den Hunnen werbe verwüftet
werben, weßhalb num Servatius nach feiner Nüdkehr den Stuhl von Tongern
nah Maftriht Cetwas weiter öftlih) verlegt habe, Wahrfcheinlich ift hier von
einem zweiten Servatius die Nede, welcher hundert Jahre fpäter, als der erfi«
genannte, um die Zeit Attila’s, alfo um die Mitte des fünften Jahrh. lebte.
Nach diefer Zeit tritt die Gefchichte des Bisthums Tongern-Maftricht (es führte
nämlich noch immer den Titel Tongern) wieder in's Dunfel zurück, felbft die
Namen der angeblichen Bifchöfe find mehr als zweifelhaft, und erſt gegen die
Mitte des fechsten Jahrh. treffen wir wieder mit Sicherheit einen Biſchof Domi-
tian, der im 3. 535 zu Clermont und 549 zu Orleans auf einem Coneil unter
zeichnete, Unter feinen Nachfolgern ragte im fiebenten Jahrh. der hl. Amandus
Luzern — Lycien. | 679
(fd. 9), der Apoftel Belgiens hervor (684), ein Paar Decennien fpäter aber
- treffen wir den Hl. Lambert (ſ. d. U.) auf dem Stuhle von Maſtricht. Er wurde
son einem fränfifhen Großen Dodo, angeblih einem Bruder der Alpais, im
5.708, wie die Sage geht, deßhalb ermordet, weil er gegen die ehebrecherifche
Berbindung Pipins von Heriftall mit diefer Maitreffe geeifert hatte, Sein Nah
folger war der hl. Hubert (ſ. d, A.), der befannte Patron der Jagd, unter
welchem im J. 721 das Bistum nach Lüttich verlegt worden fein fol. Daffelbe
behielt jedoch noch mehrere Jahrhunderte lang den Namen Tongern, bis Anno
- 1091 der Papft dem Bifchofe Heinrich die Führung des Namens von Lüttich er—
laubte. Das Bisthum Lüttich gehörte zur Rirchenprovinz Coln und zum teutjchen
Reiche, näherhin zum weſtphäliſchen Kreife defjelben, und der jeweilige Bifhof
war Reihsfürft und hatte feinen Sig neben dem Bifhofe von Münfter. Unter
den Befigungen des Bisthums, deren es fehr viele waren, ragte befonders das
Herzogtum Bouillon hervor, welches der berühmte Gottfried vom Bouillon und
feine Brüder an den Bifchof Dbert von Lüttich entweder verfauft oder verfchenft
hatten. Das Stift verlor zwar diefe Befigung wieder im 17ten Jahrh. an bie
Familie de la Tour D’Auvergne, zählte aber doch noch 22 Städte, und mehr als
1200 Flecken und Dörfer. Das Hochſtift Hatte auch nicht weniger ald 61 Canonici,
darunter Söhne von Königen und Fürften. Im 3. 1791 nahmen die Franzofen
das Lüttiher Land in Befig und vertheilten e8 unter mehrere Departements, der
Wiener Congreß aber gab es an die Niederlande und durch die belgifche Revo—
Intion endlich Fam es zum Königreihe Belgien. Die gegenwärtige Didcefe Lüttich
zählt gegen 600,000 Gläubige und gehört zum Erzbistyume Mecheln. Vgl, Rett—
berg, Kirchengeſchichte Teutihlands Bd, I. ©. 204, ff. u. 550, ff., wo auch die
ältere Literatur angegeben ift. [Hefele.]
Luzern, f. Schweiz.
Lycaonia, Auzaovia, Landſchaft im ſüdlichern Theile von Kleinaſien; im
1 »perf. Zeitalter, wo fie zuerft befannt wird, umfaßte fie zugleich den größten Theil
des fpätern Cataonieng, war im Süden dur den Taurus von Cilicien getrennt
1 und erfiredte fih von Fconium im W. 23 g. M. weit gegen D, (Xenoph. An.
1, 2. 29. Strabo p. 563). Während der Herrfchaft der Römer wechfelten die
Grenzen häufig, das Hauptland Fam zur Provinz Cappadocien, einzelne Theile
wurden bald an diefen bald an jenen Fürften verſchenkt; aus diefer Unbeftimmt-
1 beit mag es erklärt werden, daß die Apg. (14, 6. 11) die Städte Lyſtra und
Derbe nad Lycaonien verlegt, während fie nach Andern damals zur Provinz Ga-
latia gehörten (Plin. 5, 42. Str. 12, 569), an weldhe die lycaoniſche Landſchaft
5 in ihrer Gefammtheit in N. grenzte, in D. an Cappadorien, in ©. an einen
1 heil von Cilicia aspera, an Jfaurien, in W. an Großphrygien. Lycaonien, größ-
tentheil® eben, in S. und N, von Gebirgen umgeben, war reih an Schaf-
herden und an Salz. Die Einwohner, nad einer griegifhen Sage Abfommlinge
vom Arcadier Lycaon, alſo helleniſchen Urſprungs, galten für Friegsfundig, na-
mentlich als gute Bogenfgügen. Vgl. Pauly, Realencyel. des claff. Altertfums,
IV. 1253.
Lyceen, f. Mittelſchulen.
ELyeien, Aurie, 1 Macc. 15, 23. Apg. 27, 5. Halbinſel an der Südküſte
Kleinafiens gegen W. und N. W. von Carien, gegen N. von Phrygien und Pifi-
dien, gegen N. D. und D, von Pamphylien und gegen Süden vom mare inter-
num umfshloffen. Der ältere Name des Landes war Mılvas (Herod. 1, 173),
Homer, der diefen nicht Fennt, nennt feine Einwohner Solymer (Il. 6, 480.
10, 430. Od. 5, 282), welche auch in Pamphylien und Pifivien bis an den Taurus
hinauf getroffen werden (Str. 1. p. 21, 34. Ptol. 5, 3. 7), fie fheinen Semiten
zu fein, denn Namen mit diefer Wurzel (2>©) find bei den Semiten häufig,
auch ihre Sprache war ſemitiſch (Chörilus bei Euseb, praep. evang. 9, 9; nad
680 Lydda — Lyon,
Tacit. hist. 5, 2. wurden die Juden mit diefen Solymern in Zufammenhang ge-
bracht, vgl. Knobel, die Völfertafel ꝛc. ©, 231). Die Splymer wurden von
den Termilern, einem zur Zeit des Minos aus Creta ausgewanderten Stamme
verdrängt und Letztere nannten ſich nach dem Athener Lykos, der von feinem
Bruder Aegeus vertrieben worden, Lykier (Aöxıor, Str. 12. p. 573. 14, 667);
der Name Solymer verlor fih nach und nah, Milyas erhielt fih in ven nörd-
lichen Gebirgsgegenden (Str. 667). Die Lycier blieben allein unabhängig von
Eröfus (Herod. 1, 28), erlagen aber den Perfern (id. 1, 176) und theilten fofort
alle Schickſale des perfifhen, macedonifchen und fyrifhen Reiches, Die Römer
ließen ihnen lange ihre Freiheit (Polyb. 30, 5. 12. Liv. 45, 25); das Land bil-
dete einen aus mehreren ſelbſtſtändigen Nepublifen beftehenden Städtebund mit
einem Generalſtatthalter (Auxzıcdoyng) an der Spiße (Str. 14. p. 664), Innere
Zwifte brachten fie um die Freiheit, Claudius machte Lyeien zur römifchen Pro—
vinz (Appian. b. c. 4, 65. Dio Cass. 47, 34. 16, 17. Suet. Claud. 25). Die Lycier
waren ein fleißiges, wohlgefittetes Volk und bildeten namentlich einen eigenthüm-
lichen Bauftyl aus, von welchem erft in neuefter Zeit zahlreiche Ueberreſte ent-
deckt wurden, die ſich vortheilhaft von den roheren Bauwerken der Nachbarvölker
unterfcheiden ; vgl. Fellows discoveries in Lycia, London 1841. Pauly, Real-
encyel, des claffifchen Alterth. IV. 1256, Bon den zahlreichen Iyeifhen Städten
nennt die Bibel: Patara, Hauptfladt des Landes, wohin Paulus von Rhodus
aus gelangte (Apg. 21, 1), fie Hatte einen berühmten Apollotempel mit Drafel
(Str. 14, 665. Plin. 5, 28)5 Phafolis (1. Mace. 15, 23), hatte drei Häfen
(Herod. 2, 178), Paulus Servilius zerftörte fie im Seeräuberfriege (Cic. Verr.
6, 10. Plin. 5, 26), fpäter ift fie Januensis portus genannt; Myra (Apg, 27, 5),
Hafenftadt (vgl. Plin. 32, 8. Str. 14, 665). [Rönig.]
Lydda (ra Audda und 7 Avddn) Lod, 7> der Benjaminiter (1 Chron,
8,12. Esra 2, 32, Nehem. 11, 35), nicht weit von Joppe (Apg. 9, 38) auf
der Straße von Jerufalem nad Cäfarea, nah thalmudifchen Notizen eine Tag-
reife, nach dem itiner. Anton. 32 römifhe Meilen von Jeruſalem; im ſyriſchen
Zeitalter gehörte e8 Anfangs zu Samaria, wurde aber von Demetrius Goter
Judäa zugetheilt und dem Jonathan überlaffen (1 Mace. 11, 34, vgl, 10, 30, 38).
Sofephus Cantt. 20, 6. 2) fennt es als bedeutenden Drt, der unter römifcher
Herrſchaft den Namen Divspolis erhielt, und im Tegten jüdiſchen Krieg von Ceſtius
zerfiört wurde (bell. j. 2, 19. 1); wieder aufgebaut war Lydda eine Zeitlang Sig
einer jüdifhen Schule, feit dem vierten Jahrh. eines Bisthums, genannt nach
dem HI. Georg, der hier unter Diocletian den Martyrertod ſtarb. 415 wurde in
Lydda Pelagius von einer Synode von 14 Bifchöfen verhört (Neander, Krehgſch.
11. 3. ©. 1222. f.). Im diefem Orte foll der Antichrift getödtet werben (Abulf.
tab. Syr. 7). Das jebige Ludd ift ein ziemlich anfehnliches Dorf, mit den Ruinen
der berühmten, von Kaifer Zuftinian erbauten, von Richard Lowenherz (?) reftau-
rirten St. Georgskirche, deren Befchreibung ſowie das Ausführliche über die Ge-
ſchichte Lydda's bei Robinſon CI. 262, ff.) zu finden iſt.
Lyon (Lugdunum), Bisthum. Die Stadt Lyon, etwa ein Yabrbundert
vor Chrifto an der Einmündung des Ararfluffes in den Nhodanus von Planens
gegründet, wurde hundert Jahre nah feiner Gründung von einer Feuers brunſt
zerftört. Die Römer hatten es in kurzer Zeit aus feinem Schutte wieder erhoben,
und bald bevedte e8 wieder den Hügel, an deffen Fuße fih Nhone und Sapne
verbinden. Bald wurde diefe Stadt die blühendſte in Gallien. Die Paläfte der
Caſaren und des Statthalter ragten hervor; ein geräumiges Ampbitheater fehlte
nicht, und im Norden breitete fih fpäter das Forum des Trajan aus, Unterhalb
der römifchen Gebäude am rechten Ufer der Saone lagen die Handlungshäuſer
der fremden — zum Theil aus dem Orient eingewanderten — Kaufleute und die
Lyon, 681
Hütten der Fifcher, Ber dem Zufammenfluffe der beiden Ströme fanden die
Dentmale, welche 60 gallıfche Völker zu Ehren des — vergötterten — Roms
und Auguftus errichtet Hatten. „Im Jahre 14 vor Chr. wurde hier ein ungeheurer
Tempel zu Ehren des Auguftus eingeweiht. Die gallifhen Götter erfannten den
Raifer, den Gottgewordenen, für ihren Lehensherrn. — Im römifhen Sinne
verdiente Gallien die ältefte Tochter der Neligion der Göttlichfeit des Auguſtus
und der Kaiſer genannt zu werden, wie diefelbe Gegend einige Jahrhunderte
darauf es verdiente, die ältefte Tochter der von Jeruſalem ausgegangenen Kirche,
der neuen Religion zu heißen, deren authentifchfter Ausdrud und wahres Centrum
zu fein Rom gleichfalls die Beftimmung hatte” (Salvador, Römerherrfhaft in
Judäa, 1847. 1. 252). — Die ältefte Tochter der römifchen Kirche nennt ſich
mit befonderer Auszeichnung die Kirche in Frankreich. Die Kirchen von Arles,
son Vienne, von Limoges, von Marfeille, von Narbonne, felbft von Paris leiten
ihren Urfprung auf Apoftel oder Apoftelfhüler zurüf. Auch in Lyon mag es im
erften Jahrhunderte nach Chrifto ſchon Chriften gegeben haben; wer aber das
Chriſtenthum zuerft dorthin gebracht habe, kann nicht ermittelt werden, Aber eine
Eirchliche Hierarchie gab es kaum dafelbft vor der Mitte des zweiten Jahrhunderts,
Der Hl. Pothinus, aus Smyrna in Kleinafien von Polycarp gefandt, gilt als
der erfte Bifchof von Lyon. „Mitten unter der Finfternig der neuen Bewohner
son Gallien, die fih Hier mit den alten vermifchten, erfhien mit einem Male
wie die Morgenröthe der demüthige Miffionär von Smyrna, ein Diener der Re—
ligion der Reinigfeit, der Liebe und der Menfchlichfeit, einer Religion, welde
bier dem Menfchen eine ganz neue Lehre und ein ganz neues Licht über feine
Pflichten mittheilt, und ihn für das jenfeitige Leben mit den größten und dauernd—
fien Hoffnungen erfüllt” (Abbe Jacques, Origine de l’Eglise de Lyon p. 7).
Die Kritiker verlegen die Anfunft Pothins in Lyon in die Jahre 140—150. In
der Berfolgung der Chriften zu Lyon im J. 177 n. Chr. farb auch Pothinus —
neunzigjährig. Sp wird fein letzter Kampf in dem Schreiben der Kirchen von
Lyon und Vienne befchrieben: „Der felige Pothinus, dem das Bisthum der Ge-
meinde zu Lyon anvertraut war, wurde, älter als 90 Jahre, und faum Athem
fhöpfend, aber wegen feiner Begierde nah der Marterfrone mit wunderbarer
Heiterkeit des Geiftes geftärkt, von den Soldaten zu dem Nichterftuhl gefchlepptz
ihn verfolgten die Obrigfeiten der Stadt und das ganze Volk mit alferlei Gefchrei,
wie wenn er felbft Chriftus wäre, Von dem Statthalter gefragt, welches der
Gott der Chriften fei, erwiederte er: Wenn du deffen würdig bift, wirft du es
erfahren, Nach diefem wurde er ergriffen und mit unzähligen Schlägen gefoltert;
die Nächſtſtehenden ftießen und fohlugen ihn mit Füßen und Fäuſten; die Ent-
ferntern warfen, was ihnen zur Hand war, gegen ihn, und Alle hätten fih für
Berbrecher gehalten, wenn fie nicht mit Wort oder That ihn angegriffen hätten, —
dann wurde er, faum noch athmend, in das Gefängniß geführt, und nach zwei
Tagen hauchte er feine Seele aus“ (Euseb. h. e. V. 1.). Auf Pothinus folgte der _
Hl. Irenäus als zweiter Bifchof von Lyon (ſ. d. A, und „der HI. Irenäus“ von
Prat, teutfch Regensburg 1846). Sein Martertod wird in das Jahr 202 n.
Ehr, verlegt. Die zwei folgenden Bifhöfe follen Zacharias und Aelius geweſen
fein. Der fünfte Bifhof, Fauftinus, ift eine unbeftrittene hiſtoriſche Perſon; er
war Zeitgenoffe des Cyprian und wird von diefem erwähnt, Bon drei folgenden
Bifhöfen find nur die Namen in alten Verzeichniffen enthalten. Vocius (9)
wohnte der erfien Synode von Arles (3. 314) in Sachen der Donatiften bei,
Beriffimus (12) wohnte der Synode von Sardien (3. 347) an. Bon Juſtus (13)
wird viel Wunderbares erzählt. Er wohnte den BVerfamnlungen von Balence
und Aquileja (J. 374 und 381) an. Die unter feiner Anrufung gebaute Kirche
des Hl. Zuftus Hat für die Kirchengefchichte Feine geringe Bedeutung. Er genoß
in Lyon in allen Jahrhunderten eine ausgezeichnete Verehrung, Der HI. Eucherius
682 Lyon,
war ber 19. Bischof von Lyon (ſ. d. A.). Das chriſtliche Gallien fegt feinen Tod
in das Jahr 450, Der Hl. Ruſtieus wurde Bifhof um das Jahr 494, Ste—
phanus (23) war mit Avitus von Vienne (ſ. d. A.) eine Stütze der. Katholiken
gegen die arianifchen Burgunder, Stephanus veranftaltete das Religionsgeſpräch
vom Jahr 499 in Lyon, in welchem die arianifchen Bifhöfe auf das Haupt ge=
ſchlagen und der König Gundobald (f. Burgunder) für die Kirche günftig geſtimmt
wurde. Viventiolus, fein Nachfolger (24), wohnte im J. 517 der Synode von Epaon
(ſ. d. A.) bei. Er wird von Agobard wegen feiner gelehrten Schriften gerühmt.
Der Hl. Nicetius (29) wird befonders von Gregor yon Tours (ſ. d. A.) gerühmt
(Hist. Franc. IV. 36. — de glor. conf. c. 61. bei Migne Patrol. T. 81. 1850).
Bis auf die jüngfte Zeit, in der Gregor feinen Ruhm der Bekenner ſchrieb, ge-
fchahen große Wunder an feinem Grabe (4573). Der berühmte Leivrad (f.d. A.)
war (46) Bifhof in den legten Zeiten Carls des Großen, Ihm folgten die in
der Gefhichte ebenfo befannten Männer Agobard (ſ. dv. A.), 816—840;5 Amolo
(852); Remigius I. (875); Aurelian [50] (895). Humbert I. (64 in der Reihe
der Bifhöfe) wurde wegen Simpnie von Gregor VII. entfegt (1076). Seine
beiden Nachfolger Gebuin und Hugo hatten eine einflußreihe Stellung in Kirche
und Staat, Zur Zeit des erften Lyoner Concils vom Jahr 1245 war Hugo (82)
Erzbifchof von Lyon, und wurde von Papft Innocenz IV. zum Cardinal erhoben
(. Hugo von St. Charo). Petrus II. war Erzbifhof von Lyon während der
zweiten allgemeinen Kirchenverſammlung dafelbft, fodann Carbinal von Dftia durch
Papft Gregor X., und wurde, ber Erfte aus dem Denedietinerorden, Papſt im
Sahr 1276 unter dem Namen Innoecenz V., ftarb aber noch in demfelben Jahre,
— Franz Paul von Villeroy war der 118, Bifchof von Lyon feit dem Jahre
1714, Unter den neueften Bifchöfen von Lyon ragen der Cardinal Feſch (ſ. d. A.)
und der gegenwärtige Erzbifchof, Cardinal de Bonald, hervor, Erzbifhof feit
1839, Cardinal feit 1842, — Unter den Kirchen Frankreichs erhebt fich die Kirche
von Lyon mit befonderem Ruhm; fie ift, wenn nicht die erfte, fo doch eine ber
erfien Frankreichs. Der Ruhm ihrer ftandhaften Belenner, ihrer wunderbaren
Blutzeugen erfüllte in den erften chriftfihen Jahrhunderten alle Gläubigen der
Erde mit Freude und "Ehrfurcht. Und die nachfolgenden Zeiten blieben hinter dem
Ruhme der erften Gefchlechter nicht zurüd, So fpricht der HI. Bernhard zum
Ruhme diefer Kirche: „ES ift offenbar, daß unter den Kirchen Frankreichs bisher
Lyon hervorragte, wie durch die Würde des Bifchofsfiges, fo durch ehrenwerthen
Eifer und lobwürdige Ordnung; denn wo herrſchte eine fo firenge Zucht, ernſte
Sitten, Befonnenheit in den Befchlüffen,, ein fo gewichtvolles Anfehen, ein folcher
Borrang des Alterthums?“ Imnocenz IV. überhäufte diefe Kirche gleichfalls mit
Lobſprüchen. — Eine dreifache kirchliche Oberherrſchaft hatte die Kirche von Lyon
— als Sig eines Bifchofs, eines Erzbifchofs und eines Primas. Das Bisthum
erftrecfte fih über die Stadt, über die Vorſtädte und über 800 Pfarreien, die in
18 Deecanate zerfielen. Das Erzbisthum Lyon umfaßte vier Bisthümer, die von
Autun, Chalons fur Sapne, Langres und Maron. Der Bifchof von Autun hatte
die (kirchliche und weltliche) Verwaltung des Lyoner Erzbistpums bei erledigtem
Site, Das (freilich vielfach beftrittene und zurücdtretende) Necht eines Primaten
hatte der Erzbifchof von Lyon über vier Kirchenprovinzen, über die von Tours,
oder die dritte Rugdunenfifche, über die vierte oder die von Gens, und über bie
von Paris, und ehedem über die von Rouen. Factifch war biefes mehr ein Ehren-
titel von Lyon, als eine wirkliche Macht, Narh der neuen kirchlichen Eintheilung
Frankreichs vom Jahr 1821, wornad Frankreich 15 Erzbisthümer und 65 Bis—
thümer hat (f. den Art. Franfreich), find dem Metropolitanfig Lyon und Vienne
untergeordnet die Bisthümer Autumn, Langres, Dijon, Saint-Cfaude und Ore-
noble (of. Gallia christiana. T. IV.). — Was die zu Lyon gehaltenen Synoden be-
trifft, fo find davon befonders zwei allgemeine hervorzuheben, Die erfte
Lyon 683
1 sllgemeine fand Statt im Jahr 1245 (vgl, die Art, Friedrich IL. und Juno—
1 ven; IV.) Nachdem die zwifchen Innocenz IV. und dem Kaiſer Friedrich IL. ge-
führten Verhandlungen durch die Schuld des Letzteren ohne Ergebniß geblieben,
fo entfloh der Papft den ihm gelegten Fallfiriden und begab fih mit Genehm—
haltung Ludwigs IX. nach Frankreich, Hierauf fhrieb er eine allgemeine Synode
nach Lyon auf den 24. Juni 1245 aus, Der Papft ließ Einladungschreiben er-
gehen an den Kaifer Balduin II. von Conftantinopel, an die Könige von Franf-
reih, Spanien, England u, f. w., und forderte diefe Fürften auf, daß fie ent-
weder felbft erfcheinen, „oder Vertreter zu der Verfammlung abordnen möchten.
ALS befondere Zwede der Synode werden in dem encyelifchen Einberufungsfchrei=
ben hervorgehoben der traurige Zuftand des römischen Reichs, die Verfolgungen
der Tartaren, und die den bedrängten Chriften in dem heiligen Lande zu bringende
Hilfe. Am VBorabende des Feftes des HI, Petrus und Paulus des Jahres 1245
wurde die Rirchenverfammlung in dem Kloftergebäude des HI. Juſtus eröffnet,
Den Borfig führle Papft Innocenz IV.; ihn umgaben die Cardinäle, welche hier
zuerft zur bejondern Auszeichnung den rothen Hut trugen, Ferner waren drei
Patriarhen anmwefend, von Aquilefa, von Conftantinppel und von Antiochien,
Anwefend war auch der Kaiſer Balduin II. von Conftantinopel; ferner der Graf
von Zouloufe, Thadäus von Sueffa, kaiſerlicher Kammerrichter, Procurator
Friedrichs II.; Gefandte (oratores) Ludwigs IX. von Franfreih, des Königs von
England und anderer Fürften, Aus Paläftina war nur der Biſchof von Berytus
anwejend; Niemand aus dem fchredlih verwüfteten, von den Mongolen zer-
tretenen Ungarn; fehr wenige Biſchöfe aus Teutfchland, und überhaupt den Län—
dern des Kaiſers. Nach gehaltenem Gottesdienfte hielt der Papſt eine Nede über
den traurigen Zuftand der Chriſtenheit; wie Chriftus das Haupt, fo blute auch
der Leib der Kirche diefer Zeit aus fünf Wunden, Diefe Wunden waren: 1) der
I Einfall der Barbaren in die hriftlihen Länder, 2) Das Schigma der griehifchen
Kirche. 3) Die aufwuchernden Irrlehren. 4) Der Fall Jerufalems in die Hände
der Chowaresmier. 5) Die Verbrechen Friedrichs IL und feine feindlichen Thaten
gegen die Kirche. Sonft füllten die erfte Sigung Anflagen des Papftes gegen
den Kaiſer, und Entfhuldigungen deffelben durch Thadäus. Der Iegtere bot unter
anderm die Könige von Franfreih und England ald Bürgen an, daß der Raifer
1 das halten werde, was er verfprochen habe und verſpreche. Dieß wollte ber
Papft nicht annehmen, Denn wenn der Kaifer nicht Wort halte, fo müffe der
Papft gegen drei der mächtigften Fürften der Erde feindlich auftreten, und die
letzten Dinge würden ärger als die erfien. — Die zweite Sigung war einige
Tage nachher. Mehrere Bifchöfe erhoben fich Hagend gegen den Kaifer, welchen
Thadäus mit Energie vertheidigte. Diefer bat auch inftändig um Hinausfchiebung
der dritten Sigung, weil der Kaifer perfönlich zu erfcheinen im Begriffe ftehe,
Dem Raifer wurden zwei Wochen Frift gegeben, Die dritte Sigung wurde zur
beftimmten Zeit gehalten. In diefer Sigung verfündigte der Papft, daf von nun
an das Feſt Mariä Geburt mit einer Detave gefeiert werden folle, Dann ließ
der Papft mehrere Beftimmungen vorlefen, welde für die Wiedergewinnung des
HI. Landes, die Unterftügung des lateiniſchen Kaiſerthums und zum Schuge der
Chriſtenheit gegen die Einfälle der Tartaren von ihin erlaffen wurden, Die Con-
flitution wegen des Iateinifchen Kaiſerthums beginnt mit den Worten: „Arduis
mens nostra occupata negotiis.“ Mit der gemeinfamen Billigung des Concils war
diefes die Weife der Unterftügung: die Hälfte der jährlichen Einfünfte ver Dig-
nitäten und der Perfonate wie der Präbenden, und anderer firchlichen Beneficien,
jener Perfonen, welche wenigftens nicht fehs Monate im Jahre Reſidenz halten,
fei es, daß fie ein oder mehrere Beneficien haben, ſolle dem lateiniſchen Raifer-
thume als Deifteuern überlaffen werden, Frei hievon find die perfönlich bei dem
Papfte, bei den Cardinälen und andern Prälaten angeftellten Elerifer; ſodann die
684 Lyon.
in Geſchäften ihrer Kirchen oder der Studien wegen nicht Reſidenz halten können;
frei find natürlich auch die Kreuzfahrer oder die dem Reiche von Conftantinopel
zu Hilfe eilen, Ausgenommen von der Befreiung, außer den zwei Testen Claffen,
find indef auch jene, welche über hundert Mark jährliches Einfommen beziehen;
diefe müffen auf drei Jahre den dritten Theil ihres Ueberfchuffes abtreten. Wer
nicht beiträgt, wird mit dem Banne bedroht, Bon den Einfünften der römifchen
Kirche verfpricht der Papft nach vorherigem Abzuge des Zehnten für das heilige
Land einen zweiten Zehnten zu diefem Zwecke, Abgefandte des apoftolifchen
Stuhls werden diefe Gelder einziehen, Die Theilnehmer an diefem frommen
Werke erhalten diefelben kirchlichen Wohlthaten, wie die Kreuzfahrer. — Diefe
Beichlüffe, Heißt es, erwirkte der Kaifer Balduin II. auf vieles Bitten, Die Con—
ftitution gegen die Tartaren beginnt mit den Worten: „Christianae religionis cul-
tum.“ Die riftlichen Länder follen gegen ihre Einfälle durch fefte läge geſchützt
werben. Bon der etwaigen Ankunft der Feinde möge der apoſtoliſche Stuhl in
Kenntniß gefegt werden, Er felbft werde für die Ausgaben und Opfer beifteuern,
und werde dafür forgen, daß die Hilfe des hriftlichen Erbfreifes den bedraͤngten
Ehriften in reichlihem Maße zufließe. Die dem heiligen Lande zu bringende Hilfe
war ein befonderer Öegenftand der Sorgfalt diefes Eoneils. Die betreffende
Eonftitution beginnt: „Afflici corde pro deplorandis terrae sanctae periculis.*
Die Priefter und die Elerifer, die fih in dem chriftlichen Heerlager befinden,
folfen fleißig beten und ermahnen, follen die Kreuzfahrer zur Reue über ihre
Sünden, zur Mäßigung, zu gegenfeitiger Liebe durch Wort und Beifpiel er-
wecken, daß fie nicht bloß mit weltlichen, fondern auch mit geiftlihen Waffen die
Feinde Gottes niederwerfen. Diefen Clerifern verwilligt der Papft mit Zuftim-
mung des Coneils, daß fie ihr ganzes Einkommen durch drei volle Jahre beziehen
folfen, wie wenn fie Refivenz hielten, Die übrigen Geiftlihen follen zu perfön-
licher Theilnahme an den Kreuzzügen, oder doch zu Opfern für diefelben alles
Volk dringend ermahnen. Alfe Elerifer, niedere und höhere, follen den zwanzigften
THAT aller Einkünfte drei Jahre lang beifteuern zum Schuge des heiligen Landes
unter Strafe der Ercommunication, der Papft und die Cardinäle den zehnten
Theil. Die Kreuzfahrer find von den gewöhnlichen bürgerlichen Laften exempt;
ihre Perfonen und ihre Güter find unter den Schuß des hl. Petrus aufgenommen,
Wenn fie eidlih zu Entrichtung ihrer Zinfen fich verpflichtet haben, fo follen die
Gläubigen ihnen den geleifteten Eid erlaffen und follen von Eintreibung der
Zinfen abſtehen; die Juden aber folfen zum Nachlaffe der Zinfen durch den welt-
lichen Arm gezwungen werden, Die Seeräuber und ihre Beſchützer werden mit
dem Banne belegt, auch follen die Prälaten den Bann über die Fürften und
Beamten ausfprechen, welche ihre Untergebenen vom Seeraube nicht abhalten,
Alte Strafgerichte der Kirche werben verhängt und alle Strafen über die berab-
abgerufen, welche den Mohammedanern Schiffe, Waffen oder Munition Tiefern,
ihnen mit Hilfe oder mit Rath zur Seite gehen zum Schaden des heiligen Landes.
Sie follen nicht abfoloirt werden, wenn fie nicht das gewonnene Geld zum Nutzen
des heiligen Landes verwendet haben, Bier Jahre lang möge dur bie ganze
Chriftenheit der Friede gehalten werden; die Prälaten follen Allen Frieden oder
Waffenftiliftand befehlen unter Strafe der Ercommunication gegen fie und des
Snterdiets gegen ihre Lande, Den Theilnehmern und Gehilfen an diefem heiligen _
Werke aber werden alle Schäge der kirchlichen Gnaden eröffnet, — In biefer
Berfammlung wurde fodann befonders verhandelt über die Gefangennehmung der
Prälaten, welche zu dem durch Gregor IX. nah Nom ausgefchriebenen Coneil
reifen wollten, Alle Beredtfamfeit des Thadäus konnte den Kaiſer nicht entſchul-
digen. Da er feinen andern Ausweg wußte, fo appellirte er für feinen Herrn an
das nächte allgemeinere Coneil, Der Papft erwiederte: Es genügt das allgemeine
Coneil fo Bieler, welche deinen Herrn nicht ohne Befchwerlichfeit umfonft erwartet
Lyon. 685
haben, fo vieler Patriarchen, Erzbifhöfe, Biſchöfe und anderer Edlen aus ver-
ſchiedenen Theilen der Welt oder deren Stellvertreter. Und die abwefend find,
die find e8, gebunden von den Stricken deines Herrn. Darum ift es nicht ge=
recht, daß darum der gegen ihn auszufprechende Urtheilsfpruh der Entjegung
verzögert werde, damit er nicht noch aus feiner Bosheit einen Vortheil zu ziehen
heine, da doch Niemanden fein Betrug nügen fol, Am 17. Juli wurde fofort
das Abfegungsurtheil gegen den Kaifer verfündet, welches beginnt: „Ad aposto-
liei dignitatis apicem.“ Alerander Natalis fucht weitläufig zu beweifen, daß der
Papſt diefe Abfegung nur in feinem, nicht in dem Namen des Concils ausge-
foroden habe. — In diefem Urtheile wird der Kaiſer vorzüglich wegen vier über-
wiefener Berbrechen entfegt. 1) Wegen vielfahen Meineids und Friedensver-
Vegungen zwifhen Staat und Kirche. 2) Wegen dringenden, faft evidenten Ver—
dachts der Härefie. 3) Wegen Kirchenraubs in der Gefangennehmung und
gewaltthätigen Zurüchaltung von Carbinälen und andern kirchlichen Würdeträgern,
4) Wegen Verlegung der päpftlihen Majeftät durch feine Briefe an Gregor IX;
weil er ferner die Völfer des Kirchenſtaats gegen ihren rechtmäßigen Herrn auf-
gereizt, Städte und Caſtelle des Kirhenflants weggenommen babe. Dazu fam
die Anklage der Unterdrüdfung firhlicher Freiheit, befonders in der Defegung der
firhlichen Aemter; denn durch feine Schuld flanden damals 11 Erzbisthümer
und viele Bisthümer Hirtenlos. In Folge diefer und anderer Verbrechen werden
die, welche ihm den Eid der Treue geſchworen haben, von demfelben entbunden,
— Die meiften Bifhöfe unterfhrieben die Entfegung des Kaiſers. Die Ber-
fündigung des über ihn verhängten Urtheils wurde fpäter den Dominicanern über-
tragen — den 21. Der. 1245. — Noch traf die Synode eine Reihe Firchlicher
Beftimmungen, welche fih in dem L. VI Decret. finden, befonders über das Ge-
richtswefen, und andere ſehr nügliche Beftimmungen über die Verwaltung und
Erhaltung des kirchlichen Vermögens, welches, wie wir oben fahen, mit feinen
geringen Laften belegt war. Auch mehrere Privatverbandlungen famen vor, 5.8.
Beihwerden der Engländer über Gewaltthätigfeiten eines dortigen päpftlihen
Legaten Martin. — Vgl. Raynaldus ad h. a, 1245. Natalis Alex. — Matthaeus
Paris histor. Anglic. ad a. 1245. — Harduin conc. T. VI. p. 375—406; Mansi
T. XXIII. p. 605. — Die zweite allgemeine Synode dafelbft (die vierzehnte
allgemeine. Vgl. Gregor X.). Kaum hatte Gregor X. den yäpftlihen Stuhl
beftiegen (27. März 1272), als er die hriftlihen Fürften und Prälaten zu einem
allgemeinen Eoncil auf den 1. Mai des hres 1274 einlud. Zweck der Be—
rufung waren die allgemeinen Anliegen der Ihriftenheit, u. a. die bedrängte Lage
des heiligen Landes und das griehifhe Schisma. Das Einladungsfhreiben an
die Prälaten im heiligen Lande ift vom 31. März 1272 datirt; fie werden fireng
aufgefordert, zu der beftimmten Zeit an dem Drte zu erfheinen, den ihnen ber
Papft erft fpäter befannt machen werde. Eine ähnliche Einladung erging an den
griehifhen Raifer Michael Paläologus, der feit dem Jahre 1261 wieder in dem
Befige son Eonftantinopel war, und ſchon im Jahre 1262 feine Geneigtheit zu
einer Union mit den Abendländern an den Tag gelegt Hatte. Der Papſt fpricht
fein inniges Verlangen nad der Bereinigung, wie feine Hoffnungen des Zuftande-
fommens derfelben aus. Unter vemfelben Datum erging eine Einladung an ben
Patriarchen Joſeph von Conftantinopel, Ueber das Nähere verweist er den Pa-
:. triarchen an die Jängern Briefe für den Kaifer, Der Kaifer antwortete im Jahr
1273, und erhielt von dem Papfte eine beftimmtere Einladung von Lyon aus,
datirt vom 24. Der. 1273. — Das Coneil felbft wurde durch den Papft zu Lyon
eröffnet den 7. Mai 1274 in der Cathedrale zum heiligen Johannes. Anmwefend
war der König Jacob von Aragonien, die Patriarchen Pantaleon von Conftanti-
nopel und Opizio von Antiochien, lateinifhen Ritus, Unter den Carbinälen faß
auch der heilige Bonaventura, Anwefend waren die Gefandten der Könige von
686 Lyon.
Franfreih, aus Teutfchland, England und Sicilien. Der Papft Hielt die Ein-
leitungsrede unter dem Vorſpruche: „Sch habe ſehnlich darnach verlangt, dieſes
Dfterlamm noch vor meinem Leiden und Tode mit euch zu effen.” Als Gründe
der Berufung des Eoncils führte er an: 1) Die Unterflügung des heiligen Lan-
des, 2) Die Vereinigung mit den Griechen. 3) Die BVerbefferung der Sitten.
Nach feiner Rede erhob ſich der Papft und ſchloß die erfte Sikung. Am 18, Mat
fand die zweite Sigung Statt. Der Papft hielt eine Allocution, und es wurden
Beftimmungen über Glauben und Regierung der Kirche vorgetragen. In der
Zeit zwifchen der erften und zweiten Sitzung brachte e8 der Papſt durch befondere
Berathungen mit den kirchlichen Würdeträgern dahin, daß fie den Zehnten alfer
ihrer Einkünfte auf ſechs Jahre zur Unterſtützung des heiligen Landes abtraten,
Vor der dritten Gigung wurde die baldige Anfunft der griegifgen Gefandten
gemeldet; der Papft ließ darum alle Prälaten zufanmenrufen, vor denen ber hl.
Bonaventura eine Rede hielt, mit dem Vorſpruche: „Stehe auf, Jeruſalem, ſtelle
dich auf die Höhe, und blicke im Kreife hin nach dem Lande des Morgens, und
yon da zähle deine Söhne vom Aufgang bis zum Niedergang.” Nah diefem
Bortrage wurden die Briefe über die Ankunft der Gefandten verlefen. Am
17. Juni wurde bie dritte Sigung gehalten, Vorher war der König von Ara—
gonien abgereist. Der Cardinal Petrus von Dftia hielt eine Rede über den
Text: „Erhebe im Umfreife deine Augen, und fiehe, alle diefe haben fich ver-
fammelt, fie find zu dir gefommen,” Hierauf wurde eine Anzahl von Eonftitu-
tionen verlefen, Nach diefer Verlefung hielt der Papft eine Anrede an die Ver-
fammelten, und hierauf gab er alfen Prälaten die Erlaubniß, Lyon zu verlaffen
und fih auf ſechs Meilen zu entfernen, Den Tag der nächſten Sigung beſtimmte
er nicht wegen der ungewiffen Zeit der Ankunft der Griechen, und damit endete
die dritte Sigung. Jedoch Tieß der Papft zwifchen der zweiten und dritten Sitzung
die Prälaten zufammenfommen und die obigen Eonftitutionen ihnen vorleſen. Am
24. Juni famen die Gefandten des griechifchen Katfers Michael Palävlogus an.
Sie wurden unter allen Chrenbezeugungen empfangen und zu der Wohnung bes
Papſtes geleitet. Der Papft fland in dem Vorhofe mit allen Carbinälen und
vielen Prälaten, und die Gefandten wurden von ihm mit dem Friedensfuffe em-
pfangen; fie übergaben die ihnen eingehändigten Briefe ihres Kaiſers und der
morgenländifchen Bifchöfe, und fprachen in Gegenwart des Papftes, fie feien ge-
fommen, um jeglichen Gehorſam zu Teiften der heiligen römischen Kirche, und zu
dem Vefenntniffe des Glaubens, welchen diefe Kirche feſthält, und ihres Pri-
mates, Einige Tage nachher, am 29. Juni, an dem Fefte der Apoftel Petrus
und Paulus, hielt der Papft die feierlihe Meffe in der Hauptfirdhe des HI, Jo—
hannes, in Gegenwart alfer Cardinäle und Präfaten, die zu der Synode berufen
worden waren, Die Epiftel wurde Yateinifch und griechifch gelefen, ebenfo das
Evangelium gefungen, Hierauf hielt der HI, Bonaventura feinen Vortrag bis zum
Ende, Ebenfo wurde das Glaubensbekenntniß Tateinifch und griechiſch gefungen,
Der Artifel: „und an den heiligen Geift, welcher von dem Bater und von dem
Sohne ausgeht”, wurde dreimal gefungen, — Am 4, Juli ftelften fi dem Papfte,
umgeben von feinen Cardinälen, Abgefandte des Königs der Tartaren (Abagha)
vor, Freitag den 6. Juli war die vierte allgemeine Sigung. Nach der Predigt
des Cardinals Petrus von Oftia hielt der Papft eine Anrede; unter Darlegung
der drei Gründe der Berufung des Coneils fagte er, wie gegen die Meinung
Alter die Griechen freiwillig zu dem Gehorſam und zu der Einheit des Bekennt⸗
niffes mit der römifhen Kirche gefommen feien, und zwar ohne Forberung welt-
licher Vortheile, Dann wurden die Briefe des griechiſchen Kaifers und der grie-
fhen Bifhöfe verlefen, Der Kaifer erfennt nach der ihm von dem Papſte vor-
gelegten Glaubensformel den Primat des Papſtes, den Ausgang des heiligen
Geiftes von dem Vater und dem Sohne, und die Strafen des Fegfenerd an, Die
Lyons. 687
Schreiben der Biſchöfe waren von ähnlichem Inhalte, Hierauf trat einer der Ge—
ſandten, der Logothet Georgius Afropolita, auf und fagte, er babe von feinem
Kaifer den Auftrag, ftatt feiner den Glauben der römischen Kirche zu befchwören,
Er befannte feierlich, daß der Kaifer ven Glauben der römifchen Kirche, wie er
in diefer Berfammlung verlefen worden, fefthalte, der Kaifer und fein Reid,
daß fie diefen immer fefthalten und nie von ihm abweichen werden. Der Eid ver
Angelobung ift in den beftimmteften Worten gefaßt. Der Gefandte ſchwört und
befräftigt einen förperlihen Eid auf feine und des Kaifers Seele, daß er diefen
römifchen Glauben als den wahren anerfenne, daß er ihn unverlegt bewahren,
daß er nie von ihm abweichen werde; und wie den Glauben, fo werde er den
Primat der römifchen Kirche, den er freiwillig befenne, unverlegt bewahren. Der
Papſt fimmte fodann „Großer Gott, wir Ioben dih”, an, Dann hielt er in der
Freude feines Herzens eine Anrede an die Berfanmlung, wieder mit den Anfangs-
worten: „Ich habe verlangt, diejes Dfterlamm mit euch zu effen”. Der Papft
fimmte dann das Credo Iateinifh an, und die Griechen fangen es griechifch,
indem fie zweimal: „der von dem Bater und dem Sohne ausgeht“ , wiederholten.
Nach diefem richtete der Papft wieder einige Worte an die Verſammlung, worin
er unter Anderm fagte, daß der König der Tartaren Gefandte mit Briefen an
ihn und die Berfammlung geſchickt habe; diefe Briefe ließ er vorlefen, Am
Schluſſe fündete der Papft zwei weitere Sigungen und mit ihnen zugleih das
Ende der Berfammlung an, Am 7. Zuli theilte der Papft den Cardinälen die
neue Conftitution über die Papfiwahl mit, worüber Mißhelligfeiten zwifchen ihm
und den Earbinälen entflanden, die fih fpäter ansglichen, Am 15, Juli flarb
der Hl. Bonaventura zum Schmerz der ganzen Chriftenheit. Petrus von Oſtia
predigte über den Tert: „Ich bin betrübt über dich, mein Bruder Jonathan“,
Biele Thränen und viele Seufzer folgten ihm nach: denn diefe Gnade hatte Gott
ihm gefchenft, daß alle, die ihn ſahen, fogleih von herzlicher Liebe zu ihm er-
griffen wurden, Am 16, Juli war die fünfte Sigung, vor welcher Petrus von
Oſtia einen der Gefandten der Tartaren taufte. In der Sigung wurde wieder
eine Menge von Eonftitutionen verlefen. Nach diefer Lefung ſprach ſich der Papft
in einer Anrede an die Verfammlung über den unerfeglichen Berluft aus, welchen
die Kirche in dem Hintritte des Bruders Bonaventura (ſ. d. A) erlitten habe,
Er befahl alfen Prieftern durch die ganze Welt, eine Meffe für ihn zu fingen,
und eine andere für die Seelen alfer Andern, welde mit dem Tode abgegangen
auf der Her- und Nüdreife, fowie während des Aufenthaltes bei dem Eoncil,
Am folgenden Tage, den 17. Juli, war die feste und Teste Sigung. Mehrere
Eonftitutionen wurden verlefen. Der Papft fprach über den Zwed der Berufung
des Coneils. Was zur Berbefferung der Sitten auf dem Coneil noch nicht habe
gefchehen fünnen, das werde er unverzüglich nachtragen. Die Sahe wegen des
heiligen Landes und der Vereinigung der Griechen fei glüdlich begonnen und mit
der Hilfe Gottes glücklich vollbracht. Damit endete diefes Concil. Die Union
mit den Griechen aber wurde alsbald von den Griechen wieder aufgelöst (f.
Griechiſche Kirche), und dem heiligen Lande wurde von der Ehriftenheit Feine
Hilfe gebracht. — Cr. Harduin, act. Coneil. T. VI. 670—722. Mansi T.XXIV.
p. 27 sqq. — Hefele, Union der griehifchen Kirche. Quartalſchr. 1847, ©,
56 ff. — Leo Allatius, de ecclesiae oceidentalis atque orientalis perpefua con-
sensione. L. I. ce. XV. — Ueber die „Armen von Lyon“ (Pauperes de Lugduno)
gl. den Art, Waldenfer und Lucius IN. [Gams.)]
Lyons, William, engliſcher Deiſt, Zeitgenoſſe Schaftsburys, Collins und
anderer Deiſten und Freidenker, ſuchte das, was ſeine Collegen vorausſetzten,
daß nämlich die menſchliche Vernunft untrüglich ſei, in einer eigenen Schrift zu
beweiſen, welche er 1713 herausgab und welche den Titel führt: „die Untrüg-
Tichfeit, Würde und BVortrefflichkeit des menfhlihen Urtheils“, Diefes Urtheil
688 Lyra.
ift, nach feiner Meinung, eben das, was man fonft das Gewiffen, ven heiligen
Geift, die Vernunft, das Licht der Natur, den Ausfluß des Lichts von Oben, den
Strahl der Gottheit, das Ebenbild Gottes oder den Geift der Wahrheit nennt,
Er läßt Fein heiliges Anſehen gelten, wenn nicht durch die Vernunft vorher der
Werth derfelben unterfucht worden ift, und glaubt, daß alle Wahrheiten ver Reli—
gion und Sittenlehre, ohne Gefahr zu irren, durch Beobachtungen der Begeben-
beiten herausgebracht werben können. Dabei beſchuldigt er die Geiftlichen der
etablirten Kirche ver größten Betrügerei, rechnet alle göttliche übernatürliche Dffen-
barung unter die ungereimteften Dinge, und entzieht mit Schaftsbury den Wun-
dern alle Kraft des Beweifes für die Wahrheit einer Dffenbarung, worauf dann
Collin in feiner Schrift von den Gründen und Beweifen der hriftlihen Religion
auch den Beweis aus den Weiffagungen des alten Teftamentes angriff, Lyons
babe, bemerkt Schlegel (Fortf. der Mosheim, Kirchengefh. V. 300, Heilbronn
17834) feinem vermeinten Beweife der Untrüglichfeit der Vernunft weder die Deut-
Tichfeit, noch die Ordnung, noch die Bollfommenheit der Schreibart zu geben ge=
wußt, die er hätte haben müffen, wenn er einige Wirkung hätte hervorbringen
folfen — indeß bezeugt die 1730 zu London erfchienene vierte Ausgabe feines
Buches Wirkung genug und wäre eher die Bemerkung am Plate gewefen, der
Abfall von der Kirche im 16ten Jahrh., die Erniedrigung der Vernunft dur die .
Reformatoren zu einer „meretrix“, die Erhebung des spiritus privalus über die
Authorität der Kirche, die heilloſen Zänfereien der proteftantifchen Secten unter-
einander und bie jämmerliche Entftellung und Verzerrung der Offenbarung durch
den Proteftantismus hätten naturnothwendig den Deismus mit feiner Natur- und
Bernunftreligion hervorrufen müſſen. Lyons fchrieb außer dem erwähnten Buche
auch noch eine Abhandlung von der Nothwendigkeit der menfchlichen Handlungen
und ftarb fhon im J. 1713. Bol, hiezu die Art. Deismus und Deiften,
und Freidenfer, [Schrödl.]
Lyra, Nielaus von, (Lyranus), wurde geboren zu Lyra, einer kleinen Stadt
in der Normandie, in der Nähe von Verneuil in der Didcefe Evreux. Nach der
gewöhnlichen Angabe waren nicht allein feine Vorfahren Zuden, fondern aud er
feldft im Judenthum geboren und erzogen: feine Grabfchrift, welche die Haupt-
momente feines Lebens angibt (bei Wadding, annales Min. t. 3. ad a. 1340 $ 20)
ſchweigt darüber; außer der Erzählung, daß feine Mutter ihn fehon bei der Ent-
bindung dem Herrn gelobt habe, fpricht auch dagegen die Angabe des Paul von
Burgos, daß Lyra erft fpäter hebräifch gelernt habe. Im J. 1291 oder 92 trat
Nicolaus, noch fehr jung, in den Franciscanerorden und machte im Klofter zu Ver—
neuil feine erften Studien, zu Paris wurde er Doctor der Theologie und hielt
dort theologiſche Vorlefungen. Seine Gelehrfamfeit und Tugend babnten ihm
den Weg zu den höhern Würden feines Ordens: 1325 war er Provineial in Bur-
gund, und wird in dieſer Eigenfchaft unter den Erecutoren des Teftaments der
franzöfifchen Königin Johanna genannt. Er ftarb zu Paris den 23, Det. 1340,
nachdem er, wie feine Grabfchrift fagt, 48 Jahre das Drdensfleid mit Ehren ge-
tragen und fich der Ruhm feiner Tugend und Gelehrſamkeit „per diversa mundi
climata“ verbreitet hatte, Man ehrte ihn fpäter durch den Beinamen Doctor utilis.
Gleich nach feinem Eintritt in den Orden verlegte fih Lyra vorzüglich auf das
Studium der Hl. Schrift und wandte feine Aufmerkfamfeit hauptfächlih dem da-
mals fehr vernachläffigten Wortfinne zu, Schon 1293 war er mit der Erklärung
des Iſaias befchäftigt, 1330 war fein Commentar über die Bibel vollendet,
Diefem Commentar, Postilla in universa biblia, bat Lyra feinen Ruhm zu ver-
danken. Die Grundfäge, welde er bei der Abfaffung deffelben befolgte, ſpricht
er in ben fehr intereffanten Vorreden mit mufterbafter Klarheit aus, In dem
erften Prolog, de commendatione s. seriplurae in generali, zeigt er die Erhaben-
heit der Bibel über die Werke der Philoſophen, und erwähnt als eine beſondere
*
Lyra. 689
Eigenſchaft derſelben, daß ſie einen mehrfachen Sinn habe, weil der Urheber
derſelben, Gott, nicht bloß die Worte zur Bezeichnung einer Sache gebrauche,
wie auch die Menſchen, ſondern auch die durch die Worte bezeichneten Sachen
wieder als Bezeichnung von andern Sachen anwende, worauf er denn die übliche
Unterſcheidung in sensus literalis, moralis, allegoricus und anagogicus erklärt und
an der vierfachen Bedeutung des Wortes Jerufalem (Stadt, anima fidelis, ecclesia
militans und ecclesia triumphans) nacdhweist, In der zweiten Vorrede, de inten-
tione auctoris ei modo procedendi, fagt er dann, die Erflärung müffe flets von
dem sensus literalis ausgehen; denn diefer fei das Fundament, auf welches die
myftifche Auslegung gebaut werden müffe; auch könne aus ihm allein ein dogma—⸗
tifher Beweis geführt werden. Der Wortfinn der Bibel fei aber in der legten
Zeit aus mehrern Gründen fehr verbunfelt: einmal fei der Tert fehr fehlerhaft;
dann weiche die Vulgata oft vom Urtert ab, und auf diefen müffe man, wo nicht
eine aus polemifchen Rückſichten gefchehene Eorruption deffelben dur die Juden
anzunehmen fei, zurüdgehen; endlich hätten die bisherigen Erflärer den Wortſinn
ſehr vernachläffigt und unter zahllofen myftifchen Deutungen gleichfam verfihüttet,
Er fest fih demnach zur Aufgabe, ven Wortfinn vorzugsweife zu entwickeln; die
myftifchen Auslegungen werde er nur felten und, kurz berühren; er werde aber
nicht bloß die Fatholifhen Ausleger, fondern auch die jüdiſchen berürffichtigen,
I namentlich den Rabbi Salomo (Jarchi); übrigens führe er ihre Anfichten oft nur
an, um die Blindheit der Juden zu zeigen; in Allem aber unterwerfe er fein
Werk dem Urtheil der Kirche und der Gelehrten. Der Erklärung fhidt er noch
die fieben ifivorifchen claves voraus; diefelben beziehen ſich meift auf Einzelnheiten;
bemerfenswerth ift aber, daß er in der dritten clavis für einige Stellen einen
doppelten Wortfinn zuläßt, fo beziehe fih 1 Par. 17,13 nah dem Wortfinn un—
sollfommen auf Salomo, vollfommen auf Chriftum, deffen Vorbild Salomo fei,
Diefe, wenn gleich noch in mancher Beziehung unvollfommenen, Orundfäge, na-
mentlich die Ausfcheidung des Wortſinns von den myftifchen Ausfegungen, er-
heben Lyra weit über feine Vorgänger in der Erxegefe und haben einen neuen
Aufſchwung diefer Wiffenfchaft angebahnt, Nach diefen Grundfägen erflärte Lyra
nun die ganze Bibel nah dem Wortfinn; nach Vollendung diefes Werks begann
er feine myftifhe Auslegung, die er Moralitates nennt. In der Borrede zu diefer
fagt er, einige Stellen hätten einen Wortfinn und einen myflifchen Sinn, wie
Gen. 15, 16. (ſ. Gal. 4, 22.), andere nur einen Wortfinn, wie Deut, 6, 4.,
andere endlich nur einen myftifchen Sinn, wie Zub. 9, 8. Matth. 5, 29., wie-
wohl man den sensus parabolicus auch einen Wortfinn in weiterer Bedeutung
‚nennen fünne, da an Stellen, wo die Worte in ihrem eigentlichen Verftande
feinen paffenden Sinn gäben, der parabolifhe Sinn der nächſte ſei. — Diefe
Moralitates, urfprünglich ein eigenes Werf, wurden fpäter mit der eigentlichen
Poftilfe verbunden und am Ende jedes Eapitels eingefchaltet, — Lyra’s Werf
fand allgemeinen Beifall und war nad Furzer Zeit in Spanien und Franfreich
allgemein verbreitet. Ungefähr ein Jahrhundert nachher fand es einen trefflichen
Bearbeiter in Paul von Burgos. Diefer, ein geborener Jude, Salomo Levi,
war 1390 mit feinen drei Söhnen Chriſt geworden und hatte ven Namen Paulus
a ©, Maria erhalten, wurde fpäter Magifter der Theologie, dann Bifchof von
Eartagena, fpäter Biihof von Burgos und Erzkanzler des Königs Johann II.
von Eaftilien und Leon; er farb als Patriarch von Aquilefa 1435. Im Jahre
1429 überfandte er feinem Sohne Alphons, damals Decan zu Compoftella, fpä=
ter Nachfolger feines Vaters zu Burgos, fein Exemplar der Poftille, welches er
mit zahlreichen „Additiones“ am Nande bereichert hatte, Er erfennt die Vorzüge
der Poftille vollftändig an, fagt aber, fie fei, wie jedes menfchlihe Werk, noch
der Vervolllommnung fähig und er habe fie diefer durch feine Zufäge näher zu
bringen gefucht; namentlich Habe er Zufäge für nöthig gehalten, wo der Poſtillator
Kirchenlexikon. 6, Bo. 44
690 Lyſias.
ohne hinreichenden Grund eigene oder jüdifhe Auslegungen der Ausl
der Väter und namentlich des hl. Thomas vorziehe, oder wo feine mangelbe
Kenntniß des Hebräifchen Irrthümer veranlaßt habe; die Berückſichtigung der
Nabbinen fei zu Toben, Lyra habe aber den Jarchi zu viel und andere zu wenig
benugt, Die Vorrede enthält eine ganz in ſcholaſtiſcher Form gehaltene, a
ſehr fcharffinnige Erörterung der Frage: utrum sensus spiritualis an literalis sit
dignior. Paul mag mitunter Lyra gegenüber Unrecht haben, im Ganzen find
aber feine Bemerkungen, namentlih die ſprachlichen, eine danfenswerthe Ver—⸗
befferung und Vervollftändigung der Poftiffe, Es fiheint aber fon damals Ors
denseitelfeit eine Ueberſchägung des Poftillators veranlaßt zu baden; ein Franeis⸗
eaner ſprach in einem fehr geſchraubten Briefe an Paul feine Bedenken gegen die
verſuchte Verbefferung der Poftiffe ans, welche indeß Paul auf das Bündigfte
zurüchwies, Später unternabm es Matthias Doring (Thoring), Profeſſor
der Theologie und Minoriten-Provincial in Sachfen, die vermeintlich feinen
großen Ordensbruder durch Paul angetbanen Unbilden zurückzuweiſen; er ſchrieb
Replicae defensivae postillae ab impugnationibus Domini Burgensis oder Correoto-
rium oorruptorii Burgensis, Die Art feiner Polemik, namentlich die ungiemlichen
Perſonlichkeiten, zeigen aber, daß Doring ſich nicht bloß durch wiſſenſchaftliches
Intereſſe Teiten ließz zudem feheint es ihm an Kenntniß des Hebrälfchen ganz ge⸗
fehlt zu haben. Die Beſchuldigung Doring's gegen Paul, welche ſelbſt 8
wiederholt: multa ex profosso studuit in Lyrano carpere, iſt jedenfalls ganz un«
gerecht; denn in feinen Zufägen zeigt fi gar Feine Bitterfeit gegen den Poftilfa-
tor, fondern nur das reinfte wiſſenſchaftliche Beſtreben. — Lyra's Poftifle ift der
erfte Bibel Commentar, welcher gedruckt wurde (Nom 1471 u 72); Calmet er⸗
wähnt noch fieben Ausgaben derfelden aus dem töten Jahrhundert, Eine Basler
Ausgabe von 1498 enthält ſchon die Poftille fammt den Zufägen Pauls und Dos
rings mit der Glossa interlinearis und Glossa ordinaria verbunden (f, den Art,
Ofoffen, bibliſche), und in diefer Weife wurde fie noch ir oft abgedrudt,
am beften Antwerpen 1694. De la Haye nahm die Poſtille in feine Biblia maxima
Paris 1660) auf, — —J der Poftille verfaßte Nieolaus von Lyra noch viele
andere Schriften, welche aber wenig Verbreitung gefunden haben, namentlich ein
Buch de corpore Christi, sermones de tempore et de sanctis, liber contra Judaeos,
einen Commentar zu den vier Sentenzenbüchern, quaestiones voteris et novi tosta-
menti, einen Tractat de visione Dei, eine Erklärung der zehn Gebote, einen
Tractat de idoneo ministro et suscipiente sacram, altaris, eine Erffärung ber
bräifchen Namen, ein Buch de differentüs V, et N. T., eine Abhandlung de diflo-
rentia translationis nostrae et hebraicae voritalis, und nach Wabding auch eine
pia oontemplatio de vita et gestis S. Franeisei, — Vgl, Wadding, annales Mi-
norum t, Il. ad annum 1291, $ 20. und t, II. ad a. 1340. $ 20, Rohrbacher,
histoire de l’öglise t. 20, p. 185. ©, W, Meyer, Geſchichte der Schrifterflärun
LBd. S, 109, Du Pin, bibliothöque t XL. p. Ti. wm t. XI p. 86. "Reufe.]
Lofiad, Motas, 1) Keldherr des fprifchen Königs Antiochus Epiphanes
dA): als diefer gegen die oſtlichen Provinzen zog, übergab er dem Lyfias
die Negierung des Reiches und die Erziehung feines Sohnes, Tief ihm auch die
Hälfte des Heeres zurück, um damit die Juden zu züchtigen, Lpfias fendete unter
drei Anführern eine Armee von 40,000 Mann und 7000 Neitern gegen das
Maccabäng; diefer, obgleich um Vieles ſchwächer an Macht, blieb Sieger; Lypfias
führte nun felbft ein neues Heer gegen die Juden, der Erfolg war derſelbez er
kehrte nach Antiochien zurüc, Judas reinigte den Tempel Ci Mace, 3, 32 ff. 4.)
Antiochus Epiphanes farb in Perfien (6, 16), der junge Antiochus tor
wurde als König eingefept; diefer unternimmt einen neuen Zug gegen die Juden,
belagert Jerufalem (6, 28 ff). Inzwiſchen war Philippus, der eigentlich von
Antiohus Epiphanes beftellte Neicheverwefer und Vormund des jungen Könige,
Lyſimachus — Lyszezynski. 691
aus Perſien zurückgekehrt mit den Truppen; um gegen dieſen ſich zu behaupten,
räth Lyſias, von der Belagerung Jeruſalems abzuſtehen und mit Judas Friede
zu ſchließen; dieß geſchieht; Antiochus ließ aber gegen den Vertrag die Mauern
von Jeruſalem ſchleifen (6, 18—63.). Im folgenden Jahre fielen Beide, Lyſias und
der junge Antiochus, dem Prätendenten Demetrius Soter (f.d. A.) in die Hände und
wurden hingerichtet (1 Mace. 7, 1 ff. 2 Mace. 14, 2.). — 2) Claudius Lyſias,
römifcher Chiliarch auf der Burg Antonia während des letzten Aufenthalts Pault
in Serufalem; er ließ den Apoftel verhaften und Nachts nach Cäſarea zum Pro—
eurator Felix bringen, um ihn fo den Verfolgungen der Juden zu entziehen ; vgl,
Apg. 21—23.
Lyſimachus, der Bruder des Hohenpriefterd Menelaus. Als diefer bie
Summe, um welde er das Hohepriefterthum erfauft- hatte, nicht bezahlte, wurbe
er nad Antiochien berufen, um fich zu verantworten, und während. feiner Ab»
wefenheit von Zerufalem trat Lyfimahus an feine Stelle, Nach der Lesart der
Bulgata 2 Macc. 4, 29. fiheint es, daß Menelaus abgefegt und Lyfimahus zu
feinem Nachfolger ernannt wurde; nah dem Griechiſchen aber Tief Menelaus
felbft feinen Bruder als Stellvertreter (dıa@doxos cf. v. 31.) zurüd, wofür auch
das gute Einvernehmen beider (v. 39.) fpricht, Lyſimachus benugte feine Gewalt
zur Pünderung des Tempelſchatzes und veranlaßte dadurch einen Aufftand zu Je—
ruſalem, in welchem er felbft neben der Schagfammer des Tempels erſchlagen
wurde, Dbmwohl,er nicht eigentlich Hoherpriefter gewefen zu fein fcheint, wird
er doch mitunter in der Reihe der Hohenpriefter mitgezählt. |
Lyſtra, Avorga (7 und ze), Stadt, welhe Apg. 14, 6, zur Provinz Ly-
I saonien gerechnet wird (vgl. d. A), nicht weit von Derbe (Apg. 14, 6. 16, 1.)
- and Iconium (14, 20. vgl. 2 Tim, 3, 11.).
Lyszezynski, Cafimir, ein polnifcher Edelmann, welcher als Atheift ver-
urtheilt wurde. Auf dem Neichstage von Grodno wurde er von den Biſchöfen
von Pofen und Wilna des Atheismus angeflagt und in Folge deffen am 21, Oe—
tober 1688 in Warfchau verhaftet, Die Anflage ward dadurch befonders begrün—
det, daß man unter feinen Papieren folgenden eigenhändig von ihm gefchriebenen
Sat fand: Gott ift niht Schöpfer ves Menfhen, fondern der Menſch
ift vielmehr Schöpfer Gottes, da er fih aus Nichts einen Gott ge—
macht hat, Dazu fam noch, daß er auf etwa 15 Blättern die ftärfftien Gründe
für den Atheismus zufammengeftellt und dabei einige Male den Ausdruck gebraucht
hatte: Wir Atheiften. Dann Hatte er den Beweisgründen, welche Alftevins in
feiner theologia naturalis für das Dafein Gottes aufftellt, zuweilen beigefchrieben,
es folge aus ihnen eher das Grgentheil. Auch hatte er nicht immer die Gefege
der Fatholifchen Religion befolgt. Zu feiner Verteidigung erflärte Lyszezynski,
er glaube an Gott und habe die Gründe der Atheiften nur zuſammengeſtellt, um
fie fpäter defto gründlicher zu widerlegen; den Alftevius habe er aber nur deßhalb
angegriffen, weil diefer das Dafein Gottes nicht fo gründlich und bündig be»
wiefen habe, als er habe fünnen und follen. Zudem bezog er fich darauf, er habe
von Jugend an ein mufterhaftes Leben geführt, noch wenige Tage vor feiner
Berhaftung die heilige Communion empfangen und zum Anbau einer Capelle ſchon
die erforderlichen Materialien anfahren laſſen. Am 1. März 1639 mußte Lys—
zezynski zu Grodno vor dem Bifchofe von Wilna einen feierlichen Widerruf leiſten
und ward dann von der weltlichen Dbrigfeit dazu verurtheilt, daß feine Schriften
in feiner Hand und dann er felbft lebendig verbrannt, fein Vermögen in Beſchlag
genommen, fein Haus abgebrodhen und der Platz ewig wüfte gelaffen werben
folfe, Doc milderte der König diefes Urtheil dahin, daß Lyszezynski feine Schrif-
ten an einem Stode, welchen er in der Hand hatte, am 20, März verbrennen
mußte und dann mit dem Schwerte hingerichtet wurde, [Mevind.]
44%
MM,
Maacha, 75>2, auh = Ds, fiehe den Art. Aram. Dem dort Gefagten
haben wir nur Folgendes ergänzend beizufügen, Joſue 13, 9. wird das Dftjordan-
Gebiet in feiner Ausdehnung von Süd nah Nord angegeben, Dafeldft ift das
Gebiet von Maacha zwifchen Galaad (ſ. d. A.) und Bafan (f. d. A.) geftellt,
Nah Hof. 12, 1—5. gehörte Geffur (f. d. A.) und Maacha nicht mehr zum Ge-
biete des Königs Dg, deffen Neih vom Hermon bis an den Jabbof reichte, Alſo
muß Maaha im Norden von Galaad und an der Weft- oder Dftgrenze von Ba—
fan gefucht werden, Da Maacha den Beinamen „Aram” bat, da es von den
Kindern Iſrael wohl erobert, aber nicht in Befis genvmmen, die Einwohner nit
Hertrieben wurden (of. 13, 13.), fo fönnen wir es nur auf der Oftgrenze, füd-
Iih von Damaseus, fuchen. =2>n2 heißt: Senfung, Niederung (vgl. Fürft,
onomast. sacr. aus Concord.), fo daß der Name auf die Niederung und Ab-
dachung wiefe, welche fih von Damascus bis an den Euphrat hinzieht, Indeß
darf Maacha nicht in der Nähe von Haran (Kagdaı, u, am ber Bibel) geſucht,
noch damit iventificirt werden. Haran (f. d. A.) lag viel zu weit nördlich, STR.
u. 36° Br,, während wir nicht über 33° Br. und 54° %, hinausrücken dürfen.
Burkhardt (R. I. 350) nennt au ein Charran im Diftriete Ledſcha, was mit
unferer Lagenannahme übereinflimmen würde; ob aber der Syrer bei feiner Ueber—
ſetzung „> an dieſes Charran gedacht habe, und nicht vielmehr an das bibliſche?
Das Gebiet von Maacha hatte eigene Könige; daß es aber nur klein und un—
bedeutend war, ſieht man aus 2 Sam, 10, 6. Es ſcheint, daß auch dort zuerſt
die nördlichen, dann die öftlihen Nachbarvölfer und Bundesgenoffen der Söhne
Ammons aufgezählt werden. — 2) Maacha — ein eigener Name, der von Män-
nern und Frauen öfter vorfommt, 1 Kön. 2, 39. 1 Chron. 11, 45, 2 Sam, 3,
3. u. ſ. w.
Manafe beiden alten Hebräern. Dieſelben find theils I. Längen- und
Weitenmaafe, theils IL hohle oder fubifhe Maaße. I. Die Yängen-
maaße (7772, m372) find, vom Hleinften angefangen: 1) die Fingerbreite
Cars); 2) die Handbreite (non oder mai), welde vier Fingerbreiten be-
trug; 3) die Spanne (nA), welde drei Handbreiten betrug; 4) die Elle
C28) , welche zwei Spannen, fomit ſechs Handbreiten und vierundzwanzig Fin-
gerbreiten betrug; endlich 5) die Ruthe (mp), welde ſechs Ellen betrug. —
Es ift Mar, daß, wenn eines dieſer Maaße genau beftimmt wäre, auch die übrigen
ed wären. Diefe Beftimmung aber hat ihre Schwierigkeiten. Die Rabbinen
gehen dabei vom Fleinften Maaße aus und ſetzen die Fingerbreite gleich ſechs
neben einander gelegten Gerftenförnern. Daß jedoch damit feine Genauigkeit zu
erzielen fei, Teuchtet ein. Einen. befferen Weg haben neuere Gelehrte betreten,
indem fie bei der Elle begannen. Es ift nämlich kaum zu bezweifeln, daß ſchon
der Name der hebräifhen Elle Tax) ägyptifchen Urfprunges und einerlei fei mit
dem altägypi’fhen Mahe und bem koptiſchen Mahe oder Mahi, mit dem Präfie
u Yuan Lu Zu =
I * u Maaße bei den alten Hebräern, 693:
= Ammahi, was Elfe bedeutet, daß fomit die Sache ſammt dem Namen von den
I Qegyptiern zu den Hebräern gekommen fei. Nun find aber in neuerer Zeit in
Aegypten, namentlih in den Gräbern bei Memphis, mehrere alte Ellenftäbe auf-
gefunden worden, die zum Theil nach fiheren Indicien noch aus der Zeit der
I Pharaonen herrühren Cogl. Otto Thenius in den „Verhandlungen der erften
Berfammlung teutſcher und ausländischer Drientaliften in Dresden 1844”, S. 36).
Die Elle wird auf ſolchen Maaßſtäben mit Hieroglyphenſchrift als königliche Elfe
bezeichnet, ift aber nit in allen Eremplaren gleich lang; die durchfchnittliche
- Länge jedoch beträgt nach dem angeftellten Unterfuhungen und Meffungen 232,55
Parifer Linien, Sie ift daher ohne Zweifel urfprünglich einerlei mit der babylo-
nifhen Elfe, welche auf 234,333 Par. Linien berechnet wird, und von gleicher
Länge mit ihr. Neben diefer Föniglichen Elfe war aber in Aegypten noch eine
andere fürzere üblich, deren durchfchnittlihe Länge 204,8 Par. Gran betrug (gl.
A. Boöckh, metrologiſche Unterfuhungen ic. S. 222—228, — E. Bertheau,
zur Geſchichte der Siraeliten ıc. S. 61, 73). Gerade fo wie bei den Negybtierm
findet fih nun auch bei den Hebräern eine doppelte Elfe, eine fog. Heilige und
eine gewöhnliche; jene Heißt auch die Elfe nach altem Maaße (FHERIT TT22 TER
2 Chron. 3, 3.) und wurde beim Bau des falomonifhen Tempels angewendet,
| — Diefelde Elfe muß wohl auch gemeint fein in der Befchreibung des vifionärem .
Gzechiel'ſchen Tempels, da fie ald Normal-Maaß für das Heiligtfum erfcheint.
I Dom diefer Elle wird aber bemerkt, daß fie eine Handbreite größer gewefen jet,
als die gewöhnliche Elle (Ezech. 40, 5. 43, 13.). Hatte alfo die gewöhnliche
Elle, die wahrfgeinfih unter Sn man Deut. 3, 11. (Elfe für Jedermann, vgl.
WR vom ef. 8, 1.) gemeint ift, ſechs Handbreiten, fo betrug die heilige fieben
derſelben. Die ift aber Allem nach nicht fo zu denfen, daß fie in fieben Hand-
I breiten wirklich wäre abgetheilt gewefen, fondern ihre ſechs Handbreiten waren
1 fo groß, daß fie fieben jener Handbreiten ausmachten, deren die gewöhnliche Elfe
I sechs Hatte, weßhalb auch im Thalmud die Handbreiten der Heiligen Elfe lachende,
I die der gewöhnlichen weinende genannt werden GBertheau, a. a.O. ©. 56).
- Da nun die Hebräer ihre Elfe von den Aegyptiern entlehnt Haben, wofür außer
] Anderem gerade au wieder die eben berührte Zweierleiheit derfelben fpricht, ſo
I wird die Folgerung feinem großen Anftande mehr unterliegen können, daß die
Heilige Elle der Hebräer mit der Föniglichen der Aegyptier und die gewöhnliche
I der Hebräer mit der gemeinen der Aegyptier gleiche Größe gehabt haben werde.
I Auch im Thalmud wird noch verfihert, daß in dem Gemache über dem Oftthore
I des Temyels zweierlei Ellenmaaße feien aufbewahrt worden, das mofaifche und
ein anderes (Chelim XVIl. 9.), das mofaifche aber war doch wohl ein ägyptiſches.
Wenn einzelne Arhäologen den Hebräern aufer diefen beiden Elfen noch eine
dritte, eine „Eönigliche”, und andere dazu noch eine vierte, eine „geometrifche”,
zuſchreiben, fo beruht Erfteres nur auf einer unftatthaften Folgerung darans, daß
ursrnan Deut. 3, 11. von Onkelos mit 7>9 nen überfegt wird, und Letzteres
auf der willfürfihen Annahme, daß die Arche Noe's zu Fein gewefen wäre, wenn
die in der Beſchreibung derfelben erwähnte Elle die gewöhnliche gewefen wäre,
weßhalb man fofort diefe Elle fehsmal länger als die gewöhnliche fein ließ. —
Sind Dbigem zufolge die beiden hebräiſchen Ellen den beiden ägyptifhen gleich-
zufegen, fo ergibt fih aus dem Geſagten für die Größe der hebräifchen Längen-
maaße Folgendes: -
Die heilige Elle beiträgt 234,333. Par. Lin., die gewöhnl. Elle 2048. 9 &:-
„ Spanne 2 117,166 — > ei Spanne I
„ Dandbreite „ El — Handbreite 34,133 „ „
w. Bingerbreite „976975 „ „ * Fingerbreite 8,533 „ „
I Bon Weiten maaßen kommt im hebräifhen Bibeltert außer der Tagreife, die
ein ſehr unbeſtimmtes, oder vielmehr gar fein eigentliches Maaß ift und darum
694) Maaße bei den alten Hebräern.
auch nicht hieher gerechnet werben kann, nur das verfihieden gebeutete mna22
yıyı dreimal vor (Geneſ. 35, 16. 48,7. 2 Kön. 5, 19). Der Sprer und
Araber nehmen e8 als eine perfifhe Parafange (etwa °/, einer teutfchen Meile),
die LXX. nehmen es unüberfegt in ihren Text auf (yaßoaIa) und feßen nur
Genef. 48, 7. noch irırzodoouos Hinzu, An eine ziemlich große Strede läßt
fhon der Ausdruck 7I22, nach der gewöhnlichen Bedeutung des Stammes 425,
denfen; nach 1 Sam, 10, 2, vergl. mit Genef. 35, 16, muß wohl eine Strede
von mehr als einer teutfchen Meile damit bezeichnet worden fein (ogl. Duartal-
fchrift 1846. ©. 214 f.). In den beuterocanonifchen und neuteflamentlichen
Schriften werden von Weitenmaaßen erwähnt: a) der Sabbath-Weg (App. 1,
12.), d. h. die Strede Weges, welche die Juden auch am Sabbath außerhalb
ihres Wohnortes machen durften. Weil nämlich Exod. 16, 29, den Sfraeliten
verboten wird, fih am Sabbath aus dem Lager hinauszubegeben, und nach einer
Ueberlieferung der Pharifäer, die auch der Thalmud fennt (Schabb. XXIU. 3. 4.
Erub. IV. 7), die Strede vom äußerften Ende des Lagers bis zum hl. Zelte 2000
Ellen betrug, fo verorbneten fie, daß fein Sfraelit am Sabbath mehr als 2000
Ellen weit außerhalb feines Wohnortes gehen dürfe. Nach der Peſchito (zu Ang.
1, 12.) betrug der Sabbath-Weg fieben Stadien, nah Epiphanius (Haer. LXVI.
82) nur fehs Stadien; mit Legterem flimmt auch Zofephus überein, indem er
die Entfernung des Delberges von Jeruſalem, um die es fih Apg. 1, 12, ban-
delt, auf fehs Stadien angibt (Bell. Jud. V. 2, 3.). b) Das Stadium (ore-
Jıov), das feit Alexander d. Gr. auch im Orient gebräuchlich wurde (3. B. 2 Mace.
11, 5. 12, 9. Luc. 24, 13.). Es beträgt nach Herodot (II. 149) 600 griechiſche
Fuß, nah Plinius CH. N. I. 21) 125 römifhe Schritte, d. i. 625 Fuß, An-
geftellte Meffungen haben gezeigt, daß ein Stadium den A0ten Theil einer geo-
graphifchen Meile ausmacht, und fomit die 60 Stadien Luc. 24, 13. anderthalb
Meilen und die 15 Stadien Joh. 11, 18. %, Meilen ausmahen (Winer,
Nealw. s. v.). c) Die römische Meile CwuiAıov, Matth. 5, 41.), eine Strede
von 1000 (daher der Name milliare, milliarium) römifhen Schritten, fomit, da
125 folde Schritte ein Stadium ausmadhen, von acht Stadien, und daher (da
5%xX8=40) der fünfte Theil einer geographifchen Meile. — II. Die hohlen
oder Fubifchen Maaße find theils A. Maaße für trodene Dinge, tbeils
B. Maaße für flüffige Dinge A. Die Maaße für trockene Dinge find:
1) das Chomer (Han), das größte Maaf der Hebräer, das fpäter zur Zeit
der Könige gewöhnlich Cor (>) genannt wurde, fo daß diefer Name den frühern
ziemlich verdrängte (1 Kön. 5, 2. Ezech. 45, 14), und auch in’s Griechiſche
0908) und Syrifche (1a) überging; 2) das Epha (on, LXX. olpl, olgpel,
olyı, olpıy, vpl, ige), nah Hefychius ein ägyptiſches Maaf, wie auch der
Name altägyptifch ift Cef. Gesenius, thesaur. s. v.); es faßte nach Czech 45,
11, 14. eben fo viel als das Bath, und fomit den zehnten Theil des Chomer
ober Cor; 3) das Seah (xD, LXX. odrov, zuweilen auch uergov Genef. 18,
6. 2 Kön. 7, 1. 16., für den Dual diuszoov 2 Kön. 7, 1. 16,, und ungenau
oigpt 1 Sam, 25, 18,); nah LXX. und Targ, zu Gef. 5, 10, faßte es den dritten:
Theil des Epha; 4) das Dmer (Ar, Touog), nach Exod. 16, 36. faßte es
den zehnten Theil eines Epha; 5) das Kab (27, xuRos), welches den Nabbinen
zufolge Cof. Leusden, philol. hebraeo-mixtus p. 220), womit auch die Angaben
des Joſephus zufammenftimmen (Antt.IX. 4, 4.), den fechsten Theil eines Seah,
den achtzehnten eines Epha ausmacht; 6) das Letech (772), das nur Hof. 3, 2.
vorfommt, ift nach LXX. (rudxopog) und Hieronymus (Vulg. corus dimidius) die
Hälfte eines Chomer oder Cor, mithin ſ. v. a. fünf Epha. B. Die Maaße für
flüffige Dinge find; 1) das Bath (n2), das übrigens im A, T. erft zur Zeit
Maaße beiden alten Hebräern. 695
der Könige erwähnt wird (1 Kön. 7, 26. 38. Jeſ. 5, 10.), nah Ezech. 45, 11.
ift es dem Epha gleih und faßt_den zehnten Theil eines Chomer oder Cor;
2) das Hin (777, LXX. &v, tv, vv), deffen Name ohne Zweifel altägyptifch iſt,
da er von den LXX. beibehalten wird, und trzor au als ägyptifche Bezeichnung
des Sertarius vorfommt (Böch, metrologifhe Unterfuhungen ꝛc. S. 244); eg
faßt nach den Angaben des Joſephus (Antt. IM. 9, 4.) und der Rabbinen ven
fehsten Theil des Bath; 3) das Log (>>), das nur im Gefege über den Ausfag
Levit. 14, 10. 12. 15. 21. 24. vorkommt; es faßt nach den Rabbinen den 24ten
Theil eines Seah, alfo den 12ten eines Hin (Leusden, I. c. p. 223). Diefe
Maafe ftehen demnach wieder, wie die Längenmaafe, in einem ſolchen Berhält-
niffe zu einander, daß, wenn die Größe von einem derjelden genau beftimmt
wäre, darnach auch die der übrigen ſich Teiht angeben Tieße. Bei Beſtimmung
folder Größe hat man wiederum verfhiedene Wege eingefhlagen. Die Rabbinen
gehen vom Heinften Maaße, dem Log, aus, und beflimmen daffelbe auf ſechs
Eierſchalen, d. h. ein Log hält nach ihnen fo viel Waffer als aus einem vollfom-
men angefüllten Gefäße durch Hineinlegen von ſechs Eiern ausgetrieben wird,
Darnach ift dann die Größe der übrigen Maaße, die nur Mehrfahe vom Log
find, Teicht zu berechnen. Joſephus dagegen beftimmt die Größe der genannten
Maaße nach den Maafen der Griechen, und ſchon Theodoret bemerft, daß er
Glauben verdiene (mıorevriov ÖL Ey TETOIS auro, axgıßos TE EIvag Ta
uerga Ertioreuevo. Quaest. 64. in Exod.). Joſephus kannte den Tempel und
die dort aufbewahrten heiligen Gefäße genau, diefe aber ſtammten aus alter Zeit
ber und wurden für das wiederherzuftellende Heiligtum unter Cyrus den Jfrae-
Viten zurütfgegeben (Esra 1, 7 ff.); fie entfprachen alfo ohne Zweifel den Nor-
malmaafen, und es ift beachtenswerth, daß Joſephus felbft von Salomo fagt,
er habe eine Menge von Gefäßen mofaifhen Maafes in Gold und Silber an-
fertigen Iaffen CAntt. VII. 3, 8.). Es ift daher begreiflih, daß auch die neueren
Gelehrten in ihren Unterfuchungen über diefen Gegenftand faft ohne Ausnahme
den Joſephus zum Führer nefmen, obwohl ihnen nicht entgangen ift, daß ihm
auch Fehler und Verftöße begegnet find. Joſephus nun beftimmt das Bath oder
Epha zu 72 Xeften (Antt. VII. 2, 9.), 72 Xeften (Scorer) aber machten einen
attifchen zeronzris aus (Eisenschmid, de ponderibus et mensuris etc. p. 80).
Mit jener Beftimmung im Einklang ift es, wenn Jofephus ein Seah zu 1',,
itafienifchen Modien angibt (Antt. IX. 4, 5.); denn der Modins enthält 16 Xeften,
das Seah fomit 24 Keften, alfo den dritten Theil eines Bath oder Epha oder
ueroneng, denn 24 %X3— 72, Ebenfo ift damit im Einflang, wenn Joſephus
das Kab zu vier Keften berechnet, denn vier Rab machen ein Seah, und AX 6=
24. Wenn daher das Ehomer oder Cor bei Joſephus, welcher wohl weiß, daß
daffelbe 10 Bath oder Epha oder Metreten Hält, zu 12 attifhen Medimnen an-
gegeben wird (Antt. XV. 9, 2.), fo ift dieß einfach als ein Berfehen zu betrachten;
fowie auch, wenn dort das Dmer, das als der zehnte Theil des Epha (72 XKeften)
75 Teſten enthält, wie Epiphanius auch ausdrüdflih angibt (vgl. Böckh, a. a.
9, ©. 260), zu fieben attifchen Kotylen beftimmt wird (Antt. II. 6, 6.). Sf
aber demnach ein Bath oder Epha fo groß als ein attifcher Metretes, fo ift feine
Größe befannt, denn ein attifher Metretes faßt 739,800 Par. Gran Regen-
waffer, welche einen Raum von ungefähr 1985,77 Par. Kubikzoll ausfüllen, Es
ergibt fih alfo (nah Bertheau, a. a. O. ©, 73) folgende Tabelle:
Größe. Waſſergewicht.
Chomer 19857,7 Par. Kubikzoll. 7398000 Par, Gran,
Epha 1985,77 * Re
Seh 661,92 „ ä 246600: :.4 -:%
Hin Be. 193300: 2:8
696 3346” Ru
’ Größe. Waflergemwicht.
Omer 198,577 Par, Kubikzoll. 73980 Par. Gran.
Kab 110,32 „ "H 41100 HM ir 4
Log 27,98 7 v \ 10275 u ; n
Nah Wurm (de ponderum, nummorum, mensurarum, ac de änni ordinandi ratio-
nibus apud Romanos et Graecos. Stutg. 1820. p. 123. 125. 126.) faffen drei
zömifhe urnae, denen der attifhe Metretes gleihfommt, 21,14436 würtem-
bergifche Maaß. — Neulich hat Otto Thenius dem Verfahren der Rabbinen
bei Beftimmung der hebräifchen Maaße wieder den Vorzug gegeben (a. a. D.
S. 35 f.); allein was er genen das gewöhnliche Verfahren und das Ergebnif
deſſelben vorbringt, fcheint nicht fehr erheblich zu fein, und auf der andern Seite
wird man fich wohl fhwerlich überzeugen können, daß das rabbinifche Verfahren
geeignet fei, zur erwänfchten Genauigkeit und Sicherheit zu führen. Auf den
Zufammenhang des. hebräifhen Maaßſyſtems mit den Maaßſyſtemen anderer alten
Bölfer, namentlich der Aegyptier und Babylonier, und das gegenfeitige Verhält-
niß derfelben näher einzugeben, würde bier zu weit führen; fpecielle und aus—
führliche Auskunft darüber findet fi in den ſchon wiederholt genannten Schriften
son Börh und Bertheau, [Welte.]
Mabillon, Johann, der berühmtefte Benedictiner der Kongregation von
St, Maurus und einer der größten Gelehrten. des 17ten Jahrhunderts, wurde
den 23, November 1632 zu Pierremont, einem Fleinen in der Didcefe Rheims
an den Grenzen der Champagne gelegenen Orte Franfreihs, geboren, und er—
hielt feine erfte Bildung in dem Haufe feines Oheims, eines Pfarrers in der
Nachbarſchaft. Da fih aber in dem Knaben befondere Fähigkeiten entwickelten,
wurde er nach Nheims geſchickt, wo er durch feinen außerordentlichen Fleiß, die
Lebhaftigfeit feines Geiftes, feine Gottesfurcht und Beſcheidenheit fih bald die
Liebe feiner Lehrer und der höheren Geiftlichfeit gewann, die mit größter Theil-
nahme für ihn forgten. Nach abfoloirten Humanitätsclaffen wurde ihm als einem
der ausgezeichnetften Schüler eine Stelfe im Seminar der Metropolitankirche zu
Theil, welches der Erzbifchof von Nheims, Cardinal Carl von Lothringen, nad
feiner Rückkehr vom Trienter Concilium gegründet und nach jenem des hl. Carl
von Borromäo zu Mailand eingerichtet hatte, Hier befchäftigte er ſich gleich eifrig
mit den Wiffenfihaften wie mit den gottesdienftlichen Uebungen, und bereitete ſich
unermüdet auf das heilige, ernfte Amt vor, einft als Priefter zur Ehre Chriſti
und zum Beften der Kirche wirken zu fönnen, doch war er auch unfchlüffig, ob er
den Weltpriefterftand wählen, oder einer Ordensregel und den feierlichen Ge—
lübden ſich unterziehen ſollte. Endlich entfchied er fich für den Kloſterſtand.
Schon lange hatte der Drden des hl. Benediet und befonders, das rühmliche
Wirken der Congregation des hl. Maurus, welche die Abtei St. Denis zu Nheims
befaß, feine Aufmerffamfeit auf fich gezogen, und das wahrhaft religiöfe Leben
diefer Denedictiner fagte vor Allem feinem frommen Gemüthe zu. Daber trat er
den 5. September 1653 in die Benedictinerabtei St. Denis, und verband fi
nach vollendetem Probejahre am 6. September 1654 durch Ablegung der Ge-
lübde dem Orden und der Kongregation, deren größte Zierde er geworben ift,
Sein Eifer, mit dem er fih dem Studium der- heiligen Wiſſenſchaften bingab,
und feine ſtrenge Genauigkeit in der Erfüllung der Ordensregeln bewogen feine
Vorgeſetzten, ihm die Aufficht und Leitung der übrigen jüngeren Mitglieder der
Congregation zu übertragen, und fo wurde er, noch nicht Priefler und erſt fürzere
Zeit Profeß, Novizenmeifter, und durch Wort und Beifpiel ein Lehrer Höfter-
licher Frömmigkeit und ein Eiferer für die Wiffenfhaft und die Ehre des Ordens,
Wohl aber mag er, vom Eifer hingeriffen, feine Geiftesfräfte zu viel angeftrengt
- haben, denn bald befielen ihm heftige und anhaltende Kopffchmerzen, bie feinen _
zartgebauten Körper fo ſehr ſchwächten, daß er jede ernfte Befchäftigung ver-
re a — TE ER —
Mabillon. 697
meiden mußte. Die einzigen Mittel ſeiner Herſtellung, welche die Aerzte an—
| riethen, waren Enthaltung von jeder geiſtigen Auſtrengung und Luftveränderung,
und deßhalb fanden fih feine Obern gemöthigt, ihn in das einfame Klofter der
- Heiligen Bottesmutter zu Nougent, zwifchen Laon und Soiffons, zu ſchicken. In
diefem alten Klofter, das nur von einigen greifen Mönchen bewohnt wurde, fand
er in ftiller Zurücgezogenheit bald die nöthige Kräftigung und Erholung, und
die vielen Ueberrefte der Vorzeit und einige alte hiſtoriſche Schriften, die er hier
vorfand, gewährten ihm eben fowohl Zerftreuung, als fie zuerft in ihm jene Liebe
zu Altertfumsforfhungen wecten, durch welche er in der Folge fo Großes und
Herrliches Teiftete. ALS feine Ordensobern zu St. Denis Mabillons Liebe zu den
antiquarifhen Studien erfuhren, befchloffen fie, ihn nach Corbie (ſ. d. A.) zu ſchicken,
da diejes Klofter reichlichen Stoff zu antiquarifchen Forfhungen darbot, befahlen
jedoch, ihm durchaus fein Amt zu übertragen, welches feine Geiftesfräfte in An—
fpruch nehmen fönnte. So fam er im Jahr 1653 nach Corbie, und da man ihr
zu andern Gefhäften für untauglich Hielt und feine Kopfleiden wirklich noch fort-
dauerten, übertrug man ihm das Amt eines Klofterpförtners und Ausfpenderg der
milden Gaben, dem er fih in aller Demuth unterzog. Als es mit feiner Ge-
fundheit beffer geworden war, wurde er zu Amiens den 27. März 1660 zum
Priefter geweiht, und nun nach Eorbie zurücfgefehrt, Tieß er fich nicht mehr von
feinen gelehrten Befchäftigungen abhalten, bejuchte die theologifchen Eollegien des
Klofters, und fammelte in der an alten und merfwürdigen Handichriften fo reichen
Bibliothek viele höchſt intereffante Documente, die er fpäter feinen größern Wer-
fen einverleibte. Im Archive diefes Klofters fand er auch die Lebensgefchichte des
heiligen Adelhart, der, ein Bruder Carlomanns, den Föniglihen Hof verlieh
und ald Mönch zu Eorbeja ftarb. Diefe Gefhichte, vom Hl. Mönde Gerhard
im eilften Jahrhundert gefchrieben , begeifterte ihn fo fehr, daß er Adelharts Leben
in Berfen befang und fpäter mit mehreren Hymmen zu Ehren ber hl. Königin
Dathildis, der Stifterin des Klofters Corbeja, die er gleichfalls verfaßte, im
Drude heransgab, die erſte Literarifche Arbeit Mabillons. Doch diefe geiftige
Thätigfeit beunruhigte die Ordensobern zu Corbie, denn fie fürdhteten, daß der
ihnen anvertraute junge Ordensmann, kaum genefen, wieder in feine Krankheit
zurücfallen möchte, und deßhalb glaubten fie ihn durch andere Gefchäfte von fei-
nen wiffenfhaftlihen Strebungen abziehen zu müffen. Sie übergaben ihm nun
die Leitung der weltlichen Angelegenheiten des Klofters, die Auffiht über dag
Geld und den Keller, und machten ihn zum Depositarius und Cellarius. Allein
zur Führung diefer Aemter fühlte er fich nicht geeignet und bat daher inftändigft,
ihm eine andere Befchäftigung anzuweiſen. Er wurde daher in die Abtei St, Denis
geſchickt, wo ihm das Amt eines Schagmeifters zu Theil wurde, das er im Juli
1663 antrat. Als folder mußte er den häufig nach St. Denis ſtrömenden Gäften
die Gräber der Könige und den Schag und die Merfwürdigfeiten des Klofters
zeigen, was feine Zeit fehr in Anfpruch nahm; doch veroollfommnete er fich nebft-
bei in allen Zweigen der Theologie und befchäftigte fich fleißig mit: der Lefung
der heiligen Väter, Schon in diefer Zeit hatte er, als er vernahm, daß feine
Congregation eine neue correcte Ausgabe der Kirchenväter zu veranftalten im
Sinne hatte, die Werfe des HI. Bernhard aufmerffam gelefen und mit mehreren
Handſchriften verglichen, um den Herausgebern dadurch nüßlich zu werden, ohne
zu ahnen, daß er felbft die Seele diefes herrlichen Unternehmens, das allein ſchon
den Namen der Mauriner Congregation in der Geſchichte der Literatur unfterblich
macht, werden würde, Da num feine Vorgefegten diefe gelehrten Beftrebungen
Mabillons fahen, wollten fie ihm feine weitern Schranken mehr fegen und ſchickten
ihn im Juli 1664 nach Paris in die Abtei Saint Germain, um den Bibliothecar
Lucas d' Ach ery im Amte zu unterftügen und bei der Herausgabe feines Spici-
legiums behilflich zw fein Ch, den Art, Dacherius). D’Adery, der jüngere
698 Mabillon,
Priefter feines Ordens befonders deßhalb von den Dbern forderte, damit er fie
in den Stand fege, feine großen hiftorifchen Arbeiten nach feinem Tode fortfegen
zu fünnen, hatte in Mabillon, was er fuchte, gefunden, Mit unermüdetem Eifer
benügte dieſer d'Achery's gefammelte Materialien, ordnete das Einzelne zum
Ganzen,_und arbeitete raftlos unter der Leitung des greifen Meifters an den
legten Bänden des Spicilegiumd. Aber auch mit eigenen Arbeiten fih zu be-
faifen, hatte er bald Gelegenheit. Die projectirte Herausgabe der Kirden-
väter follte jegt in Wirflichfeit treten, Schon waren die verſchiedenen alten
Handfhriften, die man großentheils dem Fleiße der Benedictiner verdanft, ge-
fammelt und aus den Ordensbibliothefen herbeigefchafft, ſchon hatte der um diefes
Unternehmen viel verdiente Mauriner Claude Chantelou einen Band der
Neden des hl. Bernhard herausgegeben, als Chantelou’s Tod die Fortjegung zu
vereiteln fohien. Da übernahm Mabillon die Leitung des ganzen großen Unter-
nehmens, und unterzog fich der vollftändigen Bearbeitung der Werfe des hl.
Bernhard, Diefe Opera s. Bernardi erfchienen zu gleicher Zeit im J. 1667 in
zwei fchönen Ausgaben, die eine in zwei Bänden in Folio, die andere in neun
Detavbänden, eine dritte mußte Mabillon noch fpäter auf Verlangen des Papſtes
Alerander VII. veranftalten. Aber noch eine größere Arbeit, welche die Aufgabe
feines ganzen folgenden Lebens geworden ift, wurde ihm zugewiefen. Die Be—
nebictiner waren feit der Gründung ihres Ordens gewohnt, die einzelnen Ereig-
niffe ihrer Klöfter, fowie auch die in die DOrdensgefhichte eingreifenden Welt-
. begebenpeiten mit forgfamer Genauigfeit aufzuzeichnen. Da gab es nun Hand-
fohriften und Gefchichtsquellen in Menge, die, weil Benedicts Orden ſich ſchnell
im ganzen Abendlande verbreitet Hatte, nicht nur die Kirchen-, ſondern auch bie
Profangefhichte ungemein beleuchten und manches gänzlich unbefannte Geſchichts—
factum erzählen. Diefe Handfchriften ließ die Kongregation des HL. Maurus fam-
meln und nach Paris bringen, um aus ihnen eine vollfommene Gefhichte des
Denedictinerordens auszuarbeiten, und biefe Arbeit wurde vom Orden an
Mabillon übertragen. Freudig übernahm er fie, doch feine Liebe zur heiligen
Geſchichte bewog ihn, zuerft das Leben und Wirfen der Heiligen des Be—
nedictinerordens an’s Licht zu fördern, und ſchon im J. 1668 erſchien der
erſte Band feiner Acta Sanctorum Ordinis s. Benedicti, dem bis zum Jahre 1702
noch acht andere folgten. Diefes Werk, obwohl alfenthalben mit großem Beifall
aufgenommen, erregte dennoch den Unwillen einiger feiner Ordensbrüder, die,
von unmäßigem Eifer getrieben, glaubten, Mabilfon wäre bei der Kritik der alten
Acten der Heiligen zu weit gegangen, und babe dadurch, daß er die Heiligen,
deren Acten ihm verdächtig ſchienen, oder die bei genauerer Unterfuhung dem
Drden gar nicht angehörten, als dubios und extraneos darftellte, der Ehre des
Drdens durchaus nicht Nechnung getragen, ja fie legten felbft dem Oeneralcapitel
eine Klagfchrift vor und verlangten den Widerruf Mabillons. Allein diefer, wel-
her das Streben nach der firengften Wahrheit für eine heilige Pflicht des Ge-
fchichtfchreibers hielt, vertheidigte fih auf eine fo überzeugende Art, daß das
Drdenscapitel den thörichten Eifer feiner Ankläger mißbilligte, und feiner Liebe
für die Wahrheit das verdiente Lob beilegte, er alfo nicht nötig hatte, einen
Widerruf zu leiften, Und von nun an arbeitete er ungeftört an ber Geſchichte
des Ordens ſowohl als feiner Heiligen, leitete mit Umficht die Ausgabe der Kir-
henväter, fchrieb während diefer Zeit gelegenpeitlich mehrere kleinere Werfe, wie
z. B. die dem Cardinal Bona gewidmete Dissertalio de pane eucharistico azymo
et fermentato, und ftand mit den gelehrteften Männern feiner Zeit in wiffenfchaft-
licher Verbindung. Es ift faunenswerth, wie dieſer Mann bei feiner fchwäd-
lichen Gefundheit fo Vieles zu leiften vermochte, Um zwei Uhr nah Mitternacht
ftand er gewöhnlich auf und arbeitete, jene Stunden ausgenommen, bie er ber
Lefung und Anhörung ber heiligen Meffe und dem Gebete widmete, ununter«
Mabillsn, 699
brochen bis zur Mittagszeit, nach derfelben feste er wieder, ohne an eine Er-
holung zu denfen, feine Arbeiten bis fpät in Die Nacht fort, und dennoch befand
ex ſich recht wohl bei diefer Lebensweife. Merkwürdig iſt e8 auch und ein Beweis
feiner Beſcheidenheit, daß er, obwohl er-bei vielen Werfen die ganze Laſt der
- Arbeit allein auf fih nahm, doch den eingeernteten Ruhm gerne mit feinen Ge-
noffen teilte, — Da Mabillon bei der Bearbeitung der Acta Sanctorum fo viele
Duellen des Mittelalters aus Franfreihs und Hollands Bibliothefen vorfand,
die nicht zunächft die Drdensgefchichte betrafen, er auch genöthigt war, gelehrter
Forſchungen wegen mehrere Klöfter zu bereifen, alles Merkfwürdige aber für den
Forſcher Intereſſe hatte, wollte er die Ausbeute feiner Unterfuchungen nicht nuß-
los verborgen halten, fondern entfchloß fih, das Wichtigfte derfelben bekannt zu
machen, Diefes that er in feinen Analectis Veterum, von denen der erfte
Band im J. 1675, der vierte legte 1685 erfhien. Sie enthalten eine Samm-
lung der trefflihftien Abhandlungen über gottesvienftlihe Gebräuche, einzelne
Werfe alter Kirchenfchriftfteller, Fragmente aus der Gefhichte und aus alten
Ehronifen, Beihlüffe der Eoncilien, Urkunden vieler Klöfter und Kirchen, Briefe
von Kaifern, Königen, Päpften und Bifchöfen, und viele andere ſchätzbare, bisher
ungedructe profaifhe und poetifhe Schriften alter Seriptoren. Noch größere
Berühmtheit aber brachte ihm fein im J. 16831 berausgegebenes Werf de re di-
plomatica. Die Unterfuhung einer unzähligen Menge alter Urkunden und
Handfhriften, zu der ihn feine frühern Arbeiten nöthigten, brachten ihn auf den
Gedanken, das Wefen der Diplomatif gewiffen Regeln zu unterwerfen und auf
fihere Grundfäge zu bauen. Zwar hatten fchon feit Laurentius Valla (1440)
mehrere Gelehrte verfucht, der diplomatischen Kritif die Bahn zu brechen, aber
noch fehlte ihr die fyftematifche Begründung, bis endlih Johann Mabillon
in dieſem feinem Werfe die Urfundenlehre zur Freude aller Gelehr—
ten wiffenfhaftlich dvarftellte (f. Wachlers Handbuch der Literaturgefchichte,
Bd. IV. ©. 153). Diefes Werk machte den Föniglihen Minifter Colbert auf
Mabillon aufmerkffam, und da diefer in feiner Diplomatif fih auch um die Rechte
der Könige Frankreichs verdient gemacht Hatte, trug ihm Colbert eine Penfion -
von jährlichen 2000 Liores aus dem Foniglihen Schage an. Eine folche Unter-
ſtützung aber wies der demüthige, genügfame Mann zurücf mit der einfachen Ent-
fhuldigung , feine Eongregation laſſe es ihm an dem Nöthigen nicht fehlen, und
mehr brauche er nicht, Ueberhaupt Hatte Mabillon fehr wenige Bedürfniffe, und
wünfchte nichts mehr, ald arm zu fein. Einfach war die Einrichtung feiner Zelle,
einfach feine Kleidung, einfach feine Koft, und der Mann, um deffen Freundfchaft
fih die größten und gelehrteften Männer Europa’s eifrig bewarben, lebte als
ſchlichter Mönch in den Mauern von St. Germain, ein Mufter evangelifcher Ar-
muth. Da aber Eolbert einmal die Tüchtigkeit diefes Gelehrten erfannt hatte,
ließ er nicht ab, fich feiner zu Frankreichs Ehre zu bedienen, Schon im J. 1682
ſchickte er ihm auf Föniglichen Befehl nach Burgund, um einige die Genealogie
des föniglihen Haufes betreffende wichtige Documente aufzufuchen und nach Paris
zu bringen. Und der glüdliche Erfolg diefer Sendung bewog ihn, bei Ludwig XIV.
auszuwirken, dag Mabillon auf Foniglihe Koften und im Auftrag des Königs eine
gelehrte Reife nach Zeutfchland unternehme, um die Bibliotheken und Archive der
Stifter und Klöfter diefes Landes zu durchforſchen und zu fammeln, was fih in
denfelben für die Geſchichte überhaupt und für die franzöfifche insbefondere vor—
fände, Mabilfon trat in Begleitung feines Drdenshruders Michael Germain
den legten Juli 1683 diefe Reife an, durchwanderte Elſaß, Schwaben, den nörd-
lichen Theil der Schweiz, Tirol, Bayern und Salzburg, machte fehr viele für
bie Geſchichte wichtige Entdeckungen, die er im vierten Bande der Analecten mit-
theilt, und kehrte mit Kenntniffen bereichert nach fünf Monaten nach Paris zurück.
Wäsrend Mabillons Reife war fein großer Gönner Colbert geflorben, und der
700 Mabillon
Erzbiſchof von Rheims, le Tellier, an deſſen Stelle getreten; aber auch dieſer
erlauchte Kirchenfürſt wußte die Verdienſte Mabillons vollfommen zu würdigen
und ſein gelehrtes Wiſſen in Anſpruch zu nehmen. Durch den günſtigen Erfolg
der teutſchen Reiſe aufgemuntert, machte er dem Könige den Vorſchlag, Mabillon
nun auch nach Italien zu ſenden, um theils Bücher für die Fönigliche Bibliothek
anzufaufen oder abzufchreiben, theils durch die Nefultate neuer Forfchungen die
Literatur zu bereichern. Und Ludwig, der für Alles, was feines Namens Ruhm
erhöhen und den Auffhwung der Literatur in Frankreich befördern konnte, Teicht
gewonnen wurde, gab alfogleih Befehl, Mabilfon ſolle nicht nur auf königliche
Koſten, fondern auch unter föniglichen Aufpieien gleichfam als Legat feines Mo-
narchen fih zur Reife nach Italien rüften. Wieder von Michael Germain be-
gleitet trat Mabilfon den 1. April 1685 diefe Reife an, nahm den Weg über
Lyon, überftieg Die Alpen, befushte Turin, Mailand, Verona, Pabua, Venedig,
Florenz, fam den 5. Juni nah Rom, und von da nach Neapel, befuchte faft jede
Bibliothek und Runftfammlung und die Kirchen, die nur immer etwas Merfwür-
diges befaßen, und fand überall bie ehrenvollſte und freundlichfte Aufnahme, Aber
nicht bloß der Forfchergeift des Gelehrten, auch das Findlich Fromme Gemüth des
Mönches fand auf diefer Reife reichliche Nahrung, denn nicht bloß die Schäge
der Bibliothefen und der Umgang der Gelehrten waren e$-, die er da fuchte, fon-
dern auch jene heiligen Drte, in deren ftilfer Einfamfeit er fih fammeln und fei-
nen frommen Uebungen und Betrachtungen überlaffen fonnte, Voll frommer An-
dacht verweilte er in jener Höhle der Einöde von Ballombrofa, in der einft ber
heilige Abt Johannes Gualbert gelebt und feinen berühmten Orden geſtiftet
hatte; mit heiliger Scheu trat er ein in die Höhle der Wüfte von Sublaco, und
begeiftert rief er aus: „In hoc sacro specu Benedictus Ordinem suum obstefricante
gratia parturiit, hic cunabula gentis nostrae, haec petra, unde exeisisumus!* Big
in's Innerſte gerührt, betrat er auf dem Monte Caffino die Zelle, in der einft
der große Benedietus gehaufet, und von der aus Benediets Geift und Negel
und die Zweige feines großen Ordens durch das ganze Abendland fich verbreitet
hatten, Ganz verfunfen in tiefe Andacht fah man ihn in Loretto um des Sohnes
Erbarmen die heilige Gottesmutter anrufen, zu Pavia vor Auguftins, zu Ver—
celli vor Euſebs, zu Mailand vor Ambrofius’ und Carls heiligen Ueber—
reften betend im Staube liegen. Bon nichts erzählte er nach feiner Zurücklunft
freudiger, als von feinem Beſuche der Grabftätten der Apoftelfürften Petrus
und Paulus, von Roms herrlichen Kirchen, den Katakomben der Martyrer, und
von dem Glücke, das ihm zu Theil geworden, Roms heilige Erde betreten zu
haben, Seine ganze Reife durch Italien war daher nicht weniger die Wallfahrt
eines frommen Ordensbruders, als fie die Forfchungsreife eines Gelehrten ge—
wefen, Nachdem Mabillon durch fünfzehn Monate Jtaliens heilige und gelehrte
Schätze emfig durchforſcht, in Vergeffenheit begrabene Werfe der Literatur au's
Licht gefördert, Foftbare Bücher gefammelt, und Manuferipte, die um feinen
Preis anzufaufen waren, abgefchrieben hatte, kehrte er um die Mitte des Jahres
1686 nach Frankreich zurück, und bereicherte die Fönigliche Bibliothek mit mehr
als drei Taufend feltenen Büchern und Handfhriften. Bald nach feiner Rückkehr
gab er die Beſchreibung feiner italicnifchen Neife und der Ergebniffe derjelben:
im Drude heraus, welcher er mehrere merfwürdige, dort aufgefundene Schriften
und Doeumente beifügte, unter dem Titel Museum ltalicum. — Nah Paris zurück-
gefehrt, lebte Mabillon wieder fo zurücfgezogen in St. Germain, daß wohl Nier
mand in dem ftilfen, bemüthigen und befcheidenen Kloftergeiftlichen den Mann
erfannt haben würde, deffen gelehrten Kenntniſſen Teutfchland und ganz Italien
gehufdigt hatte, Bald aber mußte er auf Befehl feiner Obern mit einem Werfe
auftreten, das feinen Namen aufs Neue ruhmvoll Frönte und nicht etwa nur auf
feinen Orden, fondern auch auf das Höfterliche Leben und den Geift aller veli«
Mabillon. 701
giöfen Communitäten einen wohlthätigen Einfluß Hatte, ihn feldft aber mit dem
berühmten Abt von la Trappe, Armand Bouthilier de Rance, in einen
Streit verwidelte. Es ift diefes fein Werf über die Klofterfiudien: Traite
des Etudes monastiques, welches im 3.1691 zuerft in Paris erfhien und bald
nad feinem Erſcheinen in verfhiedene Sprachen überfegt wurde: Mabillon zeigt
darin, da literarifche Befhäftigungen und das Fortſchreiten in den Wiſſenſchaften
mit dem Flöfterlihen Stande nicht nur in feinem Widerfpruche ſtehen und ven
Kloftergeiftlichen niemals unterfagt gewefen feien, fondern daß fie vielmehr ge-
hörig betrieben zur Aufrechthaltung Flöfterlicher Disciplin nothwendig wären, und
der wahre Drdensgeift und eine gegründete Religiofität gewiffermaßen nur durch
fie beſtehen konnen. Diefes beweifet er aus der Regel des hl. Benediet, aus den
ausgezeichneten Leiftungen der Söhne feines Ordens, aus den älteften Bibliothefen,
deren gerade die Klöfter fich erfreuen, und aus den vielen Handichriften und li—
terarifhen Duellen, die man faft einzig dem Fleiße der Religioſen verdankt. Hier-
auf zählt er verfchiedene Wiffenfchaften auf, deren Studium er den Religiofen
empfiehlt, fchreibt die Art des Studirens vor und macht mit den dazu nöthigen
Hilfsmitteln befannt, Schließlih gibt er jene Werfe an, mit welchen er jede
Klofterbibliothef verfehen wünſcht. Allein furz bevor hatte der Abt de Rance
fein Werk de vitae monasticae Officiis herausgegeben, und darin den Kloftergeift-
lichen ohne Ausnahme alle Wiffenfhaften und das Lefen beinahe aller Bücher
außer der heiligen Schrift und einigen ftreng moralifchen und ascetifhen Werfen
unterfagt, und zugleich auch von den gelehrten Strebungen der Benedietiner mit
vieler Anzüglichfeit geſprochen. Da Mabillon in feinem Werfe gerade das Ge-
gentheil behauptete, fo fonnte es wohl kaum anders fommen, ald daß der etwas
heftige Abt von la Trappe feine Stimme erhob, indem er glaubte, dur
diefes Werk werde der Verfall der Flöfterlihen Sitten herbeigeführt und die den
Drdensmann fo ſchön zierende Demuth untergraben. Deßhalb Tief er im J. 1692
eine Schrift gegen Mabillon in den Drudf legen, betitelt: Response au Trait&
des Etudes monastiques, in welcher er niht nur ihn, fondern auch den ganzen
Benedictinerorden hart mitnimmt. Auf diefes durfte nun Mabillon, aufgefordert
von feinen Dbern, diefe Shmah vom Drden abzuwälzen, und aufgemuntert von
mehreren Bifchöfen Franfreichs, nicht [hweigen, und antwortete durch feine Schrift:
Reflexions sur la response de Mr. PAbbé de la Trappe ou traite des Etudes monast.,
worin er alle Einwürfe und Mißverftändniffe des Abtes zwar mit großer Be-
fcheidenheit, aber doch vollfommen widerlegt. Der Streit ging nicht weiter, denn
die beiden großen Männer vereinigten fih bald in ihren verfchieden ſcheinenden
Anfichten, da der eine gegen den Mißbrauch einer eitlen Gelehrfamfeit, der an-
dere aber für die Beförderung wahrer Wiffenfchaft gefchrieben Hatte. Mabillons
Werk aber erhielt von nun an ungetheilten Beifall und wurde von den Päpften
Innocenz XU. und Elemens XI gelobt und gebilligt. — Neue Unannehmlich- .
feiten verurfachte ihm feine Anfangs anonym erfchienene Schrift: Eusebii Romani
ad Theophilum Gallum epistola de cultu Sanctorum ignotorum, die, obwohl
er fie ſchon vor mehreren Jahren gefchrieben hatte, endlich auf Verlangen einiger
feiner Freunde im 3. 1698 durch den Druck veröffentlicht wurde, Obgleich Ma-
bilfon fih in diefer ganzen Abhandlung feiner gewohnten Beſcheidenheit befleißet,
von der wahren Reliquienverehrung mit aller Achtung fpricht, und nur gegen
* den Mißbrauch, der fich befonders in Franfreih mit den angeblich aus Rom ge-
braten Reliquien unbefannter Heiligen (Sancti ignoti, auch baptizati, f.d. Art. Ka-
tafomben) einfhlih, mit Kraft und Nachdruck eifert, fo fand doc diefe Schrift
firenge Tadler. Man befhuldigte ihn, da er zuebel war, feine Autorfchaft zu läug-
nen, daß fein Brief über den Reliquiencult die Ehre der römifchen Kirche verffeinere,
und brachte ed fo weit, daß diefer Schrift ſchon das VBerbammungsurtheil ber
Eongregation des Inder drohte. Nur das Anfehen, in dem Mabillon bei dem
702 Mabillon.
Papſte Clemens XI. und den römiſchen Cardinälen ſtand, vermochte es, dem
Urtheile der Congregation Einhalt zu thun, und es dem Verfaffer, der ſich ftets
als frommer Sohn der Fathofifchen Kirche gezeigt hatte, felbft zu überlaffen, feine
Schrift zu verbeffern, Mabillon unterdrückte nun fo viel als möglich die erfte
Ausgabe, erflärte, was dunfel, milderte, was zu flrenge war, ließ alles weg,
was nur einigen Stoff zum Mergerniffe gegeben hatte, und ſchickte diefe zweite,
umgearbeitete, im 3. 1705 gedruckte Ausgabe vem Papfte, deffen Urtheile er fih
und fein Werk in Demuth unterwarf. Diefe Ausgabe wurde nun der Congrega=
tion des Inder vorgelegt und von derfelben adprobirt und empfohlen. Diefe beis
den Zwifte hatten Mabilfon nur noch berühmter gemacht, Aus der Nähe: und
Ferne erhielt er beinahe ununterbrochen Briefe, in ‘denen man feinen Rath ver-
langte, und felbft Männer, die das Staatsruder Franfreihs in ihren Händen
führten, verfchmähten e8 nicht, den demüthigen Zelfenbewohner oft in Gefchäften
von größter Wichtigkeit zu Nathe zu ziehen, Wohl fahen es feine Ordensbrüder,
welch’ herrliche Perle fie an ihm hatten; wenn fie aber feine Verdienſte rühmten,
da entgegnete er ihnen mit trauriger Miene: „Affe jene Verdienſte, die ihr mir
zutheift, kenne ich nicht, aber meine Fehler, die Fenne ich. Betet für mich, und
bittet Gott, daß er mich zu dem erft mache, für den ihr mich ſchon haltet,” Do
blieb feinen Verdienſten auch die Hffentlihe Anerkennung nicht aus, indem die
Fönigliche Academie der Infchriften ihn im J. 1701 zu ihrem Mitgliede ernannte,
Allein feine Kräfte fingen immer bedeutender zu ſchwinden an, die befländige
Geiftes- und Gemüthsanftrengung (denn fein Leben war getheilt zwifchen Arbeit
und Gebet) und die genauefte Befolgung der ftrengeren Obfervanz des Ordens
mußten feinen ohnehin fchwächlichen Körper nur noch mehr ſchwächen; die Leiden,
welche den Frühling feines Lebens getrübt hatten, drängten ſich mit neuer Kraft
heran, aber die Stärfe der Jugend fehlte dem Manne, der bereits das neun-
undfechzigfte- Lebensjahr zurücfgelegt hatte, Diefer Franfliche Zuftand und bie
ſichtbare Abnahme feiner Kräfte drängten ihn nun, am Abende feines Lebens an
die Herausgabe ver Annalen des Benedictinerordens ernſtlich zu benfen,
eines Werkes, welches er durch den Fleiß vieler Jahre vorbereitet und zum Ziel-
puncte aller feiner Studien gemacht hatte, und das nicht nur über die Geſchichte
de8 Ordens, fondern auch über die Kirchen- und Profangefchirhte bedeutendes Licht
verbreitet, und als Hiftorifche Fundgrube für jeden fpäteren Geſchichtſchreiber des
Mittelalters wichtig und ergiebig ift. Im J. 1703 erfchien der erſte Band dieſes
großen Gefchichtswerfes, dem bis zum J. 1707 noch drei andere Bände folgten.
Schon war auch der fünfte Band beinahe vollendet, doch ihn herauszugeben war
Mabillon nicht mehr geftattet. Es war nämlich im December 1707, ald Ma-
billon fih in das Benedictiner-Nonnenflofter zu Chelles früh Morgens begab,
wo einige geiftliche Verrichtungen feiner harrten. Auf dem Wege dahin erkrankte
er aber an fchmerzlihem Harnzwang, und das Uebel verfchlimmerte ſich durch die
serfehrte Behandlung unwiffender Landehirurgen fo fehr, daß der aus Paris her⸗
beigeholte Arzt erffärte, Mabillon fei unrettbar für diefe Welt verloren. Und er
täufchte fich nicht, Todkrank brachte man ihn nach Paris, und ſchon am 27. De-
cember 1707 enteilte unter dem Gebete feiner Brüder feine fromme Seele des
Körpers irdifchen Banden, Treffend bezeichnet fein Schüler Nuinart des ge—
Yiebten Lehrers Leben und Streben mit den Worten: „Sie moriebalur, ut vivere
non recusaret, sic autem vivebat, ut supremum non metueret diem, et spiritu
magno vidit ultima.“ — Mabillons vorzüglidere Schriften find:
Acta Sanctorum Ordinis $. Benedicti, in saeculorum classes distributa. Paris,
1668—1702. Neun Bände in Folio. Der zehnte Band, welcher diefes Werf
beendigen follte, wurde nach Mabillons Tode von dem Mauriner Franz Te
Terier gefchrieben, doch blieb: er bisher ungebrudt, Das Manufeript ſoll fih
noch zu St, Germain des Pres befinden (Biogr. universelle, Vol, 26, P. 3.) —
Macarius. 703
Veteéra Analecta, i. e. varia fragmenta ef epistolae scriptorum ecclesiasticorum
tam prosa quam metro hactenus inedita. Paris. 1675—1685. Bier Bände in 8,
(Edit. II. dur Louis de fa Barre, Par. 1723.). Der vierte Band enthält:
Iter Germanicum J. Mabillon et M. Germain. — De Re Diplomatica libri VL.
Paris. 1681 in $ol. und Librorum de re diplomatica Supplementum. Paris. 1704:
Folio, — De Liturgia Gallicana libri II. Paris. 1685. in 4. (Edit. I. 1720).
— Museum Italicum, seu Collectio veterum scriptorum ex Bibliothecis Italieis
eruta. Paris. 1687—89. Zwei Bände in 4. — Trait& des Etudes Mona-
stiques. Paris 1691 in 4,, und Reflexions sur la response de Mr. l’Abbe de
la Trappe. Paris 1692 in 4. Beide Werfe fammt Thuillier’s Gefhichte des
Streites zwiſchen Mabillon und de Rance in's Lateinifche überfegt von Joſeph
Porta als Tractatus de Studiis monasticis in tres partes distributus. Venetiis
1729— 32. Drei Bände in A. — Annales Ordinis S. Benedicti. Paris.
1703—1739. Sechs Bände in Folio. Der fünfte Band wurde von Renatus
Maffuet 1713, der fehste aber, welcher das Werf befchlieft, von Edmund
Martene 1739 Herausgegeben, — La Mort Chretienne, dedide à la Reine‘
@’Angleterre. Paris 1702 in 12., eine Zufammenfteffung deffen, was die beften
Schriftſteller über den Tod der Heiligen gefchrieben, und feiner eigenen frommen
Gefühle, die der Gedanke an den Tod in ihm erregte. — Die Oeuvres post-
humes, Paris 1724. Drei Bände in 4., herausgegeben von dem Mauriner Vin-
eenz Thuillier, enthalten nebft den nachgelaffenen Schriften Mabillons auch
einige bereits gedruckte, aber felten gewordene Abhandlungen deifelben (über das
ungefäuerte Brod, die Berehrung unbefannter Heiligen, den Verfaffer der Bücher
von der Nachfolge Eprifti, die alten Gräber der franzöſiſchen Könige u. f. w.),
und Ruinarts Titerarifchen Nachlaß. — Mabillons Leben befchrieb fein Schüler
und Ordensbruder Theodorich Nuinart: Abrege de la vie de Dom. Mabillon.
Paris 1709; einen kurzen Lebensabriß fchiekte ver Mauriner Maffuet dem fünften
Bande der Drdensannalen voraus; die neuefte Biographie aber fihrieb Profeffor
Emil Ehavin de Malan: Histoire de Mabillon. Paris 1843. Das genaue
Berzeichnig feiner Werke findet fih in Ruinarti Vita Joannis Mabillonii in latinum
translata a Claudio de Vic Ord. s. Benedicti. Patavii 1714. — Taffins Ge-
lehrtengefchihte der Kongregation von St. Maur. I. Bd. und Sebaf’s Bio—
graphien Fatholifcher Gelehrten. Nr. 11. Mabillon, in Ples theolog. Zeitfchrift,
4, und 5, Jahrgang. [Sebad.]
Macarius. Diefen Namen führten viele berühmte Männer des firchlichen
Altertfums, namentlich mehrere der ägyptifchen Einſiedler; diefes hat, zumal bei
der allgemeinen Bedeutung des Namens (uar2oıog, felig) und bei ver Aehnlich-
keit deffelden mit Marcus zu manchen Verwechfelungen Anlaß gegeben, fo da
ſich von Vielen nicht fiber beftimmen läßt, welchem der heiligen Einfiedler es
angehört. Doc dürfte, namentlich nach den Unterfuchungen von Tilfemont (Tom.
VII.) und neuerdings von Floß Cin dem unten angegebenen Werfchen) , Folgendes
feſtſtehen: Die berühmteften unter den Mönchen diefes Namens find Macarius
der Aegyptier und Macarius der Alerandriner, Macarius der Aegyptier,
auch „ver Aeltere” oder „ver Große”, war gebürtig aus Dberägypten. In einem
Alter von 30 Jahren z0g er fih in die feytifche Wüfte zurück und führte dort 60
Jahre Tang ein Leben der firengften Abtödtung. "Schon nach zehn Jahren war er,
obſchon noch verhältnigmäßig jung, den älteften Einfiedlern an ascetifcher Voll-
fommenpeit gleih und wurde darum raıudagıoyeow» genannt; auch hatte er um
diefe Zeit fchon die Gabe der Weilfagung, der Kranfenheilung und anderer Wun-
der, Um 340 wurde er auch zum Priefter geweiht. Bon feiner Abtödtung und
feinen Wundern erzählt Palladius, der ein Jahr nach feinem Tode in die Wüfte
fam, die auffallendften Beifpiele, Unter Anderm machte er einmal einen Todten
reden, um einen Häretifer yon der Auferfiehung zu überzeugen, Unter Kaifer
704 Mararius,
- Balens und dem arianifhen Biſchof Lucius von Alerandrien traf die ägyptiſchen
Mönche, welche eifrig an dem nieäniſchen Lehrbegriff fefthielten, eine heftige Ver-
folgung; Macarius wurde mit andern Einſiedlern für einige Zeit re eine Inſel
verbannt, wo es gar feine Chriften gab. Macarius ftarb im J. 390 in einem
Alter von 90 Jahren. Noch jegt heißt ein Klofter in der Libyfchen Wüfte das
Kloſter des Hl, Macarius und die ganze Gegend die Macariuswäfte (Tifhen-
dorf, Reife in den Orient 1, 110). Wir haben von dem ägyptifchen Macarius
50 Homilien, welche zuerfi zu Paris 1559, fpäter noch mehrere Male gedruckt
und in Galland's Bibliothek aufgenommen find. Wohl mit Unrecht wird ihnen
Semipelagianigmug vorgeworfen. Einen langen griechifchen Brief und einen
fürzern in Iateinifcher Ueberſetzung, beide ascetifhen Inhalts, hat Floß nebft
einem Gebete des Hl. Macarius und zwei bedeutenden Ergänzungen zu den Ho—
milien herausgegeben (Macarii Aegyptii epistolae, homiliarum loci, preces, ad
fidem Vatic., Vindob,, Berolin. aliorum codicum primus edidit H. J. Floss. Acce-
dunt de Macariorum Aegypti et Alexandrini vitis quaestiones criticae et historicae etc.
Coloniae, Bonnae, Bruxellis, sumt. J. M. Heberle 1850). Die von P. Poſſin zu
Touloufe 1683 herausgegebene Opuscula ascelica (auch bei Gall. ıl. c.) find wahr-
fcheinlich von Simeon Togotheta im 12ten Jahrhundert, aber größtentheils aus
den Homilien des Macarius, compilirt. — In dem römifchen und den alten la-
teinifchen Martyrologien ift das Feſt des Agyptifchen Macarius auf den 2, Ja-
nuar, das des alerandrinifchen auf den 15. Januar angefeßt, die Griechen feiern
das Feft beider am 19, Januar. — Der alerandrinifhe Macarius war
aus Alerandrien gebürtig, daher auch roAırırog, ver Städter, genannt, Auch
er Iebte an_60 Jahre in der Wüfte; er wurde erft in feinem vierzigften Lebens-
jahre getauft, Später war er Priefter der Einfiedler, welche in den fog. zeille
(Zellen in der libyſchen Wüfte) lebten, Außerdem hatte er noch eine Zelle in
der feytifhen Wüfte und eine andere in dem nitrifchen Gebirge; nur eine derfelben
war fo geräumig, daß er darin die zahlreich zu ihm firömenden Befucher und
Hilfsbedürftigen empfangen konnte; in der zweiten fonnte er nicht einmal bie
Füße ausftredfen, und die dritte war ganz dunfel, Palladius, welcher noch drei
Sabre unter feiner Leitung in der Wüfte verlebte, erzählt von feiner Abtödtung
und feinen Wundern fehr auffallende Beifpiele, Auch ihn traf die Verfolgung
des Valens und Lucius, Er flarb um 395 in einem Alter von ungefähr hundert
Jahren. Der ihm zugefihriebene Aoyog rrepli 2E0dov Wuyijs dızamwv za
aucotoAoy (bei Tollius, Itinerarium ital. Traj. 1696, bei Caye bist. lit, T. L
und bei Gall. VII.) wird von guten Wiener Eodices (f. Flof 1. co. p. 243) einem
Mönch Alerander zugefhrieben Cwahrfcheinlich Tiegt eine Verwechfelung von ua-
xdoroo AktEavdoos mit Maxdgıos ’Akekavdgevs zu Grunde), Der Jeſuit
Roverus hat eine Mönchsregel in 30 Capiteln unter dem Namen des alerandri-
nifchen Macarius herausgegeben (fie fteht bei Holsten. codex regularum I, 19).
Eine andere Negel foll von 38 Vätern der ägyptiſchen Wüfte herrühren, vom
denen „Serapion, Macarius, Paphnutius und ein anderer Mararius” genannt
werben, — Ein anderer Macarius war ein Schüler des hl. Antonius im Klofter
Pispir in der Nähe des rothen Meeres, namentlich war er während ber Testen
15 Lebensjahre diefes Heiligen fein unzertrennliher Gefährte, war bei feinen
Tode zugegen und beerdigte ihn. — Ein anderer war Vorſteher des Kloſters
Pachnum (Tillemont VI, 481; VII, 574); wieder ein anderer, ein Bruder bes.
Theodorus, Einfiedler zu Tabenne in der Thebais (Tillemont VII, 472; VII,
574). Palladius erzählt außerdem noch von einem Macarius, der ald Jüngling
von 21 Jahren einen unfreiwilligen Mord begangen hatte und dafür in der Eindde
firenge Buße that, und von einem Priefter Macarius zu Alerandrien, ber dem
dortigen Rranfenhaufe vorftand und ein Alter von 100 Jahren erreichte. — Unter
den vielen andern Männern des chriſtlichen Altertbums, die Macarius hießen, iſt
| ver berüßmtefte der Bifhof Macarius von Jerufalem (312—331), welcher
der Synode zu Nieaa beimohnte, und unter welchem die Kaiſerin Helena das HL.
15
Maccabäer, ; —
Kreuz fand (ſ. Kreuzerfindung). Reuſch.]
Macceabäer (Mahabäer). Name, Geſchichte, Büher Der Name
Macrcabäer (Maxxapeios) war urfprünglih Beiname des dritten Sohnes des
Mattathias, jenes religionseifrigen jüdifchen Priefters zur Zeit des Antiochus Epi—
phanes (1 Macc. 2, 4. 66.). Später ging aber der Name auf feine ganze Fa-
milie über und wurde dann auch überhaupt denjenigen Juden gegeben, welche in
Berbindung mit ihr die väterlihe Religion gegen die fyrifche Uebermacht verthei-
bigten, Ueber die Bedeutung des Namens gibt es verfchiedene Anfichten. Delitzſch
glaubt (zur Geſch. der jüd. Poeſie. S. 28), dem Maxzapeiog entipreche im He-
braiſchen 222, und diefes fei einerabbinifche Abbreviatur für j271°"72 jr7> mnnm
Allein in diefem Falle wäre es Bezeichnung des Mattathias und Fönnte nicht von
ihm felbft feinem Sohne Judas als Beiname gegeben worden fein (2, 66.), auch
wäre für das einfah > im Griechifhen fiherlih nicht xx gefchrieben worden,
Zudem find folhe Abbreviaturen für die Maccabäerzeit unerweislih und unwahr-
ſcheinlich. Es läßt fih darum auh nicht annehmen, daß Judas die Buchftaben
i Zu in —
232 al® Abbreviatur von Im Drnamansm (Erod, 15, 11.) auf feine
I Fahnen gefchrieben Habe und daraus foäter für ihn der Beiname Maccabaios ent-
- fanden fei; ohnehin trug er denfelben fchon bei Lebzeiten feines Vaters und kann
ihn fomit nicht erſt in Folge feiner felbftftändigen Kriegführung gegen die Syrer
erhalten haben. Eben fo wenig läßt fih annehmen, daß "220 Abbreviatur von
777722 m> nan>o (belli vis in Juda), oder ein Zahlzeichen fei, das fih auf
die 72 Namen Gottes beziehe = 40, 2> = 20, 2=2,—= 10) Am
wahrſcheinlichſten ift und bleibt e$, daß dem Maxxaßatos das hebr. oder aram.
252, 8252 (Hammer) entſpreche, und Dadurch die den Feind zermalmende Tapfer-
feit des Judas bezeichnet "werde, Die Maccabäer führten aber auch noch den
Namen Hasmonder, Aaguuwvaioı (Jos. Antt. XIV. 16, 14. XX. 8, 11. 10,3.),
sıynwr (Baba bathra, f. 3. a.), Dmr2wr oder "nımwr "22 (Jos. Gorionid. ed.
Breithaupt. p. 66. 159. 443.); und es find auch über die Bedeutung diefes Na-
mens verfhiedene Anfihten aufgeftellt worden (vgl. Eichhorn, Einleitung in
die apoer. Schriften des A. T. ©. 217. Henke, introd. in libros apoeryph. vet.
Test. p. 35.7, Bertholdt, Einleitung. HI. 1043. 1045), Am meiften hat dies
jenige für fih, welche den Namen vom: Urgroßvater des Mattathias herleitet
unter Berweifung auf Joſephus Anti. XIL 6, 1. (Marzadies, vıos Iwarva tä
Zuusavos cd Acauwveis), — Die Gefchichte der Maccabäer beginnt
mit den Bedrückungen und Gewaltthaten des Antiohus Epiphanes (f. d. A.)
gegen die Juden, um fie zum Abfall von ihrer Religion zu zwingen. Im Jahr
175 v, Chr. gelangte er zur Herrſchaft über Syrien, zu dem auch Paläftina ge-
hörte, und ftellte ſich in Iegterem Lande fogleich die Aufgabe, die jüdifhe Reli-
gion auszurotten und das Heidenthum an ihre Stelle zu fegen, Biele Juden
gingen bereitwillig in feine Pläne ein, und die es nicht thaten, waren den gröbften
Mipgandlungen und BVerfolgungen ausgefegt. Im Jahre 169 Fam Antiochus
ſelbſt nach Jeruſalem, ließ eine große Zahl der Treugebliebenen, hinrichten und
plünderte und entweihte den Tempel (1 Mace. 1, 10—28. 2 Mac. 5, 1 ff.).
Einige Zeit fpäter ließ er durch Apollonius wiederum ein großes Blutbad in Je—
rufalem anrichten, den Tempel dem olympifchen Jupiter weihen und dur ein
Deeret verfünden, daß in feinem ganzen Reiche bei Todesftrafe Niemand eine
andere Religion haben dürfe, als er felbft (1 Maccab, 1, 29—64. 2 Maccab, 5,
24,— 6, 17.). Um dieſe Zeit floh Mattathias (ſ. Hebräer. IV. 914), ein alter
feommer Priefter, mit fünf Söhnen aus Jerufalem nah Modein, um hier un-
geflört von den föniglihen Beamten nach ihrer Religion Ieben zu Fönnen, Bald
Kirchenlexilon. 6, Br, 45
706 Maccabäer,
jedoch erfchienen auch hier jene Beamten, und als ein jübifher Mann vor Alfer
Augen hinging, um den Götzen zu opfern, erfhlug Mattathias denfelben am Al—
tare, fowie auch den Beamten, der ihn zum Opfern genöthigt hatte, zerftörte
dann den Altar und floh in das Gebirg, wo fih bald viele Gleichgefinnte um ihn
fammelten und er fih fofort im Stande fah, die heidnifchen Altäre im Lande
umher zu zerflören und die Mebertreter des Gefeges zu beftrafen (1 Mace. 2,
1—48.). Nach Furzer Zeit jedoch flarb er (166 v. Chr.), und feine Anhänger
wählten feinen Sohn Judas, mit dem Beinamen Maccabäus, zu ihrem An-
führer, der auch ihr Zutrauen vollkommen rechtfertigte (1 Mace, 2, 31—39.).
Zuerft ſchlug er das wider ihn ziehende, an Zahl weit überlegene Heer des Apol-
lonius; bald darauf das noch größere des fyrifchen Feldherrn Seron, dann bie
von Lyſias gegen ihn gefendeten Heere unter Ptolemäus, Nicanor und Gprgias,
‚und im folgenden Jahre das mehr als fünfmal überlegene fyrifhe Heer unter
Anführung des Lyfias felbft, der zwar bald darauf ein neues Heer gegen die
Juden führte, aber auf's Neue gefchlagen und zum Abfchluffe eines den Juden
vortheilhaften Friedens gezwungen wurde (1 Macc. 3, 10,—4, 35. 2 Mace, 8,
9 ff.). Jetzt war der Sieg der Maccabäer entfchieden, Judas begab fih nach
Serufalem, reinigte den Tempel, ſtellte den gefeglichen Gottesdienſt wieder ber,
brachte am 8, Chaslev im J. 164 v. Chr, das erfte Opfer dar, feierte dann acht
Tage lang das Feft der Tempelreinigung und verordnete die jährliche Wieder-
holung diefer Feier (1 Macc. 4, 36—61. 2 Mace, 10, 1—8.). Jetzt ergrimm-
ten aber die benachbarten heidnifchen Volfsftämme gegen die Juden und unter-
nahmen an verfchiedenen Orten Feindfeligfeiten gegen fie. Judas jedoch demüthigte
fie im Norden und Süden des Landes in mehreren Treffen und zerftörte ihre Al-
täre und Götzenbilder (1 Mace, 5. 2 Mace. 8, 10. 12.). Inzwiſchen flarb An-
tiochus Epiphanes, nachdem er noch feinen Sohn Antiohus, der den Beinamen
Eupator erhielt, zum Nachfolger beftimmt hatte (163 v. Chr. vgl. 1 Mac, 6,
1—17, 2 Mace, 9.). Diefer unternahm auf Zureden der abtrünnigen Juden
einen Kriegszug gegen Judas, ſchloß aber nad einigen gelieferten Schlachten
Frieden mit ihm und fiherte den Juden freie Religionsübung zu (1 Mace, 6,
18—63, 2 Mace. 13.). Im Jahre 161 v. Chr, wurde Demetrius Soter (f,
Demetriug) fein Nachfolger und fogleich wieder durch abtrünnige Juden gegen
die Maccabäer aufgereizt. Er fandte ein großes Heer unter Anführung des
Bacchides (f. d. A.) gegen fie, das aber nichts ausrichtete, Ein anderes unter
Nicanpr verlor zwei Schlachten und Nicanor felbft das Leben, Ein drittes end-
lich, wiederum unter Bacchides, 20,000 Mann zu Fuß und 2000 Reiter zählend,
entmuthigte das Heer des Judas, das nur aus 3000 Mann- beftund; fie ver—
ließen ihn bis auf 800 Mann, mit denen er den ungleichen Kampf wagte, aber
der Uebermacht unterlag und Schlacht und Leben verlor (160 v. Chr, vgl. 1 Mace,
7, 1.9, 22. 2 Mace. 14, 1,—15, 37). Zu feinem Nachfolger wurbe fein
Druder Jonathan gewählt, der ſich zunächft gegen Baechides hielt und zwei
Sahre fpäter (158 v. Chr.) ihn in. großes Gedräng brachte und einen vortheil-
baften Frieden erlangte (1 Macc, 9, 23—73.), As darauf Alexander Balas
dem Demetrius die ſyriſche Krone ftreitig machte, wurde Jonathan von Erſterem
als Hoherpriefter und Fürſt der Juden feierlich anerfannt (1 Mace. 10, 1—47,).
„Daffelbe gefhah fpäter von Demetrius Nicator im Anfange feiner Regierung,
bem Jonathan dafür wichtige Dienfte Teiftete, deßungeachtet aber in der Folge
von ihm heftig angefeindet und bedrängt wurde, bis endlich Antiochus, ein Sohn
Aleranders, den Demetrius vertrieb und felbft den fyrifchen Königthron beftieg.
Ihn jedoch fuchte wiederum Tryphon vom Throne zu verbringen, und um an
Jonathan feinen Gegner zu haben, brachte er ihn mit Lift in feine Gewalt und
tödtete ihn (ſ. Jonathan V. 783 f.). Die Juden hatten fchon während der Ge—
fangenfchaft Jonathans deffen Bruder Simon zum Anführer gewählt (1 Macc,
- J
Ders:
- Maccabien 707
13, 8.). Gegen diefen zog Tryphon mit einem ftarfen Heere, richtete aber wenig
aus und fehrte nach Syrien zurüf, wo er den König Antiochus tödtete und ſich
ſelbſt die Krone aufjegte (1 Macc. 13, 12—32.). Inzwiſchen brachte Simon
die jüdifchen Feftungen wieder in guten Zuftand, ſchloß mit König Demetrius
Freundfchaft und Bündnif, und wurde von ihm als Hoherpriefter und Fürft der
Zuden anerfannt und beftätigt; und von da an beginnt die Unabhängigfeit der
Maccabäer (142 v. Chr.). Simon reinigte jegt noch die Burg zu Jerufalem von
der fremden Befagung, und feine Regierung war von da an eine Zeit lang ruhig
und glüflih, und das Volk felbft bezeugte in einem öffentlichen Denfmale die
Wohlthätigkeit feiner Regierung (1 Macc. 13, 33.—14, 49). Auch der Nad-
folger des Demetrius, Antiohus, ſchloß Anfangs mit Simon Freundfchaft und
Bündniß und erkannte feine Herrſchaft in Zudäa an; bald jedoch begann er Feind-
feligfeiten und fandte den Cendebäus mit einem großen Heere gegen die Juden,
der jedoch von den beiden. Söhnen Simons, Johannes und Judas, gänzlich ge—
ſchlagen wurde (1 Mace. 15, 1.—16, 10.). Als Simon bald darauf das Land
bereiste, um deſſen Zuſtände und Bedürfniffe beifer fennen zu lerıten, wurde er
zu Jericho von feinem Schwiegerfohne Ptolemäus (135 v. Chr.) meuchlerifch
umgebracht. Sein Nachfolger in der Regierung und im Hohenprieftertfume wurde
fein Sohn Johannes, mit dem Beinamen Hyrcanus (1 Mace: 16, 11—24,).
Ueber feine und feiner Nachfolger Regierungen bis zum Sturze der maccabäifchen
Herrfchaft dur Pompejus f. Hebräer. IV. 915f. — Bon den ſchon im Alter-
thume erwähnten vier Büchern der Maccabäer haben nur das erfle und
zweite canonifhe Dignität, und darum hier Anfpruh auf Berüffihtigung. Sie
müffen aber wegen ihrer großen Berfchiedenartigkeit abgejondert in Betracht ge-
zogen werben, Das erjte Buch der Maccabäer bat zum Inhalt die eben
vorhin kurz fizzirte maccabäifhe Gefhichte von Mattathias bis zu Johannes
Hyrcanus. Die Urf prache dieſes Buches ift die hebräiſche, ohne Zweifel in der-
jenigen Mundart, wie fie damals in Paläftina üblih war, Drigenes fennt ein
hebräiſches Bud "ber Maccabäer mit der Ueberfhrift IaegdnI auoßave 2%
(Euseb. H. E. VI. 25), und Hieronymus fagt geradezu: Maccabaeorum primum
librum hebraicum reperi (Proleg. gal.). Daß der griechiſche Text diefes Buches
die Meberfegung eines Hebräifchen fei, zeigen fihon die vielen, zum Theil fehr
harten Hebraismen, noch mehr aber einzelne Stellen, die fih nur als Ueber-
feßungsfehler aus einem hebräifchen Driginal erklären laffen. Zu erfieren gehört,
daß das Buch gleich mit zul Eyevero beginnt und öfters mit zei den Nachſatz
anfängt, wie 5, 1. 9, 29., daß in Abfichts- und Selgefägen gern der Infinitiv
gebraucht wird, entfprechend dem hebr. Infinit. mit >, 3. B. 2, 22. 29. 34. 3,
10. 15. 8, 18.5 daß Redensarten gebraucht werden, wie ylveosaı eis P0g0v
E22: mm), = 4,, Öuvausvos Övvrjastaı 7008 nuds (a2> bar 222), 3,40,
ZroaIn0av TE noıjacı TO rrovnoov (ogl. san nhioya Team { Kön. 21,
20.) 1, 15. Noch auffalfender ift der Gebraud von oi Aöyor, Ta ejuare, für
Greigniffe, Begebenheiten, wie das hebr, 21277 (5, 37. 7, 33. I von Eroı-
ualo für das Befeftigen der Herrſchaft, wie > (1, 16 N von olxos ns Ba-
ouleias für das, was der Föniglichen Herrſchaft unterworfen iſt, wie Sꝛ8
@, 10.). Als fehferfafte Heberjegung eines hebräiſchen Textes erſcheint die
Stelle: Keil 2osioIn yn Eni Tas xa@Totxävras even» (1, 28.), wo das
rel als ungenaue eberfegung von ->n oder > zu betrachten ift; ebenfo der Aus⸗
druck Bıßkia (1, 44. ) , fofern er im gegebenen Zufammenhang nur die Bedeutung
Brief” haben ann; in diefer fommt a’150 zuweilen vor (3. B. 2 Kön. 19, 14.
Jeſ. 37, 14.), und dieß iſt ohne Zweifel wörtlich mit Bıßlia, ftatt nad Sinn
und Zufammenhang mit Ersuorokn überfegt worden; ebenfo die Worte: &ru ıAn-
gövros I3da raüra.(4, 19,), ag nach dem Zufammenhange nur beißen kann:
45 *
708 Maccabäer,
„Als Judas diefes noch redet”, und fomit ohne Zweifel auf einer Verwechslung
von >> mit won beraubt, Solchen Erfcheinungen gegenüber find die Gründe von
fehr geringem Belange, mit denen Hengftenberg beweifen will, daß der griechifche
Text unferes Buches der Urtert fei (ogl. Herbft, Einleitung II. 3, ©. 70 ff.).
Uebrigens zeigen jene Erfcheinungen zugleich, daß der Ueberfeßer fih ſtreng nach
feinem Driginal richtete, und genau und wörtlich zu überfegen fuchte, daß wir
alfo durch ihn eine im Ganzen richtige Heberfegung der hebr. Urfhrift erhalten
haben. Der Berfaffer ift, nach der Sprade, in der er fohrieb, und nach der
genauen Kenntnif, die er überall vom Schauplage der Begebenheiten zeigt, zu
ſchließen, jedenfalls ein paläftinenfifcher Jude, Seine Perfon aber näher zu be-
zeichnen, ift bisher nicht gelungen, und die dießfalls aufgeftellten Meinungen,
daß Johannes Hyreanus, oder einer der Söhne des Mattathias, oder die Män-
ner der großen Synagoge das Buch verfaßt haben, haben weit mehr gegen als
für fih. Das Zeitalter hat mar aus dem Schluffe des Buches, aber auf mehr
als Eine Weife, zu beftimmen gefucht, Weil von den Unternehmungen und
Kriegen des Johannes Hyreanus gefagt wird, fie feien aufgezeichnet Ev Außkiop
ÄuEEBV KEXLEQWOVVNS auTd, GP 3 EyEvnIN7 doXLEgEVS uETa Tov aTege
aus (16, 23 f.); fo glaubten die Einen, das Buch müffe noch vor dem Tode
des Hyrcanus entftanden fein; die Andern aber fagten, es feien ja dem Verfaffer
die Regierungsannalen des Hyrcanus als ein abgefhloffenes Ganzes vor-
gelegen. Allein Lesteres Tiegt augenfällig nicht in den Worten der Stelle; viel-
mehr fpricht das ap’ 3 EyevjIn zri., das bloß den terminus a quo und nicht
auch ad quem angibt, offenbar dafür, daß Hyreanus noch am Leben fei, und nad
feinem Tode wäre diefe Bemerkung in ihrer jegigen Geftalt wenigftens fehr un—
paffend gewefen, Für eine Entſtehung des Buches noch zur Zeit des Hyreanus
Spricht auch der Umftand, daß nirgends die Leifefte Hindeutung oder Nüdficht-
nahme auf fpätere Zeiten und Zeitverhältniffe vorflommt, was doch zu erwarten
ftünde, wenn der Verfaffer erſt nach Hyrcanus gelebt und gefchrieben hätte, Die
Entftehungszeit der griechiſchen Ueberſetzung läßt fih nicht genau an-
geben. Jedenfalls ift fie vor Joſephus entflanden, weil biefer fie bereits ge—
braucht, Zahn vermuthet, daß fie noch vor den Testen Jahrhundert vor Chriftus
entftanden ſei; und dafür läßt fih anführen, daß ein auch für die auswärtigen
Juden fo wichtiges Buch wohl ziemlich bald nach feinem Erfcheinen auch in's
Griechifche werde überfegt worden fein, In Betreff ver Duellen hat man be-
Hauptet, der Verfaffer habe Feine fchriftlihe Duellen benügt, weil er nie auf
folche verweife, und am Schluffe feines Buches zu verfiehen gebe, daß er die
Gefchichte der früheren Maccabäer nicht befchrieben haben würde, wenn über fie
Hlaubwürdige ältere Auffchreibungen vorhanden gewejen wären. Allein das
Schweigen von fohriftlihen Duellen ift Fein Beweis gegen die Benugung von
ſolchen; die Bücher Samuels z. B. verweifen auch nie auf fhriftlihe Duellen
und ruhen doch auf ſolchen. Die Schlußbemerkfung des Buches aber, daß über
die Regierung des Hyrcanus Tagbücher geführt worden feien, läßt vermuthen,
daß unter feinen Vorgängern Achnliches werde gefchehen fein, Und wirklich wird
in Bezug auf Judas bemerft, daß feine Thaten, Kriege ic, wegen ihrer Menge
nicht alfe haben aufgefehrieben werden Fonnen (9, 22.), womit wenigftens bie
Auffhreibung von einigen indirect behauptet wird, Aber es wird überdieß auch
noch ausdrücdtich gefagt, Judas habe feine Friegerifchen Thaten auffchreiben Taffen
(2 Mace. 2, 14). Verhalte es fich jedoch mit diefen Ausfagen wie es wolle,
die Benügung fchriftlicher Quellen bei unferm Buche liegt am Tage, denn es
werden in demfelben mehrere fehriftliche Documente aus der Maccabäerzeit theils
wörtlih mitgetheilt, 3. B. 8, 23—32. 10, 18 12. 25—45. 12, 6—23, 18,
36—40. 15, 2—9. 16—21. u. a., theils nur kurz dem Hanptinhalte nach ge—
geben, z. B. 10, 6, 15,22 f, zum beutlihen Beweife, daß dem Berfaffer
Maccabier 709
ſchriftliche Duellen zu Gebote ſtunden. Was er außer den ausdrücklich nam—
haft gemachten Duellen noch für anderweitige benützt habe, läßt fich nicht-fagen,
aber noch weit weniger läugnen, daß ſolche Benüsung ftattgefunden, und es ift
immerhin am wahrfcheinlichften, daß Tagbücher, wenn auch fragmentarifche, über
die TIhaten der erſten Maccabäer feine Hauptquelle gewefen feien. Die Glaub-
würdigfeit des Buches kann fofort feinem Anftande unterliegen theild wegen
der zuverläffigen Duellen, die dem Berfaffer zu Gebote fiunden, theils wegen
der geringen Zeitferne, die ihn von den berichteten Ereigniffen trennt, Dazu
fommt noch eine Menge fehr genauer Zeit- und Ortsangaben, die eine fichere
Sachkenntniß verraten, und eine auffalfende Uebereinftimmung mit griechifchen
und römischen Geſchichtſchreibern, wo fie die maccabäifche Geſchichte berühren,
Lestere hat ſich namentlich in Folge der dießfallfigen Erörterungen zwifchen den
Sefuiten Frölih und Khell und den beiden Wernsdorff (f. Herbft, Einf. I. 3,
©. 22 f.) im fhönften Lichte gezeigt, Die Bedenken, die immer noch gegen ein
Paar Angaben des Buches gerichtet werden, daß nämlich Alerander fein Reich
unter feine Feldherrn getheilt babe (1, 6.), daß Antiohus d. Gr. in römifche
Gefangenfhaft geratben fei (8, 7.), daß die Spartaner mit den Juden verwandt
feien (12, 1 ff.), find fo unbedeutend, daß fie hier Feine befondere Erörterung
verdienen Ffönnen (vgl. Herbft, a. a. O. ©. 23 ff.). — Das zweite Buch
Der Maccabäer zerfällt in zwei nach Inhalt und Umfang fehr ungleiche Theile.
Der erfte enthält zwei Briefe von den paläftinenfifchen Juden an die ägyptifchen,
um legtere zur jährlichen Gedächtnißfeier der dur Judas vorgenommenen Tem—
pelreinigung zu bewegen (1, 1.—2, 18.). Der zweite Theil (2, 19.—15, 39.)
ift der Hauptſache nach eine Ergänzung deffen, was das erfte Buch der Macca—
bäer zum Theil nur fehr furz über Judas Maccabäus berichtet. Die Urſprache
diefes Buches ift ohne allen Zweifel die griechifche. Hieronymus fagt: secundus
se. liber Maccab.) graecus est, quod ex ipsa quoque phrasi probari potest (pro-
log. gal.), und Alfes fpricht für diefe Ausfage, nichts gegen fie. Jene Erfcei-
“nungen, die bei griechiſchen Ueberfegungen hebräifcher Texte fih fonft immer zei-
gen, fehlen hier, und die Schreibart verräth einen der griechiſchen Sprache mäch-
tigen und feldftftändig fehreibenden Verfaſſer. Dazu fommt, daß der Haupttheif
des Buches (von 2, 19. an) ausdrücklich als ein Ercerpt aus dem umfaffenden
Gefhichtswerfe des Jaſon von Cyrene bezeichnet wird (2, 23.). Diefes äber
war ſchon vermöge feines Entftehungsortes griehifch gefchrieben, weil die Landes-
ſprache von Eyrene die griechifhe war; und daß der Epitomator fich einer andern
Sprade bedient habe als der Verfaffer feldft, wird Niemand annehmen wollen,
Aber auch die zwei Briefe an die ägyptifchen Juden, welche den erfien Theil aus—
machen, müffen urfprünglich griechifch gefchrieben worden fein, weil fie fenft von
den Empfängern nicht verftanden worden wären. Denn die ägyptifchen Juden
verftunden die hebräifche Sprache nicht, wie fchon die Nothwendigfeit einer grie-
chiſchen Bibelüberfegung für fie zeigt, und aus den Schriften des Philo deutlich
hervorgeht, von Juftinus aber ausdrüdlich bezeugt wird CApol. I. 31.), In der
That zeigen fih auch in den Briefen fo wenig ald in den nachherigen Berichten
die Merkmale einer Ueberfegung aus einem bebräifchen Original, und wenn Ber-
tholdt namentlich in Bezug auf den erften Brief das Gegentheil verfichert, fo hat
er eine fpecielle Begründung diefer Verfiherung gar nicht einmal verfucht (Einf.
I. 1072). Der wirklich angeftellte Berfuh würde ihn wahrfheinlih auf eine
andere Anficht gebracht Haben. Was das Zeitalter betrifft, fo hat man in
Hebr. 11, 35. eine Bezugnahme auf 2 Mace. 6, 18 ff. 7, 3. 24. finden wollen,
die allerdings wahrfcheinlich, jedoch nicht ganz ficher ift. Daß dagegen der Ver—
faffer der Rede &ıs Muxzußeies 7, reol auToxgar0008 Aoyıous, diedem Jo—
ſephus zugefhrieben wird, und jedenfalls von einem Iſraeliten noch vor der Zer-
förung Jeruſalems durch die Römer herrührt, das zweite Buch der Marcabäer
710 Maccabäer.
kenne, wird allgemein zugeſtanden. Somit iſt wenigſtens das unbegründet, daß
ſich von demſelben vor dem Zeitalter der Kirchenväter nirgends eine ſichere Spur
zeige. Da num der zweite Brief das Jahr 188 (alſo 123 v. Chr.) als Datum
hat, fo kann das Buch begreiflich nicht vor diefem Jahre gefchrieben worden fein.
Eine erheblich fpätere Entftehungszeit aber anzunehmen, verbietet der Umftand,
daß die genaue Kenntniß der erzählten Ereigniffe damals noch nicht fehr allgemein
war, jedoch von Vielen gewünſcht wurde (2, 24 f.), und daß eine Epitome des
umfaffenden Zafon’fhen Werfes wohl ſchon einige Decennien nach feiner Ver—
dffentlichung wünfhenswerth erfcheinen mußte, Veröffentlicht wurde daffelbe aber
wahrfcheintich bald nach dem Jahre 160 v. Ehr., weil es (der Epitome zufolge)
die Gefchichte bloß bis auf diefes Jahr herabführt, und nach der Befchreibung
der Niederlage des Nicanor bemerkt, daß die Hebräer von da an Jerufalem be-
bauptet haben (15, 37.). Demnach mag die Epitome, oder unfer zweites Buch
der Maccabäer, gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr, gefchrieben
worben fein. Der Berfaffer deſſelben ift unbefannt, und die dießfalls geäußer-
ten Vermutungen theils entfchieden unrichtig, theils wenigftens jeder nähern
Begründung entbehrend. Unrichtig if es, daß Judas Maccabäus felbft, oder
daß Philo, oder daß Joſephus Verfaſſer fei, denn in all’ diefen Fallen Fönnte
feine Entftefung nicht in die vorhin bezeichnete Zeit fallen. Gegen Judas den
Effener, oder einen Freund und Zeitgenoffen des Ariftobulus würden zwar bie
Zeitverhältniffe nicht fprechen, aber es läßt fich auch Fein irgend erheblicher Grund
für den einen oder andern vorbringen. Die Duellen des Buches werden vom
Berfaffer felbft angegeben und die Hauptquelle fogar etwas näher befchrieben.
Defungeachtet ift Dagegen Einfprache erhoben und behauptet worden, der Ver—
faffer Habe bei den vier Tegten Kapiteln nicht mehr Jaſon's Gefchichtswerf, fon-
dern eine andere Duelle benügt. Allein der Hauptgrund für diefe Behauptung,
daß nämlich 2, 19 f., wo der Umfang des Zafon’fchen Werkes angegeben werbe,
des Demetrius nicht mehr gedacht fer, ift von geringem Belange, Denn wenn
ganz alfgemein die Thaten des Judas und feiner Brüder (2, 19.) als Gegen-
ftand jenes Gefchichtswerfes bezeichnet werden, fo ift ihr Verhältniß zu Demetrius
ſchon mitbezeichnet, wenn er auch nicht mehr ausdrücklich genannt wird; daß aber
Antiohus Epiphanes und fein Nachfolger ausdrücklich genannt werden, ift nur
Hervorhebung des wichtigften Theiles aus dem Ganzen, Anderes, was noch zu
Gunften jener Anficht gefagt wird, beruft auf unrichtiger Beobachtung oder Aus—
legung, und fpricht weit mehr gegen als für diefelbe (f. Herbft, Einf, I. 3. ©.
37 fe). Die Integrität des Buches ıft in fofern geläugnet worden, als man
die beiden Briefe im Anfang deffelben für fpätere Zuthat erklärt at. Zu Ounften
diefer Anficht iſt auf „die falfchen Zeit- Daten 1, 7. 10, und die Fabeln 1, 19,—
2, 8.” und den Widerfpruch zwifchen 1, 13. und Cap. 9. hingewiefen worben
(de Wette, Einl, 6. Ausg. ©. 445 f.). Alfein daß die paläftinenfiihen Juden
erft im Jahr 169, alfo zwei Decennien nach der Tempelreinigung durch Judas,
die ägyptifchen Juden zur jährlichen Gedächtnißfeier derfelben auffordern (1, 7.),
ift Feineswegs unmöglich oder unglaublich, abgefehen davon, daß diefe Aufforbe-
rung eine etwaige frühere derfelden Art nicht ausfchließt. Sodann die Zahl 188
(1, 10.) müßte nur unrichtig fein, wenn der unter den Ausfertigern jenes Schrei-
bens erwähnte Judas der Sohn des Mattathias wäre, das aber ift nirgends ge—
fagt, und anzunehmen nirgends ein Grund, Zwifchen 1, 13. und Cap, 9. iſt
allerdings eine Differenz, der Tod des Antiochus Epiphanes wird in dem Briefe
des jerufalemifchen hohen Nathes anders erzäplt, als in der Gefchichte Jaſoms
nah Mafigabe der Epitome; aber diefes Fonnte für den Epitomator, der ja nicht
als felbftftändiger Gefchichtfehreiber auftreten will, Fein Grund fein, jenen Brief,
die Schrift einer hochſtehenden amtlichen Genoffenfchaft, vorzuenthalten. Noch
weniger Fonnten für ihm die angeblichen Fabeln ein folcher Grund fein, Denn
Maccabäier 711
die in dem Briefe Fabeln finden, finden folhe im ganzen zweiten Buche der
Maccabier an verfihiedenen Stellen; hätte der Epitomator diefelbe Anficht und
Siheue vor diefen Fabeln auch gehabt, fo hätte er fein ganzes Epitomiren unter-.
laffen oder in ganz anderer Weife vornehmen müſſen. Die Aechtheit des Buches
bat man in fofern geläugnet, ald man bie in demfelben mitgetheilten Documente
denjenigen Perfonen abgeſprochen hat, denen fie zugefohrieben werden. Dieß ge-
ſchah zunähft in Bezug auf die eben berüßrten beiden Briefe, und man berief
fi dabei 1) auf jene zwei Jahreszahlen (1, 7. 10.), 2) auf die falfhe Angabe
über den Tod des Antiochus Epiphanes (1, 13.), 3) auf die 1, 18, behauptete
Erbauung des zweiten Tempels dur Nehemias, endlih 4) auf die offenbaren
Fabeln über die Wiederfindung des HI, Feuers durch Nehemias, und die Ver-
bergung der Bundeslade durch Jeremias. In al’ diefen Puncten, fagt man,
wäre der hohe Rath zu Jerufalem beifer unterrichtet gewefen, als der Berfaffer
der fraglichen Briefe, Allein jene Jahreszahlen müffen wir dem vorhin Bemerften
zufolge als richtig anfehen. Sodann in Betreff der Todesart des Antiochus
Epiphanes fonnte fi in Judäa leichtlich eine falfhe Nachricht verbreitet und auch
bei den Mitgliedern des Hohen Rathes Glauben gefunden haben (vgl. überdieß
den Art. Antiohus Epiphbanes, Anmerf, 2.). Die Erbauung des ferubabe-
Iifchen Tempels aber durch Nebemias wird mit den Worten: Nesuiag 0ix0do-
unoaS Tore iegör zei TO Fvaıaorngıov, ayıveyze Fvoiev (1, 18.) nicht noth-
wendig behauptet; fie fönnen ſich gar leicht auf wichtige bauliche Berbefferungen
des Tempelgebäudes beziehen. Endlich gehören diejenigen, die an den erwähnten
angeblichen Zabeln Anftoß nehmen, am wenigften zu denen, die den damaligen
hohen Rath zu Jerufalem von Wunder-, Mährchen- und Fabelfuht freifprechen,
und follten ihm daher eine Schrift, die nach ihrem Dafürhalten Mähren und
Fabeln enthält, nicht ſchon aus diefem Grunde ftreitig machen. Außerdem hat
man auch noch die übrigen Briefe, die in unferem Buche vorfommen, ihren aus—
drüdlih angegebenen Urhebern abgeſprochen und für unächt, für bloße „Dichtung
zur Dramatifirung der Geſchichte“ erklärt, allein aus fo unerheblichen Gründen,
dag wir fie hier füglich unberührt laſſen können (f. Herbſt, a. a. O. S. 47 f.).
Die hiſtoriſche Glaubwürdigkeit hat man zunächſt und ſehr zuverſichtlich
beim zweiten Briefe geläugnet und dabei theils auf die bereits berührten und er—
ledigten angeblichen Unrichtigkeiten in demſelben, theils und beſonders auf ſeine
Angaben über die Wiederfindung des HI. Feuers und die Verbergung der Stifts-
Hütte und Bundeslade Gewicht gelegt. Jene Wiederfindung ließe fih aber fehr
leicht und ohne alles Wunder begreifen, wenn fich in den Waffer (1, 20.) etwa
Naphta befand, und das wird man wegen 1, 36, nothwendig annehmen müffen.
Der babylonifhe Thalmud, dem nachher die Nabbinen folgen, nennt allerdings
das heilige Feuer unter den Gegenftänden, die im zweiten Tempel gefehlt haben,
aber der jerufalemifche Thalmud nennt es nicht unter denfelben, Erfterer fann
übrigens nur dasjenige Feuer meinen, welches im vorerilifchen Heiligtfum wun-
derbar angefacht und ununterbrochen unterhalten worden war; von biefem aber
konnte er fagen, es habe im zweiten Tempel gefehlt, wenn ihm auch die frag-
liche Angabe des Briefes befannt war und als richtig galt. Am meiften ift die
Nachricht über die Berbergung der Stiftshütte und Bundeslade angefochten und
für fabelhaft erflärt worden, weil 1) die Bundeslade im zweiten Tempel fehlte,
2) Jeremias diefelbe nicht fammt der Stiftshütte hätte fortfchaffen fünnen, und
3) die Bundeslade nach 2 Kön. 24, 13, von den Chaldäern geplündert und zer-
ſtört worden fei. Allein der erfte Punet ift nicht gegen den Bericht, denn diefer
fagt nicht, daß die Bundeslade im zweiten Tempel fi befinde, oder verborgen
worben fei, um fpäter in denfelben gebracht zu werden, Der zweite Punct hat
in fofern Recht, als er behauptet, Jeremias felbft Hätte die Stiftshütte und Bun-
deslade nicht fortihaffen Fönnen, aber Unrecht, fofern er meint, der Prophet hätte
712 Macchiavelli.
keine Helfer bekommen und wäre durch die Chaldäer gehindert worden, da doch
befannt iſt, daß er immer feine Freunde und Anhänger hatte und die Gunſt Ne—
bucadnezars befaß (Serem. 39, 11 f.), fo daß er von ihm wohl die Bundeslade
und den Nauchopferaltar (2, 4. 5.) fammt der. Stiftshütte, die noch im ſalomo⸗
nifhen Tempel aufbewahrt wurde (1 Kön. 8, 4. 2 Chrom, 5, 5.), erhalten konnte,
Daß endlich die Bundeslade nicht unter den von den Chaldäern geraubten Tem—
pelgeräthen fich befand, erhellt daraus, daß fie, wo biefelben fpeciell aufgezählt
werden, nie genannt wird (Jerem. 42, 17, Esra 1, 711), Auch über den
zweiten Theil oder die Epitome des Jaſon'ſchen Werkes ift in Bezug auf biftorifche
Glaubwürdigkeit fehr ungünftig geurtheilt worden. De Wette fagt dießfalls noch
in der fechsten Ausgabe feiner Einleitung (S, 446): „Die Erzählung iſt voll
von abentheuerlichen Wundern (III, 25 fs V, 2. XI, 8, XV, 12.), Biftorifchen und
chronologiſchen Fehlern (vgl. X, 3 ff. mit 1 Mace, IV, 52. I, 20. 295 X, 1,
mit 1 Mace, IV, 28 ff: XI, 24 ff, mit 1 Macc. VI, 31 ff; IV, 11. mit 1 Macc;
VI.) übertriebenen und willfürlihen Ausſchmückungen (VI, 18 ff. VII, 27 f. IX,
19—27. XI, 16—38,)*, - Eine gründliche Würdigung dieſes weitgreifenden Ta-
dels müßte natürlich in einer fpeciellen Betrachtung und Vergleichung all’ der
vielen angeführten Stellen beftehen, auf die er fich zu fügen fucht, Allein eine
folhe geftattet der Raum hier nicht, und es wird daher eine einfache Ver—
weifung auf Herbſt's Einleitung II. 3. S, 52—62, genügen müffen, Auch fogar
der Lehrgehalt des Buches iſt beanftandet' und behauptet worven, es finde ſich
in demfelben der alerandrinifch-jüdifhe Irrthum, daß Gott von der Welt abfolut
getrennt fei und nur durch Mittelwefen auf fie einwirfen fünne. Allein die wun-
derbare Erfheinung, die den Helivdor am beabfichtigten Tempelraube hinderte
(3, 24. 29 fi), tft augenfällig mit Unrecht als ein Beweis dafür geltend gemacht
worden, da fie weit eher dagegen fpricht, und mit manchen ähnlichen Erfcheinun-
gen, die ſchon in den älteften Büchern des hebr. Canons berichtet werben, ganz
auf gleicher Linie fteht. Die Bemerkung aber, daß im jerufalemifchen Tempel
eine gewiffe Kraft Gottes (IE duvauıg) fei, die den Ort befchüse (3, 38.),
will diefe Kraft Gottes Feineswegs als ein philonifches Mittelmefen gedacht wif-
fen; denn der folgende Vers (3, 39.), der die Fed divanıs nur näher erklärt,
läßt geradezu Gott felbft- unmittelbar den Drt beauffichtigen und Berlegungen
deffelben beftrafen. Die Kraft oder Macht Gottes wird alſo nur in ähnlicher
Weiſe neben Gott felbft genannt als das, wodurd er fich wirkfam erweist, wie
3.8. Pf. 21, 14. 66, 7. 68, 35, 1 Chron. 16, 11., und an ein felbfiftändiges,
son Gott fubftantieft verfchiedenes Wefen iſt nicht im Entfernteften gedacht. —
ALS exegetifche Hilfsmittel find zu nennen außer den Commentarien über die ganze
Bibel: die Kommentare von Nie, Serarius, Eafp. Sanetius, J. E. Fullo über
beide Bücher der Maccabäer, und die oben berührten Schriften von Fröfich und
Khell, Dann J. D. Michaelis, das erſte Buch der Maccabäer, Gött, 1772, und
Haffe, das andere Buch der Maccabäer ꝛe. Jena 1786. [Welte,]
Macchiavelli, Nieolo — einer der unglücklichſten Menfchen, wenn es
ein Unglüd ift, als NRepräfentant verabfeheuenswerther, in der Wirklichfeit aber
faft allgemein befolgter Grundfäge fortwährend in dem Munde aller Welt zu fein,
Das Wort Macchiavellismus ift eine wahre Vogelſcheuche in Betreff welcher nur
zu bedauern, daß fie, von einem Vogel gegen den andern gerichtet, der gewünfch-
ten Wirkung nothwendig entbehrt. Macchiavelli ift im 3. 1469 zu Florenz ge=
boren, der Sprößling einer altabeligen, aber, wie es ſcheint, etwas zurück⸗
gedrängten Familie, Sein öffentliches Leben beginnt zu der Zeit, da die Söhne
des im J. 1492 verflorbenen großen Lorenzo di Medici, nämlich Piero, Giovanni
und Giuliano, fammt der ganzen Mediceifhen Familie aus Florenz vertrieben
wurden im 3. 1493, Mit reichen Kenntniffen ausgerüftet und in den Gefchäften
gewandt, wurde Mackhiavelli bald zu den wichtigften Dienften der Nepublit ver—
’
N RDBETN * —
*
Macchiavelli. 713
| wendet, mit mehreren Geſandtſchaften, namentlich an den paͤpſtlichen und fran-
I zöfifchen Hof, betraut und endlich zur Würde eines Staatsfecretärs erhoben,
Als es im J. 1513 den Mediceern gelang, nach Florenz zurüdzufehren, war
Macchiavelli unter den Erften, welche die Berfolgung traf. Er wurde einer
firengen Unterfuhung, man fagt fogar der Tortur, unterworfen und fofort durch
den zur Herrfchaft gelangten Lorenzo, Sohn des in der Verbannung geftorbenen
Piero di Medici, feiner Aemter entfegt und gendthigt, außerhalb Florenz auf
einem Landgute zu wohnen. Sei es, daß er an fih den Mediceern nicht ab-
‚geneigt gewefen, fei e8, daß er fih den Umftänden gefügt Habe, eine der erſten
Früchte feiner Titerarifchen Thätigkeit, wozu er fih in der Verbannung wandte,
war fein Fürft, il principe, ein Buch, welches dem genannten Herrfher von
Slorenz, Lorenzo, dedieirt iſt und fich direct an die Mediceer wendet mit der Auf-
forderung, fih an die Spige von Italien zu fielen, um die eingedrungenen
Fremdlinge (Franzofen, Spanier 2c,) zu vertreiben, a liberare Vltalia dei barbari.
In der That wurde diefes Buch von den Mediceern günftig aufgenommen, Mac—
chiavelli erhielt aldbald von dem im J. 1513 auf den päpftlichen Stuhl erhobenen
Giovanni di Medici, Leo X. (Oheim des Lorenzo), den Auftrag, Vorſchläge zu
einer Reformation (und Regeneration) der florentinifchen Republif zu machen,
was denn auch gefchehen ift in dem Discorso sopra il reformare lo stato di Firenze,
fatto ad istanza di papa Leone decimo, worin Macchiavelli den Rath ertheilt, die
republicanifche Verfaffung in Florenz beftehen zu laffen, aber fo einzurichten, da
das Prineipat der Mediceifchen Familie gefichert bleibe. Bon nun an ſteht Mae—
chiavelli in dem Dienfte der Mediceer, ohne fich ferner an der Staatsverwaltung
zu betheifigen. Die freie Zeit, die ihm fo zu Gebote ſteht, verwendet er zu lite⸗
rarifchen Arbeiten, Die vorzüglichften derfelben find eine Kriegsfunft Carte della
+ guerra), Erörterungen über die erflen zehn Bücher des Livius (discorsi sopra
i primi dieei libri di Livio) und eine Geſchichte von Florenz oder vielmehr floren-
tiniſche Gefhichten (dell’ istorie fiorentine). Die Grundfäge, die er in den dis-
corsi über Livius ausfprach, follen ihn den Mediceern noch einmal verdächtig ge-
macht haben, Nah Andern Hätte er fogar.in dem Verdacht geftanden, an einer
Berfhwörung gegen Eardinal Julius Medici, nachherigen Papft Clemens VII.
(Better Leo's X.), Theil genommen zu haben, wogegen aber die Thatfache fpricht,
daß er die storie fiorentine dem Papfte Clemens VII. dedieirt und in dem Dedi—
eationsfchreiben der hohen Gunft danfbar erwähnt, deren er fich fortwährend er-
freue, Die Angaben über fein Todesjahr ſchwanken zwifchen 1526—1530, Die
Annahme des Tegtern Hat mehr für fih. Es ift Thatfache, dag Mackhiavelli wäh-
rend der zweiten Verbannung ver Mediceer (des Aleffandro, Sohnes des im J.
1519 verftorbenen Lorenzo) noch lebte — ziemlich verachtet —, und Paul Jovius
berichtet ausdrücklich, derfelbe fei geftorben furz vor der Wiedereinführung der
Mediceer durch Carl V. (fato defunctus est paulo antequam Florentia Caesarianis
subacta armis Medicaeos veteres dominos recipere cogeretur), Diefe Wiederein-
‚führung aber gefchah im 3. 1531, während die Vertreibung im J. 1527 ftatt-
gefunden hatte," Die Nachricht, daß Machiavelli ein Spötter, und Atheift ge-
wefen (Paul. Jovius, Elogia), unter Blasphemieen geftorben fei (Theoph. Ray-
naudus, de bonis et malis libris), zum Empfang der GSterbfacramente beinahe
habe genöthigt werden müffen u. dgl., ift nicht genügend verbürgt, aber doch auch -
nicht ganz zu überfehen, — Die Hauptbedeutung Macchiavelli's Tiegt in feiner
Viterarifchen Hinterlaffenfhaft. Die wichtigften feiner Schriften wurden bereits
genannt. Außer denfelben befigen wir von ihm mehrere Hiftorifche und politifche
Abhandlungen: über Lucca, Piſa, Franfreih, Teutfchland, mehrere biographiſche
Skizzen und Charakteriftifen, darunter eine meifterhaft gefihriebene Biographie
des Caftruccio Caftracani von Lucca, Gefandtfhaftsberihte, Reden, Gutachten :c.,
auch ein Paar dramatifhe Gedichte. Alle dieſe Schriften find ſowohl einzeln als
1a Machiavelli,
insgefammt fehr ft gedruckt (die neuefte Gefammtausgabe Florenz 1813 in acht
Bänden) und wiederholt in's Franzöfifche, Englifche, Spanifche, Teutfche ꝛc. über-
ſetzt worden. Machhiavelli wird allgemein den beften italienifhen Schriftftellern
beigezählt, von Einigen felbft über Boceaceio geftellt. — Was ung hierorts allein
näher intereffirt, ift das Buch vom Fürften ald dasjenige, welches die fog. Po—
litik Macchiavelli's in gedrängter Kürze enthält und den durch die ganze Welt
(A. Macchiavelli's „Fürft“ iſt fogar in's Arabifche überfegt worden) verbreiteten
zweideutigen Ruhm dieſes Mannes begründet hat. Es wird nöthig fein, den In—
halt diefes vielbefprochenen, ebenfo gepriefenen wie verabfcheuten Buches in den
Grundlinien vorzuführen, Die Frage iſt, wie fürftliche Herrfhaften zu führen
und zu erhalten feien (come i principati si possono governare e mantenere), Es
hängt von der Art und Weife ab, wie fie erworben oder entflanden find, Ent-
weder nun find fie vererbt oder ohne Vererbung erworben, J. Die Erbfürften
halten fih ohne Schwierigfeitz fie brauchen fih nur einiger Klugheit zu befleißen
und der gröbften Fehler und Lafter zu enthalten. Davon braucht alfo nicht ein-
gänglich gehandelt zu werden, IL. In Betreff der gewordenen Fürften (novi
prineipi) muß mehrfach unterfchieden werden, Zunächſt find diefelben entweder
bereit8 Fürften eines Staates und find neue Fürften nur eines andern Staates
geworben, den fie erobert haben (principati misti), oder fie find völlig neue Für-
fien, d. 5. aus Bürgern Fürften geworden (nuovi tutti); ſodann find die neu er-
worbenen Unterthanen vorher entweder unter einem Fürften geftanden oder frei
gewefen; die Eroberung ferner ift gemacht entweder mit eigenen oder mit fremden
Waffen, durch Glück oder dur Kraft. a) Erobert ein Fürft ein fremdes Land,
fo Hat er, um fi zu Halten, zunächft im Allgemeinen Diejenigen unſchädlich zu
machen, die er bei der Eroberung beleidigt hatz Jene dagegen, die ihm geholfen
haben, nieberzuhalten, dabei aber noch auch fo viel möglich zufrieden zu ſtellen.
Näher fodann ift zu unterfcheiden. Iſt das eroberte Land ein mit dem Erbland
des Eroberers in Sprache und Sitten verwandtes, fo hat jener weiter nichts zu
thun, als die herrfchende Familie zu vertilgen, im Uebrigen Alles beim Alten zu
laffen. Iſt es dagegen ein entferntes und fremdes Land, fo muß er 1) die min-
der Mächtigen begünftigen, die Mächtigen gänzlich niederhalten, 2) Eolonien an-
legen (mit beliebiger Beraubung der Einwohner), 3) feinen fremden Mächtigen
in das Land dringen laffen, 4) wo möglich felbft im Lande wohnen. b) Hat man
einen freien Staat erobert, fo ift es höchſt unficher, denfelben nach den alten
Geſetzen leben zu laffen. Vortheilhafter, jedoch gleichfalls ungenügend, ift es,
dafelbft zu refiviren. Das ſicherſte Mittel, einen folhen Staat fih zu erhalten,
ift gänzliche Zerftörung deffelben, welche demnach anzurathen ift. ©) Diejenigen
Fürften, welche ganz durch eigene Kraft und Tugend Fürften geworden und einen
Staat erft gefchaffen haben, wie Cyrus, Theſeus, Nomulus, Mofes, thun Leicht,
fih zu erhalten und bedürfen feiner Inſtruetion. d) Diejenigen dagegen, welde
durch fremde Macht und durch Glück (con forza d’altri e per fortuna) zur Herr-
fchaft gelangt find, müffen, wollen fie fih erhalten, äußerſt Flug, verfchmigt,
falſch, treulos, meineidig, heuchleriſch, ſcheinheilig, räuberiſch, verſchwenderiſch,
graufam, Mörder, kurz vollendete Boſewichte fein — Alles, wie Cäfare Borgia
(f. d. A.), welcher derartigen Fürften als vollendetes Vorbild vorzuftellen iſt
(Raccolte adunque fulte queste azioni del duca, non saprei riprenderlo; anzi mi
pare, come ho detto, di proporlo ad imitare a tutti coloro che per fortuna e con
le armi d’altri sono saliti all’ imperio), e) Will Einer dur Verbreden, Mord,
Verrath ꝛc. die Herrfchaft am fih reifen, fo vollbringe er jene Verbrechen alle
auf einmal, ermorde alfo z. B. alle Großen, Reihen, Magiftrate einer Stadt
auf Einen Schlag, damit er nachher nicht nöthig habe, derartige Verbrechen zu
wiederholen und ſich dadurch wiederholt verhaft zu machen, Hat er alle Mäd-
tigen auf Einen Schlag, durch Ermordung und Beraubung, unſchaͤdlich gemacht,
Machiavelik, 715
fo ift er für alle Zufunft gefihert. f) Iſt Einer durch die Gunft feiner Mit-
bürger (ohne Gewalt) Fürft geworden, fo befreunde er fih vorzugsweie dem
Bolfe, auch dann, wenn nicht diefes, fondern der Adel ihn erhoben hat, denn
auf das Volk, nicht auf den Adel fann er fih fügen, Die Hauptſache aber im
Allgemeinen ift, daß er fih immer als unentbehrlich erweife (E perö un principe
savio deve pensare un modo, per il qual i suoi cittadini sempre ed in ogni modo
e qualitä di tempo abbiano bisogno dello stato di lui, e sempre poi gli saranno
fedeli). I. Nach diefem folgen Vorſchriften für die Fürften überhaupt, nämlich
für die weltlichen, denn die geiftlichen bedürfen dergleichen nicht, fie find durchaus
ſicher, fowie die ihnen untergebenen Völker glücklich (solo adunque questi princi-
pati — sc. ecclesiastici — sono sicuri e felici). Jene Vorſchriften zerfallen in
drei Claffen. Sie betreffen a) die Sicherung der Herrſchaft dur Feſtungen und
Militär, Beide find durchaus nöthig; nützlich aber nur, in wiefern fie nicht gegen
die eigenen Unterthanen, fondern nach Außen gerichtet find. Die fiherfte Feftung
ift die Liebe des Volfes, das fiherfte Heer die eigenen Unterthanen oder Bürger,
milizie proprie, während Mietbfoldaten und Hilfstruppen immer verderblich find,
| 5) Diejenigen Tugenden, welche den Fürften zu Ruhm und Heil, und diejenigen
- Fehler, welche ihnen zu Schmad und Verderben gereihen. Jene Tugenden find
vorzugsweiſe Freigebigfeit, Milde, Treue, und befonders Neligiofität, Es wäre
| ehr gut, wenn jeder Fürft diefe Tugenden befäße. Allein fo wie die Welt iſt,
ſo iſt es nicht möglich, auch nicht nöthig; der Schein leiſtet dieſelben Dienfte.
Freigebigfeit ift notwendig nur im Anfange einer Herrfhaft, und nüglih nur,
wenn fie mit Hilfe fremder Güter ‚geübt wird. Auf Koften der Unterthanen geübt,
ift fie verderblich. Die Milde darf einmal nicht auf Koſten des Allgemeinen im
Sntereffe Einzelner, und fodann nicht zum Nachtheile der nöthigen Unterthanen-
‚Furcht geübt werden. Treu zu fein ift einem Fürften felten anzurathen. Denn
ift er es fo wird er, da die Andern treulos find, betrogen. Eben fo felten hat
er ndthig, treu zu fein, denn es gibt immer Leute genug, die ſich von ihm be—
frügen laffen, und warum follte er diefes nicht zu feinem Bortheile benützen?
Unzählige Beifpiele zeigen, daß treulofe und wortbrüchige Fürften ſich recht wohl
befunden haben. Eines der Teuchtendften Beifpiele diefer Art ift Alerander VI.
Derfelbe hat nie ein wahres Wort geſprochen, Fein Verfprechen gehalten, immer
betrogen, immer hinterliftet; und immer — haben fih Solche gefunden, die ihm
geglaubt und ſich Haben betrügen laſſen; und alle Pläne find ihm gelungen. Re—
üigion braucht ein Fürft gar nicht zu haben, Da genügt der Schein ftets voll-
fommen,. Mit Einem Worte alfo: ein Fürft [heine zu fein tulto pieta, tutto
- fede, tutto umanita, tutto integritä, tutto religione; befonders das Legte; aber zu
fein braucht er es nicht, ja er ſoll es nicht fein, wenn er Schaden davon hätte,
Wovor fih ein Fürft abfolut zu hüten Hat, find diejenigen Fehler, welde ihm
Haß und Beratung (odio e disprogio) bereiten, denn ein gehaßter und ver-
achteter Fürft iſt unreitbar verloren. Jene Fehler find 1) Eingriffe in das ma=-
teriefle und eheliche Eigentum der Untertanen (roba e donne de’ sudditi),
2) Unbeftändigfeit, Wankelmuth, Weichlichkeit, Zaghaftigkeit, Unentfchloffenpeit.
0) Berfhiedenes, Ein Fürft muß wiffen, wann er feine Untertfanen zu ent-
waffnen, wann mit Waffen zu verfehen habe; muß außerordentliche Thaten ver-
richten, Ruhm erwerben; unter allen Umftänden wahrer Freund oder wahrer
Feind fein, mithin nie neutral bleiben, wenn feine Nachbarn fih im Krieg mit
einander befinden; muß Freund und Beförderer der Kunft und Wiffenfchaft fein,
Agricultur und Gewerbe Heben, Bolfsfefte geben u. dgl.; gute Minifter und
Rathgeber zu wählen wiffen, Schmeichler meiden wie die Peft, feinen Rathgebern
gegenüber ſtets die nöthige Authorität bewahren, — Nach diefer allgemeinen Er-
Örterung über die Fürften wendet fih Macchiavelli zu dem nächften Zwede fei-
nes Buches, zur Aufforberung an die Mediceer, fih für Italiens Befreiung zu
En
16 Macchiavelli.
erheben. Dieſe Aufforderung leitet er ein 1) mit der Bemerkung, die italieniſchen
Fürften haben die Herrſchaft verloren und Italien Fremden überantwortet, weil
fie Miethſoldaten gehalten, weil fie fih bei dem Volke ſowohl als bei ven Großen
verhaßt gemacht und endlich bei dem Naben der Gefahr feige geflohen feien ;
2) mit einer kurzen Erörterung über das, was man Glück, fortuna, nennt, Die
fortuna thut nur die Hälfte; die andere Hälfte haben wir zu thun; und foll das
Glück uns günftig fein, fo müffen wir daffelbe zu unferem Dienfte zwingen und
fo handeln, wie wenn wir allein das Ganze zu verrichten hätten, Das Glück
gleicht den Frauen, welche nicht den Bedächtigen und Schüchternen, fondern den
jugendlich Verwegenen günftig find (e sempre, come donna, & amico dei giovani,
MR
perch& sono meno rispellivi, piü feroci, e con piü audacia la commandano), Nach
‚ diefer Belehrung werden nun die Mediceer aufgefordert, an die Spige der Jtaliener
zu treten , Ztalien von den eingedrungenen Barbaren zu befreien. Alfe Umftände,
ruft ihnen Macchiavelli zu, find euch äußerſt günftig, nicht minder als einft dem
Mofes, Cyrus und Thefeus, denn ebenfo wie die Ffraeliten in Aegypten Selaven,
die Perfer unter den Medern unzufrieden, die Athener zur Zeit des Thefeus zer-
ftreut gewefen, fo find e8 gegenwärtig die Jtaliener, und werben alfo gerne bereit
fein, einem Führer zu folgen, der fie befreien, vereinigen, begfüden will, vor
Allen einem Führer aus eurem Haufe, da diefes durch Leo X. über alle Fürften-
häuſer Staliens erhoben iſt. — Dieß ift der Inhalt des Mackhiavellifhen Fürften,
Wie follte ein folhes Buch nicht in den Mund aller Welt gefommen und ein
Gegenftand vielfacher Befprechung für alle Zeiten geworben fein! Nie find der—
artige Grundfäge mit folhem Cynismus geäußert worden wie hier, Selbſt die
opllendetften Eyrenaifer und Epieuräer haben ſich anftändiger auszuſprechen ge—
pflegt. Aber e8 wäre Irrthum, wenn man meinte, über Mackhiavelli und fein
Buch ohne Weiteres ein beſtimmtes Urtheil fällen zu können und zu dürfen, Es
find mehrere Auffaffungen ftatthaft und auch in Wirklichkeit geltend gemacht wor-
den. Um gerecht zu fein,.muß man fie ſämmtlich in Betracht ziehen, Sie laſſen
fih auf drei Claffen zurüdbringen. 1) Das Nächſte ift, daß man Alles, was
Machiavelli vorbringt, für baaren Ernft nimmt und dann ein unbedingtes Ver—
dammungsurtheil über ihn ausfpricht. In diefer Auffaffung iſt vorangegangen
Ambroſius Catharinus (delibris a christiano detestandis et ex christianismo penitus
removendis. Rom 15525 ſ. den Art. Catharinus). Ihm folgen ſodann Alte,
welche fogenannte Antimacchiavelli gefihrieben haben, von Gentillet (Dis-
cours sur les moyens de bien gouverner et maintenir en bonne paix un royaume
ou aufre principauté, divises en trois libres: assavoir du Conseil, de la Religion
et Police que doit tenir un Prince. Contre Nicolas Machiavel Florentin. 1576)
bis Friedrich II. CAntimacchiavelli ou examen du Prince de Macchiavelli. 1740),
und Alle, die, auf diefe Antimacchiavelli geftügt, die Leichte Mühe über ſich ge-
nommen haben, Mackhiavelli zu verdammen und fein Buch als ein fehr gefähr-
Yiches darzuthun; fo P. Poffevin 1592 (der, wie Conringius [Nie. Macchiavelli
Princeps. Helmstadi. 1660. Praef. p. 8 sq ] nachgewiefen, den Principe des Mac-
chiavelli gar nicht gelefen Hat), Nibandeira (de prineipe christiano adv. Macch,
caeterosque hujus saeculi politieos. Antw. 1603), P. Luckhefini (Saggio della
sciocchezza di Nicolo Macch., Rom 1697) u, ſ. w. Diefer Auffaffung ift fihwer-
lich beizupflichten. In wiefern ſich beftimmter die Meinung damit verbindet, daß
Macchiavelli blutige Tyrannei empfohlen und die feinem Fürften angerathenen
Schändlichkeiten nicht für Schändlichfeiten gehalten habe, ift fie entjchieden für
falfch zu erflären; jede Seite des Prineipe fowohl als der übrigen Schriften Mac«
chiavelli's fpricht dagegen. Auf das kirchliche Verdammungsurtheil kann fie fi
nicht berufen, Allerdings ift der Principe Macchiavelli's Firchlich verdammt wor«
den. Aber erft unter Clemens VIIL, alfo faft hundert Jahre mach feinem Ers
feinen, Dieß beweist, daß ihn die Kirche von Anfang an anders als die Anti-
Machiavelli. 717
macchiavelli aufgefaßt habe. Jenes Verdammungsurtheil wurde erft erlaffen,
nachdem das Buch wirklich, in Folge der darüber entflandenen Streitigfeiten und
Mißverſtändniſſe, gefährlich geworden war. 2) Die zweite Partei ſchreibt Mac-
chiabelli die gerade entgegengefegte Gefinnung und Abficht zu. Ein ächter Freund
des Bolfes und Feind aller Tyrannei, fagt Alberieus Gentili$ (de legalionibus
II, 9), wollte Machiavelli die Schlechtigfeiten der Tyrannen aufdecken, bloß—
ſtellen vor Aller Augen, nicht um die Fürften, fondern die Völker zu belehren
- (itaque tyranno non favet. Sui propositi non est tyrannum instruere, sed arcanis
ejus palam factis ipsum miseris populis nudum et conspicuum exhibere... Con-
silium fuit, ut sub specie principalis eruditionis populos erudiret). An der Spige
dieſer Anſchauung fieht Baco von Berulam, welcher Mackhiavelli darüber Iobt,
daß er die fürftlihen Schlechtigfeiten durch fehonungslofe Aufdeckung unſchädlich
zu machen gefuht habe (De augm. scient. VII, 2). Man wird diefer Anfhauung
- beizuftimmen in demfelben Grade geneigt fein, ald man Intereſſe hat, an einem
Menſchen menfhliche Gefinnung zu gewahren, Ueberdieß fcheint fie einen An—
baltspunct zu haben an der Dedication und dem Schluß des Prineipe, fowie an
dem Gutachten für Leo X. in Betreff der Reformation der florentinifchen Republif
und befonders an den fehr republicanifch gehaltenen discorsi über Livius. Gegen
fie jedoch ſpricht dieß, daß fie den Principe ganz von Principien entblößt,
I Man faun nicht wohl annehmen, daß ein fo forgfältig ausgearbeitetes Buch, wie
| der Principe ift, nicht von allgemeinen politifchen Prineipien getragen und weiter
I nichts fein fol, als eine Zufammenftellung von Momenten, welde eine gewiffe
I Regierungsform gehäffig machen, Die übrigen Schriften Mackhiavelli’s geben
beftimmte politifche Principien zu erfennen; und es ift ohne Zweifel anzunehmen,
diefelben feien die Seele auch des „Fürften“. Wäre die genannte Anficht richtig,
fo ließe fih die Thatfache nicht begreifen, dag Macchiavelli die [händlihen Hand=
I Iungen der neuen Fürften ald notbwendig darftellt. Er hätte jenen Zwed
I nicht nur auf, fondern beffer erreicht durch den Hiftorifchen Nachweis, daß alle
I neuen Fürften fo und fo handeln, und durch eine Belehrung der Völker, wie fie
ſich gegen ſolche Fürften zu fhügen haben. Ueberdieß erfcheint Macchiavelli, ohne
I ein abfolut verworfener Menſch zu fein, doch auch überall nicht als ausgezeich-
I neter Eiferer für Recht und Tugend. Hierin hat die dritte mögliche Auffaffung
I unferes Buches ihre Berechtigung. 3) Sehr Biele, vielleicht die Meiften unter
I den Politifern, welche fih mit Macchiavelli befchäftigt, haben deffen Fürften ein-
1 fa, wie er Tiegt, vertheidigt, Er ift, fagt 3. B. Bocalin, eine getreue Copie
der wirklichen Fürften. Iſt ed aber nicht ungerecht, die Copie zu verdammen,
während man das Driginal verehrt, preist, verherrliht? Nicht die Fürften,
zuft ein Anderer Cbei Bayle) aus, haben von Mackhiavelli, fondern diefer hat
I von jenen gelernt; und man verdamme, verbrenne fein Buch, die Politik wird
I doc diefelbe bleiben. Il faut, fest er bei, par une malheureuse et funeste né—
cessil& que la politique s’eleve au dessus de la Morale. Man muß fih, fagt Con—⸗
zingius (I. c. praefat.), in der Politik nicht mit einem idealen, fondern mit dem
I wirklichen Staat befchäftigen, nad) dem Vorbilde des Ariftoteles; und entiprechend
erklärt Amelot de la Houffaye Lfranzöf. Ueberfeger des Principe): Diejenigen,
welde Macchiavelli tadeln, verftehen gar nichts von der raison d’etat; woher es
I Fommt, daß angehende Staatsmänner, Prinzen :c., Mackhiavelli verdammen, dann
I aber, fobald fie zur Herrfchaft gelangt find, fich als treue Schüler deſſelben er-
| weifen, feine Politif Schritt für Schritt befolgen. Wie richtig diefe Bemerfung
fei, bedarf Feines Beweifes. ALS eclatantefted Beifpiel fann Friedrich IL gelten,
4 welcher nicht nur als König ein vollendeter Macchiavel gewefen, fondern auch
ſelbſt in feinem von Heiligenfhein umfloffenen (von Voltaire herausgegebenen)
I Antimachiavel den reinften Machiavellismus vorgetragen hat. — Iſt diefe dritte
| Auffaffung des Macchiavelliſchen Fürften richtig, fo Tiegt die’ Bedeutung des
718 Machiavelli,
legtern darin, daß er der wiffenfchaftlihe oder, wie man eher fagen muß, Tite-
rarifhe Ausdruck einer in der Wirklichkeit geübten Politif ift, Worin befteht diefe
Politif? Darin, daß man im Intereſſe eigenen Vortheils einen Plan entwirft,
alfo einen beftimmten Zweck fegt und dann dieſen Zweck zu erreichen beftrebt ift,
indem man nicht nur die eigene Kraft in Bewegung fest, fondern auch alles
außerhalb des eigenen Kreifes Liegende fich dienftbar macht oder, wenn es im
Wege fteht, vernichtet oder fonft entfernt, Wie die einzelnen Menfchen, fo fün-
nen fich auch die Staaten und Staatsoberhäupter auf zweierlei Weife verhalten:
‚entweder wirfen und bewegen fie fich Tediglich in dem ihnen angewiefenen Kreiſe
und refpectiren 1) das Gebiet (das Eigenthum, die Rechte) aller Andern eben fo,
wie fie ihr eigenes refpectirt wünfchen, und überlaffen 2) den Erfolg dem Lenfer
der Weltorbnung und alles Einzelnen in derfelben; oder fie wirken fo, wie wenn
1) nicht eine allgemeine, unter Einem Lenker ſtehende Drdnung wäre, der fi
alles Einzelne einzufügen hat, und befchränfen fich eben deßhalb 2) nicht auf den
ihnen angewiefenen Kreis, fondern fegen fich ald Centrum, um alles außen Lie—
gende an fich zu ziehen und fich dienftbar zu machen. Mit andern Worten: fie
beachten bei ihrem Thun und Laffen das Necht, oder fie beachten es nicht, indem
fie Iediglih das vollbringen, was fie für zweckdienlich, nämlich dienend dem in
eigenem Sntereffe freigefegten Zwecke, halten, Eine Politif in erfterer Weiſe
nennt man fittlich , unfittlich dagegen die in letzterer Weiſe geübte. Diefe letztere
nun ift die Mackhiavelliftifche Politif, Sie tritt und ebenfo in den übrigen Schrif-
ten wie in dem Fürften Mackhiavelli’$ entgegen. Wornach bei politifchen Hand—
lungen überall die Frage ift, ift nur die unmittelbare Zweckmäßigkeit. Diefe er-
fennen und ihr gemäß zu handeln verfiehen, macht die ganze politifche Weisheit
aus. Ob das von folder Weisheit Gebotene die Nechte Anderer verletze und
göttlihen Geſetzen widerfpreche oder nicht, Fommt nie in Frage. Es ift von fol-
chen Nechten und Gefegen nie die Rede, Die Erörterung darüber wird einer
abftracten Rechtsphilofophie überwiefen. Gegenftand der Politif als einer con-
ereten Wiffenfchaft ift nur jene als politifhe Weisheit bezeichnete Klugheit, Geben
wir ſolche Politik einer Republik, fo wird ein Verfahren entftehen, wie wir es
etwa in Sparta, auch, nach den verfifhen Kriegen, in Athen, gegenwärtig in
England wahrnehmen. Geben wir fie einem werdenden Fürften, Uſurpator
oder Eroberer, fo werden wir fogleih vor und fehen — den Mackhiavellifpen
Fürften. Macchiavelli's Fürftenpolitif ift demnach nur ein Theil von deſſen ge—
fammter Politif, aber ein dem Wefen des Ganzen genau entfprechender Theil,
Macchiavelli, fagt Friedrich IL. und nah ihm Stahl (Geſch. d. Rechtsphiloſophie
I, 339), ift der Spinoza der Politik. Es ift diefelbe Losreißung von dem leben-
digen Gott, welche in der Philofophie zum Spinozismus, in ber Politif zum
Mackhiavellismus mit Nothwendigkeit führt... Läßt man einer höhern Macht
noch etwas zur Leitung über, dann fällt diefe ganze Art der Politifz oder man
will felbft Alfes verforgen, dann fommt man unvermeidlich auf feinen Stand-
punct, Mackhiavellismus aber ift diefe Politif nur in dem Sinne zu nennen, wie
man die neuere, mit Entfchiedenheit und vollem Bewußtfein atheiftifche Philoſophie
Spinozismus nennt. Macchiavelli Hat nur das Unglück gehabt, der Erſte zu fein,
durch den fie einen wiffenfchaftlichen Ausdruf empfangen, Sie ift längft vor
Mackhiavelli, ift aber freilich vorzugsweife zu feiner Zeit die Politif aller Welt
gewefen und ift e8, mit wenigen rühmlichen Ausnahmen, bis auf den heutigen
Tag. In häßlichſter Geftalt (weil am vollftändigfien ausgeprägt) erſcheint fie
freilich auf den beiden pofitifchen Extremen, wenn fie nämlich geübt wird einer-
feit8 von einem Fürften (der dann als Tyrann erfheint), andererfeitd von der
Demagogie. Ob nun Macchiavelli das Bud vom Fürften gefchrieben habe nur
um feiner überafl, befonders in den Erdrterungen über Livius und in ber floren-
tiniſchen Gefchichte zu Tage tretenden Politik einen recht beftimmten Ausdruck zu
Macedonien. 719
geben, ober ob er Mebenabfihten damit verbunden, etwa die Mediceer habe ver-
warnen wollen, einen formlichen Fürftenthron, mit Unterdrüfung der republica-
nifchen Verfaffung, zu errichten, ift zwar nicht für feinen Charafter, für ung da—
gegen ganz gleichgültig. Wie immer es fi damit verhalten möge, er ift zu be-
I Hagen 1) überhaupt, weil er zu denjenigen Menfchen gehört, welche nicht begreifen
| oder nicht beachten, daß das Leben der Menfchen eben fo wie das Leben der Na—
| tur unter einem einheitlichen, unabänderlihen und unverleglichen göttlichen Gefege
I fehe, und 2) weil er feinen Namen zur Bezeichnung einer Unfittlichfeit hergeben
I muß, deren fih faft alle Welt eben fo fchuldig maht wie ſchämt. — Wenn gefagt
wird, der Mackhiavellismus fei wefentlih die Politif des päpftlichen Hofes und
der Fatholifchen Staaten, während er in proteftantifchen Staaten, Danf dem
wahren Chriftenthum, nicht Wurzel zu faffen vermöge (fo, nah dem Vorgange
vieler feiner Glaubensgenvffen, neuerdings Matthäi, Verhältniß des Chriften-
thums zur Politif, Göttingen 1850, S.4): fo fann man Nichts erwiedern, fon-
dern nur flaunen, wie e8 einem Menfhen möglich fei, fo boshaft und zugleich fo
abgefhmadt zu fein. — Eine reihe Sammlung von Urtheilen über Mackhiavellt
aus älterer Zeit enthält Tob. Magiri Eponymologium criticum cte. Francof. et
Lipsiae 1697. gl. aud Bayle, diction. hist. crit. und Artaud, Macchiavelli,
son genie et ses erreurs. Par. 1833. Das Neuefte ift Benedey, Macchiavell,
Montesquieu , Rouffeau, Berlin 1850. [Mattes.]
Macedonien (Maxedoria), das lange Zeit als ein Theil von Thrazien
betrachtet wurde, war von mehreren Fleinen Bölferfchaften des illyriſchen Stam—
mes (Hermann, griech. Staatsalterth. S. 41) bewohnt, von deren eigenthüm=
licher Sprache noch Reſte in der walachiſchen und arnautifhen übrig find, Im
erſten Biertheile des achten Jahrhunderts (v. Chr.) Tiefen ſich griechifche Colo=
niften an ihrer Spige argivifche Herafliden nieder, und flifteten einen erblid-
maonarchiſchen kleinen Staat, deffen erfter König Perdiecas war. Im fteten Rampfe
gegen die Thrazier erhielt fih zwar eine friegerifche Stimmung und Uebung; doch
konnte Macedonien dem übrigen Griechenland gegenüber zu feiner Bedeutung ge=
langen, bis auf Philipp, den zehnten aus jener Königsreihe. Indem er fein
Reid vom Strymon und dem ägäifhen Meere bis an das adriatifhe Hin erwei-
terte, die Thrazier zurücdrängte, die Päonier und Illyrier unterwarf, Amphipolis
(858) eroberte, und ſich in den Befis der reichen Goldbergwerke von Krenidä
feste, welche ihm jährlich eine Million Thaler eintrugen, und durch die er ſich
I bald faft in jeder Stadt eine Partei zu erfaufen wußte, wurde er Herr über
Griechenland felbft, ehe er noch das Glück der Waffen dagegen verfucht hatte,
Der Sieg an der Ebene von Cheronea (333) machte der Freiheit Griechenlands
vollends ein Ende, Während Alerander, Philipps Sohn, in Aften kämpfte, ver-
waltete Antipater Macedonien und Griechenland. Obgleich die griehifhen Städte
weder macedonifche Befagungen zu tragen, noch Tribut zu zahlen hatten, ließ fie
doch ſchon das Gefühl der Abhängigkeit über den frühen, beflagenswerthen Tod
des macedonifchen Heldens nur frohloden und den Kampf um ihre Freiheit ver—
ſuchen, der indeß zu ihrem Verderben ausfchlug. Macedonien felbft aber war,
von da an der Schauplag fleter Kämpfe um die Oberherrſchaft. Antipater hatte
mit Umgehung feines eigenen Sohnes Caffander den erfahrenen Polyfperhon zu
feinem Nachfolger beftimmt, das Signal zu langen Unruhen-und Kämpfen. Dazu
famen noch die blutigen Streitigfeiten in der Familie Aleranders, die gegenfeitigen
BDefämpfungen feiner Feldherrn, und die Verfuhe des Abentheurerd Demetrius
Poliorcetes, die in der Schlacht bei Ipſus in Phrygien verlorene Herrfchaft fei-
nes Vaters wieder zu gewinnen, was endlich feinem Sohne Antigonus Gonatas
(279) gelang. Ihm folgten feine beiden Söhne Demetrins II. und Antigonus
Dofon, und endlich Philipp II. CV), fein Enfel (221). Durch den ächäiſchen
Stäbtebund (251) war Griechenland unterbeffen zu einiger Selbftftändigfeit und
720 Macedonius — Mahmas.
inneren Feftigfeit gefommen. Um fich aber gegen Sparta zu behaupten, mußten
die verbündeten Städte Macedonien zu Hilfe rufen, was feinen Principat auf's
Neue hervorrief. Doch als Philipp feine Hegemonie in eine eigentliche Herrfchaft
über Griechenland erheben wollte und in Athen einfiel, gefhah das Tängft Ge-
fürchtete — Athen rief die Römer um Hilfe, In der Schlacht bei Kynoskephalä
von Flaminius befiegt, warb Philivp zu einem fehimpflichen Frieden gezwungen,
und mußte feinen Sohn Demetrius als Geifel geben, Da er diefen aus falſchem
Berdacht heimlich vergiften Ließ, ftarb er bald darauf aus Gram unter fteten
Nüftungen gegen die Römer. Unter feinem zweiten (natürlichen) Sohne und
Nachfolger brach der Krieg gegen die auf feine Macht eiferfüchtigen Römer nur
zu fchnell aus. Nach einem augenblicklichen Waffenglüde wurde er von Aemilius
Paulus bei Pydna aufs Haupt geſchlagen, gefangen genommen und zu Nom im
Triumphe aufgeführt (167 v. Chr.). Diefe legten zwei Könige werben 1 Macc.
8, 5. (Dikımrov zal vov Ilegoie Kırrısov Baoıkea) aufgeführt, fowie ebend.
1, 1. Alexander Gr. (05 EENAHev Ex TS yig Xerreieiu) vgl. den Art. Chit-
tim. — Macedonien- wurde erobert und in vier Provinzen getheilt, indeß einft-
weilen noch für frei erflärt, Innere Zerrüttungen riefen aber die Nömer von
Neuem herbei, welche nun das Land zu einer römischen Provinz machten (142
v. Ehr.). Living gibt folgende claffifche Befchreibung der macedonifchen Pro-
vinz nach ihren vier Diftrieten: Prima pars Bisaltas habet, fortissimos viros; trans
Nessum amnem incolunt et circa Strymonem: ‚et multas frugum proprietales et
metalla et opportunitatem Amphipolis, quae objecta claudit onmmes ab oriente sole
in Macedoniam aditus. Secunda pars celeberrimas urbes Thessalonicen et Cassan-
driam habet: ad hoc Pallenen fertilem ac frugiferam terram: maritimas quoque
opportunitates ei praebent portus ad Toronem ac montem Atho, alii ad insulam
Euboeam, alii ad Hellespontum opportune versi. Tertia regio nobiles urbes Edes-
sam et Beroeam et Pellam et Vettiorum bellicosam gentem: incolas quoque per-
multos Gallos et Illyrios impigros cultores. Quartam regionem Eordaei et Lyn-
cestae et Pelagones incolunt. Juncta his Atintania et Stymphalis et Elimiothis.
lib. 45. c. 30. — In Europa hatte Paulus zuerft auf macedoniſchem Boden das
Evangelium gepredigt, durch eine himmlifche Erfcheinung dazu ermuthigt. Nea-
polis, Philippi, Amphipolis, Apollonia, Theffalonih und Berda find die vom
hl. Apoftel betretenen macedonifhen Städte. Das Evangelium hatte in ihnen
einen außerorventlihen Fortgang. Vgl. darüber die einzelnen Artikel: Amphi—
polig, Berdau,f,w. [Schegg.]
Macedonius, Macedonianer, f. Pneumatomachen.
Machmas (Mihmas) 0u>n, wn>n, d. i. Schaf (Drt, Haus des Schakes),
eine durch ihre Lage wichtige Stadt im Stamme Benjamin, dag heutige Dorf
Mufpmas, öftlich von Bethel, neun rom, Meilen nördlich von Jeruſalem. Es
bebherrfchte den nördlichen Eingang eines Engpaffes, der durch zwei fteile Fels—
zacen Bofes (zy2, der Hervorragende) und Sene (730, Zehe, Kippe) gebildet
wurde. Die Philifter hatten diefen Engpaß befegt und fih von bier aus über
das ganze nördliche Gebiet von Juda (1 Sam, 13, 17.), zunächft den Stamm
Benjamin, verheerend ausgebreitet, während Saul mit feinen 600 im Süden
des Engyaffes lag. Erft fpäter treffen wir ihn zu Migron Cl. co. 14, 2,) im An»
gefihte der Ppilifter, die Jonathan durch feine muthvolle Neberfteigung des Eng-
paffes, wo er fie von oben angriff, zum Rückzuge brachte, Die Furcht des Herrn
fam über fie und fie Tösten fih in wilder Flucht auf: Die Befchreibung bes
afyrifhen Heerzuges bei Zfaias 10, 23—32, ift ideal, aber auch aus ihr erhellt,
daß mit der Befegung von Machmas das legte Hindernif, Jeruſalem zu erreichen,
gehoben ift. Der Macabäer Jonathan refidirte in Machmas, bis er in Jerufalem
ſelbſt einziehen fonnte, Noch war die ganze Umgegend wegen ihrer Fruchtbarkeit
ei
TR
Madien \ 724
hodh berühmt. Robinſon ſah im heutigen Mukhmas viele Grundmauern von
großen gehauenen Steinen, und zwiſchen ihnen einige Säulentrümmer.
Machſor (Ar772 Zurüdfehr, Kreisbewegung von Ir zurüdfehren), Name
des hebräifchen Gebetrituals für das ganze Jahr, im Gegenfage zum gewöhn-
lichen Gebetbuche der Juden, welches man ſchlechthin Thephilla (Gebet, T>on)
zu nennen pflegt. Es unterfcheidet fich vom Iegteren, dem es für den täglichen
- and jährlichen Gottesdienft mit entfprechender Einrichtung ergänzend zur Seite
geht, nur durch verſchiedene Zufäge, namentlich religiöfe Feſtgeſange. Ein voll-
ſfländiges Machſor enthält außer den in Profa gefhriebenen Gebeten: 1) Feft-
geſänge verſchiedener Verfaſſer; 2) die Abfıhnitte aus dem Pentateuch und den
Propheten, welche an den Fefttagen vorgelefen werben; 3) die fogenannten war
mr>r32 (fünf Rollen, fünf Bücher, d. 1. das Buch Ruth, das hohe Lied, die
Rlageliever des Jeremias und den Prediger); 4) die Pirfe Aboth, Sprüde der
Bäter, einen Tractat aus der Mifchna (es ift der neunte Tractat [n>0%] der
vierten Abtheilung [172] in gewöhnlichen Mifchnaausgaben, im Thalmud felbft
aber der legte Tractat diefer Abtheilung). Es gibt aber auch kürzer abgefaßte
Machſorim, welche nur die Gebete und Feftgefänge enthalten. Auch find fie im
Ritus abweichend, je nach den verfohiedenen Nationen und Ländern, zu: deren
Gebrauche fie beftimmt find. Es gibt daher italienifche, teutfche, polnifche, fpanifche
I und vortugiefifche, die fich nach den Gebräuden und dem Ritus diefer oft in einer
I und derfelben Stadt und Gemeinde fich findenden verſchiedenen Volfsgenoffen richten,
Der werthoolifte Theil des Machfor ift die vielfach eingewebte Poeſie, die Feft-
gedichte, Diefe Fefigedichte, gewöhnlich Pijutim genannt (aror?> ein Lehnwort,
- das mit poeta zufammenhängt), enthalten einerfeits thalmudifche Ideen, anderer-
ſeits find fie Ausflüffe der mittelalterlihen ariftotelifch-fholaftifhen Religions—
ſpeculation, daher denn auch gewöhnliche Juden, welche nicht eigene Studien
darüber gemacht haben, fie nicht verſtehen. Der Form nad find fie Nachahmun—
I gen arabifcher Poeſie, — viele fehr gelungen, doch nicht von allen fann man
Letzteres behaupten, manche davon find Erzeugniffe des gefunfenen Geſchmackes,
I gefallen fi in eitlen Wortfpielereien und enthalten wenig Jdeen, fo daß felbft
Heidenheim, der Kimchi der neuern Zeit, welder das Machſor in's Teutſche über-
feste und Hebräifh commentirte, manche Stüdfe übergehen mußte, weil fie durch—
- aus in einer andern Sprache ungeniefbar find. Leider ift das fehönfte Gedicht
des außerbiblifhen Hebraismus mı2:n An> (teutfch Herausgegeben unter dem
F zitel: Konigskrone von ben Gabirol”, metriſch überfegt von Leopold Stern,
I Frankfurt a. M. 1833) in den neuern Ausgaben ausgelaffen. Die Berfaffer
diefer Feftgedichte, Peitanim (or:0°2) genannt, welche mit näheren Angaben in
der hebräiſch gefihriebenen Einleitung zur Heidenheimifchen Ausgabe des Machſor
alphabetifch aufgeführt find, Fann man in zwei Claſſen theilen: 1) in fpanifche,
die befonders zwifchen 1070— 1170 blühten, und an deren Spige Salomo ben
Gabirol, Zfaac ben Giath, Mofes ben Esra, Jehuda Hallewi, Abraham ben Esra
ftehen ; 2) in teutfch-franzöftiche, ungefähr von 1040—1293. Diefe find größten-
theils Nachahmer des Jtalieners Kalir. — Manuferipte und Ausgaben vom Mad
I for find unzählbar. Die erfte und feltenftle Ausgabe ift die von Soncino und
I Eafalmaggiore 1486. Eben fo felten find die Soncinifhen Abvrüde in Pefaro
I. beforgt. . Für die vollfländigfte und gefchägtefte von allen Ausgaben gilt die von
Dologna 1541, Alle diefe find nach italienifhem Ritus. Die erfte Ausgabe nach
teutſchem Nitus ift die Augsburger von 1536, die erfie nach polniſchem Ritus
die aus Prag 1533, Neuere Ausgaben bei Schmid in Wien: Machforim na
polniſchem Nitus, zwei Theile. Diefelben mit teutfcher Ueberſetzung, zehn Theile,
fowie noch in verfhiedenen andern Ausgaben mit und ohne Ueberfegung. Machſor
nach teutſchem Ritus, fünf Theile. — Machſorim, Feiertagsgebete für den ita—
lieniſchen Ritus. Macfor für alle Seiertage, drei Theile (nad —*2 Ritus);
Kirchenlexilon. 6. Br. :
Re TG
722 Macrina — Madian,
Die jegt in Teutſchland gebräuchlichfte Ausgabe ift Die von Heidenheim in fünf
Theilen (nach den fünf Feften: Neujahr, Berföhnungstag, Lauberhüttenfeft, Oftern,
Pfingften) mit teutfcher Heberfegungz die befte Ausgabe davon ift die Rödelhei—
mifche, Meberhaupt über Machfor, deffen Ausgaben, Einrichtung, Gefchichten. ſ. w,
vergleihe: De Roſſi, Hiftorifches Wörterbuch der jüdischen Schriftfieller, über-
fest von Hamberger; Dukes, zur Kenntniß der neubebräifchen Poefie; oben
erwähnte Einleitung von Heidenheim; Wolf, Bibliotheca hebraica; Zung, re-
Yigiöfe Vorträge; Catalog der hebräifchen Buchhandlung des Franz Edlen v.
Schmid und 3. 3. Buch, Catalog der in Prag erfihienenen Hebräifchen Bücher.
Einzelnes zerftreut findet fih auch in den neuern jüdifchen Zeitfehriften, z.B.
an DS5, Dinsm nano, Orient von Fürft, Geigers Zeitfehrift, Buſch, Ka-
Yender und Jahrbuch für Sfraeliten u. ſ. w.
Macrina, die heilige, f. Bafilius der Große.
Madian (Midian), 7777, Vulg. Madian, der vierte Sohn Abrahams und
der Ketura, Stammvater der Madianiter (Miidianiter), welche mit den Jimae-
Yitern (ſ. d. A.) das nordweftlihe Arabien (Nabatäa) bewohnten, und zu den
Moftarabern (Araba Moftaraba, d. i. durch Berfchwägerung gewordene Araber)
gegenüber den Urarabern (Arab al Araba), d. i. den Kindern und Nachlommen
Kaihtans (Joctans der Bibel) gezählt wurden, Ihre urfprüngliche Heimath geben
die arabifchen Schriftftelfer übereinftimmend am öftlichen Ufer des älanitifchen
Meerbufens auf der 23. Station der ägyptifchen Meccapilger Maghair Schvaib
27° Br,, im Norden von Ajin Unne (dem Onne —"Ovvn des Pol.) an. Das
arabifche Itinerar bei Seegen (v. Zach, monatl, Correfpondenz. 1809, Bd. 20,
S. 310) fagt ausdrücklich: Madajin war eine Stadt an der Küfte des Meeres,
wo man noch Nefte vormaliger Gebäude finden ſollte. Es iſt Hier ein großer,
Schlechter Brunnen und daneben ein Teich, aus dem Mofes die Schafe des Schoaib
(Zethro) tränfte, In einer hier befindlichen Grotte, Mgar (Maghair) Schoaib
genannt, verrichten die Pilger ihr Gebet und fegen dann ihre Neife weiter fort,
Diefes Maghair Schoaib ift iventifch mit dem von Nüppel befuchten Wadi Beben,
wo er zahlreiche Gruppen von Katafomben und die Trümmer einer antiken Eul-
fur fand, welche von der des übrigen Arabien ganz verſchieden war, Auch Ptole—
mäus Fennt ein Modıave, deffen Lage hienach beftimmt werden muß. Die An-
gabe bei Ritter (XIII. 287) 66° 40° Länge muß irrig fein; es muß zwifhen 53
und 54° Länge gelegen fein, gegenüber (weftlih) von Tebuf, Die Araber mit
Rüppel bezeichnen diefe Gegend als eine der Tiebfichften Stationen, ein Thal voll
füßen Waffers, mit Dattelpflanzungen und vielen Bäumen zwifhen den Felſen.
Die Madianiter hatten fomit zu ihren bſtlichen und norböftlihen Nachbarn die
Bruderftimme Thema (Gen, 25, 15.) und Kedar (If. 21,17., meinen Eom-
mentar I, 226), und waren ganz an dem Plage, den Karawanenhandel aus dem
Innern von Arabien nach Aegypten (1 Mof. 25, 24.) und Paldftina (If. 60, 6.)
zu vermitteln, indem noch heutzutage die ägyptiſchen Meccapifger mitten durch
ihr Gebiet ziehen, Die biblifche Erzählung, nach der Mofes im Lande Madian
fi vor Pharao verbarg, möthigt ung nicht, die arabifhe Tradition aufzugeben.
Da nad Ibn Sayd, den Abulfeda anführt, das Meer bei Madian eine Tagfahrt
breit ift, fo konnte Mofes auf feiner Flucht hier die Meerenge übderfegt haben,
Indeß hatte Madian als ein nomadifirender Stamm in der früheften Zeit Tein
fireng begrenztes Gebiet; Fam ja Mofes mit den Herden Jethro's bis an den
Sinai, Schon damals feheint ſich ein Theil von feiner urfprünglichen Heimath
losgeriſſen zu haben, und nach Norden, dem öſtlichen Ufer des tobten Meeres
entgegen, gerückt zu fein, Wir finden fie, feindlih den fraeliten gegenüber, in
Verbindung mit den Moabitern (4 Mof, 31, 1.), und fpäter mit den Amalefitern
(Nicht. 6, 3.), bis fie durch die Siege Gedeons (f. d. A.) völlig aufgerieben
wurden, Die einzelnen Schwärme ohne Anführer (Richt. 7, 25.) verloren ſich—
Madruss. —
| Bon dieſen dürfen wir die Madianiter (Iſ. 60, 6.), welche friedlich in ihrer
Seimath geblieben waren, unterſcheiden. [Schegg.] :
z Madruzz, Chriftoph (nicht zu verwechfeln mit feinem Neffen, dem etwas
| jüngern Cardinal und Fürftbifchof von Trient, Ludwig von Madruzz), war ein
| Mann von großen Geiftesgaben, fehr gewandt in weltlihen Geſchäften, bei
| _Saifer Earl V. und feinem Bruder 8, Ferdinand fehr beliebt, von den größten
1 Männern feines Jahrhunderts Hoch geachtet, befeelt von großem Eifer für Her-
ſtellung einer beffern Kirchenzuchtz pur ein Schatten haftet an feinem Charakter,
daß er gegen die Kirchengefege zu viele Bisthümer in feiner Perfon zu vereinigen
1 fuchte, was fih aber durch die Umftände, in denen er lebte, etwas entfchuldigen
I Habt. Er ſtammte väterliher Seits aus dem alten angefehenen Geſchlecht ver
Freiherren von Madruzz, mütterlicher Seits aus dem Geſchlechte der Ritter von
Sporenberg, Herrn zu Billanders und Pradel. Geboren im J. 1512, machte er
feine Studien auf der berühmten Hochfhule zu Bologna und ſchloß dort Befannt-
Schaft mit Männern, die nahmals zu den höchſten kirchlichen Würden emporſtiegen
und ihm flets in Liebe und Achtung zugethan blieben; aus diefen hebe ich nur
hervor Alexander Farnefe, Hugo Buoncampagni (als Papft Gregor XL), Otto
Truchſes und Stanislaus Hofius. Schon gar früh, während er faum 17 Jahre
I alt no in Padua ſtudirte, überlieg ihm fein älterer Bruder fein Canonicat im
I Zrient und die Pfarre Tirol bei Meran, welche er dann dur einen Stellvertre-
] ter verfehen ließ. Einige Jahre fpäter befam er dazu noch ein Canonicat in Salz-
burg (1536) und ein Canonicat in Briren (1537), während er um dieſe Zeit
I bereits Domdecan in Trient geworden war und ald Gefandter des römifchen
- Kaiferd Ferdinand an die Republif Benedig fowohl die Wünfche feines Herrn
glücklich erfüllt, als auch die Achtung des Dogen von Benedig CP. Lando) in
ausgezeichnetem Grade fih erworben hatte. Bald darnach ftarb der berühmte
Fürfibifchof von Trient und Cardinal Bernard von Cles. Kaifer Carl V. empfahl
ihn, das Domcapitel von Trient wählte ihn, der Papft beftätigte ihn 1539 zum
Fürſtbiſchof von Trient, obwohl er nur Subdiacon und erft 27 Jahre alt war,
I worauf er dem Raifer in den Niederlanden einen Befuh machte, und nach kurzer
1 Srift als fönigliher Botjchafter auf den Reichstag zu Regensburg fih verfügte
als eifriger Kämpfer gegen Luthers Irrlehre. Im Jahr 1542 ließ er fih endlich
zum Diacon, Priefter und Biſchof weihen. Nicht lange darauf poftulirte und er=
bielt ihn das Domcapitel von Brixen als Bistyums-Adminiftrator (1543 im
Januar). Im nämlihen Jahre (1543) erhob ihn Papft Paul IIL zum Cardinal
(Presbyter Cardinalis tituli S. Caesarii), mit befonderer Rüdficht auf das Berhält-
niß diefes ausgezeichneten Kirchenfürften zu der demnächſt in Trient abzuhaltenden
I allgemeinen Kirchenverfammlung. Bon diefer Zeit an nahm er, während ber
I ganzen achtzehnjährigen Dauer des Eonciliums von Trient, eine in vielfacher
Beziehung aͤußerſt wichtige und einflußreiche Stellung ein als Cardinal, als Bi-
ſchof von Trient und Fürft jenes Gebietes, auf welchem diefe Kirhenverfammlung
- gehalten wurde, als vertrauter Freund und Nathgeber des Kaifers, ja felbft durch
I mehrere Jahre, in welden das Eoncilium durch ungünftige Zeitverhältniffe unter-
brochen war, als föniglicher Statthalter in Mailand (1555—58). Einige Jahre
nach dem Schluß des Conciliums (1567) refignirte er das Bisthum Trient zu
I Gunften feines Neffen Ludwig von Madruzz. In Brixen hatte er ſchon früher
4 mit Genehmigung des Papftes feinen Neffen Johann Thomas von Spaur als
I Eoadjutor angenommen, behielt aber diefes Bistbum bis zu feinem Tod. Die
legten Jahre feines Lebens brachte er in Italien zu als Cardinal-Bifchof von
Sabina, fpäter von Pränefte und zulegt von Porto, Er ftarb hochbejahrt zu
Tivoli am 5. Juli 1578, — Mit Beifeitlaffung feiner politifhen Berdienfte um
Raifer und Reih, welde ihm das bejondere Woplwollen des Kaifers Earl V.,
des römischen Königs Ferdinand und deffen Sohnes Marimilien figerten, möge
46
721 Madruzz.
hier nur ſeiner Bedeutung auf dem Concilium von Trient und ſeiner reformato—
riſchen Thätigkeit im Bisthum Brixen gedacht werden. Auf dem Concilium ver—
trat er mit großem Nachdruck die auch vom Kaiſer kräftig unterſtützten Forderungen
der Teutſchen in Betreff der Reform der Kirchendisciplin, durch deren Gewährung
man von einer Seite her immer noch eine Bereinigung und friedliche Verſtändi—
gung mit den Proteftanten vermitteln zu können glaubte, Deßhalb wollte er im
Auftrag des Kaifers die Verbefferung der fo tief gefunfenen Kirchenzucht vor den
Differenzen im Glauben behandelt wiffen. Schon neigten fi die meiften Bi—
fchöfe auf feine Seite, als der erfte päpftliche Legat erklärte, er habe auch nichts
dawider, aber dann müßten vor Allem die anwefenden Cardinäle und Bifchöfe
mit gutem Beifpiele vorangehen, Jeder nur Ein Bisthum behalten, das zweite
refigniren, allen Prunk und weltliche Eitelfeit ablegen (Madruzz war fehr pracht⸗
Yiebend), den Hofftaat entlaffen; er fei für feine Perfon gern hiezu bereit, Das
wirkte; Madruzz und die übrigen Bifchöfe auf feiner Seite Tiefen von ihrem un—
geftümen Drängen etwas nach und man fam endlich dahin überein, die Glau—
benslehre und die Herftellung der Kirchenzucht in jeder Sigung nebeneinander zu
behandeln. Auch auf die Heberfegung der Hl. Schrift in die Volksſprache drang
er mit großem Eifer, und verwendete fih mit Kraft für die Teutfhen, daß ihnen
geftattet werben möchte, die hl. Communion unter beiden Geftalten zu empfangen,
Während des Conciliums und nach demfelben ließ er fih, namentlich im Bisthum
Briren, die Erhaltung des wahren Glaubens und die Herftellung einer beffern
Kirchenzucht fehr angelegen fein. Zu dem Ende drang er ernftlih auf die Er-
füllung des Rirchengebotes über die jährlihe Beicht und Communion, fowie daß
diefe nur unter Einer Geftalt empfangen werde; defgleichen auf die Entfernung
verbächtiger Schullehrer und gefährlicher Bücher, und nahm hiefür auch den Fräf-
tigen Beiftand der Iandesfürftlihen Negierung in Anfprud. Sodann veranftaltete
er öftere VBerfammlungen des Clerus, ließ Paftoral-Bifitationen vornehmen und
fuchte fo raſch als möglich die Befchlüffe des Conciliums von Trient durchzuführen.
Deßhalb ließ er dem einberufenen Clerus zunächft Dreierlei bedeuten, 1) daß
Jeder innerhalb 14 Tagen jede verbächtige Perfon aus feinem Haufe entfernen,
2) fih vor den Wirthshäufern und Unmäßigfeit im Trinken hüten, und daß fie
3) alfe Obliegenheiten ihrer Beneficien treulich erfüllen follten; den Uebertretern
dieſer Vorſchriften wurde die Ercommunication angedroht. Das vom Tridenti-
niſchen Coneilium für jede Didcefe vorgefchriebene Priefterfeminar fuchte er mit
. allem Eifer in's Leben zu rufen, wenn auch fein Bemühen an ungünftigen Um—
ftänden immer wieder ſcheiterte. Für fein Fürftentbum Trient gab er eine eigene
Gerichtsordnung heraus, genannt: Constitutiones Christophorinae. Für das Bis—
thum Brixen ließ er das ältere Obsequiale (von Melchior v. Mefau) mit einigen
Berbefferungen 1555 als Norm bei Ausfpendung der Sacramente und Sacramen-
talien neu auflegen (Obsequiale secundum consuetudinem et staluta Brixinensis
dioecesis. Dilingae excudebat Sebaldus Mayer. 4.), mit dem gemeffenen Auftrag
an alle Priefter, bei Verwaltung der Sacramente, fowie bei Vornahme von Be—
nebietionen und andern gottesdienftlichen Handlungen fih genau darnach zu achten,
Vebrigens war er nicht nur felbft fehr gebildet, fondern auch ein befonderer Gön-
ner der Wiffenfchaften, dabei außerordentlich freigebig. Wenn man erwägt, welde
große Ausgaben ihm feine Stellung als Fürft von Trient, wo bie allgemeine
Kirhenverfammlung mit fo vielen Bifchöfen, fürftlichen Oefandten u, ſ. w. tagte,
zur Pflicht machte, und in welch’ hohem Maße er die Gaftfreundfchaft gegen den
Kaifer und feine Leute, wie gegen die des Papftes übte, fo wird man gerne ent«
ſchuldigen, daß er nicht nur während der Dauer des Conciliums zwei Bisthümer
befaß, fondern auch überdieß noch feit 1546 durch die Gnade Kaifer Earls V.
aus den Einfünften des fpanifchen Erzbisthums Compoftella eine jährliche Penfion
von 2000 Ducaten bezog, Die Wiffenfchaft hat den Hingeſchiedenen tief betrauert
Maffei 725
und ihm ehrende Denfmale gefegt; feine allfälligen Schwächen entſchuldigen bie
Berhältniffe; fein Name ift durch die Kirhenverfammlung von Trient verewigt,
Ausführlicheres über ifn gibt Bonelli, Monumenta Ecclesiae Tridentinae Vol. III.
P. II. (Tridenti 1765) p. 195— 211, und in dem zunächft sorausgehenden Band
deffelben Werfes mit dem Titel: Notizie Istorico-Critiche della Chiesa di Trento
Vol. II. P. L, in welchem eine eigene Sammlung von Documenten: Memorie
Madruziane p. 399—448, vorfommt. Bol. au: Die Kirche des HI. Vigilius und
ihre Hirten (von Schniger), Bogen 1825. 1. Bd. S. 316—44. Dann über fein
Wirken in Briren: Sinnacher Beiträge zur Gefihichte der biſchöfl. Kirche Säben
| amd Briren in Tirol, VIL Bd. (Briren 1830) S. 392—616. Ueber feine Stel-
fung auf dem Coneilium zu Trient ſ. auch Pallavicini, Historia Gonsilii Tri-
dentini lib. 5. 6. 7. et 8. [&e$ler.]
Moaffei. I. Maffei, Vegius, geboren zu Lodi, Canonieus zu St. Jo—
hann im Lateran und päpftliher Datarius, geftorben 1458, ift der Verfaffer
von trefflihen Schriften, fo daß ihm Dupin (Nouv. bibl. des aut. ecel. t. XII. p.
95, Paris 1700) das Lob fpendet, Maffei fei unter den Schriftftellern feiner Zeit
derjenige gewefen, der am nüglihften, angenehmften und zierlichften gefchrieben
I Habe. An der Spige feiner Werfe fieht der Tractat über die chriſtliche Kinder-
erziebung, eine der beften und vollftändigften Schriften über diefe Materie; die
ſechs Bücher über die Perfeveranz in der Religion, der Discours über die vier
letzten Dinge des Menfchen zeichnen fich gleichfalls nah Form und Inhalt aus,
Noch find zu nennen der Dialog über die erilirte Wahrheit, mehrere Poefien, das
13te Buch der Aeneide u, f. w. — II. Maffei, Raphael, geb. 1450 zu Bol-
terra in Toscana, gefl. 1522, machte ſich durch feine „Commentaria Urbana*,
Lyon 1599, und ald Ueberfeger mehrerer griehifhen Werke (z. B. zehn Reden
des HI. Bafılins) in's Lateinifche befannt. — IH. Maffei, Bernardino, Car-
dinal, geb, zu Nom 1514, gef. 1553, wurde von feinen Zeitgenoffen als Für«
derer der Wiffenfhaften fehr gefeiert und verfaßte einige Schriften. — IV. Maf-
I fei, Giampietro, berühmter Jefuit, wurde 1535 zu Bergamo geboren,
trat zu Rom, wo er einige Zeit bei einem Prälaten in Dienften ftand, in freund-
ſchaftliche Verbindung mit Caro, den Manucci's und andern Gelehrten, lehrte
feit 1563 mit großem Applaus die Beredtfamfeit zu Genua, kehrte aber ſchon
; nach zwei Jahren nah Rom zurüf, wo er am 25. Aug. 1565 in die Gefellfihaft
Sefu trat und im römifhen Collegium die Profeffur der Eloquenz bekleidete. Da
I e fi durch die Ueberfegung von P. Acoſta's Geſchichte Indiens in’s Lateinifche
große Eelebrität erworben hatte, berief ihn der Kardinal Heinrih von Portugal
nah Liſſabon, um dafelbft nach fihern Arhival-Urkunden eine allgemeine Ge—
ſchichte Indiens zu ſchreiben. Nach mehrjährigem Aufenthalt in der pyrenäifchen
Halbinfel nah Italien zurüdgefehrt, Iebte er noch mehrere Jahre theils zu Rom,
theils zu Siena, und flarb zu Tivoli 1603. König Philipp I. und Papſt Gre-
gor XI. hielten ihn fehr Hoch. Seine Schriften find ausgezeichnet durch ſchöne
Latinität, auf die er fo viel hielt, daß man ihm aufbrachte, er babe beim Papſt
die Erlaubniß nachgefuht, das Brevier griechifch beten zu dürfen. Er verfaßte
eine Biographie des HI. Ignatius von Loyola, die erwähnte allgemeine Geſchichte
Indiens in 16 Büchern, und die Geſchichte des Pontificats Gregors XI. S.
Maffei, storia della lett. ital., Milano 1825, t. II. 275; Fellers diet. hist. —
V. Maffei, Francesco Scipione, geb. zu Verona 1675, geft. 1755, der
berühmtefte unter allen Maffei’s, Dichter, Theater-Neformator, Herausgeber einer
für Hebung der Literatur einflußreichen Titerarifchen Zeitfehrift, Gründer einer
gelehrten Gefeltfchaft zu Verona zur Förderung des griechiſchen Sprachſtudiums,
ausgezeichneter Alterthumsforfcher, Diplomatifer und Hiftorifer (Istoria diploma-
lica, Mantua 1727, — Verona illustrata, Verona 1731—32 fol., und Verona
1792—93, VII. Bd.) , bat auch das religiöfe und moralifche Gebiet mit mehreren
726 Magdala — Magdalena.
intereffanten Schriften bereichert, Seine Ausgabe der Werke des Hl, Hilarius von
Hoitiers erfihien 1730 zu Verona; feine „istoria teologica delle dottrine e delle
opinioni corse nei einque primi secoli della chiesa in proposito della divina grazia,
del libero arbitrio e della predestinazione* ift gegen den Janfenismus gerichtet;
fein Tractat „de teatri antichi e moderni® befämpft die übertriebenen Eenfuren
des P. Concina gegen das Theater und erhielt den Beifall des Papftes Bene-
diet XIV.; in feiner Schrift „scienza cavalleresca* bewies er, daß das Duell der
Religion, den guten Sitten und den Intereſſen des bürgerlichen Lebens widerftreite;
in einer andern Schrift „dell’ impiego del danoro* zeigt er, daß man gegen Zin-
fen Geld ausleihen dürfe; auch ſchrieb er einige Fleine Werklein gegen die Eriftenz
der Magie. ©. Maffei, storia della lett. ital. t. III. ©.281:r, [Schrödl.)
Magdala (Maydcad) am weſtlichen Ufer des See's Geneſareth (ſ. d. A.),
das heutige Madſchel, ein elendes, ſchmutziges Dorf (Schubert II. 250). Alte
Gemäuer bezeichnen noch den Umfang und die Bedeutenheit des ehemaligen Mag-
dala. Nach den Nabbinen lag es der Stadt Tiberias fo nahe, daß man gegen-
feitig die Ausrufer vernehmen fonnte (Hieros. Scheviit fol. 38, 4.)5 jest liegen
die Ruinen beider Städte ungefähr eine Stunde weit auseinander, Statt May-
darha Matth, 15,-39. hat die Vulg. Mayedav gelefen; B, D, Syr. Cant. haben
(von Lachmann adoptirt) Mayador. Diefer Name findet ſich nicht mehr, fonnte
aber Teicht durch das von Maria Magdalena her befanntere Magdala verdrängt
werden. Indeß ift auch Magedan wie das rabbin, w>73n auf die Weftfeite des
See's zu verlegen (vgl. den Art, Dalmanutha), nur die Lage laßt fih, wenn
nicht beide Drte identifch find, nicht mehr genauer nachweifen.
Magdalena, die heilige, Ausprüflih wird Maria Magdalena in
der hl. Schrift genannt a) bei Lucas 8, 2,, wo fie mit andern frommen Frauen,
die Jeſus von böfen Geiftern und Krankheiten befreit hatte, ihn auf feinen Reifen
durch die Städte und Flecken Galiläa's begleitet und es von ihr ausdrücklich heißt:
„Maria, Magdalena genannt, aus welcher fieben Teufel ausgefahren waren” —;
b) bei Matth, 27, 56. Marc, 15, 40. und 305. 19,25., wo fie unter den Frauen
genannt wird, die Jeſu aus Galiläa nachgefolgt waren, um ihm zu dienen, und
die bei feiner Kreuzigung zugegen waren und von ferne zufahen —; c) Matth.
27, 61. und 28, 1. Marc, 15, 47. und 16, 1. 9, Luc, 24, 10. und Joh. 20, 1,
18., wo fie mit den Frauen aufgeführt ift, welche zufahen, wohin Jeſu Leichnam
gelegt wurde, mit Spezereien zum Grabe famen und durch Engel die Runde von
der Auferftehung Jefu erhielten mit dem Befehle, fie feinen Jüngern zu über-
bringen; bei 30h. 20, 1—18. wird ganz befonders das ausführlich behandelt,
was Marcus 16, 9, nur kurz erwähnt, wie nämlich Chriftus zuerft der Maria
Magdalena, aus welcher er fieben Teufel ausgetrieben,, erfchienen fei, Daß Maria
den Zunamen Magdalena von Magedan oder Magdala (Magdalel of. 19, 38.),
einer Stadt 1", Stunde ſüdlich von Tiberias, erhalten habe, hat alle Wahr-
fcheinlichfeit für ſich. — Es ift allgemeine Meinung der lateinifchen Kirche, wenig-
fteng feit Papft Gregor I. C+ 604), daß Maria Magdalena iventifch ſei ſowohl
mit Maria, der Schwefter Martha’s und des Lazarus, weldhe den Heiland ſechs
Tage vor feinem Tode im Haufe Simons des Ausfägigen zu Bethanien falbte
(Matth, 26, 6—13, Joh, 11, 13. und 12, 1—8.), als auch mit jener öffent-
lichen Sünderin, welche ſchon früher zu Naim im Haufe eines Pharifäers die
Füße Jeſu geſalbt hatte (ſ. Luc, 7, 37.). Diefe allgemeine Meinung der Tatei-
nifchen Kirche, gegen welche fich vom exegetifchen Standpuncte aus wenig Erbeb-
Yiches vorbringen läßt, was nicht fehon eine folide Löfung gefunden hätte (ſ. in
diefer Hinficht befonders die Bolland, 22. Juli in vita s. Mariae Magdalenae, com-
ment. praev. $ IV. u, $ VI. w. VI), wurde im 16ten Jahrhundert von Faber
Stapulenfis (f. d. A.) angegriffen, der zu beweifen fuchte, daß Maria Mag-
dalena, Maria, die Schweſter des Lazarus, und die öffentlihe Sünderin drei
Magdalena de Pazzi. 727
verfchiedene Perfonen feien. Viele gelehrte Katholiken, darunter der Biſchof
Fiſher von Rocefter, traten gegen Fabers Anfiht in die Schranfen; deffen-
ungeachtet brach fie fih, namentlich beiden Franzofen, Bahn, und zählt Gelehrte,
wie einen Eftins (ſ. d. A.), Tillemont, Launoy, zu ihren Anhängern, die außer
der hl. Schrift zur Begründung ihrer Meinung mehrere Väter, befonders grie=
chiſche, anführen, ferner die griechiſchen Menden, in denen für die Sünderin,
die Magdalena und Maria, die Schwefter des Lazarus, drei verfihiedene Feft-
tage (für die erfle der 21. März, für die zweite der 22. Juli, und für die dritte
der 18. März) angegeben werden, wie auch in den. lateiniſchen Martyrologien-
des Rhabanus Maurus und des Notker Maria, die Schweiter Martha’s, und
Maria Magdalena an verfchiedenen Tagen commemprirt werden, jene XIV Cal.
Febr., diefe am 22. Juli, endlich auch Nachrichten über Maria Magdalena’s und
Maria's, der Schwefter des Lazarus, Grabflätten, wornach erftere zu Ephefus
io gibt Modeftus, Patriarch von Jeruſalem, im Anfang des 7. Jahrh., Gregor
v. Tours gl. M. c. 30. und das Leben des HI. Willibald an), leßtere aber ſammt
ihren Gefchwiftern zu Jerufalem begraben worden wäre, Die Entgegnung des
gelehrten Bollandiften 3. B. Sollerius auf alle diefe von Fabers Anhängern vor=
gebrachten Gründe für ihre Meinung ſ. in comment. praev. ad vit. s. M. Magda-
lenae $ V, VII— XI. Derfelbe Gelehrte weist fodann in den S$ XI, XII. u. XUL
die Grundlofigfeit der wahrſcheinlich erſt im 14ten Jahrhundert entflandenen
Sage von der Translation des Leibes der Hl, Maria Magdalena aus Serufalem
oder der Stadt Aquä Sertiä in der Provence in das Klofter Bezelay der Didcefe
Autun nah, hält es jedoch nicht für ganz unwahrfheinliih, daB Marin Magda-
Iena mit Martha, Lazarus und einigen andern Jüngern Jeſu nach Gallien in die
Provenge gereist und dafelbft geftorben fei und im ehemaligen Dominicanerklofter
des hl. Marimin der Didcefe Air ihre Ruheftätte gefunden habe, eine Meinung,
welche von Launoy u, A. eben fo heftig befämpft als von Andern gleihfam wie
ein biftorifches Dogma vertheidiget worden ift. Vgl, Tillemonts Memoiren,
t. II. s. Marie Madeleine; Alex. Nat. hist. Eccl. saecul. I. diss. 17. de b. M. Mag-
dalenae, Lazari et Marthae in Gallias appulsu, deque illorum reliquis Provinciae
vindicatis; in der mantissa zu diefer Difjertation vertheidigt fodann Alerander Na—
talis den Sag: „Graecorum Patrum nonnullo plures mulieres evangelicas unctrices
Domini asseruerunt, Latini Patres contrariam plerumque propugnarunt sententiam +
porro licet neutra opinio Scripturae sacrae palam aperteque repugnet, eidem magis
consona est Latinorum Patrum assertio mulierem unicam statuentium.* [Schrödl,]
Magdalena de Pazzi, die heilige, geboren zu Florenz 1566, ſtammte
von Seite ihres Vaters aus der berühmten Familie der Pazzi, und von Seite
ihrer Mutter aus dem Gefchlechte der Buondelmonti ber. In der Taufe erhielt
fie ven Namen Catharina (von Siena), an deren Beifpiel fie bald unter aufer-
orbentliher Gnadenfirömung zu einer der herrlichſten Nofen im Gottesgarten der
Kirche heranwuhs, An verborgenen Orten beten, Armen das vom Mund. weg
Erfparte zu fihenfen, Kinder in der Religion zu lehren, bildete die Freude der
ſiebenjährigen Catharina. Für und mit Jefu leiden, in diefer Weisheit des
Kreuzes übte fih das zarte Mädchen eben fo fehr, wie fit ven gewöhnlichen Kin—
derfreuden abhold war. Unausfprehlih war ihre Andacht zu dem Altaresgehein-
niß, und fie hielt fich, unerflärlih angezogen, gerne um Jene auf, welche erft
die hl. Communion empfangen hatten, Sie durfte daher auch fchon, zehn Jahre
alt, dem Tiſch des Herrn nahen, und da war ed, wo fie fi durch das Gelübde
der Jungfräufichkeit auf ewig mit Jefu verband, wo ihrer Liebe die Schwingen
wuchſen und der Abfcheu gegen alles Böfe, der ihr fhon von Natur innewohnte,
fortwährend ſich fleigerte, fo daß fie ganze Nächte weinen fonnte, wenn fie von
Jemanden auch nur ein unchriftliches Wort gehört hatte, In ihrem fechszehnten
Jahre trat fie, jeden irbifhen Bräutigam verfchmähend, in das Klofter St. Fri-
728 Magdalena de Pazzi.
gidian der Carmeliterinnen zu Florenz ein, vorzüglich aus dem Grunde, weil
man da beinahe alle Tage die Hl. Communion empfing, Als fie am 30, Januar
1583 das Ordenskleid erhielt und der Geiftlihe ihr das Erucifir in die Hände
gab mit den Worten: „In nichts anders will ich mich rühmen als in dem Kreuze
des Heilandes“, erglühte ihr Angeficht von jenem Feuer der Kreuzesliebe, deſſen
Gluthen bis am ihr Lebensende ihr Herz zu einem fortwährenden Brandopfer
machten, fo daß fie öfter den Wunſch ausſprach, Tänger leben zu dürfen, um
defto mehr leiden zu Tonnen. Im Noviciat befiel fie eine ſchwere Krankheit, und
da man an ihrem Auffommen verzweifelte, durfte fie am Kranfenlager die Profeß
vor der beflimmten Zeit ablegen. Sie that dieß mit größter Freudigfeit, worauf
fie ihre erfte, zwei Stunden lang dauernde Efftafe einftellte, wobei fie, die vorher
bleiche und abgemagerte Magdalena (diefen Namen erhielt fie bei der Profeß),
Yieblih in Gott ruhend, das Antlig fchön und blühend, das Auge auf das Eru= .
eifix geheftet, erſchien. Bon da an, 40 Tage hindurch, wurde fie jeden Morgen
nach Empfang der hl. Communion auf gleiche Weife in Gott entrüdt, und au
in der Folge bis an ihren Tod festen fich ſolche Efftafen fort, bei denen fie wie
in einem Meere von Licht und Liebe fhwamm, Merfwürdig ift, daß fie in der
Berzufung oft in der Form eines- Zwiegefprädhes bald mit dem ewigen Bater,
dem incarnirten Worte, dem hl. Geifte, bald mit der HI. Jungfrau und andern
Heiligen redete, und dabei fragte und antwortete je nach Umfländen in ihrer oder
der andern Perfon, die Stimme bei jeder Perfon in wunderbarer Angemeffenheit
verändernd, Merfwürdig ift insbefondere auch, daß fie einft in der Ekſtaſe ein
Bekenntniß aller der Fleinen Vergehen ablegte, die fie einen ganzen Tag hindurch)
fi) Hatte zu Schulden fommen laſſen, und daß fie oft mitten in der Arbeit und
ihren Gefchäften, ohne diefelben zu unterbrechen, von der Verzuckung heimgefucht
wurde, Ein Jahr nach der Profeß, die fie am 27, Mai 1584 ablegte, trat indeß
an die Stelfe innerer Nuhe und Wonne in Gott ein Leidens- und Verſuchungs—
zuſtand außerordentlicher Art bei der Heiligen ein, der mit Unterbrechungen fünf
Jahre lang dauerte, Verſuchungen aller Art, der Gottesläſterung, der Berzweif-
lung, der Unfeufchheit, der Efbegierde, des Ungehorfams u, f. we, fürchterliche
Beläftigungen von Seite der Dämonen, Entziehung des fühlbaren Troftes in
Mitte aller diefer Kämpfe, Alles vereinigte fih, fie mit entfeglichen Peinen zu
quälen, in denen fie nur durch den Hinblicf auf das Kreuz, dur Demuth und
Gehorfam aufrecht erhalten wurde, Endlih am Pfingftfefte 1590 war ihre Prü-
fungszeit vollendet, Nach der hl. Communion frahlte ihr Antlig von außer—
srdentlicher Freude, und ihren Oberinnen die Hände drückend, fprach fie zu ihnen:
„Das Ungewitter ift vorüber, danfet und preifet mit mir meinen liebenswürdigen
Schöpfer.” Seitdem hatte fie nie mehr Aehnliches zu beftehen. Ihre Seele,
durch und durch gereinigt und zu einer uneinnehmbaren Burg Gottes befeftiget, .
wurde mehr und mehr mit den auferordentlichften Gnaden geſchmückt und zu
einem Tempel eingeweiht, auf deffen Altar eine ſolche Gottesliebe flammte, daß
das Feuer derfelben fie oft auch am Leibe ganz entzündete, daß fie alle Welt ein-
lud, mit ihr die ewige Liebe zu lieben, und ein Vogel zu fein wünfchte, um im
ſchnellen Fluge alle Weltgegenden durchfegeln und Allen das Lied der Liebe fingen
zu fünnen, Aus diefer Liebe entfprang ihr unausſprechlicher Schmerz über alle
Beleidigungen Gottes, zu deren Sühnung fie Gott ihre glühenden Gebete und
die ſchwerſten Bußübungen aufopferte, ihr unausgefegtes Flehen um die Be—
fehrung der Sünder, Jrrgläubigen, Heiden, und namentlich auch der unwür—
digen Geiftlichen; diefer Liebe entquoll ihre zarte und unermüdete Thätigkeit, mit
welcher fie zuerft als Lehrerin der Kloftermädchen, dann als Novizenmeifterin und
zulegt als Unterpriorin wirkte, wobei fie zugleih eine wahrhaft übernatürliche
Weisheit und Klugheit in der Geelenleitung an den Tag Iegte und öfter den
Ausſpruch that, die Werfe der Liebe feien weit allen Efftafen, Vifionen, Neve-
j
zuge
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Pa}:
—
Magdalenerinnen. 729
lationen und ähnlichen Dingen vorzuziehen, denn dieſe letzteren ſeien rein nur ein
Geſchenk Gottes, durch die Liebeswerfe aber unterflüge man fozufagen Gott felber,
In den legten Fahren ihres Lebens Hatte fie dur Krankheiten Vieles zu Teiden,
fie litt es gerne, betete, obgleich nad Gott fi fehnend, aus Leidenshunger um
längeres Leiden ohne Troft, um fo beffer den Leidenslelch des Heilandes genießen
zu fonnen, Am 25. Mai 1607 ward ihre reine Seele von den Banden des Lei—
bes befreit. ALS ein Jahr nach ihrem Tode ihr HL Leib erhoben wurde, fand
man ihn unverfehrt und floß 12 Tage lang Del daraus hervor. Papft Urban VIIE
3 ſprach fie 1607 felig und Papft Alerander VII verfegte fie 1669 in die Zahl der
Heiligen. ©. Bolland. ad 25. Maji in vita s. M. Magd. und die Myſtik von Gör—
te8, Bd. Lu. L. [Schrödl.)]
Magdalenerinnen oder Orden von der Buße der hl, Magdalena.
Die älteften und zahlreichften Klöfter diefes Ordens fanden fih in Teutfchland,
und zwar ſchon im Anfange des 13ten Jahrhunderts, ohne daß jedoch ihr Stifter
befannt wäre, Schon die Päpfte Gregor IX. (1227—41) und Innocenz IV.
(1243—54) beehrten diefelben mit bedeutenden Privilegien. Es gab auch Neli-
giofen diefes Ordens, unter deren geiftliher Führung die Klofterfrauen flanden,
Die urfprünglihe Beftimmung diefer Stiftung war Aufnahme und Befehrung
Öffentlicher Sünderinnen; nahmals wurden jedoch bloß unbefholtene Mädchen
aufgenommen, fie behielten aber den Namen „Büßerinnen“ bei, um damit ihr der
Welt abgeftorbenes Leben zu bezeichnen, Die Kleidung diefer Büßerinnen war
weiß, woher fie auch gewöhnlich „weiße Frauen” genannt wurden. Im Jahre
1272 wurde das erſte Haus mit diefem Zwecke zu Marfeille, 1472 zu Paris
errichtet und unter die Regel des HI. Auguftin geftellt. Den geiftlihen Beiftand
des letztern beſorgten Religioſen deſſelben Ordens (ſ. Helyot, Geſchichte der
geiſtlichen Orden. Bd. III. S. 401 ff.). Aehnliche Anſtalten entſtanden zu Neapel
(1314), Mes (1432). Bon der bereits genannten Stiftung zu Paris iſt eine
fpätere vom Jahre 1618 zu unterfcheiden, nämlih das Klofter der Magdelo-
netten, wie es denn überhaupt zu Paris mehrere Häufer zur Aufnahme und
Beflerung von Freudenmädden gab, z. B. vom guten Hirten, vom HI. Pelagion,
hl. Theodor u, f. w. Im Jahre 1629 wurde die vberfte Leitung der Magdalenen-
ftiftung Mlofterfrauen vom Orden der Heimfuhung Maria’ übertragen; nachmals
fam diefelde an die Urfulinerinnen und endlich an die Hofpitaliterinnen von der
Barmherzigkeit Jeſu. Die im Jahre 1637 entworfenen Sagungen erhielten 1640
firchlihe Genehmigung und das Haus wurde zu einem Kloſter erhoben; von ihm
aus wurden noch zwei andere, zu Borbeaur und Rouen, begründet. Die Ein-
richtung diefer drei Häufer fennen wir genauer. Bei Strafe des Bannes durften
bloß Tafterhafte Mädchen aufgenommen werden, gleichwohl konnten auf Anfinnen
der Eltern auch ſolche Mädchen Aufnahme finden, deren Sittlichfeit bedroht war,
Die Mitglieder feldft zerfielen in drei Elaffen: unter die erfte gehörten diejenigen,
welche nach einer binlänglichen Probezeit die Gelübde ablegen durften und ihren
Namen von der hl. Magdalena, diefem erhabenen Vorbilde reuiger Sünderin-
nen, erhielten; ihre Sagungen waren ziemlich firenge; die zweite Claffe, von
der Hl. Martha benannt, begriff folhe Individuen, welche die Gelübde nicht
ablegen durften, fei es, weil man fie hiefür nicht für würdig hielt, oder weil fie
es aus einer andern Urfache, 3. B. weil fie verehelicht waren, nicht thun fonntenz
dem Webertritte von der zweiten in die erfte Elaffe ging ein zweijähriges Noviciat
voraus, Die Mitglieder der zweiten Claffe braten den Tag unter Gebet, Be—
trachtung und zweckdienlichen weiblichen Arbeiten hin; waren fie gebeffert und in
der Tugend erftarft, fo war es ihnen freigeftellf, in die Welt zurüdzufehren oder
im die erfte Claſſe einzutreten. Die dritte Elaffe, genannt von dem Hl, Lazarus,
faßte lauter ſolche Mitglieder in fih, welde gegen ihren Willen der Anftalt zum
Zwecke der Befferung übergeben worden waren, Hier follten fie ſich bei ſtrenger
730 - Magdeburg.
Elaufur, bei Kafteiung, Gebet und Arbeit an dem guten Beifpiele der Schweftern |
der zweiten Elaffe erbauen und wieder auf den Pfad der Tugend geleitet werden,
Sie fpeisten und wohnten abgefondert von den übrigen Rlofterfrauen und erhielten
von den Schweftern der zweiten Claffe Unterricht und Anleitung zu allem Guten,
Deftere Prüfung, ob fie die Freiheit ertragen fönnten, bedingten ihre Entlaffung
oder firengere Elaufur. Ueberhaupt wurde die Claufur bei allen drei Claſſen fehr
firenge eingehalten. Bgl. Helyot u a. O. ©, 442 ff, — Auch Papft Leo X.
errichtete unter dem Namen St, Maria Magdalena ein Klofter zu Rom, in
das alle Mädchen aufgenommen wurden, welche die Verirrungen eines ausfchwei-
fenden Lebens beweinen und Buße thun wollten, Verſöhnt mit Gptt und der
Geſellſchaft fanden fie da alle Sorge für Seele und Körper, Verzeihung ihrer
Fehler und Vergeffenheit des Vergangenen, Die Anſtalt wurde durch die Erz—
bruderfchaft von der Barmherzigfeit geleitet und von den Gefchenfen des Papftes,
den Almpfen der Gläubigen und den Sammlungen in der Kirche unterhalten.
©. Helyot a. a. D, ©. 429. — Im Jahre 1550 wurde zu Sevilla ein Klofter
mit demfelben Zwecke geftiftet, Wie fehr find ſolche Anftalten auch unferer an
Worten fo reihen und Thaten fo armen Zeit zu empfehlen! [&ehr.]
Magdeburg, Erzbisthum. Der frühere Beftand von Magdeburg (Ma-
gadaburh, Magathaburg, Magadeburg, Mangetheburg, Parthmeopolis) kann
bis auf die Zeit Carls d. Gr, rückwärts verfolgt werden Ccapit. Car. M. n.805).
Ihre Blüthe Teitet diefe Stadt von Kaifer Otto d, Gr. Auf Erfuchen feiner Ge—
mahlin Editha baute und erweiterte Dito Magdeburg (a. 92I—939). Die Re—
Viquien des Martyrers Innocentius ließ der Kaiſer unter großen Ehrenbezeugun-
gen in die Stadt bringen. Er gründete und flattete aus die Kirchen des hl. Pe—
trug, des hl. Mauritius und Innocentius (21. und 27, Sept. 937). Den Ort
ſelbſt fchenfte er feiner Gemahlin, Editha aber ftarb im J. 946, nach einer Ehe
von 19 Jahren. Magdeburg nebft Umgegend gehörte zu dem Bisthum Halber-
ſtadt. Sp lange Bernhard, der fiebente Biſchof von Halberftadt (ſ. d, U.) lebte
(968), widerſetzte er fih der von Dito Längft gewünfchten Errichtung eines Bis—
thums in Magdeburg. Nach deffen Tode gab fein Nachfolger Hilliward dem
längſt gehegten Wunfch des Kaifers gerne nach, und trat an das neubegründete
Erzbisthum Magdeburg bedeutende Theile von feinem Bistfume ab; parlemque
parrochiae, quae sita est inter Aram et Albim et Badam fluvios, et insuper viam,
quae Fritherici dieitur, Deo concessit sanctoque Mauricio ac inperatori — Thietmar
N. chronic. II. 14. — Dazu famen noch alle Pfarren, welche zwifchen dem fog.
gefalzenen See, der Saale, Unftrut, Helme und der Grube bei Walhaufen ge-
legen waren, Damit das Erzbisthum auch feine Suffraganbisthümer habe, fo
wurden ihm die drei neugegründeten Bisthümer Merfeburg, Meißen und Zeig
untergeben; ferner wurden Havelberg und Brandenburg, zwei unter Dito ge-
gründete und Mainz unterftellte Bisthümer, nun mit dem neuen Erzbisthun
Magdeburg vereinigt (968). — Der erfte Erzbifhof von Magdeburg war Abel-
bert (970). Diefer Adelbert eonfecrirte den erften Bifchof von Merfeburg, von
Zeig und Meißen; diefe aber und die ſchon geweihten Bifhöfe von Brandenburg
und Havelberg ließ er fih und feinen Nachfolgern den canonifchen Gehorſam an-
geloben, Nah Thietmar hätte er auch den Jordan, erſten Bifchof von Pofen,
geweiht. — Kaiſer Dito wurde in Magdeburg begraben (973), Nachdem Adel»
bert in’s dreizehnte Jahr mit allem Eifer eines Oberhirten fein Erzbisthum ver—
waltet hatte, ftarb er im 3. 981. Nach ihm regierte Gifilharius, welcher vorher
Bischof von Merfeburg gewefen war, Er behielt beide Bisthümer neben einander,
wurde fchon unter Kaiſer Dtto I. (9. 1000 n. Ehr.) zu feiner Berantwortung
nach Nom gerufen, und bald daranf befahl ihm Kaifer Heinrich II., das Erzbis-
thum zu verlaffen und in fein Bistum Merfeburg zurüdzufchren, Aber er flarb
fhon wenige Tage nach Empfang diefes Befehls im J. 1003, Zu feinem Nach-
Magdeburg. | 731
folger wurde auf den Wunfch des Kaifers deſſen Kanzler Dagan (Taginus) ge-
wählt. Er wird gerühmt als „gerecht, gottesfürdtig, Tiebevoll, freigebig und
treu , feufch und fanftmüthig, Flug und ſtandhaft.“ Ihm folgte Waltherdus (1012).
Er war vor Dagan gewählt worden, mußte aber auf den Wunſch des Kaiſers
hinter Dagan zurüdftehen. Auch er wird gerühmt, obgleich er in wenigen Wochen
mit Tod abging. Das Lapitel wählte den Theodorich zu feinem Nachfolger;
aber es nahm auf die Empfehlung Kaifers Heinrich IL. deffen Kaplan Gero zum
Erzbifchofe, der Kaifer aber nahm den Erwählten des Capitels als feinen Kaplan
an, Gero, den Albert von Stade einen heiligen Mann nennt, verwaltete das
Erzbistum zehn Jahre (bis 1023). Nach ihm regierte, wieder durch Kaiſer Hein-
rich U. empfohlen, Hunfrid (Manfriv), vorher des Kaiſers Kaplan, und früher
noch Mönch in Würzburg. Er trat, nachdem zwifchen Magdeburg und Halber-
ftadt über die beiderfeitigen Grenzen und Güter bitterer Unfriede geherrfcht hatte,
an Halberftadt 22 Pfarreien, wie auch einige Zehnten und Güter ab. Hunfrid
ftarb im 3. 1051. Krang nennt ihn einen gottesfürdtigen Mann, Engelhard
folgte ifm bis 1063, Heinrich IV. fchenfte dem Erzbistfum aus Liebe zu ihm 13
BDezirfe und andere Güter, Werner, der Bruder des Erzbifchofs Hanno von
Eöln, war fein Nachfolger. In den Kämpfen der Sachſen mit Heinrich IV. ftand
er gegen den Raifer, Im 3. 1075 wurden die Sachſen bei Hohenburg von dem
Kaifer auf das Haupt gefhlagen. Nach einem abermaligen Feldzuge gegen fie
unterwarfen fih die Sachſen. Ihre Großen mußten ald Geißeln einzelnen Fürften
übergeben werden. Auch Werner von Magdeburg und der Bifchof Bucco von
Halberftabt wurden fo von dem Kaiſer Einzelnen feiner Anhänger zur Verwahrung
übergeben, Neben Andern wurde Werner im J. 1076 von dem Raifer freigegeben.
Aber Werner trat wieder auf die Seite der Gegner des Kaiſers. Bon diefen
war im J. 1077 Rudolph von Schwaben zu Forchheim als Gegenfaifer gewählt
worden, während fih Heinrich IV. noch in Stalien befand, In der Schlacht von
Melrihftadt an der Streu, an der Grenze von Franfen (8. Auguft 1078), in
welcher der Sieg mehr auf die Seite Heinrichs IV. fich neigte, fand auch Werner
für Rudolph von Schwaben, Auf der Flucht wurde er in einem Walde erfchlagen,
Als Erzbifhof von Magdeburg folgte ihm auf Verwenden des Gegenkaiſers Ru—
dolph Harduicus, vorher erfter Raplan des Erzbifchofs Siegfried von Mainz.
Auch er fand gegen Kaifer Heinrich IV. und wurde auf Betreiben des Iegtern
auf einer Mainzer Synode vom 3. 1085 feiner Stelle entfeßt; ein anderer Har-
duieus, Abt von Hirfchfeld, trat an feine Stelle, während der abgefegte Erz-
bifchof etwa vier Jahre in der Verbannung lebte. Im J. 1089 wurde er wieder
von Heinrich IV. in feine Würde eingefegt, nachdem er demfelben Treue gelobt
hatte, Er verwaltete nun das Erzbistbum bis zu feinem im 5. 1102 erfolgten
Tode. Heinrich von Asle, vorher Domherr in Hildesheim, folgte ihm, verwaltete
aber nur wenige Jahre fein Amt, denn er ftarb fchon im J. 1107. Sein Nach—
folger Adelgot regierte bi8 zum 3. 1119, unter harten Kämpfen mit dem Raifer
Heinrich V. Erzbiſchof Ruggerus farb fhon im J. 1125. Die nene Wahl rief
Kämpfe hervor; drei Parteien ftanden fich gegenüber, aus der Zahl der Bewerber
wurde Einer, Arnold, durch die Bürger ermordet, Um Frieden zu fliften, em-
pfahl Kaiſer Lothar H. den HI, Norbert als Erzbifchof (ſ. d. A.). Diefer wurde
in Magdeburg mit großem Jubel aufgenommen, Er ftarb im 3. 1134. Conrad,
Graf von Duerfurt, folgte ihm durch einmüthige Wahl; er regierte über fieben
Jahre bis 1142, Erzbifchof Friderich verwaltete das Erzbisthum bis zum J. 1152.
Wihmann, vorher Bifhof von Naumburg, trat an feine Stelle. Er ſtand auf
der Seite Kaiſers Friedrich I. gegen Papft Alerander II. Er führte mit mehreren
andern Bifchöfen und Großen Krieg gegen Heinrich den Löwen; doch verglichen
fih die Gegner fpäter derart, daß Heinrich während feines Kreuzzuges nah Pa-
laͤſtina (1172) dem Wichmann die Verwaltung feiner Befigungen übertrug. Im
132 | Magdeburg
J. 1177 vermittelte Wihmann den Frieden zwifchen dem Kaiſer und Papſt; denn
er war felbft in Venedig anwefend. Diefer berühmte Erzbifchof regierte Magde—
burg bis zum J. 1192. Sein Nachfolger Ludolph Fämpfte für Philipp von
Schwaben gegen Dtto von Braunfhweig. Er regierte bis zum J. 1205. Sein
Nachfolger Albert (ſ. d. A.) erhielt von dem Papfte felbft Beftätigung in feiner
Würde und wurde von ihm zum Cardinal erhoben, Im J. 1207, und zwar am
Charfreitage, wurde die bisherige Domkirche von Magdeburg durch Brand zer-
flört, Albert begann nun den Bau des Heute noch flehenden berühmten Doms
von Magdeburg, der wie der frühere unter Anrnfung des HI. Mauritius geweiht
wurde. Im J. 1211 wurde der Anfang mit dem Bau gemacht, derfelbe aber
durch mehrere Menfchenalter bis zum 3. 1327 fortgefegt. Im 3. 1363 wurde
der neue Dom geweiht, und in denfelben das Haupt des hl. Mauritius und die
Finger der hl. Katharina niedergelegt. Albert ftarb im J. 12345 fein Nad-
folger Willebrand im J. 1253. Nah Rudolph von Dingelftedt (1260) war Erz-
bifhof Rupert, Er wurde zu Rom von Papft Alexander IV. confecrirt, Auf Rus
pert bis 1268 folgte Conrad von Sternberg (1278). Nah Conrads Tod fand
eine Doppelwahl Statt. Die beiden Gewählten traten für eine Entfchädigung
an Geld zurück, und Günther von Schwalenberg wurde Erzbifchof, Indeß legte
diefer ſchon nach einem Jahre die Hohe Würde nieder, Sein Nachfolger Bernhard
ftarb im J. 1232, nach zweijähriger Amtsführung, Ericus, Markgraf von Bran-
denburg, welcher von einem Theile der Wähler fhon nah dem Tode Conrads
gewählt worden war, erhielt jegt, zum größten Verdruß der Bürger von Mag-
deburg, die Stimmen der Wähler. Kaum war er in bie Stadt eingezogen, als
die Bürger fich gegen ihn erhoben, und er mußte fliehen; doch wußte er bald die
Bürger für fich zu gewinnen, Er verwaltete fein Amt bis zum J. 1295. Na
Bernhard II. (1304) und Heinrich IL. (1307) regierte Burchard UI. Zwifchen ihm
und den Bürgern fam e8 zum Kriege; er mußte die Stadt verlaffen und belagerte
fie im 5. 1314, mit Hilfe des Markgrafen von Meißen und des Herzogs von
Braunſchweig. Dießmal wurde der Streit vermittelt, aber die Kämpfe dauerten
noch viele Jahre, Burchard wurde im J. 1325 von Berfihworenen im Gefäng-
niffe ermordet, Die Stadt wurde darum von Papft Johann XXI. mit dem Banne
belegt. Otto, Landgraf von Heffen, wurde im J. 1327 durch die Empfehlung
des Papftes Johann XXI. Erzbifhof, der unter vielen Kämpfen und politifchen
Unruhen die Regierung bis zum 3. 1361 führte. Auf Betreiben Kaifers Earl IV.
und des Papſtes Innocenz VI. nahm das Capitel den Bifchof Theodorih von
Minden Cüber ihn eriftirt eine Monographie des Prof. Gericke in Helmftädt,
Hannover 1743) als feinen Erzbifchof an. Er forgte mit allem Eifer für das
zeitliche und ewige Wohl des Erzbistbums, Eine Menge neue Befigungen erwarb
er für das Erzflift, Den 27, October des 3.1363 war die prächtige Einweihung
der neuen Domfirchez zugegen waren T—8 Bilhöfe, 6 Achte, 8—12 Reichs-
fürften, viele Grafen und Nitter, nebft dem Landadel, Der Rath der Stadt
präfentirte feinen Gäften den Ehrenwein. „Die folgenden vier Tage wurben mit
ritterlihen Uebungen und Luftbarfeiten hingebracht, Allen beforglichen Unordnun—
gen und Gefährlichkeiten war, durch die Fugen Anftalten diefes Stendaliſchen
Stadtfindes (der Erzbifchof war eines Schneiders Sohn ans Stendal) vorgebaut,
Sole prächtige Ausrichtung ift in Magdeburg nie gewefen, hatte auch wegen
der großen Koften in andertHalbhundert Jahren vor ihm nicht zu Stande gebracht
werden fönnen” (ſ. Lengen, Hiftorie von Magdeburg). Der vielgepriefene Theo-
derich ftarb fchon im J. 1367 und Ließ fi in dem Klofter Lehnin beifegen, def
fen Mitglied er einft gewefen war, Nach Andern wurde er im Dom zu Magbe-
burg begraben. Zwar wählte das Capitel den Biſchof Friedrih von Merfeburg
zu feinem Nachfolger; aber der Raifer Earl IV. empfahl ihm durch Papft Urban V.
wieder einen Erzbischof, Albert aus Böhmen, Doc legte Albert bald dieſe Würde
: Magdeburg 733
nieder, indem er mit dem Bifchofe Petrus von Leutomifhl die Stelle vertaufhte
(1372). Diefer Petrus von Leutomiſchl war Erzbifhof von Magdeburg bis zum
5. 1381, legte dann gleichfalls diefe Hohe Würde nieder und farb im J. 1387
in Olmütz, wohin er gezogen war, Ludwig, Sohn des Landgrafen Friedrich
Severus von Thüringen, wußte nun unter dem Titel eines Adminiftrators das
Erzftift Magdeburg in die Hände zu bekommen. Diefer wanderte durch viele
Kirhen hindurch, fuchte Ruhe und fand fie nicht, Erft war er in Halberftabt,
fodann in Bamberg Bifchof gewefen. Bon Gregor XL erhielt er auf Fürfprade
des Raifers Carl IV. das Pallium für Mainz; aber neben feinem Nebenbubler
Adolph von Naffau fonnte er nicht auffommen. Weil er Mainz nicht aufgeben
wollte, fo nannte er fih nur Verwalter von Magbveburg. Aber der Tod fhlich-
tete den Streit. Er fam fhon im 3. 1381 bei einer Feuersbrunft in Calbe um,
indem er eine Treppe herunterſtürzte. Der obengenannte Friedrih von Merfe-
burg war im 3. 1382 einige Monate Erzbifchof, als der Tod ihn wegraffte,
Nun verwaltete Albert von Duerfurt 20 Jahre im Frieden und mit Ruhm die
Kirche von Magdeburg; er ſuchte, foweit e8 möglich war, den Frieden zu er-
halten, und mehrte die Güter feiner Kirche (1403). Günther, Graf von Schwarz-
burg, fein Nachfolger, brachte beinahe die ganze Zeit feiner Regierung in Kriegen
bin. Im J. 1429 wurde das Erzftift von den Hufiten verwüftet; der fo Frie-
gerifche Günther Fonnte feine Schlacht gegen fie wagen. Das bei Leipzig gegen
fie gefammelte Heer, zu dem alle Fürften Sachſens ſich gefammelt, zerftreute fich
wieder (1430). Bald darauf brach Iange Fehde zwifchen der Stadt Magdeburg
und Günther aus, in Folge deren die Stadt mit dem Banne belegt wurde, Die
unruhige Regierung Güntherd endete mit feinem im J. 1444 erfolgten Tode,
Auf dem Sterbebette empfahl er als feinen Nachfolger einen wadern Mann, den
Grafen Friedrich. Diefer fuchte vor Allem den Frieden zu bewahren. Nicolaus
von Cuſa, der als päpfilicher Legat damals durch Teutfchland reiste, wurde im
Magdeburg mit großen Freuden aufgenommen. Um den glühenden Eifer Fried-
richs für die Religion zu bezeichnen, pflegte Nicolaus nachher zu fagen: er habe
einen einzigen Biſchof in Teutfchland “gefunden. Friedrichs Hauptbemühen war
die Reformation der Sitten. Er trug ſtets ein Cilicium,. Ihm wurde (er farb
im 3. 1464) die Grabſchrift gefegt: „Hier ruht die irdifche Hülle eines vortreff-
lichen Hirten, er war das Gefeg der Klöfter, das Licht des Clerus, der Friede
der Völker.” Bis zum F. 1475 regierte Johannes, vorher Bifchof von Münfter,
Sriedrihs würbiger Nachfolger in allem Guten. Der legte Erzbifhof im 15ten
Sahrhundert war Herzog Ernft von Sachen. Sein Bater, der Churfürft Ernft,
wußte es bei Papft Sirtus IV., Kaifer Friedrich IL, dem Erzbifhof Johannes
- und bem Domcapitel zu Magdeburg dahin zu bringen, daß der eilfjährige Ernft
zum Coadjutor poftulirt wurde, Im 5. 1495 wurden auf Betreiben Ernſt's die
lange obwaltenden Streitigkeiten zwifchen der Stadt und dem Erzbiſchof ausge-
glihen, Ernft flarb im J. 1513. Auf feinem Grabftein heißt es: „Er lebte 49
Sabre; er leitete die Kirche von Magdeburg 37 Jahre, die von Halberfiadt 33
Jahre, Seine Seele möge ruhen in der Erquickung des Lichtes und des Friedens.“
— Bon Erzbifhof Ernft werden viele gute. Eigenfchaften gerühmt. Ihm folgte
Albert (ſ. d. A.) aus dem Haufe Brandenburg, der in demfelben Jahre Admini-
firator von Halberftadt, und im J. 1514 au Erzbifchof und Churfürft von Mainz
wurde, Albert hatte nicht Zeit, dem Erzbisthum Magdeburg fich zu widmen und
darum auch dem Eindringen der Reformation einen Damm entgegenzufegen. Diefe
Einführung erfolgte im 3. 1524, An die Stelle der bisherigen Erzbifchöfe traten
nun die fogenannten Adminiftratoren, die meiften aus dem Haufe Brandenburg
(2.4), bis das Hochſtift Magdeburg ganz mit dem Churfürftientfume Bran-
denburg vereinigt wurde, Diefe Adminifiratoren waren — neben dem Carbinal
Albert, der im J. 1545 ſtarb — der Adminiſtrator Albert, der Adminiftrator
734 Magdeburg
Friderich, der Adminiftrator Sigismund, Joachim Friverih und Chriftian Wil-
beim, Markgrafen zu Brandenburg, endlich der Adminiftrator Auguftus von
Sachſen. Der Adminiftrator Albert war noch Biſchof; er farb im J. 1549,
Sein Nachfolger Friedrich farb ſchon im J. 1552. Deffen Bruder Sigismund
folgte ihm als Erzbifchof mit 14 Jahren, Diefer fogenannte Erzbifchof, feit 1557
auch durch Gewalt Bifchof von Halberftadt (ſ. d. A.), fhaffte den noch übrig ge-
bliebenen fatholifchen „Götzendienſt“ ab. Nach feinem Tode wählte das großen-
theils von der Kirche abgefallene Domeapitel zum Adminiftrator des Erzftiftes
den Joachim Friverich, den Sohn des Churfürften Johann Georg von Branden-
burg, mit Genehmhaltung des Kaifers Marimilian IL. (1565). Diefer Friderich
war vorher Bifhof von Havelberg (ſ. d. A.) und Lebus (f. d. A) gewefen; doch
batte fein Vater, Johann Georg, wegen Friderichs Minderjährigkeit dieſe Bis-
thümer für feinen Sohn verwaltet, Friverich führte das von feinem Oheime be-
gonnene Werf der Reformation des Hochftifts zum Ende, Im $. 1570 feierte
„der Erzbifhof JZoahim Friderich auf eine neue und außergewöhnliche Weife, mit
Genehmigung feines Domcapiteld“ feine Hochzeit in Cüftrin; er heirathete Ca—
tharina, die Tochter feines Dheims, des Markgrafen Johann von Brandenburg,
welche Ehe mit Kindern reich gefegnet war, Bei dem Ableben feines Vaters
Johann Georg folgte ihm Joachim Friverich als Churfürft von Brandenburg, und
hinterließ feinem zweiten Sohne Chriftian Wilhelm das Erzbisthum Magdeburg.
Diefer Chriftian Wilhelm war im J. 1587 zu Wolwirftädt geboren und über-
nahm erft im J. 1608 die „erzbifchöfliche” Regierung in Magdeburg. Im Prager
Trieden von 1635 wurde das Erzbisthum Magdeburg dem Prinzen Auguft von
Sachſen auf Lebenszeit überlaffen, unter der Bedingung, daß er an Chriſtian
Wilhelm jährlich 12,000 Thaler bezahle. Durch den weftphälifchen Frieden er-
bieft Chriftian Wilhelm ftatt jener Befoldung einige Güter, von denen er bis zu
feinem im J. 1665 erfolgten Tode (er ftarb ohne männliche Nachkommen) zehrte,
Mit dem Ableben Augufl’8 (1680) fiel Magdeburg nach den Beftimmungen des
weftphälifchen Friedens unter dem Namen eines Herzogthums an das Churfürften-
thum Brandenburg; und bei dem Haufe Brandenburg ift es bis heute geblieben,
— Man zählt bis auf Auguft 48 Erzbifchöfe von Magdeburg. — Ueber die Re—
formation von Magdeburg wollen wir bier noch Einiges beifügen. Wer die
Einführung der Reformation an einem Orte gelefen hat, der fennt den Gang,
den diefe Einführung allenthalben eingehalten hat. Es findet ſich nirgends eine
wefentliche Verfchiedenheit, Sp auch mit Magdeburg. Diefe Stabt ging den
andern in der Annahme der neuen Lehre voran, Die Predigten des Melchior
von der Heyden (Myricius), eines von Hildesheim vertriebenen Auguftiners, des
aus Halberftadt verjagten Eberhard Widenfee, und des Franciscaners Johann
Fritſchhans, beftehend aus Angriffen auf die Geiftlichen und auf religiöfe Uebungen
der Kirche, gefielen einem Theile der Bürger, Diefe verfammelten fih den
23. Zuni 1524 mit fieben Predigern im Auguftinerffofter. Sie legten dem Se-
nate ihre Forderungen vor: Er folle das reine Wort Gottes ohne Menfchen-
faßungen predigen laſſen; die Opfermeſſen follen verboten, das Abendmahl unter
beiden Geftalten ausgetheilt, ein allgemeiner Kirchenfaften aus den Stiftungen
angelegt werden. Dan folle die Klöfter aufheben, den Mönchen und Nonnen die
Ehe erlauben; wer bei feinem Orden bleiben wolle, möge es thun, nur müffe er
fein Ordenskleid und feine Heuchelei ablegen und fich im Evangelium unterrichten
laſſen; endlich follen die Geiftlihen ihre Amtshandlungen unentgeldlich verrichten,
Der Rath genehmigte diefe Forderungen, erbat fih und erhielt von dem Chur«
fürften Friedrich von Sachfen den Nicvlans Amsdorf ald Neformator (f. den Art,
Amsdorf). Im Sturme wurde nun das „Evangelium“ eingeführt, Die katho—
liſchen Fefte und Gottesvienfte wurden geflört, Pöbelhaufen drangen mit Steinen
und Prügeln in die Kirchen, Tärmten und tobten, mißhandelten bie Geiſtlichen
Mageddo — Magiſter. 735
unter den hl. Amtsverrichtungen; Laien fliegen auf die Kanzel und verkündigten,
daß man das Wort Gottes mit dem Schwerte vertheidigen müffe. Die Reliquien
amd heiligen Bilder wurden zerſtreut und zerriffen, die HI. Gefäße geraubt, die
Haufen drangen in die Klöfter ein und vertrieben die Nonnen mit Gewalt daraus,
Unterdeffen gerirte fih der Nath als der oberſte Bifhof der Kirche; er entwarf
eine Gottesdienftordnung, fohaffte die Meffe ab, führte die Ausjpendung des
Abendmahls unter beiden Geftalten und den teutſchen Gefang ein, und verthei=
digte fein Verfahren in einer befondern Schrift. Am 31. December des J. 1526
erlofchen alle Lichter im Dome, Als der Rath von dem Kaiſer zur Verantwortung
gezogen wurde, fo deducirte er feine gethanen Schritte aus den Rechten und Pflih-
ten hriftlicher Obrigkeit, und entfehuldigte fih mit der Unmöglichkeit, ven wilden
Pobel im Zaume zu halten. Doc ftellte er auch 1500 Reiter auf -und rüftete
ſich gegen etwaige Gewalt; auch ſchloß fih Magdeburg bald darauf an das Tor-
gauer Bündnif an. Was der Rath, die Prädicanten und der Pöbel in dem Erz-
ftifte son der alten Kirche noch etwa Hatten ftehen laffen müffen, das fegten die
nachmaligen „Erzbifchöfe” aus dem Haufe Brandenburg völlig aus, Erft in der
neueften Zeit hat fich wieder eine Fatholifche Kirche in Magdeburg gebildet. —
Vgl. Thietmar, chron. bei Pertz scriptorum T. Ill. p. 723. Krantz, Metro-
polis und Chytraeus, Saxonia. Lentzii P. Hist. Archiepisc. Magdeburg. 1738.
S. Lengens Stifts- und Landeshiftorie von Magdeburg. Cöthen 1756, [Gams.]
Mageddo (Megiddo), 57372, LXX. Mayeddw, Maxeddo, Vulg. Mageddo,
faft immer mit Thaanach (Vulg. Thenac) genannt, früher canaanitifhe Königs-
ftadt, wurde von Jofua dem Stamme Manaffe zugewiefen (Sof. 12, 21. 17, 11.
Nicht, 1, 27. 5, 19. 1 Chrom. 7, 29.), aber lange nicht erobert (Nicht 6, 29,),
lag im Gebiet des Stammes Iſſaſchar in der Ebene Zisreel (Esdrelon) am Kifon,
welcher daher ppetifch das Waſſer Megiddo's (732 2) genannt wird (Richt, 5,
19.). Die Lage des Ortes war namentlich in firategifcher Beziehung fehr wich—
tig, von der Seefeite aus war es der Schlüffel zu Mittel- und Norbpaläftina,
Salomo hatte es deßhalb befeftigen Iaffen (1 Kön. 9, 15.) und zum Sig eines
Schatzmeiſters beſtimmt (1 Kön. 4, 12.); die Ebene Megiddo's (732 pr»
2 Chron. 35,22, 7732 nap2 Zac. 12,11.) iſt auch wirklich öfters zum Schlagt-
feld geworden; in feiner Nähe fiegten Debora und Baraf (Richt. 5, 19.), Ahaſia,
vor Jehu fliehend, flarb hier (2 Kön. 9, 27.), Joſia fand Hier feinen Tod in der
Schlacht gegen Pharav Necho (2 Kon. 23, 29. u. 30, 2 Chron,35, 20—25. He=
rodot nennt 1. II. c. 159, daffelbe Factum erzählend, den Ort Maydolov, ohne
Zweifel das ägypt. Migdol mit Megiddo verwechfelnd, f. die Erfl.). Nah Ro-
binfon (IM. 412) iſt Magiddo iventifch mit dem alten Legio (Euseb. et Hier. im
Onom.), erhalten in dem heutigen Dorfe el-Lejjün an der großen Karawanen-
firaße zwifchen Aegypten und Damascus,
Magen, f. Berwandtfhaft.
Magie, f. Zauberei.
Magier, f. Dreifönigsfeft.
Magiſter — hieß urfprünglich in ven Canonicaten derjenige Elerifer, wel-
chem der Unterricht und die Erziehung der Domicellaren (ſ. d. A.) übertragen
war — magister scholarum, scholasticus —, er ertbeilte den Unterricht theils per=
fonlich , theils führte er die Aufficht über das untergeordnete Lehrerperfonal, Al-
mählig aber wurde das Amt des Scholafticus zu einer eigentlichen Capiteldwürbe,
in welcher Stellung ſich feine Wirffamkeit nur mehr auf die allgemeine Leitung
der Schulen und die Anftellung der wirklihen Magiftri erſtreckte. Nach der Auf⸗
] Töfung des canoniſchen Lebens blieben an einigen Orten die Domicellaren in dem
I. gemeinfamen Gebäude unter dem Scholafticus vereinigt, an andern Orten da=
I gegen börten diefe Schulen völlig auf; daher verordnete das dritte Lateranconcıl
736 Magister sacri palatii.
Ce. 1. X. de magistris. 5. 5), daß an jeder Cathebralfirche ein Magiſter angeftelft
und ihm vom Bifchofe ein Beneficium zugewiefen werde, wogegen er die Ver—
pflichtung hatte, die einheimifchen Scholaren und diejenigen ver auswärtigen,
die arm waren, unentgeldlich — in der Grammatif — zu unterrichten (ma-
gister grammatices, grammalicus), In gleiher Weife mußte an jeder Metropo—
Vitanfirche ein magister theologiae, theologus angeftellt werden, der in den ein—
zelnen theologifchen Diseiplinen, namentlich in der Exegeſe und Paftoral, unent-
gelvlichen Unterricht zu ertheilen hatte Ce. 4. X. h. 1.), Mit dem Aufblühen der
Univerfitäten änderte fih, wie das ganze Studienwefen, fo auch Die Bedeutung
des Wortes Magifter, Jeder öffentliche Lehrer, der eine Anzahl Schüler um fi
gefammelt hatte und ihnen in irgend einer Wiffenfhaft (Theologie, Zurisprudenz,
Medicin, freie Künſte) Vorlefungen hielt, hieß Magifter oder Doctor, womit
urfprünglich noch Feine befondere Würde bezeichnet werden wollte; erft allmählig
bildeten fih das Magifterium und der Dostorat zu einer eigentlichen academifchen
Würde aus (f. den Art, Grade, gelehrte). Als folde ftehen fih beide recht—
lich gleich, beide bezeichnen den vberftien Grad, beide gemiefien dieſelben
Rechte und Privilegien, und wo immer zwifchen ihnen ein Unterfchied gemacht
wurde, da beruhte diefer Tediglich auf fpeciellen Verhältniffen und Localgewohn-
beiten, Sp wurden z. B. in Franfreih, Spanien und Italien diejenigen, welche
in der Theologie die höchfte arademifhe Würde erlangt hatten, regelmäßig ma-
gistri theologiae genannt, während die der übrigen Facultäten Doctoren hießen;
in Teutfchland dagegen wurde bei allen Facultäten die Bezeihnung Doctor ge-
braucht, nur die in der Philoſophie Oraduirten nannten ſich Magiſtri, eine
Dezeihnung, die in neueren Zeiten auch bier außer Gebrauh Fam, — Bol.
Reiffenstuel, J. C. U. Tom. V. Lib. V. tit.5; Fagnani, Comment in I. part.
Lib. V. Decretal. p. 203; Ferraris, prompta bibl. s. v. magister. [Kober,]
Magister sacri palatii. Der hl, Dominieus (ſ. d. A.), ein großer
Freund der HI, Schrift, interpretirte bei feiner Anmwefenheit zu Rom am päpftlichen
Hofe, wo die theologifhen Schulen waren, die Hl. Schriften vor vielen Zuhörern und
Prälaten, und daran fol fi allmählig das Amt des magister s. palatii ſammt der
Dbfervanz gefnüpft haben, es immer nur einem Dominicaner zu übertragen
(Bolland. ad 4. Aug. de s. Dominico comment. praev. $ XXIX; Echard und Quetif
Script. Ord. Praed. t. I. p. 15. und t. 1. p. 996). Nach andern und fpätern Be-
richten hat der Hl. Dominieus, fehend, wie, während die Carbinäle mit dem Papfte
zu thun hatten, ihre Diener mit Müßiggang und Poffen die Zeit vertändelten,
bei Papſt Honorius III. bewirkt, daß ihnen, während ihre Herrn mit dem Papſte
zufammen waren, die hl. Schrift erflärt werben follte, was auf den Wunfch des
Papftes Dominieus felbft einige Zeit übernahm und den erſten Anfang zur Ein»
führung eines fländigen Magister s. palatii gebildet haben foll Cf. Boll. 1. c.). Im
13ten Jahrhunderte, fchreibt Echard (Script. Ord. Praedic. t. I. p. XXL), beftand
das Amt des Magifters s. p. vorzüglich „in scholae Romanae et Ponlificiae regimine
et in publica s. scripturae expositione* ; allmählig wuchs fowohl das Anfehen wie
der Wirfungsfreis des Magifters, befonders feit Johannes de Turrerremata
(f. d. A.), und ift derfelbe noch dermalen als päpftlicher Theolog mit dem Range
eines Uditore der Nota zu betrachten. Ihm fommt es zu, Alles, was am päpft«
lichen Hofe vor dem Papfte vorgetragen wird, zu prüfen, ob es mit der Fatholi-
chen Lehre übereinftimme; er beftimmt für gewiffe Solemnitäten die Prediger
und fieht ihre Predigten durch; er ift Cenfor aller zu Rom erfcheinenden Bücher
und Schriften, und Confultor bei mehreren Congregationen; er affiftirt mit den
Uditoren der Nota, nach denen er bei der päpftlichen Capelle einen fehr bistin-
guirten Plag einnimmt, der Bewachung des Conclave, kann den Doctorgrad in
der Theologie und Philoſophie ertheilen, und hat noch mehrere andere Präroga-
tiven und Facultäten cf. Zaccaria, Corte di Roma, Roma 1774, t. IL), Reihen»
BE u ERDE, GE Oo VE N GE
Magister sacramenti— Magnentiud, 1737
folge der Magistri s. palatii bis zum Anfang des 16ten Jahrhunderts: I. im 13ten
| Zahrpunderte: Dominicus; d. fel. Bartholomäus de Bragantiig unter
Papſt Gregor IX. (f. Echard Script. Ord. PP. I, 254; Bolland. 1. Jul.); Gau—
fridus de Blevello unter Innocenz IV.; Albert der Große während der
Sabre 1255 —1256 (.d.4.); Wilhelm Boderispinenfis unter Papft Ur-
ban IV. (Echard 1. 0.259); HYannibaldus de Hannibaldis um 1259—1261,
ein fehr gelehrter und frommer Mann, Freund des Hl. Thomas von Aquin, Car-
dinal (ſ. Echard 1. c. 261, 326, 328); St. Thomas von Aquin von 1262—
1268 (f. Echard 1. c. 271, und den Art. Thomas); der fel. Ambrofiug San-
fedonins etwa um 1269—1275, ausgezeichneter Prediger und Lehrer der Theo-
Iogie in Ztalien und Teutfchland, wo er zu Cöln mehrere Jahre lehrte (f. Echard,
l. c. 401. Bolland. ad 20. Mart. in vit. s. Ambr.); Raymundus de Corſavino;
Hugo de Biliomo, von Papft Nicolaus IV. zum Cardinal befördert 1288
(Echard, 450); Albertus de Roma cibid. 466). I. Befanntere Reihen-
folge im 14ten Jahrhunderte bis zum Ende des Schisma von Avignon:
Wilhelm Petri de Godino, von Papſt Clemens V. zum Cardinal erhoben
Gb. 591); Durandus de St. Portiano (ib. 586 und den Art. Durandug
a St. P.); Wilhelm de Lauduno, von 1318—1321, Erzb. von Touloufe
Gb. 627); Raymundus Bequin, von 1321—1324, zum Patriarchen von
Serufalem conſecrirt 1324 (ib.561); Dominicus Grima (al. Grenier), 1324—
1327, Bifhof von Pamiers (ib. 612); Armandus de Bellovifu, 1327—
1334 (ib. 585); Arnoldus de St. Mihaele Cib. 584); Petrus de Pireto,
von 1334—1336 (ib. 584); Raymundus Durandi, 1336—13425, Johan-
nes de Molendino, 1342—1349 (ib. 627); Wilhelm Sudre, 1349 —
1361, Cardinal (ib. 670); Wilhelm Romani Brito, 1362—1375 (ib. 664);
Nicolaus de St. Saturnino, 1375—1378, Cardinal, der zu Papft Cle—
mens VII überging (ib. 683); Petrus Ylperinus von 1373—1379-Cib. 687)
und Simon Saltarelli von 1379—1385 unter Papft Urban VI. (ib. 687);
Bartholomäus de Bolfenheim, um 1385—1395 unter Urban VI, und Bo—
nifaz IX. (ibid.); Jacobus Arigonius 1395—1407, und HYugolinus de
Camerino 1407—1417 Gb. 783, 759). UL Bom Ende des Schisma von
Avignon big zur Neformation: Johannes de Caſanova von 1420—
1424, Cardinal (ib. 791); Andreas de Pifis von 1424—1429 5 Johannes
9. Eonftantinopel von 1429—1431;5 Johannes v. Turreceremata von
1432—1439 (f.d. 4); Bartholomäus Lapaceius (ib. 834) von 1439—
1443; Heinrich KRalteifen von 1443—1452 (f.d. A); Jacob Gil oder
Aegidii von 1452—1465 (ib. 331); Leonhardus de Manfuetis von 1465 —
1474 (ib. 348); Salvus Caffetta von 1474— 1481, Drdensgeneral; Mar-
eus Maronus von 1481—1487; Paulus de Monelia von 1487—1499
Gb. 910 u. I. 3)5 Johannes Annius al. Nannius von 1499—1502 (f. II,
4); Johannes de Rafanellis von 1502—1515;5 Silvefter Mozolini
Prierias von 1515—1523, unter deffen zahlreihen Schriften befonders die
gegen Luther.verfaßten anzumerfen find Ct. II, 55). Die übrigen Magiftri s. p. bis
auf das 18te Jahr. f. bei Echard Script. Ord. Praed. t. II, p. XXI. [Schröpl.]
Magister sacramenti, f. Sarramente,
Magisterium, ſ. Lehramt der Kirche.
Magistruccia, ſ. Caſuiſtik.
Magnentius. Ueber feine Familie iſt nichts Gewiſſes bekannt. Nach
einigen Geſchichtſchreibern ſoll ſein Vater Magnus ein Britte geweſen ſein, nach
andern einem germaniſchen Volksſtamme angehört haben, dem Maximianus Her—
eulins erlaubt hatte, fih in Italien niederzulaffen ; wieder andere laffen ihn von
einer barbarifhen Colonie abftammen, weldhe Conftantius Chlorus (ſ. d. A.) in
Gallien gründete, Durch perfönliche Tapferfeit wußte er fih im römifchen Heere
Kirchenlexikon 6. Bd. 47
738 EN Magnentius, J——
Anſehen, durch Schmeichelei das Vertrauen und die Liebe des Kaiſers Conſtans
€: d. A.) zw erwerben, der ihn zum Befehlshaber über die auserleſenſten Faifer-
lichen Truppen der Jovianer und Hereufianer erhob, ja ihm einft bei einer unter
den Soldaten ausgebrochenen Meuterei durch Vorhalten feines Kriegsmantels dag
Leben rettete. Magnentius vergalt diefe Liebe dur den größten Undanf und
mißbrauchte das in ihn gefegte Vertrauen, um fich felbft den Purpur anzueignen,
and ließ fich, unterflügt von Marcellinus, dem Staatsfhagmeifter, der freigebig
die Mittel dazu bot, von den Truppen zu Autun, wo der Hof damals refidixte,
den 18, Januar im Jahre 350 zum Kaifer ausrufen, Conſtans ward auf feinen -
Befehl auf ver Flucht ermordet. Dem Beifpiele der Soldaten in Autun folgten
bald die Provinzen des Weftens, und in Furzer Zeit fonnte der Ufurpator über
die beiden großen Präfeeturen Gallien und Italien gebieten, fo daß felbft ver
Thron des Conftantins im hohen Grade gefährdet war. Wiewohl Magnentius
dem Chriftenthume ergeben war, wie dieß die Kreuzfahne auf feinen Münzen be-
fundet (f. Edel 8. 122.), fo ward doch dur feine Empörung daſſelbe beein-
trächtigt, denn in der Perfon des Kaifers Conſtans fiel eine der fefteften Stützen
deffelben und einer der Fräftigfien Vertreter des Fatholifchen Principe gegenüber
dem fo umfichgreifenden Arianismus, fo daß jegt das Heidenthum wieder feinen
Cultus mit um fo größerer Freiheit erneuerte, als bei den entflandenen Wirren
den einzelnen Parteien hinreichend Spielraum gegeben war, ihre Leidenschaften
und vorzüglich ihren Haß gegen die Nechtgläubigen zu entfalten, Ueberall fuchte
Magnentius die Zahl feiner Anhänger zu mehren und fandte zu dem Zwecke feine
Bertrauten in die Provinzen, um das Anfehen des Kaifers Conftantius zu unter-
graben und die Bewohner zu feiner Partei zu ziehen; fo kamen nach Libyen und
Aegypten Valens und Clementius, deren Legterer befonders den hl. Athanafius
gewinnen follte, indem er mit Zuverficht erwartete, daß ganz Aegypten durch
deffen Wort für feine Perfon geftimmt würde, Allein hier fiheiterte feine trü-
gerifche Kunſt. Wenn fih auch Athanafius aus dem, was er bisher erlebte, im
Conftantius feinen Fraftigen Schüger gegen die Umtriebe der Arianer verſprach,
fo forderte er doch die verfammelte Gemeinde dringend auf, dem rechtmäßigen
Kaifer die angelobte Treue zu bewahren, Indeffen hatten die Legionen in Pa⸗
nonien ihren Führer, den greifen Vetrano, ebenfalls zum Auguftus ausgerufen,
doch ging diefer bald mit dem Ufurpator ein Bündniß ein, um vereint mit ihm
gegen den Kaifer Conftantins zu ziehen. Als Conſtantius hievon Runde erhielt,
rüftete er fich zum Kriege wider die Empdrer und empfing zu Heraclea die Ge—
fandten verfelben, welchen Magnentius, durch die günftigen Erfolge feiner bis—
berigen Unternehmungen fühn gemacht, den Auftrag gab, unter der Bedingung
einer Doppelheirath, des Conftantius nämlich mit der Tochter des Magnentius,
und diefeg mit der Schwefter des Conftantius, der Conftantina, den Frieden und
die Mitregentfchaft anzubieten; im entgegengefegten Falle aber die für ihn noth-
wendig Verderben dringenden Folgen vorzuftellen, Conftantins weigerte fi, auf
diefe Bedingungen einzugehen, und da Vetranio mit 20,000 Reitern und einer
noch zahlreicheren Abtheilung von Fußvolk fih dem rechtmäßigen Kaiſer ergab,
zog diefer mit einer großen Heeresmacht dem Magnentius entgegen, ber feiner-
feits die fruchtbarften Gegenden Pannoniens verwüſtete, die Stabt Siscia mit
Sturm nahm, bis er bei Murfa, dem heutigen Effef, in einer bintigen Schlacht
gefhlagen die Flucht ergriff, um in Aquilefa feine Reſidenz anfzufhlagen, Allein
auch hier hatte die Stimmung der Bevölferung fich gegen ihn gewendet, Seine
verübten Grauſamkeiten hatten ihm verächtlih gemacht, und Nom wie die übrigen
Städte Italiens erflärten fih vffen für Conftantius, fo daß Magnentius ge—
zwungen ward, mit dem Nefte feiner ihm treu gebliebenen Truppen in Oallien
eine Zuflucht zu fuchen. Sept, von allen Seiten hart bedrängt, bat er um Frie-
den, den aber Conftantins ihm nicht gewährte, Eine von Conftantins ausgerüftete
—
— — —
Magnifieat — Magnus, 739
4 Flotte ficherte den Wiederbefig von Africa und Spanien und feste bedeutende
Streitfräfte an das Land, welche über die Pyrenäen gegen Lyon zogen, um den
Magnentius an diefer feiner Zufluchtsftätte zu übermwältigen. Bei Mons Seleuci,
einem Heinen Orte in den fottifhen Alpen, kam es zur Schlacht, die fein Schief-
fal entfohied. Er war außer Stand, ein zweites Heer nad diefer verlorenen
Schlacht in das Treffen zu bringen, und da auch der noch übrig gebliebene Reſt
feiner Truppen fih für Eonftantiug einftimmig erflärte, flürzte er fih, um nicht
lebend in die Hände feiner Feinde zu fommen, den 10. Auguft 353 in fein eigenes
Schwert. (Aurel. Victor de Caesaribus; Julian orat. 1. et 2; Socrates lib. 2. c.
20; Sozomenus lib. 4. c. 1; Zosimus lib. 2. Gibbon p. 538. Moͤhler, Athanafius,
Bd... ©, 115.) (Thaller.)
Magnificat (Evangelium Mariae). Sp nennt man von feinem Anfangs-
worte den Lobgefang, mit welchem die feligfte Jungfrau Maria den Gruß er-
wiederte, mit dem fie Elifabeth in ihr Haus aufnahm, Er findet fih in dem
Evangelium des Hl. Lucas (1, 46—55.), und ift der Erguß einer frommen Seele,
die, von der Gnade Gottes überhäuft, voll Demuth dem Herrn allein die Ehre
gibt. In der abendländifhen Kirche wird er finnig alle Tage im Jahre in der
Befper des Officium divinum gebetet oder gefungen. Sinft nämlich der Tag hinab,
nahet die düſtere Nacht mit ihren Schrefniffen, fo vergegenwärtigt fi freudig
die Kirche, daß alle diejenigen, die um ihres frommen und demüthigen Wandels
willen Sfraeliten und Nahfommen Abrahams im Geifte find, in Jeſu Chrifto
einen Tag erlebt Haben, der feinen Untergang mehr kennt, fondern ewiges Mittags-
licht um fich verbreitet, In der feierlichen Vefper wird während feiner Abfingung
geräuchert, um theilg auch hiedurch die große Freude auszudrüden, die wir Alle,
Weltlihe und Geiftlihe, wegen der Menfchwerdung des Sohnes Gottes Haben,
insbefondere aber fundzugeben, daß der Altar Jeſu EHrifti der Born ift, aus dem
uns die Segnungen des Chriftenthumes vorzugsweife zufließen.
Maguus (Mang, Magnvald), der heilige, Apoftel des Algäues,
Noch im gegenwärtigen Jahrhunderte Hat der fonft gelehrte PL. Braun, Ver—
faffer der Gefhichte der Bifhöfe von Augsburg, den Hl. Magnus in das achte
Jahrhundert verwiefen, da derfelbe doch, als Gefährte und Schüler des HI, Gal-
lus (ſ. d. A.), dem fiebenten Jahrhunderte angehört, Diefer Irrthum, fowie
viele andere Irrthümer und Verirrungen über die Chronvlogie und Thaten des
- Hl. Magnus, entftammen größtentheils einer Biographie diefes Heiligen, die, wie
wir fie befigen, fälfchliher Weile dem Mönde Theodor, einem andern Schü-
ler Gall's und Freunde des Hl, Magnus, oder dem Abte Ermenrih von Ell-
. Wangen, einem Zeitgenoffen des Walafrid Strabo (der fie auf Befehl des Bi—
ſchofes Lanto von Augsburg verbeffert haben foll), zugefhrieben wird, Dabei
Kann e8 jedoch allerdings fein, daß der genannte- Theodor über feinen Freund
Magnus einige Nakprichten, einen furzen Necrolog oder ein Epitaphium verfaßt
Habe, deffen Inhalt dann von Ermenrich verbeffert und erweitert worden fein
mag, aber nachher in der in Nede ftehenden Biographie fo fehr entftellt wurde,
Daß auch Ermenrich nicht Verfaffer der Magnus-Legende, wie wir fie jegt be-
fisen, fein Fonnte, ift gewiß, da es unglaublich erfcheint, ein Zeitgenoffe Strabo's,
wie e8 Ermenrich war, habe wagen fönnen, was der Legendift getan, außer
der Mebertragung der Wunder und Thaten des hl, Eolumban und
feiner Schüler Authiernus und Chagnvald auf unfern Magnus auf
Strabo's Biographie des HI. Gallus zu dem gleihen Zwede für die
Magnud-Legende zu benügen, um den HI. Magnus vorzugsweife zu
dem völligen Gleichbilde des HL. Gallus zu ftempeln. Uebrigens mag
allerdings die erfle Hälfte diefes Lebens einen jüngern Verfaſſer haben als die
zweite, welde mit dem Auszug des Hl. Magnus aus St. Gallen nah dem Algäu
beginnt, alfein auch die zweite trägt Spuren genug von Ueb ertragungen der
AT
740 — Magnus
Wunder und Thaten Galls auf Magnus, und enthält die eclatanteften
Anahronismen und Widerfprüche, indem fie z. B. den Magnus einerfeits als
‘Gefährten und Schüler des HI. Gall anerkennt, der (Gall) im J. 625 geftorben
fei, den Magnus aber andererfeits gleichzeitig mit den Bifhöfen Wilterp und
Toſſo von Augsburg im achten Jahrhundert leben läßt. Mit vollem Recht haben
alfo Mabillon und die Bollandiften den Stab über diefes Machwerk gebrochen,
wobei es die Ießteren jedoch für wahrfheinlich halten, daß der betrügerifchen und
heillos verwirrten Compilation einige von dem erwähnten Theodor herrührende
Nachrichten und ein daraus von Ermenrich gemachtes Leben zu Grunde liegen
Fönnten, was vorzugsweife von der zweiten Hälfte diefer Biographie gelten mag.
— Aechte Nachrichten über Magnus vor feinem Auszug aus St. Gallen
nach dem Algäu bietet das im achten Jahrhundert von einem Gallenfer-Mönd
verfaßte Leben des HL. Gall (ſ. Perg IL) und die Ueberarbeitung dieſes Lebens
von Walafriv Strabo. Hienach fchloffen ſich nach der Abreife des Hl, Columbanus
nach Stalien (612) zwei Clerifer des Pfarrers Willimar von Arbon, Magnoald
und Theodor, an Gall an und erfheinen bi8 zu feinem Tod feine treueften
Gefährten und Jünger, Daß Magnold Fein Irländer, fondern ein Teutfcher ge-
wefen fei, Theodor. etwa ein Rhätier, ift fehr wahrfcheinlih. Diefer Magnvald
nun ift eine und diefelbe Perfon mit unferm Magnus, Mang. Denn abgejehen
davon, daß Rritifer, wie die Bollandiften, Mabillon, Arc in der Gefhichte von
St, Gallen und in den Noten zu Galls Leben bei Pers IL. u, a. m. darüber kei—
nen Zweifel hegen und die ältefte Tradition der Klöfter St. Gallen und Füſſen
und der Kirche von Augsburg die Identität Magnvalds und des Magnus Far
bezeugt, fo wird Magnus nicht bloß in der Pfeudobiographie, fondern in allen
bewährten Nachrichten über ihn, obgleich er gewöhnlich nicht Magnoald, wie
in den angeführten zwei Biographien Galls, ſondern Magnus genannt wird,
als Gefährte und Schüler des hl. Gallus, und zwar als der vorzüglichfte und
berühmtefte feiner Gefährten und Schüler aufgeführt (ſ. Notker in Martyrol. 8.
ld. Sept.; Ratpert in hymn. de s. Magno; Mabill. Act. SS. t. IL. p. 509—510),
was nur auf Magnold paßt; ferner wurde derfelbe Magnus, den die Algäuer
als ihren Apoſtel und erſten Gründer der Zelle zu Füffen verehren, und deſſen
Leib dafelbft begraben ward, ſchon im neunten Jahrhundert von den Gallenfer-
Mönchen als einer ihrer drei Hauptpatrone (St. Gall, St. Magnus, St. Dibmar)
verehrt und demfelben in der Nähe des Gallus-Stiftes um 890 eine Kirche ge—
baut, in welche von Füffen her ein Arm des Hl. Magnus Cein Gefchenf des Bi—
ſchofs Adalbero von Augsburg) gebracht wurde, und welde der hl. Biſchof Ulrich
von Augsburg gerne zu befuchen pflegte (Perg II, 79, 108), was wieder auf
Magnold zurücführt, den Hauptſchüler Galls; endlich fteht für die Identität des
Magnus mit Magnoald auch die alte geiftliche Verbindung des Klofters St. Gal-
len mit dem Klofter Kempten (f. den Art. Kempten), welde fih wohl nur von
Theodor herfchreibt, einem andern Schüler Galls und Mitſchüler und Reife
gefährten des Magnus nah Schwaben. Bon Magnus alfo erzählen die zwei
oben erwähnten Leben des hl. Gallus des Nähern Folgendes, Er war bei der
durch Gallus bewirkten Heilung der einzigen Tochter des allemannifhen Herzogs
Gunzo, Friveburga, gegenwärtig, wohnte mit Gallus der Synode zu Conftanz
(613—615) bei, reiste aus Galld Auftrag nach Italien in das Klofter Bobbio,
um über Columbans Tod Nachrichten einzuziehen, und brachte bei der Rücklehr
die „cambutta“ Columbans mit, blieb nad Galls Tod (+ 625, 646?) im Klofter
St. Gallen, und zwar als Vorftand des Klofters (Arr, Geſch. v. St. Gallen H,
©. 20), bis 40 Jahre nah Galld Tod (40 Jahre geben die zwei Biographien
Gall an, die vita s. Magni nur drei Jahre; Arr in den Noten zur vita I. s. Galli
bei Perg meint, 40 Zahre fünnten e8 unmöglich gewefen fein) das Stift durch
einen fränkifchen Ueberfall verwüftet und die Mönche verfprengt wurden, Magnpald
Magnus 7a
und Theodor ausgenommen, denen in ihrer bilflofen Lage der Biſchof Bofo vor
Eonftanz zum Beiftand herbeieilte. Am Schluffe der vita I. s. Galli fagt der Bio-
graph: „Haec omnia comprobata sunt testimonio Meginaldi et Theodori
diaconorum electi Dei etc.“ (f. Perg I, S. 20). — Hätten wir nur für die Zeit
der apoftolifchen Wirfjamfeit des hl. Magnus in Algäu eben fo verbürgte Nach—
richten! Allein da fteht und nur die zweite Hälfte der Biographie des HI,
Magnus zu Gebote, welche jedod älter (fie gehört dem 10ten Jahrh. an) und
deßhalb auch glaubwürdiger als die erfte Hälfte ift (f, Braun, Gef. d. Bild.
2. Augsb. I, S. 905 Rettberg, Kirchengeſch. Teutſchl. II, 149) und dem Haupt-
inhalte nach Folgendes erzählt. Kurz nad der erwähnten Berwüflung des Kloſters
St. Gallen durd die Franken beſuchte der Priefter Toffo (Tozzo) aus der Augs-
burger Diöcefe die Grabftätte des HI. Gallus. Magnus hatte fhon zuvor einen
göttlichen Ruf erhalten, nach den julifhen Alpen zu ziehen, wo einft der Biſchof
Narciffus von Tolofa dem Teufel befahl, einen Drachen zu tödten; er ſchloß ſich
alfo bei Toſſo's Rüdfehr fammt Theodor an Thaffo an, um in das Algäu zu
ziehen. Zu Bregenz heilte Magnus einen Blinden. Zu Kempten erlegte er, mit
Galls cambutta bewaffnet, eine gewaltige Schlange, „boas“ genannt, und ver—
ließen auf fein und Theodors Gebet Schlangen und Dämonen die Gegend. Nach—
dem bier Magnus viele Bewohner befehrt Hatte und eine Capelle errichtet worden
war, bei welcher Theodor zurüdblieb, zog er mit Toffo nah Epfach (Eptaticus),
wo fih, damals Wikterp, der Biihof von Augsburg, aufhielt. Sp nennt den
Bifhof die Biographie des Magnus — daf es aber der Bifchof Wilterp, al.
Wigo, Wiho, Wizo genannt, welcher in einem Schreiben des Papftes Gregor II.
dd. 739 genannt wird und über die Mitte des achten Jahrhunderts hinaus re—
gierte, nicht fein Fonnte, leuchtet von felbft ein, indem ja nach dem oben Gefag-
ten Magnus ſchon um 612 fih an Gallus anfhloß; mithin muß man, wenn
etwas Wahres an der großen Rolle ift, welche der Augsburger Biſchof Wikterp
im Leben des hl, Magnus fpielt, an einen Augsburger Bifchof des fiebenten Jahr—
hunderts denken, etwa an Wiggo (al. Wizo, Wihpert), welden Braun (Bifch,
9. Augsb. I, 73) um 667 fterben läßt. Bei Wilterp alfo hielten fih Magnus
und Toffo einige Tage auf; Magnus erhielt die Erlaubnif, in dem engen Paß
am Fuße der julifchen Alpen (Füſſen) fih anzufiedlen und eine Capelle zu errich-:
ten, und nahm in Begleitung Toſſo's und einiger von Wifterp beigefellten Weg-
weifer den Weg dahin über Roßhaupten. Bei Roßhaupten hatte Magnus
wieder einen Kampf mit einem großen Drachen zu beftehen, dem er, nach Gebet
und dem Genuß geweihten Brodes, die cambulta Galls und einen Pechkranz in
der Hand und ein Reliquienfäftchen um den Hals, entgegentrat, den Pechkranz in
den Rachen fehleuderte und ihn tödtete. Hierauf Fam Magnus mit Tozzo und
den Wegmweifern dem Lech entlang in eine große ſchöne Ebene, wo jet das Dorf
Waltenhofen fteht, nicht weit von Füffen. Hier gefiel es ihm fehr; er King feine
Reliquienfäftchen an einem Baume auf, betete davor, errichtete zu Ehren der
Mutter Gottes und des Florian ein Kirchlein, das Bifhof Wikterp einweihte,
und ging endlich, nachdem er einige Zeit hier verweilt und gepredigt und für die
Paftorirung den Toffo Hinterlaffen hatte, nah Füllen, feinem Endziele, wo er ein
kleines Dratorium fammt Zelle errichtete. Diefe Capelle ward wieder von Biſchof
Wilterp dedicirt, welcher, da der Wunderruf des Hl. Magnus fig mehr und mehr
verbreitete, dem Heiligen mehrere Cferifer zur Unterweifung zufendete, Zudem
erwarb Wilterp dem Hl. Magnus bei dem fränfifhen Hofe (bei König. Pipin,
fagt die Legende, früher und fpäter Gefchehenes bunt durcheinander mifchend!)
einige Danationen und ertheilte ihm, nachdem er die von Theodor neuerbaute
Kirche zu Kempten geweiht hatte, die Priefterweihe. Fünfundzwanzig Jahre, fagt
die Legende, brachte Magnus zu Füffen zu, befehrte das Volk zum Glauben
CHrifti, Heilte Kranke, entdeckte auf dem Berge Säuling Eifenadern und ftarh
742 Magog — Magyaren.
endlich in Gegenwart Theodors von Kempten und Toſſo's, welch' letztern der
Legendiſt durch Vermittlung des Magnus bei König Pipin! bereits zum Nad-
folger Wilterps auf dem bifhöflihen Stuhle Augsburg hatte werden laffen, fo
daß alfo entweder der von Pl. Braun auf das achte Jahrhundert gefegte Bifchof
Toſſo in das fiebente gehört oder zwei Biſchöfe Toffo, einer dem fiebenten und
der andere dem achten Jahrhundert angehörig, anzunehmen find, oder von dem.
Legendiften der Priefter Toſſo des fiebenten Jahrhunderts mit dem Biſchof Toffo
des achten Jahrhunderts confundirt worden iſt. Theodor legte, erzählt ferner
die Magnus-Biographie, einen furzen Abriß der Thaten des Magnus unter das
Haupt des HL, Leichnams, der in der Capelle zu Füffen feine Grabftätte fand,
Biſchof Simpert von Augsburg (4 807) reftaurirte das Magnusklofter zu Füſſen;
die Bischöfe Nidgarius (+ um 830) und Lanto (4 um 857) erbauten dem Hei-
ligen eine ſchöne Kirche, und Lanto nahm auch die feierliche Erhebung des Leibes
vor, wobei die furze Lebensgefchichte des Heiligen unter deffen Haupte ganz ver-
gülbt doch noch Ieferlih befunden und dem Mönch Ermenrih von Ellwangen zur
Berbefferung übergeben wurde, ©, die Bollandiften zum 6, Sept. vit, s. Magni;
Mabill. Acta ss. t. HH. ad a. 665; Basnage-Ganis. lect. antiq. t.I. p.H. p. 651;
Goldast, script. rer. Alem. t.I.; PM. Braun, Geſch. der Bifch. v. Augsburg,
Bd. 1 ©, 87 10.5 Butlers Leben der Väter und Martyrer von Räß und Weis,
6. Sept; J. B. Tafrathshofer, der hl. Magnus, Kempten 1842, Bol.
hierzu die Art. Alemannen und Bayern, [Scrödt.]
Magog 6a), ein Bölfername, welder in der hl. Schrift dreimal vor-
fommt, ©enef. 10, 2. Ezech. 38, 2. u. 6. Nach den beiden letztern Stellen er—
ſcheint dieſe Nation neben Thubal und Meſchech, welche jedenfalls über Mediens
Nordgrenze hinaus Tiegen. Da Ezechiel dem Volke Magog, an deffen Spitze
Gog erfeint, in der Zukunft eine große Rolle in der Weltgefohichte einräumt,
fo mußte nothwendig die Erinnerung an daffelbe durch die Bibel lebhaft erhalten
werden. Sie erfcheint in zahlreichen jüdifchen Sagen vom Ende der Dinge (f.
Eifenmenger, entdecktes Judenth. II. 732 ff.), in der chriftlichen Literatur der
Sprier , fowie in den Schriften der Moslimen, als der Schüler der Juden. Schon
der Koran (ſ. d. A.) fpricht von Jagug (Gog) und Magug (Magog) und fihreibt
dem Dfu-I-Rarnain (Alerander dem Großen) ihre Bändigung zu. Sura 18, 98,
Die fpätern arabifchen Schriftfteller wenden beive Namen auf Bölfer der Tartarei
und Mongolei an, Ibn al Wardi z.B. gibt Jagug und Magug als nördliche
Nachbarn der Chinefen an und nennt die chinefifche Mauer „Wall von Jagug und
Magug“ — lo 7 >15 Aw Cod. or. monac. nr. 107. p. 13 u, 58.).
Damit ift die Lage im Allgemeinen bezeichnet, Auffallend bleibt e8 aber, daß
von diefem Völfernamen in der von der Bibelſprache nicht influenzirten Literatur
des Morgenlandes fich feine Spur findet, Sollte es nicht geftattet fein, einen
frühen Schreibfehler anzunehmen für 577 Sog und 3772 Mafog? Dann Tiefen
fih die Maffageten Herodots (I. 105) *), wie die Safen, Daben der fpätern
Zeit erkennen. Magog und Gog wären dann unter den wilden Horben Juvans
am Oxus und Jarartes zu fuchen, Ueber die Safes f. Nitter VI. ©, 628 ff.
und 672 ff. DVergleiche die Altern Anfichten über Magog bei Bochart, Phaleg
p. 212 sggq. [Haneberg.]
Magyaren, die, werden Chriften. Die Magharen, nach der Meinung
der Meiften ein türfifcher oder ſeythiſcher Volksſtamm, die ihren Namen von der
durch fie eroberten und von ihnen genannten Stadt Mad’shar oder Magyar (an
Fuße des Faufafifchen Gebirge am Iinfen Ufer des FI, Kuma) tragen mögen,
* Ueber 5 in 317% und. 00 in Maacrayeraı dgl. 218 und veewrrog.
Magyaren, 743
aber von ihren flavifhen und zum Theile auch teutfhen Nahbarn Ugri, Ungri
genannt wurden, brachen 894 unter ihrem gefeierten Anführer Arpad — die legte
von jenen Schaaren, welche, aus Afien nach Europa wandernd und bleibend fich
hier niederlaffend, in dem großen Länderverein Europa’s einen riftlihen Staat
begründeten — in das damals von einem bunten Gemifch von Slaven, Bul-
. garen, Wallahen, Teutſchen und Ftalienern bewohnte und unter verfhiedenen
Fürften ſtehende Ungarn ein und eroberten e8 ohne große Mühe, obwohl das ge-
fammte magyarifche Volk bei feiner Einwanderung nur aus einer Million Seelen
beftand, darunter etwa 200,000 waffenfähige Männer, Und nicht zufrieden mit
der Befignahme Ungarns, fonnten die wilden und raubſüchtigen Barbaren nicht
lange in ihrer neuen Heimath ruhig bleiben, fondern fuchten über ein halbes Jahr—
hundert lang die benachbarten und oft fogar entfernte Länder, wie es vor ihnen
die Hunnen gethan (f. den Art. Hunnen), mit ihren Einfällen heim, raubend
und mit Feuer und Schwert alles verwüftend, was ihnen in den Weg fam, fo
dag man in Teutfchland und Italien in den Litaneien betete: „Vor der Wuth der
Magyaren befhüge ung, o Herr!“ Am meiften hatte dabei Bayern und überhaupt
Zeutfchland zu leiden, bis ein Wendepunct eintrat mit Heinrich dem Finfler, der
es für fhimpflich Hielt, noch ferner den Feinden Gottes und der Kirche das Eigen—
thum der Gotteshäufer und Unterthanen preiszugeben, ihnen ftatt des Tribute
einen räudigen Hund mit abgefchnittenem Schwanz und Ohren gab und fie in
mehreren Schlachten befiegte. Und unter Heinrihs Sohn, Otto dem Gr., kam
endlich im J. 955 der Tag am Lechfeld, feitdem fie für immer darauf verzichte-
ten, Teutſchland anzugreifen. Nachdem der HI. Ulrich, Biſchof von Augsburg
(f. d. 4.), dur feinen priefterlihen Heldenmuth ihren Anfall auf Augsburg fieg-
reich abgewehrt hatte, wurden fie von Kaiſer Dito L, der vor der Schlacht bei
] dem Hl. Mrich die Sacramente empfing, auf das Haupt gefchlagen, Otto trug
bei diefer Gelegenheit die HI. Lanze (ſ. d. A.). Nur fieben Magyaren entfamen
nach Ungarn und wurden hier als Feiglinge auf ewig für ehrlos und alles Befig-
thums unfähig erflärt; ihre Nachfommen fchenkte fpäter der HI, König Stephan
dem Lazarusflofter zu Gran, und fie hießen fortan die Armen des hl. Lazarus,
— Die Einfälle und Raubzüge der Magyaren trugen indeß Vieles zur Belehrung
derfelben bei, indem zu den vielen eingeborenen Ehriften, welche die Magyaren
bei Ungarns Eroberung vorfanden, durch die von den Magyaren auf ihren Raub—
zügen gemachten riftlihen Gefangenen eine ſolche Anzahl von Ehriften in Ungarn
erwuchs, daß fie an Zahl das magyariſche Volk überfliegen und ein mächtiges
Element zur religidfen Umwandlung ihrer Herrn bildeten. So geſchah es auch
in Folge der magyarifchen Einfälle in das griechifche Kaiferreich, daß von hier
aus um 948 ein Berfuh zur Befehrung der Magyaren gemacht wurde, Zwei
magyarifche Unterführer, Oyula und Verbulcs, welde fih einige Jahre zu
Conftantinopel als Geifeln eines zwifhen den Magyaren und Griechen abge—
fchloffenen Waffenftillftandes aufgehalten Hatten, ließen fih dafelbft taufen und
kehrten, zu Patriziern ernannt und mit Ehrenbezengungen überhäuft, im Geleit
des griehifhen Mönches Hierotheus, der zu Byzanz zum Biſchof von Ungarn
geweiht worden war, nach Ungarn zurück. Heimgefehrt, fiel zwar Verbules vom
Ehriftentyum wieder ab, Gyula jedoch blieb ſtandhaft und befehrte durch den
Mond Hierotheus feine Familie und viele feiner Untertanen in Siebenbürgen,
wo er die Würde eines Führers befleivete, Näheres über Hiersthens und feine
Wirkſamkeit ift nicht befannt; ob daher der Bekehrung des Hierotheus fo großes
Gewicht beizulegen fei, wie Neuere annehmen, ift fehr problematiſch. Nah Hie-
rotheus kamen feine griechiſchen Miffionäre mehr zu den Magyaren, und biefe
blieben ven Angelegenheiten der griechifchen Länder fremd, ſeitdem fie auch hier
dfters und noch zulegt 970 gefchlagen worden waren. — Abgewendet von den
griegifchen Angelegenheiten und nicht mehr von griechiſchen Miſſionären befucht,
214 — Magyaren.
kehrten die Magyaren ihre Blicke dem abendländifchen Kaiſerreiche zu und ſuchten
ſich damit in Verbindung zu ſetzen. Im J. 971 wurde zwiſchen den Teutſchen
und Takſony, dem Fürſten der Magyaren, ein Friedensbündniß geſchloſſen. Dieſe
Gelegenheit ergriff ungeſäumt, im Einverſtändniß mit dem Biſchof Piligrim von
Paſſau, der hl. Mönch Wolfgang, der nachherige berühmte Biſchof von Re—
gensburg (ſ. den Art. Wolfgang), den Reigen der abendländiſchen Miſſionäre
bei den Magyaren zu eröffnen; allein ſeine Beſtrebungen hatten keinen Erfolg,
wohl hauptfächlih deßhalb, weil Takfony dem Chriſtenthum feind war, daher
berief Piligrim den Wolfgang zu fich zurüf, Als nun aber im J. 972 Takſony
farb und deffen Sohn Gejfa zur Regierung gelangte, brachen für die Einführung
des Chriſtenthums günftigere Tage an. Gejfa hatte die Sarolta, eine Epriftin
und Tochter des obengenannten Gyula, eine fihöne, verftändige, männlich ge—
finnte und mehr als Gejfa felbft regierende Frau zur Gemahlin, die viel dazu
beitrug, daß er, ohnehin von Natur aus den Naubzügen feind und von der
Nothwendigfeit des Friedens für fein erfchöpftes Volk überzeugt, mit den Nach—
barn, namentlich den teutfchen, die ſchon angefnüpften freundfhaftlichen Be—
ziehungen befeftigte, die Seinen zur Aufgebung der Raubzüge beredete und fi
allmählig mehr und mehr mit der chriftlichen Religion befreundete, Um das ver-
ddete Land zu bevölfern und zu enltiviren, wurde zu Einwanderungen eingeladen
und den einwandernden Ehriften Hofpitalität und Sicherheit zugefagt; andererfeits
lag aud dem Kaifer Otto fehr daran, daß das Bekehrungswerk der Magyaren
zu Stande käme. Und fo ſchickte denn zuerft Piligrim, der gefeierte Biſchof
von Paffau (f. den Art. Paffau), Miifionäre zu den Magyaren, wie früher
feine Vorgänger auf dem bifchöflichen Stuhle unter den Hunnen oder Avaren ge=
wirft hatten (f. die Art. Hunnen, Bayern). Wie bedeutend diefe Miſſion
war, erhellt aus Piligrims Brief an Papfl Benedict VI. (oder VIL); der abge-
fchloffene Friede, heißt e8 darin, habe ihm das Vertrauen eingeflößt, die Predigt
bei den Ungrern zu unternehmen; viel gebeten von diefen, habe er taugliche
Mönche und Elerifer aller Weihftufen gefendet, und durch ihre Predigt feien in
kurzer Zeit 5000 aus den vornehmen Ungrern beiderlei Gefchlechts befehrt wor—
den; die Chriften, welche den größern Theil der Einwohner Ungarns bilden und
von allen Seiten her nah Ungarn eingefchleppt worden feien und bisher nur im
Geheimen ihre Kinder hätten taufen können, brachten fie nun offen zur Taufe,
erbauten Dratorien und fendeten frei ihre Gebete zum Erlöfer empor, denn bie
Barbaren, obgleich zum Theil noch Heiden, verböten doch Feinem ihrer Unter—
thanen, ſich taufen zu laffen, geftatteten den Prieftern, frei im Lande umber-
zureifen, und Heiden und Chriften fänden mit einander ganz friedlih; da dem—
nach die ganze Nation der Ungrer zum Glauben neige, möge der Papft auch
einige Bifchöfe für Ungarn aufftellen (f. Hansiz, Germ. sacra, I, de Piligrimo).
Dielen fo hoffnungsvollen Anfang unterbrachen jedoch ſchon im J. 975 die in
Teutfchland ausgebrochenen Unruhen, nach Wiederherftellung des Friedens aber
fegte Piligrim durch feine Miffionäre das Werk der Bekehrung fort, Nach dem
Berfufte von Mölf, das Leopold der Glorreiche, der Stifter des babenbergifhen
Haufes, 985 den Magyaren entriß, vermittelte Gejſa's Gemahlin den Frieden
und fnüpfte zwifchen ihrem Gemahle und Kaifer Otto III. eine enge Freundſchaft.
In Folge diefer freundfchaftlihen Verhältniffe wanderten viele chriſtliche Kauf-
leute -und Handwerker in Ungarn ein, Der Hl. Adalbert, Bifhof von Prag
(f. den Art. Adalbert), fam nach Ungarn und wirkte durch fich und einige mit
ihm gefommene Priefter für die Verbreitung des Chriftenthums, Adalbert war
e8 auch, welcher den Gejſa fammt feinem Sohne Vaik und feiner ganzen Familie
im 3. 994 zu Gran taufte, wenn nicht etwa Gejfa ſich ſchon früher hatte taufen
laffen. Daß das Beifpiel der fürftlichen Familie nicht ohne Einfluß blieb, ver-
fteht fich von feldftz aber Viele gab e8, welche Gejſa's Mahnungen zur Annahme
Magyaren. *
der chriſtlichen Religion verſchmähten; gegen dieſe nahm er Drohungen und Ge—
walt zu Hilfe und wirkte bei dem Kaiſer einige Fahnen teutſcher Truppen aus;
zudem ſchloß er durch Vermittlung des Kaiſers Otto nicht ohne Rückſicht auf die
Thriſtianiſirung Ungarns die Vermählung ſeines Sohnes Vaik mit Giſela, der
Schweſter des Herzogs Heinrich von Bayern im J. 996 ab. Kurz darauf, im
J. 997, ſtarb Gejſa. — Nah Gejſa's Tod übernahm die Zügel der Regierung
der größte Mann, den die ungarifhe Geſchichte aufzuweifen hat, Gejſa's Sohn
Vaik, der in der Taufe den Namen Stephan erhalten hatte und wegen feines
Lebens und feiner Thaten mit vollfiem Nechte der Heilige Heißt, Geboren im
J. 979 zu Gran, empfing er in feiner Jugend den’ Unterricht durch den Grafen
Devdat von San Severinn aus Apulien, und als der Hl. Adalbert nah Ungarn
fam, war Stephan außer feiner Mutterfprache der flauifchen und Tateinifchen
mächtig und im Glauben fo unterrichtet, daß Adalbert ihn nach kurzer Belehrung
zur Taufe reif fand. Noch vor der Taufe hatte ihm Gejſa den Eid der Treue
von den Ungarn fhwören laffen und mit ihm die Sorgen der Regierung getheilt.
In dem Heirathsvertrag mit Gifela verpflichtete fih Stephan eidlih, nicht nur
für feine Perfon dem angenommenen Glauben treu zu bleiben, fondern. auch fein
Volk zu demfelben zu befehren. Und treu feinem aus der innigften Ueberzeugung
von der Wahrheit des Chriſtenthums entquollenen Verfprechen, trat er die Re—
gierung mit dem feften Entfhluß an, fein Wort zu löſen und feine hl. Aufgabe
zu erfüllen. Allein faum hatte er mit feinem Werfe begonnen und den Ungarn
geboten, fich taufen zu laffen und die chriſtlichen Selaven freizugeben, fo brach
plöglich ein gegen die eingewanderten und begünftigten Teutfchen und zugleich
gegen das Chriſtenthum gerichteter Aufftand unter Kupa's, Führers von Somogy
und Verwandten Stephans, Anführung aus. Stephan hatte den zahlreichen Em—
pörern nur ein Feines Häuflein dem Kriftlihen Glauben treu gebliebener Ungarn
entgegenzuftellen ; zum Glüd fand er an den Teutfchen glaubenseifrige und hel—
denmüthige Retter in der Noth, mit ihnen fiegte er, und damit war der Sieg
des Chriftentgums über Heidenthum und Barbarei entſchieden. Dankbar erfüllte
er das vor der Schlacht gemachte Gelübde, den zehnten Theil aller Erzeugniffe
der Somogy dem Klofter zu geben, welches noch fein Bater auf dem St. Mar-
tinsberg zu bauen begonnen hatte, und feste das begonnene Befehrungswerf mit
erneutem Eifer und großem Erfolge fort. Auf feine Einladungen zogen aus
Stalien, Teutfchland, Böhmen und Polen viele Mönde und Geiftlihe, darunter
fehr Fenntnißreiche und heilige, herbei, um dem bald im ganzen chriftlichen Abend-
lande mit Ehrfurcht genannten apoftolifhen Fürften Hilfreihe Hand bei feinem
heiligen Unternehmen zu leiften. Und nahdem die Belehrung einen erfreulichen
Fortgang genommen und Stephan den Plan gefaßt hatte, fein ganzes Neid in
zehn Bisthümer einzutheilen, unter denen Gran ald Metropole an der Spike
ftehen follte, fandte er den Aftricus (auch Anaftafins genannt), Abt des Klofters
Martinsberg, nah Rom an Papſt Syivefter II., mit dem Auftrag, den Papft
von dem in Kenntnif zu fegen, was Stephan bisher für das Chriſtenthum in
Ungarn gethan und was er noch thun werde, und ihn um die Beflätigung der
Didcefaneintheilung und der getroffenen Einrichtungen, fowie auch um die Ver—
leihung des Rönigstiteld und einer Krone zu bitten, Freudig beftätigte Sylvefter
alle Bitten Stephans, ertheilte ihm das Recht, an feiner Statt über die An-
gelegeneiten der ungarifchen Kirchen zu bisponiren und fandte ihm für fih und
feine Nachfommen ein doppeltes Kreuz zum Vortragen und eine Krone, - Amt
15. Auguft des Jahres 1000 ließ fih Stephan zu Gran, feinem föniglichen Sige,
mit diefer Krone feierlich frönen und wurde fo der erfte König von Ungarn, —
Allmaͤhlig wurben jest Bisthümer errichtet, dotirt und bejegt zu Gran, Rolocza,
Baes, Veszprim, Fünffichen, Raab, Erlau, Cfanad, Waigen, und Alba Gyulä
oder Alba Julia Cfpäter Alba Carolina, Tarlöburg) für Siebenbürgen, Die
746 Magyaren,
Gründung des Bisthums für Siebenbürgen gefhah nah Stephans Sieg über
Gyula den Züngern, der nach dem Tode feines Oheims Gyula des Aeltern die
Fahne der Empdrung aufgepflanzt und mit Hilfe der zu ihm geflüchteten noch
beidnifchen oder vom Glauben abtrünnigen Ungarn und des Petfchenegen-Fürften
Kean dem Chriftentyum in Siebenbürgen und Ungarn feindlich entgegengetreten
war; zum Danf für die über Gyula und Kean ihm verliehenen Siege ließ ver
fromme König, wie er gelobt, zu Dfen und Stuhlweißenburg Kirchen zu Ehren
der Mutter Gottes erbauen. Db Stephan auch das (lat.) Bisthum Großwardein
gegründet, tft zwar nicht ganz gewiß, aber doch wahrfcheinlich. So weit man die
Bifchöfe fennt, welche der König auf die neuerrichteten bifchöflihen Stühle feste,
waren fie trefflihe Männer, vie fih die Förderung und Befeftigung der chriſt—
lichen Religion fehr angelegen fein ließen, und unter ihnen ragten befonders
hervor: die zwei erften Erzbifchöfe von Gran, DominiensI. und der felige
Sebaftian, der Bilhof Aftricus von Koloeza, die zwei erflen Bifhöfe von
Fünffirden, Bonipert (fränfifcher Benedictiner und Stephans Sarellan) und
ver hl. Maurus (vorher Abt zu Martinsberg), der Bifchof und nachherige Mar-
tyrer St. Gerhard von Cſanad (vorher Abt in Venedig) u, a, m, (f. die Art.
Erlau, Gran, Kolveza, und Fejers Schrift: Religionis et ecelesiae chri-
stianae apud Hungaros initia), Auf die Errichtung von Pflanzfhulen für den
Elerus bedacht, gründete Stephan nebft dem Stifte auf dem St. Martinsberge
noch vier andere Benedictinerabteien zu Pecdvar, Szalavar, Bafonybel und auf
dem Berg Ezobor; Domſchulen errichteten mehrere Bischöfe, namentlich der HI.
Gerhard zu Cſanad und Bonipert zu Fünfkirchen; auch zu Stuhlweißenburg, wo
Stephan eine berühmte und mit vielen VBorrechten ausgeftattete Propftei gründete,
entftand eine blühende Schule. Durch Baumeifter aus Teutfchland und aus dem
griehifchen Reiche ließ Stephan Cathedralen, andere Kirchen und Klöſter auf-
führen, worunter fi die Cathebralen zu Gran, Koloeza, Raab und Erlau, die
Propfteifirhe zu Stuhlweißenburg und das Erzflofter auf dem St. Martinsberg
auszeichneten, Andererfeits ließ er von je zehn Dörfern eine gemeinfchaftliche
Kirche erbauen, welche er dann felbft im Verein mit feiner Gemahlin Giſela mit
firchlihen Geräthen und Gewändern ausftattete; zur Anfchaffung der Bücher und
Erhaltung der Geifllichen verpflichtete er aber die Bifchöfe. Um den Ungarn das
Wallfahrten und den Verkehr mit andern chriftlichen Völfern zu erleichtern und
geheiligten Stätten feine Ehrfurcht zu bezeugen, ftiftete er zu Jerufalem, Rom,
Ravenna und Conſtantinopel klöſterliche Hofpitien. Unfterbliche Berbienfte erwarb
er fich endlich dadurch, daß er feinem Bolfe eine neue, auf Grund der alten ge-
baute Berfafjungs- und Negierungsform gab, wobei er, umgeben von teutfchen
Biſchöfen und Aeligen, Teutfchland zum Mufter nahm und außer der Stärkung
der königlichen Gewalt die Ehriftianifirung feines Volkes fih zum Hauptziele
feste. Ueber 40 Jahre ſchenkte Gott den Ungarn die Gnade eines ſolchen Herr-
ſchers, der übrigens ſchon durch fein Beifpiel, durch feinen Eifer des Gebetes
und Rirhenbefuches (wobei er zugleich nachſah, ob den Gotteshäufern nichts
fehle), durch feine Wohlthätigfeit gegen die Armen und Pilger, die durch Ungarn
nach Jeruſalem reisten, durch feine Demuth, womit er den Niedrigen die Füße
zu wafchen pflegte, und vorzüglich durch feine zarte Verehrung der jungfräulichen
Gottesgebärerin, unter deren Schug er fein Reich ftellte, ein Prediger feines
Bolfes war, Würdig fand dem Hl, Könige feine fromme Gemahlin Gifela,
die Schwefter des HI. Königs Heinrich, zur Seite, die mit ihren Frauen reiche
Kirchengewänder und Geräthfchaften anfertigte. Leider traf das edle königliche
Paar der Schmerz, allen feinen Söhnen in das Grab fehen zu müffen; fie farben
Alle im zarten Alter, nur Emerich, von feinem Vater und dem hl. Biſchof Ger-
hard forgfältig erzogen und zu den fehönften Hoffnungen berechtigend, erreichte
das 24fte Jahr und follte eben die Negierung feines Vaters, der fi von der
Mahlſchatz. 7147
Welt zurüdziehen wollte, übernehmen, ald er am 2. Sept. 1031 ſtarb. Stephan
folgte ihm am Mariahimmelfahrtsfeft des 3. 1038 nad. Fünfundvierzig Jahre
nachher wurde er fammt feinem Sohne Emerich von der Kirche in die Reihe der
Heiligen aufgenommen. Seine rechte Hand wird noch jegt unverwest im der
Burgeapelle zu Dfen als theuerfte Reliquie der ungariſchen Ehriftenheit aufbewahrt.
Gifela, feine Gemahlin, überlebte ihn und flarb im Kloſter Niedernburg zu Jaf-
fan, weldes ihr Heiliger Bruder König Heinrich reflaurirte und wo fie ihre Grab-
fätte fand. — Daß Stephan feine Leibeserben hinterließ, flürzte Ungarn nad
feinem Tode in heillofe Berwirrung, und in der allgemeinen Verwirrung erhob
auch das Heidenthum neuerdings fein Haupt gegen das noch nicht genug flarfe
und befeftigte Chriftentfum. Die Häupter der Empörung gegen König Peter,
Stephans Nachfolger, zwangen den von ihnen auf den Thron erhobenen König
Andreas (1046—1061), ihnen auf den Trümmern des Chriftentfums die
Wiederherftellung des Heidenthums zu geftatten, griffen mit rafender Wuth das
Chriſtenthum an, zerftörten die Kirchen, richteten unter den Chriften ein großes
Blutbad an und tödteten viele Mönche und Geiftlihe und drei Bifchöfe. Unter
den damals gefallenen Opfern befand fih au der Hl. Bifhof Gerhard von Cſa—
nad, Zu Venedig geboren und fchon von Jugend an das Mönchskleid tragend,
ward er, nach Jeruſalem durch Ungarn pilgernd, von König Stephan hier zurück-
gehalten, führte zu Bakonybel mehrere Fahre ein Einfiedlerleben, und erhielt
dann von Stephan den bifchöflichen Stuhl zu Cſanad. Er war einer der aus—
gezeichnetfien Prediger des Chriftentfums in Ungarn. In Bockspelz gekleidet
reiste er in einem ärmlichen Fuhrwerk, auf dem Wege feine Schriften durchlefend,
herum, das Evangelium zu predigen, und wenn er in Städten dieß HI. Gefchäft
betrieb, pflegte er Abends im nahen Walde in einer fhuell errichteten Zelle zu
übernachten, Er erbaute viele Kirchen, darunter feine Cathedrale zu Cfanad,
weldhe Stephan reich dotirte. Gleich diefem war auch Gerhard ein glühender
Berehrer Mariens und begründete mit feinem Föniglichen Freunde die tiefe An-
dacht des ungarischen Volkes zur Mutter des Heilandes. Dem König Samuel
C1041—1044) weigerte er ſich die Krone aufzufegen, weil er feine Hände felbft
in der Faftenzeit mit ungerecht vergoffenem Blute vornehmer Ungarn befledte.
Gefteiniget von den empörten Heiden und mit einer Lanze in der Bruft durd-
ſtochen, befchloß er fein Leben glorreih mit dem Martertode. Bei diefer ſchreck—
lichen Reaction des Heidenthums gegen das Chriſtenthum blieb der größere Theil
des Volkes dem Kriftlichen Glauben treu, Als fih der Sturm gelegt hatte, ließ
fih König Andreas von den drei aus der Verfolgung übrig gebliebenen Bifchöfen
frönen und erließ das firenge Geſetz, daß Alle bei Todesftrafe das Heidenthum
verlaffen und zu dem Chriftentbum zurüdfehren follten. Seitdem flörten die Hei-
den die Rube nicht mehr bis zum J. 1061, da die heidnifche Partei bei Gelegen—
heit der von König Bela berufenen Reichsverfammlung wuthentflammt die Er-
laubniß verlangte, die Geiftlihen und Zehnteinfammler zu ermorden, die Kirchen
zu zerftören und die Kreuze und Glocken zu zertrümmern. Aber Bela bemeifterte
den Aufruhr und ließ die Führer hinrichten. Dieß war der letzte, bedeutendere,
offene Kampf des Heidenthums gegen das Chrifteutbum; doch erließen noch König
Ladislaus der Heilige (LOTT—1095) und König Koloman firenge Gefege
zur Ausrottung heidnifcher Sitten und Gebräuche. S. bei den Bollandiften die
Leben des hl. Stephan (2. Eept.), des hl. Gerhard (24. Sept.), und außer den
ältern ungarifchen Hiftorifern die Gefhichte der Ungarn von Mailath und WM;
Horvath. [Schrodl.J
Mahlſchatz. Die Eheverloöbniſſe (ſ. dieſen Art.) find nicht ſelten von ſolchen
Handlungen begleitet, welche dazu dienen ſollen, dieſelben noch mehr zu bekraäf⸗
tigen, und deren Auflöfung zu erfhweren. Ein ſolches Verftärfungsmittel der
Sponfalien ift unter anderen der fog. Mahlſchatz (arrha sponsalitia), Man
ws Mähren
verfteht darunter diejenigen Gegenftände, welche fih VBerlobte zum Zeichen und
\ zur Befräftigung des gefchloffenen Eheverlöbniffes gegeben haben. Nähere Be-
‚ftimmungen darüber enthält das römische Recht in einem eigenen Titel des ju-
‚ftinianifchen Cover: „De sponsalibus et arrhis sponsalitiis“ ,.V. 1, welchen Grund⸗
fägen auch das gemeine canonifche Necht folgt. Man unterfcheivet aber von dem
Mahlfchage die fog. Brautgefchenke (sponsalitia largitas, auch donationes ante
nuptias), d. i. die Gefchenfe, welche fih Brautperfonen während ihres Braut-
ftandes als Beweife ihrer Liebe geben; obgleich auch von diefen im Wefentlichen
diefelben Grundfäge gelten. (Vgl. hierüber die Beftimmungen des römifchen
Rechtes unter der Rubrif: De donationibus ante nuptias in den Digeften XXXIX,
5, und im Coder V. 3.). Gehen die Verlobten die verfprochene Ehe wirklich ein,
fo behalten beide Theile den Mahlſchatz ſowohl als die Brautgefhenfe. Erfolgt
aber die Ehe nicht, fo fommt es darauf an, ob das Eheverlöbniß durch gegen-
feitige Uebereinfunft der Brautperfonen aufgehoben, oder ob die Ehe in anderer
Weiſe verhindert worden ift, Im erfteren Falle müffen beide Theile den Mahl-
[hab (nicht aber auch die Brautgefchenfe) einander aushändigen, da. derfelbe
unter der ftillfehweigenden Bedingung fünftiger Ehefchliefung gegeben wurbe; es
müßte denn ausdrüdlich anders ftipulirt worden fein, Iſt aber die wirkliche Ein—
gehung der Che fonftwie vereitelt worden, fo ift zu unterfcheiden, ob folches durch
einfeitigen Rücktritt oder ungegründete Weigerung des einen Berlobten, oder
aber durch Zufall oder ohne Verfchulden des einen pder andern Theild geſchehen
iſt. Erfteren Falls hat der fhuldige Theil alles Empfangene zu reflitwiren, ber
andere aber den Mahlfchat und die Gefchenke zu behalten, Zur Verfolgung ſei—
nes Nechtes ſteht diefem ſowohl die actio causa data causa non secuta als auch.
die ulilis in rem actio zu (I. 15. Cod. De donat. ante nupt. V. 3), Die Verord⸗
nung des römischen Nechts aber, daß der fhuldige Theil, wenn er nicht noch
minderjährig ift, das Doppelte des Empfangenen zu erftatten habe (I. 5. Cod.
De sponsal. V. 1.), ift heute nicht mehr anwendbar, Wird dagegen die Ehe—
abſchließung ohne Schuld des einen oder andern Theils verhindert, fo haben ſich
die Verlobten den Mahlſchatz gegenfeitig zurüczugeben. Hieher rechnet das Ge-
feg namentlich auch die Fälle, wenn eine Brautperfon vom Eheverlöbniffe zurüd-
tritt, um in einen geiftlihen Orden zu treten, oder weil fie nach Empfang des
Mahlihages erft die Neligionsverfhiedenheit des andern Theild erfahren Hat,
was fie jedoch beweifen muß (I. 56. pr. Cod. De episc. et cler. I. 3, 1. 16. Cod.
De episc. audient. I. 4). Diefelbe Rechtswirkung Hat der vor dem Abſchluß der
Ehe eingetretene Tod des Bräutigams oder der Braut, wenn die Sponfalien big
dahin gültig befanden Haben, Der Ueberlebende hat den Mahlſchatz des Defunc-
ten an deffen Erben zu extradiren, und erhält dagegen den feinigen zurüd (l. 3.
Cod. De sponsal. V. 1). Diefen gemeinrechtlihen Beſtimmungen derogirt bis—
weilen das Particnlarrecht einzelner Staaten und Provinzen. Sp ift z. B. bie
und da gebräuchlich, daß bei Verhinderung der Ehe durch den Tod des einen oder
andern Verlobten jedem Theile das Empfangene verbleibe, oder daß (wie nad
Preuß, L-R, TH. I. Tit. 1. $ 122 f.) der Meberlebende die Wahl habe, ob er
die erhaltenen Gefchenfe austaufchen wilf oder nicht. Uebrigens bedarf es faum
der Erinnerung, daß, da der Mahlſchatz ein bloßes Verftärfungsmittel der Spon«
falten ift, der Geber durch das bloße Fallenlaffen deffelben feineswegs ſich
son der Verbindlichkeit der Verlöbnißtreue befreien fann. Ausführlicheres bei
J. Wolf, De arrhis sponsalitiis, Aldorf. 1670; B. Bardili, De sponsalitia largitate,
Tubing. 1675; C. U. Grupen, De donationibus ante nuptias, Francof. et Lips.
1741. 4. | [Yermaneder.]
‚Mähren, Moraver hießen jene Slaven, welche längs des Flußgebietes der
Morawa (March) ſich angefiedelt hatten, Die gegen die Avaren (f. d. A.) feit
791 geführten Kriegszüge benüßte Kaifer Carl der Große nicht nur bei, diefem
Mähren. 749
Bolfe, fondern auch bei den Mähren, dem Chriſtenthume Eingang zu verfchaffen.
Diefer Fürft erteilte dem Erzbifchofe Arno (ſ. d. A.) von Salzburg den Auftrag,
für die weitere Ausbreitung des Chriftenthums in Mähren die nöthigen Bor-
fehrungen zu treffen. Carl befiegte au die Mähren und brachte deren König.
Samoslav dahin, daß er fih taufen ließ. Im Jahre 826 mußte in Mähren be—
reits eine anfehnlihe Kirche befanden Haben; das beweist ein Schreiben des
Papftes Eugen II. an die Bifchöfe Rathfred von Faviana (Wien), von Olmütz,
(Ecclesia Speculi Juliensis), von Nitrawa, von Betuara (Wettau in Mähren,
nah Andern auch Wellifrad), defgleichen an die Herzöge Tuttund und Moy-
mar und an andere Große des Reichs. Ju diefem Schreiben beftellt der Papſt
den Erzbifchof Yrolf von Lorch (Laureacum) zum oberften Kirchenvorfteher in
Mähren fowohl, als in Pannonien und Möften. Gewiß if aus den überein-
flimmenden Nachrichten, daß in der Mitte des neunten Jahrhunderts das Epriften-
tum in Mähren bereits Wurzel gefaßt hatte, nur nicht allenthalben war daffelbe
begründet; die völlige Befehrung der Moramer war vielmehr das Werf der bei-
den Brüder Eyrillus und Methodius, Nadislav nämlich, der Brudersfohn
Moymars, war im J. 846 unter Zuftimmung des teutfchen Königs Ludwig in
der Regierung feinem Oheime nachgefolgt. Da er fi aber gegen Ludwig, in
Berbindung mit den Serben, Winden, Böhmen und andern Slaven, auflehnte,
fo ward er von demfelben befriegt und ihm 870 ausgeliefert. Während des Kriegs
hatte Radislav, um fih gegen Ludwig zu verflärken, feinen Neffen Swatopluk
an den Bulgarenfonig Michael gefandt, um mit vemfelben ein Bündniß zu ſchließen.
Bei diefer Gelegenheit lernte Swatopluf die beiden Apoftel der Bulgaren (ſ. d. A.),
Eyrillus und Methodius, kennen und die von ihnen gepredigte Neligiom hoch»
ſchätzen; nad feiner Rüdfehr fuchte er feinen Oheim gleichfalls für diefelbe zu
gewinnen, was auch endlich gelang. Kaifer Michael ward erfucht, die beiden
Glaubensprediger nach Mähren gehen zu Iaffen. Die beiden griehifhen Mönche
kamen wirflih in Mähren an, bewiefen ſich als gehorfame Söhne der römifchen
Kirche, Radislav, Smwatopfuf und die Vornehmen ließen fih taufen, das Bolf
und die Gdgenpriefter folgten nah; zum Beweife, wie lieb den Mähren- die
chriſtliche Religion fer, nannten fie ihre hriftlihen Priefter Knezi, d. i. Fürften,
Eyrilfus und Methodius hatten vor Iateinifhen Miffionären fhon den Vorzug,
daß fie der flavifchen Sprache fo weit mächtig waren, um dem Bolfe darin den
chriſtlichen Unterricht ertheilen zu Fonnen. Um aber den Erfolg zu fihern, feßte
Eyrilfus ein eigenes flavonifches Alphabet feit, überfegte darnach die Bibel (f.
Bibelüberfegungen Bd. 1. S. 951) und fonft Bieles- aus dem Griechifhen
und Lateinifchen für die Mähren in’s Slaviſche. Schon der Hl. Hieronymus fol
für die Slaven ein eigenes Alphabet, auch das Glagolitifche genannt, erfunden
haben, und Diehrere nehmen an, daß Eyrillus (früher wegen feiner Wiffenfhaft
Eonftantinus der Phil oſo ph genannt) nur die Hieronymianifchen Schriftzüge in
eine bequemere Form gebracht habe. Beiderlei Alphabete finden ſich noch vor,
die Cyrilliſchen Schriftzüge find bis auf die neueren’ Zeiten in der Bulgarei, im
Servien, Bosnien, in der Moldau und Walachei üblih gewefen. Gewiß ift, daß
Eyriffus durch den Gebrauch der altflavifhen Spradhe bei dem Religionsunter-
richte und der Liturgie wefentlich die Belehrung der Mähren befchleunigte, welche
im J. 867 bereitd mußte zu Stande gefommen fein; denn in diefem Jahre oder
im folgenden haben die Glaubewsprediger eine Reife nah Rom angetreten, Cyrill
fol bald nach ihrer Ankunft in Nom (zwiſchen 868 und 870) geftorben fein; _
Methodius aber ward von Papft Hadrian II. zum Bifhof von Mähren und Pan-
nonien confeerirt (868), weßwegen er auch Archiepiscopus Pannoniensis Ecelesiae
benannt ward, Der Sprengel, über den Methodius gefegt war, hatte demnach
eine fehr bedeutende Ausdehnung, da er außer der Markgrafihaft Mähren einen
anfehnlichen Theil des heutigen Deftreih und Ungarn umfaßte, Diefe große
50 Mähren.
Ausdehnung entforach allerdings ganz ben Wünfchen der gegen die Teutfchen ein-
genommenen mährifhen Negenten; aber eben fo mißliebig war den angrenzenden
teutfgen Kirchen die daraus hervorgehende immer fleigende Befchränfung ihres
ZJurisdietionsgebietes. Vorzüglich betheiligt dabei waren die Bifhöfe von Salz—
burg und Paſſau. Der Erftere mit feinem Clerus verflagte den Methodius zu
Rom, daß er irrig lehre und flatt der Tateinifhen die flavifhe Sprache beim
Gottesdienfte eingeführt habe. _ Beides verhebt ihm Papft Johann VIN. in einem
Schreiben vom 3. 879, befcheidet ihn nach Nom zu fih, „um zu erfahren, ob
er (der Glaubensbote) in Wort und Schrift dem Glauben der römifhen Kirche
gemäß Iehre, wie er vorbem gelobt habe.” . „Zn jener „barbarifchen” (d. i. fla-
vifhen) Sprache dürfe er ferner nicht mehr die hl. Meffe feiern, fondern in der
lateiniſchen oder griechifchen Sprade, die dafür alfer Drten im Gebrauche feien,
Predigen aber dürfe er in ſlaviſcher Sprache vermöge des Ausfpruchs des Apoftels
(Phil. 2, 11.): Jede Sprache thue es Fund, daß der Herr Jeſus in der Herr-
Tichkeit des Vaters iſt.“ Methodius reiste nach Nom und rechifertigte vor dem
Papfte fein Verfahren auf eine fo glänzende Weife, daß ihm der Papft feine Zu-
flimmung ertheilte, ihn in allen Firchlichen Lehren und Nechten bewährt fand und
ihm die flavifhe Sprache au für die hl. Meffe zugeſtand; „denn“, fo ſchreibt
der Papft im J. 880 an Swatopluf, „es gezieme fih, Gott nicht bloß in drei
Sprachen, der hebräiſchen, griechifchen und Lateinifchen, zu loben und zu befennen,
fondern auch in allen übrigen, denn auch die übrigen habe Gott zu feinem Lobe
und Ruhme gefhaffen. Wohl könne man die von einem Philoſophen Conftantin
(Cyrillus) erfundene flavifhe Schriftiprahe dazu benügen, um wohlüberfegte
bibliſche Abſchnitte in ihr vorzulefen und Lieder zu fingen, felbft das Meffelefen
in diefer Sprache widerftreite dem Glauben nicht, doch verordne er, daß zum
Zeichen größerer Chrerbietung in allen Kirchen das Evangelium zuerft lateinisch,
und dann in flavifcher Heberfegung verlefen werde (f. den Art, Kirchenſprache).
Er ſchickte dem Könige (Swatopluf) hiemit den Methodius als beftätigten Erz-
bifchof der mährifchen Kirche zurück, deßgleihen den ihm von dem Könige zu—
gefandten Priefter Wichin, den er zum Bifchofe von Nitra geweiht Habe, Der
König möge ihm noch einen andern Priefter fenden, den er für eine andere Ge—
meinde, wo es nöthig fei, zum Bifchof weihen könnte, damit immer mehr Lehrer
und andere Elerifer unter dem Gehorfame des Erzbifchofs angeftellt würden.”
Sp kehrte Methodins mit neuen Anfehen umgeben nah Mähren zurüd, Aber
auch jegt Tief ihn die Mißgunft der Nachbarn nicht unangefochten. Auch fanden
viele eifrige Anhänger des Lateinischen Nitus noch in fpäterer Zeit bedeutenden
Anftoß an der flavifchen Sprache; noch um die Mitte des 1tten Jahrhunderts
ward auf einer Synode der Bifhöfe von Dalmatien und Croatien befchloffen,
daß Niemand fih Fünftig unterftehen folfe, in der Liturgie das Slaviſche zu ge—
brauchen, auch follte Keiner, der diefe Sprache allein redete, in den Clerus aufs
genommen werden. Neue Mifverhältniffe führten Methodius abermals nah Nom
(881), von wo an ung beftimmte Nachrichten über ihn fehlen. In den Tegtern
Jahren des Königs Swatopluf, der nach mißglückter Empörung gegen den teut-
fhen König Arnulph im 3. 894 ftarb, ſoll Methodius vielen und beilbringenden
Antheil an den Negierungsgefchäften gehabt Haben, Wenn es mit der Annahme
richtig ift, die des Methodins Tod bis zum Jahre 910 hinausrückt, fo hat der
maͤhriſche Glaubensapoſtel noch den Sturz des Mährenreihes erlebt, das 908
von den Böhmen und Ungarn zertheilt wurde, worauf auch die mährifchen Bis—
thümer verſchwinden. Papft Agapet II. gab die Jurisdiction über Mähren an
Paffau zurück, 981 ward es dem Bisthume Prag einverleibt, 1062 erhielt bie
mährifche Kirche ein eigenes Bistum in Olmütz. Von Mähren aus drang das
Licht des Evangeliums durch Methodius auch nach Böhmen (f. d. A.) vor, deffen
Herzog Borziwoi Cum 894 nach Cosmas Prag.) fammt feinem Gefolge von
Mährifhe Brüder — Mailand, 751
Methodius getauft ward. Der befehrte Herzog wirkte in Verbindung mit feiner
Gemahlin Ludmilla (ſ. d. A.), welche die erfte böhmifche Heilige geworden, unter
der Leitung des Methodius raftlos für die Weiterverbreitung des Chriftenglaubeng
in Böhmen, und ihr Sohn Spitignew trat in die Fußflapfen feiner Eltern. Zwar
erhielt das begonnene Glaubenswerk einen empfindlichen Rückſtoß durch die Wittwe
feines Bruders Wratislaw, die empörungsfüchtige Drahomira, welche ihre Schwie-
germutter Ludmilla ermordete und die erbauten Kirchen zerftörte. Ihr Sohn
Wenzeslaw war zwar dem Chriftenthume wieder gewogen, allein nach deffen Er-
mordung durch den graufamen Boleslaw ſchien das Heidenthum über das drift-
liche Slaubenslicht triumphiren zu wollen. Doch erzwang Dtto I. von Boleslaw
das Verfprechen, die hriftlichen Kirchen wieder herzuftellen, Sein Sohn Boles-
law II. ward ein Schild der Kirche, und befeftigte diefelbe befonders durch die
Gründung des Bisthums Prag Ceirca 967), welches Johann XII. unter der Bes
dingung des Tateinifchen Nitus beftätigte, Vortrefflihe Stügen der neuen böhmi-
fhen Kirche waren deren erfte Bifchöfe Dithmar und Adalbert (f. d. A.), wovon
der legtere bei der Befehrung der Preufen fish die Martyrerfrone errang. —
Die Details liefern folgende Werke: Die Bollandiften, Schwandtner scriptor. rer.
Hungaric. Die griechiſche Lebensbefchreibung des Elemens, Erzb. d. Bulgarei,
Wien 1802. Neander, Kirchengeſch. Bd. IV. Pilarz et Morawetz Moraviae hist.
eccles. et pol. 3. T. Dobrowsfy, Cyrill und Methodius, d. Siavenapoftel, Prag
1823, und deffelben mähr. Legende v. Cyrill u. Meth. Stredowsky sacr. Mora-
viae hist. Salisb. 1710 ift unfritifh gefchrieben, Eritifch gehalten ift die Bearbei-
tung in Assemani Calendaria L. I. II. — Glagolitica, über den Urfprung der
röm.-flav. Liturgie, Prag 1832. [Dür.]
Mährifche Brüder, f. Böhmifhe Brüder.
Maiandacht (Maigebet) nennt man die Gebete, welde von vielen Gläu—
bigen den Monat Mai hindurch zu Ehren der feligften Jungfrau Maria verrichtet
werden, Es liegt ihrer Einführung die Zdee zu Grunde, daß Maria ein Cultus
hyperduliae (f. d. A.) gebühre,, viefelbe daher auch mehr als alle andern Heiligen
geehrt werden fol, und es fih fomit gar wohl zieme, den fchon beftehenden ma—
rianiſchen Feierlichkeiten, die theils auf Anordnung der Kirche als Feft- oder Ge—
dächtnißtage einmal im Laufe der Jahresperiode, theild durch die Frömmigkeit
der Öläubigen an jedem Samflage in der Wochenperiode wiederfehren, Andachten
anzureihen, durch die der ganze Mai eines jeden Jahres Maria gleichfam ge-
weiht, d, i. ein marianifcher wird. Es bat ſich diefe Andacht erft in der neueften
Zeit von Italien aus verbreitet; Pius VII. hat fie in einem Breve vom 21. März
1815 nicht bloß gutgeheißen, fondern auch mit großen Abläffen begnadigt, indem
jedem Gläubigen, der diefe Andacht öffentlich oder zu Haufe vornimmt, nicht bIoß
täglich ein Ablaß von 300 Tagen, fondern noch überdieß an einem beliebigen
Tage des Monats, an welhem er reumüthig beichtet, andächtig communieirt und
für die Anliegen der Kirche nach der Meinung des hl. Vaters betet, ein voll-
fommener Ablaß angeboten wird; auch können diefe Abläffe fürbittweife den armen
Seelen im Fegfeuer zugewendet werben. An manchen Orten wird das Bolf durch
tägliche Predigten und andere gottesdienftliche Feierlichkeiten aufgemuntert, fie zu
entrichten. Der Monat Mai dürfte hiezu gewählt worden fein, weil er ber
fhönfte im Jahre ift, und ſchon durch das Wiedererwachen der Natur Jedermann
einladet, auch geiftiger Weife wieder zu erwachen, und fih im Hinblife auf
Maria die Tugendreine mit Blumen der Seele zu ſchmücken. Auch mag man
daran gedacht haben, daß im Monate Mai fein marianifcher Feft- oder Gedächt-
nißtag begangen wird, fomit eine folhe Andaht um fo füglicher eingefchalten
werden fönne, Bol, hierzu den Art. Abendgottesvienf, IFr. & Schmid,]
Mailand, Erzbisthum. Daß die Kirche von Mailand fhon zur Zeit der
Apoftel geftiftet worden fei, hat nichts Unwahrfheinliches an fih, Als erften
752 4 Mailand, :
Bifhof von Mailand nennt man ben hl. Anatolon, welden ber Apoſtel Bar-
nabas aufgeftelit Haben fol. Mehr als bloße Namen von Biſchöfen, welche dem
Anatolon fuccedirt haben follen, bietet erfi das vierte Jahrhundert. Im Anfang
des vierten Jahrhunderts von 303—315 fand dem Bisthum Mailand vor der
Hl. Myrocles, der bei den gegen die Donatiften gehaltenen Synoden zu Rom
313 und zu Arles 314 anwefend war, Inter Myrocles erließ Kaifer Eonftantin
313 das befannte Ediet zu Mailand (ſ. Conftantin d, Gr.), weldes den
Chriſten freie Neligionsübung geſtattete. Auf Myrocles folgte der von dem BI,
Ambrofius als Confeffor befobte Hl, Euftorgius (315—331), und auf diefen
der HI. Protafius (331—352), der dem Colloquium zu Mailand zwifchen
Athanaſius und Kaiſer Conftanz 345 und der Synode zu Sardica 347 beiwohnte.
Unter dem Nachfolger des Protafius, dem Hl. Divnyfius (352—355), ver-
fammelte Kaifer Conftantius im 3. 355 eine große Synode von 300 Bifchöfen
zu Mailand, in welcher der Kaifer die Bifchöfe durch Gewalt und Betrug zur
Aufgebung des Hl. Athanaſius und zur Aufnahme der Arianer in die Kirchen- _
gemeinschaft zwang und bie flandhaften Biſchöfe, zu denen auch Dionyfius von
Mailand gehörte, mißhandelt und verbannt wurden. Dionyſius farb im Exil,
An des Vertriebenen Stelle fam der Arianer Aurenting, eine der vorzüglichften.
Stügen des Arianismus im Abendlande. Auxentius CH 374) hatte den großen
HL, Ambrofins zum Nachfolger (ſ. den Art. Ambrofius), dem gegenüber die
Kaiſerin Zuftina (ſ. d. A.) einen zweiten Auxentius zum Bischof von Mai-
land ernannte, der aber für feine Partei nicht einmal eine einzige Kirche zu Mai—
land erlangen fonnte, Ueber die Ambrofianifche oder Mailändifche Liturgie, welche
der Hauptfache nah fhon vor Ambrofius eingeführt worden ift, f. den Art, Liz
turgien. Ebenſo hatte Mailand fchon vor Ambrofius die Metropolitanwürde
erhalten; bald darauf wurde auch die Kirche von Aquileja (ſ. die Art, Aquileja,
Bayern, Kärnthen) zur Metropole erhoben und erlaubten die Päpfte den
beiden Metropoliten, wegen zu weiter Entfernung von Nom fich wechfelfeitig zu
prdiniren. — Die zwölf Nachfolger des HL. Ambrofius CH 393) bis auf Lauren-
tins I. einfchließlich werden von Ennodius (ſ. d. A.) in zwölf Epigrammen als fehr
würdige Bifchöfe gefeiert; e$ waren: der hl. Simplician von 398—400, „der
felige Venerius“ A00—A08, der „ehrwürdige“ Marolus 408—423 (f.
Boll. 23, Apr), „der Diener Gottes" Martinian 423—435, „ber ehr-
wiürdige” Glycerius A35—438, der hl, Lazarus 438-449 (f. Bolland.
11. Febr.), „der Freund Gottes“ Eufebius 449—464, von dem man einen
Brief an Papft Leo I. Hat, Gerontins 464— 470 (f. Boll, 5. Mai), „der ehr-
würdige” Benignus ATO—ATT, „der feligfte Mann“ Senator ITT—
480 (f. Boll, 28, Mai), „der mit allen Tugenden gefhmüdte” Theo-
dor 480-490, endlih Laurentius. 490-512 (f. Ennod. in Sirmondi opp.
Venet. 1728, t. I. p. 1131 eto.). Ennodiug war ein Freund des genannten Lau—
rentius und preist ihn in verfihiedenen Stellen feiner Schriften, Namentlich
machte fich Laurentius zur Zeit des Kampfes zwifchen Odoaker und Theodorich
bochverbient um Mailand, erbaute und reparirte dafelbft mehrere Kirchen und
ftand an der Spige der Kämpfer für den rechtmäßigen Papft Symmachus gegen-
über ven Schismatifern (f. bei Sirmond, ibid. p. 985, 1047—1051, 1053, 1116,
1119, 1127, 1128; Bolland. 27, Juli), — Dem Laurentins fuecedirte Euftor-
gius Il. 512—18 (f. Cassiod. Var. I. 9), diefem Magnus 518—530, dem
Magnus der Hl. Datius 530—552. Datius erhielt auf einen Bericht an
Eaffiodor über eine ausgebrocdene Hungersnotb Getreide für die Armen zur
Bertheilung. Zur Zeit des Datins brach der Dftgothenfrieg in Italien aus 535;
im darauffolgenden Jahre wurde Datins als Faiferlich gefinnt von König Theodat
aus Mailand verbannt, 539 Mailand von den Oſtgothen zerftört, In dem Drei-
eapitelftreit (ſ. d. A.) fand Datius dem bedraͤngten Papft Vigilius als treuer
Mailand, 753
Freund in Eonftantinopel zur Seite (f. Bol, 14. Jan). Nah dem Tode des
Datius (+ 552) ſchloß ſich fein Succeffor Bitalis (552—555) den Gegnern
der Berdammung der drei Capitel an und ftellte firh mit Bifchof Paulinus von
Aquileja an die Spige des im nördlichen Jtalien und Iſtrien wegen der Drei—
eapitel-Angelegenheit entftandenen Schisma's. Des Vitalis unmittelbarer Nach—
folger (555— 566), deffen Name unbefannt if, hing gleichfalls dem Schisma an,
> was vielleicht nicht mehr bei Auranius (566—568) und Honvratus (568—
570) ver Fall gewefen fein wird, da beide von der Mailänder Kirche zu den
- Heiligen gezählt werben (f. Papebrochii exeg. de episc. Mediol.), Unter Honvo—
ratus zog 569 Alboin mit feinen Longobarden in Mailand ein, Honpratus aber
rettete fih mit Vielen nah Genua, Gewiß ift, daß der Nachfolger des Hono-
ratus, Laurentius Il. (+ 592), dem Dreicapitel-Schisma entfagte, indem er
eine von einer binlänglichen Anzahl fehr vornehmer Mailänder unterzeichnete
„distrietissimam cautionem*, worin er der Verdammung der drei Capitel zuftimmte,
an den päpftlihen Stuhl einſchickte (f. Greg. M. ep. IV, 2, 39; I, 82; II, 26;
XI, 16). Dem Laurentius ſtand einige Zeit der Pfeudobifhof Fronto gegen-
über, wahrfcheinfich ein Dreicapitel-Schismatifer. Wichtig ift der Episcopat des,
Eonftantins (592— 600), guter Freund des HI. Papftes Gregor. Einftimmig
vom Clerus gewählt und nach Gregors eingeholter Beftätigung von den Biſchöfen
feiner Provinz ordinirt (feit dem Dreicapitel-Schisma hörte der Biſchof von Aqui-
leja auf, Ordinator des Bifhofs von Mailand zu fein), erhielt er von Gregor
das erzbifhöfliche Pallium, verwaltete fein Amt zur Zufriedenheit feiner Kirche
und des Papftes, der ihn mit mehreren Commiffionen betraute, und arbeitete im
Berbindung mit diefem dem oftgenannten Schisma entgegen; aber eben um des
lestern Grundes wegen trennten fich drei feiner Suffraganbifchöfe von feiner Ge—
meinfhaft, und wie leicht verzeihlich war feldft die fonft durchaus katholiſche Kö—
nigin Theodefinde (Greg. M. ep. I, 82; III, 29, 30, 31; IV, 1—4, 22, 38, 39;
IX, 67; XI, 4; und den Art, Longobarden). Gleich nach dem Tode des Con-
ſtantius ward ebenfo einmüthig Deusdedit gewählt (600—629). ALS dagegen
der Longobardenfönig Agilulph fih in die Wahl einmifchen wollte, erflärte Papft
Gregor, er werbe nie einen Bifchof anerfennen, der von den Longobarden auf—
geftellt würde, Wir befigen noch zwei Briefe diefes Papftes an Deusdedit Cf.
Greg. ep. XI, 4; XII, 38; XIII, 30). Der letzte Erzbifchof von Mailand, der feit
der Flucht des Honoratus aus Mailand nah Genua in der letztern Stadt vor—
zugsweife ſich aufhielt, war Aufterius (629—640). — Nah Aufterius faßen
auf dem Stuhle zu Mailand: Fortis, + 644; St. Johannes, der Gute,
+ 655, anwefend bei der Synode zu Rom 649 (f. Boll. 10. Febr.); Antonius,
+ 6575 Mauricillus, + 668%; Ampelius, + 6725 Manfuetus, + 681,
welcher zu Mailand 679 eine Synode hielt und 680 der römifchen Synode unter
Papft Agatho beimohnte (ſ. Boll. Febr.); Benedictus, + 725, „ein Mann
von ausgezeichneter Frömmigkeit, der in ganz Stalien großen Ruhm Hatte”, fagt
Paulus Diaconius (hist. Longob. VI, 28; f. Boll. 11. März), Theodor, + 7395
Natalis, + 7415 Arifred, + 7425 Stabilis, + 744; Lätus, + 759. —
Unter dem Erzbifhof Thomas, + 783, Fam das Iongobardifhe Neih an die
Franfen, Gleihwie über die Lage der Kirche im letzten Jahrhundert der longo—
bardifhen Herrfchaft große Dunkelheit herrfcht, weil nur Weniges in diefer Zeit
aufgezeichnet worden ift, ebenfo dunfelt es für die Zeit der fränfifchen Herrſchaft
in Stalien von 774—888, da Italien in diefer Epoche Feine Hiftorifer Hatte,
Daher find denn auch die Nachrichten über die Mailänder Kirche von 774 bis 888
fehr mager, Erzbifchof Petrus regierte 733—805, und fein Nachfolger Odel-
bert von 805— 8145 dem Einen oder dem Andern foll Carl der Große die an
die Mailänder Kirche von Kaifer Conftantin und feinen Nachfolgern gemachten
großen Schenfungen wieder reftituirt haben! (f. Papebr. exeg. ep. Mediol.) Frei-
Kirchenlexilon. 6. Bd, 48
754 Mailand.
lich erlangten die Kirchen in Italien während der fränkiſchen Herrſchaft dieſelben
Nechte wie im übrigen Frankenreiche, und kamen die italieniſchen Biſchöfe zu
gleicher hohen politiſchen Stellung und weltlicher Gewalt wie die andern frän-
kiſchen Prälaten. Der Erzbifhof Anfelm I (814—818) wurde wegen feiner
Betheiligung an der Empörung Bernhards gegen König Ludwig I. des erzbifchöf-
lichen Stuhles verluftig und an feine Stelle Bonus gefeßt. Als aber Bonus
822 farb, wurde der wieder zu Gnaden aufgenommene Anfelm reftituirt, lebte
jedoch nur mehr einige Monate, Um diefe Zeit herrfchte in der Mailänder Kirche
Thon ſtark das Lafter der Simonie; Papft Paſchalis I. (817— 824) machte hier-
über der Mailänder Kirche Vorwürfe; allein feitvem fcheint der Elerus von Mai-
Yand eine bis zum Schisma getriebene Abneigung gegen den römifchen Stuhl ge-
faßt zu haben, welche faft 200 Jahre lang die Einwirkung der Päpfte auf die
mailändifchen Angelegenheiten fehr Hinderte; man fagte, daß die Kirche des HI.
Ambroſius nicht erniedriget werden dürfe! (Döllingers Lehrb, d. Kirchengeſch.
Bd. U. 87, Regensb. 1838), Erzbifhof Angilbert I. flarb ſchon 8235 fein
Nachfolger Angilbert II. regierte bis 860, Tado bis 869, Anspert bis 832
<. über Angifbert II. und Anspert Perg, Script. II, p. 234, 237), Anfelm I.
His 897. Angilbert IL war einer der drei Vorfiger der Nationalfygnode zu
Pavia 850; im J. 855 und 875 oder 876 wohnten die Erzbifhöfe von Mailand
gleichfalls den Synoden zu Pavia bei. — Seit dem Ausgang der Carolingifchen
Dynaftie in Italien bietet diefes Land ein Bild der Auflöfung aller Bande dar;
die mächtigen Fürftenhäufer rieben fich gegenfeitig auf; nur die Biſchöfe beſaßen
noch Macht und Einfluß. Ueber die damaligen traurigen Zuftände der lombardi—
ſchen Rirche berichten Atto von Vercelli (ſ. d. A.), Ratherius von Verona
und Luitprand von Cremona (f. diefe Art). Bifchöfe zu Mailand waren
nach Anfelm IL: Landulph, +9005 Andreas, +9075 Atho, +919; Ouari-
bert, +922; Lampert, + 9325 Hilduin, + 937; Arderieus, + 947. Lam-
yert mußte dem König Berengar für den Episcopat eine große Summe bezahlen,
wofür Lampert fih wohl zu rächen wußte (ſ. Luitpr. Antapod. bei Pers Seript. IH.
@V) p. 298, 305, 312). Hild u in war früher Bifhof von Leodium, ging, von
da vertrieben, nach Italien zu dem ihm verwandten König Hugo, welder ihm
das Bisthum Verona und nah Lamperts Tod das Erzbisthum Mailand gab.
Mit Hilduin Fam auch der Minh Natherius nah Italien und wurde Biſchof
von Verona (ibid. p. 312, 369, 370, 576— 77). Ardericus war ſchon ziemlich
alt, als ihn König Hugo auf den erzbifchöflihen Stuhl brachte; er follte namlih
einftweilen, bis Hugos Baftard Tedbald etwas herangewachfen wäre, einen Lücfen-
büßer abgeben; aber wider Vermuthen und ungeachtet eined Vergiftungsverfuhes
von Hugo regierte Ardericus 22 Jahre Cf. ibid. p. 319, 335 und Script. VII.
IX] p. DO. — Angefangen von dem Archiepiscopate des Ardericus bis zum Jahr
1077, liefern für diefe Zeit die „gesta archiepiscoporum Mediolanensium* des
maifändifchen Elerifers Arnulph (+ gegen Ende des 11ten Jahrh.), fowie bie
„historia Mediolanensis* Land ulphs, eines andern mailändifchen Clerikers des
11ten Jahrhunderts (f, beide Werfe bei Pers, Soript. VII. [X]) viele, zum Theil
wichtige Nachrichten, befonders Arnulph. Nach dem Tode des Erzbifchofs Arde-
rieus fämpften fünf Jahre lang um den erzbifchöflihen Stuhl Manaffes und |
Adelmann. Während diefer vom Volke unterflägt wurde, erhielt jener die Mai-
Yänder Kirche von König Berengar II., obwohl ihm König Hugo, fein Vetter, be—
reits die Bisthümer Verona, Mantua und Trient fimoniftifh übergeben: hatte,
wozu auch noch das Bisthum Arles zu rechnen ift, welches Manaffes, nach Italien
gehend, verließ, aber nicht aufgab, „Inter hos fluctus, fagt Arnulph, natabat
caute Walpertus“ und gelangte auf dem erzbifchöflichen Stuhl; er rief mit an- -⸗
dern Grofen den KR. Dtto I. nach Italien und farb 969. Sein Nachfolger,
Erzbifchof Arnulph I. „vere deolinans a malo et faciens bonum*, war ein Ver-
Mailand, 755
wandter des Hiftorifers Arnulph und farb ſchon 973. Dem Arnulph I. ſuccedirte
der Subdiacon Gotefred (+ 978), dem Clerus und Volk Anfangs wenig ge-
nehm, weil er als bloßer Subdiacon zum Erzbifhof gewählt worden war. Noch
unbeliebter war dem Volke Erzbifhof Landulph IL CH 997) wegen der Inſolenz
feines Vaters und feiner Brüder, doch fand zulegt eine Ausföhnung zwifchen Lan—
dulph und dem Volke Statt. Landulph war auf der von Papft Gregor V. prä-
fidirten Synode zu Pavia 997 anwesend (ſ. Pers, Script. Il, 649). Erzbifchof
Arnuph ll. C+ 1017) reiste im Auftrage Otto's IH. nah Conſtantinopel, um für
ihn eine Gemahlin zu erhalten, und erhielt hier vom Kaiſer die eherne Schlange
zum Gefchent, welche Mofes in der Wüfte erhöht Habe, Auf der Rückkehr machte
. ze bei dem Papfte zu Nom feine Aufwartung. K. Heinrich IL hatte den noch
befegten bifhöflichen Stuhl von Afti vem Alverie übergeben, und diefer war zu
Nom conſecrirt worden, weil Arnulph fih zur Confecration nicht herbeigelaſſen;
bierüber erbittert, fprach Arnulyh über Alderie die Excommunication aus und
überzog ihn mit Krieg, in deffen Folge fih Alderie unterwarf, Im Uebrigen, be—
merft Arnulph in gest. Arch. Mediol. „sacerdotaliter suam regebat ecelesiam, cle-
rum fovens ac populum, suisque plane vacans negotüs*. Arnulphs IL. Nachfolger,
Heribert CH 1045), der Gipfelpunet der weltlihen Macht der Mailänder Kirche,
der mächtigfte Fürft feiner Zeit in Oberitalien, ein berrfchfüchtiger und Friegeri-
ſcher Gebieter, Iud fo fehr den Zorn Conrads U., der ihm die italifche Krone
dankte, auf fih, daß er ihn 1036 gefangen nehmen ließ und den Priefter Am-
brofius an deffen Statt zum Erzbiichof aufitellte, doch entrann Heribert bald der
Gerfangenfhaft und föhnte fid 1040 mit K. Heinrich II wieder aus, Indeß
fehlte es dem Heribert auch nicht an guten Eigenfchaften, die Armen empfingen
Hon ihm viel, und vor feiner virga pastoralis, wenn fie auf das Gebiet der mit
einander Streitenden eingeftecft wurde, hatte man großen Reſpect. Merfwürdig
ift, was Landulph von dem Manichäer Girard erzählt (Perg, Script. VII, 65),
den Heribert um fein Glaubensbefenntniß fragte. S. Weiteres bei Vers, ibid.
p. 11—17. u. 57— 69, — Unter Erzbifhof Guido (1045—1071) brad
endlich das Gefhwür auf, an dem die Mailänder Kirche ſchon feit Langem tödt-
lich Eranf lag. Die Iombardifchen Kirchen, und an der Spige derfelben die mai—
ländiſche, waren per excellentiam die Heimath der Simonie und des Coneubinats
der Geiftlichen geworden, und flatt daß die Bifchöfe dem Unweſen gefteuert hät-
ten, waren fie felbft die ärgften Simoniften und Coneubinäre, Auch Erzbiſchof
Guido von Mailand war von diefer doppelten Peft angeſteckt. Da erhob endlich
der mailändifhe Priefter Anfelm da Baggio (nachher Papft Alerander IL) feine
Stimme gegen das Verderbniß, die mailändifchen Cleriker Landulyh Cotta und
Ariald fielen ihm bei, und bald fanden fih in Mailand und ganz Oberitalien
zwei Parteien gegenüber, wovon die eine, unter der Einwirfung des päpftlichen
Stuhles für Reformation fämpfte und zulegt auch fiegte, die andere aber unter
den Fittigen des Kaiſers Heinrich IV. (ſ. d. A.) fih um das Fett der Kirchen-
pfründen und um ihre Weiber und Huren wüthend wehrte, dabei als Lofung die
Freiheit der Kirche des HI. Ambrofius von dem Joche der römifchen Kirhe im
Munde führend, Im Berlaufe des Kampfes verkaufte Erzbifchof Guido feine
erzbifhöflihe Würde an einen gewiffen Gottfried, Schügling Heinrichs IV.,
wogegen die Neformpartei 1072 den mailändifchen Priefter Atto zum Erzbifchof
wählte; aber Atto wurde nie geweiht und Gottfried in Mailand nie anerkannt,
Dagegen nahm der von Heinrich IV. intrudirte Ted bald den erzbifhöflichen Stuhl
von 1076—1085 ein (f. Arnulph und Landulph bei Perg, 1. eit.; Döllinger,
Lehrb, der Kirchengeſch. Bd. I. S. 76 ꝛc.). — Nach diefen Stürmen begann unter
Erzbifhof Anfelm II. (1086—1093), der fih an Papft Urban I. anſchloß,
eine beffere Richtung, aber noch lange ging es her, bis ein vollfommen geordneter
Zuftand zurüdfehrte, Erzbifchof Arnulph II. (1093—1097) ward bloß von
45*
einem Bifchofe ordinirt, mit Beiftimmung mehrerer anderer Bifchöfe, welche
jedoch, weil fie Schismatifer und vom römiſchen Stuhl ercommunieirt waren,
die Hände nicht auflegten, und da er nad feiner Wahl fih vom Kaifer hatte
inveftiren laffen, durch den Legaten des apoftolifhen Stuhles deponirt, aber nach—
ber wieder reſtituirt. Erzbifhof Anfelm IV. (1097—1101), der allen die von
ihm dedicirte HI. Grabfirhe zu Mailand Befuchenden einen Ablaß „tertiae parlis
delictorum“ gewährte, hatte zum Nachfolger den Peter Grpfulanus, früher
Biſchof von Savona, einen unterrichteten und um die römische Kirche durch feine
Dienfte gegen die griechifchen Schismatifer verdienten Mann, deffen Eingang in
den Episcopat aber nicht rein von Simonie war, und den der mailänder Clerus
zur Abdication zwang. Nah den Erzbifhöfen Jordanes (1112—1120) und
DIrieus (1120—1122) regierte Anfelmus V. de Pufterla die Mailänder
Kirche (1122—1132). Obwohl Anfelm wider den ausgefprochenen Willen der
Mailänder nach Nom zu Papft Honorius II. reiste, fo weigerte er fich hier doc,
das Pallium aus der Hand des Papftes zu empfangen, denn die Mailänder er-
blieften eine Demüthigung der Kirche des HI. Ambrofius darin, daß ihre Erz—
bifchöfe perfönlih nach Rom reifen und da das Pallium erhalten follten, weil die
alten Päpſte den Erzbifchöfen das Pallium bloß zugefchickt hätten. Ereommunieirt
von dem päpftlichen Legaten Johannes von Crema, weil er den Hohenftaufen
Eonrad, Heinrihs V. Neffen, gekrönt hatte, hielt er es nad) des Papſtes Hono—
rius U. Tod mit dem Afterpapft Anacletus II. und nahm von diefem das Pallium
an, wurbe aber, nachdem die Partei des rechtmäßigen Papftes Innocenz IL. auch
in Deailand die Oberhand gewonnen, aus Mailand vertrieben. Damals fam der
hl. Bernhard nach Mailand und wurde mit ungeheurem Jubel empfangen. Die
Mailänder wollten ihn an die Stelle des Anfelmus zu ihrem Erzbifchofe machen,
aber er fihlug e8 aus, und unter feinem Einfluß wurde Robaldus, Bifchof von
Alba CH 1145) zum Erzbifchof gewählt. Bernhards Anwefenheit wirkte auf Alfe
fo mädtig, daß Alles Buße that, Alles von feinen Winfen abhing, Altes fi
für Papft Innoeenz und Kaifer Lothar erklärte. Unter Robalds Nachfolger
Dbertus (1145—1166) brach der Kampf zwifchen Papft Alerander II. und den
Lombarden einerfeitsS und dem Kaifer Friedrich I. und feinem Afterpapft anderer-
feits aus, Erzbifchof Obert fprah im Verein mit dem bäpftlichen Legaten Jo—
hann von Anagni den Bann über Friedrich und den Afterpapft aus, Mit un-
erhörter Graufamfeit verwandelte Kaifer Friedrih im J. 14162 Mailand in einen
Schutthaufen. Erzbifhof Galdinus (1166—1176), Kanzler des Dbertus,
deffen treuer Begleiter auf der Flucht vor Kaifer Friedrich er gewefen, hatte die
Freude, die aus ihrer DVaterftadt vertriebenen Mailänder wieder zurüdgeführt
und den Wiederaufbau ihrer Stadt zu ſehen. Er zeigte ſich ald wahren Helfer
und Tröfter feines Volkes, feste ſtatt der ſchismatiſchen, mit Friedrichs Afterpapft
es baltenden, Fatholifche Bifchöfe in feiner Provinz ein und predigte eifrig gegen
die Katharer, welche in Mailand auftauchten. Galdinus wird den Heiligen bei-
gezählt (ſ. Bolland. 18, April). Nach Galdins Tod wurde nah längern Wahl-
ftreitigfeiten Algifing zum Erzbifchof gewählt (1176—1185)5 diefem folgte
Ubertus Erivelli, welcher, zum Papfte gewählt, ſich Urban IL nannte und
das Erzbisthum beibehielt CH 1187) 5 dem Übertus fuccedirte Milo (1187—1195),
diefem Ubertus de Terziago (1195— 1196) und Philippus (1196— 1207),
Bol, über alle diefe mailändifchen Erzbifchöfe des I1ten und 12ten Jahrhunderts
die Exegefe Papebrochs über die Erzbifchöfe von Mailand bei den Bollandiften
t. VII. Maji ab initio und Pers, Script. VII. (X) p. 104 eto. — Bei Perg 1. eit.
p- 106 etc. findet ſich eine Fortfegung des von Papebrod erläuterten Catalogs
der Mailänder Erzbifchöfe, welche die Erzbifchöfe des 13ten und zum Theil auch
bes 14ten Jahrh. enthält. Erzbifchöfe des 13ten Jahrhunderts nah Philipp
waren; Ubertus de Pirovann (1207—1211); Girardus de Seffa, ge
Mailand. 757
ftorben noch vor der Conſecration; Heinrich de Setara, 1213 vom Papſt
aufgeftellt, weil fih die Parteien über eine Wahl nicht vereinigten, ein Kämpfer
„pro totius ecclesie tuenda libertate, pro istius majoris ecclesie honore conser-
vando, pro hereticis expellendis, pro episcopis qui videbantur a subiectione Me-
diolanenis ecclesie absoluti, recuperandis*, + 12305 Wilhelm de Ruzolio
c1230—1241), dem bei Perg 1. c. großes Lob gefpendet ift; Leo de Perego
(1241—1257), durch ſich feldft gewählt, nachdem er mit der Wahl beauftragt
worden war, ein tapferer Vertheidiger der Freiheit feiner Kirche, aus Mailand
durch die Bolfspartei verbannt; Dtto degli Bisconti (1262—1295), ernannt
von Papft Urban IV., zwar mehr Krieger und Staatsmann, als Bifhof, doch
auch als Bifchof nicht ohne Verdienfte, nach dem Siege über die Torrianen 1277
und fpäter nochmal zum Signore von Mailand erwählt, als welcher er die Ge-
walt fo benügte, daß er feiner Familie den Weg zur fürftlichen Stellung bahnte.
Bol. Leo's Gef. von Stalien, Bd. I. Zu Otto's Zeit zählte Mailand zw,
150— 200,000 Einwohner, 13,000 Privathäufer, Lehrer für Grammatif und
Logik 15, und für den Elementarunterriht T0—80, Bürherabfihreiber, die zu—
gleich Buchhändler waren, 50. — Bon den Mailänder Erzbifhöfen des 14ten
Sahrhunderts nur Folgendes. Da die Wähler über einen Nachfolger Dito’s ſich
nicht vereinigten, ftellte Papft Bonifacius VII den Rufinus da Friffeto zum
Erzbifchof auf, der als Fremdling zu Mailand nicht eingelaffen, fih durch einen
Bicar vertreten Tieß und Fein volles Jahr lebte, Sein Nachfolger Franz, ein
Parmefaner (+ 1307), war von feiner größern Bedeutung. Diefem fuecedirte
Caffone della Torre, der durch die Verbannung, welde feine Familie traf,
von dem Site des Erzbisthums ausgefchloffen, das erledigte Patriarhat von
Aquileja erhielt CH 1318). An feine Stelle wählte man Giovanni degli Vis—
eonti, einen Sohn Matteos, des Signore von Mailand, worauf aber Papft
Johann XXI. feine Rüdfiht nahm, fondern den Franeiscaner Aicardo zum Erz-
bifchof ernannte. Aicardo wurde von Matteo erft um 1320 anerkannt, Der
Afterpapft Ludwig des Bayern, Nicolaus V. genannt, erhob zwar 1323 den Gio—
Hanni Visconte zum Cardinal, päpftlichen Legaten und Erzbifhof von Mailand,
dieß hatte aber für Giovanni feine andere Folge, als daß ihn Papft Johann XXIL
ercommunicirte, Erft nah dem Tode Aicards (+ 1342) erhielt er, da er wieder
zum Erzbifchof von Mailand gewählt worden war, hiefür die päpftliche Beftäti-
gung, und nach dem Tode feines Bruders Luchino 1349 wurde er auch alleiniger
Sigupre von Mailand. Er farb 1354 im 6Aften Jahre feines Alters, Ohne.
. Sinn für das geiftliche Leben, war er für die weltlichen Verhältniſſe fehr gefchickt,
ein Freund Petrarca’s, ein Verehrer des Dante, zu deffen Comedia divina er
einen Commentar durch zwei Theologen, zwei Philoſophen und zwei Meifter der
freien Rünfte auszuarbeiten befahl. — Nah Giovanni verfhwand mehr und mehr
der Einfluß der Mailändifchen Erzbifhöfe auf die bürgerlihen und politifchen
Verhaͤltniſſe; dagegen nahm fih die Geiftlichfeit mehr um die Pflege der Wiffen-
ſchaft und der Frömmigkeit an. Die Mailänder Erzbifchöfe bis auf Friedrich
Boreomäus herab fuccedirten fih in folgender Neihe: Robert Visconti,
1354—13605 Wilhelm Puftrella, vorher Patriarh von Conſtantinopel,
1361—-13705 Simon Borfanus, wegen feiner großen Kenntniffe im canpni=
{hen Rechte zum Cardinal erhoben, 1370—1373; Antonius de Saluzzi,
1373—1402, deffen Regierung durch den Bau des herrlihen Mailänder Domes
verberrlihet iftz Petrus Bilargus, 1402—1409, im Conecil zu Pifa zum
Papft gewählt (Alerander V.); Franeiscus de Ereppa und diefem gegenüber
Sohannes Visconti, jener von Papft Alerander V., diefer von Papft Gre-
gor XII. aufgeftellt5 nach de Creppa's Tod 1414 Bartholomäus Capra, im
Eoneil zu Conftanz von Papft Martin V. als rechtmäßiger Mailänder Erzbifchof
erklärt, + 14355 Francis eus Piceiolpaffi, + 14435 Heinrich Nampini,
798 Maimburg.
1443—1450, Cardinal; Johannes Visconti, 1450—14535 Nicolaus _
Amidanus, 1453—1454; Gabriel Sforzia, 1454—1457;5 Carl, 1457—
14605 Stephan Nardini, 1460—1484, einer der trefflihften Mailänder
Erzbifhöfe; Johannes Arcimboldus, Cardinal, 1484—1488, und deffen
Bruder Vido Antonius, 1488—1497;5 Hippolythus L, Eardinal, 1497—
1520, und Hippolythus ll. 1520—1550, beide aus dem Haufe Efte; Jo—
bannes Angelus Arcimboldug, 1550—15555 Philippus Archintus,
1556—1558. Diefem folgte der unfterblide Carl Borromäus (f, den Art,
Borromäus) und deffen würdiger Vetter Friedrich Borromäus (+ 1631),
ver Carls Reformation der Mailänder Kirche mit allem Eifer fortfegte und ſich
um die Ambroſianiſche Bibliothek unfterblihe Verdienfte erwarb, ©, F. Ughelli,
Italia sacra, t. IV, Romae 1652, de Archiep. Mediol. Vgl. Hierzu den Artikel
Stalien. [Schrödl.)]
Maimburg, Ludwig, zu Nancy 1610 von adeligen Eltern geboren, trat
1626 in die Geſellſchaft Jefu, Tegte in derfelben die vier Gelübde ab, und Tehrte
zuerft feh8 Jahre lang die Beredtfamfeit und die fhönen Wiffenfchaften; darauf
verfah er viele Jahre hindurch das Predigtamt in den erften Städten Frankreichs
mit viel Beifall und Segen. In feinen alten Tagen (im J. 1682) erlebte er
das herbe Geſchick, daß er auf Befehl des Papftes Innocenz XI. aus der Gefell-
fhaft austreten mußte, weil er gegen den römifchen Hof zu Ounften des fran-
zöfifchen Clerus gefchrieben hatte. Vergebens bat der König feine Obern, ihn
aus der Geſellſchaft nicht auszuftoßen. Der König bedachte ihn mit einer anfehn-
lichen Penſion; Maimburg z0g fi in die Abtei von St. Victor zu Paris zurüd,
wo er fich mit gelehrten Arbeiten befchäftigte, und wo er gerade, als er eine Ge-
ſchichte der Spaltungen der anglicanifchen Kirche unter der Hand hatte, 1686 in
einem Alter von 77 Jahren von einem töbtlihen Schlagfluffe befallen ward,
Maimburg eiferte fehr gegen die franzöfifche Ueberfegung des neuen Teftaments
zu Mond; daher wurden die Janfeniften feine Feinde, die er, ein fühner und
lebhafter Charakter, wie er war, auch feinerfeits fowohl öffentlich als privat bei
allen Gelegenheiten angriff. Man hat von Maimburg viele Schriften hiftorifchen
Inhalts, die 14 Bände in 4, und 26 Bände in 12. füllen. Seinen hiſtoriſchen
Schriften ließ er homiletifche Arbeiten, Predigten, Lobreden, Faftenreden Cetztere
in 2 Bden. 8.) ꝛc. Cmeiftens zu Paris gedrudt) vorangehen, Merkwürdig ift es,
daß Maimburgs Homiletifche Arbeiten, obgleich Früchte feiner Jugend, ſämmtlich
ungemein froftig ausfielen, während feine hiftorifchen Arbeiten, obgleich in feinen
reiferen Jahren verfaßt, im Style eine pompöfe, oft überfhwängliche und pitto—
resfe Lebhaftigkeit athmen, eine Meberladung, die der Hiftorifchen Glaubwürdig-
feit nicht felten Abbruch thut, Er fohrieb eine Histoire de l’Arianisme aveo P’he-
resie de Sociniens (Paris, 1672, 2 Tom. in 4.); Histoire des Iconoclastes et de
translation de l’Empire aux Frangois; — de la decadance de ’Empire aprös Charles
Magne; Histoire du schisme des Grecs; Histoire de croisades (2 vol. in 4.), ein
zierlich gefchriebenes, aber mit zweifelhaften Geſchichten angefülltes Werk, welche
übrigens der Verfaffer aus namhaften und oft gleichzeitigen Hiſtorikern ſchöpfte;
dann Histoire de la Ligue; Histoire du pontificat de $. Gregoire le Grand, et de
celui de S. Leon; dann Traite historique de prerogatives de l’Eglise de Rome,
beide Schriften heftig angegriffen von dem Cardinal Sfondrati in feiner „Gallia
vindicata*, 2 vol. in 4. Ferner die Histoires du Lutheranisme (die Gegenfhrift
son Serfendorf ift der Commentarius de Lutheranismo), du Calvinisme (Gegen-
ſchriften erfchienen von Jurieu und J. Bapt, Nocoled u, A.), du grand schisme
d’oceident, du Wiclefianisme, lauter Schriften, die zwar von Ungenauigfeiten nicht
frei, aber mit Details von großer Gründlichfeit ausgeftattet find. Auch Contro-
vers- und irenifche Schriften hinterließ der thätige Maimburg, fo: Des Sermons
contre le Nouveau Testament de Mons; la methode pacifique pour ramener sans
Maimonides, 759
dispute les proteslans & la vraie foi sur le point de l’Eucharistie; de la vraie eglise
de Jesus Christ; de la vraie parole de Dieu ete. . [Dür.]
Maimpnides, Mofes (yon ja nun I [Rabbi Mofe ben Maimon],
abbrev, bu [Rambam]), der größte jüdifhe Gelehrte im Mittelalter, wurde
zu Eordova, dem Wohnorte feiner Vorfahren, am 30. März 1135 geboren.
Sein Bater, R. Maimon, fund als vieljähriger Richter zu Eordova in großem
Anfehen, und erwarb fih ald Gelehrter einen bedeutenden Namen, Er jhrieb
einen Commentar zum Buch Efifer, ein Werf über die Gefege der Gebete und
Fefttage, einen Commentar zum Thalmud und Anderes, und nah Abraham
Zachuth Hat er auch feldft feinen Sohn Mofes in den rabbiniſchen Wiffenfchaften
unterrichtet. Die arabifche Sprache dagegen, Mathematif, Aftronomie und Arz=
neifunde lernte derfelbe bei Averrves, Zbn Tophail und Ihn Saig (oft, Gef.‘
der Sfraeliten zc, VI. 168). In der hebräifchen Sprahe und den thalmudiſchen
Studien machte Mofes ſchon ald Knabe außerordentliche Fortfchritte und verwen-
dete auf fie in feiner Jugend am meiften Fleiß, fo daß fie bis zum Jahre 1160
feine Hauptbefchäftigung bildeten. Schon hatte er mehrere nicht unbedeutende
Schriften, die in diefen Studienfreis einfchlagen, verfaßt, wie namentlih Com—
mentarien über einzelne Abtheilungen der Gemara, Gefege aus dem jerufalemi-
fhen Thalmud, einen Commentar über die Mifchna (den er aber erft fpäter voll-
endete), und Anderes (vgl. Ziraelitifche Annalen. Jahrg. 1839. ©, 31T f), als
im genannten Jahre eine große Störang in feine Thätigfeit Fam und derfelben
auf einige Zeit eine ganz andere Nictung gegeben wurde, Mohanımed ben Tome
rut nämlich, Beherrſcher von Nordafrica und Spanien, erließ den Befehl, daß
fih alle Sfraeliten entweder zum Islam befehren, oder innerhalb eines Monats
alle unter feiner Herrfchaft fiehenden Länder verlaffen follten, widrigenfalls fie
der Tod treffen werde, In Folge deffen nahm die jüdische Gemeinde zu Cordova
und au die ganze Familie des Maimon äußerlih den Islam an, Und Mofes
fuchte fih gegen einen Rabbinen, der diefes Benehmen fcharf tadelte, in einem
ausführlichen, ziemlich derben Schreiben zu rechtfertigen, und erntete dafür bei
den übrigen Rabbinen großen Beifall, Bon jest an befannte er fih nicht nur
dffentlih zum Islam, fondern lernte fogar den ganzen Koran auswendig, be=
fchäftigte fih viel mit den philofophifhen Werfen der Moslimen und ertheilte
Einzelnen aus ihnen fogar Unterricht, Der Beweis für feinen Abfall zum Islam,
der von manchen jüdifchen Gelehrten noch jest gern geläugnet wird (cf. Rabbi
Davidis Kimchi radicum liber etc. ed. Biesenthal et Lebrecht. Berol. 1847. pag.
XXXIV sq.), liegt in feinem eben erwähnten unzweifelhaft ächten Schreiben an
jenen anonymen Nabbi, und fteht auch ganz im Einklang mit feinen im nur wıTP
(Heiligung des göttlihen Namens) ausgefprohenen Grundfägen (Sir. Annalen,
a. a. O. ©, 325 f. Jahrg, 1840. ©. 32 f.). Im Jahr 1162 farb zwar Mo—
hammed ben Tomrut, aber fein Nachfolger erneuerte fein Berfolgungsediet und
die Verfolgung wurde härter und ärger als zuvor, Maimonives indeflen, ob—
wohl äußerlich und öffentlich als Mohammedaner fich betragend, fcheint doch inner—
lich fletS dem Judenthum angehört zu haben, und befhäftigte fih vorzugsweife
mit dem Studium jüdifher Schriften, namentlich der Mifhna und des Thalmud,
zugleich aber auch mit griehifhen und arabifhen Philofophen. Jenes feinem
Innern widerfprechende äußerlihe Benehmen wurde ihm jedoch in die Länge zu=
wider und unerträglid. Er faßte daher, dreißig Jahre alt, den Entfhluß, fi
an einen Ort zu begeben, der es ihm möglich machte, „feiner eigenen Religion
anzugehören und fein Gefes auszuüben ohne Zwang und Angfl.” Er begab fich
daher mit feinem Vater und feiner ganzen Familie auf ein Schiff, das nah Pa-
läftina fegelte, und Fam innerhalb eines Monats, wiewohl unter vielen Gefahren,
noch in demfelben Jahre glücklich nach Acco, Bon da ging er nach Serufalem,
dann nad Hebron, verweilte aber nirgends Tang, aus Furcht vor den Chriften,
760 Maimonides,
die damals jene Drte in Befig hatten, Bon Hebron begab er fich nach Aegypten
und hielt fih zunächft in Alerandrien auf, ließ fi aber fpäter in Foftat nieder,
Da er felbft diefe Reife ausführlich befchreibt (ſ. Sfr, Annalen. Jahrg. 1840, ©,
45), fo erfcheint die gewöhnliche Angabe, daß er fih von Spanien unmittelbar
nach Aegypten begeben habe (Basnage, histoire des Juifs, V. 1617), oder zu-
nächſt in's marokkaniſche Gebiet und von da nach Aegypten gefommen fei (Joſt,
Geſch. d. Sfraeliten. VI. 173), als eine irrige, Zu Foftat war damals gerade
der Kampf zwifhen den Nabbaniten und Karaiten (f. den Art, Karäer) fehr
lebhaft, und Iegtere waren bereits daran, die Dbhand zu gewinnen, als Mai-
monides den alten vabbanitifhen Geſetzen wieder volle Geltung zu verfchaffen
wußte und es dahın brachte, daß in Betreff der Hauptpuncte eine fürmliche Be-
fanntmahung, von zehn Nabbinen unterzeichnet, in allen Schulen und Synagogen
verlefen und auf die Zuwiderhandelnden der Bann gelegt wurde, Diefe Thätig-
feit verſchaffte ihm zwar auf der einen Seite große Hochachtung und Verehrung,
30g ihm aber von der andern auch bittern Haß zu, fo daß er mitunter fogar in
Lebensgefahr Fam. So fehr er übrigens auch) hier das Studium des Geſetzes zu
fördern und Andere darin zu unterweifen bemüht war, fo ſoll er für ſolche Unter-
weifung doch nie eine Belohnung angenommen, fondern fih mit Zuwelenhandel
und Ausübung der Arzneilunde feinen Unterhalt verfchafft haben, denn auch in
letzterer hatte er fich nicht nur bedeutende theoretifche Kenntniffe, fondern auch großes
practifches Gefchiek erworben, Im 3. 1168 wurde fein Commentar zur Miſchna,
den er fchon in feinem 23ten Jahre begonnen hatte, endlich vollendet unter dem
Titel: Ze us, in arabifcher Sprache, In einer ausführlichen Einlei-
tung, die er vorausfchickt, halt er fih vorzugsweife an die Anfichten der grie-
chiſchen und arabifchen Philoſophen, die er den Werfen Iſraels vorzuziehen pflegt,
und ſtellt fich die Aufgabe, Die Lehren der hl. Schrift mit denen der Philofophen
in Uebereinſtimmung zu bringen, Das arabifche Original diefes Werfes wurde
bald auch in's Hebräifche überfegt unter dem Titel: Sina D und öfters ge—
druckt, zuerft zu Neapel 1492 (De-Rossi, annales hebraeo-typographici sec.
XV. p. 90 sq.), dann zu Sabioneta 1559, Mantua 1561, Venedig 1566 und
1606, endlich in Lateinifcher Neberfegung in der Mifchna-Ausgabe von Surenhus,
Amſterd. 1693— 17035 die Einleitung wurde von Pococke arabifch herausgegeben
unter dem Titel: ( „w9% 5 (porta Mosis) Oxf. 1655. Nach Vollendung
diefes Commentars entfchloß fih Maimonides zur Abfaffung des Werkes m2Wn
nz, häufig auch mprm 77 genannt, weldes in 14 Büchern alle Sagungen
enthält, welche Gültigkeit behalten haben, fie mögen die Zeit der Zerſtreuung
pder die Zeit des Tempels betreffen. Sie find aus allen vorgängigen Werfen,
Miſchna, Thalmud u. ſ. w., gefloffen. Er arbeitete es in reiner bebräifcher
Sprache aus, und beftimmte es zum Coder, damit jeder Lefer ſchnell jedes Geſetz
nad allen feinen Verzweigungen auffinden fünne, alfo um die Mühe des Zu-
fammenfuchens der vielfach zerfireuten Saßungen und der daraus zu ziehenden
Folgerungen unnöthig zu machen (Jr. Annalen, Jahrg. 1840. ©. 218). Eine
ausführliche fpecielle Inhaltsangabe davon findet fih in Wolfs Bibliotheca he-
braea. I. 840—851. Das Werf ift öfters gedruckt worden, zuerft ohne Drts-
angabe und Jahreszahl (De-Rossi I. c. p. 126 sq.), dann zu Soncino 1490,
zu Eonftantinopel 1509, zu Venedig 1524, 1550 m, 1575 mit verfchiedenen Zu⸗
gaben, am beften zu Amfterdam 1702. Außerdem find auch fait alle einzelnen
Theile des Werfes abgefondert hebräifh und Tateinifch herausgegeben worden.
Im Jahr 1179 wurde Maimonides Leibarzt Saladin’, und von ihm und feinen
Großen fehr Hoch geachtet, Cine Demuneiation feiner Feinde, daß er den Islam,
ee Vi ee
Maimonides, 761
den er früher angenommen, wieder verlaffen habe, wurde mit der Bemerfung ab-
gewiefen, daß ein erzwungenes Befenntniß Feine Gültigkeit habe. Auch unter
den beiden Nachfolgern Saladin’s war er Leibarzt, und fein regelmäßiger Auf:
enthalt war jeßt Aegypten, weßhalb er au der Negyptier genannt wird, Un—
gearhtet aber die ärztliche Thätigfeit einen großen Theil feiner Zeit in Anſpruch
nahm, fo hörte darum fein Wirken für die Wiffenfhaft doch nicht auf. Er ver-
faßte noch mehrere Schriften, und gründete zu Alerandrien eine Academie, an
welcher fih zahlreiche Schüler aus Aegypten, Paläftina und Syrien einfanden,
Im 3. 1204 ftarb er und wurde feinem früheren Wunfche gemäß nach Paläftina
gebracht und zu Tiberias begraben. Sein bedeutendftes und berühmteftes Werk
ift neben dem Tyınm mac der viel genannte Drah2zı rn (Rehrer der Ver⸗
wirrten), den er zunächft für feinen Schüler R. Joſeph in arabifher Sprade
unter dem Titel: AI au verfaßte und zu zeigen fuchte, daß und wie
man die altteftamentlichen Dffenbarungsurfunden geiftig auffaffen und deuten müffe,
wobei er fi zugleih über eine Menge philofophifcher und theologifcher Anfichten
verbreitet, und namentlich für einzelne fcheinbar grundlofe mofaifche Gefege den
wahren Grund nachzuweifen fucht, dabei aber auch nicht felten bei feiner Vorliebe
für griechifche und aradifche Philofophie manches dem thalmudiſch-jüdiſchen Re—
ligionsſyſtem Fremdartige beimifcht. Das arabifhe Driginal wurde noch unter
feinen Augen und mit feiner Billigung von Aben Tibbon in’s Hebräifche über-
feßt und diefe Ueberfegung öfters gedrudt, zuerft ohne Ortsangabe und Jahres—
zahl, wahrſcheinlich ſchon vor 1480 (De-Rossi, annales etc. p. 121 sq.), dann
zu Venedig 1551, zu Sabioneta 1553, zu Bafel 1629 vom jüngern Burtorf,
endlich zu Berlin 1791 von R, Salomo Maimon. Außerdem verdienen hier
etwa noch Erwähnung die dreizehn Ölaubensartifel (OrıE> yo SW), f. den
Art, Judenthum, die Schrift (Brief oder Nede) über die Auferftehung der
Todten (Da mınn=>3 mas oder Ta), bie Logif (73°37 5) und die Pſy⸗
Hologie (ü>27 0). Bgl. darüber, fowie auch über mande andere minder be-
deutende, namentlich auch medicinifhe Schriften Wolfs Biblioth. hebr. I. 860 sqq.
— Carmoly (in den ifraelit. Annalen, Jahrg. 1839. S. 308) vindieirt dem
Maimonides unter allen Gelehrten Iſraels den erften Rang, und er hätte un-
bedenklich noch behaupten dürfen, daß auch fein Einfluß auf die rabbinifche Theo—
logie größer gewefen und geblieben fei, ald von irgend einem andern. Dieß zeigt
fih am deutlichften in den Klagen, welche noch jest von manchen Rabbinen gegen
Maimpnides erhoben werden, weniger wegen feiner irrthümlichen Lehren und An-
fihten, als wegen der Starrheit und Abgefchloffenheit, die der rabbinifche Lehr-
begriff durd ihn erhalten. Gegen feine Drthodorie werben feine fo heftigen An—
griffe mehr gerichtet, wie bald nach feinem Tode und zum Theil noch bei feinen
Lebzeiten von den „Stocdthalmudiften” in Frankreich und mitunter au in Spa-
nien felbft, welche nicht nur feine Hauptwerfe, fondern auch ihn felbft mit: dem
Banne belegten und erftere verbrannten, Die Irrthümer, die ihm gegenwärtig
noch von Manchen zur Laft gelegt werden, wollen Andere nicht in feinen Schrife
ten finden, wie namentlich die Läugnung der Auferftehung des Fleifhes und der
individuellen Fortdauer der Seele, und die nicht feltene Abweichung von der hl.
Schrift und dem Thalmud. Uebrigens fheint Feine von beiden Parteien ganz
Net und eben darum auch Feine ganz Unrecht zu haben und der wahre Sach—
verhalt darin zu beftehen, daß Maimonides in feinen Behauptungen und Lehren
ſich nicht gleich bleibt. Cinerfeits folgt er etwas unvorfihtig den griechifchen und
arabifhen Philofophen und adopirt von ihnen manche Anficht, die fich in den thal-
mudiihen Rabbinismus nicht fügen will, andererfeits aber fucht er doch wieder
das Lehrſyſtem diefes Rabbinismus zu geben und Fommt dann natürlich mit feinen
762 Mainz
Philoſophemen in Colliſion. Während er 3. B. das eine Mal die leibliche Auf-
erftehung als einen Olaubensfag des Judenthums hinſtellt, und demjenigen, der
fie läugnet, den Antheil am ewigen Leben abfpricht, erflärt er das andere Mal
diefes Leben, in Folge feiner philoſophiſchen Borftellungen von Gott und der
Seele, als ein rein geiftiges ohne alle Teibliche Beimiſchung, was natürlich die
Negation der leiblichen Auferftehung zur Borausfegung hat (ſ. Geiger, wiſſenſchaft⸗
liche Zeitfchrift für jüdifche Theologie Bd. V. ©.89, 92). Die Hauptklage neuerer
Rabbiner gegen Maimonides bezieht ſich auf die durch ihn bewirkte Kryftallifirung
des jüdifchen Lehrbegriffs. David Luzzato z. B., Profeffor am Collegio Rabbinico
zu Padua, fagt, Maimonides habe mit aller feiner Philoſophie Verderben ge-
bracht, Was der Thalmud ſchwebend gelaffen, Habe durch ihn eine eiferne Feftig-
feit erhalten. Sein abgefchloffenes Glaubensſyſtem fei eine Erfindung, von der
die Alten Feine Ahnung gehabt, Mit einem mehr mohammedanifchen als jüdifchen
und thalmudifchen Despotismus habe er einen Codex gebildet, damit alle Glau—
bensfäge und Uebungen bis in’s Kleinſte feftgeftellt und entfchieden feien (f. Iſrae—
Iitifhe Annalen, Jahrg. 1839, ©, 6. 405), Und Iſaac Neggio in Görz gibt
biezu Beifall und Iobt den edlen Eifer zur Entfernung des Joches, das dieſer
Dann den Sfraeliten aufgebürdet habe und das alle Freiheit im Denken raube
Cebend. ©. 22), Die Hauptfache ift jedoch hier die Stellung, die Maimonides
feinen jüdischen Neligiongurfunden gegenüber einnahm, Und in diefer Beziehung
fann als zugeftanden betrachtet werden, daß er nicht gerade eben diefe, ſondern
vielmehr feine aus Griechen und Arabern gefhöpfte Bhilofophie zum Ausgangs-
puncte machte, und daher nicht fo faft die Ergebniffe feiner philofophifchen For-
ſchungen mit der Schrift und dem Thalmud in Einflang zu bringen, als vielmehr
legtere fo zu deuten fuchte, daß fie mit feiner Philofophie harmonirten. Es fonnte
daher nicht fehlen, daß er in feinen biblifchen und thalmudifchen Auslegungen
überall zum Symbolifiren und Sublimiren fi genöthigt fah, und in Folge deffen
den Tert zuweilen nicht bloß willfürlih, fondern auch gewaltfam behandelte
(Geiger a. a. O. ©, 89), weßhalb er auch von Einigen nicht ganz mit Unrecht
als der Vater des neuern jüdischen Nationalismus bezeichnet wird, Er ift na=
mentlich fein Freund von Wundern, und obwohl er die Möglichkeit und Wirklich-
feit derfelben anerfennt, nachdem er einmal eine Schöpfung aus nichts flatuirt
bat, fo fucht er doch in gegebenen Fällen durch uneigentlihe Deutung der betref-
fenden Berichte dem wirklichen Wunder, wo möglich, auszuweichen. Eine ſpe—
eielere Angabe und Würdigung feiner philofophifchen Anfichten kann nicht hieher
gehören, Vrgl. über ihn außer den gelegenheitlich ſchon angeführten Schriften
noch: Revue orientale, Bruxell. 1841. — Beer, Leben und Wirken des Mai—
monides, Prag 1844, — Lebrecht im Magazin f. d. Lit, d. Aust, 1844, Nr, 45.
62, — Scheyer, das pſycholog. Syſtem des Maimonides, Franff, 1845, —
Gumpoſch, Gefhichte der Philofophie, Supplement zu Dr, Rixners Handbuch
der Gefch. der Philofophie, Sulzbach 1850. S. 136—39, [Welte,]
Mainz, Bisthum. Der Mainzer Tradition zu Folge foll Erescenz,
ein Schüler des Apoſtels Paulus, wie in Gallien, fo auch in der Gegend von
Mainz gepredigt haben und der erfle Bifchof diefer Chriftengemeinde geworden
fein, Daß Crescenz nach Gallien gekommen fei (und Mainz war mit Gallien
ſowohl nahbarlich wie politifh als Hauptftadt der Germania prima verbunden),
will man durd die Stelfe 2 Timoth, 4, 10. erweifen, wo Paulus fagt: Konaxng
(sc. &rrogevIn) eis Taharlav, d.h, „Crescens reiste nah Oalatien”,
Statt Takarlav (Oalatien) Tefen nämlich hier ziemlich viele alte Kirchenväter,
fo wie noch mehrere vorhandene Bibel-Codices PaAdlav oder Taehktas, fo Codex
C. 23. 31. 39. 73. 80 (vgl. Griesbach in Apparatu a. h. 1.). Was aber noch
wichtiger iſt: die beiden Ausdrüde Gallien und Gallatien wurben in ber
alten Zeit ganz promifene gebraucht, und mit beiden Worten bald das weſtliche
Mainz. 163
bald das öſtliche Eeltenland bezeichnet. Nur der Plural Tailicı geht immer
auf das weftliche, d. h. unfer Gallien. Daraus folgt: es mag im zweiten Briefe
Pauli an Timotheus Takariov vder Tekklav die richtige Lefeart fein, immerhin
kann darunter ebenfogut Gallien als Galatien verftanden werden (vgl. Rett-
berg, Kirchengeſch. Teutfchlandg, Bd. I. ©, 83, ff.). Im den erften Jahrhun—
derten wiederholten Irenäus (adv. haer. III. 14. n. 1) und die avoftolifhen Con—
ſtitutionen (VII. 46) die Worte Pauli mit der Lefeart Takariav; feit dem vierten
Jahrh. dagegen wurde unfere Stelle immer entfchiedener auf das weftlihe Gallien
bezogen. Eufebius (hist. eccl. IH. 4) fagt: „Erescens wurde eis TMicc
geſchickt“; Hieronymus (calal. script. ecel. append. 1) erzäßft: „Crescens in Gal-
lüs praedicavit.“ Ebenſo gebraucht das Chronicon paschale (Olymp. 220, T. 1.
p- 471. ed. Bonn.) den Plural; Epipbanius aber (haer. 51, 11) und Thev-
doret (in II Tim. 4, 10) erflären fich entfchieven gegen Galatien und für Gal-
lien (wgl. Rettberg a.a.D. und meine „Geſchichte der Einführung des Chriften-
thums im fübweftlihen Teutſchland ©. 53. ff.“). Es kann ſich hienach nur fragen,
welches Gewicht dieſen Zeugniſſen beigelegt werden dürfe. Ich meinerſeits habe
in meiner ebenangeführten Schrift (S. 54. f.) die Sache fo aufgefaßt: Euſebius
und die Uebrigen würden die Worte Pauli nicht auf das weftliche Gallien (und
damit auf Mainz) gedeutet Haben, wenn nicht die in Gallien felbft vorhandene
Tradition dieß nahe gelegt Hätte. Im Gegenjag hiezu will jedoh Nettberg
(l. c. ©. 86. f.) geltend machen, daß weder in Mainz, noch in Gallien (nament-
lich Vienne) in jenen frühern Jahrhunderten irgend eine Tradition über Erescens
vorhanden gewefen, vielmehr erfi aus den Worten Pauli, Eufebit u, A, entftanden
fei, und zwar fehr ſpät. Ado um's 3. 860 fei der Erfte, der diefe Traditiom-
fenne, Die ganze Argumentationsweife Nettbergs ift jedoch Feineswegs ſieghaft;
im Gegentheil glauben wir eben in den Aeuferungen des Eufebins, Hieronymus
w 4. Delege von der Erxiftenz und dem höheren Alter der gallifch - mainzifchen
Tradition erbliden zu dürfen. — Der zweite Pag in der Mainzer Miffions-
geihichte wird gewöhnlich der 22. römischen Legion eingeräumt, und behauptet,
fie fei früher in Aegypten geftanden, babe an der Zerfiörung Jeruſalems Theil
genommen, von diefer Zeit an viele Chriften unter ſich gezäßlt, und fei gleich
darauf, (70 oder 71 n, Ehr.) an den Rhein verlegt worden, Es ift jedoch nach⸗
gewiefen, daß es zwei Legionen mit der Nummer 22 gegeben habe, wovon die
eine fhon im J. 66 n, Chr. am Rheine fland, während die andere im J. TO noch
vor erufalem lag (vgl. P. S. A. Wiener, de legione Rom. vicesima secunda,
1830). Daraus folgt jedoch noch nicht, wie Nettberg (S. 170) erſchließen will,
daß diefe 22, Legion gar fein Moment für die Chriftianifirung des Mainzerlandes
und des erfien Germaniens biete; denn ſchon im zweiten Jahrh. gab es wohl
fhwerlih eine Legion, die nicht auch Chriften enthalten Hätte (vgl. Tertull.
Apolog. c. 37; hesterni sumus ef vestra omnia implevimus, urbes ... castra
ipsa etc. Vgl. auch den Eingang zu feinem Buch de corona); in jener alten
Zeit aber fah fih der Soldat, wie der Kaufmann, jeder für einen Miffionär an. —
Daß aber in der That im zweiten Jahrh. in Germania I et II wirklich ſchon chriſt⸗
liche Gemeinden beftanden, bezeugt Irenäus (I. 10) mit den Worten: At neque
hae, quae in Germaniis sitae sunt ecclesiae, aliter credunt, nec quae in Hispa-
nis aut Gallüs. (Vgl. meine Gef. d. Einführung ıc. S. 49), Er nennt zwar
bier Mainz nicht ausdrücklich; aber da Mainz die Hauptftadt des erſten Ger-
maniens, Cöln die des zweiten war, und nach einem allgemeinen Canon die
größten und befuchteften Städte überall zuerft Hriftlihe Gemeinden hatten, fo
müfjen die Worte des HI. Irenäus notwendig als ein Zeugniß für die Eriftenz
einer chriſtlichen Kirche zu Mainz im zweiten Jahrh. angefehen werden. Dagegen
Laßt ſich nicht mit Sicherheit erweifen, daß ſchon Kaifer Domitian, wie Profeffor
Drüpl in feinem Werke über Mainz (1829) wahrſcheinlich machen will, bei fei=
764 Mainz.
nem geräuſchvollen aber thatlofen Einfall in Germanien über die Chriften der
Nheingegend eine Verfolgung verhängt habe, und daß unter Kaiſer Septimius
Severus (193—211) bei der Feier feiner Duinquenalfefte in Mainz viele Ehriften
ermordet worden feien. Beranlaffung zu diefer Verfolgung, vermuthete Pater
Fuchs, habe der blinde Eifer einiger riftlicher Soldaten gegeben, und in der
That fand man in einem Gewölbe bei Mainz ein halbzerträmmertes Standbild
der Diana mit einer Inſchrift, wonon noch die Worte zu leſen waren: qui ferreo
fuste percussit Dianam. — Daß gegen Ende des dritten und im Anfange des
vierten Jahrh. die Uferlande des Rheines ſchon chriftianifirt waren, beweifen nicht
nur einzelne in jenen Gegenden aufgefundene altchriftliche Inſchriften (der Grab-
fein des Eppoeus zu Wiesbaden, aus dem dritten oder vierten Jahrh.; ver
Grabftein der Lindis zu Ebersheim, und der Servandia Barbara zu Mainz,
vgl. Nettberg S. 174), fondern auch die ausdrückliche Erklärung des Kirchen-
hiſtorikers Sozomenns (Sec. V.): „daß zu Eonftantin’s Zeit die Stämme auf
beiden Ufern des Rheins ſchon chriftlich gewefen feien“ (707 ya ra ve anıpl
rov Pivov püla Eygrorıdvıkov, lib. 1. 6). Doc) ift e8 auffallend, daß auf
der Synode von Arles (ſ. d. A.) im J. 314 unter den übrigem gallifchen und
teutfchen Bifchöfen (von Cöln und Trier) nicht auch ein Bifchof von Mainz mit-
unterfhrieben hat, Binterim fucht dieß in feinen Denkwürdigfeiten (Bd. L.
Thl. 2. ©. 607) durch die Hypothefe zu erklären, der damalige Mainzer Bifchof
fei vielleicht durch den Einfall des Bandalenfünigs Karofo eben aus feinem Sitze
vertrieben gewefen; fpäter nahm er jedoch diefe Erklärung wieder zurüdf, zumal
die Chronologie in Betreff des Karoko oder Chrocus gar nicht feftftehe, und ftellte
dafür die Vermuthung auf, daß bei Weitem nicht alle Bifchöfe, die in Arles ge—
wefen, vielmehr nur ein Ausfhuß von ihnen die Aeten unterfchrieben Habe (Bin-
terim, pragm. Gefchichte der teutfchen Coneilien Bd, I. S. 19. fi). — Daß
Mainz um die Mitte des vierten Jahrh. ſchon eine zahlreiche chriſtliche Ein-
wohnerfchaft hatte, beweist das Ereignif vom J. 367. Der alemannijche Häupt-
ling Rando nämlich hatte ſchon lange gegen Mainz Böfes im Sinne, Zur
Ausführung feines Vorhabens nun erfah er fich einen Fefttag der Chriften im
J. 367, und während eben der größte Theil der Bevölkerung zum Gottesdienfte
in der Kirche verfammelt war, brach er unverfehens in die Stadt, überrumpelte
Alles und führte viele Gefangene und große Beute hinweg (Ammian. Mar-
cellin. XXVII. 10). Aehnlich wurden auch bald nach dem J. 400 wieder meh—
rere taufend Einwohner von Mainz in einer Kirche erſchlagen (Hieron. Ep. 123
ad Ageruch.). — Den älteften Catalog ver Mainzer Bifchöfe liefert ung
der Fuldaer Mönh Megenfried aus dem zehnten Jahrh. Er führt die Reihe
vom apoftolifchen Crescens an ununterbrochen fort, hat aber manches Unwahr-
ſcheinliche, 3. DB. die fpeeififch teutfchen Namen fo mancher unter den allerälteften
Biihöfen. Diefem Catalog zu Folge wäre die Reihe der Mainzer Bifchöfe bis auf
Bonifaz, den Apoftel der Teutfchen, folgende: Crescens, Marinus (Martin),
Crescentius, Cyriacus, Hilarius, Martinns, Celfus, Lueiuns oder
Lucas, Gothard (Godeard), Sophronius (Suffronius), Heriger, Ru—
thber, Avitus, Ignatius, Dionyfins, Nudbert, Adelhard, Auneus
Lucius, (Lueas Annäus), Maximus Cum die Mitte des vierten Jahrh.), Si«
doniusl, Sigismund, Lupold, Nieetius, Marianus, Aureus, Eutro-
pius, Adalbert, Nather, Adelbald, Lanfried, Radhard, Sidonius I.
(545), Wilbert, Ludgaft, Rudhelm, Ludwald (Ruthwald), Leowald,
Sigbert (oder Richbert), Gerold, Gewilieb (Vila s. Maximi, ed. Trithem.
bei Surius, vitae Sanctorum. T. VI. p. 403. Colon. 1618). — Wie wir feben,
gibt der Catalog um die Mitte des vierten Jahrh. einen Marimusan, der an
dem (freilich erdichteten) Cölner Coneil im J. 346 Antheil gehabt habe (ſ. d. A.
ECöln), In den Acten biefer Colner Synode dagegen (Mansi Al. 1372) führt,
Mainz. 7165
der Mainzer Bifchof den Namen Martinus, und obgleich Binterim diefe Acten für
unächt hält, gibt er doch dem Namen Martin den Vorzug. Er beruft fich dafür
auf Athanafius. Diefer hatte während feines Erils in Trier mehrere Biſchoͤfe
Galliens und der Rheingegenden für fich gewonnen, und führte nun fpäter (Apolog.
contra Arian. c. 50. Opp. T. I. 1. p. 133. ed. B. B. Patav. 1777) ihre Namen
an, jedoch ohne Angabe ihrer Bisthümer, Es Taffen fih aber die Site dieſer
Biſchöfe noch ermitteln, und es bleibt dann für den von Athanafius ebenfalls
genannten Martinus nur mehr der Stuhl von Madoz übrig. Daß übrigens Atha-
nafius von Trier aus wie mit dem Wormfer und Speierer, fo auch mit vem Mainzer
Biſchofe befannt geworden fer, ift nicht zu zweifeln (vgl, Binterim, teutfche
Eoneil. 1 22. und Rettberg ©. 209). — Nicht lange fpäter foll ver Biſchof Au-
reus von Mainz nebft feiner Schwefter Juftina von den Hunnen gemartert worden
fein. Eben damals fei auch der Hl. Alban enthauptet worden und habe feinen
abgefchlagenen Kopf felbft bis an den Play feines Begräbniffes (wo jegt die
Albanskirche fteht) getragen. Die älteren Mainzer Gefchichtfchreiber jedoch wiffen
nur von dem Martertod des hl. Albanus, nicht aber von diefem auffallenden
Wunder, wie denn auch die älteften Siegel des Klofters St. Alban diefen Heiligen,
den Kopf auf den Schultern, darftellen (Nettberg ©. 211). — Der erfte ganz
verbürgte Name aus der Reihe der Mainzer Bifchöfe ift Sidonius II. aus der
Mitte des fechsten Jahrh., Erbauer eines Baptifteriums, Wiederherfteller der
zerfallenen Stadt und mehrerer Kirchen, und berühmt durch feine Wohlthätigkeit,
Später, im Anfange des achten Jahrh., treffen wir ven Bifhof Gerold, der in
einem Kriegszuge gegen die Sachſen fiel, und es folgte ihm fein Sohn Gewie-
lieb over Gerwilio, welcher nachmals von dem hl, Bonifaz (ſ. d. U.) abge-
fest wurde, Jetzt, im J. 747, beftieg Bonifaz felbft ven Stuhl von Mainz,
welcher ebendamit auch zur Metropolitanwürde erhoben wurde. Die beiden
fränfifhen Fürften, Carlmann und Pipin, ſchickten nämlich gleich nach diefer Stuhl—
befteigung des HI. Bonifaz eine Gefandtfchaft nah Rom, um hier die Erhebung
der Mainzer, bisher unter Trier geftandenen Kirche, zur Metropolitanwürde zu
betreiben, Papft Zacharias war damit einverftanden, und erließ (Epist. 83) im
J. 748 das Ediet: „daß die Kirhe von Mainz dem Bonifacius und feinen Nach—
folgern für ewige Zeiten ald Metropolitanfirche übertragen werde, und die Städte
Tongern (f. d. A. Lüttich), Cöln, Worms, Speier und Utrecht, fo wie
alle Bölfer Germaniens, welche durch Bonifacius zum Chriſtenthum befehrt wor=
den, unter fih haben folle” (vgl. Seiters, Bonifacius ©. 502). Durd die
lestern Worte: „alle Völfer Germaniens 20.” waren dem Stuhle von Mainz die
von Bonifaz neu errichteten Bisthümer Erfurt, Buraburg, Würzburg und
Eihftädt unterftellt worden, fo daß derfelde 9 Suffraganate zählte. Bon
Augsburg, Straßburg, Eonftanz und Chur fagt das Decret des Papftes
Zacharias Feine Silbe; doch treffen wir diefe 4 Bisthümer furze Zeit nachher fac-
tiſch als GSuffragnate von Mainz, indem z. B. ein noch vorhandenes Fragment
zeigt, wie Erzbifchof Rieulph von Mainz (787—813) dem Bifchof Egino von
Eonflanz einen Befehl ertheilt Habe (Nettberg ©. 579 f.). Später hörten
die Bisthümer Erfurt und Buraburg auf, und Eöln mit Tongern und
Utrecht wurde von Mainz getrennt (f. d. A. Coln); dagegen erhielt Mainz
neue Suffraganate an Paderborn, Halberftadt, Hildesheim und Verden,
wozu fpäter auch Prag und Dimüg famen, fo daß Mainz 14 Suffraganftühle
unter ſich hatte, Kaifer Carl IV. jedoch löste um die Mitte des 14ten Jahrh.
Prag und Dimüg wieder von Mainz ab; Halberftadt und Verden aber gingen
durch die Reformation Cbleibend durd den weftphälifchen Frieden) verloren, fo
daß der Mainzer Metropole fortan 10 Suffraganate blieben: Würzburg,
Worms, Eihftädt, Speier, Straßburg, Conftanz, Augsburg, Chur,
Hildesheim und Paderborn, wozu im 3. 1752 noch das durch Benedict XIV.
766 Mainz.
nen errichtete Bisthum Fulda hinzukam. — Der erfte Nachfolger des hl. Bonifaz
auf dem erzbifchöflichen Stuhle von Mainz war fein Schüler Lullus, den er ſchon
bei feinen Lebzeiten, als er zulegt noch als Miſſionär zu den Friefen ging, zu feinem
Stellvertreter beftimmt Hatte Cugl.d.A. Bonifacius). Lullus gerieth bald mit dem
Abte Sturm von Fulda (ſ. d. A.) wegen der bifchöflichen Jurisdietion über diefeg
Klofter in Streit, und foheint auch in Nom nicht beliebt gewefen zu fein; wenig»
ftens mußte er 20 Jahre warten, bis er das Pallium erhielt, im J. 780. Uebri—
gend war er firenge in Handhabung der Zucht und Ordnung, befonders unter
feinem großentheils noch fehr rohen Clerus. Auch gründete er das Klofter Hers-
feld (f. d. U.) an der Fulda, wo er am 16. Detober 786 oder 787 ftarb. Ihm
folgte Rie ulph (787—813), früher ein Vertrauter Carls d. Gr, und gelehrter
Freund Alecuins. Er wurde fälfchlich befchuldigt, daß er die von Earl erbaute
Mainzer Rheinbrüde habe anzünden laffen, weil ein Raubverbrechen darauf be-
gangen worden fei, Nach ihm ſaß Haiftulph, ein Benedictiner, 12 Fahre auf
dem erzbifchöflichen Stuhle von SL4A—826 ; darauf beftieg ihn Dtgar (826—47),
der muthmaßliche Urheber der Pfeudoifivor’fhen Sammlung (ſ. d. A). Noch be-
rühmter wurde Nabanus Maurus (f. d. A), früher Mönch und Abt in Fulda,
feit 847 Erzbifchof, einer der gelehrteften Männer feiner Zeit. Nach feinem Tode
Cer ftarb den A, Febr, 856 auf feiner Billa — Winkel im Rheingau) wurde Earl,
der Sohn des Königs Pipin I von Aquitanien (856—63), darauf der friegerifche
Liutbert (863— 89), fofort Sungo oder Sunderhold erhoben, welder im
% 891 in einer Schlacht gegen die Normannen an der Geule fiel. Die nächften
Erzbifhöfe hießen Hatto I. (ſ. d. A.); Heriger (913— 27); Hildebert
(+ 939; Friedrich CH 954), der Felonie gegen Dito I. ſchuldig und darum
längere Zeit verbannt; Wilhelm (+ 968), Otto's I. natürlicher Sohn (feit ihm
haben die Mainzer Erzbifchöfe ven Titel als Erzfanzler des Reihe); Hatto ll.
von 968—70 (ſ. d. U), der angebliche Erbauer des Mäufethurms bei Bingen ;
Nobert (+ 975). Jetzt folgte der berühmte Willigis CH 1011), groß als
Staatsmann, wie ald Bifchof, der Erbauer der neuen Domkirche (978), welde
fein dritter Nachfolger Cunmittelbar folgten nämlih Arhimbald 1011—1021,
und Aribon 1021 —1031), der hl. Bardo vollendete, Bardo war Mönch in
Fulda und Verwandter der Kaiferin, der Gemahlin Conrad's IL, der ihn auch
(vor dem Inveſtiturſtreit) zum Erzbifchof wählte, Gleich nach feiner Erhebung
wurde er an Weihnachten zur Feftpredigt nach Goslar, wo fich der Kaiſer eben
aufhielt, eingeladen, Seine Predigt fiel, weil er nicht die gehörige Zeit zur Vor—
bereitung hatte, zu kurz und inhaltsleer aus, und wurde von der des Dietrich
von Mes am Stephanstage weit übertroffen. Viele Bornehme waren darum
mit der Wahl des Kaiſers unzufrieden und warfen ihm Parteilichfeit vor, Aber
am dritten Feiertage prebigte Bardo abermals, fo gewaltig und falbungsvoll,
daß alle Zuhörer weinen mußten, der Kaiſer aber darauf freudig ausrief: „heute
feire ich mein Weihnachtsfeft“ (Fleury, hist. ecel. Livre LIX. n. 30). — Ihm
folgte (Leopold (Liutpold) 1051 — 59, diefem Sigfried L, Graf von
Eppenftein, und nach feinem Tode (1084) Wezilo, der auf ber Synode
von Halberftadt als Häretifer mit dem Banne belegt wurde, weil er behauptet
hatte, die Weltgeiftlichen, die ihrer Güter beraubt feien, ftünden nicht mehr unter
dem geiftlichen Gerichte. Er entfagte jedoch diefem Irrthum und ftarb 1088,
Sein Nachfolger Ruthard betheiligte firh bei einer biutigen Judenverfolgung,
und floh darauf, aus Furcht vor dem Kaifer, nach Thüringen (4 1109). Albert
oder Adelbert I., ein Graf von Saarbrück (1100 — 1137), war ein Gegner
Heinrihs V. (f. d. A), und wurde deßhalb von diefem gefangen, aber von den
Mainzer Bürgern wieder befreit, Aus Dankbarkeit verlieh er ihnen den Freidrief,
der auf den erzenen Thüren des Doms eingegraben iſt. Nach Heinrichs V. Tod
berief er im J. 1125 jenen Neichstag, auf welchem und die erfie Spur ber
*
Epurfürften begegnet.’ Auf feinen und des paͤpftlichen Legaten (Earbinal Ger-
hard) Vorſchlag nahmen jetzt nicht mehr wie früher ſämmtliche teutfche Fürften
an der Raijerwahl Theil, fondern es wurden 10 aus jedem der vier Hauptflämme
CHranfen, Sachſen, Schwaben und Bayern) ausgewählt, und diefe 40 nun wähl-
ten den Sahfenherzog Lothar zum Kaiſer. So war Albert oder Adelbert nicht
nur felbft der erſte Churfürft von Mainz, fondern au der eigentliche Urheber
der Hurfürftlihen Würde (vgl. Luden, Gef. d. teutſch. Bolfes X. 13). Noch
deutlicher trat die Churfürftenwürde im J. 1152 bei der Wahl Friedrich Barba-
rofja’8 hervor, indem nur die principes electores wählten, die übrigen Fürften
bloß beiftimmten. Ein paar Menfchenalter fpäter fpricht Albrecht von Stade, ein
Zeitgenoffe Friedrichs I., bereits von 7 Churfürften, 3 geiftlichen (Mainz, Trier,
Eöln) und 4 weltlichen (Pfalz; Sachfen, Böhmen, Brandenburg), und nach Frie-
drichs I. Tod fehen wir bei der Wahl feiner Nachfolger Richard von Cornwall und
Alphons von Caftilien bereits nur mehr die Churfürften tätig (Schmidt's Gef.
d. Teutſch. III. 80); der Erzbifhof von Mainz aber hatte ſtets den erſten Rang
unter den Ehurfürften, wie er überhaupt allen Fürften und Prälaten des teutfchen
Reiches voranging. Auf Albert oder Adelbert I. folgte fein Bruder Albrecht
oder Adelbert li. 1138—41, dann Marculph (Arnulph) 1141—42, Hein-
zich 1. 1142—53, Arnulph oder Arnold von Seelenhofen 1153 — 1160,
der von den Bürgern von Mainz, weil er befondere Steuer verlangt hatte, er-
mordet wurde. Sein Nachfolger Conrad von Wittels bach war ein Anhänger
Alerander’s II., mußte deßhalb vor Kaijer Friedrih I. fliehen und wurde Erz-
biſchof von Salzburg. Statt feiner erhob der Kaiſer jegt feinen Kanzler, Graf
von Buche als Ehriftian I. im J. 1166 zum Erzbifhof von Mainz, der nun
auch an den Kämpfen des Kaifers gegen Rom und Oberitalien Iebhaften Antheif
nahm. Cogl. Raumer’s Geſch. d. Hohenftf. IL. 195. 198. 207, 227. 275). Nah
feinem Tode 1183 wurde fein Borfahrer Conrad wieder eingefegt, und diefem
folgten im J. 1200 — 1230 Sigfried IL von Eppenſtein; Sigfried II
aber (1231 — 1249), des Vorigen Neffe, au ein Graf Eppenftein, ftellte
die durch Brand verunglüdte Cathedrale wieder her, billigte die Abjegung Fried-
richs I. und hatte ſolches Anfehen, daß er hintereinander zwei Raifer , Heinrich
Rafpe und Wilhelm von Holland, auf den Thron erhob. Ein darauf bezügliches
Denkmal findet fih noch jest im Mainzer Dom. Weniger berüfmt waren Chri-
fiian IL, der im J. 1251 felbft refignirte, Gerhard J. (1251—1259), Wern-
ber von Eppenftein (1259— 1284), Heinrich IL, ein Franciscaner bürger-
licher Abkunft, und firenge in Handhabung der Kirchenzucht CH 1233), und Ger-
hard U. von Eppenftein (1233— 1305). Einen großen Namen dagegen erwarb
ſich Peter Aihfpalt (ſ. Aihfpalt) von 1305—20, dem von 1321 — 28
Matthias, Graf von Buher folgte. Nach feinem Tode ernannte der Papft
den Örafen von Birneburg, Heinrich II, den jedoch das Eapitel längere Zeit
nit anerkennen wollte. Später übrigens, 1346, fegte ihn Papft Clemens: VI.
wieder ab, aber Heinrich erhielt fih doch im Belige bis an feinen Tod 1353,
und nun erft fonnte der vom Papfte ſchon feit länger gewählte Gerlach, Graf
von Naffau, den erzbifchoflichen Stuhl befleigen, Er ftarb 1379 und hatte
Adolph. von Naffau zum Nachfolger, weldem entgegen der Papft und Kaiſer
den Ludwig von Meißen erhoben. Sie verglichen fih jedoh, und Ludwig
wurde Erzbifchof von Magdeburg; Adolph aber fliftete 1389 als Erzbifhof von
Mainz die Univerfität Erfurt (f. d. A.) und ftarb 1390. Conrad I von Weins-
berg fofort verfolgte die Waldenfer (+ 1397), Johann I. von Naffau, Adolphs L.
Druder (13IT—1419), nahm Theil an der Abfegung des Kaiferd Wenzel, und
hatte lange Kriege mit Braunfchweig und Heffen, Aehnlich Tag Conrad III.
Rheingraf von Stein, in beftändiger Fehde mit den Mainzer Bürgern (+ 1434),
welche erft fein Nachfolger Dietrich von Erb ach im J. 1435 unter Beiftand
768 Mainz.
zweier Commiffarien des Basler Coneils fohlichtete, Unter ihm wurde auch die
Buchdruckerkunſt (ſ. d. A.) in Mainz erfunden, Nach feinem Tode (1459) fritten
fih Diether, Graf von Iſenburg (f. d. U.) und Adolph I. von Naffau
um den erzbifchöflichen Stuhl, Die Bürger der bisher freien Neichsftadt Mainz
nahmen Partei für den Erftern; aber er wurde, weil er die Annaten nicht ent=
richtet hatte, von Pins II. abgefegt und von feinem Gegner in einer Schlacht bei
Heidelberg 1462 überwunden, Adolph eroberte und plünderte darauf Mainz und
unterwarf jest auch diefe Stadt (1462) der weltlihen Hoheit der Erzbifchöfe,
die bereits auch manche andere Herrfchaften erworben hatten und im Laufe -der
Zeit. deren noch mehrere erhielten, Nach Adolphs IL. Tod 1475 erhielt wieder
Diether das Erzftift und gründete jegt 1477 die Univerfität Mainz (fie wurde
im 5. 1798 unter franzöfifcher Herrfchaft wieder aufgehoben). Ihm folgten Al—
bert II, 1482—84; Bertholt, Graf von Henneberg (f. d. A.), Erzkanzler
Marimilians I., 1484—1504 5 Jacob von Liebenftein bis 1508; Uriel von
Gemmingen bis 1514; darauf Albrecht von Brandenburg (ſ. d. A.), ein
Zeitgenoffe Luthers, Anfangs der Neuerung nicht abgeneigt, fpäter ihr entſchie—
dener Gegner, CH 1545). — Während fodann Sebaftian von Heufenftamm
(1545 — 55) Erzbiſchof war, eroberte Albert Alcibiades von Brandenburg die
Stadt Mainz, und verbrannte den churfürftlihen Palaft und mehrere Kirchen,
Bon da an bis zum dreißigjährigen Kriege regierten Daniel von Homburg
C+ 1582) , Wolfgang von Dalberg (+ 1601), Johann Adam von Biden
(+ 1604), Johann Schweifard (Suifard), Edler von Kronberg (+ 1626),
Georg Friedrih von Öreiffenflau (+ 1629), und Anfelm Cafimir von
Umftadt. Unter Iegterem wurde Mainz wiederholt Tummelplag der ſchwediſchen,
franzöfifchen und Faiferlichen Truppen, Zulegt blieben die Franzofen Meifter der
Stadt, während der Churfürft nach Frankfurt hatte flüchten müffen, wo er im
J. 1647 ftarb, Es folgte Johann Philipp von Schönborn, und blieb im.
Befige, obgleich die Schweden beim weftphälifchen Frieden (1648) die Säcularifi-
rung des Erzftifts verlangten. Unter ihm begann der Streit zwifchen Mainz und
Coln wegen des Rechtes, den teutichen Kaiſer zu ſalben. Er ftarb 1673. Schon
er , noch mehr feine Nachfolger Lothar Friedrich von Metternih-Burfheid
C+ 1675), Damian Hartard von der Leyen (1678), Carl Heinrich von
Metternih- Winneburg (+ 1679) und Anfelm Franz von Ingelheim
waren vielfach in weltliche Händel verflochten; Teßterer wird fogar eines geheimen
Einverftändniffes mit den Franzofen befchuldigt, denen fih Mainz im 3. 1688
ergab, Aber fchon im folgenden Jahre wurde die Stadt von den Teutfchen wieder
erobert und auch der Churfürft fehrte wieder zurück C+ 1695). Nach ihm regier-
ten noch Lothar Franz Schönborn (+ 1729), Franz Ludwig von Pfalz-
Neuburg (+ 1732), Philipp Carl von Eltz-Kempenich (+ 1743), Johann
Friedrich Carl von Dftein (+ 1763), Emmerich Joſeph, Baron von
Breitbah-Burresheim (+ 1774), und Friedrid Carl Joſeph Baron
von Erthal, der an der Emfer Punctation (ſ. d. A.) Antheil nahm und über-
haupt die Febronianifhen Grundſätze (f. d. A. Hontheim) befchügte, Wahrend
feiner Negierung fiel Mainz im J. 1792 durch Feigheit und Berrath in die Hände
der Franzofen unter General Cuftine, wurde ihnen zwar wieber entriffen, aber
am 29, December 1797 wieder von ihnen erobert und der Nepublif einverleibt.
Schon beim Bombarbement der Stadt im J. 1793 gerieth die Domfirche am
18, Zuni in Brand, und verlor die Dächer ihrer Schiffe, der Thürme und des
Kreuzgangs, auch ihre Foftbare Bibliothek. In den folgenden Kriegsjahren war
fie zu einem Fouragemagazin entwürdigt, geplündert und verwüftet, Im Januar
1798 ſteckten die Franzofen die Tricolorfahne an der Spige des Domthurmes auf.
ALS darauf durch den Lünevilfer Frieden (1801) die Stadt Mainz nebft einem
großen Theile des Erzftifts an Frankreich fiel, erhielt der franzöfifche Domainen«
Maiftre, | 769
director Guyon von der Regierung die Weifung, alles, was fih noch an beweg-
lichen Gegenftänden im Dome befinde, öffentlich an den Meiftbietenden verſtei—
gern zu Iaffen; und dieß gefhah auch. Während der Neihspeputationg-
Berhandlungen, welche auch eine Entfhädigung des Erzbifhofs von Mainz
herbeiführen follten, ftarb der genannte Tegte Mainzer Churfürft Erthal, und fein
bisheriger Coadjutor Dalberg (f. d. A.) erhielt nun zur Entfhädigung ſammt
dem Titel Churerzfanzler die Fürſtenthümer Afhaffenburg und Regensburg
und die Graffchaft Weslar. Zugleih wurde das Erzbistfum nah Negensburg
verlegt. Das Churfürftentfum und Erzbisthum Mainz hatte aufgehört. An welt-
lichem Gebiet hatte daffelbe 150 Duadratmeilen mit ungefähr 350,000 Einwoh-
nern umfaßt. Der Churfürft hatte 1,400,000, das Capitel, aus 24 Canonicis
und 15 Domicellaren beftehend, 330,000 Gulden Einfünfte. — Nachdem der
der erfte Eonful von Franfreih im J. 1801 mit Pius VII. ein Concordat geſchloſ⸗
fen hatte, erhob er auch Mainz, jetzt Hauptfladt des Departements Donnersberg,
wieder zu einem Bistum, und ernannte am 23, Detober 1802 den edlen Jo—
ſeph Ludwig Colmar aus Straßburg, der während der franzöfifchen Schreckens—
berrfchaft taufendmal fein Leben auf's Spiel gefest hatte, um die Segnungen der
Religion zu fpenden, zum erften Bifchofe von Mainz. Bon dem Eultminifter
Portalis unterftügt, brachte es Colmar, von Bonaparte perfönlich geachtet, dahin,
daß im J. 1803 der Dom wiederum dem kirchlichen Gebrauce zurücgegeben wurde.
Von da an begann auch mit großem Eifer deffen Reparation, Aber nach der
Schlacht von Leipzig wurden wieder 9000 Soldaten vom 9.—27. November 1813
in den Dom einquartirt, welche, aus Notb, alles Holzwerf der Kirche verbrannten,
Gleich darauf ward diefelbe abermals als Fouragemagazin benüßt, und erft nach
Wiederbefegung der Stadt durch die Teutfchen am 4. Mai 1814 konnte zur Rei—
nigung des Doms gefchritten und am 12, November 1814 wieder der erfte Gottes—
dienft darin gehalten werden. Um diefelbe Zeit wurde Mainz durch den Wiener
Eongreß dem Großherzogthum Heffen-Darmftadt einverleibt. Einige Jahre ſpäter,
15. Derember 1818, ftarb Bifhof Colmar (eine ausführliche Biographie deffelben
ift dem erſten Bande feiner Predigten vorangeftellt), und e8 folgte eine zwölf-
jährige Sedisvacanz, bis nad) Errichtung der oberrheinifchen Kirchenprovinz (1827)
Bitus Burg zum Bifchofe von Mainz erhoben und am 13. Januar 1830 feier-
lich inftallirt wurde, Er flarb den 23. Mai 1333 und es folgte ifm 1834 Jo—
bann Jacob Humann, und nad deffen früßzeitigem Tode (+ den 19. Auguft
1334) Peter Leopold Kaifer 1835 — 48 (+ 30. Dee, 1848); am 25. Juli
1850 aber beftieg Wilhelm v. Retteler den Stuhl des HI. Bonifacius. —
Die jesige Didcefe Mainz, zur oberrheinifchen Kirchenprovinz (f. d. A.) gehörig
und ein Suffraganat von Freiburg (ſ. d. A.) umfaßt das ganze Großherzogthum
Heffen mit 148 Pfarreien und ungefähr 180,000 Gläubigen. Literatur: außer
den bereit angeführten Werfen Serarius, res Moguntiacae. Mog. 1604. Wer-
ner, Franz (+ Domdehant in Mainz), der Dom zu Mainz und feine Denfmäler,
nebſt Darfiellung der Schidfale der Stadt und der Gefhichte feiner Erzbifchöfe
bis zur Translation des erzbifhöflihen Siges nad Negensburg. 3 Bde. Mainz
1827. Schaab, Gef. der Stadt Mainz. 3 Bde. Mainz 1844. [Hefele.]
Maiftre, Graf Joſeph von, ausgezeichneter Fatholifcher Schriftfteller,
1753 zu Chambery geboren, von einer urfprünglic aus Languedoc ftammenden
Familie, die fih in Piemont niedergelaffen hatte, wurde 1737 Senator zu Cham-
berg und emigrirte 1793 nach der Befegung feines Baterlandes durch die Fran
zofen. Als 1799 der König von Sardinien ſich genöthiget fand, das fefte Land
zu verlaffen, folgte ihm der treue Graf von Maiftre auf die Infel Sardinien
und wurde mit ber Leitung der fardinifchen oberften Kanzlei beauftragt, Im
J. 1803 wurde der Graf als bevollmächtigter Minifter an den ruffifhen Hof
geſchickt, von wo er erſt 1817 zurückkehrte und als Staatsminifter, Kanzler von
Kirchenlexilon. 6. Br. 49
770 Majeſtät Gottes — Major und Majpriftenftreit.
Sardinien und Mitglied der Academie der Wiffenfchaften zu Turin im Februar
1821 vom Tode überrafcht wurde. Außer mehreren Heinen gehaltreihen Schrif-
ten erfchienen von dem Grafen von Maiftre folgende vier größere Werfe: 1) Con-
siderations sur Ja France, suivies d’un essai sur le principe generateur des con-
stitutions politiques, Paris 1814; 2) Du pape, die zweite und verbefferte Ausgabe
Lyon und Paris 1821; 3) De Yeglise gallicane etc. Lyon et Paris 1821; 4) Les
soirdes de St. Petersbourg, 1821. In Teutſchland machte Friedrich v. Schlegel
in. dem 9. und 10. Heft feiner Concordia und dann in B. 2 der neuen Ausgabe
feiner Literatur-efhichte auf dag Werf Du pape aufmerkfam, und alle vier ge-
nannten Werfe Maiftres fanden in den Wiener Jahrbüchern der Literatur, Iteg
Duartalheft 1821 , eine ausführlige Beurtheilung. Bald darauf unternahm es
Morig Lieber, ein um bie Fatholifche Sache Teutſchlands wohlnerbienter Gelehrter,
die genannten Werfe Maiftre’s in Verbindung mit einigen gelehrten Fatholifchen
Freunden in's Teutſche zu überfegen, Frankfurt 1822— 1825. Katholifcher Glaube
und Fatholifche Lehre ift Geift und Seele der nah Inhalt und Form ausgezeich-
neten Schriften des Grafen Maiſtre. Niemand hat beffer als er es einleuchtend
gemacht, daß die wahren Grundurfachen der allgemeinen Erfchütterung aller Ver—
bhältniffe von Kirche und Staat die verfebrten Lehren der Zeit feien, und daß das
erfte und feftefte Band aller Geſellſchaft nur in der Religion beſtehe. Maiftre
war auch der erfie, der es unternahm, die Verdienfte des Papfitbums um die
Öefammteultur Europas ausführlich darzuftellen und die hohe Wichtigkeit der
päpftlihen Macht für die wahren Grundlagen der Sprietät und Civilifation zu
zeigen, Das hohe Intereffe der Maiftre’fchen Schriften für Religion, Gefes-
gebung, Philoſophie und Geſchichte Hat den fel. Dr, Windifchmann bewogen, die
Soirdes de St. Petersbourg mit einer philofophifchen Einleitung und philofopbifchen
Bemerkungen zu begleiten. [Scrödl,]
Majeſtät Gottes, f. Gott.
Meajeftätsbrief, f. Dreißigiähriger Krieg.
Majeftätsrechte, ſ. jura circa sacra.
Majplus, Abt von Elugny,f. Elugny.
Major und Majprijtenjtreit. Diefer Streit, der zunähft durd Major
veranlaßt wurde und in dem es fih um die Notbwendigfeit der guten Werke han-
delte, nahm im J. 1552 feinen Anfang , verfegte viele Jahre hindurch ganz
Teutfchland in Spannung und trug zu jenem Abfchluffe der proteftantifhen Recht—
fertigungslehre, wie er endlich in der Coneprbienformel (f. d. A) erfolgte, am
meiften bei, Major, Georg, ift geboren den 25, April 1502 zu Nürnberg,
wurde am Hofe Friedrichs des Werfen als Capellfnabe erzogen, und bezog, unter-
fügt von ber Mildihätigkeit des Churfürften von Sachſen und des Nathes zu
Nürnberg, im 3. 1521 die Univerfität Wittenberg. Mit regem Eifer fah er fi
bier auf dem philologifchen und theologifchen Gebiete um und genof eines nähern
Umgangs mit Luther und Melanchthon. Schon im J. 1529 wurde ihm das Ner-
torat an der Schule zu Magdeburg anvertraut und dur feinen rühmlichen Fleiß
und Eifer fam die dortige Schule zu bedeutendem Flor. Sieben Jahre fpäter
wurde er Superintendent zu Eisleben und im J. 1539 fam er als Profeffor der
Theologie und als Prediger an der Schloffirche nach Wittenberg; im I. 1544
erhielt er die theologifche Dortorwürde, Zu dem Religionsgefpräche, welches nach
dem Wunſche des Kaiſers in Regensburg flattfinden follte, wurde Major, ba er
nach Luthers Meinung Mann’s genug dazu wäre, am 10, Januar 1546 abgefer-
tigt; beigegeben waren ihm Bucer, Brenz und Schnepf, und die augeburgifche
Confeffion und Apologie war ihnen in ihrer Inſtruction als Richtſchnur geftellt,
BDegreifliher Weile fam aber bier fo wenig eine Vereinigung zu Stande, daß
die fähfifhen Colloeutoren ſchon am 20. März Negensburg wieder verließen,
Nun brach der ſchmalkaldiſche Krieg (ſ. d. A) aus und Major fah ſich veranlaßt,
ne re ah
Major und Majporiftenftreit. u ti
das bedrohte Wittenberg zu verlaffen. Nur der Umſtand, daß ihm der Herzog
Auguft das Amt eines Hofpredigerd und Superintendenten in Merfeburg 1547
übertrug, rettete ihn und die Seinen vor bitterer Noth. Doc fchon im folgenden
Jahre nah Beendigung des Kriegs fonnte er wieder nach Wittenberg zurücffehren,
Bergebens ließen ihm der König von Dänemarf und der Herzog Friedrich von
Holftein im 5. 1551 glänzende Stellen anbieten, dagegen nahm er im Anfang
des 3. 1552 einen Ruf nad Eisleben als Superintendent der Mansfelder Kirche
am, Er war jedoch um diefe Zeit dur feine Theilnahme an den Verhandlungen
über das Leipziger Interim (f. d. A.), in welchem die Feinde diefer Formel fo
viele päpftlihe Irrthümer witterten, und befonders dur die in daffelbe aufge-
nommene Aeuferung, daß der Menfch bei dem Werfe der Befferung und Nedt-
fertigung fi nicht als einen todten Bloc verbalte, der Zelotenpartei fehr mif-
fällig oder mindeſtens verdädtig geworden ; dazu fam noch, daf ihn Amsdorf
(G. ». 4.) zu Ende des 3. 1551 in einer Schrift des Adiaphorismus (f. Adia-
phoriften) und der Verfälfhung der Rechtfertigungslehre befchuldigte, und ihm
namentlih vorwarf, 1) daß er irgendwo gefchrieben habe: er wolle über das
Wörtlein: Sola, oder über die Formel, daß der Glaube allein gerecht made,
nicht freiten; 2) daß in einer feiner Schriften der Ausdruck vorkomme: ver
Glaube made fürnehmlich felig; 3) daß er mehrmals ausdrücklich gelehrt Habe,
gute Werke feien nötbig zur Seligfeit. Deßhalb erhoben die Prediger der Graf-
ſchaft, als heftige Gegner des Interims befannt, Anfangs Schwierigfeiten , ihn
als ihren Borgefegten anzuerfennen, und Liegen ſich endlich Majors Anſtellung
nur gegen die Zufage gefallen, daß der neue Superintendent an dem bisherigen
tirhlichen Zuftande nichts ändere und fih von der ſchon berührten öffentlichen
Anflage genügend reinige. Major verfaßte deßhalb noch im J. 1552 eine Ant-
wort auf die Anklageſchrift Amsdorfs und wies die erfte der Befhuldigungen als
eine Unwahrheit zurüf, indem er Jedermann aufforderte, ihm diejenige Stelle
feiner Schriften, in welcher jener Ausdruck ſtehen follte, namhaft zu machen,
Hierauf erflärte er ſich über die Anhänglichkeit an die Lehre vom allein rechtfer-
tigenden Glauben in der beflimmteften Weife, glaubte fih nun aber auch in Be—
ziehung auf die Lehre von den guten Werfen berechtigt, feinen weitern Rückhalt
zu beobachten, und ließ daher in feine Vertheidigungsfchrift die Worte druden:
„das befenne ich aber, daß ich alfo vormals gelehrt Habe und noch Iehre, und
fürder alle reine Tage fo Iehren will, daß gute Werfe zur Seligfeit nothwendig
find, und fage öffenllich und mit klaren Worten, daß Niemand durch böfe Werfe
felig werde, und daß auch Niemand ohne gute Werke felig werde, und fage noch
mehr, daß wer anders Iehrt, auch ein Engel vom Himmel, der fei verflucht !*
Major wollte wohl, durch die Wirfungen der neuen Rechtfertigungslehre erfchreckt,
ihr durch befhränfende Zufäge die gefährlichfte Spitze abbrechen, und er hielt
fih hiezu um fo mehr für berechtigt, als nicht bloß in einer der Schriften Me-
lanchthons, durch welche die Theologie der neuen Kirche größtentheils beftimmt
worden war, die Säge, daß gute Werfe zur Seligfeit nöthig feien, und daß die—
felben geiftliche und Teibliche Belohnungen in diefem und in jenem Leben verdie-
nen, fih vorfanden Lfiehe 3. Ausgabe der loci theologici vom J. 1543 im Ab-
ſchnitt de bonis operibus), fondern auch Luther felbft, befonders in der antino—
miftifhen Streitigfeit mit Agricola ſich auf das Entjchiedenfte für die guten Werke
erffärt Hatte, Allein dem großen Haufen der Anhänger des Lutherthums hatte
fi die Lehre vom gänzlichen Unwerthe der guten Werfe, mit welder die Refor—
matoren zuerft aufgetreten waren, tiefer eingeprägt und inniger mit allen Vor—
ftellungen verſchmolzen, als daß die nachträglichen Einfchränfungen, durch welche
fie den bebenflihen Folgerungen derfelben vorzubeugen bemüht gewefen waren,
Eingang finden fonnten, und es mußte fonach den eifernden Gegnern Majors
fehr Teicht werden, ihn auf den Grund eines zu beftimmten Widerſpruchs gegen
49*
772 Major und Majoriftenftreit.
die angenommene Grundlehre der neuen Kirche als einen Irrgläubigen verdächtig
zu machen. Amsdorf, Flacius, Gallus, die Prediger zu Hamburg und Lübed,
die Lüneburger, Magdeburger und Mansfelder Prediger, fie alle beeilten fich, in
Schriften oder Gutachten gegen jede Nothwendigfeit der guten Werke zur Selig-
feit, wie fie auch dargeftellt und motivirt werden möchte, zu proteftiren. Die
nächfte Folge war, daß der ältere Graf Albrecht von Mansfeld dem Major,
unter Androhung harter Berfahrungsweifen fagen ließ, daß er Eisleben und die
ganze Graffchaft fofort zu räumen habe. Dem Angeflagten wurde nicht einmal
die gegen ihn erhobene Klage mitgetheilt,. Dennoch fand e8 derfelbe der Klugheit
gemäß, dem Befehl des Grafen durch ſchleunige, fluchtartige Entfernung nachzu—⸗
fommen und begab fich wieder in feinen frühern Wirfungsfreis nach Wittenberg.
Hier gab er fih nun alle Mühe, feinen Sag fo mit Elaufeln zu umftellen, von
feiner behaupteten Nothwendigfeit fo viel wieder hinwegzunehmen, daß fie prote-
ftantifchen Ohren allenfalls erträglich Flingen möchte; er verwahrte ſich nachdrück⸗
Lchft gegen jede DVorftellung eines Verdienftes: er wiffe wohl, daß der Menſch
dur den Glauben ohne alle Werfe gerechtfertigt werde, daß er als Gerechtfer-
tigter auch ſchon die Seligfeit befige, und die guten Werfe alfo durchaus nicht
zur Erwerbung der Seligfeit, die der Menfch bereits und allein durch den Glau—
ben habe, dienten ; nur eine Nothwendigfeit des Zufammenhanges oder der Folgen,
necessitatem conjunctionis et debiti, non meriti, behaupte er, weil ver Glaube
nicht ohne gute Werfe fein fünne, Dann aber wies er auch darauf hin, wie an=-
ftößig und gefährlich die entgegengefegte Lehre von der Entbehrlichkeit der guten
Werke zur Seligfeit ſei. Die Gegner beftritten nun alfererfi Major's Behaup-
tung, daß die von ihm aufgeftellte Nothwendigkeit der guten Werfe zur Seligfeit
noch keineswegs eine verbienftliche Beziehung derfelben auf die Geligfeit invol-
vire, und man muß mit Döllinger geftehen, daß Amsdorf und die übrigen Geg-
ner Majors hier im Nechte, und befugt waren, feine Diftinetion als unhaltbar
zurückzuweiſen. Wenn gefagt wird, daß die guten Werfe zur Seligfeit nothwendig
feien , fo kann diefe Nothwendigfeit ihren Grund nur darın haben, daß Gott die
Heiligkeit und ihre Früchte, die guten Werfe, für die unerläßliche Bedingung
erflärt hat, von welcher das ewige Heil abhängt, fo daß, wer die guten Werfe
bat, damit als mit der von Gott gefegten und von ihm geleifteten Bedingung
die Seligfeit erwirbt ; und da nach allgemeinem menſchlichen Sprachgebrauche das
Leiften desjenigen, wodurd man ein Gut oder eine Wohlthat erwirbt, oder bie
Bedingung erfüllt, unter welcher die Wohlthat verheißen ift — ein Verdienen
genannt wird, wie ineommenfurabel verfrhieden auch die Leiftung und das dafür
gegebene Gut oder der Lohn fein mögen, fo ift es richtig, daß der Begriff der
Berbienftlichfeit der guten Werfe von dem Begriffe einer Notbwendigfeit derfel-
ben zur GSeligfeit nicht getrennt werden fann, Zulegt nahm Major den ange»
fochtenen Sag (im 5. 1562) ganz zurüf, ja er appellirte, al8 man ihn dennoch
nicht in Nuhe Tief, in einem neuen Bekenntniß im 5. 1567 und in feinem Tefta-
mente vom J. 1570 an den Richterftuhl Gottes, des allwiffenden Herzensfün-
digers, daß er niemals beabfichtigt, der ftreng Iutherifchen Lehre vom allein felig-
macenden Glauben den mindeften Abbruch zu thun. Aber vergebens. Die
Theologen zu Jena gaben nun eine riftlihe, in Gottes Wort gegründete Er—
innerung heraus, in welcher fie die Welt warnten, Fein Wort von allen diefen
Berficherungen zu glauben, und zwar noch Gott baten, daß er den armen alten
Mann befehren möge, damit er nicht ohne Buße dahinfahre, am Ende aber doch
die Vermuthung äußerten, daß ihm wohl nicht mehr zu helfen fein werde, Ja
Flaeius (f. d. A) fhloß eine Schrift, die er dem Teftamente Majors entgegen-
fegte, mit dem Wunfche, daß doch Chriftus bald auch diefer Schlange den Kopf
zertreten möchte. Bei dem langen und mit fo vieler Leidenfchaftlichfeit und Bitter-
Feit geführten Majoriftenfireit (vgl. Osttfried Arnold in feiner Kirchen- und
——— RETE Dei
Major und Majoriftenftreit, 773
Kegerhiftorie par. II. libr. 16. cap. 27. $ 8. sqgq.) war unter alfen Theologen,
die fich dabei betheiligten,, Feiner, der fih dahin erklärte, Major fei nach feinem
Urtheil nicht von der reinen Iutherifchen Lehre felber wenn ſchon von ihren Aus=-
drücken abgewichen,, der Superintendent Juſtus Menius zu Gotha allein aus⸗
genommen. Diefer verweigerte, vielleicht nur aus Dppofition gegen Amsdorf,
im $. 1554 einem amtlihen Ausfchreiben,, in welchem Majors Lehre förmlich
verdammt ward, die Unterfchrift,, zog dadurch aber auch die Verfolgung auf fein
eigenes Haupt. Der Herzog Johann Friedrich Tief ihn fogleih mit harten inqui-
fitorifchen Maßregeln bedrogen. Zwar kamen diefelben damals noch nicht zur
Ausführung, weil es an allen Beweismitteln fehlte; dafür aber braten die Ze—
Ioten das Gerücht unter das Volk, daß Menius ein Papift geworden fei, Vor—
nehmlih um ſich von dieſem Verdachte zu reinigen, ließ derfelbe zwei Jahre
darauf (1556) eine Schrift von der Bereitung zum feligen Sterben und eine
Predigt von der Seligfeit drufen. In beiden Schriften trug er die rein luthe—
rifche Lehre, daß und warum fein Menſch durch das Geſetz und dur Werfe felig
werden fünne, auf das Beftimmtefte und Deutlihfte vor und hütete ſich fehr forg-
fältig, von der Nothwendigfeit guter Werke zu ſprechen. Doc hatte er nicht vermie=
den, der Nothwendigfeit der Buße zur Seligfeit zu gedenfen, und in der Predigt
auch davon gehandelt, daß denjenigen, die ohne alles Geſetz und Werke allein durch
den Glauben an Chriftum felig geworden, doch von Nöthen fei, fi vorzufehen,
daß fie die Seligfeit, die ihnen ohne alles Verdienft aus Gnaden widerfahre,
durch öffentliche Sünde wider Gott und wider ihr Gewiſſen nicht wiederum ver-
lieren, fondern fie vielmehr in reinem Herzen, gutem Gewiffen und ungefärbtenz
Glauben erhalten und darin beftehen und bleiben möchten. In diefen und ähn—
lichen Stellen fand Amsdorf majoriftiihes Gift. Auf deßhalb gemachte Anzeige
ließ der Herzog die ſchon früher gegen den Menins beabfichtigten Maßregeln in
Anwendung treten, ihn vom Amte fufpendiren und vor einer in Eiſenach verfam-
melten thevlogifhen Commiffion zur Verantwortung ziehen. Menius vereitelte
aber den zu feinem Verderben entworfenen Plan durd feine Bereitwilligfeit, ein
son der Commiffton ihm vorgelegtes firenggläubiges Bekenntniß zu unterfchreiben
und dabei zu verfihern, daß er die in feinen Aeußerungen gefundene Meinung
nicht gehegt Habe, und gern alle auf diefelbe gedeuteten Ausdrüde berichtigen
werde. Diefer Ausgang hatte eine Trennung unter den Strenggläubigen ſelbſt
zur Folge. Menius verlor zwar, ungeachtet feiner nachgiebigen Erklärung, fein
Amt und farb bald darauf in Leipzig, wo er eine andere Anftellung erhalten
hatte, Amsdorf fand ſich aber hiedurch noch nicht zur Ruhe beftimmt. Boll Ver-
druß über die Weigerung mehrerer feiner Parteigenoffen, der von ihm aufgeftellten
Behauptung beizupflihten, daß gute Werfe in feinem Sinne und in feiner Be-
ziehung nöthig zur Seligfeit feien, trieb er num diefe Behauptung auf die äußerfte
Spitze und lief im 3. 1559 eine Schrift unter dem Titel druden: da die Propo-
fitio: gute Werke find zur Seligfeit ſchädlich, eine rechte, wahre, chriſtliche
Propofitio fei, durch die Heiligen Paulum und Lutherum gelehrt und gepredigt.
Auch Wigand äußerte in einem Schreiben an Weller: man könne wohl fagen, daß
gute Werke zur Seligkeit fhädlih wären; wer das nicht flatuire, der verfleinere
die Schredflichfeit der Sünde und den Ernft des göttlichen Gerichtes, wenn man
hingegen fage: gute Werke find ſchädlich, fo treibe man Chrifti Verdienft und
Gehorfam fein in die Höhe. Es Tiegt in der Natur der Sade, daß feine andere
Eontroverfe jener Zeit einen fo mächtigen und durchgreifenden Einfluß auf die
Form und den Inhalt des Neligionsunterrichtes übte, als die majoriftifche, und
dag an der Entfheivung des Streites die Gemeinden nicht geringeres Jutereſſe
nehmen mußten als die Theologen und Prediger. Die befürchtete Annäherung
an die Fatholifche Lehre, welche in Majors Lehrform lag, und die Heberzeugung,
daß leichter Troft und Beruhigung gefunden werde, wenn man die Seligfeit nur
774 Majorinus — Malachias.
von dem Act des Glaubens oder Vertrauens abhängig mache, als wenn man bie
Nothwendigkeit der guten Werke zur Seligfeit Iehre, gab den Ausfchlag, zumal
ohnehin befannt war, daß jene Lehren, welde der Licenz des großen Haufens
fhmeicheln, am Tiebften gehört werden. Die Eoneordienformel verwarf den Ma—
jorismug, wenn gleich mehrere Mitarbeiter diefer Formel, wie felbft Jacob Ans
drei (f. d. 9.) dem Majorismus geneigt waren, Major feldft erlebte ven Aus—
gang des Streites nicht mehr; nahdem er faft drei Jahre hindurch gefränfelt,
farb er zu Wittenberg den 28, November 1574, Ein Theil feiner Schriften ift
unter dem Titel: Opera D. Ge. Majoris, Viteb. 1569. Fol. 3 Bde,, herausgegeben.
Cr. Adam vit. theolog. Schröckh, Kirchengeſch. feitder Reform, Bd. 4. Planf,
Geſchichte des proteft, Lehrbegriffse Bd, 4, Döllinger, die Reformation Bd, 3.
Menzel, neuere Geſch. der Zeutfhen Bd. 2 u. 4. 3. G. Wald, Religions»
fireitigfeiten in der Tutherifchen Kirche, Vgl. auch den Art, Chemnig. [äris.]
Majprinus, f. Donatiften.
Majoritas (Vorrang) wird in der Sprache des Kirchenrechtes in einem
fubjectiven und objectiven Sinne gebraudt. 1) Im fubjectiven Sinne be—
greift man darunter den Vorrang, den nicht nur der geifllihe Stand überhaupt,
deffen Gefammtheit eben die Iehrende und regierende Kirche bildet, vor Dem Laien
ftande hat, fondern den auch die Geiftlichkeit ſelbſt rückfichtlih ihres Standes
untereinander behauptet; demnach, wenn alles Uebrige gleich ift, die ältere Weihe;
wenn aber die Weihen ungleich find, die höhere Weihe den Vorrang gibt Ce. 1,
15. X. De major. et obed. I. 33). Nur ein vom Papſte Geweiheter geht den
Elerifern deffelben Weihegravdes ohne Nüskficht auf das Alter der Ordination vor
Ce. 7. X. eod.). Die Weltgeiftlihen gehen bei gleiher Weihe den Regularen,
unter den Weltgeiftlichen felbft aber die Domeapitularen den Canonifern der Eol-
Vegiatftifter ; unter den Drodensgeiftlihen die Regular » Canpnifer den Mönchen,
die übrigen Mönchsorden den Mendicanten, unter leßteren wieder die Domini-
caner den Vebrigen vor. Vgl. Benedict. XIV. De syn. dioec. Lib. II. c. 10, wo
- von diefen Rangverhältniffen ausführlicher gehandelt wird, — 2) Im objer-
tiven Sinne verfieht man unter majoritas die Amtsgewalt, d. i. den Inbegriff
der Befugniffe eines Kirchenamtes, Die mit folcher Amtsgewalt befleideten Per—
fonen heißen die Kirchenoberen (superiores ecclesiastici) und bilden zufammen dem
Kirchenbeamtenftand (status hierarchicus), Der firhlichen Amtsgewalt aber ent-
fpricht der kirchliche Gehorſam Cobedientia canonica) Seitens der Untergebenen,
d. i. nicht nur der Nichtbeamteten, fondern auch der niederern Beamten, Denn
auch die Kirchenbeamten ſtehen in einer ftrenggeregelten Unterordnung unter-
einander, und verpflichten fich, der niedere dem höheren, zur Unterwürfigfeit und
zum Gehorfame durch einen formfichen Eid (ſ. Obedientia canonica, Dbedienz-
Eid, Bol: auch den Art, Competenz. [Permaneder.]
Malabaren, f. Franciscus Kaverius und Jndiem
Malacca, ſ. Franciseus Kaverius und Indien, —
Malachias (Maleachi), "2872, LXX. MeAaylas, Vulg. Malachias, der
Teste unter den 12 Heinen Propheten. Die HI. Schrift theilt über feine Lebens-
umftände nichts mit. Sein Name bedeutet: „mein Bote (Engel)* oder „Bote
Gottes” fir (m’>8>72) und ift darum in ben LXX. mit &yyeAog überjegt; ex
wird darum von den Vätern zuweilen unter dem Namen Angelus citirt, Die
Meinung des Drigenes, er fei ein wirklicher Engel in Menfchengeftalt gewefen,
was auch von Haggai (f. d. A.) geglaubt wurde, ift durch diefe Bedeutung feines
Namens veranlaft und ſchon von Hieronymus (in Agg. 1, 13; prol. in Mal.)
widerlegt, Die Rabbinen und Hieronymus (prol. in Mal.) halten Malachias für
identifch mit Esra, wofür fich aber Fein flihhaltiger Grund vorbringen läßt, Nach
Pfeudo- Epiphanius und Dorotheus war er ans Sapha im Stamme Sabulon und
Malblachias, Imarus. 75
ſlarb fehr früh; feinen Namen habe er davon erhalten, dag ein Engel dem Volfe
erfhienen fei und feine Prophezeiung beftätigt habe, Nach rabbinifchen Nach—
richten war er auch mit Daniel, Haggai, Zaharias und Esra Mitglied der
großen Synagoge und der unter Darius Hyftafpes gehaltenen Synode zur Feft-
ftellung des Canons. Sicher ift nur, dag Malachias nah Haggai und Zacharias
und nad der Vollendung des Tempelbaus (Mal. 1, 10; 3, 1) auftrat, Seine
kurze Prophezie (3 Capitel, in der Vulgata bilden 3, 19—24 das vierte Capitel)
bezieht fih zum Theil auf die Gegenwart, zum Theil auf die Zufunft. Er tavelt
das geringe Gottvertrauen feiner Zeitgenoffen, welhe, von Unglücksfällen be-
troffen, in die Klage ausbrahen, Gott habe fie nicht lieb und es nüge nichts,
ihm zw dienen (1, 2—5); dann tadelt er an den Prieftern die Mißachtung des
Gefeges und Entweihung des Heiligthums durch mangelhafte Opfer (1, 6—2, 9),
an dem Volke namentlich die häufigen Ehefcheidungen und die Ehen mit auslän-
difhen Weibern (2, 10—16) und das Vorenthalten des Zehntens (3, 7. f.).
Er verfündet dann die Anfunft des Meffias und feines Vorläufers; der Meſſias
werde Priefter und Volk fäutern, wie Gold und Silber (3 u. 4). Berühmt ift
die Stelle über „das reine Opfer, weldes Gottes Namen ar allen Orten wird
dargebracht werden” (1, 11). [Reuſch.]
Malachias, Imarus, Erzbiſchof von Armagh in Irland. Der Hl. Bern-
hard, ſein Freund, hat das Leben des hl. Malachias, auf Erſuchen des Abts
Conganus aus Irland geſchrieben, aus deſſen Vita das Folgende ein Auszug iſt.
Malachias wurde in Irland in der Mitte eines barbariſchen Volls geboren, er-
zögen und gebildet zu Armagh, Er flammte aus einem vornehmen Haufe; feine
gute Naturanlage erhielt befonders durch feine chriſtliche Mutter eine gute Rich-
fung. Das Rnaben- und Jünglingsalter verlebte er in Einfalt und Reinigfeit des
Herzens und „mit dem Wachsthum feines Alters wuchs feine Weisheit und Lie-
benswürdigfeit bei Gott und den Menſchen“. Er machte fih zum Schüler eines
frommen Einfiedlers Imarus, und viele ahmten diefe neue Lebensweife nach,
Hierauf wurde er, gegen feinen Willen, von feinem Bifchofe zum Diacon geweiht.
Als folder machte er es fih zum befondern Gefchäfte, arme BVerftorbene zu beer-
digen. Etwa 25 Jahre alt, wurde Malachias zum Priefter geweiht. Der Bifchof
aber machte ihn bald zum Stellvertreter der ihm eigens zufommenden Gefchäfte,
Aus dem vermwilderten Acer des Herrn hatte Malachias viel Unkraut, befonderg
abergläubifhe Gebräuche und Feindfchaften, auszureifen, um den guten Samen
des Wortes Gottes in ihn ausftreuen zu fönnen. Er gab neue vortrefflihe Be—
flimmungen. Er führte auch nad Kräften die Befchlüffe und Gewohnheiten der
römischen Kirche in allen feinen Kirchen ein. Denn bis dahin wurden dort „die
canoniſchen Stunden nicht nach der Sitte des ganzen Erdfreifes gehalten”. Er
führte auch, wie er es in feiner Jugend gelernt hatte, den kirchlichen Gefang ein,
Ebenfo führte er wieder ein „den Heilfamen Gebrauch der Beichte, das Sacrament
der Firmung und der Ehe, was fie alles entweder nicht wußten oder verabfäum-
ten, das führte er wieder ein”, Das einft fo berühmte, nun zerfallene Klofter
Bangor ftellte er Her, bei welcher Gelegenheit Malachias fein erftes Wunder
sollbrachte, auf welches von nun an viele andere folgten, Durch das fegensreiche
Wirken des Malahias wurde die Geftalt Irlands nah und nach in’s Beffere
umgewandelt, fo daß damald „auf jenes Volk das Wort des Herrn durch den
Propheten zutraf: das vorher nicht mein Volk war, das ift Heute mein Volk.“
Als der Erzbifchof Eelfus von Armagh aus der Zeitlichfeit fheiden wollte — und
er hatte ven Malachias zum Diacon, Priefter und Bifhof erhoben — fo empfahl
er diefen als den würdigften zu feinem Nachfolger, Leider war dur üble Gewohn-
heit diefer Sig des Hl. Patricius, das Erzbisthum Armagh, nach Gunft und Vor—
rang der Geburt früher vergeben worden, fchon durch fünfzehn Geſchlechtsfolgen
herab, Ja vor Eelfus Hatten diefen Biſchofsſitz ſchon acht verheirathete Männer, die
776 Malachias, Imarus.
ſelbſt die Weihen nicht erhalten, innegehabt. Daher auch eine Auflöfung aller Bande
der Ordnung über die ganze Inſel, daher war ein neues Heidentfum unter dem
Namen des Chriftentbums eingeführt worden, Innere Unruhen, Mord und Gräuel
aller Art Iafteten auf dem unglüdlihen Volke, und eine Barbarei der fchlimmften
Art drohte die Reſte der chriſtlichen Gefittung vollends zu erſticken. Diefem
Gräuel der VBerwüftung abzuhelfen, Irland wieder zum Chriſtenthum und damit
zur Gefittung zurüdzuführen, dazu war Malachias gefandt von Gott, In ihm
erſchien St. Patricius zum zweiten Male, um Irland zu einer Juſel der Heili-
gen zu machen, Che indeg Malachias Erzbifchof wurde, fo regierte ein gewilfer
Mauricius die Kirche von Armagh, nicht als Bischof, fondern als Tyrann —
durch fünf Jahre, Im 38, Jahre feines Lebens zog Malachias als Oberpriefter
und Metropolitan von ganz Irland in Armagh ein. Einige Jahre fpäter machte
er eine Reife zu dem Grabe der Apoftelfürften in Nom, und fam unterwegs auch
zu dem Hl. Bernhard nach Clairveaux. Damals war Innocenz II. Papft (1130—
1143). Malachias bat fih von dem Papfte die Gnade aus, in Clairveaur leben
und fterben zu dürfen; erhielt fie aber für jet nicht. Der Papſt ernannte ihm
zu feinem Legaten für ganz Irland. Wohfbehalten und zur Freude des ganzen
Volkes kam Malachias in fein Vaterland zurück. In der ganzen Inſel verwal-
tete er nun das Amt eines päpftlichen Legaten. Homilien wurden überall gehalten,
Ein große Anzahl von Wundern, die er vollbrachte, befräftigten und beftätigten
feine höhere Sendung, Nachdem der hl. Bernhard eine große Zahl derfelben
berichtet, fügt er bei: „Daraus leuchtet genügend ein, wie groß an Verbienften
mein Malachias war, der zu einer Zeit, wo Zeichen und Wunder faſt aufgehört,
fo viele Wunder vollbrachte, Denn in welcher Art der Wunder der alten Zeit
bat Malachias ſich nicht hervorgetfan? Wenn wir das Wenige, was wir eben
von ihm berichtet haben, aufmerkfam würdigen, fo fehlte ihm nicht die Gabe der
Weiffagung und der Offenbarung, nicht die Gabe, zu flrafen die Gottloſen, nicht
die Gabe der Kranfenheilung, fowie der Verwandlung des Gemüthes, nicht end-
lich die Gabe der Todtenerweckung.“ Als fih Papft Eugen III. in Frankreich
aufhielt — im 3. 1147. — ſo verlangte e8 den Malachias, ebendahin zu reifen,
unter anderm, weil er für die Kirche Irlands noch nicht das Pallium erhalten
hatte, Doch verzögerte fich die Reife des Malachias, und als er nad) Frankreich
kam, fo war der Papft ſchon nach Italien zurückgekehrt. Malachias Fam zu fei-
nem Freunde Bernhard, und verlebte und bereitete bier den Brüdern felige Tage,
Bald wurde er von einer Krankheit ergriffen, die im Anfange nicht bedenklich
fhien. Schon früher hatte der Heilige gefagt, wenn er außerhalb Irlands fterben
follte, fo möchte er am Liebften in Clairveaux fterben. Sein Wunfch follte in
Erfüllung gehen, Auch fein Wunfh oder feine Prophezeiung, am Fefte Aller—
feelen zu fterben, erfüllte fi. Heilig, wie fein Leben, war fein Tod, Mit Pfal-
men und Hymnen und geifligen Gefängen geleiteten die zahlreich verfammelten
Brüder die Seele ihres in fein Vaterland zurücfehrenden Bruders, Im vier-
undfünfzigften Jahre feines Lebens, zu der Zeit und an dem Orte, die er ge-
wünfcht und vorausgefagt, wurde Malachias der Bifchof und Gefandte bes apo-
ftolifchen Stuhls gleihfam aus den Händen der Menfhen durch die Hände ber
Engel emporgetragen, Er entfohlummerte zum wahren Leben, denn ob auch Aller
Augen auf ihn gerichtet waren, fo fonnte doc Keiner den Augenblick beobachten,
in welchem er entichlafen war. Und noch ſchien er zu leben, nachdem er ſchon
geftorben war. Dieß gefhab im J. 1148. Noch im Tode wirkte Malachias
ein Wunder, Er wurde heilig gefproden von Papft Clemens II. — 6, Juli
1189, gl. Bern. Abb. L. de vita et rebus gestis S. Malachiae Hiberniae epis-
copi — in S. Bernardi opera ed. Mabillon T. I. p. 663—698. — Sermones II.
in transitu S. Malachiae ib. T. IN. p. 1048, sqq. — Des Erzbifhofs Malachias
fogenannte Prophezeiung über die Paäpfte ſteht mit dem hl. Malachius nur in
Maldion — Maldonatus, 777
dem Zufammenhange, daß fie unter feinem Namen ausgegeben wurde, und big
jest unter diefem Namen angeführt wird. Irgend einen pofitiven Beweis für
die Authenticität berfelben hat Niemand beigebracht. Dagegen fpricht befonders,
daß der Benedickiner Arnold Wion, der diefe „Prophetia de futuris Pontificibus
Romanis“ -zuerft mit Anmerkungen des Dominicaners Franz Alphons Ciae—
eoni bis auf Clemens VII. veröffentlichte, „in Ligno vitae L. I. p. 307 — 311.
Venet. 1595° feine Duelle angibt, woher er fie genommen. Die fog. Prophe—
zeiung war früher nie gekannt. Ferner der hl. Bernhard erwähnt wohl der
Prophetengabe des Hl. Malachias, aber feiner derartigen Prophezeiung. Auch
läßt die durchaus unbeftimmte Faffung der Worte, in welche man das Verſchie—
denfte hineinlegen kann, auf diejelbe faum den Namen der Prophezeiung an-
wenden. Die berüßmteften und eifrigftien Katholifen haben wenig auf diefelbe
gehalten. Sp nehmen Baronius, Spondanus, Bzovins, Raynaldus u. A,
feine Rüdfficht darauf, Indeß fagen wir gern mit Binterim: „Wenn ed au
mehr als wahrfheintich ift, daß diefelbe von dem Hl. Bifhof Malachias nicht
herrühre, fo traue ich mich doch nicht, ihr allen Werth abzufprechen.“ (Denf-
würdigfeiten III. 1. S. 107.) Authentifhe Prophezeiungen werden wir gebüh-
rend aufnehmen; denn Niemand verkündet die Zufunft, es fei denn im heiligen
Geifte, Aber es Heißt auch: prüfet die Geifter, ob fie aus Gott find, „Zuge
fiehen muß man indef, daß es einige von diefen Prophezeiungen gibt, welche auf
feltene und merkwürdige Berhältniffe treffen, wie die „Peregrinus apostolicus*,
welche, in diefer langen Reihe von Nachfolgern Pius VI. bezeichnet, und welche
ihre Beftätigung gefunden zu haben fcheint durch die Reife diefes Papftes nad
Teutſchland“ (Feller, Biogr. univ. s. N. V.). — Ueber das Zutreffen des „cerux
de cruce* wird man erft urtheilen fönnen, wenn die Laufbahn des gegenwärtigen
Papſtes gefhloffen ift. Die meiften Beurtheifer diefer fog. Prophezeiung des
Malachias find der Anfiht, daß fie in dem Eonclave von 1590 erdichtet wurde,
und zwar von ber Partei des Cardinals Simoncelli, welde denjenigen genau
bezeichnen wollte, den fie zu der Würde des Papſtes zu erheben wünfchte. Vgl.
außer den obigen Citaten Schrödh, 8. ©. 26 Th. S. 124. Fabricius, Biblioth,
- med. et inf. lat. T. V. v. Malachias. Menestrier, Traite s. les proph. altribuées
à S. M. — Jean Germano Vita, gesti e predittioni del padre san Malachia.
Neapel 1670, 2 vol. 4. — Bgl. ferner die Art.: Cöleftin II. u Srland. [&ams.]
Malchion, f. Paulus von Samofata,
Malchus. Der Bericht der Synoptifer (Matth. 26, 51. Marc, 14, 47,
Luc. 22, 50), daß bei der Gefangennehmung Jeſu dem Knechte des Dberpriefters
das rechte Ohr abgehauen worden fei, ift im Evangelium des HL. Johannes 18, 10,
noch durch die Worte: „der Knecht hieß Malchus“ vervollſtändigt. Weiteres über
diefen Malchus ift nicht befannt geworden, der Name fommt aber auch fonft,
wenn gleich nicht oft, in der Gefchichte vor. Sp Heißt ein arabifher Fürft Mal-
chus (Joseph. Antt. 13, 5. 1. 14, 14. 1. 15, 6. 2). Nah Suidas lebte auch ein
Sophiſt diefes Namens, aus Philadelphia gebürtig, im fünften Jahrh. unter
Kaifer Anaftafius zu Byzanz, und Photius nennt ihn ein Mufter eines volllom-
menen Hiftorienfchreibers. Man bat noch zwei fchöne Fragmente feines Gefhichts-
werfes in eclogis legationum. Vgl. Winer, biblifhes Realwörterbuch Bd, 2,
Iſe lin, Hiftor. Lericon Thl. 3.
Malcoutenten, f. Hugenotten.
Maldonatus (Malvdonado), Johannes, einer der größten Fatholifchen
Eregeten, wurde im Jahre 1534 zu Cafas de Ia Reina in der fpanifhen Pro-
vinz Eſtremadura geboren, Er ftudirte zu Salamanca Anfangs die Rechte, ging
dann aber auf den Rath eines frommen Freundes zur Theologie über und hatte in
diefer Dominicus Spto, den fpätern Cardinal Franz Toletus und andere aus-
gezeichnete Männer zu Lehrern, Nach Vollendung feiner Stubien trat er in dem
778 Maldonatus.
Jeſuitenorden und hielt nun zu Nom theologiſche Vorleſungen (1562). Um dieſe
Zeit erhielten die Jefuiten (ſ. d. A.) zuerft das Recht, an der Univerfität Paris
zu lehren, und Maldonat wurde, nachdem er nur einige Monate zu Nom gelehrt
hatte, nach Paris geſchickt, um dort als der erfte Profeffor feines Ordens auf-
zutreten, Man hätte feine beffere Wahl treffen fünnen, denn feine theologiſchen
und philofophifchen Vorlefungen fanden folden Beifall, daß täglich fchon zwei
bis drei Stunden vor dem Beginn derfelben der Hörfaal gefüllt war, und daß
er mehrere. Male gendthigt war, da der Saal die Zuhörer nicht faßte, im Hofe
des Jefuitencollegiums zu Iehren. Es gab kaum einen Theologen in Frankreich,
der ihm nicht gehört oder ſich feine Hefte verfchafft Hätte; felbft caloinifche Pre-
diger befuchten feine Vorlefungen und achteten, obwohl fie ihn wegen feiner ſchar⸗
fen Polemif maledicentissimus Maldonatus nannten, feinen Geift und feine Ge-
lehrſamkeit. Maldonat befaß auch, wie ihn Calmet treffend ſchildert, alle An-
Yagen, um ein ausgezeichneter Gelehrter zu werden; er verband mit Scharffine
gründliche Sprachfenntniffe, eine große DBelefenheit in der Firchlichen Literatur
und einen unermüdlihen Fleiß, So lange er Iehrte, befchäftigte er ſich weniger
mit fchriftftelferifchen Arbeiten, al8 mit der Vorbereitung auf feine Vorträge und
Disputationen mit den Proteflanten, welche ihn wegen feiner großen Gewandt-
heit und Lebhaftigfeit, fowie wegen feiner Geiſtesgegenwart beim Disputiren in
hohem Grade fürchteten. Sie mußten oft feine Ueberlegenheit fühlen, namentlich
zu Poitiers, wohin ihn der franzöfifche König Carl IX. ſchickte, um dem Prote-
ftantismus entgegenzuwirfen. Dabei wird feine Befcheidenheit, Zurückgezogenheit
und Demuth gerühmt und zum Beweife feiner Strenge in der Beobachtung der
Drdensregeln angeführt, daß er, wenn er von einem Drte an einen andern ver—
feßt wurde, nichts mitzunehmen hatte, als ein fihlechtes Drdensffeid und feine
Manuferipte. Für einige Zeit folgte er einem Rufe des Herzogs Earl IN. von
Lothringen an die von dieſem unter Mitwirkung des Cardinals von Lothringen
gegründete Academie zu Pont a Mouffon. Zu Paris trug er erft die Theologie
in einem vierjährigen Curſus vor, und begann dann diefelbe noch ausführlicher
zu lehren, Er wurde nun aber in mehrere Unannehmlichfeiten verwickelt, Einmal
wurbe er befhuldigt, den Präfiventen Montbrun zu einem Teftament zu Gunften
feines Ordens verleitet zu haben, von welcher Anklage ihn aber das Parifer Par-
lament freifprad, Die Sorbonne aber klagte ihn gar Häretifcher Anfichten a,
weil er gefagt hatte, die von der Sorbonne recipirte Lehre von der unbefleckten
Empfängnig Mariens fei Fein fiheres und unbeftreitbares Dogma, fondern nur
eine fromme Meinung; es entftand darüber ein heftiger Streitz der Bifchof von
Paris, Peter ve Gondi, welchen Papft Gregor XIN. mit der Unterfuchung der
Sache beauftragte, ſprach Maldonat im J. 1575 frei. Da die Anfeindungen in-
deffen, wie es feheint, doch nicht aufhörten und Maldonat ohnehin durch große
Anftrengungen feine Gefundheit gefhwächt hatte, fo gab er feine Profeffur auf
und zog fih in das Collegium zu Bourges zurück, wo er fih nunmehr mit ber
Ausarbeitung feiner Schriften befchäftigte und namentlich die Commentare über
die Evangelien und die Propheten verfaßte, Er beabfichtigte, die ganze hl. Schrift
zu commentiren, und befchäftigte fi namentlich auch mit der Erflärung der Idio—
tismen und Hebraismen der Bibel, Nach einem 1'/,jährigen Aufenthalt zu
Bourges wurde er von Papft Gregor XII. nah Nom berufen, um an der neuen
Ausgabe der Septuaginta zu arbeiten, Er ftarb dort bald nachher in einem
Alter von 50 Jahren, den 3, Januar 1583, — Er wird mit Necht zu den größten
Männern feines Ordens und zu dem gelehrteften Theologen feines Jahrhunderts
gezählt, — Sein Hauptwerf ift der Conımentar über die vier Evangelien. Der-
felbe war fehon 1578 im Ganzen vollendet; Maldonat Fonnte ihn aber ſelbſt
nicht zum Drude vorbereiten und übergab das Manufeript kurz vor feinem Tode
feinem Ordensgeneral, Claudius Aquaviva (ſ. d. A.). In deffen Auftrage wurde:
Maleachi — Malerei, hriftliche. 719
das Werk son den Jeſuiten zu Pont a Mouffon nochmals durchgefehen, nament-
lich mit Rückſicht auf die unterdefien (1592) erfihienene clementinifhe Ausgabe
der Bulgata, und im J. 1596 herausgegeben. Weber die Vortrefflichfeit diefes
Eommentars herrfht nur Eine Stimme; feldft R. Simon ſpricht davon, trog
feiner Abneigung gegen die Jefuiten, in den ehrendften Ausdrücken; wahrſcheinlich
würde er in mehreren Beziehungen noch vollendeter fein, wenn der Verfaſſer ſelbſt
die legte Hand hätte daran legen fünnen, Er wurde mehrere Male gedrudt; die
Ausgaben nach 1617 follen aber an manchen Stellen geändert fein; ‚neuerdings
iſt derfelbe von Saufen in fünf Octavbänden herausgegeben (Mainz 1840).
Außerdem hinterließ Maldonat einen Commentar über Jeremias, Baruch, Ezechiel
und Daniel, gedrudt 1609 in 4., Scholien über die Palmen, Proverbien, das
Hohelied, den Prediger und Iſaias (Paris 1643 u, 1677), Abhandlungen über
die Gnade, Erbfünde, Sarramente und andere Fleinere Schriften (&yon 1614,
Paris 1677), eine Abhandlung über die Engel und Teufel, die Franz Arnault
de Laborie in einer franzöfifchen Neberfegung herausgab, und einen traclatus de
caeremoniis, den F. A. Zaccaria in feiner Bibliotheca ritualis (Rom 1781) Yer-
ausgegeben hat. Die Summula casuum conscientiae, welche zu Venedig unter
Maldonats Namen erfihien, und deren Moral man zu lax gefunden hat, ift ihm
unterſchoben. Andere theologiſche Schriften von ihm follen fih handſchriftlich in
der Ambrofianifchen Bibliothek zu Mailand befinden, — Vgl. R. Simon, hist.
erit. des prine. comment. du N. T. p. 618. Feller, dict. hist. [Reufd.]
Maleadhi, f. Malachias.
Mealerei, chriſt liche. Die Gefhichte der Malerei, wie fich diefelbe unter
den Einflüffen des chriſtlichen Prineips entwickelt hat, kann in drei Perioden ge-
theilt werden. Die erfle Periode geht vom erften Jahrhundert bis zur Mitte des
dreizehnten Jahrhunderts; die zweite von der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts
bis zur Mitte des fechszehnten; die dritte von der Mitte des fechszehnten Jahr—
hunderts bis auf unfere Tage. Die erſte Periode bietet wenig Erheblihes dar,
In den erften drei Jahrhunderten fonnte ſich die chriſtliche Malerei wie die hrift-
liche Runft überhaupt nur in leiſen Anfängen entwickeln (f. den Art, Chriftus-
bilder und Bilder in ven Kirchen). Die Scheu, in den altheidnifchen Bilder-
dienft zurüdzufallen, die Armuth und gedrüdte Lage der erſten Chriften ließen
eine freie Entwicklung der Künfte nicht zu. Die erften Spuren chriſtlicher Malerei
findet man freilih Höchft unvollfommen, die zierlihen Formen der Antife ver-
ſchmähend, in den Ratafomben (f. d. A). Ihr Charakter ift wie der Charakter
der chriſtlichen Kunſt damals überhaupt mehr andeutend als darftellend, und
alle theils durch die Sculptur, teils dur die Malerei gefchaffenen Bildwerfe
find rein fymbolifher Natur, z. B. das Schiff als Symbol der Kirche, der
Pfau als das der Unfterbfihfeit, der Anfer als das der Hoffnung, das Lamm,
der Weinſtock, der Fifh, das Einhorn, der Pelifan — Chriftum, die Taube mit
dem Delzweige den hl. Geiſt finnbildend. An den Wänden findet man Gemälde,
darftellend Jonas im Walfifch, die Knaben im Feuerofen, Daniel in der Löwen-
be, Iſaac auf dem Holzftoß, als meſſianiſche Vorbilder einerſeits, anderer-
s um die erften Befenner dadurch Hinzuweifen auf den Martyrtod und den
daraus entfpringenden ewigen Sieg und Triumph; ferner finden fi viele gemalte
Kreuze, aus denen Roſen hervorblühen (f. den Art. Kreuz, als Bild). Epriftus
wird mit Bezug auf die Parabel im Evangelium dargeftellt als der gute Hirte,
das verirrte Lamm auf den Schultern tragend; Mofes, Waffer aus dem Felfen
fhlagend, als Prototyp der göttlichen Gnade. Selbſt mythologiſche Figuren
fommen in prototypifcher Bedeutung vor, 3. B. Drpheus, die feier ſchlagend und
dadurch die wilden Thiere zähmend, Hindeutend auf den Sieg des Epriftentgung,
Indeſſen ermangeln diefe Bilder des fünftlerifchen Werthes ; ihr Zweck iſt der der
seligiöfen Erbauung, fie deuten nur hin auf den tiefen Geift und Gehalt der
+1, Malerei, chriſtliche.
neuen Religion, Erft fpäter, als im vierten Jahrhundert durch Conftantin das
Chriftentgum zur herrſchenden Staatsreligion erhoben worden und der Firhliche
Lehrbegriff, namentlich dur die Synode von Nieaͤa über die Gottheit Chrifti dem
Arianismus gegenüber, dogmatifch firirt war, fehritt die hriftliche Malerei über
das bloße Symbol zu wirklichen Abbildungen Chrifti, der Apoftel, Maria’s und
der Martyrer fort, Die neu erbauten chriftlichen Kirchen wurden mit ſolchen,
meift auf. Goldgrund gemalten Bildwerfen gefhmüct, Indeſſen find alle Ge-
mälde in diefer Periode im byzantinifhen Style gehalten, deffen Wefen ſich
durch eine harte, fteife und flereotype Manier charakterifirt. Die Geftalten, welche
in der Weife diefes Styles gefhaffen wurden, find, wenn auch die Köpfe nicht
felten vollkommen griechifch fchön genannt werben können, doch todt und leblos,
bager geftreeft, ungelenf, Die Augen weit offen, die Farbe fehr in's Bräunliche
fpielend, Anftatt der hellern Schattirung bildet in der Negel ein Gploftri den
oberften Nand der Falten an den Gewändern, Diefe harte, flereotype Manier
erhielt fih fowohl im Drient als im Deeident bis in die Mitte und gegen das
Ende des 13ten Jahrhunderts. Die politifchen Stürme jener Zeit, im Drient
der fanatifhe Bilderftreit (ſ. d. A.), und im Decident die alle Nefte früherer
Kunft vollends zerftörende Völkerwanderung hemmten lange die Entwicklung der
chriſtlichen Malerei, Erſt gegen die Mitte und das Ende des 13ten Jahrhunderts
begann die chriſtliche Malerei fih von den Härten des byzantinifchen Styles Ing-
zuringen und gelangte im Laufe des 14ten, 15ten und 16ten Jahrhunderts zu
ihrer höchſten Blüthe und Ausbildung. Namentlih geſchah diefes in Stalien
und Teutfhland, In Italien blühten in diefer Beziehung befonders zwei
Schulen, die florentinifche und die umbrifche Cfrüher fienefiihe genannt).
Beide verfolgten diefelbe Richtung, den Geift des Chriftentbums in feiner Tiefe,
Fülle und Innerlichkeit darzuftellen. Sie nehmen durchweg ihre Stoffe aus der
heiligen Gefchichte und aus dem reichen Gebiete der Legende. Es ift nicht, wie
in. der antifen Kunſt, das bloß äußerliche, finnlihe Schöne, die Regung gewal-
tiger Kräfte, das Wilde, Trogige, was in diefen KRunftfchöpfungen zu Tage tritt,
fondern das innerlich Schöne, die von der Gnade gehobene Tugend, die Ver—
Härung des Endlichen durch das Unendliche, das Heilige, Durchdrungen von dem
Geifte Gottes, der in der Kirche lebt, fhufen die Maler diefer Schulen Gebilde,
welche, felbft belebt vom Hauche des Göttlichen, einen Geift offenbaren, welcher
der antifen Kunſt gänzlich verfchloffen war, Das Eigenthümliche, das diefe bei-
den Schulen wieder charakterifirt, befteht darin, daß die florentinifche Schule
einen mehr dramatifchen Charakter an ſich trägt; fie liebt es, im ihren Gebilden
die Handlung vorberrfihen zu laffen, das Objective, die Wirklichkeit, Sie prä-
valirt dur Zeichnung und Farbe und neigt gerne in's Weltlihe, Der Charakter
der umbrifchen Schule ift ein Iyrifcher, weich, die innere Seelenfhönheit dar-
ftellend. Die Anfänge diefer Schule tragen noch vielfah die Härten des byzan«
tinifchen Styles an fih, die Künftler vernachläßigen über der Darftellung des
Snnerlihen das Aeußerliche; doch entfalten fie eine Innigkeit des religiöfen Ge-
müthslebens, ein Aufgegangenfein des Endlichen in's Unendlihe, daß namentlich
in den Gebilden diefer Schule das chriftlihe Princip feinen vollften Ausdruck
findet, Die Meifter diefer Richtung Tieben es, flille Scenen aus der bi. Ge-
fchichte ohne Handlung darzuftellen, befonders Scenen aus dem Leben der heiligen
Zungfrau Maria mit dem Kinde, Engelsgeftalten ꝛe. An den fhönen, altlirh-
Yihen Köpfen find die Augenliever halb geſchloſſen; das Auge fiheint auf Feinen
befondern Gegenftand gerichtet, nach Innen, in die eigene felige Welt zu ſchauen.
Die Staffage entfpricht in myftifcher Weife den dargeftellten Gegenftänden; Blu-
men entfpriefen in der Nähe des göttlichen Kindes, ein Lamm ftebt an feiner
Seite, eine Duelle bricht hervor, Die Hintergründe find Ficht und fonnig, Alles
deutet auf eine höhere, verflärte Welt bin. Zu den erfien bedeutenden Erſchei-
—58
Malerei, chriſtliche. 781
nungen der florentiniſchen Schule gehören: Cimabue, geb. 1240. Er malte in
der Kirche St. Croce in Florenz auf Goldgrund, dann namentlich in der Kirche
zu Affifi, wo um das Grab des hl. Franciscus ein neues Runftleben erblühte,
Er überwindet die Härten des byzantinifchen Styles bereits vielfah und bahnt
eine beffere Periode auf dem Gebiete der Hriftlihen Malerei überhaupt an. Be—
fonders ift eine Madonna mit dem Kinde hervorzußeben, die er für die Kirche
St. Maria Nouvella in Florenz malte, Diefes Bild wurde in feierlicher Pro-
ceffion von feinem Haufe in die Kirche getragen. + 1300. Höher noch ſteht
Giotto, der Zeitgenoffe und Freund Dante's (ſ. d. A.), geb. 1276. Limabue
traf ihn, während er die Schafe hütete und eines verfelben mit einem fpigen
Steine abzeichnete; er nahm ihn unter feine Schüler auf; bald übertraf Giotto
den Lehrer, Er malte in den Kirchen zu Florenz und vollendete zu Aſſiſi Cima-
bue's begonnene Gemälde. Feuer, Wirklichkeit und Wahrheit Tiegt in feinen
Eompofitionen. Er liebte allegorifhe Darftellungen. Sp malte er 3.2. die
Keufchheit, eine weibliche Figur, auf einem Felfen figend; fie läßt ſich weder
durch Kronen noh Palmen, die ihr dargeboten werden, befiegen; die Buße,
welche, eine Geißel in der Hand, die Unlauterfeit von bannen treibt, die Armuth,
mit bloßen Füßen auf Dornen gehend. + 1336. Ein befonders großer Meifter
diefer Schule ift Maſaccio. Er malte in der Carmeliterfirhe zu Florenz.
Würde, Hoheit, männliher Ernft harakterifiren ihn. Seine Compofitionen find
lebendig, wahrhaft und natürlich, fonft voll Anachronismen. Befonders zu nennen:
die Vertreibung aus dem Paradiefe, Scenen aus dem Leben des hl. Petrus und
Paulus. + wenig gefannt 1443. Fratre Giovanni da Fiefole, geb. 1387,
mit dem Beinamen Angelico, ein Dominicanermöndh in Florenz, feiner Richtung
nach mehr der umbrifhen als der florentinifhen Schule angehörig. Er malte in \
Florenz und zu Rom in der vaticanifhen Kapelle, Malen nannte er mit dem
Heiland umgehen und ergriff den Pinfel nie, ohne ein Gebet verrichtet zu haben,
Den Ertrag gab er den Armen. Die Formen feiner Geftalten find hölzern, aber
der Ausdruck voll Innigfeit. Ein Himmlifcher Hauch durchdringt feine Gemälde,
Eolorit Ficht, Hell. + 1455. Sein Schüler iſt Benoz zo Gozolli 1400— 1478,
Sein bedeutendſtes Werk find 24 große Fresken in Campo Santo zu Pifaz neigt
bereits zu weltlihen Darftellungen, Mehr noch Philippo Lippi 1400—1469,
dem bei allem Farbenſchmelz Tiefe und Innigkeit abgehen. Ihm ähnlich Botti-
celli und Philippino Lippi (Sündenfall, Petrus im Gefängniß). Dagegen
wieder ernft und würdig in feinen Darftellungen Coſimo Nofelli 1441—1521,
malte zu Florenz. Dominico Ghirlandajo; er malte zu Florenz und Nom,
Seine Gemälde zeichnen fih dur große, technifhe Vollendung aus, Befonders
ſchön ift das Bild von ihm: der Tod des HI, Franciscus, dann Johannes der
Täufer ꝛc. Sonft viele Anachronismen und ein Hinneigen zu weltlihen Darftel-
lungen. Ferner: Lucas Signorelli. Berühmt find feine Fresfen im Dome zu
Drvieto (das Paradies, der Fall des Antihrifts, das jüngfte Geriht). Die
größten Meifter diefer Schule find: Leonardo da Vinei und Michel Angelo
Buanarvtti, Leonardo, gleich ausgezeichnet als Plaftifer, Baumeifter und
Maler, ift in feinen Schöpfungen groß und genial; er einigt in ihnen Kraft und
Weichheit und weiß eben fo fehr in feinen Madonnabildern das Zarte, jungfräulich
Reine und Milde darzuftellen, als er e8 verſteht, Feuer, Kraft und Handlung
in feinen Hiftorifchen Bildern wiederzugeben, Zu feinen beveutendften Gemälden
gehört das Abendmahl zu Mailand, al fresco ausgeführt (Chriftus ſpricht eben
die Worte: Einer aus Euch wird mich verrathen, Wie ein Blitz durchfährt diefes
Wort die Jünger; der Eine Gedanke, der des Verraths, befchäftigt fie Alle),
Bierge aux rochers, Charitas u. U. In feinen Madonnabildern, fennbar an den
blonden, reichen Loden, neigt er fehr zur umbrifhen Schule hin. Sein bedeu—
tendfier Schüler iſt Bernardino Luini 1530, Ein höherer himmliſcher Neiz
782 Malerei, hriftliche.
fpricht aus feinen Gemälden. An ihn fehließen fih ferner an: der weiche Cäfare
da Sefto und der Fräftigere Gaudentiv Ferrari; befonders ſchön und be-
rühmt ift das Bild des Lestern, das Martyrthum der HI, Catharina darftelfend,
Michel Angelo Buanorotti, ein fühner, gewaltiger Geift, geb. 1474, ift
berühmt als Bildhauer, Architect, Maler, Mufifer und Dichter, Alte feine Werfe
tragen den Charakter des Erhabenen und Gewaltigen an fi; er befigt nicht, wie
Leonardo, die Gabe, den ftillen, innern Reiz ruhiger Schönheit wiederzugeben,
er fennt nur die Negung gewaltiger Kräfte. Seine Zeichnung ift meifterhaft, zu⸗
weilen liebt er Fühne Verfürzungen, fein Eolorit ift leicht. Er malte hauptfäch-
Lich zu Nom in der ſixtiniſchen Capelfe. Berühmt find feine Scenen aus der
Shöpfungsgefhichte: Befeelung des Adam, Erfhaffung des Mondes und der
Sonne, Sündenfall ꝛe. befonderd das jüngfte Gericht genial, großartig auf-
gefaßt, bereits in's Titanenhafte überfchlagend, Chriftus fpricht eben die Worte:
Hinweg von mir ꝛc. Maria ſchmiegt fih an den göttlichen Sohn, ringsumher
find die Heiligen geſchaart. Unten haben fich die Gräber geöffnet. Die Teufel —
gräaßlihe Geftalten — ringen mit den Engeln um Seelen, Berdammte wollen
nah Oben flimmen, werden aber zu Klumpen geballt und mit Schlangen um—
wunden wieder in die Tiefe geftürzt, Ein Fahrmann führt, mit dem Ruder auf
fie ſchlagend, die Jammernden dem fehredlihen Hölfenrichter entgegen, M. An
gelo's bedeutendfter Schüler ft Dan. Rizzarelli 1566. Kreuzabnahme zu St,
Trinitate in Rom, Beiden Meiftern Leonardo und M. Angelo folgt eine Reihe
von Künftlern nach, die unter dem Namen die Elaffifer in der Runftgefhichte
befannt find. Inter den Iegtern verdienen befonders genannt zu werden Bar-
tolomeon und Andrea del Sarto 1488--15305 beide vortreffliche Künftler,
Erfterer befonders ausgezeichnet durch Tiefe und Innigkeit. Seine Geftalten
foheinen einer höhern Welt anzugehören (Simeon, das Kind auf den Armen).
Er malte zu Florenz. Noch find zu nennen: Raphael Limo del Garbo, Al-
bertinelli Rofo, Ridolpho Ghirlandais, Naphaels Freund und Schüler,
— Der umbrifhen Schule geht voran die fienefifche. Dahin gehören: Gib—
vanni di Siena, Matteo di Siena, Anfano di Pietro; wenn auch Vieles
in ihren Gemälden, 3. B. die langen Profile, die magern Hände, noch an by»
zantinifche Steifheit erinnert, fo fpricht fih doch in ihnen ſchon die Innigfeit, das
Seelenvolle des hriftlichen Principes aus. Dieß tritt noch mehr zu Tage in den
der umbrifchen Schule angehörigen Meiftern, beſonders in den Werfen des
Pietro Perugino 1446—1524, dem Meifter Raphaels, der erften bedeutenden
Erfoheinung diefer Schule. Er liebt befonders Darftellungen aus dem Leben Ma-
ria's. Hervorzuheben find: die Himmelfahrt Maria’s (die Jungfrau verſchwebt
in goldenen Wolfen; die Jünger unterhalb finden anftatt des Leihnams Blumen
im Grab), die Anbetung der Hirten, das Kind Jeſu auf einem Polfter im Rofen-
garten, Magdalena. Mit Weichheit weiß er übrigens auch Kraft zu verbinden,
ernft und Fräftig Männergeftalten darzuftellen, Die Formen find noch vielfach
mager, die Hintergründe Mar, warm und leuchtend. Noch find zu nennen: Der-
nardino Pinturichio, fein Schüler, der ihn glücklich nachahmt; Andrea di
Luigi, Sancio von Urbino, Raphaels Vater, der befonders fhöne Engels»
finder malte; Tiberio d'Aſſiſi, Girolamo Genga, Givvannidi Spagna,
Melanei v, Montefaleo, befonders Franzesco Fra nza aus Bologna, der
feiner Richtung nach ſich ganz an diefe Schule anſchließt und ihren Geift befonders
treu repräfentirt, Auch ex malt wie Peruging gerne Madonnen allein mit dem
Kinde, dann überhaupt gefhichtlihe Compofitionen, Fromme Befhaulichkeit dar«
fteffend, Die Augen feiner Köpfe find groß, dunkel, rings durch ftarfe Schatten
gehoben; fein Colorit feuriger, als das Perugino's, die Hautfarbe weißer, die
Haare dunfelbraun, der Ausdruck fireng. In den Körperformen übertrifft er Pe—
rugino; fie verrathen mehr plaſtiſche Studien (Sebaftian in der Pinacothek zu
Malerei, chriſtliche. 783
Padua). Gemälde, die befonders hervorgehoben zu werden verdienen, find: die
Berfündigung Mariä in Matland, die Kreuzabnafme in Parma; Maria fohaut
dem göttlihen Sohne ſchweigend, ohne Thränen, in das todtmüde Antlig, indem
fie deffen liebe Hand Halt; Magdalena betrachtet die Nägelmale. In Münden
ift ein fehr ſchönes Bild von ihm: das Kind Jeſu, in einem Nofenhag liegend,
die Mutter fniet anbetend davor. Der größte Meifter, der. aus diefer Schule
hervorgegangen, überhaupt der größte Meifter auf dem Gebiete der chriftlichen
Malerei ift Raphael Sanciv, Sohn des Giovanni Saneio, geb. zu Urbing
1483, Schüler des Pietro Perugino, bald denfelben überbietend, In der Manier
Perugino's nur deffen Härten überwindend, führte er 1495—1504 die Gemälde
aus: Krönung Maria's Cim Vatican) und die Bermählung Maria’ (Mailand),
ein befanntes Bild, Joſeph bält eine Lilie, Maria ſchaut erröthend zur Erde,
ein ernſter Priefter mit herabfliegendem Barte verbindet ihre Hände, Ein Jüng—
ling zerbricht feitwärts einen Stab über dem Iinfen Knie, In den Jahren 1504—
1508: die Madonna mit dem Stieglig (Florenz), die Madonna im Grünen, die
Hl. Familie (Münden), die Grablegung Chrifti (Rom), Glaube, Hoffnung und
Liebe (Rom), dann mehrere weitere Madonnenbilder, von denen fih einige zu
Münden, Berlin und Wien befinden. Ueberhaupt liebte er e8, den Kreis der
hl. Familie darzuftellen, und ſtets mit neuer überrafchender Originalität. Alfe
diefe Bilder tragen den Stempel hoher Genialität und einer freien, idealen Rich-
tung an fih, wozu Raphaels Bekanntſchaft mit florentinifhen Meiftern, nament-
lich mit Leonardo, nicht wenig beitrug. Seine großartigftien Werfe fchuf er in
den Jahren 1508—20. Papft Julius I. berief ihn nah Nom und wies ihm hier
ein großes Feld für feine Thätigfeit an, Hier malte er in den päpftlichen Zim-
mern folgende Gemälde: die Theologie Cin diefem Gemälde ſtellt Raphael das
höchſte Geheimniß des Glaubens dar, die Idee der Transfubftantion, Auf der
Erde ſteht ein Altar, darauf der Kelch und über dem Kelche ſchwebt die Hoſtie.
Um den Altar figen die großen Kirchenlehrer, über ihnen ift der Himmel geöffnet,
darin die. hl. Dreieinigfeit, Strahlen auf die Hoftie gießend, welche Himmel und
Erde vereint, Herrliches Bild!) , (Disputa), Zurisprudenz, Philoſophie und Poefie
darſtellend; Heliodors Tempelraub, Leo und Attila, Sieg Conftantins über Ma—
xentiug, Dann ſchmückte er den Vorhof des Baticans mit ornamentalen Fresfen,
43 Scenen aus dem alten und vier aus dem neuen Teftament, ganz im Geifte
des Morgenlandes aufgefaßt. Leo X. übertrug ihm ferner die Ausfhmüdung der
firtinifhen’Capelle, Zu diefem Zwecke follten prachtvolle Teppiche den untern
Theil der Wände zieren, in welde Bilder aus dem neuen Teftament eingewirft
würden, Raphael fertigte 1515 und 16 die Cartone dazu; die Teppiche wurben
in Flandern gewoben. Dahin: der Fifchzug Petri, die Beftrafung des Ananias,
Bekehrung Pauli, Beftrafung des Zauberers Elymas, die Predigt Pauli zu Athen,
Raphael zeigt fich Hier als Hiftorifcher Maler voll Ernft und Würde, Unter den
Madonnen, welde er in diefer Zeit malte, find befonders ausgezeichnet: Ma-
donna della Sedia und Madonna di Faligno. Sein größtes Meifterftüf und dag
Höchſte, was auf dem Gebiete der hriftlichen Malerei gefhaffen wurde, ift die
ſirxtiniſche Madonna; urfprünglich war diefes Bild für eine Kirchenfahne beftimmt
und fam nah mannigfahen Schidfalen in den Befig Auguſts von Sachſen.
Maria fhwebt als Himmelsfönigin, das göttliche Kind auf den Armen, in den
Wolfen, rechts Eniet der HI. Papft Sixtus und deutet aus dem Bilde heraus -
hinab auf die Gemeinde, die er dem Schuge Maria’s empfiehlt; links kniet bie
HL. Barbara, gleichfalls wehmüthig freundlich auf die Gemeinde herniederblickend.
Unterhalb befinden fich zwei Engel, die Naphael erft fpäter anbrachte; fie fühlen
ſich ganz heimifh, Eine göttliche Hoheit Liegt in dem Antlige der HI. Jungfrau;
. nicht minder fprechen Göttlichfeit und Tiefe aus den Augen des Kindes, das fanft
und wei in den Armen der Mutter liegt; es ift fein gewöhnliches Kind, Fernere
784 Malerei, chriſtliche.
Gemälde: die Kreuztragung, jest in Madrid. Chriftus fpricht unter der Laſt des
Kreuzes zufammengefunfen zu den weinenden Frauen: Weinet nicht über mich ıc,
Die Viſion des Ezechiel und fein letztes Bild, das neben feinem Katafalfe auf-
geftellt wurde, die Transfiguration (unten am Fuße des Berges Tabor das Bild
des menſchlichen Jammers [der befeffene Knabe und feine Eltern], auf dem Berge
das der himmliſchen Freude und Verklärung — Chriſtus im rofigen Lichte zwi-
ſchen Mofes und Elias fchwebend), alle durch Kupferftiche befannt. Raphael ftarb
37 Jahre alt, fchöpferifch, fruchtbar, unerreicht, alle Vorzüge der umbrifchen und
florentinifhen Schule in fi) einigend, die Grazie des Schönen, die Hoheit des
Erhabenen, die ganze Liebesfülle des chriftlihen Geiſtes. Auch in weltlichen,
ſelbſt mythologiſchen Darftellungen ift er Meeifter, doch ohne fich darin zu verlieren;
ſtets kehrt er wieder zur religiöfen Kunſt zurüd, Leonardo, Angelo und ins
befondere Raphael, die drei größten Meifter in Stalien während diefer Periode,
haben zahlreihe Schüler, ausgezeichnet durch Talent und Fertigfeit, hinterlaffen,
welche theilweife ihre oft nur begonnenen Arbeiten ausführten, doc) erreichen fie
ihre Meifter nicht; fie beginnen in Willfür auszuarten; überhaupt entfernt fich
nach dem Tode diefer Meifter die hriftlihe Malerei von ihrem Principe und be-
ginnt vielfach weltlih zu werden. Der talentvollfte Schüler Raphaels ift Julio
Romano 1492—1546. Noch ragt aus diefer Richtung hervor Antonio Allegri,
von feinem Geburtsorte Eorregio genannt, geb. 1494, + 1534, Seine Haupt-
meifterfchaft, in der er unübertroffen daſteht, Tiegt im Helldunkel; er weiß wun-
derbare Lichttöne zu ſchaffen. Sp in feinem berühmten Bilde: die heilige Nacht
(zu Dresden). Vom Kinde Jeſu fließt in myftifcher Weiſe das Licht aus und
übergießt mit magifhem Schimmer die Hirten, Zofeph und Maria. Sonft ent-
fernt fih Eorregio vom ftreng kirchlichen Style; in feinen religiöfen Bildern Tiegt
eine gewiffe Sentimentalität und falfhe Grazie. Hier find nicht mehr die Ge-
falten Perugino's, F. Franza’s, Naphaels, Leonardo's. Zu feinen bedeutendfien
religiöfen Gemälden gehören außer der hl. Nacht die Fresfen in der Kuppel des
Domes zu Parma, das Bild der hl. Magdalena als Büßerin (?), in einer dun-
keln Waldgegend dargeftellt, Vermählung der HI. Katharina mit dem Rinde Jefu
(Neapel), Madonna Cingarelli. — Neben der florentinifchen und umbrifchen Schule
blüht auch in diefer Periode die venetianifche, befonders durch die Gluth der
Farbe ausgezeichnet; fonft weltlih, auf dem Boden der Mythologie und des ge-
wöhnlichen Lebens heimiſch. Die Maler diefer Schule wählen zwar noch immer
religiöfe Stoffe, aber ohne den Geift derfelben darzuftellen; das Höhere, Gött-
liche fehlt bei aller ausgezeichneten Behandlung der Farbe und vortrefflihen Com—
pofition. Zu den ausgezeichneten Erfcheinungen diefer Schule gehören: Titian
1477— 1576, Orablegung, Himmelfahrt; herrlicher Farbenfchmelz; fonft mytholo⸗
gifche und weltlich Hiftorifche Darftellungen Tiebend. Giorgione 1477—1511,
Bordenone, fein Schüler, 1487— 1531. Paolo Beronefe 1530-83, Ho
zeit zu Cana mit 120 Figuren zu Paris, Bellini 1426—1516 und fein Bruder
Gentile Bellini 1421—1501. Proceffion ; eine wieder wunderfam gefundene
Hoftie wird zur Kirche getragen; malerifche Trachten. Tintoretto 1512—1594,
fehr fruchtbar, neigt zur Allegorie. Bafano — Scenen aus dem Landleben,
biblifhe und mythologifche Vorftellungen liebend, der Unbedeutendfte der Ge»
nannten, Der religiöfe Geift verliert fich nach und nach gänzlich. Einzelne Kunſt-
richtungen, welche theilweife der florentinifchen, theilweife der umbrifchen Schule
zuneigen, finden fich außerdem in Padua und Mailand, auch in Neapel und
Ferrara. Dahin die Meifter: Caftagno, Pollaiuolo, Berochio, Lorenzo
Eofta, Squarzone, Forli, Antonio, Solario ıc, — Außer den Jtalienern
hatten die Teutſchen in diefer Periode eine felbftftändig blühende Schule, Bes
reits im achten Jahrhundert pilgerte die riftliche Malerei unter Carl dem Großen -
über die Alpen und wird meiftens im Kloͤſtern durch Darftellung von Miniaturs
Malerei, chriſtliche. 185
bildern auf Handfriften geübt (f. den Art. Biblia pauperum). Diefe Bildchen
find oft fehr fleißig, finnig, fauber und prachtvoll ausgeführt, z. B. das Evan-
gelienbuch auf der Bibliothef in Münden aus dem Klofter Niedermünfter bei
Regensburg. Sonft herrſchte bis in's 13te Jahrhundert durchweg der byzan-
tiniſche Typus. Erſt mit dem 13tem beginnt auch in Teutſchland eine beffere
Periode für die chriſtliche Malerei, und diefe entwickelt fi im Laufe der folgenden
Sahrhunderte zugleich mit dem teutfchen Bauftyle und der Poefie immer reicher
und blühender, namentlich in Augsburg, Cöln, Nürnberg, Ulm, in Sachſen und
den Niederlanden. Die hriftliche Malerei in Teutfchland Hat vieles mit der um—
briſchen Schule in Jtalien Aehnliches. Bei vielfaher Verfümmerung der äußern
Form offenbaren die Geftalten der teutfhen Meifter einen ungemein tiefen, gänz-
ich vom riftlihen Geifte durhdrungenen Ausdruck. Man Fann nicht leicht etwas
Schöneres fehen, als die Köpfe der altteutfhen Meifter. Ein außerordentlicher
Fleiß und ein warmes, faftiges Colorit harafterifiren ihre gerne auf Goldgrund
gemalten Bilder. Die heilige Gefhichte und die Legende ift das Gebiet, auf dem
fie fi bewegen; die Feinde Jefu werden in der Regel fragenbaft bis zur Ent-
menfhlihung dargeftelt. Zu den ausgezeichneten Meiftern diefer Periode ge—
hören Johann und Hubert v. Eyf (f. Eyf) 1366—1426, Hans Hem-
meling c. 1479, ernft und würdig; 3.3. der HI. Ehriftoph, das Kind Jeſu
dur die Fluthen tragend. Das Kind, dem ernſten Männerfopfe gegenüber, iſt
fehr fhön und lieblich. Im Hintergrunde geht die Sonne auf. Iſrael v. Me-
cheln; Hans Holbein der Aeltere, malte in Augsburg, hart, fireng; Martin
ShKön von Colmar weiher. In Nürnberg Michael Wohlgemuth, + 1519,
zart, dann wieder hart bis in's Häßliche. Beſonders ausgezeichnet Albrecht
Dürer 1471, + 1528, der teutfche Leonardo (f. Dürer). Lucas Rranad,
geb. 1472, + 1553, der fähfifhen Schule angehörig. Zu Um Zeitblom,
warmes, feuriges Eolorit. Hans Holbein der Jüngere 1498— 1544, Madonna
in Dresden, Todtentanz in Bafel. Der Holländer Lucas von Leyden, der
Niederländer Duintin Meffis, + 1529. Dann Johann Schoreel, Tod
der HI. Jungfrau. Münden. Auch die Kunft der Glasmalerei fam in diefer
Periode zu Hoher Blüthe. Da in den Kirchen des germanifchen Bauftyls die
fonftigen Gemälde feinen Plag fanden, ſchmückte man die Fenfter derfelben mit
Glasmalereien. In der Glasmalerei gibt fi die Myftif der Kriftlihen Kunſt
befonders zu erfennen. — Mit der dritten Periode von Mitte des 16ten Jahr-
hunderts an beginnt der Verfall der chrifilihen Malerei. Wenn in der erfien
Periode die Kunft nach diefer Richtung hin fleif und eckig war, fo wird fie nun-
mehr fhwülftig, üppig, weltlih, dem herrfchenden Zeitgeifte dienend. Bereits in
ber venetianifhen und fpätern florentinifhen Schule ift diefes Aufgeben des fireng .
religiöfen Typus wahrzunehmen, in den Kunftrichtungen diefes Abfchnittes ſchrei⸗
tet diefes Abirren noch weiter fort. Allegorienſucht, Effeethafcherei, theatralifcher
Charakter machen fih mehr und mehr geltend, Die Kraft artet in's Ueber—
fhwellende, die Weichheit und Zartheit in falfche, finnlihe Grazie aus. Wie im
kirchlichen Bauftyle, fo zeigt ſich auch in der hriftlichen Malerei, befonders gegen
das 18te Jahrhundert Hin, abgefhmadte Ueberladung; im Winde flatternde
Gewänder, tanzende und Pofaunen blafende Engel, mädchenhafte Madonnen treten
an die Stelle der frühern ſchönen kirchlichen Geftalten. Das gefunfene kirchliche
Leben, die Hinneigung zum Heidenthum, der rigorofe, religiöfe Fanatismus der
fogenannten Reformatoren, der Prunf und Lurus der Höfe, die politifhen Be-
wegungen jener Zeit — Alles wirkte zufammen, die riftliche Malerei ihrem
Principe zu entfremden. Zu den bedeutendften Erfeinungen diefer Periode, in
denen fich bei fonftiger Grofartigfeit und Runftfertigfeit das Berlaffen des reli-
gidfen Typus mehr oder minder zeigt, gehören in Italien: Annibale und Lu-
bovico Carraci 1609; Dominihins, Duido Reni, + 1642, im Einzelnen
Kirchenlexilon. 6. Br, 50
u 8 a A a 3 Yan ET u a a ER
786 Maliz:Eid — Maltefer-Drden,
großartig (f. männlichen Figuren), fpäter fentimental, theatralifh: Himmelfahrt
Marias, Saffoferrato, Barrveiv, ©, Lanfranco, Carlo Dolce 1686
wie fein Name, Pietro de Cortona, 71669, meiftens Eclectifer, In Teutfch-
Yand zeichnet fih aus Peter Paul Rubens, geb, zu Cöln 1577, großartig;
frifheg glühendes Eolorit, ungemein fruchtbar; es gibt wenige Kirchen in den
Niederlanden, welche nicht ein Gemälde von ihm aufzuweifen haben; ganze Säle
in den Galerien find mit Rubens'ſchen Bildern geſchmückt, befonders in Paris
befinden ſich viele Bilder diefes Meifters, Unter feinen religiöfen Bildern ift
berühmt: die Abnahme des Heilandes vom Kreuze in der Cathedralfirche von Ant-
werpen, Die Formen feiner Geftalten entbehren der Idealität, Körper übervolf,
Bewegungen leidenfhaftlih. + 1640, Sein größter Schüler ift Anton van
Dyk, geb. zu Antwerpen 1599, + 1641, zarter und weicher als Rubens;
Cafpar Erayer, + zu Gent 1669, malte viele Altarblätter, Rembrand,
geb. 1606 bei Leyden. Helldunkel. Seine religiöfen Gemälde haben wenig
Würde, Die übrigen niederländischen Maler geben größtentheil$ die religiöfen
Stoffe auf und bewegen fih im Genre, — In Spanien fland eine Zeit Tang,
theils von teutſchen, theils von italienifhen Einflüffen beftimmt, die chriſtliche
Malerei in hoher Blüthe. Der größte Meifter der fpanifchen Schule ift Mu-
rillos, geb. zu Sevilla 1618 und + im Hofpital daſelbſt 1682, Tiefe, Innig-
feit, Gluth der Farbe, Viele Gemälde von ihm find in Sevilla, Madrid, Paris
und Wien, Seine Madonna mit dem Rinde in der Leuchtenberg’fchen Gallerie
zu Münden. Im Laufe des 18ten und Anfang des 19ten Jahrhunderts wurde
auf dem Gebiete der hriftlihen Malerei wenig Bedeutendes geſchaffen; die Ma—
lerfunft wandte fih mit Vorliebe der Landfchaft und dem Genre, theilweife der
Hiftorie zu; desgleichen wurden die Stoffe gerne aus der Mythologie entlehnt
und die Alfegorie häufig in Anwendung gebracht; nicht felten ungenießbares Zeug
zu Tage gefördert und als Kunft gepriefen, Die alten, einzig Firchlichen, im
Geifte des Chriſtenthums ausgeführten Gemälde des Mittelalter wurden un—
beachtet gelaffen. Die hriftlihe Malerei fchlief, einzelne Künftler ausgenommen,
die auf diefem Gebiete Würdiges leifteten (Knoller, Zid, Huber von Wei-
Benhorn), bis König Ludwig von Bayern für die chriſtliche Malerei eine
neue Aera heraufführte, Unter den Einflüffen diefes Funftfinnigen Fürften be-
gannen zwei Malerfchulen in Teutfchland zu erblühen, die eine zu München und
die andere zu Düffeldorf, Beide fihließen fih mit mehr oder weniger Glück
an die umbrifche, florentinifche und teutfche Schule der zweiten Periode an und
fuchen den Geift derfelben theils wieder in's Leben zu rufen, theils weiter fort-
zuführen, Die bedeutendfien Meifter derfelben find Overbef (viele Darftellun-
gen aus der hl. Gefhichte, Geburt Ehrifti, Tod des HI. Zofeph, der Triumph
der Religion in den Künften). Cornelius (malte in der Ludwigskirche zu
Münden; jüngftes Gericht al fresco), Schnorr, Hef (von ihnen die fehönen
Fresken in der Bonifaciuskirche in München), Schadov, Schraudolph (malt
im Dom zu Speier). Kaulbach (Zerflörung Jerufalems). Hundertpfund in
Augsburg, Auch die Glasmalerei wurde wieder und man darf fagen meifter-
baft nach langer Vergeffenheit geübt, Wenn auch die herrliche Farbenpracht der
Alten noch nicht ganz erreicht ift, fo befteht ein Vorzug der neuern Ölasmalerei
darin ,. daß die flörenden DBleieinfaffungen größtenteils vermieden find (die Au-
ficche in München, der Dom zu Cöln). Schöne Anfänge find auf dem Gebiete
der hriftlichen Malerei im 19ten Jahrhundert gemacht worden, diejelbe wirb aber
erft dann wieder zur vollen Blüthe gelangen, wenn bie Kirche, die einzig wahre
Pflegerin der hriftlihen Kunſt, das alternde Europa wieder mit ihrem Geifte
belebt und verjüngt haben wird, Vgl. hierzu den Art, Aeſthetik. [Werfen]
Maliz:Eid, f. Calumnien- Eid,
Maltefer: Orden, fs Johanniter,
a. Pi m *
Malvenda — Mamachi. 787
Malvenda, Thomas, gelehrter Dominicaner, 1566 zu Kativa in Spanien
von vornehmen Eltern geboren, zeigte frühzeitig feine großen Geiftesanlagen,
indem er die griechifche und hebräifche Sprache ohne Lehrer Iernte. Im J. 1581
trat er in feiner Vaterftadt in den Drden der Dominicaner und befleidete nachher
vier Jahre die Profeffur der Philofophie und zehn Jahre die Profeffur der Theo-
Iogie zu Lombay. Ein fleißiger, gelehrter und fcharffinniger Lefer der Annalen
und des Martyrologiums des Baronius, fohrieb er 1600 an diefen eben fo de-
müthigen als gelehrten Cardinal einen Brief, worin er aufrichtig ausfprach, was
ihm in deſſen Martyrologium nicht gefalle, Baronius nahm dieß fehr gut auf,
und da er in Malvenda einen Mann erkannte, der ihm wichtige Dienfte Teiften
fönnte, bewerfftelligte er bei dem Drdendgeneral deffen Berufung nah Nom.
Hier unterftüßte er den Baronius bei feinen Arbeiten, entfprah dem von der
Eongregation des Index ihm ertheilten Auftrag, die Bibliotheca Patrum des M,
de la Bigne zu expurgiren, verbefferte im Auftrage feines Ordens die Ordeng-
Miffalien und Breviere, fehrieb die Annalen feines Ordens (oder vielmehr den
Apparat dazu), die aber nur bis auf das Jahr 1246 reichen, und gab fein Werf
über den Antichrift heraus, Im J. 1608 nad Spanien zurüdgefehrt, feßte er
im Dominicanerconvent zu Balenzia feine gelehrten Arbeiten fort und flarb 1628
im erzbifhöflichen Palafte zu Balenzia, wo er feit Erhebung feines Freundes
Iſidor Aliaga zum Erzbifchof diefer Stadt feine Wohnung hatte nehmen müſſen.
Malvenda gehörte zu den gejhägteften Eregeten feiner Zeit. Seine Hauptwerfe
find: 1) De Antichristo libri XI, welches Werf er zu Rom 1604 und ftarf ver-
mehrt 1621 zu Valenzia herausgab und damit den größten Beifall der ganzen
gelehrten Welt erntete; eine Analyfe diefer Schrift f. in Dupins nouv. Bibl.
t. 17. p. 86 ete. sec. edit. Amst. 1711; 2) Gommentaria in s. scripturam unacum
nova de verbo ad verbum ex Hebraeo translativone variisque lectionibus, Lugd.
1650; 3) De paradiso voluptatis, Romae 1605, eine Analyfe davon f. bei Dupin
Leit. ©. Echard und Quetif, Script. Ord. Praed. t. II. p. 454. [Schröpl,]
Mamachi, Thomas Maria, einer der gelehrteften Männer des Domini-
canerordens, wurde am 3. Dec. 1713 auf der Inſel Chio von griechifchen Eltern
geboren, Er fam noch jung nah Stalien, trat bier in den Dominicanerorden,
zeichnete fi durch Talent und Eifer für die Wiffenfhaften aus, wurde 1740
Profeffor an der Propaganda zu Rom, und erhielt bald noch andere Aemter,
Der Aufenthalt in Rom gewährte feiner Wißbegierde die reihlichfte Nahrung und
brachte ihn mit den gelehrteften Männern feines Ordens, namentlich Concina, Orfi
und Dinelli, in Verkehr. Am ftaunenswertheften waren feine Fortfchritte in der Kennt-
niß der hriftlichen Alterthümer, fo daß ihm ſchon der gelehrte Papft Benedict XIV.
durch ein ehrenvolles Breve die höchften theologifchen Würden und eine Stelle alg
Eonfultor des Inder ertheilte. Die Parteilofigfeit, welche er in diefer Stellung
ſowohl den Appellanten (Janfeniften) als den Jefuiten Crefp. ihren Büchern) gegen-
über einnahm, zog ihm bei Manchen den Vorwurf eines charafterlofen Schwan-
tens zu; aber Rom hielt ihn ftets in hohen Ehren, und Pins VI. ernannte ihn zum
Magister sacri palatii (f, d. A.). Auch bediente er fich oft feines Nathes und feiner
Feder. Ueberdief leitete Mamachi die Herausgabe des Firchlichen Journals, das
feit 1785 zu Rom erfhien. Er flarb im Juni 1792 an einem Gallenfieber zu
Eorneto bei Montefiaseone, wohin er fi kurz zuvor Gefundheitshalber begeben
hatte, Seine Werke find: 1) De ethnicorum oraculis, de eruce Constantino visa
et de evangelica chronotaxi, Florenz 1738; 2) De laudibus Leonis X. Rom. 1741;
3) De ratione temporum Athanasianorum, deque aliquot synodis IV. seculo cele-
bratis, epistolae IV, Florenz 1748 gegen Manfi und befonders feine Zeitbeftim-
mung der Synode von Sardica (vgl. darüber H. J. Wetzer, restitutio verae
chronologiae etc. Francof. 1827). 4) Das Hauptwerf Mamachi's ſollte feine
chriſtliche Archäologie werben unter dem Titel: Originum et antiquitatum christia-
50*
788 Mamertug,
narum libri XX, 1749—55. Es erfchienen von den 20 Büchern jedoch nur fünf
in vier Duartbänden, denn andere Gefhäfte, dogmatifhe und Firchenrechtliche,
hinderten leider die Vollendung diefer eben fo fcharffinnigen als gelehrten Arbeit,
Einen Theil davon gab Mamachi überdieß auch italienifch heraus unter dem Titel:
De costumi de primitivi christiani, Rom. 1753—57, in drei Bänden, und hievon
erfchien im J. 1796 zu Augsburg eine teutfche Neberfegung in drei Duartbändchen:
„Sitten der erften Chriften.” 5) De animabus justorum in sinu Abrahae ante
Christi mortem expertibus beatae visionis Dei, libri II, Rom. 1766, zwei Bände
in Duart gegen den Canonicus Cadonict von Cremona, welcher behauptete, daß
die Gerechten des alten Teftamentes ſchon vor dem Hinabfteigen Chrifti ad inferos
die Seligfeit der Gottesanſchauung genoffen hätten, 6) Del dritto libero della
Chiesa d’acquistare e di possedere beni temporali, Rom. 1769. 7) La pretesa
filosofia de’ moderni increduli esaminala e discussa, de’ suoi caralteri, Rom. 1770.
8) Alethini Philaretae epistolarum de Palafoxii orthodoxia, Rom. 1772 u. 73 in
zwei Octavbänden, eine Antwort auf die Einwürfe der Jefuiten gegen die Beati-
fieation des B. Palafor, den fie des Janſenismus befchuldigt Hatten, Mamachi
urtheilt darin ziemlich hart über mehrere franzöfifche Notabilitäten, 3. B. Tour-
nely. Diefe Schrift beleidigte die Jefuitenpartei; aber zu gleicher Zeit erflärte
fih Mamachi auch fehr flark gegen deren Gegner, die Appellanten und die jan-
feniftifche Kirche von Utrecht. Endlich war Mamachi einer der Erften, welche den
Kampf gegen Febronius aufnahmen, durch feine Schrift: 9) Epistolae ad Justinum
Febronium de ratione regendae christianae reipublicae, deque legitima romani pon-
tificis auctoritate, Rom. 1776 u, 1777 in zwei Detavbänden, Vgl. Biographie
universelle, T. 26. [9.]
Mamertus, der heilige, Erzbifchof von Vienne, Urheber ver Ro—
gationen, zu unterfheiden von feinem Bruder Claudianus Mamertus
(f. den Art. Claudianus Mamertus und Tillemont’s Memoiren, XVI, ©,
119—126), hat Niemanden gefunden, der über feine Eltern, fein Geburtsjahr,
feine Lebensverhältniffe vor dem Episcopate und das Jahr des Antritts feines
bifhöflichen Amtes berichtet hätte; eine Spur möchte indeß darauf hindeuten, daß
er von angefehenen und reichen Eltern abftammte und vor dem Episcopate ver—
heirathet gewefen fei (f. Tillemonts Mem. XVI, ©. 104). Die erfte Erwäh-
nung des Bifchofes Mamertus fällt auf das J. 463, in weldem Papft Hila-
rind, deffen Vorgänger Papft Leo d. Gr. im J. 450 die Viennenfifhe Provinz
zwifchen dem Erzbifchof von Arles und dem von Vienne getheilt hatte, dem Erz-
bifchof Leontius von Arles die Angelegenheit des Bifhofs Mamertus zur Syno-
dalunterfuchung übertrug, der (Mamertus) außerhalb feiner Provinz einen Biſchof
orbinirt hatte, dadurch Unruhen veranlaßt haben follte (f. Tillem. 1. cit. ©. 105,
106, 109) und daher von dem Papfte als ein ehrgeiziger, zorniger und gewalt-
thätiger Priefter bezeichnet wurde, Gemäß dem päpftlichen Befehl veranftaltete
Leontins eine Synode von 20 Bifchöfen, welche einen von ihnen mit einem Sy-
nodalfchreiben an den Papſt abfandten, worauf diefer im J. 464 zurüdjchrieb,
Mamertus folle durch den Bifchof Veranus vermahnt werden und bei demfelben
als dem Stellvertreter des Papftes verfprechen, fünftighin fih unerlaubter Dr-
dinationen zu enthalten, widrigenfalls wurde mit der Abfegung und Entziehung
der verliehenen Privilegien gedroht; zugleich erließ der Papft an alle Bifhöfe
der Provinzen von Lyon, Vienne, den beiden Narbonne und den Alpen ein Klage-
fchreiben über Mamertus, mit ver Mahnung an Alle, fi gegen einander feine
Uebergriffe zu erlauben und fih der Authorität des Bifhofs von Arles zu unter-
werfen, dem er das Vorrecht verliehen, Coneilien der fünf Provinzen zu ver—
fammeln (Tillem. S. 106-107), Muthmaflich hat Mamertus fih den For—
derungen des Papftes gefügt. Bon einer erfreulicheren Seite erfcheint Mamertus
als Urheber der fogenannten Nogationen, Im diefer Beziehung bemerkt fein
a in 7 PR 2
Mamertug, 789
Freund Apollinaris Sidonius (I. V. epist. 14. ad Aprum in Sirmond. opp. t. I.
Venet. 1728. p. 566): „Quidquid illud est, quod vel negotio vacas, in urbem
tamen, ni fallimur, rogationum contemplatione revocabere. Quarum nobis solem-
nitatem primus Mamertlus pater et pontifex, reverentissimo exemplo, utilissimo
experimento, invenit, instituit, invexit. Erant quidem prius (quod salva fidei
pace sit dietum) vagae tepentes, infrequentesque, utque sic dixerim, oscitabundae
supplicationes, quae saepe interpellantum prandiorum obieibus hebetabantur, ma-
xime aut imbres aut serenilatem deprecaturae, ad quas, ut nihil amplius dicam,
figulo pariter atque hortulano non oportuit convenire. In his aufem, quas supra-
fatus summus sacerdos et protulit pariter et contulit, jejunatur, oratur, psal-
litur, fletur. Ad haec te festa cervicum humiliatarum ef sternacium civium
suspiriosa contubernia peto.“ Wohl rührt alfo nicht von Mamertus der ſchon
lange vor ihm in der Kirche eingeführte Gebrauch der Litaneien (f. d. A.) und
Supplicationen her, aber er ift es, welcher zuerft die Buß- und Bittgänge in
der fogenannten Kreuzwoche eingeführt und, wie Sirmond in der Note zum an-
geführten Tert bemerkt, „supplicationum formam usitata sanctiorem augustiorem-
que praescripsit.* Die VBeranlaffung zur Einführung der Rogationen erfahren
wir zunächft wieder aus Sidonius, der in einem Briefe (1. VII, ep. 1. bei Sir-
mond ©, 585) an Mamertus felbft („domino Papae Mamerto“) hierüber fchreibt,
auch zu Arvernum fei bereit die Rogationsandacht eingeführt, welche fih für
Bienne fo heilfam erwiefen, und welhe Mamertus angefangen habe — er, der
fon früher einen Brand zu Vienne, indem er fi dem Feuer entgegengeworfen,
auf wunderbare Weife geftillt Habe — zur Zeit, als Vienne's Stadtmauern durd
Erdbeben zitterten, oftmalige Brände die Häufer in Afche Iegten und die fonft
furdtfamen Hirſche aus den Wäldern in die Stadt liefen und ſich mitten auf dem
Marfte Sagerten, da habe er (Mamertus) nämlich zuerfi feine Geiftlihen, dann
auch das Volf zum Bußgeifte aufgewert und für die Nogationen geftimmt, Um-
ſtändlicher fpricht der HI. Avitus, nah Mamertus und Iſicius (Vater des Avi-
tus) Erzbifhof von Vienne, in feiner Homilie über die Nogationen von der Ver—
anlaffung und Einführung derfelben. Häufige Brände, erzählt er feinen Zuhörern,
die theilweife noch felbft Augenzeugen deffen waren, was Avitus erzählte, be=
ftändige Erdbeben, nächtliches Getöfe und Thiere, die aus den Wäldern in die
Stadt liefen, fegten die Einwohner von Vienne in großen Schrerfen. Sp ging
es längere Zeit fort, bis die gnabenreiche Dfternacht heranrüdte, und man gab
fih der fröplihen Hoffnung hin, die Auferfiefung des Heilandes werde dem
Strafgerihte ein Ziel fegen; allein gerade in der Ofternacht, während das Volk
dem Gottesdienſte anwohnte, brach in einem großen öffentlichen Gebäude ein ge—
waltiges Feuer aus, Alfes eilte voll Beftürzung aus der Kirche, nur Mamertug
blieb und Löfchte durch feine Thränen vor Gott den Brand, nach deffen Stillung
die Gläubigen wieder in die Kirche zurücfehrten, die im Glanze der Lichter
leuchtete. In diefer fürchterlihen Naht war es, da Mamertus fill vor Gott
den Plan der Rogationen entwarf und die Pjalnıen und Gebete anordnete, die
jest die Welt bei diefen Bittgängen fingend zum Himmel ſendet. Um aber feinen
Plan in's Werk zu fegen und zu einer dauerhaften Gewohnheit zu machen, betete
er zuerfi, Gott möge die Herzen der Gläubigen günftig für den Plan flimmen,
fegte hernach denfelben in Predigten auseinander und fand allgemeine Beiftim-
mung, auch von Seite der Bornehmen, von denen man gefürchtet hatte, fie möc-
ten, faum das Herfömmliche beobachtend, der neuen Einrichtung widerſtreben.
Als Zeit der Abhaltung der Nogationen wurden die drei Tage vor Chriſti Him-
melfahrt feftgefegt. Bald folgten mehrere gallifche Kirchen dem gegebenen Bei-
fpiele, ohne jedoch die Rogationen gerade auch immer an den genannten drei
Tagen abzuhalten, aber noch zu Avitus Zeit hörten ſolche Verfhiedenheiten auf
und war die neue Bußandacht bereits ein Gemeingut von ganz Gallien nicht bloß,
790 Mamertus Claudianus — Manaffes,
fondern beinahe von dem ganzen chriftlichen Europa (f. Avit. homil. de rogat, bei
Sirmond. opp. t. 2. p. 90 etc. und bei Boll. ad 11. Maji in vit. s. Mamert.), Was
Gregor von Tours (Hist. Franc. II, 34) über den Urfprung der Nogationen durch
Mamertus vorbringt, ift der Homilie des Avitus entnommen und beftätiget die
allgemeine Verbreitung derfelben, Zu Nom wurden die Rogationen des hi. Ma—
mertus erft von Papft Leo II um 801 bei Gelegenheit eines heftigen Erdbebeng,
das fih über ganz Italien erſtreckte, eingeführt und hießen hier „litania Galli-
cana“, auch „litania minor“, legteres im Gegenfag zur „litania major“ am
Mareustag (f, Pagi, brev. R. P. de Leone IIl.), — Im Uebrigen weiß man von
Mamertus nur Weniged. Bemerkenswerth ift, daß ihn Avitus Chom. de rog.)
feinen „spiritualem a baptismo patrem* nennt, Zu Vienne erbaute Mamertus
eine neue Kirche zu Ehren des HL. M. Ferreolus, deffen aufgefundenen Leib er
dahin transferirte (Greg. Tur. gl. M. II, 2; Sidon. Ap. Sirmond. opp. t. I. ep.
vu, 1), Ein Bifhof Mamertus fommt in dem Eoncil von Arles 475 vor; ift
es, wie wahrfcheinlich, unfer Mamertus, fo hat diefer damals noch gelebt. Vgl.
hierzu den Art, Bittgänge, [Schrödt.]
Mamertus Claudianus, f. Claudianus Mamertus,
Mammäa Zulia, f. Drigenes,
Mamre, urfprünglich der Name eines Amoriters, der mit feinen Brüdern
Eſchkol und Aner zu den Bundesgenoffen Abrahams gehörte (Gen, 14, 13, 24.)5
dann eines Thales mit einem Terebinthenhaine bei Hebron. In der Mitte jener
drei Brüder hatte Abraham fein Zelt aufgefchlagen, und zwar, wie es näher
heißt, „unter ven Terebinthen Mamre’s bei Hebron, und dort bauete er einen
Altar” Cebend, 13, 18.). Da Abraham hier die Verheifung der Geburt eines
Sohnes und einer großen Nachkommenſchaft, in der alle Völker gefegnet werben
würden, erhalten hatte, fo befam der Ort frühe eine heilige Bedeutung und furz-
weg den Namen des Befiters ann, Heutzutage wird eine unfenntlihe Ruine,
aus zwei Mauern beftehend, die einen rechten Winfel bilden, mit einer feichten
Eifterne, ungefähr eine Stunde nördlich von Hebron, als das alte Mamre be—
zeichnet, Die Araber nennen es Ramet el Kalıl, die Juden das Haus Abrahams.
„Unfer Weg, fagt Schubert CI, 486), öftlicher als die gewöhnliche Heerfiraße
nach Jeruſalem, ging zuerft zwifchen den üppig grünenden, ſchon dem Aufblühen
naher Weingärten hin, welche aufwärts im Thale und im Norden der Stadt
(Hebron) ſich weithin ausbreiten, Wir wendeten ung dann rechts von der Strafe
durch dichtgrünende Saatfelder und famen etwa nad einer Stunde an ein aus
riefenhaften Werkftücden zufammengefegtes Gemäuer, welches einen großen, vier-
ecfigen Raum, wie einen Hof, umfchließt, innerhalb welchem nach der einen Ecke
hin eine ſchön gemauerte Cifterne fich zeigt. Hier Eonnte wohl die Wohnung des
reihen Befißers der Herden fein, von denen ein großer Theil in dem geräumigen
Hofraum bei Nacht Schuß fand. Die Umgegend rings um dieſes Gebäude her
gehört zu den fruchtbarften, die wir in Paläftina ſahen; die Hügel find mit
Strauchwerk und Bäumen bewachfen, und auch die üppig gebeihenden Kräuter
der Ebene machen hier den vormaligen Waldboden fund.“ Eufebius und Hiero—
nymus hielten Mamre für einen Altern Namen von Hebron, aber Gen, 23, 19.
ift nach Gen. 13, 18, zw erflären; die Höhle Machpelah, darin Abraham fein
Weib begraben ließ, lag außerhalb der Stadt Hebron am Thal-Abhange Mamre
gegenüber, [Schegg.]
Manaſſes (msn [vergeffen machend], LXX. Mavaoors, Vulg. Manasses).
1) Erſtgeborner Sohn Joſephs von der ägyptiſchen Prieſtertochter Asnath, und
ſomit älterer Bruder Ephraims (ſ. d. A,). Die Urſache feines Namens gibt Jo—
fepb felbft an mit den Worten: Denn Gott hat mich vergeffen laffen all’ mein
Ungemach und das Haus meines Vaters (Genef. 41, 50—52, 46, 20, 48, 1).
Jacob adoptirte ihn, wie feinen jüngern Bruder Ephraim, den ex ihm jedoch
Dr 17 2
ET. EUR SENUEER
Manaffes, 791
vorzog; und fo wurde er gleich den Söhnen Jacobs, den Brüdern feines Vaters,
Haupt eines ifraelitiihen Stammes, der feinen Namen erhielt; und Jacob weif-
fagte ihm, daß er zwar groß und zahlreich werden, jedoch hinter Ephraim zurück—
ftehen werde, und daß man in Segenswünfdhen fagen werde: Gott made dich
wie Eppraim und Manaffes (Genef. 48, 5. 14— 20), Zur Zeit Mofe’s zählte
der Stamm zuerfi 32,000 (Num. 1, 34, 2, 21), dann 52,700 waffenfähige
Männer (Num, 26, 34). Sein Stammgebiet erhielt er zum Theil ſchon unter
Mofes im oftjordanifhen Lande, nämlich ganz Bafan, das vormalige Reich des
Königs Dg von Bafan , fammt den Dörfern Jair's, und dazu noch halb Gilead
nebft Aſtharoth und Edrei (Mum. 32, 39. f. 34, 14, f. Jof. 12, 6. 13, 29—31).
Uebrigens fcheint diefer Diftrict weder füdlih und ſüdweſtlich gegen das Gebiet
des Stammes Gad hin, noch öſtlich und nördlich gegen die nicht ifraelitifchen
Volksſtämme Hin fiharf abgegrenzt gewefen zu fein. Zwar wird der Jabbok als
Grenzfluß zwifhen Gad und Halbmanaffes bezeichnet (Deut, 3, 13. ff.) ; diefes
fann jedoch nicht im firengen Sinne gemeint fein, weil nach Joſ. 13, 27. das
Stammgebiet der Gaditer fih am Jordan hinauf bis zum See Genefareth hinzog.
Diefes ziemlich ausgedehnte Gebiet war jedoch nur für die eine Hälfte des Stam-
mes ausreichend, die andere Hälfte erhielt ihren Wohnfig unter Zofua im weft
lichen Zordanlande neben dem Stamme Ephraim; derfelbe grenzte weftlich au's
mittelländifhe Meer, nördlih an Afer, öflih an Iſſachar (Hof. 17, 10) und
ſüdlich an Ephraim, Legtere Grenze war jedoch nicht feharf gezogen; e8 wird
zwar Nachal-Kana (Rohrbach) als Grenzfluß bezeichnet (Fof. 16, 8. 17, 9),
zugleich aber auch Ortſchaften im Gebiete Manaffes als zu Ephraim gehörig erwähnt
(Sof. 16, 9. 17, 8), fo wie Manaffes wiederum in Afer und Iſſachar Befigungen
hatte (Joſ. 17, 11). Die Manaffiten waren jedoch längere Zeit nicht im Stand,
aus den ihnen angewiefenen Gegenden und Drifchaften die Canaaniter zu ver-
treiben (Sof. 17, 12. Richt. 1, 17). Nah Salomo war Manaffe ein Theil des
Reiches Iſrael und theilte dann auch die Schieffale diefes unglüdlihen, dem
wahren Gott und feinem Dienfte fih immer mehr entfremdenden, in Abgötterei und
ihre Folgen verfinfenden Reiches. 2) Sohn und Nachfolger des jüdifchen Königs
Hiskias (698 — 643 v. Chr. f. Hebräer IV. 911. f.), im fittlicher und religiöfer
Beziehung aber das Gegenſtück deffelben. Er kam ſchon als zwölfjähriger Knabe
zur Regierung und pflegte und förderte auf alle Weife ven Gögendienft, ftellte
die von feinem Bater zerftörten gefegwidrigen Höhen wieder ber, errichtete Altäre
dem Baal und der Aftarte und trieb Geſtirndienſt. Sogar in den beiden Tempel-
sorhöfen baute er Götzenaltäre und flellte dort ein Bild der Aftarte auf, trieb
Zauberei und Todtenbefhwörung, opferte einen Sohn dem Moloch und verleitete
‚ auch das Bolf zum Abfall und Gögendienft, „fo daß fie fchlimmer thaten, als
die Völfer, welche Jehova vertilgt hatte vor den Söhnen Iſraels“ (2 Kön, 21,
1—9. 2 Chrom. 33, 1—9), auch vergoß er unfchuldiges Blut in Menge, „fo
daß er Jeruſalem damit anfüllte von einem Ende bis zum andern” (2 Kön. 21,
16); felbft der Prophet Jeſaias wird von der Tradition unter die Opfer feiner
Graufamfeit gezählt. Darum drohte Jehova durch Propheten, deren Namen nicht
genannt werden, deren Reden aber in den Jahrbüchern des Reiches Juda aufge-
zeichnet waren (2 Chron. 33, 18), daß er die Meßſchnur Samariens und das
Senkbfei des Haufes Ahabs über Jerufalem bringen und die Stadt auswifchen
werde, wie man eine Schüffel auswifcht und dann fie ummwendet (2 Kön. 21,
10—13). Eine Art Vorbote von Erfüllung zeigte fich bald, Die Affyrier mad
ten, man weiß nicht, aus welcher Veranlaffung, einen Einfall in Juda, und
Manaſſes felbft wurde gefangen und mit Ketten beladen nach Babel abgeführt,
Hier in feinem Elende wurde er anderen Sinnes, befehrte und demüthigte fich vor
Jehova, und erhielt dafür bald wieder feine Freiheit und den jüdifchen Königs-
thron unter Umftänden, die uns unbefannt find, Jetzt ließ er an der Weftfeite
792 Manaffes Gebet — Mandeville.
der Stadt eine zweite hohe Dauer aufführen, Iegte in die jüdifchen Städte Be-
fagungen, entfernte die Gögenbilder und Odgenaltäre wieder aus dem Tempel
und aus Jeruſalem, ftellte den Altar Jehova's und den geſetzlichen Opferdienft
wieder ber und befahl dem Volke, den Jehova zu verehren (2 Chron, 33, 11—
17). Nah einer 55jährigen Regierung ftarb er, und wurde im Garten feines
Hauſes, im Garten Uſſa's, begraben (2 Kön, 21, 1. 18). Die babylonifche Ge-
fangenfchaft des Manaſſes und feine Befehrung wird von den neuern Kritikern
meiſtens als undiftorifh verworfen Cogl. Winer, Realwörterbug s. v.). Da je-
doch die vor einiger Zeit heftig angegriffene Glaubwürdigkeit der Chronik in
Folge der neuern dießfallſigen Unterfuchungen wieder außer Zweifel geftelit ift
(vgl. Keil, apologetifcher Verſuch über die Bücher der Chronik ıc, S. 261. ff, —
Hävernid, Handbuch der Hift, erit. Einleitung in's A, T. Thl. I. Abth. 1.S, 207. ff. —
Herbft, Einleitung Th. II. Abth. I. ©, 199, ff.), fo ift das Schweigen des frü-
heren Berichterflatters von dem Ereigniß noch bei weitem fein genügender Grund,
dafjelbe für bloße Fiction oder „fromme Vermuthung“ (de Wette, Einleitung
©. 278) zu erklären, In einem Widerfpruch ſteht der chroniftifche Bericht mit
dem früheren jedenfalls nicht, fondern dient demfelben nur zur Ergänzung und
Bervollftändigung, und bewiefen hat man die vorgeblihe Geſchichtswidrigkeit des
chroniſtiſchen Berichtes auch nicht annäherungsweife, [Belte,]
Manafjes Gebet, f. Apveryphen Literatur,
Mandata de providendo, ſ. Anwartfhaften.
Mandatum, |. Fußwaſchung.
Mandeville, Bernhard von, Die Angriffe der Deiften (f. d. A.) waren
meiftens und zunächft gegen den Glaubensinhalt des pofitiven Chriftentbums ge—
richtet, wobei fie freilich fiher darauf rechnen fonnten, daß, wenn nur einmal
diefer eliminirt, alle Moralität von felbft dann aufhören werde, Es gab jedoch
auch folche, welche die hriftliche Moral directe befämpften, und eben bieher ge-
hört Bernhard von Mandeville. Er ift geboren zu Dortreht in Holland im
3. 1670, von franzöfifcher Herkunft, war Doctor der Medicin und brachte bie
meifte Zeit in England zu, wofelbft er au am 19. Januar 1733 flarb, Sein
Hauptwerk ift feine Fabel von den Bienen, In diefer Fabel, die zuerft im
3. 1706 erfhien, und die er nur für ein unfchuldiges Neimfpiel gehalten wiffen
wollte, führt er einen Bienenfohwarm vor, in welchem zwar alle Arten von La—
ftern, aber auch Handel und Gewerbe, Kunftfleiß und Kriegsruhm, Ueberfluß
und Wohlleben einheimifh waren, bis daß gewiffe empfindliche Geſchöpfe alle
Sünden zu verbannen und firenge Tugend einzuführen begehrten. Jupiter er-
hörte diefe Bitte und nunmehr erfolgte die fonderbarfte Veränderung. Ehrlichkeit,
Drdnung und Necht berrfchten von nun an im ganzen Stode; Betrüger und
Gauner, Spieler und Falfpmünzer entfernten fih; alle Richter und Advocaten,
Schergen und Henker waren überflüffig; Aerzte, Geiftlihe ꝛe., Alles Tief fi
nun die gewiffenhaftefte Pflichterfüllung angelegen fein. Aber der bisher fo blü—
bende Staat verlor auch merklich an Volfsmenge und innerer Stärfe, viele Ge-
werbe, alle feineren Künfte und Lebensarten mußten von felbft eingehen; bie
Kriegsmannfchaft war abgedanft, weil man gegen benachbarte Körbe weder Feind-
fhaft noch Mißtrauen hegte. Einige unvermuthete Angriffe von außen wehrten
die tugendhaften Bienen tapfer und glüdlih ab, doch auch immer mit großem
Berlufte; der immer mehr verringerte Weberreft flüchtete in eine befeftigte Ge-
gend; zulegt aber bezog er aus Furcht, durch den bequemen Ruheſtand nach den
Anftrengungen des Kampfes in die Gefahren der Unmäßigfeit und Weichlichkeit
zu verfinfen, die finftere Höhlung eines alten Baumes, wo ihm von feinem Wohl⸗
ftande nichts übrig blieb, ald Genügſamkeit und Redlichkeit. Es ift nicht unwahr-
ſcheinlich, daß Mandeville in diefer Fabel auch eine Satyre auf manderlei Fehler
in ber Verwaltung des englifchen Staates, auf Thorheiten und Lafter ber höheren
Mandirte Gerichtsbarkeit, 793
Stände ſchreiben wollte; aber feine Haupttendenz ging dahin, die Immoralität
von vortheilhafter Seite zu ſchildern, indem er eben ihren fürdernden Einfluf
auf die Zuduftrie, den Wohlftand, die Größe und Macht einer Nation auseinander-
feste. Dabei vergiftete er die Gebote des Chriſtenthums, indem er ein Gemifch
von träger Gleihgültigfeit und harter Selbftverläugnung , von Verftellungsfunft
und Menfhenhaß zufammenfegte,, und dieß für die Tugend ausgab, welde dort
gelehrt werde. Seine Hriftlihen Tugendhelden waren alfo vornehmlich welticheue
Einfiedfer , die jeden Gebrauch der Erdengüter, fobald er über den Zweck der
nothdürftigften Lebenserhaltung hinausgeht, als fündlihen Mißbrauch verdam-
men, immer nur ihre Sünden befeufjen, gen Himmel bliden und für die Welt
nichts thun, als beten, dabei auch alle zeitliche Ehre verfhmähen. So fehr er
aber die Ueberzeugung zu vertreten ſuchte, „daß das Laſter einem blühenden
Staate eben fo nothwendig fei, als der Hunger, der uns zu effen nöthigt“; fo
war er doch nicht im Stande, die Lehre, daß jenes von ihn alfo genannte Lafter
der einzelnen Menfchen ihrer Gefammtheit vortheilhaft fer, zu beweifen, ohne im
Beweife die beirügerifche Einfchränfung anzubringen, daß es nur in gewiffem
Grade vortheilhaft fei, indem er den Zwed des Gefellihaftsvereins und den
Beruf der Obrigfeit eben darein feste, den Anftrebungen diefes Lafters Maß
und Ziel zu halten, und daher ftillihweigend einräumte, daß daffelbe nicht ſchlech—
terdings und unbedingt, fondern alsdann, wenn es von der Bernunft in Schranfen
und Drdnung gehalten werde, außerdem aber nur zufälliger Weife, der Gefell-
Schaft nüge. Wie fein Staat ein Widerſpiel des Platonifchen war, daher Dieberei
ihm unentbehrlich, weil fonft die Schloffer Hungers fterben würden, der Brannt-
wein ſehr heilfam, weil er die unglüdlichften Menſchen ihr Elend vergeffen made
und denen, die ihn bereiten, reichlich zu leben gebe ıc.; fo hatte.er im Allgemei-
nen feine höhere Idee von der fittlihen Natur des Menfchen, und in Abficht auf
die Art und Weife, wie er die Entſtehung der fittlihen Begriffe unter den Men-
fen erflärt, flimmt er ganz mit den griechifhen Sophiften überein. Den Men-
fhen, wie er von Natur ift, befihrieb er als ein wildes Thier oder als den
Selaven feiner Leidenfhaften, und was er durch Erziehung wird, ald einen ab—
gerichteten Gaukler; fittlihe Tugend nannte er eine Geburt des Hochmuths,
Selbfibetrug und Heuchelei; Mäßigung des Zorns, Menfchenliebe und Großmuth,
alles bloße Künftelei; die jungfräulihe Schamröthe bei ſchlüpfrigen Reden eine
anerzogene Berfleivung und Eitelfeit ꝛc. Selbftliebe ift nah ihm der natürliche
Anfang und rechtmäßige Endzwed aller Tugend. Diefe Lehren erregten Auffehen,
darum gab Mandeville dem Gedichte 1714 einen großen Commentar bei, und da
auch diefer nicht befriedigte , einige Gefpräche zur Vertheidigung. Die 6te Aus-
gabe ift vom 3. 1732 und nach ihr ift die franzöfifche Ueberfegung gemacht, welche
& Londres 1740 in A Theilen in 8. unter folgendem Titel erfdien: La Fable des
Abeilles, ou les fripons devenus honnötes gens, avec le commentaire etc. Allein
man merkte es zu deutlih an allen feinen Erklärungen und Netractationen, daß
er mit dem pofitiven Chriſtenthume zerfallen war; fein Buch wurde au von dem
Landgerichte von Middleffer im J. 1725 vor der Königsbanf verurtheilt, und
eine Neihe tüchtiger Gegner trat gegen ihn auf, fo namentlih J. Fr. Jacobi in
feinen Betrachtungen über die weifen Abfichten Gottes u. f. w. Thl. II. S,146 ff.
Auch in den übrigen Schriften zeigte ſich Mandeville als einen Deiften, der
überall, wo er fonnte, namentlich dem geiftlichen Stande einen Hieb beizubringen
ſuchte. Bgl. Sigwart, Gefhichte der Philofophie Bd. IL S. 121 ff. Denke,
allgem. Geſchichte ver hriftl. Kirche 6. Thl. ©. 85. ff. Trinius, 3. U, Frei-
denfer-Lericon ꝛc. Leipzig 1759. ©. 343— 349, Flügel, Geſchichte der fomifchen
Literatur Bd. I. S.588. Schröckh, chriſtl. Kirchengeſch. ſeit d. Reform. Thl. 6.
S. 204. ff. Fuhrmann, Handwörterbuch ꝛc. Bd. II. [äris.)
Mandirte Gerichtsbarkeit (jurisdietio mandata), häufig zwar im gemei—
a * 4 Bene REN e—r nl —— —
*
704 Manes, Manichäismus, Manichäer.
nen Sprachgebrauche mit „delegirter Gerichtsbarkeit“ dem Namen nach ver-
wechfelt, jedoch der Sache und dem Begriffe nach wefentlich von Ießterer ver-
ſchieden, heißt jene Gerihtsbarfeit, welche von dem ordentlichen Richter (vom
Papfte, Erzbifchofe, Biſchofe) an eine andere phyfifhe oder moralifhe Perfon
nicht als feldfiftändiges Amtsrecht angelaffen (f. Delegirte Gerichtsbarkeit),
fondern als ein rein flelfvertretendes fohin im Namen und Auftrag des ordent-
lichen Gewalthabers feldft auszuübendes Recht übertragen if, Eine ſolche man-
dirte Gerichtsbarkeit haben beifpielswerfe die erzbifchöflihen und bifchöflichen Ge—
neralvicare und Dfficiale oder die nach neuerer Drganifation unter dem Namen
„Beneralvicariate” und „Dffteialate” zufammengefegten Collegien. Ein folder
judex mandatus fann zwar einem Dritten ein Commifforium für den einen oder
andern Jurisdietionsact, nicht aber, wie ein judex delegatus, feine Amtsgewalt
felbft ganz oder theilweife übertragen, oder mit anderen Worten: der mandirte
Richter kann feinen Submandatar beftellen, wohl aber ein delegirter Richter einen
andern fubdelegiren, Da der judex mandatus mit feinem Mandanten d, i. mit
dem orbentlihen Richter Eine und diefelbe Inſtanz bildet, fo geht begreiflich gegen
ein Erfenntniß oder eine Verfügung des mandirten Nichters nicht erft an den
Mandanten, fondern gleich an den nächſthöheren Nichter, während von dem dele—
girten Richter an den Deleganten ald Dberrichter und von diefem dann erft an
den nächftgöheren als dritte Inſtanz appellirt werben fann und muß, Der Um—
fang der mandirten Gerichtsbarkeit richtet fih nach der ertheilten Vollmacht, und
die Amtsgewalt des Mandatars erlischt mit der Zurücknahme des Mandats und
mit dem Tode des Mandanten; daher mit dem Tode oder der Verfeßung oder
Nefignation des Biſchofs ipso facto auch die Amtsgewalt des Generalvicars
( d. A) gebrochen if, Brgl, auch den Art. Delegat, und Gerichts—
barfeit, [Permaneder.]
Manes, Manichäisnus, Manichäer. Die gnoftifhen Ideen übten
einen fo mächtigen Zauber auf den in die Naturanfchauung vertieften und in ihre
Räthſel verwicelten Menfchengeift, daß fie immer und immer wieder in neuen
Geftalten auftauchten und Zaufende bethörten, Kaum hatten die edelften Vor—
fämpfer der geoffenbarten Wahrheit in gewaltiger Anftrengung das glänzende
Wahngebilde des Gnoſticismus (ſ. d. A.) erſchüttert und theilweife zertrümmert,
fo erhob fich im fernen Dften aus der in Aſien weitverbreiteten dualiſtiſchen An-
fhauungsweife durch Manes Funftreich ‚geformt und mit altperfifchen refigiöfen
Ideen verwoben der alte Irrthum als neues Syſtem, das gleich in feinem Be—
ginn ſtark angefeindet und auch fpäter noch zu Zeiten heftig verfolgt, bisweilen
den Namen wechfelte oder im Stillen fortwircherte, ohne je wieder gänzlich unter-
zugehen. Die Gefchichte des Manes und der Inhalt feines Lehrſyſtems find trotz
vielfacher Unterfuchungen noch in manchen Einzelheiten nicht genügend aufgeheflt
und feftgeftellt, wenn auch die Hauptumriffe ziemlich alfgemein in gleicher Weife
anerkannt find. Das Leben des Manes wird verfchieden dargeftellt, je nachdem
den orientalifchen Cd. h. den perfifchen, fyrifchen, arabifchen) oder den gri n
und Iateinifhen Duellen der Vorzug gegeben wird, Die prientalifhen Duellen
find vergleichsweife fehr jung Chöchftens aus dem 9. oder 10. Zahrh.), aber fie
haben den Vorzug einheimifche zu fein, Die griechifchen und lateiniſchen reichen
zwar in's dritte oder vierte Jahrhundert hinauf, fließen aber ſämmtlich aus Einer
Duelle, die ſelbſt manchen Bedenken unterliegt. Diefe Duelle bilden die größ-
tentheils nur in alter Tateinifcher Ueberfegung vorhandenen Acta Disputationis Ar-
chelai cum Manete, die vom hl. Archelaus urfprünglich fyrifch verfaßt, dann in's
Griechiſche überfegt und von den Vätern des vierten Jahrh. bei ihren Schilde—
rungen der äußern Lebensverhältniffe des Manes offenbar benugt wurden, fo von
dem hl. Eyrillus von Gerufalem (Cateches. 6), vom hl. Epiphanius Chaeres. 66)
und von den Kirchengefchichtfehreibern Sperates (Hist: Eccles. hb. I. 0. 22) und
’
ER NER
f Manes, Manichäismus, Manichäer. 795
Theodoretus (Uaeret. fabul. lib. I. c. 26. lib. V. c. 9). Eufebius, der Kirchen-
geſchichtſchreiber, ſcheint von diefen Acten noch nichts gewußt zu Haben CHist. Eceles.
lib. VIL c. 31). Nach diefen Acten, welche bis auf einige neuere Proteftanten
(Beaufobre, Neander u. A) ftets als die Duelle der Gefhichte des Manes
galten, verdankt der Manihäismus eigentlich feinen Urfprung einem vielgereisten
faracenifchen Handelsmann Seythianus, der fih zulegt in Aegypten niederließ.
Diefer hatte einen Schüler Terebinthus, welcher fih fpäter den Namen Buddas
beilegte, fih für den Sohn einer Jungfrau ausgab und weiter behauptete, ein
Engel habe ihn im einfamen Gebirg auferzogen. Diefer Terebinthus verfaßte
feinem Meifter vier Bücher, genannt: Die Geheimniffe — Die Hauptftüfe —
Das Evangelium — Der Schag. Nah des Meifters Tod z0g Terebinthus nach
Babylon, welches damals eine perfifhe Provinz war, und wohnte dort bei einer
alten Wittwe. Da rühmte er fich feiner ägyptiſchen Weisheit und verfündete,
wie es vor Erfhaffung der Welt zugegangen fei und was die beiden Lichter am
Himmel (Sonne und Mond) zu bedeuten hätten, und wie die Seelen aus- und
einwandern u, dgl, mehr. Aber eines ſchönen Morgens, als er auf das (nad
srientalifcher Weife) flache Hausdach geftiegen war, um dort nach feiner Weife
im Stillen Gott zu verehren oder Magie zu treiben, fiel er herunter und brach
den Hals, Die Hausfrau erbte feine Papiere und Faufte fih einen fiebenjährigen
Knaben, Cubrieus, als Sclaven, Diefem ſchenkte fie die Freiheit und ließ ihn
in den Wiſſenſchaften unterrichten. Nach etlichen Jahren ftarb fie und feste ihn
zum Erben ein, Der junge reiche gebildete Erbe zog nun in die Hauptfladt, nahm
den Namen Manes an (fo heißt er bei den Griechen, die orientalifhen Quellen
nennen ihn Mani, die Lateiner Manichaeus, über die verfchiedene Deutung und
über den Urfprung diefes Namens ſ. J. A. Fabricii Biblioth. Graec. ed. Harles.
Vol. VII. p. 310—11), überfegte und erweiterte die geerbten Bücher, und gewann
bald mehrere Schüler, deren einer, Thomas, nach Aegypten (fpäter vielleicht
nah Judien Theodoret. haeret. fabul. lib. I. c. 26), der andere, Addas, auch
Buddas genannt, nah Scythien (nach Syrien Theodoret. 1. c.) ging, der dritte,
Hermas, bei ihm blieb, fpäter vielleicht fih nach Aegypten wendete (Theodoret.
l. c.). Um diefe Zeit fiel der Sohn des perfiihen Königs Sapor in ſchwere
Krankgeit und es wurde allenthalben für ihn Hilfe gefucht. Manes im Vertrauen
auf feine Zauberfünfte meldete fih beim König und verfprach Heilung. Aber die
Kur fiel übel aus, Der Prinz ftarb unter feinen Händen und Manes ward mit
Ketten belaftet in's Gefängniß geworfen. Indeſſen fehrten die Boten feiner Lehre
zurüd und berichteten ihm den geringen Erfolg ihrer Bemühungen, und wie ihnen
befonders die Chriften, wo es ſolche gebe, hinderlich gewefen feien. Da fandte
er fie hin mit dem Auftrag, die heiligen Bücher der Chriften zu faufen, was
ihnen durch Berftellung gelang. Diefe benüste er nun, um feinen eigenen Bü—
chern einen hriftlichen Anftrich zu geben und ihnen durch den Namen Chrifti Teich-
tern Eingang zu verfchaffen. Als er auf die Stellen von dem verheißenen Paraclet
ſtieß, der die Jünger in alle Wahrheit einführen follte, deutete er diefe auf ſich
ſelbſt. Hierauf fendete er feine Schüler abermals aus, um die fo modificirte Lehre
zu verfünden. Bald darauf gelang es ihm zu entwifhen und in einem alten
Schloß Arabion, an der Grenze von Verfien und Mefopotamien, ein ficheres
Verſteck zu finden. Bon dort aus febte er feine Bemühungen fort, neue Anhänger
zu gewinnen, und hatte es insbefondere auf einen reichen angefehenen und überaus
wohlthätigen Dann zu Caskar in Mefopotamien, Marcelfus, abgefehen, Diefem
ſchrieb er als „Apoftel Eprifti” einen noch vorhandenen Brief, worin er ihm fein
tiefes Bedauern ausdrüdt, daß er bei feiner großen werfthätigen Liebe nicht den
rechten Glauben habe, indem er Gott noch für den Urheber des Böfen und Chri—
flum für einen wirklihen vom Weib (Maria) geborenen Menfchen halte, da doch
Deides der hl. Schrift widerſpreche. Marcellus zeigte diefen Brief feinem Biſchof
er
796 Maned, Manichäismus, Manihäer,
Archelaus. Diefer gab ihm den Nath, den Manes zu einer öffentlichen Difpu-
tation über die neue Lehre aufzufordern, Manes ging darauf ein und erfchien
am feftgefegten Tag zu Casfar. Hier fand eine förmliche Disputation zwifchen
Arhelaus und Manes Satt, die mit der gänzlichen Niederlage des letztern endete,
Der beſchämte Irrlehrer kehrte auf fein Schloß zurück, wurde aber dort nicht
Yange darnach ergriffen, vor den König gebracht und auf deffen Befehl mit fpigi-
gen Rohren Iebendig gefunden im J. 277 Cüber das Todesjahr Pagi Crit. ad
a. 277. n. 6). Seine ausgeftopfte Haut wurde zur Schau aufgehängt. Seine
Anhänger pflegten zum Andenfen an die Todesart ihres Meifters vergleichen Rohr
unter ihr Bett zu legen (S. Archelai Acta Disput. c. Man. n. 51 — 55. 1— 6. et
12. Cf.. S. Epiphani haeres. 66. n. 1—12), Es iſt fehr beachtenswerth, daß die
ältefte griechifhe Duelle auf Baſilides (den Gnoftifer) als auf einen ältern Gei-
flesverwandten des Manes und Scythianus, der nicht ohne Einfluß auf die Bil-
dung des neuen Syſtems geblieben fei, hinweifen (S. Archelai Acta Disput. c.
Man. n. 55). Abweichend bievon berichten die fpätern orientaliſchen Duellen,
Mani, ein geborner Perfer aus einer angefehenen Priefterfamilie, fei in der alten
perfiihen Religion Zorvafters erzogen worden, fpäter in männlichen Jahren zum
Chriſtenthum übergetreten und Presbyter einer chriftlihen Gemeinde zu Ehbaz,
der Hauptftadt der perfifchen Provinz Huzitif geworden, Damit nicht zufrieden,
wollte er die Religion Chrifti und Zoroafters in Ein Syftem verfohmelzen, er
wollte hiefür als von Gott berufener und erleuchteter Neformator angefehen fein,
wurde aber deßhalb von der Rirchengemeinfchaft der Chriften ausgeſchloſſen. Au—
fangs gelang es ihm, die Gunft des Königs Sapor zu gewinnen (um das 3.270);
da aber feine nach der Anficht der Magier fegerifchen Lehren befannt wurden,
mußte er fich durch die Flucht retten und Fam bis nach Oftindien und China, Zu—
rücfgefehrt hielt er fich eine Zeitlang in einer Höhle der Provinz Turkiſtan ver-
borgen und verfertigte dort eine Reihe fhöner Gemälde, welche eine ſymboliſche
Darftellung feiner Lehre enthielten, das Buch, welches unter den Perfern Ertenki-
Mani genannt wurde, Er gab vor, fich Teiblich in den Himmel zu erheben (wie
fpäter Mohammed) und von dort jene Bilder mitzubringen. König Babram,
der fih ihm Anfangs günftig zeigte, ließ zwifchen ihm und den Magiern eine
Disputation veranftalten, deren Ergebniß war, daß Mani für einen Ketzer erklärt
wurde. Da er nicht widerrufen wollte, wurde er lebendig gefchunden, feine Haut
ausgeftopft und zum Schreden für feine Anhänger vor den Thoren der Stadt
Dſchondiſchapur aufgehängt im J. 277 (f. Neander, Kirchengef. I. 2, S. 817 —
24). — Manes hinterließ außer den ſchon erwähnten vier oder fünf Schriften
(Geheimniffe, Hauptftüdfe, Evangelium, Schatz, Ertenfi-Mani, wovon die erften
vier näher befprochen werben in J. A. Fabricii Biblioth. Graec. ed. Harles. Vol. VII.
p. 312— 13) auch noch eine Anzahl Briefe, unter denen die befannte Grund—
legungsepiftel (Cepistola fundamenti) wohl am bedeutendften und ung zum Theil
noch erhalten if. Sonft ift von diefen der Brief an Marcellus ganz auf ung
gefommen (S. Archelai Acta Disput. c. Man. n. 5. S. Epiphan. haeres. 66. n. 6);
aus den übrigen befigt man heut zu Tag nur wenige Bruchſtücke Ceinige ſolche
Fragmente in Fabricii Biblioth. Graec. ed. Harles. Vol. VI. p. 315—16, das
vierte derfelben auch in A. Maji Collect. Nova Vet. Script. T. VII. p. 17). Seine
Schriften verfaßte er in fyrifcher Sprache (Titi Bostr. contra Manich. ib. I.n. 14,
S. Epiphan. haeres. 66. n. 13). Außer diefen eigenen Schriften des Manes die-
nen alg Duelle des manichäifchen Lehrbegriffs noch die Disputation des Biſchofs
Archelang mit demfelben, wo namentlich fein Schüler Turbo die ganze Lehre des
Meifters ausführlich darlegt, endlich die Streitfehriften ber Kirchenväter des vier»
ten Jahrh. gegen die Manichäer, befonders die Werfe des HI. Auguftin, welcher
felbft viele Jahre lang Manichäer gewefen war, gegen diefe Secte (Opp. S. Au-
gustini ed, Maur, Tom. VII), — Der tieffte Orund diefes in feiner Ausſchmückung
ee.»
Manes, Manichäismus, Manichäer, 797
fo phantaftifh aufgepugten Syſtems ift der alte immer wieberfehrende, nur im
Chriſtenthum gelöste große Widerſpruch, welder zwifhen dem Wefen Gottes
einerfeitS und dem zerrütteten Wefen des Menfhen und der Natur andererfeits
fo offen hervorfritt, der flete Kampf und innere Widerftreit fowohl im einzelnen
Menfhen, als in der gefammten Natur, Das ganze Syftem, als Löſungsverſuch
diefes großen Näthfels der Menfchheit, Täßt fih auf drei Fundamentalſätze zurüd-
führen, nämlih: die ganze Welt mit Inbegriff des Menfchen ift eine Mifchung
von Gutem und Böfem, daher der beftändige Kampf; ed war aber nicht immer
fo, und wird nicht immer fo bleiben, Diefe an fih wahren Säge, die feiner An-
ſchauung zu Grunde lagen, dienten in ihrer weitern undhriftlichen Ausführung als
Folie eines durch und durch falſchen und gottestäfterlihen Syftemes. Zur Löfung des
in der Welt vorhandenen Widerfpruches griff er nach dem abfoluten Dualismus, den
> er mit Pantheismus vermiſchte. Hiebei Iehnte er fih an die altverfiichen religiöfen
Borftellungen, in denen das Licht, zuerft ald Symbol der Gottheit gebraudt,
foäter im Sonnendienft und in der Feueranbetung felbft die Stelle der Gottheit
einnahm, Stellen der Bibel, nach feinem Sinn verdreht und mißdeutet (S. Ar-
chelai Acta Disput. c. Man. n. 40), mußten dann dem Syſtem den Anfchein eines
riftlichen geben und unter den Chriften Anhänger werben, Hienach lautete das
manichaiſche Syflem in feinen Hauptzügen alfo: Es gibt von Anbeginn zwei
gleihewige, ungezeugte, Iebendige Wefen, deren eines gut (Licht, Geift), das an—
dere böfe (Finfternig, Materie) if. Beide ſtehen im directen, vollfommen aus—
gebildeten Gegenfag. Jeder, der Gute, wie der Böfe, hat fein wohlgegliedertes,
ihm gleichartiges Reich, beftehend aus fünf Regionen, bevölkert von unzähligen
aus ihm hervorgegangenen Wefen, vom andern fiharf gefchieden, Sp wenig dem—
nach das Böfe von Gott ausgeht, da e8 vielmehr feine eigene ewige Wurzel hat,
ebenfowenig fann die Bermifchung des Guten und des Böfen von Gott ausgehen.
Die Fürften des Reiches der Finfternif, in dem die Begierlichfeit zu finden ift,
bemerften von ferne den Glanz des Lihtreihs; neidifch und Tüftern befchloffen
fie einen Angriff auf daffelbe. Da zeugte der gute Gott zum Schuge feines Rei—
ches die Mutter des Lebens, diefe aber den Urmenfhen (mowros avdgwrcos,
auch Jeſus genannt), der wohl gerüftet den Kampf gegen das Reich der Finfter-
niß unternahm, Aber die Fürften der Finfterniß überwältigten ihn, eroberten
und verfchludten einen Theil feiner glänzenden Waffenrüftung. In diefer Noth
fhikte der gute Gott dem gefangenen Urmenfchen eine andere aus fich erzeugte
Kraft, den lebenden Geift (Tor nmvevue, beim HI. Auguftin „spiritus potens“
c. Faust. lib. 20. n. 9) zu Hilfe, der ihm die rechte Hand reichte und ihn fo be=
freite. Aber feine verlorene Waffenrüftung, die doch auch zum Lichtreich, zum
Wefen des guten Gottes gehörte, blieb den Fürften der Finſterniß, und es fam
nun darauf an, fie wieder herauszubringen, Sie war aber theils in den Fürften
der Finfterniß, theils in der zu ihrem Reich gehörigen Materie zerfireut und als
gebunden eingefhloffen. Um fie loszumachen, zu erlöfen, war der durch feinen
Berluft gefhwächte Jefus mit dem in der Sonne befindlichen Theil feines Wefens,
während der andere zu erlöfende Theil (Jesus patibilis) im Reich der Finfternig
gefangen fchmachtete, nicht mehr Fräftig genug. Daher zeugte der gute Gott aus
fi zur Vollziehung diefer Erlöfung noch einige hilfreiche Wefen, die Lich t ju ug⸗
frau und den HI. Geift (0 mgsoßvrng 0 roıros), Es find demnach ihrer drei,
welche bei der Erlöfung der gefangenen Lichttheile mitwirken, wobei der lebende
Geift die Oberleitung hat und zu diefem Ende nah dem Willen des guten Gottes
die Welt erſchuf. Die Fürften der Finfternif, als fie merkten, welche Kräfte im
Lihtreih aufgeboten werden zur Befreiung der von ihnen eroberten Lichttheife,
fingen an ſich zu fürdten, und gaben auf den Vorfchlag ihres Oberhauptes die
Hauptmaffe der in ihmen vorhandenen Lichttheile an diefen ab, welcher daraus
nah dem Borbild des von ihnen erfchauten Urmenfchen und nach ihrer eigenen
798 Maned, Manichäismus, Manichäer.
Aehnlichkeit den Menſchen Adam erſchuf. (So Manes ſelbſt bei 8. Augustin. de
natura boni n. 46. S. Archelai Disput. c. Man. n. 10.) So beſteht der Menſch
aus der dem Lichtreich geraubten Seele, welche ein Theil (particula Dei), ein
Ausfluß des guten Gottes iſt CPantheismus) und aus der dem Neich der Finfter-
niß entflammenden Materie (Körper) mit der ihm eigenthümlichen Thätigfeit in
blinder Begierde (concupiscentia), welde auch die böfe Seele genannt wurde,
So hatte der Menfch nothwendig zwei Seelen, eine gute und eine böfe, daher
der ftete Kampf im Menſchen, fo Iange er den Leib nicht los wird; daher das
Döfe in ihm eine eigene Gubftanz ift und zu feinem Wefen gehört. Gefräftigt
durch andere vom höchften Gott gezeugte Mächte ergriff nun der lebende Geiſt die
Fürften der Finſterniß und bildete aus ihnen das Firmament, fo daß das wenige
noch in ihnen vorhandene Licht überall an demfelben hervorſchimmert. Dann ge-
ftaltete derfelbe aus dem geretteten Licht des Urmenfchen Sonne und Mond und
wies ihnen ihren Kreislauf an, wie zwei großen Lichtſchiffen. Zufegt fhufer aus .
der von einigen Lichttheilen durchdrungenen Materie die Erde und legte fie dem
Dmophorus (wuogpogos Achfelträger, bei Auguftin Atlas genannt c, Faust. lib. 20.
n. 9. et 11) auf die Schultern; wenn e8 dem zu fehwer wird und er fich ſchüttelt,
oder wenn er feine Laft von einer Schulter auf die andere nimmt, gibt es Erb-
beben. Um nun die im Firmament befindlichen Lichttheife herauszubefommen (oder
die Geftirne zu erlöfen), dient die Lichtjungfrau (S. Archelai Dispuf. c. Man. n. 11,
bei Auguftin „splenditenens“ c. Faust. lib. 20. n. 9. et 11) mit ihren männlichen
und weiblichen Gehilfen,, welche den in die Höhe gebannten Fürften der Finfter-
niß durch allerlei Verführungsfünfte das Licht entlocken (ſ. Manes bei S. Augustin.
de natura boni n. 44), Das in der Materie diefer Erde noch gefangen gehaltene
Licht wird theils durch die Kraft der Sonne (des erlöfenden Jefus), theils durch
den Einfluß der die Erde umgebenden Luft, in welcher der bi. Geift thront und
wirft („Spiritus S., qui est majestas terlia“ S. Augustin. o. Faust. lib. 20. n. 2),
in Pflanzen und Früchten hervorgeloct und fo allmählig befreit (S. Augustin. de
mor, Manich. n. 36). Hier zeigt fih am deutlichften, wie diefes Syſtem das
Ehriftenthum zu einer bloßen Naturphilofophie ummodeln wollte, wenn z. B. ge-
fagt wird, Jeſus hänge an jedem Baum („Jesus patibilis omni suspensus ex ligno;
quapropter et nobis circa universa, et vobis similiter erga panem et calicem —
die Euchariftie — par religio est“, fagt ein Manichäer bei S. Augustin. c. Faust.
lib. 20. n. 2), oder die Auffchlüffe des Manes über die vorweltlichen Zuftände,
über die Schöpfung der Welt, über Sonne und Mond, die man bei den Apofteln
vergeblich fuche, feien der befte Beweis, daß er der von Chrifto verheißene Para-
elet fei (S. Augustin. de Actis cum Felice Manichaeo lib. I. n. 9). Die Erlöfung
der Lichttheile im Menfchen follte auf folgende Weife vor fich gehen. Im erften
Menfchen Adam wäre diefelbe Feicht von Statten gegangen ; denn bie in der menfch-
lichen Natur eoncentrirte Lichtnatur oder Seele fonnte nun um befto eher zum
Bewußtſein ihrer felbft und zur Entwicklung ihres eigenthämlichen Wefens ge-
Yangen, Aber die Fürften der Finfterniß fuchten dieß zu — ſie gaben
ihm das Weib Eva und reizten ſeine Begierlichkeit, ſo daß er durch die Zeugung
die in ihm vorhandene Fülle des Lichtes zerfplitterte und verlor G. Archelai
Disput. c. Man. n. 10. S. Augustin, de mor. Manich. n. 73), wie denn überhaupt
durch die Zeugung, da die Seele von der Seele, wie ber Leib vom Leibe gezeugt
wird (Traducianismus), nah Manes bei S. Augustin. Op. imperfect. o. Julian.
lib. 3. n. 172, die Lichttheile im Menfchen immer mehr zerfplittert, daher au
immer tiefer in die Materie verfenft und fefter an biefelbe gebunden werden.
Auch luden diefelden den Menfchen ein, von allen Bäumen des Parabiefes zu eſſen,
das heißt alle irdifche Luft zu geniefienz nur wollten fie ihn davon zurüchalten,
von dem Baum des Erfenntniffes des Guten und Böſen zu effen, das heißt zum
Dewußtfein des Gegenfages zwifchen Licht und Finfternif, zwifchen dem Goͤttlichen
a TE EnE : Zu —R
Manes, Manihäismus, Manichäer. 799
9
- and Ungöttlihen in feiner eigenen Natur und in der ganzen Welt zu gelangen.
Aber ein Engel des Lichts oder gar Chriſtus ſelbſt in Geftalt der Schlange nad
S. Augustin. de Genesi c. Manich. lib. 2. n. 39, veranlaßte den Menfchen, dag
Gebot zu übertreten, das heißt er führte ihm zu jenem höhern Selbfibewußtfein,
das die Mächte der Finfternig ihm vorenthalten wollten (S. Archelai Disput. c.
Man. n. 10. Titi Bostr. c. Manich. lib. II. Praefat.). Als aber diefes Bewußtfein unter
den Menfchen fih immer mehr verlor, da Fam der erlöfende Jefus aus der Sonne
herab (die Sonnenincarnation war im Drient eine beliebte Form des religiöfen
Mythus) und nahm einen Scheinleib an, in dem er unter den Menfchen herum—
wandelte und fie über ihre wahre Lichtnatur aufffärte. Die Worte des Evange—
liums: „das Licht ſcheint in der Finſterniß, die Finfterniß aber hat es nicht be-
griffen”, taugten ihm vortrefflih zur Beftätigung feines Irrthums. Ber der
Verklärung Chrifti auf dem Berg und da er mitten durch die Juden, welde ihn
fteinigen wollten, unfichtbar hinweg ging, da habe er feine wahre Natur gezeigt
(ſo Manes in feinen Briefen in Fabricü Biblioth. Graec. ed. Harles. Vol. VIL
p. 316. und in Photii Cod. 230. ed. Hoeschel p. 447), Das Leiden Chrifti und
feine Kreuzigung traf ihn nicht wirklich, fondern nur zum Schein (hier die nahe
Verwandtſchaft mit dem Dofetismug der Gnoftifer); beides war nur ſymboliſche
Darſtellung der höchſten Wahrheit von der leidenden Lichtnatur; in Folge deffen
fällt auch feine Geburt von der Jungfrau Maria und alles Menfhlihe an ihm
hinweg. Die Seelen werden aber auf mannigfache Weife geläutert, indem fie
in verſchiedene Körper der Menfchen, wie der Thiere und Pflanzen wandern,
daher auch die Thierfeele ein Stüf Gott ift (S. Augustin. ep. 236. n. 2), Sind
fie ganz geläutert, fo fleigen fie als reines Licht auf in die beiden Lichtfchiffe,
Sonne und Mond, durch welche fie in das Lichtreich abgeliefert werden; darum
nimmt der Mond an Licht zu, bis er voll if; dann wird er wieder in das Licht-
zeich geleert und beginnt ſich abermals zu füllen. Diefer große Scheidungsprocef,
welder die Geftirne, die Menfchen und die Ieblofe Natur gleihmäßig umfaßt,
geht fo Lange fort, bis alles Licht, das losgemacht werden Fann, erlöst if.
Nachdem die Materie alles ihr fremden Lichtes beraubt worden, foll fie zu einer
todten Maffe verbrannt werden. Die Seelen könnten vermöge ihrer Lichtnatur
alle ver Erlöfung theilhaft werden; wenn fie aber ſich freiwillig dem Dienft des
Böſen oder der Finfterniß hingeben, werden fie zur Strafe nach der endlichen gänz-
lichen Scheidung beider Reiche an die todte Maffe der Materie gefettet und zur
Wache über diefelbe (als Grenzhüter) gefegt werden. „Diefe. Seelen werden
alfo an denjenigen Dingen, welche fie geliebt haben, Eleben bleiben, weil fie fi
nicht, als e8 noch Zeit war, davon gefondert Haben” (fo Manes, angeführt in
Lib. de Fide contra Manichaeos, qui Evodio tribuitur, n. 5. inter Opp. S. Augustini
ed. Maur. T. VIII. Append.). Das Ende vom ganzen Weltlauf wird fein die
Wiederherfiellung des uranfänglichen Zuftandes (aroxaraseaıs), die gänzliche
Sonderung der beiden Reiche, Das ift des Manes abenteuerlihes Syſtem in
feinen Hauptumriffen nad) den aus andern Quellen (bef. Augustin. lib. de haeres. -
©. 46) ergänzten Mitteilungen feines Schülerd Turbo in S. Archelai Disput. c.
Man. n. 7—11 (auch in S. Epiphanii haeres. 66. n. 25—31). — Mit dem eben
entwieelten Syſtem des Manichäismus fteht deffen Sittenlehre im engſten Zu-
fammenhang. Diefe befteht in den drei Siegeln des Mundes, der Hände und des
Schooßes (tria signacula oris, manuum et sinus), womit die Enthaltung von allen
Sünden angedeutet werben follte. Das Siegel des Mundes verbietet alle
Läfterung, d. h. alles Reden gegen die manihäifche Lehre, defgleichen den Genuß
von Fleifh und Wein, von Milch und Eiern (S. Augustin. lib. de haeres..c. 46);
das Siegel der Hände verbietet das Tödten der Thiere, das Abreißen oder
Abfchneiven der Pflanzen und das Pflücen des Obſtes, was fie alles dem Mord
gleich achteten, weil dadurch die Entwirlung und Befreiung der überall einge-
m F J Es a a in ae un 3:
Pe ET
800 Manes, Manihäismus, Manihäer,
ſchloſſenen Lichttheife gewaltfam verhindert werde; das Siegel des Schobßes
endlich verbietet dag Heirathen oder doch das Kinderzeugen, weil hiedurch die
Lichtfeele immer mehr in die Materie verwicelt werde, während fie hingegen die
fleifhlihe Vermiſchung der Gefchlechter fonft keineswegs unterfagten, wobei dann
freilich der Keim der abfcheulichften Unfittlichfeit Tag, der fih auch nur zu bald
entwicfelte (S. Augustin. de mor. Manich. n. 19 — 67. et lib. de haeres. c. 46),
Da aber eine ſolche Sittenlehre fich practifch unausführbar zeigte, wenn nicht
die ganze Secte binnen Kurzem verhungern und ausfterben follte, wozu fie eben
feine Luft verfpürte, fo fah man fich gendthigt, gegen die Eonfequenz der aufge-
ftelften Principien in der Secte gewiffe Claffen oder Grade zu unterfcheiden, Def-
halb gab es eine Elaffe der Hörer (auditores) und eine der Auserwählten (electi),
Die Hörer, als die minder Vollfommenen, durften zwar auch Fein Thier tödten,
wohl aber Pflanzen aller Art abreigen oder abfchneiden und Obſt pflüden (frei-
lich nicht ohne Sünde) ; ja fogar heirathen durften fie, nur follten fie feine Kinder
zeugen. Die Ausefwählten aber mußten die manichäiſche Sittenlehre mit ihren
drei Giegeln ganz genau beobachten ; dafür hatten fie den Vorzug, daß fie dur
den Genuß der Pflanzen die in diefen eingefchloffenen Lichttheile befreien Fonnten;
je mehr fie aßen, defto mehr Licht, defto mehr Gott erlösten fie, daher man ſich
erzählte, daß einige aus lauter heiligem Eifer fih zu Tod gegeffen haben. Weit
fie aber feine Pflanze abreißen oder abfehneiden durften, fo mußten das die Hörer
für fie thun und ihnen Speife bringen; zum Lohn empfingen fie dann für die
biebei begangene Sünde von den Auserwählten die Abfolution, Einem, der nicht
zur manichäifchen Secte gehörte, durfte aber fein Manichäer Speife oder Tranf
geben, weil derfelbe die Lichttheile durch den Genuß nicht befreite, fondern nur
unlösbarer in die Materie verwicfelte (S. Augustin. de mor. Manich. n. 36. 52—
53. 57—60. 65), Sp war denn der Manichäismus nach feiner practifchen Seite
eine Religion voll des unheilbaren Widerfpruches, eine Religion der Faulheit
und der Lieblofigfeit. — Es ift eine für die Geſchichte des menſchlichen Geiftes
höchft merfwürdige Erfcheinung, daß ein fo willfürliches, fo widerfprechendes
Syftem gerade auf feine Vernunftmäßigfeit pochte und den blinden Köhlerglauben
ver Ratholifen verhöhnte. Ihre „Hochtönenden Verheifungen von Vernunft und
Wahrheit” (S. Augustin. de mor. Manich. n. 55) gewannen ihnen junge hochſtre—
bende, talentvolle Männer und hoffärtige Weiblein, welche lieber Vernunftgläu-
bige, als einfache Gläubige fein wollten (S. Augustin. de utilit. ered. n. 2. 4.
De Genesi contra Manich. lib. 2.n. 33—40. Contra epist. Manich. n. 5. et 19).
Die Hl. Schrift behandelten fie gleichfalls mit der freventlichften Willfür ; die
Bücher des Alten Bundes erklärten fie für ein Werf des Teufels (S. Archelai
Disput. c. Man. n. 10. 13. 29. 40), der einiges Wahre in diefelben gebracht habe,
um viel Falſches dadurch einzufhwärzen, während fie die Schriften des Neuen
Bundes doch noch für ein Werf des guten Gottes anfahen ; daher bemühten fie
fih fo fehr, einen durchgängigen Widerfpruch zwifchen dem Alten und Neuen
Bund Herauszubringen. Weil aber auch im Neuen Bund nicht Alles in ihren
Kram paßte, fo behaupteten fie, ein bedeutender Theil des Neuen Bundes fei
erft fpätere Erfindung (S. Augustin. de mor. Eccles. Cathol.n. 2. De mor. Manich.
n. 35. et 55. epist. 82. n. 6); insbefondere erflärten fie für falfch und unterfcho-
ben, was aus dem Neuen Bund gegen ihr Syſtem vorgebracht wurde (S. Au-
gustin. c. Faust. lib. 16. n. 33. et lib. 33. n. 6.), insbefonbere die ganze Lehre
von der Erbfünde (S. Augustin, Retraot. lib. I. o. 9. n. 6); daher der hl. Auguftin
mit Recht gegen fie bemerkt: „Sagt e8 nur rund heraus, daf ihr dem Evangelium
Chriſti nicht glaubet; denn da ihr im Evangelium glaubt, was euch gefällt, und
was euch nicht behagt, verwerfet, fo glaubt ihr offenbar mehr euch felbft als dem
Evangelium” (S. Augustin. ce. Faust. lib, 17. n. 3. lib. 32. n. 19). Ja fie gingen
fo weit, das Evangelium des Matthäus und die übrigen Schriften der Apoſtel
a Per er a
Manes, Manihäismus ‚ Manihäer, 801
fpätern unbefannten Verfaffern zuzuſchreiben (S. Augustin. c. Faust. lib. 17, n. 1),
die nur fo vom Hörenfagen und aus unfihern Gerüdten ihre Erzählungen zu-
fanmengeftoppelt und ihre eigenen halbjüdiſchen Anfichten den wirklichen Reden
Sefu und der Apoftel beigemifcht Haben (S. Augustin. c. Faust. lib. 32. n. 7), was
fie Hauptfählich durch die vergleichende Kritif ver Darftellung der einzelnen Evan—
geliften und dur die angeblihen Widerſprüche in den Berichten derfelben zu
erbärten fuchten (S. Augustin. c. Faust. lib. 32. n. 16. lib. 33. n. 2. 3. vgl, hie—
mit die merfwürdige Stelle bei Origen. Comment. in Johannem tom. 10. n. 2.
Opp. ed. Ruaei T. IV. p. 162— 63). Während fie die ächten Evangelien und
befonders die Appftelgefhichte ſammt einigen Briefen der Apoftel verwarfen, waren
fie dagegen fehr thätig, unächte Schriften der Apoftel unter dem Namen des
Thomas (Thomas - Evangelium), Philippus u, f. w. zu fabrieiren, fo daß die
Apoeryphen⸗ Literatur des Neuen Bundes dur fie namhaft bereichert wurde (S.
Augustin. ep. 64. n. 3. vgl. Cave Histor. literar. Scriptor. Eccles. Vol. I. p. 141.
143. u, J. A. Fabricii Biblioth. Graec. ed. Harles. Vol. VII. p. 322). Aber un-
gleich höher als die Schriften des Neuen Bundes, ja als die Apoſtel ſtellte Maneg
fich felbft als den von Ehrifto verheißenen Paraclet (im Syro-Chaldäifchen, welches
nad) S. Archelai Acta Disput. c. Man. n. 36, die Sprache war, deren fih Manes
bediente, heißt Drı:2, Menahem oder Manem, der Tröfter, was befanntlich auch
negaxıntos, Paraclet bedeutet), welhem die Aufgabe geworden, die lautere
vollfommene Wahrheit zu verfünden, die man in der Hl, Schrift des Neuen Bundes
nur fehr getrübt und mangelhaft finde. Hiefür berief er fih auf Stellen, wo der
künftige Paraclet von Chrifto verheißen wird (auch auf 1 Eorinth. 13, 9—10).
Den Beweis aber, daß er diefer verheißene Paraclet fei, blieb er ſchuldig; das
mußte man ihm auf's Wort glauben, was feine Anhänger auch bereitwillig tha—
ten troß ihrer gerühmten Vernünftigfeit (ſ. S. Archelai Acta Disput. c. Man, n. 13.
27. 54. S. Augustini Confession. lib. V. c. 5. et c. Faust. lib. 32. n. 6. 15—18.
c. epist. Manich. n. 7). Bie ſich Chriſtus nad Fatholifcher Anficht zum Alten
Bund verhält, gerade fo verhält ſich nach manichäifcher Anfiht Manes als Para-
elet zum Neuen Bund (S. Augustin. c. Faust. lib. 32. n, 6—7). Gemeiniglich
verfieht man heut zu Tag unter Manihäismus oder manichäiſchen Vorftellungen
die dualiſtiſche Anfhauung, welde diefem Syſtem zu Grund Tiegt und
feinen Hauptfag bildet, mit ihren Confequenzen, wonach zwifchen Geift und Ma—
terie ein unverföhnlicher Gegenfag feftgehalten oder doch die Materie zu tief
herabgedrüdt und das Böfe als etwas von ihr Untrennbares, als etwas Subftan-
tielles, nicht aus der Freiheit des Gefchöpfes Hervorgehendes gedacht wird. —
Als Folgefäge des manichäiſchen Syſtems treten zunächft hervor die Läugnung
der Auferftehung des Leibes (Theodoret. haeret. fabul. lib. I. c. 26), die Anbetung
der Sonne, deren Wefen Gottes Wefen, die Chriſtus ſelbſt iſt (daher S. Au-
gustinus: „Vos in die, quem dicunt solis, solem colitis“ c. Faust. lib. 18.n. 5.
vgl. S. Archelai Disput. c. Man. n. 36), die hohe Verehrung gegen Manes den
Paraclet, deſſen Todestag ihr Hauptfeft war (Bema, Aryuc, Feft des Lehrſtuhles),
an welchem fie den unvergleichlichen Lehrer, der ihnen die fünf Regionen des
Lichtreichs erſchloſſen hatte, ſymboliſch feierten (S. Augustin. c. epist. Manich.n. 9),
das geheime Erfennungszeichen der Secte, indem ihre Mitglieder fich zu diefem
Zweck die rechte Hand reichten, weil durch diefe der Iebende Geift den gefangenen.
Urmenfhen wieder befreit hatte (S. Archelai Disput. c. Man. n. 7). — Die Or-
ganifation der Secte war der Einrichtung der hriftlihen Kirche nachgebildetz
Manes als Paraclet Hatte, Chriftum nachäffend, 12 Apoftel angenommen. Das
erhielt fih in der Weife fort, daß beftändig 12 Lehrer fi unter den Auserwähl-
ten befanden als die Nachfolger der 12 Apoftel, ein dreizehnter aber als Nach-
folger des Manes ihr Oberhaupt war ; diefe feßten durch die Weihe 72 Biſchöfe
ein, von welchen dann die Priefter (presbyteri) geweiht wurben; auch Hatten fie
Kirgenlsziton, 6, Bp, 51
802 Manes, Manihäismus, Manichäer.
Diaconen und Miffionäre, — hr Gottesdienſt wurde fehr geheim gehalten; bie
Sarramente der Kirche, in welcher die Materie als Trägerin der Gnade erfcheint,
verwarfen fie ganz; der Taufe legten fie Feine befondere Bedeutung bei, wenn
fie diefelbe auch theilweife beibehielten ; die Euchariſtie feierten fie im Kreis der Aus—
erwählten, aber ohne Wein, den fie für die Galle des Teufels erflärten („vinum
non bibunt dicentes, fel esse principum tenebrarum* S. Augustin. lib. de haeres.
c. 46), wobei es jedoch ganz ſchändlich und greuelhaft zuging, — Die Irrlehre
des Manes gewann bald Anhänger und verbreitete fi im Morgenland, wie im
Abendland, in Perfien, Mefopotamien, Syrien und Paläftina, in Aegypten und
in Africa, in Italien, Oallien und Spanien, Aber fchon Kaiſer Diveletian er-
ließ, wohl zunächſt aus politifhen Gründen, ein fehr fcharfes Geſetz gegen die
abicheulihe Secte der Manichäer Cin Africa), die aus dem feindlichen in.
reich eindringend das ruhige und brave römische Volk aufrege und verberbe ;
Todesftrafe und Güterverluft traf die Anhänger dieſer Secte, ja die Häupter
fogar der Tod auf dem Scheiterhaufen (ſ. das Gefe in Baronii Annal, ad a. 287).
Auch die hriftlihen Kaiſer erließen, und zwar biefe aus fittlic-religiöfen Gründen,
fort und fort firenge Gefege gegen die Manichäer, fo Balentinian I., II. und IIL.,
Theodoſius der Große, Honorius und Theodofins der Jüngere, Juſtinus und
Suftinianus (ſ. Cod. Theodos. lib. 16. tit. 5. de haeret. u, Cod. Justin. lib. 1. tit. 5.
de haeret.), ein ficheres Zeihen, daß die Secte, wenn auch häufig nur im Ver—
borgenen, fih im römifchen Reiche während des vierten, fünften und fechsten Jahr-
hunderts forterhielt. — Unter die befanntern und angefehenern Schüler und An-
bänger des Manes, deren mehrere auch durch ihre Schriften fih einen Namen
machten, find außer den drei fchon oben im Leben des Manes genannten noch zu
erwähnen Akuas (von dem die manichäiſche Secte fogar in einigen Gegenden den
Namen: Afuaniten erhielt, S. Epiphan. haer. 6. 6. n. 1), Adimantus, Fauſtus,
Felir, Fortunatus, Secundinus (welche alfe der HI. Auguftin in eigenen Werfen
befämpft), Ariftofritus Cwelder ein theofophifches Werk, Hzooopia, fihrieb, in
dem er beweifen wollte, daß die Religion der Juden, der Heiden und der Ehriften
ganz die nämliche fei, Tollii Insignia Itinerarii Italici. Trajecti 1696. p. 142).
Diefe und manche andere berühmte Manichäer zählt die alte Formula receptionis
Manichaeorum auf in dem angeführten Werf von Tolliug (p. 144), deßgleichen
die fieben Hauptkirchen der Manichäer in Samofata, Taodicea u, f. w. (Die be-
rühmten alten Manichäer auch zufammengeftelft in J. A. Fabrieii Biblioth, Graec.
ed. Harles. Vol. VII. p. 318—22). Aber auch an gewandten Gegnern fehlte es
feit Archefaus den Manichäern nicht, deren Schriften zum Theil noch auf ung
gefommen find, zum Theil verloren gingen. Unter jene, deren Schriften gegen
die Manichäer wir noch befigen, gehören Alerander von Lyeopolis (in Galland,
Biblioth. Patrum T. IV), Serapion, Bifhof von Thunis in Aegypten, Titus,
Biſchof von Boftra in Arabien, Divymus der Blinde in Alexandria, fänmtlich
dem vierten Jahrh. angehörig (griech. u, latein. zu finden in H. Canisii Leckt.
anfig. ed. Basnage. Amstelodami 1725. Vol.I., auch in Galland. Biblioth. T. V, et VD),
Fabius, Marius, Victorinus aus Africa (Victorini Afri liber ad Justinum Mani-
chaeum contra duo principia Manich. in Sirmondi Opp. var. T. L, au in Galland.
T. VID), der Hl. Ephräm der Syrer (in feinen Sermon. polem. adv. haereses),
der hl. Cyrillus von Jeruſalem (in Catech. VD, der HI. Epiphanius Chaeres. 66),
der 51. Auguftin in den ſchon genannten Werfen und mehrere andere Väter, 5. B.
Chryfoftomus, Hieronymus, Rufinus, Prudentius, Leo der Große gelegentlich,
fpäter auch noch der gelehrte Patriarch von Conftantinopel Photius (Photü libri
IV, contra Manichaeos gr. et lat. in J. Ch. Wolfli Anecdot. Graec. Hamburgi 1722.
T. I. et I); andere gegen die Manichäer verfaßte Werke, 5.8, vom HI, Bafilius
dem Großen, von dem Häretifer Apollinaris, Diodor von Tarfus, Eufebius von
Emefa, Herackianus, Biſchof von Chalcedon, find Tängft verloren gegangen Leine
Mang — Manna, 803
vollftändige Lifte aller Schriften gegen die Manichäer in J. A. Fabricii Biblioth.
Graec. ed. Harles. Vol. VIR p. 323 — 39. Troß diefer zahlreihen wiffenfhaft-
lichen Gegner, trotz der Faiferlichen Strafgefege, troß der eben fo undriftlichen als
unvernünftigen Willfür des ganzen Syſtems haben fich dennoch die Manichäer früher
unter ihren eigenen, fpäter unter andern Namen, als Priscillianiften, Paulicianer,
Bogomilen, Albigenfer und Waldenfer (f. die Art) über taufend Jahre erhalten,
Bgl. über diefe Irrlehre Tillemont, Mem, T. IV. ’heresie des Manicheens p. 367 —
411. Beausobre, histoire critique de Manichee et du Manicheisme. Amsterdam
1734—39. 2 Bde. G. Cave, Histor. literar. Scriptor. Eccles. s. v. Manes (Basi-
leae 1741. Vol. I. p. 138— 45). Walch, Histor. haeres. Vol. I. p. 685. sqgq.
J. Basnagius in Praefat. generali c. 1. ad Ganisii Lectt. antiq. Vol. L p. 1—10.
P. Th. Cacciari Exereitationes in universa Leonis M. Opera. Romae 1751. Fol.
p. 1—200 (Historia Manichaeorum). A, Neander, Kirchengeſch. L Bd, II. Abtheit,
(Hamburg 1826) S. 813—59. [Se$ler.]
Mang, f. Magnus, ,
Manifeitationseid, ſ. Eid,
Manipel, f. Meffleider,
Manna, 72, uavve, die den Sfraeliten in der Wüfte Sin wunderbar ge-
fvendete Nahrung. Die Bücher Erodus C. 16 und Numeri C. 11 berichten Fol-
gendes darüber. Das Manna fiel mit dem Thau auf die Erde und blieb, wenn
am Morgen die „Lagerung des Thaues“ wegging, auf der Bodenfläche zurüd,
in feiner, zerftücter reifähnlicher Geftalt, an Farbe gleich dem Bdolach (Bdel-
lium, f. d. A. weiß und durhfichtig), in der Größe wie Corianderfamen), es
wurde gemahlen oder zerfioßen und dann entweder verfocht oder zu Kuchen ge-
baden, fo präparirt hatte es einen füßlichen Honigartigen Geſchmack; für jeden
Kopf mußte je täglich ein Omer (nach Thenius, althebr, Maße S. 56 etwas
über 2 Dresd. Kannen) gefammelt werden, am fechsten Tage wegen des folgen-
den Sabbath zwei Dmer; aufbewahren ließ es ſich nicht, es ging fohnell in
Fäulniß über, — Gleich andern im Pentateuch berichteten wunderbaren Vor—
gängen wollte man auch diefen ganz im Natürlichen untergehen laſſen, das von
Mofe beſchriebene Manna fei nichts anderes als das jegt noch in der Pharmacie
unter demfelben Namen befannte und gebrauchte Harz, das von mehreren Bäu-
men und Sträuchern (wie Fraxinus Ornus, Hedysarum Alhagi, Tamarix mannifera)
Südeuropas und des Drients gewonnen wird und meift in gefrodneten Tropfen
oder Körnern zu ung fommt, biefe Subflanz werde, wie es fcheine, oft von ber
Luft fortgeführt und falle dann als Honigthau, Lufthonig aegöuekı, d. i. Manna
auf die Erde herab, diefe Art fei an den angeführten Stellen des A. T. gemeint,
die es als vom Himmel gefallen darſtellen. Allein der biblifche Bericht ift diefer
Annahme durhaus entgegen, er ift ſich Far bewußt, ein wunderbares Fartum
vor fih zu haben und ein foldes will er auch berichten ; das noch neueftens (vgl.
Winer, bibl. R. W. 3. Aufl, s. v.) vorgefhlagene Expediens, anzunehmen,
„daß die Sage gefhäftig gewefen fei, das einfache Ereigniß auszufhmüden”,
zerflört den ganzen Zufammenhang, verfennt die tiefe Bedeutfamfeit, welche dieſes
und andere Wunder für die geiftige Entwicklung des Volkes während der finai-
tifhen Wanderung haben. Jehova gibt die Nahrung als etwas Außerorbentliches,
woran feine Herrlichkeit erfannt werden ſoll (Exod. 16, 5— 7), das Manna ift
ein Brod vom Himmel (ibid. V. 4), als ſolches galt e8 dem Bewußtſein der
ganzen Solgezeit ; Pf. 78, 24 nennt e8 „Korn des Himmels”, die LXX. geben
dieß mit Ggros ayyeloy, das Buch der Weisheit 16, 20 nennt es ayyelov
Tg0gp7 , womit nicht eine Speifebebürftigfeit der Engel, fondern nur das gejagt
wird, das Manna fei auf. außerordentliche Weife von Gott vom Himmel gefen-
det worden, wo die Engel wohnend gedacht find; am Sabbath trat die fonft
ſchnell erfolgende Faͤulniß nicht ein (Exod. 16, 24); das Manna war für die
51
804 Manſi.
vielen Tauſende vierzig Jahre lang tägliche Nahrung Cibid. V. 35); der Be-
richt erzählt nach allen diefen Zügen ein Wunder, das aber wie die Wunder in
Aegypten eine natürliche Grundlage hat; das natürlihe Manna bildete die
Bafis des wunderbar ertheilten und gerade diefes Anfchliefen an das Natürliche
dient dem Wunderbaren zur Beftätigung. — Das heutige Manna in der finai-
tiſchen Halbinfel findet fih vor in der Geftalt durchfichtiger Tropfen an den Ruthen
und Zweigen, nicht an den Blättern, des Turfa \5_> (Tamarix Gallica manni-
fera , Chrenberg), wo es in Folge eines Stiches von einem Inſect des Coccus—
geihlechte8 (Coccus manniparus) ausfchwigt, hat das Anfehen von Gummi und
einen füßlihen Geſchmack, es kommt oft erft nah 5—6 Jahren vor, die ergie-
bigfte Ernte liefert auf der ganzen Halbinfel kaum 6 Centner, meift aber nur das
Drittel hievon; dgl. Robinfon 1. 189. ff. Schubert, Reife II. 347. ff. Für das
befte Manna wird das orientalifche, verfifche DI 2 Terendſchabin, gehalten,
vgl, Gmelin, R. nach Perf. II. 28. Niebuhr B, 145, Burkhardt R. I. 662, —
Der Name 77 (man) wird verfhieden erklärt; nach Einigen ift 77 eine unge-
wöhnliche aramäifche Form für 2 „was“, die Jfraeliten, die Gabe nicht fen-
nend, fragen (Exod. 16, 15): 72 = 77) m was ift das? dieß fei dann bie
fiehende Bezeichnung geworden, Diefe Anpmalie ift jedoch hart und von dem
Text nicht gefordert. Es findet wie oft ein Wortfpiel ftatt, in dem aber die fach-
liche Beziehung nicht aufgeht; die Iſraeliten nennen das Brod ganz allgemein
= (yo dt. Gabe, Geſchenk, denn da fie nicht wiſſen, was (72) es ift,
haben fie feinen beftimmteren Namen; fo ſchon das Lericon von Kimi. [Rönig.]
Manji, Johann Dominieus, flammte aus einer Patricierfamilie von
Lucca und wurde dafelbft am 16. Febr. 1692 geboren. Obgleich der ältefte Sohn
widmete er fich doch dem geiftlichen Stande, trat in die Congregation der Clerici
regulares Matris Dei (geftiftet zu Lucca von Joh. Lennardi 1583), lehrte meh—
rere Jahre lang zu Neapel die Theologie, wurde dann von dem Erzbifchof von
Lucca, Fabius Colloredo, zurücberufen und zu feinem Theologen ernannt. Um
feine Renntniffe zu bereichern, mit berühmten Gelehrten Verbindungen anzufnüpfen
und große Bibliothefen zu benügen, bereiste er Italien, Teutfchland und Franf-
reich, und gründete ſodann in Lucca eine Academie, welche fich fpeciell mit Kir-
chengeſchichte und Liturgie befchäftigen follte, er felbft aber erwarb fih durch
feine gelehrten Werfe in Bälde folhen Ruhm, daß ihn Papſt Clemens XII. im
J. 1765 zum Erzbifchof von Lucca erhob, und ihm noch andere Ehren bezeugte,
Doch Manſi farb ſchon nach A Jahren, am 27. September 1769, in einem Alter
von 77 Jahren, — Seine Fiterarifchen Arbeiten find fehr zahlreich und von dreierlei
Hauptarten: Meberfegungen, neue Ausgaben älterer Werfe und eigene Arbeiten,
Sp überfeßte er das große biblifche Lericon von Calmet, und deffen volumindfen
Commentar über die Bibel, fammt Differtationen, aus dem Franzöfifchen in's
Lateinifche, Lucca 1730—38 (f. d. Art. Calmet), Nach Vollendung diefer Ar-
beit beforgte er von 1738—59 die trefflihe, 38 Foliobände füllende neue Aus-
gabe der Annalen des Baronius, mit der Fortfegung des Naynaldus und
der Kritik des Pagi. Lestere unterfegte er ftetS dem Texte an jeder bezüglichen
Steffe und fügte außerdem noch einige Noten und einen Apparalus hinzu. Außer-
dem beforgte er neue, durch Moten ıc, vermehrte Ausgaben a) der historia ecoles.
des Natalis Alerander in 9 Kolb. (ſ. d. Art, Kirchengeſchichte ©, 15055
b) der hist, ecel. Graveſon's (ſ. d. A); o) der Thomaffin’fihen nova et
vetus eccl. disciplina, d) der Moraltheologie von Reiffenftuel und Laymann
(. d. 9), ©) des Martyrologiums von Hieronymus, f) der Miscellanen von
Baluzius, g) der bibliotheca mediae et infimae lalinitatis yon Fabricius,
Mansionaticum — Mantelfinder, 805
h) der orationes politicae et ecclesiasticae Pü U. u. A. Am verbienftlichften aber
war feine Beforgung der größten und an Urkunden reihften Eoncilienfammlung :
sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, Florenz 1759, ff., wovon 31
Foliobände erfchienen. Leider reichten diefe nur bi8 zur Mitte des 15ten Jahr—
hunderts (ein paar Dorumente ausgenommen), während die Harduin'ſche Samm-
Jung in 12 Folianten bis in den Anfang des 18ten Jahrhunderts geht. Auch ift
die Correctur bei der Manft’fchen Ausgabe nicht immer forgfältig gewefen. Gleich-
ſam einen Vorläufer diefer großen Concilienfammlung bildeten die ſechs Folio-
bände Supplemente zu den früheren Sammlungen, 1748—52, Außerdem ſchrieb
Manſi 1) einen tractatus de casibus et excommunicationibus episcopis reservatis,
Lucca 1724 in 4,5 2) die Schrift de epochis conciliorum Sardicensium et Sir-
-miensium, 1746 in 4., wogegen Mamachi (ſ. d. A.) mit Heftigfeit auftrat;
3) eine epitome doctrinae moralis ex operibus Benedicti XIV. depromptae, Venedig
1770; endlih A) eine Abhandlung de insigni codice Caroli Magni aetate scripto
et in bibliotheca majoris ecelesiae Lucensis servato. Mehrere hinterlaffene Ma—
auferivte Manſi's blieben ungedruft. Eine Lebensbefhreibung diefes gelehrten
Prälaten lieferte Zatta, Comment. de vita et scriptis J. D. Mansi etc. Venet.
1772. Bgl. Biogr. univ. T. 26. und Sartesch, de scriptoribus Congregationis
Clericorum reg. Matris Dei. [9.1
Mansionaticum, f. Abgaben,
. Mansus war im fränfifchen Reiche unter den Carolingern jener Theil des
Grundbefiges einer Pfarrkirche, welcher von alfen Laften und Abgaben frei blei-
ben mußte (daher mansus integer), Capp. Reg. France. Lib. I. c. 85; co. 24. c.
XXI. qu. 8. Ueber die etymologifche Ableitung des Wortes „mansus* iſt man
nicht einig. Eihhorn (Städt, Verf. S. 152) leitet daffelbe von manere; An-
dere, wie Birnbaum (die rechtl. Natur der Zehnten, ©. 174, Anm. 73) von
‚manumissio ab, jedenfalls bedeutet mansus ein Grundſtück, womit ein Frei—
gelaffener für fih und feine Nachkommen noch in einem gewiffen Verbande (Hörig-
feit) mit dem Patrone ftand. Daher lautete die Formel einer ſolchen unvollfom-
‚menen Freilaffung: „Cum peculio suo maneat sub patrocinio*, während e$ bei der
vollfommenen Freilaffung hief: „Peculiare, in quo ante laboravit, cessum in per-
petuum habeat* (Formul. Sirmond. 12). Und ganz in der Bedeutung obiger For-
mel fagt das Concilium Tolet. IV. a. 633 c. 69 (f. e. 3. X. De reb. eccl. alien.
el non) von Geiftlihen, welche einer Kirhe Schenfungen oder Vermächtniſſe
zuwendeten: „Liceat iis aliquos de familia ejusdem ecclesiae manumittere, ita ut
cum ‚peculio et posteritate sua sub patrocinio ecclesiae maneant“. Solche Hörige
nannte man mansionarii. Demnach begriff ein mansus ungefähr fo viel Land, als
gewöhnlich ein mansionarius (etwa unfer „Kleingütler, Söldner“) bewirthfchaftete,
Unter jenem fleuerfreien mansus waren aber nicht folhe Grundſtücke begriffen,
welche die fränkifchen Könige felbft aus befonderer Munificenz einer Kirche ge—
ſchenkt hatten, und welche ohnehin regelmäßig völligfreies Eigentum der Kirche
waren (Cone. Aurel. I. a. 511. c. 5.). Bgl. hierzu den Art. Beneficium eccles.
Bd. I. S. 801. [Vermaneder.]
>. Mantelgriff heißt bei den Juden eine eigene Solennität zur ftärferen Be-
fräftigung eines abzufchließenden Vertrages, insbefondere auch zur Berftärfung
eines Eheverſprechens. Diefes feierliche Verlöbniß gefhieht in Gegenwart zweier
Hlaubhafter Zeugen, welche ein Stüf Tuch oder einen Mantel vor ſich ausbreiten,
den die Brautperfonen oder überhaupt die Eontrahenten eines Vertrages zur Be—
fräftigung der eingegangenen Verpflichtung berühren müffen,
Mantelfinder, Alle außerehelich erzeugten Kinder (mit alleiniger Aus-
nahme der im Ehebruch erzeugten) werben, wenn deren Eltern fpäter eine gül-
tige Ehe fließen, Tegitimirt, d. i. fo angefehen und rechtlich behandelt, als
wären fie ehelich erzeugt (fog, Legitimatio per subsequens matrimonium),
‘806 | Mantun,
Solche erft durch die nachfolgende Ehe ihrer Eltern Tegitimirte Kinder hießen ge-
wöhnlich Mantekfinder, auch Buchkinder, fo genannt, weil fie von ihren Eltern
während der Trauung unter den Mantel genommen und dadurch feierlich als die
ihrigen erklärt wurden. Buchkinder hießen fie aber, weil man ſodann ihre Namen
als Tegitimer Kinder nachträglich in das Pfarrbuch einzuzeichnen pflegte, wie dieß
noch Heutzutage gefhieht. Vgl. hierzu die Art, Gewiffensehe und Legitima=
tion durch nachfolgende Ehe. |
Mantua, Hauptftadt in ver gleichnamigen Delegation im Gouvernement
Mailand, zum Iombardifh-venetianifchen Königreiche gehörig. Die Delegation
zahlt auf 41 Q.⸗M. 235,000 Einwohner, Die Stadt Mantua ift der Sig eines
Biſchofs, zählt gegen 28,000 Einwohner, Tiegt 17 Meilen von Mailand und
eben fo weit von Venedig. Mantua, an einem vom Mincio gebildeten Landfee
gelegen, ift eine durch Natur und Kunft flarfe Feftung, hat aber wegen feiner
fumpfigen Umgebung befonders im Sommer eine ungefunde Lage, Merfwürbig-
feiten von Mantua find der große k. Palaft, der in Form des Buchſtabens T ge-
baute Palaft del Te, ver Zuftizpalaft, einige großartige Adelspaläfte (Arco, Collo-
redo etc.), eine fchöne Cathebrale, 18 Pfarrkirchen mit vielen Monumenten, ein
Lyceum mit einer anfehnlichen Bibliothek, große Pläge, unter diefen der Virgils-
Play, die fog. Birgilianifhe Academie der fchönen Künfte, ein großes Kranfen-
haus, die Gebäude der 1625 geftifteten Univerfität u. f.f. Das Herzogthum
Mantua gehörte Anfangs zum Iongobardifchen, dann zum italienifchen Rönigreiche,
Sm Anfang des 14ten Jahrhunderts Fam es unter die Herrfchaft der Bonacolfi;
Ludwig von Gonzaga, teutfcher Abfunft, rottete diefelben aus, und warf ſich feiöft
unter dem Titel eines Neichsvicard von Mantua als Herrfcher auf. Die Herten
von Mantua hießen zuerft Hauptleute, darauf (von Kaiſer Sigismund an)
Marchefen oder Marfgrafen, und zulegt (von König Earl V. an) Herzöge.
Als der Herzog Carl IV. von Mantua fich verleiten ließ, Partei gegen den Raifer
zu nehmen, nahmen die Kaiferlihen 1707 vom Lande Befis, in welchem ſeitdem
Deftreich auch geblieben iſt (mit Ausnahme der Periode der eisalpinifchen Re—
publik von 1796— 1814). Zur Zeit der alten Römer war die Stadt Mantun
ein vorzüglicher Sig der Wiffenfchaft, in feiner Nähe (zu Andes) war die Hei-
math des Dichters Virgilius, In der chriſtlichen Zeitrechnung hatte Mantun ſich
gleichfalls mander Glanzpuncte zu erfreuen. Hier wurden mehrere Concilien ge—
feiert, das erfle im J. 835 in Gegenwart zweier päpftlicher Legatenz es handelte
fih hier um Streitigfeiten zwifchen den Patriarchen zu Friaul und Grado. Der
Confliet entfchied fich fo, daß dem Patriarchen von Grado einige in Iſtrien ge-
legene Bisthümer abgenommen und an den Patriarchen von Friaul übergeben
wurden, In einem andern Concil zu Mantua im J. 1064 warb die Wahl des
Papfıes Aleranders II. beftätigt und der Gegenpapft verdammt, welchen Kaifer
Heinrich II. (ſ. d. A.) in der Perfon des Bifhofs Cadalous von Parma umter
dem Namen Honvrius II. (ſ. d. A.) aufgeftelit hatte. Im Jahre 1459 fand zu
Mantua jene denfwürdige Fürftenverfammlung Statt, welche Pius II. aus hoher
Begeifterung für die Ehre des hriftlihen Namens in der Abficht berief, um über
die Mittel zur Fortfegung des Türfenfriegs mit den enropätichen Nogenten Rath
zu pflegen. Diefe aber bewiefen eben fo viel Gleichgültigfeit für Bekämpfung
der Türfen, ald Pius Kampfesmuth an den Tag legte, Lange wartete der Papft
der Ankunft der Fürften zu Mantua; unter den meiften derfelben herrſchten Zers
würfniffe, ſelbſt zwiſchen dem Ungarnfönig Matthias und dem Kaifer Tagen
Irrungen wegen der Krone Ungarns in Mitte, Der Kaiſer entſchuldigte fih bei
Pius, der ald Aeneas Sylvius früher fein Seeretär gewefen war, mit dringenden
Geſchäften, die ihm nicht erlaubten, perfönlich zu erfeheinen. Der Papft machte
ihm darüber Vorwürfe, Nachdem endlich einige Neichsfürften ſich zu Mantua
eingefunden hatten, fo eröffnete der Papft den Congreß (21, Juni 1459), un»
Manualbenefieien — Manuell 807
geachtet den meiften der DVerfammelten, felbft papftlihen Hoflenten, Mantua
mißftel als ein ungefunder fumpfiger Ort, wo man nichts als Fröſche höre, In—
zwiichen Famen allmählig von allen Richtungen die Abgefandten an, unter andern
die des Herzogs Philipp von Burgund, auch jene Frankreichs und der italienifchen
Staaten, Am 26. September hielt —— — an die Verſammlung eine faſt drei⸗
ſtündige Rede über die Nothwendigkeit eines Türkenzugs, über die Mittel und
die Eontingente der einzelnen Reihe. Nach dem Papfte Hielt der griechiſche Car—
dinal Beffarion (f. d. A.) eine Rede ähnlichen Inhalts, ALS die Teutfchen ihr
Eontingent beftimmen follten, zeigte fih Uneinigkeit zwifhen den Gefandten des
Kaiſers, der teutfchen Fürften und der Reihsftände, woran der berühmte Rechts-
gelehrte Gregor von Heimburg (f. d. W.), der Gefandte Herzogs Albrecht von
Deftreih, viel Schuld trug. Endlich verfprachen die Teutfhen dem Papſte den-
noch 32,000 Dann Fußvolk und 10,000 Reiter, Das Nähere follte auf zwei
Reichstagen zu Nürnberg und zu Wienerifh Neuftadt ausgemacht werden. Den
Kaifer Friedrich beftimmte der Papft zum Oberfeldherrn. Affein die Uneinigfeit
und die Streitigfeiten, die damals gerade unter ſolchen Fürften herrſchten, auf
welde der Papft viel rechnen mußte, Hinderten den gewünſchten glücklichen Erfolg
de8 Congreffes zu Mantua; alle Reden und Beratsfhlagungen, womit man fi
abmühte, waren nicht im Stande, die Theilnahmloſigkeit an dem heiligen Kriege
u entfernen, welche befonders dur die befländigen einheimifchen Kriege in
eutfchland war hervorgerufen worden, E8 bedurfte der ganzen Begeifterung
eines Pins, um die Sache endlich Doch in den Gang zu bringen, Pius richtete
zum Ueberfluß an den Sultan Mahomed ein umfaffendes Sendfhreiben, worin er
ihm unter Zugrundlegung von Cuſa's „cribratio Alcorani* die Wahrheit des
Chriſtenthums und die Irrthümer Mohammeds vor Augen legt. Endlich begab
16 Pins, obſchon beventend Teidend, jedoch vertrauend auf Gott und auf ein
egsheer von mehr als 88,000 Mann, unter dem tapfern Scanderbeg, per-
fönli zum Kreuzheere, erlag aber unterwegs bald feinen Leiden, nachdem er
den Cardinälen den Krieg gegen den Chriftenfeind an das Herz gelegt hatte, Die
Berfammlung von Mantua benüste Pius auch dazu, ein frenges Verbot gegen
alfe Appellationen vom päpftlihen Stuhle befannt zu geben. (S. Gobelin und
andere gleichzeitige Hiftorifer.) Bol. Hierzu den Art. Italien. [Dür.]
Manualbeneficien, f.Beneficium ecelesiasticum.
Manuell. Comnenus, griechiſcher Raifer von 1143— 1180, ift befannt aus
der Zeit des zweiten Kreuzzuges. Nachdem er fich in verfchiedenen Kriegen aus
gezeichnet Hatte, folgte er durch die Beflimmung feines Vaters Johann I. mit
Umgehung feines ältern Bruders Iſaac diefem in der Regierung des zerrütteten
und angefreffenen Reiches. Schon fein Vater hatte fih mit dem teutfhen Kaifer
Lothar (f. d. A.) gegen Roger von Sieilien verbündet, diefe Verbindung mit
Eonrad erneuert (f. Conrad IM.) und zur Befiegelung der Freundfchaft um eine
Prinzeffin feiner Familie für feinen Sohn Manuel angehalten, Conrad ging
darauf ein und beſtimmte die Sihwefter feiner Gemahlin Gertrude, Namens
Bertha, für diefe Ehe, Die Braut reiste nach Griechenland ab, traf aber Jo—
Hann II. wicht mehr unter den Lebendigen. Ihre Ehe war nicht glücklich; fie Ciegt
Irene genannt) ſuchte allein durch Sittfamfeit und tugendreihen Wandel ihren
Gemahl zu gewinnen, während diefer alsbald im Schooße der Conceubinen die
ehelihe Treue brach. Nah Außen war Manuels erfte Thätigfeit gegen die Tür-
fen gerichtet. Zwar war feine Thronbefteigung Anfangs mit Freude und Hoff-
nung begrüßt worden; allein bald zeigte er ftatt der feitherigen Tugenden Lafter
alfer Art, ward flolz und graufam und verachtete die Menfchen als willenloſe
Sclaven. — Was zunähft feine Stellung zu Conrad II. von Teutfchland und
Ludwig VII. von Franfreich und dem Kreuzheere anlangt, fo hatte er Ludwig VII.
die freundlichfte Aufnahme verfprochen, aber treulos wie er war zugleich den
E De LE ı a ia 0 u
808 he Mahl,
Sultan von Jeonium von ber ihm drohenden Gefahr benachrichtigt, und als Con—
rad mit feinem ſtreitbaren Heere angelangt war, behandelte er ihn nicht mit Liebe,
fondern mit Mißtrauen und flellte gegen ihn ein Obſervationscorps auf, was
ihm alferdings nad den Vorgängen im erfien Kreuzzug nicht zu verübeln war,
In der That erlaubten fih auch dießmal die teutfhen Krieger Exceffe., Um nun
weitern nachtheiligen Folgen vorzubeugen, ließ Manuel das Kreuzheer auf Schif-
fen über den Bosporus ſetzen; die beiden verſchwägerten Kaiſer hatten fich auf
diefe Weife verföhnt, ohne fi gefehen und gefprocen zu haben. Dagegen hatte
Manuel mit Ludwig VL. eine Zufammenkunft in feinem Palafte und nahm ihn
gaftlich auf. Um ihn jedoch bald wieder los zu werben, ließ er in Conflantinopel
die Nachricht von glücklichen Erfolgen des teutfchen Kreuzheeres verbreiten, ver-
langte endlich bei einer zweiten Zufammenfunft, daß die franzöfifchen Heere ihm
Treue ſchwören, wie jene des erfien Kreuzzuges feinem Großvater Alerius gethan
hätten; zugleich verlangte er für feinen Neffen eine Verwandte des Königs zur
Gemahlin; dann werde er Beiftand leiſten. Ungern willigten die Heere ein, und
der Graf, von Dreux nahm die ihm verwandte Verlobte des Neffen Manuels fort,
um fie einer ſo unwürdigen Verbindung zu entziehen. Indeß trägt Manuel an
dem Mißlingen des zweiten Kreuzzuges nicht die legte Schuld durch feine abficht-
liche Srreleitung des Kreuzheeres, durch mangelhafte Lieferung der Lebensmittel
und alle feine treulofen Nänfe, Seine Kriege mit Roger, mit ben Ungarn und
Türfen u. ſ. w. gehören nicht hieher, wohl aber fein Verhältniß zur Tateinifchen
Kirche. In zweiter Che, vermählt mit Maria, der Tochter Raymunds, Fürften
von Antiochien, hatte er überhaupt während feiner ganzen Negierung die lateini-
fchen Chriften in feinem Reihe [honend behandelt und ihre Kirchen verfchönert,
was diefe dankbar anerkannten. Diefe feine günftige Stimmung benüßgend, mahnte
Papft Hadrian IV. (1154—1159) Baſilius, Erzbifchof von Teffalonih, zum Ver-
fuche einer Bereinigung der griechiſchen Kirche mit der Tateinifchen. Alfein diefer
Berfuch fheiterte an der Abneigung der Griechen gegen den oberſten Biſchof von
Rom (ſ. Sriehifhe Kirche). AS fih jedoh nah dem Tode Habrians ber
teutfche Kaifer Friedrich I. gegen feinen Nachfolger Alexander II. und für den
Gegenpapft Victor erklärte, empfahl fih Manuel auf ein Schreiben Ludwigs von
Sranfreih dem Gebete Aleranderg, ald eines würdigen Papftes, und fchrieb auf
die Nachricht von der Ausrüftung zu einem neuen Kreuzzuge an Alexander II.
und zeigte feine Bereitwilligfeit zur Mithilfe, bat aber zugleich, der Papft möchte
zur Aufrechterhaltung der Ordnung einen Cardinal dem Kreuzheere zur Seite
ſetzen. Indeß Fam der beabfichtigte Kreuzzug nicht zur Ausführung. Im Jahre
1160 ließ ferner Manuel dem Papfte feine Hilfe gegen die Gewaltthätigfeit
Friedrichs I. anbieten, wollte jedoch, daß Alexander die Krone des römischen Kai-
ſerthums wieder den griechifchen Kaiſern übergebe, als welchen fie allein rechtlich
gebühre, verſprach dagegen hinlängliche Hilfe, um den Papft in den Befig von
ganz Italien zu feßen und die von ihm laͤngſt gewünſchte Vereinigung beiber
Kirchen zu Stande zu bringen, Nach einer zweijährigen Unterbandlung erklärte
jedoch der Papft, daß er ganz und gar für Vereinigung beider Kirchen feiz daß
er aber, um den Frieden unter den hriftlihen Mächten nicht zu flören, nicht in
die gewünfchte Mebertragung der abendländifchen Kaiferfrone willigen Fönne,
Damit endigte die Unterhandlung, aber die Freundfchaft zwifchen Aerander und
Manuel dauerte fort, Auch befchickte der Kaiſer das dritte Lateranconeıl und er⸗
Härte fih flets für die Orthoborie, Als fofort Friedrich I. Stalien mit Krieg
überzog, hatte fich diefes der Unterflügung Manuels zu erfreuen ; in. Kriege mit
Ungarn verwickelt, fuchte er jedoch das Bündniß Friedrihs und der ruffifchen
Fürften und erhielt daſſelbe. Was nun endlich Manuels Stellung zur griechiſchen
Kirche anlangt, fo wollte auch er, wie fo viele feiner Vorgänger feit Juſtinian,
ſelbſt in dogmatifchen Tragen entfcheiden, z. B. in dem über den Sap: „Mein
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Hanıg mortua — Mara, 809
Bater iſt größer als ih” erhobenen Streite, Sonſt verfhönerte er die Kirchen
und begünftigte Klöfter und Mönche. Im Jahre 1158 erflärte er die Mönche
als rechtmäßige Befiger aller ihrer wirflihen Güter und nahm fie dadurch gegen
die Habfucht des Fiscus und der Privaten in Schug, wodurch er eine Menge
roceffe befeitigte, verbot ihnen aber neue Acquifitionen; auch wünſchte er be-
a ‚daß die Klöfter ferne von Städten und Dörfern erbaut würden, um fie
vor dem Verderbniß derfelben zu bewahren, und baute, um ein Mufter Heiliger
Zurüdgezogenheit zu flatuiren, ein Klofter am fhwarzen Meer, beſetzte daffelbe
mit den frömmften Mönchen und wies ihnen ein Einfommen aus der Staatscaffe
an. — Ein Tyrann in der Regierung, war er ed auch in kirchlichen Dingen;
feine Meinung mußte entfoheiden, und. mehr als Ein Biſchof büßte feinen Wider-
ſpruch mit Abfegung und Verbannung; er ſchaffte aus eigener Machtvollkommen—
heit eine Reihe kirchlicher Feſttage ab oder verordnete bet andern, daß der Vor—
mittag dem Gottesdienfte, der Nachmittag den bürgerlichen Gefchäften gewidmet
werde, — Die Verwaltung des Reichs wurde auch unter ihm noch mehr ver-
fchlechtert, und fo Fam e8, daß die armen Bürger, ſchon längſt Sclaven der
Reichen, auch ihre perfönliche Freiheit verfauften. Aber auch hier zeigte fich die
beffere Seite des höchſt ausfhweifenden und verfhwenderifchen Fürften: er gab
durch ein Edict allen, welche als Freie geboren waren, ihre Freiheit zurüd, CH,
Lebeau, histoire du Bas-Empire. Paris 1834. T. XVI. p. 63—305 und dafelbft
die Duellen, [öehr.]
Manus mortua, f. Amortifation,
Mapn (7792), woNabal wohnte, an der Grenze der Wüfte Juda, die hier
Wüſte Maon Heißt (1 Sam. 25, 2, Joſ. 15, 55.), das heutige Ma’in, ein
Dorf auf einem fegelförmigen Berge mit einer prachtonffen Ausfiht, neun röm.
Meilen im S. ©. D. von Hebron, Robinſon fand dafelbft Ruinen von nicht
großem Umfange, Grundmauern von gehauenen Steinen, eine-Mauer in’$ Ge-
viert und verſchiedene Eifternen. — 2) Ein nicht ifraelitifcher Carabifher) Volks—
flamm; er wird unter den Feinden Iſraels (Nicht. 10, 12.) neben den Sidoniern
und Amalefitern aufgeführt, 1 Chron, 4, 41. Cim Keri) und 2 Chron, 26, 7;
fommt diefelbe Völferfhaft unter dem Namen Meunim (0727>%2) vor. Schon
den Alten war diefer Name unbefannt; Hieronymus hat ihn an der erſten Stelle
1 Chron,. 4, 41. als nom. appell. genommen, an der letzten aber „Ammoniter“
gelefen; Richter 10, 12. gibt er mit Chanaan (j1>2 —= Bewohner Canaans),
Eben fo im Ungewiffen waren die LXX.;5 fie Haben im Buche der Chronif Mivaioı,
eine Bölkerfhaft im glücklichen Arabien am rothen Dieere; doch find diefe viel zu
tief im Süden gelegen (23—20° Br.), um mit den Jfraeliten in eine feindliche
Berührung zu fommen, daher man beffer die Stadt Maan im peträifchen Arabien
mit dem biblifchen Maon iventificirt, Maan ift noch jegt eine Stadt, in deren
Umgebung fi viele Ruinen befinden; es liegt auf der Strafe nah Mecca faft
in der Mitte zwifchen der Süpfpige des todten Meeres und der nördlichen des
Buſens von Afaba, [Schegg.]
Mara (772), eine bittere, falzige Duelle in der arabifchen Wüfte, deren
Waſſer Moſes füß und trinkbar machte 2 Moſ. 15, 23. Als Mara bezeichnet
man den Brunnen Howara, deffen „Elares, aber fehr bitteres Waffer eine berfen-
artige Eintiefung des Felfens ausfüllte, an welcher wahrfcheinlih die Hand des
Menſchen mitbilden Half,” Er ift von Ajin Mufa 15, Stunden entfernt, mit
einigen Palmen verfehen und 484 Par, Fuß über der Meeresfläche auf einer
Heinen Anhöhe gelegen. Diefe Angaben ſtimmen mit dem biblifhen Berichte voll-
fommen überein: „Und Mofes Tieß aufbrechen Iſrael vom Schilfmeer und fie
zogen nad) der Wüſte Sur und gingen drei Tage in der Wüfte und fanden Fein
Waſſer. Und fie famen nah Mara, und fie fonnten fein Waffer trinfen, weil es
bitter war, 2 Mof, 15, 22. 23,” Bon Ajin Mufa beginnt die Wüfte Sur; ein
810 Marburg Er Maren
ganzes Volk Hat drei Tagreifen bis Mara; in biefem Zwifchenraume fehlt e8
gänzlich an Brunnenwaffer, und Ajin Howara ift der einzige abfolut bittere Brun-
nen der ganzen Küſte, der die Klage und das Murren des Volkes, welches an
das wohlſchmeckende und heilfame Nilwaffer gewöhnt war, fehr begreiflich macht,
Selbſt Heute noh, fagt Burkhardt, fei fein Volk fo empfindlich gegen ben
Mangel guten Waffers, als der Nilanwohher, „Dem Brunnen gegenüber (reits
vom Karawanenwege) iſt ein Fleines Keffelthal recht wie zu .einer Yagerftätte von
der Natur eingezäunt und eingerichtet, Der Boden ift dort an manden Stellen
feucht; es Hlüheten und wuchfen dafelbft Blumen, aus der Familie der Kreuz-
blüthigen, mit fetten, den Wohlſtand des Standortes verrathenden Blättern.”
Schubert, Reife in dag Morgenl, II, 274, Burkhardt vermuthet, Mofes
babe die faftigen Beeren des Strauches Gharkad angewandt, welcher die Kraft
haben foll, bitteres Waffer trinfbar zu machen, Db aber für eine Volksmaſſe von
mehr als einer Million mit ihren Herden? Unfer Gewährsmann (Schubert)
weiß von einem folchen Experiment nichts, und deffen Unzulänglichkeit ift von
Andern ſchon Tängft nachgewieſen. Geſen. zu Burdhardt II. ©. 1071. Robin-
fon, Paläſt. I, S, 107 u. ſ. w. [Schegg.
Marburg, Religionsgeſpräch zu. Der Landgraf Philipp von Heſſen,
fagt Guerife in feiner Eindifch-befchränften Luther-Drthodorie: allzugeneigt, über
feinem lebendigen Intereffe für die Sache des Evangeliums das Intereffe für
die Unverleglichkeit der Faiferlihen Authorität gering zu achten, war nal dem
NReichstage von Speyer (1529) eifrigft bemüht, alle Proteftanten zu einem Bünt-
niß gegen den Kaiſer zu vereinigen und zu diefem Behufe das in der Lehrnerfchie-
denheit Iiegende Hinderni zu befeitigen, In diefer Abficht veranftaltete Philipp
das Colloquium zu Marburg, abgehalten in den erſten Tagen des Detobers 1529,
zu welchem einerfeits Luther, Melanchthon, Juſtus Jonas, Brenz, Oſiander,
Agricola und noch Andere, von der andern Seite Zwingli, Decolompadins, Bucer,
Hedio und noch Einige erſchienen. Bei der Gefinnung Luthers, „dem es ſchrecklich
war, zu hören, daß in einerlei Kirchen oder an einerlei Altar beide Theile einer-
lei Sacrament folften haben und empfahen, und ein Theil follte glauben, es em—⸗
pfahe eitel Brod und Wein, das andere Theil aber glauben, es empfahe dem
wahren Leib und Blut Eprifti”, war der Ansgang des Colloquiums vorauszufehen,
Zwar erflärte man fich über 14 Artifel, in denen die Schweizerifihen für jegt
um ber drohenden Zeitverhältniffe halber möglichft nachgeben zu müffen glaubten,
einverftanden, allein in der Hauptfache, der Lehre vom Abendmahle, kam eine
Bereinigung nicht zu Stande. Als die Schweizerifihen erklärten, daß fie mit
Luther die wahrhaftige, jedoch geiftige Gegenwart des Leibes Eprifti befennen
wollten, und Zwingli ihn öffentlich mit weinenden Angen bat, fie als feine Brü-
der in Chriſto zu erfennen, da ihnen Alles daran liege, mit ihm einig zu fein,
verwarf er die angebotene Hand mit den Worten: Ihr habt einen andern Geift!
Der Deffentlichfeit halber und auf Verlangen des Landgrafen wurbe jedoch feits
der Wittenberger erflärt, daß fie die Zwinglifchen zwar nicht als ihre Brüder er-
fennen Fönnten, doch von der chriſtlichen Liebe nicht ausſchließen wollten, Daß
jedoch auch diefe Erffärung tur eine Phrafe war, zeigte fi bald, Befonders
war es die Marburger Univerfität felber, anf welcher fich Lutherlhum und Zwing-
lianismus heftig und Tange befehdeten, worüber Döllinger in feiner Schrift,
„die Reformation, ihre innere Entwicklung ꝛe. Bd, II. ©, 204—224”, fi des
Nähern verbreitet, Vgl. den Art. Heffen. [Schroͤdl.)
Marca, Petrus de, wurde geboren zu Gant im Béarn am 24, Jan. 1594
und ftammte ans einer altadeligen katholiſchen Familie, Er erhielt feine Huma-
niftifche Bildung im Zefuitencolegium zu Auch und fludirte darauf zu Toulonfe
erft Philoſophie, dann drei Jahre die Nechte, 1615 wurde er Nath beim Conseil
souverain von Béarn. Alle feine Collegen waren damals Calviniftenz bald dar⸗
Marcella — Marcellinu 811
auf wurde aber die katholiſche Religion im Bearn wiederhergeſtellt, und de Marca
erhielt zum Lohne für feine Mitwirkung dabei 1621 die Stelfe eines Präfiventen
des (ganz Fatholifhen) Parlaments zu Pau, 1639 wurde er zum Staatsrath
ernammt, Sein Ruf als Gelehrter fiieg, als 1640 feine Histoire de Bearn er-
ſchien. Im Auftrage des Königs verfaßte er 1641 fein befanntes Werk: de con-
cordia sacerdotii et imperii s. de libertatibus ecclesiae gallicanae. Nach dem Tode
feiner Frau, mit der er mehrere Rinder hatte, trat er in den geiftlichen Stand
amd wurde 1643 zum Biſchof von Conferans ernannt, Papft Urban VII ver-
weigerte ihm aber wegen mehrerer in feinem Werke ausgefprochener anftößigen
Anfihten die Beftätigung, und er erhielt diefelbe erft 1647 dur Innocenz X.,
nachdem er weitere Erläuterungen herausgegeben hatte unter dem Titel: libellus,
quo editionis librorum de concordia etc. consilium exponitur. Er wurde 1648 con=
fecrirt, ging aber bis 1651 nach Catalonien zurüf, wohin er ſchon 1644 als
General-Bifitator und Intendant gefchieft war. 1652 wurde er zum Erzbifchof
von Toufoufe ernannt, 1654 beftätigt und 1655 inthromifirt, Er wurde aber
noch fortwährend zu politifchen Gefchäften verwendet, 1653 wurde er wieder
Staatsrath, wohnte den Sigungen der Stände von Languedoe bei, präfldirte ven
Provincralftänden zu Touloufe 1659 und wurde 1660 nach dem Rouffilon gefchiekt,
um Örenzftreitigfeiten zwifchen Franfreih und Spanien beizulegen. Im Sept,
1660 zog er nad Paris, wurde nach der Abdanfung des Cardinals de Retz zum
Erzbiſchof ernannt, ftarb aber ſchon einige Tage, nachdem die päpftliche Beftäti-
gung eingelaufen war, den 29. Juni 1662, Seine Manuferipte übergab er dem
Stephan Baluzius, der feit 1656 bei ihm wohnte (f, den Art. Baluzius) und
1663 eine Biographie de Marca's herausgab und eine neue vollftändigere Aus—
gabe des Werfes de concordia etc. beforgte (daffelbe ift fpäter noch mehrere Mate
gedrudt Par. 1669, 1704 mit Marca’s dissert. eccl. varii argumenti Francof.
1708. Lips. 1709 [ed. J. H. Böhmer], cum observat. Böhmeri et C. Fimiani Neap.
1771 u. Bambergae 1783 in ſechs Duartbänden). Außerdem verfaßte Marca
noch eine Anzahl kirchenrechtlicher und kirchengeſchichtlicher Differtationen. Baluzius
gab 1681 zu Paris 16 opuscula deffelben heraus, und P. de Faget dissertaliones
posthumae sacrae et ecclesiasticae Paris. 1699 mit einer Biographie de Marea's.
Endlich gab Baluzius 1688 noch feine Marca Hispanica heraus, eine hiftorifch-
geographifche Befchreibung von Catalonien, Rouſſilon und den franzöfifep-fpani-
ſchen Grenzprovinzen. (Vgl. Bayle, Jöcher.)
Marcella, ſ. Hieronymus.
Marcellina, die Gnoſtikerin, hat nur dadurch Bedeutung, daß fie dem
gnoſtiſchen Syftem der Rarpofratianer (f. den Art, Rarpofrates) Eingang in
Rom verfhaffte, wo fie unter dem Papft Anicet gegen das Jahr 160 auftrat und
Biele gewann nach den übereinftimmenden Berichten der Alten (S. Irenaeus adv.
haeres. lib. I. e. 25. n. 6. S. Epiphan. haeres. 27. n. 6.). Sie mag wohl in ver
gebildeten Hauptftadt dadurch Auffehen erregt und Anhänger gefunden haben, daß
fie ald Frau bei ihren Vorträgen mit den Bildern des Pythagoras, Homer, Plato
und Ariftoteles auch das angeblich auf Befehl des Pilatus verfertigte Bildnig
Jeſu und das Bild des Apoſtels Paulus aufftellte, diefe Bilder (f. ven Art.
Chriſtusbilder) nach heidniſcher Sitte befränzte, ihnen Weihrauch freute und
göttliche Verehrung bezeigte (S. Irenaeus I. c. S. Epiphan. 1. c. S. Augustin, lib.
de haeres. c. 7. et Praedestinatus e. 7. in Sirmondi Opp. Var. ed. Venet. T. I. p.
270). Der gleichzeitige heidniſche Philoſoph Celfus (f. d. 9.) erwähnt in feiner
Streitfhrift gegen die Chriften als eine eigene hriftliche Secte „vie Marcelli-
niften (MagzeAhıevor), die ihren Namen von der Marcellina haben“ (Origen.
c. Celsum lib. V. n. 62. ed. Ruaei T. I. p. 626), und nicht zu verwechfeln find mit
den Marcellianern, den Anhängern des Biſchofs Marcellus von Ancyra (f.d, A.) im
vierten Jahrhundert, Doch war die Serte der Marcelliniften, die wohl nur zu
812 Marcellinus — Marcellus, Päpfte,
Nom unter diefem Namen befannt war, offenbar bloß ein Zweig der Karpofra-
tianer, ohne in den Irrthümern felbft etwas Befonderes zu haben. Das eitle
Weib mochte die Lehre des Karpokrates als ihre eigene vortragen, weßhalb die
Secte in Rom nad) ihr genannt ward, die alten Väter und Kirchenſchriftſteller
aber fie nur bei der Secte der Rarpofratianer als Hauptverbreiterin namhaft
machen. Daher fonnte auch Drigenes im dritten Jahrhundert bezeugen, daß er
von diefer Secte troß feines eifrigen Forſchens in der chriftlichen Lehre und in
den verfchiedenen Meinungen ihrer Befenner nie etwas gehört habe (Origen. 1. 0.);
welche Angabe wir mindeftens als ein ficheres Zeichen betrachten dürfen, da die
Secte der Marcelliniften jedenfalls um die Mitte des dritten Jahrhunderts nicht
mehr eriftirte, und daß fie daher wohl nur eine vorübergehende Erfcheinung unter
dem wetterwendifchen hohen und niedern Pobel der großen Welthauptftadt ge-
wefen fei, wie dergleichen auch heutzutag noch in Paris und anderwärts vor-
fommt, Ä - [eßler.]
Marcellinus, Payft, Nachfolger des Cajus C+ 296), ein Römer von Ge-
burt, hat fozufagen das Unglüd gehabt, daß beinahe Alles, was man bis auf die
neuere Zeit über ihn zu. berichten pflegte, der Hiftorifhen Wahrheit entbehrt.
Erftens find von Einigen irrthümlich Marcellinus und deffen Nachfolger Mar-
cellus (f. d. Art.) identificirt worden, da doch beide in der Chronik, welche den
Namen des Papftes Damafus trägt und unter dem Pontificate des Papftes Li-
berius verfaßt wurde, fowie au von Optatus von Milevi, Auguflin 2c, genau
von einander unterfhieden werden, Zweitens hat man dem Marcellinus, wie fo
vielen Andern, fälfchlicher Weife einige Decretalbriefe beigelegt, Drittens ift es
wenigftens zweifelhaft, ob er ald Martyrer geftorben fei, indem über ein Mar-
tyrium Marcellins authentifche Acten nicht vorhanden find, und Pagi (Breviar,
R. P.) ſowohl, wie au Papebrock Cconat. chron. hist. ad catal. Pont. de S. Mar-
cell. in Propyl. ad Majum) noch aus andern Gründen hierüber zweifeln, Viertens
endlich ift die Gefihichte von dem Falle und. der Buße Marceflins wohl nichts
weiter als eine Fabel. Marcellin nämlich fol, in der Verfolgung Marimians
und Dioeletiang von Drohungen eingefhüchtert, den Götzen Weihrauch dar-
gebracht, aber feinen Schritt bald bereut und den Martyrtod gelitten haben; hin—
zugefügt wird noch häufig, kurz nah Marcelling Fall fei in der Provinz Cam-
panien in der Stadt Sinueffa eine große Synode von 180—3001! Bifhöfen zu-
fammengefommen, und in diefer Synode habe Marcellin, das Haupt mit Afıhe
beftreut und angethan mit einem Cilictum, feine Schuld befannt, Daß es be-
fonders die Donatiften waren, melde dieſe Fabel in Umlauf fegten, erhellt aus
Auguftin, der in 1. de unico bapt. c. 16. dem Donatiften Petilian antwortet;
„Was iſt nun noch nöthig, die Päpfte, welche Petilian mit unglaublichen Calum-
nien verfolgt hat, davon zu reinigen: Marcellin und deffen Priefter Melchiades,
Marcellus und Sylvefter werden von ihm ber Auslieferung der hl. Schriften und
der Thurification angeklagt. Aber find fie deffen dur Documente überwiefen Pac.“
Was die Acten der angeblichen Synode von Sinueffa anbelangt, fo waltet gegen-
wärtig über ihre Ervichtung fein Zweifel mehr ob; alt find fie indeß allerdings,
da fchon Papft Nicolaus I. ihrer gedenft, Da nach Eufebius Chist, VII, 3) in
der Verfolgung Marimians und Diveletians viele Chriften mit phyfifcher Gewalt
gegen ihren Willen zu materiellen gögenbienftlichen Aeten gezwungen oder öfter
auch als thurificati und saorificati bloß angegeben wurden, fo mag es möglich fein,
daß etwa auch Marcellinus ohne irgend eine Schuld von feiner Seite während
der Verfolgung dem Martyrtod in diefer Weife entging. Das Gedächtniß Mar-
cellins feiert die Kirche ain 24. April, Er farb im J. 304. ©, Papebroch. 1.
eit.; Bolland. 24. April.;.Pagi brev, R. P.; Nat..Alex. hist, Eccl. saec, 3. [Schrödl.]
Marcellus I. u, I, Päpſte. Marcellus, der unmittelbare Nachfolger
des Papftes Marcellinus (ſ. d. A.), folgte diefem erft nach einer. beinahe vier-
Marcellus, Kriegshauptmann 813
jährigen Sedisvacanz und regierte die Kirche nur anderthalb Jahre, von 308 —
310, Bon ihm Heißt es im liber Pontificalis: „titulos in urbe Roma constituit,
quasi dioeceses, propter baptismum et poenitentiam multorum, qui convertebantur
ex paganis, et propter sepulturam martyrum*. Er hatte unter dem Tyrannen
Marentius ſchlimme Tage und fol von diefem zu wiederholten Malen zu Stall-
dienften verurtheilt worden fein. Indem er einige Zeit im Haufe der frommen
Wittwe Lucina, wie im liber P. ferner berichtet wird, wohnte, wurde dafjelbe in
diefer Weife in ein Gotteshaus für die Chriſten umgewandelt. Das Gedächtniß
diefes HI. Papſtes begeht die Kirche am 16. Januar, ©. Bolland. 16. Jan.;
Papebroch. conat. chronicohist. ad catal. Pontif. de Marcello; Pagi, brev. R. P.—
Marcellus H. (Marcello Eervini), geb. zu Montepulcianv, ein Mann von fel-
tenen Geiftesgaben, Kenntniffen und großer Mäßigung, Klugheit und Güte, be-
gann feinen Lauf zur höchſten Würde in der Chriftenheit als Secretär des Car—
dinals Farnefe, wurde 1539 zum Bifhof von Nicaftro und 1540 zum Carbinal
promopirt, Teiftete durch geſchickte Ausführung päpftlicher Aufträge und als päpftlicher
Cardinallegat auf der Synode zu Trient dem Papfte und der Kirche gute Dienfte
und wurde nach dem Tode des Papftes Julius II. am 9, April 1555 auf den
apoſtoliſchen Stuhl erhoben, Wegen der Nähe des DOfterfeftes wurde er ſchon
am 10. April confecrirt und am Mittwoch in der Charwoche gefrönt, Marcellus,
der, wie Hadrian VI., feinen Namen nicht änderte (was den Sarpi zu feinen ge=
wohnten Bemerfungen veranlafte), berechtigte zu den fehönften Hoffnungen, Und
wirflich hatte er ſchon angefangen, fich mit der großen Angelegenheit der fo noth=
wendigen Reformation zu befhäftigen, als er fhon 22 Tage nach feiner Wahl
in Folge der Krankheit, die er fich bei den Functionen in der Char- und Ofter-
woche zugezogen, ſtarb. Sarpi, der feinen Papft unverläumdet läßt, dichtet dem
Marcellus ein großes Vertrauen auf die Aftrologie an, durch die er feine Er-
bebung und ein langes Pontificat ſich prognofticirt Habe; Pallavicini hat biefe
Lüge widerlegt, [Schrödt.]
Marcellus, Kriegshauptmann und HI. Martyrer, wurde in der Verfolgung
des Marimian und Discletian, nah der Meinung des Baronius und Nuinark
etwa im J. 298, artenmäßig am 30. Detober, ein Opfer feines Befenntniffes
Jeſu Chrifti. Als am Geburtstag des Kaifers (Marimian) in der Stadt Tingis
in Africa (Tanger) Alles bei Gaftmählern ſchwelgte und DOpferdienft trieb, warf
ein darüber empörter Hauptmann der Trajanifchen Legion, Marcellus mit
Namen, feine Soldatenbinde vor den Standarten der Legion weg und forach mit
lauter Stimme: „Jh diene Jeſu Chrifto, dem ewigen Könige.” Er warf
auch den Weinrebenftod (Ehrenzeichen eines Hauptmanns) und die Waffen weg,
beifügend: „Bon nun an diene ich euren Kaifern nicht mehr und verfchmähe die
Anbetung eurer hölzernen, feinernen, tauben und ſtummen Götzen. Wenn e8
fo mit dem Dienfte der Soldaten befhaffen ift, daß fie gezwungen
werben, ven Ödttern und Kaiſern zu opfern, da werfe ich den Stv
und das Eingulum weg, verlaffe die Fahnen und weigere mich, zu
dienen,” Diefe Antwort, welche feineswegs den militärifhen Gehorfam, fon-
dern nur den mit dem Soldatendienft verbundenen Gößendienft abwies, wieder-
holte er vor dem Präſes der Legion, erklärend, daß er als Chriſt einen ſolchen
Gottesdienſt nicht mitmachen Fonne, fondern nur Jeſu Chriſto dem Sohne
Gottes des allmähtigen Vaters diene, und vor den Nichterfiufl des Au-
relius Agricolanus, Stellvertreters des Oberſten der Leibwache, geführt, blieb
er gleich fandhaft, Er wurde zur Hinrichtung mit dem Schwerte verurtheilt,
Als er zum Tode ausgeführt wurde, fagte er zu Agricolanus: „Gott laſſe es dir
wohl ergehen”; „denn, fegen die Martyreracten bei, fo geziemte es ſich für einen
Martyrer aus der Welt zu ſcheiden, und als er das gefagt hatte, ward er ent-
hauptet und flarb für den Namen unfers Herrn Jefu Chriſti, der glorreich ift in
— nn 4, "4
814 Marcellus von Ancyra und Mareellianer,
Ewigfeit, Amen.” Das Gedächtniß diefes HL. Kaämpfers begeht bie Kirche: am
30. October. ©, Ruinarts Acta mart. — Bei dem Verhöre des hl. Martyrers
Marcelfus diente in feinem Amte als Militärgerichtsfchreiber ein gewiffer Caf-
ſianus. Der geiftige Sieg des chriſtlichen Hauptmanns über den heidnifchen-
Richter und. die Wuth diefes Richters über den fiegreichen Bekenner, und deſſe
Berurtheilung zum Tode machte auf Caffian einen folhen Eindruck, daß er
Schreibzeug und Schriften zur Erde warf, Deffen freute ſich Marcellus, im
Geifte vorausfehend, daß Caſſianus bald ihm folgen werde, Und fp war es auch;
wenige Tage nad, dem Triumphe des Marcellus wurde auch dem Eaffian die
Martyrerfrone zu Theil, Caſſians Andenken feiert die Kirche am 3. December,
Daß Caffian ſchon im vierten Jahrhundert fehr befannt gewefen, fieht man aus
dem vierten Hymnus des Prudentius (de coronis), wo er, die vorzüglichften Pa—
trone verfchiedener Kirchen aufzählend, V. 45, fingt: „Ingeret Tingis sua Cassia-
num.“ ©, Ruinarts Act. mart. [Schroͤdl.)
Mareellus von Ancyra und Marcellianer, Der Name des Biſchofes
Marcelfus findet ſich ſchon im Eoneil von Ancyra (ſ. d. U), gehalten im J. 314,
dem Marcellus in der Eigenfchaft eines Bifchofs diefer Stadt beiwohnte, Im J.
325 war er auf dem Concil von Nicäa anwefend und widerfegte fih tapfer der.
Härefie des Arius (ſ. d. A.), fo daß die Legaten des Papftes Sylveſter über ihn
ein fehr vprtheilhaftes Zeugniß feines Eifers und feiner Glaubensreinheit zu Rom.
abgaben, Später fihrieb er gegen Aſterius, den Adooraten der Arianer; es mar
dieß feine erſte Schrift, die, obgleich lang, doch in feine Bücher eingetheilt war,
indem fie auf diefe Weife ein Bild der Einheit Gottes fein follte, Da Marcellus
in diefer Schrift fpwohl gegen Die Lehren wie gegen die Häupter des Arianismus
mit großer Kraft auftrat, da er, empört über das Verfahren der arianifchen Bi-
fchöfe, auf der Synode zu Tyrus 335 (f. den Art. Athanaſius) nicht nur ihre
Beihlüffe nicht unterzeichnete, fondern e8 fogar für gottlos hielt, mit ihnen nach,
Serufalem zur Einweihung der HI. Grablirche zu ziehen: fo machten fih bie
Arianer, als fie die Verbannung des HI. Athanaſius nach Trier durchgefegt hatten,
auch über Marcellus her, erklärten in einem Conecil zu Eonftantinopel ihn des
Sabellianismus ſchuldig und für abgefegt, fprachen über ihn das Anathem ans
und festen an feine Stelle einen Oefinnungsgenoffen, Bafilius mit Namen, Diefe
Berdammung und Abfegung eines fo würdigen und angefehenen Mannes: enregte
großes Auffehen, weil man nun immer Harer begriff, daß die Arianer es auf bie
Entfernung aller Bifhöfe, und gerade am meiften der beften und hervorragendſten,
abfahen, die ihrer Härefie und ihren Schandpractifen Widerftand Teifteten. Daher
verfaßte Eufebius von Cäfaren (f. d. A.), der zweidentige und verſchmitzte Hof-
bifchof, im Auftrag der Eufebianifchen Partei zwei Werfe gegen Marcellus („gegen
Marcellus zwei Bücher”, und drei Bücher „von der kirchlichen Theologie”), worin
er die Vertheidigung des Coneils von Conftantinopel übernahm und ben Mar-
cellus aus feiner Schrift gegen Afterius des Sabellianismug zu überführen ſuchte,
Der Borwurf des Sabellianismus wurde überhaupt den Katholiken vom dem
Arianern fehr häufig gemarht, verfteht fih, ohne daß an der Sade etwas war,
als zuweilen gewiffe Worte und Redensweiſen, in welche die Arianer den Sa-
bellianismus hineinlegten. So machte es nun auch Enfebius von Cäfarea; ex
dichtete dem Mareellus den Sabellianismus an, und wußte dieſe Anklage auf
nichts Anderes zu begründen, als auf Verdrehungen und böswillige Deuteleien
verfchiedener Ausprüde des Marcellus, während dieſer die Dreiperfönlichkeit
Gottes und die Perfönlichfeit des Logos nicht bloß nicht aufhob, fondern überall
adſtruirt, den Sabelliug ſelbſt in manchen Stelfen beftreitet und drei Hypoſtaſen
nur im Sinne der Arianer Täugnete, nach welchen Hypoftafis gleihbebeutend mit
Weſen war und in den drei Perfonen drei verfhiedene Wefen fein follten, Kurz,
man warf dem Marcellus den Sabellianismus vor, weil er Katholik und nicht
u, 2 IP. nd}
Marcellus von. Ay ame e 815
Arianer war, weil er Einen Gott und nicht zwei ober drei Götter: lehrte, und
die Einwürfe des Eufebius gegen bie Lehre des Marcellus find nichts weiter, alg
die gewöhnlichen der Arianer gegen die Fatholifche Lehre im Allgemeinen. Nur
Eines fann dem Marcellus vorgeworfen werden, daß er fabellianifh Elingende
Ausdrücke nicht firenge genug vermied und, während er doch die Zeugung des
Logos allentHalben Iehrt, die Jdentität der Ausdrüde „Sohn Gottes” und „Lo-
908" aufgab. S. Näheres über die Lehre des Marcellus in Möhlers Athanaſius
Thl. I. Bd. IV. S. 21—36, wo Marcelfus aus feinen und feines Gegners Wor-
ten gerechtfertigt wird. Alerander Natalis hat andererfeitd den Marcellus durch
die Urtheile der Alten zu rechtfertigen gefucht, und hebt mit Recht die Worte des
Athanafius in feiner Geſchichte der Arianer hervor: „Es ift Allen befannt, daß
Marcellus zuerft die Eufebianer des Irrthums befchuldiget Hat, worauf fie eine
Gegenklage gegen ihn vorbrachten und den alten Mann verbannten“ (f. Nat. Alex.
hist. ecel. saec. IV.). Nah dem Zode Conftanting (+ 337) durfte auch Mar-
cellus gleich den andern vertriebenen katholiſchen Prälaten auf feinen biſchöflichen
Stuhl zurüdfehren, aber der Afterbifhof BafıliuS wurde zu Ancyra von dem
Arianern eingeſetzt; diefe machten ihm viel durd ihre Lügen, Verläumdungen und.
Gewaltthätigfeiten zu ſchaffen, und zulegt wurde er wieder von feinem Sige ver-
trieben, Marcellus verfügte fih nun nah Rom zu Papft Julius I. (ſ. d. 4.) und
wurde von dem Papſte, dem er ein vollfommen genügendes Glaubensbekenntniß
überreichte, von allen arianifchen Aecufationen freigefproden. Zu gleicher Zeit,
da der Papſt die Katholieität des Marcellus feierlich erklärte, wurde er und feine
Anhänger „oi arro Magxelhov” von den Arianern ercommunicirt. Aber dag
Concil zu Sardica 347 erklärte ihn, wie es vorher der Papft gethan, für un-
fhuldig. Die Frage, ob Marcellus nicht etwa nach diefer Synode in den Sa—
bellianismus ſich verftrikt habe, weil ja fein Diacon und Schüler Photinus
(j.d. 4.) wirklich die Dreiperfönligfeit Gottes geläugnet und den Logos für eine
unperfönlihe göttlihe Kraft erklärt babe, wird wohl auch mit Recht negativ
beantwortet, wiewohl hierüber felbft bei den Katholiſchen verfchiedene Meinungen
ſowohl noch bei Lebzeiten wie auch nah dem Tode des Marcellus herrſchten.
Marcellus ſchrieb noch mehrere Werfe und flarb 372 in einem hohen Alter, Vgl.
Tilfemonts Mem. £. VII. im Art, Marcel d’Ancyre. ESchrödl.]
Marcellus von Apamea, berühmter orientaliſcher Abt im fünf-
ten Jahrhundert, zu Apamea in Syrien von fehr angefehenen und reichen
Eltern in Syrien geboren, ging nach dem früßzeitigen Tode feiner Eltern nad
Antiochien, wo er fih ganz den Wiffenfhaften und der Frömmigkeit weite. Nad-
dem er al’ fein Vermögen unter die Armen vertheilt, begab er ſich nach Epheſus,
wohin ihn der Ruf vieler tugendhafter Männer zog, und wo er feinen Unterhalt
durh Bücherabfchreiben fih verdiente, Zu Conftantinopel blühte damals unter
dem Abte Alerander (f. deffen Leben bei den Bolland. 15. Jan.), dem erften
Urheber der Acometen (ſ. d. A), i. e. jener Klöfter, in welchen die Mönche, ab-
getheilt in Chöre, die ſich nacheinander ablösten, ohne Ausfegen Tag und Nacht
der Pfalmodie oblagen, ein ſolches Klofter, das ungefähr von 300 Mönchen aus
allen Zungen bewohnt war. Diefes Inſtitut entfprach ganz den Neigungen des
Marcellus; er trat in daffelbe ein und machte fo große Fortfchritte im geiftlichen
Leben, daß feine Wahl zum Abte nach Aleranders Tod alle Waprfcheinlichkeit für
fih Hatte, Um nun diefer Ehre auszuweichen, verließ Marcellus Conftantinopel
und wanderte in verfchiedenen Klöftern herum, bis Alexander geftorben (um 430)
und ein neuer Abt, Johannes mit Namen, gewählt war, Unter Johannes
wurde das Klofter von Conftantinopel weg, wo es verſchiedenen Anfechtungen
ausgefegt war, in die Umgegend von Eonftantinopel transferirt. Marcellug unter-
ftüste den Abt Johannes in feinem Amte; er wurde zum Diacon geweiht gleich-
zeitig, da Johannes bie Priefterweihe empfing. Sp auferbaulich indeß der Wandel
su = 2 DE a a u
816 Marheswan — Mareion.
des Marcellus war, fo fehlte es doch nicht an Mönchen, die ihn der Eitelkeit be—
ſchuldigten, weßhalb Johannes ihm die Sorge für die Efel übertrug, ein Geſchaft,
das Marcelfus im Angefichte der gefammten Congregation bereitwilligft übernahm,
fehriftlich fi verpflichtend, er wolle für fein ganzes Leben bei dieſem Dienfte ver-
bleiben. Sp waren feine Neiver beſchämt und baten ihn nun ſelbſt, zu feiner
vorherigen Stelle zurüczufehren, Nach dem Tode des Johannes trat Marcelfus
an deffen Platz. Unter dem neuen Abte vermehrte fih die Zahl feiner Mönche
außerordentlich und wurde zu deren Aufnahme ein neues großes Klofter erbaut,
Viele ausgezeichnete Männer gingen daraus hervor, und die Erbauer von Kirchen
und Klöftern wendeten fih an Marcellus, um fich feine Schüler zu Vorftänden
zu erbitten. Was dieß für ein Mann war, fieht man auch daraus: die Nacht
und einen guten Theil des Tages verwendete er zum Gebet, die übrigen Stunden
zu den Werfen der Nächftenliebe, die Bedrängten tröftend , die einen Schaden
erlitten hatten, zu ihrem Recht verhelfend, die Spitäler befuchend u. |, w. Im
dem zu Conftantinopel gegen Eutyches gehaltenen Concil unterzeichnete er die
Berdammung diefes Häretiferd, Er farb um 485, ©, Sur. 29, Dec, und Fleury
hist. ad a. 448. [Schrodl.)]
Marcheswan, ſ. Monat.
Marcion, ein Dann lebhaften Geiſtes, von großem Talente und reichem
Wiſſen (8. Hieronymi commentar. in Oseam c. 10. v. 1), war aus Sinope in
Pontus gebürtig ; fein Vater war im höhern Alter Bifchof geworben, Der Sohn
widmete fih dem Stand höherer Vollkommenheit, verführte aber nach einiger
Zeit eine gottgeweihte Jungfrau und wurde deßhalb vom eigenen Vater, der ein
fehr frommer eifriger Mann war, aus der Kirchengemeinfchaft ausgefchloffen.
Da ihm fein tiefgefränfter Vater auf fein Flehen die Wiederaufnahme verwei-
gerte, begab er fih im J. 142 (ſ. d. A. Hyginus) nah Nom und fuchte dort
Aufnahme in die Kirche. Es ward ihm bedeutet, daß diefes ohne Zuftimmung
feines Vaters nicht angehe. Darüber zornentbrannt wendete er fich zu dem Häre-
tifer Cerdo (ſ. d. A.), welcher eben damals in Rom eine gnoflifche Secte bildete,
um mit diefem die Kirche, welche ihn nicht mehr in ihren Schooß aufnehmen
wollte, zu zerreißen (S. Epiphanii haeres. 42. n. 1—3. vgl. Tillemont Mem.
T. H. les Marcionites Art. VI— VII. p. 275—78), wozu er fich einer Weibsperfon
coielleicht der von ihm Verführten ?) als Gehilfin bediente (S. Hieronymi ep. 133.
n. 4). Er foll dann mehrere Reifen in verfchiedene Länder gemacht haben, Doc
fheint er den Hauptfig feines Wirfens in Nom aufgefchlagen zu haben, wo in
fpäterer Zeit der HI, Polyearp, der Schüler des Jüngers der Liebe, diefen Ver—
führer und Verderber fo vieler Seelen, den „ächten Proteftanten” (nach Neander,
Kirchgefch. I. Bd, 782), den „Erfigebornen des Satans” nannte ($. Irenaeus
adv. haeres. lib. IM. c. 3. n. 4. Eusebii Hist. Eccles. lib. IV. ec. 14. S. Hieronym.
de viris illustr. c. 17), Er führte das Syſtem des Cerdo weiter aus und ver-
ſchaffte demſelben in kurzer Zeit weite Verbreitung, wie ſchon Juftin der Mar-
tyrer um das J. 150 Fagt (S. Justini M. Apolog. I. n. 26. auch in Eusebü Hist,
Eccles. lib. IV. c. 11). Bei der Darftellung feines Lehrfyftems ergibt ſich zuvor⸗
derft die Streitfrage, ob er zwei oder drei ewige Wefen angenommen babe. Der
chriſtliche Philoſoph und Martyrer Juftin, welcher gleichzeitig mit Marcion in Nom
lebte (CApolog. I. n. 26), der wenig jüngere Irenäus, Bifchof von Lyon (adv.
haeres. lib. I. c. 27. n. 2—4) und deffen Zeitgenoffe Rhodon (wörtlich angeführt
in Euseb. Histor. Eccles. lib. V. c. 13), auch Zertullian, der Hauptgegner Mar-
eions (adv. Marcion. lib. I. c. 15), als die älteſten Zeugen, geben einftimmig
und ausdrücklich an, daß Marcion nur zwei ewige Wefen gelehrt habe, Da-
gegen fagen Andere, daß er drei ewige Prineipien gelehrt und fo die Dreieinig-
feit auseinandergeriffen habe, nämlich der römifche Bifhof Dionyfius um das
3 260 (feine Worte bei S. Alhanas, de deoret, Nicaenae Synodi n. 26), der hl.
2
A ir 3 Ya FRE ba FETTE ii 1 J — — hl
Marcion. 817
Cyrillus von Jerufalem (Catech. 16. n. 4. et 7), der HI. Epiphanius Chaeres. 42.
n. 3) und Theodoretus Chaeret. fabul. lib. I. c. 24). Auguftin erwähnt zwar
diefe Tegtere Anfiht, entfcheidet fich aber für die erflere (lib. de haeres. c. 22),
Diefe drei oberften ungefchaffenen Grundwefen wären: das gute, aber unfichtbare
höchſte Wefen, der Bater Jeſu Chrifti; das gerechte, fihtbare höchſte Wefen, der
Gott der Juden, der Schöpfer, Gefeggeber und Richter; endlich das böfe mit der
dazu gehörigen Materie. Die Sache ſcheint fih aber in Wahrheit fo zu verhalten,
Mareion lehrte nur, daß neben dem oberften guten Gott („tantummodo bonus atque
optimus“ Tertull. adv. Marcion. lib. I. c. 6) noch ein anderer gerechter Gott eriftire
(HE00S dıapogovs, Whov Tov ayaHov zul vov @Ahov vov Öizaıov S. Cyrilli
Hierosolym. Catech. 6.n. 16), den er auch zum Urheber des Böfen machte („malorum
factorum, bellorum concupiscentem, et inconstantem quoque sententia et contrarium
sibi*, „ferum, bellipotentem“ S. Irenaeus adv. haeres. lib. I. c. 27. n. 2. Tertullian. adv.
Marcion. lib. I. c. 6). Hierin lag aber ein geheimer Widerfpruch, da gerecht und bös in
Einem Wefen fih gegenfeitig ausfchließen ; diefen Widerfpruch ließ Marcion nicht
auffommen, daher die Zeitgenoffen nur zwei Principien in feinem Syftem erwäh-
nen; feine Schüler entwidelten jedoch die Confequenzen der von ihm aufgeftellten
Grundfäge, daher einer aus ihnen, Syneros, drei Principien annahm (nach
Rhodon in Eusebii Histor. Eccles. lib. V. c. 13); deßhalb Fonnten die fpätern
Sthriftfteller feit dem dritten Jahrhundert dem Marcion mit einigem Necht drei
ewige Principien als die Grundlage feines Syftemes zufchreiben, Den Haupt-
gedanfen defjelben bildet der äußerft ſcharf ausgeprägte Gegenſatz zwifchen Ge—
rechtigfeit und Gnade, Gefes und Evangelium, Judenthum und Ehri-
ſtenthum, den er für einen unverföhnlichen Hielt und daher auf zwei ganz ver-
ſchiedene Urheber zurüdführen zu müffen glaubte (Tertullian. adv. Marcion. lib. IV.
c. 6), jedoch fo, daß die Gnade unendlich weit über die Gerechtigkeit erhaben
fei. Daher ließ er fich befonders angelegen fein, diefen Gegenfag nachzuweiſen,
und verfaßte zu diefem Ende ein eigenes Werf: Antitheses (Tertullian. adv. Mar-
cion. lib. I. c. 19. lib. IV. e. 1. S. Hieronym. adv. Rufin. lib. I. c. 5), worin er
den durchgängigen Widerfpruch zwifchen dem Gefeg und dem Evangelium offen
darzulegen bemüht ift (f. A. Hahn Antitheses Marcionis Gnostici, liber deperditus,
nung quoad ejus fieri pofuit restitutus. Regiomonti 1823). Diefer abfolute Gegen-
fa nöthigte ihn und feine Anhänger zur Annahme der beiden höchften Wefen,
die er fih nun aus den Schriften des Alten und Neuen Bundes conftruirte
(„Separatio legis et Evangelii proprium et principale opus est Mar-
cionis; nec poterunt negare discipuli ejus, quod in summo instrumento habent,
quo denique initiantur et indicantur in hanc haeresin. Nam hae sunt antitheses
Marcionis, id est contrariae oppositiones, quae conantur discordiam cum lege
commiltere, ut ex diversitate sentenfiarum utriusque instrumenti di-
versitatem quoque argumententur deorum“ Tertullian. adv. Marcion. lib. I.
e. 19. vgl. lib, IV. ec. 6), Das der Grundgedanfe des ganzen Syſtems, wober
die Bemerfung gelegentlich ihre Stelle finden mag, daß man Fatholifcher Seits
einen burchgreifenden Unterfhied von Gefeg und Evangelium gar nicht in Ab⸗
rebe ftellte, diefen aber nicht in dem Grad zugab, um defhalb zwei verſchiedene
Götter anzunehmen, wie Mareion that (f, Tertullian. adv. Mareion. lib. IV. c. 1.
et 24). Die beiden Götter find nah Marcion zwar ewig und ungefhaffen, aber
doch nicht gleich Hoch ſtehend; der gute, der nichts als Güte und Gnade kennt
(„deus solius bonitatis“ eine ganz neue Erfindung des Marcion nach Tertullian.
de praescript. haeret. c. 34), ift weit über den andern erhaben, welcher jedem
noch Gerechtigkeit vergilt; eine Höchft gefährliche und verderbliche Unterfcheidung,
infofern dabei die Güte und die Gerechtigkeit Gottes fo weit auseinander gehalten
werben, daß fie in Einem Wefen gar nicht vereint gedacht werden fünnen. Jedem
diefer beiden höchften Wefen gab er fodann eine eigene Welt; dem guten, aber
Kirchenlexikon. 6, Br. 52
J ee en a nn
818 Mareion.
unſichtbaren und unbekannten Gott eine höhere, aber völlig unſichtbare und im⸗
materielle, den oberfien Himmel, wo auch fein Sohn Jefus CHriftus thronte;
dem gerechten eine tiefere, fihtbare, materielle, wozu auch der untere Himmel
gehörte (S. Justin. Apolog. I. n. 26. Tertullian. adv. Marcion. lib. I. c. 15. lib. IV.
e. 7). Was mit diefem einfeitig falfchen Begriff eines bloß guten Gottes fi
nicht vereinigen ließ, ſchob Mareion Alles auf den andern, fo der Urfprung des
Böfen, Krieg und Unfrieven in der Welt, die mannigfachen Leiden u, ſ. w, (f. oben
Die Stellen aus Irenäus und Tertullian), Da nun in den Hl. Schriften des
Alten Bundes fo oft von Gott die Rede war und er die vorbereitende, erziehende
Bedeutung deffelben nicht zu begreifen vermochte, fo machte er ihn zu einem Werf
des gerechten (böſen) Gottes, Was dort von Gott erzählt wird, hat Alfes der
Böſe gethan. Er hat die ganze fichtbare Welt fammt dem Leib des Menfchen
aus der böfen Materie erfhaffen, dem er dann eine Seele von feinem eigenen
Weſen gab (Errhaoe vov Adau, x T5S oixeius oVolag dedwrng aurd mv
uynv, Theodoret. haeret. fabul. lib. I. c. 24., wo die ganze fichtbare Schöpfung
näher befhrieben wird) ; er hat den erſten Menfchen das Gebot gegeben, zu deffen
Uebertretung fie der gute Gott durch die Schlange ermahnte, welche fie darum
über den Schöpfer ſetzten (fo wenigftend war der Glaube der Marcioniten im
fünften Jahrh., daher auch bei einigen Schlangencultus nad Theodoret 1. c.,
was jedoch vielleicht erft nach den Zeiten Marcions durch die Berührung mit den
Ophiten bei den Mareioniten Eingang gefunden haben könnte); er hat fpäter das
mofaifche Gefes mit feinen firengen Strafen gegeben und die Propheten gefendet.
Endlich Hat fih der gute, bisher gänzlich unbekannte Gott der Menſchen erbarmt
und feinen Sohn Jeſus Chriftus zu ihrer Erlöfung gefendet, welcher weit erhaben
über den Weltfhöpfer („Cosmocrator“, wie Marcion diefen legtern nannte, S. Ire-
naeus adv. haeres. lib. I. c. 27. n. 2) alle Werfe deffelben zerftören, insbefondere
das Gefeß aufheben (CS. Iren. 1. c. S. Epiphan. haeres. 42. n. 4) und die bisher
an den Schöpfer Glaubenden von der Selaverei deffelben befreien follte (Theo-
doret. 1. c.), wozu er jedoch von der böfen Materie feinen Leib annahm, fondern
in bloßer Scheingeftalt (f. Dofeten) unter den Menfchen wandelte (Tertullian.
adv. Mareion. lib. V. c. 7. S. Epiphan. haeres. 42. refutat. 71. Theodoret. 1. 6.)
Daran fhließt er in feiner alle Welt umfaffenden weichherzigen Güte die Behaup—
tung, daß Chriftus in die Unterwelt Hinabgeftiegen fei, um den Seelen aller Hin-
gefchiedenen zu predigen; da habe er dann Cain und die Sodomiter und die Negyp-
tier und all’ das gottlofe Heidenvolf, das ihm gläubig zugeeilt fei, erlöfet, die
Gerechten aber des Alten Bundes, Abel, Noe, Enoch, die Patriarchen und Pro-
pheten müffen unten bleiben, weil fie ihm nicht getraut und gemeint haben, feine
Predigt fei nur fo eine Verſuchung, wie fie felbe von ihrem Weltfchöpfer her ge—
wohnt waren; übrigens erftredfe fich die ganze Erlöfung bloß auf die Seele, nit
auf ven Leib (S. Irenaeus adv. haeres. lib. I. c. 27. n. 3. S. Epiphan. haeres. 42.
n. 3. 4. Theodoret. 1. c.). Seine Feindfchaft gegen das moſaiſche Gefeg, wo bie
Ehe in hohem Werth gehalten war, trieb ihn zu dem verwerflichen Extrem, daß
er den Colibat ald allgemeine Pflicht und die Ehe für unerlaubt erklärte (S. Epi-
phan. haer. 42. n. 3. Tertullian. de praescript. c. 33. adv. Mareion, lib. V. c. 7.
lib. I. c. 29. lib. IV. c. 11); aus der nämlichen Urfache machte er den Samftag
für die Seinigen zum Fafttag, weil an diefem Tag der Schöpfer geruht und das
alte Gefeg ihn zum Feiertag erhoben habe (S. Epiphan. haer. 42. n. 3), In
firenger Kolgerichtigfeit des Syſtems verwarf er alle Bücher des Alten Bundes
als ein Werk des Weltfhöpfers, als den Ausdrudf feines Gefeges (Tertullian. de
praescript. haeret. c. 38. $. Epiphan. haeres, 42. n. 4). Im Neuen Bund übte
er eine unbarmherzige Kritik, indem er der erfle (nach Irenaeus adv. Haeres. lib. I.
0. 27. n. 4), freventlih Hand anlegend an die hl. Schrift drei Evangelien (bes
Matthäus, Marcus und Johannes) ganz verwarf, das des Lucas aber arg ver-
ee — —
Mareion. 819
ſtümmelte, und Alles davon ausſchied, was ſeinem Syſtem widerſprach, ſo zum
Beiſpiel alle Stellen, welche für das moſaiſche Geſetz günſtig lauteten, und die
Genealogie, welche auf die wirkliche Menfchheit Chriſti einen Schluß begründete,
endlich andere Stellen geradezu verfälfchte (S. Cyrill. Hierosolym. Catech. 16.n.7.
S. Irenaeus adv. haeres. lib. I. c. 27. n. 2. Tertullian. adv. Marcion. lib. IV. c. 1,
et:2. S. Epiphan. haeres. 42. n. 9. 10. 11. et ibid. n. 78. Theodoret l.c. Daher
fing fein Lufas-Evangelium mit Weglaffung der erfien zwei Eapitel, der ganzen
Gefhichte von Zacharias und Elifabeth, der Verkündung und der Geburt des
Herrn, fowie feiner Jugendzeit, Taufe und Verſuchung einfach an: Anno 15.
imperii Tiberii Caesaris descendit in eivitatem Galilaeae Capharnaum Luc. 3, 1.
4, 31. (Tertullian. adv. Marcion. lib. IV. c. 7. S. Epiphan. haeres. 42. n. 11). Das
zweite Buch des Neuen Bundes, welches er noh annahm, waren zehn Briefe
des HI. Paulus, aber theilweife verftümmelt und verfälſcht; dieſe Sammlung Pau-
liniſcher Briefe nannte er zO A4mosolızov (S. Irenaeus ady. haeres. lib. I. c. 27.
n. 2. Tertullian. adv. Marcion. lib. V. ce. 1. et 21. S. Epiphan. haeres. 42. n. 9. 10.
item p. 317. et 321. ed. Colon. Adamant. de recta in Deum fide in Origenis Opp.
1. 823— 24). Die beibehaltenen Briefe ftellt er in folgende Ordnung: Galater,
1. u. 2., Corinther, Römer, 1. u. 2., Theifalonicenfer, Ephefer, Eoloffer, an
Philemon und an die Phifippenfer; auch von dem apoeryphen Brief an die Laodi-
eenfer nahm er einige Stücke an (Epiphan. I. c.n. 9), wenn er nicht etwa den
an die Ephefier bisweilen unter diefem Titel anführte (Tertullian. adv. Marcion,
lib. V. e. 17. et 11. vgl. Epiphan. haeres. 42. p. 374. 375. edit. Colon.), Aus=
drücklich bezeugt Tertullian, daß Marcion die Apoftelgefhichte und die Apocalypfe
verworfen habe (adv. Marcion. lib. IV. c. 5. lib. V. c. 2. und Marcus der Mar-
eionit bezeugt: Jusıs rrsov Tov Evayyehıov za Tov arrosohov ou deyousFa
Opp. Orig. I. 828). Tertullian (adv. Marcion lib. IV. et V.) und Epiphanius
(haeres. 42. p. 311 — 74. edit. Colon. 1682) haben uns fehr viele Stellen aus
feinem Lucas- Evangelium und aus feinen 10 Pauliniihen Briefen aufbewahrt,
woraus man zur Genüge erfieht, mit welcher fohranfenlofen Willfür er das Evan-
Helium und die Briefe Pauli behandelt Habe, Auch das ift fehr intereffant ber
Tertullian zu fehen, wie die Fatholifchen Gelehrten im zweiten Jahrh. die An—
griffe rationaliftifcher Hyperfritif gegen die Authentie und Aechtheit der vier Evan-
gelien und der übrigen canonifchen Bücher des Neuen Bundes abwiefen (Tertullian.
adv. Marcion. lib, IV. c. 2—6), und wie fie das Verhältniß des Alten zum Neuen
Bunde auffaßten (Tertullian. adv. Marcion.lib. IV. et V.). Wenn wir nun no hinzu⸗
fügen, daß er die fireng buchſtäbliche Schriftauslegung fefthielt Cbehauptend, u) derv
ahheyogeivenv yoapnv nach Origen. Comment. in Matthaeum tom. 15.n. 3. Opp. ed,
Ruaei T. Ill. p. 655), fo wird Marecions, des „ächten Proteftanten“ Verhältnig zur
hl. Schrift nach den Angaben der Alten ziemlich vollftändig dargelegt fein, es müßte
denn Jemand noch vermiffen, daß feine Anhänger als eifrige NReformatoren
immerfort an ihrem Evangelium änderten („nam et quofidie reformant illud“,
i..e. Evangelium, bezeugt von ihnen XTertullian adv. Marcion. lib. IV. c. 5), —
Außerdem find einige Befonderheiten diefer Secte hinſichtlich der Disciplin zu
erwähnen. Die Taufe foll er zweimal zu wiederholen geftattet Haben, um nad
fhwerem Sündenfall die Taufunfhuld wieder zu erlangen ; fein eigener Fall foll
ihn auf diefen Gedanfen gebracht haben (S. Epiphan. haeres. 42. n. 3. vgl, S. Cy-
rilli Hierosolym. Procatech. n. 7); dann foll er auch Weibern zu taufen erlaubt
Haben (S. Epiphan. l. c.n. 4). Ganz feltfam aber ift die practifche Auslegung
der dunfeln Paulinifhen Stelle von der Taufe für die Todten (1 Corinth, 15,
29), die man im vierten Jahrh. bei einem Theil diefer Secte fand. Starb ein
Ratehumen vor Empfang der Taufe, fo mußte fih ein Lebender unter das Bett
verfterfen ; dann wurde an den Verftorbenen die Frage gerichtet, ob er getauft
zu werben begehre. Auf die Antwort: „Sch will“, die für den flummen Todten
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9 3 *
820 Mareion,
der verſteckte Lebende geben mußte, wurbe diefer getauft und eine ſolche fteffser-
tretende Taufe follte nun dem Verftorbenen zu Gute fommen (S. Chrysostomi in
1 Corinth. Homil. 40. n. 1), Da indeffen weder Tertullian, der diefe Paulinifche
Stelle ausdrücklich befpricht Cadv. Marcion. lib. V. c, 10), noch Epiphanius, der
son der Taufe der Marcioniten mehreres Tadelnswerthe erwähnt, noch Theodoret,
der diefelben recht gut Fannte, hievon eine Erwähnung macht, fo hat wohl nicht
Mareion felbft, fondern nur eine Fraction feiner Anhänger diefen Gebrauch ein-
geführt. Die uralt firhliche Sitte, daß die Myſterien Cinsbefondere das Hl. Opfer)
nur in Gegenwart der Öetauften verrichtet wurden, bat Marcion, geftügt auf
feine buchftäblihe Auslegung einer mißverftandenen Bibelftelle (Paulus an die
Galater 6, 6. nad} S. Hieronym. Gommentar. in h. 1), aufgegeben, was ihm noch
im vierten Jahrh. als ein freventliches Erfühnen, als eine Profanation des Hei-
ligen angerechnet wurde (S. Epiphan. haeres. 42. n. 3. 4). Marcion hat, wie
fhon oben aus dem gleichzeitigen Juftin bemerkt worden, gleich Anfangs viele
Anhänger gefunden; im vierten Jahrh. war feine Secte (Marcioniten oder Mar-
eioniften genannt) fehr zahlreich nicht bloß in Nom und Italien, fondern auch in
Aegypten und Paläftina, in Arabien und Syrien, auf der Inſel Cypern und in der
Thebais, ja fogar in Perfien (S. Epiphan. haeres. 42. n. 1). Daß fie fchon früßer
in Africa ftarf verbreitet war, fieht man aus Tertullian. Aber jene Zerfplitte-
rung, welche das gemeinfame Loos aller von der durch Chriftus gegründeten Einen
wahren katholiſchen Kirche abfallenden Secten ift, traf auch Mareion's Anhang
in hohem Grade, wie ſchon Rhodon um das J. 200 bezeugt (f, die Stelle bei
Euseb. Histor. Eccles. lib. V. c. 13) und fpäter im vierten Jahrh. Epiphanius
Chaer, 42. n. 13), im fünften Theodoretus beftätigt (Theordoret. haeret. fabul.
lib. I. c. 24. et 25); als Urheber folder Spaltungen in diefer Secte werden ge—
nannt Apelles (f. d. A.), Lucinianus (ſ. d. A.) oder Lucanus, Blaftus, Syneros,
Potitus und Baſilieus, Prepon und Pithon. Die Secte der Marcioniten wurde
fchon im zweiten Jahrh. von Juftin dem Martyrer, Rhodon, Theophilus von
Antiochia, Philippus von Gortyna, Modeftus (Euseb. Hist. Eccles. lib. IV. c. 24.
25) und Tertullian in eigenen Werfen befämpft, wovon nur das große Wert
Tertullian’s (Tertulliani adv. Marcionem libri V.) ſich bis auf unfere Zeit erhalten
hat; fpäter Hat ein fonft nicht näher befannter Adamantius die Irrtümer der
Marcioniten in einem uns noch erhaltenen Werfe nachdrücklich befämpft (Ada-
mantii Dialogus de recta in Deum fide contra Marcionitas in Origenis Opp. ed,
Ruaei T. I. p. 803— 872); auferdem haben die meiften Kirchenväter und ange—
fehenen Kirchenfchriftftelfer einzelne Behauptungen der Marcioniten an verfchiede-
nen Stellen ihrer Werfe befämpft, fo ſchon der Hl. Jrenäus, Clemens von Ale-
xandria, Drigenes, Hippolytus, Cyrilfus von Jerufalem, Epiphaniug Chaeres. 42),
Chryſoſtomus, Hieronymus, Prudentius u. A. Auch die häretifchen Clementinen
foheinen gegen Marcions Syſtem gerichtet (f. d. A. Clemens II. Bd, ©, 588).
Schon Kaiſer Conftantin der Große erließ gegen fie Strafgefege und verbot ihnen
jeden, fowohl öffentlichen, als Privat-Gottesdienft (Euseb. de Vita Constantini
lib. III. o. 64. et 65), defgleichen die fpätern Kaiſer. Dennoch fand Theodoret,
der Bifhof von Eyrus in Syrien, noch im fünften Jahrh. fo viele Anhänger
diefer Secte in feiner Didcefe, daß er freilich nicht ohne große Mühe und Gefahr
ihrer mehr als zehntaufend befehrte und taufte (Theodoreli epist. 145). Do
ſcheint die Secte um diefe Zeit mehrere Tehrfäge der Manichäer (ſ. d. U.) aufge»
nommen zu haben, wie aus der Schilderung, die Theodoret Chaeret. fabul. lib. I.
c. 24) von ihrem Syftem gibt, ziemlich deutlich hervorgeht; die nicht zur latho—
liſchen Kirche zurückfehrten, find wohl bald darnach in den Manichäismus auf«
gegangen. Vgl. über Marcion und feine Secte Tillemont, M&m. T. II, L’heresie
des Marcionites (p. 266 — 85), G. Neander, Kirchengeſch. I. Band 2. Abthl.
©, 779 — 812 (der ihm aus parteiifcher Vorliebe fo ibealifirt, daß man ben
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——— —— 93 F a >
Marco Polo — Marcus Aurelius, 821
geſchichtlichen Marcion oft nur mit Mühe erkennt), Matter, Geſchichte des Gno—
ſticismus, überfegt von Dörner. Heilbronn 1833. S. 205—59, [feßler.]
Marco Polo, ſ. Johannes de Monte Corvino.
Marculpb, ſ. Formelbächer.
Marcomannen, werden Chriſten. Dieſer große germaniſche Volks—
ſtamm wohnte noch vor Chriſti Geburt zwiſchen dem Rhein und Maine bis herein
in den nördlichen Theil des heutigen würtembergiſchen Neckarkreiſes. In Folge
des unglücklichen Kampfes unter Arioviſt gegen Druſus wurde ihre Macht ge—
brochen und die Gefahr, in gänzliche Abhängigkeit von den Römern zu kommen,
lag nahe. Als deßhalb Marbod, dieſer gebildete und kräftige Germane, mehr
ſeinem Volke als ſeinem Verſtande nach zu den Barbaren gehörend, nach ſeiner
Entlaſſung aus römiſcher Gefangenſchaft und römiſcher Schule den Plan propo—
nirte, die Sitze am Rheine, Maine und Neckar zu verlaſſen und ein neues Reich
zu gründen, das von den römifchen Grenzen entfernt ihnen die Freiheit, ihm aber
die Herrfchaft verſpräche; da gingen die Marcomannen gerne auf diefen Vorſchlag
ein, braden um bie Zeit der Geburt Chrifti auf, und Marbod führte fie in's
heutige Böhmen, damals von den Bojen bewohnt und erfämpfte fich dieſes von
hohen Gebirgen umfchloffene Biere, dem aber von feinen alten Bewohnern der
- Rame Bohemien blieb. Hier verbielten fie ſich längere Zeit ruhig, dann aber
verfuchten fie zu wiederholten Malen das Kriegsglüdf gegen die Römer, wobei
fie aber öfters, wie unter Nerva, Trajan, Marcus Aurelius (ſ. d. A.) ſchwere
Niederlagen erlitten, bis fie im fünften Jahrhundert aus der Gefhichte verfhwin-
den, theils in Folge der Hunnenzüge (f.d. W., teils in Folge ihrer Vermifhung
mit "andern Stämmen, namentlich den Gothen 1.» A). Wann die Marco⸗
mannen mit dem Chriftentfume befannt wurden, ift nicht genau befannt. Wahr-
ſcheinlich erhielten fie fchon frühe durch die Römer, mit denen fie in häufige Be—
rührung famen, durch Kriegsgefangene zc. einige Kunde davon. Nah Paulinus
(in vita Ambros. c. 36), wovon freilich gleichzeitige Schriftfteller nichts melden,
wäre die Chriftianifirung der Marcomannen alfo vor fi) gegangen. Ihre Köni-
gin Fritigil oder Fridigil (f. Bayern Bd. L ©. 700. und Böhmen Bd. I.
©. 62) fei dur einen Chriften, der aus Stalien zu ihr gefommen, für die hrift-
liche Religion fehr günftig geftimmt worden, habe deßhalb Gefchenfe an die Kirche
zu Mailand geſchickt mit der Bitte, der berühmte Bischof Ambrofius möchte ihr
ſchriftlichen Unterricht in der Hriftlichen Religion zu Theil werden laffen, Am-
brofius babe ihr fofort eine Art Katechismus zugeſchickt, und bald wäre dann
nicht bloß fie, fondern auch ihr Gemapl und die Unterthanen, alfo gegen Ende
des vierten Jahrh., in die chriftlihe Kirche eingetreten. Vgl. Schröckh, chriſtl.
Kirhengefh. 7. Thl. Hefele, Gefhichte der Einführung des Chriftenthums im
füdweftlihen Teutſchland. Tacitus annal, Dio Cassius hist. Rom. L. 54. [Frig.]
Marcus, Evangelift, ſ. Evangelien.
. Marcus Aurelius, römifher Kaifer. Er war ein Sprößling einer
aus Spanien nad der Hauptfladt des römischen Neiches eingewanderten Familie
und wurde zu Nom geboren den 26. Mai 121 n. Chr, Anfänglich hieß er Anniug
Berus nah dem Namen feines Grofvaters, welcher ihn nach dem frühen Tode
des Baters in fein Haus aufnahm und adoptirte, Der Großvater, auf's Eifrigfte
für den Enfel beforgt, übergab ihn zu Unterricht und Erziehung den angefehenften
Gelehrten jener Zeit. Unter ihrer Leitung machte daher der Knabe ſchon frühe
ungemeine Fortfhritte in dem Studium der griechifchen und Lateinifchen Literatur,
der Mufit, Geometrie, Rechtskunde, griechiſcher und römiſcher Beredtſamkeit.
Nachdem fo der Örund zu einer foliden Bildung gelegt war, Fam die Reihe an
das Studium der Philoſophie. Daf der Jüngling in diefem Zweige des Wiſſens
zu dem Syſteme der Stoifer ſchwur, hatte feinen Grund einestheils darin, daß
diefelben um jene Zeit allein unter allen philoſophiſchen Schulen yon einiger Be—
822 Marcus Aurelins,
deutung waren, während andererfeitd der Geift ver Stoa mit dem ernflen und
gemeffenen Wefen des jungen Mannes fo innig harmonirte, Durch alle das z0g
er frühe die Aufmerffamfeit Hadrians fo fehr auf fih, daß jener Kaifer im Ge-
fühle der mehr und mehr hinfchwindenden Kräfte feines Lebens nach der einen
Meberlieferung den Antoninus Pius unter der Bedingung adoptirte, daß diefer
den Marcus Aurelius, diefer den L. Verus adoptirte, während eine andere Nach-
richt die beiden Leptgenannten dur Antoninus Pius an Kindesftatt annehmen
läßt. Nach feiner im 18, Lebensjahre erfolgten Adoption nahm Marens den
Namen Aurelius Antonius an, und erhielt fogleich die Duäftur, Als Antoninus
Pins nach Hadrians Tod den römifchen Kaiferthron beftiegen, Töfete er das von
feinem Adoptivfohn früher gefchloffene Eheverfprechen wieder auf, gab ihm die
eigene Tochter, die des Marcus in aller Beziehung unmwürdige Fauflina zur -
Gattin, und verlieh dem Marcus Aurelius nebft der Beförderung zum Confulate
den Titel eines Cäſars. Zweiundgwanzig Jahre lebte nun derfelbe in dem Haufe
des Kaifers, welcher ihn ungemein hochſchätzte und auch zu Negierungsangelegen-
heiten beizog. Und Marcus Aurelius war folher Auszeichnungen in vollem Maße
werth. Er gab feinem Adoptiovater fo augenfällige Beweife von Thätigfeit, Liebe
und Treue, daß das Band ihrer Herzen ein immer engeres, die erfreulichfte Ein-
tracht derſelben bis zum Tode von Antoninus Pins auch nicht einen Augenblick
getrübt wurde, Nach dem Tode des Antoninus Pius beftieg Marcus Aurelius
den Thron der Cäfaren und nahm fogleich theils wegen der Schwärhe feiner Ge—
fundheit theils aus Vorliebe für wiffenfhaftlihe Studien den Lucius Verus zum 2
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Mitregenten an, Indeß follte Marcus Aurelius alsbald die ganze Schwere der
Pflichten fühlen, welche ihm die Faiferliche Würde auferlegte. Gegen das Ende
des erften Jahres feiner Regierung wurde das römische Neih von allerlei Land-
plagen heimgefuht. Eine fürcterliche Ueberfhwemmung der Tiber befhädigte
zu Nom eine Menge von Gebäuden, führte den Verluft vieler Hausthiere und
eine ſchreckliche Hungersnoth herbei. Auf die Ueberſchwemmung folgten aufer
einem heftigen Erdbeben Feuersbrünfte in vielen Städten und Verheerungen durch
Inſectenfraß. Endlich brachen auch noch von allen Seiten her Kriege aus. Die
Parther machten einen Einfall in Armenien, drangen von da nah Syrien vor
und fchlugen den dort commandirenden römischen Statthalter in die Flucht. Ein
Krieg drohte ferner von den Dritten und die Chatten (ſ. d. A.) fuchten das längs
dem Rheine fich hinſtreckende römische Germanien mit Feuer und Schwert zu ver-
beeren, Der Kaifer traf fofort die nothwendigen Veranftaltungen, allen diefen
Feinden mit Nachdrud zu begegnen, In den Drient fendete er gegen die Parther
feinen DMitregenten L. Verus. Diefer indeß, das reine Widerfpiel von Marcus
Aurelius und nun zum erfien Male dem wachfamen Auge deffelben entrückt,
wälzte fih namentlich zu Antiochia im Schlamme der niedrigften Ausfchweifungen,
während feine Unterfeloherren den parthifchen Krieg führten und fiegreich been-
digten, Jetzt kehrte Verus nach Nom zurüc und feierte einen glänzenden Triumph,
War aber nunmehr der Orient nach fo gefährlichen Kriegsftürmen wieder zur Ruhe
gefommen, fo wurde die Freude darüber alsbald dur den fatalen Umſtand ge»
ftört, daß die aus dem Parthifchen Kriege heimfehrenden Legionen Noms die orien-
talifhe Peft mitbrachten, die fich nun über das ganze Abendland verbreitete und
ungeheure Verwüftungen anrichtete, Und diefe furchtbare Plage blieb nicht einmal
die einzige Plage des Neiches, denn im J. 169 entbrannte auch noch der Krieg
mit den Marcomannen (ſ. d. A.). Diefe brahen im Verein mit vielen andern
teutfchen und flavifchen Stämmen in Rhätien ein und rücten bis Aquileja vor,
Der gegen fie geführte Krieg, von deffen Einzelheiten wir feine nähere Runde
befigen, befchäftigte den Kaiſer faft fein ganzes Leben hindurch. In Geſellſchaft
des Mitregenten eilte Marcus Aurelius felbft auf den Schauplag deffelben, brachte
drei Jahre zu Carnuntum in Pannonien zu, brachte den Barbaren vielfache Nie-
re este
|
*
——
* Marens Aurelius, 823
derlagen bei und traf alle Anftalten, bie Grenzprovinzen und Italien wider bie
Barbaren fiher zu ſtellen. Nach dem Tode des Berus 170 oder 171 kehrte der
Kaifer nah Nom zurüf und feierte einen Triumph. Doc der entweder durch
Frieden oder durch Waffenftiliftand unterbrochene Krieg entbrannte vor Fahresfrift
zum zweiten Male. Da der erfte Krieg die Schagfammer erfchöpft und im Ver—
eine mit der Peft die Reihen der Heere gelichtet Hatte, fo veranftaltete Marcus
Aurelius in diefer äußerſten Noth, um die Provinzen zu fhonen, eine zweimonat-
liche Verfteigerung des koſtbaren Faiferlihen Hausgeräthes und ergänzte durch
Sclaven, Gladiatoren, dalmatinifche und dardaniſche Räuber und germanifche
Hilfstrupven feine Armeen, Diefe außerordentlichen Anftrengungen krönte auch
diegmal wieder das Kriegsglüf, fo daß Marcus Aurelius Marcomannien viel-
leicht zu einer römifchen Provinz gemacht hätte, wenn fein Siegeslauf nicht durch
den Aufftand des Avidius Caſſius unterbrochen worden wäre. Auf die Nachricht
über die genannte Empörung eilte Marcus Aurelius perfönlich in den Orient,
wo inzwifchen der aufrührerifhe Statthalter durch Meuhelmord gefallen war,
Marcus Aurelius blieb nichtsveftoweniger drei Jahre im Morgenlande, deſſen
Angelegenheiten er theils fchlichtete, theils befeftigte und den Provinzen ſich gnädig
bewies. Inzwiſchen hatten die Marcomannen und ihre Verbündeten abermals
losgefchlagen, Genöthigt zum dritten Male wider fie auszuziehen, focht Marcus
Aurelius mit dem alten Glücke. Doc ehe er den Krieg zu beendigen vermochte,
erreichte er im J. 180 m. Ehr. zu Syrmium oder nach einer andern Nachricht
zu Bindobona das Ziel feiner Tage nach einer Regierung von neunzehn Jahren,
Das Reich betrauerte tief und fohmerzlich den Hingang des Kaiſers, deffen Bild
uns in der That wie eine Erfcheinung aus den beften Zeiten des römifchen Volkes
anmuthet, Im glänzendften Lichte hatte Marcus Aurelius feine Liebe für Wahr-
heit und Gerechtigkeit, feine Würde und Milde, feine Strenge gegen fich felbft,
feine treue Sorge für Juftiz und Verwaltung, fein faft republicanifches Beneh—
men gegenüber dem Senate, endlich feine militärifche Tüchtigfeit Teuchten laſſen.
Der allgemeinen Verehrung dieſes Kaifers ift es daher auch nach einer feinen
Demerfung Niebuhrs ohne Zweifel zuzufchreiben, daß wir von ihm noch unzäh-
lige Büften befigen, in welchen er in den verfchiedenen Perioden feines Lebens
als Knabe von zehn Jahren bis zu feinem Tode dargeftellt iſt. So fehr wünſchte
jeder Römer jener Zeit fein Portrait zu befigen, Bewundernswerth ift auch
dieß, daß der Kaiſer unter den taufendfältigen Mühen und Sorgen feiner Negie-
rung noch Zeit zu fohriftftellerifcher Thätigfeit finden konnte. Wir beſitzen von
ihm noch 12 Bücher Denfwürdigfeiten an fich ſelbſt (ra eis Eavrov) d. h. eine
Reihe moralifher Betrachtungen, aus denen eine fo edle Gefinnung, ein fo ächt
humaner Geift fpriht, daß Niemand jenes Buch Iefen kann, ohne von Liebe und
Bewunderung gegen feinen Faiferlichen Verfaffer erfüllt zu werden. Wollen wir
indeß der hiftorifhen Gewiffenhaftigfeit nichts vergeben, fo dürfen wir nicht un=
erwähnt Iaffen, daB auch Marc Aurels Perfönlichkeit Feineswegs als eine ganz
reine und fledenlofe zu betrachten iſt. Nicht mit Unrecht bat man ibm Schwäche
und Nachgiebigfeit gegen feine unwürdige Gemahlin Fauſtina vorgeworfen, Das
gleiche Urtheil gilt der Thatſache, daß er feinen Sohn Commodus zum Nachfolger
auf dem Ffaiferlihen Throne beftimmte, Unmöglich konnten ja feine ſchlimmen
Eigenfhaften der Aufmerkfamfeit des Vaters entgehen, und es wäre von Seite
des Letzteren eben fo Teicht als pflichtmäßig gewefen, dem römischen Reiche einen
tüchtigen und hoffnungsreichern Herrfher zu geben. Was uns aber noch befremd⸗
licher erfheinen muß , befteht darin, daß auch diefer fonft fo gerechte und milde
Kaifer zum Berfolger der Ehriften geworden iſt. Unterfuchen wir daher,
welhe Momente retten um denfelben zu diefen blutigen Mafregeln
zu veranlaffen, Wir haben oben der verfihiedenen Landplagen erwähnt, welche
bald nah dem Regierungsantritt Mare Aurels über die römiſche Welt mit fo
821 Marcus Aurelius, -
zerftörender Gewalt hereinbrachen. In diefen Landplagen erblickte das römifche
Volk Strafen der Götter hauptſächlich deßwegen verhängt, weil von fo vielen
Angehörigen der Cult der Nationalgötter aufgegeben und eine neue Religion an-
genommen worden fei. Mußte fchon dadurch wie unter Antoninus Pius der Haß
des heidnifchen Volkes gegen die Chriften von Neuem mächtig fi entzünden , fo
werben auch die Priefter, deren Tempel zu veröden drohten, ohne Zweifel diefe
Stimmung der Gemüther benügt haben, um Del in das auflodernde Feuer der
Volkswuth zu ſchütten. Mit nicht weniger neidifhen Augen und baßerfüllten
Herzen wurden die Ehriften auch von der Zunft der Philofophen angefehen, Das
Leben der chriſtlichen Gemeinden war ſchon an und für fich allein der augenfälligfte
Tadel des ausfchweifenden Lebens derjenigen, welche vorgaben, die Borfhriften
der ſtrengſten Moral zu befolgen, während fie zum größern Theil in ihrem Thun
und Laffen das ©egentheil bewiefen. Auch darf man nicht vergeffen, daß die
Borfämpfer des Chriſtenthums den heidniſchen Philofophen oft hart zur Leibe
gingen, Sie begnügten fih oft nicht, in ihren Vertheidigungsfihriften die dem
Chriften gemachten Borwürfe in ihrer Nichtigkeit aufzuzeigen, fondern fie deeften
auch, die Dffenfive ergreifend, das ſchale und eitle Wefen ihrer philoſophiſchen
Gegner mit fhonungslofer Wahrheit auf (ſ. JZuftin, und Athenagoras). Man
müßte fih daher wundern, wenn biefe Leute nicht alle Hebel angefegt hätten,
um bie Chriften zu verderben, Inder That fteht von Dem Eynifer Erescenz (f.d. X.)
fiber, daß er öffentlich alle Chriften durch falfche Anflagen der Verachtung, dem
Haß und der Verfolgung preiszugeben bemüht war, Wodurch fanden aber die
Gegner des Chriſtenthums Eingang in das Herz eines fonft fo gerechten und feldft
bei perfönlichen Beleidigungen milden und verföhnlichen Herrfhers ? Man wußte
dem Kaifer offenbar von zwei Seiten beizufommen. Marc Aurel war ein Mann,
deffen bis zur Superftition heidnifh=religiöfer Sinn dem Culte der Götter von
Jugend an eifrig und aufrichtig ergeben war und namentlich beim Beginne wich-
tiger Kriegsunternehmungen nie-unterließ, durch die reihlichften Opfer fih ihrer
Gnade zu verfehen, Wie leicht war e8 möglich, daß die Stimmen des Volkes,
die Einflüfterungen der Philofophen eben deßwegen in feiner Seele Anklang und
Wiederhall fanden, daß er glaubte, die Götter würden ihm Ruhm und Sieg
über die Feinde des Neiches nur dann gewähren, wenn er ald Vertheidiger der
hergebrachten Staatsreligion gegen die Chriften einfohreite? Betrachten wir aber
Mare Aurel als Philoſophen, jo konnte er in der falten und nüchternen Denf-
weife der Stoa das Wefen der Chriften eben fo wenig begreifen; er mußte fie
sielmehr für blinde, gefegwidrige und gefährliche Schwärmer halten, wie er dieß
in feinen Denfwürdigfeiten felbft ausgefprochen hat. Endlich Fonnte es dem Kaifer
auch unmöglich verborgen bleiben, welche großen Fortfchritte das Chriftenthum
in den legten Zeiten gemacht hatte, um dem Heidenthume und damit der ganzen
römischen Staatsform gefährlich zu werden. Nimmt man alle diefe Momente zu—
fanmen, fo wird es vollfommen begreiflich, wie auch Marc Aurel zu dem Ent-
Schluß gebracht werden Fonnte, der. weitern Verbreitung des Chriftenthums mit
allem Nachdruck entgegenzutreten, Es erhebt fih nun zunächft die Frage, ob der
Kaifer direste Berfolgungsbefehle wider die Chriften habe ausgeben laſſen oder
nicht? Nach Tertullian wäre diefe Frage zu verneinen, nach Melito von Sardes
muß fie bejaht werden; offenbar müffen wir dem letztern als dem altern mit Mare
Aurel gleichzeitigen Gewaͤhrsmanne folgen. Der Schauplag der erſten Chriften-
verfolgung unter Marc Aurel, von der wir ausführlicher unterrichtet find, traf
bie Gemeinde von Smyrna, 167 n. Chr, Der römifhe Proconful gab dort der
Wuth des jüdischen und heidnifchen Pöbels nach, ließ die Chriften aufſuchen und
bemühte ſich, fie durch die fchredlichften Drohungen und durch Anwendung ber
gräßlichften Martern zum Abfalle zu bewegen. Umfonft! Er vermochte ihre
Standhaftigfeit nicht zu erſchüttern. In dieſer Verfolgung errang unter, andern
a F
2 Mareus, Papſt. 825
auch der greife Polycarp (ſ. d. A.), Biſchof von Smyrna und letzter Jünger des
Hl. Johannes, die Palme des Martyriums. Von der Polizei aufgeſucht und er-
griffen, befannte er vor dem römischen Proconful frei und offen feinen Glauben
und weigerte fih aufs Beftimmtefte, feinem Herrn und Heiland zu fluchen,
Darauf wurde er zum Scheiterhaufen verurtheilt und hauchte unter dem Lob und
Preife Gottes feine Seele aus. Und wie die Standhaftigfeit feines Glaubens
den Ölaubenseifer feiner Gemeinde ftärfte, fo gereichte ihr fein Tod auch zu leib—
licher Erquickung. Denn nachdem die Volkswuth mit diefem Dpfer der Chriften-
gemeinde zu Smyrna das Haupt entriffen hatte, fühlte ſie ſich allmählig ab, der
zömifhe Proconful ftellte die Nachfuhungen nach den Chriften ein. Daß unter
einem, ſolchen Marimen huldigenden Kaifer die CHriften zu Rom nicht unangefodh-
ten bleiben fonnten, wäre wohl an und für fih Far, auch wenn wir von hiſto—
rifhen Zeugniffen darüber verlaffen wären. Aber eben um der Graufamfeiten,
durch welche fo viel Chriſtenblut floß, Einhalt zu thun, ſchrieb Juſtin der Mar-
tyrer und Philofoph feine zweite Apologie, in Folge deren er felbft den blutigen
Tod der Bekenner Chriſti ftarb (ſ. Juſt in). Einige Jahre nachher (174) ge—
rieth Mare Aurel im Marcomannenfriege in die äußerſte Bedrängniß; fein Heer
wurde von der glühenden Sonne und brennenden Durfte gequält, während ein
Meberfall der Feinde drohte. In diefer Noth nun fol nach Euſebius V. 5 eine
römische ganz aus Chriften beftehende Legion auf die Kniee gefallen fein und fi
am Hilfe und Rettung an ihren Gott gewendet haben. Als ihr Gebet Erbörung
gefunden, habe Mare Aurel diefer Legion den Namen fulminatrix gegeben und
eine den Chriften fo günflige Öefinnung angenommen, daß er die Chriftenver-
folgungen einzuftellen befahl (f. d. Art, Legio fulminatrix), Allein diefer
Erzählung fann in der die nunmehrige Duldung der Chriften betreffenden Haupt-
| ſache feine Hiftorifche Wahrheit beigemeffen werden. Denn drei Jahre fpäter brach
ja noch unter feiner Regierung die biutige Verfolgung der Chriften in Gallien,
| insbefondere zu Lyon und Vienne aus. Die Wuth des heidniſchen Volkes war
diefelbe wie zu Smyrna und die Obrigfeiten fcheinen Chorus mit derfelben ge—
macht zu haben. Diefe Berfolgung war darum eine äußerſt harte und blutige,
Indeß wie Polycarp zu Smyrna, fo leuchtete Pothinus, der neunzigjährige
Biſchof von Lyon (ſ. d. A. Lyon), feiner Gemeinde durch unbefiegbare Stand-
baftigfeit vor. Nach groben Mißhandlungen farb er mit vielen Andern im Kerfer,
Andere wurden enthauptet oder den wilden Thieren vorgeworfen, die Leichname
verflünmelt, verbrannt und in die Rhone geworfen. Endlich mit dem Austoben
der Volkswuth erreichte die Chriftenverfolgung auch hier allmählig ihr Ende.
Sonft fennen wir Feine römifchen Provinzen, in denen unter Marc Aurel Chriften-
verfolgungen vorgefallen wären, ſei es daß darüber feine Nachrichten aufdie Nachwelt
gefommen find, oder daß fih die Ehriftenverfolgungen nur auf die genannten Pro—
vinzen erftrecft haben, Vgl, hiezu d. Art, Chriftenverfolgungen. [Allgayer.]
Marcus, Papft. Er war ein Römer, und beftieg nah Sylvefter I. den
päpftlihen Stuhl den 14. Februar 336, den er aber nur 3 Monate, nicht, wie
Platina, Anaftafins u, A. melden, 2 Jahre, 3 Monate und 20 Tage inne hatte,
Ein Brief, den er an Athanafius und die ägyptiſchen Bifchöfe gefhrieben haben
ſoll, iſt offenbar unächt. Er foll nämlich eine Antwort auf ein Schreiben eben
diefer fein, worin fie fih über die erlittenen Mißhandlungen von Seite der Arianer,
namentlich darüber beffagten, daß ihre nicänifhen Canones und alle übrigen
» Bücher von denfelben verbrannt worden feien, und deßhalb von der römischen
Kirche fih ein Exemplar fraglicher Canones erbaten. Sowohl in diefem Schreiben
als in der angeblihen Antwort des Marcus wird ganz feft behauptet, die nicä-
nifhe Synode habe nach der Anzahl der Jünger des Herrn 70 Canones aufge-
ſtellt. Wenn beide Schreiben ächt wären, dann hätte nimmermehr zwifchen der
africaniſchen Kirche und den Päpften Zofimus und Bonifacius ein fo heftiger
826 Marcus Eugenicug,
Streit über die Anzahl genannter Canones entflehen fönnen, Dann begreift fich
nicht, wie Athanafius von Alerandrien aus habe an Marcus fhreiben fünnen zu
einer Zeit, wo er ſich als Erilirter in Gallien aufbieltz auch ift befannt, daß die
Arianer erft fpäter, unter Conftantius, fich fo arge Gewaltthätigfeiten in Aegyp⸗
ten erlaubten; und Marcus felbft müßte feinen Brief einige Tage fpäter ge—
fhrieben haben, als er, wie Hieronymus ganz beftimmt verfichert, nicht mehr
unter den Lebenden war, Marcus verordnete, daß unter der Meffe das nicänifche
Glaubensbekenntniß gebetet werden folfe, weßhalb es auch in dem berühmten
Werke des Jo. Palatio: Gesta pontificum Romanorum a sancto Petro usque ad
Innocentium IX., vier Quartbände mit den Bildniffen der Papfte, Ausgabe von
Venedig 1687 heißt: Ut Marcum a Marco non dignosceres, Nisi Pontifex praece-
deret Evangelistae. Quod hunc pingant sine Evangelio, Ex eo est, quod corde,
non manu, servat. Vel fidem fecerit compendiorem. Ut quid credas, habeas vel
post Evangelium Quod brevi conclusit Symbolo. Er baute auch zwei Baſiliken,
die eine am Wege Ardeatina und die andere am Palatinus, Bei Platina ift genau
verzeichnet, womit Conftantin d, Gr, beide verziert und botirt hat. Die Beftim-
mung, daß der Bifchof von Dftia den Papft zu confeeriren habe und das Pallium
tragen dürfe, foll von ihm herrühren, allein factifch wurde es ſchon früher fo ge-
halten, Sein Leichnam wurde auf dem Kirchhof des Balbinus an der Straße
Arden beerdigt, fpäter in die Kirche des hf, Marcus, deren Stifter eben er nach
einer alten Tradition gewefen, transferirt, Bgl, Eugene de la Gournerie,
das chriftl, Nom, Baronii annal, eccles. Historia Platinae de vit. roman. Pontif,
Anastasii Bibliothec. hist, de vit. pontifie. Fritz.]
Mareus Eugenicus, Metropolit von Epheſus, bat unter den Griechen
den unfeligen Ruhm erlangt, die auf dem Eoneil von Ferrara und Florenz nach
großen Mühen errungene und ausgefprochene Vereinigung mit den Lateinern
wieder vernichtet zu haben. Der griechifche Raifer Johann VI, Paläologus
d. j., welchem in Folge der unaufhaltfamen Fortfchritte der Türfen unter Sultan
Murad I. von den weitgedehnten Ländern der Ahnen faft nichts mehr übrig ge—
blieben war als das hart bedrängte Conftantinopel, dachte nun ernftlih daran,
durch Vereinigung der griechifchen Kirche mit der römifchen die Hilfe der abend-
ländifchen Fürften zu gewinnen, nachdem 1430 auch Theffalonich, die letzte Stüge
feiner bedrohten Hauptftadt, gefallen war. Noch in demfelben Jahre ſchickte er,
um die Verhandlungen möglichft fchnell zu beginnen, eine Gefandtfhaft an den
Papft Martin V., und nachdem diefer im folgenden Jahre geftorben war, auch
an deffen Nachfolger Eugen IV. mit der Verficherung, daß er die Union fehn-
lichſt wünſche und nach Kräften zur Vollbringung derfelben mitwirken werde,
Eugen erfaßte den von den Griechen felbft gemachten Antrag mit großer Freude;
aber durch die leidige Zänferei der Basler Synode wurde die Angelegenheit auf
mehrere Jahre verfihoben, bis der Papft, da er alle gütlihen Verfuche an den
Baslern vereitelt fah, am 18, Sept. 1437 mit feierliher Bulle die Verlegung
des Concils nah Ferrara ausfprah, und im einer andern ben 8. Januar
1438 als Eröffnungstag der neuen Synode beftimmte (Harduin. coll, ooncil. IX.
698— 708). An diefem Tage eröffnete dem Befehle des Papfted gemäß nun
auch wirklich der Cardinal Nicolaus Albergati die Synode in der uptfirche
von Ferrara. Mehrere vorbereitende Verſammlungen und zwei feierliche Sigungen
wurben gehalten, bis endlich die Griechen in Ferrara anlangten. Zahlreich waren
diefe erfehienen, der Kaiſer ſelbſt mit feinem Bruder Demetrius, der Patriarch
von Conftantinopel, die Bevollmächtigten der andern Patriarchen des Orients,
viele Bifhöfe, Priefter, Beamtete und Große des Neihes — zufammen an 700
Perfonen. Darunter befand fih auh Marcus Eugenicus, welcher gerade vor
der Abreife nach dem Tode des Metropoliten Joaſaph den Stuhl der Kirche
von Ephefus beftiegen hatte, und auf der Synode mit dem ruſſiſchen Metropoliten
Marcus Eugenicus, 827
Iſidor den Patriarchen von Antivchien vertreten ſollte. Am 9, April 1438
wurde die erſte Sigung, oder vielmehr die Eröffnungsfeierlichkeit der Unions—
fonode in der Cathedrale von Ferrara abgehalten. Als nach Tanger Zögerung
die Griechen ſich endlich Herbeigelaffen, in gemeinſchaftlichen VBerfammlungen die
ftreitigen Lehrpuncte zu befprechen, und zu dieſem Endzwede von den Lateinern
und Griechen je ein Ausſchuß von zehn Perfonen fowohl zur vorläufigen Unter-
fuhung der abweichenden Lehren, als auch zur Auffindung vermittelnder Vor—
fchläge gewählt worden war, traf es den Marcus Eugenicus und Beffarion
mit den Bifchöfen von Monembafia, Lacedämon und Anchialus, dem Großcharto—
phylax Balfamon, dem Großecclefiarhen Syropulus, nebft zwei Aebten und
einem Mönche, die Sache der Griechen zu vertreten, dergeftalt, daß Marcus und
Deffarion die Sprecher fein, die andern aber mit Rath ihnen beiftehen follten,
Die Conferenzen wurden vom Cardinal Julian Cäfarini, dem Haupte des
von den Lateinern gewählten Ausfhuffes, mit einer glänzenden Rede eröffnet,
worin er die Union mit warmem Herzen empfahl und zur Beförderung derfelben
mahnte, Marcus Eugenicus antwortete Falt und ſalbungslos; man erfannte leicht,
daß es ihm um eine Vereinbarung nicht zu thun fei. Selbft die Griechen waren
mit ihm unzufrieden und verlangten, daß er dem Beffarion für den weitern Ver—
lauf diefer Unterredung das Wort überlaffe. Monate lang hatte man bereits in
den Conferenzen verhandelt, ohne dem Ziele auch nur nahe gerücdt zu feinz die
Sache hielt fih beftändig in der Schwebe, weil der Kaiſer jede tiefer eingreifende
Beſprechung vermieden wiffen wollte und die Griechen jede beftimmte Erflärung
ablebnten; man fchügte auch vor, die Ankunft der Basler abwarten zu wollen,
Marens Eugenicus und mit ifm viele Griechen, meiftens folche, welche der Union
abhold waren, benüsten diefen Umftand, heimlich aus Ferrara zu entfliehen, Aber
der Raifer ließ fie durch nachgefandte Boten zurücrufen. Endlich drang der raft-
108 thätige Eugen mit feinen Borftellungen beim Kaifer durch , die Verhandlungen
wurden im Detober wieder aufgenommen, follten aber nicht in Conferenzen, fon-
dern in förmlichen Synodalfigungen geführt und zur Entfiheidung gebracht werden,
Die Griechen wählten aus ihrer Mitte ſechs Männer, welche mit den Lateinern
disputiren follten, darunter befand fih wieder Marcus Eugenicus, und zwar
auch dießmal ald Redner, ihm zur Seite fland wie früher Beffarion, Sofort
begann am 8. Det, 1438 die zweite, oder wenn man die Eröffnungsfeierlichkeit
am 9, April nicht als eigentlihe Sigung betrachten will, die erfte Sigung,
welcher in Ferrara fünfzehn, und neun andere in Florenz folgten, Bei allen
Sigungen war Marcus Eugenicus anwefend und fand Gelegenheit genug, feinen
Groll und feine Feindfhaft gegen die Lateiner ohne Schen und Rüdhalt ſpielen
zu laffen, Als Redner verfocht er die Sache der Griechen gegen Andreas, Bi-
fhof von Rhodus, gegen den Cardinal Julian Cäfarini und den Dominicaner-
Provineial Johannes a Raguſio, oder vielmehr er firäubte fich gegen jede
Vereinbarung mit einer Hartnädigfeit und Leivenfchaft, daß der Kaiſer, um die
von ihm erwünfchte Union möglich zu machen, ſich genöthigt fand, demfelben die
Anwejenheit bei der vorlegten Sigung, wo die Disputationen in Betreff des
wichtigften Differenzpunetes, nämlich über den Ausgang des HI. Geifles vom
Bater und Sohn und den Zufag filioque gefchloffen werden follten, glattweg zu
verbieten (Harduin. IX. coll. 307). Als nah Beendigung der Testen Synodal-
figung (24. März 1439) die Griechen unter einander noch öftere Conferenzen
hielten, um ſich endlich beftimmt für oder gegen die Lateiner zu entfcheiden, fo
war ed wieder Marcus Eugenicus, welder aus vollen Kräften der Vereinbarung
entgegentrat und in feiner Teidenfchaftlichen Heftigkeit nicht nur die Lateiner Reber
fhalt, fondern auch dem edlen Beffarion, welcher unter den Griechen am meiften
die Union empfahl, feine uneheliche Geburt vorwarf. Am 2. Juni 1439 ſprachen
fi die Griechen in ihrer allgemeinen Berfammlung vor dem Kaifer, nachdem der
828 Marcus Eugenicug,
Patriarch von Eonftantinopel den Ausgang bes hl. Geiftes auch aus dem Sohne
als dogmatifch richtig anerkannt hatte, für die Union aus, und begaben ſich ſechs
Tage darauf zum Papft, um diefe ihre endliche Erklärung niederzulfegen, und
empfingen von ben Lateinern den Friedenskuß — Marcus Eugenicus und
Sophronius von Anchialus waren die einzigen aus allen griechifchen Bi-
fhöfen, welche in die Vereinigung nicht einftimmten. Endlich wurde am 5, Zuli
1439 die feierliche Erflärung der Union (definitio, 6905) von den Griechen unter-
fihrieben und Tags darauf in der Hauptfirche zu Florenz während bes Gottes-
dienſtes öffentlich verfündet. Nicht nur die Bifhöfe der Griechen im engeren
Sinne, fondern auch die Bevollmächtigten der Walachen, Zberier, Ruſſen und
des Raifers von Trapezunt hatten diefelbe unterzeichnet — aber niht Marcus
Eugenieus; er beharrte unbeweglich in feinem Starrfinne, Als der Papft dieß
erfahren hatte, foll er im dunfeln Vorgefühle deffen, was fich bald auch wirklich
ereignete, wehmüthig ausgerufen haben: „Sp haben wir alfo nichts zu Stande
gebracht!“ Ungefähr einen Monat nah dem Abfchluffe der Union traten bie
Griechen über Venedig die Nüdreife in ihre Heimath an; den Marcus Eugenicus
hatte der Kaifer auf fein Schiff genommen, um ihn, wenn möglich, durch Freund-
fchaft zu gewinnen, oder widrigen Falls defto beffer beobachten zu fönnen, Aber
ſchon in Venedig zeigte fich die zweifelfafte Gefinnung der Griechen auf eine fehr
bedenkliche Weife, und die Anhänglichfeit an die Union wanfte mehr und mehr,
als fie fhon während der Heimkehr von ihren Landsleuten bittere Vorwürfe über
die abgefchloffene Bereinigung hören mußten und bei ihrer Landung in Conftan-
tinopel (im Januar 1440) fehr unfreundlich empfangen wurden, Man fchalt fie
Abtrünnige, welche die Sache der Orthodoxie verrathen, während von allen Seiten
ber das Lob des Marcus Eugenicus ertönte, welcher allein noch den Lateinern
widerftanden und die Ehre der Kirche gewahrt habe, Schon in der Faftenzeit des
nämlihen Jahres war die unionsfeindliche Partei dermaßen erftarft, daß fie die—
jenigen, welche für die Synode in Ferrara und Florenz fich erklärt hatten, von
der Theilnahme an der Liturgie auszufchließen wagte, Es läßt fih nicht be—
zweifeln, daß Marcus Eugenicus diefe Verhältniffe beftens benügt habe, um ber
Union den Todesftoß zu geben, Indeſſen ſcheint der Kaiſer ihn abfichtlich in Con—
ftantinopel zurüdgehalten zu haben; denn als an die Stelle des zu Florenz in
Gemeinfchaft mit der römifchen Kirche verftorbenen Patriarchen der Metropolit
son Cyzieus, Metrophanes, im Anfange Mai's 1440 den Stuhl von Eonftan-
tinopel beftiegen, und feinen Entfchluß, an der Union feftzuhalten, öffentlich aus=
gefprochen hatte, floh Marcus Eugenicus mit dem Metropoliten von Heraclen
aus der Hauptftadt und begab fich in fein Bisthum zurüd, Nimmer verftummten
fortan feine gehäffigen Reden gegen die Freunde der Union, nimmer ruhte fein
Haß gegen die Lateinerz nicht bloß mündliche Anflagen erhob er, fondern au
fhriftlich verbreitete er feine Verläumdungen weiter, Noch auf dem Todbette
ordnete er an, daß Feiner von den Unirten feine Leiche begleite, und wie ein an«
derer Hamilcar Tieß er feinen Freund Georgius Scholarius fhwören, bie
Union immer zu befämpfen und Nom ewig zu baffen. Marcus Eugenieus flarb
um das Jahr 1447. Vgl. hierzu die Artitel: Bafeler Coneil, Beffarion,
Eugen IV., Ferrara-Slorenz, Griechiſche Kirche, Julian Eäfarini, —
Bon den Schriften, welche Marcus Eugenicus verfaßt hat, nennt und Fabricing
in feiner Bibliotheca graeca ahtundzwanzig (ed. Harles, Xl. 6T0—677)%
Darunter find einige durch den Druck veröffentlicht, die meiften aber nur in Ma-
nuferipten vorhanden oder aus Citaten befannt geworden, Ich theife hier bie
wichtigften mit, und zwar befonders jene, welche fein Berbältniß zur Union be=
treffen, Mit Umgehung mehrerer handfhriftlichen Briefe an den Kaifer Johannes
Palaͤologus nenne ich zuerft jene beiden Sendfchreiben an die gefammte Ehriften-
beit, welche Marcus Engenicus von Ephefus aus, wahrſcheinlich nach feiner Flucht
ee *
von Conſtantinopel, erlaſſen hat. Sie ſind uns dadurch erhalten worden, daß
Biſchof Joſeph von Methone und der Protoſyncell Gregor, ſpäter Patriarch
son Conſtantinopel, in ihrer Widerlegung dieſelben entweder ganz oder wenig-
ſtens in Fragmenten dem Hauptinhalte nach aufgenommen haben, Dean findet fie
abgedruckt fammt der Widerlegung bei Harduin IX. 549— 670, Das erfte Send»
ſchreiben, welches er, wie Joſeph von Methone bemerkt, aller Orten verbreitete
(rois dravrayouv Xoısıovois anoselhag) enthält eine kurze, fehr parteiiſche
Geſchichte der Synode von Ferrara und Florenz; wie bie Union nur durch Be—
ftehung zu Stande gefommen, wie er allein jedem Verſuche der Lateiner unzu-
gänglih die Sache der griechifchen Kirche verfochten Habe, und daher mit mehr
Recht das Vertrauen und den Glauben der Griechen anſprechen fünne, Das
zweite Sendſchreiben ift ebenfalls gerichtet an alle Griechen zu Lande und auf den
Sufeln Crois enevrayod 17$ yiS xal Tov vn0wv Evgıoxoutvors) und ent
hält wieder einen fehr heftigen Angriff gegen die Freunde der Union, Er nennt
fie Zwittergeftalten, Männer von einer unnatürlihen Mitte, Oräcolateiner, La—
tinifirende, Halbmenſchen, welde den fabelhaften Centauren gleihen („Toaızo—
Aarıvoi, Aurıvöpgoves, uıFoöngEeS avIgWnoı zara TolsS uvFog Inrtorev-
Tevoo0ıS*); die zuftandegefommene Union fei eine Vereinbarung und doch in der
Wirklichkeit Feine Vereinbarung; man habe Einen Glauben und doch zwei Be-
fenntniffe mit und ohne den Zufag filioque; ein Sarrament, und doch zwei Abend-
mahle im gefäuerten und ungefäuerten Brode u. f. w.; die Lateiner feien denn
eigentlich doch Keger und die Freunde der Union wahrlich auch Freunde der
Keger u. ſ. w. Einen andern Brief des Marcus Eugenicug, worin er dem
Georgius Scholarius wegen feiner Hinneigung zur Union Vorwürfe macht, bat
ung Leo Allatius (f. d. A.) erhalten. (Leonis Allatii in Roberti Creygtonis appa-
ratum. Romae 1674. I. 88 nad) Hefele: die temporäre Wiedervereinigung der
griechifchen mit der Tateinifchen Kirche. II. Art. Tübinger theol. Quartalſchrift
1848, ©. 191.) Ebenfalls im Drude vorhanden ift von Marcus Eugenicus das
Werk gegen die Lehre der Lateiner über den Zeitpunct, wann die Verwandlung
der facramentalifhen Materie eintritt: „Ore ov uövov Eıro Pwvis ray deonorı-
»0v Onusrwv ayıckorrer ca Feie dopa“ (griech. ald Anhang zur Ausgabe
der orientalifchen Liturgien, Paris. 1560. p. 133—144.; Tatein. in den Liturgieis
Claudii de Sainctes, Antwerp. 1560. p. 83—86). Nur in Manuferipten und aus
Eitationen kennen wir feine capita syllogistica contra Latinos de processione spiri-
tus sancti, die orationes duae de purgatorio, die epistola ad Georgium presbyterum
contra ritus et sacrificia rom. ecclesiae, das antirrhelicum contra Andream Coloss.,
die apologia über feine Flucht aus Conftantinopel, die Schrift: contra encyclicam
Bessarionis, den epilogus adversus Latinos u. a, a. (Duellen: Die ausführliche
Gefhichte der Synode zu Ferrara und Florenz, wahrfcheinlih von Beffarion
verfaßt, bei Harduin. acta concil. IX. coll. 1—442. Die Gefhichte deffelben Con⸗
eils von Horatins Juftiniani bei Harduin. 1. c. coll. 669—1044. Die Ge»
fhichte der nämlichen Synode vom unionsfeindlihen und fehr parteiifchen Sil—
vefter Syropulus — Vera historia unionis non verae inter Graecos et Latinos,
sive concilü Florentini exactissima narratio, u, f. w., überfegt in's Lateinifhe und
herausgegeben zu Haag im J. 1660 vom Anglicaner Robert Ereyghton.
Veber die Werke des Marcus Eugenicus find außer Fabricius a. a. D, zu nennen:
Oudini comment. de scriptor. ecclesiast. T. II. coll. 2343—2346; Gave, hist.
litter. Basil. 1741. T. 11. Append. p. 136—138.) [G. Tinfpaufer.]
Mareus, Onoftifer. Es gibt drei Gnoſtiker diefes Namens, die, wenn
auch nicht Sectenhäupter erften Ranges, doch von einiger Bedeutung find. Der
berühmtefte unter ihnen ift Marcus, der Schüler Balentins und Stifter einer
befondern gnoſtiſchen Secte, der Marcofianer. Diefer Marcus, der allem
Anſchein nach zuerft in Afien fih Herumtrieb, fpäter auch in das ſüdoöſtliche Gal-
830 Marcus, Gnoſtiker.
lien fam, und etwa um bie Mitte des zweiten Jahrhunderts oder bald darnach
auftrat, war berüchtigt wegen feiner Zauber- und Verführungsfünfte, wodurch er
bauptfächlich reiche und vornehme Frauen zu gewinnen fuchte, was ihm, nach dem
Berichte des Zeitgenoffen Irenäus, mit Hilfe des Teufels theils durch Liebes—
tränfe, theils durch Lockung ihrer Eitelfeit, indem er ihnen die Gabe der Pro-
phezeiung verlieh, ja felbft die Darbringung des hl. Opfers geftattete, auch Häufig
gelang. Unter andern Zauberkünften, die gerade wie Tafchenfpielerftücdihen aus-
fehen, ift eines befonders merkwürdig, weil es auf den Glauben der Chriſten an
die wahrhafte Verwandlung des Weines in das Blut Chrifti fehließen Läßt. Bei
feinem Gottesdienft wendete er auch die Conferrationsformel an, und wenn er
diefe ſprach, wußte er e8 zu bewerfitelligen, daß der weiße Wein die rothe Farbe
annahm, um fo das Blut Jedermann anfchaulich zu machen (S. Irenaeus adv.
haeres. lib. I. c. 13.). Diefer Verführer, dem befonders das Weibsvolk ſtark
nachlief, ftellte ein dem Syſteme des Balentin (f. d. A.) ganz ähnliches auf,
welches er jedoch in eine höchſt unverftändliche, aber hochklingende, den Pythago—
räern oder der jüdiſchen Rabbala nachgebildete Zahlenmyftif einhüllte und mit
häufigen Bibelftellen des alten und neuen Bundes verbrämte, Irenäus, der Bi-
fchof von Lyon, in deffen Bereich diefe Irrlehre gleich Anfangs viele Anhänger
fand, hat das häretifche Syftem des Marcus einläßlich mit fraunenswerther Ge—
duld dargeftellt (adv. haeres. lib. I. c. 14—21, wörtlih aufgenommen von 8. Epi-
phanius haeres. 34.), wo man die Einzelheiten nachfehen kann. Das Wefen des
unerforfchlihen unbefannten höchften Gnttes (rroonerwo, BuFog) manifeftirt ſich
nah Marcus in Lauten, Sylben und Worten, die nach beftimmten Zahlenverhält-
niffen (tetras, ogdoas, dodecas, auch ſechs, zehn und befonders dreißig find ihm
folche heilige und geheimnißoolle Zahlen) gegliedert werden und immer das Lob
des Unergründlichen und Unerforfchlichen fortertönen laffen, bis fih die Mannig-
faltigfeit der Laute und Buchftaben zulegt in Einen Ton zufammenfindet (arso—
zarasaoıs Tv oAv), welchen jeßt noch das beim Gottesdienſt üblihe Amen
der ganzen Gemeinde fymbolifh andeute. Die Unergründlichkeit des höchſten
Weſens machte er dadurch erfichtlich, daß das erfte von Gott ausgefprochene Wort
nicht bloß in feine Buchftaben fich auflöfe, fondern jeder einzelne Buchftabe des—
felben, 3.3. A (Aauda), wieder in die Buchftaben oder Laute, mit welchen er
ausgefprochen wird, und fo immer weiter, wonach freilich ein unendliches Fort-
tönen und Durcheinanderfummen dieſer unabläffig fich vervielfältigenden Buch—
ftabenlaute nothiwendig wurde (Die aus der Ureinheit hervorgehende unendliche
Mannigfaltigfeit, die zulegt wieder in die Einheit — Einen Buchſtaben oder
Laut, eig To Ev yoauua, uwıav zaı nV aurnv Expwvnoıv Iren. adv. haer. 1.1.
0. 14. n. 1. zufammenfließt). Alle diefe Laute haben jeder feine Exiſtenz als ein
eigenes Wefen nach Art der hriftlihen Engel, und bilden zufammen das Pleroma
des Marcus, Er gibt denfelben verfchiedene gemeinfame Namen, als: Aeonen,
Worte (Aoyovs), Wurzeln, Samen, Früchte; die befondern Namen eines jeden
derfelben feien in dem Wort ecclesia enthalten, Ihm habe aber die Sige, eine
der oberften Aeonen, die zum erften Tetras gehören, die Namen derfelben geoffen-
bart, ja fie haben ihm die Wahrheit (aAndsıa), gleichfalls einen der höchſten
Aeonen, unverhülft gezeigt, die er dann wunderlich genug, als aus lauter Buch-
ftaben zufammengefeßt, befchreibt (Iren. adv. haeres. lib. I. c. 14. n. 3.); ferner
babe fie ihm das Verhältniß der Aeonen unter einander, deren jeder das unerfaß-
liche Wefen Gottes nach irgend einer Seite ausbrüde, genau mitgetheiltz unter
diefen Aeonen befinde fich auch Jeſus Chriſtus, deffen Name in feinen einzelnen
Buchftaben und Lauten wunderbare Geheimniffe in fich verfchließe und ganz außer⸗
ordentliche Kräfte befige. So ift diefes ganze Syſtem auf die 24 Buchftaben des
griechifchen Alphabets gebaut, wobei er zur Ausfhmücung feiner phantaftifchen
Gebilde wieder die ſtummen Buchftaben, die Halbfelbfllaute, die Selbftlaute und
Marcus, Gnofifer. 831
die Doppelbuchſtaben unterſcheidet. Die Schöpfung diefer fihtbaren Welt war
ihm nur eine Nachbildung des unfichtbaren Pleroma mit feiner funftreihen Glie—
derung (der Tetras, Ogdoas, Decas, Dodecas und der heiligen Dreifigzahl),
welche der unvollfommene Demiurg, ohne etwas davon zu begreifen, als Werf-
zeug der ihn leitenden himmlischen Mutter herftellte Cogl. über den Demiurg und
feine Mutter und feine Schöpfung S. Iren. adv. haeres. lib. I.-c. 14. n. 2. 7. et
c. 17), was Marcus aus der mofaifhen Schöpfungsgefhichte, aus der Einrich-
tung des Menfchen und aus den Geftirnen und ihrem Lauf nachzuweifen verfuchte,
Der Aeon Jeſus CHriftus, der durch Maria nur wie durch einen Canal durd-
ging, ohne von ihr etwas anzunehmen, und in dem nach der Taufe die Kraft
aller Aeonen eoncentrirt war, follte auf Erden nur den Menfchen den höchſten
Gott verfünden und dadurh den Tod aufheben (Iren. adv. haeres. lib. I. c. 15.).
Marcus und feine Anhänger fegten fodann großen Werth in ihre fogenannte Er-
löfung (Avrowous, redemtio), womit fie jenen Act bezeichneten, in dem das
Werk Chriſti in jedem Einzelnen aus ihnen zum Abfchluß und zur völligen Aus-
führung kam. Diefer Act der Redemtion fam jedoch in mannigfacher Weife bei
ihnen vor, indem ſich bier eine rein fpiritualiftiihe Richtung von der andern Rich—
tung ausfhied, die mehr oder minder fich der altherfommlichen chriſtlichen Sitte
und dem Gebot des Erlöfers fügte. Die Anhänger jener rein fpiritualiftifchen
Richtung festen diefe Nedemtion in die bloße Erfenntnig des höchſten Gottes
(vwaıs) und verwarfen jedes äußere finnliche Zeichen (dieſe werden auch mit
dem befondern Namen der Asfodruten oder Askodrupiten als eigene Secte an—
geführt bei Theodoret. haeret. fabul. lib. I. c. 10. Vgl. den Art, Tasfodru-
giten). Andere hatten zwar eine Waffertaufe, verfälfchten aber nah ihrem
Aeonenſyſtem die Taufformel, welche mehrere aus ihnen mit hebräifchen Worten
ausdrüften, worauf fie eine Salbung mit Balfam beifügten; Andere. mifchter
Waſſer und Del unter einander und tauften mit diefer Mifhungz Andere endlich
verjchoben diefe Redemtion dur die Taufe mit Waffer und beigemifchten Del
bis zur Sterbeftunde und gaben dann dem Sterbenden zugleich gewiffe Bann-
formeln mit, wodurd er die Geifter, die ihn nach dem Tode auffangen wollten,
ja den ihm auflauernden Demiurg felbft vertreiben fünnte (Iren. adv. haeres. lib,
I. c. 21.). Es verdient befonders hervorgehoben zu werden, daß eine ähnliche
Redemtion bei den im 12ten und 13ten Jahrhundert im ſüdlichen Franfreih auf-
tauchenden gnoftifh-manichäifchen Secten der Albigenjer (f. d. A.) und Waldenfer
unter dem Namen Consolamentum, Tröftung, fich findet (f. Fr. Hurter, Inno—
eenz IH. im 13, Bud. IL. Bd. S. 219— 20). Marcus und feine Anhänger hatten
einen ganzen Haufen von ihnen fabricirter Apvergphen, wußten aber auch die
Stellen der ächten Evangelien ziemlich gewandt für ihre Zwecke auszubeuten
(Iren. ady. haeres. lib. I. c. 20.). Sie erklärten fich felbft für die allein Weiſen
und VBollfommenen (Iren. adv. haeres. lib. I. c. 19. n. 2. c. 21. n. 2. 4.), welcher
Behauptung es feinen Eintrag that, daß fie fo fhamlos, wie ihr Meifter, die
Frauen zur Unzucht verführten, indem fie fih als große erhabene Geifter mit dem
Grundfag beruhigten, daß ihnen Alles erlaubt fei, und daß fie fih vor Niemand,
nicht einmal vor dem fünftigen Richter, zu fürchten haben (Iren. adv. haeres. lib.
L eo. 13. n. 6. 7.). Schon im zweiten Jahrhundert fand diefe Secte einen übri-
gens unbekannten Fatholifchen Gegner in VBerfen (Iren. adv. haeres. lib. I. c, 15;
n. 6.). Am nahdrüdlichften hat Irenäus in feinem großen Werk gegen die gno—
ftifhen Härefieen diefe Irrlehre befämpft. Die Marcofier erhielten ſich fort bie
in’s vierte Jahrhundert und trieben noch zur Zeit des HI. Epivhanius ihr Kunft-
oder Zauberftüf mit der Verwandlung des weißen Weines in rothen, um hiedurch
Anhänger zu gewinnen (S. Epiphan. haer. 34. n.1.). Sehr enge verwandt mit
dieſer Secte find die beiden Secten der Archontifer und Colorbafianer (f; d. A.).
Bol. über diefen Marcus und feine Secte Maſſuet in feiner Ausgabe des hl.
832 | Mareeustag.
Irenäus Diss. I. Art. 1. $ VI. Tillemont, M&m. T. II. Les heresies des Mar-
cosiens et des Arcontiques (p. 291—96). Matter, krit. Geſchichte des Gnpfti-
eismus, überfegt von Dönner. Heilbronn 1833. IE Bd, S. 109—112. 9.
Neander, Rirchengefih. I. Bd. 2. Abth. S.741—43, 808-—10. — Der andere
Marcus war zu Anfang des vierten Jahrhunderts einer der berühmteften An-
hänger des Gnoftifers Mareion (ſ. d. A.), deffen in einigen Puncten eigenthüm—
liches Syftem in dem befannten, mit Unrecht dem Drigenes beigelegten, Dialogus
Adamantii de recta in Deum fide contra Marcionitas (Origenis Opp. ed. Ruaei T.1.
p. 822—33) genauer dargelegt und befämpft wird. Es befteht aber feine Eigen-
thümlichfeit darin, daß er die Erfihaffung des Menfchen in ganz befonderer Weife
denft. Er unterfcheidet nämlich mit den Alten drei Beftandtheile des Menfchen,
Leib (owuc), Seele (vuyn) und Geift (nvsvua), Nun ftellte er fi die
Schöpfung fo vor: der Schöpfer habe ven Leib gebildet und die Seele (dvyn)
ihm eingehaucht, aber das fei noch ein armfeliges Gefchöpf gewefen; der gute
Gott habe von feinem vberften Himmel herab diefes armfelige Wefen in feinem
Elend zappeln gefehen, fi feiner erbarmt, ihm von feinem eigenen Geift mit-
getheilt und fo erft das Leben in ihm hervorgerufen; nur um diefen Geift (rvevuue)
zu erlöfen, fei der vom guten Gott ausgehende Chriftus herabgefommen und fomme
noch fortwährend herab in der Feier der Euchariftie (Dialog. de recta in Deum
fide in Origen. Opp. I. 825—26). Es iſt nicht unſchwer, hier die Vorftellung des
Gnoſtikers Saturninus (S. Irenaeus. adv. haeres. lib. I. c. 24. n. 1.) wieder zu
erfennen, welche an dieſer Stelle in das Marcionitifhe Syftem eingedrungen ift,
und durch deren Annahme Marcus fich unter den übrigen Marcioniten bemerflich
machte. Sonft weichen feine Behauptungen von denen Marcion's nicht ab. Bon
feinem Leben ift weiter nichts befanntz; nur vermuthet man aus der Aehnlichkeit
feiner eigenthümlichen Lehrmeinung mit der Anficht des fyrifhen Gnoſtikers Sa—
turninus, daß er fich in Syrien aufgehalten habe, Bol. Matter, krit. Gef.
des Gnoſticismus. U. Bd. S. 247—49, Neander, Kirchengeſch. l. S. 804. —
Der dritte Gnoflifer Marcus gehört erft dem vierten Jahrhundert an, Diefer
legte Marcus, welchen der HI. Hieronymus unvorfichtiger Weife mit dem Balen-
tinianer Marcus verwechfelt (S. Hieronymi epist. 75. n. 3. et Commenlar. in Isai.
c. 64. v. 4.), fam aus Aegypten (er war aus Memphis gebürtig) etwa um bie
Mitte des vierten Jahrhunderts (vielleicht durch Frankreich?) nah Spanien und
brachte zuerft gnoftifch-manichäifche Irrthümer in diefes Land, mit denen er bei
einer vornehmen Frau Agape und bei dem Nhetor Elpivins Eingang fand. Diefe
unterrichteten darin den Priscillianus, welcher fodann die bedeutende Gecte der
Priseillianiften (ſ. d. A.) begründete (Sulpicii Severi Histor. saor. lib. II. n. 46.
S. Isidori Hispal. lib. de viris illustr. o. 15. n. 19., welcher ihn einen „Schüler
des Manes und in der Kunft der Magie fehr bewandert” nennt). Bol. über
diefen Marcus: Tillemont, Mém. T. VIII. Note 1. sur les Priscillianistes (p. 791).
Ern. Grabii, Adnotat. in Irenaei Opp. p. 65 (auch in Irenaei Opp. ed. Massuet
Venetiis 1734. P. H. p. 205). [Beßler.]
Marenstag. So nennt man häufig den 25. April, weil an diefem Tage
feit uralter Zeit das Andenfen des HI. Evangeliften Marcus als Festum chori
begangen wird. Er ift dem kirchlichen Publicum befonders dadurch befannt, daß
an demfelben in der abendländifchen Kirche faft in allen Pfarreien eine feierliche
Bittproceffion gehalten wird. Diefe Proceffion ift uralt, indem fie Papft Gregor
d. Gr. nicht bloß Fennt, fondern fie fogar eine „Solemnitas annuae devotionis*
nennt (Ep. app. L. 3. IL). Ob der Ausdruck „Solemnitas annuae devolionis* be=
rechtige, die Zeit ihres Entftehens über das Pontificat Oregors binaufzufegen,
ift ſchwer zu entſcheiden. MWalafrid Strabo behauptet (de reb. ecol, 6.8), 86
hätte fie Gregor bei dem Antritte feiner päpftlichen Regierung angeorbnet, um
son Bott die Abwendung der Peft zu erflehen, welche in Nom nach einer großen
u — u E- Ei: 4 3. > ® er Ws
Mardochäus — Marefa. 833
Ueberſchwemmung entſtanden war und ſeinen Vorfahrer Pelagius nebſt vielen
Glaͤubigen weggerafft hatte; allein dagegen ſpricht gar Vieles, obwohl es richtig
iſt, daß Gregor im J. 590 eine Proceffion zur Abwendung der Peſt veranſtaltet
hat.) Es wurde nämlich die Peſtproceſſion nicht im April, fondern im Auguſt ge—
halten und an drei Tagen wiederholt (Greg. Tur. hist. Franc. ]. 10. c. 1). So—
dann wurde die Veftproceffion auf eine von der Marcusproceffion abweichende
Weife gehalten. Erftere war, wie man aus der Oratio de/mortalitate Gregors
erfieht (Litania clericoram exeat ab ecclesia b. Joannis Bapt., litania virorum ab
ecel. b. martyris Marcelli, litania monachorum ab ecclesia 'martyrum Joannis et
Pauli, litania ancillarum Dei ab ecclesia bb. martyrum Cosmae et Damiani, litania
foeminarum conjugatarum ab ecclesia b. primi martyris Stephani, litania viduarum
abvecclesia b. martyris Vitalis, litania pauperum et infantium ab ecclesia b. mar-
tyris Caeciliae) eine fogenaunte Litania septiformis, es zogen die Gläubigen vor
fieben verſchiedenen Gotteshäufern nah Ständen aus; bei Iegterer aber zog das
gefammte Volk von einem und demfelben Gotteshaufe aus (A titulo b. Laurentii
martyris, qui appellatur Luciae, egredientes, ad b. Peirum apostolorum prineipem
Domino supplicantes cum hymnis et cantieis spiritualibus properemus). Gewiß ift,
daß die über Gregor hinaufreichenden hiftorifchen Duellen von der ganzen Pro—
ceffion fshweigen. Als Zwed der Mareusproceffion wird Mehreres angegeben:
namentlich follen die Gläubigen fih durch diefelbe die Verzeihung ihrer Sünden
erbitten, Gott für die empfangenen Wohlthaten danfen, um die Fortvauer feiner
Baterhuld flehen, und fih zu Gemüthe nehmen, wie fehr es uns zieme, in allen
Anliegen des Lebens uns vertrauensooll zu Gott zu wenden (efr. Alcuin. de lit;
mag.). Jedenfalls überwiegt bei derfelben der Bußfinn, daher die blaue Farbe
der Proceffionsmeffe und das zum Bittgebete und Bertrauen aufmunternde For—
mular diefer Meſſe (fowohl die Leetion — Zac. 5, 16 ff. — als auch das Evan-
gelium — Luc. 11, 5 ff. — weifen darauf hin). Nur in Gotteshäufern, wo
Marcus Patron ift, wird das Mefformular bei der Proceflion vom Fefte des hl.
Marcus genommen (S: R. €. 23. Maj. 1603). Eine allenfallfige Translation des
Feftes des HI. Marcus hat auf die Proceffion feinen Einfluß; diefe wird vielmehr
jederzeit am: urfprünglichen Tage (25. April) gehalten, aufer es fallt auf den—
felben der Dftertag (Litaniae majores, si occurrant in die paschatis, transferantur
in feriam tertiam sequentem non feriam secundam; S. R. C. 27. Sept. 1627; S.R,
. 49. Sept. 1665). Zum Unterfchiede von den Bittproceffionen in der Bittwoche
nennt man die Marcasproceffion Litania major, jene aber Litaniae minores. Diefen
Namen hat fie ſchon zur Zeit des Papſtes Gregor geführt. Warum fie ihn führe,
bleibt» wohl immer unentſchieden; vielleicht gefchieht e8, weil fich das Publicum
bei derfelben urfprünglih mehr als bei irgend einer andern Proceifion betheiligte,
oder weil fie fih über eine größere Strede Wegs als fonft bewegte (vgl. Bin-
terims Denkw. IV. Bd. 1. Thl. ©. 573 ff.). In feinem Falle hat diefer Name
Wichtigkeit, gibt ihn ja fogar eine Synode von Mainz im J. 813 auch den Bitt-
proceffionen in der Bittworhe. Ein anderer Name ift „Litania Romana“, weil fie
ſich von Rom aus verbreitet hat. Vgl. hierzu d, Art, Bittgänge. [Fr X. Schmid,]
Mardochaäus, f. Eſther. er
Mareſa (niann, di. Beſitzthum) in der Niederung des Stammgebietes
Juda (Jof. 15, 44.), zwei römiſche Meilen ſüdlich von Keutheropolis, eine im
den HL Büchern oft genannte Stadt, von Roboam befefligt und durch den Sieg
des Königs Afa über Sera, den Aethiopier, befannt (2 Chron, 14, 9.). Es ge=
hörte bald’ zu Edom, bald zu Juda, und ward mehrmal zerfiört, zuletzt durch die
Parther. Hieronymus und Eufebius fennen es nur an feinen Ruinen, welche Ro—
binfon in der Nähe won Beit Dſchibrin, d. i. Eleutheropplis der Alten, neuerlich
wieder aufgefunden. hat. Nördlich von Beit Dſchibrin Liegt ein Dorf Deir
Dubban, bei welhem in dem weichen Kalkſteine, der den Boden bedeckt, ſich
Riräenleriton. 6, Br. 53
834 Margaretha.
mehrere unregelmäßige Gruben befinden, einige beinahe viereckig und alle etwa
15 oder 20 Fuß tief, mit perpendieulären Seiten. In dieſen find unregelmäßige
Thüren oder niedrige, gewölbte, ſtark mit Schutt verflopfte Durchgänge, welche
zu großen Höhlungen in den Felfen, an Geftalt Hohen Kuppeln vergleichbar oder
glodenförmigen Kammern, binführen, 20 bis 30 Fuß hoch und 10 bis 20 Fuß
im Durchmeffer. Nach oben zu Läuft die Kuppel gewöhnlich in eine Feine, runde
Deffnung an der Oberfläche des darüber Tiegenden Bodens aus, wodurch Licht
in die Höhle fallt. Diefe Kammern: find meiftentheils in Gruppen von drei oder
Hier zufammen, welche mit einander in Verbindung ftehen, ja von einer Grube
nach Südweften zu fand Nobinfon 16 folder Kammern, eine Art von Labyrinth
bildend. Ganz ähnliche Aushöhlungen, nur im weit größerer Ausdehnung und
forgfältigerer Bearbeitung, hohe, Euppelförmige Kammern und weite Räume mit
Dächern von Säulen getragen, die aus dem Felfen beim Aushöhlen ſtehen ge—
blieben, fand Robinfon in dem ſüdlich von Beit Dſchibrin gelegenen Wadi, be-
fonders in einem aus kreidigem Kalfftein beftehenden Zell im Süden: des Thales.
Veber den Urfprung und die Beftimmung biefer Höhlen ift Robinfon ganz im Un—
gewiffen; v. Naumer vergleicht die Befchaffenheit derſelben mit ähnlichen Euppel-
förmigen Aushöhlungen im Kalffieine bei Paris und Maeftriht, und ftellt die
nicht unwahrfcheinliche Vermuthung auf, daß diefe Aushöhlungen von Troglodyten
herrühren“ (Arnold, Paläſtina, Halle 1845. S. 174). Auf einem hervor-
tretenden Puncte des eben erwähnten Tell fand das alte Marefa. [Schegs.]
Margaretha, mehrere Heilige diefes Namens, Die berühmteren
unter den heiligen Dienerinnen Gottes, welche diefen Namen trugen, find:
1. Margaretha, heilige Jungfrau und Martyrin. Diefe von der grie-
chiſchen Kirche feit den älteften Zeiten Hochgefeierte Jungfrau und Martyrin, die
zuweilen auch Marina genannt und mit diefer verwerhfelt worden ift (ſ Ma-
rinus), wurde feit dem fiebenten Jahrhunderte auch im Abendlande, befonders
in England, verehrt, wo ihren Cultus wahrfcheinlih Erzbifhof Theodor von
Canterbury verbreitet haben mag. Weder über die Zeit noch die Art ihres Mar-
tertodeg weiß man etwas Gewiffes, weil Margaretha's Marteracten, ſowohl die
griechifchen wie die lateiniſchen, nicht zu den ächten gehören; daher weiß man au
nicht näher, worauf fi der Drache bezieht, mit dem fie häufig dargeftellt wird,
wenn er nicht etwa eine bloße fymbolifche Bedeutung hat, oder, was am wahr⸗
ſcheinlichſten, der heiligen Martyrin erft nach dem Entftehen der apperyphen Mar-
tergefchichte,, worin allerdings der Teufel in Geftalt eines Drachen als Berfucher
Margaretha’s auftritt, beigelegt worden iſt. Das Wefentlihe der Margaretha-
Legende ift, Margaretha, zu Antiochia in Pifivien geboren, fei von ihrem eigenen
heidnifchen Vater als Epriftin verfioßen und in der Verfolgung der Kaiſer Ma—
ximian und Diveletian (oder fhon früher) durch den Präfes Olybrius, der fie
ihrer Schönheit wegen heirathen wollte, aber fein Gehör fand, für den Glauben
und die Jungfräulichfeit der Martyrirone theilhaftig geworden. ©. Boll
20. Jul. — I. Margaretha, die heilige, Königin von Schottland, vom
Hl. König Eduard dem Bekenner abflammend, Gemahlin des Könige Malcolm
son Schottland, im 24ten Jahre ihres Alters mit Malcolm vermählt 1070, ge-
ftorben den 16. Nov. 1093, vom Papft Innocenz IV, canonifirt 1251, Die Ge-
ſchichte diefer Heiligen bildet eines der ſchönſten Blätter der ſchottiſchen Geſchichte.
Sie war cin Mufter ächter Frömmigfeit und. Tugend, der Engel ihres Gemahles,
die befte Erzieherin ihrer Söhne und Töchter, die Schirmerin der Religion, Sitte
lichkeit und Gerechtigkeit, eine wahre Eiferin für die Kirche, deren Gebote fie
aufrecht zu erhalten, und die fie mit würdigen Hirten zu zieren bemüht war, eine
Förderin der Künfte und Wiffenfchaften, eine wahre Landesmutter, welcher alle
Armen, Bedrängten und Unglücklichen in's Herz gefchrieben waren, Näheres
über dag Leben diefes Himmelsgefehenfes für Schottland ſiehe in ihrem Leben,
“er
Marheinede — Maria, bie heilige Jungfrau. ‘835
das von ihrem Beichtvater gefchrieben ift und bei den Bolland, 10. Juni, ihrem
Gedächtnißtage, ſteht. Es ift diefes Leben auch ein bedeutendes Actenftüf für
die ſchottiſche Kirchengeſchichte. Nur: zwei Züge mögen daraus Hier noch ihre
Stelle finden: Die Hl. Königin drang oft in ihren Beichtvater, ihr rückfichtslog
alle ihre Fehler anzuzeigen; die hf. Königin veranftaltete auch mehrere Concilien
und trat in einem derſelben redend und eifernd für die Wiederberftellung der
Kirchengebote auf. — IU. Margaretha von Eortona, HI. Büßerin, ges
boren zu Alviano im Toscaniſchen 1248, war bis zum 25ten Jahre ihres Alters
im die gräulichfte Unzucht verwidelt. ALS fie einft einen ſchon halb von Würmern
zerfreffenen Leichnam fah und gewahrte, daß es der Körper eines Menfchen war,
mit dem fie Unzucht getrieben hatte, gingen ihr plöglich die Augen auf und be—
gann fie ein Bußleben firengfter Art im Kloſter der Franeiscanerinnen zu Cor—
tona. Sie ftarb den 22, Febr. 1297 und wurde 1723 von Papft Benedict XIIL
canonifirt. Ein Gegenſtück zu diefer Hl. Büßerin bildet die Hl. Büßerin Maria
von Aegypten, worüber Bolland. 9. April, [Schrödl.J
Marheinecke, Philipp Conrad, geboren zu Hildesheim 1780, ſtudirte
zu Göttingen die Iutherifhe Theologie, erhielt 1804 von der Erlanger Univerfität
die philofophifche Doctorwürde, wurde 1809 ordentlicher Profeffor der Theologie
in Heidelberg. Seine Lehrer Planf und Daub übten unverfennbaren Einfluß auf
Marheinecke. 1811 erhielt er die theologiſche Doetorwürde, und zwar in Berlin,
wohin er im befagten Jahre einen Ruf, den er zuvor nah Königsberg erhalten
und abgelehnt hatte, annahm. 18320 ward er zugleich auch Prediger an der Drei«
faltigfeitsficche, und 1821 Dberconfiftorialrath, Er las über Kirchen- und Dog⸗
mengefchichte, Kirchenrecht, Symbolik, practifhe Theologie und Homiletif;, Am
9. Mai 1846 flarb er. Werke Hinterließ er folgende: Mehrere Predigten und
Differtationen; Univerfalpiftorie des ChHriftentfums, 1806 Ceine Jugendarbeit,
die Marheinecke nicht fortfegte, wie auch feine Gefchichte der chriſtlichen Mora);
chriſtliche Symbolik oder Hiftorifche Kritik des kathol. luther., reformirt. und ſo—
einianifchen Lehrbegriffs, 3 Bde., Heidelberg 1810—13; Aphorismen zur Er—
nenerung des firdhl. Lebens, 1813; Gefhichte der teutfchen Reformation, 4 Bde,,
1816— 34; Grundlagen der chriſtl. Dogmatif, 1819, 2. Aufl. 18275 Lehrbuch
des chriftl. Glaubens, 18235 Einleitung zu öffentlihen Vorlefungen über die
Bedeutung der Hegel'ſchen Philofophie in der chriſtlichen Theologie, 18425
Möplers Symbolik und Görres Athanafius Fritifirte Marheinecke ausführlich vom
einfeitigen Standpuncte des Proteftantismus aus, zeigte aber weit mehr Gerech-—
tigfeit und Achtung vor Möhler als Dr. Baur im Tübingen im nämlichen
Feldzuge gegen Möhler. In feinem Syfteme des Katholicismus vertheidigt Mar—
beinede die eigene (todte) Kirchenſprache. — Unter den neuern proteftantifchen
Dogmatifern ift Marheinede einer der berühmteften. Das Pofitive legte er im
die fih felbft gleiche Religion der Vernunft. In der Idee von der Kirche fcheint
Marheinecke ganz mit Schleiermaher zu harmoniren; allein bei Marheinede ift
Idee etwas ganz Anderes als bei Schleiermarher; denn Marheinecke ift Hegelianer
und einer der erften Dogmatifer, der diefe Philofophie eonfequent in der Dog-
matif durchgeführt hat. [Haas.]
Maria (Mirjam), die Heilige Jungfrau und jungfräuliche Mutter Jeſu
Ehrifti, des Sohnes Gottes unferes Herrn, nimmt in der inneren und äußeren
Geſchichte der göttlichen Heilsanftalt eine für uns Alle ebenfo einzige als wich—
tige Stellung ein. So fehr aber um diefer wilfen das Intereſſe aller Gläubigen
ſich ihr zuwendet, fo weithin auch ihr Name genannt und gepriefen wird, fo hat
Doch über ihr Leben die Schrift uns nur Weniges aufbewahrt. Wie in der evan-
gelifhen Heilsfunde Alles auf deren göttlihen und geiftigen Mittelpunct bezogen,
und Alles, was von Perfonen in dem großen Werfe mitthätig erſcheint, nach
Maßgabe diefes höchften Zieles berücfichtiget wird: fo wurde auch von Maria in
53*
836 | Maria, die heilige Jungfrau,
die evangeliſche Berichterftattung bloß fo viel aufgenommen, als die Erkeuntniß
und das Verftändniß des Geheimniffes Jeſu Chriſti erforderte. Altes Uebrige,
namentlich Anfang und Ende ihres irdifchen Lebens‘, bleiben in Dunkel gehüllt,
Zwar hat die productive Sage der Folgezeit, und vornehmlich jener Secten,
welche viel „auf Fleifh und Blut“ hielten, ihrem Bilde gar Vieles beigefügt;
für ung aber, welchen durch kirchliche Authorität gewehrt ift, ſolchen apoeryphiſchen
Veberlieferungen, wie fie 3. B. das Protoevangelium Jacobi minoris, dag Evange-
lium nativilatis Mariae in Fülle enthält*), viel Glauben zu ſchenken, üßriget nur;
aus den authentifhen Mittheilungen der Evangeliften unter Zuziehung der älteften
Väter das zu einem Ganzen zu verbinden, was bei dieſen zerſtreut fich findet. —
Was vor Allem anzieht, ift die Genealogie Mariens, der Mutter Jeſu Chriſti
Das Erfte, wodurd die Schrift den verheißenen und erfchienenen Chriſtus feinem
Bolfe Fennbar macht, ift deffen Davidische Abkunft (2 Kon, 7, 12, Pf. 88,36,
131, 11., vgl. die prompte Antwort Matth. 22, 42,);5 und darum, weil diefer
aus unverlegtem jungfräulidem Schooße hervorgegangen ift, die Frage nad) ver
Abftammung der jungfräulihen Mutter. Zur Zeit der irdifchen Erſcheinung Jeſu
war darüber fein Zweifel, Man wußte es nicht anders, als daß er Davids Sohn
fe. Sp ward er allgemein geehrt und begrüßt. Matth. 9, 27. 21, 15, Die
Familie, welcher er angehörte, war befannt als eine Davidifche, und im erften
canoniſchen Evangelium wird dieß Zeugniß begründet durch Darlegung der Ahnen,
durch welche von Abraham und David her das Geſchlecht Joſeph's, „des Mannes
Mariä”, aus der geboren worden ift Jeſus, genannt Ehriftus, ſich abwindet.
Daß die Genealogie der Tegteren in der Wurzel eine fei mit der ihres Mannes,
wird dabei ftilffehweigend fupponirt, oder nach den gegebenen Berhältniffen als
befannt angenommen, Für die erſte Declarirung Jefu als Davids-Sohn unter
feinem Volke war damit geforgt, — auf fo lange, als nicht das Myſterium der
jungfräulichen Empfängnif für die Gläubigen in der Folge die Frage nach feiner
wahren Abftammung aufs Neue anregte, Das Dunkel, weiches Matthäus hier-
über belaffen, wird dur Lucas aufgehellt. Es darf jest mit aller Sicherheit
behauptet werden, daß die Stammtafel Luc, 3, 23—38. mit den eigentlichen Bor-
vätern Jeſu Seitens der Mutter, alfo mit deren wahrem Gefchlechte befannt
macht, Nur in wieferne über diefen Gegenftand in den vorangegangenen Artikeln
nichts zur Sprache gebracht wurde, möge, weil die negative Kritif in der angeb-
lichen Disharmonie der beiden Stammregifter eine empfindliche Blöße an unfern
evangelifchen Berichten aufgedeckt zu haben glaubt, eine kurze Bemerkung darüber
Platz finden (eine gute Abhandlung darüber Tübing. Duartalfchr, Jahrg. 1836,
©. 403 f. u. ©. 539 ff. von Shleyer). Was den Matthäus betrifft, ſo iſt von
ſelbſt Mar, warum und wozu er jene Genealogie des Pater putativus Jeſu auf
genommen. Unter feinem Namen wurde Jeſus, bis auf dem Wege der Verfündi-
gung das Geheimniß der übernatürlichen Empfängniß enthüllt ward, unter dem
JZuden als Davidide eingeführt und anerkannt, Als Joſephs-Sohn galt er auch
für Davids-Sohn. Und es lag darin feine Unwahrbeit, vorausgefegt, daß, was
zur Zeit nicht minder Tautfundig war, Maria deffelben Geblütes war, Dieſe
Rückſichten alle fielen bei Lucas weg. hm, dem Späteren, Tag ein anderer
Codex apocryph. N. T. P. I. p. 19. p. 66. Papft Innocenz I. in feiner Ep.
ad 22 —— c. 7. ſagt darüber: Ceteraquae sub nomine Matthaei, PR
Jacobi minoris etc... non solum repudianda, veram etiam noveris esse damnanda. —
apft Gelafius, Decret. de libris apoeryph. Uolleet. Coneil. ap. Hardun T. 1. p>
41. Evangelium nomine Jacobi minoris apoeryphum. Es if vielleicht darum abi
diefe Urtheile der Kirche über diefe Categorie von Schriften anzuführen, weil man. in neuefter
Zeit viefelben ausbeutet, um die hiftorifchen Quellen des Chriſtenthums durch ſolche Geſell⸗
ſchaft zu verbächtigen. Die Kirche hat nie etwas darauf gegeben, Vgl. August. contr,
Faust, 1. XXI. c. 9. DR ı0
* Maria, die heilige Jungfrau. 837
Zweck vor. Nachdem er feinen chriſtlichen Leſern über das Myſterium der Menfch-
werdung aus der unberührten Jungfrau Eingangs berichtet hat, und weiterhin
Meldung gethan der himmlifchen Erfcheinung, welche bei der Taufe der Gottes-
Sohnſchaft Jeſu Zeugniß gegeben, fährt er fort (3, 23): „Und Jefus war, an-
fangend zu predigen, gegen dreißig Jahre alt, feiend Sohn, — wie man meinte
Zoſephs — des Heli, des Matthat, des Levi... des Nathan, des David...
des Adam, Gottes”. Man muß fih wundern, wie jemals Angefichts des klaren
Buchſtabens verfannt werden konute, daß der Evangelift hier die Väter Herzäßle,
deren Sohn Jeſus mütterliher Seits wirklih war, des Heli — bis Adam nad
dem Fleiſche, und Sohn Gottes nach feiner göttlichen Wefenheitz und wie man,
um Joſeph in irgend einem Sinne zu einem Sohne Heli's zu machen, zu ver⸗
wickelten und verwickeluden Hypotheſen von einer Leviratsehe, von Adoption u. ſ. w.
die Zuflucht nehmen mochte *). Es Hätte davon ſchon die Erwägung zurückbringen
follen, daß man am Ende weniger noch als bei Matthäus — nämlich bloß die
putative Geſchlechtsreihe, nicht aber die wahren Vorväter Jeſu zeze 00024 vor
ſich Hätte. Doch genug; war, wie Lucas. ausdrüdlich angibt, Jeſus Sohn (Or
viog), — mit Ausfhluß Joſephs, — des Heli, fo war alfo Maria Tochter des
legteren, und Sprößling aus Davidiſchem Blute durch die-Nebenlinie von Nas
than. Und daß dem fo ſei, bezeugt die altjüdifche Tradition, welche, wenn fonft
irgend, hier Glauben verdient, wo fie die iprer Perfönlichkeit nah namhaft macht,
deren Andenfen den Juden fo verhaßt geworden, Es wird aber im Thalmud von
Sernfalem Chagig. fol. 77. n. 4. Maria, die Mutter Jeſu des Nazareners, eine
Tochter Eli's genannt (Vidit Mariam fillam Heli in umbris... Vectis-portae Ge-
hennae erat infixus-ejus auri eto, Vgl. Sepp, Leben Jefu, Bd. II. S. 3. Note).
Und wenn Epiphanius Haer. LXXVII. n. 17. davon abweichend berichtet, ihre
Eltern Hätten JZoahim und Anna geheißen, fo verdient diefe Angabe, weil aus
ſehr trüber Duelle, dem apoeryphiſchen Evangelium Nativitatis Mariae oder auch
dem Protoevangelium Jacobi minoris — gefchöpft, mindeftens nicht mehr Glauben;
Hieronymus und Auguflinus find noch ununterrihtet über den Namen derfelbenz
— und angenommen auch, fo bleibt immer noch der Ausweg übrig, daß Heli,
abgefürzt aus Heliafim, derjelbe Name ift, was Joakim oder Joachim. So viel
über die Herkunft Mariens, — Welches aber der Wohnort Heli's geweſen, iſt
fo wenig befannt, als von den übrigen Familienverhältniffen uns überliefert wor=-
den iſt. Nur das fcheint aus Allem zu erfhließen, daß Maria das einzige Kind
ihrer. Eltern, alfo, wie Epiphanius berichtet, eine duyarno Erulxl.7008 gewefen,
womit zufammenhängt, daß fie zur Zeit der römifhen Schagung (Luc, 2, 3 f.)
als Erbin für ihre Perjon in den römiichen Cenfus aufgenommen werden mußte
(Tertull. contr. Jad. e. 9). Was von ihrer Weihung und Erziehung im Tempel
zu Ierufalem, unter -Aufficht des Priefters Zacharias, die Legende vorbringt, er—
*) Die Meberfegung der Vulgata Luc, 3, 23 ff. qui fait seil. filius Heli, qui fuit
(filius) Matthat ift fhon aus dem Grunde nicht annehmbar, weil am Ende Adam in dem⸗
felben Sinne prädieirt: würde „Sohn Gottes“, wie Seth ein Sohn Adams, Gramma-
dich, gebt diefe Deutung auch nicht, weil nah dem Gräcismus z.B. 0 13 Alpais, hier
za derpoppelt fiehen müßte, Cs fireitet ferner gegen die Conftruction, welde 15 von dem
vorhergehenden Nomen abhängen läßt, der ganze ii ne der Hebräer und der LXX.
Wo viefe in linea ascendente genealogifiren, fo fegen fie entweder 6 1#, oder wenn meh⸗
rere Glieder folgen durch Ueberiegung des hebr. —r2, vis.. vis u ſ. w., z. B. 1 Chrom
6, 33.: Altar öl weiraöns, vios 'Ioyk, vis Zauovn), vis Eixave xıh. Judith war Zub,
8, 1.2 Iuyarıg ——— Ofeyk, vis Eixie, vis Hkis ꝛc. Zu N. T. findet ſich ein
Beifpiel Math, 1, 1, vis Aevid, vis Adgeeu, wo das zweite vis wirklich nicht auf Ines
Xgısrs, fondern auf David zurüdgeht. Nie und nirgends in der ganzen Schrift werden
die Geſchlechter dur 7#... ra catalogifirt. Es Fönnen darum die fämmilichen Genitivt
<5 bier nicht anders als von dem Einen Nominativ vios B. 23, abhängen, Bol. einen
ähnlihen Fall mit na Genef. 36, 2. ihrer Aa
— Maria, die Heilige Jungfrau
kennt Feine frühere und andere als obige von ven Vätern und den Päpften als
unlauter bezeichnete Duelle an, Eben fo unzuverläffig ift, was Nicephorus H.
ecel. I. 3. aus einem angebligen Fragmente des antiochenifchen Biſchofs Evodius,
Vorgängers des Ignatius, mittheilt, (Vgl. darüber Baron, Annal. eccl. in Appar,
Edit. Colon. 1624. pag. 19.) Daffelbe geheimnigvofle Dunkel, womit Gott den
übrigen Gang der von ihm zu realifirenden Heilsanftalt vor den Augen der Welt
umfchleiert Hat, bebeckfte eben auch die Kindheit und Jugend der präbeftinirten
Deipara. Unter ven Vorkehrungen, im Intereffe des Myfteriums getroffen, er-
fiheint als das Erfte, was die evangelifche Geſchichte von ihr bezeugt, ihre Ver—
lobung und VBermählung mit einem Abkömmling des Davidifchen Haufes, mit
Sofeph, dem Sohne Jacob's. Den trifftigften und richtigften Grund diefer pro-
videntiellen Vorkehrung Hat Ignatius d. M, bereits angegeben, Es follte die
Zungfraufchaft und jungfräulihe Empfängnig und Geburt dem Fürften der Welt
ein Geheimniß bleiben, Ep. ad Ephes. 6.19. Was abermals die Perfon Joſephs
betrifft, fo erfahren wir auch von ihm nicht mehr, als daß er ein gerechter Mann,
feines Gewerbes ein Zimmermann (Text), zur Zeit der Verlobung in Naza-
reth , vem galiläiſchen Bergftäntchen, wohnhaft war, und allem Anfcheine nach in
den Jahren bereits vorgerüdt, Heli's Erbtorhter, wie man vermuthet, als nächfter
Agnat dem Gefege und der Pflicht gemäß zur Ehe nahm. Db er, wie Epipha=
nius CHaeres. LXXVIII. n. 7 sq., auch Drigenes in Matth. 13, 55., Eufebius
H. eccl. I. 1., Gregor v. Nyffa de Resurr. Dom. Or. 11.) anführt, feit Längerem
Wittwer und hochbetagt (Epiphanius gibt ihm SO Jahre), zudem mit Kindern
ans einer erften Ehe gefegnet, mit der HI. Jungfrau ſich verlobt Habe, ift zweifel«
baftz Andere, wie Hieronymus (c. Helvid. c. 9.), find anderer Meinung; und
daß, was Epiphanius bei diefer Gelegenheit von den fog. „Brüdern Jeſu“ mit-
theilt, des Hiftorifchen Bodens ermangle, iſt fiher, — Wichtiger als diefer un-
zuverläffige Sagenfreis, der theils auf Apoeryphen, theils auf haltloſe Eregefe
ſich ftügt, ft deren Verhältniß nach der Verlobung und der Vermählung zu ein-
ander, Beide, die Desponsatio und die Dedactio sSponsae in domum sponsi, waren
nach jüdifcher Sitte durch eine Zeitfrift von einem Jahr und dfter darüber ge—
trennt, Auch in der evangelifchen Gefchichte trifft dieß zu; und zwifchen inne liegt
das große Ereigniß, von welchem die Heilsbereitung den Ausgang genommen.
Maria war Verlobte (Euvnorevuivn, Luc, 1, 27.), noch nicht in das Haus des
Bräutigams übergegangen (Matth. 1, 18 f. [rrolv 3 ovveoysoI+a avrovs]),
als fie die Botfchaft des Engels empfing, welde ihr eröffnete, daß fie einen
Sohn in ihrem Meutterfchooße empfangen und gebären würde, welcher Jeſus zu
nennen, den Namen Sohn Gottes haben und feines Vaters David Thron auf
ewig einnehmen werde Cogl. Pf. 131, 11. 88, 20—33.), Es hatte aber Maria
früher ſchon, vor ihrer Verlobung, das Gelübde abgelegt, unverfehrte Jungfräu-
Vichfeit zu bewahren (of. Baron. Annal. ]. c. p. 22 sq.). Es war die nicht blofes
Vorhaben, fondern bereits unwiderrufliche That, Sie erinnert daher, wie dent,
was der Engel angefündiget, im Wege ftehe der Umſtand, daß fie auf feinen ehe-
lichen Umgang ſich einlaſſe. Der Engel hebt ihre Bedenken. Es werde die Be-
fruchtung ihres jungfräufichen Leibes durch die Neberfhattung des HI. Geiſtes und
die Macht des Allerhöchſten gefhehen, und darum auch [dıo zal) das aus ihr
geboren werdende Heilige Sohn Gottes genannt werden, Zum Unterpfande gibt
er ihr ein Wahrzeichen an der Verwandten Elifabeth, welche in ihren hohen Tagen,
nach allen Jahren der Unfruchtbarkeit, mit einem Sohne im fechsten Monate ge—
fegnet fei. Dieß Wort entfchied; — Maria ſprach: „möge mir gefchehen nad
deinem Wort” (Luc. 1, 27--38.). — Des Engeld Hinweiſung auf Eliſabeth
war mehr als eine bloße Anzeige des Geſchehenen; — es follte Maria zur Be—
währ dienen, daß bei Gott fein Ding unmöglich fei, auch das wicht, was ihr
war verkündet worden, Sie eilte num fofort, des verheißenen Wahrzeichens an«
% Maria, die Heilige Jungfrau, 839
ſichtig zu werben, nach dem jüdifchen Hochlande, wo Zacharias, wahrſcheinlich in
der alten Priefterkadt Hebron, lebte, Raum war fie eingetreten, kaum batte fie
die alte Elifabeth gegrüßt, als diefe ihr Tant den Gruß entgegenrief: „Gefegnet
bift du unter den Weibern, und gefegnet ift die Frucht deines Leibes; und woher
das Glüf mir, daß die Mutter meines Herrn zu mir fommt ?" Sie erklärte ihr
auch, wie fie zu diefem Wiffen gekommen. Ihr Kind, das zum „Wegbereiter des
Herrn“ beftimmte, habe, als Maria fie gegrüßt, voll Freude im Leibe gehüpft.
Und fie pries Marien felig, daß fie dem Worte Gottes fo gläubig vertraut.
Maria war durch diefes Zuvorfommen überrafcht, fie fand Alles, und mehr noch
als fie erwartet hatte, beftätiget. Ihr Glaube zur VBollerfenntniß geworden, was
Gott Großes an ihr gethan, und fo brach ihr begeiftertes Gemüth in den herr-
lichen Hymnus aus (Luc. 1, 46 ff.). — So Fehrte Maria neugeftärft nad einem
Aufenthalte von drei Monaten von Judäa heim nach Nazareth, Aber nad diefer
Zeit zeigte fih, was vorher Geheimniß gewefen; und Joſeph trug num Gewiffeng-
bedenfen, die Berlobte, die ſchwanger befunden war, zu fih in's Haus zu nehmen,
Sei ed, daß fie mit dem Berlobten vorher nicht zufammengefommen, oder darüber
nicht gefprochen,, ehe fie nähere Gewißheit erhalten; fei es, daß fie nachher fi
ihm entdeckt, aber von ihm etwa die Antwort des zweifelnden Zacharias erhielt:
Unde hoc sciam? — genug, Joſeph faßte Angefichts des Gefchehenen den Vorſatz,
Maria, um ihre Ehre möglichft zu ſchonen, heimlich, d. i. mittels Scheidebriefs
vor zwei Zeugen, ohne Angabe des Grundes eingehändiget, zu entlaffen*). Da
übernahm Gott die Vermittlung. Diefer gibt dem gereihten Manne in einem
Traumgefihte belehrenden Aufſchluß über die übernatürlihe Empfängniß der
Leibesfruht im Schooße der Jungfrau, und beftimmte ihn, feinen Entfhluß zu
ändern und Marien fofort zu fich zu nehmen — Virginis custos potius, quam ma-
ritus (Hieronymus c. Helvid. c. 9.). Ihr Verhältniß hörte nicht auf, ein bräut-
liches zu fein. Matth. 1, 25, Luc, 2, 5, — So ward dur die Vermählung
gegenüber der Welt der Schleier des Geheimniffes über das Ganze geworfen,
Maria erſchien und galt als Weib des Joſeph, und reifete als ſolches ſechs Mo-
nate fpäter, ald der Eenfus des Auguftus fie von Galiläa nach der Stammes-
heimath rief, mit ihm nach Bethlehem, Ihre Anwefenheit dajeldft fiel zufammen
mit dem Ende ihrer Schwangerfchaft, und fo wurde das göttliche Kind bei Beth-
ehem in einer Grotte (a. U. C. 747) unter Begrüßung der himmlifchen Heer-
fhaaren geboren. Nahdem daffelbe am achten Tage befchnitten und nach Gefeges
Vorſchrift im Tempel dargeftellt war (Luc, 2, 22 ff.) unter fortwährend neuen
Dffenbarungen, welche darüber ergingen, nahmen die Eltern ihren Wohnfig in
Bethlehem. Es dauerte dieß gegen Ein Jahr und darüber, bi die Ankunft der
Magier und der Mordplan des Herodes zur Auswanderung nach Aegypten nö—
thigte. Sie ließen fih, wie die Tradition fagt, in der Umgegend der Priefterftadt
Heliopolis, wo zahlreiche Anfiedlungen der Juden waren, nieder. Diefer ägyp=-
tifche Aufenthalt währte jedoch nicht lange. Nach des Herodes Tobe (750 U. C.)
fehrte die Hl, Familie wieder heim (Matth. 1, 19.), und zwar, da das tyrannifche
Auftreten des Thronfolgers Archelaus neue Gefahr fürchten ließ, nicht mehr nach
Bethlehem, fondern nah dem unanfehnlihen Nazareth in Galiläa, das unter
Herodes Antipas Scepter mehr Sicherheit für das Zefusfind darbot. — Bon nun
an fällt wieder die Hülle über die Gefhichte der HI. Jungfrau. Nur viermal
noch tritt fie in dem Leben ihres Sohnes Handelnd herein: bei der Dfterreife Luc,
*) Was die jüdiſche Gehäffigkeit wider Mariens Reinigkeit aufzubringen nicht errötpete,
wird in der Schmähihrift des Celfus einem Juden Jeſu gegenüber in Mund gelegt.
Origen. c. Cels. 1 28. Es genügt, darüber anzuführen, was Mohammed darüber urtheilte.
„Weil fie (die Juden) nicht geglaubt Can Jefum), und wider die Maria große Lä-
ferungen ausgeftoßen, darum haben wir (Gott) fie verflucht.“ Sur IV. ©. 73. Aus=
gabe von Ullmann, 1840,
810 Maria, bie Heilige Jungfrau. =“
2, 41 ff., wo. fie den zwölfjährigen Jeſusknaben — 0 GER.
im Tempel wieder findet; bei der Hochzeit zu Cana, Joh. 2, 1., einmal zu
pernaum, Matth. 12, 46 ff., und endlich. am Leidenstage unter dem Kreuze, Joh
19, 25 f., wo fie von Jefus dem Liebesjünger Johannes übergeben wird, -Wel-
ches inzwifchen ihre Verhältniffe gewefen, läßt fi nur errathen. Sie lebte in
armen Umftänden in der Familie des HL Joſeph, der inzwifchen »geftorben , zu⸗
fammen mit deffen Bruder Kleophas zu Nazareth (Matth. 13, 55. ff.) während
Sefus feiner Miffion folgte, Diefe erlaubte ihm nicht: mehr, auf die Wünfche
feiner Verwandten Nüffiht zu nehmen. (Joh. 7,3 ff; Mare: 3,81 FI. Nach
der. Himmelfahrt wird ihrer nur noch Apg. 1, 14: gedacht; das übrige Leben hellt
feine Nachricht und auf, Sie lebte noch, geht eine Sage, eilf Jahre, nach Andern
bis 48 n. Chr., und ward am Fuße deg Delberges begraben (of. Baron. Annal. Toms I;
ad ann. Chr. 48.). Vgl. hierzu die Art, Aufnahme in den Himmel und Mariä
Himmelfahrt. Sp weit die vereinzelten Erlebniffe Mariens. Neben diefen ver-
dient aber die tieffte Erwägung die eigenthümliche Führung Gottes, welche beſtim—
mend und geftaltend auf das Leben der HI. Jungfrau wirkte, Wir dürfen nicht ohne
Beachtung daran vorübergehen, und dieß um fo «weniger, als, ich weiß nicht
warum, feit Urzeit auf den Ruhm der. jungfräulichen Mutter Ehrifti fo gerne ein
neidifcher Blick fich geheftet und noch Manche fih wie befriediget fühlen, wenn
fih irgend etwas in den Schriften des neuen Teflaments darbietet, was daran
irre macht oder einigen Anhalt zu gewähren fcheint, um etwas: von ihrem Glanze
wegzunehmen, Mag es zuweilen gefchehen fein oder noch gefihehen, daß Un—
gemeffenheiten auf der einen Seite, noch. öfter Unklarheiten im der Sache, zur
Aemulation reisten: das foll aber nicht hindern, was die Schrift darüber infinuirt,
unbefangen zu erforfchen, Der Gewinn davon wird auch dem weiter folgenden
Betrahtungen zu Statten fommen. — Wenn 8 ein auf riftlichem Boden un—
beftreitbarer Sat ift, daß das Evangeliun oder die Heilsveranſtaltung in Chriſto
die Nealifirung eines göttlichen Urgeheimniffes ift, deffen Aus- und Durchführung
an gewiffe, Dazu auserfehene Perfönlichkeiten gefnüpft erfcheint, die Gott eigens
dafür vorbereitet und zu Handen nimmt, wie den Täufer Johannes Aucr1, 15f.)y
den Paulus (al. 1, 15.)5 wenn alfo auch und vor Allem der Beginn der Ver⸗
wirflichung des Planes davon nicht auszunehmen ift: fo wird für Jeden, der dieſe
biblischen Vorberfäge annimmt, Maria: unter diefen vorbereiteten Gefäßen und
Drganen wie der Zeit fo auch der. Sache nach die: vorberfte Stelle einnehmen.
Sie, die zu diefem Werke Prädeftinirte, wird in eigener Werfe dazu ausgerüftet
worden fein. Dieß drückt auch der Engel aus: „Sei gegrüßt, Begnadigte (xe-
xeg1TwuErn), der Herr ift mit dir, gefegnet bift du unter den Weibern“, Sich
felbft unbewußt, war-fie, als was der Engel fie declarirt und feiert — zegaegı-
Touevn, was er fogleich erläutert: „Du haft Gnade gefunden. bei Gott”, Die
Fülle des ihr eingeflößten Geiftes- oder Önadenlebens hatte in ihr eine homogene
Entfaltung gefunden. In Folge davon nahm ihr ‚geiftiges Wefen jenen Auf
ſchwung, der uns zuvörderſt überrafcht in der Erklärung: „Virum non cognosco®.
Bereits hatte ihr erleuchteter Geift zu jenem Ziele fih erfchwungen ‚won bem es
heißt: neque nubent neque nubentur, sed erunt sicut angeli Dei in coelo (Matth.
22, 30.). Bon diefer Gnadenfülle her, welche auch ihr Teibliches Wefen zu einem
vollfonmen reinen Gefäße des Geiftes machte, erflärt und begreift fih ihr jung
fräufiches Gelübde weit einfacher. und ficherer, als. das Pfenddevangelium Jacobi:
minoris darüber Auffchluß gibt. Das Außerordentliche der Begnadigung darf bier
nicht auffallen, Handelte es fih um den Vollzug: des «göttlichen Urplanes, die
Menschheit durch eine Art Neufchaffung, wie fie von Ehriftus ausgehen follte, zu
ihrem Ziele zu vollenden, fo darf das Höchfte, was in der Art von Gotf ver-
lieben wird, nicht überrafchen, Sp und nicht anders ſah es auch die demuths—
solfe Jungfrau felber an: „Fecit mihi magna, qui potens est, et sanclum nomen,
I,
| * Maria, die heilige Jungfrau gat
ejus* Lue. 1, AR Und begreiflich: ſollte, was Gott bezweckte, ſicher ſich voll⸗
enden, fo mußte der erſte Anfang zum großen Werk feſt gegründet fein. Indeß
wie reich auch diefes Gnabenleben war, fo hatte es doch feine Stufen und feinen
Fortſchritt. Schon die Erfenntniß von Allem , was das Diyfterium umfaßte, war
nicht mit einem Mal in ihr vollendet; und: die ftrengen Geſetze der Heilsdeonomie,
nach denen hier Alles zu bemeffen ift, machten bei’ Maria feine Ausnahme. Auch
der hl. Jungfrau deckte fich allmählig und vom Schritt zu Schritt das auf, was
nach Gottes Plan im Verborgenen ſich erfüllen follte; und wie die Zeitereigniffe
vorrückten, fo erweiterte fich ihr der Kreis der Offenbarung, Sie eilte, als fie
den Engel vernommen, die Wahrheit der Botfchaft durch das Zeichen inne zu
werben, welches er ihr gegeben; und was ihr da entgegenfam, ſtärkte und fleigerte
ihre Erkenntniß, daß und wie fehr Gott gnädig mit ihr gewefen, und erfüllte fie
mit Glauben und Begeifterung. — Was die betblehemitifchen Hirten bei der Ge—
burt ihres Kindes hinterbrachten, warf ihr neues Licht auf daffelbe, als den ge=
borenen Heiland-feines Volkes und Friedensfürften, wie die Engel ihn be=
fungen. Sie erwog all das in ihrem Herzen (Luc. 2,18 f.). Und was Sinieon
zufegt im prophetifchen Geifterim Tempel ihr von dem Kinde weiffagte, daß es
fein würbe nicht der Glanz allein feines Volkes, fondern auch das „Licht der
Heiden, die im Finftern und Schatten des Todes ſitzen“, brachte einen neuen
Zuwachs ihrem Wiffen, und feste „fie in Berwunderung” (luc 2,23.) Es
war eine durch viele Zeugenflimmen wachfende harmonifche Enthüllung des ihr
Anvertrauten, überrafchend durch die Mannigfaltigfeit derer, welde ſtets neue
Mittheilungen zu dem brachten, was fie vordem einfah aus des Engels Mund
empfangen hatte, Diefe Art Offenbarung tritt mit der Zeit zurück, und es über-
nimmt ihr Sohn es felbft, ihr Lehrer zu werden, der fie über das menſchliche
Denfen hinweg in die Heilsgeheimniffe einführt, Die uns befannte merkwürdige
Einleitung bildet die Begegnung im. Tempel. Luc, 2, 46 ff. „Was fuchtet ihe
mich auch, war die Antwort auf den fchmerzlichen Vorhalt der Mutter; — wuß⸗
tet ihr nicht, daß ich in dem, was meines Vaters ift, fein müſſe?“ Wohl war
ihnen Alles bewußt, was die himmlifchen und prophetifchen Stimmen von ihm
bezeugt hatten; aber über der Alltäglichfeit der äußern Anfhauung ward es dem
Berftande nicht fo Teicht, die gemeffenen Folgerungen ſtets und mit ftets gleicher
Klarheit fih vorzuhalten. Darum erinnert er fie darauf, wer er fer, um außer
allem Zweifel zu fein, wo er fein müffe, welcher Beruf ihn, fern ab von der
leiblichen Mutter, feßle. — Mit der Zeit, wo Zefus, der Menfchenfohn, alsı
Knecht Gottes“ in die Ausführung der ihm vorgezeichneten EvroAn eingeht, und
mit dem Anheben des Evangeliums (Mare, 1, 14 f.) das ganze Leben des Herem
den ftrengen Charakter des Gehorfams nah Art der Knechte annimmt, treten)
auch. deffen Rückſichten auf die natürlihen Bande immer entfihiedener in den Hin—
tergrund, Es ift der gottoäterliche Auftrag, in dem fih von da an fein Lebens—
opfer in vollftändigfter Selbftentäufßerung verzehrt. Gegen diefen fteht ſelbſt
die Mutter ihm zurück. Wo diefe (30h. 2, 3.) zu Cana ihn drängt, berichtiget
er. fie: „Weib, was ift mir und dir: meine Stunde ift noch nicht gekommen”, —
fie erinnernd, wie er verfchieden von ihr, gebunden von dem höhern Willen, feine
Handelnszeit von Gott dem Vater zu gewärtigen, nicht aber fich felbft zu nehmen
babe (vgl. Iren. adv. Haer. II. 16. n.7.). — Und wie mächtig ihm, dem
„Knechte Gottes“, die geiftigen Bande mehr gelten als die der Natur, drückt er
feierlich Matth. 12, 48 f. aus: „Wer ift meine Mutter, und wer find ‚meine
Brüder? Und ansftrerfend feine Hand über feine Jünger: Siehe hier meine
Mutter und meine Brüder; denn wer den Willen thut meines Baters im
Himmel, der ift mein Bruder und meine Schwefter und Mutter“, In welchem
Sinne er diefes geſprochen, darüber gibt er Luc, 14, 26 f. felbft den Commentar.
Was er als Gefeg feiner Züngerfchaft vorgezeishnet, hat er ſelbſt vorgethan.
. Maria, die heilige Jungfrau. ”
Die Selbftverläugnung deffen, was er war, in Rnechtsgehorfam unter Gott
Phil. 2, 6 ff.) dehnte fih auch auf jedes andere menschliche Wollen, auch auf
das der Mutter aus, wo diefe mit natürlicher Sorglichfeit ipm folgte. Sie aber
lernte und übte, belehrt und geführt von ihrem Sohne, mit dieſem vollfommenen
Gehorfam (Hebr. 5, 8.). Vielleicht gibt die Erwägung eben dieſes Gefeges,
welches fich im Leben Beider fo ftreng abprägt, den Schlüffel auch zum tieferen
Berftändniffe deffen, was unter dem Kreuze vorgegangen iſt. Daß mit ven Wor-
ten: „Weib, fieh’ da dein Sohn”, — „Sohn, fieh’ da deine Mutter“, — letz⸗
tere in die Findliche Obhut des geliebten Jüngers übergeben wurde, iſt richtig;
nicht minder liegt aber in den Worten des feine Selbftopferung eben vollendenden
Gottmenfhen, daß er damit des Naturverbandes legte Fäden löste, als Alles,
was er von ihr hatte, im Dpfer fich für Gott verzehrte, Beider Selbftentäuße-
rung erreichte damit ihre Spige, aber auch ihre Verklärung, Als fie den ihr ent-
fremdeten Sohn aus dem Tode bald darauf zurüf empfing, war das von ihr ge=
nommene menschliche Wefen transformirt in’s Göttliche — Sohn Gottes eingefegt
in Macht nach dem Heiligungsgeifte (ogl. Rom. 1, 4., bef. 2 Cor. 5, 16.) —
Diefes ihre göttliche Führung. Es fällt, von diefem Gefichtspunete aus ihr Leben
betrachtet, freilich mande Anficht weg, welche im vermeintlichen Intereffe ihrer
Ehre hineingetragen wird, welche aber, indem fie die jungfräulihe Mutter zu—
weilen über den in wahrhaft menfchlichen Leivensgehorfam Hingegebenen Sohn
Gottes ftellt, ihr eher derogirt als zulegt. Es fallen damit aber auch weg bie
Einwendungen alter und neuer Rritifer, die es unbegreifli finden, daß nach dem,
was Gabriel zu Marien gefprochen, diefe fi noch „wundern“ fonnte, wie
über etwas Neues, über das, was der Greis Simeon ihr weiffagte; daß fie nicht
verftand, was der zwölfjährige Jefus wollte, als diefer ihr erwiederte, fie hätten
wohl wifjen follen, daß er in dem, was feines Vaters iſt, fein müffe, Luc, 2,
33, 49 f. Wohl wußte Maria Alles, und bewahrte und erwog alle Worte in
ihrem Herzen; aber welchen Fort- und Entwirflungsgang das Menfhliche unter
der Beftimmung der Gottheit dur das Leben hindurch fihrittweife nehmen werde
bis zur Vollendung der großen evroAn des Vaters, indem der Sohn in Knechts—
geftalt den Weg des Knechtsgehorfams ging, das hatte fie fueceffiv durch Dffen-
barung zu lernen, Und daß fie lernte, machte fie wachſen, und machte fie. groß
über Alle vor Gott und den Menſchen. Durch Leiden geprüft und vollendet, er=
fiheint fie nicht bloß in ihrer erhabenften fittlichen Größe, fondern iſt fie auch,
um den Gedanken Hebr, 2, 17 f. auf fie anzuwenden, mitleidsvolle Helferin
ihres Gefchlechtes geworden, Bon diefem, dem biblifchen Standpuncte aus, um
einen Blick auf früher Dagewefenes zurüdzumerfen, zeigt ſich auch das Unver-
ftändige in jenen Sagen, womit die apveryphifche Literatur das Leben der Oottes-
mutter auszuzieren befliffen war. Sie find Bilder rein menfchlicher Phantafie,
welche nach ihrem Sinne webt, und auch das Göttliche nach ihrer Weife ſich
geftaltet, welche aber mit der göttlichen Weisheit in der Führung feiner Aus-
erwählten nichts gemein hat, Von hier aus werben andererfeits aber auch bie
Berfleinerungen ihr rechtes Licht erhalten, welche fiih an die Glorie der Jung-
frau gewagt haben. — Zwei Puncte find es inzwifchen vornehmlich, welche den
Namen Maria’s mit dem Glauben und Hoffen der Epriften aufs Engfte ver-
flechten, und felbft im Leben und Eulte der Fatholifchen Kirche aller Zonen ihre
erhebende Kraft äußern, — daß fie ift Jungfrau und Gottesgebärerin,
Der ganze Schwerpunet des Glaubens der Chriften ruht zunächſt auf der That-
farhe, daß Maria als Jungfrau empfangen und geboren hat, durch Einwirkung
des HI. Geiftes befruchtet. Alles was weiter won der Entfündigung und Be—
freiung unferes Geſchlechtes durch das Blut Jeſu Ehrifti „als des unbefledten
Lammes“ gelehrt und geglaubt wird, ftügt ſich auf diefes Kactum, Es hängt
nämlich damit zufammen die Unbeflecktheit der ganzen menfchlichen Weſenheit
Maria, die Heilige Jungfrau— 813
Jeſu Chrifti von Allem, was Sünde heißt, welche Reinheit Niemanden zukommen
fann, der auf vem Wege der Naturerzengung in den allgemeinen Naturverband
unferes Geſchlechtes Hereingepflanzt wird, Deßhalb fand bei dem Artikel über
Entfündigung in der apoftolifhen Predigt (vgl. Röm. 8, 3. Gal. 4, 6.) diefe
Thefis voran, und bildete fie von Anbeginn einen Beftandtheil des apoftolifhen
mbolums. Und bei den erfien Vätern wird diefes wor Allem urgirt, „daß
us Chriftus wahrhaft geboren fei aus einer Jungfrau“ (Ignat. M. ad Smyrn.
0.1.);5 Zuftin dv. M. macht es in feinem Dialoge mit dem Juden Tryphon zum
Gegenftande einer eigenen ausführlihen Darlegung, daß nah apoftoliiher Pre—
digt Zefus jungfräulih empfangen und geboren fei, und diefes im Einklang mit
dem alten Teftament (Justin. Dial. c. 48 sqq., bef. c. 66.). Dieſen Punet in der
Meberlieferung nahdrudfam und feierlich hervorzuftellen, gab zunächft Anlaß der
Widerſpruch der Ebioniten (fd. A.). Es war diefes Moment der jungfräulichen
Empfängnig des zu erwartenden Chriftus in der gemeinen chriftologifchen Vor—
fteffung der Juden nicht aufgenommen. Es ging in das von ihm entworfene Bild
nicht ein, daß er auf übernatürliche Weife feinem Gefchlechte follte eingegliedert
werden. Der Häretifer Cerinth (ſ. d. A.) fammt allen Ebioniten vermochte es
nicht über fih, dem apoftolifchen Zeugniffe Hierin fih zu unterwerfen (Iren. adv,
Haer. I. 26.). Nach ihrer Annahme war Jefus Sohn Joſephs aus Maria natür-
Fi erzeugt. Einen Anhalt Hatten fie dafür im Evangelium felber nicht. Aber
bei der ganzen dürftigen Auffaffung von der Perfon und dem Werke Chriſti, we—
nig erhaben über Mofes und Mofaismus, wie fie in der clementinifchen Homilie
entfaltet vorliegt, vermochten fie nicht zu begreifen, welche Bedeutung jenes dog⸗
matifche Factum im EChriftianismus ihrer Anficht haben follte, und verwarfen fo,
was, wenn fie es annahmen, ihrem ganzen Lehrfyfteme eine veränderte Geftalt
nothwendig hätte geben müffen. Daffelbe practifche Intereffe drangte auch die
neueren Ebioniten, jene vornehmfte Thatſache vom Umfange der hriftlichen Heils—
lehre ausfallen zu laffen, — Die Fatholifche Lieberlieferung und Lehrbeftimmung
reicht aber noch weiter. Sie behauptet nicht bloß, dag Maria vor und in der
Geburt Jungfrau gewefen, fonvdern auch nachher und fortwährend geblieben,
Es wird durch diefen weiteren Zufag dem Dogma von der Fleifhwerdung des
Sohnes Gottes aus der Jungfrau zwar nicht mehr etwas Neues beigelegt, wohl
aber der jungfräulichen Mutter jener Ruhm der Unberüßrtheit, womit fie in die
bräutliche Ehe getreten, unverfümmert vindieirt. Nach dem, wie Maria Luc. 1,
34. fih ausfpricht, follte eine andere Anficht kaum denkbar fcheinen, wenigftens
auf dem Grunde der Bibel faum haftbar. Gleichwohl Fonnte man fon zu Ori—
genes Zeit (Hom. VII. in Luc.) die Meinung hie und da vernehmen, daß Maria
nach ihrer Erfigeburt fi in ehelichen Umgang mit Joſeph gefegt, und die im
neuen Teflament vorfommenden „Brüder Zefa“ nahgeborne Söhne feien. Epi—
phanius Hatte in Erfahrung gebracht, daß es namentlih in Arabien Anhänger
diefes Wahnes gebe, und richtete eine eigene Epiftel wider fie (Haeres. LXXVIH.),
Er nennt fie von der Richtung ihrer Controverfe Antivifomarianiten (ſ. d. A.)
Die Arianer Eunomius und Eudorins (f, diefe Art.) waren diefer Anficht im
Intereffe ihrer Härefie zugetfan. Bekannter find noch in der Gefchichte des dar—
über geführten Streites die Namen Helvidins, Zovinian und Bonoſus (f. diefe
Art,), welchen Hieronymus mit feinen Streitſchriften entgegengetreten iſt. Im
Ganzen waren e8 wenige bibliſche Stügpunete, an welche die Antivifomarianiten
fih anflammerten; z.B. Matth. 1, 25. und die ihnen zu entreifen einem Schrift-
fundigen wie Hieronymus wenig Mühe machte. Vgl. den Art. „Brüder Jeſu“,
und Schleyer in der Freiburger theol. Zeitfchrift. Bd. IV. S. 30. Im Grunde
waren es auch micht diefe biblifchen Stellen, welche irre Teiteten, Die Ab-
ſchwächung des Glaubens und des Sinnes für die fittlichen Ideale des chriſtlichen
Lebens führten darauf, ven Werth der Jungfräufichkeit herabzufegen, und natürlich
844 Maria, die heilige Jungfrau.
alfo vor Allem die glorreichfte Blüthe derfelben zit verbunfeln. Wo die
einmal entriffen oder entſtellt find, kann die Auflöfung des Höheren ſittlichen Le—
bens nicht ausbleiben. Daß bei Helvidius und Jovinian diefes practifche Motiv
den nächften und meiften Antheil an ihren Aufftellungen gehabt, tritt ganz uns
verbfümt hervor; und daß in den fpäteren Zeiten und heutzutage die Herabftims
mung der fittlichen Lebensforderungen auf ähnliche Umdentungen der Bibel-wieder
geleitet Habe, wird fchwerlich Jemand: verfennen. — Maria’s höchſte Würde aber
begründet, daß fie ift Deipara, daß fie Gottes Eingebornen in ihrem Fleiſche
empfangen und geboren hat. „Darum auch, ſprach der Engel, wird das aus dir
geboren werdende Heilige Sohn Gottes genannt werden“, Das nämlich iſt die
Spitze des Fatholifhen Dogma's, daß der, welcher won Ewigkeit erzeugt aus
Gott, bei Gott perfönlich fubfiftirte, Daß dieſer Nämliche in der Zeit empfangen
und geboren worden ift als Sohn der Jungfrau aus «der Jungfrauz oder wie
Ignatius d. M, es ausdrückt ad Ephes. c. 18: „Denn unfer Gott Jeſus Chriſtus
wurde im Leibesfchoße getragen (ExvVoP097I7) von Maria , ‚gemäß der. Aus
ordnung Gottes, aus Davids Samen zwar, aber vom hl. Geifter Einer iſt
Arzt, fleiſchlich ſowohl als auch geiftig, geworden: und ungeworden, im Fleiſch
geborner Gott, ... . fowohl aus Maria als auch aus Gott“, — genau fo, wie
auch Paulus Gal. 4, 6. Röm. 1, 3. denfelben Lehrſatz vorträgt. Der Name
„Sebärerin Gottes“, „Mutter Gottes“ iſt in fofern und: weil der im ihr
eingefleifchte und aus ihrem: Fleifche wirklich Geborene ewiger und gleichweſent⸗
licher Sohn ift mit Gott dem Vater, nicht bloß vollfommen adäquat dem Sad
verhältniffe, fondern ift auch biblifch, indem Eliſabeth fchon, erfüllt: vom hl,
Geifte, Maria begrüßte als „Mutter Gottes ihres Herrn,” Die Bezeichnung
Oe0roxos, ſchon fehr alt, umfaßt alle hier in Rede ftehenden Beziehungen und
drücft das Dogma von der Incarnation wie am Kürzeften.fo am. Schärfften aus,
Das Prädicat wurde allmählig um fo folenner, als die älteren Härefien faſt ohne
Ausnahme um das Verhältnif des Göttlichen und des Menfhlichen, oder, was
daffelbe ift, um die Lehrbeftimmung über die Fleifchwerdung des Logos ſich be—
wegten, und die Katholiken ihrerfeits nach verfchiedenen Seiten immer einen und
denfelben Satz zu vertheidigen hatten, daß der Sohn Gottes in Maria der Jungs
frau mit gemeinmenfhliher Natur empfangen, zugleich vollkommener Gott und
vollkommener Menſch, als Gottes Sohn und als Menfhenfohn aus ihr geboren
worben fei. Die vollendetfte Ausprägung und feierlichfte Darlegung fand diefe
Neberlieferung gegenüber den Diftinetionen, durch welche zulegt Neftorius (j.d. A),
nach dem Vorgange des Paulus von Samofata, dann nad) den einſeitigen bib—
liſchen Interpretationen des Divdor von Tarfus, Theodor von Mopfuefte, der
Lehre von der Incarnation, eine Geftalt zu geben unternommen hatte, wodurch
der Begriff der Oe0roxog als unangemeffen befeitiget wurde, Daß er die ge=
meine Tradition nicht für fich habe, geſtand Neftorius zu; feine und feiner Lehrer
Argumente waren bialectifch-biblifcher Natur, Ihre Prüfung und Entkräftung
forderten, da fie mit feiner Grundanſchauung vom Erlöfungswerfe verwachfen
waren, die Väter zur fubtilften Erforſchung der. hl. Schriften aufs Die Frucht
aber war, daß das Prädicat Oeozoxos noch beftimmter und entſchiedener der hi.
Jungfrau beigelegt und gegenüber der Härefie gefeiert wurde, — Eben dieje dog-
matifche Thatfache und diefe Würde Mariens gründete ihr im innigften Zufammen«
hange mit der Fortüberlieferung und Bertheidigung des. apoftoliihen Glaubens
im Fortgange der Zeiten jene eminente Verehrung, womit fie in der katholiſchen
Kirche aller Zungen gefeiert wird. Es wurbe gefagt: „im Fortgange der Zeiten“.
Denn daß der Marianifche Cult gleich in dem erſten bis dritten Jahrhunderte
ausgebildet vorhanden gewefen, wie im fünften und den folgenden Jahrhunderten,
dürfte ſchwer zu beweifen fein, Bei allen großen Perfönlichkeiten wird ihr Werth
und ihre fittlihe Größe und Bedeutung erſt erfannt und empfunden, wenn fie k
. Maria, die heilige Jungfrau, 845
vollendet und dem Erdenleben entrüdt find. Es tritt diefes bei dem Haupte und
Bollender affer Heiligen, bei Jeſus Chriſtus, recht augenfällig hervor. „Unfer
Gott Zefus Chriſtus, bemerkt Ignatius d. M. ad Rom. c. 3., tritt nun, im Vater
feiend, mehr im die Sichtbarkeit herein“; So ging es auch mit der Mutter des—
felben, Ihr Name fing an zw glänzen, als fie nicht mehr auf Erden gefehen
wurde, Die bloß irdifchen Verhäftniffe gingen im Bewußtfein mehr und mehr
zurüd, dafür aber trat defto Teuchtender hervor, was Gott in feiner Gnade an
ihr gethan , und was fie in der Sache unferer Heilßbereitung für ung gewirkt,
Dabei Fann und darf nicht verfannt und geläugnet werden, daß die Entfaltung
ihres Ruhmes wie die Verehrung, welche ihr gezofft wurde, gleichen Schritt geht
mit dem Kampfe gegen und mit dem Siege über die Härefie. Und es wäre nicht
zu viel gewagt, wenn man behaupten wollte, daß der der Hl. Jungfrau im
wachfenden Maße zugewendete Eult eine Art begeifterter Genugtbuung und
Huldigung fei, weldhe man in der Kampfes- und Siegesfreudigfeit ihrem Namen
brachte. So liegt e8 zum Mindeften in der Geſchichte. Je mehr die Chriften-
heit oder die Kirche mit aller Wonne an dem Gedanken hängt: „Gott menſch—
lich fihtbar geworden zur Neuheit ewigen Lebens“ (Ignat. M. ad Ephes.
0,19), defto weniger ließ fie ſich durch häretifche Sophiftif Tosreißen von dem
durch die Authorität der Apoftel ihr verbürgten Factum und Sate, daß Gottes
° Eingebornen, der uns in feinem Blute ausgeboren, uns Maria aus ihrem Bfute
eingeboren habe. Begreiflih wurde darum ihr Name mit feierlihdem Nachdrucke
vorangeftellt und in das Befenntnif feierlich aufgenommen. „Unfer Gott Zefus
Epriftus wurde von der Jungfrau Maria dur den HI. Geift im Schooße em-
pfangen, getragen und aus ihr geboren” (Ignat. M. ad Ephes. c. 7. ad Trall, ce. 9.
ad Smyrn. c. 1.etc.), wurde als Antivotum gegen alle häretifche Lehrcorruption
eingeprägt, Nicht lange, fo nöthigte diefelbe Controverfe auch, die katholiſche
Auſchauung tiefer zu begründen, Als nähfte fruchtbare Parallele bot ſich dar die
Stammmutter unferes Geſchlechtes. Man fand es ganz entiprechend der Orb-
nung der göttlichen Deconomie, daß „wenn durch eine Jungfrau, Eva, von der
Schlange durch Annahme ihres Wortes befruchtet, Ungehorfam und Tod geboren
hatte, dagegen durch eine zweite Jungfrau, Maria, auf des Engels Botichaft
bin vom hl. Geifte befruchtet, Der geboren worden ift, durch welden Gott vie
Schlange und die ihr verähulihten Engel und Menfhen entmächtet (Justin. M.
Apol. 1. c. 100. Vgl. Iren, adv. Haer. Ill. 22. Tertull. de carne Christ. c. 17.
Epiphan. Haer. LXXVIH. n. 18.). ©», urtheilte man, fei die rüdftändige Schuld
des Weibes wieder reparirt worden, indem, wenn Eva aus einem Manne ents
fprungen war, hinwiederum nun Maria, ohne Zuthun eines Mannes, aus ihr
allein, "durch die Einwirkung des Geiftes, Jefum Chriftum geboren hat (Cyrill;:
Hieros, Cat. XII. n. 19.). Und fein Wunder: je Harer und lebendiger man fich
von der Idee angefprochen fühlte, daß durch die Einfleifhung aus Maria der
Jungfrau eine geiftige Neufhöpfung angebahnt worden fei, defto inniger fühlte
man ſich hingezogen zu dem Bilde derjenigen, dur deren nächſte Vermittlung
diefer Umſchwung in der religiöfen Geſchichte unferes Gefchlechtes oder des Reiches
Gottes eingeleitet wurde. Der Fortfchritt ihrer Verehrung darf daher nicht über»:
raſchen. Je weiter die Härefie im Zeitenlaufe mit ihren Angriffen fich vorwagte,
je mehrere der Lehrpuncte fie antaftete, defto weiter ward der Name der Qsoro=
»08 vorgerüdt. Es ift nämlich eine fhon von Irenäus beobachtete und feitdem
hundert Mal bewährte Erfahrung, daß alle Härefie von der Läugnung der In—
carnation des Logos aus der Jungfrau entweder ausgeht oder damit enbiget,
Daher denn in jener Bezeichnung eine Art Schibboleth der Katholiken enthalten
ift gegen alle Härefie, wie denn der hl. Eyriffus von Alerandrien in der Ne—
fiorianifhen Controverfe fein Bedenken trug, auszufprehen: Magie dori Ozo-
oxos, vörcorı megwdeijun ıjs zudohırjsiahndelas. Bon diefer Seite
846 Maria, die heilige Jungfrau.
aus begreift fih eben fo einfach als gefhichtlih der Eult, welcher Maria der
Jungfrau in der Fatholifchen Kirche erzeigt wurde und wird, Derfelbe ift mit der
Tatholifchen Lehrüberlieferung auf das Innigſte verwachſen. Diefer Cult läßt ſich
aber auch noch von einer andern Seite aus auffaffen, Maria ſteht zugleich als
eine fittliche Größe da, welcher nicht vor noch nad eine andere zur Seite geftelft
werden darf, Wir haben hier nicht im Mindeften vor, zum Panegyrifer zw wer-
den; nur was dafteht, fol unbefangen in's Auge gefaßt und gewürdiget werden,
Wie fie daſteht, ift fie ein hehres Gewächs, gepflanzt und großgezogen durch
Gnade, und obendrein dazu bereitet, damit ein neues Geſchlecht fi daraus ent-
falte, Als fhöne Blüthe erfheint an ihr die: gottgeweihte JZungfräulichkeit, In
ihr aber, als worin das Gefeg der gemeinen Natur aufgehoben oder unterthan
gemacht fich zeigt vom Geſetz des Geiftes, und worin nach Jeſu Ausfpruch dieſer
einft feinen Triumph feiern wird, erfcheint zuvörderſt die Vollkraft der geftalten-
den und verflärenden Gnade des Geiſtes. Maria fteht in diefer Hinficht als
Blüthe wie der Zeit fo der Sache nad oben an, Und wenn es das Tebhaftefte
Beftreben der Kirche iſt, daß das von Chriftus eingefenfte Element des Geiftes
in Allen durchgebildet und die vorgehaltene Idee treue Nachgeftaltung finde: fo
begreift fih auch wohl, warum und wozu fie jene fo einzige Perfönlichkeit, „wor=
aus wie aus einer Wurzel fortan die jungfräulichen Zweige: ſich ausbreiten“
(Athanas. Fragm. in Lue. I. 46. T. I. P. U. p. 120), fo hellſtrahlend emporhebt.
Es ift der Fatholifchen Kirche, der Härefie gegenüber , eine in's tieffte Bewußtfein
und Gefühl eingeprägte Vorſtellung: wahre gottgeweißte Jungfräulichkeit fei der
Triumph der geiftigen Gnade, fei die nächfte Berührung des Zieles unferes Ge-
fohlechtes in englifcher Verklärung. — Das Chriſtenvolk fühlt fih aber auch fonft
noch an fie hingezogen. „Hat die Jungfrau Maria durch Glauben und Gehorfam,
um mit Jrenäus zu veden (adv. Haer. V.), die Bande gelöst, welche Eva durch
ihren Ungehorfam gefnüpft“, und „ift fie fo die Fürfprecherin der Mutter Eva ge—
worden”, ſo dehnt fich dieß Verhältniß begreiflich auf das ganze Gefchlecht aus,
welches jener erften Mutter entfproffen, jene Feffeln der Sünde und des Todes
von ihr geerbt hat. Schwerlich wird man fich der aus der Fleifchwerbung des
Sohnes Gottes neugeftalteten Gnadenverhältniffe vollfommen bewußt werben
fonnen, namentlich der daraus erblühenden Freiheit, ohne von ähnlichen Betrach-
tungen und Empfindungen gehoben zu werben, Dazu fommt noch eine weitere
Erwägung. Maria, die Gebenedeite, ging lernend und Teidend die Schule des
Gehorfams. In dem aber, daß und was fie gefühlt, gelitten und gelernt, ver-
mag fie ihres Theils Mitleid zu fühlen mit denen, die da unwiffend find und
irren, und ift fie vollendet nun bereite mitleidsvolle Helferin denjenigen, welche
noch mit den Verfuchungen ringen, Es ift hier nicht der Ort, die gegebenen An—
Deutungen nach den verfchiedenen Beziehungen bin zu verfolgen; fiher aber dieſe
aus den evangelifhen Thatfachen gefchöpften Anfchauungen die wahre Grundlage
des Marianifchen Eultes, welcher in dem katholiſchen Kirchenwefen eine fo aus—
gezeichnete Stelle einnimmt, Er ift wahr für Jeden, dem das Chriftenthum nicht
ein Syſtem von abftracten Lehren, fondern eine lebendige, in der Gefchichte der
Menfchheit wurzelnde, in gnädiger Annäherung Gottes zu unſerem Geſchlechte
fi erfülfende und vollendende Religion ift, Wie die Kirche dadurch, daß fie alle
befannteren Momente im Leben der HI. Jungfrau in ihrem Feſtkreiſe liturgiſch
firirt und fo die Thatfachen unferer Heilsveranftaltung hiftorifch fefthält und gegen
Verdunklung fhügt, der Lebendigkeit der Glaubensüberlieferung einen unverfiegbaren
Zufluß zuführt: fo wird dadurch, daß fie die hohen fittlichen Charaktere, die Ge—
bilde der Gnade, als folche bezeugt durch bie Stimme Gottes, hellleuchtend
voran und ober fich ſtellt und Hält, verhütet, "daß je der Mafftab der fittlichen
Forderungen fich ifr verringere, oder das Bild erbleiche, welches der Einzelne,
jeder in feiner Befonderheit, nachzuformen hat, — Wurde hier aus dem Fonde
Maria von Agreda — Marian, bie Katholiſche. 847
der evangelifchen Gefhichte der Marianiſche Cult in feiner Berechtigung hingeſtellt,
fo ift nicht zugleich auch nothwendig, die richtigen Gränzen näher zu marfiren, welche
in dem Dogma ohnehin gegeben find (j. den Art. Gultus latriae). [Reithmayr.]
Maria von Agreda, Dberin ded Conventd der Franciscanerinnen zu
Agreda in Spanien, geboren zu Agreda 1602, geftorben 1665, über deren Leben
Görres in feiner Myſtik weitläufig fih verbreitet, befonders Bd. I. S. 482—
495 und Bd. II. S. 349, hat auf Geheif ihrer Vorgefegten und, wie fie felbft
dafür hielt, von Gott getrieben und geführt, mehrere Schriften verfaßt. Unter
diefen fteht das Leben der jungfräulichen Gottesgebärerin oben an (Ciudad de
Dios), anhebend mit Mariens Verkündigung vor ihrer: Geburt: und dann ihr
ganzes Leben durhführend von ihrer Geburt bis zum Tode, mit Einflechtung des
Lebens Chrifti bis zu ihrem Hingange. Da diefes Buch nach ihrem Tode dur
Die Franeiscaner, deren Drden fie angehörte, zum Drude befördert und als gött-
lihe Dffenbarung geltend gemacht wurde, fo regte fich dagegen von allen Seiten
ber bald ein großer Widerſpruch. Die Sorbonne bob 1696 mehrere Artikel dar-
aus hervor und verwarf fie als falfch und der reinen Lehre widerfirebend. Das
fpanifche und portugiefifche Inquifitionsgericht verboten das Werk, und die. Eon-
gregation des Inder zu Rom that 1710 desgleichen. Unter den verfchiedenen
Theologen, welche gegen „die Stadt Gpttes“ ſchrieben, ift der berühmte Theolog
Amort (ſ. d. A), Canpnieus des Stifts Pollingen in Bayern, zu nennen (ſ.
deffen Schriften de revelatione, visionibus et apparilionibus privalis, controversia
de revelationibus Mariae Agredanae). Natürlich hatte das Buch auch feine Ber-
theidiger, namantlih aus dem Drden der Franciscaner, welche überdieß die Ca-
nonifation der Berfafferin eifrig befrieben, Bei unparteiifcher Prüfung diefeg
Buches möchte wohl das Urtheil des fel. Görres das gerechtefte und billigfte fein,
Ohne allen Zweifel, fagt Görres (I, 352), ift eine große myſtiſche Anſchauung
in diefem Buche ausgelegt, fein fpeculativer Theil ift mit großem Tieffinn durch-
geführt, und fein Hiftorifcher fchildert zuweilen mit großer Anfchaulichkeit die ein-
zelnen Umftände und Ereigniffe; aber was die Form belangt, fo Täßt fih wenig
zu feinem Lobe beibringen. Ferner, bemerkt Görres, fann die Schrift von ver—
fchiedenen Irrungen nicht freigefprochen werden: fie ſteht in einer bedenklichen
Inhalts-Verwandtichaft mit den Apoeryphen „de nativitate b. V. Mariae et de
infantia Jesu“, fie enthält verfchiedene chronologiſche, Hiftorifche und anderer Art
Irrthümer, fo daß fie alfo der Sicherheit und Zuverläffigfeit entbehrt. Gewiß
ift, daß dieſes Buch und die Vifionen, die Agreda gehabt, die Canpnifation der-
felben feither eher gehindert als befördert Haben. Uebrigens ift fogar in Frage
gezogen worden, ob Maria Agreda die Berfafferin fei. [Schrödl.)
Maria, die Katholiſche, Königin von England. In den traurigen Wir-
ren, welche die Reformation in Großbritannien zur Folge hatte, glänzt die Kö—
nigin Maria als eine Regentin, welcher das Wohl ihrer Unterthanen aufrichtig
am Herzen lag. Leider hat ihre Gefchichte in der eigenthümlichen Parteilichfeit
der Proteſtanten eine fehr düftere Seite erhalten, welche aufgeklärt zu werden
verdient, Ihre Regierungszeit fällt in jene Periode, in der die Gefhichte Eng-
lands: mit Blut gefhrieben iſt. Sie war die Tochter Heinrich$ VIII. (ſ. d. A)
und feiner erften rechtmäßigen Gemahlin, der unglüdlihen Catharina von Ara-
gonien, und erblickte am 8. Februar 1515 das Licht der Welt. Durch die Ver—
beirathung ihres Vaters mit Anna Boleyn wurde fie, die nächfte Erbin des Thro—
nes, zum Baftard geftempelt, jedoch durch teftamentarifche Beftimmung deſſelben
nach feinem Sohne Eduard VI. wieder als die nächfte Thronerbin bezeichnet. Unter
Eduards VI. Regierung nun ging England vom Schisma zur Härefie über, die
durch alle Gewalt der Tyrannei durchgeführt wurde, Nach dem im Juni 1559
erfolgten Tode Eduard's VI. erklärte fih das Volf gegen die Ufurpation der Jo—
hanna Grey für feine rechtmäßige Königin Maria (1553 — 1558). Sie hielt
848 Maria, die Ratholifhe
unter dem unbändigſten Jubel des Volkes mit ihrer heuchleriſchen Halbſchweſter
Eliſabeth am 31. Juli ihren Einzug in London. Derſelbe Jubel a ſich =
auf ihrer ganzen Reife von Framlingham in Souffolk wohin fie fich geflüchtet
hatte, gezeigt, und alle englifchen Gefhichtsquellen ſtimmen darin übereit, daß
eine ſo große Pracht und eine fo allgemeine Freudigkeit noch bei feiner Krönung
zuvor gefehen worden fei (f. Lingard, Geſch. von England, überf, von Salis,
Franffurt a. M. 1828. Bd; VI. S. 141. Eobbett, Gef. der prot. Reform,
in England und Irland, teutſch, Afchaffenburg 1838, Fehr, Geſch, der euro-
päifchen Nevolutionen feit ber Neformation, Bd, L ©.49). Zwar berichtet uns
Hume, das Volk habe die Grundfäge der Königin nicht geliebt; allein dagegen
forechen außer Thatfahen und Duellen felbft pfychologifhe Gründe, Das Bolt
ift feinen innerften Wefen nach couſervativ, ganz befonders aber in Sachen der
Religion. Wie nun wäre es zu erflären, wenn ein Volk, das erft vor drei Jah—
ren in allen Theilen des Königsreichs gegen die neue Kirche und ihre Stifter auf-
geftanden war, fih nit über die Thronbefleigung einer Fürftin gefreut Hätte,
von der es nichts wußte, als daß fie das verhaßte neue Kirchenthum ſtürzen
werde, Der Anfang ihrer Negierung war gemifcht mit Milde und Ernſt. Noch
bevor fie Durch den eben feiner Haft entlaffenen Oardiner nach dem: katholiſchen
Ritus gekrönt worden war, erließ fie zwei Prockamationen, für welche fie das
ganze Volk fegnete. Durd die erfte fchaffte fie die fchlechte Münze ab, die ihr
Bater eingeführt und ihr Bruder noch mehr verfchlechtert hatte, und durch bie
zweite erließ fie dem Volke zum Danfe für feine bewiefene Anhänglichfeit an fie
vie im legten Parlamente bewilligte Subfidie und bezahlte zugleich die feit- drei
Sahren rüdftändigen Thronfchulden; eine allgemeine Amneftie ſchloß nur 60 na⸗
nıentlich genannte politifche Verbrecher feit ihrer Thronbefteigung aus, Im Rathe
von lauter Feinden umgeben, bat fie, den teutſchen Kaiſer, Carl V. (1, d. A.) um
feine Meinung in Betreff der Beftrafung der Verſchwörer und Wiedereinführung,
des Katholicismus. In erfterer Beziehung rieth derfelbe zur Beftrafung, empfahl
jedoch Milde fatt voller Gerechtigkeit. Nun traf.von allen Gefangenen bloß die
fieben am fihwerften Gravirten gerichtliche Verfolgung. In Betreff der Religion
vieth ihr der Kaifer, Nichts ohne Zuftimmung des Parlamentes zu ändern, Sie
beftand daher zunächft auf dem Nechte, für fih im Palafte katholiſchen Gottes-
dienft zu halten, gab aber zugleich mehreren unter: der vorigen Regierung ab—
gefesten Bifchöfen ihre Bisthümer zurück. Durch die reformirten Prädi—
canten aufgeftachelt, Ließ e8 bald der Pobel der Hauptftadt nicht an Tu—
multen über eine Meffe fehlen. Die veranlaßte die Königin zu der Erflärung,
daß fie Niemanden ohne gemeinfchaftlihe Zuftimmung zu dem Befenntniffe ihrer
Religion zwingen werde, daß es aber Jedermann auf's Strengfte verboten fei,
das Volk zum Aufruhr zu reizen oder durch die Schimpfworte Papift und Ketzer
aufzuregen. Durch die Converfion der Prinzeffin Elifabeth ſchwand die letzte
Stüße und Hoffnung der Neformirten, und Cranmer (ſ. d. A.) wurde wegen Der»
ſuchs zum Aufruhr in den Tower geſchickt. Am 3. Detober eröffnete Maria ihr
erftes Parlament, und Peers und Gemeine wohnten der üblichen Heiliggeiftmeije
bei, Einftimmig wurde in beiden Häufern die Che Heinrichs VIIL mit Catharina
von Aragonien als gefegmäßig anerkannt und dadurch ſtillſchweigend Elifabeth als
Baftard erflärt. Ebenſo wurde am 8. November die Bill in Betreff der Wieder-
einführung des Katholieismus angenommen, jedoch geſchah Huger Weife der Re—
flitution des Kirchenguts und der päpftlichen Suprematie, welch’ letztere ein drei⸗
Figiähriges Schisma in Miferedit und Vergeffenheit gebracht Hatte, Feine Er—
wähnung. Man verharrte alfo noch beim Schisma, und auch Maria nahm dem
ihr verhaßten Titel eines Dberhauptes der Kirche an, Eine Verſchwörung gegen
ihre Negierung im Januar und Februar 1554 hatte die Hinrichtung von drei Ins»
dividuen zur Folge, „eine Milde, fagt Lingard a, an, D, ©, 185, bie, wenn man
ee ee en v — ————
Maria, die Katholiſche. 849
Aalle Umflände erwägt, in der Geſchichte jener Zeit vielleicht ohne Beifpiel if.”
Dafür ward die Königin ſowohl vom Kaiſer als auch von ihren Raͤthen hart ge-
tadelt, und num adoptirte fie von dieſen den Grundfag, daß Straflofigfeit die
Nebelgefinnten zu neuen Verbrechen ermutbige, und daß daher gegen diefe die
volle Strenge angewendet werden müffe. Nun büßten auch Johanna Grey und
ihre Gemahl die Betheiligung an der Verfhwörung mit dem Tode. Fünfzig über-
- gegangene Soldaten wurden flandrechtlich gehängt, aber 400 begnadigt und die
Meiften, welche im Tower den Aufruhr bereuten, in Freiheit geſetzt. „Diefe
Hinrichtungen, fagt Lingard a. a. D, ©. 188, haben einige Shhriftfteller be—
wogen, Maria unnöthige Graufamfeit vorzuwerfen. Wer fie aber mit ihren
Zeitgenoffen unter ähnlichen Umftänden vergleicht, dürfte nicht geneigt fein, jener
Meinung beizutreten. Wurden in dem Hier befprochenen Fall 60 Aufrührer ihrer
Gerechtigkeit oder ihrem. Zorne geopfert, fo werden wir in der Geſchichte der
nachfolgenden Regierung fehen, daß nah einer Empörung von minder furdht«
barem Ausfehen einige 100 Dpfer erfordert wurden, um die beleidigte Majeftät
Eliſabeths zu befänftigen“. Da indeß die letztere bei diefer Verſchwörung be—
theiligt war oder doch um fie wußte, jedenfalls ihre Unfhuld nicht beweifen
fonnte, wurde fie in den Tower gebraht und harrte hier des Schickſals ihrer
Mutter, als fie durch Gardiner's Vermittlung wieder ihre Freiheit erhielt, Nach-
dem der von den Neformirten aufgeftellte Sag, daß die Herrſchaft eines Weibes
der göttlichen Anordnung widerfpreche, durch das Parlament befeitigt war, ver-
ehelichte fid Maria am 25. Zuli 1554 mit Philipp, Infanten von Spanien,
Sohn und Erben Carls V. Das Parlament Hatte in diefe Ehe unter der Be—
dingung gewilligt, daß Philipp Feine Negierungsrechte beanſpruche, felbft nicht
nad Darien’s Tode. So in ihrer Macht befeftigt, glaubte fih Maria zur Wieder-
einführung des Katholicismus verpflichtet. Schon wurden beweibte Priefter ent-
laffen, fhon durch Gardiner mit päpflliher Erlaubnig Fatholifhe Prälaten ge-
weiht, um die wenigen proteftantifchen Biſchöfe zu erfegen, aber das hauptſäch-
lichſte Hindernig bildete das Kirhengut, an deffen Raube fih die höhern und
höchſten Stände betheiligt hatten, und das durch Kauf und Vererbung in ganz
verfchiedene Hände gelangt war, Indeß wurde von Papft Julius IN. eine Bulle
erwirft (Det. 1554), durch welde er feinen Legaten Pole ermächtigte, Alles
unter Heinrich VI und Eduard VI. der Kirche entriffene Gut den gegenwärtigen
Befigern defjelben abzutreten und zu überlaffen. Nun erflärte der Kanzler am
21. November bei Eröffnung des dritten Parlamentes, dag Ihre Majeftäten vor
Allem die Wiedervereinigung mit der alten Kirche hoffen. In der That wurde
fhon Tags darauf die Verurtheilung des Cardinals Pole widerrufen, worauf
diefer feierlich in London einzog. Die Wiedervereinigung ging in beiden Häufern
beinahe mit Acclamation dur, bei den Lords einftimmig, und bei den 300 Ge-
meinen erhoben fi nur zwei Stimmen, aber auch diefe verzichteten am andern
Tage auf den Widerſtand. Nun wurde den Majeftäten eine Petition überreicht,
des Inhaltes: „Sie gedächten reuevoll des Abfalls des Reiches vom apoſtoliſchen
Stuhle, feien bereit, jedes diefen Abfall verurfachende oder befräftigende Statut
zu widerrufen, bofften durch die Vermittlung beider Majeftäten, die an der Sünde
feinen Theil genommen, von allen Kirchenſtrafen abfoloirt und wieder in den
Schooß der alfgemeinen Kirche aufgenommen zu werden.” Am 30. November,
am Feſte des Hl. Andreas, abfoloirte der Legat im Beifein beider Majeftäten im
Parlamente „alle Anwefenden, die ganze Nation und deren Länder vom jeder
Ketzerei und jedem Schisma, fowie von allen Urtheilen, Cenfuren und Strafen,
worin fie deßhalb verfallen, und nahm fie wieder im Namen der HI, Dreifaltig-
keit in die Kirche auf.“ Amen“! ertönte es von allen Seiten, das Parlament
erhob fih von den Knieen und folgte dem Könige und der Königin in die Ca-
pelfe, wo das Te Deüm gefungen wurde, Nachdem auf diefe Weife England
Kirdenlsziton: 6. Br. 54
350 Maria, die Katholiſche.
wieder ein Fatholifches Land geworden war, waren von felbft die Mafnahmen
bezeichnet, die Parlament und Regierung zu befolgen hatten. Der Legat erklärte
die Rechtmäßigkeit des Befiges von Kirchengütern, diefe wurde durch das Parla-
ment beftätigt und zugleich alle Beichlüffe gegen die päpſtliche Auctorität wider-
rufen. Im Januar 1555 folgte dann die Begnadigung mehrerer bei einem neuer-
lichen Aufftand betheiligter Individuen, und auch Eliſabeth fam wieder an den
Hof, — Wir haben nun in dem Folgenden von dem Berhältniffe Maria’s zu den
Neformirten zu fprechen. Dabei haben wir an Zweierlei zu erinnern: einmal,
daß Maria in einem Zeitalter lebte, wo von religiöfer Freiheit nirgends die Rede
war, wie dieß das Benehmen der Reformirten in England felbft unter Eduard VI.
am deutlichften gezeigt hatte, und wie es unter Efifabeth (ſ. d. A.) noch furchtbarer
bervortrat, und fodann, daß die Neformirten jetzt eine religiös-politifche Seete
bildeten. Maria für fih war für mildes Verfahren gegen biefelben (f. den Be-
weis bei Lingard a. a, D. ©. 218); aber noch im December 1554 war in beiden
Häufern eine Bill zur Wiedereinführung der Kegerftrafe durchgegangen, von ber
Maria nur die gefegmäßige Bollftrederin war. Während dann die gefangen ge—
festen reformirten Prediger eine demüthige Adreffe an die Königin richteten, be-
tete im Abendgottesdienfte am Sylveftertage der berüchtigte Prediger Roß:
„Gott möge das Herz der Königin befehren oder fie von diefer Welt nehmen”,
Und fo follte im J. 1555 der Sturm gegen die Reformirten Tosbrechen, Am
23. Januar wurde der Proceß gegen die angefehenften reformirten Prediger im
Gefängniffe eröffnet; von den ſechs Angeklagten widerrief Einer und ein Anderer
bat um Frift, die andern vier, unter ihnen der Biſchof Hooper, konnten nicht zum
Widerruf vermocht werden, wurden daher ercommunieirt und dem weltlichen Ge—
richte übergeben und büßten auf dem Scheiterhaufen, Bald traf daffelbe Schick-
fal noch feh8 Andere, ohne Zweifel, weil der Fanatismus der Proteftanten neue
Exceſſe hervorrief, wie denn in den Graffchaften Cambridge, Suffolk und Nor-
folf eine new organifirte Verſchwörung entdeckt wurde, in deren Folgen mehrere
Dpfer fielen und auh das Schickſal Cranmer’s (ſ. d. A.), Rudley’s und Lati-
mer's entfchieden wurde, Allein je firenger man gegen die Neger verfuhr, defto
ungeflämer wurde der Eifer ihrer Prediger. Daher dauerte die Verfolgung wäh-
rend der ganzen Regierung Maria's mit unterbrechenden Zwifchenräumen fort.
Die Zahl der Hingerichteten beträgt nah Lingard a,a,D, ©.239 beinahe
zweihundert Menfchen, nah Hume, der wiederum nach For zählt, 279 Perjonen,
unter denen jedoch viele wirflihe Verbrecher und Verfchwörer fich befanden, und
nur Wenige wurden ihres bloßen Glaubens wegen hingerichtet. Es ift ſchon an
einem andern Drte erinnert worden (f, den Art. Großbritannien), daß diefer
Umftand in Rückſicht auf die zahlreicheren Opfer unter Heinrih VI und Elifa-
beth nicht dazu berechtige, Maria des Blutdurfts zu befchuldigen, fo fehr unfere
Zeit ein folhes Verfahren gegen Andersgläubige mißbilligt. Als gefeglihe Voll⸗
fireferin der Strafgefege gegen die Häretifer mußte fie gegen die Neformirten
um fo ftrenger verfahren, als diefe das Volk gegen die Königin fanatiffeten und
nicht aufhörten, gegen den zu Necht beftehenden Katholicismus Toszudonnern,
Bei alle dem war Maria's Regierung eine milde; als fie nach drei Jahren zum
erften Male Steuern verlangte, begnügte fie fih mit einer geringern Summe,
als das Parlament bewilligt hatte; fie überließ ferner im November 1555, weil
fie feinen Theil am Raub des Kirchengutes haben wollte, der Kirche wieder bie
Zehnten und Annaten im jährl. Betrage von 63,000 Pf, Sterling oder nach dem
heutigen Geldwerthe von einer Million Pfund, gab alle Rirhen- und Klöfter«
güter zurück, ſoweit fie in ihrem Befige waren, und ſtellte wieder mehrere Klöfter
ur u
ber; auch das Ordenshaus der Johanniter erhob fih wieder aus dem Schutte,
Die Verfhwörung Dudley’s zum Sturze Maria's und Erhebung Eliſabeth's
auf den Thron wurde vereitelt, aber dennoch fehlte es nicht an ftetd neuen Com-
Maria de Mercede — Maria Stuart. 851
5 plotten. Die legten Tage Maria's wurden verbittert durch den Verluft von Calais
- an die Franzofen. Sie farb am 19. Nov. 1558, und nad ihr follte unter Efi-
fabeth England mit Gewalt zu der neu etablirten Hochkirche (f. d. A.) Hinüber-
gezogen werden. Es unterliegt feinem Zweifel, daß Maria zu hart beurtheilt wurde;
fie war bloß Vollſtreckerin von Gefegen, die fie nicht felbft gemacht Hatte, und
machte dabei nicht felten von ihrem Begnadigungsreht Gebrauch. Die gemäßig-
teren Reformirten haben fie zwar nicht zu den größten, wohl aber zu den beiten
englifchen Monarchen gezählt, Haben ihre Tugenden, ihre Frömmigkeit und Milde,
ihr Mitgefühl für Arme und ihre Freigebigfeit gegen Nothleidende gepriefen und
in alleweg ihre ſtrenge Sittlichfeit anerfannt, Die Hofdamen ahmten ihrer Ge—
bieterin nach, und der Anftand, der an Maria's Hof herrſchte, ward oft lobpreiſend
von denen erwähnt, welche die Ausgelaffenheit und Zügellofigkeit ihrer jungfräu-
lichen Nachfolgerin beffagten. In Allem lag ihr das Wohl der Unterthanen am
Herzen; fo unterließ fie die üblichen Reifen, die durch Lieferung von Lebens—
mitteln und Befpannung der föniglichen Wagen zu niedrigen Preifen für den Land-
mann drüdend waren, befchränfte ihren ländlichen Aufenthalt auf ihr Gut Cray-
don im Erzbistum Canterbury und befuchte von da aus felbft die Hütten der
Armen, um ihre Noth zu lindern. Vgl. au den Art. Irland. [Sebr.]
Maria de Mercede, ſ. Marienfefte, übrige, und Gregor X.
Maria Stuart, Königin von Schottland, ſtammte von großmütterlicher
Seite von Margaretha, Heinrich des VI. von England ältefter Shwefter, die
mit dem ſchottiſchen Könige Jacob IV. vermählt war; ihr Vater war Jacob V.
von Schottland, ihre Mutter Maria von Guiſe. Im April 1558 wurde fie,
15 Jahre alt, mit dem faft gleich alten Franz, Dauphin von Franfreih, vermählt,
Nah dem Tode der englifchen Königin Maria, der Katholifhen, nahm fie den
Titel Maria Stuart, Königin von England, und das Wappen diefes Königreichs
an, wozu fie indeß vollkommen beretigt war. Dur die Anerfennung der le—
gitimen Geburt der Fatholifhen Maria war Elifabeth nach rechtlichen Begriffen
: zum Baftard geftempelt, alfo nicht thronfähig, und das Anrecht auf den englifhen
Thron ging auf die fchottifhe Dynaftie über, Allein der Befisnahme diefer eng—
lifchen Krone ftanden große Schwierigkeiten im Wege. Die Politif Philipps ‚von
Spanien , des Gemahls Maria’s, der Katholiſchen, mußte gegen eine Bereinigung
Englands mit Franfreih fein; England aber, in dem nunmehr die proteftantifhe
Partei die Oberhand gewonnen hatte, verabfcheute an der Hand eines durch und
dur corrumpirten Parlamentes eine Fatholifche Regierung und gewährte daher
Elifabeth alle Mittel und alle Macht, fih als Königin zu behaupten, Noch ver-
weigerte Maria mit ihrem Gemahl, der als Franz II. den franzöfifhen Thron
beftiegen hatte, die Natification eines Vertrags, durch den fie auf Zitel und Wap-
pen einer Königin von England verzichten follte; allein am 5. December 1560
ftarb Franz H., und damit ward ihre Kraft gebrochen; fie hatte aufgehört, Köni-
gin von Frankreich zu fein und fand fi veranlaft, nah ihrem Erbreih Schott-
land zurüdzufehren. Damit begann die Fülle ihres Unglüds, während fie in
Franfreih nur Freude und Wonne genoffen hatte; ihr Herz blieb daher in diefem
Rande, wo fie in Elöfterlicher Einfachheit erzogen worden war, und wo fie den
Lenz ihrer Jugend in allgemeiner Verehrung verlebt hatte. Die engliihen Mi-
nifter fuchten ihrerfeits ihre Nüdfehr zu verzögern, weil fie befürchteten, fie Fönnte
fi wieder verehelichen und dann ihre Anfprühe auf den englifhen Thron mit
Nachdruck erneuern; ja fie follte fogar auf ihrer Nüdfehr gefangen genommen
werden. Den Winter über brachte fie bei ihren Berwandten in Lothringen zu
und tröftete fich in ihrem Schmerze damit, daß fie Elegien auf ihren verblichenen
Batten fhrieb, fonnte aber auch jegt noch nicht vermocht werden, den genannten
Bertrag zu ratificiren, und berief fih dabei auf den zu befragenden Willen ihrer
ſchottiſchen Stände, Darüber wurde Elifabeth fo aufgebraht, daß fie ihr die
54*
852 . Maria Stuart.
Erlaubniß, durch England zu reifen, verweigerte. Das beirrte indeg Maria
Stuart niht, und fie fehrte im Auguft 1561 nah Schottland zurüf, entging
glüdlich der in den Dünen auf fie lauernden englifchen Flotte und zog bald dar-
auf unter dem Jubel des Volkes in der Hauptfladt Schottlands ein. Diefer Tag
des Einzuges war für fie ein Tag der Freude und des Glückes, der einzige viel-
leicht, den fie in Schottland erlebte; allein nur zu bald war fie dem Unglüde
verfallen, Unter der Negentfchaft ihrer Mutter Maria (feit 1542, wo Jacob J
farb) Hatte der Proteftantismus in der Form. des finfterfien Puritanismus, durch
eine Parlamentsacte 1560 förmlich eingeführt, vollftändig die Oberhand gewonnen
und fih in furdtbarem Trotze gegen die Regierung Luft gemacht, Als eine
18jährige Wittwe, Königin eines durch und dur unterwühlten Landes, mußte
fih Maria nad fremder Hilfe umfehen. Frankreich, durch bürgerliche und reli-
gidfe Kriege zerriffen und zerfleifcht, konnte eine folhe unmöglich gewähren, und
fo ſah fih Diaria Stuart genöthigt, um die Gunft der Königin Elifabeth von
England zu buhlen. Da fie Beleidigungen leicht und gerne vergaß, wurde ihre
Freundfhaft zu Eliſabeth eine aufrichtige, während diefe das Mißtrauen gegen
eine Fürftin, nicht unterdrücen fonnte, in der fie immer noch eine Nebenbuhlerin
um ihre eigene Krone erblickte, Daher verlangte fie Natificatiom des genannten
Vertrags von Leith, worauf ſich Maria nicht einlaffen wollte. Eine zum Zwede
der Vermittlung vorgefchlagene perfönlihe Zufammenkfunft beider Königinnen
lehnte Elifabeth ab, vielleicht aus Eiferfucht über Maria's höhere Grazie, vielleicht
auch aus Furcht vor der Wirfung, die deren Gegenwart auf ihre Anhänger in
England haben könnte. Als Maria Stuart ihre Abficht, zu heirathen, kundgab,
bot ihr Eliſabeth Dudley an; allein diefe fchlug ihn aus und wählte den Fatholi=
fhen Grafen Darnley, einen Stuart, zu ihrem Gemahl, Da auf diefe Weife
der Befehl Elifabethens, Maria müffe den Grafen Leicefter ehelichen oder feier-
Lich verfprechen, Wittwe zu bleiben, nichts gefruchtet hatte, wiegelte Eliſabeth
die Schotten auf, fi einer folhen Che zu widerfegen, und nun follte wieder ein-
mal der Glaube des Evangeliums in Gefahr fein, weßwegen Maria beruhigende
Erklärungen abgab; auch gelang es ihr, die Infurgenten aus dem Lande zu trei-
ben, Indeß war die neue Che Maria’s nicht glücklich. Der Trunfenbold Darn-
Iey, ein Wüftling, eigenfinnig, Leidenfehaftlih und unverföhnlich, wie er war, ge=
nügte ihrem zarten Gefühle und ihrer feinen Bildung nicht, Darnley verlangte
gekrönt zu werden, Maria gab diefes nicht zu, und nun warf diefer feinen ganzen
Haß auf ihre Nathgeber, und insbefondere auf den gefangfundigen, aber im Alter
fhon weit vorangerücten und mißgeftalteten Riceio, Diefer, ein Piemontefe,
war mit der favoy’fchen Gefandtfchaft nach Schottland gefommen und wurde nach—
mals zum franzöfifchen Secretär der Königin ernannt. Im Befige ihres vollften
Vertrauens, nahm er bei häuslichen Zwiften die Partei feiner Königin; fonft war
er als Ausländer und Katholik den ſchottiſchen Höflingen und Pradicanten verbaßt,
Durch verfohiedene Umtriebe des ränfefüchtigen Grafen Murray gelang es, den
Darnley von Maria zu trennen, ihn in das Bündniß der verbannten Großen und
in das Intereſſe der Proteftanten zu verflechten, Zugleich wurde den Neformirten
ungemeiner Haß gegen die Fatholifche Königin und ihren Fatholifchen Serretär
als einen Agenten des Papftes eingeflößt: Auch mußte Maria der Hl, Liga bei»
getreten fein, und fo Fam endlich die Berfchwörung zum Ausbrud. Es wurde
Riccio im Gemache der Königin auf Anftiften und im Beifein Darnley's von
ſchottiſchen Großen ergriffen, ihm das Schwert des Königs in die Bruft geftoßen,
er hierauf in ein Nebenzimmer gefchleppt und bier dur 56 Dolchſtiche ermordet
(9. März). Nun löste Darnley eigenmächtig das eben eröffnete Parlament auf
und zugleich wurde befchloffen, Maria fo lange gefangen zu halten, bis fie das
„Evangelium“ gefeglich einführen und ihren Gemahl frönen laſſen würde, Indeß
gelang Maria die Flucht; fie Fonnte jedoch am 18, März wieder fiegreih in ihre
” —R—
Maria Stuart, 853
Hauptſtadt einziehen, worauf die Mörder entflohen. Eliſabeth Hatte um diefe Ver-
ſchwoͤrung gewußt und fie unterflügt, und. brachte jegt Maria ihre heuchlerifchen
Glückswuͤnſche dar. Nun lebte Maria eine Zeit getrennt von Darnley, bis die
Geburt eines Prinzen (des nachherigen Jacob I. von England) beide Gatten
wieder näher brachte. Durch die Geburt diefes Prinzen, deffen Taufe nad ka—
tholifhem Ritus erbitterte, vergrößerte fih die Partei Maria's in England, wo—
durch die Eiferfucht Eliſabeths gefteigert wurde, Jetzt erhielt der Graf Jacob
soon Bothwell das Bertrauen Maria’s, Um gegen die Feindſchaft Darnley’s
geſichert zu fein, wollten Murray, der unterbeffen zur Partei der Königin über-
getreten war, Bothwell und einige andere Lords die Königin zur Ehefcherdung
vermögen; da aber diefelbe auf diefen Plan nicht einging, faßten fie den Ent-
- Schluß, Darnley zu ermorden, Bothwell unternahm die Ausführung des Ver—
brechens, die andern verpflichteten fich dagegen, ihn gegen üble Folgen ſicher zu
ſtellen. Am 17, December wurde der Prinz getauft, und am 24. Morton und
- 76 andere Verbannte begnadigt. Jetzt verließ Darnley, vielleicht um feine Miß—
bilfigung bierüber zu zeigen, vielleicht aus Beforgniß, ermordet zu werden, den
Hof und begab fi in das Haug feines Vaters zu Glasgow ; jedoch fam im Ja—
nuar 1567 zwifchen ihm und der Königin die Ausföhnung zu Stande. Da ge-
ſchah e8 am 10. Februar 1567, daß der von Dlattern genefene und in einem
Landhauſe bei Holyrood von Maria mit aller Sorgfalt gepflegte Darnley ver-
mittelft Pulver in die Luft gefprengt und ermordet gefunden ward, während
Diaria in derfelben Nacht auf einen Ball in der Nachbarfchaft gegangen war,
Bothwell wurde diefes Verbrechens angeklagt, jedoch vom Parlament frei-
gefprochen. Ueber die Schuld oder Unfhuld Maria’ an diefem Verbrechen iſt
viel geftritten worden. So viel ift aber über allen Zweifel erhaben, daß in dem
Benehmen Maria’s vor der Unthat fich fein Grund zum Verdachte hiezu findet;
zwar ftand fie mit Bothwell auf vertrautem Fuße und im Briefwechfel, aber in
einer durchaus fchuldlofen Weife; auch war ihre Trauer über den Tod ihres Ge-
mahls eine herzliche und aufrichtige. Gleichwohl Liegt in ihrem nachmaligen Be= -
nehmen allerdings Manches, was einen Schein der Mitfchuld auf fie werfen
fonnte, wenn auch hierin die Macht der Umftände und die Gemwaltthätigfeit Both—
wells mildernd dazwifchen treten. Der leichtfinnige Bothwell überfiel nämlich die
Königin und führte fie gefangen nah Dumbar (24. April), und hier wurde fie
zehn Tage in Haft gehalten, bis fie eingewilligt hatte, Bothwell heirathen zu
wollen. Das Alles mußte nun verabredetermaßen gefihehen fein, ohne daß fich
für eine folhe Behauptung unumftößlihe Gründe beibringen laffen. Am 3, Mai
wurde die Trauung vollzogen. Sie hatte indeß an ihm einen harten und grau—
fanen Gemahl und wurde darüber oft in Thränen gefunden, Mit dem Abfchluß
diefer Ehe fiehen wir an dem Wendepuncte der Geſchichte diefer unglücklichen
Fürftin, die mit ihrer Enthauptung ſchließt. Hatte einmal die englifhe Politik
bie Verwirrung der fihottifchen Zuftände für ihre Zwecke benützt, fo mußte fie
dieß auch in Zufunft thun, fo fehr ed mit den Principien einer geläuterten Moral
im Widerfpruch ftand, Aber auch die einfeitige Verfolgung der eigenen Intereffen
von Seiten der fihottifchen Lords brachte Maria in's Verderben. Ihr Beftreben
ging nun dahin, den ihnen verhaßten Bothwell zu flürzen, einen aus ihrer Mitte
auf den Thron zu bringen und fo ihre eigenen Privilegien zu erweitern, Alfererft
fondirten fie, welche Partei die Königin von England in dem bevorftehenden
Kampfe nehmen werde, Elifabeth lehnte zwar eine bewaffnete Intervention zu
Gunften der Unzufriedenen ab, beftärfte fie jedoch in ihren Plänen. So fam von.
Seiten der Lords am 11. Juni 1567 zu Stirling der Man zu Stande, die Kö—
nigin und ihren Gemahl zu überfallen; alfein er fiheiterte an der fchleunigen
Flucht derfelben nah Dunbar, Pier Tage nachher ftanden ſich die Heere der
Eonföderirten und der Königin gegenüber, und nun fam es zu dem Vergleiche:
854 Maria Stuart,
Bothwell folle fih entfernen und Maria fih auf die Seite der Verbündeten ſtellen.
Dieß gefhah; allein nah wenigen Tagen befand fie fih als Gefangene im
Schloſſe zu Lochlewin. Ueber eine folhe Behandlung war indeß Eliſabeth höchſt
aufgebracht, weil fie diefelbe als eine nothwendige Folge der ihr verhaßten
Lehre Knoxens (ſ. d. A.) hielt; allein ihre Bemühung zu Gunſten Maria’s
fpeiterte an dem rafıhen Handeln der fhottifhen Lords und der Politif ihrer
eigenen Minifter; am 24. Juli mußte Maria zu Gunften ihres Sohnes dem
Throne entfagen und Murray erhielt während deffen Minderjährigkeit die Negent-
Schaft, Das war das Ende der Verſchwörung der „Heiligen“, Auch in Schott-
land wie in England hatte die Reformation die Revolution gerechtfertiget. Um
nun das flrafbare Benehmen in den Augen der Welt zu bemänteln, wurde Maria
die Chatulle abgenommen, und hier follten fi) Briefe gefunden haben, die ihre
Theilnahme an der Ermordung Darnley’8 bewerfen mußten, Endlich wurde am
4, Dee, befhloffen, Maria des Ehebruchs und Mordes anzuflagen, und zugleich
wurde höchſt bedeutungsvoll diefe hochwichtige Entdeckung der Königin Elifabeth
überbracht. Auch das Parlament nahm diefen Rathsbeſchluß mit einigen Ab-
änderungen an, verfügte zugleich Eonfiscation des Vermögens Bothwells, erflärte
aber, fich jelbft widerfprechend, daß Bothwell ohne allen Zweifel Gewalt ange-
wendet und feine Monarchin zur Che mit fich gezwungen habe, Es mußten alfo
Maria’s Briefe unächt oder ihre Entführung nah Dunbar und die Heirath mit
ihrem Willen gefrhehen fein, Unter folden Umftänden gelang es verfelben, am
2. Mat 1568 aus ihrer Haft zu entfliehen in Begleitung ihrer Kammerfrau Ken-
nedy; fie erreichte glücklich das Schloß Hamilton und widerrief hier die ihr ab-
gendthigte Thronentfagung. Auf die Kunde hievon fehaarten ſich die Royaliften
um ihre Königin, und jetzt erfuhr diefe zum erſten Male den wahren Hergang
von Darnley’s Ermordung und Bothwells Schuld, Sie erbot fih dem Negenten,
die Zwiftigfeiten durch das Parlament fchlichten zu Yaffen und jeden Schuldigen
der Gerechtigkeit auszuliefern, vorausgefegt, daß er dafjelbe mit denen thun
werde, die fie anflagen. Nun gerietben Morton und Maitland in Beforgniß und
erffärten ihre Anhänger als Verräther, Als fie nun nach ihrem Schloffe Dum-
‚barton unterwegs war, fprengte Murray mit einer Schaar auf ihr Gefolge; die-
ſes griff an, gerieth aber in Verwirrung und wandte fih zur Flucht, Noch am
nämlichen Tage der Schlacht ritt die Königin 60 ſchottiſche Meilen weiter und
erflärte am Morgen des dritten Tages, fie fei entfchloffen, am Hofe ihrer guten
Schwefter, der Königin von England, Zuflucht zu fuchen. Ihre beften Freunde
waren dagegen, allein dennoch beftand die Unglücliche darauf, Die verfchmigte
Politik des englifchen Cabinets während diefer Ereigniffe ift fchwer zu durchſchauen.
Aeußerlich zeigte fich auch Eliſabeth als aufrichtige Freundin Maria's und erklärte
fich den auswärtigen Mächten gegenüber bereit, ihr wieder die Krone zu verfchaf-
fen und forderte in gebieterifhem Tone ihre Freilaffung, während andererfeits
ihre Minifter in inniger Verbindung mit den Feinden diefer Fürftin ftanden, Als
nun Maria in England anfam, jubelten Cecil und feine Genoſſen, das Jahre
lang gehegte Opfer ihrer Mäne endlich im Nege zu haben, und trat bald mit
dem Rathfchlag hervor, fie zur Sicherheit Elifabeth’8 und des Proteftantismus in
England Iebenslänglich gefangen zu halten, Um nun hiezu wieber einen günftigen
Borwand zu erhalten, gab man ihr zu verftehen, es fei vor der Dazwifchenfunft
Eliſabeth's zu wünfchen, daß fie fih von dem ihr zur Laft gelegten Verbrechen
reinige, Maria wünfchte in einer Zufammenkunft Elifabeth ihre Beſchwerden zu
eröffnen; allein Cecil fagte feiner Gebieterin, als jungfräuliche Königin fonne fie
nicht mit einer des Ehebruchs und Mordes beſchuldigten Fürftin perfönlih ver-
fehren. Ferner meinte der Rath, Maria müffe fih, da nad dem Zeugniß ber
Geſchichte die fhottifche Krone unter der englifchen ftehe, vor englifchen Com-
miffären über ihre Schuld oder Unſchuld rechtfertigen, Diefe proteftirte jedoch
Maria Stuart. 855
gegen Alles, was einem Proceffe ähnlich fah, und zwar von Seiten einer Partet,
welche ftets die Rebellion in Schottland gefhürt habe; fie verlangte vielmehr, als
znabhängige Königin nah Schottland zurüdzufehren oder in Franfreih eine Zu-
lucht fuchen zu dürfen, was jedoch abgefchlagen wurde, weil es nicht in die Pläne
des englifhen Cabinets paßte. Indeß zeigte fih Maria bereit, Eliſabethen als
ihrer Freundin, nicht aber als ihrer Richterin ihre Unſchuld zu erweifen, ver-
langte aber zugleih ihre Freiheit, Allein alle Borftellungen fruchteten wenig;
vielmehr beihloffen die Minifter, fie von Carlisle nah dem Schloffe Bolton zu
bringen, wo weniger Gelegenheit zur Flucht fei, und zwar bloß, weil fie früher
Anſpruch auf den englifhen Thron gemacht habe, als Katholifin auf den Beifand
ihrer Glaubensgenoſſen im In- und Auslande rechnen fonne und mit ihrer Thron-
befteigung der Untergang des Proteftantismus in England bedingt wäre. Endlich
fand man den Ausweg, niht Marien, fondern ihren Feinden den Proceß zu
machen. Eine hiezu niedergefegte Conferenz konnte nur zu ihrem Nachteile aus-
fallen. Nun Elagte endlih Murray feine Königin am 22. Nov, des Mordes an
und lieferte die Briefe und Ehecontracte derfelben aus, Da aber Maria im Ja—
nuar 1569 ihre Unfhuld bewies und einen fühnen Ton annahm, wurde die Con—
ferenz aufgelöst, Nunmehr wurde fie von einem Gefängniß in das andere ge—
ſchleppt, fie, die Hoffnung aller Katholifen in Schottland und England, Graf
Norfolt und mehrere andere engliihe Große ftarben den Tod des Hochverrathes,
weil fie fih zur Befreiung Maria’s verbunden hatten, Es fanden daher auch
wegen ihres Schijald neue Berathungen Statt. Die Vorſchläge gingen auf
ihre Gefangenschaft oder Hinrihtung oder Sicherftellung gegen ihre Anfprüche
auf den englifchen Thron, Uebermäßig war Maria’s Leid im Gefängniß; ihre
Dienerfchaft ward vermindert, der Aufwand für ihre Tafel und die Bewegung
in der frifhen Luft befchränft, ihre Briefe aufgefangen, während Elifabeth durch
die Beſorgniß gefoltert wurde, ihre Flucht Fonnte gelingen und damit ihr Thron
zerfiämettert werden. Auch nah der Thronbefteigung Jacobs VI. (f. Jacob 1.)
in Schottland wurde die Lage feiner Mutter nicht beffer; er wußte feine Unab-
bängigfeit zu behaupten, nicht aber feine Mutter zu retten, die er endlich ganz
verließ, wiewohl er Morton als den Mörder Darnley’s binrichten ließ. Allein
diefer Umfhwung der Dinge in Schottland flählte auch die Hoffnung der engli=
ſchen Hartbedrüdten Katholifen, und allerlei Benachrichtigungen von Verſchwö—
zungen beängftigten Eliſabeth. Endlich follte-eine Verſchwörung Babington’s
gegen Elifabeth im Sommer 1586 das Schickſal Mariens entſcheiden. Diefelbe
wurde der Theilnahme an dem Berbrechen befchuldigt; daher wurden im Auguft
- ihre Papiere mit Befchlag belegt und der Befehl zu ihrem Proceffe gegeben. Es
wurden 47 Peers, geheime Räthe und Nichter beauftragt, über ihr Benehmen
das Urtheil zu fällen. Maria war nach Fotheringay gebracht worden. Unglück-
licherweife willigte diefe ein, ihre Unfhuld zu erweifen, fie ohne Rechtsanwalt
und Kenntniß der englifhen Geſetze. Angefchuldigt wurde fie, fih mit Ausländern
und Verräthern verfhworen zu haben, um die Invafion des Neihs und den Tod
der Königin zu bewirfen, Maria erflärte ihre zum Beweife hiefür beigebrachten
Briefe für unächt, wurde aber dennoch am 25, Det. für ſchuldig erffärt, und nun
fand ihr Leben in Eliſabeth's Hand. Diefe erwies ſich höchſt unentfchloffen und
ſuchte alle Schuld von fih abzumälzen. Am 22. Nov. ward Maria das Todes—
urtheil angefündigt und daffelbe im Februar 1587 vollzogen. Die Gegenvorftel-
ungen des fpanifchen, franzöfifchen und fchottifhen Hofes waren vergebens ge—
blieben. Maria ftarb einer im Unglück hart geprüften Ehriftin würdig, wies den
Beiftand eines proteftantifchen Predigers entfchieden zurüdf und Iabte ihre Seele
an einer durch den Papft confecrirten Hoftie, forgte für ihre Diener und betete
für ihre Feinde, Mag Mariens Jugendleben auch nicht von Verirrungen frei-
geblieben fein, ihre letzten Tage fühnen vollfommen mit ihr aus, Während ihr
856 Maria Therefia,
Schickſal Shillern Stoff zu einer herrlichen Tragödie gegeben hat, ift im Jahre
1836 Friedrih 9. Naumer in feiner Schrift: „Die Königinnen Elifabeth und
Maria Stuart" als Ankläger Maria's aufgetreten; vgl. „Wilhelm v. Schüß:
Maria Stuart, Mainz 1839”. Hiſtoriſch-politiſche Blätter Bd. I. ©. 457. ff.
und Bd. II. ©. 634. ff. Unter ihren engliſchen Vertheidigern find zu nennen:
Whitaker, Maria queen of Scotland vindicated. 3 Bde. London 1787. Chal-
mer, Life of Maria queen of Scotland, teutfch 2 Bde. Leipzig 1826. (Fehr.]
Maria Therejia, Königin von Ungarn und Böhmen, Erzherzogin zu
Deftreich und gefrönte teutjche Kaiferin. Sie war die ältefte Tochter Carls VI.
und der Elifabeth yon Draunfchweig, geboren den 3. Mai 1717. Einfach und
ftrenge erzogen, ließ die 16jährige Prinzeffin, als fie zum erfien Male von ihrem
Bater in den Staatsrath eingeführt wurde, in welchem der polnifche Wahlkrieg
zur Sprache fam, die große Negentin ahnen, die durch ihren männlichen Geift
und Charakter die Netterin der öftreihifchen Monarchie zu werden von der Vor-
fehung beftimmt war, Ein feltfames Schickſal hätte ihr beinahe den zum Ge—
mahle gegeben, gegen welchen fie von dem Antritte ihrer Negierung an bis zu
ihrem Lebensende faft einen unausgefegten Krieg führte, nämlich Friedrich I. von
Preußen, Die Gefdhichte hätte vielleicht nie zwei gleich große Herrfchertalente
auf Einem Throne vereinigt gefehen, wäre nicht das Vermählungsproject Prinz
Eugens an Familienzwiftigfeiten, die von Berlin her laut wurden, fowie an dem
Gerüchte von den jugendlichen Ausfhweifungen Friedrichs gefcheitert. Dafür
wurde fie vermählt (17, Febr. 1736) mit dem Herzoge Franz Stephan von
Lothringen, bald darauf Großherzog von Toscana und nachherigem Kaiſer Franz I.
Der Tod ihres Vaters Earl VI. (20. October 1740) rief die junge Maria The—
refia auf den Thron der öſtreichiſchen Erblande, gegen deffen rechtmäßigen Beſitz
von allen Seiten wider fie Nechtsanfprüche erhoben wurden. Carl VI nämlich
hatte durch feine pragmatifhe Sanction das habsburgifhe Erbfolgegefes dahin
abgeändert, daß in Ermanglung männlider Erben die Nachfolge an feine ältefte
Tochter und ihre Descendenten übergeben follte, und hatte dazu nicht bloß die
Zuftimmung feiner Stände, fondern auch die Oarantie der meiften europäiſchen
Höfe erlangt. In der fortwährenden Hoffnung jedoch auf die Möglichkeit männ-
licher Nachkommenſchaft, hatte der Kaifer für die Sicherung feiner pragmatifchen
Sanction den großen Mifgriff begangen, daß er e8 unterließ, durch Veranftal-
tung einer römifchen Königswahl zu Gunften feines Eidams das Kaiſerthum bei
der dftreichifchen Monarchie zu erhalten. Kaum hatte nun Carl VI. die Augen
zugedrücdt, als der bayerifche Gefandte, Graf Perufa, im Namen feines Chur-
fürften Earl Albrecht, Einfprache dagegen erhob, der vermöge feiner Abftammung
von Anna der älteften Tochter Ferdinands I., die Grofherzogin von Toscana
nicht als Erbin der öſtreichiſchen Monarchie anzuerfennen vermöge, bevor feine
näheren Anrechte auf diefelbe geprüft feien. Er berief fi dabei auf die tefta-
mentarifche Verfügung Ferdinands I., worin feftgefest fei, daß in Ermanglung
männlicher Erben von Seite feiner Söhne die Nachkommen feiner älteflen
Tochter in die Erbfolge eintreten follten. Er hatte jedoch gegen fich die Driginal-
urfunde diefer teftamentarifchen Verfügung Ferdinands, wie fie in Wien nieder»
gelegt war, worin jene Erbfolge bloß in Ermanglung ebelicher Leibeserben
enthalten war, Weil dem Gefandten eine Entdeckung von einer Falfıhung diefer
Urkunde nicht möglich war, fuchte er zu beweifen, daß unter dem Ausdrucke ehe»
liche Leibeserben nur männliche verftanden werden fonnen, und verlieh (20. Nov.
1740) Wien mit Zurüdlaffung einer von feinem Churfürften ausgeftellten Erflä-
rung, worin berfelbe feine Rechtsanſprüche auf alle Öftreihifchen Erblande gel-
tend machte, welche unbefchadet der von feiner Gemahlin, einer Tochter Joſephs I,
zu Gunſten der pragmatifchen Sanction gemachten VBerzichtleiftung zu Rechte be—
flünden, Die Naubluft des preußifchen Adlers lauerte bereits im Dinterhalte,
ec
« Maria Therefia, 857
fih Bente zu Holen. Schon Mitte December 1740 rückte Friedrich I. mit 30,000
Preußen in Schlefien ein, unter dem Vorgeben, das Herzogtbum Schlefien, wel-
ches feinen Reichslanden zur Vormauer diene, gegen diejenigen fiher zu ftellen,
weldhe an die Erblande des öftreihifchen Haufes „einige Prätenfion” haben zu
können glaubten, Zugleich verfprach er der bedrängten Maria Therefia feine Mit«
wirkung zur Aufrechthaltung der pragmatifchen Sanetion, feine Stimme für die
Erwählung ihres Gemahls zum römifchen Kaifer, und einen Vorſchuß von 2 Mil-
lionen Thalern; dafür wolle er fih mit der Abtretung des ganzen Herzogthums
Schleſien, als Belohnung für fo wichtige Dienfte und Entſchädigung für die
dabei zu übernefmende Gefahr, begnügen. Diefe großmüthige Opferwilligfeit
fand bei der Königin ihre gerechte Würdigung. Sie wies diefelbe entjchieden mit
der Erflärung zurüd, daß fie nicht Willens fei, ihre Negierung mit Zerftüclung
ihrer Staaten anzufangen. Sie fehe ſich Chre- und Gewiffenshalber genöthigt,
die pragmatifche Sanction wider alle mittelbaren und unmittelbaren Angriffe zu
vertheidigen. Keine Gelegenheit ſchien der alten Politif Franfreihs, die auf
Schwähung des habsburgifhen Haufes gerichtet war, günftiger als eben deffen
damals verhängnißvolle Lage, Der verfchlagene Graf v. Belleisle faßte diefen
Plan, für den er auch den alten Kardinal Fleury zu gewinnen wußte, mit aller
Zuverfiht auf, und fah in den von mehreren Mächten erhobenen Erbanfprüchen
die Möglichkeit einer Zerftüclung der dftreichifhen Monarchie, Nach einer Rund—
reife durch Teutſchland zur Einleitung feines Planes, hatte er bereits in einer
Berabredung mit dem Churfürften von Bayern auf dem Schloffe Nymphenburg
die Theilung auf der Charte entworfen. Es fam fodann ein förmlicher Bundes-
vertrag zu Stande zwifchen Bayern, Franfreih und Spanien (22. und 28, Mat
4741). Die beiden letztern verfprachen dem Churfürften ihre Unterftügung zur
Erlangung der Kaiferwürde; diefer dagegen dem Könige von Spanien die Ein-
händigung der öftreichifchen Befigungen in Italien, und den Franzofen, wenn er
- Kaifer fein werde, den ungeftörten Befig der Länder und Städte, welche fie am
Rheine befegen würden. Der Churfürft eröffnete nun den Krieg wider Deftreich
mit der Beſetzung von Paſſau; rückte dann verftärft durch ein franzöfiiches Heer
unter Belleisle in Dberöftreich ein, nahm Linz ohne Schwertftreich und legte fich
nad abgelegter Huldigung der Stände den Titel eines Erzherzogs von Deftreich
bei, Auh König Auguft von Sachen fhloß fi den Verbündeten an, und ſchickte
20,000 Mann zur Befisnahme Mährens nah Böhmen. König Georg II. von
England, der Maria Therefia zu Hilfe ziehen wollte, wurde durch ein franzöfifches
und ein preußifches Heer daran gehindert, und mußte als Churfürft von Hannover
das Berfprechen geben, Earl Albrecht von Bayern bei der Kaiferwahl die Stimme
zu geben, Rußland wurde durch eine auf franzöfifchen Betrieb erfolgte Kriegs—
erklärung von der Hilfeleiftung abgehalten. Inzwiſchen hatte Friedrich IL. in
Schlefien feften Fuß gefaßt und ſchloß ein Schug- und Trugbündnig mit dem Chur-
fürften von Bayern, von welchem er fih Schlefien und die Grafihaft Glatz ge-
währleiften ließ, Am 7. November 1741 empfing er zu Breslau die HYuldigung
der niederfchlefifhen Stände, Ebenfo bemächtigten fih die Sachſen, Franzofen
und Bayern (26. Nov, 1741) durd einen nächtlichen Ueberfall Prags, Der
EhHurfürft nahm den Titel eines Königs von Böhmen an, und empfing die Hul—
digung von den vier Ständen des Königreihs. Nur Eines fehlte ihm jet noch,
die römische Kaiferfrone (f. A. Menzel, neuere Geſchichte der Teutfhen Bd, X.
Cap, 22). In diefer bevrängten Lage ſucht und findet die unglüdlihe Maria
Therefia ihre Ießte Zuflucht bei den Ungarn, Kaum war Carl Albrecht (24; Jan,
1742) einftimmig zum Kaifer gewählt, und (12. Febr.) als Carl VII. mit großem
Prunfe gefrönt worden, da fing auch das Glück an, ihn zu verlaffen, und fich
auf die Seite der Königin von Ungarn zu wenden, Bereitd war fie in den Stand
gefegt, zwei neue Heere in das Feld zu ftellen, Mit dem einen rückte ihr Ge—
858 Maria Therefia,
mahl in Böhmen ein, mit dem andern eroberte der General Bärenflau Ober-
dftreih wieder, befegte das Churfürftentyum Bayern, und rüdte am 13, Febr,
in Münden ein, wo vor wenigen Tagen die Erwählung des Churfürften zum
Kaifer gefeiert worden war. Spaltung und Eiferfucht unter den Verbündeten
begünftigte ihr Glück noch mehr, Durch Vermittlung des englifchen Gefandten
Hyndfort wurde mit Friedrih von Preußen zu Breslau Friede gefchloffen
(11. Zuni 1742), Nieder- und ein großer Theil von Oberſchleſien nebft der
Grafſchaft Glag wurde in Folge deffelben an den König von Preußen und deffen
Erben für immer abgetreten, wogegen diefer affe feine Truppen aus den Ländern
der Königin zurüczuziehen und allen Bündniffen mit ihren Feinden zu entfagen
fich verpflichtete, Für die Fatholifche Kirche Schlefiens wurde Aufrechthaltung
ihres bisherigen Befisftandes mit Vorbehalt der den Proteftanten zu gewähren»
den unumfchränften Gewiffensfreiheit und der den Souverain zuftehenden Gerecht⸗
fame feftgefegt (A, Menzel a. a. D, ©. 427), Als in Folge diefes Friedend-
fchluffes auch Sachfen fih von den Verbündeten Iosfagte, wurde das Uebergewicht
der. öftreichifchen Waffen immer mächtiger. Die Franzofen mußten Böhmen und
die Oberpfalz räumen und die Bayern wurden in ihrem eigenen furz vorher er—
oberten Lande gefchlagen. Der Kaifer mußte fih nach Franffurt flüchten, feine
eigenen Untertbanen der Königin von Ungarn die Huldigung leiſten. Nach dem
Anfhluß der fog. pragmatifchen Armee, die unter Georg I. von England zur
Unterftügung Deftreih$ gefommen war, dachte man daran, den Krieg nad) Franf-
reich zu verfegen. Ein Bündniß zu Worms (23, Sept. 1743) zwifchen Eng-
land, Deftreih, den Generalftaaten und dem Könige von Sardinien, dem ſich
bald auch der ſächſiſche Hof anſchloß, garantirte Maria Therefia auf's Neue die
Aufrechthaltung der pragmatifchen Sanetion. Dafür erklärte nun Franfreih im
eigenen Namen den Krieg an die Königin von Ungarn und an Großbritannien,
und Ludwig XV. begab fich felbft zu der Armee, die in den Niederlanden einge—
fallen war, Friedrich von Preußen beforgt, in Folge jenes Bündniffes Schlefien
- wieder zu verlieren, ſchloß im Einverftändniffe mit Franfreich zu Frankfurt mit
Bayern eine Union ab zur Wiedereroberung Böhmens, und fiel (Auguft 1744)
mit 80,000 Mann von drei Seiten in daffelbe ein, Er mußte es aber bald wieder
räumen und bereitS war ganz Schleſien wieder in den Händen ber Deftreicher
und Ungarn. In einer ausführlichen und fräftigen Proclamation an das ſchleſiſche
Volk feste Maria Therefia die widerrechtlichen Anfprüche Friedrichs auseinander,
Das mörderifhe Treffen bei Keffelsporf (15. Dec. 1745) und der Friede von
Dresden vereitelte aber ihre Hoffnung auf die nahe Möglichkeit einer vollſtändi—
gen Vernichtung des preußifchen Staates. Der Dresdener Friedensfhluß beftäs
tigte auf's Neue die im J. 1742 zu Breslau und Berlin gefchloffenen Verträge,
worauf Friedrich in einer befondern Urfunde die bereits zu Gunften Franz Ste—
phans ausgefallene Kaiſerwahl anerfannte, Earl VII. war nämlich (20. Jan. 1745)
zu Münden plöglih geftorben. Sein 18jähriger Sohn Marimilian Joſeph ſah
fih bald außer Stande, das Bündniß mit Franfreih und Preußen aufrecht zu
erhalten und entfchloß ſich deßhalb zu einer Ausfühnung mit Deftreih, Es wurde
zu Füßen (22. April 1745) zwifchen Deftreih und Bayern ein Friedensvertrag
abgefhloffen, worin Maria Therefia alle in Bayern gemachten Eroberungen zu-
rückgab, fowie die Kaiſerwürde des verftorbenen Churfürften anerfannte; Maxi—
milian Joſeph dagegen allen Anfprüchen auf die Öftreichifche Erbfolge entjagte,
die pragmatifche Sanction anerkannte und dem Großherzog Franz feine Stimme
bei der fünftigen Raiferwahl zufagte. Diefe erfolgte am 13. Sept. 1745 und
fiel troß der Umtriebe Franfreichs auf Franz Stephan, der am 4, October zum
Kaifer gefrönt wurde, Mit diefem Ereigniffe ging ein fehnlicher Wunſch von
Maria Therefia in Erfüllung: einem faft ebenfo entfcheidenden ging fie entgegen,
Der Friede von Machen (18, Detober 1748) ſicherte für Oeſtreich auf's Neue die
Maria Therefia, 859
pragmatifche Sanction, und Maria Therefia fah fih wiederum im Befige aller
ihrer Länder mit Ausnahme des Herzogthums Schlefien und der Grafſchaft Gag,
fowie der Herzogthümer Parma, Piacenza und Guaſtalla, wel’ Iegtere fie an
den fpanifchen Infanten Don Philipp abtreten mußte (A. Menzel a. a. O.
X. Br. ©. 435. ff.) — Eine Regentin, die wie Maria Therefia erflärte, lieber
ihren legten Evelftein verfaufen zu wollen, als auf Schlefien zu verzichten, läßt
zum Boraus ahnen, daß fie mit nicht minderer Energie die Zügel der inneren
Regierung ihrer Erbftaaten in die Hand nehmen werde, als mit der fie die Er-
haltung derfelben verfolgt hatte, Und wirklih gewann das öſtreichiſche Staats-
leben unter ihrer AQjährigen Regierung einen Auffhwung, wie ihn daffelbe kaum
unter einem ihrer Vorgänger gefunden hatte, Bei ihrem Negierungsantritte hatte
fie ihren Gemahl, den Kaifer, zum Mitregenten ihrer Erbftaaten ernannt, der
fih aber ihr gegenüber faum mehr als ein Privatmann betrachtete und ſich be—
gnügte, den Geheimeraths-Sigungen beizumohnen, Eine der erften Sorgen der
Kaiferin war die Hebung der durch den Krieg allzufehr in Anfpruch genommenen
Finanzen, die ſich alsbald trog des Verluftes von Schlefien und Parma bedeu-
tend fteigerten. Eine neue Drganifation des Heer- und Kriegswefens unter der
Leitung Dauns war gegenüber dem vorgeſchrittenen Militärwefen Friedrichs I.
dringendes Bedürfnif. Für ausgezeichnete militärifche Verdienfte ftiftete fie nad
dem Siege bei Eollin den von ihr benannten Maria Therefia-Drden Im
Zuftizfahe wurden ebenfalls bedeutende Reformen vorgenommen: die Folter ab—
geihafft. Imduftrie und Handel, fowie überhaupt Vermehrung der materiellen
Staatsfräfte lag ihr befonders am Herzen. Die Schulen und Lehranftalten blie—
ben dabei nicht vergeffen. Die Gründung der Ritteracademie zu Kremsmünfter,
des Therefianums, des Obfervatoriums fowie der vrientalifchen Academie geben
davon Zeugnif. Die Leitung des Studienwefens war noch in den Händen der
Jeſuiten. Diefe Reformluft der Kaiferin begann aber eine gefährliche Richtung
zu nehmen, als fie durch eine Firchenfeindlihe Partei am Hofe auch auf das fird-
lihe Gebiet Hinübergelenft wurde. Wie Maria Therefia nicht nur die Mutter
Joſephs II., fondern auch die Mutter des Fofephinismus war, vrgl. den Artifel
Joſeph II. Bo. V. ©. 797. ff. Diefe firhenfeindliche Partei, an deren Spite
der Minifter und Ratgeber der Raiferin, Wenzel Grafvon Kaunig, ihr
Leibarzt v. Swieten, fowie der Logenmeifter Sonnenfels flunden (f. Frei-
maurer), gewann bei Maria Therefia um fo leichteren Einfluß, je mehr fie ihre
firchenfeindlichen Beftrebungen mit dem Scheine politifcher Nothwendigfeit zu
umgeben wußte, und in ihrem Sohne Joſeph, der nach dem Tode feines Vaters
(18, Auguft 1765) zum römifchen Könige gewählt und von ihr zum Mitregenten
ernannt wurbe, einen gelchrigen Schüler fand. Es fcheint faft eine Eonceffion
an die Politif Frankreichs zu fein, wenn die Kaiferin auf die Einflüfterungen diefer
Partei Hin zuerft den Jeſuiten ihren Einfluß entzog. Nicht lange nach dem Aachener
Frieden follte nämlich ein großer Wendepunct in der öftreichifchen Politik ein-
treten. Mißtrauifch geworden auf das englifhe Cabinet, dachte Maria Thereſia
daran, in eine engere Verbindung mit Franfreih um jeden Preis zu treten,
Deßhalb Fonnte fie fih fogar dazu verftehen, fid mit der Maitreffe Pompadour
zu diefem Zwede in eine vertrauliche Eorrefpondenz einzulaffen und fie mit dem
Titel: „Madame ma chere soeur et cousine* anzureden, während es ihr fonft zur
Dual und zum Xerger war, wenn fie mit Perfonen fohriftlich verfehren mußte,
die mit jener auf gleicher Stufe der Sittlichfeit ſtunden, z. B. Elifabeth oder Catha—
rina von Rußland (f. Anemonen aus dem Tagebuch eines alten Pilgermannes,
Jena 1847 I. Bd. ©, 231 und II. Bd. ©. 22 f.). Wirklich kam das gewünfchte
Bündniß zu Stande (1. Mai 1756) und hatte den fiebenjährigen Krieg zur Folge.
Diefe Rüdficht auf den franzöfifhen Hof beftimmte fie auch den fehwerbedrängten
Elemens XII. (ſ. d. A.) im Stiche zu laſſen, der fie und ihre Nachfolger mit
860 Maria Therefia,
dem ausgezeichneten Titel: „apoftolifher König“ beehrt Hatte, Schwieriger
war es für die Firchenfeindliche Partei, die Kaiferin zur Durchführung der Auf-
bebungsbulfe des Zefuitenordens (f. d. U.) zu beflimmen, und fie den bourboni-
fhen Höfen willfährig zu machen. Schon im J. 1770 gab Joſeph dem Herzog
von Choifeul zu verftehen, daß es fhwer halten. werde, feine Mutter für die In—
triguen des Herzogs zu gewinnen, vertröftete ihn aber mit dem Einfluffe Kau—⸗
nitzens, der mit der Aufhebung einverflanden und nicht gewohnt fei, „die Sachen
nur halb zu thun” Ch. Anemonen Bd, IV. ©, 143), Entſchieden ſtellte auch
die Raiferin den häufigen Beſtürmungen wider die Jeſuiten die Erflärung ent-
gegen: „fie begreife nicht, wie denn ein Orden fo verfehrt und verberbt fein fünne,
dem fo viele fromme Geiftlihe, Prediger in fremden Zonen und unter wilden
Bölfern, dem fo große Gelehrte in verfchiedenen wiffenfhaftlihen Gebieten ange-
hörten.” Dit derfelben Anerkennung des Ordens fprach fie fich dem franzöfifhen
Botfchafter, Cardinal Rohan gegenüber aus (a. a. D.). Es if eine von Go—
rani (Memoires secrets et crilig. des gouvernements etc, Paris 1793. tom, II,
pag. 59) erfundene Lüge, Maria Therefia habe einmal ihrem Beichtvater, Kau—
phenhutter, eine Generalbeicht abgelegt und ihm das Verzeichniß ihrer Sünden
fchriftlich übergeben, Eine Abſchrift davon habe fofort der gewiffenlofe Pater an
feine Ordensgenoſſen nah Rom gefandt, Es habe fih aber auch der König vom
Spanien eine Copie zu verfhaffen gewußt und diefelbe der Kaiſerin zugefchickt,
um ihr ihre Vorliebe für die Zefuiten zu benehmen, Auf diefes Hin fei nun Maria
Therefia bereitwillig in die Pläne der buurbonifchen Höfe in Betreff der Aufhe—
bung des Sefuitenordeng eingegangen, Die Böswilligfeit diefer Anecdote liegt
um fo mehr auf platter Hand, als der Beichtvater der Kaiſerin einmal befannt-
Yich nicht Kauphenhutter, fondern Parhammer hieß. Sodann ift allgemein bes
Fannt, daß nie und nirgends die Beichtenden ihr Sündenverzeichniß ſchriftlich
übergeben dürfen, e8 wäre denn, daß fie ſtumm feien, was bei Maria Therefia
befanntlih der Fall nicht war, Die Abforderung eines ſolch' fchriftlichen Ver—
zeichniffes hätte alfo ſchon Hingereicht, das Mißtrauen der Kaiferin gegen ihren
Beichtvater zu erwecken, und e8 hätte gewiß einer Veröffentlichung deffelden nicht
mehr bedurft. Diefe coloffale Lüge aber würde fih nach dem fog. Jeſuiten Ka—
tehismug, der im J. 1820 in Leipzig erfihien und eine der feindfeligften
Schriften gegen die Jeſuiten ift, auf folgende Thatſache reduciren: Bei der erſten
Theilung Polens im 3.1772 Habe die Kaiſerin außerhalb der Beichte ihren Beicht-
vater, den Zefuiten Parhammer befragt, in wie weit diefe Handlung, an der fie
Theil: nehmen follte, gerecht fei. Der Pater unfhlüffig, wie er in einem ſo
ſchwierigen Falle zu entfcheiden habe, habe fih bei feinen Drdens-Dbern in Rom
Raths zu erholen gefucht. Eine Abfchrift von feinem Briefe habe fich jedoch der
dftreihifhe Gefandte am römifchen Hofe, Herr von Wil ſeck, zu verfchaffen
gewußt und diefelbe dazu benügt, die Kaiſerin ungünftig gegen die Jeſuiten zu
ftimmen (Gregoire, Gefchichte der Beichtväter , Leipzig 1825 1. Thl. S, 168, °
f. Neue Sion 1846 I. Hf. S. 10). Somit könnte alfo wohl von einer Ver—
legung eines Geheimniffes, aber feines Beichtgeheimniffes der Kaiferin bie
Rede fein, Der gehäffige „alte Pilgersmann“ hat in neueſter Zeit in feinen
Anemonen (Bd. I. S 317) die Anecdote Gorani's in einer rührenden Berfion
wiedergegeben, Er erzählt nämlich, wie ein junger Jeſuite, Namens Joſeph
Monfperger, von feinen Obern auf feine Weife die Erlaubniß zum Austritt
aus dem Orden in den Weltpriefterftand habe erhalten fünnen. Derfelbe habe
nun in der geheimen Kanzlei am Hofe als fungirender Seeretär des Provin«
eials gearbeitet, und in Folge eines höchſt glücklichen Zufalls in einem von außen
gar nicht fichtbaren, fehr fünftlih mit einer Doppelwand verfehenen Wandfchranf
eine Menge der wichtigften, längſt vergeffenen geheimen Papiere, Correfpon-
denzen 20, gefunden, und zu feinem Erftaunen mehrere Generalbeichten
A nie’ in —
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Maria Therefia, 861
von gekrönten Häuptern, Prinzeſſinnen, Miniſtern und Großen aus
den letzten Jahren Carls VI. und aus dem erſten Decennium Thereſias meiſt in
Urſchrift, mehrere in Abſchrift, weil die Originale nach Rom gewandert ſeien.
Monſperger habe nun dieſen glücklichen Fund durch einen Freund dem Miniſter
Kaunig mitgetheilt, der dieſe Arcana begierig durchgemuſtert, aber noch mehrere
Jahre darüber geſchwiegen habe, weil noch Manches zum offenen Falle nicht reif
gewefen fei. Monſperger aber habe fih durch die Drohung einer Veröffentlichung
feines Fundes von Clemens XII. feinen Austritt aus dem Orden ertrotzt. Abge-
fehen nun von den innern Unwaährſcheinlichkeiten, an welchen diefe Anecdote „des
alten Pilgermannes” wie die Gprani’s leidet, ergibt fih die Erdichtung deifel-
ben aus feinen eigenen Worten, Unmittelbar vor Erzählung derfelben fagt er,
Sofeph I: und Carl VI. haben die Jefuiten von allen Staatsgeheimniffen ausge-
fchloffen , — und do foll nah ihm Monfperger fhriftliche Generalbeichten von
Earl VI. gefunden haben. Ferner habe Maria Therefia ſtets auf die Vorftellungen
Kaunigens, in der Aufhebung und Vertreibung des Ordens mit den bourbonifchen
Höfen gleichen Schritt zu Halten und nicht den Einklang mit denfelben zu ge—
fährden, nur mit Thränen geantwortet, Und doch war Kaunig nach obiger Er—
zählung fhon längſt im Befige des angeblichen Documents, und follte es gleich-
wohl, da doch fein Grund zur Verheimlihung mehr vorhanden war, der Kaiſerin
gegenüber noch länger in der Tafıhe behalten haben. „Entrüftet aber habe die
Karferin unterfchrieben, als Kaunig ihr eine, aus Rom ihm zugefommene Gene-
ralbeichte zu Handen ftellte, die fie in früherer Zeit einem Jefuiten gethan habe”;
und dennoch Foftete e8 (Anemonen Bd, IV. ©, 144) viel, daß fie nach der Auf-
bebungsbulle nicht mehr, wie ihre Borfahren und Anverwandten, einen Jefuiten
zum Beichtoater hatte, fondern hiezu den Propft des Chorherrnftiftes St. Doro—
thee, Ignatz Müller, erwählte, der auch Zeuge ihrer legten Stunde war. Es
würde fomit gewiß mehr als ein Glaube, der Berge verfegen kann, erforderlich
fein, wenn man nicht mit A. Menzel (a, a. 4, Bd. XIL S. 37) zum Alfer-
wenigjten zweifeln wollte, als wäre die Einwilligung der Kaiſerin in die Aufhe—
bung des Jefuitenordens in Folge eines verlegten Beichtgeheimniffes erfolgt.
Ein nicht unwahrſcheinlicher Erflärungsgrund, warum fie dem Andringen nad=
gab, und welcher auch der Schlauheit Raunigens Ehre genug machte, ſcheint in
der Angabe des Abbe Georges (M&moires pour servir a l’'histoire etc. Paris 1817
pag. 138) zu liegen, daß nämlich Clemens XIM. der frommen Maria Therefia
ihren hartnäckigen Widerftand als eine Berfündigung an der firhlichen Auctoritäk
dargeftellt Habe; wenn man nicht Lieber annimmt, daß auf die Kaiſerin die Vor—
ftellung ihres Ranzlers, das Glüf ihrer an den Dauphin von Franfreich ver-
mählten Tochter fei von ihrem Nachgeben abhängig, den meiften Eindruck machte
(A Menzel a. a, O.). Nicht mindere Berlegenheit und Gewiſſensunruhe als
die Aufhebung des Jefuitenordens hatte Maria TIherefia die im J. 1772 vollzo-
gene und von Preußen und Rußland längſt projectirte Theilung Polens bereitet,
Mit tiefem Schmerze fah fie die Unterdrüdfung der Katholiken dur die Gewalt«
thätigfeiten Catharina’s von Rußland, und deren Plan, Polen an fih zu reißen,
Deßhalb unterftügte fie die Eonföderirten, und erflärte, nie eine Zerftüdlung der
Republif, welcher Art fie auch fei, zugeben zu wollen. Erft als ihr Minifter
Kaunig ein Eingehen auf das Theilungsproject als einen unvermeidlich politifchen
Schritt darftellte, fiegte in ihr die Luft, die Früchte des Unrechts zu genießen,
über ihre Gewiffenhaftigfeit, und unterzeichnete den Kaunitz'ſchen Vortrag mit
der beigefügten Bemerfung: „Placet, weil fo viele große und gelehrte Männer
ed meinen. Wann ich aber fchon längft todt bin, wird man erfahren, was her⸗
vorgeht aus dieſer Berlegung von Allem, was bisher gerecht und heilig war.“
Noch offener ſprach ſich ihr beunruhigtes Gewiffen in einem Handbillet an Kaunitz
aus (ſ. Ad, Menzel, a. O. Bd. X. ©, 17, Anemonen IV. ©, 46, f.).
862 Maria Therefia,
Ein wichtiges Ereigniß follte noch den Schluß des vielbewegten Lebens der Kai—
ferin bilden; es war dieſes der bayerifche Erbfolgefrieg (f. Art, Joſeph IL),
Derfelbe aber war ihr um fo läftiger geworden, je zweifelhafter das Necht und
je unentfchiedener das Glück auf ihrer Seite war, Deßhalb fuchte fie zum Aerger
ihres Sohnes Joſeph fowie ihres Minifters Raunig eine alsbaldige Beendigung
deffelden, was ihr auch in dem Frieden von Tefchen glücklich gelang (13. März
1779). Im darauffolgenden Jahre, 18. Detober 1730, Hatte fie fchon eine Ahnung
von ihrem herannahenden Tode. Die in ihrer Jugend mit außerordentlicher Schön-
heit begabte Kaiferin ward nämlich in ihrem fpätern Alter in Folge einer Poden-
franfheit und eines unglücklichen Falles fehr verunftaltet und ihre übermäßige
Eorpulenz machte ihr das Gehen unmöglich. Als fie nun eben das Grab ihres
Gatten befuchte, brad) das eine Seil des Stuhles, auf dem fie in die Gruft
hinuntergelaffen worden, und darin eine Vorbedeutung ahnend, rief fie: „Er will
mich behalten — ich fomme bald.” Sie hatte fich nicht getäufht. Bon einem
heftigen Bruftcatarrh befallen, ftarb fie nach wenigen Tagen 29. Nov. 1780,
nachdem fie zuvor ihren Sohn Joſeph befchworen hatte, von der Religion feiner
Väter niemals zu Taffen. Wenn der Berfaffer der Anemonen fagt: „die Frau
bat faum gelebt, die zugleich größer auf dem Throne und mafellofer im Privat-
leben gewefen wäre , als diefe Fürſtin“, fo fcheint ung diefes Lob, wenn auch fehr
groß, doch nicht übertrieben, Jedenfalls ift dafjelbe gerechtfertigt, wenn man fie
mit andern Perfonen ihres Gefchlechtes, die zu ihrer Zeit auf Thronen faßen,
3. B. einer Elifabeth oder Catharina von Rußland in Vergleihung bringt, Sie
war das Mufter einer treuen Gattin, die mit einer außerordentlihen Zärtlichkeit
und Treue ihrem Gatten ergeben war, wenn fie gleich diefelbe weniger auf feiner
Seite fand, Sein unerwarteter Tod, der zu Innsbruck während der Bermählungs-
feierlichfeiten des Erzherzogs Leopold mit der Infantin von Spanien, Maria
Louife , erfolgte, verſetzte fie in eine tiefe Trauer, die fie während ihres ganzen
Lebens nie ablegte, Mit ihren eigenen Händen fertigte fie des Kaiſers Leichentuch
und ging mit dem Gedanfen um, ihr Leben in einem Klofter zu befihließen. Den
18. jeden Monats ſchloß fie fih einfam ein und weilte flundenlang in der Gruft
bei den Capueinern an Franzens Grabmonumente, Die von ihr in's Leben geru-
fenen fog. Reufchheits-Commiffionen, wenn fie auch weniger ihren Zwed erreich-
ten, beftätigen nur, daß das, was ihr heilig und unverleglich war, es auch bei
ihren Unterthanen fein follte, Mit befonderer Vorliebe nahm fie fi der Wittwen
und Waifen an, wie ihr dena überhaupt die Wohlthätigkeit faft zur Leidenſchaft
geworden war, „Man muß mich tödten,” foll fie einmal Joſeph gegenüber ge-
äußert haben, „wenn man mich hindern will, Wohlthaten zu erzeigen“ (Paga-
nela. a. O. ©, 218). Wie fie eine treue Oattin war, war fie auch eine lie-
bende Mutter, Bon ihren 6 Söhnen und 6 Töchtern überlebten fie folgende:
1) Joſeph I., ihr Nachfolger. 2) Leopold, Großherzog von Toscana und Nach-
folger Jofephs. 3) Friedrich, Gouverneur der Lombardei. 4) Marimikian, Groß⸗
meifter des teutfchen Ordens, deffen Wahl zum Coadjutor von Münfter und Colu
vor ihrem Lebensende ihr noch befonders am Herzen lag. Sie hoffte dadurch
einen nicht unbedeutenden Einfluß für das öftreihifhe Haus im Norden Teutſch⸗
lands zu gewinnen, Allein nicht nur Friedrich von Preußen ftund einer folden
Wahl entgegen, fondern fie hatte auch den alten Churfürften von Coln Marimi«
lian Friedrich gegen fi, der die Wahl gerne auf feinen Staatsminifter im Hoch»
ftifte Münfter, den um das Schul: und Erziehungswefen nicht unverdienten Frei«
berrn Franz von Fürftenberg gelenft hätte, Allein da Fürftenberg für ein An«
bänger Preußens galt, das damals im Erzftifte Cöln wenig Sympathien hatte,
fo wußte der in demfelben regierende Miniter von Belderbufc feine Wahl
auf eine fchlaue Werfe zu hintertreiben, Er forderte angeblich im Namen des
Churfürſten den Prinzen Joſeph Chriftian von Hohenlohe» Waldenburg« Barten-
De —
Marian, 863
flein, welcher cölnifher Domgraf und Domherr in Straßburg und Breslau
war, auf, fih um die Coadjutorie zu bewerben, und den Churfürften feldft
um Unterftügung hiezu anzugehen, Der Anfıhlag gelang vollfommen. Und nun
wußte Belderbufh dem Churfürften diefe Bewerbung als eine vom König von
Preußen angeftiftete darzuftellen, fo daß derfelbe nicht nur die Einwilligung in
die Wahl des Erzherzogs Marimilian gab, fondern auch noch ein befonderes
Empfeplungsihreiben für denfelben an das Eapitel von Cöln richtete. Die Pro-
teftation Friedrihs gegen diefe Wahl machte, daß fie um fo fiherer zu Stande
fam zu Coln 7. Auguft 1780 und bald darauf (16. Auguft) auch zu Münfter
(A. Menzel a, a. DO. XI. ©. 165). — 5) Muria Anna, Aebtiffinn von Prag
und Klagenfurt, 6) Maria Chriftina, vermählt an Albrecht von Sachen, Sohn
des Königs Auguft II. von Polen. 7) Maria Elifabeth, Aebtiffinn von Inns—
bruck. 8) Maria Amalia, Gemahlin des Herzogs Ferdinand von Parma. 9) Maria
Charlotte Louiſe, Gemahlin Ferdinands IV., Königs beider Sicilien, und endlich
10) die unglückliche Maria Antoinette, Königin von Frankreich. — Es ift auf-
fallend, wie ſchon größtentHeil® unter der Regierung Maria Therefia’s, die öf-
terd von anderer Seite fogar des kirchlichen Fanatismus befchuldigt wird, bie
Bande gefhmiedet wurden, welhe man zur Hemmung und linterbrüdfung des
kirchlichen Lebens in Deftreich bis auf die neuefte Zeit anwendete, Diefe Erfchei=
nung läßt fih aber vollftändig begreifen, wenn man bedenft, wie der Machia—
vellismus der Politif ihrer Zeit überhaupt auf die Vernichtung der Selbftitändig-
feit der Kirche Hinarbeitete, und wie fodann bei dem allzugroßen Vertrauen der
Kaiferin in ihre Minifter und Näthe, welche die Träger jener politifchen Rich—
tung waren, fie die gefährliche Stellung, die fie der Kirche gegenüber einnahm,
in ihren Folgen nicht fannte, noch auch bei ihren Uebergriffen in das kirchliche
Gebiet fih eines Wiverfpruhs mit ihrem Firchlichen Glauben bewußt war, Dabei
war aber Maria Therefia perfönlih eine fromme Frau, und dem Fatholifchen
Glauben von Herzen ergeben, Sie foll felbft ein Gebetbuch gefhrieben haben:
und wohnte täglich zwei HI. Meſſen bei. Indeß fohügte fie ihre Frömmigkeit
nicht immer gegen die Aufwallungen Ieidenfchaftliher Gereiztheit, noch auch gegen
Berlegungen ihrer Gewiffenhaftigfeit in Fällen, wo politifhe Nothwendigkeit ſolche
ihr zu gebieten ſchien, wie diefes z. B. in jenem Briefe an die Pompadour der
Fall war. Immerhin wird aber die Gefchichte einer Verfönlichkeit die Anerkennung
ihrer Borzüge nicht verfagen, deren politifcher Gegner ihr nah dem Tode das
fhöne Zeugniß gibt: „Sie hat dem Throne und ihrem Gefchlechte Ehre gemacht;
ich babe fie befriegt, aber ich bin niemals ihr Feind gewefen.“ (Oeuvres de Fre-
deric tom. XI. pag. 292.) [Röuen.]
Mariana, Johann, fpanifcher Jeſuit und Hiftorifer, geboren zu Tala—
vera in der Didcefe Toledo im J. 1537, trat 1554 in die Gefellichaft Jeſu, in
deren Schule er fo große Fortfihritte in ven Wiffenfhaften machte, daß er fpäter
nicht bloß durch feine Kenntniffe in der Lateinischen, griechifchen und hebräiſchen
Sprache, fo wie in den ſchönen Künften überhaupt, fondern auch als Theolog
und Hiftorifer fih einen fehr großen Namen erwarb. Mit hohem Anfehen lehrte
er zu Rom (1561), in Sicilien (1565), zu Paris (1569), von wo er fih nad
Spanien zurückzog, und zu Toledo 1624 in einem Alter von 87 Jahren farb,
Wir Haben von Mariana eine Gefhichte Spaniens in 30 Büchern, urfprünglich
lateiniſch gefchrieben, Anfänglih gab Mariana zu Toledo 1592 nur 20 Büder
heraus , die in Andreae Schotti Hispaniae illust. T. II. enthalten find; darauf folg⸗
ten noh 10 Bücher, die bis zum J. 1516 reichen (enthalten in Schotti Hispan.
illustr. T. IV). Die lateinifchen Ausgaben von Mariana’s Gefchichte find außer
der‘ obengenannten von Toledo die vollftändige Ausgabe zu Mainz 1605, und die
zu Haag 1733 in 4 Bänden Fol, , die fhönfte und befte. Eine franzöfi sche Ueber⸗
fegung erſchien vom Jeſuiten P. Charenton zu Paris 1725 in 6 Bänden in 4.
864 Marianı.
Mahudel fügte eine hiftorifche Abhandlung hinzu, Mariana überfegte feine Ge-
ſchichte, jedoch nicht wörtlih, in das Spaniſche. Vom fpanifchen Terte if die
befte Ausgabe die zu Madriv 1678 in 2 Foliobänden, Diefe Ausgabe enthält
eine Fortfegung der Gefhichte bis zum J. 1678. Petrus Mantuanus, Cohon-
Truel, Ribeyro de Macedo warfen ihm mehrere Verftöße gegen die Chronologie,
Geographie und die Gefchichte vor, ohne ihre Angaben hinreichend begründen zu
fönnen. Mariana's Gefchichtfchreibung zeichnet fih durch einen hohen Grad von
Gerechtigkeit und Unparteilichfeit aus; fein Styl iſt edel und dem des Titus Li—
vius nahefommend. Außerdem fchrieb Mariana 2) furze Scholien über die Bibel
in Fol., bei denen fich eine fehr gelehrte und gründliche Differtation über die Aus—
gabe der Vulgata, und über die alten Heberfegungen der hl, Schrift findet, Diefe
Differtation findet fih auch in der Ausgabe des Menochius von P. Tournemine,
3) Eine Abhandlung: de ponderibus et mensuris, Toledo 1599. 4) Sechs Heiz
nere Schriften, gebrudt zu Cöln 1609 in Fol,, unter diefen befindet ſich die
Schrift de monetae mutatione. In diefer Schrift ließ fih Deariana beifommen,
die vielen Veränderungen im Münzwefen Spaniens zu rügen, worüber der Ver-
faffer in die Gefangenfhaft wandern mußte. 5) Die famofe Schrift de rege et
regis institutione (Toledo 1599. in 4.). Die Schrift erfchien ohne alles Hinder-
niß von Geite der geiftlihen und weltlichen Gewalt. Merkfwürdig ift der Im-
ftand, daß Martana diefelbe auf inftändiges Bitten des D. Garcia de Loayfa
(69. U), Lehrers Philipps III., verfaßte, und daß fie die Beftimmung hatte, bei der
Erziehung und dem Unterrichte des Thronerben zu dienen. Freimüthig wird darin
die Tyrannei verdammt, und eine volfsthümliche Regierungsweife proclamirt, Diefe
Schrift trägt Anfihten über den Tyrannenmord vor, die allerdings in mancher Be=-
ziehung gefährlich werben fünnen, die aber ſchon lange vor den Jeſuiten von ein-
zelnen Theologen waren gelehrt worden, „Dadurch feste Mariana, jagt Bayle,
die Jeſuiten überhaupt, und insbefondere die Jeſuiten Franfreihs, den em—
pfindfichften Vorwürfen und Angriffen aus, welche man immer wieder erneitert,
und welde niemald aufhören werden, fo lange die Gefchichtfchreiber fortfahren,
fih Teidenfchaftlicher Werfe einander abzufchreiben.“ Die Schrift warb von der
Sorbonne verdammt, und auf Befehl des Parlaments zu Paris 1610 durch den
Sharfrichter verbrannt, Uebrigens hat der General der Jeſuiten Aquaviva diefe
Anfichten in Betreff des Tyrannenmords fofort verworfen und den Mitgliedern
der Gefellfchaft dur ein eigenes Decret für immer ftrengftens verboten, diefelben
weder öffentlich noch privatim vorzutragen (vgl. d. A. Aquaviva). Es ıft daher
ungerecht und thöricht, diefelben immer wieder den Jefuiten vorzuwerfen, — Dem
Mariana fchreibt man auch ein Werk zu, das „über die im Regiment der Societät
Jeſu vorfommenden Fehler” handelt — discursus de erroribus, qui in forma gu-
bernationis Societatis Jesu oceurrunt. Das Werf erſchien in fpanifchen, Tateini=
fhen, italienifchen und franzöfifchen Ausgaben. Mariana, fagt man, babe fein
ſpaniſches Danufeript nicht für den Druck beftimmt gehabt, daffelbe fei ihm aber
im Gefängniß von einem Franeiscaner befeitigt worden, der es dann auf eigen
Fauft zu Bordeaur (1625) habe drucken laffen, Die Jefniten verlangten, daß
man ihnen das fpanifche Original vorzeige; als aber diefes Niemand Eonnte, fo
machten fie daraus den Schluß, das Buch fer zum Mindeften eutſtellt und ver«
ändert worden, und der Herausgeber habe feine guten Gründe gehabt, warum er
es erfi nach Mariana’s Tod erfcheinen Ließ,. Die Grundanlage des Werfes, meint
Abbé Felfer (diction. histor. T. 6), möge allerdings von Mariana gewefen fein;
es fei ja auch gar leicht möglich gewefen, daß Mariana in feinem Drden einzelne
Negierungsfehler zu fehen glaubte, oder wirffich gefehen habe: Fein Regiment fer
ohne Fehler, und für das befte halte man nur dasjenige, was die wenigften
Fehler habe — Optimus ille est, qui minimis urgetur. Vergleiche die Schrift
des Abbe Balmes; der Proteftantismus, verglichen mit dem Katholicismus im
Y
=
Marianum officium — Mariä Empfängnig. 865
feinen Beziehungen zur europäiſchen Eivilifation, Regensburg 1845. 3. IH.
©, 101. f. Ey : [Dür,]
Marianum officium, ſ. Drevier.
Marienfeite. Die Verehrung der hl. Jungfrau breitete fih auf dem Grunde
der in dem Art, „Marin“ angegebenen Thatfachen aus, erweiterte und fteigerte ſich
mit der Zeit, und verzweigte fich über einen nicht geringen Theil des Firchlichen Feft-
freifes. Bald begnügte fich die Pietät nicht mehr mit dem, was die Gefhichte nahe
legte, die befannteren Momente ihres Lebens in die kirchliche Gedächtnißfeier herein-
zuziehen und in danfbarer Erinnerung zur Belebung des’ Glaubens zu vergegen-
wärtigen; die durch fie beflimmte und genäßrte Verehrung ward felbft auf's Neue
productiv, und ſchuf nacheinander zu den Hiftorifch gegebenen Memorien, wie die
Geburt, Vermählung der hl. Jungfrau u. a. auch noch ſolche, welde in dem
Eulte felber ihren Grund haben, wie des Patrociniums der HI. Jungfrau, des
Rofariums u. ſ. w. oder fonft einer ſpeciellen Inflitution den Urfprung verdanken,
wie bas Feſt Mariae de Mercede, Mariae ad Nives etc. Die religiöfen Orden weit-
eiferten miteinander in der Bereicherung des Marianifchen Feſteyelus; und diefe
Erfoheinung ift den Lateinern fo wenig eigenthümlih, daß die Drientalen ihnen
bierin nicht bloß vorangingen, fondern auch fonft fie im Eifer übertrafen, Diefer
Euft blieb dabei nicht ohne allen Einfluß auf die Lehrentwiclung, wie umgekehrt
vorher diefe jenen angeregt und gefördert hat. Wie überhaupt nicht der Falte
veflectirende Verſtand für fich das erzeugende und belebende Princip des Eultes
ift, fondern derjelbe mehr aus dem erleuchteten, frommen und tieffinnigen Ge—
müthsgrunde fi erhebt und entfaltet, fo hat eben diefer in feinem Streben, zu
den gegebenen neue Seiten an den Dbjecten der Verehrung aufzufuchen, ver-
einzelte Beziehungen daran entdeckt, zu feiner inneren Befriedigung hervorgekehrt
und ſich aufgeftellt. Sowie nun die Kirche überall im Culte das, was dem Dogma
angemefjen und der Beförderung der Frömmigkeit und des religiöfen Lebens dien-
Lich ift, jelbft hervorhebt und anoronet, oder was von dem frommen Eifer ange-
regt wird, in fofern fie es dem Dogma gegenüber unverfänglich und dem ge—
nannten Zwede förderlich findet, gerne geflattet, weil fie nichts von dem, was
erbaut und die Heiligung fördert, der frommen Gefinnung vorzuenthalten pflegtz
fo Hat fie auch bezüglich des Marianifchen Cultes ſtets daſſelbe gethan, indem fie
ihm im Culte der Heiligen einen hervorragenden Rang eingeräumt, wie es bie
eminente Stellung der heiligen Gottesmutter mit fich bringt (f. den Art. Cultus
- hyperduliae), und ihn in jeber angemeffenen und erfprießlichen Weife gefördert,
zugleich aber auch dabei die Grenze zwifchen Dogma und frommer Meinung feft-
gehalten Hat.
Mariä Empfängnif. Die Erinnerung an das freudenvolle Ereigniß, da
die HI. Jungfrau und Gottesgebärerin Maria im Dlutterleibe empfangen wurde,
wird in der ganzen Kirche gefeiert, und zwar in der abendländifchen Kirche am
8. December, und in der morgenländifchen am 9. December, weil das ältere Feft
- Mariä Geburt neun Monate darauf, den 8. September, gefeiert wird, — Der
Urfprung diefes Feftes ift ungewiß ; aber in der morgenländifchen Kirche wurde
es fhon im fünften Jahrhundert gefeiert, denn das Typicon des hl. Sabas
(+ 531) fegt es auf den 9. December als das Feſt: 7 ovAinung TyS dylag
Avvas, untoös Ss Osoröxs, d. i. Conceptio S. Annae, parentis Genitrieis Dei,
unter welhem Namen es auch bei den Griechen gefeiert wird, alfo als das Feft
der Empfängniß der HI. Anna, der Mutter der Gottesgebärerin, oder da die HL
Anna die Opttesgebärerin empfangen hat. Georg, Biſchof von Nicomedien, im
fiebenten Jahrhundert, unter Kaiſer Heraclius C+ 641), bezeichnet es als ein Feft,
das längft eingeführt fei (non novissime institutam), cf. Bened. de festis J. Ch. et
Mariae part. II. $202; und ver Kaifer Immanuel Comnenus (+ 1180) fagt in
einer Novelle bei Theodor Balfamon in deffen Observat. ad Nomocanonem Photii,
Kirchenlexikon. 6. Dr. 5
866 Mariä Empfärngnif.
wo er die Fefte herzählt, welche vom Volke gefeiert werden ſollten: Nonus dies
Decembris; quia tunc Genitricis Dei nostri Conceptio celebratur. Und in ver
abendländifchen Kirche fommen Spuren davon ſchon im fiebenten Jahrhundert vor,
und zwar zuerfi in Spanien, wo es der hl. Ildephons, Biſchof von Toledo
C+ 667), einführte, wie deſſen Lebensbefchreiber Zulian berichtet; vgl. auch Mar-
tene de antig. ecel. disc. c. 30. und Mabillon notae fusiores ad S. Bernardi epist.
174.; dann in England im eilften Jahrhundert, wo e8 dur Anfelm, Erzbifchof
von Canterbury CH 1109), eingeführt wurde, wie eine Synode in London vom
Sabre 1323 bezeugt Cef. Bened. I. c. $ 203); in Frankreich wenigftens im An-
fang des 12ten Jahrhunderts, da der hl. Bernhard (+ 1133), welder in einem
bald näher zu befprechenden Schreiben, worin er bie Canonifer der Cathebral-
firche von Lyon wegen der Einführung diefes Feftes tadelt, fagt, daß er diefes
Feft auch ſchon bei andern Kirchen bemerkt habe; in Nom jedoch erft im 1äten
Sahrhunderte, wie aus einer Bemerfung des Hl, Bonaventura CH 1274) in ib,
3. sentent. dist. 3. qu. 1. hervorzugehen fcheint, jedenfalls aber im Anfang des
14ten Jahrhunderts, indem Alvarus Pelagius C+ 1340) berichtet, daß er an
dieſem Feſte in Nom gepredigt habe; und ebenfo berichtet ver Carmeliter Bacon
C+ 1350), daß diefes Feft in der Kirche feines Ordens jährlich vor den Cardi-
nälen feierlich begangen werde (ef. Bened. 1. c. $ 206). — In Bezug auf den
Grund oder die Bedeutung dieſes Feftes Hat fi in der abendländifchen Kirche
ein Streit erhoben, wovon jedoch die morgenländifche unberührt geblieben ift, Es
fnüpfte fih nämlich im Abendlande bald die Frage an dieſe Feftfeier: ob die hl.
©pttesgebärerin ohne die Erbfünde oder mit der Erbfünde im Mutterleibe em-
pfangen worden, und daher ihre Empfängniß eine unbefleckte oder mit jener Sünde
beflecfte fer; und es bildeten fich unter den Theologen zwei Parteien, wovon bie
eine diefe, die andere jene Meinung vertheidigte, Alle ſtimmten und flimmen
darin zufammen, daß die HI. Jungfrau, ald von Gott vorberbeftimmt, den Sohn
Gottes und Erlöfer der Welt zu gebären, durch die zuvorfommende Önade,
bezüglich der Verbienfte ihres göttlichen Sohnes Jeſu Ehrifti, noch vor ihrer
Geburt im Mutterleibe geheiligt, d.h. von der Erbfünde befreit worden und nach
ihrer Geburt von jeder andern Sünde, auch von den läßlichen, wie die Kirche ſelbſt
lehrt CConc. Trident. Sess. VI. can. 23.), frei geblieben fei, während bei allen andern
Menſchen diefe Heiligung, beziehungsweife Befreiung von der Erbfünde (f. d. U.),
erft nach der Geburt durch die Taufe eintritt; da ja auch der Prophet Jeremias
(Cap. 1, 6.) noch im Mutterleibe von Gott gebeiligt wurde (antequam exires de
vulva, santificavi te) und Johannes der Täufer (Luc, 1, 15.: Spiritu sanctoreplebitur
adhuc ex utero matris suae), wie vielmehr alfo Diejenige, welche „das Heilige“,
„ven Sohn Gottes”, gebären follte (Luc, 1, 35.). Aber darin weichen fie von
einander ab, in welchem Zeitpunete die Heiligung Maria’ vor fih gegangen
fei, ob im Momente ihrer Empfängniß, oder erft vor ihrer Geburt, alſo nach—
dem ihr Leib und ihre Seele ſchon vereinigt waren, Diejenigen, welche das
Erftere behaupten, nehmen die unbefleckte, d.h, von der Erbfünde befreite Em-
pfängniß Maria’s an; und Diejenigen, welche die Heiligung Maria’s erft in die
Zeit nad) ihrer Empfängnif, aber noch vor ihrer Geburt fegen, nehmen an, daß
die hl. Jungfrau wie. alle andern Menfchen, CHriftus ausgenommen, in der Erb»
fünde empfangen worden, und daher ihre Empfängnif Feine unbefledte fei. Den
Anlaß zu diefer Controverfe gab der HI. Bernhard. Als nämlih die Canonifer
von Lyon das Feſt Mariä Empfängniß, das fonft fchon vielfach eingeführt war,
in ihrer Kirche einführten, fehrieb er im J. 1131 den ſchon genannten Brief
(Cepist. 174. ad canonicos Lugdunenses in ed. Mabillonii), worin er diefelben bar-
über fehr tadelte, theils wegen Mangels eines Grundes zu diefem Fefte, tbeils
weil fie es ohne den Vorgang, beziehungsweife ohne Genehmigung des römifchen
Stuhles gethan hätten, Er hielt nämlich dafür, daß, obwohl er die Heiligung
Mariä Empfängniß. 867
WMaria's vor ifrer Geburt im Mutterleibe, gleich der des Propheten Jeremias
und des Täufers Johannes, anerkannte, weßmwegen er auch das Feft Mariä Ge-
burt freudig feiere, die Empfängniß derfelben nicht gefeiert werden fünne, weil
diefe mit dem Makel der Sünde, wie alle Menfchen von der Sünde Adams her,
behaftet und folglich nicht Heilig fei, fondern daß, wenn man diefes annehmen
wolle, man annehmen müffe, daß Anna die Maria nicht von ihrem Manne, fon-
- dern vom hl. Geifte empfangen habe, und daß folglich die Empfängnig Maria’g
der Empfängnig Chriſti gleich fei, was aber der Lehre der Kirche widerftreite und
eine Kegerei fei. Allein abgefehen davon, daß der Sinn des Briefs des hl. Bern-
Hard über diefen Punet des vermeintlich fehlenden Grundes zur Feftfeier nicht
ganz klar ift, fo gibt er auch felbft am Schluffe feines Briefes zu erfennen, daß
er hierin nicht mit fih im Keinen war, indem er entſchieden die Canonifer nur
deßhalb tadelte, weil fie diefes Feft ohne Genehmigung des römifhen Stuhles
eingeführt hätten; das Uebrige aber, was er fonft über diefe Materie fagt, ohne
Präjudiz eines Andern, der es beffer wiſſe, gefagt haben will, und daffelbe ing-
befondere dem Urtheile des römiſchen Stuhles unterwirft und ſich bereit erklärt,
wenn er anders denke, als diefer, fein Urtheil darnach zu verbeffern. Diefer Brief
hatte auch rüdfichtlich der Feier des Feftes wirklich Feine Wirfung, indem ſich
weder die Canonifer von Lyon dadurch von der Feier diefes Feftes abhalten ließen,
noch die andern Kirchen, wo es bereits eingeführt war, davon abflanden, viel-
mehr diefe Feier immer weiter ſich verbreitete, ohne daß vorerft fih Jemand in
die Unterfuhung der Frage einließ, ob Maria von der Erbfünde frei geblieben
ſei oder nicht (Bened. 1. c. $ 189). Der HI. Bernhard ging dabei von einem
andern Begriff der Empfängniß aus, als dabei vorausgefegt wird; und er ver—
langte einerfeits zu viel, wenn er behauptete, daß, um von der Erbfünde frei zu
bleiben, eine Empfängnig vom hl. Geifte nöthig fei, da dazır die zuvorkommende
heiligmachende Gnade Gottes genügt; und andererfeits folgerte er zu wenig für
die Heiligung Maria’s vor ihrer Geburt noch im Mutterleibe aus dem Beifpiele
der Heiligung des Propheten Feremias und des Täufers Johannes vor deren
Geburt im Mutterleib, da Maria, die Osttesgebärerin, mehr ift, als beide, die
nicht ohne die Erbfünde empfangen wurden, und daher auch einer größern Gnade
Gottes gewürdigt ift, als beide; denn wem unter den Menfchen wurde ein himm—
liſcher Gruß zu Theil, wie der, welcher der Hl. Maria zu Theil geworden ift?
@ue. 1, 28.) Auch ift feine Berufung auf die alte Tradition, welche diefes Feft
nicht empfehle (non commendat antiqua traditio), nur in fofern zutreffend, als es
die Feier des Feftes betrifft, die allerdings im der älteften Zeit noch nicht vor—
fommt, wie aus dem Obigen zu erfehen ift, nicht aber in fofern, ald es dem
Grund des Feftes, nad feiner (des: hl. Bernhard) Auffaffung, angeht. Denn die
alten Bäter des Morgen- und des Abendlandes reden in den höchſten Ausdrücken
von der Erhabenheit und Heiligkeit der Jungfrau Maria über alle Gefchöpfe,
Engel und Menfhen (ef. Pallavicini hist. conc. Trident. lib. 7. ce. 7. n. T—9.)J5
und wenn fie nicht ausdrüdlich fagen, daß fie au von der Erbfünde frei ge—
blieben fei, fo folgt daraus nicht, daß fie das Gegentheil geglaubt und gelehrt
Hätten, denn fie hatten feine Veranlaffung, fih ausdrüdlih über diefen Punct
auszuſprechen. Dagegen hat derjenige, welcher durch die Pelagianer dazu Ver—
| anlaffung erhielt, nämlich der HI. Auguftinus, fi allerdings ziemlich deutlich
darüber ausgefprochen, indem er die hl. Maria von der Sündhaftigfeit aller
Menfhen ausnimmt, und diefelbe in jeder Hinficht für fündenfrei erflärt, Seine
Worte find (in lib. de gratia et natura cap. 36): Excepta itaque Sancta Virgine
Maria, de qua, propter honorem Domini, nullam prorsus, cum de peccalis
agitur, haberi volo quaestionem: unde enim scimus, quid ei plus gratiae
collatum fuerit ad vincendum omni ex parte peccatum, quae concipere ac parere
meruit eum, quem constat nullum habuisse peccatum? Wenn er fie nun aber im
55 *
868 Marii Empfängniß.
jeder Hinficht für fündenfrei erffärt, fo läßt fih gewiß nicht ohne Grund der
Schluß ziehen, daß er fie nicht bloß von der wirklichen, fondern auch von der
Erbfünde für frei erflärt, Cf. Natalis Alex. hist. eccles. saec. II. dissert. XIV.
Ss 21. Was aber den Begriff ver Empfängnig Maria's betrifft, welchen fich der
hl. Bernhard davon machte, fo beftand derfelbe in dem Acte der phyfifchen Zeu—
gung durch ihre Eltern, denn er meinte, wenn man die hl. Jungfrau von der
Erbfünde freifprechen wolle, fo müffe fie es ſchon vor ihrer Zeugung durch ihre
Eltern gewefen fein, alfo in einem Zeitpuncte, wo fie noch nicht eriflirte, was
unmöglich ſei, oder man müffe den Act der Zeugung für heilig halten, was wieder
nicht angehe, alfo müffe man annehmen, daß fie erfi nach ihrer Empfängniß,
jedoch noch im Mutterleib, ihre Heiligung erhalten habe, Seine Worte find:
Si igitur ante conceptum sui sanctificari minime potuit, quoniam non erat; sed nec
in ipso quidem conceptu, propter peccatum, quod inerat; restat ut post conceptum,
in utero jam exsistens, sanctificationem accepisse credatur, quae excluso peccato
sanctam fecerit nativitatem, non tamen et conceptionem. Die Theologen aber
unterfcheiden zwifchen der activen und paffiven Empfängniß (conceptio activa
et passiva), und verftehen unter der activen den Act der Zeugung durch die Eltern,
unter der paffiven aber den Moment, wo die Seele in den fchon gebildeten Leib
son Gott eingegoffen wird. Benedict XIV. fagt hierüber 1. c. $ 185: Conceptio
dupliciter accipi potest; vel enim est activa, in qua sancti B. Virginis parentes
opere maritali invicem convenientes praestiterunt ea, quae maxime spectabant ad
ipsius corporis formationem, organizationem et disposilionem ad recipiendam ani-
mam rationalem a Deo infundendam; vel est passiva, cum rationalis anima cum
corpore copulatur. Ipsa animae infusio et unio cum corpore debite or-
ganizato vulgo nominatur Gonceptio passiva, quae scilicet fit illo
ipso instanti, quo rationalis anima corpori omnibus membris ac suis
organis constanti unitur. Diefe paffive Empfängnig Maria’s nun iſt es,
um welche es ſich Hier handelt, und welche Diejenigen verftehen, welche die un—
befleckte Empfängniß Maria’$, oder die Immunität derfelben von der Erbfünde
durch die zunorfommende Gnade Gottes vertheidigen, Denn Benebict ſagt e.
$ 186: Non hic de activa Gonceptione sermo est, sed de passiva, quae pura et
immaculata fuisse dieitur. Beata onim Virgo ab originali labe fuit immunis, et &
communi omnium hominum contagione libera per gratiam sanctificanfem, quam
Deus illi indidit in primo conceptionis momento, cum anima corporijam
membris suis instructo unita fuit. Diefes werde, fagt Benediet weiter,
von denjenigen Theologen, welche die unbefleckte Empfängnig Maria's vertheidig-
ten, durch folgende gleichhedeutende Säte ausgedrügft, nämlich: Conceptio B, Vir-
ginis est immaculata; oder B. Virgo in eo puncto temporis, quo anima corpori
unita est, ab originali peccato munda fuit et immunis; oder B. Virgo, praeveniente
gratia, numquam actu originali peccato subdita fuit; oder B. Virgo primo existen-
tiae suae momento fuit sanctificante gratia praedita; oder endlich B. Virgo ab ori-
ginali peccato servata fuit. Derjenige aber würde die unbefleckte Empfängniß
Maria’s nicht deutlich genug ausdrüden, welcher fagte, fie fei, bevor fie aus dem
Mutterleibe hervorgegangen, geheiligt worden, denn Jeremias (Cap, 1.) und Jo=
hannes der Täufer (Luc. 1.) feien auch im Mutterleibe geheiligt worben, aber
doch beide mit der Erbfünde behaftet gewefen. Es komme alles auf den Mo—
ment an, in welchem die Gnade eingegoffen worden, Wer alfo der Meinung von
der unbefleckten Empfängnif Maria’ folge, müffe einen von den obigen Sägen
anwenden, um biefen Sinn auszubrüden, welche Säge nicht nur ausdrückten, daß
fie im Mutterleibe geheiligt, fondern auch, daß ihr die heiligmachende Gnade in
demfelben Moment eingegoffen worben fei, als mit dem Leibe die Seele vereinigt
wurde, fo daß die heiligfte Frau von dem gemeinfamen Erbmafel Aller frei ge—
wefen fei, Der hl. Bernhard aber ging von dem Momente ber artiven Zeu—
Mariä Empfängnif. 869
gung aus, welcher hier nicht in Betrachtung fommt, — Nachdem jedoch die Sache
von dem HI. Bernhard angeregt war, entftand auch der Eifer, damit in’s Reine
zu fommen, und fo entflanden unter den Theologen die ſchon berührten zwei Par-
teien, wovon die eine für und die andere gegen die unbefleckte Empfängnig Ma-
ria's firitten, von welchem Streite jedoch die Feier des Feftes Feine Notiz nahm,
die fih vielmehr immer weiter in der Kirche verbreitete. Endlich fchien die Mei-
nung von der unbefledten Empfängnig Maria's den Sieg davon zu tragen durch
den Franeiscaner Johannes Duns Scotus, welcher im Jahr 1307 in einer
feierlichen Disputation vor der Parifer theologiſchen Facultät, die auf Befehl des
Papftes und in Gegenwart der päpftlichen Legaten gehalten wurde, den Sag: daß
die hl. Jungfrau Maria von der Erbfünde frei geblieben fei, fo glänzend ver-
theidigte und die Einwendungen dagegen widerlegte, daß fih jene Farultät, in
welcher früher berühmte Profefforen die entgegengefegte Meinung vertreten hatten,
nunmehr für diefe von Duns Scotus vertheidigte Meinung erklärte und dem
felben ven Namen Doctor Subtilis beifegte. Diefem Beifpiele der Pariſer then-
Ingiihen Facultät folgten nach und nach ziemlich alle theologiſchen Facultäten
und Theologen (Bened. 1. c. $ 189). Namentlich war es der Orden der Fran-
. eiscaner, welcher nach dem Borgang feines berühmten Ordensmannes Duns
Scotus diefe Meinung vertrat, und worin ſich demſelben nachmals der Orden
der Jeſuiten beigefellte. Die entgegengefegte Meinung, daß nämlich die HI.
Jungfrau Maria bei ihrer Empfängniß, wie alle Menfchen, mit der Erbfünde
behaftet worden fei, wurde jedoch fortan durch den Drden der Dominicaner ver-
treten, im Hinblick auf feinen berühmten Drdensgenoffen, den HI. Thomas von
Aquin (+ 1274), und auf andere berühmte Scholaftifer, wie Petrus Lombarbus
Cr 1164), Alerander von Hales (+ 1245) und Bonaventura CH 1274), beide letztere
Sranciscaner, und Albertus Magnus, Dominicaner (+ 1280). Doch trat diefe
gegnerifche Partei nicht ganz in die Fußftapfen des HI. Bernhard ein, fondern wich
vielmehr darin von ihm ab, daß fie nicht von der activen Conception ausging,
wie er, fondern von der paffinen, indem fie behauptete, daß die hl. Jungfrau
in dem Moment, als ihre Seele mit ihrem Leibe vereinigt wurde, der Erbfünde
unterworfen, und erft nachher, jedoch vor ihrer Geburt, noch im Mutterleibe,
durch die heiligmachende Gnade davon befreit worden, alſo einige Zeit damit be=
haftet gewefen fei. Denn Alerander von Hales fragt part. 1. qu. 9. art. 1.:
1) an B. Virgo fuerit sanctificata in conceptione (i. e. in commixtione, quae est
in prineipiis seminalibus viri et mulieris, wie Bernhard die conceptio auffaßte);
2) an post conceptionem ante animae infusionem? Und Thomas fagt hierauf in
mag. dist. 3. qu. 1. a. 1. c.; ad hoc dicendum, quod B. Virgo nec ante concep-
tionem, nec in conceptione ante animae infusionem sanctificata sit. Vgl. Mabillon
in not. fus. in S. Bernardum ad epist. 174. Der hl. Bernhard Fonnte alfo Leichter,
als diefe, zu der andern Meinung von der unbefledkten Empfängnif übergeben,
fowie er gefehen, daß der römifhe Stuhl, deffen Urteil er feine beffallfigen
Behauptungen unterworfen hatte, fi zu derfelben Hinneige, und er würde dieſes
ohne Zweifel auch getban haben (ef. Bened. 1. c. $ 189). — Die Meinung von
der unbefleften Empfängniß nahm nunmehro (nach Duns Scotus) an Kräftigung
zu. Als 80 Jahre nach des Duns Scotus Tode CH 1308), nämlich im J. 1387,
der Dominicaner Johannes de Monteſono den Sag aufftellte: daß die hl. Jungfrau
in der Erbfünde empfangen worden fei, wurde diefer Sat von der Parifer theol;
Faeultät verurtgeilt und diefes Urtheil von dem Bifchof von Paris beftätigt (Benedi
1.0. $ 190). Ferner auch das Eoneil zu Bafel Ceröffnet 1431) nahm die Frage
von der unbefleckten Empfängniß Maria's zur Behandlung, und beauftragte den
Sohannes de Turrecremata, den Stand der Sache zu bearbeiten und mit feinem
Urtheife vorzulegen, Er fohrieb auch eine Abhandlung darüber, legte fie aber nicht
mehr por, da das Eoneil vom Papſt Eugen IV. nach Ferrara verlegt wurde (1438),
870 Mariä Empfängniß.
and Turrecremata ſich gleichfalls dahin begab, Der in Baſel zurückgebliebene
Theil der Väter fegte jedoch, wie befannt, feine nunmehr fchismatifh gewordenen
Berathungen fort, und nahm auch die Frage über die unbefleckte Empfängnif
Maria’s wirklich noch in Berathung und gab darüber in der 36ſten Sigung im
J. 1439 folgende Entſcheidung: Doctrinam illam asserentem gloriosam Virginem
Dei Genitricem Mariam , praeveniente et operante Divini Numinis gralia singulari,
nunquam actualiter subjacuisse peccato originali, sed immunem semper fuisse ab
omni originali et actuali culpa, sanctamque et immaculatam, tamquam piam et con-
sonam cultui ecclesiastico, fidei catholicae, rectae rationi, el sacrae scriplurae, ab
omnibus Catholicis approbandam fore, tenendam, et amplectendam definimus, et
declaramus, nullique de caetero licitum esse in confrarium praedicare, seu docere,
Allein fo wichtig auch diefer Beſchluß materiell ift, fo hatte er doch Feine Gültig-
feit, weil das Coneil felbft nicht mehr rechtmäßig war, Dagegen gab Papft Sir-
tus IV. im Jahr 1476 eine Conftitution heraus, worin er, ohne des Decrets des
Bafeler Eoneils zu gedenken, einige Abläffe Denjenigen verlieh, welde am Fefte
der Empfängniß Mariä die HI. Meffe und das von ihm Hierzu approbirte Officium
beten und den canonifchen Stunden beiwohnen würden, und mithin diefes Feft
dadurch begünftigte. Und als im Jahr 1481 der Dominicaner Vincentius de
Brandelis zu Ferrara in einer öffentlichen Disputation die der unbefledten Em-
pfängniß entgegengefegte Behauptung vertheidigte, und in demfelben Jahre einen
Trartat herausgab , worin er zu zeigen fuchte, daß die Gottesmutter ebenfo wie
die übrigen Menfchen in der Erbfünde empfangen worden fei, und daß es unrecht
fei, zu glauben, daß fie ohne Erbfünde empfangen worden fei, fowie auch unrecht,
die Predigten folcher zu hören, welche Teugneten, daß fie in der Erbfünde empfangen
worden, feine Meinung jedoch dem Urtheile des römischen Stuhles unterwerfend;
fo gab Sirtus IV. im J. 1483 eine zweite Conftitution heraus, worin er Die-
jenigen verdammte, welche zu behaupten wagten,, daß derjenige eine Todfünde
begehe, welcher jenes Feft feiere, oder ein Keger fei, welcher den Satz verthei-
dige, daß die feligfte Jungfrau von der Erbfünde frei gewefen fet (Bened. I. c.
$. 192.), Und als im J. 1497 der Varifer Theologe Johannes Verus öffentlich
predigte, daß die heilige Jungfrau zwar gereinigt, aber nicht vor der Erbfünde
bewahrt worden fei, fo veranlaßte ihn die theologifche Facultät dafelbft, dieſe
Behauptung öffentlich zu widerrufen, und faßte im nämlichen Jahre, um berlei
Streitigfeiten vorzubeugen, den Befchluß: Feinem in Zukunft den Doctorgrad zu
verleihen, welcher nicht der Meinung von der unbeflerften Empfängniß Maria’s
zugethan fei, und fich nicht durch einen feierlichen Eid verpflichte, diefelbe zu ver-
theidigen, und bezeichnete die entgegengefegte Meinung als eine falfche, gottlofe und
irrige (falsam, impiam, et erroneam. Cf. Bened. 1. c. $. 193.). Als fpäter das Coneil
von Trient von Paul IM. im J. 1542 ausgefchrieben worden war, verbreitete fi
die Nachricht, daß auf demfelben auch die Eontroverfe über die unbefledte Ems
pfängniß Maria's in Anregung gebracht werden folle, weßhalb ber Magister
palatii Bartholomäus Spina mit Einwilligung des Papftes die Schrift Turreere-
mata's, welche für das Coneil von Bafel beftimmt gewefen, aber demfelben nicht
mehr vorgelegt worden war, durch den Druck befannt machte, Die Eontroverfe
wurde auch wirklich von den Cardinälen von Giaen und Pacecco bei den Berhand«
ungen über die Lehre von der Erbfünde angeregt und in der fünften Sigung am
17. Juni 1546 von der Eynode zu dem Deerete über die Erbfünde folgende Er—
Härung in Betreff der hl. Maria beigefügt: Declarat tamen haec ipsa sancta Syno-
dus, non esse suae intentionis comprehendere in hoc decretö, ubi de peccalo ori-
ginali agitur, beatam et immaculatam Virginem Mariam Dei Genitricem; sed obser-
vandas esse Constitutiones felicis recordationis Sixti papae IV. sub poenis in eis
Constitutionibus contentis, quas innovat. (Cf. Pallavicini hist, cone. Trident. lib. 7.
©. 3,0. 8 et 0, 10. n. 5.), Obgleich die Synode durch diefe Erklärung bie Con«
Mariä Empfängnig. 81
troverſe nicht entſchied, fondern diefelbe in dem Stadium, in welches fie unter
Sirtus IV. getreten war, beließ, fo ift doch nicht zu Teugnen, daß dadurch die
Meinung von der unbefleften Empfängnig Maria's einen Zuwachs an Gewicht
erhielt. Indeſſen eben weil fie die Controverje dogmatiſch nicht entfchied, fo blieb
fie au, und erhob ſich bald wieder an der pariſer theologifchen Facultät, indem
diefe legtere durch den Jefuiten Maldonat wegen ihres Eides angefochten wurde,
den fie in diefem Betreff von ihren Doetoranden fordere, und worin fie die Mei—
nung von der unbeflecten Empfängniß dadurch, daß fie die gegentheilige Meinung
für falſch, gottlos und irrig erkläre, gleihfam zum Glaubensartifel made, da fie
doch von der Kirche felbft noch nicht dogmatiſch entichieden, und daher nur eine
fromme Meinung fei; auch wurde die Controverfe von den Geiftlichen wieder in
den Predigten vor dem Bolfe verhandelt. In Folge deifen ließ die theologifche
Facultät zu Paris in ihrem Eide den Zuſatz: daß die gegentheilige Meinung falfch,
gottlos und irrig fei, fallen Cef. Bened. 1. c. 8.193. 197 et 210. und Natalis Alex,
hist, eceles. saec. II. Dissert. 16. $, 21.); und Papft Pius V. verbot im J. 1570
in einer Conftitution, unter Androhung fhwerer Strafen, die beiderfeitigen Mei—
nungen auf den Kanzeln oder in öffentlichen Berfammlungen von Perfonen beiderlei
Geſchlechts zu berühren, oder die eine von beiden Meinungen, da der apoftolifche
Stuhl noch nicht entfchieden habe, für irrig zu erflären; und nur den Gelehrten
geftattete er, in öffentlichen Disputationen, wo Männer anwejend feien, welche
die Sache verftänden, darüber zu ftreiten (Bened. 1. c. $. 197). Später ging
Philipp IH., König von Spanien, den Papft Paul V. an, den Streit zu entſcheiden.
Derfelbe ging jedoch darauf nicht ein, fondern beftätigte bloß durch eine Conftitu=
tion vom Jahr 1616 die Verordnungen der Päpfte Sirtus IV. und Pins V. und
den Befchluß des Eoneils von Trient in diefer Sache, und fügte noch neue Strafen
für die dawider Handelnden hinzu, Da aber diefen Verordnungen doch nicht
überall nachgefommen wurde, fo verbot er im 3. 1617 durch eine Eonftitution,
in allen öffentlichen Berhandlungen, wie Predigten, Borlefungen, Thefen u. dgl.
die Behauptung aufzuftellen: daß die hl. Jungfrau in der Erbſünde empfangen
worden fei, fügte jedoch bei: Per hujusmodi provisionem Sanctitas sua non inten-
dit reprobare alteram opinionem, nec ei ullum prorsus praejudicium inferre, eam
relinquens in iisdem statu et terminis, in quibus de praesenti reperitur, praeter
quam quod disposita. Bald darauf ging auch Philipp IV., König von Spanien,
den Papſt Gregor XV. an, die Eontroverfe zu entſcheiden. Derfelbe Iehnte es
auch wieder ab, doch fügte er durch eine Eonftitution vom 3. 1622 zu den vor=
bandenen Verordnungen in Betracht diefer Sache drei neue hinzu: 1) daß, wer
in Öffentlichen Verhandlungen behaupte, die HI. Jungfrau fei ohne die Erbfünde
enipfangen worden, die gegentheilige Meinung nicht angreifen, fondern davon
gänzlich ſchweigen folle; 2) daß es niemand mehr erlaubt fein folle, auch nicht
einmal mehr in privaten Verhandlungen, die der Meinung von der unbefleckten
Empfängniß entgegenftehende Meinung zu vertheidigen, mit Ausnahme der—
jenigen Perſonen, welchen es der apoftolifche Stuhl erlaubt habe, und er er⸗
faubte e8 den Dominicanern, jedoch nur privatim und unter fi) davon zu reden;
3) daß fih in dem Offieium und in der heiligen Meffe, welche am Fefte ver Em—
pfängniß der feligften Jungfrau von der Kirche gefeiert werde, niemand, ſei es
öffentlich oder privatim, eines andern, als des Namens „Empfängnig” be=
dienen folfe (alio, quam Conceptionis nomine); alfo nicht immaculata Gonceptio
B. Mariae Virginis, fondern Gonceptio B. Mariae Virginis immaculatae (Bened.l.
$. 208). Nah diefem ging Papft Alerander VIL weiter und verordnete durch
eine Conftitution vom 3. 1661, daß der Eult der Empfängniß der unbefledten
und fteten Jungfrau Maria in der römifchen Kirche, nachdem er einmal eingeführt
fei, immerwährend (perpetuo) beibehalten werden folle, und verbot unter ſchweren
Strafen, die Meinung, das Feft, und den Eult der (unbefleckten) Empfängniß
872 Marii Erwartung.
jemals in Zweifel zu ziehen, oder unter was immer für einem Vorwande mit
Worten anzugreifen, fügte aber bei: Vetamus aufem Sixti IV. Constitutionibus in-
haerentes, quemquam asserere, quod propter hoc contrariam opinionem tenentes,
videlicet gloriosam Virginem Mariam cum originali peccato fuisse conceptam, hae-
resis crimen aut mortale peccatum incurrant, cum a Romana Ecclesia et ab Apo-
stolica Sede nondum fuerit hoc decisum, prout Nos nunc minime decidere volumus, aut
intendimus (Bened.]. c. $. 199). Bald darauf fügte Papſt Clemens IX. (1667-1669)
die Detav zu diefem Feſte; und Clemens XI. erhob es endlich durch feine Eonfti-
tution vom 6. December 1708 zu einem gebotenen Feiertage (festivitalem de prae-
cepto) für die ganze Kirche (Bened. 1. c. $. 207), Papft Gregor XVI. geftattete
zulegt auch noch den franzöfifchen Biſchöfen, auf ihre Bitte, in der Präfation zu
fingen: Et te immaculata conceptione B. M. V., und in ber Iauretanifchen Litanei:
Regina sine labe originali concepta. So haben fich denn die Päpfte immer, und
immer mehr zu Gunften der Meinung von ber unbefledten Empfängniß ausge-
ſprochen. Auch das Haupt des Ordens, welder bisher die entgegengefegte Diei-
nung vertreten hatte, der General der Dominicaner, fuchte beim hl. Stuhle um
die Erlaubniß nach und erhielt fie im 3.1843, die Meffe und das Offieium von
der unbeflerften Empfängnig Maria’ adoptiren zu dürfen, Endlih haben in
neuefter Zeit die americanifchen und franzöfifchen Bifchöfe in Verbindung mit den
Sefuiten abermals an den römifchen Stuhl die Bitte gerichtet, den Streit zu ent-
fiheiden, und die fromme Lehrmeinung von der unbefledten Empfängnig Maria’s
zu einem Dogma zu erheben. Pius IX. hat jedoch nicht fofort diefer Bitte nach-
gegeben, fondern unter vem 2, Februar 1849 eine Encyelica an fämmtliche Biſchöfe
des Erdfreifes gerichtet, um ihr Gutachten darüber einzuholen. — Diejes der
Berlauf der Verhandlungen über diefen Gegenfland, — Wir ſchließen daher zur
Zeit noch mit den Worten Benediet XIV. in feiner mehr erwähnten fehr gelehrten
Abhandlung über diefe Materie (F. 200): „Die Summe der ganzen Sache geht
dahin, daß die Kirche ſich mehr zu der Meinung von der unbefledten Empfäng-
nit Maria’s neigt, daß jedoch der apoftolifche Stuhl diefelbe noch nicht als
Glaubensartifel ausgefprochen hat CItaque summa totius rei huc redit, ut Eoclesia
ad opinionem immaculatae Conceptionis propensior sit; nondum tamen Apostolica
Sedes tamquam fidei arliculum eam definierit). — Uebrigens ift von der dogmatiſchen
Eontroverfe die Feier des Feftes unberührt, da, wie Bellarmin fagt, der Haupt-
grund derfelben nicht die Unbeflerftheit der Empfängniß iſt, fondern die Erinnerung
an das freudige Ereigniß der Empfängniß der Gottesmutter, Seine Worte (de
cultu Sanctorum lib. 3. cap. 16. in Op. de Controversüs, Venet. 1721. tom. II.
pag. 453) find: Fundamentum hujus festi (scil. Conceptionis B. V.) praecipuum
non est Gonceptio immaculata, sed simplieiter Gonceptio matris Dei futurae, Qua-—
liscunque enim fuerit illa Gonceptio, eo ipso quod Gonceptio fuit matris Dei, sin-
gulare gaudium affert mundo ejus memoria. Tunc enim primum habuimus pignus
cerium redemptionis, praeserlim cum non sine miraculo ex matre sterili concepia
fuerit. Itaque hoc festum etiam illi celebrant, qui putant Virginem in peocato oon-
ceptam,. — Die neuefte Schrift über diefen Gegenftand -ift von dem Jeſuiten
Perrone mit dem Titel: De immaculato B. V. Mariae conceptu, an dogmatico
decreto definiri possit. Romae 1848, dem Papfte Pius IX, gewidmet, und zu dem
Zwede gefehrieben, die endliche dogmatifche Entſcheidung damit anzubahnen.
Mariä Erwartung (Exspectalio partus B. V.M.), Erwartung ber Nieder-
funft der feligften Zungfran, Sinn und Geift diefes Feſtes, das als ein Feslum
internum am 18, December begangen wird, ift von felbft klar. Einige hielten es für
identifch mit dem Fefte Marii Verkündigung (ſ. d. A.). Die Verwechslung kam
daher, daß e8 an demfelben Tage begangen wird, welchen die Synode von Toledo
im Jahre 656 für die Feier der Verkündigung beftimmt hatte, Aber letzteres Feft
wurde nie und nirgends Exspectatio partus genannt, Es muß fomit das Feft
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Mariä Geburt. 873
Mariä Erwartung” jüngern Urfprunges fein. Als fih nämlih Spanien
der Praris der römischen Kirche, welche das Feft Mariä Verkündigung am 25. März
feiert, accommodirte, fo fubftituirte es das Feft Mariä Erwartung auf den 18, Der,,
wo es vorher Mariä Verkündigung gefeiert hatte, Diefes Feft, das Gregor XIM.
im $. 1573 approbirte, ift nur ein Rirchenfeft und Heißt in Spanien, weil bie
großen Antiphonen am Borabende deffelben mit der Interjection O anfangen, auch
Festum Dominae nostrae de ©. (Bened. XIV. de fest. p. . $ 226. 227. Bin=
terim, Denfw, V. 1.)
Mariä Geburt (Nativitas B. V.M.). Ueber die Abfunft Mariens und deren
Eltern ift fhon früher im Art, „Maria” das Nöthige gefagt worden. Nach der zu-
verläffigften Auslegung von Luc. 3, 23, wie nach der Angabe beider Thalmude war
ihr Bater Eli, daffelbe was Eliafim oder Joakim oder Joachim, und ihre Mutter
bieg Anna. Lestere empfing, nach alter Tradition, gleich jener Anna, welche als
Elkana's Gemahlin und Samuels Mutter im A. T. gepriefen wird, ihre Tochter alg
eine Frucht heißer Gebete nach längerer Unfruchtbarkeit, Nach Baronius (in appar.
ad annal. eccl. $ 48} war Nazareth die Geburtsftadt Mariens; dorthin hatten
fih auch wirklich, als in Herodes ein dem Bolfe fremder König aufkam, die
Nachkommen der fat vergeffenen davidiſchen Königsfamilie in gerechter Beſorgniß
zurüdgezogen. Johannes Damascenus dagegen (de fid. orth. 1. IV. c. 15) ift der
Meinung, Maria habe zu Jeruſalem das Licht der Welt erblickt. Wie dem au
fei, die Geburt Mariens ift ein würdiger Gegenfland kirchlicher Feftfeier. Groß
war der Ahnenruhm und der Geburtsadel diefer Tochter der Patriarchen und Kö—
nige; aber größer noch ift die Würde ihrer Mutterfchaft und der Glanz ihrer
Tugenden. Auf beide Beziehungen weist die Kirche hin in dem Officium dieſes
Seftes. Die evangelifche Feft-Pericope fließt nach Herzählung der Stammpäter
Mariens mit Jefus Chriftus, um anzudeuten, daß er der Zweck ihrer Geburt
fei, daß fie ihm ihre Würde verdanfe, daß, wenn fonft wohl der Ruhm son den
Eltern auf die Kinder übergeht, hier die Herrlichkeit von dem Kinde auf die
Mutter zurüdftrahle. Diefem Verhältniſſe Mariens zu ihrem göttlichen Sohne
und dem gefammten Erlöfungswerfe entſprechend war auch ihre Geburt infofern
eine ausgezeichnete, als fie ohne die Makel der Erbfünde in’s Leben trat. Somit
if ihre Geburtsfeier eine wohlbegründete Ausnahme von der kirchlichen Regel,
‚nur die Sterbetage der Heiligen ald deren Geburtstage zum neuen unvergäng-
lichen Leben zu feiern. Schon im vierten Jahrh. wurde der Geburtstag des Vor-
länfers CHrifti-gefeiert, und das aus feinem andern Grunde, als weil er zwar
in der Erbfünde empfangen, aber fchon im Mutterleibe geheiligt, d. 5. von der
Erbfünde gereinigt und folglich frei von derfelben geboren wurde. Was lag dem-
nad näher, als auch der Geburt der Mutter des Herrn eine befondere Berürf-
fihtigung zuzuwenden? — Gleichwohl aber gehört die Feier der irdifchen Geburt
der Gottesmutter nicht zu dem äfteften Firchlichen Feften. Es ward im Oriente
zuerft begangen, und zwar, wie Gavantus (Thes. T. I. Sect. 7. c. 11) bemerkt,
in der Epoche zwifhen den allgemeinen Eoneilien von Ephefus und Chalcedon
(431— 451); wenigftens findet fi unter den von Riecardi herausgegebenen Reden:
des Patriarchen Proclus von Eonftantinopel CH 447) eine über die Geburt der
heiligen Jungfrau. Diefe Anfiht, die auch Binterim vertritt, gewinnt viel an
innerer Wahrfcheinlichkeit, wenn man bebenft, wie geeignet die Feier der Geburt
Mariens fein mußte, jenes Schibboleth des Neſtorianismus, fie fei nicht Heoroxog,
fondern Kpıororoxos, und der von ihr Geborne nicht Ieog ougL yerouevog,
fondern Rogöoos oder 0d6x06, zurüdzumeifen. Aus dem fiebenten Jahrh.
haben wir von Andreas von Ereta eine Rede und ein Gedicht, Zdiomelon genannt,
auf diefes, wie er andeutet, damals nicht mehr neue, fondern allgemein unter
den Griechen befannte Feft (Galland. bibl. vet. Patr. tom. XIII. p. 93. Combef.
editio opp. Andr. Cret. Paris. 1644), Aus dem Driente wanderte unfer Feft im
874 Mariä Heimfuhung.
den Occident. Auguftin kennt e8 noch nicht; denn er bemerft (Serm. 287. 292.
de Sanct.) ausdrücklich, daß nur die Geburt Chrifti und feines Borläufers in der
Kirche gefeiert zu werden pflege. Zwar find die Lectionen der Il Nocturn, die
auf diefen Tag treffen, dem HI. Auguftin entnommen; allein fie find Bruchſtücke
aus einer Nede, die Auguftin für das Feft Mariä Berfündigung bearbeitet hatte
(Benedict. XIV. de fest. p. Il. $ 132), Unter ven veciventalifhen Kirchen ift es
jedenfalls die römiſche, in welcher Martä Geburt zuerft gefeiert wurde. Bei
Leo I. (440— 461) findet fi zwar noch feine Spur davon; ein fiheres Zeugniß
aber für diefe Feftfeier bietet bereits das gelafianifche und gregorianifche Sacra-
mentarium. Auch meldet der Bibliothecar Anaftafins, Papſt Sergius L
(687 — 700) habe nicht nur das Feft gefannt, fondern auch Anordnungen über
die Feier deſſelben, namentlich über eine von der Hadrianskirche nad St. Maria
zu führende Proceffion getroffen (Bened. de fest. p. II. $ 135). Was die Kirchen
von Sranfreih und Teutſchland betrifft, fo wird zwar in dem Werfe de
miraculis S. Genovefae Virg. (tom. I. Januar. Bolland. p. 148) von einem Wunder
berichtet, das fih an demſelben am Grabe diefer heiligen Jungfrau nicht lange nach
deren Tode (+ 512) ereignet haben foll. Aber unfer Feft fehlt noch in dem Feftkalender
des hl. Bonifacins, welches auf fein Pönitentiale folgt; auch indem des Con—
eiliums von Mainz (813); Dennoch aber fheint Thomaffin zu weit herab-
zugeben, wenn er fagt (de fest. 1. II. c. 20), erft um das 3. 1000 habe man
Maris Geburt in Franfreich zu feiern angefangen ; denn es ift davon bereits in
den Statuten des Bifhofs Sonnatius von Nheims aus dem fiebenten Jahrh.,
in den Statuten Walthers von Orleans aus dem neunten Jahrh. und in dem
Calendarium deffelben Jahrhunderts bei Gerbet die Rede, Für Spanien be—
zeugt unfere Feſtfeier IIdephons von Toledo aus dem fiebenten Jahrh. und für
Britannien Beda der Ehrwürdige aus dem achten Jahrh. Deffenungeachtet
aber kann die allgemeine Feier diefes Feftes nicht über den Anfang des eilften
Jahrh. Hinaufgefohoben werden. Petrus Damiani ift der erfle Zeuge für bie
Allgemeinheit diefer Feier im Deeidente, — Das Feft wird am 8, Sept, gefeiert.
Ob es übrigens von jeher und überall an diefem Tage gefeiert wurbe, ift wohl be—
zweifelt worden; aber mit Unrecht; denn alle angeführten Zeugniffenicht minder als
die griechifchen Menden, d.i, Sammlungen der Dfficien der Heiligen und Meno—
logien, die unfern Martyrolngien entfprechen, kennen feinen andern als diefen Tag _
(Binterim, Denfw. V. 1.). Warum man aber gerade diefen Tag gewählt habe?
Spller (in Auct. Usuard.) u. 4, finden die Veranlaffung dazu in der Vifion eines
Eremiten, der alle Jahre und zwar nur am 8, Sept. Engelsharmonieen vernommen
babe, die, wie eine übernatürliche Belehrung ihm angedeutet, der Verherrlichung
der Geburt der Gottesmutter gegolten hätten. Allein wer könnte mit folder Er—
Härung fi begnügen? Dan fühlte fich nicht gedrungen, zu fragen: wann geſchah
die Vifion? welches ift ver Name des Viſionärs ? welches die kirchliche Authorität,
die darauf hin die nothwendige Beftimmung traf? Davon fohweigen die Bericht⸗
erftatter über jene Viſion (Bened. de fest. p. II. $ 130 und Bint, Denfw, V: 1.)
Hiftorifeh fefter fleht die Veranlaffung zur Einführung der Octave von Mariä
Geburt. Als nämlich nach dem Tode Gregors IX. die durch Friedrich IE vielfach
bedrängten Cardinäle zu einer neuen Papſtwahl fehritten, nahmen fie ihre Zuflucht
zur mächtigen Fürbitte Mariens und verbanden fich durch ein Gelübde, zur Er«
böhung ihrer Geburtsfeier nach glücklich vollzogener Wahl die Einführung einer
Detave zu veranlaffen, Der gewählte Eöleftin IV. ftarb fhon nah 18 Tagen,
Sein Nachfolger Innoeenz IV. (1243— 1254) erfüllte das Gelübde und bie
deßfallſige Beftimmung fand, einzelne teutfhe Didcefen ausgenommen, fofort
freudige Aufnahme, [Kraus.]
Mariä SHeimfuchung (Festum visitationis B.V. M.). Der hiſtoriſche Grund
und die Idee dieſes Feſtes iſt der Luc, 1, 39—57 erzählte Beſuch Mariens bei
Mariä Heimfuhung 875
Elifabeth. Wenn man bedenkt, daß diefer Beſuch nicht bloß der Beobachtung
einer Sitte der Höflichkeit und der Berückſichtigung verwandtfchaftliher Bezie-
hungen galt, fondern die Heiligung des Borläufers Chriſti im Mutter-
leibe (Luc, 1, 41. 44), die erſte menfhlihe Seligpreifung der Gottes—
gebärerin (Luc, 1, 42. 43) und der Ausdruck herrlicher Empfindungen
der danferfüllten Gnttesmutter (Luc, 1,46—56) fih daran knüpften: fo erſcheint
gewiß diefe Feftfeier als auf tieffinnigen und paränetifch fruchtbaren Ideen ruhend.
Auch der Umftand, daß fie unmittelbar auf die Feier ber irbifchen Geburt des
Johannes folgt (ſie trifft auf den 2. Juli), verdient keineswegs den hie und da
ausgefprochenen Tadel. Da nämlih Maria vor der Geburt des Johannes zu
Elifabeth Fam, fo hat man gemeint, diefes Befuhs- vder Heimfuchungsfeft follte
der Geburtsfeier des Täufers vorangehen. Allein nah der Chronologie ift
diefe Feier nicht fo ſehr auf die Zeit der Anfunft, als vielmehr auf die der Ab-
reife Mariens aus dem Haufe des Zacharias zu beziehen. Da nun Maria nach der
Empfängnig vom hl. Geifte zu Elifabeth reiste und ungefähr drei Monate bei der-
felben blieb (Luc, 1, 39. 56), Johannes aber ſechs Monate vor Jefus empfangen
wurde (Luc. 1, 36), fo ift es im höchſten Grade wahrfcheinlih, daß ihre Nüd-
reife von Hebron erft nach der Geburt des Täufers ftattfand, Eben wegen diefer
Berbindung der dem Heimfuchungsfefte zu Grunde liegenden Thatſache mit der
Geburt des HI. Johannes wurde in früheren Zeiten die darauf ſich beziehende
evangelifche Erzählung in die Liturgie der Vorfeier des Geburtsfeftes des Täu-
fers verflochten. Als eigenes Feft wurde und wird Mariä Heimfuhung nur in
der abendländifchen Kirche gefeiert, denn die griechiſchen Menden und Calendarien
erwähnen NichtS davon. Zwar will Baillet Chist. fest. visit. $ 2) den Urfprung
der Feier in den Drient verweifen; allein feine Gründe beziehen fih nah Bin-
terim (Denfw. V. 1.) mehr auf das Befündungsfef. Es wird zum erften Male
in dem zweiten Feftverzeichniffe des Conriliums zu le Mans in Franfreih
im 3. 1247 und zwar als ein Feft „neuer Inftitution” erwähnt (Mansi suppl.
Concil. tom. 11.). Befonders thätig für deffen Verbreitung war ver hl. Bona-
ventura, der in der im J. 1263 gehaltenen Generalverfammlung feines Ordens
den Antrag machte, es im ganzen Bereiche des Franciscanerordens zu begehen
(Van den Haute hist. ord. Min.). Bon den Franciscanern verbreitete es ſich
allmählig weiter, 3. B. in die Didcefen Cöln, Salzburg, Briren m. f.w. All-
gemeines Kirchenfeſt aber ward es erfi unter Papft Urban VI., der im Hin=-
blide auf die Bedrängniffe der durch das damalige Schiema zerffüfteten Kirche
und im Vertrauen auf die Macht der Fürbitte Mariens dem gelehrten Cardinal
Ada aus England den Auftrag gab, aus der Schrift und den Kirchenvätern nach
dem Borgange des HI. Bonaventura ein Dffieium behufs der allgemeinen Ein—
führung des Heimfuhungsfeftes zu verfaffen (Schulting, biblioth. eceles. tom. I.
p. 2.). Die Publication des Decretes gefhah, da Urban vom Tode übereilt ward,
im Jahre 1390 dur Bonifaz IX., warb aber von den Anhängern der damali-
- gen Gegenpäpfte nicht in Ausführung gebracht, Darum wurde im Jahre 1441
- die allgemeine Feier des Feftles dur das Bafeler Eoncil aufs Neue ein-
gefhärft, und zwar im Hinblicke auf die politifhen Wirrniffe und die kirchliche
Zerfaßrenheit der damaligen Zeit. „Weil in diefen Tagen“, fagt das Eoncil
Sess. 43. Decret. 33, „die Chriftenheit überall beängftigt ift, und allenthalben
Krieg und kirchliche Trennungen wüthen, und fomit die fireitende Kirche auf ver-
ſchiedene Weife bedrängt wird: fo erachtet es die heilige Verſammlung für Pflicht,
daß die Feier, welche die Heimfuhung der heiligen Jungfrau genannt
wird, in allen Kirchen begangen werde, damit die Mutter der Gnade, weni fie
von frommen Gemüthern wahrhaft geehrt wird, ihren gebenedeiten Sohn durch
ihre Fürbitte verfößne und fo der Friede wieder über die Oläubigen ſich ergieße“.
Wollte Jemand im Hinblicke auf den damals ſchismatiſchen Charakter der Bafeler
876 Marii Himmelfahrt.
Synode die Legitimität diefes Feftes in Zweifel ziehen, fo bedenfe er, fein Ge-
genftand wurzle im Evangelium und die Feier felbft wurde nachmals vom römi-
fchen Stuhle ausdrücklich approbirt (Gavant. ad Rubr, Brev. Rom. Sect. VIl. cap.
9. 8 2.). Sie erfirecft fih übrigens gewöhnlih nur mehr auf Meſſe und Bre-
vier (Bened. de fest. p. II. $ 68.). | [Rraus.]
Maris Himmelfahrt, oder Aufnahme in den "Himmel (Assumtio
beatissimae Virginis Mariae) wird in der abendländifchen wie in der morgenländi-
ſchen Kirche am 15. Auguft gefeiert, Die HL. Schriften enthalten nad) dem Tode
des Heilandes nichts Ausdrüdliches mehr von den legten Lebensjahren und dem
Tode der HI. Jungfrau Maria; auch Haben die älteren Kirchenväter ſchriftlich
nichts darüber hinterlaffen. Der hl. Epiphanius C+ 403) fagt in haeres. LXXVIN.
11. gegen die Feinde der hl. Jungfrau: „Sie mögen in der HI, Schrift nad-
forfchen, fie werden darin den Tod Maria's nicht finden, weder ob fie geftorben
oder ob fie nicht geftorben, noch ob fie begraben oder nicht begraben worden fei. +.
Sch entfcheide darüber nicht und fage nicht, daß fie unfterblich geblieben iſt; aber
ich behaupte auch nicht, daß fie geflorben if“. Es eriftirte zwar im fünften
Sahrhundert eine Schrift unter dem Titel: Transitus S. Mariae Virginis (ef. Baron.
Annal. eccles. ad an. 48 Christi n. 12—14. und Natalis Alex. hist. eccles. seculi Il.
- art. III. $ unic.); alfein diefelbe war fälfchlih dem Melito, Biſchof von Sardes
Cblühte um 170), zugefehrieben worden und enthielt fo viel des Falſchen und
Fabelhaften über den Tod Maria’s, daß fie von Papft Gelafius I. auf der römi-
fchen Synode im J. 496 als ein Apvergphum bezeichnet wurde (Harduin, Collect,
conc. t. II. pag. 491). Dagegen berichtet Nicephorus Eaffiftus in ſ. Hist. eccles. lib.
XV. co. 14: Zuvenalis, Bifchof von Jeruſalem, welcher mit den übrigen Bifchöfen
Paläftina’s auf der Synode zu Chalcedon Cim J. 451) war, habe dem Kaifer
Marcianus, welcher ihn nebft den andern paläftinenfifchen Biſchbfen zu fih nach
Conſtantinopel hatte kommen Iaffen, um ihn zu fragen, ob der HI, Leib der Mut-
ter Gottes noch in Paläſtina in dem Grabe liege, wohin er gelegt worden fei,
da er denfelben in die neue Kirche, welche feine Gemahlin Pulcheria zu Conftan-
tinopel der HI. Jungfrau Maria zu Ehren gebaut und Blachernä CHAeyepvar)
genannt hatte, transferiren wolle, zur Antwort gegeben: „in der hl. Schrift
werde zwar von dem Tode Maria's nichts erwähnt, aber gemäß einer fehr alten
und ganz zuverläffigen Tradition Cantiquissima aufem et verissima omnino tradi-
tione) feien die Apoftel, als der Tod Maria's herangenahet, aus den verfihie-
denen Ländern, wohin fie das Evangelium zu predigen zerfireut gewefen, nach
Serufalem gefommen..... und ihr Sohn (Jeſus) fei dazu gefommen und habe ihren
Geiſt aufgenommen; ihr HI. Leib aber fei in Gethfemane unter dem Geſange der
Engel und Apoftel begraben worden; als aber am dritten Tage das Grab wieder
geöffnet worden, habe fich ihr HI. Leib nicht mehr vorgefunden, fondern nur ihre
Leichentücher, welche einen unbefchreiblichen Wohlgeruch verbreitet hätten; bie
Apoſtel hätten alsdann das Grab wieder verfiegelt, und über biefes große Wun-
der erftaunt bloß das gedacht, daß der Herr den umbeflecften HI. Leib Maria’s
vor der allgemeinen Auferftehung Alfer mit der Unfterblichfeit geehrt und Durch
Engel in den Himmel habe bringen laſſen. Nachdem Juvenalis biefes geſagt,
hätten die fürfilichen Perfonen (Marcianus und Pulcheria) von ihm verlangt,
daß er daffelbe hf. Grab mit den HI. Kleidern wohlverfiegelt ihnen nad Conftan-
tinopel ſchicken möge. Juvenalis habe dann auch das hl. Grab nad Conftanti«
nopel gefchieft, und es fei in die Blachernä-Kirche neben den HI. Tifch geftellt wor-
den. Das hl. Kleid aber fei etwas fpäter unter Leo dorthin gebracht und in bie
runde Kirche, welche diefer Leo erbaut Habe, gelegt worden“. Die griechifchen
Väter des fiebenten und achten Jahrhunderts, wie Andreas Cretenfis, in oral, 2.
de laudibus assumtae Virg. Germanus, Patriarch von Conftantinopel, in orat. 1.
in dormilione Deiparae, und Johannes Damascenus in orat, 2, in dormitione B.
i
*
*
—— — =
Maria Himmelfahrt, * 877
Nariae wiederholen, daß die HI, Jungfrau Maria geftorben und begraben, aber
am dritten Tage wieder aus dem Grabe erweckt, und ihr Leib mit der Seele ver-
einigt in den Himmel aufgenommen worden fei. Die orientaliſche Kirche Hat
diefes endlich felbft ausgefprocden. Sp wurde auf einer Synode der armenifchen
Bifhöfe im J. 1342 erflärt: Sciendum est, quod ecelesia Armenorum credit et
tenet, quod S. Dei Genitrix virtute Christi assumta fuit in coelum cum corpore.
Und die griechifche Kirche bezeugt e8 in ihrem Menologium zum 15. Auguft, und
auf ihrer Synode zu Jerufalen, welche fie unter dem Patriarchen Dofitheus im
Jahre 1672 gegen die Ealoiniften gehalten (f. den Art, Griedifhe Kirche
Bd. WW. S. 773), wo fie im Capitel über die Verehrung der Heiligen von ber
hl. Zungfrau Folgendes ausgefprochen hat: Ipsa est procul dubio Virgo Sanctissima,
quae magnum in terra signum cum exliterit, eo quod Deum in carne genuit, et
post partum integerrima virgo permansit, recte etiam signum esse dicitur in coelo,
eo quod ipsa cum corpore assumta est in coelum. Et quamvis conclusum in se-
pulchro fuerit immaculatum corporis ejus tabernaculum, in coelum tamen, ufi
Christus fuerat assumtus, tertio et ipsa die in coelum migravit. — In der abend=
ländiſchen Kirche berichtet zuerfi Gregor von Tours (+ 595) in feinem Bude de
gloria martyrum lib. 1. c. 4. die obige Ueberlieferung über die Teiblihe Aufnahme
Maria’s in den Himmel, und zwar auf folgende Weife: „Denique impleto a beata
Maria hujus vitae cursu, cum jam vocaretur à seculo, congregati sunt omnes apo-
stoli de singulis regionibus ad domum ejus. Cumque audissent, quia esset assu-
menda de mundo, vigilabant cum ea simul: et ecce dominus Jesus advenit cum
angelis suis, accipiens animam ejus, tradidit Michaeli Angelo et recessit. Diluculo
autem levaverunt apostoli cum lectulo corpus ejus, posueruntque illud in monu-
mento et custodiebant ipsum, adventum Domini praestolantes. Et ecce iferum
adstitit eis Dominus, susceptumque corpus sanctum in nube deferri jussit in para-
disum: ubi nunc resumptfa anima, cum electis ejus exultans, aeternitatis bonis nullo
occasuris fine perfruitur*. Auch haben ſich die angefehenften Theologen der ka—
tholiſchen Kirche durch das Mittelalter herab zu der Meinung befannt, daß die
hl. Zungfrau Maria nicht bloß ihrer Seele nah, fondern zugleih mit ihrem
Leibe in den Himmel aufgenommen worden fei, und haben dieſes auch dur
Gründe aus der Hl. Schrift und aus der Congruenz und Analogie zu unterſtützen
gefuht. Sp 3. B. Ildephons von Toledo aus dem fiebenten Jahrhundert in serm.
6. de assumtione, Fulbertus in serm. 2. de nativitate, Petrus Damiani in serm.
de assumtione, Petrus Blefenfis in serm. 28. de assumtione, Hugo a f. Vietore
lib. 3. erudit. theolog. ex miscell. 2. cod. cap. 125. aus dem zehnten und eilften
Jahrhundert; Thomas von Aquin aus dem 13ten Jahrhundert in 3. part. qu. 27.
art. 1. und 3. part. qu. 83. art. 5., und nach ihm alle Theologen des 14ten und
15ten Jahrhunderts; Petrus Eanifius aus dem 16ten Jahrhundert, welcher in
feinem großen Werfe: De Maria Virgine libri quinque. Ingolstadii 1577. in lib. 5.
cap. 5. die verfhiedenen Zeugniffe und Beweife dafür gefammelt hat. Im Hin—
blick auf diefe Zeugniffe und Gründe, fowie im Hinbli auf die Keger, welde
unter dem Namen der Collyridianer die HI, Jungfrau göttlich verehrten und be=
haupteten, daß fie nicht geftorben fei, und auf die Keger, welche unter dem Na—
men der Antivifomarianiten (ſ. d. A.) die beftändige Sungfraufchaft Maria’s läug-
neten, dann im Hinblick auf die, welche behaupteten, daß Maria den Martyrertod
geftorben fei, und endlich im Hinblick auf diejenigen, welde zwar an bie Auf-
nahme der Seele Maria’s in den Himmel nicht zweifeln, aber daran, ob ihre
Seele wieder mit dem Leibe vereinigt in den Himmel aufgenommen worden (cf.
Nat. Alex. hist. eceles. seculi 2. cap. 4. $. unic.), fagt Baronius in feinen annot.
ad Martyrologium Romanum ad diem 15. Augusti: daß die Kirche die Meinungen
der genannten Keger, fowie die von dem Martyrertod der hl. Jungfrau verwerfe,
und dagegen befenne, daß fie (hie HI, Jungfrau) als Menfch eines natürlichen Todes
J
878 Maris Himmelfahrt. ?
geftorben fei, daß fie aber ſich mehr auf die Seite zu neigen fiheine, daß fie (die HL.
Jungfrau) zugleich mit dem Kleifche in den Himmel aufgenommen worden, weil fie
(die Kirche) in der Feier diefes Tages jene Homilien der HI, Väter Iefen laſſe,
worin diefes von der Aufnahme Maria’s in den Himmel befräftigt werde; und es
feine diefe Meinung ſowohl durch das Anfehen der meiften Theologen als auch
durch die allgemeine Uebereinſtimmung der Gläubigen jet die angenommene zu fein
(Porro Dei ecclesia in eam partem propensior videtur, ut una cum carne assumpta
sit in coelum: nam in hujus diei celebritate illas sanctorum patrum homilias legen-
das tradidit, quibus eadem de ejus assumptione firmantur: quae quidem sententia
cum plurimorum theologorum auctoritate, tum etiam communi consensu fidelium
jam recepta videlur). ®gl. dazu deſſen Annales eccles. ad an. 48. n. 10. 12, 17.
24. Dem flimmt Papft Benedict XIV. in commentariis de D. N. Jesu Christi ma-
trisque ejus festis, part. U. $ 114 bei, indem er noch aus dem Sacramentarium
Gregors d. Gr, eine Dration für diefes Feft anführt, welche alfo Tautet: Vene-
randa nobis, Domine, hujus diei festivitas opem conferat salutarem, in qua sancta
dei genitrix mortem subiit temporalem, nec tamen mortis nexibus deprimi
potuit, quae fillum tuum de se genuit incarnafum (vgl. dazu $ 102), und fagt
dann $ 115 unter Beziehung auf Dominieus Sotus in 4. sentent. dist. 43. qu. 2.
art. 1, den Cardinal Claudius Foly in dissert. de verbis Usuardi pag 13, Suarez
3. part. qu. 37. art. 4. disput, 21. sect. 2, Theophilus Renaudus in dyptichis
Marianis tom. 7. operum suorum pag. 220, Thomaffinus tract. de dierum fest.
celebrit. lib. 2. c. 20, n. 20, Melchior Canus lib. 12. de locis theol. c. 10,
Natalis Alerander in hist. eccles. seculi 2. c. 4. $ unic. schol. 1, den Cardinal
Gottus 2. part. tom. 4. de verit. relig. Christ. c. 41. c. 2. n. 20. und Petrus
Caniſius 1. c.: daß die Leibliche Aufnahme der hl. Jungfrau Maria in den Himmel
zwar fein Glaubensartifel fer, weil einige Steffen der hl. Schrift, die dafür
angeführt zu werben pflegten, auch anders erflärt werden fünnten, und weil auch
Die Tradition nicht von der Befchaffenheit fei, daß fie diefe Meinung zu einem
Glaubensartikel zu erheben hinreiche, fo fei e8 doch eine „Fromme und wahrfchein-
liche Meinung” (pia et probabilis opinio), von welcher abzuweichen nicht bloß gott-
108 und Täfterlich, fondern auch thöricht und unverftändig ſei. Vrgl. hierzu den
Art. Aufnahme in den Himmel. — Diefes Feft wird mit verfchiedenen Na-
men bezeichnet bei den Rirchenfchriftftellern und in einzelnen Calendarien, wie
Pausalio s. Mariae (Ruhe), Dormitio (Entfchlafung), Mors (Tod), Depositio
(Sterbetag), und Assumtio (Aufnahme in den Himmel); biefer legte Name
aber ift der Firchlich recipirte, weil er in dem römifchen und mehreren an-
nern alten abendländifhen Martyrologien und Lalendarien und überhaupt in
der Liturgie gebraucht wird Cef. Benedict. 1. c. $ 120). — Der Unterfhied zwi—
Then Chrifti und Mariä Himmelfahrt wird ſchon in der Kirchenfprache dadurch
angezeigt, daß jene Ascensio (Auffahrt), diefe aber Assumtio (Aufnahme) genannt
wird und befteht, wie Benedict 1. c. $ 110 fagt, darin, daß Chriftus durch eigene
Macht (propria virtute) in den Himmel aufftieg, Maria, die hi. Jungfrau aber
nach ihrer Rückkehr zum Leben durch eine befondere Gnade Gottes (peouliari pri-
vilegio) mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde. — Ueber den
Ort, wo Maria geftorben, beftehen zwei Meinungen; die eine bezeichnet Jeru-
falem als folhen, und hat ihren Grund in der alten Tradition, auf welde fih
oben Juvenalis, Bifhof von Jerufalem, beruft; die andere Ephefus, doch beruht
diefe auf einer bloßen, fehr fhwachen philologifchen Vermuthung (ſ. Bened. 1. c.
$ 108), fo daß die erftere den Vorzug verbient (vgl. auch d. Art. Maria).
Ueber das Todesjahr der Hl. Jungfrau ift Feine verbürgte hiſtoriſche Nachricht
vorhanden, Baronins hat die verfchiedenen Ausfagen der Alten darüber gefam-
melt in feinen Annal. ad an. 48 Christi, weil Eufebins in feinem Chronicon zu
diefem Jahre bemerft; Maria Virgo Christi maler ad Nlium in coelum assumilur,
Mariä Himmelfahrt. 879
ut quidam fuisse sibi revelatum scribunt. Hiernach hätte fie ihren Soßn 14 oder
15 Jahre überlebt. Diefe Angabe ift aber, wie man ſieht, ganz unficherer Art,
und ebenfo, wiediefe, find auch die übrigen, fo daß fih Baronius für feine entfcheiden
kann; ebenfo macht es Benediet XIV.1.c. $ 103 u. 109. Nicht minder unfiher end-
Ih, wie das Jahr, ift auch der Tag des Todes und der Wiedererwedung und
Aufnahme Maria’s in den Himmel. Die gewöhnliche Meinung, die fih gleichfalfs
auf die obige von Juvenalis angeführte alte Tradition fügt, if, daß Maria drei
Tage nach ihrem Tode wieder auferwedt und in den Himmel aufgenommen wor-
den fei (Bened. 1. c. $ 122). — Die Feier diefes Feſtes gehört aber zu den äl-
teften, und fein erfter Urfprung läßt fich nicht mehr ermitteln. Nach einem alten, von
Florentinius herausgegebenen Martyrologium der abendländifchen Kirche wurden
urfprünglich der Todestag der HI. Jungfrau, und der Tag ihrer Himmelfahrt jeder
befonders gefeiert, und zwar jener am 18. Januar, und diefer am 15. Auguft.
So findet ſich's auch in der Liturgia Gallicana von Mabilfon lib. 2. pag. 118.
(Bened. 1. c.). Die Kirche feiert aber feit dem fechsten Jahrh. das Andenfen am
diefe Ereigniffe an Einem Tage, nämlih am 15. Auguft, indem, wie Nicephorus
berichtet in hist. eccles..lib. 17. c. 28, der Kaifer Mauritius (582 —602) befahl,
daß das Feft des Todestags (Dormitionem) der Hl. Gottesgebärerin am 15. Aug.
gefeiert werden folle, fei es nun, daß im Driente, wo es nach dem Eoneil von
Ephefus (431) eingeführt worden fein foll Cef. Gavanti Thesaurus S. Rit. I. 10),
damals nur Ein Feft für beide Ereigniffe gefeiert wurde, und er daher daffelbe vom
23. Januar auf den 15. Auguft verlegte, oder daß er das erfle mit dem zweiten
vereinigte. Hieraus geht aber hervor, daß es ſchon lange vorher von der Kirche
eingeführt worden war (cf. Baronius ad Martyrolog. Roman. annot. ad 15. Augusti,
und Bened. l. c. $ 126). Nah Einigen foll es Papſt Damafus (366 — 384)
eingeführt haben; im Sacramentarium des Papftes Gelafius (+ 496) fommt es
Schon ausdrüflich vor; und Papft Sergius I. (687 — 701) verordnete, wie der
Liber pontificalis zeigt, uf diebus Annunciationis Domini, Nativitatis, et Dormi-
tionis sanctae Dei Genitricis semperque Virginis Mariae... Litania
exeat à St. Hadriano, et ad S. Mariam populus ocourrat (Bened. I. c. $ 126).
Es war alfo hiernach ein Hauptfeft in Nom, welches mit einer Proceifion von
der St. Hadriansfirhe aus begangen wurde, und woran das Volk Theil zu neh—
men hatte, und zwar mit einer Bigilie am Borabend, wie ein alter Codex bei
Thomafius angibt: Vigilia Pausationis S. Mariae, und einem Faften am Tage
vor dem Feft, wie Nicolaus I. (853) diefes in feinem Schreiben an die Bulgaren
unter andern Faften erwähnt, mit dem Zufaß: quae jejunia sancla Romana sus-
cepit antiquitus et tenet_ecclesia (cf. Bened.1. c. $ 123). Als Hauptfeft wurde
es auch ſchon im fechsten Jahrh. in Franfreih und Teutſchland begangen — cf.
Gregor. 'Turon. de gloria martyr. c. 9. Auf der Synode zu Rheims 625 oder
630 wird es zu den Feften gezäßlt, quae absque omni opere forensi excolenda
(CHarduin, Collect. Conc. t. III. p. 576). In der Regula Chrodegangi unter Pipin,
Carls dv. Gr. Bater , und im Pönitentiale des Hl. Bonifarius wird ed unter den
Feften erwähnt, quas in anno tofus populus sabbatizare debet. Nach den Be—
fhlüffen der Synoden zu Mainz 813 und Aachen 818 befahl Ludwig der Fromme
(Capitular. lib. 2. c. 35. u. lib. 6. 6.189), daß es im ganzen fränfifchen Reiche mit
vieler Feierlichfeit begangen werde (Bened: 1. c. $ 125). Am folenneften wurde
es in England begangen. In den Gefegen des Königs Alfred war die ganze
Woche des Fefttages zu einer freien oder Feierwoche erklärt: Omnibus liberis
hominibus dies isti condonati sunt, praeter servos et pauperes operarios. Eine
Detav erhielt dieſes Feft durch Vorfchrift des Papftes Leo IV. im 3. 847, wie
der Liber pontificalis berichtet, auch Sigebert in feinem Chronic. ad annum Christi
847 (cf. Bened. 0..$ 124), In Frankreich erhielt dieſes Feft eine neue Wich⸗
tigkeit, feitvem Ludwig XI. im J. 1638 diefe Gedächtnißfeier gewählt Hatte,
880 Mariä Lichtmeß.
um fih und fein Neich der HL, Zungfrau zu weihen, und von Gott einen Thron⸗
erben zu erflehen, — In manchen Gegenden Teutſchlands werden an diefem Tage
auch gewiſſe Kräuter zu Ehren der HI. Jungfrau geweiht, woher diefes Feft au
„Mariä Kräuterweihe” oder „Würzweihe” genannt wird, Vgl. hierüber dag Ri-
tuale Bambergense. \
Mariä Lichtmeß oder Neinigung. Diefes Feft iſt der Erinnerung
mehrerer mit einander in Verbindung ſtehender Thatfachen der hl. Gefchichte ge—
weiht. Es hat daher auch verfchiedene Namen erhalten, je nachdem die eine oder
die andere derfelben befonders hervorgehoben und berüsffichtiget wurbe bei der
Feier deffelben, ES heißt das Feft der Reinigung Maria’s, das Feſt der Dar-
bringung Jeſu im Tempel, das Feft der Begegnung (urrarseven), und endlich
das Feft der Lichtmeffe oder Mariä Lichtmeß. Jene verfohiedenen, aber mit ein-
ander in Verbindung ftehenden Thatfachen der HL. Gefchichte, welche zur Feier
diefes Feftes Veranlaffung gaben, und von denen die verfchiedenen Benennungen
bergenommen, find folgende: Nah dem mofaifchen Gefege (3 Mof. 12, 2 ff.)
war jede Mutter, die einen Sohn geboren hatte, vierzig Tage unrein und ihr
während diefer Zeit der Zutritt zum Heiligthum unterfagt. Nach Verlauf diefer
Frift mußte fie im Vorhofe des Tempels erfcheinen, mußte ein Lamm und eine
junge Taube oder Zurteltaube zum Opfer bringen, oder wenn fie arm war zwei
Turteltauben oder zwei junge Tauben, und ward dann vom dienſtthuenden Priefter
für rein erklärt, Diefem Gefege unterwarf fih nun auh Maria (Luc. 2, 22.)
Sie ging nah Jeruſalem und brachte das vorgefchriebene Opfer, worauf die
Neinerflärung erfolgte, Hievon hat das Feft ven Namen „Reinigung Maria’s
(Festum purificationis B.M.), und dem vorgefchriebenen Termin von vierzig Tagen
gemäß ift ed auf dem vierzigfien Tag nach Weihnachten, .ald dem Tage der Ge-
burt, alfo auf den 2. Februar feftgefett. Die hl. Meſſe diefes Tages berüdfich-
tiget übrigens dieſen Umftand der gefeglichen Reinigung Maria's nicht vorwiegend,
fondern der Mutter des Herrn wird nur im letzten Gebete derfelben befonders
gedacht, während der gefammte übrige Inhalt fih auf die Darbringung Zefa im
Tempel bezieht, Nach einem andern mofaifchen Geſetz nämlich (2 Mof. 13, 2.)
war jeder Erftgeborne zum Andenken an die Verſchonung der tfraelitifhen Erft-
geburten in Aegypten dem Dienfte des Herrn geweiht, von welcher Verpflichtung
er, da in der Folge die Beforgung des Gottesdienftes dem Stamme Levi über-
tragen worben war, um Geld Iosgefauft werden mußte (4 Mof, 18, 15. 16.).
Diefer Anordnung unterzog fich die hl. Jungfrau ebenfalls (Luc, 2, 22. 27.),
um in Bezug auf Jeſus allen Forderungen des Gefeges zu genügen, Gie brachte
daher Jefum im Tempel dar und kaufte ihn los. Daher erfiheint diefes Feft auch
unter der Bezeichnung: „die Darftellung Jefu im Tempel“, Diefes wird
auch in der That, wie ſchon erwähnt, in der Meffe.diefes Feftes befonders ber-
vorgehoben, Der Eingang (introitus), das erfte Gebet Coratio), die Epiftel und
die Präfation beziehen fich darauf; denn es wird die Präfation von Weihnachten,
nicht die von den Marienfeften, gebetet und gefungen. Dem Inhalte nad) ift alſo
die Feier mehr ein Feft des Herrn als ein Marienfeft und wurde au, wie wir
fehen werden, urfprünglich im Oriente als folches betrachtet und bezeichnet, wäh-
rend ed im Abendlande vorzugsweife ald Marienfeft angefehen wurde, Nicht mit
Unrecht Fünnte man die Feier diefes Tages als das Offertorium in ber Reihe der
Jahresfeſte bezeichnen, geweiht der vorläufigen Ausfonderung und Aufopferung
Jefu im Tempel durch die geheiligte Hand feiner jungfränlihen Mutter, — Bei
diefer Darftellung des Herrn im Tempel trug es fich zu, daß der fromme reis
Simeon, der die Verheißung erhalten, er werde den Tod nicht fehen, bis er ben
Geſalbten des Herrn gefchaut, auf Antrieb des hl, Geiftes in den Tempel Fam
und der Hl. Jungfrau mit dem göttlichen Kinde begegnete, Er erfannte in dieſem
den lang erfehnten Heiland der Welt, und es in die Arme nehmend verkündete
Mariä Lichtmeß. 881
er prophetifch, daß daffelbe das Licht fein werde zur Erleuchtung der Völfer und
der Ruhm des Bolfes Iſrael. Von diefem Vorfall wird die Feier diefes Tages
auch „das Feft der Begegnung” genannt (Urenevrn occursus, obviatio). In
der griechifchen Kirche war diefe Bezeichnung die vorherrfihende, — Die Worte
Simeons, daß Jeſus das Licht fei zur Erleuchtung der Völfer, ſcheint die eigent-
liche Beranlaffung gewefen zu fein, daß man diefe geiftige Erleuchtung fymboli-
firend, diefes Feft fhon in frühefter Zeit durch einen Umgang mit brennenden
Kerzen feierte, obwohl auch noch ein anderer Grund diefes Gebrauches angeführt
werden kann, dem gemäß mehr die Reinigung durch die reinigende Kraft des Lich-
te8 verfinnbildet würde, Wie dem auch fei, jedenfalls fommt von dem Gebrauche
der brennenden Kerzen an biefem Tage die Bezeichnung „Lichtmeffe” für diefes
Feſt Her, und wenn wir des äufßerlichen Brauches innere, tiefere Bedeutung
ſuchen, fo können wir fagen, die „Lichtmeffe” fei das Feft der Erleuchtung der
Welt dur die Wahrheit, die in Ehrifto den Menfchen erfchienen, einerfeits, und
andererfeitS das Feft der Reinigung und Heiligung des innern Menfchen durch
die Gnade, die Er uns erworben, Beides verfinnbildet durch die Teuchtende und
reinigende Flamme, Der ganzen Feier Geift und Zweck iſt treffend ausgeſprochen
in einer Homilie des Eligius von Noyon Cim Tten Zahrh.): „Wir müffen heute,
fagt er, indem wir mit unferer glorreichen Gebieterin, feiner Mutter Maria,
Ihn darbringen, oder mit dem ſel. Simeon Ihn aufnehmen wollen, mit Kerzen
- und Hymnen, dur Reinheit des Sinnes und leuchtende Werfe glänzend, in
Seinen Augen andädhtig daftehen, uns eifrig erinnernd an die Herrlichkeit der
uns wiederum verheißenen, immer dauernden und glüdlichen Herrfchaft des himm-
liſchen Reiches nämlich, welches fämmtliche Auserwählte dann erlangen werden,
wann fie nach dem Gleichniffe des Evangeliums mit den Fackeln der guten Werfe
dem unfterblichen Bräutigam entgegengehen, und, felbft Seine Braut geworben,
das Brautgemach feiner hoben Liebe betreten werden”, — Indem wir uns nun
nach Darlegung der Bedeutung diefes Feftes zur Gefchichte deffelben wenden,
müffen wir befennen, daß fich nicht mit Sicherheit ermitteln läßt, wann und wie
es entjlandeh und zum erften Male gefeiert wurde. Es fehlt an ficheren Nach—
richten hierüber, Bor dem fünften Jahrhundert thut weder ein griechifcher noch
ein Tateinifcher Kirchenvater Meldung davon, noch viel weniger findet fich eine
Nede hierüber; denn die angeblichen Neden des HI, Methodius, Eyrillus von Je—
sufalem, Chryfoftomus und Gregor von Nyfa find anerfannt unterfhoben und
gehören in eine fpätere Zeit. In den älteften Feftverzeichniffen, z. B. im alten
Ealendarium des Bucherius herausgegeben, in dem Earthaginenfifhen bei Rui—
nart, und im Mozarabifchen bei Pinius, welche die Kritifer in's vierte und fünfte
Jahrhundert fegen, findet man diefes Feft ebenfalls noch nicht erwähnt. Bor dem
fünften Jahrhundert dürfte e8 demnach wohl nicht gefeiert worden fein. Daffelbe
fiheint aber aufgefommen zu fein um die Mitte des fünften Jahrhunderts unter
der Regierung des Kaiſers Marcian, und zwar in der Didcefe Jeruſalem. Auf
diefe Annahme führt eine Stelle des Cyrillus von Scythopolis Cin vita Theodosiä
Coenobiarchae), welche Leo Allatius in feinen Bemerkungen zu Methodius an—
führt (Leo Allat. annot. in Method. p. 344), wo bemerft ift, die fromme Matrone
Jeelia habe vornehmlich gezeigt, mit Kerzen die Begegnung des Erlöfers, unfers
Gottes, zu feiern (Haec tunc beata Icelia, quae omnem exercuerat pietatis viam,
inprimis demonstravit cum cereis celebrari occursum Salvatoris nostri Dei). Die
Nachricht ift freilich etwas unbeftimmt, doch deutet fie an, daß diefe Icelia die
Beranlafferin war, entweder zur Einführung diefer Feier überhaupt, oder wenig
ftens des Gebrauches der brennenden Kerzen bei derfelben. Andere Kirchen der
Umgegend fcheinen bald nachgefolgt zu fein, fo daß das Feft endlich bis Antiochien
vordrang, wo es nach dem Berichte des Cedrenus (Cedrenus compend. hist. pag.
366) unter dem Kaifer Zuftinus um das Jahr 526 eingeführt wurde (Norma data
Kirchenlexilon. 6, Br, ; 56
882 Maria Lichtmeß.
est celebrandi festum Hypapantes, in illud tempus non celebratum), Als bald
darauf zu Conftantinopel eine anftefende Seuche wüthete und andere Unglücks—
fälle über das Volk hereinbrachen, verordnete Kaiſer Juſtinian, am zweiten Fe—
bruar das Hypapantefeft feierlich zu begehen, „damit der Erlöfer, der dem Si—
meon im Tempel entgegen gefommen war, auch den Bedrängten gnädig entgegen-,
oder vielmehr zu Hilfe fommen möge”. Auf diefe Weife wurde, was früher nur
Local- oder Partieularfeft für Jerufalem und Antiochien war, auf die ganze grie-
chiſche Kirche ausgedehnt, wie Nicephorus in feiner Kirchengeſchichte berichtet
CInstituit tum primum toto orbe terrarum, Festo die celebrari Hypapanten, i. e.
occursum domini 1. 17. c. 28.). — Unterbeffen foll auch in der römifchen Kirche
diefe Feier eingeführt worden fein, und zwar von Papft Gelafius im J. 494 in
der Abficht, die im Februar zu Rom üblichen heidniſchen Luftrationsfeierlichkeiten
zu befeitigen oder vielmehr in chriftliche zu verwandeln. Es wurden nämlich zu
Rom im Februar die Lupercalien zu Ehren des Gottes Pan begangen und Luftra=
tiong- oder Reinigungsfefte gefeiert, wovon auch der Monat Februarius (Reiz
nigungsmonat) feinen Namen hat (februare = purgare), Hiebei hielt man Um=
züge mit brennenden Kerzen und Fackeln. Um diefe heidniſchen Ceremonien in
chriftliche zu verwandeln, gab es Feine paflendere Feier als die der Reinigung
Maria’s, welche gerade in diefen römischen Reinigungs-Dionat fiel, und bei wel-
eher Schon im Drient brennende Kerzen gebraucht wurden. Man bat die Ver—
muthung ausgefprocdhen, daß diefes Feft überhaupt dem Decident und dem römi-
fchen Bifchof feinen Urfprung verbanfe und von da an im fechsten Jahrhundert
nach dem Orient verpflanzt ward, Allein dieß ift nicht wahrſcheinlich; es ift viel-
mehr nach allen Anzeichen das Umgefehrte der Fall, Es war, wie wir gefehen,
im Drient urfprünglich ein Feft des Herrn, wie die Bezeichnung und der ganze
Inhalt der Liturgie fund gibt; diefen Inhalt behielt es auch im Decident, obwohl
man ihm bier die Bezeichnung eines Marienfeftes gab und mit Rückſicht auf die
römifchen Neinigungsfeierlichfeiten das Moment der Reinigung Maria's befonders
hervorhob. Wäre die Feier zuerft in Nom und alfo urfprünglich zu Ehren Ma—
ria’g entflanden, fo würde der Inhalt der HL. Meffe anders charakterifirt fein, —
Im Sacramentarium und Antiphonarium Gregors 1. (590—604) ſteht diefes
Feft in der Ordnung und Neihe der übrigen, Der erfte Kirchenfchriftfteller, der
daffelbe nach Iateinifchem Ritus befchreibt, ift der HL. Jldephons von Toledo (+ 667),
welcher auch die Veranlaffung zu diefer Feier in der römifhen Kirche überein-
flimmend mit dem oben hierüber Bemerkten angibt und beifügt, daß nicht allein
der Clerus, fondern das ganze Volk mit Wachsferzen und unter Hymnengefang
Umzüge hält (non solum clerus, sed et omnis plebs ecclesiarum loca cum cereis
et diversis hymnis lustrantibus circumeunt: non jam in memoriam terreni regni
quinquennem, sed ob recordationem coelestis regni perennem), Auch Efigius von
Noyon, Ildephons Zeitgenoffe, und Beda der Chrwürdige (+ 735) geben aus—
führliche Beſchreibungen der Titurgifchen Feier diefes Feftes. In Teutſchland hat
es wohl ſchon im achten Jahrhundert Aufnahme gefunden: denn deffelben erwähnen
die Statuten des hl. Bonifacius und Chrodegang, die von Salzburg vom J. 799,
das Feftverzeichnig Carls des Großen, das Concilium von Mainz im J. 813
u. ſ. w. Die an diefem Tage üblihe Segnung der Kerzen ſcheint fpätern Ur—
fprungs zu fein. Aleuin, der den römifchen Ordo hinfichtlich diefes Feſtes com«
mentirt und die Proceffion ausführlich befchreibt, fagt nur, daß der Papft den
Cardinälen und Bifchöfen Kerzen darreiche, In den früheften Neden über diefes
Feft, den Achten und unächten, findet fih Feine Spur von einer Segnung ber
Kerzen, Aus der Befhreibung, welche der HI. Bernhard (S. Bernard, Serm. II.
de Purificat.) von der Proceffion mit den brennenden Kerzen macht, gebt bervor,
daß nicht die Kerzen felbft befonders geweiht, fondern daf fie nur am gefegneten
Licht angezündet wurden (Processuri sumus bini et bini, candelas habentes in ma-
Mariä Namensfeſt — Mariä Opferung. 883
nibus, ipsas quoque accensas, non quolibet igne, sed qui prius in ecclesiä sacer-
dotali benedictione fuerit consecratus). Die jegt übliche Segnungsformel ſcheint
aus dem eilften Jahrhundert zu flammen, — ©. Bolland. Acta Sanct. Febr.
T.L Bened. XIV. de festis J. Ch. et B. Mariae Virginis. Binterim, Denf-
würbigfeiten ꝛc. Bd, V. 1. Thl.
Mariä Namensfeit (Festum Nominis B. V. M.), in foferne fich die Erin-
nerung an ihre individuellen Vorzüge an den Namen Fnüpft, gleichfam das Cen-
trum der Marianifchen Fefttage, wurde früher, da jüdiſche Mädchen erft am 15ten
Tage nad der Geburt ihren Namen erhielten, am 22. Sept. gefeiert (Cherub.
Bullar. Rom. t. VII). Jetzt trifft e8 auf ven Sonntag innerhalb der Octave des
oben beſprochenen Feſtes Mariä Geburt, und die unmittelbare Aufeinanderfolge
beider Fefte ift gewiß im höchſten Sinne congruent, Die erfte Spur einer Feier
des Namens Mariä findet fih in Spanien, wo es in der Kirche zu Cuenca
zuerft durch die Andacht der Gläubigen veranlaßt und im Jahre 1513 von Nom
aus beftätigt wurde (Bened. de fest. p. II. $ 152.). Bon Papft Pius V. unter-
drückt, wurde es durch Sixtus V. wieder Hergeftellt und durch Junocenz XI.
auf die ganze Fatholifhe Chriftenheit im Fahre 1683 ausgedehnt. Veranlaffung
dazu gab die Gefahr, welche damals dem Abendlande durch die Türfen drohte,
Sie hatten bereits unter Cara Muſtapha's Anführung Wien zu belagern begonnen,
Alles zitterte, Da flehte man durch Mariens Fürbitte zum Himmel um Hilfe,
Johann Sobiesky, der Befehlshaber des hriftlichen Heeres, begeifterte die Seinen
zum Angriffe mit den Worten: „Laffet ung mit vollem Vertrauen auf den Schuß
de3 Himmels und unter dem Beiftande der feligften Jungfrau gegen den Feind
türen”, Und der Sieg ward eben fo unerwartet als glorreich über die mehr als
vierfach ftärfere Heeresmaffe des Halbmondes erfochten. Das Feft des Namens
Mariä follte ein Danffeft dafür fein. — Obwohl dem Gefagten zufolge das Na-
mensfeft Mariens neueren Urfprunges ift, fo reicht doch die demfelben zu Grunde
liegende Ehrfurcht gegen den Namen der Gpttesmutter in's graue Altertfum der
Kirche Hinauf. Wir wollen nicht unterfuchen, ob es wahr ift, was nach Bene—
dict XIV. (de fest. p. I. $ 149) von Antoninus (p. IV. tit. 15. c.14) und Chry-
ſtophorus Chist. B. V. c. II. n. 10) berichtet wird, daß der Name „Maria” durch
eine himmlische Dffenbarung deren Eltern fundgegeben wurde; aber gewiß ift,
daß Thon Ältere Kirchenlehrer fih mit Enträthfelung der Bedeutung dieſes Na—
mens beichäftigten, Nah Hieronymus heißt Maria: „Leuchte, Erleuchtung”,
Andere Teiten das Wort von „Mirjam“ (5752, 2 und 07), „Vitterfeit des
Meeres”, ab; fo fei Maria, die Schwefter des Moſes, genannt worden, weil fie
eben geboren wurde, als Pharao anfing, die neugebornen- ifraelitifchen Knaben
erfäufen zu laffen; als aber die Sfraeliten trockenen Fußes durch das rothe Meer
gegangen, fei der Name der Schwefter des Moſes von Mirjam in Maria, i. e,
„Stern ded Meeres”, verändert worden. Als „Dieeresftern” dollmetſchen auch
viele Andere diefen Namen. Allein ſprachlich richtiger ift es, Maria von An
vehemens, forlis, oder von DIA (23) abzuleiten, wornach e8 bedeuten würde:
Mächtige, Starke, oder Erhabene, Frau, Herrin, Als folhe ehrt fie das gläubig-
fromme Gemüt. Darum war e$ früher nur in feltenen Fällen erlaubt, einem
Mädchen den Namen Märia zu geben, Als Alphons VI. von Eaftilien eine aus
maurishem Geblüte entfproffene Gemahlin ſich wählte, erlaubte er nicht, daß fie
bei ihrer Taufe diefen Namen erhalte, Aehnliches wird von dem polnischen Kö—
nige Cafimir I. erzählt (Bened. de fest. p. II. $ 150). [Rraus.]
Mariä Opferung (Praesentatio B. V.M.). Nah einer alten Tradition
wurde Maria in früher Jugend im Tempel aufgeopfert und brachte dann mehrere
Jahre vor ihrer Bermählung mit Joſeph als Hierodule im Dienfte des Tempels zu.
Nah Evodius (bei Niceph. hist. eccl. 1. I. c. 3) u. A. war fie damals drei Jahre
alt, und nad dem Protoevang. Jacobi (Fabric. cod. apogryph. N. T. I. p. 85)
56*
884 Mariä fieben Schmerzen,
erhielt fie während ihres Aufenthaltes am Tempel durch Engel ihre Nahrung.
Allein wer möchte diefen apogryphiſchen Berichterftattern Glauben fchenfen?
Einer größeren, wenngleich nicht Hiftorifchen, Gewißheit erfreut fich die Thatfache
der Opferung felbftz von ihr fprechen: Canisius de deipara Virg. 1.1. c. 12. Suarez
in III. par. Thom. tom. II. disput. 7. quaest. 29. Baronius in notis ad Martyrol.
sub 21. Nov. u, f.w. Zwar verlangte das Gefeg nur bezüglich der erfigebornen
Knaben eine folhe Weihung an den Herrn; allein auch bezüglih der weiblichen
Kinder durfte es gefchehen. Sind doch fhon 2 Mof, 38, 8. Richt. 11, 39, und
1 Sam, 2, 22. Frauensperfonen erwähnt, die, nach Joſephus CAntiqu. V. 10, 1.)
Andeutung, durch das Gelübde der Jungfräulichfeit verbunden, vor der Thüre
des Verfammlungszeltes dem Herrn dienten, Vgl. hiemit 2 Kön. 11. 2 Ehron,
22, 11. über Zofaba, Dem fei aber, wie ihm wolle, das Feſt Mariä Opferung
behält dennoch feine Bedeutung; denn es fann ja auch, wie bie treffende Feft-
oration andeutet, als Feier der unfchuldigen Jugend Mariens und ihrer Hingabe
an die Önadenwirfungen des hf. Geiftes betrachtet werben, Uebrigens wurde es
im Driente zuerft gefeiert, Es führte dort den Namen „Introduclio V. M. in
templum, Ingressus Dominae in templum®. Nah Sim. Metaphraftes entfland
es im Jahre 730 zu Conftantinopel; laut. der Conftitution des Kaiſers Immanuel
Eomnenus, der im Jahre 1143 den Thron beftieg, war es bereits ein im
ganzen Reiche befanntes Feſt (Balsamon in Nomocan. Phot. tit. VIL co. 1.).
Vom Morgenlande verpflanzte e8 fih in den Decident, wo man bie erſte Spur
davon im Jahre 1374 findet, und zwar unter der Regierung Carls V. in Franf-
reich, der eg nicht nur in feiner Schloßcapelle halten ließ, fondern auch mit Ge—
nehmigung des damals zu Avignon refivirenden Papftes Gregor XI. auf das
ganze Reich augsbehnte (Baron. in not. ad Martyrol. Martene de antig. disc.
c. 34.n. 42. Bolland. tom. 8. Maj. p. 110). Es war ſonach nicht fo faft de
praecepto, fondern mehr ein Privilegium, das vorerft nur Frankreich galt. Aber
im Jahre 1460 bewilligten Pins II. und Paul II. auf des fächf. Herzogs Wilhelm
Bitten auch für Sachſen diefe Feftfeier, und befahlen, fie alljährlich wie die
Griechen am 21. Nov. zu begeben, Unter Pius V. erhob fih eine Oppofition
gegen unfer Feft oder vielmehr gegen das für daffelbe angewendete alte griechifche
Officium. Es ward ſonach die Sache nochmal unterfucht, und das Nefultat diefer
Unterfuhung legte Sirtus V. am 1. Sept. 1585 in der Bulle „Intemeratae“
nieder, durch welche diefer Fefttag für die gefammte Iateinifhe Kirche mit Bei-
behaltung des alten griechifchen, aber bedeutend veränderten Offieiums gefeglich
vorgefchrieben wurde, Doch ift die Feier Feine erterne (Bened. de fest. p. II.
$ 182.). . [Rraus,]
Mariä fieben Schmerzen (Festum septem dolorum B. V. M., ehedem auch
Festum Spasmi Mariae). Diefes Feft wird alle Jahre am Freitage nah dem
PBaffionsfonntage gefeiert und fol zunächft jene Leivensmomente Mariens
vergegenwärtigen, da fie unter dem Kreuze des fterbenden Sohnes ftand, dann
aber auch das gefammte geiftige Martyrium der Gottesmutter, das fie zur Kö—
nigin der Martyrer” adelte, der gläubigen Betrachtung vor Augen ftellen. Auf
die erftere Beziehung weifet der Introitus der Meffe aus Job. 19, 25., und das
Evangelium aus demfelben Kapitel diefes Evangeliften, wie auch die Lection, aus
Judith 13, 17 ff. genommen, worin die jungfräufiche Mutter diefer Heldin ver-
glihen wird, Das gefammte geiftige Martyrium Mariens führt man gewöhnlich
auf fieben Hauptpuncte zurück, daher auch der Name des Fefttages, Es find
das die Schmerzen Mariens 1) bei der Weiffagung des Simeon, 2) bei ber
Flucht nach Aegypten, 3) bei dem drei Tage Tang fruchtlofen Suchen des zwölf—
jährigen Knaben, 4) bei dem Anblicke des Freuztragenden Heilandes, 5) bei der
Kreuzigung ihres Sohnes, 6) bei der Abnahme feines Leichnams vom Kreuze,
7) bei feinem Begräbniß. Andere zählen folgende fieben Schmerzen der Gottes—
Mariä Berfündigung. 885
mutter auf: 1) da Ehriftus von ihr Abfchied genommen, 2) da er mit der Dor-
nenfrone dargeftellt wurde, 3) da man ihn an's Kreuz gefchlagen, 4) da er mit
Effig getränft wurde, 5) da er ausgerufen: „Mein Gott, mein Gott, warum
haft du mich verlaffen?” 6) da er geftorben, 7) da er todt in ihren Armen ge—
legen. Noch Andere finden diefe fieben Schmerzen darin, daß fie 1) mit ihrem
göttlichen Sohne nach Aegypten geflüchtet, 2) daß fie den zwölfjährigen Jeſus
in Zerufalem verloren, 3) daß er gefangen genommen wurde, 4) daß er fein
Kreuz hat tragen müffen, 5) daß er an’s Kreuz gebeftet wurbe, 6) daß er am
Kreuze geftorben, 7) daß er begraben worden if. Sowohl Poefie als Mufif
haben gefucht, die Schmerzen der Gpttesmutter zu verherrlichen; die erftere im
berühmten Stabat mater, die andere in der Mufif dazu. Der BVerfaffer des Sta-
bat mater ift der Franeiscanermöndh Jacob de Benedictig oder Jacopo—
nus (ſ. d. Ad aus Todi im Herzogtfume Spoleto, + im Jahre 1306. Pergo-
leſe aber feßte es in Mufif, in welcher die Lieblichkeit der Wehmuth mitten unter
Schmerzen, ja fo recht in der Tiefe derfelben, das Lächeln in Thränen, der gött-
liche Troſt im berzzerreißenden Kummer charafteriftifh if (Staudenmaier,
Geift des Chriſtenth. 1). So hatte Poefie und Mufif dem Fefte felbft gleichfam
den Weg gebahnt, bis endlich die unter vem Bifchofe Theodorih von Cöln im
Sabre 1413 gehaltene Provincialfynode daffelbe als Palliativ gegen die Wuth,
womit die Huffiten gegen die Bildniffe des leidenden Heilandes und feiner ſchmerz⸗
haften Mutter tobten, einführte (Bened. de fest. p. II. $ 48. 56.). Nachdem
Sirtus IV. eine eigene Meffe dafür verordnet hatte, dehnte es Benedict XIE
(Congr. Saer. Rit. 22, Aug. 1727) auf die ganze Kirche aus. Zwar ift das Feft
fein gebotener Feiertag, aber unter allen Marienfeften, die nicht durch eine externe
Feier ausgezeichnet find, wird diefem von frommen Gläubigen die größte Auf—
merffamfeit zugewendet. Wer fünnte berechnen, von wel’ einem wohlthätigen
Einfluffe der Aufblik zu Maria war. und ift, die unter dem Kreuze ihres unter
fo großen Verheißungen empfangenen, nun von Nägeln durchbohrten, ſchrecklich
feidenden und flerbenden Sohnes ſteht? Wie unendlich viele Belehrung, Zu⸗
rechtweifung, Tröftung mußten und müffen die Gläubigen zu jeder Zeit und ins—
befondere am Schmerzenfreitage (fo nennen fie den Freitag in der Paffions-
woche) darin finden, daß bie fündenreine Mutter des Sohnes Gottes das erleben
mußte, was fie erlebte. (Vgl. über fämmtlihe Marienfefte die au bei Ab-
faffung obiger Artifel benüsten Titurgifhen Werfe von Hnogek. I. Thl.; Mar-
zohl und Schneller, IV. Thl.; Schmid II. Bd. und Binterim, Denfwürbig-
feiten V. 1.) [Kraug,]
- Mariä Berfündigung (Annuntiatio B. V.M.). Diefes Feft hat feinen
biftorifhen Grund in der Luc. 1, 26—39. ‘berichteten Thatfahe, dem höchſten
welthiftorifchen Momente, da auf die Botfchaft des Engels Gabriel, angenommen
von der HI. Jungfrau, das Wort, das im Anfang bei Gott und Gott. war,
Fleifh geworden ift zu unferer Erlöfung. Das Feft vergegenwärtiget demnach
im Gedächtniß der Gläubigen und im Eulte gerade jene Thatſache, welche bie
Mitte und Subftanz des Chriftenthums bildet, und um deren Behauptung ſich der
Kampf der Kirche während der erften fieben Jahrhunderte mit der Härefie be=
wegte, und deren Anerfennung zugleih die Summe aller Vorzüge in fich ſchließt,
welhe Maria von der Kirche beigelegt wurden und ftet3 vindieirt werden, weß-
balb fie Oz6z0x05 Heißt, — d. 1. die Menfhwerbung des Sohnes Gottes im,
Schooße der Hl. Jungfrau. Wundern darf es nicht, wenn das Gedächtniß daran
ſchon früßzeitig in den Eult überging, wenn es auch nicht erweislich ift, daß bie
Feier fchon im apoftolifchen Zeitalter begonnen habe, Die Bollandiften zwar
fügen diefe ihre Behauptung auf das befannte Ariom des heiligen Auguftin
Ccontr. Donat. 1. II. c. 24.), daß, was immer in ber Kirche beobachtet und nicht
886 Mariä Verkündigung.
durch Eoneilien eingeführt wurde, auf apoſtoliſche Authorität fih ſtütze. Allein
eben der Nachweis wird vermißt, daß das Feft Mariä Verkündigung immer in
der Kirche gefeiert worden if. Dan hat fih auf Gregor von Neucäfaren
aus dem dritten Jahrhunderte berufen, denn diefer habe drei Homilien auf Mariä
Verkündigung uns hinterlaffen, in deren einer e8 heißt: „Heute ift Gabriel, der
am Throne Gottes ſteht, zur reinften Jungfrau gefommen, fie begrüßend mit
den Worten: „„Sei gegrüßt, du Onadenvollel”" Aber die Unächtheit diefer
Homilien fteht außer Zweifel. Wir haben feinen früheren, Eritifch unantaftbaren
Beweis für das Vorhandenfein unferes Feſtes, als die Reden des Patriarchen
Proelus von Eonftantinopel (Gombefis. in Auotuar. biblioth. Patrum,. — Opera
Leon. I. ad edit. Ballerin. tom. 1), der noch vor Ablauf der erften Hälfte des
fünften Jahrhunderts ftarb, Da derfelbe in einer dieſer Reden bemerkt, „während
des ganzen gegenwärtigen Jahrhunderts” werde das Feft von der „gau—
zen” Kirche gefeiert, fo find wir berechtigt, den Beginn deffelben mindefteng an's
Ende des vierten Jahrhunderts zu feßen, aber auch nicht weiter hinauf; denn
ur Zeit der Lavdicder Synode vom Jahre 372 Ccan. 49. 51.) beftand das—
Felbe ‚ wie es feheint, noch nicht, Wenigftens wird hier dafür die Ausnahme nicht
aufgezählt, welche wegen der Faftenzeit diefe Feier notbwendig machte und Ge-
genftand einer fpäteren conciliariſchen Beftimmung wurde, Wir fehen diefes aus
den Arten der Synode von Conftantinopel 692. Den auf diefer fog. Trullani-
fhen Synode verfammelten orientalifchen Biſchöfen war das Feft etwas bereits
Bekanntes, denn fie verordnen (Conc. Quinisext..c. 52.), daß während der ganzen
Duadragefimalzeit mit Ausnahme der Spnnabende, der Sonntage und des Feftes
Mariä VBerfündigung die Meffe in Praesanctificatis gefeiert werde, — Auch
im Abendlande war das Feft Maris Verfündigung um diefe Zeit befannt. Denn
es ift ſchon im Sacramentarium des HL. Gregorius erwähnt und, entfprechend
der Chronologie des jährlichen Feftcyelus, nach welcher am 25. Der. die Geburt
des Herrn gefeiert wird, auf ben 25. März angefegt CThomass. de fest. celebr.
1.1. 0.12.) Da ihm derfelbe Tag auch in den Salzburger Statuten vom
Sabre 799, im Feftverzeichniffe von St. Gallen aus dem neunten Jahrhunderte
und andern Urkunden diefer Zeit angewiefen ift, fo führt es in alten teutjchem
Galendarien auch den Namen „Mariä in der Faften.” In Spanien aber
verlegte die Synode zu Toledo vom Jahre 656 unfer Feft auf den 18, December,
weil die Feier einer freudigen Begebenheit mit dem Bußernfte der Duadragefimal-
zeit überhaupt unvereinbar fei, insbefondere aber die Feier der Empfängnif des
Herrn der Feier feines Todes nicht fo nahe gerüct fein dürfe (Harduwin, Conc,
tom, II). Auch die mailändifche Kirche beging es im December, und zwar
am vierten Adventfonntage (Radulph. Tungr. propos. 16.). In dem darüber
entftandenen Streite erhielt die Praxis der römifchen Kirche die Oberhand. Noch
heute gilt fie als Regel; nur wenn Mariä Verfündigung in die Charwoche fällt,
wird e8 auf den Montag nach dem erften Sonntage nach Dftern verſchoben (Congr.
Sacr. Rit. 1690. 11. Mart.), — Das Feft, das übrigens auch in foro externo ge=
feiert wird, ift aber nicht nur eine Feier der Mutterwürde Mariens, fondern auch
eine Gedächtnißfeier der Menſchwerdung Jeſu Chrifti, Je nachdem nun in ver-
ſchiedenen Zeiten die eine oder die andere Bedeutung mehr hervorgehoben wurde,
führte e8 auch verfihiedene Bezeichnungen, 3. B. Annuntiatio B. V. M., Annuntiatio
angeli ad Mariam, Mariae salutatio; aber auch Annuntiatio Christi, Annuntiatio do-
minica, Initium redemtionis, Conceptio Christi, Festum incarnationis ; bei den Griechen
j Tod ayyehıouod, 9 Too Evayyelıouod, xapırıouös. Aus unferer Mefi-
iturgie und dem Officium geht hervor, daß die römifche Kirche das Feft Marik
Verkündigung von dem MWeihnachtsfefte dadurch unterfheidet, daß bei dieſem ber
Menſch gewordene Gott der einzige Gegenftand der Feier fein, während bei
jenem auch Maria bevacht werben fol, die bemüthig und gehorfam ihre Ein-
Mariä Verlobung — Marienfefte, übrige, 887
willigung zur menfchlihen Vermittlung der Incarnation dem Gottesgefandten
gegeben hat. * [Kraus.]
WMariä Verlobung (Desponsalio B. V. M). So ſollte, wird nur auf den
entſprechenden Ausdruck der kirchlichen Sprache Bezug genommen, eigentlich jenes
Feſt genannt werben, welches unter dem Namen Mariä Vermählung befannt,
alljährlich am 23. Januar, doch bloß in choro, begangen wird. Allein nach dem,
was Benedict XIV. (de fest. p. I. $ 13.) über Genefis und Bedeutung dieſes
Feſtes berichtet, ift Ießtere Bezeichnung vollfommen gerechtfertigt. Es iſt nämlich
gewidmet dem Andenfen an die Bermählung Mariens, der Erbtochter Eli's, mit
Joſeph, ihrem nächften Verwandten, welcher ein Sohn Jacobs und ebenfalls aus der
alten beiblehemitifchen Linie, aber durch Salomo, wie Maria dur Nathan, von
David entfproffen war (Matth. 1, 16, 18. 19. 24. Luc, 2, 5.). Die firdliche
Feier diefer Thatfahe ward auf Anregung des berühmten Kanzlers Gerfon
von dem Franciscanerorden unter Paul. begonnen. Diefer Papft ertheilte
dem Dominicaner Peter Dore den Auftrag zur Abfaffung des Offierums, und
DBenedict XII. dehnte endlich laut einer unterm 22, Auguft 1725 erlaffenen
Bulle das Feft auf die ganze Kirche aus, Welche Bedeutung man auch übrigens
der Gedächtnißfeier unterlege, die der Verlobung oder der Vermählung, der eine
Moment wie der andere ift wichtig in der Gefhichte unferes Heiles, Jene wie
diefe folften, wie ſchon Ignatius d. M. Ep. ad Ephes. c. 19. tieffinnig bemerft,
dazu dienen, die Jungfräulichkeit und jungfräulide Nieverfunft Mariens nach
Gottes Abſicht in’s Geheimniß zu Hüllen. Die Bermählung aber betreffend, fo
ift ein Grund mehr zur Gedächtnißfeier in der Thatfache der befonderen Revelation
gegeben, welche Diatth. 1, 20. diefelbe Herbeiführte. Diefe aber diente, bevor das
Moyfterium der Sncarnation entfchleiert war, dazu, daß „Jeſus als Sohn Joſephs
von Nazareth” (Joh. 1, 45.) als Davids-Sohn — mit diefem erften Merkmale
der Meffiagwürde — bei feinem Volke eingeführt wurde (f. Maria). [Kraus]
Mariä Bermählung, f. Mariä Verlobung.
Marienfeite, übrige, d. 5. ſolche, welche fi nicht auf Momente aus dent
irbifchen Leben der Gottesmutter, fondern auf Erweife ihrer fortwährenden Ge-
meinfchaft mit der flreitenden Kirche beziehen. Hieher gehören: I. Das Feft
Mariä vom Berge Carmel (Festum B. V. M. de monte Carmelo, solemnis
commemoratio B. V. M. de monte Carmelo). Diefes Feft ward zuerft für den
Earmeliterorven im Jahre 1587 von Papſt Sirtus V. genehmigt, dann ver—
mehrte Paul V. für denfelben Orden deffen Offieium, endlich aber ward bie
Feier im Jahre 1726 dur Benediet XI. (R. S. C. 24. Sept. 1726) allge=
mein angeorbnet (Bened. XIV. de fest. 1. II. $ 78.), und zwar auf den 16. Juli.
Den Ramen hat das Feft eben daher, daß es ſich auf die übrige Ehriftenheit vom
Orden der Carmeliter aus verbreitete, welcher ſchon in der apoflolifchen Zeit ein
Klofter auf dem Berge Earmel gehabt Haben will, Das ift eine Hiftorifch nicht
begründete Prätention (Papebroch. Bolland. m. Apr. tom. I). — Das Feft Heißt
aber auh „Sceapulierfeft”, und unter diefer Bezeichnung iſt es in unfern
Bolfskalendern am Sonntage nach dem 16, Juli verzeichnet. Diefer Name grün
det fih darauf, daß die Hl, Jungfrau Maria dem fechsten Carmeliterordend-
General Simon Stod in England während feines Gebetes erfchienen fein und
ihm das Scapulier (scapulare, Schulterkleid i. e. für Mönde, das fie bei ihren
Handarbeiten trugen) gegeben haben foll mit der Verheißung: wer darin fterbe,
werde das ewige Feuer nicht leiden, Die Wirflichfeit diefer Viſion wird be—
ftritten von Launoy Copp. tom, II. p. 2.) und verteidigt von Benebict XIV. (de
fest. p. I. $ 76). Daß Johann XXI. unterm 3, März 1322 auf Grund einer
ähnlichen Bifion die Mönche des Carmeliterordens und die Träger des Scapu—
Tieres mit befondern Abläffen privilegirt Habe, wie vielfach behauptet worden iſt
(Privilegium sabbathinum), fann, abgefehen von den theologifchen Gegengründen,
888 Marienfefte, übrige,
ſchon darum nicht angenommen werden, weil bie betreffende Bulle fi weder im
römifchen Bullarium findet, noch auch, fei es in forma speciali oder communi,
Hon den römifchen Päpften approbirt worden ift (Bened. de fest. p. 11. $ 73. 77.).
Pius V. hat den über die Aechtheit oder Unächtheit diefer Bulle entftandenen
Streit mit einer Weisheit entfhieden, die nicht minder für den apoftolifhen
Stuhl ehrend, als für den Katholiken befriedigend ift (Bullar. Carmelit. tom. 1.);
Bol, Sailers Paftoraltheologie II. ©. 187, oder deffen Beiträge ze. IL ©. 300:
auch Leibnigens Syftem der Theologie. — I. Das Feft der Weihe der
Kirche zu Mariä Schnee (Festum dedicalionis S. Mariae ad Nives). Daffelbe
fallt alle Jahr auf den 5. Auguft und war urfprünglih das Weihefeft einer ein-
zelnen Kirche zu Rom, Johannes nämlich, ein römischer Patricier, und beffen
Gemahlin, welche unter dem Pontificate des Liberius im vierten Jahrhunderte
lebten, hatten, weil finderlos und ohne Erben, all ihr Vermögen der hl. Jung-
frau gelobt und fie gebeten, fie möchte ihnen offenbaren, wie fie zu ihrer Ehre
ihr Vermögen verwenden fünnten, Da fiel am äten des heißen Auguftmonats
zur Nachtzeit auf der Spike des Berges Erquilia Schnee und an biefer Stelle
ließen Johannes und deffen Gemahlin nach erhaltener vifionärer Mahnung einen
Tempel zu Ehren der Gottesmutter erbauen, Diefe wunderbare Begebenheit,
die hier dem römifchen Breviere nacherzählt ift, findet ſich auch in einigen fehr
alten pergamentenen Brevieren, von denen das eine der Kirche zu Parma, das
andere den Eremiten des hl. Auguftinus zum Gebrauche diente, Auch fehr alte
Manuferipte, die in den römifchen Archiven aufbewahrt werben, erwähnen
dieſes Ereigniffes, das nicht nur von Shriftftellern, 3. B. Baronius (in not.
ad Mart.), Fulvius dem Römer (1. IL. e. 6.), Sigonius (tom. I. de ooeid. Imper.)
u. f. w,, fondern auch von den Päpften Nicolaus IV., Gregor IX. und Pius Il.
als wahre Thatfache berichtet wird (Bened. de fest. p. II. $ 90. 93. 94.). Ge—
gründet auf diefe Begebenheit, ward das Feft im 14tem Jahrhunderte auf bie
ganze Stadt Nom ausgedehnt und endlich durch Pius V. zu einer allgemeinen
Feier der ganzen Chriftenheit erhoben. — IU. Das Feft des Rofenfranzes
Mariä (Festum vel solemnitas S. Rosarii B. V. M.); Diefes wird immer am
erften Sonntage im Detober gefeiert und war, wie das Scapulierfeft, Anfangs
ein bloßes Bruderfhaftsfeft, fich füsend auf das Nofenkranzgebet, welches
unter dem Einfluffe des Dominicanerordeng jene Ausbildung erhielt, in der es
alle Geheimniffe unferer Erlöfung, die Angelpuncte des chriſtlichen Glaubens,
enthält und der Verherrlihung der Gottesmutter gilt. Als in der Folge die be—
rühmte Schlacht bei Lepanto am 7, Detober 1571 unter Don Juan von Deftreich
gegen die Türken gewonnen wurde an eben dem Tage, an welchem die Nofen-
franzbruderfchaften zu Nom ihre feierlihen Wallfahrten und befonderen An—
dachtsübungen um Verleifung des Sieges über die Ungläubigen hielten, verord-
nete der damalige, aus dem Dominicanerorden hervorgegangene Papft Sirtus V.
ein eigenes Felt zu Ehren des Nofenfranzes, eine Verordnung, welde Gre—
gor XII. am 1. April 1573 mit dem Beiſatze erneuerte, daß das Feſt in Zukunft
in allen jenen Kirchen, in denen ein Altar oder eine Capelle „sub invocatione B.
Virginis Rosarii* fich befände, und zwar am erften Sonntage im October gefeiert
werden folle, Hieraus ift von felbft Far, warum dieſes Feft auch den Titel
„Mariä vom Siege“ führt. Clemens X. dehnte im Jahre 1671 das Felt —
ohne obige Bedingung — auf ganz Spanien aus, bis endlich Papft Clemens Xl.
im Jahre 1716 theils auf Anſuchen des Kaifers Leopold, theild wegen des von
Earl VI. im Jahre 1715 bei Temeswar in Ungarn über die Türfen erfochtenen
Sieges fi bewogen fand, die Feier in der ganzen Chriftenheit einzuführen (Be-
ned. de fest. p. II. $ 156—172.),. Als Zweck derfelben bezeichnet Clemens XI.:
„die Herzen der Gläubigen dadurch defto mehr zur Verehrung der glomwürbigften
bl, Jungfrau zu entflammen und das Andenken zur fhuldigen Danffagung für
Marienpfalter — Marina von Escobar, sg
die damals empfangene Hilfe von Dben nie erlöfchen zu laſſen. — IV. Das
Feft Mariä von der Barmherzigkeit zur Befreiung gefangener Chri—
ften (Festum B. V. M. de Mercede — merces heißt nach Düfresne im mittelalter«
lichen Latein auch f. v. a, misericordia — redemtionis captivorum). Daffelbe fälft
alljährlich auf den 24. Sept. und war urfprünglich ein Privatfeft jenes Or—
dens, welcher, von dem Priefter Peter Nolascus (ſ. d. A.) in Verbindung mit
Raymund von Pennaforte und Jacob von Aragonien im Jahre 1223 geftiftet, ſich
zur Befreiung der in maurifcher Gefangenschaft ſchmachtenden Chriften durch
feierliches Gelübde verpflichtete. Aus diefem in Spanien gegründeten Orden ver-
breitete fich diefes Feft auch auf die übrigen Kirchen diefes Landes, ging von ba
nach Franfreich über und wurde dann durh Innocenz XI. im 17ten Zahrhun-
derte allgemein, — V. Das Schugfeft Mariä (Festum patrocinüi B. V. M.),
auf den dritten Sonntag im November treffend, ward im 17ten Jahrhunderte
den fpanifchen Kirchen concebirt (S. R. C. 6. Mai 1679) und dur Benediet XII.
im Jahre 1725 auf die ganze Kirche ausgedehnt, als eine Feier der theilnehmen-
den Verbindung Mariens mit der ftreitenden Kirche und deren Gliedern (Bened.
de fest. p. II. $ 173). [Kraus,]
Marienpfalter, f. Psalterium Marianum.
"Marina von Escobar. Unter den vielen Seelen, die der große Geifteg-
lehrer Ludwig de Ponte zu hoher Vollkommenheit führte, war diefe erleuchtete
Zungfrau die bewunderungswürdigfte und gefeiertefte, Geboren 1554 zu Valla—
dolid, Tochter des Nechtsgelehrten Jacob Escobar, gehört fie als einer der glän-
zendften Sterne in den leuchtenden Kreis, der im 16ten und 17ten Jahrh. die
Kirche Spaniens fo fehr verherrlichte, daß der Freund wahrer Kriftlicher Fröm—
migfeit, von ber Zerriffenheit und Verwüſtung der Kirche Teutfchlands durch bie
Reformation mit gerechtem Zorn und Schmerz ſich abwendend, fo gern feine Blicke
auf die damaligen Firchlichen Zuftände der fchönen iberifchen Halbinfel wendet, um
fih die Himmelsgeftalten zu befchauen, die wie Johannes vom Kreuz, Therefia,
Petrus von Alcantara, Johannes v. Avila u. f. w. wahrhaft reformirend
auftraten und zahlloſe Früchte Achter Tugend hervorbrachten, nicht wie Luther
u. a, m, die fhönften Blüthen Fatholifcher Frömmigkeit, treue Gottesliebe, Keuſch—
heit und Andacht mit Füßen traten. Marina ward fo hoch begnadigt, daß Ludwig
de Ponte, der 30 Jahre lang ihr Führer war, fie ohne Bedenfen der HI, The=
refia, Catharina von Siena und andern heiligen Frauen an die Geite ftellt,
Schon als dreijähriges Kind tief ergriffen vom Gebote der Liebe Gottes über
Alles, fuchte fie in Allem nur Gott, verirrte fih zwar im 10. Jahre zu weltlichen
Zerftreuungen, ward aber im 14, Jahre durch einen Prediger wieder auf den
rechten Weg geführt, verläßt fpäter das innere Gebet als gefährlich aufs
Neue, bis fie endlich im 33. Jahre zum zweiten Male begnadigt erft recht und
fe in Ehrifto zu leben anfing. Sp mußte zuerft in ihr felbft die Liebe Gottes
allherrfchend werden, bis fie im J. 1599 auf Geheiß des Herrn anfing, nad
Außen anregend zu wirken. Da fpricht fie bald mit flammenden Worten Klofter-
geiftlichen zu, wie fie mit Gott fich vereinigen follen; bald ermuntert fie auf den
Gaffen die Kinder, Gott zu lieben; redet dann wieder Bekannte und Unbekannte
bittend an, daß fie recht oft beten und fo Gott ihre Liebe zeigen möchten. Es
war alfo Marina’ Frömmigkeit nicht eine müffige wirfungslofe; fie redete mit
befonderer Anmuth und der Herr gab ihren Worten fliegende Kraft, Umgeftaltend
trat fie für den Brigittenorden (f. d. AU.) auf und Urban VIII. beftätigte die Re—
form. Tiefe Demuth, engelgleihe Sanftmuth , heroifche Geduld bei 50jährigen
oft fehr fchweren innern und äußern Leiden waren die Tugenden, die fie beſonders
zierten. Bon ihrer armen dunfeln Kranfenzelle aus wirkte fie auch durch Briefe
und fhriftlihe Aufſätze; um fi hatte fie viele Schülerinnen, die fie mit großer
Weisheit, mit Ernft und Liebe leitete, Die letzten 30 Jahre ihres Lebens blieb
890 Marinus, Martyrer.
fie immer unter großen Schmerzen an ihr Bett gefeffelt; feldft arm war fie eine
Pflegerin vieler Armen, Dürftige und Bebrängte nahmen zu ihrem Haufe ihre
Zuflucht, Nabe 80 Jahre alt verfhied Marina am 9, Zuli 1633 in einer Ent-
zückung, in die fie nach unausftehlihen Schmerzen der Todeskrankheit gefallen
war, Ihr Begräbnig warb glänzend mit allgemeiner Theilnahme gefeiert, Un—
gemein lieblich find die Bilder, die fie in ihren Gefichten ſchaute. Bald erſcheint
fie al$ arme Pilgerin vor dem Herrn, um von ihm ein Almofen zu heifhen, und
da wählt fie unter den ihr zur Auswahl vorgelegten Perlen und Edelfteinen nicht
die Gaben der Weiffagung, Wunder und Sprachen, fondern — die Gabe der
Gleihförmigfeit mit dem göttlihen Willen; bald ergießt fih ein Himm-
lifcher Negen von Gnaden auf fie, während die Engel Lobliever anflimmen, Ober
fie wird koͤſtlich geſchmückt und mit einer goldenen Krone geziert; ein ander Mal
erblickt fie den Herrn ald Sonne, mit der dann ihre beftrahlte Seele ſich verei=
nigt; wiederum ſieht fie fih vor ihm in einem fehneeweißen glänzenden Sonnen-
Heide. Dieß Alles erzählt fie mit eben der mädchenhaften Naivität, wie bie hl.
Angela v. Foligno die füßen Worte des Herrn an ihre Seele, Chriftus erfcheint
ihr als goloftrahlender Stern, oder im föftlihen Gewande feiner unendlichen
Berdienfte, fein Blut als heller Fluß voll wunderbarer Reihthümer in feinem
Grunde, oder als ſchönes Hares Bächlein im himmlifchen Zerufalem, Alle diefe
und andere Gefihte waren nicht unfruchtbare Phantafiegebilde für fie, fondern
brachten reiche Früchte immer zunehmender Bollfommenheit in ihrer Seele hervor,
Sie achtete nicht darauf, hatte große Furcht und Abneigung gegen diefe außer-
ordentlichen Erfcheinungen, trachtete nur nad) wahrer gründlicher Tugend, wollte
und meinte in Allem nur den Erlöfer, darum ihr auch einmal ihr Herz gezeigt
ward ausnehmend fchön und fehimmernd gleich dem hellften Rubin‘, und in der
Mitte ftand in den reinften Goldbuchſtaben gefihrieben: „Hier wohnt Jeſus“.
Alſo lebte und wirfte Marina v. Escobar, über welche unter anderm der berühmte,
Dichter Johannes Angelus Silefius in der Vorrede zu feinem herubinifchen Wan—
dersmann fagt: „Was man bei den berühmteften myftifchen Lehrern von der ge—
heimen Gottesweisheit gelefen, kann man am allertröftlichften in dem Leben der
Marina von Escobar finden, die allein dur Gottes Gnade alles deffen ge—
würdigt wurde, was je alle der geheimen Gotteskunſt Erfahrene insgeſammt
gefhrieben, Marina's Leben befchrieb nach ihren eigenhändigen Berichten größ-
tentheils Ludwig de Ponte (fiehe ven Art), dem fein Ordensbruder Ramirez
ergänzend nachfolgte. Franz Cachupin, Provincial der Jefuiten, gab nad
ihrem Tode 1664 diefe Biographie heraus, fo weit Ludwig de Ponte fie bearbeitet
hatte, [Zingerle.]
Marinus, Martyrer in Cäſarea. Als die Chriftenverfolgung unter
Raifer Balerian nachgelaffen, unter deffen Sohne Gallienus (n. Chr, 260— 268)
mildere Zeiten für die Chriften eintraten, fo litt Marinus in Cäſarea für Chriftus
den Tod, Vielleicht war der Befehl des Gallienus, der Chriften zu fhonen, noch
nicht allgemein fundgegeben; oder Fonnten, wie einft nach dem Willen des Trajan,
in Kraft diefer Befehle zwar die Chriften nicht aufgefucht, aber die zur Anzeige
gebrachten geftraft werden (vgl, Baronius ad a. 262. n. 78). Marinns, aus
vornehmem Gefchlechte, diente im Heere, und hatte Anfpruch auf den Nang eines
Centurio. Da klagte ihn Jemand vor Gericht an: dem Marinus, einem Chriften,
der dem Kaifer zu opfern fih weigere, gebühre dieſe römifche Würde nicht, auf
welche er, der Anfläger, Aufpruc habe, Der Richter Achäus Ind den Marinus
vor fih, und erfuhr von ihm, daß er ein Chrift ſei. Darauf gab der Richter ihm
drei Stunden Bedenkzeit. Theoteenus, Bifchof der Stadt Cäfaren, führte den
Marin in die Kirche, und mahnte ihn zu ftandhaftem Beleuntniſſe. Marin wurde
wieber vor Gericht gerufen, und dba er eine größere Freudigfeit des Glaubens,
als zuvor, zeigte, fo wurde er auf der Stelle hinweggeführt, und mit der Marters
Marinus, Päpſte — Maroniten, 891
krone geſchmückt. „Ein römifher Senator, Afterius (Aftyrius) mit Namen,
wegen feiner Reichthümer und feines Geſchlechts berühmt, und bei den Kaiſern
fehr SF befiet ‚war Zeuge der Hinrichtung, nahm den Leichnam des Martyrers auf
feine eigene Schultern und trug ihn fort, obgleich er felbft in ein weißes koſt⸗
bares Gewand gekleidet war; er hüllte den Leichnam in Föftliche Tücher ein, und
beftattete ihn mit Anſtand.“ Bon demfelben Afterius wurden von feinen Be—
kannten noch unzählige andere Thaten erzählt, und eines der von ihm vollbrach—
ten Wunder berichtet Euſebius 1. c. (vgl. Eusebius hist. ecel. L. VI. c. 15. 16.
47. — Acta Sanct. ap. Bolland, T. I. Mart.). Das Andenfen des HI. Blutzeugen
Marinus feiert die Kirche am 3. März. [Gams.)]
Marinus I. u. H., Päpſte. Es gibt zwei Päpſte, die eigentlich den Na—
men Marinus trugen, Marinus L von 882 — 884, und Marinug Il. von
943— 946, doch wurden diefelben nah dem 1äten Zahıh., wie Papebroch in
paralip. ad "conat, chron. hist. Pontif. Bolland. Propyl. ad Majum pag. 106 meint,
als Martin II. u. IH. bezeichnet. Siehe daher diefe Artikel.
Marius Aventiens, Biſchof von Aventicum im fehsten Jahrh. lsen-
ticum , jetzt Avenches oder Wifflisburg im Kanton Waadt), ift der Verfaffer einer
Chronik, welche fich als Fortfegung der Chronif Prospers an diefe anſchließt und
bis zum 5. 581 geht. Marius wohnte 585 der Synode von Macon bei, Er
ftarb 64 Jahre alt, nachdem er in würbigfter Weife 20 Jahre fein Bistum ver-
waltet hatte, Für die Gefchichte des burgundifhen Neiches und der Schweiz
enthält feine Chronik manches Wichtige; fie ift bei Bouquet, Script. rer. Gall.
t. I. abgedrudt. — Marius Mercator, Rirchenfchriftfteller des fünften Jahrh.,
der mit dem hl. Auguftin in vielfacher Berührung flund, aber über deffen Vater—
land, Stand und Lebensverhältniffe man nichts Gewiffes weiß, ſchrieb mit viel
Eifer wider die Pelagianer und Neftorianer, und bat fih um die Geſchichte diefer
Ketzer verdient gemacht. Seine Werke gab der Jefuit Johann Garnier, Paris
1673 und noch beffer Stephan Baluzius, Paris 1684 heraus.
Markus, f. Marcus,
Maroniten ift der Name einer Partei vrientalifcher Chriften, die, jegt un
gefähr 150,000 an der Zahl, zum größten Theil auf dem Berge Kesruan, einem
Theile des Libanons in Syrien, einen Flächenraum von 56 Duabdratmeilen inne
haben, leber die Herleitung ihres Namens, ihre Entftehungszeit als häretifche
Secte und ihr Verhältniß zu dem Monotheletismus fehlen uns ganz beftinimte
Nachrichten. Wir ftellen die hauptſächlichern der älteften Duellen oben an, um
daraus eine möglihfte Gewißheit über obige Puncte zu gewinnen. Nach Simon,
Aſſemani, einem Marpniten aus einer der erfien Familien, T. I. ©. 497. feiner
biblioth. orient. gab e8 fchon im fechsten Jahrh. ein zwifchen Apamea und Emefa
am Fluffe Drontes in: Syrien gelegenes Mönchskloſter des Hl. Maro, deſſen
Bewohner von ihn als dem Stifter Maroniten genannt wurden, Diefer Stifter
ift wahrfcheinlich jener Maro aus dem Anfange des fünften Jahrh., deffen Theo—
doret in feiner hister. religios. II. Thl. €, 16. ©, 1222 nad der Schulzifchen
Ausgabe gedenft. Erft im fiebenten Jahrh. begegnet uns wiederum ein Mann
deffelben Namens, der für feinen häretifchen Glauben einen Anhang gewinnt und
diefem feinen Namen gibt. Eutychius, im 10ten Jahrh. Patriarh von Aleran-
drien, erzählt: „Zur Zeit des Kaifers Morig, Ausgangs des fehsten und An-
fangs des fiebenten Jahrh., Iebte ein Minh Marum, der in Ehrifto zwei Na—
turen und Einen Willen und Eine Wirkung lehrte, Der größte Theil feiner
Anhänger, von ihm her Maroniten genannt, waren die Einwohner der Städte
Hamah, Kennesrim und Awaſem. Nach dem Tode des Hauptes haben die Bür—
ger von Hamah das daſelbſt erbaute Klofter Dair Darum (Maronskfofter) ge-
nannt und feine Lehre öffentlich bekannt.“ Bon der nämlichen Härefie fpricht ein
Zufag der Schrift von Timotheus — de iis, qui accedunt ad ecclesiam — ber
892 Maroniten.
ſich in der histor. Monotheletarum des Combefis II. Thl. S. 460 findet. Nach dem⸗
felben feen die Maroniten, die das 4. 5. und 6, allgemeine Concil verwerfen,
zu dem dreimalheilig hinzu: „der du für ung bift gefreuzigt worden und Iehren
in Chriſto Einen Willen und Eine Wirkung”. Da biefer Zufag in der Hand⸗
fhrift des Timotheus fehlt und wahrfcheinlich erfi dem achten Jahrh. fein Dafein
verdankt, fo müßte er an Wichtigfeit verlieren, wenn er nicht durch gleichzeitige
und gleichlautende Nachrichten unterftügt würde, Damascenus nämlich, der als
Syrer die Maroniten kennen konnte, nennt fie Ketzer, mit welchen er feine Ge-
meinfchaft habe und fpriht vom obigen Schlußwort zum dreimalheilig (Libellum
de vera sententia nach Lequiens Ausgabe T. I. cap. VII. ©, 395. und ep. de
hymno trisagio cap. V. ©, 485 beffelben Werkes), Durch die weitere Nachricht
des Wilhelm, Erzbifchofes von Tyrus, fommen wir in der Gefhichte der Maro-
niten um ein Bedeutendes vorwärts, indem wir durch fie nicht bloß über den
Namen und bie Entftehungszeit, fondern auch über die erfimalige Annäherung
und Bereinigung diefer Härefie mit dem römischen Stuhle Kenntniß befommen,
De bello sacro lib. XXI. cap. VIII. in Bongars. gestis Dei per Francos T. I. be—
richtet diefer Schriftfteller über das J. 1182: „Da man nad Saladins Krieg des
zeitlichen Friedens genoß, erlitt eine fyrifche Nation, die in Phönicien am Berge
Libanon die Stadt Byblus bewohnt, eine große Veränderung ihres Zuftandes,
Nachdem fie 500 Jahre dem Irrthume eines Kegerftifterd Maro ergeben war,
fo daß fie son ihm den Namen Maroniten führten und, von der orthodoxen
Kirche abgefondert, ihren eigenen Gottesdienſt hielten, befehrten fie ſich durch
göttliche Eingebung und kamen zu dem Patriarchen von Antiochien, Aimerich IIL
unter den lateinifchen Patriarchen, und wurden nach Abfchwörung ihres Irrthums
mit der wahren Kirche wieder vereinigt. Sie erflärten fich bereit, die Vorſchriften
der römifchen Kirche anzunehmen und zu beobachten, Es waren über 40,000
Menfchen, die den ganzen Strich am Libanon inne hatten, und den Lateinern im
Krieg wider die Saracenen fehr nüglih waren, Der Irrthum des Maro und
feiner Anhänger ift und war, wie man in ber fechsten Synode leſen kann, daß
in Jeſu Chrifto nur Ein Wille und Eine Wirkung fei und von Anfang an gewefen
fei. Doch hatten fie nach ihrer Abfonderung noch einige andere fehändliche Lehren
angenommen, Es hatte fih ihr Patriarch mit einigen Bifchöfen zur wahren Kirche
gewendet," Da Wilhelm bloß von der Umkehr des Patriarchen und einiger
Biſchöfe fpricht, fo iſt Affemani nicht berechtigt, Die Nachricht des jacobitifchen
Primas, Abulfaradſch Ch. d. A.) aus dem Grunde als Fabel zu bezeichnen, weil
er neben der obigen Vereinigung im 12ten Jahrh. auch noch im 13ten von ſyri—
ſchen Maroniten fpreche, die fih dadurch von allen chriftlihen Secten unter-
ſcheiden, daß fie den beiden Naturen in Chriſto nicht zwei Willen und zwei
Wirkungen, fondern Einen Willen und Eine Wirkung zufhreiben (Abulfaradfch
de theolog. bei Affemani im 2. Thl. feiner biblioth. orient. ©. 292). Im Gegen-
theil, da eine vollftändige Vereinigung erft im 16ten Jahrh. vor fih ging, fo
müßte ung eine anderslautende Nachricht aus dem 13ten Jahrh. als fehr unglaub-
würdig erfcheinen, Folgern wir aus diefen Auctoritäten zuerft die Herleitung des
Namens, fo foheint e8 mir wahrfcheinlich, daß nicht Mar o ni a, die Gegend zwi-
ſchen Antiochien und dem Libanon, noch die Stadt Maronea, fondern der hl.
Abt, deffen Leben Theodoret befchreibt, und der im Anfang des fünften Jahrh.
lebte, als muthmaßliher Stifter zunächft dem Klofter und deffen Gliedern dem
Namen gegeben hat, während die Bewohner des Libanons und Antilibanone in
ihrer fpätern Vermehrung den gleichen Namen von dem fpätern Job. Maro aus
dem fiebenten Zahrh. als dem erfien Patriarchen angenommen haben, Daneben
ift es allerdings nicht unwahrfcheinlich, daß der vor dem fiebenten Jahrh. noch
Heine Stamm bereits den Namen vom Klofter des hl. Maro führte, wenn es
auch ziemlich gewiß ift, daß derſelbe Name als Bezeichnung einer beflimmten
Maroniten. 893
größern häretifhen Secte und zugleich eines bedeutenderen Volkes mit Joh. Maro
und den Borfällen feiner Zeit im innigften Zufammenhange ſteht. Als nämlich
die Monotheleten nach der Entthronung des Kaifers Philippicus Bardanes von
Anaftafius II. verfolgt und aus dem griechiſchen Reiche vertrieben wurden, fant«
melte fih ein Theil derfelben um das noch unbedeutende Bölflein des Libanous.
Damit wollen wir aber nicht fagen, die Mönde vom Klofter des HI. Maro feien
jest erſt durch diefe Einwanderer oder doch erft nach dem 6. Coneil, wie Mosheim
meint, mit den monotheletifchen Anfichten befannt geworben, Das, daß der Pa—
triarch von Antiochien diefer Lehre beipflichtete,, und ſyriſche Mönche auf der obi—
gen Synode fie vertheidigten, läßt auf eine frühere, wenigftens theilweife Rennt-
niß und Annahme diefer Irrlehre von Seite der Libanioten fließen. Wald
glaubt, fie Hätten eine folhe Kenntniß ſchon zur Zeit des Kaifers Heraclins
(f. d. 9.) erhalten fünnen, Die erneuerte Macht diefes Kaifers in Syrien, feine
Bereinigungsverfuche dur den Vorſchlag Einer gottmenfhlihen Willensrichtung
in Ehrifto mahen uns diefe Anficht ziemlich glaubwürdig. Wenn aber diefelbe
auch nicht über allen Zweifel gewiß ift, die unter Anaftafius verfolgten Flüchtlinge
fuchten bei den freien Mönchen und Bewohnern des Libanons Schuß und Sicherheit.
In diefe Einwanderungszeit fällt unfer Joh. Maro, den, wie Einige meinen, Eu—
tychius irrthümlich als Stifter des Monotheletismus darfielle. Allein es liegt dieß
gerade nicht in den oben gegebenen Worten, Und felbft wenn dieß ihr Sinn wäre,
wäre der Irrthum dadurch verzeihlich und begreiflih, daß Joh. Maro von der
Fortfegung der monotheletifchen Lehre in Syrien mit dem Titel eines Patriarchen
von Antiochien zum Oberhaupt erwählt worden ift, und ohne Zweifel feine Lehre
in den verfchiedenen Städten Syriens zu verbreiten gefucht hat. Die durch die
Einwanderung erfolgte rafhe Vermehrung der Maroniten verlieh den Schüß-
Iingen und Beihügern Befefligung und Macht zur Verteidigung. Ihre ange-
firebte Selbftftändigfeit in Glaubensfachen forderte die Behauptung einer politi-
fhen Unabhängigkeit, Sie fündigten dem griechifchen KRaifer den Gehorfam und
behaupteten fih immer mehr als freies, ſelbſtſtändiges, Friegerifches Volf. Ge—
rade bei diefen und andern Feldzügen foll das obige Firchliche Oberhaupt befon-
ders thätig gewefen fein. Er und feine Nachfolger nahmen an den Friegerifchen
Unternehmungen ihres Volkes tätigen Antheil, fo daß die geiftliche und weltliche
Dberherrlichkeit in Einer Perfon vereinigt wurde und der Name des erften patriar=
chaliſchen Negenten nicht bloß Religionsname einer im achten Jahrh. unzweifel-
haft abgefonderten Neligionspartei , fondern zugleich Bollsname wurde, während
die Melditen, d. i. die Faiferlih Gefinnten die Maroniten wegen obiger Vor—
gänge Mardaiten, d, i. Aufrührer fchalten. In Betreff ihres ſpecifiſchen Glau—
bens fönnen fie mit den Monophyfiten nicht zufammenfallen, weil fie diefe Hä—
refie befämpfen, Eutyches und die Seinen Jrrende nennen, Daß bloß Verſchie—
denheit der Religionsgebräuche zu einer völligen Trennung geführt habe, ift an
und für fih unglaublih und aus dem Grunde nichtsfagend,, weil fie hierin wohl
von der römiſchen aber nicht von der griedhifchen Kirche abwichen. Wozu alfo in
diefem Fall eine Auswanderung und Trennung von der Jegtern? Die Trennung
mußte aber erfolgen, fobald fie ven Glauben der Monotholeten befannten und
dadurch der Entſcheidung des 6. Concils 680, Trullanum genannt, fich wider»
festen, Diefe Vermuthung bezeugen und befräftigen unfere Duellen, Nach dieſen
war ber abweichende Glaubensfag der Marpniten der des Monotheletismus:
beide Naturen find die Factoren Eines freien Wollens und Einer Perfon, con=
flituiren Einen Willen — iv Helnua zei ulay Evegysıav Eni Xgıorod eineiv
tolunoavres. — Den Beifag zum Dreimalheilig konnten fie auch im orthodoxen
Sinne gebraucht Haben, Dbige irrige Glaubenslehre hat fih in Syrien Jahr-
hunderte forterhalten und hier die meiften Befenner gezählt, Die Maroniten, die
im Rampfe zu einem Bergoolfe erftarften, wußten wie ihre kirchliche fo ihre po⸗
894 Maroniten.
litiſche Selbſtſtändigkeit gegen Griechen und Araber zit vertheidigen. Die letztere
behaupten ſie bis heute unter türkiſcher Oberherrſchaft gegen Erlegung einer
Abgabe an die Pforte. Ihre Hauptniederlaſſung in Syrien wurde der Libanon
und Antilibanon und das Kloſter des hl. Maro. Ihren Hauptort, die Gegend
Kesruan abgerechnet, ſind nur wenige in den übrigen Theilen Syriens, wie zu
Aleppo, Damascus, Tripolis und auf der Inſel Cypern anfäßig; ihr vornehmſter
Wohnfig bleibt der Libanon, — Rücken wir in der Geſchichte der Maroniten in
die legten 6 Jahrhunderte vor, fo waren fie feit dem 12ten Jahrh. mehrmals
(1182 und 1445) mit der römischen Kirche vereinigt; aber eine dauerhafte Ver⸗
einigung fam erft feit der Mitte des 1äten Jahrh. zu Stande (f. d. A. Ferrara-
Florenz). Die BVeranlaffung zum erfimaligen Anfchluß gaben die Kreuzzüge,
die fie mit unferer Kirche in Berührung brachten, Die legte Vereinigung wurde
durch das von Gregor XII. (f. d. U.) 1584 zu Rom geftiftete Maroniten-Eoffe-
gium befeftigt, aus deffen Schule die Maroniten feit Ende des 16ten Jahrh.
ihre meiften Geiftlichen erhalten. Im J. 1736 vermochte fie Clemens XH. in
einem auf dem Libanon gehaltenen Nationaleoncil zur Annahme der Trienter Be—
fohlüffe, Aber feine Weisheit und Nachgiebigfeit im Erlaubten und Zuläffigen
befundet der römifhe Stuhl, wie fonft, fo auch den Maroniten gegenüber, Die
Bereinigung beläßt ihnen das Abendmahl unter beiden Geftalten, die Priefter-
ehe nach Art der griechifhen Geiftlichen (wie denn ihr Eult überhaupt fehr viel
an den Eult der griechifehen Kirche erinnert) und den Gebraud der fyrifchen und
arabifchen Sprache beim Gottesdienft, Die Meffe wird in altfyrifher Sprache,
die Pericopen dagegen werben zuerft in fyrifcher, dann in arabifcher Sprache ge-
fefen, Sie leiten ihre Liturgie von Ephräm, dem Syrer (ſ. d. A), ab, Was ihre
weitere kirchliche Verfaſſung betrifft, fo Haben fie einen Patriarchen, der, obſchon
er in dem Klofter Dair al Schaft auf dem Libanon wohnt, den Namen eines Pa-
triarchen von Antiochien auch nach der Vereinigung fortbehäft, ſtets Petrus heißt
und alle 10 Jahre dem Papfte Nechenfchaft ablegt, Unter ihm ftehen 17 Bifchöfe,
von denen 2 zu Aleppo, 2 in Mefopotamien, 1 in Beirut und die übrigen bei
vem Patriarchen oder zu Mar Ephraim ihren Sit haben. Für die practifche
GSeelforge in den 150 Gemeinden haben fie eine gleiche Anzahl von Geiftlichen,
Die erftern beziehen fehr geringe Einfünfte, Tegtere nähren fich von Handarbeit,
alle aber genießen von den Laien eine Hohe Achtung. Klöfter finden fich fehr viele,
In Kesruan zählt man über 200 Manns- und Frauenflöfter, von 20 — 25,000
Drdensgliedern bewohnt, welche der Negel des HI, Antonius (f. d. A) folgen,
fehr ftreng leben und fich durch Feld- und Gartenbau nüglih machen, wovon fie
fih zum Theil ernähren, Sie zeichnen fih vor den Weltleuten, wie die Geift-
lichen, durch eine blaue Binde um die Kopfbedefung aus und genießen auch die
Hohe Achtung der letztern. Mönche und Priefter find vom Kriegsdienfte frei. —
Die kirchliche Statiftif von J. Wiggers bemerft S. 286 ff.: „Sie (die Ma-
zoniten) fiheinen von dem monotheletifhen Dogma zu dem rechtgläubigen über-
gegangen zu fein, wiewohl auch hiebei der Schein Teicht trügen kann und es iſt
nicht unmöglich, daß im Innern der Gemeinfchaft das trennende Dogma von
Einem Willen in Chrifto noch fortfebt. Sie verwerfen die Privatmeſſe.“ Zu
dieſem ganz gleichen Schlußwort firgt die Firchliche Geographie und Statiftif von
D. €. Frid. Stäudlin I. Thl. ©. 61 ff. noch Hinzu: „Wenn fie auch die geift«
liche Gerichtsbarkeit des Papftes anerkennen, fo richten fie ſich doch nicht in allen
Siücken nach der Vorfchrift diefes oberſten Glaubensrichters.“ Ich ftehe an, ob
ich diefe Unwiffenheit als eine wirfliche bewundern, oder als eine vorgegebene
desavouiren foll, Es wäre mir lieb, zu erfahren, wie es den Verfaffern möglich
geworden, folch’ tiefe Herzensblicke zu thun. Teiche Anfichten Täßt Fuhrmann
in feinem Handwörterbuch II. Bd. ©, 67 f. durchblicken. Wir fünnen daher auch
ihm die obige Anerkennung nicht verſagen. — Seit der Zeit der Vereinigung
| Marszia — Marſilius Ingenuus, 895
haben ſich gelehrte Maroniten alle Mühe gegeben, die Welt glauben zu machen,
die Maroniten hätten fih von Anfang an nur in Unmwefentlihem, in einzelnen
Religionsgebräuchen, von der römifchen Kirche unterfchieden, in Glaubensfachen
aber ſtets mit diefer übereingeftimmt, Joh, Maro fei orthodox gewefen und die
Nachricht des Eutychius fei eine Fabel, Zu den Vertheidigern diefer quellen-
widrigen Behauptung gehört Fauſtus Nayronus in feiner dissert. de orig. et relig.
Maronit. Rom 1679 und in feiner enoplia fidei catholicae, Rom 1694. Simon
Aſſemani ſucht in feiner bibliotheca orientalis Nayrons Anficht zu begründen. Es
gelingt ihm dadurch, daß er die ältern Duellen, die gegen ihn fprechen, verwirft
und bloß die neuern, die aus der Zeit nach der Trennung flammen, benügt hat,
Dieß fein Verfahren Hat Renaudot in feiner histor. patriarch. Alexandr. und noch
mehr Michaelis Lequien dargethan, welch’ Iegterer in einer Abhandlung de eccles.
Maronit. alfe Gegengründe gefammelt und diefelben als einen Theil feinem „oriens
Christianus* angehängt hat, Wir verbleiben ſonach bei der Unterfcheidung älterer
und neuerer Maroniten und erfennen in den erſten die Fortpflanzer der monothe-
Vetifhen Lehre. — Die politifhe Berfaffung der Maroniten ift die eines mili-
tärifchen Freiftaats, der durch alte Gewohnheitsrechte regiert wird. Sie theilen
fih in zwei Claſſen, Scheiks (Erbadel) und Bolf, Die Regierung führen vier
Oberſcheiks, die patriarhalifh herrſchen; aber im Kriege Anführer fein müffen,
Gegen Angriffe von Außen ſchon durch Iocale Verhältniffe gefhüst, nähren fie
fih zwifchen ihren Bergen, indem fie Ader-, Wein, Tabafs- und Baumwollen-
bau treiben. Die Nahrung der Familien in den einzelnen Dörfern ift einfach,
Sie gleihen an Einfalt der Sitten, Mäßigfeit, Gaftfreiheit und Ehrlichkeit den
alten Arabern. Auch gilt unter ihnen noch die Blutrache und zum Zeichen ihres
Adels tragen fie den grünen Turban, ein fonft von den Türfen in Anfpruch ges
nommenes Vorrecht. Aber die Maroniten find zugleich ein ſtets Friegfertiges und
ftreitbares Volk mit einer Macht von 30—40,000 Mann, Alle gehen bewaffnet
und find zur Bertheidigung ihres Eigentums bereit. Sie leben in ihren Gebirgen
frei. Der oben berührte Tribut, deffen Größe nah dem Verhältniß der Ergie-
bigfeit der Ernte jährlich feftgefegt wird, ift das einzige Merkmal ihrer Abhän—
gigfeit, Mit ihren Nachbarn, den Drufen (ſ. d. A), Iebten die Maroniten
bi8 in die neuefte Zeit in den beften Berhältniffen. Sie waren bei kriegeriſchen
Unternefmungen mehrere Male ihre treuen Verbündeten. Diefer Ruhe erfreuten
fie fi fo lange, bis Paſcha und Vicekönig Mehemed Alt durch den Einfluß der
Großmäachte 1840 und die Niederlage bei St, Jean d'Aere zufrieden fein mußte,
Aegypten als Statthalter des Sultan für feine Perfon behalten zu dürfen, Franf-
reich machte eine Ausnahme. Es fagte Mehemed Ali Hilfe zu. Ob die Mächte
Europas und deren Politif an der alsbald folgenden unglüdlichen Zeit der Maro—
niten nicht bIoß eine negative, fondern eine pofitive Schuld tragen, können wir
nicht entfcheiden. Geſchichtlich iſt, daß fchon gegen das Ende des J. 1841 zwi-
hen den Maroniten und Drufen ein Kampf ausbrach, deffen Erbitterung zwifchen
beiden Bölfern noch lange Zeit fortdauern wird, Die Maroniten haben in diefem
blutigen Kampfe fehr viel gelitten, befonders find viele ihrer Klöfter zerſtört
worden. (Vgl. außer den ſchon angeführten Duellen Chr. Wilh. Fried. Walde
Entwurf einer Hiftorie der Kegereien ze. 9. Thl. S. 474. ff.; Schröckh, Kır
hengefihichte 20. Band ©. 452, ff. u. 29. Bd. S. 3705 Pierers Univerfal-
Lericon 18, Bd, S. 462 und Realencyelopädie von Brockhaus 9. Bd. ©. 352,
1846). [Stemmer.]
Marozia, f. Johannes X. m, XL
Marfilius Fieinns, f. Ficinus,
Marjilins Ingenuus, nah Tritenheim englifcher, wahrfcheintich jedoch
teutſcher Abfunft, auf welche Schon fein Beiname (von Inghen) hinzumeifen fcheint,
lehrte um's J. 1370 zu Paris, Bon da wurde er auf die (1336) neugegründete
896 Marfilius Paduanus.
Univerfität zu Heidelberg berufen, deren erfler Rector er war und wo er im
$. 1396 ftarb. Der gemeinen Anfiht nach war er ein Nominalift und Anhänger
DOeeams. Doch foheint er nach den Auszügen, welche Tiedemann und Tenne-
mann aus feinen Schriften geben, derjenigen Richtung der Scholaftifer anzuge=
hören, welche überhaupt feinem der herrfihenden Syfteme beitraten, fondern mehr
eine vermittelnde Stellung einnahmen, — In Beziehung auf die Freiheit des
Willens folgte Marfilius dem Indeterminismus des Duns Scotus und des Decam.
Die Freiheit des Willens feßt er in die Zwanglofigfeit deffelben, vermöge deren ſich
derfelbe ganz aus fich felbft beftimmt, fo daß er gegen die Einficht der Vernunft
und gegen feine Ueberzeugung das Schlechte wählen und das Gute verwerfen
kann. — Marſilius hat mehrere philofophifche Schriften verfaßt, von welchen
übrigens bloß fein Commentar zu den Sentenzen des Lombarden (zu Straßburg)
im Drude erfchienen iſt. Vgl. Schröckh, chriſtl. Kirchengefchichte 30, 4114. f.
Tennemann, Gefchichte der Philofophie 8, 2. 909. ff.
Marjilius, weil aus Padua gebürtig, Patavinus und Paduanus beige-
nannt, war nicht ohne philofophifche und medicinifche KRenntniffe, Hatte aber auf der
Academie zu Drleans vorzugsweife Zurisprudenz ſtudirt. Daß er Franciscaner-
mönch gewefen und auch als Nector der Univerfität Wien vorgeftanden fei, iſt
unrichtig. ALS Leibarzt war er viel in der Nähe des Kaifers, Ludwigs des
Bayers (f. d. A.) und von nicht geringem Einfluffe auf deffen Gefinnungs- und
Handlungsweife. Er war es gerade auch, der im Kampfe Ludwigs mit den Päpften
die Partei des Kaifers ganz Iebhaft ergriff und in Verbindung mit Johann von
Zandün, einem Lehrer der Philofophie und Theologie zu Paris, den Cäſareopapat
zu vertheidigen ſuchte. Dieß erhellt aus feiner Schrift, „defensor pacis“ betitelt,
welche im J. 1324 erfihien und auch bei Goldaſt (Monarchia Roman. Imperü
T. U. p. 154—312. Francof. ad Moen. 1614. fol.) abgedrudt iſt. Die Hauptfäge
find folgende: als Chriſtus von binnen ſchied, ftellte er feinen Stellvertreter, Fein
fichtbares Haupt der Kirche aufz Petrus hat auch nach Feiner Seite hin einen
Borrang vor den übrigen Apofteln, wie auch die Papfte, Biſchöfe und Priefter
(ex institutione Christi) an Würde und Gewalt fi völlig gleich find. Die Stelle
bei Matth. 16, 18, meint Marfilius, fpreche nicht für den Primat, da Chriſtus
unter dem Felfen fich felber nnd das Belenntnif von ihm verftanden habe, und
nah Luc, 22, 26, ausdrücklich gegen eine firchlihe Hierarchie eifere. Da ihm
aber nicht entging, daß Petrus in der alten Kirche als princeps Apostolorum
galt, fo Tegte er fich dieß einfach dadurch zurecht, daß er fagte, es werde dem
Petrus nur infofern ein Prineipat zugefchrieben, als er älter gewefen denn bie
übrigen Apoftel, und vor denfelben die Gottheit Chriſti befannt habe. Wenn
aber auch fpäter die potior principalitas des römifchen Stuhles unverfennbar her-
vortrete, fo fei dieß auf Rechnung Eonftantins des Großen zu fhreiben; dieſer
habe den Primat des römifchen Stuhles begründet und die römischen Biſchöfe
hätten ihre Vorrechte nach und nach zum Schaden der Chriften, befonders der
Fürften uud vorzüglich des römifchen Neichs immer mehr ausgedehnt. Nicht dem
Papfte, noch einem Bifchofe oder Priefter ftehe eine Gerichtsbarkeit über Jemand
zu; das Gericht und die Beftrafung der Ketzer, Schismatifer und Ungläubigen
fei Sache der weltlichen Obrigkeit; nur die weltlichen Fürften haben das Necht,
allgemeine Kirchenverfammlungen zu berufen, die Art der Wahl eines römifchen
Biſchofs vorzufchreiben und über den Elerus überhaupt eine Zwangsgewalt aus-
zuüben; Fein Bifchof oder Priefter dürfe ohne Genehmigung des weltlichen Fürften
die Ercommunication oder das Interdiet verhängen. Bei Olaubensftreitigkeiten
oder einem andern Bedürfniſſe der Gläubigen fönne der römifche Bifchof, nad
vorausgegangener Beratbfchlagung mit feinem Clerus, von dem höchften Negen-
ten das Ausfchreiben einer Kirchenverfammlung beantragen, auf derfelben dem
Borfig führen, und nur in völliger Uebereinſtimmung mit ihr und unter ihrem An=
Martell — Martene, 897
ſehen, ihre Beſchlüſſe abfaſſen und zur Vollſtreckung bringen, für ſich allein aber
babe der römiſche Biſchof Fein entſcheidendes oder bindendes Urtheil in Glaubeng-
ſachen, und daher ſei auch die Bulle „Unam sanctam“ falſch, irrig, und allen
Menfchen fo ſchädlich, als fich nur denken Taffe (eunctis eiviliter viventibus prae-
judieialissimam omnium excogibilium falsorum), Der Papft darf feine Heilig-
ſprechung vornehmen, die Kirche ſoll keine zeitlichen Güter befigen, nur eine all
gemeine Synode oder die weltlichen Fürften dürfen Faſt- und Feiertage einfegen,
Veßteren fommt e8 auch zu, über Würdigfeit und Fähigkeit der zu Ordinirenden
zu entfcheiden, die Anzahl der Kirchen und der Elerifer an denfelben zu beſtim⸗
men, bei den durch ein menfchliches Geſetz unterfagten Ehen zu difpenfiren ꝛc.
Es konnte nicht fehlen, das Papft Johann XXI. (f. d. A.) diefe Schrift verwarf
und über deren Berfaffer das Anathem ausſprach 13275 er ließ fich auch auf eine
Wiverlegung der fraglichen Jrrthümer ein (efr. Raynald. ad ann. 1327 nr. 27),
und mehrere Bifchöfe thaten daffelbe. Bei Gplvaft finden ſich noch weitere Trac-
tate von Marfilius, fo de jurisdictione imperiali in causis matrimonialibus, it. de
translatione imperii etc. Geift und Richtung ift auch Hier diefelbe wie im „de-
fensor pacis“. Marfilius farb im J. 1328, Bgl, Goldaſt J.c. Schröckh,
Kirchengefhichte Thl. 31, ©, 79. ff. Natal. Alex. hist. ecel. saec. 13 et 14.
Cave. [örig.]
Martell, |, Cart.
Martene, Edmund, ein gelehrter Benedictiner und einer der fleißigften
Schriftſteller der Congregation von St. Maurus, wurde zu St. Jean de Losne,
einem nicht weit von der Hauptftadt Burgunds Dijon gelegenen Städtchen den
22, December 1654 geboren, Seine Familie gehörte zu den angefeheneren in
Burgund, und zählte unter ihre Mitglieder mehrere Parlamentsräthe, die bereit
waren, für das Fortfommen ihres jungen Anverwandten im Staatsdienfte zu for-
gen, wenn ihn nicht Neigung und frommer Sinn zum Flöfterlihen Stande gezo-
gen hätten. Er trat noch nicht 18 Fahre alt in der Abtei Saint Nemi zu Rheims
in den Drden des HI. Benediet und verband firh durch Ablegung der feierlichen
Gelübde den 8. September 1672 der berühmten Congregation des hl. Maurus,
Da er fich fogleich durch ungemeinen Fleiß und große Liebe zu den Wiffenfchaften
auszeichnete, riefen ihn feine Dbern nah Paris in die Abtei Saint Germain
des Pres, um theils bei der Ausgabe der Kirchenväter behilflich zu fein, theilg
unter d'Achery's und Mabillons Leitung in den Wiffenfchaften fortzuftreben.
Bon nun an widmete er fein ganzes Leben gelehrten Forfchungen und befonders
hiftorifhen und liturgiſchen Studien, lebte in verfchiedenen Klöftern feines Drdeng,
einige Zeit auch in der Abtei Bonnenouvelle zu Rouen, wo er mit dem Prior
Divnys von Sainte Marthe die Werfe Gregors des Großen zur Her-
ausgabe vorbereitete, und brachte viele Jahre feines Lebens auf Neifen zu, die
er im Auftrage feiner Eongregation und im Dienfte der Wiffenfchaft unternahm,
So erhielt er im J. 1708 vom Generalcapitel den Auftrag, die Archive aller
Eathedralfirchen und Abteien in Franfreih zu durchforfchen und alle Documente
zu fammeln, welche zur Vervollſtändigung der Gallia Christiana, deren neue Aus—
gabe D, von Sainte Marthe übernommen hatte, dienlich fein könnten. Diefe
Reife, welche er in Gefellfchaft feines Ordensbruders Urfinus Durand machte,
dauerte ſechs Jahre, und mehr als 2000 Doeumente zur Gallia Christiana und
jene Menge der intereffanteften Handfihriften und Gefhichtsquellen, welche beide
Benedictiner gemeinfchaftlih al$ Thesaurus novus Anecdotorum herausgaben,
waren bie Früchte diefer wiffenfchaftlihen Reife durd ganz Frankreich, Bald
fand fig Gelegenheit zu einer neuen Neife. Als nämlich im J. 1717 der fran-
zöffhe Kanzler Agueffeau zu einer Sammlung der Gefchichtfchreiber Franf-
reichs aufforderte, zeigte fich die Congregation von St. Maur bereit, diefer Auf-
forderung Genüge zu Jeiflen, und beftimmte ihre beiden Mitglieder Martene und
Kirchenlexilon. 6. Vd. 57
898 Martianay.
Durand als die dazu tauglichften Männer, auf Koften ver Eongregation die Nieder-
ande und Teutfchland zu durchreiſen, und alle Documente aufzufuchen, die für
Frankreichs Gefhihte wichtig in einer Sammlung der Gefchichtfchreiber dieſes
Landes aufgenommen werden könnten. Sie begannen ihre Reife im J. 1718
und die große Sammlung alter Hiftorifcher und dogmatifher Schriften, die fie in
den Jahren 1724—33 veröffentlichten, ift das reihe Ergebniß ihrer gemeinfchaft-
lichen Forſchung. Nachdem die Herausgabe diefes Sammelwerkes vollendet war,
durcharbeitete und vermehrte Martene feine frühern Werfe über die alten Kirchen-
gebräuche, dann übernahm er die in Mabillons, Ruinarts und Maffuets
Nachlaffe vorhandenen Materialien zur Gefhichte des Benedietinerordens, und
gab den fechsten Band der Annales Ordinis S. Benedicti (Paris 1739) heraus,
Sp lebte Martene ununterbrochen mit Fiterarifchen Arbeiten befchäftigt, beidenen
ihn plöglich der Tod überraſchte. Er flarb in Folge eines Schlagfluffes den
20. Zuni 1739, Martene war ein fleißiger Sammler , ein gelehrter Gejchichts-
forfcher, ein ausgezeichneter Kenner der alten Liturgie, aber auch ein frommer
Mönch, der bei allen feinen gelehrten Befchäftigungen und auf. feinen vielen
Reifen nie feine Pflichten ald Drdensmann vernachläffigte, nie feine Gebete ver-
fäumte, nie Benediets heilige Regel außer Acht lief. — Martene’s fämmt-
lihe Schriften mit Ausnahme einiger kleinen Abhandlungen und den in den
%. 1717 und 1724 gedruckten beiden Neifeberichten, find: Commentarius-in re-
gulam S. P. Benedicti literalis, moralis et historicus. Paris 1690 in 4., nach Cal-
mets Urtheil die befte Sammlung alles deffen, was über Benediets Regel ge—
fohrieben wurde. — De antiquis Monachorum ritibus libri V., colleoti ex manu-
seriptis et probatis auctoribus. Lugduni 1690. 2 Bde, in 4. — La Vie du vene-
rable P. Dom Claude Martin, Benedictin de la CGongr. de S. Maur. Tours 1697.
in 8. — Veterum scriptorum ei monumentorum moralium, historicorum et dogma-
ticorum Gollectio nova. Rotomagi 1700. in 4 — De antiquis Ecelesiae ritibus
libri IV, collecti ex libris Pontificalibus, Sacramentariis, Breviariis, Ritualibus etc,
Rotomagi 1700—1702. 3 Bde. in 4. Zweite von Martene felbft fehr vermehrte
Ausgabe Antverpiae 1736— 38. 4 Bde, in 4, — Tractatus de antiqua Ecclesiae
disciplina in divinis celebrandis officiis. Lugduni 1706. in 4. — Thesaurus novus
Anecdotorum. Paris 1717. 5 Bde. in Fol. Diefes Werk, welches Martene mit
Durand gemeinfchaftlich herausgab, reiht fih würdig an d'Achery's Spicilegium
und Mabillons Analecta vetera (f, die Art. Dacherius uns Mabillon), —
Veterum scriplorum et monumentorum historicorum, dogmaticorum ‚et moralium
amplissima Gollectio. Paris 1724 — 33: 9:Bde, in Fol, (gleichfalls gemein-
fchaftlich mit Urfinus Durand). — Auch fhrieb Martene in franzöfifcher Sprache
die Gefhichte der Congregation von St. Maur bis zu feinem Sterbe-
jahre 1739, welche Jacob Fortet bis 1747 fortfegte, und. die ald Manufeript
in drei Foliobänden in der Bibliothek von St. Germain des Pres aufbewahrt
wurde, Vgl. Taffins Gelehrtengefshichte der Congregation von. St. Maur,
2, Band, [Sebad,]
Martianay, Jean, ein gelehrter Benedictinermönd der Congregation von
St, Maurus, geboren den 30. December 1647 zu St. Sever-Cap., Schon frühe
fand er Gefallen an dem Ordensleben, wurde auch mit zwanzig Jahren Noviz
im Klofter la Daurade zu Touloufe und legte dafelbft den 5. Auguft 1668 feine
Gelübde ab. Mit unermüdetem Fleiße legte er fich auf das Studium der vrien-
talifchen Sprachen und der Bibelfunde, hielt auch bald in den Klöftern zu Monte
majour, St. Andrei zu Avignon, zum hl. Kreuz in Bordeaur und zu Graſſe im
Kirchenfprengel von Carcaffonne linguiſtiſche und eregetifche Borlefungen zur großen
Zufriedenpeit feiner Zuhörer. Schon hiedurch, beſonders aber durch feine Ver-
theidigung des hebräifchen Tertes und der Chronologie der Vulgata gegenüber
dem Buche L’antiquit6 des tems retablie par le Pre Pezron, Abbe de la Charmoyo
Martianay, 899
de V’Ordre de Citeaux zog er bie. Aufmerffamfeit feiner Oberen auf ſich; dieſe
beriefen ihn jetzt nach Paris und beauftragten ihn mit einer neuen Edition der
Werke des HI. Hieronymus, Bon nun an entwicelte er bis zu feinem Tode —
er flarb an einem Schlagfluffe in der Abtei St, Germain des Pres den 16, Juni
1717 — eine fehr großartige fchriftftellerifche Thätigkeit, hatte aber dabei manchen
Strauß zu beftehen mit Pezron, Richard Simon, Elericus, Paftel 2r.; war er
im Umgang die Freundlichkeit felber, fo herrfcht dagegen in feinen Schriften ein
ſehr biffiger, abfprechender Ton; feine literariſche Animofität brachte ihn fo weit,
daß er die gerechteften Ausftellungen feiner Gegner , denen es freilich. an Leiden-
ſchaftlichkeit auch nicht fehlte, nicht gelten Iaffen wollte, und die wohlgemeinteften
Erinnerungen von Freunden fehr empfindlich aufnahm. Noch im 3.1690 erſchien
eine Schrift in 4, : „Divi Hieronymi Prodromus, sive epistola D. Joannis Martianay
ad omnes viros doctos ae studiosos, eum epistola sancti Hieronymi ad Sunniam
ei Fretelam, castigata ad Mss. codices oplimae notae cum mulliplici observationum
genere illustrata,“ worin er die Nothwendigfeit einer verbefferten Edition des
hl. Hieronymus darthut. Sein Hauptwerk ift eben diefe neue Ausgabe, welde
zu Paris in den J. 1693 — 1706 in 5 Foliobänden erſchien (f. d. Art. Hiero-
nymus). Die Berfaffer des Journal des Savans urtheilen darüber alfp: „die
gelehrie Welt hat gewiß dem Eifer des P. Martianay und feiner Liebe zur Ar-
beit viel zu danfen. Damit die Werfe des hl. Hieronymus mit gutem Erfolg an’g
Licht gebracht würden, mußte der Herausgeber diefem großen Heiligen einiger-
maßen gleichen; er mußte fo gefchieft fein als der P. Martianay in der hl. Schrift,
in den geiftlihen und weltlichen Altertfümern, und in den drei Sprachen, welde
Hieronymus inne hatte,“ In dem eben berührten Journal befinden fich auch
mehrere Briefe gelehrten, verfchievenen Inhalts von Martianay, auf die wir aber
bier nicht näher eingehen fünnenz dagegen ift noch anzuführen : Vulgata antiqua latina
et Ilala versio Evangelii secundum Matthaeum, e vetustissimis eruta monumentis,
illustrata prolegomenis ac notis, nuncque primum edita studio el labore D. J. Mar-
tianay. Paris 1695 in 12. Die angezogene Ueberfegung ift die von Hieronymus
in der lateinifchen Kirche übliche. Martianay fpricht in den Prolegomenen von den
Namen diefer Ueberfegung, ihren Verfaffern, der Inhaltsanzeige, welche die Alten
zu Anfang eines jeden Buches der hl. Schrift fegten, und den Vortheilen , die
aus derfelben gezogen werben fünnen. Trait& möthodique, ou maniere d’expliquer
VEeriture par le secours de trois Syntaxes, la Propre, la Figur&e et ’Harmonique.
Paris 1704 in 12. Und: Methode sacrde pour apprendre a expliquer l’Ecriture
Sainfe par ’Ecriture möme, contenant une infinit& de concordances nouvelles eto,
Paris 1716 in 8. In diefen zwei Schriften gibt Martianay eine Art biblifcher
Hermeneutif; vor Allem habe man fich in der Exegeſe zu halten an die Kirchen-
väter und Eoneifien, nicht aber an die Grundfäge der verbiendeten Juden und
folgen Proteftanten ; dann an den Literal- oder bushftäblihen Sinn, und erft
wenn biefer nicht befriedige, dürfe zum: uneigentlichen oder methaphorifchen ge—
griffen werden; in der dritten Syntar flellt er Regeln auf, nach welchen der
fheinbare Widerfpruch des alten und neuen Teftaments gelöst werden müffe; am
beften erkläre fich die hl. Schrift durch fich felber , durch Parallelftellen ze, La
vie de saint Jeröme, Prötre, Solitaire et Docteur de l’Eglise, tirée particulierement
de ses ecrits. Paris 1706 in 4. In 10 Büchern befpricht hier Martianay die
Geburt, Erziehung und Taufe des HI. Hieronymus, feine Studien und Streitig-
Zeiten, die derfelbe mit Rufin und dem hl. Auguftin gehabt. Remarques sur la
version italique de l’Evangile de saint Matthieu, qu’on a decouvert dans des. forts
anciens manuserits, Par. 1695 in 12. Die Uebereinſtimmung der italienischen Ueber-
fegung des Matth. Evangeliums, die nach den beiden Handfcpriften der Congre—
gation von St, Maurus abgedruckt worden, mit derjenigen, deren ſich die Väter
der vier erftien Jahrhunderte der Kirche bedient haben, wird * aqhgewieſen.
900 Martinvon Duma.
Harmonie analyfique de plusieurs sens caches, et rapports inconnus de l’ancien
et du nouveau Testament, avec une explication literale de quelques pseaumes et
le plan d’une nouvelle &dition de la Bible latine. Paris 1708 in 12. Martianay
theilt das Reſultat feiner Forſchungen über die Bibel mit; der Plan aber, eine
Art von Polyglotte herauszugeben, Fam nicht mehr zur Ausführung. Vgl. Ne-
natus Prosper Taſſin's, Gelehrtengefchichte der Congregation von St. Maurz
aus dem Franzöf. in's Teutfche überfegt, Bd. I. ©. 596 — 620, Schröckh,
chriſtl. KRirchengefchichte feit ver Reform, Thl. 7. Biographie universelle tom. 27.
p. 287. sqq. Biblioth. eritique de Lecerf. [&rig.]
Martin von Duma, der heilige, Erzbifchof von Braga, in Pannonien,
dem PVaterlande Martins von Tours geboren, ein Apoftel der fpanifchen Kirche
im fechsten Jahrhundert, hatte fich nach Paläſtina zur Befuchung der Hl, Orte
begeben und war dafelbft ein Mönch geworden , als er bier, etwa auf Zureden
einiger fpanifcher Pilger, ven Entfchluß faßte, nach Galläcia in Spanien zu reifen,
um die arianifchen Sueven, welche unter dem Fürften Hermerich 411 bier ſich
ein Reich gebildet hatten, zur Fatholifchen Kirche zu befehren, Bei ihrem Einfall in
Spanien waren fie Heiden; doch war ihr König Rech iar (+ 456) Fatholifch,
aber ihr König Nemismund, geft. nach 469, trat mit feinem Volle i. 3. 465
zum Arianismus über, Im Arianismus verharrten nun die Sueven bis auf die
Zeit ihres Königs Rararich CH 559), der um 550 mit feinem Bolfe zur Fatho-
liſchen Kirche fich befehrte, wozu unfer Martin von Duma nicht wenig beitrug.
Unter Kararichs Negierung nämlich herrſchte eine anſteckende Krankheit, von der
felbft der Sohn des Königs an den Nand des Grabes gebracht wurde, Jener
Martin, fragte nun Kararich, der in Gallien fo viele Wunder wirken foll, weſſen
Glaubens war er? Er war katholiſch, Tautete die Antwort. Begebt euch ſchnell,
erwiederte der König, mit Gefchenfen an die Grabftätte diefes Heiligen, und
wird mein Sohn gefund, fo werde ich den Fatholifchen Glauben prüfen und an—
nehmen, „Pensato ergo auro argentoque ad filii pondus“, ging die Legation ab,
opferte und betete am Grabe Martins, allein der kranke Sohn genaf nicht. Fest
errichtete der König dem Heiligen zu Ehren eine ſchöne Kirche und erklärte, Alles
glauben zu wollen, was die Priefter predigen, wenn er gewürdiget würbe, Neli-
quien des Heiligen zu erhalten. Eine neue Legation geht wieder ab, unter Pfal-
mengefang werden die Reliquien erhoben und den Abgefandten übergeben. Merk—
würdig fügte es nun die Fürfehung fo, daß gleichzeitig mit den Reliquien auch
der Diener Gottes Martin von Duma im Hafen Galläcias anlangte. Mit
größter Andacht wurden die Reliquien aufgenommen, der Sohn Kararihs ward
gefund, Kararich und fein ganzes Haus wurden katholiſch, und auch das ganze
Volk nahm den Fatholifhen Glauben an. Martin von Duma hatte bei diefer
Bekehrung der Sueven einen großen Antheil, indem er die Sueven im Fatholifchen
Glauben unterrichtete, zu dem fie durch das auf Fürbitte des Hl. Martin v. Tours
gewirfte Wunder beftens disponirt waren (f. Greg. Tur. mirac. s. Mart. I. 11%
Kararihs Nachfolger und Sohn Theodom ir (al. Ariamir, Mir) begünftigte die
Fortfegung und Befeftigung des Bekehrungswerks, wie er auch, wahrfcheinlich
noch zu Lebzeiten des Vaters, unferm Martin ven Ort Duma nahe bei Braga
zur Errichtung eines Klofters fchenfte, das bald zu einem Bisthum erhoben wurde,
dem als erfter Bifchof unfer Martin vorſtund. Im J. 563 warb auf einer nach
Braga berufenen Rirchenverfammlung das Fatholifche Glaubensbefenntnif von der
fämmtlihen Geiftlichfeit der Sueven abgelegt und eine neue Kirchenzucht einge»
führt: auf diefem Coneil war auch Martin anwefend und hatte großen Theil am
ben neuen kirchlichen Einrichtungen, Er flarb als Metropolit von Braga dem
20, März 580 und hinterließ mehrere Schriften. ©. Greg. Tur. 1. eit.; Isidor.
Hispal. 1. de vir. illust. c. 35; Bolland.'ad 20. Marti; $errera u, Lembke, Gef,
von Spanien, und den Artifel: Capitula episcoporum, [Schrödf.]
Martin L—IL, Päpfte 901
Martin L—V.; Päpſte. Martin J., Nahfolger des Papſtes Theodor,
zu Todi in Tuseien geboren, von feinen Vorgängern im Pontificat mit Legatio—
nen nach Conftantinopel betraut, wurde im Juli 649 zum Papft gewählt, Gegen
ben Monothelitismus hielt er im Detober 649 die berühmte Synode im Lateran,
worin er mit den verfammelten 105 Bifchöfen die genannte Ketzerei fammt ihren
Urbebern und die Eetheſis und den Typus verdammte, ohne jedoch weder den
Kaiſer Heraclius (ſ. d. A.) noch den Kaifer Eonftans II. mit einer Cenfur zu be—
laden, Die Acten fammt dem fhönen Synodalfchreiben ver Synode an alle Gläu—
bigen machte der Papft im Abendlande und im Morgenlande befannt, und die
Beſchlüſſe diefer Synode wurden allenthalben von den Katholiſchen wie Befchlüffe
eines deumenifchen Coneils verehrt, wie auch die Päpfte felbft, und zwar noch nach
der fechsten allgemeinen Rirchenverfammlung, in der professio fidei, welche fie bei
ihrer Erhebung auf den apoftolifchen Stuhl an die Hauptfirchen zu fenden pfleg»
ten, nebft den beumeniſchen Synoden auch der Synode des Papftes Martin ge—
daten und deren Deerete zu beobachten verfprachen. An Kaiſer Eonftans IL
(. d. 9.) ſchrieb Martin fammt der Synode eigens einen höflihen Brief, worin
er ihn zwar zur Treue an den orthodoxen Glauben mahnt, aber e$ vermeidet,
ihm die Urbeberfchaft des Typus zuzulegen, Allein Raifer Conftanz, umgarnt vom
den monothelitiichen Prälaten, beleidigt von der Nepugnanz des Papftes gegen
feinen Cäfareopapismus (f. d. A.) und nad alter Sitte feiner Borfahrer gewohnt,
die orientalifchen Bifchöfe wie elende Selaven zu behandeln, antwortete dem
Papfte dadurch, daß er ihn im Juni 653 durch den Erarchen Kalliopas gefangen
nehmen ließ. Der franfe Papft wurde auf ein Schiff gefchleppt, das gefliffentlich
recht langfam die Fahrt nah Griechenland machte, zu Naros überwinterte und
erft nach einem vollen Jahre, am 17. September 654, zu Conſtantinopel landete.
Biele fromme Seelen braten dem Papfte unterwegs Gefchenfe dar, die aber die
Wächter deffelben an fih riffen. Indeß wurde in Rom, aus Furcht der Kaiſer
möchte einen monothelitifch gefinnten Papft eindrängen, Eugenius I. zum Papfte
erwählt, was die betrübte Lage des Papftes wohl auch nicht Iinderte, aber von
ihm, als er es fpäter erfuhr, doch hingenommen wurde, Zu Conftantinopel gab
man den Angefommenen einen Tag lang am Ufer dem Hohne des Pöbels Preis,
ließ ihn 93 Tage hilflos im Kerfer ſchmachten und ftellte ihn dann 19, Dec, 654
vor Gericht. Zwei Soldaten müffen den Franken Papft fügen, damit er ſtehend
die Anflagen höre; diefe Tauteten, aus dem Munde erfaufter Zeugen, auf Hoch—
verrath an dem Kaifer und Einverftändniß mit den Mohammedanern in Africa,
denen er Waffen und Gelder zugeſchickt habe! Mit ruhiger, edler Würde wies
Martin diefe Anklagen von fih ab, aber es half nichts; Martin wurde für abge-
fegt und des Todes fchuldig erklärt, in Gegenwart des zufehenden Kaifers von
Henfern feiner Pontificatsfleider beraubt, in Ketten und mit einem Eifenring um
den Hals durch die Straßen der Stadt gefchleppt und wenn er nicht hingerichtet
wurde, fo gefchah die nur, weil der durch die Mißhandlung des Papftes erregte
allgemeine Bolfsunwille zu fürchten war. Indeß war es doch aufden Tod, wenn
au einen etwas Iangfameren, des Papftes abgefehen; man ſchleppte ihn wieder
in. den Kerfer und dann in die Verbannung nach Cherfon, wo er am 15, Mai
655 anlangte und am 16. September deffelben Jahres in großem Efende ftarbz
nicht einmal, wie er fi kurz vor feinem Tode in rührenden Briefen aus Cherfon
beflagt, die Römer trügen für feinen Lebensunterhalt Sorge und er wilfe nicht,
ob dieß aus Haß oder Furcht geſchehe. Wohl mag Lesteres der Fall gewefen
fein oder die Faiferlichen Beauffihtiger des Papftes ließen ihm feine Unterflügung
zufommen. Der Leib des hl. Martyrers wurde Anfangs bei Cherfon begraben,
dann nah Konftantinopel und von da nach Nom gebracht. Die Griechen feiern
das Gedachtniß diefes Heiligen vorzüglih am 16. September, die Lateiner begehen
e8 am 12, November, Eine beträchtliche Anzahl von Briefen vol apoftolifhen
902 Martin IL—V., Päpfte.
Geiftes bildet den ſchönen Nachlaß von Schriften, die wir von dem hl. Papft
befigen. ©. die Acta Conc. bei Manfi; lib. Pontifiealis; Pagi Brev. R. Pont.;
Conatus chronicohist. ad Catalog. Pont. 9. Papebroch ; Damberger, ſynchron. Gefch,
d. Mittelalters Bd. H., und ganz befonders Anastasii bibl. Collectanea in Sir-
monde opp. Venedig 1727 t. II. — Martin IE. (Mearinus 1.) regierte die Kirche
von 882 — 884, Seine Tüchtigfeit erhellt daraus, daß die Papfte Nicolaus L,
Hadrian I. und Johann VII. ſich feiner als Legaten zu Eonftantinopel in der An-
gelegenheit des Patriarchen Photius bevienten, Wenn es, was jedoch nicht außer
Zweifel fteht, wahr ift, daß Marinus ſchon vor feiner Erhebung auf den päpftlichen
Stuhl Biſchof gewefen fei, fo ift er der erfte, welcher fhon als Bifchof zur paͤpſtlichen
Würde gelangte, Den Photius ereommunieirte er, dagegen löste er den von Papft
Sohann VII. gebannten Bischof Formofus von Porto von der Ercommunieation,
Dem Erzbifchof Fuleo von Rheims überfendete er das Pallium, dem König Alfred
von England ein Stüdf vom HI, Kreuze, S. Papebroch. conat. chronol. hist. ad
catal. P. u, Pagi Brev. R. P. — Martin II. (Marinus II.) von 943 — 946,
Pagi führt mehrere Privilegien an, welche diefer Papft Klöftern verlieh, Gewiß
gehörte Martin II. zu den unbefholtenen Päpften des 10ten Jahrh. — Mar-
tin IV., gebürtig zu Brie in Touraine, von niedriger Herkunft, von Papft Ur—
ban IV. zum Cardinal creirt, bewies fchon als Legat des Papftes Nicolaus II,
daß der Hofgeift mehr in ihm wohne als der HL. Geift, Zum Papft gewählt im
J. 1281 weniger von den Cardinälen als von Carl von Anjou (f. d. U), der
einen ihm gewogenen Papft franzöfifcher Abfunft für feine Zwecke brauchte, war
Martin ein gefügiges Werkzeug der Politit und Tyrannei Carld und des fran-
zoͤſiſchen Hofes und konnte ſich, wenn er auch hin und wieder gewollt haben mag,
‚aus diefen Schlingen nicht befreien, MitRecht bemerft Dölfinger über Martin IV.
and damit flimmt auch der Sache nah Damberger (Geſchichte des Mittelalters
Bd. VII. S, 317—431) überein: „Bon diefer unglüdlichen Wahl (Martins IV.)
ift nachher alles Unheil, das über den päpftlichen Stuhl gefommen, der Verfall
und die Erniedrigung deffelben ausgegangen, und franzöfifche Gunft, Politik
und Tyrannei hat von da an der Würde und dem Anfehen dieſes Stuhls tiefere
Wunden gefchlagen als je die trogige Ferndfchaft der Hohenſtaufen“ — „der
erfte unter den Päpften gab er fich jener engherzigen und Furzfichtigen Politik Hin,
welche nur für das Bedürfniß des Augenblicks forgt und ohne Wahl jedes Mittel zu
deffen Befriedigung ergreift, unbefümmert um die entfernteren Folgen,” Ein Selave
Earls, machte er ihn zum Senator Noms, überließ ihm und den Franzofen, fo
weit es an ihm war, die Herrfchaft, entzündete dadurch von Neuem den Kampf
zwifchen Guelfen und Gibellinen, Tieß fich in Folge der fogenannten fieilianifchen
Befper noch mehr in die eines allgemeinen Vaters der Chriftenheit unwürdige
Stellung eines Parteigängers der Franzofen hineinzwängen (ſiehe das herrliche
Begenbild in Papft Pius VIL!), verfehwendete die Cenfuren und firchlichen Zehn-
ten und Abgaben im franzöfifchen Intereffe, und untergrub auf diefe Weife die
Achtung des apoftolifchen Stuhles im Abendlande; und fo wirkte er anbererfeits
durch feine feindfelige Stellung zu Kaifer Michael Paläologus auch mehr gegen
als für die Aufrechthaltung der zu Lyon 1276 bewerfftelligten Vereinigung zwi-
fhen der griechifchen und Tateinifchen Kirche, Er flarb zu Perugia 1285. Bol.
Rayn. Annal. 1281 —1285; Muratori Script. t. II. p. II; Pagi Brev. R. P. —
Martin V. (Cardinal Otto Colonna, geb. zu Nom). Weber deffen Wahl und
Wirffamfeit in der Synode zu Conftanz |. den Artikel: Conftanzer Coneil, Nah
beendigter Synode ging Martin nach Jtalien und ftelfte den Kirchenftaat wieder
ber, der während des Schisma’s größtentheils in fremde Hände gefommen war.
Der zu Conftanz gegebenen Verheißung gemäß ſchrieb er 1423 die allgemeine
Synode nach Pavia aus, die bald nah Siena verlegt und vom Papfte wieder
aufgelöst wurde, um fpäter zu Baſel erdffnet zu werden, worüber der Art, Ba-
Martin von Dunin — Martin son Tours, 903
ſeler Eoneil nachzulefen ift. Martin farb 1431 in der Nacht vom 19, auf den
20. Februar. Bol, Muratori, Script. II. p. I; eo, Gef, v. Italien Bd. IV;
Pagi, Brev. R. P. [Schrödl. J
Martin von Dunin, ſ. Dunin,
Martin von Tours, der hochberühmte Heilige Bifchof, wurde zwi—
ſchen 316— 317 zu Sabaria in Pannonien (f. d. Art. Oran, S. 661) geboren. Sein
Bater war ein Soldat, der fich von der unterften Stufe des Kriegsdienftes zum Tribun
emporgefhwungen hatte. Noch als zartes Kind kam Martin mit feinen Eltern nad
Pavia in Ztalien und erhielt dafelbft feine Erziehung. Obgleich feine Eltern heidniſch
waren, fo ließ er fich doch fhon in einem Alter von zehn Jahren unter die Katechu⸗
menen aufnehmen, Dieß war die Schule, in der er lernte, gelehrte Studien machte
er nicht, dennoch zeigte er in der Folge eine Beredtfamfeit, welcher es, abgefehen
von dem höhern Lichte und Geiſte, wovon fie durchdrungen war, an Schönheit,
Reinheit und Erudition nicht gebrach. Es entfland in ihm die lebhafte Begierbe,
fih in die Einfamkeit zurüdzuziehen, aber er mußte diefes Vorhaben aufgeben
und, erft 15 Jahre alt, in die römifche Neiterei eintreten. Römiſche Soldaten
hatte e8 genug gegeben, welde für Chriſtus während der Berfolgungen zu fterben
gewußt; diefen nacheifernd lebte er auch ald Soldat für Chriftus und trug unter
dem Panzer ein mitleidsoolles Herz für die Armen, Zeugniß davon gibt unter
Anderm das weltberühmte Factum, wie er einft, noch im Stande der Katechu—
menen, einem von Kälte zitternden halbnackten Bettler, der ihn an dem Thore
der Stadt Amiens um Almofen angerufen hatte, die Hälfte feines Mantels fchenfte,
worauf ihm in der folgenden Nacht der Heiland erfchien, angethan mit der Hälfte
des Mantels, den er dem Bettler gegeben hatte, und zu der ihn umgebenden
Engelſchaar fprechend: „Martin, noch Katechumen, Hat mich mit dieſem Gewande
bekleidet!“ An der Stelle, wo Martin diefes Liebeswerf vollbrachte, wurde nach—
her eine Capelle gebaut, Im 18, Jahr feines Alters empfing er die Taufe, Nach
der Taufe blieb er noch zwei Jahre im Kriegsdienſt, auf feinen Hanptmann war-
tend, der nach diefer Frift ſich mit ihm zurüdzuziehen verfprochen hatte, und
erhielt fodann den verlangten Abſchied. — Nachdem Martin die Waffen abgelegt,
zog er fih, wie Sulpitius Severus erzählt, nach Poitiers zu dem hl. Hilarius
zurück. Verhält fih nun dieß wirklich fo, fo gefchah es zur Zeit, da Hilarius
noch ein Laie war, was aber nicht zum Contert paßt, indem Sulpitius weiter
erzählt, Hilarius habe den Martin für feine Kirche behalten und zum Diacon
weihen wollen, Martin aber dazu nicht bewogen werden können und fich nur zum
Eroreiften weihen laſſen. Wahrfcheinlicher möchte wohl die Annahme fein, Sul-
pitius habe mehrere Jahre, die zwifchen dem Abfchied Martins vom Militär-
dienfte bis zu deffen Reife nach Poitiers Tagen, mit Stillſchweigen übergangen,
Sei dem wie ihm wolle, Martin unternahm kurz nach feiner Ordination zum
Exoreiſten eine Reife nah Pannonien, wohin feine Eltern zurücfgefehrt waren,
um diefe, die noch dem Heidenthum anhingen, zur chriſtlichen Religion zu be—
fehren. Als er durch die Alpen zug, machte er auf einen Räuber, der fchon im
Begriff fand, ihn zu tödten, durch feine ruhige Zuverficht auf Gott und dur
die Bemerkung, nicht für ihn, fondern für fie (die Räuber) fei Alles zu befürchten,
weil fie fich der göttlichen Barmherzigkeit unwürdig machten, einen foldhen Ein-
druck, daß er ſich befehrte und in einem Kloſter ein bußfertiges Leben führte,
In Pannonien hatte Martin zwar nicht die Freude, feinen Vater befehren zu fün-
nen, aber defto beffer gelang es ihm mit feiner Mutter und vielen Andern, Hier,
wo der Arianismus wie in feinem Neiche thronte, erwarb er fich auch zuerft den
Titel eines Bekenners, indem er für das Bekenntniß der Gottheit Jeſu Chrifti
mit Ruthen gefhlagen und vertrieben wurde, Er wollte nun, feinem Verfprechen
gemäß, nach Poitiers zu Hilarius zurückkehren, allein auf die Nachricht von deffen
Verbannung ging er nah Mailand und von da durch den arianifchen Biſchof
904 Martin von Tours,
Aurentius (ſ. d. Art. Mailand, Erzbistum) vertrieben, zog er fih auf die
verlaffene Heine Infel Gallinaria bei Genua zurüdf und führte hier einige Zeit
mit einem Priefter ein ftrenges Einfievlerleben. Als endlich Hilarius im J. 360
die Erlaubuiß erhielt, in feine Didcefe zurüczufehren, reiste ihm Martin nach
Rom entgegen, und als er ihn hier nicht mehr traf, folgte er ihm nach Poitierg,
Sowie die Einfamfeit von Jugend an Martins Wonne bildete, fo errichtete er
nun, von Hilarius mit einem Fleinen Stück Land beſchenkt, zwei Stunden von
Poitierd das Klofter Liguge (Locociagense), das erfte Klofter in Gallien und
eines der älteften im ganzen Abendlande. Hier war e8 auch, wo er einen Kate—
chumenen vom Tode erwecte, das erfte feiner vielen Wunder, die feinen Ruhm
im ganzen Oceidente und Driente verbreiteten und über die ung fein intimfter
Freund und treuer Biograph Sulpitius Severus, der von einem Theile derfelben
felbft Augenzeuge war, unter der wiederholten Verſicherung, nur Wahres zu er-
zählen, berichtet, dabei unter Anderm bemerfend, Martin habe ihm öfter gejagt,
er babe als Bifchof Feine fo mächtige Gnade zu Werfen diefer Art in fich gefühlt,
wie er fie vor dem Episcopat gehabt habe. — Zwifchen 371— 372 ftarb Lido—
riug, der zweite Bifchof von Tours, der von 333 bis 371 — 72 Bifhof diefer
Stadt gewefen war und den Gatianus, erften Bifchof von Tours, von Nom ber
gefommen, zum Vorgänger gehabt hatte, Zum neuen Bifchof wünſchten fi die
Tourpnenfer Niemand Andern ald Martin, aber wie ihn aus feiner Zelle loden,
die er fo ungerne verließ? Ein Bürger von Tours bat ihn zu feiner mit dem
Tode ringenden Frau, doch kaum hatte Martin ven Fuß über die Schwelle des
Kloſters gefegt, als die im Hinterhalt verborgenen Schaaren von Bürgern aus
Tours ſich feiner Perfon bemächtigten und ihn nach Tours braten, Hier war
ganz Tours, die Umgegend und die benachbarten Städte verfammelt, Alles wollte
den Martin zum Bijchof haben, nur ein Eleines Häuflein ausgenommen, worunter
fih einige Bifchöfe befanden, denen er wegen feines Mundes, feiner ungefämmten
Haare und feiner wenig eleganten Kleidung nicht ebenbürtig ſchien! Das Volk
verlachte diefe Gegner und wählte Martin. Als Bifhof behielt Martin feine
firenge, arme und demüthige Lebensweife bei und wohnte eine Zeitlang in einer
Zelle nahe bei der Kirche, allein da er hier zu fehr von dem Andrange des Volks
geftört wurde, baute er nicht weit von der Stadt das Klofter Marmoutier
zu feinem gewöhnlichen Wohnfig. Der Ort, wo Martin diefes Kloſter errichtete,
war eine zwifchen Felfen und der Loire gelegene Dede, wohin man nur auf einem
fehr ſchmalen Wege gelangen Fonnte, Hier bewohnte er, und ebenfo mehrere
Brüder, eine Zelle aus Holz, die meiften andern Brüder bauten fih Löcher in
die Felfen und wohnten darin. Die Gefammtzahl diefer Mönche flieg bald auf
80. Keiner durfte etwas zu eigen befigen, nicht einmal die Communität, fondern
der nöthige Unterhalt wurde aus dem allgemeinen Kirchenfond beſtritten. Die
jüngern Mönche fchrieben Bücher ab, die ältern oblagen nur dem Gebete und
geiftlichen Verrichtungen. Selten verließen die Mönche ihre Zellen, außer zum
gemeinfchaftlichen Gebet im Dratorium und zum gemeinfchaftlihen Abendtifch,
der einzigen Erquickung des Tages, wobei nie Wein getrunken wurde, oder wann
Martin auf das Land ging, denn da nah er immer viele Mönche mit fi, ging
jedoch allein, getrennt von ihnen, Ihre Kleidung beftand in einer Tunica aus
Rameelhaaren, gleichwohl lebten unter ihnen mehrere von edler Geburt und zarter
Erziehung. In der Folge beftiegen die meiften diefer Mönche biſchöfliche Stüple,
denn alfenthalben wollte man in Martins Schule und heiliger Atmofphäre gebil«
dete Männer zu Hirten der Kirchen haben, Ueber die weitere Geſchichte dieſes
Kloſters f. Mabill. Annal. — Bei diefer Lebensweife des Heiligen mit feinen Mön«
chen fam die Ausübung der bifchöflihen Obliegenheiten nicht zu furz, Martin war
für Gallien, wie im fechsten Jahrh. fieben gallifhe Bifhöfe in ihrem Briefe an
die hl. Nadegundis (ſ. d, A.) erflären, ein von ber göttlihen Fürfehung gefen-
Martin von Tours, 905
deter und mit der apoftolifhen Gnade ausgerüfteter Apoftel (Greg. Tur. hist. IX.
39). In Gallien wie in mehreren andern Ländern des römifchen Reiches gab
es damals noch viele Heiden auf dem Lande, noch eriftirten hier Tempel, Sta-
tuen und Priefler der alten Gottheiten, noch herrſchte bei den gallifchen Bauern
bie Gewohnheit „simulacra daemonum candido tecta velamine misera per agros
suos circumferre dementia* (Sulp. Sev. vit. Mart. c. 9), Folgen der Regierung
des Raifers Julian und der zwei chriſtlichen Kaiſer Jovian CH 364) und Balen-
| tinian I. CH 375), welche beide den Heiden Religionsfreiheit geftatteten. Martin,
der große Berehrer der Demuth und Armuth, der glühende Liebhaber Chriſti war
es nun, welcher durch fein Beifpiel, durch feine Predigt und die ihm gewordene
| Wundergabe das gallifche Landvolk maffenwerfe zum Chriftentbum bekehrte. Dft
gerieth er bei diefer apoftolifchen Arbeit, befonders wenn er Hand an die Gögen-
| tempel legte und heilige Bäume umhaute, in Lebensgefahr. Sp flürzten, als er
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im Lande der Aeduer einen Götzentempel zerftörte, die Bauern über ihn ber, einer
ſchwang ſchon das Beil ihn zu tödten, Martin aber bot ihm feinen Hals dar, der
Wüthende wird von Schreden ergriffen, finkt in die Knie und bittet um Ver-
zeifung. Ein andersmal will ihn ein Gögendiener erdolchen, aber der Dolch
entfiel feinen Händen und war nicht mehr aufzufinden, Wie wunderbar der Schuß
Gottes über Martin waltete, leuchtet befonders aus Folgendem hervor, Martin
hatte eben einen fehr alten Gögentempel zerflört und wollte auch eine vor dem—
felben fiehende Fichte umbauen. Die Heiden widerfegten ſich, endlich fagten fie:
„Haft du fo großes Vertrauen auf deinen Gott, fo wollen wir feldfi den Baum
umbauen, unter der Bedingung, daß du, wenn er fällt, ihm deine Schultern
unterlegefl.” Martin nahm die Bedingung an und ließ ſich gebunden an die
Stelle bringen, wohin der Baum bei dem Falle neigte. Eine große Menfchen-
menge ſah dem Schaufpiele zu, blaß vor Schreden ftanden Martins Mönche um—
ber, jhon fiel der Baum mit großem Gekrach auf Martin zu, als er auf das
Kreuzzeichen, welches der Heilige machte, wie von einem heftigen Sturme ergriffen
auf die enfgegengefegte Seite fih wendete und beinahe die heidnifhen Zufchauer
erſchlagen hätte, Diefe, betroffen durch diefes Wunder, begehrten alle durch Hand—
auflegung unter die Katechumenen aufgenommen zu werden. Während aber Martin
die Heiden befehrte und auf den Ruinen der Gößentempel Kriftliche Kirchen und
Klöfter errichtete, trat er bei den Chriften dem Aberglauben entgegen, In der
Nähe von Tours fand eine Capelle über der Grabftätte eines angeblichen Mar-
tyrers, von dem man nichts Näheres wußte, Martin wollte weder die Andacht
des Dolls, das an diefe Stätte zum Gebete fam, flören noch diefelbe authori=
firen, bis er über die Sache in’s Reine gefommen wäre; als ihm aber endlich
Gott zu erkennen gab, daß der vermeintlihe Martyrer ein hingerichteter Räuber
fei, ließ er den Altar niederreigen und machte fo der Superftition ein Ende, —
Nicht weniger merfwürdig ift, was Sulpitius Severus von den wiederholten
Reifen Martins nach Trier an das Faiferliche Hoflager und von deffen Benehmen
bei dem Verfahren gegen die Priscillianiften erzählt. Kaifer Valentinian I., be—
fürchtend, der Heilige möchte etwas begehren, was er nicht bewilligen wollte, und
- von feiner arianifchen Gemahlin Juſtina (f. d. A.) verleitet, ließ ihn Anfangs
gar niht vor. Martin nahm zu feinen gewöhnlichen Waffen des Faſtens und
Betens feine Zuflucht, und diefe eröffneten ihm denn auch die Pforte des Palaftes
und das Herz des Kaiſers, der alle Bitten Martins gewährte, ihn öfters zu ſich
lud und reichlih mit Gefchenfen beehren wollte, die aber der Heilige aus Liebe
zur Armuth nicht annahm. Dem Kaifer Marimus verweigerte Martin längere
Zeit die firhlihe Gemeinfhaft und nahm auch deffen Einladung zur Tafel nicht
eher an, als bis er feine Unfchuld an dem Tode des Raifers Gratian betheuerte
und verfiherte, nur gezwungen von den Soldaten den Purpur angenommen zu
haben, Als nun Martin die Einladung zur Faiferlichen Tafel arceptirte, lud Ma—
906 Martin von Tours,
ximus, wie zu einer außerorbentlichen Feftlichkeit, die Vornehmften feines Hofes
ein, Martin faß bei ver Tafel an der Seite des Kaiſers, und diefer reichte, ohne
vorher getrunfen zu haben, feinen Weinbecher dem Heiligen dar, der ihn aber
nicht, wie der Raifer erwartete, ihm zunächft zurüdgab, fondern vorher feinem
priefterlihen Gefährten aus Hochachtung für das Prieſterthum darbot. Wenn
übrigens Martin bei Hof erfchien, fo geſchah es immer, um für Unglückliche und
Hilfsbedürftige Fürbitte einzulegen, namentlih um die Gnade des Kaifers für
Biele, welche in die letzten politifchen Kämpfe verwicdelt waren, anzuflehen.
Defter ließ ihn Maximus felbft rufen, fih mit ihm zu befprechen, wobei Martin
nicht unterließ, das, was ihm der hl. Geift eingab, frei herauszureden; fo fagte
er ibm prophetifch Das Loos voraus, das ihn treffen werde, wenn er den jungen
Balentinian befriegen würde, Auch mit der Kaiferin, einer hohen Verehrerin
Martins, mußte diefer verfehren, und fie ruhte nicht, bis er ihr die große Freude
gemacht, ihn eigen® bei ihr bemwirthen und dabei wie eine andere Martha be-
dienen zu können, Unter denen, für die fih Martin bei dem Kaifer verwendete,
befanden fih auch die Priscilianiften (ſ. d. A.), nicht als Hätte er die Härefie
nicht verdammt, fondern weil er e8 für eine beifpiellofe, verbrecherifche Neuerung
hielt, eine Firchliche Angelegenheit dem weltlichen Gerichte zu unterwerfen und
Häretifer mit Tortur und Tod zu beftrafen, Martin bat ven Marimus, das Leben
der Priscilkianiften zu fchonen, genug fer es, daß fie durch bifchöflichen Urtheils-
fpru als Häretifer erklärt und von ihren Kirchen vertrieben worben feien, Wäh-
rend Martins Anwefenheit zu Trier (384— 385) zögerte man wirklich mit der
gerichtlichen Unterfuchung , und der Kaifer verfprach ihm fogar vor feiner Abreife,
daß Fein Blut vergoffen werden follte, Aber nad) Martins Abreife ließ ſich der
Kaifer durch den fpanifchen Biſchof Zthacius und deffen Genoffen, welche die
Häupter des Priseillianismus von dem weltlichen Gerichte inquirirt und geftraft
wiffen wollten, wieder umflimmen und den Priscillian mit mehreren Anhängern
binrichten, Bald darauf, um 386, unternahm Martin wieder eine Neife nad
Trier zum Raifer, um die Begnadigung der zwei Faiferlihen Großbeamten Narfes
und Leucadius durchzufegen, welche als Anhänger Gratians hingerichtet werden
follten, Zu Trier war eben eine Verfammluug von Bifchhfen, um den neuge-
wählten Bifchof von Trier zu ordiniren. Diefe Biſchöfe hatten dem Ithacius
nicht, wie Martin, Ambrofius und der Papft Siricius, die kirchliche Gemein-
fhaft entzogen, fondern ihn fogar für unfohuldig erklärt, Als fie daher von Mar-
tins naher Ankunft hörten, fürchteten fie fich nicht wenig und brachten e8 bei dem
Kaifer dahin, daß er dem Martin, ehe er in die Stadt fam, fagen ließ, er dürfe
nicht kommen, wenn er nicht mit den Bifchöfen Frieden halten wolle, Martin
‚antwortete, er fomme mit dem Frieden Chrifti, In Trier angefommen, trug er
dem Kaifer feine Bitte für die zwei Beamten vor, und da er gehört, es folle eine
Militäreommiffion mit unbefchränfter Vollmacht nah Spanien geſchickt werben,
um die Unterfuchungen gegen die Priseillianiſten fortzufegen und gegen die Schul-
digen mit Eonfiscation und Todesftrafe einzufchreiten, fo fügte er auch die Bitte
bei, diefen Beschluß nicht zur Ausführung kommen zu laſſen. Marimus hörte
den Heiligen fehr huldreich an, fuchte ihn aber von der Nechtmäßigkeit des Ver—
fahrens gegen die Prisciflianiften zu überzeugen und mit den Bifchöfen auszu—
föhnen ; trete er mit dieſen in KRirchengemeinfchaft, fo würden feine Bitten Er—
börung finden. Als fih Martin auf diefe Bedingung nicht einließ, entließ ihn der
Kaifer mit Unwillen. Auf einmal kommt dem Heiligen zu Ohren, die zwei Be—
amten folfen wirffich hingerichtet werden und die Militäreommiffion fei ſchon auf
dem Wege nach Spanien, Sogleich, obwohl e8 fhon Nacht war, eilte er in den
faiferlichen Palaft und verfprach dem Kaifer die Kirhengemeinfchaft mit den Bi—
fhöfen, und fo rettete er viele Unglückliche, ohne Zweifel felbft manche Rath o-
liken, wenigftens fürchteten fich ſelbſt reiche Katholiken in Spanien vor den an«
4
| Martin von Tours, | 907
gedrohten Confiscationen wohl nicht ganz ohne Grund, weil Eiferer, wie ein
Sthacius, ſchon ein anhaltendes Studium und Faften für verdächtig hielten und
Kaifer Marimus über Habfucht nicht erhaben war. Am andern Tag wohnte
Martin mit ven Bifchöfen der Ordination des Felir bei, ließ fich aber nicht be—
wegen, dem Drdinationsacte feine Unterfhrift zu geben. Seitdem vermied er
firengftens jede Communion mit den Ithacianern und nahm an Feiner biſchöflichen
Berfammlung Theil. Und oft erzählte er feinen Schülern, feit diefer Zeit habe
fih die ihm gegen die Dämonen verliehene Gewalt vermindert, — Die übrigen
Sabre, die Martin noch lebte, floßen in fegensooller Wirkfamfeit für feine Gläu—
bigen und Mönche dahin und wurden dur eine Menge Wunder verherrlichet.
Das größte Wunder der Gnade blieb aber immer Martin feldft, dem Jefus Alles
in Allem war, der Alles in Gott ſchaute und auf ihn zurüdführte, an dem man
nie eine Leidenſchaft bemerkte, deſſen Sanftmuth und Mitleid alle Herzen eroberten,
veffen Demuth und Bußgeiſt fein Herz zum reinften Kryſtall läuterten, deſſen
Thaten Thaten Gottes und deffen Worte himmlifche Einfalt und Weisheit waren,
Wahrlich,, jener Präfeet von Rom, Arbor mit Namen, deffen Tochter Martin
geheilt Hatte und die darauf eine gottgeweihte Jungfrau ward, hatte fein falfches
Geficht, als er einft die Hand des Heiligen bei der Celebration der HI. Meffe
von Licht ſtrahlend und wie mit Perlen befäet ſah! Enplich fam die Zeit, da
ihm Gott die himmlische Krone reichen wollte, Er erfranfte auf einer Reife, die
er nad Cande, einer Pfarrei an der äußerſten Grenze feiner Didcefe, gemacht
hatte, und verlor plöglih alle feine Kräfte, Weinend fprachen feine ihn umge-
benden Schüler: „Vater, warum verläßt du uns? wen läßt du uns Troftlofe
zurück? Reißende Wölfe werden deine Heerde überfallen!” Martin entgegnete
betend: „Herr, wenn ich noch deinem Bolfe nothwendig bin, ich weigere mich
nicht der Arbeit, dein Wille geſchehe!“ Ganz in Gott verfammelt ftarb er am
11. November 397 oder 400 auf einem mit Ajche beftreuten Bußſack. Die Bür-
ger von Poitiers und Tours fritten fih um feinen hl. Leichnam, „unfer ift er,”
fagten jene, „denn bei und war er Abt, ihr Habt ihn als Bifchof gehabt” ; „unfer
gehört er,” entgegneten die Touroner, „denn bei ung ift er zum Bifhof geweiht
worden“ (Greg. Tur. hist. Fr. I. 43). Tours fiegte. Als der Leihenzug des Hei-
Iigen fih Tours nahte, firömte ihm die ganze Stadt und Umgegend entgegen,
2000 Mönche fanden fih ein, ebenfo eine große Anzahl gottgeweihter Jung-
frauen, Martins Nachfolger Briccius (f. Greg. Tur. hist. Fr. I. 1) Tieß über
Martins Grab eine Cellula errichten, Bifhof Perpetuus von Tours (7 490)
eine fchöne Bafılica Cibid. II. 14; X. 31)5 der berühmte Eligius (f. d. A.) ver-
fertigte für Martins Gebeine einen mit diefen Goldplatten überzogenen und mit
den koſtbarſten Edelfteinen überfäeten Neliquienfaften; eine Menge anderer im
Berlaufe der Zeit fi) mehrender foftbarer Donativen verherrlichte die Grabftätte
und noch König Ludwig XI. ließ das Heiligtum mit einem 6776 Mark wiegen-
den Silbergitter umgeben. Martins Verehrung verbreitete fi bald über das
ganze Abendland nicht nur, fondern auch über das Morgenland. Die Wallfahrten
an fein Grab, an dem eine Menge unläugbarer Heilungen und Wunder gefihahen,
erlangten eine Celebrität wie die Pilgerfahrten nach Jerufalem und Rom. Der Mar-
tinstag wurde ein Feft, das im ganzen Abendland und befonders in Franfreich (ſ. d.
Art. Bekenner) hochgefeiert wurde. Kirchen zu Ehren des hl. Martin errichtete man
feit dem fünften Jahrh. alfenthalben und alle Martyrofogien verkünden feinen Ruhm,
Frankreichs Regenten betrachteten St. Martin ftets als ihren und des Reiches
Schugpatron, bedienten fih des großen Schleiers, womit feine Tumba bedeckt
war, als Heerbauner und hielten es für eine Ehre, ald Domberren von St, Martin
aufgenommen zu werben, Anders fahen die Sache die Hugenotten (f. d. U.) an,
fie beraubten die Martinsfirche al’ ihrer Schäge und verbrannten Martins Ge-
beine zu Aſche. ©, Sulp. Sev. opp. edit. Hieron. de Prato, Veronae 1754; Pau-
908 Martinus Bracarensis — Martyrer, die vierzig.
lini (Nolani?) 1. VI. de vita s. Martini; Greg. Tur. 1. IV. Mir. s. Martini; Venanf.
Fortunati 1. IV. vit. s. Martini; Tillemont, Mem. t. 10. p.309—357 et p. 71 —
787. — [Schrödl.]
Martinus Bracarensis, ſ. Gapitula episcoporum.
Martyr Petrus, f. Petrus Martyr,
Martyrer (uagrvg, Zeuge, Blutzeuge) hießen in der Kirchenſprache
ſchon in der älteften Zeit diejenigen Chriften, die in der Verfolgung für dem
Glauben den Tod erlitten oder auch nur dur Teiblihe Mißhandlung durch Kerker
oder Verbannung ihren Glauben bezeugt haben, ©. den Art, Befenner, Wenn
wir die Oraufamkeit der heidnifchen Verfolgungen und die Abficht in's Auge faffen,
die ihnen zu Grunde lag, das Chriftenthum felbft von Grund aus zu. vertilgenz
wenn wir namentlich der Dualen und Leiden gedenken, zw denen die Verfolgten
verurtheilt waren, und bie faft Alfes übertreffen, was die Gefchichte der Tyrannei
aufzuweifen hat; und wenn wir zugleich das gläubige und fittlihe Bewußtfein,
das höhere Vertrauen und die Freudigfeit, womit jene heldenmuͤthigen Dulvder
dem heiligen Kampfe für den Glauben fi unterzogen, und die nicht ftoifcher Ver—⸗
nunftftolz und ſtoiſche Nefignation war, in Erwägung ziehen, fo kann man nicht
anftehen, zu behaupten, nicht bloß daß diefe Blutzeugen als die größten Herven
bezeichnet werden müſſen, die in der Gefchichte auftreten, fondern auch, daß mit
auf ihrem Heldenmuthe die fchnelle Verbreitung und Befeftigung des Chriſtenthums
beruhete, daher auch die ausgezeichnete Verehrung, die ihnen gleich Anfangs zu Theil
wurde, War es geftattet, fie im Kerker zu befuchen, fo mußten Diacone fie bedienen;
man füßte ihre Ketten und Bande und ihre Wunden, ftärkte fih an ihrem Worte und
Beifpiel, und den Büßern wurde ein Theil der Kirchenbuße auf ihre Fürbitte er-
laffen (f. den Art, Abgefallene). Diefe Verehrung wurde in noch höherem
Grade nad ihrem Tode fortgefegt, Man beging mit hoher Feftlichfeit die jähr-
liche Wiederkehr ihres Todestages, feierte dabei das heilige Opfer, indem man
im Gebete ihrer gedachte, ihnen zu Ehren Hymnen fang, ihre Namen verkündete,
und die Gefchichte ihrer Leiden und ihres Todes vorlag (f. den Art, Acta mar-
tyrum). Bald wurden über ihren Gräbern und auf ihren Namen Capellen und
Kirchen erbaut (martyria); man ehrte fie in ihren flerblichen Ueberreften (Re-
liquien), und die berühmteften Eirchlichen Redner erfchöpften fih in ihrem Lobe.
Das Verzeichniß der ausgezeichnetfien Martyrer findet fih in den Firchlichen
Martyrologien. [Rüft.]
Martyrer, die vierzig. Ueber das Martyrium diefer hl. Blutzeugen
befigen wir Homilien mehrerer HI. Väter, namentlich eine des bl. Bafilius, aus
welcher Gregorius von Nyfa, Ephräm und Gaudentins von Brixen gefchöpft
haben. Jüngern Urfprungs, aber doch immer alt und ehrwürbig genug, um als
Beleuchtung und Ergänzung der Homilie des Hl. Bafılins über die vierzig Mar-
tyrer zu dienen, find die Acten diefer Martyrer bei den Bollandiften zum 10, März,
wovon bie einen von einem anonymen Verfaffer herrühren, die andern aber eine
Ueberfegung aus dem Griechiſchen in's Lateinifche find, geliefert von Johannes
Diaconus, dem Biographen der Erzbifchöfe von Neapel bis auf feine Zeit Cer
endet mit dem Erzbifchofe Athanafins, + 872), Die Feier diefer HL, Martyrer
verbreitete fih nach ihrem Tode bald über den ganzen Orient und Fam durch den
hl. Biſchof Gaudentius von Brescia (ſ. d. A) nach dem Dccident, indem dieſer
von feiner Neife nach Jeruſalem mit Reliquien diefer HI. Martyrer zurückkehrte,
die er zu Cäſarea in Cappadocien von den gottgeweihten Nichten des hl. Baſilius
zum Gefchenf erhalten hatte, und zu deren Ehren er bei feiner Zurückkunft nad
Haufe eine Kirche erbauen ließ, bei deren Einweihung er vor einer VBerfammlung
der Comprovincialbifchöfe die noch vorhandene Homilie über die vierzig Martyrer
hielt. Seitvem wurden auf den Namen ber vierzig Martyrer allenthalben im
Abendland Kirchen erbaut, wie man damit ſchon vorher im Morgenlande ange-
Martyrien — Martyrologia. 909
fangen hatte, wo noch jest am 9, März das Gedächtniß diefer hl. Martyrer mit
großer Feierlichfeit begangen wird, während das Abendland das Andenfen der-
felben am 10. März begeht. Wie hoch man die Reliquien der hl. Martyrer über-
haupt und namentlich die der vierzig Martyrer hielt, beweist die Stelle bei Gre—
gor von Nyffa: „Ihre Leiber (i. e. der vierzig Martyrer) find zwar verbrannt,
aber ihre Aſche und Reliquien find auf dem Erdkreiſe dergeftalt verbreitet, daß
beinahe jede Provinz davon etwas befommen hat“, und die große Feierlichkeit,
welche bei Gelegenheit der Auffindung von Neliquien der vierzig Martyrer zu
Eonftantinspel unter der Regierung des Kaiſers Theodoſius jun. flattfand (Sozom.
hist. ecel. 1. 9. c. 2.). Weber die Paffionsgefchichte derfelben erzählt ver hl. Ba-
filius in der Eingangs erwähnten Homilie der Hauptfache nach Folgendes. In
der Chriftenverfolgung des Raifers Lieinius (in welcher auch der HI. Biſchof
Blafins von Sebafte den Martyrtod farb, f. den Art. Blafius und die Bol-
and, zum 3, Febr), ungefähr um das Jahr 320, befannten ſich zu Sebafte in
Armenien vierzig junge tapfere Soldaten als Chriften, und entgegneten auf alle
Schmeicheleien und Drohungen, die man zu ihrer Apoftafie anwendete, fie wollten
nichts als ein Geld, das immer währe, eine Ehre, die ewig blühe, Wonnen, welde
alle irdifche Herrlichkeit unendlich übertreffen, und fürchteten nichts als die Peinen
der Hölle. Sie wurden verurtheilt, nat unter freiem Himmel bei ftrengfter
Kälte auf einem zugefrorenen Teiche ausgefegt, den Tod des Erfriereng zu leiden
Cwahrfcheinlicher ift, daß fie im Teiche immergirt und dem Oberleibe nah im
Freien gelaffen wurden, Boll. comm. praev. $ IV.). Freudig warfen fie ihre Ge—
wänder weg, die fie wegen der Schlange angezogen, „ward ja auch unfer Herr
entblöst”, eiferten fich gegenfeitig zur Standhaftigfeit an und beteten: „Vierzig
haben wir ven Kampfplatz betreten, laß o Herr ung vierzig auch ge—
krönt werden, denn diefe Zahl ift Heilig durch dein Faften, durch das
Faften des Elias und des Moſes“. Ihre Bitte fand Erhörung, denn für
den Einen, der abfiel und dem warmen Bade zulief, welches für die etwaigen
Abtrünnigen hergerichtet war, ſtellte fih der Soldat, welchem über die HI. Be—
fenner die Wache übertragen war. Zuletzt wurden fie theils noch athmend, theils
ſchon todt auf einen Karren geworfen und zu einem Scheiterhaufen geführt, wo
man fie verbrannte und die Aſche und Ueberrefte in den Fluß warf, Die Mutter
eines diefer Martyrer legte ihren noch athmenden Sohn felbft auf den Karren,
ihn zur Ausdauer mahnend! [Schrodl.]
Martyrien, ſ. Bethaus.
Martyrologia find die für den kirchlichen Gebrauch abgefaßten Ver—
zeichniffe der Hi. Martyrer, nach der Folge der Monatstage eingerichtet. Anfangs
waren ed bloße Calendaria martyrum, indem bei jedem Tage nur der Name des
Martyrers angegeben wurde, deffen Gedächtnif begangen werbe, Es war aber
natürlich, daß fih dem Namen bald biographifche Notizen über den Martyrer
anfchloffen, und auch andere Heilige, die nicht gemartert wurden, zuerft die Con-
fessores, dann die Bifchöfe ıc. in dem Martyrologium Aufnahme fanden. Die
gleichen Bücher heißen bei den Griechen Menologien von up = Monat,
gleihfam Monatregifter. Verfchieden davon find die griechifchen Cauch ruffifchen)
Menden, die zwar das nämliche Etymon haben und auch Kirchenbücher find. Es
ift dieß nämlich ein großes, aus zwölf Foliobänden (den zwölf Monaten analog)
beftehendes Werf, welches für jeden Tag die officia der Heiligen mit den dazu
gehörigen Legenden und Hymnen enthält, — Das berühmtefte griechifhe Meno—
logium ift das auf Befehl des Kaiſers Bafılius Macedo im neunten Jahr-
hundert veranftaltete und im J. 1727 von Cardinal Hannibal Urbini heraus-
gegebene, In der Tateinifchen Kirche foll der HI. Hieronymus das ältefte Mar-
tyrologium verfaßt haben, wenigftens ſchreibt ihm Caſſiodor ein folches zu; aber
dasjenige, welches jegt noch den Namen des HI. Hieronymus trägt und mehrfach,
910 Maruthas.
auch im eilften Bande der Vallarſiſchen Ausgabe des Hieronymus abgedruckt wor⸗
den ift, ift nicht von fpäteren Zufägen ‚rein. Bon einem zu Rom im Rirchen-
gebrauch vorhandenen Martyrologium fpricht Gregor d, Gre, es bleibt aber zwei⸗
felhaft, ob dieß römische identifch mit Dem des HI, Hieronymus fei, Im Mittel-
alter haben namentlih Beda der Ehrwürdige in England, Floörus, Ado
und Ufuard in Franfreih, Rabanus und Notfer von St. Gallen für Teutfch-
land Martyrologien verfaßt, aber das unter dem Namen Beda’sıauf ung ge—
fommene ift nicht ächt. Noch fpäter entfanden Die Martyrologia particularia für
einzelne Länder und Mönchsorden. — Im Gegenfage hiezu ift das römifche Mar-
tyrologium, weil es Heilige aller Länder umfaßt, das universale., Es wurde mit
einem gelehrten Commentar auf Befehl Gregors XI. edirt von Baronius 1586
und noch vermehrt in einer neuen Auflage von dem Jeſuiten Heribert Ros—
weid. LHefele.]
Maruthas, der heilige, Bifchof von Tagrit oder Maipherfat Cauh Mar—
tyropolis) in Mefopotamien, gehört der fchönen, von ihm verfaßten Martyreractem
wegen zu den berühmteften Schriftftellern der ſyriſchen Kirche. Blühend am Ende
des vierten und im Anfange des fünften Jahrhunderts, ſchilderte er in denfelben
auf lebendige anziehende Weife, nur manchmal in einer zu gefuchten Schreibart,
die langen fehreeklichen Leiden, womit Sapors des II: ‚graufame Verfolgung 40
Sabre hindurch die Kirche Perfiens heimfuchte. In 18 Geſchichten ſtellt der be-
redte Verfaffer die glänzendften Beifpiele chriftlichen Heldenmuthes dar, hie und,
da mit Prologen und Epilogen, worin er oft zu. dichterifchem Fluge fih erhebt,
Maruthas ift aber nicht bloß als Schriftfteller, fondern auch feiner Tugenden
und Verdienſte für die Kirche wegen unferer Aufmerffamfeit würdig. Die Freund»
fchaft des großen HI, Chryſoſtomus, Gelehrfamfeit, bifhöflicher Eifer und bie
Wundergabe zeichneten ihn aus, Nah dem Berichte mehrerer fyrifcher Schrift-
fteller wohnte er dem im J. 380 gegen Macedonius gehaltenen: erften Coneilium:
zu Conftantinopel bei; im Concilium zu Antiochia (383 nad) Baronius, 390 nad
Tilfemont) trug er zur Verdammung der Meffalianer (ſ. d. A.) bei. Um zur
feftern Stellung des Chriſtenthums in Perfien zu wirfen, unternahm er im Jahr
403 eine Reife nach Conftantinopel zu Kaiſer Arcadius, in der Abficht, dieſen zu
bewegen, daß er den Nachfolger Sapors, Jezdegerd, milder gegen die Chriften
flimmen möchte, Weil aber der Kaifer damals zu. ſehr in Gefchäfte verwickelt
war, indem die Verfolgung des hf. Chryfoftomus- gerade jetzt am beftigften wü—
thete, reiste Maruthas bald zurück und das Jahr hernach wieder nah Eonftan«
tinopel, um für die perfifche Kirche mehr wirken zu können und auch bie Sache
feines verbannten Freundes zu vertheidigen. Der hl. Chryſoſtomus erfreute ihn
mit zwei Briefen von feinem Eril aus und rühmt ihn auch in einem Briefe am
Olympias. Vom nachfolgenden Kaifer Theodos IL, wurde Maruthas öfter als
Gefandter an König Jezdegerd nach Perfien geſchickt, diefen zu einem Bündniſſe
zu bewegen, und gewann durch feine herrlichen Eigenfchaften die Bewunderung
und Liebe des mächtigen Monarchen. Sp fonnte er troß der Eiferfuht und bes
Fanatismus der Magier thätig für die hriftliche Neligion wirken. Darin unter-
ftüßte ihn vorzüglich der perſiſche Biſchof Abdas, mit dem er den Sohn des Kö-
nigs von einem Dämon erlöste. Zur Erwedung der während, ber Verfolgung
gefunfenen Kirchenzucht hielt Maruthas zwei Synoden in Kteſiphon. Sp madte
er fih um die Kirche durch raftlofen Eifer verdient; darum fein Andenfen and
mit Recht von den Lateinern und Griechen, Kopten und Syrern gefeiert wirde—,
Die von ihm in ſyriſcher Sprache verfaßten Martpreracten bilden den erfien
Theil der von Stephan Evodius Affemani 1748 in Nom edirten Acta SS, Martyrum
Orientalium et Occidentalium. Eine teutfche Heberfegung davon ließ der Unter-
zeichnete unter dem Titel: Echte Noten HL, Martyrer des Morgenlandes
u, fe wi, Innshrud 1836, erſcheinen. [3ingerle,]
Mafius — Mafora, 911
Mafjius, Andreas, geboren 1516 zu Lennih bei Brüffel, war einer der
größten Gelehrten und Staatsmänner des 16ten Jahrhunderts, In feiner Ju—
gend verlegte er fih auf das Studium der Philofophie und Nechtsgelahrtheit,
Seine hohe Befähigung verfchaffte ihm die Stelle seines Secretärs bei dem Bi—
[hof von Conſtanz, Johann von Weze, Eine Sendung nah Rom, womit er nach
des Biſchofs Tode betraut worden war, gab ihm die Gelegenheit zu einem län—
geren Aufenthalt in der chriſtlichen Weltftabt, welchen Maſius dazu benügte, fih
im Syrifhen auszubilden. Ueberhaupt befaß Mafius ein ausgezeichnetes Sprachen-
talent; außer mehreren lebenden Sprachen war er des Lateinifchen, des Griedi-
fhen , des Hebräifchen, Chaldäifhen und Syrifchen mächtig. Nach feiner Rüd-
kehr von Rom ward er Rath beim Herzog Wilhelm von Eleve, und trat 1558
dafelbft in den Eheftand, Schon im Jahre 1573 erreichte er, 57 Fahre zähfend,
ein erbauliches hriftliches Ende, Mafius war fein einfeitiger Philploge, vielmehr
befaß er au in andern Fächern des Wiffens eine ungemeine Belefenheit, die mit
einem großen Scharffinne verbunden war, von welchem feine Literariichen Leiftun-
gen ſtets eine kritiſche Haltung erhielten. In der Kenntniß der Gefhichte und
alten Geographie, fowie in der Kritif der Bibel that es ihm wohl fein Gelehrter
feiner Zeit zuvor. - So beurtheilten ihn fihon Seb. Münfter und Richard Simon,
Auf die Bitte des Arias Montanus nahm Maſius Antheil ander Antwerpifchen
Ausgabe der königlichen Polyglotte; er lieferte dazu die chaldäiſche Paraphraſe
über die erften Propheten, die Palmen, den Prediger Salomons und das Buch
Ruth; außerdem ſchrieb er ein fyrifches Lericon unter dem Titel: „Syrorum Pe-
eulium* (Antw, 1571 in F0l.), dann eine Grammatik der ſyriſchen Sprade
(Antw. 1571 in Fol), um beide der Polyglotte beizugeben. Sein Commentar
über das Buch Joſua gilt als ein Meifterwerk bidlifcher Kritif, wie hiſtoriſcher
und ſprachlicher Erudition Centhalten in den Criticis sacris, London und Amſterdam
T. 1). As Anhang dazu erfchienen feine Annotationes in Deuteronomii caput XVI,
bis XXXIV. Mafius überfegte mehrere ältere und neuere Stüdfe aus dem Sy-
riſchen; die Sammlung if enthalten in der Bibliothek der Väter von Margarine
de la Bigne und in den Criticis sacris (2. Edit.). Sp überfegte Maflus unter
andern den Commentarium de Paradiso, ante annos DCC a Mose Bar-cepha Syro
scriptum, und S. Basilii Aeırovoyiev. Antw. 1569. Auch ſchrieb Mafius eine
Disputatio de coena Domini gegen die Ealoiniften, und Bemerkungen über einzelne
Stellen des Jeremias und der Evangeliften. Mafius bereitete Commentare über
die Hiftorifchen Bücher der Schrift vor, als er vom Tode überrafcht wurde, [Dür.]
Maſora oder Maflora (7y102, 7Yı2%, MYDA2, Kmyıon, vom chald.
„on. prodere, tradere) ift eigentlich traditio,. Weberlieferung im. allgemeinften
Sinne, wird aber vorzugsweife und fpeciell von einer gewiffen Leiflung früherer
Rabbinen in Betreff des Hebräifchen Bibeltertes gebraucht, welche eben deßhalb
auch den Namen Maforetden (Tyy027 7222) erhalten Haben, Ihre Hauptauf-
gabe war die allfeitige, endgültige Firirung der Form und Ausfprache des he—
bräifchen Bibeltertes nach Maßgabe der fyftematifch bearbeiteten Ueberlieferung,
Ihre wichtigfte Leiftung ift daher. zuvörberfi die Vocalifirung und Aeccentuirung
jenes Zertes, in Betreff welcher bier einfach auf die hebräiſchen Sprachlehren
verwiefen werben Fann, und nur etwa noch bemerkt zu werden braucht, daß in
denfelben die fpäte Entfiehung der Vocalzeihen und Accente nicht immer genugfam
beachtet wird, Außerdem haben die Maforethen eine Unzahl von Bemerfungen
über den hebräifchen Bibeltert aufgezeichnet, welche theils A. auf den factifhen
Beſtand deſſelben fich beziehen, theils B. in Eorrectionen beflehen. Bon er-
flerer Art finds: 1). die Angaben der fogenannten Ittur sopherim (oYn210 107)
und Tikkun sopherim (u’n570 77pn) und der anßerordentlihen Puncte (Puncta
extraordinaria ">> 1p3),. die großentheils fhon im Thalmud vorkommen und
912 Mafore,
von den Maforethen von dort herübergenommen wurden (dgl. Tübing. Ouar-
talſchr. Jahrg. 1848. ©, 601 ff.). 2) Die Angabe der ungewöhnlichen Buch-
ftaben, namentlich der fogenannten literae majusculae, minusculae, suspensae, in-
versae, bie zum Theil auch fhon im Thalmud erwähnt werden, Sp macht die
Mafora glei zum erſten Buchftaben der Bibel, zum = in mrünya, die Bemer⸗
fung: ’na1 3, und zu 7 in DnYamz2 (Genef, 1, 4.) die Bemerkung: S"97 4,
Und folhe Buchſtaben kommen fo häufig vor, daß die Mafprethen ein vollftändi-
ges Alphabetum ex literis majusculis (n1>173 mn ax) und ein Alphabetum
ex literis minusculis (nYoP nYmIRn A8) zufammenfegen fünnten, welches flelfen-
weife fogar doppelt und dreifach wird, Zu Jin son Num. 10, 35, bemerft die
Mafora: 73797 772 (nun inversum) und fehreibt demgemäß »oc2 mit dem Bei-
fügen, daß eine folde Schreibweife an neun Stellen Statt habe, die fie anden-
tungsweife citirt Cogl. jedoch Norzi's Minchat schai zu d. Stelle), Zu 71 in
mon Richt, 18, 30, bemerkt fie: > 7%) (nun suspensum), und fo an manchen
andern Stellen, gibt aber immer bloß den Sachverhalt an, ohne die Urfache des—
felben zu berühren, 3) Die Zahl der Abfchnitte (Parafchen, Sedern ꝛc.), Verfe,
Wörter und Buchftaben der einzelnen Bücher und Bezeichnung der Stellen, welde
die Mitte derfelben einnehmen. So wird 3. B. in Betreff des Pentateuchs be-
merft, er habe 5845 Verfe, 290 offene, 379 gefchloffene Parafıhen und werde
balbirt durch die Stelle: 137 jun na 1759 Levit. 8, 8. Ein großer Theil
folder Angaben fommt ebenfalls fchon im Thalmud vor, Die Maforethen haben
aber diefelben nicht bloß einfach herübergenommen, fondern die früheren Leiftungen
weiter geführt und nöthigen Falls auch berichtigt. An Wort- und Buchftaben-
zählung 3. B. fheinen die Thalmudiſten noch nicht gedacht zu haben, 4) Die An-
gabe verſchiedener Eigenthümlichfeiten einzelner Verſe. Sp wird z. B. zu Genef.
4, 8. bemerft: pro» Txn2 pon Ton >, d. h. 28 Verfe enden in der Mitte des
Verſes, fo nämlich, daß mit der zweiten Vershälfte ein neuer Sag beginnt. Zu
Erod. 32, 8, wird bemerkt: {na no Zw Ton 3, d. h. zwei Verſe find im
Pentateuch, die mit d anfangen (außer Exod. 32, 8, noch Num. 14, 19.). Zu
Num, 29, 33, wird bemerkt: Da jımmyan >> m104 Ina ion 3, d. h. zwei Berfe
find im Pentateuch, deren fämmtliche Worte mit D endigen, Zu Exod. 29, 5.
wird bemerkt: mar i1 ma 3 Irma min 102 3, d.h. e8 kommen brei Verfe vor, in
denen ſich dreimal on und dreimal may findet. Zu Num. 36, 8. wird bemerkt:
TS 8 Jrma ns joD 3, d. h. drei Berfe fommen vor, deren jeder 88 Bud-
flaben hat. Zu Jerem. 21, 7. wird bemerft: na Op jranı jrbn In jona nm,
d.h. der Vers enthält 42 Wörter und 160 Buchſtaben. 5) Bemerkungen über
gewiffe Wortverbindungen, wie z. B. die Bemerkung zu Geueſ. 16, 2,3
7° bpb mynw, d. h. yraw mit Dpb conftruirt Fommt 17 Mal vor, oder die
Bemerkung zu Ezech. 18, 21.: mwsı Taun jma nn Top ri, d. h. more iſt
in acht Verfen mit To» conftrnirt. 6) Bemerkungen über die Bedeutung gewiſſer
Wörter, die zuweilen in exegetifcher Hinficht beachtenswerth find. Sp wird z.B.
zu 35 Genef, 29, 9. bemerft: w5 32 3, d. h. 94 kommt breimal dor in drei
verfchiedenen Bedeutungen; die beiden andern Stellen find Jeſ. 24, 19. und
Sprüchw. 25, 19, Zu 5ar7 Genef. 29, 10, wird bemerkt; w>> ana 3,»
das Wort fommt zweimal fo vor, aber in zwei verſchiedenen Bedeutungen; bie
andere Stelle ift Pf, 16, 9. Zu 82 Pf. 22, 17. wirb bemerkt: ana jenp 2
ws, d.h, and mit Kamez unter Kaph kommt zweimal vor in zwei verſchiedenen
Bedeutungen; bie andere Stelle iſt Jeſ. 38, 13., mo es die Bedeutung: „wie
ein Löwe” Hat, welche in der Pfalmftelle allerdings nicht paßt, Endlih 7) eine
Mafora. 913
Menge grammatifher Bemerkungen über Bocale, Accente, diafritifhe Zeichen
und plene und defective Schreibweife, dergleichen auch in den gewöhnlichen hebr.
Bibelausgaben oft manche vorfommen, — B. Maſorethiſche Corrertionen find
befonders die unter dem Namen Keri CAP) befannten und vom gefchriebenen
Zerte (Ketib a'n>) abweichenden Lefearten. Sie find meiftens fritifcher und
eregetifcher, zum Theil auch grammatifcher und orthographiſcher Art, und be—
ziehen ſich a) theils auf Verwechslungen von Buchſtaben, wie wenn 1 Kon, 12,
33. ſtatt des Ketib 252, das Keri zn, oder Ezech. 25, 7, flatt des Ketib 325
das Keri 72> lautet; b) theils auf Berfegungen von Buchſtaben, wie wenn 1 Kön.
7, 45. flatt des Ketib > das Keri may7, oder Sprüchw. 23, 26, flatt des
Ketib T2zın das Keri mıyEn lautet; c) theils auf Erfegung eines fehlenden,
oder Weglaffung eines überflüffigen Buchftabens, wie wenn Amog 8, 8. ftatt des
Ketib pw: das Keri map Wr, oder Joſ. 8, 12. flatt des Ketib A>> das Keri
>> lautet, d) Zuweilen betreffen fie au unrichtige Worttrennungen und ſuchen
fie zu verbeffern, wie wenn Pf. 123, 4. im Ketib Dvsyns>, im Keri aber a3
D933%, oder Pf. 55, 16. im Ketib marwr, im Keri aber mı2 nur vorfommt,
e) Grammatifche Keris find 3.2. das im Pentateuh häufige NY für wıT und
22 für 922. D) Orthographiſche Keris find Ezech. 27,15. 09337 für aan
und 2 Chron. 8, 18. mir2R für nrrııs. g) Enphemififche Keris find z. B. on
D77537 2 Kön. 18, 27. flatt Dmso und orano flatt Dr5e> 1 Sam. 5, 6. %
12. Die Anzahl folcher Keris ift befanntlich fehr groß, aber in feiner Handſchrift
und in feiner Ausgabe werden fie alle angemerft, auch flimmen in Betreff der-
felben weder die Handfchriften noch die Ausgaben mit einander überein, wovon
wohl die allmählige Entftehung der Mafora und noch mehr die Nachläffigfeit der
Abfhreiber die Schuld haben mag. — Außer folhen Keris verdienen bier noch
Erwähnung die maſorethiſchen Conjecturen unter dem Namen j>I729. An man«
han Stellen nämlih, wo von der gewöhnlichen Conftruction und der grammati-
fhen Analogie abgewichen wird, fegen die Maforethen das ihrer Meinung nad
Richtige an den Rand, So bemerken fie zu xx Wnwrs Genef, 19, 22, : [177203
mE, d. h. an drei Stellen iſt vermuthlih nz" flatt &Xx) zu leſen; die beiden
andern Stellen find Jer. 48, 45. Dan, 8,9. Zu oınzn au Erod, 4, 19, be=
merft die Heine Mafora: aızn 771720 , d. h. an fünf Stellen ift ſtatt orazn
vermutplih arırn zu leſen; die große Mafora dagegen wiederholt die Bemer-
fung mit 7 flatt 7 und führt außer Erod. A, 19. wirflich noch fünf weitere Stel-
Ien an, wo nanxn flatt DYSzn vermuthet werde, nämlich Genef. 37, 36, 43,
15. Deut. 28, 68. of. 24, 5. 1 Sam. 12, 8. Als maforethifche Correctionen
erfcheinen auch die öfteren Keri welo Ketib ('n> a5 77) und Ketib welo Keri
CH> 857 2°n>2), die jedoch zum Theil fhon im Thalmud vorkommen (Nedarim
f. 37. b. 38. a.) und in foweit aus einer frübern Zeit herrüßren. Im erftern
Falle Handelt es fih um Wörter, die gelefen werben follen, obwohl fie nicht im
Texte ſtehen; der Text hat dann einen leeren Raum, ben die Vocale des zu le—
fenden Wortes einnehmen, das Wort felbft aber ift am Rande beigefügt; im letz-
tern Falle dagegen handelt es fih um Wörter, die nicht gelefen werden follen,
obwohl fie im Texte gefhrieben find; fie find deßhalb auch bei der Vocalifation
nit mit Vocalen verfehen und ſchon dadurch Fenntlich gemacht worden. So wird
3. B. von Sy Ruth 3, 5., "IS Ruth 3, 17., 082 Jerem. 31, 38, ausdrücklich
bemerkt: 272 851, 77p , und umgefehrt von nat Deut. 6, 1., 7777 Jerem. 51,
3., vorn Ezech. 48, 16.: »257 a5 arn2, — Die Ent ſtehung s zeit der Mafora
laͤßt fich leichter aus ihrem Inhalt und ihrem Verhältniß zum Thalmud, als aus
Kirchenlexilon. 6, Bo. 58
914 Maſora.
den dießfallſigen Ausſagen der Rabbinen ermitteln. Letztere harmoniren nicht mit
einander und ſind zum Theil augenfällig unrichtig. Einige bezeichnen die Maſora
mit dem Ausdrucke ron mwn> m>>7 als ein von Moſes herrührendes Werk
(ef. Carpzov. Crit. sacr. p. 285); Andere betrachten fie als eine der vielen Ar-
beiten Esra's, wie namentlich Juda Levita HET) im Buche Eosri (f. d. 4),
und fpäter Elias Levita im Maſoreth Hemmaforet$, denen dann auch manche
chriſtliche Gelehrte, wie Burtorf, Bartolocei, Wolf, beiftimmten; Andere endlich
halten fie für ein Werf der Gelehrten zu Tiberias nach dem Abfchluß des Thal-
mud, wie ſchon Abenesra in feinem Zachut, und nachher viele andere, Die erftern
beiden Anfichten find unhaltbar, und die letztere, fofern fie nicht alles in der
Mafora Borfommende aus der nachthalmudiſchen Zeit herleiten will, verdient ent-
fhieden den Vorzug. Denn die Mafora gehört im Ganzen augenfällig der nach—
thalmudifchen Zeit an, wie binlänglih fhon daraus erhellt, daß der Thalmud
noch Feine Vocale und Accente beim hebr, Bibelterte Fennt, Man Hat ihm zwar
ſolche Kenntnig wegen einzelner Aeußerungen zugefchrieben, wie namentlich wegen
des öfter vorkommenden NÄpn> DR wı und TÄ10n5 Da w"; allein im ſolchen
Fällen Handelt es fich nicht um Vocale und Accente, und überhaupt nicht um
etwas von dem, was wir unter Mafora verftehen, fondern um eigenthümliche
exegetifche Kunftgriffe der alten Nabbinen (vgl, Duartalfchr, Jahrg. 1842, ©,
43 f.). Hebrigens Tiegt e8 in der Natur der Sache, daß ein Werk, wie die Ma-
fora, nicht auf einmal entftehen konnte; die Beobachtungen, deren Ergebniß fie
mittheilt, und die Vergleichungen und Combinationen, auf welche ſich ihre Be—
richtigungen ſtützen, Fonnten nur allmählig im Laufe geraumer Zeit gemacht wer-
den, und Elias Levita, der die Mafora zwar von Esra herleitet, fie aber noch
lange nach ihm fortgefeßt werden und zur Vollendung gelangen läßt, bat gewiß
vollfommen Necht, wenn er fagt, die Maforethen feien Hunderte und taufende ge—
wefen viele Generationen hindurch, und es laſſe fih weder ihr Anfang noch ihr
Ende genau beflimmen (ef. Buxtorf, Tiberias, sive Commentarius Masorethi-
eus etc. p. 3.). Denn obwohl der Zeitraum ihrer Thätigfeit im Allgemeinen be-
fannt ift, fo Doch die Ausdehnung und Abgrenzung deffelben Feineswegs. Bon
der Wichtigkeit der Mafora haben fchon die mittelalterlihen Rabbinen ſehr
hohe Vorftellungen. Sie bezeichnen diefelbe ald Umzäunung des Gefeßes (370
ınb cf. Carpz. 1. c. p. 290), und reden in der anerfennendften Weife von ihr,
Abenesra z. B. fagt im Anfang feines 70 7707, man habe e8 nur den Be-
mühungen der Maforethen zu verbanfen, daß das göttliche Geſetz noch unverfehrt
fortbeftehe und die heiligen Bücher vor jeder Zuthat und Weglaffung bewahrt
worden feien, und in ähnlicher Weiſe vindieirt Elias Levita den Maforethen das
Verdienſt, die Hl. Schrift in ihrer vollfommenen Unverfehrtheit erhalten zu haben,
die ohne fie das Schickſal anderer Bücher getheilt und gleiche Entftellungen wie
fie erfahren haben würde, fo daß man nicht mehr recht wüßte, was zum HI. Text
gehöre und was nicht, Mag in ſolchen Urtheilen immerhin einige Hebertreibung
liegen, fo find doch auch die geringſchätzigen Urtheile, die fihon einzelne Nabbinen
des Mittelalters (cf. Buxtorf, 1. c. p. 47 sq.) und manche neuere Gelehrten
über die Mafora fällten, nicht zu billigen, Einer weitgehenden Entftellung und
Berfhlimmerung des hebr. Bibelterted wurde durch die Maforethen jedenfalls
vorgebeugt. Selbft die bloß mechanische Zählung der Berfe, Wörter und Buch—
ftaben war ein zwar befchwerliches aber gutes Mittel, den Text gegen Zuthaten
und Weglaffungen zu fihern. Auch was man als „Kleinigkeiten, die der Mühe
des Aufzeichnens kaum werth waren” (Eichhorn, Einleitung. I. 417), bezeichnet,
wie z. B. die Angabe auffallender Eigenthümlichfeiten einzelner Verſe oder bie
Anzeige beftimmter Conftructionsweifen, war in der fraglichen Hinficht nicht gleich“
gültig. Die kritifchen und eregetifchen Bemerkungen behalten ohnehin als alte
Traditionen ihre Bedeutfamfeit, Freilich wäre zu wünfchen, daß eine berichtigende
— a ra en
| Maffalianer — Maffilianer, 95
ordnende Hand über das zum Theil noch ungeordnete und manche Verſehen ver-
rathende (Eichhorn, a. a. O. ©. 433 ff.) maforethifhe Material fommen möchte,
— Im Dbigen wurde gelegenheitlich ſchon eine Feine und eine große Mafora
erwähnt. Die Fleine Mafora (Masora parva, TYIO97 Tır> oder TIUp 0%)
macht ihre Bemerkungen in abbrevirten techniſchen Ausdrüden, gewöhnlih am
Seitenrande des Textes, und heißt darum auch oft Masora marginalis; die große
Mafora dagegen (Masora magna, >77: 77702 oder Kn2ı 702) findet ſich
gewöhnlich über und unter dem Schrifttert und dient der Fleinen Mafora zur Er-
gänzung und Vervollſtändigung, oder auch, was im Grund auf daffelbe hinaus-
lauft, die Heine Maſora ift ein Auszug aus der großen. Wenn 5. B. die Heine
Mafora zu >31 Genef. 29, 10. bemerkt: > "na 3, fo zeigt in ſolchen Fällen
die große Mafora die Stellen an, um die es fich Handelt, entweder mit den An-
fangsworten, oder mit fonft einem oder einigen Schlagwörtern. Außerdem unter-
fheidet man noch eine Endmafora (Masora finalis, auch Masora maxima oder
Masora magna finalis genannt). Sie ift eine Art Concordanz, welde in alphabe-
tiſcher Ordnung die Wörter und Stellen aufführt, zu denen die Maforethen Be—
merfungen zu machen hatten. Da die bisher beiprochene Maſora der Hauptſache
nach von den Gelehrten zu Tiberias ausging, fo fonnte man fie au die palä—
flinenfifche nennen im Gegenfag zur babylonifhen, welche ungefähr gleichzeitig
mit ihr in den Schulen zu Sora, Nahardea und Pumbeditha entflund, von der
ung jedoch wenig befannt geworden if. Es ſcheint fih nämlich von derfelben
nichts erhalten zu haben, als ein Verzeihnig von morgenländifhen Lefearten
gegenüber von abendländifchen aus unbefannter Zeit, und ein Berzeihnig von
Leſearten unter dem Namen des R, Naphtali, eines babyloniihen Juden im 11ten
Sabrhundert, gegenüber den Lefearten des R. Aaron, eines Paläftinenfers, Beide
find in der großen Bomberg’fhen und Burtorf’fhen Bibel und im fehsten Theil
der Londoner Polyglotte gedrudt. Die Lefearten des erften Berzeichniffes haben
ed, zwei Fälle ausgenommen, bloß mit Confonanten zu thun, die des zweiten,
einen Fall ausgenommen, bloß mit Vocalen und Accenten. Nun ift von felbft
Har, warum unfer jegiger hebräiſcher Bibeltert der maforefhiiche genannt wird,
und bei dem großen Anfehen, deffen fih die Maſora feit ihrer Entftehung erfreute,
auch Leicht begreiflih , daß durch denfelben der vormaſorethiſche Tert völlig ver-
drängt worben ift. [elte.]
Mailalianer, ſ. Meffalianer.
Maifilianer. Im ſüdlichen Franfreih, befonders in Mafftlia (Marfeilfe)
— wovon der Name — gab es im Anfang des fünften Jahrhunderts viele Geift-
liche und Mönde, welchen der Lehrbegriff des HI. Auguftinus über die Gnade
und Prädeftination zu Hart erfchien. Diefe wollten eine mildere Erflärung auf-
ſtellen, oder eine Art von Berföhnung ftiften zwifchen der Auguftinifchen Lehre
und dem Pelagianismus, verfielen aber dadurch in den Semipelagianismus. Im
Gegenfage zu Pelagius hatte Auguftinus gelehrt: Diejenigen, welche zur Selig-
feit auserwählt feien, verdanften ihre Auserwählung nur der Gnade Gottes;
weder in der Vorausficht Gottes, daf fie mit feiner Gnade treu mitwirfen wer-
den, noch im Berdienft des Menfhen überhaupt fei der Grund der Auserwählung
(praedestinatio ad vitam) zu ſuchen. Würden dagegen die übrigen von der Selig⸗
feit ausgefchloffen, fo liege der Grund davon nicht im Willen Gottes, der alle
Menfchen felig Haben wolle, nicht darin, daß ihnen Gott die zureihende Gnade,
felig zu werben, verfagt habe, fondern darin, daß fie wegen ihrer Luft am Böfen
fich feldft des Lebens beraubten, oder daß ihnen die Gabe der Beharrlichkeit ab-
gehe, welde Gabe ſtets der Vorzug der Prädeftinirten fei, fo daß diefe ver—
mittelft diefer Gabe ihres Herrlichen Zieles gar nicht verluftig werben könnten.
Das donum perseverantiae aber fei eine freie Gnade Gottes, die er unbefchadet
58*
916 Maffilianer,
feiner Gerechtigfeit den Einen aus Barmherzigkeit ertheilen, den Andern verfagen
fonne, Nach ver Lehre der Pelagianer Fonnte der Menfh, wofern er nur dem
göttlichen Gebote nachlebte, durch ſich felbft — mittelft des Gebrauchs feines
freien Willens — heilig und felig werden, Bon Jenen, bei weldhen Gott diefes
vorausgefehen, heiße es in der hl. Schrift, Gott Habe diefelben vor der Schaf-
fung der Welt auserwählt und in Chriſto vorberbeftimmt. Das waren Extreme,
welche die Maffilianer vermeiden wollten. Proſper von Aquitanien, ein eifriger
Anhänger des HI. Auguftinus, fehrieb an diefen um das J. 427 über die ſchwe—
benden Anftände, welche die gallifchen Chriften an der Auguftinifchen Lehre fänden.
Diefelben glaubten, daß Auguftin den freien Willen läugne, und dieß glaubten
fie um fo fefter, feitvem die Mönde des africanifchen Klofters zu Adrumelum
ähnliche Bedenken dem Bifchofe von Hippo vorgelegt, und diefer ihnen in dem
Buche de correptione vollftändige Antwort gegeben habe, Nach Profper war die
Anficht der Maffilienfer folgende: Affe, die fih dem Glauben und der Taufe
näherten, könnten felig werden, denn das Blut Chrifti fei für Alle ohne Aus-
nahme zur Verföhnung gefloffen. Diejenigen nun, welde glauben, und dur
Gottes Gnade in Glauben verharren würden, diefe habe Gott fchon vor der
Weltfhöpfung vorhergewußt, und diefe Habe er auch zum Leben vorberbeflimmt,
Diefe Anfiht war ganz der femipelagianifchen Lehre gemäß, nach welder auf
Geite des Menfchen ver anfangende Glaube als Bedingung der Präveftination
gefordert ward, Die Auguftinifhe Prädeſtinationslehre war den Maffilianern
deßhalb vorzüglich anftößig, weil fie daraus folgerten, daß alle fittlihe Thätig-
feit des Menfchen dadurd aufgehoben fei, daß fonach an die Stelle von Tugend
und Lafter die unbedingte Nothwendigfeit trete; denn fei die Auserwählung oder
die Verwerfung nur von dem Wohlgefallen Gottes abhängig, dann fei bei den
Gefallenen an feine Sorge wieder zu erflehen, und bei den Heiligen an Feine
Wachfamkeit und Behutfamfeit mehr zu denfen, auf beiden Seiten könne ja die
menfhlihe Bemühung an dem einmal verhängten Loofe nichts mehr ändern, Der
Menfch, lehrten diefe Semipelagianer, müffe wenigfteng den Willen haben, zu
glauben, fo verborben fei dur Adams Sünde der Menfh nicht, daß er nicht
einmal den Willen haben könne, geheilt zu werden; die Gnade werde dadurch
nicht geläugnet, wenn der Wille vorbergehe; das ewige Leben werde nur von
jenen erlangt, welche freiwillig an Gott geglaubt, und durch ihre Bereitwilligfeit
zu glauben (merito credulitatis) auch den Beiftand der Gnade empfangen hätten.
Selbft die Gabe der Beharrlichfeit Iaffe fich mit dem freien Willen combiniren,
denn diefe Gabe fünne der Menfch fich durch Gebet verfchaffen, oder durch Ueber—
muth verlieren. Ein gewandter Vertreter der femipelagianifchen Lehre zu Maffilia
war ein Schüler des HI. Chryfoftomus, Johannes Caſſianus, der als Abt
zweier Klöfter fowohl, als dur feine Schriften ſich einen bedeutenden Einfluß
auf die gallifchen Mönche fiherte. Caffianus (f. d. A.) nahm zwaran, daß alles
Gute, felbft jeder gute Gedanfe, von Gottes Gnade herrühre; doch zeige fi
auch manchmal durch unfere eigene Natur der Anfang eines guten Willens, der
jedoch ohne Gottes Beiftand nicht zur vollen Tugend reifen könne. Caſſian bielt
Unterredungen mit den Anachoreten der feytifchen Wüfte, deren Gegenflände er
mitgetheilt hat. Die von Profper und nachher von Hilarius dem Hl. Auguftinus
zugefommenen Berichte machten auf den letzteren merflichen Eindruck; er ſchrieb,
um fich gegen feine gallifchen Gegner zu rechtfertigen Cum 428 oder 429) zwei °
Bücher, die er dem Profper und Hilarius zueignete, Darin tadelt er feine Geg- 7
ner, daß fie nicht den Anfang des Glaubens felbft, fondern nur das Wachsthum
deffelben der Gnade Gottes zufchrieben, da fie die Gnade vom Verhalten des
Menfchen abhängig machen wollten u. ſ. w. In ber Schrift: de dono perseve-
ranliae beweist Auguftin, auch die Beharrlichkeit fei ein Gnadengeſchenk Gottes,
beinahe das ganze Gebet des Herrn fei eine Bitte um Beharrlichkeit ac, Uebrigens
Mafillon. 917
hatte die Maffikianifche Auffaffung nicht bloß bei Mönden (ſelbſt ver glaubeng-
eifrige Vincenz von Lerin follte nicht ganz unberüßrt geblieben fein), fondern auch
bei Bifchöfen, wie bei Fauſtus von Riez (ſ. d. A.), Gennadius von Maffilia
(f. d. AI ee, Anklang gefunden, wozu allerdings die bis zur Schroffheit des
Ausdrufs getriebene Darftellung Auguftins (ſ. d. A.) die nächſte Veranlaffung
gewefen fein mag. [Dür.]
" Majillon, Jean Baptift, wurde 1663 zu Hyeres in der Provenge ge=
boren, wo fein Vater als Notar lebte. 1681 trat er in die Eongregation deg
Dratoriums und zog bald durch feine Talente die Aufmerkfamkeit feiner Obern
auf fih. Hier verfaßte er einige Reden auf Heilige und zwei Trauerreden auf
Villars, Erzbifchof von Vienne, und auf Villeroy, Erzbifchof von Lyon, In der
Nede auf Billars entwicelt er zugleich feine Anfiht von den Lobrednern der da-
maligen Zeit, die nur „weltliche Angelegenheiten in die Betrachtung des Todes
mifchten“. Beide Neden verrathen übrigens feine Jugend, fie find überhäuft von
dialectifhen und rhetorifchen Formen, voll von Vergleihungen, Anfpielungen aus
dem alten Teftamente, Antithefen. 33 Jahre alt wurde er in das Seminar St,
Magloire als Borfteher berufen und verfaßte bier fünf Conferenzreden über die
Wichtigkeit des geiftlichen Standes, Zurücgezogenheit von der Welt, Ehrgeiz ver
Geiftlihen, Borbereitung zur Communion, Eifer der Geiftlihen gegen Aerger-
niffe, Es zeigt fi im denfelben viel Eifer, Einfiht und Erfahrung; bei aller
jugendlichen Frifche und Lebendigkeit ift die Darftellung einfach, jene mächtigen
Entfaltungen rhetorifcher Kraft, welche ihn fpäter auszeichneten, waren hier nicht
am Plage, Er entſchied fih auf die glüdlichen Erfolge der Eonferenzreden in
St. Magloire, in die große Laufbahn der damaligen Fatholifchen Ranzelberedtfam-
feit in Frankreich als Advents- und Faftenprediger zu treten. Bon La Tour, dem
Borfieher des Dratoriums, gefragt, wie er von den Rednern in Paris urtheile,
fagte er: ich finde, daß Alle viel Wig und große Gaben haben, aber wenn ich
einmal predige, werbe ich anders predigen als fie. Mafillon war längft mit fi
wegen der Beredtfamfeit einig. Seine großen Borgänger Boffuet (f. d. A.) und
Bourdaloue (f. d. A.) Hatten die Seite der Einbildungsfraft und des Verſtandes
erſchöpft, es blieb noch die des Gefühles übrig, und hier, glaubte er, fei fein
Doden und fein Ruhm zu finden, Er verftand unter diefer Beredtfamfeit des
Gefühls nicht jene weihe Empfindfamfeit fentimentaler Seelen, er wollte feine
Rührungen hervorbringen, weldhe nit einem höhern Zwecke dienten, fondern
wollte zu Gunften des Glaubens und der hriftlihen Frömmigfeit die gewaltigften
und Fräftigften Gefühle des menschlichen Herzens aufregen, die ganze Gemüths—
welt in das Streben nach Heiligung hineinziehen und fie aus einer feindfeligen
Macht in eine fegensreiche verwandeln. Wenn ihm dieß auf eine fo ausgezeich-
nete Weife gelang, fo verdanfte er es nicht allein feinem Talente, feinem erreg-
baren Gemüthe, feinem tiefen Studium des eigenen Herzens und der Sitten der
Menfchen, fondern der Geift der Zeit Fam ihm zu Hilfe, die Literatur war focial,
practifch, die Sprache des Umgangs war feine andere als die der Literatur, da=
durch wurde die Profa fehr veredelt und vervollfommnet, die bedeutendften Tas
Iente ſchrieben in diefer Profa, Boffuet, Fenelon, Pascal, Marieaur, Rouffean,
Büffon; Maſillon fonnte für feine Beredtfamkfeit diefe Vollendung der Profa be—
nügen; dann gab gerade die große Unfittlichkeit feiner Zeit feiner Beredtfamkeit
Kraft und Energie, gewaltig ftemmte er fich gegen das Verberben, und feine Be-
redtfamfeit raufchte daher wie ein Strom, der auf feinem Wege viele und große
Hinderniffe findet; dieß verlieh feinen Reden jene rührende Wehmuth und tiefe
Trauer, welche fo anzieht. Sp gelangte er zu jener Beredtfamfeit, welde fo
große Eigenfchaften in fich vereinigt, vor Allem jenes Pathos, bei dem er bie
ftärfften und zarteflen Empfindungen mit Leichtigkeit erregt, in die Seele ein-
dringt, Seufzer und Thränen erweckt und fie mit unwiderftehlicher Gewalt zwingt,
918 Mafillon,
ihre Noth zu befennen und Gott als den einzigen Helfer anzurufen. Die Rüh—
zung fohreitet von Stufe zu Stufe fort, feine tiefe Kenntniß des menfhlichen
Herzens, feine fruchtbare und lebhafte Einbildungskraft bieten ihm ftets neue
Seiten, um zu rühren, bis auf das geringfie Detail hinaus weiß er den einzelnen
Gedanken zu erfihöpfen und ihn fo lebendig und friſch als möglich darzuſtellen.
Statt den Umfang der Pflihten zu entwideln, fegt er biefelben voraus, fagt,
wie wenig wir fie erfüllen, ftellt das göttliche Gebot unfern Sitten gegenüber,
ſtellt fich auf den Standpunet des Zuhdrers, geht in feine Anfichten ein und be-
nimmt ihm mit fleigender Kraft alle und jede Entfhuldigungsgründe, Eben fo
trefflich weiß er zu rühren durch Schilderungen der verfhiedenften Art, wo er
mit den ernfteften Ausdrüden bald erfchrect, bald mit den glängendften Farben
erfreut, aber immer erbaut und rührt, Dabei häuft er die Gedanken nicht auf
einander, fondern wenige reichen oft hin, eine ganze Rede auszufüllen. Neben
diefem Pathos glänzt er durch feinen Styl, er ift nicht kühn, ſchwingt fich nicht
fchnell und unerwartet in die Höhe, um eben fo ſchnell zu fallen; Maſillon be—
rechnet feinen Ausprud, fügt ihn zufammen, forgt emfig für Eleganz, Farbe,
Adel, Pomp und Harmonie, dabei vermeidet er alle gezwungenen Bilder, ſcharf
ausgeprägte Sentenzen, Kraftausprüde, welche den Styl bizarr und ſchwülſtig
machen, dabei arbeitet er fo leicht, daß die Ausdrüde ohne alle Mühe fih ihm
einftellen, und wenn er bei Wiederholungen der Leerheit des Begriffs nicht ent-
gehen fann, entgeht fein Styl doch dabei der Einförmigfeit, indem er bald Fülle,
bald Kürze ausdrückt. Seine erſten VBerfuche in den Predigten wurden von M.
1698 in Montpellier angeftellt; fie waren im höchſten Grade ermuthigend, 1699
trat er vor dem Publicum in Paris mit fehr großem Beifalle auf, und Bourda—
Ioue, der ihn hörte, äußerte: er muß wachfen, ich aber muß abnehmen, In dem—
felben Jahre trat er noch als Adventsprediger vor dem Könige und Hofe auf und
eröffnete feine erfte Predigt an Allerheiligen mit einem fehr feinen glänzenden
Eomplimente, 1701 und 1704 bielt er die Faftenpredigten zu Verſailles vor
dem Könige und vor dem Hofe. Der König entließ ihn mit den fchmeichelhafteften
Ausdrücen und fagte: „Wenn ich andere Redner hörte, war ich immer mit ihnen
zufrieden, wenn ih Sie hörte, war ich mit mir unzufrieden“, und fügte bei:
„Bon jegt an will ih Sie alle zwei Jahre hören.” Maſillon kehrte aber erft
wieder 1718 an den Hof zurüd, um die Petit car&me zu halten, Diefe Advents-
und Faftenpredigten nun, welche mit den Reden über die Geheimniffe fehs Bände
füllen, begründen feinen eigentlihen Ruhm, In ihnen entwidelt fih der ganze
Pomp feiner Sprache, trefflihe Bergleichungen, großartige Figuren wechfeln mit
einander ab, alle pratorifchen Schönheiten hat er hier ausgegoffen, und fie treten
frifch und Iebendig vor ung, Wäre Plan und Anlage der Nede gleich vollendet
wie Form und Ausführung in diefen Neden, fie würden nichts zu wünfchen übrig
Laffen und als kaum zu erreichende Mufter hriftlicher Beredtfamfeit ſtets ange-
führt werden. Die fchönften von diefen Predigten find: Ueber das Glück der
Gerechten, der Tod des Frommen und des Sünders, jüngſtes Gericht, Auffhub
der Buße, Gottheit Chrifti, Wort Gottes, Unfterblichkeit der Seele, Rüdfall,
Unbußfertigfeit im Tode, geringe Zahl der Auserwählten, Vermiſchung der Guten
mit den Böfen, über den Tod, Almofen, Verzeihung der Beleidigungen, Unter-
werfung unter den Willen Gottes, Geift Chrifti und Geift der Welt. 1718
wurde Mafillon wieder an den Hof berufen, um in den Tuilerien vor dem achte
jährigen Ludwig XV. Faftenreven zu halten. Mafillon war ſchon lange vom Hofe
entfernt, er glaubte, feine Faftenreden feien für das Alter des Königs zu fireng
und zu unzuverftändlich, und er entfchloß fich, neue Neden zu verfertigen, So ente
ſtand die Petit caröme in der kurzen Zeit von drei bis vier Monaten, eine ganz
neue Schöpfung ber Berebtfamfeit, Von Seite des Styls ift das Werf ausge»
zeichnet, Harmonie, Eleganz, Kraft, Fülle, Werhfel des Tons, erhabene Poeſie
Mafillon. 919
des alten Teftamentes zeigen fich überall, und von Seite des Styls gehört es zu
dem Schönften, was die franzöfifge Profa hervorgebracht hat. Eben fo trefflich
ift die Arbeit in Bezug auf die Moral, mit unglaubliher Kenntni der Sitten
der Großen, gleich als Hätte er an all’ ihren Spielen, Intriguen, ſinnlichen Ber-
en Theil genommen, gleich als wäre er in ihr Herz hinabgedrungen, ent=
wickelt er die Leidenfchaften der Großen, ihren Ehrgeiz, ihre Heuchelei, ihre
Sittenlofigfeit, und zeigt dabei große Freimuth und eine erhabene Würde. Von
Seite der Religion aber iſt die Petit car&me ein großer Mißgriff. Statt von
Chriſto, feiner Liebe, feiner ©nade, feiner Leitung des Herzens der Könige und
der Bölfer zu reden, und dem jungen Könige zarte Empfindungen gegen diefen
Chriſtus einzuflößen, redet er nur von Moral, die erfehütternden oder befeligenden
religiöfen Wahrheiten treten ganz in den Hintergrund, felbft am Charfreitage
fpricht er nicht vom Leiden Ehrifti, fondern von den Leidenſchaften der Großen.
Freilich war noch in lebendigem und traurigem Andenken Aller, wie verderblich
die Leidenſchaften Ludwigs XIV. für Volk und Land geweſen waren. Aus den
Sahren 1709, 1711, 1715, 1721 ftammen feine Lob⸗ und Trauerreden auf den
Prinzen Conti, den Dauphin, Ludwig XIV., die Herzogin von Orleans, Seine
Lobreden auf Heilige und diefe Trauerreden find der ſchwächſte Theil feiner Be—
redtfamfeit, fie find Falt, trocken, voll von moralifchen Betrachtungen, es ift feine
Entwicklung der Thatfachen, Fein dramatifches Jntereffe, der Heilige oder Held
fliegt immer im Hintergrunde, wird nur zufälliger Weife herbeigezogen, man ver-
mißt fühne Züge, großartige Schilderungen, Glanz des Auspruds, Kraft der
Gedanken, und er ermüdet meift, ohne zu erbauen, Selbſt die Lobrede auf Lud-
wig XIV. enthält nur wenige Schönheiten. 1719 wurde er als Mitglied in bie
franzöfifhe Academie aufgenommen und hielt dafelbft eine geiftreiche Rede, welche
fi über viele Gegenftände verbreitete, ohne einen einzigen zu erfhöpfen. Zu—
gleih nahm er in diefer Rede Abſchied von der franzöfifchen Academie, fich mit
feinen biſchöflichen Gefchäften entfchuldigend. Außer bei ver Rede auf die Her-
zogin von Orleans verließ er bis zu feinem Tode, welcher den 28. Sept. 1742
in einem Alter von 79 Jahren ihn erreichte, feinen bifhöflihen Sprengel nicht
mehr, Als Bifhof von Eondom, wozu er erft fpät, im Jahre 1717, vom Re=
genten, dem berüchtigten Herzog von Drleans, ernannt wurbe, entwidelte er
einen großen Eifer, vertheilte nach und nach 20,000 Livres, ohne feinen Namen
zu nennen, und fuchte durch wohlthätige Anftalten der großen Noth der Zeit zu
Hilfe zu fommen. In diefe Zeit fallen auch feine Conferenzreden an die Geift-
lichen, ausgezeichnet durch gerundete, harmoniſche Sprache, durch Würde und
Kraft des Styls und durch väterliche Milde, welche aus diefen Reden ſpricht.
Seine Gegenftände find immer aus der Mitte und Tiefe des Herzens und
der Lebensverhältniffe der Geiftlihen genommen, er redet vom Eifer der
Geiftlihen gegen die Aergerniffe, von der Beſcheidenheit, vom Ehrgeize, vom
Umgange mit der Welt, von dem Gebrauche der Kirhengüter, in welcher eine
Stelle eine Art Berühmtheit erlangt hat, weil er darin wegen Mißbrauchs der
Kirchengüter die Entreifung derfelben prophezeit. Sein berühmter Name war
Urfache, daß feldft feine Synodalreden, die er auf der jährlichen Synode feines
Elerus Hielt, und feine Faftenmandate aufbewahrt wurden, Noch hat er Para—
phrafen über die Palmen, Gedanken und Betrachtungen über moralifche und re—
ligiöſe Gegenftände hinterlaffen, aus denen die Gefühle einer gläubigen Seele
in edler Einfachheit ſprechen. Mafillon gefiel fehr durch den Vortrag. Er war
nicht fo ſchnell, wie der des Bourdaloue, hatte aber mehr Reiz und Salbung.
Er ſprach mit viel Würde, meift in aufrechter Haltung, obgleich von Heiner
Statur, war feine Haltung edel, mit feinen feurigen, ftegenden Augen wußte er
eben fo feltene als ehrwürdige Geberden zu entfalten, Seine Stimme war weich)
und wohlflingend, wenn er fie anftrengte, wurde fie Häglich und weinerlih, Er
920 Maffuek
befaß übrigens ein treufofes Gedächtniß, und hatte mit vemfelben viel zu Fämpfen,
lernte übrigens feine Neden genau auswendig und nannte diejenige die befte,
welche er am beften auswendig wußte, In feiner Einfamfeit fah er feine Ar-
beiten durch, gab ihnen die legte Zeile und machte wohl auch einzelne Zufäge,
Man hat aus feinen fämmtlihen Reden Blumenlefen veranftaltet, 3. B. pensdes
sur differents sujets de moral et de piet&, tir&es des oraisons de Masillon. Paris
1748, oder: nouveaux choisis de M. Paris 1810, bildet in der Ausgabe von
Benouard den 13ten Band. Seine Predigten wurden in verfhiedene Sprachen
überfegt, in die portugiefifche, polnifhe, teutfche. Die teutfche Ueberſetzung,
Dresden 1753—1759, 15 Bände, und Wien 1785—87, 15 Bände, iſt indeß
ziemlich fehleppend. Neuere Arbeiten über Mafillon find: Theremin, De-
moſthenes und Mafilfon. Berlin 1845. Lu, Chryfoftomus. Tübingen 1846,
Lu, ausgewählte Predigten von Mafillon. Tübingen 1848, Eine ältere Schrift
über Mafillon ift Maury &loquence de la chaire. Bd. 1. $ 23. u. 58, [us]
Mafjuet, Dom Rene, wurde zu St. Duen de Mancelles in der Didcefe
Evreux 1665 von frommen Eltern geboren, trat in das Maurinerflofter zu unfrer
Yieben Fran in Lire, und legte dort noch nicht 17 Jahre alt (1682) die Ordens—
gelübde ab, Seine Borbildungsfiudien betrieb er im Klofter Bonnenouvelle in
Drleans, wo er durch feine Talente, Renntniffe und fittlihen Charakter bei feinen
Dbern fih fo fehr empfahl, daß diefe ihn 1693 als Lehrer der Philofophie in die
Abtei Dec, einige Jahre fpäter nach Caen fihieften, wo er in der Abtei St,
Etienne die Theologie zu lehren hatte. Hier erlangte er die Würde eines Bacca—
laureus und Licentiats der Nechte, Dem Wunfche der dortigen thenlogifchen Fa—
eultat, ihn in ihrem Gremium zu befigen, konnte Maffuet nicht entfprehen, da
ihn feine Obern als Profeffor der Theologie auf ein Jahr nach Jumiöge, und
auf drei Zahre nach Fecamp riefen. Auch in St. Duen zu Rouen lebte er eine
furze Zeit (1702). Hier verlegte er ſich mit regem Eifer auf die Erlernung der
griechifchen Sprache. Hierauf (1703) erhielt er den Nuf als Profeffor der Theo—
logie nah St. Germain des Pres. Neben feinem Lehramte befchäftigte er ſich
hier mit der Abfaffung einer Gefchichte der Patriarchen und mit andern anflren-
genden Literarifchen Arbeiten ; allein feine raftlofe Thätigkeit in einem gebrechlichen
Körper erfchöpfte bald feine Kraft, er erlag 1716 am 11. Januar im fünfzigften
Lebensjahre einem Schlagfluffe. Schon während feines Aufenthaltes zu Bonne-
nouvelle befiel ihn eine Lähmung am rechten Arm, wovon ihn die Bäder zu Dour-
bon nicht völlig wieder befreien Fonnten, Sein früher Tod war ein großer Ver—
Yuft für den Orden und für die Wiffenfchaft. Seine vorzüglichfte Leiftung ift die
herrliche Ausgabe der Schriften des HL. Irenäus (Paris 1710 in Fol). Die
früheren Ausgaben des HI. Lehrers Irenäus waren die von Erasmus, Bafel
15265 die zu Genf 15705 Bafel 15715 die durch den Franeiscaner P. Franz
Fenardent beforgte Coft nachgedruckte) Ausgabe, Cöln 1596; endlich die kritiſche
Ausgabe, welche der gelehrte Joh. Ernft Grabe (f. d. A.) 1702 Hatte erſcheinen
Yaffen, Auch die Grabe'ſche, an fich vorzügliche Ausgabe Fonnte fih der Maffuet’-
ſchen Arbeit nicht an die Seite ſetzen. Den Grabe'ſchen Tert verbefferte Maffuet
anfehnlich durch Hilfe von drei, den früheren Heransgebern unbefannt gebliebene,
sortreffliche Handſchriften; auch erhielt derfelbe eine Vermehrung durch Bei-
fügung mancher ungedruckten Stücke, und überbieß eine koſtbare Bereicherung
durch drei ausgezeichnete, viel Licht verbreitende Diſſertationen die erfte davon
enthält die Gefhichte der von Irenäus befämpften Kepereien, die zweite das
Leben und die Schriften des Kirchenvaters, und die dritte eine Erörterung feines
Lehrbegriffs. Nebſtdem beforgte Dom Maffuet den fünften Band der Jahrbücher
des Benedietinerordens, welchen Mabillon (f, d. A.) ungedruct hinterlaffen hatte;
dazu gab er einige Zufäge und eine Vorrede, worin er Mabillons und Nuinarts
Leben befchreist, Auch bat man von Maffuet eine Epiftel an R.P.E.LI di
2
4
—
1
J
34
Mafiaur — Materialismug. » 921
an den hochw. Pater Stephan Langlois, einen Fefuiten, Darin antwortet Maſſuet
auf eine Schrift gegen die von feinen Ordensbrüdern beforgte Ausgabe des HI:
Auguftin. Endlich fünf Iateinifche Briefe an Bernard Peg, die in Schellhorns
„amoenitat. literariae“ enthalten find, Manche Schriftfteller, die der Gelehrfam-
keit und den Eigenfhhaften des Herzens D. Maſſuet's volle Anerkennung zu Theil
werden laffen, bedauern die Beziehungen, in welche ſich derfelbe mit einer Partei
eingelaffen, welche fich ein Gefchäft daraus gemacht habe, den Samen der Zwie-
tracht und des Unfriedens in der Kirche auszuftreuen. Vgl. die Abhandlung von
Dr. Herbft in der Tübing. Quartalſchr. Jahrg. 1833. [Dür.]
Majtiaur, Cafpar Anton von, geb. den 3. März 1766 zu Bonn am
Rheine, von Pius VI. 1786 zum Domberrn in Augsburg ernannt, erhielt den
29. März 1789 in Cöln die Priefterweihe und ward in demfelben Jahre Dom—
prediger in Augsburg; 1803 Landesdirectiong-Nath der hurpfalzbayerifchen Pro-
vinz Schwaben, 1804 Director der General-Landesdirection in Münden, 1806
wirklicher geheimer Rath des Königs von Bayern, promovirte 1784 zu Cöln als
Magiſter der Philofophie, 1786 zu Heidelberg als Doctor der Rechte, 1790 zu
Rom als Doctor der Theologie, und war Ehrenmitglied mehrerer Academien und
gelehrten Geſellſchaften. Nach dem Tode des geiftlichen Rathes Felder übernahm
er die Redaction der Literaturzeitung für Fatholifche Religionslehrer, einer ent—
ſchieden katholiſchen Zeitſchrift. Maftiaur ſchrieb ſcharf und fatyrifh. Seine
herausgegebenen Schriften find: 1) De veterum Ripuariorum statu civili et eccle-
siastico commentatio historica. Bonnae 1784. 2) Hiftorifch-geographiihe Be—
fohreibung des Erzftifts Coln. Frankfurt 1785. 3) Ehriftliche Lieder. Erfurt
1786. 4) Ueber das negative Religionsprineip der Neufranfen. Dillingen 1793;
5) Earl Borromäus, Cardinal der römifchen Kirche und Erzbifchof von Mailand,
Eine Skizze. Augsburg 1796. 6) Katholifches Gefangbuh zum allgemeinen
Gebrauche bei öffentlichen Gpttesverehrungen,. 3 Bde. München 1810. 7) Boll-
fländige Sammlung der beften alten und neuen Melodien nach Anleitung des ka—
tholifchen Gefangbudhs. I. Bd. 1—4. Heft. Leipzig 1812. 4. Heft 1813, 5. Heft
1816, 6. Heft 1817, 7. Heft 1818, 8. Heft 1819 (ie drei legten Hefte im
Münden). 8) Ueber Choral- und Kirchengefänge. Ein Beitrag zur Gefchichte
der Tonfunft im 19ten Jahrhundert, München 1813. 9) Chorgebet der römifch-
katholiſchen Kirche am Fefte des HI. Frohnleichnams unfers Herrn Jeſu Chrifti,
Herausgegeben von der teutfehen Bürgercongregation zu Münden 1815. 10) Die
hl. Charwoche nach dem Ritus der römifch-Fatholifchen Kirche, von derfelben Con—
gregation herausgegeben. München 1817 (mit einer Vorrede von Sailer),
Außerdem erfchienen von Maftiaur mehrere Predigten, teutfhe und Yateinifche
Neden zu Dillingen, Bonn und Augsburg. (Siehe Gelehrten- und Schriftfteller-
Lericon der teutfchen Fatholifchen Geiftlichkeit von F. K. Felder. I. Bd. 457, und
IE Bd, 530 u, 31.) Maſtiaux ftarb in Münden, nahdem er durch Einficht,
Muth und Gefhäftsgewandtheit in geiftlihen und weltlichen Angelegenheiten ſich
große Berdienfte erworben hatte, [Haas.]
Maitricht, Bisthum, f. Lüttich,
Moaterialismus ift jenes philofophifche, oder wenn man Lieber will, un—
philoſophiſche Syftem, welches die Materie für das Erfte, Urfprüngliche erflärt,
die Entfiehfung der Welt (z0ouog) von ihr ableitet, und dann confequent der
wefentlihen Unterfchied zwifchen Geift und Körper läugnet, weil Materie nur
wieder Materie erzeugen fann. Die rohefte Form deffelben ift die von Leucipp
und Demoerit gegründete und von Epieur (f. d. A.) aufgenommene und be=
nüßgte Lehre des Atomismus, wornach die Welt aus einer unendlichen Menge
der Dualität nach gleichartiger, der Duantität nach aber verfchiedener, untheil-
barer, im leeren Raume fchwebender Grundftoffe oder Körperchen, Atomen
(j @rouos, sc. ovale, was Cicero in Academ. Quaestion. 1, 2. $ 55. mit indi-
922 Materialismug.
viduum überfegt), in Folge gegenfeitigen Zufammenftoßens entftanden fei. Höher
als diefer atomiftifche, mechanische Materialismus fleht der dynam iſche, der
nah Heraclit die Welt aus dem Zufammenwirken von Kräften (dvvauıg) zu
erklären fucht, Es kann hier die Aufgabe nicht fein, dieſen theoretifchen, ab-
firacten Materialismus zu würbigen; es findet dieß in der hriftlichen Lehre von
der Weltfhöpfung (ſ. d. A.) feine Erledigung. Vielmehr ift e8 an ung, den-
felben in feiner Anwendung auf das religiöfe Leben und fittlihe Handeln, alfo
den prartifhen Materialismus zu befprechen. — Iſt au das ganze Heiden-
thum won der materialiftiichen Anfchauung durchdrungen, weil es bei feiner Be-
flimmung des gegenfeitigen Verhältniſſes zwifchen Geift und Natur jenem nie
die richtige Stellung angewiefen, fo muß doch namentlich der Naturforfcher Pli—
nius ald Vertreter diefer Richtung genannt werben, bei welchem auch die fran-
zöſiſchen Materialiften, z. B. La Mettrie, in die Schule gegangen find (f. Ency-
elopädiften). Er identificirte ven Geift mit der Materie, hielt ven Menfchen
nicht wefentlih vom Thiere verfchieden, läugnete feine AUnfterblichfeit und ftellte
gleichfalls das Dafein einer Gottheit in Abrede, Aus dem Judenthume gehören
die Sadducäer (ſ. d. A.) hierher. Aus Matth. 22, 23. Mare, 12, 28. Apg.
23, 7—9, wo fie die Unfterblichkeit der Seele und das Dafein höherer Geifter
läugnen, fo wie aus der Thatfache, daß die Anhänger des Sadducäismus Män—
ner des Genuffes aus den höhern Ständen waren, darf man ſchließen, daß ihre
Lehre ein in Materialismus übergehender Deismus war. Materiakiftifch ift ferner
der Gnoſtieis mus (ſ. d. U.) fchon defhalb, weil er Pantheismus ft, jeder
Pantheismus aber, fobald man aus der Einheit zu deren Theilen übergeht,
was namentlich in praetifcher Hinficht nicht wohl zu verhüten ift, zum Ma—
terialismus führt; materialiftifh ferner, weil er dualiſtiſch iſt. Ebendahin ge-
hört der Manihärismus (f. d. A.), der diefelben Prineipien enthält. Ihren
Materialismus legt diefe Härefie ſchon in der Auffaffung Gottes an den Tag.
Auguftinus fagt aus der Periode, in welcher er ihr angehörte: Multumque mihi
turpe videbatur, credere figuram te (sc.:Deum) habere humanae carnis et mem-
brorum nostrorum lineamentis corporalibus terminari. Et quoniam cum de Deo meo
cogitare vellem, cogitare nisi moles corporum non noveram, neque enim
videbatur mihi esse quidquam quod tale non esset, ea maxima et
prope sola caussa erat inevitabilis erroris mei. Confess. 1. IV. 10, 19. Ganz be=
fonders aber tritt der fittliche Materialismus in Folge jenes in das Leben einge»
führten Dualismus hervor. Je ſtrenger diefe dualiftifche Lehre im Manichäismus
als im Gnoftieismus feftgehalten ift, defto craffer und allgemeiner müßte fi) der
Materialismus auch ausbilden, Nach derfelben nämlich ift ein ewig gutes und ein
ewig böfes Princip; der Menſch, als geiftiges und förperliches Wefen zumal, ifteine
Compofition diefer beiden Mächte, die mit Naturnothwendigfeit in ihm wirken,
Damit nun, daß die fittliche Freiheit geläugnet ifl, gibt e8 eigentlich nichts Sitt-
liches oder Unfittliches, Tugend wie Lafter find etwas rein Natürliches, weil der
Menſch ja der Naturnothwendigkeit überantwortet ift, Da die Sünde nad dieſer
Lehre in der Materie als folcher und an fich ſchon Liegt, kann im Menfchen, wenn
der Widerftreit jener beiden in ihm wirfenden Prineipien aufhören foll, die Be—
freiung oder Erlöfung von der Sünde nur durch Zerftörung oder Deftruction
der Materie, d. h. durch Abſchwächung, Entfräftung des Körpers bewirkt werden,
Es Teuchtet aber ein, daß diefe Erlöfung von der Sünde oder der Materie nur
dur völlige Hingabe an die Materie, d, i, durch die graufenerregendfte Unfitt«
lichfeit erzielt werben fann. So aber fümmt das gerade Gegentheil des Be—
zwecten zu Stande, der Geift geht in der Materie aufz und die vermeintliche
Erlöfung oder Entfündigung wird durch den ſchändlichſten Naturproceß vollzogen:
der wahrhaft Erlöste wird derjenige fein, welcher der gröfte Schlemmer ift!
Und in der That findet fih im Manichäismus der Satz: Adam primum heroöm
Materialismus, 923
peccavisse et post peecatum fuisse sanctiorem ! (Augustin. de morib. Manich.
$$ 72. 73.) Daher die empörende Entfittlihung und Lafterhaftigfeit, wie fie uns
Auguftinus in dem fo eben eitirten Buche Cap. 18 bis Ende zur Erflärung des
siguaculum sinus ſchildert. Diefe pantheiftifch-dualiftifche in Materialismus über-
gehende Weltanfhauung ſchleppte ſich fort bis in's Mittelalter, wozu noch eine
myftifch - pantheiftifhe Richtung Fam, und erzeugte diefelben unheiligen Früchte,
Dem Fleifhe und feiner Luft wurde der Geift ganz und gar geopfert, um in der
innern Ruhe bleiben zu können! Namentlich gehören die Brüder und Schwe-
flern des freien Geiftes Hierher. Indem wir hieran nur erinnern und auf
die betreffenden Artikel verweifen, gehen wir zum Materialismus der neuern Zeit
über, Hat derfelbe auch einen andern Ausgangspunct, er ift für chriſtlichen
Glauben und Hriftlihe Sitte gleich gefährlich. Sein wiffenfhaftliher Grund
nämlih ift in dem in England entflandenen Empirismus oder Senfualis-
mas (Ci. d. U.) zu fuchen, welcher die-Sinnenwelt nicht bloß als die Beran-
laffung, fondern als die Urſache unferer Borftellungen und Erfenntniffe felbft
anfieht. Locke (ſ. d. U.) war es, der in Folge jener fehlerhaften Verwechslung
den Satz aufſtellte: Alle unfere Erfenntniffe entfpringen nur aus der finnlihen
Erfahrung; die Seele ift an fi eine tabula rasa, welche nur durd, aus der Er—
fahrung gewonnene Renntniffe vollgefchrieben werden kann. Hiernach ift der
menfhliche Geift feine erfle, urfprünglide Subftanz, feine fubftantielle Wefen-
heit mehr, noch gibt es angeborne Begriffe oder Ideen. Locke machte von jenem
ungemein folgereichen Sage feine volle Anwendung, er capitulirte noch, wie Fr.
Schlegel fih ausdrüdft, mit dem Bedürfnif des Glaubens einigermaßen und
fuchte wenigftens den an das innere moralifhe Gefühl aufrecht zu erhalten; aber
fein Empirismus verhielt fih dennoch prineipiell gegen alles Ueberſinnliche ne=
gativ. So fann 3.3. nah Kant's Bemerkung aus der Erfahrung auf fittliche
Freiheit nicht gefihloffen werden, weil die Erfahrung nur das Gefeg der Erſchei—
nungen, mithin den Mechanismus der Natur, das gerade Widerfpiel der Frei-
heit, zu erfennen gibt. Der fo gewonnene Begriff der Freiheit fei nur der einer
pſychologiſchen, welche aber die Freiheit eines Bratenwenders fei, der auch, wenn
er einmal aufgezogen worden, von felbft feine Bewegungen verrichte!l Ebenſo—
wenig laffen fih aus der Empirie die Ideen der Unfterblichfeit und Gottes ge-
winnen, eonfequent müffen fie alfo geläugnet werden. Wie gefagt, Locke zog diefe
Eonfequenzen nicht; aber fie lagen in feinem Syſtem und liegen darum nicht
lange auf fih warten, — Da die finnlihe Erfahrung für das Denken fein Geſetz
der innern Nothwendigfeit, fondern nur Zufälligfeit geben kann, wurde der Locke'ſche
Empirismus durch Hume (f. d. A.) zur Sfepfis fortgetrieben. Noch vor Locke's
Auftreten artete die Theologie in Deismus (f. d. A.) aus, War früher der
noch abſtracte Materialismus des Thomas Hobbes (f. d. A.) für die Theo-
logie ohne weitere Folgen geblieben, fo Teiteten die Deiften jet die philofophifche
Strömung des Senſualismus und des Sfepticismug (ſ. d. A.), und zwar
jenen Skeptieismus, der nicht zweifelt, um zur pofitiven Wahrheit zu gelangen,
fondern der fih der Skepſis bedient, um alles Pofitive verneinen zu fünnen, in
die beiftifhe über, und machten damit ihre Oppofition nachhaltiger. Die jegigen,
durch die ſenſualiſtiſche und ſkeptiſche Philofophie verflärkten Deiften traten daher
viel fchroffer als die frühern, ja zum Theil mit Frivolität auf, Schon Toland
(f. 8.9.) befiritt das Llebernatärlihe der Offenbarung; Collins (ſ. d. A.) madte
die Subjeetivität des Denkens, oder wie man ed nannte, das Freidenfen geltend
(I. Sreidenfer), und rüttelte an der Unfterblichfeit,, beftritt die Weiffagungen,
Woolſton (ſ. d. U.) das Wunder, Chubb (ſ. d.A.) erklärte die natürliche
Religion für die allein wahre, bis endlich diefer Naturalismus durd Boling-
brofe’3 (f. d. U.) Leichtfertigfeit in Materialismus und Atheismus auszuarten
drohte, Aber es Fam nicht vollends mehr zu diefem Facit. Die englifche Nation
924 Materialismus.
war einer derartigen Neligionsphilofophie durchaus abhold; der Deismus zerfiel
in fi felbft. Die vollftändige Löfung diefer traurigen Aufgabe ward Franfreich
vorbehalten! Peter Gaffendi, geb. 1592, Dompropft zu Digne, fpäter Pro-
feffor der Mathematif am College royal, Heitgenoffe und Freund Hobbes, furhte
dem Empirismus in Franfreih Eingang zu verſchaffen; mit Glück und einigem
Erfolg frifchte er Epicurs Lehre auf, Aber erft Eondillae (f. dA.) gelang
es, den englifhen Senſualismus mit tiefer Wurzel auf franzöfifhen Boden zu
verpflanzen. Sein Sag: e8 gibt Feine erften Prineipien, fondern nur erfte Facta,
fand allgemeinen Beifall, War er auch nicht confequent genug, die Materialität
der Seele zu behaupten, fo ift er doch der eigentliche Vater des franzöfifchen
Materialismus. Einige Zeit vorher hatte Voltaire (ſ. d. A.) während feines
unfreiwilligen Aufenthaltes in England den frivol gewordenen Deismus fennen
gelernt und ihm fodann in Frankreich durch Geift und Wis allgemeine Geltung
verfhafft. Jene philofophifche und diefe naturaliftifch theologifche Richtung ver-
banden fih miteinander, nahmen die Weiterentwiclung da auf, wo fie in Eng-
land ftehen geblieben war, Helvetius (ſ. d. A.), in feiner befannten Schrift
de Vesprit, ift fhon die Immaterialität der Seele etwas ganz Gleichgültiges; die
Tugend hält er nicht für eine ewige Idee; nad ihm ift es eine reine Unmöglich-
feit für den Menfhen, das Cute um des Guten willen zu thun Cil est aussi im-
possible d’aimer le bien pour le bien que d’aimer le mal pour le mal); der einzig
wahre Beweggrund der Tugend fei die Eigenliebe (le sentiment de l’amour de
soi), die nur auf Befriedigung der finnlichen Luft gehe. Dieß fei die einzige
Bafis, auf die man eine nüglihe Moral gründen fünne, Boltaire ging ſchon
weiter ; ift er auch nicht geradezu Atheift, fpricht er auch noch von Vorfehung, fo
bleibt bei ihm doch die fittliche Freiheit in suspenso; er hält die Seele für etwas
Materielles und bezweifelt folgerichtig ſtark ihre Unfterblichkeit, Seine Lehren
find zwar nicht fo craß, als die der folgenden Genoſſen; aber durch feinen bis
zum Fanatismus gefteigerten Haß gegen alles Pofitive des Chriſtenthums, durch
feinen frivolen Wig, fowie durch feine geiftreiche blendende Oberflächlichkeit hat
er am Meiften gefchadet. Diderot (f. d. AU.) war Anfangs dem Deismus
ergeben; den Atheismus (ſ. d. A.) Hielt er für Unfinn. Bald genug aber wurde
er zur Sfepfis getrieben, wie ſich dieß in folgenden Gebet ausfpricht: O Dien,
jene sais, si tu es, mais je penserai comme si tu voyais dans mon äme, j’a-
girai comme si j’&tais devant toi. — Je ne demande rien dans ce monde, car le
cours des choses est necessaire par lui-möme si tu n’es pas, ou par ton döcret,
si tu es (Pensdes philos.). Endlich verfiel er in Materialismus, Er läugnet
den Unterfchied zwifchen Leib und Seele, vergleicht den Menfchen einem mufica-
liſchen Inſtrument, das fich nur dadurch unterfcheide, daß es fich felber fpiele,
während beim Klavier ein Muficus erforderlich fei, Das „Gefühl“ der Unfterbliche
feit ift nichts Anderes als die Begierde, fich bei der Nachwelt berühmt zu machen,
Seine Moral ift jene des Helvetius. Herrfcht in diefen atheiflifch-materialiftifchen
Schriften noch Etwas, was man Anftand, guten Ton nennen fünnte, wodurch
fie aber nur um fo fehädlicher wirkten, fo treten die nämlichen Beftrebungen am
Unverfchämteften und Plumpften in den Schriften von La Mettrie auf. Selbſt
ein Voltaire hafte ihn, nannte ihn einen Narren, und Diderot fagt von ihm:
il est mort comme il devait mourir victime de son intemp6rance (er ftarb an In—
digeftion) et de sa folie. Nach La Mettrie macht nur der Atheismus die Welt
glücklich; die Seele ift ein Teeres Wort, denn fie iſt nur der Theil des Körpers,
welcher denkt! Der Menſch ift eigentlich nur Thierz ja bis zu einem beftimmten
Alter ift er noch mehr Thier als die Thiere Cil est plus animal qu’eux), weiter
weniger Inſtinet als fie mit auf die Welt bringt; und nachher unterfcheidet er
fih von ihnen wefentlich nur dadurch, daß er mehr Bedürfniffe hat Cin L’homme 7
plante), Im Systeme d’Epicure erffärt er den Atheismus für das Grgengift der
Materialismus, 925
Mifantkropie; vortheilhaft fei er für den Bürger, weil er ihn der Neue über
die Lafter enthebe, indem er ja nicht Urfache fer, daß die Federn feiner Mafchine
fo ſchlecht fpielen, für den Philoſophen, weil er fich nicht für verantwortlich Halte.
In der Schrift ’homme machine heißt e$: la mort est la fin de tout, un neant
eternel; alles Andere hierüber une fable. Und die Moral Hieraus? Das Leben
ift nur Genuß; iß und trinf und geniefe darum fo früh als möglich, damit du
nicht verfürzt wirft; du weißt ja nicht, warn du fterben mußt! — Auf gleicher
Stufe ſteht mit ihm der unbefannte Berfaffer des Systeme de la nature (f. d. Art.
Holbach); auch es Hält den Unterfchied zwifchen phyfifcher und moraliſcher Welt
für einen groben Irrthum; der Unterfchied zwifchen Körper und Geift ift nur der
Unterfhied zwifhen Körper und Gehirn; die Annahme eines Gottes ift ein fo
großer Irrtum, als es die Unterfheidung zwifchen Körper und Geift iſt. Damit
fällt auch die Religion im gewöhnlichen Sinne weg; den beften Sinn hat fie
noch, wenn man fie als Mythologie auffaßt, denn Gott if die Natur, Die Un—
fterblichfeit ift auch hier „vivre dans la m&moire des hommes*. Die Moral ift
in folgenden Sägen niedergelegt: Etre utile c’est contribuer au bonheur de ses
semblables, @tre nuisible c’est contribuer à leur malheur. Le bonheur n’est que
le plaisir continue. Die Freiheit ift begreiflicher Weife auch geläugnet; die
Reue beweife nichts Hiefür, denn fie fei nur ein fohmerzhaftes Gefühl über den
Verdruß, den nur gegenwärtige oder zukünftige Folgen unſerer Leidenſchaften
verurſachen; wären diefe Folgen immer nüglich für ung, wir würden nie Reue
empfinden. Wie La Mettrie findet auch das Systeme de la nature im Atheismus
einen großen Troft, nämlich, daß derfelbe die Menſchen zum Wenigften fein laſſe,
wie fie find, während die Religion die Leidenschaften nur immer mehr fanatifire,
Da ferner der Atheift weiß, daß fein Blick fich nicht über die Grenzen des Dies-
feit$ erweitere, fo muß er mindeftens wünfchen, daß feine Tage in Glück und
Frieden dahin fließen. Sp war der Menfch jest gänzlich in das Diesfeits herab—
gezogen, die Materie fein Gott, ihr Dienft feine wahre Tugend. Der geiftige
Menfh war feiner Würde entfleivet, feines idealen Inhaltes entleert und durch
den Raufch der Sinnlichkeit in den Schlamm des gemeinften Materialismus hinab-
geriffen! Die Entwiclung war confequent; der Empirismus hatte mit feiner Fdee,
fondern mit der Materie begonnen, er endete ohne Fdee, mit der Materie! —
Diefe revolutionäre Bewegung des philofophifchen und religiöfen Geiftes, mit
der in unfeliger Berblendung, und ohne Ahnung ihrer eigenen Gefahr felbft die
hohen und höchſten Herrfchaften, ja fogar ein Theil der Hohen ©eiftlichfeit koket—
tirte,, war zunächft gegen das Chriſtenthum und die Kirche gerichtet. Es iſt
aber Teicht begreiflih, daß fie auch auf die Wiffenfhaft den größten Einfluß
ausüben mußte, In der Logik galt feit Helvetius der Grundſatz: Penser c’est
sentir, rien que sentir; fie war ſonach nichts Anderes als die Lehre von den Ge—
danfen als feiner Seeretion des Gehirnes. Der Arzt Cabanis empfing für
diefe geiftreiche Erfindung ungetheilten Beifall. Die Pſychologie ging in Phyſio—
Iogie und Medicin über; die cartefianifhe Metaphyſik (ſ. Carte ſius) galt als
Hirngefpinnft und wandelte fich in Phyfif um. Die Moral wurde nicht etwa bloße
Glückſeligkeitslehre oder Eudämonismus (f. d. A.) fondern die Theorie des Egois—
mus! Wie fonnte da noch von Theologie die Rede fein! Noch im J. 1798 er= -
regte der fromme St. Pierre allgemeine Entrüftung, als er aus Beranlaffung
feiner Aufnahme in das Institut de France in feiner Antrittsrede zum erften Male
den Namen Gottes ausſprach! Dieje materialiftiihe Richtung dauerte bis zu Ende
des Kaiſerreichs. Sie ift eigentlich bis auf heute noch nicht ganz erlofchen. Das
Bud von Lemaire, Initialion à la philosophie de la liberte, Paris 1842 — 43
2 vol. ift nichts Anderes, als die Nepriftination des materiellen Pantheismus,
wie er im Systeme de la nature enthalten ift. — In Teutfchland hatte diefelbe
theologiſche Richtung wie in England ſich unter dem Namen des Nationalis-
u ee ee re er
926 Materialismug,
mus (f. d. A.) geltend gemacht, ohne jedoch mit feiner theologia naturalis big
zum Materialismus zu kommen. Dean hat dieß dem tieffinnigen und religiöfen
Gemüthe des Teutfchen zugefchrieben, Jedenfalls aber hat an diefem Nefultate
der glückliche Umftand, daß in Teutfehland das Bewußtfein der Nevolution auf
politifhem Boden noch nicht erwacht war, auch feinen Antheil, Indeſſen follte
der Materialismus darum nicht ausbleiben, Es follte bei den gründlichen und
tieffinnigen Teutſchen nur auf eine ihrem philofophifchen Talente entfprechendere
Weife als in Franfreich entwickelt werden! Der englifhe Empirismus und der
dadurch veranlaßte Skeptieismus rief in Rant die Fritifche Philofophie hervor,
welche den Idealismus begründete und mit rafchen Schritten durch Fichte, Schel—
ling, Hegel zum Pantheismus (f. d. U.) führte, Mag nun der Pantheismus
Gott in der Alleinheit der Welt fuchen, oder die Welt in Gott aufgehen laſſen,
alfo die Welt eigentlih Täugnen, er führt in beiden Fällen zum Atheismus
(ſ. Staudenmaier, Darftellung und Kritif des Hegelfh. Syft. S.852 u, f. w.),
der aber felbft wieder zum Materialismus führt. Sieht doch Hegel felbft ven
„sogenannten“ Materialismus und Atheismus der Encyelopädiften als das noth-
wendige Refultat des reinen begreifenden Selbftbewußtfeins an. Und die An-
hänger diefer Philofophie erflären felbft die abftracte Identifteirung Gottes und
der Welt in d'Alembert's und Diderot's Materialismus als einen wenigftens for-
mellen Fortfhritt zur modernen Immanenz des Göttlichen in der Welt (Noad,
die theolog. Encyelopädie als Syftem, Darmfladt 1847, ©, 473), Diefes For:
melle ging aber bald in's Materiefle über, Hegel fegt das Wefen der Neligiom
in das Selbftbewußtfein Gottes; da aber nah ihm Gott ohne die Welt nicht
Gott, d.h. das Endliche wefentliches Moment des Unendlichen in der Natur
Gottes ift, fommt Gott erft im Menſchen zum Selbftbewußtfein. Daher ift das
Wefen der Religion auch Selbftbewußtfein Gottes im Menfchen. Es war num
nur Confequenz aus dieſen Pramiffen, wenn L. Fewerbac das Wefen der Ne
ligion als das Verhalten des Menfchen zu feinem eigenen Wefen beftimmte und
fodann das Geheimniß der Theologie in der Anthropologie fand, Darnach fann
der Menſch Fein anderes Wefen als abfolutes Wefen denken, ahnden, vorftellen,
fühlen, glauben, wollen, lieben und verehren als das Wefen ver menfhliden
Natur, Feuerbach verwahrt fi wohl gegen den gemeinen Materialismus,
fagt aber geradezu, daß nur durch die Verbindung des Menfchen mit der Natur
der fupranaturaliftifche Egoismus des Chriſtenthums überwunden werben könne.
Zu diefem Zwede, lehrt er, dürfe man nur bie religidfen Verhältniffe umkehren,
das, was die Religion als Mittel fegt, immer als Zweck falfen, was ihr das
Untergeordnete, die Nebenfache, die Bedingung ift, zur Hauptſache, zur Urſache
erheben, und man habe die Illuſion (des Supernaturalen, Transfcendenten in der
Hriftlichen Religion) zerftört und das ungetrübte Licht der Wahrheit vor feinen
Augen. Das ift denn auch der Zwed des „Wefens des ChriftentKums“
im zweiten Theile, der von der Religion in ihrem Widerfpruche mit dem Wefen
des Menfchen handelt. Feuerbach gibt zwei eclatante Beifpiele zum Beften, Der
Widerfpruch in den Sacramenten ift der Widerfpruch von Idealismus und
Materialismus, Nur Testerer ift das Wahre und er befreit ihn vom Jenem
dadurch, daß er z. B. die Taufe als Zeichen von der Bedeutung des Waf-
fers felbft betrachtet und im ihr ein natürliches Bad mit natürlicher Wirkung
auf den Menfchen, nämlich der Reinigung des Schmuges vom Leibe, aber au
klarer fieht und denkt, fich freier fühlt und die Glut unreiner Begierden und die
Drunft der Selbſtſucht erlifcht, als das nächfte und erfte Mittel, fich mit der
Natur zu befreunden, anficht! Die Myfterien des hl. Abendmahls aber find ihm
Effen und Trinken!!! Aber Feuerbach ift noch viel Marer, Nach ihm ift die wahre
Religion die Liebe und Verehrung des Wefens der menfchlihen Natur, Aber
mit intelleetueller und moralifcher Wirkung, weil der Menfch nämlich im Waffer Ei
Ei
%
Ro
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welches ift diefes Wefen? Hören wir ihn ſelbſt. „Der Menſch unterſcheidet fich
nur dadurch von den Thieren, daß er der Iebendige Superlativ des Senfualis-
mus, das allerfinnlichfte und alferempfindlihfte Wefen von der Welt ift....
Iſt aber, fährt er fort, als Wefen des Menſchen die Sinnlichkeit nicht ein ge-
ſpenſtiſches Abſtractum der „Geiſt“, fo find alfe Philoſophien, alle Religionen,
alfe Inſtitute, die diefem Principe widerfprechen, nicht nur irrthümliche, fondern
auch grundverberblihe, Wollt ihr die Menfchen beffern, fo macht fie glücklich,
wollt ihr fie aber glücklich machen, fo gebt an die Duelle alles Glücks, aller
Freuden — an die Sinne” | (Feuerbach, ſämmtl. Werfe Br. I. ©. 371. 73.)
Iſt aber das Wefen des Menfchen die Sinnlichkeit, und nicht das gefpenftifche
Abftractum der „Geift“, und foll nah Feuerbah der Menfh das Wefen der
menfhlichen Natur allein Lieben und verehrten, fo tft Far genug, worin diefe
Liebe und Verehrung befteht! Die Speculation ift eine atheiftifche, materia=-
Tiftifche geworden und bei den franzöfifchen Encyelopädiften angefommen! —
Die gleiche Richtung verfolgten die Genoffen „des jungen Teutſchlands“, deren
geiftige Bäter Ludwig Börne (eigentlich Löw Baruch, geb. den 22. Mai 1786
zu Franff. a. M., geft. 12. Febr. 1837) und Heinrich Heine find, Die jün-
gern Genoffen Iehnten fih an die moderne Philofophie an, von deren Tiſche fie
aber nur Brofamen aufgelefen hatten, mit denen fie, ohne fie verbaut zu haben,
prunfen wollten. Heine’s „Salon”, in dem er offen den Materialidmus pre=
digt, Gutzkow's Roman „Wally”, wo Emancipation des Weibes und Emanei-
pation des Fleifches gelehrt wird, fein fchmerzlicher Ausruf in der Vorrede zu
Schleiermacher's vertrauten Briefen über die Lucinde: „Ah! hätte die Welt nie
von Gott gewußt, fie würde glüdlicher fein“, beurfunden binlänglich den craffen,
atheiftifchen, materialiftifchen Pantheismus. Hieran reihen ſich endlich jene Natur-
forfcher und Medieiner an, die eine wefentliche Verſchiedenheit zwifchen Geift und
Körper, alfo den Geift felbft läugnen, weil fie ihn nicht mit Augen fehen und
mit dem Meffer gleich dem Körper feeiren Fönnen! Auf das Würdigfte reprä-
fentirt fie Carl Bogt, weiland teutfcher Reichsabgeordneter, in feinen „phy—
fiologifhen Briefen“, Er Hält den Materialismus für die alleinige Welt-
anſchauung, von der aus man in der Wiffenfchaft zu erfleflichen Refultaten gelange.
Nah ihm ift die Materie das einzig Unvergänglide, die Seele nur ein Product
der Entwicklung des Gehirns, ihre Thätigfeiten, 3. B. Gedanken find nur Func-
tionen der Gehirnſubſtanz; die Unfterblichfeit ift ein Raifonnement, das ihm
nicht Far werden will! Dan glaubt, La Mettrie zu hören! Endlich dürfen die
unzähligen Dichterlinge, Literaten, Redactoren, befonders aus dem Haufe des
jungen Iſraels nicht übergangen werden, Doc ihre Zahl ift Legion! Alle find
einig darin, mit gefammelten, vereinten Kräften alle Religion , alles Transcen-
dente in ihr, alle Sittlichfeit und Tugend, alles gefunde fociale Leben, die Ehe,
die Familie zu defiruiren und nur das Fleiſch, feinen Geift, feine Vernunft leben
zu laffen! Wehe ver Welt, wenn diefer dickſinnliche Materialismus ihre Ethik
würde! Der fittlihe Zuftand könnte fein anderer fein, als jener, wie ihn der hl.
Paulus von vielen feiner Zeitgenoffen fhildert: „Viele wandeln als Feinde Chrifti,
ihre Ende ift Verderben, der Bauch ihr Gott, ihre Ehre fuchen fie in ihrer eige-
nen Schande, fie, die nur das Jrdifche, die Materie denken“ (oi va Eruiyera
poov00VVrES) Philipp. 3, 18. 19, Denn der Materialismus ift entweder aus
Atheismus entfprungen oder führt dazu, Die Oottlofigfeit aber ift Glaubens-
Iofigfeit und Glaubenslofigfeit führt immer zur Sittenlofigfeit. — Zur Litera=
tur: Sigwart, Handbuch d. theoret. Philoſophie. Tüb, 1820. S. 201 — 209.
Friedrich Schlegel’s philof. Borlefungen herausgegeb. v. Windifhmann. Bonn
1836. Bd, 1. S, 191— 194, 250—255. Erdmann’s Gefhichte der neuern
Philofophie Bd. II. 1. Abthlg., welche die Entwiclung des Empirismus und Ma-
terialismns von Locke bis Kant enthält, Leipz. 1840, Beſonders Stauden-
f Materialismus, 927
928 Materie — Mathefius,
maier: die Grundfragen der Gegenwart, Freiburg 1851. Vgl, auch d. Ark
Antinomismus und Hylozoismus. — [Wörter],
Materie, Öegenfag von Geiſt, f. Geift.
Maternus, erfter Biſchof von Cöln, f. Coln.
Maternus, Julius Firmieus, riftliher Apologet des vierten Jahrh.,
Berfaffer der an die Kaifer Conftantius und Conftanz gerichteten Schrift „de
errore profanarum religionum*, wird bei den Alten felten erwähnt. Sp viel man
aus feinen Schriften fhließen fann, war er aus Sieilien gebürtig und lange Zeit
ein Heide, als welcher er eine anfehnliche Würde beffeivete, Baronius meint zwar,
er fei nach feiner Befehrung zum Chriſtenthum Bifchof geworden, bringt aber
dafür Feine ſoliden Beweife vor. Zwifchen den Jahren 334— 337 verfaßte er
acht Bücher „Matheseos“ oder nach einer andern Aufichrift „Astronomicorum*
an feinen Freund Lolfianus, worin er noch ganz im heidnifchen Sinne von dem
Einfluß der Geftirne auf die menfhlihen Dinge und Schidfale handelt und fei-
nen Freund befhwört, dieſe ägyptifchen und babylonifchen Geheimniffe nicht aus—
zubreiten, Diefe Schrift, welche Maternus noch als Heide verfaßte, erſchien
gedruckt zuerft zu Benedig 1501 , dann zu Bafel 1551, Die oben erwähnte an-
dere Schrift, welche Maternus nach feiner Belehrung fehrieb, erfchien zu Venedig
1499 , Bafel 1533, Straßburg 1562 Cedirt von M. Flaceius), Paris 1589 in
der Biblioth. P. P. t. IV., Leyden 1672, 1709 (v. Wowern und Gronov), Haag
1826 (v. F. Münter). In diefer letztern Schrift über den Irrthum der profanen
d. i. heidnifchen Religionen erklärt Maternus den Urfprung der heidnifchen Reli-
gionen und thut durch viele Beifpiele dar, daß die Heiden aus den Elementen,
aus verftorbenen und felbft Lafterhaften Menfhen, aus den Gegenfländen ihrer
Neigungen oder Bedürfniffe und aus andern Dingen ihre Götter und Gdttinnen
fih erbichtet Haben; dabei macht er auch bemerklich, daß die heidnifchen Fabeln
und Gebräuche auch aus Mißdeutung, Verzerrung und Verftümmlung der bibli-
chen Gefchichte entſtanden feien, Insbeſondere halt fih Maternus bei gewiffen
mpfteriöfen Zeichen und Redensarten auf, deren ſich die Heiden bei ihrem Gdgen-
dienft bedienten, und wendet fie im geiftlihen Sinne auf Chriftus an. Dupin
in feiner Nouv. Bibl. t. I. p. 212 bemerft über diefe Schrift: „Ce trait& est trös-
elegant et rempli d’une erudition profonde; l’auteur y montre beaucoup de science,
d’esprit ei d’6loquence*. Uebrigens forderte Maternus in feiner Schrift die Kaifer
auf, die heidnifchen Tempel zu zerftören, den Götzendienſt zu beftrafen und das
Heidenthum mit Gewalt auszurotten. Vgl. auch Schrödh’s Kirchengeſchichte
VL 11. Schroͤdl.j
Matha, ſ. Trinitarier.
Matheſius, Johann, vertrauter Jünger Luthers und Verfaffer der Pre-
digten über Luthers Leben, zu Nochliz in Sachfen geboren 1504, ftudirte einige
Zeit an der Univerfität Ingolſtadt, Hielt fich fodann zu Münden und auf dem |
Schloſſe Ovelzhaufen auf, fam, von Luthers Schriften eingenommen, um 1529
nah Wittenberg, um Theologie zu fludiren, wurde hier Luthers mehrjähriger
Tiſchgenoſſe und erhielt im J. 1532 das Schulrectorat und fpäter das Paftoramt |
im Soahimsthale, wo er bis zu feinem Tode 1564 blieb, Mathefius hielt es,
gleich allen damaligen Proteftanten für feine Hauptaufgabe, ‚vor Allem eifrig
wider das Papſtthum zu predigen, dabei fonnte er aber nicht umbin unter vielen
Klagen einzugeftehen, daß troß des neuen Evangeliums die Leute immer ärger
werben, und fihreibt die Urfache nicht mit Unrecht den Predigern der Solafides
zu. Gegen Ende feines Lebens hatte er ſchreckliche Aengſten auszuftehen, die er 7
für Anfechtungen des Satans hielt, der ihn zum Abfalle von Gottes Barmherzig« J
keit und von dem Blute Chriſti habe zwingen wollen! Er hinterließ ſehr viele Pre-
digten, darunter 17 Predigten vom Anfang, Leben, Lehr, Bekenntniß und feligen 7
Abfchiede Martini Lutheri, die Berg - Poftille Sarepta, einen Traetat von den”
Dir
ae
—*
a
we
, —— Mathildis. 929
Retfertigung, eine fonn- und fefttägliche Poſtill über die Evangelia, dem Kaifer
Maximilian II, dedieirt, Hiftorie von Lehr, Leben und Sterben und Auferfiehung
Jeſu CHrifti, die Lieder: Aus meines Herzens Grunde, und Herr Gott, der du
mein Vater bift u. |. w. Mathefius gehörte unter Majors (ſ. d. AU.) Anhänger,
Ein Nachkomme von ihm, Balthafar Mathefius, Hat 1705 fein Leben in teutfcher
Sprache herausgegeben. S. Jöch ers Gelehrten-Lexieon, Döllingers Refor-
mation II. — —— [Schrödl.]
Mathildis, die heilige, Mutter des Kaiſers Otto L, ſtammte aus
dem Geſchlechte des berühmten Sachſenfürſten Witukind und hatte zum Vater den
Comes Thietrich, der in der Villa Enger bei Herford wohnte, zur Mutter aber
Reinhilda, die Toter eines däniſchen Vaters und einer friefiihen Mutter. Ihre
Erziefung genoß Matbildis im Klofter Herford unter der gleichnamigen Abtiffin
Mathildis, der Mutter des Comes Thietrih. Herzog Dito der Erlaubte von
Sachfen, der Bruder jenes erlauchten ſächſiſchen Großgrafen (Herzogs) Ludolf,
Yon dem das Haus der Ludolfinger — wird, und welcher das Kloſter Gan-
dersheim fliftete (|. den Art. Gandersheim), Hatte zwei Söhne, Thancmar
und Heinrich, und da er von der Schönheit und den trefflichen Eigenfchaften der
Zöglingin Mathildis hörte, fchickte er, um fi davon zu überzeugen, zuerft den
Grafen Thietmar in's Kloſter, der fie mit Anwendung von Lift zu fehen befam,
worauf dann Heinrich felbft, Otto's Sohn, mit glänzendem Gefolge vor dem
Klofter erfchien und um Mathildis warb und fie befam, Bald folgte die Hoch—
zeit; zur Morgengabe ſchenkte Heinrich feiner Gemahlin: alles zur Stadt Wall-
haufen Gehörige. Nach Otto's Tod (+ 912), welchem Heinrich füccedirte, und
nach des Tegtern Erhebung zum König der Teutfchen wurde Mathildis nicht ftolz
oder eitel, und wenn fie auch öffentlich in Seide und Evelgeftein erſchien, fo be=
wahrte fie doch dabei ein gottgefälliges, demüthiges und Liebreiches Herz, ftahl
ſich Nachts oft von der Seite ihres Gemahls zum Gebet weg, und intercedirte
gerne für Unglüdliche, Gefangene und Verbrecher. Ihren Kindern Otto, Hein-
rich, Bruno und Gerberga gab fie eine trefflihe Erziehung und war die Seele
des ſchönen Familienlebens, das Eltern und Kinder umfchlang, wobei Mathilde
nur den Einen Fehler fih zu Schulden fommen ließ, daß fie für ihren Sohn
Heinrich eine große Vorliebe Hatte, Am Sterbebette dankte ihr Heinrich, ihr Ge—
mahl (+ 936), daß fie feinen Zorn oft befänftiget, ihm zu affem Guten Rath
gegeben, ihn zur Barmherzigkeit angeleitet habe. Ehe fie noch ihren Thränen
über Heinrichs Tod freien Lauf ließ, war es ihre erfie Sorge, zu fragen, ob noch
ein Priefter da wäre, welcher noch nichts gegeffen und daher für Heinrichs Seele
das hf. Meßopfer entrichten fönnte? Cs fand fich der Priefter Adeldach; fie blieb
ihm feitvem immer befonders gewogen und verfhaffte ihm in der Folge einen bi-
fhöflihen Stuhl, Nachdem fie die Meffe gehört und dem Celebranten zwei gol-
dene, Fünftlich gearbeitete Armfprangen gefchenft Hatte, eilte fie zur Leiche des
Gemahls und goß ihren Schmerz in heiße Thränen aus. Zu diefem nie ver-
fiegenden Schmerz gefellte fih bald ein neuer, Dem König Heinrich folgte als
Herzog und König nicht fein Sohn Heinrich, wie e8 Mathilde wünſchte, fondern
Dito, der ältere Sohn, in Folge deffen der alte Zwift zwifchen den zwei Brü-
dern fih mehr und mehr verfchlimmerte, Hatte Mathilde dur ihre Vorliebe für
den jüngern Sohn Heinrich den Samen zum Bruderzwift ausgefäet, fo war jetzt
fie e8 auch, welche fich alle Mühe gab, die entzweiten Herzen zu verföhnen, was
ihr auch allmählig gelang. Mathilde fonnte nun wieder ungeftört ihrem Hange
zu Werfen der Frömmigfeit und Milde Folge leiſten. Mit unbefchreiblicher An-
dacht wohnte fie der. HI. Meffe bei, bei der fie jedesmal Brod und Wein opferte.
Speife und Schlaf genoß fie nur nah Nothbedarf und war mit dem Habnen-
gefchrei oft fhon mit dem ganzen Pfalter fertig. Selten fah man fie erzürnt,
nie übermäßig trauernd oder lachend. Bon ihren Einfünften fpendete fie frei—
Kirchenlexikon. 6, Br. 59
930 Mathildis.
gebigſt an Arme und Diener Chrifti.” Allein ihre Freigebigkeit, ihre Mildthätig-
feit zogen einen ſchweren Sturm über fie herbei. Es verbreitete ſich das Gerücht,
fie hätte ungeheure Summen angehäuft und den Fön lichen Schatz durch ihre =
überfchwänglihen Ausgaben für die Armen gänzlich erfhöpft; Dito glaubte daran
und ließ fogar Häfcher aufftellen, welche Mathildens Almpfenaustheilern die Al
mofen und Gaben abnehmen follten; felbft Heinrich wurde an der Mutter irre,
und dieß that ihr beſonders wehe. Zulegt verließ fie notbgebrungen, und um
nicht ferner ihren Söhnen eine Beranlaffung zu Beleidigungen Gottes zu fein,
Die ihr von Heinrich, ihrem Gemahle, gefchenkten Güter und zog fich in ihre Hei-
math zurück. Mit der Mutter zug fih aber der Segen von Dito und Heinrich
weg, allerlei Strafen Gottes kamen über fie, Da berebeten Priefter und welt-
Yihe Große die Gemahlin Otto's, Edith, fie möge doch Dito bewegen, bie
Mutter wieder zurüdzurufen. Otto, fein Unrecht einfehend, folgte dem Rathe;
er fchiekte eine glänzende Gefandtfhaft an Mathilde ab, fie zur Rückkehr einzu=
Yaden, eilte ihr dann felbft entgegen, und flieg, als er fie erblicdte, fogleih vom
Pferde und bat auf den Knicen um Vergebung, Weinend flehte auch Heinrich um
Berzeihung. Mathilde wurde nun wieder in alfe ihre Ehren und Güter eingefegt,
feitvem flörte nie mehr ein Mißklang die Einigkeit und Liebe der föniglichen Fa-
milie. An andern Prüfungen fehlte es indeß Mathilden nicht, Die größte nah
dem Tode ihres Gemahls war: der Tod ihres geliebten Sohnes Heinrich, des
Herzogs der Bayern (+ 955). Eine bayerifche Gefandtfchaft Fündete ihr den—
felben zu Duedlinburg an. Ihre Thränen flogen den ganzen Tag, an welchem
fie die Trauerbotfchaft erhielt, ohne Aufpörenz zulegt rief fie alle Nonnen des
Klofterd Quedlinburg, wo fie wohnte, zufammen, betet mit ihnen in der Kirche,
geht fodann zu der Tumba, welche den Leichnam ihres Gemahls umſchloß, und
brach mit darüber geneigtem Haupte in die Schmerzensworte aus: „OD mein Herr,
wie glüclich bift du, der du diefen Schmerz nicht erlebt Haft! Bisher habe ich
mich über deinen Tod nur immer durch dein Ebenbild, deinen Sohn, tröften
fönnen, num ift auch diefer Troft dahin!“ Seit diefer Zeit vertaufchte fie die kö—
niglihen Kleider mit Trauergewändern, feitden „neminem: voluit audire carmina
secularia cantantem nec quemquam videre ludum exercentem, sed tantum audivik
sancta carmina de evangelis vel aliis scripturis sacris sumpta nec non in hoc se-
dulo delectabatur, ut de vita vel passione sanctorum sibi cantaretur“; feitdem nahm
wie ihre Liebe zu Gott, fo auch ihre Mildthätigkeit um Chrifti willen noch einen
böhern Schwung. Denn zweimal des Tages, erzählt ihre vortrefflicder Biograph,
fpeiste fie die Armen und gab von ihrem eigenen Tifche weg die beften Gerichte
den Nothdürftigen, Aber was Wunder, ruft der Biograph aus, daf fie gegen
Menfchen fo wohlthätig ift, da fie auch den Hahn, der die Gläubigen zum Dienft
Gottes aufwect, und die Vögel nährte? Wohin immer fie reiste, ließ fie neben
dem Wagen her Wachsferzen für die Dratorien und Speifen für die Armen auf
dem Wege tragen, Wenn fie im Wagen dem Gebete oder der Leetüre oblag
oder etwas fihlief, fo durfte ihre treue Dienerin Richburga Feinen Armen ohne
Gruß oder Gabe vorüberziehen laſſen, und wenn fie es verſäumte — wobei Ma-
thilde gewöhnlich erwachte, fo feinhörend war ihr Ohr für die Stimme ber Ar-
mut — fo mußte der Wagen anhalten und der vorübergelaffene Arme zurüd-
gerufen werden. Wo immer fie fih im Winter aufpielt, da forgte fie dafür, dag
unter jedem Dach täglich die ganze Nacht Hindurch das Feuer brannte, und zus -
gleich Tieß fie unter freiem Himmel ein Feuer unterhalten, damit die Vorüber- ’
gehenden ſich wärmen fünnten und in der Finfternig der Naht ein wohlthätiges j
Licht Teuchtete. Vorzüglich war es der Samftag, an welchem fie allwochentlich
als am Vorabende des Sonntags und dem Sterbetage ihres unvergeßlichen Gat- i
tem ihrer Mildthaͤtigkeit die Krone auffegte, für die Armen Bäder zubereiten Tief, !
=
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wobei fie oft die Dienfte einer Bademagd verrichtete, den Kranken Obſt und das
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©
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Mathuriner — Matrifelder Geiftliden. 931
Befte von der königlichen Tafel überſchickte. Den Dreißigſten und Jahrestag des
Todes ihres Gatten widmete fie gleichfalls in befonderer Weife frommen Werfen,
= An Feiertagen las fie in HI. Büchern oder ließ fih daraus vorlefen, An Werf-
- tagen pflegte fie auch Handarbeiten zu verrichten, und hatte fie irgend einen Tag,
gehindert durch Liebeswerfe, nichts arbeiten Fönnen, fo nahm fie noch vor Tiſch
und bei demfelben ftehend irgend eine Arbeit vor, um, wie fie fagte, das Brod
nicht umfonft zu effen. Diefe herrliche Frau, wohl wiffend, daß damals vorzugs-
weife aus den Mlöftern alles Gute ausging, wie.fie ja felbft eine der fchönften
Blüthen diefer Inftitute war, nahm fih auch um die Klöfter fehr an und fliftete
neue Klöfter zu Duedlinburg, Norbhaufen, Polde und Enger, worunter Dued-
linburg (f. d. A.) das vornehmfle war und wohin die Nonnen des Klofters Wi-
nithohufen (geftiftet von Liutbirga, Tochter des Oftphalenfürften Heffi, der ſich
775 an Carl d. Gr. ergab, Chrift wurde und 804 flarb, f. Pers, Script, IV
(VD, 158.ete.) transferirt wurden. Für fo viel Edles und Heiliges, das fie
wirkte, empfing fie ſchon hienieden einen Theil des Lohnes. Zwar mußte fie auch
ihrem jüngften Sohne Bruno, dem ausgezeichneten Erzbifhof von Coln (f.d.A.),
im J. 965 in’s Grab ſchauen; allein in der tiefften Ehrfurcht und der zarteften
Liebe Otto's und feiner zweiten Gemahlin, der hl. Adelheid (ſ. über Adelheid
Pers, Script. IV (VD, p. 633—649 und Bolland. 9. Febr.) gegen fie, im fröß-
lichen Kreiſe ihrer heranblühenden Enkel und Enfelinnen und in der glorreichen
Regierung und Erhebung Otto's zum römifch-teutfhen Kaiſer fand fie einen
reichen Erfag. Im Nonnenflifte Nordhaufen fahen ſich Mathilde und Dito zum
legten Male, Nahdem fie ihm nochmal recht dringend dieſes Stift empfohlen,
das fie bier, wo ihr Sohn Heinrich und ihre Tochter Gerbirg geboren worden,
für die Seelen ihres Gemahls und Sohnes Heinrih, für die Stabilität des
Reiches und für alle die Zhrigen errichtet Hatte, hörten fie mit einander die HL,
Meffe, und weinend begleitete dann die Mutter den weinenden Sohn zum Pferde,
Auf einmal, da Dito fhon im Begriff fand, abzureiten, verkündet ihm fein eben
aus der Kirche fommendes Gefolg, nah dem Abfchied von ihm (Dito) in die
Kirche zurücdgefehrt, fei Mathilde an die Stelle, wo er während der Meffe ge-
fniet, bingeeilt, babe fih da auf die. Knie geworfen und füffe unter Thränen die
Spuren feiner Füße. Otto fleigt fchnell wieder vom Pferde, begibt fih in die
Kirche, fieht tief bewegt das rührende Schaufpiel und kniet fih zu ihrer Seite
nieder. Doch gottergeben rafft fih jest Mathilde auf und entläßt ihren Sohn in
Chriſti Frieden. Sie befuchte nochmal alle ihre Klöfter., Im Gefühle des nahen
Todes begab fie fih in das Klofter zu Duedlinburg, um bier an der Seite ihres
Gemahles Heinrich begraben zu werden. Sterbend gab fie ihrer Enfelin Ma-
thilde (welche nachher das Klofter Duedlinburg erweiterte und demfelben würdig
vorſtund, f. Pers, Script. III CV), T7A—75) heilfame Lehren. Man mußte fie
zur Erde auf ein aufgebreitetes Cilicium legen und ihr Haupt mit Aſche beftreuen.
So ftarb fie am 14. März 968, — Der Berfaffer ihrer ſchönen Biographie iſt
ein Clerifer, der. vierzig Jahre nah Mathildens Tod auf Geheiß Kaifer Hein-
richs des Heiligen, ihres Urenfels, ihr Leben befhrieben hat, das bei Perg,
Seript. IV (VD, p. 2832—302 und bei den Bollandiften 14. März zu finden
if. Auch der Minh Widufind von Corvey feiert ihr Andenfen durch ein herr⸗
liches Eloguium, f. Pers, Seript. IIE (CV), p. 465—466, [Schrödl.]
Mathuriner, ſ. Trinitarier.
Matrikel der Armen, ſ. Mensa pauperum.
Matrikel der Geiftlihen heißt das Verzeichniß, welches den Perfonal-
beftand der an einer Cathedral-, Collegiat- oder Pfarrkirche angeftellten und be-
pfründeten Cleriker enthält. Bon jeher nämlich wurben die an einer Hauptfirche
(titulus). bleibend. angeftellten Eferifer, zum Unterfhiede der nur aushilfsweife
gebrauchten oder bloß eine Zeit lang in einer fremden Pfarrei — com⸗
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932 Mattathias — Matthäus von Weftminfter, Ä
morirenden Geiftlichen, Cleriei intitulati genannt und in das Verzeichnif (matri-
cula) der an der betreffenden Kirche beamteten Geiftfichen eingetragen, daher
clerici immatriculati i. e. ecclesiae matrici adseripli. —
Mattathias, |. Maccabäer. —
Matthäi, ſ. Bibelausgaben.
Matthäus der Apoſtel, ſ. Evangelien,
Matthäus Blaftares, f. Canonenfammlungen. |
Matthäus Florigerus, ſ. Matthäus von Weftminfter,
Matthäus Pariſius (Paris, Parisiensis), englifher Benedietiner und
Shhriftfteller des 13ten Jahrhunderts, wurde wahrfrheiniih gegen Ende des
12ten Jahrhunderts geboren und führt feinen Zunamen Parifins von feiner Fa-
milie, nicht von der Stadt Paris; denn obgleich man nicht weiß, wo in England
Matthäus das Licht der Welt erblickte, fo fteht doch fo viel feſt, daß England
fein Vaterland iſt. Im 3. 1217 Iegte er, wie er felbft berichtet, dag Ordens-
gewand des hl. Benedict im Klofter des HI. Alban bei Altverulam an, Er war
ein Mann von vielen Studien und Kenntniffen, fchrieb, wenn man den Eabmer
(1. d. 4), Wilhelm von Malmesbury (f. d. A.) und Wilhelm von Newbury
(ſ. d. A.) ausnimmt, unter den englifhen Ehroniften am beften lateiniſch, führte
aber eine fehr fpigige und fcharfe Feder, theilt Hiebe nach) allen Seiten aus, fällt
rückſichtslos über Papfte, Kaifer, Könige, Bifhöfe, Aebte, Mönche und Alles
ber, was ihm über den Weg fommt, ift ſtets verworren, wie die vielen Irrthümer
in feinen Schriften beweifen, und nahm es oft auch mit der Wahrheit fo wenig
firenge, daß er, fortgeriffen von blinder Kritifirfucht und Leidenfchaftlichkeit, pi=
cante Anecdoten, unverbürgte, felbft unfinnige Sagen, und allerlei Verdaͤchtigun⸗
gen, Vebertreibungen und Berläumdungen für Hiftorifche Thatfachen gibt. Für
Sene, welche das Derlamiren gegen den Stolz und die Habfucht der Päpfte zu
den befondern Merfmalen des proteftantifchen Geiftes zählen, ift Matthäus claf-
ſiſch, und fie mögen ihn unter die Vorläufer der Reformation zählen, was indeß
doch fchwer hält, da er nie das In ſtitut des Papfttbums angriff und ungeachtet
feiner Iuvectiven gegen die Minpriten und Dominicaner doch ein eifriges Glied
feines Drdens gewefen fein fol; ja er wurde fogar ein Reformator der Bene
Dictinerflöfter Norwegens, wohin er auf Bitte der Norweger und im Auftrage
des Papftes Innocenz IV. um 1248 reifen mußte. Von fich feldft redet Matthäus
immer mit bedentendem Reſpect, und rühmt fi) namentlich feines: innigen Ber-
bältniffes zu König Heinrich IN. von England, Man fest feinen Tod gewöhnlich
auf das %. 1259. Seine fogenannfe historia major, eigentlih eine Chronif '
von Erfchaffung der Welt bis auf 1250 oder 1259, gehört größtentheils nicht
ihm an, indem biefelbe von Erfhaffung der Welt an bis zu Chrifti Geburt einen
unbefannten Chroniften, und von Ehrifti Geburt bis auf 1235 mit wenigen Aus-
nahmen den Noger de Vendover, einen Genoffen des Matthäus im Klofter zu
St, Alban (+ 1237), zum BVBerfaffer hat; erft von 1235 beginnt die Arbeit ves
Matthäus, welche von 1259—1273 von W. Rishanger fortgefegt wurde, Außer-
dem bat man von Matthäus Paris noch die Leben der zwei Dffa, Könige von
Mercien, und die Leben der Aebte des Klofters St, Alban. ©, Oudin. com-
ment. d. script. Ecel. t. III. p. 204, Lips. 1722 und ibid, p. 97; H. Schüz, S.I.
comment. crit. de scriplis et scriptor. crit. historieis, Ingolst. 1761, tit. Pa-
risius. 0 Schr)
Matthäus von Wejtminfter, Mönd der Weftminfter-Abtei zu London,
geftorben im Jahre 1307, wie Cafimir Dudin in feinem Commentar de soript.
Ecel. t. II. p. 700 (Lips. 1722) gegen Jene nachweist, weldhe deſſen Tod auf das
3. 1377 hinausgefchoben haben, Fommt öfter auch unter dem Namen Matthäus 7
Slorigerus vor, weil er ein aus mannigfaltigen Chronifen zufammengefegtes 7
Gefhichtswerf verfaßte, welches „Iores historiarum* betitelt iſt. Diefes fehr um- 7
|
—
Matthias — Mauren. 933
faſſende Geſchichtswerk hebt vom Anfang der Welt an und geht bis 1307. Die
Sabre 1250 oder 1259 bis 1307 find von Matthäus felbft bearbeitet und zwar
nach Oudins Bemerfung „cum tanta sinceritate, veritatis cura et studio, ut multam
inde laudem apud aequos rerum aestimatores meruerit, quamvis ob dicendi cha-
racterem maxime sordescat, pro more hujus saeculi“. Das Werk des Matthäus
ift fehr viel benügt worden, theils weil die Duellen, aus denen er gefchöpft,
Bielen nicht zugänglich waren, theils weil fich bei ihm Alles abgefürzt und zu-
fammengezogen findet, Die vielen Legenden, die nacherzählt werben, und die
ans Klofterchronifen gefammelten Nachrichten verleihen dem Werfe ein befonderes
SIntereffe. Ausgaben dieſes Werkes erfihienen zu London 1567 und Frankfurt
1601. Vgl. Lappenberg, Gef. Engl. Bd. 1. Einleitung. [Schrodl.)]
Matthias, ohne Zweifel eier der zweiundſiebenzig Jünger Jeſu (efr. Cle-
mens. Alex. stromat. lib. 4. Euseb. hist. eccles. Lib. I. c. 12. Hieronym. in Catal.),
wurde in der Zeit zwifchen Ehrifti Himmelfahrt und der Geiftesfendung an des
Zudas Iſcharioth Stelle durch's Loos und unter Gebet zum Apoftel erwählt,
Apg. 1,23. Wie über fein früheres Leben, den Drt feiner Geburt ꝛc. nichts be—
kannt ift, fo find auch über ferne apoftolifche Wirffamfeit, den Ort, die Zeit und
Art feines Todes Feine ganz zuverläffigen Nachrichten auf uns. gefommen, Nah
den griechifchen Martyrologien, womit auch Nicephorus h. e. lib. II. c. 40. über-
einftimmt, bätte er zuerft in Judäa, dann in Aethiopien das Evangelium ge—
predigt, dafelbft auch ein Bistum errichtet und fein Leben am Kreuze befchloffen,
Geftüst auf die Nachricht in Dorothei Synops.: „Mathias in interiore Aethiopia,
ubi Hyssus maris porlus et Phasis fluvius est, hominibus barbaris et carnivoris
praedicavit Evangelium. Mortuus est aufem in Sebastopoli, ibique prope templum
Solis sepultus“, nimmt Cave in f, antiquit. Apost. p. 743 an, daß Cappadocien
mit Aethiopien verwechfelt fer, denn nur in Cappadocien fei der bifhöflihe Sig
am Ausfluffe des Asparus (oder Phaſis) oder der Hafen Hyffus zu ſuchen. Wäh-
rend fodann Hippolytus und Iſidor in tractatu de vita et morte sanctor. novi
Testam. c. 80. ihn, ohne daß feines Martyrertodes erwähnt wird, zu Jeruſalem
fterben und begraben werben Jaffen, wurde er nach Andern von den Juden als
ein Gottesläfterer gefteinigt und dann enthauptet (Perionii vita apost. p. 178 sq.);5
über die Zeit und den Drt feines Martyriums Taffen uns die alten Nachrichten
noch mehr im Ungewiffen. Conftantins d. Gr, Mutter, die HI. Helena, habe die
Reliquien des HI, Matthias nah Rom gebracht, und einen Theil derfelben be—
wahrt man in der Kirche zum hl. Matthias zu Trier und in jener der HI. Maria
ber Aeltern zu Rom. Das Feft diefes Apoſtels wird in der römifchen Kirche am
24, und je im Schaltjahre am 25. Febr., in der griechiſchen Kirche dagegen am
9. Auguft gefeiert, Schon frühe hatte man unter des Matthias Namen ein apo—
ergphifches Evangelium, cfr. Euseb. h. e. III. c. 25, auch erwähnt Clem. Alex. -
Strom. 2, 163. 7, 318. rreo@dooeıs des HI. Matth., welche Ueberlieferungen,
traditiones (cfr. Hieron. Prooem. commentar. in Matth.) vielleicht mit jenem einerlet
Schrift waren. ©, den Art. Apoeryphen-Literatur. Bol, Winer, bib-
liſches Realwörterbuh, Band I. Augufti, Denkwürbigfeiten aus der drift-
lichen Archäologie, Band II. S. 240 ff. Acta Sanctor. Tom. I. Februarü pag.
431—454. [örig.]
Matutin, f. Brevier.
Mauren, die, in Spanien, Mit dem Namen Mauren bezeichnet man jenes
Miſchvolk, welches in Nordafrica durch die Vermifhung der Berbern und Araber
entftand, als Teßtere im fiebenten Jahrhundert das alte Mauritanien eroberten,
d, i. mit Hilfe der Berbern den Byzantinern entriffen, Nordafrica war jetzt ein
Theil des großen Kaliphates, deffen Nefidenz feit der Thronbefteigung der Omi—
jaden (660 n. Ehr.) von Medina nach Damascus verlegt worden war. Bon der
nordafricanifchen Küfte blickten nun die für Verbreitung des Islams und für Er-
934 Mauren. j
oberung gleich glühenden Araber nach dem nahen Spanien hinüber und fuchten eg
auch bald mit räuberiſchen Streifzügen heim, wurden aber 672 von dem fräftigen
gothifchen (ſpaniſchen) Könige Wamba mit großem Verkufte zurückgetrieben, Do
nicht Tange, fo öffnete eine innere Parteiung in Spanien ihnen den Zugang zu
dieſem Lande, Einer der nächften Nachfolger Wamba’s, Wittiza, hatte den
Herzog Theofried von Cordoba blenden laſſen. Darüber erregte deffen Sohn
Roder ich eine Empörung und bemädtigte fih 710 des Thrones, Aber Wittiza’s
Söhne, in Verbindung mit ihrem Oheim, dem Erzbifhof Oppas von Sevilla,
und dem Grafen Julian, Statthalter von Septum (Ceuta), riefen jeßt aus
Haß, um Noderich zu flürzen, den arabifchen Statthalter Mufa aus Africa zu
Hilfe. Schon 711 erfihien deffen Feldherr Tarif an der Südſpitze Spaniens und
fiegte in ver großen Schlacht bei Xeres de Ia Frontera, König Roderich fiel mit
dem größten Theil feines Heeres, Mufa aber rüdte jest felbft mit neuen Schaa—
ren nah, eroberte in weniger als fünf Jahren beinahe die ganze pyrengiſche
Halbinfel, und gründete fo die Herrfchaft ver Mauren in Spanien, Nur noch
in den nördlichen Gebirgen von Afturien, Biscaya und Caftilien hatte ein Spröß-
ling des alten Königshaufes, Pelayo, ein wenn aud Feines, doch unabhängiges
chriſtliches Reich fich gerettet; in den weſtlichen Pyrenäen aber wußten die Basfen,
wie früher gegen die Weſtgothen (f. Gothen), fo jegt auch gegen die Mauren
ihre Freiheit zu bewahren. Alles übrige Spanien war in die Gewalt der Mo—
hammedaner gefallen und dem großen Kaliphate einverleibt, von diefem aber in
Bälde wieder getrennt und in das felbfiftändige Kaliphat Yon Corbova (756)
verwandelt worden, welche eine Heimath der Künfte und Wiffenfchaften, aber
auch des Lurus und aller Art Ueppigfeit wurde, Den weitern — —— der
Araber hemmte Carl Martel (ſ. d. A.) durch die blutige Woche von Poitiers
(732) fo gründlich, daß es die Geſchlagenen nie mehr die Pyrenäen zu über—
fhreiten gelüftete, Dagegen griff fie in ihrem eigenen Lande ſchon des Ham—
mers“ großer Enfel Carl an, nahm ihnen einen Theil des kürzlich Eroberten
und verfhmolz es in die große hifpanifche Mark, woraus fih nach feinem Tode
eine Reihe Heiner chriſtlicher Reiche, zuletzt das Königreih Navarra und die ſchöne
Graffhaft Barcelona oder Catalonien bildeten. So ging der Stern der fpani=
fchen Unabhängigkeit wieder auf, denn auch Pelayo's Feiner Staat war unter-
deffen durch glückliche Kämpfe gegen die ungläubigen Fremdlinge gewachfen und
hatte fich fchon im Anfange des zehnten Jahrhunderts (918) zum Königreiche
Leon und der Graffchaft Burgos oder Caftilien erweitert. — Cine neue und große
artigere ſpaniſche Staatenbildung begegnet ung feit der Mitte des eilften Jahr-
hunderts, Im Jahre 1028 war die Grafichaft Caftilien durch Erbe an Sandholll,
Major von Navarra, gefallen, aber durch Theilung erhielt fie fein Sohn Fer—
dinand (1035) als eigenes Königreich, und da er drei Jahre fpäter auch Leon
fammt Galicien ererbte, bildeten von nun an diefe drei Staaten, freilich nicht
ohne Unterbrechung vereint, aber feit Ferdinand II. (1230) auf immer und ge-
feglich verbunden, das größte unter den fpanifchen chriftlichen Reihen, das zu-
gleich die Beſtimmung in fich trug, die fhöne pyrenäifche Halbinfel zulegt ganz
von der maurifchen Gewalt zu befreien, Schon 1084 fiel Toledo, die alte
weſtgothiſche Nefidenz, wieder in die Hände der Chriften und wurbe jeht bie
Hauptftadt Eaftiliens, — Frühe erhielt diefer Staat einen flarfen Nachbar am
Aragon, welches, Anfangs unbedeutend, fich ſchnell zu beträchtlicher Ausdehnung
und Stärfe erhob, Bisher ein Theil des frühzeitig großen Navarra’s, war es
durch diefelbe Theilung, wie Caftilien, im Jahre 1035 ein eigenes Königreich
unter Sancho's Sohne Ramiro geworben. Erbſchaft und Eroberung brachten
bald bedeutenden Zuwachs, und nach der Vereinigung mit Barcelona durch Hei
rath (1137) nahm Aragonien alsbald den zweiten Nang im chriſtlichen Spanie
ein, während Navarra nunmehr die dritte Stelle verblieb, Ja, es ſank ſogar
Mauren, * 935
zur vierten herab, nachdem Alphons VI. von Leon und Eaftilien feinem Tochter-
manne Heinrih von Burgund den wefllihen, den Mauren wieder entriffenen
Küftenfirih als erblihe Grafihaft Portugal zugewiefen hatte, — Aehnliche
Theilungen unter Söhne und Töchter ſchwächten und zerfplitterten wiederholt die
fpanifhen Reiche, bis Ferdinand III. (ſ. d. A.) im Jahre 1230 Laftilien, Leon
und Oalicien gefeglich auf immer verband und Gleihes für Aragon, Barcelona
und Catalonien im Jahre 1319 erfolgte, — So lange der Kriftlihen Reiche in
Spanien noch viele, ihrer gegenfeitigen Fehden aber unzählige waren, hatten die
Mauren auch von dem begeifterten Heldenthum der fpanifchen Ritter nur wenig
zu fürchten. Aber auch bei ihnen riß ſchon in den drei erſten Jahrhunderten nach
der Eroberung Zwietradht in dem Maße ein, daß wiederholt einzelne Parteien
den Beiftand der Chriften erflebten, und fo diefen den Fortfchritt ihrer Waffen
felber erleichterten. — Noch mehr, gerade zu der Zeit, als Caftilien und Aragon
ſich zur Selbftftändigfeit und Größe erhoben, erloſch im Jahre 1038 der Stamm
der Dmijaden auf dem Throne von Cordova, und das bisher einige Kaliphat zer—
fplitterte in eine Reihe Fleiner Gebiete unter befondern Theilfürften, wie einft
das macedonifche Reich nach dem Tode Aleranders des Großen, Hatte ſchon das
eine Raliphat im Norden Berlufte gegen die Ehriften erlitten, fo wurden jegt
die faft immer uneinigen Theilfürften noch weit Teichter befiegt, und zwei Men-
fchenalter nach dem Erlöfchen des Kaliphats war ſchon die Hälfte der pyrenäifchen
Halbinfel, bis an den Tajo, Hhauptfählich durch die Grofthaten des Eid Cam-
peador (+ 1099) von ven Chriften wieder erobert, Für die Mauren folgte jegt
raſch ein Schlag auf den andern; felbft ihre prachtoolle Hauptfladt Cordovä fiel
in die caftilifchen Hände, und um die Mitte des 13ten Jahrhunderts war von
den vielen maurifchen Reichen nur mehr das fihöne Granada übrig. Eine
ſchmale, aber paradiefifche Landfhaft an der Südfüfte Spaniens, im Innern
blühend durch Wohlftand und Bildung, reich an poetifchem und ritterlichem Geifte,
vrientalifche Sitte geſchmackooll mit europäischer mifchend, war es feft durch feine
Lage, noch fefter durch den Muth feiner Bewohner, gefchügt durch die zahlreichen
Thürme feiner Städte und die wilden Schluchten feiner Gebirge, zugleich im Be—
fige alfer Mittel, welche Kunft, Handel und Reichthum bieten, dur das Meer
gedeckt und durch die Glaubensbrüder im benachbarten Africa fräftig unterflügt,
Sp wußte fih das Feine Granada noch über zweihundert Jahre in Unabhängig-
feit und Kraft zu erhalten, Aber am 19. October 1469 vermäßlte fir) Ferdinand,
der Erbe von Aragonien, mit Iſabella, der Erbin von Caſtilien, und letztere trat
fhon im Jahre 1474, erfterer im Jahre 1479 in den wirklichen Befig der Re—
Hierung ihrer Länder, Kaum Hatten fie fih in demfelben gefeftigt, fo richteten
fi die Blicke diefes merkwürdigen Herrfcherpaars auf jene ſchönen Länder des
fpanifhen Südens, wo ſchon feit nahezu achtgundert Jahren das Kreuz von dem
Halbmond verdrängt war. Die Eröffnung der Feindfeligfeit von Seite der Mau-
ren gab erwünfchte Gelegenheit zur Durchführung jener Pläne, die Ferdinand
mit den Worten ausdrüdte: „Ich will die Kerne diefes Granatapfels (Granada)
einen nach dem andern herauspicken.“ Muley Abul Hafen, König von Granada,
zerbrac die bisherigen freundlichen Berhältniffe mit Caftilien, nahm diefem Reiche
feine nicht gehörig bewachte Orenzfefte Zahara (1481) und führte deren ganze
Bevölkerung in die Sclaverei nach Granada, Die nächſte Wiedervergeltung hie-
für war die fühne Eroberung der reichen und ftarfen maurifchen Feftung Alhama
(28, Febr, 1482), und einfichtige Mauren felber erfannten, daß dieß nicht die
legte Strafe des gebrochenen Friedens, wohl aber der Vorbote noch größern Un-
glüds fein werde, Und fo war es auch, Ferdinand mußte zwar im J. 1482 von
der maurifchen Feftung Loja mit großem DVerlufte wieder abziehen, und noch viel
ſchlimmer erging e8 dem Heinen Heere, welches im März des folgenden Jahres
in den Engpäffen der Ararquia bei Malaga faft gänzliche Vernichtung fand, Allein
936 — BR; Mauren.
4
Zu. 3
—
die Mauren wurden jetzt unter ſich ſelber entzweit, Abu Abdallah oder Boabdil, x
wie ihn die Spanier nennen, empörte fih gegen feinen Vater, den König Abul
Hafen, und entriß ihm den größten Theil feines Reiches fammt der Hauptfladt,
fo daß jegt der alte Fürſt in Malaga, der junge in Granada regierte, die Spal-
tung aber die Macht des Neihs ſchwächte und lähmte. Schon einen Monat nad
dent Unglück der Chriften in den Schluchten der Ararquia wurde Boabdil in der
Schlacht bei Lucena (21. April 1483) gefangen und von Jfabella nur unter ver
Bedingung wieder in Freiheit gefegt, daß er jährlihen Tribut als Vaſall von
Caftilien entrichte und den fpanifchen Truppen freien Durchzug und Verprovian-
tirung auf dem Marfche gegen feinen eigenen Vater gewähre. Seine Rückkehr
nad Granada erneuerte den Bürgerkrieg, und in der Hauptfladt felbft floß un-
unterbrochen 50 Tage und Nächte lang maurifches Blut, von Mauren felber ver-
goffen. EI Zagal, d. i. „ver Tapfere”, ein Bruder des alten Königs, hatte
diefen vom Throne gefloßen und ftritt fih num blutig mit feinem Neffen Boabdil,
während dag Glück fortan, wenn aud) langſam, die fpanifchen Waffen begünftigte,
F
Ri
*
Eine Feſtung nach der andern fiel in ihre Hände, und ſchon im Auguſt 1487
mußte fih das herrliche Malaga den Siegern ergeben. Nach zwei Jahren folgte
ihm Baza, die Hauptſtadt EI Zagals, welcher felbft am Glücke verzweifelnd im
December 1489 auf den Thron feiner Ahnen verzichtete. Damit war jest ein
Theil des maurifchen Neiches wieder gewonnen, die feflen Städte wurden mit
Chriften bevölfert, in den Vorftädten dagegen und offenen Plägen durften bie
Mauren verbleiben, Eigentum und Religion, Geſetze und Gebräuche unverändert
behalten und an die caftilifche Krone nur fo viel entrichten, als fie bisher ihren
eigenen Herrfchern geleiftet Hatten. Zu fol’ glücklichem Erfolge des Krieges
hatte Zfabella mehr als der tüchtigfte Feldherr beigetragen, Häufig im Panzer,
belebte fie durch perfönliche Anwefenheit den Muth ihrer Krieger und befchämte
felbft ihre Helden durch Scharffinn und unbezwingbare Feftigfeit, Mit raftlofer
Energie fohaffte fie alles Nöthige, fogar ihre Juwelen verpfändend, zum Kriegs—
bedarf herbei, warb neue Truppen, verforgte die Armeen und nahm fich mitleidig
auch der Berwundeten an, zu deren Pflege fie die Errichtung ambulanter Kranken—
häuſer erfand, Wie ihr aber felbft diefer Krieg nicht bloß ein politifcher war,
fo wußte fie auch in dem Heere den Gedanken eines Kampfes für die Ehre des
Kreuzes Iebendig zu erhalten, Gebet und Firchliche Weihe mußte die Schlachten
beginnen und fehließen, Fein Zanf durfte gehört, Fein Spiel gewagt und Feine
Dirne im Lager gefehen werben. Bon der ganzen maurifchen Macht war jetzt
nur mehr der ſchwache Boabdil mit der Hälfte des Neiches übrig, der an Ab-
bängigfeit von Caftilien gewöhnt und nur durch deffen Schu auf dem Throne
gehalten, ſchon früher die Uebergabe Granada's verfprochen hatte, falls auch EI
Zagal feinen Antheil abgeben müßte, Auf die Mahnung Ferdinands aber, daß
jegt diefe Bedingung erfüllt und die Zeit der Uebergabe gekommen fer, antwortete
der Schwähling ausweichend, er fei nicht frei und könne fein Verfprechen nicht
halten, Ohne Zweifel hatte er großentheils die Wahrheit gefagt, denn wirklich
erhob fih das maurifche Volk mit neuer Degeifterung zum Kampfe gegen bie
Ehriften, und das von 1030 Thürmen beſchützte Granada ſchien auch der größten
Macht die Stirne bieten zu dürfen. In der That fonnte auch Ferdinand im erften
Feldzug 1490 nichts Erflefliches Teiften, und erft im folgenden Jahre, ald Gra-
naba gerade gegenüber mit wunderbarer Schnelligkeit die Stadt Santa Fe ſich
erhob, und die Abficht der Spanier, nicht mehr von der Stelle weichen zu wollen,
bezeugte, da erft entſchwand den Mauren mit dem Muthe zugleich die Hoffnung
auf Rettung, Iſabella hatte der nenen Stadt den Namen Santa Fe, d. 1. „ber
hl. Glaube“, gegeben, weil fie einerfeits den Krieg als einen Kampf für den hl.
Glauben betrarhtete, und andererfeits an den glücklichen Ausgang des ganzen
Unternehmens in Froͤmmigkeit glaubte, Diefe Hoffnung hatte auch nicht ge—
® ? — a
—
Mauren. =. 937
täufcht, denn ſchon am 2. Januar 1492 J ſie in die Hauptſtadt des Mauren⸗
landes ein, um die Huldigung des legten renfürften zu empfangen. Geuf-
zend nahm diefer fofort Abſchied von dem Lande feiner Väter, und blickte zum
% legten Dal von dem Zelfen, der jegt noch el ullimo sospiro del Moro Heißt, auf
das fhöne Granada Hin, um nun ein Feines Fürftenthum in den Alpurarrag-
Gebirgen zu beziehen, das er jedoch bald wieder verließ, um unter feinen Glau—
bensgenoffen in Africa zu flerben. Sein Volk erhielt ähnliche, ja noch mildere
Bedingungen, ald wenige Jahre früher das des EI Zagal, und Eigenthum, Cult
und Mofheen, die nationalen Gefege, Gebräuche und Obrigfeiten follten ihm
ungefchmälert verbleiben, feine größern Abgaben als früher, und innerhalb der
nächften drei Zahre gar Feine erhoben werden. Dabei ward Jedem, dem es be-
liebte, die Auswanderung freigeftellt. Was feit nahezu achthalbhundert Jahren
das Ziel der höchſten Wuͤnſche aller Spanier geweien, das war nun erfüllt, die
uralte Schande der Ahnen ausgetilgt und die Macht der Feinde nach einem zehn-
jährigen, mit dem Trojanifchen verglichenen Kriege gebrochen. Faſt ganz Europa
nahm an dem Jubel Spaniens Antheil, und die weltlihen Throne wetteiferten
mit dem heiligen Stuhl in prachtvollen Feflen zur Feier diefes für die ganze
Epriftenheit wichtigen und freudigen Ereigniffes. Der Papft aber verlieh ven
beiden Herrfchern Ferdinand und Iſabella den Namen der Fatholifchen Könige,
unter welchem Titel Los reyes catolicos fofort das große Herrſcherpaar welt-
berühmt wurde (f. die Art, Ferdinand, der Katholiſche, und Sfabella).
An die Spige der politifchen Verwaltung Granada's wurde der Graf Mendoza
von Tendilla, zum Erzbifhof von Granada aber Fernando de Talavera aus dem
Hieronymitenorden beftellt, beide gemäßigte, tüchtige und rechtfchaffene Männer,
Natürlich fuchte der neue Erzbifchof alsbald den hriftlihen Glauben in dem er-
oberten Lande zu verbreiten, und feine Sittenreinheit, Milde und Wohlthaͤtigkeit
unterflügten dieß Bemühen, fo daß fehr häufige Bekehrungen vorfamen, und in
ganz Granada Niemand mehr geliebt wurde, als der große Alfaqui der Chriften,
wie die Mauren den Erzbifchof nannten. Bald wurde auch Zimenes, Erzbifchof
von Toledo (f. den Art. Kimenes), dem Talavera zur Förderung der Miffion
beigegeben (1499), und ſchon am 18. Dee, deffelben Jahres konnte Kimenes
viertaufend Mauren an einem Tage taufen, Aber in feinem Eifer überfihritt er
auch die Schranfen der Mäßigung, wollte Befehrungen erzwingen und ließ meh—
rere taufend Eremplare des Koran ıc. verbrennen. Dieß und Anderes erzeugte
in den letzten Tagen von 1499 einen gefährlichen Aufftand in Albaycin, d. i. im
Maurenquartier von Granadaz aber Ferdinand und Iſabella flellten jest den Be—
wohnern des meuterifchen Stadttheild die Alternative, entweder die Strafe des
Hochverraths oder die Taufe zu empfangen. Die Folge war, daß faft alle mau—
rifhen Bewohner der Stadt und Umgebung Granada’s zum Chriftentfum über-
traten, die übrigen aber in die Gebirgsgegenden oder nach Africa flohen, um den
Glauben ihrer Ahnen bewahren zu fünnen. Neue Emeuten der in den übrigen
Theilen des alten Reiches Granada noch vorhandenen Mohammedaner gaben Ver-
anlaffung, daß auch auf fie die gleiche Alternative, wie auf die Stadt Granada
felöft angewendet wurde, und fo gab es ſchon im 3. 1501 im ganzen ehemaligen
Königreihe Granada, nachdem die Nenitenten ausgewandert, feinen einzigen un=
getauften Mauren mehr. Im folgenden Jahre erfchien die berühmte Pragmatif
Ferbinands und Iſabella's, welche auch den in Caftilien und Leon anfäßigen
Mauren (die in Aragonien blieben noch unberührt) auszuwandern oder gläubig
zu werben befahl, und auch die meiften von ihnen Tießen fih taufen. Zu biefer
erben Maßregel gegen die Mauren foll Don Diego de Deza aus dem Domini-
canerorden, der Nachfolger Torquemada’s (4 16. Sept. 1498) im Amte eines
Großinquiſitors, gerathen haben, und er war es überdieß, der den Fatholifchen
Königen auch in Oranada die Inquifition (ſ. d. U) einzuführen riet, um die
‚938 Mauriner — Maurus,
Rückkehr der Moriscos (fo nannte man die getauften Mauren) zum Islam zu
verhüten, Doc Iſabella geftand nicht mehr zu, als daß das Inquifitiong-Tribu-
nal von Cordova feine Gerichtsbarkeit auch über Granada ausftrecfen, jedoch nur
im Falle eines vollftändigen Abfalls vom Ehriſtenthum, nicht aber wegen einzelner
geringerer Abweichungen einen Morisfen beunruhigen dürfe, Unter ähnlichen
Bedingungen wurden auch die Morisfen in Caftilien und Leon, und feit Carl V.
auch) die von Aragonien der Inquiſition unterftelft und meiftens fehr milde be—
‚handelt, Papft Clemens VI. forgte dafür, daß fie einen tüchtigen Unterricht in
der chriſtlichen Neligion erhielten, und zu gleicher Zeit gebot Raifer Carl V., die
Güter der Apoſtaten dürften nicht confiseirt, fondern müßten ihren Kindern er-
halten und Fein Abtrüänniger unter ihnen dürfe von der Inquifition zum Tode
werurtheilt werden, Auch Gregor XII. fuchte durch Milde die Morisken zu ge-
winnen, aber eine aufrihtige und nachhaltige Belehrung derfelben erfolgte fo
wenig, daß fie vielmehr durch neue Aufftände, durch hochverrätheriſche Verbin-
‚dungen mit den Mauren in Africa u, dgl. unter Philipp IH. im 3. 1609 ihre
völlige Vertreibung aus Spanien felbft herbeiführten. Häufig wird diefe Ver-
jagung der Moriscos den Spaniern zum großen Vorwurfe gemacht; aber richtig
wiefen ſchon die Göttinger gelehrten Anzeigen (vom 28, Juli 1842) darauf hin,
daß diefelbe von den aufgeflärteften und geiftreichften Zeitgenoffen, wie Cervantes,
als eine dringende Nothwendigfeit erfehnt worden fei; und auch in der Zeitfchrift
„das Ausland” (1845, Nr, 146) wird anerfannt, daf durch die offenen und ge-
heimen Anhänger der Mauren die Staatseinheit in Spanien wiel flärfer gefährdet
war, als man gewöhnlich zu glauben geneigt iſt. Vgl. meine Schrift: „ver Ear-
dinal Kimenes”, ©. 1,24. 56, 294, und die dort citirten Werfe und Quellen.
Außerdem Aſch bach, Geſch. der Weſtgothen; Conde, Gefh. der Mauren in
Spanien. [Hefele.]
Manriner, f. Maurus,
Mauritius, der hl., Primicerius der thebätfchen Legion, f. Legio The-
baica. — Ein anderer Mauritius wird in den griechifchen Martyrologien er—
wähnt; er foll unter Diveletian mit 70 Andern zu Apamea in Syrien gemartert
fein (f. Acta SS. 21, Febr). — Unter dem 10. Juli erwähnt das Mart. rom noch
einen Mauritius, welcher mit Leontius, Daniel und Andern zu Nicopolis in Ar-
menien unter Lieinius graufam gemartert und endlich verbrannt wurde,
Manrns, Congregation des heiligen. Wie der heilige Placidus bie
Negel des heiligen Benedictus in Sieilien verbreitete, fo fliftete der Hl. Maurus,
Lieblingsfchüler des Legtern, die erſten Klöfter diefer Regel im Franfenreiche,
weßwegen er bier bei den Benedictinern und der Kirche überhaupt in befonderent
Anfehen fortwährend ftand, ja feine hauptfächlichfte Stiftung, die berühmte Abtei
Glanfeuil, erhielt zu feinem Andenken den Namen St. Maurus an der Loire
(St. Maur sur Loire), Befondern Ruhm erntete die ECongregation des hf. Maurus
durch den moralifchen und wiffenfehaftlichen Gehalt. Ihren Urfprung 'verbanft fie
der Reform, welche im J. 1613 in der Abtei St, Auguftin von Limoges ein-
geführt und 1621 und 1627 Firchlich beftätigt wurde, Diefe unter dem Namen
des heiligen Maurus, wie fie nach einem Eapitelsbeſchluß benannt wurde, be-
Fannte Congregation begriff gegen 124 Abteien und Privreien in fih, war in
fieben Provinzen geteilt und wurde von einem befondern General, der in der
Abtei St. Germain des Pres zu Paris refivirte, geleitet. Zu ihren Haupthäufern |
gehörte außer St. Germain noch St. Denis, Fleury oder St. Benoit sur Loire,
Marmontier, Vendöme, St. Nemis de Rheims, St, Pierre de Corbie, Foͤcampe ıc,
Zwifchen der Congregation St, Vanne und St. Hidulph beftand eine fehr enge‘
Verbindung; auch waren ihre Statuten beinahe diefelden, Die Congregation
felbft war eine tief eingreifende Neform des Venedictinerordens, weßwegen ihr”
auch der Cardinal Nichelieu eine befondere Aufmerffamfeit ſcheukte. Nachmals
Maurus Rabanus — Maury. 939
wurde die Diseiplin freilich lockerer, aber immerhin erhielt fich der wiffenfchaft-
liche Ernft, und die Novizenhäufer blieben gelehrte Schulen, in denen die Afpi-
ranten einem regelmäßigen Curſe folgten und ſich durch tiefe ſyſtematiſche Stu—
dien zur Aufnahme in den Orden vorbereiteten. In jeder Provinz befanden zum
Zwecke der Ausbildung zwei Novizenhäufer, aus welden die Novizen in andere
Klöfter verfegt wurden, um ein abermaliges Noviciat von zwei Jahren zu be—
ſtehen, einen fünfjährigen Curs in der Philofophie und Theologie durchzumachen
und dann erft noch ein Jahr in fich zu gehen (Un an derecollection) und fich ge=
hörig zu fammeln, bevor fie die Priefterweihe empfangen könnten. Die Ver—
faffung der Congregation felbft war folgende. An der Spige des Ganzen fand
der General, nicht auf Lebenszeit, fondern auf eine unbeflimmte Dauer, gewöhn-
lich auf drei Jahre, gewählt, Diefer wurde unterflügt von zwei Affiftenten, und
für jede Provinz von einem Pifitator und einigen Definitoren, welche ſämmtlich
som Generalcapitel gewählt wurden. Vom Anfang bis zum Ende der Congre-
gation waren die Generale Tauter ausgezeichnete Männer, Eine andere paffende
Einrichtung war eine Modification der ftrengen Drdensftatuten, Die literariſch
‚befchäftigten Mönche waren größtentheild vom Chordienfte frei und Tonnten für
ihre Zwecke Neifen machen; aber auch die übrigen Hatten wielfache Erholungen.
Die Unzufriedenheit wurde am Teichteften dadurch niedergehalten, daß die Mönche
Klöfter und Pfarreien wechfeln fonnten, Aber auch andere Umftände kamen der
Eongregation zu gute. Einmal war es für jeden Mauriner ein flets erhebendes
Gefühl, Mitglied eines Inſtitutes zu fein, welches ſich der allgemeinen Achtung
rühmen fonnte; fodann traten immer hochgebildete Männer aus den höchſten
Ständen in daffelbe ein, Die befte Garantie hatte übrigens die Congregation in
dem religiöfen und moralifchen Charakter ihrer Mitglieder ſelbſt. Uebrigens war
die wiffenfchaftliche Aufgabe, die nachmals mit fo großem Ruhme gelöst wurde,
nicht eigentlicher Zweck der Neformationz aber fihon der erfle General Gregor
Tariffe (1630—48) begünftigte befonders talentvolle und firebfame Jünglinge.
Bald wurde auch jene Einrichtung getroffen, daß nach Vollendung ihrer Studien
die jungen Benedictiner, welche höhere Talente befaßen und Neigung zu wiffen-
fhaftlihen Arbeiten zeigten, Behufs weiterer Ausbildung in Klofteracademien
oder in höhere Lehranftalten verfegt wurden. Aus diefen wurden die Lehrer für
die Novizenhäufer und Seminarien (in wel’ Tegteren junge Evelleute erzogen
wurden) und die Bibliothecare für die einzelnen Klöfter gewählt. Anderen wur-
den fogleich gelehrte Arbeiten übergeben, deren Vollendung gewöhnlich die Auf-
gabe ihres Lebens blieb. Anfangs beftanden diefe Arbeiten in Sammlungen von
Materialien zur Gefchichte der zur Eongregation gehörigen Benedictinerflöfter
und zur Gefchichte der Heiligen, was naturgemäß zu palävlographifchen und di—
plomatifhen Ausarbeitungen führte, In der Folge erſtreckte fih die Thätigfeit
der Mauriner über alfe Zweige menſchlichen Wiſſens. Auf ihre fohriftftelferifchen
Arbeiten felbft näher einzugehen, ift bier nicht der Ort; trefflih und ausführlich
handelt hierüber Herbft in der Tübinger theologiſchen Duartalfchrift Jahrg. 1833
u. 1834: „Die Berdienfte der Mauriner um die Wiffenfchaften“, Leider erlag
die einft fo blühende Eongregation dem Sturme der Revolution und Fonnte auch
in ihren fpärlichen Ueberreften im Jahre 1815 nicht zu ihrem Nechte kommen;
dagegen ift fie feit 1833 wieder bergeftellt und befigt durch die Bemühungen des
Abbe Gueranger das Klofter Splösme in der Didcefe Mans, widmet fich wieder
den Wiffenfchaften, und die Vollendung des meifterhaften Werfes Gallia Christiana
wird den Ruf diefer Benedietiner auf's Neue begründen, Vgl. Hierzu den Art,
Denedictinerorden, [&edr.]
Maurus Nabanus, f. Rabanus Maurus,
Maury, Jean, Sifrein, Eardinal, geboren zu Valreas in der Graffchaft
Benaiffin den 26, Juni 1746, war der Sohn eines armen Schuſters. Frühzeitig
940 Maury. ’
entwickelten fich die Hohen Gaben des Maury, der geiftliche Stand bot damals
bei dem Mangel hoher Geburt noch am meiften Ausfichten zur Erhebung. Er
wurde in das Seminar von St, Charles d'Avignon und dann in das von St,
Garde gefickt, und wurde ſchon vor feinem 20ten Jahre als Hauslehrer in Paris
angeftellt, 1766 veröffentlichte er eine Trauerrede auf den Dauphin und eine
Lobrede auf Stanislaus. Bei allen Mängeln einer noch zu üppigen Einbildungs-
fraft zeichneten fich Die Neden dur Eleganz und Klarheit, Kraft der Gedanken
und Erhebung aus, 1767 eoneurrirte er um den Preis der Academie „Lobrede
auf Earl V., König von Franfreih”, und die „Vortheile des Friedens“, Seine
Arbeiten wurden beifällig aufgenommen, er fühlte fich gefchmeichelt und fehritt mit
Bertrauen feinem Iiterarifchen Nuhme entgegen. Er wollte in die Laufbahn eines
Bourdaloue und Mafillon eintreten, verfaßte aber vorher zu feinem eigenen Unter-
richte fein Essai sur l’eloquence de la chaire. Maury betrachtete diefe Arbeit als
einen volftändigen Unterricht über die Beredtfamfeit, und einzelne Herausgeber
gaben vor Maury der Arbeit den Titel: Principes d’eloquence pour la chaire et
ie barreau. Das Werk befolgt feinen methodifhen Gang, enthält opne alle Io-
gifhe Ordnung in 79 Paragraphen treffliche Bemerfungen über Text, Pan, Ein-
gang, Propofition der Rede, über die gerichtliche Beredtfamfeit, über Demoſthe—
nes, Boffuet, feinen Einfluß auf die Beredtfamfeit, über Mafillon und feine
Nachfolger, Bourdaloue, Flechier, dann über einzelne Figuren, einzelne Schreib-
arten, Harmonie des Styls, Gemeinplätze, oratoriſchen Anftand, über Fenelon,
franzöfifhe Redner zweiten Nangs, über einzelne englifche, ſpaniſche und ita—
lieniſche Redner, über Citate, Pathos, Schluß, Gedächtniß. Die Arbeit ift klar
gefchrieben, zeigt einen reinen, eleganten Styl, viel Geſchmack und gefundes Ur—
theil, dabei aber verläugnet er den eitlen, etwas praßlerifchen Charafter des
Franzoſen nicht. Dem Werke ſchickte Maury voraus eine Lobrede des Fenelon
1771, eine gute Arbeit, welche ihm von der franzöfifchen Academie ein Acceffit
erwarb, während La Harpe den Preis erhielt; Bemerkungen über die neuen Neden
des Boffuet 17725 Lobrede auf den hl. Ludwig, gehalten vor der franzöfifchen
Academie den 25, Aug, 1772; endlich die Lobrede auf den HI. Auguftin, 1775 in
einer Berfammlung des franzöfifchen Clerus gehalten, Beide Reden fanden großen
Beifall, der Ruhm des Maury wuchs fihnell, die vorzüglichften Ranzeln von
Paris ertünten von feinen Neden, und der König lud ihn ein, in Verfailles bie
Advents- und Faftenreven zu halten, Abt von Baisınont erwählte ihn zu feinem
Mitarbeiter in der Herausgabe „geheimer Briefe über den gegenwärtigen Zuftand
des Clerus und der Religion in Franfreih”, und beſtimmte ihn zu feinem Nach—
folger in dem Privrate von Lires in der Picardie mit einem Einkommen, von
20,000 Livres. 1785 hielt er zum erſten Male in der Kirche von St. Lazarus
zu Paris feine Lobrede auf Vincenz von Paul, welche als fein Meiſterſtück be-
trachtet wird. Mit den Iebhafteften Farben, untermifcht mit erhabenen Reflexionen
und paffenden Vergleihungen, fihildert er das vielbewegte Leben des großen
Mannes, weiß trefflich die Schriftftellen anzuwenden, fest die einfachen Mittel,
welche Vincenz zu Gebote ftanden, mit feinen großen Leiftungen in lebhaften Com
traft und Liefert durch großartige Behandlung des Grgenftandes, wie durch glͤn -⸗
zende Darftellung ein oratorifches Kunftwerf, welches allentyalben Bewunderung
fand. Als er die Nede zum erften Male hielt, forderte er zu einem Denfmale
für Vincenz auf, mit der Infhrift: Ein guter König einem guten Bürger, Wirf- 7
Lich wurde nicht nur das Denfmal errichtet, fondern ber er ae au die
Rede hören, und Maury hielt fie zum zweiten Male den 4. März 1785 in ber {
Schloßeapelle von Verfailles, Bei feiner Aufnahme in die franzöfifche Acabemie 7
erinnerte der Präfivent an diefe Rede, fie wurde mit Begierde von den Carbi-
nälen und Ordensgeneralen in Nom gelefen, und Papft Pius VI. felbft ehrte fie
mit feinem Beifalle. Den 27. Januar 1785 wurde Maury in die franzoſiſche
Maury. 941
Academie aufgenommen als Nachfolger des Lefrane von Pompignan. So Iebte
er geehrt und hochgeachtet der Freundfchaft und den Wiſſenſchaften, bis die fran-
zöfifche. Revolution ausbrach. Der Elerus des Sprengeld von Peronne wählte
ihn zum Abgeordneten in die Verfammlung der Oeneralftaaten. Mit Klarheit
und Scharffinn drang er in die politifhen Fragen ein, vertheidigte die monarchi—
ſchen Snftitutionen und entwicelte in den parlamentarifchen Debatten die ganze
Kraft feiner Beredtfamfeit. Zuerft trat er in einer Nede gegen Talleyrand, Bi-
fchof von Autun, über den Verfauf der Kirchengüter auf, und zwar mit ſolchem
Beifalle, daß Mirabeau durch eine Gegenrede den Eindrud verwifchen zu müffen
glaubte, welchen Maury hervorgebracht. Maury ftellte fih an die Spige ver
monarhifhen Partei mit Cazales, nahm am allen Verhandlungen Theil, impro-
vifirte, und gab immer Beweife großer Kenntniffe; den 11. Januar 1790 ſprach
er für die Einrichtung der alten Gerichtsbarkeit, dann über das abſolute Veto
des Königs, über das Necht von Krieg und Frieden, über Abfegbarfeit der Rich—
ter, über Finanzen, Öffentliche Schuld, befämpfte die Eivifeonftitution für den
Elerus, improvifirte eine lange Nede über die Affignaten, ergriff zweimal das
Wort über die Vereinigung von Avignon mit Franfreich, geißelte ven Baron von
Menou, wie er nach den ſchrecklichen Tagen des 5. und 6. Detober den Herzog
von Orleans und Mirabeau angriff; vertheidigte den Clerus von Elfaß, ſprach
dfter in Sachen der Dotation der Königin von Spanien, über Steuern, Drgani-
fation des Nationalgerichtspofes., Man verglih Maury mit Mirabeau, und der
damalige „Freund des Königs“, von Freron herausgegeben, äußerte fih: „Beide
fiehen an der Spige zweier Parteien und ziehen die Augen von Franfreih und
Europa auf fih. Die lange Gefangenfchaft des Mirabeau übrigens, die Ge—
wohnheit, zu dulden, die düftern Betrachtungen über die Einfamfeit gaben diefem
eine hohe Energie, aber auch einen heuchlerifchen Charafter; Maury dagegen
reifte in Ruhe und Frieden heran, und fannte Feine andere Leivenfchaft, als für
die Wiffenfhaft und den Ruhm, feine erften Verſuche ftellen ihn den größten
Rednern zur Seite, und er feßt durch feine tiefen Kenntniffe in der Politif und
Geſchichte, durch feine Leichtigkeit, jeden Augenblic zu reden, durch feine glän-
zende Einbildungsfraft und feinen Flaren Verftand in Staunen. Die Beredtfam-
feit des Mirabeau gleicht den Statuen barbarifher Völfer, welche die Leiden-
fhaften nur durch Verdrefungen auszubrüden wiffen, die Beredtfamfeit des Maury
gleicht den Statuen Athens, wo Anmuth und Schönheit ſich mit dem pathetifchen
Ausdrude verbinden”, Den 3, Februar 1791 beehrte ihn Ludwig XVI. mit einem
Driefe, in welchem er feine Verdienſte um die Krone anerfannte und ihn feiner
fünftigen Dankbarkeit verfiherte; Papft Pius VI. ernannte ihn den 26. Sept,
1791 zum Cardinal in petto. Später wanderte Maury nach Teutfchland aus,
ging nah Nom, wurde zum Erzbifchof in partibus von Nicäa ernannt, als Nun-
tius zur Krönung des Kaiſers Franz I. nah Franffurt gefchieft 1792. 1794
wurde er Bifchof von Montefiascone und Corneto und erhielt den Cardinalshut,
Dei dem Einfalfe der Franzofen in Jtalien flüchtete er fih nach Venedig, nahm
bier 1799 an der Wahl Pius VII. Theil und ging mit dem neuen Papfte als Ge-
fandter Ludwigs XVII. nah Rom. Müde der vergeblichen Kämpfe gegen die re—
publicanifchen Heere, nahm Papft Pius mildere Gefinnungen an, und Maury
fohrieb auf Einladung des Papftes an Napoleon einen Brief, in welchem er fi
biefem unterwarf, 1805 kehrte Maury auf einige Monate nach Paris zurück,
1810 den 14, Det, wurde er zum Erzbifhof von Paris ernannt, Der Papft
wollte feine Wahl nicht beftätigen, nach dem Sturze Napoleons wurde er nad
Rom eitirt, um ſich * rechtfertigen, vier Jahre die Diöceſe verwaltet zu haben,
ohne die päpſtliche Conſecration und trotz eines ausdrücklichen Verbots in einem
Breve vom 5. Nov, 1810. Maury behauptete, das Breve nicht erhalten zu Haben,
ging aber nah Nom, und fand Papft und Cardinalscollegium gegen fich geſtimmt;
%
942 Marentind — Marimilian J
er verlangte, ſich rechtfertigen zu dürfen, wurde aber von allen einem Cardine
gebührenden Ehren ausgefchloffen und lebte wie ein Verbannte Rt
der Nüdfehr Pins VII. nah Rom betrieb er feine Sache mit noch m
man wollte ihm einen Augenblif antworten, gab aber den Plan
lich zu vernehmen, fei es, daß man von feinem. Ungehorfame hinläng
zeugt war, ober daß man feine Dialeetif fürdtete, und Maury wu
Engelsburg gebracht, Hier blieb er ſechs Donate, und fpäter noch fed
in einem Lazariftenflofter und warb nach diefem Jahre der Buße wiede
den vom Papſte angenommen. "Aber tiefer Gram und Bitterfeit hatten i
zehrt, er vermochte den Wechfel des Glücks und das Herbe feines S
nicht zu ertragen, und vom Verdruſſe aufgezehrt flarb er den 11. Ma e
Kühn als Redner, geiftreich als Schriftfteller, hatte er in feinem Charakter etwas
Unbeftändiges und Unruhiges und war ein Bifchof nach. modernem Gefhmade,
mehr im Salon und in gelehrten Cirkeln, als in der Studirflube, Nachdem er
bleibt mir nur noch die Liebe”. Seine Lobreden find als zweiter Band feinem
Essai sur l’eloquence beigegeben, Paris 1842, CA. vie du Cardinal Maury. Paris
1827. - [Ruß]
Marentins, f. Conftantin, Er
Marentinus, Johannes, f. Hormisdas.
Marimianus, Raifer, f. Dioeletian. |
Marimilian, der heilige, f. die Art, Bayern, und Paffau, Bisthum.
Marimilian I. wurde im 3. 1459 zu Wienerifch Neuftadt geboren, Nach
der Anoronung feines Vaters, des Kaifers Friedrich ili., erhielt er eine einfache
und ſtrenge Erziehung und wurde forgfältig in Allem unterrichtet, fowohl was,
förperliche als was geiftige Ausbildung betraf, Im 3. 1473 Iernte ihn Carl der °
Kühne von Burgund kennen, und ſprach, nach Haufe zurücgefehrt fo viel und
warm zum Lobe des habsburgifchen Prinzen, daß diefe Neden einen füßen Stachel
in dem Herzen feiner einzigen Tochter Maria zurücließen. Gleichwohl blieb
diefer nach dem unglüclichen Ende des Vaters nur geringe Hoffnung, Hand und
Herz demjenigen zu geben, deffen Bild fie fo tief und lebendig in der Seele trug,
fondern fie fchien mit Land und Leuten das unerrettbare Opfer des eben fo länder-
fühtigen als racheſchnaubenden franzöfifchen Königs Ludwigs XI. werden zu müffen, er
Doch gerade die Niedertracht und der unverföhnliche Groll, mit welchem. Ludwig
an Maria handelte, Half der Sache derfelben wieder auf, Die niederländifhen 7
*
8
4
Stände ſahen ein, daß Maria, um ſich und ihre Erblande zu retten, einen Fürſten
heirathen müßte, der im Stande wäre, fie zu befhügen. Sp ward ihr unter
andern Namen nebenbei auch der des Erzherzogs Marimilian genannt, Und num
erſchien zu guter Stunde eine teutſche Gefandtfhaft, um für den jungen Habs—
burger um Mariens Hand zu werben. Nachdem diefe zu großer Ueberrafhung 7
ihres Hofes dazu voller Freude das Jawort gegeben, trat Marimilian fofort 4 j
Brautfahrt in die Niederlande an, Mit dem glänzendften Gefolge hielt er im 7
Auguft 1477 feinen Einzug in Gent, deffen jubelnde Bewohner | mit den J
höchſten Ehrenbezeugungen empfingen. Doch konnte Maximilian der men gewon-
nenen Lande weder fogleich, noch nach ihrem ganzen Umfange frob werden, Un- 7
mittelbar nach feiner Verheirathung mit Maria wurde er von Ludwig XI. mit
Krieg überzogen. Indeß erweckte der blutige Sieg bei Ouinegate in ihm die 7
Hoffnung, Frankreich nach dem vorausſichtlich bald eintretenden Tode feines alten 7
Königs nöthigen zu Fönnen, alle dem Haufe Burgund entzogenen Länder wieber
herauszugeben. Allein nun traf ihn der herbfle und unerwartetfte Schlag des
Schickſals. Durch einen Sturz auf der Jagd verlor Maximilian im März 14327
*
| 5 WMWaximilian L 943
| "feine junge Gemahlin, nahdem fie ihm zwei Kinder, Philipp und Margaretha,
geſcheunkt hatte, Nah dem Ehevertrag war nicht Marimilian, fondern der junge
Erzherzog PHikipp der rechtmäßige Nachfolger Marias in den nieverländifchen
=
m Alsbald. ward nun der Vater des Prinzen in Streitigfeiten mit
u Slanderern verwidelt. Denn während Mar das Recht der vormundfaft-
lichen Verwaltung für fih in Anfpruh nahm, wollten diefe Feine andere Vor—
mundfchaft als die von ihren Ständen zu beftellende anerkennen. Ja fie gingen
noch weiter. In Uebereinftimmung mit den Ständen von Holland und Brabant
* ließen ſie ſich in Friedensunterhandlungen mit Frankreich ein. Maximilian hatte
keine andere Wahl, als alle dem zuſtimmend im Frieden von Arras (23. Dec,
1482) in die Verlobung feiner Tochter Margaretfa mit dem Dauphin und in
die Abtretung von Artois und der Freigraffihaft einzumwilligen, Jetzt erſt ward
es ihm möglich, die noch wider ihn in Waffen ftehenden Utrechter und Flaminger
von 1483—85 zu bezwingen. Nahdem Marimilian in diefer Weife ſich überall;
in den Niederlanden Anerkennung verfchafft Hatte, wurbe er im Februar 1486
zu Franffurt a. M. zum römifchen König gewählt, und begab fi fofort in die
Niederlande zurüf, wo neue Kämpfe und Wiverwärtigfeiten feiner warteten,
Denn nach dem Tode Marias betrachteten die Niederländer den Wittwer derfelben
als einen Fremden, der nur gefommen fei, die Rechte und Freiheiten zu ſchmä—
lern , auf welche fie fo eiferfüchtig waren. Mit Augen voll Angft und Mißtrauen
wachten: fie deßhalb über allen Schritten und Tritten Marimilians und waren
nur zw geneigt, denfelben die ſchlimmſte Auslegung zu geben. So fam es, daß
die Bürger von Brügge im 5. 1483 fo weit gingen, fich der Perfon Marimiliang
zu bemächtigen und ihm in engem Gewahrfam zu halten. Diefe Gewaltthat er-
regte das größte Aufiehen, insbefondere in Teutſchland, wo man auf die Haltung
und die Erfolge Marimilians in den Niederlanden bereits ftolz zu werben anfing,
Daher rürfte auf Betreiben feines Vaters eine Reichsarmee in die Niederlande
ein, was zur Folge Hatte, dag Marimilian feiner Haft entlaffen und in die vor—
mundfchaftlihe Regierung wieder eingefegt wurde, Im J. 1489 verlobte fi
Marimilian mit Anna der Erbin von Bretagne, Eine neue und glänzende Er-
werbung ſchien für ihn im naher und ſicherer Ausfiht zw ſtehen. Allein diefer
Plan kam dem franzöfiihen Hofe fo ungelegen, daß Earl VIIL die Erzherzogin
Margaretha, die in Paris erzogen worden, ihrem Bater wieder nah Haufe
ſchickte, Truppen an die Grenzen der Bretagne rüdfen ließ, und Anna nöthigte,
ihm die Hand zu reichen. Indem aber durch diefe doppelte Treulofigfeit des fran=
zöfiihen Hofes für Marimilian eine neue glänzende Hoffnung zu nichte wurde,
ward ihm der Berluft auf einer andern Seite faft wieder erfegt. Denn in dem
darüber gegen Frankreich ausgebrochenen Krieg gewann Marimilian das den Fran-
zofen bereits übergebene Artois wieder, und erhielt im Frieden von Senlis (Mai
1493) auf die Freigraffhaft zurück. Im Auguft deffelben Jahres ſtarb Kaiſer
Friedrih I. Dar wurde der Nachfolger feines Vaters in Teutfchland, und trat
nunmehr die Regierung der Niederlande ganz feinem Sohne, dem Erzherzog Phi—
lipp ab. Haben wir aus diefen [hwahen Andeutungen gefehen, wie das Leben
Marimilians fon in der erften Hälfte feiner Tage ein fo unruhiges, geplagtes,
von innern und äußern Gefahren bedrohtes gewefen ift, fo war doch all’ das nur
ein ſchwaches Vorfpiel von dem, was erft fommen follte. Maximilian beftieg den
teutſchen Königsthron mit dem fefteften und erflärteften Willen, das Anfehen
feiner erhabenen Würde nad innen und außen wieder herzuftellen. Nun berei=
teten fih aber alsbald die wichligften politiſchen Ereigniffe vor. Auf dem Haupt-
ſchauplatze derjelben in Jtalien wurden Mailand und Neapel der Zanfapfel der
märhtigften Nationen Europas, Als daher Mar die Abficht hegte, nach Stalien
zu eilen, ſich die Raiferfrone aufs Haupt fegen zu laffen, und das Anfehen des
Reiches in demfelben wieder herzuftellen, fah er feine Pläne durch die Eroberung
“ er
944 j Maximilian .
Neapels (1495) durch Carl VII. von Frankreich alt,
; —
eapı ; i ald durchkreuzt. Aus den
wichtigften Gründen konnte er dem Umfichgreifen der Franzoſen in Italien nicht
gleichgültig zufehen, und war darum entfchloffen, die ganze Macht Teutſchlands
wieder dieſelben aufzubieten. Aber von vorneherein befand er ſich Frautreich
gegenüber im dem entſchiedenſten Nachtheil. Denn während es dem franzö
Hofe gelungen war, alle großen Kronlehen einzuziehen, dadurch und durch
nete Finanzen die Macht des Königthums nach innen und außen zu Einer fehr
eompacten zu machen, hatte der Lauf der Dinge in Teutfchland eine gerade ent-
gegengefegte Richtung ‘genommen, Die feit Jahrhunderten in ununterbrochenem
Zuge fortgehenden Beftrebungen der Neichsftände nach Spuverainetät in den ein-
zelnen Territorien, nach immer größerer Befchränfung der kaiſerlichen Macht, fuch-
ten gerade in dem Zeitalter Marimilians I. ſich volle Geltung zu erftreiten,
Es kann natürlich nicht unfere Abficht fein, Die Lefer Durch das ganze Bunte Ge-
wirre ber Reichstage, der Forderungen und Gegenforderungen, der diplomatiſchen
Verhandlungen, der militärifhen Ereigniffe hindurchzuführen. Wir begnügen
ung nur, Folgendes zu bemerken. Indem Maximilian des Gefühles feiner Würde
viel zu voll war, als daß er zum Präfiventen einer fländifchen Reichsregierung
hätte herabfteigen mögen, war die immer und immer wieberfehrende Folge die,
daß er in feinen auswärtigen Unternehmungen von Neichswegen nur fehr un-
vollftändig oder gar nicht unterftüßt wurde, in Italien, trogdem daß er bie
Finanzen feiner Erblande ruinirte, wenig oder nichts ausrichten konnte, und fogar
die Auctorität Teutfchlandg über die Schweiz gelöst fehen mußte, Und neben den
äußern Kriegen Tiefen auch Unruhen und Händel im Innern her, wie 3. B. der
Pfalz-Bayerifche Krieg. Indeß war Marimilian fo glücklich, denſelben mit Hilfe
vieler teutfcher Fürften fiegreih zu beendigen und im Glanze frifchen Ruhmes
vor die Reichsverfammlung zu Cöln zu treten (1505). Aber diefer augenblic-:
liche Erfolg reichte nicht aus, dem Anfehen und der Unterflügung Marimiliand
durch Die Reichsftände Fraftigen und nachhaltigen Vorſchub zu leiften. Im Gegen-
theil, als er unmittelbar nachher alle feine Kraft auf Stalien werfen und die
faiferliche Krone fih auf das Haupt fegen laffen wollte, als er fpäter der Liga
von Cambrai gegen Venedig beitrat, wurde er vom teutfchen Neiche wie gewöhn-
lich nur gering unterftüßt, oder man verweigerte ihm geradezu alle und jede
Hilfe, Als die Liga von Cambrai dur den Nürktritt des Papftes Zulins I. und
Ferdinand des Katholiſchen wieder zerfiel, vereinigte fih Marimilian mit Lud-
wig XI. von Frankreich befanntlich zu einem neuen Bunde, um ihre Zwerfe gegen
Venedig durchzufegen. Aus Erbitterung gegen Julius IL ließ Mar ſich zu einem
beffagenswerthen Schritte von feinen Bundesgenoffen verleiten, "Um dem Papfte
mit einer neuen und gefährlichen Waffe beizufommen, beriefen fie die fpäter nach
Mailand und von dort nach Afti, endlich nach Lyon verlegte fhismatifche Kirchen-
verfammlung von Pifa (ſ. d. A), um über eine Neformation der Kirche in Haupt
und Gliedern zu befchließen. Die Lage des Papfles war hiedurch eine ſo kritiſche
Auch im Felde waren die zum Schutze des Papftes- * ü \
lich, daß die Franzofen am Ende des I. 1512 mit Ausnahme von drei feften
—
0 Marimilion L 945
durch ihn nach Augsburg berufenen Biſchöfe nichts Hatten Hören
Wir übergehen die weitere Geſchichte der italienifchen Kriege und wenden
den Blick auf die teutfchen Verhältniffe. Auch Hier war es mittlerweile gar ftür-
miſch zugegangen. Maximilian Hatte bis 1516 alle feine Thätigfeit in Stalien
erſchöpft und Feine Zeit erübrigt, fich ernftlich mit den Angelegenheiten des Reiches
zu befchäftigen. Deßwegen hatten in den legten Jahren Fehden und Unruhen
viele teutfhe Länder beunruhigt und verheert. So kam es erft 1517 wieder zu
dem Reichstage zu Mainz zur Unterbrüfung der filingen’fhen Händel. Aber ftatt
Hilfe wider diefelben zu gewähren, ergoffen fi die Stände lediglich in Klagen
über die berrfihenden Uebel der Zeit. Der Reichsſstag ging auseinander, ohne
einen Beſchluß gefaßt zu haben. Auf dem im folgenden Jahre zu Augsburg ge-
haltenen Neichstage beabfichtigte Maximilian zwei Hauptzwecke durchzuſetzen.
Einmal gedachte er feinen Enkel Earl zum römiſchen Könige wählen zu laſſen,
und von den Ständen eine Steuer zu einem Kriege gegen die Türfen zu befom-
men, Allein er erreichte weder das eine noch das andere, obgleich die von den
Türfen drohende Gefahr täglich dringender wurde, und der Kaifer, Die päpftlichen
Legaten und die Gefandten auswärtiger Mächte Alles aufboten, um die Stände
zu einem entfprechenden Befchluffe zu bewegen. Bald nad diefem Reichstage fühlte
Marimilian, an deffen Gefundheit feit einiger Zeit ein fchleichendes Fieber nagte,
eine gänzlihe Abnahme feiner Kräfte und ftarb auf der Heimreifezu Wels in Oberöft-
reich den 12, Jam, 1519 im 60. Jahre feines Alters. Werfen wir nun einen Rück—⸗
blick auf das ganze an Bewegung und That fo reiche Leben Marimilians J., fo
foringt es für's erfte in die Augen, daß er, wie wir gefehen, in feinen auswär-
tigen Unternefmungen faft immer unglüdlih gewefen ift, teils weil er von
Reichswegen ungenügend vder gar nicht unterftügt wurde, theils weil er mit dem
Gelde nicht gehörig zu wirthſchaften verftand, in dem romantifchen Auffhwung
feiner Gedanken die Schwierigkeiten der Lagen und Verbältniffe oft viel zu leicht
nahm und durch die Gerabheit feines ehrlichen teutſchen Gemüthes verhindert
wurde, mit der Lift und Verſchlagenheit feiner Nebenbuhler zu wetteifern, Bei
allevem aber war Marimilian feiner Zeit der Stolz der teutfchen Nation, Mit
Recht! Denn an ritterlihem Sinne im Krieg und Turnier, an einer faft fabel-
haften Kühnheit unter den Gefahren der Jagd, an unermüdlicher Thätigfeit in
allen Berhältniffen, an Liebenswürdigfeit des Benehmens gegen Hohe und Nie—
dere, an Kraft des Gedächtniſſes, an Richtigkeit und Schärfe der Auffaffung, an
neugeftaltendem erfinderifchem Sinne ftand er feinem teutfchen Kaifer nah. Die
zulegt genannte Eigenfchaft bewies er insbefondere durch feine berühmten Ver—
befferungen des Militärwefend, Denn von ihm wurde die teutfche Kriegskunft
auf eine neue Stufe der Bollfommenpeit erhoben, fo daß das teutfche Fußvolk
der Landsfnechte fortan den Schweizern gleich gefegt, und den Teutſchen in der
Anlage von VBerfhanzungen und in der Benügung des groben Geſchützes der
Borzug vor allen andern Nationen zugeftanden wurde, Und obgleich die Negie-
zung Marimilians von faft ununterbrodhenen Kriegen begleitet war, fo umfaßte
der Raifer gleichwohl mit warmer Liebe den Eult der Künfte und Wiffenfchaften,
Er fiand mit den berüßmteften Gelehrten feiner Zeit in enger Verbindung, er
veranlaßte, ja er verfertigte ſelbſt mehrere in teutfcher Sprache gefihriebene Werke,
er liebte und beförderte die zeichnenden Künſte und befuchte den berühmten Albrecht
Dürer (ſ. d. 9.) in feiner Werfftatt zu Nürnberg. Beweist aber das Angeführte,
wie empfänglich, vielfeitig und bewunderungswürdig der Geift war, der in Mari-
milian L Tebte, fo ift nun auch anzuführen, was derfelbe Geift zu Nuß und
Frommen des teutfchen Reiches austrug. Waren die Berfaffungsentwürfe, welche
die Stände dem Kaifer in den erflen Jahren feiner Regierung mit hartnädiger
Bebarrlichkeit aufzundthigen fuchten, unansführbar, fo war Marimilian doch ftets
willig und bereit, zu dem Möglichen und Erreihbaren bie Hand zu bieten, Daher
Kirgenfsziton. 6: Br 60
946 MarimitianIl
war fihon 1495 auf dem Neichstage zu Worms der ewige Landfriede feftgefest
worden, wozu in der Folge die Eintheilung Teutſchlands in 10 Kreife, das Neichs-
fammergericht und die Reichsmatrikel famen, Einrichtungen, welde drei Jahr—
hunderte lang die Fundamente gewefen find, in denen die Einheit des Neiches
ſich ausſprach. Und wenn alle Kriege für Marimilian wenig Ge brachten,
fo fohüttelte das Glück die Gaben, welche ihm der Kriegsgott verfagte, auf an-
dern Wegen defto reichlicher in feinen Schooß. Nicht nur daß er feit 1496 in
den Gefammtbefig aller öftreichifhen Erblande fam, fowohl der alten habsbur-
gifhen Befigungen in der Schweiz und in Schwaben als der öftlichen Reichs—
leben, Deftreih , Steiermark, Krain, Kärnthen und Tyrol, — durch feine Hei-
zath mit Maria von Burgund hatte er fhon früher, wie wir oben fahen, bie
herrlichen Niederlande erworben. Ebenſo war es ihm gelungen, durch die Ver-
heirathung feines Sohnes, des Erzherzogs Philipp mit der Tochter Ferdinands
des Katholifchen (ſ. d. A.) den Grund zu der großen fpanifchen Erbfchaft zu legen.
Nicht geringer war der Gewinn, ald Marimilian-durd ein drittes Ehebündniß
das feines Enfeld Ferdinand mit Anna der Tochter Ladislaus, Königs von Un—
garn und Böhmen, auch diefe beiden großen und reichen Ränder an fein Haus
zu bringen wußte, Dieß find die großen Ländererwerbungen Habsburg-Deftreichs,
auf welche der befannte Vers gebichtet worden ift: Bella gerant alii, tu felix Austria
nube. Diefelben haben aber nicht bloß eine dynaftifche, fie Haben eine welthiſto—
rifche Bedeutung gewonnen. In Frankreich Hatte fih, wie wir oben fahen, das
Königthum eonſolidirt; es war bei den Franzofen ſchon im Beginne des 16ten
Sahrh. die Idee der Rheingrenze erwacht und unter drei Negierungen hatten fie
ihre ganze Kraft auf Ftalien geworfen, Daß dem Heberfluthen verfelben gewehrt
werden fonnte, dazu hatten die großen Rändererwerbungen dur Kaiſer Maxi—
milian das Haus Habsburg-Deftreih in den Stand gefegt. Dadurch ift daffelbe
eine conditio sine qua non des Gleichgewichtes der Macht und damit der Freiheit
der europäifchen Bölferfamilien geworden, darum ift es feit jenen Zeiten eine
traditionelle Marime der franzöfifchen Staats- und Kriegsfunft gewefen, jenes
Haus zu demüthigen, Hat aber der Machtzuwachs Deftreihs durch Kaifer Mari-
milian ſchon dadurch welthiftorifche Bedeutung gewonnen, fo ift dieß nicht minder
der Fall, wenn wir an die gerade von jenen Zeiten an Teutfohland und damit
die chriſtliche Eultur fo Tange bedrohende Türkengefahr ung erinnern wollen. Die
Rückſicht auf die Macht des Haufes Deftreih war fihon nah Marimilians I.
Tode ein Hauptmotiv gewefen, zu feinem Nachfolger nicht Franz I. von Frankreich,
fondern Earl, den Enfel Maria's zu wählen. Der Befig einer fo großen Macht
machte es den fpätern Raifern möglich, fo lange jene Gefahr drohte, als fräftige
Hüter der Oftmarf ftattlihe Schaaren ihrer eigenen Mannen aufzubieten, fremde
Truppen in Sold zu nehmen und in Gemeinfchaft mit den Contingenten der Reiches
fände den Türken den Einbruch in das Herz von Europa zu wehren, die Gefahr
einer neuen Barbarei zu befeitigen, Müffen wir endlich auch geftehen, daß Carl V.
(. d. 4.) eben durch die Weltftellung, in welche ihn die Verwirklichung der Pläne
feines Großvaters gebracht hatte, fih außer Stande fah, der religiöfen Spaltung
Teutſchlands vorzubeugen, fo muß doch anderfeits das unparteiifche Urtheil der Ge-
fhichte dahin abgegeben werden, daß es zumeift die von Kaifer Maximilian I. be-
gründete Macht von Habsburg-Deftreih gewefen, welche in den Nahfolgern jenes
Kaifers zu verhüten im Stande war, daß durch die Kirchenfpaltung umd ihre Folgen
nicht ganz Teutichland für die Fatholifche Kirche verloren gegangen ift. [Allgayer.]
Marimilian IL, älteſter Sohn Ferdinande I. (f. d. A.), wurde ben
31. Juli 1527 zu Wien geboren, Der ftreng Fatholifche Vater war nicht glücklich
in der Wahl der Erzieher feines erftgebornen Prinzen, Bon dem erften derfelben,
Wolfgang Auguftus Severns, weiß man gewiß, daf er ein Schüler Luthers und
Melanchthons gewefen if, Da er 1539 feine Stelle verlor und nach Wittenberg
a
2 Waximilian IL 947
zurüdfehrte, fo kann er wohl ſchwerlich unterlaffen haben, im Geifte ver genann-
ten Männer auf feinen Zögling einzuwirken. Man vergl. Bucholtz, Geſchichte
der Regierung Ferdinands I. 8, Bd. S. 700. Auch der zweite Erzieher Mari
miliaus ſcheint derfelben Richtung gehuldigt zu Haben. Solhe Männer fonnten,
flatt bei ifrem Schüler die Einheit der katholiſchen Denfweife zu erzielen, in dag
Gemüth deffelben nur die Keime religiöfer Zerriffenheit ausftreuen, jenes unflare
Hin- und Herfchweben zwiſchen dem alten und neuen Glauben, jenes im Zeitalter
der Kirchenfpaltung eben fo häufige als natürlich und nothwendig fruchtloſe Be—
fireben nähren und fordern, durch gegenfeitige Conceſſionen die tiefe Kluft zwi—
fhen den Getrennten wieder auszufüllen, und zwar um fo mehr, ald Marimilian
das, was er einmal in fih aufgenommen hatte, mit zäher Beharrlichkeit fefthielt.
Dazu fam noch, daß derfelbe mit zunehmenden Jahren einer ziemlich ungebun-
denen Freiheit in feinem ganzen Thun und Laffen fih hingab. Welch’ ſchweren
und tiefen Kummer Marimilian feinem Bater durch all’ das bereitete, geht Har
und deutlih hervor aus einem von Leitmeriz am 17, Februar erlaffenen Briefe
Ferdinands, in welchem er feine Söhne zur Eintracht und zum treuen Fefthalten
am Fatholifhen Glauben ermahnt und den älteren insbefondere mit rührenden
Worten an Handfhlag und Verfprechen erinnert, welches er bei feiner Abreife
in den ſchmalkaldiſchen Krieg zur Befräftigung des Vorfages der Befferung dem
Bater gegeben habe, Buholg a, a. D. VII. 481. ff. Bald darauf entbot Kaiſer
Carl V. feinen Sohn Philipp aus Spanien zu fih nah Teutfchland. Diefer follte
die Teutfchen und Niederländer kennen lernen und für fih gewinnen, weil jener
fih mit dem geheimen Plane trug, ihn zum nähften Erben und Nachfolger im
allen feinen Reichen zu machen. Weil nun zu beforgen fland, daß die Spanier
feinem aus ihrem einheimifchen Adel gewählten Statthalter willig gehorchen würden,
warf Earl V. fein Auge auf den jungen Marimilian und verfprah ihm, um ihr
fefter an das Intereffe feines Haufes zu fetten, feine ältefte Tochter Anna zur
Gemahlin, Ferdinand I. gab dazu feine Einwilligung um fo lieber, als Marimi-
lian dadurch die reichfte Gelegenheit fand, fih frühe in der Behandlung der wich-
tigften Staatsangelegenheiten zu üben und fih außerdem erwarten ließ, daß er
dur den Aufenthalt in dem fireng Fatholifchen Spanien von feiner Neigung für
proteftantifhe Lehren und Anfichten abgebracdht werben könnte. Bon Augsburg
aus machte ſich Marimilian fofort (1548) auf den Weg nah Spanien und voll—
309 die Ehe mit feiner Baſe. Nahdem er die Verwaltung in Spanien zwei
Sabre Sang zur vollen Zufriedenheit feines Oheims geführt Hatte, wurde er im
November 1550 nach Teutſchland zurücberufen, Auf dem im Sommer 1550
nah Augsburg berufenen Reichtstage follte nämlich über den oben angeführten
Plan des Kaiſers ein definitiver Schluß gefaßt werden. Diefer Plan aber fagte
fowohl den Anfichten Ferdinands und Maximilians als den Wünfchen der teutfchen
Ehurfürften fo wenig zu, daß er für immer fallen gelaffen werden mußte, Bon
nun an fand Marimilian einen wenn auch befchränften Wirfungsfreis als Gou—
verneur von Ungarn, leitete wiederholt für feinen Bater die Landtagsverhand-
lungen, namentlich mit den Ständen Niederöftreihs (Bucholtz a. a. DO, 706.)
und hatte alles auf den Zürfenfrieg Bezügliche zu beforgen. Indeß hatte Maxi—
milians Aufenthalt in Spanien feine kirchlich-religiöſſen Gefinnungen feineswegs
erfhüttert. Im Gegentheil durch den Lauf der Dinge, welche den Religions—
frieden von Augsburg herbeiführten, war er in denfelben fo fehr befeftigt worden,
daß gerade die Jahre von 1555 — 1562 als die Periode feiner flärfften Hinnei=
gung zum Proteftantismus bezeichnet werden müffen, In diefer Gefinnung ſchickte
er 1555 einen Doctor Richer an Melanchthon, um fein Gutachten über eilf theo—
Iogifhe Fragen einzuholen, correfpondirte er mit dem Wittenberger Theologen
Paul Eber (f. d. A), erbat und erhielt er von dem ihm befreundeten Herzog
Chriſtoph von Würtemberg die Schriften der Neformatoren (Bucholg a, a, D.
60*
948 es Marimilian IL
487, Pfaff, Geſchichte Würtembergs I. Bd. 2. Abthlg. ©. 479). Der Einfluß,
welchen die Leetüre folder Schriften auf Maximilian gewinnen mußte, wurde
noch verflärft durch feinen Umgang mit Männern, welde der gleichen Richtung
ergeben waren. Unter ihnen ftand oben an der Theologe Sebaftian Pfaufer, wel-
cher, anfänglich Faiferlicher Hofprediger, wegen feiner antikatholiſchen Predigten
Wien hatte verlaffen müffen, Dear erwirkte ihm die Erlaubniß zur Rücklehr und
nahm ihn in feine eigenen Dienfte, Ebenſo übertrug er den Unterricht feiner
Kinder dem Georg Muſchler, der nicht weniger im proteflantifchen Sinne Tehrte
und machte vergebliche Anftrengungen, den antifatholifchen Theologen Sealich bei
fih in Gratz behalten zu dürfen (Bucholg 487 u. 88). Unftreitig aus Rückſicht
auf diefe Richtung Maximilians Hatte Ferdinand I. noch während der Verhand—
lungen über den Neligiongfrieven von Augsburg eine eigenhändige Ermahnung an
feine Söhne niedergefehrieben und den Aufjag feinem Teftamente beigelegt mit
dem ausdrüdlichen Befehle, daß derfelbe erft nach feinem Tode und zwar in Bei-
fein aller drei Söhne geöffnet werben follte. Der Hauptinhalt deffelben war bie
dringende Ermahnung des Vaters, dem alten Fatholifchen Glauben treu zu bleiben
(TE. AU Menzel, Neuere Gefhichte u. ſ. w. IV. 197 u. 98). Indeß vermochte
viefe ebenfo bewegte als Liebevolle Anfprache des Vaters die Gefinnung Maxi—
milians noch nicht zu erſchüttern. Im Gegentheil, als Papft Paul IV. im 3. 1558
ber Anerfennung Ferdinands I. als teutfhen Kaifers fich weigerte, und fi gegen
den Gefandten des Letztern unter anderem auch über die Fegerifche Erziehung des
Erzherzogs Maximilian ausfprach, erhielt die antikirchliche Richtung des Prinzen
neue Nahrung. Aus den Briefen, welche er um diefe Zeit mit Herzog Chriftoph
von Würtemberg wechfelte (Bucholtz VI. 491), erfieht man zur Genüge, einmal
wie bitter Marimilian e8 empfand, daß man ihn als „einen der Wahrheit wegen
Verdächtigen“ zu Berathungen über kirchliche Angelegenheiten fo gut wie gar
nicht beizog. Sodann geht aus jenen Briefen weiter hervor, welche tiefe Abnei-
gung gegen den römifchen Stuhl fein Herz eben erfüllte, endlich wie angelegent-
lich er Einigung der proteftantifchen Anfichten wünfchte, weil man durch Verglei—
ung der andern Partei, d. h. der Fatholifchen, am beiten unter das Leben zu
fommen vermöge (Buholg a. a. O. 491). Zu eben diefem irenifhen Zwede
fandte er 1558, ohne jedoch etwas auszurichten, einen feiner Räthe nach Tü—
Bingen, Heidelberg, Zürich und Sachſen. Mittlerweile ließ man aber Fatholifcher-
feits nichts unverfucht,, den Erzherzog auf andere Wege zu bringen. Den erfien
Verſuch dazu machte feine Schwägerin Johanna, vermählte Prinzeffin von Por-
tugal, durch den Jeſuiten Chriſtoph Noderich. Diefer hielt mehrere Conferenzen
mit Maximilian, welcher feinen Beweisführungen nicht ungern zu folgen ſchien,
gleihwohl aber feinen entfcheidenden Schritt vorwärts that. Auch am päpftlichen
Hofe ſchöpfte man in Betreff Maximilians wieder beffere Hoffnungen, Nach dem
Tode des dem teutfchen Zweige der Habsburger fo abgeneigten Papftes Paul IV,
beftieg Pius IV. den Stuhl des hl. Petrus und erkannte Ferdinand I. fogleih als
tentfhen Kaifer an, Als nun auch Marimilian ein Oratulationsfhreiben an dem
Papft erließ, antwortete diefer nicht nur auf's Freundlichfte (Bucholtz a. a, D,
493), fondern entfendete auch gegen Ende des J. 1559 einen der erften Fatho-
liſchen Gottesgelehrten jener Zeit, den berühmten Hofius, Erzbifchof von Erme-
land, nach Wien, um auf Maximilian im Fatholifchen Sinne einzuwirken. Hoſius
(ſ. d. A.) ſuchte nun in wiederholten Neligionsgefprächen, insbefondere durch Auf-
zeigung der Veränderungen, Unbeflimmtheiten und Entzweiungen der proteftan-
tifhen Lehrbegriffe dem Prinzen die Wahrheit und Nothwendigfeit des Feſthaltens
am Fatholifchen Glauben zu beweifen, und gab auch mach feiner Abreife dur
brieflichen Verkehr mit Maximilian fih alle Mühe, die jegt wieder kirchlicher
ſcheinenden Anfichten deffelben zu befeftigen (Bucholtz a, a. D. 493—501). Indeß
war noch nicht viel gewonnen, Denn wenn der Erzherzog auch viel Intereffe
ee nn 0 lie
j Maximilian IL I 949
für die Beweisführungen des Hofins gezeigt hatte, fo irrt gleichwohl C. A, Menzel
(a, a, D.IV.295), wenn er berichtet, es fei dem Biſchof von Ermeland gelungen,
den Prinzen auf andere Gedanfen zu bringen. Diefer hatte im März 1560
feinen Hofprediger Pfaufer auf Andringen des Kaifers abermals von fih ſcheiden
fehen müffen. Diefe Nöthigung fheint die Seele Marimiliang mit einer Bitter-
feit gegen feinen Vater fowohl als gegen die Kirchenlehre erfüllt zu haben, In
den Briefen, welche er mit Pfaufer wechfelte, füttete er fein ganzes Herz aus
und fagt in einem derfelben geradezu: „Gleichwohl, fo Laffen fie es an ihrem
möglichen Fleiß gar nit erwinden und infonderheit der Oſius, sed frustra. So
kann ih auch nit verhalten, daß ich auf mein täglichs und vielfältigs Anhalten
von wegen eines chriſtlichen Predicanten bei J. kaiſ. DR, noch bis auf diefe Stunde
nicht hab können erhalten“ (Bucholtz a. a. O. 502). Daffelbe geht aus der
Thatfache hervor, daß Ferdinand I. noch 1560 auf die Gewährung des Laien-
felches mit befonderer Rüdficht auf Marimilian drang, welcher wegen feiner dieß—
fälligen Zweifel mehrere Jahre Iang vom Tiſche des Herrn weggeblieben war
(E, A. Menzel a. a. O. V. 8), Endlich zeugt hiefür auch der Brief, in welchem
Marimilian im gleichen Jahre den Churfürften von der Pfalz für den Fall feiner
Vertreibung um offenes Haus und Herberge bittet, fowie auch der Brief, den er
noch im folgenden Jahre (1561) in der gleichen Angelegenheit an den Landgrafen
Philipp von Heffen (ſ. d. A.) richtete (Bucholtz a. a. O. 503). Stund fo nad
Allem zu erwarten, daß Marimilian ſich den -Proteftanten noch offen in die Arme
werfen werde, fo ift dieß doch Feineswegs gefchehen. Vielmehr Iefen wir ftatt deſſen
mit freudiger Berwunderung, daß Ferdinand I. feinen älteften Sohn im J. 1562
den Churfürften des teutfchen Reiches zur Wahl als römifhen König mit den
warmen Worten empfahl, „daß Marimilian mit hoher Vernunft, Schieflichkeit,
Milde und Sanftmüthigfeit, auch allen andern fürftlihen Tugenden und guten
Sitten trefflih begabt, von gerechten, ehr- und friedliebendem Gemüth ſei, und
der gegen das H. R. teutfcher Nation und alle deffen Stände und Glieder große
Lieb und Zuneigung trage, und deren Ehre, Aufnehmen, Wohlfahrt möglihft zu
befördern zum höchſten begierig fer" (Weftenrieder, hiſtor. Kalender 1801,
©. 186 u. 69). Durd einftimmige Wahl wurde Marimilian nun den 24. Nov,
1562 zu Frankfurt a. M. zum römifchen König erforen, nachdem er ſchon den
20. Sept. deffelben Jahres zum König von Böhmen gefrönt worden. Die eben
angeführten Worte, in welchen Ferdinand den Churfürften die Wahl feines Soh—
nes empfohlen hatte, fallen bei einem Fürften, fo wahrheitsliebend und gewiffen-
haft wie der Kaiſer ohne Frage gewefen ift, fo ſchwer in’s Gewicht, daß diefelben
ohne die Borausfegung der Wiederherfiellung guten Einvernehmens zwifchen Vater
und Sohn unbegreiflih wären, d. 5. e8 mußte in der Seele Marimilians voffen-
bar feit Kurzem, zwifchen den Jahren 1561 und 1562, ein entfcheidender Um—
fhwung vor ſich gegangen, der Entſchluß zur Reife gelangt fein, an dem Glauben
feiner Väter feftzubalten, Hiebei kann die intereffante Frage nicht umgangen
werden, wie Maximilian diefen fo bedeutungsvollen Sieg über fich felbft errungen
habe? Wir find über diefes merfwürdige pfychologifche Ereigniß durch Feine ſichern
biftorifchen Notizen unterrichtet, werden jedoch fihwerlich irren, wenn wir folgende
Momente als die entfcheidungsvollen annehmen. Für's Erfte hatte Marimilian
auch auf feinem frühern proteftantifirenden Standpuncte feineswegs in allen Stüden
mit der neuen Lehre harmonirt. Sp fiheint er früher gewohnt gewefen zu fein,
zuerft die Predigten Pfaufers zu befuhen und dann der Fatholifhen Meffe beizu-
wohnen (vgl. Bucholtz a, a. DO. 487 u, 88). Ebenfo Haben wir oben gehört,
wie er in feinem Briefwechfel mit Herzog Chriftoph von Würtemberg und durch
Adgefandte auf die Beilegung der Uneinigfeiten der Proteftanten fo nachdrücklich
hinzumwirfen bemüht war, Nun war aber diefe Hoffnung fo wenig in Erfüllung
gegangen, daß gerade um jene Zeiten die Streitigfeiten wegen der guten Werke,
950 Maximilian.
die fpnergiftifhen Händel, Die durch Oſiander hervorgerufenen Zänfereien, die
Ergpto-calvinifchen Bewegungen im proteftantifchen Lager auf lange Hin das Zerr-
bild der widrigften Zerriffenheit und der wüthendften Verfegerungs- und Verfol-
gungsfucht zur Schau trugen. Da mögen nun die ſcharfen und eindringlichen
Erdrterungen des Hoſius in der finnenden Seele Marimiliand Iebendig wieder
aufgelebt, und die Kraft der leberzeugung, welde das lebendige Wort im Augen-
blicke nicht gefunden, durch die beftätigenden Thatſachen bewirkt Haben, Außer-
dem war mit der Gewährung des Laienkelches einer der hauptſächlichſten Anftände
Maximiliaus gehoben worden. Endlich müffen wir auch noch der politifchen Er-
wägungen gedenken, durch welche der Erzherzog beftimmt werden fonnte, zu fefter
Treue gegen die Fatholifche Kirche zurückzufehren, War von einem Manne, wie
Ferdinand I., zu hoffen, daß er feinen Erfigebornen ven Churfürften des Rei—
ches zur römifchen Königswahl auch in dem Falle vorfihlagen würde, daß er von
der rechtgläubigen Gefinnung deffelben Feine fefte Ueberzeugung hatte? Daher
bat, obgleich durch Fein anderes Äußeres Zeugniß beftätigt, durchaus Feine innere
Unwahrfcheinficheit, was Anton Maria Gratianus erzählt (Bucholtz a. a, O.
VII. 708). Der Kaifer foll nämlich feinem Sohne wegen fortwährenden Wider-
firebens gegen die väterlichen Ermahnungen angekündigt haben, daß er mit Heber-
gehung des Erfigebornen die Faiferlihe Würde an einen jüngern rechtgläubigen
Sohn zur bringen trachten werde, Aber felbft angenommen, daß diefer Notiz feine
Hiftorifche Wahrheit beigemeffen werden fünne, angenommen Caber nicht zugegeben),
daß Ferdinand die Wahl Maximilians, auch wenn diefer zum Proteftantismus
überginge, nicht zu hindern gedachte, fo lagen, wenn Marimilian anders Kaifer
werben und als folder etwas bedeuten wollte, in der Natur der Sache felbft die
wichtigften und entfcheidenften Gründe dafür, dem Glauben feiner Väter treu zu
bleiben. Man f. EA. Menzela. a. DV. 8 ff. Nimmt man all’ das zufam-
men, fo erflärt fich der auf den erſten Anblick überrafchende Entſchluß Marimi-
lians aufs Vollſtändigſte. Im Juli 1564 ſtarb Kaifer Ferdinand I. und Mari-
milian wurde fein Nachfolger auf dem teutfchen Kaiſerthrone. Die Schwierigkeiten
der Berhältniffe waren für den neuen Herrfcher nach allen Seiten hin Feine ge—
ringen. Werfen wir unfern Blick zuerft auf die Erblande Marimilians IL, fo
hatte der Proteftantismus in Böhmen, Schlefien, Laufig und Deftreich das ent-
fchiedenfte Mebergewicht befommen, Der Landfrieden im teutfchen Reiche war
dur die Grumbach'ſchen Gewaltthaten (ſ. d. A.) auf eine fo fihreiende Weiſe
gebrochen worden, daß der Raifer auf feinem erften Neichstage zu Augsburg im
% 1566 die bereits ergangenen Acht- und Executionsbefehle ernenerte und fchärfte,
Bier Reichskreiſe, der ober- und niederfächfifche, der fränfifche und weftphälifche,
wurden mit dem Vollzuge der Reichsacht betraut, der Churfürft Auguft von
Sachſen trat an die Spitze der ftattlichen aus 18,000 Mann beftehenden Neichs-
armee, Der Erfolg entſprach den großen Anftrengungen, Grumbach wurde mit
feinem Anhange zu Gotha gefangen und nad der barbarifchen Juſtiz jener Zeiten
vom Leben zum Tode gebracht, während der von ihm bethörte Herzog Johann
Friedrih von Sachſen, der Sohn des von Carl V. im ſchmalkaldiſchen Kriege
überwundenen gleichnamigen Fürften,, fein Verbrechen mit Iebenswieriger Haft
büßen mußte. Auf dem erften Neichstage bereiteten die religiöfen Angelegenheiten
dem Kaifer nicht geringere Schwierigfeiten, Die Proteftanten ergoffen fih über
die Ratholifen in einer wahren Fluth von alferlei Klagen und drangen vor Alfem
anf Befeitigung des in den Neligionsfrieden von Augsburg wider ihren Willen
aufgenommenen geiftlichen Vorbehaltes. Nun banden aber den Kaiſer nicht bloß
bie dem päpftlichen Stuhle gegebenen feierlichen Verfprechungen, dem Papfte und
dem apoftolifchen Stuhle alles das Teiften zu wollen, was von feinen Vorfahren
und namentlih von Marimilian I., Carl V. und feinem Vater Ferdinand dem-
felben geleiftet worben fei, fondern auch die Rückſicht, daß mit der Befeitigung
Mariminus. 951
des geiftlichen Borbehaltes dem weitern Umfichgreifen des Proteflantismus un-
möglich gewehrt werben könnte, dag mit der Vernichtung des Katholicismus in
Teutſchland der Faiferlichen Macht der Boden vollends wie unter den Füßen hin-
weggezugen würde, mußte ihn nothwendig dazu treiben, dem mehrgenannten Ans
finnen der Proteftanten fih aufs Standhaftefte zw widerfegen. In demfelben
Jahre gerieth Maximilian II. durh Johann Zapolya, der, mit Siebenbürgen nicht
| zufrieden, auf ganz Ungarn Anfprüche machte, auch noch in Krieg mit den Türfen,
Der Kaiſer fah fi dadurch genöthigt, die teutfhen Stände auf dem Reichstage
zu Augsburg 1566 auch um Hilfe gegen den Sultan Soliman anzufprechen, wel-
Ger feldft im Felde erfhienen war, Obgleich aber die zu Augsburg bewilligte
Reichshilfe eine ziemlich bedeutende war, fo entfprachen doch die militärischen
Ereigniffe nicht den beiderfeit$ gemachten großen Anftrengungen. Spliman ftarb
im September 1566 vor dem durch Zrini heldenmüthig vertheidigten Sigeth und
fein Nachfolger Selim II., mehr den Vergnügungen ergeben als von Kriegsfuft
befeelt, ſchloß mit Marimilian IL einen ahtjährigen Waffenftillftand, nach weldhem
beide Theile behielten, was fie in dem eben beendigten Kriege erobert hatten und
Siebenbürgen als ein Theil Ungarns anerkannt wurde, Durch eben diefe Türfen-
gefahr fah fih der Kaifer auch genöthigt, dem öftreichifchen Herren- und Ritters
ftand im 3. 1568 eine befchränfte Erlaubniß zur lebung der augsburgifhen Con- _
feffion zu geben. Bom römifchen Stuhle darüber ziemlich Hart angelaffen, Eonnte
der Raifer in der That nichts anderes fagen, ald was er gegen den päpftlichen
Legaten ausſprach: er Habe mit diefer Bewilligung aus mehrern Uebeln das Fleinfte
ausgewählt. Im Mebrigen war Marimilians Hauptgrundfaß der, am Augsburger
Religionsfrieden feſtzuhalten, Ausſchweifungen der einen oder andern Partei in
ihre Schranken zurüdzumeifen, damit der Neichsfrieden Feine Störung erlitte,
Wenn der Kaiſer dadurch oft e8 weder den einen noch den andern recht zu machen
vermochte, fo war diefe feine Haltung unter den gegebenen Verhältniſſen doch die
Hügfte und den Jutereſſen der Katholiken angemeffenfte. Dieß zeigte fich Mar,
als die Proteftanten wie auf dem Churfürftentage zu Regensburg (1575) fo auf
dem 1576 ebendafelbft gehaltenen Reichstage erneuerte Anträge auf die Befeiti-
gung des geiftlichen Vorbehaltes und die Anerfennung der Nebendeclaration Fer-
dinands I. zu Gunſten proteflantifcher Unterthanen geiftlicher Reichsſtände ſtellten.
Der Kaiſer wies beide Anfinnen als dem Reltgionsfrieden zuwider zurüf, wäh—
rend die von Churpfalz geführte Oppofition beſchloß, die Sache auf dem nächften
Reihstage zu wiederholen. Diefen follte Marimilian II. nicht mehr erleben. Denn
zur nämlihen Stunde, in welcher der Mei era m. are wurde, ftarb der
Kaifer ganz unerwartet den 12. October 1576 im 50, Jahre feines Lebens,
Marimilian IE. fprach alle Hauptfprahen Europas, und verband mit den Tu—
genden des Privatmannes die Eigenfchaften des Fürften, Er zeichnete fi) aus
durch große Geſchäftskenntniß, firengen Haushalt mit der Zeit, Gerechtigfeits-
liebe, Höflichkeit und Anmuth des Benehmens gegen Jedermann, Vgl. hiezu die
Art, Böhmifhe Brüder, und Hufiten, [Alfgayer.]
Mariminus, C. Julius Verus, der Thracier, römifcher Raifer, Er
war in Thracien von barbarifhen Eltern geboren, Seine Mutter gehörte dem
Bolfe der Alanen, fein Bater dem der Gothen an. Als Kaifer Septimius Se—
verus auf der Nüdfehr von einer Expedition in den Drient in Thracien Halt
machte, um den Geburtstag feines jungen Sohnes Geta durch allerlei militärifche
Spiele zu verherrlihen, 309 ein junger Landmann — unfer Marimin — ſowohl
durch riefenmäßige Stärfe und Gewandtheit ald durch coloſſale Größe des Kör-
pers die Aufmerffamfeit des Kaifers fo jehr auf fih, daß er ihn fogleich unter
die Armee aufnahm. Unter der Regierung des Septimus Severus und feines
Sohnes flieg er, von beiden Fürften begünftigt, bis zu dem Nang eines Centurio
auf, während er unter der Herrfchaft des Mörders von Earacalla und unter
952. Masiminue;
Heliogabal fih vom öffentlichen Dienfte zurückgezogen hielt. Nach der Throns
befteigung des Alerander Severus fehrte er an den Hof zurück, befam den ehren-
vollen Poften des Befehlshabers der vierten Legion und ſchwang fich nach und
nach bis zur höchſten militärifchen Würde auf, Doch diefe Beförderungen und
Gunftbezeugungen, weit entfernt feine Treue zu befefligen, dienten nur dazu,
- feinen Ehrgeiz zu flacheln. Er wußte, daß der Kaifer die Liebe der Armee ver-
Ioren Hatte und faßte den Entfhluß, durch allerlei Ausftreuungen die Herzen der
Soldaten dem Alexander Severus vollends zu entfremden und für fi zu ge—
winnen. Dieß gelang um fo leichter, ald Maximin offenbar trog feiner Strenge
und Graufamfeit eine ächte Spldatennatur war, welche das Heer zu electrifiren
und dauernd zu feffeln verfland, Sp fam es, daß der Kaiſer, welcher eben ein
großes Heer am Rhein zufammengezogen hatte und gegen bie Teutfihen zu führen
gedachte, in einem Soldatenaufftande erfhlagen, Marimin von den meuterifchen
Truppen zu feinem Nachfolger ausgerufen wurde, Mit ihm gelangte zuerft ein
nach Abkunft und Sinnesart ächter Barbar auf den Thron der römischen Cäfaren,
welche bis zu diefer Zeit alle durch Abfunft, Kenntniffe und Verdienſt der grie-
chiſch⸗rvmiſchen Eultur angehört hatten, Ohne Rom, den Mittelpunet des Reiches
zu befuhen, führte Marimin fofort den Krieg am Rhein und an der Donau mit
glücklichem Erfolg und begann den Rampf wider die Sarmaten, Daß er die Haupt-
ftadt nicht fehen wollte, hatte feinen Grund darin, daß er beftändig feiner ge—
meinen barbarifchen Abfunft, der Nohheit feiner äußern Erſcheinung, der gänz-
lichen Unwiſſenheit in allen Künften und Einrichtungen des bürgerlichen Lebens,
endlich des Blutes und Verrathes fich erinnerte, durch welchen er fi zum Ober-
herrn des römischen Reiches aufgefhwungen hatte, Daher duldete er um feine
Perfon feinen Dann von edlem Gefhlechte oder von Bildung, daher wurde feine
Seele von dem Schredbild der Verachtung von Seite des römifchen Volkes erfülft
und wie von feinem Schatten begleitet, Diefer Argwohn erzeugte einen wahrhaft
terroriftifchen Haß, eine unbegrenzte Verfolgungswuth gegen Alle und Jede, welche
Bildung und Berbienft befaßen und am Hofe feines edlen und milden Vorgängers
in Ehren und Geltung geftanden hatten. Unter einem folchen Kaifer fonnten auch
die Chriften nicht auf Zeiten der Ruhe und Duldung hoffen. Mammea, die
Mutter von Alerander Severus, hatte ja einft zu Antiochia den Kirchenlehrer Dri-
gines zu fih entbieten laffen, und, obwohl fie Heidin war und blieb, feinen Vor—
trägen mit dem größten Intereſſe zugehört, „Die in jenen Zeiten häufige fynere=
tiftifhe Betrachtungsweife und Hebung der Religion war auf Alexander Severus
übergegangen, In feiner Hauscapelle hatte und verehrte er befanntlich neben den
Bildern von Abraham, Orpheus, Apollonins auch das von Chriftus als eines
ehrwürdigen um die Menfchheit verdienten Weifen, Defiwegen war er den Chriften
hold und gnädig gewefen und viele feiner Freunde und Diener hatten ihrer Ge-
meinfhaft angehört. Indem nun Marimin gegen alle Freunde und Anhänger
feines Vorgängers zu wüthen begann, mußte feine Verfolgung natürlich auch die
Ehriften treffen. Zwar fagen die Zeugniffe des Alterthums, daß Marimin nur
die Häupter der Kirche mit dem Tode zu beftrafen befohlen, weil vielleicht in dem
erften Zeiten von Alexander Severus riftliche Bifchöfe mit dem Hofe in Ver—
bindung geftanden hatten, Aber felbft wenn der Kaifer feine Blutbefehle auf die
Geiftlihen allein befchränfte, fo fonnte e8 dabei doch unmöglich fein Bewenden
haben, fo mußten Einziehungen des Bermögens, Berbannungen und andere Strafen
über die ganze Gemeinfchaft der Chriften hereinbrechen, Der Kaiſer brauchte ſich
nur zum Feinde der Ehriften zu erflären, um alle Angehörigen des Evangeliums
ben genannten Plagen zumal in ſolchen Provinzen auszufegen, in welchen der
alte Haß des heidniſchen Volkes gegen die Chriſten durch zerftörende Naturereig«
niffe auf's Neue entzündet wurde und der Fanatismus der Statthalter mit der
Wuth des Bolfes gemeinfame Sache machte, Nun waren aber in der That ver=
Maynz — Mazarin, 953
ſchiedene Provinzen des Reiches von allerlei Landplagen heimgefucht worden und
in Cappadorien und Pontus insbefondere hatte ein Erdbeben ganze Städte ver-
ſchlungen. Wie gewöhnlich wurde die Schuld davon den Chriſten beigemeffen,
Dazu Fam, daß auch Serenianus, der Statthalter von Cappadocien, ein grau-
famer den Chriften feindfeliger Mann war, Sp geſchah es, daß in jenem Lande
während der Verfolgung Marimins nicht bloß der Diacon Ambrofius und der
Priefter Protoeletus Bekenner wurden, fondern daß die dortigen Chriften über-
haupt gezwungen waren, von einem Ende des Landes zum andern zu fliehen, ihre
Heimath zu verlaffen und in andere Provinzen auszuwandern. Auch zu Nom
blieben die Chriften nicht ungefährdet. Der damalige Papft Pontianus wurde
mit dem Presbyter Hippolytus im J. 235 unter der Regierung Maximins aus
der Hauptfladt nah Sardinien verbannt und flarb dafelbft im gleichen Jahre
wahrjheinlih in Folge von Mißhandlungen. Daffelbe Schickſal, wahrfheinlih
durch diefelben Urfachen herbeigeführt, widerfuhr 236 feinem Nachfolger Anterus,
Ob und in wie weit die Verfolgung auch die römifche Chriftengemeinde betroffen
oder ſich noch auf mehrere Provinzen erftrecft Habe, müffen wir wegen Mangels
an Nachrichten dabingeftellt fein laſſen. Jedenfalls erreichte die Verfolgung mit
dem im 3. 237 gegen Marimin ausgebrochenen Aufftand ihr Ende, Die arg
wöhnifhe und biutdürftige Seele des Tyrannen nämlich witterte überall Verrath
und Berfhwörungen, Daher ward Italien, ja das ganze Reich mit geheimen
Aufpaffern und Angebern erfüllt, und eine folhe Menge der graufamften Strafen
verhängt, daß Tonfiscativnen, VBerbannungen und einfache Todesftrafen für Be—
weife ungewöhnlicher Milde galten. Dieß führte zu einer allgemeinen Verzweif-
Jung und führte einen Aufftand in Africa herbei, durch welchen die beiden Gor—
diane, Bater und Sohn, jener zum Auguſtus, diefer zum Cäfar ausgerufen
wurden. Zwar wurde die Empörung rafch unterbrüdt, die beiden Gordiane ka—
men um's Leben, aber der römifhe Senat Hatte diefelben anerfannt und alle Pro—
vinzen aufgefordert, fich wider den Tyrannen zu erheben, Als daher auch die
Nachricht von dem unglüflihen Ende des africanifchen Aufflandes nah Nom fam,
blieb dem römifhen Senat feine andere Wahl übrig, als in der Empörung gegen
Marimin zu verharren, Deßhalb wurden Maximus Pupienus und Cälius Bal-
binus als Kaifer ausgerufen und beſtimmt, daß diefer in der Hauptftabt bleiben,
| jener zum Kriege gegen den Tyrannen ausziehen follte, M. Pupienus fhlug
| fofort fein Hauptquartier zu Ravenna auf und verfah das wichtige und fefte Aqui—
| lefa mit einer ftarfen Befagung, welche dem Heere Marimins einen verzweifelten
Widerftand entgegenfegte, Dadurch zog fih die Belagerung in die Länge und
Marimins Soldaten begannen in jenen fumpfigen Gegenden durch Fieber und den
Mangel an den nothwendigften Lebensmitteln zu leiden. Deßhalb brach in ihren
Reihen ein Aufftand aus, in welhem Marimin nach dreijähriger Regierung (235—
38) erfihlagen wurde, Vgl. hiezu d. Art. Ehriftenverfolgungen, [Allgayer.]
Maynz, f. Mainz. | —
Mayr, Beda. Er iſt geboren zu Daitingen in Oberbayern im J. 1742;
wurde im 3. 1762 zu Donauwörth Benedictiner, und Iehrte in feinem Stifte
Mathematik, Poefie, Rhetorik, Philofophie, Kirchenrecht und Theologie. Er zählt
zu den gebildetfien Männern und beften Talenten feiner Zeit, welcher er auch
darin. huldigte, daß er einer liberalen, jofephinifchen Richtung (f. Joſe ph IL.)
fih zu fehr Hingab. Seine vorzüglichfte, heutzutage noch vielfach genannte Schrift
ift „VBertheidigung der natürlichen, chriſtlichen und Fatholifhen Religion nach den
Dedürfniffen unferer Zeit”, Augsburg 1787 in 4 Theilen, Mayr flarb den
28. April 1794. z
Mazarin Ceigentlih Mazarini), Julius, Cardinal und erſter Minifter in
Franfreih, geboren aus einer altadeligen Familie den 14. Juli 1602 zu Rom
Cnadh weniger fihern Berichten zu Piseina in den Abruzzen), Er begann feine
954 Ei Mazarin —
Studien in dem Jeſuitencollegium in Nom, kam noch ganz jung mit Colonna, 4
nachher Cardingl, nach Spanien und ſetzte feine Studien in Alcala de Henares
fort, Er nahm bald darauf Kriegsdienfte unter den päpftlihen Truppen, machte
fich bereits in feinem 20, Jahre rühmlich befannt durch eine geſchickte Unterhand—
Yung mit dem Herzoge von Faria, Gouverneur von Mailand, unterhandelte in
den Angelegenheiten von Turin und Mantua, nahm an dem für Frankreich fehr
vortheilhaften Frieden zu Chierasco 1631 Tebhaften Antheil und verhinderte durch
geſchicktes und energifches Unterhandeln ein blutiges Zufammentreffen zwiſchen
Franfreih und Spanien. Schon bei feiner erften Borftellung in Paris 1628
erregte er Auffehen, und erwarb ſich jet die Gunft des mächtigen Richelieu noch
mehr, Er wurde Bicelegat in Avignon und 1634 Nuntius des Papftes in Franf-
reich. Nach feiner Rückkehr wurde er auf Vorfchlag des Königs von Frankreich
Cardinal im J. 1641, von Ludwig XI. zum Minifter erwählt und nach dem
Tode des Nichelieu, welcher den A, December 1642 erfolgte, zum Premierminifter
ernannt, Während der Zeit der Negentfchaft der Königin Anna von Deftreich
bildete er mit Conde, Segnier, Bouthillier und Chavigny den Rath der Kö—
nigin, und wurde zum Erzieher des jungen Ludwigs XIV. ernannt. Auf den
höchſten Gipfel der Macht geftiegen, und fich der befondern Gunft der Negentin
erfreuend, entwicfelte er feine guten wie feine fchlimmen Eigenfchaften. Mazarin
hatte weder ven Glanz der Größe, welcher blendet, noch einen Charakter, der
Schrecken einjagt, wie Richelien ihn befah. Er war im Ganzen furchtſam, Tieb-
äugelte mit den Feinden, denen Richelien den Kopf abfehlug. In den Partei-
fämpfen hatte er nicht den folgen Geift des Retz, Erzbifchofs von Paris, noch
in ten Gefchäften die Thätigfeit und den Scharfblick des Nichelien, noch in der
Berwaltung die weifen Grundſätze des Sully, noch in den politifchen Abfichten
die Rühnheit und Tiefe des Cardinals Alberoni. Sein großes Verdienft war, zu
anterhandeln, er brachte dazu die ganze Feinheit und Schlauheit eines Diplo-
maten, kannte Verhältniffe und Menfchen genau und wußte fih derfelben als
Werkzeuge zu feinem Glüde zu bedienen, Ein anderes großes Verbienft war,
daß er eifrig dem Ruhme und der Größe Frankreichs ergeben war, daß er bei
allem Ehrgeize feft an der Monarchie hielt und darin ſelbſt feine Stüge ſuchte
und fand. Das war der Untergang feines ihm an Geift und Kühnheit überlege-
nen Gegners, Ned, Geboren mit einem Talente für Staatsangelegenheiten,
öffentlich beredt, einfchmeichelnd im Umgange, thätig und duldend, im Stande,
bis zur äußerſten Popularität fich herabzulaffen, wie feinen Nang bis zum höchſten
Stolz zu behaupten, vereinigte Net alle Eigenfchaften in fih, zu herrſchen. Er
fühlte feine Kraft, trat in Verbindung mit den Frondiften, mit dem Parlamente,
wirkte durch den Elerus auf das Volk, als diefes fich erheben wollte, berubigte
e8, um den Preis, es zu regieren, Er hielt fich für unentbehrlich, trug feine
Dienfte der Koͤnigin an, dieſe war zu ſtolz, diefelben anzunehmen, und von diefem
Augenblicke an machte Retz alle Anftrengungen, Parteifaupt zu werden und ſich
ein Vergnügen daraus, Öffentlich gegen Anna und Mazarin fich zu erheben, Er
> mußte aber fallen, weil er nicht wie Mazarin eine fefte Grundlage hatte in dem
engen Anſchließen an die Monarchie. Wenn auch Mazarin von dem Tage feiner
Erhebung an nur harte Kämpfe zu erdulden hatte, wenn Bolt, Parlament, Condé,
Longueville fih gegen Mazarin erhoben, fo gefchah es, weil fie den Fremdling
ungerne auf diefem Poften fahen, weil Mazarin feiner Stellung fi bediente,
um feinen. Verwandten die erften Stellen zu verſchaffen, weil er in feinem Ueber -
muthe fo weit ging, daß er ernftlich daran dachte, eine feiner Nichten Ludwig XIV.
zur Gemahlin zu geben, weil er mitten in einer großen Finanznoth ungeheure
Meisthimer fammelte und anfehnliche Herzogthümer mit feiner Stelle verband,
Die Königin Tieß auf den Rath des Mazarin Brouffel und Blanemesnil, Mit 7
Hlieder des Parlaments, einferfern und zwei andere, Lainc und Loifel verbannen,
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* Sn — EN di a
Mazarin se 955
weil fie vorzüglich die Oppofition des Parlaments von Paris gegen Mazarin in
einer Finanzangelegenheit unterftügten, Das Volk erhob fich, nahm eine drohende
Stellung an, die Königin gab die Gefangenen frei, Blancmesnil trug im Parla-
mente darauf an, das Gefet von 1617 zu erneuern, welches den Fremden die
Berwaltung des Reiches verbiete, und die Königin zu bitten, Mazarin aus dem
Rathe und von der Perfon des Königs zu entfernen, Mazarin fammt dem Hofe
mußten nah St, Germain fih zurüdziehen, Kurze Zeit darauf ſchickte das Par-
lament ihm einen Erlaß nah, welches ihn als Feind des Vaterlandes, als Ur-
heber alfer Unruhen in Franfreich erklärte und ihm befahl, innerhalb acht Tagen
Hof und Königreich zu verlaffen, Die Königin mußte nachgeben, Marzarin floh
1651 nach Lüttich und dann nah Coln. Die Königin, das Parlament und Volk
vereinigten fih, die Belagerung wurde aufgehoben, der König Fehrte nach Paris
zurück. Auch Mazarin blieb nicht Iange in der Verbannung, er ward in den ge—
beimen Rath der Königin zugelaffen, brach mit dem Prinzen von Condé, bewirkte
deffen Gefangennehmung, mußte aber wieder fliehen, das Parlament erließ meh-
rere Urtheile gegen ihn, feste fogar feine Bibliothef dem öffentlichen Verkaufe
‚aus, In der Verbannung fuhte Mazarin Franfreih Dienfte zu Ieiften, foviel er
fonnte, er unterftügte die Unternehmungen Frankreichs gegen Spanien mit feinem
Rathe, Teitete fogar Belagerungen gegen die Spanier, Nach der Volljährigkeit
Ludwigs XIV. berief ihn diefer 1652 zurüd und er zog im Triumphe in Paris
ein und wurde in alle feine Würden wieder eingefebt. Doch war die Ruhe noch
nicht gefommen, er mußte fih noch einmal nah Sedan auf furze Zeit zurüd-
ziehen. Nach feiner Rückkehr erfreute er fich des unbedingten Zutraueng des
Königs, fland diefem in feiner Krankheit wie ein Freund und naher Verwandter
bei, brachte den pyrenätfchen Frieden und die Heirath der Infantin von Spanien
mit Ludwig XIV. zu Stande, wodurch Franfreich ein bedeutendes Uebergewicht
über Spanien erhielt, Ein Hauptpunct des Vertrags war auch die Zurückberu—
fung des Prinzen von Conde und feine Wiedereinfegung in feine frühern Würden,
da er in Spanien gegen Franfreich gefämpft. Der Vertrag wurde einige Monate
nach Abſchluß deffelben auf der Inſel Faifans an der fpanifchen Grenze von dem
Könige von Spanien und Frankreich ratifteirt und zugleich fand die Vermählung
Statt, Das Parlament danfte Mazarin durch eine Gefandtichaft für feine Ver-
mittlung diefer Angelegenheiten und die Stadt Paris gab ihm ein öffentliches
Mahl in dem Stadthaufe. Ebenfo thätigen Anheil nahm Mazarin mit dem Grafen
von Fuenfaldagne an dem Abfchluffe des weftphälifchen Friedens. Der Kaiſer
wollte fpäter dem Könige von Aranfreih den Titel „Majeftät” nicht beilegen,
und auch hier zeigte fih Mazarin als geſchickter Unterhändler. In feinem Tefta-
mente feste Mazarin viele und große Legate für Gelehrte und zur Unterflüßung
der Wiffenfchaften aus, wie er fi denn überhaupt in feinem Leben als eifriger
Beförderer der Kunft und Wiffenfchaft zeigte. Das Collegium Mazarin follte
die Studirenden derjenigen Landestheile aufnehmen, welche durch dem Frieden von
Münfter und den pyrenäifchen Frieden an Franfreich gefommen waren, und eben
diefem Collegium vermachte er feine reiche, äußerft Foftbare Bibliothek. Mazarin
ftarb den 9. März 1661. Beſaß er auch nicht die hohe Einficht eines Staats-
mannes, fo leiſtete er doch Frankreich die wichtigften Dienfte, Teitete den Frieden
von Münfter, den pyrenälfhen Frieden, brachte das Elſaß an Franfreih, und
ſah vieleicht voraus, daß Franfreih über Spanien Herr werben fönnte. Die
Demuth bei feinem Tode und die Weife, wie er über feine Neichthümer in feinem
Teftamente verfügte, verföhnte feine Gegner. Man hat von ihm die Berichte
über den pyrenäifchen Frieden an den Kanzler Zellier, 2 Bde, Paris 1745,
Vgl. Aubery, histoire du cardinal Mazarin, Amsterd. 1751. Richard, parallele "
du cardinal Richelieu et du cardinal Mazarin. Amsterd. 1716. Bazin, histoire de
France sous le ministere du cardinal Mazarin. 2 Bde, Paris 1842, [Ruß.]
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