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Full text of "Kirchen-Lexikon, oder, Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften"

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Kirchen⸗Lexikon 


oder 


Encyklopädie 
der Fatholifchen Theologie 


und ihrer Hiltswiſſenſchalten. 


Herausgegeben 


unter weeng der ausgezeichnetften katholiſchen Gelehrten 
| Teutſchlands 


von 


Heinrich Joſeph Wetzer, 
Doctor der Philoſophie u. Theologie und ord. Profeſſor der orientaliſchen Philologie 
an der Univerſität zu Freiburg im Breisgau, 


—— 


und 


Beuedikt Welte, 


Doctor der Theologie und ord. Profeſſor an ver katholiſch- theologiſchen 
Facultät zu Tübingen. 


— 


Sechster Band. 
Saaba — Mazarin. 


I Mit Approbation des hochwürdigſten Erzbifhofs von Freiburg. 








Freiburg im Breisgau, 
ide Berlagshandfung. 
1851. 





— 
— 
3 





K. 


Kaaba, ſ. Caaba. i i 

Kabbala (7:27), von dem hebräiſchen Worte >27, empfangen, annehmen, 
alfo — acceptio. Man verftegt unter Rabbala eine geheime Ueberlieferung und 
Wiffenfchaft der Juden, welche eine Enthüllung des verborgenen Sinnes der HI. 
Schrift, eine Theofophie, eine Lehre von der Schöpfung verſchiedener Welten als 
Lichtausflüffen aus dem einen abſoluten Weſen, Ainſoph, Urlicht, in immer wei= 
tern unvollfommmeren Kreifen bis zur Materie herab, von Adam Kadmon, dem 
geiftigen Urmenſchen, von dem Abfall der Geifter, fodann der Menfhenfeelen, 
vom Maſchiach, dem erwarteten Erretter und DBefreier von Sünd’ und Elend, 
vom fünftigen Gericht, von der Auferfiefung der Todten und einer Wiederher- 
ſtellung der Dinge enthält, und die neben vielen Bliden in den großen Zufam- 
menbang und den allgemeinen Sinn der Dffenbarungswahrheiten des alten Te— 
flaments auch eine fymbolifhe Zahlenlehre, ähnlich der pythagorifchen, jedoch bei - 
vielem VBortrefflihen und Probehaltigem manches Abenteuerlihe, ja mährchenhaft 
Klingende in fih faßt. Wir verfuchen zuerft einen nähern Begriff des Syſtems 
der Rabbala nach den älteften fchriftlihen Duellen, dem Buche Jezira und dem 
Buche Sohar. Das Buch Jezira trägt die Ideen der Kabbala mittelft einer 
Zahlen = und Buhftaben-Symbolif vor. Darnach bezeichnen zehn Zahlen und 
zweiundzwanzig Buchſtaben in ihrer Aufeinanderfolge die zweiunddreißig Bahnen 
oder Wege Gottes, in denen fich die höchſte Einheit und Weisheit, die abfolute 
Sntelligenz ſchaffend einhüllt zu ihrer Enthällung und Offenbarung. Einheit, 
Weisheit und Harmonie im Weltall beweifen: die Eriftenz einer höchften Einheit 
und Weisheit, welche Himmel und Erde und was darin ift, hervorgebracht hat 
und Ienft nah Zahl, Maß und Gewicht. Gedanfe, Sprache und Schrift find 
im Schöpfer eins und ungetrennt. Seine Wirfungen und Faffungen zur Mani» 
feftation feiner unausfprehlichen, unbegreiflihen Wefenheit werden Sefiroth ge- 
nanntz; es find die Urzahlen oder göttlichen Zählungen, Grundeategorien des 
Weltalls, Bafen, Behälter, worin die göttliche Wefenheit und Wirffamfeit gleich» 
fam durchſcheint und wie in einem Spiegel oder Gefäße offenbar wird, Sie find 
unendliche, raum = und zeitfreie Beflimmungen der göttlichen Thätigfeit, oder des 
Dafeins der Dinge, worin diefelbe erfiheint, „Es gibt, Heißt es, zehn Seftroth, 
fuche fie zu begreifen, dein Denken, Sinnen und Dichten hat es immer damit zu 
thun. Stelle die Dinge auf ihr Princip und den Schöpfer auf feine Bafıs.” 
Der Logos oder göttliche Geift ift Weltbildner, principium formativum, und im- 
manenter Nealgrund der Welt; aus feinem Schooße ift Alles gleichfam gefloffen, 
Die zweiundzwanzig Burhftaben (analog den Ideen im platonifchen Logos) find 
den Seftroth gegenüber die nähern Dffenbarungscharaftere und Baſen. Der 
Menſch ift der Micrscosmus, Auszug und Summe der großen Natur. Den Dua- 
lismus ſchließt das Syſtem aus; Gott ift über, aber nicht außer den Zahlen und 
Buchſtaben. Auch das Buch Sohar geht von der höchſten Einheit aus, fehreitet 
von da fynthetifch vor und bildet namentlich die Lehre von den drei oberen und 
den fieben unteren Sefiroth, um deren Zehnzahl überhaupt Die ganze Kabbala 

Kirchenlexikon. 6. Bd. 1 


2 | Kabbala. 


ſich dreht und die ihren Hauptinhalt ausmacht, ſorgfältig nach allen Seiten aus. 

Das Verhältniß dieſer Darſtellung zu der im Buch Jezira iſt ähnlich dem des 

Platonismus zu der Lehre des Pythagoras. An die Stelle der Zahlen- und 

Buchftabenlehre tritt Die Ideenwelt im Logos, Adam Kadmon; die Behandlung 

ift geiftiger, idealer. Der Vortrag von der Natur Gottes ift allegoriſch, oder 

poetifch überfhwänglich, oft jedoch metaphyſiſch beftimmt, Die efoterifche Ein- 
heit Gottes, Ainfoph, an fih form- und geftaltlog, nimmt in den Sefiroth Form 
und Geftalt an, um ſich zu offenbaren. Doc ift die erfle Seftra, die Krone oder 
das lange Geficht, woraus die übrigen hervorgehen und denen fie erhaltend inne- 
wohnt, der ifoterifchen Einheit oder dem Ainfoph noch fo nahe, daß fie oft damit 
Herwechfelt zu werben fiheint, andererfeitS aber doch beftimmt davon unterfchieden 
wird, ähnlich wie im Chriftenthfum unter dem Worte Vater häufig die erfte Per- 
fon in der hl. Trinität, dann aber auch wieder eben fo oft die einige Gottheit in 
der Totalität ihrer Momente verflanden wird, Auf die Krone folgt die Weis- 
heit, welche männlich, dann der Verfland, welcher weiblich vorgeftellt wird, 

Diefe bilden die drei oberen Sefiroth, Die fieben folgenden, unteren aber hei— 
Ben: Gnade oder Größe, Gericht oder Stärke, und Schönheit; dann Triumph, 
Glorie und Reich, endlich Grund oder Bafis, „Der Unbekannte der Unbefann- 
ten unterfcheidet fih von Allem und ift nicht getrennt; denn Alfes vereinigt ſich 
mit ihm, wie er fich wieder mit Allem vereinigt; er ift Alles.” „Man erkennt 
ihn nur an dem Lichte, das von ihm ausgeht, und dieß wird ber heilige Name 

genannt.” In jedem der zehn Sefiroth, für ſich unſelbſtſtändige Attribute, iſt 

Gott manifeftirt, das unendliche Wefen gefaßt, Sie bilden gefammt die erfte, 

Holftändigfte und höchfte Manifeftation Gottes, den urbildlichen oder himmlifchen 
Menfhen. Der irdifche Menfch ift feine ſchwache Copie. Der Mierocosmus, der 
beide befaßt, ift Abbild und Inbegriff, Alles, was im Himmel und auf Erben, 
Durch den allein Alles iſt; jedoch ift der obere und untere Menſch zu unter- 
ſcheiden; der eine fann nicht ohne den andern beflehen, Der obere Menfch, oder 

der „Erſtgeborene aller Creatur” ift die abfolute Form, Form und Duell der 
Formen, der Ideen, der Gedanfen, oder Logos, „die höchfte verborgene Weis- 

beit.“ Die Sefiroth find nad Einigen die unterfhiedlichen Hauptnamen Gottes, - 
oder das diefen Namen in Gott objectiv Entfprechende, ohne dag Gott weder er- 
fannt, noch felbft fein fonnte, z. B. Gott wirft nur durch die Allmacht. Nach 
Andern wieder find fie Werkzeuge der göttlichen Macht, Gefchöpfe der göttlichen 
Natur, nicht Eigenfchaften, fondern von Gott total verfchieden, Noch Andere 
identifleiren Die Sefiroth vollig mit dem Ainſoph; ihre Gefammtheit ift der Un- 
endliche felbft. Nach einem zwifchen beiden ftehenden Sinne, wohl dem urfprüng- 
lichen der Kabbala, ift Gott der Unendliche, Namenlofe in fih, offenbart fih im 
den Sefiroth, in welchen er gegenwärtig, ohne in ihnen aufzugeben; fie find wie 
ebenfo viele Gefäße oder gefärbte Gläfer, Dunfelheiten, durch welche auf ver- 
ſchiedenen Stufen das einige, ewige Licht feheint und fich Fundgibt, und eigentlich 
weder Gefhöpfe, noch unmittelbare Eigenfihaften. Ber ihnen als Einhüllungen 
des unbegreiflichen Lichtes, kommt zu unterfheiden das dunfle Gefäß, Hülle, und 
der in diefer Faffung erfcheinende Glanz, Fülle. Die Kabbala redet von einer 
überftrömenden Fülle aus den drei oberfien in die erfle und die übrigen der ſie— 
ben Sefiroth mit Zerfprengung der Gefäße, In Beziehung namentlich auf bie 
oberen Sefiroth diene zum nähern Verfländniffe noch Folgendes. „Rrone, Ke— 
ther, ift das Princip der Principien, die geheime Weisheit, die erhabenfte Krone, 
mit der alle Diademe und alle Kronen geſchmückt werben,” Sie ift nicht jene 
geheimnißvolle Totalität, Ainfoph, auch Chaos genannt, das allen Attributen 
voranging, fondern die Darftellung des Unendlichen im Unterfchiede vom End- 
lichen. Der ihr entfprechende Name iſt „ich bin”; abfolutes Sein ohne Dualifi- 
eation, wohin Feine Analyfe dringt; fie beißt auch der Urpunet oder der Punch, 






Kabbala. 3 


„So Yange der Verborgene der Berborgenen noch nicht diefen Lichtpunct aus fei- 
nem Schoofe Entlaffen hatte, war er noch ganz unbefannt und verbreitete fein 
Licht." In feiner Concentrirung auf ſich, Zurüdziefung vom Endlihen, Deter- 
minirten heißt der Unendliche, Ainſoph, auch Nichtetwas, Nichts, gerade fo, wie 
der Areopagit nach der fogenannten theologia abdicativa fagt: deus non existif. 
und Erigena: deus nescit, quid sit, non enim quidquam est; und wie in neuerer 
Zeit Fichte dem Abfoluten das Dafein abfpriht. Gegen den Alten der Alten, 
F die Einheit, ift das Licht der Krone Finſterniß. Aus dem Haupte der Einheit 
und Duelle alles Lichtes, angeſchaut von Geficht zu Gefiht, unterfchieden von 
aller Mannigfaltigfeit und relativen Einpeit, gehen hervor zwei ſcheinbar eutge⸗ 
gengeſetzte, doch unzertrennliche Principien, die männliche, active Weisheit, 
J Chochma, und der weibliche, paſſive Verſtand, Bina; ohne beide wäre keine der 
Bildungen Gottes möglich geweſen. Weisheit Heißt auch der Allerzeuger in den 
zweiunddreißig Bahnen, der Berftand die Mutter; beider Sohn, von beiden 
Zenugniß gebend, ift die Erfenntniß oder das Willen, welches jedoch Feine eigene 
Sefira bildet. Die drei genannten Sefiroth enthalten in fih Alles, was da ik, 
Sind aber felbft im Alten ver Alten eins, der Alles in Allem if. Bei fpätern 
Ausfegern heißt es auch: Krone, Weisheit und Verftand feien eins, wie Wiffen, 
Wiſſendes und Gemwußtes, Jdentität des Fdealen und Realen, Der Unterfchied 
yon Gottes Wiffen und unferm Wiffen ift damit ausgefprochen, daß im ihm jedes 
Sbjeet iventifh mit dem Subjecte iſt; ſich wiffend weiß Gott alfe Dinge, weil 
fih als den alleinigen Hervorbringer aller Dinge, Die fieben Sefiroth, welche 
folgen, heißen die Sefiroth der Eonftruction vder des Aufbaues, Aus der Ein- 
heit nämlich der drei erften Sefiroth gehen wieder zwei entgegengefegte Princi- 
pien hervor: ein actives, männliches, und ein paſſives, weibliches ; einerfeitg 
Barmherzigkeit und Gnade, Cheſed, andererfeits Gerechtigkeit und Strenge, Din 
(Erpanfion und Contraction). Diefelben Attribute heißen auch Arme Gottes; 
das erflere gibt das Leben, das andere den Tod, Wären fie getrennt, fo Fönnte 
die Welt nicht beftehen; Feine Gereihtigfeit ohne Gnade; beide vereinigen ſich 
zum gemeinfamen Centrum der Schönheit, Tifereth, deren Symbol das Herz. 
Diie zwei nähftfolgenden Attribute, Triumph und Glorie, Nezach und Hod, ver- 
halten ſich wiederum, wie Männliches und Weibliches, Erpanfives und Contrac- 
| tives als entgegengefegte Kräfte, deren Einheit die Wurzel aller Kräfte in der 
Welt, Grund oder Bafis, Jeſod, auch Saft oder Mark genannt wird, die Macht 
der Erzeugung und des Wahsthumes in der Natur. Dieß Antlig Gottes heißt 
Zebaoth. Das legte Attribut, Malchuth, Reich, ift eigentlich Fein neues Attri- 
but, fondern die Einheit, Harmonie und Herrfchaft aller vorigen über die Welt, 

7  Sede der drei Elaffen diefer Attribute im himmliſchen Menſchen ſtellt Gott in 
einer untheilbaren Dreiheit dar, Die drei erften drüden die abfolute Identität 
des Seins und Denkens aus, und find die intelligible Welt. Die drei folgenden 
find die moralifhe Welt oder die des Fühlens, die Spentität der Güte und 
Strenge in der Schönheit; die drei Iegten find die natura naturans in der phyſi— 
fen Welt; die göttliche Vorfehung ift zugleich der höchſte Grund, die abfolute 
Kraft in diefer Ordnung, das Element der Zeugung. Schon in der Kabbala 
findet fi der bei Jacob Böhme vorkommende Vergleich von der Flamme an 
Kohle oder Licht; das weiße obere Ende derfelben wird vom bläulichen untern, 
dieſes als Lichtſtuhl vom Docht und der Materie getragen, die fih unabläffig in 
Feuer aufpebt und verzehrt; das weiße, obere Ende, ſich ſtets gleich, führt in die 
Einheit zurück. Die Anwendung wird auf den Menfhen und Gott felbft ge- 
7 madt. Die Collectivdreiheit des Abfoluten (Krone), des Ideals (Schönheit) 
77 amd der immanenten Kraft (Reid, Schechina), oder: der Subſtanz, des Den- 
17 Tens und des Lebens Heißt wegen ihrer Eentralität die Säule der Mitte; das 
IE FIange Gefiht (Krone), der Heilige König (Schönheit), die Heilige Matrone 

1* 





Eur. 





A Kabbala. 


(Schechina) bezeichnen dieſelbe Drei. Die reale Exiſtenz heißt auch Mond und 
Eva, als Wiederfihein der idealen Schönheit oder Sonne, als Mutter und feg- 
nende Nährerin, Die Verbindung der beiden Antlige des Königs und der Köni— 
gin bewirkt das Entſtehen und die Erhaltung der Schöpfung. Ihre gemeinfame 
Liebe zum Werfe offenbart fich in zweifachen Früchten, je nach der Richtung der 
Kräfte vom Gemahl zur Gemahlin, Eingeburt und Vermehrung in diefer Welt; 
pder von der Gemahlin zum Gemahl, VBergeiftigung der Verförperungen und 
Eingeburt in die ewige Welt oder Wiedergeburt, Die Seelen haben ihre Wur— 
zel im höchften Verftande; gehen fie von dort durch das Princip der Gnade, fo 
werben fie männlich, durch das der Strenge, fo werben fie weiblich, König und 
Königin find der Zeugung der Seele das, was Mann und Frau der Zeugung 
des Körpers, Bei dem umgekehrten Wege der Seele aufwärts, wo die Tugend- 
geſchmückte, ihre Beftimmung erreicht hHabende, in den Schooß Gottes zurüd- 
kehrt, fteigt fie von felbft auf, fowohl durch die Liebe, welche fie einflößt, als 
durch die, welche fie empfindet, und mit ihr fteigt auch die Ießte Stufe der Ema- 
nation oder das le&te, reale Sein auf, das fo mit der idealen Geftalt in Harmo— 
nie gefegt wird. Abermalige Zufammenfunft des Königs mit der Königin, jet 
zu anderm Zwecke als vorhin, „So wird das Leben von oben und von unten ge— 
ſchöpft.“ Eine Anticipation diefer Verbindung zeigt fih-in der Efftafe, — Die 
Kabbaliſten veranfchaulichten dieß ihr Syſtem in mannigfachen ſymboliſchen Figu— 
ven, vorzüglich in dem fogenannten Fabbaliftifhen Baum oder auch in neun con= 
eentrifchen Kreifen um einen Mittelpunct ꝛc. Jede Form des Seins von der 
Materie bis zur ewigen Weisheit ift eine Manifeftation, oder, wenn man Tieber 
will, eine Emanation des unendlichen Wefens, Gott muß in ihrer Mitte gegen- 
wärtig fein; fich felbft überlaffen würden fie wie ein Schatten verſchwinden. Aber 
felbft der Schatten der Materie iſt noch das Ende der Manifeftationen, fowie 
der ideale Menfch deren Anfang if. Alles geht in den Anfang zurück, von dem 
es ausgegangen, Fein Wort, Fein Hauch in Gottes Welt ift verloren, Nichts ift 
abfolut fchlecht, Nichts ift für immer verfluht. Die Krone, der Anfang und 
Schöpfer, ift zugleich der Segen. Es kommt der ewige Sabbath, das ewige Feft 
der allgemeinen Herftellung. Als die jegige Welt gefchaffen werben follte, wa— 
ren alle Dinge diefer Welt, alle Gefchöpfe des Weltalls — in welcher Zeit fie 
auch exiftiren follten — bevor fie in diefe Welt eingetreten, in ihren wahren 
Geftalten vor Gott gegenwärtig. Sp müffen die Worte des Predigerd: „was 
da war, wird auch fein, und was gefihehen ift, wird auch geſchehen,“ gedeutet 
werben, „Die untere Welt ift mit der obern ähnlich gemacht worden; was in 
der obern ift, findet fich gleichfam als Abbild auf Erden.” Alles Hat eine ſym— 
bolifche Bedeutung, die in der Signatur der in vier Welten abgeftuften Wefen 
ausgedrückt if, Diefe vier Welten heißen: Aziluth, Beria, Jezira und Aſia. 
Die fehr ausführliche Lehre von den Engeln, Dämonen und Menfchenfeelen, ihrem 
Abfall, ihrer Länterung und einftigen Glorifieirung, wobei dem Menſchen als 
MWelt- und Gnttesbild die oberſte Stelle angewiefen wird, erhält neben manchem 
Irrigen und Willfürlichen viel Bortrefflihes und Tiefes. Manches erinnert Teb- 
haft an hieher bezügliche Grundlehren des Platonismus, aber nicht felten über- 
firahlt die Kabbala diefelben und ftreift an die tiefften Wahrheiten und fpeculati= 
ven Ideen des Ehriftentfums. Daher wurden auch viele Kabbaliften Chriſten, 
und die Lehre ven Juden felbft verdächtig; und Tholuf glaubte fich in neuerer 
Zeit auf ven Sohar berufen zu können, um den Juden, welche die Kabbala nicht 
verwerfen, die Nothwendigfeit zu zeigen, Chriften zu werben, Wir folgten in 
unferer Darftellung des Syſtems der Kabbala durchgängig der Arbeit Franks, 
in's Teutſche übertragen von Gellinek, welche jedenfalls den Vorzug befigt, 
einen leichten, Karen Ueberblick des Syſtems nach all’ feinen Theilen zu gewäh- 
zen, Man vergleiche indeß Molitor's Werk: Philofophie der Geſchichte oder 





KRabbala, | 5 


über die Tradition, namentlich im erften Bande den bten Abſchnitt, und im 2ten 
Bande den 2tenAbfchnitt, fowie den Anhang. — Die Kabbala foll nach den berühmte- 
ften Bertretern diefer Wiffenfchaft von Gott dem Moſes auf Sinai geoffenbart und als 
die Auslegung des Gefeges, als efoterifche Weisheit, mitgetheilt worden, und ſodann 
durch eine ununterbrochene Weitergabe von feinen Nachfolgern empfangen und bis auf 
die Gegenwart fortgepflanzt fein. Sp behaupten fie namentlich, daß Hillel, der be- 
rühmte Lehrer Gamaliel’s, zu deffen Füßen Paulus gefeffen, ja felbft Paulus und Jo— 
bannes kundige Kabbaliften gewefen feien, und tief eingeweiht in dieſe Gottesweis⸗ 
heit; an den beiden letztern tadeln fie nur, daß fie lehrten, daß der Maſchiach 
Fleifch geworden und von der Jungfrau geboren fei. Andere gehen felbft bis auf 
Abraham, den Bater der Gläubigen, zurüf und behaupten, daß fhon ihm die 
Kabbala, wie fie im Buch Jezira enthalten, für feine Nahfommen geoffenbart wor- 
den fei, Außer dem Heinen Buch Jezira, Buch der Schöpfung, weldes im zweiten 
Sahrhundert von Rabbi Afiba (ſ. d. A.) niedergefchrieben fein foll, ift das Buch 
Sohar, Buch des Glanzes, von Rabbi Simon Ben Johai ci. d. A.) bald 
nachher begonnen und als Inbegriff der mündlichen Leberlieferungen von der 
Säule deſſelben mehrere Jahrhunderte hindurch fortgefegt und bis zum Umfang 
von drei Duartanten ausgedehnt, Hauptquelle der Kabbala. Doc fehlt es nicht 
in den fpätern Jahrhunderten an zahlreichen Fabbaliftifchen Schriftftellern, welche 
mehr die Lehre auslegten und commentirten, als felbftfändig weiter führten. Meh— 
rere gelehrte Hriftliche Forfcher dagegen wollen in der Kabbala nur einen Aus- 
fluß oder eine modificirte Anwendung altindifcher Emanationslehren oder der Gei- 
fterlehre des Zorvafter im Zendbuch oder eine jüdiſch modificirte, dem Neupla- 
tonismus und Pythagoräismus verwandte, fpeculative Theologie und Cosmogonie 
erblifen, auf welche vielleicht das uralte Buch Iking der Chinefen, welches von 
der Entftehung aller Dinge aus der Ureinheit, dem Taho, handelt, feinen Ein- 
fluß geübt Habe. Obwohl, abgefehen von den Gnoftifern, eine wenigflens mit- 
telbare Bekanntſchaft mit der Kabbala bei Divnyfius dem Arevpagiten und Sco— 
tus Erigena (f. die A.) unverfennbar ift, fo geſchieht ihrer doch ausdrücklich erft 
feit vem 13ten Jahrh. Erwähnung, und erft feit dem 15ten Jahrh. mit der Erneuung 
des Studiums der claffifchen Alten und namentlich des Plato zieht fie die Aufmerffam- 
feitder chriſtlichen Gelehrten auffih. Raimundus Lullus, der enthufiaftifche Lieb- 
haber der Tiefen Hriftlicher Wiffenfchaft, der auch das Evangelium unter den Moham- 
medanern auf der Norbfüfte Africa’s verfündend ald Martyrer fiel, erwähnt ihrer 
zuerft in feiner ars magna; feine Metaphyfif und Zahlenlehre insbefondere ward 
von Giordano Bruno (f. Bruno) und manchen andern fpätern Gelehrten benutzt. 
Borzüglih aber waren es Marfilius Fieinus (ſ. Fieinus), der berühmte Ueber- 
feger Plato's, Plotins und anderer Platonifer, namentlich auch des Dionyſius 
Arevpagita, und die beiden großen Gelehrten Joh. und Franz Pico von Mi- 
randola (f. d. U.), welche bei ihrer mit lebhafter Begeifterung ergriffenen Idee 
einer moſaiſchen Philoſophie und einer gemeinfamen Ueberlieferung einer Uroffen- 
barung aus dem Paradies unter den Völkern, aus welcher alle religiöfen und 
philofophifchen Syſteme, in denen ein höherer Wahrheitsgehalt, gefchöpft Hätten, 
auf die Rabbala ein großes Gewicht legten. Sie brachten ihre platonifche Welt- 
anfhauung in Verbindung mit dem Neuplatonismus mit verfihiedenen der beffe- 
ren Ideen des platonifirenden, allegorifirenden Juden Philo und anderer Gnofti= 
fer, namentlich aber mit der Kabbala, und fanden die alfo geſchickt und geiftreich 
eombinirte Philofophie im beften Einklang mit der riftlihen Religion, ja, fie 
bielten diefen ihren Platonismus in inniger Vereinigung mit den fupranaturalen 
Lehren der Rabbala, deren Ouellen fie fih um hohen Preis bei damaligen Ju— 
den zugänglich gemacht hatten, für eines der wirffamften Mittel, das Chriften- 
thum fpeculutiv zu begründen und zu vertheidigen. In diefer Geftalt brachte 
30h, Reuhlin den Plato und zugleih mit ihm die Kabbala von Stalien nad 


6 Kabbala. 


Teutſchland, und ſeine gelehrten Bemühungen um letztere theilten bald Agrippa 
von Nettesheim, Knorr von Roſenroth, van Helmont, Piſtorius, 
Poſtelli, Nicei, Kircher, Wachter, und andere, welche namhafte Schriften 
über die Kabbala verfaßten. An den Arbeiten und Mittheilungen dieſer Männer 
entzündete fih die damalige, höchſt bedeutende, vornehmlich aber für die neuere 
Zeit fehr einflußreich gewordene Theofophie und Phyfiofophie des originellen und 
tieffinnigen Paracelfus und des noch ungleich größern Theofophen, des „Phi- 
Yofophus Teutonieus“ Jacob Böhme (f. Böhme), bei weldhem bie drei 
oberen und die fieben unteren Sefiroth als der dreifaltige Wilfe des Urgrundeg, 
und als die fieben Dualitäten oder Duellgeifter des Grundes oder der ewigen 
Natur Gottes, wiederfehren und auf deffen merfwürbige Nebereinftimmung in den 
Grundzügen feiner Lehre mit der Kabbala neuerdings mehrere teutſche Gelehrte 
aufmerkfam gemacht Haben, Durch den gelehrten und chriftlich begeifterten Me— 
taphufifer John Nordage, der Böhme's Lehre fyftematifch zu ordnen und Flarer 
darzuftellen verfuchte, fo wie durch den tiefgemüthlichen, geiftvollen Saint-Mar- 
tin, der Jacob Böhme den Adler unter den hriftlihen Myſtikern nennt, wurde 
indireet die Kabbala auch für England und Franfreih einflußreich, obwohl in 
England Ralph Cudworth und Henry Moore fhon Früher in ähnlichen 
Geifte gewirkt Hatten. Zweifellos ift in Teutſchland durch Böhme, Dettinger 
und feine weitverzweigte Schule, durch die neueren Freunde beider, fowie Durch 
jene genannten Schriftftelfer, der mittelbare Einfluß der mit dem Platonismus 
verbundenen Rabbala ein fehr bedeutender geworden. Schelling und Hegel 
bewundern die tieffinnigen Zdeen und Speculationen Jacob Böhme’s, und er— 
Härten, daß er als vrigineller teutfcher Tiefvenfer den Namen des „teutichen 
Philoſophen“ mit Recht führe. Baader und feine Schule aber hielten die Lehre 
Böhme’s für mehr als irgend eine andere geeignet, die neue teutfche Philofophie 
aus ihrer Verflahung und Verirrung vom Boden der Religion zurüdzuführen, 
und einen dauernden, engen Bund zwifchen der Philofophie und Theologie neuer- 
dings zu begründen, In der fogenannten romantischen Schule huldigten dieſer 
Richtung vorzüglih Novalis und Friedrih Schlegel, der dem Böhme in 
Beziehung auf die enge Verbindung der Philofophie mit der Theologie fogar vor 
P ats den Preis zuerfannte, Durch folhe Tendenzen und DBeftrebungen wurde 
denn neuerdings der Rabbala in Teutfchland eine befondere Aufmerffamfeit, und 
eine vielfache, gelehrte, Eritifche und fpeculative Bemühung wieder zugewendet, 
Außer andern Verehrern Jacob Böhme's, Dettingersd und Saint-Martins waren 
es vorzüglich die Fatholifchen Gelehrten und Philofophen Molitor, Baader 
und Schmid, unter den Proteftanten Kleufer, Tholuf, Meyer, Auber- 
Yen, Rothe, demnächft die gelehrten Juden Beer, Frank und fein Ueberſetzer 
Gellinef, Freiftadt und Joel, welche fih, obwohl in verfchiedener Abficht 
und mit nicht gleichen Nefultaten ihrer Forſchung um dieſelbe Verbienft erwar- 
ben. Längft hat man von der Nothwendigfeit fih überzeugt, eine genuine Kab— 
bala von einer adulterirten zu unterſcheiden; zu den Quellen jener zählt man un— 
bedingt die Bücher Jezira und Sohar, Einige auch das Buch Bahir und bie 
Schriften des Nabbi Luria , zu diefer die thalmudifchen und andere fpätere Schrif- 
ten von verwandtem Inhalt. Aber über den Sinn der Orundlehren der ächten 
Kabbala felbft, auf die wir bisher allein ung einließen, fogar darüber, ob das 
Syſtem verfelben als ein reiner Theismus und Creatianismug, oder als eine, 
obgleich die ewige Perfönlichfeit Gottes anerfennende, emanatiftifche Lehre anzu— 
fehen fei, ftreiten die Gelehrten, Der erfteren Anficht find unter den neueren 
entfchieden Freiftadt und Joel zugethan, Freiſtadt halt die Ausdrücke in ber 
Kabbala, welhe eine Emgnation bezeichnen, fir poetifch und bildlich, und fei- 
neswegs die Schöpfungsivee auszufihließen bezwerfend Cwie etwa diefelben Aus- 
drücke bei Thomas von Aquin pder Ignatins), Ebenſo erklärt Joel im feiner 








= ha, 
RB 





Kades und Kabesbarne, 7 


Polemit gegen Frank (vgl. Religionsphiloſophie des —7*— von Joel S. 140 ff., 
insbefondere 161 und 195.) die drei obern wie die fieben untern Sefiroth nicht 
minder, als die vier Welten der Rabbala, für freie Segungen des Ainſoph, des 
Shöpfers, mit welcher Auffaffung aber die meiften hriftlichen Gelehrten ſelbſt 
da nicht übereinflimmen, wo fie die Lehre von Gott als abfoluter, unveränder- 
licher Perfönlichkeit und vollſtändigen Herrn und Lenker der Welt, von der Frei- 
heit des endlichen Geiftes und von der Unfterblichfeit des Menfchen als von der 
Kabbala feftgehalten nicht in Zweifel ziehen. Molitor, jedenfalls einer der com- 
vetenteften Richter, ſcheint zu der Anficht zu neigen, daß die Kabbala von dene 
Borwurf eines feinern Pantheismus der Emanation nicht völlig frei zu fprechen 
fei; diefer feinere Pantheismus fei eigentlich aber nicht gewollt, noch confequent 
durchgeführt. Das eigentliche Verdienft der Speculation der Kabbala aber liege 
in deren Andeutungen in Betreff der heiligen Trinität, in der Anerfennung der 
Naturfeite der Schöpfung und des Menfhen, in der Trihotomie des Menfcher 
als Geift, Seele und Leib, und in ihren ſpeculativ moralifchen Lehren über den 
Weg der intelligenten, wie nichtintelligenten Ereatur zu dem einftigen Stand ver 
Bollendung und der Glorie, und der Herftellung eines neuen Himmels, einer 
neuen Erde, und eines neuen Jerufalems oder einer neuen Menfchheit, Auch 
Baader fah in der Kabbala feinen jüdifch abftracten, Fahlen Theismus, fondern 
ftelfte die drei oberen Seftroth mit den drei Perfonen der göttlichen Trinität, die 
fieben nachfolgenden unteren Sefiroth aber mit der Lehre Jacob Böhme’s von 
der Sophia, der ewigen Natur und den fieben Dualitäten oder Duelfgeiftern zu— 
fammen, — Der Mißbrauch der in der Kabbala enthaltenen Zahlenlehre, als 
Mittel Fünftige Dinge vorher zu fagen (babylonicos numeros tentare), überhaupf 
dem Menfchen Verwehrtes zu ergründen, gab den Anlaß, daß auch eine gewiffe 
eombinatorifche Rechenkunſt Kabbala genannt ward, Vergl. hierzu die Artifelz 
Emanation und Gnoſticismus. [Sglüter.] 


Kades und Kadesbarne (Kadns Baovn, sıy2 up) bezeichnen einen 
und denfelben Grenzort des füdlihen Paläſtina, wie z. B. aus Num. 20, 14. 
vgl. mit 32, 8. oder 32, A, vgl. mit Richt. 11, 16, 17. erhellt, Die Identität 
beider fteht auch dem Eufebius und Hieronymus im Onom. feft, obwohl fie es 
an der Stelle Jof, 15, 23., wo e8 ausnahmsweife Sp geſchrieben ift, mit dem 
galiläifhen Kedes verwechfeln. Ihre Angabe der Lage (Ev Zonup zr nape- 
zeıvovon rergg reoAeı) ſtimmt ebenfalls mit der Schrift überein, nach welcher 
es in der Wüfte Pharan (Num, 13, 27.) oder genauer in der Wüfte Zin, dem 
nordöflihen Theile jener (Num. 27, 14. 33, 36. Deut, 31, 52.), zugleih an 
der Grenze Edoms liegt, zwifchen dem Berge Hor und dem Gebirg der Amale- 
fiter, vor dem Eintritt in das gelobte Land (Num. 13, 27 ff.). Diefe Daten 
find Far genug, um die Anficht Laborde's (Comment. in Exod.) und Robinfong 
cm. S. 170—175) als die richtige feftzuhalten, nach welcher es in dem Ain el 
Weibeh, dem bedeutendften Waſſerplatze an der edomitifchen Arabah, einige 
Stunden nordweftlih von Petra, wieder zu erfennen if, Andere Stellen, be— 
fonders in der Genefis (14, 6, 7. 16, 14. 20, 1.), welche eine weit weftlichere 
Lage voraus zu feßen ſcheinen und ſchon Bonfrere veranlaßten, ein zweites Kades 
anzunehmen, paffen, recht verfianden, ganz gut auf jenes. Kedorlaomer ſchlägt 
Gen. 16, 4—7. die Horiter auf dem Gebirge bis gegen die Wäſte Pharan, 





I wendet fih dann nach Kades und über das Hochplateau der Ampriter nach der 


Ebene Sittim, fo wie fpäter die Jfraeliten von Kades aus gegen diefe hinauf 
fleigen,, aber zurücfgefchlagen werden (Num. 14, 40, vergl, 13, 31.). Ebenſs 


- wird Gen. 16, 14. u. 20, 1. gleihwie Zof. 10, 41. Kades nur als öſtlicher 
- Endpunet gegenüber dem weftlihen Gaza oder fühweftlihen Schur genannt; we- 
der der Brunnen Hagars noch Gerar, wohin Abraham Ausflüge macht, müffen 


8  Rades. 

darum in feiner unmittelbaren Nähe Liegen, Auch geht es gar nicht an, bie 
: Grenze Edoms fo weit nach Oſten zu rüden, indem ber geographiſch ganz be— 
ſtimmte Berg Hor ebenfalls an der Grenze Liegt Rum, 20, 22.). Jenes Kades, 
welches J. Rowland 1842 (ſ. Ritter, Sinaihalbinfel S, 1077—1088) im 
Südweſten gefunden haben will, iſt noch fehr in Zweifel zu ziehen, und würde 
viel zu weit nach Süden führen, abgefehen davon, daß von dort bis Berſabe 
fein Gebirg zu erfleigen ifl. — Kades hieß ehemals „Duelle Mizpat“ (anyn 
75 xgloewg) Gen. 14, 6. 7., und nicht ohne Grund bezieht man beide Namen 
auf ein uraltes Heiligtum der Amopriter, etwa eine Drafelftätte, der Zuſatz 
Darnea ift eben nichts anders als „Duelle Mizpat“, „Brunnen der Runde” 


( gu Wach Wichtiger wurde Kadesbarne in der Führung des ifraelitifchen Vol— 


kes als Hauptlagerplag in der Wüfte, und als erfter längerer Sit feines Hei- 
ligthumes. Dorthin, gegen das Gebirge der Ampriter, ging der große Marſch 
Durch die Wüfte Pharan, von dort aus follte Die Eroberung des hl. Landes be- 
ginnen (Num, 13, 27 ff. Deut, 1, 19 ff.), von dort gehen und dorthin Fehren 
die ausgefendeten Kundſchafter Num, 32, 4. Deut, 1, 22. of. 14, 6. 7.), dort 
blieb die Bundeslade, als Iſrael dennoch den Kampf mit Amalek wagte, und im 
Gebirge bis Horma (ſüdweſtwärts) gefchlagen wurde (Num, 14, 44, Deut, 1, 
44,). Dort war während des größten Theiles der 38 Jahre („lange Zeit” Deut, 
1, 46. vgl. 2, 14.) der Mittelpunct des fih bildenden neuen Geſchlechtes und 
feiner Wanderungen; es fah am Ende derfelben Mirjam bei fich fterben und be- 
graben werden (20, 1.), ſah aber auch die Widerfpenftigfeit der jungen Genera— 
tion am „Haderwaffer”, und den aus dem Felfen gefchlagenen Duell (Robinſon 
zählte jest drei große Quellen), big endlih Mofes nach vergeblich erbetenem 
Durchzuge durch Edom längs deſſen Weftgrenze am Berge Hor vorüber nad 
Süden aufbrach, um die öftlihe Straße nach Moab durch den Wady Getum oder 
Sthm zu gewinnen (Num, 20, 14 ff. Deut, 2, 1—8. Richt. 11, 16—17.). Zu- 
vor war der Ampriterfönig Arad, der den Nachzug geplündert hatte, befiegt und 
fo die frühere Niederlage beinahe an derfelben Stelle gerächt worden, — Kades 
wird dann wieder erwähnt, um of. 15, 3. die Sübgrenze des Stammes Juda 
zu bezeichnen, welche übereinfiimmend mit Num, 34, 4ff. vom tobten Meere. 
erſt nach Süden neben Edom hin, dann weftwärts über das Gebirge zum „Bade 
Aegyptens“ gezogen wird, alſo Kades nothwendig mit einfchließt, das denn auch 
unter den Städten Juda's aufgezählt wird (Sof, 15, 23.) 5 e8 gehörte zur „mit- 
tägigen Gegend.“ Sp auch bei Ezech. AT, 19. in dem idealen heiligen Land, 
Kades, obwohl Num. 20, 16. als Stadt (Hy) bezeichnet, und von Joſue erp- 
bert (10, 41), war felbft Fein befonderer Königsfig (der Joſ. 12, 22, gehört 
nach Galiläa), daher fih das allmählige Verſchwinden des Namens erklärt, Pf. 
28, 8. fpricht noch von der Wüfte Kades, wie die Wüfte Zin auch Num. 33, 36, 
genannt wird, und Ecel, 24, 18, lobt die Palmen daſelbſt. [S. Mayer,] 
Kades zweinal in der Vulg. (Sof. 12, 22, und 1 Mace. 11, 63, 73. bier 
auch die LXX.) flatt dem fonfligen Cedes Corp, Kedis), zum Unterſchiede von 
Kadesbarne auch Kedes Nephthali genannt, früher ein canaanitifcher Königsſitz 
(Joſ. 12, 22. neben Megiddo), dann eine Leviten- und Aſylſtadt in Galilia, im 
Antheile des Stammes Nephthali (Hof. 19, 36. 20, 7. 21, 32.), woher Baraf 
gebürtig, und in deren Nähe die Keniter und das Zelt Zaeld waren (Nicht. 4, 
6—9,). Sie hatte eine fehr fefte Lage (Hof. 19, 36.), weßhalb ihre Eroberung 
durch Tiglathpilefer (2 Kon, 15, 29.) erwähnt wird, Im maccabäifchen Kriege 
hatte fie eine zahlreiche Befagung, und Jonathan erfocht in der Nähe einen Sieg. 
Auch Joſephus Flavius bel. Jud. A, 9. nennt fie als volfreiches, wohlgelegenes 
Kvdoioo« in der Nähe von Gifchala, das Onom. Kvdoooog (vgl, Tob, 1, 2% 
Kvdıs) bei Paneas, 20 Meilen ſüdöſtlich von Tyrus. Das Dorf Kedes wurde 





Kain — Kaiferspeim. 9 


eben da, nächſt dem See Merom, dem zeifenden Robinfon CHI, 622) auf einem 
Berge gezeigt. 

Kain, f. Abel. 

Kainiten (Rainianer), von einzelnen Vätern und älteren Schriftftellern 
auch Eajaner (ſ. d. A.) oder Eainiften genannt, Sie entlehnten ihren Namen 
von dem bei ihnen hochverehrten Brudermörder Kain im Gegenfage zu den Se— 
tbianern oder Sethiten (ſ. d. A.), mit denen fie übrigens zu der gnoftiichen 
Secte der Ophiten (f. d. U.) gehörten, Nach Irenäus (contra haeres. I. 31.) 
waren fie ein Ableger der Valentinifhen Schule; nah Epiphanius Chaeres. 38.) 
und Theodoret Chaeres. fabb. I. 15.) vereinigten fie die Gottloſigkeit und Unſitt⸗ 
lichkeit der Nicolaiten, Valentinianer und Karpokratianer in ſich. Ihrer Lehre 
zufolge gab es zwei Kräfte, eine höhere (Coguc) und eine niedere (vorega, ute- 

rus, vulva). Der legtern fohrieben fie ven Bau des Himmels und der Erde zu, 
Na Epiphanius (1. c. vgl, Tertull. de praescript. c. 47) hatte Eva den Kain 
von der Sophia, den Abel von der Hyftera empfangen; nah Theodoret ward 
Kain von der Sophia in befondern Schug genommen und mit höherer Erfenntniß 
ausgerüftet, fo daß er der flärfere den ſchwächern Abfümmling oder Günftling 
der Hyftera tödtete, Aus diefer Auffaffung der Gnoſis (ſ. d. A), gepaart mit 
antijüdifchen und antinomiftifchen Grundfägen, ſtammt auch die Verehrung gegen 
den Rain, welche fih bis auf Cham, die Spodomiter, auf Efau, Eore und auf 
alle im A. B. als verworfen dargeftellten Perfönlichkeiten, ja felbft auf Judas 
Iskarioth, als auf ebenfo viele, wahrhaft pneumatifche, mit höherer Erfenntniß 
ausgeftattete und ihnen felbft verwandte Naturen ausdehnte, weil diefe nach ihrer 
Meinung von dem Demiurgos zwar fortwährend angefeindet, aber von der So— 
phia befhügt, in Aeonen umgeftaltet worden und fomit als Vorbilder nachzuah— 
men ſeien. Am höchſten ſtellten fie aber den Judas Iskarioth, welcher der Er- 
leuchtetſte, ja der einzig Erleuchtete unter den Apofteln und ein wahrer Wohl- 
thäter des Menfchengefchlechtes dadurch gewefen fei, daß er den Erlöfer den 
Juden überlieferte, entweder weil er erfannte, daß nur durch den Tod Jeſu das 
Reich des Judengottes zerflört werde, oder weil er den (pſychiſchen) Jeſus für 
einen Berräther an der Wahrheit hielt (Tertull. 1. c.). Nach der Lehre der 
Kainiten mußte der Menfh, um zur vollfommenen Gnofis und zum Heile zu ge— 
langen, die ganze Stufenleiter der Lafterhaftigfeit durhmadhen; ja fie Iehrten 
fogar, daß jedes Laſter feinen eigenen Engel babe, der bei Ausübung der That 
ſelbſt angerufen werden müſſe. Sie verachteten die h. Schrift, hatten aber meh- 
rere apveryphifche Bücher, 3. B. das Evangelium des Judas und die Entrüfung 
vder Offenbarung des HI. Paulus (avaßarızos — ascensus S. Pauli in tertium 
coelum) (f. Apveryphen = Literatur). Ihr Antinomismus (f. d. A) 
übertraf wirklich Alles an Frechheit; fie geftatteten namentlich die ie 
und forderten von den Einzuweihenden die Verwünfhung des Namens Jeſu als 
bes pſychiſchen Meſſias. Vergl. Renati Massueti, dissertat. praeviae in Irenaei 
libros diss. 1. art. III. nr. XV. 157. [Häusle.] 

Kaiphas, Keiapas (viell. x2> pefra, oder N2">, depressio, Targ. Prov. 


46. 26.) eigentlich Jo ſeph Kaiphas (Joseph. Antt. 18, 2: 2.), jüdifcher Hoher- 
3 priefter zur Zeit der öffentlichen Wirkfamfeit und des Leidens des —* gleich⸗ 
* mit ſeinem hohenprieſterlichen Schwiegervater Annas, [9.183 
. 256. 
- Raifersberg, f. Gailer. 
R Kaiſersheim, auch Furzweg Kaisheim oder Keisheim, war eine gefürftete 
Reichsabtei Eiftercienferordens, im ehemaligen Herzogtum Neuburg ander Do- 
mau, nicht weit von Donauwörth gelegen. Sie ward im 3. 1132 vom Grafen 
[5 Heinrich von Lehs-Gemünd geftiftet, und von Papft Lucius IT. im J. 1184 in 
des romiſchen Stuhls befondern Schug genommen. Der Stifter hatte für fih 


10 Kaiſerthum — Kaland-Geſellſchaft. 


und ſeine Erben den Erbſchutz und die Vogtei über die Abtei ſich vorbehalten. 
Mit dem Ausſterben der Familie des Stifters ging das Schutzrecht an die Grafen 
von Grayspach über; nachdem aber auch dieſer Stamm mit dem Grafen Berthold 
ausgeſtorben war, ſo belehnte Kaiſer Ludwig der Bayer das Haus Bayern mit 
dem Vogteirecht über das Kloſter Kaiſersheim. Jedoch ſollten die Herzöge von 
Bayern die Abtei bei ihren Privilegien belaſſen. Im Anfange des 17ten Jahr— 
hunderts ward jedoch die Abtei wegen der ihr in der erſten Stiftung verliehenen 
Reichsunmittelbarkeit angefochten, Nach einem langwierigen Proceß kam es 1656 
zu einem gütlichen Vertrag, worin die Abtei als unmittelbarer Reichsſtand an- 
erkannt worden ift, Als folder war fie auch in verſchiedenen Reichstagen auf- 
getreten. Im J. 1543 brannte die Klofterfirche ab, In ihr hatten verſchiedene 
sornehme Familien ihr Erbbegrabnig. Im J. 1757 wurde diefe Abtei, nicht 
ohne Proteftation des bayerifshen Kreifes, dem ſchwäbiſchen einverleibt, Zedlers 
Univerfallexifon, XV. Bd. 

Kaiſerthum, griechiſches, f. griehifhes Kaiſerthum. 

Kaiſerthum, römiſches, ſ. Rom. 

Kaland-⸗ oder Kalend-Geſellſchaft, Kalandsbrüder, auch Ka— 
lanzbrüder. Mit dem Worte Kaland oder Caland bezeichnete man früher 
1) eine Genoſſenſchaft andächtiger und wohlthätiger Perſonen, 2) die Verſamm— 
Yung derſelben zu gewiſſen Zeiten, 3) das Haus, in dem fie zuſammenkam — 
gewöhnlich das Kalandshaus genannt, auch der Kalandshof, wenn es von be= 
trächtlihem Umfang war, und 4) die Pfründe der Kalandsbrüder, Unter den 
verfchievenen Anfichten über die Entflehung des Wortes „Kaland“ hat die am 
Meiften für fih, welche es von dem Tateinifchen Calendae abftammen läßt, nicht 
als ob gerade die Geſellſchaft fich regelmäßig am erften Tage eines jeden Mo— 
nats (Calendis) verfammelt hätte; vielmehr ift Hiftorifch erwiefen, daß die Mit- 
lieder alljährlich nur zweimal, wie z. B. zu Nordſtrand ober viermal, wie 
zu Stargard in Pommern ꝛc., und auch nicht am erfien Tage eines Monats zu- 
fammen famen, Die ältefte Urkunde diefer Genoffenfhaft ift von dem Kalande 
zu Ditberg vom Jahre 1226, und viel weiter hinauf wird auch ihr Urſprung nicht 
datirt werden Dürfen, Zweck diefer Genoſſenſchaft war Stiftung und Unterhaltung 
redlicher Freundfchaft, gütliche Beilegung etwaiger Mißhelligfeiten, gemeinfame 
Unterftügung in Unglüdsfällen, Förderung der chriftlichen Zucht und Sitte, be— 
fonders war die Ralandgefellfehaft beforgt, daß ihren Mitgliedern eine feierliche 
Beerdigung zu Theil wurde, und daß man ihrer häufig in Darbringung des hl, 
Meßopfers, in Gebet und Fürbitten gedachte, Eintreten in eine folche Gefell- 
ſchaft konnten nicht bloß Geiftliche, fondern auch Laien beiderlei Gefchlechts, wie 
ſchon aus den Worten erhellt, deren fich der papftliche Legat, Antonius Bonum- 
bra im Eingange feiner Confirmation des Ralandes zu Stargard vom J. 1473 
bedient: Dileetis nobis in Christo fidelibus utriusque sexus eoclesiastieis et secu- 
laribus confratribus fraternitatis Calendarum. Einen geiftlihen Orden bildeten 
alſo die Kalandsgeſellſchaften nicht, doch Hatten fie ihre eigenen Negeln und Sta- 
tuten, welche von den Bifchöfen jeder Didcefe approbirt wurden, Der Borftand 
hatte ven Namen Dechant (decanus), auch Propft (praepositus), oder, doch fel- 
tener, provisor generalis. Ihm zur Seite fland ein Kämmerer, bald Provifor, 
bald Teftamentariug, bald Thefanrarius genannt, hin und wieder kommt noch ein 
dritter Beamte vor, Eleemoſynarius genannt, der für richtige Vertheilung des 
Almsfens zu forgen hatte, während dem Kämmerer die Verwaltung des gemein- 
Thaftlihen Vermögens oblag. Wegen des fihönen und humanen Zwedes floßen 
namlich den Kalanden, die namentlich in Nordteutfchland zu Haufe waren, bald 
reihlihe Gaben, Schenfungen und Privilegien zu. Gewöhnlich heißen die Mit- 
glieder einer folhen Gefelfchaft Ralandsbrüder (fratres calendarii), es gab 
aber auch in manchen Städten zwei Kalande, einen großen und einen Heinen, die 


| Kalb, goldenes. 11 
Mitglieder des großen — Ralandsherren— beftanden nur aus adeligen Perfonen 


| und aus den VBornehmften der Geiftlihfeit und bildeten nicht felten wie zu Ber- 





gen auf Rügen eine Mittelsperfon zwifhen dem Landesfürften und dem übrigen 
Adel. Diefe Genvffenfhaften arteten bald aus, die Kalandshäuſer wurden oft 
berabgewürdigt zu Bierhäufern, und bei den Zufammenfünften der Mitglieder 
- ging oft der geiftige Menſch Ieer aus, während der finnliche fih um fo ungezie- 
mender entfhädigte, daher die Redensart: fie haben gefalandert fo viel als: fie 
haben unmäßig gegeffen und getrunfen. Kein Wunder, daß fie im 16ten Zahr- 
hundert meiftens eingingen. Daß mit dem Namen Kalendgefellihaft ſchon frühe 
au die Kapiteld - und Paftoraleonferenzen bezeichnet wurden, ift befannt, vgl. 
d. A Eonferenzen, geiftlihe. Vgl. Allg. Encyelop, von Erf u. Gruber, 
14, Thl. 2te Abth. Teutfhe Eneyelop. IV. Bd. Feller, oratio de fratribus ca- 
lendariis. Lips. 1691. Dähnert's pom, Biblioth. Bd. 1. ©. 137—144, [Fris.] 
Kalb, goldenes, Kälberdienit. Zum fünften Male hatte Mofes den 
Befehl erhalten, den Berg zu befteigen, weil Jehova ihm „die fleinernen Tafeln 
und das Gebot und das Geſetz, welches er gefchrieben” geben wolle (Exod. 24, 
12.). Rahdem er dort fieben Tage gewartet (Erod. 24, 16.), trat er in das 
Gott umhüllende Dunfel, um weitere Gefege (vgl. Exod. €.25—31.) zu erhal- 
ten und blieb darin vierzig Tage und vierzig Nächte. Während diefer Zeit follten 
mit den 70 Aelteften Aaron und Chur über die Streitfachen des Volkes entfchei= 
den. Diefes, ob der langen Abwefenheit Mofis an feiner Rückkehr verzweifelnd, 
beſtürmte den Aaron, ihnen „Götter zu machen, die vor ihnen hergeben“ (32, 1.). 
Diefes Verlangen harakterifirt den religiöfen Bildungsftand des Volkes; einer- 
feits erblickt es in Mofes mehr als ein bloßes Drgan Jehova's, an ihn allein 
knüpft es die That der Befreiung aus Aegypten, als Erfag für ihn fordert es 
jest andere „Götter” (arm>n); andererfeits erfcheint doch das ganze Verhältnig 
als ein fehr äußerlihes gefaßt, das Volk beforgt, Mofes habe etwas Menfchliches 
erfahren, e8 verlangt fihtbare Götter, Aaron gab dem Andrange nach und fer- 
tigte aus den goldenen Ohrringen ein gegoffenes Kalb (7222 53», vitulum 
conilatilem, Vulg. Exod. 32, 4., vgl. Deut, 9, 21. Neh. 9, 18. Pf. 106, 19.). 
- Im Sinne Aarons follte dieß ein Symbol Jehova's fein (Exod. 32, 5.), in den 
- Augen Jehova's ift es ſchnöder Abfall, den er durch Vernichtung des undanfbaren 
Volkes ftrafen will; nur die Bitten Mofis vermögen den göttlichen Zorn abzu— 
wenden (32, S—14,). Zurüdgefehrt vernichtet Mofes das Gögenbild ; es wurde 
geſchmolzen, dann zu Staub verbrannt, diefer dann in's Feuer geworfen und das 
Volk mußte das mit dem Staube vermifchte Waffer trinfen (32, 20., über die 
exegetiſche Schwierigfeit diefer Stelle vgl. NRofenmüller scholia ad h. 1. und 
Winer R.W. s.v.); das fündhafte Beginnen war hiemit in feiner Nichtigkeit 
gezeigt und durch die Ceremonie des Trinfens auf feine Urheber zurüsfgeführt, 
VBgl. 2 Kon. 23, 6. — Die Wahl des Gögenbildes Hatten ohne Zweifel äghp— 
tiſche Vorbilder beftimmt Cogl. die Rede des HI. Stephanus, Ang. 7, 39. 40.)5 
in Aegypten wurden nicht bIoß lebendige Thiere, fondern auch Thier bilder 
göttlich verehrt Cogl. Herod. II, 129 ff. Plut. de Iside et Os. opp. I. pag. 366. 
- Strab. 17. p. 805.); der Apis war das Symbol des Oſiris (Plut. de Is. c. 33.), 


wird als ſolches dem Jehova entgegengeftellt (Jerem. 46, 15.), geringer geachtet 





— war der Stier Mnevis, der zu Heliopolis verehrt wurde (Ael. hist. anim. XI. 11. 
” Strab. 1. c.); man wird daher (mit Lact. institt. 4, 10. Hier. in Hos. A. ete.) in 
I dem Apis das Vorbild des goldenen Kalbes (>33, eigentl. der junge Stier) zu 
ſuchen haben, In neuefter Zeit wurde von den Hegelianern Vatke (Religion des 
A. T. 5.3 ff.) und Bruno Bauer (Religion des A. T. I, ©, 180 ff.) die 
eonftante Anficht aller Zeiten rückſichtlich des ägyptiſchen Urfprungs angefochten 
Fund ein uranfänglicher Stiercultus bei den Sfraeliten hypothefirt, aus dem 
TH erſt allmählig Die Jehovaverehrung auf natürlihem Wege entwisfelt Habe; 


12 Kaldi — Kalender. 


das Grundlofe diefer Meinungen hat Hengftenberg ausführlich dargethan in fei- 
nen Beiträgen zur Einleitung in's A. T. II, ©, 150 ff, — Diefer abgöttifche 
Eultus Iebte wieder auf im Neiche Iſrael. Jeroboam I. (ſ. d. A), um die poli= 
tifhe Trennung zu befeftigen, fuchte feinen Unterthanen durch Gründung neuer 
Saera einen Erfag für den Tempeleultus in Jerufalem zu geben, er wollte na— 
mentlih die Feftreifen nach Jeruſalem aufheben; er Tieß zwei goldene Kälber 
fertigen, das eine zu Bethel, einem in der Volfstradition hochheiligen Orte, das 
andere in dem gleichfalls früher zur Eultusftätte geweihten Dan mit dem nöthi- 
gen Priefterperfonal aufftellen; fie follten auch nur Symbole Jehova's fein, wie 
die Väter ein folhes ſchon am Sinai gehabt hätten! (1 Kön. 12, 26 ff) Vi- 
debatur hoc ejus consilium politice prudens et ad regnum suum statumque 
politicum tuendum salutare: sed re vera fuit imprudens et perniciosum statumque 
et regnum ejus prorsuslabefactavit etevertit, bemerft mit Recht Corn, a 
Lapide. Bol, 2 Kön. 10, 29. Hof. 8, 5. 10, 5. Tob, 1,5, Diefe Bilder be- 
fanden auch unter ſolchen Regenten fort, welche fonft ven fremden Gdgendienft 
verabfcheuten und austilgten (2 KRön. 10, 25. 17, 2,), daher fo haufig von den 
Propheten über Bethel gedroht wird, das fie durch ein Wortfpiel mit Bethaven 
(Gbtzenhaus) verwechfeln. Vgl. Am, 3, 14. 5, 5. 7,10, Hoſ. 4, 15. 10,5, 
und andere, [Rönig.] 

Kaldi, Georg, gelehrter ungarifcher Jefuit, geboren zu Tyrnau in Ungarn 
1570, wurde, nachdem er im Drden verfchievdene Aemter befleivet, zu Wien ge- 
predigt und zu Olmütz die Theologie gelehrt hatte, zulegt zum Rector des Colle— 
giums zu Preßburg, das er von Grund auf neu erbaute, aufgeftelt, und farb 
dafelbft, allgemein betrauert, im J. 1634, Er war vieler Sprachen kundig und 
erwarb ſich fowohl als Prediger wie als Meberfeger der Bibel in die ungarifche 
Sprache große Verdienſte. Zugleich war er ein frommer und tugendhafter Mann, 
und hatte ven Muth, dem Fürften von Siebenbürgen Gabriel Bethlen vorzuwer- 
fen, er trage die Schuld, daß fo viele Chriften in türfifche Selaverei geriethen, 
was der Fürft dem allgemein geachteten Manne fo wenig übel nahm, daß er ihn 
zu Tiſch behielt und mit hundert Thalern zur Unterflügung der Druderei be— 
fchenfte. Ein Theil der Predigten Kaldi's erfchien zu Preßburg 1631 in Folio, 
Seine Bibelüberfegung fam zu Wien 1626 in Fol, heraus, und war für Die Ka— 
tholifen um fo mehr ein Bedürfniß, als der Prediger der Neformirten zu Gönz, 
Caſpar Karoly, ſchon früher die ganze HI. Schrift in die ungarifche Sprache 
übertragen hatte. Die Ueberfegung des letztern, gedruckt 1589 zu Vifoly, ward 
nachher von Albert Mollnar verbeffert, — Mit Kaldi namensverwandt it Ral- 
les (alles) Sigmund, Jefuit zu Wien, geboren zu Agsbach in Deftreich, 
einer der vorzüglichften öftreichifchen Gefchichtfchreiber des 1Sten Jahrhunderts, 
Außer einer vortrefflihen Trauerrede auf den Tod Kaiſer Carls VII. verfaßte er: 
Jahrbücher von Deftreich, von den älteften Zeiten bis zu den Fürften aus dem 
Habsburgifchen Gefchlechte, zwei Bande in Folio, Wien 1750; Reihenfolge der 
Biſchöfe von Meißen, Regensburg 17525 Jahrbücher, Firchliche, von Teutſchland, 
Deftreih, Ungarn und Polen, die Gefhichte der erften eilf Jahrhunderte ent- 
baltend, ſechs Folivbande, Wien 1756—1769 — ein ausgezeichnetes, noch zu 
wenig befanntes und benüßtes Firchengefchichtliches Werk, [Schrödt.] 

Kaleb, f. Caleb. 

Kalender, julianiſcher und gregorianiſcher. Unter dem julianiſchen 
Kalender verſteht man den Bau, den Julius Cäſar unter ſeinem und des Aemi— 
lius Lepidus Conſulate dem Jahre Anno 708 nach Erbauung der Stadt Rom ge— 
geben; unter dem gregorianiſchen die verbeſſerte Ausgabe des julianiſchen Ka— 
lenders, die Papſt Gregor XII. angeordnet hat, Beide find für den Chriſten 
überaus wichtig, da fie die Rahme find, in welcher das chriſtliche Kirchenjahr 
(9.9) an ung vorübergeht. — Der julianifche und gregorianifche Kalender 








Kalender. 13 


| teilen zunächft das Jahr in zwölf Monate, die in ihrer urſprünglichen Reihen- 

folge alfo lauten: März (Martius vom Gotte Mars), April (Aprilis, vielleicht 
| son Aperire, und daher fynonym mit Keimmonat), Mai (Majus von der Göttin 
Maja, der Mutter des Mercurius), Juni (Junius von der Göttin Juno), Duin- 
tilis, Serxtilis, September, Detober, November, December (5., 6., 7., 8., 9. und 
10. Monat), Januar (Januarius vom Gotte Janus) und Februar (Februarius 
von den in diefem Monate üblichen Luftrationen). Der Februar hat 28 Tage, 
die Monate Januar, März, Mai, Duintilis, Sertilis, Detober und December 
31, die übrigen 30 Tage, fomit das ganze Jahr 365 Tage. In dem vierten 
Sabre erhält ver Februar zwifchen dem 23, und 24. einen Schalttag, der dei- 
wegen Bissextus (ante Cal. Mart.) genannt wird. Ein ſolches Jahr ſelbſt nennt 
man Schaltjahr (Annus Bissextilis). Im julianifhen Kalender ift jedes vierte 
Jahr (es ift nach der Hriftlichen Aera immer dasjenige, das fih mit vier theilen 
läßt, 3. B. 1852, 1860 u. |. w.) Schaltjaßr, im gregorianifchen jedes vierte mit 
der Einfchränfung, daß unter den Jahren der hriftlichen Aera, die wenigftens zwei 
Nullen im Einheits- und Zehnerrange haben (1700, 1800, 1900, 2000), je drei 
feinen Schalttag erhalten, und nur das vierte folder Jahre wieder Schaltjahr 
wird, — Anlaß zur Einführung diefer Kalender war ſowohl für Julius als auch 
für Yapft Gregor das Mißverhältnig, in welches das natürliche Jahr zu dem 
bürgerlihen gefommen war, Was Julius Cäfar betrifft, fo waren die Monate 
zu feiner Zeit fo fehr aus ihrer urfprünglichen Periode im Jahre gefommen, dag 
der 1. Januar auf unfern dermaligen 13. October oder noch früher fiel. Nach 
der Anordnung des Numa Pompilius berechneten nämlich die Römer das Jahr 
nach 12 Lunationen (daher noch jest der Name Monat), und fihalteten, da das 
Jahr Hiedurch nur beiläufig 354 Tage erhalten haben, und hiedurch offenbar mit 
dem durch das Gebot der Natur fih Fundgebenden Sonnenjahre in Bälde in 
Widerfpruh gefommen fein würde, gewöhnlich in jedem zweiten Jahre nach dem 
legten Monate (Februar) einen Schaltmonat (Merkedonius, Mensis intercalaris) 
ein, dem der römifche Pontifex Maximus die nothwendige Anzahl von Tagen zu 
geben hatte. Da nun aber der Pontifer bei der Einfhaltung diefer Tage nicht 
immer darauf Rückſicht nahm, mit dem Sonnenjahr im Einklang zu bleiben, fon- 
dern den Merfedonius nach Gutdünfen bald länger, bald fürzer machte, oder ihn 
auch ganz ausließ, je nachdem er fein Intereffe dabei fand: jo mußte auf Abhilfe 
gedacht werden. Diefe fchaffte Julius Cäſar dadurch, daß er das Jahr 708 nad 
Erbauung der Stadt Rom aus 445 Tagen in 15 Monaten beftehen ließ (Ja— 
nuar mit 29 Tagen, Februar mit 28 Tagen, Merfedonius mit 23 Tagen, März 
mit 31 Tagen, April mit 29 Tagen, Mai mit 31 Tagen, Juni mit 29 Tagen, 
Duintilis mit 31 Tagen, Sertilis mit 29 Tagen, September mit 29 Tagen, 
Detober mit 31 Tagen, November mit 29 Tagen, zwei Schaltmonate mit 67 
Tagen, und December mit 29 Tagen), und im nächftfolgenden Jahre feine neue 
Ordnung geltend machte. Nur läßt fich noch bemerken, daß der julianifche Ka— 
Iender (der Vorſchrift feines Urhebers zuwider) in den erſten 36 Jahren den 
Shalttag nicht im jedem vierten Jahre, fondern vor dem Beginne eines jeden 
vierten erhielt, Hiedurch in diefen 36 Jahren drei Dial zu oft wiederfehrte, und 
daher auf Befehl des Kaifers Auguftus in den nähften 12 Jahren nah Erlaß 
feines Befehls ausgelaffen wurde. Man nahm hiebei Anlaß, den Monat Duin- 
tilis zu Ehren des Gründers des Kalenders „Juli“ (Julius), und den Monat 
7 Sertilis zu Ehren feines Emendators Auguſt“ (Augustus) zu nennen, Erfteres 
befahl nah Suetonius der Kaifer Auguft felbft, das zweite ein Senatsbeſchluß 
— unter den Eonfuln Martins Cenforinus und Cajus Afinius Gallus. Was den 
gregorianiſchen Kalender betrifft, fo ift auch er ein großes Bedürfniß geworben. 
I Dom julianifchen Kalender liegt nämlich die Voransfegung zu Grunde, daß das 

Sonnenjahr 365 Tage 6 Stunden zähle, und daher jedes vierte Jahr Schalt- 


14 Kaliph. 


jahr fein müffe, Nun hat aber das Sonnenjahr einige Minuten weniger, fo da 
diefe in 134 Jahren ungefähr einen Tag ausmahen, und daher den Anfangs- 
punct des natürlichen Sonnenjahrs in 134 Jahren um einen ganzen Tag ver- 
rüden, Hiedurch kam es, daß die Frühlingstag- und Nachtgleiche, welche zur 
Zeit der Bäter von Nicäa auf den 21. März fiel und für bie Feier des chriftlichen 
Dfterfeftes maßgebend ift, im 3. 1582 zehn Tage früher fiel, Gregor XII. (ſ. 
9,4) wies daher der Frühlingstag- und Nachtgleiche nicht bloß die urfprüngliche 
Grenze wieder an, indem er durch eine Bulle vom 24, Februar 1582 (Inter 
gravissimas) befahl, es folle im nächften October nach dem 4. fogleich der 15, 
gezählt werden, fondern machte auch auf den Nath des Aloyfius Lilio die fernere 
Verrückung dadurch unmöglich, daß er die Wiederfehr der Schaltjahre in obiger 
Weiſe beſchränkte. Diefe Vorſchrift fand bei den Katholifen fogleih Aufnahme, 
und wird noch jegt eingehalten, Auch die Proteftanten richten fich feit dem vori— 
gen Jahrhundert nach derſelben; obwohl fie die Zweckmäßigkeit derfelben fchon 
früher anerfannten und fih nur deßwegen fträubten, „weil man“, wie fie fagten, 
„von dem Papfte als dem Teibhaftigen Antichriften nichts annehmen dürfe, ohne 
fih der Gefahr auszufegen, dem papiftifchen Joche wieder anheimzufallen“ 
(Schmid's Gef. d. Teutfh. 8, Thl. II. Bd, 6, Cap). Die griehifhe Kirche 
bedient fich noch jegt des julianifchen Kalenderg, der dermalen 12 Tage hinter 
dem gregorianifchen zurücd ft. Daher fommt e8, daß es in öffentlichen Blättern 
bei Beifegung des Datums öfters heißt: „nach altem Ciulianifhem) Style“ oder 
„mach neuem (gregorianifhem) Style”. Man vgl, Dionysium Petavium de doc- 
trina temporum. Vgl. auch den Art, Cyelus. [Fr. X. Schmid,] 
Kaliph, Chaliph (AR) Heißt „Stellvertreter, Nachfolger“ und be— 
zeichnet vorzugsweife die Erben der Gewalt Mohammeds. Diefer nahm außer 
der Prophetenwürde befanntlih die höchfte geiftlihe und weltliche Authorität in 
Anſpruch. Er war Geſetzgeber, Richter, Feldherr, König und Borbeter (Imam) 
feiner Anhänger, Im erften Menfchenalter nach feinem Tode traten der Reihe 
nah Abu Beker, Omar, Osman und Alt (f; diefe Art.) an die Spike ber Be— 
fenner der mohammedanifchen Lehre, und diefen vier Männern erfennt das mo— 
bammedanifche Recht die un beſchränkte Würde des Kaliphats zu. In Neſefi's 
um 1130 verfaßten Katechismus heißt es: „Das vollkommene Kaliphat dauerte 
nur 30 Jahre, und nach dieſer Zeit gab es bloß Herrſcher, Emire“ (Muradgea 
d’Ohsson Tableau I. p. 212. fl, Ausg). Mohammed felbft fol ausgeſprochen 
haben, daß das Kaliphat nur 30 Jahre dauere, und daß von da an nur weltliche 
Gewalthaber regieren würben, : Schon Dmar hatte den Titel: „Emir, oder Fürft 


der Gläubigen“ (erstmal ao) angenommen, während Abu Beker fih „Ra- ” 


Yiph des Gefandten Gottes“ (a 4— ) 9) RUND) nennen ließ CAbulfeda ‚ed. 


Reiske I. p. 222.). Indeſſen nannte man jene mohammedanifchen Fürften aus 
der ommajadifchen Familie, weldhe zu Damascus von 661 bis 750, und bie 
abbaffivifchen Herrfcher, welche von da an bi8 1258 am Euphrat und Tigris ihre 
Refivenz *) auffhlugen, Raliphen. Ihre weltlihe Macht gründete fih auf den 
Erfolg ihrer Waffen, ihre geiftliche Gewalt darauf, daß fie fih als Imame db, i. 
Borbeter aller Moslimen geltend machten. Da die letztere Eigenfchaft zum 
Theil die Stüße der weltlichen Herrfchaft war, fo war es fehr wichtig, über das + 
Imamat Beftimmungen zu machen, Faft jedes Lehrbuch des mohammedanifhen 
Glaubens enthält ſolche. Nefeft drückt fih fo aus: „Die Moslimen müffen von 





*) Anfangs war Kufa, dann das nördlich davon am Euphrat gelegene Anbar Reſidenz. 
Almanfır baute Bagdad um 770, Die Kaliphen refivirten fpäter öfters in Samirra, Sar— 
ramarra. 





Kalteifen, | 15 


einem Imam regiert fein, welcher das Recht und die Macht Hat, die Beobachtung 
der Geſetze zu überwachen, die gefeglichen Strafen zum Vollzug zu bringen, die 
- Grenzen zu fhügen, Truppen auszuheben u. ſ. w.“ „Der Imam muß fihtbar 
fein“ *). „Der Imam muß koreiſchitiſcher Abfunft fein, jedoch ift es nicht nö— 
thig, daß er gerade ein Alive fei“, wie die Schiiten annehmen! „Die Würde des 
Smamates fordert nicht, daß ihr Befiger fündenlos und der Edelfte der Menfchen 
fei“ (Bgl. Eligi ed. Soerensen p. 301 sqq.). Die abbaffivifhen Kaliphen legten 
einen um fo größern Werth darauf, Jmame der Moslimen zu fein, als die poli- 
tifchen Bürgfchaften für ihre Macht unficher wurden. Auch nah der Einnahme 
Bagdads durch den Mongolen Hulagu 1258 führte die abbaffivifhe Familie den 
Anſpruch auf das Imamat fort und ihre Häupter werden immer noch Raliphen 
genannt. Sie Iebten zu Kairo, wo ber legte die Würde des Imamates auf den 
türfifhen Sultan Selim I. übertrug (1517) **). Im Folge diefer Uebertragung 
werden die türfifchen Sultane als rechtmäßige Imame angefehen, obwohl fie nicht 
Foreifchitifcher Abkunft find. Den Namen Kaliph haben die Sultane jedoch nicht ange= 
nommen. Dagegen haben die fatimidifchen Gebieter Kairo's (f. Fatim a), welche 
neben den Abbaffiven das Imamat ſich aneigneten, auch den Titel Kaliphen ge= 
führt (vom 3. der Hedſchra 361, d. i. 971 n. Ehr. an), bis Saladin als Eroberer 
von Aegypten, dem Scheine nach lediglich im Dienfte des abbaffivifhen Kaliphen 
zu Bagdad, im Anfang des 3. 567 (der Hedſchra), d. i. 3, Sept. 1171 m. Chr., 
die Kotba (Ku) für den fatimidifhen Kaliphen Adhid lidinillahi (0010 
a EN) aufpob und für den Kaliphen zu Bagdad recitiren ließ (Excerpta 
ex Abulfeda in Bohadini Vita Saladini ed. Schultens. 1732. p. 12. Abulfeda ed. 
Reiske T. III. p. 632.). Die Rotba vder das Throngebet war nämlich die be— 
deutendſte Infignie des Kaliphen. Jeden Freitag wurde in jeder Mofchee, ver- 
bunden mit einer Formel des Glaubensbefenntniffes, die Rechtmäßigkeit der Re— 
gierung des eben lebenden Kaliphen von einer befondern Kanzel herab verfündet, 
— Die osmanischen Sultane Iaffen die Kotba für fih beten, wie die Kaliphen. 
Die Formel, welche dabei gebraucht wird, gibt Mur. d’Ohsson T. II. p. 213 sqq., 
fleine Ausgabe. Die ältern Kaliphen beteten die Koba felbft und hielten dabei 
dfters Reden bis auf Mohammed VII. 324 (936), Mur. daf, S. 205. Die Ka- 
liphen ließen jene mächtigen Majordomus, welche feit der Mitte des zehnten 
Jahrhunderts in der Wirklichkeit Herrfchten, mit in-der Kotba erwähnen, Abulf. 
U. p. 398. Vgl. hierzu den Art. Freitag bei den Mohammedanern, und 
Is lam. [Haneberg.] 

g Kalteifen, Heinrich, gelehrter Dominicaner des 1äten Jahr- 
hunderts, geboren zu Chrenbreitftein bei Koblenz, trat ſchon ſehr jung in den 
Eonvent der Dominicaner zu Koblenz, ftudirte zu Wien und Coln und ward im 
lesterer Stadt nach volfendeten Studien Profeffor der Theologie, Mit dieſem 
Amte verband er zugleich das eines Predigers und erntete in beiden Beziehungen 
allgemeinen Beifall, Nachdem er mit der Doctorwürde geſchmückt worden war, 
wurde er zu Mainz zum Generalinguifitor für Teutfchland aufgeftellt; dabei ver- 
fündete er fortwährend zu Mainz und auch zu Koblenz das Wort Gottes. In 
" Anfehung feines Amtes und feiner Celebrität erhielt er 1431 den Ruf, an der 
1 Bafeler Synode (ſ. d. A.) Theil zu nehmen. Hier machte er fih berühmt durch 
N die Rede, welche er gegen einen der von den Hufiten (f. d. A.) geforderten vier 
FF Artikel abhielt. Zur Vertheidigung diefer Artikel wählten die im Januar 1433 
FF nah Basel gefommenen. Böhmen vier ihrer Doctoren in der Art aus, daß je 





) Im Gegenfaß zur Annahme der Schiiten, deren 12ier Imam unſichtbar fortlebt. 
E * Mouradgea dOhſſon I. S. 270. Schon im J. 797 d. 9. 1393 Hatte Sultan Ba— 
iazid ſich vom Kaliphen Motawakil ein Anerkennungspatent geben laſſen. 


16 Kammer, apoſtoliſche — Kanon, biblifher, 


"einer einen diefer Artifel zu vertheidigen hatte. Seinerſeits ernannte nun auch 
das Toncil zur Widerlegung der Böhmen vier Fatholifche Doetoren: 1) Johann 
yon Ragufa, Profeffor der Theologie und General der Dominicaner, nachher 
Cardinal, 2) Aegidius Charlier, Profeffor der Theologie und Dechant zu 
Cambrai, 3) unfern Heinrih Ralteifen, 4) Johann von Polemar, Doctor 
der Rechte, Archiviacon von Barcellona und Auditor Rotä. Kalteifen hatte den 
dritten Artifel der Böhmen von der freien (der päpftlichen oder bifchöflichen Mif- 
fion nicht unterworfenen) Predigt des göttlichen Wortes, welchen der Lehrer und 
Pfarrer der Waifen, Ulrich, in zweitägiger Rede vertheidigt hatte, zu mwiber- 
legen, und entfprach feiner Aufgabe in einer Rede, die er drei Tage hinterein- 
ander in drei Abtheilungen vortrug. Außerdem predigte Kalteifen zu wiederholten 
Malen vor der Synode, fo im 3. 1434, da er in Form eines vom Himmel ge- 
fendeten Briefes eine Art Strafprebigt hielt, worin er es ſcharf rügt, Daß Die 
Schon feit drei Jahren zur Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern Ver— 
fammelten in diefer Hinficht noch nichts gethan hätten, Während feines Aufent- 
baltes zu Bafel fcheint er im dafigen Dominicaner-Eonvent das Amt des Priors 
verwaltet zu haben, Im J. 1443 erhob ihn Papft Eugen IV. zum Magiſter sacri 
palatii, und im J. 1452 Papft Nicolaus V. zum Erzbifchof von Drontheim, Zwei 
Jahre vor feinem Tode zog er fich in das Klofter feines Drdens zu Koblenz zurück, 
wo er 1465 farb und begraben wurde, Kalteifen gehörte unter die gelehrteften 
Männer feiner Zeit und hinterließ eine Menge Schriften, die jedoch größtentheils 
ungedrucft geblieben find. Einige davon hat Fr. Steill in ephem. dominican. 
herausgegeben, Heinr. Canifius (ſ. d. A.) Hat zuerft in feinen lect. antig. bie 
Reden der vier Fatholifchen Theologen edirt, welche fie zu Bafel gegen die vier 
Artikel der Böhmen gehalten haben, Die Rede Kalteifens betreffend, darf man 
Schröckh's (XXXIV, 707) und Basnage's (Basnage-Canis IV, 459) ungünftigem, 
aus Kleinigfeiten und abgeriffenen Stellen gefällten Urtheile nicht beiflimmen, 
vielmehr erblickt man in dieſer Nede allenthalben den Scholaftifer edlerer Art, 
und den vielbelefenen, gründlichen pofitiven Theologen. ©, Basnage-Cani- 
sius, lect. antig. T. IV. p. 623— 708; Quetif und Echard Script. Ord. Praed. 
II, 823. [Schrödt.] 

Kammer, apoftolifche, ſ. Curiaromana. > 

Kammerer, f. Definitoren in Decanaten, 

Sana, f. Cana, 

Sanaan, ſ. Canaan. 

Kandace, Kavdarn, nah Apg. 8, 27. Name der äthiopiſchen Königin, 
deren Hofbeamter von Philippus befehrt und getauft wurde, Kavdaxm war je- 
doch gemeinfchaftlicher Name der damaligen Königinnen von Meros (Dio Cass. 
54. 5. Strabo, 16, 820). Plinius Ch. n. 6, 29.) nennt fie Candaoce. Noch zur 
Zeit des Eufebius Ch. e. II, 1.) gab es äthiopifhe Königinnen. Die Tradition 
nennt den befehrten Rämmerer Indich und macht ihn zum erfien Verbreiter des 
Chriftentfums in Aethiopien (Iren. II. 12. Euseb. U, 1.). Vergl. den Artikel 
Abyffinien. | 

Kanon (Rirchengefeb), ſ. Canon. 

Kanon, biblifher. Seit den älteften Zeiten der Kirche wirb die Samm— 
Yung der hl. Schriften Kanon und fofort diefe Schriften ſelbſt Fanonifche genannt, 
Ueber die Bedeutung des Wortes Kanon in dieſer Anwendung find verfihiebene 
Anfichten aufgeftellt, aber zum Theil wieder aufgegeben worden, Eine der ge= 
wöhnlichften ift noch, das Wort bedeute Verzeichniß, nämlich Verzeichniß ber in 
den gottesdienftlichen Verfammlungen der Chriften zu gebrauchenden Bücher, 
Allein die wahre Bedeutung des Wortes xavav ift Regel, Richtſchnur, und es 
wird von den heiligen Schriften im eminenten Sinne als fihlechtbin maßgebende 
Regel und Richtſchnur für den rechten Glauben und das rechte Lehen gebraucht, 


as. As ee re" A 





— 





Kanon, bibliſcher. 17 


| Dieß erhellt Hinlänglich aus den Schriften der Kirchenväter. Schon wo die Worte 


zevav und zavovızög zuerft vorfommen, bezeihnen fie im Gegenſatze zu pro- 
fanen und apvergphifchen Schriften ſolche, deren Inhalt infpirirt oder göttlich 
geoffenbart ift (Orig. prolog. in cant. und comment. in Matth. 27, 9.), und in 
der Folge werden fie ſtets nur zur Bezeichnung des Infpirations- oder Dffen- 
barungscharafters gebraucht (Herbft, Einleitung. I. 6 ff.). Da die Hl. Scrif- 
ten, welche der vorchriftlichen Zeit angehören, gewöhnlich auch das alte Tefta- 
ment, und die aus der hriftlichen Zeit herrührenden das neue Teftament genannt 
werden, fo erfcheint der gefammte Bibel-Kanon zunächſt als ein doppelter, ein 
altteffamentliher und ein neuteflamentliher. Der ‚altteftamentlige 
Kanon aber ift ſchon bei den Juden felbft um die Zeit Chriſti nit überall der- 
felbe. Die paläftinenfifhen Juden hatten in ihrem Kanon bloß die fog. proto- 
kanoniſchen Bücher oder diejenigen, welche noch jest in unfern hebräifchen Bibeln 
fih finden; die griechiſch redenden Juden dagegen, welde fih damals der aleran- 
drinifchen Ueberfegung bedienten, hatten zwar diefe Bücher ebenfalls, aber dazu 
noch einige andere, welche wir die veuterofanonifchen zu nennen pflegen. Man 
könnte jenen Kanon füglich auch den hebräifchen, diefen den griehifchen Ka— 
non des A, T. nennen, Fragt man nah der Entfiehungszeit und Entjtehungs- 
weife, fo kann der Hebräifhe Kanon nad der Natur der Sache nur allmäplig 
entftanden fein. Anfangs enthielt er begreiflich bloß die moſaiſchen Schriften oder 
den fog. Pentateuch. Später famen andere Schriften hinzu, mande fhon vor 
dem Eril, andere erft nach demfelben. Eine Sammlung heiliger Lieder mußte 
Bedürfniß fein, feitdem die Abfingung folcher auf Davids Anordnung einen Theil 
des heiligen Dienſtes ausmachte; es find daher ohne Zweifel ſchon frühe einzelne 
Pfalmenfammlungen entftanden, die dann fpäter mit einander verbunden wurden, 
Auch Weispeitsiprühe wurden ſchon in der vorerilifchen Zeit gefammelt (Sprüchw. 
25, 1.). Und daß man jedenfalls ſchon während des Erils eine Sammlung hei- 
liger Schriften hatte, in welcher ſich auch die Weiffagungen der früheren Pro- 
pheten befanden, erhellt aus Dan. 9, 2. Seinen jegigen Umfang erhielt aber 
der hebräifche Kanon erfi nach dem Exil, wie ſchon daraus hervorgeht, daß noch 
mehrere nachexiliſche Schriften in demfelben fih finden, Die alte jüdifhe und 
chriſtliche Ueberlieferung bezeichnet die Zeit Esra's als diejenige, in welcher der 
bebräifche Kanon zu feinem vollen Abfchluffe gefommen fei und feine jegige Ge- 
falt erhalten Habe, Und dafür fpricht außer der Verſicherung des Joſ. Flavius, 
daß nach dem Tode des Artarerres Longimanus feine Schrift mehr in den he— 
bräifhen Kanon aufgenommen worden fei, noch dasjenige, was Nehem. 8, s—15. 
9, 3. 10, 29—39, 2 Maccab. 2, 13. über Esra’s und Nehemia’s Beihäftigung 
mit dem Gefeg und den heiligen Schriften überhaupt gefagt wird, fowie auch der 
Umftand, daß von Feiner einzigen Schrift des hebräifhen Kanons mit Sicherheit 
eine fpätere Abfaffungszeit fi behaupten läßt. Die Beftandtheile diefes Kanıns 
find nad) den dießfallfigen Ausfagen und Schrifteitaten bei Joſephus und Philo, 
und den Verzeichniffen des Hebräifhen Kanons bei Melito, Drigenes, Hieronymus 
und im Thalmud: der Pentateuh, Zofua, Richter, Ruth, zwei Bücher Samuels, 
zwei Bücher der Könige, zwei Bücher der Chronik, Esra, Nehemia; die Palmen, 
Job, die Sprühwörter, der Prediger, das Hohelied; Jefaias, Jeremias, Ezechiel, 
Daniel und die zwölf Heinen Propheten, Die Zahl diefer Bücher wird von Joſ. 
Flavius, Origenes und Hieronymus auf 22 angegeben; dabei werden dann die 
Bücher Richter und Ruth, die Bücher Samuels, der Könige, der Chronik, Esra 
und Nehemia, Jeremias und die Klagelieder je als ein Buch gezählt. In dem 
gemariſtiſchen Verzeichniſſe dagegen (Baba bathra f. 14. b.) werden 24 Bücher 
aufgeführt, indem Ruth und Klagelieder ald befondere Bücher gezählt werden; 
daher auch die rabbinifche Bezeichnung des hebr. Kanons mit: die Bierundzwan- 
sig (732m D° DD), oder: das Buch der Vierundzwanzig (D’Yw >) T92I87 120), 
Kircheniexikon. 6. Br. Sre Je 


18 Kanon, bibliſcher. 


Der griehifhe Kanon enthält alle diefe Bücher des hebräiſchen Kanons eben- 
falls, aber dazu noch mehrere andere, die unter dem Namen deuterofanonifche 
befannt find, nämlich zwei Bücher der Maccabäer, die Bücher Tobiä, Judith 
und Baruch, die Weisheit Salamo’s, die Sprüche Sirachs und die deuterofann- 
nischen Abfehnitte in den Büchern Daniel und Efiher, Zu welder Zeit diefer 
Kanon feinen jegigen Umfang erhalten habe, läßt fich nicht genau angeben, jeden- 
fall8 aber auch nicht läugnen, daß er denfelben um die Zeit Chrifti bereits ge— 
habt habe. Es wird allerdings von einer gewiffen Seite her beharrlich geläugnet, 
daß bei den Juden um diefe Zeit ein doppelter Kanon üblich gewefen fei, ein 
anderer bei den Paläftinenfern und ein anderer bei den Alerandrinern (wie wir 
hier der Kürze wegen bie griechiich redenden Juden überhaupt nennen wollen); 
alfein die dafür vorgebracdhten Gründe, das Schweigen Sirachs und Philo's und 
die vorgebliche fundamentale Neligionsverfchiedenheit, die dadurch zwifchen den 
Paläftinenfern und Alerandrinern fich gebildet und ihre Religionsgemeinſchaft auf- 
gehoben hatte, find nicht beweifend. Denn Sirach muß in dem Prologe feines 
Buches, wo er von den heiligen Schriften der Juden redet, von den fraglichen 
Büchern nothwendig fhweigen, weil fie zu feiner Zeit wenigftens großentheils 
noch nicht einmal vorhanden find, Das Schweigen Philo's aber kann ſchon darum 
nichts beweifen, weil er von acht Büchern des hebräifchen Kanons ebenfallg 
ſchweigt und in feinen vielen Schriften fie nirgends nennt und nirgends Stellen 


aus ihnen anführt, es find die fünf Megilfotb und außerdem noch Daniel, Ne 


hemia und die Chronif, Sp wenig nun fein Schweigen hier zum Beweife dient, 
daf die Alerandriner diefe Bücher nicht in ihrem Kanon gehabt haben, fo wenig 
fann es bei den deuterofanonifchen Büchern zu ſolchem Beweife dienen. Dag 
Fundament der Religion aber wurde bet den alerandrinifchen Juden durch Auf- 
nahme diefer Bücher nicht alterirt, denn fie find ihrem Inhalte nad nur Fort- 
fegung der theofratifchen Gefchichte und Unterwerfung in demfelben Sinn und 
Geift, der auch die protofanonifchen Bücher durchdringt und beherrſcht. Ohnehin 
waren die Paläftinenfer in der fraglichen Hinficht nicht allzu engherzig, und bra= 
hen z. B. mit den Alerandrinern die kirchliche Gemeinfhaft nit ab, obwohl 
diefelben zu Leontopolis einen eigenen Tempel erbaut und damit das Gefeg über 
die Einheit des Heiligthbums, ein mofaifches Grundgefeg, auf erlatante Weife 
verlegt hatten. Andererfeits hatten die Merandriner jedenfalls viele größere und Flei- 
nere Zufäge in ihrem Schriftterte, die ihnen eben fo gut wie der übrige Inhalt der 
Schrift als infpirirt und göttlich galten, zum Flaren Beweife, daß der hebräifche 
Kanon jedenfalls nicht durchaus maßgebend für fie war, Aber felbft abgefehen 
hievon, die deuterofanonifchen Bücher müffen um die Zeit Chrifli in der Samm- 


Yung der hl. Bücher gewefen fein, deren die Alerandriner ſich bedienten, und | 
müffen ihnen eben darum auch als heilige und göttliche gegolten haben, weil fie | 
fonft nie in die Sammlung gefommen wären, Sie müffen in der Sammlung ge= | 


wefen fein, denn einerfeits Tieße fich ihr Ipäteres Hineinfommen in diefelbe nicht 


begreifen, und andererfeits könnten fie im entgegengefesten Falle nicht fhon von | 
den älteſten Kirchenfchriftftellern, fo wie e8 der Fall ift, gebraucht worden fein, | 


Wir finden nämlich, daß ſchon die fog. apoftolifchen Väter oder Apoftel-Schüler, 


welche fich der alerandrinifchen Ueberfegung bedienten, gelegenheitlich Stellen aug | 
deuterokanoniſchen Büchern citiren wie aus protofanonifchen, als Ausfprüche einer | 
unumftößlichen göttlichen Auctorität, daß fie fomit diefe Bücher in der Samme | 
fung ihrer hl. Schriften Tafen, Zu ihrer Zeit fünnen fie aber nicht in die Samme | 


fung gefommen fein, weil fie in diefem Falle diefelben nicht als Heilige und göft- 
liche betrachtet Hätten. Als ſolche betrachteten fie aber diefelben wirklich, wie noch 
weit mehr, ald aus den in ihren Schriften vorfommenden Citaten, daraus erhellt, 
daß ihre unmittelbaren Schüler, die in ſtrengem Fefthalten an dem empfan- 
genen Unterrichte ihren größten Ruhm fuchten, die fraglichen Bücher gerade fo 





# 








Kanon, bibliſcher. ni 


wie die protofanonifchen, und verhältnifmäßig wohl auch noch mehr, als Duelle 
der geoffenbarten Heildlehre gebrauden. Diefe Betrachtungsweiſe aber läßt ſich 
nur daraus erklären, daß die apoftolifhen Väter durch die Weifung und das Bei» 
fpiel der Apoftel felbft dazu auctorifirt waren, und diefes wiederum ift nur dar- 
aus erflärlih, daß jene Bücher in der alerandrinifchen Bibel, deren ja die Apps 
ſtel fich bedienten, bereits vorhanden waren und als heilige und göttliche galten, 
- — Die fheinbar bedeutenden Einwendungen hiegegen, daß nämlich die Verzeich— 
niffe des Melito und Drigenes die fraglichen Bücher auslaffen, daß die erften 
chriſtlichen Apologeten fie nicht gebrauchen, und daß die Kirchenväter des vierten 
Sahrhunderts fie ausdrüdlih vom Kanon ausfchließen, verlieren bei näherer Be- 
fihtigung alles Gewicht, Jene Verzeichniffe wollen nicht den Kanon der chriſt— 
lichen Kirche, fondern, wie ihre Urheber ausprüdlich fagen, den Kanon der Juden, 
und zwar den hebräifchen oder paläftinenfiichen liefern. Sodann bei den Apolo- 
geten handelt es fich hauptfählih um Juſtin den Martyrer, er aber vertheidigte 
das Chriſtenthum gegen die Juden und war daher auf den Gebraud ihrer hei— 
ligen Bücher, d. h. auf den hebräifchen Kanon, angewiefen ; gelegenheitlich unter— 
fheivet aber auch er fogar ausdrüdlih den altteftamentlihen Kanon der Kirche 
von jenem der Juden und tadelt letztere, daß fie die alerandrinifche Heberfegung 
verwerfen und mehrere heilige Schriften des A. T. nit als heilig anerfennen 
(ef. A. Vincenzi, sessio quarta Gonc. Trident. etc. Rom. 1842. p. 133 sq.), und 
felbft bei Athenagoras findet ſich unter den wenigen altteftamentlichen Citaten auch 
Barud 3, 36. (Vincenzi, l. c. p. 136). Den Kirchenvätern des vierten Jahr— 
hunderts endlich begegnete mitunter daffelbe, was noch in neuefter Zeit denjeni- 
gen, die als die Koryphäen der altteftamentlichen Kritif gelten wollen; fie hielten 
die Verzeichniffe des Melito und Drigenes für Berzeichniffe des hriftlich-Firchlichen 
Kanons. Indem fie nämlih von dem an ſich richtigen Sag ausgingen, daß der 
jüdifche Kanon des A. T, durch Chriflus und die Apoftel zum Kanon der Kirche 
geworden fei, dabei aber auf das damalige Borhandenfein eines doppelten Ka— 
nons bei den Juden nicht reflectirten, wurden fie durch jene Berzeichniffe verleitet, 
den hebräifchen Kanon für den Firchlichen zu halten. Und in diefer Anfiht wur— 
den fie noch beftärft durch den Umftand, daß die deuterofanonifchen Bücher zur 
Unterweifung der Ratechumenen gebraucht wurden; denn dieſes legte nach den 
Regeln der damaligen Arcan-Disciplin (f. d. A.) die Folgerung nahe, daß diefe 
Bücher von geringerer Dignität feien, als die protofanonifchen. Und daß man 
diefe Folgerung wirklich machte, erhellt ganz deutlich aus dem BVBerzeihnif des 
Athanafius Epist. Fest. Opp. I. 961.), wo aud das Buch Efifer vom Kanon 
ausgefhloffen wird, weil e8 zu jener Unterweifung gebraucht wurde, Diefer Ge— 
brauch fand aber nur Statt wegen der ganz befonderen Brauchbarfeit der frag- 
Tihen Bücher zum erwähnten Zwede, wie ſchon Drigenes ausdrücklich fagt (Hom. 
27..n. 1. in lib. Num.), und jene Folgerung war unrichtig. Die Ausſchließung 
diefer Bücher von Seite der Kirchenväter des vierten Jahrhunderts aus dem Ka— 
non der Kirche, denn die Beftandtheile von diefem und nicht vom jüdifchen Kanon 
wollen fie angeben, wie alle ihre Verzeichniffe unwiderfprechlich zeigen, beruhte 
demnach auf Mißverfländniffen und kann nichts gegen die Kanonicität beweifen, 
Jene Kirchenväter gerieten fogar durch diefe Ausſchließung mit ſich ſelbſt in 
Widerſpruch, indem fie in ihren dogmatifchen und moralifchen Erörterungen die 
befeitigten Bücher eben doch als Fanonifche, als Duelle der Dffenbarungslehre 
gebrauchten, und damit factifch die Firchliche Praris, nach der fie fih in folchen 
Fällen richten mußten, beftätigten, obwohl fie diefelbe theoretifch befämpften. Die- 
fer Kampf Hatte aber gegen das Ende des vierten Jahrhunderts die Folge, daß 
fih die Kirche ſelbſt über die Beftandtheile ihres altteftamentlihen Kanons aus- 
ſprach zunächſt auf den Synoden zu Hippo (393) und Carthago (397) unter der 
Leitung des HI, Auguſtin, wo nad Mafgabe der genau geprüften Ueberlieferung 
2* 


20 Kanon, biblifher. 


ganz diefelben Bücher in den altteftamentlichen Kanon gefegt wurden, welche auch 
die Trienter Synode zu demfelben zählte, und der dießfallfige africanifche Kanon 
erhielt alsbald die Zuftimmung der römifchen und dann der gefammten Kirche, 
Bol. Herbft, Einleitung, I. 5—47. Scholz, Einleitung, I. 197 ff. — Au 
der neuteftamentlihe Kanon fonnte nur allmählig entſtehen. Zwar laßt ſich 
denken, daß die Schriften der Apoftel und wohl auch der Apoftelfchüler, wenn die 
Auctorität eines Apoftels für fie einftund, in den von ihnen gegründeten Ge- 
meinden ſchon frühe gefammelt wurden, weil man fie von Anfang an als gött— 
lich infpirirte Schriften betrachtete, von nicht geringerer Dignität als die heiligen 
Schriften des A, T., wie denn auch fihon der Apoftel Petrus die Briefe Pauli 
als Werke höherer Weisheit bezeichnet (2 Petr. 3, 15 f.). Aber diefe Samm- 
Jungen fonnten nicht von Anfang an überall diefelben fein, weil e8 oft von zu=- 
fälligen Umftänden abhängen fonnte, daß eine Gemeinde fehnell zum Befig eines 
anderwärts vorhandenen apoftolifchen Schreibens gelangte, oder erft fpäter damit 
befannt wurde, Indeſſen bei der gegenfeitigen oft Iebhaften Gemeinfchaft, in 
welcher die riftlichen Gemeinden mit einander flunden, müffen die apoftolifchen 
Schriften wohl ziemlich bald allgemein verbreitet worden fein, und nur bie an 
einzelne Perfonen gerichteten mögen zum Theil eine furze Ausnahme gemacht 
haben, Dagegen erweist fih die fonderbare Meinung, daß die Häretifer des 
zweiten Jahrhunderts zuerft apoftoliiche Schriften gefammelt haben, um ihre Irr— 
Vehren damit zu begründen, und dadurch auch die Kirche veranlaßt worden fei, 
folde Sammlungen zu veranftalten (Neuß, die Gefhichte der heiligen Schriften 
neuen Teftaments 20, Halle, 1842. ©, 105 ff.), als völlig gefhichtswidrig. Die 
eigenthümliche Weife, wie die Häretifer mit den apoftolifchen Schriften umgingen 
und diefelben nur durch arge Verbrefungen und BVerfälfhungen für ihre Beweis— 
führungen brauchbar zu machen wußten, zeigt hinlänglich, daß diefelben zu ihrer 
Zeit fchon lange als heilige Schriften gebraucht und durch öffentliches Vorlefen 
zur allgemeinen Kenntniß der Chriften gebracht waren, fo daß auch fie, wenn fie 
ihre Srrlehren empfehlen wollten, zu Gunften derfelben auch die apoftolifchen 
Schriften anführen mußten, — In den älteften Berzeichniffen jedoch des neu- 
teftamentlihen Kanons läßt fih dem vorhin Bemerkten zufolge noch Feine Ein- 
flimmigfeit erwarten, und wirklich weichen diejenigen, bie aus der Zeit vor ber 
Nicäner Synode herrühren, mehrfach von einander ab, Das befannte murato— 
zifhe Bruchftüd aus dem Anfang des dritten Jahrhunderts, das wohl mit 
Unrecht dem römifchen Presbyter Cajus (f. d. A.) zugefchrieben wird, welcher Die 
jobanneifche Apocalypſe verwarf, fehließt den Brief an die Hebräer, den Brief 
Sacobi, die beiden Briefe Petri und den dritten des Johannes vom Kanon aus, 
Drigenes dagegen in feiner fiebenten Homilie zum Buche Joſua ($ 1.) nennt 
alle 27 Bücher, die wir jegt noch im neuteftamentlichen Kanon haben, ald Be— 
ſtandtheile veffelben; fpäter jedoch in feinem Kommentar zum Zohanned-Evange- 
Yium (tom. 5. $ 3.) bemerft er, der zweite Brief Petri und der zweite und dritte 
des Johannes feien nicht allgemein anerfannt, und über den Hebräer-Drief fpricht 
er die Anficht aus, daß derfelbe nicht von Paulus herrühre, fügt jedoch bei, daß 
die Alten (agxaloı avdges) ihn für paulinifch ausgegeben haben (ef. Euseb. H. 
E. VI. 25.). Befonders wichtig find die Mittheilungen des Eufebius über den 
neuteftamentlihen Kanon CH. E. III. 25.). Er theilt die Schriften, die auf apo— 
ſtoliſchen Urſprung Anſpruch machten oder zu machen fchienen, in drei Claſſen 
ein, nämlih 1) in OuoAoysusva, d. h. allgemein und überall durch das überein- 
ftimmende Urtheil der Gefammtlirche als apoftolifch anerkannte Schriften, 2) in 
Grrihsyöueva, d. h. folhe, deren apoftolifher Urfprung theils behauptet, theils 
geläugnet wurde, alfo vorläufig noch ungewiß und zweifelhaft war; und endlich 
3) in vo9a, d. h. folhe, denen anerfanntermaßen mit Unrecht da und bort ein 
apoftolifcher Urfprung zuerfannt wurde, In die erfte Elaffe ftellte ex die vier 








Kanon, bibliſcher. 21 


Evangelien, die Apoſtelgeſchichte, die pauliniſchen Briefe, den erſten Brief Petri 
und den erſten des Johannes, und fügt bei, wem es gut dünke, der könne auch 
die Apocalypſe hieher rechnen; in die zweite Claſſe bringt er die Briefe des Ja— 
eobus und Judas, den zweiten Brief Petri und den zweiten und dritten des Jo— 
bannes; in die dritte Claſſe endlich fegt er die Acta Pauli, die Apocalypfis Petri, 
den Hirten, den Brief des Barnabas und bie DBelehrungen ber Apoftel, und fügt 
wieder bei, wem es gut dünfe, der fönne auch die johanneifche Apocalypfe bieher 
zählen, denn fie werde von einigen den OuoAoyausvors, von andern den woJoLS 
beigezäßlt. Während er aber hier in die erfte Claffe einfach die Briefe Pauli, 
ohne Ausnahme, fegt, bemerft er H. E. II. 3, daß der Brief Pauli an die 
Hebräer von einigen verworfen worden fei, indem fie fagten, daß deffen Ab- 
ſtammung von Paulus von der Kirche zu Nom widerfprochen werde. Hiernach 
ſcheint alfo der apoftolifche Urfprung des Hebräer-Briefes, der johanneifchen 
Apocalypſe und der Fatholifchen Briefe mit Ausnahme des erften Briefs Petri 
und des erften johanneifhen zweifelhaft gewefen zu fein. Ganz anders da- 
gegen lauten die patriftifchen DVerzeichniffe aus der Zeit nach der Nicäner 
Synode, Athanafius, der auf derfelben die Hauptperfon gewefen war, rechnet 
in feiner Epistola Festalis die 4 Evangelien, die Apoftelgefchichte, die 14 
paulinifhen und 7 Fatholifchen Briefe und die Apocalypſe zum neuteftamentlichen 
Kanon, alfp genau diefelben 27 Schriften, die wir jegt noch in demfelben haben, 
und äußert gegen feine derfelben irgend einen Zweifel oder Verdacht. Diefelben 
Schriften nennt auch Eyrilfus von Jerufalem als die neuteftamentlichfanonifchen, 
nur daß er die Apocalypfe übergeht, und daffelbe gilt vom 60ten Kanon der Sy- 
node von Laodicen; Gregor von Nazianz aber zählt wieder diefelben Bücher wie 
Athanaſius auf und bemerft nur, daß Einige bloß drei katholiſche Briefe anneh- 
men, und Manche die Apocalypſe vom Kanon ausfchließen. Es ift Har, daß hier 
die Zeugniffe für die früher angefochtenen Bücher durchaus günftig lauten, und 
der Grund davon wird fich fchwerlich irgend anderswo als in der fchon erwähnten 
Synode von Nicäa finden laſſen. Auf ihr werden fih die aus allen Gegenden 
verfammelten Väter wohl auch über die Ueberlieferungen und das herfümmliche 
Berhalten der einzelnen Kirchen in Betreff der neuteftamentlichen Schriften ver- 
ſtaändigt Haben, wenn gleich die nur mangelhaft erhaltenen Synodalacten nichts 
davon fagen. Daß die Synode jedenfalls auch über die in den Kanon gehörigen 
Bücher ſich berathen haben müffe, erhellt fhon aus der Bemerfung des hl. Hie- 
ronymus in Betreff des Buches Judith: hunc librum synodus Nicaena in numero 
sanclarum scripturarum legitur computasse (Prol. in L. Judith). Das Ergebnig 
folder Berathungen Fonnte auf Grund der vorhandenen Neberlieferungen: fein 
anderes fein, als die allgemeine Anerkennung der theilweife beanftandeten Kano— 
nicität der mehr erwähnten Schriften; denn Eufebius fagt ja felbft, daß diefelben 
in den meiften Kirchen gleich den übrigen heiligen Büchern öffentlich vorgelefen 
und nur deßwegen von Manchen bezweifelt worden feien, weil die Alten fie nicht 
häufig erwäßnen (H. E. 1. 23. IN. 31.). Sofort ift au Far, daß die früheren 
- Zweifel und Einreden nur Privatanfichten Einzelner waren und nicht den Sinn 
der Kirche ausdrückten, fowie fie auch nicht auf der kirchlichen Gefammtüberliefe- 
zung berußten. Und wenn fpäter noch da und dort, wiewohl nicht häufig, die 
Apocalypſe beanftandet wird, fo Liegt auch davon der Grund nicht in der fird- 
lihen Tradition, fondern im Inhalte des Buches, und die Beanftandungen find 
wieder nur vereinzelte Privatanfichten, welche die firhliche Praxis gegen fih haben, 
Nun kann es nicht mehr befremden, daß das ſchon erwähnte, zu Hippo (393) 
und Carthago (397) entworfene Verzeichniß der kanoniſchen Schriften diefelben 
27 Bücher als die neuteftamentlih Fanonifchen aufzählt, die wir jegt noch in die- 
ſem Kanon haben, Und da diefes Verzeihni in Kurzem die Zuftimmung der 
geſammten Kirche erhielt, fo war von da an ber neuteflamentliche Kanon nicht 


22 Kant’fhe Religionsphilofophbie — Kanzleiregeln. 


bloß herkömmlich, fondern auch geſetzlich für die Folgezeit normirt und fixirt. 
Ausführlicheres hierüber fiehe in den Einleitungen von Hug, Feilmpofer und 
Scholz, und die patriftifchen Eitate in de Wette's Einleitung. Eine nähere 
Beleuchtung der neueren Fritifchen Befämpfungen fowohl der fhon im Altertum 
bezweifelten, al® auch vieler andern biblifchen Bücher gehört nicht hieher, ſondern 
in bie einzelnen Artifel, die von diefen Büchern handeln, [Welte,] 

Kant’fche Neligionsphilofophie, f. Rationalismus. 

Kanut, ſ. Canut, 

Kanzel, die, Man verfteht darunter die in einiger Erhöhung gewöhnlich 
an einer Seitenwand oder einem Pfeiler der Kirche angebrachte Rednerbühne. 
Sie entftand aus dem mitunter mit einem Gitter (Cancellus) umgebenen, und 
daher bisweilen felbft Cancellus genannten Ambon der Alten, d.h. aus der Bühne, 
auf welcher in frühern Zeiten die Leetoren ihre Lefungen und die Sänger ihre 
©efänge hielten, und die, um ihrem Zwecke zu entfprechen, groß genug war, um 
mehrere Perfonen bequem zu faffen (Gregor. Nazianz, carm. 9.; Sozom, hist. eccl. 
1.8. c. 5.; Gregor. Turon. Mirac. 1. 1. c. 94.), Den Anlaß, diefe Bühne in un- 
fere ver Größe nach für eine Perfon berechnete Kanzel zu verwandeln, gab bie 
ſchon in den erften hriftlichen Jahrhunderten nicht feltene Sitte der Bifhöfe, von 
ihr aus zu predigen, um leichter verftanden zu werben (Auguslin. de civ. Dei 
1. 22. c. 8.; Ambros. op. 20. al. 33. ad Marcellin. sor.; Sozom. l. c.; Prudent. 1. 
peri stephan. hymn. 11.). Als nämlich diefe Sitte, im Gegenfage zu der ur» 
fprünglichen, vom Altare (Chrysolog. serm. 173) oder von dem in der Nähe des 
Altares befindlichen bifchöflichen Throne (Chrysostom. hom. 18. in act. app.) aug 
zu predigen , immer gewöhnlicher wurbe, mochte man es für paffend halten, den 
Sängern einen andern Plag (gewöhnlich auf der Emporkirche) anzumelfen, bie 
Bühne felhft aber noch mehr zu erhöhen und ihr die Form eines Lehrſtuhls zu 
geben, — Gewöhnlich ift die Kanzel mit einem Deckel verfehen und mit drift- 
lichen Emblemen geziert, z. B. einer Taube unter dem Dedel (als Symbol des 
Wunſches, e8 möge der Hl. Geift dem Redner beiftehen), einer Abbildung der 
vier Evangeliften an der Bruftwölbung der Bühne (als Darftellung, daß auf 
einer chriftlichen Kanzel nur die Lehre Jeſu zu verfünden fei), den Figuren des 
Kreuzes, Ankers uud Herzens (weil die chriftliche Religion auf der Trias des 
Glaubens, der Hoffnung und Liebe an, auf und gegen Jeſus den Gefreuzigten 
bafirt), der Darftellung des reichen Fifchfanges Petri u. dgl. S. au den Art, 
Ambon, [IFr. X. Schmib,] 

Kanzelberedtſamkeit, ſ. Beredtſamkeit. 

Kanzlei, päpſtliche, ſ. Curia Romana B. II. ©, 95%, 

Kanzleiregeln (regulae cancellariae apostolicae), Um der Willfür der bei 
der päpftlichen Kanzlei angeftellten Unterbeamten zu ftenern, fowie um allzuhäu— 
fige Anfragen nach Oben abzufchneiden, werden von den Päpften ihren Negierungs- 
eollegien beftimmte Inftruetionen über das Verfahren bei gewiffen Geſchäften er- 
theilt, die unter dem Namen römifhe oder apoftolifhe Ranzleiregeln 
befannt find, Ihrem Inhalte nach enthalten fie die Angabe der von dem päpft- 
lichen Stuhle gemachten Nefervationen; fodann enthalten fie Vorſchriften über 
Zutläffigfeit von Appellationen an denfelben, über die Claufeln, die bei gewiffen 
Eonceffionen, Indulten und Privilegien beigefügt werden follen; über den Münz- 
fuß bei den Ranzleigebühren, fowie über die äußere Form päpftlicher Urkunden, 
Erlaffe u. dgl. Einen wichtigen Abfchnitt diefer Kanzleiregeln bilden eben bie 
Beftimmungen über die päpftlichen Nefervationen, die namentlich von den avig— 
nonifchen Päpften in der ausgedehnteften Weife in Anfpruch genommen wurden, 
Defhalb pflegt man auch den Urfprung jener Regeln auf Papft Johann XXH. 
zurüczuführen, der nach einer alten Urfunde vom Jahr 1316 (Steph. Baluz. Vit. 
Pap. Avenionens. Tom. I. p. 722. Paris 1693) die yon ihm gemachten Reſerva— 






































Kanzleiregeln. 23 


tionen verſchiedener Claffen von Kirhenämtern bei der apoftolifchen Kanzlei pro- 
tocolliren ließ. Diefes Verfahren wurde von den Nachfolgern Johann fortgefegt, 
die nicht nur die von ihm gemachten Refervationen für fig erneuerten, fondern 
noch erweiterten. Da in Folge diefer ausgedehnten Refervationen, wie fie na— 
mentlich aus der Ertravagante Johanns XXI. „Execrabilis* und „Ad regimen* 
- son Benedict XII. in die Kanzleiregeln übergingen, die Bejegung der meiften Be— 
nefieien in die Hände der Paͤpſte fam, fo bildete dieß einen Haupfklagepunct auf 
dem Eonftanzer Coneil (f. d. A.), und ed wurde der Wunfch nach Aufhebung oder 
wenigfiens Beſchränkung derfelben ausgeſprochen. Allein gleih nah dem Tage 
feiner Wahl erließ der neugewählte Papft Martin V., wie feine Borgänger, Kanz- 
Jeiregeln, in welchen er die alten Nefervationen feiner Vorgänger erneuerte und 
die weitere hinzufügte, wornad er die Verleihung aller Nemter in Auſpruch nahm, 
welche in den acht Monaten: Januar, Februar, April, Mai, Juli, Auguſt, De- 
tober und November erledigt werden. In dem mit den Teutfchen auf fünf Jahre 
abgefchloffenen Eoncordate (f. den Art, Concordate) wurde feftgefegt, daß aufer 
den in den Bullen Johanns XXI. und Benedicts XU. enthaltenen Refervationen 
die Eollation der übrigen Stellen zwifhen dem Papfte und dem Eollator wechfeln 
 Calternativa mensium) follte, mit Ausnahme der Dignitäten in den Dom- und 
Collegiatſtiftern, welchen das canonifhe Wahlrecht eingeräumt wurde. Das Ba- 
ſeler Concil (ſ. d. A.) wollte alle Refervationen auf die in dem Corpus juris ent- 
baltenen beſchränkt willen, wodurd die in den Ertravagantenfamımlungen und aus 

diefen in die Kanzleiregeln aufgenommenen aufgehoben wurden. Uebrigens kam 

diefer Beſchluß nicht zur Ausführung. In dem Wiener Concordate 1448 wurde 
das Eonftanzer Concordat beinahe wieder ganz reftituirt (f, den Art, Refervat- 
rechte). Die ebengenannten von Martin V. nach feiner Wahl zu Conftanz (1418) 
erlaſſenen Kanzleiregeln, fowie die von Johann XXI. (1410) find die älteften, 
welche im Drucke erſchienen; man findet fie bei Hermann von der Hardt (Mag- 
num oecum. conc. Constant. Tom. I. p. 954); Nicolaus V. (+ 1455) bradte bie 

Regeln feiner Borgänger zuerft in eine ordentlihe Sammlung, der er noch feine 
eigenen beifügte. Die Zahl der darin enthaltenen Regeln beläuft fih auf ein- 
- oder zweiundfiebenzig (man findet fie abgedruct in dem Bulfarium von Barberi 
 $ 59, not. p, oder auch bei Corb. Gärtner, Corp. jur. ecel. cathol. etc. Tom. I. 
> App. II. p. 457—498). Da diefe Regeln bloß den Charakter von Inſtructionen 
haben, und bloß für die Lebensdauer des Papſtes gelten, der fie erlaffen hat, fo 
geht bis zu ihrer Erneuerung die Collation der in ihnen dem Papſte refervirten 
Benefieien auf deren ordentlihen Collator über. Deßhalb werden fie gewöhnlich 
vom Nachfolger bei feinem Regierungsantritte in der Negel mit geringen Ber- 
änderungen erneuert und vom Cardinal-Bicefanzler publieirt, Bei der Anwendung 
derſelben wird jest immer auf die kirchlichen Verhältniffe der einzelnen Länder 
Rückſicht genommen; auch find die in denfelben enthaltenen Refervationen dur 
die neuern Concordate aufgehoben oder befchränft worden. Was ihre gemein- 
xrechtliche Geltung betrifft, fo erſtreckt ſich diefelbe bloß auf den Verkehr mit der 
zömifhen Curie; doch find au hier Exceptionen ftatthaft, wenn fie beftehenden 
Concordaten, Landesgefegen, Gewohnheiten u. f. w. zuwider find, Nur wenige 
derſelben haben durch NReception allgemeine Geltung erlangt. Allgemein gültig 
iſt jest noch in Teutichland die 36te Negel de triennali possessore, wornach fei- 
nem Beneficiat das Kirchenamt, weldes er unter rechtmäfigem Titel erworben 
und drei Jahre lang unangefochten inne gehabt hat, beftritten werben darf; denn 
diefe Regel wurde vollftändig in die von Teutſchland acceptirten Basler Decrete 
- @ess. XXL. „Quicunque non violatus est“) aufgenommen, und ift feitvem nicht 
wieder aufgehoben worden. Außerdem gingen aber no im: mehreren teutſchen 
 Didcefen folgende in die Gewohnheit über: 1) die 19te Regel de viginti, zufolge 
welcher ein refignivender Benefieiat vom Tage der Nefiguation noch zwanzig Tage 








24 Kanzleitaren. 


am Leben fein muß; flirbt er früher, fo ift die Nefignation ohne Wirkung und 
28 wird das Beneficium als durch den Tod erledigt betrachtet, 2) Die 20te Re— 
gel de idiomate, welche die Beftimmung enthält, daß der Beneficiat die Sprache 
desjenigen Landes rede und verfiehe, in welchem er ein Beneficium erhält, End= 
lich 3) die 35te Negel de annali possessore, wornad für den Fall, daß einem 
Benefieiaten feine Pfründe, in deren ruhigem Befige er bereits ein Jahr lang war, 
beftritten werden wollte, die Klage mit allen Beweismitteln binnen fehs Mo- 
naten bei dem eompetenten Gerichte eingebracht und der ganze Rechtsftreit inner- 
balb Jahresfrift entfchieden fein muß (cf. Gravam. trium archiep. etc. anno 1767 
ad Caesarem delata im Anh. zu Gratz, thes. jur. ecel. contin. p. 297), Commen- 
tarien zu den Ranzleiregeln gibt e8 von Gomez, Nebuff, Dumoulin, Chokier; 
die neueften find von J. B. Nigantius über die Ranzleiregeln von Clemens XH. 
Rom 1751. IV fol. Das Magazin für Staats- und Kirchengefchichte von J. 5. 
Le Bret (Ulm 1771—1787. Bd. I. ©, 605 ff. Bd. IL ©. 1.) enthält eine 
weitläufigere, übrigens vom Parteiftandpuncte aus gefärbte Abhandlung über die 
Geſchichte der römifchen Ranzleiregeln, foweit fie Refervationen enthalten, Vgl. 
Permaneder, Handbuch des Kirchenrechts. $ 171 u, 185, und $ 103, Ferd, 
Walter, Lehrbuch des Kirchenrechts. 9te Aufl. $ 125. [Khuen.] 
Kanzleitaxen (päpſtliche, biſchöfliche). Da der kirchliche Geſchäftsgang 
ein mehr oder minder großes Kanzleiperſonal nothwendig macht, iſt es ganz bil— 
lig, daß zum Unterhalte deſſelben auch diejenigen beitragen, die ſeine Dienſte in 
Anſpruch nehmen. Deßhalb war es auch von Anfang an üblich, daß man für 
beſondere Bemühungen daſſelbe durch freiwillige Geſchenke honorirte (ef. c.. 4, 
C. I. qu. 2). Schon Zuftinian erließ eine Verordnung (Nov. 123. 6.3.), wornach 
Erzbifchöfe und Bifchöfe neben dem Ehrengefihenf an den Ordinirenden, von 300 
bis 6 Solidi abwärts an Die Ranzleiperfonen zu entrichten hatten, Indeß Fam 
e8 bald vor, daß die päpftlichen Kanzleibeamten, fo Tange fie noch an Feine be- 
flimmte Norm gebunden waren, fich große Mißbräuche zu Schulden kommen ließen, 
indem fie fich durch abfichtliche Verzögerung oder Befchleunigung ihrer Erpeditiong- 
gefchäfte Geld zu erpreffen wußten, Um diefen Mißbräuchen vorzubeugen, wur— 
den von den Päpften für ihr Ranzleiperfonal beftimmte Taren feftgefegt, und die 
Einhaltung derfelben als des für die Ranzleigefchäfte gefeglihen Tarifs den Kanz- 
Yeibeamten zur firengen Pflicht gemacht. Johann XXI. erließ fon (1316) ganz 
in’s Einzelne gehende Beftimmungen, welche dieſes Verhältnig normirten c. un. 
Extrav. Joh. XXII. de sent. excomm. (13). Hieraus entwidelte fich eine ausführ- 
liche Tarordnung, welche öfters im Drucke erſchien; eine neuere som Jahr 1616 
findet fi) bei Rigantius, Commentar. in regulas Cancell. apost. Tom. IV. p. 145. 
Eine befondere Art diefer Ranzleitaren find die fogenannten servitia minuta, Kanz- 
Teifporteln, welche für die Verleihung von höhern und nievern Kirchenämtern in 
fünf Portionen an die Unterbeamten der römifchen Kanzlei zu entrichten find (ſ. 
den Art, Abgaben). Hinfichtlich der Gebühren, welche bei Ertheilung von Dis- . 
penfen zu entrichten und nach dem Stande und den Bermögensverhältniffen der 
Bittfteller normirt find, ift zu bemerken, daß biefelben nicht als vergeltliche Ab- 
gaben zu betrachten find, fondern einfach als Ranzleigebühren zur Beftreitung der 
auf der Dispensertheilung haftenden Auslagen, ähnlich den Sporteln und Stem- 
velabgaben bei der weltlichen Rechtspflege. — Obgleich das Triventinum es den 
Biſchoͤfen zur ftrengften Pflicht macht, Weihen und Dispenfen unentgeldlich zw 
ertheilen, und ihnen felbft die Annahme freiwilliger Gaben verbietet, fo ge= 
ftattet es doch ausdrücklich die Abnahme einer: entfprechenden Kanzlei- oder Ex— 
peditionsgebühr für Ausfertigung von Weihformaten, Dimifforien, Approbationen, 
Snveftituren, Ehe- und andern Dispenfen u. f. w. zur Guftentation des biefür 
nothwendigen Ranzleiperfonalg, wenn nicht anderweitig für daſſelbe geforgt ift 
(Sess. XXI. o. 1. de ref), Einzelne neuere Staatsregierungen haben Die Er— 


Kapelle — Kaplan. 25 


hebung von jeglicher Art von Taren ſowohl inländifhen als ausländiſchen geift- 
lichen Behörden verboten und die Beflimmung der Erpeditionsgebühren an der 
biſchoflichen Kanzlei für fich in Anfprad genommen, z. B. Baden, Würtemberg, 
bie beiden Heffen und Naffau in der Verordnung vom 30. Januar 1830. $ 22, 
 C£. Weiss, corp. j. ecel. hod. germ. cathol. pag. 317. [Khuen.] 
Kavpelle, ſ. Bethaus. 

Napernaum, ſ. Capharnaum. 

Kapitel, ſ. Capitel. 

"Kapitel und Verſe der Bibel, ſ. Abtheilung. 

SKapitular, f. Capitular., 

Kapitulation der Bifchöfe, f. Capitulation. 

Kaplan (Cappellanus), urfprünglich ein an einer Capelle angeftellter Seif- 
licher, der an derjelben den Gottesdienſt entweder fländig zu beforgen, oder zu=- 
gleich mehrere in einem Sprengel gelegene Capellen periodifch zu verfehen hatte, 
In den erften Zeiten der Kirche nämlich, wo aller Gottesdienft noch auf die bi— 
ſchöfliche Kirche befchranft war, geſchah es häufig, daß auf den Grabftätten der 
HI. Martyrer für die Privatandacht Bethäufer errichtet wurden, welche man Mar- 
tyrien nannte (f. den Art. Bethaus). Allein nicht bloß auf den Gräbern der 
Martyrer, fondern auch auf Landgütern und an folden Orten, die weit von der 
bifhöflichen Kirche entfernt waren, wurden Bethäufer errichtet, in welchen von 
einem dazu beftellten Geiftlihen der Gottesdienft gehalten wurde. Zur Zeit des 
Hl. Chryſoſtomus, der zur Errichtung folder Dratörien die Gläubigen aufmuntert, 
feinen diefelben Häufig gewefen zu fein. Die Benennung „Capelle” für diefe 
Dratorien ift zweifelhaften Urfprungs, indem man fie entweder von capsa oder 
capsella’ ableitet, einem Behälter, in welchem die Gebeine der Martyrer auf- 
bewahrt wurden; oder, wie Du Cange, von cappa oder cappella, einem Klei= 
dungsſtücke des HI. Martin. Jedenfalls bildete fih diefe Benennung zuerft im 
Frankreich und zwar nannte man fo den Ort, an welchem die fränfifchen Könige 
in ihrem Palafte die Reliquien des Hl. Martin aufbewahrten, dann überhaupt 
folge befondere Gebäude, in welchen Reliquien von Martyrern oder Heiligen 
aufbewahrt wurden. Da befanntlih der Hof mit feinem Sige wechfelte, und 
bald diefe, bald jene Provinz zu feinem Aufenthalte wählte, wurden immer zu— 
gleich auch die Reliquien des HI. Martin mitgenommen, für die in jedem Palafte 
ein befonderer Drt eingerichtet wurde, den man Capella nannte, Die an diefen 
fogenannten Eapellen angeftellten Elerifer, welche in denfelben das HI. Officium 
zu verrichten hatten, nannte man Cappellani. Sie waren alfo zunähft Das, was 
man heutzutage Hoffapläne nennt, Geiftlihe, die an der Föniglichen oder fürft- 
lichen Capelle den Gottesdienft zu beforgen haben (ſ. den Art. Hoffaplan). 
Die Benennung Capelle ging dann aber auch auf die Privatoratorien anderer 
Laien über, welche diefelben nicht felten zur-Suftentation eines eigenen Geift- 
lien und zur Beftreitung der Sabrif- und Eultfoften dotirten, Da jedoch viele 
Laien nicht im Stande waren, eine befondere Eapelle zu errichten und fie hin— 
Aänglich zu dotiren, wurden fpäter an größern, fowohl Pfarr- als Eollegiat- und 
kirchen Nebencapellen errichtet, oder auch bloß Altäre zur Ehre eines be= 
amten Heiligen oder zur Erinnerung an ein Ölaubensgeheimnig oder Wunder, 
für die Hiefür eigens angeftellten Priefter ein beftimmtes jährliches Einkom— 
men geftiftet. Hieraus entſtunden nun einfache Beneficien oder Raplaneien, welde 
man je nach dem Namen der betreffenden Capelle, des Altars oder Heiligen be— 
titelte, für die fie errichtet wurden. Der Inhaber eines ſolchen Beneftciums hieß 
dann Cappellanus oder Sacellanus. Nah Thomaffin (vet. et.nov. ececl. discipl. 
P. 1. Lib. III. c. 70. n. 10 sqg.) gehörten diefe Cappellani zu den niedern Chor= 
Be und hießen auch vicarii, portionarii, praebendarũ oder semipraebendarii. 
Sie hatten mit den Canonikern die Verpflichtung zum Chordienſt theils zu deſſen 















































26 Kaplan. 


Erleichterung, theils zur größeren Feierlichkeit deffelben. Sp wurde z. B. auf 
einer Synode zu Placentia im Jahr 1095 den Eanonifern verboten, zwei Canp- 
nicatftellen oder zwei Präbenden zugleich anzunehmen, und dem Propfte die Ver— 
pflichtung gemacht, wenn die Einfünfte der Capellen zur Suftentation der Ka— 
pläne nicht ausreichen, auf eine Vermehrung derfelben bedacht zu fein, Es wurden 
dann auch diejenigen Chordiener Cappellani genannt, die gerade ihren Unterhalt 
von feinem Beneficium (f. den Art, Beneficium ecclesiasticum) bezogen; 
fo erwähnen z. B. die Statuten der Kirche von Lyon vom Jahr 1251 außer ven 
höheren Canonifern und niederen Präbendaren noch zwölf Kapläne, die außer der 
täglichen Verpflegung im Nefeetorium Fein befonderes Benefictum hatten, Die 
Anfiht des Molanus, der auch Van-Eſpen beipflichtet, als hätten fih die Ka— 
pläne von den Canonikern Anfangs nicht einmal dem Namen nah unterſchieden, 
fofern fie mit denfelben die gleiche Verpflichtung zum Chorbienfte und deßhalb 
auch die gleiche Kleidung hatten, und als ob erft fpäter die Canoniker wegen ihres 
größeren Einkommens eine hervorragende Stellung über fie eingenommen, er- 
feheint als unbegründet. Nach Auflöfung der vita communis (f, die Art, Canv— 
niet und Eonpict) fingen die Canonifer allmählig an, theils aus Bequemlich- 
keit, theild wegen Uebernahme von Kirchen- und Staatsämtern fih vom dffent- 
lichen Chordienfte zurüczuziehen und beftellten fich hiezu einen Stellvertreter, die 
fogenannten Chorvicare, die man auch Kapläne oder Präbendate nannte, fofern 
fie eben eine Raplanei an der betreffenden Stifts- oder Domkirche als Präbende 
erhielten. Das Tridentinum hat in fofern das alte Verhältniß hergeftellt, als es 
Sess. XXIV. c. 12 de ref. den Canonifern den perfönlichen Chordienft wiederum 
zur Pflicht macht, und dadurch die Domfapläne oder Vicare wiederum in ihre 
urfprüngliche Beftimmung einfeßte, In Teutfhland wurden dieſe Domfapläne 


auch an den nemerrichteten und reorganifirten Hochftiftern beibehalten, und zwar 


zur Unterflügung des Chorbienfles, fowie zur Aushilfe in der Seelforge und zu 
anderweitigen Gefchäften, die ihnen der Bifchof auferlegen Tann. Ihre Zahl ift 
wie die der Canoniker an jedem Eapitel eine fire und jedem ein fixirtes Einfom- 
men zugewiefen (f. den Art. Chorvicare). — Wie mit den Raplaneien an den 
Dom- und Collegiatkirchen (ſ. d. U.) die Verpflichtung zum Chorbienfte verbunden 
war, fo Fnüpfte fich bei den an Pfarrkirchen oder befondern Eapellen noch die be— 


fondere Verpflichtung zur Darbringung des Hl. Meßopfers, daher der Name 


„Frühmeffer” (ſ. d. A.), und micht felten auch zur Paftoration überhaupt. Die 
Rapläne find demnach felbfiftändige Hilfspriefler, die ein eigenes abgejondertes 
Beneficium befigen — daher auch Beneficiaten genannt — welche die mit dem— 
felben verbundenen Obliegenheiten zu erfüllen haben. Ihre Anftellung ift wie 
die der Pfarrer eine definitive; fie find inamovibel und werden daher als folde 
prdnungsmäßig in ihre Stelle eingewiefen, Dem Pfarrer gegenüber find fie in 
der Ausübung der mit ihrem Beneficium verbundenen Seelforge unabhängig, find 
aber in foweit feiner Beauffichtigung unterftelit, als ihr Beneflcium in feiner 
Parochie Liegt und fie zur Aushilfe an der Pfarrkirche verpflichtet find. Nach den 
alten Eapitelsftatuten haben die Kapläne in der Negel diefelben Corporations— 
rechte wie die übrigen Capitularen, mit Ausnahme des paffiven Wahlrechts bei 
Capitelswahlen. Der Umftand, daß man mit dem Befige einer Kaplanei bloß 
die Verpflichtung des Meffelefend verbunden dachte ohne fonftige weitere Ver— 
pflihtung, gab zu der Anficht Veranlaffung, als fei e8 gleichgültig, wer bie 
Meſſe Iefe, wenn nicht auspdrücflich in der Stiftungsurkunde dieſes vom Inhaber 
des DBeneficiums verlangt werde, Sp fam es, daß diefer öfters einem Andern 
feine Verpflichtung übertrug und ihm von feinem Beneficium dafür das gewöhn- 
liche Honorar bezahlte, Zuletzt hielt fich der Beneficiat überhaupt nicht mehr zur 
perfönlichen Nefidenz verpflichtet, und es ging diefe Anfiht fo fehe in die Ge— 
wohnheit über, daß man die perfonliche Reſidenzpflicht auf dergleichen Kaplaneien 











Kappadoeien — Karäer. 27 


‚gar nicht mehr ausdehnte. Das Tridentinum hat diefe Gewohnheit in ſofern an- 
erfannt, als es (Sess. XXIV. c. 17 de ref.) geftattete, daß dem Inhaber eines 
Beneficiums, wenn daffelbe zu feinem flandesmäßigen Unterhalte nicht ausreiche, 
ein anderes einfaches Beneficium übertragen werden dürfe, wenn nicht beide 
zur perfönlichen Reſidenz verpflichten. Hiegegen proteflirten die Franzoſen und 
verlangten, man folle entweder nach dem Sinne der Stifter die Inhaber folder 
BDeneficien zur Aushilfe in der Paftoration verpflihten, oder aber dergleichen 
Beneficien zum Pfarreinfommen ſchlagen. Diefem Iegteren Vorfhlage wurde im 
foweit Rechnung getragen, ald man (Sess. XIV. c. 13 de ref. und Sess. XXI. 
6. 18 de ref.) die Unirung ſolcher Beneficien ald das erfte Mittel bezeichnete, um 
gering dotirte Pfarrkirchen aufzubeffern. Auch die Unirung derfelben mit gering 
dotirten Präbenden an Cathedral- und Eollegiatfirhen (f. d. A.) wurde den Bi- 
ſchöfen mit Einwilligung des Capitels geftattet, nur dürften fie feine Klofierbene- 
fieien fein. Zu bemerken ift noch, daß Stiftungen von Laien für beflimmte kirch— 
liche Functionen nicht als Beneficien zu betrachten find, wenn ihnen nicht vom 
Bifchofe der Titel eines Beneficiums verliehen ifl. Sie find als Laienftiftungen 
zu betrachten, und fünnen ohne bifhöfliche Inftitution einem Geifllihen nach dem 
Sinne des Stifters entweder vorübergehend oder fländig übertragen werden, — 
Bon den felbfiftändigen Kaplänen find zu unterfcheiden die nicht felbfiftändigen, 
die feine Beneficiaten, fondern bloß zeitliche Hilfspriefter des Pfarrers find (f. 
den Art. Hilfspriefter — vicarius temporalis). Ihre Amtsgewalt ift eine vom 
Pfarrer delegirte, fowie fie auch von diefem ihr Einfommen und ihre Verpflegung 
erhalten, Sie find amovibel und Fönnen vom Bifchofe jeden Augenbli ohne An- 
gabe des Grundes abberufen werden. — Vgl, Van-Espen, J.E., P. Il. Tit. 18. 
cap. 4. [Rhuen.] 

Rappadoeien, f. Cappadocien. 

SKapueiner, f. Capuciner. 

Kapuze, f. Cucullus. 

Karäer, Raraiten. So wird eine Secte der Juden genannt, welche im 
Gegenfag zu den Nabbaniten, die fih an Mifchna und Thalmud halten, vor— 
zugsweife der Schrift (K’ra oder Mifra) folgt *). Fragen wir über die Namens- 
beftimmung hinaus nach fihern Auffchlüffen nad der Entftehung, den eigenthüm- 
lien Lehren und Gebräuchen der Karäer, fo müffen wir zunächſt gänzlich auf 
eine Duelle verzichten, welche uns am nächſten flünde, nämlich die reiche, in un- 
zähligen Werfen uns zugängliche Literatur der rabbanitifchen Juden. Selbft fonft 
billige Männer, wie Meimonides, können ihren Unwillen trog aller Kürze nicht 
ganz bergen (ſ. die Stellen bei Burtorf, s. v. RI), die übrigen vereinigen 


mit der Kürze offenen, blinden Haß. Sp fchreibt Abrafam Ben Dior, „daß 
dieſe Keger nie ein Buch zur Vertheidigung des Gefeges, noch ein gelehrtes Werk, 
oder auch nur ein Gedicht hervorgebracht hätten, und dag fie flummen Hunden 
glichen, die nicht bellen fünnen.“ (S. de Roffi’s Wörterbuch s.v. Karai.) Bei 
folder Erbitterung mußten fih chriſtliche Gelehrte auf eigenem Wege über bie 
Karäer zu unterrichten ſuchen. Diefes gefchah mit befonderem Eifer am Ende des 
Uten und Anfang des 18ten Jahrhunderts, Erſt durch chriſtliche Gelehrte wurde 
% billigeres Urtheil vermittelt. Nachdem (1690) der Profeffor Peringer von 

Hienblatt durch Carl XL, König von Schweren, unter die in Polen Iebenden 





*) Maktizt (de Sacy chrestom. arabe_ ed. I. t.I. p. 160. t. II. p. 175) nennt . die 
Karaiten Benu Mikra, worunter er aber Kinver der Berfündung verfieht. Die Rabba— 


niten dagegen nennt er Benu Miſchna. (ira Ir ei *6 el Lola 
Beca)f I Bol. Maimonides zu Pirke Aboth f. 12. b. 


28 Karäer. 


Karäer geſendet worden war, um Erkundigungen über ihre Lehren und Gebräuche 
einzuziehen und Bücher derfelben anzufaufen (Beer, Gefchichte, Lehren u, f. w. 
Th. 1. ©. 196,), knüpfte Trigland, Profeffor in Leyden, eine Correfpondenz 
mit den gelehrteften Männern dieſes Befenntniffes an, woraus die diatribe de 
Karaeis hervorging *). Angeregt von den Anfragen des chriftlichen Profefforg, 
fhrieb Mordechai Ben Niffan (f. Roffi, S. 160) das Bud 157-0 777 Döp 
Mordechai, worin er die Gefchichte und das Streben der Karäer darzuftellen 
ſuchte. Diefes Werk gab Wolf 1714 Cheffere Ausgabe 1721) hebräifch und la— 
teinifch heraus, Ein Jahrhundert fpäter Ienften die Auszüge, welche Koſegarten 
aus dem an InD des Ahron Ben Elia gab (Libri Coronae Legis aliquot par- 
' ticulus primus edidit Kosegarten. Jenae 1824. 4.) die Aufmerffamfeit der Ge- 
Yehrten neuerdings auf die Literatur der Karäer. Bereits vorher hatte de Sacy 
in feiner arab, Chreftomathie mohammedanifche Schriftfteller in Anfpruch genom- 
men, um die Gebräuche diefer Secte zu erfennen, Auch jüdifche Gelehrte rabba- 
nitifchen Befenntniffes, wie Peter Beer, Zoft, Dufes, Geiger, haben fich mit 
ſchätzbaren Beiträgen angeſchloſſen. Das Meiſte Hat aber hierin in neuefter Zeit 
Franz Delitzſch, theild durch die Herausgabe des Ez Chajim von Ahron Ben 
Elia **), theils durch Auffäge im „Drient” gethan, Zwar mag es noch lange 
dauern, bis wir ganz vollfommene Kenntniffe von der Gefchichte, Literatur, wie 
den Lehren und Gebräuchen der Karäer haben werden, aber die Bahn iſt ge— 
brocdhen, Folgendes möge bier genügen. I. Urfprung. Die Karäer find aus 
einer Oppofition gegen die thalmudiſche Cafuiftif und die rabbanitifhe Hierarchie 
hervorgegangen. Eine folde Oppofition mag ſchon lange vorhanden gewefen fein, 
aber um die Mitte des achten Jahrhunderts der hriftlichen Zeitrechnung trieb fie 
in Bagdad der Jude Anan zum förmlichen Schisma. Das ift von mohamme— 
danifhen Schriftftellern, wie Mafrizi bei de Sacy (Chrest. ar. I. ed. tom. H. 
p. 169) und Schahraftani eben fo gut anerfannt, wie von Juda ha Leni im Coſri 
(ſ. Buxt. p. 193). Die Karäer heißen daher bei den mohammedäniſchen Schrift- 
ftellern Anänter ***), Die Anregung zur Trennung und der Antrieb zu ihrer wei- 
tern Ausbildung Fam jedoch nicht von innen, fondern aus dem Einfluffe, welchen 
die Motafalen, die rationalifirenden Erforfeher der mohammedanifchen Glaubens— 
fäße, unter den erften Abbaffiden ausübten, und von der Berührung mit gelehr- 
ten Chriſten. Das Erfte wird von Ahron Ben Elia felbft anerkannt, Das Zweite 
ift durch die Dertlichkeit fchon nahe gelegt, welcher die Wiege des Karäismus 
angehört, „Unter den Faräifchen Gelehrten find mehrere der berühmteften aus 
Baßra, feit Omar der Rivalin von Kufa und aus Bagdad, wo feit der Dynaftie 
der Abbaſſiden Ehriften die Wiffenfchaften Iehrten, und fett Mamun der Hauptfig 
mobammedanifcher Gelehrfamfeit war” (Delitzſch, Prolegom, zu Ahron ©, L). 
Doch würde die naheliegende Möglichkeit, mit gelehrten Chriften in Be- 
rührung zu fommen, nicht hinreichen, wenn wir nicht ein poſitives Zeugniß hät- 
ten, wie es uns Schahraftani gibt: „Einige von ihnen (den Karäern) find der 
Anfiht, Iſa (Jeſus) felbft habe nicht den Anfpruch gemacht, daß er ein gefende- 
ter Prophet und der Stifter eines Geſetzes fei, welches das Geſetz des Mufa 





*) Bgl. Jo. Gottfr. Schupart, Secta Karaeorum dissertationibus aliquot hi- 
storico-philologieis adumbrata. Jenae 1701. Delitzſch, Lit.Bl. des Orients 1840, 
Nr. 40, nennt dieſes Werk nicht ungelehrt, aber pfauenhaft ausftaffirt und ſchwülſtig ge— 
fihrieben. 

*) on 79 Ahron ben Elins aus Nicomedien des Karäers Syſtem der Neligiond- 
philofophie. - Leipz. 1841. Barth. 

ER) —A Schahraſtani ed. Cureton. t. I. ©. 167. Die Karaiten ſelbſt wollen 
aus Esra’d Zeit herſtammen; Maimonives und andere Nabbaniten bringen fie mit vor— 
hriftt, jüd, Serten in Verbindung. ©. Buxtorf s. v. NP 


Karäer. 29 


( Moſes) auflöfe, ſondern daß er zu den Freunden Gottes gehöre, welche ein 
gottesfürchtiges Leben führen und mit den Sagungen der Thora vertraut find. 
Sie fagen ferner: die Jahüd (Juden) haben Unrecht begangen, da fie ihn zuerft 
für einen Lügner erffärten, dann feine Berufung nicht anerkannten und ihn zu- 
lest tödteten, und dann feine Stellung und Abfiht verfannten, In der Thora 
kommt an vielen Stellen die Erwähnung von Al-Mafchiah vor, und das ift der 
Maſih (Meffias), aber die Prophetie und das abrogirende Geſetz wird ihm nicht 
verheißen; es kommt vor der Paraclita (Tagaxinros), und das ift der wiffende 
Mann, und auch im Evangelium fommt feine Erwähnung vor; es ift dieß aber 
nothwendig auf Dasjenige zu beziehen, was eingetroffen ift, und auf denjenigen, 
welcher diefes allein als feine Wirklichkeit in Anfpruch genommen.” (Nah Haar- 
brüder, Vgl. de Sacy Chr. ar. £. I. p. 361. II ed.) Solches Eingehen auf die 
Grundlehren des Chriſtenthums fest eine Berührung voraus, welche das thal- 
mudifhe Judenthum abfihtlih durch mehr als ein halbes Fahrtaufend vermieden 
zu haben ſcheint. — II. Literatur. Leider befigen wir von den älteften Karäern 
fein fchriftliches Denfmal, obwohl es nicht an Schriftftellern fehlte; ſchon der 
Stifter ihres Befenntniffes, deffen Grundfag war: „Forſchet tühtig in der 
Schrift“ Hraw anna wen. ©, Dufes, literaturhiſtor. Mittheilungen 
1.93). Stuttg. 1844. ©. 26.), hat mehrere Werfe gefchrieben, Im zehnten 
Jahrhundert zeigt fih eine große Rührigfeit unter feinen Jüngern, und wenn e$ 
wahr ift, daß der Karäer Salomo ben Jeruham der Lehrer des Saadia war *), 
fo hat die Neuerung den Anhängern des Alten unfhäsbare Dienfte geleiftet. Jo— 
ſeph Ha Maor aus Kirkeſia Cum 930) und Joſeph Ha Noe (777) bildeten die 


Dogmatif aus (f. Delitzſch, Ahron, Proleg. II. und S, 313); Jacob Reuben 
die Eregefe (Roffi S. 139); befonders ragte am Ende des zehnten und Anfang 
des eilften Jahrhunderts R. Japhet Ha Levi CH>7 n27) hervor (Roſſi ©. 137 
und 3. Delitzſch, a. a. O. ©. 314. 319). Die Karäer können fhon darum 
ſtolz auf ihn fein, weil er zu den Lehrern des Aben-Esra (f.d. A.), alfo 
eined Mannes gehört, den an umfaffender Bildung unter den Rabbaniten nur 
Maimonides übertreffen möchte, Der Karait Juda Hodafji glänzte um 1148 durch 
feltene Kenntniß der Naturwiffenfchaft, der griechiſchen und arabifchen Sprache. 
Sein Eſchkol Ha Kopher liegt zu Leyden, wo fich überhaupt die reichſte Samm- 
fung karaitiſcher Schriften findet, wenn man die Bibliothefen Südrußlands aus- 
nimmt **), Im zwölften Jahrhundert machte ih Ibn Alfarag (de Roffi ©, 
36) durch feine mit glüdlihem Erfolge gefrönte und zahlreiche Befehrungen her- 
vorrufende Bekämpfung des NRabbanismus befannt. Als Apologet des Zuden- 
thums nah der Auffaffung der Karäer bat ſich bleibenden Nachruhm gefichert 
Ahron Den Elia***) aus Nicomedien dur fein im J. 5106 (1346) voll- 
endetes und von Deligfch edirtes Werk Ez Chajim. Sein nomofanonifhes Buch 
 nr2n d würde einer Publication wohl eben fo würdig fein, da wir durch das⸗ 
ſelbe zur nähern Anfchauung der Faräifhen Obfervanz gelangen würden. Bon 
den übrigen, durh Dod Mordechai befannt gewordenen Faraitifhen Schriftftellern +) 
erwähnen wir nur noch Einen, ald den vielleicht tüchtigften Gegner des Chriften- 
thums, welchen das fpätere Judenthum hervorgebracht hat, nämlich Iſaac Ben 
Abraham Troki (blühte um 1600). Diefer und nicht ein Rabbanite ift nämlich 





.„ 7) Dod Mordechai (Wiener Ausgabe f. 11. b.). Das Saadia fpäter gegen die Ka— 
rãer polemifitte (f. Dukes, a. a. O. ©.33 ff.), fann obige Behauptung nicht enikräften. 
* Weber den von Aben-Esra öfters citirten R. Jeſchua f. Delisfh, Ahron ©. 315. 
311. und Roffi ©, 155. 
=), Ihm War ein anderer Ahron, Ben Joſeph, Berfaffer des nano, + 1294 als 
Apologet, namentlich gegenüber dem Maimonides und Ha Levi, vorangegangen. 
+) Die andern f. in Dod Morvechai, over in kurzer Faflung bei de Koffi, ©. 158. 
247, 58, (die beiden Beſchitzi) ©, 27, 206. 271, 24. 117, 160, dann ©, 38, 122, 250. 213, 


30 Karäer. 


der Verfaſſer des von Wagenſeil in den lela ignea Satanae — leider ziemlich 
fehlerhaft — edirten Buches Tas par, wie ſchon Wolf in der zweiten Aus- 
gabe feiner notitia Karaeorum, I. Ausg, 1721. und bibliotheca hebraica tom. IH. 
p. 545. dargethan hat*), — II. Wohnfige, Man muß die Fruchtbarkeit der 
Karäer an trefflihen Schriften um fo mehr anerfennen, da diefelben nur wenige Ge— 
meinden haben. Db es an ihren älteften Sigen im alten Babylonien noch welche 
gibt, weiß ich nicht; feit dem Verfalle des Kalıphats finden fie fih vorzüglich in 
Kairo, Konftantinopel und nahe dabei, wie in Nicomedien, in der Krim **) und 
in Polen, — IV. Der Unterfhied zwifchen den Karäern und Nabbani- 
ten, d. i. rabbinifchen vder orthodoren Juden (f. Judenthum), reducirt ſich auf 
wenige, aber einflußreiche Puncte, wenn man die Sache mit den fpeeulativen 
Augen des Ahron Den Elia anfieht, welcher denfelben in feinem eregetifchen Werfe 
Syn In» in folgenden drei Momenten findet ***): Der erſte Controvers- 


punct betrifft die Tradition, Man fann fih nah den Kardern feinen Grund 
denfen, warum der Öefeßgeber von vornherein einige Gebote zur Niederfchrei= 
bung für geeignet, andere, die doch practifhen Inhalts find, dazu nicht für 
paffend befunden haben ſollte. Auch fehließt die Ermahnung of. 1, 8. die münd- 
liche Ueberlieferung aus, Demnach gibt es fein verbindliches Gebot, das bloß 
mündlich überliefert wäre und nicht in der Thora verzeichnet if, Der zweite 
Eontroverspunct betrifft die Auslegung der Thora nad der Tradition, 
Die Karäer erkennen feine Auslegungsnorm der Schrift außer ihr felber an. 
Denn die Schrift folgt dem recipirten Ausdruf, und diefer muß dem intendirten 
Sinne, gemäß dem Zufammenhang zwifchen Wort und Gedanken, entſprechen; 
die Schrift ift daher wörtlich zu verfiehen und den Gefegen der Togif und Gram— 
matif gemäß auszulegen, es fei denn, daß 1) der Wortfinn der finnlihen Wahr- 
nehmung offenbar widerftritte, oder 2) durch intellectuelle Gründe fi unabweis- 
lich als falfch herausftelte, oder 3) im Widerfpruch mit andern Schriftftelfen ftände, 
oder A) durch analoge Schriftftellen felbft umgedeutet würde. Der dritte Contro— 
verspunet betrifft die VBollftändigfeit und Zulänglichfeit der Schrift, welche von den 
Nabbaniten durch Geltendmachung der Tradition in Abrede geftellt, von den Ka- 
räern aber behauptet wird, „Die Schriftforfhung, nicht die Meberlieferung, iſt 
das primäre Prineip der thepretifchen und practifchen Theologie” Ca. a. O. Nr. 39, 
S, 610). Da jedoch auf folde Art die Negel des Glaubens etwas ſehr Un— 
fiheres wird, fo halten die Karäer nad) Ahron am consensus ecclesiae feſt; e$ 
gibt demnach drei Erfenntnifgründe der Neligion nach karäiſchem Begriffe: 


I. 21037 die Bibel; I. wpr77 rl] der Schluß, die Vernunft; III. Yıapr 





BAD I, 75 : 
Kost eu>T bie Uebereinſtimmung ber Religionsgenoffenfhaft. „In den Um— 
£ 


fang diefes dritten Begriffes der fonagogalen Webereinftimmung wird auch 
der der Weberlieferung (7Fn>7) aufgenommen” (Ahron, proleg. V.). Die 
Hauptfefte Haben die Karder mit den rabbanitifhen Juden gemein, obwohl 
fie mandes eigenthümlich berechnen (ſ. Mafrizi bei de Sacy 1. c.). Hinficht- 
Yih der Schlahtung der Thiere CTonw) hat ſchon Schahraftani eine Eigen- 
thümlichfeit angemerkt. (Vgl, über die mund 77 Lit.-Bl. d. Dr, 1840, 





*) Nah P.I. c. 42. ©. 342 bei Wagenfeil ift das Werf im 3. 5375, d. i. 1615, 
verfaßt. Demnad find die Daten bei Roſſi zu berichtigen. 

**) Bol. 3. B. in Lemberg: „Etwas über die Karäer in der Krim.“ Lit.Bl. des 
Drients 1840, Nr. 28. ©. 442 f,; auh R. Samuelis Sancti Fil. Davidis Jemsel Judaei 
Karraitae itinerarium bet Wolf, biblioth. hebr. II. p. f081 sqq. 

*##) ©, Delitzſches Abhandlung: „Die Hauptoifferenzen zwifchen Karäern und Nabba= 
niten, nach Ahron Ben Elia's Borrede zu feinem Pentateuh — Commentar.“ Lit.Bl. 
des Drients 1840, Nr. 32, 34, u, 39, 








Fr en Du u 





Karantanen — Karg. | 3 


Nr. 16. 18. 239. 30. 31.) Ihr Symbolum ift nah Joſt (VE 39.): I. die Welt 
ift erſchaffen. IL. Ueber fie Herrfcht ein unerfhaffener Schöpfer. III. Gott ift ge= 
Faltlos und einig. IV. Mofes ift von Gott gefendet. V. Mofes hat von Gott 
das Gefeg erhalten. VI. Der Gläubige muß das Geſetz in der Urfprache fennen 
lernen, VI. Auch die übrigen Propheten find von Gott infpirirt. VII. Es gibt 
eine Auferfiehung. IX. Es gibt eine Belohnung des Guten und Beftrafung des 
Böfen, X. Goit hat die Unglüclichen nicht verworfen, er will fie nur beffern; 
fie müffen fich täglich der Erlöfung dur den Meffias, den Sohn Davids, wür- 
dig machen, — Ahron Ben Elia nimmt die Anfiht an, daß Jene, welche eben 
ſo viel Gutes wie Böfes thaten, vernichtet werden. Ez Ehajim €, 112. ©, 
205. — Die Lehre vom Meffias tritt im Syſteme des Ahron wenig hervor *), 
gehört aber fiher zu den Faräifchen Glaubensartifeln, Elia Befhigi (+ 1490) 
bat in feiner Darftellung des farätfchen Glaubens und Ritus (Adereth Elia, de 
Roffi S,58) Hinlänglich davon Zeugniß gegeben. (Vgl. Trigland diatribe c. X.) 
Für die neuere Zeit gibt das Munimen fidei (778 prın) von Trofi das be— 
flimmtefte Zeugniß von der Erwartung des Meffias unter den Raräern (Ed. Wa- 
genseil p.43.45.). Die Lehrer der Karäer heißen Chafam (Dan, d. i. der Weife); 
fie erhalten ftatt der Cohanim den Löfepreis für die Erftgeburt (f. Jo ſt IX. 95, 
und den Art, Erfigeburt), Mebrigens leben unter ifnen Männer, welche fich 
der Herkunft von Levi und Ahron rühmen und diefelbe durch Stammregifter zu 
beweifen ſuchen (daſ. vgl. d. Art. Cohen). Ueber das Ritual und Gebet- und 
Bortragswefen belehrt und Zung: „Ihre heutige Gebetordnung, in der felbft 
manches rabbinifhe Stück einen Plag gefunden, ftammt aus den Testen Jahren 
des 13ten Säculums, und ihre meift aus Bibelverfen zufammengefegten Gebete 
ſind feit etwa 700 Jahren mit vielen poetifchen Zuthaten genannter und unge= 
nannuter Autoren bereichert worden. Sie vollenden den Pentateuh in einem ein- 
jährigen Eyflus, aber nach einer von der rabbinifchen abweichenden, einem Schü- 
ler Anand zugefchriebenen Ordnung .... Die zur Thora Gerufenen Iefen zu» 
weilen felber aus der Schrift vor; die Haftara’s find compilirte Bibelabfchnitte, 
fie werden bei den Gemeinden in Polen und der Krim in der tatarifchen Sprache 
gelefen. .... Bei Familienfeierlichfeiten, am Sabbat und fonft einige Male wer— 
den religiöfe Vorträge gehalten, und wie bei den übrigen Juden heißt ein folder 
Redner „Darfhan.” S. gottesdienftl. Vorträge S. 426. [Yaneberg.] 

SKarantanen, f. Kärnten, 

Sardinal, f. Cardinal. 

SKarena (Carena, Carrina) ift eine vom Bifchofe oder Kloftervorftande 
- größern Sündern auferlegte vierzigtägige Bußzeit, während welder der Gläu— 
bige ein firenges Faften einhalten mußte, nur Brod und Waffer genießen durfte, 
ja mitunter fogar eingeferfert wurde. Im Mittelalter wurden manchen Ehriften 
- fünfzig, Hundert und noch mehr Karenen ald Buße auferlegt. Der Name „Carena* 
leitet fih entweder von Quadragena ab, oder ift fynonyın mit Garentia; im erftern 
Falle deutet er die vierzigtägige Dauer der Bußzeit, im zweiten die große Strenge 
an, vermöge der ein Büßer fich faft aller Genüffe zu enthalten (Carere) hatte, 
Bol. das Gloffarium von Du Cange. 
Karg, Georg, Gegner der Iutherifhen Imputationslehre, ge— 
boren 1512 zu Heroldingen in Graubündten, wurde 1538 in Wittenberg Ma- 
Hifter und im darauffolgenden Jahre von Luther und Melanchthon zum Prediger 
in Dettingen ordinirt. Obwohl vorherrfchend der melandthonianifhen Richtung 
angehörig, benahm er fih doch zur Zeit des Interims als eifriger Lutheraner, 
wurde von Dettingen vertrieben und fam als Pfarrer nah Schwabach, als wel- 





=) Deligf rolegom. S,XL Die Karäer beten fleißig für die Abgeftorbenen. 
er all 9 * — 


32 Karl — Kärnthen. 


eher er an der Spige mehrerer Prediger flund, die fih einem in Rückſicht auf dag 
Snterim der Agende beigegebenen „papiftifchen” Anhang widerfegten. Bon Schwa- 
bach Fam er 1553 als Paftor nah Ansbach und wurde Generalfuperintendent 
über das Fürſtenthum Baireuth. Er farb 1570. Karg ftritt nicht bloß gegen 
das Interim (ſ. d. 4). In feinem für die Ansbacher Gemeinde verfaßten Ka— 
techismus laßt er die Frage thun, „ob Chrifti Leib, indem er geiftlih genoffen 
wird, in den Magen komme?” und antwortet darauf „Nein,“ Darüber zerfiel 
er mit dem Dechant Tettelbach von Ansbach und entfpann ſich eine Teidenfchaft- 
liche Controverfe, verftärft durch Hilfstruppen auf beiden Seiten, Bon viel 
größerer Bedeutung ift, daß er gegen die Intherifche Imputationslehre in die 
Schranken trat, wie fie fih zur Zurechnung auch der activen Gerechtigkeit 
Chriſti fortgebilvet hatte, d.h. gegen die Lehre, dem Menfchen werde Chrifti 
perfönliche Geſetzerfüllung und Gerechtigkeit als etwas flatt feiner Geleiftetes 
dergeftalt zugerechnet, als ob er felber das ganze Geſetz auf's Volffommenfte er- 
fülft Hätte, wenn er e8 auch nicht bloß nicht erfüllt, fondern theilweife oder auch 
ganz und gar übertreten und dagegen gehandelt hätte, Mit Recht trat Karg gegen 
diefe unbiblifche und antinomifche Lehre auf; nur das könne man mit Wahrheit 
fagen, daß uns der Gehorfam, die Gefegerfüllung Chrifti zu unferer Erlöfung 
gefchenft werde, d. h. eine verdienftlihe Kraft habe, und dadurch auf unfer 
Verhältniß zu Gott und unfere Erneuerung einwirfe, aber uns nicht der Pflicht 
enthebe, felber fromm und gerecht zu fein, Gegen Kargs Doetrin erhob zuerft, 
und zwar mit großer Heftigfeit öffentlich von der Predigtfanzel herab der Pre- 
diger Ketzman in Ansbach 1569 großes Gefchrei und bewirkte, daß der Marf- 
graf zu Kargs Befehrung einige Wittenberger Theologen fommen ließ, die jedoch 
nichts ausrichteten. Und nun Fam es fo weit, daß mehrere proteftantifche Fürften 
dem Markgrafen zufchrieben, er folle den Irrlehrer ftrafen, und daß das gefammte 
proteftantifche Teutfchland Kargs Ketzerei verabfheutel Karg fah jegt wohl, wie 
ihm nur die Wahl zwiſchen Abfegung oder noch Schlimmerem und Widerruf übrig 
blieb; ex widerrief alfo. Die nächſte Folge diefes Streites war, daß die Iuthe- 
rifche Smputationslehre in der Eoneordienformel nur defto forgfältiger und ge- 
nauer ausgeprägt wurde; fpäter jedoch fand Kargs Anficht bei einigen caloinifhen 
Theologen Eingang. Um die Darftelfung diefes Streites hat ſich Döllinger in 
feinem Werfe: die Reformation, ihre innere Entwidlung ꝛc. beſonderes Verdienſt 
gefammelt; f. dafelbft Bd, II. ©, 556 ze, und Anhang S, 15 0, [Schrödl,] 

Karl, f. Carl. 

Karl von Borromäp, ſ. Borromäus. 

Karlitadt, ſ. Carlftadt. 

Karmeliterprden, f. Carmeliterorden, 

Karneval, f. Faſtnacht. 

Kärnthen, i. e. bier das alte Rarantanien, Chriſtenthum und Bis— 
thümer daſelbſt. Die Länderftrihe, in welche die Karantaner-Slaven feit der 
erften Hälfte des fiebenten Jahrhunderts eingewandert waren, und welde das 
jeßige Rärnthen, Steiermark und Krain umfaßten, hatten fehon zur Römerzeit 
das Licht des Evangeliums, vorzüglich von Aquileja her, empfangen, allein der 
Sturm der Völferwanderung und die Beſitznahme diefer Gegenden durch bie 
heidnifchen Rarantanen machten eine zweite Belehrung nothwendig. Schon vor 
der planmäßigen Chriftianifirung der Karantanen durch ihre Berührungen mit 
Bayern und der Salzburger Kirche hatte der hl. Amandus (f. d. A.) einen, wie= 
wohl vergeblichen, Verſuch gemacht, unter ihnen das Chriſtenthum zu verbreiten, 
und nachher foll der HL. Rupert, Apoftel der Bayern (f, den Art, Bayern wird 
hriftlich), das Bekehrungswerk begonnen haben, Bedeutender und größer wur- 
den die Erfolge feit Mitte des achten Jahrhunderts, Als nämlich die Avaren 
({. die Art, Ab aren, Hunnen) den Rarantanen unter ihrem Herzoge Boruth 








Kärnthen. 33 


ſtark zufegten, fuchten die legtern bei den benachbarten Bayern um 748 um Hilfe 
nad. Die Bayern famen, befiegten die Avaren, unterwarfen Rarantanien der 
fränkiſchen Herrfchaft und Fehrten mit Geißeln der Karantanen nah Bayern 
zurück. Unter den Geißeln befanden ſich Cacatius, Sohn, und Chettimar, Neffe 
des Herzogs Boruth, welcher beide im chriſtlichen Glauben erzogen wiffen wollte, 
wie auch geſchah, indem beide Prinzen zu Salzburg oder Chiemfee (f. den Art, 
Ehiemfee) chriſtlich unterwiefen und getauft wurden. Nah Boxuth's Tod 750 
warb der bereits Chrift gewordene Cacatius, welchen die Karantanen fih zu 
ihrem neuen Fürften erbaten, von den Bayern in die Heimath zurüdgefandt, wo 
er ſchon 753 ftarb, ohne daß man weiß, was er unter den Seinigen für das 
Chriſtenthum gethan. Dem Cacatius folgte in der Regierung Boruths glaubens- 
eifriger Neffe Chettimar, dem bei feiner Nüdfehr aus Bayern nah Raran- 
tanien der Salzburger Priefter und Vorſteher der Inſel Chiemfee, Lupo mit 
Namen, Chettimars Taufpathe, den Presbyter Majoran, feinen Neffen, mitgab, 
Ehettimar nun nahm fih um die Befehrung feines Volkes mit allem Ernfte an, 
Nachdem die Hriftlihe Religion bereits bedeutende Fortfhritte gemacht, erfuchte 
er den Bifhof Virgilius von Salzburg (ſ. d. A), zur Stärkung der Ehriften 
im Glauben perfönlih nah Karantanien zu fommen, Statt feiner ſchickte Virgil 


den Chorbifhof Modeftus mit vier Presbytern, einem Diacon und mehreren 


niedern Elerifern, und ertheilte ihm die Vollmacht, Kirchen und Geiftlihe zu 
weihen. Unter den Kirchen, die auf diefe Weife entflanden und von Modeftus 
geweiht wurden, werden ausdrüdlich genannt: die Kirche der hf. Maria (wahr- 
fheinlih Mariaſaal, nicht weit von Klagenfurt), die Kirhe zu Liburnia (wohl 
Ziburnia, ehemalige Hauptftadt von Noricum), und die Kirhe zu Undrimä, 
Modeftus ftarb bald und wird noch Heute als Apoftel Kärnthens verehrt; die ihm 
nad Rarantanien mitgegebene Geiftlichfeit Fehrte nach feinem Tode nah Salz— 
burg zurüf, Neuerdings erfuchte aber Chettimar den Birgilius, in eigener Per- 


ſon nad Karantanien zu fommen, diefer fohlug jedoch die Bitte abermals ab, 


denn eine Empörung war bei den Rarantanen ausgebrochen, wie es fcheint, wegen 
des Chriſtenthums, deffen allfeitige Einführung einem Theile der Karantanen 
verhaßt war, Einen Priefter aber fendete Virgil doh ab, und nach gedämpftem 
Aufruhr noch ein Paar andere. Mit Chettimars Tod (+ 769) brach der Auf« 
fand mit verflärfter Macht hervor, und in Folge deffen befand fich einige Jahre 
gar Fein Kriftliher Miffionär im Lande, Endlich wurden die Empörer von dem 
Bayern-Herzog Taffilo im J. 772 überwältiget, und feitdem nahm die weitere 
Verbreitung des Chriftenthums einen ruhigeren Verlauf. Der neue Fürft Wal- 
tung bat bei Virgil wieder um Priefter und Geiftlihe und erhielt fie. — Nah 


dem Tode Virgils (+ 784) vollendete Bifchof Arn von Salzburg (f. d. A.) und 


deffen Nachfolger Rarantaniens ChHriftianifirung. Auch Arn ſchickte Priefter zu 


- ben Rarantanen und den benahbarten SIaven: unter den letztern verſteht 
Kopitar die übrigen Slaven „qui e Norico releguntur per totam Pannoniam“ mit 
Ausnahme des heutigen Slavoniens und Sirmiums an der untern Drau, und 
zum Theil auch der carniolifhen Slaven, welch’ Iegtere von Aquilefa aus bekehrt 


worden find, Hatte früher Herzog Chettimar, der fogar alljährlih aus Andacht 
die Kirche zu Salzburg zu befuchen pflegte, die Sache des Chriftentfums mächtig 
gefördert, fo eiferte jegt Herzog Ingo dafür (in der Taufe etwa Domitian ge= 
nannt? f, Hanfiz Germ. s. II, 104). Allgemein wegen feiner Klugheit und Ge- 
rechtigkeit Hochverehrt, ließ Ingo felbft Knechte, wenn fie Chriften waren, mit 
fih an der Tafel figen und in goldenen Gefäßen bedienen, während er ihren 
heidnifhen Herrn außerhalb des Speifefaales Brod, Fleifh und Wein in 


ſchlechten Geſchirren auf die Erde hinfegen-Tieß, weil fie gleicher Ehre mit den 


Ehriften unwürdig wären, Dadurch bewogen, wendeten ſich viele von den Vor— 


nehmern der hriftlihen Religion zu. Um diefe noch mehr in Aufnahme zu brin- 
3 


Kirchenlexikon. 6. Bd. 


34 Kärnthen, 


gen, ging Biſchof Arn felbft, nachdem er 798 das erzbiſchöfliche Pallium empfan- 
gen, auf Geheiß Carls des Großen in das Gebiet der Karantanen und nad 
Niederpannonien, um zu predigen und das Kirchenwefen zu ordnen, namentlich 
auch bei den aus Carls fiegreihen Schlachten noch übrig gebliebenen Hunnen ; 
andererfeit$ legte Carl ſowohl im materiellen als im hriftlichen Intereffe im vor⸗ 
maligen Avaren- oder Hunnenreiche nicht nur, fondern au in Rarantanien zahl- 
reiche teutfche, vorzüglich bayerifhe Eolonien an, worin ihn feine Nachkommen 
nachahmten. Aus Karantanien und Pannonien zurücgefehrt, ftellte Arn dem 
König vor, es könnte in jenen Öegenden mit großem Erfolg für das Chriften- 
thum gewirkt werben, wenn Jemand an Ort und Stelle die Sache recht ernftlich 
betriebe, und fchlug einen hiefür tüchtigen Mann in der Perfon des Priefters 
Theoderich vor, den Arn mit Carls Bewilligung zum Bifchof weihte und mit 
der Verwaltung des bifchöflichen Amtes im Namen der Erzkirche von Salzburg 
bei den Slaven in Karantanien und Niederpannonien beauftragte, Was übrigens 
in Virgils und Arnd Tagen auch durch die Einflüffe des zur Römerzeit durchaus 
riftlihen Bodens und von Seite der Kirche von Aquilefa für Karantanieng 
Ehriftianifirung gefihah, weiß man zwar des Nähern nicht, weil der um 873 von 
einem Salzburger Geiftlihen verfaßte Bericht über die Befehrung der Karan— 
tanen und der benachbarten Slaven nur die Thaten der Miffionäre von Salzburg 
aufführt, allein ficher ift auch von daher beigetragen worden; darauf mag auch 
der Streit zwifhen Erzbifchof Arn und dem Patriarchen Urfus von Aquileja über 
das Didcefanreht in Karantanien hindeuten, obgleih Aquileja fein Recht nur 
auf das frühere Beſitzthum vor dem Einfall der Longobarden fügte. Diefen 
Streit entfchied Kaifer Carl im J. 810 dur die Beftimmung, daß die Drau die 
Grenze zwifchen beiden Sprengeln bilden follte, Bon Paffau aus ſcheint zwar 
nicht für die Belehrung der Rarantanen gewirkt worden zu fein; aber den Slaven 
und Hunnen in Niederpannonien predigte ſchon feit 805 Bifchof Urolf von Paſſau; 
über die daraus und wegen des Metropolitanrechtes entftandenen Controverfen 
zwifchen den Bifchöfen von Salzburg und Paſſau f. die Art, Bayern, GSalz- 
burg, Paſſau. — Nah Arns Tod (+ 821) fendete deffen Nachfolger Erzbifchof 
Adalram an die Stelle des verftorbenen Bifchofs Theoderich den Biſchof Otto, 
und Erzbifchof Liupram fohickte nach Otto's Tod (4 853) den Bifhof Oswald 
als feinen Stellvertreter nach Rarantanien und Slavonien. Al aber Oswald im 
J. 865 mit Tod abging, ftellte Erzbifhof Adel win feinen ſolchen Vicebiſchof 
mehr auf, wahrfcheinlich weil fih das Unterordnungs-Verhältniß diefer Bifchöfe 
unter die Erzfirche Salzburg etwas gelodfert hatte (ſ. Decret. Grat. p. I. dist. 50. 
c. 6. u. 39) 5 ftatt deffen übertrug Adelwin die bisher von den Vicebifchöfen ge— 
führte Oberaufficht in der Eigenfchaft eines Archipresbyters dem in jeder Kunft 
und Wiffenfchaft ausgezeichneten Priefter Altfrid. Dagegen dauerten bie, man 
weiß nicht gerade feit wann, auch in Norbfarantanien von den Salzburger Erz- 
bifchöfen aufgeftellten Bicebifchöfe noch im zehnten Jahrhundert fort, hörten aber 
dann hier gleichfalls auf, — Eine wichtige Veränderung traf Erzbifchof Geb- 
bard, Er errichtete zum Behufe einer befferen Paftorirung im J. 1072 das 
Bisthum Gurf (ſ. d. A) und vereinigte Damit das Generalvicariat über Kärn— 
then und Steiermarf, Dabei blieb es bis zum Jahr 1217, in weldem Er z— 
bifhof Eberhard II., nachdem er das Bisthum Chiemfee errichtet hatte (f. den 
Art. Chiemfee), den Grund zur Errichtung des Bisthums Seckau in Steier- 
marf legte. Zum Site diefes Bisthums beſtimmte Eberhard II. das Chorherrn- 
ftift zu Sedau, deffen Kirche die Cathedrale und deffen Conventualen zugleich die 
Domcapitularen des neuen Bisthums wurden, Kaiſer Friedrich II. und Papft 
Honorius III. beftätigten die Stiftung, und jener geftattete zugleich, daß der jedes- 
malige Bifchof von Serau gleich den Bifchöfen von Gurk und Chiemfee, un- 
gearhtet ihrer befondern Abhängigfeitsverhältniffe von der Erzkirche Salzburg (ſ. 





Kärnthen. 35 


Chiemfee), zum Prälaten- und Fürſtenſtande des Reiches gehören ſollten. In— 
def fowie das Bistyum Gurk, fo war auch das von Sedau von einem geringen 
Umfange und enthielt Anfangs nicht mehr als fieben Pfarreien; dazu Fam aber 
das Generalvicariat über Steiermark, weldes jegt vom Bisthum Gurf abge- 
trennt und auf Sedau übertragen wurde. Zum erſten Biſchof von Seckau ward 
Carl, ehedem Propſt des Chorherrnftifts zu Frieſach, eingefegt, der dem Bis⸗ 
tum 1219—1231 rühmlich vorftand. Zu diefer Stiftung fügte Erzbifchof Eber- 
hard bald eine neue. Er ftiftete im 3. 1228, um eine noch beffere Verwaltung 


der Salzburger Didcefe befonders in dem fehr gebirgigen Kärnthen zu bewirken, 





auch no das Bisth um Lavant mit dem Sige zu St. Andrä im Lavantthale, 
und vereinte damit das Generalvicariat über Kärnthen, welches jedoch nicht immer 
mit avant verbunden blieb, fondern je nach Gutbefinden der Erzbifhöfe von 
Salzburg bald dem Bifhofe von Gurk, bald und im 16ten Jahrhundert immer 
dem Biſchof von Lavant übertragen wurde. Der füdlihe Theil des alten Karan- 
taniens (ein Theil von Kärnthen und Steiermark und ganz Krain), der durch Carl 
d. Gr. der Didcefe Aquileja zugefprochen worden war, blieb zum Theil bis auf 
die neuere Zeit bei diefer Didcefe, zum Theil aber fam er an die unter Aquileja 
ftehenden Bisthümer Laibah und Trieſt. Das Bis thum Laibach errichtete 
Raifer Friedrich IV. im J. 14615 zu deffen Ausftattung wurde das Benedictiner- 
Hofter Dberburg im dermaligen Eillierfreife verwendet, und zum Sprengel die 
Stadt Laibach nebft mehreren Pfarreien beftiimmt. Das Bisthum Trieſt bes 
ftand fchon vorher, ehe Trieft an das Haus Deftreich gelangte, was im J. 1382 
geihah. — Diefe Diöcefaneintheilung des alten ehemaligen Karantaniens (der 
nachherigen Herzogthümer Kärnthen, Steiermarf und Krain) erlitt in neuerer 
Zeit verfchiedene Aenderungen, Um die öfter zwifhen Venedig und Deftreich aus- 
gebrochenen Zwiftigfeiten betreff$ der Ausübung des Ernennungsrechtes auf den 
Patriarchenftugl Aquileja zu befeitigen, erklärte Papft Benediet XIV. im Einver- 
fländniffe mit beiden Regierungen das Patriarchat für aufgehoben, und errichtete 
ſtatt deffelben zwei Erzbisthümer, eines zu Udine, weldes den venetianifchen, 
und das andere zu Gdrz im öftreichifchen Friaul, welches den öſtreichiſchen An- 
theil der Patriarchatsdidcefe unter fih befam und deffen Suffragane die Bifchöfe 
von Laibach und Trieft wurden, Ferner, dur Vertrag dd. 17. Mai 1786 zwi- 
fhen Raifer Joſeph I. und Erzbiſchof Hieronymus Colloredo von Salzburg trat 
Salzburg feine bifhöflihen Rechte in Steiermarf und Kärnthen an die Bi- 
{Höfe von Gurf, Lavant, Seckau und das neu zu errichtende Bistum Leoben ab, 
behielt aber die Metropolitanrehte über alle Bifchöfe in Steiermark und 
Kärnthen, und überdieß das bisherige Ernennungs- und Confirmationsrecht auf 
die Bisthümer von Seckau und Lavant für jeden und auf das Bisthum Gurf für 
den dritten Erledigungsfall dergeftalt, daß der Erzbifchof jedesmal eine dem 
Landesfürften genehme Perfon für Gurf ernennen follte. Für das neue Bisthum 
Leoben in Steiermark, dem das unfern der Stadt Leoben gelegene aufgehobene 
Nonnenftift Göß zum Sie beftimmt wurde, und deffen erfter Bifchof, Alerander 
Graf Engel, im J. 1786 den bifhöflichen Stuhl beftieg, wurde dem Landes- 
herrn das Ernennungsrecht, dem Erzbifhof von Salzburg aber das Beftätigungs- 
recht zugefprochen, In Folge diefes Vertrages wurden die Diöcefanfprengel be= 
deutend verändert, Görz auf einige Zeit zu einem einfachen Bisthum herabgefegt, 
und behielt zwar das Bistum Seckau feinen alten Namen fort, allein der Sig 
deffelben wurde nah Gräß verlegt. Ingleichen refiviren die Gurfer Bifchöfe 
dermalen auch nicht mehr zu Gurk, fondern zu Klagenfurt. Die Leobener Did- 
ceſe wird fchon feit Tängerer Zeit von den Bifchöfen von Sedau als Bisthums— 
verweſern abminiftrirt. Wie der Erzbifhof von Salzburg haben noch jest auch 
die Biihöfe von Gurf, Seckau, Lavant und Laibah den Titel und Rang von 
Fürſten der öſtreichiſchen Monarchie. — S. den Salzburger Serigt über die Be⸗ 
: 3 


36 Karo — Karpokrates. 


fehrung der Karantanen und benachb. Slaven in Kleinmayrns Juvavia und 
Kopitars Glagolita Clozianus, Vindob. 1836; Hanſiz, Germania sacra t. 11; 
Klein, Geſch. des Ehriftenth, in Deftreih und Steiermark, Wien 1840— 1842, 
Bd. J-VII; Muchar, Gefhihte des Herzogthums GSteiermarf, BB. 2, Gräg 
1844— 1845; Tangel Karlmann, Reihe der Biſchöfe von Lavant-Rlagenfurt, 
1841 ır, [Schrödl.] 

Karo, Joſeph, ſ. Schulchan Aruch. 

Karpokrates (Karpokras), aus Alexandrien gebürtig und gewöhnlich unter 
die ägyptiſchen Gnoſtiker (ſ. d. A.) gerechnet, lehrte etwas ſpäter als Satur— 
ninus und Baſilides (ſ. d. A.) unter der Regierung des Kaiſers Hadrian. 
Ueber ihn berichten Irenäus (contra haeres. I. 25.), Epiphanius (haer. 27.), 
Theodoret Chaer. fabb. I. 5.), und zwar beide offenbar nach Irenäus; ferner Clemens 
v. Aler. (Strom. II. 2.), Zertullian (de praeser. 48) und Eufebius (hist. eccl. 
1.IV. c. 5.). Es bleibt jedoch ſchwer, aus diefen Berichten ein ficheres und kla— 
res Bild feiner Härefie zu gewinnen; darum weichen auch die Darftellungen der— 
felben bei den neuern und neueſten Schriftfiellern bedeutend von einander ab 
(gl. z. B. Katerkamp, Kirchengeſch. I. 198 mit Maffuet dissert. praeviar. 
in Irenaei libros contra haeres. diss. I. art. Carpocrates, und Fuldner de Carpocra- 
tianis in Ilgens hiſt.theol. Abhandl, Leipzig 1824, S. 180—190 mit Mos— 
beim de rebus Christianis ante Constantinum M. commentariis. Helmstad. 1753. 
p. 363 u, sqq.). Karpofrates Tiebte die platonifche Philofophie, in welcher er 
auch feinen Sohn Epiphanes gründlich unterrichtete. In feinem Syfteme finden 
fih mehr platonifche Ideen, als bei den übrigen Gnoftifern, von denen er au 
in der Erlöfungstheorie völlig abweicht, Hieher gehört die Annahme der Prä- 
exiftenz der Seelen, der höhern Erfenntniß als Reminiscenz aus einem frühern 
bimmlifchen Dafein, der Seelenwanderung u. f. w. — Der Urgrund des AL, 
oder das ewige, unerfchaffene, unausſprechliche Urwefen ift nach Karpofrates das 
Lichtprineip als die Einheit (7 uovas), welche fich nicht unmittelbar in der Sin— 
nenwelt offenbart, fondern erft in mancherlei Abftufungen durch Emanation (ſ. 
d. A.) alle Wefen aus fich hervorgehen laßt, und zwar zuvörderſt die höheren 
geiftigen Naturen, und fodann die von diefen getrennte fubaftralifche Welt, den 
Wohnort der Menfchen, welcher unmittelbar an die niedrigfte Aeonenſtufe grenzt, 
von diefer (ayyskoı zoouorsorol) hervorgebracht ift, und auf welchem jeder die- 
fer Weltgeifter an dem Orte verehrt wird, den er gebildet hat, woher denn auch 
die Mannigfaltigfeit der Sitten, Gefege und Volksreligionen ſich erklärt. Der 
Menſch Hat eine einzige Seele, welche in den obern Räumen erzeugt und im Leibe 
wie in einem Kerfer eingefchloffen ift, aber die Begierden von Gott felbft ein- 
gepflanzt erhalten Hat. Gleichwie im Gange der Emanation die göttliche Einheit 
fih in mancherlei von diefer gleichfam abfallende Aefte und Zweige fpaltet, fo 
firebt umgekehrt das Al wieder zur Einheit und Gemeinſchaft; aber die welt- 
bauenden Engel hindern diefes Streben bei ven Menfchen durd religidfe Sapun- 
gen, deren Spige das jüdiſche Gefeg ift. Einzelnen Dienfchen gelingt es aber, 
fich über die Herrfchaft der Demiurgen zu erheben, indem in die aus dem Ple- 
roma flammende Seele die göttlich erwedte Erinnerung an einen verlorenen, vor— 
irdifchen und feligen Zuftand tritt, und diefe fich in die göttliche Einheit zurüd- 
verfenft. Die Vollklommenheit der Gnoſis (yvwoıs wovadırn bei Clemens v. 
Alex. genannt) befteht eben darin, daß der Menſch, über die Diannigfaltigfeit der 
Sndividualität und des Volksthums zur Einheit und Gemeinfchaft zurückkehrend, 
fih in die Monas verfegt und zugleich ſich über die befchränkten Anfichten des 
gemeinen Haufens und ihrer religiöfen Culte zur Verehrung des wahren Gottes 
erhebt. Wer einmal zu diefer Vollfommenheit der Erfenntniß gelangt ift, dem 
find die beftehenden Grundfäße von Gut und Böfe, von Recht und Unrecht ge— 
yingfügig geworben; ihm iſt das Eigenthum aufgehoben und felbft die Weiber 





Karpofrates. 37 


find gemeinfchaftlih; und indem er fi über die Verehrung der Nativnalgötter 
verfegt, befiegt er diefe, erwirbt die Wundergabe, gelangt zu unerfchütterlicher 
Ruhe, worin Feine finnliche Affeetion, felbft die freiwillig angeweckte und zu- 
gelaffene, ihm nicht flören kann. Die Gerehtigfeit (Hei dızauoovvn) befteht 
alfo auch nicht in den Werfen, fondern in Liebe und Glauben, das ift, in der 
Hingabe an jenen großen Zug der Einheit, vor dem jedes Fürfihhaben und Sein 
fhwinden muß, und wo die Erhebung über alle Gefege und Sitten und über 
alle befchränfenden Religionen — die hriftlich-pofitive felbft nicht ausgenommen — 
Yediglich als eine Erhebung über alles Irdiſche gilt. Diefe Erhebung, welde zu- 
gleich die höchſte Seligfeit mit fi bringt, ift allen Menſchen vermöge gleicher 
Anlage und Beftimmung möglid, Zur vollfommenen Gnofi$ haben fih vor allen 
Andern Plato, Pythagoras und Jeſus, welcher das jüdiſche Gefeg umſtieß, er- 
hoben; deßhalb wurden ihre Bilder und Statuen in den religiöfen Berfammlungs- 
orten der Karpokratianer aufgeftellt und mit heidnifch-religiöfem Culte verehrt, 
Das Bild Zefu follte von Pilatus herrühren, welcher bei Lebzeiten des Erlöfers 
ein folches habe anfertigen laſſen (f. den Art, Chriftusbilder). Aus diefer 
Zufammenftellung des Heilandes mit den griechifchen Weifen und aus den früher 
entwicfelten Anfichten des Rarpofrates gebt deutlich hervor, daß diefer in Jeſu 
keineswegs eine erclufive und präeminente Offenbarung des göttlihen Pneuma 
angenommen, fondern daß er vielmehr das Chriftentbum und Heidenthum als in 
einem höhern Sinne mit einander identifh betrachtet habe. Ja Jefus galt ihm 
als ein Teibliher Sohn Joſephs und der Marin, als ein bloßer Menfch, welcher 
Tediglich durch feinen Lebenswandel, durch feine Nüchternheit und Gerechtigkeit 
die übrigen Menfchen übertroffen habe, weil in feiner reinern und ftärfern Seele 
die Erinnerung an ihren frühern Umgang (regıpoog) mit der ewigen Monas 
durch eine eigene, ihm zugefendete göttliche Kraft befonders Iebendig geworden, 
und weil ihm fomit die Berfenfung in die Monade durch die Erhebung über den 
Nationalgott der Juden in vorzügliher Weife gelungen fei, obwohl er von Ge- 
burt ein Jude gewefen. Die Verbindung mit der Monas habe ihm denn auch zur 
der Wundergabe verholfen. Mit allem diefem fei aber noch Feineswegs gefagt, 
Daß es nicht auch andere Menſchen Jeſu in der Gnofis und in dem Wunderwirfen 
gleihthun, ja ihn fogar übertreffen können. Der Umftand, daß Karpofrates nad 
dem Berichte des Irenäus die vorzüglichere Erleuhtung des Heilandes von einer 
befondern von der Monas ihm zugefendeten Kraft Herleitete, Hat Mosheim 
d. c. ©. 363— 367) zu der Anſicht geführt, daß Karpofrates eine Bereinigung 
des Aeons Chriftus mit dem Menfchen Jeſus angenommen babe, eine Anficht, 
welche eben fo wenig ftihhaltig fein dürfte, als die Hypotheſe deſſelben Verfaf- 
fers über die von Clemens und Epiphanius berichtete Apotheoſe des jugendlichen 
Epiphanes in Same (S. 370 1. c., vgl. Neander, Kirchengeſch. 1. Bd. 2. Abt, 
1. Ausg. ©. 511). Bei diefer Lehre von der Perfon Ehrifti Fonnte Karpofrates 
in diefem natürlich nicht den Erlöfer im hriftlihen Sinne erfennen; er galt ihm 
höchſtens als ein Lehrer, welcher die Menfchen vom Gögendienfte erlöste; den— 
noch legten die Karpofratianer nah Epiphanius (I. c.) einen großen Werth dar- 
auf, als Chriften zu gelten, obwohl fie nach Irenäus (I. c.) eben fo gerne fi 
Gnoftifer nannten. Die Auferftehung des Fleifches konnte dem Karpokrates kei— 
neswegs als annehmbar erfcheinen, und eben fo confequent verwarf er das alte 
Teftament; vom neuen Teftamente aber dachte er in foferne geringfügig, als er 
eine von diefem abweichende Geheimlehre Zefu annahm; in feiner Lehre von der 
Seelenwanderung beruft er ſich aber ausdrüdlih auf Matth. 5, 25, — Die an- 
ſcheinend ideale Auffaffung der Lebensaufgabe des Menfchen und der Charakter 
der Einheitslehre, welche für die Erklärung des fittlih Böfen an und für fi 
eine Lücke laffen muß, weil diefes aus der Monas nicht abgeleitet werden Fann, 
hatte die nämlichen traurigen Folgen für das practifche leben, wie die moniftifchen 


38 Karpofrates. 


Lehren der Gegenwart, Die Lehre von der Gleichgültigfeit der Handlungen emt- 
pfiehlt naturgemäß die Sünde, und der theoretiſche Antinomismus (ſ. d. A.) hat 
den practifchen zum unausweichlihen Begleiter, felbft abgefehen davon, daß die 
falſche Theorie eben fo oft ihre Wurzel in dem verborbenen Herzen als in dem 
verfchrobenen Kopfe hat, Die fittlichen Verirrungen der Karppfratianer über- 
fliegen nach den älteften Berichten alles und jedes Maß, und das fehauerliche 
Bild, welches Epiphanius Chaer. 26) von den Gräueln einzelner gnoftifcher Serc- 
ten entwirft, zunachft der Borborianer (ſ. d. A.), dürfte auch von den Kar- 
pofratianern gelten, Nach Irenäus Hatte Karpofrates die Sünde geradezu be- 
fohlen, und eine Seelenwanderung gelehrt, zu der die Menſchen fo lange von 
dem oberſten weltbauenden Engel verdammt würden, bis fie alle Lafterarten aus— 
geübt hätten; ein Demiurgos macht bei diefem Verdammungsurtheile den An- 
kläger. Nur jene Seelen, welche bei ihrer erften Erfeheinung im Sleifche alles 
Gelüſte vollzogen hatten, bevurften Feiner neuen Verförperung. Die angeführte 
Intervention der Demiurgen bei der Seelenwanderung bringt übrigens einen 
auffallenden Widerfpruch in das Syflem des Karpofrates. Bei den religiöfen 
Berfammlungen der Karpofratianer wurden Zauber- und Liebestränfe bereitet, 
und alle Arten von Unzucht bei ausgelöfchten Lichtern verübt, Den Einzumeihen- 
den wurde am rechten Ohre ein Zeichen mit einem Eifen, Scheermeffer oder einer 
Nadel eingebrannt. Die fittlichen Gräuel der Karppfratianer gaben den Heiden 
eine willfommene VBeranlaffung zur VBerläumbung des Wandels der erften Chriften, 
Ihre Secte breitete fih in Aegypten und felbft bi8 nach Nom aus; denn hier trat 
unter Papft Anicetus (157—168) eine gewiffe Marcellina mit ven Lehren des 
Karpofrates auf, Wenn die in neuerer Zeit in Aegypten aufgefundenen zwei 
phönieifch-griechifchen Infchriften wirklich nur von Rarpofratianern, und nicht auch 
möglicher Weife von einer andern antinomiftifch-gnoftifchen Secte herrühren könn— 
ten, fo würde die Secte der Karpofratianer noch im fechsten Jahrhunderte vor— 
handen gewefen fein; gewöhnlich wird aber angenommen, daß fie ſchon im vierten 
Sahrhunderte völlig verfchwunden feien (vgl. übrigens: Gesenii de inscriptione 
phoenicio-graeca in Cyrenaica nuper reperta ad Carpocratianorum haeresin perti- 
nente commentatio. Halae 1824). Zur Literatur über die Karpofratianer muß 
hier noch angeführt werben: J. Fr. Hebenstreit diss. de haer. Carpocrat. Viteb. 
1712. A. Bei unferer Darftellung wurden theilweife Kater kamp, Hafe und 
Alzog benügt, — Epiphanes, der fhon oben angeführte Sohn des Karpo— 
krates, trug nicht wenig dazu bei, die Lehre feines Vaters auszubreiten und fort- 
zubilden, obwohl er nur 17 Jahre alt wurde, Bon ihm berichten Irenäus (con- 
tra haer. I. 11.), Clemens v. Alex. (stromat. III. 2.) und Epiphanius (haer. 32). 
In der Geburtsftadt feiner Mutter Alerandria zu Same auf der Inſel Cephalle- 
nia erwarb ſich der gebildete und ‚feurige Züngling ein folches Anfehen, daß man 
ihm nach feinem Tode einen Tempel erbaute und ihn durch eigene feftliche Zu— 
fammenfünfte verehrte. Nach Irenäus (1. co.) hatte er die Lehre des Valentinus 
in fofern weiter fortgebildet, als er eine noch höhere einfachere, das Wefen des 
Bythos bezeichnende Tetras ftatuirte, Nach feiner Lehre ging allem Dafein die 
Proarche (rrgowvevvonTog, EI6NTOS zul Kvovou@gos) vorher; diefe nannte er 
Monotes (uovörnre). Mit ver Monotes zugleih war eine andere Macht die 
Henotes. Diefe beiden Mächte erzeugen, indem fie eine Einheit bilden, das erſte 
Grundprincip alles Dafeins, begreiflich zwar, aber urfprungslos und unfichtbar, 
die Monas, mit diefer war eine ihr gleichartige Macht: das Eine (TO &v) ver- 
bunden, Bon diefer Tetras emanirten alle übrigen Aeonen. Irenäus findet diefe 
Tetras höchſt Tächerlih ; nach Maffuet (dissert. I. in Iren. art. II. nro. IL) ftehen 
die platonifchen Ausdrücke: Monotes, Henotes, Monas und Hen nur parallel 
zur Valentinifchen Tetras: Bythos, Sige, Nus und Aletheia, Epiphanes ſchrieb 
ein Buch über die Gerechtigfeit (regt dinanıoodvng), aus welchem ein Fragment 





Karthago — Kaftenvogt. 39 


bei Clemens v. Aler, (I. c.) vorfümmt. Sein Begriff der Gerechtigkeit war ber 

einer vollkommenen Freiheit und Gleichheit aller Iebenden Wefen in der Schö- 

pfung. Aus diefem Begriffe und von der flärfern Geſchlechtsluſt der Männer 

folgerte er die Gemeinfchaft der Weiber und die Verwerflichfeit aller die Be- 

friedigung des Gefchlechtstriebes einfchränfenden Gefege, [Häusle,] 
ns; ſ. Carthago. 

Karthäuſerorden, ſ. Carthäuſerorden. 

Kaſchau, Bisthum, ſ. Erlau. 

Kaſimir, ſ. Caſimir. 

Kaſtenvogt, ein mit der Adminiſtration des Kirchenvermögens betrauter 
Beamter, deſſen Wirkungskreis zu verſchiedenen Zeiten verſchieden war. Solche 
zur Adminiſtration des Kirchenvermögens eigens aufgeſtellte Beamte finden ſich 
ſchon in den erſten chriſtlichen Jahrhunderten, in welchen die Biſchöfe noch die 
unmittelbare Verwaltung des geſammten Kirchenvermögens in den Händen hatten. 
Weil nun dieſes Geſchäft ſie zu ſehr in Anſpruch nahm und ſie an ihren höhern 
Berufsgeſchäften hinderte, ſo ſtellten ſie ſogenannte Deconomen auf, welche unter 
ihrer Oberaufſicht und Leitung das Kirchenvermögen verwalteten. Sie wurden 
von dem Biſchofe aus ſeinem Clerus und zuweilen auch durch dieſen gewählt, 
und waren ausſchließlich jenem verantwortlich, hatten jedoch eine ziemlich un- 
abhängige Stellung und konnten nicht willkürlich, ſondern erſt auf den Urtheils— 
fpru des competenten Firhlihen Gerichts abgefest werden. Das Eoneil von 
Ehalcedon (451) machte die Aufftellung folder Deconomen jedem Bifchofe zur 
Pflicht, und zwar fowohlaus dem bereits angegebenen Grunde, als auch in der Abficht, 
das bifhöflihe Anfehen gegen argwöhnifchen Verdacht fiher zu ſtellen (c. 21. 
€. XVL qu. 7.). Außer der Einnahme und Vertheilung der Firlichen Einkünfte 
hatte der Deconom noch die weitere Aufgabe, Wittwen, Arne und Fremde in 
feine befondere Dbforge zu nehmen und das Eigenthum der Kirche zu überwachen, 
Nah dem Zeugniffe des HI. Iſidor von Sevilla fiel in feinen Berufsfreis auch 
noch das Firhlihe Bauwefen, der Betrieb der Aerfer und Weinberge, fowie die 
Vertretung der Kirche vor dem weltlichen Gerichte, Uebrigens ſcheint es, daß 
diefes Amt ſchon Häufig in die Hände von Laien übergegangen war; denn auf der 
zweiten Synode von Sevilla (619), auf welcher der HI. Iſidor präfivirte, wird 
den Biſchöfen firengftens verboten, das Amt des Deconomen Laien zu übertragen 
Ce. 22. €. XVI. qu. 7.). Als jedoch, befonders unter den fränfifchen Kaifern, die 
Eirchlichen Einkünfte fih mehrten und die Verwaltung des Kirchenvermögens ein 
fehr umfaffendes Gefchäft wurde, gelangte auch das Amt des Deconomen zu fehr 
hohem Anfehen, fo daß derfelbe fi den Namen Archiöconomus beilegte und fogar 
feinen Rang bisweilen unmittelbar nah dem Bifchofe und den Aebten und vor 
dem Archidiacon einnahm. Allein gerade diefer ausgedehnte Gefchäftsfreis machte 
mehrere Aemter nothwendig, die früher der Deconom in fich vereinigte. So 
wurde namentlich für die Vertretung der Kirche bei dem weltlichen Gerichte ein 
befonderer Beamter aufgeftellt, der fog. actor oder auch advocatus ecclesiae (f. 
den Art, Kirchenvogt). Für die Verwaltung der bifchöflihen Einfünfte (mensa 
episcopalis) dagegen wurde in der Regel ein eigener Beamter aufgeftellt, der 
fogenannte Vicedominus, deffen Amt oft mit dem des Oeconomen identifch war, 
Mit der Ausſcheidung und Sonderung des Kirchenvermögens, namentlich feit der 
Auflöfung der vita communis, erſtreckte ſich der Gefchäftsfreis des Deconomen 
bloß noch auf die Adminiftration des bifchöflichen Einkommens; er war nicht mehr 
als biihöfliher Schagmeifter. Dagegen in der griechifchen Kirche Hat fih das 
Amt deffelben in feiner urfprünglihen umfaffenden Bedeutung länger erhalten, 
Sogar die Kaifer nahmen diefes Amt für fih in Anſpruch, bis im Jahr 1057 

Iſak Comnenus den Patriarchen das Necht zur Wahl der Deeonomen wieder frei- 
gab, Verſchieden von den Kaftenvögten im alten Sinne find die feit dem 1äten 


40 Katahrefis — Katafomben. 


Sahrhundert aufgeftelften Adminiſtratoren des zur Kirchenfabrik gehörigen Kirchen- 
vermögend, die unter dem Namen Kaftenvögte, Heiligenpfleger, Kirchenväter, 
Kirchenpröbfte (vitrici, jurati, provisores, magistri fabricae) befannt find. Sie 
waren eigens hiefür beeidigte Männer aus der Gemeinde, deren Amtsführung 
durch den Pfarrer oder Decan überwacht und die in Iegter Inftanz dem Bifchof oder 
deffen Official verantwortlich waren (Trident. Sess. XXII. c. 9 de ref.). . Bergl, 
Thomassin, vet. et nov. Eccl. discipl. II. L. U. cap. 1—12. Permaneder, 
Handb, des kathol. Kirchenr, $ 726, und den Art. Defensor ecolesiae. [Rhuen.] 

Katachrefis, zarayonoıs, abusio; man bezeichnet mit diefem Terminus in 
der Rhetorik und Hermeneutif die Entlehnung eines Wortes für einen feinem Be- 
griffe heterogenen Gegenftand, nach Quintil. VIIL. 6. 34. Die Nedeweife, quae 
non habentibus nomen suum accommodat, quod in proximo est; 3. 8, lat. vires, 
homines breves sunt, longum consilium, equum aedificant etc. Aus der Hl, 
Schrift gehören dahin Ausdrudfsweifen, wie folgende: Beßnloöov To oaßParov 
Cam Sabbath den Sabbath brechen), Matth. 12, 5. arnodnoavoldeın Feuskıor, 
1 Tim, 6, 19. PAeseıw TV pwrıv, Apoc. 1, 12, Das Wort zuayyelıov in 
Gal. 1, 6. als Benennung der faljchen Lehre, Katachreftifch find im neuteftament- 
lichen Idiom auch viele griechiſche Wörter nicht nach ihrer nationalen Bedeutung, 
fondern nad) der fpeciellen desjenigen hebräiſchen Wortes gebraucht, dem fie im 
Allgemeinen entfprechen, fo adeApos, a@xon, dixauog, dıxauoovvn, 0408, 
orseoue 0. Vgl. Wilfe, neuteftamentlihe Rhetorik, S. 118 ff. 

Satafal£, |. Tumba, 

Katakomben. Weit unter einem Theil des ehemals bewohnten Roms 
ziehen fich, wie bei Syracug die Latomien, unter Paris die Steinbrüche, unter- 
irdifhe Höhlungen durch, aus welchen einft die Puzzolanerde zu den Bauten der 
MWeltftadt zu Tage gefördert wurde. Aehnliche finden fih in Brescia, Florenz, 
Lucca, Spoleto, an manchen andern Orten, befonders mweitgebehnte, in jeder Be— 
ziehung fehenswerthe zu Neapel unter dem großen Spital San Gennaro bei pp= 
veri. In Rom erftreden fie fi in vielfachen VBerzweigungen unter den vormali— 
gen appifchen, Yavicanifchen und präneftinifchen Straßen durch, was heutzutage 
den Ratafomben von San Lorenzo, San Agnefe, San Sebaftiann und San Ca- 
liſto entfpricht, Die Zahl der Martyrer, die in dieſen letztern beiden, verbun- 
denen, beigefest find, wird nach der Infohrift über der Eingangsthüre in die— 
felben in der Kirche von San Sebaſtiano auf 174,000 angegeben, worunter 46 
Päpftez in dem Theil, welder von diefer Kirche den Namen hat, befanden ſich 
die Ueberrefte des heiligen Petrus und Paulus, Die Sage gibt fämmtlichen 
Katakomben eine Ausdehnung bis nah Oſtia. Gewißheit läßt fih hierüber nicht 
erhalten, da Niemand allzumeit in diefes Yichtlofe, jo manches Gefährliche ber- 
gende Labyrinth fi) wagen dürfte, Dieß find die arenariae, in denen nad) Cicero 
in feiner Rede für Cluentius ein gewiffer Afinius ermordet wurde, Sie bilden, 
mit Ausnahme einzelner erweiterter Stellen, Gänge in der Höhe doppelter Man— 
neslänge, etwa vier Fuß in der Breite. Bon diefen unterirdiihen Schluchten 
nahmen feit dem zweiten Jahrhundert unferer Zeitrechnung, vielleicht früher no, 
die Chriften Roms Befis. Dahin flüchteten fie während der Verfolgungen, welche 
mit kurzen Unterbrechungen unabläffig wider fie tobten, und hier hielten fie ihren 
Gottesdienft. Um deffen geheimnißreihe Feier vor den Nachforfhungen der 
Späher zu fihern, haben fie vermuthlich die hin und wieder darin vorkommenden 
größern Räumlichkeiten ausgegraben, Diefelben ftellen noch heutzutage den un— 
entwickelten Prototyp unferer Kirchen dar, zugleich in der Gefchiedenheit beider 
Geſchlechter den hohen fittlichen Ernſt, welcher die Gläubigen jener Zeit durch- 
drang. Da bildet die ausgezeichnetere Gruft, in welche der Biſchof beigefegt 
worden, der in Befenntnif des Ola in Leben gelaffen, den jegigen Altar; 
[der Feier der Oberhirte eingenom— 







BRARY 2) 





KRatafomben 4 


men, von bem er die Weihen ertheilte, gegenüber derjenige des Diacon, der bei 
der heiligen Handlung feinen Dienft verrichtet; da treten die unverfennbaren 
Spuren der ertheilten Sacramente der heiligen Taufe vor Augen; da weifen in 
einfacher Malerei, welche die zierlicheren Formen des Heidenthums verfchmäßt, 
Sonas im Wallfifh, die Knaben im Feuerofen, Daniel in der Löwengrube, Iſaae 
auf dem Holzftoß als eben fo viele Vorbilder auf den alltäglich drohenden Todes- 
kampf und auf den unvergänglichen Sieg; da ermuthigt der gute Hirte, der das 
verirrte Schaf auf den Schultern zurüdbringt, zur vertrauensvollen Hingabe, 


und ftellt Mofes, der dem Felfen den Tebendigen Duell entfpringen läßt, den 


Berfolgten und Ningenden zum Troft denjenigen dar, der fie in heißen Mühen 
mit feinen Gnaden labt, die aus ihm, dem wahren Duell des Heils, in das ewige 
Leben rinnen, In einem diefer Prototype unferer Kirchen, in den Ratafomben 
von San Agnefe, wenn nicht den merfwürdigften, doch in neuefter Zeit den zu— 
gänglichften und befuchteften von allen, fieht man die heilige Jungfrau, das Kind 
auf dem Schooß Liegend, fie felbft mit aufgehobenen Händen, das unwiderleg— 
lihfte Zeugniß, daß die ehrfurchtsvolle Anfchauung derfelben fo weit hinaufreiche, 
als der Glaube an denjenigen, der, ewig und gleich mit dem Vater, menfhliche 
Natur aus ihr angenommen hat. Kenner weifen mehrere der vorfommenden Bil- 
der in die Zeit des heiligen Calixt hinauf, der in dem erften Jahrzehend des 
dritten Jahrhunderts zum Oberhaupt der Kirche gewählt ward. Bon dem Ein- 
druck, den diefe uralten Stätten der Bethätigung des chriftlichen Glaubens auf 
den unverbildeten Befchauer jegt noch machen, fagt ein neuerer Befucher der- 
felben: „Sie find nun hinausgezogen die Banner des Königs aller Könige, fie 
flattern durch die Lüfte, fie wehen von Zinnen und Thürmen, und froh und ficher 
fhaarft du dich zu dem ihnen folgenden Zuge; und dennoch fühlft du dich heimifch 
in diefen engen Räumen, denn du ftehft an der Tugend ftrahlenden, an der Blut 
getränften Wiege deines Geſchlechtes.“ Zugleich wurden die Katafomben die 
Ruheſtätten der in Bezeugung ihres Glaubens entweder hingefchiedenen oder hin— 
geſchlachteten Chriften, fowie fie in Zeiten größerer Gefahr die Verfammlungs- 
flätten der für denfelben Lebenden und Duldenden waren. Das Kriftlihe Dogma 
zieht zwifchen die Schlafenden und die Wachenden, zwifchen die nach dem Ziele 
Laufenden und die bei demfelben Angefommenen feine Kluft, beide bilden eine 
Samilie, weſſen jegt noch in dem niemals fehlenden Memento für die Abgeftor- 
benen jede heilige Meffe das täglich ſich wiederholende Befenntnif ablegt. Def» 
wegen wurden in dieſe Zufluchtsftätten auch die Todten verborgen, eben ſowohl 
um ihre Ueberrefte gegen Schändung durch die Heiden zu fichern, als um die für 
den Glauben Rämpfenden mit denen in demfelben Vollendeten in jene enge Be— 
ziehung zu bringen, welche durch die Lehre ausgefprochen wird; eine Gewohnheit, 
die nachmals aus diefen unterirdifchen Stätten des Heils in die von dem Son— 
nenlichte umleuchteten ſich verpflanzt Hat, bis die fromme und tieffinnige Hebung 
angeblihen fanitäts-polizeilihen Nücfichten Hat weichen müffen. Deßwegen, weil 
diefe Gänge durch das Sandfteinlager zu Begräbnißftätten erfehen wurden, er- 
hielten fie den Namen Katafomben, von dem griechifchen Wort Rumba, Ruhe— 
bette, und Kata — bei, Doc fam derfelbe erft im vierten Jahrhundert in Ge— 


brauch, früher hießen fie Cryptae (wovon unfer teutjches Grüfte, f.d.A.), wie auf einer 


alten Inſchrift bei Boldetti IN CRVPTA NONA etc. vorfommt, auch wohl Coeme- 
teria (Schlafftätten). Auf beiden Seiten der Gänge find die Orablager (loculi) 
in übereinander liegenden Reihen ausgehößlt, bald für einen, auch für zwei, für 
drei, feltener für vier Leichname — bisomum, frisomum, quadrisomum.- Waren 
diefe beigefegt, fo wurde das Grab mit Ziegen, häufig mit einer Steinplatte, 
sermauert, auf diefe die Grabſchrift eingegraben, deren man in den. langen 
Gängen des Vaticans, die zu dem chriſtlichen Mufeum führen, eine zahllofe 
Menge angebracht, auch wohl den Herausgenommenen Leibern, die an Kirchen 


42 } Katafomben. 


abgegeben wurden, beigefügt hat, Gewöhnlich ift irgend ein hriftliches Symbol 
darauf angebracht, unter denen die Palme conflant das Zeichen des Martyrthums 
bildet, Diefes fcheivet fi) in das Martyrium cruentum et incruentum. War es 
das erftere, in welchen der Vollendete das Zeugniß feines Glaubens ablegte, fo 
wurde das Fläfchchen mit feinem Blut neben dem Grab eingemauert, fo daß jet 
noch auch bei dem leeren Grab aus der Höhlung in dem Mörtel erfannt wird, 
daffelbe Habe die irdifchen Leberrefte eines Blutzeugen im firengeren Sinne diefes 
Wortes umfchloffen. Erft vor ein Paar Jahren ift ein folhes Grab mit den Ge— 
beinen zweier Körper geöffnet worden, Ein Fläfchchen bloß wies auf die Todes- 
art des Einen, an den Reften des Andern dagegen wurden unverfennbare Spu— 
ren des Feuertodes, und zwar in umgekehrter Richtung des Körpers, das Haupt 
gegen den Holzftoß, wahrgenommen, Diefe Ruheſtätten, die von den Kämpfen, 
der muthigen Ausdauer, den herben Leiden, der fiegreichen Glaubensfreudigfeit 
der VBorangegangenen in fo vielen Steinfhriften, in den verfchiedenen Denfzeichen 
und in der ganzen Einrichtung diefer Dertlichfeiten ein fo beredtes Zeugniß geben, 
blieben der Gegenftand ehrerbietiger Befchauung, auch nachdem aus ihnen bie 
Lebendigen bereits an das heitere Tageslicht Hinausgezogen waren; auch da noch, 
als die vielfache Bethätigung des hriftlichen Lebens, und was demfelben zur Rräf- 
tigung dient, längſt nicht mehr in diefe unterirdifchen Grabesfammern ſich zu 
flüchten brauchte, Ein beredtes Zeugniß hievon gibt uns der heilige Hieronymus 
in feiner Beleuchtung des Propheten Ezechiel, „Da ich”, fagt er, „als Knabe zu 
Nom mich aufhielt, pflegte ich mit meinen Alters- und Studiengenoffen an Sonn— 
tagen unter den Gräbern der Apoftel und Martyrer herumzumwandern, in bie 
Grüfte hinabzufteigen, wo in unterirdifchen Tiefen der Hineintretende zwifchen 
Körpern von Beftatteten an beiden Wänden bindurchwandert, Da ift alles fo 
dunkel, daß vollfommen das Wort des Propheten darauf paßt: die Lebenden flei- 
gen hinab zur Unterwelt. Nur hie und da mildert ein Lichtſtrahl von oben, nicht 
wie er durch ein Fenfter einfällt, bloß wie er durch eine Ritze dringt, die ſchauer— 
liche Finſterniß; wie du vorwärts fhreiteft, erbleicht er, und in dem nächtlichen 
Dunkel, das dich umgibt, fommt dir Virgild Vers zu Sinn: Ringsum Schauer 
und Schweigen erfchütterte jedes Gemüth.“ Wahrſcheinlich find die Katakomben 
auch in den folgenden Jahrhunderten, wie zu der Zeit des großen Kirchenvaters, 
ſtets ehrerbietig befucht worden. Die Inſchrift in San Sebaftian, die von 46 in 
den dortigen Katakomben beigefegten Päpften fpricht, wäre ein Beweis, daß dieſe 
ihre Nuheftätte bei den Vorfahren auch dann noch wählten, als die zwingende 
Beranlaffung dazu längſt vorübergegangen war. Denn nähmen wir an, daß von 
dem heiligen Petrus an ununterbrochen alle Nachfolger veffelben, nicht ein Ein- 
ziger ausgenommen, dort ihre Nuheftätte gefunden hätten, fo würde ung biefes 
auf Leo den Großen führen, der im Jahr 461 flarb, indeß ſchon hundert etlich 
und dreißig Jahre früher, unter Sylvefter I., das Chriſtenthum nicht mehr ge— 
zwungen war, fich zu verbergen, Bei den erſten Einfällen der Longobarben und 
den Bedrängniffen, die für Noms Bewohner damit verfnüpft waren, fuchten biefe 
Troft und Ermuthigung an diefen Erinnerungsftätten ähnlicher Drangfale. In 
dem Leben der heiligen Brigitta (ſ. d. A.) und der heiligen Catharina von Siena 
(ſ. d. 4.) wird der andachtsvolle Befuh der Katafomben ausdrücklich erwähnt, 
Bon dem heiligen Philipp Neri (f.d. A.) wiffen wir, daß er durch zehn Jahre in 
denfelben manche Nacht unter Gebet und Bußwachen zugebracht habe, Auch der 
hl. Carl Borromäus (ſ. d. A.) zog fich öfters dahin zurück. „Jetzt noch”, fagt 
ein neuerer Befucher, „jet noch verkündet aus den geöffneten Gräbern, an den 
verlaffenen Altären, von den einfam gewordenen Bifchofsfigen der Tod das Leben; 
und wie düfter, wie fohaurig, wie dde Alles auch fer, daffelbe ſteht doch zu dei» 
nem Leben, fühlft du anders deffen Schwingungen in dir, in Beziehung; es weht 
dich dort nicht der Hauch des Grabes, es haucht dich der Geift an, der bamals 


Ratafomben. 43 


hier waltete und belebte, wie er jegt noch waltet in der Kirche und belebt dur 
die Kirche, die hinausgezogen ift aus den Grüften an das helle, freie, freund- 
liche, Alles erquiclende Sonnenlicht,” — Ohne fundigen Führer dürfte Niemand 
in diefe unterirdifchen Jrrgänge fih hinabwagen. Auch pflegen immer mehrere 
Perfonen zu dergleichen Wanderungen fih zufammenzuthun, jede mit einem Wadhs- 
faden verſehen, damit nie das Licht ausgehe, denn ſchwer fonft würde der Rück— 
weg zu finden fein, Während der Sommermonate darf man ſich gar nicht hinab— 
wagen, weil nur fparfam Verbindungscanäle mit der äußern Luft angebracht find. 
Erft feit fieben Jahrhunderten hat man angefangen, Leiber von Martyrern aus 
diefen Todtenfammern herauszunehmen und an Kirchen abzugeben. Unter Cle— 
mens VII. und feinen beiden Nachfolgern gefchah diefes häufiger, worauf Aleran- 
der VH. die Nahgrabungen, die feitdem immer fortgefegt worden, unter die Auf- 
fiht des jeweiligen Monfignor Sagrifta ftellte, der auch die heiligen Leiber in 
Verwahrung hat. Clemens X. Hat dur die Eonftitution Ex commisso, darauf 
Clemens XI. durch eine Bulle (Bull. Magn. VII, 245) noch genauere Vorſchriften 
erlaffen, mittelft welcher fämmtlihe Katafomben unter die Aufficht der Congrega= 
tion der Jndulgenzen und Reliquien und des Cardinalvicars geftellt find, welde 


zwei Bifitatoren ernennen, deren der eine der genannte Euftos der Reliquien ift, 


— Die Arbeit des Ausgrabens ift mühfam und fohwierig, nur während der Win- 
termonate möglih. Durch ftrenge Verbote gegen das Herausfchaffen des Schut- 
tes an die Erdoberflähe wird das Graben wefentlih erfchwert. Gelangen die 
Arbeiter an die Grabftätte eines Martyrers (andere Gräber, die das untrügliche 
Merkmal des Martyrertfums nicht an fich tragen, werben niemals geöffnet), fo 
müffen fie dem Bifitator die Anzeige davon machen, der fih in Perfon an Ort 
und Stelle begibt, oder einen Delegirten damit beauftragt. In deffen Gegen- 
wart wird das Orab geöffnet, ein Verbal-Proceß aufgenommen, das Gefundene 
in einen Korb gelegt, der unter den Augen der Arbeiter verfiegelt und in bie 
Wohnung des Bifitators getragen wird, Dort wird eine Unterfuhung angeftellt 
und das Gefundene verwahrt, um als Gefihenf irgend einer Kirche zugewiefen 
zu werden. Befindet fih an dem Grab eine Infchrift, fo wird diefe den Ge- 
beinen beigelegt. Dieß ift jedoch der feltenere Fall; gewöhnlich findet ſich nur, 
wenn den Öefundenen das Martyrium cruentum traf, das Blutfläfchchen dabei, 
auch wohl nur in den Mörtel, der zu Verfhliefung des Grabes angewendet 
wurde, das Zeichen des Martyrthums eingedrüdt. Dann bat der Körper feinen 
Namen; es wird ihm dafür ein beliebiger beigelegt, der zu dem hriftlichen Leben 
oder zu dem abgelegten Zeugniß des Glaubens in Beziehung fleht, wie Felix, 
Victor u. dgl., oder von einem befannten Martyrer entlehnt if. Man nennt 
diefe im Gegenfaß zu den Martyrern, deren Name durch eine Inſchrift verfündet 
wird, getaufte Heilige. Auf diefes ganz natürliche Verfahren haben die Feinde 
der Kirche das unfinnige Vorgeben gegründet: es würden in Nom Todtengebeine 
getauft und den Kirchen als Heilige zur Verehrung übermacht. — Die Katakom— 
ben find feit drei Jahrhunderten der Gegenftand genauer Durchforfhungen ge- 
worden, welchen wir bedeutende Werfe, durch große Gelehrfamkeit ausgezeichnet, 
zu Aufhellung des chriſtlichen Alterthums verdanken, Der erfte, ver beinahe fein 


ganzes Leben diefen Unterfuhungen widmete, war in der zweiten Hälfte des 16ten 


Jahrhunderts Bofio, deſſen berühmtes Werf Roma Soterranea im Jahr 1632 
mit vielen Abbildungen des Gefundenen von Severann herausgegeben wurde, 
Arringhi’s zwei Folianten in Iateinifher Sprade, unter gleichem Titel, find 
eine mit werthvollen Zufägen bereicherte Meberfegung deſſelben. Ein ausgezeich- 
netes Werk verdanfte Hierauf die gelehrte Welt dem Canonieus von St. Maria 
in Trestevere und Euftos der Ratafomben Boldetti: Osservazioni sopra i Cimi- 
teri dei Santi Martiri ed antichi Cristiani di Roma, Roma 1720 fol. Die Ent- 
deckungen und Forſchungen aller Vorgänger hat nicht lange nachher, mit den eigenen 


44 Kataphrygier — Katecheſe. 


bereichert, Bottari in drei Bänden herausgegeben: Sculture e pilture sagre, 
estratte dei cimiteri di Roma, publicate gia dagli autori della Roma sotterranea, 
ed ora nuovamente date in luce colle spiegazioni per ordine di P. S. Clemente f. 
r., 3 Vol. in fol., stamperio Vaticana, 1737—1754. Gleichzeitig gab P. Ma- 
rangoni eine mehr Specielles berührende Schrift heraus unter dem Titel: 
Appendix de coemeterio Sanctorum Thrasonis et Saturnini cum Actis S. Victorini, 
Romae 1740. In neuerer Zeit erfchienen, aber mehr für das wißbegierige Lefe- 
publicum als für eigentliche Forſcher und Gelehrte beſtimmt: Artaud voyage 
dans les Gatacombes de Rome, und Raoul-Rochette tableau des Catacombes 
de Rome. Das gründlichfte Werf über die Ratafomben hat in neuefter Zeit der 
Jeſuit P. Joſeph Marchi begonnen, der in diefer unterirdifchen Welt ſo ein- 
beimifch ift, wie Fein anderer, und aus berfelben eine Menge der intereffanteften 
Gegenftände an das Licht gezogen hat, [Hurter,] 
Kataphrygier, f. Montaniften. 

Karatecheſe. Die Ratechefe nicht als einzelne, fondern als ein Ganzes kirch— 
licher Thätigfeiten aufgefaßt, bezieht fih auf die der Kirche zwar ſchon Angehöri- 
gen, aber erft in deren Glauben und Leben (kirchliche Gemeinfhaft) Hinein- 
zubildenden und für den Eintritt in die Reihe der kirchlich Mündigen und bie 
Thätigfeiten für diefe Vorzubereitenden, Ratehumenen (vnmzıoı, veopvror) 
find alſo die getaufte Jugend, aber auch Erwachfene, fofern fie firchlich unmündig 
find, fowie Profelyten und Convertiten, fobald fie ihren Hebertritt zur Kirche 
förmlich erflärt haben, wie denn auch Die Katechumenen der alten Kirche nicht zu— 
nächſt und hauptfächlich Kinder, fondern Erwachfene waren, Jede kirchliche Thä— 
tigkeit, welche kirchliche Mündigfeit überhaupt oder eine beflimmten Bebürfniffen 
entfprechende insbefondere pflanzen will, ift wefentlich eine Fatechetifche, Nur 
haben die Ratechumenen alsbald einen gewiffen Grad Firchlicher Mündigfeit und 
gehören in fofern dem öffentlichen Gottesdienfte und der Privatfeelforge an, wie 
umgefehrt den kirchlich Mündigen immer noch eine gewiffe Unmündigfeit anflebt 
und fie in fofern Fatechetifche Thätigfeit bedürfen, — Das Ziel der Katechefe ift 
firchlihe Mündigfeit, der in Liebe thätige Glaube, oder das in der Moral expli— 
eirte riftliche Leben, formell die Erfenntnig und Anerfenntnig des Ehriften- 
thumes, noch mehr der eigentliche Glaube und eine dieſem angemeffene Verfaffung 
des Gemüthes und Willens, und zwar foll al’ dieß alfererfi und hauptſächlich 
gepflanzt, aber auch fchon erhalten und vervollkommnet und z.B, durch Gebete, 
Kindergottesdienft äußerlich dargeftellt und geübt werden, Sofern das hl, Meß— 
opfer, Communion, Beicht und Firmung in den Umkreis der Katecheſe fallen, 
tritt auch die Anfchauung und Zuwendung des Iebendig gegenwärtigen Göttlichen 
als Moment des Zieles auf, In dem Bisherigen Tiegt fofort das ewige Leben 
der Ratechumenen, ihre Neife für die volle Firchlihe Gemeinfchaft und bie 
Thätigfeiten für die Firchlih Mündigen, ihre erbauende Rückwirkung auf bie 
übrigen Glieder der Gemeinde und ganzen Kirche, fowie die Verherrlichung des 
dreieinigen Gottes, einerfeits beftehend in den genannten Momenten, und an— 
dererſeits bewirkt durch diefelben. Erbauung (oixodoun) tft auch hier wie in 
der ganzen practifchen Theologie das alle Momente des Zweckes in fich befaffende 
Schlagwort. Aus begreiflichen Gründen haben die Unrecht, weldhe den Fatecheti- 
fchen Zweck bloß in Erzielung der Erfenntnif, allenfalls auch Anerfenntniß des 
Chriſtenthumes oder gar nur feiner Elemente ſetzen. Volle kirchliche Mündigkeit 
bleibt das Hohe, wenn auch fehr oft unerreichbare Ziel, obwohl Pflanzung des 
hriftlihen Lebens, vor allem der Erfenntnig und Anerfenntniß wenigfteng ber 
Elemente, kurz dıdaoxakla die erfte und wenigftens zu löfende Aufgabe bildet, 
während die Predigt mehr der urchriftlihen rrapaximoıs und sroopnreıa ent- 
fpricht, — Die Mittel zum Ziele oder der Inbegriff der Fatechetifchen Thätig- 
feiten find das Wort, dıdaozakte, welche bier die erfte, wichtigfte und ume« 


— 





ER 


Katechet. 45 


faſſendſte Stelle einnimmt, aber auch Cult und Disciplin, oder der volle in der 
Kirche fortlebende Chriſtus in feinem prophetiſchen, hohenprieſterlichen und fönig- 
lichen Amte, je nah dem Maße des Faterhetifhen Zieles. Gegen das alte Vor- 
urtheil, wornach bloß das Wort, ja bloß das gefprächsweife oder gar nur ab= 
lockende Cheuriftifhe) das Fatechetifhe Mittel fein foll, ſpricht die Natur der 
Sache, Willen, Weſen und Beiſpiel Jeſu Chriſti und ſeiner Kirche, die nirgends 
fliefmütterlih handeln, das wohlverftandene katechetiſche Ziel, Beredtigung, Be— 
dürfnig und Empfänglichfeit der Katechumenen, das Katechumenat der alten Kirche, 
ja fogar die gewöhnlichfte Praxis. — Die Nothwen digkeit der Katecheſe Liegt 
in dem Willen, Wefen und Beifpiele Chrifti, feiner Apoftel und der Kirche aller 
Zeiten, die ohne Katechefe von ihrem Haupte und feinem hl. Geifte, von ihrem 
univerfellen alleinfeligmanhenden Glauben, ihrer weltumfaffenden Liebe, ja fogar 
von dem jeder lebendigen Gefellfhaft wefentlihen Drange der Erhaltung und 
Erweiterung gänzlich abfiele und auch höchſt ungerecht handelte, fofern fie den 
Katechumenen das vorenthielte, worauf fie volles Net erworben haben. Schon 
die Kleinften fünnen und follen ein religiöfes Leben führen nach ihrer Art, Kein 
fhöneres Schaufpiel für Himmel und Erde, als eine religiöfe Jugend. Die Ju- 
gend ift überall die Zeit der Ausfaat, das gleihfam mit der Muttermilh Ein- 
gefogene haftet für Zeit und Ewigkeit entſcheidend. Jugendlihes Glauben, Lieben 
und Hoffen ift Paradies und Himmels Vorgeſchmack, Leuchtturm und Magnet 
nah fpäterm Fall, Sauerteig, ja Verjüngung ganzer Gemeinden und Zeiten, die 
mächtigſte Schugwehr in den Gefahren der Welt und Zeit. Das in der Jugend 
Verſäumte läßt ſich fpäter, befonders bei groß gewordener Sünde, fihwer, ja faft 
gar nicht mehr einbringen; und eine religiös verwilderte Jugend ift leicht für 
Zeit und Ewigfeit verloren und zeugt in befchleunigtem Falle noch ſchlimmere 
Geſchlechter. Endlich Fann die ganze fpätere Paftoration nur auf der Bafis guter 
Ratechefe wahrhaft und allfeitig gedeihen, Wie fonnte die Katechefe anders als 
mit Notbwendigfeit aus der Kirche Chriſti erwachſen! Im Uebrigen haben auch 
die mit der Kirche wahrhaft geeinigten Gemeinden, ihre Ratechumenen, deren 
Eltern, fowie der fein eigenes Wefen und Jntereffe verftiehende Staat ausdrück- 
lich oder ftillfhweigend ihren Willen bei der Katechefe, ihr auch ihrerfeits den 
Stempel der Notbwendigfeit aufdrückend. — Bor, mit und nah der amtlichen 
Fatechetifchen Thätigfeit find fortwährend viele Factoren für das Ziel thätig, der 
hl. Geift, die häusliche Erziehung, die Schule, die ganze Gemeinde und das 
Öffentliche Leben, der Gottesdienſt, das Gebet. Hier find aber auch die böfen 
Factoren erfennbar. Was fann und fol der Geiftliche für jene und gegen dieſe 
thun? — Bir definiren die Katechefe fofort als die Summe der nothwendigen 
lirchlichen, göttlih-menfhlichen Thätigfeiten in Lehre, Cult und Disciplin in 
Bezug auf die Firhlih Unmündigen zur Erzielung kirchlicher Mündigfeit. Oder 
die Ratechefe ift die fortgefegte Gemeindebildung. Gemeindegründung unter 
den der Kirche noch gar nicht Angehörigen ift das Geſchäft der kirchlichen Miſſio— 
nen. Vgl. hierzu den Art. Chriftenlehre. [Öraf.] 
Satechet. Die Geiftlihen heißen Katecheten (Ratechiften), fofern fie im 
Auftrage und ald Organe Chriſti und feiner Kirche die katechetiſche Thätigfeit zu 
volldringen haben. Früher nannte man fie auch Nautologen, indem man die Kirche 
einem Schiffe verglich, in welchem Chriftus der Steuermann, die Führer die Bi: 
ſchöfe, die Schiffer die Priefter, die Arbeiter die Diaconen, die Ratecheten die _ 
Nautologen, d. h. diejenigen find, welche die Einfteigenden im Vordertheile des 
Schiffes empfangen, die neu hinzufommende Mannfchaft an Bord bringen; die 
Sahrenden find die Menge der Brüder. Die Vorausfegungen einer rechten Ber- 
waltung des Fatechetifchen Amtes find im Allgemeinen die aller geiftlichen Amts- 
führung: gewiffe Teibliche und geiftige Eigenfchaften und Anlagen (natürlicher 


Beruf), gründliche und umfaffende theologifche und allgemein menſchliche Bildung 


u: Katechetit. 


und lebenslängliches Fortſchreiten in Beidem, ächt religidfer und kirchlicher Sinn 
und Wandel, Gebet, Meditation, Seelſorgereifer und Klugheit, Kenntniß der 
Gemeinde und Katechumenen, Erwägen der guten und bbſen Factoren und Wirf- 
famfeit für jene und gegen dieſe, Vertrauen und Liebe der Gemeinde, Eltern und 
Kinder, Eirhliche Berufung. Beſonders find nothwendig oder doch fehr nützlich 
gute Kenntniß der Bibel, der Kirchen- und Profangefchichte, des Lebens der Hei- 
ligen, der populären Dogmatif, Moral und Liturgif, der Fatechetifchen Haupt- 
werfe, des Unterrichts und Erziehungswefens, der Kinderwelt, guter Jugend- 
ſchriften, Vorübung durch Ertheilung von allerlei Jugendunterricht, Lefen und 
Anhören guter Katecheſen, Fatechetifche Uebungen unter verftändiger Leitung, flei- 
Biger Schulbefuh, gewiffenhafte Vorbereitung auf jede Katechefe, gutes Gedädht- 
niß, lebhafte Phantafie, ſcharfes Urtheil, natürliche Geiftesgegenwart, hohe Liebe 
zu den Kindern, unerfehöpfliche Geduld, Milde mit Strenge gepaart, Leutfelig- 
feit, ein frifches, Tebendiges Wefen, Gebet für die Katechumenen. Hauptfache 
und eigentliches Triebrad aber bleibt der Fatechetifche Eifer, geweckt und genährt 
durch Erwägen der hohen Menſchen- und Chriftenwürbe der Katechumenen, des 
Inhaltes, der Schönheit und der zeitlichen und ewigen Folgen des zu verwirf- 
lichenden Zieles und des Gegentheiles, durch Betrachten des Weſens derer, die 
den Auftrag zur Ratechefe geben, des dreieinigen Gottes, aller guten Geifter, 
der Kirche, der Gemeinde, der Eltern, Kinder und des Staates, durch Betrach— 
ten des Eifers, Beifpieles und Wirkens der Mufterfatecheten aller Zeiten, durch 
Betrachten der eigenen hohen Chriften- und Priefterwürbe, alles Empfangenen 
und noch Hinterlegten, als eben fo vieler Motive zu danfbarer Arbeit, durch Be- 
trachten der mitwirfenden Factoren, ja auch der zu heldenmüthigem Kampfe her- 
ausfordernden Hemmniffe und Schwierigkeiten, durch Betrachten der Folgen guter 
und fhlechter Verwaltung für den Katecheten felbft, endlich dur Erwägung, daß 
für die fo wichtige und fehwierige Ratechefe dem Bittenden die Gnade nicht feh- 
len kann. [Graf.] 
Katechetik. Die Katechetik iſt die Wiſſenſchaft und Theorie der Katecheſe, 
der fortgeſetzten kirchlichen Gemeindebildung oder der göttlich-menſchlichen Thätig- 
keiten der Kirche in Lehre, Cult und Disciplin (Unterweiſung und Erziehung) — 
für die Unmündigen zur Erzielung kirchlicher Mündigkeit. Kernyerızm sc. veyyn 
oder Erruornun ftammt von 27x05, Schall, Nede, zaunyeiv, anfıhallen, reden, 
unterrichten, mit dem Nebenbegriff des Wichtigen und Feierlichen, biblifh vom 
Unterrichten im Chriftentbume Luc, 1, 4. Cal. 6, 6., kirchlich vom Unterrichten 
und Bilden im Chriftenthume zum vollen Eintritt in die Rirchengemeinfchaft; die— 
fes Unterrichten und Bilden felbft heißt zurnxsoıs und zarnxıowos, letzterer 
fpäter metonymifch gleich: das Unterrichtsbuch, das aber erft durch den Katecheten 
und Yebendigen Gebraud wird, was es fein foll — Katechismus. — Die Prin- 
eipien oder Grundpfeiler der Katechetif Tiegen in dem Ziele, den Mitteln zum 
Ziele, den Katechumenen und dem Katecheten, Ye wichtiger und fihwieriger bie 
Ratechefe, je zahlreicher und eingewurzelter die Irrthümer und der Streit ber 
Meinungen in Theorie und Praris, je mehr endlich die Fatechetifhen Thätigfeiten 
einen wohlgeordneten Organismus bilden follen und fih für die angehenden 
Geiftlichen der Anſchauung im Leben entziehen, defto mehr ift die Katechetif neben 
vielem Anderem practifch für die Einen nothwendig, für Alle fehr werthvoll. — 
Die Eintheilung der Katechetif kann gebildet werden wollen nach den Momenten 
des Zieles (Erkenntniß, Anerfenntnig, Glaube, die diefem angemeffene Verfaf- 
fung des Gemüthes und Willens), oder nach) den Grundfräften der menfchlichen 
Seele, oder nach den Mitteln zum Ziele (Lehre, Cult, Diseiplin, oder Kirchliche 
Unterwerfung und Firchliche Erziehung, oder Stoff und Form, oder Katechet, Ka— 
techumene und Ratechefe), Zwermäßig mag folgende fein: I. die katechetiſchen 
Themate, II. die Materialien zu ihrer Ausführung, II die Anordnung der Fate 








Katechetik. — 47 


chetiſchen Themate und ihrer Materialien, IV. die wirffihe Ausführung, V. der 
äußere Bortrag —, ganz nach den Momenten, nad) denen eine Katecheſe, Pre— 
digt oder Profanrede verläuft. VI. Sicherung des Erfolges durh Auswendig- 
lernen, VII. befondere Thätigfeiten durh Wort und Eult für Uebung der Religion, 
VI. befondere Thätigfeiten durh Wort und Disciplin für religiöfen Wandel, 
IX. die Ratechefe für befondere Bedürfniffe. Unter Berweifung auf die ent- 
ſprechenden Artikel des Kirchen-Lerifons können hier nur Andeutungen der Grund=- 
Iinien der Ratechetif gegeben werben. I. Die Fatechetifhen Themate. Während 
der ganzen Dauer der fatechetifchen Bildung foll das ganze Chriftenthum, je 
nach den Vorfenntniffen, Bedürfniffen und Fafungsfräften, möglichſt wiederholt 
vorgetragen werden. An das nähere Was, Warum und Inwieweit des objer- 
tiven Chriftenthumes, der Geheimnißlehren, der Unterfheidungslehren, der Bibel, 
Kirchengeſchichte, natürlichen Offenbarung, des Eultus und der Disciplin, fowie 
der Moral, wird hier nur erinnert. Die fatechetifhen Themate für die einzelnen 
Slaffen. Die religiöfe Erziehung foll fhon im frübeften Kindesalter beginnen, 
die firchliche Fann nicht zu früh angefangen und nicht zu fpät beendigt werden, 
Nimm die Katechumenen zufammen, welche im Ganzen diefelben Vorfenntniffe, 
Faffungsfräfte und Bedürfniffe haben, und gib denfelben diefen gemäß nicht 
Bruchſtücke, fondern je ein Ganzes der Religion nah der Frage: was follen 
diefe Rinder glauben, lieben, hoffen, üben, weldes ift das Ideal des religiöfen 
Lebens ihrer Stufe? Die Borbereitungsclaffe. Vorbereitung auf den 
eigentlichen Unterricht und Beibringung eines Eleinen Religionsganzen im Verlauf 
oder auf der Grundlage einer furzgefaßten biblifchen Gefhichte, ſtets auslaufend 
und fich concentrirend in das Krenzeszeihen, Symbolum, Bater unfer und bie 
Sehler, Tugenden und Uebungen der Kleinen, Erfte Elementarclaffe. Em- 
pfänglichkeit und Bedürfnig für Anfhauungen ohne Ausflug des Begrifflihen 
als des Seceundären. Warum die biblifche Gefchichte überhaupt und in der Ka— 
techefe und vor allem in diefer Elaffe zum Vortrage fommen foll. In die bib- 
liſche Geſchichte verwoben, ihr beigebunden oder neben ihr in einem befondern 
Büchlein den Kindern in die Hand gegeben — ein furzgefaßter Katechismus zur 
Grundlegung des eigentlihen Katechismus. Zweite Clementarclaffe. Em- 
pfänglichkeit und Bedürfniß für das Begrifflihe ohne Ausfhluß des Gefhicht- 
lichen, als des Secundären und des Mittels. Der Katechismus. Soweit es der 
KRatehismusunterricht als die allgemein nothwendige Hauptfache erlaubt, tritt in 
zweiter Linie die vollftändigere, tiefere und mehr pragmatifche Darlegung der 
Dffenbarung in der von Gott gegebenen gefhichtlichen Form hervor mit fleter 
Bezugnahme auf den Katechismus. Die Sonntagshriftenlehre. Katechis— 
‚mus und biblifhe Gefhichte in der eben genannten Weife, wohl auch einzelne 
bibliſche Abfchnitte und Bücher, oder fonftige wichtige und intereffante Gegen- 
fände, überhaupt aber Erhaltung und VBervoliftändigung des Frühern und Hin 
zufügung deſſen, wofür erft jegt Bedürfnif und Fähigkeit vorhanden ift. Vielleicht 
auch ein zu einem eigentlichen Volksbuch erweiterter Katechismus in den Händen 
diefer Jugend und der Gemeinde. Thema der einzelnen Katerhefe wird das, 
‚worauf der vom Lehrbuche gegebene und vom Katecheten auf die Lehrftunden wohl 
vertheilte Gang des Unterrichtes gerade führt. Erlaubte Unterbrechung des regel- 
mäßigen Ganges (vgl. Chriftenlehre). I. Die Materialien zur Ausführung, 
Das ganze Chriſtenthum ift überall wie Thema, fo auch Mittel zur Ausführung. 
Uebrigens find die Materialien in den Fatechetifchen Handbüchern (bibliſche Ge- 
ſchichte, Katechismus), fofern von diefen Alles aus — und in diefe Alles zurüd- 
gehen foll, wenigftens angedeutet, in andern Fatechetifchen Hilfsbüchern aber aus- 
drüdlih zufammengeftellt, und fließen zudem aus dem ganzen Studium, der Bil- 
dung, dem Herzen und der Erfahrung des Katecheten. Endlich bildet die Kenntniß 
zu erflären, zu beweifen, zu widerlegen, das Gemüth zu bilden, den Willen zu 





2 


48 | gatechetik. a 


bewegen, und die Lehre von der Meditation eben fo viele Wege zur Auffindung 
der Materialien, IM. Die Anordnung. Wie nothwendig diefelbe iſt — mit 
Nücfiht auf den Lehrgegenftand, die Ratechumenen und den Katecheten. Allge— 
meine Örundfäge: 1) Schide je die Puncte voran, von deren Erfenntniß - 
over Anerfenntniß, oder Wirkfamfeit auf Gemüth, Willen und Leben jedesmal 
die Erfenntniß oder Anerkenntniß, oder fonftige Wirkfamfeit der folgenden Puncte 
an fih oder in beflimmten Claffen mehr oder weniger abhängt. Alfo z. B. laß 
das Leichtere dem Schwereren, das Eonerete dem Abftracten vorangehen, Teite 
vom Bekannten zum Unbefannten über, gib im Allgemeinen zuerfi die Erflärung, 
dann den Beweis, hernach allenfalls Widerlegung, und zulegt die Paränefe für 
Gemüth und Willen; gib im Allgemeinen zuerft die Tugend und laß ihr Gegen- 
theil folgen. 2) Befolge die Regeln der Logik, aber nicht ſelaviſch, da dieſelbe 
bier nur Dienerin für practifhe Zwede iſt. 3) Schließe an das Dogmatifche 
feine moralifchen Folgerungen, und an das Moralifche feine dogmatifche Be— 
gründung, oder allgemeiner: Iehre. das Dogmatifche ethifh und umgekehrt, 
4) Symmetrie und Gradation in der Anlage find wie in der Predigt fhägbar, 
jede fünftliche aber, befonders in der Katecheſe, verderblich. 5) Diefe fordert 
vielmehr nach ihrem ganzen Wefen vor Allem Einfachheit, eine gewiffe, ftets 
wieberfehrende Weife auch in der Anlage, überhaupt den Fürzeften, natürlichften 
und verftändlichften Weg. Der Flar gedachte Zweck lehrt am beften, was, wie 
und in welcher Ordnung e8 gegeben werben foll. Sorge im Ganzen und Ein» 
zelnen, daß die Kinder ſtets möglichft im Bewußtfein des Zufammenhanges er- 
halten werden. Die von Hirfcher’s Ratechetif abfolut geftellten Forderungen $ 24, 
find nur in der biblifchen Gefchichte, und die $ 25. Cofr. $ 14 ff.) erft dann zu 
befolgen, wenn das objective Werden, Wefen und Sichäußern des Guten und 
Böfen und feiner Einzelheiten gefchildert werben will, Anordnung der Elaf- 
fentbemate, Biblifhe Geſchichte. Ordne Alles fo, wie e8 Gott georbnet 
bat, auf daß auch dur die Anordnung die Dffenbarung als ein zu immer grö- 
Berem Glanze und Reichthum fich entwicfelndes Ganze voll Gnade und Wahrheit 
zur Erlöfung und Befeligung der Menfchheit erfcheine, Katechismus (ſ. d. A). 
Die Anlage des römifchen Katechismus. Die Anordnung der einzelnen Kate— 
chefe — einerfeitS nach der im Katechismusſatz oder der biblifchen Gefchichte lie— 
genden Gliederung, andererfeitS nach den allgemeinen Orundfäßen. IV. Die 
Ausführung überhaupt. Erzielung der Erfenntniß der Religion, ihre Noth- 
wendigfeit, Aufpellung der Anfhauungen, Begriffe, Urtheile, Lehrftüde, Lehr— 
ganzen, der dagmatifchen, fittlichen, gefchichtlihen Gegenflände, Erzielung der 
Anerfenntniß und des Glaubens, Ihre Nothwendigkeit. Was ſoll bewiefen 
werden? verfchiedene Beweismittel, Auctoritätd- und Vernunftbeweife insbefon- 
dere, Wahl und Ausführung der Beweismittel, Was, wie und in welchem 
Maße fol widerlegt werden? Erzielung und Befeftigung des Glaubens, z. B. 
Unterfchied zwifchen Glauben und bloßem Anerfennen, Menfchenverftand und 
Auctorität Gottes und feiner Kirche, Glaubensacte in und außer der Katechefe, 
Erzielung der dem Glauben angemefjenen Verfaffung des Willens, z. B. wieder- 
holte Darftellung der Majeftät, Gerechtigkeit und Liebe Gottes, der Bedeutung 
des freien Willens, Willensacte. Verhütung böfer und unreiner und Erzielung 
rechter Willengentfchließungen. Bildung des Gemüthes, der finnlichen, felbfti- 
fen, ſympathetiſchen, Afthetifchen und moralifhen Gefühle und Begehrungen?. 
Pflege der Liebe zur Kirche, Nelativ allgemeine Forderungen: die Darftellung 
fei wefenhaft, habe Fülle und Kraft, und Tiefe, Unbedingt allgemeine: in jeder 
Katecheſe fei bis hinaus in Dietion, Action und Declamation in rechter Harmonie, 
Neber- und Unterordnung wirffam — die Natur des augzuführenden Gegenflandes, 
die Ratechumenen, ihre Vorkenntniſſe, Faſſungskräfte und Bedürfniffe, der Zwed 
der Ratechefe überhaupt und der betreffenden insbefondere, die Achte und berech— 





Katechetik. 49 


tigte Perſonlichkeit des Katecheten. Siehe die betreffenden Artikel und Hirſcher's 
Katechetik $ 24—96. Die Ausführung in den katechetiſchen Büchern — 
bibliſche Gefhichte und Katechismus. Die einzelne Katecheſe. Die heuriſtiſche 
und afroamatifhe Methode, ihr Wefen, ihre Vorzüge und Mängel, ihre rechte 
Berbindung. Das bloße Abfragen, Die Fragen und Antworten und ihre Be— 
Handlung. Die befondern Modificationen der Ausführung in den verſchiedenen 
Elaffen überhaupt und der biblifchen Gefchichte und des Katechismus insbeſondere. 
Die Beftandtheile der einzelnen Katecheſe: Eingang, Thema, Partition, Ueber— 
gänge, Schluß, Gebete. V. Der äußere Vortrag: Dietion, Action und De- 
elamation. Der Unterfihied vom bomiletifchen Vortrage liegt in der Natur der 
Katechefe, ihrem Zwede, den Ratechumenen, dem Katecheten. Aufſchreiben und 
Mempriren. VI, Siherung des Erfolges. Aufmerffamfeit, Auswendig- 
lernen. VII. Befondere Thätigfeiten durh Wort und Cult für Hebung der Re- 
ligion. Die Uebung der Religion in und außer der Katecheſe, der Kindergotteg- 
dienft, Beiht, Communion, Firmung, Die unmittelbare Vorbereitung für den 
Gottesdienft der Erwachfenen. VII. Befondere Thätigfeiten durh Wort und 
Disciplin für Ausübung der Religion im Wandel — bei den Elementar- 


ſchülern, der erwachfenen Jugend, pofitive Förderung des refigiöfen Wandels, 


Fernhalten fittliher Gefahren, Heilung fittliher Berirrungen. Hirfher’s Kat. 
$ 118 ff. IX. Die Katecheſe für befondere Bedürfniffe. Die ganze Ge- 
‚meinde in der Ratechefe. Beſonders zu Unterrichtende,. Pirofelyten und Conver- 
titen. — Die Katechetif als befondere Diseiplin ift jung, wie man überhaupt 
lange nicht daran dachte, Die Regeln der Verwaltung des geiftlichen Amtes voll- 
fündig, im Zufammenbange und wiffenfchaftlich darzuftellen. Auguſtin's de ca- 
‚techizandis rudibus und Gregor’s v. Nyffa Aoyos zarnyntızos 6 ueyas find nur 
ganz uneigentlich eine Art Katechetik. Defto mehr blühte in der alten und älteften 
Kirche in dem Katechumenat mit feinen Stufen die Katecheſe ſelbſt, nicht fo faft 
‚für die Kinder, als die Profelgten, und in dem afroamatifchen Unterricht traten 
auf der Grundlage hiſtoriſchen Unterrichtes bald. die kirchlichen Fatechetifchen Haupt- 
füfe — Glaubensbefenntnig, Decalog, BVaterunfer, Sarramente, hervor. In 
diefen Hauptflüen wurde das Bolf im Mittelalter befonders in der Advents- 
und Faftenzeit unterrichtet und auch die Unterweifung der Parvuli in Klofter- 
fhulen und durch den Pfarrer fehlte weder in der Gefeggebung, noch in der Ber-_ 
‚waltung. Ein Bild der mittelalterlihen Katecheſe fünnen wir den Fatechetifchen 
Anweifungen in den alten Ritualien entnehmen, und eine Art Katechetif gibt 
Gerfon de parvulis ad Christum trahendis. Neuen Werth und Auffgwung gaben 


der Katecheſe und Katechetik — die Neformation, das Concil von Trient, die 


‚Sefuiten, der Katehismus von Eanifius und der römische, Bon jest an erfchei- 
‚nen bei Katholifen und Proteftanten die Anfänge eigentliher Katechetif, Ihre 
neuere Geſtalt datirt fih aus der Mitte des 18ten Jahrhunderts, da eigene Lehr- 
ftühle für die Paftoral errichtet wurden, aber auch Nationalismus, Aufklärung 
und Rantianismus in die Theologie eindrangen, Wohlthätige Folgen waren, daß 
„bie ſcholaſtiſche Behandlung einer mehr pſychologiſchen und practifchen Platz machte, 
‚bie biblifhe Geſchichte größere Bedeutung erhielt, die Fünftigen Ratecheten dur 
Theorie und Uebung forgfältiger vorbereitet und auch pädagogifch gebildet wur- 
ben, und die Katecheſe eifriger, allgemeiner, in fletigerem Gange, zablreicheren 
Stunden und. längerer Dauer ertheilt wurde, Die verderblihen Folgen aber 
waren, daß Katechetif und Katechefe ihres eigentlichen Wefens, biblifchen und 
Eirhlihen Elementes faft ganz beraubt wurden, und die rationaliftifche beuriftifche 
‚Methode und der bloß natürliche, weltliche und pſychologiſche Inhalt fi unge- 
ſcheut, 3. B. bei Oräffe ad absurdum, entwidelten. Der Streit der Meinungen, 
das voreilige Berbrängen des hergebrachten Katechismus, die Katehismus-Noth 


und Berwirrung und ihre üblen Folgen! Cine beffere Geftaltung geben der Ka⸗ 


ihenlexikon. 6. Dr. 4 


1 


5 


\ 


Mr 


50 Katehismus, 


techefe und Katechetik die tiefere neuere Theologie, Philoſophie und Pädagogik, 
die neuerwachte Kirchlichkeit, die große Anftrengung, endlich aus der Ratechismus- 
verwirrung herauszufommen, Gruber's und Hirſcher's Leiftungen. Die neueften 
pofitio-hriftlichen Ratechetifen der Proteftanten find von Kraußold, Palmer und 
Niztzſch. [Graf.] 
Katechismus. In der Katecheſe (ſ. d. A.), ſowie unter den Büchern, welche 
als deren Grundlage in die Hand der Katechumenen gegeben werden, bildet der 
Katechismus den überall unbedingt nothwendigen Mittelpunct und iſt die kurze 
volksthümlich und kirchlich begriffliche und geordnete Summe des katholiſchen 
Glaubens, Lebens und Weſens in Form von Frage und Antwort mit beigefügtem 
Anhang der gewöhnlichen Hauptgebete. Nach vorangeſchicktem bibliſch geſchicht- 
lichen Unterrichte ſoll er bei erwachten Verſtandeskräften Thema, Skizze, Zu- 
ſammenfaſſung und bleibende Einprägung der Katecheſe werden und vom Kateche— 
ten nur aufgeſchloſſen, mit Fleiſch und Blut umgeben und lebendig in Erkenntniß, 
Gedächtniß, Herz und Willen eingeſenkt, ſofort eine religiöſe Hauptſubſtanz der 
Gläubigen, eine Hauptbaſis und Summe ihres Glaubens und Lebens, eine Haupt- 
sprausfegung alles rechten Gebrauchs der Bibel, der Gebet- und anderer reli- 
giöfen Bücher, fowie des Gedeihens aller geiftlichen Thätigfeiten im öffentlichen 
Gottesdienſte und der Seelforge ausmachen. Sp wichtig und nothwendig für den 
Theologen die Dogmatif und Moral, fo wichtig und notbwendig für den ein- 
fachen Chriften der Katechismus, Er ift mehr Volfs-, als bloßes Schul- und 
Kinderbuch. Er muß in die Hände der Katechumenen gegeben werden, denn da— 
durch wird Lernbegierde, Aufmerffamfeit, Erfaffen und Behalten gefördert und 
die Vorbereitung auf die Ratechefe, ihr Wiederholen zu Haufe, das Auswendig- 
lernen der Summe des Unterrichtes, das Mitarbeiten der Eltern und Lehrer, das 
Fortbauen auf feften Grundlagen in der fpätern Ratechefe und in ber Predigt 
und Seelforge, und Iebenslängliches Wiederholen ermöglicht. Insbeſondere foll 
der Katechismus nach feinem Wefen und Zwed und dem pofitiven Rechte vom 
Kirchenregimente ausgehen und in der ganzen Didcefe, wenn nicht bei ganzen 
Nationen, möglichft lange unverändert derfelbe fein, ja in der ganzen Kirche ein 
und denfelben althergebrachten Grundtypus in Inhalt, Anlage und Ausführung 
an fih tragen, Sp nur ift und wird derfelbe eine Art ſymboliſchen Buches, wahr- 
haft Firchlicher Inbegriff des gemeinfamen Glaubens und Lebens, Unterpfand der 
Einheit unter einander und mit der ganzen Kirche, fo erhält die Kirche und Ge- 
meinde die Bürgfchaft Firhlichen, fletigen und einheitlichen Unterrichtes, fo wird 
der Geiftliche, der in Feiner Amtsverrichtung ungebunden ift, in der hochwichtigen 
Katechefe wohlthätig gebunden, des ſchweren Gefchäftes, felbft zu wählen, fowie 
des peinigenden Gefühles, fehlgegriffen zu haben, überboben, fo Fann das Kir— 
chenregiment z. B. ſchon im Seminar und durch Fatechetifche Handbücher in rechte 
Katechefe einführen; fo nur fann der Katechismus das fortwährende Hauptlehr- 
buch der Eltern ihren Kindern gegenüber, das Tebenslänglich orientirende Haupt- 
Yefebuch der Gläubigen werben, fo nur Eifer und Freudigfeit bei Geiftlichen, 
Eltern und der ganzen Gemeinde erweren und den Werth, die Heiligkeit und 
Unveränderlichfeit der Religion gleihfam von außen fühlbar machen, Die Anlage 
des Katechismus ſei Firchlich, einfach, populär und fachlich, Einige gingen den 
gefhichtlichen Gang und ihr Katechismus wurde ein Zwitterding von Katechismus 
und biblifher Geſchichte. Andere vpferten die Behandlung des Fatechetifchen 
Stoffes an der Hand der kirchlichen Formeln einer fogenannten wiffenfchaftlichen 
Gliederung, handelten aber gegen Beifpiel und Vorfoprift der Kirche, gewannen 
auch nicht, was fie erftrebten, am wenigften Einfachheit und Volksthuͤmlichkeit. 
Andere fuchten eine wiffenfchaftliche Gliederung mit den Firchlichen Formeln zu 
vereinigen, aber die Vereinigung gelang weder genügend kirchlich, noch auch fach- 
lich, vollsthümlich und dem practifchen Bedürfniß entfprechend, Andere folgten 








Katehumenen. 51 


mit geringer Abänderung der Eintheilung des Canifius, hatten aber gegen fi 
deffen unläugbare logiſche Gebrechen. Die befte Anlage ift ohne Zweifel die nad 
dem römifchen Katechismus im Regensburger (bei Puftet), und noch beffer im 
neuen Rottenburger Didcefanfatehismus (von Shufter). 1) Glaube, Glau— 
bensbefenntniß, apoftolifhes Glaubensbefenntniß, die zwölf Artifel veffelben, 
2) ©nade, heiligmahende Gnade, wirflihe Gnade, Gnadenmittel, Sacramente 
und Sacramentalien. 3) Gebote Gottes und deren Erfüllung (Qugend und 
chriſtliche Vollkommenheit), Uebertretung der Gebote Gottes (Sünde und Lafter), 
zwei Gebote der Liebe, zehn Gebote Gottes, fünf Gebote der Kirche. 4) Gebet, 
Gebet des Herrn, englifher Gruß, Ceremonien. Diefe Anlage hat für fih das 
Beifpiel des grauen Altertfumes, die den Canifius übertreffende Auctorität des 
römifhen Ratehismus, fowie Bolfsthümlichfeit, einfachfte und leichtefte Aufein- 
anderfolge der Materien, wohl verftandene Wiffenfchaftlichfeit, und ift nur die 
verbefferte des längft bewährten Canifius, Im Uebrigen habe der Katechismus 
dogmatiihe Treue, ſachliche Bollftändigfeit und im Ausdrudf Popularität, Prä- 
eifion, Kürze und Prägnanz, gebe das ganze, befonders auch das ſpeeifiſch-katho— 
Iifche Glauben, Leben und Wefen in vollem begrifflihen Inhalte, hinreichender 
Begründung, rechtem Zufammenhange und allenfalld auch mit angemeffenen prac- 
tifchen Folgerungen, mit den vornehmften afcetifchen Regeln, furzen Gebeten und 
Aumuthungen, fei mehr indirect als direet polemifh und apologetifh, bewahre 
die alten, volksthümlichen, von der Kirche producirten, die Perfönlichfeit der 
Kirhe, nicht des Einzelnen abjpiegelnden und allein die Sache ohne Alterirung 
wiedergebenden Definitionen und Ausdrüde, baue Alles nicht bloß auf fchlagende 
wenige Schriftausfprühe und Beifpiele, fondern auch auf Tradition, Kirche und 
Bäter, greife nicht in das Gebiet der Ausführung und Paränefe, arbeite diefen aber 
möglichft reich indie Hände, fei gleichmäßig angemeffen dem Gebildeten wie dem Unge— 
bildeten, wahrhaft objectivund allgemein, rechtfertige fich in ven unbedeutendften Wor- 
ten und Wendungen, fondere die Einzelheiten auch jchon für das Auge durch Drud, 
Numeriren, verſchmähe den Gebetsanhang nicht und forge möglichft gut für die 
große Hauptfahe, das nachhaltige überall möglihe Auswendiglernen. Ins— 


befondere habe er die Frag- und Antwortform, fie ift alt hergebracht, vertheilt in 


fleine Portionen, verhütet das Jneinanderfließen, marfirt die Gefichtspuncte und 
erleichtert das Auswendiglernen, Canisius redivivus! Dem eigentlichen Katechis— 
mus fann unbefchadet der biblifchen Gefihichte ein Fleinerer als Vorbereitung und 
Grundlegung vorangehen, und ein für die Bedürfniffe der Reiferen und des 
ganzen Bolfes angemeffen erweiterter nachfolgen. Vgl. Tüb. Ouartalfchrift Jahrg. 
1843, ©, 120 ff. Jahrg. 1845. ©. 589 ff. Jahrg. 1848, S. 326 ff. und die 
Vorrede zum Katechismus für das Bisthbum Rottenburg. [Sraf.] 
Katechumenen — hießen in frühern Zeiten der Kirche diejenigen, welche 
in den Anfangsgründen des Chriftentfums Unterricht empfingen, um fo zum Em— 
pfange der hl. Taufe vorbereitet zu werden. Diefe Vorbereitung auf die hl. Taufe 
ward im Verlaufe der Ausbreitung des Chriftentfums eine nothwendige Maß— 
regel, um die Kirche vor vielen unwürdigen Mitgliedern zu bewahren, und das 
Heilige nicht zu profaniren. Die Ratechumenen (zazmxovuevo), meiftens Er- 


wachſene aus Heiden und Juden, mußten ſonach ein flufenweifes Auffteigen fich 
‚gefallen laſſen, um zulegt im Schooße der Kirche Aufnahme zu finden. Die Auf- 


nahme in das Ratechumenat gefhah durch Händeauflegung und Bezeichnung mit 
dem Kreuze, Die Dauer des Unterrichtes, fowie das Alter, das Jemand bei der 
Aufnahme Haben mußte, war unbeftimmt. Die in das Ratehumenat Aufgenom- 
menen hatten das Recht, einem Theile des Kriftlihen Gpttesdienftes beizumohnen. 
Seit dem vierten Jahrhundert waren im Ratechumenat folgende Stufen: 1) folde, 
die bei den gottesdienftlichen Verfammlungen nur der Predigt beimohnen durften 
(audientes); 2) folde, welche nach der Predigt auch noch dem Gebete beiwohn— 
4* 


52 Katehumenen-Meffe — Katholicismus. 


ten und den Firchlichen Segen empfingen (genuflectentes), Bevor das hl. Abend- 
mahl den Mitgliedern der Kirche (Rorois adeApoıs) gefpendet wurde, entlief 
der Diacon die Ratechumenen mit dem Zurufe: „Ite Catechumeni, missa est!* 
Gehet ihr Ratechumenen, die Verfammlung ift zu Ende! Daher die Bezeichnung 
Missa catechumenorum für diefen Theil des Gottesdienſtes, dem die von den hl. 
Geheimniffen noch ferne gehaltenen Katechumenen beiwohnen durften (f, Gläu— 
bigen-Meffe). Uebrigens wird noch heutzutage der Schluß des Gottesdienftes 
den verfammelten Gläubigen mit der Zufprache: Ite, missa est! angefündigt, da 
das Wort Missa fpäterhin für Gottesdienſt überhaupt, beziehungsweife für bie 
Feier der hl. Geheimniffe genommen ward, 3) Sole, welche ihre Prüfung er- 
ftanden hatten und in der nächften feierlichen Zeit Can Dftern, Pfingften, bei den 
Griechen auch an Epiphanie) zur Taufe zugelaffen werden follten (Ccompetentes, 
electi, gwrıbouevor, d. i. Erleuchtete, ſ. Erleuchtung). Erft auf diefer 
Stufe wurden fie in die chriſtlichen Myſterien, in die Lehren von der hl, Trini- 
tät, der Incarnation, in die Bedeutung der hl. Sacramente und des Glaubens— 
befenntniffes überhaupt eingeweiht, Hiernach wurden diefe Competenten noch 
mehreren Serutinien unterworfen, mußten dem Teufel, feinen Werfen und Engeln 
abfehwören; jet erft ward der hl. Taufact an ihnen vorgenommen: durch drei— 
maliges Untertauchen des Körpers, bei Schwächern auch nur durch breimaliges 
Befprengen, unter Ausfprechen der drei göttlichen Perfonen, des Vaters, des 
Sohnes und des HI. Geiftes, In der fpätern Zeit, wo vorzugsweile an neu— 
geborenen Kindern die HI. Taufe vollzogen ward, gefrhah diefelbe durch dreimalige 
Begießung des Hauptes mit natürlichem Waſſer. Am Ende des dritten Jahr- 
hunderts fam der unlöblihe Gebrauch, auf, die Taufe bis in's höhere Alter, ja 
felbft bis zur Annäherung des Todes zu verfchieben, wie foldes von Kaiſer Con— 
ftantin dem Großen erzählt wird, Allerdings mag die Haupturſache einer ſolchen 
Sitte in der tiefen Ehrfurcht vor den großen Wirfungen diefes Sacraments ge— 
legen gewefen fein; man nannte dafjelbe vorzugsweife die Gnade, Erleuchtung, 
Heiligung (pwrıouos, ayıaouos), auch Vollendung (reisıov). Die Beſorgniß 
nun, diefe herrlichen Wirkungen der Taufe durch wirkliche Sünden fpäter wieder 
zu trüben oder zu verlieren, fowie die tröftliche Zuverficht auf die Lehre der Kirche, 
daß durch den Empfang der HI. Taufe bei Erwachfenen außer der Erbfünde au 
alle begangenen wirklichen Sünden ausgetilgt werden, was für Manche das Mo— 
tio, die Taufe möglichft weit hinauszuſchieben, obwohl bei Manden auch bloß 
ſittliche Trägheit und das Mißtrauen, den frengen Anforderungen an den Täuf- 
Ying genügen zu fünnen, zu Grunde liegen mochte (f. elinifhe Taufe), Die 
Taufe an Erwachfenen ward außer den folennen Zeiten meiſtens an Sonntagen 
ertheift, und zwar meiftens vom Biſchofe; Priefter und Diaconen tauften auf 
Delegation des Bifhofs. Von den neugetauften Katechumenen erhielt der ſog. 
weiße Sonntag feinen Namen, da die an Oftern Oetauften als Zeichen der in 
der Taufe wievererlangten Unfhuld acht Tage lang weiße Kleider trugen und 
diefe erft am Sonntage nach Oſtern feierlich ableäten. [Dür.] 

Katechumenen-Meſſe, ſ. Gläubigen-Meſſe. 

Katharer, ſ. Albigenſer. 

Kathedrale, ſ. Cathedrale. 

Katholicismus. Der Ausdruck „Katholicismus“ iſt offenbar neuern Ur— 
ſprunges und wahrſcheinlich, wie die Ausdrücke: „Babſtthum“, „Pontificius“, 
„Romanensis* (Römling), „Ultramontan“ u. ſ. w. zuerſt in der Controverſe und 
zwar anfangs von den Gegnern der katholiſchen Kirche gebraucht worden. Er 
bezeichnet ſprachförmlich — eine für ſich abgeſchloſſene Secten- oder Partei- 
ſtellung und iſt inſoferne für die katholiſche Kirche injuriös, als dieſe ſich als bie 
in Wahrheit Eine und Einzige, als die allgemeine Kirche Jeſu Chriſti erkennt 
und befennt, als fie dieſes Selbſtbewußtſein und dieſes Bekenntniß nie und nim— 





Katholicis mus. 53 


mer aufgeben wird und kann, und gerade dadurch jedem religiöſen Particularis- 
mus entgegengefest if. Nur im Verlaufe der Zeit und durch feine allmählige 
Aufnahme in Fatholifche Schriften Hat diefer Ausdruf (wie fo mander andere, 
oft auch im entgegengefesten Sinne) die urfprünglich anftößige Bedeutung in Et— 
was verloren, Er hat übrigens den Ausdruck Katholiſch“ (ſ. d. A.) ſprachlich 
und den Ausdruck Ratholicität (ſ. d. A.) der Sache nah zur Grundlage,’ fo 
daß bier Alles vorausgefegt werden fann, was zur Beleuchtung des fpecififch 
Katholiſchen oder zur Vergleichung des Tegtern mit dem Häretifchen jeder Art 
in dem Kirchenlericon als Encyelopädie der Fatholifchen Theologie und ihrer 
Hilfswiffenfchaften überhaupt entweder unmittelbar oder allegatorifch vorfommen 
mag. Es muß deßhalb die vollftändige und allfeitige Lehre von der Fatholifchen 
Kirche, von ihren Merkmalen (f. Kirche), von ihrem dreifachen Amte (ſ. Amt), 
von ihrer Berfaffung, von ihrer Iufallibilität und Auctorität, von ihrem Einfluffe 
auf alle menfchlihen Verhältniſſe, namentlich auf die Familie, auf das Völfer- 
leben, auf den Staat, auf die Wiffenfchaften und Künfte, von ihrem Glauben, 
Lieben und Leben, oder von ihrer fegensreichen Wirkffamfeit nach Innen und Außen 
und von den diefer entfprechenden kirchlichen Anftalten und Inflitutionen, fo wie 
fie in den einfchlägigen Artifeln behandelt wird, als bereits bewiejen und erwiefen 
angenommen werden, Denn der Katholicismus ift, er mag nun gegenſätzlich 
zu den in fich ſelbſt erftarrten orientalifchen Kirchen und zu dem ſich felbft zer— 
fegenden und auflöfenden Proteftantismus, oder pofitiv, das heißt, nach feinem 
unendlich reichen Inhalte betrachtet werden, zur 25oynv das Katholiſche“ als 
Syitem und organifches Ganzes, wie es war, wie es iſt und fein wird, die herr- 
lichſte Dffenbarung der Fülle und Erhabenheit, der Länge, Breite, Höhe und Tiefe 
des innern und äußern Lebens an der myftifchen Braut Chrifti, an der alten 
und dabei ewig jungen Rirche, welche der Herr mit feinem Blute fi erworben 
bat (Apg. 20, 28.). — Wohl iſt der Ratholicismus in letzter Reduction die 
volle Anerfennung der von Chrifto in feiner Kirhe für alle Menfchen und 
Zeiten gefesten Auctorität als folder und der Fatholifhe Glaube wefent- 
lich Glaube an das, ja an Alles das, und zwar ohne Ausnahme und Unterfchied, 
was und weil es die von Chriſto geftiftete Kirche, als folhe, zu glauben vor— 
ftellt (Klee, Kath. Dogm. J. 322.); wohl ift der Katholicismus hiedurch dem 
roteffantismus (f.d. A.) zunähft und principiell entgegengefest, da diefer 
in feinem vollen und freien Begriff nicht mehr und nicht weniger ıft als die Nega— 
tion der von Chrifto in feiner Kirche gefegten Auctorität, als folder, und die 
Aufftellung der abftracten Individualität der Einzelnen als eigentlichen und ein- 
zigen Auctorität, welcher und wegen welcher in letter Inftanz geglaubt wird 
Klee 1. c.); wohl ift der Katholicismus die Allgemeinheit oder Katholicität des 
Epriftentgumes felber in räumlicher und zeitlicher Beziehung; es verbinden fi 
aber in dem Begriffe des Katholicismus mit dem Merkmale der Auctorität und 
der Allgemeinheit auch noch das Merfmal der Einheit und Einigfeit, fo dag 
die wahre Kirche Chriſti an allen Orten und zu allen Zeiten Daffelbe lehrt, die— 
felben Heilsmittel befigt und ausfpendet und diefelbe Verfaffung hat, während» 
dem andere von ihr getrennte, wenn auch hriftlihe Vereine, nad ihrer Ber- 
ſchiedenheit an dem einen Drte fo, an dem andern anders Ichren, beten, fingen, 
uch verſchiedene DVerfaflungsformen haben (v. Direy, Apolog. IIL 148). Es 
et fih in dem Begriffe des Katholicismus ferner das Merkmal der Unver- 
gänglich keit (Unzerftörbarkeit), wodurch er wefentlich eben fo die „Religion der 
Zufunft“ wird, wie er potentiell und thatfächlich die eigentliche und einzige Reli— 
gion der Vergangenheit war und ver Gegenwart ift. In diefer göttlich gewähr- 
4 leifteten Unvergänglichkeit des Katholicismus Liegt denn auch das Merkmal feiner 
intenfioften und ertenfivften Fruchtbarkeit, feiner wunderbaren Lebens- 
entfaltung nad Innen und Außen, ſowohl für die Zeit, welche vor uns, als für 





54 Katholicismug. 


jene, welche Hinter ung Tiegt, Der Katholicismus Hat fih über alle und jede 
Landesreligion hinaus, über alle nationalen Eigenthümlichfeiten und über den 
flüchtigen Charakter des Geiftes irgend einer Zeit hinweg immer und wefentlich 
als Weltreligion, ald den univerfalen Ausdruck des rein Neligidfen gewußt und 
dargeftelft. Er ift aber auch in und durch feine lebensmächtige, ungerftörliche Univer- 
falität den Individuen und Völfern gegenüber in der conereteften Wirffamfeit 
aufgetreten, er hat gerade durch feine Erhebung über das Bornirt-Nationale und 
Zeitgeiftige die gefunde Entwicklung der einzelnen Menfchen, wie ganzer Stämme 
und Nationen ermöglicht, gefördert und allfeitig vollendet; er hat das Stillleben 
jeder einzelnen Bauernhütte geordnet, veredelt und verflärt, er hat Völfer groß 
gezogen, er hat Sclavenfetten gebrochen, Fürften ihre Kronen gegeben und — 
erhalten. Der Katholicismus erfaßt immer und überall den ganzen Menfchen 
nach feiner Teiblihen und geiftigen Seite, in feinem Denfen, Fühlen, Wollen 
und Thun, in feiner perfönlichen und gefellfchaftlichen Stellung, in feinen in- 
teffeetuelfen und moralifhen Bedürfniffen zugleih und ebenmäßig, Er ift die 
Religion des fpeculativen Denfers und des einfachen Landmanns, der weder Iefen 
noch ſchreiben kann; der gebildete Europäer befennt denfelben Glauben mit dem 
Fathofifchen Indianer des Urwaldes, es nährt fie diefelbe Hoffnung, es einigt fie 
diefelbe Liebe, fie verehren dag gemeinfame Dberhaupt der Kirche in dem 5, 
Bater zu Rom, der die Concilienacten „als Bifhof der allgemeinen, Fatholifchen 
Kirche” unterfhreibt und für feinen geliebten Sohn, den Kaifer und König, das 
nämliche Lehrwort und den nämlichen Segen hat, wie für feine Kinder, die Roth- 
häute, wenn fie in ihrer wortarmen Sprache ihm ihre Ergebenheit bezeugen. 
Der Katholicismus ſchmiegt fih jeder Eulturftufe des Menfchengefchlechtes an, 
er Iehrt aus dem Munde Auguftin’s den horchenden Mönch das Geheimnig der 
Dreieinigfeit erforfchen, er betet mit St, Dominicus dem armen Hirten die Ge— 
heimniſſe der Menſchwerdung und Erlöfung am Rorallenpfalter vor, Der Katho- 
lieismus hat Raum in feinem Schooße für jede Individualität nach ihrer natür- 
lihen oder übernatürlihen Begabung, er bildet die riftlihe Hausfrau und 
Mutter, wie die jungfräulihe Nonne, er gewährt dem befchaulichen Leben ebenfo 
Recht und Schuß, wie er die werfthätige Liebe erhebt und preist, er heiligt die 
Che in ihrer Unzertrennlichfeit und Sacramentalität ebenfo, wie er das Beffere 
dem Guten in der Virginität vorzieht. Der Katholicismus hat den herrlichften 
Bund mit den Künften und Wiffenfhaften gefchloffen; er hat die meiften Univer- 
fitäten gegründet, dotirt und organifirt, feine Söhne ſtehen in allen Zweigen 
menfhlihen Wiffens ebenbürtig neben ihren nichtkatholifchen Fachgenoſſen; der 
gelehrte Fleiß und die emfige Forſchung des einfamen Mauriners ziert manch’ 
ein proteftantifches Buch, ohne daß es feine Quellen nennt, und gar mancher alte 
Fatholifche Dom beherbergt das in Tert und Weife ärmlich ausgeftattete Lied und 
die Falte Predigt des Proteſtantismus. Der Katholicismus hat noch für jedes im 
Laufe der Zeit fih offenbarende Gebrechen das angemeffene Heilmittel in feinem 
eigenen Schooße gefunden, er hat der Welt und ihrer Pracht die Entfagung des 
Mönches, dem unfittlichen Treiben der adeligen Prälaten den armen Franziscaner ent- 
gegengeftellt und heute noch ſtellt er dem felbft- und habfüchtigen Ringen nach Geld und 
Genuß die alles opfernde graue Schwefter gegenüber, Der Katholieismus wurde nie 
müde dag Evangelium zu allen Völfern der Erde zu tragen, damit e8 wenigftens allen 
Völkern der Erde gepredigt werde, wenn auch diefe den Glauben aus eigener 
unglücfficher Wahl zurücftoßen follten. Das Sprachenfeft in Nom und die Auf- 
opferung fo vieler Miffionäre ift beredter als die Schiffsladung der Bibelgefell- 
haften, — In dem Begriffe des Katholieismus findet ſich endlich noch die un» 
zertrennlihe Schwefter der Einheit und Einigfeit, die wunderbare Confequenz, 
welcher felbft die eifrigften Proteftanten ihre Achtung nicht verfagen fünnen, Das 
Princip der unfehlbaren Firchlichen Auetorität einmal zugegeben, Fann feine Ein- 


— 





Katholicismus. 55 


wendung ſtichhaltig gegen den Katholieismus, gegen die Lehre, Verfaſſung und 
Disciplin feiner Kirche mehr auffommen; die Einheit in der Lehre, im Cultus, 
in der Kirchenfprache (ſ. d. A.), in der Regierung und Zucht ift wie von felbft da und 
vorhanden, der Katholicismus trägt gerade durch feine Eonfequenz die wahrhafte 
Ausgleihung des fupranaturalen und rationalen Momentes der Religion in ſich; 
er regelt die freie Forfhung dur die normgebende, unfehlbare Auctorität ohne 
fie zu unterbrüden; er ordnet die reiche Mannigfaltigkeit des Lebens zur fchönften 
Einheit, er verbindet die fpiegelhelle Klarheit und die unſchuldige Heiterkeit chriſt- 
licher Lebens- und Weltanfhauung mit der ahnungsvollſten Tiefe der Wiffen- 
Schaft göttlicher Dinge und mit der verborgenften Seligfeit in Gott, Es gibt für 
den Menfchen feine urfprünglich freudigere Empfindung als die Empfindung des 
eigenen Seins, feinen nachhaltiger feligen Gedanfen als den Far gedachten Aus- 
foruch feiner Selbfigewißheit: „Ich bin“ * „ich bin durch Gott!“ Dieſem ge— 
ſchöpflichen Ichgedanken ſteht aber an ſeligem Selbſtgefühl, an innerer, freu- 
diger Ueberzeugung und Selbſtgewißheit die Empfindung des gläubigen Herzens 
am nachſten, welche ſich in den Worten Luft macht: „Ich bin Katholik!“ — 
Das katholiſche Selbſtbewußtſein einigt die Gläubigen aller Zonen als Brüder, 
und wie Wiſemann (Kath. Lehren und Gebräuche III. Vorleſ.) ſo ſchön ſagt: 
„nicht bloß als Genoſſen einer Gemeinſchaft, ſondern als Glieder Eines geheim- 
nißoollen Leibes, die nicht durch das Gefühl des gegenfeitigen Mangels, nicht 
durh Bande der Blutsverwandtfchaft, nicht durch weltliche Intereffen, fondern 
durh Ein Haupt feft vereiniget find und vermöge des Lebensftromes, welder 
von Einem zum Andern fließt, im innigften Seelenverfehr miteinander ſtehen.“ 
Das Fatholifche Bewußtfein einiget die Gläubigen aller Zeiten, es identificirt den 
berühmten Ausfpruch des h. Auguftin: Tenet (me in ecclesia catholica) consensio 
populorum atque gentium; tenet auctoritas miraculis inchoata, spe nutrita, chari- 
tate aucta, vetustate firmata, tenet ab ipsa sede Petri apostoli, cui pascendas oves 
suas post resurrectionem Dominus commendavit, usque ad praesentem episcopatum 
successio: tenet postremo ipsum catholicae nomen quod non sine causa 
inter tam multas haereses sic ista ecclesia sola obtinuit, ut cum omnes haeretici 
se catholicos diei velint: quaerenti famen peregrino alicui, ubi ad catholicam 
convenialur, nullus haereticorum vel basilicam suam vel domum audeat ostendere 
Ceontra epist. Fundament. c. 4) und die befannte Apoſtrophe Boffuet’$ an die 
römische Kirche mit dem Liede: Katholiſch ift gut ſterben!“ veffen lieb— 
lihe Töne in unfern Tagen über die Fluthen des majeftätifchen Nheines zittern, 
Das Fatholifhe Bewußtfein ergreift und tröftet den blonden Sohn des Nordens, 
wenn er tief im Süden, wo Niemand feine Sprache fennt, in die Kirche feines 
väterlihen Glaubens tritt und überall diefelben Heiligtümer, diefelbe gottesdienft- 
liche Handlung und Sprade trifft. Das Fatholifhe Bewußtfein jubelt in dem 
Gedanken, daß zu jeder Stunde des Tages und der Nacht auf dem in zwei Hemi- 
ſphären getheilten Erbballe das h. Meßopfer dargebracht wird, und daß der Ka— 
tholif fi jeden Augenblid in den myftifchen Kreis der ewigen Anbetung des aller- 
beiligften Altarsfacramentes verfegen Ffann. Das Fatholifhe Bewußtfein erhebt 
fih in der Idee der Einheit und Gemeinfamfeit des Glaubens, welder, da er 


feine Trennung und Auswahl der Mahrheit zuläßt, alle Gläubigen zur Einheit 


und Gleihförmigfeit ihrer Gedanken verbindet. Das Fatholifche Selbfibewußt- 
fein ift wefentlich das freudige Bewußtfein perfönlicher Irrthumsloſigkeit an der Hand 
desuntrüglichen Lehramtes in der Kirche, Das Fatholifche Selbſtbewußtſein iſt aberauch 
wefentlich das felige Bewußtfein allumfaffender Liebe, die nicht nur die Brüder auf Er— 
den, fondern auch die Brüder im Himmel und im Fegefeuer verbindet, und in der Ge- 
meinfchaft der Heiligen ſich ausdehnt über die Gläubigen aller Zeiten von Adam big 
auf uns, ja bis an das Ende der Zeiten und über diefes hinweg zur ewigfeligen An 


ſchauung Gottes im Himmel, Diefes Fatholifhe Selbftbewußtfein erwärmt und 


56 Katholicität — Katholiſch. 


entzündet ſich immer auf's Neue an dem Gebete des Heilandes vor ſeinem Leiden 
(Joh. 17, 20. 21.): „Aber ich bitte Dich nicht für fie allein, ſondern auch für 
Diejenigen, welche durch ihr Wort an mich glauben werben; damit Alle Eins feien, 
wie Du, Vater, in mir bift und ich in Dir bin, damit auch fie in ung Eing feien; 
damit die Welt glaube, daß Du mich gefandt haft.” Das Fatholifche Selbftbe- 
wußtfein faßt endlich feine Selbftgewißheit in die Worte zufammen: Facilius du- 
bitarem vivere me, quam esse vera, quae audivi (S. Aug. 1.7. Confess, c. 10). — 
Zur Literatur: Wifemann, die vornehmften Lehren und Gebräuche der katho— 
liſchen Kirche, Teutfch von Haneberg. Negensb, 1838. — Höninghaus, das 
Refultat meiner Wanderungen durch das Gebiet der prot. Literatur, Aſchaffenb. 
1835. — Kaftner, Würde und Hoffnung der Fath. Kirche 2, Aufl, Sulzbach 1826. — 
Katholicismus und Nichtkatholieismus in Beziehung auf Wahrheit und Vollſtän— 
digkeit des Olaubens Ebd, 1827. — Staudenmaier, das Wefen der Fath, 
Kirche 2. Aufl, Freiburg 1845. [Häuste,] 

Katholieität, f. Kirche, 

Katholifceh, (aaIoAızös von 040g) heißt fprachlich fo viel als allgemein 
fowohl in räumlicher als in zeitlicher Beziehung. Sp liest man z. B. in Duine- 
tilian's Instit. orat. 1. I. c. 13: praecepta, quae x@JoAıza vocant, id est (ut 
dicamus, quomodo possumus) universalia velperpetualia. Die wahre drift- 
liche Kirche führt als ihr drittes Merkmal feit dem erften hriftlichen Jahrhunderte 
(Cepist. ecclesiae Smyrnens. de mart. S.Polycarpi — tit. nris. 8. 19) den Namen 
der allgemeinen oder der „Fatholifchen“ in räumlicher und zeitlicher Hinficht (ſ. 
Kirche) und daß fie diefen Namen durch ihr Alles einigendes Auctoritätsprineip, 
durch ihre Ungerftörbarfeit, durch ihre Alles durchdringende, Alles umfaffende 
Wirkfamfeit nach Innen und Außen und dur ihre faunenswerthe Confequenz 
wirklich verdiene, follte in dem Artifel Katholieismus flüchtig angedeutet wer— 
den. — Hier fommt das „Ratholifche” Tediglich als fpecielles Prädicat des chrift- 
lichen Glaubens oder der chriftlichen Lehre, des chriftlichen Cultus und der chriſt— 
lichen Sitte, ferner nach feinen nähern, aus den Firchlichen Gegenfägen hervor— 
gehenden Beftimmungen in Betracht, Es fommt aber auch hier wieder zu Tage, 
daß das „Ratholifche” nothwendig mit der „Einheit und Einigkeit“ zu- 
fammenhängt und eben dadurch als ächte Eonfequenz-fih darſtellt. — Das 
Lehrwort des untrüglichen Lehramtes in der Kirche ift ſtets und wefentlich Fatho- 
Lifch, weil es immer die Merkmale der Allgemeinheit, des appftolifchen Urfprun- 
ges und der gemeinfanen Ueberzeugung an ſich trägt, oder die Merkmale, welche 
Vicenz von Lerin fo fhön mit: universalitas, anliquitas und consensio bezeichnet 
(Id teneamus, quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est. 
Commonit. c, 3). Daher kommt es denn auch, daß alle die Millionen Katho— 
Yifen, welche über den ganzen Erdball zerſtreut find, Daffelbe glauben, jeder 
Einzelne was alle Mebrigen und alle Uebrigen was jeder Einzelne, und daß der 
Glaube der Katholiken in allen Jahrhunderten der nämliche ift und fein wird. 
Daher offenbart fih denn auch an dem Ffatholifchen Glauben eine Gleihfürmig- 
feit und Einheit, welche fich gleichfam felbft fteigert, da der Glaube der chriſt— 
Yichen Einzelgemeinden in dem Glauben ihrer Geelforger, der Glaube der Seel- 
forger in dem Glauben ihres DideefanbifhF8, der Glaube der Biſchöfe in dem 
Glauben des römifchen Papftes fich einet und zufammenfchließt, und daß fo die 
Worte der Apoftelgefhichte (4, 32,.I: „Die Menge der Gläubigen aber war Ein 
Herz und Eine Seele” in Beziehung auf die Glaubenseinheit jegt und durch alle 
Sahrhunderte wahr find und wahr bleiben. Katholifch ift mithin Alles, was ung 
das untrügliche Lehramt der Kirche zu glauben vorftellt, es fei gefchrieben oder 
nicht. Die doctrina catholica fällt alfo mit dem dogma catholicum, mit dem arti- 
culus fidei, mit der doctrina de fide zufammen (f.d. A. Do gima). Bon der doc- 
trina catholica muß jedoch unterfchieden werben Die dootrina catholicorum, Unter 


* 


Katholiſch. 57 


dieſer verſteht man nämlich ſolche Lehranſichten einzelner Theologen, rüdficht- 
lich welcher ſich die Kirche nicht ausgeſprochen hat, z. B. ob ſich die Inſpiration 
auch auf denjenigen Inhalt der Hl. Schriften erſtrecke, der mit der Glaubens- 
und Sittenlehre in feinem Zufammenhange ſteht. — Katholifche Lehre und zwar 
fpeeififch Fatholifche Lehre ift ferner jede Unterfheidungslehre nicht nur 
deßhalb, weil fie bloß die Katholiken feſthalten, fondern weil bei näherer und vor— 
urtheilsfreier Betrachtung an jeder Unterfcheidungslehre die drei Merkmale, welche 
wir oben nach Vincenz von Lerin angegeben haben, deutlich nachgewieſen werden 
fonnen, und weil an derfelben ächtwiffenfhaftlihe Confequenz ſich offenbart, und 
eine wahrhafte Berfühnung des fupranaturalen und des rationalen Momentes, 
das an jeder pofitiven Lehre fih vorfindet. — Wodurd erlangt aber der Cultus 
unferer Kirche das Prädicat katholiſch“ — Einmal dur den apoftolifchen 
Urfprung feiner repräfentativen, ethifchen und facramentalen Grundlagen; ferner 
durch fein ftetes Angewiefenfein an die Ichrende und leitende Kirche als an die zu 
feiner Fortbildung, Pflege und Ueberwahung berufene und rechtmäßige Inftanz, 
woburd die Willfür und der Particularismus auf dem Gebiete der Liturgie ſchon 
an und für fih beſchränkt wird, und wodurd die merfwürdige Hebereinftimmung 
aller alten Liturgien, fowie die allgemeine Einführung der römifchen Liturgie im 
Abendlande ihre Erflärung und Rechtfertigung findet, ja felbft zum fprechendften 
Zeugen für die Univerfalität, Einheit und Confequenz der fatholifchen Kirche wird, 
Der Cultus unferer Kirche ift ferner wejentlih katholiſch durch fein wirkliches 
Leben, durch feine Imnerlichfeit und durch feinen beveutungsvollen dreifachen 
Zweck, nämlih: 1) als Ausdruf des religiöfen Lebens der Kirche, der Gemeinde 
und ihrer einzelnen Glieder, als Ausdruf des der Kirche und ihren Gliedern 
inwohnenden gläubigen Bewußtfeins, als Manifeftation der Religion an fih und 
als Darftellung der Kirche nach ihrer Sichtbarfeit und Univerfalität, als Ausdruck 
und Bermittelung unferer Gemeinfchaft mit der jenfeitigen Kirche; 2) in feiner 
ethiſchen Richtung auf die Vermittelung, Erhaltung und Fortführung des Krift- 
lichen Glaubens und Lebens; 3) in feiner facramentalen Bereinigung des Men— 
fen mit Gott und dur feine reale Zuwendung der göttlichen Gnade, Dent 
gerade durch feine lebensvolle Wefenhaftigfeit, durch feine Grundtendenz auf das 
Innere und in dem angegebenen dreifachen Zwecke umfaßt der Fatholifche Cultus 
den ganzen Einzelmenfchen wie die ganze hriftliche Kirche. Der Eultus unferer 
Kirche verdient ferner das Prädicat: Fatholifch durch die Allgemeinheit, Einheit 
und Stätigfeit feiner Grundformen, nämlih der Sprache, der Handlungen und 
Symbole, und endlich ganz vorzüglich durch das nur in der Fatholifchen Kirche 
perennirende Prieftertfum und durch feinen hochheiligen Mittelpunct, die unauf- 
börliche, unbIutige Fortiegung des blutigen Opfers am Kreuze. Mit der Angabe 
der zulest genannten Fatholifchen Momente des Eultus haben wir aber auch ſchon 
das Gebiet des fpecififch Ratholifchen in dem Cultus unferer Kirche betreten, Da 
der chriſtliche Cultus wefentlih entweder Iyrifche, oder didactifhe, oder ſacra— 
mentale Berförperung des hriftlichen Glaubens und Lebens ift, da er überdieß 
eine aus dem beftimmten Glauben hervorgehende ethifche Grundtendenz bat, fo 
iſt es ganz natürlich, daß das fpecififch katholiſche Moment unferer Kirche be- 
ſonders in dem Gottesdienfte und feinen Apvertinentien ſich offenbart. Hieher - 
gehören, um nur Einzelnes zu erwähnen, z. B. die eben fo finnvollen als ergreifen- 
den Eeremonien bei den verſchiedenen gottesdienftlihen, namentlich facrramentalen 
Handlungen, die eigenthümlichen liturgiſchen Gebräuche, bilvlihen Darftellungen 
und nah der Farbe wechfelnden Firhlichen Kleider an den Hanptfefttagen des 
Jahres und in der diefen unmittelbar vorhergehenden heiligen Zeit, der befondere 
Jahrescyelus der Marienfefte und die eben fo zarte als erfinderifche Verehrung 
der jungfräulihen Gpttesmutter überhaupt, die Verehrung der Heiligen, ihrer 


& Bilder und Reliquien, die fogenannten Onadenbilder, die  Proceffionen und 


58 Katholiſch. 


Wallfahrten, der häufige Gebrauch des hl. Kreuzzeichens und der Kniebeugung, 
die Segnungen und Weihungen jeder Art, beſonders mit naturſymboliſcher Be— 
ziehung, der Gebrauch des geweihten Oeles, Waſſers und Salzes, der brennen- 
den Lichter, des Weihrauches, der gefegneten Blumen, Kräuter und Speifen, die 
mannigfaltige Igrifche, myftifhe und ethifche Hereinbeziehung der Kunſt nach allen 
ihren Arten in den Gottesdienft, die eigenthümliche innere und äußere Ausftattung 
der Firchlichen Gebäude, der Zabernafel und die Beichtftühle der Pfarrkirche 
(f. d. A. Eultus und Liturgie; pgl. Lüft's Liturgik I. und II. Bd,). — Aus 
der beftimmten religidfen Veberzeugung, aus den ſtehenden Eultformen, aus den 
auf die concreten häuslichen und öffentlichen Verhältniffe fich beziehenden Gitten- 
vorfchriften einer Firchlichen Genoſſenſchaft und aus der fpeciellen Stellung ihrer 
Borftände zu den einzelnen Gemeinden und ihren Gliedern geftaltet fih das, was 
wir bei den Chriften die chriſtliche Sitte zu nennen pflegen. Diefe zeigt fich 
aber bei den Katholifen bald auch als eine fpecififch katholiſche und gibt ſo— 
wohl den Gemeinden als den einzelnen Gliedern derſelben ein fehr beftimmtes 
und unterfeheivendes Gepräge, fo daß man jene Ortfchaften und Perfonen, in 
welchen der fogenannte Fatholifhe Sinn noch Iebt, augenblicklich herausfindet 
und erfennt, Wie der freudige Chriftengruß, das herzlihe „Gelobt fei Jeſus 
Chriftus!”, dem Fremdling von dem begegnenden Landmann zugerufen, und die= 
fem den Ratholifen erfennen läßt und das Herz des gläubigen Wanderers in eine 
eigenthümliche Rührung verfegt, fo macht auch das vor ihm Tiegende Fatholifche 
Pfarrdorf einen befonders freundlichen Eindrudf auf fein Gemüth, Auf dem 
Thurme der befcheidenen Kirche ragt das Kreuz empor und aus demfelben tönt 
ihm das Ave Marialäuten (f. d. A.) entgegen. Der Weg in den zur Abendruhe 
erwählten Ort führt ihn an eine Feldcapelle oder an einem Miſſionskreuze vorüber, 
das altersgrau und mit Mühe noch aufrecht fteht oder aber in neuefter Zeit auf- 
gepflanzt wurde, Bon dem nahen Hügel winkt das Calvarienbergsfirchlein herab, 
und aus dem nächften Haufe vernimmt er das NRofenfranzgebet, zu welchem ber 
Hausvater alle Angehörigen des Haufes verfammelt hat, weil heute Samstag iſt. 
Ein paar Häufer weiter betet ein blondgelocdter Knabe eben fein letztes Vater 
unfer „für die armen Seelen“ vor dem Schlafengehen, und die Mutter fpricht 
ihrem jüngften Rinde das Gebet zum hl. Schugengel vor, In der Kirche, die 
der Wanderer nun erreicht, hat der Pfarrer eben das Salve regina angeftimmt, 
nachdem er von der fehulpflichtigen Jugend und der Ortsobrigfeit unter Vor— 
tragung des Kreuzes begleitet vor dem Beinhaufe des nahen Gottesackers dag De 
profundis gefprochen hat. Jetzt nimmt den Fremden die befcheidene Wirthsftube 
auf, im Tifehwinfel hängt das Kreuzbild, und darunter das Bild der feligften 
Zungfrau, und die Wirthin entfchuldigt fich freundlich, daß fie Feine Fleifchfpeife 
habe, weil Samstag und dazu ein gebotener Fafttag fei. Am folgenden Sonn- 
tagsmorgen verfammelt das feierliche Glockengeläute Alt und Jung in der Kirche, 
denn es ift ver Tag des Herrn und der Katholif ift durch das Kirchengebot ver- 
pflichtet, die HI. Meffe und Predigt mit gebührender Andacht zu hören, Es Liegt 
eine eigenthümliche, von dem büftern Ernfte der Proteftanten im nahen Dorfe 
über dem Nhein feltfam abftechende Heiterfeit auf den Zügen der einzelnen Glie— 
der der Gemeinde; man fieht e8 übrigens den Müttern an, daß auf die herzliche, 
die ganz eigenthümlichen Verhältniffe der Pfarrfinder und ihres Familienlebeng 
berührende Predigt des greifen Pfarrers in der Kirche, nah Tifh an dem hei- 
mifhen Herde eine vielleicht noch längere und noch fpecieller angewendete folgen 
wird, und bei der nachmittägigen Gemeindeverfammlung dürften manche Winfe 
des Seelforgers mafigebend werden, denn es handelt ſich um die Uebergabe der 
Mädchenfchule und des Armenhaufes an drei barmberzige Schweftern. Bergib 
mir, freundlicher Lefer! daß ich dir eine Fugenderinnerung und zum Theil das 


Bild meines Geburtsortes, wie e8 damals war und jegt vielleicht nicht mehr iſt, 


2 re 


Katholiſche Briefe — Kebsweib. 59 


vorgeführt Habe, um anzubeuten, daß die Häusliche und öffentliche Sitte unter 
Katholiken weſentlich katholiſch iſt. — Nun Fommen noch die näheren Beſtimmun⸗ 
gen des Wortes „katholiſch“, nämlich 1) römiſch Fatholiih, ein Ausdruck, der 
zunächft feinen Urfprung darin hat, daß die morgenländifhe Kirche auch nad ihrer 
Trennung von der abendländifchen noch fortfuhr, fich die Fatholifche zu nennen; 
er wurde und wird von vielen Katholifen noch immer gern gebraudt, weil er zu=- 
gleich die Verbindung mit dem fihtbaren Dberhaupte der Kirche oder mit dem 
Mittelpuncte der Fatholifhen Einheit bezeichnet, obwohl: er in den ältern katho— 
liſchen Glaubensbefenntniffen nicht vorfommt und obwohl er manchen Leuten nicht 
recht mundet, entweder weil fie zwifchen ihrem idealen (fubjectiven) und dem 
„römischen“ Katholicismus unterfcheiden zu dürfen glauben, oder weil ihre Vor— 
liebe für die pofitive Univerfalität des Wortes „Fatholifch” durch jede Befhränfung 
derfelben — felbft im Ausdrufe — weniger angenehm berüßrt wird (Leu, allg. 
Theologie. S. 327). Leider wird die Bezeihnung „römifch-Fatholifche” Kirche 
vielleicht noch Tange ihren guten Grund haben; denn fie wird nicht nur der ge— 
trennten griechifchen Kirche gegenüber, fondern felbft ver „proteftantifch-" oder 
„evangeliſch“-katholiſchen Kirche (ogl. Guerife, Kirchengeſch.), wie einzelne 
Proteſtanten ihre Neligionsgefellfhaft nennen möchten, und dem non sens des 
Teutſchkatholicismus“ gegenüber beibehalten werden müffen. — 2) Griechiſch— 
Fatholifch ift die weniger richtige Benennung der unirten griechiſchen Kirche, 
deren Glieder wohl beffer „Katholifen des griechifchen Ritus” zum Unterfchiede 
von den „Ratholifen des lateiniſchen Ritus” genannt werden. — 3) Chrift-Fatho- 
liſch. Diefer Ausdruck, welcher ſprachrichtiger „hriftlich-Fatholifch“ lauten follte, 
ift wie fein Zeitgenoffe der Ausdruf „Chriftofratie”, als bereits wieder ver— 
geffene Bezeichnung der Firchlihen Regierungsform, und das etwas fpätere, aller- 
dings gutgemeinte „petro-apoftolifche Lehramt” eine nicht gar glüdliche Erfin- 
dung, und, wie Klee (Encycelopädie d. Theol. ©. 45) bemerft, ganz unftatthaft; 
denn das „Chriftliche” fteht Hier als Weiterbeftimmung des „Ratholifchen”, wäh- 
rend logiſch richtig diefes eine Weiterbeftimmung des „Ehriftlichen” if, Auch 
fann es nur zu dem „Undhriftlich- Katholifchen“ im Gegenfage ftehen, wenn 
man es nicht in ungefchickter Weife, wie bisweilen gefchehen, dem „Römiſch— 
katholiſchen“ entgegenfegen will, Nach Klee hat Rom überdie den Ausdruck: 
„Sriftkatholifch” getadelt. — Dem Ausdrude: „Katholiſch“ ift endlich 4) der in 
neuefter Zeit von den öftreichifchen Proteftanten abgelehnte Ausdruck: „afatho- 
liſch“ direct entgegengefegt. Es wird mit demfelben überhaupt alles Nicht- 
Fatholifche bezeichnet, und er umfaßt deßhalb alle hriftlichen, aber nichtfatholi- 


ſchen Befenntniffe, z. B. in der frühern öſtreichiſchen Geſetzgebung die nicht unirten 


Griechen, die Unitarier, die augsburgifchen und helvetiſchen Glaubensverwandten. 
Es kaun den Nichtkatholifen allerdings nicht zugemuthet werden, daß fie fich felbft 
„Alatholifen” nennen follen; im Munde der Katholiken aber ift diefer Ausdruck 
jedenfalls milder, als die wiffenfchaftlich richtige des Häretifers, und den Prote- 
ftanten felbft weniger präjudicirlih, ald wenn diefe den „Eatholifchen” Chriften 
gegenüber fich felbft die (vorzugsweife) „evangelifchen” CHriften nennen. [Häusle,] 

Katholifche Briefe, f. Briefe, katholiſche. 

Kebsweib, us>2, chald. anp>2, daraus neilaxis, nallek, pellex. Wie 
bei den meiften Völfern des Altertfums, fo treffen wir auch bei dem Bundesvolfe 
das Gefhlechtsleben in Polygamie und Eoncubinat (Rebsweiberei) fündlih aus- 
geartet und entftellt. Auch in diefem Puncte war die urfprüngliche von Gott ge- 
fegte Ordnung dur den Fall des Menfchen geftört worden, nicht mehr die gleich- 
berechtigte Perfönlichkeit, fondern das des höheren ethifchen Momentes entkleivete 
Geſchlechtsverhältniß bildete fortan die Grundlage in dem Leben zwifchen Mann 
und Weib, legteres gerieth in eine unwürbige Abhängigkeit. Dieß ift der Grund, 
aus dem die verjchiedenen Entftellungen des Geſchlechtslebens zu erflären find; 


60 Kedar — Keil, 


was man gewöhnlich als Urſache davon bezeichnet: das wärmere Klima des 
Drients, der allmählig eingeriffene Luxus der Mächtigen und vorzüglich die Furcht, 
kinderlos bleiben zu müffen (fo 3. B. Kalthoff in feinem Handbuch der hebr, 
Alterth, ©. 352), ift untergeordnet und Folge der getrübten Anfchauung. Konnte 
fih auch das auserwählte Volk der allgemein gewordenen Verirrung nicht gänz- 
lich erwehren, fo findet fi doch und befonders bei den Patriarchen immer noch 
eine lebendige Ahnung deſſen, was dießfalls göttliche Ordnung iſt. Abraham, 
Träger der Verheißung zahlreicher Nachfommenfchaft, aber kinderlos und hoch— 
betagt, will eher feinen Knecht adoptiren (Gen. 15, 2, 3.), als ein Kebsweib 
nehmen, obwohl folches die Stammesfitte (vgl. Gen. 22, 24. 36, 12.) erlaubte, 
er entfchließt fih erft dann hiezu, als Sara, fein Eheweib, ihn ausdrücklich auf- 
forderte (16, 2.)5 Iſaak hatte, obſchon Rebecca erft im 20ten Jahre ihrer Ehe 
Mutter ward (25, 21 ff.) nur Eine Gattin; Jacob erhielt die zweite wider Wil- 
len (29, 23 ff.). Das Gefeg traf das Bolf in einer dur) die Sünde mannig=- 
fach alterirten Zuftändlichfeit, es Fam mit dem Zweck der Heiligung, fonnte aber 
nicht plöglich neu fohaffen, fondern nur das Ideal ausfprechen und baffelbe als 
helfen Spiegel für alle Lebensbeziehungen hinhalten; was als tiefgewurzelte, mit 
dem Leben verwachfene Sitte fih vorfand, hat e8 wo möglich berichtigt, und wo 
es nicht andere fonnte, erlaubt Caber nie befohlen), was die Herzenshärte 
(Matth. 19, 8.) noch nicht völlig aufzuheben geftattete, Sp auch den vorliegen- 
den Öegenftand. Die Kebsweiber follten wie Töchter des Haufes behandelt, in ihren 


Nechten durch Andere nicht verfürzt werden (Exod. 21, 9.); wird eine Kriegs-⸗ 


gefangene dazu beftimmt, fo darf fie vorher einen Monat lang ihre Eltern be- 
weinen; findet ihr Herr feinen Gefallen mehr an ihr, fo Fann fie entlaffen, aber 
nicht verfauft oder zur Selavin gemacht werben (Deut, 21, 10 ff.), Sie war 
dem Manne, der fie einmal angenommen, zur’ Treue verpflichtet (2 Sam, 3, 7.); 
den Verführer traf Strafe (Gen. 35, 22. mit 49, 3, 4. und 1 Chrom, 5, 1.) 
Die Kinder der Nebenweiber fanden den legitimen in Bezug auf Erbſchaft nach 
(Gen, 21, 10, 24, 36.), und waren wohl nur auf Geſchenke des Vaters ange- 
wiefen (Gen. 25, 6.). [König.] 
Kedar (Cedar, 77), der zweite Sohn Iſmaels nach Gen. 25, 13, 1 Chron. 
1, 28., fowie nach den arabifchen Genealogien (bei Pocode), Seine Nachkom— 
men werden öfters in der Schrift erwähnt als ein ftreitbares (Jeſ. 21, 17. gute 
Bogenſchützen) und ftreitluftiges (Pf. 120, 5.) Volk, reich an Herden, mit deren 
Producten fie Handel treiben (Jerem. 49, 28 ff, Ezech. 27, 21. Jeſ. 60, 7.),— 
ein ächtes Bild arabifcher Lebensweife und daher geradezu ihr Nepräfentant (in 
den eit. Stell.) ; bei den Rabbinen heißt die arabifche Sprache die Sprache Ke— 
dars. Nach Jerem. 2, 10. und Pf. 120, 5. müffen fie von Paläftina etwas ent- 


fernt gewohnt haben, nach Hieron, Onom. in eremo Saracenorum, oder deutlicher - 


Comment. in Jes. 72. Cedar inhabitabilis est regio trans Arabiam Saracenorum, 
d.h, auf der öftlichen Seite der Wüfte gegen den Euphrat hin, wo fie noch zu 
den Zeiten Theodorets (in Pf, 123.) ihre Herden bis in die Nähe von Babylon 
trieben. Plinius V, 12. fegt ebenfalls die Cedrei in diefe Gegend und verbindet 
fie mit den Nabatdern, wie ef. 20, 7, Kedar und Nebajoth. Sp nennt au 
Steph. Byzant. die Kıdgaviraı und Zagaxıpoı Nachbarn der Naßaraloı, vb= 


wohl er fie irrthümlich zu Arabia felix rechnet, Die Saracent (von pw ftehlen, 


rauben) find übrigens nichts anders als die beuteluftigen Kedarener feldft, 

Kedes, ſ. Kades. 

Kedron, ſ. Cedron. 

Keil, Carl Auguft Gottlieb, Sohn des J. G. Keil, Oberacciseinnehmers 
zu Großenhayn unweit Dresden, geboren den 23. April 1754, verlor ſchon im 
3. 1758 beide Eltern und wurde einem Bürger zu Großenhayn, Namens Hoff- 


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Keil. 61 


mann, zur Pflege übergeben, bei dem er bis zum Ende des fiebenjährigen Krie- 
ges blieb, Im Jahr 1764 Fam er zu feinem Oheim, dem Nathsproclamator J. 
2, Berringer zu Leipzig und erwarb fich theils in der dortigen Nicolaifchule, theils 
durch den Privatunterricht bei Neisfe, Funke und Hübfhmann gründliche Kennt» 
niffe in den alten und neuen Sprachen. Im J. 1773 begann er die academifche 
Laufbahn und befchäftigte fich zunächft Hauptfächlich mit Philologie, dann mit 
theoretifcher und practifcher Philofophie, Mathematik und Phyfif, und wählte 
endlich zu feinem Hauptftudium die Theologie. Unter den theologiſchen Wiffen- 
ſchaften aber zog ihn befonders die biblifche Exregefe an, und er beſuchte daher 
vorzugsweiſe die eregetifchen Vorlefungen von Ernefti, Dothe, Anton, Morus 
u. U., von denen ihn der Teßtgenannte am meiften befriedigte und auf feine theo— 
Logische Richtung großen Einfluß hatte, Nach Beendigung feiner academifchen 
Studien erhielt er die Magifterwürde (1773) und wurde auf die Empfehlung des 
Morus hin Hauslehrer beim Grafen von Vitzthum. Drei Jahre fpäter (1781) 
wurde er Magister legens und hielt Vorlefungen über biblifche Hermeneutif und 
Eregefe, und nachdem er das theologiſche Baccalaureat erhalten hatte (1785), 
auch über Moraltheologie. Jetzt erhielt er zugleich eine außerordentlihe Pro— 
feffur an der philofophifchen Facultät nebft einem Gehalte, und zwei Jahre fpäter 
(1787) wurde er feinem Wunfche gemäß als außerordentlicher Profeffor und mit 
einer Gehaltszulage in die theologische Facultät aufgenommen. Bon da an hielt 
er nur theologiſche Vorlefungen und verfah zugleich das Amt eines Frühpredigers 
an der Univerfitätsfirhe, Im J. 1790 heirathete er Johanna Florentine Weber, 
die Tochter eines Actuars der Zuriftenfacultät zu Leipzig, und erhielt noch in 
demfelben Jahre eine Einladung nach Wittenberg zur Uebernahme des bis dahin 
von Reinhard befleideten theologifchen Lehramtes, Nachdem er bereits feine Zu- 
fage gegeben hatte, ftarb plöglich fein Lehrer Morus, und als ſich von mehreren 
Seiten der Wunfch ausſprach, daß Keil feine Stelle erhalten möchte, entſchloß 
er fich, zu Leipzig zu bleiben, wurde im J. 1793 ordentlicher Profeffor der Theo— 
logie und Eonfiftorialaffeffor, und erhielt im J. 1799 die dritte, und im J. 1805 
die zweite theologiſche Lehrftelle, Am 22. April 1818 farb er als Domherr zu 
Meißen, Confiftorialaffeffor und Präfes des collegium philobilicum und des don— 
nerstäglichen Predigercollegiums. — Außer einigen Beiträgen zu Journalen hat 
Keil mehrere Schriften herausgegeben. Die wichtigfte darunter ift fein „Lehr— 
bud der Hermeneutif des neuen Teftamentes nach Grundfägen der gram— 
matifch-hiftorifhen Interpretation, Leipzig 1810.” (Lateiniſch durch Emerling 
1811.) Keil hat bier in fofern eine neue Bahn in der neuteftamentlichen Her- 
‚meneutif gebrochen, als er zum erſten Male die einzelnen Theile derfelben nach 
‚jenen Grundfägen vollftändig und erfchöpfend behandelte, Uebrigens wurde ihm 
nicht ganz mit Unrecht der Vorwurf gemacht, daß er bei Benützung der hiſtori— 
Then Verhältniffe zur Aufhellung des neuen Teftamentes den jüdifhen National- 
urtheilen einen zu großen Einfluß geftatte; dagegen den Tadel, daß er mit Gram- 
matif und Gefhichte das ganze Gefchäft des neuteftamentlichen Auslegers abge- 
than glaubte, hat er nicht verdient. „Die Negeln gehen fehr in's Einzelne, find 
aus vieljähriger Erfahrung im Interpretiren gefloflen, durch ausgewählte Bei- 
ſpiele erläutert und mit reichhaltiger Literatur verfehen, die Sprache iſt etwas 
ſchwerfällig, die Anordnung nicht ganz logiſch“ (Halliſche Encyclopädie s. v. Her— 

meneutif), Außerdem find von Keil folgende Schriften erfihienen: 1) De modo, 
quo scriptores sacri in dogmatibus tradendis versantur. Lips. 1780. 4. — 2) Dis- 
sert. I. Historia dogmatis de regno Messiae Christi et apostolorum aetate etc. 
Lips. 1781. 4, — 3) Syftematifches Verzeichniß derjenigen theologifchen Schrif- - 
ten und Bücher, deren Kenntniß allgemein nöthig und nüglich ift 2c, Stendal 
1784 u, 1792, — 4) Progr. de causis alieni Platonicorum recentiorum a religione 
| christiana animi. Lips. 1785. 4. — 5) Progr. de historica librorum sacrorum in- 


62 Kelch. 


terpretatione ejusque necessitate. Ibid. 1788. 4. — 6) Diss. inauguralis de exem- 
plo Christi reete imitando. Ibid. 1792. 4. — 7) Diss. pro loco de doctoribus ve- 
teris ecclesiae culpa corruptae per Platonicas sententias theologiae liberandis. 
Commentatt. I—XXI. Ibid. 1793—1816. 4. — 8) Dr. ©, F. N. Morus nad 
gelaffene Predigten ꝛe. Leipz. 1794—97. 3 Thle. — 9) Dissertatt. theologicae 
et philologicae, scripsit Dr. S. F. N. Morus. 2 voll. Lips. 1794. 4. (mit einer 
Borrede von dem Herausgeber). — 10) Commentat. de definiendo tempore itine- 
ris Hierosolym. Galat. 2, 1. 2. commemorati. Ib. 1798. 4. — 11) Commentat. I. 
et HI. in locum Epist. ad Philipp. 2, 5—11. Ib. 1803—1804. 4. — 12) Com- 
mentat. de argumento loci Matih. 25, 31—46. Ib. 1809. 4. — 13) Quinam sint 
Rom. 8, 23. ob anaoynv Ta mvevuarog Exovres. Ib. 1809. 8. — 14) €, 4. 
Schwarz'ens Schulreden (gemeinfhaftlih mit Gedife herausgegeben). Ebend. 
1810. 8. — 15) Progr. quo proponitur exemplum judicii de diversis singulorum 
scripturae sacrae locorum interpretationibus ferendi, examinandis variis interpretum 
de loco Galat. 3, 16. Ib. 1810 sqq. 7 Programme, — 16) Analecten für dag 
Studium der wiffenfh. Theologie (gemeinschaftlich mit ©, H. Tzſchirner heraus— 
gegeben). Ebend, 1812 ꝛc. — 17) Progr. disseritur de Paulo‘ 00 &rwv ete. 
2 Cor. 12, 1—7. Ib. 1816. 4. — Vgl. 9. Döring, die gelehrten Theologen 
Teutfchlands im 18ten und 19ten Jahrhundert, Bd. IL. S. 70 ff., von wo obige 
Angaben größtentheils entnommen find, 

Kelch, im Abendmahl, f. Abendmahl, Abendmahlsfeier und Hu- 
fiten. R 

Kelch. Da Chriſtus bei der Einfegung des Abendmahles fi eines Kelches 
bediente (Matth. 26, 27.), fo ſchmückt der Kelch zu allen Zeiten den Altar der 
Ehriften, um damit den Opferwein, beziehungsweife das allerheiligfte Blut des 
Herrn aufzubewahren. Seinen obern Theil (die blumenartige Höhlung) nennt 
man Cuppa, den untern Theil Cauf welchem die Cuppa ruht) ven Fuß (Pes), den 
Nand der Höhlung Can dem man trinkt) die Labia. — Der Stoff, aus welchem 
die Kelche verfertiget werden, ift nicht immer und überall derfelbe. In der Vor— 
zeit gab es Kelche von Holz, Stein, Horn, Zinn, Erz, Blei, Meffing, Glas, 
Kupfer, Erde, Kriftall, Bernftein und Onyr (Conc. Tribur. a. 895. c. 18; Vit. 
S. Theod. ap. Sur. 22. April.; Conc. Calchuth. a. 787. o. 10; c. 45. D.I. de con- 
secr.; Conc. Trevir. a. 1310. o. 68; Iren. 1.1. c.9. al. 13; Regin. 1. 1. c. 67; 
Mabill. it. Ital. p. 95; Vit. S. Berwald. ap. Sur. 20. Nov.; Gregor. Tur. de mirac. 
Mart. 1. I. c. 46; Gregor. M. 1.8. ep. 3.). Auch finden fih ſchon in den früheften 
Zeiten des Chriſtenthums Spuren von goldenen und filbernen Kelchen, wenn auch 
die Sage, Chriftus felbft Habe in einem filbernen confecrirt, feinen Glauben ver- 
dient (Beda ap. Baron. ad a. 34. n. 63.). Schon die Martergefchichte des HI. 
Laurentius weifet darauf Hin (Prudent. de div. Laurent. carmen. Cfr. Ambros. 
1.2. c. 28. de offic. ministr.), ebenfo das Zeugniß des Gregor von Tours (I. 1. 
de gl. martyr. c. 38.), daß man in den Ratafomben (ſ. d. A.) viele filberne Opfergefchirre 
aus den Zeiten der Verfolgung fand. Um fo mehr vermehrten fich folche koſtbare 
Kelche nach den Zeiten der Chriftenverfolgung. Nimmt ja ſchon zur Zeit Julians 
ein Heide hievon Anlaß, bei der Plünderung einer von Conftantin erbauten Kirche 
fih den Spott zu erlauben: „Ecce quam sumtuosis vasis filio Mariae ministratur“ 
(Theodoret. 1. 3, cap. 11.). Obwohl e8 an und für fich gleichgültig iſt, ob ein 
Kelch irden oder golden u. dgl. ift, fo wünfcht dennoch die Kirche, ja hat es als Regel 
vorgefchrieben, daß derfelbe golden oder filbern, oder wenigftend die Cuppa des— 
felben filbern und nach Innen vergoldet fei (Missal. Rom.); nur wegen Armuth 
darf davon Umgang genommen werben. „Si quis pauper est,“ heißt e8 im fa» 
nonifchen Nechte („Ut calix Dni*), „saltem stanneum calicem habeat. De aere 
aut orichalco non fiat calix, quia ob vini virtutem aeruginem parit, quae vomilum 
provooat. Nullus autem in ligneo aut vitreo calice praesumat Missam cantare.“ 








—— 
fe —J— 
— — * 





Kelchlöffelchen — Kelchtüchlein. 63 


Die Kirche geht hiebei von der Ueberzeugung aus, daß man die Stoffe, die in 
den Augen der Welt den meiſten Werth haben, auch im Cultus nicht entbehren 
könne, ohne daß der ſchwache ſinnliche Menſch ſich daran ſtoßen würde. Wenn 
es nämlich auch richtig iſt, daß ein gottſeliger Prieſter die ſchönſte Zierde des 
Altars iſt, ſo iſt es eben ſo richtig, daß es auf die Maſſe der Gläubigen einen 
flörenden Eindruck machen würde, wenn für den heiligſten Dienft Gefäße ge— 
nügen würden, deren man fich felbft in einem einfachen Bürgershaufe bei irgend 
einer Feierlichkeit fchämen würde, Diefelbe Anfhauungsweife macht es auch er- 
Härlih, warum man auch nach uralter Sitte auf vielen Kelchen Gemälde und 
Evdelfteine fieht (Tertull. 1. de pudic. c. 2; Chrysostom. hom. 50. al. 51. in Matth.). 
— Der Größe nach gab es in früherer Zeit zweierlei Kelche, Calices minores 
und Calices ministeriales. Jene, in welchen fich bloß das Hl. Blut befand, wel- 
ches der Celebrant fumirte, waren der Natur der Sache nach etwas Heiner, als 
legtere, aus denen es die übrigen Gläubigen nah damaliger Sitte fumirten, 
Kelche der Iegtern Art dürften z. B. die zwei gewefen fein, welde die Kirche von 
Mainz bis in die jüngfte Zeit befaß, und von denen der eine am ganzen Fuße 
mit den foftbarften Steinen befegt 18 Mark feinen Goldes wog, der andere aber 
noch größer, ſchwerer, eine Elle hoch und mit zwei Handgriffen verfehen, nur 
mit Mühe aufgehoben werden konnte (Binterim’s Denfw, IV. Bd. 1. Thl. ©, 
176). Da heutzutage nur mehr der Celebrant au unter der Geftalt des Weines 
eommunicirt, fo gibt es natürlich Cim Abendland wenigftens) auch nur mehr Ca- 
lices minores. Kelche mit Handhaben oder Handgriffen (Calices ansati) gab es 
übrigens ehemals häufig. Nach Beda foll felbft ver Kelch, in dem Chriſtus die 
Eudariftie einfegte, folche gehabt haben (Baron. ad a. 34. n. 63.). — Die 
Reinigung der Kelche ift Sache der Geiftlihen (Cap. „In sancta“ de con- 
secr.). [Fr. X. Schmid.] 
Kelchlöffelchen. Man verſteht darunter einen ſilbernen oder goldenen klei— 
nen Löffel, mit dem in vielen Kirchen des Abendlandes das aus dem Waſſerkänn— 
hen gejhöpfte Waffer in den Wein gefchüttet wird, Man dürfte ihn eingeführt 
haben, um fich nicht der Gefahr auszufesen, mit dem Waſſerkännchen felbft zu 
viel zu ſchütten; — ein Umftand, der feit der Zeit, ald der Celebrant allein das 
hl. Blut fumirt, gewiß Berüdffichtigung verdient. Vorſchrift ift jedoch der Ge- 
brauch diefes Löffelchens nicht, daher man ſich auch in vielen Gotteshäufern des- 
felben nicht bedient. Binterim meint, es fei diefer Gebrauch wenigftens ſchon 
im fiebenten Jahrhunderte erweisbar (Denfw. IV. Bd. 1. Th. ©. 187). Die 
Griechen haben auch einen Kelchlöffel, jedoch zu einem andern Zwede, Sie neh- 
men nämlich mit demfelben die in das hl. Blut getauchten Hoftien oder Partikeln . 
aus dem Kelche, um fie zur Communion auszutheilen (Goar. Euchol. fol. 151). 
Kelchtüchlein (Velum). Sp nennt man das Tuh, mit welchem der Kelch 
verhüllt ift, wenn er zum oder vom Altare getragen, oder während der Katechu— 
menenmeffe (ſ. d. A.) und nach der Communion auf demfelben niedergefegt wird. Nach 
der Vorſchrift des Miffale foll e8 feiden fein; jedoch ift eg Regel, daß man es von 
demfelben Stoffe fertigt, aus dem die Kafula gemacht wurde, Zwar tadelt Rom- 


ſee (op. lit. tom. 2. p. 136) diefe Uebung; allein fie dürfte als eine Iegitime zu 


betrachten fein und daher um fo mehr beibehalten werden fönnen, als die Vorſchrift 
des Miffale in foweit bloße Rubrica directiva ifl. Der Farbe nach richtet fih das 
Kelchtüchlein nach der der Caſula. Eine Segnung deffelben ift nicht vorgefchrieben 


Cogl. meine Liturgif, 3, Aufl. II. Bd. S. 525). Seit wann es die Kirche ein- 


geführt Hat, ift fchwer anzugeben. Benediet XIV. meint (de sacrif, Miss. sect. 1. 
ec. 34.), e8 fei daffelbe identifch mit dem Velamen, von welchem der 72. Canon 
apostolorum ſpricht (Velamen linteumve nemo amplius in suos usus assumito). 


Wahrſcheinlich entftand fein Gebrauch erft dann, als das Corporale, weldes ur- 


fprünglich groß genug war, um Brod und Kelch auf dem Altare zu verhülfen, 


64 Kelchweihe — Keller⸗und Küchenmeiſter. 


ſeinen dermaligen kleinern Umfang erhielt. Amalarius von Trier und die Sy— 
node von Lüttich im J. 1287 kennen es; jener unter dem Namen „Sudarium“ 
(praef. 2. ad libr. de ecel. off.), diefer unter vem Namen „Panni“ (cap. 5. can. 7). 
Die Griechen haben es auch unter dem Namen „A170“ (Goar. Euchol.), Vergl. 
die Art. Corporale und Vela. [ör. X. Schmid.] 
Kelchweihe (Consecratio calicis), Sie iſt ſehr alt und wird gewöhnlich mit 
der der Patena vorgenommen; fhon das gregorianifhe Sarramentarium, bie 
älteften Ordines bei Martene u, dgl,, fowie auch der Orient, namentlich die Grie— 
hen (Euchol. Graec.) und Kopten (Renaud. collect. lit. orient. tom. I. p. 54) fen- 
nen fie. Sowohl das Beifpiel der Synagoge (Assumto unctionis oleo unges ta— 
bernaculum cum vasis suis, ut sanclificentur, altare holocausti et omnia vasa ejus; 
Exod. 40, 9—10.), als auch der natürlihe Wunfch der Kirche, es möge der 
Kelch bei jeder HI. Meffe ein wahrer Calix salutaris für die Gemeine fein, haben 
fie veranlaßt. — Der Ritus hiebei ift in der abendländifchen Kirche folgender: 
Zuerft betet der Bischof zwei Drationen, die alſo lauten: „Oremus, ut Deus et 
Dominus noster calicem istum in usum ministerii sui consecrandum coelestis gratiae 
inspiratione sanctificet, et ad humanam consecratiwnem plenitudinem divini favoris 
accomodet, Per Christum etc. Oremus, dignare, Domine Deus noster, calicem 
hunc benedicere, in usum ministerii tui pia famulatus devotione formalum, et ea 
sanclificatione perfundere, qua Melchisedech famuli tui sacratum calicem perfudisti, . 
et quod arte vel metalli natura effici non potest altaribus tuis dignum, fiat tua be- 
nedictione sanclificatum. Per Christum etc.* Sodann falbt derfelbe mit dem 
Daumen der rechten Hand die innere Höhlung des Kelches in der Art von einem 
Nande zum andern mit Chrisma, daß hiedurch ein Kreuz gebildet wird, und fo- 
dann die ganze innere Höhlung, dabei fprechend: „Consecrare et sanctificare dig- 
neris Domine Deus calicem hunc per istam unctionem et nostram benedictionem in 
Christo Jesu Domino nostro.* Als Schluß reihen fi noch eine Dration und bie 
Befprengung mit Weihwaffer an, Es finden fich diefe Gebete mit Ausnahme der 
Salbungsformel ſchon faft wörtlich in den obengenannten Kirchenordnungen. Merf- 
würdig ift nur dabei, daß der Salbung weder in dem gewöhnlichen gregorianifchen 
Sacramentarium, noch in dem Codex des hl. Eligius, Rodradus, Natoldug und 
dem der Kirche von Rheims Meldung gefchieht, ja auch der Ordo Romanus fie 
nur als Einfchiebfel der obigen zweiten Dration (vor dem Worte devotione ift 
nämlich in demfelben ald Rubrik zu leſen: Et faciat crucem de charismate super 
ipsum calicem per latera) fennt, Auc liest man in den Codices der Vorzeit ftatt 
„pia famulatus devotione“ die Worte: „pia famuli tui ill. devotione*, woraus fol- 
gen dürfte, daß die Kelche der Vorzeit regelmäßig das Gefchenf einzelner wohl- 
habender Gläubigen waren, — Nach Firhlicher Vorfehrift iſt es verboten, ſich 
eines nichteonfecrirten Kelches bei der hl. Meffe zu bedienen Ce. un. [1. 15.] $8. 
X. de sacr. unct.). Hat es ein Priefter dennoch wiffentlich oder unwiffentlich ge— 
than, fo ift die Weihe nachzuholen; nur einzelne Theologen meinen, es fei nicht 
mehr nothwendig, da der Gebrauch felbft einen folchen Kelch fozufagen geweiht 
babe (Quart. comment. in rubr. Miss. p. 2. tit. 1. sect. 2. dub. 3.), Wird ein con⸗ 
feerirter Kelch bedeutend (notabiliter) gebrochen oder zerfiört, oder feiner ur- 
fprünglichen Form verluftig, fo hört er auf, für eonfeerirt gehalten zu werben, 
gilt als exeerirt, Einige Schläge, die ihm etwa ein Schmied gibt, oder das all- 
mählige Verſchwinden der Vergoldung hebt die Weihe nicht auf, Die Abbrechung 
des Fußes hebt fie nur dann auf, wenn die Cuppa (der obere Theil) nicht zum 
Abfehrauben if, Ob der Kelch für exeerirt zu halten fer, wenn er neu vergoldet 
wurde, ift zweifelhaft; die Praxis fpricht fich gewöhnlich für eine neue Confeera- 
tion aus, [ör. X. Schmibd.] 
Keller: und Küchenmeifter in den Klöftern und Canonicaten, Urfprüng- 
lich führte der Vorfteher des Klofters, dem die Leitung des Ganzen anvertraut 








Kempe. 65 


war, auch die Verwaltung fämmtlicher Temporalien feiner Anftalt unmittelbar 
und verfönlich Ce. 9. C. 18. qu. 2). Da aber dieje weitausgedehnten Ver— 
pflichtungen’ feine Thätigkeit fo fehr in Anfpruh nahmen, daß er jeinen ander- 
weitigen und höhern Dbliegenheiten kaum mehr nachkommen fonnte, fo fingen die 
Aebte einzelner Klöfter an, die Verwaltung der Temporalien eigenen Officialen 

übertragen, die fie aus den Mitgliedern ihrer Congregation wählten, Diefe 

ficiale — cellerarii oder cellarii (f. d. A.), provisores, procuratores — 
führten die Verwaltung des gefammten Kloftervermögens, fie hatten die Aufficht 
über das Kircheninventar, forgten für die Verpflegung der Armen, Kranken, 
Fremden, hatten den unmittelbaren Bedarf an Lebensmitteln für das Klofter her- 
beizuſchaffen, und an die einzelnen Glieder deffelben zu verabreichen. Diefe Ein- 
richtung findet fich fhon in der Regel des HI. Benedictus, welche cap. 31 ver- 
ordnet: „eligatur de Gongregatione sapiens, maturus moribus, sobrius, non multum 
edax, non elatus, non turbulentus, non injuriosus, non tardus, non prodigus, sed 
timens Deum: qui omni CGongregationi sit sicut Pater; curam gerat de omnibus.“* 
Was die rechtliche Stellung des cellerarius betrifft, fo gehörte er zwar zu den 
Borftänden des Klofters, aber er war in allen feinen Functionen dem Abte voll- 
fändig untergeordnet und nur fein Stellvertreter; diefelbe Regel fagt: sine jus- 
sione Abbatis nihil faciat, quae jubentur, custodiat. Diefes ift die urfprünglide 
Stellung des cellerarius, fie Hat fi aber im Laufe der Zeiten je nach den Be— 
dürfniffen vielfach geändert und die Ausdehnung feiner Pflichten und Rechte war 
daher zu verfchiedenen Zeiten und an verfchiedenen Orten fehr verfchieden; im 
Allgemeinen läßt fih nur das fefthalten, daß das urfprünglich fehr ausgedehnte 
Amt allmählig in mehrere Zweige getheilt wurde, und fo entflanden eigene hospi- 
talarii, xenodochi, infirmarii, thesaurarii und oeconomi; das Amt des cellerarius 
beſchränkte fih auf die Sorge für den unmittelbaren Lebensunterhalt der Eon- 
gregation, auf die Auffiht über Kühe und Keller, auf die Anfchaffung ,. Auf- 
bewaßrung und Verabreihung des täglichen Bedarfs und die Ueberwachung des 
dabei thätigen Dienftperfonals; diefe Obliegenheiten bildeten das Amt des Kü— 
chen- und Kellermeifters im fpätern und gewöhnlichen Sinne des Wortes, 
Wegen der Wirhtigfeit deffelben war von jeher vorgefchrieben, daß es einem 
Geiftlihen des Klofterd übertragen werde, und nur felten Fam es in die Hände 
der Laien, — Ganz dafjelbe Amt, mit demfelben Namen und den nämlichen Ob- 
liegenheiten beftand in den Canonicaten; ſchon Chrodegang hat es aus der 
Regel Benedicts in feine Regula Canonicorum übertragen; cap. XI. derfelben fchreibt 
die Eigenfhaften und Pflichten des Cellarius vor (Harzheim, Conc. Germ. Tom. I. 
p- 101). gl. Thomassin, V. et N. E. D. Pars I. L. IH. c. 66. n. 11. und 67. 
n. 1; Van Espen, F. E. P. 1. tit. XXXI. ce. 5. 

SKempe, Stephan, Hauptreformator von Hamburg, wurde zu Ham- 
burg geboren, fudirte zu Roſtock, trat dafelbft in das Franciscanerflofter, und 
war ſchon 1523, als er in Drdensangelegenheiten nah Hamburg reiste, durch 
Joachim Slütern vom Luther-Evangelium infteirt. Angefommen in feiner 
Baterftadt, hielt er da in der Franciscanerfirche im Geifte Luthers eine Predigt, 
welche bei jenem Xheile der Hamburger, der bereits den Neligionsneuerungen 
huldigte, mit großem Beifalle aufgenommen wurde. Durch die Umtriebe und 
Gewaltthätigkeit diefer Partei wurde der Franciscaner-Convent gezwungen, den 
neuen Evangeliften als ordentlichen Prediger an der Klofterfirhe zu belaffen, und 
fo nahm die Reformation zu Hamburg ihren Fortgang. Um die Zeit, da Luther 
‚heirathete, nahm fih auch Kempe eine Nonne zum Weib, und im $. 1527 wurde 
er zum Pfarrer an der Catharinenfirhe beftellt. Zu Kempe gefellten ſich Jo— 
bannes Ziegenhagen, ein entlaufener Mönch aus Magdeburg, der fich eben- 
fall eine Nonne beilegte, Johann Fritze, ein aus Lübeck vertriebener Kaplan 
und deito Nonnenfhänder, und nebft einigen Andern Bugenhagen (ſ. d. A.). 

airchenlexilon. 6. Br. | 3 


66 Kempis — Kempten, 


Ein Hauptmittel, woburd Kempe das ununterrichtete Volk an fih zog, war bie 
Predigt von der Communion unter beiden Geftalten, und Ziegenhagen predigte 
diefe nicht bloß, fondern theilte fie auch aus. Es fehlte nicht an mehreren katho— 
liſchen Geiftlichen, die für Erhaltung der Fatholifhen Neligion eifrigft bemüht 
waren, und darunter zeichnete fich vor allen der Canonieus Barthold Moller aus, 
Allein mit Hilfe von Ränken und Gewaltthaten gewannen die Neuerer völlig die 
Dberhand und mußte im J. 1528 der größte Theil der Fatholifchen Geiftlichkeit 
die Stadt verlaffen. Im J. 1529 wohnte Kempe dem Collegium zu Flensburg 
bei, und im 3. 1530 richtete er zu Lüneburg das neue Kirchenwefen ein. Er 
farb zu Hamburg 1540 und hinterließ einige Schriften. Johann Aepinus 
(+ 1553), feit 1532 Superintendent zu Hamburg, führte die Hamburger-Nefor- 
mation zu Ende, führte aber auch eine Spaltung unter den Hamburger-Predigern 
durch feine Lehre herbei, daß die Seele Chrifti nach dem Tod am Kreuze wirklich 
in die Höfe gefommen fei und die Dualen der Verdammten gelitten habe, und 
daß diefer Aufenthalt in der Hölle und die Unterwerfung unter die dortigen Stra— 
fen einen wefentlichen Beftandtheil feines Erlöfungswerfes gebildet habe! Ueber 
die wie überall fo auch zu Hamburg im Gefolge der Neformation unter den Predi- 
gern entftandenen Streitigkeiten und über das mit der Neformation zunehmende 
Sittenverderbniß unter den Hamburgern ſ. Döllinger’s Reformation, ihre Ent- 
wicklung und ihre Wirkungen, B. II. ©, 485 2.5 über Kempe ſ. Hiſt. pol. Blätter 
B, XXV. ©, 321 ꝛe. Bergl, dazu den Art, Hamburg, [Schrödl.] 

Kempis, Thomas von, ſ. Thomas. 

Kempten, gefürſtete Abtei in Schwaben. Einige Zeit nach dem Tode 
des hl. Gallus C+ 646) verließen Mang und Theodor, zwei der vorzüglichſten 
Schüler deffelben, die St. Gallenzelle und begaben fih in die Augsburger Dib— 
cefe, mo Theodor zu Kempten an der Iller (Campidona, Campidunum) blieb, eine 
Capelle und Zelle erbaute und unter mancherlei Verfolgungen als Apoſtel pre- 
digte, während fein Gefährte Mang fih zu Füßen niederließ (f. Bayern). Auf 
den genannten Theodor führt man die erften Anfänge der nachher fo berühmt ge— 
wordenen Abtei Kempten zurück. Gleihwohl beginnt die fortdauernde Eriftenz 
dieſes Stiftes erft mit dem Jahre 752 wie Hermann der Contracte (Perg, 
Script. V, 99) berichtet: „Audogarius, primus Campidonensis coenobii fundator 
et abbas, locum illum incolere coepit, i. e. 752.“ Die erfte Gründung geſchah 
alfo nicht durch Karl den Großen und feine Gemahlin Hildegard; doch ift gewiß, 
daß Hildegard dem Klofter nebft bedeutenden Gütern die Leiber der hl. Martyrer 
Gordian und Epimachus zugebracdht habe, Ein großer Gönner des Kloſters war 
Kaifer Ludwig der Fromme, der demfelben Jmmunitäten und freie Abtswahl zu- 
ſprach, worin ihn die fpätern Carolinger und Dttonen nachahmten. Von dem 
Wachsthum des Klofters zeugt, daß daffelbe in der Conftitution Ludwigs vom 
J. 817 unter jene Klöfter gerechnet wird, welche nicht bloß Gebete, fondern au 
dona, wiewohl ohne Kriegsdienfte, zu entrichten haben, und daß damals Abt 
Agapit C+ 817) viele Bücher in einem hölzernen Bücherfaale fammelte, die aber 
leider nebft mehrern Kloftergebäuden durch Brand zu Grunde gingen, Lubwig 
der Teutfche übergab die Abter im J. 840 dem Bifchof Erchambert von Freyfing 
(ſ. Freyſing), der fih um diefelbe fehr annahm. Erchambert's Nachfolger zu 
Kempten, Abt Conrad I. baute, um die Neligiofität des Volks zu fördern, Kir— 
hen und Capellen. Frühzeitig fland Kempten mit den Klöftern Neichenau und St, 
Gallen in geiftlicher Bruderfchaftsverbindung. An der Einweihung der zu St, 
Gallen erbauten Othmarskirche im J. 867 nahmen Mönde von Kempten Antheil 
und fehrten, mit Neliquien befchenft und von den Gallenfer-Brüdern unter Lob- 
gefängen vor das Klofter hinausbegleitet, nach Kempten zurück. Nah dem Tode 
des fanften und in geiftlichen Kenntniffen bewanderten Abtes Landfrid CH 876) 
übertrug Kaiſer Ludwig die Abtei feinem trefflihen Kanzler Salomon, nachher 











Kempten, 67 


Abt son St. Gallen und Bifchof von Conftanz (f. Gallen, St.), und feit 889 
fland derfelben der Biſchof Waldo von Freyfing vor, — Während der Einfälle 
der Ungarn wurde Kempten zu wiederholten Dialen verwüftet. Für die Wieder- 
berftellung des Stifts wirkte befonders der HI. Bifhof Ulrih von Augsburg, dem 
es Kaifer Dito I. übergeben hatte, Als Ulrich um 955 von St. Gallen zurüd- 
fehrend bier weilte, wurde er von einer gefährlichen Krankheit befallen; fchnelf 
holte man das von ihm geweihte HI. Del von Augsburg ber, reichte ihm damit 
die letzte Delung, die der fromme Mönch Hiltin und zwei Presbyter Ulrichs voll- 
zogen, worauf Ulrich fogleich genas. Nachdem Otto I. dem Stifte wieder freie 
Abtswahl verliefen hatte, ward mit Ulrichs Bewilligung Alerander I. (+ 992) 
zum Abt gewählt, ein frommer, gelehrter und thätiger Herr, welcder dem Volfe 
an Fefttagen predigte, das Klofter in Zucht hielt, die Mangfirche reflaurirte, die 
Heine Stadt Kempten erweiterte und mit einer Ringmauer umgab, — Kaifer 
Eonrad I. gab im J. 1026 das Stift an feinen Stieffohn Herzog Ernft zu Lehen, 
und dieſer vertheilte die Stiftsgüter an feine Bafallen und vertrieb die Monde, 
Fünf Jahre nachher kam Ernft in das Schlößchen zu Stettwang, wo fich ein Paar 
der vertriebenen Mönche aufhielt und einer davon in einer Predigt gerade den 
Ruin des Klofters bejammerte. Davon ergriffen, gab Ernft die Abtei zurüd, 
und diefe blühte unter Abt Eberhard I. aus dem Klofter Einfieveln (+ 1044) wie- 
der auf, Damals und bis zu dem Ausbruche der Streitigfeiten zwifchen Kaifer 
Heinrich IV. und Papft Gregor VII. gab es im -Klofter mehrere fromme und um 
die Wiffenfhaften thätige Männer, und Abt Heinrih I. (1063) bewahrte dem 
Klofter das Anfehen, das es durch feine Schule erlangt hatte, Aber die Kämpfe 
zwifchen Kaiſer und Papft wirkten auch auf Kempten deftruirend ein und faifer- 
liche und päpftliche Aebte ftritten fich um die Abtei, Doch brachte Ulrich II., feit 
1092 Abt, das Stift wieder etwas empor, — Um die Mitte des 12. Zahrhun- 
derts hatte der Abt von Kempten bereits den Rang unter den NReichsfürften, 
Kaifer Friedrich II. gab dem Abte die Graffchaft Kempten mit allen Würden und 
Rechten zu Lehen. Die Iandesperrlihen Rechte wurden ihm gleich andern geift- 
lichen Fürften durch Friedrichs II. Verordnung von 1220 beftätiget. Als dann 
(1348) Raifer Carl IV. fi gegen den Abt der Anrede „unfer Fürft“ bedient 
hatte, Fam in den Ausfertigungen des Stiftes der Titel „Fürſtabt“ in Braud, 
Das Privilegium, fih der Infel und Pontificalien zu bedienen, erhielten die 
Kempiner Aebte 1238 von Papft Gregor IX. Allein mit dem äußern Glanz des 
Stiftes hielt der innere Zuftand deffelben nicht gleichen Schritt, und dazu trugen 
die Kämpfe zwifchen den Hohenflaufen und Pärften und das lange Interregnum 
Bieles bei. Allmäplig hörte das gemeinfchaftliche Leben der Stiftsglieder auf und 
lebten fie in abgefonderten Wohnungen und Häufern häufig gerade fo, wie ihre 
adeligen weltlichen Standesgenoffen in der Welt, wobei natürlich an einen Be- 
trieb der Wiffenfchaft wenig gedacht werden fonnte, Die Zahl der Eonventualen 
ſchmolz zu Wenigen herab und diefe mußten Wappengenoffen von vier Ahnen fein. 


Gleichwohl hat das Stift durch feine feelforglihen und gottesdienftlichen An- 


falten, durch Kirchenbauten, durch eine Schule für Schüler in und außer der 
Stadt, durch Wohlthätigkeit ze, auch in den trübſten Zeiten immerhin manches 


- Anerfennungswerthe geleiftet, und in allen Jahrhunderten bis auf die Reformation 


herab hat es immer mehrere Aebte gehabt, die ſich weit über die Mittelmäßigfeit 
erhoben, z. B. einen Rudolph von Hoheneck, Kanzler des Kaifers Rudolph und 
nachher Erzbifchof von Salzburg (+ 1289); Abt Heinrich VII. von Mittelberg 
(1346— 1382); Abt Friedrich von Laubenberg, welcher auf der Synode zu Con— 
ftanz anweſend war und eifrig an der Verbeiferung feines Ordens und feines 
Stiftes wirkte (+ 1434); Abt Pilgrin IL. (1434—1451), der feine Conventualen 
vermochte, ihre gefonderten Wohnungen aufzugeben und gemeinfhaftlich zu effen 
und zu ſchlafen; auch die Achte Johann I. CH 1481) und Sohann II. CH 1507) 
5* 


68 Kempten, 


waren fehr thätige Vorſtände, wenn auch zu firenge Verteidiger der Rechte des 
Stiftes. Indeß Hatten die Aebte auch Urfache genug, fih um die Gerechtfame 
des Stiftes tapfer zu wehren, denn trog al’ ihrer Bemühungen hatte ſich die 
Stadt Kempten unter Begünftigung der Kaifer allmählig zur Neihsunmittelbar- 
feit aufgefhwungen, — Die Reformation drang auch in das Stiftsgebiet ein und 
die Stadt Kempten war bald ganz auf Seite des Proteftantismus; abtrünnige 
katholiſche Geiftliche, wie ein Matthias Waibel, Jacob Heiftung u. A. zündeten dag 
neue Licht an und trugen das Ihrige bei, den Bauernfrieg (ſ.d. A.) zum Ausbruch zu 
bringen, in dem das Stift verwüftet wurde, Der Neformation arbeitete Abt 
Sebaftian v. Breitenftein (1523—1535) entgegen, Unter ihm Faufte die Stadt 
Kempten um 30,000 Gulden dem Stifte die Rechte und Gefälle ab, die es noch 
in der Stadt beſaß. Auf Abt Sebaftian. folgte der trefflihe Wolfgang von 
Grünenftein CH 1557), der nichts unterließ, was das Stift heben und die Ver— 
breitung der Reformation hemmen Fonnte, Ueberhaupt haben auch die nach— 
herigen Aebte, felbft jene, deren Wandel Anftoß erregte, dem Eindringen des 
Proteftantismus in das Stiftsgebiet fich ftandhaft entgegenfegt, daher Papft Pius V. 
in dem Beftätigungsfchreiben der Wahl des Abtes Heinrich von Ulm den 3. März 
1608 den neuen Abt ermahnte, feine Borfahrer nachzuahmen, die niemals ge- 
duldet, daß Keger in ihrem Gebiet fich feftfegten. Im 5. 1623 Fam endlich eine 
oft verfuchte, aber immer wieder namentlich durch die ſchwäbiſche Ritterfchaft, 
welche das Stift von Rechts wegen als eine Verforgungsanftalt ihrer jüngern 
Söhne betrachtete, vereitelte Disciplinar-Neform des Stiftes zu Stande, worauf 
der päpftliche Stuhl feit Iangem gebrungen hatte, Unter der Negierung des 
Abtes Johann Schenf von Kaftel wurde 1632 das Stift durch die Schweden 
zerftört, alles Heilige gräulich gefchändet und die Plünderungs- und Zerfidrungs- 
wuth auch auf andere Drte und Schlöffer ded Kempter-Gebietes übertragen, wo— 
bei man den Pfarrern Stricke um den Hals legte, fie an den Schweif der Pferde 
band und fo lange herumfchleppte, bis die Pfarrfinder fie mit ſchweren Summen 
befreiten. Weitere Verſuche zur Disciplinar-Reform des Stiftes in firengerer 
Weiſe machte zu wiederholten Malen und felbft mit Anwendung von Waffenge- 
walt der eifrige Abt Noman (1639—1673), doch auch jest ſtemmte fich wieder 
vorzüglich die ſchwäbiſche Nitterfchaft entgegen. Unter dem Abt Carbinal Bern- 
hard Guftan von Baden wurde der Bau des von den Schweden zerfiörten Stifte 
beendiget und dafjelbe am 21. November 1674 unter großen Feierlichfeiten be— 
zogen; vor Allem ließ ſich diefer Abt angelegen fein, die Handwerfe und Künfte 
emporzubringen und dem Stifte das Anfehen einer völligen Stadt zu geben, 
Deffen Nachfolger, Fürftabt Rupert von Bodmann (1678—1728), ein hochge— 
bildeter, ſtaatskluger und religids-eifriger Herr, erwirfte dem von ihm noch weiter 
emporgebrachten Stifte vom Kaifer Carl VI. im 3. 1712 um 1000 Carolin das 
Stadtrecht. Ihm folgte Fürftabt Anfelm Reichlin von Meldegg (1728—1747), 
der das geftörte gute Vernehmen zwifchen Regierung und Landfchaft wieder her— 
ſtellte. Die legten, Fürftäbte waren: Engelbert von Sirgenſtein (1ITAT— 
1760), ein fanfter, fyarfam Iebender, frommer und um die Erhaltung und Ver— 
breitung der Fatholifchen Religion thätiger Vorſtand; Honorius Roth von 
Schredfenftein (1760—1785), allgemein verehrt und geliebt wegen feiner 
Milde und Menfchenfreundlichkeit, feiner Verbienfte um das Land, feiner bei der 
Theuerung gebrachten Opfer, feiner Anftalten zum Beften der Armen; RupertIl. 
von Neuenftein (1785—1793), unter dem der Aftermyftifer Martin Bong fein 
Unwefen zu treiben anfing (ſ. Braun, Geſch. der Bifchöfe v. Augsburg IV, 550). 
Der letzte Fürftbifchof von Kempten war Caftolus von Reichlin. In den 
Sahren 1802 und 1803 ging die Särularifation des Stiftes vor fi und es Fam 
daffelbe wie die Stadt Kempten an Bayern, Bei der Säcularifation, dieſem 
trojanifchen Pferde des Communismus, umfaßte die gefürftete Grafſchaft Kemp- 








Fee — ir cr 








Kenchreä — Kerze, 69 


ten 18 Duadratmeilen in einem gefchloffenen Gebiete mit der Reſidenzſtadt Stift 
Kempten, 7 Marftfleden, 85 Dörfern, einer Menge von Weilern, Höfen und 
Schloͤſſern und 40,000 Einwohnern; zudem befaß das Stift viele zerftreut ge= 
legene Zehen. S. Mabill. Annal. t. II. p. 159, 228, und deſſen Vet. Analecta in 
uno tomo p. 448 etc.; Rettberg, Kirchengeſch. Teutſchlands. II, 1315 befonderg 
Hagenmüller, Gef. der Stadt und der gefürfteten Graffhaft Kempten, zwei 
Bände, Kempten 1840— 1847, [Schrödf,] 

Kenchreä, f. Corinth, 

Kendebäus, Feldherr des Antiohus (VII) Sidetes, von diefem zum Be— 
fehlshaber des Küftenlandes (Ts nagakies) ernaunt, drang auf deffen Befehl 
in Judäa ein, mordete und plünderte, befeftigte den Grenzort Kedron; Simons 
Söhne, Judas und Johannes, zogen wohlgerüftet gegen ihn, Kendebäus verlor 
viele feiner Leute und wurde mit dem Refte in die Flucht gefchlagen, Vgl. 1 Mace, 
45, 38. — 16, 8. Jos. Antt. XII. 7, 3. bell. jud. I. 2, 2. 

Kenifiter, ovr:7, LXX. Keveatoı, Vulg. Cenezaei, ein canaanitifches Voff 

nur Gen. 15, 19. genannt. 
-  Meniter, 02, DUp, auf Dr2Yp, LXX. Kıvator, Vulg. Cinaei, nach Gen, 
15, 19. ein Bolfsftamm Canaans, wohnten an der füböftlihen Grenze des Lan- 
des unter den Amalefitern, 1 Sam. 15, 6. 27, 10. 30, 29.5 einzelne verloren 
fih au in den Norden des Landes, Richt. 4, 11. 17,5. Hobab, der Schwager 
Mofes’ (Num, 10, 29.) gehörte diefem Stamme an, Richt. 4, 11. 1, 16. Die 
wenigen biblifchen Notizen wurden in befondern Monvgraphien verarbeitet von 
A. Murray, com. de Kinaeis, Hamb. 1718, und Kerzig, bibl, Hift, Abhandlung 
9. d. Kenitern, Chemnig 1769. 

SKenicott, Benjamin, f. Bibelausgaben. 

Keri und Ketib, f. Mafora, 

Kerze. Das Licht ift ein fo weientlihes und an Beziehungen reiches Sym— 
bol der Religion, daß es weder bei den Juden noch bei den Heiden von jeher 
gefehlt Hat. Im alten Bunde gehörte das Anzünden von wenigftens fieben Lam- 
pen im hl. Zelte zu den vorgefchriebenen gottesdienftlihen Ceremonien, Wag die 
chriſtlichen Zeiten betrifft, fo erheifchte fchon die bis in die Anfänge derſelben 
binaufgehende Gewohnheit der nahtlihen Verfammlungen den Gebrauch der 


Lampen und Lichter (vgl. Apoftelgeih. 20, 8.). Schon Hieronymus muß die von 
- Bigilantius als Mißbrauch getadelte „moles cereorum“ in den chriſtlichen Kirchen 


in Schug nehmen. Zu feiner Zeit übrigens, auch nicht in den erften drei Jahr— 
hunderten, wo die blutigen Verfolgungen die Nothwendigfeit der nächtlihen Got— 
tesdienfte in den Ratafomben(f.d. A.) und an andern abgelegenen Drten herbeiführten, 
wurde durch das Anzünden der Lichter beim Gottesdienfte bloß die materielle 
Dunfelpeit zu verfheuchen gefucht, fondern fetS wurde das Brennen der Lichter 
in den Kirchen ſymboliſch aufgefaßt, wie der hl. Hieronymus bemerkt: „In allen 
Kirchen des Morgenlandes werden beim Vorlefen des Evangeliums, felbft beim 
Sonnenſcheine, Kerzen angezündet, nicht als wolle man eine Finfternif auffellen, 


fondern um ein Zeichen der Freude zu geben“ (advers. Vigilant. ed. Mart. tom. IV. 


P. II. p. 284). Die Lichter, welde gebraucht wurden, waren von Anfang ent- 


Weder Wachs- oder Dellichter, feltener Fackeln (bei feierlichen Umzügen, auch in 


der Diternaht), — Die Wachskerzen werden auf Leuchter geſteckt, welche ange- 
zündet zu tragen befonders Sache der Acolythen Cceroferarii) if. — Die haupt- 
ſachlichen Feierlichkeiten, welche durch das Kerzenlicht verherrlicht werden, find 
die HI. Meffe, die Adminiftration der Hl. Sacramente, die Vornahme der Bene- 
Dietionen, die Proceffionen; auch gehört das Anzünden von Lichtern vor den Bil- 
dern der Heiligen zu dem diefen gebüßrenden Cultus, Biele Gläubige bedienen 


ſich der angezündeten Wachskerzen auch bei ihrer Privatandacht, insbefondere beim 


70 Kerzentragen 


Gebet für die Verftorbenen, — Der liturgiſchen VBorfehriften für den Gebrauch 
der Kerzen find viele; die wichtigften betreffen den Stoff, aus dem fie fein follen, 
und die Anzahl, in der fie gebrannt werben follen, fowie die Veranlaffungen, bei 
welchen fie anzuzünden oder auszulöfchen find. Sie müffen, den Nothfall aus— 
genommen, aus Wachs fein, weil dieſes an den „guten Wohlgeruch Chriſti“ er- 
innert. Die Farbe derfelben ift entweder weiß oder gelb, auch wohl roth, In 
einer Privatmeffe follen zwei und nur zwei Kerzen brennen, bei einem Amt we— 
nigftens vier, vor ausgefegtem hochwürdigſten Gute wo möglich ſechs; wenn der 
Biſchof celebrirt, brennen fieben. — Die fymbolifchen Beziehungen, welche die 
brennenden Kerzen darbieten, find zahlreih, und geftalten fich verſchieden nach 
den gottesdienftlichen Handlungen, bei denen fie vorfommen, Im Allgemeinen 
bezeichnen fie den in der Kirche gegenwärtigen Erlöfer als das Licht der Welt, 
und feine Religion als die Erleuchtung aller Völfer, wie als das heilige Feuer 
der Liebe, dag zu entzünden Er die himmlifche Herrlichfeit verlaffen; fie weifen 
den Gläubigen darauf hin, daß er felbft nichts Anderes fein foll, als gleichfam 
ein Licht an der Geifter- und Gnadenfonne Jeſus Chriftus angezündet, welches 
Anderen mit guten Werfen voranleuchtend, fich felbft zu Gottes Ehren verzehrt, 
Beſonders verdienen die fombolifhen Beziehungen herausgehoben zu werben, 
welche der hl. Carl Borromäus in der brennenden Wachsferze findet, „Cereo 
significantur theologicae virtutes, fides in lumine, caritas in calore, spes in cerei 
recta altitudine, quae sursum ascendit, ut spes nostra ad coelos usque excitatur 
atque erigitur‘ (act. eccles. Med. pag. 4. de instruct. bapt.). Bei der hl. Taufe 
erjcheint die brennende Kerze als ein fo wefentlihes Symbol, daß davon bie ganze 
hl. Taufe den Namen pwriouog — illuminatio, führt. Sehr paſſend erfcheinen 
in manchen Didcefen die Neucommunicanten mit der brennenden Kerze in der 
Hand; die Taufferze, die Kerze bei der erften HI. Communion und die Sterbeferze 
bilden dann eine fchöne Trias, Auch die Opferung der brennenden Kerze durch 
diejenigen, welche eine Weihe erhalten haben, an den ennfecrirenden Bifchof, iſt 
eine ſinnvolle Ceremonie, andeutend, daß fie alle fein wollen und follen, was 
oom hl. Johannes dem Täufer gefchrieben fteht, „lucerna lucens et ardens.“ — 
Um ihrer ausgezeichneten Stellung willen in der Neihe der liturgiſchen Sachen 
werden die Kerzen geweiht, ſ. Kerzenweihe und geweihte Sache. [Maft.] 

Kerzentragen, Kerzenweihe. Brennende Kerzen werben befonders bei 
theophorifchen Proceffionen vom Clerus und den hervorragenden Laien getragen, 
wie fie auch Hier befonders am Plate find, um einerfeitS auf das unter Brods— 
geftalt verborgene Licht der Welt hinzuweiſen, andererfeitS den lebendigen Glau— 
ben der Träger an die facramentalifche Gegenwart des Herrn anzubeuten. Das 
Kerzentragen bei Leichenbegängniffen, deffen Gregor von Nazianz, Hieronymus, 
Ambrofiug und Chryfoftomus ſchon erwähnen, ift die natürlihfte Ceremonie, 
welche das Gebet: „das ewige Licht Teuchte ihnen” (den Abgeftorbenen) begleitet, 
Bei der feierlichen Ereommunication tragen die Büßer Anfangs brennende Kerzen: 
fobald fie aber die Schwelle des Gotteshaufes Hinter fich haben, werben fie ihnen 
ausgelöfcht („die Leuchte der Gottlofen wird ausgelöfcht werden”, Sprüchw. 13, 
9,). — Feierlich wird die Kerzenweihe am Fefte Mariä Reinigung vorgenpm- 
men (von der Segnung der Ofterferze ein bef, Artifel), woher dieſes Feft auch 
den Namen Lihtmeß erhalten. Das Alter diefer feierlichen Segnung läßt ſich 
nicht mehr mit Genauigfeit ermitteln, immerhin aber fällt ihr Urfprung vor das 
achte Jahrhundert (ſ. Marzohl und Schneller, V, 1. ©.57). Ueber ihren 
Sinn geben den beften Auffchluß die Gebete der Kirche bei der Segnung ſelbſt; 
darnach follen alle diejenigen, welche die geweibten Kerzen fromm gebrauchen, zur 
wahren Gptteserfenntniß erleuchtet, mit dem Feuer ber Liebe entzündet, mit der 
Gefundheit des Leibes und der Seele begnadigt, vor allen Nachftellungen des 
böfen Feindes gefhügt und zu den Wohnungen des ewigen Lichtes glücklich ge— 











J 


Keſuba — Ketzertaufe, Ketzertaufſtreit. 71 


leitet werden. Während der Vertheilung der geweihten Kerzen wird vom Chor 
der Lobgefang des greifen Simeon „nunc dimiltio servum tuum“ angeftimmt, dan 
geht die Proceffion vor fih, während welder die fie Begleitenden die angezünde- 
ten Kerzen in den Händen tragen. — Sonft findet ſich in der Kirche noch eine 
doppelte Benediction der Kerzen, eine gewöhnlihe, welche unter dem Jahre 
vorgenommen wird, wenn die Zahl der am Lichtmeßtage geweihten nicht aus— 
reicht, und eine andere der Sterbeferzen (f. Marzohl und Schneller V. 1, 
©, 368). [Maft.] 
-Kefuba, f. Che bei ven Juden. 

Kettler, Gotthard, f. Kurland. 

Kettler, Wilhelm, f. Caffander. 

Kettenfeier Petri, f. Petri KRettenfeier, 

Ketzer, Kegerei, f. Härefie. 

SKegerrichter, f. Inquifition. 

Kegertaufe, Kegertaufjtreit. Schon zu Ende des zweiten hriftlichen Jahr- 
bunderts hatte Tertullian, als firenger und herber Charafter in der Firchlichen 
Diseiplin dem äußerſten Rigorismus zugethan, in feinem Buche de baptismo (e. 
15. p. 262) die erften Keime einer Streitfrage niedergelegt, welche fpäterhin in 
unerquicliher Weife Gegenftand gedehnter Verhandlungen ward, Die GStreit- 
frage war: „Iſt die von den Kegern ertheilte Taufe gültig oder nicht? Und find 

ſofort diejenigen, welche aus irgend einer Härefie in die Fatholifche Kirche zurüd- 

zukehren wünfchen, vorerft zu taufen, oder genügt die bisherige Praris ber all- 
gemeinen, befonders aber der römischen Kirche, den zurücfehrenden Häretifern 
zum Zeichen der Buße und Verſöhnung die Hände aufzulegen?” Tertullian ver- 
wirft a. a. O. die Kegertaufe, und motivirt fein Urtheil in Folgendem: „Wir 
und die Häretifer Haben nicht denfelben Gott, und nicht Einen, d. i. den näm- 
lichen Chriftus, daher auch nicht Eine, weil nicht diefelbe Taufe, Da fie diefe 
nicht in rechter Weife befigen, fo befigen fie diefelbe ohne Zweifel gar nichtz 
daher fie auch nicht empfangen Fonnen, was fie nicht Haben.” Die fo motivirte 

Auffaſſungsweiſe von der Einheit der Taufe Fonnte wohl Agrippinus, Biſchof 
von Carthago, der Vaterftadt Tertullians (200), nahdem Iegterer zum Monta— 

nismus übergetreten, eben den Montaniften gegenüber mit Necht in Anwendung 

bringen, da diefe nicht nach der Einfegung Chrifti, im Namen der ausdrücklich zu 
nennenden drei göttlichen Perfonen tauften; er durfte aber diefe Anficht nicht, wie 
er auf der Synode zu Carthago gethan, auf die Kegertaufe im Allgemeinen aus— 
dehnen, ohne den Fatholifchen Lehrbegriff, wie diefer unten näher zu beleuchten 

Tommi, zu gefährden. In Folge des Synodalbefchluffes fand die Hebung, die 
‚Häretifer erft durch Ertheilung der Taufe in die kirchliche Gemeinfhaft wieder 
aufzunehmen, Eingang in einem großen Theile der africanifchen Kirche, und 

Widerhall in den Kirchen Kleinafiens; denn fchon auf der Synode zu Jeonium 

und fpäter zu Synnada, unter dem Vorfige Firmilians (ſ. d. A.), Biſchofes 

son Cäfaren in Cappadocien, wurde ein gleicher Befchluß gefaßt mit der Synode 
zu Carthago (Euseb. H. E. VII. 5. 7. 30.). In bevenflicherer Weife aber ent- 
brannte der Regertaufftreit, als im J. 248 Eyprian (f.d. A.) den bifchöflichen 

Siuhl von Carthago beftieg. Die nächfte Veranlaffung gab die gerade damals 

’ auftauchende Secte der Novatianer, die fih die Neinen, zaI«pol, nennend, 

} alle aus ver Fatholifchen Kirche zu ihnen Uebertretenden wieder tauften und fomit 

im nothwendigen Rückſchlage die obſchwebende Streitfrage über die Kegertaufe 

wieder in Anregung brachten. Auf die fihriftlihe Anfrage von 18 Bifhöfen 

Africa’8, wie man es ferner mit der Aufnahme der Häretifer zu halten habe, 

' serfammelte Cyprian zu Carthago (255) 31 Biſchöfe der africanifchen Kirche. 

3 Gfübend begeiftert für die Idee der Einheit der Kirche, beftärft durch das Bei- 

ſpiel feines mittelbaren Vorgängers Agrippinus, wußte Cyprian die verfammel- 











72 Kebertaufe, Ketzertaufſtreit. 


ten Bifchöfe zum einmüthigen Befchluffe gegen die Gültigkeit der Ketzertaufe zu 
beſtimmen. Das Synodalfchreiben (Cypr. ep. 70.) wurde an die Fragefteller ab- 
gefandt, und auf folgende Gründe zurücgeführt: „Niemand könne draußen, außer 
der Kirche, getauft werden, da nur Eine Taufe in der HL. Kirche beftehe. Keiner, 
der außer der Kirche fer, Fünne das Waffer heiligen, da er den hl. Geift nicht 
habe, — Es fei nur Eine Taufe, nur Ein hl. Geift, nur Eine von Chrifto dem 
Herrn auf Petrus gegründete Kirche. Bei den Frrgläubigen fei alles undächt und 
nichtig.” Die Synode verwahrt fih gegen den Vorwurf der Wiedertaufe; denn 
„Alle, die von einem ehebrecherifchen und ungeheiligten Waffer fommen und mit 
der Wahrheit des heilbringenden Waffers abzumwafchen find, werben von ung nicht 
wiedergetauft, fondern getauft” Cep. 73). In gleihem Sinne fohrieb Eyprian 
auch an Duintus, einen der Bifchöfe Mauritaniens, der an ihn durch den Priefter 
Lucian die nämliche Frage bezüglich der Kegertaufe hatte ergehen Taffen Cep. 71). 
Um diefe Frage einer gedeihlichen Löfung entgegenzuführen, Iud er in kurzer Zwi- 
ſchenzeit (255—256) abermals 71 Bifchöfe Africa’s zu einer Synode nad) Car- 
thago. Diefes Coneil beftätigte die Befchlüffe des erfteren und fandte zugleich 
mit dem frühern Synodalfchreiben und dem Briefe Cypriansg an Duintug den 
gefaßten Entfcheid nah Rom an Papft Stephanus, Wie weit Cyprian, der 
wahrfcheinliche Verfaſſer diefes Synodalfchreibens, von aller Parteifucht und 
Streitluft entfernt gewefen, geht aus den Schlußworten des Schreibens hervor: 
„Wir fenden dir diefes Schreiben, geliebtefter Bruder, fowohl zu deiner Mit- 
funde, als wegen der gemeinfchaftlichen Würde, und aus ungeheuchelter Liebe, — 
Doch thun wir Keinem Gewalt an, geben Keinem Geſetz, da jeder Bifchof in 
Verwaltung der Kirche feinem freien Urtheile folgt und dem Herren Nechenfchaft 
geben wird für das, was er thut” Cep. 72). Diefer Geift der Milde und Ver— 
föhnung gibt fih auch fund in einem gleichzeitig an Biſchof Jubajanus gerichteten 
Schreiben Cyprians, das er mit den Worten fohließt: „Die Liebe des Herzens 
erhalte ich aufrecht mit Geduld und Sanftmuth, die Ehre der Gemeinſchaft, das 
Band des Glaubens und die bifhöfliche Eintracht” Cep. 73). Wider Erwarten 
Eyprians und der übrigen Biſchöfe Africa’s nahm Stephanus das Synodalfchrei= 
ben in einer Weife auf, die allerdings nicht geeignet war, den Streit auf friedlichem 
Wege beizulegen, fondern vielmehr die Hige des Kampfes fteigern mußte, be— 
ſonders als auch Firmilian, Kenntniß davon nehmend, auf Cyprians Seite trat, 
und ihm die Tradition mehrerer Particularfirchen Afiens als Bundesgenpffinnen 
zuführte (Cypr. ad Pompejum ep. 74. — Firmil, ad Cypr. ep. 75). Stephanus 
dagegen, fußend auf der allgemeinen Tradition, befonders jener der HYaupt- 
und Mutterkirche, wie Cyprian felbft (ep. 59) Nom genannt, entfchied mit den 
Worten: „Wenn Jemand von was immer für einer Härefie zu euch kommt, fp 
fol nichts erneuert werden, außer was überliefert worden ift, daß man ihm bie 
Hand auflege zur Buße, da felbft die Häretifer foldhe, die von einer ihrer See— 
ten zur andern übergehen, nicht eigenthümlich taufen, fondern nur einfach in ihre 
Gemeinſchaft aufnehmen” (ep. 74. p. 293). Der Papft will dur die Berufung 
auf das Beifpiel der Jrrgläubigen nur zeigen, wie lebendig und tief die katho— 
Yifche Meberlieferung in diefer Frage felbft den getrennten Secten noch inne wohne 
($leury h. e. VI. 28.). Die Worte „a quacunque haeresi“, deren fih Stepha- 
nus bediente, involviren keineswegs den ihm von Cyprian (ep. 74) gemachten 
Borwurf, daß ihm jede, auch in unrechter Weife vollzogene Kegertaufe gleich 
gelte, Der Papft konnte fo fprechen, denn leichter wurden damals Ketzer gefun- 
den, bie gar nicht tauften, als folche, die nicht der rechten Formel in der Taufe 
fich bedient hätten (S. August. de Bapt. VI. 25.). Daß Stephanus den Bifhöfen 
Afiens und Africa’s felbft mit dem Banne gedroht habe, geht aus einem Briefe 
des Divnyfius von Alerandrien an Papft Xyftus (Euseb. h. e. VII. 5.) hervor, — 
Wenn auch der unbefangene Hiftorifer nicht abläugnen Fann, daß in biefem Streite 











Kesertaufe, Ketzertaufſtreit. 73 


beide Parteien die Schranfen der Mäßigung überfritten, fo wird er doch zu- 
gleich zugeben müffen, daß dem Papfte gegenüber, der fih im voliften Rechte 
befand, die gebührende Pietät minder von Firmilian ald von Cyprian gewahrt 
wurde, Leßterer glaubte dadurch eine Vermittlung bewirken zu können, daß er 
nochmals am 1. September 256 ein Coneil nad Carthago berief, zu welchem 85 
Bifhöfe aus der Provinz Africa, Numidien und Mauritanien, defgleichen viele 
iefter und Diaconen, fowie auch Laien fich einfanden. Wie aus den von Cy— 
prian felbft überlieferten Synodalacten hervorgeht, blieben alle Biſchöfe bei ihrem 
früheren Befhluffe, mit der nochmaligen Verfiherung, dadurch die Einheit des 
Glaubens nicht flören und die Firchliche Gemeinschaft mit den Biſchöfen gegen- 
theiliger Ueberzeugung nicht aufheben zu wollen. Ob Eyprian vor feinem Tode 
noch feine Meinung widerrufen babe, ift nicht mit Gewißheit befannt. „Fortasse 
factum est, sed nescimus“ .... (S. August. de bapt. 1. IL. c. IV.). „Cyprianus sen- 
sisse aliter de baptismo quam forma et consuetudo habebat Ecclesiae, non in ca- 
nonicis, sed in suis et concilii literis invenitur: correxisse aufem istam sententiam 
non invenitur; non incongruenter tamen de tali viro existimandum est, quod cor- 
rexerit, et fortasse suppressum sit ab eis, qui hoc errore nimium delectati sunt, 
et tanto veluti patrocinio carere noluerunt“ (Id. ep. 43. $ 38.). Indeß ift uns 
die Heiligfprehung diefes Kirchenlehrers, fowie feine ausdrüdflihe Erwähnung 
im Canon der Meffe die fiherfte Bürgfchaft, daß er flets in vollfommener Kir- 
hengemeinichaft geblieben. — Doch auch nah dem Tode Cyprians und des 
Dapftes Stephanus dauerte der Kegertaufftreit ſowohl in der afiatifchen als africani- 
ſchen Kirche fort. Diony ſius, Bifhof von Alerandrien (f. d. A.), hatte ſchon 
zu Zeiten des Papftes Stephanus die Rolle eines Vermittlers übernommen, und 
feste nun diefes Amt unter Sirtus H. fort; es gelang ihm jedoch nur theilweife, 
die Biſchöfe Africa’s mit Rom in diefem Puncte zu einigen (Euseb. h. e. 1. c). 
Endlich ftellte fih auf dem Concile zu Arles (314), dem viele africanifhe Bi- 
ſchöfe anwohnten, den Novatianern gegenüber die römifche Ueberlieferung als 
 Fatbolifhe Lehre offen heraus. Der 28. Canon diefes Coneils lautet: „Wenn 
ein Häretifer zur Kirche kommt, fo foll man ihn nach dem Symbole fragen, und 
überzeugt man fih, daß er auf den Vater, Sohn und HI. Geift getauft fei, fo 
fol man ihm bloß die Hände auflegen. Befennt er aber auf die ihm vorgelegte 
Frage nicht diefe Trinität, fo foll er getauft werden“ (Mansi t. II. p. 474.). Das 
allgemeine Nicän iſche Concil (325) befräftigte im 8. Canon den Ausfpruch des 
Eoneils von Arles, indem es entfchied, daß die Novatianer nur mittelft Hände- 
auflegung in die Kirche wieder aufzunehmen feien; die Paulianiften aber, welde 
die Taufformel geändert hätten, feien im Falle ver Rückkehr zu taufen Cean. 19. 
Mansi t. II. p. 666; Harduin t. I. p. 326 et 331.). Im Driente aber, befonderg 
in Eappaborien, fiheint fi die Gewohnheit, alle Ketzer vor ihrer Aufnahme in 
die Kirche zu taufen, bis zum erften allgemeinen Coneile von Conftantinopel er= 
halten zu haben (S. Basil. prima et secunda ep. can. ad Amphiloch.). Zu Ende 
des vierten Jahrhunderts ward dem HI. Auguftin glänzende Veranlaffung, die 
Lehre der Fatholifchen Kirche mit der ihm eigenen dialectifchen Schärfe darzuftellen. 
Die Donatiften (ſo d. A.), ausgehend von dem Principe, daß die Gültigfeit 
der Sacramente bedingt fei durch den Glauben und die Sittlichfeit des Ausfpen- 
ders, tauften die zu ihnen übergehenden Katholifen, und beriefen fich hiebei auf 
die Autborität des HI. Cyprian, in dem fie allerdings ſcheinbar einen Patron ge- 
funden, da er die Gültigkeit der Taufe von der Orthodoxie des Taufenden ab- 
bängig gemacht Hatte, Auguftin, vorerft auf den traditionellen Standpunet in 
feinem Werfe de bapt. contra Donatistas libri 7. ſich ftellend, entſchuldigt den HI. 
Eyprian, da zu feiner Zeit diefe Frage über die Kegertaufe noch durch Fein all- 
gemeines Coneil entſchieden gewefen. Uebrigens freche das Verfahren, fowie 
bie Lehre des HI, Cyprian gegen die Donatiften, und verbamme die Losreifung 


71 Kebertaufe, Ketzertaufſtreit. 


von der Kirche, mit der er immer vereinigt geblieben. „Jene Tauffrage war 
damals noch nicht forgfältig behandelt worden, aber doch hielt die Kirche die fehr 
heilfame Gewohnheit feft, felbft auch an den Schismatifern und Häretifern das 
zu verbeffern, was entartet ift, aber nicht zu wiederholen, was gegeben iſt.... 
Diefe Gewohnheit rührt, meinem Glauben zufolge, aus apoftolifcher Ueberliefe— 
rung ber, fowie Vieles, was weder in ihren, noch der Nachfolger Schriften ge= 
funden wird, doch als von ihnen (den Apofteln) überliefert und empfohlen ge= 
glaubt wird, weil es die allgemeine Kirche beobachtet, Die Macht diefer Ge— 
wohnheit beftimmte den Erdfreis, als jene Angelegenheit in Frage geftellt und 
die gemeinfame Tradition vor die Authorität und Macht eines allgemeinen Concils 
gebracht worden war” (lib. I. de bapt. c. VII. et IX.). Nach dem fritifchen Zeug- 
niffe Bellarmins (lib. I. de sacram. c. XXVI.) verſteht Auguftin unter diefem 
allgemeinen Eoncil fein anderes, als das ebenerwähnte erfte nicänifche, Auguftin 
urgirt diefe für die Gültigkeit der Ketzertaufe fprechende Hebung aus dem Ge— 
ftändniffe Cyprians felbft, der behauptet: „viefe fehr Heilfame Gewohnheit ſei 
durch feinen Vorgänger Agrippinus im Beginne gewiffermaßen verbeffert, in der 
That aber vielmehr verfchlechtert worden” (lib. II. de bapt. c. VII. n. 12.). Zeuge 
diefer traditionellen Uebung, die Keger bloß mittelft Händeauflegung in die Kirche 
aufzunehmen, ift uns ein ungenannter Schriftfteller aus dem dritten hriftlichen 
Sahrhunderte, der ein Buch gegen den Irrthum der Wiedertäufer gefchrieben 
(ef. Anonymi liber de Rebaptismate, gewöhnlid) den Werfen Cyprians beigefügt). 
Zeuge ift Bincentins von Lirinum, der alfo ſchreibt: „Agrippinus, Biſchof 
von Carthago, entfchied fich, der Erfte unter allen Sterblichen, für die Wieder- 
taufe gegen den göttlichen Canon, gegen die Negel der allgemeinen Kirche, gegen 
den Sinn aller Priefter, gegen Sitte und Einrichtung der Vorfahren” (commonit. 
c. VL). Eben fo beftimmt fprechen fih aus Hieronymus (dialog. adv. Lucifer. 
n.8 et 9.), Papft Siricius (ep. I. ad Himerium Episc. Tarrac. f,d. Art. Himeriug), 
Innocenz I. (ep. XVII. ad Rufum etsoc.), Eugenius IV. (decret. ad Arm. Harduin 
T. IX. p. 438), Die von den Bifhöfen Africa’s und Kleinafiens vorgebrachten 
Gründe, welche theils in Conjecturen, theils in abweichenden Traditionen von Einzel= 
firchen beftanden, beweifen fomit nichts gegen die allgemeine, Fatholifche Tradition, 
Einen fohlechten Dienft haben dem HI. Eyprian und feinen’ bifhöflihen Mitgenoſ⸗ 
fen jene Kirchenſchriftſteller (Tourneminius, conjectures sur la supposition de 
quelques ouvrages de Saint Cyprien et de la lettre de Firmilien, zu finden in den 
Documentis Trevoltiensibus mens. Decemb. a. 1734, art. CXVIII. p. 2246 et sggq. 
— Raymund. Missorius dissert, crit. in ep. ad Pompejum. Venet. 1733) er— 
wiefen, die, um fein Firchliche8 Anfehen zu ſchützen, den Kegertaufftreit ganz oder 
wenigftens theilweife von den Donatiften fingirt behaupten wollten. Wollte man 
eine ſolch' evidente Thatfache, Die auf den folideften Zeugniffen beruht, auf Teichte 
Bermuthungen hin, oder aus übelverftandener Pietät gegen eine hiftorifche Größe, 
in's Neich der Fabeln verweifen, fo würde bald Gefchichte nicht mehr Geſchichte 
fein, denn dem Sfepticismus wäre alsdann Thür und Thor geöffnet (ſ. Perronne 
praelect. theolog. t. VI. p. 291. not. 4. Mediol. 1845). — Das antifatholifche 
Prineip, nach welchem die Donatiften, fich fälfchlich brüftend mit dem Anfehen 
eines hl. Cyprian, die von Kegern Cin ihrem Sinne gennmmen) ertheilte Taufe 
unbedingt verwarfen, ward im Laufe der Jahrhunderte ausfchließlihes Eigen- 
thum der Härefie, Wir finden es im 12ten Jahrhunderte bei der Secte der Apo— 
ftolifer, der Walvdenfer, und gegen das Ende des 14ten Jahrhunderts bei den 
Wiclefiten und Hufiten (f. d. A.). Die Fatholifche Lehre dagegen fpricht das vierte 
Yateranenfifche Coneil (can. Firmiter) aus: „Die Taufe wirfe das Heil, von went 
immer fie ertheilt fein möge, nur foll fie unter Anrufung der Trinität, im Waf- 
fer, und in der Form der Kirche, Furz auf die rechte Weife gefchehen“ (Harduin 
VII. 17.), Nicht minder beftimmt entjeheidet das Concil von Trient (Sess. VII 





Kegertaufe, Kebertauffireit. 75 


de bapt. can. W.): „Wenn Jemand fagt, daß die Taufe, wenn fie auch von 
Häretifern im Namen des Baters, des Sohnes und des HI. Geiſtes ertheilt wird, 
mit der Intention, das zu thun, was die Kirche thut, nicht die wahre Taufe fei, 
der fei im Banne.” In diefem Sinne befiehlt die Kirche den Prieftern, nach dem 
Ausſpruche der Väter und Eoneilien die Gläubigen zu lehren (Catech. Rom.). — 
Die Frage über die Gültigfeit der Kegertaufe, die wir bisher in ihrem geſchicht— 
lichen Verlauf verfolgten, findet im Fatholifhen Dogma leihtlih ihre Löfung. 
Die vbjective Gültigkeit des Sacramentes ift nad Fatholifchem Lehrbegriffe nicht 
bedingt durch die ſubjective Gläubigfeit oder fittliche Würdigfeit des Ausſpenders; 
denn die Sacramente haben ihre ganze Kraft von Chriſto und feinem Verdienfte, 
Der eigentliche Spender der Sacramente ift Chriftus, und der Minifter des Sa- 
eramentes tritt nicht im eigenen Namen auf, fondern in der Kraft und Authorität 
Chriſti. Somit hat auch feine Subjectivität feinen Einfluß auf die Gültigkeit des 
Sacramentes, wenn er nur die Intention hat, das zu thun, was die Kirche thut, 
So bezeugt Johannes der Täufer von Chrifto: „Diefer iſt's, der mit dem hl, 
Geifte tauft” (Joh. 1, 33.), obwohl Jeſus nicht felbft, in eigener Perfon taufte, 
fondern durch feine Jünger (Joh. 4, 2.). Daher wird die facramentale Taufe 
des n. B., gegenüber der in ihrer Wirffamfeit an fubjertive Bedingungen ge— 
fnüpften Taufe Johannis, die Taufe Chrifti, die Taufe im Namen Jefu ge- 
nannt (Apg. 19, 3. 5.), und der Apoftel Paulus tritt der irrigen Anfiht der 
Eorinther, als fei es Paulus, Apollo oder Cephas, die in eigenem Namen tauf- 
ten, mit den Worten entgegen: „Iſt denn Chriſtus getheilt? Oder iſt Paulus 
für euch gefreuzigt worden? Der feid ihr im Namen des Paulus getauft wor= 
den?.... Wer ift denn Apollo? Wer ift Paulus? Diener deffen, dem ihr 
geglaubt babet, und zwar fo, wie es der Herr einem Jeden gegeben hat. Ich 
babe gepflanzt, Apollo Hat begoffen: Gott aber hat das Gedeihen gegeben, Daher 
ift weder der etwas, welcher pflanzt, noch der, welcher begieft, fondern Gott, 
der das Gedeihen gibt“ (1 Eor. 1, 13. 3, 4—7.). Iſt es aber nicht der Menſch, 
der taufet, fondern immerdar Chriftus, der fich des Menfchen als Drganes be— 
dient: fo iſt _ Einem auch die Gültigfeit der von Häretifern ertheilten Taufe 
bejabet, denn es ift Ein und diefelbe Taufe, vorausgefegt, daß fie in rechter 
Weife ertheilt wird, Auf diefen Sag führte Papſt Stephanus feine Behauptung 
zurüf, da er fagte: „Die Ketzer taufen nicht auf eigenthümliche Weiſe“ (Cypr. 
ep. 74). Iſt aber die Kegertaufe gültig, fo drüdt fie dem Getauften den facra- 
mentalen Charafter ein, und es fann ſonach von einer Wiedertaufe des zur 
Kirche zurüdfehrenden Häretifers Feine Rede fein, Derfelbe wird mittelft Ab- 
ſchwoͤrung der Härefie und Auflegung der Hände zur Buße und Verfühnung in 
die Kirche aufgenommen, und mit diefem Augenblicke treten zugleich in dem le— 
bendig gewordenen Gliede der Kirche die Wirfungen des Sarramentes, die bis- 
ber bloß der Kraft nach, potentiell, in ibm lagen, wirklich ein Cogl, Perronne 
prael. theol. Vol. VI. 293. not. 2). Die$ war eigentli der Knotenpunct 
bes Streites zwifchen Cyprian und Stephanus. Cyprian und feine An- 
bänger unterfchieden nicht zwifchen Sacrament und Wirkung des Sacramen- 
tes, und warfen daher unbilliger Weife dem Papfte Stepkanus, der doch im Ieß- 
ten Grunde mit ihnen eins war, vor, er ſchreibe der Ketzertaufe im Momente 
des Empfanges diefelben Wirkungen zu, wie der in der Rirche ertheilten. Und 
doch hatte Stephanus felbft gefagt: „Die Härefie gebiert und fegt aus; die aus- 
gefegten (Rinder) aber nimmt die Kirche auf, und die nicht fie ſelbſt geboren Hat, 
ernährt fie als die ifrigen“ CCypr. ep. 75). — Wird demnach das Dogma: 
„Ehriftus iſt es, der da taufet”, und der Unterfhied zwifchen der Gültigkeit 
und Wirfamfeit der Taufe feft im Auge gehalten, fo löfen ſich alle etwaigen 
Bedenken von felbft, wie leichtes Nebelgewölfe. Der HI, Auguftin fagt hieher 
bezüglich: „Nicht durch die Verdienfte derer, von denen fie gefpendet wird, noch 


76 Ketzertaufe, Kebertaufftreit. 


derer, benen fie gefpendet wird, befteht die Taufe, fondern durch die eigene Hei- 
Yigfeit und Wahrheit, um Deffen willen, von dem fie eingefegt ift” (de bapt. IV. 
16.). Und der Frage: „Gibt e8 in den von der Kirche getrennten Secten wahre 
und gültige Sacramente?“ ftelft er die Antwort entgegen: „Die Trennung von 
der Kirche ift zweierlei: entweder Trennung in der Liebe allein (Schisma), oder 
in der Liebe und im Glauben (Härefie, Apoſtaſie). Halten die in der Liebe Ge- 
trennten entweder ganz oder zum Theile feft an dem Glauben, fo bleiben ihnen 
zwar fraft diefes Glaubens die Güter, die fie bei der Kirche empfangen und durch 
den Glauben fefthalten; was fie von der Kirche mitnahmen, ging ihnen zwar 
nicht verloren, aber die erhabenften Geheimniffe frommen ihnen nicht ohne die 
Liebe. Daraus geht hervor, daß außer der Fatholifchen Gemeinfchaft Die Gewalt, 
zu taufen, gleichwie die Fähigkeit, die Taufe zu empfangen, gefunden werde, 
Sp haben die von der Kirche in der Liebe oder auch im Glauben Getrennten 
allerdings die wahre Taufe, welche fie bereits vor ihrer Trennung empfangen 
hatten und von der Kirche mitbrachten; denn falls fie zu der Kirche zurücffehren, 
wird fie ihnen nicht von Neuem gegeben; und darin fpricht fih das Urtheil aus, 
daß fie das, was fie in der Einigkeit empfangen hatten, in der Trennung nicht 
verloren, Kann nun die Taufe draußen empfangen werden, wie follte fie nicht 
draußen gegeben werden können?“ Dem Einwurfe der Donatiften, wie denn 
die Härefie Chrifto und der Kirche geiftliche Kinder zeugen könne, begegnet er 
mit den Worten: „ES iſt die Eine Kirche, welche einzig die Fatholifche genannt 
wird, die durch das, was fie als ihr Eigenthum in den von ihr getrennten Ge— 
meinen befigt, geiftliche Rinder zeugt, nicht aber find e8 diefe Gemeinen felbft; 
denn die Trennung an fich ift nicht das Zeugende, fondern was von jener er— 
halten worden” Ccfr. de bapt. I. 10. — II. 10. — IV. 1—5. — VII. 51, 52, 
53.). Ein weiterer, aber nur foheinbarer Einwurf, welcher gegen die Gültigkeit 
der Rebertaufe gemacht werben könnte, möchte in der Frage liegen, ob nicht aus 
dem nämlichen Grunde auch alle übrigen Sacramente von Häretifern gültig er- 
theilt werden fonnen? Perronne fpricht fich hierüber, nachdem er den Canon 
des Tridentinums (can. IV. de bapt.) von der Gültigfeit der Kegertaufe vor— 
gebracht hat, folgendermaßen aus: „Quod vero attinet ad sacramenta reliqua (si 
poenitentiam excipias, non quidem ex defectu fidei, sed’ex defestu jurisdictionis, 
qua carent haeretici), certa est illa propositio ac fidei proxima. Licet enim nulla 
expressa habeatur de illis ecolesiae definitio, jam ex communi consensu probatur 
atque ex ejusdem ecclesiae praxi, pluribus saltem abhinc saeculis confirmata. 
Eadem sane ratio, quae suffragatur valori baptismi collati ab haereticis, suffraga- 
tur pariter valori ceterorum sacramentorum, quae omnia Christi sunt‘“ (praelect, 
theol. t. VI. p. 290). Eben aber, weil alle Sacramente Saeramente Ehrifti find, 
Yiegt e8 auch im und am Willen Chriſti, die Bedingungen zum gültigen Em- 
pfange fowohl als zur gültigen Ausfpendung bei den einzelnen Sacramenten nach 
feiner ewigen Weisheit feftzufegen. Allerdings findet der Sat, daß die Gültig- 
feit des Sacraments nicht bedingt wird durch die Nechtgläubigfeit oder Sittlich— 
feit des Ausfpenders, prineipielle Anwendung auf alle Hl. Sacramente; allein 
zur Gültigfeit des Sacramentes wird auch von Seite des Ausfpenders die In— 
tention erforbert, das zu thun, was die Kirche thut, Nun kann aber die Inten- 
tion der Kirche Feine andere fein, als die Intention Chrifti. Wie wenig e8 aber 
in der Intention Chrifti gelegen, jeden Menfhen ohne Ausnahme zur Ausfpen- 
dung aller Sarramente für fähig zu erflären, darüber hat ung die Lehre und 
Vebung der Kirche bis auf unfere Zeiten fattfamen Auffhluß gegeben, Nicht aus 
dem Titel der Subjertivität des Minifters, fondern aus dem Titel der im Willen 
Chriſti Kiegenden und in der Kirche ausgefprochenen Intention fönnen die einzel- 
nen Saeramente nur von demjenigen gültig verwaltet werben, der fähig ift, das 
zu thun, was bie Kirche nach Anordnung Chrifti thut (vgl. Mattes, die Ketzer— 


ee 





Keuſchheit. 7 


taufe, 2. Artikel. Tübing. Quartalſchrift. 1. Heft 1850). Wenn Chriſtus bie 
Bedingung zur gültigen Ausfpendung der Taufe dahin erleichterte, daß Jeder⸗ 
mann, mithin nicht nur Häretifer, ſondern auch Heiden und Ungläubige gültig 
taufen fönnen, fo müffen wir darin bie höchſte Güte und Weisheit des Herrn 
bewundern, die für den Empfang des erſten und nothwendigſten Sacramentes alle 
hemmenden Schranfen aufpeben wollte (Catech. Rom. de bapt.), 9 Es erübrigt 
ung noch, Einiges über die ſymboliſche Seite dieſes Artikels beizufügen. Wie 
einft Papft Stephanus, fo Fonnen auch wir aus der Vergleihung der katholiſchen 
Lehre mit jener der getrennten hriftlichen Confeffionen ein gewichtiges Zeugniß 
für die Wahrheit der Fatholifhen Tradition entnehmen; denn fie Haben in diefer 
Frage mehr als in andern das Fatholifhe Bewußtfein mit hinübergenommen. Die 


 Intherifche und reformirte Kirche anerfennt von ihrem Standpuncte aus die Gül- 
tigkeit der Kegertaufe, wenn fie im Namen der drei göftlihen Perfonen ertheilt 
wird, und tauft daher nur die Soeinianer und überhaupt die Unitarier, wenn fie 
in eine derfelben übertreten (Öuerife, Symbolif, S. 411. — Conf. beig. art. 
34. — Conf. gall. art. 23. — Calvin. epp. et resp. ed. Genev. p. 458). — Was 
die griechifch nicht unirte Kirche betrifft, fo ſtimmt fie in diefer Frage mit ung 


— 





sollfommen überein (vgl. Conf. orthod. p. 157). Doch ſoll, nah Heineccius, 
in der ruffiihen Kirche geraume Zeit hindurch die Wiedertaufe der Convertiten 
aus den verfchiedenen hriftlichen Eonfeffionen üblich gewefen fein. — Für den 
Fatbolifhen Seelforger wird insbefondere in unferen Tagen, den modernen 
„freien“ Kirchen gegenüber, die Paftoralregel gelten müffen, daß er in jedem 
einzelnen Eonverfionsfalle fi genau nach der Härefie erfundige, in welcher der 
Eonvertit früher geftanden, damit er nicht gegen Firchliche Lehre und Praris ver- 
ſtoße; denn alle in diefen neumodifchen Secten geborenen und erzogenen Häretifer 
find meiftentheils überhaupt zu taufen, da fie in ihrer Gemeinfhaft nicht in 
rechter Weife und Intention getauft wurden. — Duellen für die Gefhichte und 
Lehre der Kegertaufe: Cypr. ep. 70—76. — edit. Baluz. — Euseb. h. e. VII. 
3. 5. — Anonymi tract. de bapt. haeret. Mansi t. I. p. 934. — August. contra 
Donat. de baptismo, contra Ep. Parm. und contra Petil. (edit. Bened. Par. 1688. 
Tom. IX.) — Vincent. Lirin. commonit. cap. VI. — Hieron. contra Lucif. t. II. 
ed. Vallarsi. — Bearbeitungen: Natal. Alex. saec. III. cap. III. art. V. et 
dissert. XXIII. — Maranus, Praefat. ad Opp. S. Cypriani. Edit. Baluzii. — Giov. 
Marchetti, Essereitazioni Ciprianiche: il battesimo degli Eretici. Rom. 1887. — 
Godefrid. Lumper Mon Bened. historia theologico-critica de vita, scriptis atque 
doctrina SS. Patrum part. XI. sect. II. cap. V. art. II. $ IV. et sqq. Augustae Vin- 


.delicorum 1795. — Bald, Ketzerhiſt. TH. II. S. 310— 384. — Stollberg, 


Gefhihte der Religion Jeſu CHrifti, Th. 9. S. 148 ff. Wien 1817. — Migne 
Patrolog. Cursus compl. Tom. Ill. Par. 1844. — Perronne praelect. theol. tract. 
de sacramentis in genere propos. I. — Dr. Mattes, Abhandlung über die Keger- 
taufe in der Tüb. theol. Duartalfchr. 1849, 4. Heft, u. 1850 1. Heft. [Gruſcha.] 

Keufchheit (ayveiz, castitas) ift die Tugend der Beherrfchung des Ge- 
ſchlechtstriebes. Sie Fann in einer doppelten Geftalt auftreten, je nachdem bie 
Herrfchaft des Geiftes über diefen Naturtrieb bis zur gänzlichen Entfagung fort- 
gebt oder fi) auf jenes Maß von Befriedigung befchränft, die im ehelichen Leben 
verftattet und das Mittel der Fortpflanzung der Gattung iſt. Jene hat den Namen 
der jungfräulichen Keuſchheit Ccastitas virginalis) ; diefe Heißt die eheliche Keuſch⸗ 
heit Ceastitas conjugalis). Vgl. Cölibat, Gelübde, Räthe, evangelifche, Wir 
haben im gegenwärtigen Artifel nur die Iegtere, eigentlihe Form der Keufchheit im 
Auge, da erfiere mehr den Namen „Enthaltfamkeit”-(Eyzoereıe, continentia) führt 
Cl. Enthaltfamfeit), Wenn die Kraft des Willens das Map ift, wornad die Größe 
der Tugenden fi bemißt: fo ift ofne Zweifel die Enthaltfamfeit als die gänz- 
liche Verzichtleiſtung auf die Befriedigung des flärffien und unbändigften aller 


78 Keuſchheit. 


Triebe die Krone aller Tugenden. Aber ſchon die Keuſchheit des ehelichen Lebens, 


die Beſchränkung des Triebes auf feine natürlichen Grenzen und Zwecke, fordert 
bei der verlocfenden Luft, die ihn begleitet, eine nicht geringe Macht der Selbſt— 
beherrſchung. Ihr Tugendcharakter kann darum nicht in Zweifel gezogen werden, 
Diefe Tugend ift e8, die ven Menfchen über den Kreis der Thierheit erhebt, indem 
fie durch die Freiheit des bewußten Willens dem blinden, naturnothwendigen 
Trieb den Stachel bricht und in die Form gefchlechtlicher Neigung und Liebe um- 
wandelt. In dieſer verfittlichten Geftalt tritt der Gefchlechtstrieb in den engften 
Zufammenhang mit dem fittlihen Inftitut der Ehe, ſich außerhalb diefer göttlich 
beftimmten Schranfe jede Befriedigung, ja felbft ven Gedanken daran, verfagend; 
noch mehr: felbft feine legale, durch perfönliche Liebe verklärte und fittlich durch- 
drungene Befriedigung hüllt fih in den Schleier der Scham und Ehrbarfeit, Die 
Schwefter und ſtete Begleiterin der Keufchheit ift die Tugend der Schamhaftig- 
feit (pudicitia). — Als Pflicht fordert die Keufchheit von dem Chriften, den Ge— 
fohlechtstrieb zu befäimpfen und zu befiegen, ihm Feine andere als die gottgeordnete 
Befriedigung in der Ehe zu verflatten ‚und innerhalb des ehelichen Genuffes ihn 
heilig und rein zu bewahren vor ausfchweifender Befleckung. Aus dem ehelichen 
Genuß ift von diefem Standpunct aus die rohe, materielle Fleifchlichfeit ver— 
fohwunden ; er iſt durch die perfünliche Liebe der Verehelichten vergeiftigt und ver- 
edelt. In dem letzteren Moment hat die Tugend und Pflicht der Keufchheit ihre 
pofitive Seite, — Wenn diefe Tugend auf dem Boden des heibnifchen Natur- 
lebens nur fparfame und matte Blüthen trieb, fo fand fie hingegen innerhalb des 
ifraelitifchen Lebens eine entfchiedene, forgfältige Pflege. „D wie ſchön“, ruft 
der Berfaffer des Buches der Weisheit (A, 1. 2.) aus, „o wie ſchön ift ein Feu- 
fches Geſchlecht im Tugendglanze: denn unfterblich ift fein Andenfen, und bei 
Gott und bei Menfchen ift es anerfannt, Ewig triumphirt es mit der Gieges- 
frone, und trägt den Preis für die Kämpfe unbeflecdfter Reinigfeit davon,” Vgl. 
Sir. 26, 30. Derer, die Keufchheit Tiebten, erwähnen die altteftamentlichen 
Schriften mit befonderer Anerfennung. 1 Mof. 39, 8. Job 31, 1 ff. Ruth, 3, 
10. Tob, 3, 16—18. Dan. 13, 23. Im Buhe Tobi Ca. a. D. und 6, 17— 
20.) wird die bloß zur Luftbefriedigung eingegangene Ehe für fündhaft erflärt. 
Wenn fehon die hl. Bücher des alten Bundes feine Pflicht mehr einfchärfen, als 
die der Beherrfchung der Gefchlechtsiuft, und Fein Lafter firenger und nachdrucks— 
voller verbieten, als das der Gefchlechtsausfehweifung: fo kann e8 ung nicht un- 
erwartet fommen, daß die neuteftamentlichen Schriften felbft gegen den Schatten 
eines unzüchtigen Weſens, felbft gegen die Leifefte unreine Begierde und die bloße 
Nennung von Schmählichem fich erklären und felbft bis zur entfchiedenen Em- 
pfehlung der ehelofen, jungfräulichen Keuſchheit fortgehen, fo daß ung fein Zwei— 
fel übrig bleiben fann, die Bewahrung der ehelichen Keufchheit fei das Meindefte, 
die condilio, sine qua non, was fie für den Standpunet der hriftlichen Lebens- 
führung in Anfprucd nehmen. Der Apoftel Paulus bezeichnet die Keuſchheit als 
eine wefentlihe Erfcheinung des hriftlichen Lebensprincips, als Frucht des „Gei- 
ſtes“ (Gal. 5, 22. vgl. 1 Theſſ. 4, 7. 8.), und erklärt ihre Gegenfäge für Aug- 
flüffe eines widerchriſtlichen, dem göttlichen Leben entfremdenden Princips (Gal, 
5, 19 ff. vgl. Eph. 5, 3. 1 Cor. 9, 10.). Eindringlihe Mahnungen zu Feufchem 
Sinn und ehrbarem, fittfamen Wandel fehren häufig in den apoftolifchen Briefen 
wieder, 1 Theff. 4, 3—5. Pf. 4, 8. Röm. 6, 12. 13. Gal. 5, 16. 24, 25, 
1 Tim. 5, 2. 22. Tit. 2, 4. 6. 1 Petr. 2, 11. 1 Job. 2, 15—17. Wie David 
zu Gott um ein von fleifchlichen Trieben gereinigtes Herz flebt (Pſ. 50, 12.), fo 
preist der göttliche Heiland Die, welche reinen Herzens find, felig als ſolche, die 
Gott Schauen werden (Matth. 5, 8.). — Der vom riftlich fittlichen Geiſte ge— 
forderten Keuſchheit tritt die Unfeufhheit und Unzucht (luxuria) mit ihrem 
vielgeftaltigen Heere von Verirrungen und DVerfündigungen entgegen. I. Diefe 


RE VE NER 








Keuſchheit. 79 


Gegenſätze beſchränken ſich zunächſt auf das Bereich der Gedanken, Begierden 
und Worte, Der ſittlichen Herzensreinheit widerſprechen freiwillig erweckte oder 
unterhaltene Gedanken und Gefühle unreiner Art; wollüftige Bilder und Vor— 

ellungen der Einbildungsfraft müffen um fo mehr verbannt werden, je mehr eg 
in der Natur der Sache liegt, daß fie nicht ohne Einfluß auf die finnlichen Lüfte 


und Bewegungen fein fünnen, die fie reizen und entflammen. Der Apoftel for- 


dert ausdrüdlich dazu auf, ſich rein zu halten von aller Beflefung des Geiftes, 
2 Cor, 7, 1. Bei der nähern Beftimmung der Sündhaftigfeit unreiner Gedanken 
kommt es darauf an, welches ihr Inhalt ift, mit welchem Grad von Freiwillig- 
feit fie erwedt worden find, und mit welcher Luft und wie lange fie innerlich vor 
der Seele feftgehalten werden. Der Grad und die Größe der in diefem Fall 
eintretenden Berfündigung beftimmt fih im geraden Verhältniffe zu den bezeich- 
neten Momenten. Noch fündhafter und verwerflicher erſcheinen unreine Begierden, 
Wünſche und Gelüfte; fie nähren noch mehr die unreine Flamme der Geſchlechts— 
luft, ja fie fohließen den Keim der That ſchon völlig in fih. Daher fagt der Hei- 
land: „Wer ein Weib anftept mit Begierde, der hat in feinem Herzen ſchon die 
Ehe mit ihr gebrochen”, Matth. 5, 28. Der Apoftel bemerkt, daß die, welde 
Chriſti find, ihr Fleisch gefreuzigt haben fammt den Laftern und Gelüften. Gal. 
5, 24. vgl. Col. 3, 5. Dei der moralifchen Beurtheilung unreiner Begehrungen 
und Gelüfte gilt ein analoger Mafftab, wie oben. Der Grad und die Befchaf- 
fenheit ihrer Sündhaftigfeit bemißt fich theils nach dem Object, auf welches fie 
gerichtet find, theils nach der Zuftimmung des Willens, theild nach der Heftigfeit 
ihres Erregtfeins, theils nach der Beharrlichfeit des Verlangens, Eben ſo ver- 
werflich find unreine Neden, Geſänge und Scherze. Unzucht foll, wie der Apoftel 
Eph. 5, 3. 4, 12, fagt, im riftlichen Lebensfreife nicht einmal dem Namen nad 
befannt fein (ne nominetur in vobis); auch follen fchamlofe Reden, Zotten und 
Poffen, überhaupt alles Unanftändige etwas Unerhörtes unter ihnen fein, Was 
Coon den Heiden) im Finftern gefchieht, ſchämen müßte man fih, es nur zu nen- 
nen. Im Falle aber doch — im Widerfpruche mit der hriftlichen Wohlanftändig- 
feit und Züchtigfeit — obſebne Reden geführt werden, fo find e8 folgende Mo- 
mente, wornad die Größe der Berfündigung fich entfcheidet. Es kommt erfteng 
darauf an, wer Unreines fpricht, ob ein Geiftliher, ein Erzieher, eine Haus- 
mutter, oder ein roher Menſch; zweitens vor wem folche Rede geführt wird 
(Pueris maxima reverentia); von welchem fpecififhen Inhalt die unreinen 
Worte find, ob mehr oder minder anſtößig; viertens endlih, in welcher Ab- 
fit fie gefprochen werden, ob bloß in Leichtfertigem, unüberlegtem Sinne, oder 
in verführerifcher Abſicht. Immerhin verrathen unzüchtige Reden eine innerlich 
derunreinigte, wüfte Seele; aus der Fülle des Herzens fpricht der Mund, Bel. 
Clemens von Alerandrien Paedag. II, 6; Cicero. de offic. I, 29. I. Die 
thatfählichen Berfündigungen gegen den Geift riftlicher Zucht und Keuſch— 
beit find entweder natürlicher oder widernatürlidher Art. Die Gefhledts- 
befriedigung ift nämlich auf der einen Seite an die eheliche Verbindung gefnüpft; 
nur innerhalb diefes fittlichen Inſtitutes hat fie ihr Necht, fo daß jede aufßer- 
eheliche Befriedigung der Gefchlechtsneigung für unftatthaft erflärt werden muß. 
‚Auf der andern Seite muß die Befriedigung des Gefchlechtstriebes die Ordnung 
der Natur beobachten und darf in feinem Falle die Rückſichten der Schambaftigfeit 
und Ehrbarfeit verlegen. Daraus erhellt, daß die thatfähliche Unzucht in einer 
zweifachen Hinficht gegen die Forderungen des fittlichen Geiftes verftoßen kann. 
Die nächften Vorbereitungen zur wirklichen Gefchlechtsbefriedigung find unreine 
Blicke und Geberden, unkeuſche Berührungen und buhlerifhe Lorfungen und An- 
zeizungen, die eben deßhalb um fo verwerflicher und unzuläffiger erfcheinen, Sie 
‚gehören bereit8 dem Gebiete der äußern That an. Was nun vorerft die voll- 


endete That der natürlichen Gefchleshtsbefriedigung betrifft, ſo find die hieher 





80 Keuſchheit. 


gehörigen Unzuchtsarten folgende: 1) Die Hurerei, die vage außereheliche Ge— 
ſchlechtsbefriedigung. 2) Das Concubinat, die ſich von der Hurerei dadurch 
unterſcheidet, daß die Geſchlechtsverbindung zwiſchen den Perſonen, die ihre Luſt 
mit einander befriedigen, eine jedenfalls länger dauernde iſt, wogegen jene ſich 
an feine beflimmte Perfon Fnüpft und feine beftimmte Dauer der Verbindung mit 
fih bringt. 3) Die Nothzucht (stuprum), die fih von ben erwähnten aufßer- 
ehelichen Gefchlechtsvermifchungen durch den Mangel der beiverfeitigen Einwilli— 
gung unterfcheidet; fie ift die erzwungene Gefchlechtsverbindung. 5 Moſ. 22; 28, 
29. Czech, 22, 11. 4) Der Ehebrud, der da eintritt, wenn von den Per- 
fonen, die den Gefchlechtstrieb mit einander befriedigen, die eine, oder beide mit 
Andern verehelicht find. 5) Die Blutfhande, die in der fleifchlichen Verbin— 
dung zwifchen den nächften Verwandten und Berfehwägerten befteht. 6) Das 
Sacrilegium, eine fleifchliche Verfündigung zwifchen Perfonen, wovon die eine 
oder beide Gott geweiht find, fei es durch den Empfang der höhern Weihen des 
geiftlihen Standes, oder durch ein feierliches Gelübde der Keuſchheit. — Die 
unnatürlichen Berirrungen und Ausfchweifungen des Gefchlechtstriebes anlangend, 
fo gehört hierher 1) die Selbftbeflefung, die einfame Selbſtſchändung (Ona- 
nie); 2) der naturwidrige Gefhlehtsumgang, die Gefihlechtsbefriedigung 
zwifchen Perfonen verſchiedenen Geſchlechts auf eine widernatürlihe Art und 
Weiſe; 3) die (vollendete) Sodomie, die Befriedigung der Geſchlechtsluſt zwi— 
fchen Perfonen deffelben Gefchlechtes (Päpderaftie oder Knabenſchande und Venus 
Lesbia); die Beftialität, Befriedigung des Gefihlechtstriebes mit einem Thiere, 
Wir bemerken noch, daß zu den unnatürlichen Unzuchtsarten auch der Beifchlaf 
in der Ehe gehört, wenn er mit der Abficht, ihn unfruchtbar zu machen, ver- 
bunden ift (1 Moſ. 38, 9), — Die Sündhaftigfeit und Verwerflichkeit, 
die Nachtheile ver Gefhlehtsverirrungen können wir theild von der 
phyfifh=feelifhen Seite, theils von dem fittlich-foeialen und dem religiöfen Ge— 
fihtspunet aus in's Auge faffen. Die Unzucht untergräbt in dem Grabe die ge- 
funde leibliche Kraft, als fie das natürlihe Maß und die Ordnung der Natur 
überfchreitet, Die Vergeudung der gefchlechtlichen Kräfte rächt ſich fehr ſchwer. 
Ausſchweifende Wolluft ift das concentrirtefte Zerftörungsmittel des Lebens, Wer 
den Reim des Gattungslebens in fich zerftört, legt zugleich Hand an feine indivi— 
duelle Eriftenz. Nicht ungeftraft läßt die Natur ihre großen Zwede verhöhnen; 
Siechthum, efelhafte Krankheiten und früher Tod gehen im Gefolge der entner- 
senden Unzucht. Der Onanift ift, wie nicht Teicht Jemand, zum Selbfimorbe 
geneigt; aus dem peinlichen Gefühle entfchwundener Lebenskraft gährt wilder 
Grimm, Selbſthaß, Gottes- und Menfchenhaß auf, Gewöhnlich zerflört der 
MWüftling, der Lüderliche auch fein äußeres Lebensglück, häuft Schande und Schmach 
auf fein Haupt und beraubt fich felbft aller jener reinen und fittlihen Freuden- 
genüffe, die an das häusliche Verhältniß geknüpft erfcheinen. Darum fagt die 
Schrift: „Wie träufelnder Honigfeim find die Lippen der Hure, und glätter als 
Del ihre Kehle: aber ihr Ende ift bitter wie Wermuth, und fiharf wie ein zwei- 
ſchneidiges Schwert, Ihre Füße fleigen hinunter bis zum Tode.“ Spr. 5, 2—5. 
vgl, Job 31, 9—12. Spr, 5, 8-11. 23, 27. Sir, 19, 3. — Dazu kommt die 
innere Verwüftung und Zerrüttung der Seelenvermögen: Schwähung bes Ge- 
dächtniſſes, Abftumpfung der Urtheilsfraft, Befleckung der Phantafie dur ſchmu— 
Bige Bilder, Lähmung der Thatfraft und Verödung der Bruft, aus der alle 
edlern, zarteren Gefühle entfliehen, Den Zufammenhang zwifchen Zeugen und 
Denken dürfte ſchon der hebräifche Sprachgebrauch andeuten, der Erfteres „Er- 
fennen” nennt; jedenfalls zeigt fich der Mißbrauch der Zeugungsfraft zugleich als 
eine Zerftörung der probuetiven Denkkraft; der Ausfchweifende pflegt ebenfo der 
geiftigen als der leiblichen Kinder’ zu entbehren, oder wenn er folche hat, fo find 
fie beide gleich [hwächlich, feine Gedanken wie feine Nachkommen. Der Wüfl- 





G Keuſchheit. 81 


| 


ling ift gewöhnlich ein Schwachling an Leib und Seele, zu Grunde geriätet an 
Körper und Geiſt. Bol. Bürger’s Gedidt: „Männerfeufchheit,“ — Daran 
reiht ſich die tiefe Selbftentwürdigung, die in der Unzucht liegt, die Preisgebung 
der perfönlihen Würde. Die geiftige Perfönlichfeit hat in der Leiblichfeit ihre 
er a Seite; daher jede Beflefung und Schändung des Leibes eine Ver- 

igung gegen die geiftige Perfönlichkeit ift. Dieß drüdt der Apoflel mit den 
Borken aus: „Jede Sünde, die der Menfch begeht, ift außer dem Leibe; wer 
aber Hurerei treibt, der fündigt wider feinen eigenen Leib,” 1 Eor. 6, 18, 
„Ber fih der Hurerei enthält, der erhält feinen Leib unbefledt und in Ehren,” 
1 Theff. 4, 4. — Damit hängt die aus berrfchender Unzucht entfpringende Ver— 
knechtung des Geiftes zufammen; das beffere Selbft findet ſich durch den ent- 
zügelten, übermächtig gewordenen Trieb in unwürdige Zeffeln gefhlagen ; der 
Geift, beftimmt, das Gelüften des Fleifches unter fih zu haben und unabhängig 
von demſelben zu fein, bat feine freie Macht und Herrfchaft eingebüßt und ift 
ein Selave eines thierifchen Triebes geworden. Der Menfh, der diefen Trieb 
nicht vergeiftigt, entwürbigt fi zum Thiere, ja der raffinirte, unnatürlicher Luft 
frößnende Wüftling finft unter das Thier herab. — Dabei fann es nicht fehlen, 
die zur herrfchenden Leidenschaft gewordene Unzucht muß die tieffte moralifche Auf- 


‘ Iöfung herbeiführen; im dffentlichen Leben Herrfchend geworden, begründet fie die 


fpeeififche Sittenlofigfeit. Als ſolche ift fie die Peft der Gefellfchaft; entfittlicht 
in wechfelfeitiger Verführung und Anftefung die Gefchlechter und pflanzt den Keim 
des Berderbniffes und der Zügellofigfeit auf ganze Gefhlechtsfolgen fort. — 
Ueberdieß ift Unzucht und Unfeufhheit eine Verlegung des göttlihen Schöpfer- 
willens, der die Geſchlechtsbefriedigung und die fortpflanzende Thätigfeit an ein 
beftimmtes Gefeg und an beftimmte Schranfen gebunden hat. Der heilige Wille 
Gottes Hat fich in diefer Hinfiht namentlich im alten Teftament deutlich und nach- 
drücklich genug geoffenbart; felbit für unvorfäglihe Beflefung ward Sühne vor- 
gefhrieben (3 Mof. 15, 16. 17.), und über die gröberen Verlegungen der Keuſch— 
heit fand ſich Die Todesftrafe verhängt. 1 Mof. 38, 9. 10. 19, 4 ff. 3 Mof. 18, 
22. 23. 20, 13. 15. 16. 21, 9. 5 Mof. 22, 20—29, 27, 31. — Sie erfcheint 
fodann als Auflöfung der Gemeinfchaft des Leibes mit Chrifto, dem Herrn und 
Haupte des Leibe. „Der Leib ift, nach dem Ausfpruch des Apoftels, nicht für 
die Unzucht, fondern für den Herrn. Wilfet ihr nicht, daß eure Leiber Glieder 
Ehrifti find? Soll ich die Glieder Cprifti nehmen und fie mahen zu Gliedern 
der Hure? Das fei ferne! Wiffet ihr nicht, daß wer einer Hure anfängt, Ein 
Leib mit ihr iſt?“ 1 Eor. 6, 15 f. Ferner ift fie als Wegwerfung des Erlöfungs- 
preifes und als Entweifung des Tempels des HI. Geiftes zu betrachten. 1 Cor. 
6, 19. 20. 2 Cor. 6, 16. — Endlich ift mit dem Lafter der Unzucht als Strafe 
die Ausihliegung aus dem Reiche Gottes und von der Gemeinfchaft der Heiligen 
verbunden. Eph. 5, 5. 1 Cor. 6, 9. 10. 1 Tim, 1, 10. Gal. 5, 19, 20. Of. 22, 
15. Der Sclave unreiner Lüfte ſchließt fih felft aus dem Kreiſe der Herzens- 
reinen und Gottgeheiligten aus. Diefe Sclavenfette, diefer Bann ift ſchwer zu 
Töfen ; gründliche Befehrung und Wiederbringung eines Wollüſtlings ſtellt fih in 
jedem Falle als ein mühfames Werk dar, das nur zu oft gänzlich mißlingt. Iſt 
einmal das unkeuſche Weſen in die innere Natur eingeniſtet, fo wuchert es felbft 
dann noch fort, wenn die geſchlechtliche Kraft ſchon Tängft erlofhen iſt. — Die 
bisher geſchilderten Nachtheile find mehr oder minder allen Formen der Unzucht 
gemeinſam. Es gibt aber hinſichtlich der einzelnen ſolche eigenthümliche Beziehun- 
gen, die ung das Unerlaubte fowohl als das Schädliche derfelden unter andern 
Gefihtspuneten erfennen laſſen. Sp ift die aufereheliche Geſchlechtsbefriedigung 
ſchon deßhalb unerlaubt, weil die auf dieſem Wege erzeugten Kinder von vorn- 
herein einer ehrenhaften Eriftenz entbehren und wenn nicht dem frühen Unter- 
gange, doch meiſtens der größten Vernachläſſigung fih preisgegeben fehen, Bei 
Kirchenlexiklon. 6. Do, . 6 


82 Keuſchheit. 


Dem Mangel einer ſorgfältigen Erziehung, und wohl auch deßhalb, weil die herr⸗ 
ſchenden Begriffe ihnen ehrenvollere Bahnen verfhließen, folgen die unglücklichen 
Gefchöpfe den pflichtvergeffenen Urhebern ihres Daſeins auf den gleichen Ab- 
wegen, — Am meiften entwürdigt der außerehelihe Gefchlechtsgenuß, wenn er 
mit einer Luftdirne gefchieht; Hier Fann von einer Herzensgemeinfchaft oder mo— 
ralifchen Annäherung gar feine Rede mehr fein; es wird nur die thierifche Luft- 
befriedigung gefucht, die eben fo fehr das Weib erniedrigt, die ſich dazu bar- 
bietet, al8 den Mann, der fie hinnimmt: beide erniedrigen fih zum Thiere. — 
Am gewiffenlofeften ift die Handlungsweife des Wollüftlings, der die Unfchuld 
eines Mädchens entweiht. Der VBerführer, der einer Jungfrau ihre Ehre raubt, 
raubt ihr in der Negel Alles, da fie, einmal gefallen, felten gründlich fich wieder 
erhebt und zumeift fofort tiefer und tiefer ſinkt. Die natürlihe Schamhaftigkeit 
des weiblichen Gefchlechtes ift zwar eine Schugwehr, die daffelbe der Unzucht 
weniger zugänglich macht; aber ift diefe durchbrochen, dann ift der moralifche 
Berfall um fo unaufhaltfamer. — Was die Nothzucht anlangt, fo involvirt fie 
die unwürdigfte Behandlung und Mißachtung der perfönlichen Würde dee Men- 
fhen. „Der Menfh, fagt Schiller, ift das Wefen, welches will, Eben deß— 
wegen — fo folgert er mit Recht — ift des Menfchen nichts fo unwürdig, als 
Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf, Wer fie und anthut, macht ung 
nichts Geringeres als die Menfchheit ftreitig." Wenn dem alfo ift, fo Teuchtet 
ein, welche empörend unwürdige Behandlung die Nothzüchtigung ift, die Gewalt 
da anwendet, wo, wenn je in einer Sache, nur die freiefte Hingebung flattfinden 
ſoll. — Ehebruch und Blutfehande verlegen auf die tieffte Weife die Reinheit und 
das Glück des fittlihen Familienlebens (ſ. Ehebruch und Ehehinderniffe). — 
Da nun, wie aus dem Gefagten erhellt, die unverlegte Reufchheit ein fo Hohes 
Gut ift, und ihr Verluft eben fo unerfeglih und unmiderbringlih, als von den 
verberblichften Folgen begleitet erfcheint: fo Tiegt nichts näher, als die Pflicht, 
diejenigen Mittel, welche den Beſitz jener Tugend zu fichern und vor der Un- 
fittlichfeit gefchlechtlicher Ausfchweifungen zu verwahren geeignet find, mit forg= 
fältiger Treue in Anwendung zu bringen. Diefe Mittel find theild abwehren- 
der, theils pofitiv pflegender Art. Da die Feinde der Unfchuld und Tugend 
theils äußere, theils innere find, fo wird die erſte Claſſe von Mitteln fich in zwei 
Gruppen fpalten, Was nun die erftere betrifft, fo rechnen wir zu den äußern 
Feinden der Keufhheit den Müffiggang, die Unmäßigfeit, unvorfid- 
tiger Umgang und ungüchtige Lectüre, Der erſte Feind diefer Art iſt alfo 
der Müffiggang, der ſich auch in diefer Hinficht als des „Teufels Ruhebank“ und 
als der Anfang aller Lafter bewährt. Arbeitfamfeit Täßt Feine ungehörigen Vor— 
ftelfungen und Gedanken auffommen. Sind folde in müffigen Stunden entftan- 
den, fo Fann man zu nichts Wirkfamerem feine Zuflucht nehmen, als zu ange- 
firengter Arbeit und zu ernfter Befchäftigung. Wen der Ernft eines Amtes, bie 
Laft eines Tagewerfes, das er zu volfbringen hat, feifelt, hat Feine Zeit, Tüfternen 
Borftelungen und einem eitlen Gedanfenfpiele nachzuhängen, Vgl. 1 Tim, 5, 
11—15. Ezech. 16, 49. Die Wirkfamfeit diefeg Mittels beftätigt der HL. Hie— 
ronymus durch fein eigenes Beiſpiel; die tieffte Einfamfeit und Abgefchiedenheit 
gewährte ihm feinen Schuß gegen die fleifchlichen Verfuchungen; auch das firengfte 
Faften vermochte nicht ihre Spige zu brechen und die Glut der finnlihen Be— 
gierden in feinem auf's Aeußerſte gefhwächten Körper auszulöfhen. Und was 
war num mächtiger als all’ diefe vielberühmten Mittel? Das Studium der heb- 
räifchen und der Yateinifchen Sprache war es: der ernfte, raftlofe, ange- 
firengte Fleiß, den er auf daffelbe verwandte, und der es ihm erfparte, gegen | 
feine frühern Feinde anzufämpfen, da fie von nun an verfehwunden waren, Hie- 
ronymi ep. 21. (ad Eustochium); ep. 125. In dem Briefean Ruftieus Gal- 
lus ermahnt der genannte Kirchenvater; „Facito aliquid operis, ut te semper 








Keuſchheit. 83 


diabolus inveniat occupalum.“ — Der zweite äußere Feind ift die Unmäßigfeit im 
Effen und Trinfen, Befonders vermeide man beraufhende Getränfe, überhaupt 
ſoiche Nahrungsmittel, die fpecififche Reize enthalten. Nöm. 13, 14. Eph. 5, 
18. Luc. 21, 34. Ser. 5, 7. Tertull. de jejun. c. 1; de spectac. c. 10. 13, 
Hieronym. adv. Jovinian. I, 8. GregorM. cur. pastor. Part. III. admon. 20.— 
Der dritte äußere Feind ift unbehutfamer, vertrauliher Umgang mit Perfonen 
des andern Geſchlechts. „Wer die Gefahr liebt, wird darin umfommen.” Sir, 
3, 27. Hier gilt es, fchon den Bli auf Tüfterne Geftalten fih zw verfagen, 
Job fagt von fih: „Mit meinen Augen hatt’ ih einen Bund gefhloffen, was 
follt ich auch auf eine Jungfrau blicken.“ Job 31, 1. Und Sirach ermahnt: 
„Defte deine Augen auf feine Jungfrau, daß ihre Schönheit dir nicht zum Falle 
werde. Wende dein Angeficht von einem gepuzten Weibe ab, und blicke nicht 
nach fremder Schönheit. Durd die Schönheit eines Weibes gingen ſchon Viele 
zu Grande, und dur fie entbrennt die Luft, wie ein Feuer.” Sir. 9, 5. 8,9. 
vgl. 42, 12. 13, 23, 4. 2 Kön. 11, 2 ff. 1 Mof. 34, 2. Dan. 13, 8 ff. 1 Petr, 
3, 3. 1 Tim, 2, 9. Ambros. expos. in Ps. 118. Serm. 16. n. 3. Chrysost. 
hom. 17. in Matth. n. 2. August. ep. 211. n. 10. enarr. in Ps. 50. Gregor. 
Moral. XXI, 2. — Ferner warnt Sirah: „Mit einer Tänzerin pflege feinen Um— 
gang, und gib ihr Fein Gehör, auf daß dich ihre Künfte nicht zu Grunde richten,” 
Sir. 9, 4. vgl. 9, 12. 13. — Der vierte in der Reihe äußerer Feinde ift die 
Leetüre folder Schriften, welde die Phantafie erhigen und mit lüfternen wollüfti- 
gen Bildern bevölfern. Hieher find unzüchtige Gemälde (Clem. Alex. cohort. 
ad genf. c.4. Chrysost. expos. in Ps. 113.n.4. August. Confess. I, 16.), 
allzu weihlihe Mufif (Clem. Alex. Paedag. II, 4.), zu aufregende Vergnügun- 


gen und Tanzbeluftigungen (Ambros. de virgg. II, 5. n.25. Chrysost. hom. 
48. in Matth. n. 2 sqq.) u, ſ. w. zu rechnen. Matth. 5, 27—30. Marc. 9, 43— 


47. 1 30h. 2, 16. Sprüchw. 7, 5 ff. — Zur Gruppe der innern Feinde zählt 
tändelndes, romanhaftes Gedanfenfpiel, Gefühlsfhwärmerei und überwiegende 
Pflege der Einbildungsfraft, insbefondere noch der irrthümlicher oder affectirter 
Weife genährte Glaube an die Unwiderftehlichfeit und abfolute Heiligkeit der Na— 
turtriebe. — Wenn es nun zunähft gilt, die erwähnten Feinde zu befämpfen und 
niederzuringen, fo ift es doch damit noch nicht gethan: die Tugend der Keufchheit 
will po ſit iv gepflegt fein, und ihre pofitive Pflege erft fihert den vollftän- 
digen Sieg. Abhärtung des Leibes, Gewöhnung an Einfachheit und Mäfigfeit 
in der Nahrung, Hebung in der Selbftverläugnung (Faften), Wahfamfeit über 
die finnlihen Negungen, Flucht vor gefährlichen Gelegenheiten, Bewahrung des 
natürlihen Schamgefühls, ernfte Erwägung der in der Unzucht liegenden Selbft- 
entehrung und ihrer furdtbar verwüftenden Folgen, freudige Begeifterung für die 


Würde und Schönheit der Keuſchheit, vertrauensvoller Aufblick zu Gott, befon- 


ders zur Stunde der Verfuhung, fleter Wandel in Gottes Allgegenwart, ver- 
ehrungsvoller Hinblik auf die Vorbilder der Neinigkeit, befonders auf bie jung⸗ 
fräulihe Gottesmutter, die Mutter der ſchönen Liebe, der wiederholte Gedanke 
an Tod und Gericht, der öftere Empfang der heiligen Sacramente find die Haupt- 
mittel, die Herzensreinheit und die Keuſchheit des Leibes zu wahren und ihren 


Seſitz in pofitiver Weife zu begründen und zu befefligen. Sprüchw. 5, 6. 20 — 


31. 7, 9, 3—6..23, 16—25. 9f.,50, 12. 1 Cor. 9, 25. 27. Matth. 5, 29. 18, 
9. Marc. 9, 46, Die Väter bezeichnen die Keuſchheit als eine Gabe Gottes, 
die er Keinem verfagt, der ihm darum bittet (Origin. comment, in Matth. 19, 11. 
Chrysost. de virgin..c. 36.: August, Confess, VI, 11. n. 20. serm. 343. n. 4. 
gl. Conc. Trid.‚Sess. 24. de matrim. c. 9. Die Stelle 1 Eor. 7, 7. bezieht 


ſich auf die castitas virginalis, die. Gabe der Enthaltfamfeit). Vgl. Athe- 
‚mag. Legat. pro Christ. $ 28. Clem. Alexand. Strom. Lib. IH. Hieron. ep. ad 


Eustoch. Basil. M. de virgin. Cicero de senect. c. 12. Tuse. Quaest. IV, 39. 
J * 


84 Khleſel — Rilian, 


880. Schleiermader, Grundlinien einer Krit. der bish, Sittenl, S, 276— 
282 (Berl, 1813). Friſch, moral, Vorlefungen über d, Pflichten d. Keufchheit 
und des ehelichen Vertrags. Altenburg 1795. Sig. Wild, Fürcht. Carl, ein- 
dringlihe Warnung vor den Sünden wider das fechste Gebot, Leipz. 1839, 
Niedel, die Verirrungen des Geſchlechtslebens. Quedlinb. und Leipz. 1831. 
Literatur über Onanie: P. 4 Jais, das Wichtigſte für Eltern, Schullehrer 
und Auffeher der Jugend, befonders für Seelſorger. Münd. 1826, Tiffpt, 
von der Onanie, überf, von Carſtens. Hamb, 1777, Börner’s pract, Werk 
von der Dnanie 2 Thl. Lpz. 1776, Hermes, für Töchter edler Herkunft 3 Thl. 
Lpz. 1787. Salzmann, über die heimlichen Sünden der Jugend, Lpz. 1787. 
Allgem. Nevifion des Schul- und Erziehungswefens, Herausg. v. Campe Thl. 
VIu, VU. Hufeland, Kunft das menfhliche Leben zu verlängern. II. 11 ff. 
109 (2. Aufl, Zen. 1789.) — Ueber die Heilmittel der Unzuchtsſünde fehe 
man Hirfcher, die hriftl, Moral, Bd, II. ©, 570—575 4,4, Tüb, 1845, [Fuchs.] 

Khleſel, f. Kleſel. 

Kibla, ſ. Caaba. 

Kidron, ſ. Cedron. 

Kijun, 7772, Name des Bel, El, oder Belitan, der höchſten Gottheit 
bei den (heidniſch) femitifchen Völkern, deg Kronos bei den Griehen, Satur— 
nus bei den Römern, Die LXX geben den nur einmal im alten Teftament Amos 
5, 26, (vgl. Ang. 7, 43.) vorfommenden Namen durch Paupav (Varr. Perupav, 
Pepav, Poupa); nad der gewöhnlichen Erklärung (wie z.B. noch de Wette’s 
zu Apg. 1. c.) findet Hier ein Verſehen Statt, der Heberfeger habe 4 für > (7777) 
und 7 dur p (Paıyav) gelefen! Diefe Befchuldigung erweist fih durch Die 
ganze Auffaffung, welche die berühmte Stelle durch die LXX erfuhr, als irrig; 
die Umſtellung, welche die Worte des hebräifchen Textes im Griechifchen erleiden, 
deutet hinlänglich an, daß der befanntere Name einer Geftirngottheit verftanden 
werden follte; "Prpav kommt aber wirklich in einem (von Kircher und Seyffarth 
mitgetheilten) arabifch-Foptifchen Planetenverzeichniß ald Name Saturns vor, 
ebenfo ift Rijun als Keiwan, Kewan, Name des Saturn bei den Perfern, Ara- 
bern, Syrern u, a., verflümmelt in dem ägyptifhen Kvwv, Fiywv. Neben der 
Form 77°> findet ſich eine zweite 712 (Chon, Chun, Chewan), häufig bei Rab— 
binen und auf numtdifchen Inſchriften als Baal-Chon, Chun oder Chewan, Der 
Name ift zweifelsohne femitifch und leitet fih ab von 712, aufrechtfiellen, feft- 
fielen, gründen; das Nomen 71°> und 77> ift ein aufrecht oder feſt Geftellteg, 
eine Säule (ziwv); Saturn führt diefen Namen bei ven Semiten ald x00uLo— 
zoetwg, Infofern die Weltorbnung ewig gleich durch ihn befteht und 
fortdauert, auf welde Anfchauung auch die bildlichen Darftelfungen deffelben 
hinmweifen. Bol. Movers, Phönizier, J. ©. 286 ff. und den Art, Bilder bei 
den Hebräern, und Götzendienſt. [König.] 

Kilian, hl. Glaubengprediger und Martyrer im fiebenten Jahr- 
hundert, ein Scotte (d. i. Zrländer) von edler Geburt, von Jugend auf ber 
Lectüre der hl. Schrift und der Frömmigfeit ergeben, wahrſcheinlich ein iriſcher 
Landbifchof, der zugleich ein Klofter und eine Schule in Irland leitete, ver— 
fammelte eines Tages, ergriffen von Chrifti Worten: „Wer mir nachfolgen will, 
verläugne fich felbft, nehme fein Kreuz auf ſich und folge mir nad“ feine Ge— 
noffen und Schüler, darunter den Presbyter Coloman (Eolonat) und den Diacon 
Donatus (Totnan), erflärte feine Abfiht, das Vaterland und Alles zu verlaffen 
und mahnte fie ihm zu folgen. : Viel Zuredens bedurfte e8 bei Jrländern, bie fo 
gerne in fremde Länder, befonders nah Nom pilgerten, nicht, und fomit 308 
Kilian mit mehrern Begleitern, von denen namentlich der Presbyter Coloman 
und der Diacon Donatus angeführt werden, zur Neife nah Nom aus, Gie 
kamen in's auftrafifche Neich zum Caſtell Würzburg, und fanden daſelbſt den 





Kilian. 85 


Herzog Gozbert, den Sohn des ältern Hedan, Sohns des Hruodo i. e. Radulphs, welch? 
lesterer von König Dagobert I. (f.d. A.) zum Herzog von Thüringen aufgeftellt wor- 
den war. Waren auch ſchon früher einige Spuren des Chriſtenthums in das thürin- 
gifche Reich gedrungen, fo fonnte davon doc bei Kilians Ankunft nichts vermerkt 
werden; er traf den Herzog und deſſen Volk im Heidenthum an. Die ſchöne 
Gegend, die heitern Bewohner derfelben und die ſtrahlende Schaar edler Männer 
gefielen ihm fehr, aber daß fie in der Nacht des —— lagen, erfüllte 
ihn mit unſäglichem Schmerz, und er ſprach zu ſeinen Gefährten: „Wenn es euch 
gefällt, ſo wollen wir, wie wir es im Vaterlande ausgemacht haben, nach Rom 
pilgern und die Schwellen des Apoſtelfürſten beſuchen und uns dem Antlitze des 
Papſtes Johannes darſtellen; zugleich wollen wir aber auch vom apoſtoliſchen 
Stuhle die Erlaubniß nachſuchen, in dieſer Gegend den Namen unſers Herrn 
Jeſu Chriſti verfünden zu dürfen, und haben wir dieſe Vollmacht erhalten, fo 
wollen wir hieher zurüdfehren und predigen.” Kilian's Gefährten waren damit 
ſehr zufrieden. Zu Rom war unterdeß Papft Johann V. geftorben und hatte im 
3. 687 den Papft Conon zum Nachfolger erhalten, Conon nahm die Pilger lieb— 
reich und ehrenvoll auf und eriheilte dem Kilian, nachdem er ſich von feiner Ortho— 
doxie und Gelehrfamfeit überzeugt hatte, gerne die nachgefuchte Miffion; viel- 
leicht wurde Rilian erft jegt bei diefer Gelegenheit zum Bifchof geweiht. Auf der 
Rückkehr trennte ſich ein Theil der Reifegefellfchaft, Kilian aber mit dem Pres- 
byter Eoloman und dem Diacon Donatus ging nah Würzburg und predigte bier 
zuerft das Wort Gottes. Und nicht ohne Erfolg predigte er, felbft der Herzog 
Gpzbert nahm die Taufe an. Gozbert aber hatte, nah alter Gewohnheit bei 
den teutſchen Stämmen, die Wittwe feines Bruders zur Gemahlin. Als ihn 
Kilian hinlänglich im Glauben befeftiget hielt, machte er ihm über diefe Ehe, die 
nad chriſtlichen Gefegen nicht ftatthaft fei, Borftellungen. Wie aus fihwerem 
Traum erwachend entgegnete Gozbert: „Schwereres predigeft du nun als vorher, 
Doch aus Liebe zu Ehriftus werde ich meine geliebtefte Gemahlin verlaffen !“ 
Während aber Gozbert vor der Ausführung feines Vorfages noch eine Reife 
machte oder in das Feld zog, ließ Geilana, feine Gemahlin, den Kilian und 
deflen zwei Begleiter im 3. 689 tödten und an dem nämlichen Ort fammt Cap- 
feln, Kreuz, Evangelium und Pontificalgewändern einfoharren. Nur eine fromme 
Matrone Burgunda, die in der Nähe in einer Zelle gewohnt haben foll, fah die 
Unthat. Bei Gozbert's Rückkehr Täugnete Geilana Alles, allein der von ihr be- 
ftellte Henker, von Raſerei überfallen, erklärte fich ſelbſt ſchuldig und ſchrie jam- 
mernd: „der Heilige Gottes Kilian brennt mich mit unausftehlihem Feuer!“ 
Gozbert berief das von Kilian getaufte Bolf zu einer Verfammlung, um über 
das Loos des Nafenden zu beſchließen. Da trat ein von Geilana bedungener 
Rathgeber mit dem Vorſchlag auf: „Befreie den Unglüflihen von den Banden 
und überlaß ihn ſich ſelbſt, zu prüfen, ob der Gott der Chriften fo mächtig, all- 
wiſſend und gerecht ift als man fagt, denn ift es fo, fo wird er feine Diener 
Echen und wir haben daran ein Zeichen bei der Taufe zu bleiben; rächt er feine 
| Diener nicht, fo wollen wir der großen Diana (Frau Holda, in Heffen und 
büringen verehrt) dienen, wie unfere Väter gethan, die dabei gut fanden.“ 
> Man ließ den Unglüdlichen frei, und fogleich zerfleifchte er fich mit feinen Zähnen 
Jawtodt, Das getaufte Volk ward dadurd im Glauben mächtig beftärkt. Auch 
E ©eilana entging der Strafe nicht, fie ftarb in der Naferei, Gozbert blieb Chrift, 
wie au fein Sohn und Nachfolger Hedan II., welder an den hl. Willibrord im 
13. 704 und 716 bedeutende Schanfungen machte. Als der HI. Bonifaz 719 in 
3 Thüringen auftrat, war der von Rilian auggeftreute chriſtliche Same, ob. au 
"großentHeild wieder vertilgt oder mit Unfraut vermifcht, doch zum Theil noch 
vorhanden. DBurfard, der von dem hl. Bonifaz eingefege erfte ordentliche 
Siſchof mit feftem Sige zu Würzburg, ließ die Leiber des hl. Kilian und feiner 









86 Kimi. 


zwei Genoſſen ausgraben und zuerft in der Marienkirche auf dem Schloßberge 
beifegen, nachher aber an den vorigen Ort bringen, wo er für diefelben eine 
Kirche zuerft aus Holz, dann aus Stein aufführte. ©, die vita s. Kiliani vetustior 
bei Basnage-Ganis. lect. antiq. t. II. pars I. p. 180 und bei Mabill. Acta SS. Ord. 
S. B. II. 991; die fpäter abgefaßte Biographie bei Canis. ibid. p. 175, bei d, 
Bol. 8. Jul.; vgl. die Art, Bayern, B. I. S, 707—708 und Burkard, Bild, 
v. Würzburg; Rettberg, Kirchengeſch. Teutfhlandg B. I. ©. 303, 3295 
Seiters, Bonifacius S. 97 ꝛc. Gropp, Leben des Hl. Kilian. Würzb. 17385 
Nion, Leben des hl. Kilian. Afchaff. 18345 Himmelftein, Reihenfolge der 
DB, v. Würzburg, Würzb, 1843, ©. 6 ꝛe. | [Schrödf.] 
Kimchi ift im Mittelalter der Name einer jüdifhen Familie zu Narbonne, 
aus welcher mehrere Gelehrte Hervorgingen, unter denen befonders Joſeph und 
feine beiden Söhne Mofes und David befannt find. Zofeph Kimhi (or {| 
mp) blühte um's Jahr 1160 und verfaßte mehrere Schriften, die ihm unter 
den Juden bald ein großes Anfehen verfihafften, fo daß er im Buche nbw>w 
sap unter die bedeutenderen jüdifchen Gelehrten gezählt wird, Uebrigens 
eriftiren feine Schriften bis jegt nur handfchriftlich und find meiftens polemifcher und 
eregetifcher Art, Das Bud der Kriege des Herrn (7 nınmbn O au nunbn © 
Mix oder jımzı DO genannt) ift gegen einen befehrten Juden, Namens Peter 
Alphons, gerichtet und enthält eine heftige Polemik gegen das Chriſtenthum. Bon 
derfelben Art find drei andere Bücher von ihm, nämlich das Buch des Bundes 
(aI37 9), das Buch des Glaubens (man D) und das geoffenbarte Buch 
C7>3 8). Alfe drei find gegen das Chriſtenthum gerichtet und im Eingang zum 
erfteren fagt Kimchi felbft, feine Abficht fei gewefen, fämmtlihe Schriftterte zu- 
fammenzuftellen, welche gegen die Lehren der Häretifer und Epifuräer, d. h. 
Chriften, gerichtet feien, um dem Treiben der befehrten Juden, die die Worte 
Gottes zu Gunften des riftlichen Glaubens verdrehen, Einhalt zu thun (De-Rossi, 
bibliotheca judaica antichristiana p. 52 sqq.). Seine eregetifchen Schriften find 
Commentare über das Geſetz, die Propheten, das Hohelied, den Prediger, die 
Sprüche Salomo's und die Bücher Ruth und Esra, Außerdem ſchrieb er ein Bud 
unter dem Titel Schefel des Heiligthums Corp >rW), weldes eine Menge 
moralifher Denkſprüche enthält, und eine hebräifhe Grammatif unter dem Titel 
jn>rm DO (liber memorialis), welche von David Kimchi und andern Gramma- 
tifern oft mit Lob erwähnt wird. Vgl, Biographie universelle. Paris 1818, p. 418. 
Wolf, Bibliotheca Hebraea. I. 562 sqq. III. 423 sqq. De-Rossi, l. c. — Moſes 
Kimchi (Ho7 ja 'nap men I), ein Sohn des vorigen, zeichnete fih am Ende 
des 12, und im Anfang des 13. Jahrhunderts durch feine Titerarifchen Leiſtungen 
noch mehr aus als fein Vater, Am befannteften ift feine hebräifhe Grammatif 
unter dem Titel: n»77 "520 Thrn (Incessus semitarum scientiae) und mit den 
Anfangsworten Ian? ma>n nen manp ny9Hm Ybran Tara, wovon die An- 
fangsbuchftaben den Namen Ynnp mw geben. Sie wurde zum erſten Mal ge- 
druckt im 3. 1508 zu Peſaro und nachher fehr oft aufgelegt (of. Le Long, bib- 
liotheca sacra II. 1177. De-Rossi, annales hebraeo-typographici sec. XV. p. 
170 sggq.), zuweilen auch unter anderem Titel, wie wıpr 7105 ">97 © (liber 
viarum linguae sanctae) vder P77P7 d (liber grammaticae), Die befferen Aus- 
gaben find gewöhnlich mit Erflärungen und Ergänzungen angefehener Nabbinen 
verfehen, Die Ausgabe z. B. von Seb. Münfter (Bafel 1531) hat Bemerkungen 
und Zufäge von Elias Levita und gibt dem Buche den Titel Pr7p7 2%, bie 
Ausgabe von Dan, Bomberg (Venedig 1546) hat Verbefferungen von R. Schab- 
tat und Zuſätze von A. Juſtiniani, die Leydener Ausgabe vom J. 1631 hat wie- 
derum Zufäge von Elias Levita, eine Vorrede von R, Benjamin und Anmerkun— 
gen von Conftantin P’Empereur, So fehr übrigens diefe Grammatik ungeachtet 
ihrer Kürze für ihre Zeit eine treffliche Leiftung war und auch ihre verdiente An— 











Kimchi. 87 


erkennung fand, fo iſt fie doch vielfach mangelhaft und zur gründlichen Erlernung 
der bebräifchen Sprache bei Weitem nicht ausreichend. Andere weniger befannte 


grammatifhe Werfe unferes Kimdi find a0 >>© (Intellectus bonus) und 
nerannn 5 (liber emplastri), dagegen das ihm zugefchriebene Bud 2-7 rınD 
(initium verborum meorum) halten manche für das Werf eines andern Berfafferg, 
Bon feinen eregetifchen Schriften ift der Eommentar zum Buch Esra in der rab- 
binifhen Bibel von Dan. Bomberg (1545—49) gedrudt, in Burtorfs rabbini- 
fer Bibel jedoch weggelaffen. Dagegen der Commentar zu den Sprüchen Salo- 
mon’s ift noch ungedrudt. Ein moralifhes aber ebenfalls nur handſchriftlich vor— 
bandenes Werf ift fein Bud wo> 12» (deliciae animae). Bemerfenswerth ift 
noch, daß in all’ diefen Schriften von der heftigen Folemif gegen das Cpriften- 
tum, die in den Schriften der beiden andern Kimchi oft ziemlich fchroff hervor— 
tritt, nichts zu finden ift. Vgl. Biographie universelle, I. c. — Wolf, bibliotheca 
hebraea I. 892 sqg. III. 810 sqqg. — R. David Kimdi Onnp 207 72 775 
abbrey. >77 oder 777), Bruder des vorigen, ift einer der berühmteften jüdifchen 
Gelehrten des Mittelalters und ald Grammatifer, Lericograph und Ereget auch 
den Ehriften wohl befannt. Er ift immer gemeint, wenn in grammatifchen, lexi— 
ealifchen und eregetifchen Schriften bloß einfach ohne weiteren Beifag Kimi citirt 
wird, Er wurde in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu Narbonne ge- 
boren und farb gegen 1240 in der Provence. Seine jüdifhen Zeitgenoffen 
hatten vor ihm die Höchfte Achtung, fo daß feine Ausſprüche in der Regel als 
unumftößliche Auctorität galten. Sogar der Ausſpruch Eleaſar's des Sohnes 
Ajarja’s: TOın ZN map JS DS (sinon est farina, non est lex, Pirke Aboth 
II. 20.) wurde in Anwendung auf ihn umgeändert in: nanp »>2 map j”8 (non 
est farina sine molitore), um anzudeuten, daß ohne ihn das Geſetz nicht verftan- 
den werden fünne. Als daher der zwifchen den franzöfifchen und fpanifchen Juden 
über die freiere, ſcheinbar antitbalmudifche Richtung des Maimonides ausgebrochene 
Streit gegen die dreißiger Jahre des 13. Jahrhunderts einen fehr heftigen Cha— 
rafter angenommen hatte, wurde David Kimchi allein noch für fähig gehalten, das 
Bermittlungsgefhäft zu übernehmen und den Streit gütlich beizulegen. Anfangs 
fhienen feine Bemühungen auch wirflih zum Ziele zu führen, allein da er auf 
die Seite des Maimonivdes trat und feinen Gegnern Unrecht gab, verwidelte ihn 
dieß in einen fcharfen Federkrieg mit dem fpanifchen Nabbi Juda Alpbacher, der 
28 mit den franzöfiihen Juden gegen Maimonides hielt, und das angefangene 
FSriedenswerf zerfchlug fih bald wieder (f. Joſt, Gefchichte der Sfraeliten ꝛc. 
Bd. VI. ©. 194 ff. — Geiger, wiſſenſchaftliche Zeitfchrift für jüdifhe Theologie 
Bd. V. Heft 1. ©. 95 f.). Sonft hat man über David Kimdi, fo groß au 
fein Anfehen bei den Juden von jeher war und noch ift, nur dürftige und dazu 
noch unzuverläffige und verdächtige Nachrichten. Die von David Kimchi ver- 
faßten Schriften find ziemlich zahlreich. Sein grammaticaliſch-lexicaliſches Haupt- 
werk ift das Bud Michlol (>3>22, perfectio); es befteht aus zwei Theilen, einer 
bebräifhen Grammatik und einem bebräifhen Lericon, welche auch einige Male 
zugleich mit einander als ein Werk im Drud erfchienen find, namlich zu Eon- 
fantinopel 1513 und 1530, und zu Venedig 1529 und 1545; in den beiden 

tern Ausgaben ift der Text des Kimchi mit dem Duadrat-, die Bemerkungen 
des Elias Levita mit dem rabbinifhen Curfiv-Alphabet gedruckt. Später jedoch 
wurde jeder Theil, namentlich das Lericon öfters, für fi herausgegeben, und 
fo Fam es, daß der urfprünglich dem Ganzen gegebene Titel auf die Grammatik 
befchränft und dag Lericon Dow I (liberradicum) genannt wurde, Die Gram- 
matif wurde erft im J. 1545 abgefondert herausgegeben von Corn, Adelkind 
zu Benedig; das Lericon dagegen weit früher, zuerft ohne Jahreszahl und Orts— 
angabe, dann zu Neapel im J. 1490, und wiederum ebendort im J. 1491 und 


88 Kinder bei ven Hebräern, 


nachher noch öfters, zulegt und am beften von Bieſenthal und Lebrecht zu Berlin 
1847 mit einer infteuetiven Vorrede über die in dem Lexicon citirten jüdischen 
Schriftſteller. Diefe beiden Werfe find für die nachherige Bearbeitung der heb- 
räiſchen Grammatik und Tericographie bei Juden und Chriften Grundlage und 
Mufter geworden; Joh. Reuchlin's hebräiſches Dictionarium ift faft nur eine 
Eopie von Kimchi's Drwnv 3, und die hebräifche Grammatik des Santes Pag- 
ninus ift ganz aus Kimchi's >r>on geſchöpft. Ob ein anderes weniger befanntes 
grammatifches Werf unter dem Titel 30727 (porta freni) wirklich von David 
Kimchi Herrühre, iſt noch unentfchieden. Seine Schrift mit dem Titel A950 ©» 
(calamus scribae, aus Pf. 45, 2.) ift ein maforethifches Werk, das von Elias 
Levita im mA1027 nn70n und Menahem von Lonzano im maın AR citirt wird. 
Den größern Theil der Schriften Kimchi's machen feine Bibeleommentare aus, 
Sie erftrerfen fich faft über alle Bücher des hebräifchen Canons, find theils ge- 
druckt, mitunter in mehreren Ausgaben, theils bloß handſchriftlich vorhanden, 
Lesteres gilt gleich von dem Kommentar zum Pentateuh (nn 53 W199), 


deffen Abfaffung durh David Kimchi im mhaprı n-wbw und im DIS mon 


von Algazäus bezeugt wird. Der Commentar zu den erften Propheten (D’N"23 
DDR) iſt zum erſten Mal mit diefen Propheten felbft gedruct worden zu Son- 
einp im J. 1486, dann zu Leiria im J. 1494, und nachher öfters, namentlich 
in der Bomberg’fihen Bibel vom J. 1526 und in der Burtorf’fhen von 1618 
und 19, Der Commentar zu den letzten Propheten (D»rIms DYRI22) erfihien 
ebenfalls zugleich mit denfelben zu Soneino im 3. 1486 (Herbſt, Einleitung in's 
A. T. 1.129. — De-Rossi, annales hebraeo-typographici sec. XV. p. 104), 
fpäter zu Pefaro im J. 1515, dann auch in der eben genannten Buxtorf'ſchen 
Bibel; einzelne von diefen prophetifhen Schriften mit Kimchi's und anderen 


Commentaren find feit dem Ende des 15. Jahrhunderts oft und an verſchiedenen 


Orten herausgegeben worden (cf. Wolf, bibliotheca hebraea I. 301 sqq.). Der 
Commentar zu den Palmen wurde abgedrudft in der neapolitanifchen Ausgabe 
der Hagiographa im J. 1487 und dann in der erſten rabbinifchen Bibelausgabe 
Bomberg’s im J. 1518, in der zweiten aber ift er weggelaffen, fo wie auch in 
der Burtorf’fchen Ausgabe. Einige Male wurde er auch befonders zugleich mit 
ven Pfalmen herausgegeben, und auch einzelne Pfalmen mit Kimchi's und anderen 
Kommentaren wurden gedrudt (Wolf, l. c. p. 303 sqq.). Der Commentar zur 
Chronik ift in der rabbinifhen Bibelausgabe Buxtorf's abgedrudt, Wie jene 
fpracplichen Werke Kimchi's, fo flunden und ſtehen auch diefe exegetiihen bei 
Juden und Chriften, namentlich bei erfteren in großem Anfehen, Anfänglich ent- 
hielten fie zwar mandes für die Chriften Anftößige, indem fie oft gegen das 


Chriftentbum polemifirten, in den fpäteren Ausgaben jedoch find die anflößigen 


Stellen weggelaffen. Kimchi's Hauptbeftreben geht bei feiner Exegefe dahin, den 
buchſtäblichen Sinn der Schrift zu finden und darzuftellen, wobei er fih im Gan- 
zen an den maforethifchen Text hält, jedoch nicht unbedingt, fondern auch gute alte 
Handfhriften zu Rathe zieht und je nach Umſtänden ihren Lefearten vor den 
maforethifchen den Vorzug gibt, Etwas abftoßend werben feine Commentare nur 
durch das oft ausführliche Eingehen in grammatifche Subtilitäten, dur die am 
Ende doch nicht viel gewonnen wird, Vgl. Rich. Simon, hist. crit. du V. T. 
Amsterd. 1685. p. 175 sqq. 379. 541. — Wolf, 1. c. 1. 305 sqq. II. 189 sqq. — 
De-Rossi, annales hebraeo-typographici eto. p. 76. 80. 125. [elte,] 
Kinder bei den Hebräern. Der den Drientalen im Allgemeinen Hoch 
beglückende Befig zahlreicher Teiblicher Nachkommenfchaft hatte für den Hebräer 
noch eine eigene religiös-beveutfame Seite. Jede Familie ift berufen, den Fort- 
beftand des Bundes zu wahren, behauptet deßhalb eine beftimmte ihr zugemwiefene 
Stellung im Organismus der Bundesglieder, diefer fol nicht geftört und darum 
der Name eines Mannes nicht vertilgt werben in Iſrael. Viele Kinder find daher, 





— 


® 


Kinder, ausgefeste, 89 


veil den Fortbefland der Familie und die Bedeutung diefer in der Gemeinde des 
Herren garantirend , ein Segen von Gott, Deut. 28, 4, Pi. 123, 3—6. Spr. 17, 
3 fo aub fhon in den vormofaifhen Segenswünfhen Gen. 24, 60. 48, 16. 
Kinderlofigfeit, wodurch die Familie in ihrer Eriftenz bedroht wird, ift großes 
Unglüf, 2 Sam, 18, 18. Jer. 22, 30., namentlich hart für die Frau, Gen. 30, 
1. 1 Sam. 1, 6. Pf. 113, 9; Jeſ. 54, 1: Luc, 1, 25., wird für. gewiffe Sün- 
ben geradezu als Fluch und Strafe gedroht, Lev. 20, 21. — Nah der Geburt 
wobei fhon frühe Hebammen behilflich erfcheinen, Gen. 38, 28. Exod. 1, 15 ff.) 
wurde das Kind gebadet, mit Salz gerieben und in Windeln gewidelt, Ezech. 16, 
4. 506 38, 9. Der Bater oder Großvater nahm das Neugeborene auf die Kniee 
zum Zeichen der Anerfennung und Freude, Gen. 50, 23. Pf. 21, 11. Job 3, 
12. (ogl. suscipere oder tollere bei den Römern); die Kinder der Kebsweiber 
wurden durch diefe Ceremonie von den eigentlichen Frauen als die ihrigen an— 
erfannt, Gen. 30, 3. Der Tag der Geburt ift ein Tag der freude, befonders 
wenn das Kind ein männliches und gar das erfigeborne (ſ. den Art, Erfigeburt) 
war, Gen. 21, 6.5 alljährlich wurde er feftlich gefeiert, Job 1, 4 ff. Matth. 14, 
6.5 weniger erfreulich mochte die Geburt eines Mädchens fein, vgl. Sir. 42, 9. 
10. In der ältern Zeit erfolgte bald nach der Geburt auch die Namengebung, 
Gen. 4, 1. 16, 15.5 fpäter wurde diefes mit der Befchneidung verbunden, welche 
bei den Knaben) am achten Tage nah der Geburt vorgenommen wurde, Luc, 1, 
59. Das Stillen des Kindes beforgte die Mutter felbft, 1 Sam. 1, 23. 1Kön. 
3, 21., Ammen nur dann, wenn die Mutter Franf oder geftorben war; ihre wie 
der Wärterinnen Dienfte wurden danfbar geachtet, Gen. 35, 8. Die Entwöh- 
nung erfolgte ſpät, 1 Sam. 1, 22., oft.erft nad drei Jahren, 2 Macc. 7, 28., 
- wurde zu einem Familienfeft, Gen. 21, 8. Die erfte Erziehung war Sade der 
Mutter; hatte der Knabe ungefähr das fünfte Jahr erreicht, fo leitete der Bater 
diefelbe; die Summe der gefammten Pädagogif enthielt für ihn die Stelle Deut, 
6, 7.: „Schärfe fie ein Die Worte des Gefeges) deinen Söhnen und rede 
davon, wenn du in deinem Haufe figeft und wenn du draußen geheft, wenn du 
dich niederlegeft und wenn du auffteheft;“ vgl. V. 20—25. defl. Cap. und Spr. 
1, 8. 4, 4. 6, 20. Mitunter, vornehmlich in wohlhabenden Familien, wurde ein 
befonderer Lehrer (728) angeftellt, vgl. 2 Kön. 10, 1.5. 1 Chrom. 27, 32, In 
wie weit der Unterricht neben der Belehrung über das Gefeg, der Unterweifung 
in der heiligen Geſchichte (Deut. 6, 20—25.) auch über profanes Wiffen fich 
erfiredfte, hierüber fehlen nähere Angaben; immerhin war die eigentlich erziehende 
Seite im Sinne und nach den Forderungen des Gejeges die Hauptfache, Strenge 
wurde nicht gefpart, der Gebrauch der Ruthe ift ein Beweis wahrer väterlicher 
Liebe, ein Beförderungsmittel der Weisheit; ein verzärtelter Knabe dagegen 
bringt feiner Mutter Schande, vgl. Spr. 13, 24. 23, 13. 29, 15. In der fpä- 
tern Zeit gab es auch öffentlihe Schulen (Jos. Antt. XV. 10, 5. XVII. 6, 2.) für 
den niederen Unterricht, die wahrfcheinlich mit den Synagogen in Verbindung 
fanden. Die Töchter blieben unter mütterliher Auffiht und Leitung bis fie hei- 
zatbeten, wurden fehr abgefchloffen gehalten, 2 Macc. 3, 19. — Söhne und 
Töchter find der Herrfchaft des Vaters unterftellt, diefer verehelicht fie nach feiner 
Wahl, Gen. 24. 29, 16. 34, 12. Erod. 21, 9. Richt, 14, 2., kann die Tochter 
als Sclavin verfaufen, Exod. 21, 7., das ohne fein Wiffen gemachte Gelübde 
aufheben, Num. 30, 6. Das älterliche Anfehen wird hoch geachtet, auf den Se- 
gen des Vaters oder der Mutter legt man hohen Werth, ihr Fluch gilt als das 
Sarößte Unglüf, Gen, 27, 4. 49, 2. Sir. 3, 11. Vgl. hierzu den Art. Frauen 
bei den Hebräern. I 4 [Rönig.] 
Kinder, ausgefeste (Findlinge), rücfichtlich der HL. Taufe. Es gilt die 
ie daß fie noch nicht getauft find, und daher noch zur hl. Taufe zu 
gen find, da eine Mutter, die fo gewiffenlos ift, ihr Kind auszufegen, auch 

































a a en en. 
90 Kinder, unfhuldige — Kindercommunion. | 


nicht zur Erwartung berechtigt, dem Kind doch wenigflens die Nothtaufe ertheilt 
zu haben (Conc. Gamerac. a. 1586. lit. 6. c. 8; Conc. Chur. a. 1605 de Bapt.). 
Zweifelhafter ifl die Sache, wenn der Findling fchon einige Monate oder Jahre 
alt ift, und deffen Leben nicht bloß der Mutter, fondern anch ihrer Umgebung 
befannt fein durfte. Läßt fih nämlich annehmen, daß der bisherige Erziehungs- 
ort eines folchen Findlings ein Drt war, in welchem die Nichttaufe eines Chriften- 
Findes fchon durch die allgemeine Denkweiſe des Publicums verpönt ift, fo iſt 
wohl der Empfang der Taufe nicht zu bezweifeln; geſchah aber’ die Ausfegung 
von Vagabunden, durchziehenden Soldaten oder Nichtchriften, oder wenigftens 
von Leuten, in deren Wohnort die Nichttaufe eines Kindes von dem Publicum 
gar nicht beachtet oder geahndet wird, fo ift wohl wieder der Nichtempfang der 
Taufe zu präfumiren. Jedenfalls iſt der bei einem Findlinge gefundene Zettel, 
es fei derfelbe getauft und habe diefen oder jenen Namen dabei erhalten, Fein ge= 
nügender Beweis: höchftens ft, wenn auf dem Zettel der Ort und Tag des Em- 
pfanges der Taufe angegeben und dieſer Ort befannt und nicht zu weit entfernt 
ift, die Spendung der hl. Taufe, wenn ſich das Kind in Feiner Lebensgefahr be— 
findet, fo Tange zu verfchieben, bis die Unmwahrheit der Angabe fich erwiefen hat 
(Rit. Passav.) In den Niederlanden, in England und am Rheine fand man in 
früherer Zeit bisweilen bei den Findlingen Salz, und hielt dieß bald für einen 
Beweis, daß diefelben getauft feien, bald auch für einen Beweis des Gegen- 
theiles; das Eine wie das Andere ift unftichhaltig (Conc, Ebor. a. 1195. c. 4.; 
Conc. Londin. a. 1200. ce. 3.; Conc. Buscoduc. a. 1571. tit. 3. ec. 8. et a. 1612. 
tit. 3. e. 15.; Conc. Mechlin. a. 1607. tit. 3. c. 4. et a. 1609. tit. 3. c. 3.; Conc. 
Colon. a. 1662. p. 2. tit. 2. c. 7. $2.). Uebrigens tauft man folche Kinder in jedem 
Falle nur bedingnißweife, um der Heiligfeit des Sarramentes nicht zu nahe zu treten, - 
fomit mit VBorausfegung der befannten Worte: „Si non es baptizatus (baptizata).“ 
Da man im hriftlichen Alterthume nach dem Grundſatze des Papftes Leo des Großen: 
„Quod non ostenditur gestum, ratio non sinit, ut videatur iteratum“ (ep, 92. ad 
Rustic. c. 15.) überhaupt nicht bedingnißweife taufte, fo hielt man damals gewiß 
auch bei der Taufe der Findlinge diefelbe Norm ein. [Fr. X. Schmiv,] 
Kinder, unſchuldige, Feſt derſelben, ſ. Unſchuldigen Kinderfeſt. 
Kindereommunion. Die Disciplin der Kirche iſt in dieſer Hinſicht nicht 
immer und überall dieſelbe. Heutzutage läßt man in der lateiniſchen Kirche die 
Kinder von der Zeit an zur hl. Communion, wo ſie zum Gebrauche der Vernunft 
gekommen ſind. Es ſtützt ſich dieſe Praxis auf die Entſcheidung der Kirche, daß 
für die „Parvuli usu rationis carentes“ keine Verpflichtung beſtehe zu communi— 
eiren (Conc. Trid. Sess. 21. cap. 4. de Commun.), Da die Frage, wann ein Kind 
zum Gebrauche ver Vernunft gefommen fer, ſubjectiv verfchieden beantwortet wird, 
fo bleibt noch immer den einzelnen Rirchenvorftehern ein weiter Spielraum, ben 
heranwachfenden Kindern die hl. Communion einige Jahre früher oder fpäter zu 
geftatten. Sp begnügen fih die Firchlichen Verordnungen des Königs Edgar im 
%. 967 (0.22), fowie die des Königs Kanut im J. 1032 (eo. 22) und Regino 
di. 1. 0. 272) mit der Forderung, daß die communicirenden Kleinen das Pater- 
nofter und Credo auswendig gelernt haben, fo daß nach diefer Entfeheidung fo 
ziemlich fchon jedes Kind von fünf bis fieben Jahren zugelaffen werden dürfte, 
Dagegen foll nach der Gottesdienftorbnung von Nottenburg im J. 1838 fein Kind 
vor zurücgelegtem dreizehnten Lebensjahre communieiren, Gewöhnlih commu- 
niciren diefelben vom zehnten bis zwölften Lebensjahre anz nur im Falle, daß fie 
fchwer erfranfen, reicht man ihnen die hl. Kommunion auch ſchon im fechsten und 
und fiebenten Lebensjahre, wenn fie fo viel Einficht und Unterſcheidungskraft 
haben, um fie mit gebührender Andacht empfangen zu fünnen Cofr. Conc. Camerac. 
a. 1300; Conc. Bamberg. a. 1491. tit. 33; Conc. Brug. a. 1571; Rit. Passav. a. 
1719; Quart. p. 2. tit. 10. sect. 3. dub. 3,). Die Anficht, es dürfe Jemand mit 














KRinderesmmunion, 91 


der erften hl. Communion bis zum 16tem Jahre oder bis zur Förperlihen Reife 
zuwarten, ift irrig (Conc. Colon. a. 1662. p. 2. tit.7. c. 2. $2. Cfr. Gone. Gan- 
dav. a. 1650. tit. 6. c. 11.). Im Morgenlande communiciren die Rinder zum 
erfien Male nach dem Empfang der Hl. Taufe, fomit als Säuglinge. Sp bezeu- 
gen dieß Leo Alfatius (1.3. c. 9. n. 6.) und Goar (Kuchol. fol. 374) für die 


“ Griechen, und der Mönch Tekla Maria (ap. Leon. Allat. in epil. Nihus.) für die 
Aethiopier. Nach Renaudot Ceollect. lit. orient.) taucht zu diefem- Behufe der 


Prieſter den Zeigefinger in das HL. Blut, und ſteckt ihn fodann in den Mund des 


Kindes, von der Spendung der Brodsgeftalt nimmt er Umgang. Wo jedod die 


Sitte ift, die HI. Hoftie im Allgemeinen im das HI. Blut getaucht zu fpenden, 
dürfte auch bei den Kindern derfelbe Gebrauch eingehalten werden, Auch ſcheint 
es, daß in vielen morgenländifchen Kirchen die Communion der Säuglinge ganz 
aufgehört habe. Wenigftens fchreibt der Maronite Abraham Eechellenfis (ep. ad 
Nihus. ap. Leon. Allat.): ‚Infantibus adhuc solus sanguis a quibusdam exhibetur. 
Ritus tamen hujusmodi, licet nulla constitutione abrogatus, obsolevit apud omnes 
fere nationes orientales.“ In früherer Zeit erhielten auch im Abendlande die 
Säuglinge die Hl. Communion, und zwar gleichfall8 (wenigftend in der Regel) 


‚unter der Geftalt des Weines allein. Sp erzählt der HI. Eyprian (I. de lapsis), 


daß ein Kind, welchem man zu Haufe den Götzen geopfertes Brod zu effen ge- 
geben hatte, die Lippen vor dem ihm dargereichten Kelche fchloß, und als der 
Diacon ihm mit Gewalt den Kelch einfchüttete, fich fogleich erbrach. Aehnliche 
Zeugniffe finden fich bei Auguftin (de peccat. merit. 1. 1. ce. 20.), in dem grego=- 
rianifhen Sacramentarium, dem Ordo Rom. Vulgatus u. ſ. w. Noch Hugo a S. 
Vietore im 12ten Jahrhundert fchreibt (erud. theolog. 1. 1. de sacram. c. 20): 


- „Pueris recens nalis sacramentum in specie sanguinis est administrandum digito 


sacerdotis, quia tales naturaliter sugere possunt.“ Ja er gibt im Conterte zu ver- 
ftehen, daß das hl. Blut zu diefem Behufe felbft aufbewahrt wurde. Eine Eon- 
fitution des Papftes Paſchalis H. vom 3. 1118 Iehrt der Hauptfache nach das— 
felbe (ep. 32. ad Pontium). Ja es will diefe Communion noch, jedoch unter der 
Geftalt des Brodes, ein Canon der Synode von Würzburg im J. 1298 (ec. 3). 
Defonders war fie nach der HI. Taufe üblich. So fihreibt Cyprian (ep. 63. ad. 
Caecil.): „Per baptismum Spiritus sanctus aceipitur, et sic a baptizatis et Spiritum 
sanctum consecutis ad bibendum calicem Domini pervenitur.“ Im gregorianifchen 
Sarramentarium findet fih aus diefer Urfache bei dem Taufritus die Vorfchrift, 
die Säuglinge zwifchen der HI. Taufe und Communion nicht zu fäugen. Eben fo 
eommunieirten die Rinder täglich in der erftien Woche nach der HI. Taufe (Ordo 
Rom. Vulg.), fowie wenn fie fihwer erfranften. Sp erflären die Capitularien der 
fränfifhen Könige (1. 1. c. 161), Walter von Orleans (Capit. n. 7) und Regino 
C. 1. c. 69), es müffe die Euchariftie auch degwegen aufbewahrt werden, um fie 


‚ den flerbenden Kleinen zu jeder Stunde reichen zu fünnen, Auch war es im 


Morgen: und Abendlande eine Zeit lang Sitte, die Neberbleibfel vom heiligen 
Maple durch Kinder aufzehren zu laſſen. „Cuaecunque reliquiae sacrificiorum“, 
verordnen die Väter von Magon im J. 585, „post peractam Missam in sacrario 


- supersederint, quarta vel sexta feria innocentes ab illo, cujus interest, ad eccle- 


siam adducantur, et indicto eis jejunio, easdem reliquias conspersas vino percipiant 
Cean. 6).* Vgl, die Synode von Tours im J. 813 (can. 19), Evagrius (hist. 
ecel. 1.4.0.36), Nicephorus Kalliſtus (hist. eccl. 1. 17. c.25.). Die dvermalige Sitte 
der Lateiner entwickelte ſich vom 12. Jahrh. an in der Weiſe, daß man Anfangs den 
Kleinen nur unconſecrirten Wein und unconſecrirtes Brod reichte, bald aber auch die- 
fes, ſowie die Communion felbft verbot. So rügen die Darreihung von gewöhnlichen 
Drod und Wein Hugo aS. Victore (1. c.), Odo von Paris im J. 1175 (n. 39) u. f. w., 


fo die Darreichung der hl. Communion felbft die Synode von Trier im J. 1227 Ce. 3). 
Thomas von Aquin fucht diefes Iegtere Verbot ſchon zu begründen (in A dist. 23, 


92 Kindertaufe — Kindfhaft Gnttes, 


qu. 2. art. 2.). Eine Erinnerung an die ehemalige Sitte iſt die Vorfchrift im 
Manuale von Amiens im 3. 1524, den getauften Kindern gewöhnlichen Wein 
mit den Worten zu reichen: „Corpus et Sanguis D. N. J. Chr. custodiat te in vitam 
aeternam. Amen.“ — In der neuern Zeit wird es in vielen Gegenden Sitte (die 
Nitualien enthalten hierüber nichts), der erftien Communion (Protveommunion) 
der Kinder eine Erneuerung des Taufbundes vorangehen zu laſſen, und biefe 
fowie die Communion felbft feierlihft zu begehen. Ein aufmerffamer Blick auf 
den Ritus der erften Jahrhunderte bei der a > jener, die fchon zum Gebrauche 
der Vernunft gefommen waren, und daher aus eigener Wahl dem Chriftenthume 
fi) zumwendeten, hat unbeftreitbar diefe Sitte angebahnt, Da nämlih damals 
die Taufadfpiranten vor der Taufe den Bund mit Chrifto abfchloffen, und den 
gefchloffenen Bund nad) der Taufe mit der Communion befiegelten, fo ziemt es 
um fo mehr, den Protveommunicanten diefen Bund in's Gedächtniß zu rufen, 
als auch fie ihn vor der Taufe dur den Mund der Pathen abgefchloffen haben. 
Die Gebräuche bei diefer Feierlichfeit find gewöhnlich folgende: 1) die Proto— 
eommunicanten nahen paarweife geordnet dem Presbyterium, ftellen fih in einem 
Halbeirkel auf, und werden von dem Pfarrer an den Bund erinnert, den die 
Pathen in ihrem Namen mit Chrifto abgefchloffen Haben. 2) Die Protocommu- 
nicanten werden vor dem ZTauffteine, auf dem eine große Kerze brennt (wenn der 
Taufftein fich durch feine Lage nicht dazu eignet, fo brennt die Kerze auf einem geſchmück⸗ 
ten Credenztiſche, ſ. d. A.) aufgefordert, den Bund zu beftätigen, den die Pathen 
in ihrem Namen gefchloffen haben, und daher wörtlich oder dem Inhalte nach die 
Tragen zu beantworten, welche die Pathen beantwortet haben. 3) Nach Beant- 
wortung diefer Fragen wird jedem Rinde (wie e8 bei der Taufe der Fall war) 
eine brennende Kerze als Sinnbild Jeſu des Lichtes der Welt in die Hand ge- 
geben, und dabei die Formel gefprochen, die bei der Darreichung der Kerze bei 
der Taufe üblich ift, oder eine ähnliche, 4) Die Protoeommunicanten ziehen, die 
brennenden Kerzen tragend, in Prozeffion durch das Gotteshaus, ftellen ſich hier— 
auf wieder vor oder in dem Presbyterium auf, und werben aufgefordert, an ber 
Hand Jeſu durch's Leben zu wandeln, Auch werden Eltern und Erwachſene er- 
mahnt, die unfchuldige Schaar nicht zu ärgern, fondern zu erbauen, 5) Die 
Communion, der paffende Gebete und Gefänge vorausgeſchickt werden, wird nach 
der des Celebranten vorgenommen, [Fr. X. Schmid.] 

Kindertaufe, ſ. Taufe. 

Kindſchaft Gottes, Kinder Gottes. Wir brauchen uns nicht um eine 
Definition des Begriffes Kindſchaft Gottes abzumühen, denn die hl. Schrift er— 
klärt uns ſehr genau, was wir darunter zu verſtehen haben. Der Kindſchaft 
Gottes ſind alle diejenigen Geſchöpfe theilhaftig, welche Kinder Gottes ſind, 
näher: welche ſich als Kinder zu Gott verhalten, und zu welchen ſich Gott als 
Vater verhält. Mithin ganz einfach alle Geſchöpfe, Alles was nicht Gott iſt. 
Es leuchtet aber doch fogleich ein, der Begriff Kind und Kindſchaft Gottes fer 
nothwendig auf die vernünftigen Gefchöpfe zu befchränfen, welche allein ein 
Bewußtfein Gottes haben und folglich fich felbft als Gefchöpfe Gottes erfennen, 
Nur diejenigen Geſchöpfe können fich als Kinder zu Gott verhalten, welche Gott 
als Vater, ſich felbft als gefchaffen erkennen. Demnach find als Kinder Gottes 
zu bezeichnen die Engel und die Menfchen. Dieß ift denn auch die erfte Beſtim— 
mung, unter welcher fi der Begriff Kinder Gottes in der HI. Schrift findet, 
Zugleich ift fie die alfgemeinfte; wir haben fie zuerft in's Auge zu faffen, wenn 
wir über unfern Gegenftand ganz in’s Neine kommen wollen. Iſt alfo die Frage: 
welche Gefchöpfe find Kinder Gottes? fo lautet die Antwort: 1) die Engel und 
die Menſchen. Es bedarf zum Beweife hiefür nicht der Anführung einzelner 
Stellen aus der hl. Schrift, da durchgängig den genannten geiftigvernünftigen 
Gefchöpfen Gott als Vater vorgeftellt, als ihr eigenes Bewußtfein aber das Be— 


Kindfhaft Gottes. 93 


wußtſein der Gefchöpflichfeit bezeichnet iſt. Aber wenn ein Geſchöpf ſich als Kind 
Gottes weiß, fo muß es als folches fih auch benehmen; unfer Bewußtſein ſchlecht- 
hiniger Abhängigkeit von Gott vollendet ſich erſt dadurch, daß wir legtere in un- 
erem Leben und Handeln verwirklichen, dadurch alfo, daß wir in Allem, was wir 
hun, nicht unferen, fondern den göttlihen Willen vollbringen. Erſt wenn wir 
das, was wir find und als was wir uns wiffen, auch felbft fegen, durch eigene 
Kraft gleichfam noch einmal fhaffen, erſt dann find wir wahrhaft und vollfom- 
men was wir find. Darum nennt die Hl. Schrift in höherem Sinne Kinder Got- 
eg 2) die Gerechten, Heiligen, furz Diejenigen, welche den göttlihen Wil- 
len refpectiren und vollbringen. Sp heißen 1 Mof. 6. die gottesfürdtigen Nach- 
fommen Seth's Kinder Gottes (Söhne Gottes), im Gegenfage zu den lafterhaften 
Nachkommen Kains. Im Buche der Weisheit (2, 13.) wird der Öerechte, welcher 
die Gottlofen tadelt und zurechtzumweifen beftrebt ift, fillus Dei, Sohn Gottes ge- 
nannt, gleichfalls im Gegenfage zu eben jenen Gottloſen, welde, des göttlichen 
Willens fpottend, thun was ihnen beliebt, Vgl. ebendaf. 5, 5. Ebenfo nennt der 
Herr Matth. 5, 9. die Friedfertigen Kinder Gottes; und wenn er bald darauf, 
3.44, u, 45., fagt: „Thut Gutes Denen, die euch haſſen, und betet für eure 
Berfolger und Berläumder, damit ihr Kinder eures Vaters feet, der im Himmel 
ift, der feine Sonne über die Böfen wie über die Guten aufgehen, und für die 
Ungerechten wie für die Gerechten regnen läßt”, fo erffärt er deutlich genug, es 
fet dur die Nahahmung Gottes, durch Vollbringung des göttlichen Willens, 
daß wir den Anfpruch erhalten, Kinder Gottes genannt zu werden, Borzugsweife 
gehört hieher 1 30h. 3, 8—10., wo der Apoftel fagt: wer Sünde thut, iſt aus 
dem Teufel, weil der Teufel von Anfang an fündigt (weil dem Teufel wefentlich 
ift, zu fündigen); Jeder, der aus Gott geboren ift, begeht feine Sünde, fann 
nicht fündigen, weil er aus Gott geboren ift (weil der Same Gottes in ihm 
bleibt, d. h. der Wille Gottes in ihm Tebt); gerade daran erfennt man die Kin— 
der Gottes und die Kinder des Teufels (In hoc, sc. in dem Nichtfündigen und 
Sündigen, manifesti sunt filii Dei et fili diaboli). — Auf folhe Weiſe, dur 
Bollbringung des göttlichen, in den Geboten manifeftirten Willens, fich als Kin— 
der Gottes zu erweilen, ift allen Menfchen (und Engeln) aufgetragen. Seder, 
der die thut, ift ein Werkzeug Gottes zur Verwirklichung des göttlichen Welt- 
plans, Es ift aber Teicht zu fehen, daß ſolche Werizeuge Gottes nicht Alle auf 
die gleiche Weife fein fönnen, daß die Einen Mehr und Wichtigeres, die Andern 
Weniger und Unwichtigeres zu thun Haben, nad der Unterfchiedenheit (quantita= 
tiven und qualitativen) der Berrichtungen, welche die Verwirflihung des göttlichen 
Beltplans erfordert; daß es alfo ausgezeichnete, befonders hervorftechende 


' Werkzeuge Gottes geben müffe. Dieß find einmal den Menfchen gegenüber alle 


Engel, welchen als den flärferen und mächtigeren Geiftern wichtigere Dienfte 


) übertragen find, und fodann unter den Dienfchen felbft die Obrigfeiten, Könige, 
) Propheten ꝛe., welche, zur Leitung der übrigen beftimmt, befondere Dienfte zu 


verrichten haben (Röm. 13, 1.2. Joh. 19, 11.). Darum werden in noch höherem 


) Sinne Kinder oder Söhne Gottes genannt 3) die Engel (Job 1, 6. 2, 1. 38, 


7.) und die Könige und Propheten (Pf. 81, 6. vgl, Joh. 10, 34. 1 Paraliy, 





a 


F 


tanut des Vaters überall der Sohn iſt. 

fere Begründung der Kindſchaft Gottes angedeutet. Was die Obrigfeiten find, 
| find fie durch beſondere göttliche Anoronung, durch befondere Beftellung, Be- 
> Befähigung und Autorifirung von Seite Gottes, Dieß führt entfchieden 


| 


28, 4—7, 2 Paralip. 1, 9. vgl. Weish. 9, 7.). Wer nämlich den Willen Gottes 
im ausgezeichneter Weife vollbringt, in dem erfcheint Gott in ausgezeichneter 


Weiſe repräfentirt, und ein folder muß dann auch) in ausgezeichneter Weife Sohn 


Gottes genannt werden, in wiefern der natürliche und vollfommenfte Reprafen- 
Hiemit ift bereit eine weitere und tie= 





den allgemeinen Gedanfen, es fei dur befondere Berufung Gottes, daß 





94 Kindfhaft Gottes. 


die Menfchen den Anfpruch erhalten, Kinder Gottes im höchften Sinne des Wor- 
tes genannt zu werden. Diefes ift denn auch die höchſte und abfchließende Be— 
flimmung, welche die hl. Schrift dem Begriffe Kindſchaft Gottes gibt, indem fie 
4) Rinder Gottes zur ESoyrv die befonders Auserwählten und Berufe— 
nen nennt. Gott erwählt und beruft einzelne Menſchen, um fie in befonderer 
Weife durch das gegenwärtige Leben zu führen und dereinft jener Glüdfeligfeit 
theilhaftig zu machen, deren Mittheilung an die Creatur der Zweck der Schöpfung 
gewefen if. Dieß nennt die HL, Schrift die Erbfchaft Gottes, haereditas divina 
(Pſ. 134, 12. 135, 21. 22. Matth, 5, 3. 4.); und diejenigen nun, welche Gott 
fo in Folge befonderer Erwählung und Berufung gleichfam als feine Erben ein- 
fegt, werden, wie gefagt, im höchſten Sinne Kinder Gottes genannt; in der 
Beerbung des Vaters, in dem Genuffe deffen, was der Vater befigt, erweist und 
bewährt fich die Kindſchaft in der vollfommenften Weiſe. Aber warum befondere 
Berufung, Berufung Einzelner zur Seligfeit? Wenn die Mittheilung diefer an 
die Creatur der Zwed der Schöpfung gewefen ift, müffen ihrer dann nicht alfe 
Menfchen ohne Weiteres theilhaftig fein? Darauf antwortet die Lehre von der 
Erbfünde und Rechtfertigung (f. die Art, Erbfünde, Erldfer, Jeſus Chri— 
ſtus, Rechtfertigung). Das Menfchengefchlecht hat in und durh Adam den 
Zwed feiner Erfchaffung gänzlich verfehlt, Hat fich der mit der Rückkehr zu Gott 
verbundenen Seligfeit fchlechthin beraubt. Soll alfo irgend Einer der Tegtern 
dennoch theilhaftig werden, fo Fann es nur durch befondere gnädige Berufung ge— 
fchehen; nothwendig beruht, nach der Sünde Adams, die Befeligung eines jeden 
Menſchen auf fpecieller Auserwählung. Darin alfo liegt der Grund, warum bie 
Kindſchaft Gottes im höchften und eigentlichften Sinne den fpeciell Auserwählten 
und Berufenen zufommt und von der HL. Schrift zugefchrieben wird, Diefe Aus— 
erwählten nun, denen fo die Kindſchaft Gottes im höchften Sinne zufommt, oder 
denen Gott in ganz fpecieller Weife Vater ift, find a) die Jfraeliten, So ift 
es zu nehmen, wenn Gott das Volk Iſrael feinen erfigeborenen Sohn nennt, und 
dem Pharao fagen läßt: „Entlaffe meinen Sohn, damit er mir diene” (2 Mof. 4, 
22.23. vgl. Dfea 11, 1.)5 wenn er daffelbe Volk ausschließlich fein Volk (2 Mof, 
3,7 5, 1: 6, 7), fein eigenthümliches Volk (5 Mof. 7, 6. 14,2. 26, 18.), fein 
Erbvolk (5 Mof. 4, 20.), das Volk und die Erbſchaft Gottes (5 Mof. 9, 29. 
1 Kön, 10, 1. 2 Kön. 7, 23. Jeſ. 19, 25.), fern Eigenthum aus allen Völkern 
(2 Mof. 19, 5.) nennt und al’ dieß auf fpecielle gnädige Auserwählung zurüd- 
führt, indem er Iſrael fagt: „Du bift ein heiliges Volf vem Herrn deinem Gotte. 
Dich hat der Herr, dein Gott, erwählet, daß du fein eigenthümlich Volk feieft 
von allen Völkern, die auf Erden find“ (5 Mof, 7, 6. 14, 2,.26, 18.). Diefe 
Auserwählung und die damit verbundene Verheißung, womit Gott die Annahme 
des Volkes Iſrael an Kindes Statt ausgefprocden hat (Röm. 9, 4), datirt von 
Abraham her, Dieß ift wohl zu beachten, Mit Abraham wurde feine Nachkom— 
menfchaft adoptirt. Alfo, wie wir gefehen, das Volf Iſrael. Aber ift denn die— 
fes Volk ohne Weiteres, als wahre Nachfommenfchaft Abrahams, bereihtigt, das 
dem Abraham Berheifene anzufprehen® Darauf antwortet der Apoftel Paulus 
mit einem entfchievenen Nein, Abraham wurde gerechtfertigt Can Kindes Statt 
angenommen) um feines Glaubens willen (Röm. 4,3, vgl, Gal, 3, 6. 1 Mof. 
15, 6.): Folglich find nicht die dem Fleifhe nach von Abraham Abftammenden. | 
deffen wahre Nachfommen, das wahre Zfrael, fondern die Gläubigen find es; | 
und auf diefe, nicht aber auf jene, hat demgemäß: die Annahme an Kindes Statt | 
fammt den damit verbundenen Verheißungen überzugeben, gleichviel, ob fie dem: " 
Fleifhe nah von Abraham abflammen vder nicht (Röm. 9, 6 ff.). Wer find nun 
aber diefe Gläubigen? Offenbar die Chriften. Wenn Abraham oder irgend Einer 
feit vem Falle Adams geglaubt hat, fo hat er geglaubt auf Chriftus hin, ge= | 
glaubt an Chriſtus (Joh. 8, 56, Luc, 10, 24.), fo daß mit Entſchiedenheit Die⸗ 

















Kindſchaft Gottes, 95 


jenigen als die wahren Nachkommen des erften Gläubigen, des Abraham, zu er- 
Hären find, welche fid an Chriftus, nachdem er im Fleiſche erfchienen, gläubig 
anfhließen. „Wir Chriften, ruft der Apoftel aus, wir find, nad dem Vorbilde 
des Iſaac, die Söhne der Berheigung“ (al. 4, 28.). Demnad ift die in be= 
fonderer Erwählung und Berufung gegründete Kindfhaft Gottes nicht Iſrael als 
folhem, fondern den Chriften zuzufhreiben, wie denn auch gefchieht, wenn endlich 
5) die Ehriften in ausfchließlihem Sinne als Kinder Gottes bezeichnet werden. 
Bon Ewigkeit Her hat uns Gott beflimmt zur Annahme an Kindes Statt, eis 
 viossoler, durch Zefum Chriftum (Ephef. 1, 5.); darum hat er es Allen mög- 
lich gemacht (durch die Incarnation), Kinder Gottes zu werden, ſilios Dei fieri 
Goh. 1, 12.). Diejenigen werden es -wirflih, welde den menfhgewordenen 
Logos aufnehmen, an feinen Namen glauben, denn durch diefen Glauben ift es, 
daß der Menfch gleichfam zum zweiten Mal, wie vorher aus dem Fleifche, fo 
jest aus Gott geboren wird Cibid. vgl. Joh. 3, 1 ff. 1 Joh. 3, 1.). So ift es 
alfo durch den Glauben an Jeſus Ehriftus, daß wir Kinder Gottes find (Gal. 
3, 26.: Omnes enim filii Dei estis per fidem quae est in Christo Jesu). Dur 
denfelben Glauben ift e8 aber au, daß wir gerechtfertigt find, wie ung der 
Apoſtel fo oft verſichert. Mithin erfcheint die Kindſchaft Gottes als identifch mit 
der Gerechtigkeit durch Chriſtus; diejenigen find wahrhaft Kinder Gottes, welche 
durch Ehriftus gerechtfertigt, mit Gott verföhnt find. Sp belehrt uns in der 
That der Apoftel, wenn er fagt: „Geredhtfertigt aus dem Glauben haben wir 
Frieden mit Gott durch unfern Herrn Jeſus Chriftus, durch welchen wir auch 
Zutritt haben, durch den Glauben, zu jener Gnade, in der wir flehen und ung 
zühmen in der Hoffnung auf die Herrlichfeit der Kinder Gottes” (Rom. 5, 1.2.) 
Mit Lesterem hat der Apoftel bereits angedeutet, worin fih die Kindſchaft Gottes 
ober vielmehr das Bewußtfein derjelben äußere. Das Nähere ift, daß wir, be= 
feelt von diefem Bewußtfein, erſtens Gott ohne Furcht, frei von knechtiſchem 
Sinne, gegenüberfiehen ; haben wir den Geift der Kindſchaft, weuue vioFeoias, 
ı empfangen, fo rufen wir Abba, Vater (Röm. 8, 14. 15. Cal, 4, 5. 6.)5 zwei- 

- tens frober Zuverficht in Betreff der Zufunft leben; denn wiffen wir uns als 
Kinder, rexve Ieov, fo wiffen wir auch und find aufs BVBollftändigfte überzeugt, 
daß wir Erben fein, d. h. die himmliſche Herrlichkeit und Seligfeit erlangen wer- 
den (Rom. 8, 16—18. Gal.4,T. vgl. 2 Theff. 1, 4—10.). Allerdings befinden 
wir uns dermalen noch nicht in vollem Befise und Genuffe deffen, was ung als 
Kinder Gottes erwartet (Röm. 8, 18 ff.). Allein wir find der Erlangung. des— 
felben fo gewiß, daß wir bei vernünftiger Erwägung nicht dem Ieifeften Zweifel 
Raum zu geben vermögen. Wie fo? Unfere Kindfchaft gründet fih auf Chriftus, 
näher darauf, daß Gott uns feinen Eingeborenen gefchenft hat. Wie follte aber 
Gott, da er feinen Eingeborenen für uns bingegeben, ung nicht Alles zugleich 
mit dieſem fchenfen! (Rom. 8, 32.). Hiebei aber fragt es fi doch noch näher, 
wie die Begründung unferer Kindſchaft auf CHriftus beftimmt zu denfen fei, Schon 
im Bisherigen ift dieß angedeutet; der Apoftel belehrt uns aber noch genauer, 
indem er fagt: „Getreu ift Gott, durch welden ihr berufen feid zur Gemeinfhaft 
feines Sohnes 3. Chr. U. 9. (1 Cor. 1,9.). Chriftus ift der Sohn Gottes, die 
ganze Fülle der Gottheit in fich tragend (Col. 2, 9.); find wir alfo mit ihm ver- 
einigt, gleihfam feine Brüder (Röm. 8, 29.), fo haben wir unmittelbar Theil 
an dem, was von Gott ausfließtz wir find feine Miterben; leiden wir nun mit 
ihm, fo werden wir auch mit ihm verherrlicht werden“ (Röm. 8, 17.). — Hiemit 
if uns der Grundgedanke vorgeführt, und wir find im Stande, das Ganze zu 
überſchauen. Bon Anfang an ift der Menfh von felbft Kind Gottes, und dieſe 
Kindſchaft äußert fi als Vereinigung mit Gott und bewährt ſich in der hiemit 
verbundenen Seligkeit. Getrennt von Gott (durch die Sünde), hört er auf, die 
Stellung eines Kindes Gott gegenüber zu haben, Außer Stande, diefe Stellung 


96 Kindsmord — Kir, 


durch fich felbft wieder zu gewinnen, kann er nur durch Gott mit Gott wieder 
verbunden werden. Dieß gefihieht dadurch, daß der Sohn Gottes Menfch wird, 
Mit dem menfchgewordenen Gotte fann fi) der Menfch verbinden. Dadurch wird 
er mit Gott wieder vereinigt und hiemit in den Befig der Kindſchaft zurückverſetzt. 
Folglich ift die Kindſchaft Gottes, deren gegenwärtig der Menfch theilhaftig ift, 
eine wiederhergeftellte, und fommt nur den Chriften zu. Am deutlichften wird 
fie zu Tage treten und fi) am fchönften äußern in denjenigen Ehriften, welche 
fich fo eng mit Chrifto verbunden haben, daß fie mit ihm wirken und leiden, daß 
feine Gerechtigkeit auch die ihrige ift (Matth. 5, 3—12). Da aber alle Men- 
ſchen von Kain an um Chriſti willen, durch Chriftus und auf Chriftus Hin geboren 
find (ohne Chriftus gäbe e8 Fein Menfchengefchlecht, |. den Art» Jeſus Ehriftus), 
und da diefem entfprechend die Gnade Gottes von Chriftus aus auch in den vor- 
and außerhriftlihen Menſchen wirft (Joh. 1, 5.): fo Fönnen als Rinder Gottes 
auch folhe Menfchen erfcheinen, welche äußerlich nicht Chriften find. In dem— 
felben Maße, als in ihnen die Gnade Chrifti wirkt und fie gegen Chriftus Hin ge— 
zogen werden, find fie der Kindſchaft Gottes theilhaftig. Sp ift die Kindſchaft 
der Jiraeliten im Ganzen, dann einzelner gerechter Menſchen, Anderer, deren 
fih Gott als befonderer Werkzeuge bediente 2c,, zu verftehen, — Welcher Unter- 
fohied zwifchen der Kindſchaft der Creatur und der Kindfchaft des Sohnes Gottes 
beftehe, leuchtet von felbft ein. Gibt man ihn aber dahin an, daß der Sohn Got— 
tes eigentliher Sohn, fillus proprius, die Menfchen und Engel dagegen Adoptiv- 
fühne Gottes, filii adoptivi, feien, fo hat man zwar nicht unrichtig, aber ungenau 
gefprochen, Die Kindſchaft ver Menfchen ift, wie wir gefehen, eine reftaurirte, 
wiederhergeftellte. Darin erfcheint der Unterſchied derfelben von der des Sohnes 
Gottes als ein viel fchärferer, Davon aber abgefehen, fo ift die Kindfchaft jeder 
Ereatur Kindſchaft im uneigentlichen, diejenige des Sohnes dagegen im eigent- 
lichen Sinne, Der Sohn Gottes ift wirklicher Sohn, nicht gefhaffen, fondern 
ewig gezeugt aus dem Wefen Gottes; die Creatur dagegen ift nicht aus dem 
MWefen Gottes, alfo nicht gezeugt, fondern aus Nichts gefchaffen, und kann fomit 
Gott nur uneigentlih, nämlich in fofern Vater nennen, als fie eben durch Gott 
ift und die Liebe Gottes erfährt, [Mattes,] 

Kindsmprd, f. Mord, 

Kir, np. 1) Gegend, wohin der von Ahas gegen Rezin von Syrien und 
Pekah von Iſrael zu Hilfe gerufene Tiglathpilefer die gefangenen Damascener 
abführte, vgl. 2 Kön. 16, 9. Jeſ. 22, 6. Amos 1, 5, 9, 7, Die nähere Beftim- 
mung tft fihwierig; nach einer Vermuthung Bocharts (Phal. IV. 32.) finden viele 
Erflärer (Calmet, Michaelis, Rofenmüller, Alterth, 1.2. ©. 102., Winer, 
Realw,, Geſenius, thes. IM. 1210., und Commentar zu Jeſ. I, 688.) diefe 
Gegend am Fluffe Kur (Kögos, Kvo6os), der ſich mit dem Arares vereinigt 
in’s Faspifche Meer ergießt (Strabo XI. p. 500. 528.); diefer Fluß bildete die 
Grenze zwifchen Groß-Armenien, Iberien und Albanien (Forbiger, alte Geogr. 
I. ©, 74 u, 598), floß fomit nördlih von Armenien, Die Gegend von Kur 
kann aber zur Zeit der erwähnten Transportation fchwerlich unter affyrifcher Herr= | 

| 








Schaft geftanden haben; nach 2 Kön. 19, 37, flohen die Mörder des Sanherib 
nach dem Land Nrarat, d. h. doch wohl über ‚die aſſyriſche Grenze hinaus; 





Ararat, Thogarma und Minni find aber die Namen, unter welchen Armenien 

Cauf deffen nördlicher Seite Kur) im alten Teftament befannt ift, Ber Jef. 22, \ 
6, wird Kir neben Elam genannt, beider Bewohner als Bogenfhügen gerübmt;z | 
es liegt daher näher, mit Bochart (Phal. 1. c.) an die Stadt Kovorva (Ptolem. | 
v1. 2.) am Fluſſe Mardus im ſüdlichen Medien, deren Bewohner auch als treff- 
liche Schüsen galten (Ritters Erdk. Aften, VI. I. ©. 615), oder mit Vitringa | 
(zu Jeſ. 22, 6.) an die medifche Stadt Kaolvn (Ptolem. 1. 0.), jetzt Kerand | 
Ritter, Afien, VL 2, ©, 391) zu denfen, wie denn auch der Chaldder 2 Kon, 


lv, 
h 








Kirche, chriſtliche. 97 


16, 9. Sp durch &e77 gibt; dagegen möchte Amos 9, T., wornach bie von Sem 
abftammenden (Gen. 10, 22.) Aramäer aus Kir nach Syrien eingewandert waren, 
mehr auf einen im nördlichen Mefopotamien oder in Chaldäa liegenden Diftriet 
hinführen. Bol. Keil, Commentar über die Bücher der Könige, S. 478 ff. — 
2) Ein fefter Ort im Lande der Moabiter (any "7, Jeſ. 15, 1.), wahrſchein- 
Th iventifh mit Kir-Harefeth und Kir-Hares (Jeſ. 16, 7. 11. Jerem. 48, 31. 
2 Kön, 3, 25.). Der Chaldäer überfegt Jeſ. 15, 1. 28527 8372, d. i. Burg 
Moabs, 2 Macs. 12, 17. heit es Xapaza. Unter legterem Namen nennen e$ 
Ptolemäus CIV. 17.) und Andere (vgl. Reland, Paläft. S. 463, 705.) bis auf 
die Zeit der Kreuzzüge herab ; die Kreuzfahrer fanden den Namen noch vor und 


‚gaben ihn der von ihnen erbauten Feftung Keraf; aus unficherer Runde der alter 
Geographie geihah es aber, daß, wie im Weften die Tage von Berfaba irrthüm— 
dh zu Beit Jibrin, fo in Kerak die alte berühmte Hauptſtadt des peträiſchen 


Arabiens, Petra (im Bezirk des jegigen Wady Muſa) gefunden wurde; Kerak 
führte daher den Namen Petra deserti (Will. Tyr. XI. 26. XV. 21. Jac. de Vitr. 
€. 96.); dadurch wurde die Beſtimmung von Keraf bis auf die neuefte Zeit eine 
fehr verwirrte; Robinfon hat das Verdienft, diefe Frage genügend entwirrt zu 
baben; vgl. Paläftina, II, 119 ff. Im Jahr 1167 wurde das lateiniſche Bis— 
tum von Petra errichtet, beftand aber nur furze Zeit; in der griechiſchen Kirche 


. bat fi der Titel davon erhalten. [Rönig.] 


Kirche, Hriftlide. Das Wort Kirche wird gewöhnlih von dem griechifchen 
„Kuvoıarn“, nämlih oizie — Haus des Herrn abgeleitet, biblifh aber ift das 
Wort &rxinole, welches in bürgerlihen Verhältniffen die Verfammlung der Ge— 
meinde, auch den Ort, wo fie fi verfammelt, endlich die Gemeinde felbft be- 
zeichnet, fie mag verfammelt fein oder nicht; von der bürgerlihen Gemeinde wird 
das Wort von den Schriftftellern des neuen Teftaments auf eine Gemeinde 
höherer Drbnung übergetragen, nämlich jene Gemeinde, welche Gott durch feinen 

oh Jeſum Chriſtum auf der Erde aber für den Himmel ftiften wollte, zur Er— 
kenntniß und Berberrlihung feines heiligen Namens, zum Heile und zur Heiligung 
der Menſchen und dadurch zur innigften Bereinigung der ganzen Menfchheit mit 
Gott in einem ewigen und feligen Leben. Dieſe irdiſch-himmliſche Gemeinde 
wird defhalb genannt die Gemeinde — Kirche Gottes, Apg. 20, 28. 1 Eor. 11, 
16. 22. Gal. 1, 13. 1 Tim. 3, 5. 15. und von ihrem unmittelbaren Stifter und 
Dberhaupte die Kirche Chriſti, Matt. 16, 18. Eph. 1, 22. 5,25. 27. 32. Bon 
diefer Kirche Haben wir demnach die Thatfache ihrer Stiftung durch Chriſtum, die 
von ihm gewählten Drgane zur weitern Ausführung feines Werfes nebft den 
ihnen ertbeilten Aufträgen, die hieraus refultirenden Eigenfhaften und Merkmale 
der Kirche, die Thätigfeiten der menfchlichen Stellvertreter Ehrifti nebft dem Bei- 
flande des göttlichen Stellvertreters des Paraklets in Kürze darzuftellen; den 
Schlaf wird ein Blick auf die kirchlichen Gegenfäge machen. — Die Abſicht 
Eprifti, eine Kirche in jenem höhern Sinne zu fliften, fteht in der evangelifchen 
Geſchichte nicht als ein einzelner oder zufälliger Gedanfe da, fie zieht fich viel- 
mehr durch feine ganze Erſcheinung hindurch, wird im verfhiedenen Ausſprüchen 
und Handlungen laut, und erfheint in diefer Weife als der Eentralgedanfe feiner 

iſchen Wirffamfeit. Schon der erfte Ruf, der aus feinem Munde an die Men- 
ſchen ergeht, iſt eine Ankündigung jener irdiſch-himmliſchen Gemeinde: thut Buße, 
denn das Himmelreich nahet heran, Matth. 4, 17. Marc. 1, 15.; als er im wei— 


tern Fortgange feiner Wirffamfeit für das Himmelreich ſich Apoſiel als feine Ge- 


fandten an die Menfchen und als Werkzeuge zur Vollftrefung feiner Abfichten 
wählte, bezeichnete er ihnen ihren Beruf mit den Worten: ich will eu zu Men- 
ſchenfiſchern machen, Matth. 4, 19. Marc. 4, 17., und erflärte ihnen diefe Worte 
durch das Gleihnig von dem Nege, das in's Meer geworfen wird, Matth. 13, 
girchenlexikon. 6. 7 


98 Kirche, chriſtliche. 


47—50. Als er fie gleich bei ihrer Berufung eng an fih anſchloß, fie zu Zeugen 
aller feiner Thaten, zu beftändigen Zuhörern aller feiner Vorträge machte, und 
ihnen die Verhältniffe des neuen Gottesreiches in den mannigfaltigften Parabeln 
erklärte, Matth. 13, 11., gefhah dieß Alles nicht in der Abficht, fie zu tüchtigen 
Werkzeugen für die Ausführung feines Werfes zu bilden? Nachdem er fie fo 
sprbereitet und im Glauben an feine göttliche Würde feftgegründet gefunden hatte, - 
ſprach er feine Abficht, feine Kirche durch fie zu gründen, und fie mit den nöthigen 

Vollmachten dazu auszurüften, zum erften Male ohne Bild mit klaren Worten aus, 
Matth. 16, 18. 19. 18, 15—18. Noch früher Hatte er fie einen vorläufigen 
Berfuh im Lehramte machen laffen, und fie mit den nöthigen Belehrungen und 
Berheifungen dazu verfehen, Matth. 10, 5—23. Mare, 3, 14—19, Luc, 9, 
1—6.; als aber die Zeit heranrüdte, wo die irdiſche Wirkfamfeit Chrifti nach 
dem Nathichluffe des Vaters enden, und die Thätigfeit der Apoſtel an ihre Stelle 
treten follte, da verdoppeln fich feine Belehrungen, Tröftungen und Berheißungen, 
deren Mittelpunct der höhere göttliche Beiftand ift, der fie an feiner Statt be- 
lehren, leiten und mächtig unterftügen werde, Joh. Cap. 14—16. Den Schluß der 
Erklärungen Chrifti und den entfcheidenden Beweis für die Stiftung feiner Kirche 
bilden die legten Aufträge, die er den Apofteln bei feinem Abfchiede von ihnen 
ertheilt, wo er feierlich erffärt: mir ift gegeben alle Macht im Himmel und auf 
Erden, gehet alfo Hin, unterweifet (machet zu Schülern) alfe Völfer, und taufet 
fie im Namen des Vaters, und des Sohnes, und des heiligen Geiftes, und lehret 
fie alles halten, was ich euch befohlen habe, Matth. 28, 18—20.; vergl, Marc, 
18, 15—18, Luc, 24, 47—49, Joh. 20, 21—23, Sollten diefe Beweife noch 
ärgend einer Verftärfung bedürfen, fo Liefert fie das Zeugniß der Apoftel, Sie 
bezeugen nämlich, daß Chriftus fich eine Kirche durch fein Blut erworben, Apg. 
20, 28.5 daß er fie dur das Bad der Wiedergeburt im Worte des Lebens ge- 
reinigt, Eph. 5, 25—27, damit fie fein fol ein auserwähltes Gefchlecht, ein 
königliches Prieftertfum, fein eigenthümliches Volk, 1 Petr, 2, 9, Tit, 2, 14,5 
Diefe Gemeinde zu fammeln, reisten fie umher und ftifteten in den bedeutendern 
Städten Localgemeinden, welche fie gemäß ihrer Aufträge organifirten, und dur 
Diefe Drganifation wie durch den gleichen Geift des Glaubens und der Liebe zu 
einer einzigen Gemeinde vereinigten, Nom, 12, 5—16. 1 Cor, Cap, 12 u. 13; 
Eph. 4, 3—6.5 eine Einheit, welche fie bildlich dadurch ausprürfen, daß fie die 
Kirche das Haus Gottes, 1 Tim, 3, 15. 2 Tim, 2, 20., 1 Petr. 4, 17. Chriftum 
den Grundftein deffelben, Apg. 4, 11.1 Petr. 2, 7. ein andermal aber das Haupt 
der Kirche, fie feldft feinen Leib nennen, 1 Cor. 12, 12. 27, Eph. 4, 15. 16, 
5, 23, — Die Ausführung des großen Planes der Kirche, fie allmahlig 
über die ganze Erde zu verbreiten und alle Völfer in fie aufzunehmen, war nicht 
Das Werk eines Menfchenlebens, fondern vieler Jahrhunderte, Chriftus mußte 
Daher außer jenem göttlichen Stellvertreter, den er als Paraflet verhieß, auch 
für ‚eine Vertretung durch Menfchen forgen, welche fein Werf in fichtbarer 
Weiſe fortführten, wie er es in fichtbarer Weiſe begonnen hatte, Diefe 
menſchlichen Stellvertreter zu beftellen und mit den nöthigen Vollmachten aus— 
zurüften, war allein feine Sache, den der Bater zu eben biefem Werfe in 
Die Welt gefandt Hatte; wie er gewählt und wen er zu feinen Gtellver- | 
tretern und Werkzeugen beftellt habe, haben wir bereits gefehen, die Apoftel | 
waren e8, die er gleich am Anfange feines Lehramts auswählte, die er während 
feines Lehramts für ihren Fünftigen Beruf befonders bildete, die er am Schluffe 
feines Amtes mit denfelben Aufträgen und derfelden Vollmacht in die Welt‘. 
ſandte, womit er felbft gefandt war, Joh. 20, 21. Matth. 28, 18—20, Durh 
dieſe pofitiven Anordnungen Chriſti ift jede eigenmächtige Einmifhung in die 
Stelfvertretung Chrifti abgefihnitten, und muß, wo fie verfucht würde, als un- 
berechtigte Anmaßung zurückgewieſen werden, Die Apoftel in ihrer Zwolfzahl 








ee ——— — 


Kirche, Hriftlide, 99 


ftellten aber eine Corporation dar, und jede Corporation muß vrganifirt fein, 
namentlich bedarf fie eines Mittelpunctes für ihre Einheit und einer Spige für 
die Oberauffiht und Leitung; auch für diefe Drganifation hat Chriſtus geſorgt. 
Denn obwohl er alle Apoftel zu feinen Stellvertretern und Werkzeugen ausgewählt 
hatte, fo erfcheint doch Einer derfelben von Ehrifto felbft in einer Weife aus« 
gezeichnet, und nimmt unter den übrigen eine folde Stellung ein, daß er dadurch 
als das Haupt des apoftolifhen Körpers und der Repräfentant ihrer Einheit be- 
zeichnet wird, Petrus ift es, dem er gleich bei feiner Berufung den urfprüng- 
lichen Namen, Simon, Jona's Sohn, in diefen bedeutfamen Feld, Felfenmann 
umwandelt, Matth. 4, 18. Marc. 3, 16. Luc. 6, 11. Joh. 1, 42., um damit 
feinen fünftigen fpeciellen Beruf, Matth. 16, 18., voraus anzudeuten; er ift es, 
an welchen der Herr das Wort richtet, wenn auch der Inhalt allen Apofteln gilt, 
Matth, 17, 24. 26, 40. Luc. 22, 31. Joh. 18, 11., wie au er im Namen ver 
Andern das Wort führt, Matth. 16, 16. 17, 4.23 ff. 19, 27. Zur. 8, 45. 12, 41. 
Joh. 6, 69. 13, 36.5 er iſt es, den auch die Apoftel und Evangeliften in ihren 
namentlichen Berzeichniffen ftets ald den Erften aufführen, Matth. 10, 2. Marc, 
3, 16 ff. Luc. 6, 13 ff. Fragt man nun, worin diefe Auszeichnungen des Petrus 
vor den übrigen Apofteln ihren Grund Haben mögen, fo läßt fih, da andere ob— 
-jeetive Berhältniffe feine Anwendung finden, ein anderer objeetiver Grund nicht 
angeben als die befondere Beftimmung und. das befondere Amt, womit Chriftus 
ihn in feiner Kirche betrauen wollte; denn obwohl alle Apoftel den Beruf hatten 
das Evangelium allen VBölfern zu predigen, fo wird doch er allein zum Felfengrund 
gemacht, auf welchem der Herr feine Kirche erbauen will, Matth. 16, 18.5; ob- 
wohl alle Apoftel die Gewalt zu binden und zu löfen erhalten, ebend, 18, 18., 
fo werden doch ihm allein die Schlüffel des Himmelreichs gegeben, ebend. 16, 19.5 
obwohl alle Apoſtel Theil Hatten an der Leitung der Gemeinden, fo wurde doch 
ihm allein die oberfle Hirtenforge über alle Gemeinden und alle Hirten der Ge- 
meinden übertragen, Joh. 21, 15 ff., und Chriftus felbft betet für ihn, daß fein 
Glaube nicht ſchwach werde, und er feine Brüder ftärfen möge, Luc, 22, 31. — 
In diefer Berfaffung, wie fie Chriſtus vorgezeichnet, finden wir nach feinem Hin- 
gange zu dem Vater die apoftolifche oder Urkirche wirklich; an den apoftolifchen 
Körper ſchloß fih die erfte anfangs Fleine Chriftengemeinde zu Jerufalem an, 
Ayg. 1, 13. 14.5 als fie am Pfingffefte des heil. Geiftes voll wurden, fingen 
fie an in allerlei Sprachen zu reden, wie es ihnen der heilige Geift eingab, ebend, 
2, 4.5 die Apoftel aber leiteten die Gemeinde, zu ihren Füßen [Egten die Gläubigen 
den Erlös aus ihren verfauften Gütern, ebend. 4, 34. 35.5 vor fie brachten fie 
‚entftandene Klagen, ebend. 6, 1. 2., auch entjtandene Streitfragen, 15, 1. 2. 
u. ſ. w. Aber Petrus nimmt in der apoftolifchen Thätigkeit diejenige Stellung 
ein, wie Chriftus fie ihm bezeichnet hatte, er erfcheint und handelt überall als 
Mittelpunet des apoftolifchen Körpers; er fchlägt die Wahl eines andern Apoftelg 
an des VBerräthers Stelle vor, und bezeichnet die Eigenfchaften des zu Wählen- 
den, Ang. 1, 15 ff.5 er hält am Pfingfifefte den erften öffentlihen Vortrag über 
Ehriftus und Chriſtenthum, ebend. 2, 14 ff.; er that das erfte apoſtoliſche Wun- 
der, 3, 2 ff.; er vertrat die Apoftel vor Gericht, 4, S—12.5 er beftrafte ven an 
der Gemeinde begangenen Betrug, 8, 18 ff.; er war es, der die in der erſten 
Ehriftenverfolgung Zerfireuten befuchte, und die Gemeinden ftärfte, 9, 32 ff.; er 
wurde berufen, die erfie Miffion auch unter den Heiden auszuführen, und ihre 
Berufung zu vertheidigen, Cap. 10. 11.5 in der Berfammlung der Appftel und 
Aelteften, in welcher eben diefe Frage entfchieden werden follte, hatte er die Ini— 
tiative, 15, 7 ff.5 endlich ift auch dieß Fein unwichtiged Moment, daß Paulus, 
obgleich unmittelbar vom Herrn berufen, es doch für gut fand, den Petrus und 
ihn allein zu befuchen, und fünfzehn Tage bei ihm zu bleiben, Gall. 1, 18. 
Dieß ift die Organifation des apoftolifchen Körpers, welchem Chriftus den Weiter- 
7 * 


———— 





100 Kirche, hriftlide, 


bau feiner Kirche übertrug. Er hatte aber außer diefem zur Vermehrung der 
Lehrkräfte noch zweinndfiebenzig Jünger beflimmt, deren Feiner mit Namen 
genannt ift, Luc, 10, 1.2 ff., und die Apoftel felbft Hatten in den von ihnen 
geftifteten Ehriftengemeinden Aeltefte eingefegt, ohne Zweifel zu ihrer eigenen 
Unterftügung und zur nächften Aufficht über die Gemeinden, Apg. 14, 22, 15, 4, 
20, 28. 1 Tim, 5, 17, Tit, 1, 5. Außer den Aelteften kommen in den Briefen 
noch befondere Gehilfen namentlich vor, welche die Apoftel ſich befonders zur 
Unterftügung in ihrem Miffionsgefchäfte gewählt hatten, Apg. 16, 1 ff. 18,5. 
Col. 4, 7 ff. 2 Tim, 4, 9—12,, endlich hatten fie auf den Wunfch der Gemeinde 
zu Jerufalem für einen beftimmten Zwed Helfer wählen laffen, Apg. 6, 1 ff. 
welche fih aber außerdem auch für den Dienft des Evangeliums nüslih und 
thätig erwiefen, ebend. V. 8 ff. 8, 26 ff. Alle diefe ergänzenden Organe er- 
fiheinen ſowohl durch die Art ihres Urfprungs wie durch -ihre Leiftungen in ber 
apoftolifchen oder Urfirhe dem Apoftolat untergeoronet, doch müſſen fie den 
ordentlichen Gliedern im Körper der Stellvertreter Chrifti beigezählt werden, — 
Da Chriſtus feine Kirche für alle Zeiten geftiftet und ihr eine unvergängliche 
Dauer verheißen hat, fo muß auch der für ihre Ausbreitung und Verwaltung 
angeordnete Organismus fortdauern, d. h. das Amt der Apoftel muß im Fluffe 
der Zeiten auf andere Perfonen übergehen, und an die Stelle des Petrus mußten 
in gleichem Nachfolger treten, die feinen befondern Beruf erfüllten, und das Eine 
wie das Andere mußte in der urfprünglich geordneten Weife geſchehen, d. h. die 
Nachfolger der Apoftel und des Petrus Fonnten nur vermöge der von Chriſto 
ausgehenden göttlichen Sendung in ihr Amt eintreten, Damit betreten wir ven 
Boden der nachappftolifchen Kirche, welche von den Apofteln genrbnet wurde, wie 
die apoftolifhe von Ehrifto: fie hatten nämlich für die größern Localgemeinden 
nicht nur Aeltefte-und Helfer beftellt, fondern auch einzelnen aus diefen die Ober- 
aufficht übertragen, wie daraus erhellt, daß uns in ihren Schriften einigemal das 
Wort Errloxorsog begegnet in einer nicht fcharf bezeichneten Beziehung zu dem 
Worte rrgsoßvregos, fowie es aus jenen Stellen nicht zu beftimmen ift, ob die Apoſtel 
jene Auffeher aus der Zahl der Aelteften, oder ihrer eigenen Gehilfen, vergl. 1 Tim, 
1, 3ff., Cap. 5 durhaus, 2 Tim, Cap. 4. Tit, 1,5 ff., oder aus Füngern über- 
haupt genommen haben, Jedenfalls fteht feft, daß diefe Erzioxoreoı, wovon dag 
Wort Biſchof(ſ.d. A), ebenfo von den Apofteln beftellt worden feien wie die roso— 
gruregor (Priefter) und Diacone; daß aber ihnen fehr viel daran lag, dieſes 
wichtige Amt gut zu befegen, erfehen wir nicht nur aus den genauen Vorfchriften, 
welche fie ihren Gehilfen dießfalls ertheilen, 1 Tim, 3, 1—7. Tit. 1,789, 
fondern auch aus der apoſtoliſchen Tradition bei dem römifchen Clemens, wornach 
die Apoftel ihrer Sendung gemäß nicht nur erprobte Männer zu Biſchöfen und 
Diaconen der Gläubigen felbft eingefegt, 1 Br. Cap. 42., fondern auch voraus⸗ 
wiffend, daß über die Bewerbung um das bifchöflihe Amt Streit entftehen würde, 
eine Verordnung darüber gegeben haben, wie nad dem Abfterben der von ihnen 
Eingefesten andere bewährte Männer ihre Amtsnachfolger werben follten, näm— 
Yich durch die Wahl der andern vorzüglichften Männer (der Bifhöfe) unter Zu— 
flimmung der ganzen Gemeinde, ebend, Cap, 44, Sowohl nad diefem traditio- 
nellen Zeugniß als nach den obigen Anordnungen der Apoftel find alfo die Bifchöfe 
die erftien und nächſten Amtsnachfolger der Apoftel, an welche ſich die übrigen 
Priefter und die Diacone in untergeorbneter Stellung anſchließen. In diefer 
Berfaffung und in dem Glauben an die göttliche Anorbnung derfelben finden wir 
die hriftliche Kirche auch in den Schriften der übrigen apoftolifchen und appftel- 
nächften Männer, wie des Hl, Ignatius von Antiochia, des hl. Polycarpus von 
Smyrna, des Hl, Juſtinus Martyr u. A., deren Zeugniffe anzuführen ver Raum 
nicht erlaubt, — Wie das Amt der Apoftel in der hriftlichen Kirche fortdauern 
muß, und wirklich fortdauert im Episeopat, fo muß auch das befondere Amt 





Kirche, chriſtliche. 101 


des hl. Petrus oder fein Primat fortdauern in feinen Amtsnachfolgern, und dieß 
find die Männer, welchen er bei feinem Scheiden aus dem Zeitlichen fein Amt über- 
tragen oder hinterlaffen hat (f. Pap ſt); nun hat er aber fein Leben in Rom befchloffen, 
nachdem er in der legtern Zeit feines Wirkens die römische Kirche geleitet Hatte, 
So fnüpfte ſich gefchichtlich das Primatialamt an die Perfon der römifchen Bifchöfe, 


wie es durch die Anordnung Chrifti an Petrus und feine Nachfolger geknüpft 


wurde; für Solche, d. h. für Nachfolger des heiligen Petrus hat auch das ganze 
chriſtliche Altertum die römifchen Biſchöfe anerfannt, und darum auch, und nicht 
wegen der politifhen Stellung der Stadt Rom, der römifchen Kirche den Vor— 
rang vor allen andern Kirchen zugefprochen; in der Anerfennung diefes Vorrangs 
haben fih von den erften Jahrhunderten an auswärtige Bifhöfe um Urtheil und 
Recht an den römifchen gewendet, felbft Häretifer haben für ihre Irrlehren die 
Zuftimmung der römifhen Kirche zu gewinnen, wiewohl vergebens, gefucht, ja 
fogar den heidnifchen Kaifern und Gelehrten war der Primat des römifhen Bi— 
ſchofs als eine gefchichtlihe Thatfache befannt; was aber die Beweisfraft diefer 
Thatfachen vollendet, ift das eigene Bewußtfein der römifchen Bilhöfe der von 


Petrus auf fie übergegangenen Pflihten und Rechte, in welhem Bewußtfein fie 


durch alle Jahrhunderte der Kirche, je nach den Erforderniffen der Sachen und 
den Berhältniffen der Zeiten gehandelt haben. Die hiftorifchen Beweife für diefe 
Thatfahen find in meiner Apologetif Bd. 3, S. 233—273 ausgeführt. Wie 
daher die Fatholifche Kirche im Bewußtfein ihrer beftändigen Ueberlieferung feier- 
lich ausgeſprochen hat, daß die priefterlihe Gewalt des neuen Teftaments nicht 
allen Ehriften eigen, fondern von Chrifto eine kirchliche Hierarchie (ſ. d. A.) eingerichtet 
fei, zu welder die Bifhöfe als Nachfolger der Apoftel vorzüglich gehören, - und 


- über den Vrieftern ſtehen, Conc. Trid. Sess. 23. cap. 4., fo hat fie auch an einem 


andern Orte die Beftimmung ausgeſprochen: der heilige apoftolifhe Stuhl und 
der römifche Papft befist den Primat über die ganze Erde, er ift Nachfolger des 
Apoftelfürften Petrus und der wahre Statthalter Chriſti; das Haupt der ganzen 
Kirhe, der Bater und Lehrer aller Chriften, dem in dem hl. Petrus die Vollge- 
walt zu weiden, zu regieren und zu leiten von unferem Herrn Jeſu Chriſto 
übertragen worden ift. Conc. Flor. Sess. X. (decr. union.). — An diefe Nach— 
folger der Apoftel find eben darum auch die Aufträge übergegangen, welde die 
Apoftel feldft unmittelbar von dem Herrn empfangen hatten, zu lehren, zu taufen, 
zu binden und zu löfen, und überhaupt die Gemeinde Chrifti zu leiten; wie die 
Apoftel beforgen auch ihre Nachfolger diefe Aufträge als ihr eigentliches Amt 
unter Mitwirfung der von den Apofteln angenommenen Gehilfen. Es gibt daher 
in der Kirche ein dreifahes Minifterium (Amt und Dienſt); erftens das 
Lehramt oder der Dienft des Wortes Gottes, welches von den Mitgliedern des 
Lehrförpers in ihrer Ordnung und Unterordnung in der Weife ausgeübt wird, 
daß alle daran Theil nehmen, die oberfte Lehrauctorität aber wie die Entfcheidung 
von Lehrftreitigfeiten den unmittelbaren Nachfolgern der Apoftel, den Biſchöfen 
und dem Papfte zufteht. Ebenfo ein Priefteramt, oder der Dienft der Sacra- 
mente al$ derjenigen heiligen Handlungen, an welche als das Wefen und den 
Kern des Hriftlihen Eultus der Erlöfer die Vermittlung der Heilsmittel und die 


Zuwendung feiner Gnaden auf eine eigenthümlihe Weife gefnüpft hat; dieſes 


Priefteramt wird von denfelben Organen und in ähnlicher Unterordnung wie dag 
Lehramt verwaltet, einzelne Verrichtungen des Priefterdienftes Hat die Kirche 
vermöge der ihr verliehenen Gewalt zu den obigen hinzugefügt. Endlich das 
Amt der Kirchenleitung und kirchlichen Regierung, wodurd das äußere Leben der 
Kirchenglieder fo geordnet und geleitet wird, daß die ganze Kirche fich als die 
Gemeinde Gottes als ein Gottesftaat darftellen möge; zu dieſem Zwecke hat 
Ehriftus feldft den von ihm beftellten Trägern des Lehr- und Priefteramts eine 
geſetzgebende Gewalt nebft den zu diefer gehörigen Attributionen verliehen, Matth. 


102 Kirche, chriſtliche. 


16, 19. 18, 18; Apg. 15, 22—29, 1 Cor. Cap. 71: 12; Eph. 5, 22—33, 
ebend. 6, 1—A u. f. w., welche ebenfalls auf ihre Nachfolger überging. — Aus 
der Darftellung der Stiftung der Kirche dur Chriftum, ihres Zwedes und des 


zu feiner Erreichung in ihr geordneten Organismus ergibt fih der vollftändige 


Begriffder Kirche: fie ift nämlich die durch Ehriftum geftiftete, durch Die Kraft 
des heiligen Geiftes unter Mitwirfung der dazu berufenen menſchlichen Drgane 
bewirkte Lebensgemeinfchaft der erlösten Menfchen unter fi und mit Chrifto 
und Gott. In ihrer Totalität umfaßt fie alle diejenigen, die durch den Glauben 
und die Taufe in diefe Gemeinfchaft hienieden eingetreten find, und nach ihrem 
Ausfcheiden aus dem irdifchen Dafein würdig erfunden wurden, auch jenfeits 
darin zu bleiben; unter den letztern nehmen die erfte Stelle ein die vollendeten 
Heiligen, welche die himmliſche Herrlichfeit bereitS gewonnen haben; fie heißen 
darum die triumphirende Kirche; nicht minder aber. diejenigen Gerechten, 
welche jenfeit$ den Neft ihrer Sündenftrafen zu tilgen haben, um der vollen Ge- 
meinfchaft mit Gott theilhaftig zu werden, — die leidende Kirche; diejenigen 
Glieder der Kirche, welche noch Hier auf Erden unter mancherlei Kämpfen nad 
der Gewinnung des ewigen Lebens ringen, bilden die ftreitende Kirche, Alle 
drei Sphären umfchlingt aber ein gemeinfchaftliches Band, nämlich eben jene 
geiftige Lebensgemeinfchaft, und eine hieraus fließende gegenfeitige Wechfelwirfung 
nach der Eigenthümlichfeit einer jeden Sphäre, welches Band die Gemeinfchaft 
der Heiligen genannt wird (f. Heilige). Faßt man die Sphäre der flreitenden 
Kirche für ſich und beſonders, fo ift fie diejenige, in welcher die hriftliche Lebens- 
gemeinschaft beginnt, und für die Fortfegung im Jenſeits begründet wird; darum 
gilt das von der Stiftung und DOrganifation der chriftlichen Kirche Gefagte zu— 
nächſt und eigentlich von ihr, fie ift die fihtbare Gemeinfchaft ver Gläubigen, 
welche unter der Leitung der von Chrifto beftellten Hierarchie fich zu feiner Reli- 
gion befennen, und mit der Gnade des hl. Geiftes ihr Heil zu wirken fuchen, 
Im Verhältniß zu diefer fihtbaren Gemeinfchaft Fünnen die beiden andern 
Sphären die unfihtbare Kirche, richtiger die unfichtbare Seite der Kirche ge— 
nannt werden, und auch dieß nicht im firengen Sinne, da die Heiligen in der 
Erinnerung und Verehrung, Die Leidenden in den Fürbitten der irdifchen Brüder fort- 
leben (f. Fürbitte), in jedem andern Sinne ift die Annahme einer unfichtbaren Kirche 
unftatthaft, Die Kirche Chriſti auf Erden ift fichtbar in ihren Gliedern, welde 
Menſchen find, fichtbar in der öffentlichen Verfammlung diefer Glieder, fihtbar 
in ihren Neligionshandlungen, wodurd nach der Anordnung Chriſti ihnen die 


Gnade des Glaubens und der Gerechtigfeit vermittelt und vermehrt wird, ſicht⸗ 


bar in dem Organismus ihrer Hierarchie, welche die ſämmtlichen Religionshand- 
Yungen und die ganze Kirche Yeitet, Die Unterfheidung einer unfichtbaren Kirche 
neben der fihtbaren hat zu allen Zeiten ihren Grund in dem Abfall oder der 
Trennung einzelner Perfonen oder Parteien gehabt, welche nach dem BVerlufte 
des äußeren Firhlichen Bandes ſich noch am inneren Bande Halten wollten, ohne 
zu bedenfen, daß fie felbft wie alle Chriften nur durch die Vermittelung des 
äußeren Kirchenbandes zur inneren Lebensgemeinfchaft mit Chrifto und den Gläu— 
digen gelangten, ja ohne fie nicht einmal zu dem Begriffe der Teßteren hätten 
gelangen fünnen, Allerdings kann, wie in andern menschlichen Verhältniffen, fo 
auch im kirchlichen, das innere geiftige Band ſich Iodern oder Iöfen, während- 
dem die äußere Verbindung fortbefteht, aber dieſe felbft ift und bleibt eine That- 
ſache, ja das einzige Mittel, dem geiftig Todten wieder zum Leben zu verhelfen; 
darum zählt die Kirche auch Solche zu ihren Gliedern, aber Niemanden, der ihr 
nicht wenigftens äußerlich angehört, — Durd ihre Sichtbarkeit ift die Kirche 
Chriſti auch äußerlich erfennbar, fo daß fie von den Heilsbevürftigen aufgefucht 
werben kann; da aber ſchon vor ihr eine propädeutifche Anftalt (die Synagoge) 
berging, und aus ihr Firchliche Vereine fich ablöfen Fonnten und auch abgelöst 





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Kirche, chriſtliche. 103 


haben, fo bedarf die Kirche Chriſti befonderer Charaktere oder Eigenfhaften 
und Merfmale, wodurch fie fih eben als die wahre Kirche zu erfennen gibt, 
Eigenſchaften, welche zugleich ausfprechen, was fie gemäß ihrer Stiftung ift, und 
in ihrem Fortfchritte immer mehr werden fol; diefe Eigenfhaften find ihr vom 
Chriſto verliehen, und von ihr felbft im ihrem Symbolum ausgeſprochen. Die 
erfte ift ihre Einheit und Einigfeit;z die Kirche ift Eine, d. h. zunächſt die 
einzige, fo daß man nicht von mehrern chriſtlichen Kirchen ſprechen kann, ohne 
Eprifto feldft zu widerfprechen, denn er redet nur von Einer Kirche, die er grün- 
den wolle, Matth. 16, 18,, und bildlich von Einer Herde, deren Hirte er ift, 
Joh. 10, 16.5 ebenfo heben die Apoftel, obwohl fie den örtlichen Gemeinden der 
Chriften ven Namen &xxAnola beilegen, überall die Einzigfeit der großen Ge- 
meinde Gottes hervor, (f. oben). Diefe Einzigfeit, obgleich zunächſt nur ein 
numerifches Verhältniß ausdrüdend, erhält aber ihren reellen Werth und ihren 
auszeichnenden Charakter durch diejenigen Beftimmungen, dur welde fie äußer- 
lich zur göttlich gefegten und innerlich zur menfhlih gewirften Einheit wird, 
Aeußerlich oder objectiv ift die Kirche Eine durch den Einen Herren Jefum Chriftum, 
der ihr Stifter und unfichtbares Oberhaupt ift, Eph. 1, 22, 23.5 dur das Eine 
Evangelium und die Eine Taufe, wodurch alle Völker ihr Heil finden follen, 
Matth. 28, 18. 19., Marc. 16, 15. 16., Eph. 4, 5.5 dur den Einen heiligen 
Geift, der auf die mannigfaltigfte Weife in den Gläubigen wirft, 1 Cor. 12, 
4—11.; endlich ift die Kirche auch Eine durch ihren Organismus, in welchem alle 
Hirten mit ihrem Oberhaupt verbunden find, Auf diefer objectiven Grundlage 
ruht und durch fie wird befördert die innere oder fubjective Einheit aller Glieder 
der Kirche, Innerlich und fubjeetiv ift die Kirche eine und einig durch den glei- 
hen Glauben, die gleiche Taufe, die gleiche Gemeinfchaft des Leibes und Blutes 
Chriſti, die gleiche Liebe und die gleiche Hoffnung aller ihrer Glieder ald Brüder 
Eprifti und Kinder Gottes, Eph. 4, 3—7. 1 Eor, 10, 16, 17.5 diefe innere Ein- 
beit ift-der Kirche fo wefentlih, daß ihr Mangel in einzelnen Individuen immer 
nur Regereien und Spaltungen erzeugen und den Wohlftand der Kirche gefährden 
fonnte. Deßwegen gaben ſich die Apoftel fo viele Mühe, diefe Einheit unter den 
verfchiedenen Elementen der werdenden Kirche zu erhalten, 1 Cor. 1,10 ff. Gal. 
1, 6 ff. Röm, €. 7—11. Col, 2, 8 ff., und übten unnahfichtlihe Strenge gegen 
die Neulehrer und Neulehren, Br. an Tim. u, Tit. 1 Joh. 2, 18 ff. — Wenn 
die Einheit zum Entfiehen und Fortbeftehen der Kirche wefentlih gehört, fo be— 
zeichnet ein anderes Kennzeichen, das der Heiligfeit, den ihr gefegten ethifchen 
Beruf und ihre höchſte Beftimmung. Die ihrer Sünden losgewordene Menfchheit 
foll feiner tabula rasa gleichen, fondern wie der heilige Geift, der durd feine 
Wirffamfeit die Erlöfung in den Gläubigen vollzieht, ebendamit auch das Princip 
eines neuen Lebens, die heiligmachende Gnade ihnen einpflanzt, fo erhält die Ge- 
fammtheit der Gläubigen gleich in ihrem Werden den Beruf zur Heiligung, und 
fol ihren Beruf und ihre Erwählung durch gute Werfe zu befeftigen befliffen fein, 
2 Petr, 1, 10. Die Kirche Chriſti ift alfo nach Beruf und Beftimmung eine Ge- 
meinde von Heiligen; mit diefem ehrwürdigen Titel begrüßen die Apoftel die Lo— 
ealgemeinden, an welche fie ſchreiben, und nicht anders fprechen fie von der Ge- 
fammtheit aller Gemeinden, wenn fie ſchreiben: Chriftus hat die Kirche geliebt 
und fih felbft für fie Hingegeben, auf daß er fie heiligte, fie reinigend durch das 
Wafferbad im Worte des Lebens, u. ff., Eph. 5, 25—27.; nicht anders, went 
fie die Neubefehrten, einen wie alfe, ermahnen, die Untugenden und Sünden 
ihrer frühern Verhältniffe abzulegen und einen neuen Menfhen anzuziehen, ähn— 
lich dem Gottgeſchaffenen in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit, Rom, 6, 
19, Eph. 4, 22—28. 1 Theff. 4, 3. 7.; wenn fie einfach und geradezu Heiligkeit 
als die Beftimmung des Chriſten erflären, Eph. 1,4. Phil. 4, 8. Eol. 1, 21.22, 
1 Petr, 1, 2,, in Gemäßheit der Worte des Herren: feid alfo vollkommen, wie 


104 Kirche, chriſtliche. 


euer himmliſcher Vater vollkommen iſt, Matth. 5, 48., vgl. Joh. 17,17—20, — 
Wenn die Heiligkeit die innere Beſtimmung der Kirche, ſo bezeichnet ihr drittes 
Merkmal — die Katholicität — ihre äußere Beſtimmung, die allgemeine, alle 
Menſchen und Völker umfaſſende Religionsgemeinſchaft zu werden, und durch alle 
Zeiten bis an das Ende der Welt zu dauern; zu dieſem Univerſalismus trägt ſie 
die Befähigung einmal in ſich ſelbſt, in ihrer Lehre, ihrer Verfaſſung und ihren 
Gebräuchen als von Gott geoffenbart; darauf iſt ſie aber auch noch ausdrücklich 
von Chriſto angewieſen, der ſchon in feinen Lehrvorträgen vielfältig in den Bil- 
Hern und Öleichniffen vom Himmelreiche auf diefe Allgemeinheit hingewiefen, am 
Schluſſe feiner irdifhen Laufbahn aber den Apofteln den klaren und beftimmten 
Auftrag ertheilt hat, Hinzugehen in die ganze Welt, allen Völfern das Evangelium 
zu predigen, und fie zur Haltung feiner Gebote zu verpflichten, Matth. 28, 19. 
Marc. 16, 16. Luc, 24, 47. 48., mit der eben fo beftimmten Verficherung, daß 
dag Ende nicht fommen werde, bi8 das Evangelium vom Reiche in der ganzen 
Welt, allen Völkern zum Zeugniffe verfündigt fein werde, Matth. 24, 14, Die- 
fen Aufträgen gemäß gingen die Apoftel in die damals befannte Welt aus, überall 
chriſtliche Gemeinden ftiftend, und fie durch das gleiche Band des Glaubens und 
der Liebe vereinigend; eine Reihe ihnen gleicher Männer trat in ihre Fußftapfen, 
Die Kirche erweiterte mehr und mehr ihre Grenzen, fie erfannte fich felbft als die 
Tatholifche, und ſprach es in ihren älteften Befenntniffen aus. Diefes ihr Be— 
wußtfein fonnte durch den Abfall einzelner Männer und Secten um fo weniger 
eine Störung erleiden, als fie felbft dadurdh unaufgehalten in ihrer Verbreitung 
fortfchritt, dDiefe aber nach einer verhältnißmäßig furzen Dauer in fich ſelbſt er- 
Lofhen, Und fo muß fie im Hinblick auf ihren urfprünglichen Beruf und ihre Ge— 
ſchichte es für ihre Pflicht erfennen, ihren Charakter der Allgemeinheit zu be— 
wahren, und in ihrem Kreiſe allem entgegenzutreten, was im Widerfpruche mit 
Dem Wefentlichen diefer Allgemeinheit ſich als zeitlicher oder örtlicher Particula- 
zismus geltend zu machen fucht. — Die chriftliche Kirche nennt ſich endlich auch 
Die apoftslifche, nicht bloß darum, weil fie gefchichtlich durch die Apoftel in die 
Welt eingeführt wurde, fondern auch weil fie in demfelben Wefen und in der— 
felben wefentlichen Form fortbefteht, worin fie nah den Beſtimmungen Chrifti 
von den Apofteln gefegt ifl. Es dauert daher der Beruf und dag dreifache Amt 
der Apoftel felbft in ihr fort in der ununterbrochenen Reihe ihrer Nachfolger; es 
wird Durch diefe die hriftlich-apoftolifche Lehre in Schrift und Tradition rein er— 
Halten und lebendig verfündet, ebenfo werden die Heilsanftalten durch die fie ver- 
mittelnden heiligen Handlungen erhalten und den heilsbegierigen Gläubigen zu— 
gänglih gemacht; endlich dauert die mit dem Apoftolat von Chriſto gefegte 
Berfaffung feiner Kirche in den Nachfolgern der Apoftel und den übrigen ur- 
fprünglichen Elementen, alfo in ihrem Wefen unveränderlich fort, Durch dieſe 
Sichfelbfigleichheit ſtellt fich alfo die Kirche nicht nur ald eine von Chrifto ge- 
gründete, fondern auch als eine von Gott felbft gegen die Wandelbarfeit des Ir— 
Difchen geficherte Inftitution dar. — Und als die göttlich gegründete, ja als bie 
einzige Inſtitution, außer und außerhalb welder fein Heil zu finden ift. 
Der Gründer des Heils für die Menfchheit ift Chriſtus, er wollte, daß Alle es 
in der von ihm geftifteten Gemeinde Gottes, in feiner Kirche fuchen und finden 
ſollten, darum ließ er das Evangelium vom Reiche Gottes in der ganzen Welt 
verkünden und alle Völker zum Anfchluffe an die fichtbare Erfcheinung deffelben, 
feine Kirche, einladen; darum zeichnete er auch feine Kirche mit beftimmten Eigen- 
Schaften und Merfmalen aus, damit jeder Heilsbegierige fie daran erfennen und 
fich ihr einverleiben Fünnte, Sp gewiß alfo nur Ein Chriftus ald Gründer, und 
aur Eine Kirche ald Spenderin des Heils ift, fo wahr ift e8 auch, daß das Heil 
ausschließlich nur bei ihr zu fuchen und zu finden, fie allein die ſeligmachende ift. 
Die Erkenntniß diefer Wahrheit hat der Kirche felbft zu allen Zeiten als ihr 


— — —— 





TR — — — 





R— 
* 


Kirche chriſtliche. 105 


innerſtes Bewußtfein beigewohnt, und fie hat es eben fo unummwunden ausge- 


fprochen, wenn fie in ihren Befenntnißfchriften das Heil entweder vom Fatholifchen 
Glauben oder von der Verbindung mit ihr abhängig machte; Conc. Carthag. IV. 
can, 1.; Symb. Athanas. ab init.; Lateran. IV. cap. 1.; Prof. Fid. Trid. Wem diefe 
Lehre hart erfcheint (wie fie denn diefen Vorwurf immer und immer erfahren hat), 
der möge Folgendes bevenfen: Gott felbft hat durch Chriſtum diefe Einrichtung 
getroffen, daß der Menfch fein Heil bei der Kirche ſuchen, das heißt, dem nur 
von ihr verfündeten göttlihen Worte glauben, durch die nur von ihr gefpendeten 
Heilsmittel die Gnade Gottes und Vergebung der Sünden empfangen, und in 


dieſer fegensreihen Verbindung mit ihr aus der fichtbaren Gemeinfchaft in die 


unfihtbare der Seligen übergehen foll; würde die göttliche Inftitution der Kirche 


nicht zwecflos und überflüffig erfcheinen, wenn es außer ihr noch andere, dem 


Gutdünfen der Menfchen überlaffene Wege zu demfelben Ziele gäbe? Ferner ift wohl 
zu merken, daß jener Lehrfag nicht fo gemeint ift, als reichte die bloße äußere 
Berbindung mit der Kirche, gleichfam die Eintragung in ihr Album hin, um des 
Heiles gewiß zu fein, vielmehr ſchreibt die Kirche felbft der bloß äußerlichen Ber- 
bindung das Heil fo wenig zu, daß fie allen ihren Mitgliedern das Wort des 
Herren Matth. 7, 21., wie das Wort des Apoftels 2 Petr. 1, 10. unaufhörlich 
einfhärft, um dur einen thätigen Glauben und ein fündelofes Leben lebendige 
Glieder ihres geiftigen Leibes zu werden und fo in das Himmelreih einzugehen; 
dennoch ift und bleibt die äußere Verbindung die Bedingung und das Mittel, zur 
innern Lebensgemeinfchaft mit der Kirche zu gelangen. Hinſichtlich derjenigen, die 
fih außer der Kirche befinden, unterfcheidet diefe felbft eine zweifache Stellung: 
entweder waren fie in der Lage, daß fie Glieder der Kirche werden fonnten, aber 
es nicht werden wollten, oder, was noch mehr ift, fie waren bereits in der Kirche, 
find aber durch Häreſis und Schisma aus ihr wieder ausgetreten; diefe Stellung 
ift eine Firchenfeindliche; von ihr gilt das Wort des HI. Cyprians: der kann Gott 
nicht zum Bater haben, wer die Kirche nicht zur Mutter haben will, de unit. 
eccles.; gegen biefe Stellung ift der Ausſpruch der Kirche eigentlich gerichtet, 
Dver e8 ift einzelnen Menfchen nah ihren befondern Verhältniſſen nicht möglich, 
fih der ſichtbaren Kirche anzufchließen, ihre Stellung außerhalb ift eine unver- 
fhuldete; in Anfehung diefer bleibt zwar die Kirche bei ihrem Sage, daß die 
Berbindung mit ihr der ordentliche Heilsweg ift, aber ein weiteres Urtheil über 
ſolche erlaubt fie fih nicht, indem fie die Möglichkeit begreift, daß Gott, welcher 
reich ift an Erbarmungen und Mitteln, fie auf außerordentlihe Weife zu Mit- 
gliedern der unfihtbaren Kirche machen Fünne. — Unfere bisherige Darftellung 
hat gezeigt, wie Chriftus feine Kirche geftiftet und eingerichtet habe; es übrigt 
noch die Frage nach ihrem Fortbeftand. Als die göttlich inftituirte Heilsanftalt 
für die Menſchen aller Völker und Zeiten muß fie fortvauern bis an das Ende 
der Welt, und diefe Unvergänglichfeit ift ihr auch von ihrem Stifter ver- 
heißen, wenn er gleich bei ihrer Gründung verfichert, daß die Pforten der Hölle 
fie nicht überwältigen werden, Matt. 16, 18., wenn er fpäter, dieß deutlicher 
erflärend, ausruft: Jetzt ergeht das Gericht über diefe Welt, nun wird der Fürft 
biefer Welt Hinausgeftoßen; ich aber, wenn ich erhöhet werde von der Erde, 
werde Alle zu mir ziehen, Joh. 12, 31. 32.5 wenn er endlih am Schluffe feiner 
Laufbahn die Apoftel verfichert: Diefes Evangelium vom Reihe wird in der gan- 
zen Welt, allen Völkern zum Zeugniffe verfündigt werden; dann erſt wird dag 
Ende fommen, Matth. 24, 14. Diefe Verheißung fonnte aber nicht in Erfüllung 
gehen, ohne einen befondern und fortwährenden göttlichen Beiftand, der die Kirche 
nicht nur gegen ihre äußeren Feinde fügte, fondern fie auch in der Erfüllung 
ihres eigenen inneren Berufes fo unterftüste, daß fie die Lehre Chriſti unver- 
fälſcht verfünden und die ihr Angehörigen ohne Verirrung zum Heile führen 
konnte; diefe Ausftattung der Kirche heißt ihre Unfehlbarfeit, deren Ausein- 


106 Kirche, chriſtliche. 


anderfeßung des Zufammenhangs wegen wohl am füglichften ihren Platz bier fin- 
den dürfte, Jenen Beiftand hat Ehriftus den Apoſteln ausprücflich verheißen, als 
er fie bei ihrer Ausfendung in die Welt verficherte, daß er bei ihnen fein werde 
alle Tage bis an das Ende der Welt, Matth.r 28, 20.5 wie das gefhehen follte, 
hatte er ihnen ſchon vorher erffärt, als er ihnen wiederholt ftatt feiner einen an= 
dern Lehrer und Beiftand (Paraklet) zu fenden verfprach, den heiligen Geift, den 
Geift der Wahrheit, der fie alle (die volle und ganze) Wahrheit lehren und an 
alles erinnern follte, was er ihnen immer gefagt hatte, Joh. 14, 17. 26.5 jenen 
Geift, der die Welt überweifen, den Unterricht der Apoftel vollenden, den Sohn 
felbft verherrlichen werde; ebendaf. 18, 8—15., vgl. Matth. 10, 19. 20. Nach 
dem inhalt diefer Stellen ift der Beiftand des heiligen Geiftes den Apoſteln ver- 
beißen ausdrüclich zur Ausrichtung ihres Berufes und zum Zwecke der Unverirr- 
barfeit in demfelben; aber der Beruf der Apoſtel, die Verkündung des Evan- 
geliums und die Spendung der übrigen Heilsmittel dauerte auch nach dem Heim— 
gange der Apoftel fort, und ging nach der von ihnen getroffenen Einrichtung (ſ. 
oben) an ihre Amtsnachfolger über. Diefe bedurften aber jenes Beiftandes, des 
heiligen Geiftes, wegen des gleichen Berufes wie die Apoſtel, ja man könnte 
fagen, noch mehr als die Apoftel, da fie nicht mehr wie diefe von Chrifto felbft 
unterrichtet und vorgebildet waren; jedenfalls fteht feft, daß die ihnen gemachten 
Berheißungen, wenn fie ihre volle und bleibende Wirkung haben follten, auch 
ihren Amtsnachfolgern für alle Zeiten gelten müffen, Nun bilden nach göttlicher 
Anordnung die Apoftel mit ihren Rachfolgern den Lehr- und Negierungsförper 
der Kirche (Cecclesia docens nach dem angenommenen Ausdruf), ihren Lehrent- 
fheidungen muß daher Unfehlbarfeit zufommen, und fie müffen son den Gläu- 
bigen dafür anerfannt werden, folglich als Richtſchnur ihres Glaubens gelten; 
dieß fließt al8 unmittelbare Confequenz aus den Verheißungen Ehrifti, in ihrer 
Verwirklichung gedacht, Zwar findet ſich der Lehrfag der Unfehlbarfeit in ihren 
formellen dogmatifihen Ausfprüchen nicht, aber fie hat in ihrer ganzen Stellung 
zur Gefammtheit der Gläubigen ftetS darnach gehandelt; fie hat ihren Glauben 
für den alleinfeligmachenden, und jeden ihr widerftreitenden für Irrthum erklärt, 
fie hat für ihre doctrinelle Entſcheidungen nicht bloß äußern Gehorfam, fondern 
auch innere Zuftimmung verlangt, und die fih Weigernden von ihrer Gemein- 
ſchaft ausgefchloffen; fie hat das Net und Vermögen, den Sinn der heiligen 
Schriften nach der Wahrheit zu beftimmen, für fih in Anſpruch genommen; fie 
bat von jeher behauptet, daß fie von dem heiligen ©eifte geleitet und fortwährend 
in die Wahrheit eingeführt und erhalten werde, und darum als von Gott beftellte 
Lehrmeifterin von Allen anerfannt werden müffe, Trid. Sess. IV. decr. de can. 
script., Sess. VI. cap. 16; ib. can. 29; Sess. XIII. prooem.; find dieß nicht that- 
fächliche Beweife des conftanten. Bewußtfeing ihrer Unfehlbarfeit? Zur nähern 
Beſtimmung diefes Lehrfages find noch zwei Fragen zu beantworten, nämlich: 
wer als Träger der Unfehlbarfeit — subjectum infallibilitatis — zu betrachten 
fei, oder genauer ausgedrückt, wie der verheißene Beiftand im Verhältniß zu den 
einzelnen Perfonen des Firchlichen Lehrförpers und ihrer Unfehlbarfeit zu denken 
fei? Und zweitens, auf welche Firchliche Gegenftände fie fi ausdehne? In 
Beziehung auf den erften Punct iſt vor Allem zu bemerken, daß, mit Ausnahme 
des Berufes der Apoftel, die unmittelbaren Organe der göttlichen Offenbarung 
und ihrer urfprünglichen Meberlieferung zu fein, von welchem Berufe perfönliche 
Inſpiration nicht getrennt werden kann, der Beiftand des heiligen Geiftes felbft 
nach dem Wortlaute der angeführten Stellen nicht dem einzelnen Kirchenvorſteher 
für fih, fondern der Gefammtheit verheißen ift, woraus folgt, daß diefe nie irren 
Tann, hingegen von Seite des Einzelnen ein Irrthum wohl möglich bleibt, wie 
die Kirchengefchichte zeigt, Fragt man nun nad der vollgültigen Nepräfentation 
jener irrthumsloſen Gefammtheit, fo findet man fie am voffommenften in einer 








Kirche, chriſtliche. 107 


allgemeinen Berfammlung aller Kirchenvorſteher (ſ. Synode), in welcher die beiden 
Factoren der Hierarchie, die Bifchöfe und der Papft, einftimmig lehren und verord- 
nen; aus diefem Grunde ift den Lehrbeftimmungen allgemeiner Eoneilien ſtets dog⸗ 
matiſche Auctorität und ihren Geſetzen allgemein verbindende Kraft beigelegt wor= 
den, Aber allgemeine Coneilien find, wie die Gefhichte ſowohl der älteren als 
der im 15ten und 16ten Jahrhundert gezeigt hat, fehr ſchwer zufammenzubringen, 
und zwar um fo mehr bei der gegenwärtigen Ausdehnung der Kirche über alle 
fünf Welttheile, aber fie find auch nicht die einzige Form der Nepräfentation 
des hierarchiſchen Körpers der Kirche, da das Beifammenfein an einem Orte 
wohl die Berathungen und Befhlußfaffung erleichtert, aber zur Uebereinftim- 
mung in den Anfihten und Urtheilen der einzelnen Kirchenvorfteher nichts bei— 
trägt, und auch die in der chriſtlichen Welt zerfireuten bierarchifchen Organe 
Cecclesia dispersa) fich über dogmatifche und andere Fragen verftändigen können. 
Dieß kann auf zweifache Weife gefchehen, indem die Anregung biezu entweder 
von dem Papfte als dem Dberhaupte der zerftreuten wie der verfammelten Kirche 
ausgeht, dem dann die Bifchöfe ftillfchweigend oder in eigenen Antwortfchreiben 
zuflimmen, oder eine Anzahl von Bifhöfen (in Provincial- und Nationaleoneilien) 
legt die von ihnen gefaßten Entfcheidungen und Befhlüffe über allgemeine An— 
gelegenheiten dem Papfte zur Beftätigung vor, Beide Arten folcher allgemeiner 
Tirchlicher Entſcheidungen Haben gefchichtlih flattgefunden, die leßtere in den 
frübern Jahrhunderten, als der eigentlichen Zeit der Concilien, die erftere vor— 
züglich in der fpätern Zeitz ſo wurde die dogmatifche Enticheidung über die pe— 
lagianifchen Lehren zuerft durch die Provincialfynode zu Divspolis und noch aus- 
führlicher durch das große africanifhe Nativnalconeilium im 3. 418 ausgefprochen, 
und ihr Urtheil von Papft Zofimus in feiner epistola tractoria beftätigt; ebenfo 
wurden auf dem zweiten Concilium von Drange die pelagianifchen, femipelagia- 
ſchen und präbeftinatianifchen Irrthümer secundum authoritatem et admonitionem 
sedis Apostolicae verworfen; dagegen haben die Päpfte nach dem Coneilium von 
Trient, mit welchem die Reihe allgemeiner Kirchenverfammlungen fich gefchloffen 
bat, über fpätere Verirrungen, wie des Mich. Bajus, Janſenius und der Duie- 
tiften, ihr Urtheil in eigenen Conftitutionen ausgefprochen, welchem die ganze 
Kirche beigetreten ift. Ueber die Gültigkeit und das infallible Anfehen der Aus- 
fprüche der zerftreuten Kirche in beiderlei Formen ift man alfo einverftanden, nicht 
fo in Betreff der Frage, in wiefern die Unfehlbarfeit den einzelnen, die kirchliche 
Entſcheidung bedingenden Factoren für fich zufomme? Die Frage fann eine von 
vornherein verfehlte genannt werden, indem fie wie die Kirche fo auch den heiligen 
Geift gleichfam fpalten will, da doch jene nur Eine und diefer nur Einer ift, folg- 
lich die Verheißung der Unfehlbarfeit nur der ungetheilten und einigen Kirche 
| gelten fann, die Spaltung aber feine Verheißung für fich aufweifen kann; wie 
daher allgemein angenommen ift, daß die Gefammtheit des Episcopats nur in 
Berbindung mit feinem Oberhaupte, oder ein allgemeines Concilium nur unter 
Zuftimmung des Papftes auf Unfehibarkeit Anſpruch machen fonne, fo fordert es 
die Confequenz, daß auch den Entfheidungen des Vapftes nur unter Borausfegung 
der Zuftimmung des Episcopats infalibles Anfehen zufomme, Die Anführung 
der Gründe, womit diefe Anficht wie die gegentheilige vertheidigt worden ift, ge- 
hört wohl nicht in diefen gedrängten Auffag; zur Vermittelung beider mag jedoch 
die Bemerkung erlaubt fein, daß der die Kirche leitende heilige Geift nach feinem 
Wohlgefallen bald diefen, bald jenen Factor feiner Organe zuerft erleuchten, 
und den andern ihm nachziehen kann, wofür die oben angeführten Thatſachen als 
Belege dienen dürften. Die Beantwortung der zweiten Frage, auf welde Fird- 
liche Gegenftände die Unfehlbarkeit ſich erſtrecke, ergibt fich aus dem Zwecke, wozu 
fie der Kirche verliehen if. Die Kirche ift die von Chriſto geftiftete göttliche 
Lehr- und Heilsanftalt, ihr Beruf ift alfo, in dieſer zweifachen Beziehung zum 








108 Kirche, chriſtliche. 


Beften der Menfchen zu wirken, dazu ift ihr der Beiftand des göttlichen Geiftes 
verheißen, dieſer wird ſich daher auf die verfchiedenen Kreife der Firchlichen Thä— 
tigfeit erſtrecken, durch welche die geoffenbarte Lehre rein erhalten und verfündet, 
und die übrigen Heilsmittel den Gläubigen ebenfo rein gefpendet werden. Diefer 
unbeftreitbare Sag in feinen fpeciellen Inhalt zerlegt, gibt folgende, eben fo unbe- 
ftreitbare Refultate. Die Kirche ift unfehlbar in der Bewahrung und Ueberlieferung 
der hriftlichen Glaubenslehre nach ihrer zweifachen Seite, als Dogmen im engeren 
Sinn und als Sittenlehren in practifcher Beziehung (f. Dogma); fie ift e8 eben 
darum auch in der Beflimmung und Erklärung des gefchriebenen und ungefchrie- 
benen Wortes, welches fie urfprünglich aus dem Munde der Apoftel in ihr Bewußtfein 
aufgenommen und unter göttlihem Beiftande bewahrt hat (f. Exegeſe); vermöge 
diefes Bewußtfeins iſt fie Schon gewiffermafßen die natürliche Richterin in Glau— 
bensfachen, wenn dur die Schwäche vder den böfen Willen einzelner Individuen 
über einzelne Glaubenslehren Zweifel und Streitigfeiten erhoben werden, um fo 
gewiffer darf die Kirche in folchen Fällen, wo die Reinheit der Lehre in Frage 


geſtellt ift, auf die untrügliche Erleuchtung des göttlichen Geiftes rechnen, wie fie 


e8 in allen Perioden ihrer Gefchichte wirklich gethan hat, indem fie durch Auf- 
ftellung ihrer fombolifchen Befenntniffe und die den gegebenen Fällen entfprechen- 
den genaueren Beftlimmungen den Irrthum von ſich ausgefchieden hat. Gegen 
diefe Unfehlbarkeit der Kirche in Beurtheilung von Glaubensftreitigfeiten und der 
fih darauf beziehenden Schriften von Privaten gilt die Einwendung nicht, daß hier 
zweierlei Fragen unterlaufen, nämlich neben der dogmatiſchen auch eine Hiftorifche, 
insbefondere über die perfönliche Abficht und den Sinn des Verfaffers (quaestio 
juris et quaestio facti), über welche als etwas rein Thatfähliches der Kirche fein 
Urtheil zuftehe; diefe Einwendung gilt darum nicht, weil es erftens unbeftreitbare 
dogmatifhe Thatfachen gibt, wohin ein großer Theil der neuteftamentlichen Dog- 
men, namentlich die in dem apoftolifchen und nicänifhen Symbolum ausgedrüd- 
ten, gehören; ferner, weil die Kirche von jeher über den Sinn nicht nur der bib— 
liſchen Schriftfteller, fondern auch der Kirchenväter geurtheilt hat, wie fih aus 
vielen Beifpielen zeigen Tiefe; endlich folgt diefe befondere Beziehung der Un— 
fehlbarfeit aus ihrem allgemeinen Zwede; wäre nämlich das Urtheil der Kirche 
über die fchriftlih oder mündlich vorgetragenen Lehren einzelner Perfonen fein 


fiheres und .gewiffes, fo wäre diefen das Mittel an die Hand gegeben, den Lehr- 


begriff der Kirche in’S Unendliche zu verwirren und dadurch allmählig aufzulöfen, 
wie man an der Gefchichte der gnoftifchen, arianifchen, pelagianifchen u. ſ. w. big 
herab auf die janfeniftifhen Wirren fehen kann (ſ. Janſenius); übrigens hat die 
Kirche ihr Urtheil nur über die Lehrmeinungen, nicht über ven Charakter der Jrrlehrer 
auszufprechen., Endlich ift die Kirche, wie bereits gefagt, unfehlbar in der Be— 
wahrung und Ausfpendung der übrigen Heilsanftalten, denn da diefe als unmittelbare 
göttliche Inſtitutionen den Charakter chriftlicher Dogmen haben, fo gilt alles bis— 
ber Geſagte auch von ihnen. Hinfichtlich weiterer Auseinanderfegungen muß ich 
auf meine Apologetik, TIL. Bd, 6. Abfchn, verweiſen. — Diefer Artikel kann fich 
nicht abfchließen, ohne noch einen Blick auf die verfchiedenen Gegenſätze inner- 
halb des Hiftorifhen Umfangs der riftlichen Kirche zu werfen, Denn ob— 
wohl Chriſtus nur Eine Kirche ftiften wollte, welche innerlich einig in fich felbft 
und auch äußerlich durch ein gemeinfames gefellfchaftliches Band zufammengehal- 
ten fein follte, fo hat es doch die göttliche Vorfehung zugelaffen, daß die eigene 
Borherfagung Chrifti, Matth. 24, 11. Marc, 13, 22., wie der Apoftel, Apg. 
20, 29. 30, 2 Petr, 2, 1. in Erfüllung ging, und menfchliche Willfür, in der 
Abficht, das Haupt einer neuen Secte zu werden, die Verbindung mit der Urkirche 
löste, oder diefe felbft genöthigt war, ſolche Menfchen wegen Verbreitung falſcher 
Lehren von ihrer Gemeinschaft auszufchließen. Sp bildeten ſich frübzeitig außer- 
halb der Kirche verfchiedene Vereine, welche die chriftlichen Ideen und kirchlichen 





\ 


Kirche, chriſtliche. 109 


Inſtitutionen in eigenmächtiger Weife auffaßten, der herrſchenden heibnifchen 
Staatereligion gegenüber auch Chriften genannt wurden, zur Unterfheidung von 
der Urfirche aber fich eigene Namen entweder von dem Eigenthümlichen ihres 
Syftemes, oder von ihren Häuptern, oder von geographiſchen Beziehungen bei= 
legten, wogegen die Urfirche fi nun ausſchließlich die Fatholifche oder allgemeine 
nannte, und auch von ihren Gegnern fo genannt wurde, Eine vergleichende Auf- 
zaͤhlung derfelben ift nicht diefes Orts, da fie als größtentheild untergegangen 
fein practifches Moment darbieten, und über das Geſchichtliche in befondern Ar— 
tikeln referirt wird, Practifches Intereffe, und zwar nicht bloß für die Wiffen- 
Schaft, fondern auch noch in andern Beziehungen hat nur noch der Gegenfag zwi- 
ſchen der katholiſchen und proteftantifhen Kirche, der hier erwähnt wer— 
den muß, nicht in Hiftorifcher Beziehung, auch nicht in fymbolifch vergleichender, 
da eine folhe Vergleihung einen eigenen Artifel fordert; fondern als kirchlicher 
Gegenſatz, der feit feiner Entftehung vielfah auf die Fatholifhe Kirche zurüd- 
gewirkt hat und noch zurüdwirft, Der Begriff diefes Gegenfages, fofern von 
einer proteftantifhen Kirche die Rede fein fol, ift fchwer zu beflimmen, fo 
fehr find feit der Reformation die Anfichten und Meinungen, die fich alle prote- 
ftantifh nennen, auseinander gegangen, und fo fehr hat ſich die Zahl der diefe 
Sondermeinungen vertretenden Vereine vermehrt; es ift daher nothwendig, zur 
Feftftellung des Begriffs gewiffe Grundfäge anzunehmen, und darunter dürfte 
wohl der erfte fein, daß zunächſt nur der fymbolifche Proteftantismus in Betracht 
fommen und für die Begriffsbeftimmung maßgebend fein könne, denn ohne ein 
Symbolum, ohne beftimmte religiöfe Begriffe und eine beftimmte Weife, diefen 
Begriffen einen beftimmten Ausdruck und eine beftimmte practifche Geltung zu 
verleihen, läßt fich eine Kirche fo wenig denfen, als irgend ein Berein ohne be= 
flimmten Zwed und beftimmte Statuten; als zweiter Grundfag wird gelten müſ— 
fen, daß ohne Rüdfiht auf das Symbolum doch nur die größeren proteftantifchen 
Geſellſchaften unter ven Begriff von Kirche fallen fünnen, da die Fleineren Ver— 
eine diefer Art theils an fich meiftens unbedeutend, theils von den größeren aus— 
gegangen find. Aber auch nach diefer Befchränfung bleiben noch fo viele Diffe- 
renzen zwilchen den größern proteftantifchen Gefellfchaften übrig, daß man fie nur 
unter den Begriff verfhiedener Landes- und Nativnalfirchen bringen kann, welche 
nur die Oppofition gegen die Fatbolifche, alfo nur ein Negatives miteinander ge— 
mein haben, ine zweite Frage, welche hier erhoben werden kann, ift die, in— 
wiefern ſowohl die proteftantifchen als die übrigen altern Gefellfehaften eine Stelfe 
unter der Rubrik „Hriftliche Kirche” finden fünnen? Gewiß nicht in fofern, als 
ob jede diefer Gefellfihaften für fi die von Chriſto geftiftete Kirche darftellte, 
welche Borftellung ſowohl durch die Gefchichte als durch ihre inneren Widerſprüche 
aufgehoben wird; auch nicht aus dem Gefihtspunet, daß etwa alle zufammen 
- Ceollectim) die hriftlihe Kirche darftellten, fo daß jede als ein Verſuch, die rechte 
‚ Form der Kirche zu finden, und in der Reihe der übrigen als integrirender Theil 
der Gefammterfcheinung der Kirche zu betrachten wäre; denn diefer Anſchauung 
widerſprechen nicht nur alle Thatfachen der evangelifchen Gefchichte der Urfirche, 
' Denen zufolge Chriftus durd die ihr gegebenen Formen ihrer Einrichtung fie der 
menſchlichen Willtür und menfhlihen Bildungsverfuchen entreißen wollte, fondern 
‚es würde aus jener Anfchauung auch folgen, daß die Kirche Chrifti in einem 
ewigen Werben begriffen fei, ohne je wahrhaft, d. h. vollftändig zu fein, was 
‚eine Ungereimtheit iſt. Es bleibt alfo für die Auffaffung der verfchiedenen kirch— 
lichen Secten nur das Eine Teitende Princip, daß fie allerdings Verſuche find, 
die chriſtliche Kirche zu eonftruiren, aber eigenmächtige, von der durch Chriſtum 
' gemachten Grundlage mehr oder minder abweichende, darum irrthümliche und 
falſche Verfuhe, die am hriftlichen Namen noch in foweit participiren, als fie 
Chriſtum als göttlichen Gefandten und Erlöfer und als Stifter der Kirche an- 


} 





119 Kirche, als Gebäude, 


erfennen, Die Anwendung dieſes Principe auf die einzelnen Specialitäten Yiegt 
außer den Grenzen diefes Artifels. [9. Drey.] 


Kirche, ald Gebäude. Das Wort Kirche Cüber die Ableitung ſ. Kirche, 


Hriftliche) wird nicht nur der Berfammlung der Chriftgläubigen zum Gottesdienſte, 
fondern auch dem Gebäude und Drte felbft beigelegt, wo diefe zufammen fommen, 
Und daß es in diefer Beziehung ſchon Firdliche Gebäude vom Anfange unferer 
heiligen Religion her gab, ſteht außer allem Zweifel. Zwar waren diefelben feine 
kirchlichen Gebäude im eigentlichen und firengen Sinne des Wortes, fondern 
Säle, Berfammlungsdrter, Die zur Erreichung des Firhlichen Endzweckes in den 
Häufern eingerichtet wurden, Dafür bürgen die heilige Schrift, die Zeugniffe 
der Kirchenväter aus den erften Jahrhunderten, und auch die Profan-Schriftfteller. 
Unter den Stellen der heiligen Schrift verweifen wir nur auf die wichtigften, und 
diefe find: Apg. 1, 13. 14. 2, 1. 19, 9. 1:Cor. 11, 225 und 1 Cor, 14, 34, 35, 
Hieraus geht deutlich hervor, daß die heiligen Drte, wo ſich die Chriften nach 
der Himmelfahrt ihres Herrn, namentlich aber nad) der Ausgießung des heiligen 
Geiſtes verfammelten, Kirchen genannt wurden; man mag dag hier mehrmal vor- 
fommende Wort ecclesia als bezeichnend für die Berfammlung feldft, oder für 
den Play und Drt erflären. Wir machen hier nur noch auf die Worte des hei- 
ligen Paulus an die Coloſſer 4, 16. aufmerffam: Salutate Nympham et quae in 
ejus domo est ecclesiam. Daffelbe bezeugen die heiligen Martyrer Ignaz und 
Juſtin; der erfte in feinem Briefe an die Magnefier, wo er biefelben ermahnt, 
daß fie an einem Drte, den er veov Fea (Tempel Gottes) nennt, zufammen 
fommen follen; der zweite in feiner Apologie, wo es heißt: An dem Tage, den 
ihr Heiden von der Sonne nennet, vereinigen fich alle Ehriften, die in der Stadt 
oder auf dem Lande wohnen, an einem Drte, wo dann die Schriften der Apoftel 
vorgelefen und erffärt werden. Diefer Drt, wo die heiligften Handlungen ver- 
richtet wurden, fann unmöglich ganz willfürlich oder unbeftimmt gewefen fein, da 
fonft die einen oder andern Chriften nicht gewußt hätten, wo fie fih zu verfam- 
meln haben. Dieß wird auch dur den Brief des jüngeren Plinius an den Kai- 
fer Trajan (C. Plinii epist. lib. 10.) beftätiget, wo er fagt, daß die Chriften vor 
Sonnenaufgang an einem beflimmten Orte fih verfammeln, um Chriftum als 
ihren Gott gemeinfchaftlich zu befingen, Mit Recht fann man daher fagen, daß 
in der hriftlichen Kirche die Kirchen (al Gebäude) fo alt find, als die Kirche 
felöft, Da die Heiden ein zu Ehren ihrer Götzen errichtetes Gebäude Tempel 
nannten, fo vermieden es die Chriften anfänglich forgfältig, ihre religiöfen Ver— 
fammlungsprte fo zu nennen, um auch hierin feine Gemeinfchaft mit ihmen zu 
halten, Indeſſen läßt fih nicht in Abrede ftellen, daß die Judenchriſten im apo— 
ftolifchen Zeitalter noch dfterd den Tempel und die jüdischen Synagogen befuchten, 
allein die Feier des heiligen Abendmahles hielten fie flets in ihrem eigenen Ver— 
fammlungsorte, Als ſolche Drte wurden befonders zur Zeit der Berfolgungen 
Privatwohnungen, Höhlen, Grotten, unterirdifhe Gänge (Katakomben, frd. A.) 
und Cömeterien benügt (Constif. apost. lib. 6.). Selbft Ställe, Scheuern, Kerfer, 
Schiffe und Badſtuben dienten zu gottesdienftlichen VBerfammlungsorten,. Dieſes 
fonnte wohl auch nicht anders gefchehen, da die Höfe unaufhörlich gegen das 
Evangelium wüthete, und eine Verfolgung der andern die Hand bot. Sp fam 
es, daß oft den Chriftgläubigen in den bedrängnißvollſten Tagen der gottesdienft- 
liche Verfammlungsort eine Zeit lang unbefannt blieb (Euseb. hist. ecol. lib. 7. 
0.22.);, Allein faum waren die Zeiten des Drudes und der Verfolgung vorüber, 
als fich in der Chriftenheit herrliche Gotteshäufer und Kirchen erhoben, und von 
nun an Fonnte die heilige Architektur ihr ſchönes, würdiges Amt ungeftört üben, 
Und fo Haben fich nach dem Siege des Chriftentbums über das Heidenthum überall 
hriftliche Kirchen erhoben. Im Allgemeinen waren die alten Kirchen in Form 
eines Schiffes erbaut, Das Presbyterium ftellte den Vordertheil des Schiffes, 





Kirche, als Gebäude 411 


der Haupteingang den Hintertheil deffelben, und die Mitte das Schiff felbft vor. 
Diefe fgmbolifhe Form wird auch, wie fpäter gezeigt werden wird, von den 
apoſtoliſchen Eonftitutionen vorgefchrieben; jedoch wurde diefe Vorſchrift nicht all- 
gemein beobachtet, Die Kirche unferes Heilandes auf Golgatha war rund, die 
zu Antiochia, welche Eonftantin der Große erbauen lief, achteckig, die Kirche der 
heiligen Apoftel zu Eonftantinopel in Form eines Kreuzes, und noch andere bil- 
beten ein Vierer (Euseb. in vita Constant. M. III. 37. Soecrates. V. 22.). Die 
Kirchen in der Schiffsform nannte man dooueza, die zirfelrunden, bei denen die 
Balken in einem Mittelpuncte wie in einem Sterne zufammenliefen zolıydowre, 
die oben in Geftalt eines Schilves gewölbt waren zovÄlore, die Kreuzkirchen 
oTavgoeidn, und die achteckigen oxrugoga. Eine befondere Art von Kirchen bil- 
deten die unter dem Namen „Bafilifen” (f. d. A.) befannten, und ihre Bauart 
blieb auch bei Errichtung neuer Kirchen nicht ohne Einfluß. Bei folden wurde 
bald, um die Richtung nach oben auszudrüden, die Kuppel angebradt, deren die 
reine Bafilifa bis dahin entbehrte. Schon zu den Zeiten Eonftantins fah man im 
Morgenlande Kirchen von runder Geftalt, die oben weit gewölbte Kuppeln hatten, 
welche dem Ganzen einen höchft großartigen Charafter gaben. Dazu gehört die 
unter Juftinian erbaute Sophienfirhe, die Mufter vieler andern geworden iſt. 
Das Nundgewölb ruht auf vier Pfeilern; unter dem Gewölbe war das Heilig- 
thum, an den Seiten der Ausbauten waren die Pläge der Männer und Frauen, 
Um die Hauptfuppel fammelten fih bald Fleinere Nebenfuppeln und Thürmchen, 
und darin befteht nebft dem ſchon Genannten der Charafter der byzantiniihen Bau- 
funft, der auch noch in der erften Hälfte des Mittelalter der herrfchende war, 
wenn er auch nicht überall fich rein erhalten Hat. Diefer byzantinifche Charakter 
oder Styl hat unftreitig viel Herrliche; die weiten Räume mit ihren einfachen 
Linien und Flächen wirfen mächtig auf das Gemüth; der Rundbogen ift in feiner 
Einfachheit edel und großartig, und ahmt das Himmelsgewölbe nach; allein diefe 
Nachahmung ift doch eine unnatürliche, weil die Erhabenheit fehlt, denn die ge— 
wünfchte Höhe des Kreishogens fann nicht erreicht werden, und fo erhält das 
Ganze etwas Niederes, Gedrüdtes, Kellerartiges. Darum verharrte auch die 
chriſtliche Architektur nicht bei diefem Style (f. Geift des Chriſtenthums von Dr. 
Anton Staudenmaier. 2, Thl, S. 930 f.). Außerdem wurden auch viele Kir- 
hen in Form eines Kreuzes gebaut. Es follte dadurh der Sohn des Menſchen 
am Kreuze hängend vergegenwärtigt werden. Die Länge derfelben wurde in zwei 
ungleihe Theile gefondert. Der kleinere derfelben, alfo das Presbyterium, ftellte 
das Haupt, die durch den Durchfchnitt gebildeten beiden Seiten die Arme, und 
der übrige Theil des Schiffes den Leib des Erlöfers vor. Diefe ſymboliſche Deu- 
tung findet fih in den Werfen der gelehrteften Liturgiften. Der teutihe oder 
gothiſche Styl Hat in Ausbildung diefer Form das Höchſte erreiht. Das Aus— 
gezeichnete an demfelben ift der Spigbogen mit der faft ununterbrocdenen Fort- - 
fegung der Berticallinien, worin fi der nah Dben wendende, Aether durd- 
dringende Gedanfe verſinnbildete. Es ift das tiefere Wefen des hriftlichen Geiftes 
felbft, das fich hier vor ung in den hohen coloffalen Räumen, durch die Anord- 
nung der Maffen, dur die beftimmten, beveutungsvollen Formen, fowie durch 
die überall herrſchende Einheit des Gedanfens ausfpricht, als wollte der chrift- 
liche Geift einen Dom erbauen, der ein tieffinniges Symbol des Weltalls if, in 
dem Gott angebetet und verherrlichet wird (f. den Art. Baufunft, hriftliche, 
und vgl. Geift des Chriſtenthums von Dr. U. Staudenmaier, 2. Thl. S. 938 f. 
Stiglig, von altteutfh. Baufunft, Fr. von Schlegel, Grundzüge der gothi- 
fen Baufunft). In Europa gibt es einige Kirchen, deren Bauart die Form 
eines griechiſchen Kreuzes hat, fo daß die Durchſchnittslinie mit dem Schiffe eine 
gleiche Länge bat. Die Beifpiele aber davon find felten, denn gewöhnlich find 
anfere Kirchen in der Form des Iateinifchen Krenzes erbaut, In diefem Style 








112 Kirche, als Sehäude, 


find die meiften Kirchen im 12ten und 13ten Jahrhunderte, die fih dur Groß— 
artigfeit auszeichnen, gehalten. Doch befteht biefür Feine beftimmte Regel, venn 
was darüber die apoftolifchen Eonftitutionen beftimmen, hat niemals Gefegesfraft 
erhalten, In unfern Tagen wird viel von dem riftlichen Geifte gefprochen, der 
bei vem Bau der Kirchen vorberrfchend fein fol, fein Hauptgepräge muß ohne 
Zweifel religiös-Firchliche Aeſthetik (ſ. d. A.) fein. Denn die Kirche ift eine Wohnung, 
ein Haus Gottes nach der Auffaffungsweife der Katholifen, und diefe ift gewiß die 
erhabenfte. Ihre Kirchen find ihnen Wohnungen Gottes, Zwar wiffen fie fehr 
wohl, daß Gott allgegenwärtig ift, und nicht wohnt in Tempeln von Menfchen- 
händen erbaut (Apg. 7, 24.); aber fie halten dabei zugleich an vem Worte Chriſti 
feft: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt (Matth. 28, 20.), 
und glauben, daß Er — der eingeborne Sohn des lebendigen Gottes, wahrhaft, 
wirftich und wefentlich unter den Geftalten des Brodes-, welches von der Feier 
des heiligften Abenpmahles aufbewahrt wird, in den Kirchen gegenwärtig fer, In 
Nom Hat fich die hriftliche Architektur wegen der vielen alterthümlichen Denf- 
mäler an die heidnifche immer noch angefchloffen, Daher findet man in Italien 
an unfern düftern und gothifchen Cathepralfirchen feinen Gefhmakf, Die Süd— 
länder find für corinthifche, dorifche und joniſche Baufunft eingenommen, Daher 
lieben fie den Marmor in ihren Kirchen, das ftarfe Licht, die Wölbung, die maf> 
fiven Eolonnaden, die Säulenhallen und hohen Giebel, Einen entgegengefegten 
Geſchmack in diefer Kunſt Hatten die alten Gallier und die Teutfchen, Der hrift- 
liche Geift diefer Nationen drückte fih aus in Fühnen und fchlanfen Bauten und 
in einem düfteren Lichte, das fpärlich durch die bemalten Fenfter in das Innere 
drang, Hienach laßt fi behaupten, daß die riftliche Kunſt nicht abfolut fei, 
fondern vielfach durch Rocalverhältniffe bedingt werde, Der riftliche Geift fpie- 
gelt fich in dem griechifceh-römifchen Bauftyle eben fo gut ab, wie in dem gothi= 
fihen, und fo muß es auch fein, denn das Chriſtenthum iſt ja eine frohe Botfchaft 
für alle Länder und Völker. — Die heidnifchen Tempel waren meiftens zu Ehren 
ihres Gottes Phobus von Weften nach Oſten gelegen, Als aber das Chriften- 
thum den Götzendienſt verdrängt, und auf feinen Trümmern ein neues Neich be= 
gründet hatte, richtete e8 feine Gotteshäuſer ebenfalls gegen Often, weil von da 
aus die wahre Sonne der Menfchheit aufgegangen war, Die apoftolifhen Con— 
ftitutionen, die wegen ihres hohen Alters nicht ohne Gewicht find, verorbnen, daß 
die Kirchen gegen Oſten gefehrt fein ſollen. Deffenungeachtet hatten aber viele 
Kirchen, wie mehrere Liturgiften beweifen (Card. Bona de divina psalmodia), [don 
feit den erften chriftlichen Zeiten ihren Haupteingang auf der Oftfeite, demnach 
nothwendig das Presbyterium auf der Weftfeite, Auf diefe Werfe find in Rom 
die fogenannten Conftantinifchen Kirchen erbaut, und unter ihnen namentlih St. 
Sohannes im Lateran und St, Peter. Da die fromme Vorzeit das Gebet in der 
Stellung gegen Abend und die übrigen Himmelsgegenden nicht geradezu verwirft, 
und die Erbauung der Kirchen in einer anderen ald der allergewöhnlichften, der 
Kreuzesform, nicht ausprüdlich unterfagt: fo Fünnen Kirchen allerdings auch in 
der Richtung nah Süden, Weften und Norden und in was immer für einer Ge— 
ftalt aufgeführt werden, Wefentlich ift nur, daß dabei die allgemeinen Erforder— 
niffe einer jeden Kirche beachtet werden, und von innen und außen Anftand und 
Würde herrfchen, — Den Kirchen ald Gebäuden wurden im Laufe der Zeit ver- 
ſchiedene Namen beigelegt, ald: Tempel Ca contemplando). Die erften Chriften 
bevienten fich diefer Benennung nicht gern, weil fie ihnen als fynonym mit Gößen- 
tempel galt, Basilica (f. Bafilifen), Titulus. Auch diefe Benennung fommt ſchon 
in der Lebensgefchichte des Papftes Marcellus vor, wo der Biograph beffelben, 
Anaftafius, alfo fehreibt: Viginti quinque titulos in urbe Roma constituit. Binterint 
in feinen Denfwürbigfeiten fagt bievon IV. Bd, 1. Abth.: In den Kirchen (bei 
welchen ein eigener Priefter angeftellt war) erhielten die Katechumenen auf ihre 




















Kirche, als Gebäude, 113 


- Stirn das Kreuzzeichen und die heilige Taufe, welches von den Alten Titulatio, 
 Titulus genannt wurde. Rom hatte bis in's fünfte Jahrhundert 25, feitvem 28 
Haupt ⸗ oder Pfarrkirchen Ctitulos), bei weldhen die heiligen Sarramente ausge— 
ſpendet werben; jede derfelben hat mehrere Geiftlihe, aber nur einer, der zu die= 
ſer Kirche vrdinirte und bleibend bei derfelben angeftellte, wird intitulatus, incar- 
dinatus genannt. Iloooevxengıov (oratorium, Bethaus) aus Nachahmung deſſen, 
daß Jeſus den Tempel zu Jeruſalem ein Bethaus nannte, Lucas 19, 46,, und 
weil in der Kirche vorzugsweife die Chriftgläubigen dem Gebete obliegen. Wenn 
die Sanetuarien über den Gräbern der Glaubensbefenner errichtet waren, fo 
hießen fie apostolea — martyria — memoriae; fanden fie über den Gräbern der 
Propheten, fo wurden fie auch prophetea geheißen. Defgleihen wurden auch die 
Kirchen mit den Worten synodi, conventicula, concilia, conventus bezeichnet, Auch 
Dom pflegte man fie zu nennen (von den Alten oft Dom, Thum, Thumb ge— 
fhrieben) , welcher Ausdruck entweder durch Berfürzung des Wortes domus (Dei) 
oder des Wortes Dominica (aedes), „der durh Zufammenziehung der Anfangs- 
buchftaben der drei Wörter Deo, Optimo, Maximo entftanden iſt, oder von domus, 
womit man nach Chrodegangs (ſ. d. A.) Regulirung der Geiftlichfeit feiner Ca- 
thedralfirche die gemeinfchaftlihe Wohnung der Canonici bezeichnet hat, daher 
Dom, Domkirche das Gotteshaus, wo die Domherren ihre canonifchen Tagzeiten 
verrichten. Am wahrfcheinlichften von dem griehifhen doua (deuw) Gebäude, 
Dft wird auch das Wort Münfter gebraucht Ceigentlih Mönfter), welche Bezeich- 
nung von dem Jateinifchen Worte monasterium entftand, — Mit Rüdficht auf die 
Beftimmung und den Patron haben die Kirchen auch noch verfchiedene Namen, 
In erflerer Hinficht unterfheidet man Haupt- und Nebenfirchen. Die Haupt» 
Firchen heißen Metropolitan-, Cathedral-, Colfegiat- und Pfarrfirchen, je nachdem 
fie Hauptfirchen einer Provinz, eines Bistums, eines Collegiums von Canoni— 
fern, oder einer Pfarre find. Die Nebenfirchen werden gewöhnlich Filialkirchen 
genannt, indem ihnen gegenüber die Hauptfirche als Mutterfirche (ecclesia matrix) 
erſcheint. — In Betreff der Perfonen, für welche fie zum Gottesdienfte beſtimmt 
find, unterfcheidet man Hof-, Schloß-, Burgfirchen (ecclesiae castellanae), Gar- 
nifong-, Spitals-, Univerfitäts-, Seminarien- und Gymnaſialkirchen. In Anfehung 
des Ortes Stadtkirchen (ecolesiae civicae), Land- und Dorffirchen (ecclesiae ru- 
rales seu villanae), Begräbnißfirchen (ecclesiae coemelteriales) ehedem (areae 
sepulturarum) und endlich Wallfahrtsfirchen. — Unter die vorzüglicheren Theile 
eines Kirchengebäudes zählt man gewöhnlich folgende: Schiff, Chor, Concha, 
Thurm, Presbyterium, Pläte der Männer und Frauen, Leitner (Lectionarium), 
und den Communionort (Communicabant). Das Schiff der Kirche (vaos, 
navis, templi arca, Rirchenleib, Halle, altteutfch Langhaus) ift der für das gläu— 
bige Volk in dem Gotteshauſe beflimmte Raum, welcher fih von dem Hauptein- 
gange bis zum Presbyterium erſtreckt. Dieſe Benennung ftammt von der uralten 
Sitte her, die Kirche mit einem Schiffe zu vergleichen. Nach den apoftolifchen 
Conftitutionen ſollen die Kirchen Tänglich in Form eines Schiffes erbaut und gegen 
Aufgang gerichtet fein (Constit. apost. I. 57.), Burius gibt von dem Worte 
navis ecclesiae folgende erbauliche Erflärung: Navis templi media pars vocatur, 
ad ostendenda pericula, ventos et tempestates, quae Christianos circumstant, con- 
‚ fra quae ut muniamur, tenenda est unio in nave Petri. Onom. p. 338. Die meiften 
Kirchen ftellen, wenn man fih in Bezug auf das Gewölbe, das Presbyterium 
‚ und die Nebengänge umgekehrt denkt, ein wirkliches Schiff vor. Nebft dem Haupt- 
ſchiffe haben viele Kirchen auch noch Neben- und Seitenfchiffe (Seitenhallen, Sei— 
tenlauben, Seitengänge genannt), die für das Volk beftimmt waren, fo daß der 
Hauptgang ihm nicht ganz, fondern nur theilweife angehörte, Das Schiff Liegt 
gewöhnlich tiefer als die übrigen Theile des Firchlichen Gebäudes, und jegt find 
) gewöhnlich Sige (Kirchenſtühle) und Betſchemeln in demfelben angebracht, auge 
®  Rirhenleriton. 6. Bd. 8 





114 Kirche, als Gebäude, 


genommen bie italienifhen Kirchen. Der Boden des Schiffes wurde ſchon in der 
Vorzeit mit Matten aus Binfen geflochten oder mit Brettern belegt, Späterhin 
wurde derfelbe mit Steinen gepflaftert, und es verfloß Feine geraume Zeit, fo 
brachte man die herrlichften Moſaikarbeiten aus Marmor auf demfelben an (fiehe 
Binterim, Denfw. IV. Bd, 1, Thl.). — Chor. Ein berühmter Schriftſteller, 
Sfivor von Sevilla (lib. 6. de Orig. c. 19.), leitet den Urſprung des Wortes 
„Chor“ von corona circumstantium ab, weil fi die Sänger in der Runde auf- 
zuftelfen pflegten. Einfacher ſcheint die Ableitung von dem griechifchen X0g0g, 
welches eine Vereinigung von Sängern bedeutet. Nach Einigen fo genannt, weil 
an diefem Orte von den Geiftlichen die Brevierandacht verrichtet wird (Conc. 
Tolet. a. 633. c. 18.). Der Chor befand fih in den erſten chriſtlichen Kirchen 
immer in der Nähe des Altars; es ftellten fih nämlich die Sänger (Choraliften) 
— Drgelfpiel und Inftrumentalmufit gehören erft einer fpätern Zeit an — in 
dem Kreife um den ganz ifolirt ftehenden Altar auf, Daher die häufige Ver- 
wechslung des Chores mit dem Presbyterium, Als man größere und umfang- 
reichere Kirchen zu bauen anfing, wurde für den Chor der Sänger ein eigener 
Platz dem Altare gegenüber mit einem Verſchlage angebracht. Die alte Kirche 
des hl. Clemens in Nom weist noch diefe Einrichtung nad. Geit vielen Jahr— 
hunderten hat jedoch diefe alte Einrichtung aufgehört, und in Cathedral-, Eol- 
legiat- und GStiftsfirchen fteht großentheild der Altar entweder frei, oder er ift 
bis zur Mauer des Presbyteriums zurüdgerüdt. Im erften Falle befindet fich 
der Chor der Sänger rechts und links Hinter dem Altare und wird von den Sitzen 
der Geiftlichfeit umgeben, daher man auch) einen höheren und niederen Chor un- 
terfchied. Im zweiten Kalle, wo der Altar an der Hintermauer des Presbyteriums 
angebracht ift, befindet fi der Chor zwifchen dem Altare und dem Volke, jedoch 
gewöhnlich fo, daß er höher als das Schiff, und einige Stufen tiefer als das 
Sanetuarium iſt. Urfprünglich gab es ohne Zweifel nur in den Cathebralfirchen 
einen Chor ; denn nur in denfelben befand fih ein zahlreicher Klerus und ein 
Presbyterium CPriefterfchaft), welches der Rath des Bifchofes war, Im fechsten 
und fiebenten Jahrhunderte wurde diefer Chor auch in den Klofter- und Eoflegiat- 
firchen für die Mitglieder des Chores eingeführt, Später ahmten auch die Pa- 
rochialkirchen diefes Beifpiel nach. Wir bezeichnen heutzutage mit dieſem Worte 
den Drt, wo fih an einer Metropolitan-, Cathebral- oder Eollegiatfirche die 
Dom- oder Chorherren mit ihren Vicarien verfammeln, um die canonifchen Tag- 
zeiten nach der Vorſchrift des kirchlichen Officiums zu verrichten. Und wie in der 
älteften Zeit, als noch im Hintergrunde des Presbyteriums der Bifchof feinen 
Sitz hatte, die Priefter im Halbfreife um ihn auf Sigen, die man sedilia, sub- 
sellia nannte, fich befanden, fo gefchieht dieß jest in den für die Domherren und 
für die übrige Priefterfchaft an den Seitenwänden des Presbyteriums angebracd- 
ten, mit Bildhauerarbeit und Fünftlihem Schnigwerk verzierten Chorftühlen, 
welche stalla genannt werden. Diefer Chor ift alfo durchaus nicht mit dem Mufif- 
chore zu verwechfeln, worunter der in einer Art Emporfirche angebrachte Drt ver- 
ftanden wird, wo die Orgel fich befindet und die Mufifer fih verfammeln, wenn 
bei feierlichem Gottesdienfte figurirte Aemter abgehalten werden, — Concha. Un- 
ter Concha, conchula bematis, was bei den Tateinern unter dem Namen Absida 
vorkommt, verfteht man die innerhalb des Presbyteriums gelegene Stelle, wo 
gewöhnlich in einem Halbfreife die Chorfige oder Chorflühle für die Priefterfchaft 
angebracht find, und im äußerften Theile gegen den Altar der erhöhte Sig (Ca- 
thedra) für den Bifchof fich befindet, daher oft auch das Wort Presbyterium unter 
diefer Bedeutung vorkommt, Nach Einigen fo bezeichnet, weil diefer Theil der 
Kirche größtentheils in ovaler Form gebaut ift, und mit dem Hintertheile eines 
Schiffes, worauf ſich die Steuermänner befinden, große Aehnlichfeit hat; nach 
Andern von ber fchnerfen- oder mufchelartigen Wölbung CConstit. apost. 1. 2. ©. 








Kirche, als Gebäude, 115 


61. Evagr. hist, eccl. lib. 4. c. 31.). Wahrfhpeinlich daher, weil man bei dem 
Baue der Kirchen die uralte Sitte, den Bifhof im Kreife feiner Priefterfchaft zu 
fehen, beibehalten wollte. — Thurm. Ein in die Höhe emporfteigendes, meiftens 
einen Beftandtheil der Kirche ausmahendes Gebäude, worin die Glocken fi be— 
finden, daher campanile, turris campanilis genannt. Bevor die Gloden erfunden 
und zum Gottesdienfte verwendet wurden, bedurften die Kirchen Feines Thurmes, 
Als Tange Zeit nach ihrer Einführung jede Kirche nur eine Glode von geringerem 
Umfange hatte, fo wurde auf dem Giebel der Chorfeite eine Art hölzernes Ge— 
bäufe errichtet und darin die Glocke angebradt. Die gothifhe Bauart zeichnet 
fih ſchon durch fühn in das Firmament emporftrebende Thürme aus. Diefe neue 
Bauart bot dem Mittelalter eine fehr günftige Gelegenheit dar, an den Haupt- 
fronten der Kirchen Meifterwerfe der Architektur zu fhaffen, und diefem edlen 
Streben verdanken die riefenhaften Thürme, welche fih noch bis auf unfere Zeit 
erhielten, ihr Dafein, Jedermann muß der Anfiht des Berfafferd vom „Geift 
des Chriſtenthums“ beipflichten, wenn er fagt, daß auch die fhönfte Gegend 
nackt, kalt und leblos bleibt, wenn nicht in derfelben ein Ländlicher Thurm gegen den 
Himmel ragt. Man errichte dagegen in der wildeften und rauheften Gegend einen 
noch fo unbedeutenden Kirchenthurm, und Troft fehrt bei feinem Anblicke in das 
menschliche Herz ein. Diefen Worten fann noch beigefügt werden, daß eine Kirche, 
wenn fie fih durch ihre Bauart noch fo fehr auszeichnet, ohne Thurm bei weitem 
den erbauenden und erhebenden Eindrud nicht mahe. Größere Kirchen hatten 
gewöhnlich drei Thürme: zwei über dem Haupteingange und den Glockenthurm. 
Indeß gab es auch in der Vorzeit noch Kirchen, welche mehrere hatten, fowie man 
auch viele allein ftehende hohe Thürme aufgeführt Hat. Auf der Spige des Thurmes 
iſt gewöhnlich ein Kreuz, das Sinnbild unferes Heiles, oft auch ein Hahn als Symbol 
der Berfündigung des Evangeliums, oder, wie andere Liturgiften wollen, der hrift- 
lichen Wachſamkeit (f, Kreuz, als Bild). Im Laufe der Zeit wurden auch nebft 
den ſchönſten architektonifchen Verzierungen auf denfelben Uhren angebracht. Vom 
Thurme ertönet die Stimme der Kirche in der Glocke, und Iehrt den Menfchen 
den Morgen, Mittag und Abend als Heilige Zeiten zu betrachten. Der Zeiger 
an der Kirchenuhr mahnt uns ernfllih, wie die Zeit übergeht in die Ewigkeit 
und alles Endlihe und Irdiſche verfhmwindet. Wozu alfo die hoben Thürme ? 
Man fann von ihnen aus Umfhau halten. Das ift oft für die Gemeinde wichtig, 
Sie dienen dazu, daß der Ruf der Glocken und der Stundenfhlag weithin ge- 
tragen werde. Auch das ift von Belang. Doch Fönnen fie au als die Zeige- 
finger der Religion gelten, womit diefe alles Volk umher nach Dben weifet. Und 
wenn der Thurm zu Babel ein Zeichen war der Verwirrung und Völfertrennung, 
jo find unfere Thürme ein Zeichen des Umwohnens von Chriften, die da ihre ge— 
meinfame Niederlaffung haben, und vereint find im gemeinfhaftlihen Glauben, 
in der Einen und gleichen Liebe und Hoffnung (Hirfcher, Erörterungen. 2. Heft). — 
Presbyterium. Diefer Ausdruck ift griechifchen Urfprunges, und bezeichnet in 
der Kirche den Raum unmittelbar vor dem Hocaltare, welcher ausfhlieglich für 
die Priefter beftimmt ift, die dafelbft bei der allerheiligften Handlung fungiren. 
Das Presbyterium ift darum gewöhnlih um einige Stufen höher gelegen, als 
Der übrige Theil der Kirche, damit das anwefende Volk dasjenige, was in dem- 
felben von der Geiftlichkeit vorgenommen wird, bequem fehen koönne. Auch ift 
daffelbe von dem Schiffe durch ein niederes Gegitter, die fogenannten Ranzellen, 
abgeſchloſſen. Das Presbyterium fommt bei den Liturgiften noch unter mehreren 
Namen vor, als: Chor, Anu«, absis, sanctuarium, corona, sancta sanctorum, 
capitium. Sancta sanctorum wird es ob der allerheiligften Handlung, die dort 
ftattfindet, geheißen. Der Name Inu (suggestus, ascensus) erinnert an die Bau- 
art, vermöge welcher man vom Schiffe eine oder mehrere Stufen aufwärts zu 
fleigen hat, weil e8 höher als das Schiff liegt; Yvosaormguov, weil der Hoch- 
8* 


116 Kirche, als Gebäude. 


altar in demfelben fich befindet, und capitium, weil bei den Kirchen in Kreuzes— 
form das Haupt des göttlichen Heilandes in demfelben ruhet, Den Laien war 
der Zugang dahin ſtets firenge verboten, weßwegen biefem Orte auch der Name 
adytum beigelegt wurde, was nach feinem Urſprunge geradezu einen unzugäng- 
lichen Drt beveutet, Cancellos, qui circumstant altaria, presbyteri tantum et cle- 
rici ingrediantur, neque ullo modo ibi saeculares, maxime dum divina mysteria 
celebrantur, admitti debent, idque saepe patres admonent, et apostolica decreta 
praescribunt (Merati, Novae observ. p. 1. tit. 20. n. 5.). Prohibendum quoque 
est, ut nulla foemina ad altare praesumat accedere, aut presbytero ministrare, aut 
intra cancellos stare sive sedere (Cap. 1. de cohabit. mulier. 32.).— Diaconicum, 
ein Ort; worin man bie heiligen Gefäße, die priefterlichen Gewänder und andere 
firchliche Gegenftände aufbewahrte, und worüber die Diaconen die Aufficht führ- 
ten (f. Diaconicum), Daß ihnen die Aufficht über die Kirchenſchätze anvertraut 
war, bezeugt der Dichter Prudentius, wenn er von dem Diacon Laurenz alſo 
ingt: 

ns Claustris sacrorum praeerat, 

Coelestis arcanum domus 


Fidis gubernans clavibus, 
Votasque dispensans opes. 


Das Diaconicum darf jedoch nicht mit Sacrarium verwechfelt werben, worunter 
man in ber älteften Zeit den Ort verftand, wo ausſchließlich die Euchariſtie für 
die Kranken, die Opfergaben der Gläubigen und die Eulogien aufbewahrt wur- 
den. Sept verfiehen wir unter Sacrarium (piscina sacra, altteutſch Kirchenfergger) 
eine in die Erbe gemauerte Deffnung, welche die Beftimmung bat, gefegnete und 
geweihte, zum Gottesdienſte aber nicht mehr verwendbare Sachen in fih aufzu- 
nehmen, Die Griechen haben heutzutage Fein Diaconicon, weil fie die heiligen 
Gefäße und Kleidungen in eigenen Gebäuden oder fonft an ficheren Orten ver- 
wahren, und fi) im Presbyterium Cbema) zum Gottesbienfte anfleiven (CE. Bona 
rer.lit. 1.1. c.25.). Statt des ehemaligen Diaconicum haben die Griechen jest auf 
der rechten Seite des Altars einen Credenztifch (ſ. d. A). Zur Iinfen befindet fich ein 
fleiner Altar, prothesis genannt, — Sacriftei (sacristia, secrefarium, mutatorium, 
sacrorum custodia, camera paramenti, Öefäßfammer, salutatorium) ift der Haupt- 
fache nach daffelbe, was die Griechen Diaconicon nennen, Der gelehrte Carbinal 
Bona leitet das Wort sacristia von dem Jateinifchen secretarium ab. Secretarium 
hieß aber in der Vorzeit au) der Saal, worin fih der Biſchof mit feinem Pres— 
byterium zu Eirchlichen Berathungen verfammelte, Nach anderen Liturgiften ſtammt 
diefes Wort von sacris stare ab, weil man fi) an diefem Orte zur Verrichtung 
der heiligen Handlungen vorbereiten und bei Anlegung der Paramente fiehen 
muß. Die Sacriftei hieß auch Salatatorium , weil darin der Bifchof die Begrüßung 
derjenigen empfing, die fih vor dem Beginne des heiligften Opfers feinem Ge— 
bete empfahlen (Bona lib. 1. c. 24. rer. lit. p. 327.); und Metatorium, weil ber 
Bifchof nach abgehaltenem Pontificalamte in derfelben auszuruhen pflegte. In 
der Vorzeit fließen die Wohnungen der Biſchöfe und Geiftlihen gewöhnlih an 
die Kirchen und hatten ftetS ein befonderes Gemach, worin die heiligen Gefäße, 
die Bücher, die Tücher und Ornamente aufbewahrt werben Fonnten, Dft waren 
auch zweierlei Gemächer vorhanden, woraus ſich das Diaconicum majus und minus 
erflären läßt. Im Mittelalter Hatten die Kirchen Feine Sacrifteien wie in unferen 
Tagen, fondern eine in der Kirche befindliche Capelle vertrat deren Stelle. Der 
Priefter Eleivete fih am Credenztiſche an, der ſich ſtets auf der Epiftelfeite befand; 
der Bifchof that Diefes, wie es auch noch gegenwärtig gefchieht, am Altare. In 
der Sacriſtei befindet fih gegenwärtig oft ein Altar, vor welchem die Priefter 
ihre Gebete vor und nach dem heiligen Opfer verrichten, ein Gefäß zum Hände- 
wofchen für den Liturgen, ein ober mehrere Beichtftühle, ein gefchloffener Be— 


a ee Zu Me 





Kirche, als Gebäude, 117 


haͤlter für das Weihwaſſer und die zur Aufbewahrung der Firhlihen Paramente 
und Gefäße erforderlichen Käſten und Schränfe nebft einer Wandtafel, worauf die 


Fundationsmeffen verzeichnet find. — Emporfirde [ Yrreooov) nennt man die 
in erhöhten Richtungen an den inneren Seitenwänden der Kirche angebrachten 


- Galerien, von welchen man auch dem Gottesdienfte in der Kirche beiwohnen kann. 


Urfprünglih waren fie nur über dem hinteren Theile des Schiffes errichtet. Bald 


wurden fie aber innerhalb des ganzen inneren Rirchenraumes angebracht und auf 
das Schönfte verziert, Diefelden waren auch den Alten nicht unbefannt, nur 


dienten fie bei ihnen dem weiblichen Gefchlechte zum Betorte (Gregor. Nazianz. 


_ carm. 9. Evag. hist. eccles. lib. 4. c. 31.). Der Zwed diefer Emporbühnen ift, 
darin das Volk, welches im unteren Kirchenleibe nicht Platz findet, unterzubringen, 


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daher diefelben Heutzutage, wenn der Raum bei einer Kirche für die Chriftgläu- 
bigen zu befchränft und enghaltig wird, oft nachträglich errichtet und angebaut 
werden. Iſt ein Theil diefer Emporkirchen für fih zu einem Gemache abgefperrt, 
fo nennt man ihn auch oft Dratorium, obgleich auch jedes andere Gemach, wel- 
ches Fenfter in der Kirche Hat und dazu beftimmt ift, Perfonen während des Got- 
tesdienftes aufzunehmen, Dratorium heißt. — Gitter zwifhen Schiff und 
Presbyterium. Diefes Gitter (Cancelli, scamna, Altarfchranfen, Raftell, Do— 
zale, Pogium und Balluftrade genannt) fcheidet das gläubige Volk von der Stätte 
der Priefter, verhindert aber feineswegs, an dem Gottesdienfte Theil zu nehmen, 
Hieson leſen wir in der Kirchengefchichte von Eufebius lib. 10. c. 4. Cancellis 
ligneis artificiosa caelatura fabrefactis ita circumdedit, ut admirabilem aspectum 
videntibus exhibeat. Diefes Gitter war entweder von Holz oder von Eifen und 
Stein, in der Mitte mit Thürflügeln verfehen, die mit Schloß und Riegel ver- 
ſperrt werden fonnten, um unberufene Perfonen von dem Zutritte in's Presbyte- 
zium hintanzuhalten (Merati, 1. c.). Daffelbe war im 13ten Jahrhunderte faft 
überall im Gebrauch. In der Nähe diefer fogenannten Kanzellen war in ber 
älteften Zeit au ein Vorhang angebracht, der während der feierlichen Liturgie 
vor der missa Catechumenorum, oder von der Epiftel und dem Evangelium an big 
zur Austheilung der Eudhariftie vorgezogen wurde, weßwegen bei diefen Gitter- 
thüren die unteren Elerifer ſich aufftellen mußten, um den anfommenden Diaconen 
die Borhänge aufzuziehen (Sozom. I. E, IX. 2. Chrysost. hom. 3. in epist. ad 
Ephes.). Bei den Griechen wird dieß noch beobachtet, und der Ort vor diefen 
Vorhängen von ihnen Bjua avayyoorov, Bema der Lectoren genannt. Diefes 
Ehorgegitter ift Heutzutage allgemein üblich und größtentheils im Schiffe der Kirche 
demfelben entlang eine oder zwei Staffeln angebracht, damit die Gläubigen bei 
Empfang des HI. Abendmahles nicht auf der Erde knieen müſſen. — Pläge der 
Männer und Frauen. Diefe waren urfprünglich von einander durch hölzerne 
Wände getrennt, daher die anoftolifchen Conftitutionen (lib. 2. c. 57.) den Dia- 
eoniffen den Eingang der Weiber und den Thürhütern (ostiariis) den Eingang der 
Männer zu beobachten aufgetragen haben Cofr. Cyrill. Hierosolym. procatech. lib. 
2. c. 61.), Man foll fie abtheilen, die Männer follen bei den Männern und die 
Weiber bei den Weibern fein. In einigen Kirchen war der Betfland der Weiber 
über den Pfeilern der Kirche in einer Art Emporfirche angebracht, in andern 
bloße Berfihläge, welche die Site der Männer und Weiber von einander ab- 
fonderten. Defgleihen waren die Jungfrauen von den Gefhwächten gefchieden, 
and die Kinder ftellten fih nach dem Gefchlechte bei ihren Eltern auf. Die Ka— 
techumenen der zweiten und dritten Claffe, und die Pönitenten der dritten und 
vierten Claſſe hatten ihre Plätze im Schiffe. Die Männer befanden fih auf der 


xechten, die Weiber auf der Iinfen Seite. Heutzutage ift das Schiff ausfchliegend 


für das Volk beftimmt. In manchen Landfirchen ift dag männliche von dem weib- 
lichen Geſchlechte noch getrennt. Bei den Griechen war das Schiff für den Clerus 
und die Monche beftimmt, Hier faßen fie, fangen und verrichteten ihre yorzüg- 


118 Kirhenagende — Kirchenamt. 


lichſten Funetionen. Gegenwärtig befindet fih darin nur das männliche Gefchlechtz 
das weibliche figt an einem eigenen Orte, von wo aus es die Ceremonien durch 
ein Gitter fieht, Bei den Armeniern treten die Frauen durch den Haupteingang, 
die Männer durch eine Nebenthüre in das Schiff. Beide find durch eine hölzerne 
Balluftrade von einander getrennt (Cefr. Abbe Migne, Gefchichte ver Miyfterien 
und Ceremonien der hriftlichen Kirche, Paris 1810). — Lettner wird das Pult 
genannt, auf welches man das Evangelien- und Epiſtelbuch Iegte, welches bei 
gottesdienftlichen Verfammlungen von dem Diacon und Subdiacon geöffnet wurbe, 
um daraus die Epiftel und das Evangelium des Tages abzulefen (Cyprian. 
epist. 34. al. 39. Ordo Rom. II.). *ettner ift der altteutfche Ausdruck. Die übri- 
gen Benennungen, welche bei den Liturgiften vorkommen, und diefen Pult be- 
zeichnen, find: Lectionarium, lectricium, lectrum, lectreolum, pulpitum, analogium 
graduale. Dafjelbe war gewöhnlich an einem erhöhten Plate angebracht, und 
wurde bei den Griechen in der Negel außwv (von Avaßaırw) und von den La— 
teinern absida gradala genannt, weil man einige Stufen hinauffteigen: mußte, 
Beim Auffteigen des Diacons, Subdiacons und des Lectors pflegte man eine 
Antiphone zu fingen, die deßwegen gradale oder graduale hieß, unter welchem 
Namen fie noch in unfern jegigen Meßbüchern vorkommt, Weber die Zahl diefer 
Pulte hat man nichts Beſtimmtes. In vielen Kirchen war nur eines, in andern 
zwei, wovon eines zur rechten, das andere zur linken Stufe fland; in einigen 
Kirchen war ein drittes, worauf das Buch der Prophetien lag, Urfprünglich 
waren biefelben von Holz, fpäter von Metall und Marmor verfertigt, und nicht 
felten mit den foftbarften [ymbolifchen Verzierungen ausgeftattet, Aus diefem Ambon, 
von welchem die Bifchöfe öfters zu predigen pflegten, foll unfere jegige Kanzel 
(ſ. d. A.) entftanden fein (Schmid, Liturgik. III. Bd. S. 588). — Communica- 
bant. Der Ort, wo das Volk die hl. Communion empfing, war das Gitter 
zwiſchen Schiff und Presbyterium. Ueber den dabei befolgten Ritus in alter 
und neuer Zeit ſ. Abendmahlsfeier. In Betreff der Communion der Cleriker 
verordnet das römiſche Rituale, daß dieſelben an den Stufen des Altars com— 
municiren, oder, wenn es möglich iſt, innerhalb des Altargitters von den Laien 
hiebei getrennt ſein ſollen. Andere, z. B. das von Straßburg und Trier, ge— 
bieten, es ſollen die Laien am Altargitter, die Geiſtlichen innerhalb deſſelben 
communieiren, und dieß iſt jetzt die faſt durchaus herrſchende Uebung. In den 
meiſten Kirchen wird heutzutage vor den Communicanten auf dem Altargitter 
oder der eigens hiezu beſtimmten Communionbank ein reines leinenes Tuch 
(mappa communionis, Speistuch) ausgebreitet, welches die Communicanten wäh— 
rend des Abſpeiſens emporheben, um die hl. Hoſtie für den Fall, daß ſie durch 


Zittern des Prieſters oder einen andern Zufall hinabfallen ſollte, damit zu er⸗ 


halten. Vom Abſpeiſen führt das Gitter zwiſchen dem Schiffe und Presbyterium 
auch den Namen Speisgitter. Gegenwärtig ſind in den meiſten großen Kirchen 
eigene Altäre (Speisaltäre genannt), welche mit einem eigenen Gitter einge— 
ſchloſſen ſind, wo den Chriſtgläubigen außer der hl. Meſſe die hl. Communion 
gereicht wird. Doch dieſe Praxis iſt nicht überall gleich. [Brauner.] 

Kirchenagende, ſ. Agende und Ceremoniale. 

Kirchenamt. J. Begriff, Ein Kirchenamt (officium ecclesiasticum) be— 
zeichnet das Recht und die Pflicht eines Geiſtlichen, die Kirchengewalt in einem 
beſtimmten Verhältniſſe und Umfange und vermöge einer dazu ertheilten feſten Anftel- 
lung auszuüben. Die mit dem Amte unter kirchlicher Auctorität ſtändig verbundene 
Dotation heißt die Pfründe (beneficium ecel.), welche als die weltliche Seite des 
Kirchenamtes (temporalia officii) von der geiftlichen Seite deffelben (spiritualia officii) 
wohl zu unterfcheiden ift (f. Beneficium eccl. Bd. I. ©. 801 ff.). Zwar im 
eanonifchen Rechtsbuche findet fich officium und beneficium durchaus gleichbedeutend, 
und legterer Ausdruck fogar häufiger gebraucht, weil im Mittelalter nach einer 





u 
4 








Kirchenamt. 119 


mißbräuchlichen Entwicklung ſtatt der an das Amt geknüpften Functionen vielmehr 

der Inbegriff des mit dem Amte verbundenen Einkommens hervorgehoben wurde. 

Auch heutzutage noch werden Amt und ‚Pfründe dem Namen nach als fynonym 

gebraucht, obgleich im Begriffe wefentlih geſchieden. Bloße Commenden, zeit⸗ 
üche Vieariate und Expoſituren, ſog. Manualpfründen oder auf willkürlichen 
Widerruf übertragene Functionen find feine eigentlichen Kirchenämter (ſ. Bene- 
ficium a. a. O. ©. 802); eben fo wenig die von Privaten gemachten Stiftungen 
von Meffen oder andern geiftlihen Andachten und Verrichtungen, fo lange nicht der 
Bifchof diefelben mittelft fürmlicher Inveſtitur zu einem fländigen Kirchenamte 
(itulus) erhoben hat. Der Inbegriff der Befugniffe eines Kirchenamtes heißt die 
Amtsgewalt (majoritas), welcher der kirchliche Gehorſam der Untergebenen (obe- 
dientia canonica) correfpondirt. Die mit einer folden Amtsgewalt betrauten 
Perfonen, Kirchenobere (superiores ecclesiastici), bilden zufammen den Kirchen— 
beamtenftand (f. Hierarchie). U. Gattungen der Kirhenämter, Man unter- 
ſcheidet an den Rirchenämtern 1) folde, die fih auf die Verwaltung der HI. Hand=- 
Jungen beziehen; 2) folhe, mit welchen eine äußere Jurisdietion verbunden iſt; 
3) Kirchenämter, welche nur an Kloftergeiftliche oder ausſchließlich an Weltgeift- 
liche verliehen werden; endlich 4) ſolche, deren zwei oder mehrere unter gewiffen 
Borausfegungen in Einer Perfon vereinbar find, oder einer folchen Vereinigung 
widerfireben. Ad 1. Die meiften Kirchenämter beziehen fih auf die Verwaltung 
der HI. Handlungen und heißen daher officia sacra im weiteren Sinne, Sie be> 
ſtehen entweder in Kirhenämtern, zu deren Ausübung nur die höheren Weihen 
befähigen, und beziehungsweife das Sarerdotium erfordert wird (officia sacra im 
engeren Sinne), oder in Rirchendienften, welche ehemals die hierauf wirklich be— 
pfründeten Minpriften verrichteten (officia mere ecclesiastica oder communia), 
welche aber in der Folge größtentheils an Laien (Mefner, Euftoden, Altar- 
diener) übergegangen find, und die Natur eigentlicher Rirchenämter verloren haben, 
Iſt mit einem officio sacro sacerdotali zugleich die Seelforge (cura animarum) 
verbunden, fo heißt es ein Seelforgamt oder Curatbeneficium Cofficium duplex 
oder curatum); außerdem, es mag an ein officium sacrum oder commune gefnüpft 
fein, ein einfaches oder Incuratbeneficium (Cofficium non curatum oder simplex). 
Diefe Bezeichnungen finden ſich unter andern c. 38. X. De praeb. III. 5, und Extra- 
vag. comm. c. 11. De praeb. III. 2. Erftere Aemter verwalten die Pfarrer und 
andere für die Seelforge inveftirte Geiftliche; Ießtere aber die an Stiftern, Hof— 
kirchen ꝛc. fländig präbendirten Diaconen und Subdiaconen als ſolche; die ehe- 
mals ausfchlieglih für den Chordienft angeftellten Canoniker; die fog. einfachen 
Beneficiaten, d. i. Priefter, welche lediglich einige geftiftete Wochenmeffen u, dgl. 
zu perfolviren haben, zur Seelforge aber durch ihre Pfründe nicht verpflichtet find. 
Eooperatoren und andere zur Aushilfe in der Seelforge zeitlich angeftellte Geift- 
liche find, weil nicht canonifch inveftirt, Feine Inhaber, fondern bloße Verwefer 
von Kirhenämtern. Ad 2, Einige Rirchenämter beziehen fich auf die äußere Ver- 
waltung und die Handhabung der Jurisdiction. In diefer Hinficht unterfcheidet 
‚ man höhere Kirchenämter und geringere (c. 8. X. De rescript. 1. 3; 0.7. $ 2. X. 
' De elect. I. 6; c. 28. X. De praeb. III. 5.), und Aemter, fchlechtweg fo genannt, 
' Einige Aemter nämlich enthalten eine wirkliche Jurisdiction auf eigenen Namen 
. (Proprio jure), und diefe heißen höhere Aemier Cofficia majora) oder Prälaturen 
) (praelaturae), Würden (dignitates). Nach ftreng hierarchifher Ordnung gehören 
dahin bloß der Papft, die Patriarchen, die Erzbifchöfe und Bifchöfe (praelati primi- 
| genii); mit der weiteren Entwiclung der Kirchenverfaffung aber haben dur Pri- 
vilegien und Herfommen auch die Cardinäle, die apoftolifchen Legaten und Nun- 
\ tien, die Drdensgenerale und Aebte ihre Stellung unter den Prälaten erhalten 
) @praelati secundarü), fowie auch die Pröpfte und Decane der Stifter den Dig- 
nitäten angereiht find, Im früherer Zeit, wo die Capitel nebft dem Propfte und 


— —— 








‚420 Kirhenamt. 


Decan noch andere höhere Stellen hatten (|. Capitelwürben, Bd. I. ©, 327), 


wurden auch biefe mit den Namen dignitates (0.8. X. De constit. L 2; 0.6. X. 
De consuet. I. 4; c. 28. X. De praeb. Ill. 5.) oder personatus (ce. 8. X. De constit. 
1.2; 0.8. X. De rescript. I. 3; c. 13. 28. X. De praeb. III. 5.), und nicht felten 
promiscue bezeichnet, Andere Aemter haben feine eigene, fondern nur eine über- 
tragene Jurisdietion (jure mandato oder delegato); man nennt fie Aemter Cofficia) 
ſchlechthin. Sie fiehen zwiſchen den höheren und niederen Aemtern mitten inne, 
zeichnen fich aber vor den Iegtern durch ihre übergeordnete Stellung als relative 


3 
| 


Prälaturen aus, Bon der Art find die Aemter der bifchöflichen Generalvicare, { 


Dffieiale, Ruraldecane, früher auch der Erzpriefter, Archidiaconen, Scholafter ıe., 
welche jedoch jeßt, wo fie etwa noch dem Namen nad) beftehen, größtentheils bloße 
Perfonate find. Niedere Aemter endlich Cofficia minora) find ſolche, denen gleich- 
falls feine eigene Jurisdietion, aber auch Fein äußerer Vorrang inhärirt, Ad 3. 
Gewiffe Aemter werden ausschließlich Drdensgeiftlichen (off. regularia), andere 
nur Weltgeiftlichen Coff. saecularia) verliehen (Sext. c. 5. De praeb. III. 4; Conc. 
Trid. Sess. XIV. c. 10. De ref.). Im Zweifel fpricht die Nechtsvermuthung immer 
für das Dafein einer Säcularpfründe, weil die Negularbeneficien fpäteren Ur- 


ſprungs find. Es können aber Kirchenämter durch den Willen des Stifters zu 


Regularpfründen gemacht fein, oder, wie Abteien, Priorate ꝛc., ſchon ihrer Natur 
nad den Drdensämtern angehören ; oder endlich urfprünglich zwar Säcularbene- 
fieien gewefen, nachhin aber durch Einverleibung, Verjährung oder fonftwie blei- 
bend an Klöfter übergegangen fein, Ad 4. Die weitere Eintheilung der Kirchen— 
ämter in verträgliche oder vereinbarliche (officia compalibilia), und unverträgliche 
oder unvereinbarliche Coff. incompatibilia) gründet fih auf den Grundſatz der 
Kirche, daß der Inhaber eines Kirchenantes in der Regel Fein zweites an fich 
nehmen dürfe, fohin die Vereinigung mehrerer Rirchenämter und deren Erträgniffe 
in Einer Perfon unftatthaft fei. Hierüber f, den Art; Cumulation, Bd. Il. ©, 
941 f. II. Die Errichtung Cereclio) eines neuen Kirchenamtes kann recht— 
mäßig nur von der Firchlichen Gewalt ausgehen, Episcopate, als deren Site 
nur anfehnlihe Städte gewählt werben follen Ce. A. 5. Dist. LXXX; c. 53. c.XVl. 
qu. 1.), wurden in früherer Zeit regelmäßig durch den Metropoliten mit Zuziehung 


des Provincialeoneils errichtet Ce. 50. c. XVI. qu. 1), Seit dem achten Jahr⸗ 


hunderte geſchah dieß, namentlich wo römifche Miffionäre das Chriſtenthum ein- 
geführt, unter Mitwirkung des Papftes, und vom eilften Jahrhunderte an ward 
die Errichtung von Bisthümern ein ausfchließliches Recht des letzteren (ſ. Causae 
majores. Bd, II. ©, 418). Die niederen Kirchenämter werden vom Bifchofe 
inftituirt Ce. 11. c. XVI. qu. VII; c. 3. X. De eccl. aedif. II. 48; Conc. Trid. Sess. 
XXI. c. 4. De ref.), In beiden Fällen aber ift jest auch die Zuflimmung und 
beziehungsweife die Mitwirkung der Staatsregierung geſetzlich. Es begreift aber 
die Errichtung eines Kirchenamtes zwei Handlungen, die ſich auf die zwei noth- 
wendigen Beftandtheile jedes Kirchenamtes (Amt und Pfründe) beziehen. Voran 
geht nämlich die Errichtung oder Stiftung der Pfründe Cfundatio beneficii); ſ. d. 
Art, Beneficium, Bd. 1. S. 803. Erft nachdem der betreffende Kirchenobere 
fich überzeugt hat, daß die Stiftung nothwendig oder zum Wohl der Kirche, und 
ohne Beeinträchtigung der Nechte Dritter gemacht und hinreichend dotirt iſt Ce. 36. 
X. De praeb. III. 5; c. 8. X. De conseer. eccl. III. 40), kann die zweite, aber die 
Haupthandlung, nämlich die Errichtung des Kirchenamtes Cconstitutio beneficii) 
oder die Mebertragung der dem neuen Benefieiaten obliegenden geiftlichen Func— 
tionen (spiritualia) vorgenommen werben, IV. Ein Kirchenamt kann nur durch 
eanpnifhe Verleihung rechtlich erworben werden; f. die Art, Eollation, 
Bd. 11. ©. 663, und Provisio canonica, und dafelbft die verfchiedenen For- 
men der Provifion, Eine Veränderung aber kann ein fohon errichtefes Kirchen- 
amt 1) nur nach canonifcher Beftimmung, übrigens 2) auf mehrfache Weife 





Kirche namt. 121 


erleiden. Ad 1. Grundfag des canonifchen Rechtes ift, daß ein einmal errichtetes 


Kirhenamt in feiner Integrität erhalten werden foll (c. 8. X. De praeb. II. 5.). 
Daher ift eine Veränderung (innovatio, [.d.4.), wofür jede Abweichung von dem Stif- 
tungs zwecke gilt, nur ausnahmsweife zuläffig. Dergleihen Ausnahmsfälle, wo— 
nah Stiftungen zu beflimmten Zweden abgeändert, die Zahl fundirter Meffen 
redueirt, einfache Beneficien zu Gunften unbemittelter Pfarrkirchen unirt werden 


dürfen, find nur auf wahre Nothfälle befhränft, wo nämlich der befondere Stif- 
tungszweck in der Folge felbft aufgehört hat, oder unter den gegebenen Umftänden 
‚nicht mehr errichtbar ift, oder wo wibrigenfalls der ſeelſorgliche Fortbeftand der 


Kirche überhaupt, oder endlich wo das nöthige Ausfommen des Geiftlihen höchſt 
gefährdet würde (arg. Conc. Trid. Sess. XXI. c. 5. 6. Sess. XXIV. c. 4. Sess. XXV. 
€. 6. De ref.). Ueberhaupt Fann die Veränderung eines Kirhenamtes nur unter 
denfelben Boransfegungen ftattfinden, welde zur Errichtung eines folden erfor- 
dert werden, Außer der nachgewiefenen Nothwendigfeit oder des augenfcheinlichen 
Nugens für die Kirche (c. 33. X. De praeb. II. 5.) ift auch die Vernehmung aller 
dabei Betbeiligten nothig (c. 9. X. De his quae fiuni a prael. III. 10; Conc. Trid. 
Sess. XXI. c. 4. 5. 7. De ref.), da die Rechte Dritter möglichft gewahrt bleiben 
follen , weßhalb ihnen bei allenfallfigem Widerfpruche die Befchreitung des Nechts- 
weges unbenommen ift, ohne daß übrigens ihr Einfpruch einen Sufpenfiveffeet 
bat, der die Thätigfeit des Bifchofes Hemmen könnte. Jede derlei Veränderung 
Tann nur vom Bifchofe, der Hiebei an die Zuftimmung des Capitels gebunden ift 
G. Conſens des Eapitels, Bd. I. S. 817), und bei Episcopaten und Prä- 
laturen vom Papfte (c. 48. 49. c. XVI. qu. 1), und heutzutage in allen Fällen 
nur mit Bewilligung und Mitwirfung der betreffenden Staatsregierung vorgenom- 
men werden, Ad 2. Eine folhe Veränderung aber betrifft entweder nur die 
Pfründe (f. Beneficium, Bd. 1. ©. 804 f.), oder au das Kirchenamt. Ber- 
änderungen der letzteren Art treten ein: a) durch Vereinigung, b) durch Einver- 
Teibung, c) durch Theilung, d) durch Abpfarrung. Zua) Bereinigung (unio) 
ift die bleibende Mebertragung zweier (oder mehrerer) Kirchenämter an Einen 
Deneficiaten, fowohl zur Verwaltung des Amtes, als auch zum Bezuge der Ein- 
fünfte beider (ec. 3. $ 1. c.X. qu. Il; c. 48. 49. c. XVI. qu. I). Diefe Bereini- 
gung ift entweder eine unio aequalis oder inaequalis. Eine unio aequalis oder per 
aequalitatem ift da, wo zwei bisher. getrennt beftandene Kirchenämter fortan in 
der Art vereiniget werden, daß die Nechtsverhältniffe beider vollftändig erhalten, 
und felbft ihre Namen beftehen bleiben (c. 33. X. De praeb. II. 5; c. 1. X. Ne 
sede vac. III. 9.). Waren beide Aemter Patronatsbeneficien, fo geht durch die 
Bereinigung per aequalitatem weder auf die eine noch auf die andere das Pa- 
teonatrecht verloren, fondern es wird in der Regel der Patron der einen Pfründe 
nunmehr Eompatron (ſ. d. A.) des anderen mit vem Rechte alternativer Präfentation. 
Ebenfo, wenn der Inhaber der unirten Kirchenämter durch Wahl ernannt wird, neh- 
men an diefer alle ftimmberechtigten Mitglieder beider vereinigten Kirchen Theil, 
Eine unio inaequalis aber kann auf zweifache Weife entftehen, entweder durch Ber- 
ſchmelzung zweier früberhin felbftftändiger Kirchenämter, fo daß das eine in dem 
anderen ganz und gar aufgeht (unio per confusionem); oder durch Unterordnung, 
fo daß beide zwar hinfichtlich der Verwaltung als zwei von einander verfehiedene 

erhalten werben, dabei aber ein Abhängigfeitsverhältniß des einen von 
dem anderen rechtlich flatuirt ift (unio per subjectionem). Diefe Art der Union 
findet befonders bei Pfarreien Statt, wo denn die eine Kirche fofort gleichfam vie 
Haupt oder Mutterfirche (ecclesia matrix), die andere aber die fubordinirte oder 
Tochterkirche Cecclesia filia) wird. Es kann aber diefe Subjection felbft wieder 
eine abfolute fein, fo dag der Pfarrer der Mutterfirde den Gottesdienſt und die 
Seelforge der Filialgemeinde durch feinen von der Hauptfirche aus ereurrirenden 
Hilfsgeiſtlichen (cooperator) ausübt (subjectio absoluta); „der eine relative, wenn 


122 Kirhenamt, 


die Filialgemeinde zwar für den regelmäßigen Gottesdienſt einen eigenen Geiftlichen 


(vicarius, expositus) hat (f.d. Art, Erpofitur), an einigen gottespienftlichen Hand- 
Yungen aber, für welche ihr Geiftlicher zugleich Hilfsgeiftlicher ift, in ver Mutterficche 
theilnehmen muß (subjectio secundum quid). Zub) Einverleibung (incorpora- 
tio) iſt die Vereinigung eines Kirchenamtes mit einer Dignität, einem Stifte, Kloſter 
pder anderen geiftlichen Corporation, unter der für den Erwerber entflehenden 
Berbindlichfeit, für die Ausübung der mit dem incorporirten Beneficum etwa 
verknüpften Seelforge einen Stellvertreter (vicarius) zu unterhalten. Diefer 
Vicar, welchen der Biſchof auf Präfentation des betreffenden Klofters beftellte 
Ce. 6. c. XVI. qu. II; c.I.X. De capell. monach. II, 37.), oder das Stift felbft 
einfegte und der Bifchof beftätigte (c. 30. X. De praeb. II. 5.), bezieht einen aus 
dem Vermögen der einverleibten Pfründe zu entnehmenden und vom Bifchofe zu 
beftimmenden firen Gehalt (Conc. Trid. Sess. VI. c. 7. Sess. XXI. c. 4. De ref.), 
und follte fchon nach neuerem Decretalenrechte fländig angeftellt fein (c. 30. X. 
cit. III. 5; Sext. c. un. De capell. monach. II. 18.), weßhalb fih noch das Tri— 
dentinifhe Concil bemüßiget fah, gegen die früher übliche zeitliche Aufftellung 
folder Verwefer einzufchreiten und die Einfegung derfelben lediglich dem bifchöf- 
lihen Ermeffen anheimzugeben (Conc. Trid. Sess. VI. c. 7. De ref.), Das Wort 
„Sinverleibung, incorporatio*, ift zwar noch den Deeretalen und dem Triventinum 
fremd, und dafür durchweg „Vereinigung, unio* gebraucht; allein die Eigenthüm— 
lichkeit diefer Art der unio und ihre Differenz von Tegterer ift unverkennbar, und 
durch die betreffenden Gefepftellen deutlichft ausgefprochen. Die Incorporation 
unterfcheidet fich nämlich von der Union wefentlich dadurch, daß bei diefer Teßteren 
das Amt fowohl als die Pfründe beider Beneficien vereiniget werden, die Ein— 
verleibung aber bald nur auf die Einfünfte Cincorporatio jure minus pleno), z. B. 
c. 6. c. XVI. qu. I., bald auf das Amt und das demfelben annere Einfommen ſich 
bezieht Cincorporatio jure pleno), 3.8. 0. 3. $2. X. De privil. V. 33, bald noch 
überdieß den Geiftlichen und die Gemeinde der incorporirten Kirche der jurisdictio 
quasi-episcopalis des Stiftes oder der Abtei unterwirft Cincorp. jure plenissimo), 
wie 3.8. 0.21. X. De privil. V. 33, Ein weiterer Unterfihied zwifchen Union 
und Sneorporation befteht auch darin, daß unirte Kirchenämter mit dem Ableben 
oder der Verfegung 2c. des Inhabers erlediget find, das incorporirte Kirchenamt 
aber nie vacant wird, fo lange das Stift oder Klofter, dem es einverleibt ift, 
befteht, fondern nur den Stellvertreter des Amtes wechfelt, Zu c) Eine Thei- 
lung oder Trennung (divisio seu sectio) Eines Beneficiums in zwei ober meh— 
rere Hinfichtlih des Amtes und der Einkünfte zugleich Co. 26. X. De praeb. III. 
5.) findet gewöhnlich mit Vorbehalt beflimmter Ehrenrechte für die Mutterkirche 
Statt (ec. 3. X. De eccl. aedif. III. 48; Conc. Trid. Sess. XXI. c. 4. De ref.), Iſt 
das getheilte Kirchenamt eine Patronatspfründe, fo erwirbt der vorige Patron 
auch auf die abgetrennte Pfründe entweder das alleinige Patronat oder das Com« 
patronat (f. Patronatrecht), je nachdem das neue Kirchenamt ganz oder nur 
theilweife aus dem DVBermögen der Stammpfründe dotirt wird, Die Theilung 
eines Kirchenamtes, 3. B. einer Pfarrei, ift rechtlich motivirt durch zu weite Ent- 


fernung einzelner Gemeinden, durch höchſt befchwerliche Communication, durch 


bedeutend vermehrte Seelenzahl u. dgl. Doch ift der letzte Grund für ſich allein 
noch nicht genügend, indem der aus dem Kirchenvermögen bepfründete Pfarrer in 
diefem Falle angehalten werben fann, fo viele vom Bifchofe approbirte Hilfsgeift- 
liche auf feine Koften beizuziehen, als das Bedürfniß der Pfarrei erheifcht (Cone. 
Trid. 1.1), Zu d) Die bloße Abpfarrung (dismenbratio) wird häufig mit der 
Theilung eines Kirchenamtes verwechfelt, aber mit Unrecht. Sie kann zwar aus 
denfelben Gründen, wie die Theilung, veranlaßt werden, unterfiheivet fih aber 
von diefer wefentlich dadurch, daß hier nicht aus und neben dem alten Kirchen- 
amte ein neues errichtet, oder eine bemfelben angehörige Filiale oder Erpofitur 








Kirhenbann — Kirchenbeſuch. 123 


einer feldftfländigen Pfarrei erhoben, fondern der von feinem bisherigen 
—“ abgetrennte Theil der Parochianen ſofort einer anderen bereits 
beſtehenden, aber letzteren näher und günſtiger ſituirten Pfarrkirche eingewieſen 
wird, V. Die Erledigung (vacatio, vacatura) eines Kirchenamtes, fo daß zu 
einer neuen Befegung deffelben gefchritten werden kann und muß, erfolgt zunächft 
dur den Tod des bisherigen Inhabers. Nur incorporirte Beneficien werden 
begreiflich nicht mit dem Abfterben des actuellen Verwalter oder Vicars, fondern 
erft mit dem Erlöfhen der Dignität, des Stiftes oder Klofters ıc., dem fie ein- 
verleiht find, vacant. Außer dem Fall des Todes tritt die Erledigung eines 
Kirchenamtes und des damit verbundenen Pfründeeinfommens für den zeitherigen 
Beſitzer ein: 1) durch freiwillige Entfagung (ſ. NRenuntiation und Refig- 
nation); 2) durch Verfegung auf ein anderes Kirhenamt (f. Translation 
und Translocation); 3) dur Enthebung und Abfegung aus Strafe (f. De- 
pofition und Privation). VI. Die Aufhebung oder Unterdrückung (sup- 
pressio) eines Kirhenamtes fowohl in Anfehung der geiftlihen Verrihtungen als 
der Einfünfte deffelben wird verfügt Ce. 12. X. De constit. I. 2. Conc. Trid. Sess. 
XXIV. c. 15. De ref.), wenn die Stiftung wegen Mangel an Geiftlihen, vder 
wegen erfolgter Verarmung, oder durch veränderte Zeitumftände ihren urfprüng- 
lichen Zwed zu erfüllen außer Stande iſt. Dadurch, daß diefe Aufhebung durch 
die Rirchenoberen felbft, und mit Zuziehung aller Betheiligten gefchieht, und nur 
fo rechtlich geſchehen kann, unterfcheidet fie fi von der Verweltlihung, wodurd 
die Unterdrüäfung firchlicher Anftalten und Aemter und die Einziehung ihres Ver- 
mögeng zu Staatszwerfen einfeitig von der Stantsgewalt verfügt wird (Säcu- 
larifation). [Permaneder.] 

SKirchenbann, f. Bann, 

Kirchenbaupflicht, f. Baulaft. 

SKirchenbefuch. Unter Kirchenbefuh verfteht man die Berfammlung der 
Ehriftgläubigen in den Kirchen, um den dafelbft flattfindenden gottesdienftlichen 
Debungen zu beftimmten Zeiten beizumohnen. Der Befuh der kirchlichen Ver— 
fammlungen ift fo alt, als die Kirche Jeſu ift, und hat mit der Predigt des 
Evangeliums begonnen. Er ift bedingt dur die Stiftung der HI. Kirche felbft, 
durch die vom Heilande ausdrüdlich angeordnete Predigt des göttlihen Wortes, 
durch die Einfegung des neuteftamentlichen unblutigen Opfers der hl. Meffe, 
durch die Ausfpendung der übrigen Heilsgeheimniffe, und endlich durch den Zweck 
der wechfelfeitigen Erbauung, fowie durch die allgemeine Pflicht, zn welcher alle 
Ehriften verbunden find, Gott zu ehren und ihren Erlöfer vor aller Welt zu 
befennen. Sp weit wir in dem Andenken der Zeiten des Chriſtenthums zurüd- 
gehen, fo finden wir alle Zeit, daß die Gläubigen ihren Gottesdienſt gemein- 
ſchaftlich zu verrichten gefucht haben, Die riftlihen Gemeinden verfammelten 
ſich ſchon unter den Augen der Apoftel, diefe hielten öftere Reden an fie, fie 
ſpendeten ihnen die hl. Geheimniſſe aus, ſangen und beteten mit denſelben. So 
hatten die erſten Chriſten einen Ort, unter dem Namen der Laien bekannt, neben 
dem Tempel zu Jeruſalem, wo ſie zuſammen kamen; ſo verſammelten ſich die 
Apoſtel zu Jeruſalem nah des göttlichen Meiſters Tode, Apg. 1, 13. — alſo 
hatte Paulus in Ephefus den Lehrfaal des Tyrannus und in Troas einen Ober- 
faal, Apg. 20, 7 ff. 19,9. Die Apoftel traten auf und Iehrten, die Ge- 
meinde beiete, man hielt das Abendmahl des Heren, und Iegte etwas zum 
Unterhalte der Dürftigen zufammen, Apg. 2, 42. Es waren alfo ſchon da- 
mals DBorlefungen aus dem alten Teftamente, fpäter der Briefe der Apoftel, 
die Erflärung vorgelefener Stellen, Pfalmodien und Einfammeln des Al— 
mofens für die Armen, Theile des chriſtlichen Gottesdienftes, Am erſten 
Wohentage kam Paulus mit der Gemeinde zum Brodbrechen (f. d. 4.) zu⸗ 
ſammen, Apg. 20, 7. 8, (ſiehe den Artikel: Kirche, als Gebäude), Als in 


AR . Kirchenbeſuch. 


ſpäterer Zeit die Gläubigen im Beſuche der kirchlichen Verſammlungen erkalteten, 
ermuntert ſogar der hl. Paulus dieſelben durch Briefe dazu. „Verlaſſet unſere 
Verſammlungen nicht” ſchreibt er an die Hebräer — „wie es manche zu thun 
pflegen, ſondern ermahnet euch unter einander“ Hebr, 10, 25. Die Ueberzeugung 
der Apoſtel von den Vortheilen des Kirchenbefuches war alfo fo groß, daß fie 
ihre Berfammlungen fogar zur Zeit der graufamen Verfolgungen nicht unterlaffen 
haben. Sie haben dazu abgelegene Orte, unterirdifche Gewölbe, heimliche Ge- 
mächer gewählt, um von der Beobachtung ihrer Verfolger gefchüst zu fein, Der 
hl. Martyrer Zuftinus, der im zweiten Jahrhunderte lebte, befchreibt in folgen- 
der Weife den am Sonntage üblichen Gottesdienſt: „An dem nad) der Sonne be- 
nannten Tage gefchieht eine Zufammenfunft Aller, fowohl derer, die in den 
Städten, ald derer, die auf dem Lande wohnen, und dann werben die Denf- 
würdigfeiten der Apoftel oder Schriften der Propheten gelefen fo Tange es fich 

fügt. Wenn der Vorlefer aufgehört bat, fo gibt der Vorfteher Unterricht und 
eine Ermahnung zur Nahahmung diefer fchönen Dinge, Dann ftehen wir Alfe 
zufammen auf und beten, und wie ich fchon erzählt, nach geendigten Gebeten 
werden dargebracht Brod, Wein und Waſſer; der Vorfteher betet und faget Dank 
nach Vermögen, und das Volk flimmt ein, indem e8 Amen fagt. Dann wird 
Jedem mitgeteilt von diefen Dingen, über welche der Dank gefprochen worden, 
und den Abwefenden wird davon gefandt dur die Diaconen.” Schutzſchrift 
n. 87. p. 146 edit. Calabr. Die Ueberfegung nad Stolfberg’s Neligionsgefchichte 
Th. 8. S. 25 ff. Siehe Tertullian Apol. c. 39. 1. de pudieit. c. 14. 1. de unit. 
eccl. et epist. ad Felicem. Den apoftolifchen Eifer, um den Chriften ven Befuch 
der kirchlichen Verſammlungen zu empfehlen, finden wir bei allen Kirchenvätern, 
deren Schriften auf ung gefommen find. Der HI. Ignatius in feinem Briefe an 
die Ephefer n. 13. — eben derfelbe an die Gemeinde von Smyrna 4, 7, — 
Der HI. Athanaſius Apol. 1. ad. Constantium. Aufer den Sonntagen wurde das 
Feft ver Geburt Chriſti, Dftern, Pfingften, die Fefte der HI. Apoftel und Mar- 
tyrer und fpäterhin die Jahrtage der Verftorbenen gefeiert, Gregor Naz. or. 32. 
et Tertul. ad uxor. — Vergl. Räs und Weiß, Fefte des Herrn und ihre Feier in 
der Fatholifchen Kirche. — Die erften Chriften vermochte alfo nichts von dem Be- 
ſuche der Eirchlichen VBerfammlungen abzuhalten, Selbſt heidniſche Schriftfielfer 
haben nicht ermangelt, von diefem Eifer der Chriften im Beſuche der Firhlichen 
Berfammlungen Meldung zu thun, Lucian, oder der ihm fonft zugefchriebene 
Dialog Philopatris: Ammian Marcellin 1.28. in fine. Unter alfen Hebungen ver 
Gottfeligfeit, wodurd die erften Chriften den Tag des Herrn feierten, hat aber 
unftreitig das HI. Mefopfer den Vorzug. In den Kirchen wurde täglich dag HI, 
Meßopfer dargebracht Ang. 2, 42, 46. Der HL Apoftel Andreas ſprach zum 
Landpfleger Aegeas: „Sch opfere täglich dem allmächtigen Gott nicht das Fleifch 
der Stiere und Böcke, fondern das unbefleckte Lamm, das auf dem Altare des 
Kreuzes geopfert wurde“ (Arten des hl. Andreas von den Nelteften und Prieftern 
zu Achafa verfaßt). — Die Zeit der Feier aber war in den Morgenftunden, 
Wie Plinius erzählt, wurde der Gottesdienft vor Tagesanbruc (ante lucem) 
gehalten, Epiphanius fagt: „die feierlichen Verſammlungen fegt die Kirche in der 
Morgenftunde an”, Tract. de haeres. Zur Zeit des hl. Cyprianus wurde dag hl. 
Dpfer in der Frühe und Abends gefeiert, er lobt aber (epist. 63) das erftere, 
Ein Zeichen, daß die Zeit zur HI. Meffe nicht überall gleich gehalten wurde, und 
die Gläubigen erſchienen, wo möglich, täglich dabei, Cypr. in lib. de orat. — 
In den apoftolifhen Conftitutionen wird angeorbnet, daß die Gläubigen des 
Morgens und des Abends den Firchlichen Gebeten beiwohnen follen; wer aber 
nicht beiwohnen fünne, der ſolle zu Haufe beten, jeder für fich, oder zwei over 
drei mitfammen, Const. apost. 1. 6. co. 30. — Auch bei dem Abendgottespienft 
wurbe manchmal das hl. Meßopfer gefeiert, Cypr. epist 63, worauf dann bag 





Kirhenbefud. 125 


gewöhnliche Liebesmahl folgte. Chriftus hat zwar das Abend- oder Liebesmahl 
mit feinen Apofteln zuerft gehalten, und dann erft die HI. Communion, denn das 
alte Gefegliche mußte zuerft gefchehen, ehe das Neue eingefegt wurde. Aber die 
Apoftel feierten ſchon zuerft die HI. Eommunion, und dann erft das Liebesmahl, 
wie ber hl. Chryfoftomus fagt homil. 27. in 1 Cor. 11. Nur am grünen Donners- 
tage pflegte man in Africa, um das Beifpiel Jeſu genau nachzuahmen, gegen 
Sonnenuntergang zuerft das hl. Liebesmahl und nach demfelben das HI. Abend- 
mahl zu feiern, welcher Gebrauch aber ſowohl in der morgenländifchen als abend- 
ländifchen Kirche bald aufgehoben wurde, Außer dem hl. Meßopfer, womit der 
Unterricht in der Lehre des Heiles und der Empfang der HI. Communion beim 
Kirchenbefuche der Chriftgläubigen in den erſten Jahrhunderten verbunden war, 
befuchten diefelben auch zu verfhiedenen anderen Zeiten ihre Kirchen. Sie eilten 
in der Frühe dahin, und fangen Hymnen uud Gefänge, fagt Ambrofius (in psalm. 
118. serm. 19). In den Landfirchen ging man mit dem Hahnenfchrei zur Kirche, 
um ben höchften Herrn zu preifen; ebenfo auch am Ende des Tages (Theod. hist, 
relig.), Die Terz, Sert und Non werden ſchon von Tertullian die apoftolifchen 
Stunden genannt, und vielfahe Zeugniffe der Kirchenfhriftfteller beftätigen, 
daß diefe ſchon in den früheften Zeiten als vorgefchriebene Betjtunden betrachtet 
wurden, wobei die Geiftlihen und Laien fi einfanden, Auch zur Nachtzeit be— 
fuchten die Chriftgläubigen ihre Kirchen, um dafelbft zu beten, wie dieß nament- 
lich in Paläſtina, Syrien, Phönicien, Lybien, Aegypten und Arabien im vierten 
Sahrhunderte der Fall war, Basil. epist. 207. fagt: Zur Nachtzeit fand das 
Bolf auf zum Haufe des Gebetes, vom Gebete ging man zum Pfalmfingen über, 
und in zwei Theile geheilt, fangen fie abwechfelnd; dann fang einer vor, darauf 
folgten die anderen nad. Bei anbrechendem Tage fangen fie alle zugleich wie aus 
einem Munde und Herzen den Palm des Lobes Gottes (confessionis domini), 
Auch) der HI. Auguftin fordert die Gläubigen auf, fhon am Samstage zur Befper 
und zu den nächtlichen Vigilien in die Kirche zu gehen. August. serm. de temp. 
244 et 251. Als der Eifer der Chriften im Laufe der Zeit anfing wieder zu er- 
falten, fah die Kirche ſich genöthigt, die Nachläffigen durch firenge Gebote zum 
Beſuche der Kirhe anzuregen. Am meiften arbeitete fie ſtets dahin, daß die 
Gläubigen in der ihnen angewiefenen Kirche und unter ihren beftimmten Seelen- 
hirten fich verfammelten, Daher das firenge Gebot der Kirchenverfammlung zu 
Elvira (ſ. d. U.) in Spanien, welche im Jahre 343 gehalten wurde, und be— 
ſchloß, daß, wenn Jemand in der Stadt drei Sonntage hinter einander nicht zur 


Kirche komme, man ihn auf kurze Zeit ausschließen folle, damit es einem ſolchen 


nicht ungeftraft hingehe. Eben diefe Verordnung wurde auch von anderen Con- 
eilien wiederholt, Sess. 22. in decreto de observand. et evitand. in celebr. miss, 
bat der HI, Kirchenrath zu Trident die Weifung gegeben: Die Bifchöfe follen das 
Volk ermahnen, daß es fleißig in feinen Pfarrfirchen wenigfiens an den Sonn— 


‚ tagen und höheren Feten erfcheine, Siehe das ferhste Provincial-Coneilium von 
' Mailand p. 1. p. 302. Carol. Bor. Benedict. 14. de synod. divec. 1. 13. c. 14. 
' Ambros. de offic. saer. 1. 1. c. 1. Dem Gebote der Kirche, an Sonn- und Feier- 





tagen die hl. Meſſe zu hören, mag zwar derjenige genug thun, welcher auch in 


einer fremden Kirche dem HI. Opfer beiwohnt, als eifriger Chrift aber, der den 
Geiſt der Gebote auffaßt und in fich belebt, Fann er nicht angefehen werben, 


Selbſt die frommen Gebete der mit ihrem Seelforger vereinten Gläubigen wer- 


den defto ficherer Erhörung finden, je mehr fie im Geifte der brüderlichen Liebe, 
die auch in der äußerlichen Vereinigung fich ausfpricht, zu dem Gnadenthron auf- 
fteigen. Zudem ift noch wohl die Abficht des eifrigen Kirchenbefuhes in Er- 
wägung zu ziehen, daß der Seelforger, der die Bedürfniffe feiner Gemeinde 
kennt, am beften geeignet ift, ihr aus der göttlichen Lehre die heilfamften Lebens- 
vorſchriften mitzutheilen, Es verrät daher eine große Gleichgültigfeit gegen die 





126 Kirhenbüder, 


Heilslehren, oder eine fträfliche Geringfhätung ihres Verfünders, oder auch einen 
verderblihen Wiffensdünfel, wenn man, den gemeinfamen Unterricht verachtend, 
an fremder Stätte oder gar in feinem fparfamen Vorrathe fogenannter aufge- 
Härter Erbauungsſchriften die erforderliche Belehrung zu finden glaubt, Hieraus 
ergibt ſich demnach unwiderleglih, daß die Vereinigung ganzer Gemeinden zur 
Anbetung des höchſten Weſens und die Beflimmung befonderer Orte für heilige 
Zwecke fo alt ift, als der Glaube an Gott, und darum befucht auch jeder wahre 
Ehrift feine Kirche fo gern, und ift ihm dieſe heilige Stätte fo Lieb, weil da allein 
nicht Außenwerk, nicht Formenweſen, nicht Buchftabendienft, fondern ein Gotteg- 
dienft im Geifte und in der Wahrheit gilt, wozu der Glaube alle Chriftgläubigen 
bier verfammeln fol. Wer flimmt nicht ein in die Worte David's: „Herr ih habe 
lieb die Zierde Deines Hauſes und den Drt wo Deine Herrlichkeit wohnt!" — 
Eine befondere Erwähnung verdient noch der übliche Kirchenbefuch zur Zeit 
größerer Drangfale, von welchen die Chriftgläubigen im Laufe der Jahrhunderte 
beimgefucht wurden, und als Ablaßbedingung. Siehe hierüber Liturgif von Fr. 
X. Schmid, U. Bd, ©, 222, — Der Befuch einer beftimmten Kirche wird 5.3, 
bei den Kirchweih- und Jubiläums-Abläffen gefordert, Mehrere Urfachen haben 
ohne Zweifel die Einführung diefer Vorſchrift veranlaßt. Der Anbli von Hun- 
derten, die fih zur Gewinnung eines folhen Ablaffes in einer und derfelben 
Kirche mit reumüthigen Herzen verfammeln, ift jedem Einzelnen eine mächtige 
Aufforderung, fih dem Dienfte Gottes ohne Vorbehalt zu widmen: die hiebei 
gewöhnlichen Bußpredigten, Proceffionen und übrigen feierlichen Gottesdienſte 
beftürmen das Gemüth, alle Einwendungen, durch die die Sinnlichfeit ven Ent- 
fhluß, nah dem Einen Nothwendigen zu ringen, unfräftig machen möchte, mit 
männlicher Kraft zu erfticken: der Reichthum von Erinnerungen von wunderbaren 
Gebetserhörungen, die fih den Gläubigen nicht felten in Ablaßfirchen darbieten, 
flößt Vertrauen ein, daß Gott, der das Wollen gab, auch das Vollbringen geben 
werde: das glänzende Tugendbeifpiel, durch das ein Heiliger, deffen Andenken 
der Gegenftand der Feier ift, voranleuchtet, muntert zur Nachfolge auf. Vergl. 
hierzu die Art, Cultus und Gottesdienſt. [Brauner,] 
Kirchenbücher im weiteren Sinne hießen bei den Alten alle Schriften, welche 
mit dem chriftlichen Cult in Berührung ftehen und bei gottesdienftlichen und reli- 
gidfen Acten gebraucht wurden, wie der Evangelieneoder oder das Synararium, 
das Lectionarium, der liber poenitentialis, das Breviarium, das Rituale und Cere- 
moniale 20.5 im engeren Sinne und heutigen Sprachgebrauche aber verfteht man 
Darunter die zur Beurkundung der wichtigften auf das firchliche Leben fich bezie- 
benden Acte (als Taufen, Trauungen, Beerdigungen) angefertigten Berzeichniffe, 
Da diefe kirchlichen Functionen nur an Pfarr- und größeren Filial-Rirchen vor- 
genommen werden, und den Pfarrern die Beforgung und Aufbewahrung diefer 
Liften übertragen ift, fo heißen fie auch vorzugsweife Pfarrbüher, Pfarrma- 
trifel, 1. Der Urfprung der Tauf- und Sterb-Regifter ift fehr alt, und führt 
in die erften Jahrhunderte zurück. Sp wiffen wir wenigſtens bezüglich der Taufe, 
daß die Ratechumenen einige Zeit vor dem Empfange derfelben (in der abendlän— 
difchen Kirche gewöhnlich in der vierten Faftenwoche) dem Biſchofe ihre Namen 
anzugeben hatten, um in die Mutterroffe oder das Verzeichniß der Täuflinge 
(liber vitae, catalogus catechumenorum) eingetragen zu werden (Binterim, com- 
ment. hist.-crit. de libris Baptizatorum etc., Düsseldorf. 1816.). Freilich muß hiebei 
noch an Feine allgemeine, fefte und gleichmäßige Hebung gedacht werben. Erft 
das Triventinifche Eoneil hat in durcdhgreifender Weife den Pfarrern die forgfäl- 
tige Führung eines Buches eingefchärft, in welches die Namen der Getauften und 
ihrer Pathen eingefchrieben werben folfen (Conc. Trid. Sess. XXIV. c. 2 De ref. 
matrim.) Den Grund zu den Todtenbüchern mochten die alten Diptychen oder 
jene Verzeichniffe gelegt haben, in welche die an einer Kirche angeftellten Cleriker 








Kirhenbüder. 127 


und die als Stifter der Kirche oder fonftige Wohlthäter derfelben ausgezeichneten 
Laien, um fie theild als annoch lebende Mitglieder der Gemeinde (Diptych. vi- 
vorum), teils, wenn fie gottfelig in der Gemeinfchaft der Kirche geftorben (Dipt. 








mortuorum), nad ihrem Tode in frommer Erinnerung zu bewahren und dem Ge- 
bete der fommenden Gefchlechter zu empfehlen, eingetragen, aber auch, wenn fie 
fih öffentlicher Berbrechen —— gemacht, aus denfelben wieder ausgeſtrichen 
wurden (ſ. Diptychen, Bd. III. S. 173 f.). Aber nicht alle Gläubigen, ſon— 
dern nur gewiffe durch isre Stellung und befondere Beziefungen zur Kirche her— 
vorragende Perfönlichkeiten pflegten in diefe Tabellen aufgenommen, und ihre 
Namen zum frommen Gedächtniſſe an beftimmten Tagen Öffentlich in der Kirche 
abgelefen zu werden. Diefe rituelle Seite der Diptychen verlor fid jedoch mehr 
und mehr, und nur an manchen Kirchen befteht noch als Ueberbleibfel jener ur- 
alten Gewohnheit die Sitte, die Namen der Stifter und befonderer Wohlthäter 
der Kirche an Sonn- und Fefttagen nach der Predigt oder an beftimmten Bruder- 
fchafts-Conventtagen während des Gottesdienftes zu verfünden und für fie zu beten, 
Abgefehen von diefem religiöfen Gebrauche hat fich die Anlegung von regelmäßigen 
Sterbregiftern als chronologifcher Berzeichniffe aller in einer Pfarrei verftorbenen 
Mitglieder der Gemeinde nur allmählig, und in einer der heutigen Einrichtung 
analogen Weife erft gegen Ende des XVI. Jahrhunderts gebildet, Ebenfo ſchwau— 
fend find die Anfänge regelmäßiger Trauungsbücder, und es fann, wenngleich 
durch die Sorgfalt einzelner Bifchöfe und den feelforglihen Eifer einzelner Pfar- 
zer ohne Zweifel auch hierin manches gefhah, doch nicht mit Sicherheit an eine 
frühere und allgemeinere Praris angelnüpft werden. Auch in diefer Beziehung 
hat erft das Concil von Trient durch eine allgemeine Verordnung die Pfarrer ver- 
pflichtet, ein eigenes Buch zu halten, darin die Namen der Getrauten, der Ehe— 
zeugen, und Zeit und Drt der Eheſchliehung verzeichnet fein ſollen (Conc. Trid. 

Sess. XXIV. c. 1 De ref. metrim.). Diefe Anordnung regelmäßiger Tauf- und 
Ehe Matriter durch das Tridentinum wurde von da ab durch die Provincial- und 
Dideefanfgnoden wiederholt und vervollftändiget, und um diefelbe Zeit auch die 
Haltung von Todtenliften, fowie fpäter die Anlegung von Berzeichniffen der Firm- 
linge ze, vorgefihrieben. IL. Sp erweiterte fih die Zahl der Kirdenbüder 
allmahlig auf fünf, wie folde das römifche Ritual im Anhange aufträgt: 1) das 
Tauf-, 2) das Firm-, 3) das Ehe-, 4) das Todtenbuh, und 5) der liber status 
animarum. Unter legterem verfteht man die nach fortlaufenden Jahren zufam- 
mengeftellte tabellarifche Ueberſicht aller in einer Pfarrgemeinde während eines 
Jahres Geborenen, Gefirmten, Getrauten und Geftorbenen, zu welchen Haupt- 
zubrifen jedoch in Unterabtheilungen vder a latere verfchiedene weitere Aufichlüffe 
zu geben find, 3. B. ob und warum ein Kind etwa ohne Taufe oder Nothtaufe, 
oder ſchon Erwachſene ohne Sacramente geftorben; wie viele Kinder bereits zum 
Empfange des Sacramentes der Buße, wie viele zur erften Communion zuge— 
laffen worden, wie viele zum Empfang der Firmung vorbereitet find, oder die= 
felbe bereits empfangen haben; ob und wie viele Paare in Schein-Ehe oder Con— 
eubinat leben; welche Eheleute mit oder ohne Permittimus discohabitiren u. dgl. 
Noch zählen Einige hieher 6) das Verfündbuh, d. i. das von Woche zu Wode 
fortgeführte und jedesmal am Sonntag öffentlich zu verfündende Berzeihniß der 
im Laufe der Woche abzuhaltenden Gottesdienfte, geftifteten Jahrtage, Seelen- 
meffen und anderer Andachten, fowie der ehelichen Aufgebote und fonftiger der 
Gemeinde mitzutheilenden ficchlichen Bekanntmachungen ; und 7) das Befehlbuch, 
darin die oberhirtlichen allgemeinen oder bejonderen Verordnungen chronologiſch 
oder materienweiſe bald in extenso bald nur augzugsweife eingetragen und refp. 
allegirt werden, Allein zunächſt kommen bier nur die Tauf-, Trauungs- und 
Todten⸗ Liſten wegen ihrer nicht bloß kirchlichen, ſondern auch flaatsrechtaien Be⸗ 
deutung in Betracht. IL Die Form dieſer drei Matrikel wurde früher durch die 


128 Kirhenbüder, 


Synoden, in neuerer Zeit, feit dieſe Verzeichniffe zugleich als Quellen der Be— 
völferungsliften und Livilftandsregifter angefehen und behandelt werben, faft 


überall von der Staatsgefeggebung — bald ausschließlich bald im Einvernehmen 


mit den Bifchöfen vorgezeichnet. 1) Das Geburts- oder Taufregifter enthält 
den Namen des Kindes, den Tag der Geburt und Taufe deffelben; Tauf- und 
Gefchlechtsnamen, Stand und Eonfeffion der Eltern und Pathen, Namen des die 
Taufe vollziehenden Geiftlichen, und der Hebamme, Polizeiliche Maßregeln fordern 
wohl auch die Vormerfung todtgeborner Kinder, fowie unreifer und monftröfer 
Geburten, Unehelihe Kinder werden ausdrücklich als folche bezeichnet, und in der 
Regel nur der Name, die Abflammung und Eonfeffion der Mutter; der des Va- 
ters nur dann eingetragen, wenn diefer fich freiwillig als folcher vor dem Pfarr- 
amte mündlich oder fehriftlich befannt, oder durch gerichtliche8 Paternitätserfenntniß 
als Vater des Kindes declarirt wird, Etwaige Legitimation per subsequens ma- 
trimonium wird nachträglich an Drt und Stelle bemerkt, 2) Die Ehematrifel 
enthält Tauf- und Familiennamen, Alter, Stand und Eonfeffion des Ehemannes; 
Namen, Abftammung, Alter und Confeffion der Ehefrau, Namen und Stand der 
Trauungszeugen oder Beiftänder, Zeit und Drt der Trauung, Name des Pfar- 
rers ꝛc. Wenn der eine ober andere Ehetheil bereits Wittwer oder Wittwe ge— 
wefen, ift der Tegalgefertigte Todtenſchein des vorigen Gatten zu ven Acten zu 
nehmen und in der Matrifel vorzumerfen, Wenn ein Ehepaar mit päpftlicher ober 
bifchöfficher Difpens in Ehehinderniffen oder mit Nachficht des ehelichen Aufge- 
botes, oder mit Vollmacht des zufländigen Pfarrers von einem andern nicht ſchon 
generaliter mandirten Priefter und in einer fremden Pfarrei getraut wird, fo muß 
ſolches in margine ausdrücklich aufgeführt werden, Ebenfo ift nachträglich an der 
Stelle der eingetragenen Copulation zu bemerken, falls fpäterhin ven Eheleuten 
von Tifh und Bett getrennt zu leben geftattet, oder die gefchloffene Verbindung 
wegen unheilbaren Nullitätsgrundes von dem competenten Kirchenoberen als un— 
gültig und vom Bande gelöst erklärt, oder aber eine derlei getrennte Ehe öffent- 
lich revalidirt werben müßte, 3) Im. ähnlicher Weile befagt das Sterb- oder 
Todtenregifter den Tauf- und Familiennamen, Alter, Stand und Eonfeffion 
des Defuncten, die Zeit des Todes und der Begräbniß, ob mit oder ohne Em- 
pfang der Sacramente, mit oder ohne ärztliche Behandlung, und an welcher Kranf- 


beit (nach) Angabe des ordinirenden Arztes und beziehentlich des Tpdtenbefichtigers) 
er geftorben, Wegen der Wichtigkeit diefer Aftenftüde ift ihre Anfertigung und 


Aufbewahrung in duplo faft überall gefeslich ausgefchrieben, fo daß das eine 
Eremplar in der Kirche (Saeriftei), das andere in der Pfarr-Negiftratur hinter- 


Yegt werben fol, IV. Die Geburts-, Ehe- und Todtenregifter haben durch bie. 


betreffenden Landesgefete überall die Auctorität öffentlicher Urkunden, und 
begründen daher unter der Vorausfegung, daß die formellen Erforberniffe, durch 
welche die Glaubwürdigkeit dffentlicher Documente überhaupt bebingt if, einge- 
halten, und die Nubrifen nach officiellen pflichtmäßigen Anzeigen ausgefüllt worden 
find, über die durch fie beglaubigten Thatfachen einen vollen Beweis, der nur 
durch den vollftändig gelungenen Gegenbeweis der Fälſchung oder der nicht vor— 
handenen Zdentität der fraglichen Perfon aufgehoben werben kann. Die Führung 
und Aufbewahrung der Bücher und deren Duplicate fteht in Teutſchland, abge- 
fehen von denjenigen Provinzen, wo unter dem Einfluffe des franzöfifchen Rechtes 
die Civilbeamten an die Stelle der Geiftlihen getreten find, regelmäßig den 
Pfarrern, fowie die Aufficht über den richtigen Vollzug der deßfalls erlaffenen 
Borfehriften zunächft den geiftlihen Behörden, den Decanen und bifchöflichen 
Drdinariaten zu; und eine Vifitation der Kirchenbücher durch die weltlichen Be— 
hörden fann nur bei obwaltenden näheren Indieien pfarr- oder decanatamtlicher 
Pflichtverlegung, und auch hier nur bezüglich der einer folchen Vermuthung an—⸗ 
heimgefalfenen Pfarrämter verfügt werden, Alle Zeugniffe aus den Pfarrbüchern, 





Kirhenbuge — Kirhengeräthe, 129 


wenn fie öffentlichen Glauben haben follen, müffen legal d. i. vom Pfarrer ſelbſt 
mit Unterfhrift und beigedrucdtem Amtsfiegel gefertiget fein, und dürfen an Aus- 
wanderer, Militärpflichtige, fowie an Unbefannte oder wie immer verdächtige 
Individuen nur auf fpeciellen Vorweis von Seite der betreffenden Diftricts- 
volizeibehörde ausgeftellt werden. Vgl. übrigens über diefen Artikel, außer Bin- 
terims obenerwähnter Schrift, noch C. Beer, wiſſenſchaftliche Darftellung 
der Lehre von den Kirchenbüchern, Frankfurt 1831. 8.3 U ihlein über den 
Urſprung und die Beweiskraft der Pfarrbücher, im eiviliſtiſchen Archiv Bd. XV. 
©. 26. ff. Vgl. Hierzu den Art. Instrumentum. [Vermaneder.] 
Kirchenbuße, f. Bußeanones, Bußgrade und Bußwerfe, 
Kirchendiener nennt man im weiteften Sinne alle diejenigen, die bei dem 
Eultus aus Auftrag der Kirche in irgend einer Weife functioniren. Sole find 
fomit nicht bloß alle Mitglieder der Hierarchia ordinis ex jure divino seu eccle- 
siastico (Bifchöfe, Priefter, Diacone, Subviacone, Afolythen, Eroreiften, Lee— 
toren und Dftiarier); fondern auch Miniftranten, Sacriftane (Mefner, Küfter), 
Glöfner, Organiſten, Kirchenfänger (Choraliften, cantores) fammt den übrigen 
Kirhenmufifern, Fahnenträger, Zechpröbfte, Todtengräber, fowie auch die ehema— 
ligen Diaconiffinnen. Es billigt diefe weite Auffafjungsweife ſchon der HI. Paulus, 
indem er felbft die Apoftel „Ministros Christi“ nennt (1 Eor. 4, 1). In einem 
engern, mehr gewöhnlichen Sinne wird dieſer Name allen jenen Cultdienern ge— 
geben, die nicht zur Hierarchia ordinis gehören, fomit Miniftranten, Mefnern 
8. f. w. Die Rirchendiener in diefem engern Sinne treten ihren Dienft an, ohne 
biezu eine Weihe erhalten zu Haben; nur die ehemaligen Diaconiffinnen wurden 
geweiht. Die Anftellung derfelben ift Sache des Pfarrers, wenn nicht das Her- 
fommen oder irgend ein fpecieller Rechtstitel eine Ausnahme begründet. Letzteres 
ift befonders bei Küftern gewöhnlich der Fall, deren Ernennung häufig Sache des 
Kirchenpatrones, und aus diefem Titel der Staatsregierung iſt. Vgl. die Artikel 
Hierarchie und Ordines. [ör. X. Schmid.] 
Kirchendirectorium, ſ. Directorium, 
Kircheneinweihungspredigten, ſ. Einweihungspredigten. 
Kirchenfabrik, ſ. Fabrica. 
Kirchengebet, ſ. Gebet der Kirche. 
Kirchengebot, ſ. Gebote der Kirche. 
Kirchengeräthe heißen die zur Vornahme der Hl. Handlungen beſtimmten 
Gefäße und zur inneren Einrichtung und Ausfhmüdfung der Kirchen und Altäre 
gehörigen Gegenftände. 1) Die zum gottesdienftlihen Gebrauche beftimmten 
Gefäße find: die Patena und der Kelch nebft Zugehör (das Kelchtuch, das Cor— 
porale mit der Burfa, die Palla und das Purificatorium), der Tabernafel mit 
dem darin verfhloffenen Ciborium und der Monftranze, die Büchfen zur Aufbe- 
wahrung des Chrisma und der Olea sacra Catechumenorum und Infirmorum, die 
 Opferfännchen, das Rauchfaß mit dem Schiffen, ver Weihwafferfeffel mit dem 
Aſpergill. 2) Die regelmäßigen Ornamente des Altares bilden: die Altarleinen, 
das Altarblatt, das Erucifir, die Canontafeln, die Altarleuchter, das Pult oder 
' Kiffen zur Unterlage des Meßbuches, das Antependium (f. Altarſchmuck Bd. J. 
' ©. 185). 3) Die übrigen Geräthe der Kirche find: die Glocken, Reliquien- 
käſtchen, Kreuzwegtafeln, Bilder und Statuen, Lampen und Wandleuchter, der 
) Traghimmel, die Sedilia und in Cathedralfirchen der Thronſeſſel, der Faltſtuhl, 
| die Chorftühle im Presbyterium, die Predigtfanzel, die Beichtftühle im Schiff 
der Kirche, der Taufftein, die Fahnen, die Orgel ıc. A) Im weiteften Sinne 
ı gehören hieher auch die bei der Feier des Gottesdienfies von dem Dfficiator und 
den dienfttäuenden Geiftlichen und Altardienern gebrauchten Gewänder: der Talar, 
i das Birret, das Yumerale, die Alba, das Cingulum, das Manipel ‚, die Stola, 
die Eafula, die Dalmatif, das Pluviale, das Velum (ſ. Kleider, heiti ge). 
N Kirchenlexikon. 6. Bo, 9 








} 


130 Kirhengefang — Kirchengeſchichte. 


Mehrere dieſer Gefäße und Paramente werben theils conſecrirt, theils benedieirt | 


(f. Segnung); alle aber als Kirchenzubehör mit vorzüglicher Achtung behandelt, 

und deren Entwendung, Verlegung und Profanation auch nach bürgerlichen Straf- 

und Polizeigefegen firenger geahndet, [Permaneder,] 
Kirchengefang, f. Muſik, chriſtliche. 


Kirchengefchichte, Begriff, Aufgabe, Eigenfhaften, Eintheilung, 
Duellen und Literatur, Die Kirche ift eine Religionsgenoſſenſchaft; aber 


nur eine von Gott geftiftete Religionsgenvffenfehaft ift dem Sprachgebrauche und 
der Etymologie gemäß eine Kirche, Ohne Zweifel iſt nämlich der Ausdruck Kirche 
niht von dem altteutfchen Worte füren, d. 1. wählen, wie Dr. Sepp (Reben 
Chriſti II. 151) und Andere wollen, abzuleiten, fondern von dem griechifchen Ety- 
mon zugros (Herr), und zwar näherhin von dem Adjectiv zugeaxn), wozu ent- 
weder &xrAnoia Berfammlung) oder oizi« (Haus) zu fubintelligiren ift. Daraus 
erklärt fih aud, wie das Wort Kirche bald die ganze Genoffenfchaft der Chrift- 


gläubigen, bald nur ein einzelnes Gebäude für deren Gottesdienft bedeuten kann, 


je nachdem nämlich das eine oder das andere Subftantiv ExxAnola oder olzi« 
dem Adjeetive zupuaxr) in Gedanken beigefügt wird. Schon bei Eufebing CHist. 


ecel. IX. 10) nennt der Kaiſer Marimin die Bethäufer der Chriften za zugıaxu 


oizeia, Eufebius felbft aber läßt wenige Sätze fyäter bereitd das Subftantiv 


hinweg und gebraucht das Adjectiv zuouza gerade fo wie das Wort Kirhem 
Es iſt dieß ein Beweis, daß ſchon frühzeitig in der griechifchen Kirche diefe präg= 
nante Anwendung des Adjectivs flattfand, von den Griechen aber ging diefe Sitte 
zu den Gothen, von diefen zu den übrigen Germanen und dem feandinavifchen 
Norden, diefer alten Heimat der Gothen, über, Die Gothen Haben darum dag 
Wort kyrch, die Schweden kyrka, die Dänen kyrke. Daß aber das Wort einen 


E 
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griechiſchen, nicht einen teutfhen Urfprung habe, zeigt fich auch darin, daß auf 
nichtteutfche, nämlich jene flavifihen Stämme, welche von Griechenland aus be 
fehrt wurden, fich deffelben Wortes nıit geringer Veränderung bedienen. So ha- 
ben die Polen ihr cerkiew, die Nuffen zerkow, die Böhmen zyrkew. Die Römer 
Dagegen, und darum auch die romanischen Völker haben dem Subftantiv Exxinole 


vor dem Adjectiv zvgıezr den Borzug gegeben. — Stammt aber unfer Wort 
Kirche von zuoros her, fo bezeichnet es etymologifch nicht jede, fondern nur eine 
von Gott, dem Herrn zur’ ESoyrv, gegründete Neligionsgemeinfhaft, und da⸗ 


mit flimmt auch der Sprachgebrauch überein. Unter den zahlreichen Religions- 
genvffenfhaften nämlich, welche eriftiren und je exiftirten, find nach unferer 
Ueberzeugung nur zwei von Gott geftiftet, die jüdiſche und die hriftliche, oder 
die alte und die neue Heilsdeonomie, und in der That fprechen wir auch (wenig 


ſtens die Unterrichteten) nur von einer jüdiſchen und chriſtlichen, nicht aber von 
einer heidniſchen, paganiftifchen, polytheiftifchen ze, Kirche, auch nicht von einer 
mohammedanifchen.- Dem Gefagten gemäß verſtehen wir num unter chriſtlicher 


Kirche den von Chriſto im Auftrage des Vaters geftifteten religidfen Verein 


zur Erlöfung der Menfchheit. Wie aber nur ein Chriftus, fo nur eine Kirche, 


Die Abweichung von diefer im Lehrbegriff oder Dogma heißt Härefie oder 
Ketzerei; die Abweichung von ihr in der Disciplin oder Verfaſſung heißt 
Schisma (f. Kirche, Hriftlihe), Da e8 übrigens eine jüdiſche und eine chrift- 
liche Kirche gibt, fo ift Har, daß die Rirchengefchichte ihrem ganzen Umfange nach 
ebenſowohl die Gefchichte der jüdiſchen als der chriftlihen Religionsgeſellſchaft 
zu umfaffen hat, und namhafte Gelehrte haben fie auch in diefer ausgedehnten 
Weiſe behandelt, Sp enthält die Historia ecolesiastica von Natalis Alerander in 
ihren zwei erften Foliobänden, die berühmte Stolberg’fche Gefchichte der Religion 


Jeſu Chrifti in ihren vier erfien Octavbänden eine Kirkhengefihichte des A, Tr 


Diefem Beifpiele folgte in der neueflen Zeit Abbe Rohrbacher, Profeffor am bi= 
ſchöflichen Seminare zu Nancy, indem bie drei erfien Bände feines ſchönen und 








Kirchengeſchichte. 131 


an Werkes (in 29 Dftavbänden, Paris 1842—1848) der altteftamentlichen 
Kirchengeſchichte gewidmet find. Gemwöhnlicher dagegen ift es, unter Rirchen- 
gefhichte nur die Geſchichte der hriftlihen Kirche zu verfteben, und dieſe en= 
‚gere Auffaffung feſthaltend, beftimmt fih uns 1. der Begriff der hriftlihen 
Kirchengeſchichte in folgender Weife: Der Ausdruck Gefhichte fann in dop- 
Sinne genommen werden c) objectiv, ald Summe des Gefchehenen und 
Dtehnifch, als Darftellung oder Erzählung des Geſchehenen. Demgemäß 
verſteht man unter Kirchengefhichte ©) in objectivem Sinne den ganzen zeit- 
lichen Berlauf des von Chriſto geftifteten religiöfen Vereins oder des Rei— 
ches Gottes auf Erden; 2) in technifhem Sinne dagegen ift die Kirchengefchichte 
Die Darftellung des zeitlichen Verlaufes diefer von Chriſto geftifteten reli- 
‚giöfen Gemeinfhaft, — Suchen wir hienach II. die Aufgabe der Kirchen— 
gefhichte näher zu beſtimmen, fo hat diefelbe darzuftellen: 1) wie die Kirche 
ihre innere univerfaliftifhe Anlage entwidelt Hat durch ihre Ausbreitung unter 
alle Bölfer; 2) wie fie ihr inneres Wahrheitsbewußtfein zum kirchlichen Lehr- 
‚begriff und zur kirchlichen Wiffenfhaft entwickelt — im Kampfe mit der Härefiez 
3) wie ihre innere Gottesfehnfucht nach und nach den herrlichen Cultus erzeugt; 
4) wie aus ihrem innern Organifationstrieb nach und nach die majeftätifche und 
fein gegliederte Kirchenverfaffung entftand, und wie 5) der innere Sündenabſcheu 
bie heilige Sitte und Kirchenzucht emportrieb *). Nach diefen fünf Hauptmomenten 
Hat die Kirhengefchichte den Verlauf des göttlichen Reiches auf Erden zu befchrei= 
ben. Zeigt fie diefen Verlauf nach alfen fünf genannten Richtungen, bei allen 
Volkern, zu allen Zeiten, und wird zugleich diefer Verlauf ald ein Ganzes auf- 
gefaßt und dargeftellt, fo entfteht die Univerfalfirdengefhichte. Diefelbe 
will jedoch fo wenig, als die Weltgefchichte in fofern univerfal fein, als ob jedes 
einzelne Factum, das kleinſte wie das größte, das unbedeutende wie das bedeu— 
tende, von ihr einregiftrirt würde ; fondern nur in foweit, als Nichts, was inner- 
halb des Firchlichen Gebiets irgendwo und irgendwann von Bedeutung gefchehen, 
von ihr ausgefchloffen wäre. — Soll fie aber ihren Zweck erreihen, fo muß fie 
IM. folgende Eigenfhaften Haben: fie muß 1) unparteiifch fein, von aller 
abfihtlihen Unwahrheit frei. Damit ift jedoch nicht gefagt, dag der Kirchenhiſto— 
riker, um ganz unparteiiſch zu fein, eigentlich Feiner Kirche angehören follte, fonft 
müßte auch derjenige am beften die teutfche Gefchichte befchreiben fünnen,, der 
nicht den geringften Funken von Vatriotismus in fih fühlt, und Thucydides und 
Taeitus würden zu den fihlechteften Hiftorifern gezählt werden müffen, Sehr ſchön 
ſprachen fih Hierüber die Göttinger gelehrten Anzeigen vom 8. April 1844 S. 565 
alſo aus: „Die Parteilofigkeit befteht nicht darin, daß man weder Schwarz noch 
Weiß, fondern Aſchgrau — Melange fei,” fondernnur, daß man „fich bei dem Führen 
des hiſtoriſchen Griffels nicht von Leidenſchaft beeinfluffen Iaffe. Dieß allein ift 
es ja auch, was man unter der Parteilofigfeit eines Hiftorifers zu verflehen hat; 
denn daß er als freier, urtheilsfähiger Mann fih im folonifchen Sinne auf die 
eine Seite ftellen muß, verfteht fih von ſelbſt.“ Wir fügen bei: die Unpartei- 
dipfeit des Hiftorifers befteht in der Beobachtung der zwei furzen aber inhaltd= 
zeichen Regeln: ne quid falsi dicere-audeat, ne quid veri non audeat. Aber außer 
der abfihtlichen durch Parteilichkeit herbeigeführten Entftellung der Wahrheit gibt 
es auch eine mehr unabfichtliche, nicht auf einem Mangel des Wollens, fondern 
des Wiſſens beruhende, und darum muß die Kirchengefchichte 2) auellenmäßig 
und kritiſch fein, Wer feine Kenntniß der hriftlihen Vergangenheit nicht aus 
‚deren Doeumenten ſelbſt ſchopft, fondern nur blindlings Anderen nachbetet, oder wer 


Nehreres hier und im Folgenden Gefagte hat Aehnlichteit, in Gedanken und Aus- 
a mit einzelnen Paragraphen der Einleitung ‚zur Alzog'ſchen Kirchengeſchichte. Cs 
rührt dieß von handſchriftlichen Bemerkungen ber, die ich meinem verehrten Freunde Dr. Al— 
308 zu beliebiger Benügung mittheilte. ie x 

9 





132 Kirchengeſchichte. 


die alten Doeumente und Quellen zwar liest, aber nicht prüft, ihre Glaubwür⸗ 


digfeit nicht unterſucht, die unächten nicht ausfcheidet, die verfchiedenen nicht ein- 
ander entgegenhält u, dgl., der kann niemals eine auch nur mäßige Sicherheit 
biftorifcher Renntniffe erwerben, Er vermengt unvermeidlich Falfıhes mit Wahrem 


und bringt das Unfraut mit dem Warzen zu Markte. Die Kirchengefchichte muß 


3) pragmatifch fein, d. h. den Zufammenhang der Erfcheinungen auffaffen, 
den Gründen und Urſachen, ven Folgen und Wirkungen nachfpüren, und überall 
den Caufalnerus heroorleuchten laſſen. Aber neben dem wahren Pragmatismus 
liegt hier der gefährliche Abweg des falfchen Pragmatismus, der immer nur die 
nächſten und oberflächlichften Urfachen und Wirkungen fieht und über die Trivialität 
hausbackener Reflexion nicht hinauskommt. Um aber wahrhaft pragmatifch fein 
zu fönnen, muß die Kirchengefchichte 4) auch religibs fein, fonft ift fie ihrem 
eigenen Gegenftande fremd und verfteht die Erfcheinungen im Gottesreiche nicht. 
Religibs aber ift fie, wenn fie Alles auf den abfoluten Urgrund, auf Gott bezieht 
Möpler, gef. Schriften II. 269), und im fogenannten Zufall nur das Incognito 
der Vorfehung erblickt, Es gibt jedoch auch eine ganz falfche Art von religidfer, 





eigentlich pietiftifcher Gefchichtsbehandlung, welche nur die eigene Gedanfenfaul- - 
heit unter frömmelnden Sprüchen verbirgt, überall die göttliche Vorfehung wie 
einen Deus ex machina eitirt und zu ihrem höchften Ziele nicht die Wahrheit, 
fondern die fogenannte Erbaulichfeit wählt. Die Kirchengefchichte muß endlich 
5) wiffenfhaftlich fein, und fie ift es, wenn fie neben den bisher genannten 
Hier Eigenfchaften noch flets ihren Begriff — Darftellung des zeitlichen Verlaufs 
der hriftlichen Heilsanftalt — als ihr Princip und ihren leitenden Gedanken feft- 


hält, die einzelnen Erſcheinungen auf diefes Princip bezieht, als Theile deg ge- 
nannten Verlaufs auffaßt, und fo in ihrem Ganzen ihren eigenen Begriff ver- 
wirfficht, — Was aber weiterhin IV. die Diathefe des Firchenhiftorifchen Stoffes 
anlangt, fo gibt e8 in dem zeitlichen Verlaufe der hriftlichen Kirche einzelne un- 


verfennbar hervortretende Wendepuncte, und diefe felbft find wieder verfchieden 


an Bedeutung. Denn entweder if die von da eingetretene Veränderung eine 


durchgreifende oder nur eine partielle. Wo nun eine durchgreifende Ver- 
änderung beginnt, da entfieht ein neues Zeitalter, während die partielle Ver— 
änderung nur eine neue Periode begründet. Zeitalter aber zählen wir, befon- 
ders nach Möhler’s Vorgange, drei: 1) alte Zeit, fo Tange die antifen Völker 
(Griehen und Römer) die Träger des hriftlihen Lebens waren ; von Chriftus 
bi8 Carl d. Gr. 2) das Mittelalter, während die germanifchen und romani- 
fhen Bölfer, unter einem Haupte, dem Papfte, verbunden, die Träger des 
riftlichen Lebens waren; von Carl d. Gr, bis Luther. 3) Die neue Zeit, von 
der fogenannten Reformation bi8 zur Gegenwart, wo zwar diefelben Völker, aber 
nicht mehr in der Einheit der Kirche, den Vordergrund der Gefchichte inne haben, — 
Jedes diefer drei großen Zeitalter zerfällt wieder in zwei oder mehrere Perioden, 
und-zwar 1) die alte Zeit in zwei Perioden, deren Wendpunct Eonftantin d. Gr, 
ift: a) von Chriftus bis Conftantin, oder vom Beginn der Kirche bis zum Ende 
der Verfolgungen durch das Mailänder Edict im J. 313, d. i, die Zeit der um 
ihre Eriftenz Fämpfenden Kirche; b) von Eonftantin bis Carl d. Gr., d. i. die 
Zeit der dogmatifirenden Kirche oder der rafcheften Entwicklung des riftlichen 
Lehrbegriffs. 2) Das Mittelalter oder die Zeit der Kirchenhoheit zerfällt in vier 
Perioden: a) die erfle, eigentlich Vorperiode, erzählt die Chriftianifirung und 
damit Civilifirung der Germanen und Romanen, ihre Einführung in die hriftliche 
Kirche vom Beginn diefer Pädagogik bis zu ihrem relativen Abfchluß unter Carl 
d. Gr. b) Die zweite Periode geht von Carl's Tod im J. 814 bis Gregor’s VII. 
Erhebung im 3. 1073, und enthält die Entftehung der mittelalterlichen Kirchen— 
boheit fammt dem Kampfe zwifchen Barbarei und Gefittung. c) Die dritte, von 
Gregor VII bis Bonifaz VIII. (1073 — 1300) reichend, iſt die Blüthezeit der 





Kirchengeſchichte. 133 


mittelalterlichen Kirchenhoheit. d) Die vierte endlich, von Bonifaz VII. bis 
Luther, hat die vielfach und heftig auftauchende Oppofition gegen die mittelalter- 
liche Kirchenhoheit zu ihrem Charafter, 3) Das dritte Zeitalter, die neue Zeit, 
von der fog. Reformation bis zur Gegenwart, zerfällt in drei Perioden: a) von 
Luther bis zum weftphälifchen Frieden (1517 — 1648), oder die Zeit des großen 
Abfalls und des oft blutigen Kampfes der Confeffionen; b) vom weftphälifchen 
Frieden bis zum Ausbruch der franzöfifchen Revolution (1648— 1789): die Con- 
feffionen ftehen jegt bürgerlich friedlich, theils fogar gleichberechtigt, neben ein- 
ander, aber der große bittere Zwiefpalt dauert dennoch fort, bis am Ende diefer Pe— 
riode Sndifferentismus und Unglaube fich breit machen und das firliche Leben nach 
allen Seiten erlahmt. c) Die dritte Periode geht von der franzöfifhen Revolu- 
tion bis auf die Gegenwart, und ihr Charakter ift: Kampf der Kirche mit falfcher 
Staatsweisheit und neuem Heidenthume. — Die erfte und Hauptabtheilung der 
Kirchengefchichte ift demgemäß die hronologifhe. Die Maffe des Stoffes wird 
zuerſt chronologifch in Zeitalter und Perioden zerlegt; diefe aber werden nicht mehr 
in kleinere Zeitabfchnitte getheilt, fondern man zerlegt fie am beften nad den 
Materien, mit Rüdfiht auf die fünf Hauptrichtungen, in denen der Verlauf 
der kirchenhiſtoriſchen Entwicklung vor fih geht, fo daß Neal- und Zeitabtheilung 
mit einander verbunden erfcheinen, — Jene Canäle nun, welde aus der Vorzeit 
er Kirche in die Gegenwart herüberreichen und die Runde der vergangenen Jahr- 
underte uns zuführen, heißen V. die Duellen der Kirhengefchichte. Diefelben 
theilen fih 1) nah dem Verhältniß der Berichterftatter zu der Thatfahe in 
a) unmittelbare und b) mittelbare. Umnmittelbare heißen diejenigen, welche von 
Augenzeugen herrühren, vornehmlich amtliche Urkunden, Berichte von Autopten, 
Biographien großer Männer, von ihren Schülern gefohrieben u. dgl. Mittelbar 
dagegen find jene Duellen, deren Urheber, ohne Augenzeugen zu fein, den auf- 
gezeichneten Begebniffen nahe ftanden ©) ald Zeitgenoffen im Allgemeinen, oder 
PB) dadurch, daß fie aus Erzählungen, mündlichen oder fohriftlihen, von Zeitge- 
noffen gefchöpft Haben. 2) Nach der Form ihrer Leberlieferung theilen fi die 
Duellen a) in fohriftliche, b) in fogenannte Denkmäler, wie Statuen und Mün- 
zen (die Grabvenfmäler z. B. zeigen den Glauben der Urfirde an die Un— 
fterblichfeit, und eine Münze ift eine wichtige Duelle in der Geſchichte der Jo- 
hanna Papissa); c) Traditionen (nicht in dogmatifhem Sinne) oder Sagen, die 
ſich bei einzelnen Völfern und in einzelnen Gegenden fortgepflanzt haben. 3) Nach 
der politifchen oder firchlich-politifchen Stellung ihrer Urheber theilen fich die Quellen 
in a) öffentlihe und b) Privatquelfen. Deffentlich find die von einer amtlichen 
Perfon, Behörde, Corporation ausgehenden, wie päpftliche Bullen, Coneilien- 
 acten, Hirtenbriefe, liturgifhe Bücher, Drdensregefn, Erlaffe weltliher Re— 
genten, die ſich auf die Kirche beziehen, Reichstagsabfchiede u. dgl. Privatquellen 
dagegen find ſolche Doeumente, welche von Privatperfonen, oder wohl auch von 
amtlichen Perſonen aber in privater Eigenfchaft herrühren. Die Kirchengefhichte 
des Eufebiug z. B. ift eine Privatquelle, weil er nicht in feiner amtlichen Eigen— 
ſchaft als Bifhof, fondern in feiner privaten Eigenfchaft als Gelehrter das Werk 
verfaßt hat. Ein für die Kirchengefihichte wichtiger Hirtenbrief dagegen, von ihm 
erlaffen, würde zu den öffentlihen Duellen zu zählen fein. 4) Nach dem Reli- 
 gionsbefenntniß ihrer Urheber endlich find die Quellen entweder a) einheimifche, 
die von Chriften felber herrühren und zwar im engern Sinne von Mitgliedern 
ber eigenen Kirche; b) fremde Duellen dagegen nennen wir jene, welche entweder 
von Nichtchriſten herfommen (wie von den heidnifchen Hiftorifern Ammianus Mar- 
| eellinus und Zofimus) vder von einer unferer Kirche fremd oder feindlich ent— 
 gegenftehenden Secte. — Der Zugang zu diefen Ouellen war ehemals ungeheuer 
ſchwierig, jest aber find die meiften gedruckt in den Werfen der Kirchenväter und 
der Kirchenſchriftſteller aller Zeiten, in den Eonrilienfammfungen, den Bullarien, 











134 Kirchengeſchichte. 


den Kloſterregeln, Martyracten, Lebensbeſchreibungen der Heiligen (ſ. Bollan— 


diſten) ze, — Dem richtigen Gebrauche der Quellen muß ihre Prüfung voran⸗ 
gehen und diefe hat zu gefchehen in Betreff a) der Authentie, b) der Integrität, 
c) der Fähigkeit des Verfaffers und d) feines Willens, die Wahrheit zu fagen, 
VI. Wie die Kirchengefchichte felbft fo theilt fich auch bie Literatur derfelben in 
drei Zeitalter, A. Literatur des erften Zeitalters, 1) Den erften Anfang 
einer chriſtlichen Kirchengeſchichtſchreibung machte Hegefippus, ein zum Chriften- 
thum befehrter Jude (Euseb. Hist. eccl. IV. 22), welcher der apoftolifchen Zeit 
noch nahe ftehend (Hieron. de viris illust. c. 22), aus dem Driente über Corinth 
nah Rom reiste (Euseb. 1. c. IV. 22), unter dem Pontificate Anicets (ſ. d. A.) 
daſelbſt anfam, und bis in die Zeiten des Papftes Eleutherius Cunter Mare 
Aurel) dort verblieb (Euseb. IV. 11). Er blühte fomit um bie Mitte des zweiten 
Sahrhunderts, und wird von Eufebius (1. c. IV. 8) den berühmteften Kämpfern 


a? re 5 Fe en a u 


gegen die alten Häretifer beigezählt. Euſebius fagt auch, daß er viele Werke 


geſchrieben CI. c. IV. 22), namentlich aber in fünf Büchern „die reine Neberlie- 


ferung der apoftolifchen Predigt in ganz einfacher Weife erzählt Habe“, vmoun- 


nerıoausvog (. c. IV. 8). Euſebius gibt demnach Feine beſtimmte Aeußerung 


über den Titel diefes Werkes, ja er fagt nicht einmal, daß es vorherrſchend 


hiftorifch gewefen fei, vielmehr Fünnte es feinen Worten” zufolge gar wohl auch 


einen dogmatiſchen Charafter gehabt haben, Da jedoch Hieronymus in feiner Schrift 


de viris illust. 1. c. von Hegefippus fagt: omnes a passione Domini, usque ad suam 


aetatem, ecolesiasticorum actuum texens historias eto., fo glaubte man fich hiedurch 


berechtigt, in den Urrouvnuarıocusvog des Eufebius eine beflimmte Hinweifung 
auf den Titel der Hegefipp’fchen Schrift erblicken, und den Worten des Hieronymus 
gemäß Cecclesiasticorum actuum) vermuthen zu dürfen, die fünf Bücher hätten 
die Ueberſchrift Urrourruore TWv Exxlmoraorızav noageom geführt. Schon 
Photius (Biblioth. cod. 232), eigentlich Stephan Gobarus (ein tritheiftifcher Mo— 


nophyſi t im fechsten Jahrh.) bei Photius nennt fie vrouvnjuere, jedoch ohne 


weitern Beiſatz. Euſebius gefteht felbft Cl. c. IV. 8), daß er dieß Wert bei feiner 


Erzählung der in der apoftolifchen Zeit sorgefalfenen Begebenheiten fehr oft bee 
nüßt habe (es war alfo Hiftorifch) ; ja er hat fogar glücklicher Weife eine ziem- 


liche Anzahl Stellen verfelben geradezu in feine Kirchengeſchichte herübergenom— 
men, und uns fo, da leider das Werk felbft verloren gegangen ift, wenigſtens 
einige Fragmente gerettet, Es find die acht Fragmente im eigentlichen Sinne: 
zwei über die alten Häretifer Cbei Euseb. IV. 22), zwei über Simeon, Biſchof von 
Serufalem (II. 32), eins über die Verwandten Chriſti, wie fie vor Domitian 
(ſ. d. Art) geftellt wurden (II, 20), eins über den Tod Jacobi d. j. (II. 23), 
eins über die Kirche von Corinth (IV. 22) und eins über die Vergötterung des 
Antinous (IV. 8). Außerdem beruft ſich Eufebius noch drei andre Male (IN. 11, 
16, IV. 22) auf Hegefippus, ohne jedoch deffen eigene Worte anzuführen, End- 
lich Hat auch Photins CBiblioth. cod. 232) ein Fragment Hegefipp’s über die un- 
richtige Auffaffung der Stelle Iſ. 64, 4 aufbewahrt, Alle diefe Fragmente hat 
Routh, reliquiae sacrae, T. I. p. 189 sqq. am vollſtändigſten gefammelt und 
eommentirt; fie finden ſich jedoch auch bei Grabe, Spicileg. I. und Galland, 
Biblioth. P. P. T. H. 59. Wahrſcheinlich Hat Hegefippus auch eine kirchenhiſtoriſche 
Särift über die Reihenfolge der römischen Biſchöfe bis Anicet (3. 157) verfaßt, 
wenigfieng [Heinen feine eigenen Worte bei Eufebius IV. 22: duadoynv Erron- 
oaumv ueyoıs Avınyrov in dieſem Sinne genommen werden zu müſſen, wäh- 
vend fie Valeſius ganz unrichtig alfo überfegte: mansi ibi apud Anicetum, als ob 
der Text dıaroußrv flatt duadoxrv, und rraga ftatt uexgıs hätte, Vgl. Pearfon 
bei Routh, 1. c. p. 244 und Origines de l’öglise romaine p. 56 (Tüb, Duartal- 
ſchrift 1845 ©, 311 f.). Diefer Catalog ift jedoch vielleicht nur ein Theil 
des obgenannten Werfes in fünf Büchern gewefen, 2) Der eigentliche Vater der 





girchengeſchichte. 135 


Kirchengeſchichte wurde Eufebius, Bifhof von Cäfarca in Palaſtina, in der 
erſten Hälfte des vierten Jahrhunderts, und er ſchreibt ſich dieſe Ehre auch aus⸗ 
drüucklich ſelbſt zu im Prodmium zu feiner Kirchengeſchichte B. J. €. 1. Dieſer 
große Gelehrte hat außer feinen wichtigen apologetiſchen, dogmatiſchen, exegeti— 
ſchen ꝛc. Schriften auch eine Reihe Hiftorifcher Werke gefertigt, unter denen zwar 
nicht der Zeit aber dem Range nad obenan ſteht a) jeine Exrlmocorızı, i0- 
zooie in zehn Büchern, von Chriſtus bis zum Siege Conftantins über Licinius 
im 53. 324, alfo bis zum Beginn der Alleinherrfchaft Conftantins reichend, Ob 
Eufebius dieß Werf no vor Eröffnung der Nieäner Synode im J. 325 been- 
digte, oder erft einige Jahre hernach, ift zweifelhaft, aber die erftere Anficht hat 
größere Wahrſcheinlichkeit. Es ift namlich @) faum glaublich, dag Eufebius aus 
dem Grunde, weil er den Arianern Halb und halb günftig war, abfichtlich beim 
Nicanum in feiner Erzählung habe abbrechen wollen, denn er fpricht ja davon au 
ziemlich ausführlich in feiner Vita Constantini lib. II. c. 6 sqq. Außerdem wird 2) Eri- 
ſpus in der Kirchengeſchichte X. 9 wiederholt mit den fhönften Lobfprüchen beehrt, 
was Eufebius als Günftling Eonftantins ſchwerlich gethan hätte, wenn Erifpus ſchon 
hingerichtet gewefen wäre, Er wurde aber im 3. 325 auf Befehl Eonftantins 
ermordet. — Bei Ausarbeitung feines Werkes benügte Eufebius eine Menge 
alter Doeumente, die Schriften ver Kirchenväter, Briefe, amtliche Edicte und 
Urkunden aller Art. Namentlich aber fanden ihm, auf befondere Erlaubnif des 
Kaiſers, die Archive des ganzen Reiches zu Gebote, Als nämlich Conftantin 
während feiner Anwefenheit in Cäſarea den Biſchof aufforderte, für feine Kirche 
eine Gnade zu erbitten, erwiederte Eufebius : „feine Kirche bedürfe feiner wei= 
teren Schäße, er aber habe große Sehnſucht, die Gefhichte der h. Martyrer zu 
befäreiben, und bitte deßhalb, daß ihm von’ den öffentlichen Archiven die Ur— 
kunden dazu mitgetheilt würden. Der Kaifer gewährte diefe Bitte und feste da— 
durch den gelehrten Biſchof in den Stand, feine Kirchengefchichte zu ſchreiben. 
So erzählte Hieronymus (Ep. ad Chromatium et Heliodorum) , und Antipater von 
Boſtra (Veterum testimonia pro Eusebio in der Balefifhen Ausgabe der Hist. 
eccl.). — Eufebius wollte übrigens nicht bloß erzählen, verfolgte alfo nicht 
bloß Hiftorifche Zwecke, fondern es follte fein Werk zugleich auch zur Verthei- 
digung und Verberrlihung der hriftlichen Kirche dienen. Daf er manchmal etwas 
Unwahrfheinlihes, wohl auch Unwahres, 3. B. den Briefwechfel zwifchen Chriſtus 
und Abgar Uchomo (f. d. A.), auch unglaublihe Wunder aufnahm, kann feine 
Glaubwürdigkeit im Ganzen nicht wefentlich beeinträchtigen (vgl. Möller, de 
fide Euseb. Hafn. 1813. Kestner, de fide Euseb. etc. Götting. 1817. Danz, de 
Euseb. Jenae 1815); und wenn wir auch außerdem zugeben müffen, daß fein Styl 
hart, die Darftellung nicht pragmatifch, der Inhalt nicht immer vollftändig ift, 
fo hat doch dieß Werk für den Theologen einen ganz unfchägbaren Werth, na— 
mentlich wegen der vielen Urkunden und aufgenommenen Ercerpte (vgl. Reuter- 
dahl, de fontibus hist. ecel. Eusebianae. Lund. 1826. Baur, comparatur Eusebius 
hist; ecclesiasticae parens cum parente historiarum Herodoto. Tubg. 1834. Jad- 
mann, über die Kircheng. des Eufebius, in Ilgen's Zeitſchr. IX. 2, 10). 
Schon das chriſtliche Altertfum Hielt deßhalb die Kirchengefchichte des Eufebius 
in hohen Ehren (f. die Veterum testimonia), und ſchon Rufin überfegte fie in's 
Lateiniſche, wovon fpäter. b) Gleichfalls Firchenhiftorifch ift auch Eufebii Büch- 
fein über die paläftinenfifhen Martyrer, in 13 Capiteln, dem achten Buche 
der Kirhengefchichte angehängt. c) Biel wichtiger ift wieder fein Werf de vita 
Constantini M. in vier Büchern, reich an den wichtigften und intereffanteften Nach- 
richten, die ſich fonft nirgends finden , und die wir alfo dem Eufebius allein noch 
zu danfen haben, Als großer Bewunderer Conftanting verfiel er zwar öfters aus 
der Hiftorifchen im die panegyrifche Weife und verſchwieg abſichtlich mande Fehler 
des Raifers, an andern Stelfen dagegen zeigt er wieder Freimüthigfeit und befpricht 





136 Kirchengeſchichte. 


auch die Schattenſeite, jedoch mehr feiner Regierung als feines Charakters. So— 1 
erated (1. 1) fagt darüber: es fer hier dem Eufebius mehr um eine Panegyrif 


als um Thatfachen zu thun gewefen, d) Einen Anhang zu diefem Werke, gleich 
fam das fünfte Buch, bilden zwei Reden: ©) die des Kaifers ad sanctorum coe- 


tum (d. i. die Gläubigen), urfprünglich Iateinifch gefchrieben, und 4) die Lobrede 
Euſebii auf Eonftantin am Fefte feiner Tricennalien, Schon im vierten Buche der 
Vita Const. 0. 32 u. 46 hatte er diefe zwei Neben und noch eine dritte, jegt verloren, 
beizufügen verſprochen; ihr Firchenhiftorifcher Werth ift jedoch nicht von großer Be- 
deutung. e) Gleichfalls hiſtoriſch, jedoch eigentlich profanhiftorifch, und mehr für die 
alt- als neuteftamentliche Kirchengeſchichte wichtig ift das Chronicon des Euſebius, 
in zwei Büchern, wovon das erfte wahrfcheinlich den Titel uavrodarın iorogla 
führte, und eine furze Gefhichte vom Anfange des großen Weltreichs bis auf die 


Zeiten Eufebit enthält. Das zweite Buch mit dem Titel yoovızög zavam ift wohl 
nichts anderes, ald die von Hieronymus de viris illust. c. 81 angeführte Epitome 


des erftien Buchs (vgl. Fabric. Bibl. graeca T. V. Lib. V. c. 4. p. 33 und Au- 


cher's Vorrede zu feiner fpäter zu befprechenden Ausgabe des Eufeb’fchen Chro- 


nicons p. V), und enthält hronofogifche und fynchroniftifche Tabellen über die ganze 


Zeit von Abraham bis Konftantin d. Gr. Eufebius Tegte dabei ein ähnliches 


Werk von Zulius Africanus (Sec. IT) zu Grunde, und es ift die Chronik wahr- 


fcheinlich das ältefte Werk des Eufebius, ſchon vor der Praeparatio evangelica 


(5. 313) verfaßt, fpäter aber noch einmal überarbeitet und fortgefegt. Seit dem 


neunten Zahrh, ging der griehifhe Tert verloren und Georg Syneellus (Syn=- 


eeflus des Patriarchen Tharaſius von Conftantinopel um's Jahr 800) war der 
Letzte, der ihn erweislich benügte und viele Stellen daraus in feine Chronographie 
übertrug. Bon da an hatte man nur noch diefe und andere griechifhe Fragmente 
Chefonders bei Cedrenus und im Chronicon paschale), ſowie eine lateiniſche Ueber— 
fegung des Hieronymus, Hieronymus hatte jedoch nur das zweite Buch, den 
Canon im engeren Sinne überſetzt (wenigſtens findet fich Teine Spur davon, daß 


er auch das erſte Buch in's Lateinifche übertragen habe), und zudem band er fih 


nicht genau an fein Driginal, fondern machte, feine Fortfegung bis zum Jahr 382 
feiner Zeitrechnung ganz abgerechnet, noch allerlei Zufäge, befonders in Betreff 
der römifchen Geſchichte. Er fagt von fich felbft in der Praefatio dazu (n. 4.): 
me et interpretis et scriptoris ex parte officio usum, und feine Arbeit gibt fomit 
nicht mehr aceurat die Eufebifche Chronif, Der Iebhafte Wunſch, die letztere 
genau wieder zu befigen, führte den gelehrten Scaliger um's Jahr 1600 zu einem 
eigenthümlichen Neftitutionsverfuche, Er fah richtig, daß die Chronik des Eufe- 
bins nicht bloß ein, fondern zwei Bücher umfaßt habe, und brachte auch mit un- 
geheurem Fleiße, alle griechiſchen Schriftfteller durchforſchend, eine große Anzahl 
griechifcher Fragmente zufammen, Aber diefe beiden beträchtlichen Verbienfte wur- 
den durch die Fehler der Willkürlichkeiten, die er fich erlaubte, wieder aufgewo— 
gen. Bor allem hielt er manche eigene Worte des Syncellus ꝛc. für Fragmente 
aus Eufebins und wandte bei der Neftitution des erfien Buches die ganz falfhe 
Methode an, daß er Manches aus dem zweiten in das erfte verlegte, und fo 
beide Bücher verdarb (vgl. Aucher’8 Praefatio zur Eufeb, Chronif p. XXIX. sqq.). 
Seine Arbeit erfihien unter dem Titel Thesaurus temporum im J. 1606 zu Ley- 
den, in zweiter Ausgabe von Morus 1658. Die Fehler Scaliger’s fah unter 
Andern auch der gelehrte VBallarfi von Verona (1769) und nahm darum in feine 
treffliche Ausgabe der Werke des h. Hieronymus CT. VID) die Sealiger'ſche Ar- 
heit nicht auf, Aber feine eigene hat dafür andere Fehler: er legte auf die grie- 
chiſchen Fragmente zu wenig Gewicht und bemüßte öfters ſchlechte Eodices der 
Hieronymifchen Verfion, Solcher Codices gibt e8 nämlich eine Menge, fie wei- 
hen aber fehr von einander ab, und find von fpätern Abfchreibern vielfach ver- 


ändert worden, Was aber das Wichtigſte iſt, Vallarſi machte wieder einen Rüde 





Kirchengeſchichte. 137 


ſchritt, in der Behauptung, die Chronik des Euſebius habe niemals aus zwei, 
ſondern ſtets nur aus einem Buche beſtanden (die Vallarſi'ſche Edition des eufe- 
bifch-hieron. Chronicons wurde trog ihrer Fehler unverändert wieder abgedruckt 
in Abbe Migne's neuer Ausgabe der Opp. S. Hieron. T. VID, Daß Vallarſi 
damit ganz Unrecht gehabt habe, zeigte die bald hernach entdeckte armenifche Ueber— 
fegung des Eufebifhen Chronicons. Schon 100 Jahre nah Eufebins wurde feine 
Chronik auch in's Armenifche überfegt (Auer in f. Praef. p. XI), und diefe ur- 
alte armenifche Ueberfegung beider Bücher der Chronik hat fih bis heute in einem 
aus dem zwölften Jahrh. Herfiammenden Eoder erhalten. Diefen Coder bradte 
im vorigen Jahrhundert Jacobus, der Bicar des armenifchen Patriarchen zu Jeru— 
falem, von da nach Eonftantinopel in die Bibliothek des dortigen armenifhen 
Patriarchalfeminars. Im 3. 1790 nahm fofort der gelehrte Armenier Georg 
eine Abfchrift davon für den armenifhen Priefter J. B. Aucher in St. La— 
ro bei Venedig, hielt fih aber nicht genau an den armenifchen Eoder, fon- 
dern interpolirte Einiges, um feine Eopie mit dem Scaligerfhen Terte mehr 
barmonifch zu machen. Aucher ließ darum durch Georg eine zweite Abfchrift 
fertigen und dieſe brachte fein Drdensgenoffe Zohrab im J. 1793 von Con⸗ 
fantinopel nah Venedig. Darauf beihäftigte fih Aucher in aller Stilfe mit 
Borbereitungen zur Herausgabe des neuen Fundes. Da ſich jedoch die wirf- 
liche Herausgabe faft dreißig Jahre lang verzögerte, wurde unterdeffen jene 
erfte ungenaue Copie von Zohrab in's Lateinifche überfegt, und diefe Ueber- 
fegung von ihm und Angelo Mai gemeinfam im J. 1818 zu Mailand heraus- 
gegeben. In demfelben Jahre erfchien aber auch endlich Aucher's Arbeit zu 
Venedig 1818 unter dem Titel: Eusebii Pamphili Caesariensis episcopi chronicon 
bipartitum (armeniſch, lateiniſch mit den griechifchen Fragmenten und mit An- 
merfungen) opera P. Jo. Baptistae Aucher Ancyrani, monachi armeni et doctoris 
mechitaristae. 2 Duartb. (Ueber den hiſtoriſchen Gewinn aus der armen. Ueber— 
fegung der Chronif des Eufebius . d. Abhandlg. son Niebupr, Feine hiſtor. und 
philol. Schriften. Erfte Sammlung, Bonn 1828, ©. 179— 304). Daß fih Auer 
über die Mailänder Ausgabe unwillig ausfprach (Praef. p. XXXVII.) ift fein Wun= 
der. Uebrigens geftand Angelo Mai felbft, daß die Venetianer Edition den Vorzug 
verdiene (Scriptorum vet. nova collectio, T. VII. Praef. p.V.). Da jedoch die arme— 
nifche Meberfegung, bei aller Genauigfeit und wörtlichen Treue (die Vergleichung mit 
den griechifchen Fragmentenzc. beweist dieß) doch manche Lücken hat, und entfchieden 
manches ausläßt, was den Fragmenten zu Folge ehemals im Griechifchen ftand, fo 
glaubte Angelo Mai die eufebianifche Chronik auf eine neue Weife wiederherftellen zu 
Tonnen, dadurch, daß er im erften Buch unter Zugrundlegung der armenifchen 
Berfion beider Ausgaben (der Mailänder und Venetianer), und mit Benügung 
der griechifchen Fragmente einen neuen, freilich nur Iateinifchen Text Herftellte, der 
demurfprünglichen eufebifchen möglichft nahe kommen follte. Im zweiten Buche des 
Chronicons fofort füllte er nicht nur die Lücken des armenifchen aus, fondern ver- 
band damit, wie er ſich ausdrückt (p. VL), auch die gelehrten Arbeiten des Hie— 
zonymus, d. h. er gab nicht eigentlich den eufebifchen Text, fondern eine ganz 
neue Tertesrecenfion der Berfion des Hieronymus unter Benügung der beiden 





armenifchen Verfionen, und mit Bergleihung von mehr als 20 vaticanifchen 





Handfriften des Hierongmifchen Textes. Auch fügte er, wie im erften Buche, 
fo auch Bier, fammtliche noch vorhandene griechifche Fragmente aufs Aller- 
fleißigfte bei, unterließ es dagegen leider anzumerfen, in welchen Stellen fein 
neuer Tert von dem Armenier abweiche. Diefe neue Mai'ſche Ausgabe findet 
ſich im achten Bande der Scriptorum veterum nova collectio e vaticanis codicibus 
edita ab Angelo Mai, Rom 1833, p. 1—406, und es ift demnach irrig, wenn 
in diefem Kirchenlerieon (unter d. Art, Eufebius von Cäfaren) und ander- 
wärts behauptet wurde, Angelo Mai habe bier den griech iſchen Text der 


Chronik herausgegeben. 3) Die Kirchengefhichte des Eufebius fand bald nah 
ihrer Entſtehung folhen Beifall, daß im fünften Jahrhundert zu gleicher Zeit 
drei tüchtige Männer Fortfegungen derfelben unternahmen. Der erfte unter ihnen 
war Sperates, wie er ſich in der Ueberſchrift felbft nennt, oyoAaorızög, d.h, 
Sahwalter (Redner und Advokat), und zwar zu Conftantinopel unter Kaifer 
Theodoſius JII., in der erften Hälfte des fünften Jahrhunderts, weßhalb er auh 
die auf Eonftantinopel bezüglichen Ereigniffe mit befonderer Sorgfalt behandelt, 
Daß er den Eufebius habe fortfegen wollen, fagt er (I. 1.), aber er wollte ihn 

i 

I 


138 Kirchengeſchichte. 


auch da und dort ergänzen, und begann darum ſeine Erzählung nicht mit dem 
Jahr 325, wo Euſebius aufgehört, ſondern ſchon mit der Abhandlung Dioeletians 
im J. 305 (I. c.), Bon da an führte er in fieben Büchern Exxinoıaozınng 
iorogias die Gefhhichte fort bi8 zum J. 439 und umfaßt fomit 134 Jahre, ° 
Diefer Zeitabfehnitt theilt fih aber in zwei ungleiche Hälften, In der zweiten 
fleineren Hälfte lebte Socrates felbft und war fomit ein Zeitgenoffe der von ihm 
berichteten Begebenheiten; bei der erfiern und größern Hälfte dagegen mußte er 
fih auf die Nachrichten Früherer ſtützen. Zu feiner Hauptquelle für die frühere 
Zeit hatte er Anfangs den Rufinus gewählt, d. h. die rufin’fche Ueberſetzung und 
Fortfegung der Eufeb’fchen Kirchengefchichte; bei erweitertem Duellenftudium aber, 
befonders der Werfe des HI. Athanafius, entdeckte er manche Unrichtigfeiten Rufins, 
und arbeitete deßhalb die zwei erfien Bücher, weil er gerade darin ihm zu viel ge- 
folgt, aufs Neue um (I. 1.). Seine weiteren Duellen waren die Werfe der 
Kirchenväter, Faiferlihe Schreiben, Briefe merfwürbiger Perfonen, Synodalbe- 
fchlüffe und fehr zahlreiche Mittheilungen Anderer, welche fih für fein Werf 
intereffirten und ihm als Augenzeugen oder fonft wohl unterrichtet, Beiträge und 
Nachrichten Lieferten (I. 1. U. 1. VI. 1.). Eine befondere Differtation über die 
Duellen des Sperates, und ber beiden andern Fortfeger der Eufeb’fchen Kirchen- 
gefchichte, Sozomenus und Theodoret, Tieferte 3, A. Holzhauſen, de fontibus ete. 
Götting, 1825. — Wiederholt und gewiffermaffen fich entfchuldigend bemerft 
Sperates, daß er fich abfichtlih einer ungeſchmückten Darftellung befliffen habe 
dl. 1. VI. 1.)5 gerade dadurch aber ift fein Styl gut und angenehm, beffer als der 
Eufeb’fche geworden, Lobenswerth ift dabei auch, daß er die chronologiſchen 
Data nah Olympiaden und Eonfuln ziemlich genau gibt. Weiterhin verfichert 
Sperates (I. 1. VI. 1.) durchaus nach Unparteilichfeit geftrebt und Niemanden, 
weder den Bifchöfen noch den Kaifern, gefchmeichelt zu haben, und er fagt dieß 
im Gegenfag zu Eufebius. In der That ift auch feine Unparteilichfeit zu Toben 
und man fieht vielfach, wie eifrig er der Objeetivität nachgeftrebt habe, zB. 
Vi 32. 21.1. 13. Für was er aber mehrfach befondere Vorliebe zeigt, ft das 
Mönchthum, überhaupt Strenge und Nigorismus, weßhalb er auch von den 
Novatianern günftiger als gewöhnlich urtheilt, und darum bei Manchen (Niceph. 
Hist. ecel. XI. 14. Baron. Annal. ad ann. 402, 18. 415, 40.419, 108.) felbft in ven 
Verdacht des Novatianismugs gefommen if. Es iſt richtig, daß er lib. IV. 28 
fagt: Novatian fei als Martyrer geftorben, dagegen führt er ihn fonft (V. 20.) 
unter den Häretifern auf und nur die Katholiken find ihm ou zig ExxAnolas 
(1. 38.). Ebenfalls nicht gehörig begründet ift die Behauptung des Baronius, 
Sperates ſei auch Drigenift gewefen (Annal. ad ann. 402, 18.), und mit Recht 
hat Balefins die Orthodoxie deffelben vertheidigt (in s. Diss. de vita et scriptis 
Socr. et Sozom. vor feiner Ausgabe der Kirchengefchichte deffelben). Aber das 
ift nicht zu Iäugnen, daß Sperates die Einheit in der Diseiplin nicht für nöthig 
erachtet, 3. B. in Betreff der Ofterfeier, der Faften, des Cölibats ıc. (vgl. V. 22). 
Buch 1. 18. verfichert er, wenn feine Streitigkeiten und Spaltungen in der Kirche 
entftanden wären, fo hätte er es für überflüffig erachtet, eine Kirchengefihichte zu 
verfaffen. Dean fünnte hieraus ſchließen, daß er gerade im dogmenhiftorifchen 
Theile feine meifte Stärfe habe; aber dem ift in der That nicht foz im Gegen— 





en 


Kirchengeſchichte. 139 


theil zeigt er vielfach, daß er kein Theologe war, und ſchon Photius (Cod. 28.) 
bemerkte: 2» rois doyuaoıv 3 Alav Zoriv axgıßns. Bielleiht ift dieß jedoch 
nicht allgemein, fondern nur von der Begünftigung der Novatianer zu verftehen. 
4) Der zweite Fortfeger des Eufebinus, Hermias Sozomenus, flammte aus 
einer paläftinenfifchen Familie, welche zu Bethel bei Gaza wohnte und von dem 
Patriarchen des paläftinenfiihen Monchthums Hilarion zum Chriſtenthum befehrt 
worden war (V. 15.). Es waren dieß die erften Chriften jener Gegend, auch 
bauten fie dafelbft die erſten Kirchen und Klöfter, und zeichneten fih durch be- 
fondere Heiligkeit aus. Wahrſcheinlich wurden fie Mönche (vgl. V. 15. VI. 32.), 
Spzomenus felbft hatte in feiner Jugend noch mit mehreren derfelben Umgang 
geflogen (V. 15.), und wurde, wie es ſcheint, unter dem Einflug diefer frommen 
Mönde zu Gaza erzogen (VII. 28. Majum, das hier genannt wird, ift der See- 
bafen von Gaza). Bon einem derfelben, Salamanes (VI. 32.) erhielt er wahr- 
fcheinlich feinen Beinamen Salamanes, wie ihn Photius (Bibl. Cod. 30.) nennt, 
während ſich in der Ueberfchrift feiner Kirchengefhichte die Form Salaminius 
findet, Bon jenen Mönchen erbte er wohl auch feine große Berehrung für das 
Mönchthum (I. 12). Später fludirte er Nechtswiffenfchaft zu Berytus, und 
wurde, wie Sperates, Sachwalter in Eonftantinopel (II. 3.). Als folcher fchrieb 
er feine Kirchengefhichte in neun Büchern, welde vom J. 324 bis zum 1Tten 
Eonfulate Theodofii II. (439), dem fie auch gewidmet ift, gehen follte (ſ. die An— 
rede an den Kaifer vor dem erften Buche). In der That reicht fie jedoch nur bis 


zum 5. 423. Die neun Bücher des Sozomenus find um weniges größer als die 


echs des Sperates, dagegen hat das Werf des letztern doch einen größern Werth, 
Sperates hat mehr Urtheil, Kritif, Pragmatismus und Objectivität als Sozo— 
menus. Außerdem Hat diefer fehr viel Fremdartiges, über Entſtehung einzelner 
Städte u, dgl., in feine Kirchengefchichte aufgenommen. Dagegen Iobt Photins 
feinen Styl, und er ift in der That geſchmückter als der des Socrates. Aber er 
iſt dennoch nicht fchön und nicht gewandt (vgl. die Diss. de vita etc. Socratis et 
Sozom. in der Balefifhen Ausgabe diefer Hiftorifer). Die Zuſchrift an den 
Kaiſer (vor dem erfien Buch der K. G.) zeugt auch nicht von einfacher Wahrheits- 
liebe. Zwei andere Bücher des Sozomenus, ein Breviarium der Rirchengefchichte 
von Ehrifti Himmelfahrt bis zur Abfegung des Lirinius enthaltend (ſ. Zufchrift 
an den Kaifer), find verloren gegangen. Valeſius glaubte in der oben citirten 
Differtation wahrfcheinlich machen zu fünnen, daß Sozomenus, als der jüngere 
und minder begabte, den Socrates ausgefchrieben habe, Stäudlin dagegen 
(Gef. und Literatur der Kirchengeſch. Herausgeg. v. Hemfen, Hannover 1827, 
©. 64 ff.) hat mit mehr Recht behauptet, daß beide unabhängig von einander 
ſchrieben, wohl aber zum Theile gleiche Quellen (vgl. Soz. I. 1. mit Soer. I. 1. 
VI. 1.) benügten, Daher fommt es, daß bald diefer, bald jener ausführlicher 
if, Hätte aber Sozomenus den Soerates vor ſich gehabt, fo würde er da, wo 
er von feinen Vorgängern, namentlich Hegefippus und Eufebius ſpricht CL. 1.), 
gewiß auch feiner erwähnt Haben, 5) Der dritte große Fortfeger der Kirchen⸗ 
geſchichte des Eufebius iſt Theodoret, der berühmte Bifchof von Cyrus in Syrien, 
vielleicht der gelehrtefte Theologe feiner Zeit (Mitte des fünften Jahrhunderts). 
Seiner vielen andern, befonders eregetifhen Werke nicht zu gedenken (f. Theo- 
doret) ſchrieb er um's J. 450, alfo etwas fpäter als die beiden zuvor Genannten, 
eine Kirhengefchichte in fünf Büchern, von der Entftefung der arianifchen Härefie 
(320) bis 428, mit der ausdrücklichen Bemerkung (I. 1.), daß er den Eufebius 
fortjegen wolle. Seine Schrift ift unter den drei Continuationen die Heinfte, aber 
befie. Schon Photius (Cod. 31.) rühmt den Styl: er fei Har, erhaben und ge- 
gedrängt, und leide nur hie und da an übertriebenen Metaphern. Einen befon- 
dern Werth gab Theodoret feinem Buche dur Aufnahme fehr vieler Urkunden 
und durch ausführlichere Erzählung der Kirchengeſchichte des Orients, namentlich 


140 Kirchengeſchichte. 


des antiocheniſchen Patriarchats, zu welchem er ſelbſt gehörte. Zu bedauern iſt 
dagegen, daß er die chronologiſchen Data faſt nirgendwo beifügt. Daß er den 
Soerates und Sozomenus habe ergänzen wollen, wurde ſchon behauptet, aber 


nicht bewiefen. Er felbft wenigftens deutet es nicht im Geringften an, und hatte 


höchſt wahrſcheinlich gar Feine Kenntniß von den Arbeiten feiner zwei Vorgänger 
Cogl. die Praef. des Valeſius zu feiner Ausgabe der Kirchengefch, Theodoret's 
und Stäudlin I. cc. ©. 61. 69.) 6) Ein anderes Firchenhiftorifches Werk alter 


Zeit von dem Diacon Philippus Sidetes, aus Side in Pamphilien, der zwei 


Menfchenalter vor Theodoret lebte, ift verloren gegangen. Nach der Schilderung 
des Soerates (VII. 27.) war es fehr umfangsreih, aus 36 Büchern und faft 
1000 zöuoıs beftehend, aber vol fremdartigen Stoffes; fo daß aftronomifche, arith- 
metifche und muficalifche Fragen darin behandelt, Infeln, Berge, Bäume und alfer- 
lei andere Dinge darin gefchildert waren. Soerates fügt bei, daß das Werk fo- 
wohl für Gelehrte als für Ungelehrte unnüg gewefen fei und namentlich feine 
chronologiſche Ordnung gehabt habe, Die Zeiten des Athanaſius z.B, habe es 
nach den Begebenheiten unter Raifer Theodofius befprochen. Ein Fragment davon 
bat Dodwell aus einem Bodleianifchen Coder im Append. ad Diss. in Iren. p. 488 
edirt. Ebenfalls verloren gingen auch die andern vielen Schriften des Philippus 
Sidetes, 3.2. feine Widerlegung der Bücher des Kaifers Julianus Apvftata, 
7) Sünger als Philippus, aber älter als Sperates ıc. iſt Philofiorgius aus 





Cappadoeien, ein Anhänger der firengften arianifchen Partei der Eunomianer, 


Er verfaßte im Intereſſe feiner Partei eine KRirchengefchichte in zwölf Büchern 
vom Anfange der arianifchen Härefie bis zum J. 423, Sein Hauptzwed dabei 
war, die arianifche Lehre als die urhriftliche darzuftellen und die Spaltungen 
unter den Arianern felbft zu entfchuldigen. Das Werl ging verloren, dagegen 
befigen wir noch den ziemlich großen Auszug, welchen Photius Cin einer beſon— 
deren Schrift, in der Biblioth. Cod. 40 fpricht er nur kurz darüber) machte, Au 
finden fi noch weitere Fragmente davon bei Suidas u. A. Alle diefe Ueber— 
refte hat Valeſius aus Handſchriften, mit Iateinifcher Ueberſetzung und Noten in 
feine Ausgabe der griechiſchen Kirchenhiftorifer (wovon unten) hinter Evagrius 
aufgenommen. 8) Im Anfange des fechsten Jahrhunderts lebte der Kirchen 
hiſtoriker Theodorus mit dem Beinamen Lector, weil er ein Lectoramt an der 
Kirche von Conftantinopel verfah. Zuerft fertigte er in zwei Büchern einen Aus- 
zug aus Soerates, Sozomenus und Theodoret, alfo eine historia tripartita, die 
jedoch mit dem gleichnamigen Werfe Caſſiodors nicht zu verwechfeln ift. Uebrigens 
geht diefer Auszug nicht foweit als Sperates 2c., fondern nur bis Kaiſer Julian, 
Noch jetzt find mehrere Codices diefes Werkes vorhanden, da e8 jedoch nichts ent= 


hält, als Stellen Anderer, des Socrates ꝛc., fo fand Valeſius nicht für nöthig, 


es eigens abdrucken zu laffen, vielmehr nahm er nur die Barianten daraus in 
feine Notamine zu Socrates ꝛc. auf. Wichtiger ift das zweite Werf Theodor's, 
ein Driginalwerf, nämlich eine Fortſetzung des Soerates bis Kaiſer Juſtin L 
(+ 527). Auch diefe Arbeit umfaßte zwei Bücher, ift aber nicht auf uns ge- 
fommen, fondern es find nur noch die Fragmente übrig, welche Nicephorus 
Ealfifti daraus machte. Valeſius hat fie Hinter den Philoftorgifhen Fragmenten 
abdrucken laſſen. Mehrere der Alten (z. B. Joh. Damafe.) haben die erfle und 
zweite Schrift Theodor's als ein Werf angefehen und darum von vier Büchern 
feiner Kirchengeſchichte geſprochen. 9) Der letzte griechifche Kirchenhiftorifer der 
alten Zeit war Evagrius (ſ. d. A.), ein Syrer, zu Epiphania (nicht Antiochien) 
um’s J. 536 geboren, Er wurde Sachwalter, Scholaftieus, in Antiochien, war 
verheiratheter Laie, fand in großem Anfehen, wurde Quäſtor und Erzaoxos 
Präfeet), und ftand befonders mit dem Patriarchen Gregor von Antiochien in 
naher Beziehung, der ihn öfter als feinen Syndieus und Advocaten benüßte, 
Seine Rirchengefehichte gebt in ſechs Büchern von A31 (dritte allg. Synode) big 





Kirchengeſchichte. 141 


594, iſt alſo beſonders für die Neſtorianiſchen und Monophyſitiſchen Angelegen- 
heiten wichtig. Nach J. 1. wollte Evagrius ausdrücklich eine Fortſetzung des 
Theodoret/ Soerates und Sozomenus liefern. Er zeichnete ſich wie durch Ge⸗ 
lehrſamkeit ſo durch Rechtgläubigkeit aus, war aber nicht frei von Leichtgläubig- 
keit und Wunderſucht. Auch nahm er viel zu viel Profanhiſtoriſches auf, ſo daß 
in fechstes Buch faſt nur eine Geſchichte des perſiſchen Krieges iſt. Sein Styl 
gebildet und angenehm und wurde ſchon von Photius (Cod. 29.) belobt, — 

Die erſte griechiſche Ausgabe faſt aller bisher genannten kirchenhiſtoriſchen 
Werke von Eufebius (das Chronicon ausgenommen), Socrates, Sozomenus, 
Theodoret, Evagrius und Theodorus Lector beforgte Robert Stephanus (Paris 
1544 Fl.) aus zwei alten griechiſchen Handſchriften. Border hatte man nur 
lateiniſche Ueberfegungen, fo daß z. B. Baronius nur die mitunter unrichtige 
Weberfegung der Eufeb’shen Kirhengefhichte von dem Biſchof Chriſtophorſonus 
benützen konnte.) Mit verſchiedenen Varianten vermehrt erſchien 1612 eine neue 
Auflage zu Genf; aber auch fie wurde wieder weit übertroffen von Henri de 
Balvis (Valesius). Diefer franzöfifhe Advocat Hatte weit mehr Gefhmaf an 
der Literatur ald an juriftifhen Gefhäften, und übernahm darum um die Mitte 
des iTten Jahrhunderts vom franzöfiihen Episcopate den Auftrag, gegen an- 
gemeffenes Jahrgeld die ganze Sammlung der alten griehifhen Kirchenhiftorifer 
aufs Neue herauszugeben. Er benügte dazu eine beträchtliche Anzahl weiterer 
Eodices, namentlich den Mazarinifchen aus dem zehnten Jahrhunderte, verbefferte 
den Tert an zahliofen Stellen, und verband damit auch eine neue Iateinifche 
Weberfegung. Aber faft noch mehr Verdienft erwarb er ſich durch die zahfreihen 
Noten, in denen ein wahrer Schag von Gelehrfamfeit ftedt, und gab endlich 
noch verfchiedene Differtationen bei. Das Ganze umfaßt drei Folivbände, Paris 
1659 — 73, Bd. L: fämmtlihe Firchenhiftorifche Werfe des Eufebius (das Chroni- 
con ausgenommen), Bd. Il.: Sperates und Sozomenus, Bd, UI.: Thevdoret, 
Evagrius und die Ueberreſte von Philoftorgius und Theodorus Lector, Ein 
fhöner und ziemlich correcter Nachdruck, ebenfalls in drei Foliobänden erfchien 
1772—79 angeblich zu Mainz, in der That zu Frankfurt a. M., ein zweiter zu 
Amfterdam 1695. Eine neue Ausgabe beforgte Wilh. Reading 1720 zu Cam- 
bridge, indem er noch eine große Anzahl weiterer Noten, eigene und fremde bei- 
fügte und den Druck bequemer einrichtete, fo daß die Noten nicht mehr an das 
Ende jedes Bandes, fondern unmittelbar unter den Tert zu fliehen famen, Ein 
zwar ſchöner aber uncorreeter Nachdruck davon erfihien 1746 zu Turin (Augustae 
Taurinorum), 3 fol. Eine noch beffere Ausgabe, jedoch nur von Eufebins, wollte 
mit Benügung weiterer Handfihriften der teutfche Gelehrte Fr. A. Stroth geben, 
aber es erſchien nur der erfte Band (Halae ad Salam. 1779 8.). In unferen 
Tagen haben zwei andere teutfche Gelehrte ebenfalls neue Ausgaben von Euſebius 
(allein) beforgt, Zimmermann und Heinihen. Der Erftere gab jedoch nur 
den griechifchen Tert des Valeſius fammt deffen Iateinifcher etwas verbefferter 
Ueberfegung, aber ohne die gelehrten Noten (Eusebii hist. ecel. libri X, vita Const. 
Ubri IV, nec non Constantini oratio ad sanctos et Panegyricus Eusebii. Francof. 
' 1822. 6 Thlr.). Mehr Verdienft erwarb fi Heinichen. Er Fonnte zwar Feine 
‚ aene Tertesrecenfion liefern, da ihm Feine alte Handfhrift zu Gebote ftand, 
‚ Dagegen fuchte er doch eine Tertesrecognition vorzunehmen, d. 5. er bat unter 
) Benügung des von Stroth und Balefius beigebrachten Fritifchen Materials den 
VBaleſiſchen Text da und dort verbeffert. Sein Hauptaugenmerf aber richtete er 
auf die Noten und vermehrte bier die Valefifchen durch eigene und fremde um 
ein Beträchtliches. Auch fügte er einige gelehrte Ercurfe bei. Zuerft erfhien von 
ihm Eusebii hist. ecel. X. libri, Lips. 1827, in drei Detavbänden (7 Thlr. 12 Gr.); 
darauf folgte 1829 Eusebii de vita Const. libri IV et Panegyricus atque Constan- 
ini ad sanctorum coetum oratio (3 Thlr,), Seine Ausgabe umfaßt alfo wie die 








} 


142 Kirchengeſchichte. 


Zimmermann'ſche alle kirchenhiſtoriſchen Werke des Euſebius, mit Ausnahme der 
Chronik; jedoch ohne Iateinifche Ueberfegung. ine wahre neue Tertesrecenfion 
unternahm etwas fpäter der Anglicaner Eduard Burton, Er verglich einige 
bereits von Valeſius, aber nicht vollftändig benüßte Eodices auf's Neue, nament- - 
lich ven Mazarinifchen, verband Damit einige andere, welche Valeſius noch gar 
nicht gefannt hatte und fuchte nun, unter Anwendung des gefammten Fritifchen 
Apparats einen neuen beffern Tert der Eufeb’fchen Kirchengefchichte (nur diefer) 
herzuftellen. Da er während diefes Gefchäftes flarb, wurde feine Arbeit von 
einem Freunde edirt unter dem Titel: Eusebii Pamphili historiae ecel. libri decem. 
Ad codices manuscriptos recensuit Eduardus Burton, S. T.P. ss. theol. nuper. 
professor regius. Oxon. 1838. II Bd. 8. (8 Thlr.). Diefe Arbeit war jedoch 
feine glücfliche; der Tert wurde zwar an manchen Stellen verändert, aber felten 
verbeffert (vgl. Zeitfch. für Philoſ. u. kath. Theol. v. Achterfeld ze. 30. Hft. 
©. 150 ff.). Mebrigens nahm Heinichen hievon Veranlaffung, im J. 1840 noch 
einen Nachtrag zu feiner Ausgabe zu liefern unter dem Titel: Supplementa nota- 
rum ad Eusebii historiam eccl. et excerpta ex editione Burtoniana cum ejusdem ac 
Schoedelii vindiciarum flavianarum censura et cum collatione codieis Dresdensis. — 
Endlich bemerfen wir noch, daß von der Rirchengefchichte des Euſebius auch zwei 
teutfche Ueberfegungen eriftiren, von Stroth, Duedlinbg. 1799 und von Elof, 
Stuttg. 1839. — Weit weniger als die Griechen Ieifteten die Lateiner in dem 
erften Zeitalter der Kirchenhiftoriographie. Am meiften that fih noch 10) Rufi- 
nus (ſ. d. U) um's Jahr 400 hervor, indem er die Kirchengefehichte des Eufe- 
bins (frei und mit Zufägen) in's Lateinifhe überfegte, die zehn Bücher in neun 
zufammendrängte und zwei neue Bücher eigener Compofition hinzufügte, vom 
Beginne des Arianismus bis zum Tode Theodoſii d. Gr, (318—395) reihend. 
Sie find bald auch in's Griechifhe überfegt worden, und enthalten, wie die 
Rufin'ſchen Zufäge zu Eufebius (die neun Bücher), manche Unrichtigfeiten, chrono— 

logiſche Fehler, auch ungerechte Urtheile, z. B. über Gregor von Nazianz und 
Baſilius d. Gr., weßhalb Sperates, der Anfangs dem Rufin gefolgt war, feine zwei 
erften Bücher wieder umzuarbeiten für gut fand. Die befte Ausgabe ift: Rufini, hist. 
eccl. libri XI. (die 9 u, 2) ed. Petrus Thomas Cacciari (Carmelitund Prof, an 
der Propaganda), Rom. 1740. 2 T. 4. In einer beigegebenen Dissert. de vita, 
fide, ac Eusebiana ipsa Rufini translatione fuchte Caceiari den Rufin gegen mehrere 
Anklagen des Valefius zu vertheidigen. Vgl. auch Kimmel, de Rufino Eusebii 
interprete. Gerae 1838. — 11) Rufin's Zeitgenoffe Sulpitius Severus 

(ſ. d. A.) fohrieb im 3. 403 eine historia sacra, auch chronica sacra genannt, in 
zwei Büchern vom Anfange der Welt bis 400 n. Chr. Das ganze Werk ift klein 

und der eigentlich Kirchengefchichtliche Inhalt von Chrifti Geburt an ſehr Klein, 
nur Einzelnes, 3. B. über die. Priscillianiften, etwas ausführlicher; aber der 
Styl, gedrängt und Har, erinnert an die claffifhen Zeiten, ſo daß der Verfaffer 
den Ehrennamen des hriftlihen Salluftius erhalten hat. Ebenfalls kirchenhiſtoriſch 
ift fein Werf de vita S. Martini Turon. Die beften Ausgaben find von Hieron. 
de Prato, Veronae 1741 in zwei Duartb, und von Gallandius, in der Biblioth. 
PP. 1772 T. VIH. p. 355 sqq. — 12) Nicht eigentlich Kirchenhiſtoriker, vielmehr 
Profanhiftorifer mit chriftlich-apslogetifchem Intereffe war der ſpaniſche Priefter 
Drofius, ein großer Verehrer des hl. Auguftin, auf deffen Wunſch er au im 
J. 417 feine lib. VII historiarum adv. Paganos verfaßte, Gerade damals war 
das römifche Reich von fehr vielem Unglücke heimgefucht (Völferwanderung, Hun- 
ger und Seuchen), und die Heiden fihrieben alle diefe Calamitäten auf Rechnung 
des Chriftenthums, als Strafe der Götter, weil man die Chriften dulde. Oro— 
fing wollte nun Hiftorifch zeigen, daß auch in den vorchriftlichen Jahrhunderten 
ähnliche Calemitäten vorgefommen ſeien; feit Chriftus aber Habe manches Elend 
die Welt gerade vefhalb getroffen, weil man die Chriften verfolge, — Das 





—— 





23 


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SE 1 a 








Kirchengeſchichte. 143 


Werk des Drofins hat in mehreren Codicibus die räthſelhafte Auffchrift de 
Ormesta oder Ormesia, auch Hormesta mundi, was wohl nur durch einen Schreib- 
fehler aus de miseria mundi, und davon Handelt es ja, entftanden ifl. Befte 
Ausgabe von Havercamp, Lugd. Bat. 1738 u. 1767. 4. — Wichtiger für die 
Kirhengefchichte wurden die Bemühungen Caſſiodor's (ſ. d. A.). Nachdem er 
feine hohen Staatsämter im oſtgothiſchen Reihe niedergelegt und Vorſteher des 
von ihm gegründeten Klofters Bivarefe geworden war, fuchte er auf alle Weife 
für Bildung feiner Mönche zu forgen, und ließ zu diefem Zwecke (Mitte des 
jechsten Jahrhunderts) auch die Eirhenhiftorifchen Werke des Socrates, Sozo— 
menus und Theodoret durch einen Scholafticus, Epiphanius, in's Lateinifche über- 
ſetzen. Darauf fhmolz er ſelbſt diefe drei Fortjegungen des Eufebins, fie ab- 
Fürzend und in Harmonie bringend, in ein mäßiges Werk von zwölf Büchern zu— 
fammen, das feinem Urfprunge nah den Titel Historia tripartita erhielt. Der 
Styl ift [hwülftig und hat Barbarismen, das Werf felbft aber wurde nebft den 
genannten Rufin’chen Arbeiten für das ganze lateiniſche Mittelalter eine Haupt- 
quelle der Kirchengefchichte,. Seit jedoch die Duellen der tripartita.(Soerates, 
Spzomenus und Theodoret) uns zugänglich find, ift fie felbft immer mehr in den 
Schatten getreten. Eine Ausgabe davon beforgte der gelehrte Beatus Rhenanus, 
Basil. 1523 fol.; die befte aber findet fih in der Gefammtausgabe der Caſſiodor'⸗ 
hen Werfe von Garet, Rouen 1679. 2 fol. — B. Literatur des zweiten 
Zeitalters. Hatten im erftien Zeitalter die Griechen wie in der chriftlichen Li— 
teratur überhaupt, fo auch in der Rirchenhiftoriographie entichieden den Vorrang 
vor den Lateinern inne gehabt, fo begann dagegen im zweiten Zeitalter die grie— 
chiſche Kirche immer mehr zu erftarren, während die Iateinifche nach vielen Stür- 
men wieder blühend daftand, und in den neuen germanifchen und romanifchen 
Bölfern ihre fräftigen, zu junger, frifcher Eultur emporwachfenden Träger er- 
bielt. In Griechenland geht darum jest die Kirchenhiftoriographie ihrem Tode 
zu, während fie im Abendlande in den Anfang einer neuen Entwicklung einzutre= 
ten beginnt. In der ganzen Zeit von 600—1500 n. Ehr., während des ganzen 
Mittelalters hat Griechenland nur einen einzigen einigermaßen namhaften Kirchen- 
hiftorifer erzeugt: 1) Nicephorus Callifti (Sohn des C.), einen Geiftlichen 
zu Eonftantinopel um die Mitte des 14ten Jahrhunderts, der die Bibliothef der 
Sophienkirche, woran er ange gedient hatte, benügte, und theils aus den alten 
griechiſchen Kirchenhiſtorikern Eufebius ꝛec. (und zwar fehr häufig), theils aus 
andern alten Urkunden und Duellen aller Art fchöpfte, von denen jetzt die meiften 
verloren find, Er gibt fich felbft das Zeugniß großen Fleißes, foricht auch fehr 
* von dem Werthe und der Würde der Kirchengefchichte und erklärte, ven Ver— 
uf derfelben von Chriftus bis faft auf feine Zeit in einem Ganzen darftellen 
zu wollen (I. 1.). Er gibt darauf fogleich eine Ueberficht feines Werkes, zählt 
18 Bücher auf und deutet bei jedem den Hauptinhalt in Kürze an. Diefe 18 
Bücher reichen aber lange nicht bis „faft auf feine Zeit“, fondern nur bis zum 
Tode des Kaifers Phocas im J. 610. Wahrſcheinlich follten diefe 18 Bücher nur 
die erfie Abtheilung des ganzen Werfes bilden. Der einzige griechifche Cover, 
in welchem das Werk des Nicephorus noch vorhanden ift (zu Wien) hat nach den 
Argumenten der 18 Bücher noch die Argumente von fünf weiteren, welche bis 
911 n. Ehr. reihen. Man ſchloß daraus, daß es ehemals 23 Bücher von Ni- 
cephorus gegeben Habe, aber nur mehr die erfien 18 auf ung gefommen feien, 
Allein die uns erhaltene erſte Abtheilung fanı niemals mehr ald 18 Bücher 
gehabt Haben. Nicephorus fagt nämlich felbft (I. 1.): „Um fein Werf vor Ver— 
mifhung mit fremden Schriften zu verwahren, babe er jedes Buch acroſtichiſch 
mit einem Buchftaben feines Namens angefangen”, fo daß alle zufammen vie 
Worte Nıznpogov Kakklorov geben. Diefe zwei Worte beftehen aber aus 18 
Buchſtaben, und es Fonnen darum auch nicht mehr als 18 Bücher gewefen fein. 


144 Kirchengeſchichte. 


I —— 


Da jedoch Nicephorus, wie er ſelbſt ſagt CI. 1.), erſt 36 Jahre alt war, als er | 


diefe 18 Bücher vollendete, und er die Kirchengefchichte bis „faft auf feine Zeit“ 
fortfegen wollte, fo ift alle Wahrfcheinlichkeit vorhanden, daß er diefer erften 
Abtheilung von 18 Büchern noch eine zweite nachfolgen laſſen wollte; und wie 
die erſte ſechs Jahrhunderte umfchloß, fo waren auch für die zweite noch netto 
ſechs Jahrhunderte übrig, wenn fie bis in’8 13te Säculum reichen follte, Ob er 
jedoch diefe zweite Abtheilung wirflich ausgearbeitet Habe, ift nicht zu entſcheiden. 
Bielleicht waren jene fünf Bücher, von denen der Codex die Argumente mittheilt, 


der Anfang diefer zweiten Abtheilung ; es iſt jedoch auch möglich, daß Nicephorus 


gar nicht mehr felbft Hand anlegen konnte und ein Anderer eine Fortfegung in 
fünf Büchern fertigte, Wie dem aber fei, wir haben nur mehr 18 Bücher, und 
diefe in einer einzigen griechifch-Tateinifchen Ausgabe von dem Jeſuiten Frontoducäus 
(Fronton le Duc f. d. A.), Paris 1630, 2 fol. Bloß eine lateiniſche Neberfegung 
gab Joh. Lang, Bafel 1561, heraus, Bei all’ feinem Fleiße ließ fih übrigens 
Nicephorus auch viele Fehler zu Schulden fommen und nahm befonders viel Un- 
richtiges und Fabelhaftes auf, wie ſchon Baronius in feinen Annalen an manchen 
einzelnen Puncten nachgewiefen hat, Außer feiner Kirchengefchichte ſchrieb Nice- 
phorus auch ein Verzeichniß der byzantinifchen Kaiſer und Patriarchen und eine 
Synopsis scripturae. Vgl. Fabricius, Biblioth. gr. T. VI. p. 437. — 2) Biel 
werthloſer ift die Arbeit des melchitifchen Patriarchen Eutychius zu Alerandrien, 
welcher um's Jahr 940 Alexandrinae ecclesiae origines sive Annales, von Er- 
fhaffung der Welt bis 940 gehend, in arabifcher Sprache verfaßte. Es find 
jedoch nur die Nachrichten über die mohammedanifchen Zeiten und Gegenden 
brauchbar. Eine Ausgabe mit Iateinifcher Ueberfegung lieferte Pocnde, Oxford 
1658 in 2Quartb. Vgl. Renaudot, hist. patriarcharum alex. Praef. 3. Mannig- 
fache Firchenhiftorifche Nachrichten bietet ung in der griechifchen Kirche endlich die 
lange Reihe der fog. Byzantiner, d.h. der von 500—1500 gehenden byzan- 
tinifchen Profanhiftorifer und Kaiſergeſchichtſchreiber. Die befte Ausgabe derfelben 
veranlaßte vor etwas mehr als zwei Decennien der berühmte Niebuhr, und fie 
erfchienen feit 1828 zu Bonn in 46 Octavbänden. Es find dieß Agathias, Joh. 
Cantacucenus, Leo Diaconus, Nicephorug Gregoras, Conftantinus Porphyroge- 
nitus, Georgius Syneellus, Nicephorus von Conftantinopel, Dirippus, Joh, 
Malala, Procopius, Ducas, Theophylact Simocatta, Geneſius, Nicetas Cho— 
niates, Georg Pachymeres, Joh, Cinnamus, Michael Glycas, Merobaudus und 
Eorippus, Conftantin Manaffes, Zofimus, Joh. Lydius, Paul Silentiarius, 
Theophanes mit Anaftafins, Biblivthecar von-Nom, Georg Cedrenus, Georg 
Phranges, Codinus, Anna Comneya, Ephräm, Zonaras, Leo Grammaticug, 
Laonieus Chalcvenndylas, das berühmte Chronicon Paschale s. Alexandrinum und 
einige Andere, Neltere gute Ausgaben erfchienen Paris 1648 in 23, Benedig 
1727 in 28 Foliobänden (lettere Ausgabe numerirt die Bände niht, und fängt 
in jevem Bande mehrmals mit den Seitenzahlen von vorne an, fo daß bald 
mehr, bald weniger Bände der ganzen Sammlung gezählt werden). — Die la- 
teinifche Rirchenhiftoriographie des Mittelalters verfolgte drei Hauptrichtungen, 
1) Bor Allem entftanden jegt merfwürdige und bedeutende Werfe über die Kir- 


chengefchichte einzelner Völker, Volfsfirchengefchichte, ohne ftrenge Scheidung des 


profan- und kirchenhiſtoriſchen Stoffes, Sp ſchrieb a) Gregor von Tours 
(ſ. d. A.), geft. 595, eine historia ecclesiastica Francorum, auch geradezu historia 
oder gesta Francorum genannt. Das Werf umfaßt 10 Bücher, von denen Das 
erfte eine kurze Chronif von Erfohaffung der Welt bis zum Tode des hl. Martin 
von Tours (+ 400) ift, die 9 andern aber die fränkifche Volks-⸗ und Kirchen⸗ 
gefhichte von 397—591 in dem rauhen Latein jener Zeit enthalten. Trotz deut- 
lich hervortretender Wahrheitsliebe hat Gregor doch auch Manches Unwahrfchein- 
liche und Fabelhafte aufgenommen. Die neuefte Ausgabe beforgten Guadet und 





Kirchengeſchichte. 4115 


Taranne, Paris 1836, latein. und franz. Aeltere Ausgaben: von dem Mauriner 
Ruinart, Paris 1699 fol., und im zweiten Bande der Bouquet'ſchen Sammlung 
der rerum gallican. script. 1739 Cauch mit dem franzöfiichen Titel recueil des 
historiens des Gaules etc.). Außerdem haben zwei teutſche Gelehrte, Löbelt, 
Prof. in Bonn, in „Gregor von Tours u. |. Zeit”, Leipz. 1839, und Dr. Kries 
in „de Gregorii Turon. vita et scriptis*, Bresl. 1839, das Leben und die Verdienſte 
Gregors, namentlich auch als Hiftorifers, unterſucht. Bol. auch Bähr, die chriſtl. 
Dichter und Geſchichtſchr. S. 138 ff. b) Wie man Gregor von Tours den Vater der 
fränfifchen Geſchichte nennt, fo verdiente 150 Jahre fpäter Beda der Ehrwürdige 
€. 9.4), Moͤnch zu Jarrow-Weremouth (zwei combinirte Klöfter in England, ſ. 
den Art. Jarrow, und Lingard, Altertfümer der angelf. Kirche. ©. 209, Note 
5.), geft. 735, den Ehrennamen des Vaters der englifchen Gefhichte durch feine 
historia ecclesiastica gentis Anglorum, libri V. Das Werf geht von der Eroberung 
Britanniens durch Zulius Cäfar bis zum J. 731. Befte Ausgabe von Stevenfon, 
London 1838. c) Die Gefhichte der Longobarden, kirchliche und profane, be— 
ſchrieb der Lombarde Paulus Diaconus. Er war früher Diaconus zu Aqui- 
leja und Kanzler des Iegten Longobarbenfönigs Defiderius, gewefen. Nach deffen 
Sturz gerieth er in die Gewalt Carls d. Gr., und wirkte nun am fränfifchen 
Hofe längere Zeit als Gelehrter, bis er wegen Verdachts einer Verſchwörung 
erilirt wurde und als Möndh in Monte-Caffino farb im J. 799. In Monte- 
Caſſino ſchrieb er feine historia seu de gestis Longobardorum libri VI, von den 
Anfängen diefes Volkes bis 773 reichend, die Hauptquelle, ja faft die einzige 
Duelle für die Gefhichte der Longobarden. Eine Fortfegung davon lieferte Er- 
chempertus, historia Longobardorum Beneventi oder de gestis principum Bene- 
venfanorum von 774— 889. Beide Werfe finden fi in Muratori, scriptores 
rerum ital. T. I. u. I; Erchempert auch bei Pertz, Monum. Germaniae, scriptorum 
T. I. p. 240—264. Bol. auch Bähr, a. a.O. ©, 155 ff. d) Im die Kategorie 
der Nationalfirhenhiftorifer gehört auch Adam von Bremen (f.d.A.), feit 1067 
Domberr und Scholafticus zu Bremen, durch feine historia ecclesiastica libri VI. Es 
ift dieß eine Kirchengefchichte des feandinavifhen Nordens, beſonders der Bis- 
thümer Bremen und Hamburg, voll wichtiger documentariſcher Nachrichten, von 
788—1076 gehend, Die befte Ausgabe findet fih in der von Fabricius im J. 
1706 zu Hamburg neu beforgten Lindenborg’fchen (XVI Sec.) Sammlung ver 
seriptores rerum german. septentr. Eine teutfche Ueberfegung gab Carften Mi- 
fegäs, Brem, 1825, eine Differtation J. Asmussen, de fontibus Adami Bre- 
mensis. Kil. 1834. e) Die nämlihen Erzbisthümer Hamburg und Bremen fan- 
den um's Jahr 1500 einen zweiten Hiftoriographen an Albert Kranz (ſ. d. A.), 
Domberr in Hamburg, geft. 1517. Seine Metropolis, ein berühmtes, oft gedrucktes 
Werk, berücfichtigt aber mehr den teutfchen, als feandinavifhen Norden (Adam 
von Bremen), und enthält die Rirchengefchichte Bremens, Hamburgs, Nieder- 
ſachſens und Weftphalens von 780—1504. Am beften find die Franffurter Aus— 
gaben nach dem Jahre 1576, f) Endlich zählen wir hieher auch Flodoard (ſ. d. A.). 
In der Schule von Rheims gebildet, wurde er Priefter, Pfarrer und Abt, 951 zum 
Biſchofe von Noyon und Tournay erwählt, aber von König Ludwig Trangmari- 
nus welcher den Stuhl an einen Andern vergab, an der Befisnahme gehindert. 
i Er far im 3. 966 und fihrieb eine historia ecclesiae Remensis bis 948, eine 
Specialtirchengeſchichte zwar nicht eines Volkes, aber eines großen Erzbisthums, 
edirt von Sirmond, Paris 1611, und Colvenar, Douai 1617, 8., auch in der 
Biblioth. max. PP. Lugdun. 1677. T. XVI. 2) Die zweite Ciaſſe der Firhen- 
biftorifchen Werke des Mittelalters bilden einzelne Verſuche einer allgemeinen 
Kirhengefhihte. a) Haymo, feit 840 Bifchof von Halberftadt (. Haymo), 
beſchrieb in 10 Büchern, meift aus Rufin fchöpfend, die Kirchengeſchichte ver vier 
erften Jahrhunderte, libri X. de christianarum rerum memoria oder Breviarium 
Kirchenlexikon. 6. Dr, 10 





146 Kirchen geſchichte. 


historiae eccles. in einem für feine Zeit guten Latein. Beſte Ausgabe von Ma— 
der, Helmſt. 1671. 4. b) Um diefelbe Zeit Iebte der gelehrte Anaſtaſius, 
Bibliothecar der römischen Kirche, von Nicolaus I. zum Abte eines Klofters jen- 
feits der Tiber erhoben. Er ſchrieb um die Mitte des neunten Jahrhunderts 
(872) eine historia ecclesiastica seu chronograpkia tripartita, eine aug ben brei 
byzantinifhen Geſchichtſchreibern Nicephorus (Patriarch v. Conftantinopel), Georg 
Syncellus und Theophanes Confeffor Cihre Werfe find in der Sammlung der 
Byzantiner), in's Lateinifche übertragene, theils Rirchen- , teils Profangefchichte, 
Sie geht bis in den Anfang des neunten Jahrhunderts, das Hiftorifche Material 
ift aber nicht fo chronologiſch zuſammengeſtellt, wie in der Caſſiodor'ſchen Tri- 
partita, fondern die Ueberſetzungen aus den drei Byzantinern ftehen hinter ein- 
ander und find nicht zu einem Ganzen verarbeitet. Bei weitem das Meifte hat 
Theophanes geliefert, Die befte Ausgabe ift die des berühmten Philologen Imm. 
Deffer in der Bonner Byzantinerfammlung, Bd. IL. der Chronographie des Theo— 
phanes. — Gewöhnlich wird dem Anaftafius auch das berühmte Pontifical- 
buch, liber pontificalis, auch de vitis Romanorum pontificum betitelt, zugefchrieben, 
ein für die Kirchengefchichte Cauch die allgemeine) Höchft wichtiges Werft, Es ent- 





ke Ba dla a nme nam nn dd non 


FE 


halt Lebensbefchreibungen aller Päpfte bis Stephan VI. (feit 885), deffen Tod 


(891) nicht mehr darin angegeben iſt. Es ift jedoch ſchon von den gelehrten Ver= 
faffern der Origines de l’eglise Romaine (Paris 1826) und geftüßt hierauf von 


mir in der Tübinger Quartalſchr. 1845, ©. 320 ff. gezeigt worden, daß Anafta= 
fing Höchftens die Lebenshbefchreibungen einiger der letzten Päpſte verfaßt Habe, 
daß aber der ganze übrige Inhalt viel älter fer, die zwei letzten Biographien 
(Hadrians II. und Stephans VL) ausgensmmen, welche nach Anaftafius von den 
Bihlivthecaren Zacharias oder Wilhelm gefchrieben fein müffen, Gedrudt wurde 


ZEIT — 


das Pontificalbuch öfter, fo in Muratori, script. rerum ital. T. IH., die neuefte 
Ausgabe ift von Blanchinus und Vignolius, 4 fol. Auh hat Manfi in feiner 
Coneilienfammlung vor den Decreten jedes Papftes das ihn betreffende Stüf 


aus dem liber pontificalis abdrucken laſſen. — Endlich fertigte Anaſtaſius auch noch 
ginige ſpecialkirchenhiſtoriſche Werke; die Sammlung der Acta synodi sextae, sep- 


timae et oclayae (fie findet fich in den Eoncilienfammlungen), ferner Collectanea 
ad controversiam et historiam Monothelitarum spectantia (in der Bibl. max. Lugd.) 
und einige Firchenhiftorifche Biographien. Vgl. Bahr, Geſch. der Literatur im 
earoling, Zeitalter, ©. 261 ff, c) Um’s Jahr 1142 ſchrieb Oderieus Vitalis 


(Orderic Vital), von Geburt ein Engländer, aber Abt zu St, Eyroul (mona- 


sterium Uticense) in der Normandie, 13 Bücher historiae ecclesiasticae, welche 


von Chriftus bis in's zwölfte Jahrhundert gehen und auch viel Profanhiftorifches 


enthalten, Sie finden fih in Du-Chesne’d Sammlung der Scriptores historiae 
Normannorum, Paris 1619 fol. p. 319—925. — d) Ungefähr 150 Jahre fpäter 
verfaßte der Dominicaner Bartholomäus von Lucca, auch Ptolemaeus de 


Fiadonibus genannt, eine ziemlich große allgemeine Rirchengefchichte in 24 Büchern, 


von Chriftus bis 1312. Sie fteht bei Muratori, rerum ital. script. T. XI. pag. 


741 sqq. — e) Das größte Firchenhiftorifche Werk des Mittelalters endlich Tie- 
ferte der Erzbifchof Antonin von Florenz im 15ten Jahrhundert in feiner 


Summa historialis, aug drei Folianten beftehend, eine Welt- und Kirchengeſchichte 


von Erfhaffung der Welt bis 1459, Vgl, den Art, Antonius von Florenz, 


und Stäudlin’s Geſch. und Lit, der Kirchengeſch. ©, 128 ff. Bei Antonin zeigt 


fih bereits das Erwachen der hiftorifehen Kritif, wie denn kurz vor ihm Lauren- 


tins Balla (fd) und Nicolaus von Eufa (f. d. A.) diefelbe zuerft an= 


geregt und die Unächtheit der fogenannten donatio Constantini und anderer angeb- 


lichen Urkunden des Altertfums aufgedeckt hatten, — 3) In die dritte Elaffe 
der kirchenhiſtoriſchen Werke des lateiniſchen Mittelalters gehören die Anna= 
fen, Chroniken und Biographien, Ihre Zahl ift wahrhaft Legion und fie 








Kirchengeſchichte. 147 


bilden eine höchſt reichhaltige, faft unermeßlihe Duelle der mittelalterlihen Kir⸗ 
chen⸗, theilweiſe auch Profangeſchichte. Häufig iſt in dieſer Zeit der Begriff von 
Chronik und Annalen ganz identisch genommen, indem die meiften Chronifen die 
Begebenheiten genau nach Jahren verzeichnen, alfo annaliftifh find, und anderer=- 
feits die Annalen ſich nicht über die Furze, trodene Darftellung der Chronik zu 
einer zufammenhängenden, vollftändigen und pragmatiſch-hiſtoriſchen Dar ſtellung, 
wie eiwa die Annalen des Taeitus, erheben. Doch gibt es auch Chroniken, die 
nicht annaliftifch find, alfo die Ereigniffe nicht nad dem einzelnen Jahreszahlen 
aufzeichnen, fondern in Fleinen Epochen, z. B. nach den Regierungsperioden der 
einzelnen Kaifer, zufammenftellen, wie Beda’s Chronik. Uebrigens werben bie 
taufend Annalen und Chronifen des Mittelalters theils nach ihren Berfaffern, 
theils nach dem Orte, dem fie angehören, theils nach dem Gelehrten, der ‚fie 
auffand, genannt, z. B. Annales Tiliani, Petaviani. Cine Ueberfiht über diefe 
Ehroniften ze. gab Marquard Freher, nen edirt von Köler, Nürnb, 1720, 
und Hamberger, Gött. 1772, unter dem Titel: Directorium historicorum mediü 
potissimum aevi. Ueber den Eharafter diefer Chroniken ꝛc. fhrieb Roesler: de 
annalium medii aevi varia conditione, Tubg. 1788; nicht minder handelt davon 
Schröckh, Kirchengeſch. 24, 474 ff. 30, 312 ff.; Auszüge gab Fr. v. Naumer, 
Handb, merfw. Stellen aus den latein. Schriftftellern des Mittelalters, Brest, 
1813. Die berühmteften Chroniften waren Beda d. Ehrwürdige, Regino 
von Prüm (Sec. IX.), Otto von Freifingen (neue Biographien und Unter- 
fuhungen über ihn lieferten Huber, Münd. 1847, Wiedmann, Paffau 1849), 
Hermannus Eontractug (Sec. XD, Lambert von Afchaffenburg (Sec. 
XD, Siegbert von Gemblour (Sec. XI u, XI) u, 4. Eben fo berühmt iſt 
das Chronicon Montis Casini, das Chr. magnum Belgicum, Saxonicum, Usbergense, 
die Annales Hirsaugienses von Trithemius ꝛc. Den Chronifen an Zahl und Wich— 
tigkeit ftehen gleich die unendlich vielen Biographien, fo daß ſich Faum irgend eine 
firchenbiftorifch- wichtige Perfon des Mittelalters finden wird, wovon nicht eine 
Biographie auf ung gefommen wäre, fehr oft fogar deren mehrere, Bon diefen 
Chroniken, Annalen und Biographien find viele einzeln herausgegeben worden, 
32. die Ehronif des Hermannus Contractus (f.d.A.) in der vortrefflihen Ausgabe 
von Üffermann, Benedietiner in St. Dlafien, 1796, 2 Duartb., und die Trithen— 
beim’fchen Annales Hirsaug. in der St. Galler Ausgabe 1690 in 2 Fol, Aber bei 
weitem die meiften find in den großen Sammelwerfen abgedruckt, namentlich in 
Germaniae historicorum illust. tomus, ed. Urstisius, Francof. 1585 fol.; Gold- 
ast, rerum alam. script. Francof. 1661. 5 fol. Pistorii, scriptores rerum ger- 
man. Ratisb. 1731. 3 fol. Meibomii, rer. germ. script. Helmst. 1688. 3 fol. 
Freher, M. rerum germ. scriptores, cur. Struvio. Strassb. 1717. 3 fol. Eck- 
hardt, corpus historicorum medii aevi, 1723, und Commentarii de rebus Franciae 
orientalis et episcopatus Wirceburgensis 1729. 2 fol. Leibnitz, script. rerum 
Brunsvic. 1707. 3 fol. Du-Chesne, historiae Francorum scriptores, Paris 1636. 
5fol. Bouquet, rerum gallicarum et francicarum scriptores, auch unter dent 
Titel: Recueil des historiens etc. Paris 1738. 19 fol. Muratori, rerum italic. 
seriptores, Milan. 1723 sqq. 28 fol. H. Canisii, lect. antiquae, new edirt von 
Jacob Basnage, thesaurus monum. Antverp. 1725. 4 fol. Martene et Du- 
rand, vet. script. et monumentorum amplissima collectio, Paris 1724 u, 1734, 
9 fol., und thesaurus novorum anecdotorum, Paris 1717, 5fol. D’Achery und 
Mabillon, acta Sanctorum Ord. S. Benedicti, Paris 1666—1701, 9 fol., Acta 
Sanctorum ({.d. A.) etc. Die vollftändigfte und trefflichfte Sammlung der auf 
die teutfhe Geſchichte von 500—1500 bezüglichen alten Documente und Scrif- 
ten edirt gegenwärtig Heinrich Perg in Berlin in f. Monumenta Germaniae 
historica, Hannover 1826 ff., in zwei Abtheilungen, leges (2 fol.) und scriptores 
(9 fol.). — Literatur des dritten Zeitalters, Eine neue Aera für die 
10* 


148 Kirchengeſchichte. 


kirchliche Hiſtoriographie begann mit dem 16ten Jahrhundert aus drei Veranlaf- 
fungen, 1) Mit dem Wiedererwahen der griehifhen Literatur im 
Abendlande wurde die Möglichkeit gegeben, gerade die Hauptquellen der Kirchen- 
gefchichte wieder zu benügen, und zugleich wurden diefe Hauptquellen felbft von 
den griechifchen Gelehrten, die aus dem zufammenfallenden byzantinifchen Neiche 


nah Stalien ıc. überfiedelt waren, in das Abendland mitgebracht, Zugleich forgte 


2) die eben neu erfundene Buchdruckerkunſt für Verbreitung diefer Firchen- 
Hiftorifchen Duellen, und während früher felten Jemand fo glüdlih war, zu 
vielen folchen Duellen Zugang zu erlangen, fo flanden diefe von nun an in Bälde 
ganz allgemein und in al’ ihrer Vielheit Allen zu Gebote, Eben um viefelbe 
Zeit gab 3) auch die Reformation einen neuen flarfen Anftoß zum Studium 
der Kirchengefchichte, indem der Proteflantismus mit der Prätenfion auftrat, fel- 
ber und ausfchließlih die wahre Urform des Chriſtenthums zu fein, und dieſe 
feine Behauptung mit hiftorifchen Gründen zu vertheidigen fuchen mußte, Dadurch 
wurden aber auch die Katholifen gendthigt, die Firchenhiftorifchen Studien mit 
neuem und größerem Eifer zu betreiben, um ihr gutes altes Necht zu ſchützen und 
nicht durch Sahrläffigfeit zu verlieren, I. Literatur der Neformationszeit, 
Mit einem bisher nie gefehenen Aufwande von Gelehrfamfeit und Duellenfenntni 
bearbeiteten fchon die Magdeburger Centuriatoren um die Mitte des 16ten 
Jahrhunderts die riftliche Kirchengefchichte, aber auf dem entfchieden und par— 
teiifch-proteftantifchen Standpunct, Das ganze Werk follte eine hiftorifche Apolo— 
getif des ftrengften Luthertfums fein, Gründer und Oberdireetor dieſes großen 
Titerarifchen Unternehmens war Mathias Flacius (ſ. Flacius) aus Illyrien. 


Mitten in feinen Kämpfen mit Melanchthon und andern weniger flarren Luthera- 


nern faßte er, als er eben Prediger in Magdeburg war, im J. 1552 den Plan 


zu diefem Werke, fchaffte dazu eine Menge von Duellen theils felbft, theils durch 4 
feine Helfer und befondern Emiffäre herbei, und organifirte dann eine Art Fabrif, 


indem die jüngern Gelehrten Auszüge machen, die Altern das fo Gemwonnene in 


die einzelnen Abfchnitte zufammenftellen, die Direetoren aber diefe Arbeit wieder | 
prüfen und die einzelnen Abfchnitte je zu einer Centurie zufammenfegen mußten, 


Der ganze Stoff wurde nämlich nach Jahrhunderten in Centurien, jede Cen- 


turie aber in 16 Realabſchnitte eingetheilt. Das nöthige Geld gaben die prote- i 
ftantifchen Fürften und Städte, auch Schweden und Dänemarf, Die erften fünf 


Centurien wurden in Magdeburg ausgearbeitet, daher der Name, die fpätern 


anderwärts, da Flacius feinen Aufenthalt oft wechfeln mußte; in Bafel aber 


wurden fie gedruckt 1559 ff. unter dem Titel: Ecclesiastica historia etc. congesta 
per aliquot studiosos et pios viros in urbe Magdeburgica, in 13 Folianten 13 Jahr 
Hunderte umfaffend. Die 14te, 15te und 16te Centurie, von Wigand bearbeitet, 
wurden nie gedruct und follen als Manufeript noch in Wolfenbüttel liegen. Eine 
zweite Ausgabe, den Calviniften zu lieb etwas abgeändert, gab Lucius zu Bafel 


im J. 1624 in 6 Folianten heraus; eine dritte Ausgabe vom J. 1757 blieb un- 
spllendet, und auch alle Verfuche, die Centurien fortzufegen, mißglüdten (f. Cen- 


iurien). Der heftige Parteiftandpunct der Centurien rief fowohl von Melanch— 


thonifcher als katholiſcher Seite Gegenſchriften hervor (ſ. Centurien gegen 
Ende). Die weitaus berühmtefte darunter aber wurde das große Werk, welches, 


Cäfar Baronius (fpäter wegen diefes Werkes zum Cardinal erhoben) auf den 
Wunſch feines geiftlihen Vaters Philipp von Neri mit einem faft wunderbaren 
Fleiße (ohne fremde Beihilfe) bearbeitete, Die ungemein zahlreichen Urkunden, 
die er in verfchievenen Archiven gefunden und hier eingerüct hat, gaben feiner 


Arbeit einen vorzüglichen Werth als Arfenal der wichtigften Documente, fo daß 
feine Annalen jeßt noch auch von Proteftanten hundertmal benügt werden, bis 
die Centurien einmal, Die erfte Ausgabe diefer Annales ecclesiastiei erſchien zu 

Rom 1588— 1607, in 12 Foliobänden bis in's 12te Jahrhundert (1198) reichend, 








A nk re 








Kirchengeſchichte. 149 


Bald folgten neue, etwas vermehrte Ausgaben und Nachdrücke. Eine Fortſetzung 
lieferte der polniſche Dominicaner Abraham Bzovius, in 8 Folianten Nom 
1616 (9 Fol. Rom. 1672) bis zum J. 1564 reichend, eine zweite der Biſchof 
Henrieus Spondanus von Pamiers (früher Proteftant), in 2 Fol. Paris 1640 
(3 #01. Lugd. Bat. 1678), bis 1640 gehend. Derfelbe hat auch einen ziemlich 
umfaffenden Auszug aus Barpnius bearbeitet. Die dritte und beſte Fortfegung, 
namentlich an Urkunden reich, ift die von dem Dratorianer Odericus Raynal- 
dus, Rom. 1646—1677, in 9 Fol. bis 1566, und endlich gab Jacob Laderchi, 
ebenfalld Dratorianer, noch 3 Foliobände Fortfegung, Rom 1723—37,. Diefe 
drei Bände umfaffen jedoch nur fieben Jahre (1566-1571 incl.) und zeugen 
von nicht gar großer Gewandtheit. Eine höchſt gelehrte Kritif, mit zahlreichen, 
befonders chronvlogifhen Berichtigungen, lieferte der franzöfiihe Franciscaner 
Anton Pagi. Er erlebte jedoch nur die Herausgabe des erften Bandes (+ 1699), 
worauf fein Neffe Franz Pagi, ebenfalls Franeiscaner, das hinterlaffene Ma— 
nuſeript feines Oheims da und dort verbeilerte und das Ganze in 4 Fol, unter 
dem Titel herausgab: Critica historico-chronologica in universos annales etc. Ba- 
ronii. Antw. 1705, neue Ausg. 1724. Die befte Ausgabe der Annalen des Ba— 
zonius fammt der Fortfegung von Raynaldi Caber ohne Laderchi) und der Kritif Pagi's 
lieferte der Erzbifhof Manfi, neue Noten und Apparatus hinzufügend, in 38 Fol. 
Luccae 17338—59, Ein feltenes und fehr foftbares, leider nicht immer fehlerlog 
gedructes Werk (f. Baronius), — Es war natürlich, daß Baronius von den Pro- 
teftanten fehr heftig angegriffen wurde, namentlich von den Lutheranern Kortbolt 
(1. 8.4.) und Tribbechov, fowie von den Reformirten Cafaubon, Sam. Bas— 
nage (f. d. A.) und Montacutius. Die Katholifen dagegen waren durch feine 
Annalen fo ſehr befriedigt, daß fie Auszüge aller Art daraus fertigten und hundert 
Sabre vergingen, bis wieder felbfiftändige Werfe über allgemeine Rirchengefhichte 
erſchienen. IL. Die großen Kirchenhiſtoriker Frankreichs. Die große und 
allgemeine wiffenfchaftliche Blüthe unter Ludwig XIV., und die vielen gelehrten 
kirchenhiſtoriſchen und patriftifchen Specialwerfe der Mauriner, Jeſuiten G. B. 
Petavius), Dratorianer (z. B. Morinus), Gallicaner (z. B. Rider), kurz der 
franzöfifchen Theologen aller Richtungen, all’ dieß mußte auch eine neue und ge= 
ſchmackvollere allgemeine Kirchenhiftoriographie in Frankreich in's Leben rufen, 
Die Reihe der großen franzöfifhen Kirchenhiftorifer eröffnete aber 1) Anton 
Gpdeau (f.dv.A.), Bifhof von Benge, mit feiner nur bis in's neunte Jahrhundert 
gehenden histoire de l’eglise depuis la naissance de J. Ch., Paris 1663, 3fol., eine 
vierte von Godeau felbft verbefferte Auflage erfhien 1672 ff. in vier Bänden zu 
Paris, eine teutfche Weberfegung in 38 Octavbänden zu Augsburg 1768 ff. - 
2) Noch größere Verdienfte erwarb fih der gelehrte Dominicaner (langjähriger 
aufrlr und Ordensprosineial) Natalis Novel) Alerander (f. Natalis), 

in großes Werk erfchien zuerft, Paris in 30 Octavb., 1676 ff., die alt- und 
neuteftamentlihe Kirchengefchichte His Ende des 16ten Jahrh. enthaltend, Die 
\ Ießten Abtheilungen waren noch nicht erſchienen, als Papft Innocenz XL dag 
| Werf im 3. 1684 wegen der gallicanifchen Anſichten des Verfaffers und feiner 
‚ öfter zu Tage tretenden Oppofition gegen Rom in den Inder fegen lief. Dieß 
‚ veranlaßte den Pater Natalis in einer zweiten Auflage in 8 Fol. Paris 1699 je 
bei den betreffenden Artifeln gegen die Ausftellungen der „religiosissimi censores® 
ſich in befondern Scholien zu vertheidigen. Weitere Ausgaben diefer Art erſchie— 
‚nen Paris 1714 und 1730 in 8 Fol. Weil man aber das an fich treffliche, auch 
im Allgemeinen voll Eifers für die katholiſche Kirhe, namentlich den Häretifern 
‚ gegenüber gefchriebene Werk nicht gerne entbehren wollte, veranftaltete Roncaglia, 
| ein Mönd zu Lucca, eine neue Ausgabe (Lucca 1734 in 9 Fol.); worin zwar der 
Text des Verfaffers unverändert wiedergegeben, feinen irrigen Behauptungen aber 
Berichtigungen, theilweiſe in ganzen Differtationen entgegengeftellt wurden, Die 














150 Kirchengeſchichte. 


mit dieſem Noncaglia’fchen Gegengift Cut ita dicam) verſehene Ausgabe wurde 
von Benedict XIII. (einem Ordensgenoſſen des P. Natalis) aus dem Inder be- 
freit, allgemein erlaubt und öfters gedruckt, Aber auch der berühmte Erzbifchof 
Manfi von Lucca beforgte eine neue Ausgabe, mit Beifügung eigener Noten 
(Lucca 1749 in 9 Fol.), und endlich fügte ein Anonymus noch zwei Supplementbände 
hinzu, welche theils die Kirchengefchichte bis in's 18te Jahrhundert fortfegen, 
theils nur verfchiedene Differtationen Anderer enthalten, z. B. Veronii regula 
fidei catholicae, Reginaldi Diss. de catechismi romani authoritate, auch Vindiciae 
librorum deutero - canonicorum a. f. f. Das fo vervollſtändigte Werf wurde nun 
zu Venedig 1778 in eilf Foliobanden (oder zehn, da die zwei dünnen Supple— 
mentbände gewöhnlich zufammengebunden find), und zu Bingen am Rhein in 20 
Cnicht immer ganz Ieferlich gedrucften) Duartbänden 1734 gedrudt. Eine Abhand- 
ung über die Verbienfte des P. Natalis von Touron iſt dem dritten Bande der 
Venetianer Ausgabe vorangefiellt. Die Eigenthümlichkeit des Natalis Alerander 
erhellt aber am beutlichften, wenn wir ihn mit Fleury vergleichen. 3) Clau— 
dius. Fleury (ſ. Fleury, Claude), souspr&cepteur der franzöfifchen Prinzen 
und Prior von Argenteuil, befchrieb in franzöfifcher Sprache in 20 Duartbänden 
(100 Bücher enthaltend) die Gefchichte der riftlichen Kirche von der Himmel- 
fahrt des Herrn bis 1414, Paris 1691 — 1720. Seine Darftellung ift einfach, 
nur referirend, felten raifonnirend, der Styl faft immer elegant und concis, die 
Erzählung außerordentlich ruhig, ferne von aller franzöfifchen Wortmacherei, ohne 
Tiraden und rhetorifche Ergüffe, Dabei hat Fleury jedoch nicht in trockener Ge- 
Vehrten- und Schulmanier gefhrieben, fondern für Gebildete aus allen Ständen ; 
darum legt er feinen gelehrten Apparat nirgends zur Schau, vermeidet Fritifche 
und chronologiſche Unterfuchungen, und wo er fie führen mußte, gibt er nur dag 
Refultat, ohne den Lefer mit dem Wege befannt zu machen, auf dem er e8 gefunden, 
In diefer Rückſicht bildet er einen wahren Gegenfag zu Natalis Alexander, Letz- 
terer fehreibt in der Manier der damaligen Schule, vielfach geradezu in ſyllogiſtiſcher 
Form, ohne Vermeidung der hieraus entflehenden Härte und GSteifheit, Fleury 
Dagegen ift der angenehme Erzähler, in einem abgerundeten, glatten, freundlichen 
und durchfichtigen Style, Jener fihrieb dasjenige nieder, was er in den gelehr— 
ten Conferenzen bei dem jungen Abbe Colbert, dem Sohne des Minifters, 
vor den erften Yiterarifchen Notabilitäten vorgetragen hatte, Fleury dagegen hatte 
das ganze gebildete Publicum im Auge, Natalis hat ferner feine Stärfe nicht in 
der fortlaufenden Gefchichtserzählung (dieſe ift im Gegenteil bei ihm fehr mager), 
fondern in den gelehrten Unterſuchungen einzelner hiftorifcher und dogmenhifto- 
rifcher Puncte und Fragen, in den Differtationen nämlich, die er jedem Jahr— 
hunderte beigegeben hat, während die acht Differtationen, die auch Fleury ver- 
faßte, mehr nur Ueberſichten als Fritifhe Detailunterfuhungen find, Natalis ift 
vffenbar gelehrter, in vielen Dingen aceurater und ein weit ſchärferer Kritifer 
als Fleury; aber diefer ift unvergleichlich angenehmer, für die Mehrzahl weit 
brauchbarer, an mitgetheiltem hiſtoriſchem Material reicher und in der eigentlichen 
Geſchichtserzählung viel ausführlicher. Beſonders anziehend find feine trefflihen 
und häufigen Auszüge aus den wichtigften Werfen der Kirchenväter und den in- 
tereffanteften Martyracten, fowie die gelungenen und conereten Sittenfhilderun- 
gen, welche Fleury mit feinem Tacte und vielem Gefchicke feinem Werfe einver- 
Yeibt hat, Er fand bald viele Bewunderer und viele Tadler, felbft Anfläger, 
namentlich in dem Carmeliten Honoratus a S. Maria, und wenn auch Fleury 
von Gallicanismus nicht ganz frei nnd andererfeits zu oft von Baronius und 
Labbe abhängig ift, fo waren die Angriffe auf ihn doch weit übertrieben und 
darum erfolglos, Nach Fleury’s Tod (1723) feste der Dratorianer Claude 
Faber, mit foharfer Feder, aber nicht mit fcharfem Geifte, ein übertriebener 
Gallicaner, dag Werf fort, Fam aber in 16 Ouartbänden nur bis 1595, Dabei 


Kirchengeſchichte. 151 


iſt das Nöthige, namentlich Dogmenhiſtoriſche zu Furz, das Außerweſentliche und 
Profanhiftorifche viel zu weitläufig behandelt. Den 37. Duartband, die fehr 
ausführliche und gute Table generale des malieres lieferte Ron det. Das Ganze 
umfaßt demnach 37 Duartbände, Paris 1722 ff. und 1750 ff. Eine Ausgabe in 40 
Dupdezbänden, wovon vier das Negifter enthalten, erfchien 1714 ff. und 1724 ff. 
zu Paris und Brüffel, in 25 Duartbänden zu Caen. Eine Iateinifche Leberfegung 
in 50 Detavbänden lieferten der Carmelit Nlerandera S. Joh. de Eruce und 
P. Bruno Paroda zu Augsburg 1758 ff., ja erflerer und P. Benno fügten noch 
eine Iateinifche Fortfegung (v. 1596—1768) in 36 Detanbänden und eine latei- 
nifche Ueberfegung von Calmet’$ introductio in historiam ecclesiasticam seu hi- 
storiam Vet. et N. T. in fünf Detavbänden bei, fo daß nunmehr das Ganze aus 
91 Bänden und 2 Bänden Indices befteft. Aber diefe Fortfegung Fonnte bei 
ihrem Mangel an Geift und Geſchmack fein Anfehen erwerben, und es war mehr 
der gute Wille zu Toben, als Geſchick und Tüchtigfeit zu erfennen, Um fo mehr 
Intereſſe erregte es, als vor etwa zehn Jahren von Franfreih aus die Nachricht 
verbreitet wurde, man babe eine von Fleury feldft verfaßte Fortfegung bis zum 
5. 1517, alſo bis Luther gehend, aufgefunden. Sie wurde fofort in einer neuen 
Auflage des ganzen Fleury’ihen Werkes (nicht appart) gedruckt (Histoire ecclé- 
siaslique per PAbbé Fleury, augmentee de quatre livres... publies pour la pre- 
miere fois d’apres un manuscrit de Fleury appartenant ä la Bibliotheque royale; 
avec une table generale des matieres (die jedoch fehr unvollftändig ift). Paris, 
Didier 1840, ſechs Bände in groß Octav. Diefe vier Bücher find jedoch nichts 
anderes, als der erfte noch fehr lückenhafte Entwurf zu einer Fortfegung, wie 
ih an einem andern Orte (Tübing. Quartalſch. 1845 S. 331 — 347) nachge⸗ 
wiefen zu haben glaube. Ziemlich wertlos ift endlich eine teutfche Ueberfegung 
der von Fleury felbft herausgegebenen erften 100 Bücher, welche um die Mitte 
des vorigen Jahrh. zu Frankfurt und Leipzig in Duart erfhien. — Bon Fleury’s 
Werk wohl zu unterfiheiden ift das unchriſtliche Buch Abrege de Vhistoire eccl. 
par Mons. Fleury. II Tom. Berne (eigentlich Berlin) 1766, auf Befehl Friedrichs II. 
von Preußen von dem Sorbonner Doctor Abbe de Prades, der fih Iange Zeit in 
Berlin aufbielt, verfaßt, Die berüchtigte Vorrede aber, um deren willen das Buch 
1766 zu Bern verbrannt wurde, rührt unftreitig vom König ſelbſt Her, und findet fich 
darum auch im vierten Supplementband zu feinen Werfen. 4) Zu den größten 
franzöfifhen Kirchenhiftorifern gehört auh Tillemont (Sebastian le Nain de 
Tillemont) , aus einer adeligen franzöfifchen Familie, Priefter, Schüler und Freund 
derSolitaires dePort royal, aber doch nicht ſelbſt Janſeniſt (ſ. d. A). Ohne Amt, nur der 
Wiffenfhaft und dem Gebete auf feinem väterlichen Schloffe Iebend, fammelte er 
mit flaunenswerthem Fleiße alle in den alten Duellen enthaltenen Notizen über 
die Kirchengefchichte der erften Jahrhunderte, und theilte num das gewonnene un- 
geheure Material fo, daß er in ſechs Duartbänden die Gefchichte der römifchen 
Kaifer (1690 ff.) und in 16 Duartbänden die eigentliche Kirchengefchichte, Paris 
1693 ff., behandelte. Beide Werfe reihen bis in den Anfang des fechsten Jahrh., 
die Histoire des empereurs (mehr Profangefhichte) geht bis auf K. Anaftaflus, 
die Kirchengefihichte bi8 zum J. 513. Legtere hat den Titel: M&moires pour 
servir à l’histoire ecclesiastique ete., und die fpätern Bände davon erfihienen erft 
nach dem Tode des Verfaffers. Man wünfchte, daß die Dauriner das treffliche 
Werk fortfegen möchten, das alsdann bei weitem die befte und gründlichfte Kir- 
hengefhichte geworden wäre; allein felbft Couſtant wagte fih nicht daran, Ein 


anderer Mauriner, le Saint, aber flarb, nachdem er feine Fortfegung faum be- 
gonnen hatte, Die Methode Tillemonts war ganz eigenthümlich. Er ftellte näm- 
lich je über einen Punct die betreffenden Worte der alten Duellen und fpäterer 
Sceribenten auf eine fo geſchickte Weife zufammen, daß diefe Mofaif immer das 


möglichft vollftändige Bild jedes Gegenftandes Tiefert, Es ift alfo alles aus den 


152 Kirchengeſchichte. 


Quellen geſchöpft, und aus Quellenſtellen die ganze Erzählung zuſammengefügt. 
Genaue Citate am Rande geben an, woraus jedes einzelne Sätzchen genommen 
ſei, und jedes Wort, das Tillemont ſelbſt beifügte, iſt ſorgfältig zur Unterſchei— 
dung mit Klammern umſchloſſen. Dazu kommt noch ein zweiter Hauptvorzug, 
die meiſt treffliche Kritik, welche namentlich in den am Ende jedes Bandes ange- 
hängten Notes zu Tage tritt, in denen natürlich der Verfaffer ſelbſt fprechen, alſo 
von feiner fonftigen Manier abgehen mußte. — Eine zweite Ausgabe der M&- 
moires erſchien Paris 1770 ff., ein Nachdruck fowohl der Kirchengeſchichte als 
der M&moires, jener in 6 diefer in 16 Duartbänden zu Venedig 1732, zwei an— 
dere Nachdrücke der M&moires zu Brüffel in 24 Dupdezbänden und in 10 Duart- 
bänden (1726 u. 1732) find unvollſtändig. Die 24 Duodezbändchen entfprechen 
nämlich nur den 8, die 10 Brüffeler-Oxartbände nur den 10 erfien Bänden der 
Parifer Ausgabe. Vgl, meine Abhandlung über Tilfemont in der Tübinger 
Quartalſch. 1841 ©,243 ff. 5) Hinter den genannten großen franzdfifchen Kir- 
chenhiſtorikern fliehen die des 18ten Jahrh. beträchtlich zurück. Gie erzählen zwar an— 
genehm, mitunter fogar elegant, wie Choify, aber e8 fehlt ihnen an Kritik, Genauig- 
feit und Duellenftudium, Hieher gehören Franz Timoleon de Choify, Mit- 
glied der franzöfifchen Arademie und Domdechant zu Bajeur, mit feiner histoire 
de l’eglise, Paris 1706—23, in eilf Bänden big in's 18te Jahrh. reichend, Et— 
was jünger ift der Zanfenift Bonaventura Nacine, deffen abrege de V’hist. 
eccl. Cologne (Utrecht) 1748 ff. in 15 Octavbänden gedruckt und auch in's Teutſche 
überfegt wurde, Wien 1724 ff. in 20 Octavbänden. — Kirchlicher, überhaupt 
mehrfach Iobenswerth ift Ducreux, les siecles chretiens, Paris 1775 in 9 De- 
tavbänden, auch 1785 in 10 Bändchen; teutfh: Wien 1777 ff. in I, Landshut 
1781 ff. in 10 Octavbänden. — Noch weiter verbreitet iſt jedoch die histoire de 
löglise von Berault-Bercaftel, Domberrn zu Noyon, Paris 1773 in 24 
Duodezb. fortgefett von Pelier de Lacroix, Paris 1830, Robiano (Paris 1836 
in vier Octavb.) und Henrion in vier Detavb,, von legterem auch ganz neu edirt 
fammt Fortfegung in 13 Detavb,, Paris, Gaume 1841. Sie geht jebt bis auf 
unfere Zeit. Eine teutfche Ueberfegung erfchien zu Wien 1784 in 24 Fleinen 
Octavb., ein teutfoher Auszug zu Augsburg 1821 ff. und Insbruck 1841 ff. 
6) Ein fehr gutes und ausführliches Werk Lieferte in Frankreich neuefter Zeit der 
auch mit der teutfchen Literatur vertraute Abbe Rohrbacher, Profeffor am Se— 
minar zu Nancy, Seine histoire universelle de l’eglise etc. Paris 1842 — 48 
umfaßt 29 Detavb, und geht bis zum J. 1848, Die drei erften Bände ent—⸗ 
halten die altteftamentliche Kirchengeſchichte. — Weit weniger als die Fran- 
zofen Leifteten IH. die italienifchen Kirchenhiſtoriker. a) Der berühmtefte 
darunter ift der Cardinal Orſi, deffen storia ecel. Rom. 1748 ff. in 20 Duartb, 
nur die ſechs erften Jahrh. umfaßt. Eine Fortfegung lieferte der Dominicaner 
Bechetti (Nom 1770 ff.) in 17 Quartb. bis zum J. 1378. Nachher Fam noch 
von ihm Hinzu: Istoria degli ultimi quatro seculi della chiesa. Rom. 1788 ff, in neun 
Bänden nur bis zur Trienter Synode reichend. b) Ebenfalls unvollendet ift des 
Dratorianers Caſpar Saccarelli Iateinifch gefchriebene historia ecelesiastica, 
per annos digesta etc. Rom. 1770 ff. in 25 Quartb. bis 1185 reichend. c) Obgleich 
Franzoſe von Geburt fohrieb doch in Stalien Hyacinth de Gravefon (ſ. d. A) 
im Anfange des 18ten Jahrh. feine jebt ziemlich vergeffene, jedoch nicht unange= 
nehme historia ecclesiastica V. et N. T. bis 1721 reichend, Sie wurde öfter und 
in verfchiedenen Formaten gedruckt. d) Ein viel verbreitetes, oft gedrucktes, je= 
doch wenig bedeutendes lateiniſches Compendium lieferte Lorenz Berti]. u. U), 
in zwei Oetavb. bis in's 18te Jahrh. reichend, Wichtiger find feine kirchenhiſto— 
rifhen Differtationen,, Florenz 1753 ff. in drei Quartb. Endlich e) erfihienen 
in neuefter Zeit einige ordentliche Werfe mäßigen Umfangs von Delfignore 
(instituliones historicae, Rom. 1837) und Palma Cpraelectiones hist. ecel, Rom. 





— 


Kirchengeſchichte. 153 


1838 ff. in vier Octavb.) Auch ein anonymes italieniſches Werk „über die neueſte 
Geſchichte der Kirche Ehrifti” (teutfh in fehS Bändchen, Augsburg 1836), vom 


5. 1800—1833 reichend, enthält manches fehr gute Material, ohne jedoch wifjen- 
ſchaftlich zu fein. Biel Wichtigeres haben dagegen einzelne Italiener in Firchen- 


hiſtoriſchen Specialwerfen geliefert, 3. B. Pallavieini, Toſti (storia di Boni- 
facio VIIL. Rom. 1846) u. A. IV. Teutſche katholiſche Kirchenhiſtoriker. 
Wie anderwärts fo begnügte man fih auch in Teutfchland lange Zeit mit Auszügen 
aus Baronius, und erft feit Maria Therefia und Kaifer Joſeph II. datirt fich eine 
eigentliche teutfche Kirchenhiftoriographie. a) Ihr Anfang, d. h. die jofepbinifche 
Epoche theilte jedoch Joſeph's Gegenfäglichkeit gegen Rom, und iſt oft unhiſtoriſch— 
bitter-polemifch, bloß compendiarifch, auf das Tiefere nicht eingänglich, viel zu wenig 
auf Duellenfiudium gegründet, und darum großentheild wieder der Vergeffenheit 
anheimgefallen, Dieß gilt namentlich von Royfo, Profeffor in Prag (synopsis hist. 
rel. et ecel. Chr. Prag 1785, teutfch 1739), der in feiner derben Weife auch eine Hi= 
forie der Conſtanzer Synode ſchrieb, welche, obgleich jünger als die des Calviniſten 
Lenfant, doch fehr weit Hinter diefer zurückſteht. Noch oberflächlicher und trivialer 
find die Büchlein von Michl in Landshut (München 1811, zwei Bände) und P. 
Wolf (Zürih, zwei Bände). Legterer fchrieb au ein größeres Werf über 


- Pins VI. Unbedeutend find ferner Shmalfug (Auguſtiner und Profeffor in 


Prag), historia religionis, Prag 1792 6 T. in 8., und Gmeiner, Profeffor in 
Gratz, epitome hist. ecc., 1787 und 1803 in zwei Octavb. Am beften find noch 
die institutiones hist. eccl. von Dannenmayer, Wien 1788 und 1806, teutſch: 
Rottweil 1826, vier Theile. 6) Eine neue Aera der teutſchen Kirchenhiſtorio— 
graphie begründete fofort im Anfange des gegenwärtigen Jahrhunderts der be- 
rühmte Graf Leopold zu Stolberg dur feine eben fo geiftreiche als tief- 
Hriftlihe und warm⸗kirchliche „Gefchichte der Religion Jeſu Ehrifti, Hamburg 
und Wien 1806 ff.“. Die 15 Octavbaͤnde, die er felbft ausarbeitete, geben von 
der Weltfhöpfung bis zum J. 430 n. Chr, Die erfien vier Bände insbefondere 
enthalten die altteftamentliche Kirchengeſchichte. Nach Stolberg’s Tod (+ 1819) 
feste Friedrich von Kerz (penfionirter Major), das große Werk fort und fam 
in 32 Bänden bis zum dritten großen Kreuzzug incl., fo daß jest alle 46 Bände 
zufammen (Mainz, bei Kirchheim u. Schott) bis zum Ende des 12ten Jahrh. 
reihen. Kerz hatte fehr fleißig gearbeitet, befaß jedoch weder den Geſchmack noch 
den Geift Stolberg’s, und fchrieb breit und oft Iangweilig. Er farb, in hohem 
Alter, eben an dem ATten Bande arbeitend; und nach einiger Unterbrechung 
unternahm Fürzlih Repetent Dr. Briſchar in Tübingen auf Einladung der Ver— 
lagshandlung die weitere Fortfegung des Stolberg-Rerz'fhen Werkes, fo daß es 
raſchen Fortgang haben ſoll und der ATte Band bereits beinahe vollendet iſt. Ein 
Regifter zu den 15 erften Bänden des ganzen Werkes Iieferte 3. Mori; 1825, 
ein zweites über Band 16—23 Franz Saufen 1834. c) Unter Stolberg’s Ein- 
flug bildete fih Theodor KRaterfamp, Anfangs Hofmeifter im Haufe Drofte- 
Viſchering, fpäter Profeffor und Domdechant zu Münfter (+ 1834), Seine Kir- 
chengeſchichte in fünf Octavb. und einem Bändchen Einleitung (Münfter 1819 — 
1834) geht bis zum Jahre 1153 und iſt ausgezeichnet durch Geſchmack und Ele— 
ganz der Darftellung und Tiefe der Auffaffung. Die eigenthümliche Diathefe, 
die bier befolgt ift, gab jedoch dem Werke faft eben fo viele Mängel als Vorzüge, 


h Raterfamp theilt nämlih den ganzen zeitlichen Verlauf der Kirche in gar zu 
viele Heine Epochen, läßt fomit die chronologiſche Abteilung zu ſehr über die 
Realabtheilung vorherrfchen, und liebt es, ganze Zeitabfihnitte in Monographien 
einzelner hervorragender Perfonen zufammenzufaffen. Gerade in diefer mono— 


graphiſchen Behandlung hat er auch feine befondere Stärke und gibt dadurch und 
durch feine meifterhaften Schilverungen überhaupt feinem Werfe viel Frifhe und 


Lebendigkeit, Aber er wurde dadurch auch fehr häufig an richtiger Placirung des 


154 Kirchengeſchichte. 


Stoffes gehindert. Außerdem hat er ähnlich wie Fleury, ja noch mehr als dieſer, 
die Quellen, aus denen er ſchöpfte, verſchwiegen, und ganz im Gegenſatze zu 
dem ſonſtigen teutſchen Citatenreichthum allerdings die Schwerfälligkeit vermie— 
den, aber mit dem abusus auch den usus aufgehoben, Leider fand ſich Niemand, 
der die Raterfamp’fche Kirchengefchichte hätte fortfegen und beendigen wollen. 
Gerade die fo ſcharf ausgeprägte Eigenthümlichfeit diefes Werfes, in die fih nicht 
Seder finden kann oder mag, war das Hinderniß. (Vgl. über die Katerkamp'ſche 
Kirchengefchichte die Tüb, Duartalfc, 1823 ©. 484, 1825 ©, 486, 1831 ©, 519,) 
d) Ebenfalls unvollendet blieb die Kirchengefchichte von Loch erer, früher Pfarrer 
im Badifchen, fpäter Profeffor in Gießen (4 1837). Aus der jofephinifchen 
Schule hervorgegangen, hat Locherer befonders in den erſten Bänden diefe Rich- 
tung ungemein flarf hervortreten Taffen, Zudem fehlte e8 ihm aber auch an Ge- 
ſchmack, Quellenſtudium und Selbftftändigfeit, Namentlich iſt er zu fehr von 
Schröckh abhängig. Seine neun großen Octavbände (Ravensburg 1824 ff.) gehen 
bis 1073. e) Große Hoffnungen erwerte JZofeph Othmar von Rauſcher, 
Profeffor in Salzburg, durch feine Gefchichte der chriftlichen Kirche in zwei Bänden, 
Sulzbach 1829, bis Eonftantin d, Gr. gehend, Da jedoch Rauſcher bald darauf 
Direetor der prientalifhen Academie in Wien, 1846 Lehrer des jebigen Kaifers, 
im J. 1849 endlih Bifhof von Sedau (Gray) wurde, unterblieb die Fortfegung. 
f) Ein fehr brauchbares Compendium fihrieb Hortig, damals Profeffor in 
München, fpäter Domherr, auf zwei Bände berechnet, Landshut 1826. Dem 
zweiten Bande mußten jedoch zwei Abtheilungen gegeben werben, wovon bie 
letztere Hortig’8 Nachfolger im Lehramte, Profeffor Döllinger, bearbeitete, g) Als 
dieß Compendium vergriffen war, wollte Döllinger e8 ganz umarbeiten, behielt 
darum den Hortig’fchen Namen neben dem feinigen noch bei, Tieferte aber in der 
That ein ganz neues Werk unter dem. Titel: „Handbuch der chriſtlichen Kirchen— 
gefchichte, Landshut 1833, Leider erfchienen jedoch nur zwei Abtheilungen (Bände), 
wovon die erfte bis Eonftantin d. Gr. geht, die zweite aber nur die äußere 
Kirchengefihichte der zweiten Periode bis zum J. 680 enthält, Ein treffliches, 
gründliches und gelehrtes Werk, deſſen Hauptfehler ift, daß es bis anher von dem 
Berfaffer nicht fortgefegt wurde, Inzwifchen unternahm Döllinger auch ein Com— 
pendium, oder „Lehrbuch der Kirchengefchichte”, wovon ebenfalls bisher zwei Abthei- 
Yungen, nicht ganz bis auf Luther gehend, erfchienen find (1836, 2te Aufl, 1843). 
Bon vorzüglihem Werthe ift endlich Dölfinger’s großes Werf über die Refor— 
mation, wovon bis jegt drei Bände erfihienen find, der erfte bereits in zweiter 
Auflage, h) Die zwei beften vollendeten Compendien der Kirchengefchichte 
lieferten 30h. Ig. Ritter, Profeffor und Domdechant in Breslau (Ste Aufl., 
Bonn 1846 in 2 Octavb.) und Alzog, Profeffor und Domherr in Hildesheim 
Cöte Aufl., Mainz 1850 in einem großen Detavband). Alzog ift reihhaltiger in 
Angabe der Literatur ſowohl als in Betreff des Materials, aber Ritter's Dar- 
ftellung ift Harer und zum Selbftunterrichte paffender, (Vgl. Tüb, Quartalſch. 
1836 ©, 339, 664, 1841 ©, 335, 1844 ©, 102, 1847 ©, 507.) iD) Gute 
lateinifch gefchriebene ECompendien haben wir von Ruttenſtock (4 Prälat von 
Kiofterneuburg)) , institutiones h. e. Vienn. 1832 ff. in vier Octavb.; Klein (jegt 
Domherr in Wien), hist. ecel. Graeci 1828 in zwei Detaob, und Cherier (Pro- 
feffor am Seminar zu Tirnau) instit. hist. ecel. Pesth. 1840, vier Octavb. k) Un- 
vollendet ift Ginzel's (Profeffor in Leitmerig) Gefhichte der Kirche, Wien 
1846; 1) ziemlich werthlos und unaceurat Annegarn’s C+ Profeffor zu Braung- 
berg) Gefchichte der hriftlichen Kirche, Münſter 1842 in drei Octavb.; m) mehr 
populär als wiffenfchaftlich die Kirchenhiftorien von Berthes (Mainz 1840, 
2 Bde,), Sporfchil (Leipzig 1846, 3 Bde), Haas in Augsburg (2te Aufl, 
1846) u. A. n) Endlich gehört auch Riffel in Mainz durch fein großes Werk 
über die Kirchengefchichte feit ver Reformation, wovon bis jetzt drei Bände er— 





——— 


Kirche ngeſchichte. 155 


ſchienen ſind, zu den namhaften Kirchenhiſtorikern Teutſchlands (vgl. Quartalſch. 
1847 ©. 483). V. Proteſtantiſche Kirchenhiſtor iker. Die Magdeburger 
Eenturien brachten bei den Proteftanten diefelbe Wirkung hervor, wie die An- 
nalen des Baronius bei den Ratholifen. Man ruhte auf den Lorbeeren und be— 
gnügte fih mit Exrcerpten. Nur in Specialwerfen, z. B. von Korthold, Ittig, 
Sedendorf (hist. Lutheranismi 1692) zeigte fi wieder Duellenftudium. Neues 
Leben brachte a) der Pietift und Myſtiker Gottfried Arnold (f. Arnold, ©.), 
Profeffor in Gießen (+ 1714), durd feine höchſt parteiifche „unparteiiſche Kirchen- 
und Ketzerhiſtorie“ voll Ungerechtigkeit gegen die Fatholifche Kirche und noch mehr 
gegen das fog. orthodoxe Lutherthum. Die ganze Zeit feit Eonftantin d. Or. ift 
ihm eine große Periode des Abfalls vom wahren Chriſtenthum, das allein in der 
Urkirche Herrlich geftrahlt Habe Cin den drei erften Jahrh. fieht er Feine MängeN. 
Luther habe zwar verſucht, die Urkirche zu reftituiren, aber fein Unternehmen fei 
völlig mißgluͤckt, und nur in einzelnen Secten, die er alle vertheidigt, habe ſich 
das wahre Chriſtenthum noch erhalten. — Diefe Eoloffale Einfeitigfeit Arnold's 
feste zabllofe Federn gegen ihn in Bewegung, er regte damit zu neuem Firchen- 
biftorifchem Leben an, hat aber auch außerdem ein pofitiveres Verdienſt, daß er 
den Andern wirflih ein Mufter im Duellenftudium und in der freieren, freilich 
noch nicht geſchmackvollen Behandlung der Kirchengefihichte war. Die befte und 


‚mit vielen Nachträgen vermehrte Ausgabe ift die von Schaffhaufen 1740 in drei 


Solivbänden. b) Einen Gegenfat bildete der milde und gelehrte Tübinger Theo— 
Inge Weifmann durch feine introductio in memorabilia ecel. hist. in zwei Quart- 
bänden, 1718 und 1745. Unverhältnißmäßig ausführlich find darin das 16te 
und 1Tte Jahrh., auch die Geſchichte der Gelehrfamfeit behandelt. c) Einen 
noch viel größeren Namen erwarb fih aber Joh. Lorenz Mosheim, Kanzler 
in Göttingen, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts (+ 1755). Er beſaß un- 
gemein viel Duellenfenntnig und viel Scharffinn, und von ihm her datirt ſich 
ein befferer Geſchmack in der Kirchenhiftorisgraphie. Sein Hauptwerk find die 
institutiones hist. eccl. antiquae et recent. in einem Duartbande (1754 u. 1764), 
die bald nah ihrem Erfcheinen von zwei Schülern Mosheims (unabhängig von 
einander) auch in's Teutfche überfegt, mit Notizen aus den Eollegienheften und 
andern Werfen Mosheims erweitert, auch fortgefegt wurden, nämlich von dem 
Herrn 5. A. Eh. von Einem (Leipzig 1769 ff. 9 Bde.) und noch beffer von 
dem Heilbronner Rector 3. Rud. Schlegel, Heilbronn 1770 ff. in fieben Bän- 
den, bis in's 18te Jahrh. reichend. Der Ieste (Tte) Band enthält ausſchließlich 
die Miffionsgefchichte,, befonders der Fatholifchen Kirche im 18ten Jahrh. Aufßer- 
dem Tieferte Mosheim einen trefflihen commentarius de rebus Christianorum ante 
Constantinum M., eine Anzahl ausgezeichneter Differtationen, zwei Octavbände 
füllend, und mehrere Specialwerfe, 3. B. über die Beguinen. d) Um diefelbe 
Zeit machten fi auch der Tübinger Kanzler Pfaff, die beiden Walde, Baum- 
garten, Eramer, Semler u. A. um die Kirchenhiſtoriographie verdient. Ins— 
befondere lieferte Chrift,. Wild, Franz Walch (der Sohn) eine fehr ausführliche 
und in vielfacher Beziehung trefflihe Keßergefchichte in eilf Bänden (Leipzig 
1762 ff.); auch eine fehr beachtenswerthe und reichhaltige „neuefte Neligions- 
geihichte” von Clemens XIV. an (Lemgo 1771 ff.), in neun Octavbänden, wozu 
Plank noch drei weitere Bände, auch unter einem befondern Titel hinzufügte 
(1793). Ihm verdanfen wir ferner auch eine jegt noch fehr brauchbare Hiftorie 
der Kirhenverfammlungen (Leipzig 1759) und eine freilich minder ſchätzbare 
Hiftorie der römischen Papfte (Gött, 1758). Sein Vater Georg Wald fer- 


 tigte unter Anderem eine ausführliche Geſchichte der Religionsftreitigfeiten zwi- 
ſchen Katholiken, Lutheranern, Reformirten ꝛc. in zwei Abtheilungen zu vier und 


zu fünf Bänden; Cramer zu Kiel aber überfegte Boſſuet's Einleitung in die 
Geſchichte der Welt und Neligionen bis auf Carl d, Gr, (in einem Bande) und 


156 Kirchengeſchichte. 


gab dazu eine Fortſetzung in ſechs Bänden, mit beſonderer Berückſichtigung der 
mittelalterlichen Gelehrſamkeit (Leipzig 1757 ff.) e) Das umfaſſendſte und voll- 
ſtändigſte Werf unter den Proteftanten Lieferte Matthias Schröcdh, Profeffor 
in Wittenberg CH 1808), ein Schüler Mosheims, in A5 Octavbänden (Leipzig 
1772 — 1812). Die 35 erften gehen big Luther, die 10 legten bis in den An— 
fang des 19ten Jahrh., Band 35 und 45 find Negifterbände, Es ift dieß ein 
Werk von ungemeiner Gelehrfamfeit und Duellenfenntnif (nur die vier erften 
Bände find ziemlich dürftig), ein wahres Arfenal Firchenhiftorifcher Erudition, 
darum jebt noch im höchften Grade brauchbar, aber auch viel zu breit gefchrie- 
ben, und da und dort richtiger Beurtheilung ermangelnd. Die zwei legten Bände 
rühren von Tzſchirner in Leipzig ber. ſ) Schon Schrödh und Tſchirner waren 
von der rationaliftifchen Richtung jener Periode berührt, noch mehr aber prägte 
fih diefelbe in Henke's allgemeiner Gefchichte der -hriftlichen Kirche aus 
(Braunfhweig 1788 ff. 8 Bde,, revidirt und fortgefegt von Severin Vater), 
g) Gleichfalls rationaliftifh, wenn auch weniger graß find die Werfe von L. T. 
v. Spittler (Papftgefihichte und Grundriß der Gefchichte der riftlichen Kirche, 
Gött. 1782, in ter Auflage von Planck beforgt und fortgefegt) und Schmidt, 
Profeffor und Prälat in Gießen (Handbuch der riftlichen Kirchengeſchichte 1800 
ff. 6 Bde,, einen Tten gab Nettberg 1834), Weitere Fortfegungen erfchienen 
nicht, und das Werk blieb unvollendet, Auh Stäudlin in Göttingen gehört 
noch dieſer Richtung an, h) Um ein Bedeutendes erhob fih über fie ſowohl durch 
riftlihe Gefinnung als durch geiftige Auffaffung der Geſchichte und doch gerech— 
tere Beurtheilung auch der Fatholifchen Kirche, der berühmte Gottlieb Jar, 
Planck in Göttingen, geft. 1832. Außer der bereits genannten Forfegung der 
Walch'ſchen neueften Religionsgefchichte in drei Bänden haben wir von ihm noch 
zwei hiftorifche Hauptwerfe: Gefchichte der hriftlichen Neligionsverfaffung 1803 ff. 
fünf Octavb., und Gefchichte der Entſtehung und Veränderung des proteftantifchen 
Lehrbegriffs ꝛe., ſechs Bände in acht Theilen, i) Nachdem durch die teutfchen 
Freiheitsfriege mit der neuangefachten Liebe zum Vaterlande auch eine neue reli= 
gidfe Wärme in Teutfchland heimifch zu werden begann, erhielt diefe innigere 
und tiefer hriftliche Nichtung bei ven Proteftanten ihren Ausdruck in den Eirchen- 
biftorifchen Werfen Auguft Neander’s in Berlin. Ausgezeichnet an Geift wie 
an Gelehrfamfeit hat er anerfannt Großes geleiftet, durch Schrift und Wort auf 
viele Hunderte anregend gewirkt, und ift leider viel zu früh für die Wiſſenſchaft 
und lange vor Vollendung feines Hauptwerfes (14. Juli 1850) zu Berlin im 
6iten Jahre geftorben. Bei aller Anerkennung dürfen wir aber auch nicht 
verfchweigen, daß Neander in Folge feiner pectoraliftifehen Richtung vor 
jeder angeblichen „Eryftallifirung des Dogmas und Verfnöcherung des hriftlichen 
Lebens im Kirchthum“ angftlich zurücichauderte und dadurch gerade gegen Erſchei— 
nungen der Fatholifchen Kirche oft ungerecht war, Wir haben von ihm Mono— 
graphien über Kaiſer Julianus Apoſtata, über die gnoftifchen Syſteme, über Ter- 
tulfian (2te Aufl.), Chryfoftomus (2te Aufl.) und St. Bernhard (2te Aufl), auch 
drei Bände Denfwürdigkeiten aus der Gefchichte des Chriftentfums (Ste Aufl, 
1845 f.)3 fein Eirchenhiftorifches Hauptwerk aber ift feine allgemeine Gefchichte 
der hriftlichen Religion und Kirche in zehn Theilen (Band I. 1—V. 2) bis Bo— 
nifaz VII. (1294) reichend. Bon der erften Auflage (Hamburg 1825 — 1845) 
erfchienen zweierlei Ausgaben, eine ſchöner gedrudte und eine wohlfeilere, Die 
zweite verbefferte Auflage dagegen (Hamburg 1843— 1847) hat diefen Unterſchied 
nicht mehr beibehalten und auch eine andere Bändeeintheilung eingeführt, In 
diefer neuen Auflage erfchienen nur Band 1 und 2, d. h. die fechs erften Theile 
der alten Edition (folglich ungefähr die Hälfte), und diefe zwei erften Bände der 
alten Auflage find jegt in vier Bände abgetheilt, fo daß nunmehr auf Band IV 
der neuen Auflage der dritte Band der alten zu folgen bat, — Weil aber diefes 


Kirchengeſchichte. 157 


Werk die Geſchichte der apoſtoliſchen Zeit nicht berückſichtigt, lieferte Neander 
hierüber noch eine beſondere Arbeit: „Geſchichte der Pflanzung und Leitung 
der chriſtlichen Kirche durch die Apoſtel“, 2 Bde. Ate Aufl, Hamburg 1847 f. 
k) Unter Grundlegung der Neanderfhen Schriften und Collegienhefte bearbeitete 
©uerife fein aus zwei Bänden beftehendes Handbuch der allgemeinen Kirchen- 
gefhichte Cöte Aufl. 1843) in der fectirerifh warmen Richtung der preußifchen 
Altlutheraner. ID Einen fürmlihen Gegenfa dazu bildet Engelhardt’s Cin 
Erlangen) fehr ruhig und Falt gefihriebenes Handbuch der Kirchengeſchichte (1834), 
vielfah ein Auszug aus Schroöckh. Die drei erften Bände geben den Tert, der 
vierte die Belegftellen, und fowohl Guerife als Engelhardt führten ihre Werfe 
bis auf die neue Zeit fort, m) Das geſchmackvollſte Compendium lieferte Carl 
Hafe in Jena (Ste Aufl. 1844, vgl. auch Tüb. Quartalſch. 1836 S. 643), 
n) ein neueres umfangreicheres Niedner in Leipzig 1846, anderer minder be- 
deutender nicht zu gedenken. 0) Einen eigenthümlihen Plan verfolgte nach dem 
Vorgange von Danz (Lehrb. d. Kirchengefh. 1818 ff. 2 Bde.) Profeffor Gie- 
feler, jest in Göttingen. Seine Geſchichtserzählung ift äußerft furz, das wei- 
tere Material aber in den großen und vielen Noten enthalten, die oft geradezu 
Abdrücke aus den Duellen find, Bis jegt erſchienen ſechs Abtheilungen (Bd. I—II. 1) 
bis zum weftphälifhen Frieden (1648) reihend. Bon Band I erfdien bereits . 
die vierte Auflage, vom zweiten Bande, welcher vier Abtbeilungen hat, die dritte 
Cogl. Tüb. Duartaffh. 1837 ©, 92). p) Ebenfalls noch unvollendet ift Gfrö- 
rer’Sallgemeine Rirhengefchichte, Stuttg. 1841 in fieben Theilen (Bd. I—IV. 1), 
bis Gregor VII. (excl.) gehend, Sie enthält Proben ausgedehnter Gelehrfamfeit 
und großen Scharffinns, aber auch fehr viel Willfürliches, Gewagtes und Un— 
richtiges. Weitaus am beften ift der legte Band, das Zeitalter Gregors VIL 
darftellend. — Theilweife wenigftens gehört auch Gförers Gefhichte der Caro— 
linger, zwei Bände (Freiburg 1842) und feine gute Monographie über Guſtav 
Adolph, 2te Aufl. 1845, der Firchenhiftorifchen Literatur an. q) Weniger als 
die Lutheraner haben die Reformirten für allgemeine Kirchengefchichte ge- 
than, während fie in Specialwerfen mitunter fi ungemein auszeichneten, 3. B. 
Pearfon, Dalläus, Dodwell, Beveridge, Usher, Cave u. A. Allgemeine Kir- 
chenhiſtorien aber Lieferten: Hottinger, hist. ecel. N. T. (Hannov. 1655 ff.) in 
neun Detavb, bis in's 16te Jahrh. reichend; Jac. Basnage, histoire de Féglise 
depuis Jesus Christ jusqu’a present. Rotterdam 1699, 2 Fol.; Sam. Basnage, 
annales politico-ecclesiasticae. Rott. 1706 3 Fol. (f. Basnage); Fried. Syan- 
beim, hist. ecel. Lugd. Bat. 1701 f.; ferner feine introductio ad historiam et an- 
tiquitates sacras, cum perpetuis castigationibus Annalium Baronii etc. Lugd. Bat. 
1687 und andere firhenhiftorifhe Schriften Spanheims; Milner history of the 
church etc. 5 Bde., auch ins Teutfche überfegt. Endlich gehören noch hieher meh- 
zere Compendien von Turretin, Jablonsky, Hofflede de Groot (in Iatei- 
nifher Sprade Groning. 1835), Matter (franzöf,, Strasb. 1829 in 4Octavb.) 
und Schleiermaher, nah feinem Tode herausgegeben von Bonnell, Berlin 
1840, — VI. Specialwerke. Neben den bisher angeführten allgemeinen 
Werfen entftand feit der Reformation auch eine faft unüberfehbare Menge von 
kirchenhiſtoriſchen Specialwerken, die an Werth und Gründlichfeit die allgemeinen 
Werke gar häufig übertreffen, Beinahe alle einzelnen Richtungen, Momente und 
Epochen der kirchenhiſtoriſchen Entwicklung wurden befonders in Unterfuchung ge- 
zogen ‚, aus den Duellen erörtert und Fritifch beleuchtet, das Wirken der hervor— 
ragendſten Perfonen in zum Theile wahrhaft trefflihen Biographien und Mono— 
graphien beſchrieben, viele einzelne wichtige Begebenheiten zum Gegenftande ganz 
detaillirter Behandlung gewählt, namentlich auch die Kirchengeſchichte einzelner 
Länder mit meift ungeheurem Fleiße behandelt, ja öfters erſt aus den Archiven 
ins Leben gerufen, In letzterer Beziehung wird die Gallia christiana der Sammar- 





158 Kirchengeſetz — Kirchenglaube. 


thaner (e Congr. S. Mauri) in 13 Fol. und die Espanna sagrada von Florez in 
46 Duartb, ewigen Ruhm behalten; aber auch Teutfchland ift nicht ganz Teer hier 
ausgegangen, namentlich haben die Benedictiner von St. Blafien auf dem Schwarz- 
walde (ſ. Blafien, St.) u. A. die Kirchengefchichte einzelner Bistümer meifterhaft 
bearbeitet, Eine Rirchengefchichte Bayerns lieferte Raderius in feiner Bavaria sacra, 
an einer Rirchengefchichte von ganz Teutfehland aber arbeitet gegenwärtig Dr. Rett- 
berg (bis jegt 2 Octavb.), und auch Adolph Menzel’s treffliche „neuere Geſchichte 
der Teutfchen vor der Reformation 26,” (Breslau 1826—48) in zwölf Bänden, trägt 
ebenfowohl einen firchen- als profanhiftorifchen Charakter, — Unter ven Mono- 
graphien zeichnen fih befonders aus neben den Neander’fchen die von Möhler, 
über Athanafius d. Gr., von Ullmann, über Gregor von Nazianz, von Arendt, 
über Leo d, Gr., von Boigt über Gregor VII, von Rofeve, über Leo X., von 
Hurter, über Innocenz III., von Artaud, über Pins VU., von Höfler, über 
Kaiſer Friedrich II, und über die teutfchen Päpfte, von Fr. v. Naumer, über 
die Hphenftaufen u. f. f, — Die Eoneilien betreffend traten jetzt die herrlichen 
Sammlungen von Labbe, Harbuin und befonders Manſi in's Leben, die Gefchichte 
der Zrienter Synode insbefondere befchrieben Sarpi und Pallavicint, bie 
Geſchichte der Pifaner und Conftanzer der reformirte Prediger Lenfant, Zur 
Dogmengefhichte gab der Jeſuit Divnyfius Petavius den Anftoß, die Patri- 
ftif wurde von den Maurinern, von Du-Pin, Cave, Dudin, Nemi- 
Eeillier, Lumper u. U. gefördert. Endlich aber find auch die Hilfswiffen- 
ſchaften der Kirchengefchichte, die Firchliche Geographie, Statiftif, Paläographie, 
Diplomatif, Archäologie ze. auf einen gegen früher unvergleichlich höhern Stand- 
punct erhoben und für die großen Zwede der Rirchengefchichte erft wahrhaft nüß- 
lich gemacht worden. [Hefele.] 

Kirchengefegß, f. Canon, 

Kirchengewalt, f. Gewalt, £ 

Kirchenglaube, Kirchenlehre. Es werden, wenn von Kirchenglauben die 
Nede ift, drei Fragen zu beantworten fein, Erftens was ift Inhalt des Kirchen- 
glaubens? Die Antwort auf diefe Frage ift äußerft einfach. Inhalt des Kirchen— 
glaubens find die unmittelbaren göttlihen Dffenbarungen oder die Wahrheiten, 
welche durch diefelben befannt geworben, Wenn gefagt ift „die unmittelbaren 
göttlihen Dffenbarungen”, fo ift gemeint, unter den Dffenbarungen, welche den 
Inhalt des Kirchenglaubens bilden, feien nicht die fogenannten mittelbaren oder 
factifchen, d.h. nicht jene Offenbarungen zu verftehen, welde in den Werfen 
Gottes als folhen in der Welt enthalten find, wie fie ift und fortbefteht, fon- 
dern Offenbarungen, welche Gott in Worten, in beftimmten Erklärungen, un- 
mittelbar an den denfenden und verftehenden Geift gerichtet, macht. Den Inhalt 
diefer Dffenbarungen bilden durchaus religiöfe Wahrheiten; was geoffenbart wird, 
ift Gott felbft und fofort das in der Creatürlichfeit begründete Wefen und das 
biernach geftaltete oder zu geftaltende Verhältniß des Menfchen zu Gott, Alles, 
was nicht diefes Höchfte iſt oder wenigflens in enger Beziehung zu bemfelben 
fteht, gehört nicht zum Inhalt des Kirchenglaubeng, wie e8 auch, weiter zurück, 
nicht Gegenftand unmittelbarer göttlicher Offenbarung gewefen iſt. Aber wie ift, 
zweitens, die Kirche zur Kenntniß jener göttlichen Offenbarungen und zur Er- 
fenntniß der darin befannt gemachten Wahrheiten ‚gefommen? Natürlich durch 
Bernehmung des göttlichen Wortes oder des in beftimmten Erklärungen ſich offen- 
barenden Gottes. Wenn man fagt, die Kirche habe das, was fie glaubt oder im 
Glauben weiß, von den Propheten und Apofteln ald denjenigen empfangen, wel- 
chen die göttlichen Dffenbarungen geworben feien, fo ift das fehr ungenau ge— 
fprochen, denn es Täßt eine Vorftellung zu, welche grundfalfch ift, die Vorſtellung 
namlich, daß die Propheten und Apoftel etwas ganz Anderes feien, als die Kirche, 
Diejenigen Menfhen bilden die Kirche, welche der unmittelbaren Offenbarung 





Kirhenglaube, Kirhenlehre, 159 


. Gottes theilhaftig geworden und dadurch in die zerfiörte Vereinigung mit Gott 
zurückgebracht, reflituirt find. Diefelben zerfallen aber in zwei Elaffen: die erfte 
bilden diejenigen, welche den fprechenden, ſich offenbarenden Gott felbft oder un- 
mittelbar vernehmen; die zweite diejenigen, welche durch jene Erften unterrichtet, 
alfo mit den Dffenbarungen Gottes mittelbar befannt werden. Jene ift die ur— 
ſprüngliche oder erfie, diefe die fpätere Kirche, Wir werben uns etwas näher 
erflären müffen. Streng genommen bat fi Gott nur ein Mal und auf eine 
Weife geoffenbart, nämlich in und dur Jeſum Chriſtum, d. h. dadurch, daß der 
Sohn Gnttes Menſch geworden und fofort als Gntt-Menfch teils in Thaten, theils 
im Reben die nöthigen Erflärungen deutlih und verfiändlich gegeben hat. Die- 
jenigen Menfhen nun, welche dieſen fo fih vffenbarenden Gott vernommen und 
verftanden haben, bilden die Kirche, und der Glaube, den fie Chriſto geſchenkt 
und das religiöfe Bewußtfein, das fie dem entfprechend fich gebildet haben, find 
der Ölaube und das Bewußtfein der Kirche. Haben fie dann, was fie ver- 
nommen, weiter verfündigt und wurbe auch ihnen Glaube gefchenft von denen, 
die fie hörten, fo gingen ihr Glaube und ihr Bewußtſein auf diefe Iegtern über, 
der Kirchenglaube wurde fortgepflanzt und damit die Kirche felbfi permanent ge— 
macht; die jest Hörenden und Glaubenden find ebenfo die Kirche, wie Jene, 
welche Chriſtum felbft gehört. So ift die Sache äußerſt einfach. Indeſſen ift die 
vorgelegte Anfhauung doch noch mangelhaft und dur nähere Beflimmung zu 
vervollſtändigen. Weil die Eriftenz des Menfhengefchlechtes nah der Sünde in 
Ehrifto begründet ift und demgemäß die ganze vordriftlihe Gefhichte als Ent- 
wicklung der Menſchheit durch und für Chriſtus erfcheint, fo zieht ſich nothwendig 
durch jene ganze Gefchichte die mit Ehrifto gegebene göttliche Dffenbarung hin- 
durch. Die vorchriſtliche Menſchheit iſt nothwendig göttliher Dffenbarung theil- 
haftig, und alle Offenbarung, welche ihr wird, iſt nothwendig chriſtliche Offen-⸗ 
barung. Verſteht fie Etwas davon und bildet ſich demgemäß ein irgendwie wahres 
Gottesbewußtſein, fo ift dieß hriftlihes Bewußtfein; wie die Kirchenväter ganz 
richtig und fehr gut gefagt haben: wenn die vorchriſtlichen Menfhen, auch die 
Heiden, etwas Wahres befigen, fo gehört es nicht ihnen, fondern ung Chriſten. 
Unmittelbare, in Worten oder befiimmten Begriffen beſtehende Dffenbarung ift, 
wie befannt, nur Wenigen zu Theil geworden. Es find dieß die Patriarchen, 
Mofes und die Propheten, Inwiefern fie den fich offenbarenden Gott unmittel- 
- bar vernommen haben, fliehen fie, bei aller Berfchievenheit, denjenigen gleich, 
welche in unmittelbarer Berührung mit Chriſto geflanden. Weil aber fämmt- 
lihe ihnen gewordene Dffenbarungen von Chriſto ausgegangen find und darum 
in dem endlich fihtbar erſchienenen Chriſtus ihre Vollendung gefunden haben, fo 
 fommen fie nicht weiter abgefondert in Betracht, fondern fallen für uns mit 
Jenen zufammen, welde den in dem perfönlichen Ehriftus offenbaren Gott ver— 
nommen und, wie oben angegeben, die urfprünglihe oder erfte Kirche, nämlich 
fihtbare Kirche, gebildet Haben, Wenn nun aber oben gefagt wurde, diefe Kirche 
fei dadurch permanent geworden, daß diejenigen, welde Chriſtum gehört, das 
Bernommene und Wahrgenommene weiter verfündigt, Glauben gefunden und fo 
ihren eigenen Glauben und ihr eigenes Bewußtſein, alſo den urfprünglichen 
Kirchenglauben auf Andere übergetragen haben: fo ift jegt die genauere Bemer- 
kung beizufügen, jene Function der Mebertragung des Kirchenglaubens auf Andere 
ſetze Befähigung und Autorifation voraus, Daß diefe einigen wenigen Männern, 
den Apofieln, zu Theil geworden, ift befannt, und daß die Nothwendigkeit der⸗ 
felben permanent fei, verfieht fi von felbft (ſ. Kirche, Hriftlihe). Iſt aber 
hiernach als Kirchenglaube der zuerft in den Apoſteln vorhandene, dann von ihnen 
aus zunähft auf ihre Nachfolger in der Hierarhie und fofort auf femmtliche 
Mitglieder der Kirche übergegangeue Glaube, ober als Inhalt des kirchlichen Be- 
mwußtfeins die Wahrheit zu erflären, welche zuerft die Apoftel, in unmittelbarem 


DE N E 











160 Kirchenglaube, Kirchenlehre. 


Umgange mit dem Herrn, erkannt haben: ſo fragt es ſich näher, wie jene Fort— 
pflanzung zu denken ſei, wie jene Uebertragung ſtattgefunden habe. Dieß führt 
ung zu der dritten Frage, die wir noch zu erörtern haben, Es fragt ſich näm— 
lich dritteng, wie der Kirchenglaube als folcher erfannt werde, wie man be- 
ftimmt wiffen fünne, was den Inhalt des kirchlichen Bewußtfeins bilde, Diefe 
Trage aber iſt identifch mit der Frage, wie bie Kirche ihren Glauben an den 
Tag lege, wie fih das Bewußtfein äußere, denn diefes ft die Bedingung von 
jenem, der Rirchenglaube wird nur dann, dann aber auch von felbft befannt 
und erkannt, wenn er Rirchenlehre geworben iſt. Was nun dieß betrifft, fo ift, 
was Kirchenglaube fer, zunächſt factifch ausgefprochen in der Wirklichkeit als 
folder, in ver Berfaffung und dem Leben der Kirche, in dem Gottesdienft, der 
Diseiplin ıe. Sehen wir z. B., daß in der Kirche Chriftus angebetet wird, fo 
wiffen wir, die Kirche glaube an die Gottheit Chriftiz Iegen die Gläubigen (Mit- 
glieder der Kirche) Sündenbefenntniffe vor Prieftern ab, um Losfprechung zu 
empfangen und mit Gott verföhnt zu werden, fo erfennen wir, die Kirche glaube, 
daß Chriſtus den Prieftern die Vollmacht ertheilt habe, in feinem Namen Sünden 
nachzulaffen u. f. w. Biel deutlicher und beftimmter aber fpricht die Kirche ihren 
Gfauben in beftimmten Worten und Begriffen aus; was fie thut, indem fie lehrt, 
fei e8 Außenftehende, fei eg Mitglieder ihrer ſelbſt. Hier ift nun aber zwifchen 
der urfprünglichen und der fpätern Kirche zu unterfcheiden, Die urfprüngliche 
Kirche äußert ganz einfach, was fie von Gott vernommen, fpricht einfach das 
Bewußtfein aus, welches in ihr durch die Gefchichte des Herrn gebildet worden; 
die Apoftel erzählen, was fie gefehen und gehört, und erläutern, felbft vom Herrn 
belehrt, die erzählte Gefchichte, indem fie die Darin geoffenbarten Wahrheiten er- 
fennen laſſen. Wir wiffen, daß die Apoftel folhe Erzählung und Belehrung 
nicht nur mündlich, fondern auch fchriftlich gegeben haben, wie e8 ſchon durch 
Mofes und viele Propheten gefchehen iſt. Die fpätere Kirche hat zunächſt ganz 
daffelbe Gefhäft und die nämliche Weife, fich deffelben zu entledigen; die Nach— 
folger der Apoftel (durch alle Zeiten herunter) verfündigen ganz ebenſo, wie dieſe 
felbft, was fie von eben diefen empfangen haben, und Iehren alfo ganz ebenſo, 
wie fie, was ihr Glaube, was Inhalt des Firchlichen Bewußtfeins ſei. Auch diefe 
Dffenbarung des Firchlichen Bewußtſeins gefchieft, wie wir wiffen und wie fich 
ohnehin von felbft verfteht, mündlich und fchriftlich, Aber Hiezu Fommen bei der 
fpätern Kirche noch zwei Momente, welche in der urfprünglichen nicht vorhanden 
waren, Erſtens hat die fpätere Kirche, haben die Nachfolger der Apoflel das 
von diefen Weberlieferte unverfehrt zu erhalten, und zweitens die Lehre der 
Apoftel, die mündlich wie die fehriftlich gegebene, richtig zu erflären. Wie ge- 
wiffenhaft und forgfältig die Kirche Erfterem nachgekommen, wie fie namentlich 
die von den Apofteln Cund Propheten) Hinterlaffenen Schriften als die älteften 
und als unbedingt zuverläffige Urfunden des Firchlichen Bewußtfeins von Anfang 
an bis heute wie Heiligthümer behandelt und unverfehrt erhalten habe, ift be= 
kannt, bier aber nicht näher zu erörtern (f. Integrität), Nicht minder ift be— 
fannt, daß auch das Zweite von jeher auf's Vollftändigfte gefchehen fer, dermaßen, 
daß die heutige Kirchenlehre genau daſſelbe Bewußtſein ausfpricht, welches dag 
Dewußtfein der Apoftel gewefen ift, genau denfelben Glauben an den Tag legt, 
den die Offenbarung Gottes dur Chriftum in den Apofteln gefchaffen hat, Aber 
in Betreff diefes Zweiten entfteht die fehwierige Frage: wie hat die Kirche ſolche 
Erklärung zu geben, damit fie glaubwürdig, damit fie als richtig anzuerkennen 
fei? mit andern Worten: wie wird der Beweis geliefert, daß das in der Kirchen» 
Iehre ausgefprochene Bewußtfein mit dem apoftolifchen Bewußtfein iventifch fer? 
Wiffenfhaftlich natürlicher Weife einfach durch Vergleichung. Dadurch aber wird 
der Gläubige nicht befriedigt. Hiezu wird erfordert, daß die Kirche als folche 
die Ueberzeugung ausſpreche, ihr Bewußtſein fei von ben Apoſteln an ununter- 





Kirhengut — Kirchenjahr. 161 


brochen und unverändert das kirchliche Bewußtfein geweſen. Aber wie, durch 
wen, anf welche Weife? Man fagt wohl, durch die Hierarchie, denn dieſe fer 
das Drgan ber Kirche wie zur Neinerhaltung des apoftolifgen Glaubens, fo auch 
zum Ausfprechen ihres Bewußtſeins. Da aber hiemit zwar eine Wahrheit, aber 
fireng genommen doch faft fo viel als Nichts gefagt ift, fo erflärt man näher: 
durch die zu einem allgemeinen Coneil verfammelten Bifhöfe. Da aber die ver- 
fammelten Bifchöfe nur dann ein allgemeines Eoneil bilden, d. h. da die Bifchöfe 
nur dann zu einem allgemeinen Eoneil verfammelt find, wenn der Papft biefelben 
zufammengerufen hat und nun der Verfammlung prafidirt: fo wird doch wohl 
richtiger fein, zu fagen, durch den Papft in Gemeinfchaft mit den um ihn ver- 
fammelten Bifchöfen. Das Nähere hierüber und namentlich über die Frage, ob 
der Papft oder ein allgemeines Eoncil unfehlbar fei, ob jener über oder unter 
diefem flehe, vgl, d. A. Kirche, chriſtliche. Da aber, wie wir gefehen, nicht 
nur die Kirchenlehre, fondern auch die Wirflichfeit als ſolche Ausdruck 
des Kirchenglaubens oder des Firchlich-hriftlichen Bewußtfeins ift, fo ift hierüber 
noch die Bemerfung beizufügen, es feien diejenigen Wahrheiten, welche fo ihren 
Ausdruck oder ihre Bezeugung in der Wirklichkeit gefunden haben, ganz ebenfo 
feftzuhalten und zu refpectiren, wie die in der Lehre begrifflih ausgefprochenen; 
aber daß diefe oder jene beftimmte Wahrheit in der Wirklichkeit, im Firchlichen 
Leben, Gottesdienſt 2, wirklich ausgefprochen, als Wahrheit bezeugt fer, ift nicht 
immer mit voller Gewißheit zu erkennen, weßhalb große Vorficht erfordert wird, 
wenn es gilt, ven Glauben oder das Bewußtfein der Kirche aus der Wirklichkeit 
als folcher zu abſtrahiren. — Hiemit find die drei Fragen beantwortet, die wir 
uns ftellen mußten. Nunmehr hätten wir aber erfi noch die Aufgabe, nachzu— 
weifen, daß die Kirchenlehre mit der apoftolifchen auch dann iventifch fer, wenn 
fie fih von derfelben in der Form, im Ausdruck unterfcheidet, oder allgemeiner: 
nachzumeifen, daß das heutige Bewußtfein der Kirche, wie e8 immer ausgefprocen 
fei, mit dem urfprünglichen Bewußtfein derfelben Kirche identiſch und folglich 
das Bewußtfein göttlich geoffenbarter Wahrheit ſei. Hierüber aber enthält der 
Art, Dogmengefhichte genügenden Auffchluß. Vgl. überhaupt die Art. Dog- 
ma, Dogmatif und Dogmengeſchichte. [Mattes,] 
Kirchengut, f. Kirchenvermögen. 

"Kircheninventar, von inventarium, — in der Gefegesfprache auch reper- 
torium, synopsis bonorum, &vaygapn genannt, — ift überhaupt ein Verzeichniß 
von dem Eigenthum einer Kirche, und zwar ift daffelbe eine unter öffentlicher 
Auctorität verfaßte Beſchreibung aller nugbringenden Rechte und aller beweglichen 
und unbeweglichen Habe einer Kirche, oder es ift die Befchreibung der Utenfilien, 
die zum Kirchengebrauche vorhanden find, Da der Ausdruck inventarium häufig 
von dem Complere beweglicher Gegenftände, z. B. bei einem Landgute gebraucht 
wird, fo fann man unter Kircheninventar auch die einer Kirche angehörigen 
Gegenſtände und Geräthfchaften verftehen, ohne daß dabei an ein beflimmtes 
Berzeihniß zu denken iſt. Nach dem römifchen Rechte wird von jedem Verwalter 


- fremden Vermögens, der zur Nechnungsablegung verbunden ift, von jedem Ge— 


ſchäftsführer, fowie überhaupt von jedem, der einen Complex von Gegenftänden 


in Verwahrung und diefelben wieder auszuliefern hat, die Fertigung eines In— 


ventariums gefordert, das er denen einzuhändigen hat, die an ihn Anſpruch zu 


machen haben. Hat diefe Verordnung den Zweck, den Eigenthümer in feinen: 


Beſitze fiher zu ftellen, fo dient das Kircheninventar ebenfalls als Controle für 


die Berwaltung und Aufbewahrung des einer Kirche zugehörenden Eigenthums 
und Vermögens, 


[Khuen.] 
Kirchenjahr. Das Leben der Kirche bewegt fih in Zeit und Naumz; Zeit 

und Raum find die großen Subftrate ihrer auf das Heil der Menfchheit gerich- 

teten Thätigkeit. Obgleich fie nun aber an und für fih ſchon der Zeit überhaupt 
Kirchenlexikon. 6. Bd. 11 


162 Kirchenjahr. 


die Richtung auf die Ewigkeit gibt, und fie dadurch von dem Fluche der Nichtig- 
feit befreit Cogl, Röm. 8, 21.), fo muß fie doch auch aus der Maffe ver Tage 
einzelne ganz befonders herausheben und ihnen ein höheres göttliches Gepräge 
geben durch die Beflimmung, die fie ihnen zu Theil werden läßt, die Hauptthat- 
fachen und Hauptwahrheiten der Dffenbarung in lebendiger Erinnerung oder 
eigentlich mehr thatfächliher Erneuerung den Gläubigen vor Augen zu ftellen 
and die an jene Thatfahen und Wahrheiten gefnüpften Gnaden ihnen lebendig 
zu vermitteln, Die regelmäßig im Lauf von einem Fahreszeitraum ſich begebenve 
Wiederkehr diefer dem Dienfte Gottes ganz befonders gewidmeten Tage — Feſte 
mit ihren Vor⸗ und Nachfeiern bildet das chriftliche Kirchenjahr mit feinen drei 
Feſteyelen, dem Werhnacht-, Dfter- und Pfingftfeftfreis, anfangend mit dem erften 
Adventfonntag und ſchließend mit dem legten Sonntage nach Pfingften, Für diefe 
. Feftkreife oder Heilige Zeiten bildet, mit Ausnahme des Weihnachtfeftfreifes, alle- 
mal der betreffende Sonntag wieder den Mittelpunet, indem der Sonntag bie 
allgemeine Feier der erlöfenden Hauptthatfahen des Chriſtenthums darſtellt, 
während das Dreieinigfeitsfeft als die folenne Zufammenfaffung der Weihnachts=, 
Dfter- und Pfingftfeier betrachtet werden muß, Es verfteht fih, daß das rift- 
liche Kirchenjahr als ein durchaus wefentlihes Moment der neuteftamentlichen 
Heilsöeonomie (die ſymboliſchen Bücher der Proteftanten verfennen dieß ganz und 
gar, vgl. Augsb, Confeff. Art. 26 u. 28, Apologie derf. Art, 4 u, 8, solid. 
declar. Art. X.) fein Vorbild in der altteftamentlichen Feftordnung gehabt haben 
muß, und daß feine Säulen durch die pofitive Anordnung Jeſu Chrifti gefegt 
fein müffen — Wahrheiten, welche die Darftellungen der einzelnen Feſte zur 
Evidenz nachweifen. Das Kirchenjahr ift nicht bloß eine todte Erinnerung an bie 
©rundthatfachen der hriftlihen Offenbarung, fondern eine lebendige Vergegen- 
wärtigung derfelben mit ihrem ganzen Gnadenreichthum, namentlich deßwegen, 
weil die Feier eines jeden Feftes ihren Mittelpunet im unblutigen Opfer hat, in 
welhem alle die großen Thatfachen der Erlöfung thatfächlich erneuert werben 
(„quoties hoc sacrificium celebratur, toties opus nostrae redemtionis renovatur*), 
Oft wird auch der Zweck, um deffen willen das Kirchenjahr gefeiert wird, fehr einfeitig 
bezeichnet; offenbar ift er in Beziehung auf Gott ein latreutifcher, (ſ. Cultuslatriae) 
in Beziehung auf den Menfchen aber befleht er in der Zuwendung der Gnaden des 
Chriſtenthums an den Einzelnen, der in fo vollerem Maße derſelben theilhaftig 
wird, je mehr er ſich mit feinem innerfien Wefen in die kirchliche Ordnung hinein- 
verlebt, woher die Erfheinung, daß auch die Heiligen fich nie über diefe hinweg— 
zufegen wagen, fondern ganz darin leben und weben. Die kirchliche Feftordnung 
ift das von Oben georbnete Geräfte, auf dem die Gnadenordnung des neuen 
Bundes aufgebaut werden muß. Das Kirchenjahr ift eine die triumphirende, 
ftreitende und leidende Kirche berührende Ordnung, ja eine Ordnung, welde 
felbft die Hölle Teiven macht, weßhalb auch die Firchlichen Fefte in allen myftifchen 
Zuftänden, in ver Gefchichte der Geiftererfcheinungen u. f, w. eine fo große Rolle 
fpielen. Wenn wir bei Kirchenfchriftftelfern und Kirchenvätern wie Clemens von 
Alerandrien, Drigenes, Hieronymus und Auguftinus Stellen finden, welche gegen 
die Anordnung einzelner feftliher Tage zu fprechen ſcheinen, weil der Chrift fein 
ganzes Leben hindurch ein Feft feiern müffe, weil für ihn immer des Herrn Tag 
(Sonntag), ſtets Parafceve, ſtets Oſtern fer u. f. w. (ſ. Augufti, Denkwürd. I. 
©, 21 f.), fo wird jeder Unbefangene einfehen, daß foldhe Aeußerungen, denf- 
würdig um ihrer erhabenen Auffaffung des menfchlichen Lebens und der Zeit 
willen, nicht mißzuverfiehen find, Denn allerdings iſt der Zweck der Firchlichen 
Feſtordnung fein anderer, als die Chriften dahin zu führen, wo das ewige Oſtern 
mit dem nie endenden Alleluja gefeiert wird, Der ſchöne und erhabene Grund- 
gedanfe übrigens, welcher dem Ausdrucke „ein ewiges Feft feiern” zu Grunde 
Viegt, ift 68 auch ohne Zweifel, welcher zur Benennung der gewöhnlichen durch 








Kirchenkaſten. 163 


Nichts —* Tage im Kirchenkalender mit „feriae“* Veranlaſſung gegeben 
hat. — Daß das Kirhenjahr einerfeits unabhängig vom bürgerlichen Jahr mit 
dem erflen Adventfonntage beginnt, andrerfeits in Beziehung auf feine Dauer 
mit dem bürgerlichen Jahre parallel läuft, fcheint darauf Hinzudeuten, fowohl daß 
die Beziehungen zwifchen beiden weder zu überfehen noch auch zu überfchägen find 
(ſchon bei dem HI. Auguftinus serm. 288 findet man in dem Zeitpuncte der Feier 
des Feftes Johannes des Täufers, in dem Monate nämlih, wo die Tageslänge 
ihren Gipfelpunct erreicht hat, eine Beziehung auf das „oportet Christum cres- 
cere, Joannem autem minui* herausgefunden). — Das driftlihe Kirchenjahr, 
welches wefentlich mit der Einfegung des Frohnleichnamsfeftes (ſ. d. A.) abgefchloffen 
worden ift, ein voller Mond geworden, an dem der legte dunfle Fleck verfchwunden, 
ift von vielen zum Theil berühmten Namen bearbeitet und bald mehr wiffenfchaft- 
ich, bald mehr erbaulich dargeftellt worden; befonders hervorzuheben find die 
Shriften eines Gretfer de festis christianorum (polemifch gegenüber von den 
Proteftanten gehalten), Benedict XIV., de festis, Staudenmaier (Geift des 
Chriſtenth.), Nickel, „die Heiligen Zeiten“, Auguftiund Binterim (Denfwürd.). 
Schon der verdienftvolfe Jeſuit Gretfer (f.d. A.) beftiimmte den Grund der Feier 
der Fefttage gegenüber der banalen Auffaffung der fymbolifhen Bücher der Pro— 
teftanten, wonach fie bloß um der äußern Zucht und Ordnung willen gefeiert 
werden, dahin, daß fie auf göttlicher Anordnung beruhen und „des Geheimniffes 
wegen” dafeien, Im Fatholifchen Kirchenjahr Liegt eine folhe Poeſie, daß man 
fagen muß, daffelbe fei das eigentliche Salz und die Blüthe des Lebens, weß- 
wegen auch die Fatholifche Erziehung, wenn fie anders ihre Zöglinge nur den ge— 
bührenden warmen Antheil an feiner Feier nehmen läßt, vor jeder andern fo un- 
endlich viel voraus hat, wenn es fih darum Handelt, den zu Erziehenden eine 
ideale Richtung zu geben; dabei ift das Fatholifche Kirchenjahr gleichfam eine hei- 
lige Atmofphäre, welche das ganze Leben des Fatholifchen Chriften auch in feinen 


- ambedeutenderen Bethätigungen umfließt und ihnen die höhere Weihe gibt, in 


welcher Beziehung ja nur daran zu erinnern ift, daß fogar das kirchliche Tiſch— 
gebet von der befondern Feftzeit feine befondere Farbe annimmt. Durch das 
Kirhenjahr mit feinen Liturgifchen Einrichtungen und Anftalten wird der Fatho- 
liſche Glaube fo recht Allgegenwart im Leben. Aus dem Gefagten folgt von 
felbft, von welcher Bedeutung e8 namentlich für den Seelforger ift, das Wefen 


des Kirchenjahres tiefer zu erforfchen, fich feldft in daffelbe hineinzuleben und 


feine Pflegempfohlenen in daffelbe einzuführen, womit ſchon bei den Kindern im 
katechetiſchen Unterrichte begonnen werden muß. Es ift übrigens befannt, wie 
mit dem herrlichen laub⸗ und blüthereichen Baume des katholiſchen Kirchenjahres, 


unter welchem einer unter der Hitze und Laſt des Tages ſeufzenden Menſchheit 


bis zu den Zeiten der Aufflärerei und des Induftriatismus fo wohl gewefen, in 
der neueren Zeit umgegangen worden, wie man ihn feiner Zierde beraubt, nackt 
und kahl, als einen dürren Strunf darftellen wollte; es ift aber nicht gelungen, 
unter der Pflege wachſamer Hirten treibt er wieder feine Blätter und Blüthen, 
und manche kirchliche Andacht, welde fo ganz geeignet ift, den Charakter diefer 
oder jener Feftzeit auszubrüen, ſieht man wieder mit großer Theilnahme des 
Volkes begehen, nachdem eine dvünfelhafte Zeit fie als „unwefentlich“ und „Reben 
ding“ befeitiget hatte, Wir fünnen hier nicht im Einzelnen die Beziehungen nam— 
haft machen, welche das Kirchenjahr für die Predigt, für den Beichtſtuhl, für den 
Krankenbeſuch, für die Selbſtheiligung in Betrachtung und Aſceſe darbietet: es 
fe im Allgemeinen fo viel bemerkt, daß fih alle wohlgeordnete Thätigkeit zu 
feinem und Anderer Heile an die Beachtung des Kirchenjahres anfhließen muß. — 
Bon den einzelnen Feften ift in befonderen Artikeln die Rede (vgl. auch den Art. 
 Fefle), Ferner vgl, die Artikel: Advent, Cyelus und Kalender. [Maft.] 
 Kirchenfajten, f. Fabrica ecclesiae. 
411* 


164 Kirhenfaftenmeifter — Kirchenlehen. 


Kirchenfajtenmeifter, oder auch bloß Kaftenmeifter heißt der Ver— 
walter und Verrechner des Einfommens einer Kirche, Vgl. die Art, Fabrica 
ecclesiae, und Kirchenvermögen. 

Kirchenlehen (Krummftabsiehen, Lehen, infeudatio), Der Charakter des 
Lebens (feudum) befteht in dem Vorhandenfein eines durch das gemeine Recht 
genauer beftimmten dominium direcium und dominium utile einer Sache, welches 
zugleich für die Lehensperfonen ein perfönliches Verhältniß, die gegenfeitige Ver— 
pflichtung zu einer befondern Treue (fidelitas) begründet, Die Nechte des Lehens— 
herrn, ſowohl diejenigen, welde aus feiner Proprietät, als auch die, welche aus 
der Lehenstreue entfpringen, nennt man die Lehensherrlichfeit (jus domini in 
feudo); und die Verbindlichkeit des Bafallen, welche jenen entfpricht, heißt die 
Lehenspfliht. Das dominium utile im Gegenfaß der Proprietät des Lehensherrn 
umfaßt die Ausübung aller Eigenthumsrechte, foweit die Sache dadurch nicht ver- 
fehlechtert wird, Lehen können ſowohl phyfifche als moralifche Perfonen errichten, 
wenn fie nur überhaupt zu veräußern berechtigt und der Iehensherrlichen Gewalt 
fähig find, Die fürmliche Uebertragung des dominium utile einer Sache gegen 
das Berfprechen der Lehenstreue gefchieht durch die Inveftitur und heißt auch Be— 
lehnung, Infeudatio — datio in feudum. Das particulariftifche Lehenrecht ver— 
bindet den Bafallen häufig, ein fog. Handgeld (Claudemium) an den Lehensherrn 
oder die Lehensfanzlei zu entrichten, welches für die empfangene Belehnung oder 
Renovation der erften Znveftitur gegeben wird, Durch die Inveftitur erlangt der 
Lehensmann (vasallus) das Recht, den Beſitz des Lebens zu ergreifen, und ge- 
Iobt die Erfüllung der Verpflichtungen, welche in der Lehenstreue enthalten find, 
durch den Lehengeid, Die Verlegung diefer Verpflichtungen heißt Felonie, welche 
die im gemeinen Nechte näher angegebenen Folgen unfehlbar nach fich zieht, CF. 
Eichhorn, Einleitung in das teutfche Privatrecht mit Einfchluß des Lehensrechtes, 
Tit, 4 — Das Kirhenlehen (feudum ecclesiasticum) ift a) ein active, wenn 
die Kirche felbft eine Sache zu Lehen ausgibt, Nicht felten Haben die Bifchöfe, 
um entweder einen mächtigen Schirmvogt, oder eine anfehnliche Dienfimannfchaft, 
deren fie als Neichsfürften bedurften, zu gewinnen, biefen einen Theil der Zehn- 
ten oder anderer Kirchengüter zu Lehen gegeben, wobei alsdann ber Prälat Na— 
meng der Kirche die Stelle des Lehensherrn Cprodominus) vertrat, und beffen 
Rechte und Jurisdietion ausübte, Solche Lehen nannte man ehemals Krumm— 
ftabslehen, weil fie gleichfam von dem gefrümmten bifchöflichen Stabe (pedum) 
als Zeichen der bifchöflihen Würde abhingen., Sie haben einige Berwandtfchaft 
mit den Rirchenpfründen:. beide werben auf Lebenszeit gegeben, nur daß diefe 
den Clerifern pro officio sacro, jene Dagegen propter servitia saecularia übertragen 
werden. — Will ein Kirchengut zu Lehen ausgegeben werden, fo kann es nur ge— 
ſchehen mit Beobachtung der zu ihrer Veräußerung nad den Rirchengefegen er— 
forderlichen Solennitäten, c. 5. 8. 11. 12. X. 3. 13; c. un. Extrav. comm. 3. 4; 
doch erlaubt das canoniſche Necht die Wiederverleihung auch ohne jene Formen, 
wenn eine bereits rechtmäßig infeudirte Sache zurüdfällt, fo lange fie von dem Kir- 
chenobern dem Rirchenvermögen (ſ. d. A.) nicht wieder incorporirt worben ift, 0.2.X. 
3.20. Bei einem Todesfalle iſt nur der Succeſſor berechtigt, die Inveftitur, um 
deren Renovation binnen Jahr und Tag nachgefucht werden muß, zu erneuern, 
ohne deffen Zuftimmung jede Veräußerung oder Verpfändung des Lebens durch 
den Vafallen ungültig ift, c. 7. X. 1. 2. Auch ift der Nachfolger nicht verpflich- 
tet, eine von feinem Vorfahrer ertheilte Anwartfchaft für den Fall der Eröffnung 
eines Lebens zu confirmiren, e8 fei denn, die Anwartfchaft wäre ertheilt werben 
wegen großer der Kirche geleifteten Dienfte., — Das Kirchenlehen kann b) ein 
paffives fein, indem der Kirche bona saecularia zu Lehen gegeben werben, wo— 
durch diefe an dem Charakter der Kirchengüter fchon in fofern partieipiren, als 
das dominium utile der Kirche alle Rechte und Vorrechte der Kirchengüter genießt, 








Kirchenlehre — Kirdenpatron. 165 | 


Hier ift der Rirchenprälat Namens der Kirche der Lehensmann (provasallus) und 
erfüllt in ihrem Namen alle Lebhenspflichten, bat den Lehenseid zu leiften, c. un. 
$ 2. in VI? 3. 16, den Dienft durch einen Stellvertreter verfehen zu Iaffen oder 
mit Geld abzulöfen, und die Lehensherrlichkeit anzuerfennen, c. 6. X. 2, 2. Fe— 
Ionie konnte die Rechte der Kirche nicht beeinträchtigen. Durch die Säcularifation 
ift der Firchliche Lehensverband aufgelöst worden. Zu bemerfen ift noch, daß viel 
Streit und Wirrwar in die firchlihen Verhältniffe dadurch gebracht worden ift, 
daß der Lehensherr bei einem Todesfall fo lange die Früchte einzog, bis das 
Lehen wieder ausgegeben war, Zu diefen „fructus feudi* zählte man aber auch 
das Recht, Beneficien zu vergeben, felbft Bifchöfe einzufegen, überhaupt die Kirche 
fowohl circa officia sacra al® bona ecel. zu providiren, und fuchte damit eine 
Lehenshoheit über die Kirche zu begründen, was man „jus regium* zu nennen 
pflegte. Die Kirche war indeffen ftetS bemüht, diefen widerrechtlichen Anfprücden 
gegenüber ihr gutes Necht zu wahren, Cf. Schmidt, thesaurus juris ecclesiastici, 
tom. 5.0.6. Bgl. hierzu den Art, Emphyteuſe. [Kreuger,] 

SKirchenlehre, f. Kirchenglaube. 

SKirchenlebrer (doctores ecclesiae), f. Kirhenväter, 

Kirchenlied, f. Hymne und Poefie, hriftl. 

Kirchenmuſik, ſ. Muſik, chriſtliche. 

Kirchenpatron iſt der Engel oder Heilige, deſſen Schutze eine Kirche (oder 
Gemeinde) vorzugsweiſe anvertraut iſt. Ihre Einführung fällt mit der Heiligen- 
verehrung und Ermwählung von Namenspatronen in gleiche Zeit. Die Kirche zu 
Nom verehrte die Apoftelfürften nicht bloß als Heilige, fondern auch als Kirchen— 
patrone, wie der hl. Leo mehr als einmal ausfpricht (Credimus atque confidimus... 
nos specialium patronorum orationibus adjuvandos etc. serm. 1.); die Kirche 
zu Smyrna war der Obforge des HI. Polycarpus übergeben, Ignatius und Cy— 
prian wurden fchon fehr bald als Patrone ihrer Gemeinden verehrt, und fo wählte 
jede Gemeinde den aus ihrer Mitte hervorgegangenen Martyrer zum befonderen 
Beihüser. Die kirchliche Einrichtung, Reliquien der Heiligen (zumal der Mar- 
tyrer) unter den Altären aufzubewahren, begründete das Patroeinium dieſes 
Heiligen (Patronfchaft von Seite des Heiligen und Feftfeier von Seite der. Ge— 
meinde) für die betreffende Kirche. Die Synode zu Mainz (813) und ein De- 
eretum apostolicum machte das Patroeinium zur Firchlichen Obſervanz und reihte 
daffelbe den erften Feften ein. Aus fehr begreiflichen Gründen ift an vielen Orten 
die feligfte Jungfrau, als Königin der Heiligen, zur Rirchenpatronin erwählt. 
Sonft hängt die Wahl von den Umftänden der Gründung einer Kirche ab. Daß 
Heilige in ihrer Heimath, Wirkungs- oder Berflärungsfphäre als Patrone er- 
wählt werden, verſteht fih von ſelbſt. Nitterlihe Kirchenerbauer bevorzugten 
ritterliche Heilige, z. B. den hl. Martin und Georg; Landleute folhe, denen ein 
befonderer Einfluß auf Bedürfniffe ihres Lebenskreifes zugefchrieben wird, 3. Be 
den hl. Leonard, Sebaftian, Rochus, Florian; Joh. v. Nepomuk, Joſeph, Bar— 
bara ꝛe. Drden wählten hl. Ordensmänner als Kirchenpatrone. Es gibt übrigens 
auch Kirchen, die feinen Patron sensu strietiori haben, fondern auf einen ſog. 
titulus Ecclesiae gebaut find, 3. B. der Hl. Dreifaltigfeit, dem HI. Kreuze u. ſ. w. 
Canoniſche Vorſchriften über Ernennung eines Kirchenpatrons beftehen folgende: 
1) muß der Patron ein Heiliger fein, 2) muß die Meinung der betheiligten Ge— 


- meinde und 3) die Genehmigung der Congregatio Rituum eingeholt werben, 
Dogmatiſch gründet fi die Praris, Kirchenpatrone zu erwählen, einerfeits auf 
bie Herrfchaft der Heiligen dur ihre Theilnahme an der Herrlichkeit Chrifti, an- 
dererſeits auf die Communio sanctorum, die der ftreitenden Kirche die Antheil- 


nahme der Heiligen an ihrem Leben und ihren Geſchicken fihert. Der Vorwurf, 
bie Kirchenpatrone feien ein Ueberbleibfel des heidnifchen Lareneultus, widerlegt 
ſich hiedurch von felbft Cogl. den Art. Patron). [Xavier Schmid.] 


166 Kirhenpfleger — Kirchenrecht. 


Kirchenpfleger oder Heiligenpfleger, ſ. Kirchenvermögen. 
Kirchenpfründe, f. Beneficium ecclesiasticum und Kirhenamt, 
Sirchenpolizei, f. Disciplin, 

Kirchenprovinz. Damit bezeichnet das Kirchenrecht ven Complex mehrerer 
Bisthumsfprengel — Didcefen — , welche unter einem Bifchofe, der jegt Erz- 
bifchof Heißt und felbft Bischof einer diefer Didcefen (Erzdidcefe) ift, vereinigt 
find. Lesterer übt über diefe Didcefen, deren Oberhirten Suffraganbifchöfe hei— 
Ben, c. 11. X. 1. 6., eine gewiffe Oberauffiht und Jurisdietionsgewalt aus, Die 
Bildung Firchlicher Provinzen iſt ſchon im apoftolifchen Zeitalter wahrzunehmen 
und hat ſich von da naturgemäß aus dem Leben der Kirche heraus entwicfelt und 
eonfolidirt, Will man auch nicht gerade annehmen, daß fich die Apoftel bei der 
Berfündigung der hriftlihen Lehre und der Organifation der Firchlichen Gemein- 
den an die flaatliche Eintheilung angefchloffen haben (Dupin, de antiqu. eccl. 
discipl.), indem die Metropole der römifhen Provinz auch die Metropole der 
firchlichen Provinz geworden wäre — was indeffen in vielen Fallen das Wahr- 
fcheinlichere ift, indem die Glaubensboten fich zuerſt an die Hauptflädte wandten 
und von diefen aus das Chriftentbum fich in der Provinz verbreiten Tiefen; — 
fo liegt e8 doch in der Natur der Sache, daß die Kirchen eines beftimmten geo— 
graphifchen Umfanges, die großentheilg von der Hauptfladt aus gegründet worden 
find, zu diefer mit ihren Bifchöfen in ein gewiffes Abhängigfeitsverhältnig ge— 
treten find und ihr einen höhern Nang zuerfannt haben, Zur Zeit der Ehriften- 
verfolgungen und des fpätern Umfichgreifeng der Härefien war eine ſolche Ver— 
bindung notwendig, Dazu fommt das Synodalwefen, welches fih immer mehr 
ausbildete, und das Firchliche Leben in folchen Bezirken auch zu einer äußern Ein- 
beit abfchloß, fo daß fihon auf der Synode zu Nicda 325 die Jurisdiction der 
Metropoliten näher beftimmt und auf der Synode zu Antiochia verordnet worden 
ift, daß in jeder Provinz unter der obern Leitung des Metropoliten alle Jahre 
zweimal Synoden gehalten werben foffen. Die Bildung von Kirchenprovinzen ift 
daher ihrem Urfprunge nach wie das Product des Firchlichen Geiftes, der überall 
nach Vereinigung des Getrennten firebt, fo auch die naturgemäße Folge der 
äußern geographifchen und flaatlichen Lagen und Verhältniffe. Die Hauptftädte 
Cuntgonolsıs) wurden demnach nicht bIoß die Pflanzfehulen des Chriſtenthums, 
fondern auch die Mittelpunete — Centren — der wichtigern Firchlichen Verhand- 
lungen, fie bildeten das Centrum in einem Fleinern Kreife, Später gefhah die 
Eintheilung und Abgrenzung der Kirchenprovinzen meift auf den Synoden, heut— 
zutage gefchieht fie nach vorangegangener Verhandlung mit den betreffenden Re— 
gierungen durch den Papft in den fog. Cireumferiptiongbulfen, Gegenwärtig exi— 
fliren in der Fatholifchen Welt 114 Erzdidcefen und 462 Suffraganbisthümer, 
wovon auf den heutigen Umfang der teutfchen Bundesftaaten 8 fommen, Siehe 
Permaneder, Kirchenrecht I, 439, In der Regel ift jede Didcefe einer Pro— 
vinz zugetheilt, nur ausnahmsweife find einzelne Bisthümer erempt, die zu Feiner 
Provinz gehören, fondern unmittelbar unter dem Papfte ftehen, Die meiften 
folcher erempter Bisthümer hat Italien (ſ. d. A.) ; in Teutfchland find erempt: Laibach, 
Görz, Trieft, Breslau, Hildesheim und das eoncordbatmäßig verfprochene, aber 
noch nicht errichtete Bisthum Osnabrück; f. Permaneder, l.c. ©, 438, Glei— 
cherweife gibt e8 auch Erzbifchöfe ohne Suffraganbifchöfe, wie z. B. Olmütz in 
Mähren. Ueber die rechtlichen Berhältniffe f. den Art, Erzbiſchof. [Rreuger,] 

Kirchenraub, f. Sacrilegium. 

Kirchenrecht. Das Kirchenrecht im objeetiven Sinne ift der Inbegriff 
aller derjenigen Nechtsnormen, welche die Drbnung der von Gott gegründeten 
Kirche und die durch diefelbe zu bewerfftelligende Erziehung des chriſtlichen Volkes 
zum Zwede des ewigen Heiles deffelben betreffen. Seinen Quellen nad ift es 
theils ein göttlicheg, theilg ein menfhlihes Recht, je nachdem e8 auf ben 


Kirchenrecht. 167 


unmittelbar von Gott gegebenen Geſetzen und getroffenen Anordnungen beruht 
oder von den in der Kirche gefegten Obrigfeiten feftgeftellt wird, Es find für 
daffelbe verfehiedene Bezeichnungen gebräuglich geworden: Jus sacrum, eine in 
fofern paffende Benennung, als der Kirche überhaupt und fomit auch das fie be—⸗ 
treffende und von ihr ausgehende Necht den Charakter der Heiligkeit an ſich trägtz 
Jus pontificium, weil eine große Zahl der kirchenrechtlichen Beſtimmungen von den 
Papſten ausgegangen iſt und dieſer Ausdruck ſich in früherer Zeit im Gegenſatze 
zu dem Jus Caesareum eignete, dann Jus canonicum und Jus ecclesiasticum. Der 
erftere diefer beiden Ausdrüde rührt davon her, dag das Wort Canon überhaupt 
die Bezeichnung eines kirchlichen Gefeges im Gegenfage zu Lex, der weltlichen 
Rechtsvorfchrift, geworden iſt. Sp paffend derfelbe auch für jene Zeit war, wo 
das Corpus juris canoniei als eine gefchloffene Sammlung die fämmtlichen gelten- 
den Kirchengefege enthielt, fo ift er doch, da auferdem noch viele andere Duelfen, 
insbefondere die Concordate des Papftes mit weltlihen Regierungen entfcheidende 
Normen für kirchenrechtliche Verhältniffe aufgeftellt Haben, nicht mehr völlig zu⸗ 
treffend und eben deßhalb die Bezeichnung Jus ecclesiasticum, als die umfaffen- 
dere, vorzuziehen. — Es pflegen in Betreff des Kirchenrechtes mehrere Unter- 
ſcheidungen gemacht zu werben, und zwar wird zunächft der befannte Unterſchied, 
den das römifche Recht zwifchen gefhriebenem und ungefhriebenem Rechte 
macht, auch auf diefes Gebiet übertragen, Eine befondere Art des ungefchriebenen 
Rechtes ift das Gewohnheitsrecht (ſ. d. A.), welches jedoch Hier nur eine durch- 
aus particulare Richtung haben kaun. Obgleih nämlich auch bei dem Kirchen- 
rechte die Eintheilung in allgemeines und particulares Recht durchaus zu- 
Yäffig ift, indem unter jenem die Vorſchriften verftanden werden, welche fih auf 


die Geſammtheit der ganzen Kirche erfirefen, unter diefem ſolche, die nur in ein- 


zelnen Ländern, Gemeinden oder kirchlichen Inftituten Geltung haben, fo darf 
doch das particulare Necht mit jenem in feinen dogmatifchen Widerfpruch treten 
und in Feinerlei Weife die Kraft der kirchlichen Diseiplin verlegen. Man pflegt 
ferner die Verhältniffe der Kirche zum Staate und zu den von ihr getrennten 
Eonfeffisnen unter der Bezeichnung äußeres, und die Rechtsverhältniffe der 
Kirche innerhalb ihrer felbft unter vem Namen inneres Kirchenrecht zu verftehen, 
Eine andere Eintheilung, nämlich die in öffentliches und Privatkirchenrecht, 
nad welcher die Rechtsverhältniffe der Kirche als folcher zu denen ihrer einzelnen 
Glieder in einen Gegenfag geftellt werden, ift nicht in der Natur der Kirche ge- 
gründet, Noch viel weniger aber iſt es flatthaft, bei der ohnedieß ganz fehler- 
baften Haupteintheilung des gefammten Nechtsgebietes in öffentliches und Brivat- 
recht das in ſich durchaus felbftfländige Kirchenrecht dem einen oder andern jener 


beiden Zweige unterzuordnen, — Was fodann das Kirchenrecht im fubjectiven 





Sinne oder ald Wiſſenſchaft anbetrifft, fo nimmt daffelbe in feiner Stellung zu 


andern Wiffenfhaften einen befonders Hohen Rang deßhalb ein, weil es das 
eigentlich verbindende Glied der Theologie mit der Jurisprudenz bildet. Iſt es 
daher öfters mit dem Namen Theologia rectrix oder Theologia practica bezeichnet 
worben, fo folgt zugleich aus diefer feiner Stellung, daß die übrigen theologi— 
ſchen ſowohl als auch juriftifchen Disciplinen einerfeits als eben fo viele Hilfs- 
wiffenfchaften des Kirchenrechts zu betrachten find, andererfeits ſelbſt wiederum 
aus diefem vielfahe Nahrung ziehen. — Bei der wiffenfchaftlichen Behandlung 


1 des Kirchenrechts fommt es wefentlih darauf an, daß Feine Richtung einfeitig 


verfolgt werde. Es genügt nicht, daß die Wiffenfchaft bloß Iehrt, was gerade in 


dem gegenwärtigen Augenblide geltendes Recht ift, fondern fie muß auch zeigen, 
wie diefes Recht geworden ift, und wie es mit der Natur und dem Zwecke der 


Kirche übereinftimme. ‚Eben fo wenig aber genügt es, wenn bargethan wird, wie 


das Recht entftanden ift, dabei jedoch der Gefichtspunet auf dasjenige, was davon 
ſich bis zur Gegenwart erhalten hat, aus dem Auge verloren und in einem be— 


Be 


‚168 Kirchenrecht. 


liebigen Zeitraume der Vergangenheit ausſchließlich verweilt oder gar die Forde— 
rung geſtellt wird, dieſer oder jener Zeitabſchnitt ſei in Betreff des kirchlichen 
Rechtes als der einzige normale zu betrachten. Noch weniger aber, als es zu- 
läſſig ft, eine beftimmte, bloß hiftorifche Erfcheinung als die allein nothwendige 
anzunehmen, darf die Wiffenfchaft den Weg einfchlagen, daß fie ein, lediglich 
durch philofophifche Speceulation gewonnenes Prineip als die Bafis für das Kir- 
chenrecht aufftellt und fih num bemüht, darnach die einzelnen gefeglichen Beſtim— 
mungen befjelben zu beurtheilen, Das Nefultat wäre ein durchaus unpraftifcheg, 
und abgefehen davon, daß dabei alle Gefchichte außer Acht gelaffen wird, auch 
in fofern ein völlig unhiftorifhes, als die Kirche auf feinem son der menfchlichen 
Bernunft erfindbaren Gedanken, fondern auf der in die Gefhichte als Factum 
eingetretenen Idee der Menſchwerdung Gottes beruht, Diefen Gedanken der Er- 
löſung des Menfchengefchlechtes Fonnte Feine Speculation erbenfen, und fomit 
erweist fih dadurch das fogenannte „natürliche Kirchenrecht” ganz von felbft als 
eine Chimäre; eine wahre Wiffenfchaft des Kirchenrechts Fann aber nur auf dem 
Wege erreicht werden, daß man die drei Methoden: die practifche, hiſtoriſche und 
philofophifche, mit einander verbindet, — Als das Kirchenrecht zuerft Gegenftand 
academifcher Lehrvorträge wurde, war bie practifche Methode allerdings die vor— 
herrſchende; das hiftorifche Element wurde dabei vernachläßigt. Diefer Nachtheil 
wurde indeffen dadurch weniger fühlbar gemacht, als alle dieſe älteren Lehrer 
feft auf dem unwandelbaren Dogma der Kirche und fomit auch zugleich auf dem 
biftorifchen Boden jenes großen Factums ſtanden; dadurd wurde wenigftens bie 
Gefahr einer deftructiven Philofophie vermieden, Es haben auch noch jest meh— 
rere der älteren Bearbeitungen des Kirchenrecht, die fih ganz und gar an die 
Ordnung der Decretalen anfchließen, einen fehr bedeutenden Werth, ja fie find, 
wo es ſich um practifche Fragen handelt, als unentbehrlich zu bezeichnen, Es 
gehören dahin außer den Commentarien von Gonzalez Tellez (Commentaria 
perpetua in decret. Gregor. IX. Venet. 1699) und Profper Fagnani (Jus canon. 
sive Commentaria absolutissima in V. libr. decret. Rom. 1659. 5 Voll. fol.), ganz 
vorzüglich die Werfe mehrerer teutfchen Canoniften, namentlich E. Pirhing, Jus 
canon. Dilling. 1675.:5 Voll. fol., Anacl. Reiffenstuel, Jus canon. univ. juxta 
titul. libr, V. decret. Venet. 1704. 3 Voll. fol., und F. Schmalzgrueber, Jus 
eccles. univ. Ingolst. 1726. 5 Voll. fol. Bon proteftantifchen Schriftftelfern diefer 
Zeit verdient befonderg J. H. Böhmer, Jus eccles. protest. Hal. 1756. 5 Voll. 4., 
der ebenfall$ der Ordnung der Decretalen folgt, Erwähnung, Unter den Fran- 
zofen ift zu nennen: Cabaffut (’Theoria et praxis jur. canon. Lugd. 1679); unter 
den Spaniern: Barbofa (Collectanea doctorum in jus pontif. univers. 5 Voll. fol. 
Lugd. 1656) und $ermofint CTractatus. Colon. Allobr. 1741. 14 Voll, fol.), 
und unter den Stalienern: Ub. Giraldi (Expositio jur. pontif, juxta recentior. 
eccles. discipl. Rom. 1769. 3 Voll: fol. ed. 3. 1829). Der neuefte Schriftfteller, 
welcher das Syſtem der Decretalen beobachtet hat, ift 3. Devoti; fein Werf 
Jur. canon. univ. libr. quinque (Tom. I. Rom. 1803. U. 1804. II. 1815) ift leider 
unvollendet geblieben; es ift eine vortreffliche Arbeit, die insbefondere in ihren 
Prolegomenen fehr ſchätzbares Material enthält. Solches wird auch in dem äl— 
teren Werfe deffelben Autors: Institution. canonic. libri IV (ed. 5ta. Rom. 1818. 
A Voll. 8.) angetroffen; in diefem Buche ift das Syſtem der Decretalen auf- 
gegeben, was überhaupt ſchon häufig in den canonifchen Werfen des vorigen Jahr- 
hunderts geſchah. Namentlich ift dDieß der Fall bei Ban Espen (Jus eccles. 
univ. Col. Agripp. 1702. fol.) , welcher troß feiner verderblichen Grundſätze Cer kann 
mit Recht für ven Vater des Febronianismus gelten, denn Hontheim (ſ. d. A.) war 
fein Zuhörer gewefen) dennoch als einer der gebildetften Canoniften bezeichnet 
werden darf (ſ. Espen). Seine hiftorifche Erudition verdankt er vorzüglich dem Dra= 
torianer 8, Thomaffin, der, obfchon ihm der auch um die Duellen des canpni= 


Kirhenregierung — Kirchenſache. 169 


ſchen Rechts hochverdiente Bifchof von Tarragona, Antonio Agoftinn, in feiner 
Epitome juris pontif. veteris vorangegangen war, doch als der eigentliche Begrün- 
der einer Hiftorifchen Bearbeitung des canonifchen Rechtes anzufehen ift. Sein 
Werk: Ancienne et nouvelle discipline de l’eglise (zuerft Lyon 1778 3 Vol. fol.), 
von welchem die Iateinifche Bearbeitung (zuerft Paris 1685) verbreiteter ift, ift 
ein auch jedem neuern Schriftfteller diefes Faches völlig unentbehrlihes Buch. — 
Bon den Ffürzern Bearbeitungen des canonifchen Rechtes haben die dem vorigen 
Jahrhunderte angehörigen im Ganzen nicht fehr großen Werth, doc find als 
fehr rühmliche Ausnahmen zu nennen die Werfe von C. S. Berardi (Commen- 
taria in jus eccles. univ. Aug. Taurin. 1766 4 Vol. 4.), $. Zallinger (Insti- 
tution. jur. natur. et ecclesiastici. Aug. Vind. 1786 8.) und Bine, Lupoli (Juris 
ecclesiastici praelectiones. Neap. 1787 4 Vol. 8.). Außerdem ift aber ein Bud, 
welches fich ſcheinbar nur auf einen fehr fpeciellen Gegenftand bezieht, als eines 
der wihtigften für die gefammte Wiffenfchaft des canonifchen Rechtes auszuzeich- 
nen, nämlich das Werf des Papftes Benedict XIV. de synodo dioecesana. Im 
Ganzen genommen hat aber die wiffenfchaftlihe Cultur des Kirchenrecht erft wie- 
derum in neuerer Zeit einen neuen Aufihwung genommen; es bleibt aber noch 
Vieles zu thun übrig. Insbeſondere fehlt es noch an einer vollftändigen Ge- 
ſchichte der Duellen des canonifhen Rechts, indem leider die von Bickell begon— 
nene Arbeit (Gef. des Kirchenrechts Bd. I Heft 1, Gießen 1843) durch den 
Tod des Verfaſſers unterbrochen worden ift, Unter den neuern Werfen über dag 
Kirchenrecht find ganz befonders auszuzeihnen: F. Walter, Lehrbuch des Kirchen- 
rechts aller chriftlichen Confeffionen (1te Aufl. Bonn 1818. 10te 1846), 4. &, 
Richter, Lehrbuch des Fatholifhen und evangelifchen Kirchenrechts (1te Aufl, 


Leipz. 1841 3te 1848), und M. Permaneder, Handbudh des gemeingültigen 
katholiſchen Kirchenrechts (2 Bde, Landsh, 1846). Ein neuer Verfuch eines voll- 


fändigen Handbuchs des Kirchenrechts ift die Arbeit des Unterzeichneten (Rirchen- 
recht, bis jest 3 Bde. Negensb, 1845 u. ff.), wofelbft in den einleitenden Para- 
graphen auch eine Heberficht der Literatur fowohl des allgemeinen, als auch des 
partieularen Kirchenrechts einzelner Länder gegeben iſt. Als eine erfreulihe Er— 
fheinung darf noch hervorgehoben werden, daß nunmehr auch in Deftreich die 
Wiffenfchaft des Kirchenrechts mehr und in beffern Prineipien als früher angebaut 
wird. Dafür geben Zeugniß die Werfe von J. Beidtel (Unterfuchungen über 
die kirchlichen Zuftände in den Faiferlich öftreichifchen Staaten, Wien 1849 und: 
das canonifhe Recht, betrachtet aus dem Standpuncte des Staatsrechts, der Po— 
litik, des allgemeinen Gefellfhaftsrechts und der feit dem Jahre 1848 entftan- 
denen Staatsverhältniffe. Negensb. 1849, und von TH. Pahmann, Lehrbuch 
des Kirchenrechts Bd. I. Olmütz 1849). [Phillips.) 

Kirchenregierung, ſ. Hier archie. 

Kirchenſache, auch Kirchenvermögen (ſ. d. A.) genannt, begreift theils heilige 
Sachen, theils einfache Kirchengüter, je nachdem fie entweder unmittelbar zum gottes— 
dienftlichen Gebrauche beftimmt find, oder nur mittelbar zur Beförderung des Gottes— 
dienſtes und anderer kirchlicher Zwede dienen. Die erftern (res sacrae) find je 
nach der Wichtigkeit der heiligen Haudlungen, für welde fie dienen, entweder ge= 
weihte (res consecratae) oder gefegnete Sachen (res benedictae), Zu den geweihten 
gehören die Kirchen, Altäre, Kelch und Patena ; zu den gefegneten die Glocken, 
Gottesäcker, die geifilihen Gewänder und übrigen gottesdienftlihen Geräth- 
ſchaften. Diefe Heiligen Sachen find mit Ausnahme einiger Fälle unveräußerlich, 
find dem gemeinen Berfehre entzogen und Berlegungen derfelben werden auch 
durch die Staatsgefege ftrenger geahndet. Die übrigen Rechte und Güter, auf 
welche einer Kirche oder kirchlichen Genoffenfhaft ein Eigentbumsrecht (ſ. d. A.) zu⸗ 
fteht, und welche dazu dienen, die äußern Bedürfniffe der Kirche, wie den Unterhalt 
der geiftlichen Perfonen, die Eultfoften, die Baulichfeiten an den Rirchengebäuden 


470 Kirchenſatz — Kirdenfprade, 


zu beftreiten, nennt man einfache Rirchengüter (res ecclesiasticae in specie, pa- 
trimonium oder peculium ecelesiae). Hieher gehören die Pfründgüter, Opfer, 
Stolgebühren, Zehnten ꝛc. In Betreff diefer Güter gelten im Allgemeinen die 
gewöhnlichen Eigenthumsrechte, die nähern gefeßlichen Beftimmungen find bei den 
einzelnen Artifeln „Pfründe, Opfer, Zehnten u. ſ. w.“ nachzuſehen. Zu den Kir- 
chenfachen werden im weitern Sinne auch diejenigen religiöfen Sachen gerechnet, 
welche nicht zu einem unmittelbaren gottesdienftlichen, fondern überhaupt zu einem 
frommen Zwecke — causa pia — gehören, mittelbar aber doch zu Verwirklichung 
religiöſer Gottes- und Menfchenliebe beitragen, wie die verfchiedenen milden 
Stiftungen, Diefe ſtehen nah canoniſchem Rechte gleichfalls unter der Aufficht 
der Kirche cf. Trid. sess. 22. c. 8 et 9 de ref. Leider hat der Staat vielfach dieſe 
Güter mehr oder weniger der unmittelbaren Aufficht der Kirche entzogen und fie 
ihres kirchlichen Charakters oft fehr beraubt, daß derſelbe nur noch an ber 
Derlaration „Kirchenſache“, „Stiftungsfache” im amtlichen Verkehre zu erfen- 
nen iſt. Vgl. hiezu den Art, Geiftlihe Sade, ‚  [Rreußer,] 

Kirchenfag, ſ. Patronatrecht. 

Kirchenſchatz, ſ. Fabrica ecclesiae. 

Kirchenſpaltung, ſ. Shisma, 

Kirchenſprache kann 1) genommen werden als die der Kirche eigenthüm— 
liche Ausdrucksweiſe in Wort und Schrift für ihr inneres und unſichtbares Leben, 
ſei es daß dieſes durch die Anſprache des Vorſtehers an die Gemeinde in der 
Predigt, im Segensſpruche, im begleitenden Worte bei der facramentalen Cult⸗ 
handlung und Werbung, im Lehr- oder Hirtenfchreiben in jener erſt äußerlich an- 
geregt und zum Theil vermittelt werben fol, fei e8 daß die Gemeinde felbft unter 


der Leitung des Vorftehers ihren Glauben und ihre frommen Gefühle im gemein- 


famen Gebete (f. die A. Gebet, Gebet der Kirche, Gebetsformeln) oder im Ge— 
fange darlegt. In diefem Sinne hat die Rirchenfprache wefentlich ein biblifches, 
patriftifches und dogmatifches Gepräge, beftimmte traditionelle Formen der An- 
rede und Begrüßung, der Dorologie (ſ. d. AU) u. ſ. w,, ja felbft beftimmte ſtets 
wiederfehrende Gleichniffe und fymbolifche Bezeichnungen für kirchliche Anſchauun— 
gen und Zuftände, fowie für die Gegenfäße der letzteren z. B. in dem päpftlichen 
Erlaffen, Der Begriff der Kirchenfprache hat in dieſem Sinne einen weitern 
Umfang als der Begriff der Liturgifhen Sprache, da diefe nur eine befon- 
dere Art von jener if, Es find aber auch an der liturgiſchen Sprache noch ins— 
befondere gewiſſe ftyliftifche Eigenfchaften wohl zu beachten, Diefe laffen fi) etwa 
auf die fletige Angemeffenheit der Sprache zu dem Charakter und der Tendenz 
der verfihiedenen einzelnen Beftandtheile des Cultus, auf die weife Unterordnung 
des didactifchen Momentes überhaupt und auf das harmonifche Verhältnif des- 
felben zum Iyrifchen insbefondere, auf Einfachheit und Gedanfentiefe, auf würde- 
sollen Ernft und heilige Salbung und endlich auf prägnante Kürze zurückführen 
Lüft, Liturgik LH 219). Parallel mit der Kirchenfprache in dem oben ange- 
gebenen Sinne läuft der Eurialftyl cf. d. A. Breve, Bulle, Canon, Curia 
Romana, Eurien, Deeretalen u, ſ. w.), ferner die firdenrechts- und theolo—⸗ 
gifch-wiffenfhaftlihe Terminologie, — 2) Weit häufiger aber verjteht man 
unter Rirchenfpradhe das Sprachi diom, oder beffer Die Sprachidiome, in welchen 
herkömmlicher Weife die Firchlichen Gebete, Gefänge, Lefungen und Anfprachen, 
die begleitenden Worte der facramentalen Handlungen, Segnungen und Weihungen, 
namentlich die Liturgie im engern Sinne oder das h. Meßopfer, ferner die Acte 
der allgemein Firchlichen Geſetzgebung und Regierung vollzogen und dargelegt 
werben. Unter diefem Gefichtspuncte iſt alfo nicht fo faft von der Kirchenfprache, 
als vielmehr von den Kirchenfprachen die Rede; und da diefe immerhin einen 
bedeutfamen Gegenftand der kirchlichen Disciplin und feit länger auch ein Object 
der wiffenfchaftlihen und practifhen Controverfe bilden, fo bedürfen fie einer 


u N a man Le u ln um 


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Kirhenfprade, 171 


kurzen gefchichtlichen Beleuchtung, damit aus diefer eine principielfe Löſung der 


eontroverfen Fragen angebahnt werde, — Gefhichtlih muß nun zuvörderft in’g 
Auge gefaßt werden, daß zur Zeit der Apoftel die ſyrochaldäiſche, die griechifche 
und die lateinische Sprache, und unter diefen wieder befonders die beiden letzteren 
durch ihre große und weite Verbreitung fowohl für die Predigt des Evangeliums 
als für das Eultwort ein höchſt günftiges Vehikel bildeten, deſſen eifrige Be- 
nüßung ſchon aus der Aufgabe der Apoftel folgt. Ob aber die Apoftel und ihre 
unmittelbaren Nachfolger in den Ländern, wo die ſyrochaldäiſche, griechifche oder 
lateiniſche Sprache weniger oder gar nicht einheimifch war, in Predigt und Eult- 
handlung nur der Landesfpracdhe (lingua vulgaris) ſich bedienten, oder ob fie die 
Liturgie wenigftens theilweife und wo es Noth that, unter gleichzeitiger Berwen- 
dung eines Jnterpreten für die etwa vorgelefenen Schriftflüde überall in Einer 
der genannten Sprachen feierten, fcheint zur Stunde noch nicht zweifellos ent- 
fhieden zu fein. Das in der Controverfe fo oft und in fo verfchiedener Abficht 
aufgeführte 14te Capitel des erften Corintherbriefes beweist auch hier nicht das, 
was man auf beiden Seiten wünfchte und wollte. Card, Bona, Edm. Martene 
(de antiq. eccles. ritib. 1. I. c. 3 art. 2), Rihard Simon, Le Brun, Bocquillot 
und Benediet XIV. (de sacrif. Miss. sect. I. c. 73— 85) find für die flattgefun- 
dene durchgängige Anwendung der Landesfprahe, auch Thomas v. Aquin (in 
Comment. ad I. Cor. 14) deutet darauf hin, Dagegen find Binterim (d. vorzügl. 
Denfw, der Fath. Kirche Ater Bd, 2 Th. S. 93 ff.) und Lüft A. c. $ 209) für 
das vorhin bezeichnete Gegentheil, — Geſchichtlich fteht weiter feft, daß wir für 
die allgemeine firchliche Gefeggebung und Regierung faft nur das griechifche und 
lateiniſche Sprachidiom zu bezeichnen haben, weil thatfächlich nur diefe beiden 
Sprachen in den Schriften des N, T., in der Meberfegung der 70 und in der 
alten versio Itala, aus welcher die vulgata erwuchs (vgl. Conc. Trident. Sess. IV. 
de edit. et usu ss. libb.), auf den allgemeinen Synoden (ſ. d. A.) , in den ver- 
fhiedenen Eanonenfammlungen (ſ. d. A.) und für die Eorrefpondenz der Kirchen- 
vorſteher verfihiedener Zungen untereinander und mit ihrem Oberhaupt recivirt 
find und im Hinblicke auf die älteften fchriftlihen Grundlagen der hriftlichen Re— 
ligion und Kirche in Bibel und materialer Tradition auch nur diefe beiden reci- 
pirt bleiben können, damit das Merkmal der Firchlichen Einheit, Allgemeinheit 
und fletiger Jdentität des Bewußtfeins auch in der abgefchloffenen Form einer 
dem Wechfel und der Vieldeutigfeit entrückten Sprache fich ausprägen möge, — 
Ebenſo iſt e8 gefchichtlih ermittelt, daß als liturgiſche Spradidiome im 
reſtrictiven Sinne des Wortes aus ältefter Zeit hauptſächlich die fyrochaldäifche, 
die altgriehifche und die Yateinifche, endlich feit dem neunten Jahrh. auch die alt- 
flavifhe gelten, Der Begriff der ſyrochaldäiſchen Kirchenſprache, welche von 
Altern kirchlichen Schriftftellern geradezu die hebräifche genannt und neben der 
griechiſchen und Yateinifhen zu Joh. 19, 19. 20 in allegorifche Beziehung gebracht 
wird, ift jedoch ein generifcher und faßt außer der fprifchen und haldäifchen, noch 
die armenifche, koptiſche und Habeffinifche Kirchenſprache in ſich, fei es daß man 
eine größere oder geringere Berwandtfchaft ver Ießteren mit der hebräiſchen (fyro- 
chaldaͤiſchen) Sprache vorausfegte, fei e8 daß diefe den abendländifchen Schrift- 
ftellern vorzugsweife befannt war, fei e8 daß die Liturgie des 5. Jacobus als 
gemeinfame Grundlage aller betrachtet wurde, Ebenfo ftehen unter dem altfla- 
viſchen Idiom fowohl die Liturgien der Fatholifchen oder ſchismatiſchen Gräco- 
flaven, welche eine Ueberſetzung der griechifchen Liturgien der HH. Baſilius und 
Johannes Chryfoftomus durch den Slavenapoſtel Cyrillus (ſ. d. A. Mähren) in 
den von dieſem erfundenen Lettern enthalten und bei den Groß- und Klein-Ruffen, 
bei ven Bulgaren und Serben im Gebrauche find, als die Heiligen Bücher einer gerin- 
gern Anzahl Fatholicher Südflaven in Croatien und Dalmatien, welche auf die römifche 
Liturgie gegründet und mit hieronymitaniſchen (glagolitiſchen) Lettern gedrusft find, 


172 Kirhenfprade, 


Ja diefer altſlaviſchen Liturgienfamilie affılirt fich auch die Liturgie der Rumainen 
(Wallachen) als eine Ueberfegung der eyrilliſchen Liturgie in ihrer übrigens latini— 
firenden Mundart, In älterer Zeit nahm man alfo nur drei, fpäter aber vier 
Haupt-Rirhenfprachen an. Diefe fowohl als ihre früherhin genannten Zweige 
waren offenbar zur Zeit ihrer Einführung in der Kirche wenigftens theilweife 
Bolfs- und Landesfpracdhe. Sie find es aber, wenn man die Einmifchung ruffi- 
ſcher Wörter in die altflavifche Liturgie und die Berwandtfchaft zwifchen der alten 
und neuen Sprache der Griechen und der Armenier nicht zu hoch anfchlägt, zur 
Stunde nirgends mehr, ein Umftand, welcher bei Beurtheilung der neuerlichen 
Berfuhe, die Landesfprache in den Cultus einzuführen, nicht überfehen werben 
darf. Im Morgenlande tritt faft überall den verſchiedenen Kirchenfprachen die 
arabifche als Volksſprache gegenüber; in Africa war ſchon zu Auguftins Zeiten 
neben der lateiniſchen Eultusfprache das punifche Volksidiom (Conf. I. 14. ep. 84 
ad Novat.). Ebenfo treten der altflavifchen Liturgie die neuflavifchen Sprach— 
familien, dem Altarmenifchen das Neuarmenifche, dem Altgriechifchen das Neu— 
griechifche, dem Lateinifchen feine Töchter: die romanifchen und die teutfche Sprache 
gegenüber, fo daß felbft das Gewicht, welches für die Einführung der teutfchen 
als Cultſprache aus ihrer Verfchiedenheit von der Iateinifchen abgeleitet wird, 
von diefen Thatfachen überboten werden mag. Die fortwährende Neftrietion der 
Eultfprache auf die drei zuerft genannten Idiome gibt fich ferner durch die in Auf- 
nahme gefommene Anficht fund, daß man felbft im Privatgebete Gott nur in 
drei Sprachen verehren dürfe, eine Behauptung, welche auf der Synode zu Franf- 
furt im 5. 794 (cap. 52) ausdrüclich widerlegt werden mußte. Nicht minder 
fpricht der Kampf gegen die neuaufgefommene flavifche Rirchenfprache im neunten 
Sahrh. (ſ. d. A. Mähren), welher im eilften Jahrh. neuerdings auflebte, an 
Gregor VIL eine Auctorität fand und erft 1148 dur Innocenz IV. beigelegt 
wurde, für die früh in der Kirche herrfchend gewordene Abneigung gegen die Ein- 
führung der Landessprache in den Eultus, Nimmt man nun noch die Beftimmun- 
gen des Conecils von Trient (Sess. XXII. de sacrif. Miss.): Non expedire visum 
est patribus, ut (missa) vulgari passim (theilweife, wie Catharina von Me- 
dieis und der Kaifer verlangt hatten) lingua celebraretur (cap. 8) und: si quis 
dixerit.... lingua tantum vulgari missam celebrari deberi..... anathema sit 
(can. 9), ferner die Sorgfamfeit, mit welcher in Rom auf die möglichft ausge- 
dehnte Beibehaltung der Tateinifchen Sprache in den Didcefanritualieu gefehen 
wird , hinzu, fo erhelft zur Genüge, daß die vorerſt von den Proteftanten ange- 
regte und unter ihnen völlig durchgefete, fpäter von den Janfeniften (vgl. die Bulle: 
Unigenitus. prop.86) und von der Synode zu Piftoia (Pii VI. constitutio: Auctorem fidei 
prop. 33. 66) wieder aufgenommene und in Teutfchland bis in die neuefte Zeit 
beantragte Erhebung des Volksidioms zur Kirchenfprache dem Geifte der Kirche 
durch eine Neihe von Jahrhunderten und noch fortwährend fremd geblieben ei. 
Damit will aber feineswegs gefagt werden, daß die gefammte Kirchenidiomsfrage 
über den Bereich der Firchlichen Disciplin Hinausliege ; dafür bürgt nämlich fchon 
die vorſichtige Faffung der obenangeführten triventinifchen Beftimmungen und 
die Gefchichte der dahin bezüglichen Vorverhandlungen (Pallavieini, 1. XVII. c. 2. 
n. 13. c. 10. n. 1. 5. XXX. co. 41. n. 11), und das der Kirche überhaupt zuge- 
forochene Reformationsrecht in Cultusſachen (Conc. Trident. Sess. XXI. cap. 2. de 
Commun.) ; dafür weiter die Thatfahe, daß es überhaupt mehrere Kirchenfpra= 
chen gibt, und daß außer diefen, welche in fofern als todte betrachtet werden 
fönnen, in wiefern fie im bürgerlichen Leben außer Uebung gefommen find, überall 
auch die Iebendige Volks- oder Randesfprache wenigftens einen mehr oder minder 
großen Antheil bei den Cultacten hat. In den Bereich der Iegtern fallen nämlich 
der chriftliche Volfsunterricht, die Predigt, die gemeinfamen Gebete der Laien, 
namentlich das Gebet des Herrn und das apoftolifhe Glaubensbekenntniß, das 


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Kirdhenfprade. 173 


Kirchenlied im Gegenfag zum Choralgefang und einzelne Partien bei der Ausfpen- 
dung der 5. Sacramente, in wiefern nämlich das didactifhe Moment oder die 
farramentale Mitwirkung des Laien diefes erfordert. (Vgl. hiefür die Anordnung 
des Avoftels der Teutfhen auf der Synode zu Liptinä (742) stat. 27 S. Bonifac. 
Conc. Germ. fol. 74, ferner die Verordnungen der Synoden von Frankfurt 
(813) und Mainz (847) Conc. Germ. T. I. p. 17 und 154.) Zu diefem fird- 
lich gewährten Antheile der lebenden Volksſprache an dem Eultus tritt 
noch die vorforgliche Anordnung der Trienterfynode (Sess. XXII. de sacrif. Miss. 
cap. 8. Sess. XXIV. cap. 7. de reformat.) , zufolge welcher dem chriſtlichen Volke 


das 5, Mefopfer und die h. Sacramente au in der Volksſprache oft, fleißig 


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und gründlich erklärt werden follen, ferner die Thatfache, daß eine Vermittelung 
zwifchen der Kirchen- und Landesſprache nicht bloß durch den mündlichen Unter- 
richt, fondern auch, ſchon feit langem und faft überall durch viele Heberfegungen der 
Mefgebete, fowie durch gründliche Erklärungen der firhlichen Ceremonien und Ge— 
Bräuche (vgl. 3. B. das Paroissien Romain, den Roman catholic, das teutfche Chor= 
und Meßbuch der Fath. Kirche) eingeleitet ift, und es Täßt fich fomit der Uebergang 
zu dem peincipiellen Urtheile über die Zuläffigfeit der lateinifchen Sprache für den 
liturgiſchen Gebrauch und über die gegenfägliche Forderung einer durchgängigen 
Anwendung der lebenden Volksſprachen beim Eulte leicht finden. Die letztge— 
nannte Forderung ftüst fih auf das unbeftreitbare Ariom, daß der hriftliche 
Eultus wegen feiner durhweg practifchen Tendenz mit Bewußtfein oder Gemein- 
verftändlichkeit aufgefaßt und vollzogen werden müffe, und daß zu diefer Tendenz 
die Sprade in einem nothwendigen Berhältniffe ſtehe. Es ift aber damit noch 
feineswegs gefagt, daß der Eultus feine Gemeinverftändlichfeit und Deutlichkeit 
allein durch die Sprache und nicht zugleich durch die ım HI. Mefopfer und in den 


HI. Sacramenten fo bedeutfame fymbolifhe Handlung erhalte, oder daß diefe 
 Gemeinverftändlichfeit und Deutlichfeit nur durch die unmittelbare Anwendung 
‚der Bolfsfprache erzielt werden fünne, Es ift damit noch feineswegs zugegeben, 


daß eine fremde Sprache, wie 3. B. die Iateinifhe, zum Eultgebraude 
nicht zuläffig fei, oder daß dem oft fo bornirten, weil ſtets engherzigen Iocalen 
Utilitätsprincipe die Idee und das Bewußtfein der Einheit, Gemeinfamfeit und 
Allgemeinheit das vorzugsweife Katholifche (ſ. d. A.) und der RKatholicismus 
(Ci. d. 9.) wenn nicht geopfert doch nachgefegt werden müffe, Und wenn auch 
nah dem hochherzigen Ausſpruche Benedicts XIV.: ut omnes catholici sint, non 
ut omnes latini fiant, est necessarium, der höhere Zweck der kirchlichen Gemein- 
Thaft die allgemeine Kirchenregierung hie und da zur Gewährung von Ausnahmen 
veranlaffen mag, fo darf dabei nicht überfehen werden, daß es fich bei derlei 
Eoneceffionen immer nur um die Belaffung nit um die Einführung der Landes- 


ſprache in die Kirche gehandelt Hat, Es fpricht aber namentlich für die Beibehal- 


tung der lateinifchen Sprache in der römifch-fatholifchen Kirche das Einheits- und 
Univerfalitätsprineip derfelben, weil die Einheit der Kirche die Einheit des Cultus, 
die Einheit des Eultus den Gebrauch Einer und zwar einer feſtſtehenden und ab- 
geihloffenen Sprache fordert, Dazu fommt noch, daß die facramentalen Beftand- 
theile des Eultus die nothwendige Beftimmtheit Einer Sprache erheifchen, daß der 


Cultus als folder ein objectiv-Firhliches Moment hat und ein Act der Kirche ift, 


weßhalb auch von dem Minifter die Intention gefordert wird das zu thun, was 
unfere Mutter die HI. Kirche thut. Es gilt alfo auch Hier der Sag: salus rei- 
publicae — die Einheit — suprema lex esto, in deffen Befolgung felbft die Mif- 


ſionäre upter völferfremden Zungen ſchon feit Jahrhunderten ihre heimathliche 


Liturgie mitbringen. Nicht minder ift e8 das eben aus der Einheit ſich entwicfelnde 
Univerfalitätsprineip der Kirche und das hiemit verfnüpfte katholiſche Bewußtſein 
des Einzelnen, ferner das an und für fih Erhebende und Ehrfurchterweckende, 
das ahnungsvolle Helldunfel einer fremden und gleichfam geheiligten Sprache für 


174 Kirhenfprade, 


das zur’ &Eoyıv Geheimnißvolle, was für die Beibehaltung der wegen ihrer 
Kürze und Harmonie felbft von Griechen (Plutarch. in vita Demosthen.) und von 
Luther (Werke X. Th. ©. 266 ff.) gepriefenen Tateinifchen als Cultfprache der 
Katholifen redet, Es iſt der innere und wefentliche Unterſchied zwifchen dem 
Mittelpunete des Fatholifchen und proteftantifchen Cultus, welcher auch in Teutfch- 
land eine VBergleihung beider und ihrer ſprachlichen Vehikel unzuläffig macht, 
Wo das didactifhe Moment über das farramentale herrfcht, wo der Prieſter in 
dem bloßen Wortsdiener untergegangen ift, da ift die lebende Volksſprache eben 
fo natürlich als nothwendig; nicht aber fo beim Gegentheile. Wer anders ein 
tieferes Verſtändniß der Kirchengefchichte, als der Gefchichte des chriftlichen Men- 
fhen, errungen hat, wem der diametrale Unterſchied zwifchen Eatholifcher und 
proteftantifher Dogmatik Elar geworden ift, wer die facramentale Stelfung der 
Kirche zu Chriftus und zu den einzelnen Gläubigen im Fatholifchen Sinne begreift, 
der fann ſich durch die ſcheinbaren Vortheile, welche die Landesfprache dem prote- 
ftantifchen Eultus bringt, nicht blenden Iaffen. Und am Ende verräth es nicht 
bloß den Mangel an tieferer Einficht in das Grundverhältnif einer einheitlichen 
und für fih abgefchloffenen Eultfprahe zu dem Wefen der Fathofifchen Kirche, 
fondern zugleich einen nicht geringen Mangel an Vertrauen auf die Bildungs- 
fähigkeit und Bildungswilligfeit des Fatholifchen Volkes, Gebt diefem nur erft 
wieder feine alte hriftliche Zucht und Sitte, feinen kindlichen Glauben, und die 
gewöhnlich nur dem halbgebilveten Bielwiffer fo anftößige Iateinifche Eultfprache 
wird, unter fletiger und gewiffenhafter Vermittlung nah der Anordnung der 
Trienterfynode, die wahre, hriftlihe Andacht und Erbauung jest und in Zufunft 
ebenfowenig verhindern als in der glaubensvollen Vergangenheit; die parallele 
Theilnahme der Gemeinde am HI, Dpfer im teutfchen, dabei aber acht Firchlichen 
Geſang-⸗ oder mittelft des Leitfadens eines zwerfmäßig eingerichteten Gebetbuches 
für den einzelnen Gläubigen erfegt hier alle Vortheile des Volksidioms im Culte, 
und genügt wenigflens jenem, der aus der Fatholifchen Dogmatik weiß, worin 
das Wefen des Fatholifhen Prieftertfumes befteht und welches die Natur und der 
Antheil des Mitopferns von Seite des Volkes bei der hl. Meffe ift und fein fan, 
Der Gottesdienft hat, wie Sailer (neue Beiträge zur Bildung der Geiftlichen, 
Münden 1810 11. 250 u. ff.) eben fo ſchön als richtig bemerkt, eine Grund- 
und Mutterfprache, die weder Yateinifch noch teutfch, weder hebräifeh noch grie- 
chiſch, kurz gar Feine Wortfprache, fondern der Totalausdruf der Neligion in 
dem Leben und in dem ganzen Aeußern des Menfchen, vornehmlich des Prieflers 
ift, und in fofern bleibt das übrigens zu häufig angewendete argumentum ad ho- 
minem in feiner Wahrheit, nämlich daß die Iateinifche Meffe des frommen Prie- 
fters mehr erbaue als die teutfche des auf feine Reformen erpichten Liturgifafters, 
Die Gründe, welche in den Borverhandlungen zu Trient rücfichtlich der durch- 
gängigen Beibehaltung der beftehenden Kirchenfprache im hl. Meßopfer für felbe 
geltend gemacht wurden, beftätigen unfere eben entwickelte Anficht. "Sie lauten: 
1) bei der großen Berfchiedenheit der Sprachen in.der Welt, und bei der beſtän— 
digen DVeränderlichfeit der Iebenden Sprachen würde nicht felten die Gleichheit — 
des Sinnes und fomit die Einheit der Kirche verlegt werden. 2) Die Mehrzahl 
der Priefter fönnte die Meffe nicht außer dem Geburtslande leſen, weil fie im 
jedem Lande in einer andern Sprache gelefen würde, 3) Die hl, Myfterien, 
wovon das hl. Meßopfer das erhabenfte ift, dürften dem Volkshaufen nicht im 
feiner Mutterfprache geboten werben, weil bei deffen Unfähigkeit, das Geheimniß- 
solle zu begreifen, den neuern Ketzern Gelegenheit gegeben würde, die heiligften 
Gegenftände in diefer Sprache zu profaniren (Göſchl, geſch. Darftell. d. Cone, 
9, Trient. Regensb. 1846 2te Abth. ©. 135). — Daf übrigens die Kirche weit 
entfernt fei, der Volksſprache alfen und jeden Antheil an dem Culte zu verwei- 
gern, brauchen wir bier nicht zu wiederholen, und wenn auch das Tridentinum 











Kirchenſtaat. 175 


- (Sess. VII. de Sacr. can. 13, Sess. XXI. cap. 4. 5. 8. canon. 6. 7. 9) die refor- 
matoriſche Willfür einzelner Bifhöfe und Priefter fern zu halten fuht, fo haben 
die ſchon früher und neuerlichft veranftalteten Ausgaben von Ritualien für meh— 
rere teutſche Didcefen wenigftens foviel gezeigt, daß ſich mit dem treuen Fefthalten 
an dem trefflichen römischen Ritual auch die nöthige Rückſicht auf die Volks ſprache 
verbinden laffe, — Zur Literatur gehört außer den Sammlungen der verfchie- 
denen morgen- und abendländifhenkiturgien (ſ. d. A.), außer Martene, Bona, 
Binterim und Lüft noch hieher: F. X. Schmid, Liturgif 1. Th. 3. Aufl, 
1843 ©. 319—330. Auch Hat Köffing die Eiferer für die Feier der Liturgie in 
der Bolfsiprahe als unbewußte und bewußte, und diefe wieder als verlarvte Kir— 
henfeinde oder als gutmüthige Neoterifer mit durchgreifender Schärfe gefenn- 
zeichnet und widerlegt Cliturg. Vorleſ. üb. d. Hl. Meſſe. 2. Aufl. 1850 S. 1—9). 
Bol. auch Mone, lateinische und griechifche Meffen aus dem zweiten bis ſechsten 
Jahrh. Frankfurt 1850, — Durch die uralte Einführung der Iateinifhen als 
Kirhenfprahe und aus den ebenfalls uralten oft zu wortgetreuen Ueberfegungen 
der Bibel in das Lateinifche, fowie aus der Iateinifchen Schriftfprahe der Väter 
und Lehrer der Kirche hat fich das fogenannte Kirchenlatein gebildet, das ſich 
zum claffifhen Latein ungefähr fo verhält, wie das Helleniftifhe und die Sprache 
der fpätern griechiſchen Kirchenfchriftfteller zur Sprache der griechiſchen Claſſiker. 
Die Einheit und Allgemeinheit der Iateinifchen Kirchenfprache hat es denn au 
mit fih gebracht, daß man bis in die neuefte Zeit die lateiniſche Sprache, etwa 
mit Ausnahme von Teutfchland, in allen Fatbolifchen Ländern als theologifch- 
wiffenfihaftliches Vehikel beibehalten Hat, und erft neuerlichft Haben die äftreicht- 
fhen Biſchöfe das Latein abermals als die ordentlihe Sprache der theologifchen 
Lehrvorträge erklärt, und in wie weit die Anwendung der Landesfprachen noth= 
wendig fei, um den Seelforger zu feinem heiligen Berufe zu befähigen, der Ver— 
einbarung zwifchen den Bifchöfen derfelben Kirchenprovinz überlaffen (Aetenftüde, 
die bifhöfliche Verfammlung in Wien betreffend. Wien 1850 ©. 16). Es laffen 
fih im Allgemeinen für die Beibehaltung der Iateinifchen Sprache in den theolo— 
giigen Schulen manche und triftige Gründe beibringen; für Teutfchland aber 
dürfte der wenigftens facultative Gebrauch der Landesſprache, der proteftan- 
tifchen Theologie, der immer neu fih geftaltenden PHilofophie, fowie der ge- 
ſammten Eigenthümlichkeit teutſcher Wiffenfchaft gegenüber, ernftlich zu bevor- 
worten fein, [Häusle.] 
 Kirchenitaat ift die Bezeichnung derjenigen Länder, welche der weltlichen 
Herrfhaft des Papftes untergeben find. Die Souverainität des Papftes über 
diefelben bat fich nicht plöglich und auf einmal, fondern ganz allmählig und durch 
das Zufammenmwirken von Umſtänden gebildet, welche fo völlig außerhalb aller 
menfhlichen Berechnung lagen, daß die Päpfte auch ohne ihr Zuthun zu diefer 
weltlihen Herrfchaft Hingeführt wurden, und nicht one den größten Nachtheil für 
Kirche und Religion fie von fich weifen fonnten. Nachdem fich feit Jahrhunderten 
Alles für diefe Spuverainität vorbereitet hatte, ſtand fie bereits feftgewurzelt in 
ihrem hiſtoriſchem Boden da, als einzelne Acte ihr ganz unzweifelhaftes Bor- 
Handenfein fund gaben. Hatte es der Papft mit allen Bifchöfen im römifhen 
Reiche gemein, daß ihm durch die Faiferliche Gefeggebung ein bedeutender Antheil 
an der bürgerlichen Verwaltung zum Wohle des Bolfes verliehen worden war, 
fo lag es in feiner Stellung, daß fein Einfluß in diefer Beziehung der größte 
werden mußte, Die wurde zugleich auch durch den Mäglihen Zuftand, in wel- 
chem fih das abendländifhe Kaifertfum befand, und insbefondere au dadurch 
fehr befördert, daß Eonftantin feine Reſidenz nach Byzanz verlegte und auch nad 
der Theodoſianiſchen Reichstheilung Rom nur noch auf einige Decennien der Auf- 
enthaltsort von Kaiſern war, Diefer Einfluß der Päpfte wurde ferner auch ganz 
vorzüglich durch den Reichthum der römischen Kirche vermehrt, deren Befigungen 





176 Kirchenſtaat. 3 


(Patrimonium S. Petri) durch ganz Stalien zerftrent Tagen, Dadurch wurbe ver 
Papft in ven Stand gefegt, den Nothleidenden überall zu Hilfe zu kommen, fo 
daß, wenn je, fo inbefondere zur Zeit Gregors des Großen der Sat wahr ge- 
worden ift, daß das Kirchenvermögen dag Patrimonium Pauperum fei (vgl. Tho- 
massin, Vet. et nov. disc. eccles. III. 3. 29). Bornehmlich bot aber das Kirchen- 
vermögen dem Papfte auch die Mittel zur Landesvertheidigung gegen den äußern 
Feind, gegen die feit dem Jahre 568 in Italien eingebrungenen Langobarden, 
Diefe waren bis zum Anfange des achten Jahrhunderts in der allmähligen Er- 
pberung der Halbinfel immer weiter porgefchritten und fehienen nunmehr die legte 
Hand an die Vollendung diefes Werfes Iegen zu wollen, Nur den Bemühungen 
der Päpſte allein, fei e8 durch Nüftungen zur Gegenwehr, fei e8 durch Vermitt— 
Yung des Friedens, verbanften e8 die griechifchen Kaiſer, daß ihnen ihre Befigungen 
in Italien noch erhalten blieben. Sp waren die Päpfte bereits feit geraumer 
Zeit die Beſchützer des mittleren Jtaliens gewefen, als Leo III., der Sfaurier, 
nicht rechtmäßiger als viele feiner Vorgänger, im 3. 717 den griechifchen Kaiſer— 
thron beſtieg. Mit ihm begann die Neihe der bilverflürmenden Kaiſer; die Ver— 
folgung, welche er über alle diejenigen, die der Lehre der Kirche gemäß den Bil- 
dern der Heiligen Verehrung erwiefen, verhing, traf auch ven Papft Gregor II. Und 
dennoch war Diefer e8, welcher den gegen alle feine Ermahnungen taub bleibenden 
Kaiſer lange vor dem gänzlichen Abfalle feiner Untertbanen in Pentapplis, Aemi— 
lien, indem Exarchate und in dem Ducatus Romanus bewahrte, Endlich aber brach 
und zwar gleichzeitig mit dem Eindringen ver Langobarden in dem Erarchat (ſ. d. A.) 
der Aufftand aus, Unter diefen Umftänden und aus der gänzlichen Ohnmacht des 
Kaifers, das Land gegen die Langobarben zu behaupten, erflärt e8 fih, wie die 
Bewohner jener Gegenden fih nach und nach immer mehr an den Papft, als 
ihren natürlichen Schutzherrn, anfchloffen. Auf diefem Wege bildete ſich zuerft 
eine Dberhoheit über die Stadt Nom und deren Umgebung , dann auch über jene 
entfernteren Landftriche. Zugleich aber mußte e8 dem Papfte Flar werben, daß 
auch feine Macht für die Dauer nicht allein gegen den Andrang der Langobarden 
ausreichen würde; es lag daher nahe genug, daß er ſich, auch im Intereſſe der 
Kirche, nach einem zur Hilfeleiftung fähigen Schugherrn umfah, Papft Gregor I. 
wendete fich daher an Carl Martell (ſ. d. A.), der den Schu zwar zufagte, ſich aber 
Doch nicht in der Lage befand, ihn wirklich gewähren zu können. — So flanden die 
Dinge, ald Zacharias im J. 741 den päpftlichen Thron beſtieg. Schon waren 
die Langobarden bis in die Nähe von Nom vorgedrungen, ald e8 dem Papfte 
gelang, ihren König Liutprand zunächft für den Ducatus Romanus zu einem zwan= 
zigjährigen Waffenftillfiande und zur Herausgabe der Städte Orta, Bomarzp, 
Dlera und Amelia zu bewegen. Als der Iangobarbifhe König im folgenden Jahre 
in den Erarchat einftel, vermittelte der Papſt auch bier den Waffenftillftand und 
die Herausgabe von Städten, nämlich von Navenna und Cefena, Nur die drin— 
gendſte Nothwendigfeit , nicht etwa die Herrfchfucht der Päpfte hat diefe Verhält- 
niffe, die fih nunmehr unter Liutprands Nachfolger, Rachis, in gleicher Weife 
fortentwidfelten,, herbeigeführt, und die Päpfte dadurch zur Ausübung einer wah—⸗ 
ren Souverainität gendthigt. Als endlich aber die völlige Unterwerfung aller 
jener Gegenden unter die langobardiſche Herrfchaft durch König Aiftulf in nächfte 
Ausficht geftellt war, die griechifchen Raifer aber nach wie vor viel zu ohnmächtig 
waren, um Hilfe bringen zu können, da rief Papft Stephan IL, der ſich feldft 
nach Franfreich begab, in feiner und der ihm untergebenen Völker höchſten Be- 
drängniß den König Pipin herbei, Diefer überwältigte die Langobarden in zwei 
Feldzügen (754, 755) und ftellte jene berühmte Urkunde aus, in welcher er 
Navenna mit dem Exarchate und die übrigen Städte, welche die Langobarden 
feit Lintprand erobert hatten, dem Papfte übergab, Wurde diefer Act als eine 
Schenkung bezeichnet, fo ift Dabei doch zu bemerfen, daß darunter nach allen gleich“ 





Anz 


* Kirchenſtaat. 177 


- zeitigen Schriftftellern eigentlich eine Reſtitution verſtanden wurde, — Zu biefen 
Befigungen find im Laufe der Zeit noch mehrere andere hinzugekommen, insbe— 
ſondere Benevent, welches, ſchon feit Pipin von dem langobardiſchen Reihe unab- 
hängig, eine Zeit lang von erblihen Fürften regiert wurde, die zu den Papſten 
in Lehnsabhängigfeit ſtanden, dann aber nach deren Ausſterben (1077) von päpſt- 
lichen Rectoren. Eine bedeutende Arquifition ging für den paͤpſtlichen Stuhl aus 
dem Vermächtniß der Markgräfin Mathilde von Tufeien (+ 1115) hervor; es 
erforberte indeffen einen langen bis in die Zeiten Friedrichs II. dauernden Streit 
mit den Kaiſern, um nur einige Beftandtheile der unterdeffen zerfplitterten Marf- 
grafjhaft mit dem Kirchenſtaate zu vereinigen. Öregor X. erwarb fodann von 
König Philipp IN. von Frankreich die Grafſchaft Venaiffin, und fein Nachfolger 
Nicolaus I. ſchloß mit König Rudolph im J. 1278 den befannten Vertrag, in 
welhem die Romagna, der Erarıhat, die mathildinifchen Güter, die Marf An- 
cona, Spoleto und Eomacchio als die den Kirchenſtaat bildenden Beftandtheile 
anerfannt wurden. Zu Benaiffin Fam im 14ten Jahrh. noch eine andere fran- 
zöfifche Befigung, nämlih Avignon (ſ. d. A.) Hinzu. Philipp IV. hatte diefe Stadt 
im 3. 1290 dem Könige Earl I. von Neapel überlafjen; hier ſchlug Clemens V. 
im J. 1308 oder 1309 feinen Sis auf, Clemens VI. aber erwarb im J. 1348 
die Stadt durch Kauf von der Königin Johanna I. von Neapel. Es hatte den 
Päpften im Laufe der Jahrhunderte oft große Mühe gefoftet, fih im Befige ihrer 
Staaten zu erhalten oder die in den Kriegsflürmen verloren gegangenen wieder 
zu erlangen. Nach und nach wurde es ihnen aber doch möglich, fo manche der 
ihnen zuſtehenden Anſprüche durchzuführen und einzelne erledigte Lehen wiederum 
einzuziehen. Sp unterwarf fih Julius U. im 3. 1512 Bologna, Clemens VII 
Ancona (1532), Paul II. Camarino (1545), Clemens VIII. Ferrara (1598), 


Urban VII Urbins (1636), Innocenz X. Caftro und Ronciglione (1649). Un— 





glücklicher geftalteten fih die Berbältniffe im 18ten Jahrh.; es wurden wiederum 
mehrere Städte abgeriffen, namentlih Benevent im 3. 1768 durch Neapel, wel- 
ches zwanzig Jahre darauf den feit Papſt Leo IX. beftehenden Lehensverband zum 
HI. Stuhle auflöste, Napoleon aber vollendete das Werf der Zerftüdelung, in- 
dem er, der den Papft in die Gefangenfchaft fortführen Tief, durch ein Decret 
vom. 5. 1809 die völlige Auflöfung des Kirchenftaates ausſprach. Indeſſen we— 
nige Jahre darauf erfolgte durch die Wiener Schlußacte (9. Zuni 1815) die 
Reftitution deffelben, und zwar wurden dem Papfte zurücdgegeben: die Marken 
von Ancona und Camarino, das Herzogtfum Benevent und Pontecorvo, und die 
Legationen mit Ausfhluß eines Stüdes des Ferrarefifhen Gebietes auf dem 
linken Po-Ufer. Diefes blieb Deftreich, welches auch das Beſatzungsrecht in Fer- 
rara und Comacchio erhielt; hiergegen, fowie gegen den Vorenthalt jenes Ferrare= 
ſiſchen Gebietstheiles, Venaiſſins und Avignons erhob unmittelbar darauf der 
Papft Protefl. — Ueber die gegenwärtigen Berbältniffe des Rirchenftaates f. d. A. 
Italien, über deſſen allmählige Entftefung: Orsi, della origine del dominio e 
della soyranitä de’ Romani Pontefici sopra gli stati loro temporalmente soggetti. — 
Cenni, Monumenta Dominationis Pontificiae sive Codex Carolinus. Rom. 1760 
2 Vol. 4 — (Gosselin), Pouvoir du Pape ou moyen age. (Paris 1845) p. 193 
et suiv. — Des Unterzeichneten teutfche Gefhichte Bd. 2 S. 215 u. ff. und Kirchen⸗ 
recht Bd. 3 ©, 37, — Die Frage über die große Wichtigkeit des Kirchenſtaates für 
die ganze Kirche behandelt: Alf. Muzzarelli, Dominio temporale del Papa, Rom. 
1789. — Sp richtig es ift, daß der Kirchenſtaat für die Kirche nicht abfolut noth= 
wendig ift, indem diefe auch von den Päpften von den Katafomben (ſ. d. A.) aus 
regiert worden iſt, fo hat dennoch derfelbe gerade für das Geſammtwohl der 
Kirche eine fehr hohe Bedeutung. Es fpricht fih dieß vorzüglich in der freien 
Stellung aus, welche der Kirchenftaat dem Papſte gewährt, wodurch der firchliche 
Verkehr allein gefichert erſcheint. Bietet der Aufenthalt der Päpſte in Avignon, 
Kirchenlexikon. 6. Bd. 12 





4178 Kirchenſtaatsrecht — Kirhenftatuten. 


welche Stabt ihnen gehörte, ſchon eine fo Tehrreiche Erfahrung in Betreff ver Ge— 
fahr, welche der Freiheit der Kirche durch die Nachbarfchaft der Könige Franf- 
reichs drohte, um wie viel mehr müßte diefe in Frage geftellt fein, wenn ber 
Papft innerhalb des Territoriums eines weltlichen Fürften in der Weife wohn 

daß er biefem unterthan wäre, Außerdem gewährt der Kirchenftant die Mittel 
zur Beflreitung einer Menge von Ausgaben für kirchliche Bedürfniſſe, welche 
der gefammten Kirche zu Gute fommen und außerdem von den Fatholifchen Fürften 
und Völfern getragen werden müßten, [Phillips.] 

Kirchenſtaatsrecht, ſ. Jura circa sacra. 

Kirchenftatuten find gewiffe, auf das canonifhe Recht fih gründende, von 
den Mitgliedern einer Tirchlichen Corporation (ſ. den Art, Corporation) feft- 
geſetzte Sabungen, nach welchen die geiftlichen und weltlichen Gefchäfte und An- 
gelegenheiten der Corporation geleitet und verhandelt werden, Sie haben den 
Charakter von Verträgen, weil fie auf der freien Einwilligung der Intereffenten 
beruhen, obgleich fie Feine eigentlichen Verträge zu nennen find, indem zu dieſen 
Einftimmigfeit erforderlich iſt; und unterfcheiden fich vor den Gewohnheitsrechten 
dadurch, daß dieſe nicht durch freie Befchlußfaffung, fondern durch ſtillſchweigende 
Annahme eingeführt find, Jede approbirte Corporation hat vermöge ihrer Auto- 
nomie das Net, folde Statuten innerhalb der ihr zuftändigen Nechtsfphäre zu 
errichten, In den neueften yäpftlichen Umfchreibungsbullen ift des Nechts für die 
Capitel, Statuten zu verfaffen, fie zu erflären, auszulegen und zu verbeffern, 
ausdrüdffih Erwähnung gethan. Zur Errichtung gültiger Statuten müffen alle 
in loco feienden fig- und flimmfähigen Mitglieder der Corporation geladen fein. 
Iſt Einer, welcher hätte berufen werben Fünnen, nicht geladen, fo Fann er 
die in feiner Abwefenheit gefaßten Entfchlüffe beftreiten, o. 18. 36. X. 1. 6. Aus- 
gefchloffen waren bei den ſog. nichtgefchloffenen Capiteln jene, welche, obwohl 
dem Capitel einverleibt, dennoch theils wegen nicht vollendeter Studienzeit, theils 
wegen Mangels an gefeglihem Alter noch Fein Stimmrecht Hatten. Nach Trid. 
Sess. 22. c. 4. de ref. ift die Erlangung der höhern Weihen nothwendig. Den 
neuern Circumferiptionsbulfen zufolge fommt die Befugniß, Statuten zu errichten, 
den Capiteln als Gefammtheit zu, weßhalb der Eintritt fhon Sig und Stimme 
ertheilt und fonach alle präbendirten Canoniker Sig und Stimme haben, Sn be- 
flimmten Fällen find auch die Abwefenden einzuberufen, z.B, bei Aufnahme neuer 
Mitglieder, Pfründverleifungen, oder wenn Gegenftände zur Verhandlung fom- 
men, welche die Rechte Einzelner betreffen, c. 33. in VI. 3. 4; c. 36. X. 1. 6. 
Zur gültigen Beſchlußfaſſung müffen zwei Drittheile ver Mitglieder anmwefend fein, 
Stimmenmehrheit ift indeffen gewöhnlich hinreichend, c. 1. X. 3. 11. „nisi a pau- 
cioribus et inferioribus aliquid rationabiliter objectum fuerit et. ostensum* cf. 0. 4. 
lc. Somit fommt ein Statut gültig zu Stande, wenn die Mehrzahl der gegen- 
wärtigen Mitglieder (pars sanior c. 1. X. 3. 11.) dafür geftimmt Hatte und die 
Minprität nichts Gegründetes dagegen einzuwenden weiß. In letzterem Falle 
wäre die Entfoheidung dem Kirchenpbern vorzulegen; nur wenn ein bie wohl- 
erworbenen und ausgeübten Rechte Einzelner benachtheiligender Beſchluß gefaßt 
werben wollte, wäre Stimmeneinhelfigfeit notfwendig, c. 29. de Reg. Jur. in VI. 
„quod omnes tangit, debet ab omnibus approbari.* Die verfaßten Statuten 
unterliegen nach dem gemeinen Rechte fofort der höhern Genehmigung, obwohl 
dieſe in der Folgezeit vielfach umgangen wurde, An und für fich zwar fließt aus 
dem Begriff der Corporation das antonnmifche und damit auch das flatutarifche 
Recht, weßhalb die Approbation folcher Statuten ſchon mit der Verficherung des 
Autonomierechtes gegeben ſcheint; alfein aus der potestas jurisdictionis ergibt ſich 
für den Kirchenobern das Necht und die Pflicht, von der innern Einrichtung Fird- 
licher Corporationen ftets Kenntniß zu erhalten und fi) von der rechtmäßigen und 
canoniſchen Einführung ſowohl als auch von der Zwerfmäßigfeit ihrer Statuten 








Kirchenſtrafen. 179 


zu überzeugen. Es muß ihnen daher rechtlich die Prüfung der Statuten zuſtehen. 
Die neuern päpſtlichen Bullen Haben dieß als ein weſentliches Erforderniß be— 
zeichnet. — Gegenſtand der Statuten kann Alles fein, was den Zweck der Cor- 
rn die Leitung und Anordnung der Gefhäfte, die Handlungsweife und 
liegenpeiten der Mitglieder als folder betrifft; ihr Inhalt kann geiftlicher, 
weltliher und gemifchter Natur fein. In Betreff des Umfanges können nad ca— 
noniſchem Rechte Statuten errichtet werben, entweder mit dem Inhalte des ge— 
meinen Rechtes übereinflimmend, wodurd diefer oder jener Artikel diefes Rechtes 
als für die Corporation zur fihern Erreihung ihres Zweckes befonders wichtig 
und förderlich erklärt wird; oder fog. Statuten praeter jus fein, d. h. fih mit 
Gegenftänden befaffen, welche im gemeinen Rechte nicht erledigt, aber doch von 
folder Befchaffenheit find, daß ein dießfallfiges Statut für die Corporation nüß- 
ih oder gar nothwendig fein kann; endlich können fie gegen die Beflimmungen 
des gemeinen Rechtes ſtreiten. In legterem Falle find fie feine eigentlihe Sta- 
tuten mehr, fondern tragen den Charakter von Privilegien oder Difpenfationen, 
und erhalten ihre verbindende Kraft nur durch die Genehmigung des Inhabers 
der gejeßgebenden Gewalt, In den Bullen „de salute animarum“ und „provida 
solersque* ift ausdrücflich beigefügt, daß die zu errichtenden Statuten den HI. 
Canonen, den apoftolifchen Conftitutionen und Decreten des Triventinums nicht 
‚widerfireiten dürfen. Auch dürfen nicht Statuten gegen die Rechte Fremder er- 
richtet werden, was der Fall gewefen fein dürfte in jenen Statuten, wornach 
abelige Geburt ein Haupterfordernig zur Aufnahme in ein Domftift war, und 
fomit Nichtadelige von felbft von folhen Präbenden ausgefchloffen waren. — Ber- 
bindlihe Kraft hat das Statut nicht nur für die Statuenten, fondern au für alfe 
Neueingetretenen, c. 1. 4. X. 3. 11. Gewöhnlich mußten diefe die Beobachtung 
der Eorpprationsftatuten eidlich geloben, Für Uebertretungsfälle ſteht der Eor- 
poration eine Strafgewalt zu („de salute animarum“); diefe Strafe kann indeſſen 
nur in folhem beftehen, worüber die Corporation disponiren darf, wie Entziehung 
eines Theils der Einfünfte ꝛc. In Betreff der Dispenfation von flatutarifchen 
Beftimmungen gelten die allgemeinen Regeln von Ertheilung der Dispenfation. 
Die Statuten find strietae interpretationis. Bei obwaltendem Zweifel ift auf den 
von den Berfaffern beabfichtigten Zwer, auf den Wortlaut, den Sprachgebrauch 
zur Zeit der Abfafjung derfelben, und auf die in diefer Beziehung geltend ge— 
worbene Gewohnheit zu fehen, consuetudo est optima legum interpres. — Aus 
dem Rechte, Statuten zu verfaffen, folgt für die Corporation auch das Recht, 
die frühern Statuten durch andere auf ordentlihem Wege ganz oder theilmweife zu 
verändern, fobald fie Hinlängliche Gründe der Zwerfmäßigfeit vorfindet, c. 8. 12. 
X. 1.2. Solde erneuerte oder abgeänderte Statuten unterliegen gleicherweife 
der höhern Genehmigung. Spätere Gefege heben an und für fih das Statut 
nicht auf, c. 1. in VI®. 1.2., es fei denn, daß diefes ausdrücklich für derogirt 
erflärt, oder der Corporation die Beobachtung des erlaffenen Geſetzes aufgelegt 
wird „non obstantibus statutis et consuetudinibus.* Vgl. Gregel, de re statu- 
taria capitulorum Germaniae, Herbip. 1796; Würdtwein, nova subsidia dipl. 
Ueber Didcefanftatuten f. den Art, Didrefanftatuten und Phillips, Didcefan- 
fynode Cap. 6. [Kreuger.] 
Sirchenftrafen. Die Kirche übt die ihr von Chriſto verliehene Strafgewalt 
in doppelter Abſicht; einerfeits, indem fie überhaupt da, wo fie zurechtweifend 
und flrafend einzufhreiten gezwungen ift, zunächft die Befferung des Sünders be— 
zweckt; andererſeits, indem fie zugleich als die Rächerin des verletzten Rechtes 
dem Frevler gebührend vergilt. Hierauf gründet fich der Unterfhied zwifchen den 
Zudt- und Befferungsmitteln (poenae medicinales) und den eigentlichen Strafen 
(poenae vindicativae); obſchon bei legteren der wenigft mittelbare Zweck der Kirche 
ebenſowohl die Befferung des Straffälligen ift, als die ER Falle hart⸗ 
2* 





480 Kirchenſtrafen. 


näckiger Renitenz den Charakter der Strafe annehmen, 1) Ueber die vorzugs- 
weife fo genannten und theils gegen Geiftliche und Laien, theils ausſchließlich 
gegen Erftere anwendbaren Zuchtmittel f. den Art. Cenfuren, kirchliche, 
Bd. H. ©, 426 f., und die einzelnen Gattungen derfelben unter ven Art, Bann, 
Snterdiet und Sufpenfion. 2) Theils in Verbindung mit dem Fleinen Banne, 
theils als Bedingungen der Wiederaufnahme gänzlich Ausgefchloffener, theils un- 
abhängig vom Banne waren in den früheren Jahrhunderten der Kirche die öffent- 
lichen Büßungen in Uebung (ſ. Bufgrade, Bd. IL. ©, 229 f.). Allmählig 
aber verloren fie fich als felbfiftändige Sühn- und Befferungsmittel, und wurben 
theilweife nur gegen große Verbrecher, die der Ercommunication verfallen waren, 
als Uebergangsftufen zur Wiederaufnahme in die Gemeinfchaft angewendet, Aber 
auch in diefer Eigenfchaft fommen fie nicht Teicht mehr vor, da das Tridentinum 
deren Öffentliche Verhängung der Diseretion der Biſchöfe anheimſtellt. 3) Auch 
die eigentlichen Strafen (poenae im engeren Sinne) waren, wie die Cenfuren, 
nach dem älteren Rechte theils allgemeine für Geiftlihe und Laien beftimmte, 
theils folhe, welche ihrer Natur nach nur Geiftliche treffen Fonnten, a) Al 
Strafen ſowohl für Laien als für Elerifer fommen ſchon feit dem fechsten Zahr- 
Hunderte, befonders aber im fpäteren Mittelalter, wo ſich die Strafeompetenz 
der-Rirche fo fehr erweiterte, daß die meiften Vergehen und Verbrechen vor ihren 
Nichterfiugl gezogen werden fonnten, Ausweifungen aus Pfarrbezirfen, Did- 
eefen ze. (Conc. Aurel. IV. a. 541. c. 29; c. 9. Dist. LXXXI; c. 9. c. II. qu. IV.), 
Einfperrung auf beflimmte und unbeflimmte Zeit Co. 15. $ 1. X. De haeret, 
V.7; 0.27. $1. X. De verb. sign. V. 40), u. a, zunächft bürgerliche Strafmittel 
vor. Ebenfo war es ſchon frühzeitig geftattet, für folde, deren Alter, Leibeg- 
befchaffenheit und Gefundheit zur Uebernahme der eigentlichen Büßungen zu ſchwach 
war, auch verhältnigmäßige Geldbußen zu frommen Zwecken zu verhängen (f. 
Geldfirafen, Bd. IV. ©, 375). Diefe Strafmittel find jedoch Heutzutage, 
wenigftens in ihrer Anwendung auf Laien, nicht mehr in Uebung. Dagegen ift 
eine eigenthümliche, auch noch gegenwärtig unter gewiffen Einfchränfungen zu 
Recht beftehende Kirchenftrafe Die Entziehung des hriftlichen Begräbniffes, über 
deren geſchichtliche Entwicklung und jegige Praris der letzte Abfag des Art, Be- 
gräbniß (Bd. J. ©.737.) nachzulefen iſt. b) Unter den Strafen gegen Diseiplinar- 
vergehen (ſ. d. A.) der Geiftlichen insbefondere, deren Beahndung wie ehemals, fo 
auch noch jetzt ausschließlich den Firchlichen Oberen zufteht, heben die Canones 
außer den dem Ermeffen der Bifchöfe überhaupt anheimgegebenen poenis arbitrariüis 
namentlich hervor: Gefängnißftrafen in den Hiefür eigens beftimmten Did- 
‚eefan-Strafhäufern (ſ. d. AU, Eorrertionsanftalten, Bd. I. ©, 894 f,;5 
Decanica, Bd. II. ©, 56 f.; Gefängnißftrafen, Bd, IV. ©, 348 f.); Kör- 
perftrafen, befonders gegen jüngere noch unter der Schulzucht ftehende Cleriker, 
-pder auch für eigentliche Verbrecher mit Abfegung, Creommunication u, a, Stra— 
fen als Schärfung der leßteren verbunden (ſ. Züchtigung, körperliche); Ver— 
fesung, infofern fie nicht bIoß aus adminiftrativen Rückſichten oder auf Bitten 
des Betheiligten felbft Ctranslatio), fondern gegen deffen Willen als Strafe ver- 
‘fügt wird (ſ. Translocatio); zeitliche Enthebung eines bereits angeftellten Geift- 
lichen von feiner Pfründe (ſ. Privation), oder Tebenslängliche Amtsentfegung 
wegen ſchwerer Verbrechen (ſ. Depofition, Bd. II. ©. 106 f.); Entziehung 
fogar der geiftlichen Standesrechte durch die nur im älteren Nechte übliche Zurück— 
verfegung des Clerikers in den Laienfland (ſ. Communio laica, Bd. II. ©, 
718 f.) oder durch die auch im neueren Decretalenrechte beibehaltene Ausſtoßung 
aus dem Clericalftande (f. Degradation, Bd, II. ©. 77 f.)5 endlich die meift 
in Verbindung mit der Amtsentfegung oder Degradation als Straffcehärfung oder 
zur Förderung des Bußeifers verfügte, jetzt aber nicht mehr practifche Detrusio 
in monasterium (ſ. Kloſterverweiſung) | [Yermaneber,] 


te a 








J 





Kirhenftühle — Kirdentrauer, 181 


+ Kirchenftühle. Man verfteht darunter jene Sigbänfe in den Kirchen, die 
zugleih Betſchemeln mit Lehnen find. Sie find in Teutfchland (es wird auch 
in andern Ländern in der Negel nicht anders fein) in allen Gotteshäuſern üblich, 
und häufig fo zahlreich angebraht, daß nur in der Mitte des Schiffes ein freier 
Gang übrig bleibt, auf dem man einerfeits zu den Thüren und andererfeits zum 
Presbyterium fommen kann. Im Presbyterium felbft. follen nur Stühle für 
den Clerus und die Sänger ſich befinden (Chorftüßle, ſ. d, A.), jedoch bat fi 
auf dem Lande auch Hier das Volk häufige Stühle zu verfchaffen gewußt. Wo 
Emporkirchen find, find auch diefe gewöhnlich mit Stühlen befegt. Wo die Kir— 
chenſtühle zwei durch den freien Gang in der Mitte getrennte Reihen im Schiffe 
bilden, und Ordnung herrſcht, nimmt das männliche Gefchlecht in der rechten 
und das weibliche in der Iinfen Reihe Pas: leider ift diefe Ordnung faft nur 
mehr in Dorf- und Marktkirchen zu fehen. Vorzugsweiſe und regelmäßig nehmen 
die Verehelichten und Betagten in den Stühlen Play, während die Kinder im 
oder zumächft dem Presbyterium ftehen, und die erwachfene Jugend in der Nähe 
der Stühle dem Gottesdienſte beimohnt. Als Betftühle dienen die Kirchenftühle 
zum Knieen, was jedem Chriften im Gottesdienft ald Regel ziemt, als Sitzbänke 
gewähren fie dem Alter und der Ermattung jene Ruhe, die fie notbwendig haben, 
um einem längern Oottesdienfte aufmerffam beiwohnen zu können. — Die Natur 
der Sache bringt es mit fih, daß man auch ſchon in den älteften Zeiten Sige 
und Stühle hatte, Es genüge folgende Stelle, die um der fymbolifchen Auf- 
faffung willen, die fie diefer Sache gibt, um fo wichtiger ifl. „Cum ecclesiam 
Dei convocas“, redet der Berfaffer der apoftolifchen Conftitutionen den Bifchof an 
dl. 2. e. 57.) „tanquam magnae navis gubernator, jube cum omni prudentia con- 
gregari, praecipiens diaconis, veluti nautis, ut loca fratribus tanquam navigantibus 
valde accurate et honeste disponant. Ac primum quidem sit aedes oblonga orien- 
tem versus navi similis. Sit solium episcopi in medio positum, et ex utroque ejus 
latere sedeant presbyteri, et astent diaconi succineti, et expediti sine multa veste; 
sunt enim illi similes nautis, hi illis, qui per foros navis cursitant. Adolescentes 
quidem seorsum sedeant, si locus sit; sin autem non sit, stent. Aetate vero pro- 
vecti ordine sedeant; pueros autem stantes patres et matres eorum suscipianf, 
Rursus adolescentulae seorsum, si fuerit locus; si vero non fuerit, post mulieres 
locentur. Nuptae jam et matresfamilias item seorsum. Virgines autem et viduae 
et anus primae omnium stent aut sedeant“. Bgl. Cyriffus von Jerufalem (pro- 
eatech.), Gregor von Nazianz (carm. 9). Hie und da waren fogar die einzelnen 
Stände dur hölzerne Wände von einander gefihieden, z. B. die Männer von 
den Frauen (Chrysostom. hom. 73 al. 74 in Matth.), die Jungfrauen von den Ge— 
ſchwächten (Ambros. 1. de lapsu virg. consecr. c. 6). Ueber das Faldiftorium und 
die Sie der Geiftlichen fiehe den Artifel Faldiftorium. [är. & Schmid]: 

Kirchentrauer. Wenn ein Mächtiger der Erde in frevfem Uebermuthe die 
bifhöflihe Kirche ſchwer verlegte, oder den Bifchof oder das Capitel injurirte, 
und jede Genugthuung hartnäckig verweigerte, fo wurde von letzterem bisweilen 
die Einftellung des öffentlichen Gpttesdienftes verfügt, um den Widerfpänftigen 
durch die ihm zugefehrte Mißſtimmung des Volkes zur Ausfühnung zu bewegen 
Ch. Cessatio a divinis). Diefe Waffe durfte jedoh nur aus fehr wichtigen 
Gründen uud nach vorgängiger Anfündigung und fruchtlofem Verfuche der Sühne 
gebraucht werden, und beide Theile mußten fih in Monatfrift vom Tage des 
eingeſtellten Gottesdienftes an perfönlich oder dur fpeciell Bevollmächtigte vor 
dem päpftlichen Stuhle fiftiren und deffen Entfheidung entgegennehmen (Sext. 
— €©.2.8. De off. ord. 1.16). So fehr diefes Zuchtmittel an dag Interdiet erinnert 
99), fo wurde daffelbe doch nicht unter dem Gefihtspuncte einer Cenfur 
aufgefaßt, fondern war im Grunde nur der fchärffte Ausdrud der Entrüftung und 
des Schmerzes über die erlittene Gewaltthat. An deſſen Stelle ift in neuerer Zeit 


182 Kirchenvater. 


die mildere Form der einfachen Kirchentrauer getreten, wenn nämlich zum 
öffentlichen Ausdruck tiefſter Betrübniß wegen Vergewaltigung der Kirche oder 
des Bifchofes zwar nicht der gewöhnliche Gottesdienft unterbrochen wird, aber 
das Glockengeläute und die feierliche Kirchenmuſik ganz oder zum Theil verftummt, 
und das Innere der Kirche durch Entfleidung ihres Schmurfes die Spuren der 
Trauer zur Schau trägt. Das jüngfte Beifpiel der Art gab das Metropplitan- 
eapitel Onefen-Pofen, nachdem der dortige Erzbifchof Martin son Dunin (f. 
d. 4. Bd. IM. ©, 334 ff.) auf Befehl der preußifchen Staatsregierung nach der 
Feſtung Colberg abgeführt worden war, [Permaneder,] 
Kirchenvater. Das Verhältniß des Vaters zu feinen Kindern hat man 
mit Recht als ein paffendes Bild mehrerer Verhältniffe in der Kirche betrachtet, 
und im Firhlichen Sprachgebrauch ift eine ſolche bilvliche Bezeichnung des Na- 
mens „Vater“ fehr gewöhnlich, Schon feit den älteften Zeiten werden namentlich 
die Priefter und noch mehr die Bifchöfe fehr oft Väter der andern Gläubigen 
genannt, weil fie die Leiter und Erzieher in der Kirche und die Spender der 
firchlichen Güter und Gnaden find, wie der wirkliche Vater das Haupt und der 
Erzieher und Erhalter der Familie; und nach derfelben Anfchauungsweife Heißt 
der Papſt vorzugsweife der allgemeine Vater aller Gläubigen, Der Name 
„Rirchenvater” insbefondere ift aber durch den Firchlichen Sprachgebraud dahin 
beſchränkt, daß nur folde Männer damit bezeichnet werden, welche in der hrift- 
lichen Wiffenfchaft Väter der andern geworben find, Kirchenvater fann darum 
einer fein, der nicht Biſchof oder Priefter ift, und umgefehrt heißen manche aus- 
gezeichnete Bifchöfe nicht Rirchenväter, weil fie fih nicht als Schriftfteller aus- 
gezeichnet haben, Die Kirchenväter gehören alfo zu den Kirhenfchriftftellern 
(seriptores ecclesiastici), und man nennt fo diejenigen Kirchenfchriftfteller der 
ältern Zeit, welche von der Kirche wegen ihrer Verdienfte um die Firchliche Wiffen- 
fchaft, verbunden mit Heiligkeit des Wandels, als Zeugen und Vertreter der kirch— 
lichen Lehre anerfannt werden. Zerlegt man biefe Definition in ihre Theile, fo 
ergeben fich folgende nothwendige Eigenfchaften eines Kirchenvaters: Erftens Ver- 
dienfte um die Firchliche Wiffenfchaft. Dadurch werden aus der Zahl der Kirchen 
väter ausgefihloffen: a) die nichtehriftlichen, häretiſchen und heterodoxen Kirchen- 
ſchriftſteller, und b) diejenigen chriſtlichen Schriftftelfer, welche fich nicht um die 
firhliche, fondern nur um die profane Wiffenfchaft verdient gemacht haben, Es 
wird aber nicht gefordert, daß die Verbienfte eines Kirchenvaters um die hrift- 
liche Wiffenfchaft gerade ſubjectiv fehr ausgezeichnete feien und namentlich bei 
den älteften Kirchenvätern erfeht die hohe Wichtigkeit, welche ihre Schriften eben 
um ihres Alterthums willen haben, den Umfang und die wiffenfchaftlihe Bedeut- 
famfeit derfelben. Man drückt fich darum nicht genau aus, wenn man von einent 
Kirchenvater „vorzügliche Gelehrfamfeit” fordert, Es handelt ſich hier weniger 
darum, daß der Kirchenvater perfünlich fehr gelehrt war, als darum, daß feine 
Schriften für die hriftliche Lehre und die chriſtliche Wiffenfchaft von Bedeutung 
find, Sp werben gewiß mit Necht Clemens von Rom, Ignatius von Antiochien 
und Polycarp, obgleich fie nicht große Gelehrte waren und ihre Schriften von 
geringem Umfang find, zu den Kirchenvätern gezählt, weil ihre Schriften ihres 
Alterthums wegen für die firchliche Wiffenfchaft wichtiger find, als manche um— 
fangreichere und gelehrtere Werfe fpäterer Kirchenfhriftftelfer. Einzelne Abwei- 
ungen von der Kirchenlehre, welche nicht gegen erflärte Dogmen verfisßen und 
meift auch nicht apodictifch vorgetragen find, ſchließen ebenfowenig Kirchenfchrift- 
fteffer, die ſonſt orthodox und ausgezeichnet find und die übrigen Nequifite haben, 
Hon der Neihe der Kirchenväter aus; fo heißen Kirchenväter: Irenäus trog feiner 
chiliaſtiſchen Meinungen, Gregor von Nyffa troß feiner vrigeniftifchen Anklänge 
und andere, (Cf. M. Canus loci theol. 7, 3. coneil. 2: Nempe aliud fuit errare in 
rebus obscuris et quae non erant eo tempore explicitae ao definitae, aliud in aper- 


a ·⸗⸗v⸗⸗ 








Kirhenvater, 183 


tis et quae func etiam in ecclesia firmissime eredebantur. Nlut aut Cypriano auf 
Ambrosio aut Augustino aceidit: hoc Origeni, Eusebio ac Ruffino. Cyprianus item, 
Ambrosius, Hieronymus in nullo a S. Romanae eccelesiae consortio deviarunt nes 
ab ejus fideli praedicatione sejuncti sunt, sed communionis ipsius semper fuere 
participes.). — Mit diefem Requifit hängt das zweite zufammen, die Approbation 
der Kirche: ald Vater der Kirche, oder näher der kirchlichen Wiffenfchaft kann nur 
der gelten, der von der Kirche felbft, fei es ftillfehweigend durch den allgemeinen 
Ufus, fei e8 durch eine ausdrüdliche Erklärung, als ein Vertreter und Förderer 
ihrer Lehre anerfannt iſt. Eine ausdrüdliche derartige Approbation haben wir 
3 D. in der Erflärung eines römifchen Concils unter Gelafius J. (in Oratians 
Deeret c.3.D. 15.), in der die „opuscula ss. patrum® aufgezähtt werden, „quae 
in ecclesia calholica recipiuntur; namentlih werden erwähnt die opuscula des 
Eyprian, Athanafins, Gregor von Nazianz, Bafılius, Johannes (Ehryfoftomus), 
Theophil von Alerandrien, Eyrill von Alerandrien, Hilarius, Ambrofius, Augu- 
ſtinus, Hieronymus, Profper, Leo I., item opuscula atque tractatus omnium patrum 
orthodoxorum, qui in nullo a s. Romanae ecclesiae consortio deviaverunt nec ab 
ejus fideli praedicatione (beffer: fide vel praedicalione) sejuncti sunt, sed com- 
munionis ipsius gratia Dei usque ad ultimum diem vitae suae participes fuerunf. — 
Drittens nennt man Kirchenväter nur diejenigen Rirchenfihriftfteller, welche fich 
zugleich durch Heiligkeit des Wandels ausgezeichnet haben (M. Canus loci theol. 
' 7, 3: quos in hunc usque diem tot seculorum consensus approbavit, quos praeter 
admirabilem sacrarum literarum perifiam vitae quoque pietas mira commendat.), 
Nach der Anfchauung der Kirche ift nämlich wahre Firhliche Gelebrfamfeit, weil 
die Firchliche Wiffenfchaft nicht bloß Sache des Erfennens, fondern des ganzen 
Geiftes ift, unzertrennlidh von einem heiligen Wandel, und fünnen darum nur 
diejenigen als Repräfentanten der kirchlichen Wiffenfchaft gelten, welche die Kir— 
chenlehre nicht bloß in Schriften entwickelt und vertheidigt, fondern auch im Leben 
befolgt und durchgeführt Haben. (Qui autem fecerit et docuerit, hie magnus 
vocabitur in regno coelorum, heißt es darum im Evangelium der Meffe de com- 
muni doctorum Matth. 5, 19). Darum gehören denn auch alle Rirchenväter zu 
den Firchlichen Heiligen und bei ältern Schriftftellern, wie bei Thomas von Aquin 
und noch bei M. Canus werden fie oft unter dem Namen sancti auctores, sancti 
antiqui oder noch häufiger ſchlechthin Sancli eitirt. Diejenigen, denen diefes oder 
das erfte und darum auch das zweite Merkmal fehlt, heißen nur scriptores eccle- 
siastiei (Rirhenfhriftfteller), nicht patres ecclesiae; fo Tertullian, Clemens 
son Alerandrien, Eufebius, Ruffin und andere. — In der nähern Beftimmung 
des vierten Nequifits, des Alterthums, ift man aber ebenfo uneinig, als in Be- 
zug auf die andern einig. Während einige, namentlich Proteftanten, die Periode 
der Kirchenväter mit dem vierten, andere mit dem fechsten, andere endlich mit 
dem 13ten Jahrhundert fihließen, haben andere jede Zeitbefiimmung für unzu- 
läffig gehalten, und Möhler (Patrologie S. 20.) meint, indem er diefes vierte 
Requifit ganz fallen laͤßt, „nach dem urfprünglichen uud reinen Sinne des Worts 
müſſe es fo lange Kirchenväter geben, als die Kirche dauere, und dem Papſte 
ſtehe deßfalls daſſelbe Recht zu, wie früher, wenn fich die Kirche einer fo groß— 
artigen Erfiheinung in dem Gebiete ihrer Wiffenfchaft wieder, ähnlich wie früher, 
zu erfreuen haben follte.” Daß es, fo lange die Kirche dauert, Männer geben 
könne undewerbe, welche ſich durch Firchliche Gelehrfamfeit und Heiligkeit hervor⸗ 
thun und darum von der Kirche als Nepräfentanten ihrer Lehre anerfannt werden 
können, iſt nicht zu Ieugnen, aber ob man diefelben auch Kirchenväter nennen 
ſolle, ift eine andere Frage, Es handelt ſich hier nicht um den „urfprünglichen 
und reinen Sinn des Wortes”, fondern um den hergebrachten und allgemein 
üblihen Sprachgebrauch, und gegen diefen würbe es doch ficher verftoßen, wollte 
man Männer der neueflen Zeit, die fonft in alfen Stücken den alten Kirchen— 


- 


184 Kirchenvater. 


vätern gleich find, Kirchenväter nennen, da man bei dieſem Namen nur an Män- 
ner des Alterthums zn denfen gewohnt ift, Für große Firchliche Gelehrte der 
ſpätern Zeit iſt vielmehr der Name Doctor üblich, und das Mittelalter Fennt wohl 
einen doctor angelicus, seraphicus u, ſ. w,, feiner diefer großen Gelehrten wird 
aber Kirchenvater genannt. Hauptfächlich fcheint Möhler zu diefer Ausdehnung 
des Begriffs dadurch gekommen zu fein, daß, wie er angibt, Thomas von Aquin, 
DBonaventura und andere durch päpftliche Bullen ausdrücklich zum Range von 
Kirchenvätern erhoben ſeien; und wenn diefes der Fall wäre, fo wäre allerdings 
fein Grund vorhanden, den Papſte das Necht abzufprechen, auch in Zukunft noch 
Kirchenväter zu ereiren. Jene Angabe beruht aber auf einem Mißverftänpniß: 
Thomas und Bonaventura find nie zu Kirchen vätern erhoben, fondern zu Kir— 
chen lehrern (doctores ecclesiae), und in der Bulle, durch die Sixtus V. den 
Hl. Bonaventura zur Würde eines Kirchenlehrers erhob, iſt ausdrücklich auf die 
Stelle Eph, 8, 11.: et ipse dedit quosdam quidem apostolos,.... alios autem 
pastores et doctores, Bezug genommen, — Der Sprachgebrauch, nur die durch 
Gelehrſamkeit und Heiligkeit ausgezeichneten Männer der älteften Zeit der Kirche, 
diejenigen, qui calholicam ecclesiam in ejus infantilibus annis educarunt, wie ſich 
ein älterer Schriftſteller ausdrückt, zu den Kirchenvätern zu rechnen, tft aber auch 


ganz in der Bedeutung des Namens gegründet, Ein bedeutender Kirchenfchrift-- 


ftelfer der fpätern Zeit Fann von denen, die von ihm gelernt haben, als ein 
‚geiftiger Vater angefehen werden; aber Rirchenväter im abfoluten Sinne, geiftige 
Väter der ganzen Firchlichen Wiffenfchaft find Doch nur Die großen Kirchenfchrift- 
fteller der erften Jahrhunderte, Die Neihe der Kirchenväter ift alfo nicht eine 
noch fortlaufende, fondern eine abgefchloffene. Es fragt fih nun noch, mit wen 
‚oder in welcher Zeit die Reihe zu fchließen ift, Jedenfalls würde man zu weit 
gehen, wollte man erft mit Thomas und Bonaventura fließen, und Diejenigen, 
welche die Reihe der Kirchenväter bis auf fie fortfegen, ſcheinen dazu durch die 
oben berichtigte Meinung veranlagt zu fein, daß die genannten Männer vom 
Papfte ausdrücklich zum Nange von Kirchen vätern erhoben ſeien. Die Reihe 
der Kirchenväter aber fchon mit dem vierten Jahrhundert zu ſchließen, iſt eben- 
fowenig thunlich; denn in diefer Zeit findet fich gar Fein Abſchluß, und der Sprach— 
gebrauch, auf den es hier hauptfächlich ankommt, zählt ficher die großen Männer 
der nachfolgenden Jahrhunderte noch zu den Kirchenvätern. Es gibt in der Ge— 
ſchichte der ganzen Altern Eirchlichen Literatur gar feinen fo bedeutenden Abfchnitt, 
als den, welcher durch den Eintritt der germanifchen Völker in die Kirche und 
Das Aufhören der griechifch-römifchen Bildung bezeichnet wird, Sp lange die 
antifen Völker die Träger der Firchlichen Wiffenfchaft find, finden wir eine durch— 
aus ftetige und naturgemäße Fortbildung derfelbenz mit dem Untergang der an— 
tifen Nationen wird diefe Stetigfeit der Entwicklung ganz unterbrochen; die un- 
gebildeten germanifchen Völker können die Ausbildung der Firchlichen Wiffenfchaft 
nicht da fortfegen, wo die griechifch-römifchen Kirchenſchriftſteller aufgehört Hatten, 
fie müffen gleihfam aufs Neue beginnen, Die ältere kirchliche Wiffenfchaft iſt 
für fie ein abgefchloffenes Ganzes, das ihnen unvermittelt gegenüber ſteht und 
welches fie fih aneignen müffen; ihnen lag es darum auch ganz nahe, Die großen 
Männer diefer vergangenen Literaturperiode als Väter der Firchlichen Wiffenfchaft 
zu bezeichnen; fie gehen gleichfam bei denfelben in die Schule und von dem Ex— 
cerpiren und Zufammenftellen des Vorhandenen beginnend, fommen fit erft ganz 
allmählig zu einer felbfiftändigen Geftaltung der Firchlihen Wiffenfchaft, Die 
Tradition der Kirchen lehre leidet zwar Feine Unterbrechung, wohl aber die Tra- 
dition der Firchlichen Wiffenfchaft, der wiffenfchaftlichen Darftellung der Kirchen— 
lehre. Die griechifcherömifche Periode der Firchlichen Literaturgefchichte wird ja 
auch allgemein mit vem Namen „die patriftifche Periode” bezeichnet; confequent 
Tann man alfo and) Patres nur Schriftftelfer aug diefer Zeit nennen, Ganz ge- 





—— 





NE NEIEESR- 


— — 











Kirchenvater. 185 


nau läßt fih nun freilih die Gränze nicht angeben, wo die griechiſch-römiſche 
Bildungsperiode, alſo auch die Reihe der Rirchenväter aufhört und die germanifche 
Periode beginnt; der lege bedeutende Repräfentant der antifen Bildung unter den 
Kirchenſchriftſtellern des Abendlands ift aber Papft Gregor der Große; in der 
griechifchen Kirche würde fich die Reife der Kirchenväter noch weiter ausdehnen 
Jaffen, da dort die antife Bildung ſich länger erhielt, Fönnte dort, im Schisma, 
überhaupt von Kirchenvätern die Rede fein; man nennt darum insgemein den HL. 
Sohannes von Damascus den legten griechifchen Rirchenvater, — Der Begriff 
von Kirchenlehrer, doctor ecclesiae, ift in einer Beziehung weiter, als der 
von Rirchenvater, fofern namlich dazu nicht das Merkmal des Alterthums gehört 
und heiligen Männern aller Zeiten, die durch fhriftftellerifche Thätigkeit ſich aus— 
gezeichnete Verdienfte um die firchlihe Wiſſenſchaft erworben haben, diefer Titel 
gegeben werben kann; in einer andern Beziehung aber ift er enger, indem nur 
diejenigen, welche das erfte Requifit eines Kirchenvaters, Verdienfte um die kirch⸗ 
liche Wiffenfchaft, in einem ausgezeichnet hohen Grade verwirklicht haben, zu den 
Kirchenlehrern gezählt werben, Weber die Zahl der griechiſchen Kirchenlehrer 
iſt man nicht ganz einig; allgemein werden dazu gezählt: Athanafius, Bafılius, 
Gregor von Nazianz und Chryſoſtomus. Unter den lateiniſchen Kirchenvätern 
beißen Ambrofius, Auguftinus, Hieronymus und Gregor d. Gr. vorzugsweife die 
großen lateinifhen Kirchenlehrer. Daß die Zahl hier genau firirt ift, iſt 
bauptfählich dem Umftande zuzufchreiben, daß man ſchon früh anfing, diefelben 
mit den vier Evangeliften zufammenzuftellen und in der chriſtlichen Kunft die 
Attribute diefer (Löwe, Stier, Menſch und Adler) auf fie zu übertragen, Später 
find ihnen Leo d. Gr., Thomas von Aquin (dur Pius V.), Bonaventura (dur 
Sirtus V.) und Bernard von Clairvaur (durch Pins VII. 1830) beigezählt, alfo 
drei, die nicht zugleich Kirchenväter find, Das Decret Pins’ VI. über den HL. 
Bernard (bei Roms&e, opera liturgica t. 5. p. 296.) zeigt auch die Bedeutung 
Diefes Titels: nad Angabe der Auszeichnungen eines doctor in der Liturgie heißt 
es nämlich: Ac praeterea hujus doctoris libros....opera denique omnia, uf 
aliorum ecelesiae doctorum, non modo privatim, sed plublice in gymnasiis... om- 
nibusque aliis ecelesiasticis studiis christianisque exercitationibus citari, proferri 
atque, cum res postulaverit, adhiberi volumus et decernimus. Ein Kirchenlehrer 
fol alfo in der Kirche als vollgültiger, authentifher und officielfer Zeuge und 
Dolmetfiher ihrer Lehre anerfannt werden. — Größer als die Zahl derjenigen, 
welche in der Geſchichte der Firchlichen Literatur Kirchenlehrer genannt werden, 
iſt die Zahl der Kirchenlehrer nach Titurgifchem Sprachgebrauch. Im Brevier 
und Miffale bilden nämlich die doctores eine Unterabtheilung der confessores, 
indem von diefen mehrere, die, wie fie dag Martyrologium Romanum bezeichnet, 
nicht nur durch Heiligkeit, fondern auch durch Gelehrſamkeit fih ausgezeichnet 
haben (sanctitate et doctrina clari), befonders dadurch hervorgehoben werden, daß 
fie eine eigene Antiphone zum Magnificat: O doctor optime, ecclesiae sanctae 
lumen etc., und in der Meile, als Symbol ihrer Berdienfte um den hriftlichen 
Glauben, Credo haben. Das Miffale Hat eine eigene fehr ſchöne Meſſe de com- 
muni doctorum: In medio ecclesiae, — Zu diefen doctores werden nach römiſchem 
Ritus außer den obengenannten noch folgende gezählt: Iſidor von Sevilla (4. 
Apr), Anfelm von Canterbury (21. Apr.), Petrus Chryfologus (4. Dee.) und 
Petrus Domiani (23. Febr). Nach dem Decret Leo's XII. vom J. 1828, durch 
welches der Iegtere zum doctor erhoben wird (bei Romsee l. c. p. 293.), fommt 
der Rang eines doctor denjenigen zu, qui non vivae tanftum vocis officio caetero- 
rum pastorum instar sibi commissam plebem, sed cunctos Christifideles omnium- 
que saeculorum posteritatem conseriptis libris sapientia et doctrina refertis etiam 
exstincti erudire non cessant; übrigens enthält diefes Decret Feine Beftimmungen, 
wie fie Pius VII. in Betreff des HI. Bernard gibt, fondern nur liturgiſche Vor- 


186 Kirhenverfaffung — Kirchenvermögen. 


ſchriften. Hilarius von Poitiers hat zwar die Meffe de communi doctorum, aber 
fein Credo und nicht die Antiphone O doctor und wird auch nur als confessor 
pontifex bezeichnet, Beda Venerabilis fehlt im römischen Miffale; fein Feft ift 
für England indulgirt (29. Det.), er hat aber die Meffe de communi abbatum 
(Os justi) ohne Credo und heißt nur in der Dration confessor atque doctor; ähn«- 
lich verhält es fich mit dem Hl, Eligius für einige belgiſche Dibeeſen. [Reufh.] 

Kirchenverfaſſung, ſ. Hierardie. 

Kirchenvermögen im weiteren Sinne heißt alles, was eine Kirche an 
Grundbeſitz, Capitalien, nutzbringenden Rechten und Renten theils urſprünglich 
zu ihrer Dotation erhielt, theils ſpäterhin durch was immer für Rechtstitel als 
Eigenthum erwarb. J. Von dem Vermögens-Erwerb der Kirche und 
ihrem Eigenthumsrechte. Die Kirche hat 1) die rechtliche Fähigkeit, Ver— 
mögen zu erwerben, Nur fo lange die chriftliche Kirche im römifchen Neiche ver— 
folgt war, und die hriftlichen Neligionsgemeinden noch als ſtaatswidrige Vereine 
(collegia illicita) betrachtet und behandelt wurden, war begreiflih von einem 
ftantsrechtlichen Bermögenserwerb derfelben nicht die Rede. Als aber das in 
Berbindung mit Conftantin erlaffene Edict des Kaifers Lieinius 312 dem dhrift- 
lichen Befenntniffe freie Entfaltung geflattete, befahl e8 zugleich die Herausgabe 
der den hrifllichen Gemeinden entzugenen Güter (Lactant. De morte persecutorum 
c. 48), und Conftantin M. gab dem, was factifch beftand, die gefegliche Anerken- 
nung, indem er das Privilegium, Fraft deffen einzelne heibnifche Götter die Erb- 
fähigfeit hatten, fofort auf den Einen wahren Gott übertrug (l. 1. Cod. De ss. 
Eccl. I. 2). Seitdem blieb die Erwerbs- und Eigenthumsfähigfeit der Firchlichen 
Eorporationen und Anftalten herrſchender Grundſatz, Den auch die neueften Ver— 
faffungsurfunden ausdrücklich anerkennen (z. B. Preuß, A, %-R, IL. 11. $ 1935 
Bayer. Berf,-Urf, IV. $ 95 Baden. Ediet v. 1807, $ 9, u. a.). Bei dem Er- 
werbe richtet fih übrigens die Kirche nach dem bürgerlichen Rechte, und ift in 
diefer Hinficht weder durch Verjährung bevorzugt, noch genießt fie eine befondere 
Eremtion bezüglich der Infinuation der ihr gemachten Schenfungen. Indeß traf 
Doch Schon das römische Recht manche Beftimmungen zu ihren Gunften, nament- 
lich daß letztwillige Vermächtniffe zu frommen Zweden vom Abzuge der Quarta 
Falcidia und Trebelliana befreit fein ſollen (ſ. Faleidiſche Duart und Quarta 
Trebelliana), Zur tefamentarifchen oder codicillarifchen Erbeinfegung einer 
Kirche oder kirchlichen Anftalt bedurfte e8 zwar nach römiſchem Nechte immerhin 
noch der eivilrechtlichen Form, nämlich der Gegenwart von fieben — beziehentlich 
von fünf — Zeugen; doch traten auch bier durch die hriftlich-römifchen Kaifer 
mehrere VBergünftigungen ein, welche fpäterhin das canonifche Necht noch anfehn- 
Yich erweiterte, die neueren Landesgefege aber zum Theil wieber befeitiget haben 
Cf. legtwillige Verfügungen), 2) Die Arten des Vermögenserwerbs 
der Kirche find mannigfach. Außer demjenigen, was fie gleich anfänglich zu ihrer 
Ausftattung befommen, kann fie noch aus verſchiedenen Anläffen und Rechtstiteln 
mehr oder weniger reiche Zuflüffe erhalten, namentlich durch außerordentliche Ge— 
ſchenke von befonderen Wohlthätern (ſ. Schenkungen); durch Erbſchaft, theils 
mittelft ausdrücklicher Iegtwilliger Beftimmungen in Form von Teflamenten oder 
Codieillen (f. Tegtwillige Verfügungen), oder als einzelne Vermächtniſſe 
(ſ. Fideicommiſſe und Legate), theils mittelft gefeglichen oder obſervanz⸗ 
mäßigen Erbanſpruchs an geiftliche Verlaſſenſchaften (ſ. Inteftaterbfolge); 
ferner durch Fundationen von Wochenmeffen, Jahrtagen und anderen Andachten 
(f. Stiftungen und insbefondere Jahrtagsftiftungen); durch den Anfall 
eines Theiles des Ertrags von Pfründen während ihrer Bacatur (ſ. Interealar- 
gefälle); endlich durch Erfisung (f. Verjährung) ıc, 3) Die Frage, wem 
das Eigenthum am Kirchengute zuſtehe, wird fehr verfchieden beantwortet, 
Diefe Verfchiedenheit aber hat ihren Grund zunächſt in der dem Katholiken und 





a 





Kirhenvermögen, 187 


Proteſtanten eigenthümlichen verfihiedenen Auffaffung und in der Verwechslung 
der Begriffe des Eigenthums und der bloßen Nugniefung. a) Das Eigenthum 
(proprietas, dominium directum) der den einzelnen Kirchen gemachten Widmungen 
fteht nach Fatholifcher Anfiht der Geſammtkirche zu. Denn alles, was und in 
welcher Weife es den einzelnen Kirchen zugewendet wird, iſt (wenn wir vorerft 
son der befonderen Zweckbeſtimmung einer folhen Widmung abfehen) nach der 
hoöchſten und legten Intention des Gebers Gott dem Herrn gewidmet, beffen 
irdifcher Leib die Kirche in ihrer Allgemeinheit iſt. Nach Fatholifcher Anfhauung 
gibt es Feine abfolut abgefchloffene, unter jelbfiftändigen Dberen und nad felbft- 
ftändigen Sonderzwecken ftrebende firchlihe Gemeinden, auf welche der Ausdruck 
universitates im römifch-politifchen Sinne paßte, Jene Stelle im Toleranzbeerete 
des Heidnifch-römifchen Kaifers Licinius 312, welde das Kirchenvermögen als 
Gefellfchaftsgut der einzelnen Kirchengemeinden, als res universitatum, bezeichnet, 
fteht ganz vereinzelt da, und verfäwindet in der unabfehbaren Reihe von Aus- 
fprüchen der Kirchenvaäter, der Concilien, der Päpfte und der hriftlichen, ſowohl 
morgen- als abendländifhen Kaiſer, welche alle das Eigenthumsrecht des Kirhen- 
vermögens einzig dem Herrn sindiciren, und in den Biſchöfen die zeitlichen Ver- 
walter deffelben erblicken. Erſt die von proteftantifhen Canoniften, namentlich 
von dem älteren Böhmer, eingefchlagene Tendenz, aus den vorriftlichen Zu- 
ftänden des römifchen Reiches Confequenzen für die nachconſtantiniſchen Zeitalter 
abzuleiten, und letztere nach den erfleren zu beurtheilen, erſt diefe ven Afatholifen 
eigene Auffaffung der Hriftlichen Kirche als eines bloßen Aggregates von ifolirten 
Kirchengemeinden, unterftügt von dem juriftifchen Materialismus neuerer Zeit, 
der feine mit ihm verwachfenen Ideen des römischen Rechts au in alle Verhält- 
niffe der Kirche Hereintrug, Eonnte fih darin gefallen, jede einzelne Kirhen- 
gemeinde als felbftftändiges Rechtsſubject zu betrachten, und ihr das Eigenthums- 
recht am Kirchengute zuzufprechen, ine ſolche Auffaffung aber widerftreitet dem 
ganzen Geifte der wefentlich auf dem Principe der Einheit beruhenden Fatholifchen 
Kirche. Es Hat ſicher nicht in der Abficht des göttlichen Stifters der Kirche ge- 
Tegen, eine Vielheit von einzelnen rechtlich abgefihloffenen Gemeinden — jede 
mit corporativer Selbftftändigfeit — zu gründen; und die Theilung der Gefammt- 
firche in größere und Fleinere Diftriete (Diöcefen und Parochieen) hat offenbar 
nur in der phyfifchen Nothwendigkeit einer folhen Abgrenzung ihren Grund. Nir- 
gends weifet weder die ältere noch die mittlere Kirchengeſchichte ein Beifpiel auf, 
daß eine Gemeinde fih Eigenthumsrechte am Kirchengute angemaßt, vder der 
Biſchof oder Pfarrer fi anders denn als bloßen Verwalter deffelben betrachtet 
hätten, Wäre das Loealkirchengut Eigenthum der betreffenden Gemeinde, ſo müßte 
auch die Verwaltung deſſelben in ihre Hände gelegt und nicht ausſchließlich dem 
für Chriſtus auf Erden ſtellvertretenden Sacerdotium anvertraut worden ſein, da 
doch die Geſchichte aller Jahrhunderte bis in die neuere Zeit herab in conſtanter 
Tradition bezeugt, wie immer und überall die Biſchöfe, und unter ihrer Reſpicienz 
die Pfarrer an der Spitze dieſer Verwaltung geſtanden, und die allgemeinen 
Normen der Verwaltung durch die höchſte geſetzgebende Auctorität in der Kirche 
vorgezeichnet worden waren. Wäre das Kirchengut Eigenthum der einzelnen 
Kirhengemeinden, fo wären von jeher alle Ineorporationen, Unionen, Suppref- 
fionen, Theilungen als wahre Berlegungen der Privat-Eigenthumsrechte ſchlecht- 
hin unerlaubt gewefen, während fie doch im Grunde nichts anderes waren, als 
Veränderungen in der bloßen Adminiftration des allgemeinen Kirchenärars. Ya, 
wäre das Kirchenvermögen wirklich Eigenthum der Gemeinden, fo hinderte nichts, 
fi über das feit jeher beftehende Verbot der Veräußerung des Kirchenguts hin— 
wegzufegen, und über die Subftanz wie über die Renten deffelben zu beliebigen 
— aud etwa rein weltlichen Zwecken zu verfügen, Und in der That auch mußte 
das Kirchengut erſt feines Heiligen Charakters entfleidet werden, um bie gewalt- 


188 Kirhenvermögen, 


famen Säeularifationen in Teutſchland und anderwärts durchzuführen. — Von 
dem Eigenthumsrechte wohl zu unterfcheiden iſt b) das Necht des Nießbrauches 
Cususfructus, dominium utile). Jede der Kirche zugewendete Gabe ift ein Weih- 
geſchenk Gottes; aber der Früchtegenuß einer ſolchen Widmung kann allerdings 
durch Die nähere Zweckbeſtimmung des Gebers oder Stifters auf eine beftimmte 
- Gemeinde oder eine beftimmte Firchliche Anftalt beſchränkt, oder den Kirchen einer 
Didcefe insgefammt oder eines ganzen Landes eingeräumt fein. Vermögensmaſſen 
der letzteren Art find die hie und da durch weltliche Verordnungen entfiandenen 
pber durch einfeitige, von der Gtaatsgewalt verfügte Centralifiung von Local- 
ftiftungen gebildeten fog. allgemeinen Kirchenfondg, Neligivng-, Central- 20. Fonds, 





Dergleichen Verfügungen fonnten wohl die Örenzen der Nusnießung erweitern, 


aber weder die der Stiftung inhärirende Natur eines Gott geweihten Opfers ver- 
ändern, noch den hierarchiichen Dberen das ihnen nach canonifchem Nechte ge- 
bührende Verwaltungsrecht entziehen. 4) Was die wirklichen und zum Theil por» 
geihüsten Rechte des Staates bezüglich des Kirchengutes betrifft, fo 
legt a) ein allgemeiner Grundſatz des heutigen öffentlichen Nechtes dem Staate 
die Befugniß bei, dem Gütererwerbe der Kirche beftimmte Schranken zu feßen, 
und ihr theils die Acquifition von Immobilien zu erſchweren oder auch ganz zu 
verbieten, theils den Erwerb von Capitalien nach einer quantitativen Beftimmung 
von der Staatsgenehmigung abhängig zu machen (ſ. Amortifationsgefege),; 
b) Ueber dag von der Kirche erworbene Gut kann der Staat Fein anderes Recht 
anfprechen, als daß er deſſen Berwaltung und beftimmungsgemäße Verwendung 
feiner Mitaufficht unterwerfe, — ein Recht, welches das chriſtliche Staatsober- 
haupt vermöge feiner Stellung zur Kirche als höchſter Anwalt derfelben übt, 
Zwar hat eine neuere Theorie das Kirchengut ohne weiters als Staatsgut, und 


den Landesherrn als Eigenthümer deffelben erklärt, und mit ihr hat man nament- 


lich die jüngfte Säcularifation in Teutſchland zu beſchönigen geſucht. Allein diefer 
durchaus verwerflichen Lehre haben die neueften Gefesgebungen mit Recht in ihren 
Berfaffungsurfunden die feierliche Zuficherung der Unverleglichfeit des Kirchen— 
gutes entgegengeftellt, Ein eben fo entfchiedener Mißgriff it das aus dem an- 
gemaßten Titel eines Mit- oder Obereigenthums des Staates ‚abgeleitete jpg: 
Heimfalisrecht, wonach die Güter und Capitalien folder Stiftungen, deren Zweck 
nicht mehr realifirbar ift, dem Staate zur beliebigen Verfügung anfallen: follten, 
Auch diefes haben die neueften Stantsgefeggebungen verworfen, und ausdrücklich 
erklärt, daß überall, wo die fliftungsmäßige Beftimmung nicht mehr erreicht wer— 
den kann, die betreffenden Fonds und deren Nenten nur wieder zu ähnlichen 
frommen und milden Zwerfen verwendet werben ſollen. c) Dagegen ift ver Staat 
für den öffentlichen Schuß, den er der Kirche gewährt, ohne Zweifel berechtiget, 
von ihr auch zu verlangen, daß fie zur Erleichterung der Staatslaften nach Ver— 
hältniß ihres Vermögens beitrage., Gegenwärtig find die älteren Immunitäten 
des Kirchengutes faft überall aufgehoben, Das Maß und die Befchaffenheit der 
Befteuerung aber beflimmt das Particularrecht (ſ. Abgaben, Bd. 1. S. 35 f.) 
I. Bon der Subftanz des Kirchenvermbgens und deffen Verwendung, 
Das Kirchenvermögen läßt fih 1) fpecificiren in folche Gegenftände, welche 
bei dem Dienfte des Herrn unmittelbar gebraucht werden, und daher ihre feier- 
liche Beftimmung bald durch eine Confeeration (ſ. Weihung), bald durch eine 
Benediction (ſ. Segnung) empfangen. Dadurch wird ihnen der Charakter ber 
Heiligkeit und Unverleglichfeit verliehen, weßhalb fie auch heilige Sachen (res 
sacrae) heißen (f. den Art, geiftlihe Sache). Ihnen gegenüber ſtehen bie ein- 
fachen Kirchengüter (res ecclesiasticae genannt), welche mittelbar zu kirchlichen 
Zwecken dienen, indem durch fie der Unterhalt der Geiftlichen und die Kirchen- 
bebürfniffe beftritten werden, Unter ben Begriff kirchlicher Sachen werben endlich 
auch die im Eigenthume der frommen Stiftungen (piae causae) befindlichen Güter 


2 le a 


Kirhenvermögen, 189 


geſtellt (res religiosae), weil fie nach gemeinem Rechte unter ber Aufficht der 
9 ſtehen. Jetzt hat zwar der Staat dieſelben größtentheils oder ganz der 
unmittelbaren Aufſicht der Kirche entzogen; doch find ihnen die Rechtswohlthaten, 
deren fie fih früher als Firchliche Inftitute erfreuten, in der Regel geblieben, 
a) Von den heiligen Sachen unterfheiden wir erfiend die geweihten (res con- 
secratae, f. den Art. geweihte Sach e). Dahin gehören: die Kirchen (f. Kir- 
he), zunächft jene, in welchen das hl. Opfer dargebracht wird (ſ. Bafilifen, 
Cathedralen oder Domfirhen, Eollegiatfirden, Pfarr- und Klofter- 
kirchen); dann die Altäre (ſ. d. A), und die unmittelbar zur Feier der Meſſe 
nöthigen Gefäße (f. Kelch und Patena). Eine andere Gattung der res sacrae 
Hilden die gefegneten Sachen (res benedictae), namentlich die Nebenkirchen, Ca- 
pellen und Dratorien (f. Bethaus), die Glocken (ſ. d. A), verfchiedene zum _ 
Altardienft nöthige Gewänder (f. Mefgewänder) und Utenſilien (ſ. Altar- 
ſchmuck und Rirhengeräthe), dann die Begräbnißftätten (ſ. Kirchhof). 
b) Die gemeinhin fo genannten Kirchengüter haben im Laufe der Zeit gar man— 
nigfache Veränderungen erlitten. Anfangs beftanden die Kircheneinkünfte zunäch 
aus den freiwilligen Oblationen der Gläubigen, Brod, Wein ꝛe., welche theils 
bei dem jedesmaligen HI. Opfer auf den Altar gelegt, theild von Zeit zu Zeit in 
Naturalien oder Geld dem Bifchofe behändiget, oder in die Rirchencaffe (Carbona) 
gelegt, tHeils beim Empfang der Taufe oder bei andern religiöfen Acten geopfert 
wurden, Eine befondere Art der Oblationen waren die der Kirche und ihren 
Dienern an Gottes Statt dargebrachten Erftlinge der Feldfrüchte und Thiere, 
eine bei den Sfraeliten gefeglihe Abgabe (ſ. Erftlinge), welche von den Ehriften 
freiwillig nachgeahmt wurde, Diefe freiwilligen Reichniſſe haben ſich größtentheils 
bis Heute — nur im veränderter Form — erhalten. Die Naturaloblationen- bei 
der hf, Meffe verwandelten fi nach und nach regelmäßig in Geldfpenden, und 
erhielten ſich Ken in der Form von freiwilligen Opfern und Mefftivendien 
(f. diefe Art,). An die Stelle der beliebigen Gaben für andere farramentafe 
Handlungen und fonftige gottesdienftliche Functionen traten die jetzt gefeglichen 
oder durch Obfervanz firirten Stolreichniffe (f. Stolgebüßrenm). Die Primitien 
dagegen und anderweitige Feine Opfer in Naturalien, wie fie ehemals beftanden, 
famen allmählig ganz außer Gebrauch, oder haben fich zum Theil in der Geftalt - 
freiwilliger Sammlungen erhalten (f. Eollecten). Mit der Emancipation der 
Kirche und ihrer Erwerbfähigfeit mehrten ſich die Einfünfte derfelben bald auch 
an liegenden Gründen und nusbringenden Rechten. Bon da ab unterfcheidet man 
am Kirchenvermögem ce) das Dotalvermögen und die fpäteren Stiftungszuflüffe. 
Das Vermögen nämlich, welches einer Kirche gleich bei ihrer Stiftung angewiefen 
wird, um aus deffen Renten den feelforglichen Fortbeftand und die bauliche Inter- 
haltung derfelben, fowie die Suftentation des dabei angeftellten Geiftlichen ficher 
zu ftellen, Heißt die Kirchenmitgift (ſ. Dotalgut) im Gegenſatze zu den fpä- 
teren Erwerbungen. Die eine wie die anderen Fünnen der Kirche theils in Capi- 
talien, theils in Nealitäten, theils durch Meberweifung von Renten und Nusungs- 
rechten zugewendet fein. Activcapitalien beliebte man ehedem für fünftigen Noth= 
bedarf zurüczulegen, oder als unverzinslihe Vorſchüſſe an Hilfsbedürftige Kirchen 
und andere milde Stiftungen auszuleihen, oder in Kirchenornamente, Pretiofen 
oder Grundeigentum umzufegen. Heutzutage werden fie in der Regel verzinslich 
angelegt, oder dafür vortheilhafte Realitäten Behufs rentirender Benügung an— 
gekauft. Nicht felten famen auf dem Wege von Schanfungen, Verlaffenfchaften 
und Verträgen auch Gewerbe, Zölle, Jagden, Fifhereien, Tafernen, Mühlen, 
Holz - und Weide⸗Rechte ıc. an die Kirche, Die meiften diefer Rechte aber find 
in Teutſchland durch die Säcularifation der Stifter, Abteien und Klöfter in welt- 
liche Hände, theil$ an den Staat, theild an Privaten übergegangen, Eine andere 
Duelle des Einfommens bildeten die verſchiedenen fländigen und nichtfländigen 





190 Kirhenvermögen, 


Renten und Reichniffe, welche die Kirchen aus grund- oder zehntherrlichem Titel 
an Stiften, Gilten, Küchendienften, Scharwerken, Grund- und Bodenzinfen, 
Handlöhnen, Laudemien oder Leibgedingen, Maierfchaftsfriften, Zehnten ze. be- 
faßen. Diefe Dienfte und Gefälle find in jüngfter Zeit Behufs der Entlaftung 
des Grundbefißes durch vertragsmäßiges Uebereinkommen der Betheiligten theilg 
in fire Bodenzinfe verwandelt, theils von den Pflichtigen pder vom Staate gegen 
verhältnigmäßige Entſchädigung abgelöst worden, Der größte Theil des Kirchen— 
vermögens aber ruhte feit dem fünften Jahrhunderte auf Grundbeſitz, der theils 
in Gebäuden, theil8 in grundherrlichen und nußbaren Ländereien beftand, In 
erfterer Beziehung laſſen fih an den Cathedral- und Collegiatkirchen und Klöftern 
die erzbifchöflichen oder bifchöflichen Nefidenzen, die. Stiftsprälaturen und Con— 
ventgebäude, die Höfe der Dignitarien Ccuriae praepositi; decani ete.), die Häu- 
fer der Dom- und Eollegiatftiftsheren und Präbendirten, die bifhöflihen Semi- 
nare (seminaria clericorum, puerorum), die biſchöflichen und eapitlifhen Land- 
bäufer, und die Klofterhöfe oder Dbleien mit den verſchiedenen Wirthfchafts- 
gebäuden oder Maiereien; an den Parochialkirchen aber die Pfarrhöfe (Wohn- und 
Deronpmiegebäude), die Beneficiatenhäufer, Mefnerwohnungen ꝛc. unterfcheiden, 
Zu den bedeutendften VBermögensfubftanzen endlich gehörten noch die Gärten, 
Felder, Wiefen, Waldungen, Weideplätze, Weinberge und andere Grundſtücke, 
an welchen der Kirche entweder das Grundeigenthum oder die Nußnießung zufteht, 
Bei den meiften diefer verfchiedenartigen Befigungen wird Die Kirche jetzt in der 
Regel ganz nach den Civilrechten der betreffenden Provinzen und Länder beurtheilt, 
Nur einige find theils durch die fingulären Rechtsgrundſätze, welde auf fie an- 
gewendet werben, theils durch die eigenthümliche Stellung, in welche dadurch die 
Kirche gefegt wird, ausgezeichnet, wie namentlich die Eirchlichen Precarien, Em— 
phyteufen, Lehen und Zehnten (f. diefe Art.). — Was nun 2) die Verwendung 
Des Kirchenvermögens betrifft, fo ift e8 ein von Anbeginn feftgehaltener und 


burchgreifender Grundfag, daß das Rirchengut in feiner Subſtanz in der Negel 4 


unangreifbar ift, und nur der Fruchtertrag oder Die Zinfen zu den genannten 
Zwecken der Kirche verfügbar find. Anfangs und fo lange das Vermögen ber 
bifhöflichen Kirche meiftens nur in den fog. Primitien und Opfern an Naturalien 
und Geld befand, wurde daſſelbe nach Bedürfniß zur Unterhaltung des Gottes— 
dienftes, des Bifchofs und feiner Elerifer, zur Unterflügung der Armen, Wittwen 
und Waifen verwendet, Die Oblationen in Bictualien wurden — nad Abzug 
des gottesdienftlichen Bedarfs — in täglichen oder wochentlihen Spenden (spor- 
tulae), die Gelvbeiträge aber gewöhnlich jeden Monat, fo wie fie eingingen (di- 
visiones mensurnae) vertheilt (c. 6. c. XXI. qu. I; Can. Apost. c. 4). Als fi 
aber im Laufe des vierten und fünften Jahrhunderts die Kirchen in Städten und 
auf dem Lande vervielfältiget, und in eben demfelben Maße auch das Bermögen 
derfelben durch Grundbeſitz bedeutend ſich gemehrt Hatte, gefhah die Vertheilung 
der Einkünfte regelmäßig in vier Theilen, wovon der eine dem Bifchofe, der 
andere dem an der Kirche bebienfteten Clerus, der dritte den Armen der Ge- 
meinde, ber vierte zur Beftreitung der Cultusbedürfniffe und der Kirchenbauten 
beftimmt war (ec. 25>—29. c. XI. qu. 1). Vom fechsten Jahrhunderte an aber 


wurde — anfänglich nur einzelnen Pfarrern und Prieftereonventen — auf dem 
Lande die Nugnießung gewiffer Grundſtücke überlaffen (c. 61. c. XVI. ul; 


11. 12. c. XVI. qu. I), bis zulegt feit dem neunten Jahrhunderte die Anweifung 
von Zehnten und Ländereien zur Gelbftbewirthfchaftung an die Inhaber fländiger 
Kirchenämter allgemein wurde, Noch war übrigens die alte BVertheilung ber 
Kircheneinfünfte eine Zeit Yang diefelbe, fo daß aufer dem Theil, der dem Kir- 
chenbeamten in fefter Bewidmung angewiefen war, ein Theil an die bifchöfliche 
Kammer entrichtet, ein anderer Theil der Kirche für ihre Bebürfniffe, und ein 
dritter den Armen Crefp, Armenanftalten und Klöftern) zugewenbet wurde, Da 


a Ne VE 








— 


Kirchenvermögen. 191 


jedoch in der Folge den Pfarrkirchen eine Menge Zehnten, gerade die ergiebigſte 
Quelle ihres Einkommens, entzogen und dadurch die Pfründen der Seelſorger 
bedeutend geſchmälert wurden, fo verzichteten die Biſchöfe in der Regel zu Gunſten 






der letzteren auf ihren treffenden Antheil; und da einerſeits die Klöfter allmählig 
ſelbſt durch übertragene Zehnten, durch Schanfungen und Vermächtniſſe, befonderg 
durch Incorporation vieler Säcularpfründen zu folhem Wohlftand erblühten, daß 


fie Hilfsbedürftige jeder Art zu unterflügen im Stande waren, andererfeitd bie 
Privatwohlthätigfeit der Weltgeiftlichen, foweit nur immer ihr Einfommen es mög- 
ich machte, der Armen fich thätigft annahm, fo fonnte auch die fürmliche Aus- 
ſcheidung einer Armen-Duart wegfallen. Durch diefe Veränderung wurbe bie 
gegenwärtig noch übliche Zerlegung des Geſammtvermögens einer Kirche in zwei 
Maffen — in Pfründegut und Fabrifgut — herbeigeführt, Unter erſterem ver- 
ſteht man jenen Antheil an den Einfünften einer Kirche, welcher dem angeftellten 
Geiſtlichen als das mit feinem Kirchenamte verbundene Einfommen zur ftändigen 
Nutznießung überlaffen ift (f. Beneficium ecel. und Dotation der Kirchen— 
ämter); unter legterem aber begreift man jene Vermögensmaſſe einer Kirche, 
deren Renten zur Deckung der Eultusbedürfniffe und zur baulichen Erhaltung des 
Gotteshaufes beftimmt ift, und daher — mit Ausfhluß des Pfründevermögens — 
das Kirchenvermögen im engeren Sinne heißt (f. Fabrica eccl.). Il. Bon 
der Verwaltung des Kirhenvermögens. 1) Als den Berwalter des 
Kirchengutes feiner Didcefe bezeichnen die Eoneilien fchon feit dem vierten Jahr- 
bunderte den Bifchof, der Anfangs fih der Adminiftration und Bertheilung der 
Einfünfte in eigener Perfon unterzog (ec. 5. c.X. qu. I; c. 23. e. XI. qu. 1), dann 
aber nach der allgemeinen Vorſchrift des chalcedonifchen Eoncils hiefür einen 
eigenen Deconomen aus feinem Clerus beftellte (c. 21. c. XVI. qu. VII). Mit 
der nachhin eingetretenen Specialifirung des Kirchenvermögens, da erſt den Pa- 
rochien, dann den Stiftern und Bilhöfen beſtimmte Bermögensmaffen zufielen, 
änderte ſich nothwendig auch diefes Verhältniß, und es ging jegt die unmittel- 
bare Verwaltung des Pfarrfirchenvermögens auf die Pfarrer über, welche die- 
felbe mit Zuziefung einiger befonders hiefür verpflichteter Mitglieder der Kirchen- 
gemeinde beforgten und darüber alljährlich bei der Bifitation der Didcefe dem 
Biſchofe oder dem Archidiacon Rechnung abzulegen hatten (Carol. M. Capit. a. 779. 
c. 7; Capp. Reg. Francc. Lib. I. c. 143), In den Capiteln fam die Verwaltung 





des Stiftsgutes gewöhnlich an den Propft, an deffen Stelle fpäter manchmal der 


Decan trat. Die Adminiftration der abgefonderten bifhöflichen Einfünfte oder 
der mensa episcopalis führte regelmäßig ein Hausbeamter, der fog. Vicedominus, 
Diefer, fowie der Vogt (advocatus), der die Intereffen der bifhöflichen Kirche 
nach außen zu vertreten hatte, wurde vom Bifchofe ernannt (Carol. M. Capit. I. 
a. 802. c. 13. Cap. Lothar. I. a. 824. c. 9), Seit dem 14ten Jahrhunderte findet 
fih die regelmäßige Einrichtung, daß die Verwaltung des zur fabrica ecclesiae 
beftimmten Antheils am Kirchenvermögen einigen hiefür beeidigten Männern der 
Gemeinden übertragen wurde, Diefe unter dem Namen Rirchenväter, Heiligenpfleger, 
Kaftenvögte, Kaftenmeifter, Kirchenpröpfte (vitriei, jurati, provisores, magistri 


- fabricae) beftellten Adminiftratoren mußten jedoch über ihre Amtsführung jährlich 


dem Pfarrer oder Decan genauen Nachweis geben, der fofort an den Bifchof oder 
deffen Official zur Nevifion eingefchieft wurde (Conc. Trid. Sess. XXI. c. 9. De 
ref.). In der neueften Zeit Haben die Staatsregierungen die unmittelbare Ver— 
waltung des Kirchenvermögens den Magiftraten und Landgemeinden übergeben, 
pder dafür eigene Verwaltungsausſchüſſe unter Mitwirkung der Pfarrer angeord- 
net; die Oberaufficht und Leitung derfelben aber durchgängig nur Staatsbehörden 
als fogenannten Euratelftelfen zugewiefen, den Bifchöfen aber überall nur eine mehr 
oder weniger befhränfte Iheilnahme, zuweilen fogar — mit vffenbarer Verfen- 
nung des Rechtes der Kirche — ein bloßes Erinnerungsrecht eingeräumt. Diefe 


192 Kirchenvermögen. 


Einrichtung, bei Loealkirchenſtiftungen auch ein Collegium von Gemeindegliedern 
als Unterverwaltungsbehörden heranzuziehen, ſteht nur dann mit dem Geiſte der 
kirchlichen Satzungen im Einklange, wenn ein ſolcher Ausſchuß ſämmtlich aus 
Mitgliedern derſelben Religionsgenoſſenſchaft beſteht, und nicht in der Eigenſchaft 
magiſtratiſcher oder landgemeindlicher Civil- oder Communalbeamten eingeſetzt, 
ſondern aus eigens hiezu gewählten und verpflichteten Individuen unter ſtändigem 
Vorſitz des Pfarrers conſtituirt if, Ebenſo ſollte die Oberaufſicht über dieſe 
Localkirchenverwaltungen, ſowie die Adminiſtration der den Kirchen und frommen 
Stiftungen eines Landes gewidmeten Centralfonds nicht von Staatsbeamten als 
ſolchen, wie dieß jetzt noch der Fall iſt, beſorgt werden; in beiden Fällen aber 
den Biſchofen das ihnen gebührende Recht, die Intereſſen der Kirchen zu wahren, 
in ausgebehntefter Weife zuerkannt fein, 2) Ueber den Wirfungsfreig der 
unmittelbaren Berwalter des Kirchenvermögens enthält a) das gemeine canonifche 
Recht nur einige allgemeine Beflimmungen, Sie folfen in Allem auf den Vor— 
theil der Kirche bedacht fein Ce. 2. pr. X. De donat. III. 24.), Unter diefer Vor- 
ausfegung find fie befugt, Mobilien von geringem Werthe ohne weitere Förm- 
lichkeit zu veräußern (co. 20. 58. c. XII. qu. II.); Grundſtücke auf nicht alfgulange 
Zeit zu verpachten (Clem. c.1. De reb. eccl. non alien. III. 4.); uncultivirtes Land 
zu Erbzinsrecht zu verleihen (c.7. X. De reb. eccl. non alien. IH. 13.)5 heim- 
gefallene Lehen wieder zu vergeben Cc. 2. X. De feudis I. 20.), und erlofchene 
Erbpachten wieder aufzurichten (Extrav. comm. c. un. De reb. non alien. III, 4). 
Der Verwalter ſteht zur Kirche, deren Vermögen er abminifirirt, ganz in dem 
Berhältniffe eines Vormunds zu feinem Mündel. Er muß daher au, wie diefer, 
beeidiget werden, ein Inventar aufnehmen, und alljährlih dem Bifchofe Nech- 
nung ftelfen (Glem. c.2. $ 1. De rel. dom. II. 11; Conc. Trid. Sess. XXI. c. 9. 
De ref.), Er hat übrigens die nicht etatsmäßig zu verwendenden natürlichen 
Früchte zu verwerthen, aufgefündigte oder freiwillig heimgezahlte Capitale in 
Empfang zu nehmen, legtere, fowie andere Baarvorräthe unter gehöriger Sicher- 
ſtellung (ſ. Hypothecarifhe BVerfiherung der Kirchendarlehen) verzing- 
lich anzulegen, die ausftändigen Zinfen und. andere Präftationen (nöthigenfalls 
- durch gerichtliche Nequifition) einzutreiben. Gemeinrechtlich hat zwar die Kirche 
an dem Vermögen ihrer Schuldner weder eine gefegliche Hypothek, noch ein per- 
fünliches Prioritätsrecht; wohl aber Haben ihr Staatsgefege in neuerer Zeit diefe 
Bergünftigung eingeräumt (ſ. Hypothek, gefeglihe, der Kirde). In dem 
Wirkungskreiſe der Kirchenverwaltung Tiegt auch die Auffiht über Die Kirchen- 
gebäude und das Necht und die Pflicht, Fleinere Baufälle ungefäumt zu wenden, 
über die Nothwendigfeit größerer und Eoftfpieligerer Reparaturen aber an ben 
Bifchof zu berichten. Wie der Bormünder feinem Pupillen, fo ift auch der Kirchen— 
verwalter zur Schabloshaltung verpflichtet, und die Kirche iſt rückfichtlich derſelben 
durch ein ftillfehweigendes Unterpfandsrecht an deffen Bermögen gefichert. Ge— 
ſchäfte, die er einfeitig. abſchließt, verpflichten die Kirche, falls daraus Die Ber- 
bindlichkeit einer Zahlung entftünde, gar nicht (wie 3.8. c. 2. X. De solut. I. 23; 
c. 4. X. De fidejuss. II. 22.); wenn aber eine Reftitution zu leiſten ift, nur dann, 
wenn eine versio in rem nachgewiefen wird Cc. 1. X. De depos. III, 16.). Selbft 
gegen eine an ſich rechtsbeftändige, aber die Intereſſen der Kirche verlegende 
Handlung des Verwalters kann diefelbe fich in integrum reftituiren laſſen (ſ. Re- 
stitutio in integr.), Endlich bedarf er zur Proceßführung Namens feiner Kirche 
jedesmal der Genehmigung feines Bifchofes (des fog. Streiteonfenfes), womit er 
fich zu legitimiren hat (f. Confens der Betheiligten), Ueber die Betheili- 
gung des Patron bei der Verwaltung des Kirchenguts |, Patronatsredt 
(Rechte des Patrons); über die Verwaltung des kirchlichen Pfründevermögens 
durch den zeitlichen Inhaber des Kirchenamteg f. Beneficium eccl. b) Die 
Partienlarrechte der teutfchen Staaten haben in allen vorgenannten Beziehungen 











Kirhenvermögen. 193 


nähere, den Gefchäftsfreis der Localfirchenverwaltungen befhränfendere Normen 
gegeben. Namentlich find den Rirchenverwaltungen der Fleineren Städte, Märkte 
und Dörfer bald in eigens zufammengefegten Stiftungscollegien, bald in den 
Landgerichten und gutsherrlichen Beamten, den Stiftungsadminiftrationen größerer 
Städte aber in den Provincial- oder Kreisregierungen fog. Curatelen aufgeftelft, 
deren Zuftimmung fie bei Anfauf und Verpachtung von Realitäten, bei Neubauten 
und Hauptreparaturen an Eultgebäuden, bei Ablöfungen des Dbereigenthums an 
Erbpachtgütern und Lehen, bei Capitalsdarlehen und Aufnahme von Paffivcapita- 
lien, bei Nachläffen und Moderationen der an die Kirche ſchuldigen Abgaben, bei 
Zehntfirationen und Ablöfungen, fowie bei eigentlicher Veräußerung von Kirchen- 
gütern zu erholen haben, Diefen Euratelbehörden find dann gemeiniglih für den 
Fall, daß die Kauf-, Paht-, Ablöfungs-, Darlehens- zc, Summe einen gewiſſen 
Betrag überfteigt, in den höheren und beziehungsweife höchſten Verwaltungs- 
ftellen, den Provincialregierungen und Minifterien, fog. obere oder oberſte Cu— 
ratelen vorgefegt, welche die von den niederen Curatelbehörden bereits bewilligten 
Anträge und revidirten Rechnungen einer nochmaligen Prüfung und Superreviſion 
zu unterwerfen haben. Ebenſo follen die von den Localfirchenverwaltungen ge= 
fertigten Anträge, Etatsentwürfe, Rechnungen ze. dem biſchöflichen Ordinariate 
mitgetheilt werden, damit diefes davon Einfiht nehmen und feine alfenfallfigen 
Erinnerungen dagegen der einfchlägigen Obercuratelftelle übergeben kann, Jus— 
befondere follten alle vbenerwähnten Fälle irgend einer Veränderung in den Ver— 
mögensbeftandiheilen oder Renten geiftlicher Pfründen, bei denen der Biſchof 
immer als Eollator betheiliget ift, nur nah vorgängiger Vernehmung des Bi— 
ſchofs von den Dbercuratelen befchloffen und vollzogen werden. Vgl. für Oeſtreich: 
Helfert, von dem Kirchenvermögen ze. Prag 1834, I. 8; für Preußen: allg. 
ER, Th. I. Tit. 11. 5618. und die Fürftenthal. Samml. aller das (preuß.) 
Kirhen- und Schulwefen betr. Gefege, Bd. I. S. 467 abgedrudte Verordnung; 
für Bayern: Haberftumpf, die neuen (bayer,) Kirshenverwaltungen ıc. Sulzb. 
18385 für die oberrheinifhe Kirhenprovinz: Longner, Darftellung der 
Rechtsverhaͤltniſſe der Bifhöfe ıc. S. 315 ff. IV. Bon der Veräußerungdes 
Kirhenvermdgens. 1) Nah canoniſchem Rechte iſt das Vermögen der 
Kirche in der Regel unveräußerlich (c. 20. 25. 50. 51. c. XI. qu. II; c. 6. 12.X. 
De reb. eccl. non alien. III. 9; Xvagg. comm. c. 1. eod. III. 4.). Unter Beräuße- 
zung wird aber bier alles, was nicht Schon durch die Canones ausdrücklich der 
freien Berfügung der Berwaltungsbehörden eingeräumt ift (ſ. oben III. 2. a.), 
alfo nicht allein die wirkliche Hingabe eines Gutes durch Schenfung, Tauſch, Ver- 
fauf (Nov. VIL c. 1. 5; 0.5. X. De reb. ecel, non alien.), fondern auch die zwan- 
zig- und mehrjährige Verpachtung von Grundflürfen (Conc. Trid. Sess. XXV. e. 
11. De ref.), die Verleihung eines neuen Lebens (ce. 2. X. De feud. III. 20.), die 
Beftellung einer neuen Empbyteufis (ſ. d. A.) oder Erbverpadtung (c. 5. 9. 17. 
X. De reb. ecel. non alien. Ill. 13, Sext. c. 2. eod. IH. 9.), Belaftung von Ser- 
vituten (z. B. 1. ult. Cod. eod. IV. 51.), Einräumung einer Specialhypothek E. 
21. Cod. eod.; Nov. VII. 5. 6; c. 5. X. eod. IH. 13.), alfo überhaupt jede Hand- 
Jung verfianden, durch welche das Kirchenvermögen befchwert oder deffen Beftand 
verringert würde. Nah allen diefen Richtungen Hin faun eine Veräußerung nur 
ausnahmsweife geftattet werden und fegt vor Allem eine gerechte Urfache (justa 
causa alienandi) voraus; erfilih, wenn Noth oder Pflicht gebietet, beifpielswerfe 
zur Erbauung einer nothwendig gewordenen neuen, vder zur Reparatur einer 
baufälligen Kirche (c. 6. X. De eccl. aedif. III. 48.), zur Bezahlung der von der 
Kirche gemachten Schulden (c. 2. c. X. qu. I.), zur außerordentlichen Unterftägung 
der Armen in Hungersnoth Cc. 70. c. XH. qu. IL), oder Losfaufung son Ge- 
fangenen (c. 14.15. 16. c. XII. qu. IL), in welchem Falle fogar die res sacrae 
angegriffen werben Dürfen dl. 21. Cod. De reb. ecel. non alien. IV. 51; Nov. CXX. 
Kirchenlexikon. 6. Bo, 13 


194 Kirhenvermögen. 


©. 9.); zweitens, wenn für die Kirche ein augenfcheinficher Vortheil erzielt wird 
(Ce. 52. c, XII. qu. IL), was da anzunehmen ift, wo die Kirche mehr und Befferes 
erhält, als fie Hingibt. Aber auch in alfen diefen und ähnlichen Fällen müffen die 
vorgefchriebenen Formlichkeiten (solennitates ecel.) beobachtet werden, namentlich 
Die Nachweifung des dringenden Bedarfs und die Bewilligung des cumpetenten 
Kirchenoberen, des Biſchofs, für welchen felbft dag Capitel sede vacante nicht 
Handeln kann (Sext. c. 1. De reb. non alien. IM. 9.), Die Kirchengeſetze verlangen 
aber eine forgfältige und genaue Unterfuchung von Seite des Ordinarius über 
den Grund der Veräußerung und über das zu veräußernde Object (c. 52. c. MI. 
qu. II, Sext. c. 1. cit.), ehe er feinen Confeng — und zwar in einem förmlichen 
Veräußerungsdecrete — ausfpricht Cc. 8. X. De his quae fiunt a prael. III. 10.), 
Bei der Veräußerung des einer Patronatsfirche gehörenden Gutes iſt auch die 
Genehmigung des Patrons, und bei der Veräußerung von Gütern des Capitels 
oder der Cathedrale, oder überhaupt des Bisthums die Zuftimmung des Capitels 
nothwendig (f. Eonfens der Betheiligten und Conſens des Eapitels), 
Endlich wenn mit dem bifchöflihen Menfalgut (mensa episcopi), deſſen freilich 
jegt gar viele Bifchöfe in Teutſchland gar nicht Haben, eine Veräußerung vor— 
genommen werden wollte, fo find die Bifchöfe wie ehemals (c. 8. X. De reb. non 
alien.; c. 2. X. De feud. II. 20.) auch jegt noch durch ihren Subjectionseid ver- 
pflichtet, die Einwilligung des apoftolifchen Stuhles zu erholen (ſ. Biſchof Br. 
1. ©, 31). Dagegen ift die von Paul II. erlaffene Verordnung, daß zur Ber- 
Außerung Firchlicher Güter überhaupt die päpftliche Genehmigung erfordert werde 
(Xvagg. comm. c. un. eod. II. A.), in Teutfchland nie practifch geworden, Inter 
den vorerwähnten Vorausfegungen aber Fonnen fogar geweihte Sachen und Im— 
. mobilen angegriffen werden; es folfen jedoch in der Regel immer bewegliche 
Sachen, felbft geweihte, vor Jmmobilien veräußert werben (Nov. XX. c. 10; 
Auth. „Praeterea“ ad 1. 21. Cod. De ss. Eccl. I. 2.), Jede Veräußerung, melde 
ohne gerechte Urſache oder mit Umgehung des onfenfes der Betheiligten, 
worunter heutzutage allgemein auch die Zuftimmung der Staatsgewalt (der Cu— 
Yatel- und refp. Obereuratelftellen) begriffen wird, vorgenommen wurde, hat nicht 
allein Nichtigkeit des Geſchäfts zur Folge, und berechtiget die Kirche ohne weiters 
zur Vindicationsklage Co. 6. 12. X. De reb. non alien. III, 13; Sext. c. 2. eod. IH. 
9; Xvagg. comm. c. un. eod. Il. 4.), fonvern eg greifen auch perfönliche lagen 


auf Schadenerfaß gegen den Veräuferer Pag Ce. 18. c. XI. qu. .), und felbft 


nachfolgende Kirchenvorfteher können fich ihrer noch bedienen Ce. A. X. evd. II. 
413.) Aber auch jene Nachtheile, welche die Kirche durch eine ex justa causa und 
mit Beobachtung der gefeglichen Formen vorgenommene Veräußerung erleidet, 
können durch das Geſuch um Wiedereinfegung in den vorigen Stand (f, Resti- 
tutio in integr.) abgewendet werden. — 2) Die neueren Staatsgefeg- 
gebungen haben die eben vorgetragenen Grundfäße des canonifchen Rechtes an- 


erfannt, wenigftens im MWefentlichen, Nur ift es überall zunächft nicht mehr der ) 


Bifhof, von deffen Genehmigung die als nothwendig oder vortheilhaft nachgewie- 
fene Veräußerung eines Firchlichen Vermögenstheiles abhängig gemacht if, fon- 
dern die Staatsregierung als oberfte Verwaltungsſtelle. Sp in Deftreih (bis 
in die jüngfte Zeit herein) die k. k. Hoffanzlei, an welche die betreffende Landes- 
ftelfe die deßfalffigen Anträge mit gutachtlichem Berichte einzubringen hatte (Hof— 
Tanzleid. 9. 30. Dee, 1806 und v. 27, Juni 1822), In Preußen ift bei Ver- 
außerung ganzer Landgüter oder Häufer die Genehmigung der geiftlichen Departe- 
ments nothwendig; bei einzelnen Gutsparzeffen ober bloßen Gerechtfamen reicht 
auch der Conſens der unmittelbaren geiftlichen Oberen bin (Allg. L-R, Tb, I. 
Tit. 11. $ 220.) Das bayerifhe Civilrecht (L-R. Th. T. Cap. VIE $ 13, 


Nr, 1 ff. u. $ 36,) adoptirt die Beftimmungen des Decretalenrehts, bat aber : 
die Gultigkeit und Erlaubtheit der Veräußerung zugleich an bie Genehmigung der 


a a ee 





Kirchenverſammlung — Kirchenviſitation. 15 


- Euratel- und refp. Obereuratel-Behörden gefnüpft (Allh. Entſchl. v. 9. Dez. 1825 
$ 63. 74, 82; revidirtes Gemeinde- Ediet 9, 1. Juli 1834 SH 12. 21). Im 
Königreih Sahfen erteilt die Veräußerungsgenehmigung das Minifterium 
des Cultus und des öffentlichen Unterrichts auf den durch die Mittelverwaltungs- 
behörden hierüber erftatteten Vortrag (Inſtruct. der Kreisdirect. v. 20. Juni 1835 
$ 6 lit. d). In Baden fünnen Güterveräuferungen und fländige Veränderun- 
gen im nutzbaren Eigenthume der Kirche nur von der großherzoglichen Fatholifchen 
Kirchenfection auf den durch das Amt an das Kreisdireetorium geftellten und 
durch diefes an das Minifterium einbeförderten Antrag bewilligt werden (Inſtruct. 
9. 16, Dez. 1326 nr. 15) ze. Die Bifhöfe find dabei in der Regel auf das 
Recht befchränft, von beantragten Veräußerungen Kenntniß zu nehmen, und nö- 
thigenfalls durch Gegenvorftellungen und Befchwerde das Intereſſe der Kirche zu 
wahren, Nur Bayern hat nicht bloß ein ſolches Erinnerungsrecht der bifchöf- 
lichen Steffen im Allgemeinen anerkannt, fondern auch die Wirffamfeit folcher 
Remonftrationen bei allen wirklichen oder Duafi-Beräußerungen gefeslich ausge- 
ſprochen, und insbefondere Erbverpachtungen oder auch die Beftellung einer Spe— 
eialhypothef auf Kirchengüter ohne biſchöflichen Conſens als ſchon in formelfer 
Hinſicht ungültig erklärt (Miniſt.Entſchl. v. 4. Mai 1832 und v. 21. Juni 1841), 
Der ungehemmtefte Einfluß aber auf eine felbftftändigere Verwaltung des Rirchen- 
vermögens ift dem Episcopate in Deftreich durch die füngfte Faiferliche Verord— 
nung, die Freiheit der Fatholifchen Kirche betreffend, eröffnet, [Permaneder,] 

Kirchenverfammlung, f. Synode, 

Kirchenvifitation. Die firhlichen Dbern Haben fowohl das Necht als die 
Pflicht, über die Befolgung der Firchlichen Vorföpriften zu wachen, und innerhalb 
der ihrer Amtsgewalt angewiefenen Sphäre das fittlih religiöfe Leben ihrer 
Untergebenen zu beauffichtigen. Deßhalb ift es nothwendig, daß fie fich entweder 
perfönlich an Drt und Stelle begeben, um von den innern Zuftänden der ihnen 
untergeordneten Gemeinden oder Eorporationen Einficht zu nehmen, oder dur 
Bevollmächtigte fih darüber berichten zu laſſen (f. Berichte). Dieß thaten ſchon 
die Apoftel, indem fie von Zeit zu Zeit die von ihnen gegründeten Gemeinden 
sifitirten oder über diefelben fich bei zuverläffigen Perfonen erfundigten (Apoftelg. 
15, 36. 1 Eor. 1, 11. Eoloff, 1, 4). Das Gleiche gefhah von ihren Nahfol- 
gern, und zwar I. von den Bifchöfen innerhalb ihrer Didcefen, In den erften 
drei Jahrhunderten zwar, in welchen es noch Feine befondern Landgemeinden gab 
und jede Kirche unmittelbar unter der Leitung des Bifchofs fund, war das Be— 
dürfnig zu einer befonderen Bifitation durch den Bifchof nicht vorhanden. Als 
fih aber außer der Cathedralfirhe Landgemeinden zu bilden anfingen und die 
Dideefen fih immer mehr erweiterten, wurde es als eine der erften Pflichten des 
Bischofs betrachtet, von Zeit zw Zeit feine Didcefe zu durchreiſen und die ein- 
zelnen Gemeinden zu vifitiren, Es ift befannt, mit welcher Gewiffenhaftigfert 
und unermüdeter Sorgfalt 3. B. der HI. Auguftinus fih diefem Gefhäfte unter- 
zog, fowie auch das Gleiche dem HI, Athanafius und Martin von Tours nachge— 
rühmt wird. Im Driente fanden nach der Beftimmung einer Synode von Lao— 
dieäa aus der zweiten Hälfte des vierten Jahrh. (347— 81) in größeren Sprengeln 
dem Bifchofe eigene Reifepriefter (remodevreı, circuitores, ſ. d. A.) zur Seite, 
deren Geſchäft die Viſitation der Landgemeinden gewefen zu fein fiheint (c. 5. 
Dist. LXXX u. c. 42 $ 9 Cod. de epist. et cler. I. 3). In der abendländifchen 
Kirche dagegen, namentlich in Spanien wurde darauf gedrungen, daß die Bi— 
ſchöfe nach altherfommlicher Weife in eigener Perfon jährlich ihre Diöcefen vifi- 
tirten c. 10 ©. X. qu. 1 (conc. Taracon. a. 516) c. 12 eod. (Con. Bracar. II. 
a. 572), Nur in Berhinderungsfällen oder wegen Krankheit follten fie dazu zu⸗ 
verläffige Priefter oder Diaconen aufftellen c. 11 eod. Cconc. Tolet. IV a. 633). 
Auf ähnliche Weife wurde auf fränfifhen Concilien und — —— die jähr⸗ 


196 Kirchenviſitation. 


liche Vornahme der biſchöflichen Viſitationen gedrungen (ck. Cap. Carlom. (742) 
c. 3. Capit. Pipini (744) c. 4; Capit. Carol. M. (769) c. 7. 8; Capit. Aquisgr. 
(813) ce. 1; Capit. Synod. Tolos. (844) c. 4—6 in Ferd. Walter Corp. jur, 
German. antig. Tom. Il. pag. 20. 30. 54. 261. Tom. III. pag. 17 sqq.), Bet feinen 
Bifitationen unterfuchte der Bifchof die Amtsführung der Geiftlichen, die Bedürf— 
niffe der Kirchen, fowie bie fittlichen und religidfen Zuftände der Gemeinden ; in 
der Negel war mit der Bifitation zugleich die Ausfpendung des hl. Saeraments 
der Firmung verbunden, Ihre weitere Ausbildung erhielten diefe Vifitationen 
feit dem Ende des achten Jahrh. durch das Inftitut der fogenannten Send- oder 
Synodelgerichte, wie dieß aus zwei Vifitationsorbnungen aus jener Zeit, der des 
Hincmar von Rheims (opp. Tom. I. p. 716) und der des Regino (Lib. II, Gap. II. sqq.) 
zu erfehen if. Denfelben zufolge wurde von dem vifitirenden Bifchofe zwei oder 
drei Tage vorher der Archidiacon (ſ. d. U.) oder Archipresbyter (ſ. d. A.) in die 
zu vifitirende Gemeinde geſchickt, um die Ankunft des Bifhofs anzumelden , und 
die Parochianen zum Erfcheinen auf der Synode einzuladen, Um dem Bifchofe 
theils fein Gefchäft zu erleichtern , theils um daffelbe abzufürzen, wurden von dem 
Archiviacon im Namen des Bifchofs die minder wichtigen Gefchäfte bereinigt. 
Der Bifchof wählte dann fieben oder auch mehrere unbefcholtene und glaubhafte 
Männer als fogenannte Synodalzeugen oder Sendfchöffen (testes synodales), 
welche nach geleiftetem Eide die verfchiedenften Fragen über den Zufland ber Ge— 
meinde zu beantworten hatten, und die ihnen befannt gewordenen Sünden und 
Lafter anzeigen mußten, Mit der Entwiclung und Steigerung der Amtsgewalt 
der Archidiaconen gefihah es allmählig, daß diefelben innerhalb ihrer Sprengel 
ein ordentliches Vifitationsrecht erlangten, nachdem fie ſchon früher zu denfelben 
in VBerhinderungsfällen delegirt wurden (vgl, Ant. Schmidt, de synodis archi- 
diaconalibus etc. in feinem Thesaur. dissert. jur. ecel. Tom, Ill. p. 314 sqq.). 
Diefe fodann flellten wiederum innerhalb der fogenannten Chriftianitäten (ſ. Ar- 
chipresbyter) als Commiffäre die Archipresbyter auf, oder räumten denfelben 
ein ordentliches Vifitationgrecht über beftimmte Diftriete oder über Perfonen der 
niedern Stände ein, Jedoch war es nicht felten der Fall, daß fih Perfonen aus 
ven höhern Ständen den Bifitationen der Archidiaconen entzogen und auf einer 
eigenen Sende unmittelbar unter dem Bifchofe zufammenfamen, und fomit nach 
dem bürgerlichen Stande der Perfonen eine dreifache Art von Senden entflund, 
Die Willfür und die Erpreffungen, die ſich die Archidiaconen auf ihren Viſitatio— 
nen erlaubten, veranlaßten allgemeine Klagen auf dem dritten Lateranenfifchen Eoneil 
(1179), weßhalb Alerander II. ihnen verbot, mehr als einmal im Jahre, außer- 
ordentliche Falle ausgenommen, Vifitationen vorzunehmen c, 6X de officio archid. 
dl. 23). Seit dem 13ten Jahrh. ging daher das Streben der meiften Synoden 
dahin, die Amtsbefugniffe der Archidiaconen zu befchränfen und bie ordentlichen 
biihöflichen Vifitationen wieder herzuftellen. Diefe hatten übrigens nie ganz auf- 
gehört; dieſes beweist daſſelbe dritte Iateranenfifche Eoneil, auf welchem die Bifchöfe 
gleichfalls vor Erpreffungen auf ihren Bifitationen gewarnt werben oc. 6 X. de 
censibus (II. 39). Eine Synode von Würzburg (1287) co. 10 fihärft e8 den 
Biſchöfen ein, jährlich oder wenigftens alle zwei Jahre ihre Didcefen zu vifitiren 
und dabei zugleich das HI, Sarcrament der Firmung zu fpenden, Das Triventinum 
bat in diefer Sache einzelne wichtige Beflimmungen erlaffen, und den Bifchöfen 
aufs Neue die Vifitationen eingefchärft (Sess. XXIV ce. 3. de reform.). Daffelbe 
verorbnete, daß jeder Didcefanbifchof entweder in eigener Perfon, oder in gefeß- 
lihem BVerhinderungsfalfe durch feinen Generalvicar jährlich wenigſtens den 
größten Theil feiner Didcefe und innerhalb von zwei Jahren die ganze vifiticen 
müffe. Die Arhiviaconen, Decane und andere niedere Kirchenbeamte, welche 
bis dahin die Vifitation gefeglich geübt haben, follen diefes mit Beiziehung eines 
Notars mit Genehmigung des Biſchofs auch ferner, jedoch immer in eigener 








Kirchenviſitation. 197 


Perſon zu thun gehalten fein, Dem Biſchof bleibt es nichtsdeſtoweniger unbe- 
nommen, auch noch felbft oder durch feinen Bevollmächtigten eine Viſitation vor— 
zunehmen, fowie jene zugleich die Verpflichtung haben, innerhalb eines Monats 
nach beendigter BVifitation einen umfaffenden Rechenfchaftsbericht nebft ſämmtlichen 
Bifitationsacten vorzulegen (ſ. Berichte). Als Hauptfächlicher Zweck diefer Viſi— 
tationen wird angegeben Erhaltung und Förderung der Neinheit der Lehre, des 
Eultus und der Disciplin, Hebung des fittlich-religiöfen Lebens in den Gemeinden, 
befonders aber Unterfuhung der Amtsführung und des Wandels der Geiftlichen, 
Zugleich werden die BVifitatoren ermahnt, die Bifitation fo ſchnell als möglich 
und auf möglichft einfache Weife vorzunehmen, um Niemanden unnöthige Koften 
zu verurfachen und dabei firengflens verboten, außer einer einfachen und mäßigen 
Procuration während der Dauer der Bifitation irgend etwas anzunehmen, 
Denjenigen dagegen, welchen die Bifitation gilt, bleibt es unbenommen, ob fie 
lieber wirklich die Procuration Ieiften, oder dafür die bisher übliche Tare bezah— 
len; an folden Drten aber, wo bisher weder die Procuration noch eine Entfchä- 
digung dafür üblich war, foll diefes fein Berbleiben haben. Wer in den genannten 
Fällen etwas annehme und fordere, foll außer der doppelten Neftitution innerhalb 
eines Monats nah c. 2. VI. de cens. (II. 20) auch noch mit andern Strafen 
nah Ermeſſen der Provincialfynode beftraft werden (f. Abgaben Bd. I. ©. 32). 
Endlich wird außer den regelmäßigen Bifitationen den Bifhöfen auch noch 
das Necht eingeräumt, außerordentliher Weife, wenn und fo oft es nöthig, 
ihre Bifitationen auch auf die erempten Capitel (Sess. VI. c. 4. de ref.) und an= 
dere erempte Secularkirchen (Sess. VII. c. 8. de ref.), fowie auf die erempter 
Klöfter bezüglich der ihnen außer dem Klofterbereiche zufländigen Seelforge 
(Sess. XXV. c. 11. de ref.), ferner auf die erempten Frauenklöfter rückſichtlich 
der Clauſur (Sess. XXV. o. 5. 9. de ref.), endlich auf die nicht unter unmittel- 
barem Iandesfürftlihen Schuge ftehenden Armen- und Kranfenhäufer auszudehnen 
Gess. XXI. c. 8. de ref.), Gegen die bifhöflichen Vifitations-Monita findet feine 
Appellation Statt, jedenfalls hat diefelbe feine fufpenfive Wirkung (Sess. XII. c. 1. 
XIV. c. 10 de ref.) Mit mufterhaftem Eifer fuchte namentlich der Hl, Carl Bor- 
romäus (ſ. d. X.) diefe Beftimmungen des Triventinums zur Ausführung zu bringen, 
wie es von ihm felbft Heißt, daß er in der Negel die Zeit von Pfingften bis Ad- 
vent auf feine Bifitationen verwendet, und unter den größten Gefahren und Be- 
ſchwerden fich diefem Gefchäfte unterzogen habe, Leider find die Beftimmungen 
des Tridentinums binfichtlih der bifchöflichen Kirchenvifitationen, die einftens 
30h. Gerfon den „cardo totius reformationis“ nannte, in neuerer Zeit in Teutſch⸗ 
land wenigftens größtentbeils außer Uebung gefommen. In Bayern allein ift mit 
der Ertheilung der HI, Firmung zugleich die Didcefanvifitation verbunden, welche 
vorſchriftmäßig alle zwei Jahre in der ganzen Diöcefe flattfindet, Es ift zwar 
auch in andern teutfchen Didcefen die Berechtigung des Bifchofs zur perfün- 
lichen Bifitation feiner Didcefe anerkannt, allein nur außerordentliher Weife darf 


. er Gebrauch davon machen, und mußte bisher, wie in Deftreich und im Großher— 


zogthum Sachſen, einen Iandesherrlihen Commiffär beiziehen, oder zuvor, wie in 
der oberrheinifchen Kirchenprovinz, die Genehmigung der Staatsbehörde einholen. 
Die prdentlihen Vifitationen werden durch die Decane alljährlich, bisweilen 
aber auch bloß alle drei Jahre vorgenommen, die dazu von dem bifchöflichen Or— 
dinariate mit Inſtruetionen verfehen find. Die amtliche Wirkfamfeit des vifiti- 
renden Decans ift dann felbft wieder einer befondern Infpection unterworfen, 


die entweder durch einen benachbarten Amtsgenoffen jährlich, wie in Deftreich, 


oder alle fünf Jahre, wie in der Didcefe Mainz, durch ein Mitglied des Dom- 
eapiteld oder einen andern Decan, oder alle drei Jahre, wie in der Didcefe Rot- 
tenburg durch ein Drbinariatsmitglied und ein Mitglied des Föniglichen Fatholifchen 
Kirchenraths vorgenommen wird, Zu eigenmächtigen Verfügungen find die unter- 


198 Kirchenviſitation. 


geordneten Viſitatoren, mit Ausnahme proviſoriſcher Maßregeln in eiligen Fällen, 
nur in ſoweit berechtigt, als ihnen dieſes ihre Inſtruction geſtattet; in allen andern 
Fällen haben fie zuvor befonders an bie geiftliche oder weltlihe Behörde zu 
berichten, und von diefer eine Entfcheidung zu erwirfen. Sodann haben fie über 
die Refultate der Viſitation entweder gleich nach deren Beendigung oder in einem 
allgemeinen Bifitationsberichte jährlich dem Ordinariat Bericht zu erftatten (vgl. 
die Dienftvorfhrift für die Landderhanten der Erzdibeeſe Coln vom 24, Februar 
1827 in der Sammlung der wichtigften allg. Verord. u. ſ. w. Eöln 1837 ©. 45. 
Für Oeſtreich: Helfert, von den Rechten und Pflichten der Bifchöfe Bd. 1. S. 430 ff. 
Erz. Freiburg: Inftruction für die Decane vom 24, Febr, 1837 im Archiv für 
die Geiftlichfeit der oberrheiniſch. Kirchenprov. Bd. I. 9, IV. ©, 287 ff. Mainzer 
Diveefanftatuten von 1837 ©, 22 ff. Lang, Sammlung 20, ©. 530 ff. 668 ff. 
Longner, die Rechtsverhältniffe der Bifchöfe in der oberrheiniſch. Kirchenprovinz 
©. 191 f. Müller, Lexicon des Kirchenrechts d. A, Bifitationen), — II. Erzbi— 
Thöflihe Viſitation. Wie die Bifchöfe innerhalb ihrer Diöceſe, fo übten Die 
Metropoliten innerhalb ihrer Provinzen das Vifitationgrecht aus, Indeß hob das 
achte allgemeine Eoneil (869 c. 19) für die Metropoliten diefes Necht auf, weil 
ftarfe Klagen über Erpreffungen und Mißbräuche, die fie fih bei Ausübung des— 
felben zu Schulden kommen Liegen, erhoben wurden. Im Abendlande wurde es 
ihnen übrigens feit dem zwölften Jahrhundert wieder ausdrüdlih anerkannt 
c. 16. X. de praescript. (II. 26), c. 14. 15. X. de cens. (III. 39). Auf dem vier- 
ten Tateranenfifchen Coneil unter Innocenz II. wurde den Metropoliten beſon— 
ders die Abhaltung der Provincialfynoden eingefchärft, und ihnen die Weiſung 
gegeben, daß in jeder Didcefe eigene Synodalzeugen ernannt werben follten, 
welche dann auf derfelben dem Metropoliten die gemachten Erfahrungen mittheil- 
ten c. 25. X. de aceusat. (V. 1). Innocenz IV. erließ über die erzbifchöflichen 
Bifitationen ausführlichere Beſtimmungen c. 1. VI® de cens. (II. 20). Diefen 
zufolge hat der Erzbifchof zuerft feine eigene Didcefe, und dann erft die feiner 
Suffraganen zu viſitiren; ferner darf er eine bereit$ ganz oder auch nur theil= 
weiſe vifitirte Didcefe nicht früher einer neuen Bifitation unterwerfen, bis alle 
Didcefen der Provinz der Neihe nach und feine eigene vifitirt find, Nach vollen- 
deter Bifitation feiner ganzen Provinz kann er diefelbe nah eingeholtem Rathe 
der Provincialfynode wiederholen, wenn auch diefe es nicht gerade für befonders 
notbwendig halten follte, Bei der neuen Bifitation hat er in jener Gegend an- 
zufangen, die von ihm bei der frühern übergangen wurde oder bei der fie am 
meiften nöthig iſt. Uebrigens kann er zu jeder Zeit eine Bifitation vornehmen, wenn 
ein dringendes Bedürfniß dazu vorhanden und er von feinen Suffraganen darum 
erfucht wird; ift aber das Legtere nicht der Fall, fo bedarf er dazu der Erlaubniß 
des hl. Stuhles, Bonifaz VIIL Hat dieſe Eonftitution von Innocenz IV. erneuert 
und den Erzbifchöfen das Recht zu wiederholten Bifitationen beftätigt c. 5 
Vlo- de cens. (II. 20). Das Tridventinum räumte zwar ebenfalls den Metropo— 
liten das Necht zur Viſitation ihrer Provinzen ein, allein mit der Einfehränfung, 
daß zuerft die Bifitation ihrer eigenen Didcefe beendigt fein müffe, aber auch 
dann nur aus einem beftimmten Grunde, der zuerft dem Provineialeoneil zur 
Kenntniß gebracht werden und deffen Billigung verlangt haben muß (Sess. XXIV. 
c. 3. de ref.), Mit dem Aufhören der Provincialeoneilien mußten deßhalb noth— 
wendig auch bie erzbifchöflichen Vifitationen außer Hebung fommen. Ein Verſuch, 
diefelben wieder einzuführen, wurde in neuefter Zeit von den bei der Conſtitui— 
zung der oberrheinifchen Kirchenprovinz betheiligten Staatsregierungen gemacht, 
und zwar in der Weife, daß fich diefelben die jedesmalige Genehmigung zur Bor- 
nahme einer Bifitation und nach Umftänden die Beiorbnung eines Iandesherrlichen 
Eommiffärs vorbehielten (Frankfurter Kirhenpragmatif vom 3, Det. 1818 $ 13). 
Allein der HI, Stuhl hat mit gerechtem Mißtrauen dieſe beabfichtigte Steigerung 








Kirchenvogt, Kloſtervogt. 199 


der Metropolitangewalt aufgenommen und ſich deßhalb nicht veranlaßt gefunden, 
son den Beſtimmungen des Tridentinums abzugeben. — I. Papſtliche Bifi- 
tationen. Wie den Biſchöfen innerhalb ihrer Didcefe, den Metropoliten inner- 
halb ihrer Provinz, fo ſteht auch dem Papfte als der oberfien kirchlichen Auf- 
figtsbehörde das Necht zu, Einficht zu nehmen von den Zufländen der einzelnen 
Didcefen,, und zu diefem Zwecke Männer feines Vertrauens abzuordnen, die ihm 
hierüber berichten und den Vollzug feiner Anordnungen, fowie der Kirchengeſetze 
überhaupt überwachen. Diefes Recht übten früher die Päpfte durch ihre Legaten 
ce. 17. X. de cens. (11. 39), c. 1. Extrav. comm. de consuet. (I. 1), deren Wirf- 
famfeit bald eine fländige, bald eine vorübergehende war. Hebrigens gibt es Feine 
regelmäßigen päpftlichen Bifitationen innerhalb der ganzen Kirche, wie z. D. die 
jährlichen Bifitationen der Bifhöfe in ihren Diöcefen, fondern diefelben befchrän- 
fen fih immer auf außerordentliche Fälle: Bisweilen wurden von den Biſchöfen 
ſelbſt apoſtoliſche Viſitatoren verlangt, wie z. B. vom HI. Carl Borromäus für 
die Dideefe von Mailand; er felbft wurde zum apoſtoliſchen Bifitator für Rhätien 
und die Schweiz aufgeftellt. Die heutigen päpftlihen Nuntien haben weniger dem 
Charakter fiehender Auffichtsbehörden, als vielmehr die Beftimmung, den diplo— 
matifchen Verfehr der Höfe mit dem hl. Stuhle zu vermitteln, Durd ein über- 
triebenes Miftrauen von Seite der weltlichen Regierungen iſt es dem kirchlichen 
Oberhaupte vielfach unmöglich gemacht worden, eines feiner wefentlichften Rechte 
in Ausübung zu bringen, fowie umgefehrt dur den gehemmten oder erſchwerten 
Berfehr der Biſchöfe mit dem HL. Stuhle gleihfam die Lebensader unterbunden 
wurde, durch welche die kirchliche Ordnung bedingt iſt. (Vgl. Thomassin, vet. 
et noy. ecel. discipl. P. II. L. HI. cap. 77 sqq. Permaneder, Handbuch des kathol. 


Kirchenr. $ 457 ff. Richter, Lehrbuch des Kirchenr, F 186 ff. Ferd. Walter, 


Lehrbuch des Kirchenr. $ 187). [Khuen.] 
Kirchenvogt, Kloſtervogt, nannte man im Mittelalter denjenigen Be— 
amten, der eine Kirche oder ein Kloſter in weltlichen Angelegenheiten bei den 
weltlichen Gerichten zu vertreten hatte, und zugleich innerhalb eines kirchlichen 
Territoriums die bürgerliche Gerichtsbarkeit ausübte. Faſt dieſelbe Aufgabe hat— 
ten ſchon in früheren Zeiten die fogenannten defensores ecclesiae und zum Theil 
auch die Deconpmen, nur mit dem Unterfhiede, daß dieje beiden in der Regel 
Elerifer, jene aber Laien waren (f.d. Art. Defensor und Kaftenvogt). Carl d. Gr. 
verorbnete, daß in wichtigen Rechtsſtreiten von Firchlicher Seite an den Kaijer 
das Erfuchen um tüchtige Nechtsgelehrte geftellt werde, die dann den Proceß zu 
führen hätten (1. T. c. 308); in der Negel aber blieb: die Wahl des Kirchenvogts 
dem Biſchofe oder den Klöftern überlaffen. Derfelbe hatte fein beſtimmtes Ein- 
fommen, fowie ein Drittel von den Strafgeldern oder Schuldforderungen. Bis— 
weilen fam es au vor, daß die Kaiſer einem Klofter das Privilegium ertheilten, 
einen feiner Hofbeamten zum Rirchenvogte zu wählen, und feine Rechtsſtreitigkeiten 
ausfhlieglih dem Hofgerichte zuwiefen, Wegen des ungeorbneten und unſichern 
Rechtszuſtandes des Mittelalters fah fih die Kirche in der Lage, ihr Eigenthum 
und Recht mit Gewalt gegen die Eingriffe raub- und habſüchtiger Nachbarn ver— 
theidigen zu müffen, und fo Fam zu der obigen Aufgabe des Kirchenvogts die wei— 
tere hinzu, nämlich die Vertheidigung der Kirchen und Klöfter gegen Anmaßung 
und Gewalt. Zugleih hatte er im Namen der Kirche den Heerbann zu Jeiften, 
und ihre Dienftleute (ministeriales) im Kriege anzuführen. Daher denn auch die 
Unterfheivung zwifchen advocatus ecel. togatus (forensis, civilis) und advocatus 
eccl. armatus, die aber öfters eine und diefelbe Perfon waren. Der Kirchenvogt 
war bemnad zugleich Schirmvogt, und da derfelbe immer im Befige einer größern 


‚Macht fein mußte, war derfelbe faft immer ein weltlicher Fürft oder auch der 


Kaifer ſelbſt. Durch diefes Schugverhältnig erlangte dann auch der Kirchenvogt 
ein gewiffes Hoheitsrecht über die feinem Schuge anvertrauten Klöfter, weßhalb 


200 Kirdenwürde — Kirder. 


3. B. Bifchöfe oder auch weltliche Fürften, wenn fie ein Klofter einem Abt 
ſchenkten, fi und ihren Nachfolgern ausdrücklich die Ernennung des Kirchenvogte 
oprbehielten. Diefes Schugverhältniß war oft auch ein mittelbares, indem 3. 
ein Klofter einem benachbarten Eolfegiatftifte fih anſchloß, und auf diefe Weife 
unter den Schuß des letztern geftellt wurde, das felbft wieder unter einem mäch— 
tigern Schirmherrn ſtund. Uebrigens hörte die vben genannte Eigenfchaft des 
Kirchenvogts, Vertreter der Kirche vor dem weltlichen Gerichte zu fein, nie ganz 
auf; nur geftaltete fich das Verhältniß dahin, daß z. B. Kaifer oder Fürften, die 
fih als Schirmvögte irgend einer Kirche oder eines Klofters erwählen ließen oder 
fi als ſolche betrachteten, für die bürgerlichen Nechtsftreitigfeiten derfelben, und 
dann je nach ihrer Entfernung auch zum Friegerifchen Schuge, Stellvertreter auf- 
flellten, die man Untervögte (subadvocati) nannte, Bisweilen geſchah es fogar, 
daß folche, welche bereits mit dem Amte des Kirchenvogts delegirt waren, wieder 
Andere fuhdelegirten, was jedoch von den Raifern verboten wurde, Webrigens 
war das Snftitut der Kirchenvögte für die Kirche gar oft das Gegentheil von 
dem, was es fein follte; die Schirmpögte wurden für fie die härteften Bedrücker. 
Schon das Eoneil von Mainz im J. 813 c. 50 machte es den Biſchbfen und 
Aebten zur Pflicht, folde Schirmvögte zu wählen, welche einerfeits im Stande 
feien, die Kirche vor Gewalt zu fohügen, und von denen andererfeits feine Gewalt 
gegen fie felbft zu befürdten ſei. Dft ließen fie fi die größten Erpreffungen 
und Unterfohleife zu Schulden fommen und beraubten die Kirchen und Klöfter 
ihres Eigentums. Da ihr Amt in der Regel dur Gewohnheit auf den jeweiligen 
Inhaber eines beftiimmten Gutes over Schloffes überging, wurde es nicht felten 
in den adeligen Familien als Lehen betrachtet und deßhalb geradezu als Lehen . 
an Andere verfauft, fo daß fich die Klöfter diefer Laft nur dadurch zu entledigen 
vermochten, daß fie das Lehen felbft Fäuflich an ſich brachten. Im zwölften Jahr, 
bedurfte e8 der ſtrengſten Cenfuren von Seite der Päpfte, fowie der Fräftigen 
Unterftügung der Kaifer, um die Firchlichen Inftitute gegen die Gewaltthätigfeiten 
ihrer Vögte zu ſchützen und fie von ihrem Drude zu befreien 23. X. de jure pa- 
tronatus (II. 28) c. 12. X. de poenis (V. 37) c. 13. VIo* de electione (I. 6). 
Vgl. Thomassin, vet. et noy. Eccl, discipl. II. L. II. cap. 55. Van Espen, J. E. 
P.1: Ti: XXV: 6 4. [Khuen.] 

Kirchenwürde, ſ. Dignität und Capitelswürden. 

Kirchenzucht, ſ. Dis ciplinargeſetze. 

Kircher, Athanaſius, Jeſuit, einer der ausgezeichnetſten Ge— 
Schrten und fruchtbarſten Schriftſteller ſeines Ordens und feiner 
Zeit, wurde 1601 zu Geyßa bei Fulda geboren, trat 1618 zu Würzburg in den 
Drden der Zefuiten und wurde dafelbft zum Lehrer der Mathematif und Philo- 
Sophie aufgeftellt, Yon da floh er vor den Schweden nah Frankreich, hielt fi 
einige Zeit zu Avignon auf und fam dann nah Nom, wo er ald Profeffor der 
Matbematif 1680 farb, Seine Schriften, voll Scharffinn und tiefer Gelehr- 
ſamkeit, aber auch voll Sonderbarfeiten verbreiten fich vorzüglich über Mathe- 
matik, Phyſik, Naturgefhichte, Kosmographie, Philofophie, Philologie, Geſchichte 
and Archäologie. Darunter find Die vorzüglicheren: Praelectiones magnelicae; 
mundus magnes; ars magna lucis et umbrae, ein ausgezeichnetes Werf; magia ca- 
toptrica; primitiae gnomicae catoptricae; musurgia universalis; phonurgia nova; 
obeliscus pamphilius; obeliscus aegyptiacus; oedipus aegyptiacus;; iter exstalicum ; 
ınundus subterraneus, eine Schrift, woraus Buffon und Andere gefchöpft habenz 
China illustrata; arca Noö; turris Babel; ars magna sciendi; polygraphia; La- 
tium; scrutinium physico - medicum contagiosae luis, dem Papft Alerander VII. 
Dedicirt und zu feiner Zeit fehr geſchätzt, etc. Zu feinen Erfindungen gehören 
der ſogenannte maltefifche oder kircher'ſche Brennfpiegel, worüber er in feiner 
Schrift „specula melytensis enoyolica“ Handelt, und der fogenannte kircher'ſche 






















Kirchgang — Kirchhof. 201 


gbrunnen, wo ein Vogel fo viel Waſſer ſchluckt, als eine Schlange in ein 
zecken ausfpeit. Außerdem Iegte er im römifchen Collegium das feinen Namen 
ragende Mufeum an, welches er mit Maſchinen, Antiquitäten und Naturfelten- 
heiten bereicherte, Kircher genoß zu feiner Zeit in ganz Europa großes Anfehen 
und hatte mit allen Gelehrten Verbindungen, felbft mit einem Duirin Kuhlmann 
(f. d. A.), den er zwar lobte aber auch warnte, mit feinen Wiffenfhaften nicht 
fo viel Rühmens zu machen (f. Arnolds Rirchen- u, Kegerhift. Th. 3. Cap. 19,3). 
Dagegen haben Moderne, die gar Manches aus Kirchers Schriften benüsten, ſich 
vereinigt, feinen Ruhm zu verbunfeln, Kirchers Autobiographie nebſt Briefen von 
ihm erfhien 1684 zu Augsburg im Drud, Seine zwei Drdensmitbrüder und 
Zeitgenoffen, Fr. M. Grimaldı (+ 1663) und ©, Riccioli (+ 1671), beide 
Profefforen zu Bologna, wovon der erfte die Beugung der Lichtftrahlen entdeckte 
und der zweite die Geographie und den Kalender nach mathematifchen Grund- 
fügen umzubilden anfing, ftanden mit Kircher in Verbindung. Vgl. Fellers Dic- 
tionnaire hist. Art, Kircher, Grimaldi und Riccioli, [Schrodl.] 

Kirchgang, ſ. Ausſegnung der Wöchnerinnen. 

Kirchhof (atrium ecclesiae) heißt der um die Kirche nächſtgelegene, gewöhn— 
lich durch eine Ringmauer abgeſchloſſene Raum, der feit dem vierten Jahrh. den 
Ehriften regelmäßig zugleich als pfarr- oder orts-gemeindliche Begräbnißftätte 
diente. I. Nach dem früheren heidniſch-römiſchen Rechte, dem auch die Chriſten 
der drei erfien Jahrhunderte folgten, Fonnte ſich Jedermann feine Grabftätte 
nah Gefallen wählen, nur nicht innerhalb der Städte (Fr. 3. $ 5. Dig. De se- 
puler. viol. XLVM. 12). Daher fegte man die Leichen, um das Andenken an die 
Abgeſchiedenen möglichft zu erhalten, gern in der Nähe von Landftraßen oder an 
andern befuhten Orten bei. Die erften Chriſten erforen fich ihre Ruheſtätten 
beſonders gerne an den Gräbern der Martyrer, wo fie von den überlebenden 
Freunden fleißig befucht, und der Fürbitte der mit Gott triumphirenden Blut— 
zeugen empfohlen zu werden hoffen fonnten (c. 19. $ 3. c. XII. qu. 2). Auch als 
die Chriftenverfolgungen aufgehört hatten, und man die Reliquien der Martyrer 
in die Kirchen der Städte überfegte, fuhr man fort, die Leiber der Abgeftorbenen 
in der Nähe der Martyrer und anderer frommen Glaubenshrüder, jest alfo um 
die Kirchen herum oder in den Vorhöfen und Kreuzgängen derfelben zu begraben, 
da eine Beerdigung in der Kirche felbft — wie im Driente fo auch regelmäßig 
im Abendlande — verboten (1. 6. Cod. Theod. De sepulchr. viol. IX. 17; Conc. 
Bracar. I. ao. 561. c. 15, Conc. Nannet. c. a. 660. c. 6) und nur als befondere 
Auszeichnung den Bifhöfen, Aebten, verdienten höheren Geiftlichen, fürftlichen 
oder ſonſt hochanſehnlichen Perfonen und den Stiftern der Kirchen geftattet war 
(Cone. Mogunt. ao. 813. c. 52, Conc. Meldens, ao. 845. c. 72). Sp entftanden 
allmählig im nächften Umfreife der Pfarr- oder Hauptfirche die gemeinfamen 
Ruheſtätten, welche daher Kirchhöfe (atria ecclesiae) , oder im tropifchen Sprach— 
gebrauche Stätten des Friedens (Friedhöfe), auch Freithöfe d. i. gefreiete 
Höfe, weil an dem Afylrechte der Kirchen (f. diefen A.) participirend ; deßgleichen 
Schlaf- oder Ruheftätten (zorumrrjore, coemeteria, dormitoria) und Gottes- 
äcker hießen, Ueber den Urfprung der chriftlichen Leichenbeerbigung, über die 
Vorbereitungen und die bürgerliche und rituale Feier des kirchlichen Begräbniffes 
ſ. Begäbniß, chriſtliches, Bd. I. ©, 734 ff. — II. Neben ven Leichenbeftat- 
tungen auf dem gemeinfamen Kirchhofe erhielt fi die fihon von den Alten für 
ſchicklich erachtete Sitte, fih an der Seite ver Seinigen begraben zu laſſen (e. 2. 
- 3. c. XII. qu. IL; c. 1 X. De sepult. II. 28), in fortwährender Uebung (f. Fa— 
miliengrabftätten Bd. II. ©. 894 ff). Auch ließen Viele fih in der Im- 
gebung von größeren Kirchen, Stiftern und befonders Klöftern beerdigen, weil 
da die für die Abgefchiedenen geftifteten Wochen- oder Jahr-Meſſen leichter per- 
folsitt werden Fonnten, Nur mußten in diefen Fällen, wenn das Begräbniß nicht 






202 Kirchhof. 


bei der Pfarrkirche flattfand, an diefe ein beftimmter Theil der Vermächtniſſe, 
welche der Berfiorbene dem gewählten Stifte oder Kloſter widmete, abgegeben 
werben (eo. 1.2.4. 8. 10. X. De sepult. III. 28; Sext. c. 2. eod. III. 12). Die 
Größe diefer Abgabe an die Pfarrkirche richtete fich nach dem Iocalen Herfommen 
Ce. 9. X. eod. II. 28), wo aber diefes nicht entfchied, betrug fie gemeiniglich den. 
4. Theil, dieQuarta funeraria (f, Abgaben) genannt (Clem. c.2. De sepult. III. 7.) — 
II. Abgefehen von den Fällen, wo Staatsgefege die Verweigerung der firchlichen 
Beerdigung als Strafe beftimmen (vgl, 3. B. Oeſterr. Strafgefegbuh Th. I. 
88 143. 150, Th. IL $ 925 Preuß, allg. Landrecht Th. I. Tit, 20 $ 803 f., 
Criminal⸗Ordn. $ 5505 Bayr, Ally, Entfohl, v. 16, Apr, 1820, v. Nov, 18455 
Churheffen R. A. vom 29, Jänner 1818, $$ 2, 3. 20.) ift durch die neueren 
polizeilihen Verordnungen alferwärts das Begräbniß auf dem Kirchhofe zu einer 
Nothwendigfeit geworben, fo daß in praxi der Kirche nur noch dieß belaffen 
ift, bei Begrabung öffentlicher unbußfertiger Verbrecher ihre Mitwirkung zu 
verweigern, Dieß ift wenigflens im Allgemeinen noch von den meiften Staat$- 
gefeßgebungen anerfannt, und muß ihr fortan überlaffen bleiben, Es bat daher 
jedes Mitglied der bürgerlichen Gemeinde, ohne Unterfchied des riftlichen Be— 
kenntniſſes, Anfpruch auf den gemeinfamen Ortsfichhof; aber Fein Geiftlicher 
fann gezwungen werben, das Begräbniß eines fremden Neligionsgenpffen nach 
den Feierlichkeiten feiner Kirche zu verrichten. Ebenfo mag jede öffentlich aufge- 
nommene hriftliche Kirchengemeinde bei ihren Leichenfeierlichfeiten fih Cwie dieß 
3. B. in Bayern geſetzlich ausgefprochen iſt) der Glocken auf dem Kirchhofe gegen 
Bezahlung der Gebühren bedienen, Der Natur der Sache gemäß find aber hier— 
unter die auf den Rirchhöfen in den eigentlichen Gpttesader - Kirchen und Kirch— 
hof-Capellen befindlichen Glocken d. 1. das Kirchhofgeläute zu verſtehen; nicht 
aber fünnen die Glocken der auf dem Lande gewöhnlich in Mitte des Kirchhofs 
ftehenden Fatholifchen Pfarrkirchen, alfo das volle Pfarrkirchengeläute von einem 
Afatholifen beanfprucht werben, Näheres über den Simultangebraud der Kirch— 
höfe von Seite verfhiedener hriftlicher Neligionsgenoffenfchaften geben die par- 
tieularrechtlihen Beftimmungen der teutfehen Staatsgefeggebungen. Ein folches 
Simultaneum zwifchen Katholifen und Mfatholifen ift vom Standpunete des ca= 
nonifchen Rechtes aus fehlechthin verwerflich Ce. 1. c. XXIV. qu. Il.; c. 12, pr. X. 
De sepult. II. 28). Auch hier, wie bei den Communficchen verfihiedener Con— 
feffionen, war es nur der Iocale Nothftand, der Anfangs da, wo eine Ausfcheidung 
der materiellen Erigenzen der verfchiedenen Rirchengefelffchaften zur Befriedigung 
ihrer Cultbedürfniffe unthunlich war, zu vertragsmäßigen Vereinbarungen trieb, 
und die im Leben kirchlich Getrennten nach ihrem Tode in gemeinfame Ruheſtätten 
vereinigte, bi8 es allmählig den modernen Örundfäßen einer laxen Kirchen- 
disciplin gelang, die hohe katholiſch-dogmatiſche Bedeutſamkeit des kirchlichen 
Begräbniſſes als einer auch über das Grab hinaus fortgefeßten communio in sacris 
zwifchen den Lebendigen und Abgeftorbenen mehr und mehr in Vergeffenheit zu 
bringen, — IV. Für todtgeborne oder vor empfangener Taufe verfiorbene Kinder 
mußte entweder ein gefonderter Friedhof außer dem Umfang des gewöhnlichen 
Gottesackers hergeftellt, oder doch in Teßterem eine befondere Abtheilung für ſolche 
ausgemittelt und durch eine Feine Einfriedung von den übrigen Grabftätten der 
bereit der Kirche einverleibt gewefenen Mitglieder gefchieden werben (Statut, 
Colon. ao. 1662, in Hartzheim. Coll. Conc. Germ. T. IX. p. 1003). „In ambitu 
ejusdem (coemeterii) paretur locus separatus, muro cinctus et clausus, non con- 
secratus pro parvulis sine baptismo decedentibus.‘“ (Epitome constitutionum ecel, 
pro archidioec. Monaco -Frising. ao. 1826 recognita, P. II. c. 1. $.4 nr. 125) in 
der Generalien- Sammlung der Erzdideefe München-Freyfing, Bd. I. (Münden 
1847 gr. 4.) ©, 681, Diefes mit dem Fatholifhen Dogma zufammenhängende 
Statut, welches in Bayern weder durch eine allgemein geltende Landesverordnung 














Kirchliche Sache — Kirchweihe. 203 


abrogirt, noch aus polizeilichen Rückſichten beanſtandet (Bayer, Miniſt. Reſer. 
v. 20. April 1837, in Döllingers Verordn. Samml. Bd, VIH. ©. 1177 $ 1302), 
und daher in neuefter Zeit durch das erzbifhöfliche Drdinariat München-Freyfing 
wiederholt angeregt worden ift (Drbinariats-Erlag v. 19. Juni 1843 Nr. IL. b. 
in der erwähnten Generalien - Samml. S. 540), ift in Deftreih (Hofdeer. vom 
31. März 1785), Preußen (allg. L. R, Th. U. Tit, 11. $ 472), Würtemberg 
(Reggsbl. v. 1814 Nr. 17. ©, 149) ausdrücklich abgeftellt. — V. Die Kirch- 
böfe werden ihrer religiöfen Beftimmung wegen, alfo auch da, wo fie (wie in 
Städten und Märkten und überhaupt bei größeren Pfarrgemeinden) aus fanitätg- 
polizeilicher Rückſicht von den Pfarrfirhen abgetrennt und außer die Städte ver- 
Vegt worden find, feierlich eingefegnet. Der altübliche Ritus ift bei Martene, 
De antigg. eccl. ritt. Lib. H. c. 20 befchrieben, und in den Didcefanritualen ent- 
halten, Was von der Beflefung und Neconeiliation der Kirchen und Altäre er- 
innert wurde (f. Entweihung, Bd. II. ©, 601 f.), gilt auch von den Kirch— 
höfen. Da, wo der Friedhof noch die Kirche umschließt, wird durch eine Befleckung 
der Kirche zugleich der Kirchhof als polluirt betrachtet, und muß daher auf's Neue 
gefegnet werden; nicht aber wirft die Beflefung des Kirchhofes auf die Kirche 
zurück (Sext. c. un. De conseer. ecel. III. 21) — VI. Die Herftellung und Unter- 
haltung des Kirchhofes Tiegt da, wo er wirklich um oder an der Kirche Liegt, 
alfo buchſtäblich ein accessorium ecclesiae bildet, und unter der weiteren Boraus- 
fegung, daß die Gebühren für die Begräbnißpläge an die Kirche entrichtet wer- 
den, auch in der Negel diefer allein mit Ausfchluß aller anderweitigen Eoncur- 
renzen ob, Anderſt geftalteten fih die Verhältniffe vielfach in den Städten, 
Märkten und anderen volfreiheren Ortſchaften, feitdem die Transferirung der 
Friedhöfe aus dem Bereiche derfelben angeordnet iſt. Hiebei entfcheidet das Par- 
tieularreht und Herfommen, Dan vgl. 3.2. für Deftreih: Helfert, von 
der Erbauung ꝛe. der kirchlichen Gebäude, II. Aufl, S. 213 ff; für Preußen: 
allg. U R. Th. I. Tit. 11. SS 183, 190. 761 — 7635 für Bayern: neues 
Umlagegefeg vom 22, Juli 1819 Art, I. lit. b. nr. 7, im Gef. BL, 1819 St. VI. 
col. 86. u. f. w. Größtentheils werden Heutzutage die ifolirten Friedhöfe aus 
den Gemeindecaffen, denen aber auch die Taren für die Begräbnifipläge zufließen, 
angelegt und unterhalten, Wo für Katholifen und Afatholifen ein gemeinfamer 
Kirchhof befteht, tragen die Afatholifen, wenn fie eine eigene Abtheilung davon 
innehaben, auch nur die Koften der Anlage und Unterhaltung diefes Antheils nebft 
einem verhältnigmäßigen Beitrag zur gemeinfamen Umfangmauer ; außerdem con- 
tribuiren fie pro rata in demfelben Maße wie die Katholiken. Aehnliches gilt von 
der Errihtung und baulichen Erhaltung der auf den Kirchhöfen volkreicher Stadt- 
gemeinden aus fanitätspolizeilihen Gründen eingeführten Leichenhäufer (f. Lei- 
Hen-Beifeghänfer). Vgl. biezu auch den Artifel: Grab, das hriftliche, und 
in Betreff der Grabberaubung den Art, Sacrilegium. [Permaneder.] 

Kirchliche Sache, f. geiftlihe Sache. 

Kirchipiel, f. Pfarrei. 

Kirchweihe. Diefer Ausdrud bezeichnet dreierlei: I. den Act der Weihe 
einer Kirche; I. die gefammte, mit diefer Weihe verbundene liturgiſche Feierz 
IM. die jährliche Gedächtnißfeier der Einweihung einer Kirche, — I. Die fichere, 
biftorifche Beglaubigung für den Gebrauh der Einweihung der Kirchen haben 
- wir ziwar erfi von ber Zeit an, als der große Conftantin der Kirche die Freiheit 
geſchenkt. Indeß wenn auch beftimmte, äußere Zeugniffe für ein höheres Alter 
dieſer Weihe abgehen, fo doch Feineswegs innere, Denn es ift nicht wahrfchein- 
lich, daß man fih im Altertfum nicht follte gerichtet Haben nach den Vorgängen 
des alten Bundes, Genef, 28. III. Reg. 8, 8. 1. Esdra. 6, 16 ff. Wenn ſodann 
felbft die Heiden, gezogen von einem gewiffen Schielichfeitsgefühle, durch ihre 
Priefter und Bolfstribunen ihre Steine, Statuen ꝛc. weihen Tiefen, fo gilt wohl 


204 Kirhweihe 


Aehnliches für die älteften Chriften in Betreff ihrer Kiturgifchen VBerfammlungs- 
häufer , die fie fo Heilig Hielten, Wenn Baſilius (J. I. de Bapt. qu. 8) son der 
Feier der chriftlihen Geheimniffe an ungeweihten Stätten abmahnt, fo mag wohl 
eine ſolche Sprache und eine diefen Grundſätzen conforme Praxis auch in den 
frühern Zeiten geherrfcht Haben. Auch ift die Sprache, welche uns feit dem 
vierten Jahrhundert in den Zeugniffen für den Gebrauch diefer HI. Handlung be— 
gegnet, der Art, daß fie ein höheres Alter vermuthen läßt. Bona ift dieſer Mei- 
nung und fucht fie auch durch äußere Zeugniffe zu unterftüßen (Rer. liturg. 1. I. 
c. 19). Das erfle, unzwerdeutig forechende Zeugniß für den allgemeinen Ge- 
brauch der Kirchweihung bietet Eufebiug, „Post haec,“ fihreibt er, „votivum nobis 
ac desideratum spectaculum praebebatur, dedicationes sc. festivitas per sin- 
gulas urbes, et oratoriorum recens structorum consecrationes“ (h. e, 1. X. c. 3), 
Derfelbe gibt auch Schilderungen über die Art und Pracht, womit einzelne Kir- 
chen, 3. B. die in Jerufalem (vit. Constant. 1. IV. c. 43) geweiht wurden. Bom 
vierten Jahrh. an könnten Zeugniffe in Fülle für den Gebrauch der befprochenen 
Weihe angeführt werden; e8 genügt aber die Bemerfung, daß dieſer Gebrauch 
bald fogar Gegenftand der Firchlichen Geſetzgebung geworden, in der Weife, daß 
bis zur Stunde eine Kirche, in welcher celebrirt werden will, confeerirt ober 
mindeftens benedicirt fein muß; nur mit Erlaubniß des Bifchofs darf für den 
Nothfall auch außerhalb einer Kirche, jedoch auf einem eonfeerirten Altar die HI, 
Meffe gelefen werden. — Das Ceremoniell diefer hl. Weihe, fo erhebend 
und entfprechend dem Gegenftand es immer gefchilvert wird (Euseb. h. e. 1. X. 
c. 3) unterlag natürlich der gefehichtlichen Entwicklung, bis e8 im römifchen Pon=- 
tiftcal feinen Abfchluß erreichte, Wie hoch man fehon im vierten Jahrh. in dieſem 
Puncte den Ritus der römiſchen Kirche ſchätzte, erhellt aus dem Briefe des HI, 
Ambrofins an Marcellus: „Cum ego basilicam dedicare vellem, multi tanquam 
uno ore interpellare coeperunt: Sicut in Romano, sic Basilicam dedices. Re- 
spondi: Faciam, si mariyrum reliquias invenero.* Hieraus fehen wir, daß unter 
Anderm die Berfegung von Reliquien einen Hauptbeftandtheil bildete, wozu 


nah Gregor I., der die Kirchen mit den gehörigen Leremonien eingeweiht . 


wiffen will Cl. 14. ep. 17), die Befprengung der Tempel mit geweihten Waffer 
Cl. 11. ep. 76. cf. Beda hist. Angl. 1. V. c. 4), nach Anderen verfihiedene Sal- 
bungen und Gebete (unter welch’ Teßtern bei Auguflin serm. 336 und 337 der 
109, Pfalm genannt ift), nach dem Sacramentar Gregor's die doppelte Einzeich- 
nung des lateiniſchen Alyhabetes Fam, Fixirt finden wir den Ritus der alten 
Kirhe im Sacramentar Gregor's, die weitere Entwiclung in den verfihledenen 
Ordines, deren Martene aus verfchievenen Zeiten und Didcefen einige gefammelt 
hat, De antiq. Ecel. Ritib. 1. IL. c. XII. Ihr Verhältniß zu einander erklärt ſich 
aus dem Entwiclungsgang, den die abendländifche Liturgie überhaupt nahm: im 
Allgemeinen find es diefelben Ceremonien, nur verfchiedene Pfalmen, Antiphonen 
und Drationen, Das römifche Pontifical hat die alten Gebräuche mit Abände- 
rung einiger und Zufügung einer Heinen Anzahl anderer beibehalten, Das Ur- 
theil eines Sachverftändigen über den Ritus der Kirchweihe lautet: „Unter allen 
feierlichen Gebräuchen der Kirche, die zum Frommen der Gläubigen eingefegt 
find , übertrifft faum ein Ritus den der Kirchweihe. Dan betrachte ven Gegen- 
ftand der Weihe felbft, oder die Menge der damit verbundenen Gebräuche oder 


die Würde der Rirchendiener: alles haucht einen heiligen und der Neligion Chriſti 


geziemenden Geift, wodurd auf wunderbare Weife das Gemüth vom Frdifchen 
zum Himmlifchen hingezogen wird“ (Martene 1. c. $. 1). Dem Ritus der grie- 


hifhen Kirche, welcher fih mit Ausnahme der Beräucherung der Kirche und 


Salbung der Wände oder Säulen der Kirche, größtentheils auf die Weihe des 
Altares befchränft (ſ. Goar. Euchologium p. 832—844), geht, trog der mannig- 
fachen Aehnlichfeit mit dem der römifchen der Reichthum der großartigen Symbolik 











Kirchweihe. 205 


des letztern ab. Die im Pontifical bezeichneten Gebete und Ritus bilden nur, 
was man die forma der Weihe, dieſe als Sacramentale gefaßt, nennt. Gegen— 
ſtand der Weihe ift die auf dem befonders gefegneten Grundſtein (ſ. röm. Pon- 
tificale: De Benedictione et Impositione primarii lapidis eto.) vollendete oder der 
Bollendung nahe Kirche. Minifter ift der Biſchof. Die Ritual- und Pontifi— 
calbücher ; die älteften wie die neueften, erwähnen zwar bloß eines Biſchofs; 
es ift indeß gewiß, daß ehedem wenigftens zur Weihe vornehmerer Kirchen. meh— 
rere Bifchöfe berufen wurden, Zur Weihe der Kirche in Jerufalem wurden alle 
auf dem Coneil in Tyrus anwefenden Bifchöfe von Eonftantin geladen, Weitere 
Zeugniffe für den Orient, wie auch für den Deeident f. bei Martene J. c. $ 3. 
Sie waren zwar feineswegs bloß Zeugen der Weihe, fondern coadjutores dedi- 
cationis; doch war einer und zwar der Didrefanbifchof der consecrator principalis 
1.0. $5. So ift es noch heut zu Tag; indeß kann der Biſchof jedem Priefter 
die Vollmacht erteilen, eine Kirche zu benediciren, in Folge deifen fie auch 
vor der Eonfecration zum gottesdienftlihen Gebrauche dienen kann. Der in jedem 
Ritual fih findende Benedictionsritus ift natürlich viel einfacher, doc der Art, 
daß er die dem Tempel des Herrn fihuldige Ehrerbietung immerhin zu pflanzen 
geeignet if. Die Wirkungen diejer Weihe gibt Thomas Aqu. (Summ. P. UL 
qu. 83. art. IL) dahin an: ecolesia et altare — ex consecralione adipiscuntur 
quandam spiritualem virtutem, per quam apta redduntur divino cultui, ut sc. ho- 
mines devotionem quandam exinde pereipiant, ut sint paraliores ad divina, nisi 
hoc propter irreverentiam impediatur. Die Weihe wirft alfo mit andern Worten 
die zuborfommende Gnade zu hl. Arten der Anbetung, zu der Sehnſucht nad 
dem ewigen Tempel ꝛc. Auch führt Thomas als wahrfcheinlihe Meinung an, 
daß man durch den andächtigen Eintritt in eine geweihte Kirche Nachlaffung läß— 
licher Sünden erlangen fünne, und endlich erwirfe fie Befreiung von dem Andrang 
dämoniſcher Gewalten, Neben der bezeichneten Haupibedeutung diefer Weihe darf 
aber das untergeordnete, fymbolifche Moment an ihr nicht unberüdfichtigt bleiben, 
Es Liegt dieß in dem, aus der richtigen Würdigung der Euchariftie hervorgehen— 
den Gedanken, daß die Verhüllung des im Sacramente gegenwärtigen Gottes 
dem Naturgrunde enthoben werden und dem gläubigen Auge in ein anderes, heh— 
res Gebiet verflärt erfheinen fol. Die Liturgie läßt die Kirche nicht undeutlich 
erfcheinen als Abbild des Tempels der ewigen Herrlichkeit, fodann als Sinnbild 
der Heiligkeit der Kirche oder der Gefammtheit der Gläubigen und damit als Vor— 
bild der Heiligung- für die einzelnen Glieder der Kirche, Thomas faht a. a. O. 
diefe Seite der Weihe mit Recht vorzugsweife bloß im Zufammenhang mit der 
Euchariſtie, indem er fagt: die Kirchen werden mit Recht geweiht tum ad reprae- 
sentandam sanctificationem, quam Eoclesia consecuta est per passionem Christi, 
tum etiam ad significandam sanctitatem, quae requiritur in his, qui hoc sacramen- 
tum suseipere debent. Il. Feſt der Kirchweihe (fest. dedicationis, encaenia, 
nach Leo serm. de Macchab: „Natale Ecelesiae“), Das Alter diefes Feftes betref- 
fend, fo ſprechen alle für das Weihen der Kirche fprechenden Zeugniffe zugleich 
für die feftliche Begehung diefes Tages, z. B. Euſebius h. e.1.X., Ambro- 
fius ep. 22. ad Marcell., dann Athanafius apol. ad Constant. Augustin. ep. 269. 
al. 251. ad Nobil. eto. Die Bedeutung diefer Feier erhellt unter Anderm au 
aus der Theilnahme der Bifhöfe, der Großen und des Volkes, welche ehedem 
in der Weiſe zu Tage trat, daß feine Feierlichfeit mit größerm Pompe begangen 
wurde, als die Einweihung einer Kirche, Und mit Net: eine neu errichtete 
Kirche erfchien und. erfiheint als eine mit Opfern errungene Station, welche den 
Beſitz der kirchlichen Heilsgnaden ſichert; und dieſen Sieg dürfen Alle mitfeiern. 
Sie erſcheint als der eentrale Mittelpunct des geiſtigen Lebens einer Gemeinde, 
von wo auf Öenerationen die unverfieglihe Duelle der Gnade ausftrömt. Und 
an diefer Freudenfeier dürfen Alle Theil haben, Sie erfcheint als das äußerlich 


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206 Kirchweihe. 


fixirte Erinnerungszeichen des Bundes einer Gemeinde mit Gott, Und dieſe Bun— 
desfeier verlangt noch der Bezeugung durch die Kirche, In der Kirche iſt nichte 
Sfolirtes , daher ift es, abgefehen von der berührten Mitfeier mit der beglücklen 
Gemeinde durchaus nicht zufällig, daß gerade der Biſchof minister diefer Weihe 
ift. Durch ihn, den Träger der apoftolifchen Gewalt, fol der religiöfe Herzpunct 
einer Gemeinde und damit fie felbft eingegliedert werden in den firchlichen Or— 
ganismus, Behalten wir dieſe Bedeutung der Kirchweihe, als des Tauffeftes 
einer Gemeinde im Auge, fo iſt ung auch die Auszeichnung, welche die Kirche 
diefem Fefte gibt, erflärlih, Der Rang deffelben iſt Dupl. I. Class. cum Octav. 
Es iſt mit Indulgenzen bevorzugt, Ueber ven Kirchweih-Ablaß f. Fr, Kap, 
Schmid's Liturgif II. Bd, p. 214, Die Titurgifhe Feier beginnt wie bei 
den höchſten Feſten mit einer Vorfeier. Diefe befteht in dem, den consecrator 
und die Gemeinde, welder die Kirche angehört, verpflichtenden Faſten, in ven 
Borfehrungen auf die Weihe, befonders in Beziehung auf die Neliquien ıe., im 
Abbeten des Officium vom dies dedicationis. Zur leßtern f, Gavanti Thesaur. 
sacr. Rit. cum  Addit. Merati tom. II. Sect. VII. c. 5. Novae observ. $ 18,' Das 
Officium ift mit Ausnahme von ganz wenigen Theilen fehr altz Durandus hat 
fon in feinem Rationale 1. VII. c. 48 eine Erflärung dazu gegeben, welche jetzt 
noch paßt. Pins V. gab ihm verfchiedene Lefungen für die ganze Detan: es iſt 
dieß ein Vorzug, den fein andere Commune Sanctorum hat, Die Palmen in 
der Matutin find Danf- und Jubellieder und eine Iyrifche Auslegung der Epiftel: 
Vidi Jerusalem novam descendentem de coelis, fehr paffend gewählt: „resonantes 
portas, atria et aedificia‘, und wo dieß nicht flattfindet, fo bilde der Bittpfalm die 
practifche Auslegung des: „domus mea domus orationis erit.“ Durandus, Die Hym⸗ 
nen zeichnen den Aufbau des geiftigen Tempels. Die Officium iſt eines der 
fhönften im Brevier, Ehedem wurde die ganze der Weihe vorangehende Nacht, 
mit Wachen und Gebet zugebracht; nach dem Pontificale wird nur mehr vor den 
in eine anliegende Kirche oder unter ein hiezu gefertigtes Zelt verfegten Reli- 
quien die Matutin cum Laudibus von dem Heiligen, deffen Reliquien in die zu 
weihende Kirche gebracht werden follen, gebetet, — Am Tag der Weihe, wel- 
her nach einem Concil von Aurerre 688 ein Sonntag fein follte, nad dem Pon— 
tifical aber jeder beliebige Tag, doch fehieflicher ein Sonn- oder Fefttag fein kann, 
tritt die mit der Meßfeier endende Weihe hauptfächlich in Vordergrund, Die 
Weihe erfreut fih einer, in paffender Wahl der Pfalmen und Antiphonen be— 
fiehenden, glänzenden Umfleivung und Verzierung. Wir geben hier bloß Die 
Acte, weldhe auf die Weihe der Kirche Bezug haben, Es wird zwar nie eine Kirche 
geweiht, ohne daß zugleich der Altar als ihr Herzpunct, mitgeweiht wird; da indeß 
von der Altarweihe ſchon im Befondern die Rede war (f, Altareinweihung) und 
fie bei der Kirchweihe, nur mit Zufügung von mehreren Pfalmen, wiederfehrt, 
fo Fann die Bezeichnung diefes Theil des Nitus füglich wegbleiben. Der Bifchof 
halt, geſchmückt mit dem vollen Drnat und zwar, wie es fich an diefem Vermäh— 
lungsfeſte geziemt, von weißer Farbe, zuerſt, nach Verrichtung der in den Buß— 
pfalmen und der Allerheiligen-Litanie beftehenden Vorbereitungsgebete, einen drei- 
maligen Umzug um die Kirche, deren Wände er mit vorher gefegnetem Waffer 
befprengt und in deren Pforte er allemal einzutreten verfucht. Hienach folgt 
die Deffnung der Kirchpforte und der Eintritt des vom Clerus begleiteten Bi- 
ſchofs, indem diefer die Schwelle der Thüre mit dem Kreuz bezeichnet und dem 
Segenswunſch: Pax huic domui fpricht, Nach Abbetung des Veni creator spiritus 
und nach der, mit der Litanie verbundenen Segnung der Kirche zeichnet er das 
Fateinifche und griechifche Alphabet in die auf dem Boden der Kirche in Kreuzes— 
form Tiegende Afche. Nach Segnung von Salz, Waffer, Afche, Wein, und ihrer 
Miſchung mit einander befreuzt er im Innern der Kirche den obern und untern 
Theil der Rirchenthüre, Und nun folgt eigentlich die Eonfeeration des Altares, 














- | Kirchweihe. 207 


mit welcher aber noch einige auf Die Weihe der Kirche bezügliche Acte verbunden 
find, Nachdem der Eonfecrator mit jener Mifhung von Salz, Waffer ꝛc. an 
fünf Stellen den Altartifch befreuzt und fieben Mal den Altar umgehend, die 
Altartafel und den Fuß des Altars damit befprengt Hat, umzieht er drei Mal die 
Kirche auch von Innen, indem er mit der angezeigten Mifchung die Wände unten, 
in der Mitte und nach oben befprengt. Bon der Mitte der Kirche thut er daſſelbe 
auf den Fußboden nah Morgen, Abend, Mitternacht und Mittag. Diefem Acte 
folgen Segnungsgebete, deren drittes in Form der Präfation gefungen wird, 
Darnach folgt eine zur Altarweihe gehörige Segnung (von Mörtel) und 
die Abholung der Reliquien. Bor dem Eintritt in die Kirche mit diefen wird 
eine Anrede an das Wolf gehalten über die dem Gott geweihten Tempel ſchuldige 
Ehrerbietung ꝛc., beim Einzug des jest auch vom Volk begleiteten Biſchofs ſalbt er 
die Rirchenpforte von außen mit Chrifam, Nach Niederlegung der Reliquien in das se- 
pulchrum, den verfchiedenen auf die Altarweihe bezüglichen Beräucherungen und Sal- 
bungen folgt die Salbung der zwölf, mit flammenden Kerzen verfehenen Kreuze 
an den Wänden der Kirche mit Ratechumen-Del und die Beräudherung derfelben. 
Was im Ritus noch folgt, bezieht fich gleichfalls auf die Altarweife, Die Litur- 
gifer haben fich befanntlich feit der älteften Zeit mit der Erflärung der Ceremo— 
nien der Rirchweihe abgegeben (ef. 3. B. den bei Martene 1. c. c. XII. abgedrud- 
ten Tractat von einem Mönde Nemigius, dann Guil. Durandus Rationale 1. I. 
ec. VI. ete.; unter den Neuern befonders Fr. &. Schmid, Liturgif Bd. II. p. 
500 sqq. Marzohl und Schneller: Liturgia sacra. B. V. S. 195 sqq. Nickel, 
Rom, Bontifical, ze.) und in der Erflärung des Einzelnen viel Geift und Scharf- 
finn an den Tag gelegt. Indeß als ein im ſich abgerundeter Organismus, als 
ein zufammenhängendes Ganze erfcheint diefer feierliche Act doch nicht in jenen 
Darftellungen. Vielleicht Tiefe fich eine Auffaffung der Ceremonien nach dem be— 
zeichneten Geſichtspunct erzielen durch Zugrundlegung des Satzes vom HI. Thomas 
(Summa 1. c.): consecratio altaris repraesentanf sanclitatem Christi, consecratio 
vero domus sanetitatem totius Ecclesiae. Aehnlich Hat ſchon der HI. Bernhard 
(In Dedie. Ecel. serm. I.) die Weihe der Kirche gedeutet und dabei die im Ritus deut- 
lich Hervortretenden Haupttheile hervorgehen. In nobis, fagt er, spiritualiter impleri 
necesse est, quae in parietibus visibiliter praecesserunf. Ef si vultis seire, haec utique 
sunt: aspersio, inscriptio, inunctio, illuminatio, benedictio. — Was außerdem noch 
zur liturgifchen Auszeichnung diefes Feftes gehört, ift das Formular der Meffe, wel- 
ches das unverdiente (Evangel.) Glüf (Epiftel) des BDefiges eines Gotteshau— 
Tes ꝛc. bezeichnet, — II. Die Kirchweihe als anniversariusdedicationis — 
fann natürlich nur in Kirchen gefeiert werden, welche eonfecrirt find; wo e8 gewiß ift, 
daß die Confeeration nicht vollzogen wurde, oder wo e8 zweifelhaft ift, da unter- 
bleibt die Feier, (Die Benediction einer Kirche hat weder Oetav noch Jahresfeier). 
Sie fällt auf den jährlich wiederfehrenden Tag der Weihe, welcher übrigens vom 
Biihof beim Acte der Confecration geändert werden kann, wogegen er dieß extra 
actum consecrationis inconsulta sede apostolica nicht thun fann, Gavantusl. c. 
P. I. Sect. VIL-c. V. Da ſich indeß ſchon frühe eine von der Kirche vielfach miß— 
bilfigte (Du Cange: Glossarium s. v. Dedicalio), mit Schmaufereien ıc, verbun- 
dene bürgerliche Feier an die Kirchweihen anſchloß, fo wurde da und dort in’s 
Leben eingeführt, was ſchon im J. 1536 ein Eölner Concil befchloß: „Et cum in 
diebus festis, qui dedicationi ecclesiarum peculiariter, dedicati sunt, plerumque in- 
digna committantur, adeo, ut videafur populus pofissimum comessationis causa con- 
venire: visum nobis est, ut per Dioeceses nostras uno certo die anni, quo ejusmodi 
festum dedicationis in mefropolitana nostra. colitur, in reliquis quoque ecclesiis 
omnibus extra civitatem nostram Coloniam Agrippinam constitutis observefur (Ger- 
bert Vet, Lit, Alem.. P. IL. Disqu. VI. n. 2.). Im, vorigen Jahrhundert wurde 
daffelbe in der Didcefe Bafel und Conſtanz angeordnet; in Sranfreih wird in 








208 Kirjath — Rifon, 


Folge des Concordates von 1801 die Kirchweihe am Sonntag nad der Detav 
vor Allerheiligen in allen Kirchen gefeiert und eine Ausnahme gilt bIoß für die 
Cathedralkirchen. In Beziehung auf allgemeine Durchführung diefer Praris in 
allen Didcefen werden Gründe „Für” und „Gegen“ geltend gemacht; fo viel 
wird jedenfall8 zugeftanden werden müffen, daß das, in der Theilnahme fremder 
Semeinde-Angehörigen an der religiöfen Feier einer Gemeinde liegende Fatholifche 
Element auch durch gleichzeitige Abhaltung einer Feier in allen Gemeinden zu Tage 
tritt, daß alfo andere, als rein kirchliche Gründe, in der Sache entfcheidend fein 
müffen. Das Alter diefer Feier betreffend, fo wurde es in der von Conftantin 
erbauten Kirche zu Serufalem von Anfang her begangen (Sozomen. h. c. 1. II. ce. 
26. Niceph. 1. VII. c. 50), Wenn e8 auch nicht gewiß ift, daß fie in allen Kirchen 
von Anfang an üblich gewefen, fo doch fehr wahrfcheinlich ; man richtete fich wohl 
auch hierin nach dem Borbild der Synagoge, Joh. 10, 2%, Auch diefer Tag ift 
von der Kirche durh Nang (Dupl. I. Cl. cum Oct.), Indulgenzen und dur 
die Liturgie ausgezeichnet (Offieium und Meßformular wie am Natale Eccle- 
siae); und tritt auch durch das Anzünden der zwölf Lichter an den Wänden 
während des Gottesdienſtes, durch das Ausſtecken der Kirchenfahnen, durch Auf- 
fiellen von Baumzweigen außer der Kirche Clegteres fchon Gregor I. befannt 1. 
11. 0. 76.), wie durch die damit verbundene häusliche Feier als ausgezeichnet 
dem finnlichen Auge entgegen, — Was die Bedeutung diefes Feftes betrifft, 
fo liegt diefe nicht allein in einer Beziehung zu der Gemeinde, die fih im Befig 
eines Gotteshauſes zugleich im Befis der Wahrheit und aller Gnaden des Heilg 
glücklich weiß, fondern au in feiner Beziehung zur ganzen Kirche, Es iſt oben 
ſchon bemerkt worden, wie dur den Ritus der Kirchenweihung (und daffelbe 
gefchieht auch durch das Offieium) die Kirche als materielles Gebäude vor dem 
Auge des Glaubens ſchwinde und bie in ihr verfammelte Gemeinde erfcheine als 
Glied der großen Familie, die ihr Wohnhaus in dem geiftigen Tempel der einen 
Kirche hat. Bon diefem Geſichtspunet aus muß e8 auch gefaßt werden, wenn bie 
ganze Didcefe den anniversarius dedicationis ‚ver Cathedralfirche feiert. CAuch 
Dupl. I. Cl. für die ganze Didcefe; die Oetav aber wird bIoß in der Cathedrale 
gehalten, ſ. Savantus J. c.). Ebenfo verhält e8 fih, wenn die ganze Kirche 
zufammen al’ ihre Andacht fo zu fagen auf einen Punet concentrirt in Feiern von 
gewiffen Kirchweihen. In Martyrologium Romanum find als ſolche angegeben: 
Dedicatio S. Mariae ad Martyres. Romae. 13. Maii. Dedic. Basilicae 8. Martini 
Turonis. 4. Juli. S. Petri ad Vincula. Romae. 1. August. S. Mariae ad. Nives. 
Romae. 5. August. Basilicae Salvatoris. Romae. 9. Novemb. Basilicarum Petri et 
Pauli. Romae. 18. Novemb. Es Tiegt etwas Großes darin, daß die ganze Did- 
cefe durch die Hinlenfung des Blickes an den Sig des Trägers der apoftolifchen 
Gewalt den durch ihn gefchloffenen Bund mit der Kirche erneuert, und darin, daß 
die gefammten Kirchen die Hl, Gemeinfchaft mit der Mutter aller Kirchen geiftig 
bethätigen. Diefe geiftige Einheit, neben welcher die räumlichen Beziehungen 
fo ftarf in den Hintergrund zurücgebrängt werben, iſt nur in der Fatholifchen 
Kirche; Ueber die Kirchweihfefte der Proteftanten f, Daniel, Cod. Liturg. tom. 
I. p. 47 sgq. [Frist] 

Kirjath, nrap Cap = Stadt, Feftung) Stad im St. Benjamin, Joſ. 
18, 28, Nofenmüller und Maurer halten es für Kirjath Jearim (Vulg. Caria- 
thiarim), allein diefes ift Zof. 15, 60. unter den Städten Juda's aufgezählt und 
€, 18, 14. ausdrürdfich die Stadt der Söhne Zuda’s genannt, 

Kifon, jrörp, Kıowv, Cison, Grenzfluß zwifchen dem St, Sebulon und 
St, Napthali, entfpringt am Thabor (juxta montem Thabor, Hieron. Onom. 
Shaw, Reife 238 ff. wollte feinen Urfprung an der ſüdöſtl. Spite des Carmel 
finden), durdftrömt son D, nach W. die Ebene Jesreel (Esprelon), bricht dann 


a 











Kiftemafer. 209 


in engem Felsthal zwifchen dem Carmel und den Bergen Weft-Galiläa’s dur und 
fließt zulegt über die Ebene von Ptolemais am Fuß des Carmel in's Meer, Bol, 
Richt. A, 7. 13. 5, 21. Pf. 83, 10, 1 Kön. 18, 40, Jetzt Mokata, Mefatta, 

Kiftemafer, Zohann Hyacinth, geboren zu Nordhorn in der Graffchaft 
Bentheim am 15. Auguft 1754, ftudirte zu Münfter Theologie und zugleich mit 
befonderer Vorliebe Philologie, wobei er fich befonders dem Studium der latei— 
nifchen ‚.griehifchen und teutfchen Sprache ergab. Aber auch die meiften der leben- 
den Sprachen Europas fprach er. Im J. 1775 ward er zum Priefter geweiht 
und 1780 als Lehrer am Gymnafium zu Münfter angeftellt. Auf diefem Poften 
flieg er bald zu dem des Gymnafial-Direetors und Bibliothecars empor, 1786 
wurbe er auf den Lehrftuhl der Philologie an der Univerſität Münfter promovirt. 
Auch den orientalifhen Sprachen wandte er fich zu; denn er wollte feine ſprach— 
lichen Kenntniſſe auch für das theologische Gebiet benügen, dem er als eifriger 
Prieſter ſich nicht entfremdet Hatte. Dem Studium der HI, Schrift und Väter 
widmete er fich mit gewohnten Fleiße, daher ihm fein Fürftbifchof das Fach der 
Eregefe übertrug. Paderborn ehrte ihn mit dem Diplom eines Dortors der 
Philoſophie, Breslau mit dem eines Doctors der Theologie, die hurpfälzifche 
teutfhe Gelehrtengefellfchaft in Mannheim wählte ihn zu ihrem Mitgliede 
und 1815 ward er Canpnicus am Stifte in Münfter, bierauf Confiftorial- 
rath. Seine philologifchen Kenntniffe verfhafften ihm den Beinamen „Erasmus 
der Zweite”, fein theologifches und kirchliches Wirfen, namentlich auch in feiner 
Eigenfchaft als Commiffär bei der Vollftresfung der Bulle de salute animarum, fein 
raftlofer Fleiß, fein eifriges und doch anfpruchslofes Wefen verfhafften ihm all- 
gemeine Achtung und die ehrende Freundfchaft edler Zeitgenoffen, wie der Brüder 
Drofte, Dverbergs, Stollbergs, Katerfamps u. ſ. w. Bis in fein 70. Jahr 
wirkte Kiftemafer mit ungefohwächter Geiftes- und Körperfraft, bis er von einem 
Schlage gerührt wurde im J. 18245 dennoch Tebte er noch beinahe zehn Jahre, - 
indem er im 80, Lebensjahre farb am 2. März 1834, Bei ausgedehnten Ge— 
ſchäften hinterließ Kiftemafer noch viele Denfmäler feines Fleißes in feinen 
Shriften, die in folgender Ordnung erfihienen find: 1) Lateinifhe Sprachlehre 
zum allgemeinen Gebrauche für Gymnafien und Schulen. Franffurt und Leip- 
zig 1787. 2) Lateinifche Sprachlehre für die Trivialfchulen 1787, zweite ganz 
umgearbeitete Auflage 1798. 3) De origine ac vi verborum, ut vocant deponen- 
tium et mediorum graecae liguae, praescotim latinae 1787. 4) Teutfche Sprad- 
lehre für die Trivialfhulen im Hochftifte Münfter, 1787, zweite ganz umgear- 
beitete Auflage 1809. 5) Thucydides editionis Bipontinae illustratus et emen- 
datus. Pars I. Complectens quatuor libros priores. 1791. 6) Griedifhe Sprad- 
lehre für die Schulen, 1791. 7) Anleitung zum heiligen Lebenswandel, Aus dem 
Sranzöfifhen 1792, 8) Kritik der griechifchen, Iateinifchen und teutſchen Sprache, 
Preisihrift, 1787, zweite Auflage 1794. 9) Sammlung Iateinifcher Wurzelwörter 
1794, 10) Chrestomathia oratoria in usum 4 et 5. Class. 1798. 11) Dratorifche 
Ehreftomathie oder Sammlung auserlefener Stellen in teutſcher Sprache 1798. 
12) Barrathon, ein Gedicht Oſſians, metrifch überfegt 1800. 13) Chrestomathia 
poelica latina in usum scholarum superiorum 1800. 14) Poetiſche Chreftomathie 
zum Gebrauche der vierten und fünften Schule 1800. 15) Chrestomathia latina 
pro infima et secunda classe Grammatices 1801. 16) Teutſche Chreftomathie für 
die erfie und zweite Claffe. 17) Commentatio de nova Exegesi praecipue veteris 
testamenti ex collatis scriptoribus graecis et romanis 1806. 18) Exegetiſche Ab- 
handlung über Matth. 16, 18. 19. und 19, 3—12,, oder über den Primat 
Petri und das Eheband, Göttingen 1806 (wurde auch in’s Holfändifche über- 
fest). 19) Exegesis critica in Psalmos LXVII et CIX et excursus in Dan. 3. de 
fornace ignis 1809. 20) Weiffagung Jeſu som Gerichte über Judäa und die 
Weltz nebft Erklärung der Nede Marc, 9, 42—49, und Prüfung der van Eß'⸗ 

Siräenlerifon. 6. 3%. 14 


210 Kittim — Klage, proceffuale, 


Schen Leberfegung des neuen Teftaments 1816, 21) Canticum Canticorum illu- 
stratum ex Hierographia Orientalium 1818. 22) Die HI, Evangelien überfegt und 
erffärt 4 Bde. 1818—20. 23) Die Apoftelgefehichte überfegt und erflärt 1821, 
Ebenfo 24) die apoftolifchen Briefe, Arbeiten, die er in Anderer Werfe nieder- 
legte, find von ihm: 1) Auszug aus dem fiebenten Briefe Plato's an Dion und 
deſſen Angehörige : in F. L. Stollberg's auserlefenen Gefprächen Plato’s I. Thl. 
2) Ueber die zweifache Stammtafel Jeſu Ehrifti bei Matthäus und Lucas in Stoll- 
berg's Geſch. der Relig. Jeſu Chrifti im IV. u. V. Bd. 3) Bemerkungen über 
das Buch Eſther, ebenfalls in Stollberg's Geſch. der Nelig. Jeſu Chrifti, 
4) Vorrede zu Drivers Bibliotheca monasteriensis. 5) Ueber Horazens 10. Ode 
des II. Buchs, Im pfälzifhen Mufeum Bd, II. Heft 7, Außerdem lieferte er 
viele Abhandlungen in Zeitfchriften und viele Manuferipte fand man noch in 
feinem Nachlaſſe über griechifche und Iateinifche Claſſiker. [Haas,] 

Kittim, f. Chittim, 

Klage, proceffuale, im weiteren Sinne heißt jedes Mittel, wodurd ein 
Nechtsanipruch geltend gemacht und verfolgt werden kann; im engeren Sinne 
aber dasjenige Nechtsverfolgungsmittel, wodurdh man die Verurtheilung eines 
anderen zu einer beftimmten Leiftung oder Unterlaffung, die man von ihm ver- 
Yangt, oder zur Anerfennung eines gefeglich begründeten Nechtes zu bewirken 
ſucht. Eine Klage Cactio) ift daher der Nachweis von dem Dafein eines gefeglich- 
begründeten, jedoch angeblich oder wirklich auf irgend eine Art verlegten Rechtes, 
und wird entweder dem Nichter fchriftlich überreicht (Klageſchrift, libellus), oder 
mündlich zu Protocol gegeben. I. Die allgemeinen Beftandtheile einer Klage 
find demnach: 1) der Rechtsgrund (fundamentum juris) oder das Gefeg, worauf 
der Kläger feinen Anfpruc fügt; 2) der Klagegrund (fundamentum agendi) oder 
die hiftorifche Darlegung, daß die Vorausfegungen des angezogenen Rechtsſatzes 
* in concreto wirflich exiftiren; 3) dag Gefuch (petitum), welches den Zwed der 
Klage enthält. Ad 1. Db der Rechtsſatz, unter welden der Kläger feinen 
Klagegrund fubfumirt, ein gefchriebenes Geſetz oder eine rechtsgültige Gewohnheit 
iſt, ift gleichviel, Jedes von dem Gefeßgeber anerfannte Recht, dem nicht das 
Geſetz felbft ausdrücklich die Klagbarkeit abfpricht, Fann durch eine Klage verfolgt 
und aufrecht erhalten werden, wenn gleich nicht für alle möglichen Nechtsverhält- 
niffe fpecielle Klagen gefeglich beftimmt find, Ebenfo braucht der Rechtsgrund, 
obfchon das Dafein eines folchen zur Begründung einer Klage unerläßlich ift, 
Doch nicht nothwendig vom Kläger ausdrücklich angeführt zu werden (ce. 6. X. 
De judic. II. 1.), weil das, was zur rechtlichen Beurtheilung einer Sache gehört, 
der Nichter von Amtswegen ergänzen muß, Nur wenn ein Privilegium oder 
ein folches Particularrecht dem Anfpruche des Klägers zur Seite fände, welches 
dem betreffenden ©erichte wahrfcheinlicher Weife nicht befannt wäre, dürfte be- 
greiflich die Anführung und Nachweifung deffelben nicht umgangen werben. 


Ad 2. Schlechthin unerläßlich dagegen ift die Anführung des Klagegrundes 


oder des Inbegriffes der Thatfachen, welche der Klage rechtliche Geltung ver- 
fchaffen; der Klagegrund ift der juriftifhe Kern der Gefchichtserzählung. Man 
unterfcheidet aber einen nächften, entfernteren und mittelbaren Klagegrund, Der 


nächfte (fundamentum agendi proximum) bezeichnet das Verhältnig, woraus der 


Kläger feinen Anfpruch ableitet, im Allgemeinen (causa actionis generalis), Der 
entferntere Klagegrund (fundamentum agendi remotius) gibt überdieß die Art an, 
wie jenes Verhältniß entftanden ift (causa specialis), Namentlich ift e8 bei per- 
fönlichen Klagen nicht genug, zu behaupten, daß der Beflagte das ſchuldig fer, 
was der Kläger von ihm fordert, fondern es muß auch die Obligatio rei, d. i. 
der Grund dargethan werben, warum er es fihulbig ift (c. 3. X. De libell. oblat. 
U. 3.). Aber auch bei dinglichen Klagen muß nicht nur die Sache nach Umfang 
and Inhalt genau bezeichnet Co. 3. X. eod.), fondern nach Umfländen auch bie 


ie ee ee en 














Klage, proceffuale 211 


befondere Erwerbsart (adjecta causa) erwähnt werben (Sext. c. 3. De sent. et re 
jud. U. 14.). Der mittelbare Klagegrund endlich (fundamentum agendi inter- 
medium) legt das Berhältniß dar, wie das behauptete Recht an den Kläger über- 
gegangen ift, und muß daher in den Fällen angegeben werben, wo der Kläger ein 
ihm urfprünglich nicht zuftehendes Recht verfolgt. Ad 3. Der in vem Geſuche aug- 
zubrüdende Zwed der Klage ift auf Verurtheilung des Beklagten in Haupt- und Neben- 
fache gerichtet. Der Hauptzweck geht bei dinglichen Klagen auf Zu= oder Aberfennung 
des beanfpruchten Rechtes oder Zuftandes, bei perfönlichen Klagen auf die Erfüllung 
der behaupteten Verbindlichkeit, bei gemifchten, d. i. folchen, die aus der Zufammen- 
feßung perfönlicher und dinglicher Klagerechte entftehen, vermöge deren man Eigen« 
thum und zugleich ein Recht aus einer obligatio geltend macht, ift auch der Hauptzweck 
zufammengefegter Natur. Das Petitum muß übrigens als Schlußfolge aus dem 
Klagegrunde, d. h. durch Subſumtion des Hiftorifchen Klagefundaments (als 
Unterfages) unter den Rechtsgrund (als Dberfag) fich ergeben, und beftimmt und 
deutlich geftellt fein. Der Nebenzwer aber begreift alles, was dem Kläger durch 
die Rechtsſtörung entzogen wurde, 3. B. die Früchte, die Zinfen, Erſatz alles 
Schadens, insbefondere die Erftattung der Proceffoften, welche ebenfalls aus- 
drücdlich erbeten werden follen, da fie vom Richter zwar auch ex officio berück- 
fihtiget werden dürfen, aber nicht berüdfichtiget werden müffen, und wenn der= 
felbe im Endurtheile darüber fchweigt, als aberfannt zu betrachten find. Das 
Gefuh der Klage darf feine Zuvielforberung enthalten Das canonifche Recht 
(ec. un. X, De pluspetit. II. 11.) unterſcheidet aber vier Arten der Zuvielforderung, 
nämlich eine pluspetitio re, wenn der Kläger ein anderes, oder werthvolleres 
Object, oder eine größere Summe in Anſpruch nimmt, als er zu fordern berech— 
tiget iſt; eine pluspetitio tempore, wenn er vor Eintritt der Verfallzeit Klage 
ftellt; eine pluspelitio caussa, wenn er eine andere Leiftung fordert, als der Be- 
klagte zu präftiren fhuldig iſt; endlich eine pluspetitio loco, wenn er auf Leiftung des 
Schuldigen an einem anderen Drte dringt, als wo der Beklagte fie zu entrichten 
verpflichtet ift. Im erften Falle würde nur auf das wirklich ſchuldige Object oder 
Duantum erfannt; im zweiten der Kläger vor der Hand mit feiner Klage zurüd- 
gewiefen und in die Roften eondemnirt; im dritten und vierten Falle kann der 
Richter entweder bloß vom Unſtatthaften abfirahiren, oder auch die Klage „an— 
gebrachter Maſſen“ abweifen, II. Es können aber in einem und demfelben Klag- 
libelle auch mehrere Klagen zugleich angebracht und in demfelben Proceſſe er- 
fediget werden. So z. B. geftattet das canonifche Recht eine Verbindung petito— 
riſcher und poſſeſſoriſcher Anfprüche Ce. 2.3.5. 26. X. De caus. possess. et propr. 
II. 12.; c. 36. X. De testibus..II. 20.). Man nennt dieß Klagenhäufung 
(eumulatio actionum), welche wohl zu unterfcheiden ifl von dem concursus actio- 
num) oder dem Zufammentreffen mehrerer Klagen in derfelben Verfon. Die 
Klagenhäufung ift 1) entweder eine objective, wenn zwar nur Ein Kläger gegen 
Einen Beklagten, aber mit verfihiedenen in derfeiben Rlagefohrift vorgetragenen 
Anfprüden auftritt; oder 2) eine fubjective Cumulation, wenn mehrere Kläger 
gegen Einen Beflagten, oder umgekehrt Ein Kläger gegen mehrere Beflagte, oder 
endlich mehrere Kläger gegen mehrere Beklagte auftreten, Ad 1. Die objective 
Klagenhäufung ift entweder eine fimultane, oder alternative oder ſucceſſive. Die 
fimultane befteht darin, daß mehrere Klagen in derfelben Procedur neben einander, 
jedoch fo, daß jede der mehreren Klagen unabhängig von der anderen ihren felbft- 
fändigen Zweck verfolgt, verhandelt und durchgeführt werden, vorausgefeßt, daß 
alle zur nämlichen Procefart und zur Competenz deffelben Richters gehören, und 
durch die Cumulation Feine Verwirrung entfteht. Letztere zu vermeiden, müßten 
die einzelnen Klagen, fofern fie auf verfehiedenen Fundamenten beruheien, nach 
ihren einzelnen Rlagegründen unter Anhängung des felbftftändigen Petitums einer 
jeden gejondert dargeftellt werden, Die alternative Ringehänfung ift diejenige, 
14 ? 


212 Klage, proceffuale 


wodurd mehrere Klagen fo mit einander verbunden werben, daß fie zwar in dem 
Gange deffelben Verfahrens und in denfelben Acten inftruirt werben, der Kläger 
aber nur die Anerkennung der einen oder der anderen fordert, entweder fo, daß 
es ihm gleich ift, welche Klage Anerkennung finde, ober fo, daß er die fernere 
Klage nur eventuell, nämlich für ven Fall wolle angeftellt haben, daß die zunächft 
angeftelfte rechtlich nicht zu dem vom Kläger angeftrebten Ziele follte durchgeführt 
werben fünnen, Auch die Anwendung diefer Klagehäufung ift durch die Gleich- 
artigfeit der Procedur und die Einheit der richterlihen Competenz bedingt, Die 
fueceffive Cumulation endlich befteht darin, daß mehrere Sachen, von welchen 
die eine zu der andern in einem präparatorifchen oder präjudiciellen Verhältniffe 
ſteht, in Einem Klaglibell angebracht, jedoch nacheinander (oder, wenn möglich, 
auch nebeneinander) verhandelt werden, ohne daß eine neue Anftellung der dem 
sorbereitenden oder präjubicirlichen Streite nachfolgenden Klage nöthig ifl. — 
Ad 2. Die fubjective Klagehäufung wird zwar von vielen Nechtslehrern ver— 
worfen; alfein die Stellen (fr. 6. Dig. De exc. rei jud. XLIV. 2. und fr. 1. $ 4. 
Dig. Quod legat. XLIII. 3.), auf welche fie ſich deßhalb berufen, paffen nicht hie— 
ber. Dagegen fprechen gewichtige allgemeine Gründe vffenbar für deren Zuläßig- 
feit, wenngleich Fein poſitives Gefeg hiefür angezogen werben fann; denn Durch 
fr. 25. $ 3. Dig. De famil. hercisc. X. 2., worauf ſich die Vertheidiger der fub- 
jeetiven Klagecumulation fügen, erfcheint diefe zunächft nur bei den Theilungs- 
Hagen gerechtfertigt, III. Die Aufhebung der Klage für einen befonderen Fall 
tritt ein: 1) durch richterliches Erfenntniß; 2) durch den Tod der Parteien; 
3) durch Verjährung. Ad 1. Das Klagerecht erlifcht durch ein rechtsfräftiges 
Endurtheil Cre judicata), welchem auch ein rechtsgültiger Vergleich (res trans- 
acta) vder die Entſcheidung dur Ableiftung des freiwilligen Haupteides (res 
finita) gleichkommt; fowie durch eine Ausſchließung (praeclusio), foweit fie der 
Richter wegen verfäumter Nechtsverfolgung verfügen Fann, Ad 2. Dur den Tod 
der Parteien wird das Klagerecht in der Negel nicht aufgehoben, fondern geht 
per successionem universalem ſowohl auf die Erben des Klägers (translatio actionis 
activa) als auf die Erben des Beflagten über (translatio passiva). Diefe Regel 
leidet indeß folgende Ausnahme : a) Der paffive Mebergang fällt weg, wenn die 
auf eine Leiftung gerichtete Klage perſönliche Eigenfchaften vorausfegt, oder ber 
Vebergang freiwillig von den Eontrahenten befchränft if, b) Die actiones poe- 
nales gehen zwar, mit Ausnahme der Injurienflage, auf die Erben des Berlesten 
über, fünnen aber nicht gegen die Erben des Verbrecher angeftellt werden, es 
wäre denn, daß diefe durch das Deliet ihres Erblaffers bereichert worden. Die 
actiones, quae vindictam spirant, d. h. folche Klagen, welche man, ohne einen 
wirflihen Vermögensverluft erlitten zu haben, bloß aus Empfindlichfeit wegen 
perfönlicher Kränfungen anftellen Fann, gehen nicht auf die Erben des Klägers 
über, fünnen aber doch von biefem felbft gegen die Erben des Beklagten angeftellt 
werben, ausgenommen infofern fie in einem Delicte ihren Grund haben, Wenn 
aber eine actio poenalis oder quae vindictam spirat einmal anhängig gemacht wor- 
den ift, fo geht fie unbedingt auf und gegen die Erben über, c) Bei der querela 
inofficiosi testamenti und inoffic. donationis bewirft ſchon die bloße Erflärung, 
Hagen zu wollen, den Uebergang. Ad 3. Das Aufhören eines Klagerechtes durch 
Verjährung fegt voraus, daß die Klage rechtlich möglich war (c. 13. c. XVI. 
qu. III.; c. 10. X. De praeseript. U. 26.), aber die ganze gefegliche Frift hin- 
durch — nach römifchem Nechte im Allgemeinen 30 Jahre lang — nicht angeftelft 
wurde (fr, 6. Dig. De oblig. et act. XLIV. 7.). Auf den guten oder böfen Glauben 
des Gegners des Berechtigten kommt nach römiſchem Nechte nichts an, Nach 
eanonifchen Rechte aber ift anzunehmen, daß alle dinglichen ſowohl als perfün- 
lichen Klagen, welche auf Reftitution einer Sache gerichtet find, nicht verjähren, 
wenn der Befiter der Sache ſich in mala fide befindet, Bei allen anderen perfün- 


a 





Klagenfurt — Klee. 213 


lichen Schulöflagen ſchadet dem Kläger feine Nachläffigfeit ſchlechthin, wenn auch 
der Beflagte in mala fide fein follte Ce. 5. 20.X. De praescript. II.26.). Ausführ= 
Vicheres f. unter Verjährung. Vergl. auch den Art, Einreden. [Permaneder,] 

Klagenfurt, f. Rärnthen. 

Slaglieder, f. Jeremias. 

Klappern in der Charwoche, f. Charwoche Br. Il. ©, 458. 

Klee, Heinrich, geboren am 20. April 1800 zu Münftermaifeld, einen 
Städtchen bei Coblenz, von braven, dem Gewerbeftand angehörigen Eltern, Im 
5,1809 fam der talentvolle Knabe in das damalige bifchöfliche Seminar in Mainz, 
mit welchem die acht Elaffen des Knabenfeminars verbunden waren. An diefen 
Elaffen wurde das Lehramt den vorzüglichften Alumnen nah Abfolvirung ber 
Theologie übertragen; bei Klee aber wurde wegen eminenter Befähigung eine 
Ausnahme gemacht, fo daß er ſchon 1819 (nach andern Angaben erft 1823) 
Brofeffor am Heinen Seminar in Mainz und 1825 Profeffor der Philofophie und 
Theologie wurde. Unermüdet, bei einem Gehalte von höchſtens 200 fl., Leiftete 
er Außerordentlihes, Am 21. Mai 1823 empfing er die Priefterweihe, Dur 
feine Differtation im 3. 1825 de chiliasmo primorum saeculorum und eine glän- 
zende Disputation in Würzburg erwarb er fich die theologifhe Doctorwürbe, 
Im Jahr 1827 erfchien feine gründliche Arbeit über die Beichte nebft einzelnen 
Auffägen in Zeitfehriften. Sein Commentar über das Evangelium nad Johannes 
erfchien 1829 (Mainz); in weldem Jahre von Preußen und Baden ihm Pro— 
feffuren angetragen wurden; auch Sailer fuchte ihn für Münden zu gewinnen, 
Sein Commentar über des Apoftels Paulus Sendfchreiben an die Römer fam 
heraus Mainz 1830, und bei wiederholten Antrage von Preußen aus und ber 
ihm überlaffenen Wahl zwifhen Breslau und Bonn entfchied er ſich für letzteres, 
wo er Dogmatik und Eregefe vortrug. In Bonn fhrieb er: „Syftem der Fatho- 
liſchen Dogmatif” (Bonn 1831), „Encyelopädie der Theologie” (Mainz 1832), 
„Auslegung des Briefes an die Hebräer” (Mainz 1833), „Die Ehe“ (Mainz 
1833, 2te Aufl, 1835), „Die Fatholifhe Dogmatik“ (3 Bde., Mainz 1834— 
1835) 5 „Dogmengefhichte” (2 Bde., Mainz 1837— 1838). Himioben gab nah 
Klee's Tod deffen „Grundriß der Ethif“ 1840 heraus, In Bonn vertrat Klee das 
Syftem feiner Kirche, Hermes (ſ. d. A.) fein eigenes, um durch Zweifel und Ber- 
nunftfchlüffe wieder zum Pofitiven zu gelangen, gleich als ob dieß möglich und das 

Poſitive dabei noch pofitiv und nicht viel mehr fubjectiv wäre. Hermes fuchte den ge= 
waltigen aber edlen Gegner voll Einfalt, Durch Invectiven und Intrigen zu meiftern, 
wobei gegen den Arglofen ehrlofe Streiche geführt wurden, denen er nur Opfer und 
Muth entgegenfette, wobei ich auf die biographifchen Notizen verweife, welche feiner 
Dogmatif (Mainz 1844) im erften Band vorangeftellt find S. XXIV—XLIN. Auf 
Bitten feiner Zuhörer las er auch Ethik (denn Achterfeldt's hermefifche Moral paßte 
für das Firhlihe Syftem nicht), auch allgemeine Religionslehre für Nichttheologen 
trug er mit großem Segen vor, Clemens Auguft beftellte ihn als Erzbifchof von Coln 
zum Sraminator und bald fanden die Hörfäle der Hermefianer leer. Sogleich nach 
Möhler’s Tod erhielt Klee im Jahr 1838 einen Nuf an deſſen Stelle nad 
Münden, den er aber ablehnte, weil er trotz der mißlihen Umftände (Clemens 
Auguft’s Gefangennehmung) noch in Bonn zu wirken hoffte. Bald aber fah er, 
wie feine Wirkfamfeit immer mehr beſchränkt werde und daher fiedelte er freudig 
nah Münden über im 5, 1839, wo er fih fehr glücklich fühlte, Er erlag aber 
wie Möhler dem Klima, indem ein nervöfes Schleimfieber ihn am 28. Juli 1840 
nach fchweren Leiden hinwegraffte. Er ruht neben feinem Vorgänger Möhler. 
Klee war ein liebenswürdiger Menſch, einfach in feinen Sitten, gerade im Um- 
gange, heiter im Freundeskreife. Scharffinn, Gewandtheit und ſchöne Darftel- 
lung ſprachen aus feinen Vorlefungen wie aus feinen Schriften. Sein fhönftes 
Denkmal hat er in feiner Dogmatik hinterlaffen, welche in drei Auflagen erſchie— 


1A Kleid, das weiße — Kleider, heilige, 


nen ift, 1835, 1839 und nach feinem Tode unverändert 1841, Sieht man auf 
Klee's Vorgänger in Bearbeitung der Fatholifhen Dogmatif, fo darf man fagen: 
Klee hat durch Eintheilung, wie durch lichtvolle und wiffenfchaftlihe Behandlung 
des Stoffes eine neue Bahn auf diefem Felde gebrochen, wenn er gleich fie 
nach ſcheinbar antiquirter Weife eintheilte in Generaldogmatif und fpecielle Dog⸗ 
matif, — Schärfe und Milde, Wiffenfchaftlihfeit und Gläubigfeit waren in 
diefem Lehrer fchön vereinigt. Aecht Fatholifche Bildung theilte er feinen Schülern 
mit und gewöhnte fie an eigenes Denfen und Studiren. [Haas.] 

Kleid, das weiße, der Neugetauften, Da in der Vorzeit gewöhnlich durch 
Antertauchung getauft wurde, und die Täuflinge nat im Waffer ftanden over 
Cie Säuglinge) gehalten wurden, fo wurde es ſchon in den früheften Zeiten im 
Morgen: und Abendlande Sitte, denfelben, wenn fie aus dem Waffer kamen, 
ein weißes Kleid (Hemd) anzuziehen: ſchon die Unfchuld, die durch die Taufe dem 
Menfchen zu Theil wird, Tieß ein Kleid von diefer Farbe dazu wählen, „Acce- 
pisti“, fagt 3. B. der heil, Ambrofius (I. de myst. c. 7.), „vestimenta candida, 
ut esse indicium, quod exueris involucrum peccatorum, indueris innocentiae casta 
velamina, de quibus dixit propheta: Asperges me hyssopo et mundabor, lavabis 
me, et super nivem dealbabor.“ Vgl. Eufebius (1. A. c. 62. vit. Constantini M.), 
Cyrillus von Jeruſalem Ceatech. myst. 4.), Auguftin (serm. 81. de div. al. 228.). 
Der e8 ihnen Anziehende war der Pathe (Sacram. Gregor. cum not. Hug. Menardi.), 
Es wurde (wenigftens von den zu Dftern Getauften) acht Tage Yang getragen, 
ſo daß der Sonntag nah Dftern, an welchem es abgelegt wurbe, noch jeßt hie— 
von den Namen „Dominica in albis sc. vestibus* (weißer Sonntag) hat, Dffen- 
bar follte das längere Tragen deffelben den Neugetauften eine Aufforderung fein, 
fih Zeit Lebens eines fündenreinen Wandels zu befleißen, „A sabbato usque ad 
sabbatum“, fagt der Pſeudoalkuin (de sabb. in alb.), „portantur albae vestes, quae 
nobis speciem praestant, quales esse debeamus in novo testamento, et qualia cor- 
pora recepturi in octava die, in qua repraesentari nos opportet ante Dominum cum 
ipso pignore, quod accepimus in Baplismo*. Vgl, Cyrillus von Jeruſalem (caiech. 
1 mystag.), Auguftin (I. c.), Rabanus Maurus (de instit. cler. 1. 2. c. 39.) u.ſ. w. 
Auch heut zu Tage wird es noch den Neugetauften im Morgen- und Abendlande 
gereicht, ja bei den Griechen fogar noch am achten Tage feierlich unter Gebet ab- 
genommen. Sinnvoll fpricht dabei der Tateinifche Priefter die ſchon in uralten Kirchen- 
vröonungen üblichen Worte: „Accipe vestem candidam et immaculatam, quam perferas 
ante tribunal D. N. J. Chr., ut habeas vitam aeternam“. Die Sitte, daß die Pathen 
ihren Tauffindern, wenn fie zu den Jahren der Vernunft fommen, ein fogenann- 
tes Taufhemd fherfen, hängt unverfennbar auch damit zufammen, [Fr. X. Schmid.] 

Kleider, heilige, bei den Hebräern, ſ. Hoherpriefter, Priefter, Le— 
viten. 

Kleider, heilige. Es iſt eine Streitfrage, ob die Cultuskleidung in der 
katholiſchen Kirche von Anfang an von der gemeinen bürgerlichen Tracht verſchie— 
den gewefen? Während die Einen entfchieden mit Nein antworten, behaupten 
Andere einen uranfänglichen Unterfchied in Beziehung auf den Stoff und wieder 
Andere in Beziehung auf Stoff und Form zugleih. In der That feheint das 
Vebergewicht der Gründe auf Seite derjenigen zu fern, welde fi für das uran- 
fängliche Streben der Kirche nach einer ausgezeichneten Cultkleidung ausfprechen, 
Juden und Heiven hatten diefe (Ruben de re vestiar. II. 14.); auch bei den 
Peruanern fanden die Entdecker des neuen Welttheifes diefen Unterſchied vor 
(Lipsius de monument. et exempl. polit. 1. I. c. 3.). Die Erhabenheit des neu— 
teftamentlichen Prieftertfums war gewiß fein Grund, den Standpunet, welpen 
in diefer Beziehung das Licht der natürlichen Vernunft und das Geſetz Moſis an 
die Hand gaben, zu ändern, Nach dem Zeugniffe eines Clemens von Alexandria 
(paedagog. 1. II. pag. 256) zogen felbft die Gläubigen, wenn fie dem Gottes— 





Kleider, heilige, 215 


dienft anwohnen wollten, andere und beffere als die alltäglichen Kleider an, und 
die bierarchifche Rangordunng unter den Altardienern machte von Anfang an dem 
Unterfohied der Cultkleidung von der gewöhnlichen bürgerlihen Tracht beinahe 
nothwendig. Daß aber der Unterfhied beider nur allmählig ſich ſchärfer ent- 
widelte, liegt in der Natur der Sache wie in der mit der Zeit immer deutlicher 
bervortretenden Sonderung der hierarchiſchen Stufen, der man auch im Aeußern 
einen entfprechenden Ausdruck zu fhaffen bemüht fein mußte, wie endlich in dent 
Umftande, daß die bürgerliche Kleidung den Launen der Mode fi) fügte, wäh— 
rend die firchlihe nach dem der Kirche innewohnenden Lebensprineip fich gleich 
blieb Cim Wefentlihen). Sp fonnte e8 auch nicht fehlen, daß der Quellpunet 
des myftifchen Lebens der Kirche, welcher in dem unblutigen Opfer beruht, auch 
über die heilige Kleidung feinen verflärenden Nimbus ergießend, diefelbe in. einen 
höheren Lebensfreis erhob, fo daß die myftifche Deutung und Bedeutung derfelben 
jest als eine wefentliche Seite daran erfcheint. Alfo der in der Kirche fortlebende 
ewige Hohepriefter Jeſus Chriftus ift es, welcher fih in den heiligen Cultkleidern 
als derjenige repräfentirt, von dem gefchrieben ſteht: Dominas regnavit, decorem 
indutus est, indutus ‘est Dominus fortitudinem et praecinxit se. Und um diefer 
höhern Bedeutung der Cultkleider willen, damit fie ein wirffames Vehikel werben, 
dem funetionirenden Altardiener felbft wie dem gläubigen Bolfe die Idee nahe 
zu legen, daß er die Perfon Jeſu Chriſti vertritt, werden fie auch benedicirt, eine 
Sitte, die nah Sozomenus (die Beweisftelle bei Binterim IV. IL ©. 198 f.) 
ſchon im vierten Jahrhundert nicht mehr unbefannt gewefen zu fein fheint, wäh- 
rend man die erfte gefegliche Vorſchrift dafür erft im Pontificalbuch des Biſchofs 
Egbert von York (8. Jahrh.) findet, Die Griechen weichen hierin von dem Ge— 
brauche der Tateinifchen Kirche infofern ab, als fie die Eultfleider einzeln jedes=- 
mal beim Gebrauch benediciren (Marzohl und Schneller V. 1. ©. 344, cf. 
liturg. S. Chrysost.). Die Benediction der Eulifleider ift Sache der Biſchöfe, 
kann jedoch auch an Priefter übertragen werden (übrigens vgl. Prosp. Lambertinä 
institut. eceles. 21. p. 127, de sacrif. Missae I. cap. 52. fol. 28. edit. Patavin.). — 
Die einzelnen Theile der priefterlihen Meßkleidung find der Amictug 
oder das Humerale (f. Amictus), die Alba, das Cingulum, der Manipel, die 
Stola, das Meßgewand. Die Alba (camisia, poderis) ift der weiße Iinnene 
Rock (alba vestis), welcher vom Halfe bis auf die Knöchel geht, den fhon Gregor 
von Nazianz (orat 5.) und die vierte Synode von Carthago (a. 398. c. 41.) als 
tirchliches Feftgewand fennen. Sie ift das Bild der durch das Blut des Herrn 
erworbenen Gerechtigkeit und der ganz befondern Heiligkeit, welche an dem Diener 
Gottes erglänzen fol (vgl. das beim Anziehen derfelben vorgefhriebene kirchliche 
Gebet „dealba me, Domine.. .), Im fechsten Jahrhundert ſchon trugen wenig- 
ftens in Franfreih auch die Lectoren und Subdiaconen Alben (concil. Narbon. 
de a. 585. c. 12,), welche fürzer als die der Priefter waren, Aus der Albe ift 
durch Abfürzung der Chorrock (superpelliceus, rocchetum) entftanden. — Das 
Cingulum (baltheus, zona) ift ein Iinnener (S.R. €. 22. Januar. 1701) Gürtel, 
der einerfeits zur Auffhürzung der Albe dient, andrerfeits die in dem Gebete 
„Praecinge me Domine cingulo purilatis“... ausgefprochene fymbolifche Bedeutung 
bat, — Der Manipel (manipulus, sudarium, fanon, mappula) war Anfangs 
nichts Anderes als ein Schweißtuh, das am Iinfen Arme herabhängend getragen 
wurde, in welcher Bedeutung es noch Ivo von Chartres CH 1115) kennt. Aber 
fon zur Zeit Gregor’s des Großen erfoheint er als Auszeichnung der Priefter 
und Diaconen (Binterim IV. 1. ©. 204.). Wohl feit dem neunten Jahrhun— 
dert befteht er aus demfelben Stoffe wie Stola und Mefgewand, nahdem er 
Anfangs aus Linnen geweſen. Der Gebrauch, den jest mur noch die Bifchöfe 
beibehalten Haben, den Manipel erft am Altar nach gebetetem Confiteor anzuziehen, 
war Anfangs allgemein, Der Manipel finnbildet den „fructus bonorum operum‘* 


216 Kleider, heilige, 


(I. Liturgie der Subdiaconatsweihe), der nur durch den Schweiß der apoſtoliſchen 
Arbeit gewonnen werben kann. — Die Stola ift aus dem orarium entflanden, 
einem von der Schulter herabhängenden, mit einem Streifen von anderer Farbe 
verbrämten Linnengewande (Hieron. ep. 52. ad Nepot. et in Mich. c. 3., Ambros. 
in obit. Satyr.n. 43.), von dem jeßt nur mehr der ſchmale Streif geblieben, Er wird 
nun von den Prieftern von beiden Schultern herabhängend getragen, von den Diaconen 
aber auf der linken Schulter über die Bruft und den Rücken (wie dieß in Beziehung 
auf die Diaconen ſchon die alten Abbildungen bei Aringhi ze, auswerfen). Das 
Concil von Laodicen fah fich gendthigt (can. 3.), den Leetoren und Cantoren zu 
verbieten, das Drarium zu tragen, andere Concilien thun dieß in Beziehung 
auf die Subdiaconen (Braccar. III. c. 1. 4. Aurelianens. I. c. 20.). Früher 
wurde die Stola auch) außer der Kirche und dem Gottesdienſt von den Prieftern ge- 
tragen Cauf der Synode von Mainz 813 c. 28. wird ihnen dieß fogar geboten); jet 
ift fie ein Hauptzeichen der priefterlichen Amtsgewalt, wird aber nur bei Functionen 
gebraucht, Auch wenn der Priefter more laicorum communieirt, muß er nach einer 
Verordnung des dritten Concils von Braga mit der, Stola befleivet fein, Nur der 
Papſt trägt die Stola heutzutage immer, — Das Meßgewand (casula, planeta) 
hatte früher fo ziemlich die Form unferes Pluvials, umfaßte alſo ven ganzen Leib, 
woher auch der Name casula. „Planeta graece et latine dicitur casula, quae totum 
hominis corpus tegit“. Isidor. lib. 19. c. 24. Noch im neunten Jahrhundert beftand, 
wie aus Abbildungen hervorgeht, die alte Form; erft um das zehnte Jahrhundert 
fcheint die Abänderung erfolgt zu fein, die nach und nach) die gegenwärtige Ge- 
ftalt herbeigeführt, und zwar durch Ausfchneidung auf den Seiten. Die alte 
Form des Meßgewandes machte bei der Elevation den Dienft des Miniftranten 
im Hinaufheben deffelben nothwendig, was bis jet geblieben ift, obwohl es 
eigentlich nicht mehr nothwendig wäre, Schon alte Abbildungen weifen das Kreuz 
hinten und vorn auf dem Meßgewand aus, entweder in Gold oder mit feiner 
Seide geftirft, eine Zierbe, weldhe Thomas von Kempen (A, Buch, 5. Cap.) ſo 
fchön deutet. Auch von einer Cafula der Diacpnen und Subdiaconen ift bei den 
Kicchenfchriftftellern die Nede (vgl. Binterim IV. 4. S. 212 und 213), und noch 
jest tragen die Leviten an Feſttagen und in Bußzeiten die Planeta, aber etwag 
am Rücken aufgerollt (daher planetae plicatae), — Aus der Cafula älterer Form 
ift auch das Pluviale entflanden, urfprüngli eine mit einer Kopfbedeckung 
verfehene Cafula (casula cucullata), die man bei Proceffionen zum Schuß gegen 
fchlimme Witterung gebrauchte (Gregor. Tur. in vita S. Nicet. Lugdun.), jegt ein den 
ganzen Leib bedeckender Fefimantel, der auf der Vorderfeite offen ift und bei 
Proceffionen, feierlichen Befpern, bei Ausfpendung des geweihten Waffers u, |. w. 
angezogen wird, — Bei vielen Cultacten trägt der celebrirende Priefler nur 
Chorrock und Stola, Der Unterfchied zwifchen superpelliceus und rocchetum 
beide zu teutfch „Chorrock“) wird dahin angegeben, daß jener weite, biefer enge 
Aermel hat, — Andere heilige Kleider find die, -welche den Diacpn und Sub- 
diacon auszeichnen. Das jenen befonders zierende Gewand ift die Dalmatif, 
welche wohl von ihrem Entftehungsorte den Namen trägt; fie ift nach) Krazer 
fchon im vierten Jahrhundert gefannt, dem Meßgewande ähnlich, aber mit Aer- 
meln verfehen, ihre myftifche Bedeutung beruht in den Worten, bie der ordini— 
rende Bifchof zum neugeweihten Diacon fpricht, während er fie ihm anzieht: 
„induat te Dominus indumento“ ... Das Feftgewand des Subdiacons iſt Die 
Tunicella (auch Subtile genannt), gegenwärtig von der Dalmatif nicht viel 
unterſchieden, auch wohl von derſelben myflifhen Bedeutung, ſchon Gregor dem 
Großen befannt (ef. IX. epp. 107. 12.). — Der Bifchof trägt, wenn er Meffe 
Yiest, zu den priefterlichen Gewändern hinzu, die ſchon genannt worden, bie 
Dalmatif und Tunicella, unmittelbar unter der Cafula; fonft zeichnen ihn noch 
aus die Schuhe, d. h. eigens für den Eultus beftimmte Ceine Erinnerung an 





Kleider d, morgenl. Geiſtlichen — Kleider d. prot. Geiftl. 217 


das biblifche „quam speciosi pedes“...), die Handſchuhe, welde erft das 
Mittelalter Fennt, Symbol der erft durch Eprifi Mittlertod erlangten Fähigkeit, 
ein Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen, die Mitra Cinfula), die ohne 
Zweifel, wenn auch nicht gerade in der gegenwärtigen Form, tief in's chriftliche 
Alterthum hinauf reicht (ef. Baron. ad ann. 34. n. 298.), Symbol der geiftlihen 
Feldherruwürde der Bifchöfe (vgl. das beim Auffegen derfelben im Confecrations- 
ritus gefprochene Gebet), der Hirtenftab, der Ring, das Bruſtkreuz (f. die 
befond,. Art.). — Die Eultkleiver waren mehrere Jahrhunderte hindurch von 
weißer Farbe, nach und nach bildeten fich die fünf Kirchenfarben (f. d. A. Farbe). 
— Die meiften heil, Kleider müffen vor dem Gebrauche benedicirt fein (der Chor- 
rock und das Birett [f. d. Art.] find ausgenommen) und zwar entweder vom 
Biſchof oder einem Priefter, dem diefe Vollmacht delegirt worden; ferner ganz, 
reinlih, nett und fauber, wie die Rubrifen des Miffale vorſchreiben. Der 
Stoff ift verſchieden, nur für den Amict und die Albe ift Linnen oder Hanf vor- 
geſchrieben. — Wenn im Ganzen und überhaupt geſagt wird, daß unſere gegen— 
wärtige Meßkleidung ein Alter von acht Jahrhunderten habe ‚ fo ift gewiß nicht 
zu viel gefagt. (Vgl. hierzu den Art. Kirhengeräthe,) [Maft.] 


Sleider der morgenländifhen Geiſtlichen. So groß auch der Unter⸗ 
ſchied der priefterlichen Eultfleivung bei den Griechen von der in der Tateinifchen 
Kirche ift, fo eorrefpondiren doch den meiften Theilen der Meßkleidung bei den 
romiſchen Katholiken einzelne heilige Kleider der Griechen. So entfpricht der 
Alba in der lateiniſchen Kirche das griechifhe oroıyaoıov (orıyagıovy — Goar 
überfest es freilich immer mit dalmatica), das ſchon der Lector vekommt, der 
Stola das Wodgıov der Diaconen (orarium ift aus einer Corruption entftanden, 
das Wort fommt von wor, der Gebetzeit, welche durch das Tragen diejes heil. 
Kleides angezeigt wird) und das ZreiroayiAuov der Priefter (ein Doppelorar), 
die Zurıuvizıe dem Manipel (Muralt ftellt dieß in Abrede), die Covn dem 
Eingulum, das gekomıov, gaıkayıov der Eafula. Ein befonderes Ehrenzeichen 
für vornehme Prieſter iſt das Erzıyovarıoy, auch vrroyovarıov, eine Art von 
dierefigem, von der [av auf das Knie herabreichenden Schilde, nah Simeon 
Metapbraftes den Sieg über den Tod und die Macht des Böjen andeutend, Die 
Infignien der Bifhöfe find bei den Griechen das WuopogLor, ſchon von Iſidor 
von Peluſi um genannt (7 gegen 450), von Goar mit pallium überſetzt, der aux- 
»0S, ein Gewand ohne Aermel mit Glocklein und der Saßdog vder Hirtenftab. 
Den Gebraud der Mitra fennen die Griechen nicht, nur der Patriarch von 
Alerandrien trägt das Le00v (zu bemerken aber, daß in Muralt's Lerivion Taf. IV. 
der Biſchof eine Mitra trägt, während Glen— Ring den Bischof ohne Kopfbederfung 
darſtelltz fo ift auch auffallend, daß bei Muralt a. a, DO, der bifchöfliche 
Sakkos Aermel Hat). Die Eultfleidung bei den Kopten, Syrern u. f. w. ift 
wenigſtens nicht ſehr verſchieden von der griechiſchen. Es iſt nicht zu läugnen, 
daß die heiligen Kleider der Griechen den äſthetiſchen Anforderungen in hohem 
Grade genügen. [Maft.] 


Sleider der proteftantiihen Geiftlihen beim Gottesdienſte. Die 
proteftantifchen Miniftri tragen bei den gottesdienftlichen Functionen meift den 
ſchwarzen Talar, wie er zu Luther’ Zeiten von den katholiſchen Prieftern all- 
gemein getragen wurde, auch wohl die Albe, ja fogar in gewiffen Gegenden die 
Eafula; die Reformirten aber haben das Alles verworfen und begnügen fih mit 
dem einfachen ſchwarzen Rod, der zur Auszeihnung höchſtens etwa einen zwei 
Hände breiten Streifen von fpwarzem Zeuge hinten berabhängen läßt. Zu be- 
merfen ift außerdem noch der weiße Halsfragen oder die beiden Eleinen weißen 
Streifen, welde vorn am Halfe getragen werden, In der englifch = bifchöflichen 
Kirche trägt der Priefter über der Albe ein Furzes rothſeidenes Schulterkleid. 


218 Kleidung, geiftliche, 


Das Barett der proteftantifchen Prediger ift nichts Anderes als Die Kopfbedeckung, 
wie fie zur Zeit der Reformation allgemein üblich war, 

Kleidung, geiftliche, außer den Firchlichen Functionen. Es ift anzunehmen, | 
daß im Anfange des Chriftenthums die Priefter im gewöhnlichen Leben eine von 
der Laientracht entweder gar nicht oder nur wenig verfehiedene Tracht hatten; fo 
verlangte es ſchon die Nücficht auf den Zuftand der Verfolgung, Als diefer er- 
loſch, machte fih im Verhältniß zu der immer wechfelnden und Iururiöfer fich ge- 
ftaltenden Mode die Firchliche Disciplin geltend, welche auf Unterſcheidung der 
Tracht der Geiftlihen von der der Laien drang. Diefe Unterfheidung aber bil- 
dete fih fo, daß die Geiftlichen, den Wechfel der Mode nicht beachtend, im We- 
fentlichen bei der becenten antifen Kleidung blieben. Aus dem vierten und fünften 
Sahrhunderte haben wir Ermahnungen wie von Eoneilien fo von Kirchenvätern, 
daß der Cleriker fich flandesgemäß Fleiven folle. Im Allgemeinen galt der Grund- 
faß des hl, Hieronymus (ep.2. ad Nepot.); „ornatus et sordes pari modo fugiendae 
sunt; quia alterum delicias, alterum gloriam redolet‘“ (cf. Possidon. in vita Augustini 
„vestis ejus et calceamenta et lectualia ex moderato et competenti habilu erant, 
nec nitida nimium nec-abjecta plurimum‘“). Bald finden wir bei ben Firchlichen 
Schriftſtellern den Ausdruck „habitus ecclesiasticus“ pder „tunica, tota sacerdotalis“. 
Die Farbe der Kleidung anlangend, trugen, wie Abbildungen aus dem dritten 
und vierten — ausweiſen, die lateiniſchen Cleriker die weiße, jedoch 
nicht glänzendweiße (cf. Hieron. ad Nepotian. n. 5.), Tunica ohne Aermel, wäh— 
rend in der griechiſchen Kirche von Anfang an die ſchwarze Farbe den Vorzug ge— 
habt zu haben ſcheint, der ihr allmählig dann in der ganzen Kirche eingeräumt 
worden. Beſonders verboten für die Kleidung der Geiſtlichen wurden die rothe, 
grüne und bunte Farbe (constitut. Gallonis legati a. 1208, concil. Montispessul. 
can. 3, concil. Colon. a. 1280, conc. Lateranense sub Leone X. 1514), Schon 
die Synode in Trullo verhängt die Suspenfion über die Geiftlihen, welde fi 
der Standestracht nicht bedienen (cf. can. Nullus causa 21. qu. 4.), Das Eoneil 
im Lateran unter Papft Innocenz II. beftimmt im 16, Canon, daß die Cleriker 
gefhloffene Kleider tragen follen. Am deutlichften und beftimmteften hat fich über 
diefen Punct der Disciplin das Coneil von Trient (Sess. 14. c. 6. deref.) aus⸗ 
gefprochen, indem e8 unter Bedrohung mit Suspenfion, Beraubung der Firhlichen 
Einfünfte ꝛc. allen geiftlichen Perfonen einfchärft, zu tragen „honestum habitum 
clericalem illorum ordini et dignitati congruentem“, d. h. wie Sirtus V. in der 
Bulle „sacrosanclam“ (a. 1589) ausdrücflich erklärt hat, und wie aus der Er— 
Härung einer Menge von Provincialeoncilien hervorgeht, den Talar, 
das lange, ſchwarze, gefhloffene Gewand, Weiter entzieht Diefelbe Synode (von 
Trient) allen Geiftlihen, welche außer der Tonfur das geiftliche Kleid nicht tra— 
gen, das fog. privilegium fori (Sess. 23. de reform. c. 6.), In manchen Ländern 
bat diefe gefeglihe Beftimmung auch Eingang gefunden, am wenigften iſt dieß 
der Fall gewefen in Teutfchland, wo es mit diefem wichtigen Disciplinarpunct 
zeitenweife fehr willfürlich gehalten worden if, Im nämlichen Grade, in welchem 
das Bewußtfein von dem eigentlichen Wefen der priefterfihen Würde in Folge 
jofephinifcher Aufffärerei abhanden gefommen, wurde die geiftliche Kleidung zu 
den reinen adiaphoris gerechnet, und der einfeitige Orundfaß hervorgehoben, daß 
das Kleid nicht den Mann mache, gegen welchen das claffifche Wort des Hl, Ber- 
narbug gefagt werden muß, der auf die Trage: num de vestibus est cura Deo et 
non magis de moribus? antwortete: at forma haec vestium deformitatis mentium 
et morum indicium est (lib. 3. de consid. c. 5). Mag nun auch den Bifchöfen 
‚der einzelnen Didcefen geftattet fein, mit Berüfichtigung der Verhältniffe gewiffe 
Milderungen des allgemeinen Kirchengefeges eintreten zu Iaffen, fo muß doch das 
Weſen deffelben ſtets aufrecht erhalten werden, welches in ben zwei Beftimmungen 
beruht, daß das geiftliche Kleid einmal von dem der Laien unterſchieden, ſodann 











Kleidung der Männerund Frauen beidenalten Hebräern. 219 


daß es vom Biſchof approbirt fei. Und davon kann nur im Falle der Verfolgung 
Umgang genommen werden. Die Einwendungen, welde gegen die geiftliche Klei- 
dung erhoben werden, fließen aus der Duelle des Weltgeiftes. — Die kirchlichen 
Vorfchriften Hinfichtlich der geiftlichen Kleidung beziehen ſich auch auf die Kopf-, 
Hals- und Fußbekleidung; fie find aber in den verfchiedenen Bisthümern ver- 
ſchieden. [Maft.] 
Kleidung der Männer und Frauen bei den alten Hebräern. In 
den altteftamentlihen Büchern finden fih über diefen Gegenſtand nur zerftreute 
furze Angaben und Andeutungen, aus denen fih eine vollftändige fihere Kenntniß 
der Sache nicht gewinnen läßt. Da jedoch der Drient, wie in Anderem, fo au 
in den Kleidertrachten fehr flabil ift, und dießfallſige Rückſchlüſſe von der fpätern 
Zeit auf die frühere wohl geftattet, auch die Abbildungen auf den alten Ruinen 
son Babylon, Perfepolis zc. mandhe Aufſchlüſſe geben, fo wird ſich wenigftens 
das Wichtigſte mit befriedigender Sicherheit angeben Iaffen. A. Kleidung der 
Männer. Das frühefte und einfachfte Kleidungsftüf in Arabien und andern 
heißen Ländern, und darum wohl auch bei den Hebräern, war 1) das Ihr am 


N, welches in Arabien noch jetzt oft das einzige Kleidungsſtück der ar- 


beitenden Claſſe ift. Es befteht nur aus einem Fleinen Stüf Tuch, weldes um 
die Hüfte gebunden wird und bis zu den Knieen hinabreicht (Befchreibung und 
Abbildung bei Niebuhr, Behr. von Arabien. ©, 364. Tab, 15. 16. Reife- 
befär. I. 268. Tab. 54.). Später wurde es nah oben bis über die Schultern 
verlängert, und fo entftund 2) das gewöhnlihe Unterkleid (nin> oder nınz, 
yıraw). Es hatte eine rockartige Geftalt und Aermel, war aber nach vorne nicht 
offen, fondern ringsum zugenäht nach Art unferer Hemden, In der Regel reichte 
es vom Hals bis über die Kniee oder auch bis an die Knöchel hinab, wurde auf 
bloßem Leibe getragen und war das gewöhnliche, oft einzige Kleid der gemeinen 
Leute, Der Stoff, aus dem es beftund, war gewöhnlich Kattun oder Leinwand, 
und baper dat es wahrſcheinlich auch ſeinen Namen, denn das verwandte arabiſche 


— * 
oder („223 bedeutet Baumwolle und baumwollenes Zeug (Cotton, Kattun). 


Seine Farbe war wohl, wie bei den Arabern gewöhnlih (Jahn, biblifhe Ar- 
häologie I. 2. S. 79 f.) weiß oder blau, oder mit beiden Farben geftreift. Solide 
Kleider wurden übrigens auch ganz gewoben, fo daß fie nirgends zufammengenäht 
zu werben brauchten (305. 19, 23.), und eine jüdifche Tradition fagt fogar, dag 
die Kleider des Hohenpriefters ganz gewoben gewefen und zu ihrer Verfertigung 
Feine Nadel gebraucht worden fei (Sebachim f. 85. a.). Außer diefem Unterfleive 
wird zuweilen noch ein anderes, eine Art Hemd (7770) erwähnt (Richt. 14, 12. 
Jeſ. 3, 23. Sprüchw. 31, 24.), das gewöhnlich. von Vornehmen, zuweilen aber 
auch von gemeinen Leuten getragen wurde, wie z. B. von Fifchern, um das eigent- 
liche Unterfleid (erevdvzng Joſ. 21, 7.) ablegen zu konnen, ohne ſchon ganz 
nadt zu fein. Vornehme trugen aber über dem gewöhnlichen Unterkleide oft noch 
ein anderes, längeres, bald mit, bald ohne Aermel (Hy oder mauy2 genannt 
1 Sam, 15, 27. 18, 4. 24, 5. 2 Sam, 13, 18, Jeſ. 3, 22. Das gewöhnliche 
Unterffeid war in der Negel ziemlich weit und Iang, weßhalb 3) ein Gürtel 
nöthig war, um es aufzubinden und an den Leib zu befefligen. Die allgemeine 
Benennung deffelben iſt 371 oder 257, bei Männern irn, bei Frauen D’Qw7. 
Er war Anfangs, und bei ärmeren Leuten und Afceten auch fpäter noch, ganz 
einfach, beftund nur aus Leder oder einem Streifen Tuh, und war mit einer 
Schnalle verfehen, um ihn weiter oder enger zu machen; fo trugen Elias und 
Johannes der Täufer Iederne Gürtel (2 Kön. 1, 8. Matth, 3, 4). Bei Reichern 
dagegen beftund er aus Linnen oder Baumwolle, vielleicht, wie fpäter, auch aus 


220 Kleidung der Männer und Frauen ıc 


Seide, oder war doch mit Seide geftickt, mit fünftlichen Figuren, wohl auch mit 
Sitber, Gold und Ebdelfteinen geziert, ziemlich breit, fo daß er einigemal über- 
einander gelegt und Geld oder Aehnliches in ihn gewickelt werden fonnte, und er 
zugleich auch als Börfe und Tafche diente (Matth. 10, 9. Marc, 6, 8.). Er 
wurde entweder vorne zugefchnalft, oder wie der priefterlihe Gürtel (f. Priefter) 
zugefnüpft; oft war er auch ziemlich lang, fo daß er zwei- big dreimal um den 
Leib ging (Shaw, Reif, S. 199), Man trug ihn ziemlich tief, daher das häu— 
fige „die Lenden umgürten”; und wenn man ein Schwert, einen Dolch u. dgl. 
bei fich hatte, war es am Gürtel befeftigt, weßhalb derfelbe auch zur Kriegs- 
rüftung gehörte (Jeſ. 5, 27.). Das Unterfleid und der Gürtel galten auch als 
Sinnbild der Treue und Freundfchaft, als welches z. B. ſchon Jonathan diefelben 
dem David zum Gefihenfe gab (1 Sam, 18, 4.). Ueber dem Unterfleive und 
Gürtel trug man 4) das Oberkleid (Taniv oder mabw, auch mıo2 oder 712 
genannt). Diefes befteht in feiner einfachften Geſtalt in einem viereckigen Stüd 
Tuch, das entweder über den Rücken gelegt und um ben Leib gefchlagen, oder 
auf die Iinfe Schulter genommen und unter dem rechten Arme mit den zwei ent- 
gegengefeßten Ecfen zufammengefnüpft wurde. Stoff und Farbe waren je nad 
Bermögensumftänden verfchieden. Bei Armen beftund es, nach der fpäteren Sitte 
und einzelnen Andeutungen der Schrift zu fehließen (Jahn, biblifche Archäologie, 
1. 2, ©. 89), aus Wolle oder Kameelhaaren, bei Reihen und Vornehmen da- 
gegen aus feinem Kattun von weißer oder blauer oder purpurrsther Farbe, war 
auch weiß und ſchwarz geftreift, zuweilen auch bunt oder geſtickt und mit ver- 
fehiedenen Figuren geziert. An den vier Eden deffelben mußten die Hebräer eine 
dunfelblaue Schnur mit Duaften tragen, um durch deren Anblick an die Erfüllung 
des Gefebes gemahnt zu werden Num, 15, 37 ff.). Aermeren Leuten diente 
dieſes Dberfleid zugleich als Schlafverfe und durfte daher yon einem Gläubigen 
nicht über die Nacht als Pfand behalten werben (Exod. 22, 25 f. Deut, 24, 13.). 
Nöthigen Falls konnte man e8 auch als Tafche oder Sad gebrauchen, wie z. B. 
Nuth, welche eine ordentliche Duantität Gerfte in ihrem Oberkleide heimtrug 
(3, 15. vgl. Pf. 79, 12.). Mit der Zeit wurde diefes Kleidungsſtück verfchieden- 
artig geändert; man fehnitt e8 zunächſt in zwei Theile und ließ den einen über 
den Rüden, den andern über die Bruft bis an die Kniee hinabhängen, und hef— 
tete beide über den Schultern mit Schnallen zufammen; dann machte man noch 
andere Aenderungen, bis man endlich ein camifplartiges Kleid erhielt, wie ſolches 
ſchon auf den perfepolitanifchen Ruinen zu fehen ift (Jahn, a. a. O. ©, 91f.). 
Eine eigene Art von Oberkleid war nyın, weiter Mantel (Joſ. 7, 21. 24,), 
namentlich fommt als Prophetenkleid Asa my7S vor (Zach. 13, 4.), worunter 


man ficherlich nicht einen mit Pelz gefütterten Mantel zu denken Hat, fondern 
einen härenen, aus Ziegen- oder Kameelhaaren verfertigten, wie dieß z. B. ſchon 
die fonftige Weife des. Elias, der einen folchen trug (Rnobel, Prophetismus I. 
48), erwarten läßt, 5) Die Kopfbedeckung war bei den Drientalen fchon in 
früher Zeit nicht fo leicht und einfah, wie die übrige Kleidung. Anfangs zwar 
galten die Haare als die natürliche und genügende Kopfbedeckung. Später aber 
band man fie, zuerft mit einer einfachen Schnur, dann mit einer breiten Tuch— 
binde fünftlich zufammen und an den Kopf hin, Erfteres, auch noch auf den per- 
fepolitanifchen Ruinen zu fehen (Winer, Nealw. 5. v. Turban), war ohne Zwei- 
fel bei der arbeitenden Claffe das Gemwöhnlihe. Die genannte Tuhbinde aber 
wurde mit der Zeit auch ziemlich lang und breit genommen, mehrere Male um 
den Kopf herumgewickelt, Ffünftlich gefaltet und oben zufammengebogen und ge= 
fchloffen, over auch fo gewunden, daß das Ganze in eine Fegelartige Spige aus- 
Yief; und fo entflund die bei den Orientalen noch jetzt gewöhnliche Kopfbedeckung, 
vie man Turban nennt, Die Turbane der Hebräer waren aber von verſchiedener 








Kleidung der Männer und Frauen ıc Me 


Geftalt, die ſich jedoch nicht mehr genau angeben läßt, und hatten auch verſchie— 
dene Namen, 7x ift der allgemeine Name derfelben und kommt vor vom Tur- 
ban der Männer (Job 29, 14.), der Weiber (Jeſ. 3, 23.), und felbft des Hohen- 
priefters (Zah. 3, 5.), feheint aber doch zugleich auch für eine eigene Art von 
Turban gebraucht worden zu fein (vgl. Je. 3, 20. 28.). x2 wird ebenfalls 
vom Zurban der Männer (Joſ. 61, 10. Ezech. 24, 17.) und Weiber (Jef. 3, 20.) 
gebraudt. >23 ift der Turban der Priefter (f. Priefter), und na:zn der 
Zurban des Hohenprieſters (f. Hoherpriefter). Die fpigauslaufenden Turbane 
fcheinen die älteren gewefen zu fein, denn andere zeigen fih noch nicht auf den 
verfepolitanifchen Ruinen. Es war daher wahrſcheinlich auch bei den alten He— 
bräern eben diefe Art üblich. Außer folhen Turbanen hatte man aber auch ſpä— 
ter noch einfachere Kopfbedeckungen, Mützen von verfchiedener Art, deren Geftalt 
jedoch, wie fie bei den Hebräern üblich gewefen fein mag, ſich nicht mehr näher 
angeben läßt (Jahn, a. a. O. ©. 120 ff.). Die Kopfbedeckung vor Andern, na- 
mentlih Höhern und Vornehmern, abzunehmen, war im’alten Orient nicht nur 
nicht üblich, fondern wäre fogar eine grobe Verlegung des Anftandes gewefen 
(Jahn, a.a,D, ©. 129 f.). 6) As Fußbefleidung hatten die Hebräer, 
wie noch jetzt die Araber, gewöhnlich bloße Schnürſohlen (or>>2, DY>>2, Uro- 
Öruare, vavdahıc), theil aus einem dünnen Brette, theild aus andern Stof- 
fen, befonders aus Leder beftehend, Sie wurden dur Bänder (7) auf ver- 


ſchiedene Weife an die Fußfohlen gebunden (Abbildungen bei Niebuhr, Beſchr. 
von Arabien, Tab. 2.). Nah Amos 2, 6. 8, 6. müffen fie in der Regel ſchlecht 
und wohlfeil gewefen fein; daß es jedoch auch Foftbare Sandalien gab, erhellt 
aus Ezech. 16, 10. Hohesl. 7, 2. Judith 10, 3. 16, 11. Und da nah Teno— 
pbon (Cyrop. VII. 1, 41.) und Strabo (XV. 734) bei den Perfern fogar ordent- 
liche Schuhe vorfamen, fo ift es wahrfcheinlih, daß die beffern Sandalien au 
bei den Hebräern wenigftens mit einem Seiten- und Dberleder. verfehen und fo 
unfern Pantoffeln ähnlich geworden feien, wobei fih dann auch foftbareres Leder 
und fonflige Verzierungen anbringen ließen (Jahn, a.a.D. ©. 101). Sie ab- 
zulöfen, war Gefchäft der Sclaven, und wer feinen folden zu unterhalten ver- 
mochte, war in der Regel auch ohne Sandalien, Abgelöst wurden fie aber jedes- 
mal, bevor man in ein Haus ging, denn in den Zimmern war man immer ohne 
Fußbekleidung, die Pafhamahlzeit ausgenommen (Erod. 12, 11.). Trauernde 
aber waren überhaupt ohne folde (2 Sam. 15, 30. Jef, 20, 2. Ezech. 24, 17, 
23.), und wenn man eine heilige Stätte betrat, zog man fie aus (Erod. 3, 5. 
Sof. 5, 15.). Es Hat daher die jüdifche Ueberlieferung, daß die Priefter den HI. 
Dienft baarfuß verrichtet haben, wenigftens große Wahrfiheinlichkeit. Eine mit 
dem Tragen der Sandalien zufammenhängende Sitte war das häufige Fußwaſchen, 
befonders wenn man als Gaft in ein fremdes Haus Fam. In diefem Falle be— 
fund eine der erſten Chrenbezeugungen darin, daß ein Diener des Haufes, oder 
je nah Umftänden der Hausvater felbft dem Gafte die Füße wufh (Genef. 13, 
4 f. Luc. 7, 44.). In der alten Zeit wurden Raufverträge dadurch befräftigt, 
daß der Verfäufer dem Käufer einen Schub (Sandalie) übergab (Ruth 4, 7.). 
Bol. Bynaeus, de calceis vet. Hebr. Dordr. 1682. 1715, auch in Ugolini the- 
saurus. XXIX. Ob die Hebräer auch 7) Beinfleider oder Hofen getragen 
haben, wie ſolche an den Abbildungen auf den perfepolitanifchen Ruinen vorfom- 
men, fann zwar nicht gerade verneint werden, ift aber unwahrſcheinlich; denn 
wo in der Bibel folche erwähnt werden, erfcheinen fie als eigenthümliches Kfei- 
dungsſtück der Priefter, und waren auch für diefe nur während ihres Dienftes 
beim Heiligtum vorgefchrieben (Exod. 28, 42. 39, 28, Levit. 6, 3. 16, 4.). 
Zudem find Die 72 »O2>72, um bie es ſich dabei handelt, nad) Exod. 28,42, nicht 


einmal eigentlich Beinkleider, fondern eher Hüftfleider zu nennen. Und König 


222 Kleidung der Männer und Frauen ıc, 


David fcheint nah 2 Sam, 6, 20, feine Beinfleiver getragen zu haben. Die bei 
Daniel erwähnten DYZ2no find zwar ohne Zweifel Beinkleider, allein es handelt 
fih an diefer Stelle nicht um hebräiſche, fondern um chalväifch-perfifche Sitten, 
So fehr daher auch im jegigen Drient die Beinfleiver bei Männern und Frauen 
allgemein find, fo waren fie doch bei den alten Hebräern fchwerlih in Hebung 
(Jahn, a. a. O. © 75f.). 8) Handſchuhe Fannten die Hebräer zwar, jedoch 
nicht als regelmäßiges Kleidungsſtück, oder einen Theil des Puges, fondern nur 
als Schugmittel gegen Beihmugung oder Verwundung der Hände bei gewiffen 
Arbeiten (Chelim 16, 6, 26, 3.). Sehr Häufig und beliebt waren aber bei ihnen 
9) die Feier- oder Wechſelkleider (Hixarn ober mi2rhT, auf mann my” 
gef. 61, 3.). Sie waren von den gewöhnlichen Kleidern in der Form nicht ver- 
ſchieden, fondern nur etwa aus feinern Stoffen verfertigt und reichlich mit Sticke— 
reien verziert. Häufig wurden fie auch parfümirt (Genef. 27,27, Hohesl. 4, 11.), 
namentlich mit Myrrhe, Aloe und Kafia (Pf. 45, 9.). Sie wurden ohne Zwei- 
fel, wie bei den heutigen Morgenländern, befonders gebraucht bei Gaftmählern, 
Hochzeiten und fonfligen ungewöhnlichen Feierlichkeiten, manchmal in großer 
Menge, fo daß wohl acht- bis zehnmal bei einem einzigen Gaftmahle die Kleider 
gewechfelt wurden (Jahn, a, a. O. ©, 162). Einigen Grund hatte diefes zwar 
in der Befchaffenheit der Kleidung und dem warmen Klima, gefchah jedoch meiftens, 
um Pracht und Reichthum zur Schau zu tragen. Vornehme hatten gewöhnlich 
einen großen Vorrath von folhen Kleidern (ob 27, 16, Luc. 15, 22.), wohl 


Trriıy=- 


45, 22. 2 Kön. 5, 5. Eſth. A, 4. 6, 8.). Angellagte, die unfchuldig erfunden 
wurden, erhielten zuweilen zum Zeichen der ihnen wieder zugewendeten Gnade 
ein folches Kleid zum Geſchenk (vgl. Zah. 3, 1—5. 1 Maccab. 10, 61—64.). 
10) Zrauerfleider (pw, DEW) werben ſchon in der Geneſis erwähnt (37, 
34.). Sie waren, wie ihr Name befagt, faft bloße Säcke, beſtunden aus ganz 
rauhem Zeug von Ziegen- oder Kameelhaaren, hatten Feine Aermel, fondern nur 
Deffnungen für den Kopf und die Arme, und reichten kaum bis an die Kniee. 
Shre Farbe war ſchwarz oder dunfelbraun, wie auch die Trauerfleider der Griechen 
und Römer (vgl. Welte, dag Buch Job 5, 11.), und fie wurden mit einem 
Strif an den Leib gebunden, Uebrigens trugen nicht bloß Trauernde ſolche 
Kleider, fondern auch Propheten (Jeſ. 20,2), Afceten und Bußprediger (Matth. 
3, 4). B. Kleidung der Frauen. Daß diefe von jener der Männer ver- 
fchieden gewefen fein müffe, erhellt fchon aus dem Verbote, die Kleider des andern 
Gefchlechtes zu tragen (Deut, 22, 5.). Allein fehr bedeutend kann dieſe Ver— 
Tchiedenheit Doch nicht gewefen fein, denn die Frauen hatten Unterffeiver, Gürtel 
und Dberfleiver wie die Männer, und eine wefentliche Verfchiedenheit der Ge— 
ftalt wird nirgends bemerflich gemacht, Selbft noch im heutigen Orient find die 
Kleider der Männer und Frauen nur wenig verfchieden, und auf den perfepplita- 
nifchen Ruinen find die weiblichen Figuren ganz fo gefleidet wie die männlichen 
(Jahn, a. a. O. S. 130 f.). Der Hauptunterfchied beftund wohl nur darin, 
daß die Unterfleider der Frauen verhältnigmäßig länger und weiter ald bei Män- 
nern, aus feinerem Stoffe verfertigt und wohl auch mit Sticfereien verziert waren, 
Der Gürtel (OAWR) war in der Regel foftbar und ging einige Male um bem 
Leib. Das Oberfleid (nn20n) beflund ebenfalls aus befferem Stoffe als bei 
den Männern, war weiter und länger und oft mit einer Schleppe verfehen, Die 
gewöhnliche Kopfbederfung war, wie bei den Männern, ein Turban, nur daß 
derfelbe etwa fchöner geformt war und aus befferem Stoffe beftund, Was die 
Archäologen über Neghauben und Stirnbänder der Frauen fagen, hat wenig 
Sicherheit, Die Sandalien waren oft aus farbigem Leder verfertigt und wohl 


a nn = 











Kleidung ber Männer und Frauen ır, 223 


auch fonft noch mit edlen Metallen und Edelfteinen verziert, Ein den Frauen 
eigenthümliches Kleidungsſtück aber, welches in Verbindung mit manchen Putz- 


ſachen ihren Anzug ſehr merklich von dem männlichen unterſchied, war ber 
- Säleier, der noch jest im ganzen Drient wefentlih zur weiblichen Kleidung 


gehört, Die Hebräer hatten aber mehrere Arten von Schleiern, und vornehme 
Frauen trugen wohl auch, wie noch heutzutage, mehrere zugleich. Ueber ihre 
Beſchaffenheit und Verſchiedenheit von einander laͤßt fid nur muthmaßlich nad 
Maßgabe der fpäteren und jegigen Sitte urtheilen. In den altteftamentlihen 
Schriften fommen zur Bezeichnung berfelben die vier Ausdrüde >97 (oder 97), 
AL, max und 7777 vor, beren Bedeutung aber, fofern nach der Beſchaffenheit 
gefragt wird, feinen Aufſchluß gibt, fondern nur auf Allgemeinheiten führt. Unter 


222Geſ. 3, 19.) ift wahrſcheinlich, wie unter —* ein aus zwei Stücken be— 


ſtehender Schleier gemeint, wovon das eine den Kopf von den Augen an bedeckt 
und frei über die Schultern und den Rüden hinunterhängt, das andere aber in 
der Gegend der Augen fo mit ihm verbunden ift, daß die Augen frei umherfehen 
Tonnen, und von da an über das Angefiht und die Bruft herabhängt. or 
(Genef. 24, 65. 38, 14. 19.) und ax (gef. 47, 2. Hohesl. 4, 1. 3. 6, 7.) 
bezeichnen wahrſcheinlich folhe Schleier, wie fie noch in neuerer Zeit in Syrien 
und Aegypten vorfommen. Sie bedecken nur den unteren Theil des Angefichtes 
von der Nafe an und hängen frei über Hals und Bruft hinab. Solde finden 
fih au auf den perfepolitanifchen Ruinen. 7773 Gef. 3, 23. Hohesl. 5, 7,) 
fiheint ein florartiger Ueberwurf über die andern Kleider und mehr ein Dberfleid 
oder Mantel als ein eigentlicher Schleier gewefen zu fein, Einen oder auch zwei 
bis drei folder Schleier trugen ehrbare Frauensperfonen von befferem Stande 
immer, wenn fie ausgingen, und felbft in der eigenen Wohnung fo lang Fremde 
anwejend waren. Nur vor Sclaven wurde der Schleier abgelegt und wohl auch, 
wie bei den Moslims vor denjenigen Anverwandten, mit denen das mofaifche 
Gefeg die Ehe verbietet (f. Warnefros, hebr. Alterthümer. Ite Aufl. ©. 
501 f.). In der patriarhalifhen Zeit übrigens fiheinen die Frauensperfonen 
häufig unverjihleiert ausgegangen zu fein (Genef. 12, 14. 24, 15 f.), und das- 
felbe wird bei Frauen von gemeinem Stande wohl auch in fpäterer Zeit, fo wie 
jest noch (ogl. Robinfon, Paläftina II. 404.), der Fall gewefen fein (Bucher, 
antiquitt. hebr. et graec. de velatis feminis. Budiss. 1717.). Ueber die Pugfachen 
der Frauen f. Putzſachen. Vgl. Schroeder, de vestitu mulier. hebr. Lugd. 
Bat. 1745. Hartmann, die Hehräerin am Pugtifche und als Braut, Amfterd, 
1809—10. — Berfertigt wurden die Kleider gewöhnlich von den Frauen (1 Sam, 
2, 19. Sprüchw. 31,21. Apg. 9, 39.), und es beftund dießfalls nur die Vor- 
ſchrift, zu einem Kleidungsſtück nicht Wolle und Finnen zugleich zu nehmen (Levit. 
19, 19. Deut. 22, 11.). Befonders gefhägt waren aber bunte und gefticfte (Nicht, 
5, 30. 8, 26. 2 Sam. 1, 24. Sprühw, 31, 22. Eſth. 8, 15. Ejech. 16, 10.), 
fo wie auch ganz weiße Kleider aus Flahs und Baumwolle (ef. J. Schmid, de 
usu vestium albarum in Ugolini thesaurus. XXIX.). Eine befondere Amtsfleivung 
hatten die Priefter (f. d. A.) und Hohe Fönigliche Beamten (1 Kön. 10, 5. Jef. 
22, 21.). Unter den fpäteren Königen kam übrigens bei den Hebräern ein großer 
Kleiderluxus auf (Zeph. 1, 8. Jer. 4, 30, Klagl. 4, 5.) und noch die Apoftel 
warnen vor demfelben (1 Tim, 2, 9. 1 Petr. 3, 3.). — Im Ventateuch findet 
ſich auch eine Vorſchrift in Betreff des Kleideransfages (Levit. 13,47 ff.). 
Er foll in grünen und röthlihen Flecken an Linnen- und Wollenzeugen, Häuten 
und Leder beftehen. Ueber feine wahre Befchaffenheit iſt man im Ungewiſſen. 
Die darüber aufgeftellten Anfichten find nicht befriedigend, auch die von Michaelis, 
daß der Kleiderausfag von der Sterbewolle, d. h. yon der Wolle der an einer 


>>) Kleinzehnten — Klerus. 


Krankheit gefallenen Schafe, herrühre (Mof, Necht. IV. 265 ff.), und die von 
Sahn, daß er durch Heine „dem unbewaffneten Auge unfichtbare” Inſecten, welche 
die Haare abfreffen, bewirkt werde Ca, a. D, ©. 165.), haben den Umftand 
gegen fih, daß nicht bloß wollene, fondern auch Iinnene Zeuge, und Haute und 
Leder dem Uebel ausgefegt find, — Don griehifchen und römischen Kleidungs- 
ſtücken kommen in der Bibel vor: yAruvs (2 Macc. 12, 35.), ein weites Ober- 
Heid, namentlich der Soldaten und befonders der Neiter, und xAuuvg x0xxivn 
(Matth. 27, 28.), ein fharlachfarbiger mit Purpur verbrämter Mantel, den bie 
römifchen Feldherren, und vor Diveletian auch die Kaifer, trugen (ſ. Winer, 
Nealw. s. v. Kleiver). Vgl. Soprani, de re vestiaria Hebr. bei fein. Comment. 
de Davide. Lugd. 1643—44. und den einfchlägigen Abſchnitt in den Archäologien 
von Jahn, Warnefros, de Wette ꝛc. nebft den dortigen Titerarifchen Nach— 

weiſungen. [Welte.] 

Kleinzehnten, ſ. Zehnten. 

Kleophas, ſ. Cleophas und Alphäus. 

Klerus (x4n005, sors Loos) iſt die Bezeichnung für denjenigen der beiden 
ficchlichen Stände, in weldhem das Prieſterthum, Prophetenthum und 
Koönigthum Chriſti fich fortpflanzt, der deßhalb im Befige der von Ehrifto den 
Apofteln verliehenen Vollmachten Hinfichtlich des Opfers, der Lehre und Dis— 
eiplin, die man unter dem allgemeinen Namen der Kirchengewalt begreift, 
fih befindet. Die Mitglieder diefes Standes werben Klerifer Geiſtliche) 
genannt, während die Mitglieder des andern Laien heißen, Die Beftimmung 
des Klerus alfo ift es, die Sarramente zu fpenden, die heilbringende Lehre zu 
verfündigen und die Disciplin zu handhaben. Die Klerifer haben nicht alle ein 
gleiches Maß von Vollmachten; fie theilen fich vielmehr in verſchiedene Elaffen, 
je nach dem größeren oder geringeren Maße derfelben (Conc. Trid. Sess. 23. 
cap. 2. et can. 2.). Der höchſte diefer Grade ift das Presbyterat, an den das 
Episcopat fih anſchließt, mit welchem die elerifalifche Reihenfolge ihre Bollen- 
dung erhält. (Vgl. den Art, Hierarchie.) Das Verhältniß des Elerifalftandes 
zum Laienftande ergibt fih aus dem Zwecke des Erfteren: Die Geiftlihen find 
die Hirten, Lehrer und Führer, und e8 würde dem Zwerfe der Einfegung völlig 
widerfprechen, wenn die Laien fie nicht als ſolche anerkennen wollten. Es iſt 
ausdrückliche Lehre der Fatholifchen Kirche, daß nicht alle Chriften gleiche geift- 
Yihe Gewalt haben (Conc. Trid. Sess. 23. cap. 4.) und daß der geſchilderte Unter- 
fchied auf göttlicher Einfegung Cib. can. 6.) beruhe. Diefe Lehre hat das gefammte 
chriſtliche, vechtgläubige Altertfum (Bellarmin de membr. ecel. lib. I. c. 1.) für 


fi. Wenn die entgegengefegte Anficht fich bisweilen geltend machte, fo gefhah 


es nur im Bereiche der Secten, oder e$ hatte feinen Grund in vorübergehenden 
Mißſtimmungen. Diefes bezeugt ganz deutlich Tertullian, wenn er (de monog. 
c. 12.) fagt: Cum extollimus adversus clerum, tunc unum omnes sumus, tune 
omnes sacerdotes, quia sacerdotes nos Deo et Patri fecit (Apoc. I. 6.); quum ad 
peraequationem disciplinae sacerdotalis provocamur, deponimus infulas et 
impares sumus. Ueberdieß bezeugt es auch der Apoftel (1 Cor. 12, 28. 
Ephef. 4, 11), daß Gott in der Kirche die Einen zu Apofteln, Andere zu 
Propheten, Andere zu Lehrern eingefegt habe. Die Thatfache, daß Chriſtus die 
geiftlichen Vollmachten nicht Allen, fondern nur einer Heinen, von ihm erwählten 
Schaar übertragen habe, fegt die Fatholifche Lehre außer allen Zweifel, Gegen 
die Lehre, daß die Kirchengewalt nicht der Gefammtheit, fondern nur einzelnen 
Individuen zufomme, erhoben ſich die Neuerer des 16ten Jahrhunderts und für- 
derten eine Art von geiftlihem Communismus zu Tage, deſſen Confequenzen 
unmöglich auf das kirchliche Gebiet befchränft bleiben konnten. Beſonders zeich- 
nete fich Luther Hierin aus, wie feine Schriften „an den Adel teutfcher Nation“ 
(Wittenb. A, 1559, Thl. 6; Fol, 545), „vom Mißbrauch der Meſſe“ (Wittenb. 








Kleſel. 225 


a, 1561. Thl. 7. F. 263. 266. 283.) und in der 1524 für die Böhmen heraus- 
gegebenen Schrift, „wie man Diener der Kirche welen und einfegen ſoll“ 
(Witteb, AU. Thl. 7. Fol. 352.) beweifen. Geradezu erklärt er (Wittenb. A. 
Thl. 7. Fol. 266.) den Ausſpruch des Papfies Pelagius, daß die geiftlihe 
Obrigkeit Gehorfam verlangen fünne, für eine Erfindung des Teufels. Weniger 
rabical zeigte ſich Calvin; den theocratiſchen Ideen, mit deren Realifirung er ſich 
abquälte, würden Luthers Anfichten feinen Vorſchub geleiftet haben. Auch in 
Wittenberg Fam man nach und nach auf andere Ideen. Sp lange es fih darum 
handelte , durch zerflörende Operationen das zum Aufbau der neuen Kirche nöthige 
Terrain zu gewinnen, wurde dem Hochmuthe damit gefchmeichelt, da man lehrte, 
der Firchlihe Functionär fei der Gemeinde unterworfen und ſchuldig und ver- 
bunden, ihr zu gehorchen. Sobald aber eine mächtige Partei gewonnen und con- 
folidirt worden war, ließ Luther die „Laien”, die im allgemeinen Prieſterthum 
untergegangen waren, wieder aufleben und fprah ihnen (Hagen, Teutſchlands 
Iiterarifche und religiöfe Berhältniffe im Reformationszeitalter, Erlangen 1844, 
3, 1. ©, 164.) alles Recht ab, über ihren Pfarrer zu urtheilen. Die Iutheri- 
ſchen Symbole adoptirten (Conf. Aug. de abus. Art. IV. ed. Rechb. p. 39.) die 
Lehre, welche Luther als eine Erfindung des Teufels bezeichnet Hatte und beriefen 
ſich für diefelde auf Chriſti Wort: Wer euch Hört, höret mid, Zur. 10, 16. — 
Die Rangoronung unter den einzelnen hierarchiſchen Graden beruht nach der 
Lehre der katholiſchen Kirche (Conc. Trid. Sess. 23. can 6.) auf göttliher Ein- 
fegung, während die Proteflanten (Duerife, Comparative Symbolif, Leipzig 
1839. ©. 571 ff.) die hierarchiſche Rangordnung nur jure humano beftehen laſſen. 
Nur die Anglicaner machen eine Ausnahme, indem fie die Superiorität der Bi— 
fhöfe als eine göttlihe Snftitution betrachten. (Bol. den Art. Hoch kirch e). 
Aus dem Kampfe mit den Presbyterianern, an dem fid Blondel, Salmaſius 
und Uſher betheiligten, ging die Fotholifche Lehre über diefen Punct’ fiegreich 
hervor. Bon Fatholifcher Seite wurde diefer Punct von dem Carbinal de Ia 
Luzerne in der Schrift: Dissertations sur les droits et devoirs respectives des 
Evöques et des pretres (les devoirs des ev&ques und les droits des prötres find 
mit Stilfihweigen übergangen) publices par M. l’abbe de Migne, Paris. 1844. 4. 
p- 1—146. gründlich erörtert. — Der Act, mittelft deffen die Vollmachten über- 
tragen werben, heißt Ordinatio, und ift nicht nur ein Sacrament, fondern ver— 
leiht auch einen character indelebilis (ſ. d. A). Die Sarramentalität wurde felbft von 
den Secten des Morgenlandes (Perpetuite de la foi de l’öglise sur les Sacrements, 
der Perpetuit& de la foi T. V. Paris 1713; ed. Migne. Paris 1841. T. IV.) ange- 
nommen; nur bezüglih der den Proteftanten eigenthümlichen Oppofition gegen 
den character indelebilis feinen ſich ſchon früher Spuren bei einigen Secten zu 
finden, wie aus einer Aeußerung Tertullians (de praeser. haer. c. 41. opp. ed. 
Migne. Paris 1844. T. H. p. 56.), hervorgeht die alfo lautet: Ordinationes eorum 
temerariae, leves inconstantes... alias hodie episcopus, cras alius, hodie dia- 
conus, qui eras lector, hodie presbyter, qui eras laicus, nam et laicis sacerdotalia 
munera injungunt. Zertullian führt diefes an, um zu zeigen, quam futilis, quam 
terrena, quam humana, sine auctoritate , sine disciplina die conversatio haeretica 
ſei. Luther meinte, „daß einer allweg Priefter bleiben müſſe, fei ein ertichtet 


- Ding“ und die Seinen glaubten es ihm. Witeb. A. Ih. 7. Fol. 358. Die wei- 


tere Ervofition, daß er es nur fo lang bleiben fünne, „als es der Gemeinde ge- 


fällig iſt“, fand gleichfalls Anklang, war aber von fehr wefentlichen Incon— 


venienzen begleitet, daß es Fein Wunder war, wenn er für die Einführung der 

ordinatio vaga wenig Dank von feinen Schülern erntete, — Vergl. hierzu die 

Artikel: Clericus, und Geiftlider. Buchmann.] 
Kleſel, Melchior, Biſchof von Neuſtadt und Wien, Cardinal, 

Staatsmann, geboren zu Wien 1553, war der Sohn eines lutheriſchen Bäckers 
Kirchenlexikon. 6. Bd. 15 


226 Kleſel. 


daſelbſt, wurde ſchon als 16jähriger Jüngling von dem Jeſuiten Georg Scherer, 
einem eifrigen und glücklichen Prediger wider das Lutherthum, zum katholiſchen 
Glauben bekehrt und führte Dann ſelbſt feine Eltern zur katholiſchen Kirche zurück, 
Seine geiftliche Erziehung erhielt er im Convicte der Zefniten zu St. Barbara 
in Wien und ftieg fchon 1579, da er erfi 26 Jahre zählte, zur Würde des Dom- 
propftes von Wien empor; als folder war er zugleich Kanzler der Univerfität, 
Zwei Jahre nachher ernannte ihn Bifchof Urban von Paffau zu feinem geiftlichen 
Rath und Generalsicar für Deftreih unter der Enns, Sein ftets fittenreiner 
Wandel, feine Talente und fein Glaubenseifer für die Wiederherftellung der ka— 
tholiſchen Religion, der aber jederzeit innerhalb den Schranfen der Berftändigkeit 
blieb — unverftändigen Eifer tadelte er ſtets — trugen ihn ſchnell von Würde 
zu Würde hinan, Im J. 1588 wurde er zum Bifchof von Neuftadt, und im J. 
1598 zum Bischof von Wien ernannt; doch führte er lange nur die Verweferfchaft 
beider Bisthümer und erhielt erft 1614 die päpftliche Beſtätigung. Auf Ver- 
wendung des Kaiſers Matthias, deffen allmächtiger Meinifter er geworden war, 
ſchmückte ihn der Papft 1616 mit dem Cardinalshut. In allen diefen Stellungen 
war Rlefels Thätigkeit groß. In einem hohen Grade ausgerüftet mit der Gabe 
der Rede, befämpfte der Dompropft in Predigten die proteftantifche Lehre und 
befuchte unermüdet, zu dem Zwecke, Neugläubige zu befehren, die Kranfenhäufer 
und die Umgegend von Wien, Als Kanzler der Wiener Univerfität forgte er 
dafür, daß das Profefforen-Colfegium bIoß aus Katholiken beftände, Als Official 
und Generalvicar des Bifhofs von Paffau fäuberte er Pfarren und Klöfter im 
Lande unter der Enns und gab im J. 1590 im bifchöflichen Auftrage für den 
dortigen Elerus eine Ritual- und Paftoral-Anweifung in den Drud, Als Ber- 
wefer des Neuftädter Bisthums brachte er e8 durch feine Predigten, Belehrungen 
und andere Mittel dahin, daß endlich alle Bisthumsangehörigen, die nicht aus— 
wanderten, zur Fatholifchen Kirche zurückkehrten; zugleich bemühte er fich, bie 
Eommunion unter beiden Geftalten abzubringen, und hielt zu diefem Zwerfe am 
Palmfonntag 1590 feine berühmte Predigt, wodurch er den größten Theil der 
Stadt Neuftadt für die Communion unter einer Geftalt gewann, Im J. 1590 
erhielt er die oberfte Leitung der landesfürftlichen Commiffion, welche beauftragt 
war, die Einwohner der landesfürftlichen Drte und überhaupt alle zu einer dem 
Landesfürften oder einem Fatholifchen Ständeglied gehörigen Kirche Eingepfarrten 
zur Fatholifchen Neligion zurüczuführen. Im J. 1596 bewirkte er ein Ediet, 
welches viele der fihon lange vorher gegen die Uebergriffe des Proteftantismug 
erlaffene Verordnungen neuerdings einfchärfte, und 1602 erfchien gleichfalls auf 
Kleſels Betrieb ein Decret für die Tandesfürftlichen Drte ober und unter der Enns, 
worin aufs Neue der proteftantifhe Gottesdienſt, die proteftantifhen Schulen 
und Bücher verboten wurden, Als Kaifer Rudolph eine ihm von dem üftreichi- 
ſchen Iutherifhen Adel im 3. 1604 überreichte Befchwerdefhrift dem Erzherzog 
Matthias nah Wien überfandte und deffen Gutachten über diefelbe und über die 
ganze Neligionsangelegenheit abverlangte, ertheilte Matthias auf Klefels Ein- 
gebung dem Kaifer den Nath, die den Proteftanten früher ertheilte Religions— 
freiheit wieder aufzuheben, und man muß geftehen, die Gründe, welche Kleſel 
für diefe Aufhebung anführte, waren wenigftens viel ftärfer als jene, auf welche 
geftügt alfe damaligen proteftantifchen Fürften ihren katholiſchen Unterthanen alle 
und jede Neligionsfreiheit verweigerten, Indeß gingen die meiften Bemühungen 
Klefels für die Emporbringung der Fatholifhen Neligion in Deftreich dadurch 
wieder verloren, daß Matthias, von den ungarifchen und dftreichifchen proteflan- 
tifhen Ständen gedrängt, troß aller Gegenbemühungen Kfefels, im J. 1609 
ihnen freie Neligionsübung geftattete, während Kaiſer Rudolph den Böhmen den 
Majeftätsbrief ertheilte, — In fpätern Jahren erfcheint Kleſels früherer Eifer 
merflich gedämpft und der fühle und berechnende Staatsmann manchmal felbft in 











Klingelbeutel. 227 


kirchlichen Angelegenheiten zu fehr in den Vordergrund geftellt; daher Fam es, 
daß Kleſel zulegt auch bei vielen Katholiken das Vertrauen verlor, ohne das der 
Proteftanten zu gewinnen. Befonders mißftel fein Vorſchlag, den geiftlihen Vor— 
bebalt aufzuheben und den proteftantifhen Inhabern der Stifter Sig und Stimme 
am Reichstag einzuräumen; auch wurde ihm von Vielen zum Vorwurf gemacht, 
daß er die Vertreibung der Nichtkatholifhen aus Steiermarf mißbilligte und nur 
ihre Prediger entfernt wiffen wollte, Außerdem haßte man in Kleſel den bei dent 
Kaifer Matthias und der Kaiſerin allvermögenden erften Minifter, der vom 
Bädersfohn bis zu diefer Stufe und dem Cardinalate fih emporgefhwungen, der 
ſelbſt den Erzherzogen gegenüber nichts von Dem vergab, was das Anfehen des 
Cardinals hätte ſchmälern fönnen, und deffen Politik und Amtsführung bei Vielen, 
felbft bei König Ferdinand und dem Erzherzog Marimilian, immer größere Un— 
zufrievenheit erregte, Als daher die Böhmen bereits die Fahne des Aufruhrs 
aufgefterft Hatten und Klefel dem Kaifer dennoch immer zur Nachgiebigkeit riet, 
während Ferdinand, Maximilian und der fpaniiche Gefandte vergebens den Kaiſer 
aufforderten, dem Aufruhr Gewalt entgegenzufegen, führten Ferdinand und Ma- 
ximilian einen Gewaltftreich gegen Klefel aus: fie ließen ihn am 20. Juli 1618 
feftnehmen und in das Schloß Ambras bei Innsbruck abführen, wo er zwar fürft- 
lich behandelt wurde, doch in enger Haft blieb und erft nach etlihen Fahren im 
die Abtei Georgenberg bei Schwaß überjegt wurde, Zur Rechtfertigung diefes 
Schrittes, den der davon ſchmerzlich berührte Kaiſer nicht hindern konnte, ward 
ein Mempire erlaffen, worin dem Kleſel eitle, hochmüthige, frevelhafte, der Re— 
putation des Kaiſers nachtheilige Aeußerungen, Mißbrauch des Faiferlihen Ver— 
trauens, Anzettlung von Uneinigfeit zwifchen der ſpaniſchen und teutjchen Linie 
des öftreihifchen Haufes, ſchlechte Kriegs-, Juſtiz- und Finanzverwaltung ꝛc. zur 
Laft gelegt wurden. So trat diefer merfwürdige Mann von dem Schauplatz des 
öffentlichen Lebens ab; mit Matthias, bei deſſen Gewaltthat gegen Rudolph er 
fi betheiliget, geftiegen, ging er auch mit Matthias als politifhe Größe unter, 
Auf Verlangen des Papfles Gregor XV. wurde Klefel aus Tyrol nah Rom ent- 
- Iaffen. Hier befam er zwar feine Wohnung zuerft in der Engelsburg, wurde 
jedoch von Fürften, Cardinälen und —* dem Papſte beſucht, und, nachdem er 
ſich über fein ganzes vormaliges Verfahren gerechtfertiget Hatte, ein Kläger aber 
gegen ihn nicht erfchienen war, für unfchuldig erflärt und in Freiheit gefegt. Er 
erhielt einen päpſtlichen Palaft zur Wohnung und wurde Mitglied bei der Con— 
. gregation de propaganda fide. Gregors Nachfolger Urban VIII. fohnte ihn mit 
dem Raifer Ferdinand aus, worauf er nach Deftreich zurücfehren durfte und am 
25. Januar 1628 feinen feierlichen Einzug in Wien hielt. Er war damals 75 
Sabre alt, predigte in der Folge noch einige Male, lebte in Achtung und An— 
fehen, und felbft Kaifer Ferdinand bediente fih feines Rathes. Er flarb am 
18. Sept. 1630 zu Neuftadt, Zu feinem Univerfalerben feste er das Wiener 
Bisthum ein, 50,000 Gulden vermarhte er dem Bistum Neuftedt, und in dem 
Conviet der Jefuiten zu St. Barbara in Wien fliftete er zwölf Freipläge, — ©. 
A, Klein, Geſch. des Chriſtenth. in Deftreih und Steiermark, Bd. IV. u. V.;5 
K. A. Menzel, N, Gef. der Teutfhen, Bd. V. u, VL; 3. Gr. Mailäth, 
Geſch. d. öfter, Kaiferftantes, Bd. I. S. 357 10.5 vorzüglid Hammer-Purg- 
fall, Leben des Card, Khlefel, A Bände, [Schrödl.] 


‚ Klingelbeutel. Sp nennt man die mit fleinen Schellen verfehenen Büchfen, 
die in vielen Gotteshäuſern während der hl. Meffe, hie und da fogar (was num. 
freilih nirgends geduldet werden follte) während der Predigt berumgetragen 
werden, und in die die Gläubigen eine Feine Geldfhanfung legen, die fie der 
Kirche machen wollen. Staft ihrer trägt man in Bayern eine fogenannte Tafel 
herum (daher der Ausdruck „auf die Tafel legen”), d. h. eine mit einem langen 


15* 


228 Klodwig — Klofter. 


Stiele verfehene, und auf einer ganzen Seite offene hölzerne Büchfe ohne Schel- 
Ien, Vgl. „Eollecten.” 

Klodwig, ſ. Chlodwig. 

Klopfen an die Bruſt, ſ. Bruſtklopfen. 

Kloſter iſt ein Gebäude oder auch ein Complex von Gebäuden, welches 
einer Genoſſenſchaft von Ordensperſonen zum Aufenthalte dient. Das Wort iſt 
aus der lateiniſchen faſt in alle lebenden Sprachen übergegangen, und weist in 
ſeiner Grundbedeutung: „verſchloſſener Platz“, auf eine der Hauptbeſtimmungen 
dieſer Einrichtungen, nämlich die, welche ſich dahin zurückgezogen haben, von 
allem dem Geiſte des Berufs nicht entſprechenden Verkehr mit der Welt abzu— 
ſchließen, und fie — die geiſtliche Miliz — darin wie in einem wohlverſchloſſenen, 
mwohlbehüteten castrum vor der Uebermacht der andringenden böfen Welt zu 
Thüsen. — Das Mönchthum hat die Klöfter in's Dafein gerufen, ift jedoch älter, 
als fie, da es von Begründung der chriftlichen Kirche an einzelne fromme Seelen 
gab, welche fich die evangelifchen Räthe tiefer zu Gemüthe führten, und nachdem 
fie den Verkehr mit der Welt abgebrochen, in tieffter Zurückgezogenheit, oft als 
Einfiedler (uovaxoı) in den Wüften einer höhern Bollfommenheit und vollkom— 
menen Vereinigung mit Gott nachftrebten, Als ihre Zahl, wohl auch aus Anlaß 
der Chriftenverfolgungen, ſich mehrte, felbft manche unreine Elemente — ich 
erinnere an die Gyrovagi (f. d. A.), die müffig umberfhwärmenden Mönche — 
fich einmifchten, ftellte fih das Bedürfniß gemeinfamer Leitung durch einen im 
geiftlichen Leben erfahrenen Mann heraus, Mean baute feine Einfieblerzelfen in 
die Nähe derjenigen Altväter, die mit dem Ruhm ihrer Weisheit und Heiligkeit 
die Wüfte erfüllten — wie eines Paulus und Antonius: es entftanden die lauren 
(1.8.4), welche eine Art Asceten-Colonieen waren unter der Leitung eines Abbas, 
Die einzelnen Afceten wohnten jeder noch abgefondert in feiner Zelle, roh aus 
Baumſtämmen gezimmert, halb in die Erbe gegraben, die Lücken mit Gras ver- 
flopft und gedeckt mit Zweigen und Raſen; aber die Zellen waren alle doch in 
der Nähe beifammen, fo daß das Ganze einem ärmlichen Dorfe — woher auch 
der griehifhe Name — glich. Bon den Lauren führte das Bedürfniß der Eini- 
gung, der beftändigen Auffiht und Ermunterung zu den Cönobien (zowößıe), 
in denen fämmtliche Afceten unter einem gemeinfamen Oberhaupte (xowoßıLaoyns, 
cBPas) in dem nämlihen Gebäude ein gemeinfames Leben führten (ſ. die Art, 
Cönpbiten und Anahoreten), In weiterer Ausbildung des Moönchthums 
vereinigte ſich das anachoretifche und cönobitifche Leben, die Laura und das Cö— 
nobium, Es wurde nämlich an entlegenem Orte ein großes Cönobium mit Kirche 
errichtet, im Umfreife aber die Reihen der abgefonderten Zellen. Die der Welt 
erft jüngft Entflohenen, alfo die Novizen, mußten erft eine Zeit lang im Cono— 
bium gemeinfame Hebungen machen, ehe fie gleich den älteren Afceten eine ab- 
gefonderte Zelle angewiefen erhielten. Diefe felbft aber Iebten fünf Tage in 
Faſten und Arbeiten in der Laura, am Sabbath und Sonntag aber famen fie zur 
Kirche zu Lturgid und Chorgefang, und zum Cönobium zum gemeinfamen Liebes- 
mahl. Diefe Hlöfterliche Einrichtung, wie fie Surins im Leben des paläftinifchen 
Adtes Gerafimus befchreibt, wurde namentlich durch Pahomius im Drient bald 
die herrfihende, und nur bei ihr läßt fich begreifen, wie Eine Afceten-Colonie 
mehrere hunderte, ja mehr als taufend Büßer begreifen Fonnte, Die erfte Hei- 
math der Klöfter war der Orient und vorzugsweife die Thebais, Aegypten, der 
Berg Nitria, die Nilinfel Tabenna, der Berg Caſſius bei Antiochien, und mehr- 
ten fih, zum Theil auch durch Unterſtützung fürftlicher Perfonen, wie der Kai— 
ferin Eudoeia, immer mehr, Durch den HL. Baſilius (ſ. d. A.) erhielten bie 
Klöfter, feither rein afcetifche Inſtitute und nur auf die Selbftheiligung ihrer 
Glieder berechnet, auch eine practifche Richtung, und in Folge davon erhoben fie 
ſich, die man vorher nur in Wüften und auf einfamen Bergen gefehen, auch in 





Klofter, 229 


Städten und Dörfern, ja wurden, da in der griechifchen Kirche der Biſchof ge— 
meinhin aus dem Negularelerus genommen wird, die gewöhnlichen bifchöflichen 
Reſidenzen. Indeſſen befteht denn doch in der orientalifch-griechifhen Kirche noch 
die alte Form des Klofterlebens, fo auf dem Berge Athos in Macedonien, im 
Klofter auf dem Sinai, dem Klofter Saba u. a, In der Wüfte find fie gewöhn- 
lich wie förmliche Feftungen gegen die Anfälle der räuberifchen Araber verwahrt, 
Im Abendlande, wohin das Monchthum zugleih mit dem Chriftenthume drang, 
in feiner Ausbildung aber hauptſächlich durch den HI. Athanafius (ſ. d. A.) be= 
kannt wurde, und in dem Hl. Eufebius von Vercelli, Ambrofius von Mailand, 
dem HI. Auguftinus von Hippo eifrige Beförderer fand, wurde der hl. Benedict 
von Nurfia (ſ. d. A.) der große Neformator und Patriarch des Drdenswefeng, 
was der hl. Bafılius für das Morgenland gewefen. Auch feine Reformation er— 
zielte eine Verbindung des thätigen mit dem befchaulichen Leben, was auch auf 
die Errichtung und Einrichtung der Drdenshäufer, der Klöfter, von wefentlichem 
Einfluffe fein mußte. Anfangs waren wohl auch im Abendlande die Klöfter denen 
im Morgenlande nachgebildet, d. h. vereinigten den Anachoretismus mit dem 
Conobitismus, wie die bafilianifchen Klöfter in Sieilien, Italien und Spanien, 
die von Caffianus (f. d. A.) im füdlichen Franfreich errichteten, In Spanien bot 
das berühmte Mönchsinftitut von Montferrat in Catalonien bis zu feiner Auf- 
bebung wenigftens nach feinen äußern Verhältniffen ein Mufter der alten Ein— 
richtung dar, Bald aber wurde die cönobitifche Form die alleinherrfchende, und 
nur im Drden der Carthäufer und Camaldulenfer (ſ. diefe Art.), welde in ab— 
gefonderten Zellen wohnen und nur in der Kirche und an einzelnen Tagen auch 
im Hauptflofter zufammenfommen, war die ältere feftgehalten und refp. erneuert, 
Noch viel größer, als im Morgenland, warb im Abendlande der Einfluß des 
Mönchtsums auf alle Geftaltungen des Lebens und feiner Geſchichte. Da das 
Chriſtenthum Hauptfählih durh Mönche im Abendlande Verbreitung fand, und 
mit dem Chriftenthum Ackerbau, Wiffenfhaft, Kunft, Eivilifation überhaupt, fo 
wurden die von folhen Mönhen — Miffionären geftifteten Klöfter Lichtpuncte, 
vor denen die Finfterniffe des Heidenthums und der Barbarei zurückwichen. Ur— 
fprünglih angelegt im wilden Urwald oder auf unwirthlicher Heide, entftand rings 
um fie fruchtbares Feld, erhoben fih Städte und Dörfer, Sonft auch errichtete man 
die Klöfter gerne in wohlbevölferten Gegenden, in Städten und Märkten, theils 
der practifchen Wirffamfeit, theils aber auch in rauhen Zeiten der größeren Sicher- 
beit wegen, was namentlich bei Frauenklöftern der Fall war. So erklärt die Ge— 
ſchichte den Gegenfaß gegen das Morgenland, welches feine Klöfter, wenigftens in 
der Periode ihrer fchönften Blüthe, in den Wüfteneien auffuhen mußte, Indeſſen 
Hatten denn doch die verfihiedenen Orden ihre Gewohnheiten, nach denen fie bei 
Errichtung neuer Klöfter den Ort wählten, wie aus nachſtehenden Verſen erhellt: 


— — — Valles sylvestribus undique cinctas 
Arboribus divus Bernardus amoenaque prata; 
Colles et montes Benedietus amavit et arces 
Coelo surgentes, ex quarum vertice late 
Prospectus petitur; secessum plebis uterque. 
Brussel. tract. de mon. Germ. Over: 


Bernardus valles, montes Benedietus amabat, 

Oppida Franeiscus, magnas Ignatius urbes. 

Der Styl, in dem die Klöfter des Abendlandes erbaut wurden, war beſtimmt 
durch den Charakter der zur Zeit der Erbauung herrfchenden Architectur. In der 
älteften Zeit waren Klofterbauten möglichft einfach, und manche Orden haben auch 
bierin die Armuth und Einfalt des Evangeliums bewahrt, wie Franeiscaner, Ca- 
pueiner, Hierongmiten u. a. Als aber der hriftliche Geift auch bis in’s Gebiet 
der Kunft gedrungen war und fie nach allen ihren Zweigen beherrfihte, konnte es 
wicht ausbleiben, daß auch in vielen Klöftern herrliche Denkmale chriſtlicher Ar- 


230 Klofter 


chiteetur fich erhoben, dem göttlichen Namen zur Ehre; und dem Lande, welches 
fie trug, zur Zierde, da die Orden in ihrem reichen Beſitzthum alle Mittel zur 
Ausführung folcher Prachtbauten in vollfommenem Maße befaßen, Die innere 
Einrichtung des Klofters muß fich natürlich modifieiren nach dem Gefchlechte feiner 
Dewohner, den befonderen Forderungen der Drbensregel, der Beſtimmung des 
Ordens, entweder bloß für Contemplation, oder auch für die Seelforge, den 
Sugendunterricht, die Krankenpflege u. f. f. Was fih jedoch bei jedem Klofter 
finden wird, ift, außer der Klofterfirhe, ver Chor, d. i. der mit der Kirche ver— 
bundene zugleich aber auch durch den Hochaltar oder durch Verſchläge von ihr 
gefhiedene Raum, in welchem bie Ordensglieder das tägliche Officium fingen 
ober beten, der Capitelſaal oder auch das Kapitel, das Zimmer, in dem ben 
Herfammelten Brüdern oder Schweftern die Hauptſtücke — Capitel — der Ordens—⸗ 
regel vorgelefen, Erinnerungen gemacht, Bußen auferlegt, Wahlacten u. dgl. 
vorgenommen werben, bie Zellen, d. i. die Wohnungen der Ordensglieder, das 
NRefertorium, der gemeinfame Speifefaal, öfter auch ein gemeinfamer Schlaf- 
faal oder Dormitorium, Kranfenzimmer Infirmarien, Sprad- und Con— 
verfationszimmer, da in Frauenklöftern die Nonnen von den Befuchenden 
durch ein Gitter getrennt find, Beichtzimmer, Bibliotheken, Schagfam- 
mern, ber Kreuzgang, die ruft, gewöhnlich unter dem Chor, wenn bie 
Beerdigung der Berftorbenen nicht im Kreuzgange geſchah. Auch fürſtliche Fa— 
milien vertrauten gern ihren Staub der Obhut der Klöfter, in deren Gebet fie 
ihre Seelen empfahlen. — Auch das Klofter ift der Fatholifchen Anſchauung ein 
Heiliger Ort theils wegen feiner Weihe, theils wegen feiner Beftimmung — ein 
Gotteshaus. Den Namen führt e8 entweder von dem Drben, dem es gehört, 
oder von dem Heiligen, unter deſſen Schuß e8 geftellt ift. Die Klöfter find, wie 
ihre Eigenthümlichfeit auch ſchon nicht anders erwarten läßt, auch Gegenftand der 
firchlichen Gefeßgebung geworben, und fo haben wir eine große Anzahl gefeg- 
licher Beftimmungen, die alle darauf abzielen, die Klöfter und ihr Gut gegen 
ungerechte Angriffe jeglicher Art zu ſchützen und fie felbft im Geiſte der Voll— 
Tommenheit zu bewahren, Unter diefen Geſetzen nimmt jenes einen vorzüglichen 
Nang ein, welches die Elaufur, d. i. die Abfchließung der Klöfter von der Welt 
durch Aufhebung oder doch Befchränfung des wechfelfeitigen Verkehrs anordnet. 
Am firengften ift dieſes Gefeg der Claufur für Frauenflöfter aus Gründen, bie 
zu nahe liegen, als daß eg nöthig wäre, fie weitläufig zu erörtern, Es verbietet 
den Nonnen, ihr Klofter, Notbfälle, die das Gefeg anführt, wie Feuersgefahr, 
Heft und Seuche, wohl auch Kriegsgefahr ausgenommen, je zu verlaffen, den 
MWeltleuten aber ohne Unterfchied des Gefchlechtes und des Standes, ein Frauen- 
kloſter ohne Erlaubniß zu betreten, Die Erlaubniß ertheilt nur der Biſchof aus 
gerechten und wichtigen Gründen, und felbft dann, wenn der Bifchof felbft aus 
rechtlichen Gründen die Claufur betritt, 3.2, um eine Bifitation vorzunehmen, 
oder der Beichtvater, um einer franfen Nonne die bl. Sacramente zu abmini- 
ftriren, oder der Arzt, um die Hilfe feines Berufes zu leiſten, find noch befondere 
Borfihtsmaßregeln, insbefondere Begleitung durch zwei ältere Ordensſchweſtern, 
angeordnet. Beſuche werden nur im Sprachzimmer por dem Sprachgitter em— 
pfangen, Wer in böfer Abficht die Clauſur eines Frauenklofters verlegt, iſt der 
dem Papfte vorbehaltenen Strafe der Ercommunication verfallen, Die Claufur 
in Mönchsflöftern befteht hauptfächlich in dem Verbot, Frauensperfonen in bie 
innern Räume berfelben zuzulaffen. Die Befugniß und die Pflicht, über die 
Beobachtung der Claufur zu wachen und auf den Grund der bezüglichen kirch— 
lichen Geſetzgebung Verfügungen zu treffen, hat das Coneil von Trient den Bi— 
fchöfen übertragen, — Der Sturm der Säcularifation zerftörte oder entoölferte 
und entweihte viele Klöfter, und Häufer, in denen früher nur Gott, dem Heil der 
Seelen, der Wiffenfchaft und Kunft gedient worben, wurden in Kafernen, Zuchte, 





Klofterbruder — Klüpfel, 231 


häuſer, Luftfhlöffer und Deconomiegebäude umgewandelt. Die wiedererwachte 

Religiofität unferer Tage ließ indeß auch wieder viele Klöfter erfiehen. Vgl. hierzu 

die Art, Doppelflöfter, Eigenthumsrecht der Klöfter. [Dirnberger,] 
fterbruder, f. Conversi. 

Kloſterfrauen des Hofpitals von der Obfervanz, f. Humiliaten, 

Klpitergeiftlicher,, ſ. Geiftlider. 

Klojtergelübde, f. Gelübde, und Räthe, evangelifche, 

Kloſterhöfe, f. Grangia. 

Kloſterleben, ſ. Mönchthum. 

Kloſterſchulen, ſ. Domſchulen. 

Kloſterverweiſung (detrusio in monasterium) wurde ſchon frühzeitig, be— 
ſonders im Mittelalter, theils als ſelbſtſtändiges Strafmittel gegen Geiſtliche und 
Laien, namentlich wegen unkeuſcher Vergewaltigung ehrſamer Jungfrauen und 
Wittwen (c. 2. X. De adult. et stupr. V. 16), und fleiſchlicher Vergehen mit 
Gottgeweihten und Nonnen (c. 28. c. XXVII. qu. 1); theils und noch öfter in 
Berbindung mit anderen ſchweren Strafen gegen folche Elerifer verfügt, welche 
fih von der Anflage der Härefie nicht reinigen Fonnten oder rüdfällig geworden 
Ce. 10. X. De purg. canon. V.34), oder des Ehebruchs (c. 10. Dist. LXXXI), der 
Berlesung des Beichtfiegel$ (c. 12. fin. X. De poen. et remiss, V. 38), der Fäl- 
ſchung, des Meineids oder anderer Capitalverbrechen Ce. 7. Dist. L; e. 6. X. de 
poenis. V. 37) geftändig oder überführt, und in Folge deffen abgefett oder de- 
grabirt worden waren. Diefe detrusio in arctum monasterium, verbunden mit 
Amtsentfesung oder felbft mit Ausftoßung aus dem Elericalftande wurde immer, 
wie die angeführten Stellen befagen, als Zuchtmittel zur Förderung der Bußfer- 
tigkeit des Delinquenten auf unbeftimmte Zeit (Conc. Cabilon, ao. 813. c. 40) 
und nah Umftänden auf Lebensdauer (Conc. Agath. ao. 506. c. 16), zuweilen 
aber auch außer dem Zwedfe der Buße zugleich als Straffchärfung auf eine Reihe 
von Sahren Ce. 6. $ 7. X. De homicid. V. 12) verhängt. Vgl. hiezu die Artifel: 
©efängnifftrafen, und Kirchenſtrafen. [Vermaneder.] 

Kloſtervogt, f. Kirchenvogt. 

—  Klüpfel, Engelbert, einer der gründlichſten Theologen des verfloſſenen 
Sahrhunderts, wurde geboren den 18. Januar 1733 zu Wipfelden, einem Dorfe 
am rechten Ufer des Mains, in Franfen. Sein Taufname war Johann Andreas; 
feine Eltern Michael Klüpfel und Dorothea Pfriem, Sieben Jahre alt begann 
er die Studien auf dem Gymnafium zu Würzburg, wo er auch ſodann auf der 
Univerfität in zwei Jahrescurſen die Philofophie abfolvirte, Liebe zur Wiffen- 
Schaft und zu flillen Forfchungen bewogen ihn, daß er die Aufnahme in den Orden 
der Auguftiner zu Würzburg nachſuchte und erhielt, Der Ordensvorſteher ſchickte 
ihn nun — damit er fogleich von allen heimathlichen Verbindungen fich Iostrennen 
Verne — nad Dberndorf am Nedar, in Schwaben, wo er vom 13. November 
1750 bis 14, November 1751 fein Noviciatsjahr beftand, und am letztgenannten 
Tage die Drvensprofeffion, mit Annahme des Namens „Engelbert”, ablegte. 
Zur Wiederholung des ganzen Studiums der Philofophie in den Schulen der Au- 
guftiner wurde er nun zuerft nach Freiburg im Uechtland (Schweiz) gefendetz 

bald darauf aber — da er bier feinen Lehrer bald überragte — nach Erfurt in 

das dortige Eonvent verfegt. Zum Studium der Theologie wurde er im J. 1754 

dem Auguftinerffofter zu Freiburg im Breisgau einverleibt. Die Priefterweihe 

erhielt er zu Conſtanz in der Faftenzeit des Jahres 1756. Durch Talent und 

Kenntniffe hervorragend wurde Klüpfel, fobald er feine Studien beendigt und die 

Prieſterweihe erhalten Hatte, zum Lehramte beſtimmt. Diefes begann er auf dem 

Gymnaſium der Auguftiner zu Münnerftadt, in Franfen, wo er fünf Jahre wirkte, 

Hierauf lehrte er — als Profeffor der Philofophie wieder nach Oberndorf ge- 

ſchickt — innerhalb zweier Jahre Logik, Metaphyſik, allgemeine und fpecielle 


232 Klüpfel. 


Phyſik; hielt eine öffentliche glänzende Diſputation nach Sitte damaliger Zeit, 
auf welche er feine erſte Schrift in den Druck gab: „Eng. Klüpfel. Aqua rerum 
corporearum primum principium. Dissertatio physica. ad diem 18. Septembr. 1764, 
4. Rottwilae, typis Thaddaei Feyrer.“ In diefer Abhandlung vertheidigte Klüpfel 
die Anficht des Philofophen Thales. Nach beendigtem philofophifchen Lehramts- 
eurfe wurde ihm das Lehramt der Theologie zugewiefen, und zwar zuerft bei den 
Auguftinern zu Mainz; dann zu Conſtanz, wo er für eine öffentliche Difputation 
Thefen, zumal aus der Gefchichte des hriftlichen Eultes, herausgab, „Assertiones 
theologicae; ad diem 6. Maji 1767. Constantiae litt, Lobhart. 4.“ In diefer Dig- 
putation, worauf fich eine große Zahl von theologiſchen Profefforen aus Klöftern 
Schwaben und der Schweiz eingefunden hatte, erregte Klüpfel ſolches Auffehen, 
daß er im nämlichen Jahre als öffentliher Profeffor ver Dogmatif an 
der Albertinifhen Univerfität zu Freiburg im Breisgau aufgeftelt 
wurde, Cosmas Schmalfus, Affiftent des Generalobern der Auguftiner zu Rom, 
hatte Klüpfel'n Hiezu der Kaiſerin Therefia vorgefchlagen. Den 15, December 
1767 auf der Univerfität Freiburg mit dem Doetorat der Theologie beehrt, 
begann er den 17. December fogleich mit einer öffentlichen Antrittsrede feine theo— 
logiſchen Vorlefungen, Allſeitig und vollſtändig entwickelte er jegt feine litera— 
rifche Thätigfeit. Zuerft erfchien von ihm: „Eng. Klüpfel, Dissertatio Augusti- 
niano-theologica de statu naturae purae, cum theses propugnaret ex universa 
Theologia P. Pantaleon Dietz Ord. Erem. Augustin. A. 1768. mense Augusto. 4, 
Typis J, Andr. Satron.* Diefe Abhandlung z0g ihm Gegner und Verdruß zu, fo, 
daß er eine Vertheidigung zu fihreiben gezwungen war, „Eng. Klüpfel, de exi- 
miis dotibus humanae naturae ante peccatum, liber apologeticus adversus nuperri- 
mum accusatorem. 8. Frib. Typ. J. Andr. Satron. 1769.“ Nach diefem Kampfe 
fonnte er unangefochten feinem Lehramt und feiner fihriftftellerifhen Thatigfeit 
eben, Nach diefer Zeit gab er in den Druck: „Engelb. Klüpfel, Christus Do- 
minus Sacerdos secundum ordinem Melchisedech, Dissertatio cum thesibus ex uni- 
versa theologia. A. D. 1772. mense Januario. 4. Friburgi J. Andr. Satron.“ — 
Sodann „Engelb. Klüpfel, Dissertatio theologica de precibus pro defunctis, una- 
cum positionibus ex universa theologia. A. D. 1773. Frib. 4. Satron.“ — Zugleich 
begann Klüpfel eine theologiſch-kritiſche Zeitfchrift zu begründen, worin er im Verein 
mit Gelehrten auf die wiffenfchaftliche Richtung jener Zeit mächtig einwirkte. Die mei- 
ſten Abhandlungen und Recenfionen in diefer Zeitfehrift floßen aus feiner Feder, Be— 
fonders befämpfte er darin die rationalifirende und zerflörende thenfogifche Rich— 
tung des Profeffors zu Halle Johann Salomon Semler (Institutio ad doctrinam 
Christianam liberaliter discendam, auditorum usui destinata. Halae. Hemerde. 1774. 
8.), an welchen er vierzehn ausführliche Epifteln in der vorerwähnten Zeitfchrift 
richtete. Die foeinianifche und deiftifche Schule jener Zeit verließ fogar das Feld 
der Wiffenfohaft, und rief die Hilfe der Regierung von Preußen an, fo daß der 
Gefandte des Königs von Preußen bei der Raiferin zu Wien Klage gegen Klüpfel 
einlegte, Wahrheit und Gerechtigkeit fiegten; Klüpfel erhielt den Schuß feiner 
Monarchin. Die oben erwähnte Zeitfchrift Klüpfels führt den Titel: „Nova 
Bibliotheca ecclesiastica Friburgensis, Fasciculus I. Frib. Brisg. Typis J. Andr. 
Satron. 1775. 8. Fascicul. II. II. IV. 1775. — Volum. II. Ulmae apud Stettin 1776. 
Volum. II. 1777. Volum. IV. 1779.“ Das Ende diefer Zeitfchrift erfchien nach 
langer Unterbrechung im J. 1790, „Nov. Biblioth. ecolesiast. Friburg. Volum. VII. 
Fascicul. II. IV. 1790.“ — Klüpfels alffeitiges Einwirfen auf die Geftaltung 
der Theologie hatte die Aufmerkfamfeit der Kaiſerin Therefia erregt, welche ihn 
dafür unter dem 30, März 1780 mit der goldenen Medaille anszeichnete, Wäh— 
rend der Herausgabe feiner Zeitfchrift erſchienen von ihm verfchienene Abhand- 
ungen, als: „Eng. Klüpfel: Tertulliani mens de indissolubilitate matrimonii infide- 
lium altero converso“ (gedruckt in Rieggeri oblectamentis historiae et juris ecole- 





Klüpfel. 233 
siastici. P. I. Ulmae 1776. 8.). — Ferner: Eng. Klüpfel, Dissertatio historico-theo- 


- logica de libellis Martyrum. Frib. Brisg. 1777. 8. Satron. — Dann gegen J. 
Lorenz Iſenbiel: „Eng. Klüpfel, Vindiciae Vaticinii Jesajae VII. 14. de Emmanuele. 
- Frib. Brisg. 1779. 4. Satron.“ — Und im folgenden Jahr „Eng. Klüpfel, Commen- 


tatio historica, sistens Lutheranorum novissima dissidia de canone divinarum scrip- 
turarum. Constantiae 1730. 8. Lydolph. — Zugleich begann er eine theologifche 
Zeitfehrift über ältere theologifche Literatur, unter dem Titel: „Engelb. Klupfelüi 
vetus Bibliotheca ecclesiastica. Vol. I. Pars prior. Friburg. 1780. 8. Satron. Wag- 
ner.“ — Bei der Anwefenheit des Kaiſers Joſeph IL. zu Freiburg erſchien: „Pane- 
gyricus Josepho II. Rom. Imperatori nomine musarum Friburgens. A. 1777. dictus 
ab Engelb. Klüpfelio. Friburg. Fol.“ — Bei dem Tode der Kaiferin Maria The- 
refia wurde ihm die traurige Ehre zu Theil, Namens der Univerfität die Ge- 
dächtnißrede auf diefe Hohe Gönnerin und Mitftifterin zu halten. Diefe Trauer- 
rede Klüpfels erfihien unter dem Titel: „Oratio in obitum Mariae Theresiae Ro- 
manor. Imperatricis, cum Academia Friburgensis diebus 16. 17. 18. Januarii 1781. 
eidem solemniter parentaret. Friburg. Fol. Satron.* — In diefe Zeit — 3. 1780 — 
fallt fein Urtheil, welches er in der theologischen Streitfahe („Selbftliebe ift der 
einzige urfprüngliche Grundtrieb des Menfhen“) Martin Wiehrl's, Profeffors zu 
Baden, abgab, welchem fpäter die Facultäten von Prag, Fulda, Salzburg und 
Göttingen beiftimmten. — Der weitverbreitete gelehrte Ruf Klüpfels hatte zur 
Folge, daß der Bifhof Fr. Ludwig von Erthal zu Würzburg im J. 1780 den- 
felben als Profeffor an die Univerfität Würzburg berief. Klüpfel blieb in Frei- 
burg. Eine große Anerkennung und ein großer Reiz lag darin, als fein Kaifer 
Joſeph I. ihn im J. 1789 an die Univerfität Wien verfegte, von wo zwei Vor- 
gänger der dogmatifchen Lehrfanzel (Gervafio und Bertieri) auf die bifchöflichen 
Stühle Gallippli und Como befördert worden waren. Der befeidene Klüpfel, 
der ganz den theologiſchen Wiffenfchaften lebte, erbat fih als Gnade feines Kai— 
fers, Profeſſor der Dogmatik in Freiburg bleiben zu dürfen. Hier gab er nun 
fein dogmatifches Lehrbuch Heraus, welches auf allen öftreichifchen Univerfitäten 
eingeführt wurde. Daffelbe erfihien unter dem Titel: „Engelb. Klüpfelii Institu- 
tiones theologiae dogmaticae in usum auditorum. Pars I. et Il. Vindobonae 1789. 8. 
Binz. Editio secunda 1802, tertia 1807. — Nach feinem Tode erfhien das Buch 
in vierter‘ Ausgabe, mit Zufägen von dem Profeffor Gregor Thomas Ziegler 


Wachherigem Bifhof zu Linz) zu Wien 1821. — Da Klüpfel die Iateinifche 


Sprache claſſiſch fehrieb, fo erhielt er den Auftrag, die PaftoraltHeologie von 
Profeffor Giftfhüg zum allgemeinen Gebrauch der Univerfitäten des Kaiferftants — 
zumal in Ungarn und Polen — zu überfegen. Diefe Ueberfegung trägt den Titel: 
„Franc. Giftschütz institutiones theologiae pastoralis, latine redditae. Viennae 1789. 
P.1L.H. 8“ Schon vor diefer Bearbeitung der Paftoraltheologie hatte Klüpfel 
für die Erfpeinungen im Gebiete des Paftoralwirfens die Schrift Herausgegeben: 
„Sammlung bifhöfliher Verordnungen und Hirtenbriefe, welche feit 1780 befon- 
ders in Zeutfchland erfchienen find, zur Aufklärung des Kirchenrechts und des 
teutſchen Staatsrechts ; herausgegeben von Engelbrecht Klüpfel, I. Th. Stras- 
burg, im Berlag der academifchen Buchhandlung 1786. 8. Während feines viel- 
beſchaftigten academifchen Lehramtes und feiner Thätigfeit als theologifcher Schrift- 
fteller war feine Erholung die Poeſie. So ſchrieb er: „Elegia de Urbe Brisacensi 
(1793) deleta; et adhortatio ad Germaniam. Constantiae 1794. 4.“ — Mit großer 
Vorliebe fammelte er und fchrieb das Leben des erften gefrönten teutfhen Dich- 
ters Conrad Celtes, der mit ihm das gleiche Vaterland — Franken — ja fogar 
den gleichen Geburtsort, Wipfelden , hatte, — Diefe Lebensbefchreibung verräth 
eine folche Belefenheit in den verfhiedenartigften Drudfchriften, Manuferipten, 
Inſchriften u. d., und eine folhe Kenntnig der Gefchichte und Zuftände des 15ten 
Jahrh., dag man darüber flaunen muß, Während der Lehzeit Klüpfels erfchien 


234 Knabenfeminarien — Knapp. 


diefe Biographie nicht im Druck, worüber ihr Verfaffer frühzeitig die Gründe 
angab, in der Zufeprift: „Engelb. Klüpfel Theologi Friburgensis ad D. Michaelem 
Feder, Bibliothecar. Academ. et Theolog. Professorem Würzburgi, Epistola de causa 
dilatae editionis vitae Conradi Celtis Protucii. Friburgi 1799. 4.“ Nach des Ver— 
faffers Tod ließ die Univerfität Freiburg diefe höchſt merkwürdige, an gelehrten 
Kenntniffen fo reichhaltige Biographie als Programme druden, Sie erfchien in 
zwölf Fascikeln, unter Obforge der Profefforen Nuef und Zell, unter dem Titel: 
„De vita et scriptis Conradi Celtis Protucii, praecipui renascentium in Germania 
literarum Restauratoris, primique Germanorum Poetae laureati, opus posthumum 
B. Engelberti Klüpfelii. Particula 1. Friburgi 1813. Typis academicis big 
Partic. XI. 1827. Typis Wanglerianis, 4.“ — Nachdem Klüpfel fein 70, Alters- 
jahr zurücfgelegt hatte, erbat er fich * Verſetzung in den Ruheſtand, weil — 
wie er in feiner Eingabe fagte — „oportet esse interstitium, mortem inter et offi- 
cium.“ Sein Wunſch wurde im Jahr 1805 erfüllt, In diefer Ruhezeit bereitete 
er fich näher auf die Ewigfeit, und pflegte zur Erholung noch der Wiffenfchaft, 
Aus diefen Abendfiunden feines Lebens erfchienen: „Commonitorium S. Vincent 
Lerinensis, praemisit epistolam et prolegomena ac notis illustravit Engelb. Klüpfel. 
Viennae 1809 8.5“ und in eben diefem Jahr: „Engelb. Klüpfel, Theologi Fribur- 
gensis, Necrologium sodalium et amicorum litteratorum, qui auctore superstite 
diem suum obierunt. Friburgi et Constantiae, in officina libraria Herderiana. 1809, 8.“ 
Seine legte Schrift, die auch erft geraume Zeit nach feinem Tode in den Drud 
gegeben wurde, war: „Engelberti Klüpfel, Theologi Friburgensis, septem Psalmi 
poenitentiales, paraphrasi elegiaca et exposilione prosaica illustrati, Accedunt in 
eosdem notae crilicae, una cum oratione: Ante Oculos tuos, Domine. Vindobonae, 
Typis congregationis Mechitaristicae. 1823 8. — Engelbert Klüpfel ftarb den 8. Juli 
1811. — In feiner Lebensweife war er höchſt einfach, genügfam, Tag und Nacht 
den Studien obliegend, tugendftreng, Firchentreu, gottesfürdtig, Von ihm gilt: 
didici,.docui. In feinem Teftamente vermachte er feine reichhaltige, ausgezeich- 
nete Bücherfammlung der Univerfitätsbibliothef zu Freiburg; darunter eine ſchätz- 
bare Sammlung gelehrter, theilweife höchft feltener , Differtationen; über 5000 
an der Zahl. Sein theologifches Wirken lebt fort in feinen Schriften. CM f. 
Dr. Jo. Leon. Hug, Elogium Engelberti Klüpfelü. Friburgi et Constantiae, in offi- 
eina libraria Herderiana. 1811. 8. Und Dr. Jo. Casp. Ruef — Vita Klüpfelii, in 
der Praefatio zu Fascic. I. De vita et scriptis Conradi Celtis Protucii. Friburgi 
1813. 4.) [L. Buchegger.] 

Sunbenfeminarien, f. Seminarium, clericalifches, 

Kuapp, Dr. Georg Ehriftian, proseftantifcher Theolog, den 12, Sep- 
tember 1753 zu Glaucha bei Halle geboren, ftudirte hier und in Öttingen. Nach 
einer Reife durch Teutfchland erwarb er fi) 1775 auf der erftern Univerfität bie 
philofophifche Magifterwürde und wurde 1777 außerordentlicher, 1782 in einem 
Alter von 29 Jahren ordentlicher Profeffor der Theologie, Zwei Jahre darauf 
erhielt er die theologifche Doetorwürde, In kurzen Zwifchenräumen wurde er 
Director zuerft der franfifhen Stiftungen und hernach zugleich des theologifchen 
Seminars. Mit Treue und unermüdetem Eifer lag er diefem feinem Wirfungs- 
freife ob, Im J. 1816 wurde er mit Niemeyer und Wagnitz Confiftorialrath vom 
Königlich Preußifhen Eonfiftorium der Provinz Sachfen, nacheinander Mitglied 
mehrerer gelehrten Gefellfhaften und 1820 Senior der Facultät. Im J. 1825, 
wo er fein fünfzigjähriges Lehrerjubiläum feierte, empfing er neben vielen andern 
Ehrenbezeugungen von Friedrich Wilhelm III. den rothen Adlerorden zweiter Claſſe 
mit Eichenlaub, Er litt viele Jahre hindurch an einer Krankheit vieler Gelehrten, 
die fich bei vielem Sigen gerne und häufig einftellt und die in ihrer Steigerung 
ihm den 14, Detober 1825 den Tod herbeiführte. Seine Fächer, in denen ſich 
der fleißige, gründliche und ſcharfſinnige Lehrer einer zahlreichen Zuhbrerſchaft 





Kneph — Kniebeugung. 235 


erfreute, waren Exegeſe des A. und N. T. Dogmatif und Kirchengefchichte. Der 
Grundzug feines Charakters war Neligiofität und damit zufammenhängend Ge- 
wiffenhaftigfeit und Unparteilichfeit, Ehrgeiz und Ruhmſucht waren ihm fremd, 
Nicht bloß zu lehren, fondern auch fegensreich zu wirken, war fein Beftreben und 
feine Freude. — Bon feinen Schriften und Schrifthen, dreiundzwanzig an der 
Zahl, führen wir an: die Ueberfegung der Pfalmen mit Anmerkungen, Halle 
1778, 3. Aufl. 1789; fein Novum test. graece. Recognovit alque insigniores lec- 
tionum varietates et argumentorum notationes subjunxit, editio tertia Halae 1824; 
Neuere Gef. der evangel. Miffionsanftalten ze. Halle, 1799—1825, 18 Stüde; 
feine Borlefungen über die chriſtl. Glaubenslehre, herausgeg. von Dr, Carl Thilo, 
Halle 1827, 2 Bde. (Vgl. Fuhrmann, Handwörterbud der Religions- u. Kir- 
hengefh. 2. Bd. S. 587 f.; die gelehrten Theologen Teutfchlands von Dr. Heinr, 
Dpering I. Bd. ©. 134 ff.5 Pierer, Univerfallexieon 16. Bd, ©. 248.) 

Kneph, f. Emanation, 

Knidus, f. Cnidus. 

Kniebeugung (genuflexio), eine im öffentlichen Cultus übliche Ceremonie, 
und zwar unterſcheidet man zwiſchen der einfachen Kniebeugung (g. simplex), 
bei welcher bloß das rechte Knie bis zur Erde geſenkt wird, und wobei man ſich 
alsbald wieder erhebt, und der doppelten (g. duplex), bei der man ſich mit 
beiden Knien niederfenkt, und in diefer Stellung einige Zeit verbleibt. Das Beu- 
gen der Knie als religiöfe Ceremonie kommt häufig fchon im A, T. vor, z. B. 
Genef. 17, 3 und 17, Num. 16, 225 wie denn der Ausdrudf 772 — das Knie 


beugen überhaupt identifch ift mit Segnen, Anbeten, Ebenfo finden wir im N, 
Bunde diefe Ceremonie durch das Beifpiel des Herrn felbft geheiligt, und auch 
fonft wird derfelben öfters erwähnt Luc, 22, 41. Act, 7, 59, — 9, 40. — 21, 5. 
Past. Herm. L. I. Vis. 1. c. 1. Euseb. hist. ecel. II. 33. Chrysost. serm. 4 de Anna; 
Aug. de eivit. Dei 22. c. 8. Nah dem Zeugniffe Tertulliansg (de corona milit. 
6. 3) wurde immer kniend gebetet, mit Ausnahme des Sonntags und der Zeit 
von Dftern bis Pfingften, in welcher man fiehend betete, Eben weil die Gebete 
in der alten Kirche Iniend verrichtet wurben, findet fich in unferer Liturgie heut- 
zutage noch die Aufforderung des Diacons: flectamus genua! und dann die des 
Subdiacons: Levate! wenn das Gebet zu Ende war. Uebrigens fcheint diefe 
Aufforderung zum Knieen aus Lauigfeit und Bequemlichkeit nicht immer beachtet 
worden zu fein, wie diefes aus den Worten des Cäfarius von Arles erfichtlich ift, 
welcher feine Zuhörer deßhalb alfo tadelt: „Wenn der Diacon ruft: Laffet ung 
die Kniee beugen! fo fehe ich den größten Theil der Gemeinde wie die Säulen 
fiehen, was den Chriften, wenn in der Kirche gebetet wird, weder erlaubt noch 
geziemend iſt.“ Ihrer ſymboliſchen Bedeutung nach wird diefe Handlung ge- 
wöhnlich als Zeichen der Bußfertigfeit aufgefaßt, und deßhalb nennt fie Rhabanus 
Maurus „poenitentiae et luctus indieium“ (1. II. c. 41. de instit. cleric. cf. Cone. 
Carthag. a. 398 c. 82. Honor. gem. anim. I. c. 117). Das Knieen wäre demnach 
der äußere Ausdruck der innern Demüthigung des fündhaften Menfchen, der fo- 
wohl feine Schuld als Unmacht fühlt, wenn er ſich Gott nahen will, und unfähig 
ſich zu wehren, fih ganz in die Gewalt deffen gibt, vor dem er knieet. Diefe 
Anfhauung und Bedeutung liegt jener alten Einrichtung der Kirche zu Grunde, 
wornach die Büßer der dritten Elaffe (substrati) und die Katechumenen der 2. Claſſe 
(genuflectentes) felbft da, wo die andern Chriften ftanden, knieen mußten (ſ. Katech u⸗ 
menen). Die einfache Genuflerion ift das Zeichen der Anbetung (adoratio) und findet 
deßhalb immer coram Sanctissimo Statt, wie die Neigung des Hauptes (inclinatio 
capitis) der Ausdruck der Verehrung (veneratio) ift. Deßhalb genuflectirt auch 
der Prieſter während der hl. Meffe, wenn nicht ſchon das Sanetiffimum ausge- 
ſetzt ift, erft bei und nach der Confecration bis zur Kommunion, und zwar fo oft 
er den Kelch entblößt oder bedeckt, oder bei jenen Stellen, in welchen von dem 


7 


⸗ 


236 Knieen — Knox. 


Geheimniß der Menſchwerdung die Rede iſt, wie im Credo und dem Evangelium 
des hl. Johannes. Nach der Deutung des hl. Bafılius wäre die einfache Knie— 
beugung ein Sinnbild , daß wir zwar burch die Sünde gefallen, jedoch durch die 
Menfchwerdung Gottes wieder vom Falle aufgerichtet worden find (de spiritu s. 
0.27). — Nebenbei ift hier noch der fogenannten Kniebeugungsfrage zu erwähnen, 
welche in neuefter Zeit in Bayern Gegenftand einer weitläufigen Erörterung zwi— 
ſchen Katholiken und Proteftanten wurde, Eine Kriegs-Minifterial-Ordre vom 
14. Aug. 1838 und Minift,-VBerfügung vom 19. Jan. 1839 verlangte nämlich 
ſowohl von dem Heere als der Bürgermiliz das Niederfnieen während der Wand- 
lung und VBorbeitragens des Sanctiffimums bei Kirchen- und Frohnleichnams— 
proceffion-Paraden, Durch diefe Verordnung glaubten fih die Proteftanten in 
ihrer Gewiffensfreiheit verlegt, obgleich diefelbe als rein militärifches Reglement 
beachtet fein wollte, und eine an fich indifferente und auf Commandowort hervor— 
gerufene Handlung erft durch die Intention des die Kniee Beugenden zu einem 
religidfen Acte wird. Auf dem bayerifchen Landtag von 1843 wurde biefer 
Punct zur Debatte gebracht, und gab nachher die Veranlaffung zu einer Menge 
von Broſchüren. (Diefelben find angeführt bei Permaneder, Handbuch des ka— 
thol, Kirchenr. $ 91. 5). Um übrigens die Proteftanten zu beruhigen, und um 
den entfernteften Schein einer Gewiffensverlegung zu vermeiden, beſtimmte eine 
Cabinetsordre vom 28. März 1844 und 3, Nov. 1844, daß in Zufunft zu Pro- 
eeffionen,, bei welchen das Sanctiffimum vorgetragen wird, Bürger und Soldaten 
proteftantifcher Confeffion nicht mehr ſollten ausrüden dürfen, [Rhuen,] 

Snieen, f. Gebet. 

Knigge, ſ. Slluminaten, 

Knipperdolling, ſ. Wiedertäufer, 

Knox, Johannes, Neformator in Schottland, wurde im Jahr 1505 
aus bürgerlichem Stande, wahrfcheinlich zu Grifford, einem Dorfe im öftlichen 
Lothian, geboren, fludirte Philofophie und Theplogie zu St. Andrews, wurbe 
noch vor 1530 zum Priefter geweiht und trat jegt als Lehrer der Philofophie an 
derfelben Univerfität auf. Auguftinus und Hieronymus wurden ihm fein Lieb- 
lingsſtudium. Das angeblich unpriefterliche Leben des fehottifhen,Elerus foll ihn 
zuerft der alten Kirche abgeneigt gemacht haben; gewiß ift, daß er bereits 1535 
fich innerlich von verfelben Iosfagte und in den beftehenden Mißbräuchen der 
Kirche, wie er vorfhüste, feine Rechtfertigung für diefen Schritt ſuchte; doch 
fheint es nicht, daß er fich felbft vor 1542 als Proteftant erklärte, Um diefe 
Zeit hatte die Neuerung bereits bedeutend in Schottland an Boden gewonnen, 
Als er auch in feinen philofophifchen Vorlefungen das Wefen der alten Kirche an— 
zugreifen begann, glaubte er fich durch das wachfame Auge des Cardinals Beatoun 
dafelbft nicht mehr ficher und zog fich daher in das ſüdliche Schottland zurück, 
befannte ſich daſelbſt öffentlich als überzengungstreuen Anhänger der Neuerung 
und wurde dafür auf Antrag des Clerus von demfelben Kardinal degradirt, Nun- 
mehr beffeidete er in einer reformirten Familie die Stelle eines Erziehers und 
faßte endlich den Plan, fich der ftrengen Aufficht der Kirchenbehörbe dadurch zu 
entziehen, daß er ſich nach England an die Grenzen von Schottland begab, wo 
alfe von den fehottifchen Bifchöfen verfolgten Abtrünnigen ein Afyl fanden; allein 
mit der Baftard-Neformation Heinrichs VII. unzufrieden und gegen deffen dem 
Papfte abgenommene Suprematie eingenommen, wollte er feine Studien auf einer 
teutfchen Univerfität fortfegen, Tieß fich jedoch von diefem Entfchluffe wieder ab= 
bringen und zog fih um Oftern 1547 mit den Söhnen einiger Gönner in, das 
Caftell St. Andrews zurüd, das von den aufftändifhen Mördern des Carbinals 
Beatoun (er wurde am 29. Mai 1546 ermordet) im Befig erhalten wurde, Wenn 
e8 fich auch nicht genau erweifen läßt, daß Knox einen direeten Antheil an biefem 
Morde hatte, fo muß doch felbft fein Lobredner M’Crie zugeben, daß er den⸗ 











nor, 237 


felben gebilligt Habe, weil er überhaupt mit feinem Freunde Buchanan die Recht⸗ 
maͤßigkeit des Tyrannenmordes felbft foweit vertheidigt Habe, daß jedem Einzelnen 
das Recht zuftehen follte, den tyrannifchen Verbrecher zu tödten (ſ. Leben des 
ſchottiſchen NReformators Johann Knox von Thomas M’Erie im Auszuge von 
Pland, Göttingen 1817, S. 71). Seinen Bemühungen dafelbft gelang es, die 

e Garnifon für die Neuerung zu gewinnen; allein das Caftell fiel im die 
inde des franzoͤſiſchen Hilfsheeres, und au Knox wurde als Kriegsgefangener 
abgeführt und befand fih 19 Monate auf den Galeeren. Als er im Febr. 1549 
die Freiheit wieder erlangt hatte, begab er fih nah England, wo unterdeffen 
das NReformationsfgftem fih ganz geändert hatte, und nahm hier unter Eduard VL, 
deſſen Kaplan er wurde, bis 1554 regen Antheil an der Durchführung des cal- 
viniftifchen Lehrbegriffes, kam aber wegen feiner wüthenden Ausfälle in feinen 
Predigten gegen alle Gegner feines Syſtems felbft dem Hofe gegenüber manchmal 
in Berlegenheit und Unterfuchung. Allein nah dem am 6. Juli 1553 erfolgten 
Hintritte Edwards VI. änderte fih wiederum das Religionsiyftem in England. 
Das englifche Volk äußerte über die Thronbefteigung einer Fatholifchen Königin 
eine fo unbändige Freude (f. Großbritannien), daß fih Knox, um die erften 
Regierungsmaßnahmen abzuwarten, in den Norden zurückzog; als fih aber der 
e Geift derfelben zeigte, kehrte er auch in die füdlichen Provinzen zurüdf und 
vs den Herbfimonaten in Kent und Buckingham, begab fich ſelbſt im 
November nach London, wo er fich bei befreundeten Kaufleuten aufhielt. Während 
fofort nach der Wiedereinführung des Katholicismus durch das Parlament feine 
Stellung vollends unficher wurde, hatte er auch Unangelegenheiten mit dem Vater 
feiner Frau, der die eheliche Verbindung nicht öffentlich befannt geben wollte aus 
Gründen, die nicht genau befannt geworden find. Endlich verließ er England 
und landete am 28, Juni 1554 glüflih zu Dieppe in der Normandie, machte 
von bier aus einen kurzen Befuh in der Schweiz, kehrte jedoch nah Dieppe 
zurück, verfügte ſich Hierauf zum zweiten Male nach Genf, wo er fich bei feinem 
Freunde Calvin aufhielt und gegen Ende des Jahres feine „Ermahnung an die 
englifhe Nation” herausgab, in der feine ganze ungemäßigte Heftigfeit zu Tage 
trat, (Rurze Zeit hatte er fih auch zu Franffurt am Main aufgehalten, war 
aber mit der dortigen englifchen Gemeinde in Streit gerathen.) Im Herbfte 1555 
machte er auch einen Beſuch in Schottland und predigte dafelbft in verfchiedenen 
Orten, kehrte aber im Juli 1556 wieder nach Genf zurüf. Neben manchen 
Brieffhaften und Schreiben an feinen Anhang in England und Schottland ver- 
faßte er bier außer dem Anfange einer englifchen Bibelüberfegung feinen „erften 
Trompetenftoß gegen das monfiröfe Weiberregiment”, wodurch das kummervolle 
Leben Mariens noch mehr verbittert wurde. Den Hauptgrundfag des Buches 
bildet die Behauptung: „Die Uebertragung jeder obrigfeitlichen Gewalt und jede 
Art von Oberherrſchaft über ein Königreih, über eine Nation oder eine Stadt 
an ein Frauenzimmer ift gegen das Gefeg der Natur, gegen den geoffenbarten 
Willen Gottes und gegen die von ihm beftätigte Ordnung, ift alfo eine Berfpot- 
tung Gottes und widerfirebt zugleich aller Billigkeit und Gerechtigkeit.” Allein 
ſowohl die darin ausgefprochenen Grundfäge, als auch die grobe tief verlegende 
Sprache beleidigten die Engländer, welche nach dem Tode Maria’s fich unter der Herr- 
[haft der „jungfräulihen” Eliſabeth befanden. Unterdeifen hatte er auch feine Frau 
und Familie nach Genf fommen Iaffen, wo er indeß im Januar 1559 zum legten 
Wal Abſchied nahm und das Chrenbürgerrecht erhielt, worauf er im Mari in 
Schottland anfam. Bon nun an beginnt feine eigentliche Neformationsthätigfeit. 
Stets hatte er feinen Glaubensgenoffen offene Gewalt zum Schuge gegen den 
Gögendienft (Ratholicismus) und die gößendienerifhe Obrigfeit empfohlen, fo 
daß der engliihe Geſchichtſchreiber Hume von ihm fagt: „Die Staatsgrundfäge 
diejes Mannes, die er feinen Brüdern mittheilte, waren eben fo aufrüßrerifch 


238 Kur 


als die theologiſchen unfinnig und heuchleriſch“ (Geſchichte von Großbritannien, 
Sranfenthaler Ausgabe 1787. Bd, X. ©, 90). Während des Bürgerfrieges 
zwifchen der Negentin, der Königin Mutter, und dem Adel ſchloß fih Anor an 
ven letzteren an; feine heftigen Predigten hatten die Mlünderung und Zerftörung 
der Klöfter und Kirchen zur Folge, beſonders als die bewaffnete Macht gegen fie 
aufgeboten wurde, Es bildete fich der Bund „der Congregation Chrifti”, deren 
Mitglieder die Kirche in ihren Gebieten mit Gewalt abfehafften; ja fie bemächtig- 
ten fich fogar Edinburgh's, und die Negentin mußte mit ihren Truppen nah Dun- 
bar abziehen, worauf Knox zum Prediger der Hauptftadt ernannt wurde, Als 
jedoch die Stadt wieder in die Hände der Negentin gefallen war, zog er predigend 
und Aufruhr verfündigend im Lande umher und fprach von England Hilfe gegen 
die Rebellen anz nachdem aber der vormalige Regent Graf Arwan, der ſchon als 
folcher die Neuerung begünftigt hatte, zu der Eongregation Chrifti übergetreten 
war, wurde die Negentin abgefegt, ein neuer Negentfchaftsrath gefchaffen und 
Knox zu deffen Mitgliede ernannt. Bald darauf ftarb die Königin Mutter; ge= 
mäß dem zwifchen England, Schottland und Frankreich darauf gefchloffenen Ver— 
trage follten die franzöfifchen Hilfstruppen Schottland verlaffen, die Aufftändifchen 
amneftirt und ihre Befchwerden befeitigt werden. Noch zwölf Monate wüthete 
der Bürgerfrieg und endigte damit, daß das Land von der Kongregation Chrifti - 
unterworfen wurde, Damit war der Fatholifchen Kirche der Todesftreich verfegt 
worden, Die noch übrigen Fatholifchen Priefter gaben ihre Sache als eine ver- 
Yorene auf und überließen ihre Kirchen den Proteftanten; das Parlament, das fih 
fhon im Juli verfammelt Hatte, aber durch den Vertrag bis auf den 1. Auguft 
prorogirt worden war, fanctionirte dag von den reformirten Predigern entworfene 
Slaubensbefenntniß (17. Aug), und durch einen Befchluß vom 24, Aug. wurde 
die päpftliche Zurisdietion im Königreich aufgehoben, das Anhören einer Meffe 
unter Strafe, das erſte Mal durch Confiscation des Vermögens, das zweite Mal 
durch Verbannung und das dritte Mal durch Hinrichtung verboten, und alle zum 
Bortheil der Katholiken und zum Nachtheil der Neformirten erlaffenen Geſetze 
abgefchafft. Sp war die Reformation in Schottland dur Empörung, Gewalt, 
Feuer und Schwert eingeführt worden! Wahrlih, Mohammed und feine Nach— 
folger waren im Kampfe gegen das Chriſtenthum duldfamer als diefe Reforma— 
toren, — Nach dem Tode ihres Gemahls Franz U. von Franfreich Fehrte Maria 
Stuart, vom Adel herbeigerufen, in ihr Erbreich Schottland zurüd (1561). Als— 
bald eiferte Knox gegen den Fatholifchen Gottesdienft in der Föniglichen Capelle, 
und rief dadurch Exceffe und Tumulte herbei, bei denen das Volk felbft in die 
Capelle eindrang. Vergebens Tief fih Maria fo weit herab, ihn verfönlich vor 
fich zu rufen und mit dem harten Manne zu verkehren; „der bäuerifche Apoftel, 
fagt Hume a. a. O. ©, 91, trägt fein Bedenken, ung zu benachrichtigen, daß er 
ihr einmal mit folcher Strenge begegnete, daß fie alle Faffung verlor und vor 
ihm in Thränen zerfloß, und da er diefen Umftand erzählt, zeigt er einen ficht- 
baren Stolz und eine Zufriedenheit mit feiner eigenen Aufführung.” Die Kanzeln 
wurden nun bloße Schaubühnen der Schmähungen über die Lafter des Hofes, 
Knox erhielt dadurch in den Augen des Publicums, das fih zu alfen Zeiten an 
Scandalen gefällt, großes Anfehen, Leider bot ihm das Benehmen des Hofes 
Stoff dazu, namentlich die Verheiratbung Maria’s mit Bothwell, dem Mörder 
ihres Gemaͤhls. Während einige bei den verübten Exceſſen Betheiligte vor Ge- 
richt gezogen wurden, erließ Knox ein maßlos heftiges Schreiben, Nunmehr 
wurde er des Hochverrathes angeflagt, aber im Dec, 1563 zum wahren Triumphe 
für ihn und feine Partei freigefprochen. Das traurige Ende der Regierung der 
Maria Stuart ift befannt; fie mußte zu Gunften ihres einjährigen Sohnes Jacob VI. 
(ſ. Jacob L) entfagen und fand endlich bei Elifabeth, ihrer unverföhnlichen Feindin, 
ſtatt eines Aſyls Gefängniß und Tod, Am 29, Juli 1567 hielt Knox bei ber 





Knut — Kohler, 239 
Krönung Jacobs VI. in der Parohialfirhe zu Stirling die Predigt. Befonders 


thaätig wirkte er auch in den Beratungen über das fünftige Schickſal der Königin, 


die vorläufig in das Schloß Lochlevin gebracht worden war; eine Partei wollte, 


daß fie das Königreich verlaffen dürfe, eine andere beantragte ihre lebenslängliche 


Gefangenfhaft, Knox und mit ihm die meiften Prediger dagegen ihre Hinrichtung, 
und zwar nicht wegen ihrer fchlechten Regierung, fondern wegen ber perfönlichen 
Verbrechen, deren fie fih ſchuldig gemacht Habe, namentlih wegen Mord und 


Ehebruch, die auch an den höchſten Perfonen nicht ungeftraft bleiben dürften. Ja 
nach ihrer Flucht erflärte Knox öffentlich, daß man den daraus entflandenen Bür- 


gerkrieg als die gerechte Strafe für die gegen fie bewiefene unverantwortliche 


- Milde anzufehen Habe, Den 15, Der, hielt er bei Eröffnung des Parlamentes 
die Predigt und forderte daffelbe auf, alfererfi die Religionsfahe vorzunehmen. 


Diefes beftätigte dann alle Acten, welche im Jahre 1560 zu Gunften der Pro- 
teftanten und zum Nachtheil der Katholiken erlaffen worden waren; auch wurde 
zum Grund» und Staatsgefeg gemacht, daß in Zufunft die fhottifchen Könige 
noch vor dem Regierungsantritt die Aufrechterhaltung des Proteflantismug be— 
fhwören müßten, und zugleich verordnet, daß alle nicht erbliche Staatsämter nur 
mit Proteftanten befegt werden dürften. Auch wurden die anderweitigen kirch— 
lichen Berhältniffe geordnet. Damit hatte Knox das Ziel feiner Beftrebung er- 
reicht; der Katholicismus war factifh und wenn man wollte auch rechtlich in 
Schottland ausgerottet. Gleihwohl predigte er mit der ihm eigenthümlichen 
Heftigfeit fort und erwarb fih dadurdh bei den Anhängern Marien’s ftets 
neue Feinde, In Folge eines Streites mit diefer Partei zu Edinburgh, die 
er auf öffentlicher Kanzel angriff, mußte er am 5. Mai 1571 noch einmal nad 
St. Andrews fliehen und fonnte erft im Auguft 1572 zurüdfebhren, nachdem die 


Anhänger der Königin abgezogen waren. Er ftarb jedoch ſchon im Herbfte 1572 


im 67. Jahre, und hinterließ feine zweite Gemahlin als Wittwe und fünf Kinder, 
Eine unparteiifche Gefhichte diefes Mannes fehlt; das fchon genannte Werf von 
MErie ift ein Panegyrieus. Sonft vergleihe noch Knox, Hist. of the ref. of 
Scotl. 1567. Niemeyer, Leben des Joh. Knox, Leipz. 1824. Böhme, adt 


Bücher von der Reformation der Kirche in England, Altona 1734. S. 363—69, 
| Bol. hierzu den Art. Schottland. [$ebr.] 


Knut d. Gr., f. Canut. 

Knutſen, f. Conscientiarii. 

Kodde, f. Collegianten. 

Koheleth, f. Ecclesiastes. 

SKoben, f. Cohen, 

Kohler, Hieronymus, ein Schwärmer aus Brügglen, Cantons Bern, 
Stifter der Brüggler Secte, wurde den 16. Januar 1753 auf Befehl des Schult= 
heiß, des Kleinen und Großen Raths von Bern öffentlich Hingerichtet, und zwar 
an einem Pfahle erwürgt und dann verbrannt „als Verführer, Betrüger und ab— 
fheuliher Gottesläſterer.“ Das Todesurtheil hebt folgende fieben Puncte als 
die Hauptverbrechen des Schwärmers hervor: 1) „Daß er fich eines außerordent- 
lichen Berufs und Erleuchtung, wie auch fonderlicher hohen Dffenbahrungen, und 
unmittelbabren Umgangs mit Gott und unferem Heyland berühmet. 2) Sich und 
feinen Bruder Chriftian Kohler, vor die zwey Zeugen der Offenbahrung Joh. 
Cap. 11. ausgegeben. 3) Gottes Gerichte und der Welt Ende etliche mahl auf 


Zeit und Tage vorgefündet, mit Beyfügen, daß er alddenn Gott werde helfen 
bie Welt richten. 4) Daß er gelehret: Wer nicht ihn und feine Lehre annehme, 


werde nimmermehr feelig werden. 5) Daß die Sünden wider den Sohn Gottes 
fonnen Vergebung erlangen, was aber wider fie, Kohler und die Elßbet Kißling 
geredet werde, fünne in Ewigfeit nicht vergeben werden, 6) Das Lefen, Beten, 
und andere Chriftliche Hebungen taugen nichts; das Predigtgehen ſey auch nichts 


210 Koıvn, &xdocıs -Kolocza. 


werth, zumal die Predicanten nur Schriftgelehrten feyn, aber Fein Leben haben, 
ja alle die, fo in die Kirche gehen, feyn verdammt. 7) Hingegen können die 
Begnadeten ohne Abbruch ihrer Seeligkeit thun, was fie wollen, Unter andern 
gehe das Verbot der Hurerei nur die an, fo annoch unter dem Geſetze feyn, die- 
jenigen aber nicht, fo unter der Gnade ftehen,” In letzterem Punete feden wir 
das Vorſpiel des heutigen Mukerthums, und wie unſere Muker ließ es auch 
Köhler nicht bei der Theorie, verführte vielmehr ſehr Viele zu den Werken der 
Unzucht. Uebrigens ſehen wir aus dem Ganzen, wie auch die proteſtantiſche Re— 
publik Bern noch im J. 1753 die Inquiſition ausübte, und einen Ketzer, ber 
weit weniger Unheil anrichtete, als Hus, nahezu auf diefelbe Weife, fage faft 
350 Jahre fpäter, hingerichtet hat, und zwar, was wohl zu beachten, trotz 
feiner Neue und feines Widerrufs, während fih Hus durchaus zu feinem 
Widerrufe verfland, Vgl. Neue Beiträg e von theol, Sagen, Auf das J. 1753, 
Leipzig ©. 848 ff, und auf das J. 1754, 

Koıvn Exdooıs, f, Alexandriniſche Ueberſetzung und Handfchrif— 
ten des neuen Teſtaments. 

Kolberg, nunmehr eine ſtarke Feſtung in der preußiſchen Provinz Pommern, 
war ſchon im zehnten Jahrh. Sitz eines chriſtlichen Biſchofs. Die erſte Kunde 
vom Chriſtenthum war nämlich von Polen aus nach Pommern gedrungen; als 
nun Otto II. mit Abſchluß des zehnten Jahrh. zum Grabe des hl. Adalbert 
(I. d. U.) wallfahrtete, erwirfte er, daß Gnefen (ſ. d. A.) zu dem Range eines 
Erzbisthums und ihm Kolberg, Krafau und Breslau (ſ. diefe Art.) untergeordnet 
wurden, Indeß ging das Bisthum Kolberg ſchon mit feinem erften Bifchof Nein- 
bert unter, Im J. 1227 wurde Kolberg von dem pommerifchen Herzoge an das 
Stift Kamin vertaufht und das alte Schloß in ein Klofter verwandelt; im 3 
1530 wurde die Stadt proteftantifch. 

Kollyridianer, f. Antidicomarianiten, 

Köln, ſ. Cöln. 

Kol-Nidre, ſ. Col-Nidre. 

Kolocza, Kirchenprovinz Ungarns (ſ. * den Art, Erlau und Gran), 
umfaßt nebft vem gleichnamigen Erzbisthum im Süden, die Didcefen Cfanad und 
Groß-Wardein Iateinifchen Ritus im oft-fühlichen Theil Ungarns, das Bisthum 
Siebenbürgen Yat, Ritus im gleichnamigen Lande, und die drei eroatiſch-ſlavo— 
nifhen Bisthümer: Agram, Diakovar und Zeng. 
loeza und Bac$ (Archiepiscopatus Colocensis et Bacsiensis canonice uniti) ver- 
ehrt in den hi. Königen Stephan und Ladislaus feine Stifter, Der erftere baute 
zu Kolocza eine großartige Cathedrale zu Ehren der Himmelfahrt Mariä, und 
ernannte zum erften Bifhof von K. den einfligen Mönch von St, Alexius zu 
Rom, ſpäter erſten Abt des Martinsberger Benedietiner-Erzſtiftes in Ungarn: 
Anaflafi ins oder Aftricus, der ihm bie HI. Krone vom Papft Sylvefter geholt hat, 
und bei dieſer Gelegenheit zu Nom zum Bifchof geweiht ward, Aftricus erlangte 
fpäter als Verwefer des Graner Erzbisthums den Titel eines Erzbiſchofs; kommt 
als folher auf dem Frankfurter Coneil „4007 vor; hat aber diefe Würde auf feine 
Nachfolger nicht vererbt. — Erft im J. 1135 if das Bisthum Kolocza (als e8 
mit der, nach Einigen vom hl. Stephan errichteten, und vom HI. Ladislaus zur 
erzbifchöflihen Würde erhobenen, nach Andern aber erft vom HI. Ladisfaus am 
Ausgang des eilften Jahrh. geftifteten, Bacfer Erzdibceſe canonifch vereinigt warb), 
zum Erzbisthum geworden, Bis 1135 zählte es 7 Bifchöfe, feither aber 64 Erz⸗ 
biſchöfe. Es erſtreckt ſich über den Bacſer, einen Theil des Peſther, und eine 
geringe Strecke des Cſongrader Comitates, hat 10 Real-, 8 Ehrencanonicate, 
8 Titular-Abteien, 10 Titular-Propfteien; in 3 Nrchidiaconaten (das Cathedral 
oder Eoloczaer, Bacfer und Theifer), 103 Pfarren, 246 Didcefanpriefter, 38 
Alumnen, 5 Ordenshäufer ; 355,474 Katholifen, 6626 Griechiſch-Unirte, 26 Ar— 








Kolocza 24 


menier, 131,591 Nit-Unirte, 51,922 Lutheraner, 35,601 Ealviner, 9675 Juden, 
zuſammen 590,915 Seelen Cim 3. 1847). — B. Suffragan-Bisthümer: 
a) Die Efanader Didcefe verdanft ihren Urfprung dem apoftoliihen König 
Stephan, der, nachdem er den übermüthigen Fürſten Achtum oder Ahton über- 
wunden hatte, deffen Nefivenzort Moroſſena (ſpäter Cenad, Cfanad) zum’ Bi- 
ſchofsſitze beſtimmte, und hierauf den hl. Gerardus, früher Abt zum HI. Georg 

in Benedig, dann Einfiedler zu Bakonybeel, berief, gegen das J. 1035. Die- 
‘fer erlangte in der Vatha'ſchen Chriftenverfolgung — durch die zum heibnifchen 
Aberglauben zurüdgefehrten Ungarn vom Blocksberge nächſt Ofen (Mons S. Ge- 
‚rardi) herabgeſtürzt — die Martyrerpalme. Die Didcefe umfaßt den Temejer, 
Torontaler, Kraffver, Arader, Cſanader, und einen kleinen Theil des Cſongrader 
Comitats, die illyriſch⸗, teutfch- und walachiſch-banater Grenz-Diftricte, zählt 6 
Real⸗, 6 Ehren-Canpnicate, 7 Titular-Abteien, 1 Real-, 2 Zitular- Propfteien; 
in 21 Dechanteien 182 Pfarren, 259 Didcefangeiftlihe, 54 Alumnen, in 11 Dr- 
denshäufern 120 Religiofen, 434,418 Ratholifen, 23,502 unirte, 976,852 nicht- 
unirte Griechen, 31,630 Lutheraner, 32,633 Calviner, 12,288 Juden, zufammen 
1,511,323 Seelen (im 3. 1846). — b) Das Groß-Wardeiner Bisthum 
Yateinifchen Nitus (Dioec. Magno-Varadinensis 1. r.) wurde nach der wahrſchein- 
liheren Annahme vom HI. Stephan geftiftet, der zu Byhor (Bihar), dem ehe- 
maligen Sige des Fürften Menumorouth, Arpad's Schwiegervaters, eine Kirche 
zu Ehren der feligften Jungfrau errichtet, und fie zur Cathedrale des neuen By— 
borer Bischofs beftimmt Haben foll; feinen jegigen Namen erhielt das Bisthum 
vom hl. König Ladislaus, der eine zweite Kirche der Mutter Gottes geweiht, 
diefe zur Eathedralfirche des hinfüro Wardeiner Bistums gemacht, und 24 Dom- 
berren mit einem Probften allda eingefegt haben foll. Nach Andern ift der HI. 
Ladislaus (1077— 1095) Stifter diefes Bisthums. Ueber den Namen und der 
Zahl der Bifchöfe vor Sirtus (um 1103) ſchwebt ein tiefes Dunkel. Das Bis— 
thum, in deffen Bereich die Comitate: Bihar, Bekes, Kraszna und Mittel-Szol- 
nof fallen, bat 16 Real-, 6 Ehren Canonicate, 1 Real-, 13 Titular- Abteien, 
3 Real-, 14 Zitular-Propfteien ; in den 4 Archidiaconaten (dem Cathedral, Be— 
keſer, Rrasznaer und Mittel-Szolnofer) 57 Pfarren, 4 Curat-Raplaneien, 110 
Dideefanpriefter, 59 Drdensgeiftlihe, 16 Didcefan-Alumnen, 66,730 Katholiken, 
119,238 unirte, 141,473 nichtunirte Griechen, 62,111 Lutheraner, 342,538 
Ealviner, 8011 Juden, zufammen 740,591 Seelen (im 5. 1842). — c. Auch 
die Dideefe Siebenbürgen Iateinifhen Ritus (Episcopatus Ultrasylvanus, Tran- 
sylvanus) verdanft ihre Entftehung dem Eifer des HI. Stephan. Nachdem er näm- 
lich den, dem heidnifchen Aberglauben hartnädig ergebenen Herzog von Sieben- 
bürgen, Gyula den Jüngern (ein Gefchwifterfind mit feiner Mutter) überwunden 
batte, beftrebte er fich, die Bewohner des Herzogthums dem hriftlihen Glauben 
zu gewinnen; um aber zugleich das weitere Gedeihen diefer neuen Gottespflan- 
zung zu fihern, gab er derfelben einen Bifchof, errichtete eine Cathedrale zu Alba 
Gyulae oder Alba Julia, wo Gyula feinen Sig hatte (fväter Alba Carolina, 
Earlsburg) und dotirte fie reichlich aus den Befigthümern des überwundenen 
Herzogs. Die Dideefe dehnte fih urfprünglich auf ganz Siebenbürgen aus, mit 
Ausnahme der zur Zeit der Gründung derſelben noch wüften, dann aber von den 
Szeflyern und Sachſen befegten Streden im füdöftlihen Theile des Landes, 
welde den walahifh-moldauifchen Bifchof von Milkovia, fpäterhin den Erzbifchof 
von Gran, als ihren Dberhirten verehrten, und erft im J. 1771 in dem Herman 
ſtädter und Kronftädter Decanate der Didcefe Siebenbürgen einverleibt wurden. 
Jetzt begreift das Bisthum ganz Siebenbürgen in fih, bis auf die Comitate 
Kraszna und Mittel-Szolnof, welche zur Großwardeiner Diöcefe gerechnet wer- 
den, Es zählt 10 Real⸗, 10 Ehren-Canonicate, 6 Titular-Abteien, 2 Titular- 
Propfteien, 15 Archidiaconate, 208 Pfarren, 244 Didcefanpriefter, 44 Alumnen, 

Kirgenleriton, 6. Bd. 16 


















2412 Kolocza. 


267 Ordensgeiſtliche und 221,986 katholiſche Seelen (im J. 1844), — d) Die 
Agramer Didcefe (D. Zagrabiensis) wurde vom h. Ladislaus in dem — durch ihn 
nah dem Tode des letzten Zweiges der Könige von Eroatien unterworfenen — 
Lande wahrſcheinlich im 3. 1092 errichtet. Ihr erfter Oberhirt hieß Dub, der 
gegenwärtige ift in der Neihe der A, Bifchöfe der 74, Das Cathedral-Capitel 
zu Agram befteht aus 28 Neal- und 6 Ehrencanonicaten, das Chaszmaer Colle- 
giat-Capitel aus 7 Neal- und 6 Chrendomherren. Es gibt in der Didcefe ein 


Privrat, 9 Abteien, 6 Propfteien, 15 Archidiaconate, 343 Pfarren, gegen 700 ° 


Weltpriefter, 143 Alumnen und in 18 Häufern 238 DOrdensgeiftlihe (im J. 
1845). Das Bisthum umfaßt den Varasder, Kreuger und den größeren Theil 
des Agramer Eomitats in Croatien, den Pofegaer und einen Theil des Verbezer 
Comitats in Slavonien; den zwifchen der Mur und der Drau gelegenen Strich 
des Kalader Comitats in Ungarn; dann aber die Bezirfedes erſten und zweiten 
Banal, des Kreuger, Gradiscaner, Sanct-Öeorger, und einen Theil des Sluiner 
Grenzregimentes, e) Das Bosnifhe over Diafovarer und Syrmier Bis— 
thum (Episcopatus Bosnensis seu Diacovariensis et Syrmiensis) errichtete im J. 1773 
Papft Elemens XIV. auf die Verwendung Maria Therefia’S aus den zwei Bis- 
- thümern Bosnien und Syrmien, 1) Die Didcefe Bosnien, deren Anfänge 
nach Einigen fogar in das fehste Jahrhundert Hinaufreichen follen, fah auf feinem 
Biſchofsſitze im zwölften Jahrh. Bifhöfe des griechifchen Ritus, deren einige, 
der Patarener-Secte angehörend, dem weiteren Umfichgreifen diefer Ketzerei Vor— 
ſchub Teifteten. Dieß veranlaßte den Papſt Innocenz IN. und feine Nachfolger 
Honprius IN. und Gregor IX., wie auch die Könige Ungarn’s, in deren Beſitz 
Bosnien in früheren Jahren gefommen war, durch die neue Begründung des 
bosnifhen Bisthums, und deffen Befegung mit rechtgläubigen Bifchöfen für die 
Ausrottung jener Keberer zu forgen. Sp fam, nachdem zu diefem Zwecke Erz- 
biſchof Ugrinus von Roloeza eifrig vorgearbeitet hatte, gegen das J. 1234 Joan⸗ 
nes Teutonicug, als der erfte der neuen Reihe Tateinifcher, katholiſcher Bifchöfe 
auf den bosniſchen Biſchofſtuhl. Seine Nachfolger hatten ihren Sit zu Serajevo 
"in Bosnien bis zur Mitte des 15ten Jahrh., wo fie vor den Türfen flüchtig, 
über die Save gingen, und in dem zur Fünffirchner Didcefe gehörigen Diafovar 
ſich niederlaffendn, ein kleines Gebiet zwifchen der Drau und Save zuerft mit 
Birarial-Gewalt, dann aber als eigentliche Bifchöfe verwalteten. — Die bos— 
nifchen Bifchöfe gehörten früher bald unter die Metropplitan-Gewalt der Erz- 
bifchöfe von Ragufa, bald jener zu Spalato, bis fie um den Anfang des 14tem 
Jahrh. der Koloezaer Kirchenprovinz zugetheilt wurden, — 2) Das Bisthum 
Syrmien verdankt feinen Urfprung dem Erzbifchof Ugrinus von Kolocza, der, 
um die von Bosnien herübergreifende Kegerei der Patarener um fo erfolgreicher 
zu befämpfen, von Gregor IX. die Errichtung eines neuen Bisthums (deſſen Sit 
zuerft in dem Klofter Euchet, oder Keu, oder Köw an der Donau, dann zu Mitro- 
wis (9) und Banmonoftra in Syrmien war) erlangte, gegen das J. 1230, Der 
Umfang deffelben , urfprünglich fehr gering, vergrößerte fich fpäterhin in dem 
Lande zwifchen der Drau, der Save und der Donau öſtlich von der Didcefe Dia- 
fovar, und dehnte ſich nach der Vertreibung der Türken mit dem angehenden 18ten 
Sahrh. auf ganz Bosnien aus. Der erfte befannte Bifchof Dliverius kommt 
gegen das J. 1247 vor, — Die jegige bosniſch-ſyrmiſche Didcefe erſtreckt ſich 
auf Syrmien, dann auf den Brooder und Peterwardeiner Grenz-Negimentsbe- 
zirk, und zum Theil auf das DVerdezer Comitat und den Gradisfaner Grenz- 
Negimentsdiftriet, Sie zählt 8 Neal-, 6 Ehren-Lanonicate, 7 Titular-Abteien, 
1 Real-, 3 Titular » Propfteien ; in 4 Archidiaconaten (das Cathedral, Brooder, 
Dber- und Unter-Syrmier) 82 Pfarren, 170 Didcefanpriefter, 21 Alumnen, 
7 Ordenshäufer, 161,002 Katholifen, 1138 unirte Griechen, 161,130 nicht» 
unirte, 4577 Rutheraner, 3930 Calviner, 590 Juden, zufammen 332,367 Seelen 


a” 








Koloffä — Königgrätz. 13 


£ # 

- (im J. 1849. —D) Die Zeng-Modrufer Diöcefe (D. Segniensis et Modru- 
 siensis seu Corbaviensis perpetuo per aequalitatem unitae) entftand im J. 1600 
aus dem @) Zenger Bisthum, deffen Uranfinge Manche in das fünfte Jahrh. 
zurückführen zu fönnen glauben, deffen nah Namen und Zeitalter befannter Bi- 
ſchof Miracus aber erft im J. 1150 vorfommt, und aus der 2) Modruſer 
Dideefe, welche im 3. 1185 in der durch Peter VII, Erzbifchof von Spalato, 
abgehaltenen Provincial- Synode geftiftet, ihren Bifhofsfig bis gegen 1460 zu 
Eorbavia, dann aber zu Modrus Hatte, und fhon lange vorher im 3. 1600 
- definitiv ausgefprochenen durch die Zenger Bifchöfe verwaltet wurde. Bis 1600 
verehrte Zeng in dem Erzbifchof von Spalato, von da an in dem Erzbifchof von 
Gran feinen Metropoliten, feit dem Ende des vorigen Jahrhunderts aber gehört 
e8 unter die Zurisdietion des Koloczaer Erzbifchofs. Es befigt 2 Cathedralcanitel, 
jenes zu Zeng mit 6 Real- und 6 Ehrendomherren, und das der Modrufer Kirche 
zu Novi, Buccari und Bribir mit 9 Neal-Canonicaten; ein Collegiat-Capitel zu 

Fiume mit 5 Domberren. Dann bat es 5 Titular-, 1 NReal-Abtei, in 4 Aridia- 
eonaten (das Zenger- Cathedral, Licca-Eorbaver, Modrufer-Cathedral und Buccarer) 
132 Pfarren, 4 Euratien, 261 Weltpriefter, 30 Alumnen, 68 Religiofen, 209,351 

Katholiken, 16 Griechifch - Ratholifen, 91,578 nichtunirte Griechen, 22 Luthera- 
ner, 44 Calviner und 138 Juden Cim J. 1847). — Die Diöcefe erſtreckt fih 

über das ungarifhe Küftenland, den Ottochaner, Dguliner, Liccaner und zum 

Theil den Sluiner Grenz-Regimentsbezirt, wie auch einen Theil des Agramer 

Eomitates in Eroatien. (S. Georg. Fejer, religionis et ecel. Christ. apud Hun- 

garos initia. — Dr. Lanyi’8, Ungarn’s Kirchengefhichte im Zeitalter des Haufes 

Deftreich ꝛc., ungarifch. — Georg.Pray, Specimen Hierarchiae Hung. Pars secunda. 

- Farlattilllyricum sacrum unddie bezüglichen Didcefan-Schematismen,) [Daynald.] 

Koloſſä, f. Coloſſä. 

Konarski, Adam, Biſchof von Poſen (1562—1574), wendete alle Sorg- 
falt darauf, der Jugend eine religiöfe Erziehung und Bildung zu verſchaffen, 
und da die Lubrauskiſche Schule damals wegen Mangels an fähigen und glau— 
benseifrigen Lehrern diefe Abfichten nicht erfüllte, fo befchloß er, zu diefem Be— 
hufe in Poſen ein Collegium der Fefuiten zu gründen, von deren ausgezeichneter 
Wirkfamfeit er fih bei einem Befuhe in Braunsberg, wo fie dur den be=. 
rühmten Cardinal und damaligen Bifhof von Ermeland Hofius (ſ. d. A.) 
zuerft in Polen eingeführt worden waren, überzeugt hatte. Diefe Gründung des 
Jeſuiten⸗Collegiums in Pofen erfolgte 1572, indem Bifhof Konarski zur 
Dotation deffelben vier zur bifchöflihen Tafel gehörige Dörfer überwies. Aber 
er war nicht nur ein eifriger Bifchof, fondern auch ein ausgezeichneter Diplomat, 
ALS nah dem Tode des Königs Sigismund Auguft, des letzten Jagellonen 
(l. d. 4), der franzöfifhe Prinz, Heinrih von Balvis, Herzog von 
Anton, zum Könige von Polen erwählt war und zwölf polniſche Magnaten 
zur Abholung deffelben nah Frankreich abgeordnet wurden, ftand Bifhof Ko— 
narsfi an der Spige diefer Gefandtfchaft und entledigte fih des ihm geworde— 
nen Auftrags mit dem höchſten Ruhme, 

Könige, Bücher der, f. Regum. 

Könige, Feit der beil. drei, f. Dreifönigsfeft. 

Königgräg (Bisthum in Böhmen). Die noch zu fhreibende Kirchengeſchichte 
diefer Didcefe ift eine der merfwürdigften des Kronlandes, deffen norböftliche 
- Grenze fie bildet. Die Kreisgebiete Gitfhin and Pardubiz umfaffend, zählt fie 
. 1,213,686 katholiſche Bewohner, mit 1031 Prieſtern. Sie hat eine meift flavifche 
BDevölferung und war zur Zeit des Huſſenthums der Schauplag fürdterlicher 
Berheerungen (f. Hufitenfriege), gleihwie fpäter der Sig der fog. böhmifchen 
oder mährifchen Brüder (f. d. A.), welcher Name in neuefter Zeit durch den 
Tanatifchen Prager Paftor Koffuth wieder neu aufzuleben drohte. Kaifer Carl IV. 

Be - 16 


244 Königlihes Amt Chriſti — Königthum. 


erhob den Stuhl feiner geliebten Hauptftabt Prag zu einer Metropole und wünfchte 
derfelben zu ihrem höhern Glanze auch Suffragane ee 
dem alten von Olmüz, 1334 noch ein neues in Leitomiſchel fliftete, indem er 
den dortigen Prämonftratenfer Abt zum Bifhof und die Canonifer des Gtiftes 
zu Domberren ernannte. In den Huffitenflürmen verfiel 1425 auch diefe fromme 
Stiftung den wüthenden Taboriten, nachdem der Bifchof mit der Stadt lange 
getreuen Widerftand geleiftet, und die Befisungen famen in die Hände welt- 
licher Herren. Schon der Katfer Ferdinand III., der 1655 das Leitmerizer Big- 
thum errichtet, unternahm es, die ehemalige Didcefe Leitomifehel wieder herzu- 
fielen, was aber erſt feinem Nachfolger Kaifer Leopold I. 1664 unter Papft 
Alexander VII. auszuführen vorbehalten war, Diefer ernannte 1660 den Prager 
Benedictiner-Abt Matth. Ferd. Saubek von Bilenberg zum erſten Bifchof, der 
jedoch erſt 1664 präconifirt wurde, Seit 1832 ift Carl Hanl der 17, Bifchof 
diefer Didcefe, welche früher aus den Königgräßer und Bidſchover Kreifen be— 
ftehend, unter dem Bifhof Joh, Leop, von Hay C+ 1794) gemäß Anordnung 
Kaiſer Joſeph II. durch Ausfheidung von der Erzdiöcefe mit den Chrudimer und 
Gzaflauer Kreifen vergrößert wurde, In 31 Eonfiftorialbezirfe (Vicariate) zer- 
fallend, hat fie 1 Archidiacon (zu Kuttenberg), 247 Pfarren, 30 Ehrendechante, 
in allem 908 Welt-, 114 Drdensgeiftliche, In der 1803 errichteten Priefterfchule 
(Alumnat) befinden fih 107 Seminariften in 4 Fahrgängen der Theologie, Das 
Gymnafium zu Leitomifchel, aus 8 Claſſen beftehend, wo früher ſchon eine philo- 
ſophiſche Lehranftalt fich befand, und das zu Reichenau mit 6 Claſſen verfehen 
die Piariften, Der Proteftanten gibt es dafelbft 44,391, der Juden 14,500. 





Sn neuefter Zeit verfuchte auch die hufitifche Secte der Adamiten (ſ. d, A.) wieder 


aufzuleben. [8.] 

Königliches Amt Chriſti, f. Amt und Chriftus, 

Königtbum, König bei den Hebräern. Die Negierungsform bes 
Bolfes Iſrael, wie fie dur) das Geſetz beftimmt wurde, war Theveratie (Heo— 
»oarie, diefe Bezeichnung findet ſich zuerft bei Joſephus, c. Apion I. 16), Je- 
hova felbft ift König ünd Herrſcher (vgl. Deuter, 33, 5. Exod. 19, 5. ff.), ver⸗ 
einigt in fich alle Machtfülle des Staates, die regierende, gefeßgebende und rich- 
terlihe Gewalt; f. die Art, Mofaifches Geſetz, Theveratie, Diefe Grundbeftim- 
mung fohließt aber nicht aus, daß auch ein fihtbares, das unfihtbare repräfen- 
tirende Königthum beftehe und das Gefeg hat nicht unterlaffen, darüber dag 
Nothwendige feftzufegen (Deuter. 17, 14— 20); nur follte diefe Beftimmung nicht 
fofort zum Vollzug gebracht werden, damit durch die Vorftellung von einem end⸗ 
lichen und menfchlihen Königthum die lebendige Idee des unfichtbaren nicht ge- 
rübt oder gar verdrängt würde; um dieſe Fünftighin bei der wirklichen Confti- 
tuirung des irdifchen Königthums zu wahren, beftimmt das Gefeg: zum König 


des Bolfes darf nur der gefegt werden, den Jehova wählen wird; er muß 


aus der Mitte der Brüder und kann fein Ausländer fein, weil ein folder Fein 
Bewußtfein von feiner Stellung im Volke Gottes und zwar weder zu Gott noch 
zu dem Volke Haben konnte. Daß er aber mit dieſem Bewußtfein erfüllt fein 
müffe, ift fhon an fich Har und wird durch eine weitere Beſtimmung ausdrücklich 
verlangt: „Und wenn er figet auf dem Throne feines Königreiches, fo made er 
fih eine Abfchrift diefes Gefeges von dem Buche, das bei den Prieftern, den 
Leviten if, Under habe es bei fich und leſe darin all fein Leben lang, auf daß 
er lerne, Jehova feinen Gott fürchten, und alle Worte diefes Gefeges und dieſe 
Satungen beobachte und thue; daß fein Herz ſich nicht erhebe über feinen Bruder 
und daß er nicht abweiche vom Gebote weder zur Rechten noch zur Linken,“ 
Durch diefe Stelle ift zugleich das Verhältnif genau beſtimmt, das der irdiſche 
König gegen das Gefeg und Jehova einzunehmen hat, er darf fein neues Gefeg 
geben, das von Johova gegebene hat ewige Öeltung, er ift nur Bafall Jehovas; 


x 





Königthum. 245 


ne: er * (vreng&rng vis cutoũ Bavıkelas, Weish. 6, A). 
Rör iſt ſonach durd das Gefeg nicht bloß möglich gemacht, 

adern eventue! —— * und normirt; näher betrachtet hat es eine Inſti⸗ 

ion, deren Ausgeftältung mit in der Beflimmung des Bolfes lag, welche dem 

‚el innig verflochten war, dem feine Entwicklung entgegen zu gehen hatte, nur 
geregelt; dad Königthum Sildete ja einen Gegenftand der Verheißung an die Pa- 
triarchen Cögl. Gen, 17, 6. 16. 35, 11), in dem Baticinium Jacobs (Gen. 49, 
10) ift die Spige aller Segnungen in ein glanzvolles, ewiges Königthum Juda' 8 
gelegt ‚die Inſtitution erfcheint ſchon hier wie vielfach bei den fpätern Prophetien 
als Zypus des meffianifhen Reiches, Es iſt darum ganz irrig, ber Idee des Kö— 
nigthums und feiner Stellung in der altteftamentlihen Deconomie wie dem Geift 
der mofaifchen Conſtitution gleich ſehr entgegen, wenn behauptet wird, Moſes habe 
in dem Koͤnigthum nur ein nothwendiges Uebel erkannt, durch deffen Anordnung 
er den gänzlichen Abfall von Jehova hindern wollte, fein Wunſch fei aber ſicher⸗ 








lich die beftändige Erhaltung der Republif gewefen Cogl. Michaelis, moſaiſches 





Recht, L Th. $ 54); oder das Konigsgeſetz fei geradezu unverträglid mit den 
übrigen ſtaatsrechtlichen Beſtimmungen Moſis (ſelbſt noch Kalthoff findet das Kö— 
nigthum im Ganzen gegen den Geiſt der moſaiſchen Conſtitution, Hebr. Alter- 
thümer ©. 296). Diefe Anficht mußte die rationaliftifhe Kritik betätigen, die 
Stelle Deuter. 17, 14—20 wurde dem Mofe abgefprochen, das darin enthal- 
tene KRönigsgefeg Fönne erft nach Salomo entflanden fein, es fei der von Samuel 
entworfenen Eonftitution und fpätern Ereigniffen (wie 1 Kön. 11,1. ff. u. and.) 
nachgebildet. Vgl. Vater, Commentar zum Pent, II. S. 257. Hartmann, hiſt. 
frit, Forfh. S. 714. Bohlen, Comm, zur Gen, Einl, S. 69. Winer, bibl. 
R. Wes. v. u. A. Neben der vorgeblichen Unverträglichfeit des Inhaltes wird 
als Hauptgrund der Unächtheit angegeben das Betragen Samuels und des Bolfes 
bei der erſten Königswahl (1 Sam. 3). Samuel hätte dur das Verlangen der 
Aelteften nicht fo in Unwillen geraten fönnen, "wären fie durch eine fchon von 
Mofes gegebene Beftimmung dazu berechtigt gewefen, Das Wahre hingegen ift 
längſt (3. B. von Ealmet zu Deut. 17, 14) bemerft worden: Samuel war nicht 
gegen das Königthum an fih, fondern gegen die Gefinnung, mit welcher daffelbe 
vom Bolfe verlangt wurde; diefes wollte einen König ſtatt des von Gott beftellten 
Richters, darin Tag ein Unrecht gegen Samuel, fowie eine Sünde gegen Jehova, 
der ihn gefandt ; das Begehren entiprang weiter dem fündigen Wahne, Gott fei 
ohnmächtig ihnen zu helfen, ihr Unterliegen fei nicht Folge des Abfalles von dem 
unfihtbaren König, fondern der mangelhaften Berfaffung, das Königthum eine 
Hilfe neben Gott (vgl. 1 Sam, 8, 5.7.8). Die ausführliche Vertheidigung 
der Aechtheit des Königsgefeges f. m. bei Welte, Nahmofaifhes, ©. 208 ff. 
Hengftenberg, Beiträge ze. III. 246. ff. Die wiederholt gemadte wörtlide 
Rückbe ziehung auf das pentateuhifhe Königsgefe Cibid. 10, 24 u. 25), die ein- 
dringliche Hinweifung, daß Jehova es ift, der ihnen den Königgegeben, daß nur dann, 
wenn fie und der über fie herrfchende König in treuem Gehorfam gegen Jehova ver- 
harren, fich feiner Hilfe erfreuen werden (1 Sam. 12,13—15), zeigt deutlich, wie 
Samuel fein Verfahren in ebereinfiimmung mit dem Gefege wußte, fowohl wenn er 
das fündlich motivirte Verlangen mißbilligte, ald wenn er das Berlangte gleichwohl 
bewilligte, — Die zwei erften Könige, Saul und David, wurden durch göttliche 
Wahl zu ihrer Würde berufen (1 Sam. 9, 10, 16. 1 Ehron. 11), dem Stamme 
Davids wurde die Herrfchaft für alle Zeit zugefihert (2 Sam, 7, 12—16); bei 
mehreren Söhnen ernannte der König felbft noch feinen Nachfolger (1 Kön. 1; 
17 f.2 Ehron, 11, 22), gewöhnlih war dieß aber der Erfigeborne (2 Chron. 
21, 3). Auch im Reiche Sfrael, wo der erfte König durch einen Propheten ge= 
wählt wurde (1 Kön. 11, 31. ff.), erfcheint die erbliche Ihronfolge (2 Kön. 3, 1). 
Diefe Ordnung wurde freifich ‚ befonders in den Zeiten des ſtaatlichen Verfalls, 


216 Königthum. 


mannigfach geftört von Innen und von Außen (2 Kön. 21, 24. 28, 30. 34, 24, 
17, u. a.). Wie die Priefter wurde auch der König bei der Tpronbefteigung 
feierlich geſalbt, theils vom bisherigen Herrfcher, theils von den Aelteften, theils 
von dem Hohenpriefter im Tempel (1 Sam, 10, 1. 16, 13. 2 Sam. 5, 13, 
1 Kön. 1, 39. 2 Kön. 11, 12)5 die Salbung war ein Symbol, daß er Reprä- 
fentant Iehova s ſei, er Heißt daher der Gefalbte, der Geſalbte Zehobas, mn), 
ma min (1 Sam. 24, 7, 11,2 Sam. 1, 14.16. Pſ. 2, 2, Klagl. 4, 20. u. a); 


diefe Ceremonie fand nicht bloß bei den „nicht ereeptiongfreien Thronfolgern“ 
Statt (Winer), fondern war wegen ihrer fombolifchen Bedeutfamfeit ficherlich 
eine allgemeine, wenn fie gleich nur bei einigen (Saul, David, Salomo, Joas, 
-Soahas und im Reiche Iſrael von Jehu) ausdrücklich erwähnt tmird, Bei der Sal- 
bung wurde ohne Zweilfel das Diadem, 7: (2 Sam, 1, 10. 2 Kön, 11, 12) 
am das Haupt gebunden, die Krone, — (2 Sam, 12, 30. Hohesl. 3, 11. 
Ezech. 21, 26, u. a.) aufgefegt, und das Scepter, bau J— Die — 
Inſignien der königlichen Würde waren: der Thron, no2 (Spr. 16, 12, Der 
Salomonifche ift befchrieben 1 Kön. 10, 18 ff. 2 Chron. 9, 17) 5 das prachtvolle 
Eoftüm mit reihem Schmuck (Armbänder 2 Sam, 1, 10, in fpäterer Zeit der 
Purpurmantel, 1 Macc. 10, 22. 62. 14, 43). Bon andern bei der Königs- 
weihe üblichen Seierkiipteiten werden erwähnt: das freudige Nufen des Volkes 
„88 lebe der König“ (Haar m 1 Sam, 10, 24, 1 Kön. 1, 25. 34. 39. u. a.); 


Freudenmufif (1 Kön. 1, 40); Danfopfer (1 Sam, 11, 15. 1 Kön. 1, 25); 
Darbringung von Gefdjenfen (1 Sam. 10, 27); das Seßen auf das Srachtpferb 
(1 Kon, 1, 38. 44)5 der Huldigungsfuß A Sam, 10, 1. vgl. Pf. 2, 12). Nah 
einer durch Michaelis (moſ. Recht) aufgeftellten und feitdem ziemlich allgemein 
gewordenen Anfiht hätte der König bei der Befteigung des Thrones eine Wahl- 
capitulation beſchwören müffen, wodurd ihm von Seite des Volkes eine Befhrän- 
fung feiner föniglichen Macht auferlegt worden fei, Diefe, modernen Staatsver- 
hältniffen entnommene Theorie, wenn fie fich auch recht gut hört, Fennt die Bibel 
nicht, die dafür alfegirten Steffen find nicht beweifend ; der Bund, den David 
(2 Sam. 5, 3) mit den Stämmen bei ihrer Huldigung vor Jehona ſchließt, ift 
ebenfowenig eine die Föniglihe Macht befchränfende Wahlcapitulation, als der 
Bund, den der Hohepriefter Jojada (2 Kön, 11, 17) bei der Salbung des Kb— 
nigs Joas zwiichen Jehova, dem Könige und dem Volke ſchloß; vgl, Keil, Com- 
mentar zu den BB. der Kön. ©, 188. Die nöthige Befchränfung der Gewalt 
des theveratifchen Königthums war dur die Natur der Sache ſelbſt gegeben, 
der König war ja nur Stellvertreter, Bafall Jehova's; nicht minder hatte das 
Königsgefeß (Deut. 17, 16, ff.) auf pofitive Weife die Serefhergemwalt geregelt, 
beſonders nach jenen Seiten bin, wo Willfür in Anwendung derfelben im theo— 
eratifchen Staate am wenigften ftatthaben durfte; dem Königthum ftellte fich gleich 
im Beginn das Prophetenthbum als die höhere Controle zur Seite, Saul war ab- 
bängig von Samuel, er machte fih unabhangig und wurde verworfen, mit dem— 
felben Nachdruck verwalteten die fpätern Propheten (3. B. Nathan, Yefaias) ihr 
Mittleramt zwifchen Jehova und König und Volk; fo lange daher und foweit 
der theveratifhe Herrfher ein Iebendiges Bewußtfein feiner Würde und feiner 
Stellung hatte, war Despotismus nicht möglih; in der Wirklichfeit verlor fich 
allerdings biefeg Bewußtſein häufig, wie die Geſchichte der Könige in beiden Rei— 
chen zur Genüge zeigt. — Die Koͤnige, als Träger der höchſten Gewalt, übten 
die Richterwürde in letzter Inſtanz (2 Sam, 15, 2. 1 Kön. 3, 16, ff.), dag Be- 
gnadigungsrecht (2 Sam, 14), das Net, atieg und Frieden zu befchließen 
(1 Sam, 11, 5. ff.), waren gewöhnlich) Anführer im Kriege (1 Sam, 8, 20). 

Als Statthalter Jehovas betrachteten fie fih auch als Schugherren und Förderer 


Königthum. 247 


der Religion und des Cultus, fo befonders David (2 Sam. 6., 1 f. 7,1. fi) 
und Salomo (1 Kön. 5,1. ff. 8, 1. ff); unter den fpätern Joas (2 Kön. 12, A,ff, Ir 
Hiskias (2 Kön, 18, 4. F. >; Hof as (2 Rön.23, 1. ff.), nie aber war in der. voreri= 
liſchen Zeit die priefterliche mit der föniglihen Würde in Einer Perfon vereinigt 
(wie 3. B. Juſtin, 36. 3. behauptet: mos apud Judaeos fuit, ut eosdem reges et 
sacerdotes kaberent, quorum justitia religione permixta incredibile quanlum coa- 
luere, auch de Wette, Archäol. $ 146), in Folge außerordentliher Berhältniffe 
geſchah dieß in den Zeiten der Maccabäer. — Der hohen Würde entfprechend war die 
Achtung, welde den Königen gezolft wurde: Fürchte Jehova und den König (Spr. 
24, 21); man näherte fich ihnen unter tiefer bis zur Erde gehender Verbeugung 
(Fer oft mit dem Zuſatze TrIn Dias mit bem Angefiht zur Erde, zrgoozuveir, 
1 Sam, 24,9, 25,:23..2 Sam, 9, 6. 19, 18, 1 Kön. 1, 16), flieg denfelben 
begegnend som Reitthiere (1 Sam, 25, 23) ‚, begrüßte fie mit Segenswünfchen 
(Dan, 2, 4, 3, 9. 308, b. j. 2, 1. 1); den Königen wurde vollfommene Kennt- 
niß aller nur möglichen Dinge beigelegt, ihre Ausfprücde als gerecht geachtet: 
wie ein Engel Gottes ift der König, daß er Höret das Gute und das Böſe 
(2 Sam. 14, 17), fo weife, daß er Alles weiß, was im Lande gefgieht (ib. v.20); 
die Läfterung des Königs gilt als Oottesläfterung und wird wie diefe mit dem 
Tode beftraft (1 Kön. 21, 10); das Gedächtniß der guten Negenten bleibt in 
Ehren, fie wurden in Gerufalem in den „Gräbern der Könige von Iſrael“ bei- 
geſetzt Kön.2, 10. 11, 43. 14, 31), andern widerfuhr dieſe Ehre nicht (2 Chron, 
28, 27. 26. 31); man beging ihren Todestag dur Klaggefänge (vgl. 2 Chron. 
35, 25). Die hebräifchen Könige waren aber aud) ihrerfeits nicht durch fo fchroffe 
Schramen vom Volke geſchieden, wie dieß ſonſt im Alterthum der Fall war, ſie 
zeigten ſich oft unter dem Volke (2 Sam, 18, 4. 19, 8), waren für Jedermann 
leicht zugänglich (1 Kön, 3, 16. 20, 39, Jerem. 38, 8. ff.). — Bon den Per- 
fonen des Föniglihen Hofflantes und der Beamtung find als die bedeutendſten 
folgende zu nennen: 1) Der Reichsverweſer oder Stellvertreter des Königs bei 
dem Volke (77=7, welches Wort in der Beamtenlifte Salomo’s, 1 Kön. 4, 2, 
ebenfowenig die Bedeutung „Hoherpriefter, Priefter” hat, wie die D7> 2 Sam. 
8, 18 nicht „Haus- vder Palafipriefter, Hoffapläne oder geiftliche Räthe” find, 
fondern, wie die Chronif [1 Chron. 18, 17] paraphrafirt: die Erften zur Hand des 
Königs, vgl. Movers, krit. Unterfuhungen über die bibl, Chronif, S. 301. ff.); 
der Kohen iſt als exfier Beamter der Nächfte des Königs (72a >71 Rön. 4,5), 
weil er ihm (nach orientalifcher Sitte) wegen feiner Würde zunächſt figt, vgl. 
Eſth. 1,14. 8, 14. u. a. 2) Der Haushofmeifter oder re des föniglichen 
Hauſes (man en TER ober mar >> 72 1 Kön. 4, 6,16, 9.2 Rön, 18, 18. 
ef. 22, 15.). 3) Der Feldherr (sr by Sun, nar7 90,2 Sam. 8, 16. 
20, 23. 1 Kön. 4, 4. 1 Chron. 27, 355 welcher ——— zugleich der Oberſte 
der Leibwache war (vgl. 2 Sam, 8, 18. mit 1 Kön. 4, 4). 4) Der Neidhs- 
annalift, Kanzler ("232 2 Sam. 8, 16. 20, 24.1 Kon. 4, 3. 2 Kön. 18, 18. 
Jeſ. 36, 3). 5) Die Foniglichen Seeretäre (2723, Schreiber, 2 Sam. 8, 17. 
20, 25. 1 806.4, 3.2 Ron, 12, 11. 19, 2. 22, g, ff.), der Sopher erfcheint 
in der Zeit Davids und Salomos nirgends als Mititärbeamter (wie Michaelis, 
mof. Recht I. $ 176 und Studer 3. Buch der Richter 5, 14 annehmen), als 
folder (8227 A) wird er erſt unter Zedekias aufgeführt Cogl. Keil, BB, der 
Kön. ©. 43, Note). 6) Der Frohnmeifter (0a7 >> nun 2 — 20, 24. 
1 Kon. 4, 6. 12, 18). ) Die Verwalter der föniglichen Domänen, welche die 
verföiebenen Borräthe, die Heerden u. f. w. unter Aufficht hatten (1 "Chron. 2a, 

25— 31). 8) Die zwölf über ganz Iſrael gejegteu Präfecten (orax:), welde 
die Fönigliche Hofhaltung mit Lebensmitteln verforgten Cogl, 1 Kön. A, 7—19). 





218 Konon — Kopten, TR 


9) der Kleidermeiſter anna 59 Dun 2 Ron, 10,22). 10) Die königl. Leib- 
wache, die Crethi und Plethi (owurropviexeg. Jos. antt. 7, 5.4), welche die 
Palaftwache zu verfehen hatten, aber zugleich die Erecution der Todesurtheile und 
die Verbreitung der Fönigl. Befehle in den Provinzen beforgten, (vgl. 2 Sam.8, 18, 
15, 18. 20,7. 23. 1Rön. 1, 38,44, 1 Chron. 18, 17. und den Artikel: Cerethi 
und Phelethi). Die Einkünfte der hebräifchen Könige waren: die Erträgniffe 
der Domänen, beftehend in Aderland, Weinbergen, Delgärten, Weidetriften u, a, 
(1 Sam, 8, 14. 1 Ehron, 27, 25—31. 2 Chron, 26, 10. Ezech. 45, 7); Nega- 
lien (nach Amos 7, 1. gehörte dem Könige die erfte Schaffhur) ; Die ordentlichen 
Abgaben, vorzüglich die Zehnten (1 Sam, 8, 15. 17, 25. ſ. d. A. Abgaben bei 
den Hebr.); Gefchenfe der Unterthanen, die im Drient häufig und reichlich gege- 
ben wurden (1 Sam, 10, 27, 16, 20. 1 Kön. 10, 25. vgl. Herod. 3, 89); es 
mußten ihnen Frohndienfte geleiftet werden (1 Sam. 8,12. 1 Kon. 5, 13); 
unter Umftänden wurden außerordentliche Steuern erhoben (2 Kon. 23, 35. Kopf- 
fleuer, 2 Kön. 12, A); von der im Kriege gemachten Beute blieb dem Könige 
ein großer Theil (2 Sam. 8,2 ff.), ebenfp die eonfiseirten Güter (2 Sam, 16, 4, 
1 Kön, 21, 16). [Rönig.] 

Konon, f. Conon. 

Konrad, f. Conrad. 

Konvertit, ſ. Eonvertit. 

Kuppe, Johann Benjamin, geboren zu Danzig am 19, Auguft 1750, 
batte zum Vater einen Tuchbereiter, Nachdem er das Gymnaſium feiner Vater- 
ftadt befucht hatte, fiudirte er feit 1769 zu Leipzig und feit 1773 zu Göttingen. 
Hier ward er Nepetent an der thenlogifchen Facultät, 1774 erhielt er die Profeffur 
der griechifchen Sprache am neuerrichteten Gymnaſium zu Mietau, 1775 ward er or⸗ 


dentlicher Profeffor der Theologie zu Göttingen, 1777 auch erfter Univerfitätsprediger 


und Director des Predigerfeminars, 1784 Doctor der Theologie und General- 
fuperintendent, Obereonfiftorialrath und Dberpfarrer zu Gotha, 1788 Confiftorial- 
rath und Hofprediger zu Hannover, Er flarb am 12, Februar 1791. Mehreres 
über fein Wirfen- enthalten die Annalen der Braunſchweig-Lünneburgiſchen Chur- 
Yande, VI. Jahrg., Bayer’s Magazin für Prediger, Schlichtegroll Nekrolog. 
Seine Schriften flehen in Meuſel's Lerif, VI. ©.270 ff. ©. 9. W. Noter- 
mund's Gelehrtenlerifon, II. Bd. 

Kopten, im Drient, Jacobiten (ſ. d. A.) genannt, heißen die monophy- 
fitifchen Ehriften in Aegypten. Sie haben, wie die übrigen Monpphifiten des 
Drients, Eutyches zu ihrem Stammvater, Der Patriarch Dioscurus von Aleran- 
drien (ſ. 9.9.) war ein eifriger Verfechter des Eutychianismus, und wußte durch feinen 
großen Einfluß faft ganz Aegypten für diefe Irrlehre, und gegen die Feinde des 
Eutyches, die jegt kurzweg Neftorianer fein mußten, einzunehmen, Als das Eon- 
eilium von Chalcedon (ſ. d. A) Dioscurus feines Stuhls entfette, fo entfland darob 
im ganzen Lande Unruhe und Gährung. Die firengen Geſetze der Kaiſer gegen bie 
Feinde des Concils von Chalcedon entflammten noch mehr den Haß der Anhänger 
Dioscurs gegen die Verfechter des Concils. Die erftern erlagen zwar dem ener- 
gifchen Einfchreiten der Faiferlihen Macht, indem man von Conftantinopel aus 
Patriarchen, Bifchöfe, Statthalter und Beamten nach Aegypten fandte, und bie 
Landeseingebornen von allen bürgerlichen, militärifchen und Firhlichen Stellen aus— 
ſchloß. Allein die Schwärmerei der Feinde des Conecils ward dadurch fo wenig 
gedämpft, daß ein Theil derfelben fich nach Oberägypten zurücdzog, ein anderer 
aber der freien Neligionsübung wegen nach Africa zu den Arabern fih begab, 
Die oft graufam verfolgten und hart gedemüthigten Kopten nährten nun in ihren 
Herzen einen brennenden Nachedurft gegen ihre Dränger, die Griechen oder Nöner, 
welche alle Stellen und Würden des Staates inne hatten; riefen endlich bei guter 














Kopten. 249 


Gelegenheit die Saracenen in’s Land, und fpielten ihnen baffelbe in die Hände, 
Griechen und Römer mußten das Land räumen, und unter faracenifhem Schuge 

ward den Konten der Patriarchenftuhl zu Aerandrien zurücdgegeben, Diefe feier- 
ten in kurzer Zeit, nachdem die griehifhe Sprache außer Gebraud gekommen, 
ihren Gottesdienft in der Landesfprache, die noch heutzutage üblich ift. Die Kopten 
erfreuten fich anfänglich aller von Omars Feldherrn, dem fie fih ergeben hatten, 
zugeftandenen Borrechte; allein nur zu bald mußten fie es empfinden, daß das 
Gefchenf der Saracenen nicht der Ausflug von Duldfamfeit, fondern vielmehr von 
politifher Berechnung war; denn bald wurden die Saracenen die Tyrannen diefer 
Chriſten, welche für die Duldung ihrer Neligionsübung fih die ſchwerſten und 
willfürlichften Erpreffungen mußten gefallen laſſen. Sie harrten deffenungeadtet, 
fih ihrer Martyrer rübmend, ftandhaft bis zum heutigen Tage in ihrem Befennt- 
niffe aus, und beftehen, obgleich die mit der Herrfchaft der Kaliphen und fonft 
feitvem vorgegangenen Veränderungen ihr Loos nicht wefentlich erleichtert haben, 
noch heute in Aegypten, wo fie, ungefähr ein Zehntel der Bevölferung ausmachend, 
den Stamm der alten Ureinwohner Aegyptens repräfentiren, und trog ihrer Ver— 
miſchung mit andern Völfern, z. B. mit Griechen, Römern, Perfern — in ihrem 
Aeufern einen eigenthümlihen Typus durch ihre braune Farbe, dies Geficht, 
aufgeworfene Lippen, platte Stirn u. dgl. m. bewahrt haben. — Ihre Lehre betref- 
fend, fo befchränft fich ihre Abweichung von der Fatholifhen Lehre auf den mono- 
phyfitiſchen Irrthum, Fraft deffen fie die zwei Naturen in Chriſto läugnen, obgleich 
fie anerkennen, daß die Gottheit und die Menfchheit in feiner Perfon nicht ver- 
mifcht find. In den übrigen wefentlihen Glaubensleßren ſtimmen fie mit den 
Katholiken, mit den orthodoren und fchismatifchen Griechen überein; insbefondere 
nehmen die Kopten, wie aus ihren Bekenntnißſchriften und Ritualien hervorgeht, 
die perfönliche Gegenwart Chriſti in der Euchariſtie an, deßgleichen die Verehrung 
der Heiligen und der Bilder, das Gebet für die Verftorbenen u. f. f. Bezüglich 
des Kirchenregiments haben die Foptifchen Chriften ihre anfängliche Einrichtung 
beibehalten. Das Kirchenoberhaupt ift der Patriarch von Alerandrien, Nachfolger 
des hl. Marcus; dann folgen die Bifhöfe, welche in der größten Abhängigkeit 
vom Patriarchen fiehen, da diefer diefelben abfegen und aus der Kirche ſtoßen 
kann; hierauf kommen die Priefter, Diaconen, niedere Geiftlichfeit, Mönche; end- 
lich die Laien, Zur Wahl des Patriarchen verfammeln ſich die Biſchöfe, Priefter 
und die Hervorragenden aus dem Volke zu Cairns. Der Patriarch wird, da er 
fein ganzes Leben in der Enthaltfamfeit zugebracht haben muß, jederzeit aus den 
Mönchen gewählt, Den Prieftern ift der ehelofe Stand nicht zur Pflicht gemacht, 
wird aber dennoch von vielen gewählt. Der Priefterfiand erhält feinen Nachwuchs 
meiftens aus dem gemeinen, von der Hände Arbeit lebenden Stande, Da der 
Priefter für feinen und feiner Familie Unterhalt von der Kirche faft gar nichts 
bezieht, fo ift die Bewerbung um den Priefterfland, der von der Handarbeit 
abzieht, Feinesweg häufig. Manche Arbeiter, als: Leinenweber, Kleidermacher, 
Kupferſtecher, Goldarbeiter ꝛc. begeben fich oft erft in einem Alter von dreißig 
Jahren in den Priefterftand, und werden, wenn fie das Koptiſche — die Sprade 
für die Meffe und Tageszeiten — verflehen, gerne aufgenommen. — Als ein 
hochverdienſtliches Werf gilt bei den Kopten das Faften; fie haben vier große 
Saftenzeiten, Die vor Oſtern fallende Faften nimmt neun Tage vor jener der 
Lateiner ihren Anfang; bei diefer enthalten fie fih alles Eſſens, Trinfens und 
Tabakrauchens bis nah dem Gottesdienfte, d. h. bis gegen 1 Uhr, Eigenthümlich 
ift den Kopten noch die Art der Spendung des Bußfacraments: mit diefem erthei= 
Ien fie nämlich zugleich die Hl. Delung. Da fie aufer den Leibesfranfheiten 
auch die Seelenkrankheiten, die Sünden, und die Gemüthsfranfgeiten, von dem 
Trübfalen herrührend, unterfcheiden, fo halten fie die Delung gegen alle drei 
Öattungen von Krankheiten für heilfam, Ferner ift ihnen eigenthümlich der Ge— 





250 Koptifhe Bibelüberfegung — Koran. 


brauch der Weihe des Waffers am Fefte der Erfeheinung des Herrn. Die Segnung 
gefchieht über große Becken Waffers in den Kirchen, oder auf dem Lande über 
den Nil, worauf das Volk fi badet. Die Ceremonie der Beſchneidung fcheinen 
die Kopten den Mohammedanern zu Gefallen angenommen zu haben, Die Löfung 
der Ehe halten fie nicht bloß im Falle des Ehebruchs für erlaubt, fondern auch wegen 
langwieriger Krankheiten, wegen Widerwillen ıc. (S. Fritz, Keßerlexif.) Zur Zeit 
des Conciliums zu Florenz zeigte fich auch bei den Kopten der löbliche Vorſatz, ihr 
Schisma aufzugeben, und mit der Iateinifchen in Einigung zu treten, Zu diefem 
Behufe fam Andreas, Abt des Klofters St. Anton in Negypten, und Legat des Patriar- 
hen der orientaliſchen Jacobiten, 1441 nach Florenz zu Engen, um in feinem und 
aller Jacobiten Namen die Einigung mit der römischen Kirche nachzufuchen, Da die 
Union mit den Griechen und Armeniern bereits vollzogen war, fo legte ihnen Eugen 
in feinem Decvete Cantate Domino in Kürze diefelben Glaubenspuncte vor, welche 
in feinem Deerete für die Armenier enthalten waren (f. Ferrara-Florenz). — 
Die Kirchenſprache, das Koptiſche, iſt im Wefentlichen die altägyptifche, 
mit mehreren Dialecten, fehr biegfam, zu allen Arten von Zufammenfegungen 
‚geeignet. Die noch vorhandenen Foptifchen Bücher find Ueberſetzungen der bibli- 
{hen Schriften, Homilien, Synodalbefhlüffe, Leben der Heiligen und Werfe der 
Gnoftifer, Ihre Abfaffung fällt nach der Periode der Befehrung der Kopten zum 
Chriftenthum, welche ım 3. u, Aten Jahrh. n, Chrifto erfolgte, Das Verzeichniß 
diefer Schriften gibt Zvega’$ „Catalogus codicum Borgianorum* (Rom 1810). 
Die Palmen erfchienen im Drud zu Rom 1744. Der Franzofe Dujardin hat 
in neuerer Zeit (1838) aus Auftrag der franzöſ. Regierung viele foptifche Manu— 
feripte erworben; eben fo der franzöf, Gelehrte Dulaurier, — Literatur: Makrizii 
historia Goptorum Christianorum in Aegypto, arab, et in linguam lat. translata ab 
H. J. Wetzer. Solisbaci 1828. [(Dür.] 
Koptifche Bibelüberfegung, ſ. Bibelüberfegungen, B. 1. ©, 942. 
Korach, ſ. Core, 


5702 
Koran, genauer: Kor—an* (ol) ift der Name, welhen Mohammed 


ſelbſt ** dem Buche gab, worin er feine vorgeblichen Dffenbarungen niederlegte, 
Er Tief ungefähr vom 40, bis 60. Jahre feines Lebens die Ergießungen feines 
bewegten Geiftes einzeln auffchreiben. Mehrere Männer dienten ihm in den 
fpätern Jahren als Schreiber, Dsman, Ibn Afan (URS), Zen, Alt und 
Moawia zeichnen fich unter venfelben am meiften aus, Abulfeda zählt im Ganzen 
deren neun (Annal. t. I. p. 194.) Navavı aber 33. (Ed. Wüstenfeld I, p. 37.). 
Die Schreiber mochten auf die Abfaffung nicht ohne Einfluß fein. Mohammed 
vertheidigt fih gegen den Verdacht, ald wenn Ausländer ihn infpirirten (Bol. 
Sura 16. V. 106. Vgl. ©, 25. V. 4. 5, und Maraccius de Alcorano p. 37.) Er 
legte großen Werth auf das dur ihn vom Himmel gefommene Buch und empfiehlt 
es als fihere Norm für alle Menſchen. Gleihwohl trug er feine Sorge dafür, 
daß die einzelnen Aufjchreibungen zu einem Ganzen vereinigt wurden, Der erfte 
Kaliphe, Abubeker (f. d. A), ließ die zerftreuten Aufzeichnungen, wie fie fih auf 
Pergament, Palmblättern und andern Materialien fanden, fammeln, und in Ein 
Buch zufammenfchreiben. Bei diefer Arbeit wurde die chronologiſche Ordnung 
der Abfchnitte ganz vernachläffigt, es feheint, die Sammler gingen von dem 
Streben aus, die größern Suren vor den Fleinern aufzuführen, Jedenfalls Famen 
an den Anfang folche, welche gegen das Ende von Mohammeds Leben entftanden 
waren, Die ältefte ift wohl Sure 96, Es wurben bei ber durch Abubefer 





* Lane fihreibt immer Ckoor-än, Br 
** Sure 10, 16. 38. 62, 17, 9. 43. 49, und unzählige Mal. Auch Furkan d. i. „Unter- 
ſcheidung/ nämlich ver Lüge und der Wahrheit wird er genannt, 3.8. Sure 2, 50, u, ö. 








EEE UT. N 





Koran, 251 


* Ben. ; 
seranftalteten Sammlung auch mündliche Relationen von gebächtnigftarfen Män- 
nern benügt ( Ji> N 3431 (o Abulf. I. p. 212. und p. 250. Vergl. den Art, 


Gefährten Mohammeds). Das fo gedonnene Eremplar wurde bei Haphſa 
(Ka2>), einer von den Gemahlinnen Mohammeds, hinterlegt. Es verbreiteten 


fich bald viele Abſchriften, in welchen ſich aber fo bedeutende Verſchiedenheiten bemerf- 
bar machten, daß der drifte Kaliphe, Osman, ſich veranlaßt fand, eine bleibende 
Recefion zu veranftalten, Vier Männer wurden beauftragt, mit Zugrundelegung 
der bei Haphſa deponirten Urfchrift einen feften Tert herzuftellen. Wenn fie unter 
den fonft gebrauchten Abfchriften ſprachliche Verſchiedenheiten wahrnahmen, mußten 
fie fih nad Osmans Auftrag für den koreiſchitiſchen Dialect entjheiden, Bon 
dem auf diefe Weife gewonnenen Terte wurden Abfihriften nach allen Richtungen 
hin verbreitet, Die ältern Exemplare wurden vernichtet (ef. Abulf. I. p. 214. und 
Maraceius 1. c. p. 39.) Seit diefer Zeit hat der Koran Feine wefentliche Ver— 
änderung mehr erlitten; die Varianten, welche bisher aufgetrieben werden fonnten, 
find nicht bedeutend. Er befteht aus 114 Suren, oder Capiteln.* Die Com- 
poſition des zufällig zufammengefegten Buches iſt fehr ungleich, bald gedrängte 
Kürze, bald ermüdende Weitfchweifigfeit, zahlloſe Wiederholungen derfelben Ge— 
danken, oft derfelben Ausdruͤcke. Die Araber finden die Dietion unübertrefflich 
Schön, Mohammed felbft behauptete, die Unnahahmlichkeit des Korans fei der 
Wunderbeweis feiner Sendung; felbft Europäer werden in einzelnen Suren den 
Stempel ächter Poeſie anerkennen; voransgefegt, daß fie nicht die unbehilfliche 
Ueberfegung Wahls, fondern Hammers Uebertragung in den FZundgruben des 
Drients benügen fünnen, Die erfte Ueberfegung für den Occident ift die latei— 
nifhe, welche auf Antrieb des Petrus Venerabilis, Abtes von Elugny, Zeitge- 
noffen des HI. Bernhard, in Spanien verfaßt und fpäter im Drude veröffentlicht 
wurde, („Haec translatio Basileae impressa in Indice Romano merito prohibetur.“ 
Maraccius, de Alcorano p. 33.) Diefelbe fann jedoch jo wenig, als überhaupt 
irgend eine bloße Ueberfegung, zum Verftändniß des ganzen Koran führen, da 
derſelbe taufend dunfle Anfpielungen auf Thatfahen und Einrichtungen enthält. 
Außer einem gründlichen Studium der Sprache fann nur die Erflärung der mo- 
bammedanifchen, die einheimifhe Tradition bewahrenden Commentatoren zum 
Ziele führen. In neuefter Zeit hat Fleifcher den arabifhen Commentar von Beid- 
havi vollftändig herausgegeben. Sp wichtig jedoch diefes Unternehmen war, fo 
ift dadurch feineswegs jene Bearbeitung des Koran überflüffig geworden, welche 
Maraceius 1698 in Padua herausgab, Maraccius bietet den Tert, eine gründ- 
liche lateiniſche Heberfegung, einen Commentar, welcher den bedeutendften arabifchen 
Erflärern entnommen iſt; dazu eine Einleitung über den Koran, das Leben Mo- 
bammeds und vier Prodromi zur Kenntniß des Islam, ſammt Widerlegungen bei 
jeder Sure, Noch immer das Hauptwerk der europäifchen Koransfunde. Der 
Islam felbft hat eine unermeßliche Literatur der Koraneregefe hervorgebracht. 
Die Fächer derfelben überblickt Hammer: Encyelopädifche Neberfiht der Wiſſen— 
fhaften des Drients, Leipz. 1804. 2. Thl. 176—620. Schon ehe Mohammed 
geftorben war, wurden einzelne Suren auf verfhiedene Weife gedeutet (vergl. 
Sure II. Anf.) Später bildete fih eine ebenfo mannigfadhe Hermeneutif aus, 
wie auf chriſtlichem und jüdifhem Boden Hinfichtlih der Bibel, Samachſchari 
ſcheint Hiftorifch-grammatifch zu verfahren, während Beidhavi vielfältig fcholaftifch, 
bie und da fabbaliftifch erklärt. Je freier fih einzelne Männer von dem Glau— 
ben an die Ewigfeit des Koran hielten, defto Leichter mußte es ihnen fein, gut 





* Eine 115te Sure im Intereſſe der Aliven geſchrieben hat Garein de Taſſi im 
Journal Asiatique (Mat 1842) aus dem Dabiſtani Maſahib mitgetheilt. In Weils Ein- 
leitung zum Koran ©, 82 ff, fteht die teutfche Ueberſetzung. 


252 Korbfeſt — Kornmann. 


zu erklären. Hätten wir Commentare aus der erſten Zeit der Abbaſiden, fo wür- 
den wir fiher manches ganz anders erflärt finden, als z. B. bei Beidhavi. Die 
Kaliphen Mamun* und Vaͤthek nahmen fich der aufgeflärten, den Motafalen fi 
annähernden Meinung an, daß der Koran eine zeitliche Entftehung habe; aber 
die Stimme der großen Mehrheit des Volfes war fo fehr gegen die freifinnige 
Anfiht, daß Motevaffil die dogmatifchen Erlaffe feiner Vorgänger abrogiren 
mußte. Seit diefer Zeit ift e8 herrfchende Meinung der Mohammedaner, wenig- 
fteng der fonnitifchen, daß der Inhalt des Korans vorzeitlih, im Wefen Gptteg 
beftehend fei, In der Nacht ga fei er von dort zum untern Himmel herab» 
Helaffen und von da aus durch den Engel Gabriel ſtückweiſe gepffenbart worden, 
Diefe Annahme begünftigt natürlich außerordentlich einerfeitS die Fabbaliftifche, 
andererfeits die fholaftifche Erflärungsweife, das heißt jene, welche jeden Aus- 


druck als eine Thefis behandelt, durch welche und an welcher Theorien entwickelt 
werben fönnen, Außer der genannten Ausgabe von Maraccius gibt e8 mehrere 


Handausgaben. Die von Flügel (1834 in 4.) ift durch Redslob in Fleinerer 





Br er, 





Form wieder gegeben (1837 in 8.). Flügel bat uns auch mit einer Concorbang 
verſehen (Concordantiae Corani Arabicae. Lips. 1842), ein Buch, das bei der 


Lectüre mohammedanifcher Schriftfteller jedem nüslih ift, welcher Fein Hafiz 


bsla), d. i. Auswendigwiffer, ift. Von den Heberfegungen find außer der von 
Maraceius befonders bemerfenswerth die franzöfifhe von Kaſimirski (Paris 
1840), und die englifche von Sale, Teutſch: „Der Koran aus dem Arabifchen 
wortgetreu neu überfeßt und mit erläuternden Anmerfungen verfehen von -Dr. 2, 
Ullmann”, Crefeld, 1840, 12. [Haneberg.] 

Korbfeit, f. Fefte der Hebräer Bd. IV. ©, 52, 

Koribut, f. Hufiten. 

Korinth, f. Corinth. 

Kornmann, Rupert, letter Abt des Klofters Prifling unweit von 
Regensburg, geboren zu Ingolſtadt 1759, trat 1776 zu Prifling in das Kloſter, 


Tegte dafelbft 1777 die Gelübde ab, erhielt nach rühmlich zurücfgelegten theo- Fi 
Iogifchen Studien 1780 die Prieflerweihe, wurde zu weiterer wiffenfchaftlicher 


Ausbildung an die Univerfität Salzburg gefihieft, wo er zugleich die Kaplanei 
am Nonnenberg verfah, befleidete nach, feiner Nückfehr von 1785—1790 das 
Amt eines Hausprofeffors, als welcher er Philofophie und Mathematik, fpäter 
Phyſik und practifche Philoſophie, auch vrientalifche Sprachen und das Franzöfifche 
. Iehrte, und wurde am 8, Febr, 1790 zum Abt gewählt, So fehr Kornmann für 
Wiffenfrhaften und Künfte eingenommen war, fo galt ihm doch für fi, feine 
Conventualen und die zum Stifte gehörigen Unterthanen und Pfarreien die Reli- 
gion, der Gottesdienſt, die Tugend und das Seelenheil als die Hauptfache, und 
hielt er daher ftrenge auch auf die Erhaltung der Flöfterlihen Disciplin. Nur in 
dieſem Geifte war er mit aller Sorgfalt darauf bedacht, fein Klofter zu einer 
Pflanzſchule der Wiffenfchaft zu machen. Das fhon feit langem zu Prifling be— 


ftehende Seminar, worin 12—15 Zöglinge unentgeldlich unterrichtet und ver- 


pflegt wurden, erhielt durch ihn eine verbefferte Einrichtung. Alle feine Neligio- 
fen mußten , je nach ihrem Alter und ihren Fähigkeiten, ein wiffenfchaftlihes Fach 


betreiben, Prifling fchien damals ganz den Künften und Wiffenfchaften anzuge- . 
hören, Literarifche und artiftifhe Sammlungen wurden von Kornmann theils be» 


reichert, theils neubegründetz jeder Kenner bewunderte die Vollftändigfeit der- 
felben. Ein Theil der Stiftsherrn Tehrte zu Haufe, der andere Theil ftand mit 
Beifall Profeffuren zu Münden, Salzburg, Ingolftadt und Amberg vor. Und 
folche Klöfter, deren e8 damals fo manche andere in Bayern und Teutfihland gab, 


# ©, über das Verfahren Mamund Abulfeda, II. ©. 156. 
















— Körperſtrafe — Kos. 253 


wurden aufgehoben und zerſtört! Weiteres über die Wirkſamkeit dieſes ausge— 


zeichneten Prälaten kann man in den „Nachträgen zu den beiden Sibyllen der 
Zeit und Religion“ und in dem Gelehrten- und Schriftfteller-Lericon von Felder, 
Bd. I. Iefen. Nach der Säcularifation feines Klofters zug er fih nah Kumpf- 
mühl bei Prifling zurüd, wo er am 23. Sept. 1817 ſtarb. Kornmann genoß ſo— 
wohl wegen feines edlen Charafters als auch feiner ausgebreiteten Kenntniſſe, 
namentlih im Face der Geſchichte, und feiner Schriften halber großes Anfehen, 
ſelbſt bei fürftlihen Perfonen. Unter feinen vielen Schriften ragen hervor 1) die 
Sibylle der Zeit aus der Vorzeit, oder politifche Grundfäge, dur die Geſchichte 
bewäßret, nebft einer Abhandlung über bie politifche Divination, Frankfurt und 
Leipzig 1810, II Bde, Eine zweite Ausgabe diefed Buches erfhien 1814 zu 


Regensburg in drei Bänden. 2) Sibylle der Religion aus der Welt- und Menfhen- 
geſchichte, nebft einer Abhandlung über die goldenen Zeitalter, Münden 1813; die 
zweite vermehrte Ausgabe erfchien zu Regensburg 1816. 3) Nachträge zu den beiden 


Sibylien der Zeit und der Religion, nebft der Biographie des Verfaffers, Negens- 


burg 1818. In Bezug auf die Sibylle der Zeit bemerkt die Biographie, es dürften 


jenige Schriftfteller die Gefchichte mit mehr Fülle, Scharffinn und Wahrheit zur Be- 


feſtigung der gehaltooliften Darimen benügt und treffender die Zufunft in dem Spie- 


gel der Vergangenheit gezeigt haben. In der Sibylle der Religion feste fich der Ver— 
faffer zum Zweck, die Religion als das Eine Nothwendige von ihrer liebenswürdigen 
Seite zu fhildern und in den Kreis der höhern Gefellichaft einzuführen. [Schrödl.] 
Körperjtrafe bei den alten Hebräern, ſ. Leibesftrafe, 
Körperjtrafe, f. Zühtigung, körperliche. 
Kortholt, Chriftian, proteftantifcher Theolog, ift den 5. Januar 1633 
zu Bergen auf der Inſel Femern geboren, wo fein Bater Kaufmann war, Er 
fiudirte zu Stettin und Roftod, In Jena las er philofophifche und theologiſche 
Fächer. Seine Streitfuht fand ihre erfte Gelegenheit durch Timotheus Lauben- 
berger. Diefer Apoftat der Hundertjährigen Kirche ſchrieb fein „kohlſchwarzes 
Lutherthum“. Ihm antwortete Kortholt mit feinem „kohlſchwarzen Papſtthum“. 
Im Jahr 1660 reiste er nach Leipzig, Wittenberg und Roſtock, an welch’ Iegte- 
rem Orte er „den römischen Beelzebub Luther's“ gewaltig vertheidigte. Der 
Eifer für den großen Reformator des 16ten Jahrhunderts und defien Sache em- 
pfahl K. dem Herzog von Schwerin, Chriftian Ludwig. Diefer berief ihn zu 
einer Disputation mit dem Katholifen Eggefeld und dem Polen Ellermitzky. 
Darauf wurde 8. 1662 zu Roſtock Profeffor der griechifchen Sprache und 1669 
auf der von Herzog Ehriftian Albrecht gegründeten Univerfität Kiel Profeffor der 
Theologie und Procanzler. Mehrere Berufungen lehnte er ab. Der nah Weif- 
mann durch Gelebrfamfeit und Frömmigkeit gleich ausgezeichnete Mann verblieb 
und ftarb zu Roftof den 31. März 1694. Aus feiner ſchriftſtelleriſchen Thätig- 
feit führen wir an: De persecutionibus eccles. primaevae sub imperat. ethnicis, 
Kiel 1669, teutſch Hamb. 1698; de columniis paganorum in veteres Christianos, _ 
verm, A, Kiel 1668, umgearb. unter dem Titel: paganus obtrectator, Kiel 16985 
tractatus de vita et moribus Christianis primaevis per gentilium malitiam afflietis, 
Kiel 1683; tractatus de natura et origine Christianismi, Kiel 1677; de tribus 
impostoribus magnis (Ed, Herbert, Thom. Hobbes und Ben. Spinvza) Hamburg 


‚ 17013 de pastore fideli s. officio ministrorum eccl.; de canone scripturae; de variis 


script. sacrae editionibus ; de lectione bibliorum in linguis cognitis und feine historia 
ecel. N. T., an deren vollftändigen Ausarbeitung ihn der Tod verhinderte, Lips. 


- 1697. Vergl. Christ. Eberh. Weismanni introductio in memorab. ecel. historiae 
sacrae I]. pars ©. 958 und 12585 biftorifhes und geographifches Lericon 


von J. Chr. Iſelin IL Bd. S. 525 Handwörterbug von W, D. Fuhrmann 


"18. ©. 593. [Stemmer.] 


Kos, ſ. Cos. 


254 Kosri — Krakau— 


Kosri, ſ. Cosri. | ® 
Koftbaren Blut, Eongregation von dem, f, Eiftereienferinnen. 
Koſtnitzer Erneil, ſ. Conftanzer Eoneil, i 
Krain, ſ. Kärnthen. 
Krakau, Bisthum. Der polniſche Geſchichtsſchreiber Dlugoß (ſ. d. Art), 
und nach ihm die meiſten Polen berichten, daß der erſte chriſtliche Polenherzog | 
Mieczyslav neben dem Erzbisthum Gneſen Krakau als zweites Erzbistum, oder 
wenigftens als Bisthum, nebſtdem mehrere andere Bisthümer geftiftet habe. 
Diefe Tradition ift heute aufgegeben, Nah Dithmar von Merfeburg wurde 
(fd, A, Gnefen) Krakau im 3.1000 als Bisthum gegründet, und nebft Breslau 
and Kolberg in Pommern dem Erzbisthume Onefen unterftellt. Vorher Eonnte 
Krakau Fein polnifches Erzbisthum fein, ſchon aus dem einfachen Orunde, weil 
Kleinpolen mit Krakau vor dem J. 1000 nicht zum polnifhen Piaftenreiche ge- 
hörte, Erft Boleslaus der Große nahm diefe Landfıhaften mit Krakau und Ober- 
fchlefien im 3. 1000 den Böhmen ab, die fie wahrfcheintich fchon vor dem J. 973 
erobert hatten, In dem Stiftüngsbriefe für das Bisthum Prag, den wir aber 
nur in einer Ernenerungsurfunde Kaifer Heinrich's IV. vom J. 1086 befigen, 
werben die Flüffe Styr und Bug als die Grenzen bes Prager Sprengels, die 
Stadt Krafau mit dem zugehörigen Lande als in das Bisthum eingefchloffen, ge= 
nannt, Vor dem 3. 1000 kann es alfo ein eigenes Bisthum Krakau nicht ge— 
geben haben. Das um diefe Zeit unter Boleslaus gegründete Bisthum aber 
wurde und blieb Gnefen unterftellt, Die Namen der erften Biſchöfe wiffen indeß 
die Polen felbft nicht fiber anzugeben. Sp fagt Martin Eromer in feiner poln, 
Geſchichte 1. III.: „Der Cardinal Aegidius feßte die erften Erzbifchöfe und Bifhöfe 
ein, Staliener, vielleicht auch einige Gallier und Teutfche, da unfere Leute noch 
ungebildet waren”, Nachdem Biſchof Rachelin um 1045 oder 1046 geftorben 
war, berichten polnifhe Duellen, wurde Aaron, der Abt des berühmten bei 
Krakau liegenden Klofters Tinini, als Bifchof poſtulirt. Diefer wurde vom 
Papſte beftätigt ; und habe, fer es im J. 1046, fei es fpäter — etwa 1059 — 
das Pallium erhalten, babe fogar vorübergehend den Primat über ganz Polen 
erhalten, Die ganze Gefchichte mit Aaron ift dunkel; die als Beweis angeführte 
Bulle Benedict’S IX. vom J. 1046 entfchieden unächt. Jedenfalls’ konnte ver 
Primat Gnefen’s in Rom nicht ohne Weiteres ignorirt werden, Wir treten der 
Anficht Röppel's bei, daß die Notizen polnifcher Chronifen — Annal. Cracov. 
major. — wegen Erhebung Aaron's zum Erzbifchof Zufäge einer fpäteren Hand 
feien, Iſt dem alfo, fo zerfällt auch die weitere Nachricht, daß Aaron’s Nach— 
folger, Lambertus Zula, es vernachläßigt habe, das Pallium von Rom zu er- 
bitten, und daß durch dieſe Verſäumniß Krakau die erzbifchöflihe Würde wieder 
verloren habe, Unter den folgenden Bischöfen ragt der Bifchof und Martyrer 
CH 1079) Stanislaus hervor (f. d. Art.). Sein Andenken und feine Verehrung 
umgab das Krafauer Bisthum mit hohem Glanz, Die Bedeutung des Bisthums 
bob fich ferner durch die Erhebung der Stadt Krafau, weldhe vom J. 1320 bis 
1609 Refivenz der polnifchen Könige, und bis in die Teste Zeit wenigftens ihre 
Krönungs- und Orabesftätte war. — Das Bisthum Krakau erftredte ſich nörd— 
Lich im Weften der Weichfel bis an die Grenzen von Gneſen. Weſtlich ſtieß es 
an Breslau; Benthen gehörte noch zu Krafau, Der Fluß Cocawa, der bei 
Beuthen entfpringt, und bei Koſel in die Dver mündet, war im 15ten Jahr- 
hundert die Grenze der beiden Bisthümer, Südlich der Weichfel ging das Bis— 
thum mit der Herrfchaft von Dunajee bis in's Gebirge, und umfaßte noch den 
Bezirk von Scepus. Gegen Ende des 13ten, oder Beginn des 14ten Jahrhun« 
deris ging diefer Bezirk zum Theil an das Erzbisthum von Gran verloren, 
Deftlich reichte das Bisthum an den San, Der Bifchof von Lebus (ſ. d. A.) hatte nach 
einer päpftlichen Urfunde vom J. 1373 in der terra Lemburga die Jurisdietion. 








1: 


ee 








Bee 2 44 f "3 


Kranfenbefud. 255 


Sm Dften der Weichfel gehörten die Landfchaften Sendomir und Lublin zu dem 
Bisthume Krakau, deffen Grenzen fih nah Nordoften etwa bis zur Wieprz er- 
firesften, Seit dem 3. 1443 war der Bifhof von Krafau zugleich fouveräner 
Herzog von Severien, dem Lande zwifchen Krakau und Schlefien. Vgl. Röpell, 
Gefchichte Polens. 1840. — Starovolscii, vitae Antist. Cracov. Crac. 1655. — 
Rzepnicki s. J. vitae Praesulum Polon. 1. W. comp. — Posn. 1761. 1.1. ec. 5. 
de episcop. Cracoviensi. [(Gams$.] 
Sranfenbejuh. Im Kirchendienfte bei der einzelnen Gemeinde (Pfarr- 
amt) ſtellt fih neben die Thätigkeiten für die Unmündigen (Katechefe) und die 
verfammelte Gemeinde (Predigt und Liturgie) — die Seeliorge, welche die von 
jenen übrig gelaffenen befondern religiös-fittlihen Bedürfniffe der einzelnen Glie- 
der der Gemeinde durch Wort, Cult und Sacrament, und Disciplin im Auftrage 
und Namen Chrijti und feiner Kirche zu befriedigen bat. Der Krankenbeſuch 
aber nimmt in der Seelforge nad dem Beichtftuhle die Hauptitelle ein. Der- 
Geiftlihe Hat, fo viel an ibm Tiegt, die Kranfen und Sterbenden zu befehren 
oder deren guten Zuftand zu reinigen, zu erhalten und weiter zu fördern, ins- 
befondere Hriftliches Verhalten in Bezug auf Leib und Seele in der Krankheit, 
im Wiedergenefen und Sterben zu vermitteln, die erforderlihen Sacramente und 
Segnungen zu fpenden und deren würdigen Empfang und nahhaltige Wirkungen 
anzubahnen, Teiblich und geiftig zu tröften, zu rathen und zu helfen, für Kranfe 
und Sterbende zu beten, zu opfern und die Mithilfe Anderer anzurufen, auch 
venfelben den öffentlichen Gottesdienſt möglichft zu erfegen, auf die Angehörigen: 
aber religiös-fittlich Heilend und fördernd einzuwirfen und fie befonders zu einem 
chriſtlichen Verhalten bei der Krankheit und dem Tode der Ihrigen anzumweifen 
und zu ermuntern —, Alles zum Heile der Kranfen und Sterbenden, der An- 
gehörigen und ganzen Gemeinde, zur Erbauung des Leibes Chrifti und zur Ehre 
Gottes. Uebrigens ift e8 auch eine der wichtigften Pflichten der Laien, vor allem 
der Angehörigen, die Kranfen und Sterbenden zu befuchen, die bezeichnete Auf- 
gabe nah Kräften zu löfen und die Thätigfeiten des Geiftlihen vorzubereiten, zu 
unterflüßen, zu ergänzen und nach Umftänden möglichft zu erfegen. Wir find ja 
Alle Eim Leib mit vielen Gliedern zu verfchiedener Dienftleiftung und überall 
bildet unter den Factoren, welche vor, mit und nach dem Geiftlihen wirfen, die 
Thätigkeit der hriftlichen Gemeinfhaft neben der Gnade Gottes den Hauptfactor. 
‚Der Geiftlihe Hat zu diefem Laienbeiftande zu ermuntern und anzuleiten. Beweg- 
gründe zum Kranfenbefuch find für Laien und Geiftlihe der Wille Gottes, Wille 
und Beifpiel Chrifti, feiner Kirche und der Frömmften und Beften aus allen 
Ständen, Ländern und Zeiten, zeitliche und ewige Vergeltung, fowie die drift- 
liche Liebe, welche in den Kranken und Sterbenden Kinder Gottes, Erlöste und 
Miterben Jeſu Ehrifti, Tempel des HI. Geiftes, Brüder und Schweftern, an 
Leib und Seele Gefhlagene und Bedrängte, den Testen Dingen, dem ewigen 
Heile oder Verderben Nahe, baldige Anfläger oder Fürbitter vor dem Throne 
Gottes, gerade jegt noch zu Nettende und Nettbare erblickt. „Alles, was ihr 
wollet, daß euch die Leute tun, das follt ihr ihnen thun.”- Matth. 7, 12. 
„Freuet euch mit den Fröhlihen, und weinet mit den Weinenden.“ NRöm. 12, 15. 
„Selig find die Barmherzigen, denn fie werden Barmherzigkeit erlangen.” Matth. 
5, 7. „Dieß ift mein Gebot, daß ihr euch einander liebet, wie ich euch geliebet 
babe.“ Joh. 15, 12, „Wir foffen für die Brüder das Leben laſſen.“ 1 Joh. 3, 
16. Ein unübertrefflicher Beweggrund endlich Tiegt in dem Worte Jefu Ehrifti: 
Was ihr einem meiner geringften Brüder gethan habt, das habt ihr mir ge= 
than“, und in dem Worte des Weltenrichters: „Ich war franf, und ihr befuchtet 
mi“, und „ich war frank, und ihr befuchtet mich nicht.“ Matth. 25, 34 ff. Den 
Geiſtlichen aber verpflichtet zum Kranfenbefuch nicht bloß, wie den Laien, Liebe 
und Barmherzigkeit, allenfalls in erhöhten Maße, fondern vor allem fein Amt, 





256 Kranfengebete, 


vermöge deſſen er Organ und Stellvertreter Jeſu Chrifti und feiner Kirche ift, 
- Die Kranken nahten ſich Jeſu mit ihren Angehörigen aus allen Gegenden des 
Landes mit Vertrauen und Bitte, er aber heilte fie und alles Volk lobte Gott, 
„Wie mich der Vater gefandt hat, fo fende ich euch.” Der gute Hirt gibt fein 
Leben für feine Schafe, und verläßt Die 99 und geht dem einen verlorenen nad, 
„Kranken werden fie die Hände auflegen und fie werben genefen.” Und das eigent- 
liche Ritual der Kirche, das römifche, fagt: „Parochus in primis meminisse debet, 
non postremas esse muneris sui partes, aegrotantium curam habere.“ Am Kran— 
fen- und Sterbebett ift geiftliche Hilfe oft alleinig möglich, jedenfalls am nöthig- 
ſten, wirffamften und entfcheidendften, gewinnt und überwindet da am meiften 
die Welt und fchafft ganz befonders Liebe, Vertrauen, Gemeindefenntniß und 
eigene Erbauung. Blicken wir endlich von den Theilen aus auf das Ganze, fo 
find der Kirche, der wahren Mutter, wie die Armen, fp noch mehr bie Kranken 
und Sterbenden die liebſten Kinder, die theuerften Schäbe, und fie forgte für 
diefelben zu allen Zeiten nicht bloß dur die Liebe und Barmherzigkeit, die fie 
in den Einzelnen pflanzt und nährt, und durch den ordentlichen amtlichen Bei— 
ftand des Geiftlichen, fondern auch durch Gründung der Klöfter, Spitäler, Stif- 
tungen, eigener Orden und Bruderfchaften; und ihre leibliche und geiftige Kran- 
fen- und Armenpflege war immer, bis herab auf unfere barmherzigen Schweftern, 
eine ihrer glänzendften Seiten, ein befonderer Sauerteig des Evangeliums, ein 
nicht geringer apologetifcher Beweis der Göttlichfeit des Chriftentbumes und der 
Fatholifchen Kirche, und kann auch allein in der traurigen Gegenwart retten und 
den drohenden Communismus mit al’ feinen Gräueln und feiner Barbarei über- 
winden, — Kurze Anweifungen zum Krankenbeſuch mit einem größern oder klei— 
nern Reichthum von Materialien, Zufprüchen, Betrachtungen, Gebeten, Litaneien, 
BDeifpielen u. |. w. geben die Ritwalien. Ausführlihe Anweifung zur Pflege 
der Kranken überhaupt, und der Kranken nach Verſchiedenheit des Alters, Stan- 
des, der Krankheit und des Seelenzuftandes insbefondere, fowie ber Sterbenden — 
enthalten die Werke über Paftoraltheologie, Die verfchiedenen Kranfen- 
bücher aber geben Materialien und Formulare für den Beiftand am Kranfen- 
und Sterbebett mit oder ohne Anweifung, und find theils nur für die Geiftlichen, 
theil8 auch zugleich für Laien, wohl auch unmittelbar für die Kranken gefhrieben. 
Ausführlicher find die wichtigften Kranfenbücher beurtheilt in der Tüb, Duartal- 
ſchrift Jahrg. 1844. ©. 315 ff. Beſonders zu empfehlen find Ullenberg’s 
„Troſtbuch für Kranfe und Sterbende, vollftändig herausgegeben von M. Kauf— 
mann, Luzern 1835“ (ausführlich, fehr reich und trefflich, vorzugsweiſe für Geift- 
liche); ein Auszug deffelben von Stifl, „Heilfamer Springbrunnen zum Trofte 
und zur Erbauung der Kranfen von S. Bohn, Frankfurt 1840“ (kurz und vor- 
zugsweife ein Handbuch); „Vollſtändiges Gebet- und Betrachtungsbuch für Kranke 
u. f. w. von einem Fatholifchen Priefter, Nottenburg 1843”; das Krankenbuch 
von J. N. Beftlin, von Lohner, neu bearbeitet von Auer; Sailer’s Kran- 
fenbibel. Andere Kranfenbücher haben wir von Köhler, Haßl, Elpelt, Da- 
rup, Stempfle, M. Hauber u, f. w. [Graf.] 
Kranfengebete, die firchlichen, für die Kranfen. Sie find doppelter Art: 
Gebete für Kranfe bei dem öffentlichen Gottesdienfte, und Gebete für Kranfe am 
Kranfenbette. Unter den erftern fleht obenan die fihon den älteflen Sacramen- 
tarien der römifchen Kirche befannte Missa pro infirmis Cinfirmo, infirma); auch 
gehört hieher die Heutige Sitte, Franke Perfonen bei dem Gottesdienſte in das 
Gebet der gläubigen Gemeinde ausdrücklich zu empfehlen, und zugleich einige 
Baterunfer nach diefer Meinung vorzubeten. Für die Firchlichen Gebete für Kranfe 
am Kranfenlager gibt unftreitig der hl. Apoftel Jacobus in folgender Stelle die 
ältefte Vorſchrift: „Infirmatur quis in vobis, inducat presbyteros ecelesiae, et orent 
super eum, ungentes eum oleo in nomine Domini, et oratio fidei salvabit infirmum, 


Kranfenheilung — Rrang, 257 


et alleviabit eum Dominus, et si in peccafis sit, remittentur ei“ (5, 14. 15.). 
Defwegen find au die mit der Spendung der letzten Delung verbundenen Ge- 
bete zu allen Zeiten die wichtigften kirchlichen Gebete am Kranfenlager. Ja fieht 
man von den Gebeten ab, die in den Ritus der Krankencommunion eingeflochten 
find, fo find fogar alle übrigen Gebete, die im römifchen Brevier und in den 
Ritualien ſich Hiefür finden, nicht einmal geboten, fondern bloß nah Umftänden 
empfohlen, Sp ift es namentlich mit dem fogenannten Ordo commendationis. 
Der Wunſch und Auftrag der Kirche geht in foweit nur dahin, daß jeder Seel- 
forger allen feinen Pflegempfohlenen im Falle der Krankheit bis zum Tode oder 
zur Wiedergenefung ein liebevoller geiftliher Samaritan fei. „Reponet aegro- 
tanti“ , fagt das römifhe Ritual, „prout infirmi conditio feret, aliquas breves 
orationes et pias mentis ad Deum exercitaliones; praesertim versiculos e psalmorum 
libro vel orationem dominicam et salutationem angelicam, symbolum fidei, vel pas- 
sionis Domini nostri meditationem, et Sanctorum martyria et exempla, ac coelestis 
gloriae bealitudinem. Haec famen opportune et discrete suggerantur, ne aegroto 
molestia sed levamen afferatur.“ Wollen Laien einem Kranken vorbeten, oder 
wünfcht diefer felbft, fo lang es feine Kräfte geftatten, Gebete zu verrichten, fo 
finden fih in den Gebetbüchern der neuern Zeit mitunter fehr gute Formu- 
lare, [ör. X. Schmid.] 

Krankenheilung durch Gebet, ſ. die Art. Gebet, Gebet im Namen 
Jeſu, Fürbitte, Geiſtesgaben (Charismen) und Wunder. 

Kräuterweihe, ſ. Würzweihe. 

Krautz, Albert, ſtammte aus einer angeſehenen Familie in Hamburg. Er 
bereiste, um fich zu bilden, viele Univerfitäten, und wurde um das Jahr 1490 
zum Doctor des canonifhen Rechtes und der Theologie ernannt. Seit dem J. 
1482 war er Rector an der Academie zu Roftod, wo er eine geraume Zeit Theo— 
logie und canonifches Recht lehrte. In feine Vaterfiadt Hamburg zurückgekehrt, 
wurde er dafelbft Lehrer der Theologie, Domherr und Syndicus, Er wurde in 
verfchiedenen Angelegenheiten feiner Vaterſtadt verwendet, die er alle mit eben 
fo viel Einfiht als Eifer beforgte. Er war Schiedsrichter in Streitfragen, eine 
Hilfsguelle für die Armen, und ein Vorbild des Capitels. Bon diefem wurde er 
zum Decane erwählt, welche Stelle er bis zu feinem — im December 1517 — 
erfolgten Tode befleidete. Es wird berichtet, daß er, felbft ein für Reformation 
der Kirche begeifterter Mann, noch vor feinem Ende von dem Unternehmen Luthers 
vernommen, darüber aber feine Mißbilligung in den Worten ausgefprochen habe: 
„Druder, Bruder, gehe in deine Zelle und ſprich: erbarme dich meiner, o Herr!“ 
Die Schriften des geachteten Mannes beziehen ſich meift auf die KRirchengefchichte 
des Nordens. Sie beginnen mit dem J. 780 n. Chr. oder mit Earl d. Gr., und 
gehen bis zu dem J. 1504. Das wichtigſte und befanntefte feiner Werfe ift: 
Metropolis, sive historia ecclesiaslica Saxoniae, Francof. 1575. 1590. 1627. Das 
Werk umfaßt in zwölf Büchern die Kirchengefichte des Erzbistums Hamburg 
und Bremen, fowie der damit verbundenen Bisthümer in Niederfachfen und Weft- 
phalen. Ferner ſchrieb er 2) Historiae Saxonicae libri XII. Colon. 1520. Fran- 
cof. 1575; teutſch von Anfelm Faber, Leipz. 1563, fortgefegt von Dav. Chy- 
träus, Wittenb, 1585. 3) Wandalia sive historiae Wandalicae 1. XIV. Colon. 
1600. Francof. 1619; teutfch von Stephan Macropus, Lübeck 1600, 4) Chro- 
nicon aliarum gentium septentrionalium sive regnorum Daniae, Sueciae, Norvegiae. 
Francof. 1575 ; teutſch Straßb. 1545. Diefen Schriften wird nachgerüßmt eine 
ſcharfe und fihtende Kritifz doch geräth der Verfaffer nicht felten bei der Unter- 
fuhung des Urfprungs der Völker auf Irrwege. Die in der Kirche, für deren 
Erhebung er den lebendigſten Eifer bethätigt, gegen Ende des Mittelalters ein- 
geriffenen Mißbräuche hebt er mit zu grellen Farben hervor. Defwegen kamen 
feine Schriften in den index „donec expurgentur“; oder nach einer andern An- 

Kirchenlexilon. 6. Br. 17 


258 Kränze — Kremsmünfter. 


gabe, weil die Irrlehrer fie verfälfcht Hatten, Noch fihrieb er 5) Ordo missae 
secundum ritum ecclesiae Hamburgensis. Rostock 1505. Vgl. Georg. Fabricius 
Saxonia 1. I. Pantaleon Illustrium Germ. Seript. P. II. — Ger. Jo. Vossius Lib. II. 
de histor. lat. cap. 10. [Gams.] 

Kränze der Brautleute, ſ. Hochzeit. ar 

Krell, Nicolaus, f. Rryptocalviniften, 

Kremsmünfter, berühmte Benedictinerabtei an dem kleinen Fluffe 
Krems im Lande ob der Enns, hat den um das Chriftentbum hochverdienten Her- 
309 Taffilo I. von Bayern zum Stifter (f. den Art. Bayern). Die Stiftung 
fallt in das 3. 777 oder 778. Die nächfte Veranlaffung dazu foll ver Top Gun- 
thers, des Sohnes Taſſilo's, der auf der Jagd durch einen Eher getöbtet worden 
fei, gewefen fein; doch gefchieht hievon in der Stiftungsurfunde feine Erwähnung, 
fondern darin heißt es, Taffılo habe diefe Abtei errichtet und dotirt, um der Hölle, 
zu entgehen und mit Chrifto die Wohnung im Himmel zu erhalten, wie auch feine 
Borgänger Kirchen und Klöfter geftiftet hätten, Von allen Stiftungsurfunden 
Taſſilo's ift die von Kremsmünfter die feierlichfte, und die darin ausgeſprochene 
Dotation mit Land und Leuten (zum Theil Slaven) von der Trafen big an bie 
innere Enns eine der reichlichften, Die erſten Mönche, mit welchen Kremsmünfter 
befegt wurde, waren aus dem berühmten Klofter Niederaftaih in Niederbayern 
(ſ. d. A.), zwölf an der Zahl, und ihr erfter Abt wird in der GStiftungsurfunde 
„Fater“ genannt. Noch bewahrt das Stift ein Gefchent Taſſilo's, den fog. 
„Stifterbecher” aus Kupfererz, von Außen mit Silber belegt, theilweife eifelirt 
und vergoldet, mit Abbildungen Chrifti und der Heiligen geziert und am untern 
Rand die Umfchrift tragend: „Tassilo Dux Fortis Livtpirc Virga Regalis“; daraus 
pflegten die Stiftsheren am fogenannten Stiftertag (11. Dee.) zu trinken, an 
welchem auch bis 1772 die Spende vertheilt wurde, wozu öfter an 30,000 Men- 
ſchen zufammenftrömten und 100 Ochſen gefchlachtet wurden, Carl der Grofe 
beftätigte die Befigungen des Stiftes, und er wie feine Nachfolger fügten auch 
neue Schanfungen hinzu. Bald errang Kremsmünfter fowohl in Folge feines 
ausgedehnten Befiges wie feiner Thätigfeit unter den zur Didcefe Paſſau gehöri- 
gen Stiftern den erften Platz, fo daß zur Zeit Bernhards des Norifers die Se- 
nioren zu Rremsmünfter behaupteten, die Aebte diefes Stiftes hätten in Abweſen— 
beit der Bifchöfe von Paffau „per Capitulum vocati“ in spiritualibus vicarirt. 
Nachdem das Stift auch im Lande unter der Enns, wo ihm Carl der Große zum 
Behufe der Eolonifation und Verbreitung des Chriftentbums nad Beflegung der 
Avaren Befisungen gefhenft hatte, dem Schankungszweck entfprochen, wurde e8 
im zehnten Jahrhundert durch die Einfälle der Ungarn zerftört und die Brüder 
zerftreut, worauf unter Herzog Arnulph von Bayern CH 937), der die Güter der 
Klöfter zwifchen fih, den Bifchöfen, den Grafen und feinen Dienfimannen ver- 
theilte, die Befigungen von Kremsmünfter und andern Stiften an den Bifchof 
von Paſſau famen. Im 3. 1007 brachte es der HI. Abt Godehard von Nieder- 
altaich (f, den Art, Godehard) bei dem Kaiſer Heinrich I. und bei Biſchof 
Ehriftian von Paffau dahin, daß das Kloftergebäude zu Kremsmünfter wieder her— 
geftellt und den darin verfammelten Mönchen ein Abt, und zwar in ber Perfon 
Godehards felbft gegeben wurde, Diefer richtete num Alles nach der Negel des 
hl. Benedict wieder ein, und fand hierin, wie er felbft in einem Schreiben an _ 
das Kloſter Tegernfee — das er nebft andern Klöftern ebenfalls reformirt — bei 
den Mönchen alle Verehrung, Liebe und Willfährigfeit. Daß Godehard zu 
Kremsmünfter auch die Liebe zu Kenntniffen und Wiffenfchaften anfachte, fieht 
man aus dem Schluffe des erwähnten Schreibens: „Mittite nobis librum Horatii 
et epistolas Tullii“ (f, Mabill, Vet. Analecta in uno tomo Parisiis 1723, p. 435). 
Im J. 1012 ging Godehard wieder nach Niederaltaich zurück; feitvem bis 1040 
ſtund dem Stifte Kremsmünfter der aus Niederaltaich gefommene Abt Sigmar 





Kremsmünfter. 259 


vor. Bon diefem Abte befist man ein Inventar des ziemlich magern Kirchen- 
ſchatzes, den er bei dem Antritt der Abtei vorfand, nebft einem Cataloge der da- 
mals im Klofter vorhandenen Bücher, die über 60 Bände betrugen; fowohl unter 
ihm wie auch unter feinem Nachfolger Gerard (1040—1050) erhielten die Sa— 
eriftei und Bibliothek einen Zuwachs (f. Pez, Script. rer. Austr. t. II. p. 57. 
Lips. 1725). Merkwürdig ift, daß fhon der Abt Erenbert I. (1050—?) den 
Gebrauch der Infel erhielt. Unter dem Einfluffe der Zeitverhältniffe trat nad 
Erenberts Tod ein gräulicher Verfall der Flöfterlichen Diseiplin ein; die Mönde 
von Kremsmünfter, erzählt der anonyme Biograph des fel. Bifhofs Altmann von 
Paſſau, lebten weltlicher als die Weltleute, allen Laftern fröhnend, das Klofter- 
gut verfchleudernd, und ſteckten zulegt das Klofter in Brand. Altmann feste die- 
ſem Berderbniffe ein Ziel, vertrieb die unverbefferlihen Vorfteher und Tieß aus 
dem -Rlofter Goize (Gorz) eine Anzahl Mönche nah Kremsmünfter fommen, 
durch die allmählig wieder eine beffere Zucht und die Beobachtung der Statuten 


‚von Clugny eingeführt wurde, Ueber die heilfamen Folgen diefer Reform berich- 


tet derfelbe anonyme Biograph: „Unter Abt Alram (1093—1121) behauptete 
Kremsmünfter ringsherum vor allen Abteien an Zucht und Frömmigkeit, an Prä- 
dien, Gebäuden, Büchern, Gemälden und andern Zierden, ingleichen an Fennt- 


nißreichen und funftverftändigen Männern den Vorzug." Aus diefer Zeit ſtammt 


auch eine von einem Stiftsherrn zu Kremsmünfter verfaßte Chronik, die fich gegen- 
wärtig zu Wien befindet (f. das Wirken der Benedictinerabtei Kremsmünfter vor 
Th. Hagn, Linz 1848, S. 20). Der felige Berthold, erfter Abt des Klofters 
Garſten im Lande ob der Enns (+ 1142) fludirte einige Zeit zu Kremsmünſter 
und empfing bier die Priefterweihe (f. Pez, Script. rer. Austr. I, 132). All- 
mählig nahm jedoch die Klofterzucht und wiffenfchaftlihe Thätigkeit wieder ab, 
Unter Abt Friedrich von Aich (1274—132%,) blühte das Stift wieder auf. 
Diefer Abt bereicherte die Bibliothek mit vielen Werfen, unter ihm befand im 
Stifte eine der großartigften Schreibfchulen, deren Einfluß fih über ganz Deft- 
reich ausdehnte, und mehrere Stiftsherrn thaten ſich als Schriftfteller hervor, fo 
der Groffelfner Sigmar, der außer einem gefchichtlichen Werfe (ſ. Adr. Rauch 
Script. rer. Austr. II. p. 339—81) ein Klofter-Urbarium verfaßte, fo namentlich 
Bernhard Noricus (+ 1327), der fih um die öftreihifche und bayerifhe Kir— 
chen⸗ und Brofangefchichte durch verfihiedene Feine Schriften verdient gemacht hat 
€. Pez, Script. rer. Austr. II.). Als Hauschronift hatte Bernhard Fortfeger bis 
zum 5. 1488. Im J. 1391 erhielt Kremsmünfter für feine Aebte das Recht der 
Iufel. Nach der 1419 erfolgten Neform hob fich unter dem thätigen Abte Ja— 
eob Treutlfofer (1419—1454) das ziemlich herabgefommene Stift in jeder 
Beziehung wieder empor; die Stiftsherrn Friedrich Kerfperger, Erhard Paum- 
gartinger u. a. m. waren damals fleifige Abfchreiber und Schriftfteller. Abt 
Ulrih Schoppenzaun (1454—1484), felbft ein gelehrter Mann, Magifter 
der freien Künſte und Baccalaureus des cansnifchen Rechtes, erhielt und ver- 
mehrte die geiftige Thätigfeit feiner Conventualen und nahm zur Leitung der 
Studien den jungen ausgezeichneten Johannes Schreiner, Magifter der freien 
Künfte, auf, der nachher (1505— 1524) Abt wurde, und deffen Werf es war, 
daß beim Beginn der Reformation die Stiftsfhule in einem blühenden Zuftand 
fi befand, Ueberhaupt verdienen die Aebte von Kremsmünfter feit der Refor- 
mation des 16ten Jahrhunderts bis auf die Gegenwart mit wenigen Ausnahmen 
das Lob warferer und thätiger Kloftersorftände, emfiger Förderer der Künſte und 
BWiffenfhaften, des Studien- und Schulwefens, und Achter Patrivten, die im 
allen Nöthen des Faiferlihen Haufes und zum Beften des Landes fein Opfer 
fheuten. Sp erhielt fi das Stift dur den Eifer feiner Aebte Johannes 
Shreiner, Leonhard Hunzdorfer, Johann Habenzagelunddem treff> 
lihen Gregor Lehner, welder die bisherige Kloſterſchule in eiür öffentliche 
17 


%0 Kreta — Kreuz, als Bild und graphiſches Zeichen. 


umwandelte, ungeachtet des in Deftreich überhandnehmenden Proteftantismus 
Yange in einem guten Zuftande, und nicht einer ber dafigen Stiftsherrn trat wäh- 
rend diefer Zeit aus der Fatholifchen Kirche aus, Erft unter vem Abte Marcus 
Weiner (1558—1565), der dem Luthertfume und dem Glauben „allein“ 
Huldigte, riffen im Stifte Neligionsneuerung und Gittenverberbniß in ſolchem 
Grade ein, daß es feiner Auflöfung nahe fam. Indeß richtete es fih durch die 
eifrige Sorgfalt feiner Aebte Jodoe Sedelmayr, Erhard Boit und Jo— 
hann III. Spindler noch im Verlaufe des 16ten Jahrhunderts wieder auf, und 
erreichte im 17ten Jahrhundert unter den Aebten Alerander vom Gee, An- 
ton Wolfradt und Placivus Buehauer einen hohen Grad von Blüthe; 
der erfte von den drei letzten (1601—1613) führte feine Unterthanen größten- 
theil8 wieder zum Fatholifchen Glauben zurüf, entfernte alle verdächtigen Seel— 
forger, führte die Kinderlehren ein und nahm zur Abhilfe des Prieftermangels 
Knaben aus Bayern zu Oblaten (f. Conversi) auf; ber zweite (1613—1639) 
machte fih um das Stift nach jeder Seite hin fo verdient, daß er deffen dritter 
Stifter genannt wurde; der dritte (1644—1669) war von gleichem Eifer befeelt 
und leiftete für Studien und Wiffenfchaft fo viel, daß ihm Fr. Mezger ohne 
Vebertreibung fihreiben Fonnte: „In tuo monasterio omnes aut docent aut discunt.“ 
Bon den Aebten des 18ten Jahrhunderts hat fih Alerander IN. Fixlmillner 
(1731—1759) unftreitig den erften Play fowohl durch fein erbauliches Beifpiel, 
wie durch die eifrigfte Beförderung der Schulanftalten und durch große Wohl- 
thätigfeit gegen die Armen erworben, Abt Erenbert Ill. Meyer (1771— 1800) 
hatte den Schmerz, durch die jofephinifchen Neuerungen fein Stift am Rande des 
Abgrundes zu fehen, doch wurde es nicht aufgehoben, Die folgenden Aebte festen 
ſich's zum Ziele, eine Umfehr zum Beffern zu bewirken, und ihr Bemühen blieb 
nicht ohne Erfolg. Der gegenwärtige Abt ift Thomas Mitterndorfer und 
fteht dem Stifte feit 1840 vor, Ueber die bedeutenden und zahlreichen wiffen- 
Tchaftlichen Leiftungen der Stiftsherrn von Kremsmünfter feit der Zeit der Ne- 
formation bis auf die Gegenwart, fowie über die Lehr- und Erziehungsanftalten 
des Stiftes fiehe die Schrift: „Das Wirken der Benedictiner-Abtei Kremsmünfter 
für Wiffenfhaft, Kunft und Zugendbildung” von Theodorih Hagn, Capitular 
des Stiftes und Archivar, Linz 1848, von welchem auch ein „Urkundenbuch für 
die Gefchichte des Benedictiner-Stifteg Kremsmünfter, feiner Pfarreien und Be— 
figungen vom Jahre 777 bis 1400” erfcheint, Ueber das Gtift Kremsmünfter 
haben außerdem gefehrieben: Rudhard, Geſch. Bayerns S. 307— 310; Koch⸗ 
Sternfeld, Beiträge zur Völfer- und Länderfunde I, 2375 Simpn Retten- 
pacher, Annales monasterii Cremifanensis, Salisb. 1677; Marian Pahmapyr, 
Historico-chronologica series abbatum et religiosorum monasterii Cremif.. Styriae, 
1777—1782, in vier Foliobänden; Gabriel Straffer, Kremsmünfter aus fei- 
nen Zahrbüchern, 1. Thl. Steyr 18105 Ulrih Hartenfohneider, hiſtoriſche 
und topographifche Darftellung des Stiftes Kremsmünfter in Deftreih ob der 
Enns, Wien 1830. [Schrödl.] 

Kreta, ſ. Creta. 

Krethi und Plethi, ſ. Cerethi und Phelethi. 

Kreuz, Bisthum, ſ. Gran. 

Kreuz, als Bild und graphiſches Zeichen, heißt in der Schulſprache 
crux exemplata, im Gegenſatze zu dem wirklichen Kreuze, an welchem Chriſtus 
ftarb (crux realis) und zu dem Kreuzzeichen (ſ. d. A.) als wunderbarer Erfchei- 
nung (apparilio erucis, f. den Art, Eonftantin d. Gr.), oder als fegnendes 
Zeichen im Privat» und liturgifchen Gebrauche (signum crucis und crux usualis), 
Mit dem Bilde des Erlöfers heißt die crux exemplata — imago crucifixi, das 
Erueifixr (ſ. d. 9), ohne jenes das einfache (nackte) Kreuz. Es fallt nah 
feiner äußern Erfcheinung dem Gebiete der zeichnenden und bildenden Künfte, 





Kreuz, als Bild und graphifhes Zeichen, 261 


namentlich der Plaftif, Malerei, Graphik, Architectur u. f. w., ja felbft den ana⸗ 
logen Wiffenfhaften der Diplomatif, Heraldif und Numismatif anheim. Das 
Allgemein-Gefhichtlihe und Apologetifche über die Bedeutung des Kreuzes als 
Bild und Symbol mit Hinweifung auf deffen urfprüngliche und figürlihe Bezeich— 
nung in der Bibelfprache (f. d. A.), ferner über das Hohe Altertfum ſowohl der 
Kreuzbilder als des graphifchen und fegnenden Kreuzzeichens, über das häufige 
Borfommen beider in und außer der Kirhe*, endlich über die üblichften Formen 
des zufammengefegten Kreuzes (crux compacta) im Gegenfage zu dem einfachen 
Kreuzpfahl (lignum oder crux simplex), an den der Martyrer entweder bloß an— 

geheftet (affixio) oder der ihm von unten auf durch den Leib geſtoßen wurde 
Ginfixio, ox6lowıs) — als eines Marterwerkjeuges (X — corux decussata, T= 
crux commissa, } = crux immissa) und des Kreuzes ald Bild und Symbol 
(3. B. + = das griehifche Kreuz) findet fih, inwiefern es in eine Encyelopä- 
die der Fatholifchen Wiffenfchaften gehört, theild unter den aufgezählten Schlag- 
wörtern: als felbftftändigen, theils unter verwandten Artifeln, z. B. Altäre bei 
den Ehriften, Altareinweifung, Altarfchmuf, Andreas d. Ap., Baufunft, hrift- 
liche, Bilder in den Kirchen, Bifchof, Bittgänge, Chriftusbilder, Erueifir, Erz- 
bifchof, Feldfreuze, Grab, das chriſtliche, Gottesurtheile, Kirche ald Gebäude, 
Kirchhof, Kirchweihe, Legatus, Papft, Patriarch, Ritterorden u. f.w. — Aus- 
führlicheres und ganz Specielles namentlich in gefohichtlicher und liturgiſcher Be— 
ziehung über das Kreuz Chrifti nach feiner dreifachen Bedeutung: a) als Kreuz 
Chriſti Cüber deffen Form, Höhe, Holz, Nägel, tabula sappedanea, ferner über 
deſſen titulus in der collateralen oder fenfrechten Ordnung aus der griechifchen 
Bolfs-, lateiniſchen Reichs- und Hebräifchen Tempelfprache, über die Schimpflich- 
keit des Kreuztodes, über die graufam erfonnenen Verſchärfungen der Kreuzesftrafe 
u ſ. w.), b) als einfaches Kreuz- und als Erucifirbild, c) als liturgiſches oder 
felöftfegnendes Zeichen findet fih befonders bei Jac. Gretfer, S. J. de sancta 
cruce Tom. Ill. fol. Ingolstad. 1608 (ed. 3.), 1616. Ratisbonae 1734 (die erften 





* 3.8. als Altar und Tabernakelſchmuck, als äußere Faffung des Kreuzpartikels und 
des Kranfenciboriums, auf dem altare portatile und auf dem Altarfteine über ven Reli- 
quien, als fogenanntes Apoftelzeichen an den Kirhenwänden, im Ehorbogen über dem Leitner 
(Leetionarium) oder auf dem Kreuzaltare, auf dem Faftentuche, auf dem Erevenztifhe, auf 
der Kanzel, auf dem Sarge, auf der Tumbadecke, auf dem Katafalf, in der Sarriftei, auf 
dem Mepkleide, auf dem einzelnen Meßgeräthe aus Leinwand, Seide und Metall; auf Fahnen 
und Fahnenftangen, ald Proceffionstreuz (erux stationalis), ald Todtenkreuz, als Capitel- 
Freuz,: als erzbifhöfliches Proceffionsfreuz, als Carpinallegatenfrenz, als Patriarhalkreuz 
mit zwei Querbalken, als päpftliher Hirtenftab mit drei Duerbalten; als Giebelſchmuck 
auf Kuppeln und Thürmen, auf Kirchen und Klöftern, an Kirchenthüren und Klofterpforten; 
auf Gottesäckern, auf Gräbern und Grabcapellen, an Miffions- und Bolfderercitienplägen, 
an Walfaprisbrunnen, an Öffentlichen Wegen und auf großen, freien Räumen der Städte, 
Märkte und Dörfer, auf Felvern, in Wäldern, auf Hügeln mit und ohne Capellen, auf 
Selfen und Gebirgspöhen, an Weg- und Wafferfheiven, als Botiobild zur Erinnerung an 
epidemiſche Krankpeiten, z. B. Peſt und Cholera, an unerwartete Errettung aus augen- 
ſcheinlicher Todesgefahr oder an plögliche Unglücks- und Sterbefälle einzelner Perfonen, 
auf Schlachtfeldern, an der Stelle ehemaliger Kirchen, Klöfter und Kirchhöfe, bei den ein— 
zelnen und an ver Haupt-Station des fogenannten HI. Kreuzweges; als Sterbablaßfreuz in 
der Hand des Verſcheidenden, als Mitgift in ven Sarg auf der. Bruft oder in den ge- 
Freuzten Händen des Zodten, als Miffionskreuz in der Hand und an dem Halfe des Mif- 
fonärs, als Vectorale der Bifchöfe und Aebte, auf den Kleidern der Kreuzfahrer, ald Capi- 
tularzeihen für wirklihe und Ehrencanonifer;z als Grundform in dem Kreuzbau der chriſt⸗ 
lichen Kirchen, als architectonifche und ornamentale Verzierung an öffentlichen und Privat- 
gebäuden; als Emblema an Schiffen, auf Kronen und auf dem fogenannten Reichsapfel, 
auf häuslichen Geräthſchaften, Warten, Werkzeugen, Büchern und Kleidern, ald Schmud- 
face bei Männern und Frauen, auf Münzen und in Wappen, ald Drvengzeichen für geift- 
liche und weltliche Ritter, als Auszeichnung für Civil- und Militärverbienfte, als Loos in 
der Kreugprobe, als ſtellvertretende Namensfertigung auf Urkunden, als heraldiſches und 
muficalifches Zeichen. RR 


er 


ne 


262 Kreuz, als Bild und graphiſches Zeichen. 


drei Bände feiner fimmtlichen Werke). Die Ingolflädter-Ausgabe von 1616 um— 
faßt 2771 Columnen ohne die Indices für alle drei Theile, — Tom. I. handelt 
in fünf Büchern: 1) de cruce Christi, 2) de imagine crucis, 3) de apparitionibus 
crucis, 4) de signo crucis, 5) de cruce spirituali. Dazu fommen als Beilagen: 
1. disputatio de vino myrrhato et vasis murrhinis, II. apologia pro Christi cruce, 
imagine et signo adv. Franc. Junium Calvinistam, eine Vertheidigung Bellar- 
mins wegen feiner hieher bezüglihen Behauptungen (I. IL de ecclesia trium- 
phante). — Tom. II. enthält im griechifchen Driginalterte und in lateinifcher Ueber— 
feßung verfchiedene Lobreden griechifcher Authoren auf die hl. Kreuz- Erfindung und 
Erhöhung (ſ. diefe Art.), auf die Kreuzadorirung in der Mittelwoche der Faften und 
auf das hl. Kreuzfeft am 1. Auguft bei den Griechen, auf den Charfreitag, auf das 
HI. Kreuz überhaupt, über Die Krenzerfcheinungen, endlich einige Beigaben folcher nicht 
ganz authentifchen Reden, und zwei über die Neftitution der Bilder in der griechiſchen 
Kirche, — Tom. II. in fünf Büchern: 1) de nummis crucigeris, 2) de expeditio- 
nibus cruciatis, 3) apologia pro expeditionibus crucialis, 4) de usu et cultu crucis 
gegen Hofpinianus, Dandus und Marbach, 5) hymni et encomia Graecorum et 
Lalinorum in sanctam crucem. Der Anhang zum dritten Theile gibt unter dem 
Titel: hortus sanctae crucis: 1) acrostichides graecolatinae veterum iconomachorum 
et orthodoxorum in s. crucem cum commentario et refutatione edictorum de cultu 
imaginum, quae nuper sub imperatosum et regum nomine quidam Calvinista evul- 
gavit, 2) erux Schyrensis, 3) crux Donawerdensis (bie uralten Kreuze von 
Scheyern und Donauwörth) cum annotationibus, 4) florilegium de s, cruce cum po&ticis 
lusibus in florem Indicum, quem Granadillam (Paffionsblume) vocant. Endlich 
Noten zu Tom. U. und abgefonderte Indices zu allen drei Bänden. — An Gret- 
ſer's gelehrtes Werk fchließen fih: Justi Lipsii de cruce libri tres ad sacram 
profanamque historiam utiles una cum notis. Antwerp. 1694 eine, wenn auch weit 
fürzere, Doch fehr gelehrte Arbeit, Hieher gehört ferner eine Monpgraphie unter 
dem Titel: Joan. Ciampini de cruce stationali investigatio historica, und außer 
diefen felbfifländigen Schriften noch Binterim’S Denkw. d. kath. Kirche IV. Bd. 
1. Th. u. VII. BD, 1. Th.; F. X. Schmid’s Liturgif, 3 Bde, 3. Aufl, und Lüft's 
Liturgik II. — Wir haben hier nur einige Bemerkungen beizufügen. Das Kreuz 
als Bild und graphifches Zeichen ift ſtets eine crux immissa, weil das wirkliche 
Kreuz Chrifti von diefer Form war, Bei'm Erueifirbild ift der fenfrechte Balken 
ſtets länger; das einfache Kreuz nimmt manchmal, befonders als graphifches Zei— 
hen, die Form bes griechifchen Kreuzes an. Auf dem Boden einer Kirche Kreuze, 
Bilder oder Abzeichnungen heiliger Perfonen anzubringen ift nicht geftattet Cconc. 
Trull. c. 73). Die Aufftellung von neuen Kreuzen, Statuen und Bildern an Eult- 
plätzen hängt von der Genehmigung des Biſchofs ab (conc. Trident, sess. 25. decr. 
de imag.). Neuaufgeftellte Kreuze werden feierlich eingeweiht, An dem Sterb- 
ablaßfreuze muß das Bild des Gefreuzigten von einem edlern Metalle fein; die 
Ermächtigung, Sterbablaßfreuze zu weihen, wird vom hl. Stuhle ertheilt. Die 
großen Proceſſionskreuze der Cathedralen und Pfarrkirchen find ſchon feit den 
älteften Zeiten mit befonderer Sorgfalt gefhmüct und geziert. Auf dem alten 
Kreuze der St. Clemenskirche zu Nom finden fih 12 Tauben angebracht, oben 
auf eine Krone, unten am Fuße des Kreuzbildes entfpringen vier Flüffe, an denen 
zwei Hirfche ihren Durft Löfchen, das ganze Kreuzbild wächst gleihfam aus Blu— 
men hervor, Die Beziehung auf Pf, 41, 2 und Offenb. 22, 1. 2 Tiegt nahe, 
Heutzutage fieht man über die Proceffiongfreuze häufig einen Baldachin gefpannt. 
Die großen Feld-, Miffions- und Kirchhoffreuze find nicht felten mit dem foge- 
nannten Leidenswerkzeugen Chrifti umgeben. Mit den Kreuzwegftationen flehen 
manchmal Capellen und ein fogenannter Calvarienberg mit einer Kreuzeapelle in 
Verbindung. Zuweilen trifft man Brunnenfreuze, an denen aus den Wunden bes 
Heilandes Waffer fließt, Auf Bergespöhen, an Weg- und Wafferfheiden trifft 





Kreuz in der Bibelſprache. 263 


man oft drei einfache Kreuze oder mit den entfprechenden Bildern nebeneinander; 
das mittlere Kreuz pflegt im Widerfpruche zu der gefchichtlich begründbaren Gleich⸗ 
heit aller drei Kreuze meiftens höher zu fein, Ueber die Berhüllung des Kreuzes 
vom Paffionsfonntage bis zum Charfreitag und über die feierliche Kreuzadorirung 
an biefem Tage f.d. A. Paffionsfonntag und Charwoche. Der Hahn, welcher 
fich zuweilen auf den Kirchthürmen flatt oder neben dem Kreuze findet, Hat eine Be— 
ziehung auf den Fall und die Befehrung des Petrus und auf Mare. 14, 38.— Die 
allgemeine und vielfältige Anwendung der crux exemplata einerfeits, der Mangel 
an Runftfinn und technifhem Geſchick und oft Iocale Eigenheiten andererfeits 
haben es mit ſich gebracht, daß man häufig fehr unäfthetifhe und vft fogar auch 
minder anftändige Darftellungen des gefreuzigten Heilandes in Statuen, Gemäl- 
den und Zeichnungen findet. Es ift nun allerdings zu wünfchen und fogar eine 
nicht unbedeutende Anforderung an die Seelforger, daß bei dem allgemeinen Fort- 
fohreiten der technifch -Fünftlerifchen Ausbildung und bei der fteigenden Wohlfeil- 
heit des Steindrudes und der Holzfchnitte der Geſchmack des Volfes auch in 
Bezug auf die bildlihe Darftellung religiöfer Gegenftände möglichft geläutert und 
veredelt werde. Die unäfthetifchen Kreuzbilder thun jedoch der Form des Kreuzes 
feinen Abbruch, denn diefe ift, wie Sailer richtig bemerkt, im hohen Grade äfthe- 
tiſch weil fie der einfachfte Ausdruf der erhabenften Lehre ift (Neue Beitr. 3. 
Bildg. d. Geiftl. I. S. 286— 287, Münden 1810), und das einfache ſchwarze 
Kreuz auf dem Grabe des Katholiken fpricht noch immer mehr zum- Herzen, als 
die eiferne Stange mit der aufgefchlagenen Bibel oder dem Zwiefalter obenauf 
über dem Grabe des Neformirten. Die Kreuzung der Priefterfiola bei'm heiligen 
Mefopfer flieht in der Mitte zwifchen der crux exemplata und der crux usualis; 
der Biſchof Freuzt die Stola nicht, weil er das Pectorale auch bei der hl. Meffe 
trägt, [Häuste,] 
Kreuz in der Bibeliprache. Der biblifhe Sprachgebrauch fennt eine 
fünffahe Bedeutung des Ausdrudes: Kreuz (savoos) in Verbindung mit den 
Ausdrüden: das Kreuz tragen, Freuzigen und gefreuzigt werden: 1) Das mate- 
riale Kreuz überhaupt als das fhimpflichfte Marterwerfzeug, als das Holz und 
den Pfahl des Fluches und der Schande, 3. B. Phil, 2, 8 und Hebr. 12, 2, ver» 
glihen mit 5 Mof. 21, 23. Cal. 3, 13 und ferner mit 1 Cor. 1, 23. — 2) Das 
materiale Kreuz, an weldem Chriftus flarb, z. B. Matth. 27, 32. 40, 42, 
Marc, 15, 21. 30. 32. Luc. 23, 26. Joh. 19, 17. 19. 25. 31. vgl. 1 Cor. 2, 8. 
Hebr, 6, 6. Dffend. 11, 8. — 3) Das Kreuz gleichbedeutend mit dem Berföh- 
nungstode Chrifti, 3. B. Ephef. 2, 16. Col. 1, 20. 2, 14, vgl. 1 Eor, 1, 13 
oder mit der Predigt von diefem Sühnungstode, der als eine Thorheit und als 
ein Aergerniß erfcheint für jene, welche verloren geben, aber als eine Kraft und 
Gnade für die Gläubigen, 3. B. 1 Eor. 1, 22—25. 2,2. Gal. 3, 1. Phil. 3,18, 
verglihen mit Rom. 1, 165 endlich als die Gnade, welche aus dem Kreuztode 
hervorgeht, 3. B. 1 Eor. 1, 17, 18, welde allein rettet und Feineswegs das 
äußerlihe, wenn auch beredte Wort, 3.3. 1 Tor. 1, 17—31, verglihen mit 
1 Cor, 2, 13, 14 und 2 Petr. 1, 16 und Feineswegs die Befchneidung, 3. B. 
Gal. 5, 11 und 6, 12. 14. 15. — 4) Das Kreuztragen überhaupt ift a) das 
Bild alles Schmerzlichen im mehr paffiven Sinne, das Bild des bitterften Leidens 
wie das finnverwandte: den Kelch des Leidens trinfen bei Matth. 20, 22. 23, 
oder die tentatio (rreroaaıos) bei Jac. 1,2 oder die Ausdrüde: Leiden (passio), 
Zuchtruthe (virga, baculus), Bedrängnif (tribulatio), Verfolgung (persecutio) 
und Heimfuhung Gottes (neaıdere, disciplina Hebr. 12, 6.7. 8.11) ein Gefreu- 
zigt werden; b) das Bild des Leidens im activen Sinne des Wortes durch frei- 
willige Selbftübernafme, durch Dulden und Kämpfen, als Selbftüberwindung und 
Selbfiverläugnung, als freies Kreuztragen, als Selbftfreuzigung, Hieher gehören 
namentlich die Stellen: Matth. 10,38, 16,24, Marc, 8, 34, Zur, 9, 23, 14,27, — 


264 Kreuz in der Bibelfprade. 


Zu der Zeit, als Chriftus die von ihm geforderte Nachfolge, Jüngerſchaft und 
Selbſtverläugnung mit dem activen: das Kreuz auf fi nehmen bezeichnete, fonnten 
feine Jünger unter dem Kreuze noch nicht wohl den ihnen bis dahin unbefannten 
fpeciellen Kreuzestod des Herrn verftehen, fondern das fehimpfliche Marterwerf- 
zeug des Kreuzes mußte ihnen als das Sinnbild des Leidens und der gänzlichen 
Selbftentfagung gelten, wie diefe fich überhaupt und in der Gefammterfcheinung 
des Menfchenfohnes darftellte. Eine Flarere Beziehung auf den Leidensgang und 
Kreuztod des Herrn Fonnte dieſe Aufforderung erft gewinnen, nachdem ihnen der 
Herr ſein Leiden vorausgefagt hatte (Matth. 20, 18,19. 26, 2, vgl. Luc, 24, 7. 20) 
und nachdem an Ihm die Schrift war erfüllt worden. Für uns aber wirb bie 
Aufforderung zum Kreuztragen geradezu eine Hinweifung 5) auf das wirkliche und 
nachgebildete Kreuz Chrifti in feiner figürlichen Bedeutung als crux Christi 
spiritualis in dem sub 4) a) und b) angegebenen Sinne. Dahin bezüglich fagt 
der HI. Auguftinus eben fo richtig als fhön: Crux domini'non tantum illa dieitur, 
quae passionis tempore ligni affixione construitur, sed illa quae totius vitae curriculo 
cunctarum disciplinarum virtutibus coaptatur (Sermo 12. de Sanctis), und: Quid 
est ‚‚tollat crucem suam“? Ferat quidquid molestum est — — toleret in 
mundo pro Christo quidquid intulerit mundus (in Ps. 45), ferner: Numquid Apo- 
stolus Paulus crucifixus fuerat, cum dicebat:. mihi autem absit gloriari nisi in cruce 
domini nostri Jesu Christi, per quem mihi. mundus crucifixus est et ego mundo? 
(Galat. 6, 14:) Hoc autem dieit ut intelligas, crucem non ligni esse patibulum sed 
vitae virtutisque propositum (serm. 32. de Sanctis). Das geiftliche Kreuz Chrifti, 
die Lehre und Schule des Kreuzes faßt eben fowohl das Gefreuzigtwerden als 
die Selbftkreuzigung, eben fowohl das Leiden als das Kreuztragen in fih, und 
wenn der hl. Paulus in 2 Cor, 14, 4 auf das Erftere bloß bindeutet, fo Tegt er 
auf das Legtere um fo mehr Gewicht in Gal. 2, 19, welche Stelle durch das 
ganze 6te Kapitel des Nömerbriefes eine vorzügliche Beleuchtung erhält, ferner in 
‚Sal. 5, 24. 6,14. Phil, 3, 18. — Die Schule des Kreuzes, in welde nad 
Luc, 14, 27 und 2 Tim. 3, 12 alle wahren Chriften gehen müffen, Holt ihren 
ganzen Unterricht aus der Schrift, denn diefe Tehrt uns 1) ganz deutlich Die ver- 
fchiedenen Arten des geiftlichen Kreuzes. Diefes ift nämlich zuvorderſt ein 
inneres (Nom, 9, 2), oder ein äußeres (2 Cor, 4, 8—11), oder ein inne- 
res und Aufßeres zugleich (Sprüchw. 17, 22). Es kommt weiters entweder 
son Gott (2 Kön. 12, 11), oder von den Menfchen (Pf. 55, 2, 3), oder 
von uns felbft (306 7,20, Röm.7,3), oder vom böfen Feinde (Job, 1. Cap, 
Eph. 6, 10—18, 1 Petr, 5, 8.9. Das geiftliche Kreuz ift ferner ein gutes 
Kreuz (Matth. 5, 10. Phil. 2, 8. 1 Petr. 2, 19—25. 3, 14, 4, 13, 14, 16), 
oder ein böfes (Luc, 8, 13. Gal. 3, 1—4. 1 Petr, 2, 20, 4, 15). Das geift- 
Yiche Kreuz ift überdieß verfchieden, bald größer und ſchwerer, bald geringer 
und Heiner, Es ift weiters bald ein dffentliches, 3. DB. Krieg, Hunger, Miß- 
wachs, Peft, bald ein Privatfreuz. Diefe Arten des geiftlihen Kreuzes laffen 
fih an den Heimfuchungen, welche Gott über das ifraelitifche Volk oder über ein- 
zelne biblifche Perfonen verhängte, hundertfältig aus der heiligen Schrift nach— 
meifen, Ebenfo biblifch begründet ift folgende Bemerkung des heiligen Auguftin: 
Alia est crux, quam tu invenis, alia quae te invenit. In utraque famen cruce — — 
ut utramque -depellas, ille rogandus est, qui’est adjutor in tribulationibus ; nam et 
ille, cum invenit (Ps. 114, 3. 4), hoc dixit: „et nomen domini invocavi‘, et hi 
in tribulationibus, à quibus se inventos esse dixerunt, hoc dixerunt (Ps. 45, 1): 
„Deus noster refugium et virtus, adjutor in ftribulationibus, quae invenerunt nos 
nimis“ (S. Aug. in Ps. 45). — 2) Die Thatfahe, daß jederwahre Chrift fein 
Kreuz hat, ja die Verpflichtung des Ehriften, den füniglichen Weg des Kreuzes 
(Thom. ä Kempis de imit. Chr. 1. Il. 6, 12) zu wandeln, geht aus Luc, 14, 27, 
Röm. 5, 6, Gal, 2, 19, 5, 24, Col. 3, 1—10, 2, Tim, 3, 12 klar hervor und 





| Kreuzbild — Kreuzbulle. 265 
Auguftin fagt daher mit Recht: Tota vita Christiani hominis, si secundum Evange- 
lium  vivat, crux est atque martyrium (Sermo 32 de Sanctis). — 3) Warum 
Gott dem Chriſten fo viel Kreuz ſchicke, Hat der Hl. Auguftinus Cin Pf. 43) mit 
folgenden Worten ausgeſprochen: Deus ideo huic vitae male dulci miscet amari- 
tudines tribulationum, ut alia quae salubriter duleis est requiratur, und daß das Kreuz 
zur Prüfung und Bewährung den Guten geſchickt werde, geht aus Sprüchw. 17,3. 
Sir, 27, 6. Luc, 22, 28, Rom. 5, 3.4.5 hervor, — 4) Wie das Kreuz getra- 
gen werden müſſe, Iehrt ung die HL. Schrift unter mannigfachen Gefichtspuneten. 
Das ganze Leben Jeſu war Ein Kreuzgang, Ein Weg der Selbftverleugnung, 
darum foll auch unfer ganzes Leben Ein Weg des Kreuzes fein (Hebr. 12, 1—13); 
wir follen auch in diefer Hinficht nichts Anderes zu willen verlangen als Ehriftum, 
und zwar Chriftum den Gefreuzigten (1 Cor, 2,2). Seine Einladung zum täg- 
liden Gas nusgav) Kreuztragen, zur täglihen Selbftverleugnung ift höchſt 
dringlich; Luc. 9, 23. vgl. Matth. 16, 24. — Das Kreuz muß ferner geduldig 
getragen, die passio muß zur patienlia werden: Röm. 5, 3—5. 2 Cor. 6, 4—11, 
Hebr. 6, 12. 10,36. 12,1. — Das Kreuz muß freudig (2 Eor.12,10. Jar. 1,2. 
1 Ver. 4, 13), beftändig Cconstanter) (Matth, 10, 22. Röm. 8, 35 — 39, 
2 Eor. 12, 10), mit Dankbarkeit (Dan. 3, 51. Apg. 16, 25) und dffent- 
lich (Matth. 10, 32. Gal. 6, 17. Hebr, 10, 32—39. 1 Petr. 4, 16) getragen 
werben. Es darf und weder die Größe, noch die Ungewohntheit, noch die 
Andauer des Kreuzes abhalten, daffelbe zu tragen: Joh. 16. Cap. 2. Cor. 4, 
16-18, Phil. 3,17 —21. Hebr. 3, 713, 1 Petr. 1, 6.7. 5, 8-10. — 
Man muß endlich das Kreuz tragen, e8 mag von wem immer fommen: Röm,8. 
35—39. 1 Getr, 4, 19. Der hl. Chryfoftomus gibt (hom. I. ad Antioch.) 
zehn Gründe an, warum Gott befonders den Heiligen fo viele Kreuze ſchickt. 
Diefe Gründe Iaffen ſich theilweife aus folgenden Bibelftellen erheben: 1) Damit 
fie ih nit etwa übernehmen, 2 Cor, 12, 7. — 2) Damit die Menfchen von 
ihnen feine falfche Meinung faſſen. Apg. 3, 11. 12. 14, 10—14, — 3) Damit 
Gottes Kraft offenbar würde, Apg. 16, 21— 30. — 4) Damit e8 niht den 
Anschein Habe, daß die Heiligen Gott wegen irdifcher Bortheile dienen. Job 1, 9—11. 
- and 2, 4 5. — 5) Um die Hoffnung der Auferftehfung und Belohnung in uns 
zu beleben. — 6) Um uns Beifpiele der Geduld zu verfchaffen. Tob, 2, 12.— 
T) Um das befannte: Si potuerunt hi et hae, cur non et ego? in ung anzuregen. 
Sae. 5, 11.17.— 8) Damit wir das wahre Glück und Unglüdf erfennen lernen. — 
9) Weil die Trübfal die Heiligen noch mehr läutert und reinigt. — 10) Weil 
die Mehrung der himmlifchen Seligkeit nach dem Maße der irdifchen Trübfal 
wähst. — 5) Die Früchte des geiftlichen Kreuztragens find Troft, Freude, 
Ruhm und Hilfe (Matth. 5, 10—12. 2 Cor. 1, 3—7), ferner die Kind- 
haft Gottes (2 Cor. 6, 4—10, Hebr. 12, 5—8), Schuß vor der Sünde 
(1 Cor. 11, 32) und Tilgung der begangenen Sünden (Tb. 3, 13. 21. 
Sir. 2,133, 10). Das Kreuz Fräftigt und vollendet den Menfchen: 
2 Cor. 12, 9, 10. 1 Petr. 5, 10. Das Kreuz führt zur Gleihförmigfeit 
mit Chrifto, ja es wandelt uns gleihfam in Chriftum um: Röm. 8, 28.29. 
2 Epr, 4, 8— 11. Gal. 2, 19. 20. Phil. 2, 21.3, 10. Dem Kreuze ift die 
ewige Seligfeit zuerfannt: Luc, 24, 26. 2 Cor. 4, 16—18. Phil. 1, 19. 20, 
— Bergleihe: Jac. Gretseri de sancta cruce. Tom. I. lib. V. de cruce spiri- 
 tuali. — Dr. Schlör, die Schule des Kreuzes in fieben Lectionen. Graz. 
2te Auflage, [Häusle,] 

Kreuzbild, f. Crucifix. 

Krenzbrüder, f. Geißler. | 

Kreuzbulle (Eruzada). Papſt Calixtus III. hatte gleich mehreren feiner Vor— 
fahren und Nachfolger ſich's zu einer der evelften Aufgaben feines Hohenpriefter- 
thums gefegt, fowohl durch materielle, als befonders durch geiſtliche Mittel der 


266 Kreuzerfindung. 
Bekämpfung der drohenden Türfenmacht durch die hriftlichen Fürften den möglich- 
ften Nachdrud zu geben. In diefer Abficht ertheile er im Jahre 1457 unter dem 
Könige Heinrich von Eaftilien allen denen, welche die Waffen gegen die Feinde 
des chriftlichen Namens ergreifen, oder dem genannten Könige eine gewiffe Geld- 
fumme zur Beftreitung der Kriegsfoften verabreihen würden, einen Ablaß für 
Lebendige und Verftorbene durch eine eigene Bulle, weldhe von ihrem Ziele, dem 
Kreuzzuge gegen die Ungläubigen, Kreuzbulle genannt wurde, Der Ablaß ward 
zunächft auf fünf Jahre verliehen, aber fpäter von Zeit zu Zeit erneuert, und auf 
andere Freiheiten, 3. B. Befreiung von der Firhlichen Abftinenz u. ſ. f. ausgedehnt. 
Die durch die Kreuzbulle erzielte Abgabe bildete in Spanien einen beträchtlichen 
Theil der öffentlichen Einkünfte, Seit dem Jahre 1753 erfolgten Erneuerungen 
diefer Bulle nicht mehr. Eine ähnliche Bulle erließ 1514 Papft Leo X, zu Gun- 
ften des Königs Emanuel von Portugal, welchem dadurch für feine Bemühungen 
in Belehrung der Ungläubigen in Africa der dritte Theil der Kirchenzehnten, und 
der zehnte Theil der den Kirchen und geiftlichen Beneficien zugehörigen Zölle 
zufiel. Ueberhaupt fuchten öfter die Päpfte durch ſolche Onadenbezeigungen den 
Slaubenseifer hriftlicher Fürften zu belohnen. [Dür.] 
Kreuzerfindung. Die Entdefung des Kreuzes und des Grabes unfers 
Heilandes beruht auf fo vielen, fo frühen und fo ehrwürbigen Zeugniffen, daß 
diefe Thatfahe, wenn auch in einigen Nebenumftänden verfchiedenartig erzählt, 
nicht in Zweifel gezogen werben Fann. Zeugen find der HI, Eyrillus von Jeru⸗ 
falem, der hl. Paulinus, Sulpitius Severus, Ambrofius, Chryfoftomus, Rufin, 
Theodoret, Sperated und Sozomenus. Bei dieſer Wolfe der unverdaͤchtigſten 
Zeugen hat es nicht fo viel auf fih, wenn Eufebius von Cäſarea zwar die Ent- 
decfung des hl. Grabes erzählt, aber über die Auffindung bes HI. Kreuzes ſchweigt. 
Gleichwohl Cbemerft Stolberg X, 257, Kircheng. Hambg.) ſcheint eine Stelle des 
fowohl von ihm als von Theodoret und Sperates aufbewahrten Schreibens Con— 
ftantin’s an Bifhof Macarius von Serufalem beffer auf die Auffindung des 
Kreuzes als des Grabes zu paffen, fie lautet: „Sp groß ift die Gnade unfers 
Heilandes, daß die Sprache ihren Dienft zu verfagen feheint, das jegt gefche- 
bene Wunder würdig auszudrüdfen. Denn daß das Denkmal feines aller- 
beiligften Leidens fo viele Jahre unter der Erde verborgen geblie- 
ben, bis e8 nach Vertilgung des dffentlichen Feindes (Licinius) den nun befreiten 
Dienern Chrifti hervorſchimmern follte, das ift wahrlich über alle Bewunderung 
erhaben.“ Ebenfo wenig thun die ſchon frühzeitig von einem unwiffenden Griechen 
gefchmiedeten fabelhaften Acten über die Erfindung des Kreuzes der Wahrheit 
diefer Thatfache einen Eintrag, vielmehr beftätigen fie diefelbe, wurden übrigens 
ſchon durch des Papftes Gelafius I. „decretum de libris recipiendis vel non reci- 
piendis“ für appfryph erklärt, doch aber nachher von Gregor von Tours, Florus, 
Rhaban Maurns und Notker in ihren Martyrolpgien benüßt (f. Boll. ad 3. Maii 
de invent. crucis, c. 2; ad 4. Maii de S. Juda-Quiriaco). — Raifer Hadrian (ſ. d. A.) 
batte die Stätten des Todes und des Begräbniffes Jeſu Chrifti entweihen und 
unfenntlich machen laſſen; verfehüttet war die Höhle des hl. Grabes und über ihr 
und auf Golgatha waren der Benus und dem Jupiter Tempel und Statuen 
errichtet. Kaifer Conftantin (f. d. A) befhloß, den Gräuel an den hl, Orten 
nicht mehr zu dulden und auf Golgatha eine Kirche zu erbauen, Demnach unter- 
nahm es im Auftrage Eonftantin’s deffen Mutter Helena (ſ. d. A.), die heiligen 
Stätten aufzuſuchen und zu reinigen, die heidniſchen Tempel und Idole niederzu- 
reißen und dem Heilande geweihte Kirchen zu errichten, - Dabei ftand ihr der 
durch Frömmigfeit und feinen Eifer gegen den Arianismus ausgezeichnete hl. Maca- 
rius, Bifchof von Jerufalem, vom Kaiſer dazu beauftragt zur Seite, Es hielt 
aber ſchwer, die Stätten, wo Chriſtus gelitten hatte und auferftanden war, zu 
finden, indem ſich während der 200jährigen Entweihung derfelben die chriſtliche 





Kreugerfindung. 267 


Tradition hierüber verlor; noch weniger wußte irgend Jemand zu Jeruſalem der 
Kaiferin, in welcher das fehnfüchtigfte Berlangen nach Auffindung des HI. Kreuzes 
entftanden war, hierüber Befcheid zu geben. Dennoch gelang es ihr, nach Aus- 
rottung der heidnifhen Gräuel, nad Reinigung des Orts vom Schutte und nad 
Aufgrabung des Bodens die Felfengruft des HI. Grabes zu entdecken, und groß 
war ihr. und des anwefenden Volkes freudiges Erſtaunen, ald man nahe bei dem 
hl. Grabe drei Kreuze fammt Nägeln und der vom Kreuze getrennten Juſchrift 
fand, welche über dem Kreuze geftanden hatte! Es mag fein, daf, wie Ambrofius 
‚meint, die Infchrift dem einen Kreuze beffer als den andern anzupaffen gefchienen 
babe, allein dieß war nur eine unfichere Spur und fonnte den Schmerz nicht heben, 
welcher fich der Freude über die koſtbaren Entderfungen dadurch beigemifcht Hatte, 
daß man nicht wußte, welches von den drei Kreuzen dasjenige fei, an welchem der 
Heiland gelitten habe. Da gerieth Macarius auf den Gedanken, die drei Kreuze 
zu einer der vornehmften Damen von Jerufalem, welche auf den Tod Frank lag, 
bringen zu laffen. In Gegenwart der Kaiferin und des Bolfs ließ man fie die 
Kreuze berühren; bei den beiden erften ohne die geringfte Wirkung, als fie aber 
das dritte berührt hatte, fand fie vollfommen genefen auf. Auch ein Todter foll 
damals durch die Berührung des Kreuzes erweckt worden fein; Paulin erwähnt 
irrtbümlich nur des letztern Wunders, Einen Theil des heiligen Kreuzes ließ 
Helena in Silber einfaffen und übergab ihn dem Biſchofe von Jerufalem, daß er 
für alle Zeiten aufbewahrt würde; einen andern Theil des Kreuzes fammt den 
Nägeln fandte fie ihrem kaiſerlichen Sohne; diefer foll zum Schuge der Stadt 
die Kreuzreliquie in eine feiner Bildfäulen zu Conftantinopel, einen der Nägel in 
einen prachtvollen Zügel feines Pferdes und dem andern in ein reiches Diadem 
oder einen Helm eingefegt haben. Wahrfcheinlich brachte Helena bei ihrer Nüd- 
kehr nah Rom auch dahin einen Theil des HI. Kreuzes. Die Kreuzerfindung 
geſchah im Jahre 326, Auf Eonftantin’s Befehl fing man fogleich und noch unter 
den Augen der HI. Helena mit dem Bau der prächtigen Kirche zu HI. Grabe (au 
Kirche der Auferfiehung, Bafılica des HL. Kreuzes genannt, f. den Art, Grab, das 
heilige, zu Jerufalem) an, die nach ihrer Vollendung im Jahre 335 mit 
. großer Splemnität eingeweiht wurde. In diefer Kirche ward nun der Theil des 
bl. Kreuzes niedergelegt, den Helena zu Jeruſalem gelaffen hatte. Nur mit befon- 
derer Erlaubniß des Bifchofs von Jerufalem durften Eleine Stückchen davon abge- 
ſchnitten werden, die man als den Foftbarften Gnadenfhag bewahrte. Sp über- 
brachte die HI. Dielania dem HI. Paulin eine Kreuzpartifel, die fie vom Bifchof 
Sohann von Jerufalem erhalten Hatte, und Paulin fendete ein Theilhen hievon 
in goldener Einfaffung an Sulpitius Severus, unter Anderm bemerfend, daß unge- 
achtet des Abfchneidens folder Partikeln eine Abnahme an dem HI. Kreuze nicht 
bemerkt werde. Indeß waren ſchon zu Eyrills von Serufalem Zeit Stüdchen 
vom HI. Kreuz in der ganzen Welt verbreitet, wie derfelbe erzählt, Für dag 
Volk zur öffentlichen Verehrung wurde das Kreuz zu Gerufalem öfter im Fahre 
ausgefegt und zwar 1) am Dftermontag; 2) in der Mittelmoche der großen Faften ; 
3) außerorbentliher Weife für die aus weiter Ferne herbeigezogenen Pilger und 
A) am 14, September, An dem Iegtern Tag wurde, wohl ſchon feit Conftantin’s 
Zeit ber, das Hauptfeft zu Ehren des hl. Kreuzes gefeiert, welches den Namen 
„Exaltatio s. crucis“ „oravgwaruog vusga“ trug und wahrfheinlih ſowohl der 
Entdeckung des HI. Kreuzes als dem Gedächtniß der Einweihung der HI. Grabes- 
kirche galt. Ein anderes und eigenes Feft unter dem Titel der Kreuzerfindung 
wurde bei den Griechen nie gefeiert, wenigftens nicht allgemein und mit Solem⸗ 
nität. Zu Rom dagegen, wo zum Gedächtniß des dem Kaifer Conftantin erfchie- 
menen Kreuzes eine Kirche erbaut worden war und wohin Helena au ein Stück 
des HI. Kreuzes gebracht Haben mag, kommt im Sacramentar und Antiphonar 
Gregor des Gr. fhon ein eigenes Feft der „inventio sanctae crucis“ am 


268 Kreuzerhöhung. 


3, Mai vor (f. Greg. M. opp. edit. Maur. t. III. 86. 391. 693), welches ſich alf- 
mählig über die ganze abenbländifhe Kirche ausbehnte, — ©, die Bollandiften 
zum 3. Mai und Tillemont's Memoires, VI, 1—21;5 vgl. Stolberg’s Geſch. 
d. Rel. 3. Chr. X, 253 20. Hamb, 18155 Butler’g Leben der Väter u, Mar- 
igrer v. NAß u. Weis, 3. Mai u. 14, September, [Schrödl.] 
Kreuzerhöhung. Als die Perfer im Jahre 614 die Stadt Jerufalem erobert, 
geplündert und mit Chriftenblut getränft hatten, fehleppten fie unter den vielen 
Gefangenen auch den Patriarchen Zacharias von Jeruſalem und felbft das von 
der hl. Helena aufgefundene HI. Kreuz weg. Jedoch waren die Perfer, in ber 
fihern Hoffnung eines ungeheuern Löfegeldes, für die Erhaltung der hl, Kreuz— 
reliquie fehr beforgt: fie wurde in einen befonders dazu gefertigten Kaſten gelegt, 
welcher unter den Augen der Perfer von dem Patriarchen Zacharias mit dem 
Siegel der Patriarchalticche verfiegelt werden mußte, und dann nach einem feften 
Schloß in Armenien gebracht. Als endlih Herachus (ſ. d. A.) im Jahre 627 
die Perfer befiegte, wurde im Friedenstractat mit Perfien auch die Rückgabe des 
hl. Kreuzes ausbedungen, und als der Kaifer im Triumphe auf einem prächtigen 
Wagen, mit vier Elephanten befpannt, in Conftantinopel einzog, ließ er das in 
der Lade verwahrte Kreuz vor dem Wagen einhertragen. Im Frühjahr 629 (630) 
reiste der Kaiſer mit glänzendem Gefolge nach Zerufalem, um das hl. Kreuz 
wieder zurüczubringen und für den verliehenen Sieg zu danfen, Und nun fand 
eine unvergleichliche Feierlichfeit Statt. In feierlicher Proceffion wurbe das wieder 
eroberte Heiligtum an feine frühere Stelle auf Golgatha oder in Die Kirche des 
hl. Grabes gebracht, und der Raifer felbft wollte das durch feine Siege gewonnene 
Kreuz tragen, Allein es widerfuhr ihm etwas dem Aehnliches, was der berühm— 
ten Büßerin Maria von Aegypten im Jahre 383 begegnet war, da fie am Fefte 
der Kreuzerhöhung (f. Kreugerfindung) das zur Adoration ausgefegte HI. 
Kreuz in der HI, Grabeskirche fehen wollte und durch eine unfichtbare Gewalt ſich 
von dem Eingang in. die Kirche zurücfgebrängt fühlte (Boll. 2. Apr. d. S. Maria 
Aeg. 0.2? u.3). Wie nämlich die Proceffion unter Mufifgetön und Freudenhym- 
nen an das nach dem HI. Berg führende Thor gefommen war, vermochte Hera- 
elius feinen Fuß mehr zu heben, unfichtbare Arme fchienen ihn aufzuhalten, Der 
nebft allem Volk erftaunende Patriarch Zacharias, der mit dem Kaifer aus der 
perfifchen Gefangenfchaft zurücfgefehrt war und feinen Patriarchenftuhl wieder ein- 
genommen hatte, blickt zum Himmel empor und wie von Oben erleuchtet Spricht 
er: „Bedenk, o Kaifer, ob du in deinem Schmude eines Triumphzuges Aehnlich- 
feit mit dem Heilande habeft, der das Kreuz auf eben dem Wege als der ärmfte 
und demüthigfte getragen.” Heraclius legte fogleich feine Pracdtgewande ab, und 
in einen geringen Mantel gehülft und mit bloßen Füßen fohritt er nun mit dem 
hl. Kreuz ohne Anftand vorwärts und brachte e8 an die geziemende Stätte, Diefe 
Wiedererlangung des Kreuzes aus der Gewalt der Perfer und das wunderbare 
Ereigniß, welches fich bei der Feier der Zurücbringung deffelben mit Herackius 
zugetragen, gaben dem Fefte der Kreuzerhöhung (exaltatio, oravgopewsre)/einen 
neuen Glanz. Seitdem wurde der 14. September als Feft der „Exaltatio 
crucis“ auch im Abendlande gefeiert, aber hier an diefem Tage nur das Gedädht- 
niß an die Zurücführung des HI, Kreuzes aus Perfien begangen, wie z. B. erſicht- 
lich wird aus dem Martyrologium Wandelbert’s, wo es zum 14, September 
heißt: „Exaltata crucis fulgent vexilla relatae, Perside ab indigna viotor quam vexit 
Heracleus,“ und aus Notfer’s Martyrologium: „Eodem die (i. c. 14, Sept.) 
exaltatio sanctae crucis, quae ab Helena inventa ita per medium secta est, ut et 
crux Jerosolymis conservata et crux Constantinopolim sit deportata. Post multa 
temporum curricula Persarum gens ‘cum rege suo Chosdro& .. . etiam Jerosolymam 
invadunt. De qua plurimis ornamentorum insignibus ablatis, crucem quoque Domi- 
nicam abducunt. Quam Chosdroö'in turrem argenteam constituit sibique in eadem 





Kreusgänge — Kreuzherren. . 7089 


turri sedem ex auro paravit, in qua velut collega Dei sedere consuevit. Heraclius 
igitur Romanus Imperator contra Persas bellum aggressus, occiso Chosdroö vene- 
rabile lignum cum magna veneratione reportavif, et in eodem die caecis, para- 
Iytieis, leprosis, daemoniacis pluribus sanatis, etiam mortuus vitam recepit“ (Basn. 
Canis, lect. antig. II, III, 174.), Befremdend ift, daß Notfer den Vorfall nicht 
erwähnt, der dem Raifer beim Tragen des HI. Kreuzes begegnete; freilich iſt diefe 
Thatfahe auch nicht durch fo viele und fo unabweisbare Zeugen verbürgt, wie 
die Auffindnng des HI. Kreuzes, ©. die Ehronographie des Theophanes; Dam- 
bergers ſynchroniſt. Gefch. der Kirche und der Welt, Regensb, 1850, B. J. ©. 3845 
Fleury, hist. Eccl. zum Jahr 628 — 629; Sollerius in Martyrologio Usuardi ad 
14. Sept.; Butlers, Leben der Väter und Martyrer zum 14. Sept. [Schrödl,] 

Kreuzgänge, f. Bittgänge. 

Kreuzherren, Kreuzträger (Gruciferi). Das Zeichen des Kreuzes genof 
bei den gläubigen Chriften von jeher eine fo große Verehrung, daß es nicht be= 
fremden darf, daß ſich auch eine religidfe Genoffenfchaft nah ihm benannte, In— 
deß müffen mehrere Congregationen von Kreuzherren unterfohieden werden. Wir 
nennen bier zuerft die Kreuzherren mit dem rothen Stern. Was zunähft die 
Zeit ihrer Stiftung anlangt, fo wollen fie in Paläftina entftanden und von da 
nach Europa ausgewandert fein, was an fih nach dem Vorbilde der Carmeliter 
möglich wäre, wogegen aber Hiftorifche Thatjachen zeugen, Hier hätten fie die 
Regel des Hl. Auguftin angenommen und in Böhmen viele Klöfter gebaut. Hiſto— 
rifch gewiß ift, daß die böhmiſche Princeffin Agnes, bevor fie das Kleid der 
Sranciscanerinnen nahm, im 3. 1234 bei Prag, am Ende der Brüde, ein Ho— 
fpital fliftete und dieß den Kreuzträgern übergab (Helyot, Klofter nnd Ritter- 
orden Bd. II. ©. 280 ff.). Alsbald wurde die Stiftung fehr reich begabt und 
beſchenkt. Schon im 3. 1241 erhob fih ein zweites Spital der Kreuzträger zu 
Breslau durch Anna von Böhmen, der Schwefter Agnefens und Wittwe des Her- 
3098 Heinrich II. zu Breslau und wurde gleichfalls fehr reich dotirt. Papft Inno— 
cenz IV. beftätigte die Stiftung und gab ihren Mitgliedern in Böhmen zur Unter- 
fheidung von andern Kreuzträgern einen rothen Stern, Nahmals erhielt die 
Eongregation, mit den großen Reichthümern, auch großes Anfehen und im 17ten 
Jahrhundert bezog der Erzbifchof von Prag als General der Kreuzberren von 
diefen ein jährliches Einfommen von 12,000 fl., fie wußten es jedoch fo weit zu 
bringen, daß fie einen General aus ihrer eigenen Mitte wählen durften und zu- 
gleich von der läſtigen Abgabe befreit wurden. Allmählig erhielten fie zahlreiche 
Häufer in Böhmen, Deftreih, Schlefien und Mähren. Ueber ihren gegenwärtigen 
Stand in der öftreichifchen Monarchie Haben wir leider Feine Notizen. Neuerlich 
bat der Orden eines feiner Mitglieder Auguftin Smetana durch Abtrünnigfeit 
von der Kirche verloren (f. Neue Sion, Jahrg. 1850, Aprilheft, erſte Hälfte, 
©. 219.). — Die Rreuzträger in Frankreich und den Niederlanden haben 
gemeinfchaftlichen Urfprung. Sie wurden im 5. 1211 von dem P. Theodor von 
Eelles, aus freiherrlihem Gefchlechte, geftiftet. Nachdem er den Kaiſer Friedrich 
Barbaroſſa in den heiligen Krieg begleitet hatte, erhielt er zu Lüttich ein Canoni- 
sat und vermochte jet vier feiner Eollegen zu einem firengen gemeinfchaftlichen 
Leben. Dann trat er eine Miffton bei den Albigenfern an und fand nach feiner 
Zurüdfunft feine vier Genoffen bereit, die Welt zu verlaffen. Der Biſchof von 
Lüttich gab ihnen für diefen Zwerf die Kirche zu St. Thibald, auf einem Hügel, 
Elair-Lieu genannt, in der Nähe der Stadt Huy. Hier nun legten fie den Grund 
zu dem Drden des hl. Kreuzes, der ſich nachmals in Franfreich und den Nieder- 
landen ausbreitete. Anfangs Iebten fie bloß von Almofen und frommen Spenden, 
da fie ohne alle Einkünfte gelaffen worden waren und auf ihre Güter verzichtet 
hatten, Allein allmählig wurde diefes Klofter durch reichliche Schenfungen eines 
der reichften und prächtigſten. Papft Honarius II. beftätigte die Stiftung, die 


270 Kreuzigung. 


noch zu Theodors Lebzeiten (geſt. 1246 oder ſchon 1244) weite Verbreitung 
gefunden hatte. In Frankreich traten ihre Mitglieder zuerſt mit dem hl. Domini— 
eus als Miffionäre bei den Albigenfern auf und richteten fih dann nach ben 
Eigenthümlichfeiten des Dominicanerordeng, was der Gleichfürmigfeit wegen auch 
die niederländifchen Klöfter nahahmten, Innocenz IV. beftätigte dieß. Als eifrige 
Prediger fanden fie in Frankreich fo großen Beifall, daß fie Ludwig der Heilige 
felbft nach Paris berief. Nachmals erhielten die Franzofen einen eigenen Pro— 
vincial, während ber General zw Clair-Lieu refidirte, Sie trugen einen weißen 
Leibrof mit fhwarzem Scapulier und beim Ausgehen einen ſchwarzen Mantel 
darüber, Urfprünglih, vor ihrer Berührung mit den Domincanern, hatten fie 
einen ſchwarzen Leibrod getragen. Außer den Niederlanden verbreiteten fie fich 
auch in Teutſchland, als in Cöln, Aachen ıc, Sie nannten fih Hofpitaliter (f. 
Helyot, a. a. O. I. ©, 269 ff.). — Was ferner die italienifchen Kreuzträger 
anlangt, fo ift die Zeit ihrer Gründung nicht zu ermitteln, diefe jedoch Feinenfalls 
vor die Periode der Kreuzzüge zu datiren. Alexander VIL ſah fich bei gänzlichem Zer- 
fall der Disciplin genöthigt, die italienifche Congregation aufzuheben (1656); ihre 
Güter fchenkte er der Republif Venedig, um fieim Türfenfriege zu unterflügen, Sie 
wurden auch regulirte Chorherrn genannt und folgten der Negel des HI, Auguftin, 
erftreeften fi) aber nicht außerhalb Italiens, wo fie indeß in fünf Provinzen 
zerfielen,. Ihre Klöſter waren zugleich Spitäler, — Auch Irland und England 
hatten Kreuzherren, deren Gefchichte jedoch dunfel und unbedeutend ift (f. Helyot, 
a. a, D. 1. ©, 267 f.) Alle diefe Congregationen von Kreuzherren nun wollen 
in Paläftina und zwar ſchon zur Zeit der Auffindung des HI. Kreuzes durch die 
hl. Helena entftanden fein, eine Annahme, die faum einer Widerlegung bedarf, 
©, jedoch Helyot, II. 263. Auch Ordensritter, wie die Teutfchherren, wurden 
zuweilen wegen ihres Kreuzes Kreuzherren genannt, [$ehr.] 
Kreuzigung. Die Todesftrafe der Kreuzigung hatten außer den Römern 
auch die Griechen, Syrer, Perfer, Indier, Aegyptier und Carthaginienfer, Dem 
mofaifchen Gefete ift fie fremd, denn das Aufhängen der Verbrecher an einen 
Pfahl Hat damit nichts gemein, indem dieſes erft nach der Hinrichtung zur Be- 
fchimpfung der Leiche geſchah (vgl. 4 Mof. 25, 4 f. 5 Mof. 21, 22 f.)5 do 
haben fie endlich die legten Hasmonäifchen Fürften von den Römern angenommen 
(Joseph. Antt. XHI. 14, 2.) und fie war fofort unter den Herodiaden und wäh- 
rend der römifchen Herrfchaft auch bei den Juden gewöhnlich (Joseph. Bell, jud. 
I. 14. 9. V. 11,1.) Dem jüdifhen Gerichtshofe war von den Römern die Aus— 
übung der Todesftrafe ganz entzogen (vgl. Joh. 18, 31.); zwar fonnte das 
Synedrium, wie wir aus der Gefhichte Jeſu fehen, die Todesſtrafe nad) dem 
väterlichen Gefete zuerfennen (vgl. Matth. 26, 65. Joh. 19, 7.), allein die 
war nichts weiter als eine leere. Form, weil fofort der römifche Proeurator die 
Unterfuhung von Neuem führte und ein eigenes Urtheil fällte, die Todesftrafe 
auch felbft vollziehen ließ (vgl. Joh. 19, 13. 23. Matth, 27, 27. 35.). Jeſus 
mußte eben deßhalb, weil er nach den damaligen Rechtsverhältniſſen in Judäa 
an den Procurator Pilatus überliefert und von ihm zum Tode verurtheilt wurde, 
die Kreuzigung erbulden, da er fonft wegen angefehuldigter Blasphemie (Matth. 
26, 65. parall.) gefteinigt worden wäre (3 Mof, 24, 16.). Indem wir unfern 
Gegenftand mit Rückſicht auf den Tod Chriſti behandeln, fo haben wir es vor— 
nehmlich mit der römifchen Kreuzigung zu thun. Sie galt als die härtefte und 
ſchimpflichſte Todesſtrafe (crudelissimum, teterrimum supplicium. Cicero in Verr. 
V. 64. cf. Arnob. adv. gentes I. 36.), und war für Sclaven, Straßenräuber, 
Meuchelmörder und Aufrührer beftimmt, weßhalb die Juden, um fie über yefum 
zu bringen, die religiöfe Anſchuldigung vor dem Procurator in eine politifche 
Klage umwandelten (Matth, 27, 11. parall.). Die für den Urtheilsſpruch üb- 
liche Formel war: ibis ad crucem, und unmittelbar darauf wurde zur Strafere- 





Kreuzigung. 271 


eution geſchritten. An Orten, wo der Richter Feine Lietoren hatte, wurden dazu 
Soldaten gebraucht, und zwar gewöhnlich vier, eine quaternio, mit einem centurio, 
welcher bei diefer Function exactor morlis oder supplicio praepositus hieß (Taecit. 
Annal. Ill. 24. Senec. de ira I. 16.); fo geſchah es in Judäa (vgl. Matth. 27, 
27 ff. 35. Joh. 19, 23. 24.). Die Strafereeution begann mit einer Geißelung 
im Prätorium, welche öfters mit unmenfchliher Graufamfeit vorgenommen wurde, 
fo daß viele darunter ftarben (Philo contr. Flacc, $ 10. Joseph. B. j. I. 14, 9. 
ef. Heyne opusc. acad. vol. Il. n. 11.). Bon diefer Geißelung, die einen Be— 
ſtandtheil der Todesftrafe ausmachte, ift jene verfchieden, die Pilatus noch wäh: 
rend des Berhörs Jeſu den Juden für Jefum proponirte (Luc. 23, 16, 22.), 
und ebenſo diejenige, welche er nachher, aber noch vor der Aburtheilung, an ihm 
wirklich vollziehen ließ (Joh. 19, 1.)5 die erfte follte als befondere Strafe, wie 
fie die Römer wegen geringerer Vergehen anwendeten, die Juden befriedigen, 
daß fie von der Forderung eines firengeren Berfahrens abfländen,, die andere ift 
ein peinliches Geftändnigmittel, — quaestio per tormenta (vgl. meinen Comment. 
3. Joh. I. ©. 367 f.). Weil Jefus furz vor dem Urtheilsſpruche eine Geißelung 
erlitten, fo ift die zuerft erwähnte unterblieben. Als Werkzeuge dienten bei der 
römischen Geifelung entweder Ulmenruthen, oder Geißeln aus Riemen, deren 
Enden mit Knochen oder Dleiftüden verfehen waren (Lipsius de crucel.. 0. 3.). 
Die Krenzigung wurde dann immer außerhalb der Stadt an einem volfreichen 
Drte volibradpt (Plaut. Miles glor. Act. I. Sc. IV. v. 6.7. Cicero pro Rabir. 
6. 3.)5 die Richtſtätte von Jerufalem hieß an532 3, ToAyoda, Schädelort (Matth, 
27, 33. 309. 19, 17.)5 f. d. Artikel Calvarienberg. Die Berurtheilten 
mußten das Kreuz felbft auf die Rictftätte tragen (Plut. de sera numin. vindict. 
©. 9. Artemidor. Oneiroecrit. II. c. 56.); auch Jeſus trug anfangs das feinige 
Goh. 19, 17.), aber e8 verliehen ihn die Kräfte, und nun nöthigten die Sol- 
Daten einen gewiffen Simon von Cyrene, der eben vom Felde Fommend dem Zuge 
begegnete, ihm das Kreuz abzunehmen (Matth. 27, 32 parall.), wie derartige 
Gewaltthätigfeiten bei dem römifchen Militär in den Provinzen - öfters vorfamen 
(Arrian. Epictet. IV. c. 1.). An ihrem Halfe hing oder es wurde ihnen voran=- 
getragen eine Tafel, titulus, oavis, Aevxzwur und airiz genannt, welche mif 
einer Aufſchrift die Urfache der Hinrichtung befannt machte (Socrat. H. E. L 17. 
Euseb. H. E, Y. 1. Sueton. Galig. c. 30. Dio Cass. LIV. 3.), und nad voll- 
brachter Kreuzigung an das Kreuz über das Haupt befefligt wurde (Matth. 27, 
37 parall,). ALS Fefus auf dem Richtplage angelangt war, reichte man ibm 
Morrhenwein (Zouvousvos olvos Marc. 15, 23. ÖEos uera Koks newy- 
‚usvov Matth. 27, 34,), um ihm durch diefen betäubenden Tranf (vgl. von der 
Wirkung der Myrrhe Dioscorid. I. ce. 72.) das Todesleiden zu erleichtern, den 
er jedoch ablehnte. Das Darreichen eines folhen Tranfes bei Hinrichtungen war 
nicht römische, fondern jüdifche Sitte, und zwar follen ihn Frauen aus Jeruſalem 
freiwillig beigebracht Haben (Gem. Babyl. Sanhedr. VI. 1.). Davon ift jene Labung 
u unterfheiden, welche Jeſus am Kreuze von einem Soldaten angenommen; 

ier wurde ihm von der posca, dem Getränke der Soldaten, gereicht (Luc. 23, 36, 
30h. 19, 29.). An der Richtflätte zog man den zu Kreuzigenden die Kleider aus 
(Artemidor. Oneiroerit. I. c. 55.), welcde den Soldaten gefeslih als Eigen- 
thum zufielen (Matth. 27, 35 parall, Dig. XLVIH. 20, 6 sqq. de bonis damnat. 
1. VL); nur wurde ihnen des Anftandes wegen meiftens des fog. Lendentuch, sub- 
ligaculum, lumbare, gelaffen, wie es auch bei Jeſu gefchehen zu fein fcheint 
Cost. 305. 20, 15. und dazu Hug, Zeitſchr. für die Geiftlichfeit der Erzdiöcefe 
Freiburg Hft. 5. ©. 162 ff.); die Hinrichtung mit vollftändiger Kleidung gehört 
5 den Ausnahmen (Justin. histor. XVII. 7.). Auf diefe Vorbereitung und die 
wiſchen gefchehene Aufrihtung des Kreuzes folgte die eigentlihe Kreuzigung. 
Das Kreuz hatte entweder die Geſtalt des Buchſtabens X, oder es glich dem 








272 Kreuzigung. 


Buchſtaben T, und eine dritte Form ift diejenige, bei welcher der Kreuzſtamm über 
das Duerholz hinausragte, wie das Kreuz Chriſti gewöhnlich abgebildet wird, 
(Lipsius dt a. a. O. J. J. c. 3. 4. u. 5. diefe Kreuzformen nach der voran- 
ſtehenden Ordnung mit den Ausdrücken crux decussata, commissa und immissa 
bezeichnet.). Wahrſcheinlich gebrauchte man aber auch zuweilen einen einfachen 
Stamm (was das griechiſche aravgös bedeutet) und dieß mag vornehmlich flatt- 
gefunden haben, wenn Hunderte und Tauſende auf einmaligefreugigt wurden, — 
eine Execution, bie bei gefangenen Feinden vorkam Joseph. BI 
11, 1. Antt. xl. 14, 1. Oros. VI. c. 18.); auch dienten in folchen Fällen Bäume 
flatt der Kreuze (ef. Lipsius a. a. O. J. J. c. 5.). Nah der herrfchenden Tra- 
dition iſt Jeſus an einem Kreuze von ber dritten Form (exux immissa) geſtor- 
ben (Justin. dial. c. 111. Tertull. Apolog. c. 16. de idol. ce. 12. Minucius 
Felix Octav. c. 29. u. A.); doch findet fi die zweite Kreuzform ſchon auf 
Münzen der Kaifer Eonfland und Eonflantin (Münter, Sinnbilder ze. Hft. 1; 
©. 71.) und fie fommt auch auf alten Ringen und Leichenfteinen vor (Aringhi 
Roma subterranea novissima, Il. p. 387. Boldetti Osservationi sopra i cimiteri 
de’ santi martiri et antichi Christiani di Roma, p. 353.), während man hinwieder- 
um nad Lactanz (de mortib. persec. co. 44.) annehmen müßte, daß Conftantin 
das Kreuzzeichen am Himmel in der erfien Form gefehen hätte, Das Kreuz war 
in der Regel nicht fehr Hoch, fo daß der Gefreuzigte mit den Füßen der Erbe 
nahe war; nur für ausgezeichnete Verbrecher wurde ein höheres genommen 
Custin. histor. XVII. 7. Sueton. Galb. c. 9.). Mitten am fenfrechten Balfen 
war ein Stück Holz oder Pfahl Csedile) angebracht, welches den Körper flüge, 
damit feine Schwere nicht die Hände aus den Nägeln riß (Justin. dial. c. 91, 
Jren. adv. Haeres. II. 42. Tertull. adv. Marc. II. 18; darauf beziehen fich auch 
die Nedensarten bei den Alten: acuta cruce sedere, eruci inequitare, invehi, re- 
quiescere), Der an das aufgerichtete Kreuz Hinaufgehobene oder mit Striden 
»Hinaufgezogene wurde feftgebunden, damit er bei der fofort vorgenommenen An- 
nagelung der Hände und Füße feinen Widerſtand Teiften konnte (Lucian. Pharsal. 
T. VI. 543 sqq. Plin. H. N. XXVIII. 11.). Daß nicht bloß die Hände, fondern 
auch die Süße angenagelt wurden, was einige Neuere mit befonderer Beziehung 
auf Chriſtus in Abrede ſtellen wollten, wird durch viele alte Zeugen, welche 
theils die Kreuzigung noch geſehen, cheiis doch der Zeit ihres Beſtandes ſehr nahe 
find, vollkommen beſtätigt (Hilar. Pict. Tract. in ps. 143. Ephraem. Syr. Serm. 
UI. 3. XII. in nativit. Dom. Euseb. Emes. de persona J. Christi p. 38. ed. Aug. 
Athanas. de incarnat. verbi c. 35. u. 37. Euseb. Caes. Demonstrat. evang. 
1.X. sub fin. Tertull. adv. Jud. c. 10. Novatian. de trinit. c. 10. Justin. 
Dial. c. 97. Apol. I. c. 35. — Plaut. Mostell. Act. II. Se. 1. v. 12. 13.; — vgl. 
Hug, a. a. O. Hft. 5. S. 19 ff. Bahr in Heydenreih’S und Hüffel’s 
Zeitſchr. Bd. II. Heft 2, u, 3. Friedlieb, Archäologie der Leidensgeſch. Jeſ. Ehr. 
©. 144 ff). Eine Schärfung der Strafe war die Kreuzigung mit dem Kopfe 
nach unten (Senec. ad Marc. c. 20. Euseb. H. E. VII. 8. u. 9.), die auch Petrus 
erbuldete (Euseb. ibid. II. 1.), oder wenn man ben cruciarius dur wilde 
Thiere zerfleifchen Tieß, oder ein Feuer unter dem Kreuze anzündete Cogl. Lip- 
sius 1. IH. c. 10. 11.). Wenn ſolche Graufamfeiten nicht hinzufamen, fo lebten die 
Unglücklichen oft noch bie ganze folgende Nacht oder auch noch den andern Tag 
über (Origen. Comment. in Matth. 27, 54. Opp. T. MI. p. 923. de la Rue); ja 
es bieten fih fogar Beifpiele dar, daß der Tod erft am. dritten Tage eintrat 
(Petron. Sat. c. 111: 112. Justin. Histor. XII. 7.). Wie man in Nom bie 
Sclaven am Kreuze hängen ließ, bis ihre Leiber vermodert oder von Raubvögeln 
verzehrt waren (Horat. Epistt. I. ep. XVI. 48. Juvenal. Sat. XIV. 77. Senec. 
excerpt. controv. 1. VII. contr. 4.), fo feheint es in den Provinzen in der Negel 
mit allen Gefreuzigten gehalten worben zu fein (Philo adv. Flacc. $ 10), Do 








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Kreuzmachen — Kreuspartifel, 273 


machten die Römer davon in Judäa eine Ausnahme, indem fie fih den Juden 
accomodirten, denen durch ihr Gefeg geboten war, einen Aufgehängten noch vor 
Sonnenuntergang herunterzunehmen, damit er, ald mit dem Fluche behaftet, das 
Land nicht verunreinige (5 Mof. 21,23). Diefe Anbequemung führte die Anwen- 
dung der Beinbrehung, crurifragium, herbei, welche den Tod befchleunigte, aber 
zugleih als eine Erfagftrafe für die Tängern Leiden am Kreuze gelten follte, In 
Berbindung mit der Kreuzigung finden wir das crurifragium nur in Judäa, wo 
es die Juden für Jefum und die mit ihm gefreuzigten Miffethäter von Pilatus 
forderten, um die Leiber noch vor Ablauf des Tages ablöfen zu fonnen, was 
diegmal um fo dringender nothwendig fihien, weil der nachfolgende Tag ein Sab- 


bath war und zudem das Pafıha darauf fiel (Joh. 19, 31), fonft war e8 eine 


befondere, für fich beftehende Strafe, die an Sclaven. und bisweilen auch an 
Sreien verübt wurde (Seneca, de ira III. 32. Sueton. Octav. c. 67. Tiber c. 44. 
Euseb. H. E. V. 21). Das Zerfhlagen der Beine allein wirfte den Tod gewöhn- 
Gh nur langſam, aber wenn es bei einem cruciarius vorgenommen ward, fo 
mochte der Tod, wenn auch nicht augenblicklich, doch nach fehr Furzer Frift ein- 
treten. Es ift aber dann bei Jefu unterblieben, weil die damit beauftragten Sol- 
daten die Zeichen des bereis erfolgten Hinfcheidens wahrnahmen; die feiner Kreu— 
zigung vorangegangenen Leiden mußten den Tod befchleunigen und erflären es, 
daß er ſchon nad) ſechs Stunden verfchieden war (Mare. 15, 25. 34. 37 parall). 
Einer von ihnen flieg ihm aber mit der Lanze in die Seite (Joh. 19, 34); dieß 
ift der bei andern Hinrichtungen übliche Gnadenftoß (vgl. Hug a. a. O. ©, 697 f,, 
Sriedlieb a. a. D. 166 f.), der bei Jefu angewendet wurde, um die etwa noch 
int Berborgenen vorhandenen Lebensfunfen auszulöfhen. In Nom war es gefeg- 


lich, die Leichname der Hingerichteten (mit Ausnabme der Sclaven) den Ber- 
wandten zum Begräbniffe auszuliefern (Digest. XLVIII. tit. 24); deßhalb wurde 


auch dem Joſephus von Arimathia die dießfällige Bitte ohne Anftand gewährt 


- Matt$. 27, 57. fi parall.). — Die Kreuzigung beftand im römifchen Reiche 
- fort bis auf Conftantin d. Gr., welcher fie aus Ehrerbietung für Chriftum im 13. 
Sahre feiner Herrſchaft abgefchafft Hat (Sozom. I. 8). [A. Maier.] 


Krenzmachen, ſ. Kreuzzeichen 
Kreuzpartikel. Wie Socrates (hist. eccl. 1. 1. c. 17), Sozomenus (hist. 
ecel. 1.2. c. 1), Rufinus Chist. ecel. 1. 1. c. 7), Ambrofius (de obitu Theodos.), 


Paulinus (ep. 31.al. 11), Cyrillus von Jeruſalem (ep. ad imperat. Const.) u. ſ. w. 


berichten, fand die Raiferin Helena, die Mutter Conftantins d. Gr., das Kreuz, 
an dem Ehriftus geftorben ift, unter den Trümmern eines Benustempels, den die 
Heiden zur Berfpottung des Chriftenthumes auf Golgatha erbaut Hatten (f. Rreuz- 


 erfindung). AS es aufgefunden war, wurde es um fo mehr als ächt erfannt, 


als eine vornehme ſchwerkranke Frau, auf den Rath des hl. Macarius, Biſchofs 
von Jerufalem, damit berührt, augenblicklich gefund wurde. Man bewahrte es 
nicht bloß bis zur Zeit des Perferkönigs Chosroes forgfältig in Zerufalem auf, 
fondern hielt es auch für ein großes Glüf, Stücklein davon abfchneiden zu kön— 
nen, und diefe fo in's Unendliche zu vermehren, daß fie bald bloße Splitter wur— 
den, Sagt ja ſchon Paulinus Cl. c.): „Aceipite magnum in modico munus, et in 
segmento paene atomo astulae brevis sumite munimentum praesentis et pignus ae- 
ternae salutis.“ Diefe Splitter nennt man nun Kreuzpartikel (Parliculae crucis). 
Gar viele Gotteshäufer, ja felbft nicht wenige Privatperfonen rühmen fih, ſolche 


zu befigen, Sie werden gewöhnlich in einem monftranzartigen Gefäße aufbewahrt, 
Damit fo viel als möglich nur ächte von den Gläubigen verehrt werden, ift dag 
Gefäß mit päpftlichem oder bifchöflihem Siegel gut verfchloffen. Die gewöhnlichfte 

Verehrung derfelben befteht darin, daß man das Glas, innerhalb weldem ver 


Partikel fi befindet, Füßt, Mitunter wird auch derfelbe bei brennenden Lichtern 
auf dem Altare erponirk, und vom Priefter den Gläubigen zum Kuffe angeboten, 
Kirchenlexikon. 6. Br. 18 


274 Kreuzprobe — Kreuzweg. 


Wird der Altar während einer ſolchen Expoſition beräuchert, fo iſt auch ver Par— 
tifel ftehend zu incenfiren (S. R. C. 15. Sept. 1736). Wo das feit unvordenk⸗ 
lichen Zeiten Sitte ift, darf man ihn auch mit oder ohne Baldachin, es fei dann 
mit oder ohne Velum, umgeben von zwei Rauchfaßtraͤgern in Proceffion herum—⸗ 
tragen (S. R. C. 16. Sept. 1741; S. R. C. 26. Aug. 1752). Auch ift es erlaubt, 
mit ihm, wenn er erponirt oder in Proceffion herumgetragen wurde, das Segens- 
kreuz über das Volk zu machen, [ör. & Schmid.] 

Kreusprobe, f. Onttesurtheile, 

Kreuzträger (Crucifer), Sp nennt man den Träger bes Kreuzes oder 
Erucifires, welches bei kirchlichen Proceffionen dem Zuge vorangetragen wird, 
Nach der Vorſchrift der Nubrifen foll er ein Subdiacon, und deßwegen auch als 
folcher geffeivet fein. Auf dem Lande find die meiften Kreuzträger Laien, die mit 
einer Rutte und Chorrock fammt Birret angethan find; der Mangel an eigentlichen 
Subdiaconen oder diefen Dienft wenigftens verfehenden Geiftlihen macht dieß 
nothwendig. Zu beiden Seiten des Kreuzträgers geht, um ſymboliſch darzu= 
ftellen, daß Jeſus das Licht der Welt fei, ein Acolyth (Miniftrant) mit brennen- 
dem Wachsleuchter: fo war es ſchon im vierten Jahrh. CCfr. Sozom. hist. ecel. 
1. 8. c. 8). Iſt das Kreuz ein Erucifir, fo wird das Bild des Gefreuzigten in 
der Art getragen, daß Chriſtus den die Proceffion Begleitenden den Rücken wendet; 
nur das unmittelbar vor dem Papfte oder Erzbifchofe oder fonft hiezu Ermäch— 
tigten getragene macht eine Ausnahme: jenes fol erinnern, daß Jeſus als unfer 
Lehrer und Tugendvorbild ung gleihfam den Weg zum Himmel vorangehe; diefes, 
daß die höchften Prälaten der Kirche durch den immerwährenden Blick auf den 
Gefreuzigten fletS neu gefräftigt werden, dem Heile der Seelen alle ihre Kräfte 
zu widmen (Cfr. Gavant. Comment. in rubr. Miss. p. 1. lit. 19. ad 3; Cerem. episc. 
1.1. c. 15,1.2. c. 16), Daß man fchon in der früheften Zeit das Tragen des 
Kreuzes nicht dem Nächftbeften überließ, bringt die Natur der Sache mit fi. 
Es darf uns daher nicht wundern, ſchon in einer Novelle (122. n. 32) des Kai— 
fers Juſtinian zu lefen, daß es beftimmte Kreuzträger gab, nur diefe nach dem 
Inhalte der Novelle es tragen durften, und die heiligften Bifchöfe und ihre Elerifer 
fowie auch die Drtsrichter e8 eben fo hielten, [Fr. X. Schmid.] 

Kreuzträger-Orden, ſ. Kreuzherren. 

Kreuzweg (Via crucis, Via calyarii). Sp nennt man die Geſammtheit einer 
beftimmten Anzahl von Bildern oder Statuen, welche eben fo viele Momente in 
der Leivensgefchichte Jeſu vorftellen. Die Zahl der Bilder oder Statuen ift nicht 
immer diefelbe: gewöhnlich find derfelben 14 oder 15, im Erzbisthume Wien (fo 
will es wenigftens eine Verordnung des dortigen erzbifchöflichen Ordinariats vom 
25. Februar 1799) nur eilf. Der Inhalt der gewöhnlichen 14 Bilder oder Sta— 
tuen, die man Kreuzwegsftationen zu nennen pflegt, ift folgender: 1) die von dem 
Landpfleger Pilatus ausgefprochene Verurtheilung Chrifti zum Tod am Kreuze, 
2) die Uebernahme des Kreuzes von Seite Chrifti, 3) der erfte Fall Chrifti unter 
dem Krenze, 4) das Zufammenfommen des Freuztragenden Jeſu mit feiner Mutter, 
5) die Unterftügung Chrifti im Kreuztragen von Simon von Cyrene, 6) die Dar- 
reihung des Schweißtuches von Veronica, 7) der zweite Fall Chrifti unter dem 
Kreuze, 8) die Worte Ehrifti an die weinenden Frauen von Jeruſalem, 9) der 
dritte Fall Chrifti unter dem Kreuze, 10) die Entblößung Chrifti vor der Kreu— 
zigung, 11) die Kreuzigung Ehrifti, 12) der Tod Chrifti am Kreuze, 13) die Ab- 
nahme des Leichnames Chrifli vom Kreuze, und 14) die Orablegung des Leich- 
names Chrifti, Wo der Kreuzweg 15 Stationen zählt, folgt als 15) die Auf- 
findung des hl, Kreuzes durd die Kaiferin Helena (f. Kreugerfindung). Die 
durch den oben angeführten Erlaß des Wiener-Ordinariats vorgefihriebenen Sta- 
tionen haben folgenden Inhalt: 1) Chriſtus betet zum Vater im Garten auf dem 
Delberge, 2) Chriftus wird von Judas verrathen und ‚gefangen genommen, 





Kreuzweg. 275 


3) Ehriftus wirdigegeißelt, 4) Chriſtus wird mit Dörnern gefrönt und verfpottet, 
5) Chriſtus wird von Pilatus zum Tode verurtheilt, 6) Chriftus wird von Si- 
mon dem Cyrener im Kreuztragen unterflüßt, 7) Chriftus warnt und unterrichtet 
die ihn beffagenden Weiber, 8) Chriſtus wird mit Galle getränft, 9) Chriſtus 
wird am bas Kreuz geheftet, 10) Chriftus hängt und ftirbt am Kreuze, 11) der 
Leichnam Ehrifti wird begraben (vgl. Hnogek's Lit. 1. Th. S. 570). — Der 
Drt, wo der Kreuzweg aufgerichtet wird, find vorzugsweife die Gptteshäufer, 
Es gibt dermalen (wenigftens im füdlichen Teutſchland) wenige Gotteshäufer, 
deren Wände nicht damit in der Art geziert find, daß die Stationen in einiger 
Entfernung von einander ald Bild oder Statue fih befinden, gewöhnlich auf der 
Epiftelfeite in der Nähe des Hochaltares beginnen, und auf der Evangelienfeite 
gleichfalls in der Nähe des Hochaltares fich ſchließen, und daher denjenigen, der 
fie zu feiner Erbauung von Station zu Station betrachtet, veranlaffen, den Weg 
des Kreuzes, den Chriſtus gegangen ift, gleihfam auch in foweit zu gehen, als 
er von einem Bilde zum andern zu gehen hat. Diefer letztere Umftand ift wohl 
auch die Urfahe, warum diefe Bilder oder Statuen in ihrer Gefammtheit den 
Kamen „Kreuzweg“ erhalten haben, Außer den Gotteshäufern findet man diefe 
Bilder oder Statuen bisweilen auch in Feldcapellen und auf Wegen, zumal ſolchen, 
die zu einer auf einem Berge gelegenen Kirche führen (Calvarienberg, f. d. 4.). 
Das Hriftlihe Volk liebt das andächtige Beſuchen des Kreuzweges (die Kreuz- 
wegandacht, Pium exercitium viae crucis) überaus, wenn auch nicht gerade alle, 
die ihn befuchen, forperlich von einer Station zur andern gehen. Der natürliche 
Drang eines Jeden, der Chriftum als feinen Erlöfer und Herrn aufrichtig an- 
betet, ſich recht oft den leidenden Jefum und überhaupt alle Ereigniffe feines 
irbifhen Lebens vorzuftellen, erklärt diefen Eifer. Aus diefer Urfahe wollen 
fogar unzählige Laien ze, nur folhe Gebetbücher für ihre Privatandacht, in denen 
die Stationen des Kreuzweges abgebildet, und zugleich Gebetsformulare als An- 
leitung vorgemerft find, die Kreuzwegandacht mit Nusen vorzunehmen. An vielen 
Drten bildet überdieß diefe Andacht, zumal in-der Faftenzeit, felbft eine gemein- 
fame Nachmittags- oder Abendandacht, bei der der Seelforger beſtimmte Gebets-— 
formulare bei jeder Station vorbetet, während der Stationen geeignete Lieder 
fingen läßt, und vor und nach diefer Andacht den Segen mit dem VBenerabile gibt, 
Auch eigene Büchlein, die einzig und allein Gebetsformulare für diefe Andacht 
enthalten, gibt es: auch der Berfaffer dieſes Artifels hat ein folches in Paſſau 
in Drud gegeben. — Die Urheber der Kreuzwegandacht find die Franciscaner, 
Da nämlich in neuerer Zeit die durch die Geſchichte Jeſu merfwürdigen Drte im 
hl. Lande nicht mehr fo Häufig als in frühern Jahrhunderten befucht werden, fo 
glaubten die Söhne des HI. Franciscus einiges Surrogat dafür gefunden zu haben, 
‚wenn die Gläubigen diefe Drte fih im Zufammenhange mit dem leidenden Jeſu 
im Bilde oder in der Statue vergegenwärtigen fünnen. Auch hatten fie hiebei (wenn 
nicht vom Anfange her, doch gar bald) den Wunfch, den apoftolifchen Stuhl zu 
vermögen, den Beſuchern diefer Bilder oder Statuen diefelben Abläffe zu bewilli- 
gen, welche den Befuchern der Orte im HI. Lande , die auf den Kreuzwegsftatio- 
nen abgebildet find, in neuerer Zeit bewilligt worden find. Es mußte diefer 
Wunfh bei dem allgemeinen Streben vieler Orden und Corporationen in diefer 
Zeit, fo viel als möglich befondere Abläffe von Rom zu erhalten, um ſo mäd- 
tiger hiebei fich geltend machen, als den andächtigen Beſuchern vieler dur 
das Leiden und Sterben Jeſu jedem Chriften ehrwürdig gewordenen Pläge im 
BE. Lande fogar vollfommene Abläffe angeboten find, und ſich mit Recht hoffen 
Tief, e8 werde das 'gläubige Volk nur eine Aufmunterung erhalten, die Francis- 
eanerfirchen fleißig zw befuchen, wenn auch die neue darauf Bezug habende An- 
dacht mit Abläffen begnadiget würde, Es genüge, hier einige diefer Abläffe, die 
) auf die gewöhnlichen Abbilvungen bei dem dermaligen — Bezug haben, 
1 






276 Kreuzwoche — Kreuzzeichen. 


anzuführen, wie fie Lucius Ferraris in feiner Bibliotheca aufzählt. Sp heißt es 
in diefer (ad verbum „Indulg.“ art. 5 n. 8): „In ecclesia s. sepuleri, ubi D. N. 
J. Chr. triduo jacuit, est indulgentia. In loco, ubi inventa fuit crux dominica una 
cum clavis, quibus in illa fuit confixus, est indulgentia plenaria. In domo:Pilati, 
ubi Dominus noster fuit flagellatus et spinis coronatus ac morti adjudicalus, est 
indulgentia plenaria. In monte Calvario, ubi Christus crucifixus est, indulgentia 
plenaria, Ubi fuit super vestem Christi missa sors, sunt septem anni et totidem 
quadragenae. Item in loco, ubi angariaverunt Simonem Cirenaeum, ut portaret crucem 
Christi, sunt septem anni et septem quadragenae. In loco, ubi Dominus conversus 
et ad mulieres lamentantes super eum dixit „Nolite flere super me“ sunt septem 
anni et septem quadragenae. In loco, qui dicitur spasmus B. Virginis, ubi videns 
Christum bajulantem cecidit velut mortua, sunt etiam septem anni et totidem qua- 
dragenae.“ Der Wunfch der Franciscaner ging in Erfüllung, Papft Innocen- 
tins XI. erließ am 5. September 1686 ein Breve, durch das den Franciscanern 
und den mit ihrem Orden Affiliirten die Gewinnbarfeit der den Befuchern gewiffer 
Drte des HI. Landes bewilligten Abläffe an ihren Drten, bei jedem ihrer Altäre 
und in jeder ihrer Kirchen zugeftanden wurde, Innocentius XI. erläuterte im 
December 1694 (Sua nobis), daß im Breve feines Vorgängers Innocentius XI. 
auch der andächtige Beſuch der Kreuzwegsftationen zu verfichen fei. Benedict XIIL 
erflärte im März 1726, e3 fünnen die von Innocentius XI. und Junocentius XU. 
zu Gunſten der Franeiscaner und ihrer Affilüirten bewilligten Abläffe von allen 
Gläubigen an den Orten, vor den Altären, in den Kirchen und insbefondere bei 
den Kreuzwegen der Franeiscaner und ihrer Afftliirten gewonnen werben (Inter 
plurima). Noch weiter ging Clemens XI. am 16. Januar 1731 (Exponi nobis), 
verfügend, es können diefe Abläffe bei jedem Kreuzwege gewonnen werben, der 
wo immer mit Gutheißung oder Zuftimmung des eompetenten Didcefanbifchofes, 
Ortspfarrers, fowie überhaupt des Vorftehers der Kirche, des Klofters, Spitales 
und Drtes durd einen Franciscaner errichtet wird, Auch erflären die ge= 
nannten päpftlichen Befchlüffe, es fünnen diefe Abläffe fürbittweife ven Verſtor— 
benen zugewendet werben, So ift es noch jest. Es bietet alfo die Kirche Jedem, 
der einen folchen Kreuzweg andächtig befucht, diefelben Abläffe dar, welche der— 
jenige gewinnen kann, der die Plätze im hl. Lande andächtig beſucht, an denen 
dasjenige vorgegangen ift, was im Bilde oder in der Natur dargeſtellt if, Da 
nun mehrere der Pläge im HL, Lande, die auf den Kreuzwegsfiationen dargeftellt 
find, mit vollkommenem Ablaffe begnadiget find, fo ift Far, daß jedem andäch— 
tigen Befucher eines folhen Kreuzweges nicht bIoß Hfters Ablaß von 7 Jahren 
und 7 Quadragenen, fondern auch bei mehr als einer Station vollfommener Ab— 
laß felbft, fo oft er diefen Beſuch macht, angeboten und daher diefe Andachts- 
weife dringendft empfohlen iſt. ‚Soll ein Kreuzweg, den fein Franciscaner einführt, 
diefelben Privilegien haben, fo ift hiezu päpftliche Bewilligung nothwendig. Reu— 
müthige Beicht und andächtige Communion find nicht vorgefchrieben, noch auch 
ein beftimmtes Gebet, Wer die Stationen beſuchend fich Tebendig den leidenden 
und fierbenden Jeſus vergegenwärtigt, herzlich feine Sünden bereut, entſchiedene 
Befferung gelobt, furz den Sündenmenfchen bei diefem Befuche zum Kreuze trägt 
und an's Kreuz fohlägt, erhält Nachlaß und diefer allein, Gebetsformulare find 
auch bier nur ein Stab, dem man auch Hier nur dem im Gehen Ungeübten in 
die Hand gibt, und der daher der Mehrzahl der Chriften in die Hand gegeben 
werben muß. Hat ein folcher Fein Gebetbuch, das ihm ein Formular bietet, fo 
mag er bei jeder Station die drei Haupttugenden erwerfen, und ein pder mehrere 
Baterunfer und Avemaria beten, [Fr. X. Schmid,] 

Kreuzwoche, f. Bittgänge. 

Kreuzzeichen, das, als Selbſtſegnung und als kirchliche Bezeichnungs- und 
Segnungsform Corux usualis), Weber das hohe Alterthum des Kreuzzeichens 














Kreuzzeichen. 277 


in der angegebenen zweifahen Bedeutung f. d. A. Erueifir. Man fannte ſchon 
im zweiten Jahrh. den Urfprung diefes Gebrauches nicht mehr. Die Selbftfeg- 
nung in dem Kreuzzeihen, verbunden mit dem Gedanken an den Kreuztod des 
Erloͤſers, färfte den Bekenner und Martyrer, fie verbrängte die häufig und 
felbft bei alltäglichen Berrichtungen vorkommenden kraß abergläubifchen Gebräuche 
der Heiden; die in den Martyreracten oft conftatirte wunderbare Kraft des 
eichens erwerte den Glauben und das Bertrauen. Darum finden wir in 

der älteften Kirche die Selbftfegnung in dem Kreuzzeichen viel häufiger als jest; 
bei den Griechen ift fie jedoch. noch heutzutage fehr haufig im Gebraude, ja felbft 
der Zahl nach vorgefchrieben, während fie von den Proteſtanten faft ganz aufge- 
geben wurde, Sie eröffnet bei uns das Gebet, den Gottesdienft, den Eintritt 
in die Kirche, das Vorüberziehen vor dem Alferheiligften u. f. w., in oder ohne 
Berbindung mit der Kniebeugung und mit dem reuigen Klopfen an die Bruft. 
Bei den Liturgifchen Segnungen und Weihungen befteht der Gebrauch des Kreuz- 
zeichens feit den älteften Zeiten unverändert fort, Die nahe Beziehung diefes 
Zeichens zu den Eultacten wird von Auguſtinus (Tract. 118. in Joann.) fehr 
fignificant ausgefprochen: Postremo quid est, quod omnes noverunt, signum Christi 
nisi erux Christi? Quod signum nisi adhibealur sive frontibus credentium, 
sive ipsi aquae, qua regenerantur, sive oleo, quo chrismate unguntur, sive sacri- 
ficio, quo aluntur, nihil eorum rite perficitur. — Das Kreuzzeichen wird ſtets 
mit der rechten Hand gebildet, weil diefe im gefammten Leben mehr gebraucht 
wird, In den erſten riftlichen Jahrhunderten pflegte man bloß die Stirne mit 
dem Kreuzzeichen zu fegnen, um dadurch Chriſtum gleichfam öffentlich zu befennen, 
und dur) das Zeichen feiner Erniedrigung Demuth zu lernen (S. Aug. in ps. 30. 
-serm. 3; serm. 32. al. 30. de div.). Es wurde dabei mit dem Daumen ein 
gleichſchenkliges fogenanntes griehifhes Kreuz gezogen, während die übrigen 
_ Finger gebogen und miteinander verbunden gehalten wurden. Bei liturgiſchen 
Handlungen ift diefes Kreuzzeichen noch jest im Gebraude, fo oft der zu fegnende 
Gegenftand unmittelbar berüßrt wird (signatur). Seit dem fechsten Jahrh. fommt 
die Selbftfegnung der Stirne, des Mundes und, der Bruft in der eben angege- 
benen Weife vor. Diefe Art von Seldftfegnung mit dem Kreuzzeichen hat eine 
wahrhaft anthropologiſche und theologifche Bedeutung, in wiefern wir dadurd 
‚gleihfam unfere Gedanfen, Worte und Werfe dem dreieinigen Gotte weihen und 
den Si des Nachdenkens über Gottes Schöpfergedanfen in dem Namen des 
Urgrundes für alles Sein, die Schwelle des gleihfam körperlichen und gefchaffe- 
nen Wortes in dem Namen des immanenten göttlichen Logos, den Sig der Liebe 
‚aber in dem Namen der wefenhaften Liebe fegnen, welche Vater und Sohn wechfel- 
I feitig verbindet. Man nennt diefe Selbfifegnungsform gewöhnlich das Fleine 
‚oder das teutſche Kreuz. Seit dem achten Jahrh. ift bei der Selbftfegnung au 
das fogenannte große vder lateinifche Kreuzzeichen im Gebrauch. Bei diefem 
wird mit der flachen Hand zuerft die Stirne, dann in gerader Linie abwärts die 
Bruſt, fofort in horizontaler Linie die linfe und die rechte Schulter berührt, fo 
daß dadurch die plaftifche Kreuzesform gleihfam anfchaulicher dargeftellt und fo 
das Kreuz gleihfam „geſchlagen“ wird. Dem lateinischen Selbftfegnungs-Rreuz- 
zeichen analog ift das große Kreuz bei liturgiſchen Handlungen, weldes über dem 
‚zu fegnenden Gegenftand mit der ganzen Hand gezogen wird (producitur), ohne 
ihn zu berühren. Die Hand wird dabei entweder horizontal oder fenfrecht erhoben 
gehalten, fo daß der Feine Finger dem zu fegnenden Gegenftande am nächſten 
5 Hiegt und die innere Fläche der Hand zur Seitenfläe wird. In der ältern Krift- 
lichen Zeit wurde jedoch das. große liturgiſche Kreuzzeichen nur mit dem Daumen 
und den nähftfolgenden zwei Fingern gebildet, fo daß diefe beiden ausgeſtreckt, 
‚die folgenden zwei aber gebogen wurden, während der Daumenfinger an den Zeige- 
finger ſich auſchloß (distrietis duobus digitis et pollice intus recluso, per quos Tri- 


278 Kreuzzüge. 


nitas annuifur. Leo IV. Tom. I. Supplem. Concil. Mansi fol. 911). — Die Lateiner 
unterfcheiden fich vom den Griechen und Ruſſen bei dem Kreuzmachen darin, daß 
jene den Duerbalfen von der Iinfen zur rechten, dieſe aber von der rechten zur 
Iinfen Seite ziehen. Bis in die Zeiten Innocenz IM. feheinen jedoch beide Arten 
in der Yateinifchen Kirche gebräuchlich gewefen zu fein (1. II. de sacrif. Miss, c. 25). 
Es iſt aus der Kirchengefchichte befannt, welche Fleinliche Vorwürfe hieraus den 
Lateinern von Seite der Griechen erwuchfen (ſ. griech, Kirche), Die Selbftfeg- 
nung in dem Kreuzzeichen gefehieht feit uralter Zeit und gewöhnlich mit den 
Worten: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des HI. Geiſtes Amen, Bin- 


terim zählt übrigens noch acht andere, ebenfalls fehr alte, meiftens nicht mehr 


gebräuchlihe Formeln auf, welche bei der Selbftfegnung mit dem Kreuze ge= 
fprochen wurden, 3. B. im Namen der HI. Dreieinigfeit, im Namen unferes Herrn 
Jeſu Chrifti, adjuforium nostrum in nomine Domini (Pf. 123, 8) oder Deus in 
adjutorium meum intende (Pf, 69, 2). — Die verfchiedenen Arten des Kreuz- 
zeichens, die Zahl der dabei verwendeten Finger u. ſ. w. haben von jeher zu 
verfchiedenen Deutungen Anlaß gegeben, Man hat namentlich auch Epheſ. 3, 18 
auf das Kreuz und auf das Kreuzzeichen angewendet und nad) dem HI, Auguſtinus 
(serm. de tempor. 181) ift die Breite des Kreuzes ein Sinnbild, wie weit ſich 
die Nächftenliebe ausbreiten müffe, nämlich bi8 zur Liebe der Feinde; die 
Länge des Kreuzes ift ein Sinnbild der Geduld im Leiden, welche fo lange an- 
dauern muß, bis die Pilgerfahrt vollendet, das gute Werk vollbracht und das 
Sehnen des Geiftes nach dem Baterlande erfüllt fein wird; die Höhe des Kreuzes 
ift ein Sinnbild, wie erhaben über die vergänglichen Dinge der Flug unferer 
Zuverficht fein müffe, damit wir in das Heiligthum des ewigen Friedens ein- 


dringen; endlich die Tiefe des Kreuzes ift ein Sinnbild von der Tiefe des ewi- 


gen Rathfchluffes, die Welt, die ihren Gott in der Weisheit ver Schöpfung verloren 
hatte, durch" die Thorheit des Kreuzes felig zu machen (Sailer, Beitr. z. Bild, d, 
Geiſil. I. 249. Münden 1810). — Dem Kreuzzeichen wurde von jeher eine be- 
ſondere Kraft zugefehrieben (Binteriml.c.515—518 und in beffen: Epistolarum 
'eath. de probat. theol. I. de vi rectoque usu probationis per Acta MM. Dusseldorp. 
1820. p. 84. seq.); diefe Kraft Liegt jedoch keineswegs in dem plaftifchen Zeichen 
felbft, fondern in der Segnung mit dem Kreuzzeichen durch die Organe der Kirche, in 
dem Iebendigen Glauben an die heilbringende Wirffamfeit des Kreuztodes Chriſti 
und in der innigen Beziehung, in welche man fich Durch den Glauben zu dem Werfe 
Chriſti feßt, fowie in Dem Vertrauen der Gläubigen (Lüft, Liturgif II. 578). Das 
fegnende Kreuzzeichen wird bei einzelnen Eultacten auch mit Naturfymbolen ver- 
bunden, 3. B. Salz, Del, Wafler u, ſ. w., und es ift fehr bezeichnend, daß alfe 
Segnungen, Salbungen, Begießungen, Anhauchungen u. ſ. w. in Kreuzesform zu ge- 
Tchehen haben. Zur Literatur: Gretfer, Binterim, Schmid, Lüft u. A, [Yäusle,] 

Kreuzzüge. Belanntlich verfteht man darunter die Züge der abendländifchen 
Bölfer unter dem Zeichen des Kreuzes nach dem Morgenlande zur Eroberung 
Serufalems und Befreiung des heiligen Grabes vom Schluffe des Liten bis gegen 
das Ende des 13ten Jahrhunderts, Die Aufzählung und Darftellung der ein- 
zelnen Züge, ihrer Schickſale und Erfolge bleibt der Profan- und allgemeinen 
Gefhichte überlaffen. Hier Handelt es ſich um die Idee der Kreuzzüge nad) ihrer 
Entſtehung, geiftigen Leitung und ihren Ergebniffen., Zweierlei Anfichten machen 
fich dießfalls Hauptfächlich geltend: die rationaliftifche und die Firchlicherefigiöfe, 
Sene hat ihre Vertreter von Abälard (ſ. d. A.) herab bis auf unfere Zeit ge— 
funden und Hat e8 nicht weiter gebracht, als zu einer geiftlofen, dürren, gräm— 
lichen Anſchauung fragliher Bewegung. Weil fie nicht fähig iſt, fie in ihrer 
Höhe und Tiefe zu erfaffen, fo zieht fie diefelbe in’s Gewöhnliche herab und hat 
an Urfprung und Folgen derfelben nur Ausftellungen zu machen. Sie weiß immer 
etwas Klügeres und verräth damit Die oberflächlichſte Kurzſichtigkeit; fie weiß 








Kreuszüge. 279 


ſiets etwas Befferes und verräth damit ihren trivial-fittlihen, wenn nicht gar 
unſittlich⸗ irreligisſen Standpunet. Diefer rationaliftifhen Anfhauung gegenüber 
ſteht die Firhlich-religiöfe. Sie allein wirft das rechte Licht auf alle Schatten 
des großen Völferdramas und gibt dem Beſchauer die Stellung, welde überbliden 
laßt und nicht blendet. Wenn irgendwo, fo gilt hier das Wort eines Hiftoriferg 
unferer Zeit (9. Leo): „Die Geſchichte der Hriftliden Kirche ift feit 
Confantindem Großen durchaus der Kern, die Seele und daseigent- 
lich Lebendige in der Univerfalgefhichte.” Man hat die Kreuzzüge die 
Bölferwanderung des Abendlandes genannt, was in-fofern auch richtig ift, als 
der befannten Völkerwanderung vom vierten Jahrhunderte an und den Kreuzzügen 
ein verwandter Zug zu Grunde liegt. Jene vernichteten die entarteten Chriften 
des Abendlandes und faßten das Chriftentfum in neue ' — — 
vernichteten oder läuterten ebenfalls die Maſſen des Abendlaudes Man muß 
aber folhe Erfoheinungen nach zwei Hauptfactoren auffaffen, Der eine Tiegt in 
der Vergangenheit, der andere in der Zeit ihrer Entftehung. — Wie die Liebe 
Altes fhägt, was mit dem geliebten Gegenftand in irgend einer Beziehung fteht, 
fo konnte auch die Sehnfuht nah Paläftina und feinen Heiligthümern nie in den 
Herzen der Chriften untergehen. Es fanden alfo zu allen Zeiten Wallfahrten 
dahin Statt. Diefe wurden natürlich feit Conftantin dem Großen erleichtert und 
dur die Hl, Helena noch anziehender gemacht. Unter dem Kaliphate wurden fie 
nicht erfehwert, denn es ehrte die heilige Stadt, den Tempel und Chriſtum als 
Propheten. Auch die Blüthe diefes Kaliphats in Kunſt und Wiffenfchaft bot dem 
chriſtlichen Abendlande einen Anfnüpfungspunet; man denfe nur an Harum al 
Raſchid. Auch blieben die Fürften des Abendlandes im fechsten, fiebenten und 
achten Jahrhundert in Verbindung mit Jerufalem, befuchten es und machten Stif- 
tungen dahin, Als aber die Dynaftie der Fatimiden von Aegypten aus Paläftina 
und Syrien ſich unterworfen hatte, veränderte fih die Lage der morgenländifchen 
Ehriften, denn die Fatimiden nahmen eine andere Stellung zu ihnen als das Ka— 
liphat. Unter den ganz rohen Seldfhuffen aber wurde die Lage ber Ehriften 
Palaſtina's und aller Wallfahrer nah dem gelobten Lande eine unerträgliche, 

Nicht bloß einzelne Gläubige wurden fhmählih und graufam mißhandelt, auch 
größere Züge, wie z. B. der unter Bifhof Otto von Bamberg mit ziemlich flar- 
ter Heeresmacht, endeten überaus traurig und legten den Gedanken an einen 
förmlichen Kriegszug nahe, welchen ſchon Papſt Sylveſter II. gehegt haben fol, 
und der auch in Gregor VII. fehr Iebendig war. Indeſſen war diefem Papfte ein 
anderer Kampf befchieden, deifen fiegreiher Ausgang den Kreuzzügen zu flatten 
Sam. Hiezu gefellten fi die immer Lauter und häufiger werdenden Klagen ber 
Wallfahrer und der Jammer der Chriften in Paläftina, und auf dem Concile von 
Piacenza erfchienen zum erften Male griechifche Gefandte mit der Bitte um Hilfe 
gegen die Türfen. Sp waren alfo die Kreuzzüge vorbereitet und angebahnt in den 
früeren Berhältniffen und Kämpfen der Chriften mit den Mohammedanern, 
Chriftentfum und Mohammedanismus find fo diametral in ihrem innerften Grund 
und Wefen verfihieden, daß die Kreuzzüge ein Principien- und Neligionsfampf 
find, beftimmt, aufleben und Tod früher oder fpäter geführt zu werden, wie einft 
Iſraels Kampf mit den Bölfern Canaans. Beide Kämpfe kamen nicht zum vollen 
gottgewollten Refultate: Bequemlichkeit, Feigheit, falſche Politif und gefunfener 
- Religionseifer traten hier wie dort hemmend in den Weg der Entfchiedenpeit, 
- daher au) verwandte geiftige und Teiblihe Nachwehen in der Chriftenheit wie 
einſt in Iſrael. Wenn irgend einer Zeit, fo follte das jest der unfrigen zum 
- Bewußtfein fommen, Denn was fünnten wir fein in Verbindung mit Aſien und 
ohne die Türken im Garten Europa’s! — Die Grundidee der Kreuzjüge war 
alſo: Sieg des Chriftentfums über den Halbmond, der ſchmachvoll das Heiligfte 
grundfäglich entweihte und graufam die Chriften bedrürte, In jener Zeit der 






280 Kreuzzüge. 


Kreuzzüge kannte man auch zum Glücke im Allgemeinen noch keine atomiſtiſche 
Lebensanſicht, ſondern Alles ging vom Glauben aus, ſetzte ſich mit ihm in Ver— 
bindung oder führte auf ihn zurück. Deßhalb ſahen geſunden Blickes die Chriſten 
jene Entweihung der heiligſten Orte als ſchwere Sündenſtrafen an, und die Buße 
dafür fand man in dem ſo großartigen Unternehmen, in dem Anſchluß an die 
Kreuzzüge. So alſo waren ſie vorbereitet durch frühere Jahrhunderte und ver— 
mittelt zunächſt durch eine ächt chriſtliche Idee. Der Hauptfactor der Gegenwart 
aber, der ſich dem der Vergangenheit anſchloß, lag in den Mißſtänden der Zeit, 
die Jedermann mehr oder weniger empfand, ohne irgend eine ruhige Abhilfe in 
Ausſicht zu haben. Dieſe Mißſtände gingen hervor aus den Zeiten der unglück— 
lichen Carolinger, dem unſeligen päpſtlichen Schisma, franzöſiſcher perfider Po— 
litik, dem heißen Inveſtiturſtreite, dem Gefahr drohenden Adels- und Lehens— 
weſen, einem ſittlichen und religiöſen Verfalle, einer ſichtbaren Gährung aller 
Verhältniſſe, einem Mißverhältniſſe unter den einzelnen Ständen und einem ſich 
anſetzenden Proletariat. Nächſtdem darf man nicht überſehen, daß die Kreuzzüge 
den Zeiten angehören, da Univerſitäten erſtunden, Scholaſtik, Myſtik und Kunſt 
in neue Blüthen trieben, deren größte Träger eben damals auftraten. Wer aber 
faßte das Alles in einem Brennpunct zuſammen zur Hebung der Frömmigkeit, 
Wiſſenſchaft und Kunſt, wie zur Abhilfe der vorhandenen drückenden Mißſtände? 
Die Kirche und nur die Kirche. Wir fanden bereits als Grundidee der Kreuzzüge 
eine ächt chriſtliche, nämlich das gemeinfchaftlihe Sündenbewußtfein. Die Trä— 
gerin dieſer Idee ift und bleibt die Kirche. Aber damals machte fie diefe Idee 
eoneret, brachte fie unter einen Gefichtspunet, machte fie flüffig fozufagen und 
mundgerecht für die ganze abendländifche Chriftenheitz denn fie legte diefelbe in 
einen Act der Demuth und Buße, und fo ergriff fie alle Stände und durchdrang 
alle Berhältniffe. Der Impuls lag alfo fiher in der Kirche; aber der Antheil 
am fehwereren Werfe: am Erhalten und Fortführen der Kreuzzüge fo lange als 
möglich, gebührt wieder nur ihr. Sie fhuf das riftliche Ritterthum, das welt- 
liche wie das geiftliche, und verband auf die großartigfte Weife den allgemeinen 
Heerbann mit ihm, ein fo charakteriftifches Merfmal der Kreuzzüge, daß trotz 
allem Antheile der Fürften, Könige und Kaifer daran im Grunde doch das Nitter- 
thum ſtets den Ausfchlag gab und die daraus hervorgehenden Reiche eigentliche 
Nitterreiche waren, Vergleichen wir die einzelnen Kreuzzüge unter fi nach ihrer 
Yeitenden dee, Anlage und Ausführung, fo finden wir, daß die Reinheit der 
frommen Begeifterung hauptſächlich im erften waltet, daß bereits im zweiten dieſe 
Begeifterung fehr getrübt war, indem Pracht, Stolz und Selbftvertrauen dabei 
bervortraten, daß die Unglücsfälle immer lähmender, die Opfer immer fchwerer, 
die Erfolge immer zweifelhafter wurden, und daß nur die höhere Macht der Kirche 
folhe Schwierigfeiten befiegen und die geiftlofer und fchwerfälliger werdende 
Maffe immer wieder in Bewegung fegen und fo lange darin erhalten Fonnte, 
Der erfte Kreuzzug ferner ging befonders von Franfreich aus und ergriff von da 
aus England. Der zweite gehörte mehr den germanifchen Völfern an. Daß 
dieſe fpäter kamen, daran war das Schisma ſchuld, indem Teutfehland am Gegen- 
papſte fefthielt damals, und fich daher nicht fogleih am großen Kampfe betheiligte, 
ein Beweis, wie das Fefthalten an Kirche und Papftthum fchon am Anfange der 
Kreuzzüge eine Hauptbedingung für deren Begreifen und Eingreifen war, Und 
wenn die Rreuzzüge mit dem reinften hriftlichen Nitter, der Jerufalem eroberte, 
fich dabei die Hände nicht verunreinigte und die Ehrenfrone fih da zu tragen 
weigerte, wo fein Herr die Schmachkrone getragen, wenn fie mit einem Gottfried 
von Bouillon (ſ. d. A.) fich eröffneten und mit einem Ludwig dem Heiligen ſchloſ— 
fen, fo iſt doch klar, welcher Antheil daran der Kirche gebührt, War endlich Alles 
längſt vorbereitet und gleichfam von der Kirche zur großen Entwicklung disponirt, 
fo erhielten die Wallfahrten die Kunde vom heiligen Lande in ſteter Erinnerung 











Kreuzzüge. Br 


und trugen ben Schmerz der Brüder dafelbft in das Herz der abendländifchen, 
und das Wort Peters von Amiens (ſ. d. A), des Einfiedlers, feine kirchliche 
— Erziehung und überirdifche Begeifterung warf den brennenden Funken unter den 

im Bolfe angehäuften Stoff, während des Papftes Hohes Wort zu Clermont (f. 
Elermont) Priefter, Adel und Fürften zum feurigften Entſchluſſe fortrig. Wel- 
chen Sinn fhon Gregor VII für die Kreuzzüge hatte, was ein Bernard von Clair- 
vaur (f. d. A.), die Päpfte Urban I. und Innocenz IL, Meifter Fulco und fo 
herab bis zum blinden Greife, dem Benetianer Seehelvden Dandolo für fie thaten 
und Fämpften, ift befannt. Der Geift diefer Kirchenfäulen fammelte jene Schaa- 
ren, goß Heldenmuth über fie, gab dem Ritterthum eine feiner innerften Anlage 
gemäße Richtung und ſchuf aus einem dem ficheren Untergange bereits nahen 
Volke ein Heer, das in diefer Erhebung Achtung verdient. Ueberbliden wir die 
Schaaren und ihre verfhiedene Heimath, fo viele Völker fih fo nahe gebracht, 
fo ungeheure Kräfte bei der Wildheit, Rohheit und theilweifen Berfommenheit 
jener Zeiten, fo wächst unfere Bewunderung für die Kirche, welde hier bändigend 
und ordnend einzugreifen vermochte. Wie fie verfchiedene Bölfer umſchlang, 
Feinde in Freunde verwandelte, fo fämpfte fie auch den ſchweren Kampf mit der 
Härte, dem Ehrgeize und den fonftigen Verirrungen der Großen; Verföhnung 
und Ereommunication, Lohn und Strafe, Freiheit und Bann wandte fie an, und 
mit dem Erfolge, Alles zu einem Ziele hingedrängt zu haben; Jedermann ftellte 
fih unter ihren Schug und Gehorfam, Groß und Klein, und ein Bild vom großen 
Gottesfrieden wandelte dur die eben noch im Haffe zerriffene Menſchheit. — 
Wer endlich fchaffte die unermeßlichen materiellen Opfer zu diefem Werfe? Wer 
anders, als die Kirche, welche den Opfergeift taufendfach erweckte, indem fie 
Zehnten, Gaben und Beiftenern aller Art zu beſchaffen und fo den allgemeinften 
Antheil an dem verdienftlihen Werfe zu vermitteln wußte, und das nicht allein 
mit ihrem liebevollen und feurigen Worte, fondern auch mit ihrer Höheren Gewalt 
und thatkräftigem Beiſpiele. Denn was fteuerte fie nicht bei, mit welcher Mühe 
betrieb fie den Einzug, mit welcher Sorgfalt die Verwendung der Gelder! Die 
Befhuldigung des Eigennuges ift fo leer, daß fie von jedem befferen Hiftorifer 
zurüdgewiefen wird. Statt vieler Zeugniffe verweife ich dießfalls nur auf Fried- 
rich von Raumer, Gefhichte der Hohenftaufen III. 195. 196. Fragen, wie z. B., 
ob e8 für Europa's Entwicklung nicht beffer gewefen wäre, wenn die Rreuzzüge 
nicht ftattgefunden Hätten, führen zu nichts, befchäftigen bloß die Phantafie und 
bringen auch nur Phantafiegebilde hervor. Für dem Katholiken haben fie kaum 
einen Sinn, und er hat feinen für fie; wenn er weiß, wie fie entflanden find, 
und welden Antheil feine Kirche daran genommen hat, Eine andere Frage ift die 
nah dem Nugen oder Schaden der Kreuzzüge. Beides müffen fie als irdiſche Er- 
ſcheinung aus dem Plane der Vorſehung hervorgegangen gehabt haben, und es 
fragt ſich hiebei nur, was überwiegend iſt. Das aber werden wir fehen, wenn 
wir die hauptfählichften ung befannten Folgen der Kreuzzüge vor das Auge füh- 
ren, Eine fo außerordentliche Erfcheinung kann nur einigermaßen richtig aufge- 
faßt werden in Beziehung auf ihre Folgen, wenn wir fie mit der Weltlage, unter 
der fie auftraten, zufammenhalten. Wir fehen in jener Zeit einen gefährlichen 
Kampf ſich vorbereiten, eine Art von Sclavenfrieg, da es wieder nur Herren 
und Knechte geben wollte. Diefem Kampfe beugten die Kreuzzüge vor, indem fie 
die Gewalt des Ritterthums ablenften und dem Bolfe Freiheit verfhafften. Des- 
gleichen halfen fie einer drofenden Maffenarmuth und einem ſich bildenden Pro— 
- Ietariate ab, Wenn wir mit Wehmuth fo viele Abendländer, Männer und Wei- 
ber, Kinder und Greife, in diefen Kämpfen dem Tode verfallen fehen, fo tröftet 
ung der Gedanfe, daß fie wohl noch unglüdlicher an Leib und Seele dahin ſchmach- 
tend, in der Heimath langfam aufgerieben worden wären. Wenn wir fo viele Aus- 
brüche der Maffen bei diefen Zügen bedauern, fo müffen wir dennoch anerfennen, 


282 Kreuzzüge. 


daß ſie doch noch für eine würdige Sache der Begeiſterung fähig waren, und daß 
das angezündete Feuer das dürre Holz verzehren mußte, bevor es faulend das 
geſunde anſteckte oder das friſch nachwachſende aufhielt. Der Europamüde fand 
einen erfriſchenden Zug und gleichgeſinnte Genoſſen, der Fromme eine heilige 
That, der Muth ſein Abenteuer, der Büßende eine würdige Bußgeißel. Es er— 
wachte ein Miſſionseifer, es trat an die Stelle des Haſſes die Chriſtusliebe, und 
aus der Zerriſſenheit ward Vereinigung. Die Kreuzzüge ſchufen ferner eine inni— 
gere Vereinigung des Ritterthums und der Kirche in der Entſtehung der drei geift- 
lichen NRitterorden. Sie trugen zur Nealifirung der Fatholifchen Idee einer Vol— 
ferfamilie das Ihrige bei, indem fie die Völfer fo vieler Länder mit einander in 
Berührung brachten und mit einem Gedanfen durhdrangen. Sie waren eine 
wahre Völkerſchule. Neue Staaten, wie in Sieilien, England, Portugal, Je- 
rufalem, Cypern, Griechenland, Rhodus, Malta, Preußen und Liebland, er- 
fanden. Der Austaufch der Kenntniffe, Lebensart und Ideen erweiterte den Ge- 
fihtsfreis des Abendlandes, freie Städte und Bürgerfchaften breiteten fih aus, 
teutfhe Stämme wurden chriftianifirt, die romanifchen Sprachen entfalteten fich, 
und römifche Elemente wurden vom teutfchen Geifte aufgenommen und verarbeitet, 
Das Abendland Iernte Vieles vom Morgenlande, der befchränfte Blick verlor ſich, 
Helventhaten begeifterten, die Dichtkunſt erwachte, und die arabifche Poefie und 
Kunft wirkte auf die Provengalen und Künftler Europa's, der Handel befam, be— 
fonders in den Seeftädten Jtaliens, Schwung. Auch von dem griechifchen Reiche 
lernten die Kreuzfahrer Vieles, wenngleich es hauptfächlich Lurusartifel waren, 
In Aegypten fah man den Danme- und Schleußenbau, und unfere Gärten fanden 
neue Nutz⸗ und Zierpflanzen. Ein Reife-, Miffiong- und Entdeckungseifer er- 
wachte, der meiftens an der Hand der Kirche bis zur Entdeckung America’s (f. d. A.) 
führte und feinen Firchlichen Charakter nie ganz verlor, Er trieb einen Pater 
Ascolin mit feinen Franciscanern in’s ſüdliche Aften bis nach Perfien, einen 
Pater Carpia (1246) durch das nördliche Aften bis Tibet. Pater Andreas und 
Wilhelm von Nubriquis gingen als Abgeordnete Ludwigs des Heiligen in die 
Mongolei, und felbft Marco Polo's Züge dur Syrien, Perfien, Indien bis 
Peking hingen mit dem Vorgange der Kreuzzüge zufammen. Entftanden auch nur 
Bisthümer in partibus infidelium, die Kirche deutete-doch damit an, was fie grün- 
den wollte und was ihr gehöre, Es ıft wahr, mohammebanifche Künfte und Wif- 
fenfhaften halten auch ihr eigenthümliches Gift in fih und ihrem Gefolge, die 
Befanntfihaft mit den Morgenländern und ihrer Ueppigfeit wirkte verderblich, 
neue Lebensgenüffe machten fich geltend, und namentlich war ed der Hohenftaufe 
Friedrich IL., der dem prientalifchen Gefchmacke mehr einräumte, als einem chriſt 
lichen Fürften ziemte. Das Alles fand bald einen Bundesgenpffen in der darauf 
folgenden Erfchlaffung, verirrenden Philofophie und dem einbrechenden Indifferen— 
tismus, Aber hiemit war eben wieder ein Kampf eröffnet, den die Kirche zu be— 
ſtehen hat, bis fie ihn fiegreich beendet. Auch die fpätere Eroberung von Eon- 
fantinopel durch die Türken folfen die Kreuzzüge verfchuldet haben, Das iſt nur 
in fofern wahr, als die griechifche Perfidie in den Kreuzzügen ihre eigene Grube 
grub und den legten Neft von Credit im Abendlande einbüßte, fo daß diefes, Nom 
ausgenommen, den Untergang des griechifhen Neiches ziemlich theilnahmslos an- 
fah, Wahr ift es vielmehr, daß die Kreuzzüge den Fall Conſtantinopels noch um 
einige Jahrhunderte Hinausfchoben, und daß diefe Cataftrophe ihren eigentlichen 
Grund im griechifhen Schisma hat, weiches Kraft, Begeifterung, Frömmigkeit 
und Wiffenfchaft beugte und das ganze Volf dempralifirte, fo daß Conftantinopel® 
Eroberung ein Strafgericht ift, das fo lange dauert, bis Einficht in das Orauen- 
volle eines Schisma's und mit der Einfiht Buße und Demuth kommen; dann 
erft ift der Herr gefühnt und gibt Rückkehr und Erhebung aus den Trümmern, 
Es ift wahr: Afien warb nicht von dem Chriftentbume erobert durch die Kreuze 











Kreuzzüge. —8 


züge, der Islam nicht niedergerungen von ber Lehre des Kreuzes; ſei es, daß 
es Gott an und für fih noch nicht wollte, oder daß der Menfchen Schwäche nicht 
feft genug das Hohe Ziel im Auge behielt, und nicht fo weit Gott folgte und ver- 
traute, oder fei es, daß diefe Länder nicht zum zweiten Dale die Leuchter der 
Heilslehre bei fi aufgerichtet fehen ſollten. Die Kirche bat und flehte: die Kreuz- 
züge hatten gegen das Ende des 18ten Jahrhunderts ihr Ende erreiht. Die 
Blüthe der Scholaftif und des Ritterthums war dahin und machte ſchwachen Um— 
trieben und Auswüchfen Pag. Es trat an die Stelle der Frömmigkeit und Be- 
‚geifterung jene Richtung, welche in Seldftfuht die Kraft vom Höchſten ablöst 
und im Niedrigen fich auflöst. Es erhielt fih nicht einmal das durch fo viele 
Dpfer errungene morgenländifhe Reich; ein Beſitzthum fiel nah dem andern. 
Kein Wunder. Die Duelle, aus der das Eroberte erhalten werben fonnte und 
mußte, lag zu ferne. In diefen Reichen und um fie herum Tagen die verfchieden- 
artigften Beftandtheile, die ſich nie einigen, Feine Stärfe geben, nur ſchwächen 
fonnten. Chriften vom Morgen- und Abendlande, griehifhe Tücke, Juden, Tür- 
fen und Heiden rannten durch einander, und diefe alle felber noch in politifche 
Parteien und religiöfe Secten gefpalten. Die Reſte Hriftlicher Eroberung waren 
ferner nicht mehr von jenem Nittertfum bewahrt, das fie errungen hatte, da— 
gegen von Feinden umgeben, die mit ritterlicher Tapferkeit fämpften. Dazu noch 
‚die ftete Eiferfuht der Lateiner und Griechen, Sp mußte Alles zu Grunde gehen. 
Die rationaliftifhen Gefhichtsanfhauer nun und die Hugen Rüdwärtsconfirnirer 
ziehen daraus den Schluß, daß die Kreuzzüge feine großartige Erſcheinung feien. 
Dieß widerlegt fi aus dem Obigen und beruft auf der ganz philifterhaften 
‚Meinung, daß nicht Zee, fondern Erfolg eine Sache fröne. Um ſolche triviale 
Anfiht haltbar zu machen, fegen fie an die Stelle der Höheren Idee die bloße 
Holitif und Schlauheit. Aber wann haben diefe ſolche Kräfte aufgeboten und ge- 
Ienft, und zwar Jahrhunderte ang? Andere finden nur Aberglauben als Grund 
der Kreuzzüge, der die dunfeln Köpfe jener Zeit in Kampf und Tod gejagt habe. 
Das ift der Standpunct einer abgelebten Zeit, welche Begeifterung und Fröm- 
migfeit Aberglauben ſchilt. Sie würde vielleicht Fanatismus darin finden, wenn 
fie Kraft genug hätte, den Fanatismus zu faffen. Mit Fluger Miene, die ge- 
ſcheidter vom Rathhauſe kommt, als fie Hinaufging, fagen Andere: ed war Un- 
verftand, der die Schwierigkeiten des Unternehmens gar nicht fannte und ſich alfo 
toll in die Sache flürzte, um am Ende viel zu verlieren und nichts zu gewinnen, 
Hätten denn aber die Leute damals ſchon wiffen follen, was man nah fieben 
Sahrhunderten erft nach und nach inne wurde? Um endlich die ganze Profa oder 
vielmehr den eigenen Unrath auf den religiöfen Duft der Kreuzzüge auszugießen, 
"bemühte man fi, nachzuweiſen, wie viel Gemeines und Unreines mit unter- 
gelaufen fei, Aber das läugnet man nit Der Abenteurer wurde von dieſem 
Zuge angezogen, der unruhige Ritter vom Gottesfrieden (ſ. d. AU.) zu verhaßter 
Ruhe gebracht, ergriff die Kreuzzüge zur Stillung feines Thatendurftes, der Pro- 
Ietarier zur Erleichterung feiner Lage und wohl auch zu Raub und Plünderung, 
da und dort ein Fürft zur Befriedigung feiner Länderfucht, ein und der andere 
Mönch zur Erlöfung von der ihm zu enge gewordenen Zelle, und daher denn 
auch die Verirrungen des Kreuzheeres, Aber waren denn diefe unreinen Beftand- 
theile nur an den Kreuzzügen? Waren fie nicht vor und nach ihnen da? Hätten 
fie zu Haufe Befferes gewirkt, oder wären fie in gänzlicher Unthätigfeit leidlicher 
oder leichter zu heilen gewefen? Sie wirkten, aber nur mit der Hauptfraft, und 
dürfen mit diefer feineswegs verwechfelt werden. Keine irdifche Erfcheinung ohne 
menſchliche Beimifhung. Je Heiner wir find, defto geringer tariren wie das 
Große, Das großartigfte Epos mit einer Unzahl von Epifoden -aller Art hat 
Europa in den Kreuzzügen aufzuweifen, und eine tbatenreiche Apologie der Kirche 
biegt in ihnen, wenn je eine ſolche nöthig ift, [Haas.] 


284 Krieg bei den Hebräern. 


Krieg bei den Hebräern. Dem Volke Iſrael war mit feiner Erwählung 
zum Bunbesvolfe zugleich auch das Terrain angewiefen, auf welchem das Bundes- 
verhältniß focial und ſtaatlich zur wirklihen Ausgeftaltung fommen follte, das 
Land Canaan (f. d. A.); innerhalb feiner Grenzen, in firengem Abſchluß gegen 
alles Fremde hatte fich die Theocratie zu geftaltenz Krieg war im theocratifchen 
Staat nur möglih, fofern der wirkliche Beſitz des göttlich angewiefenen Landes 
erft zu erringen oder gegen Aufere Angriffe zu vertheidigen war, traten dieſe 
Fälle ein, fo war der Krieg nicht bloß erlaubt, fondern befohlen, der äußere 
Deftand der Theveratie erheifchte denfelben, Jehova der unfichtbare König des 
Staates will und ordnet ihn, zieht aus an der Spige feines Volkes (Exod. 23, 
27. ff, vgl. Pf. 44, 3. u. 4. 68, 12. ff.), der Krieg iſt fo ein „Krieg Jehovas“ 
(Hm) nanam 1 Sam. 25, 28), die Streiter, welche ihn führen, heiligen fich 


vorher durch Waſchungen * Opfer (Joſ. 7, 13. 1 Sam, 7, 3 ff) und heißen 
deßhalb „Geweihte (oruiap 2) Jehovas“ (Sef. 13, 3, vgl. Zeph, 1, 7. Jerem, 
51,27); diefelbe Anfhauung liegt zu Grund, wenn das an den Befiegten zu 
vollziehende und. vollzogene Gericht ald Bann (f. d. U.) bezeichnet wird (vgl. 
Deut. 7, 2. 20, 17. of. 6, 8. 9. 11, 23). Aus dem Wefen und der Bedeu— 
tung des theveratifhen Krieges folgt die Allgemeinheit ver Verpflichtung dazu, 
diefe trifft jeden männlichen Sfraeliten vom 20. bis zum 50. Lebensjahre (Num, 
1, 3. 26, 2. 2 Chron. 25, 5. vgl. Jos. antt. 3, 12, 4), für gewiffe Falle war 
jedoch Befreiung möglich (Deut. 20, 5—8, vgl. 1 Mace, 3, 55)3 die Aushebung 
leitendie Vorſteher (ornaiwrı Deut. 20, 5, 8, 9) und die Schreiber (077552 Chron. 


20,18. 388,92 ,,203 Jeſ. 33, 18);3 nad den einzelnen Stämmen wird die nd-= 
thige Mannfchaft aufgeboten (Rum. 31, 4. ff. Sof. 7, 3. Richt, 20, 10)5 bei 
plöglichen Ueberfällen rufen überallhin ausgefenbete Boten (Richt. 6,35), Trom⸗ 
petenſchall, auf den Bergen aufgepflanzte Signale (2:) zu den Waffen (Richt, 3, 


27.0, 34, 7,24, 2.800,53, lesen A, De dt, 1:0 7 IE Te 
45. u. A.). Das ausgehobene "Heer fondert e ch theifs nad) Stämmen und Gegen- 
den (2 Chron, 25, 5, 26, 12. 13), theils nach den Waffengattungen (2 Chron, 
14, 8) in größere und fleinere Haufen (von 1000, 100 und 50 Mann, vgl. 
Num. 31, 14, Nicht. 20, 10. 1 Sam. 8, 12, 2 Kön. 1, 9. u. a.); jede Abthei- 
fung hatte ihren Anführer (Dies Tv uf. f. 2 Kön. 1, 9. 2 Chron, 25, 5 


1 Macc, 3, 55), und das ganze Heer feinen Feldherrn ns Sb, Na DD 


2 Sam. 2, 8. 24, 2.1 Kon. 1, 19); im Kriege war e$ häufig ber König. felbſt; 
die Anführer der Taufend und der Hundert bildeten mit dem Feldherrn den Kriegs- 
rath (1 Chron. 13, 1) 5 dem Könige und dem Feldherrn zur Seite ift der Waffen- 
träger (D5>2 sid), gewählt aus den Tapferften, hatte er nicht bloß die Waffen 
zu tragen, fondern begleitete ungefähr die Charge eines heutigen Adjutanten 
gl. 2 Sam, 16,21. Polyb. 10, 1). — Neben der Volkswehr findet fich feit Ent- 
flehung des Königthums auch die Einrichtung eines ftehenden Heeres; Saul bil- 
dete ein folches von 3000 Mann (vgl. 1 Sam. 14, 52, 13, 2. 24, 3); David 
und Salomo behielten neben fiehenden Truppen (vgl. 1 Chron, 27, 1 ff. 1 Kön, 
4, 26) noch eine Leibwache (f. Cerethi und Phelethi); von fpätern Königen 
wird daffelbe erwähnt (vgl. 2 Chron. 17, 14 ff. 2 Kön. 11, 4. 2 Chron, 25, 5. 
26, 11)5 unter diefen Truppen waren auch Ausländer (2 Chron. 25, 6). In 
der nachexiliſchen Zeit geftaltete fich die Militärverfaffung vielfah um; Simon 
Maccabäus hielt ein ftehendes Heer auf eigene Koften (1 Marc. 14, 32), Joh. 
Hyrian ließ fremde, befonders arabifche Söldner anwerben (Jos. antt. 13, 10. 4), 
ebenfo Alexander (Jos. ibid. 13, 13. 5.), Herodes d. Gr. (felbft teutfhe Sol- 
daten dienten unter ihm Jos. ant. 17, 8. 3. bell. j. 2, 1. 2); die Truppen biefer 
jüdifchen FZürften mußten nach Umftänden den römischen Legionen ſich anfchließen 








Krieg bei den Hebräerm, 285 


(Jos. bell. j. 2, 18. 9. 3, 4. 2. antt. 17, 10. 3); die Soldaten wurden wie bei den 
Römern auch zur Bewadhung der Gefangenen verwendet (Apg. 12, 4. ff.). Seitdem 
Judäa (mit Samaria) der Provinz Syrien zugetheilt und fo unter unmittelbare 
römische Dberhoheit geftelit war, befand fi zu Eäfarea ein Procurator mit der nö— 
thigen Truppenmacht (Ang. 10, 1), von welder ein Theil zur Zeit der Fefte, um 
Unruben zu verhüten, nach Serufalem verlegt wurde (Apg. 21, 31. Jos. b. j. 2, 
12. 1). — Das ifraelitifhe Heer befand anfänglih nur aus Fußvolk (>34 
Erod.12, 37. Num, 11, 21. 1 Sam.4, 10. 15, 4), die Canaaniter und Philifter 
batten eiferne (nicht Sichelwagen, wie man gewöhnlich erklärt, fondern mit Eifen 
beſchlagene Wagen, f. Bertheau zu Richt. 1, 19) Streitwagen (of. 17, 16. 
Richt. 1, 19. A, 3. 13. 1 Sam. 13, 5) und Reiterei (2 Sam. 1, 6), deßgleichen 
die Syrer und Aegyptier (of. 11, 9. Richt. 4, 3. 2 Sam. 10, 18). So aus- 
gerüfteten Feinden gegenüber mochten fi die Iſraeliten wohl Häufig im Nachtheil 
fühlen (ogl. Sof. 17, 16), allein fie waren nicht berufen über Canaan hinaus- 
gehende Eroberungen zu machen, wozu eine flarfe Militärmacht Leicht verleitet 
hätte, und dann follten fie nie vergeffen, daß fie an die Hilfe ihres unfichtbaren 
Kriegsherrn gewiefen waren, gegen welden die ftärfften Weltmächte nichts ver- 
mögen (die Antwort Joſua's Joſ. a. a. D. V. 17 und Pf. 68, 15—25). Salomo 
und fpätere Könige haben auch hierin Aenderungen ſich erlaubt, fie hielten Reiterei 
(1 Kön. 4, 26. 9, 19. 10, 26. 16, 9. 2 Kön. 13, 7). — Die Waffen (a>> 
ara 53) find folgende, Shugmwaffen: 1) Schilder, der größere, fehwere, 
mx Zinna (1 Kön. 10, 16. 17. 2 Chron; 14, 7. 26, 14), ungefähr daffelbe 
was ugeos (bei Homer 0u205), scutum; der Fleinere, leichte 532 Magen, Comıs, 
elypeus; der (nur Pf, 91, 4 genannte) runde Schild, TYTO (as Umgebende), 
parma ; die Schilde, gewöhnlich aus leichtem Holz gemacht, mit ftarfem Leder über- 
zogen, welches mit Del gefalbt wurde (2 Sam. 1, 21. Jeſ. 21, 5), um fie glatt 
zu erhalten und vor Näffe zu fügen; Prunffhilde, mit feinem Gold überzogen, 
ließ Salomo fertigen (1 Kön. 10, 16), Sifaf von Aegypten nahm mit den übrigen 
Schägen au diefe und Rehabeam ließ an ihre Stelle eherne für feine Leibwache 
machen (1 Kön. 14, 25— 28). 2) Der Helm, »2227, >25>, galea, aus Erz 
(1 Sam. 17, 5.38) ; 3) der Panzer, j1779, >75, häufig auch das Erz (1 Sam, 
17, 5), wie der Schild oft Bild des Schuges (ef. 59, 17. Eph. 6, 14 1 Theff. 
5, 8. Apocal. 9, 17), Kettenpanzer beim fyrifch-feleucidifhen Heere (1 Macc. 6, 


35). 4) Schienen an den Armen und Beinen, rn (1 Sam, 17, 6. Jeſ. 9, 4, 
TO caliga). Trug» und Angriffswaffen: 1) das Schwert, an die TO 
dafür u@ysıoa, wurde an einem befondern Gürtel getragen (2 Sam, 20, 8), 
war furz, bisweilen zweifchneidig (nra> Richt. 3, 16)5 2) die Lanze, der 
Speer, 72, gehört wie der große Schild zu den ſchweren Waffen (1 Sam. 17,7. 
2 Chron. 14, 7); 3) der Wurffpieg, a2 (Cl Sam. 18, 11. 19, 10. 20, 33), 
auch als Stoßwaffe gebraucht; 77772 wahrſcheinlich der Tängere Wurfſpieß (Joſ. 
18, 18. 1 Sam. 17, 6. Job. 39, 33. 41, 20. u. a.) 5 diefe Waffen hatten einen 
Schaft son Efchen- oder Tannenholz (2 Sam. 17, 7. Nah. 2, 4) und eine eherne 
Spige (1 Sam, 17, 7.2 Sam. 21, 16)5 H der Bogen, nip, mit den Pfei- 
Ien, yırz, bren, gehören zu den älteften Waffen (Gen, 21, 16. u. a.). Die 
Bogen gewöhnlih aus zähem Holz, feltener aus Erz (Pſ. 18, 35. Job 20, 24), 
wurden gefpannt mit der Hand oder mit dem Fuß (727 treten, gewöhnlicher 
Ausdruf von Spannen des Bogens, vgl. Pf. 7, 13. 11, 2. 37, 14. u. a.); auf 
das BVergiften der Pfeile war befannt (Pf. 7, 14. Job 6, 4); mit dem Bogen 
ift genannt der Köcher "m (Gen, 27, 3), oft Foftbar mit Gold verziert, Die 


286 Krieg bei den Hebräern. 


Bogenfhüsen nö, Dren 592, waren im hebräiſchen Heere immer zahlreich; 
die Beften waren aus dem Stamme Benjamin (2 Chrom, 14, 8, 17, 19). 5) Die 
Schleuder, »bp vorzüglich für das Teichtere Fußvolk (2 Kon. 3, 25. 2 Chrom, 
26, 14); auch im Gebrauch diefer Waffe zeichneten fich die Benjaminiten aus 
Richt, 20, 16), nach Plinius Ch. n. VII. 56) ift die Schleuder eine phönieifche 
Waffe, 6) In der fpätern Zeit ift auch Feftungsgefhük (miyasn 2 Chrom. 26, 
15) befannt; in der Zeit Nebucadnezars die Mauerbrecher, ba>2 Ez. 4, 2, 
»ap nn 26, 9. ſ. d. A. Feſtungen). — Den Gebraud der Waffen lernte der 
Einzelne theils durch feine, Lebensweife, wie durch Jagd und das Hirtenleben, 
theils fanden auch befondere Waffenübungen Statt, Darauf führen Ausdrücke, 
wie man>n 25 ben Krieg lernen, Jeſ. 2, 4. Mid, A, 3, mans Inh des 
Krieges fundig, 1 Chron. 5, 18. vgl. 1 Sam. 20, 20. 35—40, 2 Sam, 22, 35. 
Worin diefe gemeinfhaftlihen Uebungen beftanden, iſt nicht näher zu beſtimmen; 
im Laufe der Zeit wurde Mandes fremden Heeren abgelernt; die frühere Kriegs- 
führung befand in vereinzelten unzufammenhängenden Gefechten, erft Saul und 
David begründeten eine Tactif. — Bor Eröffnung des Krieges, der mitunter 
förmlich erflärt wurde (1 Richt. 11, 12. ff. 1Kön. 20, 2. 2 Kön. 14, 8), wurbe 
meift Jehova um feinen Willen befragt (Richt. 20, 27, 1 Sam, 14, 37, 23, 2. 
28, 6. dur die Propheten 1 Kon. 22, 6. u. a.), in deffen Namen ja der Krieg 
geführt wird; vor Beginn des Kampfes werben Opfer dargebracht (1. Sam. 7, 9, 
13, 8), der Feldherr (2 Chron. 20, 20) oder ein Priefter (Deut. 20, 2, ff.) 
hielt eine kurze begeifternde Anfprache, die Trompete gibt das Zeichen des Angriffs 
Rum. 10, 9,2 Chron. 13, 12), der fofort unter Erhebung des Schlachtgefrhreis 
casa 1 Sam. 17,52. Jeſ. 42, 13, Am, 1, 14. u, a. vgl. Iliad. 3, 3. 4 452. 
Liv. 5, 39. Curt. 3, 10. 1. Tacit. Germ. 3.) erfolgt. Die Schlachtordnung (7>7>% 
1 Sam. 4, 2. 17, 8) ift nicht näher befannt, war aber wohl ganz einfach, in 
der Nichterzeit ift fchon die Abtheilung in drei Heereshaufen befannt (Nicht. 7, 
16, 19. 1 Sam. 11, 11. 2 Sam, 18, 2); von andern ftrategifchen Künften wer- 
den genannt der Hinterhalt (27> Joſ. 8, 2. 12. Richt, 20, 36. ff. 1 Sam, 15,5), 
Kundfhafter (Dr>372 Joſ. 6, 22. Richt. 7, 10. ff. 1 Sam. 26, 4. 1 Macc, 5, 
38), plöglicher Ueberfall (Richt. 7, 16. ff.). — Die Einrichtung des hebräiſchen 
Lagers betreffend, fo Fann das mofaifhe (Num. 1, 52. 2, 2. ff. 10, 14) als 
Borbild aller fpätern betrachtet werden; ausgeftellte Poften hielten Wache (Nicht. 
7, 19. 1 Sam, 14, 16. 1 Mace. 12, 27), während des Rampfes blieb eine Be- 
deckung zurück (1 Sam, 30, 24). Die Gefallenen wurden feierlich beerdigt, 
Gebete und Opfer für fie dargebracht (1 Kön. 11, 15. 2 Mace. 12, 42. ff); 
gebliebenen Anführern die Waffen in's Grab mitgegeben (Czech. 32, 27), und 
Heerestrauer für fie angenrbnet (2 Sam. 3, 31). Der Sieg wird glänzend ge- 
feiert, mit Oefang und Tanz (Exod. 15, 1. Richt. 5, 1.11, 34,1 Sam, 18, 6. ff. 
2 Sam, 22, 1 Mace, 4, 22), durch Errichtung von Trophäen (1 Sam, 15, 12. 
2 Sam, 8, 13), im Heiligthum wird ein Theil der erbeuteten Waffen als Weih- 
geſchenk niedergelegt (1 Sam, 21,9. 31, 10. 2 Kön, 11, 10. 1 Chron. 10, 
10); befondere Auszeichnung trifft die, welche ſich durch Muth und Tapfer- 
feit hervorgethan (Joſ. 15, 16. 1 Sam, 17, 25. 18, 17. 1 Chrom, 11, 6. vgl. 
2 Sam, 23, 8. ff.) (Ueber die Vertheilung der Beute f. d. Art. Beute). Hart 
war das Loos, welches die Befiegten traf; ihr Land wurde verwüftet (Nicht, 9, 
45. 2 Rön, 3, 25. 1 Chron. 20, 1), die Einwohner getödtet (Nicht. 9, 45. pft 
fehr graufam 2 Sam. 12, 31. 2 Chron. 25, 12), verftünmelt (Nicht. 1, 6, 
1 Sam. 11, 2. Graufamfeiten gegen Werber und Kinder, 2 Kön. 8, 12. 15, 
16. Sef, 13, 16. Rlagl. 5, 11. Amos 1, 13. Hof. 10, 14, 14, 1, Neb. 3, 10, 
2 Mace, 5, 13), in Sclaverer weggeführt (Deut, 20, 14); die eroberten Städte 








Kritik, 287 


Häufig verbrannt: oder zerflört (Richt. 9, 45. 1 Mace. 5, 28. 52, 10), ſtets ge- 
ſchah diefes den Heiligthümern (2 Sam, 5, 21, vgl. 1 Chron. 14, 11. 2 Chron. 
25, 14 Jeſ. 46, 1. Hof. 10, 5. 2 Kom. 25, 9. 1 Macc. 10, 84. vgl. Jos. Antt. 
Xu. 9, 1); Sriedensfhlüffe (1 Kön. 20, 31. ff. 2 Kön. 18, 14. 24, 1), dabei 
beobachtete Grundfäge und Formalitäten (2 Sam, 10, 4. ff. 8, 10, Jeſ. 30, 6. 
57,9. .)- [Rönig.] 
Kritik, bibliſche. Kritif (zouzıx) sc. Ermiornun vder TEyv7) von zeivs 
Cheuriheilen, richten, entfcheiden) iſt im ſubjectiven Sinne die Kenntnig und 
Fähigkeit, eine Sache nah beflimmten feften Regeln und Grundfägen richtig zu 
beurtheilen , im objectiven Sinne die Darftellung und Anwendung diefer Regeln 
und Grundfäge. Ihr Gebiet ift daher begreiflih ein fehr großes, und fie erſtreckt 
fi nicht bloß auf Gegenftände der äußern Wahrnehmung, hiftorifche Thatſachen, 
Leiftungen der Wiffenfhaft und Kunft sc., fondern auch auf die Bermögen und 
Thätigfeiten des menſchlichen Geiftes ſelbſt. Lesteres iſt namentlich der Fall in 
der fog. Fritifchen Philoſophie, deren Gründer Kant durch feine Kritif der reinen 
Vernunft, der practifchen Vernunft, und der Urtheilsfraft geworden ift. In er= 
fierer Richtung läuft die Kritif wieder je nach dem Gegenfiande, mit dem fie fi 
befaßt, in befondere Zweige auseinander, und es entfteht eine philologiſche, eine 
biftorifche, eine äfthetifche ze. Kritif, Ein großes Feld hat befonders die philo— 
Iogifhe Kritik. Sie hat es mit alten Literaturwerfen zu thun, und ift theils 
niedere oder Verbalfritif, fofern fie fi bloß mit den-einzelnen Ausdrüden 
beſchäftigt, die verfchiedenen Lefearten prüft und ausfcheidet, und fo die urſprüng- 
liche Geftalt eines fehlerhaft gewordenen Tertes wieder berzuftellen fucht, theils 
böbere oder Realkritik, fofern fie die Entſtehungszeit, Aechtheit, Glaubwür- 
digkeit zc. eines claffiihen Literaturwerfes in Unterfuhung zieht. Auf die bibli- 
fhen Schriften angewendet, wird fie biblifche Kritik. Und mit diefer bloß 
haben wir es Hier zu thun. Ihre Notbwendigfeit ift von jeher factifch aner- 
fannt worden, obwohl theoretiiche Bearbeitungen der älteren Zeit unbefannt find; 
denn gleichwie die Frage nah Verfaſſer und Aechtheit ꝛc. bei den einzelnen bibli- 
[hen Schriften die Ausleger von jeher befchäftigen mußte und wirklich befchäf- 
tigte, fo auch bei zahlreichen einzelnen Stellen die Frage, welche von den ver- 
fhiedenen Lefearten, die nah dem Berlufte Ler Autographen in die Eremplare 
gekommen waren, den Borzug verdiene und als die urfprüngliche zu betrachten 
ſei; und fo erfcheint die Kritif in ihrer Anwendung von jeher als unzertrennliche 
Begleiterin der Auslegung der hl. Schrift und als wefentliher Beftandtheil der- 
felben. Ihre Aufgabe ergibt fih aus dem Gefagten von felbft. Was die philo- 
logiſche Kritif überhaupt in Betreff der claffifchen Literaturwerfe des Alterihums 
zu leiften bat, liegt ihr insbefondere in Betreff der biblifchen Schriften ob. Sie 
muß ald niedere oder Wortfritif zunächft den biblifchen Tert im Einzelnen 
fefiftellen , „die eingefchlichenen Fehler befeitigen, von den verfehiedenen Lefearten 
die richtige ausmitteln und den Tert in feiner urfprünglichen Reinheit wieder her- 
ftellen, Die Hilfsmittel dazu find ſowohl für's alte als neue Teftament, alte 
gute Handſchriften (f. Handſchriften der Bibel) und alte Neberfegungen 
(fe Bibelüberfegungen), und für's alte Teft. noch insbefondere der famari- 
taniſche Pentateuch, die Schrifteitate im Thalmud und in den Midrafhim und die 
Mafora, fürs neue Teft. die Schrifteitate bei den Kirchenvätern. Das aus diefen 
Hilfsmitteln zur Erzielung eines richtigen Bibeltertes gefchöpfte Material nennt 
man den Fritifchen Apparat. In neuerer Zeit find namhafte dießfallfige Sammel- 
werke an’s Licht getreten, von denen für das alte Teft. befonders die maforethifche 
- Bibel von Salomp Norzi, die Bibelausgabe von Benjamin Kennicott und die Ba- 
ziantenfammlung von B. de Roffi (f. Bibelausgaben I. 918. ff.), für den griechifchen 
Text der deuterocanoniſchen Bücher insbefondere die Holmes’she Ausgabe der Septua- 
ginta (ſ. Alerandr, Ueber ſ.) von Wichtigkeit find, Zür’s neue Teft. verdienen befon- 


288 - Kritik, 


ders genannt zu werben die Ausgaben von Bengel, Wetftein, Griesbach, Matthät, 
Scholz und Tifchendorf (ſ. Bibelausgaben I. 923, ff). Ueber die Art und Weife, 
wie das in diefen Werfen gefammelte Material zur Wiederherftellung des ur- - 
fprünglichen Schrifttertes zu benüßen, oder über die Negeln und Grundfäße, nad 
denen dabei zu verfahren fer, haben die Gelehrten nicht immer gleiche Anfichten 
gehabt und in Praxi befolgt, welche jedoch ausführlich zu befprechen nicht hieher, 
fondern etwa in ein Lehrbuch der biblifchen Kritif gehören fann. Da die Aufgabe 
der bibliſchen Wortkritik darin befteht, ven bibliſchen Text in feiner urfprünglichen 
Reinheit wieder herzuftellen, fo hat diefelbe als thoologiſche Disciplin, als An- 
weifung zur fritifchen Behandlung des Bibeltertes, vor alfem zu zeigen, wie die 
verfchiedenen Lefearten veranlaßt und ntflanden feien, und fofort die Regeln feft- 
zuftelfen, nach welchen die richtige ausfindig gemacht werden fünne, Bei diefem 
Gefchäfte wird es fich aber um eine umfichtige Beurtheilung und Würdigung der 
verfchiedenen Arten des Fritifchen Materials Handeln, und die Kritif wird vor 
Allem zu beſtimmen haben, welcher Werth den verfchiedenen Lefearten in den 
Handfhriften zufomme und auf was es bei der Auswahl derfelben hauptfächlich 
anfomme, 3. B. weniger auf die Zahl der Handfhriften, die für eine Lefeart zeu- 
gen, als auf die Beichaffenheit, das Alter, die Eorrectheit ꝛc. derfelben, fo daß 
unter Umftänden fogar die Lefeart einer einzigen Handfchrift gegen alle übrigen 
den Vorzug verdienen kann. Beim A, T. hat fie namentlich noch den Unterfchied 
zwifchen Synagogenrolfen und Privathbandfchriften und wiederum zwifchen mafo- 
rethifchen und nichtmaforethifhen Handfchriften hervorzuheben und den relativen 
Werth derfelben für die Löfung ihrer Aufgabe zu beftimmen; beim N. T. wird 
fie vor Allem die Frage nach den Familien oder Necenfionen der Handfhriften 
in Unterfuchung ziehen, ihren gegenfeitigen Werth und ihr Gewicht bei der Ent- 
foheidung über verfchiedene Lefearten feftfegen und zeigen müffen, ob und in wie 
weit man fich an die eine oder andere diefer Familien zu halten habe, Sodann 
in Betreff der alten Ueberfegungen hat die biblifche Wortkritif zu zeigen, wie und 
wie weit biefelben zur Herftellung des urfprünglichen Textes brauchbar feien, welche 
Borfihtsmaßregeln mit Nückficht auf den Charakter und die Schieffale der zu ge— 
brauchenden Meberfegung zu beobachten feien, in welchen Fällen das Zeugniß der 
Meberfegung jenem der Handfohrifp zur Beftätigung diene, oder ihm vorzuziehen 
oder naczufegen fei. Denn es ift Flar, daß es in diefer Beziehung mit jeder 
einzelnen Ueberfegung eine andere Bewandtniß hat, und daß felbft bei wörtlichen 
Meberfegungen nicht jeder, vom jegt verbreiteten Urtext abweichende Ausdruck au 
zum Beweife dient, daß das Driginal der fraglichen Ueberſetzung entſprechend 
gelautet habe, da auch wörtliche Ueberſetzungen ſich zuweilen freier bewegen, oft 
auch das Driginal nicht genau auszudrücken vermögen, und überbieß auch im 
Laufe der Zeit ihre urfprüngliche. Geftalt mehr oder weniger ändern, Beim A. T. 
wird fie dann insbefondere noch den famaritanifchen Pentateuch in Unterfuchung 
ziehen und beftimmen müffen, in welchen Fällen feine Abweichungen vom maſo— 
retbifchen Tert den Vorzug vor diefem verdienen, und in welchen fie als Fehler 
oder wilffürliche Aenderungen des richtigen Textes zu betrachten feien. Eben fo 
wird fie die Eitate in alten rabbinifchen Schriften (wie Thalmud, Midrafchim, 
Salut, Siphri ꝛe.) berücfichtigen und die Regeln aufftellen müffen, nach denen 
die etwaigen Abweichungen diefer Citate vom maforethifchen Text: zu beurtheilen 
feien, und endlich in Betreff der Mafora zeigen müffen, was von ihrer Behand- 
Yung des hebräifchen Bibeltertes zu halten fei, nach welchen Grundſätzen die Vo— 
califation, Accentuation, und die befannten Keri und Ketib zu beurtheilen feien, 
In ähnlicher Weife wird fie beim N. T. in Betreff der patriftifchen Schrifteitate 
zeigen müffen, nad) welchen Grundfäßen und mit welchen Borfichtsregeln fie zur 
Berbefferung des Schrifttertes zu gebrauchen ſeien. Mit der Feftftellung aber 
der Negeln und Orundfäße für den rechten Gebrauch des Fritifchen Materials 





t Kritik, 289 


and die Ausfheidung des Wahren vom Falfchen ift die bier in Frage ſtehende 
Aufgabe der bibliſchen Kritif noch nicht ganz gelöst. Der fritiihe Apparat für 
ſich reicht in gar mandhen Fällen zu einer fichern und befriedigenden Entfcheidung 
nicht aus, und es muß, um eine ſolche zu erzielen, auch noch der Context, die 
ſprachliche Eigenthümlichfeit, die Darftellungsweife, der Gedanfen- und Jdeen- 
kreis ze, der betreffenden Schrift in Betracht gezogen werden ; und die biblifche Kritif 
bat wiederum die Grundfäge und Regeln feftzuftellen, nach denen fih aud in 
diefer Beziehung das kritiſche Berfahren richten muß. Die Aufftelung und 
Rechtfertigung jedoch folder Grundfäge und Regeln in all den angedeuteten 
verfchiedenen Richtungen kann nicht hieher, fondern wiederum etwa in ein Lehr- 
buch der biblifchen Kritif gehören, Für die altteftamentliche Kritik verdienen 
dießfalls die 93 Canones critici, welche B. de Roffi in den Prolegom. zu fei- 
nen: trefflichen Werfe: Variae lectiones veteris testamenti. Parmae 1734. p. XLIX. 
sqq. aufgefiellt hat, befondere Beachtung, und find felbft von Proteftanten mit 
vielem Beifall aufgenommen worden, „Denn diefe Grundfäge, die ſich auf die 
fämmtlihen Duellen der Emendation des hebräifhen Textes, nämlich auf Hand- 
ſchriften, alte und bewährte Ausgaben, den famaritanifchen Tert, alte Berfionen, 
Parallelſtellen, Analogie des Eontertes, Maſora, und kritiſche Conjectur ver- 
breiten, und jedes derfelben mit Unbefangenheit würdigen, bewähren nicht allein 
den umfaffenden Blick ihres Urhebers, dem der ganze Reichthum der verfchiedenen 
Hilfsmittel für die altteftamentliche Kritik lebhaft vorfchwebt; fondern beweifen 
auch großentheils deffelben geläuterte Begriffe von altteftamentlicher Kritif, nad 
welchen er das Verhältniß diefer verfchiedenen Hilfsmittel zu einander gehörig 
beftimmt, und Jedem feinen ihm gebührenden Rang anzumweifen fucht” (Meyer, 
Geſchichte der Schriftauslegung V. 463). Für die neuteflamentlihe Kritif find 
unter der Menge von Abhandlungen über diefen Gegenftand in kritiſchen Aus- 
gaben des N, T. und Lehrbüchern der neuteftamentlihen Einleitung befonders 
lehrreich: Griesbachüi Prolegomena ad N. T. ed. secunda, Sect. III. Conspectus po- 
tiorum observationum criticarum et regularum,, ad quas nostrum de discrepantibus 
lectionibus judicium conformavimus. p. LIX—LXXXI., Hug’s „Orundfäge der Kritik“ 
im erften Theile feiner Einleitung in's N. T. 3. Ausg, ©. 525—35 und Scholz’s 
Brolegomena zu feiner Ausgabe des NR. T. 1830—36. — Die höhere Kritik 
bat, wie ſchon bemerft, eine andere Aufgabe als die nievere, und muß demge- 
mäß auch ein anderes Berfahren einfchlagen und anderartige Beweismittel in 
Anwendung bringen, um zu ihrem Ziele zu gelangen. Ihre Beweismittel 
find theils äußere theils innere. Jene find Hiftorifche Zeugniffe über Zeitalter, 
Berfaffer ꝛc. einzelner biblifher Schriften aus folchen Zeiten und von folchen 
Seiten her, wo das Richtige unläugbar oder doch aller Wahrfcheinlichfeit nach 
befannt fein fonnte, Auf welche Weife und mit welcher Vorſicht aber ſolche Zeug- 
niffe, zumal wenn fie von verfchiedenen Seiten her nicht mit einander im Ein- 
Hang ftehen, zum Behufe der Fritifchen Beweisführung zu gebrauchen feien, bat 
wiederum die biblifche Kritik, als theologiſche Disciplin, in's Licht zu fegen. 
Die inneren Gründe find folhe, die je in der betreffenden Schrift feldft Liegen, 
um die e8 fih Handelt, und zwar gehören dahin vor Allem ausdrückliche und be= 
flimmte Ausfagen der fraglichen Schrift felbft über ihren Berfaffer. Nur ift dabei 
wohl zu beachten, ob folhe Ausfagen vom Berfaffer felbft herrühren, wie diefes 
3. D. befanntlih beim Pentateuch und vielen prophetifhen Schriften der Fall ift, 
oder ob fie fpäter Hinzugefommen feien, wie 3. B. in manchen Pfalmüberfchriften, 
Daß fie im erflern Falle volle Zuverläffigfeit Haben, bedarf faum der Bemer- 
fung, und etwaige Stelfen in der betreffenden Schrift, die damit in fohlechthin 
unvereinbarem Widerſpruch ſtünden, müßten als fpätere fremde Zuthat betrachtet 
werden, Im letzteren Falle dagegen läßt fih im Voraus die Möglichkeit denken, 
daß eine zunächſt nur vermuthungsweife Ausſage allmählig das Anfehen einer 
Kirchenlexikon. 6, Br, 19 


290 Kritik, 


⸗ 


hiſtoriſchen Ueberlieferung erhalten habe und ungeachtet dieſes Anſehens wohl 
auch eine Unrichtigkeit enthalten könne, wie ſolches z. B. bei der einen und an- 
dern Pfalmüberfehrift der Fall if. Wo aber eine in Frage geſtellte Schrift ſelbſt 
nichts über ihren Verfaſſer, Zeitalter ꝛe. ausfagt, Fonnen die innern Gründe, auf 
welche die höhere Kritif bauen muß, bald in einzelnen zufälligen Direeten oder 
indireeten Hinweifungen auf die Entftehungszeit, bald in der etwa eigenthümlichen 
Sprache und Darftellungsweife, bald in Hindeutungen auf gewiffe Sitten, Ge— 
wohnheiten, Einrichtungen, die nur einer beflimmten Zeitperiode angehören, bald 
auch in dem Zufammentreffen mehrerer folcher Erfcheinungen beftehen, So ift 
3. D. die Bemerfung im B. Joſua, daß die Canaaniter zu Gafer in der Mitte 
Ephraims wohnen „bis auf diefen Tag“ (16, 10) ein Beweis, daß diefes Buch 
vor der Zerftörung Gafers durch Salomo (1 Kon, 9, 16) gefhrieben fein müſſe; 
und ebenfo die Bemerkung im Buch der Nichter, daß die Zebufiter zu Jeruſalem 
no nicht bezwungen feien und dort unter den Benjaminitern wohnen bis auf diefen 
Tag, ein Beweis, daß diefes Buch vor der Eroberung Jeruſalems durch David 
(2 Sam. 5, 6—9) entftanden fein müffe. Weniger ficher find die Entfcheidungs- 
gründe, die von der Sprache und Darftellungsweife hergenonimen werden, weil 
diefe viel zu fehe mit der Individualität zufammenhängt und auch bei einem 
und demfelben Individuum fih nicht immer gfeich bleibt, fondern je nach dem 
behandelten Gegenftande, dem angeftrebten Zwede 2c,, wohl auch eine merf- 
Yich andere Färbung annehmen kann, wie fich dieſes z. B. in den propheti= 
ſchen Reden des Jeſaias zeigt, Mehr Sicherheit geben die Hindeutungen auf 
beftehende oder nicht mehr beftehende Sitten, Gewohnheiten 2c.; wenn z. B, im 
Buch Ruth eine alte Sitte als foldhe erwähnt und erflärt wird, fo iſt klar, daß 
das Buch lang nach dem Ereigniß, das es zum Gegenftande hat, entflanden fein 
müffe. In diefen verſchiedenen Beziehungen hat nun wiederum die biblifche Kritik 
im ſchon berührten Sinne dem Fritifhen Verfahren durch Aufftellung fefter Re- 
geln und Grundfäße einen ſichern Weg vorzuzeichnen, Uebrigens ift befannt, daß 
die biblifche Kritik namentlich auf vffenbarungsgläubigem Standpunete nicht felten 
mit argwöhniſchem Auge betrachtet und nicht ungern als eine dem göttlichen An— 
fehen der Schrift und dem Dffenbarungsglauben überhaupt gefährlihe Wiffen- 
fchaft bezeichnet wird, Anlaß und Grund zu diefem Mißtrauen gab allerdings 
der grobe Mißbrauch, den man auf rationaliftifhem Standpuncte lange genug 
mit der Bibelfritif getrieben, und fie mitunter zur fürmlichen Bekämpfung des 
Snfpirationscharafters der Schrift und des Glaubens an pofitive Offenbarung 
überhaupt benügt hat, Allein des Mißbrauchs wegen foll nach einer befannten 
Regel der gute Gebrauch nicht aufhören, und Fein Gebilveter wird erſt einen 
Beweis dafür verlangen, daß die höhere Kritif, auf die rechte Weife geübt, ge— 
rade am meiften im Stande fei,. das Anfehen und die Authentie der Schrift zu 
befeftigen und gegen deftructive Angriffe in Schuß zu nehmen. Wer aber einen 
Beweis dafür verlangt, Fann ihn finden in jeder der vielen Fritifchen Leiftungen, 
welche namentlich in neuerer Zeit, auf vffenbarungsgläubigem Standpunet fi 
bewegend, die Aechtheit, Glaubwürdigkeit ze. einer oder mehrerer bibliſcher 
Schriften oder auch nur einzelner angeforhtener Schriftſtellen darzuthun verfucht 
haben, Das Nähere in Betreff der rationaliftifchen Bibelkritif ſ. in dem Artikel: 
Eregefe Bd. 11. ©. 830. ff. Vgl, ferner die Artifel: Authentie, und Integri— 
tät der hl. Schrift: — Was endlich noch die Gefhichte und Literatur 
der biblifchen Kritik betrifft, fo ift auch hier die Praxis der Theorie vorausge— 
gangen. Letztere ift dem Altertum unbefannt, aber Fritifches Verfahren und 
Beſchäftigung mit Fragen der niederen fowohl als der höheren Kritik zeigt fich 
mehr oder weniger in allen patriftifchen Schriften, die fich mit der Bibeleregefe 
befaffen. Schon Tertullian vergleicht gelegenheitlich die Iateinifche Heberfegung 
mit ihrem Originale und tabelt oder berichtigt Die vorkommenden Abweichungen 





Kritik. 291 


- Hug, Einleitung ins N. T. 1. 462, fi). Etwas fpäter fuchen Luctan und 
- Hefyhius den griechifhen Tert fowohl des alten ald des neuen Teftamentes 
kritiſch zu verbeffern; und die Behauptung, daß eine Verbefferung des letzteren 
durch fie nicht flattgefunden Habe, Hat viel zu beftimmte und entfchiedene Aus- 
fagen aus dem Altertgum gegen fi, als daß fie viel Beachtung verdienen könnte. 
Namentlich aber Haben fich im diefer Hinfiht Drigenes und Hieronymus aus- 
gezeichnet, erfterer zum Theil in feinen Commentarien, wo er namentlich auch 
verfchiedene Lefearten anführt und beurtheilt, befonders aber in feinem berühmten 
bibel⸗kritiſchen Werke, welches unter dem Namen Herapla befannt ift (f. Alerandr, 
Neberf.), letzterer ſowohl in feinen Commentarien als auch in feinen Präfationen, 
Fritifchen Epifteln und andern Schriften. Und auf diefe Weife wurde auch nachher 
bibliſche Kritif geübt von folden, die Fähigkeit und Kenntni dazu Hatten, und 
wenigftens, wenn fie der biblifhen Grundſprachen nicht mächtig waren, verfchie- 
dene Ueberfegungen mit einander verglichen und die Abweichungen nah Maßgabe 
des Zufammenhanges, der fonftigen Ausdruds- oder Lehrweife des betreffenden 
Schriftſtellers ıc. beurtheilt, wie wir dieß 3. B. bei Gregor d. Gr. in feinen 
Expositiones in Job fehen. In diefer Weife ging es fort bis über die Zeiten des 
- Mittelalters herab; mit Löfung verfchiedener fritifcher Fragen, ſowohl die Wort- 
kritik als die höhere betreffend, beichäftigte man fich immer, und mit erneuten 
Eifer namentlich feit dem 13tem Zahrh., nachdem auf den Univerfitäten eigene 
Lehrſtühle für die bibliſch-orientaliſchen Sprachen errichtet worden waren. Theo- 
retiiche Bearbeitungen aber der biblifchen Kritif wurden immer noch nicht verfucht, 
und feldft als bedeutendere Fritifche Arbeiten an’s Licht traten, waren es nicht fo 
faft Schriften über Rritif als vielmehr Fritifhe Schriften über Gegenftände kri— 
tifcher Fragen. Dieß gilt gleich von dem erften bedeutenden Werfe diefer Art, 
welches ver gelehrte Dratorianer Joh. Morinus unter dem Titel: Exereita- 
tiones Biblicae de Hebraei Graecique Texfus sinceritate, pars prior. Paris 1633. 
berausgab, und welches fpäter, nachdem der zweite Theil furz vor des Verfaffers 
Tod vollendet worden, vollftändig herausgegeben wurde von dem Pater Fronto 
(Tanonicus regularis zur Hl. Genovefa) unter dem Titel: mar nY70%2 Consig- 
natio foederis: Exercitationum Biblicarum de Hebraei Graecique Textus sinceritate 
libri duo, quorum Prior in Graecos sacri Textus Codices inquirit, vulgatam eccle- 
siae versionem antiquissimis codicibus Graecis conformem esse docet, germanae 
LXX. Interpretum Editionis dignoscendae et illius cum vulgata conciliandae metho- 
dum tradit, ejusdemque divinam integrifatem ex Judaeorum Traditionibus confirmaf. 
Posterior explicat quidquid Judaei in Hebraei textus criticen hactenus elabora- 
runt, Talmudis ufriusque, Paraphrasium Chaldaicarum, Midraschim et omnium 
librorum, quos jactant antiquissimos aetatem examinat: portenfosam apud eos 
historiae ignorantiam aperit, Masoretharum opus universum recenset: unde et 
quando occasionem Accentuum, Versuum, et Punctorum Vocalium textui sacro in- 
scribendorum sumpserunt. Hinc primum apud eos ortos esse Grammaticos. Varias 
enarrat sacri textus recensiones a Judaeis factas etc. Paris 1669. Diefes Werk, 
deifen Inhalt aus diefem Titel fchon erfichtfich ift, verwidfelte den Morinus im 
einen hitzigen Streit mit feinem auch fonftigen Gegner Simeon de Muis, der 
ſchon im J. 1634 feine Assertio hebraicae veritatis altera gegen die Exercitationes 
berausgab und den Morinus zu einer Erwiederung unter dem Titel Diatribe elen- 
chica de sinceritate Hebraei Graecique textus dignoscenda et animadversiones in 
Censuram exereitationum ad Pentat. Samarit. Paris 1639. veranlaßte, und gegen 
diefe wiederum feine Assertio tertia castigationis animadversionum M. Jannis Morini 
Blesensis etc. herausgab. Webrigens ift das Werk des Morinus ungeachtet man- 
Her Schiefheiten und Uebertreibungen ein fehr brauchbares, und wenn gleich Feine 
eigentliche Theorie der Bibelkritik, doch auch für eine ſolche nicht unwichtig. Von 
nun an erfhienen auf proteftantifcher Seite mehrere DIDERRERNGE Werke, zuerft 
19 





2 Kritik, 


der Crilicus sacer von Abr, Calovius (Lips. 1646), dann die Crilica sacra 
von Louis Capelle (Ludovicus Capellus, Paris 1650) und die Critica sacra 
von Aug. Pfeiffer (Dresdae 1680, dann Lips. 1688). So fehr man aber hier 
dem Titel zufolge auch Erörterungen über das Wefen und die Aufgabe der Bibel- 
feitif erwarten fünnte, fo findet man doch bloß Fritifche oder auch nur Fritifch fein 
follende Berhandlungen über Gegenftände der biblifhen Einleitung, Hermeneutif 
und Kritif, Die Critica sacra von Capelle wurde fpäter von Vogel und Schar- 
fenberg (Hal. 1775—86) neu herausgegeben und verdient im diefer verbeflerten 
Geftalt ungefähr eben fo günftig beurteilt zu werben, als die Exercitationes des 
Morinus, Aehnliches gilt von der Critica sacra vet. Test. von Gottl. Carpzov 
(Lips. 1721), obwohl feine mitunter bi8 zur Ungerechtigkeit gehende proteftantifche 
Parteifucht oft anwidert und abſtoßt. Den größten Namen als Bibelkritifer hat 
aber fchon etwas früher Rich. Simon erlangt, wiewohl auch er mit einer Theorie 
der Bibelkritif fich nicht befaßte. Seine wichtigften hieher gehörigen Schriften 
find: Histoire critique du vieux Testament. Paris 1678, Amfterdam 1679 (fehler- 
baft und entftellt) ; Yateinifch von Noel Aubert de Verfe 1681 Ceben fo fehlerhaft); 
am eorrecteften und vollftändigften, wahrfheinlich vom Verf, ſelbſt beforgt, iſt 
die Notterdamer Ausg. vom J. 1685. Histoire ceritique du texte du nouveau 
Testament, oü l’on &tablit la verite des Actes, sur lesquels la Religion Chretienne 
est fondee. Rotterdam 1689. Als Fortfegung oder zweiter Theil davon erfchien 
Histoire critique des versions du nouveau Testament, oü Fon fait connoitre quel a 
et Yusage de la lecture des livres sacres dans les principales Eglises du monde. 
Rotterdam 1690. Ueber Simons Verdienſte fd. U. Einleitung, biblifche, 111.490, 
Don fpäteren hieher gehörigen Schriften find noch zu nennen die Prolegomena in 
sacram scripluram von C. F. Houbigant, die feiner hebräifchen Bibel: Biblia 
Hebraica cum notis criticis. Paris 1753. vorangeftellt find und fammt den notis 
nachher befonders abgedrucft wurden, Francof. a. M. 1777, Es ift ein verbienft- 
liches Werk, und zeichnet fich namentlich durch einen ausgedehnten Gebrauch der 
alten Neberfegungen zur Berichtigung des biblifchen Urtertes aus, worin freilich 
auch zugleich feine ſchwache Seite liegt, indem es der Subjectivität einen zu 
großen Spielraum einräumt, Es konnte daher nicht fehlen, daß Sebald Rau 
(Ravius) in feinen Exercitationes philologicae (Lugd. Bat. 1785), die er gegen 
Hpubigant richtete, zu manchem Tadel über vorſchnelle Urtheile und Entfchei- 
dungen deffelben Anlaß nehmen fonnte, Um diefelbe Zeit, wo die Houbigant'ſche 
Bibel erfhien, begann Benjamin Kennieott feine biblifch-kritifchen Arbeiten 
zu veröffentlichen, zuerſt: The state of the printed Hebrew Text of Ihe old Te- 
stament considered. A Dissertation in two parts etc. Oxford 17535 ſodann: The 
state of the printed Hebrew Text of the old Testament considered. Dissertation 
the second, wherein the Samaritan Copy of the Pentateuch is vindicated ele. Ox- 
ford 1759 (beide Differtationen wurden von A. Teller in's Lateinifche überfegt. 
Zeipz. 1756. 1765); endlich: Dissertatio Generalis in vetus Testamenlum cum variis 
lectionibus ex codicibus manuscriptis et impressis auctore Benjamino Kennicott. Oxo- 
nii 1780, vor dem zweiten Bande der Kennicott’fhen Ausgabe des A, T. bejon- 
ders abgedruft und mit manchen Zugaben bereichert von P. J. Bruns unter 
dem Titel: Dissertatio generalis in V. T. hebraicum cum variis leclionibus ex c0- 
dicibus manuscriptis et impressis. Auctore Benjam. Kennicott. Recudi curavit et notas 
adjecit Paulus Jacobus Bruns. Brunsvici 1783. Eine eigentliche Theorie der Bibel- 
kritik findet fi aber in al’ diefen Schriften noch nicht, Uebrigens wurden it 
Dezug auf das N. T. doch ſchon früher partielle Verfuche in der Theorie der 
MWortfritif Kamen: von C. M. Pfaff in feiner Dissertatio critica de genuinis 
librorum N. T. lectionibus etc. Amstelod. 1709, von Mäftricht in feiner Aus— 
gabe des N, T. Amstel. 1711, von Bengel in feiner introductio in erisin N. T,, 
beigegeben feiner Ausg. des N, T, Tübing, 1734, und von Wesftein in ben 








Kroaten. ’ 293 


Zugaben zu feiner Frit. Ausg. des N. T. Amstel. 1752. In Bezug auf das 
alte Teftament aber machte erft der Dominicaner Gabriel Fabrici im vierten 
Theile feines Werfes: Des Titres Primitifs de la Revelation, ou Considerations 
Critiques sur la puret& et lintegrite du Texte Original des Livres Saints de P’Ancien 
Testament etc. Rome, 1772, einen anfangsweifen Verſuch zu einer Theorie der 
Kritif, indem er zeigte, wie die alten Handfchriften des hebräiſchen Tertes und 
die alten Ueberfegungen deffelben zu gebrauchen und die verfchiedenen Lefearten 
zu beurtheifen und auszuwählen feien. Endlich erfchien ein Lehrbuch der Kritik 
des A. T. von W. F. Hezel. Leipz. 1783, und einige Zeit fpäter eine Anwei- 
fung zum rechten Gebrauch der Fritifchen Hilfsmittel bei der Berbefferung des alt= 
teftamentlichen Bibeltertes im dritten Tractat der Critica sacra von 2. Bauer, 
Leip. 1795. Bon jest an wurden Anweifungen zur Fritifchen Behandlung der 
biblifchen Bücher gewöhnlich in die Handbücher der biblifchen Einleitung aufge— 
nommen, z. B. von Zahn, Einleitung in die göttlihen Bücher des A. B. J. 
420 f.5 Bauer, Entwurf einer Hiftorifch-Fritifchen Einleitung in die Schriften 
des A. T. 3. Aufl. 292.5 Gerhaufer, biblifhe Hermeneutif, Erfter Theil, 
Einleitung in die heiligen Schriften des alten und neuen Bundes, S. 258— 263, 
und 296—307;5 Hävernid, Handbuch der Hiftorifch-Fritifchen Einleitung in das 
alte Teftament. I. 2. S. 123—135; Glaire, introduction historique et critique 
‚aux livres de l’ancien et du nouveau Testament. Paris, 1843. t. I. p. 345—402; 
de Wette, Lehrbuch der Hiftorifch-Fritifchen Einleitung in die canoniſchen und 
apoeryphiſchen Bücher des alten Teftamentes. 6. Ausg. S. 147—166; Hug, 
Einleitung in die Schriften des neuen Teftamentes, 3. Aufl. L 525—5355 
Seilmofer, Einleitung in die Bücher des neuen Bundes, S. 651—655. Eine 
Art Lehrbuch der biblifchen Kritif hat vor einem Decennium Prof. Löhnis zu 
Gießen veröffentlicht in feinen „Grundzügen der biblifhen Hermeneutif und Kri— 
tif ꝛc.“ Gießen, 1839. Vgl. Rofenmüller, Handbuch für die Literatur der bib— 
liſchen Kritif und Exegeſe. I. 439 ff. ©. W. Meyer, Gefhichte der Schrift- 
erflärung feit der Wieverberftellung der Wiffenfchaften. II. 268 ff. IV. 289 ff. 
V. 337 ff. [Relte.] 
Kroaten, Chriftentgum bei denfelben. Die Kroaten (Chrowaten, 
Chorwäten), ein flavifcher Volfsftamm, zugen zur Zeit des Kaiſers Heraelius 
aus Polen oder Südrußland aus und nahmen das Land zwifchen dem adriatifchen 
Meere und der Donau und Sau in Befis. In eilf Gemeinen unter Supanen 
(Banen) eingetheilt, erfannten fie mitunter gleich den alten Einwohnern, welde 
fi in die Meeresftädte zurücdgezogen hatten, die Dberhoheit des griechifchen 
Kaiſers anz fpäter foll Carl der Große, nachdem er das Reich der Hunnen zer- 
flört, auch hier um fich gegriffen Haben, und fein Sohn Ludwig, fagt man, band 
die dalmatifche Provinz an das Königreich Bayern. Gleichwie bürgerlich, ſchwaukte 
man auch Firchlich zwiſchen Rom und Byzanz hin und her (f. Dambergers Fürften- 
buch, Regensb. 1831, S. 430). Schon der Kroatenfürft Porga verlangte bei dem 
Raifer Eonftantin Pogonatus hriftlihe Miffionäre; diefer aber verwies ihn an 
den römischen Stuhl, welcher Priefter abfandte, die um 670 den Fürften Porga 
ſammt einem großen Theil des Volkes tauften. Darauf foll der Papft Kroatien 
als Eigenthum des römifchen Stuhls unter feinen Schug genommen und die Neu— 
getauften verpflichtet Haben, fich aller Räubereien und Angriffsfriege zu enthalten 
Döllingers Lehrb. der Kirchengefch. Negensb. 1836, I, 364). Wohl wirkten 
zur Chriftianifirung der Kroaten auch die Kirche von Aquileja und die Einflüffe 
des früher durchaus chriftlichen Bodens ein; andererfeits ſchickte man zuweilen 
auch von Conftantinopel aus Geiftliche zu ihnen. Kroatiſche Bifchöfe werden jedoch 
erft feit 879 erwähnt, zur Zeit, da die Oberfürften der Kroaten fich durch Reich— 
thum, Macht und Anfehen hervorthaten. Nach dem Tode des Froatifchen Fürften 
Zwoinimir CH 1088), welder im 5. 1076 von dem päpftlichen Legaten Gebizo 


29” Kroncarbinäle — Krönung der Raifer und Könige, 


zum König von Aroatien und Dalmatien gekrönt worden war und babei dem 
Papfte (Gregor VIL) den Vaſalleneid geſchworen hatte (Baron. Annal. ad a. 1076. 
or. 66—67), rief deffen Wittwe Helena im Einverfländniffe mit mehreren kroa— 
tifhen Großen ihren Bruder, den hl. Ladislaus, König von Ungarn, zu Hilfe, 
da fie unvermögend war, die ausgebrochenen Parteifämpfe zu beſchwichtigen. La— 
dislaus eilte herbei, eroberte 1089—1091 Kroatien, feßte den Almos, den jün- 
gern Sohn feines Bruders Gejſa, zum Fürften ein, ordnete die bürgerlichen und 
kirchlichen Angelegenheiten und gründete zur Befeftigung des Chriſtenthums in 
Kroatien das Bisthum Agram (Mailath's Gef. der Magyaren I, 865 
Kerchelich, Hist. episc. Zagr.; vgl. den Art, Koloeza, Erzbisthum). — Außer 
diefem berühmten Bisthum beftehen im dermaligen Kroatien noch a) das Iatei- 
nifhe Bisthum Zeng (Segnia, Seny) an der adriatifchen Meeresfüfte, womit 
die Bisthümer Modruffa und Korbawia verbunden find; b) das unirt-griechiſche 
Bisthum Kreuz (dioecesis Crisiensis), deffen Anfänge in die Zeit des Papftes 
Paul V. fallen, und welches gleich allen unirt-griechifchen Bisthümern Un— 
garns, Siebenbürgend, Kroatiens und Slavoniens unter dem Erzbisthum Gran 
fteht (f. den Art, Gran); 0) das nichtunirte griehifhe Bisthum Carl- 
ſtadt, welches wie alle andern nichtunirten griechifchen Bisthümer der öſtreichi— 
Shen Monarchie unter dem nichtunirten griechifchen Erzbisthbum Carlo wiz ge— 
fteiit iſt. [Schrodl.j 
Kroncardinäle, ſ. Cardinal. 
Krone, dreifache, des Papſtes, ſ. Tiar a. 
Krone des Prieſters, des Mönches, ſ. Tonfur, 
Kronen der Brautleute, f. Hochzeit. 
Krönung der Raifer und Könige, Die Sitte, die Landesherrn in ihre 
Amt durch eine religiöfe Feier einzuführen, findet fich fchon im alten Teftamente, 
Sp wurde ſchon Saul, der erftie König der Juden, durch Salbung zum Könige 
geweiht (1 Kön. 10, 1.), eben fo feine Nachfolger (2 Kön. 2, 4. 5, 3, 3 Kon, 
1, 39.). Unter den chriſtlichen Negenten bewarb fih um die kirchliche Segnung 
zuerft Kaiſer Theodofius der Jüngere (Theodor. Lect. collect. 1. 2).. Wer e8 unter 
den hriftlichen Rönigen zuerft that, iſt ungewiß. Martene nennt den Schotten- 
könig Aidanus (de ant. ecel. rit. 1.2. c.10.), Fleury den Gothenkönig Wamba 
(hist. ecel. 1. 39. $ 51), Habert den Franfenfönig Chlodoväus (Archier. p. 627). 
Die Könige (Raifer) des ehemaligen teutfchen Reiches wurden dreimal gefegnet: 
in Aachen, fodann wegen der Lombardei in Mailand, und endlich wegen des rö-= 
milchen Kaifertiteld in Rom. Die Segnung der franzöfifhen Könige ging in 
Rheims vor fih, Dermalen gibt e8 viele Negenten, die fich diefer Segnung, die 
man von den dabei üblichen Gebräuchen bald Salbung, bald Krönung nennt, 
nicht unterziehen, — Die Idee, die diefer Feier unterliegt, ift die chriſtliche 
Ueberzeugung, daß ein jeder Fürft aus Anordnung oder Zulafjung Gottes regiere, 
und fomit ein Werkzeug in der Hand des Allmächtigen fer, die Volker zu belohnen 
oder zu beftrafen. Als Stellvertreter Gottes im weltlichen Reiche ehrt ihn der 
Gläubige, als folchen fieht er demüthig ſich felbft an. Folgerichtig durchdringt 
daher Priefler und Volk derſelbe Wunfh, Gott möge feinen ſichtbaren Stell- 
vertreter leiten, auf daß er, fo viel an ihm ift, Segen und Wohlfahrt auf Erde 
verbreite, Sa diefer Wunfch drängt den Negenten, Gott bei dem Antritte feiner 
Regierung feierlich um diefen Beiftand zu bitten, und zu biefem Behufe fih von 
einem Bifchofe (dem Papfte) als Stellvertreter Jeſu im Gebiete der Kirche fegnen 
zu laſſen. Die Ceremonien bei diefer Feier find befonders folgende, Erſtens 
macht der Bifchof, der die Segnung vornehmen foll, den Fürften auf die Pflichten 
eines hriftlihen Negenten aufmerffam. „Sumis“, heißt es z. B. in biefer Er— 
mahnung (Pontif. Rom.), „praeclarum sane-inter mortales locum, sed discriminis, 
laboris atque auxietatis plenum, Verum si consideraveris, quod omnis potestas a 





a 


Krönung des Papſtes — Krüdener, 295 


Domino Deo est, per quem reges regnant, ef legum conditores justa decernunt, tu 
quoque de grege tibi commisso ipsi Deo rafionem es redditurus. Primum pietatem 
servabis. Omnibus te adeuntibus benignum, mansuetum alque affabilem pro regia 
tua potestate praebebis.“ Sodann Ieiftet 2) der Fürft das Verfprechen, ein ächter 
Landesvater im Geifte der Religion Jeſu zu fein. Dierauf wird 3) die Aller— 
heiligenlitanei verrichtet, während der Fürft vor dem Altare auf das Angeficht 
bingeftreeft liegt. Gewiß ein rührender Act! Während der Fürft felbft um den 
Geift ver Weisheit, Frömmigkeit und Ausdauer als ein Wurm der Erde bittet, 
zuft die gläubige Gemeine zum Himmel, daß der Herr, welcher auch die Herzen 
der Könige wie Wafferbäche Teitet, fi des neuen Fürften erbarmen wolle. Nach 
der Allferheiligenlitanei fommt 4) die Salbung mit Del, die ſchon bei der Seg- 
nung des Judenfönigs Saul üblih war und die Bitte fymbolifirt, es möge Gott 
den neuen Fürften mit dem hl. Geiſte ölen, damit er erfenne, was ihm und fei- 
nem Lande wahrhaft frommt, und dasjenige, was er ald das Gute und Redte 
erfannt hat, auch gewiffenhaft vollziehe. Bon minderem Belange ift es, daß ehe- 
mals in Aachen der neue Fürft am Haupte, auf der Bruft, zwifchen den Schul- 
tern, den Ellenbogen und an den Händen gefalbt wurde, während das römifche 
Pontifical nur die Salbung des rechten Armes vorſchreibt. Dem neuen Fürften 
werden 5) die Infignien der Regentenwürde dargereicht. Als ſolche kennt das 
römiſche Pontificale das Schwert, die Krone, -den Scepter und den Thron, fowie 
der Aachener Ritus noch überdieß den Ring und den Reichsapfel. Das Schwert 
fombolifirt die Pflicht des Fürften, Necht und Unſchuld zu fihügen, und den Miffe- 
thäter zu firafen. Die Krone als Kopfihmuf (Diadem) ift ein Zeichen des Ruh» 
mes und der Majeftät, gleihfam der Siegesfrang eines mächtigen Triumphators, 
Indem fich diefelbe der neue Fürft vom Bifchofe aufiegen läßt, erflärt er, fi 
nur dann eines Triumphfranges würdig zu halten, wenn er fowohl über Unrecht 
und Unterdrückung fiegt, als au das Neich der Wahrheit, Tugend und Selig- 
keit im Lande blühend macht. Der Scepter (Ixjnzgov) vder Hirtenftab fordert 
den neuen Fürften auf, das ihm von Gott anvertraute Volk mit der Liebe, Treue 
und Sorgfalt eines Hirten zu weiden, und im Falle der Noth das Leben für fie 
zu laffen. Läßt fich derfelbe vom Bifchofe zum fürftlihen Throne führen, fo 
beurfundet er hiemit, daß er glaube, den Thron durch Gottes Gnade einnehmen 
zu dürfen. Mit der Darreihung des Ringes wird die Bitte ausgeſprochen, es 
möge der neue Fürft die Fatholifche Kirche als die unverfehrte Braut Jeſu Chriftt 
mit aller Liebe, Aufmerkfamfeit und Treue befhüsen. Mit der Uebergabe des 
Reichsapfels endlich, über welchem ſich ein Kreuz befindet, wird angedeutet, es 
möge der neue Fürft fein Reid, das wie ein Apfel feiner Herrſchaft übergeben 
wird, als hriftlicher Monarch regieren. Den Schluß der Feier machen endlich 
6) Gebete und die Feier der HI, Meffe, bei der der Gefrönte oder Gefalbte 
eommunieirt, [ör. X. Schmid.] 
Krönung des Papſtes, f. Papft. 
Kruzifir, f. Crucifir. 

- Krüdener (Juliane, Freifrau von), eine überfpannte Pietiftin, ift 1766 
in Riga geboren. Die talentvolle Tochter des Baron von Bietinghoff, eines der 
reichften Gutsbefiger in Rurland, erhielt eine forgfältige, nur zu gebildete Er- 
ziehung. Durch ihre fchnellen Fortfchritte und ihre Kenntniffe war fie ſchon in 
ihrem neunten Jahre der Gegenftand der Bewunderung. In diefem Alter kam 
fie nad Paris, wo das Haus ihres Baters die fchönen Geifter; ‚wie Büffon, 
Marmontel u, A. um fie verfammelte, Juliane bliebin der Nähe der Eneyelopä— 
diften (ſ. d. A) zwar religiös und fromm, aber ver Same zu ihrer baldigen fittlichen 
Berirrung mag bier in ihr empfängliches Herz ausgeftreut worden fein. Sie be- 
faß die Bildung der hohen Stände, ihr feiner Wuchs, ihre zarten Züge und ihre 
Srömmigfeit verliehen ihr Anmuth und Liebenswürdigfeit, In ihrem vierzehnten 


296 — Krüdener 


Jahre bat Baron von Krüdener, ein Livländer, um ihre Hand. Bald nach der 
Vermählung folgte ſie dem viel älteren Gatten als ruſſiſchem Geſandten zu Ve— 
nedig nach Italien. Allein dieſer hatte natürlich keine Hausfrau. Die feingebil— 
dete Dame umringten Verehrer, die religibſe Schwärmerin, die ſich bald als 
Mutter der Armen betrachtete, begleiteten Volkshaufen, fo oft fie fih öffentlich 
zeigte, Nachdem fie einen Sohn und eine Tochter geboren, wurde die Ehe ge— 
trennt, Die Geſchiedene kehrte 1791 in's elterliche Haus nach Niga zurüd, Hier 
fpielte fie die Liebenswürdige Frau und verfiel als ſolche den Verirrungen des Le— 
bens. Um die Ruhe des Herzens zu finden, veisterfie nach Paris, Vergnügen 
und wechfelnde Verbindungen bereiteten ihr neue Schmerzen und neue Unruhe, 
Nachdem fie 1798 einige Zeit mit einem Franzofen in Leipzig und dann in Ruß— 
Yand verlebt hatte, ging fie 1801 wieder nach Paris. Annoch gehörte fie der fei- 
nen Welt und deren ausgefuchten finnlichen Freuden anz denn der Teichtfinuige 
Sänger Garat foll damals ihr Herz befeffen haben. Um diefe Zeit fehrieb fie 
ihren Roman: Valerie, ou lettres de Gustave de Linar à Erneste de G., der ung 
ein Verhältniß fihildert, das vordem der ehrfüchtigen Schriftftelferin theuer ge= 
wefen fein mag, der aber auch von ihrer überfpannten Geiftesrichtung Zeugnif 
ablegt. Mit dent Feuer der Begeifterung ſchildert fie darin die hriftliche Religion 
und deren Geheimniffe, preist fie die riftlihe Kunft, das Wallfahrten und be= 
ſchauliche Leben der Carthäufer. Wenn wir nicht vergeffen, daß fie religiös er- 
zugen war, eine lebhafte Phantaſie und ein tiefes Gemüth nah Ftalien brachte, 
das der Fatholifche Cult weit mehr als der Fable proteftantifche anzog — wie fih 
dieß auch in ihrer Verehrung der Heiligen und Seligen, der feligften Jungfrau 
Maria ausfpricht —, fo kann uns al’ das den Schlüffel zu ihrer Umkehr aus 
der Irre wie zu ihrer fpätern Thätigfeit geben, Die Unruhe drängte, nöthigte 
fie innerlich zum Beſſern. Aber die Ertreme berühren fih. Die eitle, ehrgeizige, 
weil von früh angebetete, immer tiefer gefalfene Sünderin wird zur Pietiftin und 
Schwärmerin, zur Predigerin und Pflegerin der Armen und Kranfen, Sie fehrt 
zur Wahrheit und chriſtlichen Sitte zurück, aber das weibliche Wefen, einmal vers 
bildet, hatte feinen Halt verloren. Sie findet die ihr gehörige Sphäre nimmer, 
Im Jahre 1806 finden wir fie in der Umgebung der Königin von Preußen, Louiſe, 
die fie ob den damaligen Schlägen der preußifhen Monarchie auf eine höhere 
Macht verwies. Troft und Muth gewähre nur die Religion. Nach einem Eurzen 
Aufenthalt in Dresden lebte fie abermals in Paris, ihren Verwandten in prophe- 
tifchem Geifte große Ereigniffe verfündend, darauf zu Genf, wo fie unter Gebet 
und Werken der Barmherzigkeit dem Berlaufe des nordiſchen Kampfes folgte, 
Hier Ternte fie den nachmaligen Momier, Empeytas, Tennen, Mit Nenderung 
der politifchen Lage Teutſchlands kehrte fie 1813 dahin zurück. In Carlsruhe befhäf- 
tigte fie im Umgange mit Jung-Stilfing die Idee des taufendjährigen Neiches, in 
Heidelberg ging fie in die Oefängniffe der größten Verbrecher, fie zu tröften umd 
noch auf dem Wege zum verdienten Tode zu befehren, Um diefe Zeite wurde 
Alexander durch einen Brief auf fie aufmerffam gemacht. Der Kaifer begab fich 
nad der Schlacht von Leipzig zu Ende des Jahres 1813 an den Rhein, Krübener 
tröftete den mißftimmten Herricher und fprach ihm Muth zu. Sie folgte ihm im 
Herbft 1814 nach Paris, ſprach vor ihm von Geiftererfiheinungen, Durch ihre 

Brophezeiungen und Wahrfagungen foll fie zur HI. Allianz viel mitgewirkt haben, 
Gewiß ift, daß fie anftatt der früheren Vergnügungseirkel in ihrem Hauſe reli= 
gidfe Berfammlungen hielt. Befannt von früher und vertraut mit den Höchſten 
und Hohen, mag die neue Priefterin in ihren helldunkeln Betfälen manchen 
Samen für die Verwirklichung obiger Idee ausgeftreut haben. Von dem Fefte, 
das die ruffifchen Armeen in der Ebene von Chalons feierten, gab fie eine Be— 
ſchreibung „le camp de Vertus, Paris 1814”, worin fie ihre Anficht über bie 


Zeitgefchichte deutlich ausfpricht, Ihre Auffaffung ift eine religiöſe. Chriſtliche 


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Gefinnung foll Herrfcher und Völfer beleben, Chrifti Gefet die Befehlenden und 
Gehorchenden verbinden. Wehe den Staaten, die vergeffen, daß nur Gott Ge- 
fege geben fann! Alerander wird gepriefen, aber er dient dem König der Könige, 
— Krüdener erfannte wahrfheinlich die trüben Ausfichten für die Verwirklichung 
ihrer ſchwunghaften Ideen. Sie wanderte in die flillen Thäler der Schweiz. Von 
da an beginnen ihre Verfolgungen. Als fie im Herbft 1815 in Bafel angefommen 
war, fand fie bald einen fehr großen Anhang. Der berührte Empeytas ſchloß ſich 
an fie an, Sie ſprach hier wie an andern Orten in ihren Vorträgen von großen 






Plagen, von einem fehredlichen Gericht, fo über Europa Fomme, Gie flehte, die 


Züchtigung durch Neue abzuwenden, Nur wer fih befehre, unter das Kreuz fliehe, 
werde gerettet. Allein diefe und ähnliche Predigten über die Nichtigkeit des Reich— 
thumes, über die Habfucht und den Egoismus der Reichen, ihre Aufforderung zu 
Werfen der Barmherzigkeit gegen Arme und Nothleidende machten die unbefugte 
Richterin Anderer verhaßt. Die Obrigkeit befahl ihr, Bafel zu verlaffen. Außer 
Empeytas und ihrem GSecretär Kellner, einem Braunfchweiger, von Profeffor 
Lachenal begleitet, ging fie nach Lörrah, bald darauf nad Aarau und von da 
nach Liebegg, einem Schloffe im Thale Kulm. Taufende famen und hörten fie, 
Neben der damit gegebenen Anftrengung unterbielt fie noch einen häufigen Brief- 
werhfel. Sp fihrieb fie damals an einen Fatholifch gewordenen Juden: „Die Welt 
befteht aus Nullen, Zahlen find nur die, in denen Gott Iebt. Beten fie, daß 
noch viele vor dem Kreuz ſich niederwerfen. Beten fie für mich.” Allein au 
bier und in Bern verfolgt, Tieß fie fih Mitte Juni 1816 in dem auf badifchem 
Gebiete gelegenen Grenzaher Horn nieder, das nur eine Stunde von Bafel ent- 

ift. Sie fpeiste und beherbergte Arme und Arbeitslofe, verlaffene Kinder, 


abgelebte Greife und Pilger zur Mutter Gottes nach Einfiedeln, fie tröftete und 
betete mit Kranken und fhweren Sündern. Natürlich täufchte fie auch mander 


Arbeitsſcheue. Allein ähnliche Vorträge vor fol’ zahlreihem Publicum machten 
die Obrigkeit aufmerffam, Am Abend des 23. Fan. 1817 umringten Landjäger 
das Hörnlein und führten die Bettler, Lahmen und Siechen nah Lörrach. Sie 


legte auf das hin dem badifchen Minifter von Berckheim ein ausführliches Schrei- 


ben ihres Denfens und Thuns vor, aus dem wir am Schluffe eine Stelle au 
führen werden. Sie verwahrt ſich davor, daß fie fih den Anordnungen der Obrig⸗ 
keit babe widerfegen wollen, fie bedauert, daß menfchlihe Gefege mit göttlichen 
im Widerfpruche ſtehen. Bevor fie mit ihren Begleitern abreiste, ermahnte fie in 
einem Aufruf und in einer Armenzeitung (wovon nur Ein Blatt erfhien) die 
Armen zur Arbeit und zum Gebet. Jegt zug fie von Ort zu Drt, ohne daß ihr 
irgendwo ein bleibender Sit geftattet wurde. Sie fam nad Warmbach, nach dem 
Canton Argau, über Laufenburg nach Aarau, nach Solothurn und Luzern, © Ge— 
walt und Unterbrüdung auf der einen, Noth und Elend der Zugelaufenen auf 
der andern Seite fteigerten ihre Efftafe im Ausmalen der verdorbenen Zeit. Die 
Behörde fand in ihren Reden eine verbrecheriihe Tendenz, öffentliche Blätter 


nannten fie eine VBerführerin, fprachen von Faftnachtfpielen und verbreiteten über 


fie die einfältigften Gerüchte. Man brachte fie unter polizeilicher Aufficht nad 
Zürih und von da auf badifches Gebiet, Je nah 24 Stunden von badifchem, 
ſchweizeriſchem, öftreichifchem Boden verwieſen, führten fie den 22. Auguft ſechs 
Landjäger bei Rheinau über den Rhein, über den fie nicht mehr zurüdfam, Zwar 
verfuchte fie es am Oberrhein nohmals, aber die Behörden des Elfaßes wiefen 
fie fogleih aus, Man fohicte fie nach Freiburg im Breisgau, Empeytas und 


‘ Lachenal wurden nebft einem Theil der Dienerfchaft von ihr. getrennt, badische, 


würtembergifche und bayerifche Polizei begleiteten fie durch die verfchiedenen Län- 
der nach Sachſen. Mitte Decembers kam fie nach Leipzig, wo man ihr geftattete, 
ſich zu erholen, ihren Schwiegerfohn, den Kammerherrn von Bergheim, von 
Moskwa und zugleich ihre Wechfel zu erwarten. Do fellte man bald Wache 


298 | Krummſtab. 


vor ihre Wohnung. Der theilweiſe noch geſtattete Beſuch wurde zuletzt ganz ver- 
boten, Gegen Frühjahr 1818 wurde fie in Eilenburg einem preußifchen Com— 
miſſär übergeben und ſo nah Königsberg gebracht. Als man ihr bedeutete, fie 
dürfe nicht nach Berlin, brachte man fie über die ruffifhe Grenze, und als von 
Petersburg und Moskau Daffelbe verlautete, zugleich Kellner und neun andere 
Perſonen son ihr getrennt wurden, begab fie ſich nebft ihrer Tochter nach Mitau, 
Das Predigen hatte fie aufgegeben, Später Tebte fie noch kurze Zeit in Peterg- 
burg. Bon da verwiefen, weil fie fich Tebhaft für die Griechen intereffirte, ging 
fie nach Liefland und von bier im Juni 1824 mit Tochter, Schwiegerfohn u, A. 
in die Krim, wo fie am 13, Jan. 1825 zu Karafubafar an einer fchmerzlichen 
Krankheit ſtarb. — Wenn wir uns aus diefer Skizze ein Urtheil erlauben dürfen, 
fo ift e8 folgendes: Krüdener war feine Betrügerin und feine Verführerin, fon- 
dern eine Betrogene, Sie heuchelte nicht, e8 war ihr ernft. Ihr tiefes Gemüth, 
ihre guten Geiftesanlagen, ihre Bildung, ihre reichen Erfahrungen und ihre fel- 
tene Energie in dem, wie fie glaubte, von Gott ihr angewiefenen Berufe laſſen 
uns in ihr Feine Alltagsperfon erbliden, Ihr Proteft an den badifchen Miniſter 
fagt an einer Stelle: „ES beburfte eines Weibes, das gedemüthigt durch ihre 
Sünden und DVerirrungen befennen follte, daß es Selavin und Betrogene der 
Eitelfeit diefer Welt gewefen, und, um Niemand zu verachten, ein einfältiges, 
durch falfches Wiffen nicht verblendetes Weib, das die Weifen diefer Welt ver- 
wirren kann, indem es ihnen zeigt, daß die tiefflen Geheimniffe ihm durch Die 
Liebe und dur das Gebet am Fuße des Kreuzes zu Theil geworden find, Es 
bedurfte eines muthvollen Weibes, das, nachdem e8 auf dieſer Erde alles be— 
feffen hatte, felbft den KRönigen fagen fonnte, daß Alles Nichts fer, das die Blend». 
werke und Götzen der Prunfzimmer entthronte, und das noch jegt erröthet, daß 
es einft mit etwas elenden Talenten und ein wenig Geift hatte glänzen wollen,” 
Sie fohließt mit den Worten: „Ih will nichts Anderes, Fenne feinen andern 
Wunſch, als Chriftum, Chriftum den Gefreuzigten, den Juden ein Aergernif, den 
Heiden eine Thorheit, aber ewig Weisheit, König der Könige und aller Ewig— 
feiten,” Darneben fünnen wir nicht verhehlen, fie war nicht bloß eine einfache 
Pietiftin. DBlieb fie darum fern von der Engherzigfeit, fo theilte fie auf der an- 
dern Seite den Dünfel und die Selbftgenügfamfeit diefer Partei, zufolge der fie 
fih für ein augerwähltes Werkzeug Gottes hielt. Sie war eine Schwärmerin 
mit einem übergewöhnlichen Beigeſchmack von Narrheit, der das Necht der freien 
Forſchung auf der einfamen Kammer nicht genügte, Sie war begeiftert für bie 
Zeit, wo Ein Hirt und Eine Heerde fein wird, Diefe herbeizuführen, ſprach fie 
aus, was fie. als wahr erkannt hatte, Sie war unermübdet dafür thätig. Sie 
weiß, daß Gott in ihr Iebt, ihre Gebete erhört, in Traumgefhichten die Straf- 
gerichte der Gpttvergeffenheit und Berblendung ihr offenbart, die nicht bloß bei 
den hartherzigen Neichen, fondern in den Cabinetten und Gerichtshöfen herrfchen. 
Diefer legte Punet machte fie wohl wie fonft Feiner zur Verfolgten der Polizei, 
(Bol. Zeitgenvffen 3. Bd.X. S. 107— 1745 Handwörterbud von Fuhrmann 
U. Bd. ©. 603 f.; Pierer, Univerfallericon XV. Bd, S. 12.) [Stemmer.] 
Krummpftab (baculus s. virga,pastoralis, pedum, cambutta, dızavixıov) ift 
ein Tanger, oben frumm gebogener, metallener Stab, und gehört zu den Infig- 
nien der Bifchöfe und Aebte, Derfelbe ift eine Nachahmung des Reifeftabes der 
Apoſtel und zugleih Symbol des Hirtenamtes, In den erften Zeiten war biefer 
Stab gewöhnlih von einfachem Holze, wie e8 3. B. von dem hl. Patritius 
beißt, daß ihn die Irländer „an feinem frummfpigigen Holze” erkannt hät— 
ten. Diefes „Irummfpisige Holz” ift aber nichts anderes als fein hölzerner 
Hirtenftab, den jedoch fpäter fromme Chriften mit Gold und Evelfteinen ver- 
zierten. Ebenfo berichtet der Biograph des hl. Burfard, Biſchofs von Würz- 
burg, daß derfelbe aus Demuth einen Hirtenflab aus Holunderholz (virga sam-- 





Krummſiab. 299 


- bucea) gehabt habe, und rühmt diefe demüthige Einfachheit gegenüber der Prunf- 
ſucht anderer Bifchöfe. Je mehr übrigens die ſymboliſche Bedeutung des Hirten- 
ſtabes hervortrat, und die andere, zugleich als Stüge beim Geben zu dienen, in 
den Hintergrund geftellt wurde, defto mehr Zierde wurde fowohl nah Stoff und 
Form auf denfelben verwendet. Ohne Zweifel fuchten auch die Kaiſer und Kö— 
nige während der Jnveftiturftreitigfeiten durch Ueberreichung foftbarer Stäbe die 
von ihnen belehnten Bifchöfe zu blenden, wodurch diefe fih den bittern Vorwurf 
eines Hl. Mannes zuzogen: „Sonft trugen goldene Bifhöfe hölzerne Stäbe, jetzt 
haben hölzerne Biſchoͤfe goldene Stäbe,” Eine Befhreibung der Stäbe im 12ten 
Jahrhundert findet fich bei Honorius Auguftodunus: „Hic baculus ex osse et ligno 
efficitur, christallina vel deaurata sphaerula conjunguntur, in supremo capite insig- 
nitur, in extremo ferro accuitur“ (Gemma animae c. 219). Innocenz IH. führt 
die Uebergabe des Hirtenftabes an die Bifchöfe auf den HI. Petrus zurüf, der 
feinen Stab dem hl. Martialis übergeben haben foll, um den mit ihm zur Be— 
fehrung Teutſchlands ausgefendeten Maternus, der unterwegs ftarb, durch Be— 
rührung mit dem Stabe vom Tode zu erweden. Es ſoll damit auch zugleich die 
Erſcheinung erklärt werden, warum die Päpfte als Nachfolger des hl. Petrus und 
oberſte Hirten der Kirche den andern Bifhöfen zwar den Stab übergeben, ſelbſt 
aber ihn nicht gebrauchen, cf. c. unic. X. de’ sacr. unct. (I, 15). Jedenfalls aber 
ift der Gebrauch des Hirtenftabes ein fehr alter; der Ordo Rom.-thut feiner Er— 
wähnung, das vierte Eonecil von Toledo (633) c. 28. rechnet ihn zu den bifchöf- 
lichen Jufignien, und Iſidor von Sevilla erwähnt feiner Hebergabe bei der bifchöf- 
lichen Confeeration., Nah dem Zeugniffe des Balſamon war bei den Griechen 
der Gebrauch des Stabes bloß den Patriarchen geftattet; dagegen nah Jacobus 
Spar auch den Bifchöfen und Aebten. Jedenfalls erwähnen der hf. Ephräm und 
der bi. Gregor von Nazianz mehrmals eines Hirtenftabes. Sicher ift nur, daß 
bei der Drdination der Biſchöfe bei den Griechen die Hebergabe des Stabes nicht 
gebräuchlich war, und auch in den Euchologien bei der Drdination eines Pa- 
triarchen nichts davon enthalten iſt. Der Stab eines griehifchen Erzbifchofs hatte 
nach der Abzeihnung Montfaucon’s die Geftalt eines T, während ihm Goar mehr 
die gabelförmige Geftalt eines Y gibt, die mehr mit der Befchreibung des Simon 
von Theffalonih übereinftimmt, Im Unterfihiede von den oben krumm gebogenen 
Stäben der Biſchöfe und Aebte in der abendländifchen Kirche, find die der Erz- 
bifhöfe gerade, und oben mit einem, die der Patriarchen mit einem doppelten 
Kreuze geziert. Bei den Päpften ift der Hirtenftab längſt außer Gebrauch ge- 
fommen, obgleich er bis in das zehnte Jahrhundert bei ihnen üblich gewefen zu 
fein foheint. Die Krummftäbe der Aebte und Aebtiffinnen wurden im Unterfchiede 
von denen der Bifhöfe mit einem Schweißtuch (sudarium) ummwunden, und es 
follte dur diefe Umbüllung das Zeichen der Unterwürfigfeit unter die bifhöfliche 
Jurisdietion ausgedrücft werden, weßhalb die Stäbe erempter Aebte diefe Binde 
nicht hatten. Die ſymboliſche Bedeutung des Hirtenftabes ift in den Worten aus— 
gedrückt, mit welchen derfelbe bei der Eonfecration dem Bifchof überreicht wird: 
„Accipe baculum pastoralis officii, ut sis in corrigendis vitiis pie saeviens, judicium 
sine ira tenens, in fovendis virtutibus auditorum animos demulcens, in tranquilli- 
tate severitatis censuram non deserens.“ Sogar die Form deffelben benügte man 
zu myſtiſchen Ausfegungen, wie 3. B. der hl. Antonius fagt: ideo acutus in fine, 
rectus in medio, retortus in summo: quia Pontifex debet per eum pungere pigros, 
. regere debiles et colligere vagos (Part. 3. tit. 20. cap. 2). Der Hirtenftab fol 
den Biſchof ſtets an feine Hirtenpflichten erinnern nach dem alten Spruche: collige, 
sustenta, stimula vaga, morbida, lenta. Nach den Griechen ift derfelbe ein Bild 
von dem Rohr, weldes die Kriegsfnechte dem Herrn ftatt des Scepters in die 
Hand gaben. Zu bemerken ift noch, daß der Bifchof in einer fremden Diöcefe 
ohne Erlaubniß des betreffenden Ordinarius den Hirtenflab nicht tragen darf. 


300 Krummſtabslehen — Kryptocalvinis mus. 


Bol. Binterim, Denkwürdigkeiten u. ſ. w. J. Bd. 2,Thl, S. 339 ff. Thomas- 
sin, vet. et nov. Ecel. discipl. P. I. L I. cap. 58. Van-Espen, J.E.P. I. Tit.XV. 
cap. 3. n. 14 sq. Tit. XVI. cap. 3. n. 12. Tit. XXXI cap. 6. n. 6.sq. [Khuen.] 
Krummſtabslehen, f. Kirchenlehen. 
Krypten (zounteı, von »ounto, verbergen). Darunter verſteht man zu- 
nächft verborgene, abgefonderte, in der Regel unterirdifche Räume, Sie dienten unter 
diefem Namen den Alten zu verſchiedenen Zwecken. Zur Zeit der Chriftenverfolgun- 


‚gen flüchteten fich die Chriften in folche unter der Erde befindliche Krypten, um hier 


— 


— 


ihren Gottesdienſt abzuhalten oder auch ihre Todten zu beſtatten. Später wurden 
nicht ſelten Kirchen über denſelben erbaut, und in der Folge entſtand der Gebrauch, 
häufig bei Erbauung von Gotteshäuſern zugleich ſolche unterirdiſche größere oder 
kleinere Capellen anzulegen. Man ſteigt von den innern Räumen der Kirche in 
dieſelben hinab, und ſie dienten einestheils zu Begräbnißplätzen ausgezeichneter 
Perſonen, hauptſächlich geiſtlichen Standes, anderntheils zu gottesdienſtlichen 
Zwecken. Nicht ſelten wurden zur Feier des Meßopfers ein oder mehrere Altäre 
in ihnen errichtet. Zuweilen find fie befondern Schugheiligen gewidmet, Wegen 
der in folchen abgefonderten Räumen herrfchenden Stilfe und Dunkelheit gelten 
fie als befondere Beförderungsmittel der Andacht. Solche Krypten befinden fi 
3. B. in Würzburg in der Kirche des hl. Kilian, in der Ulrichskirche zu Augs— 
burg, in Gandersheim, Hildesheim, Ellwangen, im Münfter in Bonn, in St, 
Maria im Capitol und in St. Gereon in Cöln ıc, Sie find oft reich an monumen- 
talen Verzierungen und nicht ohne Intereffe für die Gefchichte der hriftlichen Kunſt. 
Bol. die Art, Ratafomben, Grüfte, Bafilifen. Nardini Rom. vet. IV. 3, 
Aring. Rom. subter. IV. 42. $2. Gerbert, Crypta San-Blasiana. [erfer.] 

Kryptocalvinismus. Die Lehre Calvin’s vom Abendmahle fegen wir als 
befannt voraus (f. die Art. Abendmahl, und Calvin). Diefer Anficht neigte 


fih Melanchthon befonders zu, während er fich der Anficht Zwingli's abhold 


zeigte, „Doch die wahre Gegenwart des ganzen Chriſtus war auch bei Calvin 
beftritten — aber in augenſcheinlich geringerem, doch aber weſentlich ziemlich 
gleichem Maße, wie bei Zwingli” (Guerike). Melanchthon änderte, auf Zureden 
de8 Landgrafen von Heffen, im 3. 1540 den 10. Artifel der Augsburger Eon- 
feffion eigenmächtig. Diefer hatte gelautet: „quod corpus et sanquis Christi vere 
adsint et distribuantur vescentibus in coena domini et improbant secus docentes*; 
nunmehr fohrieb Melanchthon: „quod cum pane et vino vere exhibeantur corpus 
et sanguis Christi“. Nach Luthers Tode, der fich noch vorher, wie in einem Tefta= 
mente über feine AbendmahlsIehre, ausgefprochen, dauerte der äußerliche Friede 
zwifchen den ftreng Lutherifchen, und den Philippiften, den Anhängern Melanıh- 
thon’s bis zum J. 1552, Im diefem Jahr griff der Prediger Joachim Weftfal 
zu Hamburg offen Melanchthon's Abendmahlsichre an in |. Farrago confuseanarum 
et inter se dissidentium opinionum d. 1. D. ex Sacramentariorum libris congesta, 


Magd. 1552, und andern Schriften, Zugleich griff er auch andere Tutherifche 


Theologen wegen geheimer Begünftigung des Calvinismus an, Es entbrannte 
heißer Streit zwifchen den Lutheranern und Philippiften, u. a. auch über die 
Ubiquitätslehre und die communicatio idiomatum. Mitten unter den Kämpfen ftarb 
Melanchthon den 19, Apr. 1560. Doch feine Partei überlebte ihn, Diefe Partei 


war mächtig zu Wittenberg und auch zu Leipzig. An der Spige diefer Philippiften, 
die bald bezeichnend Kryptocalviniften genannt wurde, fand der Schwieger- 


BR! 


ſohn Melanchthon’s, der gelehrte Caspar Peucer, hurfürftlicher Leibarzt, und 
Srofeffor der Mediein und Mathematit, der durch feinen Einfluß auf den fireng 


{utherifchen Churfürften Auguft regierte von 1553 bis 1586), fowie durch hohe 
Berbindungen allmählig die Pläne feiner Partei förderte. Noch ehe Melanchthon 
geftorben, gaben feine Anhänger das „Corpus doctrinae Misnicum oder Philippicum“ 
heraus, als dogmatifche Mufterfchriften, darunter Melanchthon's veränderte Augs- 





Kryptocalvinismus, 301 


burger Confeffion, und feine loci theologiei nad} einer fpätern Ausgabe; dagegen 
waren die Schmalfaldifhen Artifel aus diefer Sammlung ausgefchloffen. (Bergl. 
den Art, Corpus doctrinae.). Nachdem der Naumburger Fürftentag (1561) 
für die gehoffte Vereinigung der Lutheraner und Reformirten ohne Erfolg geblieben 
war, wußte Peucer die theologifche Facultät zu Wittenberg, die ſchon vorher den 
Eher, Major und Paul Crell als feine Anhänger zählte, mit noch eifrigern 
Philippiften zu befegen. Im 5. 1571 gab diefe Partei einen lateiniſchen Katechis⸗ 
mus (catechesis), von Chriftoph Pezelius verfaßt, heraus, in welchem die 
ealvinifirende Lehre vom Abendmahl und von der Perſon Chriſti hindurchblickte. 
Die Lutheraner fchwiegen nicht dazu. Noch in demfelben Jahre vertheidigten fich 
die Philippiften durch die Schrift: „Bon der Perfon und Menfchwerdung unfers 
Herrn Zefus Chriftus, der wahren riftlihen Kirche Grundfefte”. Der Churfürft, 
ein ſtrenger Lutheraner, ahnte nichts von den Bemühungen feiner Theologen, Er 
wurde mehrfach nachdruckſam gewarnt, er glaubte aber der Anklage nicht. Die 
PHilippiften verfaßten in ihrem Sinne eine Art Glaubensbefenntnif (Consensus 
Dresdensis), und wieder ließ fich der Churfürft täuſchen. Er vertrieb felbft die 
eifernden Lutheraner Heßhus (f.d. A.) und Wigand aus Jena, da er feit dem 
Tode Wilhelms die vormundfchaftliche Regierung in dem Herzogthume Sarhfen 
führte (1573). Die Philippiften glaubten ſich fiher, und waren ihres Siegs 
gewiß. Im 5. 1574 erfhien ihre „Exegesis perspicua de coena Domini“, worin 
die Wittenberger, ohne fich zu nennen, unter allerlei Täufhungen, mit Genfer 
Lettern, und auf franzöfifches Papiers die calvinifche Lehre vom Abendmahl un- 
geſcheut vortrugen, und die Iutberifchen Unterfcheidungspuncte ausdrücklich, felbft 
mit Hohn verwarfen. Da gingen dem Churfürften die Augen auf, und fein Zorn 
entbrannte gegen feine faljchen Freunde, Peucer, der Geheimerat$ Cracan, 
zwei Hofprediger, Shüg und Stößel, wurden in das Gefängniß gefegt. Die 
Wittenberger und Leipziger Theologen wurden, nachdem fie furze Zeit auf der 
Pleißenburg gefangen gefegt wurden, abgefegt und des Landes verwiefen. In 
allen fähfiihen Kirchen wurde die Ausrottung der Härefie mit Bitt- und Danf- 
feften gefeiert, und ob des Sieges wurde eine Denfmünze gefchlagen. Der Ge- 
heimerath Craeau, nachdem ihm der Berfuh des Selbſtmords mißlungen, hun- 
gerte fih im Gefängniffe zu Tode (1575). Stößel widerrief, erfranfte aber 
noch im Gefängniffe, und ftarb dafelbft (1576). Peucer ſaß zwölf Jahre (bis 1586) 
im Gefängniffe, eine Gefangenfchaft, die er felbft in feinen: „Peuceri historia 
carcerum ed. Pezel.* Tig. 1605, bejchrieb. Er ftarb im J. 1602 als anhaltifcher 
Leibarzt zu Deffau, Auch Schüg wurde wieder frei: — Der Calvinismus war, 
fo lange Auguft lebte (bis 1586) in Churfachfen unterdrüdt, Auguſt's Nad- 
folger, Chriftian J. war durch den Churfürften von der Pfalz, feinen Schwager, 
für den Ealvinismus gewonnen, Nie, Erell, des Churfürften Kanzler, der mit 
Ausſchließung des Adels regierte, hatte den Plan, das Lutherthum mit dem Cal- 
vinismus zu verfehmelzen, und gab diefem auf kurze Zeit den Sieg in Churfachfen. 
Die einflußreichften geiftlihen Aemter wurden mit Philippiften befegt: die theo— 
logiſchen Zänfereien auf den Kanzeln verboten; unter dem Unwillen des Volks 
der. Exoreismus bei der Taufe befeitigt; an der Herausgabe einer Bibel mit cal- 
viniſtiſchen Anmerkungen gearbeitet. Aber Chriftian, noch jung, ftarb ſchon im 
3. 1591. Der Herzog Ehriftian Wilhelm I. übernahm ald VBormund die Regie 
zung; ein ftrenger Lutheraner, brachte er mit Gewalt das Luthertfum wieder zu 
Ehren. Im J. 1592 wurden fogenannte Bifitationsartifel ausgegeben, in wel- 
chen der Gegenfag zwifchen Luther und Calvin aufs Schroffite ausgeſprochen 
war, und welche von allen Kirchen- und Stantsdienern beſchworen werden muß— 
ten. Der Adel, der fih an Crell zu rächen hatte, ftand auf Seite der Lutheraner. 
Nah zehnjähriger Gefangenfhaft wurde Erell als Hochverräther enthauptet 
Cim 3. 1601). Sp endete der Kryptocalvinismus, — Ad, Menzel, N. Geſch. 


302 Kuchen — Kuhlmann, 


d. Teutfhen, Bd. IV. ©. 110 u. ff. Bd. V. ©, 176 fi 206 ff. Guerike, 
Kirchengeſch. 7. Aufl. 1849, IN. Thl. ©, 446 ff, [Gams,] 
Kuchen, f. Baden, g 
Küchenmeifter, f. Rellermeifter, i 
Kugelherren, (Gogelherren) hießen die Canoniker des. gemeinfamen 
Lebens, eine im Sinne des Gerhard Groot durch deffen Schüler Florentiug um 
1386 nach der Regel des HI. Auguftin eingerichtete religibſe Genoffenfhaft. (Vgl, 
den Art. Clerici et fratres vitae communis.). Sie ift als eine Ergänzung des be- 
rühmten Inſtituts der Fraterhäufer zu betrachten. Während nämlich der eine 
größere Stamm vom Inſtitute Gerhard des Großen von der in das Volfsleben 
eindringenden und freier fich bewegenden Genoffenfchaft der gewöhnlichen Brüder 
som gemeinfamen Leben gebildet ward, fo follte der andere Stamm nad Ger- 
hards Meinung alle jene umfaffen, welche dauernd dem.gemeinfamen Leben fich 
widmen wollten, und deßhalb Elerifer wurden, Diefe hießen ſodann die Cano— 
nifer vom gemeinfamen Leben, und waren in der flrengern Form des Mönchs— 
lebens in Klöftern vereinigt, während die gewöhnlichen Brüder vom gemeinfamen 
Leben auch außerhalb der Brüderhäufer ihre Zwerfe verfolgten und verſchiedene 
Handwerfe betrieben. Jedoch fand auch bei den Canonifern Fein Gelübde auf 
Lebenszeit Statt; jeder Fonnte ohne canonifche Strafe wieder austreten, doch 
mußte er fi) durch Zurüclaffung einer gewiffen Geldfumme mit den Brüdern 
- abfinden, Auch war in Kleidung und Lebenseinrichtung größere Freiheit als bet 
‚ den Möndhen. Die gewöhnliche Kleidung "war ein graues Dbergewand, Rock 
und Beinfleider ohne alle Verzierung, das Haupt mit einer grauen Rappe bedeckt, 
wovon fie auch Cucullati hießen, Wegen diefer eigenthümlichen Kopfbedeckung 
mit einer Art von Cuculla hieß man diefe Kanonifer in Teutſchland auch nur: die 
Kugel- (auch Rogel-) Herren, oder Övgelherren, auch Rappen- und Rappelherren, 
Die Stiftungen der regufirten Chorherren flanden mit den Fraterhäufern in fort- 
währender Verbindung und Wechfelwirfung. Aus den Bruderhäufern gingen 
Manche zur Negel der Canonifer über, Andere durch die Priefterweihe zum eigent- 
lich geiftlichen Wirkungskreiſe. Ihre Zeit war zwifchen Gebet und Andachtsübun- 
gen, Lefungen der HI. Schrift und anderer erbaulichen Schriften, gegenfeitigen 
Anregungen durch fogenannte Collatiovnen, Handarbeit, Bücherabfhreiben und 
dem AJugendunterrichte getheilt. (S. Ull mann's Reform, vor d. Reform, II. Bd. 
S. 94 ff). Das Stammflofter diefer Canonifer war auf dem Agnetenberg 
bei Zwoll, Andere Klöfter diefes Ordens, welcher ſich hauptſächlich im nörd— 
lichen Teutfchland ausbreitete, waren u, a. in Marburg, Cöln, Wefel, Münfter, 
Roͤſtock, in Mariahaufen im Rheingau, wofelbft bereits im J. 1474 eine Druderet 
diefes Ordens beftand, in Brüffel, Lübeck und Nürnberg, wo ebenfalls typo- 
graphifche Werkſtätten entflanden. Die Brüder befchäftigten fih viel mit Ab- 
fchreiben von theologifchen Handſchriften, deren noch viele exiſtiren, z. B. aus 
dem Fraterhaufe zu Münfter, welches ad fontem salientem hieß. Thomas a 
Kempis war Mitglied dieſes Ordens, und verlebte feine Drdenstage auf dem 
St. Agnes-Berge. Vid. Delprat, over de Broederschafft van Gerard Grote en 
over den Invloed der Fraterhuizen. Utrecht 1830. Auch Kist u. Rooyards, kerk- 
licke Geschiedeniss etc. Die Bruderhäufer, welche nur im Schooße der Fatho- 
liſchen Kirche ihr ſtilles aber fruchtfpendendes Leben entfalten Fonnten, mußten 
in der Folge in dem Maße fehwinden, in welchem über Norbteufchland der Sturm 
der neuen Lehre dahinbrauste, und den Fathorifchen Kirchenbau zerftörte, fo daß 
diefes kirchliche Inftitut in jenen Gegenden nach der fogenannten Reformation 
des 16ten Jahrhunderts nur noch in einzelnen Eremplaren übrig blieb, [Dür.] 
Kuhlmann, Duirin, geboren zu Breslau den 25. Februar 1651 von pro= 
teftantifchen VBürgersleuten, zeigte in früher Jugend Talent und fepnellen Fort- 
gang in den Wiffenfehaften, Er befuchte das Magdalenen-Oymnafium, und ſchrieb 


Kuinöl. 303 


ſchon im 13ten Jahre ein Buch: himmliſche Liebesküſſe, ein Vorzeichen feines 
- Später auffallend abenteuerlihen und fhwärmerifchen Charakters, Er ging auf 
die Univerfität Jena, wo er jedoch, flatt Vorlefungen zu befuchen, feinen Contem- 
plationen nachhing. Dur Privatfleig fuchte er im Studiren, befonders in der 
Rechtswiſſenſchaft, vorwärts zu kommen. Die ordentlihe Bahn der Wiſſenſchaft 
verachtend, getröftete er fich göttlicher Eingebungen, und verfiel in Schwermuth. 
In einer ſchweren Krankheit, von der er 1670 befallen worden, glaubte er ſchreck— 
liche Gefihte vom Teufel und der Hölfe, von Gott und dem Himmel zu haben. 
Bon nun an trug er fih mit dem Gedanken, ein Träger überirdifcher Weisheit 
zu fein, und Iegte der Reihe nach eine Menge von Beweifen ercentrifcher Geiftes- 
richtung an den Tag. In Leipzig, wohin er ſich 1673 begab, difputirte er über 
theologifche Säge, welche Niemand und er felbft nicht verftand, In demfelben 
Jahre reiste er nach Leiden, um ſich da den Titel eines Doctors beider Rechte zu 
holen. Nun las er die Schriften von Jacob Böhme (f. d. A.) und war ohne 
Rettung verloren, In Folge der aus den erwähnten Urfachen entftandenen Ueber— 
fpannung ſchloß er fih an einen Geiftesbruder, den fogen. Propheten Zohan 
Rothe in Holland an. Er träumte von einer an ihn ergangenen Aufgabe, Rom 
und Babylon zu flürzen, und die fünfte Monarchie der Frommen zu beginnen, 
Er glaubte, Hand an diefes Werk legen zu müffen, und durchwanderte fofort in 
feinem QTaumel einen großen Theil von Europa, und trieb fih feldft in Aſien 
herum. Als man ihn feiner Träumereien wegen von Leiden wegjagte, ging er nach 
Franfreih, England, Italien, und von da wieder nach Holland, wo er in Ge- 
fangenfchaft gerieth. Immer quälte ihn die neue Monarchie, zu deren Aufrichtung 
er als Prinz Gottes beftimmt wäre, und bereits 10,000 Siraeliten zur Ber- 
fügung hätte, Dabei forderte er alle Kaifer, Könige uud Fürften zur Unter- 
flügung auf. Im J. 1678 gerieth er nach Conftantinopel, Smyrna und in andere 
Gegenden des Morgenlandes, Fehrte von da nah Schlefien, Preußen und Lief- 
Sand zurück. Endlih im J. 1689 führte ihn fein Unglüdsftern nah Rußland, 
wo er wegen feiner Schwärmereien gefangen genommen, graufam gemartert, und 
am 4, Detober 1689 in Moscaun mit Conrad Nordermann lebendig verbrannt 
wurde, Bergl, J. C. Harenberg. de Q. Kuhlmanno. Wernsdorf. diss. de Fana- 
ticis Silesiorum et specialim Q. Kuhlmanno. Adelung’s Gefhichte der menſchl. 
Narrheit, V. Thl. ꝛe. Kuhlmanns fhwärmerifher Trieb veranlafte ihn zur Her- 
ausgabe vieler Schriften, welche fämmtlih das traurige Geiftesgepräge ihres 
Berfaffers an fich tragen, und gegenwärtig zu den Seltenheiten gehören, als: 
der neubegeifterte Böhme, Prodromus quinquennii mirabilis, David redivivus, ab- 
ominatio desolationis in loco sancto, Pseudosophia mundi in sede sua deturbata, 
Christus mystieus, Lehrhof der Hohen Weisheit u. f. w. Da Weitere in Not- 
mund’s Gelehrtenler. UI. Bd. [Dür,] 
Kuindl, Dr. Chriftian Gottlieb, geboren zu Leipzig den 2. Januar 1768, 
großherzoglich heſſiſcher Conſiſtorialrath, vdentlicher Profeffor der Theologie in 
Gießen, hat als proteftantifher Theolog fi einen Namen erworben durch feinen 
neuteftamentlichen Commentar (Commentarii in libros N. T. historicos. 4 voll. Lip- 
siae 1807 sq. ed. II. 1816 sq. ed. III. 1823 sq. ed. IV. 1837. und Comment. in 
epist. ad Hebraeos. Lips. 1831.), welcher die Evangelien, Apoſtelgeſchichte und 
den Hebräerbrief umfaßt. Kuindl gehört zu den neueren Commentatoren der pro— 
teftantifchen Confeffion und ſteht chronologiſch und geiftig vermittelnd zwifchen 
Paulus und Tittmann, Er vermeidet die Seichtheit, rationaliftifhe Spielerei, 
Verlegung der Grammatif, der Geſchichte und chriſtlichen Anfhauung eines Pau- 
lus, fteht aber unter Tittmann’s geordneter und gemüthlicher Auffaffung, befümmert 
fd weniger um den grammatifhen Sinn und läßt in Beziehung auf Schönheit 
und Fluß der Iateinifhen Sprache, deren er fih bedient Hat, Manches zu wünfchen 
übrig. Mit Recht macht Dr. 





viedrich Türe, fein nächſter Nachfolger unter den 


304 Kuldeer — Rumanen. 


proteftantifchen Commentatoren über die Johanneiſchen Schriften, diefe Ausftel- 
ungen an ihm. 

Kuldeer, f, Euldeer, auch Freimaurer, 

Kulm, f. Brandenburg und Önefen, 

Kultus, ſ. Cultus. 

Kumanen, Chriſtenthum bei denſelben. Die Kumanen, ein aſiatiſches Step- 
penvolk, fielen bereits noch im eilften Jahrhundert zu wiederholten Malen in 
Ungarn und den angrenzenden Ländern ein, Alles mit Feuer und Schwert ver- 
wüftend, aber fie wurden von König Salamon (1070) und von dem heiligen 
Ladislaus (1089) total gefhlagen. Lesterer Tieß den gefangenen Kumanen nur 
die Wahl zwifchen Rnechtfchaft oder Annahme des Chriſtenthums, und Diejenigen, 
welche das Chriftenthum vorzogen, erhielten im heutigen Jazigien Wohnpläße, 
Die zu Haus gebliebenen Rumanen begehrten racheglühend ihre gefangenen Lands— 
leute zurücd und drohten mit einem neuen Einbruch, wenn ihr Begehren nicht 
erfüllt würde, Aber Ladislaus fam ihnen zuvor, griff fie an der untern Donau 
an, zerfprengte ihr Heer, tödtete im Zweifampf ihren Führer Afos und befreite fo 
das Land auf lange Zeit von ihren Einbrüchen. Eben hatte der Erzbifchof Robert 
von Gran (1226—1238) an der Befehrung der heidnifchen Kumanen gearbeitet, 
weßhalb ihn Papſt Gregor IX. zum appftolifchen Legaten in Kumania und Brodi- 
nia aufftellte und die Rumanen unter feinen befondern Schug nahm, als eine 
fumanifche Gefandtfhaft an Bela’s IV. Thron erfchien, erzählte, daß die Kuma— 
nen von den Mongolen gefchlagen worden feien, und im Namen ihres Königs 
Kuthen um Wohnpläge in Ungarn bat. Bela bewilligte ihr Geſuch, ordnete eine 
Gefandtſchaft und Geiftliche, die das Volk befehren follten, an Kuthen ab, und fo 
fanden neuerdings und zwar nicht weniger als 40,000 kumaniſche Familien zum 
Aerger der Eingeborenen im Jahre 1239 Aufnahme in Ungarn und hatten an 
Bela einen großen Gönner, Einen noch größern Gönner hatten diefe Wildlinge 
an König Ladislaus IV., der Kumaner zugenannt, weil diefe und befonders ihre 
Schönheiten fo viel bei ihm galten. Da es bald fo weit Fam, daß die Magyaren 
fumanifche Sitten annahmen, fatt daß die Kumanen, auch die getauften, hriftliche 
angenommen hätten, da ferner die Kumanen flatt dem Reiche zur Stüse vielmehr 
zum Schaden gereichten und gemeinfame Sache mit den Patarenern und den ſchis— 
matifchen Griechen machten: fendete Papft Nicolaus II. zu ihrer Bekehrung Mino- 
riten, und in diefer und andern Angelegenheiten den vortrefflichen Legaten Philipp 
Bifhof von Fermo im Jahre 1278 nad Ungarn ab, der nach vielen Bemühun- 
gen den König Ladislaus zu den durcgreifenden Befchlüffen vermochte: fämmt- 
liche Rumanen follten den Götzenbildern und abgöttifchen Gebräuchen entfagen, 
getauft werden und den hriftlichen Unterricht anhören und befolgen, ihre wandern=- 
den Filzgezelte mit ftehenden Wohnungen vertaufchen und in geordneten Gemein- 
den leben, den Kirchen und Klöftern das Geraubte zurüdfgeben, alle Chriftenfelaven 
frei Iaffen, Fein Chriftenblut fürder vergießen u, dgl. m. Zwei kumaniſche Haupt- 
linge gelobten vor dem König und dem Legaten, fie wollten ihre Landsleute bere- 
den, daß fie fih alle dem fügen, nur bedingten fie fich die Freiheit aus, auch in 
Zufunft ihre Köpfe zu fiheeren, den Bart zu fingen und bei der gewohnten Kleider— 
tracht zu verharren. Zu den feften Wohnplägen wurde jet eine Strecke zwifchen 
der Donau und Theiß angewiefen; jenfeits der Theiß waren ihre bereits von 
Bela IV. bewilligten Lagerpläße an der Körös, zwifchen der Körds und der Mars 
und von der Maros bis an bie Temes; die durch den Einfall der Mongolen 
herrnlos gewordenen Ländereien in jenen Gegenden ſprach man ihnen, mit Aus- 
nahme der geiftlichen Güter, ebenfalls zu. Troß aller Befchlüffe und anderer 
Vorkehrungen ging e8 aber noch lange her, bis alle Kumanen Chrifti Lehre und 
Gefeg annahmen, denn noch um bie Mitte des 14, Jahrhunderts forderten die 
Papfte die ungarifhen Minpriten auf, den noch ungläubigen Kumanen und Tar— 





Runibert — Rurland, 305 


- taren das Evangelium zu predigen. Noch jest bewohnen die Nahfommlinge der 
Kumanen das fogen. Groß - und Kleinfumanien. — S. Raynaldi Annal. Ecel. 
- ad a. 1227, n. 50; 1229, n. 60; 1231, n. 40; 1241, n. 21; 1264, n. 51; 1273, 
n. 12; 1179, n. 30; 1348, n. 24; Mailath, Gef. d. Magyaren, I, 71, 86, 
173,234; Damberger, ſynchr. Geſch. d. Kirche u.d. Welt, XI, 294. [Schrödl.] 

Sunibert, f. Cunibert. 

Kunſt, Hriftliche, f. Aeſthetik, Baukunſt, Malerei, Mufif, Poeſie 
und Sculptur, 

Kurland, glei den andern an der Dftfee bis zum finnifchen Meerbufen 
gelegenen Ländern Liefland, Efihland und Litthauen von Lettifhen Stämmen 
bewohnt, nahm das Chriſtenthum an, nachdem dafjelbe bereits in Efihland (f. d. 
Art. Eſthen) und Liefland (f. d. Art.) eingeführt worden war. inerfeits die 
dänifche oder ſchwediſche Herrfchaft, andrerfeits den kräftigen Arm der lieflän- 
diſchen Schwertritter fürdtend, erklärte ſich Lamechin, ein Fürft der Kurländer, 
bereit, die riftlihe Religion anzunehmen, den Papft als Oberherrn anzuerkennen 
und fih dem Erzbifhof von Riga und den Schwertrittern zu unterwerfen, Bal- 
duin, der Pönitentiar und Nuntius des päpſtlichen Cardinallegaten Dito in Däne- 
marf, von diefem nach dem Tode des Biſchofs Albert von Apelvdern (+ 1229) als 
Bisthumsperwefer nah Riga gefendet, nahm im Einverftändniffe mit der Kirche 
von Riga, dem Abte von Dunemund, allen Kaufleuten, den Rittern Chrifti, den 
Fremden und Bürgern von Riga den Antrag Lamechin’s im Jahre 1230 unter 
folgenden Bedingungen an: 1) die Kurländer follten die Priefter, die man ihnen 
ſchicken werde, aufnehmen, unterhalten, fhügen, ihnen Gehorfam Ieiften und ſich 
mit Weib und Kindern alle von ihnen taufen laffen; 2) follten fie den Bifchof, 
welchen ihnen der Papft fenden würde, als ihren Herrn und Bater verehren und 
ihm und den andern Geiftlihen gewiſſe Abgaben entrichten; 3) hätten fie zur 
Vertheidigung Hriftlicher Länder oder zur Ausbreitung des Glaubens Kriegsdienfte 
zu leiften und A) innerhalb zwei Jahren fi dem Papfte zur Huldigung zu ftellen 
und nah deffen Vorſchriften fih in Allem zu richten. Die übrigen Rurländer 
traten au bald bei. Papft Gregor IX., dem fie dem Verfprechen gemäß durch 
eine Gefandtfhaft als ihrem Oberherrn Huldigten, beftätigte Alles und ernannte 
den eifrigen Balduin zum Bifhof von Semgallen und zugleich zum päpftlichen 
Legaten über Finnland, Gothland, Liefland, Eſthland, Semgallen und Kurland. 
Die firhliche Eintheilung Kurlands wurde von dem päpftlichen Legaten Wilhelm 
von Modena 1245 in der Art vorgenommen, daß er ein Drittheil zum Bisthum 
Niga und eines zur Didcefe Semgallen ſchlug und aus dem dritten ein neues 
Bisthum Kurland bildete, — Die Einführung der Reformation in Rurland konnte 
nach dem böfen Beifpiele, das der Hochmeifter des teutfchen Ordens Albrecht 
von Brandenburg (f. d. A.) gegeben hatte, nicht ausbleiben, Schon unter - 
dem Tiefländifchen Heermeifter Walter von Plettenberg, der 1520 die Un- 
abhängigfeit von den Teutſchherrn erfauft hatte (ſchon 1237 hatte die Vereinigung 
des liefl. Schwertordens mit dem Teutfchorden ftatigefunden), fand das Luthertfum 
auch in Kurland Eingang. Der Tiefländifche Heermeifter Gotthard Kettler, der 
dur den Vertrag zu Wilna 1561 alles Drdensland bis auf Kurland und Semgallen 
aufgab und fih zum erblihen Herzog von Kurland und Semgallen unter pol- 
nifher Oberhoheit erklärte, hob den Drvensverband und die Fatholifche Religion 
vollends auf. Würdig fand ihm, dem Abtrünnigen, der den an feinem Orden 
begangenen Raub auf ewige Zeiten auf fein Geflecht überpflanzen zu können 
wähnte, der legte Biſchof Kurlands Johann von Mönnighanfen (oder Münd- 
haufen) zur Seite, Derfelbe verkaufte im 5. 1559 um 30,000 Thaler fein Bis- 
thum an den König von Dänemark und ging darauf nah Teutfhland, wo er 
Proteftant wurde und fih ein Weib beilegte. Befanntlih ift jetzt Kurland eine 
zuffiihe Provinz, und was das für den Beftand des Proteftantismus fagen will, 

Kir henlexikon. 6. Bo. 20 


306 Kuſch — Kyrie eleyson. 


iſt leicht begreiflich und zeigt ſich täglich mehr in den Fortfchritten der griechifch- 
ruffifhen Kirche in den Oftfeeproningen, Vgl. die Art, Efthen, Liefland, Teutfch- 
herren. ©, Raynaldi Annal. Eccl. ad a. 1232. n. 1—6.; Tetſch, Kurl. Kirchen⸗ 
geſch. Riga 1767, A. L. Schlözer und Gebhardi, Gef. v. Litth., Liol, u, 
Kurl. Hal, 1785, Voigt's Geſch. Preußens. Lioland und die Anfänge teutfchen 
Lebens im baltifchen Norden, von Curd von Schlözer, Berlin 1850, [Schröpl,] 

Kufch, f. Cuf. | 

Kuſchan-Niſchathaim, ſ. Cufgan-Rifhathaim, 

Kuß, ſ. Friedenskuß. 

Küſſen des Altares, des Evangeliums. Der Kuß, ſeiner Natur nach ein 
Zeichen der Liebe und Ehrfurcht, wird zu allen Zeiten auch ſolchen lebloſen Gegen- 
ftänden gegeben, die man lieb hat und in Ehren hält. Sp ſpricht ſchon Tertullian 
(1. 2. ad uxor. c. 4.) vom Küffen der Bande der Martyrer. Auch die Kirchen- 
thüren foheint man zur Zeit des HI. Chryfoftomus gefüßt zu haben Chom. 30 in 
ep. 2. ad Cor.). Gewiß iſt, daß fowohl das Küffen des Altars als auch das des 
Evangeliums fehr alt ift, beide finden ſich z. B. ſchon in den älteften römifchen 
Ordines vorgefchrieben. Den Altar fügt nach dermaliger Vorſchrift der Celebrant 
nad) dem Stufengebete der hl. Meffe, und fo oft er fih in diefer zum Volke 
wendet, Bei dem erften diefer Küffe betet derfelbe: „‚Oramus te, Domine, per 
merita Sanctorum fuorum, quorum reliquiae hic sunt, et omnium Sanclorum, ut in- 
dulgere digneris omnia peccata mea.“ Hiemit wird Har, daß diefe Küffe, Salu- 
tationes genannt, nicht bloß ein Zeichen der Liebe und Ehrfurcht für den Altar 
als Opferherd des neuen Bundes find; fondern auch die Hochfhägung für bie 
Reliquien der Heiligen, die im Altare hinterlegt find, und das gläubige Sehnen, 
durch die Fürbitte diefer Heiligen unterflüßt zu werden, fund zu geben haben. 
Das Küffen des Evangelieneoder (Miffale) fchreiben die Nubrifen vor, wenn das 
Evangelium vorgelefen iftz nur im Requiem ift e8 zu unterlaffen. Ehemals wurde 
das Buch, aus dem das Evangelium vorgelefen wurde, dem gefammten Clerus, 
ja dem gefammten Volke zum Kuſſe geboten, „Porrigit‘“, heißt e$ im Ordo Rom. 
U. ‚„evangelium osculandum primum episcopo, deinde omnibus per ordinem gra- 
duum, qui steterint, et universo clero, nec non et populo, deinde conditur in loco 
suo.“ Dagegen küſſen e8 heut zu Tage Cabgefehen von einigen wenigen fran- 
zöſiſchen Kirchen) nur mehr der Celebrant und der etwa anwefende Fürft, ober 
flatt des erften der anwefende Papft, Cardinal oder der Legat des apoſtoliſchen 
Stuhles, Patriarch, Erzbifchof oder Bifchof der Gegend. Die Liturgie des hl. 
Chryſoſtomus Fennt auch diefen Ruß. [Fr. X. Schmib.] 

Küſter (Küſterer) leitet ſich vom lateiniſchen Custos ab. Man verſteht dar— 
unter jenen Kirchendiener, welcher unter Oberaufſicht des Pfarrers das Gottes— 
haus öffnet und fchließt, die HI. Gefäße und Paramente aufbewahrt, für bie 
Neinlichfeit und Schmürfung des Gotteshauſes forgt, und die Geiftlichen bei dem 
Gottesdienfte entweder perfönfich oder dur Subftituten an= und auskleidet. Da - 
die hi. Gefäße und Paramente ſich größtenteils in der Sarriftei befinden, ſich 
in diefer auch die Geiftlihen Cabgefehen von den Bifchöfen) bei Gottesdienften 
an- und ausfleiven, und auf diefe Weife der Küfter befonders in der Saeriſtei 
befchäftigt ift, fo wird er auch. haufig Sacriftan genannt, Ebenfo gibt man 
ihm in vielen Gegenden den Namen Meßner; weil die wichtigfte und gewöhn- 
lichte Feier im Gotteshauſe, wegen der er Dienfte zu machen hat, die hl. Meſſe 
iſt. Verſchieden von dem Küfter ift der Custos (Summus Custos) in Gtiftern, 
Sener ift ein Laie, diefer ein geiftliches Mitglied des Stiftes, Diefer iſt Oberauf⸗ 
ſeher (wie es in Pfarreien der Pfarrer iſt), jener der Vollzieher feiner Aufträge, 
Bol. die Art, Custos und Kirdendiener, 

Myrie eleyson, ſ. Meffe: 


L. 


Labadiſten, die, eine pietiſtiſche Seete der reformirten Kirche, 
hatten den Johann von Labadie zum Stifter. Derſelbe war der Sohn eines ge— 
meinen Soldaten und wurde den 18. Febr. 1610 zu Bourg in Guienne geboren. 
Nachdem er 15 Jahre Mitglied der Geſellſchaft Jeſu geweſen, trat er, ungeachtet 
die Jeſuiten ſich viele Mühe gaben, ihn von dieſem Schritte zurückzuhalten, im 
J. 1639 aus dem Orden. Hatte ihn ſchon im Orden ſein unruhiger, turbulenter 
und phantaſtiſcher Geiſt, obgleich durch den klöſterlichen Gehorſam eingezwängt, 
in die Bahnen einer falſchen Myſtik und eines affectirten Rigorismus und zu dem 
Wahn verleitet, den Geiſt Johannes des Täufers und den Beruf einer außer— 
ordentlichen Miffion zu haben: fo verlor er nach feinem Austritt aus dem Or— 
densverband bald allen Halt und wurde endlich aus einem betrogenen und be— 
trügenden Schwärmer ein Calvinift, dem es auch in der neuen Kirche nicht be— 
un und daher nothwendig fehien, eine eigene Secte in der Secte zu errichten, 
abadie, der Welt und feinem Eigenwillen zurüdgegeben, trat in mehreren Städten 
als Prediger auf, und da er nicht ohne Geift und Nednertalent war und mit der 
Miene und dem Apparate eines Gottesgefandten von Gnade, Prädeftination, 
firenger Buße und Befferung auf eine Weife predigte, wie fie ſchon damals bei 
den Janfeniften den Jeſuiten gegenüber üblich war, fo Fonnte es an vielfeitigem 
Applaus nicht fehlen, wiewohl die Klarfehenden den Wolf in Schafsfleidern bald 
berausfanden, Daß die Jefuiten zu den Iegtern gehörten und gegen den Prediger 
ihre Stimme erhoben, fchrieb man ihrem Neide und Berfolgungsgeifte zu, wäh- 
rend Labadie ohne Gefährde für feine Heiligkeit gegen fie nach Vergnügen los— 
ziehen fonnte. Indeß verſtand fich Labadie auf feine Rolle fo gut, daß ihn feldft 
Biſchöfe in ihre Didcefen Inden und zum Prediger und Leiter von Nonnenflöftern 
beſtellten. Allein überall fanden fich zulegt die Biihöfe (von Amiens, Tonloufe 
und Baza) nicht wenig getäufcht und fogar in die Nothwendigkeit verfegt, gegen 
die Lehre und das Leben des vermeintlichen Heiligen Unterfuhungen anzuftellen, 
indem er fogar in den Verdacht gerieth, Nonnen und fromme Perſonen zu einem 
fleifhlihen Myftieismus ärgfter Art in Wort und That verführt zu haben. Sol— 
hen angeblichen Berläumdungen aus dem Wege gehend, flüchtete er fich zu den 
Sanfeniften zu Port-Royal, und ein andersmal in eine bei Baza gelegene, von 
Earmelitern bewohnte Einfiedelei, wo er, um unentderft zu bleiben, einige Mo— 
nate den Carmeliter fpielte, den Gott zum Neformator des Elerus berufen und 
dazu mit außerordentlihen Vifionen und Gnaden ausgerüftet habe, Einige der 
guten Väter wünfchten fih Glück zu dem neuen Elias; als aber diefer merfte, 
daß ihm der Erzbifchof von Touloufe auf der Spur fei, in deifen Diörefe er ein 
ihm zur Leitung anvertrautes Nonnenflofter demoralifirt. hatte, floh er nah Mon— 
tauban und trat im Detober 1650 zur reformirten Kirche über. Calviniſt ge— 
worden, weil, wie er jegt vorgab, die Fatholifche Kirche ganz und gar. verderbt 
fei, erblickte er bald in der neuen Kirche auch nichts anders als Verderben, pre= 
digte und fchrieb in diefem Sinne, befhuldigte die Prediger der Unwiffenheit, 
Saulheit und Verderbtheit, drang auf eine Reformation des Lebens durch Teben- 
20 * 








308 Laban. 


digen Glauben und die Liebe Gottes, und erregte ſo überall, wo er als Prediger 
angeſtellt war, zu Montauban, Orange, Genf und Middelburg in Holland, Hän- 
del und Spaltungen, Ueberall verjagt und zulegt feines Amtes zu Middelburg 
entfegt und aus der Gemeine ausgefchloffen, bildete er eine eigene Secte, erhielt 
namentlich zu Middelburg, Amfterdam und Bremen einigen Anhang und flarb zu 
Altona im 3. 1674. Seine befondern Anhänger waren Peter Yon, Peter Du- 
lignon, Heinrich und Peter Schlüter, und unter feinen Verehrerinnen, an denen 
es ihm nirgends fehlte, vagte Die damals wegen ihrer außerordentlichen Gelehr- 
famfeit und Kenntniffe als „zehnte Muſe, vierte Huldgöttin, holländiſche Minerva 
und Prinzeffin der Gelahrtheit” angeftaunte A. M, Schurmann hervor. Nah 
Labadie's Tod ließen fich feine Anhänger im Weftfriesland auf einem Schloffe 
nieder und lebten da in Handarbeit und Gütergemeinfchaft zufammenz im 18ten 
Sahrhunderte erlofch die Heine Serte gänzlich, Für die-Beurtheilung ber eigen- 
thümlichen Lehren diefer Secte, welche der Hauptfache nach bei dem ealviniſchen 
Lehrſyſtem ftehen blieb, find die im Namen aller Labadiſten verfaßten Schriften 
wichtig: Declarations-fchrifft oder eine nähere erflärung der reinen lehre und des 
gefunden glaubens Johannis de Labadie, Petri Yvon, Petri du Lignon, Pastores, 
Henrici Schlüter, Petri Schlüter etc., Herford 16715 — Veritatis sui vindex s. 
solennis fidei declaratio, aucta etc. Herf. 1672. Nach dem Inhalt diefer Schrif- 
ten ift Niemand ein Glied der Kirche des neuen Teftamentes, als der in Chrifto 
Neugeborene, der durch die Liebe Gottes und den Iebendigen Glauben Bekehrte, 
und nur für folde gehört die Taufe und das Abendmahl; die hl. Schrift ift zwar 
Gottes Wort, aber nicht der einzige Grund der Religion, da fie nicht zu allen 
Zeiten gewefen ift und auch einmal nicht mehr fein kann; nicht die Schrift ift das 
ewige Leben und gibt es, fondern Chriftus und der HL, Geiſt; allerdings aber ift 
fie eines der vorzüglichften Mittel zur Erlangung des ewigen Heiles, jedoch Fein 
abfolut nothwendiges, indem Chriſtus noch immer wie früher unmittelbar durch 
feine Erleuchtung Iehren kann; zudem enthält die Bibel nicht nothwendig und aus- 
drücklich alle göttlichen Wahrheiten im Einzelnen, aber der göttliche, innerlich 
wirkende Geift führt auf wunderbare und übernatürliche Art in alle befondern 
Wahrheiten ein und vffenbaret Dinge, welche felbft ven Verftand der Engel über- 
fteigen; endlich iſt auch nicht die Bibel, fondern die Authorität Opttes der Grund 
des Glaubens. In Betreff des Sabbaths heißt es, die Chriften feien zur Hal- 
tung eines Sabbaths (Sonntags) nicht verpflichtet, da jeder Tag ohne Unter- 
fchied ein Sabbath Gottes fein müſſe; die Gütergemeinfchaft wird zwar nicht 
förmlich gelehrt, aber doch ein Approximativ mit Befchränfung auf die Kirche des 
neuen Teftamentes (d. i. Labadiften) als hriftliches Gebot aufgeftellt; die Be— 
jchuldigung der Verwerfung des Cheftandes wird als eine Verläumdung abgewie- 
fen, chiliaftifchen Träumereien das Wort geſprochen. S. Arnolds RKirchen- und 
Kegerhiftorie, Th. 11; Joh. Möllers Cimbria literata t. I u. I; Walchs Ne- 
Iigionsftreitigfeiten außer der Iuth, Kirche, Th. IV; die Schriften Labadie's, Pe— 
ters von Yvon und Peters Dulignon; das apologetifhe Buch der Schurman 
„EvxAmgı seu melioris partis electio“, Alton. 1673; Fr. X. Feller, Diclionnaire 
hist.; Cl. Fleur. hist. Eccl. contin. a P. Alexandro a S. Joh. d. Gruce, ad a. 
1644 etc. [Schrödl.)] 
Laban (j2>, LXX. Acpev), Sohn Bethuels und Enkel Nahors, des Bru— 
ders von Abraham (Geneſ. 22, 20—22), ſomit ein Bruder der Rebecca, und 
Bater der Lea und Nadel, Als Jacob, fein Schwefterfohn, zu ibm Fam, nahm 
er ihn zwar freundlich auf (Geneſ. 29, 9—14.), übte aber bald fehr unfreund- 
liche Arglift gegen ihn. Als ihm namlich Jacob auf fieben Jahre feine Dienfte 
anbot, wenn er ihm feine jüngere Tochter Nachel zur Frau geben wolle, ver— 
fprach Laban diefes zwar, hielt es aber nit, Denn am Abend nach dem Hoch— 
zeitstage ließ er die ältere Tochter Lea in's Brautgemac bringen, und Jacob 





Labarum. 309 


bemerkte erſt am folgenden Morgen, daß er betrogen war. Wollte er nun bie 
NRachel dennoch zur Frau, fo mußte er dem Laban noch fieben weitere Jahre die— 
nen, wozu er ſich auch entſchloß (Geneſ. 29, 15—30.). Als die zweiten fieben 
Jahre vorüber waren und Jacob mit den Seinigen von Laban fortziehen wollte, 
bat ihn diefer, noch länger bei ihm zu bleiben, denn er hatte gemerft, daß ihm 
Sehova um Jacobs willen fegne. Jacob verlangte ald Lohn die gefprenfelten und 
gefleckten Schafe und Ziegen, die Laban befommen werde. Laban fagte diefes zu, 
damit aber Jacob wenig oder nichts befomme, ließ er fein gefprenfeltes und ge— 
flecktes Thier in der Herde, die er dem Jacob zur Beforgung übergab, Jacob 
aber legte zur Zeit, wo fich die Schafe begatteten, Stäbe, an denen er weiße 
Streifen gefchält hatte, in die Tränfrinnen, und in Folge davon warfen fie bunte 
und gefleckte Junge, fo daß Jacob in furzer Zeit zu einem großen Herdenrei- 
thum gelangte (Genef. 30, 26—43.). Als er aber merkte, daß Laban und feine 
Söhne deßhalb gegen ihn aufgebracht waren und Schlimmes von ihnen beforgte, 
zog er auf einmal mit feinen Angehörigen und Herden davon, fo daß Laban erft 
am dritten Tage nachher Kunde davon erhielt. Er ſetzte ihm eilends nach und 
traf ihn nach fieben Tagreifen auf dem Gebirg Gilead, richtete jedoch Feine harte 
Rede an ihn, denn Gott hatte ihm diefes unterfagt, fondern beſchwerte ſich bloß 
über feine heimliche Flucht, und daß er ihm die Theraphim entwedet; Jacob da- 
gegen beklagte fich über Labans Härte, und daß er feinen Lohn beftändig geändert 
babe, und ihn befiglos in die Heimath entlaffen haben würde, wenn nicht Gott ſich 
feiner erbarmt und feine Arbeit gefegnet hätte, Endlich fchloffen fie einen Bund 
and verpflichteten fich gegenfeitig, in Zufunft einander auf Feine Weife zu be- 
feinden und zu beſchädigen (Genef. 31, 1—55.). — Wenn behauptet wird, „daß 
Sacob und Laban einander an Seldftfuht, Eigennug und Lift nicht eben viel nach- 
geben" (Winer, Realw. s. v. Laban), fo bat diefe Behauptung den betreffenden 
Bericht in der Genefis entjchieden gegen fih, welhem gemäß Laban es ift, der 
mit Täufhung und Trug beginnt und fortfährt, und fo auch den Jacob zur An- 
wendung von Lift veranlaßt. — 2) Laban hieß auch ein Ort in der Wüfte, welche 
die Zfraeliten unter Mofes durchzogen (Deut. 1, 1.); wahrſcheinlich ift diejes 
72> einerlei mit 25, dem 1Tten Lagerplage der Iſraeliten. 

Labarum, etymologiih ein dunkler Name, den man aus verfchiedenen 
Sprachen herzuleiten verfucht bat, heißt die berühmte Kreuzesfahne, welche Kaiſer 
Conftantin der Grofe (f. d. A.) zuerft in der Schlacht gegen Marentius und dann 
in den übrigen Kriegen als fchirmendes Hauptbanner führte, und deren fih auch 
Conftantins Nachfolger als Neichsfahne bedienten. Um das, was Eufebius von 
dem Urfprung des Labarums in feinem Leben Eonftantins erzählt, zu entfräften, 
führt man, außer wenig erheblichen Vernunftbeweifen und einigen erft nach Eu— 
febius bei Rufin (hist. eccl. I, 9), Sozomenus (hist. eccl. I, 3) u. m, A. vor— 
fommenden Berichten über die Kreuzerfcheinung Conſtantins, gewöhnli den Lac— 
tantins an, welcher bloß erzählt (de mort. persec. c. A4), der Kaiſer habe im 
Traume von Gott die Mahnung erhalten, die Schilde feiner Soldaten mit dem 
himmliſchen Zeichen Gottes zu bezeichnen und fo die Schlaht (gegen Marentius) 
zu liefern, und habe diefer Mahnung Folge geleiftet („transversa X littera, summo 
capite circumflexo, Christum in scutis notat“). Und auch die von dem Heiden 
Nazarius 321 abgehaltene Lobrede auf Eonftantin pflegt man anzuführen, worin 
der Drator nur berichtet, es fei in ganz Oallien befannt, daß vor der Schladt 
gegen Marentius am Himmel himmlische Heerfhaaren zum Dienfte Conftanting 
gefehen worden feien, Indeß möchten diefe Zeugniffe, genau erwogen, die Er— 
zählung des Eufebius eher unterftügen als entfräften. Euſebius nun erzäßlt, 
zwar nicht in feiner Kirchengefchichte, aber in dem Leben Conſtantins aus dem 
Munde des eidlich die Wahrheit befräftigenden Kaifers Folgendes: 
Eonftantin, fürchtend die Zauberfünfte des Maxentius, der bei den Kriegsrüftungen 


310 . Rabbe, 


die heibnifchen sacra forgfältig anwandte, und um fo mehr die Nothwendigfeit 
einer höhern als bloß menschlichen Unterflügung fühlend, wendete fih nach dem 
Deifpiele feines dafür gefegneten Vaters zu dem Einen wahren allmächtigen Gott 
mit der Bitte, fih ihm zu offenbaren und ihn zu berathen. Da erfchien ihm und 
feinem auf dem Zuge nach Italien begriffenen Heere um die Mittagsftunde ein 
Veuchtendes Kreuzeszeichen am Himmel mit der Umfchrift: „Durch diefes fiege!“ 
und febte Alle in Staunen. In der darauffolgenden Nacht erfchien ihm im Traume 
Chriſtus mit jenem Kreuzeszeichen und befahl ihm, fich ein Bild nach demſelben 
machen zu laſſen und dieſes als ein Schugmittel gegen die Feinde zu gebrauchen, 
Demgemäß berief Conftantin gleich am andern Morgen Goldſchmiede und Künſiler, 
befchrieb ihnen das ihm gezeigte Bild und verlangte ein Nachbild. Gene hierauf 
nahmen einen langen Speer, den fie mit Gold überzogen, befeftigten an ihm eine 
Duerftange, und über der höchſten Spike eine Krone-(Kranz) aus Gpld und 
Evelgeftein, und in ihr das Sinnbild des beglücfenden Namens, die ineinander 


geihlungenen Anfangsbuchftaben des Namens Chrifti X Caus XP = Chr.), ein 


Monogramm, welches zugleich die Geftalt des Kreuzes darftellte. An die Duer- 
fange felbft aber hefteten fie ein reichgewirftes und Foftbar befeßtes ſeidenes Pur- 
purtuch, an deffen Rand die goldenen Brufibilder des Kaifers und feiner Kinder 
waren, Diefes Zeichen, nach welchem fogleich mehrere für die verfchievenen Le- 
gionen gemacht wurden, diente dem römifchen Heere von nun an zur fohirmenden 
Fahne, — Mag man nun die wunderbare Rreuzeserfiheinung Conftantins deuten 
wie man will, gewiß bleibt, daß Conftantin zuerft im Kriege mit Maxentius und 
dann in feinen fpätern Kriegen fi des Labarums mit feinem myſtiſchen Mono- 
gramm als Haupt- und Reichsfahne bedient habe, welche er abwerhfelnd von 50 
der auserlefenften Soldaten tragen ließ, die diefelbe ſtets in ihrer Mitte führten, 
Auch Conſtantins Nachfolger ließen das Labarum als Neichsfahne in ihren Kriegen 
wehen, ließen es jedoch fpäter als ehrwürbige Neliquie aufbewahren, Abbildun- 
gen des Labarums und der nach deffen Muſter gemachten römifchen Fahnen fieht 
man auf Münzen und Bildfäulen des vierten Jahrhunderts. Conftantin trug das 
Monogramm des Labarums auch auf feinem Helme, wie er auch nach dem Giege 
über Marentius feine Bildfäule auf dem Forum zu Nom mit einer Fahne in der 
Geftalt eines Kreuzzeicheng in der rechten Hand aufftellen ließ, mit der Unter— 
ſchrift: „Durch diefes heilbringende Zeichen, das wahre Zeichen des Muthes, habe 
ih eure Stadt vom Joche des Tyrannen befreit“ (Euseb. hist, Eccles. IX, 9), 
©, Baron. Annal. ad a. 312; Tillemont, hist. des Emp. IV; Voisin, diss. erit. 
sur la vision de Constantin, Paris 1774; Gibbon, Abnahme und Fall des röm, 
Reiches, c. 205 Schrbckh's Kirchengefh. V; Neanders Kirchengeſch. Bd. II. 
Abth. 15 Manfp, Leben Conftanting d. Or, [Schrödl.] 
Labbé, Philipp, Jeſuit. Er wurde geboren zu Bourges im J. 1607. 
Im 1Tten Fahre trat er in den Orden der Jeſuiten. Er lehrte nacheinander die 
freien Wiffenfchaften, Philofophie und Theologie. Er ftarb in feinem Orden im 
J. 1667 den 25. März. — Seine vorzüglichen Schriften find: 1) De Byzantinae 
historiae scriptoribus. Paris 1648. f. 2) Nova bibliotheca Msc. in 2 Bänden f. 
1653. 3) De scriptoribus eccles. Bellarmini philolog. et histor. dissertat. 4) Ga- 
leni vita. 5) Bibliotheca Anti-Janseniana. 6) Notitia dignitatum Imperii Romani 
cum comment. Guidonis Pancirolli. 7) Bibliotheca bibliothecarum. ‚Par. 1664 Fol, 
ein Werk, das verfchiedene Auflagen erlebte, 8) Le chronologiste frangais. 1665. 
9) Concordia chronologica, technica et histor. Paris. 1670. 5 Bde. Fol, 10) Sein 
Hauptwerk ift die oben eitirte Concilienfammlung (f. d. A. IV. Bd, ©, 738), 17 
Theile in 18 Bänden Fol,, wovon bei feinen Lebzeiten 11 Theile gedrudft mur- 
den, bie übrigen durch den P. Eoffart deffelben Drdens zu Stande kamen: Sa- 
erosancta Concilia stud. Ph. Labbei et Cossarti. Paris. 1672. 18 Bände Fol, — 








Laborans — Lactantius Firmianus, 311 


- Venet. 1723—1732. 25 Bde. Fol. — Bl. die Vorreden des Coffart, des Ba— 
 Inzius in feiner „Nova collectio conciliorum.“ Par. 1683. 1f., welde aud als 18ter 
— Band der Labbe-Coffart’fchen Sammlung gilt; endlich die Praefatio der „Concil. 
colleclio regia maxima“ des Harduin p. VI sqq. 

Zaborans, Cardinal, f. Canonenfammlungen II. S. 309. 

Sachis, Ür>>, 70. Auyis, Aayns, bei Jos. Antt. 9, 9. 3. auch Acysıoa, 
Vulg. Lachis, Hauptftadt des canaanitifhen Königs Japhia, der mit vier andern 
Königen bei Gibeon (ſ. Gabaon) gefhlagen und bei Mafeda gehenft wurde 
(Sof. 10, 3—27.), lag in der Niederung (des nachherigen) Juda's (Joſ. 15, 
399, wurde von Joſua erobert (Joſ. 10, 31 ff.), dem Stamme Juda abgetreten 
(Sf. 15, 31.), von Rehabeam befeftigt (2 Thron. 11, 9.), belagert und erobert 
non Sanherib (2 Kön. 18, 14. 19, 8. 2 Ehron, 32, 9. ef. 36, 2.), ebenfo von 
Nebucadnezar (Jerem. 34, 7, vgl. die Weiffagung Micha 1, 13.), eriftirt noch 
nad dem Exil (Nehem. 11, 30.)5 ift wahrfcheinlih erhalten in der Ruine Um 
Lakis, weftlih von Adſchlan, anders beftimmt Robinfon II, S. 653. 

Zacombe, f. Guyon. 

2acrvir, Claudius, geboren im J. 1652 zu St. Andre, einem Dorfe 
zwifchen Herve und Dalem in der Provinz Limburg, ward 1673 Magifter der 
Philoſophie, ließ fih in demfelben Jahre zu Trier in die Gefellihaft Jeſu auf- 
nehmen, lehrte zu Coln und Münfter mit vielem Beifall die Moraltheologie, ward 
1698 zu Cöln Doctor der Theologie, und flarb dafelbft 1714 am 1. Juni, Er 
fchrieb einen Commentar zur Moraltheologie von Bufembaum (f. d. A.), Cöln 
1719, 2 Bde, in Fol. Lacroix gibt den vollftändigen Tert Bufembaums, und 
fnüpft daran feine Erklärungen, Eine caftigirte Ausgabe der Lacroir’fchen Moral- 
theologie erfihien 1767 zu Bologna von Angel. Franzoja, Lehrer der Theo- 
Iogie in Padua, in Fol. Bufembaum und Lacroix wurden als laxe Cafuiften viel- 
fa und bitter getadelt. Franz Anton Zaccaria nahm fich diefer beiden Jeſuiten 
an, und verfocht mehrere ihrer Meinungen, welche von Concina und Patuzzi lei— 
denſchaftlich waren Fritifirt worden. Viele der angeftrittenen vorgeblih laxen 
Entſcheidungen erfheinen in einem milderen Lichte, wenn man erwägt, daf die— 
felben eben nur jedesmal auf einen gegebenen beftimmten Fall beichränft find, 
und auf eine allgemeine unbefchränfte Anwendung feinen Anfpruc machen, Uebri— 
gend waren diefe fogenannten Iaren Meinungen ſchon vor den Jefuiten in der 
Säule einheimifh, und brauchten nur von den letzteren aboptirt zu werden. Auch 
ift nicht zu bezweifeln, daß die feharfen Gegner der laxen Moraliften in das 
gegentheilige, vielleicht noch mehr Schaden anrichtende Extrem verfielen, Die 
Rigoriften Haben wenigftens dadurch, daß fie die Fehler der fog. Lariften ſcho— 
nungslos aufdeckten, und dasjenige, was in dem Dunfel der Schulſprache ein- 
gehüllt dem Volke wenig oder nichts fchadete, öffentlich zernagten, zur Erbauung 
der Gläubigen gewiß nicht das Mindefte beigetragen, wohl aber viele Seelen 
feandalifirt. Beide Theile aber fehlten durch einfeitiges, Gott vorgreifendes und 
leichtfertige8 Decidiren über die Moralität menſchlicher Handlungen, über die 
Größe oder Leichtigfeit der Sünde, wie wenn fie e$ mit einem: materiellen 
Maße und Gewichte zu thun hätten, [Dür.] 

Lactantius Firmianus (in einigen Handiriften fteht noch der Vorname 
Lucius Cäcilius oder Lucius Cälius) ffammte nah feinem Beinamen aus 
Firmum (Fermo) im picenifchen Gebiete, und nach feinen eigenen Aeußerungen 
(de ira dei c. 2. Institutt. div. VI, 2) von heidnifhen Eltern. Nach Hieronymus 
(catal. c. 80) war Lactantius ein Schüler des Rhetor Arnobins (ſ. d. A.), alſo 
wahrjheinlih im letzten Viertel des dritten Jahrhunderts, Eine Schrift mit dem 
Titel: Symposion (100 Räthfel, je aus drei Herametern beftehend, zur Erheiterung 
bei der Tafel) erregte die Aufmerffamfeit Diveletians und veranlafte die Er- 
nennung des Lartantins zum Lehrer der Beredtfamfeit in Nicomedien in Bithy— 


312 Lackantius Firmianus, 


nien, der damaligen Nefidenz des Kaiſers. Allein in der Stadt von überwiegend _ 
griehifcher Bildung hatte der Lehrer der Inteinifchen Redekunſt wenige Zuhörer, 

Aber auch er felbft wurde unzufrieden mit einer bIoß formellen Befchäftigung, Die 
Geift und Herz leer ließ und den Drang nad realer höherer Erfenntniß nicht 
befriedigte. Dieß ſcheint unfern Gelehrten ſchon vor der dioeletianiſchen Ver— 
folgung ($. 303) dem Chriſtenthume zugeführt zu haben (f, Divcletian), Was 
er aber beim Ausbruche derfelben und gerade in der Reſidenz Nicomedien, wo 
die Verfolgung mit der Zerflörung des herrlichen chriftlichen Tempels begann, 
ſah, las und hörte, mußte feine Hingebung an die Kirche Gottes nur befeftigen, 
Hören wir ihn felbfi! „Während meines Aufenthaltes in Bithynien als Lehrer 
der Beredtfamfeit zu der Zeit, ald das Gotteshaus zerflört wurde, verhöhnten 
dort zwei Männer die verachtete und verftoßene Wahrheit mit dem empdrendften 
Vebermuthe, Der Eine gab fih für einen Lehrer der Philoſophie aus; aber der 
Lehrer der Enthaltfamfeit war voll Habgier und finnlicher Lüfte, der Vertheidi— 
ger der Sparfamfeit und Demuth führte ein Höchft verfchwenderifches Leben; feine 
fittlichen Gebrechen fuhte er durch die grauen Haare, den Philofophenmantel und, 
was fich Hiezu ganz befonders eignet, dur Neichthum zu verhüllen. Er gewann 
fih die Gunft der Gerichtsbehörden und verdrängte feine Nachbarn aus ihrem 
Eigenthume. Diefer Mann, durch feine Philofophie fein eigener. Anfläger, ſchrieb 
gerade zu der Zeit, als man die Chriften auf das Frevelhaftefte zu martern an- 
fing, drei Bücher gegen die hriftliche Religion, um, wie er meinte, den Ver— 
irrten zu Hilfe zu fommen und fie von jenem Starrfinne zu befreien, in welchem 
fo Viele um des Glaubens willen die größten Martern dulden. D des ſchmeich— 
Ierifchen, dem Zeitgeifte huldigenden Philofophen!..„.. Der Andere, der noch 
beifender gegen den hriftlichen Glauben fchrieb, gehörte zu den Gerichtsbehörben 
und war ein Haupturheber der Verfolgung. Er wollte in der Schrift, die er 
Aöyoı pıhahm$eis zu betiteln fich nicht fehente, zeigen, „daß das Chriſtenthum 
eine Sache voller Widerfprüche und daher nur eine Religion für Ungebildete fei“ 
Cinstitutt. V, 2. 3.). Gemeint ift Hieroeles (ſ. d. A.), der damalige Präfeet von 
Bithynien, Die Entrüftung über eine fo gleißnerifhe Sprache mitten unter dem 
fchreiendften Unrecht gegen die Chriften erweckte in dem redlichen Manne ſchon 
damals den Entfchluß, in die Reihe der chriftlichen Apologeten einzutreten und 
fih einem Berufe zu widmen, „der weit beffer, nüglicher und ehrenvoller ſei, als 
das lange verwaltete Lehramt der Beredtfamfeit, in welchem er die Jugend nicht 
zur Tugend, fondern zur raffinirteften Bosheit heranbifdete, , .. Nicht um bie 
Dachtraufe oder Abhaltung des Waffers Handelt es ſich hier, fondern um Hpff- 
nung, Leben, Heil, Gott und Unfterblichfeit“ (I. c. I, 1.). Die —— Beſchäf⸗ 
tigung hat für ihn nur noch Werth, foferne fie ihn mit größerer Beredtſamkeit 
die Sache der Wahrheit vertheidigen lehrt, Doc nicht bloß widerlegen will Lac— 
tantius, wie Tertullian und Cyprian, fondern belehren (instituere), er will „bie 
Gelehrten zur wahren Philofophie,' die Ungelehrten zur wahren Religion hin- 
führen“ (I. c.). Die Belehrung aber oder die poſitive Apologie muß die ganze 
Glaubensſubſtanz darlegen, fie darf fich nicht, wie Cyprian gegen Demetrianus 
ungeeignet gethan hat, auf Anführung von Schriftſtellen befchränfen, die ber 
Gegner als erdichtet zum Voraus verwirft. Sie muß mit dem Gegner ganz von 
Bornen anfangen, muß ihm aufbellende Principien geben, ihn durch Ver- 
nunftbeweife widerlegen, damit er nicht, wenn ihm die volle chriftliche Wahrheit 
auf Einmal vorgehalten wird, ganz und gar erblinde (I. c. V, 4). In diefer po— 
fitiven Methode will Lactantius Bahn brechen und zur Nahahmung aufmuntern, 
Sein letztes Ziel ift (V, 1.) Berföhnung der Philoſophie und Religion, 
„Wie Niemand wahrhaft Menfch ift, der nicht ein Philoſoph iſt, fo ift Keiner ein 
wahrer Philofoph, der nicht die Wahrheit bei Denen ſchöpft, welche die Welt 
Thoren und Barbaren nennt” (1. c. IV, 1. 2.). Während aber im Heidenthume 








Lactantius Firmianus. 313 


- Religion und Philofophie in zwei feindliche Gegenfäge auseinander gegangen find, 
ſtellt nur das Chriftentfum die urfprünglihe und wahre Harmonie beider 
wieder her (V, 1.). Die bisher angegebenen Grundgedanfen führt Lanctantius 
in den fieben Büchern institutiones divinae fo aus, daß er zuerft mit Ueber— 
gehung der, wie er fagt, ſchon vom Eicero in der Schrift de natura Deorum big 
zur Evidenz geführten Beweife für das Dafein Gottes den Nachweis der Ein- 
beit Gottes aus den Propheten und Ausfprüchen der heidnifchen Dichter und 
Philoſophen beibringt (1. Buch: de falsa religione) und (im 2, Bude: de origi- 
me erroris) die Duellen des Polytheismus in dem Materialismus, der Unfittlih- 
feit und Gottvergeffenheit findet, die feit dem mit des Vaters Fluche beladenen 
Cham ihren Anfang genommen hätten, Nah einem Blicke auf die heidniſche Phi- 
Iofophie (3. Buch: de falsa sapientia), welche, wie das Wort ſchon andeute, nicht 
der Befis, fondern nur das Streben nah Weisheit fei, und im Heidenthume 
den Befig der Weisheit unmöglich Habe erreichen können, weil fie von feinen un- 
beftrittenen Sägen ausgegangen ſei, da ſchon die verfchiedenen formalen Principien 
den Weg zur Wahrheit verfperrt hätten, gelangt er im Aten Bude: de vera sa- 
pientia zu feinem Hauptthema, der Einheit von Religion und Philofophie, deren 
Erläuterung ihn auf die Thatfache der Incarnation der ewigen, perfön- 
lichen Weisheit, des Aöyos, und die Lehre von der Perfönlichfeit des Gott— 
menfchen hinführt. Mit dem fünften Buche geht die Betrachtung auf das prac- 
tifhe Gebiet über: Gerechtigkeit, im juriftifchen Sinne, die einft im goldenen 
Zeitalter geherrfiht, von der Heidenwelt aber in ihrem Benehmen gegen die fhuld- 
Iofen Chriften mit Füßen getreten werde, wahre Gottesverehrung — An- 
erfennung der von Gott geoffenbarten Wahrheit und freudige Erfüllung ihrer 
Gebote, Hingabe feiner felbft an Gott, endlih Unfterblichfeit und ewig glück- 
ſeliges Leben als Lohn der Gottesverehrung, Alles diefes ift erft durch Chriftum 
am’ Licht gekommen oder zur Wahrheit geworden. Die der Inhalt der drei 
letzten Bücher: de justitia, de vero cultu, de vita beata. (Vgl. hierzu den Art. 
Chiliasmus), Die Eleganz der Darftellung läßt in der ganzen Schrift nichts 
zu wünfhen übrig, weßhalb Lactantins der hriftlihe Cicero genannt worden 
iſt; wohl aber bleibt derfelbe im fachlicher Hinficht Hinter dem Ziele, das er fi 
ſelbſt geſteckt hat, zurück. Die Wefenlehren des Chriſtenthums find, wie ſchon 
Hieronymus (ep. 13. ad Paulin.) bemerkte, zu wenig erörtert, und wenn er auch 
fehr zeitgemäß auf die eben damals fich verbreitende neuplatonifche Idealiſirung 
des alten Göttercultus (im zweiten und fechsten Buche) Rückſicht nimmt, fo find 
doch die Beweife für die Glaubwürdigkeit der Bücher des neuen Teftamentes 
durchaus nicht mit der Sorgfalt beigebracht, zu welcher die neueften Angriffe des 
Hierocles aufforderten. Gleihwohl ift diefe Schrift des Lactantius wegen der 
fhönen Darftellung eine Lieblingslectüre in der Hriftlihen Welt geworden, was 
die mehr als Hundert Ausgaben beweifen, in denen fie erfchienen iſt. Sie ift, da 
die dioeletianiſche Verfolgung als eine fhon geraume Zeit verfchwundene dar- 
geftellt wird (V, 2. 3.), mithin die Verfolgung, welche zur Zeit der Abfaffung 
wüthete (VI, 6. 17.), nur die des Licinius fein kann, um das Jahr 320 gefchrie- 
ben, als Lactantius bereits bejahrt am Hofe des Kaifers Eonftantin zu Trier als 
Erzieher des Prinzen Crispus fih aufhielt. Gewidmet ift fie Conftantin, dem 
erſten chriſtlichen Fürften und Wiederherſteller der Gerechtigkeit. Ihr Verfaffer 
felbft Hat aus ihr einen Auszug (Epitome) in Einem Buche verfertigt, der erft 
in neuerer Zeit von Kanzler Pfaff vollftändig herausgegeben worden ift (vgi. 
 Hieron. catal. c. 80). Bor den Inftitutionen fohrieb Lactantius eine Eleinere Ab- 
haudlung: de opificio Dei, welche aus der Funftvollen Organifation des Men- 
ſchen ſowohl nah feiner geiftigen als Teiblichen Seite gründlicher, als es Ticero in 
feinen Schriften gethan Habe, gegen die Epicuräer (ſ. d. A.) den Beweis einer die Welt 
leitenden Borfehung führen will, Nach den Inflitutionen abgefaßt iſt die Schrift: 


314 Ractieinien, 


de ira Dei, welche die Begriffe von göttliher Gerechtigkeit und Güte zu 
vereinigen fucht, Eine treffliche Duelle für die Gefihichte der Chriftenverfolgungen 
ift die Schrift: de mortibus persecutorum, die zum Theil aus eigener An— 
fhauung ſchöpft und bis zur Herfiellung des Friedens für die Kirche fortgeführt, 
alfo nicht vor 314, wohl aber auch nicht lange nach diefem Jahre abgefaßt ift, 
Das tragifhe Ende aller Derer, welche die Kirche verfolgt haben, wird als Be- 
weis für die Wahrheit des chriftlichen Glaubens angeführt, Nach de opif. Dei 
c. 15. 20. Institutt. VII, 1; IV, 30. hatte Lactantius noch mehrere Schriften gegen 
die heidniſche Philofophie, gegen die Häretiferzc, beabfichtigt, von denen wir nicht 
wiffen, ob fie wirklich gefchrieben worden find, Hieronymus erwähnt im Catalo- 
gus noch ein itinerarium und acht Bücher Briefe, die wir nicht befigen, während 
die einigen Ausgaben beigefügten Gedichte: de Phoenice, de Pascha, de passione 
domini entfchieden unächt find. Dfann Cin den Beiträgen zur griechiſchen 
und römifhen Literaturgefchichte, U. Band, Caffel u, Leipzig 1839, ©, 
365— 367) glaubt unfern Schriftfteller auch den römifhen Grammatifern 
beizählen zu fünnen. Die’ beften Ausgaben von Lactantius find die von Le 
Drun und Lenglet Dufresnoy, Paris 1648. 2 Bde,, und die zu Nom 1755 — 
1760 erfchienene von Eduard a St. Kaveriv, Die Ausgabe für die Bibliothef der 
Iateinifchen Kirchenväter von Gersdorf hat D, Fridolin Fritſche (Prof. der 
Theologie in Zürich) beforgt. Vgl. über ihn Dupin, bibl. eccles. I. p. 205 sqg. 
le Nourry, Apparat. ad Bibl. Patr. II, Dissert. I. p. 571 sqq. Möhler's Pa— 
trologie, herausg, von Reithmayr. Negensb, 1840, ©. 917— 933, [Scharpff.] 

Ractieinien. Zum Begriff des Firhlichen Faftens gehört neben Anderem 
auch das Sich: Enthalten von gewiffen Speifen (delectus ciborum. Trid. Sess. 25.). 
Zu diefen gehören, um es bier nur kurz mit dem bi, Thomas zu bezeichnen 
(Summ. H. II. qu. 147. art. 8.): carnes animalium in terra quiescenlium et respi- 
rantium et quae ab eis procedunt, sicut laclicinia ex grassibilibus et ova ex avi- 
bus. Unter Lacticinien begreift man das, was als Speife aus den Säugethieren 
gewonnen werden fann: Milch, Butter, Schmalz, Käfe = Milchfpeifen, Das 
Verbot des Genuffes von Lactieinien wurde zwar vielfach auf alle Faſttage aus— 
gedehnt, doch galt es vorzugsweiſe und gilt e8, wenigftens im Derident, nurmehr 
als Auszeichnung der Duadragefimalfaften vor Oftern. Was zunächſt die grie— 
chiſche Kirche betrifft, fo gebot ſchon die Synode von Laodicea (367. c. 50.), 
man folle die ganze Faftenzeit vor Oftern in der Kerpphagie zubringen, d. h. nur 
trockene Speifen effenz das Trullium (706. c. 56.) verbot den Genuß der Lae— 
tieinien (Räfe) wie des Fleifches und der Eier unter Strafe der Ercommunication 
bei Laien und der Depofition bei Elerifern, Die Enthaltung von den Lactieinien 
beginnt bei den Griechen nach Ablauf der fog. Butterwoche (Tugoyayos, Tv- 
e17), welche mit dem Montag nach unferem Sonntag Seragefimä anfängt und 
mit unferem Sonntag Duinguagefimä endet. Diefe firenge Faftendiseiplin, welche 
übrigens hiemit noch nicht einmal befchloffen ift (ſ. Goar, Euchol. pag. 207), 
wird von der, auch in diefem Punct am Aeußerlichen ftarr fefthaltenden, griecdhi- 
ſchen Kirche auf die übrigen Faften gleichfalls ausgedehnt (Goar l. c.). In ber 
abendländiſchen Kirche bildete fih allmählig die Praxis, welde Thomas Ag. 
d. c.) folgendermaßen befchreibt: In jejunio quadragesimali interdicuntur univer- 
saliter etiam ova et lacticinia, circa quorum abstinentiam in aliis jejuniis diversae 
consueludines existunt apud diversos. Demzufolge erneuert der HI. Carl Borro- 
mäus, biefer große „Interpres Concilii Tridentini“, nur ein altes Gebot (ef. z. B. 
Conc. Quintil. 1085. ete.), wenn er (in Conc. Mediol. I.) fagt: Nos auctoritati et 
S. S. Canonum decretis innitentes edicimus, uf omnes a carne caeterisque omni- 
bus, quae in carne trahunt originem, ut ovis, lacte, caseo, butiro et hujusmodi 
per totam Quadragesimam abstineant. Außerdem fei noch bemerkt, daß Papft Ale- 
xander VII. folgende Sentenz (32,) proferibirt hat: Non est evidens, quod consue- 








Lactieinien. 315 


tudo non comedendi ova et lacticinia in Quadragasima obliget. Daß außer ver 
 40tägigen Faftenzeit an vielen Drten auch an den übrigen Fafttagen die Enthal- 
tung von den Lacticinien geboten war, geht unter Anderem aus dem allgemein 


gehaltenen Schreiben Gregors d. Gr, an Auguftin in England (aufgenommen von 
Gratian ep. 6. D. IV.), fodann aus den Dispenfen hervor, worin der päpftliche 
Stuhl 3. B. im 3. 1344 den Didcefen Cöln und Trier, im J. 1485 der Land— 
Schaft Meißen Milchfpeifen und Eier an allen Fafttagen, die Duadragefima aus- 
genommen, erlaubte, ſ. Marzohl, Lit. sacr. Bd. IV. p. 304. Das Verbot der 
Enthaltung von den Lactieinien in der Duadragefimalfaften ruht fonach auf einem 
allgemeinen Kirchengeſetz, welches Benediet XIV. und Clemens XII. neu einfchärf- 
ten, Der Zweck diefes Gebotes ift ganz derfelbe, der dem delectus ciborum 
überhaupt zu Grunde Liegt, f. Thomas 1. c. und den Art, „Faſten.“ Indeß ift 
es allgemeine Anficht der Theologen, daß die Enthaltung von den Lacticinien, ja 
ſelbſt som Fleifche nicht als eine zum Wefen des Faftens gehörige Sache von der 
Kirche anbefohlen werde, fondern nur als eine Sache, welche in höherem Maße 
zur Abtödtung des Fleifches beitrage, Hieraus erwuchfen denn die vielen Aus— 
nahmen von dem angegebenen Gefege. Es zeigt fih auch bier der liberale Sinn 
der lateiniſchen Kirche, welche mit Rückſicht auf die Berhältniffe die Strenge ihrer 
Disciplin milderte, um mit Leberfehung des Aeußerlichen und Unwefentlihen das 
Wefentlihe und den Geift zu erhalten und zu pflegen. In diefem Sinne handelte 
die Kirche immer, wie aus den mancherlei Dispenfen hervorgeht. Eine ſolche 
erhielten 3. B. im J. 1456 die Eantone Luzern, Schwyz und Zug und alle be= 
nahbarten Orte durch Calixt IL, f. Marzohl, I. co. Die von derartigen Dis- 
penfen herrührenden, fo benannten Butterthürme, 3. B. in Rouen, erinnern noch 
eine kirchlich ungezogene Zeit an die nachfichtige Milde der Kirche und an die An— 
erkennung der kirchlichen Gewalt von Seite gewiffenhafter Altvordern. Was die 
Faftendisciplin im befprochenen Punct in den teutfchen Gegenden anlangt, fo ift 
der Genuß der Lactieinien und Eier fowohl durch Gewohnheit als durch den aus- 
drücklich erflärten Willen der kirchlichen Vorgefegten feit langer Zeit (ef. 5. B. 
Conc. Bamberg. a. 1491. tit. 37.) erlaubt (f. Butterbriefe). Benedict XIV. 
fchreibt (Instit. 16.): Non ignoramus, regiones quasdam in septembrione positas 
oyis et lacticiniis uti, quod crebris assiduisque immunitatibus Romanorum Pontificum 


 liberalitate concessis tribuendum est, illas deinde populi, pluribus annis interjectis, 


eum Pontifices rem dissimularent vel scienter paterentur, in Privilegium perpetuam- 
que facultatem converterunf. Haeo aufem immunitas iis potissimum causis innititur: 
coeli temperie, diversa corporum habitudine, earumque regionum indigentia, ita 
tamen, ut medium quoddam iter insistant et abstinentiam, qua possunt ratione, 
sequantur. Wollte übrigens je bezweifelt werden, daß jenes Gebot durch) Ge— 
wohnheit, auf welche doch der HI, Liguori beinahe in jeder Frage über das Faften 
Rückſicht nimmt, abrogirt fei, fo fpricht der in den bifchöflihen Faften-Mandaten 
alljährlich ausgefprochene Wille der Kirche die Enthebung von jenem Gebote aus, 
Hiezu find die Biſchöfe durch die 19te der Duinquennalfacultäten (ſ. Facultäten) 
vom hl. Stuhle ermächtiget: habent Episcopi facultatem dispensandi, quando expedire 
videbitur, super esu carnium, ovorum et lacticiniorum tempore jejuniorum et 
praesertim quadragesimae, Die Gründe folder Dispenfen, in denen fogar der Ge- 
brauch der Fleifchfpeifen erlaubt wird, find natürlich feine andern, als die, welche 
Benedict XIV., der überhaupt das Verdienſt hat, die Faftendiseiplin geordnet zu 
haben (in vier Conftitutionen, sc. „Non Ambigimus“, „In Suprema“, „Libentissime“ 
und „Si Fraternitas‘), zur gültigen Freifprechung einer Communität vom delectus 
ciborum angeführt Hat, nämlich Mangel an Speifen, welche für die Faften beſtimmt 
find, fodann ärztlich erwiefener Nachtheil für die Gefundheit, Die Frage, ob ſich 
diefe Dispenfen auch auf die fog. Collation am Abend beziehen, muß bejaht wer- 
den, Der HI. Liguori bemerkt in Betreff des Abendeſſens: „es müffe Zweierlei 


316 Ladung — Lainez. 


in's Auge gefaßt werden, die Duantität und Qualität, Es fei aber vor Alfem \ 


zu bemerfen,, daß man hierin befonders auf die Gewohnheit der Orte fehen müffe, 
wie Cajetan und Andere bemerfen”. Bonacina (päpftlicher Nuntius in Wien ıc,) 
bemerft (Ct. III, de praes. eccl. punct, II): „man müffe in der Faftenzeit bei ver 
refectiuneula mehr auf die Ouantität als Dualität fehen, wenn man nur feine 
Speifen genieße, die am Mittagstifch verboten find.” Dieß gilt auch vom Fleifch- 
effen am Abend, wo die Gewohnheit dafür ift und dieß wird wohl in den meiften 
Didcefen Teutfchlands der Fall fein. Unferes Wiffens wird nur in der rhein- 
preußifchen Kirchenprovinz und in Salzburg in Betreff des Fleifcheffens am Abend 
eine ftrengere Ordnung eingehalten. Das Faftenmandat von Salzburg vom J. 1843 
(„Sion“ Nr. 43.) erlaubt zwar das Fleifh am Mittag, Dagegen am Abend nur eine 
Suppe vom Fleiſch. — Wenn fihon die Alten das senescit mundus ausfprechen, 
fo kann unfere Zeit im Spiegel der alten Faftendisciplin Manches Iefen, (Frick. 

Ladung, gerichtl., f. Citation, 

Laetare nennt man häufig den vierten Sonntag in der Faften, Es kommt 
dieß davon ber, daß der Introitus in der HI. Meffe diefes Tages, oder vielmehr 
die aus Iſaias (66, 10. 11.) genommene Antiphon diefes Introitus (fie lautet: 
Laetare, Jerusalem, et conventum facile omnes, qui diligitis eam; gaudete cum 
laetitia, qui in tristitia fuistis, ut exulletis et satiemini ab uberibus consolationis 
vestrae) mit dem Worte „Laetare* beginnt. Da der Introitus jederzeit mehr 
pder weniger eine Auffchrift ift, welche die Idee andeutet, die bei der Feier der 
einzelnen hl. Mefje befonders herportritt, fo folgt fihon daraus, daß der Name 
Laetare ein Winf ift, daß der vierte Sonntag in der Faften in feiner Feier viel 
Freudiges hat, * 

Laibach, Bisthum, ſ. Kärnthen. 

Laien, ſ. Klerus, 

Laienbruder, ſ. Conversi. 

Laiencommunion, ſ. Communio laica. 

Laienpräbende, ſ. Präbende. 

Laienſchweſter, ſ. Conversi. 

Laimann, ſ. Laymann. 

Lainez, Jacob, einer der erſten Genoſſen des hl. Sgnatius von Lojola 
und zweiter General der Gefellfhaft Zefu, Er war zu Almazan bei Siguenza 
in Caftilien im 3. 1512 als der Sohn reicher und frommer Eltern geboren, er- 
Yangte auf der hohen Schule zu Alcala die Magifterwürde und entſchloß fi, da— 
felbft Theologie zu fludiren. Da hörte er von dem Ruhme des Ignatius, der 
damals in Paris ſtudirte und entfchloß fih, efwa 19 Jahre alt, in Ueberein- 
flimmung mit feinem Freunde und Mitfchüler Salmeron, mehrere Hochſchulen 
und insbefondere die zu Paris zu beſuchen. Dafelbft angelangt, traf er gleich in 
feinem Abfteigequartier den Ignatius, den er nach feinem Bildniß erkannte, und 
fogleich ſchloß fich nach gegenfeitigem Bekanntwerden das Band der Freundichaft, 
die immer inniger werben follte., Als ſich Ignatius nach Nom begab, befand fich 
auch Lainez, obwohl kaum von einer ſchweren Krankheit genefen, unter feinen 
Begleitern und betrat aus Ehrfurcht baarfuß die Hauptftadt der Chriftenheit, 
Dafelbft erhielt er vom Papfte den ehrenvollen Auftrag, an dem Collegium 
della Sapienza ven Lehrftuhl der biblifchen Eregefe einzunehmen, während Faber 
(f. den Art, Faber, Peter) den der fcholaftifhen Theologie erhielt, Als aber 
Ignazens Genoffen anfingen, in verſchiedenen Theilen Italiens zu predigen, be— 
gleitete Zainez mit Faber den Cardinal von St. Angelo auf feiner Legation nad 
Parma, blieb aber zu Piacenza und prebigte daſelbſt mit großem Erfolge, fpäter 
ebenfo zu Venedig und in vielen andern Städten und war zugleich überall für 
Gründung neuer Collegien thätig, fehlug aber ein ihm angebotenes Bisthum und 
fpäter die Cardinalswürbe ang, ja nach dem Tode Paul's IV. erhielt ex bei der 


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Laing — Lamaismus, 317 


neuen Papftwahl mehrere Stimmen. Endlih wurde er wegen feiner auggezeich- 
 neten theologifchen Kenntniffe und feines Eifers für die Sache der Kirche mit den 
- päpfilichen Abgeorbneten nebft Salmeron vom Papfte auf das Coneil zu Trient 
gefandt, wo er auch in der That ausnehmend thätig war und in fehr großem An— 
fehen ftand. Nach einer höchſt fegensreichen Wirkſamkeit folgte er nach dem Tode 
des HI. Ignatius diefem, zuerft als Generalvicar und im J. 1558 als General 
des Ordens, fam 1561 in Begleitung des Cardinallegaten von Ferrara nach 
Frankreich und betheiligte fich mit großem Ruhme an dem Neligionsgeipräh zu 
Poiffy (f. d. Art. Hugenstten Bd. V. ©. 365), ohne jedoch bei der Gereizt- 
beit der Gemüther eine Berfühnung erwirfen zu fönnen, erhielt aber für feine 
außerordentlihen Bemühungen für feinen Orden wieder den Zutritt in Franfreich, 
Hierauf erfchien er zum dritten Male auf dem Trienter Eoncil, vertheidigte da— 
ſelbſt die Nothwendigfeit eines einzigen Dberhauptes der Kirche und den Vorrang 
des Papftes vor allen andern Bifhöfen, fowie feine Unfehlbarfeit. Als General 
machte er fih um feinen Orden befonders durch feine Sorge für deffen weitere 
Berbreitung verdient, auch begann er die einzelnen Beftimmungen der von dem 
hl. Ignatius feldft verfaßten Drdensftatuten näher zu entwideln und fhärfer zu 
beftimmen. (Bgl. den Art, Je ſu iten). Auch auf dem im J. 1555 zu Augsburg 
gehaltenen Reichstag war er anweſend. Als er fein Ende berannahen fühlte, ver— 
fammelte er feine Genoſſen um fi, ertheilte ihnen die legten Ermaßnungen und 
verichied am 12, Januar 1565, in einem Alter von nur 53 Jahren. Er war ein 
Dann von klarem Berftande und gefundem Urtheile; auch war er fehr beredt; 
feine Mitbrüder rühmen befonders ‚feine Demuth, Sanftmuth und Frömmigkeit. 
In den Acten des Trienter Coneils finden fi mehrere Reden von ihm; auch 
binterließ er mehrere unvollendete theologifhe Werke. Sein Leben ift ſpaniſch 
geihrieben von P, Ribadeneira, in's Lateinifche von Andreas Schott und in's Fran- 
zöfifhe von Michel d'Esne, seigneur de Bettancourt, Douai 1597 überfegt. [Fehr.] 
2aing, f. Fleetheirathen. 

Lais oder Leſem, f. Dan Stadt und Stamm. 

Zaifirung, f. Communio laica. 

Lamaismus. Sp nennt man eine Religion, welche fih bei mehreren Völ— 
fern Hinterafiens, bei den Mongolen, Kirgifen, Ralmüfen, wohl auch in China 
Cin den weftlihen und nordweftl, Grenzdiftricten), vorzugsweife aber in Tibet 

findet. Die Priefter derfelben, welche zugleich gewiffermaßen die Götter find, 
heißen Lamas, Daher die Benennung. Lama heißt Mutter. Sind alfo die Prie- 
ſter Lamas genannt, fo ift damit ausgefprochen, diefelben nehmen zn dem Volfe die 
gleiche Stellung ein, als die Mütter zu den Kindern. Die Priefter find für das 
Bolf der Grund der Eriftenz, die Duelle des Heils, die Subftanz des geiftigen 
Lebens. Alles fließt von ihnen aus und auf fie zurück. Demgemäß ift ſelbſtver— 
ſtändlich die fociale und politifhe Verfaſſung eine theoeratiihe; Tibet ift von 
„jeher ein vollfommener Priefterftant gewefen und ift es noch Heute, obgleich es 
längft unter Chinas Dberhoheit ſteht. Dem entfprechend find die Mitglieder der 
Prieſterſchaft (Chubarag) fehr zahlreih; faft aus jeder Familie wird einer der 
Söhne ein Lama, Hauptbefhäftigung der Priefter ift Betrachtung, Meditation, 
Gebet, Umgang und Affimilation mit dem Göttlihen. Daher Ieben fie zurüd- 
gezogen von der Welt, ohne Theilnahme an den weltlich materiellen Beſchäf— 
tigungen, größtentheils in Klöftern, mäßig, enthaltfam, büßend, oft fich ſelbſt 
peinigend, ehelos. (Nur wenige Stämme erlauben ihnen die Ehe). Da aber die 
ganze leitung des Volfes, auch die politifhe, in ihrer Hand Liegt, fo haben fie 
ſich auch pofitio geiftig zu beſchäftigen. Ihre Yauptarbeit ift die geiftige Bildung 
des Volfes, Unterricht und Erziehung, mithin auch Pflege der Wiffenfhaft. — 
Daß fie hierarchiſch geordnet feien, verfteht fi vom ſelbſt. An der Spike ſteht 
der Großlama. In Tibet gibt es deren zwei, naͤmlich Dalai-fama, welcher 


318 Lamaismug, & 


in der Nähe von Hlaffa, im norböftl, Tibet, (120 Gr. öſtl. &. u. 30 Gr, nörbl, 
Br.), und Bogdo-Lama, welder im füblichen Tibet refivirt und herrſcht. 
Anderwärts führen die Oroflamas andere Namen, 3. B. in Butan Dharma- 
Lama, Es ift aber nicht wahrfcheinlich, daß diefe mehrfachen Großlamas einander 
gleichftehen. Sicherlich gab es urfprünglih nur einen Großlama, nämlich den 
Dalai⸗Lama (meergleiche Lama); im Laufe der Zeiten mögen, hauptfächlich wohl 
in Folge weiter Entfernung von Hlaffa, Einzelne der höchftgeftellten Lamas ſich 
von jenem mehr oder weniger unabhängig gemacht haben, Aber auch noch heu— 
tigen Tags gilt doch im Grunde der Dalai-Lama als der abfolut höchſte. Wäh— 
rend 3. B. der Bogdo-Lama von den Chinefen ziemlich geringfhäsig behandelt 
wird, empfängt der Dalai-Lama felbft durch den Kaifer göttliche Verehrung. 
(Der Kaiſer niet vor ihm, während er ſich nicht erhebt, fondern figend die Hand 
auf des Kaifers Haupt Iegt, um ihn zu fegnen). — Mit göttlicher Verehrung ift 
'e8 überhaupt, daß dem Dalai-Lama begegnet wird; daher nie Jemand aus dem 
Volke ihn zu fehen befommt, — Was hiemit ausgefprochen iſt, nämlich daß er 
Gott fer, iſt buchftäblich zu nehmen; er ift der incarnirte, als Menfch exiftente 
Gott. Stirbt er, fo ift es nur, um alsbald in einem andern Menfchen wieder 
zu erſcheinen. Daher beftimmt in der Regel er felbft, furz vor dem Tode, feinen 
Nachfolger, d.h. er gibt (mehr oder weniger beftimmt) an, in wem er nad 
feinem Hinſcheiden forteriftiren werde, Die Lamas haben dann dieſen neuen 
Dalai-Lama zu erkennen, Nicht felten ift e8 ein Kind, wo dann während der 
Minderjährigfeit eine Bormundfchaft regiert, Gerade gegenwärtig ift dieß der 
Fall, Vgl. die Berichte des Miffionäars Huc in den Annalen der Lyon. Gefellfh. 
zur Verbr. des Glaubens Jahrg. 1849. Der Gott, welder in dem Dalai-Lama 
als Menſch eriftirt, ft Buddha, Buddha aber ift, wie befannt, eine der In— 
earnationen des Wifchnu, welch’ letzterer eine der Erfcheinungsformen der indifhen 
Gottheit if, Hiemit find wir auf das indifhe Gnttesbewußtfein hingewiefen. In 
der That, der Lamaismus ift nichts Anderes als eine befondere Geftalt des Bud- 
dhaismus, und diefer nichts Anderes, als eine befondere Geftalt des Brahmais- 
mus, der uralten indifhen Neligion, Mithin müffen wir, um den Lamaismus 
zu verftehen, einen Blick auf das indifche Gottesbewußtfein und deffen Geſchichte 
werfen. — Die Indier haben, wie alle Heiden, in Ermanglung wahrer Gottes- 
erfenntniß die Elemente der phyfifchen Welt, die Grundfioffe und Grundurſachen 
des Dafeienden, vergöttert: Erde, Waſſer, Luft, Feuer, Sonne u. ſ. w. Daß 
ein fo geftaltetes Gottesbewußtfein Anfangs fehr bunt Habe ausfehen und un- 
fiher fein müffen, Teuchtet von felbft ein, Wie vielerlei Fann als Element be- 
trachtet werden und auf wie vielerlei Weife! Es hat aber bei den Indiern bald 
die beftimmtere Geftalt angenommen, daß als das Göttliche der Proceß als 
folcher galt, in welchem fich das Univerfum ununterbrochen bewegt, Derfelbe 
verläuft fich in drei Momenten: Entftehen, Beftehen und Vergehen, und zwar fo, 
daß Iegteres immer wieder der Anfang eines Neuen ift, mithin ein ewiger Kreis— 
Yauf flattfindet, Daß das Univerfum fi in ſolchem Proceffe befinde, Fann jedem 
finnenden Beobachter nicht entgehen. In ausgeprägtefter Geftalt aber tritt er ung 
vor Augen in demjenigen Theile der Natur, der gerade den Indiern am meiften 
vor den Augen liegt, in der vegetativen Natur, In der Pflanze tritt ebenfo Die 
beftimmte Unterfchiedenheit und Getrenntheit, wie die wefentliche Einheit und 
Zufammengehörigfeit jener drei Momente Har zu Tage Cin Kern, Pflanze und 
Frucht). Diefe drei Momente nun vergöttert, fo waren bie drei Götter Indiens 
gefchaffen: Brahma, Wifhnu und Schiwa — das Princip der Entftehung, 
der Erhaltung und der Zerftörung, welch’ Tegtere zugleich die Bedingung eines 
neuen Lebens, die Erneuerung des abgelaufenen Proceffes iftz und von felbft 
waren diefelben als Dreinigfeit (Trimurti), als integrirende Erfeheinungsformen 
des Einen Göttlichen begriffen, weldes das Parabrakma if, — Da jeder 








Lamaismus. 319 


Menſch begreiflich es für Pflicht Hält, diejenigen Gedanken in dem Leben auszu- 
prägen, zu verwirklichen, welche den Inhalt feines Gottesbegriffes bilden, fo hat 
ſich hiernach das Leben der Indier nothwendig dem Pflanzenleben nachgebildet. 
Hiernach muß jeder Indier es für wefentlihe Beftimmung halten, fih in das 
Ganze zu vertiefen, ſich aufzulöfen in der unendlichen flüffigen Subftanz, als 
Individnum zu verfhwinden, wie der Waffertropfen in dem Ocean verſchwindet. 
Dieß ift der Grundgedanfe, der das ganze Leben der Indier trägt, durchdringt, 
harakterifirt. Gleichen Schrittes aber mit der Geftaltung des Gpttesbewußtfeins 
zu dem beftimmten Brahma -Wifchnu- und Schiwa - Bewußtfein bildeten fi die 
Kaften als concreter Ausdrud der drei Momente des in der Pflanze repräfen- 
tirten Naturproceffes. Die ganze Nation ift eine Pflanze; die Brabmanen find 
das erſte, die Kſchatrvas und Bayfyas das zweite, die Sudras das dritte 
Moment derfelben, (Die Parias bilden nicht ein Glied im Organismus). Es 
mag wohl fein, was neuerdings mehrfach vermuthet und behauptet worden, daß 
zufällige Hiftorifche Ereigniffe und örtliche Verhältniffe die Kaften-Bildung veran- 
laßt haben, Trotzdem ift in den Kaften der foeben genannte Grundgedanfe aus- 
gefprochen, Das früher erwähnte Lebensprineip der Indier aber hat fih in allen 
Kaſten zumal, in jeder aber auf eigenthümliche Weife verwirklicht und ausgeprägt: 
bei den Brahmanen in ſtiller Meditation und abftracter Speculatioh, bei den 
Kſchatryas und Vayfyas in concreter, aber werthlofer und verfhwindender Wirf- 
famfeit, bei den Sudras in gewaltfamer, ſchmerzlicher Selbftzerftörung. — Es 
leuchtet von feldft ein, daß die Mitglieder der nievern Kaſten, vor Allem die 
Sudras (Taglöhner, Diener), aber au die Vayſyas (Handwerfer und Adfer- 
bauer) ſich durch diefe Kafteneinrichtung, nachdem diefelbe erblich geworden und 
‚unabänderlich befeftigt war, haben beengt fühlen müſſen. Warum follen die ver- 
ſchiedenen Arten, fih mit dem Göttlihen zu affimiliren, einerfeits die bequeme 
der Brahmanen, andererfeits die mühevolle und fehmerzliche der Sudras, erblich 
fein? Warum fol fih Gott in den andern Gefihlechtern nicht ebenfo manifeftiren, 
wie in dem der Brabmanen, und in diefem nicht ebenfo wie in jenen? Mit 
andern Worten: man fieht nicht ein, warum das Brahmanenthum erblih, warum 
nicht jeder Menſch ein Brahmane foll fein fünnen, Bon diefem Gedanfen ift 
die Buddhaiftifche Reformation (c. 600 v. Chr.) ausgegangen, Dem Buddha, 
‚der ohne Zweifel ein Bayfya oder, wahrfheinliher, ein Sudra gewefen ift (er 
ſoll Gautama geheißen haben), ift es gelungen, ſich als vollffommene Manifeftation 
Gottes, beftimmter als Incarnation des Wiſchnu, darzuftellen und geltend zu 
machen, indem er ein den Brahmanen vprbehaltenes Leben führte und es darin 
zu tadellofer Bollfommenheit brachte. Damit aber war das Kaftenwefen mit 
einem Schlage vernichtet, während der Grundgedanfe des indifchen Gottesbe— 
wußtfeins völfig unverfehrt blieb. Diefe buddhaiſtiſche Anfhauung nun wurde 
zwar fogleich als‘ Irrlehre erfannt und verfolgt, und, freilich erft nach taufend- 
jährigem Kampfe, aus Indien verdrängt; allein in dem übrigen Afien hat fie fich 
weit verbreitet und bis auf den heutigen Tag, theils in der urfprünglichen, theilg 
in mannigfach modificirter Geftalt erhalten; man hat berechnet, daß fie gegen- 
wärtig 300 Millionen Anhänger zähle, Eine diefer Geftalten nun des Buddhais⸗ 
mus ift, wie oben bemerft, der Lamaismus. Hiemit haben wir diefen in feinem 
Weſen erfannt, Jeder Menfh kann Brahmane, Nepräfentant des Göttlichen an 
ſich fein, d. 5. fih in den Weltproceß vertiefen, mit demfelben iventifch werden 
und fo ihn im fich darftellen. In dem Maße als es vielen gelingt, ift das Volk 
glücklich, denn in ſolchen Brahmanen ift ja das Göttliche ſichtbar gegenwärtig, 
und darum mit ihnen dem Leben ein fefter, firherer Grund, eine Duelle ge= 
geben, aus welcher alles Heil fließt. Ebendarum heißen fie Lamas, und eben=- 
darum gibt es eine fo enorme Anzahl Lamas, Streng genommen find diefelben 
nichts anderes als Wiſchnu ſelbſt, denn Wiſchnu iſt ja eben die Manifeftation 


320 Lamaismus. 


Brahmas, der offenbare Gott. Selbſtverſtändlich aber kann Wiſchnu ſeine volle 
Repräſentation nicht in Vielen, ſondern nur in Einem haben, denn fein voll- 
fommener Repräfentant fann nur er felbft fein und ift nur er felbft, wenn er in 
irgend einem Menfchen eriftent iſt. Natürlicher Weife aber kann er gleichzeitig 
nur in einem Menfchen exiftent fein. Diefer Eine ift dann der vollfommene 
Wiſchnu; und dieß nun ift der Dalai-Lama. Hieraus ergibt fich von ſelbſt, in 
welchem Sinne die übrigen Lamas NRepräfentanten Wiſchnus feien, Sie find es 
als Abbilver des im Dalai-Lama eriftenten Urbildes, ähnlich wie die das Sonnen- 
Yicht widerftrahlenden Tautropfen Sonnenlicht find. Aber auch der Dalai-Lama 
ift, wie wir bereits gefehen, nicht unmittelbar, fondern mittelbar Wifchnn, Un— 
mittelbar Wifchnu, nämlich der incarnirte Wiſchnu, ift Buddha; der Dalai-Lama 
ift nur der als Menſch forteriftirende Buddha; und dieß wird nur fo lange dauern, 
His Wifchnu ſich wieder incarniren wird, — Weiter fünnen wir Die Sache nicht 
verfolgen, auch nicht eingehen in das unendliche Detail ver mythologifchen Theo— 
logie. Darüber find die unten zu bezeichnenden ausführlichen Werke zu Rathe zu 
ziehen. Hier muß e8 genügen, die Örundgedanfen gegeben zu haben, — Man 
liebt e8, Vergleichungen zwifchen dem Lamaismus und dem Chriftenthume anzu— 
ftellen. Wir fünnen uns in diefem Puncte furz faſſen. Die Lamar’fche (indiſche) 
Trinität ift jene Trinität, welche in der Creatur überall ausgeprägt ift und Zeug- 
niß für die Wahrheit des hriftlihen Gottesbewußtfeins gibt, inwiefern man von 
der Annahme ausgehen darf, Gott offenbare fi in feinen Werfen als den, der 
er if, Wer die Iamaifch-indifhe Incarnationslehre nicht als eine der unzähligen 
Hindeutungen auf Chriſtum erfennt, welche überall im Heidenthume wie im Juden- 
thume liegen und Zeugniß für die Wirklichkeit der chriſtlichen Offenbarung geben, 
fondern im Gegentheile zum Vorwand nehmen will, die chriftlihe Gefchichte zu 
einem Mythus zu ftempeln, mit dem fann man fich ebenfowenig in eine Erörte- 
rung einlaffen, als mit Jenem, der beim Anblick eines Schattens nicht auf das 
Dafein eines Körpers fchlüße, fondern gerade aus dem Dafein des Schatteng 
den pofitiven Beweis zu führen unternähme, es exiſtire überall fein Körper, 
Sn jener Incarnationslehre ift das Bewußtfein ausgeſprochen: Gott muß Menſch 
werben; ' daran hängt das Heil des Menſchen. Dieß Bewußtfein führt fih auf 
das weitere zurück, der Menfch wie er ift, fer nicht was er fein foll und vermöge 
nicht durch fich felbft zu werden, was er werben müffe, Iſt hierin eine Wahr- 
heit ausgedrückt, fo folgt doch wohl nicht, daß die chriſtliche Gnadenlehre unwahr 
fei, denn die Wahrheit, die ich befige, wird dadurch, daß ein Anderer fie gleich- 
falls, fei e8 ganz, fei e8 zum Theil, befigt, nicht Unwahrheit. Vollzieht ſich aber 
diefes Bewußtfein bei den Lamas in einer Selbftertödtung, welche dag Nachbild 
der beftändigen Selbftauflöfung der einzelnen Naturproducte, vorzugsweife der 
Pflanzen, ift, fo erfennt als Grund hievon wohl Jedermann das oben erklärte 
indifche Gottesbewußtfein; und das Chriſtenthum iſt dafür ebenfowenig verant- 
wortlich als für das Andere: daß man zwifchen der lamai'ſchen und chriſtlichen 
Ascefe nicht nur äußere Aehnlichkeit, fondern eine Gleichheit gefehen bat, welche 
nicht exiftirt. Das Wefen der hriftlichen Ascefe iſt nicht Selbftauflöfung, fon- 
dern Unterwerfung des menfchlichen unter den göttlichen Willen, Selbfterhaltung 
im Dienfte diefer Unterwerfung. Der Unterfchied ift nicht minder wefentlich, als 
es der zwifchen der hriftlichen und indifhen Trinität beftehende if, Was das 
lamaiſche Prieftertfum betrifft, fo Fann man in bemfelben den Gedanken ausge- 
drückt finden, die Beforgung der geiftigen, insbefondere der religiöfen Angelegen- 
heiten der Menfchen erfordere ebenfo wie jedes andere beftimmte Gefhäft ein 
befonderes Organ. Diefen Gedanken, fowie die hierarchiſche Ordnung jener 
Priefterfchaft wird Jedermann vernünftig finden und als einen ber vielen Be— 
weife erkennen, daß durch die Sünde die Vernunft nicht vernichtet worden, Die 
Rohheit, welche den Dalai-Lama mit dem Papft oder vielmehr diefen mit jenem 





Lambeeius. 394 


vergleicht, kann nicht in Betracht Fommen. Dagegen wäre ein Wort zu fagen 
- über den Vorwurf, den man den Miffionären gemacht hat darüber, daß fie, wie 
auch anderwärts, fo befonders in Tibet an die Iandläufigen Begriffe angefnüpft 
haben, um, wie man fagt, die chriftlihen Begriffe gleihfam einzufhwärzen, 
Woran foll denn der Miffionär feinen Unterricht knüpfen, wenn nicht an die vor= 
bandenen Begriffe? Der Heide kann wohl am Teichteften vom heidnifchen, der 
Jude vom jüdifchen Gottesbewußtfein, näher ein Jeder von der Wahrheit aus, 
welche fein Gottesbewußtfein (mehr oder weniger) enthält, zum riftlihen Got— 
tesbewußtfein geführt werden. Bon dort hat alfo auch der Miffionär auszugehen, 
wie fchon die Apoftel gethan Haben. Daß der Lamaismus befonders viele An— 
fnüpfungspuncte biete, muß allerdings aus Vorſtehendem Far geworden fein. 
Daß jedoch jenes Anfnüpfen an Iandläufige Begriffe fih nicht dahin erftreden 
dürfe, daß dadurch die hriftliche Lehre beeinträchtigt werde, oder eine irrige Ver— 
wechſelung oder Bermifchung flattfinde oder möglich werde, verfteht fih von felbft. 
Bergl. hierzu die Artifel: China, Indien, und Tibet. — Die Literatur über 
den bier behandelten Gegenftand ift fehr umfangreig. Man findet eine ziemlich 
vollftändige Angabe derſelben in Haunſch, Gefhichte der Philoſophie. Olmütz 
1850, S. 119 ff. Im weitern Sinne gehören hieher alle Schriften, welche fi 
mit Indien und der indifchen Religion befchäftigen. Wir nennen von denfelben 
nur, als die neuejten und beften: Benfey, Jndien, in der allg. Eneye. v. Erf 
und Gruber, Bd, XVI., und Laffen, indifche Alterthumskunde. 1843 ff. (Bonn), 
Speciell den Buddhaismus und Lamaismus behandeln: Hüllmann, hiſtoriſch— 
fritifcher Verſuch über die lamaiſche Religion. Berlin 1796; Stäudlin, de reli- 
gione lamaica. Göttingen 1808; Schmidt, Forfhungen im Gebiete der ältern, 
religiöfen, polit. und literar. Bildungsgefchichte der Mongolen und Tibeter, 
Petersburg 18245 Bochinger, la vie contemplative, ascetique et monastique 
chez les Indous et chez les peuples buddhistes. Strasbourg 1831; Schott, Bud- 
dhaismus in Hochaſien und in China, Berlin 1846. Außerdem enthalten die 
Annalen der Lyoner Gefellfchaft zur Verbreitung des Glaubens intereffante und 
belehrende Beridte, [Mattes,] 
Lambeeius (Lambef) Peter, 1628 zu Hamburg geboren, war der Sohn 
des Nechenmeifters Heino, machte in der Wiſſenſchaft fo ftarfe Fortfiritte, daß 
er bereits in einem Alter von 19 Jahren feine gelehrten „Lucubrationen” über 
Aulus Gellius herausgab (Paris 1647). Bom Privatunterrichte trat Lambecius 
in die Johannisfhule, von da 1644 auf’s Gymnafium, wo Friedrich Lindenbrog- 
und Lucas Holftien, feiner Mutter Bruder, mit dem Lambecius fhon im 13. Jahre 
eorrefpondirte, feine Lehrer waren. In Amflerdam, wohin er ſich 1645 begab, 
machte er mit Johann Bolfius, Cafpar Barläus und Bartholomäus Nihuſius ge- 
naue Befanntihaft. Bald darauf wandte er fich nach Paris, wo er auf die Em— 
pfehlung Holftens mit den erften Gelehrten in Verbindung trat. In Touloufe 
warb er zum Doctor der Nechte creirt. Er durchwanderte Ligurien und Etrurien, 
und verweilte zwei Jahre in Nom bei feinem Oheim Holften (f. Holftenius), 
fehrte nah Hamburg zurüd, ward bier 1652 zum Profeffor der Geſchichte er- 
nannt, und heirathete eine reihe, aber alte und geizige Frau. Diefe verließ er 
ſchon 15 Tage nad der Hochzeit, reiste abermals nah Nom, wo er fi der 
Gunft des Papftes Alerander VII. und der Königin Chriftina von Schweden 
(1.2 9) erfreute, Er trat dafelbft öffentlich in die Fatholifche Kirche über, 
Leicht vergaß er bier der Heimath, wo inzwifchen der Neid feine Studien un- 
gunſtig Fritifirt, und ihn als Häretifer, ja fogar als Atheiften angeklagt hatte, 
Hierauf verfügte er fih nah Wien, ward vom Raifer Leopold fehr ausgezeichnet 
empfangen, zum Faiferlihen Rath, Biblivthecar und Gefchichtfchreiber ernannt. 
Auf diefem Poften farb er zu Wien 1680, 52 Jahre alt. Zahlreihe Schriften 
verſchaffen ihm ein rühmliches Andenfen, unter andern feine: Origines Hambur- 
Kirchenlexikon. 6. Bo. 21 


322 Lambert von Afhaffenburg — Lambert, Franz. 


genses ab anno 808 ad annum 1292, 2 vol. in A., 1652 et 1661; und 2 Bde, 
in Fol, 1706 u, 1710. Dann feine gelebrten: Animadversiones ad Codini Ori- 
gines Constantinopolitanas, Paris 1655 in Fol, Ferner Commentariorum de Bib- 
liotheca Caesaria Vindobon. libri VII. mit dem Supplement von Daniel v. Neffel; 
ſo wie auch fein: Prodromus Historiae litterariae etc. [Dür,] 
Lambert von Afhaffenburg, Mönd zu Hersfeld, blühte im eilften Jahr— 
Hundert, Sein Vaterland ift unbefannt; man vermuthet, daß er aus den Gegen- 
den der Maas, vielleicht aus dem Bisthum Lüttich flammte, Gewiß ift, daß 
Aſchaffenburg nicht feine Vaterftadt war, Die Zeit feiner Geburt wird mit ziem- 
Sicher Wahrfcheinlichfeit in die Jahre 1034—1038 verlegt, Im J. 1054 trat 
er in das Klofter Hersfeld (ſ. Hirſchfeld) ein, angezogen durch den Ruf des 
Abtes Megieher, den er einen Mann großer Tugenden in Chrifto nennt, In 
demfelben Jahre, im Herbfte, erhielt er zu Aſchaffenburg durch den Erzbifchof 
Liutpold yon Mainz die Priefterweihe, Alsbald trat er, ohne Vorwiſſen feines 
Abtes, in heiligem Eifer eine Pilgerreife nach Jerufalem an, Den 24, Der. 1058 
befand er fih an den Grenzen der Bulgarei; den 17. Sept, 1059 war er wieber 
in Hersfeld, Noch traf er feinen Abt am Leben, der ſchon am 26, deffelben 
Monats zur ewigen Nuhe einging. Auf Megieher folgte Abt Nuthardt, den 
Lambert befonders wegen feiner Kenntniß der hl. Schrift und feiner Beredtfam- 
feit Iobt, Die wichtigen Ereigniffe, welche feit dem 3. 1071 in dem Kampfe 
zwifchen Heinrich IV. (ſ. d. A) und den Sachſen in dem nördlichen Teutſchland 
und der Umgegend von Hersfeld vor fih gingen, veranlaßten den Lambert, die— 
felben in Verſen zu befchreiben, Diefe Schrift ift verloren, Hierauf fohrieb er 
die Gefchichte feines Klofters, welches damals Heinrich IV. fehr oft befuchte, 
Diefe Schrift „Libellus de institutione Hersveldensis ecclesiae“ reichte bis zum 
J. 1074. Bon diefer Schrift befigen wir nur die VBorrede des BVerfaffers; und 
einen Auszug von einem Mönche in Hamersleben, der übel gerathen iſt. Hierauf 
verfaßte Lambert fein berühmteftes ung erhaltenes Werf, feine „Annales“ oder 
Jahrbücher, deren Inhalt die damalige Gefchichte, befonders Teutſchlands ift. 
Nach ver Gewohnheit jener Zeit beginnt diefes Werk mit Adam, behandelt aber 
die in fünf Alter getheilte Gefhichte nur fo, daß es bis zum J. 703 n. Eh. 
die bloßen Namen gibt. Von 703 bis 1039, dem Zodesjahre des Kaifers 
Conrad, gibt e8 nah den einzelnen Jahren nur furz die Thatfachen, welche 
fih auf die teutſchen Volksſtämme, die Familien der Fürften, auf Klöfter und 
Kirchen u. f. w. beziehen. Dieß alles aber iſt nichts Anderes, als die faft 
wörtlihe Uebertragung von Jahrbüchern, welche früher in Hersfeld verfaßt 
worden waren, und. verfihievene DVerfaffer oder Fortfeger hatten, Vom J. 
1040 an erzählt Lambert felbftftändig die Gefchichte feiner Zeitz aber vor ber 
Zeit Heinrichs IV. ift er weder ausführlich noch genau. Die Zeiten Heinrichs IV. 
aber, die er befchreibt, der sortrefflichfte Theil feines Werkes, hatte er felbft er- 
lebt; die Begebenheiten aus fernern Ländern aber, aus Lothringen, Italien, Slan- 
dern erfuhr er durch glaubwürdige Zeugen, Er erzählt die Geſchichte bis zu der 
Wahl des Gegenfaifers Rudolph (März 1077). „Damit, wer nachher das 
Werk fortfegen wollte, einen paffenden Anfangspunet habe”. — Das Todesjahr 
Lamberts ift unbekannt. Die Darftellung Lamberts wird mit Necht gerühmt; er 
bat die römischen Gefehichtfchreiber gelefen, und mit natürlihem Geſchicke fie nach— 
geahmt, er ift zierlich und Doch ungefucht, Er verbindet Anmuth mit Klarheit 
und Ordnung. Er zählt unter die beften Schriftfteller der mittlern Zeit, — 
Bgl, Pertz M. G. scriptor. T. I. p. 22. T. V. p. 134—263. Diefe Ausgabe 
ift von Heffe. In's Teutſche ift Lambert überfegt von Buchholz, 1819, cf. 
Piderit, De Lamberto Schaffnaburgensi, rerum germanicarum saec. XI. seriptore 
locupletissimo. Hersfeld. 1828. | [(Gams,] 
Lambert, Franz, apoſtaſirter Franeiscaner und Hauptreformator 





Lambert, der heilige. 323 


von Heffen, geboren zu Avignon 1487, trat, 15 Jahre alt, in den Orden ber 
- Minoriten feiner Vaterftadt und war einer der erften in Frankreich, der feinen 
Orden und die Kirche verließ (1522), um dem Lutherthum und der Frauenliebe 
zu huldigen. Zur Rechtfertigung feines Schrittes fchrieb er: Rationes, propter 
quas minoritarum conversationem rejecit; Evangelici in minoritarum regulam 
commentarü; und einen Commentar über die Ehe und gegen den Cölibat, 
Nachdem er ſich einige Zeit in der Schweiz aufgehalten, ging er noch im J. 1522 
nach Eifenah und 1523 nah Wittenberg, wo er ſich Luthers Gunft erwarb, ein 
Weib nahm und theologifche Vorleſungen hielt. Bon da ging er nah Mies und 
von Luther, empfohlen, erfchien er 1524 in Straßburg, wo er über zwei Jahre 
verweilte, bis er, vom Landgrafen Philipp gerufen, Reformator Heffens wurde 
€: d. Art. Heffen), und als Profeffor zu Marburg den 18, April 1530 an der 
Peft ftarb, Lambert war fein firenger Lutheraner, fondern neigte zum Zwing- 
lianismus hin, in feiner Schrift „de symbolo foederis nunguam rumpendi, quam 
communionem vocant, confessio* fagte er fich förmlich von der Iutherifchen Abend- 
mahlslehre los und äußerte, die Lehre von einer leiblichen Allgegenwart Chriſti 
fei eine viel ärgere Lehre als das, was die Papiften Iehrten. Bucer bezeichnet 
den Lambert in einem Brief an Zwingli als einen leeren, nichtigen, von Eigen- 
liebe aufgeblafenen Menſchen; auch andern Reformatoren foheint er mißfallen zu 
haben, fowohl wegen feines Verfahrens und des Tones, den er anftimmte, als 
auch weil er ohne Rückhalt aus den Principien der Neformation Confequenzen 
308, welde Melanchthon, Bucer und Andere der gemäßigteren Richtung theils 
verabfcheuten, theils verhüllten. Sp ſprach er es keck aus, daß ſchon ganz furz 
nad der Zeit der Apoftel die ganze Welt von dem reinen Evangelium abzufallen 
begonnen habe, erft zu Wittenberg fei das ganz verloren gegangene göttliche 
Wort wieder aus dem Grabe erftanden. In fpätern Jahren flimmte aber auch 
Lambert herbe Klagen über die Früchte der Reformation an: „Ich lebe in Schmer— 
zen und Wehflagen“ , fhreibt er an Myconius, „denn ich fehe nur äußerſt Wenige 
von der Freiheit des Evangeliums den rechten Gebrauh machen; ich fehe, dag 
faft gar feine Liebe mehr vorhanden, fondern Affes voller Berläumdung, Lüge, 
Schmähfuht und Neid if“, Düftere Schilderungen des Zuftandes, worin ſich 
das neue Kirchenwefen und die proteftantifchen Gemeinden befanden, kommen be— 
fonders in der Schrift de symbolo foederis etc. vor. Uebrigens find Lambert's 
Schriften Far und präcis abgefaßt und gehen ohne Umfchweife auf ihr Ziel los. 
Außer den ſchon erwähnten Schriften und mehreren Briefen und biblifhen Com— 
mentarien ſchrieb er noch de fidelium vocatione in regnum Christi; de regno, civi- 
tate et domo Dei ac D. N. J. Christi; farrago omnium fere rerum theologi- 
carum; theses theologicae in synodo homburgensi pro ecclesiarum reformatione 
1526 disputatae et propositae S. Schelhorn's amoenit. lit., worin eine Bio— 
graphie Lamberts; Döllinger, die Reformation, ihre Entwicklung ze, I. 17. 2.5 
IB. Baum, Fr. Lambert, Straßburg 18405 vgl. d. Art. Heffen. [Schröpl.] 

Zambert, der heilige, in früheren Zeiten Landebert, war der Sohn edler, 
zeicher und frommer Eltern in Maftriht. Wann er geboren, ift nicht befannt, 
wahrfcheinlich nach der Mitte oder gegen das Ende der erften Hälfte des fiebenten 
Jahrh. Seine Studien machte er unter der Leitung des HI. THeodard, der zuerft 
Abt von Malmedi und Stablo, zulest Bifchof in Maſtricht war und als folder 
im Jahre 669 anf einer Reife gemeuchelt wurde. Sein Schüler Lambert war 
fein Nachfolger auf dem bifchöflichen Stuhle, welcher die Schwere feines Amtes 
und feiner Zeit wohl erfannte, welche in das Sinfen der Merovinger fiel. Be— 
reits herrſchten die Hausmeier und die Fürften hingen verblendet ihren Thor— 
heiten und Sünden nah, weil fie zum Untergange reif waren. In Auftrafien 
berrfchte damals Childerich II. oder vielmehr fein Hausmeier Wulfoad, in Neu— 
rien und Burgund Theodorich II. unter dem Hausmeier Ebroin, deſſen Tyrannei 

21 


324 Lamennais. 


eine Empbrung der Unterthanen herbeiführte, in Folge der Beide ihrer Würden 
entfegt und in die Klöfter von St. Denis und Lureul geftecft wurden, Childe- 
rich II. wurde von feinem Adel gemeuchelt 673. Dieß hatte mehr als eine fchlimme 
Folge für Lambert, Childerich zugethan oder treu geblieben, mußte er auch unter 
deffen Sturz leiden. Bon feinem Bifchoffige vertrieben, auf den fich ein Ein— 
dringling Namens Faramund erheben ließ, zog er fich in's Kloſter Stablo zurück, 
wo er fieben Jahre in tiefſter Demuth und Frömmigkeit zubrachte, glücklich und 
zufrieden in diefer Abgefchiedenheit, die nichts ftörte, als der Schmerz über die 
Bedrückung und das Sinfen der Kirche in Frankreich, Denn Theodorich benügte 
Childerichs Tod, verließ das Klofter St. Denis und ließ ſich wieder als König 
von Neuftrien anerkennen. Dieß bewog auch Ebroin, fein Kloftergelübde zu bre— 
hen und Lureul zu verlaſſen. Im J. 677 ward er zum zweiten Male Majordomus 
in Neuftrien und Burgund und nach Dagoberts II. meuchlerifhem Tode, an wel- 
chem Ebroin großer Antheil zugefchrieben wird, herrſchte der ſchlimme Ebroin 
nun auch über Auftrafien und ließ unfern Heiligen, wie alles Heilige feinen’ 
Haß und feine Nahe fühlen, bis ihn 681 Hermenfried, ein von ihm feiner Güter 
beraubter Edelmann meuchlings ermordete, An feine Stelle trat Pipin von Heri- 
ftal, welcher Ebroins Werf möglichft gut zu machen fuchte und unter andern ver- 
jagten Bifchöfen auch Lambert 681 oder 682 wieder auf feinen Sig nah Maftricht 
zurüdfehren ließ, der mit neuem Eifer fein Amt verwaltete und namentlich für 
die Chriftianifirung Seelands wirkte, fih auch mit dem hl. Wilfibrord, dem Apoſtel 
Frieslands, in Verbindung feste, Die Zeit und die Großen jener Zeit waren 
äußerlich Firchlich und gut gefinnt, aber noch nicht frei von rohen Anhängfele 
des Heidenthums. Sp hatte Pipin eine Concubine, Namens Alpais, die ihm 
Carl Martel gebar,. Bei aller Güte Piping gegen die Kirche Fonnte Lambert ein 
ſolches Verhältniß nicht überfehen, fondern mahnte mit apoftolifhem Freimuthe 
zu feiner Auflöfung, und daher follen fih Günſtlinge oder Verwandte der Alpais 
zu feinem Tode verfchworen haben. Nach einer andern Sage follen zwei Brüder 
die Kirche von Maftricht geplündert und hart bedrückt Haben, in Folge deffen einige 
Berwandte des hl. Lambert diefe Brüder erfihlugen. So wenig Lambert Antheil 
an diefer That gehabt, fo rächte Dodo, ein Berwandter der Erfchlagenen und 
der Alpais, diefelbe am Bifchofe, indem er ihn beim Dorfe Leodium, wo jet 
Lüttich ſteht, mit einer Schaar Bewaffneter überftel, als eben der Bifchof aus der 
Mette zurückehrte, Lambert verbot feiner Umgebung alle Gegenwehr, indem er 
fagte: „Wenn ihre mich wahrhaft Liebt, fo liebet Jeſum und befennet vor ihm 
eure Sünden, für mich ift es Zeit, daß ich Hingehe, um vereinigt mit ihm zu 
leben.“ Nach diefen Worten foll er fich niedergefniet und betend für feine Feinde 
mit ausgefpannten Armen unter vielen Thränen den Tod von einem Wurffpieße: 
durchbohrt empfangen haben am 17. September 703 oder 709, nachdem er 40 
Jahre Bifchof gewefen war, Adv in feinem Martyrologium und übereinfiimmend 
mit ihm Regino von Prüm in feiner Chronik behaupten, Lambert fei gemartert 
worden ob reprehensionem domus regiae, was man auf die Unordnungen der 
hohen Hofbeamten, ihre Bedrückungen der Kirchen und des Volkes bezieht, da 
wahrfcheinlich Alpais damals fchon von Pipin entfernt worden war. (Gall. christ. 
nova. p. 827.) Lamberts Leichnam wurde nah Meaftricht gebracht und in der 
Kirche zum hl. Petrus beigefegt. An feinem Grabe gefhahen Wunder und man 
erbaute über der Stätte feiner Ermordung eine Kirche, in welche fein Nachfolger, 
der hl. Hubertus (f. d. A.), 721 die irdifchen Nefte Lamberts verfegte und auch 
eben dahin feinen Bifchofsfig, den der hl. Servatius von Tongern nah Maftricht 
übertragen hatte, verlegte. (S. Leben der Väter und Martyrer von A. Butler, 
bearbeitet v. DD. Räs und Weis, Bd, XI. unter dem 17. Sept.) [Haas.] 
Lamennais, Felicite Nobert Abbe de, geb. den 19, Juni 1781 zu 
St, Malo, gehört zu den merfwürbigften und außerordentlichften Erfeheinungen 








Lamennais, 325 


der neuern Zeit. Er ſtammt aus einer vermöglichen Familie, welche von Lud⸗ 
wig XV. in dem Adelftand erhoben worden war. Als der geiftlihe Erzieher, dem 
- er und fein älterer Bruder Jean anvertraut war, beim Ausbruch der Revolution 
nach England entfloh, gingen die Knaben bei fich felbft in die Schule, und über- 
ließen fih nun einer freien und wohl auch ungeregelten Lectüre. Befonders war 
es Rouffeau, der fchon fehr früh auf den Geift des jungen Lamennais einen fo 
gewaltigen Einfluß ausübte, daß er bald einem öden und falten Jndifferentismus 
anheimfiel. Doch vermochte diefer einen fo reichen und glühenden Geift nicht 
lange zu bannen. Schon die im Jahr 1801 von Lamennais herausgegebene Ueber— 
fegung des Guide spirituel von Louis von Blois befundete den Umfhwung, der 
in feinem Geifte vor fi) ging, in den Reflexions sur l’etat de l’eglise en France 
pendant le XVII. siecle et sur la situation actuelle. Paris 1808. gewannen feine 
Ideen die erfte beſtimmte Geftalt; an der nämlichen Krankheit, die er von ſich 
abgeftreift, fah er fein Volk leiden, und fo fuchte er im genannten Werk in dem 
Smdifferentismus demfelben die Wurzel und den gemeinfamen Grund feines ganzen 
Unglüdfs aufzuzeigen. Während er auf folde Weiſe Franfreich zur erneuten Liebe 
für feinen fatholifchen Glauben, der Bedingung aller feiner Wohlfahrt, aufruft, 
tritt fhon im Beginne feiner fchriftftellerifchen Laufbahn der eigenthümliche Cha— 
rakter feines Wirfens und Thuns zu Tage; es fat diefes immer das Volk in 
feiner Beziehung zur Religion, den Staat zur Kirche doch fo, daß das erfte Mo— 
ment faft durchaus den Ausgangspunct bildet und das letztere nur eben nad dem 
genannten Zufammenbang zur Sprade fommt. In den Reflexions hatte Lamen- 
nais die organifchen Artifel, die dem Concordat Napoleons mit Rom vom Jahr 
1801 beigefügt waren (f. d. Art. Frankreich), vom Gefichtspuncte der Achtung 
Ticchlicher Rechte einer fehr ſcharfen Beurtheilung unterzogen, Die Polizei verbot 
daher alsbald das dem Geift des Faiferlihen Regimentes fo entfchieden entgegen 
teetende Buch, und der Berfaffer felbft zog fih in Folge davon als Lehrer der 
Mathematif nah St. Malo zurück. Aber auch Hier bereitete er nur einen neuen 
Schlag gegen das die Kirche verlegende Berfahren Napoleons vor; in der „Tra- 
dition de Feglise sur linstitution des Evöques“, an dem er feit 1808 mit feinem 
Bruder arbeitete, fuhhte er aus der Tradition nachzuweifen, daß die kirchliche 
Hurisdietion allein dem hl. Stuhle zufiehe, und daß nur von ihm die Uebertra— 
gung der bifhöflihen Würde zu gefhehen Habe. Der Drud diefer Schrift er- 
folgte im Anfang des J. 1814, Am 11. April deffelben Jahres fank indeffen, 
wie befannt , die Herrfchaft Napoleons in Trümmer. Bon der Reftauration war 
eine Rückkehr des Bolfes und der Regierung zur Religion im Geifte der alten 
Zeit zu erwarten, und Lamennais zögerte nicht, mit großem Eifer für diefelbe 
Partei zu ergreifen, Während der hundert Tage floh er nach England, und hatte 

‘hier mit ziemlich großer Dürftigkeit zu Fämpfen, Nah dem zweiten gänzlichen 
Sturz Napoleons nah Franfreich zurüdgefehrt, empfing er 1817 die Priefterweihe, 
Im Jahre darauf erfhien der erſte Band feines berühmteften Werfes; es führt 
den Titel: „Essai sur lindifference en matiere de religion“. Seine Jdee, daß 
die Religion die allein wahre Grundlage der Geſellſchaft und des Staates ſei, 
wie der Indifferentismus deren unfehlbaren Untergang mit fich führe, verfocht 
er bier mit fo viel Talent und Beredtfamfeit, daß fein Name bald überall mit 
Auszeichnung genannt wurde; überdieß tritt der ergänzende Gedanfe, daß biefe 
Religion eine ganz ſpecifiſche, auf äußerer Auctorität ruhende fein müffe, bier 
mit der gleichen Schärfe und Beftimmtheit hervor. In den fpätern Bänden diefeg 
Werkes, das erft im Jahr 1823 feine Vollendung erhielt, bewies er, daß die 
geforderte Religion Feine andere fein fünne, als die katholiſche. Dieſem letztern 
Beweis unterbreitete er indeffen als Grundlage eine Philofophie, die, wie wir 
ſchon jetzt bemerken, wenn auch allmählig und Lamennais felbft lange unbewußt 
doch mit unerbittliher Gewalt den Bau, den ſie fragen follte, untergrub und. 


326 Lamennais. 


zerflörte, — Was die Neftauration anlangt, fo lieh fie den Grundſätzen des 
Abbe nichts weniger als ein geneigtes Ohr, und fo trat diefer bald in die ganz 
gleiche Stellung zu derfelben, die er gegen Napoleon eingenommen hatte, Schon 
im 3. 1823 fland er wegen eines Artikels im Drapeau blanc vor Gericht und 
wurde zu vierzehntägiger Haft und einer Gelvftrafe verurtheilt, Als er aber 
drei Jahre fpäter mit feinem Werfe: „De la religion considerde dans ses rapports 
avec l’ordre publique et civile. Paris 1826“ auftrat, und bier der Behauptung, 
daß in der päpſtlichen Auctorität die ganze Religion ſich gleichſam verförpere, 
und daß fie darum die legte Stüße der Geſellſchaft fei, die Wendung gab, daß 
der Staat in ein Abhängigfeitsverhältniß zum Papft zu treten babe; als er dem 
Regierungsſyſtem zum Trog zu gleicher Zeit die gallicanifchen Artikel (ſ. Galli— 
eanismus), die Carl X. unter die Staatsgrundfäge aufgenommen, mit rüdf- 
ſichtsloſer Schärfe als einer Verrätherei an der Kirherund Vernunft geißelte, 
Hagte der Juſtizminiſter Corbiere vor der Polizei ihn wegen Beleidigung der 
Würde des Königs und Aufreizung zum Ungehorfam gegen die Staatsgefege an, 
Das Gericht erfannte ihn unter dem Eindrudf von Berryer’s glänzender Ver— 
theidigungsrede nur des zweiten Punctes für fohuldig, fo daß er eine Strafe im 
Ganzen von 30 Franfen zu entrichten hatte, Der Minifter der geiftlichen Ange- 
Vegenheiten, Frayſſinous (ſ. d. A.) fuchte auf eine andere Weife den Vorwurf 
der Unfirchlichkeit und vor Allem der Verachtung der dem Papft zuftehenden Ge⸗ 
rechtſamen zu neutralifiren, Er berief 14 Bifchöfe nach Paris, welche in einer 
Declaration vom 3, April, die gallicanifchen Artikel ihrem Wefen nach wieder- 
bolend, insbefondere die Lehre, daf die weltliche Macht der religidfen unterwor- 
fen fein fol, als dem Schooß der Anarchie entwachfen bezeichneten. Lamennais 
ging nun nad) Rom, wo er von Leo XII. fehr ehrenvoll empfangen wurde; es 
fol ihm fogar ein Bisthum, oder wie Andere wollen, ein Carbinalshut angeboten 
worden fein (7). Bon Nom begab er fich nach La Chenaye, einem in der Bre- 
tagne gelegenen Dorfe, Hier arbeitete er vor Allem an der weitern Entwicklung 
feiner. Philoſophie. In feinem „Essai sur lindifference“ hatte er die Frage nach 
der Wahrheit der Kirche auf die allgemeine, was das Prineip der Gewißheit fei, 
zurüdgeführt, Diefe Ießtere wurde im Allgemeinen dahin beantwortet, daß die 
Uebereinftimmung der menſchlichen Vernunft als das alleinige Richtmaß der 
Wahrheit in jegliher Sphäre zu betrachten fei, das Chriftentfum aber, wird 
nun weiter behauptet, hat in der That das Zeugniß der Vernunft des Menfchen- 
gefchlechtes für fih. Die Religion nämlich ift nach dem Essai durchaus eine 
einige von Gott urfprünglich der Menfchheit geoffenbarte, Die Auetorität, der 
fih darım in religiöfer Beziehung die individuelle Vernunft zu unterwerfen hat, 
ift Das Zeugniß, das die ganze Menfchheit über die Thatfachen ihres religiöfen 
von Gott gefegten Gefammtbewußtfeins ablegt. Diefes Legtere hat fich nie ge— 
ändert, e8 hat nur feinen eigenen urfprünglichen Gehalt entwiefelt, und als eine 
folhe weiter entwickelte Form des religidfen Bewußtfeins unfers Geſchlechts ift 
das Chriſtenthum näherhin die Fatholifche Kirche aufzufaffen. Das Organ aber 
der in der Kirche ſich darftellenden Auctorität ift ihr Oberhaupt, der Papſt. Es 
fpringt in die Augen, wie damit der Charakter des Chriftenthums als einer in 
Chriſto vollbrachten Offenbarung bedroht, und daffelbe im Grund auf das Heiden« 
thum geflügt und zurüdgeführt wird. In diefen Ideenkreis gehört der Gedanke 
von drei Kirchen, den Lamennais um jene Zeit feinem Freund, dem Abbe Nohr- 
bacher mittheilte; darnach wäre die fogenannte primitive Kirche, der die Tradition 
und bie alten Völker angehören, Duelle und Norm der jüdifchen und der aus 
diefer hervorgehenden hriftlichen Kirche, In dem philofophifchen Unterricht, den 
er damals ertheilte, fprach fich diefe Verirrung in der allgemeinen Frage von 
Natur und Gnade aus, Wenn anders die jeßt vorliegende Esquisse d’une phi- 
losophie die Lehre, die er damals vortrug, auch nur annähernd getreu wieber 





Lamennais. 327 


gibt, fo war er fhon damals im Begriff, die übernatürlihe Gnadenordnung in 
das unaufpörliche urfpränglihe und ununterbrochene Einwirken der unendlichen 
Subſtanz auf das Endliche aufzulöfen, und fo dem Chriftentgum als Lehre und 
Thatfache feinen Nerv, die Erlöfung vom Böfen, auszuſchneiden. Rohrbacher er⸗ 
zählt, daß er Lamennais mehrmals auf dieſe in ſeinen Manuſeripten und Vor⸗ 
iefungen vorgetragenen Irrthümer aufmerkſam gemacht und ihn auch wirklich be⸗ 
en babe, ganze Partien aus feiner Philoſophie umzuändern; immerhin aber 
befand fich das chriſtliche Bewußtfein des Iegtern mit den Principien feines Sy- 
ſtems in einem Kampf, deffen Ausgang bei Tamennais’ ftolzem und energifchent 
Geifte nicht zweifelhaft fein fonnte; feine Theorie der Gewißeit trug aber noch 
den Keim zu einer andern Neihe von Confequenzen in ſich. Wenn die Völfer die 
Inhaber der Wahrheit vor Allem der religiöfen find, wenn biefe letztere die 
©rundlage aller politifhen Inſtitutionen bildet, fo war es nur ein Schritt zu der 
Behauptung: daß im Volk allein auch der Geift wurzle, der den Staat frei aus 
fi zu geftalten habe. Diefen Schritt hat auch Lamennais in feinem „Essai“ be= 
reits ziemlich deutlich gethan, Damit war denn aber auch der zweite Pfeiler 
feiner bisherigen Weltanſchauung, welche von dem Bund der monarchiſchen Regie— 
rung mit dem HI. Stuhl das Glüf der Nation hoffte, zum Wanfen gebracht. 
Bon Außen rüttelte an demfelben die Widerfpenftigfeit der Reflauration, auf 
feine Ideen einzugehen. Noch im Jahre 1821 erhob er ſich wider diefelbe in 
feiner Schrift: „Progres de la r&volution et de la guerre contre Péglise. Wäß- 
rend aber fo in feinem Innern eine große Umwälzung ſich vorbereitete, erfolgte 
die Juliusrevolution vom J. 1830, in der die Demveratie in der Geftalt des 
Liberalismus über das alte Syftem den Sieg errang. Bekanntlich ift einer ihrer 
erfien Säge die Sndifferenz des Staates gegenüber von allen Glaubensbefennt- 
niſſen oder mit andern Worten die Lostrennung des Staates von der Kirche, 
Lamennais begrüßte mit Begeifterung die neue Zeit, die ihm die Vorgänge feines 
eigenen Innern erft recht Flar machte, Er gründete mit Lacordaire und dem Grafen 
son Montalembert einen Verein für religiöfe Freiheit; und vom Detober jenes 
Jahres erfchien unter der Redaction der genannten Männer das berühmte Journal: 
YAvenir. Mit unermüdlicher Energie und glänzendem Talente fuchte es die Hie- 
rarchie zu überreden, von den in Trümmer gehenden Staaten ſich loszureißen, 
die von feldft fich auflöfenden Concordate zu vergeffen, auf das Budget zu ver- 
zichten, die Zeiten des alten und armen Chriftentgums zurüdzuführen und auf 
den Grund der gebotenen. Eultus- und Unterrichtsfreigeit einen Bund mit den 
- fliegenden Völfern einzugehen. In der Zeit, von der wir eben fprechen, beftrebt 
fih Lamennais noch ernſtlich, das Chriſtenthum in der Form der Kirche feftzubalten 

- und mit der Demoeratie zu vermäßlen, ja der Avenir betonte die einzig berech— 
tigte und unfehlbare Auctorität des Papſtes, als des Hauptes der Kirche, mit 
einer oft rückſichtsloſen Schärfe. Die Ideen des Journals aber wußten bei dem 
befonnenen Theile des franzöfifhen Elerus fih feinen Eingang zu verfchaffenz 
überdieß führte e8 gegenüber von dem Episcopat eine fo freie und verwegene 
Sprache, daß bald eine immer größere Reaction, die ſich als ihres Organs des 
Ami de la religion bediente, fi) dagegen erhob. Kaum Hatte daher Gregor XVL 
am 10, Februar 1831 den päpftlihen Stuhl beftiegen, als die Redacteure fi 
beeilten, ifre Grundfäge der Entfcheidung Roms vorzulegen, und fo wo möglich 
gegen alle Angriffe zu ſichern. Zu diefem Behuf fandten fie ein ziemlich einlen- 
kendes Glaubensbefenntnig nah Nom, worin fie zugaben, daß Kirche und Staat 
im normalen Verhältnig zufammengehörten, die Legitimität der Gewalt indeffen 
in bemoeratifcher Weife offen auf die Achtung der Volfsrechte zurüdführten, Da 
vom Papſt nicht alsbald eine Beftätigung zu erhalten war, warb der Avenir 
proviſoriſch eingeftellt und Lamennais, Lacordaire und Montalembert reisten gegen 
Ende des Jahres 1831 nah Nom, um ihre Sache perſonlich zu betreiben, Nach 


328 Lamennais, 


Lamennais hatten Die Regierungen von Frankreich, Rußland, Deftreih und Preußen 
ſchon vor ihrer Ankunft diplomatiſche Schritte gethan, um die Curie zu einer Ber- 
werfung der Tendenzen des Avenir zu vermögen, Jedenfalls war bie Unter- 
ſuchung über diefe bevenflihen Theorien noch ſchwebend und der hl. Vater empfing 
die Nedacteure erſt in einer Audienz, nachdem fie verfprochen hatten, nichts von 
den Angelegenheiten zu erwähnen. Am 3. Februar 1832 überreichten fie dem 
Cardinal Pacca eine neue faft ganz von Lacordaire verfaßte Denkſchrift; ber 
Cardinal verficherte fie bei diefer Gelegenheit der Prüfung ihres Glaubensbekennt— 
nifjes, erflärte ihnen aber, daß der hl. Vater ihr früheres Benehmen nicht bil- 
lige. Unterveffen ſprach fih ein großer Theil des franzöfifchen Episenpates, den 
Erzbifchof von Touloufe an der Spige, in einem Schreiben an den päpftlichen 
Stuhl vom 22, April 1832 in umfaffender Weife über die gefährlichen Irr— 
thümer des Lamennais aus, Die Nedacteure felbft wollten dag Ende der Unter- 
fuhung nicht abwarten, und verließen Nom im Monat Zuli, um den Weg nad 
Teutfchland einzufchlagen. In der Eneyelica vom 15. Auguft, in der Gregor 
dem gefammten Episcopat feine Erhebung zur päpftlihen Würde fundthat, fand 
auch der fragliche Streit feine Entſcheidung. Die Lehren des Avenir find darin 
ſämmtlich natürlich ohne Nennung der Namen ihrer Urheber in ven entfchiedenften 
Ausdrüden verworfen. Der hl. Vater beauftragte den Carbinal Pacca, mehrere 
Eremplare der Encyelica dem Lamennais zuzufenden; im Begleitfchreiben wies 
der Kardinal noch befonders auf die Tactloſigkeit Hin, mit der die Nedaction die 
zarteften ragen, deren Entſcheidung nur den Firchlichen Obern zuftehe, vor dem 
Volke verhandelt hätten, auf ihre Auffaffung der politifchen Freiheit, als fchlöße 


fie das Recht der Revplution in fi, auf ihre Lobpreifungen der Freiheit der 


Preffe und des Cultus, als wäre diefe der wünfchenswerthefte und normale Zu— 
ftand, und insbefondere auf ihr Benehmen gegenüber der Theilung Polens, die 
fie noch als einen Meuchelmord öffentlich bezeichneten, da fie fihon im Begriffe 
waren, nah Nom abzureifen. Schließlich gibt fih der Carbinal der Erwartung 
bin, daß Lamennais nicht ſäumen werde, der von ihm felbft fo hoch erhobenen 
Auctorität fih zu fügen. Beide Schreiben erhielten die Nedacteure in München, 
Am 10. September erflärten fie „gehorfam der höchſten Obrigfeit, dem Stell- 
vertreter Chrifti”, daß der Avenir, der nach dem Erfcheinen der Eneyclica in 
allen Dibeeſen verboten worden, zu erfheinen aufhöre und daß die Hauptver- 
waltung für Vertheidigung der religidfen Freiheit eingeftelft fei. Lamennais fandte 
diefe Erklärung mit der Bitte an Pacca, fie dem hl. Bater mitzutheilen. Am 
27, Detober erwiederte der Cardinal, daß der Papſt von dem Schritte der Re— 
daction mit Zufriedenheit Kenntniß genommen habe, — Indeffen z0g fich der Abbe, 
fo wenig e8 fcheinen mochte, mit tief verwundeter Seele vom Schauplatz zurück, 
die Demperatie hatte einen leichten Triumph über feine Liebe zur Kirche errun- 
gen, In einzelnen Schriften und Journalartifeln zeigte er auch alsbald, daß er 
fih dem Geifte der Eneyclica feineswegs unterworfen habe, zu den erſtern ge— 
hört vor Allem der Pelerin polonais. Gregor XVI. erhielt davon Kunde und drückte 
in einem Breve an den Erzbifchof von Touloufe vom 5. Mai über diefe Gerüchte, 
die er übrigens ganz im Allgemeinen berührte und ohne Lamennais zu nennen, 
fein Befremden und feinen Schmerz aus, Darauf fandte der Abbe durch die Ver— 
mittlung feines Oberhirten, des Biſchofes von Nennes, ein Schreiben an den 
Papft, in dem er unter Verfiherung feiner Unſchuld fortan allen Angelegenheiten 
der Kirche und ihres Dberhauptes fremd bleiben zu wollen erklärt, dem hl. Stuhl 
in feinen Gefegen und Entſcheidungen, foweit fie fih auf Glaube und Liebe be- 
ziehen, Gehorfam gelobt und ſchließlich um eine Unterwerfungsformel bittet, falls 
Rom fih noch nicht zu beruhigen vermöge, In einem Breve vom 5. Detober 
an den Bifchof von Nennes machte der Papft die verfchiedenen Schriften nam— 
baft, welche das allgemeine Gerücht Lamennais zufehrieb, ohne daß dieſer auch 


* 





Lamennais, 329 


nur mit einem Wort gegen die Antorfchaft fih verwahrte; nachdem die bittere 
Verſicherung des Abbe über feine fünftige Gleichgültigfeit gebührend berüdfichtigt, 
geht das Breve fhließlich auf die Bitte des Abbe ein und flellt an ihn das Ver— 
langen, daß er ſich verpflichten möge, „die in der Encyelica vorgetragenen Leh— 
ren einzig und unbedingt zu befolgen und nichts zu fihreiben oder zu billigen, 
was nicht jener Lehre gemäß ſei.“ Damit hatte denn auch jenes bedingte Ver- 
ſprechen der Unterwerfung feine thatfächlihe Antwort erhalten, Lamennais aber 
trat nun aus feiner Zweideutigfeit klar hervor; in feinem Briefe vom 5. No— 
vember, den er mit Umgehung feines Biſchofs dur die Nuntiatur von Paris 
nah Rom fandte, unterfcheidet er ausprüflih an dem Inhalt der Encyelica und 
vindicirt ſich in rein politifchen und zeitlichen Dingen die Freifeit der Meinungen, 
Worte und Thaten, Diefes Schreiben übergab er überdief der Deffentlichkeit, 
Am 28. November Tief die Antwort Paccas ein, welche es der Ehrlichkeit des 
Abbe überläßt, ob die gegebene Erklärung dem Verlangen Roms und feinem 
eigenen Berfprechen gemäß fei und eine unbedingte und uneingefchränfte Unter- 
werfung unter die Encyelica verlangt. Und in der That abgefehen davon, daß 
es Lamennais bei feiner Nefervation frei geftanden hätte, jedes mißliebige 
Dogma als eine Entſcheidung über nicht rein firchliche Gegenftände darzuftellen, 
fo hingen ‘ja die von dem Papft verworfenen Lehren auf das Innigfte mit der 
- Religion überhaupt und insbefondere der Fatholifhen Tradition zufammen, in 
deren Bereich, wie Lamennais felbft fo oft gelehrt, nicht bIoß reine Dogmen und 
Moralgrundfäge gehören. Nachdem der Abbe durch eine etwas einlenfende Denf- 
fohrift umfonft verfucht hatte, dem Spruche Noms auszuweichen, ließ er ſich end- 
Lich den 11. December herbei, wie es ſchien, den Bitten des Erzbifchofes von 
Paris und feines edlen Bruders nachgebend, im Valaft des erftern die gewünfchte 
- Formel zu unterzeichnen, Lamennais berichtet indeffen in feinen Affaires de Rome, 
daß er diefen Schritt nur aus Nüdficht für den Frieden gethan und au aus— 
drülich bei der Unterzeichnung erklärt habe, er würde dem Frieden zu lieb ſelbſt 
die ausdrückliche Behauptung unterfchreiben, wie fie die Forderung Noms nur 
fhweigend vorausfege, daß der Papft Gott fei. Zu gleicher Zeit, berichtet er in 
den Affaires, babe er dem Erzbifchof gefagt, daß er an den Grundfägen des Ka— 
tholieismus irre geworden fei und feine Pflichten gegen das Vaterland und die 
- Menfchheit ſich vorbehalte. Wie man auch davon denfen mag, fo ift ſoviel klar, 
daß Lamennais nur des GStreites mit der Kirche einmal los zu werden fuchte, 
- Der hl. Vater, in der reinen Freude über die Unterwerfung, wünfchte in einem 
ſehr liebevollen Breve vom, 20. December ihm Glück zu feinem Sieg über fi 
ſelbſt. Als aber bald das Gerücht verlautete, daß Lamennais auf feinen verworfenen 
- Anfichten beharre, forderte der Erzbifchof von Paris, der bei jener Unterzeichnung 
vielleicht höchſtens Verdacht zu faffen Urfache hatte, ihn auf, dem HI. Vater für fein 
Breve zu danfen. Damit war ihm Gelegenheit gegeben, den erhobenen Verdacht, 
wenn er falfch war, niederzufchlagen. Allein Lamennais dachte nicht entfernt mehr 
daran, auf einen folhen Schritt einzugehen; feine Gefinnungen legte er in den 
Paroles d’un croyant nieder, die im J. 1834 erfchienen. Es follte darin den 
Täufhungen feines Lebens eine furchtbare Rache bereitet werden. Die Fürften 
erfcheinen dort als die Kinder des Satans, die Kirche als die erfaufte Verrätherin 
an der Menfchheit; unfer Jahrhundert ift das verfunfenfte in der Weltgefchichte, 
die Revolution ift nicht nur ein Recht, fondern eine heilige Prliht, aus ihrem 
Schooß erhebt fih ein neuer Staat und ein neues Chriftenthum, ein Evangelium, 
gedeutet von den Bölferm, über die der HI. Geift in neuer Kraft fih ausgießt. 
Lamennais fpricht in diefem Buche in der Weife der Propheten, feine Dietion 
zeichnet fih dur eine faft fchauerlihe Pracht aus, Die Regierungen unter- 
drüdten wie begreiflich die bald in faft alle Sprachen überfegte mit Gier ge— 
lefene Schrift. Der hl. Vater aber erhob den 25. Juni in einer Encyelica feine 


330 Lampe, 


Stimme, er verwirft und verdammt das Machwerk von Nuchlofigfeit und Ver- 
wegenheit, indem er laut über den treulofen Wortbruch und den tiefen Fall des 
faum der Kirche gerettet geglaubten Sohnes Hagt, Lamennais aber fihritt auf 
der betretenen Bahn rafch vorwärts, In feinen Affaires de Rome. Paris 1836, 
in feinen Schriften: Le livre du peuple. Paris 1840; De la religion. Paris 1841; 
Du passe et de l’avenir du peuple. Paris 18425 Ariechapands et Darvands. Paris 
1843 und andern entwidelt er die Idee eines demoeratifchen und communiftifchen 
Chriſtenthums, dem die jegige Tyrannei zu weichen habe, mit nie ermüdender 
Bitterfeit. Nachdem er anfänglich der Kirche noch einen göttlichen Nrfprung ge- 
Vaffen und bloß ihre endlihe Dauer behauptet hatte, verwarf er endlich auch 
eonfequent den erftern, und da ihm fomit die Grunddogmen des Chriftenthums 
unter der Hand ſich verflüchtigten, fuchte er e8 als die Religion der Bruderliebe 
feftzuhalten und in diefer Form als den Erben des Dahinfinfenden Proteftantismus 
und Katholicismus darzuftellen, Die Esquisse d’une philosophie, 3 Bde. Paris 
1841 — 43 kleidet diefe Gedanken in das philofophifche Gewand, und gibt der 
ganzen Theorie des Abbe den Abſchluß. Der Glaube der Kirche wird als eine 
Entwicklung des denfenden Menfchengeiftes begriffen und die ewige und ewig 
gleiche Harmonie des Unendlichen und Endlichen, wie fie fich durch das Ziel der 
beiden Principien der Individualität und Einheit fortwährend realifirt, in einer 
Weife entwickelt, welche jeden Gedanfen auch an eine nur primitive Offenbarung 
zurückdrängt, und troß aller Anflänge an ven Glauben eines perfönlichen Gottes 
und der Unfterblichfeit fehr vielfach an den Pantheismus erinnert, Der Wider- 
fpruch, den Lamennais in den Zeiten des Avenir noch feftgehalten, iſt auf ſolche 
Art endlich gelöst und die Principien find befriedigt; die religidfe und bürgerliche 
Ordnung ruht auf dem nämlichen menfchlihen Grund, fo daß das Volk Alles in 
Allem if, Wir haben es fchon gelegentlich angedeutet, daß Lamennais von je 
mehr Politifer als Theolog war. Die Verirrungen feiner politifhen Ueberzeu— 
gungen finden eine gewiffe Entfchuldigung in den außerordentlichen und ſturmvollen 
Zeiten, denen feine Kindheit und fein ganzes Leben angehört, und die von Außen 
wenigftens diefe Entwicklung feines Geiftes ‘befürderten, Das Bewußtfein aber 
des Gläubigen und befonders des Priefters, fo entfohieden er e8 eine Zeit lang 
geltend machte, fo Yange die Kirche noch in feinen politiſchen Ideen verwoben 
war, hatte doch nicht fo tiefe Wurzeln in ihm gefchlagen, daß er jener finftern 
Macht zu widerfiehen vermocht hätte, die den Moment des gefränften Selbftge- 
fühls fo gut zu benugen weiß. Sein großes Herz, das immer mit Feuer geliebt 
und gehaßt hat, hat ven Haß zu feiner Liebe auserforen, feit e8 der Liebe des 
Erlöfers fich verfchloffenz gerade wie der Glanz feines großartigen Talentes, das 
früher gleich mächtig in Gedanke und Wort fich erwiefen, feit er in die Maffe 
gewöhnlicher Revolutionäre übergetreten ift, zu verbleichen begonnen hat. Möchte 
Gott den Wunſch, den der felige Papſt Gregor am Schluffe feiner gegen die 
Worte eines Gläubigen gerichteten Encyelica ausfpricht, erfüllen, und den Unglück— 
lichen noch in feine Kirche zurückführen! (Ueber Lamennais vgl, außer den im Lauf 
angeführten Werfen Rohrbacher: Histoire universelle de l’öglise eatholique. 
tom. 28. Paris 1848. Gerbet: der Abfall von den Lebensprincipien der Kirche 


und des Staates, teutfch. Augsburg 1839, Vorleſungen über die neuefte Kirchen- 


gefchichte von Scharpff. Freiburg i. B. 1850.) 

Lampe. In jenen Kirchen, in denen das euchariftifhe Sacrament aufbe- 
wahrt wird, brennt vor dem Tabernafel oder auch zur Seite eine Lampe, Sie 
wird „Gotteslampe“ oder weil fie ununterbrochen bei Tag und Nacht brennen 
fol, „ewige Lampe” (f. ewiges Licht) genannt, Ihr Urfprung Tiegt fehon in 
der voreonftantinifchen Periode der Gefihichte der Kirche, und fand fiher ſchon 
am mofaifhen Cult (Erod, 27, 20) ihre Berechtigung für den Gebrauch, wenn 
auch das Bedürfniß für dieſelbe Anfangs mit größerer Nothwendigkeit ſprach, als 


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Lampetianer — Samy, Bernhard, 331 


jene alte Analogie. Ihr Gebrauch ift im vierten Jahrh. ein allgemeiner und 
alter, Daß bei dem geheimen Gottesvienft der Chriften unter der Erde oder zur 
Nacht an verborgenen Orten zur Zeit einer heftigen Verfolgung die Lampe geeig- 
neter war als Leuchter mit Kerzen, bringt die Natur der Sache mit ſich. Der 
Hl. Paulinus von Nola erzählt nicht nur, daß in der Kirche des hl. Felix eine 
ewige Lampe aufgeftellt war, — „Continuum scyphus est argenteus ad usum‘“ — 
fondern daß fie auch bei Nacht, da die Kirche leer war, gebrannt habe, An den 
vornehmſten Feften pflegten diefe Lampen mit Balfamdl und andern wohlriechen- 
den Delgattungen gefüllt zu werben, wofür ein eigener Fond angewiefen war. 
Sp gab Gregor I. den ganzen Ertrag, welcher jährlich aus den öffentlichen Waf- 
fern „Aquae salviae“ gezogen wurde, für die Lampe in der St, Paulsfirche zu 
Nom, Zuweilen ftellten die Gläubigen auch vor den Bildern der Heiligen ſolche 
immer brennende Lampen auf, und fogar bei den Neftorianern blieb diefer Ge— 
brauch und wurde ſtreng befohlen, Nicht felten waren die Lampen wunderbar 
künſtlich gefertigt. Die einen waren von Glas „eicindelae“, worin das Licht im 
Dele gleihfam ſchwamm; andere von edlem Metall, Silber und Gold. Bald 
hingen fie an ſchönen Ketten mitten vor dem Altare des hl. Sacramentes, bald 
fanden fie um den Altar und an beſtimmten Drten in der Kirche. Nach ihren 
verfchiedenen Formen hießen fie cantarus, delphinus, Iychni, lychnici; jene Lampe, 
die mit Kerzen im Kreife herum befegt vor dem Hochaltar hing, corona — Kron= 
lampe, Kronleuchter. Die vielen Lampen zu unterhalten, opferten die Gläubigen 
zu beflimmten Zeiten Del, Wachs und andere wohlriechende brennbare Gegen- 
ftände, worauf der zweite der apoftolifchen Canonen ſich bezieht: „Non sit licitum 
offerri aliquid ad altare, nisi oleum ad sanctam lucernam“; und e$ galt die An- 
nahme diefes Opfers als Zeugniß der Rechtgläubigfeit, denn von Ketzern durfte 
diefe Gabe nicht genommen werden, Die Bedeutung der Lampe in der Kirche 
ift hienach von felber Far, als eine practifche und ſymboliſche zugleich. Lestere 
ift befonders aus dem Gebrauch erfichtlich, daß am Charfamftag alle Lampen aus— 
gelöfcht, mit frifhem Dele neu gefüllt und von dem neuen Feuer wieder angezündet 
werden, „Laeli hodie lampades ornemus“, fagt Eyrill von Jeruſalem. Sie deutet 
bin auf die facramentale Gegenwart des Gpttmenfchen, der durch Tod und Aufer- 
ftehung das Licht und Heil der Welt geworden und zum Unterpfand deffen, daß uns 
- einft das ewige Licht im Reiche des Baters Teuchten werde, fich felber ung gab, um 
fletS unter uns zu wohnen, Jene Lampe foll dem Gläubigen den Drt anzeigen, 
wo der Gegenftand feiner höchften und reinften Liebe wohnt. Daß wir fie auch 
zuweilen noch in einer proteftantifhen Kirche antreffen, ift ein Zeichen, daß fie 
zugleich geeignet ift, einen Tempel zu zieren. Darum und aus Treue gegen die 
alte firchlihe Tradition fordert die Kirche durch ihr competentes oberftes Organ: 
„Omnino lampadem esse retinendam intra et ante altare sanctissimi sacramenti, ut 
. continuo ardeat. Et ita decrevit et servarimandavitS.R.C.22. Aug. 1699.“ [Rolfmann.] 

Lampetianer, |. Meffalianer, 

Lamp, Bernhard, Dratorianer,, ffammte aus der Provinz Maine. Mit 
reihen umfaſſenden Gaben verband er von Jugend auf großen Fleiß, und erlangte 
in Kurzem eine bewunderte Gelehrfamfeit in den verfchiedenften Gebieten des 
Wiffens, von dem auch die Schönen Wiffenfchaften keineswegs ausgefchloffen waren, 
Er lehrte Philofophie in dem Haufe feines Ordens zu Saumur, fodann Theologie 
in dem Seminar zu Grenoble, Zuerft ließ er Werke ſchönwiſſenſchaftlichen und 
mathematiſchen Inhalts erfcheinen, Er fchrieb eine „Kunſt zu fprechen“ und eine 
„KRunft zu denfen“; über Poeſie; über dag Gleichgewicht und die Größe, fowie 
über die Grundlinien der Mathematif, ſodann „Unterhaltungen über die Wiffen- 
haften und über die Methode zu ſtudiren“. Ferner verfaßte er „eine Beweisfüh- 
rung der Wahrheit und Heiligfeit der hriftlihen Moral“, befonders aber ver- 
faßte er geſchätzte Schriften über die HI, Schrift, Des erfte feiner dießfallſigen 


332 Lamy, Frans 


Werke ift ein Apparat für die HI. Schrift, beftehend aus 20 großen Tabellen, ge- 


druct zu Grenoble im 3. 1686, befonders archäologiſchen Inhalts, Sein zweites 
bedeutendes theologifhes Werk war feine „Harmonie oder Uebereinſtimmung ver 
vier Evangeliften“. Paris 1639. Die drei Annahmen Lamy’s von einem doppel⸗ 
ten Gefängniffe Johannes des Täufers, daß Magdalena, Maria des Lazarus 
Schweſter und die öffentliche Sünderin diefelbe Perfon feien, endlich daß Chriftug 
an dem Tage, an welchem die Juden das Ofterlamm aßen, gelitten habe, ver- 
anlaßten bedeutende literarifche Kämpfe, Zu feiner Bertheidigung fchrieb Lamy u. A.: 
Trait& historique de l’ancienne Päque. 1692, eine Reihe yon überaus gelehrten 
Streitſchriften, woran ſich noch andere Abhandlungen ähnlichen Inhalts anfchloffen. 
L. ließ feine Evangelienharmonie wieder druden im J. 1699 mit großem Com- 
mentare, worin er den Text der Evangelien paraphrafirt, ferner die Schwierig- 
feiten entwicelt, welche einzelne Stellen und die evangelifche Geſchichte darbieten, 
fodann die Gebräuche und Sitten der Inden, felbft einzelne Eontroverspunete 
des Chriſtenthums behandelt. — Ferner fehrieb %, ein Werf über ven Tempel zu 
Serufalem in fieben Büchern, in welcher ausführlichen Schrift fich auch eine Be— 
ſchreibung der Stadt Jerufalem findet, wonon er im J. 1699 fein Project her- 
ausgab, Das Werk felbft, woran er eine Reihe von Jahren gearbeitet, erfchien 
wegen ungünftiger Zeitverhältniffe erft nach dem Tode des Verfaffers zu Paris, 
Lamy ftarb den 29, Jan. 1715 zu Rouen, wo er in der letzten Zeit feines Lebens 
in dem Haufe feines Ordens, lehrend und erziehend, ſich aufgehalten hatte, Er 
erreichte ein Alter von 74 Jahren. Wie dur umfaffende Wiffenfchaft zeichnete 
er fich auch Durch feine Frömmigkeit aus. — Gefammtausgaben feiner Werke er- 
fihienen zu Lyon und zu Paris. Vgl. Dupin T. XIX. p. 117—136. [&ams,] 
Lamy, Franz, Mauriner, Er flammte aus altem freiherrlichen Gefchlecht; 
wurde geboren in der Provinz Perche im J. 1636, Nach dem frühen Tode feines 
Baters erhielt er von feiner Mutter eine forgfältige Erziehung , um in der Welt 
fein Glüd zu machen. In zwei Feldzügen, die er unter dem Herzoge von Richelieu 
machte, zeichnete er fich aus, Der glücliche, wie er glaubte wunderbare Ausgang 
eines Duells bewog ihn, der Welt zu entfagen, Er trat im J. 1658 in die Mau- 
riner-Abtei St. Remi in Rheims, und ein Jahr fpäter legte er dort im 25, Lebens= 


jahre die Gelübde ab, Aus der Einfievelei zu St. Basle bei Meaux berief ihn | 


der Prior von St. Nemi, um die jungen Benedietiner Philofophie und Theologie 
zu lehren. Philofophie Lehrte er fpäter in den Klöftern Mont St. Duentin und 
St, Medard in Soiffons, Theologie endlich zu St. Germain des Pres, Er ftarb 
im J. 1711 zu St, Denys in einem Alter von 75 Jahren; dur feine Fröm— 
migfeit und Wiffenfchaft, wie durch den Adel feines ganzen Wefens hochgeachtet. 


Seine Schriften zeugen insbefondere von einer tiefen Selbft- und Weltfenntnif, - 


Sein berühmteftes Werf ift: De connaissance de soi-möme. Par. 1694 — 1698. 
2. Ausg. 1700, 12. in 6 Bon, Diefes Werk ift nicht bloß ascetifchen, fondern 
auch philofophifchen Inhalts, in dem der Berfaffer die Wichtigkeit und Noth— 
wendigfeit der Gelbftfenntniß darlegt und die Wege aufzeigt, auf welchen fie zu 
erlangen fei, Ferner verfaßte er eine Schrift über die offenbare Wahrheit der 


riftlihen Neligion: Verite &vidente de la Religion chretienne, ou Elite de ses“ 


preuves et de celles de sa liaison avec la divinite de Jesus-Christ. Par. 1694. 12.— 
Ein Zefuit in Caen hatte behauptet, daß die Wahrheit der hriftlichen Religion 
nicht mathematifch fireng bewiefen werden fünne, ein Sat, welchen Lamy für 
verfänglich hielt, Im 3.1695 erfehien die Widerlegung des neuen Atheismus gegen 
Spinvza, Ferner: „Fromme Betrachtungen über den Drdensftand“, 1697, As- 
eetifhen Inhalts ift die Schrift: Les saints gemissements de’l’ame sur son &loig- 
nement de Dieu, 1701. 12. „Die Vorfchriften der Weisheit“, 1703, Im 1708 
erfchien „eine Sammlung von religidfen und moralifchen Briefen”, gefchrieben 
unter dem Namen eineg Einfievlers an einen Freund, In der Schrift: „L’inore- 


A Du en —— 


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Lancellot — Landdecane. 333 


dule amen& à la Religion par la raison, en quelques entretiens, ou !’on traite de 
Yalliance de la raison avec la foi. Par. 1710. 12. find die Beweife für das Ehri= 


ſtenthum mehr aus der Philofophie entnommen. Noch erjhienen von L. Schriften 
philoſophiſchen und verſchiedenen Inhalts. L. verfaßte feine Schriften in fran- 
zoͤſiſcher Sprache; der Tieffinn und Geift ihres Inhalts wird gehoben durd eine 
 treffliche Form. Bgl. Herbft über „die Verdienfte ver Mauriner um die Wiffen- 


fchaften“. Tüb, theol, Duartalfh, 1834, S. 4 ff. [Oams.] 
Sancellot, 30h. Paul, ein berühmter Rechtsgelehrter zu Perugia, wo er 


4511 geboren war, und 1591 ftarb. Auf Befehl des Papftes Paul IV. bearbei- 


tete 8, in lateinifcher Sprache ein Werf unter dem Titel: Instituliones juris ca- 


nonici und gab demfelben die Einrichtung, nach welcher einft Kaiſer Juſtinian 


derlei Inftitutionen Behufs der Einführung von Anfängern in das bürgerlide 


Recht hatte entwerfen laffen. Diefer Kaifer bethätigte nämlich feine Sorgfalt für 
die Feftftellung und Ausbildung. der bürgerlichen Rechtspflege dadurch, daß er 
einer Commiffion von Rechtsgelehrten verfchiedene Rechtsfammlungen auftrug. 


Die erfie Sammlung, der „Codex Justinianeus“ (f. d. A.), beftand aus zwölf 


Büchern. Die zweite, ſehr weitfchichtige Sammlung beftand in Excerpten aus 


den beften Schriften ver Nechtsgelehrten;z fie war materienweife geordnet und follte 


als Norm bei den Gerichtsftellen gebraucht werden, bejtand aus 50 Büdern, 
und führte den Namen: Pandecta juris enucleati ex omni veteri jure collecti. 
Aus diefen Pandecten ließ Zuftinian wieder eine ſyſtematiſche Zufammenftellung 
der Hauptrehtsfäge veranftaltenz fie führte den Titel: Inftitutionen, und 
follte ald Compendium dienen. An feinen canoniftifhen Jnftitutionen num 
arbeitete Lancellot 15 Jahre lang, und unterftellte dann feine Arbeit der päpft- 
lichen Approbation. Es warb auch eine eigene Commilfion zur Prüfung des 
Werkes aufgeftellt. Allein es fanden fih Gegner, welche die Hoffaung Lancellots 
vereitelten. Das veranlaßte ihn, von Rom nach Perugia zurüdzufehren, und 
noch vor dem völligen Abfchluffe des Eoneiliums von Trient (im Auguft 1563) 
fein Werk auf eigene Koften drucen zu laffen, Als eine Eigenthümlichkeit wird 
von Lancellot erzählt, daß er nicht zu überreden gewefen fei, dasjenige, was auf 
dem Coneil geändert worden, in fein Buch aufzunehmen, Man hat von Lancellot 
auch ein Corpus juris canonici in 4. Seine Jnftitutionen eriftiren in verfchiedenen 
Ausgaben mit Noten, als da find: Perouse 1563. Antwerp. 1566. 8. Lugduni 
Batav. 1588. Genev. 1650. Wittenberg 1669. Paris 1705. fol. Als die befte 
Ausgabe gilt die von Johann Doujat in 2 Bon. in 12. Der Parlamentsadvocat 
Durand de Maillane lieferte eine franzöfifche Ueberfegung. Vgl. Hierzu den Art, 
Corpus juris canonici. i [Dür.] 

Land, gelobtes, f. Canaan. 

Landbiſchof, f. Chorbiſchof. 

Landeapitel, ſ. Landdecane. 

Landdecane. Das Inſtitut der Landde eane, ſowie das der Landeapitel, 


deren Vorſtände jene ſind, ſchließt ſich in ſeiner hiſtoriſchen Ausbildung an meh— 
rere verſchiedene Verhältniſſe des älteren Kirchenrechts an, Urſprünglich find die 
Landdecane die Archipresbyter (ſ. d. A.) auf dem Lande, dieſe aber zugleich die 
älteſten Pfarrer, Sp wie nämlich das Presbyterium dem Archipresbyter an der 


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bifhöflichen Cathedrale untergeordnet war, fo wurden au die Geiftlihen auf 
dem Lande der Aufficht eines der auf verfhiedenen Puncten der Diöcefe feft an— 


geſtellten Presbyters untergeordnet, der dann im Berhältniffe zu ihnen, wie jener, 
- Archipresbyter (ruralis) hieß. Als nach und nach die Gründung der Pfarreien 


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weiter fortfchritt, war für die neu entflehenden Archipresbyter fchon von felbft 
ein Einheitspunct gegeben. Der Bezirk, welcher unter einem ſolchen Erzpriefter 
ftand, hieß Christianitas oder Decania, er felbft wurde dann Decanus, und zwar 
da der Archipresbyter in der Stadt ebenfall$ Decanus (civitatensis, urbanus) hieß, 


334 Landderane. 


im Gegenfaße zu ihm Decanus ruralis genannt; Ob diefe Bezeichnung von der 
politifhen Landeseintheilung hergenommen oder ob ſie auf jene Verhältniffe aus 
den Flöfterlichen Einrichtungen übertragen worben iſt, darüber herrſcht Meinungs- 
verſchiedenheit. Das Letztere dürfte um fo mehr das Waprfcheinlichere fein, al 
mit diefen Einrichtungen auch der Urfprung der Landeapitel zufammenhängt. Die 
Vita canonica als eine Nachbildung oder Annäherung an die Vita religiosa für den 
weltlichen Clerus beftand für die Geiftlihen auf dem Lande der äußeren Form 
nach darin, daß fie fih in ähnlicher Weiſe wie die an der bifchöfeichen Cathedrale 
nach Verſchiedenheit der einzelnen Bezirke zu Capiteln vereinigten, als deren 
natürliche Vorſtände die Archipresbpter, nunmehr Decane hervortraten, Obgleich 
die Vita canonica fich vollſtändig nur in den wieder hergeftellten Negularftiftern 
erhielt, fo hat fih doch die Einrichtung der Landeapitel d. h. die Vereinigung der 
Pfarrer eines beſtimmten Bezirfes (Decanat) unter dem Landdecan als ihrem 
Borftande bis auf den heutigen Tag erhalten. Die gegenwärtige Verfaſſung 
diefer Landeapitel und die Art und Weiſe der Beftellung ihrer Vorftände ift nicht 
überall diefelbe, fondern es bat fich dieß nach particularem Recht verfchienentlich 
geftaltet, Der Decan iſt feiner eigentlichen Bedeutung nach Stellvertreter des 
Biſchofs, wie er denn auch in Deftreich unter der-technifchen Bezeichnung: „bi= 
fhöflicher Bezirks viear“ vorfommt, und wird Daher, wo nicht für das Landcapitel 
ein Wahlrecht hergebracht iſt (wie 3. B. in Bayern) von dem Bifchofe ernannt, 
im letzteren Falle beftätigt. Es hat nicht ausbleiben Tonnen, daß nicht auch, we- 
nigftens in Teutichland, die Landesregierungen einen bedeutenden Einfluß auf die 
Beftellung diefer Firchlichen Beamten, die mit ihnen in einen vielfachen Verkehr 
zu treten haben, erlangt hätten. In Deftreich bedürfen die Decane, in foweit 
auch die Schulangelegenheiten zu ihrem Wirfungsfreife gehören, der landesherr- 
lichen Beftätigung, in Preußen, wo fie no Erzpriefter, bisweilen auch Pröpfte 
genannt werben, werben fie in den päpftlichen Monaten von der Regierung er- 
nannt, in den übrigen beftätigt; in Baden fommen ebenfalls erzbifchöfliche und 
Yandesherrliche Decane vor, in Bayern bedarf e8 für die von den Capiteln Ge- 
wählten nur der Beſtätigung. Im zulegt. genannten Staate fleht dem Decan 
noch ein Rämmerer oder Definitor (f. d. A.) zur Seite, welchem die Ver- 
waltung der Deranatscaffe und im Verhinderungsfalle des Decans deſſen Stell- 
vertretung übertragen ift. Diefer kann, wie der Decan überall, nur aus der 
Zahl der wirklich angeftellten Pfarrer hervorgehen, wohingegen der in Bayern 
die Stelle des Secretärs bei den Capitelfigungen einnehmende Synodalzeuge 
nicht zu jenen, fondern überhaupt nur. zu den Mitgliedern des Capitels zu ge— 
hören braucht, Zu diefen zählen nämlich nach der Verfaffung vieler Capitel nicht 
bloß die eigentlichen Pfarrer mit Einfluß der als ſolche beftellten Drdensgeift- 
Yichen, fondern auch die Beneficiaten des Bezirks, welche dann, wo das Wahlrecht 
dem Kapitel zufteht, ohne paffiv wählbar zu fein, activ an der Ausübung des- 
felben Theil nehmen. Die Wahl wird durch die abfolute Majorität und zwar 
entweder fogleih und öffentlich in der Capitelsfisung oder nach Einfendung der 
verfchloffenen Stimmzettel an das Ordinariat entfchieden, welche letztere Form 
in Bayern für die Decanate aller Dibcefen geftattet, in Speyer und Würzburg 
aber berfümmlich iſt. Die VBerfammlungen der Capitel, welche von dem Decan 
geleitet und von ihm auch in außerorbentlichen Fällen berufen werben fönnen, 
fanden ehevem monatlich Statt, weßhalb fie auch Calendae hießen (f. Confe- 
renzen, geiftliche); jegt find fie viel feltener, Sie dienten früher wefentlich 
dazu, die auf der Didcefanfynode befchloffenen Statuten zur allgemeinen Kenntniß 
zu bringen, womit es auch zufammenhängt, daß es nach der Verfaffung vieler 
Didcefen vollkommen genügend war, wenn nur bie Decane, nicht auch die übri— 
gen Pfarrer, auf der Synode erfihienen. Aber noch jebt ift eine bejondere Db- 
Viegenheit des Decans, in feinem Bezirke die bifchöflichen Verpronungen, fei es 


Landelin und Landoald, 335 


auf der Berfammlung des Capiteld oder durch Eircular befannt zu machen; fonft 
gehört zu feinem Gefhäftsfreife im Einzelnen noch Folgendes: dem Decan fteht 
die Aufficht über die Kirchen, die Beneficien und die Geiftlichen feines Bezirkes 
zu; er wacht über die Handhabung der kirchlichen Disciplin und die Admini- 
firation der Sacramente und hat von dem Biſchofe das für mehrere derfelben 
erforderliche Hl. Del in Empfang zu nehmen und an die Pfarrer zu vertheilen, 
Nicht minder find die Schulen des Bezirks feiner Auffiht und Obhut anvertraut, 
ja ſehr häufig ift er zugleich landesherrlicher Schulinfpeetor, in welchem Falle 
fih feine Thätigfeit nach der ihm ertheilten Inftruetion richtet. Der Decan weist 
ferner die Pfarrer in ihr Amt ein und forgt, wenn ein folches erledigt ift, pro— 
siforifch für die Verwaltung deffelben ; ihm Liegt die Beerdigung des verfiorbenen 
Pfarrers ob, Als Mittel zur Ausübung feiner Obliegenheiten kann der Decan 
da, wo fie hergebracht iſt, nach der Vorfihrift des Conciliums von Trient (Sess. 
24. c. 3. d. Ref.) mit Genehmigung des Biſchofs und gegen gewiffe Gebühren, 
die ihm aus den Fonds der einzelnen Kirchen zufallen, Bifitationen (f. Kirchen— 
vifitationen) vornehmen. Ueber den Firchlichen Zuftand feines Bezirkes und 
über alle in diefer Hinficht wichtigen Vorkommniſſe hat er an den Biſchof ſorg- 
fältigen Bericht abzuflatten (ſ. Berihte). In Deftreih und Bayern find die 
Decane auch durch ihre Amtsfleidung vor den übrigen Pfarrern ausgezeichnet; 
fie haben dort den Dechantsfragen, hier, wo die gleiche Auszeichnung auch dem 
Kammerer zufteht, den fogenannten Beff, Bol. Hierzu den Art. Deputatus in 
den Landcapitelm [(Phillips.] 
Landelin und Landoald, die Heiligen, Prediger des Chriſtenthums in 
Belgien im fiebenten Jahrh. Obwohl in Belgien fchon feit dem Anfang des 
vierten Jahrh. mehrere biſchöfliche Sige beflanden und das Chriſtenthum fehr ver- 
breitet war (f. die Art, Servatius, Bifhof von Tongern, Vietric ius, Biſchof 
von Rouen), fo ging doch noch im vierten und dann im fünften Jahrh. durch die 
verheerenden Einfälle der Hunnen, Bandalen, Alanen und zulegt der Franken 
und. anderer Teutſchen die chriftlihe Religion in Hennegau, Brabant und dem 
größern Theil von Flandern wieder großentheils zu Grunde, fo daß es einer neuen 
Predigt bedurfte, Diefe neue Predigt begann zum Theil fchon bald nach Chlodwigs 
Taufe (f. d. Art. Chlodwig, Franken), dur den HI. Eleutherius, Bifchof 
von Zournay und deffen Nachfolger, den hl. Medardus (f. d. Art.), ferner 
durch den HI. Vedaſtus, Bifhof von Arras (ſ. Chlodwig, Franfen) u. A; 
am meiften geſchah aber erft im fiebenten Jahrh. und zwar vor allen durch den 
5. Amandus, Bifhof von Maftricht (f. d. Art.), und dann durch Männer wie 
Audomar und Bertin (ſ. Art. Bertin), Eligius v. Royon (f. d. A), 
den Irländer Livin (ſ. d. Art. Lebuin) und nebft andern durh Landoald 
und Landelin. Als der Hl. Amandus im F. 651 nah Rom zu Papſt Martin L 
reiste, brachte er von da mehrere Gehilfen für die Miffton zurück, worunter fich 
der Presbyter Landoald, wahrfheinlih ein Angelfachfe, befand. Für die 
eifrige und erfolgreiche Predigt Landoalds in der Gegend von Maftricht fteht die 
ihm gleich nach feinem Tode gezollte Verehrung, leider weiß man aber des Nä- 
bern wenig von ihm, weil deſſen alte Biographie verloren gegangen ift und Abt 
- Heriger von Lobbes (ſ. Art. Heriger), der im zehnten Jahrh. über Landvald 
ſchrieb, in Ermanglung des Hiftorifhen Materials nur wenige Notizen Liefert, 
Heriger befpricht nämlich vorzugsweife die Elevation und Translation der Ge— 
beine des HI. Landoald und berichtet nur noch, Landoald fer in feiner Miffion 
beſonders von König Childerich II. reihlih mit Geld unterftügt worden, habe 
einige Zeit den HI. Bifchof und Martyrer Lambert von Maftricht (ſ. d, Art.) zum 
Schüler gehabt und nach dem Rücktritte des Hl. Amandus vom Episcopate neun 
‚Sabre lang das Bisthum verwefen. Legteres aber ift falfh, da Remaclus nad 
Amandus das Bisthum verwaltete, und die Unterweifung Lamberts durch Lan- 








336 Sandeshern, 


doald wird bezweifelt. ©. über Landoald die Boll. vita S. Landoaldi ad 19. Mar- 
tii; item Boll. 6. Febr. vit. S. Amandi, comm. praev. $ 12 und»vit. S. Lamberti 
ad 17. Sept: comm. praev. $ 3; %. A. Warnfönig, flandr, Staats- und Nechts- 
geſch. Tüb, 1835. Bd. I. ©, 83 — 105. — Was den Landelin anbelangt, fo 
geben die Bollandiften zum 15. Juni eine alte und glaubwürdige Biographie, 
deren Hauptinhalt ſich auf Folgendes zurücführen läßt, Dem frommen Bifchof 
Audebert von Cambrai und Arras C+ um 668) übergaben die vornehmen EI- 
tern Landelins diefen ihren Sohn zur Erziehung. Anfangs ging es fehr gut, fo 
daß Audebert dem Landelin die Tonſur ertheilen wollte, allein dieſer ließ fih von 
einigen Berwandten feines Alters verführen, entlief dem Audebert und trieb ſich 
mit feinen Genoffen als Wegelagerer und Naubritter herum, Als fie einft nächt— 
licher Weile in dem Haufe eines Reichen einbrechen wollten, gefihah e8, daß einer 
von der Bande plöglichen Todes ftarb, und diefes Ereigniß in Verbindung mit 
einem Traume, worin Landelin fah, wie die Seele des Geftorbenen von den 
Teufeln zur Hölfe geführt werde, brachte ihn wieder zur beffern Gefinnung zurüd, 
Er fiel dem Bifchof Audebert weinend zu Füßen, that in einem Klofter ſtrenge 
Buße, empfing nachher die Tonfur, und machte eine Bußreife nah Nom. Später 
zum Diacon und Presbyter geweiht, reiste er noch zwei Mal nah Rom, das 
legte Mal mit feinen Schülern Adelenus und Domitianus. Seine ſegens— 
sole Wirkfamfeit beurfundet fich in der Stiftung mehrerer Kföfter, worunter 


Lobbes und Erepin die vornehmften waren, Als Landelin Lobbes verließ, um 


Erepin zu errichten, hinterließ er zu Lobbes feinen trefflihen Schüler Ursmar, 
dem fodann feit 713 der ebenfo lobwürdige Ermin nacfolgte. Sp richtete fih 
Lobbes allmählig zu großer Eelebrität empor Cogl. d. Art, Heriger). Landelin 
ftarb um 686 auf afchebeftreutem Boden und im härenen Bußkleid. Bol. mit d, 
Boll, 1. cit. die Script. v. Perg VI. (IX.), ©. 409, 425, 463— 46435 Dörle, 
Landelin, Appftel der Teutfchen, Augsburg 18385 Chr, v. Schmid, Apoftel der 
Teutſchen; Werfers Legendenbud, [Schrodl.] 


V 


— c— 


SLandesherr, Gebet für ihn, Die heidniſche Obrigkeit hatte eine Stel— 


lung zur mythifchen Gätterwelt und zum Gößendienfte angenommen, welche die 
Ehriften nicht anerfennen durften. Dieß brachte fie in mannigfachen Verdacht der 
Nenitenz, daher diefer Punct zu einem der erften gehört, den hriftliche Apologeten 
zu berichtigen hatten. Des ChriftentHums Wurzel, Wefen und Geift, feine aus— 
drüdliche Lehre und flete Praris weifen nach, daß die Unterthanen für ihre Obrig- 
Zeit zu beten haben. Die Wurzel der hriftlichen Kirche, das Judentum, ging 
dabei mit feinem Beifpiele voran, wober ich nicht auf die Palmen hinweifen und 
bei den Stammfürften des Volkes ftehen bleiben will; nein, auch für Könige, 
welche Heiden und ihre Befieger waren, in deren Gefangenfchaft fie ſchmachteten, 
verrichteten die Juden dffentlihe Kirchengebete, Im Propheten Baruch 1, 10, 
lefen wir, wie die in Babylon friegsgefangenen Jfraeliten eine Summe Geldes 
nach Serufalem an den Hohenpriefter Alcimus fandten, damit für den König Na- 


buchodonofor und feinen Sohn Balthafar Opfer und Gebete vargebracht würden. 


Aus dem Buche Esdras erfehen wir, daß die Juden unter Darius, König von 
Perfien, daffelbe für diefen Negenten und feine Söhne thaten, und zwar nach dem 


ausdrücklichen Wunfche deffelben, Joſephus Flavius führt einen Brief der Juden 
an den Landpfleger Petronius an, worin fie fagen, daß fie täglich zweimal für 
den Raifer und das römifche Volk opfern (De bell. jud. Lib. I. c. 11.). Hieran 


ſchließt fich die Vorfchrift des Apoftels Paulus 1 Timoth.2, 1. 2. 3. „Bor Allem 


ermahne ich nun, daß Bitten, Gebete, Fürbitten und Dankffagungen gefchehen für 


alfe Menfchen, für Könige und alle Obrigfeiten, damit wir ein filles und ruhiges 
Leben führen in aller Oottfeligfeit und Ehrbarfeit, denn dieß ift gut, und Gott 
und unferem Heilande wohlgefällig.” Biele Kirchenväter haben biefe Stelle fo 
verſtanden, daß der Fürften auch in der Meffe gedacht werben foll, Damit fie 


| Landes herr. 337 


gläubig würden, was Paulus in V. 11. andeute, wenn er ſage: „Welcher will, 
daß alle Menfhen gerettet werden und zur Erfenntnig der Wahrheit gelangen.“ 
So 3.3. Auguftin, Chryſoſtomus, Theodoret u. A. Befonders aber ift der Um— 
fand zu beachten, daß der Apoftel Paulus diefe Borfhrift zunächſt den Chriſten 
in Ephefus gibt, die unter heidniſcher Obrigfeit, den Römern, damals ftanden, 
und daß dieſe Vorfhrift ganz allgemein gegeben ift. Und fo faßten auch die 
Chriſten diefes Gebot, für die Heidnifche Obrigfeit zu beten, als ein allgemein. 
verbindliches auf, wofür wir die Belege in den Kirchenvätern finden. Polycarp 
gebietet den Philippern in feinem Briefe an fie €; 12.: „Orale etiam pro regibus et _ 
potestatibus et principibus, atque pro persequentibus et odientibus vos, et pro 
inimieis crucis, ut fructus vester manifestus sit in omnibus, et silis in illo perfecti.* 
Der Apologet Zuftin führt in feiner dem Kaifer Antoninus Pius gewidmeten Apo— 
Ingie felbft Heiden als Zeugen für die Chriften auf und erinnert an ein Schreiben 
des Kaiſers Mare Aurel an den römifchen Senat, worin es heißt: die Chriſten 
haben für ihn und alle Anwefenden gebetet. Apolog. Il. n. 71. Wenn nun diefes 
Schreiben auch nicht acht iſt, fo beweist feine Anführung doch, daß die Chriſten 
zu Juſtins Zeiten für dem heidniſchen Kaifer gebetet, und daß dieß auch die Hei— 
den gewußt haben, Cfr. Apolg. I. n. 17. Daffelbe bezeugt Athenagoras in feiner 
Legatio pro Christianis n..37.: „Die Kaiſer (Mare Aurel und Commodus) ver— 
ſichern, daß die Chriften für ihre Herrfchaft beten, damit fie vom Vater auf den 
Sohn übergehe, ftets wachſe und fih vermehrte, Daran fei den Chriften felber 
gelegen, um eim friedliches Leben führen und Gottes Befehlen freudig nachkommen 
zw Eönnen.“ . Das Gebet der Chriften für den Kaifer hebt auch der Apologek 
Theophilus (ad Autol. I. n. 11.) hervor, Weiter finden wir Zeugniffe für diefes 
Gebet in Tertullian Apolog. c. 30. 31:32. u, 39. Lib. I. ad Scapul., in Origenes, 
adversus Celsum VIll, Cyprian, epist. ad Demetrium, Arnobius, Eufebius, Kirhen- 
gef. VII. Bd, 1. ECap., Lucius Cäcilius Lactantius, de mortibus persecutorum 
- cap T. u. 0. 34., wo wir finden, daß Kaiſer Galerius ausdrüflih das Gebet 
der-Ehriften für fein Heil und das Wohl des Staates verlangt. Daß aber die 
Chriſten in ihrer öffentlichen wie in ihrer Privatandacht für den Kaiſer beteten, 
beweiſen einfach und Har die alten Martyreracten. Der hl. Biſchof Achatius er⸗ 
klaͤrt dem Conſul: „Unter allen Unterthanen des Reiches find feine, die den Kai— 
ſer mehr ehren , als die Chriften. Wir begehren immerdar von Gott in unferem 
Gebeten, er möge ihm ein langes, thatenreihes und glückliches Leben fchenfen, 
ihm den Geift der Gerechtigkeit und Weisheit verleihen, auf daß er feine Völker. 
gut. regiere und Alles eines blühenden Friedens genieße (Ruinart I. p. 350). Sp 
fpricht fi auch Cyprian im Angefichte feines Martertodes aus (Ruinart Il. 43), 
wie auch fein Zeitgenoffe, der HI. Dipnyfius, Bifhof von Alerandrien, und Victor 
von Maſſilia (Ruinart II. p. 196). Das Gebet für den Landesherrn finden wir 
auch in den Liturgien. Was wir von diefen aus den drei erfien Jahrhunderten 
haben, das enthält vortreffliche Gebete für Kaiſer und Könige, fo 3. B. die dem 
Clemens I. (Ende des dritten oder Anfang des vierten Jahrhunderts) zugefchrie- 
bene Liturgie Cotelerii Patr. apost. T.I. p. 265. Const. apost. II, 57. Ein fol- 
ches Gebet warb auch nach der Wandlung geſprochen. Const. apost. L. 8. c. 12. 
Aus dem Deeident haben wir Feine Reſte einer fo alten Liturgie; indeffen ſpricht 
doch Tertullian in cap. 39. feines Apologet. von Gebeten für den Raifer, die 
Obrigkeit u. ſ. w. Während aber die Griechen nad der Aufopferung fragliches 
Gebet verrichteten, ſcheinen es die Abendländer vor der Aufopferung geſprochen 
zubaben. Es verfteht fih son felber, daß die Chriſten, welche für heidniſche 
Kaiſer gebetet hatten dieß bei chriſtlichen nicht unterliegen; fondern es Fam jegt 
die Sitte auf, von Conſtantin an die Namen der Fürften in die Diptychen (f. d. A.) 
einzutragen, was natürlich bei ungläubigen Fürften nicht anging, bei denen mar 
ſich im Gebet allgemein: faßte, während Die Namen chriſtlicher Herrſcher abgelefen 
Kirchenlexikon. 6. Bd. 22 — 







338 Landesherr. 


wurden, Verfiel aber einer der leßteren in Härefie, fo ward fein Name aus den 
Diptychen geftrigen und für ihn gebetet, wie man e8 bei heidnifchen Regenten 
gewohnt war. Die Griechen hatten im 13ten Jahrhundert in ihren Dipiycher 
die Namen der mohammedanifchen Kaifer von Chalcedon eingetragen, Die X 
teiner beteten ihren Diptychen zufolge für den lebenden Kaifer zu Anfang de 
Canons, für den verſtorbenen nach der Wandlung; bei den Griechen fand dieß 
in beiden Fälfen vor dem Canon, in Jerufalem nad der Wandlung Statt, Wäh- 
rend die Diptychen bei den Griechen beinahe bis zu den neueren Zeiten ſich er- 
- hielten, kamen fie im neunten Jahrhundert bei den Lateinern außer Gebraͤuch; 
ihre Stelle vertrat ſodann Das Memento für die lebenden, in welches der Name des 
Biſchofs und Negenten eingefehrieben wurde; nicht aber, wie in den Diptychen, 
wurde der Name des verfiorbenen Bifhofs und Negenten in dem Memento pro 
defunctis eingetragen. Aus den morgen- und abendländifchen Vätern Haben wir 
Deweife genug für das liturgiſche Gebet der Kirche für die chriftlichen Kaifer, 
3. B. Euseb. vita Constant. IV. 45. Chrysost. homil. 23 in cap. 13. Ep. ad Rom. 
Cyrill von Zerufalem ex vers. Cla. Toutt6e opp. Cyrill. fol..p. 327. Hilar. Lib. 1. 
äd Constant. p. 61. ed. Colon. Athanas. apol. ad Constant. T. I. p. 303. ed. Paris, 
Libell. Episp. Aegypt. ad Leon. impr. apud Evagr. IH. 8. Maruthas führte für 
den perfifchen König Isdegerd das Kirchengebet ein, welches verrichtet wurde, 
bis die Mohammedaner das Neich eroberten. Selbft in Häretifchen Kirchen, z. B. 
der Jacobiten, Neftorianer ꝛc., blieben die Kirchengebete für die Fürften und er- 
hielten fich bi8 auf diefen Tag in ihren Liturgien, Aus der abendländifchen Kirche 
haben wir folgende Zeugniffe: Leo J. ep. 25. ad Theodos. imperat, Nicolaus L, 
Schreiben an Michael IL. Noch im Iten Jahrhundert betete man für Conftantin, 
- onftanz, Theodoſius, Valentinian und die übrigen Kaiſer. Rom und der ganze 
Deeivent waren auch hierin conform, Dptatus yon Mileve rechnet e8 unter die 
abſcheulichſten Schandthaten des Donatus, daß er das Gebet für die Fürften 
abgefchafft Habe. Auguftin zeugt für dieſes Kirchengebet Ep. 149. edit. Bened. 
T. II. p. 586. $ 16. Nach Harduin II. p. 1798 befiehlt das Concil von Toledo, 
daß täglich für ven König und die Föniglihe Familie das Opfer verrichtet werde, 
In Spanien follen zuerft die eigentlichen Votivmeſſen für die Könige aufgefom- 
men fein. Im erften Gefete feiner Capitularien fchrieb Carl M. 801 ſolche 
Gebete vor pro vita ef imperio domini imperatoris et filiorum ac. filiarum salute 
Baluz. T. U, p. 217. Die Synode von Mainz 888 verordnet, daß täglich ein ge— 
wiffes Gebet für den König und die Königin verrichtet werde, Conc. Germanic. 
T. U. p. 370. Sn England beftand ebenfalls dag Kirchengebet, noch bevor 
Eduard I. am Ende des neunten Jahrhunderts ein befonderes Gefeg über das 
Gebet für das Fönigliche Haus erließ, In den fpanifhen, mozarabifchen, galli- 
ſchen (für England und Teutfehland), ambrofianifhen und vömifchen Liturgiem 
finden wir ausprücdliche Gebete für den Landesherrn, Sp lange in den Diptychen 
die Namen der Kaiſer verlefen wurden, enthielt das darauffolgende Titurgifhe 
Gebet für die Fürften nicht nochmals deren Namen, fondern bloß I. — Ilius, 
oder Il. = Illorum. Als die Diptyehen nicht mehr verlefen wurden, wurde in den 
Nitualien feit dem zehnten Jahrhundert ftatt I. das N. und zwar jest in dem 
Canon eingefihrieben, was früher nicht darin fland, Im Mittelalter wurden bie 
Liturgien fürzer, auch die fpanifche und gallifche von der römischen verbrangtz 
aber das Gebet für die Obrigfeiten blieb im Anfang des Canon und fehlte nur 
in wenigen Meßbüchern. Nah der Trienter Synode gab zunächſt für Nom 
Pins V. ein neues Miffale heraus, in welchem natürlich das Gebet et pro rege 
nostro N. fehlte, da im Kirchenftaate der Papft und Regent in einer Perfon ver- 
einigt find. Ohne diefen Punct zu berüdfichtigen, nahmen die übrigen Provinzen 
dieſes Miffale an und wagten nichts beizufegen, da die dießfallſige Bulle fagte: 
Neque in Missae celebratione alias caeremonias vel preces, quam quae hoc Mis- 













J 4 — 





Landesherrliche Rechte — Landeskirche. 339 


sali confinentur, addere vel recitare praesumant. So ging alſo der Name des 
Regenten aus dem Canon verloren, und das Gebet für den Fürften in der Meffe 
erlofh. Man meinte, nur mit päpftliher Genehmigung dürfe der Beifag pro 
e in einzelnen Ländern in den Canon aufgenommen werden, und Gavantus 
it. 8. verteidigte diefe Meinung. Daher fol, was aber fehr zweifelgaft 
fipp I. von Spanien ſich diefes Privilegium in Rom erbeten haben. Die- 
en hume flimmten aber Bellarmin, Suarez und andere Theologen nicht bei, 
daher wurde in Spanien, Frankreich und Teutfchland im vielen Miffalien des 
16ten und 17ten Jahrhunderts der Name des Regenten reftituirt. — Hieher gehört 
auch die feierliche Begehung der Fefte der Negenten, als da find das Gedachtniß 
ihrer Geburt, ihres Regierungsantrittes u, dgl. Nach Tertullian (Apolog. e. 35) 
feierten die -Chriften die Fefte der Kaiſer, aber auf chriſtliche Weiſe und ohne 
öffentliche Freudenzeichen (conscientia potius quam lascivia). Vom vierten Jahr— 
hunderte an feierte die Kirche auch deren Geburtstage und Negierungsantritt mit 
großem Gepränge, wofür du Cange Diss. de numismatibus medii aevi die Be— 
weife führt. Nach Verdrängung des Gögendienftes fiel auch der Schein des heid- 
nifhen Gebrauhes weg, daher fanden auch vom fechsten Jahrhunderte an äußere 
Freudenbezeigungen Statt an den Fefltagen der Kaifer und der Kirche felber. 
FSeftlichfeiten der Art erhielten fih daher überall und zu allen Zeiten. Auch ge- 
hören hieher die Missae votivae pro Rege, welche fich nach einem Cover des Tten 
Jahrhunderts fhon in dem Sacramentarium des Papftes Gelafius finden, wie 
auch in allen alten Sacramentarien des HI. Gregor. An die Stelle diefer Votiv— 
meffen traten die in andere Meffen einlegbaren drei Orationen pro Rege des rö- 
mischen Miffale. Bon den Votiomeffen ift zu unterfcheiden die Missa quofidiana 
pro Rege, welche nach der Synode von Toledo und den alten Statuten von Cfugny 
täglich für den König und die Königin von Spanien gelefen werden mußte, was 
vielleicht von Franfreich aus nah Spanien ſich verpflanzt hat; denn die Könige 
von Frankreich ertheilten den Mönchsklöftern nur unter der Bedingung Privi- 
legien, daß fie täglich für das Foniglihe Haus Meffe Iafen. Aehnliches treffen 
wir auch in Teutfchland, zum Theil fchon von Carl dem Großen angeordnet. — 
Endlich gibt es noch befondere Kirhengebete für die Negenten, z. B. am: Ehar- 
freitage, in der Mette des Ferial-Offieiums, der Befper und den Litaneien, na- 
mentlih beim jährlichen vierzig- oder dreizehnflündigen Gebete, wo nicht nur für 
die Könige gebetet, fondern in der Meffe noch eine befondere Dration für den 
König eingelegt wird, — Das fchönfte Bindemittel zwifchen Fürft und Volk Hat alfo 
die Kirche im Gebete angeordnet und durch alle Zeiten aufreht erhalten. Das 
päpftlihe Rundſchreiben Benedict’s XIV. vom 23, März 1743 fehärft diefe Pflicht 
ein, bemerft aber ausdrücklich, daß ſolche Gebete nicht von der weltlichen Gewalt 
ausgehen dürfen, was bei den Proteftanten nicht nur vorfommt, fondern ihnen als 
in der Drdnung erfcheinen muß, da fie die Episcopalrechte den Fürften pindieiren. 
Siehe die Abhandlung Pellicia’s über das öffentlihe und geheime Gebet für 
Könige und Fürften in der Liturgie in Dr. A. J. Binterim’s Denfwürdigfeiten 
der hriftfatholifchen Kirche Bd. IV, 2, Thl. Zweite Ausgabe Mainz 1838. An- 
Yang. ©. 1—214, [Haas,] 
Randesherrliche Mechte, f. Jura circa sacra. 
Landesherrlicher Tifchtitel, ſ. Tiſchtitel. 
Landesherrliches Nominationsrerht, f. nominatio regia. 
Landesherrliches Patronatrecht, ſ. Patron und Patronatrecht. 
Landesfirche. Das neuere Staatsfirhenrecht Hat dem im Zeitalter der 
Reformation geltenden Grundfag: cujus regio illius et religio in den fogenannten 
„Landesfirchen” feine erneuerte Anwendung zu geben verfucht, Als nämlich nach 
Auflöfung des teutfchen Reiches die fäcularifirten Churfürftenthümer und Bis— 
thümer vornehmlich proteftantifhen Negierungen zugefallen WERNE ; hatten legtere 
22 













m - AP; 


340 Landeskirche. 


nichts Angelegeneres zu thun, als die alte Kirchenverfaſſung in den katholiſchen 
Landestheilen möglichſt verſchwinden zu machen und unter der Firma „organiſcher 
Ediete“ und „neuer Landesorganiſationen“ eine Adminiſtration der kirchlichen An- 
gelegenheiten herbeizuführen, bei welcher ein Glied der Fatholifchen Kirche Teutfch- 
lands um das andere von der römischen Kirche abgetrennt und nach Befeitigung 


des ranpnifchen Nechtes auch dem Fatholifhen Glauben fein Ende bereitet werden 


follte, Zu dieſem Ziele fanden ſich die teutfhen Spuveränitäten in den Verord— 
nungen des Kaifers Joſeph IL (ſ. d. A) und noch mehr in der Häglichen Stellung 
den Weg vorgezeichnet, in welche die geiftlichen Churfürften fich gegen Ende des 
vorigen Jahrhunderts durch das an ihren Höfen wuchernde Illuminatenthum 
gegenüber vom hl. Stuhle hatten hineintreiben Iaffen (f. den Art, Emfer Con— 
greß und Punetation), Ganz aus derfelben Duelle, aus welcher Joſeph und 
die verblendeten Churfürften ihre Firchlich-politifche Weisheit fich geholt hatten, 
ſchöpften fie auch die dienftbefliffenen Handlanger geiftlihen und weltlichen Stan» 
des, welche fih um den Preis von Aemtern und Würden den Regierungen zur 
Derfügung ftellten, das „Papſtthum mit der Wurzel auszurotten“, pder, wie man 
fih euphemiftifch auszudrücken pflegte, „die Ratholifen gegen die Anmaßungen der 
römifchen Curie in Schuß zu nehmen,” Hiezu mußte eine Art Cordon um bie 
einzelnen Landestheile gezogen werden, welcher gegen jedwedes römische Miasma 
undurhdringliche Schranfen bot, und ſolchartig umfchriebene Gebietstheile nannte 
man „die Landeskirche.” Die obgenannte Duelle diefer Weisheit war die „Auf- 
Härung“ des 18ten Jahrhunderts, jene fhlechtefte Erfcheinung der ganzen Welt— 
geſchichte, für welche es feinen Glauben, Fein Recht, Feine Vernunft, Feine Wiſ— 
fenfchaft, ja felbft feinen Gott gibt, denn Nichts kann vor biefer Richtung Gnade 
finden, was fi über die Gemeinheit alltäglichen Treibens und Genießens er- 
hebt und der Plattheit des Verſtandes oder der Frivolität der Öefinnung unfaßbar 
iſt. Nicolai hatte für diefe Verfunfenheit die „teutſche Bibliothek” geſchrieben, 
und in den Geheimbünden der Illuminaten (f. d. A.) und Logen (f. den Art, 
Freimaurer) hatte fie Propaganda gemacht: beinahe die ganze Preffe der Testen 
Sahrzehnte des 18ten Jahrhunderts ftand ihr zu Gebot; und fo groß war Deren 
Macht, daß nur jene Katholifen Gnade fanden, welche fi) entweder ihres Olau- 
bens fhämten, oder der rationaliftifchen Frivolität huldigten und in gleihem 
Maße ihre Kirche Yäfterten. Die Logen bahnten den Weg zu den höchſten Stellen 
nicht bloß an den proteftantifch-weltlichen, fondern auch an den geiftlich- hurfürft- 
lichen Höfenz und befonders gefchah es von letztern aus, daß im Verein mit den 
jofephinifchen Generalfeminarien (ſ. d. 4.) die ſchlechteſte Sorte der genannten 
Aufklärung, die der Hoftheologen und Hpfcanpniften, in das 19te Jahrhundert 
herübergerettet wurde, Kaum war das teutfche Neih in Trümmer zerfallen, fo 
finden wir apoftafirte Mönche, ungläubige Priefter und Firchenfeindliche Laien als 
die unermüdetfien Werkzeuge der atheiftifhen Staatsgewalt, um die „Landes- 
firche” zu etabliren, d. h. die kirchlichen Verhältniffe der Katholiken in foweit nach 
den Grundfägen der rationaliftifchen Opttlofigfeit zu beftimmen, als es mit Hinter» 
gehung des hl. Stuhles nur immer möglich ‘war. Die magna carta dieſes Sy= 


ftemes ift die zu Frankfurt im Jahre 1818 entworfene „Pragmatik“; ihr intellec- 


tueller Urheber war der württembergifche Oberkirchenrath Werfmeifter, früher 
Benedietinermönch. — Es iſt hier nicht zu überfehen, daß das durch die Zer- 
theilung des teutfchen Neiches entflandene Souveränitätsrecht der einzelnen Re— 
gierungen fih auch dahin äußerte, daß es eine politifche Abfperrung der teutſchen 
Lande unter einander felbft erzeugte, welcher fich die Firhlichen Verhältniſſe, zu- 
mal bei der. religiöfen Zerflüftung Teutſchlands, nicht zu entziehen vermochten. 
Der Hl. Stuhl nahm auf diefe Sachlage au in foweit Rückſicht, daß ex in den 
Eireumferiptionsbullen der neuen Bisthümer. Die Landesgrenzen nach Möglichkeit 
maßgebend fein ließ. Es Hätte dieß auch ohne allen Firchlichen Nachtheil geſchehen 





Landoalb — Landpfleger. 341 


fonnen, würden nicht die Regierungsgewalten durch ihr unfeliges Staatsfirchen- 
foftem nicht bloß den Zufammenhang der einzelnen teutfhen Bisthümer unter ein= 
ander feldft, fondern auch mit dem HI. Stuble, fo weit fie e8 erreichen Fonnten, 
unmöglich gemacht haben. Die „Landesfirchen” follten nicht bloß dem Territorium 
nach, fondern auch geiftlich ifolirt und als bloße Staatsanftalten geduldet werben, 
Der Staat, durch den Reichsdeputationshauptſchluß in den Befig des fäcrularifir- 
tem Kirchengutes gefegt, hatte zwar die Pflicht übernommen, aus diefem Gute 
die Bisthümer und kirchlichen Anftalten zu fundiren; allein er befchnitt der Kirche 
als eine Färgliche Wohlthat zu, was fie als Recht fordern Fonnte, und er nahm als 
Preis feiner Unterftügung die Leitung und Beauffichtigang des gefammten Erziehungs=- 
wefens mit Ausfchluß jeder kirchlichen Einmifhung in Anſpruch. Dadurd war es 
leicht, die Sfolirung der einzelnen Theile ver Fatholifchen Kirche Teutfchlands auf 
das Höchfte zu treiben. Ganz befonders aber hat das den „Landesfirchen“ zum Grund 
Viegende Staatsfirhenfyftem in der „Dberrheinifhen Kirchenprovinz“ eine unge- 
bemmte Entwiclung und möglichft vollendete Darftellung erhalten, Es iſt nicht zu 
bezweifeln, daß diefes Syftem in feiner Eonfequenz, menfhlicher Berechnung nad, 
zum allmähligen Untergang des Fatholifchen Glaubens in Teutfhland geführt haben, 
oder, wenn es wieder fortgefegt werden follte, führen würde. Landeskirche, auf 
die katholiſche Kirche angewendet, bedeutet fonach: ein von der Staatsgewalt be— 
drücktes, und aus der organifchen Verbindung mit dem Oberhaupte abgetrenntes 
Glied der Kirche. Wäre die Erbarmung Gottes nicht unendlih größer als bie 
Berfehrheit der Menſchen, fo wäre die Fatholifche Kirche in Teutfchland ſchon 
längſt ausgerottet. — Nach dem proteftantifhen Kirchenrecht gibt es allerdings 
Landeskirchen im buchftäblichen Sinne des Wortes, da der weltliche Regent zu- 
gleich oberfter Biſchof ift und ihm die ganze Leitung des proteflantifchen Kirchen- 
wefens zufteht, Eine Fatholifche Landeskirche kann es im buchftäblichen Sinne des 
Wortes nicht geben, denn die Fatholifche Kirche als ſolche erkennt Feine Landes- 
grenzen; ihre einzelnen Theile fünnen äußerlich durch geographiſche oder poli— 
tifche Grenzen gefchieden fein; in dem gemeinfamen Dberbaupte aber find alfe 
diefe Theile ohne Rückſicht auf Stamm, Sprache, Nationalität und Grenze zu 
Einem Leibe geeiniget. | [S.] 


2andvald, der Heilige, f. Landelin. 


Sandpfleger. Diefer Ausdruck ift fiehende Ueberfegung für folgende in der 
Bibel vorfommende Amtsnamen geworden; 1) 2, nah Meier (Wurzelwörter- 


buch S. 709) ein affyrifhes Wort, wahrſcheinlich compositum yon „3 pars po- 


stica, tergum, und LS” solum regium, officium, munus, daher paigah eig. wer 
unter dem Throne fteht, Unterherrfiher. In der Zeit Salamo's ift es auch Be— 
zeichnung der hebräifchen Statthalter (1 Kön. 10, 25.); in der Periode der chal— 
däiſchen und perfifchen Herrfchaft bezeichnet es vermuthlich den Gpuverneur einer 
Provinz, der dem Satrapen untergeordnet war (vgl. Dan. 3, 2 ff. Efib. 3, 12. 
8, 9.). Im Anfang der verfifchen Oberhoheit war Paläftina mit andern ihm 
nahe liegenden Provinzen dem Landpfleger der transeuphratenifchen Provinz (T2> 
7972) untergraben (Er, 5, 3. 6, 6. cf. Ne, 2, 7. 9.); in der Folge wird Se— 
zubabel (Esr. 5, 14. 6, 7.) und Nehemias (Neh. 5, 14. 12, 26.) als eigener 
Landpfleger Judäa's (87777 n72) genannt, 2) nysuov, ryeuovevov im N. T. 
Dieß war der Titel der feldftftändigen Verwalter der römifchen Provinzen, der 
Proconſuln und Proprätoren. Judäa mit Samaria gehörte feit dem Jahre 12 
a. Chr, zur römischen Provinz Syrien, und fand eigentlich unter der Hoheit des 
ſyriſchen Proprätors, die Juden erfreuten ſich jedoch des Vorrechts, daß fie ſtets 
durch einen in Cäfarea (Jos. Antt. 18, 2, 2. 5, 3.) refidirenden Procurator, der 
unter jenem Prätor fand, regiert wurden, biefer führt nun bei den neuteſtament⸗ 


342 Landſperger — Lanfranf, 


lichen Schriftſtellern gleichfalls den Titel 7yauum und jysnovevon, obwohl ihm 
zunächſt nur die Benennung Errirooros zulam. Der Procurator Fam zur Zeit 
der Fefte regelmäßig in Begleitung von Truppen nach Jeruſalem, um etwaige 
Unruhen niederzuhalten, und wohnte im ehemaligen Palafte des Herodes, nun 
Prätorium (Jos. b. j. 2, 14. 8. autt. 15, 9. 3.), das neben der mit dem Tempel 
verbundenen Burg Antonia lag, von wo aus Alles Leicht beobachtet werden Fonnte, 
was in dem großen Vorhofe vorging. — Der erſte diefer Proeuratoren über 
Judäa war Coponius (Jos. antt. 18, 1, 1.)5 die Evangelien nennen nur den 
Pontius Pilatus, den fünften in diefem Amte; unter Tiberius und Caligula folg- 
ten noch drei weitere, Hierauf fam Judäa mit Samaria zum Reiche des Herodes 
Agrippa, nach deſſen Tod wieder römifche Procuratoren genannt werben (Jos. 
antt. 19, 9, 2.), von diefen Fennt die Apoftelgefhichte zwei, Felie und Feftus: 
Diefe Landpfleger waren meift eine Landplage; grauſam, ‚beftechlih, fangten das 
Volk in jeder Weife aus, mifchten fih namentlich auch in die Wahl der Hohen 
priefter u. f. w. (Jos. antt. 18, 2,2. 5, 3.20, 11, 1. bell. j, 2, 14, 2.). Die 
Klagen dagegen wurden verhindert oder blieben ohne Erfolg Cantt. 14, 10, 6. 
20,1, 1.8, 4). [Rönig.] 

 - Randfperger, Johann, Carthäuſer, fruhtbarer ascetifher 
Sähriftfteller des 16ten Jahrhunderts, geboren zu Landsberg in Bayern, 
machte feine Studien zu Cöln, trat bier in den Orden der Carthäufer, wurde 
unweit Jülich Ordensprior und farb zu Coln 1534 (1539 9). Wegen feiner 
großen Frömmigkeit und Gottesfurcht erhielt er den Beinamen des Gerechten. 
Obwohl außer den Kloftergefihäften die meifte Zeit der Betrachtung und dem 
Gebete obliegend, fo pflegte er doch auch raſtlos die Studien und ſchrieb fehr 
viele werthvolle Bücher, die in mehreren Ausgaben zu Cöln und theilweife auch) 
an andern Orten edirt wurden, Genannt mögen werben: Sermones capitulares 
in praecipuis anni festivitatibus — Vita Servatoris N. J. X. — Enarrationes in 
Evangelia et Epistolas — Paraphrases in dominicales epistolas et evangelia — 
Alloquia Jesu Christi ad fidelem animam — Enchiridion vitae 'spiritualis ad per- 
fectionem — Pharetra divini amoris. Gegen die Proteftanten ſchrieb er: Demon- 
stralio, quaenam vera sit religio evangelica ad Garolum V. — Dialogus inter mili- 
tem lutheranum et monachum. Auch bat Landfperg zuerft das Buch der Dffen- 
barungen der hl. Gertrud herausgegeben (f, den Art, Gertrud). ©, Raderus, 
Bavaria sacra; Kobolt's bayerifches Gelehrten-Lericon, [Schrödt.] 

Landulph, f. Pataria. ' 

Lanfrank. Im J. 1041 begegnen wir in der Normandie, auf dem Wege 
von Aoranches nach Nouen, einem friedlich wandernden jungen Gelehrten. Der- 
felbe wird in einem Walde von der Nacht übereilt, von Näubern angegriffen, 
gänzlich beraubt, an einen Baum gebunden und fo dem Untergange preisgegeben, 
wenn nicht Hilfe fommt, Der Himmel erhört fein Flehen um Errettung. Des 
andern Morgens ziehen Neifende vorüber und Töfen, um Hilfe angerufen, die 
Bande des Gefeffelten. Befreit bittet er feine Netter um das Einzige, daß fie 
ihm ein Kloſter, am liebſten ein niedriges und armes, zeigen mögen, denn er ift 
entfchloffen, der Welt Lebewohl zu fagen. Sie weifen ihn nad Bee, weldes in 
der Nähe Liegt. Angelangt dafelbft, trifft er den Abt Herluin fammt den Brü- 
dern an dem Baue des Klofters befihäftigt. Er bittet um Aufnahme und erhält 
diefelbe, nachdem er die ihm vorgelegten Satzungen, die Negeln des HL. Benedict, 
genau zu beobachten verfprochen hat, Sp ift er Mönd im Klofter Becz nicht 
Lange nachher wird er Prior deffelben Kloſters, fodann Abt zu Caön und endlich 
Erzbifchof von Canterbury, nach dem Könige der mächtigfte Dann in England, 
Diefer Mann ift Lanfrank. — Einem vornehmen Geſchlechte zu Pavia entfprof- 
fen, hatte er edle Bildung empfangen, Der frühzeitige Tod feines Vaters, eines 
Senators yon Pavia, erfeirhterte ihm die Ergreifung eines Berufes nach Anlage 


u. Age TER - WM— = 


ganfranf. | 343 


and Neigung. Wenig Gefhmad findend an den Geſchäften eines Rechtsgelehrten, 
verläßt er bald die Jurisprudenz, um ſich den freien Wiſſenſchaften zuzuwenden. 
Ausgerüftet mit einer Bildung, wie fie damals verftattet war, geht er über bie 
Alpen; er fuht Abenteuer und Ruhm. Nahdem er Frankreich durchwandert hat, 
welches damals Heinrich 1. beherrfchte, wendet er ſich nad der Normandie. Ohne 
Zweifel hat ihm der Ruhm des maͤchtigen Normannen-Herzogs Wilhelm, nad- 
maligen Königs von England, angezogen. In Aorandes errichtet er eine Schule, 
Wie lange er hier gelehrt, wiffen wir nicht. Immerhin Tange genug, um fi 
einen Namen zu erwerben, und nachher eine Maffe Schüler an -den Drt feines 
Aufenthaltes zu ziehen, Es mag einige Jahre gedauert haben. In dem Eingangs 
genannten Jahre fehen wir ihn auf dem Wege nad Rouen. Ohne Zweifel: fucht 
er in diefer Stadt einen größern Wirfungsfreis, Da tritt das erzählte Ereigniß 
ein und veranlaßt ihn, einen andern Beruf zu ergreifen, feinem Leben eine andere 
Richtung zu geben. Der Finger Gottes läßt ſich nicht verfennen, Es wird er= 
zählt: Als die Räuber dem Lanfranf Alles bis auf einen alten Mantel abgenom= 
men, babe fich diefer einer Geſchichte erinnert, welche fih in feinem Baterlande 
zugetragen. Räuber hatten nämlich einem Reifenden das Pferd abgenpmmen, die 
Reitpeitfche aber gelaſſen. Da Iegtere für den Beraubten entbehrlich war, rief 
diefer die Räuber zurück, um ihnen auch noch die Reitpeitfche einzuhändigen. 
Theils durch diefe Gutmüthigfeit, theils durch eine höhere Warnung erfchüttert, 
gaben die Räuber das Pferd zurück. An diefe Geſchichte alfo Habe fich Lanfranf 
erinnert: und fofort den Räubern au noch den Mantel angeboten, den fie ihm 
gelaffen, hoffend, er werde fo glüdlich fein wie jener Neifende in Italien. Aber 
diefe Lift hat gänzlich fehlgefchlagen. Glaubend, er wolle ihrer ſpotten, wurden 
die Räuber zornig, entblösten erft jest den Beraubten vollfommen und banden 
ihn unter Mishandlungen an einen Baum. Das war entfcheidend. Lanfranf er- 
wog, daß er fündhaft gehandelt, indem er wahre Gutmüthigfeit aus Eigennug 
liſtiger Weife nachgeahmt, und verbehlte fih, in Folge diefer Betrachtung , nicht, 
daß all’ feine bisherigen Unternehmungen von Eigenliebe geleitet gewefen und 
Befriedigung eitler Selbftjuht zum Zwede gehabt, Daher fein Entſchluß, fich 
in ein Klofter zurüdzuziehen und allen Egoismus abzuthun, wenn Gott ihn retten 
würde, Wie dieß geſchehen, Haben wir gefehen. — Lanfranf bleibt feinem Ent— 
fchluffe treu, — Obgleich dur feine gelehrte Bildung, welche in Ber etwas Un— 
befanntes iſt, auf's Höchfte imponirend, ift er doch unter allen Brüdern der be— 
fheidendfte und demüthigfte und zollt dem Abte wahrhaft Findliche Verehrung und 
einen Geborfam, welcher feine Grenzen fennt. Nicht minder ift er auch in Fleiß, 
Mäßigkeit und den andern flöfterlihen Tugenden ein Mufter für die Uebrigen, 
Bald indefjen ift fein Hauptgefhäft der Unterricht. Daß feine Schule eine der 
berühmteften und geſuchteſten geweſen, ift befannt. Bon allen Seiten her, aus 
Frankreich, Teutſchland, felbft aus Italien famen Schüler nah Ber; Söhne aus 
den vornehmſten Familien, Laien: wie Cleriker fuchten Lanfranfs Unterricht; viele 
nachher berühmte Männer, Aebte und Bifhöfe find feine Schüler gewefen. Wir 
nennen nur zwei: Anfelm, fpäter Nachfolger Lanfrank's in Canterbury, und Papft 
Alerander II. (ſ. diefe Art). — Ein Mann wie Lanfranf iſt überall für die Vielen 
zu gut, Es fund nicht lange an, fo wurde der Bortreffliche von dem Neid und 
Haffe träger und ungeordneter Mönde verfolgt. Ihm feinerfeits war der Anblick 
eines difjoluten Kloftervolfes unerträglih. Da er aber nicht Hoffen fonnte, ander= 
waärts beffere Möncde zu treffen, fo entfchloß er fi, in die Einfamfeit zu gehen, 
Eremit zu werben. Er gibt Magenſchwäche vor, laßt fih vom Gärtner Wurzelm 
geben und übt fi, zur Vorbereitung auf das Eremitentfum, im Wurzelefjen. 

Abt Herluin wird dur eine Vifion über Laufrank's Plan unterrichtet, und es ge= 
lingt deffen Bitten, den Mifmuthigen zurückzuhalten. Lanfranf wird bald darauf 
zum Prior des Klofters ernannt, und in dieſer Eigenfhaft gelingt es ihm, beffere 





344 Lanfrank. 


Ordnung herzuſtellen und zu erhalten. — Unterdeſſen hatte Berengar (ſ. d. 4.) 
ſeine Irrlehre öffentlich vorgetragen, und Lanfrank wurde gleich Anfangs in die 
Angelegenheit verwicelt. Berengar hatte Lanfrank brieflich aufgefordert, ihm in 
Her Bertheidigung des Johannes Seotus Erigena gegen Paſchafius Radbertus 
. beizuftehen, Lanfranf war bei Ankunft des Briefes nicht zu Haufe gewefen und 
dieſer von etlichen Mönchen gelefen worden, Hiedurch gefchah es, daß Lanfranf 
verdächtigt wurde, Er fteht, hieß es, mit einem Srrlehrer in Berbindung; alfo, 
Die Sache fam nach Nom. Lanfranf wurde eben fo wie Berengar zur DBerant- 
wortung vorgeladen, Da die Verläumdung zwar boshaft genug, aber noch viel 
mehr thöricht war, fo hatte feine Vertheidigung feine Schwierigkeit; und es ift 
ihm auch aufs VBollfländigfte gelungen, die beiden Eoneilien von Rom und Ber- 
celli Cunter Leo IX. im J. 1050) von feiner Rechtgläubigkeit zu überzeugen. 
[Das Nähere in Betreff der genannten zwei Coneilien und des weiteren Ber- 
laufes der Berengar'ſchen Irrung ſ. im Art. Berengarvon Tours.) — Dem 
eben fo weifen als tapfern Wilhelm konnte der gelehrte und auch juriftifch ge— 
bildete Lanfrank nicht verborgen bleiben; er bediente fih feines Nathes in den 
wichtigften Angelegenheiten (Lanfrank war, fagt fein Biograph Milo Erispinus, 
summus consiliarius ad administranda totius patriae negotia), Eine Ungnade, in 
welche Lanfranf bald verfiel, ging ſchnell vorüber. Er follte, wir wiffen nicht 
genau warum, verbannt werben (entweder weil er den unwiffenden und eitlen 
Hofkaplan als unwiffenden Menfchen behandelt Hatte, oder, was wahrfcheinlicher, 
weil er war verläumbet worden). Es wurde ihm ein hinfendes Pferd zugeftellt, 
damit er auf demfelben das Land verlaffe. Während er nun fo elendiglich in bie 
Verbannung reitet, begegnet ihm zufällig der Herzog. Diefer kann nicht umhin, 
einen Augenblid die Complimente zu betrachten, die ihm von dem hinfenden Thier 
gemacht werben, Lanfranf benüßt diefen Augenblid, dem Herzog zu. fagen: 
„Wenn du willft, Daß ich dein Land verlaffe, fo mußt du mir ein befferes Pferd 
geben, denn diefes da ift nicht im Stande, mich über die Grenze zu bringen,” 
Diefer Scherz veranlagt ein Gefpräh und Erflärungen, deren Folge iſt, daß 
Lanfranf wieder in Onaden aufgenommen wird, Und von jest an ift er ununter- 
brochen der Höchfte, aber auch treuefte Nathgeber des „Eroberers.“ — Bald 
darauf erhält er eine Miffion, deren wir um der Folgen willen erwähnen müffen; 
Um's Jahr 1060 nämlich wird er nach Nom zu Papft Nicolaus U. gefandt, um 
feinem Herzog Dispens behufs der Verehelihung mit einer Anverwandten, einer 
Prinzeffin von Flandern, zu erwirfen. Der Papft willfahrt der Bitte, fügt aber 
Die Forderung bei, daß der Herzog zwei Klöfter baue, ein Möndhs- und ein 
Srauenklofter. Wilhelm, diefer Forderung nachkommend, erbaut fogleich ein bem 
hl. Stephanus geweihtes Klofter zu Caem, Nach ungefähr drei Jahren ift das— 
- Felbe fertig, und als Abt wird ihm vorgeſetzt Lanfrank. Lanfrank ift nun Abt 
zu Caön vom Jahr 1063 oder 1064 big 1070, Daß er das Klofter vortrefflich 
eingerichtet und geleitet, nicht minder, daß er eine Schule gegründet und‘ forg- 
fältig gepflegt habe, würden wir annehmen, wenn es auch nicht ausdrücklich be— 
zichtet wäre. — In diefe Zeit fällt die Abfaffung einer Schrift, welhe dem Lanz 
frank eine Ehrenftelle in der hriftlichen Literärgefchichte fihert, Wir meinen bie 
Schrift über das Abendmahl gegen Berengar (De corpore et sanguine Domini, 
advers. Berengar. Turon.),. Berengar hatte auf einem Coneilium zu Rom 1059 
das orthodoxe Glaubensbekenntniß in Betreff der Euchariſtie beſchworen, bald 
aber nad) der Rückkehr feine Irrlehre auf's Neue vorgetragen und in einer aus— 
führlichen Schrift zu begründen gefurht (f. den Art. Berengar, Bd. I. ©, 823), 
Dagegen num tritt, in der genannten Schrift, Lanfranf auf, Lanfrank wendet 
ſich an Berengar, wirft ihm feine Unbeftändigfeit oder vielmehr Meineivigfeit vor, 
indem er den bisherigen Gang der Verhandlungen barftellt; bezeichnet hierauf 
Tehr genau das Verhaͤltniß zwifchen der Fatholifchen Lehre, welche Transfuhften- 


Lanfranf. 885 


tiationslehre ift, und der Berengar'ſchen Irrlehre, und ſchließt mit einer dog- 
matliſch⸗ hiſtoriſchen Begründung der erftiern, wobei er die von Berengar vorge⸗ 
brachten Argumente widerlegt und insbefondere die Perfidie aufdeckt, womit Be— 
rengar bie Kirchenväter, namentlich Ambrofius und Auguſtinus, für feine Irrung 
aufgerufen hatte. Diefe Schrift Lanfranfs gehört zu den jhönften Denfmälern 
der chriſtlichen Wiffenfchaft im Mittelalter, und noch heute wird jeder Theologe 
fie mit Nutzen und Vergnügen leſen. Wenn Leffing (Berengarius Turonon. oder 
Ankündigung eines wichtigen Werkes deſſelben. Braunſchweig 1770), Neander, 
Stäudlin ıe,, neuerdings befonders Sudendorf (Berengarius Turonensis, oder eine 
Sammlung ihn betreffender Briefe. Hamburg u. Gotha 1850) die Gegenſchrift 
son Berengar (Bereng. Tur. de sacra coena adv. Lanfrancum. Ed. Vischer. Bero- 
lini 4834), eine Cumulation von pöbelhaften Läfterungen, in freundlihen Schuß 
und forgfältige Pflege nehmen, fo werden wir und hiedurch nicht nur nicht beirren, 
fondern im Gegentheil beftimmen Iaffen, Lanfrants Schrift nur um fo höher zu 
ſchätzen. — In diefelbe Zeit ift ohne Zweifel auch die Abfaffung der Decreta pro 
ordine S. Benedicti zu fegen — ziemlich ausführlihe Vorſchriften für die Mönche, 
zur Regelung der TIhätigfeit, des Gottesdienſtes sc. — Ebenfalls in diefer Zeit 
follte Lanfranf Erzbifchof von Rouen werden. Er weigerte fih ftandhaft, indem 
er geltend machte, die bifchöflichen Gefchäfte vertragen ſich nicht mit dem Mönds- 
leben, von welchem er nicht Iaffen wolle. Hierauf wünfchte Herzog Wilhelm den _ 
Biſchof Johannes von Avranches nach Rouen zu verfegen, und fandte Yanfranf 
nah Rom zu Papft Alerander II., um die erforderliche Dispens zu erwirfen, — 
Ohne Zweifel aber Hatte diefe Miffion noch einen andern Zweck. Wilhelm Hatte 
unterdeffen England erobert (1066) und die Firchlichen Berhältniffe dafelbft in 
größter Unordnung angetroffen, die Bifchöfe verweltlicht, träge, nachläſſig, den 
niedern Clerus, den Oberhirten gleich, verfommen, roh, unwiffend, mehr zer- 
 flörend als erbauend, und ließ es nun feine erfte und vorzüglichfte Aufgabe fein, 
in diefem Gebiete Ordnung zu ſchaffen; und ohne Zweifel war es vorzugsweife 
wegen diefer Angelegenheit, daß er Lanfranf nah Rom ſandte. Sp erflärt es 
fi, daß der Papft dem zurücfehrenden Lanfranf drei Legaten mitgab. Diefelben 
Hatten den Auftrag, zunaͤchſt den König zu Frönen, dann aber vorzugsweife die 
Kirche in England zu reformiren. Demzufolge hielten fie alsbald eine Synode 
zu Windfor, festen auf derfelben mehrere Bifhöfe ab, darunter auch, wegen 
ſchlechten Lebenswandels und eben fo fchlechter Verwaltung, den Erzbifhof von 
Canterbury, Primas von England, Nun glaubt König Wilhelm nicht beffer für 
die Kirche Englands forgen zu fönnen, als dadurch, daß er Lanfranf auf den erz⸗ 
bifhöflichen Stuhl von Canterbury berief. Allein Lanfranf verweigert die An— 
nahme aus denfelben Gründen, die ihn früher beftimmt haben, das Erzbisthum 
Rouen zurüdzumeifen. Lange Zeit ift er auf feine Weife zu bewegen, felbft des 
Papſtes Wille ift nicht entfcheidend. Erft der Befehl feines alten Abtes Herluin 
bricht feinen Widerftand. Was oder wer den Herluin zur Erlaffung des Befehls 
bewogen babe, ift leicht zu errathen. Lanfranf aber war gewohnt, feinem Abte 
und geiftigen Vater unbedingt, blindlings zu geboren. Sp ift er denn Erz=- 
bifchof von Canterbury und Primas von England geworden, Es war im Jahre 
1070, — Nun beginnt Lanfranf eine Thätigfeit zu entfalten, welche in Erſtaunen 
fest. Sein erftes Gefchäft ift Wiederberftellung und Befeftigung der zeifallenen 
kirchlichen Ordnung, zunächft die Geltendmachung feiner eigenen Auctorität, Siche- 
rung der Primatialrechte. Dieß Hatte einige Schwierigkeit, indem Thomas, 
Erzbiſchof von York, wo nicht den Primat, fo doch Unabhängigkeit von Canter⸗ 
J bury in Anſpruch nahm. Es gingen zwei Jahre darüber hin, bis Lanfranf all- 
gemeine und unbedingte Anerkennung des Primates von Canterbury erwirft hatte, 
Mit diefem Erften verbindet er fogleih das Zweite, die Reform der entarteten 
Mönde und Elerifer im ganzen- Reiche; er forgt für Unterricht, hebt das wiffen- 





346 Lanfrank. 


ſchaftliche Streben, überwacht Lehre und Diseiplin; die Bibel und die Schriften 
der hl. Väter, die voll Fehler, dem Staube und den Würmern preisgegeben ſind, 
läßt er abſchreiben, das Brevier vervollſtändigen u. ſ. w. Dann ſtellt er die 
zerfallenen Kirchen und Klöſter wieder her, vor Allem in Canterbury ſelbſt, wel- 
ches ihm als zweiten Gründer anzufehen hat; forgt überall für die Mönche und 
die Armen, baut Spitäler, Armen-, Kranfen- und Fremdenhäufer — Alles im 
Sntereffe der Ordnung und Gittlichfeit des Volkes, nach dem Ausdrucke feines 
Biographen: totam intentionem suam ad mores hominum corrigendos et compo- 
nendum ecclesiae statum convertit. „Bon feiner Befehrung an, fagt derfelbe Bio— 
graph, Alles zufammenfaffend und unter der Beiftimmung Anfelms und Eadmers, 
widmete er fich ganz der Pflege der Religion, fuchte immer das Beffere und war 
beftrebt, in der Tugend mehr und mehr zu wachfen, Wer ift im Stande, würbig 
zu befchreiben das Licht feiner Weisheit, die Schärfe feines Geiftes, feine Herzens- 
güte, feine Gerechtigkeit im Handeln, die Reinheit feiner Seele! Er war ange- 
nehm durch Heiterkeit, befcheiden in Demuth, verfchwenderifch im Almofen, im 
Glauben katholiſch, ein Wiederherfteller der chriſtlichen Religion, "eine Stüge ber 
Armen, Befhüser der Waifen, Tröfter der Wittwen.“ Fürwahr das Bild eines 
vortrefflichen Menfchen und Kirchenfürften! Leffing will den Heiligenfchein von 
deffen Haupte geriffen haben (vgl. die oben genannte Schrift von Sudendorf), 
Es thut uns leid um den gelehrten Wolfenbüttler; er hat durch folches Beginnen 
nur ſich felbft befhmugt. — Indeß fünnen wir doch nicht abfchließen, ohne noch 
einen Punet fpeciell zu beleuchten, der die Feuerprobe für jeden Kirchenfürften 
ift, wir meinen das Verhältniß Lanfranfs zu Nom, Nachdem Lanfrank das Erz- 
bisthum Canterbury endlich angenommen hatte, bat er fchriftlih den Papft um 
Veberfendung des Palliums, erhielt aber (durch den Archidiacon Hildebrand) die 
Antwort, man pflege das Pallium nicht zu verfendenz; jeder Erzbifchof ſei ver- 
pflichtet,, e8 felbft von Rom zu holen; er möge alfo perfönlich nah Nom kommen. 
Lanfrank Fam diefer Weifung ohne Zögerung nach. Aber es kann auffallen, daß 
ex folher Weifung und Zurechtweifung überhaupt nur bedurfte. Indeſſen aus 
dem Empfange, der ihm in Rom geworden ift, geht zur Genüge hervor, man habe 


dafelbft fein Benehmen nicht als Unbotmäßigfeit angefehen, wornach zu urtheilen 


ift, er werde genügende Gründe zu dem Wunfche gehabt Haben, das Pallium zu- 
gefchieft zu erhalten. Der Papſt nämlich (Alexander IL) empfing ihn mit befon- 
derer Auszeichnung und ertheilte ihm zwei Pallien: Das gewöhnliche und das— 
jenige, deſſen er felbft fih bei der Celebration der Meffe zu bedienen pflegte, 
Dagegen ift gewiß, daß der folgende Papft, Gregor VIL., mit Lanfranf nicht ganz 
zufrieden gewefen, Er hatte ihn wiederholt nach Rom eingeladen, immer ohne 
Erfolg. Darüber beſchwert er fih am Ende ziemlich bitter, woher er zugleich 
dem Lanfranf vorwirft, daß er zu nachgiebig gegen die weltliche Gewalt die Rechte 
der Kirche nicht genugfam gegen die Eingriffe des Königs ſchütze, daß er nicht 
ohne Schuld zu fein foheine an der Verweigerung der Fidelitas von Seite feines 
Königs König Wilhelm Hatte nämlich zwar den fog. Peter-Pfennig verabreicht, 
die Fidelitas aber verweigert, d. h. fein Reich nicht zu Lehen von dem Papfte an- 
genommen — allerdings gegen das vorher gegebene Verfprechen), daß es über- 
haupt ven Anfchein habe, er fer, zur bifchöflichen Würde erhoben, dem römifchen 
Stuhle nicht mehr fo treu ergeben, al8 er es vorher gewefen (vgl. Epp. Gre- 
gor. VI. L. VI, ep. 30; L. IX, ep. 20). Es wird nicht fiber auszumachen fein, 
in wieweit diefe Vorwürfe gegründet feren. Lanfranf antwortet, an feiner Ge— 
finnung gegen Rom fei feine Beränderung vorgegangen, er fei noch eben fo treu, 
als er es vorher geweſen; dagegen ſcheine ihm, der Papſt hege nicht mehr das 
alte Wohlwollen gegen ihn (vos vero a pristino amore nonnulla ex parte defe- 
eisse); was Die vom Rönig-verweigerte Fidelitas betreffe, fo habe er zur Leiftung 
derſelben gerathen; daß er nicht durchgedrungen, fei nicht feine Schuld (suasi, 


a 


Lanfrank. 347 


er, sed non persuasi). Die beiden andern Punete übergeht er mit Still- 
weigen. Es läßt fih wohl begreifen, daß er auch bei dem beften Willen nicht 
immer im Stande gewefen, den gewaltthätigen Normannen gegenüber alle Rechte 
und Güter der Kirche völlig unverfehrt zu erhalten; nicht minder, daß er feine 
Zeit gefunden habe, eine Reife nach Nom zu unternehmen; denn die vielen Ge— 
fchäfte, die er fhon als Erzbifhof und Primas hatte, wurden noch bedeutend da- 
durch vermehrt, daß er immer bei Abwefenheit des Königs Reichsverwefer war. 
Allein Gregor kannte Feine Rückſichten. Daher mag es Lanfranf für das Beſte 
gehalten haben, über die genannten zwei Puncte zu fohweigen. Daß er im Ge- 
willen gerechtfertigt und beruhigt gewefen, ift für uns nicht zweifelhaft. Papſt 
| Alerander II. war der Schüler Lanfranfs gewefen. Das batte ein perjönliches 
Verhältniß zwiſchen beiden begründet, weldes natürliher Weife zwiſchen Gregor 
und Lanfranf nicht beftehen Fonnte, Hierin wird e$ begründet fein, daß Gregor 
etwas Argwohn gegen Lanfrank hatte, — Nachdem Lanfranf fein hohes Amt bis 
in's 19te Jahr auf die angegebene Weife verwaltet, Fräftig und nicht ohne Er- 
folg zum Wohl der Kirche gewirkt Hatte, flarb er den 28. Mai 1089, zwei Jahre 
nah dem Tode Wilhelms des Eroberers. Die Gemwaltthaten und Ungerechtig— 
keiten Wilhelms II. Haben, ſcheint es, den Tod des Kirchenfürften beſchleunigt. 
Wie alt er geworden, iſt nicht auszumahen. D'Achery vermuthet 92 Jahre. Er 
nimmt nämlich an, Lanfrank fei bei der Anfunft in Bee 45 Jahre alt gewejen. 
Andere nennen, mehr wahrfheinlih, aber gleichfalls völlig ohne Grund, das Jahr 
1006 als fein Geburtsjahr. Nehmen wir am, was ohne Zweifel das Wahr- 
foheinlichfte ift, er fei bei der Ankunft in Bee hochſtens 30 Jahre alt geweien 
(find 30 einmal überfhritten, fo pflegt man das Reifen in’s Ungewiffe nicht mehr 
zu lieben), fo wäre er 73 Jahre alt gefiorben. Der Wohlgerud feiner Gebeine, 
welche unter feinem zweiten Nachfolger, bei Einweihung der vergrößerten Kirche, 
„erhoben wurden, beweist, daß er felig geſtorben, quod anima illius in magna sua- 
vitate requiescit, wie fein Biograph fagt. — Zum Schluffe ift noch mit wenigen 
Worten der literarifihen Thätigkeit Lanfranfs zu erwähnen. Zwei feiner Schriften 
- find bereits genannt, Außer dieſen befigen wir von ihm: Commentarius in epis- 
iolas B. Pauli — kurze Anmerkungen, größtenteils den Schriften des HI. Am- 
broſius und Auguftinus entnommen, wobei zu bemerfen, daß die dem Ambrofius 
entnommenen Citate fich in den uns erhaltenen Schriften diefes Vaters nicht fin- 
den; Annotatiunculae in nonnullas Joannis Cassiani Collafiones Patrum — ein fehr 
fleines Fragment ohne weitere Bedeutung; Epistolarum liber — 60 Briefe, wovon 
44 von Lanfranf an verfchiedene Perſonen, Päpſte, Bifchöfe, Aebte, Könige ıc,, 
und 16 an Lanfranf, alle aus der Zeit des Episcopates Lanfranfs, theilweife von 
Wichtigkeit für die Gefhichte; Pericope Orationis quam in concilio anglicano habuit 
L. — Bruchſtück einer Rede zur Vertheidigung feiner Vrimatialanfprühe; de 
celanda confessione libellus — eine furze Abhandlung über das Beichtgeheimniß 
ſowohl von Seite des Beichtenden als des Beichtvaters. Dabei fommt Lanfranf 
auf die Frage zu fprechen, wen zu beichten fei, und fpricht u. A. folgenden Sat 
aus: „Visibilia namque sacramenta et operantur et significant invisibilia. In hoc 
cognoscimus quia de occultis omni ecclesiastico ordini confiteri debemus, de aper- 
is vero solis convenit sacerdotibus, per quos Ecclesia, quae publice novit, et sol- 
vit et ligat“‘ (D’Achery pag. 381). Diefe Aeußerung bat den Theologen viel zu 
ſchaffen gegeben (ogl. D’Achery Annotat. ad h. 1.; Nat. Alex. H. E. Saecul. XL 
et XU, cap. V, art. 6). Ohne Zweifel will Lanfranf nur fagen, über die fünd- 
hafte Neigung, Begierde, verkehrte Gefinnung u. dgl. fei es gut, fich auch Laien, 
- Sreunden, ernften und tugendhaften Männern zu entdecken; die wirklichen Sünden 
dagegen, das offenbar gewordene Böfe fei nur den Prieftern zu befennen, weil 
nur dieſe yon der wirklichen Sünde abſolviren können. — Alle diefe Schriften 
hat zum. erfien Male vollſtändig herausgegeben D’Achery (B.Lanfranci opp. 


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318 Lang. & 


omnia. Lut. Paris. 1568. 1 fol.). Neuere Ausgaben: Venet. 1745; Oxonüi 1844— 
45. 2 Vol. 8. von J. A. Giles. Verloren gegangen find ein Commentar zu den 


Palmen, eine Kirchengeſchichte und eine Biographie Wilhelms des Eroberers 
cogl. D’Achery Amnot. ad Vitam Lanfr. p. 41). Die Duellen, woraus Nach— 


richten über Lanfrank zu fhöpfen, und woraus auch wir die obigen Angaben ge- 4 


nommen haben, find vor Allem bie Vita B. Lanfranci von Milo Erispinus, 
Hann die Vita S. Anselmi von Eadmer (f. d. A.), die Gesta Anglor. von Wilh. 


Malmesbury lib. II. und das Chronicon Beccense. D’Ahery hat alles hieher 


Gehörige gefammelt, Vgl, auch Möhler, gefammelte Schriften und Aufſätze. 
Br, 1. ©, 32 ff. | Mattes, 

Lang, Matthäus, Cardinal und Erzbifhof von Salzburg, geb. 
41469 zu Augsburg aus der Familie der Patricier von Lang, wurde, nad vollen⸗ 
deten Studien zu Ingolſtadt, Secretär bei Kaiſer Friedrich II. und nach deſſen 
Zod der vertrautefte Rath des Kaiſers Maximilian J., welcher ihn zu den wichtig⸗ 
ſten Staatsgeſchäften gebrauchte. Nachdem Lang die Dompropſteien von Augs- 
burg und Conftanz und verſchiedene einträgliche Commendatorien erlangt, erhielt 
er 1505 das Bisthum Gurk, Wenig fland es ihm als Geiftlihen und Biſchof 
an, daß er das ſchismatiſche Coneil von Pifa (ſ. Julius IL) förderte, doch 
machte er die Sache dadurch wieder gut, daß er e8 auch war, welder eine Aus— 
gleihung zwiſchen Kaifer und Papft zu Stande brachte, zufolge welcher Marimi- 
Yian fih vom pifanifchen Aftereoncil losſagte und der vom Papfte verfammelten 
Lateranfgnode beitrat (1513). Um den allmächtigen und der Eitelfeit nicht un— 
zugänglichen kaiſerlichen Minifter für fi zu gewinnen, hatte ihn Papft Julius 
Schon 1511 zum Cardinal gewählt und als er vom Kaiſer zum Abſchluſſe des 
Friedenstractates bevollmächtigt nad Rom kam, wurde er mit Föniglichen Ehren 
empfangen. Nach unterzeichnetem Tractat wohnte er einer Seffion des Coneils 
an. Auf dem zu Augsburg 1518 gehaltenen Reichstage, wo er im Faiferlichen 
Auftrage die Stände zur Türfenhilfe und zur Wahl Earls zum römifhen König 
zu bewegen fuchte, fuchte er auch den Luther zurechtzumeifen, es gelang 
ihm nicht, Bei Carls Kaiſerwahl fand er an der Spite der von 


ige zur Wahl bei, Schon 1514 beim Concil im Lateran zum Coadjutor des 
Erzbifchofs Leonhard Keutſchach von Salzburg ernannt, war er inzwifchen nach 
deffen Tod C+ 8. Juni 1519) Erzbifchof von Salzburg geworden und nahm nach 
Earls Wahl Poſſeß von der Erzkirche. Fortwährend das Vertrauen des Kaiſers 
und des Erzherzogs Ferdinand geniepend und zur Bereinigung der wichtigften 
Reichs⸗ und Familienangelegenheiten von ihnen verwendet, bethätigte er zugleich 
feinen Eifer für die alte Kirche auf verfihiedenen Neichstagen, Auf dem Reichs— 
tag zu Augsburg 1530 trat er mit Melanchthon in Verhandlung. Ob er bier, 
wie Lutheraner berichten, Aeußerungen gethan, wie, die meiften Klagen der 
Proteftanten über Mißbräuche feien wahr, aber unausftehlich fei es, daß ſich Die 
Kirche durch einen efenden Mönch veformiren laſſen folfe, an den Pfaffen fet 
nichts zu reformiren, denn fie feien nie gut gewefen, mag dahingeſtellt bleiben; 
gewiß ift, daß Lang damals wie jederzeit für die katholiſche Kirche eiferte, fo daß 
Luther ihn ein Ungeheuer nannte und die proteftantifchen Stände ihm fehr abhold 
waren; nur wäre es ihm Tieb gewefen, durch Wal he; wirffiher Mißbräuche 
eine Vereinigung zwiſchen den Neligionsparteien erbeizuführen, und hätte er 
gerne ſchwankende Männer der Kirche wieder zugeführt, was ihm mit Johann 
Staupit gelang, welchen er als Hofprediger und Abt von St. Peter nad 
Salzburg brachte. Für die Erhaltung der Fatholifchen Religion in feiner Erzdid- 
cefe und in Südteutſchland wirkte er dadurch, daß er auf Neformation des 
Elerus drang, 1524 dem Fatholifchen Fürftenbunde beitrat, energifch den Aufruhr 
der Salzburger 1523 unterdrückte und mit Bayerns Hilfe ven Bauernaufftand 


| arl hiezu be⸗ 
ſtimmten Geſandtſchaft und trug durch ſeine Beredtſamkeit und Klugheit das Sei⸗ 





Lange Tag der Juden — Langhton. 349 


1525 bezwang. Reich an Verdienften ftarb diefer auch durch Wohlthätigkeit und 
Gelehrfamfeit ausgezeichnete Prälat, 72 Jahre alt im März 1540. S. Hanſitz, 
Germania sacra. I.; Duͤcker s Chronik ». Salzburg; Pl. Braun, Geſch. d. BB, 
9. Augsburg. II. [Schrödt.] 
Zange Tag der Juden. Diefes ift in Teutfchland der gewöhnlide Name 
des ur der Juden, welder nah dem mofaifhen Gefes auf den 
‚zehnten Tag des fiebenten Monats fällt, und welchen die fpätere Beobachtung 
mit manchen neuen Ceremonien ausgefhmüct hat (ſ. die Art, Faſt en Bd, IL 
S. 915 und Fefte Bo. IV. ©. 50 und das Ende des Art. Judenthum). Er 
hat darin feinen Grund, weil die Juden an diefem Tage von früh Morgens bis 
Abends nichts effen und trinfen dürfen, Diefe Benennung ift, wie gefagt, 
in Teutfchland volfsthümlich, und kömmt nicht erft bei Bodenfhas (I. ©. 199), 
fondern ſchon in des ehemaligen Regensburg. Rabbiners Antonii Margarithii: 
„Der gang Jüdiſch glaub“ 1530. Lit. E. I. vor, wo es heißt: „Wais aber nit 
grüntlich warumb er der lang tag genennt wurt. Ich laß mi aber gebunfen 
28 gefchehe darumb das die Juden an diefem ganzen Tage fo ein jhwer, hart 
und peinlich Ieben, mit faften beiten, füren müffen.“ 
.  Bange, Joachim, ein Iutherifcher Theolog, geboren zu Gardelegen am 
26. Detober 1670, erhielt feinen erften Unterricht bei feinem Bruder Nicolaus, 
dann befuchte er die Schule in Oſterwick, 1687 fam er nah Duedlindurg, 1639 
nach Magdeburg. Hierauf ging er fehr arm an die Univerfität Leipzig mit einer 
Empfehlung an Aug. Herm, Franke, welcher ihn umfonft auf feine Stube nahm, 
Als diefer Diaconus in Erfurt wurde, folgte er ihm dahin nah, und fegte dort 
feine Studien fort; fpäter ging er nach Halle, wo er ſich durch Unterrichtgeben 
forthalf. Später (1693) war er in Berlin Hofmeifter bei den Kindern des ge— 
heimen Rathes von Canitz, und benügte Speners Vorlefungen, ein Umftand, der 
auf feine fpätere theologiſche Richtung nicht ohne Einfluß war. Denn Lange er= 
ſchien in feiner Mannesfraft als ein nachdrücklicher Bertheidiger des Pietismus 
und als ein heftiger Gegner der Wolfifchen Philofophie. Ueberhaupt war 2. ein 
Fampfluftiger, aber auch ein geübter, bejonders im Latein und in den orientali— 
n Sprachen erfahrener Theolog. Im J. 1696 ward L, Eonrector zu Cöslin 
in Hinterpommern, 1697 Rector am Friedrihswerther Gymnaſium in Berlin, 
1699 Adjunet der theologiſchen Facultät zu Halle, fpäter Paftor bei der Iutheri- 
ſchen Gemeinde in der Friedrihsftadt; 1709 Fam er als ordentlicher Profeffor 
der Theologie nah Halle, die ihm angetragene theologiſche Profeffur in Copen- 
hagen fchlug er aus. Sein Tod erfolgte am 7. Mai 1744. Seine Lebensbe- 
| ſchreibung erſchien noch in demfelben Jahre zu Halle, Seine zahlreichen Schriften, 
von denen mehrere gegen das Wolfiſche Syſtem gerichtet find, find verzeichnet in 
Rotermunds Gelehri,-Ler. [Dür.] 
Sanghton, Stephan, Cardinal und Erzbifhof von Canterbury 
zur Zeit des Königs Johann ohne Land, aus einem nicht unbedeutenden 
Geſchlechte in England entfproffen, ſtudirte gleichzeitig mit dem nachherigen Papft 
Innocenz II. zu Paris, lehrte hier die freien Künfte und mit großer Auszeichnung 
die Theologie und wurde, nachdem er eine zeitlang das Kanzleramt der Univer- 
fität verwaltet hatte, von feinem Freunde Papft Innocenz II. (ſ. d. U.) wegen 
feiner Kenntniffe, feiner Lehre und feines Wandels nah Nom berufen und zur 
Tardinalswürde erhoben. Ein nah Nom gebrachter Streit über die Befegung 
des Erzbisthums Canterbury gab dem Papfte die Gelegenheit, eine neue Wahl 
nach feinem Wunſch auf den ausgezeichneten Cardinal Langhton zu Teiten, den. er 
dann in eigener Perfon zu Viterbo confecrirte (1207), Dbwohl der Papft in 
Diefer Angelegenheit mit großer Nüdfiht für die Ehre des Königs zu Werfe ging, 
fo feßte diefer doch der getroffenen Wahl einen wüthenden Widerfland entgegen, 
in Solge deſſen über England das Interbist und über den König der Bann aus- 

















350 _ Lanze. b 
gefprochen wurde, Erft 1213 fühnte fih Johann wieder mit der Kirche aus und 
konnte Langhton, welcher fich unterdeß im Klofter Pontiniae, der Didcefe Autün 
aufgehalten, von der Kirche Canterbury Befis nehmen. Bei dem Rampfe der 
englifchen Barone mit König Johann, wodurch fie diefem die fogenannte Magna 
charta abdrangen, fund Langhton auf Seite der Barone: er war der erfte, 
welcher auf diefe Urkunde aufmerffam machte, und er war es auch, welcher 
im Namen aller die Urkunde dem König zu Unterzeichnung vorlegte, Als er fih 
weigerte, die Bannbulle zu verfündigen, welche der von König Johann übel be- 
richtete Papft gegen die Barone erlaſſen hatte (1215), ward er fufpendirt, doch 
Am folgenden Jahre wieder Insgefprochen, Im J. 1215 wohnte er der allgemei= 
nen Kirchenverfammlung im Lateran bei, Merkwürdig ift die Nationalfynode, 
welche er 1222 mit den englifhen Bifhöfen in einem Kloſter bei Oxford abhielt 
und worin 49 Canones zur Wiederherftellung der Kirchen- und Kloſterdisciplin 
aufgeftellt wurden, Zwei Jahre vorher hatte er in Beiſein des Königs und der 
geiftlichen und weltlichen Großen des Reiches den Leib des hl. Thomas Becket 
aus dem Marmorfarg, worin derfelbe bisher geruht, in einen goldenen mit Edel- 
geftein gezierten transferirt. Langhton farb den 9, Juli 1228 nnd hinterließ 
eine bedeutende Anzahl von Schriften, namentlich viele biblifhe Commentare, 
leider find aber die meiften nur in Handfchrift vorhanden, Ein bleibendes Ver— 
dienft hat er fih um die HI. Schrift dadurch erworben, daß er der Erſte war, 
welcher die HL. Schrift in Eapitel eintheilte, wie fie jeßt noch im Gebrauche find, 
Der berühmte Girald von Cambrien (f. d. A.) Hat mehrere feiner Werfe unferm 
Langhton gewidmet, fchreibt von ihm überall mit großem Lob und ftellt in einem 
Briefe an ihn (bei Gelegenheit der Neife Langhtons nah Nom) die Bitte, von 
feinem Vorhaben, die Welt zu verlaffen und fi in Flöfterliche Einfamfeit zurück- 
zuziehen, abzuftehen. — ©. Hurters Innocenz II. Bd, I.z Lingard, Gef, 
9, Engl,; Wharton, Anglia sacra I, et I.; Wilkins, Concil. Brit. I.; Cave, 
hist. lit. I.; Oudin, Comment. de script. Ecel. N. [Schrödl,] 
Zange, die heilige, Tanzenfeft. Ueber bie Lanze, womit der Heiland 
bei der Kreuzigung durchſtochen worden, gibt es doppelte Nachrichten. Nach der 
einen hat die hl. Kaiferin Helena bei der Entdeckung des HI, Kreuzes auch die 
Lanze, womit die Seite des Heilands durchſtochen worden, entdeckt. Man be— 
wahrte die Lanze im Portieus der HL, Orabfirde, bis fie in der Folge nach 
Antiochien Fam, Hier blieb fie bis zum J. 1098 in der Petersfirche verborgen 
und wurde, gerade als die Chriften fich im höchſten Elende befanden, zufolge einer 
Erſcheinung, welche ein franzöfifcher Elerifer, Petrus Bartholomäus mit Namen, 
hatte, entdeckt und die Urfache eines glänzenden Sieges der Kreuzfahrer über die 
Saracenen, Später wurde fie wieder nach Conftantinopel gebracht und die Spige 
davon, früher an die Venetianer verpfändet, dem König Ludwig dem Heiligen 
zum Geſchenk gemacht. Nah der Eroberung Conſtantinopels durch die Türken 
überſchickte Bajazid II. das Eifen von diefer Lanze dem Papft Innocenz VII. nad 
Rom, wo es feitdem in der vaticanifchen Bafllica aufbewahrt wird (Raynald. 
Annal. Ecel. a. 1492 nr. 15 et 16). ©» lautet eine Nachricht. Nach der andern 
wird die hl. Lanze zu Prag aufbewahrt, und hiemit hat es folgende Bewandtniß: 
Biſchof Auitprand von Cremona (ſ. d. A.) und andere Chroniften und Schrift- 
fteffer alter und neuer Zeit berichten, K. Heinrich I. habe die Lanze des Kaiſers 
Eonftantin, in welche Theile von den bei der Kreuzigung Chrifti gebrauchten 
Nägeln verarbeitet worden, von König Rudolph Burgund (der fie von einem 
Grafen Samſon gefchenft erhalten habe) zum Geſchenk befommen (Perg, Seript. 
II. 322; Boll. in vit. S. Gerh. ad 3. Oct. t. II. p. 310, 314; Baron. Annal, 'ad 
a. 929). Daffelbe wiederholt auch Otto v. Freyfing und ſetzt Hinzu, dieſe Lanze 
hätten die teutfchen Könige noch bis jet — fie galt nämlich als ſchützendes 
Kleinod des Neiches (Dito Fris. VI. 18), Im Verlaufe der Zeit Fnüpfte ſich 


Ze | vr = 1 A Fe N a aa 


Laodicen. 351 


daran die Idee, daß dieß die Lanze fer, womit die Seite des Heilandes durch⸗ 
flohen worden, wie man aus Heinrich v. Nebdorf (chron. ad a. 1350) erſieht, 
welcher zu zeigen ſucht, daß die in Teutſchland aufbewahrte Lanze wirklich ivdem- 
tiſch mit derjenigen fei, womit der Hauptmann die Seite Jeſu eröffnete. Unter 
Kaifer Carl IV. kam diefe Lanze fammt einem Stüde vom HI, Kreuze und einem 
Nagel, womit Chriſtus an das Kreuz gefhlagen worden, nah Prag, und num 
1354) eoneedirte Papſt Innocenz VI. auf Bitten Carls IV., daß in jenen Länder- 
theilen Ci. e. Teutfchland und Böhmen) „in quibus instrumenta ipsa (i. e. Lanze 
und Nagel, wovon die betreffende Bulle handelt) dieuntur haberi — welde 
HI. Reliquien „imperiales vulgariter nuncupantur, quaeque tamquam pretiosissi- 
mus imperii Romani thesaurus consueverunt per Romanorum Regem seu Impera- 
torem, qui est pro tempore, conservari ac reverenlissime etiam honorari“ — ein 
eigenes Feſt de lancea et clavis am Freitag nach der Oſteroctave celebrirt werden 
dürfe (Raynald. Annal. ad a. 1354 nr. 18). Ob nun eine von diefen zwei Tanzen 
wirklich diejenige fei, die bei der Rreuzigung des Heilandes zur Durchftehung 
feiner Seite gebraucht worden, fleht dahin, auch hat man in Nom feine von beiden 
als iventifch mit der bei der Kreuzigung gebrauchten Lanze erflärt (ſ. Benedict XIV. 
de canoniz. 1. IV. c. 24. nr. 5 et 6; c. 26. nr. 55). Rüdfichtlich der zu Antio- 
chien aufgefundenen Lanze mag noch beigefügt werden, daß fon bei ihrer Auffin- 
dung und noch mehr, als der Auffinder zur Verſcheuchung der Zweifel die Feuer- 
probe übernahm und einige Tage darauf farb, von Vielen gezweifelt wurde, 
ob die die ächte Lanze fei. Ebenfo wurden Zweifel in Rom Taut, als das Eifen 
der angeblich ächten Lanze von Eonftantinopel nah Rom überfchirft wurde (Rayn. 
Annal. ad a. 1492), [Schrödl.] 
Lavdicen, Acodizeıc, Den Alten waren fünf Städte dieſes Namens be— 
Kannt ; die Hier zu nennende ift beigenannt 7) Errl Avuzıp oder 7) roös zo Avzp 
(Strabv 578), am Fluffe Lyeus, auf einem langen Bergrüden zwifchen den 
fhmalen Thäfern der in jenen einmündenden Flüßchen Afopus und Raprus (Plin. 
V. 29), wurde bald zu Lydien (Step. Byz.p.509), bald zu Carien (Ptol. V.2), 
bald zu ia Pacatiana gerechnet wegen feiner Lage zwifchen diefen drei in 
ihren Grenzen ſchwer zu ſcheidenden Landſchaften; früher Divspolis, dann Rhoas 
genannt, erhielt es feinen fpätern Namen vom fyrifchen Antiochus II. zu Ehren 
feiner Gattin und nachherigen Mörderin Laodice (Plin. 1. c.). In der legten Zeit 
der römischen Republif war Laodicea eine Stadt zweiten Ranges, neben Apamea 
bie bedeutendfle in Großphrygien (celeberrima urbs, Plin.), Hauptort eines rö- 
miſchen Gerichtsbezirfes (Cic. ad div. IM. 7. IX. 25. XII. 54, 67. ad Attie. V. 
15, 16, 20. or. Verr. I. 30). Bei diefer Bedeutung und weil von Juden bewohnt 
(Jos. Antt. XIV. 10, 20) wurde es bald Anhaltspunet des Chriſtenthums (Apoc. 
1, 11. 3, 14)5 Paulus erwähnt der Gemeinde namentlich als Gegenftand feiner 
beſondern Sorge (Col. 2, 1. vgl. &, 13. 15), wie er denn auch ein Schreiben (ob 
iventifh mit dem an die Ephefer, oder ob ein befonderes? ſ. darüber den Art. 
Paulus) an fie erließ (Col. 4, 16). Das Evangelium Hatte hier mit einem viel- 
geftaltigen Cultus zu Fämpfen (Mionnet, descr. des Medailles ant. suppl. IV. 
Pp- 313. sqq.), befonders mit dem in den drei Nachbarprovinzen verbreiteten des 
Jupiter Laodie. (Eckhel, doctr. numm. IM. 160), fowie gegen die Raifervereh- 
. rung der AaodızEov veonzögwv (Mionnet IV. 326). Die Stadt, wie das ganze 
Gebiet um den Mäander war oft von Erdbeben heimgefucht, z. B. unter Auguftus 
 (Strabs 578), unter Nero 61 p. Chr. (Taeitus, Ann. 14, 27. Oroſ. 7, 7); zur 
Zeit Wilhelms son Tyras (Willermi Tyr. hist, 16, 24) noch beftehend, ging es 
während der Verheerungen durch die Türfen und Mongolen allmählig unter 
 Mannert, Geogr, 6 Thl. 3. 132). Ueber die im heutigen Eski Hiffar erhal- 
tenen Nefte ſ. m, Richter, Wallf. 521—23, Hamilton S,468— 470 u.a, [Rönig.] 
Saodicea, Synode zu. In den Canpnenfammlungen des fünften Jahrh. 







352 Laodicea. 







finden ſich auch die Canones einer Synode von Laodicea (in der Provinz Phrygia 
Pacatiana, zu unterfeheiden von Laodicea in Syrien). Weber die Zeit, in welcher 


diefe Synode gehalten wurde, ift man nicht einig. Die Altern Gelehrten nehmen 


meift an, fie fei vor dem Nicänum, um das J. 320, gehalten; allein der Inhalt 


der Canones ſcheint auf eine Zeit hinzuweiſen, wo die Kirche ſchon länger unter 

friedlichen Verhältniffen befanden hatte, und die Erwähnung der Photinianer 
(Can. 7) nöthigt dazu, Die Synode in bie zweite Hälfte des vierten Jahrh. zu 
verſetzen, weßhalb fie von den Neuern meift in die Jahre 360—370 verlegt wird, 
Schon Gratian (Ce. 11. et 16) fegt fie den Synoden von Nicäa, Sardica und 
Antiohia nah. Es follen auf derfelben 32 Biſchöfe zugegen gewefen fein, und 
Theodoſius, oder nach Andern Numachius den Vorfig geführt haben; fonft ift über 
die Veranlaffung und Gefchichte der Synode nichts befannt. — Die Canones 
diefer Synode, 60 an der Zahl (Oratian c. 11. et 16, gibt 59 an; der 60), 
das Verzeichniß der canonifhen Schriften enthaltend, ift auch eigentlich nur eine 
Ergänzung des 59.), find zum Theil eine Wiederholung und Furze Zufammen- 
ftellung älterer Canones und beziehen fih alle auf Disciplinarſachen. Namentlich 
werden folgende Gegenftände behandelt: das Bußwefen (1, 2)5 die Kegertaufe 
Novatianer, Photinianer und Duartodeeimaner follen nach Abſchwörung der 
Ketzerei durch Salbung mit Chrisma wieder aufgenommen, Rataphryger aber ge- 
tauft werben, (7. 8); das Verhalten gegen Reber (6. 9, 32—35, 37), Juden 
und Heiden (29. 37 — 39); Verbot der Magie und Zauberei (36) 5 gemifchte 
Chen (viefelben find unerlaubt, wenn der bäretifche Theil nicht „Chrift” CRa- 
tholik) werden will, (10..31)5 die Drbnung des Gottesdienſtes (11. 14— 19, 
44, 59, Verbot der Agapen, 27, 28); das Katechumenat und die Taufe (5, 
45 — 48); die Firmung (48) 5 die Adtägigen Faften (49 — 52) ; die Wahl und 
Weihe der Biſchöfe und Priefter (Neophyten follen nicht Priefler werden, 3.)5 
die Bischöfe follen nach dem Urtheil (zoiosı) des Metroppliten und der benach— 
barten Bifchöfe, nicht durch das Volk gewählt werben (11, 12); die Sitten der 
Elerifer und Mönche (Verbot des Wuchers, 5., des Beſuchs der Wirthshäuſer 
und Schaufpiele, 24. 54, u. dgl, 30. 55. 58); die Rangordnung und Pflichten 





der einzelnen Ordines [Bischöfe und Priefter, 40—42, Diaconen 20, Subbia⸗ i 


eonen (vrınoerei) 21.22. 25. 43, Leetoren und Sänger (arvayvworal al 
Wahral) 23,5 außer diefen werden 24. noch Ersogxıorai, nach der lateiniſchen 
Ueberfegung exorcistae, nach den griechifchen Commentatpren = »ernxıozai vgl. 
26., und Ivgwooi, ostiarii, erwähnt; auf dem Lande und in Heinen Städten 


folfen nicht Bifchöfe, fondern zregrodevzaı angeftellt werden, die unter dem - 


Bifchofe ftehen, 57]. — Bemerfenswerth für die Gefchichte des biblifchen Canons 
ift der letzte (60,) Canpn: im 59, wird befohlen, daß nur die canpnifchen Schrif- 
ten des alten und neuen Teflaments, und nicht auh axavovıora Bıßkla, na= 
mentlich nicht Idewzıxoi Yakuol, in den Kirchen gelefen werben follen; der 60, 
Canon zählt dann die Schriften auf, welche vorgelefen werben follen, und zwar 
in der folgenden, zum Theil ungewöhnlichen, Ordnung: aus dem alten Teftament 
der Pentateuch, Joſue, Nichter, Nuth, Efiher, die 4 Bücher der Könige, die 2 
Bücher der Chronik, die 2 Bücher Esdras, die Palmen, Sprüchwörter, der Pre— 
diger, das Hohelied, Job, die 12 Heinen Propheten, Iſaias, Jeremias, Baruch, 
Hoyvoı zab.Eersıorohei (nad Zonaras: ErrioroAn), Ezechiel und Daniel (eg 
fehlen alfo Tobias, Judith, Sirach, das Buch der Weisheit und die Bücher der 
Maccabäer) ; aus dem neuen Teftament die 4 Evangelien, die Apoftelgefchichte, 
die 7 Fatholifchen Briefe Cin der jebigen Reihenfolge) und die 14 pauliniſchen 
Briefe (der Hebräerbrief ſteht vor den Paftoralbriefen) ; die Apocalypſe fehlt, — 
Eine ziemlich große Zahl diefer Canones iſt in Oratian’s Decret aufgennmmen, 
Sie ftehen griechifeh und Iateinifch bei Harduin t. 1. p. 777, Bgl. Nat. Alex; 
saec; 4. Du Pin Bibl, tı 2. p. 340, [Reufh.] 


Te > 


3 Lapide — Laſius. 353 


Lapide, ſ. Cornelius a Lapide. 
Lappländer, Belehrung zum Chriſtenthum, ſ. Schweden. 
Lapſi, ſ. Abgefallene. * =: 
Lardner, Nathanael, ein englifcher Theolog, ift den 6. Juni 1684 54 
Kent geboren und den 18. Juli 1768 ebendafelbft geftorben. Ein etwas älterer 
Zeitgenoffe, Toland, z0g die Aechtheit der Bücher des N. T. in Zweifel. Gegen 
ihn ſchrieb 8, fein apologetifches Werk: „The credibility of the gospel history. 
London 1727 — 55, 12 Bde.“, das mehrere Auflagen erlebte, durch Nachträge 
vermehrt, durch Wefterborn in’s Holländifche, durch Chr. Wolf in’s Lateiniſche 
durch David Bruhn und J. D. Heilmann, mit einer VBorrede von Baumgarten, 
5 Bde. (die Nachträge fehlen), in's Teutfche überfegt worden iſt. 2. zeigt darin 
weit ausführlicher als feine Vorgänger, Richardfon und Jones, die Glaubwürdig- 
feit der evangelifchen Gefchichte. Daß nur die vier canonifchen Evangelien gleich 
anfänglich als ächt aufgenommen worden feien, dagegen die apoeryphiſchen Schrif- 
ten nie zu diefem Range gelangten, dafür fei nicht bloß die innere Glaubwürdig- 
feit der erftern, fondern es befagen dieß die älteften Verzeichniffe und Zeugniffe, 
Rückſichtlich des letztern Punctes weist L. aus den Schriften der älteften Kirchen— 
väter nah, welche neutefiamentlihe Schriften, Begebenheiten und Stellen, fie 
- anführen und welche nicht. Zugleich gibt L. jedesmal das Leben und die Schriften 
des betreffenden Kirchenvaters. Aus den häufigen Schriften L.'s führen wir noch 
an: a large collection of ancient Jewish and Heathen testimonies of the truth of 
the Christ. rel. Vol. L—IV. 1764—67. 4. Bal. Schröckh, Krg. feit der Reform, 
6. Thl. S. 182; Handwörterbuh von Fuhrmann I. Bd, ©. 617. f. 
2ajäa, Acoeie, in andern Codd. Alaooe, Vulg. Thalassa, nur Apg. 
27, 8. genannt, Ort im Often von Ereta, unweit des Vorgebirgs Samonium. 
Nach der Vermuthung Höcks (Ereta I. S. 441 u. 434) ift es iventifch mit dem Orte 
Lafos, den Plinius CIV. 20) als eine Stadt im Innern ‚der Infel neben Holo- 
pyros aufführt und dem die Tab. Peut. Lifia nennt und in die Nähe des Hafenortes 
Lebena fest. 
Lascaſas, f. Cafas. 
.  Bajius, Chriſtoph, einer der bedeutendften fynergiftifch-melanhthonifchen 
- Prediger und Gegner der Flacianer, geboren zu Straßburg, fand fhon 1531 
bei Melanchthon in Gunft und wurde von diefem angelegentlih dem Bucer em— 
pfohlen. Im J. 1537 wurde er Rector in Görlig und 1543 Pfarrer zu Greußen 
im Schwarzburgifchen. Abgefegt 1545 wurde er Pfarrer in Spandau, mußte 
aber auch von bier weichen und erhielt die Superintendentur zu Lauingen, wo 
ihn gleichfalls die Abfegung traf. Nach längerem Aufenthalt zu Augsburg be— 
kleidete er die Stelle eines Superintendenten zu Cottbus, hatte auch Hier Feine 
Ruhe und flarb in Senftenberg 1572. Seine Predigten und Schriften gegen die 
Flacianer waren die Urſache feiner vielfachen Verfolgungen und Bertreibungen. 
In feinen Schriften verbreitet er fich ausführlich über den unfäglihen Schaden, 
welchen die von fo vielen Kanzeln und in zahlreichen Büchern gepredigte Lehre 
von der Paffivität des Menſchen bei der Befehrung unter dem Volfe — 
| Sp wird in feiner Schrift: „Fundament wahrer Befehrung wider die flacianiſche 
h 







Klotzbuße, Franff, a. d. Oder 1568% diefe Lehre eine flacianifhe Sammetbuße, 
ein füßmündiger Bubentroft, weit über allen vorigen papiftifchen Gräuel und eine 
Belehrung genannt, wobei der Menfch nichts thun darf, fondern auch das Gegen⸗ 
theil treiben kann, und aus dieſer Lehre das große Verderben der Zeit abgeleitet, 
R In einer andern Schrift: „Güldenes Kleinod, Nürnberg 1556” ſchildert Laſius den 
Zuſtand der Lutheraner überhaupt als einen höchſt fohlimmen, die Welt müffe bald 
ein Ende nehmen, es wolle fchier feine Zucht mehr helfen, Niemand ſcheue Gottes 

Zorn, fleifhliche Freiheit fei bei vielen Evangelifchen das Befte, was vom Evan- 

gelio gefucht werde, am liebſten höre man von ber eillen füßen Gnade predigen, 

Kirchenlexikon. 6, Br, 23 


354 Lasfary — Lasko. 


wobei von einer ernftlichen Buße nichts erwähnt werde, wiffen ja bie zungen- 
gläubigen Gnadenfünder, die vom Papft abgefallen, nun das Evangelium wieder 
haben, daß gute Werfe nicht felig machen und Gott gnädig fei zꝛe. Außerdem 
verfaßte Lafins noch mehrere andere Werfe: Grundfefte ver reinen enangelifchen 
Wahrheit — Symbolum Apostolicum den Augsburgern dedieirt u. A. m. Vgl. d. 
Art. Flacius Illyricus; f. Döllingers Reformation, ihre innere Ent- 
wicklung ꝛe. II. 262, III. 462. Merkwürdig ift, daß Mosheim, Schröcdh, 
Guerike u. a, proteſt. Gefchichtfhreiber des Lafius nicht gedenken, [Schröpl.] 
Lasfary, Andreas, Biſchof von Pofen (1414—1426) ein ebenfo frommer 
als gebilveter und fittenreiner Bifchof, wohnte dem Concil von Conftanz bei, 
wo er gelegentlich die verfammelten Väter durch eine Predigt in teutfcher Sprache 
erbaute, Nach Beendigung des Coneils kehrte er gleich den übrigen Bifchöfen, 
welche am Eoneil Theil genommen, im Purpurfleive in feine Didcefe zuruͤck; 
fehnte fich indeß fo fehr nach der Stilfe des Flöfterlichen Lebens, daß er auf das 
Bisthum refignirte und in das Klofter Mölk in Deftreich eintreten wollte. 
Sein Vorhaben ward jedoch dur die Weigerung des Papftes, feine Refig- 
nation anzunehmen, vereitelt. Ein in Mafowine belegenes bifchöfliches Dorf, 
früherhin Rorczyezewo genannt, welches er 1418 zu einer Stadt mit teutſchem 
Rechte erhoben hatte, erhielt nach ihm den Namen Laskarzewo. | 
Lasko (poln, Laski, fat, Lascus) Johannes von, Erzbifchof von Gneſen und 
Primas von Polen, ſtammte aus einer adeligen Familie, Er ward in der erften 
Hälfte des Jahres 1466 geboren und flarb, 75 Jahre alt, am 19, Mai 1531. 
Veber feine Studien und feine Vorbereitung zum geiftlichen Stande finden ſich in 
den Duellen Feine beftimmten Angaben. Lasko ward zuerft Propft zu Skalbimierz 
und war Stiftspropft zu Pofen, als Andreas Roza von Boryszewice Erzbifchof 
von Gneſen und Primas des Königreichs ihn zu feinem Coadjutor machte, Darauf 
(das Jahr der Ernennung ift nicht befannt) warb Lasko Erzkanzler des Reichs, 
nachdem er zuvor als Kanzler fich tüchtig bewährt hatte, und Iebte lange Zeit bei 
Hofe unter den Königen Caſimir IV., Johann Albrecht und Alerander, und hatte 
fo die befte Gelegenheit fich vielfeitig auszubilden und die reichften Erfahrungen 
zu fammeln, ALS der vorgenannte Erzbifhof von Gnefen im J. 1510 geftorben 
war, folgte ihm Lasfo in diefer Würde nach, Im J. 1513 ward Lasfo zugleich 
mit Stanislaus Oftrorog auf das fünfte allgemeine Eoneilium im Lateran ge— 
ſchickt. Lasfo hielt dort vor dem Papfte leo X. eine Rede, in welder er bie 
ehriftlichen Fürften auf das Dringendfte auffordert, fie möchten ihre Kriege unter 
einander beenden und dafür den Polen und Ungarn zu Hilfe kommen, welche 
durch die Einfälle der Türken und Tataren fo viel Titten. Der Gegenftand feiner 
Rede ergriff ihn fo ſehr, daß er häufig Thränen vergoß, der Papft aber tröftete 
ihn und hieß ihn gutes Muthes fein, Ueber denfelben Gegenftand ſprach er auch 
vor dem Senate von Venedig (Raynaldus ad ann. 1513. nr. XXXIL), Auf diefem 
Yateranenfifhen Eoneil erhielt Lasko für fih und feine Nachfolger im Erzbisthum 
Gnefen die Würde eines legatus natus sedis apostolicae. Es eriftirt noch von 
ihm: Relatio de erroribus Moschorum, facta in concilio Lateranensi a Joanne 
Lasko Archiepiscopo Gnesnensi. Wie thätig 4 in feinem erzbifchöflichen Amte 
war, läßt fih ſchon daraus ermeffen, daß er fo viele Provineialfynoden hielt, 
auf denen er felbft den Borfis führte: 1) Zu Gnefen im 3. 1506, 2) zu Petri- 
fau 1510, 3) ebendafelbft 1511, M zu Lenezye 1523, 5) ebenbafelbft 1527, 
6) zu Petrifau 1530. Außerdem Hielt er noch eine Didcefanfynode zu Onefen 
im J. 1513, Luthers Schriften und Lehrfäße wurden ſchon im 3. 1518 in Polen 
befannt, Als nun bereits Mehrere fich für Luther erflärten, wurde auf dem 
Reichstage zu Thorn 1520 eine Fönigliche Verordnung erlaffen, daß Niemand bei 
Strafe der Landesverweifung und Verluft feiner Güter Luthers Schriften in das 
Land einführen, verkaufen over Tefen follte, eine gleiche Strafe war denjenigen 


u Si 2 


Lasko. 355 


beftimmt, welche Luthers Irrlehren billigen, verbreiten und verteidigen würde, 
Auch der Erzbiſchof Lasko that von feiner Seite Alles, um der bereits eingeriffenen 
Lehre Luthers einen Damm enigegenzufegen, und eine firenge Disciplin im ein- 





heimiſchen Clerus zu erhalten. Mehrere von den zw diefem Ende erlaffenen 
Deereten und Canones finden fih in dem Buche: Constitutiones synodorum metro- 


politanae ecclesiac Gnesnensis. Cracoviae 1630. Befonders zu beachten ift Lib. 
IV. de hareticis; namentlich werden die Didcefen Breslau und Cujavien hervor— 
gehoben, als von der neuen Lehre befonders berührt. Auch ward der Beſchluß 
gefaßt, Fein Geiftlicher folle Keger oder Schismatifer in Dienft nehmen. Um 
feine Zwecke noch beifer zu erreichen, gab Lasko folgendes Bud heraus: Sanctiones 
ecclesiasticae tam ex pontificum decretis quam in constitutionibus synodorum pro- 
vineiae imprimis autem statuta in diversis provincialibus synodis a se sancita. 
 Cracoviae 1525. 4. In der damaligen Zeit war ein fo erleuchteter und that- 
Fräftiger Erzbiſchof durchaus nothwendig. Viele Geiftliche hatten ſich zu Luthers 
Lehre befannt und hatten Weiber genommen, Mönche waren aus den Klöftern 
entſprungen und hatten auf gleihe Weife gehandelt. Lasko brachte es nur dur 
feine oberhirtliche umfichtige Einwirkung dahin, daß Särular- und Regulargeift- 
liche erffärten, fie wollten Luthers Irrlehre abfhwören, die Weiber entlaffen, und 
“nicht nur private, fondern auch öffentliche Kicchenbufie thun. Leichter jedoch er- 

reichte er diefes bei den Weltgeiftlichen als bei ven Mönchen, Einige Mönche, 
| welche fih zur Abfhwörung der Jrrlehren Luthers, Entlaffung der Weiber 

und Berrihtung öffentlicher Kirchenbuße bereit erflärten, wollten aber nicht in 

die Klöfter zurücffehren, fondern fuchten um die Erlaubniß nah, in Zukunft als 

Weltgeiſtliche zu leben. Lasfo wendete fih nun an den Papft Clemens VII. und 

erhielt durch Breve vom 29. Januar 1526 die Erlaubnif, den Mönchen zu ge- 
Hatten, daß fie nicht in die Klöfter zurüczufehren brauchten, fondern in Zufunft 
die Weltpriefterfleivung tragen dürften (Raynaldus ad ann. 1526. nr. CXXVIL.). 
Bon der Provincialfynode zu Lenezye im 3. 1527 wurden die früher genannten 
sanctiones ecclesiast. etc. als Richtſchnur des Verfahrens gegen die Häretifer und 
überhaupt für Belebung der FKirchendisciplin feierlih angenommen, Als das 
Augsburger Glaubensbekenntniß erfihien, welches der Kaifer felbft dem Könige 
Sigismund überſchickte, verordnete die Provincialfynode von Petrifau 1530, 
welche der Primas Erzbifchof von Onefen zufammenberufen hatte, die Biſchöfe 
foliten forgfältiger als je auf die Iutherifche Ketzerei Acht haben, und insbefondere 
den Inquiſitoren, oder, wo deren nicht vorhanden wären, den Archidiaconen auf- 
tragen, diefelbe genau auszuforfhen, damit fie unterbrüdt werden fünnte. Da 
damals viele junge Polen die Univerfität Wittenberg befuchten und dort für 
Luthers Lehre gewonnen wurden , erfuchte Lasfo, welcher durch Cochläus (ſ. d. A.) 
bierauf aufmerkffam gemacht worden war, den König , Mafregeln zu ergreifen, 
wodurch dieſes verhindert werben fünnte, Diefes geſchah aber erft im J. 1534. 
Der König beftimmte, daß die Polen, welche in Wittenberg fludirten, nie irgend 
eine Anftellung im Baterlande erhalten fünnten. Gegen diejenigen aber, welche 
fpäter dorthin reifen würden, wurden Landesverweifungen und noch fchärfere 
Strafen angeordnet. Wenn Lasfo fih fo um die Kirche außerordentlich verdient 
machte, erwarb er fih um den Staat auch dadurch ein ausgezeichnetes Verdienſt, 
daß er auf Verlangen des Königes Alerander von Polen die erfte Sammlung 
der Haterländifchen Gefege herausgab. Diefes wichtige Werk erfchien unter dem 
Titel: Commune Poloniae regni privilegium constitutionum et indultuum. Cra- 
coviae 1506 bei Haller. Seine bedeutenden Patrimonialgüter verwendete Lasko 
nur für kirchliche Zwecke; er bauete mehrere Kirchen und Hofpitäler, gründete ein 
Emeritenhaus für alte Geiftlihe u. f. w. Wenn Lasfo wegen feiner Wirkfamteit 
gegen die Reformation bei den Proteſtanten nicht beliebt war, fo erwarb er ſich 
dagegen von den ausgezeichneifien Männern feiner Zeit ein woblverbientes Lob, 

23 * 








356 Lasko. 


Erasmus von Rotterdam dedieirte ihm 1527 feine Ausgabe der Werke des hl. 
Ambroſius und nennt ihn da unter andern: Pietatis antistitem, eruditionis eximium 
patronum, omnis pudicitiae exemplar incomparabile, episcopum pacis et tranquilli- 
tatis publicae studiosissimum. Vgl. auch Stanislai Hosii opera, Colon.'1585. tom. 2. 
und epist. 118. fol. 268. und Damalewicz, Vitae archiepiscoporum Gnesnensium, 
pag. 278. [Hedind.] 
Lasko (poln. Laski, lat, Lascus) Johannes, der Reformator Polens, ſtammte 
aus einer abeligen polnifchen Familie, der Erzbifchof von Gnefen und Primas von 
Polen Johannes Lasko (ſ. Den vorigen Artikel) war fein Oheim, und warb 1499, 
geboren, Nachdem er in feiner Jugend einen guten Unterricht genoffen hatte, 
machte er feine thenlogifchen Studien auf den beveutendften Univerfitäten von 
Teutſchland, Stalien und Franfreih. In Bafel 1525 ward er mit Erasmus von 
Rotterdam befannt, welcher ihn fehr hoch ſchätzte. In Zürich trat er dem Zwingli 
und Oecolampadius, und in Wittenberg dem Melanchthon näher, und gewann fo 
Borliebe für die Grundfäße der Neformation, Als er im J. 1526 in fein Vater- 
land zurüdfehrte, ward er bald nachher Propft zu Gneſen und darauf erhielt er 
diefelbe Würde zu Lenezyez. Im J. 1536 ward Lasfo zum Bifchofe von Veß— 
prim in Ungarn beftimmt. Doch hatten feine Anfichten über Neligion in dieſer 
Zeit eine folhe Richtung genommen, daß Lasfo zur Ueberzeugung fam, er könne 
ohne Verlegung feines Gewiſſens diefe hohen kirchlichen Würden nicht übernehmen, 
Er verließ daher fein Vaterland wieder, verweilte 1537 zu Mainz und zwei 
Jahre fpäter zu Löwen, wo er fich verbeirathete, Nach 1540 begab er fih nach 
Emden in Oſtfriesland und wirfte dort fehr eifrig für Die Verbreitung der Nefor- 
mation, und hatte bei dem Landesherrn Grafen Enno und nach deffen Tode bei 
der Gräfin Anna den beveutendften Einfluß, fo daß die proteftantifchen Gemein- 
den alle unter feine Aufficht geftellt wurden. Zugleich war. er Prediger in Emden. 
Bei feinen Einrichtungen traf er jedoch auf Hinderniffe theils yon Seiten ber 
Hpfleute, theild von Seiten eifriger Lutheraner, weil Lasfo in Beziehung auf 
das Abendmahl der Anfiht Zwingli's huldigte. Vom Herzoge Albrecht von 
Preußen erhielt er den Ruf zu einer Lehrerftelle, als er aber fein Glaubensbe- 
fenntniß eingefchiekt hatte, warb die Sache rüfgängig. Wenn Lasfo nun bei 
diefer Gelegenheit Oftfriesland nicht verließ, fo fah er fich Durch die Einführung 
des Augsburgifchen Interim doch bald dazu genöthigt. Er folgte daher einer ihm 
im Namen des Königs Eduard von England vom Erzbifchofe von Canterbury 
Thomas Eranmer (f.d. A.) gewordenen Einladung und begab fich 1548 nad) England 
und erhielt die Stelle als Prediger bei der Gemeinde ausländifcher Proteftanten. 
Hier erhob er bald Widerfpruch gegen die anglicanifche Liturgie (ſ. Hoch kirche) und 
war namentlich Dafür, Daß das Abendmahl figend empfangen werden follte, Dadurch 
wäre ihm vielleicht bald der Aufenthalt in England verleidet worden, aber er follte 
noch eher dieſes Land verlaffen, denn König Eduard ftarb, und die Fatholifche 
Königin Maria übernahm die Regierung, Lasko fah fich nun gendthigt, aus England 
fortzugehen. Zunächft wendete er fih nach Dänemark (ſ. d. A.), wo er eine Freiftätte 
zu finden hoffte, fich jedoch in diefer Hoffnung fehr getäufcht fand. Da Lasko 
nicht nur in Glaubensfachen, fondern auch in der Liturgie von der lutheriſchen 
Gtaatsreligion Dänemarks bedeutend abwich, warb ihm eine freie Religiong- 
übung verfagt. Doc ſchenkte ihm der König Neifegeld, aber erlaubte nur Lasko's 
beiden Söhnen und deren Lehrer den Winter hindurch in Danemarf zu verweilen, 
Nicht beffer erging es ihm in dem Yutherifchen Städten Wismar, Roſtock, Lübeck 
und Hamburg. Er fehrte deßhalb nah Emden zurück und begab ſich von dort 
nah einem Furzen Aufenthalte dafelbft nach Frankfurt am Main (1555); er warb 
bier Prediger der aus England entflohenen Proteftanten, Lasfo, der fo vielfach 
im Leben umhergetrieben war, fand auch bier Feine ruhige Stelle; denn wieder 
traten die Lutheraner gegen ihn auf, befonders der Intherifche Prediger J. Weite 








Lafter, Lafterhaftigfeit — Lateran, Lateran-Synoben. 357 
phal in Hamburg, welcher behauptete, vem Lasko könne der Nürnberger Religions- 


friede nicht zu Gute fommen, da er ja fein Lutheraner fei. Dadurch entfland 


zwifchen Lasko und Weftphal ein Streit, welcher ſich befonders auf die Abend- 
mahlslehre bezug. Im J. 1556 hielt Lasfo in Stuttgart mit den würtem- 
bergifchen Theologen ein Eolloguium, in welchem er namentlich die Ubiquitätsiehre 
des Brenz (f. d. A.) beftritt, Endlich kehrte er unter ftillfehweigender Erlaubnig 
des Königs im J. 1556 in fein Vaterland zurüf, Lasko fland mit Calvin und 
Melanchthon in freundfchaftlicher Verbindung, von letzterem überbrachte er dem 
Könige einen Brief nebft der Augsburger Eonfeffion. Lasfo nahm den Schein 
an, als flimme er mit diefer vollfommen überein, obgleich der Wahrheit nach 
Zwingli’s Lehre vom Abendmahle auch die feinige war. König Sigismund hielt 
viel auf Lasfo und fegte ihm über alle proteftantifchen Gemeinden in Großpolen. 
Er gerieth aber auch Hier bald wieder in mannigfachen Streit, weil er das Sigen 
beim Empfange des Abendmahls einführen wollte, die Liturgie der böhmischen 
Brüder (f. d. A.) tadelte u. f. w. In feiner Stellung verfuchte er auch die ver- 
fhiedenen proteftantifchen Parteien unter einander zu vereinigen, was aber, wenn 
es auch nicht an ſich unmöglich gewefen wäre, ihm bei feiner Gemüthsart nicht 
gelingen fonnte. An der auf Koften des Fürften Nicolaus Radzivil zu Brzeffe 


im 3. 1563 erfchienenen focinianifchen Ueberfegung des neuen Teftamentes hatte 


and Lasfo Theil, Endlich nach einem viel bewegten und unfteten Leben ftarb er 
im 3. 1560. [Uedind.] 
Laſter, Lajterhaftigkfeit. Unter dem Worte „Lafter” (vitium) verfteht 
man die Fertigfeit im Sündigen, Bezieht fich diefe Fertigfeit auf eine einzelne, 
beftimmte Sünde, fo ergibt fih, im Gegenfage zu jener abftracten Faffung, der 
eonerete Begriff eines Lafters, wozu z. B. Trunffuht, Wolluft, Lügenhaftigkeit, 
Geiz als einzelne Lafter gehören. Wird aber nicht die einzelne, aus einer ſolchen 
Sertigfeit hervorgegangene Thatfünde, fondern der bleibende Zuftand, die be— 
barrende Fertigkeit, bei jeder Gelegenheit und in jeder Richtung dem Neize zur 
Sünde zu folgen, in's Auge gefaßt: fo bietet fih ung der Begriff dar, den das 
Wort „Lafterhaftigfeit“ (zaxie, vitiositas) bezeichnet. Das Tat. virtus drückt den 
Gegenfag zu Beidem aus, während wir Tugend und Tugendhaftigkeit (f. d. Art, 
Tugend) unterfheiden. Sp hat z.B. der Bifhof Halitgar von Cambray 
G 831) ein Bud) gefhrieben unter dem Titel de virtutibus et vitiis. Unter diefem 


Geſichtspuncte treten einzelne Fertigkeiten im Guten einzelnen Fertigkeiten im 


BDöfen gegenüber. Cicero beftimmt in feinen tusculanifhen Unterredungen 
dl, 15.) die vitiositas als Gegenfag der virtus, die er die rechte Vernunftthätig- 
keit nennt und behauptet von diefem Ausdrude, daß er alle beftimmten Lafter 
umfaffe, der Gemeinbegriff fei. Das Lafter unterſcheidet fih von der Sünde 
(peccatum), unter einem andern Gefichtspunct aufgefaßt, wie Bosheit (malitia) 
son der fittliden Schwäche (f. den Art. Bosheit). Der Verrath des Judas ift 
ein Beifpiel des erfleren, der Fall Petri ein Beifpiel des Iegteren Begriffes. 
Man fann fündigen, ohne laſterhaft zu fein; der Begriff des Lafters fest den 
der Sünde voraus, ©, den Art. Sünde, [Fuchs.)] 
Läßliche Sünde, ſ. Sünde, 
Lateiniſche Sprache beim Gottesdienſte, ſ. Kirchenſprache. 
Lateiniſches Kaiſerthum, ſ. Griechiſches Kaiſerthum und Rom, 
Lateran, Lateran-Synoden. Unter „Lateran“ verſteht man theils den 
Palaft Conſtantins zu Rom, der dieſen Namen trug und den Conſtantin dem 
Papfte Sylvefter gefchenft Hat, theils die daran von Conftantin angebaute Kirche, 
Nah römifher Tradition Hat diefe Kirche der genannte Papft eonfeerirt und haben 
feitdem die Päpfte im Lateranpalafte gewohnt, woraus allein fchon deutlich genug 
hervorgeht, daß die Lateranfirche die eigentliche Cathedralkirche des Papftes ſchon 
urfpränglich war, Uebereinſtimmend hiemit fagt Prudentius in feinem Gedichte 


358 Lateran, Lateran⸗Synoden. 


gegen Symmachus, das Volk eile zahlreich zu dem Bau des Lateran, um die 
Firmung zu empfangen: „unde sacrum referat regali chrismate signum“, und 
erzählt der HL Hieronymus von büßenden Frauen, welche vor Dftern in der 
Lateranfirche öffentlich Buße thaten (ep. 30). Da auch alle fpätern Päpfte bis 
auf die Gegenwart herab bie Tateranfirche in ihrer Würde als päpſtliche Cathe— 
drale beließen, ja fogar zu wiederholten Malen erflärten „sacrosanctam Lateranen- 
sem ecclesiam, praecipuam sedem nostram, inter omnes alias Urbis et orbis eccle- 
sias ac basilicas, etiam super ecclesiam seu basilicam principis Apostolorum de 
Urbe, supremum locum tenere* (f, Greg. XI. bull. de 23. Jun. 1372, Pii V. bull, 
1569), fo gilt noch immer, was als Infchrift über ihrem Eingang ſteht: „Omnium 
Urbis et orbis ecclesiarum mater et caput*, und nehmen die neugewählten Päpſte 
son ber Laterankirche als ihrer Cathedrale in feierlichfter Weife Poſſeß. S. Ph. 
Gerbet, Skizze des chriſtl. Roms, Wien 1846, — In der Lateranfirche (fie 
° Heißt auch noch basilica Constantiniana, ecclesia Salvatoris und weil Conftantin 
in der Nähe derfelben auch noch ein Baptifterium erbaut hat, St. Johann in 
Lateran) wurden fünf allgemeine Synoden gehalten, I. Die erfte allgemeine 
Synode im Lateran hielt Papft Ealixt IL. im 3. 1123. Anmwefend waren mehr 
als 300 Bifhöfe, mehr als 600 Aebte, im Ganzen 1000 Prälaten, Zwerf der 
Berfammlung war die endliche volfe Bereinigung und feierliche Beftätigung des 
fogenannten Wormfer-Concordates, Erneuerung der Rirchendisciplin durch Wieder- 
einfhärfung der auf frühern Synoden erlaffenen Canones, Tilgung der Heberrefte 
des zu Folge des Inveſtiturſtreites entftandenen Schisma’s, 11. Die zweite Late- 
ranenfifche Synode wurde von Papft Innocenz II. im 3. 1139 abgehalten, Auch 
diefer Synode wohnten an 1000 Prälaten an. Sie galt der Herftellung der 
firhlichen Einheit, welche abermals dur die fhismatifhe Wahl des Afterpapftes 
Anacletus U. gegenüber dem rechtmäßig gewählten Innocenz IL. erfehüttert wor- 
den war, Ueber den vornehmften Beförderer des Schisma, den König Roger von 
Sicilien, wurde der Bann ausgefprochen, die von Anaclet und feinem Anhänger, 
dem Bifchof Gerhard von Angouleme, zu Eirchlichen Würden Erhobenen erflärte 
man für abgefegt, die Irrlehren Arnolds von Brescia wurden verdammt. Die 
Kirchenzucht wurde mit 30 Canones bedacht, II. Die dritte Lat. Synode berief 
Papft Merander IH. im J. 1179, nachdem fich Kaifer Friedrich I. mit ihm aus- 
geföhnt hatte, Zu diefer Synode verfammelten fih 300 Biſchöfe aus allen Theilen 
des Oceidents und aus Syrien, Zur Verhütung Fünftiger Spaltungen wurde 
verordnet, daß zur Gültigkeit einer Papſtwahl eine Stimmenmehrheit von zwei 
Drittheilen gehöre, und ein Gewählter, der fih ohne diefe Stimmenzahl die 
päpftliche Würde anmaße, nebft feinen Wählern für immer aus der Kirche aus— 
gefchloffen fein folle. Darauf wurden alfe Drdinationen der Gegenpäpfte für uns 
regelmäßig erflärt und die von ihnen Beförderten fowohl als die, welche freiwillig 
im Schisma zu verharren gefhworen hatten, abgefegt, Die von biefer Synode 
erlaffenen 27 Canones, welche die Kirchenzucht betreffen, find von großer Widh- 
tigfeit. IV. Die vierte Lateran-Synode verfammelte P. Innocenz III. die größte, 
die das Abendland je gefehen, ein wahrer Reichstag der gefammten Chriftenheit, 
befucht von 71 Primaten und Metropoliten (darunter der Patriarch der Maro— 
niten), 412 Bifchöfen, 900 Aebten und Prioren, Boten des Kaiſers zu Eonflan- 
tinopel, den Königen von England, Franfreih, Aragon, Ungarn und Cypern, 
den Abgeorbneten vieler andern Fürften und Städte. Hauptgegenftand war bie 
Beförderung eines neuen Kreuzzuges, — weßhalb auch ein Gottesfriede (ſ. d. A.) unter 
allen hriftlichen Fürften und Völfern auf vier Jahre geboten wurde, Die Wahl 
Friedrichs II. zum Kaiſer wurde genehmigt, die Kegereien der Albigenfer (ſ. d. A.), die 
Irrthümer Amalrichs von Bena (f. d. A) und des Abtes Joachim von Floris 
(f. d. A.) verdammt, die Kirchen-, Elerical- und Klofter-Diseiplin durch herrliche 
Cannes, 70 ander Zahl (mit Einſchluß der Glaubensdecrete) bereichert, V. Die 


Latitudinarier. 359 


- fünfte allgemeine Lateran-Synobe eröffnete Papſt Julius II. im J. 1512, der fie 
dem Pifanerconeil gegenüber berufen hatte, und beendigte Papſt Leo X. im J. 
1517, Sie war nicht flarf und größtenteils nur von italienischen Biſchöfen be= 
ſucht. Die pifanifhen Befhlüffe wurden annullirt, die Aufhebung der ſoge— 
nannten (franzöfifhen) pragmatifchen Sanction beftätiget, Disciplinar-Canoneg 
erlaffen u, ſ. w. ©. die Eoncilien-Sammlungen von Labbe, Harduin, Coletti, 

[Schrödl.] 
Satitudinarier, eine Partei unter den engliſchen Theologen, welche unter 
dem Einfluſſe arminianiſcher Grundſätze und tiefen Ekels an dem heilloſen Ge— 
zänke der proteſtantiſchen Secten gegeneinander in der Arche bes Fundamental- 
Artikelſyſtems Verſohnung und Ruhe herbeizuführen ſuchten. Den Namen er— 
hielten ſie ſpottweiſe von ihren Gegnern, von denen ſie damit als Religionslehrer 
von der breiten Straße bezeichnet wurden. Die nächſte Veranlaſſung zu dieſem 
Namen gab jedoch ein Genoffe diefer Partei Arthur Burg durch feine Schrift: 
the naked gospel, 1694, welcher Jurieu entgegentrat dur die Schrift: la reli- 
gion du Latitudinaire, Rotierd. 1698. Ihr Entftehen fällt-in die Zeit Carls L, 
da Episcopalen, Presbyterianer, Independenten u. ſ. w. wider einander wütheten, 
und nach und nach gefiel die von ihnen gepredigte Mittelftraße fo fehr, daß fehr 
anfehnliche Lehrer der englifhen Kirche diefelbe betraten, Diefe vermeintliche 
Mittelftraße beftand darin, daß zwifchen wefentlihen und unwefentlihen Glau— 
benslehren unterfchieden und die wefentlichen auf fehr wenige reducirt wurden, fo 
dag man das apoftolifche Symbolum für hinreichend zur Seligfeit erklärte; dabei 
galt es als Grundfag, ſich firenger Polemik gegen Andersdenfende zu enthalten 
und in Predigt und Schrift mit Milde religidfe Gegenflände zu behandeln. Da 
ein ſolches auf breitefter Bafis aufgeführtes Syſtem jedem einzelnen Anhänger 
eine große Freiheit geftattete, wichen die Latitudinarier in den einzelnen Glau— 
benslehren auch fehr von einander ab und ift ed auch nicht zu verwundern, daß 
der Latitudinarismus, ohnehin per se eine Brüdfe zum Indifferentismus, oft in 
diefen überfchlug und in weiterer Entwiclung dem Deismus und Antichriftianis- 
mus den Weg bahnte. Der Hauptfig der Latitudinarier war der Sprengel von 
Cambridge, Unter die vornehmften Latitudinarier zählt man den Profeffor und 
Eanonieus Johann Hales und deffen Freund Wilhelm Chillingworth. 
Sohann Hales ſprach ſich befonders in feinem Werfe über das Schiema aus, 
worin unter Anderm als vornehmfte Duelle des Schisma's der Ehrgeiz der Bi- 
ſchöfe bezeichnet, das göttliche Recht der bifhöflihen Regierung geläugnet und 
behauptet wird, daß nicht jede befondere VBerfammlung zum Gottesdienfte für 
unerlaubt gehalten werden dürfe, wenn man gegen die öffentlichen gegründete 
Bedenklichkeiten habe, Hales flarb 1656. Sein Freund Chillingworth nimmt 
unter den Latitudinariern einen noch bedeutenderen Plag ein. Zu Orford 1602 
geboren, wurde er 1628 Mitglied eines Collegiums dafelbft, widmete fih außer der 
Theologie auch den mathematiihen Wiffenfchaften und der Poeſie, ging zur katho— 
liſchen Kirche über, Fehrte aber wieder zum Proteftantismus zurück, obgleich er 
felbft über diefen Schritt mit feinem Gewiffen nicht im Reinen war und auch 
noch nachher gegen einen feiner Freunde mehrere Zweifel darüber äußerte und 
fi mit einem Reifenden verglich, der auf dem Wege nad einer fernen und un— 
befannten Stadt die rechte Straße verfehlt zu Haben befennt und daher eine 
andere wählt. Im J. 1638 erfhien feine Schrift: „die Religion der Proteftanten, 
ein fiherer Weg zur Seligfeit” , worin er feinen Latitudinarismus entwicfelt und 
namentlich die freie Prüfung in Neligionsfahen und die Unabhängigkeit von dem 
Lehren der Reformatoren und den eingeführten Glaubensbefenntniffen vertheidigt; 
er ftarb 1644. Andere Latitudinarier waren Rad. Cudworth, + 1688, ©. Bull, 
+ 1710, Th. Burnet, + 1715 u, a, m, Bol, Mosheims, Schröckhs, Gue— 
rife’s u, A. Kirchengeſch. [Shrödl.] 


360 Laubhüttenfeft — Laud. 


Laubhüttenfeſt, ſ. Fefte der Hebräer, 53 

Laud, William, geboren 1573 zu Reading, der Vorkämpfer des englifche 
Episcopalfyftems unter den englifhen Königen Jacob und Carl, bis er dem 
fiegenden Presbyterialfyfteme unterlag. Sein erfter öffentlicher Schritt im $, 1605 
war leider eine große Berirrung : in feiner abhängigen Lage gab er ſich dazu her, 
die Hand zu bieten zu einer fogenannten Heirath feines Befhüsers Mountgoy 
mit Lady Rich, deren Gemahl noch lebte. Indeſſen bereute er diefe Verirrung 
bis zu feinem Tode, nicht aber bie Öefinnung, aus ber fie hervorgegangen war, 
die ihn zum bienftwilligen Werkzeuge der Großen machte und bie entgegengefete 
Richtung feiner Zeit nicht erkennen ließ. Naile, Biſchof von Nochefter , vem fich 
Laud nüglich erwiefen hatte, machte den Köniz Jacob auf ihn aufmerkſam. Eifer 
und Dienftfertigfeit erhoben ihn 1621 auf das Bisthum St. Davids. Nach Zacobs 
Tode 1626 flieg er raſch vom Biſchofſitze St. Davids auf den von Bath und 
Wells, von diefem auf den von London, ward Mitglied des geheimen Raths und 
zulegt Erzbifchof von Canterbury, Carl erfannte in ihm den Mann, der den 
Thron fügen und die Eingriffe der Puritaner zurücweifen fonnte, Dazu paßte 
fein ganzes Wefen, wie fein Religionsfyftem, in welchem der unbebingte Gehor- 
fam eine Rolle fpielte, Beide verrechneten fih, wie Alle, die da meinen, bie 
Kirche fei nur dazu da, die Vorrechte der Könige durchzufechten. Auch in den 
Mafregeln vergriff fih Laud gewaltig: fo wußte er es durchzufesen, daß die 
Sammelgelver zum Unterhalte der Geiftlichen den dazu beftellten zwölf Ver— 
waltern, weil fie die Episcopalfirche mit Hilfe dieſer Gelder untergraben, ge- 
nommen wurden und dem Könige zufielen, um fie zum Beften der Kirche zu ver- 
wenden. Hart und graufam verfuhr Laud mit dem unglüdlichen Geiftlichen Leigh- 
ton. Diefer hatte, ein puritanifcher und fanatifcher Eiferer, eine Schrift her— 
ausgegeben unter dem Titel: „Appellation an das Parlament oder Sions Klage 
gegen die Prälaten „worin den Bifchöfen, dem Könige und der Königin bittere 
Vorwürfe gegenüber den Gläubigen, dem reinen Glauben und dem Volkswohl 
gemacht wurden, Laud ließ Leighton vor die von ihm damals abhängige Stern- 
fammer bringen, wo er zu entehrenden und graufamen Strafen (wiederholte Ver— 
ftümmelung, Brandmarkung und Gefängniß) trog feiner Entfcehuldigungen ver- 
urtheilt wurde, Zehn Jahre fehmachtete er im Gefängnif und das Parlament 
ließ ihn erft frei, als es fih mit den Waffen in der Hand dem Könige entgegen- 
geftellt hatte. Trat man auf der einen Seite fo graufam dem Puritanismus ent- 
gegen, fo gab man ihm auf eine fhmähliche Weife nach und gerade da, wo er 
am meiften Unrecht hatte, Die Puritaner hatten oder fimulirten die Furcht, der - 
König Carl wolle mit Hilfe Laud's den alten Glauben und Gottesdienft wieder 
herftelfen, wofür überall Feine Thatfachen vorgebracht werben fonnten, und doc 
vpferte man diefem Wahne oder diefer Bosheit die Katholifen, über die wieder 
Berfolgungen verhängt wurden, um fich antipäpftlich zu erweifen, Dennoch ver- 
Tohnte Laud die Puritaner nicht, welche fortfuhren,, in Allem, was er nach feinem 
Amte that, z.B. Anfrechthaltung der Kirchenordnung, Ordination ohne Titel, 
Ausbefferung der Kirchen, Beftätigung der Rechte der geiftlichen Gerichtshöfe, 
nur Papismus zu finden, Vergebens fuchte er ſich durch gefchärfte Wachſamkeit 
gegen die Katholifen als aufrichtigen Proteftanten zu erweifen, Der Proceß und 
die Verurtheilung des Bischofs Williams von Lincoln, Laud's gefährlichfter Neben- 
buhler, mit aller Härte und Ungerechtigkeit ausgeführt; ebenfo die Verurtheilung 
des alle Pracht und Ergöglichkeit züchtigenden düfteren Eiferers, des Advocaten 
Wilhelm Prynne und feiner Nachtreter — Baſtwick's und Burton’s — und ihrer 
Freunde, die Inquifition des hohen Commiffionshofes, die unter eine Commiffion 
geftellte Schaglammer, an deren Spige ſich Laud felber ftellte, die Erhebung 
feines Schulfameraden, des Dr. Juxon, Bifhofs von London, zum Kanzler der 
Schatzkammer, al’ das erregte Haß und Unmuth, untergrub das Anfehen bes 








Lauda Sion. — 361 


Erzbiſchofs und ſchadete der Episcopalkirche, der nach Laud's Meinung dieß alles 
zu gut kommen ſollte. Ein ſchweres Ungewitter zog ſich gegen dieſelbe von Schott- 
land ber zufammen 1638 in der Convenant (f. d. A.) genannten Verbindung der 
Schotten gegen die von Earl I. unter Laud angeorbnete Liturgie, und die bifchöflichen 
Ceremonien und das Kirchenregiment (ſ. Hochkirche). Carl und Laud mußten nach⸗ 
geben und Ießterer rietb dem König fogar vom Kriege gegen die Schotten ab, 
wiewohl vergeblich, fo gut dießmal fein Rath gewefen war, Die Eröffnung des 
Parlaments 1640 und deffen Verhandlungen zeigten ihm, worauf es abgefehen 
ſei. Er ward in Anflage auf Hochverrath gefegt und nah 6 Wochen in den 
Tower gebracht. Im Februar erfchien eine heftige Schrift der Schotten —— 
Strafford, Laud und die ganze Bauk der Bifhöfe. Am 11. Mai endete Straf- 
ford auf dem Blutgerüfte. Auch feine Bemühungen für die Episcopalfirde ſah 
Laud zufammenfinfen;z die Liturgie ward abgefhafft und da der Erzbifchof eine 
Entfheidung in der fireitigen Wahl eines Rectors von Chartham in Kent geben 
follte, die Entſcheidung aber von Laud abfichtlich Hinausgefchoben wurde, fo ward 
fein Proceß am 21. April 1643 eingeleitet. Seinem Todfeinde, dem oben ge= 
nannten Prynne, warb der Auftrag gegeben, Beweife zu fammeln und vorzu= 
bereiten, defjen wilde Nachgier mit aller Kraft auf ihr Opfer ſtürzte. Am 12, 
März 1644, nach mehr als dreijäßriger Verhaftung, ftand der Erzbifchof vor den 
Schranken des Haufes. Sämmtlihe Anflagen fommen auf die Puncte hinaus: 
Laud⸗ habe verfucht die Rechte des Parlaments und die Gefege und Religion der 
Nation zu ſtürzen. Prynne's Rache hatte Beweife herbeigezerrt. Erft ermannten 
fi) die Lords gegen das Haus der Gemeinen und den Pöhbel; aber der Fanatis- 
mus der puritanifchen Geiftlichen wußte fein Opfer feftzubalten und beide Häufer 
vereinigten fih darüber, daß Laud’S Vergehen Berrath zweiter Gattung fei, und 
die Ueberführungsbulf ging am A, Januar 1645 durch, wie man fagt, mit einer 
Majorität nur von ſechs Mitgliedern. Laud erhob ſich in der That mit Seelen- 
ftärfe über fein Gefchie, und mit Heiterfeit und Würde, beftieg er am 10. Januar 
1645 das Blutgerüfl. Den Enthaupteten erhielten feine Freunde zur Beerdigung. 
Sein Tod fihmerzte den König tief. Lingard (Gefhichte von England Bd. IX. 
und X.) fohreibt wohl mit Recht feinen Tod mehr religiöfem als politifchem Groll 
zu; fein Eifer als Erzbifchof war in feiner Gegner Augen unverzeihlih. Seine 
Feinde mußten zugeben, daß Laud gelehrt, fromm, feiner Pflicht treu und in 
feinen Sitten untadelig war; feine Freunde aber fonnten nicht läugnen, daß er 
beftig und rachfüchtig, hartnäckig in feinen Meinungen und unerbittlich in feiner Feind- 
ſchaft war. Bol. Hiezu den Art. Großbritannien Bd. IV. ©. 797 f. [Haas.] 
Lauda Sion. Diefer herrlihe Hymnus auf das hl. Sarrament wird 
allgemein dem HI, Thomas von Aquin zugefchrieben; jedenfalls verdankt er dem 
13ten Jahrhundert feinen Urfprung. Er fallt alfo in jene Periode Firchlicher 
Dichtkunſt, in welcher diefe ſich von der der altclaffifchen Welt eigenen Form zu 
entfernen längſt angefangen hatte. Wie jene Zeit, fo trägt auch diefer Lobgefang 
einen vorberrfhend dogmatifchen Charakter an fih. Man wollte es Mangel an 
Poefie nennen, daß einzelne Strophen der profaifchen Darftellung des Dogma’s 
fo nahe treten, wie dogma dafur christianis ete., — Nulla rei fit seissura etc. 
Allein jener Geift, dem der Hymnus entquoll, bat ficher auch Hier mehr wahre 
Poefie in diefen Strophen gefunden und empfunden, als wir nach unfern Be- 
griffen von Poefie zu finden und zu empfinden im Stande find. Unbeftreitbar ift 
aber derſelbe einer der großartigfien Hymnen aus der Poeſie des frommen Mittel- 
alters. — In muficalifher Hinficht ift er ein wahres Meifterftüc der claffifchen 
 Kirchen-Compofition, wenn die Melodie auch gerade nicht ganz mit den wahren 
Grundregeln des gregorianifchen Gefanges übereinftimmt. Sie ift mixolydiſch 
und hypomixolydiſch gemifcht, und als ihre muficalifch gelungenften Stellen kann 
man wohl die Strophen: Mors est malis, vita bonis etc., und: Ecce panis Ange- 


362 Laudemium — Launoi. 


lorum etc. anfehen. — Die Kirche macht Gebrauh von dieſem Hymnus in der 
Liturgie des Frohnleichnamsfeftes, wo er ald Sequenz in der HI, Meffe ſteht. Hier 
wird in der feierlichen Meffe in vielen Didcefen befonders in Teutfchland, Belgien, 
Frankreich, mit dem hl. Sarramente in der Monftranz feierlicher Segen ertheilt, 
wenn der Priefter bei der Strophe: Ecce panis Angelorum etc. angelangt iſt; 
weßhalb natürlich diefer Segen nur da vorkommen kann, wo das Mefformular 
des Tages die Sequenz Lauda Sion hat, alfo weder am Sonntag in der Octav 
noch auch an einem auf irgend welchen Tag innerhalb der Octav fallenden Doppel- 
fefte. Wo diefe Segenertheilung vorfommt, Fann fie nur dazu dienen, die heilige 
Andacht zum wunderbaren Geheimniß zu erhöhen, - TRolfmann.] 
Laudemium — Lehen-Waare, Lehen- Geld, Pfundgeld, Handlohn, 
Anfall, Aufzug-Geld, Auf- und Abfahrt, bezeichnet jenes Geld, welches von 
einem Hpfmaier, Hofmann, an den Grundherrn, die Grundherrfihaft, entweder 
bei dem Antritt eines Erbpachtgutes oder bei der Erneuerung der Emphyteufe 
(ſ. d. A.) abgetragen werden muß, Es führt diefen Namen von laudatio oder 
approbatio des Grundherrn, durch welche diefer den Hofmann (Emphyteuta) auf 
das Gut einführt, Diefes Geld beträgt nach dem gemeinen Nechte den fünfzigften 
Theil, 2 Proc, des Werthes, zu weldem das Gut zur Zeit des Antrittes der 
Emphyteufe oder in dem gegenwärtigen Beftande, wenn Veränderungen eingetreten 
waren, gefhägt worden iſt. Nach dem Partieularrechte einzelner Länder jedoch 
beträgt das laudemium auch. mehr, nach dem bayerifchen Rechte z. B. und nach 


der Praris in einem großen Theile Teutſchlands betrug e8 fünf vom Hundert, - 


Auch gibt das Particularrecht in verfchiedenen Ländern auch verſchiedene Be— 
flimmungen darüber, wie oft dag laudemium entrichtet werben muß; fo mußte 
3. B. nach bayerifchem Rechte daffelbe fo oft entrichtet werden, als der Hofmaier 
wechfelte, mochte dieß gefchehen durch einen actus inter vivos, ober durch den Tod 
deffelben und Nachfolge eines Erben, eines Sohnes oder eines Fremden, Auch 
erlaubt das bayerifche Recht ein folches laudemium zu nehmen unter dem Titel 
„Abfahrt“ von dem Hofmann, wenn er den Hof verläßt durd Auswandern, wenn 
er denfelben verfauft oder vertaufcht, oder einem Sohne, einer Tochter denfelben 
übergibt. Dem Grundherrn ift indeffen nirgends geftattet, dag laudemium zu er» 
höhen, es jei denn, daß das Hofgut durch Vergrößerung oder durch Verbefferung 
der Eultur oder andere Umftände an Werth zugenommen babe, (Pichler, jus 
can. lib. II. tit. XVII. n. 24. 37. 44). Vgl. auch den Art, Kirchenlehen. [Marx] 

Laudes, f. Brevier. 

Launodi, Johann v., geboren zu Balognes in der Normandie 1603, war 
ein gelehrter Theologe an der Univerfität zu Paris und ein eifriger Vertheidiger 
der „gallicanifchen Freiheiten”. Seine erften Studien machte er zu Coutanze, 
begab fich dann nach Paris, verlegte fich bis in's fechste Jahr auf das Studium 
der Theologie, wurde fihnell nach einander Licentiat, Priefter und Doetor der 
Theologie an der Sorbonne, und ergab fih von da an ganz ausſchließlich dem 
Studium der Väter und firhlicher Schriftfteller, wie der Ausarbeitung Fritifcher 
Werke über einzelne Materien der Theologie, der Kirchendisciplin und der Kirchen— 
gefhichte, namentlich von Franfreich, In diefen Studien, in literariſchen Arbeiten, 
in wiffenfchaftlichen Conferenzen, die er allwöchentlich mit feinen Freunden hielt, 


und in vielfältigem Briefwechfel mit Gelehrten über wiffenfchaftliche Gegenftände | 


fand er Befriedigung aller feiner Wünfche, fo daß er niemals um eine Pfründe 
fich bewarb, und jede ihm angebotene ausfhlug, theil® um durch andere Dienfte 
nicht von feinen Lieblingsbefchäftigungen abgezogen zu werben, theild weil ihm 
die phyfifche Begabung zum Predigen und Singen fehlte, und er, wie er ſelbſt 
erflärte, von der Kirche Feine Einkünfte ziehen wolle, one ihr die entfprechenden 
Dienfte Ieiften zu Fünnen. Aus dieſer ausfchlieglichen Hingabe an die Studien: 
und Viterarifche Arbeiten, in welcher er bis zu feinem Tode (1678) bebarrte, fo 





Launoi. 363 


daß er gleichſam mit der Feder in der Hand geſtorben iſt, läßt ſich begreifen, wie 
Launvi eine fo große Menge Schriften ausarbeiten fonnte, und zwar in Fächern 
und über Daterien, dieeine große Belefenheit erheifchen. Dagegen aber ift er auch 
nicht frei geblieben von jener Einfeitigfeit, in welche Theologen zu verfallen 
pflegen, wenn fie, ohne alle active Betheiligung an dem wirklichen Leben der 
Kirche, einzig in den todten Buchftaben ihrer Wiſſenſchaft fich vertiefen. Diefes 
mußte bei Launoi um fo mehr der Fall fein, ald er in feiner ganzen literariſchen 
 Zhätigfeit weit weniger Neues fchafft, als VBorhandenes Eritifirt. — Seine erfte 
Schrift ift eine Verteidigung des Durandus (ſ. d. A.), eines berühmten Theo- 
logen des 14ten Jahrh., in feiner Sentenz, daß Gott zu böfen Handlungen freier 
Gefhöpfe nicht unmittelbar eoncurrire, die er, ihren Gegnern gegenüber, als 
probabel feftzuhalten fucht. In feiner zweiten (einer Differtation) zeigt er, daß 
in Gemäßheit des Concils von Trient, der Lehre der mit demfelben übereinftim- 
menden Theologen und der gegenwärtigen Praris der Kirche die Genugthuung 
der Abfolution im Bußfarramente nicht vorberzugehen brauche. Als um das 5. 1653 
unter den Theologen in der Diöcefe Chalons ein Streit über den Sinn des Con- 
eils von Trient bezüglich der Eontritiv und der Attritio entflanden war, indem 
die Einen die Attritio für hinreichend, die Andern die Eontritiv für nothwendig 
bei dem Bußfarramente erflärten, fohrieb er einen Tractat, in welchem er zeigt, 
daß das Comeil nichts darüber entſchieden und die beiden Lehren den Theologen 
frei gelaffen Habe, daß jedoch diejenige, welche die Eontritio für nothwendig er- 
Häre, mehr begründet fei, als die andere, Diefer Schrift ift ein Tractat über 
den häufigen Gebrauch der Sacramente beigefügt. Ein anderer Tractat handelt _ 
de varia Aristotelis in Academia Paris. fortuna, worin er zeigt, daß das Urtheil 
der Theologen über Studium und Anwendung des Ariftoteles bis in’s 16te Jahrh. 
durchgängig ein ungünftiges gewefen fei, Dann tritt er in einer andern Schrift 
auf gegen die Erzählung der Tarthäufer von der Bekehrung des Hl. Bruno, nad 
welcher diefe durch das Wiederaufleben eines verftiorbenen Canonicius zu Paris 
erfolgt fein fol. In einer fernern Schrift über die unter den erften fränkischen 
Königen in Frankreich gegründeten Kirchen griff er auch zuerft die bis dahin all- 
gemeine Anficht von der Gründung des Chriftentfums in Gallien im apoſtoliſchen 
Zeitalter an, wie auf die Meinung, daß der Divnyfins Martyr zu Paris iden⸗ 
tiſch fei mit dem Dionyfius Arevpagita der Apvftelgefhichte; und im Zufammen- 
bange damit gibt er eine Gefchichte der Erbauung der Kirchen zu Paris bis zum 
10ten Jahrh. Um diefelbe Zeit (1658) griff er auch die in der Provence her- 
kömmliche Meinung an, daß Lazarus, Marimin, die Hl. Magdalena und die hl. 
Martha bald nach dem Tode Jeſu nach Frankreich Cin die Provence) gefommen 
feien, und zeigt, daß diefe Erzählung, voll fabelhafter Ausfagen, erft nach dem 
10ten Jahrh. entflanden ſei. Ebenſo ſchrieb er mehrere Fritifhe Differtationen 
über die erfien Verfündiger des CHriftentgums und die erſten Kirchen in Gallien. 
Ferner einen Tractat darüber, welches Concil vom HI. Auguftin gemeint fei, wenn 
er fage, durch ein Coneil. plenarium fei die Streitfrage über die Ketzertaufe ent- 
ſchieden worden, das zu Arles nämlich, nicht jenes zu Nicäa. In einem andern 
Tractate handelt er von der Sorge der Kirche um die Armen und Nothleivenvden, 
ſtellt die Canones der Concilien, die Decrete der Päpfte und Maßregeln der Bi- 
fhöfe über Pflege der Armen und Leidenden von den älteften Zeiten herab zu— 
ſammen, fügt diefen dann viele Beifpiele von der Hospitalität und Mildthätig- 
keit der Chriften bei. Auch ſchrieb er über die Streitfrage, wer der BVerfaffer 
ber weltberühmten imitatio Christi ſei, fich entfcheidend für Johannes Gerfon, gegen 
Thomas von Kempen, Dann fchrieb er ferner ein Fritifches Werk gegen die fabel- 
haften Traditionen der Carmeliter über das Scapulier und die Scapulierbruder- 
ſchaft, gegen die Bifion, welhe Simon Stock gehabt haben foll, in welcher die- 
fem die feligfte Jungfrau erfehienen fei, ein Seapulier ihm überreichend mit den 


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364 Launoi. 


Worten: „Hier das Privilegium der Carmeliter; wer in dieſem re 
wird nicht in die Hölle kommen,“ wie auch gegen bie fogenannte Bulla Sabba- 
tina , weldhe jenes Privilegium beftätigt, und die Launoi fchlagend als unächt 
nachmeist. Eines der intereffanteften Werfe Launvis ift fein Tractat über den 
Canon des vierten Concils im Lateran: Omnis utriusque sexus (von 1215), 
worin er bie Deerete, die Bullen der Päpfte und die Anfichten der Theologen 
über diefen Canon feit der Erlaffung deffelben zufammenftellt. Es hatten nämlich 
die beiden bald nach jenem Concil entflandenen Orden der Franeiscaner und Dvo- 
minicaner Privilegien im Beichthören und Predigen erhalten, die mit jenem Canon 
fihwer zu vereinbaren waren, Der Canon fprach die Verpflichtung für die Gläu- 
bigen aus, die dfterliche Beicht nnd Communion bei dem proprius sacerdos oder 
bei einem andern mit deffen Erlaubniß zu halten: nach jenen Priviligen aber 
fonnte der sacerdos proprius und beffen Erlaubniß umgangen werden. Daher 
find feit dem Erlaffe jenes Canons vielerlei Klagen und Streitigkeiten über die 
gegenfeitigen Nechte der Pfarrer und Bifchöfe einerfeits und der Religioſen an— 
dererfeits entflanden; daher denn auch die ſchwankenden Entfcheidungen der Päpfte 
felber in diefem Puncte, indem die Einen die Religiofen bei ihren Eremptionen 
und Privilegien zu erhalten fuchten, die Andern, den gerechten Klagen der Bi- 
fhöfe und Pfarrer über Schmälerung ihrer Nechte und Loderung der Kirchen— 
digeiplin Gehör gebend, jene Privilegien befchränkten. — Mit Ss Erudition 
ift ein anderes Werf von ihm gefchrieben, über die berühmten Schulen, welche 
im Abendlande unter Carl d, Gr, und feit der Regierung diefes Kaiſers gegrün— 
det worden find, die Gefchichte der Entftehung der Univerfitäten in Franfreich und 
Teutſchland, dann insbefondere der Univerfität Paris und bier fpeciell der theo— 
Iogifchen Facultät, welche Ießtere über die Hälfte des ganzen Werfes bildet, — 
Eine fernere Schrift handelt über das Sarrament der Rranfendlung, ift rein 
theologiſch und ftellt die Lehre und Praxis der Kirche über diefelbe nach der Hl. 
Schrift, den Vätern und den fcholaftifchen Theologen dar. — Biel Auffehen und 
Anftoß hat erregt fein im J. 1664 erſchienenes größeres Werf: Puissance royale 
sur le mariage, worin er das Necht der weltlichen Fürften, trennende Ehehin- 
derniffe aufzuftellen, nachweist. In diefer Schrift Hat ihn fein Gallicanis- 
mus (f. d. A.) zu offenbarer Verlegung der Rechte der Kirche verleitet. Den 
Contract bei der Ehe als das Urfprüngliche und Wefentliche, die Sacramentalität 
als Accefforium erfaffend, Iegt er der weltlichen Macht größeres Recht bei, als 
ihre in Wahrheit zufommt, beraubt die Kirche eines ihrer wefentlichften Rechte, 
um bie weltliche Macht zu bereichern; er geht darin fo weit, daß er behauptet, 
das Eoneil von Trient habe, als es über die matrimonia clandestina Decrete er— 
Yaffen, ein Necht der potestas saecularis ausgeübt, und daß er am Ende feines 
Werkes behauptet, daß, wenn das Eoneil von Trient erkläre: daß die Kirche 
das Recht habe, impedimenta derimentia aufzuftellen, bier unter 
„Kirche“ die Fürften (1) gemeint feien. ine feiner legten Schriften war: ve- 
nerable tradition de l’&glise romaine contre la simonie, worin er die Canones ber. 
Concilien, die Deerete der Päpfte gegen die Simonie durch alle Jahrhunderte 
zufammenftellt, Er greift darin die Annaten freimüthig an und legt fie der Curie 
zur Laſt. Außer den genannten Schriften hat er aber auch verfchiedene Fritifhe 
Differtationen und Denkfchriften gefehrieben , in denen er manche Privilegien und 
Eremtionen von Klöftern und Capiteln einer foharfen Prüfung unterwirft, und 
die er als unächt oder als mißbräuchliche nachweist. Ueberhaupt war er durch 
feinen ftrengen Gallicanismus ein entfchiedener Gegner aller Privilegien und 
Eremptionen der Neligiofen, indem er in ihnen einen Ausfluß und eine Bethäti- | 
gung übergreifender Papalhoheit erblickte. Wo daher ein Biſchof mit einem Klofter 
wegen Privilegien und Exemptionen von ber bifchöflichen Jurisdietion in Eonflict 
geriet, wurbe gewöhnlich Laundi um eine Fritifihe Begutachtung angegangen. 

















L2aura — taurentius, 365 

arch machte er ſich unter den e Feinde, rief verſchiedene Gegen- 
(öriften 9 v welche alle es Wert gegen die Privilegien 
und Eremtionen rieben hat. Endlich hat Launoi acht Bände Briefe 


gen aus der Geſchichte, der Kritif 
und der Kirchendiseiplin. Der größte Theil derfelben handelt über die Appella- 


glossarium medise et infimae latinitatis von Du Cange s. v. Laura). Sonft unter- 
fchied fih Laura, wie Eyrilfus in dem Leben der hl. Saba bemerkt, dadurch vom 
monasterium, daß in dem letztern ein gemeinfchaftliches Leben geführt wurde, wäh- 
rend jene in der Laura Iebten, welche ein einfiedlerifches Leben führten, fo zwar, 
daß jeder in einem eigenen Hüttchen oder Zelle wohnte, und daß den Bewohnern 
fämmtliher Zellen ein Abt vorſtand. Nachdem das Anachoretenleben fih zum 
Eönpbitenleben entwickelt hatte, behielten mehrere Orden ſolche Zellen bei, in 
welde fih dann auf eine beflimmte Zeit befonders fromme und meift ältere 
Mönde zurürfziehen durften (f. den Art, Inclusi). Nur der gemeinfame Empfang 
des hl. Abendmahl und der gemeinfame Gehorfam gegen den Abt war das Ber- 
einigungsband diefer Einfiedler. Ueber die Etymologie diefes Wortes vgl. Du 
Eange a, a. D, Die erften Lauren fcheint der HI. Charito gegründet zu haben; 
die erfte befand fih am todten Meer, welche nachher Laura von Pharan genannt 
wurbe, weitere erbaute er bei Jericho und in der Wüfte von Thecue, die nachher 
unter dem Namen Laura von Seufa befannt wurde. Vgl. hiezu den Art, Klofter. 
Saureacum, f. Daffan. 
| Saurentius, der heilige, Diacon und Martyrer. Man fünnte es 
I beklagen, daß feine eigentlichen und ächten Martyrer-Acten des Heroen unter den 
chriſtlichen Martyrern auf uns gelangt find, hätte man nicht einen reichen Erfag 
- dafür in dem fchönen Hymnus des Prudentins auf den hl. Laurentins und in den 
vielen Zeugniffen der HI. Väter, wie der Päpfte Damafus, Leo I. und Gregor IL, 
und der Bifchöfe Ambrofius, Auguftin, Petrus Chryfologus, Marimus von Turin, 
Gregor von Tours, Venantius Fortunatus u. A. In folgenden Puncten flimmen 
Prudentius und alle die genannten Päpfte und Bifchöfe zufammen : I. Laurentius 
war ein Schüler des Papftes Sirtus II., der ihn wegen feiner Vorzüge und na= 
mientlich wegen feiner Keufhheit fehr liebte und deßhalb in die Zahl der fieben 
xvmiſchen Diacone aufnahm, vielmehr zum Erzdiacon machte. Als folder hatte 
Laurentius den unmittelbaren Altarsdienft an der Seite des HI. Papftes Sirtus, 
wenn diefer das HI. Opfer darbrachte und nebſtdem auch die Verwaltung des 
Kirchengutes und die Armenpflege. II. Laurentius wünfchte fehnlichft mit feinem 
geiftlihen Vater Sirtus zu ſterben, als diefer (in Folge einer blutigen Chriften- 
verfolgung des Kaifers Balerian 257 — 258) in Rom zum Martyriod geführt 
wurde: „Vater, wohin gehft du ohne deinen Sohn? Wohin eilft du, Priefter, 
ohne den Diacon? Du Haft ja fonft nie das Opfer ohne den Diener verrichtet!“ 


— — 





u Det ee * 2 













u ET — 


366 Laurentius Valla. 


Diefe vpferfreudige und todesmuthige Liebesklage beantwortete Sirtus mit der 
Prophezeiung, ihm als Jüngling flünden noch größere Kämpfe für den Glauben 
bevor und in drei Tagen werde der Diacon dem Priefter folgen, III. Urfache des 
graufamen Martyriums war außer dem Bekenntniß Chrifti die Weigerung des 
Laurentius, die Kirchenfchäge den Richtern auszuliefern, Ex erflärte fich bereit, 
diefelben zu übergeben, bat um eine Frift, und zeigte dann eine Menge von Ar- 
men vor mit den Worten: „Das find die Schäße der Kirche!“ Und wohl konnen - 
es fehr viele Arme gewefen fein , da furz vorher der Papft Cornelius über 1500 
Arme, Wittwen und Kranfe zu Rom unterhielt Cep. Cornelü bei Euseb. hist. VI. 
43.) IV. Laurentius wurde drei Tage nach dem Tode des hl. Sixtus am 10. Au- 
guft Iebendig auf einem Noft gebraten, blieb dabei ruhig und heiter und ſprach 
zum Richter: „Sieh, die eine Seite ift genug gebraten, wende mich nun auf die 
andere und iß!“ — Gemartert wurde Laurentius, auf dem Viminalifchen Hügel 
und in ber via Tiburtina begraben, Der Ruf feines Martyriums verbreitete ſich über 
die ganze hriftliche Welt: „Vom Aufgang bis zum Miedergang, fagt Papft Leo J. 
iſt Rom durd den ftrahlenden Glanz im Chore der Leiten ebenfofehr durch fei- 
nen Laurentius verherrlichet worden, wie einft Zerufalem durch feinen Stephan“ 
und Auguftin fagt: „Sp wenig Nom felbft verborgen werden kann, fo wenig fan 
die Krone des Laurentius verborgen bleiben.” Zu Rom wurde ſchon zu Eonftan- 
tins Zeit eine Kirche über feinem HI, Grabe erbaut, welche zu den fieben Haupt- 
bafilifen gehört und St. Laurentii extra muros heißt; eine andere ihm dafelbft 
geweihte Kirche ift die St. Laurentit in Damaso, Ebenſo entftanden bald auch im 
allen andern Theilen der chriftlichen Welt Laurenti-Rirchen und rühmen fich viele 
Länder des Beſitzes von Reliquien diefes Heiligen, Papft Gregor I., zu deffen 
Zeit von Nom aus noch Feine Reliquien von den Leibern der Heiligen verfendet 
wurden (ep. II. 30, an die Kaiferin Eonftantia), fendete an den Patrieier Dy— 
namins Partikeln von dem Nofte des HI, Laurentius. ©, Boll. ad 10. Aug., Acta 
Mart. 9, Ruinart u. Tilfemonts Mem. IV. [Schrödl.] 
Saurentius Balla, geboren 1415, einer der berühmteften Humaniften des 
15ten Jahrh., der mit außerorbentlicher Regſamkeit die alte claffifche Literatur 
wieder in Aufnahme zu bringen und aus dem Grabesdunkel des nächftoorgehenden 
Zeitalter$ zu erwecken ſtrebte. Befonders forgte er für die Wiederherftellung der 
elaffifchen Reinheit und Schönheit der lateinifchen Sprache. Allein das drangvolle 
Streben nad Wiedererwerfung des claffifchen Alterthums zog Laurentius: V. hin— 
über in eine Art heionifcher Richtung der Wiffenfhaft, wie dieſes auch andern 
feiner Gefinnungsgenoffen nur zu häufig begegnete, Die beißende Satyre, womit 
er den Anhängern der ſcholaſtiſchen Philofophie, und namentlich dem Elerus zu 
Leibe ging, feine Teivenfchaftlihe Herabwürbigung des Ariftoteles, fowie feine 
übermüthige Vergdtterung des heidniſchen Altertfums erweckten ihm bald eine 
Menge von Gegnern. Ebenfo galt fein VBerfuh, an das neue Teftament den 
profan philologifchen Mafftab anzulegen, als ein neues unerbauliches Beginnen, 
Er fand fich gendthigt, Nom, wo er Bürger war, zu verlaffen, und ging an Den 
Hof des Königs Alphoͤns von Neapel, der als ein großer Forderer der Wiffen- 
Schaft befannt war, und welcher noch in einem Alter von 50 Jahren bei Balla 
Latein lernte. Valla war auch in Neapel nicht zurüchaltender als in Nom, ex 
geißelte die Geiftlichfeit mit feiner cauftifchen Feder und dogmatifirte allzu keck 
über das Geheimniß der Dreieinigfeit, über den freien Willen, über die Gelübde 
der Enthaltfamfeit und über mehrere andere delicate Puncte, Vorzüglich auf Bes" 
trieb der Negulargeiftlichfeit ward er öffentlich der Ketzerei angeflagt; durch das 
fonigliche Verwenden ward zwar die Lebensgefahr von ihm abgewendet, aber nicht 
bie Schmach, daß er um das St. Zacobs-Klofter herum eremplarifch mit Ruthen 
gepeitfcht wurde, Nach einer folchen Demüthigung Fonnte Valla nicht Länger in 
Neapel bleiben; er ging wieder nach Nom, wo er Gönner fand, welche ihn ber 





Lauretaniſche Litanei — Lauſanne. 367 


Papſt Nicolaus V. empfahlen, und ihm die Erlaubnif zu lehren fammt einem 
Sahrgehalt erwirkten. Valla Iehrte öffentlich die Beredtfamfeit, und ward Ca— 
nonicus an der Lateranfirhe. Es währte nicht lange, fo gerieth er mit Poggius 
in heftigen Streit. Diefe beiden Männer zankten ſich auf die gemeinfte Weife 
berum, und warfen ſich gegenfeitig Ehrgeiz, einen unruhigen und fhwarzgalligen 
Charakter vor; fie hatten darin beide Recht; und wenn Abbe BVigerini und Du 
Pin dahin arbeiteten, Balla zu rechtfertigen, fo iſt's wohl vergeblihe Mühe, feine 
Werfe zeugen wider ihn. (S. Feller dicit. hist. tom. 8). Er ftarb zu Rom 1457 
oder 1465. Unter feinen Werfen machte viel Auffehen jene Schrift, worin er 
die Falfchheit ver fog. Schenfungsurfunde Eonftantins d. Gr. zu beweifen fucht: de 
falso credita et ementita Constantini donatione Declamatio. Diefe Schrift ließ Ul- 
rich v. Hutten 1517 auflegen, und dedicirte fie dem Papfte Leo. Seinen Ruhm 
als Humanift ficherte er fich durch feine: Elegantiae latini sermonis in 6 Büchern, 
Benedig 1471. Fol. Paris 1575. 4. Ferner bat man von ihm die Schriften: 
De libero arbitrio, de voluplate et vero bono libri II., worin er, wie nicht anders 
zu erwarten, eine durch und durch epicuräifche Philofophie predigt (f. Epicuräis- 
mus); ferner eine im Nebnertone gefchriebene Geſchichte des Königs Ferdinand 
von Arragonien, dann Ueberfegungen, oder beffer ungetrene Paraphrafen des 
Thucydides, des Herodot und Homer, Noten zum neuen Teftament; eine Ab- 
handlung über das Wahre und Falſche; endlich fabulae und facetiae u, f. w. 
Seine gefammelten Schriften erfchienen zu Bafel 1540. Fol. Venedig 1592. [Dür.] 

SZauretanifche Litanei, f. Litanei. 

Laus tibi Christe, laus tibi domine, ſ. Meffe. 

Lauſanne, Bisthum. (Auszug aus einer neuern noch ungedrudten, ur- 
kundlich bearbeiteten Gefchichte des Bistums Laufanne,) Gründung des bi- 
ſchöflichen Siges in Aventicum. Schon frühe fommt in Aventicum (Avenches, 
Wifflisburg im Kanton Waadt) unter Kaifer Vespaſian die Colonia pia, Flavia, 
Constans, emerita Aventicum Helvetiorum vor und Tacitus nennt hist. 1. I c. 68 
Aventicum caput gentis, es mag die vornehmfte Stadt Helvetiens gewefen fein, 
weil dort die Conventus der Nation gehalten wurden; auch die Ruinen laffen auf 
prachtvolle öffentlihe Gebäude ſchließen (Haller, Helvetien unter den Römern L 
144), was fchon um die Mitte des vierten Jahrh. Ammianus Marcellinus aus 
eigener Anſchauung bezeugte: Aventicum, desertam quidem civitatem, sed non 
ignobilem quondam ut aedificia semiruta nunc quoque demonstrant. Schon unter 
römischer Herrfchaft Hatte das Chriſtenthum fich in diefer Gegend feftgefegt, wel- 
ches durch die Soldaten der römifchen Legionen in Folge des Verkehrs von Aven- 
ticum mit Rom und Stalien und von Lyon und Vienne her verbreitet wurde, wo 
Thon am Ende des zweiten Jahrh. ſich Chriftengemeinden gebildet hatten, Wirf- 
lich foricht der HL. Irenäus adv. haeres. lib. I. c. 10 von Kirchen unter den Celten 
und Germanen &v [eguavıcıs, in Germaniis, was nicht vom großen Germanien 
auf dem rechten Rheinufer, fondern von den zwei Provinzen Germania superior 
und inferior auf dem linfen Ufer muß verfianden werden, zu Germania superior 
gehörte aber Aventicum, Augusta Rauracorum und Beſançon. Unter Kaiſer Con 
ſtantin erhielt die chriftliche Religion einen neuen Auffhwung ; in diefe Zeit fällt 


die Erbauung der Kirche zu St. Moris in Wallis, Die Wiederherftellung einer 


Bafilica in Sedunum , die Errichtung des Bisthums von Detodur (Martiniach), 
die Gründung des Bisthums Genf und der uralten Kirche des hl. Petrus dafelbft. 
War Aventicum auch von den Zerflörungen der Barbaren hart mitgenommen, 
Denfmäler aus dem vierten Jahrh. beweiſen, daß es noch bewohnt war, es war 
noch nicht bde und wird fpäter in der alten notitia Galliae als die erfte Stadt 
nach der metropolis Befangon in der feguanifchen Provinz aufgezeichnet. Im Leben 
des HL. Romanus kommt um das Jahr 440 Celidonius ſchon als Bifchof von 
Defangon por, fpäter erfiheint der dortige Bifhof als Metropolit, was ſchon auf 


* 


368 Laufanne, 


einen bifchöflihen Sit in Aventicum ſchließen läßt, das nach der metropolis Be- 
fangon die bedeutendfle Stadt der Provinz war, Zur Zeit der großen Völfer- 
wanderung erhielten die Burgunder (406—407) dur ein Vorkommniß mit den 
Nömern das weftlihe Helvetien, nahmen bald das Chriſtenthum an und lebten 
mit den Urbewohnern im Frieden. Zwar verfielen die Burgunder in den Arianis⸗ 
mus, doch ward diefer durch eifrige Biichöfe bald überwunden, und daß die ka— 
tholifche Religion große Fortfchritte machte, beweist das Leben des HI. Romanus, 
welcher zwifchen 440—460 in dem Bisthum Aventicum das Klofter Romainmötier 
gründete, feine Andacht in St, Moriz verrichtete, in Genf vom Biſchof und Volt 
feierlih empfangen wurde u.f.f. Im J. 517 wurde zu Epapna eine Nativnal- 
ſynode aller Biſchöfe Burgundiens gehalten (ſ. Epapn) ; unter den Unterfhriften 
finden wir jene des Priefters Peladius, welcher flatt des Bifchofs von Avennica 
zugegen war. Avennica ift nun aber nicht Avignon, weil Avignon wahrfcheinlich 
nicht zu Burgundien gehörte, und einige Handfchriften ſtatt Avenniea — Aven— 
tica geben. Peladius hätte alfo auf der bezeichneten Nationalfynode den Salu— 
taris, Bifchof von Aventicum, vertreten. Ein alte Handfchrift, wahrfcheinlich ein 
Abriß der Chronif der St, Mariuskirhe von Laufanne Liefert ein kurzes Ver— 
zeichniß der Bifchöfe, wie folgt: Prothafius, Chilmegifilus, Superins, Gundus 
oder Guido, Martinus und Marius, Marius ftarb im J. 593 oder 594 nad 
zwanzigjähriger Amtsführung; nach einer alten Sage Cchronic. cartul. edit. Ma- 
tile p. 25), welche Cono von Eſtavajel, Propft von Laufanne, 1228 in fein 
Chronicon chartularii ecelesiae Lausannensis aufgenommen hat, follen 22 Bifchöfe 
in der Kirche des hl. Symphorianus in Aventicum begraben liegen. Da man 
nach Neuton und Nitter Stuart bei Wahlregierungen jevem Gewählten durch- 
fpnittlih 10—12 Negierungsjahre annehmen kann, fo fallen fonach die 18 erften 
Biſchöfe mit eilf Jahren bifchöflicher Regierung zwifchen 330—516 n. Chr. , der 
19. Salutaris 516—527 , der 20, Superius 523—539, der 21. Gundus 539 — 
550, der 22. Martinus 551 —562 — 570, fomit fiele die Gründung des Bis- 
thums in die erfte Hälfte des vierten Jahrh. unter die Regierung Conſtantins 
d. Gr, oder feiner Söhne, — Uebertragung des bifhöflihen Sites nad 
Lauſanne. Aventicum ſcheint immer mehr gefunfen zu fein, während fich unweit 
Vidy am Lemanerfee, wo einft das alte Lonfonium fland, ein neuer Drt erhob 
und den Namen Laufanne erhielt. Hieher wurde der bifhöfliche Sig von Aven- 
ticum verlegt. Willimann (de rebus helvet. 1. I. c. 3) fihreibt hierüber: „Ma- 
rium (Bifchof von 573—594) esse volunt, qui primus Losannae sedem collocavit 
jussu et auctoritate Hildeberli Austrasiae et Burgundiae regis, qui Guntramno suc- 
cessit I. anno regni ejus Burgundici, quique eam urbem cathedralem esse voluerit.“ 
Chilvebert begann feine Herrfchaft in Burgund im J. 593, im gleichen Jahr am 
29. März ftarb Guntramnus, Childeberts 1tes Regierungsjahr lief alfo vom 29, März 
593 bis 29. März 594, Bifchof Marius flarb am Ende des Jahres 594. Ferner, 
Biſchof Marius unterfihrieb das Concilium II. Matisconnense im J. 585: Marius 
episcopus ecclesiae Aventicae subscripsi (Mansi Coll, Conc. IX. 958), alfo noch 
als Bifchof von Aventicum; um das J. 650 auf der Synode zu Chälons fur Saöne 
unterzeichnete Arricus episcopus ecclesiae Lausannensis (l. c.). Die Uebertragung 
des bifchöflihen Sites fand alfo zwifhen 585 — 650 Statt. Dem Chronicon 
cartularii eccles. Lausann. zufolge machte ſchon Bifchof Marius der Kirche von 
Laufanne verfihiedene Schenkungen und wurde auch in Laufanne begraben. Diefe 
Umftände begründen die Vermutung, der bifhöflihe Sig fei nach dem Eonei- 
lium I. von Mäcon im J. 585 und vor des Marius Tode im J. 594 — alfo 
gegen das Ende des VI. Jahrh. von Aventieum nach Laufanne übertragen wor— 
den, — Die alten Örenzen des Bisthums find aus Urkunden vom J. 816— 
1536 und dem Verzeichniß der Pfarreien zu entnehmen, das in dem Chronicon 
cartul, eceles. Lausann, vom J. 1228 enthalten iſt. Norbwärts fing der Bis— 





Laufanne, 369 


thumsſprengel an in der Gegend von Attiswyl nahe bei Flumenthal und erftrerfte 
ſich bis an das nörblihe Ende des St, Imerthals (Kanton Bern) bei Sonceboz 
und Pierre periuis, wo es das Bisthum Bafel berührte. Eine von hier big zum 
Ausflug der Aubonne in den Genferfee gezogene Linie bildete die weftlihe Grenze, 
In dem Weiler Biaufond, Pfarrei des Bois (Pruntrut), ſieht man am Ufer der 
Doubs einen Felfen, feit 2000 Jahren die Grenzfcheide zwifchen den Sequanern, 
Raurachern und Helvetiern, fpäter zwifchen Franchecomte, dem Fürftentbum Prun— 
trut und der Graffhaft Neuenburg, und in unferer Zeit zwifchen den Bisthümern 
Bafel, Befangon und Laufanne und zwifchen Franfreich und den Kantonen Neuen 
burg und Bern. Südwärts war die Grenze der Genferfee von der Aubonne bis 
Bivis, noch Billeneuve gehört in den Laufanner Sprengel und von hier zog ih 
die Orenzlinie über die Alpen, Dberfaanen bis an die Grimfel und ſchied das 
Bisthum Laufanne von dem von Sitten, Deftlihe Grenze war die Aar von ihrer 
Duelle bis an den Siggerenbach bei Flumenthal, auf dem rechten Aarufer dehnte 
fih das Bistum Conftanz aus. Das Bistum Laufanne begriff fomit die Stadt 
Solothurn und einen Theil ihres Gebietes, Bern und das auf dem linken Aar- 
ufer gelegene Bernergebiet, Biel, das St. Jmerthal, in der Franhecomte 


Jongue, Longueville, die Grafſchaften Neuenburg und VBallengin, das ganze heit- 


tige Waadtland, den Kanton Freiburg, die Graffchaft Greyerz und einen Theil 
des Berneroberlandedg, Die gegenwärtige Grenze fließt in das Bisthum 
Laufanne die Kantone Freiburg, Waadt, Neuenburg und die Stadt Bern fammt . 
einigen am linfen Aarufer zerftreut Iebenden Ratholifen und Genf — et est videre 
miseriam! — Gefhihte der Bifhöfe und des Bistums. Wir haben 
oben den Salutaris als den erften eigentlichen Bifchof bezeichnet, ifm mögen wohl 
18 Biſchöfe vorangegangen feinz nach Superius und Gundus if der hl. Marius 


als Biſchof von Laufanne im J. 574 hervorzuheben. Bon ihm eine Fortfegung 


des Chronicon Prosperi vom 3. 455—581, welches Gallandi in feine Sammlung 
aufgenommen; er fol auch das Leben des HI. Sigismund (Bolland, 1. Mai) ver- 
faßt haben, 585 wohnte er dem zweiten Coneil von Mäcon bei, 587 weihte er 
die Kirche zu Päterlingen, verlegte den bifchöflihen Sis von Aventicum nach 
Lauſanne. Er ftarb im 3. 594, wurde in der Kirche zum HI. Thyrfus (jet eine 
Eaferne!) begraben und wird im Bisthum als Heiliger verehrt. Nach ihm wird 
in der mehrbenannten Chronik die Reihe der Bifchöfe bis auf die Zeit Carl d. Gr, 
unterbrochen. Man fuchte diefe Lücke auszufüllen durch eine Namenslifte von 
Biihöfen, die aber auch die gelindefte Kritif nicht aushält. Sicher ift, daß Pro- 
thafins um das J. 640—648 das Bisthum verwaltete, Arricus dem Concil von 
Chalons (649 — 650) beiwohnte und CHilmegifilus um das J. 666 Biſchof von 
Lanfanne war. Um das J. 771 wird in einem amtlichen Schreiben an den Erz- 
biſchof von Befangon Meldung gethan von einem vor Kurzem verftorbenen Bifchof 
von Lauſanne und dem nach ihm ernannten Nachfolger; diefer war clericus regis 
(Caroli) und hatte dem noch jungen Carl, den es einft auf der Reife bungerte, 
ein gutes Mahl veranftaltet, Carl verſprach: quia si aliquando sibi facultas sup- 
peteret hos ei prandium recompensaret. Bon Carl d. Gr, an find als Bifchöfe 
von Laufanne vorzüglich zu nennen Ulrich bis zum J. 814, er war ein Bruder 
der Hildegard, Gemahlin des Kaifers, und foll 794 dem Eoneil von Frankfurt 


 beigewohnt haben, David (827—850) wurde von einem Herrn von Tagernfeld 


im Rampfe erfehlagen, Hartmann (851—873) war Almofenier auf dem St. Bern- 


bardberg und hielt mehrere Diöcefanfgnoden. Bofo (892 — 927) wahrſcheinlich 


im Kriege von den Ungarn erfchlagen; unter ihm gewährte König Rudolph von 


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Burgund dem Capitel von Laufanne freie Bifhofswahl. Eginolph von Kyburg 

(968— 985) war im Klofter St. Gallen erzogen, pilgerte als Bifhof nah Nom, 

Fam von da am Montag der vierten Woche nah Dftern am 8, Mai 982 in 

St, Gallen an, blieb bis über Pfingften, befchenfte das Klofter mit Reliquien, 
Kirchenlexikon. 6. Bo, . 24 


370 Laufanne, 


fliftete refectiones pro fratribus und vergabte an St. Galfen die Güter in Hun- 
zifen (Kanton Bern) (Neugart. cod. diplom. Alem.). Hugo (1019—1037) war 
ein Sohn Königs Nudolph II. von Burgund und nennt fich in einer Urfunde 
Julius unicus regis, wohnte einer Synode bei Laufanne (1030 — 33) bei, auf 
welcher die Erzbifchöfe von Vienne und Befangon vereint mit den Bifchöfen ihrer 
Provinzen den Gottesfrieden (trengam Dei) einführten. Burkart von Oltingen 
(Stammhaus der Grafen von Neuenburg (1057 — 1089), von ihm fihreibt der 
Propft Cono von Taufanne: erat vir ferus et bellicosus et habuit uxorem legiti- 
mam, darum finden wir ihn unter den geheimen Näthen Kaifer Heinrichs IV. ; er 
blieb im Kirchenbann, als ſich Kaiſer Heinrich bereits unterworfen hatte; endlich 
mußte er nach Canoſſa und erhielt die Losſprechung. Später fiel er aber wieder 
mit Kaifer Heinrich ab, wurde von biefem zum Faiferlichen concellarius regni 
Italiae ernannt und flarb in der Belagerung des Schloffes Gleichen auf dem 
Schlachtfeld, wo er im Treffen die HI. Lanze trug, am Vorabend vor Weihnachten 
1089, Cono von Vinelz, aus dem Haufe der Grafen von Neuenburg (1001 — 
1106), ftiftete die Abter St. Johann von Erfah, Benedictinerordeng, eine Co— 
Yonie von St. Blaſien. Guido von Marlanie (1129—1143) ſchrieb an den HI, 
Bernhard einen Furzen, inhaltsreichen Brief, Amadeus von Clermont- Tonnerre 
(1144 — 1158), aus hohem Adel gebürtig, Ciftercienfer von Clairvaux, ein 
guter Hirt und gerechter Staatsmann, als Heiliger jegt noch in hoher Verehrung, 
er ſchrieb Homilien über Maria, Der hl. Bonifacius (1231—1239) lehrte die 
Theologie an der Univerfität von Paris, ward Scholafticus in Coln und wurde 
som Papfte zum Bifhof von Laufanne ernannt, refignirte fein Bisthum in die 
Hände Gregor’8 IX. zu Anagni 1239 und farb in Flandern den 19, Februar 
1258 oder 59, er wird im Bisthum als Heiliger verehrt, Wilhelm von Champvent 
(1273 — 1302), ein unerſchrockener Vertheidiger der Firchlichen Rechte. Noch 
folgen in der Lifte der Bifchöfe eilf andere bis zum J. 1431, Ludwig de Ia 
Palud (1432—40) war Benedictiner, Abt in Ambronay 1404, in Tournus 1414, 
in diefer Eigenſchaft auf dem Concil von Conſtanz, fpäter als Deputirter der 
franzöfifhen Nation auf jenem von Pavia und Siena, im J. 1432, Vom Ba- 
feler Coneil zum Bifchof von Laufanne ernannt, war er einer der thätigften Prä- 
Taten in diefer Synode, und wurde 1432 an Eugen IV. und 1437 nah Conftan- 
tinopel gefandt, Er wohnte als Vicecamerarius dem Eonelave bei,, in welchem 
Amadeus VII, Herzog von Savoyen (Felix V.), zum Papft gewählt wurde, von 
welchem er fodann zum Cardinal ernannt ward, er flarb 1451. Johann von 
Prangius kommt im J. 1433 als Biſchof von Lauſanne vor, der fein Bisthum 
mit Georg von Salmes gegen jenes von Aofta im J. 1440 permutirte, 1445 
Erzbifchof von Nizza wurde, wo er bald darauf flarb, Der ebenbenannte Georg 
war elector im Namen der italienifchen Nation bei der Wahl Felix V. (Her- 
3098 Amadeus VII. von Savoyen) auf dem Coneil von Bafel, fand nach) erfolgter 
Permutation dem Bisthum Laufanne mit Eifer vor, gab Synodaleonftitutionen 
zur Reform des Clerus und Volkes; die Neceffe feiner Paftoralvifitationen wer- 
den in einem Folioband Manufeript in der Stadtbibliothef zu Bern aufbewahrt, 
+ 1461. Vom J. 1472—1476 ftand Julius de Roverea, Enfel Sirtus IV., 
dem Bisthum Laufanne vor, ward Cardinal tit. S. Petri ad Vincula und wurde 
im 5. 1503 unter dem Namen Julius IL zum Papft erwählt, — Die Zeit 
der Reformation, Seit dem 13ten Jahrh. fuchten die Grafen (fpäter Her- 
zöge) von Savoyen fowohl ihr Gebiet als auch ihre Rechte auf Koften der Bi— 
ſchöfe von Laufanne auszudehnen und deßwegen entweder Söhne ihres Haufes 
oder Günftlinge auf jede Weife auf den bifchöffichen Stuhl von Lauſanne zu be— 
fördern. Andererfeits befaßen die Bifchöfe von jeher große Nechte auf die Stadt 
Zaufanne und verfchievene Fleinere Städte des Wandtlandes, welche Nechte bald 
anerkannt, bald heftritten, bald geläugnet wurden; im Bisthume waren auch noch 





Lauſanne. 371 


andere Städte, wie Freiburg, Solothurn, Murten und das mächtige Bern, end- 
lich fanden noch die gemeinen Bogteien Orandfon und Tſcherlitz (Echallens) 
unter der abwerhfelnden Herrfchaft von Bern und Freiburg. Lange ſchon hatten 
die Bifchöfe den Anmafungen der Herzöge von Savoyen Widerftand geleiftet, 


lange auch ihre Rechte gegen die Anforderungen ber ihnen in weltliher Hinficht 
untergebenen Städte und Landestheile gehandhabt; doch mehrten fih gegen das 


Ende des 15ten Jahrh. diefe Zwifte und Anſprüche, und mehrmals fam es zu 
blutigen Auftritten, Das Beifpiel der Unabhängigkeit von Freiburg und Bern 
reiste die Bürger von Laufanne und brachte fie gegen den Bifchof auf, Diefe 
Spannung benugte der Herzog von Savoyen und ließ fih von den Bürgern der 
Stadt als Oberherrn anerkennen, Bifhof Sebaftian von Montfaucon (1517) 
zernichtete den Plan, erklärte und bewies zugleich, daß er unmittelbar den Kaifer 
und nur diefen zum Oberheren habe (1518). Gegen den Willen des Biſchofs 
ſchloß auch Laufanne fih dem Bund der umliegenden Städte an. Den fleigenden 
Forderungen der Stadt Laufanne konnte der Bifhof, geftügt auf feine erwor— 
benen Rechte, nicht entforehen; Bern, Solothurn und Freiburg mifchten fi 
in den Handel, drängten fih als Schiedsrichter auf und verfegten den Biſchof in 
ein Abhängigfeitsverhältnig (1536). Indeffen Hatte die neue Lehre der Refor- 
matoren ſich in den Städten eingeniftet; Bern ward 1523 für den Abfall gewon- 
nen und drängte ihn gewaltfam oder Hinterliftig feinen Unterthanen auf, Solo— 
turn war in Gefahr, in Neuenburg gewann die neue Lehre die Oberhand, im 
den gemeinen Vogteien herrſchte Berwirrung. In Laufanne blieben die Bürger 
dem alten Glauben getreu, aber der Herrfihaft des Krummftabes abgeneigt. Frei= 
beit war die Lofung und Bern unterftügte die Bürger gegen den Biſchof. Lau— 
fanne follte den Berner Magnaten fih nun dadurch erfenntlich zeigen, daß es 
einem Prädicanten geftatten möchte, in der Stadt das fogenannte reine Wort 
Gottes zu verfünden, doch die Stadt weigerte fih. Laufanne machte gegen den 
Willen des Bifhofs bald gemeine Sache mit Bern und Genf gegen den Herzog 
von Savoyen. Auf dem Durchzug der Truppen nah Genf (1536) nahm Bern 
Das ganze Wandtland ein, was dem Biſchof oder dem Herzog von Savoyen zu— 
gehörte, jedoch wurde Religionsfreiheit vorbehalten. Indeſſen fchrieb der Bifchof 
feinem Vogt in Vivis, man folle fih an den Herzog halten und ihm gegen die 
Berner Hilfe leiften. Der Brief fam in die Hände der Berner, die nach erfoch- 
tenem Siege über den Herzog von Savoyen fih nun auch an dem Bifchof rächen 
wollten, Bor den heranrüdfenden Berner Truppen nahm der Bifchof die Flucht. 
Die Berner zogen in Laufanne ein und nahmen von dem Schloß und der Stadt 
und der ganzen weltlichen Herrfchaft des Bifchofs Beſitz. Lauſanne wähnte, nah 
erfolgter Flucht des Bifchofs eine freie Stadt zu werden, wie groß war daher 
die Beftürzung, ald Bern der Stadt bedeutete, e$ trete in die Rechte des Biſchofs 
und fhon am 17, Mai einen Bogt fandtel Das Gleiche erlebten die übrigen 
Städte, In der Stadt trieb unterdeffen der Prädicant Viret fein Unweſen, die 
Herfündete Religionsfreigeit fam Hier wie anderswo nur den Neugläubigen zu 
gut. Bern wußte, wie feine eigenen Schriftfteller eingeftehen, die eroberte Land= 
ſchaft nicht beffer an ſich zu feſſeln, als durch die Einführung der Reformation, 
Nah einer am 1. Detober abgehaltenen Religionsdifputation wurden alle Bilder 
und Altäre zerftört, am 24, December das Hl. Mekopfer unter zehn Gulder 
Strafe verboten, die Adeligen, die widerfirebten, mit Landesverweifung bedroht; 
der Kirchenſchatz der Domkirche nach Bern gefchleppt, der fih auf 125,000 Louisd'or 
vder 2 Millionen Schweizerfranfen belief. Standhaft widerfegte fih das arme 
Bolf, die Priefter, wenige ausgenommen, flanden der Verwüflung entgegen, 
bis endlich alle verbannt wurden. In diefer wirrevollen Zeit ſcheint Biſchof 
Sebaftian Freiburg und feine Didcefe verlaffen und fih bald in Frankreich, bald 
in Savpyen aufgehalten zu haben, denno vergaß er feine Heerde nicht, er wollte 
24* 


372 Lauſanne. 


den noch katholiſchen Theil ſeines Sprengels viſitiren und einen Weihbiſchof in 
Freiburg aufſtellen, konnte den Plan aber nicht ausführen, Yon 1537—1557 
fielen noch mehrere Gemeinden in den gemeinen Vogteien duch Mehrheitsbe- 
ſchlüſſe vom katholiſchen Glauben ab, Biſchof Sebaftian flarb 1559 — 60 in 
Virieux le petit, einem Dorfe des Bal romey, Bisthums Belley. — Nach der 
Reformation zeichneten fih unter den Bifhöfen von Laufanne aus Johann von 
Watteville (Wattenwyl), aus einer vornehmen Kamilie von Bern, wovon ein 
Zweig nach Burgund gefommen war; er war Abt de la charite, wurde am 
18. April 1610 zum Bifhof von Laufanne eonfeerirt, und hielt 1613 feinen erften 
Einzug in Freiburg. Ihm gelang e8 endlich, durch ein freundfhaftliches Ueber— 
einfommen in Freiburg feine Reſidenz zu erhalten und „feine Zurispiction 
nach der Vorſchrift des HL, Eoneils von Trient ausüben zu fünnen“, 
was die jetzigen Gewalthaber (1850) von Freiburg wider alles urkundliche Recht 
beftreiten, Zodocus Knab, Propft von Luzern, Ieitete das Bistum von 1653— 
1658, auch er behauptete vor den Negierungsdeputirten, das Coneilium von Trient 
fei in ver Didcefe auch quoad decreta disciplinaria angenommen worden, Johann 
Baptiſt Strambino, aus einer gräflihen Familie in Piemont 1662 erwählt, 
wurde ein wahrer Neformator feiner Kirche, Bertheidiger ihrer Nechte, darum 
flarb er auch, von der Regierung in Freiburg verbannt, im Exil aux höpitaux in 
der Franchecomté am 29. Jan. 1634. Fünf Jahre lang blieb der biſchöfliche 
Sitz erledigt, bis Petrus Montenach, Propft zu St. Nicplaus, in Freiburg 1688 
zum Bifchof erwählt wurde, Bernard Emanuel von Lenzburg, Abt von Altenryf, 
ward vom J. 1782 — 95 Bischof von Laufanne und zugleich während der fran- 
zöfifhen Schreckenszeit Adminiftrator von Befangon und Belley, Johann Baptift 
von Odet, ein Eluger und eifriger Hirt (1795— 1803); Marimus Onifolan, Ca— 
puciner , ein mäßiger, fräftiger und unermübdeter Bifchof, gründete ein Priefter- 
feminar aus feinen Erfparniffen. Petrus Tobias Yenni von Mirlon, feit 20. März 
1815 Bifchof von Laufanne, Unter ihm wurde durch apoftolifches Breve vom 
20. Sept. 1819 die Stadt Genf und 20 Fatholifche Pfarreien des Kantons Genf 
dem Bisthum Laufanne einverleibt, und er nahm von daher den Titel Biſchof 
von Taufanne und Genf an, Yenni war ein im hohen Grade gelehrter, 
frommer und Fluger Hirt, Die Reihe der Bifchöfe von Laufanne ſchließt endlich 
Stephan Marilley von Chatel St. Denys, erſt Vicar in Genf, dann Director 
des Seminars in Freiburg, endlich Pfarrer und Erzpriefter in Genf und vom 
hl. Stuhl 19. Jan, 1846 zum Bifhof ernannt, Die traurigen Befeindungen, 
die feit vielen Jahren die katholiſche Kirche in andern Kantonen zu erdulden hatte, 
wandten ſich nach dem unglüclichen Ausgange des fog. Sonderbundsfrieges auch ge= 
gen ihn und feine Kirche, er wurde im Detober 1848 von der radicalen Freiburger 
Negierung abgefaßt, von einer Commiffion der Regierungen von Bern, Genf, 
Waadt, Neuenburg und Waadt ald abgefegt erklärt, in das Schloß Chilfon am 
Genferfee eingefperrt und von da an die Grenze von Frankreich transportirt, wo 
er in dem nahe gelegenen Schloß Divonne bis zur Stunde in Verbannung lebt, 
bis ein Höherer den Gewalthabern ein Ziel wird gefeßt haben, — Metropoli— 
tanverband vom Bisthum Laufanne. War vor dem dritten Jahrh. ein Bifchof 
in Aventicum , fo fland diefer wahrfcheinlich unter dem Metropolitan von Mainz, 
welcher metropolita Germaniae superioris gewefen zu fein ſcheint. Seit der Errich- 
tung der Provincia maxima Sequanorum, worin Befangon metropolis war, mußte 
der Bifchof von Aventicam unter diefe zu fliehen kommen. Sicher und unbezweifelt 
ift der Metropolitanverband zwifchen Laufanne und Befangon vom neunten Jahrh. 
bis zur Zeit des franzöfifchen Conceordates im Anfang des 19ten Jahrh. (ſ. Befan- 
son). Einige Bifhöfe von Laufanne hatten das pallium; in einem alten Manufeript 
des metropol. Archivs in Befangon wird die Drdnung ad mensam, bie bei der 
Eonfecration eines neuen Erzbifchofes zu beachten ift, angegeben ,. . hoc ordine 


Lauſanne. 373 


sedent: ad dexteram Domini Archiepiscopi Lausannensis (episcopus sedeat), quia 
utitur pallio et per ejus manus consecratur Archiepiscopus. Eintheilung 
des Bisthums am Anfang des 18ten Jahrhunderts (fiehe chron. car- 
tul. Eccles. Laus.): Decanat Laufanne mit der Dompfarrei 5 Pfarreien intra 
muros, 14 Pfarreien extra muros — 20 Pfarreien, im Decanat Avenches (Aven- 
tieum) 36 Pfarreien, Decanat Solothurn 33, Decanat Vivis 40, Decanat 
Neuenburg 72, Decanat ultra Venopiam (weftlih gegen Genf und Jura) 31, 
Decanat Ogo (Hochgau — Oberland — Greyerz) 28, Decanat Fribor (Frei- 
burg) 16, Decanat Bern 29 Pfarreien, zufammen 305 Pfarreien; ferner Prop⸗ 
fleien und Collegiateapitel 4, zu Solothurn, Amfoltingen, St. Imer und Neuen- 
burg. Am Ende des 1äten Jahrhunderts (aus der Lausanna christianna 
von Bifhof DB. E, von Lenzburg cod. manuser.): Decanat Laufanne 20 Pfar- 
zeien, Decanat ultra Venogiam 27, Bivis 40, Neuenburg 64, Ogo 29, Avenches 
35, Freiburg 16, König (flatt Bern) 37, St. Imer (ftatt Solothurn) 31, zu- 
ſammen in 9 Decanaten 299 Pfarreien, Propfteien und Collegiatfirhen zu Solo— 

thurn, Neuenburg, St. Imer, Amfoltingen, Bern, Freiburg (feit 1512), Bal- 
Iengin (feit 1505). Im 3. 1850 im Decanat Stäfis 12 Pfarreien, Greyerz 8, 
Romont 12, Part Dieu 12, teutfches Decanat 11, Avenches 13, St. erucis 10, 
des hl. Heinrich 8, des hl. Marius 12, des HI, Prothefius 11, der Val fainte 8, 
des Hl, Amadeus 11, von Neuenburg 5, zufammen in 13 Decanaten 129 Pfar- 
zeien, dazu die Stabtpfarrei von Freiburg — 130, fomit 169 weniger als vor 
der Reformation, heu prisca fides! — Klöfter und Spitäler (aus Urkunden und 
Chroniken). Benedictiner, Eongregation von Elugny: 1) Romainmötier 
(Ranton Waadt), geftiftet um das J. 460—470, kam gegen 640 an Jünger des 
Hl. Eolumban, 929 an Elugny unter Abt Odo; unter ihm fanden 7 oder 8 
Heinere Priorate; e8 wurde 1537 aufgehoben. 2) Päterlingen (Kanton Waadt), 
Heftiftet um 962 von Königin Bertha, vergrößert durch Kaiferin Adelheid, ihre 
Tochter, war der Lieblingsaufenthalt des HI. Odilo, Abt von Elugny, hatte meh— 
rere Privrate unter fih und wurde 1537 aufgehoben. 3) Bevay (Kanton Neuen- 
burg) , geftiftet 998—1005, aufgehoben 1530. 4) Rüeggisberg (Ranton Bern), 
geftiftet um 1074, wurde 1485 vom Papfte dem Eollegiatftift von Bern incor- 
porirt, 5) Münchenweiler (Ranton Bern), geftiftet 1085, dem Collegiatftift St, 
Bincenz in Bern einverleibt 1485. 6) Rougemont (Kanton Waadt), geftiftet 
zwiſchen 1073—1085, aufgehoben 1556—58, als Bern einen Theil der Graf- 
ſchaft Greyerz erwarb. 7) Corcelles (Kanton Neuenburg), geftiftet 1092, auf- 
gehoben um 1530. 8) St, Petersinfel auf dem Bielerfee, geftiftet 1107, dem 
Eollegiatftift zu Bern zugetheilt 1485. Congregation von Savigny: zu 
diefer gehörten die Priorate: 1) Lutry bei Laufanne, geftiftet 1025, aufgehoben 
1537. 2) Broe (Kanton Freiburg), geftiftet im grauen Altertfum, Fam nad 
1577 an das Eollegiatftift St. Nicolaus in Freiburg. 3) Eoffonay (Kanton 
Waadt), gegründet 1096, aufgehoben 1536. 4) St. Chriſtoph (Kanton Waadt), 
vor 1250 geftiftet, ſchon 1404 mit Coffonay vereinigt und mit ihm aufgehoben. 
Zur Eongregation von la Chaife Dien (casa Dei) in Auvergne gehörten 
die Privrate: 1) Baur Travers (Vallis transversa) (Kanton Neuenburg), gegrün- 
det um das J. 1178. 2) Grandfon beftand ſchon 1202. Bon der Abtei Mo— 
lesme hing ab das Privrat St. Sulpice bei Laufanne, ferner die Benedictiner- 
Privrate Berlai, Blonay, Burier, Eolombier und Dalley. Zur Congregatio 
Fruttariensis gehörten die Abteien: 1) Johann yon Erlach in der Graffchaft 
Neuenburg, geftiftet zwifchen 1090 — 1106, aufgehoben durch die Herren vor 
Bern 1528. Ciftercienfer-Klöfter waren: 1) Montherond, geftiftet 1115, 
bei Laufanne, aufgehoben 1536. 2) Hautereft Calta crista), geftiftet 1134, auf- 
gehoben 1536. 3) Hauterive (alta ripa, Altenryf), geftiftet 1137, von der radi- 
ealen Freiburger Regierung aufgehoben 1848 (1). Frauenflöfter deſſelben Ordens: 


374 Lauſanne. 


1) Die Wegerau bei Freiburg, geſtiftet 1255, das noch beſteht. 2) Fille-Dieu 
bei Romont, geftiftet 1265, befteht noch. 3) Bellevaur bei Laufanne und St, 
Boir-Dien bei Freiburg, Carthäufer: 1) Valfainte (Kanton Freiburg), ges 
ftiftet 1294, aufgehoben mit Bewilligung Pius VI. im 3. 1778. 2) La Part- 
Dien, geftiftet 1307, aufgehoben im Sonderbundsfriege 1848 und la Lance (Kant, 
Waadt), geftiftet 1320 und 1538 von den Herren von Bern aufgehoben. Nitter- 
und Spitalorden. Johanniter waren in Montbreloz (Kanton Freiburg, 
am Tela bei Laufanne), in der Pfarrei Orbe in Croze, in Magnadnus bei Frei= 
burg, in St, Johann auf der Matte in Freiburg und in La Chaur (Kanton 
Waadt). Hospitaliter vom HI, Geift befaßen Häufer in Neuenburg, in Bern 
und in Laufanne, Teutfihe Drdensherren (fratres teutonici) waren in Fräſchelz 
(Kanton Freiburg), in König bei Bern feit 1227, überlebten die Unfälle der 
Neformation und beftanden bis 1729, in welchem Jahr die Regierung von Bern 
ihre Güter für 240,000 Reichsgulden an ſich brachte, in Bern felber; ein Spital 
beftand "auch zu Vilfeneuve am Genferfee, von regulirten Chorherren verfehen. 
Der Sarmeliter- Orden befaß ein Klofter zwifchen Laufanne und Milden 
(Meudon). Auguftinerflöfter, Die Eremiten hatten feit 1224 ein Klofter in 
Freiburg, bier wohnte im 16ten Jahrh. der berühmte P. Eonradus Tregarius; 
es wurde von der Freiburger Gewaltherrfihaft 1848 aufgehoben, Regulirte 
EChorherren waren zum hl. Marius in Laufanne, zu Interlafen (Kanton Bern), 
zu König bei Bern, zu Därftetten und zu Münchenkappeln. Canoniffinnen des 
HL, Auguſtin waren zu Interlafen, Frauenkappeln; Privrate der Auguftiner Chor⸗ 
herren von St. Bernardsberg zu Sivay (Kanton Freiburg), Semfales (Kanton 
Freiburg), Montpreveyres (Kanton Waadt), Bettens (Kanton Waadt), Eſtoi 
(Kanton Waadt), Biere (Kanton Waadt), Aory devant Pont (Kanton Freiburg) 
und Favernah (Kanton Freiburg). Diefelben Drdensgeiftlihen verfahen auch 
die Spitäler in Laufanne, Vivis, Boren, Milden, La Tor und Freiburg. Die 
Antoniter hatten ein Haus in Bern, die Prämonſtratenſer befaßen Klöfter 
in Lac de Joux (Kanton Waadt), in Humilimont (Kanton Freiburg), in Fon— 
taine Andre bei Neuenburg, in Opttftatt (Locus Dei) (Kanton Bern), Frauen- 
öfter in Belfevaur bei Laufanne, Rueyres (Kanton Waadt) und in Poret (Ran- 
ton Freiburg). Der Franciscanerorden hatte Conventualen in Freiburg, 
Bern, Laufanne, Solothurn und im Waadtlande zu Grandfon, Drbe, Morges, 
Yverdon, Slariffinnen zu Vivis, Orbe, Solothurn, Beguinen oder Waldſchweſtern 
waren zu Bern, in Freiburg und in Solothurn. Die Capuciner haben Klöfter 
zu Freiburg feit 1609 und zu Boll, und Hpspitien in Nomont und Landeron 
(Kanton Neuenburg), die alle noch beftehen. Frauenflöfter diefes Ordens be- 
ftehen zu Freiburg und Solothurn, Dominicanerflöfter waren in Lauſanne 
und Bern, Frauenflofter deffelben Ordens in Stäfis und in Bern, Die Gefell- 
ſchaft Jeſu hatte in Freiburg ein Collegium feit 1581 bis zur Aufhebung des 
Drvens durch Papſt Clemens XIV.; 1818 erhielten die Jeſuiten das Collegium 
wieder, errichteten 1828 ein großes Penfionat, dag eine vom Collegium unabhängige 
Communität war und europälfchen Ruf gewann, Beide erlagen den Gewaltthaten 
des ſchweizeriſchen Nadicalismus im J. 1847, Ein Heineres Gymnaſium be= 
forgten die Sefuiten auch in Stäfis. Die Pifitantinnen haben ein Klofter zu 
Freiburg und eines zu Solothurn, die Urfulinerinnen eines zu Freiburg und eine 
Abtheilung zu Stäfis, wo fie in legten Jahren die Mädchenſchule Teiteten, Die 
Berfammlung des hh. Erlöfers oder Nedemptoriften bezogen die von den Trap- 
piften verlaffene Valfainte 1818, kamen 1825, um beffer ihrem Berufe nachleben 
zu können, nach Tſchoupern im teutfehen Decanat (Freiburg), 1828 in das alte 
Seminar nah Freiburg felbft, bauten 1840 ein neues Haus und wurden 1847 
unter dem Vorwande boshafter Erfindung — fie feien Affiliirte ver Jeſuiten — 
von den Machthabern Freiburgs verbannt, Die Dames du s. coeur de Jesus 


* 


Lauſanne. 375 


famen 1830 in den Kanton Freiburg, Fauften ſpäter ein Schloß ſammt Gütern 
in Montet bei Stäfis, wo fie die Primarfchule hielten, eine höhere Tüchteranftalt 
gründeten und fodann als Affiliirte der Jefuiten, wie man vorgab, von der radi= 
cealen Intoleranz vertrieben wurden. Die barmherzigen Schweftern wurben 1842 
nach Freiburg berufen durch den Biſchof Tobias Yenni, der ihnen das von der Gräfin 
de ia Poype geftiftete Waifenhaus zur Obforge übergab, fie beforgten auch arme 
Kranke in den Häufern , beforgten die Mädchenfchulen in Toray und St. Aubin, 
fanden aber vor dem fiegestrunfenen Uebermuthe der neuen Zwingherren 1847 
feine Gnade und wurden vertrieben. Die grauen Schweftern verjehen jest noch 
den Stadtfpital zu Freiburg, Die Brüder der Gefellihaft Mariä wurden, 
nachdem man die Verwüftungen radicaler Schulmeifter gewahrte, durch Decan 
Aeby aus dem Elfaß 1835 nach Freiburg berufen, eröffneten dort eine Schule, 
die bald durch ausgezeichnete Leiftungen der Stadtfhule den Vorrang abgewann, 
Sie mußten als Affıilürte der Jeſuiten (1) aus dem Lande der Freiheit fliehen, 
Brüder der riftlihen Schulen, geftiftet von P. La Salle, hielten feit einigen 
Sabren die Primarfohulen in Stäfis und in EChätel St. Denys, wurden ſodann 
1847 in die Kategorie der Affiliirten der Jeſuiten geftelt und gleihem Schickſal 
übergeben. Gleiches gilt von ven Schweftern des HI. Joſeph, die in Chätel St. Denys 
und in Boll Schule hielten, und von den Schweftern von der Aufopferung Mariä, 
die in Laufanne eine Fatholifhe Primarfchule beforgten, Sp viele und große 
religiöfe Inſtitute beftanden in der Didcefe Laufanne! Die meiften zerflörte die 
Reformation, die noch übrigen und feit dem Abfall neu entſtandenen zerftört der - 
Radicalismus, der wohl zu zerftören, aber nichts zu bauen vermag, fein Name 
möchte fein: Apollyon. — Die weltlihe Herrfhaft der Biſchöfe von 
Lauſanne (fiehe Recueil des chartes, statuls etc., concernant l’ancien evech& 
de Lausanne par Frederic de Ginzings La Sarra et F. Forrel im VII. Bande der 
memoires publ. par la societ& doct. d’histoire de la Suisse romande, Lausanne 1846) 
dehnte fih nur über einen verhältnigmäßig Fleinen Theil der Diöcefe aus, in 
verfchiedenen Zeiten verfchieden fand fie in der Mitte des eilften Jahrh. auf dem 
Gipfel ihrer Macht. Schon im 3. 1011 ſchenkte Rudolph IIL, König des trans= 
juranifchen Burgundiens, dem Bifchof von Laufanne die Grafihaft Waadt (co- 
mitatum Waldensem), zu der nad einem Diplom von Heinrich II. vom J. 1079 
alle früher dem Herzog und Gegenfaifer Rudolph zugehörigen Befigungen zwifchen 
der Saane, dem St, Bernarbsberg, der Brüdfe zu Genf, dem Jura und den 
Alven in fih begriff. Nach mehreren Aenderungen waren die unmittelbaren Be— 
fisungen des Bisthums folgende: Laufanne und: die Dörfer des Stadtbannes, 
La Baur und die Dörfer und Weiler diefes Bezirks, Avenches (Wifflisburg), als 
erfie Reſidenz der Biſchöfe, Lucens, Eurtilfes und Villarzel, zwifchen Päterlingen 
und Murten gelegen; dann Bulle Albeuve und La Roche Cim Kanton Freiburg). 
Neben diefen unmittelbaren Befigungen hatte das Bisthum noch viele Herrfchaften, 
welche als Lehen vergeben wurben, Lehensträger waren die Edelften des Landes, 


ſelbſt die mächtigen Häufer der Grafen von Savoyen, Greyerz, Fancigny, Neuen- 


burg, Kyburg, Montfaucon u. f. fe Auch das Domcapitel befaß beträchtliche 
Güter, e8 waren Dörfer und Kirchen, eine Bulle Papft Lucius II. vom 3. 1182 
nennt deren 30 Kirchen und 11 Dörfer oder Weiler (villas) fammt andern klei— 
nern Gütern. Schon frühe waren die Bifhöfe von Laufanne reihsunmittelbar 
und übten im Namen des Kaifers ihre Hoheitsrechte (regalia) aus, wählten zu 
ihrem Schuß einen Kaftenvogt (advocatus), dem fie den dritten Theil der Straf- 
gefälfe überließen. Unter diefen fommen die Grafen von Genevois, die Herzöge 


von Zähringen, die Herren von Fancigny, Kyburg u. f. f. vor, die oft die er- 


worbene Kaſtvogtei unter ſich verfauften oder erblich zu machen fuchten, Als das 
Haus von Savoyen immer mehr feine Rechte und Befigungen im Waadtlande 
erweiterte , mußte ſchon Biſchof Johann von Coffonay die Hälfte feiner oberherr⸗ 


376 Lauſanne. 


lichen Rechte im J. 1260 dem Grafen Peter von Savoyen überlaſſen und die 
Hälfte der Todes- und Strafgefälle. Die Grafen von Savoyen gewannen ſodann 
1343 auch das Net, einen Commiffär oder Richter nach Laufanne zu ſchicken, 
der zwar im Namen des Biſchofes die Appellationsentfcheive gab. Sie erlaubten 
fich im Laufe der Zeit immer größere Eingriffe, denen fih die Bifchöfe von Lau— 
fanne bald mit bald. ohne Erfolg widerfegten. Bei obwaltenden Zwiften zwifchen 
den Bischöfen und ihren Unterthanen wußten fie jedesmal ihren Einfluß zu wah- 
‚ren und fuchten fi befonders 1517 als Dberherrn von Laufanne geltend zu 
machen. Es gelang ihnen aber nicht. Als endlich 1526 die Gemeinde von Lau- 
fanne ein Bündniß mit Bern und Freiburg eingegangen hatte, erkannte fie ven 
von dem Herzoge von Savoyen gefegten Richter nicht mehr an, und entfagte für 
immer der Verbindung mit Savoyen, So hatte das Land 28 beſonders den Bi— 
ſchöfen zu verdanfen, daß es nicht allmählig ganz unter fremde Herrſchaft fiel, 
wie dieſen aber dafür vergolten wurde, ift befannt, — Die Verfaffung und 
Negierungsform Tann nad) den recognitiones praepositi Lausannensis Arducii 
vom J. 1144 in folgenden Grundzügen gefchildert werden: Die ganze Stadt und 
Umgebung von Laufanne war dos et allodium freies Eigenthum der Kirche von 
Lauſanne; obwohl den Domherren die freie Wahl des Bifchofs zugefichert war, 
batte in früherer Zeit auch das Volk einigen Antheil an der Wahl, den aber in 
Folge der Mißbräuche, die dabei vorfielen,. die Päpfte immer mehr befehränfen 
mußten, Nach der Neformation, als die Bischöfe von Laufanne von den Her- 
zögen von Savoyen Penfion bezogen, ſchlug diefer dem hl. Stuhle einen oder 
mehrere Candivaten vor, fpäter fiel die Wahl des Bischofs ganz dem hl. Stuhle 
zu, Die weltlichen Spuveränitätsrechte Teitete der Bifchof von Laufanne vom 
römifchen Könige ab, wie es in den recognitiones heißt: a rege tenet regalia quae 
sunt stratae, paedugia, vendae, nigrae sylvae (Hochwälder), moneta, mercata 
banni veteres vel de communi consilio constituti, cursus aquarum, fures, raptores. 
Die Regierungsgewalt des Bifhofs war befchränft durch die Gewalt ver Stände 
(Geiſtlichkeit, Adel und Bürgerfhaft), welche das Placelum generale oder den 
großen weltlichen Hof ausmachten (la grande cour seculiere), Ihre Einwilligung 
mußte der Bifchof haben, wenn er neue Statuten auffegen, Strafen feftfegen, 
Münzen prägen oder hohe ©erechtigfeit Chaute justice) ausüben wollte. Die all- 
gemeine Berfammlung wurde alljährlich unter Vorfig des bifhöflihen Syndieus 
(Cadvocatus) drei Tage lang im Mai zu Laufanne gehalten, Die waffenfähige 
Mannfchaft mußte für den Bischof ausziehen, doch nur für einen Tag auf eigene 
Koſten, dauerte der Auszug länger, fo mußte die allgemeine Bewilligung einge- 
holt werden und der Biſchof die Koften tragen, Es befanden in der Gerihts- 
barfeit verfihiedene Privilegien, die Domberren und Geiftlichen waren nur den 
geiſtlichen Gerichten unterworfen; Nitter, Edle und ihre Dienerſchaft durften nur 
vor den Hof der Adeligen gezogen werben, auch die Cit& oder der Stabttheil der 
bifchöftichen Nefivenz hatte Örtliche und perfönliche Freiheiten. Der geiftlichen 
Gerichtshöfe gab es mehrere, curia officialis, curia capituli, curia decanorum 
und die curia der verſchiedenen Privrate des Bisthums. Appellationen Fonnten 
ftattfinden an die curia metropolitana in Befangon und von biefer an den hl. 
Stuhl zu Rom. Die Einfünfte des Bisthums follen fih vor der Nefor- 
mation auf 160,000 Thaler (zu 2 Schweizerfranfen) belaufen haben, doch werh- 
felte der Geldwerth befländig in Laufanne, Profeffor Bulliemin fegt felbes auf 
30,000 Goldgulden C&cus d’or) an. Nach der Reformation traf der Biſchof mit 
der Regierung von Freiburg eine Webereinfunft, nach welcher er eine gewille 
Summe jährlih bezog, dann erhielt er einen Theil der Einkünfte der aufgebo- 
benen Carthaufe von Valſainte, jedoch werden fich feine gegenwärtigen Einkünfte 
faum auf 40006000 Schweizerfranfen belaufen, und bie Stiftungen davon 
haben die Freiburger Machthaber feit 1848 mit Beſchlag belegt, Das Dom- 


Lauſitz. 377 


eapitel geftaltete fich im Laufe der Zeit verfcjiebenartig aus. Im zehnten Jahrh. 
lebten die Geiftlichen an der Domfirche in gemeinfamem Leben unter der Leitung 
des Propftes; im J. 1228 war das Domecapitel zufammengefegt aus 30 Cano⸗ 
aifern (10 Prieftern, 10 Diaconen und 10 Subdiaconen). Würdeträger waren 
der Propft, der Cantor, der Thefaurar und der Sarriftan. Ihr Einfommen be— 
lief fih nach dem chroniqueur auf 4000 Goldthaler. Im J. 1536 waren 30 
Domberren mit 24 Kaplänen, von diefen fielen nur 2 oder 3 vom Fatholifchen 
Glauben ab, die übrigen verließen Lauſanne. Jetzt hat der Bifchof weder Dom- 
kirche noch. Domcapitel, fondern 2 oder 3 Generalvicarien, einen Kanzler, einen 
Seeretär, einen weltlihen Anwalt und einen Pedell; ferner einen bifchöflichen 
Rath von 8 Mitgliedern, darunter einen Official und einen Promotor fiscalis, 
Möge das uralte Bisthum aus den jüngften Prüfungen unter Gottes Walten 
fiegreich hervorgehen ! ; [Sreith.] 
Lauſitz, die (Budiffin und apoftolifches Bicariat von Sadfen). Die Ka— 

tholifen des heutigen Königreichs Sachſen wohnen theils in den fähfifhen Erb— 
landen, theils in der (Ober-) Laufig. Dort wohnen fie zerfireut und faft nur in 
den größern Städten, hier mehr gefchloffen und auf dem Lande, Bor der Refor— 
mation gehörte das heutige Königreich Sachſen größtentheils zu dem Bisthum 
Meißen; nur die Stadt Leipzig und deren nächſte Umgebung fand unter dem 
Bisthum Merfeburg. Merfeburg und fein Fatholifches Domeapitel verfhwanden 
faft ganz in den Stürmen der Glaubensfpaltung, von dem ehrwürdigen Bisthum 
Meißen erhielt fih eine geringe Zahl von Katholifen mit dem alten Domcapitel 
zu St. Petri in Budiſſin (Baugen). Der Propft und die Canpnifer des Capitels 
zu St. Petri fielen zur Zeit der Glaubensfpaltung ab; nur der Decan Leife- 
tritt blieb Katholik — und ihm verdankt die Kirche die Erhaltung des Capitels. 
Das heutige Capitel „der freien und eremten Kirche zu St. Petri in Bupiffin” 
befteht aus einem Decan, zur Zeit der hochwürdige Bifhof Joſeph Dittrid, 
einem Senior, einem Cantor, einem Scholafticus und fünf Canonifern. Der 
Propft des Capitels ift immer ein Proteftant, die Domfirche ift den Proteftanten 
zum Theil zum Mitgebraucdhe überlaffen, nur die Schlüffel des Doms find in 
Fatholifchen Händen. Das geiftlihe Eonfiftorium zu Budiffin befteht aus einem 
Praͤſes und drei Affefforen aus dem Priefterfiande. Die unter dem Domftifte 
ftehende Pfarrgeiftlichfeit der Föniglih-fächfifchen Oberlaufig zählt an 30 Priefter. 
Neben dem Dome zu St. Petri und der Kirche „B. Mariae Virginis in foro salis“ 
zu Budiffin gibt es neun Pfarreien, und zwei Stationen für Kapläne, welche 
die Pfarrrechte ausüben, Die Pfarreien find: Kroftiz, Oftrow, Nebelfhüs, Ral- 
big, Radibor, Oftris, Grunau, Königshain und Seitendorf; die Raplaneien find 
zu Drauna und Strahwalde. An mehreren Orten der Laufig, z. B. in Zittau, 
wird zu Zeiten Gottesdienft gehalten. — Aus den fähfifhen Erblanden war die 
Kirche völlig verfhwunden; fie wurden ihr wieder eröffnet durch die gegen Ende 
des 17ten Jahrh. erfolgte Rückkehr des Churfürften Friedrich Auguft IL zu der 
Kirche (f. d. Art. Auguft, Friedrich IL). Katholiſche Kirchen, um die ſich alf- 
maͤhlig Gemeinden fammelten, wurden gegründet zu Dresden, zu Morizburg und 
Leipzig; fpäter zu St. Hubertusburg. Die berufenen Priefter waren ſämmtlich 
Jeſuiten, deren Oberer zugleich Vicarius apostolicus war. Nach der Aufhebung 
des Ordens traten die Zefuiten in Sachfen in den Stand der Weltgeiftlichen über, 
und wirkten in der Seelforge fort. Der erfte apoflolifche Vicar von Sachſen, der 
zugleich die bifchöfliche Würde erlangte, Bifhof Joſeph Alvis Schneider, 
gehörte gleichfalls der Gefellfhaft Jeſu an, der gegenwärtige Bifchof Joſeph 
Dittrich, geweiht als Bifhof von Corycos i. p. i., ift der dritte Nachfolger 
Schneiders. Heutzutage gibt es in den fächfifchen Erblanden-eilf Pfarreien mit 
23 Prieftern. Sie find: Altftadt-, Neuftadt- und Friedrihsftadt-Dresden, Pirna, 
Meißen, Leinzig, Hubertusburg, Chemnig, Freiberg, Zwickau und Annaberg. 


378 Lavalette — Lavater. 


Von dieſen Pfarreien aus werden die zerſtreuten Katholiken der umliegenden Orte 
paſtorirt. Zu Dresden beſteht neben dem apoſtoliſchen Vicariate ein katholiſches 
Conſiſtorium; im Cultusminiſterium wurde auch ein katholiſcher Rath angeſtellt. 
In Dresden befindet ſich ein von Geiſtlichen geleitetes Progymnaſium, ein Wai- 
fenhaus für Knaben, und eine weibliche Erziehungsanftalt im Sofephinen-Stifte, 
Der Hofelerus in Dresven befteht heute nur noch aus einem Domprebiger, zwei 
Hoffaplänen, einem Inſtruetor der jüngern Glieder der föniglichen Familie, Meh— 
rere Priefter führen den Titel „Königliche Kapläne“. — Die beiden berühmten 
Eiftercienfer-Nonnenklöfter Marienthal und Marienftern in der Oberlaufis ftehen 
unter dem Abte von Dfegg im Leitmeriger Sprengel (ſ. Leitmeris). Beide 
Klöfter befigen je ein Penfionat für Mädchen, Die Seelforge leiten ein Propft 
und mehrere Kapläne, Die Zahl der Katholifen in der Laufig wird auf mehr 
als 20,000 geſchätzt. Katholiken befinden fih im ganzen Königreiche 32,545, 
Daneben Lutheraner 1,799,121 5 Reformirte 25685 Teutſchkatholiken (Nongeaner) 
10985 Griechen 1135 Juden 998. Katholiken befinden fih in dem Kreife Dres- 
den 67335 die Fatholifhe Gemeinde in Dresden zählt an 6000 Seelen. Der 
Leipziger Kreis zählt Ratholifen 21975 die Fatholifche Gemeinde in Leizig zählt 
1136 Seelen. Im Zwidauer Kreife befinden fi) Katholiken 24955 im Kreife 
Bauten 21,138 Katholifen. Der Gefammtelerus Sachſens zählt 62 Mitglieder, 
Katholiſche Schulen Hat Sahfen 36 mit 54 Lehrern. — Zu dem apoftolifchen 
Vicariate von Sachſen gehören noch die etwa 200 Katholifen des Herzogthums 
Altenburg, und die 100 Katholiken der reuffifhen Lande, — ©, „Katholik“ 
1844. Nr. 18 der Miffionen; 1846 Nr, 32, — „Katholik“ 1847 Nr. 138, 
„Benealogifcher Kalender von Gotha“ 1849, S. 630, [&ams,] 

Zavalette, f. Balette, la. 

Lavant, f. Kärnthen. 

Zavater, Johann Caſpar, ift den 15. Nov. 1741 zu Züri geboren, 
Während er das academifche Gymnaſium befuchte, übte Bodmer großen Einfluß 
auf fein poetifches Talent, Nach Beendigung feiner philofophifchen und thenlogi- 
fhen Studien reiste er, von F. Heß und 9. Füßli begleitet, 1761 nach Leipzig 
und Berlin, um den Ranzelredner Spalding fennen zu lernen, bei dem er einige 
Monate verweilte, Der vielfache Umgang mit Gelehrten, die Lavater auf dieſer 
Neife fennen lernte, bot ihm Stoff für feine phyſiognomiſchen Beobachtungen, 
Zurüdgefehrt, wurde er 1769 Diacon, 1775 Pfarrer an der Waifenhaus-Kirche 
zu Zürich, und wenige Jahre fpäter Diacon, darauf Pfarrer an der Peterskirche 
dafelbft, Er ftarb den 2. Jan, 1801 an einer Schußwunde, die ihm 1799, als 
Maffena in Zürich einrücte, von einem franzöfifchen Soldaten beigebracht wor- 
den war, — Lavater war ein Mann mit mannigfarhen fohönen Talenten, die er in 
einer raftlofen Thätigfeit ausbildete und für's Gute verwendete. Dafür zeugen 
feine Schriften, aus denen wir anführen: Allgemeine Betrachtungen über bie 
Evangelien, Deſſau 1783; Kern der chriſtl. Sittenlehre, Bafel 17905 feinen 
Pilatus; Handbuch für Leidende; Morgen» und Abendgebete; feine Predigten 
und nachgelaffenen Schriften, herausgegeben von Geßner, Züri 18015 fodann 
feine Schweizerlieder und eine Menge geiftlicher Gefänge und größerer Gedichte, 
In allen religiöfen und theologifchen Schriften verräth Lavater eine befchauliche, 
myſtiſche und fohwärmerifche Geiſtesrichtung. Wer Gott haben wolle, müffe ihn 
lebendig haben, und nur der habe ihn Iebendig, der feiner fo erfahrungsmäßig 
gewiß fei, als hätte er mit ibm in einer fortgefegten Correfpondenz geflanden, 
Diefe Vereinigung mit Gott und Chrifto werde dem wahrhaft Gläubigen, Dem 
Gebete ſchrieb er eine außerordentliche Macht zu, mit der ihm jegliches gelingen 
ſollte; denn pofitive äußerliche Wirkungen feien die Folgen jedeg wahrhaftigen 
Gebets. Daraus ift es begreiflich, wenn Lavater dem Erorciften Gaßner vol» 
len Glauben fchenfte, wenn er fehnlichft wünfchte und ungetheilt dafür wirkte, 





Larismus, 379 


daß Chriſti Reich komme. Wenn er deßhalb Andere für feinen Glauben zu be- 
wegen und zu gewinnen fuchte, fo verdient das in unfern Augen fo wenig Spott, 
daß wir es.vielmehr ganz natürlich finden. Am_ meiften Auffehen aber machten 
feine phyſiognomiſchen Fragmente zur Beförderung der Menſchenkenntniß und 
Menfchenliebe, Lavater zeigt darin in geiftreichen Bemerfungen und überrafhen- 
den Vergleichungen die Bedeutung der Förperlihen Züge und Geſtalten. Wenn 
er aber die Nafe zum Hauptfriterium feiner Urtheile macht, fo fünnen wir die 
Bemerkung nicht unterdrüden, daß felbft das Wahre, aufs Extrem gefteigert, 
falſch, abgeſchmackt und lächerlich wird. Ueber die ganze ſchriſtſtelleriſche Thätig- 
feit Lavaters fügen wir noch das Urtheil Göthe's bei. „Es finde fich, fagt diefer, 
in feinen Schriften die wunderbarfte Mifhung von Stärke und Schwähe des 
Geiftes,; von Schwung und Tiefe der Gedanken und tiefer Schwärmerei, von 
Edlem und Lächerlihem.” — Die raftlofe Berufstreue diefes Mannes als eines 
Predigers bezeugt das, daß er nicht bloß feiner Pfarrgemeinde, fondern auch 
auf Reifen das Wort Gottes verfündete und durch feine geift- und gemüthvollen 
Reden, durch die feltene Kraft feiner Sprache und den Zauber feiner Perfönli- 
feit bei Hoch und Nieder fehr viel wirfte. Ueber feine Predigten bemerkt Schröckh: 
„Seine brennende Phantafie, die vft feine Beurtheilungsfraft mit ſich fortriß, 
ließ ihn feinen feften Schritt auf dem Wege eines faßlichen Predigers thun. 
Schwerlih ift bei einem proteftantifchen Prediger fo viel Licht und Schatten, 
Geiftesftärfe und Schwähe, trefflihe Anlage, außerordentliher Eifer für die 
Religion, Eraftvoller Ausdruf mit Schwärmerei und Wunderglauben, unbedacht- 
famem Religionsfyneretismus und andern Seltfamfeiten verbunden gewefen als 
bei ihm. Dennoch wird fich fein Andenken nie verlieren; man wird fo vieles 
Gute, Sinnreihe und Erbauliche, das in feinen Predigten und andern Schriften 
vergraben liegt, defto fleißiger auffuchen, je mehr die unzähligen, von ihm er- 
richteten Luftgebäude daffelbe zu verdecken drohen.“ — In Allem aber wollte La— 
Yater nur das Gute, das, daß mehr und mehr Ehriftum erfennen, Chriften wer- 
den und fo das Heil finden. Es Fonnte daher nicht fehlen, das Edle und Schöne 
feines Charakters fand allgemeine Anerfennung. Er war einer der bebeutendften, 
gefeiertfien, einflußreichften Männer feiner Zeit und ſtand mit den damaligen 
Größen in freundlicher Verbindung. Aber während ihn ein Theil, befonders das 
weiblihe Geflecht, bewunderte, beinahe vergötterte, übergoß ihn ein Anderer 
mit Spott und höhnendem Wis. Das Ercentrifhe und Phantaftifche feiner Neden 
und Schriften, wenn nichts als die Fühne Behauptung, aus der Gefihisbildung 
den Geift zu enträthfeln, bot hiezu geeignete Gelegenheit, Vgl. Lavaters Lebens- 
befpreibung von G. Gefner, 3 Bde. Winterthur 18025 Fubrmanns Hand- 
wörterbuß I. Bd. ©. 627 f.5 Schröckh, Kirchengeſch. 7. Thl. feit der Reform, 
©, 334, und 8, Thl. ©, 658, [Stemmer.] 
Laxismus. Den Forderungen des fittlihen Gefeges gegenüber find zwei 
diametral entgegengefeäte Beftrebungen möglih, wovon die eine jene in dem— 
felben Maße fleigert und verfchärft, als die andere fie herabſtimmt und lockert. 
Geſchieht dieß auf dem practifchen Lebensgebiete, fei es Kinfichtlich der fubjestiven 
Gewiffensausfprühe, vder fei ed in Bezug auf Geftaltungen der öffentlichen 
Sitte, fo nennt man das erftere Beftreben Rigorofität, das Iegtere Hingegen 
Larität, Entwickeln ſich diefe practifhen Extreme zu Syſtemen und Theorien, 
fo entfteßt auf der einen Seite der Rigorismus, auf.der andern der Laris- 
mus. Wir fönnen nun im Allgemeinen diefen Richtungen gegenüber fagen, daß 
ihnen die chriſtliche Moral fremd fei. Indeß würden wir ihren Geift und ihr 
Weſen ſchlecht harakterifiren, wenn wir fagen wollten: die hriftlihe Moral fer 
weder zu fireng noch zu ſchlaff; fie Halte zwifchen beiden Ertremen die Mitte: 
und darin Tiege ihr Vorzug und ihre Eigenthümlichfeit. Dagegen ift Folgendes 
zu bemerfen, Der fittlihe Geift des Chriſtenthums iſt ein fo eigenthümlicher, 


380 Sarismug, 


daß er durch Alles in der Welt eher charakfterifirt werben mag, als durch folche 
Gemeinpläge, Nur Eines ſteht in diefer Hinficht unzweifelhaft feft und muß in 
der obfchwebenden Frage als Leitender Gefichtspunet unverrüsft feftgehalten wer- 
den, nämlich das: daß die riftlihe Moral die reinfte, erhabenfte und voll— 
fommenfte ift, daß fie die Moral der heiligen Liebe ift. Man mag fie 
nun um ihrer Reinheit und Vollkommenheit willen „fireng”, oder wegen ihres 
Liebegeiſtes „mild“ nennen: fo kann das ihr auf einem Standpunct, der über 
diefen ausfchließenden Gegenſätzen und einfeitigen Auffaffungsweifen fteht, im 
Grunde gleichgültig fein. Durch jene Prädicate ift über den Grundcharakter, über 
den eigenthümlichen Geift der chriftlichen Moral nichts ausgefagt, da beide in 
Hinficht auf diefen ebenfo wahr als falfch find, Daraus erhellt ſchon, wie Teer 
und unfruchtbar ein Streit fein muß, den man namentlich im vorigen Jahrhundert 
mit großer Heftigfeit über die Frage geführt hat, ob bie hriftlihe Moral der 
sententia benigna oder der entgegengefesten günftig fer, (Ueber das Pro und 
Contra diefer Controverfe vgl. unſ. Institutiones theologiae Christ. moral. Vol. I. 
p. 154—165. Augsb. 1848.) Das Sciefal diefes Streites Fonnte fein anderes 
fein, als es wirklich war: Fein Theil namlich Eonnte fi) des Sieges rühmen. 
Wenn man nämlich einzelne Stellen des neuen Teftaments zu Nathe zieht, fo 
wird man mit dem gleichen Nechte Beides fagen Tonnen: die hriftliche Moral 
ftellt die firengften Forderungen, und fie ftellt die mildeften Forderungen. 
Wo gäbe es firengere Forderungen, als die: das ärgernde Auge auszureißen 
(Matth. 5, 29. 30.), dem, der ung auf die rechte Wange ſchlägt, auch die an- 
dere darzubieten (Matth. 5, 39.), die Feinde zu lieben (Matth, 5, 44), und 
Bater und Mutter, Weib und Kinder, Brüder und Schweftern, ja fogar bie 
eigene Seele zu haffen (Luc, 14, 26.), alle Habe zu verfaufen ober zu verlaffen 
(Matth. 19, 21: 4, 20.), das. Kreuz zu tragen (Matth, 16, 24. Luc, 9, 23.), 
die lieder zu ertödten (Col. 3, 5.) u. ſ. w.? Und was fünnte dagegen milder 
tönen als das Wort: „Rommt zu mir Alle, die ihr mit Mühe und Arbeit beladen 
ſeid, ich will euch erquicken. Mein Zoch ift füß, und meine Bürde iſt Teicht 
(Matth. 11, 28: 2932 — Bei folden in der neuteftamentlichen Moral zu Tage 
Yiegenden Antinomien ift es fiherlich eine Leichte Sache, für die eine oder die an- 
dere in die Schranfen zu treten, für die sentenlia benigna oder die sententia rigida 
einzuftehen. Dan braucht nur die vom Gegner angeführten Stellen ebenfo hart- 
näckig zu ignoriren, als man die eigenen an Einem fort wieberholt, fo wird man 
ſich und feine Anhänger auf eine ebenfo nachhaltige als leichte Weife von ber 
Wahrheit der einen oder der andern ber entgegenftehenden Anfichten überreden 
und überzeugen fünnen, Um indeß das Wahre an der Gache kurz zu bezeichnen, 
fo befteht e8 darin, daß dem Chriftentfume der firengfte fittlihe Ernft eignet, 
der aber von der Art ift, daß er die größte Milde in fich ſchließt. Das 
Chriſtenthum Iehrt ung die Groͤße des Elendes fennen, in das bie Sünde ben 
Menfchen ſtürzt; daffelbe ruht mit feinen fittlichen Forderungen auf dem Bewußt⸗ 
fein, daß der Uebel größtes die Schuld und das einzige wahre Unglü für ben 
Menfchen die Sünde, die Lostrennung von Gott, in dem er allein Ruhe für fein 
vielbewegtes Herz finden mag, ſei. Yon dieſem Stanbpunete aus predigt Die 
chriſtliche Moral glühenden Haf gegen das Böfe und findet Feine Anforderung 
zu fireng, wo es gilt, von diefem Abgrunde den Menfchen zurückzuhalten. Aber 
gerade biefe ihre Strenge ift vom Geifte der beforgteften, zärtlichften Liebe die— 
tirt, ja ift nur die negative Seite deffelben, Das Chriſtenthum wäre bei feinem 
Bewußtfein von dem fittlichen Oegenfage graufam, wenn es mit dem Kampfe 
gegen die Sünde nicht Ernft, vollen Ernft machen würde, Daß es dieſen macht, 
ift feine Milde, Wer in den Ernft des chriftfich-fittlichen Geiftes nicht eingeht, 
begreift auch feine Milde nicht, Freilich fehlt es nicht an Solchen, die von dem 
Schrecken, den die oben für die in Rede flehende Frage angeführten Ausfprüche 


Larismus, 381 


des Evangeliums einzujagen geeignet find, ſich durch ein fehr einfaches Haus- 
mittel zu euriren wiffen: mit etlichen Tropfen Humanitätswaffer, das überall 
gratis zu haben ift, jene flarren Buchftaben vermifcht, und fie löſen ſich in die 
mildefte und gefihmeidigfte Subftanz auf, die fich zur Allerweltsmoral vortrefflich 
qualificirt. — Sowie man bei der Frage über die Strenge oder Milde der rift- 
lichen Moral (wir fönnen fie die Antinomienfrage nenten) die immanente Dia- 
Yectif des hriftlichen Geiftes, zufolge der er beide Antinomien im fich aufhebt und 
zur höheren, lebendigen Einheit verföhnt, nicht gehörig erfannt hat, fo hat man 
es auch nur zu vielfach überfehen, daß das Chriftentfum Hinfichtlich der Mittel, 
ihren geiftigen Heilszwed zu erreichen, fo zu jagen auf der breiteften Baſis 
fteht und fich in feinen Borfhriften auf das geringfte Maß derfelben befchränft, 
Es ift dieß der Fleine Kreis der göttlichen Heilsmittel, der HI. Sacramente; diefe 
find mit mehr oder minder bindender Notäwendigfeit dem Chriften vorgefchrieben, 
Was die fonftigen, menfhligen Mittel betrifft, fo bemißt ſich Alles nach dem in- 
dividuellen Bedürfniß. Was dem Einzelnen nach feinen befondern fittlichen Ver— 
hältniffen, Kämpfen und Gefahren zur Erreichung feines Heiles Noth thut, das 
in Anwendung zu bringen ift er verpflichtet, und wäre es auch mit den größten 


- perfönlihen Opfern verfnüpft. Wo es das Seelenheil gilt, da muß jedes Mittel 





aufgeboten werden; Zahl, Art, Strenge und dergleichen Categorien kommen hiebei 
gar nicht in Frage. Diefer Gefihtspunet kann nicht ſcharf genug betont werden, 
weil er allein es ift, der ung ein gerechtes, der Wahrheit gemäßes Urtheil über 
die auf den erſten Blick fo auffallenden Differenzen der Firchlichen Disciplin zu 
verfchiedenen Zeiten fällen läßt. Die ältere Disciplin der Kirde wird nämlich 
ebenfo der übertriebenen Strenge bezüchtigt, als die gegenwärtige einer zu großen 
Schlaffheit. Beide Vorwürfe find gleich unbegründet, Der Geift der kirchlichen 
Disciplin ift fih durch alfe Zeitem gleich geblieben; ihr Geift ift aber fein an- 
derer, als das Beftreben, die Gläubigen gegen die fittlihen Gefahren zu ſchützen 
und den fittlichen Ernft des Chriſtenthums im Leben durchzuführen. Da aber der 
Strom jener Gefahren bald mehr, bald minder anfhwillt, und die forialen Ver- 
bältniffe und Bedürfniffe im Wechfel der Zeiten fih ändern, fo ift es eine noth— 
wendige Folge, daß die Kirche nach Umftänden flärfere Damme entgegenfegen, 
engere Schranfen ziehen, ftrengere Maßregeln ergreifen, Täftigere und befchwer- 
lichere Verpflichtungen auferlegen muß, Nie thut fie das willfürlich oder zwed- 
los; was eine Laft ſcheint, ift doch, näher betrachtet, nur eine Erleichterung, ein 
Förderungsmittel auf dem Wege des Heils; eine Laft würde eine kirchliche Sagung 
oder Vorſchrift erſt dann, wenn fie den fittlihen Auffhwung des Geiftes, anftatt 
zu unterflügen, lähmen würde, Was nicht zu Chrifto führt oder auf dem Wege 
zu Ihm mehr hindert als fördert, iſt in Wahrheit eine Laft, die der Chriſt je 
eher je beifer abwerfen fol. Dazu kommt noch, daß die Wege zu Chriſto ver- 
ſchieden find und nicht Jeden jeder an’s Ziel führt, nicht zu jeder Zeit jeder paßt, 
In der einen wie der andern Beziehung wird ohne Zweifel die Kirche am beften 
zu beurtheilen wiffen, was ihren Zweck, der fein anderer ift, als Alle, die ſich 
ihrer göttlich autorifirten Leitung und Erziehung anvertrauen, zu Chrifto, zum 
Heile zu führen, frommt oder nicht frommt, was „zeitgemäß“ ift oder es nicht 
iſt. Bon diefem Gefichtspuncte aus Fann die alte Kirchendisciplin nicht des „Ri— 
gorismus“, die moderne nicht des „Laxismus“ angeklagt werben; eine folche 
Klage kann nur ein Solcher führen, der Firchlicher fein will als die Kirche, und 
der es beffer zu verſtehen fih einbildet, als die, welche der HI. Geift als Bifchöfe 
gefegt hat, die Kirche Gottes zu regieren und die anvertraute Herde Gottes zu 
meiden, Apg. 20, 28. 1 Petr. 5, 2. (Vgl. unf, Institt. theol. moral. a, a, DO. p. 


146— 51.) — Nach dem, was wir im Bisherigen auseinandergefegt haben, wird 


die aus Thomas (1, 2, qu. 107. art. 4.) anzufüßrende Stelle von ſelbſt in ihr 
rechtes Licht treten und nimmermehr zu Gunften eines falfchen Firchlichen Lihera- 


382 Laxismus. 


lismus verſtanden werden können. Thomas nämlich, nachdem er hinſichtlich der 
die innere Geſinnung betreffenden göttlichen Forderungen das neue Geſetz für 
ſchwerer als das alte erklärt hat, ſpricht in Bezug auf die Zahl und Menge 
äußerer Satzungen und Werke ſich folgendermaßen aus: Quia ad plures actus ex- 
teriores obligabat lex vetus in multiplicibus caeremoniis, quam lex nova, quae 
praeter praecepta legis naturae paucissima superaddit in doctrina Christi et Aposto- 
lorum: licet aliqua sint postmodum superaddita ex institulione sanctorum Patrum, 
in quibus etiam Augustinus (Epist. 119. cap. 19) dicit esse moderationem atten- 
dendam, ne conversatio fidelium, onerosa reddatur. Dicit enim ad inquisitiones Ja- 
nuarii de quibusdam, quod ipsam religionem nostram, quam in manife- 
stissimisetpaucissimis celebrationemsacramentis, Dei voluit miseri- 
cordia esse liberam, servilibus premunt oneribus, adeo ut intolera- 
bilior sit conditio Judaeorum, qui legalibus sarcinis, non humanis 
praesumptionibus subjiciuntur.. (gl. August. Epist. 118. [al. 54.] ad 
Januarium. c. 1.). — Was die Kirchenväter und die kirchlichen Möoraliften der 
fpätern Zeiten betrifft, fo waren weder die Einen noch die Andern je über die 
fittlihen Grundprineipien des Chriſtenthums uneins, noch irgendwie über die 
Heiligkeit und den Ernft der hriftlichen Lebensbeflimmungen zweifelhaft. und 
ſchwankend. Indeß Eonnte eine Erfoheinung, die fih aus dem oben bezeichneten 
Sefihtspunet fehr einfach erklärt, im Verlaufe der Zeit nicht ausbleiben: theils 
die geiflige Individualität und die eigenthümlichen Lebenserfahrungen der Ein- 
zelnen, theils die fittlichen Bildungsverhältniffe ihrer Zeit und Umgebung brach— 
ten es mit fih, daß von dem Einen frengere und gemeffenere Lebensregeln auf- 
geftellt und geltend gemacht wurden, als von dem Andern, Diefe Differenz 
mußte insbefondere das Gebiet der Adiaphorie treffen, das feiner Natur nah 
veränderlich ift und nach Maßgabe der werhfelnden BVerhältniffe und Umftände 
die Grenzen des Erlaubten bald weiter, bald enger zieht. Sp fehr nun auch die 
Moraliften Hinfichtlich einzelner Beftimmungen und Regeln des practifchen Lebens 
Yon einander abweichen, fo mag doch Fein Einziger unter ihnen erfunden werben, 
den der Vorwurf des Larismus oder des Nigorismus mit Recht träfe, Inner— 
halb der Firchlichen Schranfen find derartige Ausschreitungen geradezu unmöglich; 
fie koönnen jedenfalls nur ald momentane Verirrungen des Einzelnen vorkommen, 
die aber unausbleiblih am Gefammtgeifte der Kirche ihr Correctiv finden und 
nur durch einen Abfall von ihr verewigt werden fünnten. Wir brauchen uns in 
diefer Hinficht nur an Tertullian zu erinnern, der befanntlich von feinem auf 
eigene Hand ausgebildeten Nigorismus in's montaniftifche Heerlager binüber- 
getrieben ward, wo er erft die Möglichkeit fand, das Kind feiner düfteren Welt- 
anſchauung an's Licht zu bringen, Ließen fich befonders im Laufe der legten zwei 
Sahrhunderte, durch eine falſche Accommodation an die Praxis einer verweichlich- 
ten Zeit verleitet, einzelne Fatholifhe Moraliften zu laxen Beflimmungen fort- 
reißen, fo fanden fie doch an dem bald genug erfolgten Firchlichen Verwerfungs- 
urtheil eine Schranfe, die einem weiteren Umfichgreifen einer zum Larismus hin- 
neigenden Moral Eräftig genug zu fleuern geeignet erfihien Cogl. unſ. Institt. theol. 
moral. 1. c. p. 77 sq.). Der Mißbrauch, den man mit den Schlagwörtern Rigo— 
rismug und Larismus vielfach gemacht hat, darf bier nicht unerwähnt bleiben. 
So ift 3. B. die Bezeichnung der Jefuitenmoral als einer „laren” zur flereotypen 
Phrafe geworden, die aber am widerwärtigften aus dem Mund gewiffer Phari- 
fäer klingt. Wir verfiehen darunter Solhe, die z.B. wegen minder firengen 
Grundſätzen, die fich ein Jeſuit über einzelne Momente des Beichtinftitutes auf- 
zuftellen erlaubt, ihn unbarmherzig des Larismus bezüchtigen, während fie doch 
feinen Anftand nehmen, das ganze Inftitut über Bord zu werfen, Heißt das 
nicht Rameele verfchlucden und Muͤcken feihen, Anderen Laften auferlegen, an bie 
man felbft mit feinem Finger rührt? (Matth. 23, 4.). Auf der andern Geite 





4 


Laybach — Lazariſten. 383 


wird die katholiſche Moral überhaupt, namentlich wegen ihrer Grundſätze über 
das eheliche und jungfräuliche Leben, über Eheloſigkeit und Drdensgelübde, eines 
unchriſtlichen Rigorismus beſchuldigt; ja man geht fo weit und muß confequent 
fo weit gehen, diefen Vorwurf nicht nur dem Apoftel Paulus, fondern der „Mo— 
ral Zefu“ feldft zu machen, womit freilich die Abfurbität fattfam zu Tage tritt 
Cogl. 9. Ammon, Handb. der chriſtl. Sittenlehre. I. ©. 50. 2. Aufl). Der be- 
fagte Vorwurf ift an feinem Drte bei den Pharifäern, die Ehriftus um deffent- 
willen rügt, fowie bei den Anhängern jener falfchen, dualiftifchen und weltſcheuen 
Ascefe, welche der Apoftel (1 Tim, 4, 1—4.) fo nachdrücklich befämpft. Das 
unverbrühliche Feftgalten an der ſchon von Paulus gemachten Unterfcheidung 


zwiſchen Gebot und Rath (ſ. Gelübde) Hinfichtlich der in Frage ſtehenden Puncte 
ſchützt die Fatholifche Moral gegen rigoriftifche Ausartungen, die nur da eintreten 
Tonnen, wo „alle Schritte und Tritte mit den Zußangeln der Pflicht beftreut“ und 


anftatt dem lebendigen Geifte der freien Liebe, dem flarren Buchſtaben des ſo— 
genannten moralifchen Imperativ unterworfen werden. [(Fuchs.)] 

Laybach, Bisthum, ſ. Kärnthen. 

Laymann (Laimann), Paul, ein Jeſuit, geboren zu Innsbruck 1576, 
lehrte die Philoſophie, das canoniſche Recht und die Moraltheologie an verſchie— 
denen Schulen, fo zu Ingolſtadt, München, Dillingen, Bamberg, Cöln. Mit 
19 Zahren trat er in die Gefellfchaft Jefu ein. Man rühmt von Laymanns Cha= 
rafter eine ungemeine Offenheit, Befcheidenheit und Demuth; von feiner wiffen- 
fchaftlihen Seite befonders eine tiefe Kenntniß des canonifhen Rechts, worin er 
fih ein ſolches Anjehen erworben hatte, daß die weltlichen Lehrer an andern Hoch— 
fohulen feine Dietate um Geld fih zu verfchaffen fuchten, und daß man ihn von 
weiter Ferne her in den fohwierigften Fragen als ein Drafel confulirte. Zu Con— 
fanz überfiel ihn die Peſt und raffte ihn im 60ten Lebensjahre am 13. Nov. 1635 
dahin, nachdem feine Nächftenliebe ihn beftimmt Hatte, wegen Anftefungsgefahr 
Andere von fih abzuhalten, und in einen ganz abgelegenen Ort fih zurüdzuziehen. 
Seine Moraltheologie, welche nicht bloß für Theologen, fondern auch für Cano— 
niften fehr brauchbar ift, erfchien zuerfi zu Münden 1625 in 4., verbeffert ſchon 
1626, und noch mehr bereichert 1630 in Fol., und fpäter noch in mehreren Aus- 
gaben, als zu Mainz 1723 in Fol, Weiter haben wir von ihm: Quaestiones 
canonicas de praelat. eccles. electione, institutione et potestate ex libr. I decre- 
talium, Diling. 1626; processum juridic. contra sagas, Colon.; justam defensionem 
Sanctissimi Romani Pontificis efc. in causa Monasteriorum et bonorum ecclesiastic. 
vacantium etc. Diling. 1631. Gegen diefe Schrift verfaßte der Benedictiner Ro— 
man Hay aus dem Klofter Ochfenhaufen eine Gegenfhrift unter dem Titel: 
Astrum inextinctum, welcher Laymann feine Gensura Astrolog. ecclesiasticae, et 
Astri inextincti entgegenfegte. Ohne feinen Namen gab Laymann heraus die 
„Pacis compositionem inter Principes et Ordines Imperii Romani catholicos atque 
Augustanae Confessioni adhaerentes* etc. Nach feinem Tode erfchien fein Jus ca- 
nonicum (Dil. 1643) und fein Repertorium (Ibid. 1644). [Dürx.] 

Lazariſten oder Prieſter von der Miſſion. Einer der lieblichſten Na— 
men in der Geſchichte Frankreichs im 17ten Jahrhundert iſt Vincenz von Paula, 


der durch ſeinen allgemeinen und ſegensreichen Einfluß im weiteſten Sinn des 


Wortes ein Wohlthaͤter feines Vaterlandes war, Er, der Stifter der barmher— 
zigen Schweftern, der Seminarien nach der Vorfihrift des Trienter Coneils, der 
allgefeierte Miffionär auf den Galeeren, ift auch der Gründer der Lazariften oder 


der Priefter von der Miffton, welche fo zu fagen alle Zwecke der einzelnen Orden 
in fih vereinigen, Weber das thatenreiche, bewegte Leben des heiligen Stifters 


f. den Art. Vincenz v. Paula, Nah fegensreihem Wirken wurde diefer Priefter 
aus der Congregation der Dratorianer auf Empfehlung des Stifters der letzteren, 
Berülle (ſ. d. 9), Erzieher und Hausgeiftlicher bei dem Grafen Gondy, Ge— 


384 Razariften. 


neral der königlichen Galeeren, Neben trefflicher Einwirkung auf Kinder und 
Eltern übte Vincenz auf den zahlreichen Gütern der Familie durch geiftlichen 
Troft für die Kranken, Katechiſiren der Kinder u. dgl, unzählige Werfe der Liebe, 
Hier nun war es, daß die allgemeine Beichte eines Kranfen, der, ohne es zu 
verdienen, in allgemeiner Achtung fland, ihm Veranlaffung zu Miffionen gab. 
Erfreut über ſolche herrliche Früchte thätigen Wirfens, fete die gräfliche Familie 
eine Summe aus, nach deren Empfang eine religiöfe Genoffenfchaft verpflichtet 
fein follte, alle fünf Jahre in ihren Herrfchaften eine Miffton zu halten. Ver— 
gebens bot Vincenz diefe Summe den Dratorianern, feinen Ordensbrüdern und 
den Jeſuiten an; diefe waren bereits fo fehr mit Gefchäften überhäuft, daß fie 
nicht einwilligen fonnten. Hierdurch fowie durch den Wunſch der gräflichen Fa— 
milie und des Erzbifchofs von Paris, eines Bruders des Grafen Gondy, be— 
wogen, fliftete Bincenz im Jahre 1624 die Gefellfchaft der Miffionspriefter, bie 
fi) befonders dem Geelenheil des Landvolkes und der nievern Stände überhaupt 
widmen follten. Bald erhielt dag neue Inſtitut die königliche Beftätigung, und 
Papft Urban VI. erhob daffelbe zu einer befondern religiöfen —— unter 
dem Namen Prieſter der Miſſion, die wir von nun an in allen Gegenden 
Frankreichs, ja in den entlegenſten Ländern der Welt in apoſtoliſcher Wirkſamkeit 
und Einfachheit erblicken. Im Jahre 1632 erhielten ſie das Collegium St. 
Lazarus zu Paris, wovon ſich ihr gewöhnlicher Name Lazariſten herſchreibt. 
Das große Local und die vermehrten Einkünfte machten nun auch eine erweiterte 
Wirkſamkeit der Congregation möglich. Neben der Neubelebung des religiöſen 
Sinnes im Volfe wirkten diefe Miffionspriefter auch befonders fegensreih auf 
den Clerus dur Conferenzen und durch Gründung von Seminarien nach ber 
Vorſchrift des Trienter Concils. Noch zu Lebzeiten des HI. Vincenz waren bei- 
nahe alle Didcefen Frankreichs von feinen Schülern befuchtz aber auch Stalien, 
Corfica, Piemont, Polen, Irland, Schottland, Algier, Tunis, Madagascar er= 
hielten an ihnen Miffionäre, und diefe wetteiferten an Africa’s Küften mit den 
Brüdern vom Orden der Gnade um Auslöfung der Sclaven, Nah Polen Fam 
auf Bitten der Königin Marie Lonife, Gemahlin des Königs Johann Cafimir I. 
(1648—68), eine Miffionsanftalt unter dem Vorſtand des dem hl. Vincenz 
fo theuren Lambert, während Peft und Hungersnot befonders in Warſchau 
wütheten, Lambert und fein Nachfolger Ozenne fielen als Opfer derſelben; den— 
noch blühte die Miffion in Polen auf. Die erften Nachfolger des HI. Bincenz als 
Generalfuperior waren Nene Almeras (1672), Edmund Zolly (1697), Nico— 
laus Pierron, lauter würdige Männer; zur Zeit der erften franzöfifhen Revolu— 
tion war oberfter Vorfteher Abbe Cayla de la Garde, Auch diefe Eongregation 
ging indeß in Revolutionsflurme mit den andern religiöfen Genoffenfchaften unter, 
folfte fih jenoch fehon bei der erfien Reftauration wieder erheben, und zwar 
durch ein Decret vom Jahre 18045 ja fie erhielt fogar aus der Staatscaffe eine 
Nnterftügung von 15,000 Franks; ferner überließ man ihr zu Paris ein Hofpital, 
das der Staatsdomäne gehörte, zur Errichtung einer Centralanftalt mit einem 
Noviciate, und mehrere Häufer in den Departements jenſeits der Alpen; endlich 
ertheilte man ihr auch wieder das Necht zur Annahme von Vermäctniffen und 
Legaten. Sp fehr hatte Napoleon in ihren Mitgliedern die tüchtigften Mitglieder 
zur abermaligen Chriftianifirung Frankreichs erfannt, und in der That haben fie 
fich darum dur ihre außerordentliche Thätigfeit ganz befondere Verbienfte er- 
worben, Allein nachdem der Raifer auf die ungerechtefte Weife mit dem Papfte 
gebrochen hatte, fo erneuerte man auch die eben fo ungerechte Aufhebung biefer 
Eongregation durch ein Decret vom Jahre 1809, das jenes von 1804 wieder 
annullirte. Das Haus wurde den Prieftern entzogen, die Dotation vernichtet, 
die erhaltenen oder erworbenen Güter wurden confiseirt, Erſt im Jahre 1816 
erhielt die Congregation ihre Iegale Exiſtenz wieder; zwar fonnte fie St, Lazare 





Lazarus. 385 


nicht mehr zurüderhalten, erlangte aber dafür zu Paris ein anderes Haus in der 
Straße Sévres, wohin nunmehr auch das Seminar verlegt wurde, Sofort fonnte 
fie ihre gewohnte Thätigfeit wieder entfalten; noch aber fehlte der Generalobere, 
Nach dem Tode des Cayla de la Garde waren nämlih im Drange der Umftände 
zwei Generalvicare eingefegt worden; erft im 3. 1829 wurde vom Papfte ein 
Generalfuperior ernannt, da die Zufammenberufung eines Generalcapitels be= 
fondern Schwierigfeiten unterlag. Was ihren gegenwärtigen Beftand anlangt, 
fo zählt fie wohl 700 Mitglieder in Italien, Franfreih, Polen, Africa (Algier 
und Aegypten). Zu Miffionsdiftrieten haben fie gegenwärtig die Levante, feit 
1784 China, und die neueften Miffionen in Abyffinien, find aber auch in Nord- 
america und Brafilien thätig. In Betreff eines andern Ordens des HI. Lazarus 
f. den Art. Johanniter. Bd, V. ©. 771. [3ehr.) 
Lazarus, Adlaegos (322, abgekürzt flatt Arsn von In und S7>, deus . 
auxilium), der Bruder der Maria und Martha in Bethanien bei Jerufalem, ein 
Freund des Erlöfers. Wir finden den Herrn zum erften Male in diefem Fami— 
lienfreife um die Zeit des Hüttenfeftes, im erften Jahre feiner öffentlichen Wirf- 
famfeit Luc 10, 38 ff.), und wahrfcheinlich verweilte er dort auch bei dem dar⸗ 
auffolgenden Beſuche ber: Tempelweihe, Während fich Jeſus nah dem letzteren 
Fefte in Peräa aufhielt, war Lazarus erfranft, flarb und lag bereits den vierten 
Tag im Grabe, als der Herr, von den Schweftern zu Hilfe gerufen, in Betha— 
nien anlangte; aber der Machtruf des Göttlichen erweckte den Todten wieder zum 
Leben (oh. 11, 1—44.). Diefe Begebenheit führte eine entfcheidende Wendung 
in der Entwirflung des Schicfales Sefu herbei; denn als die Hierarden in Je— 
rufalem davon und von dem Glaubenserfolge bei den Augenzeugen Nachricht er— 
halten, fo wurbe in einer Sigung des Synedriums nach dem Anfrage des Raia- 
phas fein Untergang beichloffen (daf. 11, 46 f.). Nachdem Jeſus, welder fi 
inzwifchen in das Städtchen Ephraim an der jüdifchen Wüfte zurüdgezogen hatte, 
ſechs Tage vor Dftern wieder nad Bethanien gefommen war, fo bereiteten die 
neuen Wirkungen feines Wunders auch dem Lazarus Gefahr; * nämlich auf die 
Kunde von der Anweſenheit des Herrn in jenem Flecken Jeruſalemiter und fremde 
Feſtbeſucher in Menge hinausſtrömten, um ſowohl ihn als auch den thatſächlichen 
Zeugen ſeiner Wundermacht zu ſehen, und ſofort zum begeiſterten Glauben er— 
weckt wurden, ſo faßten die Synedriſten den Beſchluß, den Lazarus mit Jeſus 
aus dem Wege zu räumen (daſ. 12, 1 ff.). Die Wiederbelebung des Lazarus iſt, 
als hiſtoriſche Thatſache und als Erweckung aus dem wirklichen Tode aufgefaßt, 
der offenbarfte und unwiderfprechliche Beweis für die göttlide Macht in Chrifto, 
und fo weiter für die Göttlichfeit feiner Lehre und feines ganzen Werkes. Die 
große Bedeutung diefer evangelifchen Erzählung hat auch Spinoza anerfannt, von 
welhem Bayle (Dielion. Spinoze not. R.) erzählt: On m’a assure, qui’ disaif 
a ses amis, que s’il eüt pu se persuader la resurrection de Lazare, il aurait bris& 
en piece tout son system, il aurait embrass& sans repugnance la foi ordinaire des 
Chretiens. Allein er vermochte es nicht über fich, fein philoſophiſches Syftem auf 
einige Augenblide zu vergeffen, um ohne alle Vorausfegung ein Urtheil zu fällen, 
und wenn er fih nun von der objectiven Wahrheit des Wunders nicht überzeugen 
fonnte, fo liegt der eigentlihe Grund davon gerade darin, daß daffelbe mit fei= 
nem Syfieme, von welhem aus er es beurtheilte, nicht übereinſtimmte. Auf 
einem wefentlih gleichen Standpuncte ſtehen auch die neueren Gegner dieſes 
Wunders, welche es theils auf eregetifhem, teils auf Fritifhem Wege zu be= 
ſeitigen ſuchen, denn fie gehen wie Spinoza von dem Sate aus, daß wirkliche 
Todtenerwerfungen in das Gebiet des Unmöglichen gehören, oder daß Jeſu eine 
übermenfchliche und übernatürlihe Kraft nicht inwohnen Fonnte, In Anbetracht 
diefer Borausfegung erflärt es fih, wie die rationaliftifhen Ausleger Hier nicht 
anſtehen, den Wortfinn der Erzählung mit größter Willfür zu verbrehen, um 
Kirchenlexikon. 6, Br. 25 


386 Lazier. 


ſtatt des Wunders einen glücklichen Verſuch der Wiederbelebung eines Schein- 
todten herauszudeuten, und wie fie ſelbſt ſich mit einer Exegefe befriedigt fehen, 
bei welcher fie fih in einen augenfälligen Widerſpruch mit dem Neferenten fegen. 
Mit Rückficht auf das vor alfer Unterfuhung fertige Urtheil kann es auch an den 
neuern deftructiven Kritifern nicht auffallen, wenn ihnen Beftreitungsgründe ge— 
nügen, in welchen der unbefangene Forſcher zwar Schwierigkeiten anerkennt, ohne 
fie aber für unüberwindlich zu halten, die für fich betrachtet gegen den hiftorifchen 
Charakter der Erzählung nichts entfcheiden, und keineswegs Die Berechtigung 
geben, darin ein mythifches Product oder eine freie fchriftftefferifche Compofition 
anzunehmen, Der Haupteinwurf gegen die Glaubwürdigkeit der Erzählung ift - 
Cabgefehen von der Natur des Erzählten) überall das Stillfehweigen der Synop- 
tiker; er verliert aber feine Schärfe und Kraft, wenn wir den Iocalen Gefichts- 
kreis der fonoptifchen Evangelien bis zur Leidensgeſchichte im Allgemeinen in's 
Auge faffen, und bei Matthäus insbefondere in Erwägung ziehen, daß er bie 
Geſchichte Jeſu nicht pragmatifh behandelt (ſ. im Uebrigen meinen Commentar 
zu Joh.). Was die Tradition dem evangeliſchen Berichte über Lazarus hinzufügt, 
kann nicht als zuverläſſig gelten. Er ſoll bei ſeiner Wiederbele 30 Jahre 
alt geweſen fein und dann noch weitere 30 Jahre gelebt Haben (Epiphan. Haeres, 
LXVI. 34.) 5; als fein nachmaliger Aufenthalt wird Massilia (Marfeilfe) in Gallien 
genannt, wo er dag Evangelium gepredigt hätte (Fabr. Cod. apocr. N. T. IL, p. 
475 sq. und Lux evang. p. 388 sqq.), wogegen ihn aber andere Nachrichten nach 
Cypern verfegen, wo man fpäter feine Gebeine aufgefunden zu haben meinte 
(Suicer. Thesaur. II. p. 208.), — Außer dem hiftorifthen Lazarus haben wir im 
neuen Teflament in der Parabel Luc. 16, 19 ff. noch eine erbichtete Perfon dieſes 
Namens, B IA. Maier.] 
Sazier, zum ChriftentHum befehrt. Die Lazier, zu den Zeiten des Pli— 
nius, Arrian und Ptolomäus ein befonderer Stamm am nördlichen Nande von 
Kolchis, herrfchten zu Juſtinians Zeit über ganz Kolchis, ftanden aber unter per- 
fifher Oberherrſchaft. Lange vorher hatten ſich ſchon viele der benachbarten Vol— 
ferfchaften dem Chriftentgume zugewendet, als endlich auch Zathus (Tzathus), 
Fürft oder König der Lazier, freilich auch in der Hoffnung, ſich fo der perfifchen 
Dberherrfchaft zu entledigen, aber doch überzeugt von dem Vorzug der riftlichen 
Religion vor den Gebräuchen der Magier, zwifchen 520—522 nach Conftantino- 
pel reiste und fich taufen ließ, wober der Kaiſer felbft fein Taufpathe war, Zu- 
gleich bat er den Kaiſer, ihn zu Frönen, damit er nicht, wenn er nach früherer 
Sitte die Krone aus den Händen des perfifchen Königs empfange, an den damit 
serbundenen Opfern und heidnifchen Ceremonien Theil zu nehmen gendthiget wäre, 
Bon dem Kaifer gefrönt, reichlich befchenft und mit einer vornehmen chriftlichen 
Griechin vermählt, kehrte Zathus nach Lazien zurück (Theophan. Chronogr.). 
Gleich darauf erfiheinen die Lazier ſchon als eine chriftliche Nation, und Praco— 
pius Cbell. Pers. II, 28) nennt fie „die aflereifrigften Chriften”, was er auch, und 
noch in einem höhern Grade, von ihren Nachbarn, den Zberiern (ſ. d. A.), rühmt 
Cb. Pers. I, 12). Für den criftlichen Eifer der Lazier zeugt ferner, daß ber 
Perſerkonig Chosroös im Schilde trug, fie von Kolchis weg in das Innere Per- 
fiens zu verpflanzen, um fie auf diefe Weife von den chriftlihen Iberern, mit 
denen fie eine Mauer gegen das Perferreich bildeten, zu trennen (ib. II, 28); 
ingleichen daß fie fih, als ihr König Gubazes durch die Unthat eines römiſchen 
Feldherrn getödtet worden war, dennoch nicht an die Perfer anfchloffen, vorzüg- 
lich aus Furcht, e8 möchte fo bei einer Verbindung mit den Perfern ihr hriftlicher 
Glaube in Gefahr fommen (Agathias II, 12). Aus dem, was Procopius (b. 
Goth. IV, 2) erzäßlt, daß die Bifchöfe der Lazier bei einem benachbarten freien 
Sriftlichen Volke, welches weder von den Römern noch den Laziern abhänge, bie 
Priefter einfegen, ſcheint hervorzugehen, daß von Lazien aus für die Verbreitung 





Leada. 387 


des Chriſtenthums in der Nachbarſchaft gearbeitet worden ſei. Andere Nachbarn 
der Lazier, die Suani oder Tzani (Tzannen), Apſilier, Abasgen u. a. m. wurden 
damals ebenfalls zur chriſtlichen Religion bekehrt oder waren ſchon Chriſten. So 
empfingen unter Juſtinians Regierung die Abasgen, von Alters her Unterthanen 
der Lazier, das Chriſtenthum, indem ihnen Juſtinian Geiſtliche ſendete, eine Kirche 
erbaute und das Volk dadurch dem Chriſtenthume ſehr geneigt machte, daß er ihren 
Fürſten den ſchändlichen Handel mit verſchnittenen Knaben, den ſie bisher als Hei— 
den getrieben hatten, ſtrenge unterfagte (Procop. b. Goth. IV, 3). I(Schrödl.)] 
Seada, Jane, Stifterin der fogenannten philadelphifhen Ge- 
fellfohaft, geboren 1623 in England, fihweifte lange in der Irre und Unruhe 
herum — wie fie von ſich ausfagt — bis fie in ihre eigene Tiefe einfehrte und 
da dasjenige traf, was fie auswärts nicht finden Fonnte, das innere Licht und die 
Salbung des HI. Geiftes, Aus diefer Duelle und einer nicht gemeinen Eitelfeit 
floffen ihre vermeintlichen Geſichte, Offenbarungen, Weiffagungen und Verheigun- 
gen, die fie auf göttlichen Befehl der Welt fund und zu wiffen machen mußte, 
wobei fie nicht läugnete, fondern geftand, daß fie auf gleiche, höchſt fublime Weiſe, 
wie der Apoftel Johannes auf der Inſel Pathmos, im Geifte öfter entzücft werde 
und ohne alle Bilder Gott unmittelbar in feinem Wefen und in diefem Wefen 
Alles ſchaue. Solche Gnade in Liebe theile nun Jeſus, nachdem dieß feit Jo— 
- Hannes nicht mehr gefchehen, wirklich wieder mit, und dadurch werde angedeutet, 
daß ein neues geiftliches Reich nahe vor der Thüre ſtehe. In diefem neuen Reiche 
werde unter der ausjchließlichen Leitung des innern göttlichen Lehrers das taufend- 
jährige Reich Ehrifti zur Erfüllung gelangen. Wie damals alle die zahllofen pro— 
teftantifchen Bifionäre und Schwärmer ihr Publicum fanden, fo fehlte es auch der 
Zeada nicht an Anhängern felbft aus dem gebildeten Stande, und fie ftiftete daher 
1697 die fogenannte „philadelphifhe Gefellihaft” als den Anfang und die Bafıs 
der von ihr im Namen Gottes verheißenen mafellofen Braut des Lammes, Die 
Urſachen und Gründe ihrer Stiftung machte fie im J. 1698 bekannt. Ihre after- 
myftifhen Träumereien hat fie in zahlreichen Zractätleins niedergelegt, wovon 
einige in's Holländifhe und in andere Sprachen übertragen worden find; vor= 
üglich wurde ihre Schrift, „ver Gartenbaum”, von ihren Anhängern geſchätzt. 
D fie reich war, fo ließ fie alle ihre fogenannten Dffenbarungen und neuen Auf- 
ſchlüſſe über die göttlihen Wahrheiten auf eigene Koften druden, Die Zeit, die 
ihr vom Schreiben übrig blieb, verwendete fie auf die Lectüre von Böhme’s 
Schriften, die fie nicht genug empfehlen konnte (ſ. Böhme). Nachdem fie fih 
bei Iebendigem Leibe eine Leichenpredigt gehalten, farb fie 1704 in einem Alter 
von 81 Jahren, Einer ihrer vorzüglichften Verehrer und Anhänger war Por- 
dage, ein Prediger, welcher, wegen feiner Schwärmerei abgefegt, ein Arzt wurbe 
und den Böhmismus und die philadelphiſche Gefellihaft in England eifrig be— 
förderte, wobei ihm freilich das dunkle myftifhe Kauderwelſch in feinen Schriften 
wenig zu ftatten kam. Nach Pordage ragte deifen Anhänger und Schüler Thom, 
Bromley hervor, der Vieles über die Bibel ſchrieb. In Holland war der Arzt 
Roth Fifcher ein befonderer Beförderer des Philadelphismus. S. Mosh. Kir- 
chengeſch. IV; Arnold 8 Rirchen- und Kegerhiftorie UI; Jöcher s Gelehrten-Lericon 
im Artikel Leada, — An Leada möge hier füglich die noch fonderbarere Schwär- 
merin lee, Anna, angereiht werben, Stifterin der Secte der Shaferg, 
In England bedrückt, z0g fie nah Nordamerica, ftiftete Hier 1774 ihre Seete 
und flarb 1784, ehe noch ihre Weiffagung in Erfüllung gegangen, daß fie, als 
Weib des Lammes, den neuen Meffias gebären werde. Die Shafers (i.e. Schüt- 
teler) wohnen, 6000 an der Zahl, in einigen Dörfern am Hudfon, halten fich 
für die allein wahre und reine Kirche, leben in Gütergemeinfhaft und Ehelofig- 
feit, träumen in düfterer Schwärmerei, deren abſchreckender Ausdruck auf ihren 
geifterbaften Gefichtern fih darſtellt, von unmittelbaren gottlichen Eingebungen 
* 25 


388 Leander. 


und von der Ankunft des neuen Meſſias, und ſetzen einen weſentlichen Theil 
ihres Gottesdienſtes in ſchaurige Tänze, welche theils das Erzittern vor dem 
Zorne Gottes über die Sünde, theils nach Analogie Davids vor der Bundeslade 
und des Johannes im Mutterleibe den Jubel über die Erſcheinung des neuen 
Meſſias ausdrücken follen, [Schrödl.) 
Leander, der heilige, Erzbiſchof von Sevilla, Bruder des hl. 
Iſidor von Sevilla, der angeſehenſte ſpaniſche Biſchof feiner Zeit, 
war aus der Provinz Carthagena gebürtig, aber den Drt feiner Geburt weiß 
man nicht. Sein Vater hieß Severianus, feine Mutter Turtura, und man fagte 
feit dem 13ten Jahrhunderte, daß fein Bater Herzog oder Statthalter der er— 
wähnten Provinz gewefen ſei. Nach dem Bericht feines Bruders Iſidor (de 
script. Ecel. c. 28) war Leander vor feiner Erhebung zum Bischof von Sevilla 
Mönch; in welhem Jahre er Biſchof geworden, ift unbefannt; gewiß nur, daß 
er 578 bereits die bifchöfliche Cathedra zu Sevilla inne hatte, In diefem Jahre 
ward ihm die hohe Freude zu Theil, den Prinzen Hermenegild, Sohn des Kö— 
nigs Leovigild von Spanien, aus dem Arianismus zur katholiſchen Kirche zu be— 
fehren, wozu auch Hermenegilds eifrig-Fatholifhe Gemahlin Ingundis, eine frän- 
kiſche Prinzeffin, mitgewirkt hatte. Seitdem blieb Leander dem Hermenegild auch 
im Unglü treu ergeben und machte in deffen Auftrag 583 eine Reife nad Con— 
ftantinopel. Damals weilte hier der nachherige Papft Gregor der Große als 
Apverifiar der römifchen Kirche, zu dem nun Leander in das innigfte Freund- 
fhaftsverhältniß trat, und den er damals bewog, die Exposilio in beatum Job zu 
reiben. Mußte er 585 den tiefen Schmerz erleben, daß Hermenegild auf Be— 
fehl feines Vaters hingerichtet wurde, fo befchied ihm das folgende Jahr heilige 
G©eiftesfreuden, indem Leovigild bie an dem Sohne verübte Unthat bereute, feinen 
Haß gegen die Katholifen ablegte, die vertriebenen Fatholifchen Biſchöfe zurüd- 
berief und den Leander an fein Todbett herbeirufen ließ, ihn bittend, er möge 
feinem Sohne und Nachfolger in der Negierung, Reccared, diefelben Dienfte 
leiften und ihn durch feine Mahnungen zur Fatholifchen Kirche befehren, wie er 
an Hermenegild gethban, Ob Leander bei diefer Gelegenheit auch den Leovigild 
felbft zur Ablegung des Fatholifchen Glaubensbekenntniſſes vermocht habe, laßt 
fih bei den widerfprechenden Berichten nicht beftimmt behaupten, Kurz nach Ley 
vigilds Tod befehrte fih der neue König Reccared, ein trefflicher Fürft, unter 
Leanders Anleitung und Unterweifung vom Arianismus zum fatholifchen Glauben, 
und bewog die meiften arianifchen Bifchöfe und Weftgothen mehr dur Gründe 
als durch Gewalt zu dem nämlihen Schritt (ſ. Gothen). Beſiegelt wurde das 
große Werk der Belehrung des weftgothifchen Volkes auf der großen Synode zu 
Toledo 589, wobei die „Summa synodalis negotii penes S. Leandrum, Hispalen- 
sis ecclesiae episcopum, et beatissimum Eutropium, monasteriiServitani abbatem‘“ 
war (Joh. Bicl. in chron. bei Basnage-Canis. I, 341). Im folgenden Jahre 590 
hielt Leander eine Synode zu Sevilla, Auf die Kunde von Gregors, feines 
Freundes, Erhebung auf ben tust des hl. Petrus fendete er an ihn ein Gratu— 
lationsfchreiben, worin er zugleich das freudige Ereigniß der Befehrung Neccards 
und der arianifhen Weftgothen meldete und- die Frage zur Entſcheidung vorlegte, 
ob bei der Taufe eine einmalige Untertauchung (wie ſie bei den Katholiken in 
Spanien den Arianern gegenüber vorherrſchend geworden war) oder eine drei— 
malige beſſer ſei, worauf der Papſt mit einem lieb- und freudenvollen Gegen- 
ſchreiben antwortete und bezüglich der Taufe erwiederte, er billige die einmalige 
Immerſion, ob auch die römiſche Kirche die dreimalige habe, die einmalige und 
die dreimalige ſei gut, aber für Spanien ziehe er die einmalige vor, weil bie 
Arianer dafelbft bisher die dreimalige beobachtet hätten und damit es nicht den 
Anſchein gewinne, als hätte der arianifche Brauch über den Fatholifchen geſiegt 
(Greg. M. opp. edit. Maur, epist. I, 43), Aus andern Briefen Gregors an Leander 








Lebbäus — Leben, 389 


Cep. V, 49. u. IX, 121) erfiebt man, daß Leander öfter an den Papft ſchrieb, 
welch’ intimes Verhältniß zwifchen diefen zwei trefflihen Männern herrfchte und 
welch’ hohe Meinung der Papft von Leander hatte, Als vorzügliche Beweife fei- 
ner Achtung und Liebe überfendete ihm der Papft das erzbifchöfliche Pallium (ep. 
IX, 121, 122), die Hirtenregel und einen Theil der Erpofition des Buches Job, 
das er ihm bedicirte (ep. I, 43, V, 49; praefat. in I. mor. Job), Ferrera fegt 
Leanders Tod auf das J. 597. Leider ift von Leanders Schriften, deren fein 
Bruder Iſidor (de script. eccl.) mehrere erwähnt, nichts weiter auf uns gefom- 
men, als die Rede, welche er am Schluffe der großen Synode zu Toledo 589 
bielt, und eine für Nonnen aufgefegte Regel: „Regula sive de inslitutione virgi- 
num et contemtu mundi ad Florentinam sororem“ in Holst. cod. reg. II. ©. bie 
Ehronif des gleichzeitigen Abtes Johannes von Biclar in Basn.-Canis. 
lect. ant. I; Isid. Hisp. d. script. Eccl.; Greg. M. dial. IN, 31; $errera, Gef, 
v. Spanien; Bolland. ad 13. Marti; vgl. Aſchbachs Gef. d. Weftgothen, und 
Lembfe, Gef, v. Spanien. [Schrödl.)] 
Lebbäus, ſ. Judas. 

Leben, chriſtliche Lebensanſicht. Wenn wir den Begriff des Lebens als 
Sein oder Dafein beftimmen, fo haben wir ihm bloß nach einer Seite hin fein 
Necht widerfahren Iaffen. Sind nämlich die Grenzen, die der Sprachgebrauch 
diefem bedeutungsvollen Worte einräumt, um nichts, oder um nicht viel enger, 
als die des Seinshbegriffes, fo findet diefer zugleich, fowohl an innerer Tiefe und 
Sntenfität als an äußerer Fülle und Reichhaltigfeit, fih von dem Begriffe des 
Lebens weit überboten. Das Seiende, das Eriftirende erhält erft als das Leben- 
dige feine wahre Bedeutung, die felbft in vem Maße fteigt, als das Leben auf 
der Stufenleiter der Wefen zu höheren und reicheren Entwicklungen feines Be— 
griffes fih emporarbeitet, Verftehen wir unter Leben — Bewegung, Kraftäuße- 
zung, Thätigfeit, fei es in receptiver oder ſpontaner Geftalt, fo ift, fo weit unfer 
Auge die Erfcheinungswelt überfchaut, nichts ganz ohne Spur von Leben. Selbft 
da, wo jetzt traurige Erftarrung und regungslofe Stilfe herrſcht, Hat einft ficher- 
lich lautes, quellendes Leben gearbeitet, oder fchlummert der zufunftsoolle Keim 
neuer Lebensregung. Wo aber diefe einmal erwacht ift, da fihreitet fie von Stufe 
zu Stufe unaufhaltfam bald einem näheren, bald einem entfernteren Ziele ent- 
gegen, und firebt energifch die unmittelbar engeren Schranfen der Thätigfeit zu 
durchbrechen, oder ihnen zum wenigften einen erhöhten innern Gehalt zu fichern, 
Unter Allem aber, was fich unter der Sonne regt und bewegt, lebt nichts ein 
intenfiveres, innerlich wie äußerlich reicheres und bewegteres Leben als der 
Menſch, die Krone der Erdſchöpfung. Vgl. Thomas v. Aquin, Summ. c. Genf. 
II, 68. Ed. Venet. a. 1775 sqq. p. 147. Raymund von Sabunde, Theolog. 
natural. c. 27 sqq. Ed. Venet. p. 23 sqg. Herder, Ideen zur Phil, d. Menfch- 
heit, Bd. 11. ©. 258 f. Leipz. 1812. Zugleich aber drangen fih in ihm alle 
Räthfel und Geheimniffe des dunfeln Lebens zufammen und geftalten fih um fo 
verworrener, als fich in feiner Bruft zwei Welten berühren, die mit ihren An— 
fprüchen an ihm nicht felten in Conflict gerathen und ſchwer zu verfühnenden Zwie- 
fpalt erregen, Auf den erften Anblick fcheint er ganz der Erde und dem flüchtigen 
Augenblife anzugehören; er erfcheint der fih vor feinen erftaunten Blicken aus— 
breitenden Unendlichkeit der cosmiſchen Berhältniffe gegenüber kaum als ein 
„Tropfen am Eimer,“ Gefchweige, daß er mit dem großen, die Sonnen und 
Sterne umfaffenden Leben, dem Macrocosmus, fich meſſen Fönnte, fo iſt ſchon 
der telfurifche Mierocosmus mit feinen riefigen Kräften und feinen ungeheuern 
Wirkungen im Stande, ihn feine Kleinheit und Befchränftheit fühlen zu laſſen. 
Und doch — ein aufmerkfamer Blick in die Tiefen feines innern Lebens zeigt ung, 
wie in dem ſchwachen Ervenfohne ein Etwas fich regt, deifen Bewußtfein ihn auf 
der andern Seite in den Stand fest, allen Mächten und Gewalten der Sichtbar— 


390 Leben, 


feit fühn die Spitze zu bieten: es ift die in ihm unfihtbar wohnende Kraft des 
freien, felbftbewußten, perfünlichen Geiftes. Während alles um ihn her, das 
Sonnenſtäubchen wie das Sonnenfyflem, die Feffel der eifernen Nothwendigkeit 
trägt, ift er, nach Herder's Ausdruck, „der erfle und einzige Freigelaffene der 
Schöpfung”, der mit Bewußtfein fich felbft Beftimmende, mit der Freiheit eines 
vernünftigen Willens Wirfende und fo im höchſten Sinne des Wortes Lebendige, 
Und weil er dieß ift, fo fühlt er, daß ein Dafein, wie das feinige, das den Keim 
einer unendlichen Entfaltung in ſich fchließt, ein Dafein, das an Werth und Be— 
deutung den Sonnen und Sternen wenigftens gleichfommt, um nichts weniger 
verdient erhalten zu werben. Ziehen die leuchtenden Welten dort oben ſchon Jahr— 
tanfende ihre einförmigen Bahnen, fo kann ihm, der fich ihnen an geiftiger Vir— 
tualität unendlich überlegen weiß, für feine Eriftenz und Lebensthätigfeit nicht 
bloß die Spanne Zeit, wie fie zwifchen Wiege und Grab mit raſchen Schritten 
dahineilt, zugemeffen fein. Durchdrungen von dieſem hohen Selbftgefühl, dehnt 
er feine fünftige Eriftenz felbft über die Trümmer der Sichtbarkeit aus und fucht 
über den Sternen einen Schauplag für feine erhöhte, vollfommenere Thätigfeit, 
„Richt zufrieden mit den Gärten diefer Erde, verlangt der Menfh, wie Jean 
Paul fhön fagt, ein Paradies und einen Himmel,” Doc noch haben wir deffen 
nicht gedacht, was in der vor unferer Betrachtung aufgetauchten großen Lebens— 
geftalt des Menfchen den Teuchtenden, allverflärenden Mittelpunet bildet; wir 
brauchen nicht erft zu bemerken, daß wir damit das ihm einwohnende Gpttes- 
bewußtfein meinen. Der menfhliche Geift, „die Blume einer höheren Natur, 
die ihren Kelch der ewigen Sonne, der Gottheit, öffnet und ihre Strahlen trinkt“ 
(Worte von Görres), ift eben damit das Heiligthum der fichtbaren Welt und 
zugleich der Vorhof zum unfichtbaren Allerheiligften, Zwar ift Gott allgegen- 

wärtig (Pf. 139, 7.), und wie die Himmel feinen Ruhm erzählen, fo ift die Erde 
voll feiner Güte (Pf, 19, 2. Pf. 33, 5.); aber erſt über dem Menfchen Teuchtet 
Gottes Antlig und fpiegelt fih in der Tiefe des gottähnlichen Menfchengeiftes, 
Erft der Menſch, der Teste Ring in der unendlichen Kette der fihtbaren Geſchöpfe, 
denkt Gott und vermag ihn zu lieben. Wenn Carteſius in feinem berühm— 
ten Cogito, ergo sum an die Thatfache des felbfibewußten Denfens die Idee der 
felbftftändigen, perfönlichen Exiftenz fnüpft, fo verbürgt ung wohl mit nicht ge— 
ringerem Necht die andere Thatfache, daß wir Gott denfen und Gott Fieben, die 
höhere Wahrheit, daß wir göttlichen Gefchlechtes und zu einem ewigen Sein be— 
ſtimmt find, „Wär' nicht, bemerkt in erflerer Hinfiht Göthe, wär nicht das 
Auge fonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken? Lebt’ nicht in uns des 
Gottes eigene Kraft, wie könnt' ung Göttliches entzücken?“ — Und auf Letzteres 
bezieht fich Fr, Stollbergs Motto: „Wir lieben, alfo werben wir fein” (Büch- 
lein der Liebe). Trägt nun der Menfh auf der einen Seite den Keim eines 
ewigen, unvergänglichen Lebens in fich, fo ift auf der andern die Idee feines 
wahren Lebens feine geringere, al$ das Leben in Gott. Darauf, nämlich auf 
der freien Hingabe an Gott, die Urquelle alles Lebens und Lichtes, auf dem 
innigen, freudigen Leben und Weben in Gott beruht die letzte, große Beftimmung 
der geiftigen Perfönlichfeit des Menfchen, Das Gegentheil, die Gottentfrembung, 
die Losfagung von dem Vater und Born des Lebens, ift der geiftige Tod, und 
wenn die Scheidung der Seele und des Leibes der erfte Tod ift, fo Heißt bie 
Scheidung der Seele von der Gemeinfhaft mit Gott, der das Leben der Seele 
ift, der „zweite Tod,“ Chriftus felbft, der gottmenfchliche Mittler zwifchen Gott 
und den Menfchen, nennt fi das „Leben“, indem er fagt: „Sch bin der Weg, 
die Wahrheit und das Leben.“ Er nämlich bahnt durch feine erlöfende und 
verfühnende Thätigfeit den Weg zu dem in feiner urfprünglichen Wahrheit er- 
neuten Leben, das in Folge des Sündenfalld zum Scheinleben herabfanf und der 
Tobesherrihaft anheimfiel, Diefe muß zuerft gebrochen und die Gemeinſchaft der 














Leben, 3 


Menſchheit mit Gott wieder Hergeftellt fein, ehe das neue Leben erblüßt, das 
göttliche Leben, das, fowie es der Erregung des uveuue @yıov, Felov feinen 
Urfprung verdankt, fo fih als ein Hep, 101070, sv bethatigt, in weldhem bie 
Berechtigung zum ewigen, feligen Leben, Son) aiwwıos oder Son fhlehthin, 
gl. Reitymayr, Commentar zum Römerbrief S. 260) Liegt. Rom. 5, 18. — 
Nachdem wir auf diefe Weife die allgemeinen Momente in dem Begriffe des 
Lebens, ihrem innern Zufammenhange nah, angedeutet haben, find wir in den 
Stand gefegt, auf die befonderen, eigenthümlihen Geſtalten und Au— 
fhauungen des menfchlichen Lebens einzugehen und fie eines Näheren zu be= 
leuchten und zu würdigen. Unfer Standpunct fann und wird bei diefer Detrad- 
tung fein anderer fein, als der Hriftlihde Glaubensftandpunct, in deſſen 
Licht das Leben allein feinen Sinn und feine Bedeutung aufjchließt. Bei den eben 
fo zahlreihen als dunkeln Raäthfeln, bei den mannigfachen, fir) verworren durch— 
freuzenden und fihreienden Gegenſätzen, wie fie unfer gegenwärtiges Erden- 
leben in ſich ſchließt, ift es nichts Leichtes, ſich zurecht zu finden und feine wahre, 
zur leichten, barmonifchen Einheit vermittelte Bedeutung zu erfennen und feft- 
zubalten. Nicht Wenige find an der jegigen Lebensgeftalt mit feinen Dunfelheiten, 
Härten und Diffonanzen irre geworden und damit am fich felbft und ihrer höheren 
Beſtimmung. Allerdings, die Klage über die Bergänglichfeit und Hinfälligfeit, 
die Eitelfeit und Nichtigkeit des menfchlichen Lebens ift fo alt als die Welt; und 
wo die Betrachtung ernfter und tiefer finnend weilt, da kann fie die Klagelaute 
nicht überhören, wie fie dur alle Kreife des Naturlebens, wo die gleichen auf- 
löfenden und vernichtenden Gewalten herrfhen, mit dumpfem Schmerze ertönen, 
Alles, was die lebende Natur aus ihrem Mutterfchooße mit berben Wehen gebiert, 
zerrinnt ihr wieder nah flühtigen Momenten in-ihren ängftlich pflegenden Liebes- 
armen und wird die traurige Beute des Todes, den Alles mit bangen Aengften 
flieht, und dem doch nichts zu entfliehen vermag. Daher „geht, wie der Dichter 
Gr. Schlegel) fingt, ein allgemeines Weinen, fo weit die ftillen Sterne ſchei— 
nen — durch alle Adern der Natur; es ringt und ſeufzt nach der Verklärung, 
entgegenfhmachtend der Gewährung, in Liebesangft die Ereatur.” Ueberaus fin- 
nig find diefe fhönen Worte, ein Wiederhall von Rom. 8, 19—22,, wo von dem 
tiefempfundenen Leiden und dem ängftlihen Sehnen und Darren der dem Lopfe 
der Verwefung unterworfenen Schöpfung die Rede ift, der jungfräulihen Mutter 
des göttlichen Welterlöfers, der neuen, göttlichen Lebensmutter, die zugleich die 
Mater dolorosa ift, in ven Mund gelegt. — Wenn nun jener die Natur wie die 


WMenſchheit durchdringende „Weltſchmerz“ uns innerhalb des ernften, unter harter 


Zudt gehaltenen ifraelitifchen Lebens begegnet, mag es uns nicht Wunder nehmen; 
defto mehr aber, wenn unter jenem Bolfe, defjen Leben im heiterſten Glanze 
ſtrahlt, jene Klage, weit entfernt, zum Schweigen gebracht zu fein, wo möglich 
noch lauter, tiefer und berber als im Koheleth hervorbricht und fich in den trüb— 
fien, verzweiflungsvollfien Worten Luft macht. Sp fagt Zeus bei Homer: 
„Denn fein anderes Wefen ift jammervoller auf Erden, 

2 Als der Menfh von Allem, was Leben haucht und ſich reget.“ . 
Daher denn Theognis in einem feiner Sprüche wohl fagen und klagen mochte: 
„Das Befte von Allem für den Sterblichen ift es, nicht geboren zu fein; wer 
aber geboren ift, für den ift das das Befte, fo bald als möglich in’s Schatten- 
reich Hinabzuwandern und tief zu ruhen in der Erde Schooß.“ — Schade indef 


nur, daß diefer Trofi dem Hellenen, bei feiner eigenthümlichen Anficht von dem 


Leben im Hades, nichts weniger als ein erfledlicher fein Fonnte. Will denn doc 
Homer's Achill „lieber ein Bettler unter den Lebendigen, als ein König unter 


den Schatten fein,“ Und derfelbe Dichter nennt den Aides den verhafteften 


unter den Göttern, und macht Fein Hehl daraus, daß Niemand mit Luft fterbe, 
Denn welhen pofitinen Troft ſoll der Hingang zur Todesruhe gewähren, wenn 


392 Leben, 


fie erfauft ift um den Preis des individuellen Selbſtbewußtſeins, das im Schat- 
tenreiche erlifcht und für immer untergeht? Nur in folhen Fällen, wo das Leben 
durch Unglück unerträglich, oder durch Schande werthlos geworden, "mochte der 
vernichtende Todeskelch minder haſſenswerth erfcheinen, fofern er doch negative 
Erlöfung bringt. (Bol. €. Fr. Näg els bach's Schrift: „pie homeriſche Theo— 
logie“, Nürnberg 1840. Abth. VIEL). Werfen wir nun, ehe wir in der Ausein- 
anderfegung der vorchriftlichen Lebenganficht weiter gehen, einen vergleichenden 
Blick auf das ifraelitifhe Bewußtfein, fo treffen wir Puncte innerhalb deffelben 
an, die ung das dießfeitige Leben in feinem freundlicheren, günftigeren Lichte, das 
jenfeitige Schattenleben aber jedenfalls in einer düftern, nichts weniger als fon- 
derlich einladenden Geftalt erfiheinen laſſen. Was jenes betrifft, fo greifen die 
altteftamentlihen Schriftfieller nach alfen möglichen Bildern und Tonarten, um 
feine Hinfälligfeit und Bergänglichfeit auszufprechen, Bald vergleichen fie des 
Menfchen Leben mit einer Blume des Feldes, die beim erſten Windhauch dahin⸗ 
welft (Pf. 102, [103], 14, 15. Job. 14, 2. Iſ. 40, 6, 7. Sir, 14, 18.), bald 
mit einem Schatten, der dahinſchwindet (Pf, 143, 4. 38, 7, 108, 23: Job 8, 9. 
1 Chron. 29, 15. Weish, 5, 9.), bald mit dem Rauche, der verweht (Pf, 101, 
4), mit dem Spinnengewebe, das wie Nichts Teicht zerreißt (Pf. 89, 9.), oder 
mit der fpurlog verfihwindenden Bahn eines bahingleitenden Schiffes, eines bie 
Luft durchfliegenden Vogels, oder eines nach dem Ziele abgefchoffenen Pfeiles 
(Weish. 5, 10—12.). Der Menfh — Staub und Aſche ift er (Pf, 102, 14. 
1 Mof, 18, 27. Sir, 10, 9. 17, 31.) , überaus kurz find feine Lebenstage (Job 
14, 1, 5. Sir. 18, 8.), vol Unruhe und Streit (Pf. 38, 7. Sir. 40, 6, Job 7, 
1), vol Mübhfeligfeit und Plage (Pred, 2, 23. Sir. 40, 1—2, Job 14, 1 
Im Hinblicke auf diefe Erfcheinungen, auf den unaufhörlihen Wandel und Wechfel 
alles Irdiſchen, auf das eben fo fruchtlofe als unermüdliche Drangen und Treiben 
des Menfchen fallt Roheletb das trübe Endurtheil: „Eitelfeit der Eitelfeiten, 
Altes ift eitel!“ und erklärt in Folge deffen den Tag des Todes für beſſer, als 
den Tag der Geburt (Pred. 7, 2.). So erfcheint das Leben in den altteflament- 
lichen Urkunden, und der Tod? — Kein Glücklicher wünfcht ihn, und nur dem 
Unglücklichen und Schwerbelafteten ift er eine erwünfchte Zufluchtftätte (Yob 7, 
15. Sir. 30, 17. 41, 3,4). Was den Scheol betrifft, fo ift er allerdings ein 
Drt der Ruhe (Job 3, 17—19,), aber immerhin eine finftere, jammer- und 
ſchreckenvolle Behaufung (Job 10, 21. 22, Pf. 87 [83], 13.)5 der Zuftand fei- 
ner Bewohner ift ein dumpfer Zuftand der Kraftlofigfeit und Schlaffheit, die fih 
nicht einmal mehr zum Gedanfen und Lobe Gottes zu erheben vermag CPI. 6, 6. 
87, 12. Iſ. 38, 18.), ein troftlofer Zuftand der Berlaffenheit und des Bergeffen- 
feins (Pf. 87, 13.). — Der durchgreifende Wendepunct in der altteftamentlichen 
Lebensanficht und Scheolslehre trat erſt mit der aufleuchtenden Sonne des Chriften- 
thums ein; einzelne Strahlen derfelben dämmern ſchon früher auf und zerfireuen 
mehr und mehr die den Scheol düfter umhüllenden Schatten, Das Bewußtfein, 
daß auch im Todtenreich der Allgegenwärtige waltet Pf. 138 [139], 8.), no 
mehr aber die Hoffnung auf den Fünftigen Erlöſer, den Meberwinder des Todes 
und den Befreier aus den Banden des Scheol (Dfee 13, 14, Zach. 9, 11. vol. 
Pſ. 40, 4. Job 19, 25—27, 14, 12%, Iſai. 26,14, 19, Weish, 1, 13.14.) 
gaben dem gläubigen Sfraeliten in fraglicher Hinficht einen Troft und eine Be— 
zuhigung, wie ihn der Heide nicht Fannte, Plutarch, einer der entfchiedenften 
Kämpfer gegen die troftfofe Vernichtungslehre feiner Volksgenoſſen, weiß zunächft 
die Schredfen des Hades nur durch den Gedanken zu befiegen, daß es doch beffer 
fei, traurig zu Ieben, als gar nicht zu eriftiren. „Wenn Epicur, fagt er (in 
feiner Schrift: Non posse suaviter vivi secundum Epicurum), ung durch Die Auf- 
Lofung in Atome von den Schrecken des Hades heilen will, fo muß er wiffen, daß 
eben unfere Natur dag am meiften fürchtet, aufgelöst zu werden. Ich glaube 














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Leben, 393 


daher, daß alle Menfhen, Männer und Weiber, Lieber werden wollen in den 
Tartarus fleigen und vom Eerberus fich beißen Laffen, als gänzlich vernichtet 
werden,“ Indeß glaubt er über diefe ganze, nur für gewöhnliche Menfchen be- 
rechnete Anſchauungsweiſe fich erheben zu follen, und erklärt von feinem gebilde- 
teren Standpunet aus, daß erſt nach dem Tode die Seele wahrhaft leben und 
wach fein werde, während fie jegt fih in einer Art von Traumzuftand befinde, 
Wenn wir aber in Betracht ziehen, daß Plutarch diefe fhöne Hoffnung nur auf 
ein Abftractum, wie da „die Wahrheit und das wahrhafte Sein“ ift, zu bauen 
weiß, jo dürfte fie wohl wieder fehr wanfend werben, „Wer — dieß find feine 
Worte — wer die Wahrheit liebt und das wahrhafte Sein, hat ſich bier auf 
diefer Erde noch nicht genug mit dem Anſchauen deffelben erfüllen fünnen, indem 
fein Geift trüb und feucht durch den Körper hindurch wie durch einen Nebel oder 
eine Wolfe blifen mußte, Ein folder Menſch kann feine Seele nur dadurch 
wohlgeordnet und von den irdifhen Dingen abgewendet machen, daß er der wah- 
ren Weisheit fih als Vorbereitung zum Tode bedient und dabei wie ein Vogel 
den Blick aufwärts richtet, um aus dem Körper heraus in die große und glän- 
zende Unermeßlichkeit fich zu fchwingen.” An ähnlichen, von einem tiefern Le— 
bensernfle zeugenden Stellen ift namentlich die fpätere griechifche Literatur nicht 
arm; aber fo lange in dem bellenifchen Bewußtfein Feine reinere, lebensvollere 
Gottesidee, als die eines Homer, aufgegangen war, konnte überhaupt an feine 
befriedigendere Lebensanficht gedacht werben, und nur in dem Maße, als jene 
ſich aufflärte, mochte diefe fittliher, Halt- und troftooller ſich geſtalten. Die 
Sonne unferes geiftig-fittlichen Lebens ift Gott; und alles kommt darauf an, wie 
fih der Menſch die Gottheit uud fein Verhältniß zu ihr denkt, welche Beichaffen- 
heit und Bedeutung diefes tieffte und eingreifendfte Verhältniß für ihn hat, Was 
diejenigen religiöfen Anfchauungen des Altertfums betrifft, welche Göttliches und 
Weltliches zu einer unperfönlichen Einheit verfchmelzen und Eines in dem Andern 
untergehen laffen, fo begreift ficy leicht, daß es innerhalb derfelben zu einem 
activen, lebendig freien religiöfen Verhältniß gar nicht fommen kann. Die andern 
Religionsſyſteme anlangend, die an der Perfönlichfeit des Göttlichen feftgalten, 
fo mag ung ein flüchtiger Blick auf das unftreitig durchgebildetfte Götterfyftem 
des alten Hellas belehren, wie ungünftig diefer außer dem Dffenbarungsfreife 


liegende Grund und Boden fei, darauf fein Lebensgebäude zu gründen. In Ho— 


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mer's ſchöner Götterwelt — wie troftlos, wie ohne allen fihern Halt, wie ohne 


alle freudige Zuverficht fteht der Menfch da! Seufzend und erliegend unter dem 
Joche der taufendfahen Mühfeligkeiten und Leiden, die fein natürliches Loos find, 
ſucht er vergebens bei den Unfterblichen Troft und Hilfe; ficher wenigftens kann 


er nicht darauf zählen. Denn wenn fie auch feiner achten und feiner fih an— 


nehmen, fo ift es nicht ein beiliger, gnädiger Wille, fondern Teidenfchaftliche 
Willfür, was fie dazu beftimmt und antreibt. Es pflegen aber die Götter mit 
neidifhem Auge auf des Sterblichen blühendes Glück zu ſchauen; und wenn fie 
ihre überlegene Macht nur dazu gebrauchten, den Glüdlichen von der Höhe feines 
Glanzes und feiner Herrlichkeit herabzuftürzen in die Abgründe des Elendes und 
Berderbens, fo wäre das noch ein Geringes; aber was follen wir dazu fagen, 
daß fie diefelbe auch dazu mißbrauden, ihm mit verführerifchem Reiz und arg- 
Kiftiger Bethörung zu Frevel und Sünde zu verloren, in der Abfiht, den Stachel 
ber Schuld in feine befleckte Bruft zu drüden und der llebel höchftes auf fein ver- 
haßtes Haupt zu Iaden? Und ihr weiteres Verhalten — in dem Göthe'ſchen 
Liede des Harfners ift e8 gefagt und geklagt: „Ihr Laßt den Armen fchuldig wer- 
ben, dann überlaßt ihr ihn der Pein; denn alle Schuld rächt fih auf Erden.“ 
Und mag er auch die fehmerzlichften Opfer bringen, feine Schuld zu fühnen; mag 
er auch Alles aufbieten, ſich die feindlichen Götter wieder in Gnaden gewogen 
gu machen: nie und nimmer kann er der Verfühnung gewiß, nie der erlangten 


394 Leben, 


Gnade ſicher fein; und fo brennt die Wunde in feiner Bruft fort mit ungeftilitem 
Schmerz; und fo muß der Unglüdliche, der es dadurch, daß Alles feine Nabe, 
als Die eines von der Hand des göttlihen Zornes Getroffenen flieht, doppelt wird, 
— biefer doppelt Unglüdlihe, fage ih, muß, in ſchrecklicher Gott- und Welt- 
verlaffenheit, Hilf- und troftlos zu Grunde geben, Do ein Troft iſt ihm doch 
noch geblieben: die Nefignation in den Schickſalsſchluß! Wie arm und Ieer aber 
diefer Troft iſt, begreift fich Teicht, wenn wir bedenken, daß das Fatum (ſ. dA), 
auf dem er beruht, blind, herzlos und unerbittlich ift, und die Nacht felbft, in 
deren finfterm Abgrund alle Elemente und Geſchicke des Lebens chaotiſch, ohne 
Plan und Negel, durcheinander gähren (ogl, Nägelsbach a. a, D, ©, 310— 
326. 306 f.). Wenn fih aus dem Gefagten die trogige Prometheusftimmung, 
wie fie ein berühmtes Gedicht Göthe's bezeichnet, unfchwer erklärt, fo wird noch 
leichter einzufehen fein, daß unmöglich der Menfch auf die Länge es in diefer 
troftlofen Dede aushalten Tann, daß er bei feiner unverläugbaren Hilfsbedürftig- 
feit einen erquicklicheren Standpunet fuhen muß. Daß diefer Schritt im griedhi- 
fhen Bewußtfein wirklih geſchehen ift, beweifen, um nur Eines anzuführen, die 
Spphocleifihen Tragddien, mit welchen die Ahnung einer höheren Lebensanficht 
durchbricht. Diefe hatte in dem tfraelitifchen Bewußtfein an dem Lichte der gött— 
lichen Dffenbarung bereits ihre erften hellftrahlenden Funken entzündet, als fie in 
und durch Chriſtus, den menfchgewordenen Logos, im vollſten Glanze aufleuchtete, 
um mit fiegreich umgeftaltender Macht das Antlig der Erde zu erneuern und ein 
höheres, göttlich verflärtes und verföhntes Dafein darauf zu begründen, - Der 
Gedanfe, daß Gott denen, die ihn Lieben, alle Dinge zum Beften gereichen läßt, 
der Gedanfe, daß eine Borfehung über ung wacht, die ung mit weifer, liebevoller 
Hand durch das Leben leitet, der Gedanfe, daß ein heiliger, gnädiger und erbar- 
mungsreicher Wille waltet, diefer licht- und troſtvolle Gedanke ift erft mit dem 
Siege des Hriftlihen Glaubens zum allgemeinen Bewußtfein gekommen; er war 
es, der der menfchlichen Bruft wieder neuen Lebensmuth einhauchte und Dem ent- 
waffneten Unglück feinen verwundendften Stachel nahm, Jener Wurm, den wir 
an der heiterften Lebensblüthe nagend fanden, der den Frieden in ber tiefften 
Bruſt zu zerftören wußte, — der Fuß des göttlichen Schlangentreters hat ihn 
zertreten, hat den alten Fluch aufgehoben und der mit Gott ausgeföhnten Welt 
den Frieden, die Freude eines guten Gewiffens, die Duelle aller Freuden, ge— 
ſchenkt. Unter dem fehöpferifchen Einfluffe des im Glauben an den göttlichen 
Welterlöfer begründeten neuen Lebensprincips hat das menfchliche Leben in feinen 


innerftien Wurzeln und Grundlagen eine Umgeftaltung erfahren, deren unaus- 


bfeiblihe, nächfte Wirkung eine neue Welt- und lebensanfhauung fein 
mußte. In Folge derer erfchienen dem erleuchteten Auge des Chriften alle Ber- 
bältniffe und Formen des menfhlichen Dafeins in einem andern Licht und er felbft 
in einem andern Verhältniffe zu ihnen, Mafgebend in Allem war ihm der gött- 
liche Wille; im Einflange mit diefem zu wirfen und zu handeln, war feine erfte 


und einzige Sorge. Sein Leben hatte in Gott den Schwer- und Mittelpunet, 


und in der hingebungsvollen Abhängigkeit von ihm die wahre Freiheit gefunden; 
daher mußte die Welt und das Leben fich unter feinen weihenden Händen umge- 
geftalten und verflären, zwar nicht mit einem Schlage, fondern in ruhiger, ftilfer 
Entwiclung, wie Alles, was von innen heraus, mit geiftiger Freiheit ſich ent: 
wickelt. Diefen Gang befolgte die Bildungsgefihichte des hriftliden Lebens 
und fo gelang eg ihm, troß der ungünftigften äußern Verhältniffe, ohne ſich dei 
geringften Verlegung der beftehenden Ordnungen und Einrichtungen der Gefell: 
ſchaft fhuldig zu machen, die „Seele der Welt“ zu werden, nach dem Ausdruck 
des DVerfaffers des Briefes an Diognet (f. d. A), der und von dem Leben de 
erften Chriften, aus dem bezeichneten Gefihtspunet, ein treffendes Gemälde ent 
wirft, aus dem wir einige charakteriftifhe Züge, zur Beleuchtung des Gefagten 


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Leben. 395 


hervorheben wollen: „Die Chriſten ſondern ſich weder durch ihren Wohnſitz, noch 


durch Sprache, noch durch bürgerliche Sitten von den übrigen Menſchen ab, Ob 
ſie gleich in den Städten der Griechen und Barbaren wohnen, wie es ſich gerade 
trifft, und in Nahrung, Kleidung und der übrigen Lebensweiſe den Landesſitten 
folgen, fo zeichnen fie ſich doch durch einen wunderbaren und allgemein auffallen- 
den Lebenswandel aus. Denn das eigene BVBaterland bewohnen fie, aber wie 
Fremdlinge; fie nehmen an Allem Theil, wie Bürger, und fie dulden Alles, wie 
Auswärtige, Ein jedes fremde Land iſt ihnen Vaterland, und jedes Vaterland 
wie ein fremdes Land, Gie befinden fih auf der Erde, aber ihr Leben iſt im 
Himmel. Sie geboren den beftehenden Gefegen, aber dur ihr Leben über- 
bieten fie die Gefege, Sie lieben Alle, und werden von Allen verfolgt; fie wer- 
den geſchmäht und fegnen, Mit einem Worte, was in dem Körper die Seele 
ift , das find in der Welt die Chriftenz fie wohnen in der Welt, fie find aber nicht 
von der Welt,” — Es kann nach dem bisher Erdrterten feine Schwierigfeit haben, 
den Werth und die wahre Bedeutung des menfhlichen Lebens zu beftimmen 
und näher feftzuftellen. Was nun zunächft das Leben in feiner zeitlichen Erſchei— 
nung betrifft, fo ift es nur ein Punet in unferer Gefammteriftenz, der darum 
feinen tieferen Werth nicht in fich felbft Hat, fondern nur in feinem organiſchen 
Zufammenhange mit dem Ganzen. Sp gewiß es aber ift, daß der Hauptſchau— 
platz des menfchlichen Gefammtlebens in das Jenſeits und in eine zufünftige Ent- 
wiclungsperivde, die in der hl. Schrift als neue Erde und neuer Himmel (Off. 
21, 1.), als Altoollendung (1 Cor. 15, 28.) bezeichnet wird, fällt, fo gewiß hat 
das gegenwärtige irdifhe Dafein nur eine vorbereitende Bedeutung; es ift die 
Zeit der Ausſaat auf den Tag der großen Ernte (Matth, 13, 24—30. Gal. 6, 
8. 9. 2 Cor. 9, 6.), der Tag des verbienftreichen Arbeitens im Weinberge des 
Herrn (Matth. 20, 1—16.), die Onadenfrift zum Wuchern mit den anvertrauten 
Talenten (Matth. 25, 14—30.), und zum Einfammeln unvergänglicher Lebens- 
ſchätze (Matth. 6, 20. Col. 3, 2.). Aber gerade gegen diefen Cardinalpunct der 
hriftlichen Lebensanficht haben befanntlih in unfern Tagen zahlreiche, mächtige 
Stimmen fi erhoben und ihn zu erfhüttern gefucht. Einer aus diefem Chorus 
Laßt fih mit vornehmer Miene alfo vernehmen (Strauß, Dogm. I. ©, 68.) 
„Diefe Erde ift Fein Jammerthal mehr, deffen Durchwanderung ihren Zweck außer 
fih in einem Ffünftigen himmlischen Dafein Hätte, fondern bier ſchon gilt es, den 
Schatz göttliher Lebenskraft zu heben, den jeder Augenblick des irdifchen Lebens 
in feinem Schooße beherbergt.” Dieß lautet denn doch gewiß recht fchön, und 
nichts in der Welt wäre vortreffliher, als fo ein goldener Meifterfpruch, wenn 
er zauberfräftig die Erde aus einem Jammer- und Thränenthale in ein Paradies 
umwandeln und fie zu diefem Endzweck von dem mühfeligen, langweiligen Kreis— 
lauf um die transcendentale Sonne entbinden fönnte, fo daß von nun an Mutter 
Erde fonverän, in fich felber ruhend und aus fich felber Leuchtend wäre. Bis zur 
Stunde aber haben alle, darunter ungleich ſtolzer Flingende Machtfprüche der 
modernen Dieffeitigfeitsphilofophie nicht verfangen, und wir zweifeln fehr, ob in 
den morgenrothen Kreifen, wo das neue Evangelium erflungen ift, auch nur eine 
Thräne weniger flo, oder eine mehr getrocfnet worden ift. Was das alte Evan- 
gelium betrifft, fo hat es fih eine viel befcheidenere, dafür aber deſto würdigere 
Aufgabe geſetzt. Die Boten deffelben machen gar feinen Anfpruch darauf, das 
Unmöglihe möglich machen und alle Leiden und Mühſale verbannen zu fönnen;z 
aber die Laft derfelben nach Möglichkeit zu erleichtern und zu verfüßen, Muth 
und Kraft zur Ertragung des Unvermeidlichen einzuflößen und zu verleihen, Leid 
in Freud zu verwandeln, den Schmerz zu. verflären und felbft dem Tode ‚feinen 
Stapel zu nehmen und ihn als Friedensengel erfcheinen zu Iaffen, — zu dem 
Allem befigen fie Mittel, die die Welt nicht Fennt, die aber ihre Probehaltigfeit 


dor aller Welt unwiderleglich erwiefen haben, Sie erachten es unter ihrer Würde, 


396 Reben, 


die Welt zu einen fybaritifchen Freudenmahl einzurichten und Mephiſto's Weis- 
heit zu predigen: „So lang man lebt, fei man lebendig“; fie öffnen aber bie 
Duelle des ewigen Lebens, und, indem fie das gegenwärtige Leben um feine ein- 
zige wahre und reine Freude ärmer machen, bereichern fie es mit taufend neuen, 
aus ber innern Geiftesfülle fließenden Freuden und Wonnen (Philipp. 4, 4, 1 Theff. 
2, 20. Rom, 14, 17. 15, 13, Gal. 5, 22.). Wenn fie hinausgehen auf alle 
Wege und im Namen Deffen, der da gerufen hat: „Rommet alle zu mir, bie ihr 
mühfelig und beladen feid, ich will euch erquicken!“ — alfe Irrenden zu fich ein- 
laden, fo thun fie e8 in der lebendigen, in der eigenen Erfahrung gegründeten 
Veberzeugung, die der hriftliche Sänger Novalis mit den begeifterten Worten 
ausfpricht: „Der Himmel ift bei ung auf Erden, im Glauben fohauen wir ihn 
an; die eines Glaubens mit und werden, auch denen ift er aufgethan.“ Ya, durch 


das Chriſtenthum ift der Himmel auf Erden! Hören wir den hl. Chryfofto-, 


mus hierüber CHom. Hebr. 16.): „Auch jest ſchon Fann Jeder, wer will, nicht 
länger auf der Erde leben, denn es hängt von der Gefinnung, von der Richtung 
des Willens ab, ob wir auf der Erde leben oder nicht. Ich meine es fo: man 
fagt: Gott ift im Himmel. Weßhalb dieß? Nicht als ob er an einem Drie ein- 
gefchloffen wäre und die Erde feiner Gegenwart ermangeln Tieße, fondern wegen 
feines Verhältniffes zu uns und feiner Verwandtfhaft mit den Engeln. Wenn 
alfo auch wir Gott nahe find, fo find wir im Himmel, Denn was fümmert mic 
der Himmel, wenn ich den Herrn des Himmels habe, wenn ich felbft zum Him— 
mel werde, Ich und mein Vater, fpricht der Herr (Joh, 14, 23), wir werben 
zu ihm fommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ — Der Chriſt macht aber da= 
durch feine Seele zum Himmel, daß er all’ fein Thun und Laffen, all’ fein Han- 
deln und Wandeln auf Gott, auf die Ehre Gottes bezieht (1 Cor. 10, 31.), den 
göttlichen Willen zu dem feinigen macht und ihm mit Freuden dient (1 Petr, 4, 
2. Eph. 5, 17, Mare, 14, 36. 1 Theff, 4, 3. Zac, A, 9. Pf. 99, 2.). In der 
durch den- Geift Chriſti geftifteten Gemeinfchaft des wiedergebornen Menfhen mit 
Gott wird er höherer, bimmlifcher Kräfte theilhaftig und tritt in eine über der 
Bergänglichfeit und Eitelfeit des natürlichen Dafeins ftehende, höhere Weltorbnung 
ein, wie fie aus ihren feimenden Anfängen in ftillem Wachsthume ihrer, der Zu— 
funft angehörigen vollendeten Entwicklung entgegenreift, mit ihren Erftlingen 
aber fihon der lebendigen Gegenwart angehört, Sp berührt in dem „neuen Leben” 
(Rom. 6, 4.) in Wahrheit ver Himmel die Erde, das Jenſeits ift ein Dießfeiti- 
ges, das Zufünftige ein Gegenwärtiges, das Göttliche ein Menſchgewordenes; 
feine Kluft befteht mehr und feine Scheidewand, die Schranken der Zeit und des 
Raumes find vor dem Auge des Glaubens, vor der Zuverficht der Hoffnung und 
dem allumfaffenden Herzen der Liebe gefallen: Altes ift in eine Tebendige, har— 
monifche Einheit des Wirfens und des Lebens aufgelöst und zu einer freudigen, 
befeligenden Wirkſamkeit entfaltet, um aufzubauen das Neid Gottes auf Erden, 
das legte und höchſte Ziel der Weltgefhichte. An diefem Bau aber kann man 


auf verfihiedene Weife fir) beteiligen: einig in dem Streben nad dem Einen 


Höchften, im Trachten nach dem Neiche Gottes und feiner Gerechtigkeit gehen 
Berfchiedene verfchievene Wege, je nach Verfchiedenheit der empfangenen Gaben 
und Fähigkeiten der Einzelnen, fowie der mannigfahen Bedürfniffe des Ganzen, 
Diefe Bemerfung führt ung zu der berühmten Eintheilung des Lebens in ein be— 
ſchauliches und thätiges Leben (vita contemplativa et activa), oder vielmehr 
zu dem Lehrpunet von dem hriftlichen Lebensheruf, was feinerfeits auf das 
zurückweist, was im Allgemeinen über Lebensberuf, über das Ständeleben und 
die entfprechenden Pflichten zu fagen iſt. Da ſowohl diefer Punet, als auch jener 
über die Grundverhältniffe des Einzel- und Gefellfhaftslebens in andern Artikeln 
(ſ. die Art. Beruf, Gefellfhaft, Familie, Ehe) ihre Erledigung finden, fo 
erübrigt nur die Erörterung der beiden zuerft erwähnten Gegenſtände. Was num 











Leben. 397 


den „ihriftlichen Lebensberuf” betrifft, fo Fönnen wir uns um fo fürzer faffen, als 
theils aus früher Erörtertem, theild aus dem, was über feine beiden Haupt- 
richtungen, das active und contemplative Leben, im Folgenden auseinanderzufegen 
ift, das nöthige Licht hierüber von felbft hervorgeht, Daß alle Chriften eine fitt- 
liche Aufgabe gemein haben, zu der die gleiche Verpflichtung für Jeden befteht, 
und worin diefes Gemeinfame und Allgemeine, die Subftanz der hriftlichen Berufs- 
und Lebenspflicht zu fuchen iſt, fpricht Nicolaus Cabafilas Cin feiner Schrift: 
Tleoi zis &v Aguoro Sons, IV. $ 7.) mit folgenden Worten aus: „Was allen 
von Chrifto Benannten gemeinfam zufommt, wie felbft der Name, was Alle gleicher- 
weiſe beifteuern müffen, über deffen Vernachläſſigung die darauf Verpflichteten Nichts 
entfchuldigen darf, nicht Alter und Befchäftigung, nicht Glücksumſtände, nicht Krank- 
heit noch Wohlbefinden, nicht ferner Aufenthalt und Einfamfeit, nicht Stadt- und 
Weltgeräufh noch etwas Anderes von dem Allen, worauf Getadelte fich zu berufen 
pflegen, da doch diefem Nichts im Wege ftehen fann, und es Allen möglich ift, — das 
befteht darin, daß fie nicht widerftreben dem Willen Ehrifti, fondern die von daher 
gegebenen Gefege bewahrend, ihr Leben nach feiner Weifung einrichten.” Dazu 
ermahnen denn auch die Apoftel die Chriften (Röm. 6, 13. Gal. 1, 10. 1 Joh. 
5, 3. 1 Petr, 4, 2,), auf daß fie würdig wandeln mögen des Berufes, wozu fie 
berufen find (Eph. 4, 1. 1 Cor. 7, 20. Ph. 1, 27. 2, 15. 16). Im Hinblid 
auf den unerläßlihen Kampf mit einer feindfelig gegenübertretenden Welt betrach- 


teten fi die erfien Chriften als Streiter Gottes und Chrifii (milites Dei et 


Christi) und ihren Beruf als geiftlihe NRitterfchaft (militia Christi), als Kampf 
gegen die Finfternig mit den Waffen des Lichtes (Rom, 13, 13.). Wird das 
durch das ganze Leben des Ehriften fich Hindurchziehende Bedürfniß fteter Herzens⸗ 
erneuerung und fortfchreitender Reinigung und Läuterung vornehmlich in's Auge 
gefaßt, fo können wir, mit den Vätern der Synode von Trient (Sess. XIV. de 
extrem. unction. praef.), das ganze hriftliche Leben eine fortwährende Buße (per- 
petua poenitentia) nennen, (Vgl. Neander, Denfwürdigfeiten aus der Geſch. d. 
Chriſtenth. Bd. I. Abth. I. ©. 56— 58,’ Pascal, Pensees XXVII, 49. Ed. Lyon. 
1831. p. 166.). — Gehen wir zu dem andern der in Rede ſtehenden Puncte fort, 
fo ift vor allen Dingen befannt, wie bereits Ariftoteles drei Hauptlebensarten unter= 
fheidet, das Genufleben, das contemplative und das bürgerliche Leben 
(Eihie. ad. Nicom. I, 13. X, 17.). Wa$ die erfigenannte, bloß auf Genuß und 
Vergnügen abzielende Lebensart betrifft, fo Tann unter ernfteren und edlern Ge— 
müthern fein Zweifel über ihre Gehaltlofigfeit und Berwerflichkeit fein. So fagt 
Kant (Kritik d. Urth. TH. I. $ 83. Anm. Gefammtausg. Bd. VIL ©, 316.): 
„Was das Leben für ung für einen Werth Habe, wenn diefer bloß nach dem ge- 
Ihägt wird, was man genießt, ift Leicht zu entfcheiden. Es finft unter Null; 
denn wer wollte wohl das Leben unter denfelben Bedingungen, oder auch nach 
einem neuen, felbft entworfenen Plane, der aber auch bloß auf Genuß ge- 
ftellt wäre, auf's Neue antreten?“ Wo möglich noch ſtärker fpricht fih Jacobi 
Cim Woldemar)) gegen das Genußſyſtem aus, indem er bemerkt: „Jeder Menſch 
fühlt unwiderftehlih, daß er nicht bloß um zu genießen da ift, und daß er in fi 
ſelbſt etwas werth fein müffe, wenn die Erde ſich nicht weigern ſoll, ihn 
zu tragen.” Während der Stagirite, wie von feinem fittlihen Ernfte zu er— 
warten ftebt, über die erfie der von ihm unterfchiedenen Lebensweifen den Stab 
bricht, weil fie des Menfhen, als eines vernunftbegabten Wefens, unwürdig ift, 
ſchwankt er, fo fheint es wenigftens, unentfchieden darüber, welcher der beiden 


andern die Palme gebühre. Je nach der Verſchiedenheit des Geſichtspunets von 
dem feine Betrachtung ausgeht, gibt er bald der einen, bald der andern den Vor— 


zug; im Ganzen genommen aber ift ihm doch das contemplative Leben das 
Höchfte. Während das active Leben auf den wollenden Kräften, den ethifchen 
Tugenden beruft, Hat das contemplative Leben in den höheren Erfenntnißfräften 


398 Leben. 


feinen Sig. Diefes ift in feiner Thätigfeit fich felbft genug und von Außern 
Gegenftänden ebenfo unabhängig, als jenes abhängig; die Contemplation ift der 
intenfioften und andauerndſten Thätigfeit fähig und genießt dabei der Ruhe, wäh- 
rend die Befchäftigung mit practifhen, äußern Dingen bald ermattet und vielfach 
mit Mühfeligfeiten und Unruhen verknüpft ıft. Wenn es nun in der menfchlichen 
"Natur nichts Edleres und Vortrefflicheres gibt, als den Geift und die geiftige 
Erfenntnif, und wenn Unabhängigkeit und Ruhe, fowie der intenfiv und ertenfiv 
höchſte Grad der intellectuellen Thätigkeit die Grundbedingungen der Glückſelig— 
feit ausmachen: fo kann e8 wohl, nad) dem Gefagten, Feine Frage mehr fein, daß 
die Lebensart, welche der. forfchende Weife, durch die äußern Umftände begünftigt, 
fi wählt, die würdigſte und wünfchenswerthefte iſt; mit einem Wort, das der 
Betrachtung und Erfenntniß gewidmete Leben erfcheint im Vergleich mit dem ge- 
wöhnlichen menfchlichen Leben als etwas Göttliches. Vgl, Cicero, de fin. 
V, 4. Diefe ihren Grundzügen nach entwicelte Anfhauungsweife des Ariftoteleg 
ift um fo bemerfenswerther, dä fie den gewichtoollen Beflimmungen eines Thomas 
son Aquin (Summ. theol. 2. 2. qu. 179—182) unverfennbar zur Grundlage 
dient. Jene erhält aber unter den Händen dieſes großen hriftlichen Denfers nicht 
bloß Hinfichtlich ihrer Innern geiftigen Momente, fondern auch in formeller Be- 
ziehung eine burchgebifvetere Geftalt. Den beiden Orundfräften des menfchlichen 
Geiftes, der Erfenntniß- und Thatkraft, entfprechen die zwei Hauptrichtungen der 
menfhlichen Lebensweife. Während eine Elaffe von Menfchen fich vorzüglich. der 
Erfenntniß und der Betrachtung der Wahrheit weiht, übt die andere mehr eine 
äußere, practifche Thätigfeit aus. Das befhauliche Leben, fofern fein Wefen in 
der Betrachtung der Wahrheit befteht, ift Sache des Verftandes (intellectus). Da 
aber ver Wille es ift, der vermittelft der Liebe zur Sache und zur Erfenntnif 
den Verftand in Bewegung fest, fo ift auch er bei der Befchaulichkeit betheiligt. 
Das gilt auch, aus einem ähnlichen Grunde, von den moralifchen Tugenden; fie 
wirfen disponirend auf diefelbe ein, indem fie ihr dadurch, daß fie die innern 
und Außern Störungen, befonders die durch die Heftigkeit der auf's Sinnliche 
gerichteten Leidenfchaften erregten, befeitigt, die erforderliche Ruhe und Stille zu 
verfihaffen wiffen. Der Eine höchfte Grundact der in Nede flehenden Lebensweife 
ift die Eontemplation (die intelleetuelfe Anſchauung), zu deren Gipfel eine Reihe 
verfchiedener Geiftesthätigfeiten hinanführt; unter biefen zahlt Hören, Lefen, 
Beten, Nachdenken, Betrachten, Denfen u, ſ. w. Den erften und vorzüglichften 
Gegenftand der Contemplation bildet Gott und die göttliche Wahrheit; doch find 
andere Gegenftände und Wahrheiten nicht ausgefhloffen, fofern ihnen eine dis— 
ponirende Beziehung zukommt, wie dieß bei der Betrachtung der göttlichen Werfe 
der Fall ift, in deren Spiegel wir die Eigenfchaften und Vollfommenheiten ihres 
Urhebers fchauen und erfennen, Die Contemplation des Göttlihen iſt das Ziel 


und die Beftimmung des ganzen menfhlihen Weſens, erreicht aber erft im fünf- 7 
tigen Leben ihre vollfommene Entwicklung. In ihr fließt die Duelle des feligften 
Genuffes für ven Menfchen. Hat diefer von Natur aus Freude an der Wahrheit, 
fo muß feine Freude in demfelben Grade wachfen, als die Fertigkeit, fie zu er- 


fennen, mit der fortgefegten Contemplation wächst, Dazu kommt, daß fie einen 


geliebten Gegenftand anfchauen Yäßt, und zwar feinen geringern, als Gott felbfl, 


deffen Liebe jede andere Liebe überfteigt. Die Contemplation ift die auch jenfeitg, 
im Rreife der Seligen, fortvauernde Lebensform des Geiftes, wogegen das active 
Leben mit feinen äußerlichen Befchäftigungen drüben aufhört oder nur den Zwecken 
der erfteren dient, Was ihr gegenfeitiges Werthverhältniß betrifft, fo ift erfilich 
das contemplative Leben an fich Csimpliciter) beffer, obgleich nach der Beſchaffen- 
heit der eigenthümlichen Bedürfniffe des gegenwärtigen Dafeins (praesenlis necessi- 
tatis) das active Leben eher zu wählen. ift. Zweitens iſt e8 verbienftlicher, 


weil es in feiner direeten, unmittelbaren Beziehung auf die Liebe Gottes geht, 











ae ee 








Beben | 399 


während das active Leben direct auf die Liebe des Nächſten gerichtet if. Den 
fördernden und vermittelnden Einfluß, den die beiden Lebensweifen auf einander 
gegenfeitig ausüben, deutet Thomas (a. a. O. qu. 132. art. 3.) bloß in Einer 
Hinfiht anz Iſidor von Hifpalis bemerkt Cin feiner Sentenzenfammlung 
II, 15. vgl. de different. spirit. II, 29.) hierüber, wie über ihr Sonderverhält- 
niß unter Anderm Folgendes: „Das active Leben befchäftigt fih mit der Uebung 
guter Werke, das contemplative ift ganz in die Liebe Gottes verfenft; jenes übt 
die Liebespflichten, diefes fchaut die unwandelbare Wahrheit an; das erftere ift 
des Weges Anfang, das Iegtere die Erreichung des Ziels. Wer in die Ruhe 
der Contemplation eingehen will, muß der Uebung guter Werfe fich befleißen und 
fein Herz reinigen, um Gott fohauen zu können. Jene leiftet auf die Welt Ver— 
zicht und freut fih Gott allein zu leben, diefe weiß die weltlichen Dinge gut zu 
gebrauchen, Man kann nur durch das active Leben zur Contemplation gelangen, 
jenes ſchärft ven Blick zu diefer, Gleichwie der Adler fein Auge unverrüdt auf 
die Sonne heftet, und daffelbe nur dann wegwendet, wenn ihn nach Speife ver- 
langt: fo kehren die Heiligen zuweilen ihren Blief von der Contemplation zum 
thätigen Leben; jene betrachten fie als das Höchfte, dieſes als etwas Niedereg, 
was aber für unfere Bedürfniffe nothwendig iſt.“ Diefe zeitweilige Abwechfelung 
der ceontemplativen Lebensweife mit der activen und umgefehrt, die Iſidor im 
Auge hat, finden wir bei den gefeiertften Namen der chriftlichen Gefchichte. Der 
HL. Auguftin, fo fehr er auch von dem höhern Werth der Eontemplation über- 
zeugt war, trat gleiiywohl vor der Laft des thätigen Lebens nicht zurück, indem 
er das DOberhirtenamt übernahm; aber er wußte mit den Gefchäften deffelben die 
Muße des befhaulichen Lebens zu verbinden; er hielt die Einkehr in ihren flilfen 
Srieden hin und wieder für ein Bedürfniß, um unter den vielfach laſtenden Ge— 
ſchäften feines Amtes nicht zu unterliegen und fich felbft zu verlieren. In gleicher 
Weife fehen wir den HL Bernhard von Elairvaur abwechfelnd aus feiner 
einfamen Zelle in das Geräufch der Welt hervortreten, um ihre Händel zu fchlich- 
ten und ihre Angelegenheiten zu ordnen; nah vollbrachtem Tagewerk fehrt er 
wieder in die ftille Einfamfeit zurüd. Und fo haben viele andere Heilige bald 
die Rolle der gefhäftigen, irdifch thätigen Martha, bald die der fill zu den 
Füßen des Herrn figenden Maria übernommen, je. nachdem der Winf von Oben 
und die Noth der Zeiten ihnen gebot. — Hat im Bisherigen der Baum des 
irdifchen Lebens fih in einer reichen, mannigfaltigen Formenfülle von Blättern 
und Blüthen, von Aeften und Zweigen vor unfern betrachtenden Blicken entfaltet, 
fo ift es nun an der Zeit, auch feiner verborgenen, den Eriftenzgrund in ſich 
fließenden Wurzel einige Anfmerkfamfeit zu fohenfen, Mit der Lebenseriftenz 
fallt Alles weg, was aus ihr und vermittelft ihrer ſich entwickeln ſoll; fie ift die 
Bedingung und das Werkzeug der fittlich geiftigen Ausbildung, fie das Aderfeld 
für die Ausfaat der Ewigfeitz fie ift ein Gefchenf und eine Gabe des Himmels, 
Unter folhen Umftänden Fann die Pflicht der Lebenserbaltung nicht in Zweifel 
gezogen werden. Die Dauer des Lebens kann verfürzt und fie kann verlängert 
werben, Der Menſch Hat die Pflicht, fein Leben fo lange zu erhalten, als er 
Tann, und es ift ihm verboten, fein Leben abfichtlich zu verfürzen und ihm will- 
fürlih eine Grenze zu fegen, wie dieß namentlih beim Selbftmord geſchieht 
Ci. über „Selbftmord“ den Art, Mord). Unter die rechtmäßigen und zugleich 
fittlih mehr oder minder in fi werthvollen Mittel, die Pflicht der Selbfter- 
haltung zu erfüllen und das Leben zu verlängern, zählt die HI, Schrift die Mäßig- 
feit (Sir. 37, 34,), den Frobfinn (Sir. 30, 23. Sprüchw. 17, 22.), die Recht- 


ſchaffenheit (Sprüdw. 16, 31. 11, 19.), die Weisheit (Sprüdw. 3, 16. 9, 11.), 


Pietät gegen die Eltern (2 Mof. 20, 12. 5 Mof. 5, 16. Matth, 15, 4. Eph. 
6, 2.) und die Gottesfurcht (Sprüchw. 3, 1.2. 10, 27. 3 Kon. 3, 14. Jerem, 
21, 8.)5 auf der andern Seite ftellt fie Unmäßigfeit (Sir. 37, 34), Geſchlechts- 


400 Lebensbaum — Lebrija. 


ausfhweifung (Sprüd. 5, 3—11. 6, 26—35. Sir, 19, 3, 4, 1 Cor, 6, 18,), 
Gottloſigkeit (Sprüchw. 10, 27.) und heftige Affeete (Job. 5, 2. Pf. 30 [31], 
10, 11. Sir. 30, 26. 38, 19.) als Dinge dar, die das Leben verfürzen und feine 
frifche Kraft und Blüthe untergraben, Daß das Leben ein der Erhaltung werthes 
Gut ift, Teuchtet auch daraus ein, daß für die Erhaltung des Lebens Gott Dank 
dargebracht wird, wie Pf. 114 (116), 3. 4, 8. 9, Pf. 117 (118), 18. If. 38, 
9— 20, Indeß wird der Chrift bei der Sorge für fein Leben von Aengftlichkeit 
oder Todesfurcht um fo freier fein, je tiefer und lebendiger er davon überzeugt 
ift, daß fein Leben in Gottes Hand flieht, und daß er lebend vder flerbend dem 
Herrn angehört. „Denn Reiner von ung, wie der Apoſtel fagt (Röm. 14, 7. 8.), 
Yebt fich felber, und Keiner ſtirbt fich felber. Leben wir, fo leben wir dem Herrnz 
fterben wir, fo fterben wir dem Herrn; wir mögen alfo leben ober fterben, wir 
gehören dem Herrn an.“ Den Werth des Lebens mißt der Chrift nach der Be— 
ziehung zu den Zweden feines göttlichen Berufes, welcher Fein anderer ift, als 
die Verherrlihung Gottes und Chrifti, die Förderung des göttlichen Neiches. Ob 
er biefem diene durch fein Leben oder durch feinen Tod: gleichviel, zu Allem iſt 
er bereit; überall hin folgt er dem Rufe des Herrn, Iſt für denjenigen, ber in 
und für Chriftus lebt (Gal. 2, 20. Col, 3, 3. 4.), das Sterben auch Gewinn, 
da es der Mebergang zur vollfommenen, feligen Bereinigung mit dem Geliebten 
ift: fo wird er doch, wie und das Beifpiel eines Paulus (Phil. 1, 20— 26.) 
zeigt, das Leben vorziehen, wenn es für die Zwede der Heilsförberung, für dem 
Dienft des Neiches Chrifti zuträglicher erfheint, Wo aber“ diefelben Rüdfichten 
verlangen, fich einer Todesgefahr auszufegen, die Gefundheit, das Leben auf- 
zuopfern, da wird der Chrift mit Freuden bereit fein, und Treue bewahren fei- 
nem Herrn um jeden Preis, bis in den Tod (Apg. 21, 13.). Das Leben, fofern 
es nur durch Pflichtverlegung gerettet werben kann, verliert in feinen Augen 
Werth und Bedeutung; diefen fichert er ihm aber gerade dadurch, daß er daſſelbe 
auf dem Altar der heiligen Pflicht zum Opfer bringt, nach dem Wort des gött- 
lichen Heilandes: „Wer fein Leben retten will, der wird es verlieren; aber wer 
fein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten.” Luc, 9, 24. 17, 33, 
Matth. 10, 39. Mare. 8, 35, Joh. 12, 25. vgl, Mare, 8, 36. 37. Matth. 10, 
28. In die Fußftapfen Deffen eintretend, der fein Leben geopfert für die Gei- 
nigen (Joh. 10, 12—15. 15, 13), opfert au der Chrift fein Leben für feine 
Brüder (1 Job. 3, 16, Ang. 20, 24.). Und von eben diefer in dem Opfertode 
Chrifti bewährten Liebe Gottes zu und zur innigften Gegenliebe entflammt, iſt 
er fiarf genug, das Aeußerfte zu tragen und zu erdulden, In biefem Gefühle 
ruft der Apoftel: „Wer wird ung ſcheiden von der Liebe Chrifti? Trübfal? oder 
Angft ? oder Hunger? oder Blöße? oder Gefahr ? oder Verfolgung? oder Schwert? 
Wie gefehrieben fteht: Um deinetwilfen werben wir getöbtet den ganzen Tag, 
werben geachtet wie Schlachtfehafe. Aber in diefem Allem überwinden wir um 


desjenigen willen, der ung geliebt hat.” Nom. 8, 35—37. vgl. 38. 39. Beis 


fpiele aufopfernder Gpttesfurcht enthält auch das A. T. Dan. 3, 18. 6,14. 2 Mace. 
6,1731. Zur Literatur: Fr. Schlegel, Philofophie des Lebens, Wien 1827, 
% ©. Fichte, Anweifung zum feligen Leben. Berlin 1806, [Fuchs.) 

Lebensbaum, ſ. Baum des Lebens. 

Lebensberuf, ſ. Beruf und Leben, 

Lebrija, Aelius Antonius von, wurde, wie fein neuefter Biograph Munoz 
zeigt, im J. 1442, nicht erft 1444, wie man gewöhnlich angibt, aus einer abe- 
ligen mittelmäßig begüterten Familie des Städtchens Lebrija (lat. Nebrissa) in 
Spanien geboren. Nachdem er fünf Jahre lang in Salamanca ftudirt hatte, be= 
gab er fich namentlich der claffifhen Studien halber nach Italien, befuchte bie 
berühmteften Schulen diefes Landes, und erwarb fich in einem zehnjährigen Aufent- 
halte eine feltene Kenntniß der elaffifchen Literatur und der hebräiſchen Sprache 


RR ET u = 





Lebuin. 401 


YUm’s 3, 1470 in fein Vaterland zurücgefehrt, ward er zuerfi Hofmeifter eines 
Neffen des Erzbiſchofs von Sevilla, und erhielt nach deſſen Tod im 5. 1473 eine 
Lehrſtelle für Inteinifche Literatur am Collegium zum HI. Michael zu Sevilla, 
Sein Wunſch war aber auf einen Lehrſtuhl in Salamanca gerichtet, den er au 
zur Zeit der Thronbefteigung Iſabellas der Katholiſchen erlangte und mit großer 
Wirkung zur Vertilgung der Barbarei Cim philologifhen Sinne) inne hatte, Er 
befiegte fie durch feine humaniſtiſchen Borlefungen ze, fo fohnell, dag man auf ihn 
Eäfars befannte Worte anwendete: veni, vidi, vie. Hier veröffentlichte er 1481 
feine Methode des Iateinifchen Unterrichts unter dem Titel: introductiones latinae, 
welche fehr großen Anklang fanden und öfter aufgelegt wurden, Sehr großen Bei— 
fall fanden auch feine eregetifchen und Fritifchen Borlefungen über die Iateinifhem 
Dichter, namentlich Virgil, Terenz und Perfins, fo wie feine Vorträge über die 
chriſtlich en lateiniſchen Dichter, die er der Reihe nach erklärte, und zu einigem 
felbft Commentare herausgab, Hier in Salamanca war es, wo er fih mit Doña 
Iſabel Solis verehelichte, und mit ihr Söhne zeugte, welche dem Vater in der 
Liebe zu den Studien nachfolgten. Um fich ganz der Abfaffung eines großen Iatei- 
nifchen Lexicons widmen zu fönnen, Iegte er um's 3. 1488 feine öffentliche Lehrſtelle 
nieder und lebte in Muße bei dem Grogmeifter des Alcantara-Drdens (ſ. d. A.), dem 
nahmaligen Cardinale Zuniga, nach deffen Tod er die Erziehung des ſpaniſchen 
Erbprinzen Juan übernahm und Neihshiftoriograph unter Ferdinand und Iſabella 
wurde, Nachdem letztere geftorben, kehrte Lebrija 1505 in die Profeffur zu Sala- 
manca zurüf, aber im 5. 1508 gewann ihn der berühmte Cardinal Kimenez 
(f. d. 9.) für feine neue Hochſchule zu Alcala (Complutum), fo wie für die große 
Polyglottenbibel (ſ. d. A.). Wohl verließ Lebrija nach einiger Zeit auch dieſe 
neue Stellung wieder, um nach Salamanca zurüdzufehren, da er aber bei feiner 
Bewerbung um den dort erledigten erften Lehrfiuhl der Humanitätswiffenfchaften 
durch Chicanen der Studirenden unglüflih war und gegen einen minder Tüch— 
tigen zurücfgefegt wurde, fo ſchloß er fih 1513 wieder an Kimenes an, und blieb 
jest zu Alcala bis an feinen Tod 1522, Er wurde von Ximenes fürftlich belohnt 
und freundlich behandelt. Dft ging der große Cardinal an feiner Wohnung vor— 
über und befprach fih durch's Fenfter Hinein mit dem gelehrten Manne, bald 
über Puncte, die ihm beim Lefen aufgeftoßen, bald über Angelegenheiten der 
Univerfität. Ximenes befchügte ihn auch gegen Verfolgungen von Seite der In— 
quifition. Die Dffenbeit, womit Lebrija in feinen Fritifhen Bemerfungen über 
einzelne Stelfen der HI. Schrift Heberfegungsfehler der Bulgata aufdeckte, 305 
ihm von mehreren Theologen heftige Vorwürfe der Vermeffenheit zu, und der 
zweite Großinquiſitor Deza verbot die zwei erſten Quinquagenen der biblifchen 
Unterfuhungen Lebrija’s. Die Folge war, daß Lebrija andere Werfe, die er aus— 
gearbeitet Hatte, nicht eher veröffentlichte, als bi8 Rimenes die Großinquifitorftelle 
erhielt. Uebrigens ift es unrihtig, was Llorente erzählt, daß Lebrija eigentliche 
Mißhandlungen von Deza erfahren Habe. Nah dem Urtheile des fpanifchen 
Schriftſtellers Gomez verdanfte Spanien dem Lebrija faft alles, was es am _ 
elaffifcher Bildung befaß, und noch jetzt find feine zwei Decaden über die Negie- 
zung Ferdinand’s und Iſabella's eine höchſt ſchätzbare Duelle für die Geſchichte 
- jener Zeit. Vgl. über ifn: Antonii, Biblioth. hispana T. I. p. 104—109. Cave, 
hist. lit. Appendix p. 137. ed. Genev. 1705. Du-Pin, nouv. Bibl. T. XIV.p. 
- 120—123.; dann die neuefte Biographie Lebrija’s von Juan Bautiſta Munog 
in den Memorias de la real Academia de la historia T. III. Madrid 1799. p. 2 sqq. 
Auch Habe ih von dieſem Manne mehrmals geſprochen in meiner Schrift über 
den Cardinal Zimenes, S. 116 f. 124. 379. 458, --  [Hefele.] 
2ebuin (Liafwin), der heilige, Miffionär bei den Friefen und 
Sahfen, ein Angelfachfe, Fam nicht gar lange vor dem Anfange der fähfifchen 
Kriege Carls des Großen von England herüber nach dem Enntinent und erbat 
irchenlexikon. 6. Br. 26 


402 Lebuin 


fi von Gregor von Utrecht (ſ. d. A) die Miffion an der Yfel, wozu ihn Gott 


berufen habe; es wat das Grenzland der falifchen Franken und der benachbarten 
Weftphalen. Als Genoffen der apoflolifchen Arbeit gefellte ihm Gregor den Angel- 
fahfen Marhelm (Marcellin, unter deffen Namen ein Betrüger bie Bip- 
graphie des HI. Suiberts herausgegeben bat, ſ. Bolland. ad 1. Martii in vit. 8. 
Suiberti, au Binterim, Denkw, V. Rettberg, Kgſch. IL. 396) bei. Angelangt 
auf dem Schauplas ihrer Miffion fanden Lebuin und Marcellin bei einer Wittwe 
Abachilda eine gute Aufnahme, predigten ohne Furcht vor der Wildheit der Be- 
wohner und befehrten mehrere von ihnen, auf deren Roften ein Feines Oratorium 
zu Wulpen am weftlichen Ufer der Yifel erbaut wurde, Da die Zahl der Gläu- 
bigen zunahm, erbauten biefe bald darauf am öſtlichen Ufer zu Deventer eine 
größere Kirche und darneben eine Wohnung für Lebuin. Während indeß vie 
Predigt des Evangeliums gute Fortſchritte machte und felbft die Vornehmen den 
gelehrten und liebenswürdigen Prediger fehr Tieb gewannen, fehlte es auch nicht 
an Gegnern, welche die von Lebuin bewirkten Befehrungen deffen Zauberfünften 
zufchrieben, und im Bunde mit eingefallenen räuberifchen und chriftenfeindfichen 
Sachſen verbrannten fie die Kirche zu Deventer und verfagten die Ehriften. Lebuin 
rettete fih und befchloß, nun gerade erſt recht der Gefahr entgegen zu gehen und 
ſich nah Marklo zur fachlichen Volksverſammlung zu begeben. Die Sachſen 
(erzählt Lebuin’s Biograph) haben Feinen König über ſich, fondern find in bie 
drei Stände der Edlinge, Frilinge und Laffi getheilt; nach Gefallen wählt fich 
jeder Gau feinen Gaugrafen; alljährlich zur beftimmten Zeit halten fie zu Marklo 
an der Wefer eine allgemeine Berfammlung, wozu aus jedem Gau und aus jedem 
der drei Stände zwölf Männer erfcheinen und worin über Krieg und Frieden und 
alle wichtigen Angelegenheiten Befchlüffe gefaßt werben. Lebuin wußte, daß in 
Bälde eine ſolche Verſammlung flattfinden werde, wandte ſich mehr nördlich in's 
Sadfenland an die Wefer und fand gaftliche Aufnahme bei einem reichen und 
angefehenen Manne, Folkbert mit Namen, der, wie es ſcheint, ein Chrift war 
und ihn dringend bat, von feinem Vorhaben abzuftehen und ſich bis nach geendig- 
ter Volfsverfammlung bei feinem mehr der Grenze zu wohnenden Freunde Davo 
zu verbergen, Dennoch erfihien Lebuin auf der Verfammlung zu Marklo. Als 
er bier fah, wie „omnis concionis illius multitudo ex diversis partibus coacta primo 
suorum proavorum servare contendit instituta, numinibus  videlicet suis vota sol- 
vens ac sacrificia®, trat er, angethan mit dem Prieftergewand, in einer Hand 
Das Zeichen des Kreuzes und unter dem Arme das Evangelienbuch tragend, in die 
Mitte der Berfammlung vor und verfündete kühn und mit erhobener Stimme, 
fich für den Gefandten des wahren Gottes erflärend, den Einen wahren Gptt 
und Schöpfer aller Dinge, zu dem fie fich mit Verlaffung der eitlen Götzen bekehren 
müßten, „wenn ihr aber — fo ſchloß er — hartnädig in eurem Irrthume ver- 
harret, fo werdet ihr es bald fehwer zu büßen haben, denn in Fürzefter Frift 
wird ein tapferer, Eluger und firenger König aus der Nähe wie ein reißenber 


Strom über euch hereinftürzen, Alles mit Feuer und Schwert zerflören, Noth und —4 


Exilirung über euch bringen, eure Weiber und Kinder zur Knechtſchaft vertheilen 
und den Ueberreſt von euch feiner Herrſchaft unterjochen.“ Wüthend über dieſe 
Rede, fihrieen die verfammelten Sachſen zufammen: „Seht den Verführer, den 
Feind unferer Religion und unfers Vaterlandes, er fol feinen Frevel mit feinem 
Blute bezahlen” und fanden: ſchon in Begriff, mit zugefpisten Pfählen ihn zw 
tödten, wenn dieß nicht Einige verhindert hätten, unter welchen fih beſonders 
Buto hervorthat, der: vom einer Anhöhe herab ſprach: „Dft ſchon kamen Ge- 
fandte der Normannen, Slaven und Friefen zu ung und wir haben: fie friedlich 
and ehrenvoll entlaffen, dagegen haben wir biefen Geſandten des höchften Gottes 
verachtet und mit dem Tode bedroht. Daß fein Gott mächtig fei, bat er gezeigt, 
ändem er ihn ber Todesgefahr fo wunderbar entriffen bat, und daher wirb auch 














Lebus) av 403 


wohl bald die Weiffagung diefes Gefandten feines Gottes in Erfüllung geben”; 
Lebuin Fehrte nun wieder nach Friesland zurüf, erbaute die abgebrannte Kirche 
zu Deventer new und fand Hier auch feine Ruheſtätte. Im J. 776 war er ſchon 
todf, denn da in diefem Jahre die Sachſen einen neuen Einfall machten und die 
Kirche zu Deventer abermals niederbrannten, ſuchten fie drei Tage lang ver= 
gebens um Lebuin's Gebeine. Erft Ludger (f. d. A.) baute die Kirche wieder 
anf und entdeckte den HI. Leib. Die, wie man fieht, fo merfwürdige vita s. Lebuini, 
gefchrieben von dem Mönche Huchald (f.d. 4.) hat zuerſt Surius VI, 277—256, 
und dann Perg mit einigen Weglaffungen herausgegeben (Pers, Script. II. 360 
364); fiehe ferner Perg ibid. p. 4085 NRettberg, Kgſch. Teutſchl. I. 405. 
536, — Mit Lebnin iſt nicht zu verwechfeln Livin, der heilige, welcher um 
die Mitte des fiebenten Jahrhunderts den Heiden in Brabant das Evangeliunt 
predigte. Geboren in Irland, foll er von St. Auguftin, dem Apoftel der Angel- 
ſachſen, als Kind getauft und fpäter auch zum Priefter oder Bifchof geweiht wor= 
den fein, was jedoch bei dem nur zwölfjährigen Aufenthalt Auguftin’s in Bri— 
tannien eine falſche Angabe if. Nachdem Livin, wie der Biograph angibt, einige 
Zeit einem Erzbisthum in Irland vorgeftanden, faßte er den Entſchluß, auf Mif- 
fionsreifen zu gehen, beftellte einen Vicar für die Erzfirhe und traf furze Zeit 
nach dem Tode St. Bavo's im Klofter zu Gent ein, vem damals St, Flore— 
bert (+ 660) als Abt vorftand. Hier hielt er fih 30 Tage auf und zog dann, 
som Klofter mit dem Nöthigen unterflügt, in die Gegend von Hauthem, einem 
Dorfe drei Meilen von Gent, wo er mit Erfolg Heiden und Chriften predigte, 
öfter in Todesgefahr geriet und zulegt um 659 von den heidnifchen Gegnern 
getödtet wurde, Iſt die poetifche Eyiftel und die damit verbundene Grabſchrift 
auf den HI. Bavo, welche den Namen Living tragen (bei Uffer epist. Hib. sylloge 
und in Mabill. Act. Ord. S. B. II. 404 abgedrudt), ächt, was freilich der oft hyper— 
itiſche Rettberg in feiner Kirchengeſch. Teutfchlands II. 510 bezweifelt, fo muß man 
ſich von der Bildung Living und feinem Dichtertalent eine Hohe Vorftellung machen. 
Ueber Livins Biographie (Mabill. Act. I. 449 etc.), welche bis zu deſſen Ankunft 
auf dem Continent ziemlich fabelhaft ift und einen Angelfachfen oder Jrländer 
wegen ber vorfommenden Berflöße gegen die englifche und irifche Rirchengefch, nicht 
zum Berfaffer haben kaun, daher auch nicht den HI. Bonifaz, Apoftel der Teutfchen, 
f. befonders Seiters Bonifacius ©. 566 und Rettberg 1. cit. [Schröpl.] 
Lebus, einft eine anfehnlihe Stadt Brandenburgs, in der Mittelmarf ge- 
legen, jest ein armfeliges Fifcherftädtchen von kaum 2000 Seelen. Keine Spur 
mehr vom feiner Bedeutung als Bisthum. Seine Stiftung foll in das Jahr 965 
fallen und wird dem Polenkönig Miecislav zugefchrieben, wenigftens ift fo viel 
gewiß, daß die Piaften fih dur Errichtung von Bisthümern rühmlich auszeich- 
neten. Der erſte Bifchof foll Hiacynth geheißen und bis auf den legten, Zohan 
nes VI. von Harneburg (1555) 29 Nachfolger ununterbrochen gehabt haben, 
Nach der Mitte des 14, Jahrhunderts, ungefähr um 1365, verlegte der 13. Bifchof 
Heinrih von Banz den Sig des Bisthums nach Lebus, da aber unter Raifer 
Earl IV. die Domkirche dafelbft zerftört ward, verlegte Banz's Nachfolger, Peter 
von Opeln, den Sit nach Fürftenwalde, wohin nach 1382 auch das Stift felber 
- folgte. Im J. 1432 wurde Fürftenwalde und Lebus von den Hufiten eingeäfcherk, - 
Die Domkirche in Fürftenwalde ward unter Bifchof Johann VII. von Dehr (geft. 1455) 
wieder hergeftellt. — Alle Stürme roher Zeiten fonnten das alte Bisthum nur 
erfhüttern, wobei e8 ftets und ſchnell wieder aufblühte. Den Todesſtoß Fonnte 
ihm auf die gewaltfamfte Weife nur die fogenannte Reformation des 16ten Jahr» 
hunderts geben, die nirgends eine Töbliche, in Brandenburg aber (f. d. A.) eine 
beſonders widrige Rolle fpielte. Am Tängften war das Bisthum Lebus dem 
Tutheranifiren widerflanden, Alfo brach man es mit Gewalt, Der treulofe Joachim, 
eidbrüchig an feinem Vater und Glauben, gab das Stift im J. 1555 dem un⸗ 


26* 


404 Lectionarium Gallicanum — Lectionen. 


münbigen Prinzen Joachim Friedrich, und der Knabe ſchrieb fich bis zu feinem Regie⸗ 
rungsantritt Bischof von Lebus, Damit waren die fhwer errungenen Bisthümer 
der Mark vernichtet. (S. Jfelin, Hiftor, geograph. Lexicon. Preuß, und Bran- 
denbrg. Staatsgengraphie.) [Haas,] 

Lectionarium Gallicanum. So nennt man eine von Mabillon 
(de liturg. Gallic. tom. 2.) in dem berühmten Klofter Luxeul gefundene und in 
den Drud gegebene Sammlung im Jahre hindurch bei der Meffe und den übrigen 
größern Feierlichfeiten zu gebrauchender Tefeftüce aus den Propheten, apoftolifchen 
Driefen und Evangelien, Sie gilt als gallicanifches Lectivnarium; weil fie, nur 
fehr wenige Heiligenfefte aufzählend, Lectionen für das Feft der HI. Genovefa 
anprbnet, das vorzugsmweife in Gallien begangen wurde und noch begangen wird, 
Auch rührt fie, mit merovingiſchen Buchftaben fomit in Gallien gefihrieben, aus 
einer: Zeit her, in ber die gregorianifche Kirchenordnung in Gallien noch nicht 
eingeführt war, Sodann merft fie nach alter gallicanifcher Sitte beinahe für jede 
Meſſe drei Lefeftücde vor. Schade ift, daß dem Manuferipte die erften. Blätter 
(Somit auch der Titel) fehlen, und auch nicht mehr aufgefunden werden Fonnten, 
Mehr hierüber bei Mabilfon CI. c.). 

Lectionarium Romanum. Dan verfteht darunter jenes Kirchen- 
bu, das entweder fämmtlihe Epifteln und Evangelien, die im Jahre hindurch 
nach den Vorfohriften der römischen Liturgie bei der HI. Meſſe gelefen werben, 
ober bie im Jahre hindurch bei der HI, Meffe in diefer Liturgie üblichen Epifteln, 
oder (Lectionarium plenarium) fämmtliche Lefeftücde enthält, die nach den Vor- 
fohriften des römifchen Ritus überhaupt im Gottesbienfte üblich find, Das ältefte 
und wichtigfte Leetionarium ift der fogenannte Comes (Liber comitis) der Comes 
major genannt wird, wenn er bie Leſeabſchnitte volfftändig enthält, und Comes 
minor, wenn in demfelben bloß die Anfangs- und Schlußworte diefer Abſchnitte 
vorgemerkt find. ALS Berfaffer deffelben nannte man in früherer Zeit den HI. 
Hieronymus (gemm. anim. 1. 1. c. 88.). Sehr alt ift er jedenfalls; da ſchon 
die Charta Carnutiana, die ſchon im J. 471 gefchrieben war, ihn kennt (ef. Mabill. 
de re diplomat. 1. 6.). Nur muß man zugeben, daß er im Laufe der Zeiten be— 
deutende Veränderungen und Zufäße erlitten hat, So wiffen wir mit Beftimmt- 
heit, daß Alcuin im J. 797 und noch fpäter Priefter Theotinchus ihn revidirt 
haben (Mabill. annal. Benedict. 1. 26. c. 61. Stephan. Baluz. Capit. reg. Franc.), 
Die ältefte Ausgabe ift von Pamelius. 

Leetionarius comes, ſ. Lectionarium Romanum, ar 

Lectionen, die biblifhen, in der Liturgie, — Öleichwie ſich Die Juden 
in den Synagogen zu gemeinfchaftlihem Gebete, gemeinfchaftlicher Lefung und 
zur Betrachtung der HI, Schrift verfammelten (5 Mof. 31, 28, Luc, 4, 16.), fo 
lieben auch die Chriften bei ihrem Gottespienfte die biblifchen Lefungen, „Cum 
lecta fuerit“, fehreibt der HI. Paulus an die Eoloffer, „apud vos epistola haec, 
facite, ut et in Laodicensium ecclesia legatur, et etiam, quae Laodicensium est, 
vos legatis (4, 16.)*. Und an die Ehriften in Theffalonich fihreibt er: „Adjuro 
vos per Dominum, ut legatur epistola haec omnibus sanctis fratribus“ (1 Theff, 
5, 27.). Auch die in Betreff des HI. Lucas gefprochenen Worte „Cujus laus est 
in evangelio per omnes ecclesias“ (2 Cor, 8, 18.) dürften auf dieſe Sitte hin—⸗ 
deuten, „Cogimur“, fagt Tertullian (apol. c. 39.), „ad litterarum divinarum com- 
memorationem“, und wieder (praescript. c. 36): „Legem et prophetas cum evan- 
gelicis et apostolicis litteris (Ecclesia) miscet, et inde potat fidem“. Spätere Zeug- 
niffe find überflüffig. Sie bieten fih in allen Jahrhunderten in folcher Menge, 
daß nicht der mindefte Zweifel hierüber obwaltet, Höchſtens könnte man fragen, 
9b diefe Lefungen ſchon damals, wie es heut zu Tage der Fall iſt, einen Be— 
ftandtheil der Abendmahlsfeier oder Liturgie bildeten, Bedenkt man aber, daß 
die Abendmahlsfeier zu alfen Zeiten die Krone bes chriſtlichen Cultus ift, ſo 





a sh) ee a a 5 Di A a 


EEE 





Lectionen. 405 


unterliegt es feinem Zweifel, daß ſchon damals diefe Lefungen vorzugsweife bei 
der Feier der Meſſe vorgenommen wurden. Auch berichtet dieß ſchon ausdrücklich 
Zuftin der Martyrer in feiner Schilderung des Sonntagsgottesdienftes (apol. 1. 
n. 67). — In Betreff der Abſchnitte, welche bei der Liturgie gelefen werden, 
iſt der Unterfohied zwifhen Ehemals und Jegt etwas größer, In den erſten 
‚Zeiten las man den Brief, das Evangelium oder überhaupt die Schrift, die man 
ſich Hiezu auserfehen hatte, nah und nah vom Anfang bis zum Ende, fo daß 
man bei der nädhften Liturgie fortfuhr, wo man bei der legten aufgehört hatte, 
Biele Vorträge des HI. Auguftin, Chryfoftomus u. dgl. bafıren auf diefer Praxis, 
Selbft die fürzere oder längere Dauer des Leſeabſchnittes hing von den Forde— 
zungen des Augenblicfes und andern Umftänden ab, Die Worte des HI. Mar- 
tyrers Juftin „Commentaria apostolorum aut seripta prophetarum leguntur, quoad 
licet per tempus (ap. 1. n. 6)* bezeugen es deutlich. Nur wenn Feftzeiten ein- 
fielen, geſchah es, daß man die gewöhnliche Ordnung verließ, um ſolche Ab- 
fehnitte vorzulefen, die dem Inhalt der Feftfeier befonders entfprachen. „Meminit 
sanctitas vestra“, fagt der HI. Auguftin (praef. ad expos. in 1 Joann.), „evan- 
gelium secundum Joannem ex ordine lectionum nos solere tracfare. Sed quia nunc 
interposila est solemnitas sanctorum dierum, quibus certas ex evangelio lectiones 
‚oportet recitari, quae ita sunt annuae, ut aliae esse non possint, ordo ille, quem 
susceperamus, ex necessitate paululum intermissus non omissus est.“. Vgl. Auguftin 
tract. 9 in epist. Joann. Sp wählte man zu Oſtern folhe Abfchnitte aus den 
Evangelien, die von der Auferftehung Jeſu handelten (Augustin. serm. 139. 140. 
148. 194). Zwifchen DOftern und Pfingften fennen Auguftin (tract. 6 in Joann.) 
und Chryfoftomus Chom. 63. 66 ed. Francof. p. 849) die Apoftelgefhichte als 
‚jährlich wiederfehrendes Lefeftüf. Die Genefi$ las man in der Faftenzeit, das 
Buch Job in der Charwoche u. f.f. Heut zu Tage Iefen nur mehr die Griechen 
die Evangelien in ſolcher Reihenfolge, daß diefelben das Jahr Hindurc ganz ge- 
-Iefen werden, und nennen fogar hievon ihre meiften Sonntage (erfter, zweiter 
Matthäusfonntag u. ſ. w,, dritter, vierter Lucasfonntag u. f. f.). Die Lateiner 
haben für jede hl. Meſſe, fie fei Temporal-, Ferial-, Feft- oder Votiomeffe, regel- 
mäßig eigene Abfchnitte oder Pericopen. Wer die erſten Anordnungen diefer Art 
getroffen hat, läßt fich nicht beftimmen. Die gewöhnlihe Meinung vindieirt diefe 
Ehre dem HI. Hieronymus (efr. Microlog. c. 25.). Gewiß ift, daß fhon der 
Dftercanon (Canon paschalis) des im dritten Jahrhunderte Iebenden Bifchofes 
Hippolytus Leſeſtücke für die Fefttage im Jahre hindurch vormerkt, und Priefter 
Mufäus von Marfeilfe (Gennad. de scriptor. eccl. c.79), fowie Bifhof Mamer⸗ 
tus von Vienne (Sidon. Apollin. 1. 4. ep. 11) ſich Hierin verdient machten. Ferner 
fordern {hen die Synode von Braga im J. 561 (ec. 2) und die von Toledo im 
3 633 (Ce. 17) auf das Strengfte, daß man fi Hiebei überall an diefelbe Norm 
‚halte. Auch hat Gregor der Große feine Homilien ſchon größtentheils mit Zu— 
grundlegung der dermaligen Evangeliumspericopenorbnung bearbeitet. — Die Zahl 
der biblifchen Lefungen ift gleichfalls nicht überall diefelbe. Die Lateiner halten 
‚zegelmäßig zwei: eine, bie gewöhnlich ein Bruchſtück aus einem Briefe der Apoftel 
oder aus der Anoftelgefchichte, feltener aus der Offenbarung des HI, Johannes oder 
aus einem Buche des alten Teftamentes genommen ift, und daher häufig „Eviftel”, 
„Apoftel” oder auch „Leetion” im engern Sinne genannt wird, gebt voran; bie 
zweite, ſtets aus einem der vier Evangelien ausgehoben und daher gemeinhin 
„Evangelium“ genannt, folgt nach einer mit Gefang oder durch ftille Recitation 


‚einiger Verſe aus den Palmen ausgefüllten Pauſe. Es reicht diefe Sitte in die 
‚erfien Jahrhunderte der chriftlichen Zeitrechnung hinauf. Sagt ja ſchon der BI. 


-Auguftin (serm. 176): „Primam lectionem audivimus apostoli,... deinde canta- 
vimus psalmum, ... post haec evangelica lectio decem leprosos mundatos nobis 
„ostendit“, Vgl, serm, 165 deffelben Kirchenlehrers, die Conftitutionen der Apoſtel 


406 Lectionen. 


G. 2. c. 61), Gregor von Tours (hist. Franc. I. A c. 16) u. ws Die moz⸗ 
arabifche Liturgie hat drei Lefeftüre, der  Syrer Marp redet von vier (Primo 
propheta, deinde praxis seu actus apostolorum, postea Paulus, ac postremo 
evangelium .legatur; exposit. c. 9). Renaudot fagt aber gar (tom.-2, p. 68): 
„Lectiones in orientalibus ecclesiis. plures fieri solent, ‘prima ex veteri testa- 
mento, secunda ex actis apostolorum, tertia ex epistolis Pauli, quarta ex 'catho- 
licis, quinta ex evangelio. — Leſer war urfprünglich der Lector, der hievon 
fogar feinen Namen hat, Bol, den Art, Lector. Heut zu Tage wird bei 
den Lateinern die Epiftel, wenn höhere Cleriker affiftiven, vom Subdiacone und 
das Evangelium vom Diacone gelefen, Affiftiren Feine Leviten, fo Tiest beide 
der Celebrant ſelbſt. Die Sitte, die Epiftel durch die Subdiaconen Tefen zu laſſen, 
verbreitete fich nach und nach: es kennen fie eine zur Zeit Gregors des Großen 
gehaltene Synode in Nom (Harduin. tom. 3. p. 496)3 fo wie der erſte, zweite 
und gemeine römifche Drdo, und der Kirchenrath von Rheims im J. 813 (c. 4); 
nur war fie Damals noch nicht allgemein, und wurde aud) angefeindet, So ſagt Ama- 
larius, es gefihehe „Frequentissime“, und wundert ſich, daß es gefchehe, obwohl 
zu jener Zeit auch mitunter niedere Elerifer oder Schulfnaben den Leferdienft 
verfahen (Ord. Rom. Vulg.; Regin, qu. 26). Aelter ift die Sitte, daß die Dia- 
eonen das Evangelium leſen: es reden davon als einer befannten Sache die apoſto— 
liſchen Conftitutionen (I. 2. c. 61), Hieronymus Cep. 147, al. 48. ad Sabinian.), 
Sozomenus (hist. ecel. 1. 7. c. 19), Iſidor von Sevilla (de div. of. 1.2. 0.8). 
Bei den Griechen Liest dermalen der Lector die Epiftel und der Diacon das Evan—⸗ 
gelium (Goar. fol. 428. Lit. Chrysost.), Bei den übrigen Orientalen wird die 
Epiftel von dem Diacon gelefenz namentlich aber ‚auch noch bei den Syrern dag 
Evangelium von dem Priefter (Renaud. coll. orient. lit. tom. 2. p. 68. 69). — 
Der Drt zur Vornahme der Lefungen war ehemals der Ambon (ſ. d. A), Hatte 
derſelbe mehrere Stufen, fo blieb der Lefer der Epiftel auf einer niebrigern, als 
die war, auf der das Evangelium gelefen wurde (Ord. Rom. H.), Heut zu Tage 
gefchehen im Abendlande beide Lefungen, wenn der Celebrant felbft den Leſer 
macht, auf dem Altare; jedoch ſo, daß die Epiftel auf der Tinfen und dag Evan- 
gelium auf der rechten Seite des Altares gelefen wird, fo daß fich hievon die 
Sitte herleiten dürfte, die linke Seite des Altares Epiftelfeite und die rechte Evan 
gelienfeite zu nennen. Subdiacon und Diacpn Tefen auf der Fläche (in plano) 
des Presbyteriums, und zwar jener gleichfall8 auf der Epiftel-, diefer aber auf 
der Evangelienfeite, — Sowohl die Epiftel als das Evangelium haben im Laufe 
der Zeit verfchiedene Formeln erhalten, mit denen die Lefung eingeleitet oder 
befchloffen wird, Sp nennt die Lateinifche Kirche zunörberft das Buch, aus bem 
das Lefeftürf ausgehoben wurde (3. B. Lectio actuum apostolorum, Lectio &pistolae 
beati Pauli apostoli ad Hebraeos, Sequentia sancti evangelii secundum Matthaeum) 
und fegt der Lefung felbft ein paar Worte als Einleitung voraus (In diebus illis, 
Fratres, Haec dieit Dominus, In illo tempore, Dominus vobiscum): bie "Gemeine 

betheiligt fich Durch den Mund des Miniftranten oder der Sänger Antwort gebend 
G: 8. Deo gratias, Et cum spiritu tuo, Gloria tibiDomine, Laus tibi Christe), 
Im Driente haben fich ähnliche Formeln entwickelt. Sp fehreibt die Liturgia com- 

munis Syrorum Jacobitarum das Ceremoniell bei der Lefung des Evangeliums in 
folgender Weife vor: „Diaconus: Accedite ad me fratres, tacete et auscultate 
annuntiationem Salvatoris nostri ex evangelio sancto,'quod vobis legitur. Sacer- 
dos: Pax vobiscum.. Populus: Et cum spiritu tuo. Sacerdos: Ex evangelio 
sancto Domini nostri Jesu Christi, Dei nostri’veri, praedicatione facta a N. apostolo 
et praecone vitae aeternae, annuntialionem vitae et salutis audimus pro animabus 
-nostris. Diaconus: Estote in silentio auditores, hoc est enim evangelium sanc- 
tum, quod legitur. Fratres mei festinate, audite et confitemini verbum Dei vivi. 
Sacerdos: Igitur in tempore 'conversationis in terra Domini Dei et: Salvatoris 











Lectionen. 407 


nostri Jesu Christi, dixit discipulis suis (Renaud. fom. ll. p. 9).“ Manche dieſer 
Formeln find erweisbar fehr alt. Sp Fennt ſchon das gallicanifche Sarramen- 
tarium bei Mabillon manche derſelben. — In der feierlihen Meffe des 
Papftes werden Epiftel und Evangelium lateinisch und griechifch gelefen, um die 
Einheit der Fatholifchen Kirche bei der Berfchiedenheit ihrer gottesdienftlichen 
Sprachen darzuftellen. Es war ehemals an hohen Fefttagen in mehreren Kirchen 
fo (Anselm. Havelb. dial. 3. c. 16; Ordo Rom. XI.). Bei der Krönungsfeier des 
Papftes Alerander V. fang man fogar das Evangelium lateiniſch, griechiſch und 
„hebräifch CConc. Pisan. a. 1409. sess. 18), Wichtiger ift es für das kirchliche 
Reben, daß Heutzutage auch das Evangelium oder auch noch überbieß die Lection, 
nachdem fie Iateinifch gelefen worden find, wenigſtens an Sonn- und Fefltagen, 
zumal bei dem Hochamte und der Frühmeffe, in der Landesſprache vorgelefen 
werden. — Die Lefung des Evangeliums, ald die dem Chriften wichtigfte und 
ehrwürdigfte, iſt noch mit befondern Gebräuchen begleitet. Obenan fteht die 
fromme uralte (Ordin. Rom.) Sitte, daß der Lefer fi) durch ein eigenes Gebet 
zur 2efung vorbereitet (Munda cor meum ac labia mea, omnipotens Deus, qui 
labia Isaiae prophetae calculo mundasti ignito, ita me tua grata miseratione dignare 
mundare, ut sanctum evangelium tuum digne valeam nuntiare. Per Christum ete.), 
and um den Segen bittet (der Celebrant bittet, wenn er den Lefer macht, Gottz 
der Diacon den Celebranten). Ein anderer, Priefter und Volk gemeinfchaftlicher 
und mindeftens eben fo alter (Ord. Rom. 1]; Horor. gemm. anim. 1. 1. c. 23) ©e- 
brauch befteht darin, daß fih die Gläubigen bei dem Beginne der Lefung auf 
Stirne, Mund und Bruft befreuzen, um fowohl finnbildlih ihren Glauben fund- 
zugeben, daß die Lefung wirflich die Worte Jeſu CHrifti, der die Wahrheit feiner 
Lehre durch den Opfertod am Kreuze verfiegelt Hat, enthalte, als au ihre Ge— 
finnung auszufprehen, fig der Anhörung und Befolgung der Lehre des Gefreu- 
zigten nicht ſchämen, fondern denfelben furchtlos in Werfen und Worten befennen 
CBefreuzung der Stirne und des Mundes), und ihm das Herz in Liebe weiber 
zu wollen (Befreuzung der Bruft). Auch ſtehen nad einer in die frübeften Chriften- 
zeiten hinaufreichenden Sitte (Const. apost. 1. 2. c, 61; Sozom. hist. eccl. 1. 2. 
c. 19; Nicephor. hist. ecel. 1. 12. c. 34) während diefer Lefung alle Gläubigen, 
um theils ihre Ehrfurcht für das Wort Gottes, theils ihre Bereitwilligkeit, es. 
zu befolgen, auszubrüden, Nah vollendeter Lefung wird der Evangeliencoder 
Cnur die Requiem machen eine Ausnahme) (das Miffale) gefüßt, früher von allen 
Anwefenden (Ord. Rom. I. 11.), heutzutage Cabgefehen von einigen wenigen Kirchen 
in Sranfreih) nur mehr vom Celebranten und dem etwa anwefenden Fürften oder 
Papſte Cardinal oder Legaten des apoftolifhen Stuhles, oder vom Patriarchen, 
Erzbifhofe oder Bifchofe des Ortes. Jedenfalls ift diefer Kuß ein Zeichen der 
Ehrfurcht und Liebe für das Wort Gottes. Sind Soldaten bei der Lefung zu— 
gegen, fo halten fie während derfelben Das Schwert oder Gewehr präfentirt, um ihre 
Bereitwilligfeit an ven Tag zu legen, für das Evangelium freudig jeden Kampf zu 
wagen. Im Hochamte brennt auf jeder Seite des Evangeliencoder (nur die Re— 
quiem machen eine Ausnahme) ein Licht, um fowohl die Heberzeugung der Ge— 
meinde auszubrüden, dag das Evangelium die Lehre desjenigen fei, der fih im 
Wahrheit das Licht der Welt nennen Fonnte, als auch den frommen Borfas fund- 
zugeben, fo Ieben zu wollen, daß auch wir Lichter im Haufe Gottes find (Joh. 
8, 12, Matth. 5, 14). Hieronymus fpricht von diefem Lichterbrennen als einer 
in-allen Kirchen des Drients üblihen Sitte dl. adv. Vigilant.). Ferner beräuchert 
man im Hochamte (die Neguiem machen auch bier eine Ausnahme) fowohl das 
Evangelienbuch als auch den Celebranten; jenes wohl zum Zeichen der unbeding- 
ten gläubigen Annahme und ehrfurchtsvollen Anhörung der evangelifchen Lehre; 
Diefen, um freudig zu befennen, daß uns durch das Evangelium jenes Opfer be= 
Fannt geworden iſt das der Celebrant zu entrichten vorhat. [Fr, & Schmib,] 


—— J 
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| 


2. Lectionen im Brevier — Lecturae. 


Leetionen im Brevier, f. Brevier, 

Leetor (Lefer) nennt man jenen niebern Cleriker, der den Ordo des Leeto— 
rates erhalten hat, und deſſen Gefchäft e8 urfprünglih war, die Lectionen (ſ. d. A.) 
in der Kirche vorzulefen. Solche Lectoren kennen ſchon Juſtin Capol. 1. n. 67), 
Zertullian (praescript. c. 41), Cyprian (ep. 24. al. 29), Papft Cornelius (Euseb. 
hist. ecol. 1. 6. 0. 43) u. |. w. Sie wurden fhon damals den Clerikern beigezählt, 
und durch Eirchlihen Ritus aufgeftellt (Cyprian. ep. 33; Conc. Antiochen. a. 341. 
c. 10); nur ausnahmsweife ſcheint Hin und wieder ein Nichtorbinirter Lectors- 
dienfte verfehen zu haben (Augustin. ep. 64. al. 235. ad Quintian.; Conc. Nicaen. 
a. 787. o. 74), Da in fpäterer Zeit das Vorlefen bei dem Gottesdienſte im 
Abendlande faft ausſchließlich (nur am Charfreitag erwähnt das Miffale noch des 
Lefens durch den Lector) Sache der Diaconen und Subdiaeonen, ja der Priefter 
ſelbſt geworben ift, fo ift die Weihe zu biefem Amte mehr eine der Stufen, die 
den Candidaten des Priefterfiandes dem Heiligthume um einen Schritt näher 
bringt, und auf denen er höchftens einige Zeit lang den Leuchterträger macht und 
andere niedere Altardienfte verfieht. Auch bei den Griechen ift es nicht anders 
(Goar. Euchol. fol. 243). — Ueber die Ertheilung des Lectorates gab die Synode 
son Carthago im J. 398 folgende Vorſchrift: „Lector cum ordinatur faciat de 
illo verbum episcopus ad plebem, indicans ejus fidem ac vitam atque ingenium. 

“Post haec, spectante plebe, tradat ei codicem, de quo lecturus est, dicens ad eum: 
Accipe, et esto lector verbi Dei, habiturus, si fideliter et utiliter impleveris offi- 
cium, partem cum eis, qui verbum Dei ministraverint (c. 8).“ Faſt mit denfelben 
Worten wird noch jest dem Drdinanden diefer Ordo in der lateiniſchen Kirche 
übertragen, jedoch fo, daß der Hebertragung eine Unterweifung des Drdinanden 
oprausgefchickt, und nach der Vebertragung Gebete angereift werben (Pontif. 
Rom.). In der Unterweifung werben die Gefchäfte eines Lectors in folgender 
Weife aufgezählt: „Lectorem oportet legere ea, quae praedicat, et lectiones can- 
tare, et benedicere panem et omnes fructus novos.“ Die bier erwähnte Segnung 
des Brodes und der neuen Früchte dürfte den Lertoren erft fpäter, und zwar 
zuerft in Teutfehland und Frankreich übertragen worden fein (Pontif. Salisburg. 
annor. 700; Pontif. Camerac. annor. 600). Der Ritus, nach welchem die Drien- 
talen ihre Lectoren CAvayvoorzaı) vrdiniren, ift natürlich von dem des Abend- 
landes fehr verſchieden. Sp beginnt z. B. der Bifchof bei den Kopten die Drbi- 
nation mit einer Frage über die Würbdigfeit des Kandidaten, fhreitet hierauf nach 
günftiger Ausfage der Gemeinde zu der im Driente überall mit dieſer Ordination 
verbundenen Tonfur, verrichtet fodann zwei Gebete, bei dem einen gegen Weften, 
bei dem andern nach Oſten ſich wendend, Hält den Kandidaten - unter Fortfegung 
von Gebeten an den Schläfen, reicht ihm das Evangelienbuch dar, damit dieſer, 
es vor der Bruft tragend, den Altar, die Hände des Bifchofes und alle Gegen- 
wärtigen füffe, und verabfchiedet ihn zulegt mit der Mahnung, feinem neuen 
Amte mit Würde vorzuftehen. Vgl. den Art, Anagnoften. — Verſchieden von 
diefem Lector find der Vorlefer bei Tifeh (Lector mensae) in geiftlihen Commu- 
nitäten (Cefr. Udalr. Consuet. Cluniac. 1. 2. c. 34), der hie und da in Cathedralen 
übliche Lector dignitarius, welcher die fämmtlichen Kirchenlefungen regelte, und 
endlich die Lectoren oder Profefforen in Klöftern, welde die jungen Clerifer un- 
terrichten. [Fr. X. Schmid.] 

Lecturae. Es handelt ſich hier von einer Reihe von Schriften, bie in 
einer gewiſſen Zeit eine Hauptquelle der Erkläärung des römiſchen und canonifchen 
Rechts waren. Der Ausdruck lectura fommt von legere; er bedeutet zuerft dag 
Verſtändniß der Stelle nah Grammatik und Syntar, dann aber die Erklärung 
des Sinnes nach der Abficht des Nedenden Chanc literam ita lego). In biefer 
Beziehung entftand der Begriff „Vorleſung“, lectura. Die Gloſſen (ſ. Gloſ fen 
und Gloſſatoren) enthielten Fein Raifonnement, in ihnen war eine traditionelle 





Ledigfeitseid — Legaten. 409 


Fortentwicklung des Rechts, eine Anwendung des älteren Rechts auf bie neuere 
Zeitz die lecturae dagegen ftellten ſchon die Anfichten des einzelnen Inter— 
preten dar, obgleich derfelbe es auch nicht unterließ, alte und neue Meinungen 
darneben anzuführen. Die lecturae über das römische Necht hatten eine andere 
Bedeutung wie die über canonifches Recht; jene fchloffen fih den Gloffen mehr 
an, und waren in der That eregetifh, wie man am beſten aus der lectura des 
Azo über den Eoder fieht; jedoch fie waren umfangreih, und deßhalb oft nicht 
intereffant; die lecturae über das canonifche Recht aber waren mehr dogmatifch, 
weil fie einer ähnlichen Eritifhen und geſchichtlichen Entwicklung nicht bedurften, 
wie diefes bei dem römifchen Rechte der Fall war. Vom Syſteme und von ber 
diefem zu Grunde liegenden Abftraction wußte man in jener Zeit Nichts; eben- 
deßhalb ergoß ſich die Beftrebung in die Einzelheiten jeder einzelnen Entfcheidung. 
Da man aber damals das Firhliche Syftem felbft mehr im Leben wahrnahm, und 
da die ganze Erziehung des Menfchen darauf berechnet war, fo war es vortheil- 
haft, fich in die Einzelheiten der Cafuiftif einzulaffen. Man theilte in diefer Art 
des Unterrichts und der Methode dasjenige, worüber man eine genaue und 


oollſtändige Anficht erhielt und darüber feinen Lehrer (Borlefer) fand, und das— 
* jenige, wo man durch eigene Hilfe fpäter fich felbft unterrichten mußte, und fo 





kam es denn auch, daß die lecturae nur über einzelne Theile des canonifchen 
Rechts gegeben wurden. Wir, die wir gleich Alles überfhauen und bemeiftern, 
und mit einem philofophifchen Blife das Mannigfaltige ung unterorbnen (fubjee- 
tiviren und identificiren) wollen, finden in ben lecturis fehr Vieles, was ung un- 
gefällig erfiheint. Dennoch läßt fih auch nicht Iäugnen, daß in den lecturis die 
wiffenfchaftliche Methode als gealtert erfcheint, und fo mußte ein neuer Weg ge- 
funden werden, Die Philologie übte zwar auch bier ihr Recht, wie man aus den 
Beftrebungen des Antonius Auguftinus und Anderer, namentlich der Franzofen, 
ſieht; allein da das Kirchenſyſtem in beftändiger Hebung war und blieb, fo nahm 
die Sache eine ganz andere Richtung, wie im römifhen Rechte durch Cujacius 
und Andere. Nur das war beiden Rechtsquellen (d. i. des römischen und cano— 
nifhen Rechts) gemeinfam, daß man fich jest bloß an die Titelüberfchriften der 
Duellen, nicht an die einzelnen Stellen hielt, was man am durchgreifendften ein- 
fießt, wenn man die in diefer neuen Art gefchriebenen Werke eines Reiffenftuel und 
Schmalzgrueber mit den lecturis eines Baldus, Petrus de Ancharono, Joonnes ab 
Imola, Nicolaus de Tudeſchis, Alerander Tartagnus, Barbatia Siculus, Franziscus 
de Aecoltis, Petrus Sandeus, Philippus Decius vergleicht. Endlich find die lecturae 
ſchon deßhalb ungefällig, weil fie nicht für den Drud, fondern für die mündliche Dar- 
ſtellung beftimmt waren, wodurd fich hauptfächlich die neueren Commentationen 
unterfcheivden. Es würde auch bei uns ungefällig und Iangweilig fein, wenn die 
Borlefungen der Lehrer unmittelbar in den Druck übergehen würden, [Roßhirt.] 

Ledigkeitseid, f. Eid, 

2ee, Anna, ſ. leada, 

Lefevre, f. Faber Stapulensis. 

Zegate, ſ. legtwillige Verfügungen. 

Legaten. Das Recht des Papftes, zu verfchiedenen Zwecken nach einzelnen 
Puncten des kirchlichen Gebietes Gefandte abzuordnen, folgt von felbft aus der 
ihm über die gefammte Kirche zuftehenden höchſten Regierungsgewalt; diefe wäre 
gehemmt und beſchränkt, ja unter Umfländen unmöglih, wenn der Papft jene 
Befugniß nicht follte ausüben Fonnen, In diefem Sinne fpricht fih Innocenz II. 
bierüber aus, wenn er fagt: „Da das Oberhaupt der Kirche menfhliher Natur 
gemäß nicht an verfchiedenen Orten fich zugleich befinden, noch auf Windesflügeln 
in entlegene Gegenden fi begeben kann, fo fendet es, damit der Gang der Ge- 
ſchäfte nicht Noth leide, feine Legaten als abgeorbnete Richter.” — Es laſſen ſich 
drei verſchiedene Arten. päpftlicher Legaten, wie dieß auch in Cap. Officii. 1. 


410 ; Legaten. 


d. off. leg. in 6to I. 15. vorgezeichnet iſt, von einander unterſcheiden: 1) Die Le- 
gati alatere, in der angeführten Geſetzesſtelle von Papſt Innocenz IV., da fie aus 
der Zahl der Cardinäle genommen werben, fratres nostri genannt, 2) die Legati 
missi oder Nuncii apostolici, auf einer niederen Rangftufe Internuncii,,.und 3) die 
Legati nati, für welche die Legation mit dem Kirchenamte, welches fie befleiden, 
dauernd verbunden ift (qui suarum praetextu ecclesiarum legationis sibi vindicant 
dignitatem); in diefer Beziehung flehen die Legati nati mit dem Inſtitute der Vi- 
carii apostolici, wie das ältere Necht e8 Fennt, in Verbindung. Es wurbe näm— 
lich frühzeitig — wovon beftimmte Nachrichten bis in's vierte Jahrhundert reichen — 
üblich, daß der Papft in verfchiedenen Gegenden einzelne Bifchöfe Damit beauftragte, 
an feiner Statt gewiffe, ihm unmittelbar obliegende Jurisdictionsrechte auszuüben und 
ihm über die Verwaltung derfelben von Zeit zu Zeit Bericht zu erflatten, Dadurch, 
daß der Nachfolger eines ſolchen Biſchofs ſtets denfelben Auftrag erhielt, wurde 
diefes apoftolifche Vicariat mit beftimmten Bifchofsfigen verbunden. Die älteften 
Beifpiele find die Bicariate von Theffalonich über Illyrieum und von Arles über 
Gallien (f. Hilarius von Arles u, leo 1.), welche beide bis gegen das fiebente 
Sahrhundert Hin Beftand hatten; andere Vicariate aus diefer Zeit waren entweder, 
wie das des heiligen Auguftinus, des Apoſtels der Angelfachfen, perfönlich oder, 
wie das des Biſchofs von Sevilla, ohne eigentliche Zurisdiction, Wo dieſe vor— 
fam, beftand fie in der Oberauffiht über die gefammte Firchliche Disciplin des 
Vicariatsbezirkes; an die Zuftimmung des Vicars war die Ordination der Bi— 
ſchöfe durch die Metropoliten, die von ihm zu confeeriren waren, gefnüpftz ber 
Dicar berief Synoden und nahm Appellationen von den Provincialeoneilien an, 
er hatte unter den Bifchöfen feines Sprengels den erften Rang, auch feheint bie 
Ertheilung des Palliums, als eines Zeichens papftlicher Jurisdiction, zuerft an 
die apoftolifchen Vicarien erfolgt zu fein. — Im achten Jahrhunderte trat dann 
der heilige Bonifacius als päpftlicher Legat mit den umfangreichften Vollmachten 
ausgerüftet auf; da er feinen bleibenden Sit zu Mainz nahm, fo gründeten ſich 
hierauf die Prärogativen dieſes erzbiſchöflichen Stuhles. Mainz trat, wie feit dem 
heiligen Dunftan die Nachfolger des Heiligen Auguftinus auf dem erzbiſchöflichen 
Stuhle von Canterbury, in die Neihe der Legati nati ein, Mit diefem Ausdrude 
werben feither diejenigen Bilchöfe bezeichnet, welche gleich den älteren apoſtoliſchen 
Bicarien mit einer an ihr Kirchenamt gefnüpften Legation befleivet wurden, Wie 
weit die Befugniffe folcher Legaten reichten, wurde für die einzelnen Fälle durch 
befondere Inftruetionen näher beſtimmt. Als die wichtigften Beifpiele folcher Le— 
gationen laſſen fich folgende anführen: Toledo, wenn auch vielfach beftritten, für 
Spanien, Rheims für die Dazu gehörige Provinz, Bourges für Aquitanien, 
Dienne für Septimanien, ferner Lyon und Send, die aber mehr Titularlegaten 
waren; fodann Canterbury für England, ©, Andrew für Schottland, Mainz, 
Trier, Coln, Salzburg, Magdeburg und Prag für Tentfihland, Gneſen für 
Polen, Gran für Ungarn, In Italien findet fich die fogenannte Monarchia Sicula 
(ſ. d. A.) als ein Beifpiel einer an einen weltlichen Fürften verlichenen Legation. 
Ein anderer Fall der Art, aber ganz vorübergehend, war der, als Papſt Ale- 
xander II. dem König Heinrich IL. von England die Legation für fein Reich ver- 
Vieh, und zwar unter der Bedingung, fie nicht auf den Erzbiſchof von York zu 
übertragen; für diefen hatte Heinrich das Begehren um die Legation geftellt, wo— 
mit eine Kränfung der Gerechtſame Thomas Bedets, als des Erzbifhofs von 
Canterbury, beabfichtigt war. — Da viele der Legati nali fi) in ihrer hohen 
Würde überhoben, fo trug dieß dazu bei, daß das Inſtitut allmählig feine Be— 
deutung verlor und die Legation bald faft nur zum Befite eines höheren Titels 
diente, Die Päpſte fahen fich nämlich veranlaßt, in den meiften wichtigen An— 
gelegenheiten nicht auf bie Berichte ver Legati nali zu warten, fondern Cardinäle 
yon ihrer Seite zu fenden, die, mit einer Fülle yon Primatialrechten verfehen, 











Logatem | 411 


in dem ihnen angewieſenen Legationsbezirfe unmittelbar die Stelle des Papftes 
verträten, Hierin liegt die Beranlaffung, daß man diefen Legatis a latere eine 
Jurisdictio oordinaria beilegte, die nach Cap. Legatos. 2. d. off. leg. in 6to auch 
durch den Tod des Papftes, von welchen die Sendung ausgegangen war, nicht 
erlifcht. "Die Legati a latere repräfentirtem demnach in ihrem Miffionsbezirfe den 
Primat und übten daher mit geringen Befchränfungen eine Mehrzahl der päpft- 
lichen Refervatrechte aus, Sie abfoloirten von refervirten Cenfuren, ertheilten 
Indulgenzen, übten Jurisdietion über Erimirte , Dispenfirten neben den Bifchöfen 
von Ehehinderniſſen, verliehen Beneficien, befonders die an den Papft devolvirten 
Pfründen, eonfirmirten Erzbifchöfe und Bifchöfe u. ſ. w. Diefe einzelnen Befug- 
niffe pflegten in den Inftruckionen der Legaten nicht immer aufgezählt zu werden, 
fondern man begnügte ſich mit der allgemeinen Efaufel cum facultatibus solitis et 
consuetis. Indeſſen bald fah man ſich genöthigt, in Betreff der Legati a latere, 
welche ultra montes ‚gefendet wurden, einen andern Weg einzufchlagen. Die Aus— 
übung jener großen Vollmachten gab zu fehr vielen Conflicten mit den Bifchöfen 
die Beranlaffung, auch wurden bei der zunehmenden Spannung zwifchen geiftlisher 
und weltliher Gewalt die päpftlichen Legaten von den Fürften immer weniger 
gern gefehen, weil fie ſich durch fie in ihren vermeintlichen Nechten in Betreff 
der Kirche beeinträchtigt fühlten, und fo geſchah es, während manche Legaten fi 
auch mancher Webergriffe fchuldig machten, daß bei der Bereinigung der Intereſſen 
der Könige und Bischöfe zu gemeinfhaftlihen Nationalintereffen man weltlicher 
Seits fogar fo weit ging, die Legaten zurücdzumeifen, Es ſah fih daher Papſt 
Johann XXIL. veranlaßt, in der Extrav. Super gentes. 1. d. consuet. (c. 1.) 
eine folhe Gewohnheit für nichtig zu erflären und diefenigen Fürften mit der Er» 
communication, ihr Land aber mit dem Interdiete zu bedrohen, welche den päpft- 
lichen Legaten den Zutritt verweigern würden, Trotz dem dauerte in Frankreich 
der Gebrauch fort, daß die Legaten nur bis Lyon reifen durften, und nachdem fie 
ihre Vollmachten zur Prüfung nach Paris eingefendet hatten, dort die Entfchei- 
dung über ihre Zulaffung abwarten mußten. Es war dieß Verfahren um fo un- 
geeigneter, als ſchon längſt auch auf gefeglihem Wege eine Befchränfung der 
Juris dietion der Legaten eingetreten war ; das Concilium von Trient ging darin 
noch weiter als die Derretalen, indem es Sess. 24. c. 20. de Ref. alfe und jede 
eoneurrirende Jurisdietion der Legaten mit den Bifchöfen aufhob, — Nah und 
nach find diefe außerordentlichen Legationen immer feltener geworben; defto mehr 
ift in neuerer Zeit der Gebrauch an die Stelle getreten, daß der Papſt in ein- 
zelnen Staaten fländige Nuntiaturen unterhält. Schon das ältere Recht Fannte 
in den Apocrisiarii (f. d. A.) oder Responsales, mit welchen Ausdrücken nament- 
lich die päpftlihen Gefandten am Faiferlihen Hofe zu Conftantinopel bezeichnet 
wurden, ein den Nuntien ähnliches Inſtitut. Diefe, fowie die niedere Nangftufe 
der Iuternuntien haben eine doppelte Stellung; fie find einestheils Mitglieder 
des diplomatifchen Corps in dem Staate, wo fie refiviren, und zwar nehmen fie 
in der betreffenden Abftufung der Gefandten, zu welcher fie gehören‘, die erfte 
‚Stelle ein; anderntheils find fie von dem Papfte mit Iuftruetionen über Aus- 
Übung kirchlicher Jurisdietionsrechte verfehen, zu denen insbefondere auch die 
Führung des Informatioproceffes in Betreff der erwählten oder ernannten Bi— 
Thöfe ihres Nuntiaturbezirfes gehört; fie felbft führen in der Negel den Titel 
eines Erzbiſchofes oder Bifchofes in partibus. — In Teutfchland war die Errih- 
tung einer neuen Nuntiatur zu München (1785) die Veranlaffung zw dem: be— 
kannten Nuntiaturftreit (f. d. A.), der feine wiffenfchaftlihe Erledigung in der 
vortrefflichen Antwort Pius’ VI. an die zum Emfer Eongreffe verfammelten Erz- 
bifhöfe fand (Responsio — super Nuntiaturis apostolicis. Romae 1789; ſ. ven 
Art, Emfer Congref), — Vgl, noch Hiftor,=polit, Blätter, Bd, VIIL ©. 564 ff, 
S. 665 ff. S. 722 ff. Phillips. 


412 Legenda aurea — Legende. 


Legenda aurea, f. Jacobus de Voragine und Legenden, 

Legende heißt nach der allgemeinen Wortbedeutung alles dag, was bem 
Bolfe bei dem Oottesdienfte vorgelefen werden fol, Das Buch, welches bie 
Lefe-Abfehnitte enthielt, nannte man Lectionarium, auch Epistolarium, weil bie 
meiften Lefeflüdfe aus den Briefen der Apoftel entnommen waren, Man las die 
Abſchnitte nach einer beftimmten Eintheilung, ähnlich der Eintheilung des alten 
Teftaments nach Parafchen und Haphtaren, bei den Kiturgifchen Zufammenfünften 
ab, Im engern, heutzutage fat ausschließlich gebräuchlichen Sinne verfieht man 
unter dem Wort Legende eine Sammlung von Lebensbefchreibungen ber Heiligen 
der Fatholifchen Kirche, der Martyrer, der Kirchenväter und Bekenner. In den 
erſten chriftlichen Jahrhunderten hieß man folhe Sammlungen Acta Sanctorum, 
ober Martyrum, deren Urfprung bis in's zweite Jahrhundert zurüdführt, wo man 
von einzelnen Blutzeugen und Befennern ſchon das Merfwürbigfte aufzeichnete, 
und diefe Berichte als ein Heiligthum für die chriftlihe Mit- und Nachwelt auf- 
bewahrte. Eufebius fpricht von einer folhen Sammlung, die er ouvayoyn Twv 
oxaıwv uagrvgwv benennt, Das ältefte Martyrologium wird dem BI. Hie- 
ronymus zugefihrieben. Daß die Lebensbefchreibungen der Heiligen mit der Zeit 
immer ausführlicher wurden, bat in verfchiedenen Umftänden feinen Grund. Im 
Mittelalter Hat ſowohl die griechifche als die Tateinifche Kirche derlei Heiligen- 
Biographien erhalten, die erfiere durh Simenn Metaphraftes, die lestere 
durch Jacobus de Voragine (ſ. d. A), den Berfaffer der goldenen Legende, 
Unverfennbar Flebt diefen Sammlungen der Charakter ihrer Entftehungszeit an, 
der ſich allzuhäufig im Aufregen der Phantafie und im Hervorheben des Außer- 
prdentlihen und Ueberrafchenden bezeugt. Hiftorifch werthvoller ift die Samm- 
Yung, weldhe Boninus Mombritius 1474 lieferte. Spätere Sammlungen find 
Schon die edlen Früchte geläuterter Wiffenfchaft und forgfamen Forſchergeiſtes, wie 
die Acta Martyrum primor. (f. d. 4.) son dem gelehrten Benedictiner Theod. 
Nuinart, und die Vitae Patrum, auch die Fasti Sanctorum von dem Sefuiten 
Herib, Rosweid, dem Vorläufer und Anreger der vollftändigften aller Samm- 
Jungen, der Acta Sanctorum, welche von dem Sefuiten Johannes Bollandus 
im J. 1643 begonnen, und von andern Vätern der Gefellfchaft Jeſu (Henſchen, 
Papebroef u.a. m.), den fog. Bollandiften, fortgefegt worben find (ſ. Acta 
Sanctorum). Das großartige Werk erfihien zu Brüffel und Tongerlop yon 
1643—1794 unter wechſelvollen, zuletzt ſehr ungünftigen Zeitumftänden in 53 
Foliobänden, Es ift eine reiche Fundgrube nicht nur für die Kirchengefchichte, 
fondern au für die Profangefhichte, für Chronologie, Geographie u, f. w. Bol- 
landus felbft war mit feiner Arbeit bis zum Anfange des Monats März gekommen, 
als er am 12, September 1665 das Zeitliche fegnete, Seine Fortfeger führten 
das Werf bis zur Mitte des Monats Detober, der Zufunft die Vollendung über- 
laſſend. Wirklich erfchien 1845 zu Brüffel bei Muquardt zum Detober die werth- 
oplle Ergänzung unter dem Titel: Acta Sanctorum Octobris, ex lat, et gräec. etc. 
monum, collecta, a Jos. Vandermoere et Jos. Vanheke Soc. Jes. Tom. VII. Octobris. 
Nicht fo voluminös, aber fehr brauchbar ift das gleichfalls Fritifch gearbeitete, ur- 
fprünglich englifch gefchriebene Werf von Alban Butler, nad dem Franzöfifhen 
von Godescard für Teutfchland bearbeitet und mit reichhaltigen Anmerkungen 
vermehrt von Dr. Räß und Dr. Weis (Mainz 1823—27, 21 Bde). — Die 
Hauptaufgabe einer Legende für das Volk ift Popularität, mit Vermeidung 
aller rein gelehrten Unterfuchungen und mit Befhränfung auf richtige Reſul— 
tate, eine edle Iebensfrifche Darftellung der großen Charaktere der Heiligen, 
darauf berechnet, die evelften und heiligften Gefühle und Gefinnungen im Volke 
zu weden, und ihm fo die Macht und Größe des Chriſtenthums in dem einzelnen 
Heiligen in der mannigfaltigften Form vor Augen zu ftellen. Sp wird jede Hei- 
ligen-Biographie zum angewandten Evangelium. Zwei Extreme find zu vermeiden: 


— 








Leges barbarorum — Legio fulminatrix. 413 


ein trockenes Aneinanderreifen der Lebensbegebenheiten ohne Geift, Leben und 
Anwendung, fowie die Scheu vor dem Wunderbaren und Hintanhaltung alles 
Poetiſchen in der Auffaffung der heiligen Charaktere, auf der andern Seite das 
abfichtlihe Ausgehen auf Wunderbares, das fortwährende Hervorheben außer- 
ordentlicher Zuftände, das Hafchen nad dem Romantifhen, das indiscrete Ver— 
wechfeln frommer Sagen und Ueberlieferungen mit wirfliher Geſchichte. Die 
fromme Sage fei nicht ausgefchloffen, denn fie trägt tiefe Poefie und die Kraft 
in fih, in dem für religiöfe Lebenspoefie oft fo empfänglihen Gemüthsboden des 
Volks tiefe Negungen hervorzurufen; nur trete fie ald Sage, nicht als ausge- 
machte Gefchichte hervor, dann wird eine billige Kritif nichts einzuwenden haben; 
fie wird dazu dienen, auch dem pſychologiſchen Elemente fein Recht zu gewähren, 
und die Einförmigfeit der Situationen und einzelnen Befehrungs-, Büßungs- und 
Berfolgungsgefchichten ze. zu mäßigen. [Dür.] 

Leges barbarorum, f. Lex barbarorum. 

Legio fulminatrix. Diefen Namen foll eine ganz aus Ehriften be— 
fiehende Legion vom Kaiſer Marc Aurel erhalten haben, weil fie durch ihr Gebet 
das Entftehen eines Gewitterd und dadurch die Rettung des römischen Heeres 
bewirkte, Im marsomannifchen Kriege nämlich wurden die Römer (im 3. 174) 
durch die Duaden an einem Orte eingefhloffen, wo es ihnen ganz an Waffer 
mangelte, fo daß das Heer in Gefahr war, dur Durft und Hige aufgerieben zu 
werden. Es wurde gerettet durch ein plöglich entftiehendes Gewitter; die Römer 
wurden dadurch mit Waffer verfehen, die während deffelben angreifenden Duaden 
aber durch Hagel und Blitze zurüdgetrieben. Sp erzählt mit einigen Ausfhmüdun- 
gen Div Caſſius (71, 8.). Eufebius (hist. eccl. 5, 4.) fügt Folgendes bei: In 
jener Noth Hätten die Soldaten der melitinifchen Legion, welche aus Chriſten be- 
fand, zu Gott gebetet und durch ihr Gebet die Rettung bewirkt, Er erwähnt 
dann noch", daß Apollinaris, ein Zeitgenoffe Mare Aurels, erzäßle, jene Legion 
babe feitvem den paffenden Namen „die bligende” erhalten, Noch weiter aus— 
geſchmückt ift die Erzählung des Kiphilinus, eines byzantinifchen Schriftftellers, 
der im 11ten Jahrhundert einen Auszug aus Div Caffius verfaßte: der Kaiſer 
habe die riftliche Legion, von der er gehört Habe, daß fie durch ihr Gebet Alles 
bewirken fönne, gebeten, für das Heer zu Gott zu flehen, babe ihr nach dem 
Wunder jenen Beinamen gegeben und eine fehr ehrenvolle Verfügung zu Gunften 
der Chriften erlaffen. Die Auctorität des Kiphilinus ift natürlich nur gering ; daß 
damals fon eine ganze Legion aus Chriſten beftanden Habe, ift unwahrfcheinlich, 


I und den Namen „fulminatrix“ führte die zwölfte Legion ſchon unter Auguftus, 


Die ältefte Hriftlihe Nachricht von dem Borfall haben wir bei Tertullian (Apol. 
c. 5. cf. ad Scap. 4.); er fagt nur, es fei noch ein Brief von M. Aurel vor⸗ 
handen, quibus illam germanicam sitim Christianorum forte militum precationibus 
impetrato imbri discussam contestatur. Aehnlich drüdfen fih Hieronymus (Chron. 
ad a. 174) und Drofius (7, 15.) aus. (Der Brief M. Aurels, welder ven 
Apologien Juſtins beigefügt ift, ift aber ſicher unächt.) Die Heidnifchen Schrift- 
fteller, welche das Factum erwähnen, fohreiben das Wunder theils einem ägyp- 
tifhen Zauberer zu (Dio Cass.), theil® der Tugend (Claudian. de VI. Cons. Hon.) 
oder dem Gebete des Kaiſers (Capitol. M. Aur. Themist. or. de reg. virt.); auf 
I der zu Ehren M. Aurels errichteten Säule wird der Jupiter pluvius dafür ver— 
9 Herrlicht, Wir finden auch nicht, daß der Kaifer dadurch zu wefentlich milderen 


4 Gefinnungen gegen die Chriften gebracht worden fei; das forte in der Stelle Ter- 





tullians deutet auch fchon darauf Hin, daß M. Aurel wenigftens nicht mit voller 
Ueberzeugung oder nicht mit beftimmten Worten das Wunder den Chriften zu- 
Trieb. — Die wahrſcheinlichſte Erklärung der Sache ift wohl die, welde Stol- 
berg (Bd. VII. ©, 90) gibt: „In jener Noth mochten ſich die Heiden theils an 
ihre Götter, theils an Zauberer wenden; die Chriften im Heere — wahrſcheinlich 


414 2 Legio Thebaiea. I. T 


waren ihter befonders viele in der zwölften (melitinifchen) Legion, die den Bei- 
namen „bie bligende” führte — beteten zu Gott. Die wunderbare Rettung ſchrie⸗ 
ben nun natürlich die Heiden ihren Göttern, dem Gebet des Kaiſers oder den 
Zauberern zu, die Chriften mit Recht ihrem Gott. Apollinaris hörte davon, und, 
wurde dadurch, daß ihm der Name der Legion fehr paffend erſchien, zu dem Glau⸗ 
ben verleitet, fie habe ihn erft bei dieſer Gelegenheit erhalten.“ Vieleicht hat 
auch Eufebins den Apollinaris mißverftanden oder ungenau citirt; e8 wäre näm— 
lich wohl denkbar, daß Apollinaris! Worte nur den Sinn hatten: ſeitdem habe 
der Name, den die Legion führte, erft einen recht paffenden Sinn befommen. — 
Bemerfenswerth ift übrigens noch, daß Gregor von Nyffa in der zweiten Rede 
auf die 40 Martyrer von Gebafte (Opp. ed. Paris. 1638. t. II. p. 505) erzählt, 
diefe Martyrer hätten zu einer Legion gehört, die durch eine wunderbare Erfchei- 
nung zum Chriftentbum befehrt worden fei und in einem Kriege mit den Bar- 
baren durch ihr Gebet ein Gewitter bewirkt Hätte, Wenn ſich diefes, wie es 
den Anſchein hat, auf daffelbe Fartum bezieht, fo würbe die Angabe, daß die 
Legion ganz oder größtentheils aus Chriften beftanden habe, an Unwahrfcheinfich- 
feit verlieren. — Vgl, Tillemont, hist. des emp. t. II. M. Aurel art. 15. — 
Stolberg, Gefhichte der Rel. Jeſu 8, 80 ff. — Rohrbacher, hist. de Fegl. 
5,425. [Reuſch.] 

; Legio Thebaica. Dieſen Namen führte eine römiſche Legion (wahr- 
fcheinlich weil fie fih aus der Thebais reerutirte), welche ganz aus Chriften be— 
flanden und unter Kaiſer Marimian das Martyrium: erlitten haben fol, Die 
älteften Nachrichten darüber haben wir in einem Bericht des HL. Eucherius, Bi— 
Tchofs von Lyon CH gegen 450, f. den Art, — Rettberg, Kirchengefhichte von 
Teutfhland 1, 97, ſchreibt denfelben einem jüngern Eucherius im Anfang des 
fechsten Jahrhunderts zu, ohne aber feine Meinung zu begründen —) an den 
Biſchof Salvius, abgedruckt bei Ruinart in den Acta SS. 22, Sept. und bei 
Migne Patrol. t. 50.. Die Aechtheit und Glaubwürdigfeit deſſelben, obwohl dieſe 
noch von Stolberg (IX, 305.) beanftandet wird, ſteht nach den Unterſuchungen 
der Bollandiften (22. Sept.) wohl feſt. Eucherius nun erzählt Folgendes: Ma- 
ximian hatte im Kriege gegen die Gallier in feinem Heere auch die legio Thebaica, 
die früher im Drient geftanden hatte und ganz aus Chriften befand. (Daß die 
Legion auf ihrem Marfche aus dem Drient nach Gallien zu Rom vom Papfte im 
Glauben beftärkt worden fei, fagen erft fpätere Nachrichten.) Marimian wollte 
nun diefe Legion gleich andern zur Einziehung und Berfolgung der Chriften ver— 
wenden, fie weigerte fich aber, diefen Befehl auszuführen. Der Kaifer war da= 
mals zu Detodurum (Martigny oder Martina an der Rhone oberhalb des 
Genferſees), die Legion fland in Acaunensibus angustiüs, jegt St. Maurice im 
Kanton Wallis. (Nach fpätern Nachrichten Hätte der Kaifer zu Detodurum ein 
großes Opferfeft feiern und die Chriften zur .Theilnahme daran zwingen wollen.) 
Wüthend über die Weigerung der Soldaten, ließ Marimian die Legion decimiren. 
Deßungeachtet blieben die übrigen bei ihrer Weigerung, Namentlich beftärkten 
Mauritius, der primicerius der Legion, der campidoctor (nad du Cangeisqui _ 
scienfiam armorum militibus tradebat) Exuperius und der senator (nach Hiero— 
nymus war diefes der nächfte im Range nach dem primicerius) Candidus bie 
Shrigen im fandhaften Fefthalten am Glauben, Die Decimirung wurde wieder 
holt, aber wieder vergebens, Die Soldaten Tiefen dem Kaiſer fagen, fie feien 
zwar feine Untergebenen , zugleich aber auch Knechte Gottes; fie würden ihm, wie 
bisher, auf's Pünctlichfte gehorchen, nur dürfe fein Befehl nicht dem göttlichen 
Willen widerſprechen; denn fie hätten früher den Glaubenseid als den Fahneneid 
abgelegt. Darauf wurben fie alle, ohne Den geringften Widerftand zu- Ieiften, 
niebergemacht. Gleich darauf Fam Victor, ein Veteran einer andern Legion, 
des Weges, befannte fih als Chrift und wurbe an bemfelbem Orte getöntet, Ans 





} Legio Thebhaica. 415 


dere Namen find nicht bekannt. Zu derfelben Legion follen, fügt Eucherius bei, 
Urſus und Victor gehört haben, die zu Salodurum an der Arula, nicht weit 
vom Rhein (Solothurn an der Aar), getödtet wurden (fie ſtehen im Mart. rom. 
unter dem 30. Sept). — Diefer Borfall wird von Einigen (Zillemont, Rui- 
nart, Bunus in den AA. SS. 4, Det.) in das J. 286, von Baronius in dag 
j J. 297, von Job. Eleus (AA: SS. 22, Sept.) in das J. 303 verfegt. — Schon 
im fünften Jahrhundert war das Grab des HI. Mauritius und feiner Genoffen 

zu Agaunum fehr berühmt; Eucherius erzählt fhon Wunder, die dort gefchehen 
feien.. ‚Gegen Anfang des fehsten Jahrhunderts beftand fchon das Klofter St. 
Mauriz am Fuße des St, Bernhard; Avitus von Bienne (c. 500) erwähnt eine 
passio diefer Martyrer, die man zu feiner Zeit vorzulefen pflegte; in einem von 
Mabillon herausgegebenen Miffale, welches im neunten Jahrhundert gefchrieben 
ift, findet ſich ſchon eine Missa S. Mauritii cum sociis suis. Die Heiligen wurden 
beſonders in der Schweiz, in Gallien und Savoyen verehrt; in Italien beftand 
ein Ritterorden unter dem Schuß des hl. Mauritius, von dem Gegen— 
papſt Felix V., Herzog Amadeus VII. von Savoyen (f. d. A.) gegründet, durch 
Herzog Emmanuel PHilibert erweitert und auf fein Anfuchen von Papft Gregor XIII. 
1572 beftätigt. — Daß Marimian fihon vor dem Beginn der allgemeinen Ver— 
folgung (303) gegen die Chriften wüthete, und daß er eine ganze Legion feinem 
Chriftenhaß opferte, ift bei einem fo rohen und graufamen Tyrannen gar nicht 
unglaublich. Daß aber das Schweigen früherer Schriftfteller, wenn es auch na— 
mentlich bei Lactanz und Oroſius etwas auffallen muß, doch fein genügender Be— 
weis gegen die Glaubwürdigkeit der Erzählung des Eucherius iſt, haben die Bol— 
landiſten (ad 22. Sept. p. 324 sqq.) nachgewieſen. — Die Zahl der mit Mau— 
ritius Gemarterten wird gewöhnlich auf 6600 angegeben; Eucherius fagt nur, 
eine Legion habe damals aus 6600 Mann beftanden, nicht aber, daß die ganze 
thebaiſche Legion damals zu Agaunum zufammen gewefen ſei; jedenfalls fiel aber 
nach ihm dort, wenn nicht die ganze Legion, fo doch der größte Theil derſelben. 
Es werden aber außer den von Eucherius genannten Martyrern im römifchen und 
andern Martyrologien noch viele andere Martyrer der thebaifchen Legion bei— 
gezählt; fo nennt das Martyrol. rom. außer Victor und Urſus, die auch Euche— 
rius erwähnt, noch Vitalis und Innocentius als Genoffen des Mauritius, 
— ferner Antoninus zu Piacenza (30, Sept), Secundus zu Albintimilium 
Wintemiglia) in Ligurien, und Alerander zu Bergamo (26. Aug). Auch 
ein Felix mit feiner Schwefter Regula, die zu Zürih den Martertod erlitten 
haben follen, werden den Thebäern beigezählt (f. den Art. Felix Bv.IV. ©. 1). 
Am berüuhmteſten find nach Mauritius noch folgende zwei Gruppen: 1) Tyr⸗ 
I ins, Bonifacius und ihre Genoffen. Nah dem Martyrium des Hl. Mauritius 
I fol Marimian den Rietius Varus (Rictivvarus, der bei vielen andern gallifchen 
Martyrien erwähnt wird, und, wie Nettberg a. a. D. ©. 108 richtig bemerft, 
in den dortigen Marteracten als ein Colfectioname zur Bezeichnung tyrannifcher 
Beamten aus der Zeit der Verfolgung erfcheint) nach Trier gefchicft Haben, um 
au dort die Chriften, namentlich zwei Cohorten der thebaifchen Legion unter 
Tyrſus und Bonifacius, zu verfolgen. Derfelbe foll am 4, Det. die thebaifchen 
Soldaten, an den zwei folgenden Tagen den Conful Palmatius, mehrere Se— 
natoren und viele andere hriftlihe Trierer haben Hinrichten Iaffen. St. Felir, 
I Bifhof von Trier, fol die Leiber diefer Martyrer gegen Ende des vierten Jahr» 
4 Hundert in die Paulinskirche Haben bringen Iaffen, wo fie 1071 aufgefunden 
I wurden. An dieſer Tradition ſcheint das ficher zu fein, daß damals zu Trier viele 
I Ehriften als Martyrer farben; nicht unmöglih ift es auch, daß darunter ein 
Theil der tbebaifchen Legion war, der dann von Marimian vor dem Vorfall bei 
Detodurum dorthin geſchickt wäre; es wäre aber auch Leicht möglich, daß die Le= 
I gende diefe und die andern erwähnten und noch zu erwähnenden Martyrer aus 















416 -  Legio Thebaica. 


dem Soldatenftande darum zu der berühmten thebaifchen Legion zählt, weil fie 
um diefelbe Zeit und aus demfelben Grunde das Martyrium erlitten, wie St. 
Mauritius und die Seinigen. — 2) Caffius, Florentius und fieben andere 
(nach dem Martyrol. rom. plurimi alii) Soldaten der thebaifchen Legion follen bei 
Berona, d. i. Bonn, gemartert fein (den Ort ihres Martyriums bezeichnet noch 
jest die fogenannte Martercapelle), Bictor und andere zu Troja, welches von 
diefen Heiligen, Sancti, den Namen Kanten erhalten haben fol; endlih Gereon 
mit Andern zu Cöln, Die ältefte Erwähnung derfelben findet fih bei Gregor 
von Tours (+ 595) glor. mart. 1, 62. 63; nähere Angaben darüber Haben erft 
mittelalterliche Martyrologien, die aber vielfach und namentlich in der Angabe 
der Zahl der Martyrer von einander abweichen, (Die Zahl der Genoffen Gerenn’s 
gibt die Sequenz Gaude felix Agrippina im cöfnifchen Miſſale, übereinftiimmend 
mit dem Martyrol. rom., auf 318 an.) Einige nennen auch einen Mallofus 
oder Mallufins als Genoffen des Victor, während Andere, minder wahrfhein- 
lich, Diefes als einen Beinamen Gereon’s anfehen, Schon im fechsten Jahrhun— 
dert war, wie Gregor von Tours (1. c.) erzählt, in Cöln eine ſchöne Baſilica, 
welche die hl. Helena zu Ehren diefer Martyrer erbaut haben fol, und welde 
wegen der reichen Vergoldung „ad aureos sanctos* genannt wurbez fie wurde 
fpäter Stiftskirche und ift jetzt Pfarrfirhe, Einen ausführlichen, aber fpäten Be— 
richt über diefe Martyrer haben wir in einer Rede des Ciftereienfers Helinand, 
+ 1227 (bei Surius, und in den AA. SS. 10. Oct.) — Auch diefer Tradition 
Viegt wohl ficher das Factum zu Grunde, daß damals viele chriſtliche Soldaten 
an den genannten Orten das Martyrium erlitten; ob dieſelben aber wirklich zur 
thebaifchen Legion gehörten oder nur der angegebenen Analogie wegen von der 
Legende derfelben beigezählt worden find, muß bei vem Mangel an alten Nach— 
richten bahingeftellt bleiben. — Im Jahre 1121 wurden, da der hl. Norbert Ne- 
liquien von dieſen Martyrern zu erhalten wünfchte, einige Sarfophage in der 
Gereonskirche geöffnet; man fand, wie Rudolph, Abt son St, Pantaleon, der 
dabei zugegen war (in den AA. SS. 10, Det), erzählt, die heiligen Leiber in 
ihren purpurnen Soldatenmänteln mit einem Kreuz auf ber Bruft nebſt einem 
biutbefprigten Raſen. — Bald nah St. Gereon follen zu Cöln 50 „der 300 
oder 360 (dieſe Zahl gibt die erwähnte Sequenz an, fie war auch zur Zeit des 
HL. Anno traditionell) Soldaten aus Mauritanien, Mauri, als Martyrer 
geftorben fein, deren Leiber in derfelben Bafilica beigefegt und von dem hl. Anno 
erhoben wurden. Auch diefe Tradition Hat gar Feine innere Unwahrfcheinlichkeitz 
diefe Martyrer werden aber fiber mit Unrecht in einigen Martyrologien der the- 
baifchen Legion beigezählt Cof. AA. SS. 15, Oct.); noch Helinand unterſcheidet fie 
deutlich von derfelben, und auch das römische Martyrologium (15. Det.) nennt 
fie nicht Thebäer, Spätere nennen ihren Anführer Gregor oder Georg. — 
Rettberg (Kirchengeſch. von Teutfhl. Bd. I. ©, 94 ff.) unterwirft die ganze 
„Sage” von der thebaifchen Legion einer fehr firengen Kritif, die zum Nefultate 
bat, daß die Gefchichte des hl. Mauritius, der mit 70 Genoffen zu Azamen in 
Syrien gemartert wurde, und deſſen Feft die Griechen den 21. Febr, feiern, der 
hiftorifche Kern, alles Andere Iegendenhafte Ausfhmürung fei. Die Bermuthun- 
gen und Combinationen, auf die er diefe Meinung flügt, find fehr geiftreichz 
wer aber den Schriftftellern früherer Jahrhunderte und kirchlichen Traditionen 
etwas mehr Auctorität zugefteht, als den Dichtungen der griechiſchen Cyeliker und 
Homeriden, der kann unmöglich die Wahrheit einer folchen Legende auf ein folches 
Minimum reduciren, wenn er auch gern zugefteht, daß Legende Feine Gefhichte 
ift, und daß fich die Grenze, wo die Gefchichte aufhört und die Legende beginnt, 
felten mit Sicherheit angeben läßt. — In das römifche Brevier ift von biefen 
Martyrern nur Mauritius cum sociis suis aufgenommen (22, Sept.) ; dagegen fin- 
den fih im cölnifchen Brevier und Miffale außerdem am 4, Oct, S. Tyrsus cum: 





Kesif und Dee retiſt — Legitimation durch nachfolgende Ehe, 47 


is, am 10. Det, S. Gereon cum sociis suis (von denen in 7 ration 
Viet aſſius und Florentius, und in den alten Ausgaben Malluſius nament- 
lich erwähnt find), und am 15. Det. die SS. Mauri. Am 24. Nov. wird nah 



























denſelben Brevier die oben erwähnte elevatio. SS. Thebaeorum (a. 1121) ge— 
feiert, f den 2. Mai war früher eine translatio SS. Cassii, Florentii et Mal- 
Jusii angefeßt, die jegt aufgehoben ift. Mauritius, Gereon, Victor und Caffius, 


ein jeder cum sociis, und die SS. Mauri find auch in die cölnifhe Alferheiligen- 
Iitanei aufgenommen. — Vgl. über die legio Thebaica die Acta Sanctorum, Su- 
ring a Martyrologium Usuardi, ed. J. B. du Sollier S. J. zum 22. Sept. und 
zum 4,, 10, und 15. Oet., ferner Tillemont, me&moires t. IV., Stolberg IX, 
302 f, und Rettberg..D.©.94ff., wo au die über diefen Gegenftand 
verfaßten Streitfchriften aufgezählt find. [Reufd.] 
Legiſt und Deeretiſt, f. Decretift. re 
itimation durch nachfolgende Ehe — legitimatio per subsequens 
matrimonium.g Die aus einer Iegitimen Che bervorgehenden Kinder find ſelbſt 
legitim, fie haben die Rechte der ehelihen Geburt, Anfpruh auf Namen und 
Stand des Baters, flandesmäßigen Unterhalt, Erbredte u. f.w. Die in einer 
außerebelichen Verbindung erzeugten Kinder gelten für illegitim und fönnen 
die ebengenannten Rechte gefeglich nicht in Anfpruch nehmen; aber obſchon die 
Kirche jede außerehelihe Gefhlehtsverbindung als fündhaft verdammt, fo läßt 
fie doch den aus ſolchen Verbindungen hervorgehenden Kindern die Rehtswohl- 
that der Legitimation angedeihen, wenn ihre Erzeuger nachher wirflid 
ſich ebelich verbinden; tanta est vis matrimoniü, fagt Papft Alerander III., ut, 
qui antea sunt geniti, post confractum matrimonium legitimi habeantur (e. 6. X. 
qui filii sint legitimi. 4. 17.). Die nachfolgende Ehe Hat die Legitimation ipso 
facto zur Folge, die Einwilligung der Kinder ift nicht notbwendig (Ce. 1. 6. X. h. 
1.4.10), fie werben rechtlich den ehelichen Kindern überall gleichgeachtet und 
 Fonnen in öffentlichen Urkunden nach der übereinftimmenden Anficht der Canoniſten 
als folche bezeichnet werden, die von Anfang an aus einer ehelichen Verbindung 
I entfproffen find, quia subsequens matrimonium omnia praecedenlia purgat (Glossa 
 adeil.c.6.X.h,t). Da die BWirfung der Legitimation an das matrimonium 
legitimum gefnüpft ift und das canonifhe Recht allgemein den Grundfag aus- 
I Foriht, daß im Falle des Zweifels immer zu Gunften der ilfegitimen Kinder 
entſchieden werden ſolle Co. 14. X. h. t. 4. 17), fo ift es für die Legitimation 
öllig gleihgültig, ob die nachfolgende Ehe wirklih confumirt worden iſt oder 
nicht, weßhalb die Ehe betagter oder franfer Perfonen, felbft wenn fie erft auf 
17 dem ZTodbette gefchloffen worden wäre, die unehelihen Kinder legitimirt; ebenfo 
I if es gleihgültig, ob das matrimonium subsequens mittelbar oder unmittel- 
1 bar nadhfolge, daher find die iffegitimen Kinder eines Vaters, der nicht mit deren 
I natürlichen Mutter, fondern mit einer andern Perfon ſich verbindet und erft nach 
dem Tode d n mit jener eine Ehe eingeht, durch diefe Ehe als Iegitimirt 
zu betrachten; gar ein matrimonium putativum, d. h. eine an fich ungültige, aber 
son den Eontrahenten bona fide eingegangene und von ihnen für gültig gehaltene 
Ehe (ſ. Ehe, putative) hat die Wirkung der Legitimation; denn wenn die in 
einer putativen Ehe erzeugten Kinder vom Geſetz (c. 2. 14. X. h. t. 4. 17) für 
I Tegitim erflärt werden, fo ift, wie die Canoniſten mit Recht bemerken, nicht ab- 
9 zufehen, warum das matrimonium 5* die außerehelichen Kinder nicht auch 
I Tegitimiren ſollte. — Wenn dieſes die rechtlichen Beſtimmungen in Betreff der 
I nachfolgenden Ehe find, fo fragt fih weiter, fonnen dur diefelbe alle außer- 
I ehelichen Kinder ohne Unterſchied Tegitimirt werden? Das römifche und eanoniſche 
I Reht weichen hierin von einander ab. Um den — wiewohl geſetzlich erlaubten 
5 amd begünftigten — Coneubinat (f. d. A.) zu verdrängen und die Ehe zwifchen 
den in demfelben Tebenden Perfonen zu erleichtern, verordnete Eonflantin der 
Kirgenlerifon. 6. Br. 27 





418 Regitimation durch nachfolgende Ehe, 


Große, daß durch die nachfolgende Ehe die im Concubinat erzeugten Kinder — 
liberi naturales — zu Legitimen erhoben werben ſollen; Zeno, Anaflafius, Ju— 
ſtinus wiederholten. diefe Beftimmung, und Juftinian machte fie zu einer allge- 
meinen (c. 5. 6. 7. 10. 11. Cod. de naturalibus liberis. 5. 27; Nov. 12. c. 4, 18. 
c. 11, 78. 0.4). Sp konnten nach römiſchem Rechte nur die liberi naturales le— 
gitimirt werben, alle andern außerehelichen Kinder (spurü, vulgo quaesiti, fili ex 
damnato coitu) waren von biefer Wohlthat ausgeſchloſſen. Das canonifche 
Recht dagegen Fennt diefe Bevorzugung der Conceubinenfinder nicht; Die Kirche 
halt jede außerehelihe Geſchlechtsgemeinſchaft für unerlaubt, insbefondere war 
dieß in Betreff des Concubinats immer der Fall, und wenn fie auch Anfangs der 
äußern Verhältniffe wegen ihn noch dulden mußte Ce. 4. 5. 6. Dist. 34; c. 6. 
Caus. 32. q. 2), fo trat fie ihm doch, je größern Einfluß fie auf das Leben der 
Bölfer gewann, immer mehr und mehr entgegen (J. H. Boehmer, J.E. P. Lib. 
I. tit. 2. $ 22) und erflärte ihn wie jede andere außereheliche Verbindung für 
durchaus verboten (c. 1. de concubinariis in VII. 5. 16). In Folge — An⸗ 
ſchauung konnte ſie die Legitimation durch nachfolgende Ehe nicht mehr auf die 
Epnenbinenfinder beſchränken, ſondern erweiterte fie auf alle außerehelich Ge— 
bornen Co. 1. 6. 9. X. h. t. 4. 17). Bald gewannen die Beflimmungen des ca- 
nonifchen Nechts auch in den weltlichen Gerichten Aufnahme (vgl, Schwaben- 
fpiegel, Art, 378), und gegenwärtig find fie in allen Gefeßgebungen anerfannt. 
Sndeffen gilt diefe allgemeine Ausdehnung doch nicht unbedingt, vielmehr fügte 
ihr Alexander IN. eine wichtige Befchränfung bei; nachdem er .6.X%. ht. 4. 
17 jene ausgefprochen, fährt er alfo fort: „Si aufem vir, vivente uxore sua, aliam 
cognoverit, et ex ea prolem susceperit, licet post mortem uxoris eandem duxeritf, 
nihilominus spurius erit filiWs et ab haereditate repellendus, praesertim si in 
mortem uxoris prioris alteruter eorum aliquid fuerit machinatus: quoniam matrimo- 
nium legitimum inter se contrahere non potuerunt.‘“ Hienach können alſo die im 
Chebruc erzeugten Kinder durch die nachfolgende Ehe nicht Tegitimirt werben, 
Zwar hat 3. 9. Böhmer (J. E. P. Lib. IV. tit. 17..$ 20 sqq.) diefe Aufaffung 
der Deecretale beftritten und behauptet, e8 folge gerade das Gegentheil aus der— 
felben; „denn zur Zeit Alexanders II. fer die Ehe zwifchen Chebrecher und Ehe- 
brecherin überhaupt verboten gewefen, und der Papſt verorbne von die ſem 
Standpuncte aus weiter nichts, als daß, wenn eine folde Ehe trog des allgemei- 
nen Verbots gefchloffen worden fei, fie jedenfalls die Legitimation der Aneheliche 
Kinder nicht bewirken Fünne; nun habe aber Innocenz III. im c. 6. X. de eo, q 
duxit in matrim. 4. 7. das ältere canonifche Recht dahin geändert, daß ſolche 
Chen, mit Ausnahme zweier Fälle, erlaubt feien, — e8 falle alfo die Beftim- 
mung Aleranders III. vollftändig hinweg, und e8 müffe mit diefen Ehen auch die 
Legitimation der im Chebruch erzeugten Kinder verbunden fein.“ Allein die Vor⸗ 
ausſetzung, auf welcher diefe ganze Argumentation beruft, ift hiſtoriſch unrichtig ; 
fhon vor Alerander galten die Ehen zwifchen Ehebrechern im Allgemeinen für 
erlaubt, ſchon Gratian fpricht dieß aus c. 2. Caus. 31.9. 1, Alerander, der 
nicht lange nach Gratian fohrieb, muß fein Decret gefannt haben; war dieß aber 
der Fall, fo fönnen feine Worte nur den Sinn haben: die Ehen zwiſchen Ehe— 
brechern find zwar in der Negel jegt erlaubt, aber die Legitimation der Kin- 
der fünnen fie nicht bewirken, und diefes ganz befonderg nicht, si in morlem 
uxoris prioris alteruter eorum aliquid fuerit machinatus. Was ſodann Innocenz IL 
betrifft, fo fann die Behauptung, er Habe die bisherige Praxis ändern wollen, 
auch nicht die geringfte Wahrſcheinlichkeit für fi in Anfpruch nehmen; denn wäre 
Alexander I., wie behauptet wird, wirklich noch auf den Standpuncte besälteren 7 
Nechtes geftanden, und hätte Innocenz II. in dieſer für die Kirchliche Disciplin 
ſo wichtigen Angelegenheit eine Aenderung machen wollen, ſo würde er dieſes 
Hoch irgendwie in feiner Decretale angedeutet haben, da ihm die Geſetzgebung 








Legitimation durch nachfolgende Ehe. 419 


feines Vorgängers nicht unbekannt fein konnte; die genannte Deeretale enthält 
aber von einer folhen Andeutung auch nicht eine Spur, vielmehr fagt fie unter 
ausdrüdlicher Berufung auf die bereits geltende Praris (secundum formam cano- 
nicam taliter respondemus etc.) genau daffelbe, was ſchon Gratian gelehrt und 
Alexander I. beftimmt hatte, nämlich daß, zwei Fälle ausgenommen, die Ehen 
zwifhen Ehebrechern erlaubt feien. Demnach ftehen beide Paͤpſte auf demſelben 
Standpuncte, und die beftrittene Verordnung Aleranders II. entzieht alfo den 
adulterinis die Legitimation durch nachfolgende Ehe, eine Anficht, welche die Ca— 
aoniften einftimmig aussprechen (Van-Espen, J. E. U. P.Il. tit. X. c. 4), und 
Benediet XIV. in der Conflitution Redditae nobis vom J. 1744 mit unwiderleg=- 
lichen Gründen vertheidigt hat, Fragen wir aber nach dem eigentlichen Grunde, 
der die Päpfte beftimmte, die adulterini von der Legitimation auszufchließen, fo 
liegt er im Begriff und Geift der Legitimation felbft. Der nachfolgenden Ehe 
wird nämlıh in der Weife eine rüfwirfende Kraft beigelegt, daß die nun- 
mehrigen Gatten ſchon zur Zeit der Conception der illegitimen Kinder gleichfam 
als verehelicht gedacht werden; war num zur Zeit der Conception, wie diefes bei 
Ehebrechern der Fall ift, zwifchen den Erzeugern eine Ehe gar nicht möglich, fo kann 
die nachfolgende Ehe bis dahin auch nicht zurückwirken, d. 5, die legitimatio prolis tft 
mit ihr nicht verbunden. Diefer Grundfaß ift allgemein anerfannt, fowie die aus 
ihm nothwendig folgende Confequenz, daß, wenn zur Zeit der Conception die 
Che zwar an fich nicht möglich war, aber nachher in Folge einer Dispenfa- 
tion doch eingegangen wurde, mit ihr die Legitimation verbunden fei, denn eben 
die eingegangene Ehe beweist ja, daß fie durch Dispenfation ſchon damals mög- 
lich gewefen wäre; fo können z. DB. die incestuosi legitimirt werden, wenn. ihre 
Erzeuger naher zum Zwede der BVerehelihung die Dispens erlangt haben, 
Uebrigens wurde ſchon im 13ten Jahrhundert die Legitimation der incestuosi bis- 
weilen in Abrede gezogen, und was die adulterini betrifft, fo werden fie von der 
neuern Staatsgefeggebung vielfach in allen den Fällen für Iegitimirt erflärt, im 
welchen der Ehebruch Fein Ehehinderniß mehr ift, z. B. in Preußen nach Reſcript 
vom 28, Februar 1818. — Bon befonderer Bedeutung ift die Lehre von der le- 
gitimatio per subsequens matrimonium in Beziehung auf die irregularitas ex de- 
fectu natalium. Als im neunten und zehnten Jahrhundert einerfeits die weltlichen 
Großen ihre außerehelihen Nachkommen nicht felten in die Firchlichen Beneficien 
einzudrängen fuchten, um fie fo anftändig und reichlich zu verforgen, und anderer- 
Weite unenthaltjame Priefter bemüht waren, die eigenen Beneftcien an ihre Con— 
eubinenfinder zu vererben (Van-Espen, J. c.), fo war die Kirche genöthigt, 
Diefem eben fo unwürdigen als gefährlichen Treiben entgegenzutreten; ſchon Ur- 
ban II. verbot den illegitimen Söhnen der Priefter geradezu den Eintritt in dem 
geiftlihen Stand, und das Concil von Poitiers (1073) dehnte daffelbe Verbot 
auf alle außerehelichen Kinder aus, von Innocenz II. wurden diefe Beftimmun- 
gen wiederholt, und durch die Deceretalenfammlung Gregors IX. gingen fie in’s 
gemeine Recht über (c. 1. 18. X. de filiis presbyterorum 1. 17). Daher fünnen 
noch gegenwärtig nur ehelich Geborne zu dem heiligen Weihen und Firchlichen Be— 
neficien gelangen; für die unehelichen Kinder ift hiezu die legitimatio per sub- 
sequens matrimonium nothwendig; it die nachfolgende Ehe nie eingetreten oder 
find fie adulterini, fo legitimirt für die höhern Weihen, Euratbeneficien und Dig- 
nitäten die Dispenfation des Papftes, für die minores, einfache Beneficien und 
Canonicate an Collegiatkirchen, falls für letztere die höhern Weihen nicht erfor- 
dert werden, die bifchöfliche Dispenfation Ce. 18. X. de filiis presbyt. 1. 17, 
ee. 1. h. t. in VI. 1. 105 endlich Tegitimirt auch der Eintritt in ein Klofter, aber 
zur Erlangung der Prälatur befähigt er nicht cc. 1. X. h.t. 1.17), und nad 
einer Verordnung von Sirtus V. kann ein Ilegitimus, auch wenn er durch die 
nachfolgende Ehe oder eine päpftlihe Dispenfation Tegitimirt pen wäre, nie 
27 















420 Lehen — Leibesftrafen, 


zur Carbinalswürbe erhoben werben (Bulla Sixti V. Postquam verus, in Bullar, 
Rom. Tom. IL), — Vgl. über die Legitimation Reiffenstuel, Jus Can, Lib. IV. 
tit. 17. $ 1. 2; Ferraris, Prompta biblioth. s. v. Filius, Filii; Georg. Jordens, 
de legitimatione disput. II. Trai. ad Rhen. 1742, 1743; Died, Beiträge zur Lehre 
von der Legitimation durch nachfolgende Che, Halle 1832, [Kober.] 

Reben, ſ. Kirchenlehen. 

Lehengeld, ſ. Laudemium. 

Lehnin, Hermann, ſ. Hermann v. Lehnin. 

Lehramt Chriſti, ſ. Chriftus, 

Lehramt der Kirche, ſ. Kirche und Exegeſe. 

Lehre der Kirche, ſ. Kirchenglaube. 

Lehre, Priefter der hriftl, Lehre, f. Bäter der chriſtl. Lehre, 

2eibesjtrafen bei den alten Hebräern. 1) Eine der Art nach unbe- 
ſtimmte Leibesftrafe war durch das Wiedervergeltungsgefes angeoronet. Wer 
nämlih einen freien Iſraeliten am Leibe verlegt hatte, follte durch die gleiche 
Verlegung an demſelben Theile des Leibes (jus talionis) beftraft werden; denn 
Das Geſetz fagt in diefer Beziehung: Leben um Leben, Aug um Auge, Zahn um 
Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um 
Wunde, Beule um Beule (Exod. 21, 23—25. Levit. 24, 19 f. Deut, 19, 21), 
und fügt hinzu, daß hierin gleiches Necht für Fremde und Einheimifche beftehen 
ſoll (Levit. 24, 22). Diefes Wiedervergeltungsrecht galt aber aller Wahrfchein- 
lichkeit nach nur für Diejenigen Fälle, wo die Verlegung vorfäßlich gefchehen war; 
denn ſchon für Verwundungen bei Schlägereien, wo im Allgemeinen beide Theile 
als gleich fehuldig präfumirt werben können, wurde nur eine Vermögensftrafe 
als Schadenerfa für den Verletzten vorgeſchrieben, nur feine Verſäumniß ſoll 
er bezahlen und ihn heilen laſſen (Exod. 21, 18. f.). Uebrigens ift jene Wieder- 
yergeltung nur als Recht, nicht als Pflicht angeordnet, Der Beſchädigte Fonnte 
auf dieſelbe Flagen, war aber, wenn ber richterfiche Ausspruch fie geftattete, noch 
feineswegs zur Vollziehung verpflichtet; wie verfehrt es wäre, folde Verpflich- 
tung in jenem Gefege finden zu wollen, erhellt aus Matth. 5, 38 —40. Ohne 
Zweifel wurde das firenge Necht höchſtens nur felten ausgeübt und in der Negel 
für die körperliche Verlegung, die der Befchädiger ſich hätte gefallen laſſen müffen, 
ein Löfegeld von ihm angenommen (cf. Lighifoot, horae hebr. p. 294). Das 
Geſetz geftattet zwar dieſes nicht ausdrücklich, allen da es in einem gewiffen Falle 
fogar Losfaufung von der Todesſtrafe durch ein Löfegeld geftattet (Exod. 21, 
29. f.), ſo muß nach dem Geift des Gefeges Losfaufung von Förperlichen Ver— 
Segungen um fo mehr erlaubt fein. 2) Die gewöhnlichfte Leibesftrafe bei den 
Hebräern beftund aber nach der allgemeinen Sitte des alten Drients in Schlägen, 
fo daß Schlagen auch geradezu im Sinne von Strafen gebraucht wird (Pf. 89, 
33. Sprüchw. 10, 13. 17, 26). Das Werkzeug dazu waren ohne Zweifel Stäbe 
oder Stecken, wie noch jest in Perfien, Arabien und Aegypten (Zahn, biblifche 
Archäologie. II. 2. S. 339), denn „der Stecken dem Rüden des Thoren” Sprüchw. 
10, 13, iſt augenfällig ein Strafwerfzeug, und ebenfo „der Stab meines Zornes 
und der Stecken meines Grimmes“ Gef. 10, 5. Nur ebebrecherifhe Sclavinnen 
wurden mit dem Ochfenziemer (9) gezüchtigt (Levit. 19, 20). Dagegen die 1 Kön. 
12, 11. 14. 2 Ehron, 10, 11. 14. erwähnten D’3Ip> (nah Ephram zu 1 Kön, 
12, 14. darmartige, mit Sand ausgeftopfte und mit Stacheln verfehene Leder— 
inftrumente) waren allem nach ein ausnahmsweiſes jedenfalls nicht gerichtliches 
Strafwerkzeug. Diefe Strafe, Die übrigens nicht entehrend war, wurde vom 
Richter nach Verhältniß der Schuld zuerkannt, nur durfte er feinem Schuldigen 
mehr als vierzig Streiche geben Iaffem Die Streihe aber wurden nicht, wie im 














Leibnik. 421 


heutigen Orient, auf die Fußfohlen, fondern auf den Rücken gegeben und die Boll- 
ziehung der Strafe mußte in Gegenwart des Richters ftattfinden (Deut. 25, 
1—3). Sn der naderilifhen Zeit bediente man ſich ftatt der Stecken oder Stäbe 
Heflochtener lederner Riemen oder Geißeln, fo daß die Strafe der Schläge jegt 
eine Geißlungsftrafe wurde. Sie war die gewöhnliche Strafe für Gefegesüber- 
trefung und wurde mitunter auch in ſolchen Fällen angewandt, in welchen nach 
dem Gefege die Todesftrafe Hätte eintreten follen (Maccoth 3, 15). Wie e8 
fheint, wurde fie gern in den Synagogen vorgenommen (Matth. 10, 17. 23, 
34) und war jet entehrend (Jos. Antt. IV. 8, 21. 23). Der Sträfling war in 
einer vorwärts gebeugten Stellung, und damit das vom Gefeg beflimmte Mari- 
mm von 40 Streichen nicht durch falfches Zählen überfchritten werde, gab man 
nur 39 Streiche (Maccoth 3, 10), und bediente ſich dabei, wie es ſcheint einer 
Geißel mit drei geflochtenen Riemen, wo dann 13 Streiche ſoviel ald 39 waren. 
Die Miſchna fagt diefes zwar nicht ausdrücklich, aber die Zahl 39, und die Be— 
merfung, daß der Verbrecher immer eine folhe Zahl von Streichen befommen 
habe, die fih durch 3 theilen ließ (Maccoth 3, 11), fpricht dafür, Mit Rückſicht 
auf jene Zahl 39 Heißt die Strafe au: vierzig (Streiche) weniger einer (2 Cor, 
41, 24). DBerfchärft wurde die Strafe der Geißlung, wenn Jemand diefelbe 
wegen deffelben Berbrechens fchon zwei Dial erhalten hatte und das Verbrechen 
zum dritten Dal beging; für diefen Fall beftund die rabbinifche Verordnung, daß 
er in den Stock gefegt und ihm Gerfte zu effen gegeben werde, bis er zerberfte 
(Sanh. 9, 5). Ob das Drei- Männer- Gericht Cef. Sanhı. 1, 1), welches feine 
Sigungen in der Synagoge hielt (Lightfoot, horae hebr. p. 332), die Geiflungs=- 
firafe babe verhängen können, ift unter den Thalmudiften felbft ftreitig (Sanh. 
1, 2)5 daß fie aber vom hohen Rathe oder Synedrium verhängt werben Fonnte, 
erhellt aus Apg. 5, 40. — Wohl zu unterfcheiden von der jüdifchen Geißlung 
iſt die römische, die während der römifchen Oberherrſchaft in Paläſtina auch an 
Juden vollzogen wurde (Matth. 27, 26. Joh. 19, 1. Apg. 16, 22). Sie gefhah 
theils mit Ruthen, theils mit Lederriemen, welche Ießtere zuweilen noch mit Blei 
und eifernen Hafen verfehen waren (Scorpione), und war auf feine beftimmte 
Zahl von Streiden eingefchränft (ogl. Drafenborch zu Livii histor. L. XXIX. 
€. 18). — Ausländifhe Strafen waren: 1) Die Verftümmelung, wovon ein 
Beifpiel (das Abhauen der Daumen und großen Zehen) ſchon im Buch der Richter 
4 6, f.) vorfommt. Gewöhnlich beftund fie im Abfchneiden der Nafe und Ohren, 
aber auch anderer Glieder, namentlich der Hände und Füße, oder der rechten 
Hand und des Iinfen Fußes, oder der Iinfen Hand und des rechten Fußes. Diefe 
Strafe, fowie die höchſte Steigerung derſelben, die Dichotomie (Abſchneidung 
eines Gliedes nach dem andern, bis der Tod erfolgt), war befonders in Aegypten 
üblich, wo gewöhnlich das Glied, womit das Verbrechen begangen worden, ab— 
geſchnitten wurde (Diod. Sic. I. 78), und in Perfien, wo oft noch die Leichen der 
Hingerihteten verflümmelt wurden (Jahn, a. a, D. S. 357). 2) Das Blenden, 
was fchon dem jüdischen König Zedekia von den Chaldäern widerfuhr (2 Kön. 
25, 7. Jerem. 52, 11), und in Perfien noch bis in die neuefte Zeit, namentlich 
an den Föniglihen Prinzen in Anwendung fam, um fie zur Regierung unfähig 
zu machen. Die Blendung befteht darin, daß man mit einem glühend gemachten 
Stift von Metall über den Stern des Auges hinfährt, fo daß die Sehfraft ent- 
weder sans verloren geht, oder nur noch im einem fo geringen Grade übrig bleibt, 
daß die Gegenflände zwar noch wahrgenommen aber nicht mehr von einander 
unterſchieden werden fünnen. [elte.] 
Seibnitz und fein Verhältniß zur katholiſchen Kirche, Gotifried 
Wilhelm Leisnig: ift geboren zu Leipzig den 21. Juni 1646, geflorben zu Han- 
nover den 14. November 1716, Sein Vater Friedrich Leibnig war Profeffor 
der Moral und Actuar der Univerfität Leipzig. Schon in den Studien des Knaben 


422 Leibnitz. 


zeigte ſich die künftige Größe. „Ich war noch Kind,” fo ſagt Leibnitz von ſich 
ſelbſt, „als ich den Ariſtoteles kennen lernte, ſelbſt die Scholaſtiker ſtießen mich 
nicht zurück. Den Suarez las ich ſo leicht, wie man mileſiſche Mährchen liest.“ 
Später gaben ihm Plato und Plotin Befriedigung, und wie er die niederen 
Schulen verließ, gerieth er auf die neuere Philoſophie. Insbeſondere las er 
fleißig Theologen von beiden Bekenntniſſen und befeſtigte ſich ſo in den gemäßig— 
ten Meinungen der Parteien der Augsburger Confeſſion. Mit 15 Jahren ſchon 
ein vielfeitiger Gelehrter, bezog Leibnig die Univerfität feiner Vaterſtadt. Mit 
17 Jahren wurde er durch Vertheidigung feiner Differtation de principio individui, 
welche eine ungemeine DBelefenheit in der Scholaftif zeigt, Baccalaureus ber 
Philoſophie. Nun widmete er fih dem Studium der Nechte, Leipzig verweigerte 
ihm hierin den Doetorgrad, Dagegen promovirte er in Altdorf auf's Glänzendſte 
als Doctor der beiden Rechte. Bald darauf trat er mit dem Fatholifch gewor- 
denen Baron Joh. Chriſt. v. Boineburg, lange Zeit erfiem Minifter des 
großen Churfürften von Mainz, Joh, Philipp v. Schönborn, in die engfte 
Berbindung und zog mit ihm nach Frankfurt, Im J. 1670 trat er in churmain—⸗ 
zifhe Dienfte, Von bier aus Tegte er Ludwig XIV. einen Plan zu einem Kreuz- 
zug gegen die afrieanifchen Naubnefter und zur Eroberung Aegyptens vor, und 
begab fich felbft zu Ludwig, konnte aber natürlich nichts ausrichten, Leibnis blieb 
übrigens als churmainzifcher Nath in Paris bis 1676, wo er von dem gleichfalls 
fatholifch gewordenen Herzoge Johann Friedrich als Rath und Bibliothecar 
nah Hannover berufen wurde, In einem Empfehlungsfchreiben Arnaulds heißt 
es, daß „Leibnitz nichts als die wahre Religion fehle, um in Wahrheit einer der 
größten Männer des Jahrhunderts zu fein.“ Im Intereffe des Haufes Braun- 
fchweig unternahm Leibnig 1688 eine Reife nah Rom und Stalien. In Rom 
wurde er mit größter Achtung behandelt. Es wurde ihm fogar durch den Car— 
dinal Caſanata die Stelle eines Cuſtode der Vaticaniſchen Bibliothek angetragen, 
„Allein”, fehreibt er, „es war eine Bedingung daran gefnüpft, welche die Sache 
unmdglih macht — ich habe die Aufficht über die Bibliothek des Vatican abge- 
lehnt, von welcher man oft zur Cardinalswürde übergeht. — Aber diefes Alles 
bleibt unter ung, denn ich prahle nicht gerne, obfchon ich Papiere in Händen 
babe, um zu beweifen, was ich behaupte.” — Im J. 1690 fam Leibnig nach 
Hannover zurüf, Sein Kopf und feine Feder wirkten mit zur baldigen Erhebung 
des Haufes Hannover zur Churfürftenwürde, In der Mitte diefes Jahrzehents 
trat Leibnig in Verbindung mit dem brandenburg-preußifchen Hofe, den er Dazu 
zu benügen fuchte, jenes eitle Phantom der Trennung zwifchen den beiden prote= 
ftantifchen Parteien immer mehr zu zerflören und die Union berfelben zu bewerf- 
ftelligen. Leibnig nimmt drei Grade der Union an, „Der erfte Grad ift rein 
eivil, er befteht in guter Harmonie und einem aufrichtigen Beiftande, und dahin 
muß e8 dem Wahsthum der römifchen Partei gegenüber bei beiden Secten kom— 
men. Der zweite zielt auf das kirchliche Einverfiändniß und lautet dahin, daß 
man fich gegenfeitig nicht verdamme: die tolerantia ecclesiastica. Der dritte 
Grad befteht in Einheit des Glaubens. Diefen letzteren Grad zu erreichen, hielt 
Leibnig nicht für möglich, und hätte fi) mit dem zweiten begnügt. Allein auch 
diefe Genugthuung ift ihm nicht geworben, Die 1701 erfolgte Erhöhung des 
Haufes Brandenburg zur Königswürde hält Leibnig für „eine der größten Be— 
gebenheiten der Zeit und für eine Zierde des neuen Säculi.“ War ihm ja ſchon 
der Churfürft von Brandenburg das Haupt der Proteftanten im Reiche, — In 
den letzten 20 Jahren feines Lebens befuchte Leibnis Feine evangelifche Kirche, 
ging nie zum Abendmahle. Es mag ihm dieß den Vorwurf des Unglaubens zu- 
gezogen haben. Den Sterbenden erinnerten feine Diener, ob er nicht das hl. 
Abendmahl nehmen wolle, Er erwieberte: fie follen ihn zufrieden Yaffen, er habe 
Niemand etwas zu leide gethan, Habe nichts zu beichten, Die Art des Begräb— 








Leibnitz. 423 


niſſes war des großen Mannes durchaus unwürdig. — Die Unſterblichkeit ſeines 
Namens aber hat ſich Leibnitz insbeſondere geſichert durch feine Leiſtungen in der 
Philoſophie, in welcher er gebrochen hat mit dem todten Mechanismus und dem 
ſtarren Dualismus des Descartes, gebrochen mit jedem Syſtem bloßer Immanenz. 
Bon bleibendem Werthe iſt, was er in der ſpeculativen Theologie, namentlich 
in feinem Hauptwerfe, der Theodicee geleiftet hat, fowie in der höheren Mathe- 
matik, Geſchichte, Rechtswiſſenſchaft ꝛc. An Univerfalität, Driginalität und Tiefe 
des Wiffens fommen ihm nur Wenige gleih. Zugleich ſteht aber Leibnig auch 
mitten auf dem Schauplage des gefammten Lebens und Strebens feiner bewegten 
Zeit, Er war ebenfo Staatsmann wie Philoſoph. An allen forialen, politifchen 
und firhlichen Berhältniffen nahm er den thätigften Antheil. — Der Streit, wel- 
chem Glaubensbefenntniffe diefer große Geift zugethan geweien, ift faft fo alt, 
als Leibnig felbft. Im neuefter Zeit find diejenigen ſchmählich verhöhnt worden, 
welche Leibnig für einen heimlichen’Katholifen gehalten und nur äußere Umftände 
als Urfache angefehen haben, warum er nicht offen zur Fatholifchen Kirche über- 
getreten ift. „Weber Leibnigens Glaubensbefenntnig” , ſchreibt Perg, „Eann fein 
weiterer Zweifel fein! Er war Katholif, wie Luther und Melanchthon, und wie 
Die ganze proteftantifche Kirche, nämlich auf der Grundlage des Evangeliums,” 
Das Recht, das lange unentfhiedene Problem mit folder Zuverficht als gelöst 
zu verfünden, gibt Pertz'n eine Stelle in einem Werfe Leibnigens, das er noch 
in feinen legten Jahren ausarbeitete, nämlich in feinen Annales imperii Bruns- 
wicensis Ocecidentalis. Die Stelle ift allerdings der Art, daß wir fie herfegen 
müſſen. Baronius erflärt die 963 geſchehene Abfegung des Papftes Johann XII. 
für unrechtmäßig, weil der Papft als der Höhere von dem Geringeren nicht ge- 
richtet werden Fönne. Dagegen führt Leibnig an, daß ſolche Stimmen der Schmeidh- 
ler und Unfundigen längft von denen widerlegt feien, die in der Gemeinfchaft 
der römifchen Kirche feldft das Eoneil über den Papft fegen. Die Bifhöfe feien 
dem Papft durch Fein göttliches Recht untergeben, er felbft nenne fie feine Brüder, 
Die ihm dur den Willen der Fürften und Völker des Oeeidents übertragene 
Gerihtsbarfeit höre auf, wenn der Hirte fih in einen Wolf verwandle (wie 
Johann XIL), dann flehe der römifche Bifchof unter dem Urtheile des römifchen 
Kaifers und der Brüder, Des Bolfes Heil fei im Staate, der Seelen Heil in 
der Kirche das höchſte Geſetz. Leibnig fährt fort: „Ich, der es nicht billigen fann, 


Daß dur Noms Veranftaltung oder Zulaffung die Reinheit der Gottesverehrung 


unterdrückt, das Chriftentbum bei dem Zwiefpalte der Völfer des Drientes und 
Südens verabfcheuenswerth oder lächerlich gemacht und eine unvernünftige und 
den Apofteln Chrifti unbekannte Theologie dur die Barbarei der Zeiten in die 
Welt gebracht ift; ich Habe doch immer das Anfehen des erften Biſchofsſitzes und 
die Wiederherftellung der alten Form der Firchlihen Hierarchie unter der Bedin— 
gung gewünſcht, unter welcher Melanchthon die fchmalfaldifchen Artikel unter- 
ſchrieb, wenn die Päpfte dem Evangelium Chrifti Raum geben, Warum Fönnte 
nicht wieder nach Carl und Dito ein dritter großer teutfiher Kaiſer aufftehen, 
der Rom wieder Fatholif und apoftolifh machte?“ Weiter urtheilt Leibnig von 
dem zehnten Jahrh.: „Damals ward der Papft noch für Petri, nicht für Gottes 
Statthalter auf Erden gehalten, und unerhört war der Traum feiner Unfehlbar- 
leit, nicht wurde das Anfehen der Kirche durch Blut oder graufamer durch Feuer 
befräftigt, nicht zu öffentlicher Anbetung das Sarrament des Altars ausgefegt 
oder herumgetragen, noch verftümmelt, indem der Kelch dem Volke entzogen 


wurde, 3a e8 war noch die alte Taufform vorhanden, die Biſchöfe Teutſchlands 


lehrten nach alter Sitte in den Tempeln, die Canonifer führten ein gemeinfames 
Leben, und an den Cathevralficchen und in ausgezeichneten Klöftern blühten 
Säulen, denen trefflihe Männer vorftanden. Alles diefes aber ftürzte zuſam⸗ 
men, als die römiſchen Biſchofe die Herrſchaft der Kirche ergriffen, und ihre Emif- 


424 Leibnitz. 


ſäre, die Bettelmönche, der Schulen ſich bemächtigten. Da traten lächerliche Spig- 
findigfeiten an die Stelle der verfiändigen Lehre, da ward von ber thörichtſten 
Graufamfeit mit Feuer und Schwert gegen Andersgläubige gewüthetz warb 
Zeutfchland durch des Clerus Künfte herrenlos und durch beftändige Spaltungen 
zerriſſen; zugleich mit dem Staate fiel die Gelehrfamfeit und an die Stelle des 
Rechts trat das Fauftrecht oder die Barbarei der heimlichen Gerichte, welche Hebel 
im 14ten Jahrh. bei uns faft bis zum Aeußerften gelangten.“ Diefe Stelle ift 
alfo für Pers und Andere das „Eirchlihe Teſtament“ Leibnigens. Alfein biefe 
Stelle kann für fich allein für die Gefinnung Leibnigens zu Gunſten des Prote- 
ftantismus nicht den Ausfehlag geben, da er denſelben an andern Stellen tief be- 
Hagt und da fie augenfoheinlih den Stempel einer momentanen Gereiztheit an 
fich trägt und daher ohne Gewicht iſt; fie iſt nichts als der Wiederhall der ge- 
meinüblichen Tiraden der Proteftanten gegen den Papft und die Fatholifche Kirche, 
zu denen fich der große Mann in einem unbewachten Augenblicke feines Ge- 
müthes herabließ, und welche auf Unwahrheit und falfcher Auffaffung der That- 
ſachen beruhen, und fleht mit feinen fonftigen und oft wiederholten Aeußerungen 
zu Gunften des Papſtes und der katholiſchen Kirche in dirertem Widerſpruch — 
Aeußerungen, mit denen der Proteftantismug ſchlechterdings nicht beftehen Tann, 
Da müffen wir ung alfo bei Leibnig weiter umfehen! Die Tradition der fatho- 
liſchen Kirche verwirft Leibnig nicht nur nicht, fondern fagt, daß er fie unendlich 
hochſchätze, daß ſelbſt gemäßigte Proteftanten eine apoftolifche Tradition anneh- 
men. Darım anerfennt Leibnig die Unfehlbarfeit der Fatholifchen Kirche, weil fie 
von Chrifto regiert werde, und unterwirft fich dem Anfehen der Concilien. Deß— 
wegen deutet er das Evangelium nicht fo, als Iehre e8 einen ohne die Werfe 
feligmachenden Glauben und fagt fo ſchön in feiner Theodicee: „Es Fann Feine 
Frömmigkeit flattfinden, wo Feine Liebe ift, und ohne Dienftfertigfeit und Wohl- 
thätigfeit kann man feine wahre Gfückfeligfeit zeigen.” Wie aber einen mit thä= 
tiger Liebe verbundenen, fo will Leibnig auch einen vernünftigen Glauben ſo— 


wohl im Gegenfaß zu Luther als zu Bayle. Das natürliche Licht der Vernunft 


ift ihm ein Geſchenk Gottes wie die Offenbarung, Die Glaubenswahrbeiten 
müffen in der Vernunft begründet fein, können wohl über, aber nie gegen bie 
Vernunft fein, Wie die Rechte der Vernunft, fo vertheidigt Leibnis auch Die des 
freien Willens, Wer will Täugnen, daß feine Theodicee nicht weniger der luthe— 
rifchen Lehre de servo arbitrio als dem Prädeftinatianismus entgegentritt ? Mit 
al’ dem -ift aber die Grundlage des „Evangeliums“ aufgegeben, Wir fünnen 


Dagegen die frappanteften Belege geben, wie Leibnig mit dem Begriffe, der Hie⸗ 


rarchie und Lehre der Fatholifchen Kirche übereinſtimmt. Mit 23 Jahren fhreibt 
Leibnig: „Katholiſch ift, der in der allgemeinen Einheit und in der Gemeinfchaft 
des apoftolifchen Stuhles ein Theil der hriftlichen Kirche iſt. Ein Ketzer ift außer 
der Fatholifchen Kirche, alfo außer Chriftus. Alfo ift für einen Ketzer fein Heil. 
Katholiſch zu fein, ift das größte Gut.“ Die ganze Kirche Halt er 1677 für einen 
einzigen Staat unter dem Papfte als „Gottes Stellvertreter”, während der Kaiſer 
als weltliher Stellvertreter Gottes zu betrachten fei, Die Faiferlihe Macht ſchließe 
die Advocatie der römiſchen, Das ift: der allgemeinen Kirche in ſich. Die 
Hierarchie ver Fatholifchen Kirche mit der Auszeichnung des höchſten Biſchofes ift 
ihm 1683 eine Sache des gewöhnlichen göttlichen Nechtes, weil ein Director 
der Bifchöfe und Priefter notwendig fer. Im J. 1691 gibt er zu, daß es dem 
Papfte zuftehe, Bifchdfe anzuerfennen und zu beflätigen. Im J. 1697 erklärt 
er fich alfo: „Da Gott ein Gott der Ordnung ift, und da es göttlichen Rechtes 
ift, daß der Körper einer einzigen katholiſchen und appftolifchen Kirche durch Eine 
Regierung und eine allgemeine Hierarchie zufammengehalten werden foll, fo folgt, 
daß in diefem Körper deſſelben göttlichen Rechtes ſei das geiftliche Oberhaupt, 
wenn es fih in Ausübung der Gewalt in gerechten Grenzen Hält und mit bex 





Leibnitz. 425 


Kraft verſehen iſt, alles zur Erfüllung feines Amtes Nothwendige zum Heile der 
Kirche zw vollziehen, Das Angeführte mag die von Pers ausgehobene Stelle in 
Betreff der Hierarchie in ihr rechtes Licht fegen. Man fieht, mit welcher Wärme 
Leibnig die Idee der Katholieität und der mittelalterlihen Thevcratie fefthält, 
Die Idee der Kirche mit ihrer Hierarchie entfpricht aber auch am Beften feinem 
Syſteme. Die Bereinigung der Geifter bildet ihm gegenüber dem Reiche der 
Natur die Stadt Gottes, d. 5. den vollkommenſten Staat, welcher möglich ift 
unter dem vollfommenften Monarchen, eine wahrhaft univerfelle Monarchie, Diefe 
Gemeinfhaft der Heiligen iſt Fatholifch oder allgemein und verbindet die ganze 
menfhlihe Geſellſchaft. Sie hätte wohl auch ohne Dffenbarung unter den Men- 
ſchen beftehen, und durch Fromme und Heilige unterhalten und fortgepflanzt wer- 
den fönnen. Kommt indeß eine Offenbarung dazu, fo wird das vorige Band 
nicht zerriffen, fondern verftärft. Auf diefem Grunde feiner Natur- und Rechts— 
philofophie baut nun Leibnig eine allgemeine Republif der riftlihen Völker in 
dem Berbande der allgemeinen Kriftlihen Kirche unter den zwei oberſten Ge— 
walten. Daraus laſſen fi Teicht die großen Anftrengungen Leibnigens für Ver- 
einigung mit der katholiſchen Kirche erklären, fowie die Aeußerung von ihm, 
daß wir mit al’ unferen Thränen die Trennung nicht genug beweinen fönnen. Der 

für die katholiſche Kirche und ihre Hierarchie fo begeifterte Leibnig war alfo doch 


gewiß Katholik? „Sie Haben Neht, wenn Sie glauben, ich fei im Herzen ein 





Katholik. Ich bin es ja fogar öffentlich,“ fchreibt Leibnig 1691 an Madame 
de Brinon. Den gründlichften Auffchluß über die Katholicität Leibnigens gibt 
fein Briefwechfel mit dem Convertiten Landgraf Ernft von Heffen-Rhein- 
fels, der die Periode von 1680 — 1693 umfaßt. Der Landgraf fordert Leib- 
nigen öfters und mit einer faft wehethuenden Zudringlichkeit auf, Gott die Ehre 
zu geben, fich gleichfalls in den Schooß der Fatholifchen Kirche zu retten. Leibnig 
fagt, daß man in der inneren Communion der katholiſchen Kirche fein könne, 
ohne in der äußern zu fein, Er Halte fich der inneren Communion der Kirche 
für verfichert, wie derjenige, welcher ungerecht ercommunieirt fei, weil es nicht 
an ihm liege, auch der äußeren zu genießen, Es würden nämlich einige philo— 
fopbifhe Meinungen, von welchen er die Beweife zu haben glaube, die er alfo 
unmöglich aufgeben Fönne, die übrigens weder der hl. Schrift, nach der Tradi- 

tion, noch der Definition eines Conciliums widerfprächen, von einigen Theologen 
der Schule cenfurirt, als gehörte das Gegentheil davon zum Glauben. Wäre 
er in der Fatholifchen Kirche geboren, fo würde er nur austreten, wenn man ihm 
wegen biefer Meinungen die Communion verweigern würde, Sp aber müßte er 
entweder feine Gedanfen verbergen, oder einem: Turpius ejicitur, quam non ad- 
mittitur hospes ausfegen, Wie an den Landgrafen, fo ſchreibt Leibnig auch an 
Madame de Brinon: „Das Wefen der Katholicität befteht nicht darin, äußerlich 
mit Rom zu commitnieiren, fonft würden diejenigen, welche ungerecht ereommuni- 
eirt werden, wider Willen und gegen ihre Schuld aufhören, Katholiken zu fein. 
Die wahre und wefentlide Communion, welche macht, daß wir zu dem 

Körper Jeſu Chriſti gehören, ift die Liebe," Wir fönnen demnach das BVBerhält- 
niß leibnigens zur katholiſchen Kirche ziemlich genau beftimmen. Leibnig ift Ka- 
tholik, aber — in feinem Sinne, Zwei Begriffe, die Leibnig feldft nicht immer 
genau auseinander gehalten und dadurch felbft Anlaß zu Mißverfländniffen gege- 
ben hat, müffen wohl von einander gefchieden werden: nämlich der hiftorifch ge— 
gebene Begriff der römifch-Fatholifchen Kirche, und der Begriff ver Fatholifchen 
Kirche, der Stadt Gottes, der Gemeinfchaft der Heiligen, wie er aus dem fbe- 
culativ politifhen Syfleme Leibnigens folgt und deffen Schlußftein bildet. Leib- 
nigens Kirche Gottes bindet die ganze menſchliche Geſellſchaft auf Erden zufam- 
men, das Poftulat der Idee derfelben ift allerdings die hiftorifch gegebene katho— 
liſche Kirche, und Leibnig anerkennt in derfelben die Verwirklichung feiner Idee. 


426 Leibnitz. 


Daher iſt ihm der Papſt der Stelloertreter Gottes, der Primat des Papſtes, ja 
die ganze römiſche Hierarchie göttlichen Rechtes, und die Wiedervereinigung mit 
dieſer Kirche nach Kräften herzuſtellen für Leibnitz ein ſpeculatives Bedürfniß. 
Allein der Widerſpruch geſellt ſich gleich dazu. Er ſchreibt an den Landgrafen 
Ernſt, daß „die ſichtbare katholiſche Kirche in all' den Glaubensartikeln, welche 
zur Seligkeit nothwendig ſeien, durch einen beſondern, ihr verheißenen Beiſtand 
des hl. Geiſtes untrüglich ſei/. Wie kann aber dann immer noch von „ungerecht 
Ereommunieirten” , von philofophifchen Meinungen die Nede fein, die, wenn auch 
fireng bewiefen, doch eenfurirt werben Fönnten ? Auf diefe „ungerechte” Exreommuni- 
cation und Cenfur fih berufend, behauptet Leibnig freilich, wenn nicht in der 
äußeren, fo doch in der inneren Communion der Kirche zu fiehen. Allein wenn 
die Kirche wirflih den äußeren Verband mit ihr fordert und fordern kann, wenn 
fie in einem fo wefentlihen Puncte, wie die Excommunieation ift, fich nicht irren 
kann, wenn fie das gefammte Gebiet ihres Glaubens, ihres Eultus ꝛc. zu beſtim— 
men hat, und jede Abweihung des Subjectes cenfuriren fann, und wenn all’ diefes 
aus dem Zugeftändniffe folgt, daß fie ſich des befondern Beiftandes des hl. Geiftes 
erfreue, fo ſteht Leibnig nicht nur nicht im äußeren Verbande mit der Kirche, 
fondern nicht einmal im inneren, Dann wird zum Wefen der inneren Communion 
noch etwas mehr erfordert, als das Band der Liebe, Mag daher Leibnig in vie— 
Ien, ja in allen Glaubenspuneten mit der Fatholifchen Kirche übereinftimmen, der 
Eine formale Grund beweist feine Unfatholicität, daß er fich der Auctorität der 
Kirche nur mit Vorbehalt unterwerfen, nicht auf dem pofitiven Grunde des Glau- 
bens, fondern auf dem fubjectiven der Liebe fich mit ihr vereinigen will, — Diefe 
unerquiliche Stellung zur Fatholifchen Kirche zeigt fih am deutlichften in feiner 
Anfiht von dem Coneil zu Trient, Daffelbe ift ihm Fein deumenifches, weil 
meiftentheils italienifche, Faum ein Paar teutfche Bifhöfe auf demfelben zugegen 
waren, weßhalb es auch nicht allgemein angenommen worden ſei. Die Prote- 
ftanten feien auf Demfelben ungerecht ereummunieirt worden. Die Unauflöslichkeit 
der Ehe, wie fie das Tridentinum feftfegt, feheint ihm von den gefährlihflen 
practifchen Folgen zu fein. Die Aufnahme der deuterocanoniſchen Bücher in den 
Canon griff er Boffuet gegenüber aufs Heftigfte an. Diefe Bedenken find frei- 
lich alle von Boffuet gehoben und Leibnit zum Schweigen gebracht worden. Bon 
welchen Puncten feiner Philofophie Leibnig befürchtete, fie möchten die Cenfur 
nicht beftehen, war ſchon Arnauld’n ein Näthfel, das auch ich nicht zu Löfen wage. 
Leibnitz ſchreibt übrigens 1684 an den Landgrafen, daß feine philofophiichen 
Zweifel nichts enthalten, was den Geheimniffen des Chriſtenthums widerſpräche, 
nämlich der Dreieinigfeit, der Menfhwerdung, dem Abendmahl und der Aufer- 
ftehung der Leiber, Die Abendmahlslehre verurfachte aber Leibnitzen nicht bloß 
die Hauptſchwierigkeit bei dem Reunionswerke, ſondern war für ihn ſein ganzes 
Leben hindurch Gegenſtand einer Unterſuchung, mit der er bis zu ſeinem Tode 
nicht in's Reine kommen konnte. Zuerſt meinte er, die Lehre der Conſess. Aug. 
falie mit der Transfubftantiation der katholiſchen Kirche zuſammen, was ihm bald 
wieder anders vorkam; dann befannte er ſich zu der erfteren und in den legten 
Jahren fuchte er in einem intereffanten Briefwechfel mit einem Sefuiten, De$- 
boffes, die Möglichkeit der Transfubftantiation aus feiner Naturphilofophie 
zu beweifen, Aber hic haeret aqua. Den Prineipien feiner Naturphilofophie zu- 
folge ift ein zufammengefegter Körper das Nefultat aus den rein ideal beftimm- 
ten, ihn conftituirenden Monaden, Was dem empirifchen Bewußtfein an dem— 
felben als Materie erfcheint, ift daher ein bloßes Phännmen, wie etwa ber 
Regenbogen. Auf diefe Weife gefteht aber Leibnig felbft die Transfubftantiation 
Cund folgerichtig auch die Incarnation) nicht erklären zu Fönnen, und nimmt daher 
zu einem fog. vinculum unionis feine Zuflucht, das den Körper- Phänomenen Nea= 
Yität verleihen fol, Diefes Einheitsband würde bei der Verwandlung bleiben, 


Leibnitz 427 


während an die Stelle der durch daffelbe anfänglich verbundenen DMonaden (des 
Brodes ꝛc.) die Monaden des Leibes CHrifti träten. Allein diefe Hypothefe er— 
Härt nicht nur die Transfubftantiation nicht, denn es findet nur eine Vertauſchung, 
nicht aber eine Verwandlung der Monaden, d. h. der Subftanz Statt, fondern 
jenes vinculum ift, weil in der Leibnitz'ſchen Naturphilofophie nicht begründet und 
nicht berechtigt, felbft etwas, das der Erklärung bedarf. Gelang es alfo Leib— 
nigen nicht, die Fatholifche Abendmahlslehre mit feiner Philofophie in Einklang zu 
bringen, fo wäre leicht nachzumweifen , daß diefe Schwierigkeiten fih nur häufen, 
wenn die Abendmahlsiehre des Augsburger Befenntniffes im Sinne der Leibnig’- 
ſchen Naturphilofophie erklärt werden fol. Wir wollen aber um den traurigen 
Borzug nicht rechten, ob Leibnig in diefem Punete der Fatholifchen oder der prote— 
ſtantiſchen Lehre weniger ferne ftehe. Dagegen darf behauptet werden, daß Leibnig 
in den übrigen dogmatifchen Differenzpuncten entweder geradezu auf katholiſchem 
Boden, jedenfalls aber der Fatholifchen Kirche viel näher fteht, als der proteflan- 
tifhen. Zu dem bereits Ausgeführten Tiefert ung das vielbefprocdene „systema 
theologiae‘“ Leibnigens ein neues Beweisinftrument, Diefe Schrift, welder 
ein Bibliothecar die Auffchrift systema theologiae gab, enthält eine Darlegung, 
wenn man nicht fagen will, eine Vertheidigung und philofophifche Begründung 
der Fatholifchen Glaubenslehre. Das Manufeript lag ungedrudt in der Bibliothek 
zu Hannover, bis es 1810 an Emery nah Paris gefandt und 1819 mit einer 
franzöfifchen Heberfegung gedruckt wurde, Gleich darauf wurde das syst. Ih. in 
Teutſchland in zwei fchnell aufeinander folgenden Ausgaben, die Räs und Weis 
nah dem franzöfifchen Abdrucke beforgten, verbreitet, Man fonnte nicht wohl 
den Leibnig’fhen Urfprung der Schrift läugnen, fuchte aber um fo mehr Zweifel 
in die Acchtheit des Abdrudes zu fegen. Lacroix veranftaltete 1845 zu Paris 
eine neue Fritifche Ausgabe nach dem Autographon Leibnigens. Die Handſchrift 
iſt der Föniglichen Bibliothek zu Hannover wieder zugeftellt worden. Um ſich 
wegen des Fatbolifchen Inhaltes der Schrift eines unliebfamen Zugeftändiffes er- 
wehren zu fonnen, hat man ſich auf die eigenthümliche Tendenz derfelben berufen, 
Selbſt die katholiſche Zeitfchrift für Philof. und Theol. von Braun und Achterfeld, 
Bonn 1843, S. 113, empfiehlt große Borfiht und forgfältige Vergleichung bei 
Benutzung des syst. theol., wenn die Frage fei, was aus demfelben als die eigent- 
fihe und volle Ueberzeugung Leibnigens zu betrachten fei und was nicht, da das— 
felbe doch immer eine Diplomatifche Seite darbiete, während es Lacroir ein herr— 
liches Zeugniß des Fatholifchen Glaubens nennt. Mit dem diplomatifhen Cha— 
after der Schrift verhält es fich aber alſo. Zur Zeit, da fich Leibnig fehr lebhaft 
an den Reunionsverhandlungen betheiligte, im 3. 1683, fohreibt er an den Land- 
grafen: e8 follte ein meditativer Mann fo genau und fo aufrichtig als möglich 
über die bei der Reunion ftrittigen Artikel ſich ausfprechen und fie einigen der 
gemäßigften und gelehrten Fatholifchen Bifchöfen vorlegen, mit Verheimlihung 
feines Namens und feiner Kirche, und fie fragen, ob fie feine Meinung in ihrer 
Kirche für zuläſſig halten. Im September 1684 ſchreibt Leibnitz, er habe wirf- 
lich vor, eine derartige Schrift abzufaſſen; wiederholt aber, man dürfe durchaus 
nicht wiſſen, daß der Verfaſſer nicht zu der römiſchen Kirche gehöre, Dieſe ein- 
äige Angabe mache die beſten Dinge verdächtig. Man hat diefe Erklärungen 
immer auf das syst. theol. bezogen; ob man aber berechtigt fei, deßwegen dem=, 
felben eine fo zweideutige Abficht zu unterſchieben, während doch Leibnig ſelbſt 
„aufrichtig” zu Werfe zu gehen verfpricht, weiß ich nicht. Entweder fpricht 
Leibnig feine eigene, volle Heberzeugung aus, und dann hat Lacroir Recht, wenn 
er ‚die Schrift ein praeclarum catholicae fidei testimonium nennt, „der Leibnit 
ſpricht gegen ſeine Ueberzeugung, dann fällt auf ſeinen Charakter eine Makel, 
die man nicht fo leicht wegwiſchen wird, Ein Drittes gibt es nicht. Denn Leib- 
mg Halt mit Nichts Hinter dem Berge, fondern Alles wird mit feftem, entſchie— 


428 Leihen. 


denem Tone zur Sprache gebracht. Wer den Entwicklungsgang der Leibnitz'ſchen 
Philoſophie Fennt, wird geftehen, daß die philofophifche Begründung, insbefondere 
der Transfubftantiation, auf's Genaueſte der betreffenden Entwiclungsperiode ent- 
ſpricht. Die theologiſche Ueberzeugung Leibnigens Tiegt in dem jegt vollftändig 
erfehienenen Briefwechfel mit dem Landgrafen vor, Man weife alfo den behaup- 
teten Widerfpruch nach. Auf den Inhalt der Schrift felbft des Nähern einzugehen, 
iſt nicht möglich, — An der Reunion der Katholiken und Proteftanten bethei- 
ligte fich Leibnig eine Reihe von Jahren hindurch mit großem Eifer, und wir 
haben das fpeeulative Intereffe kennen gelernt, das ihn dabei Teitete, Die fchroffe 
Trennung der Hriftlihen Eonfeffionen ſteht nämlich in zu großem Contraſte mit 
feiner Idee von der Kirche Gottes, in welcher die Oeifterwelt zur Harmonie 
verbunden iſt. Die Vorzüge der römischen Hierarchie machten e8 ihm erwünfcht, 
auf dem Boden dieſer Kirche Die Wiederbereinigung zu bewerkftelligen. Die dogma⸗ 
tifchen Differenzen famen ihm, die Schwierigkeiten mit Der Abendmahlslehre ausge- 
nommen, weniger bedeutend vor. Die etwa in der Praris der Kirche vorkommenden 
Mißbräuche fonnten entweder gehoben, oder um des höhern Zweckes willen, nach⸗ 
fichtig beurtheilt werben, Die Zeit ſelbſt ſchien günftig, die Heftige Polemik Hatte 
aufgehört, von beiden Seiten zeigte fich größere Verfühnlichfeit und Luft zur An- 
näherung. Das DBerfehlte und Bodenlofe des Standpunctes der gepflogenen 
Unterhandfungen wurde von Boffuet (ſ. d. A.) in feinen Briefen an Leibnig 
vffen aufgedeckt. Die Angelegenheiten der Religion Laffen fich nicht wie die welt- 
lihen Angelegenheiten behandeln, fagt Boffuet, welche man oft beilegt, indem 
jede der beiden Seiten etwas nachgibt. Die Kirche Tonne auf Feinem andern, als 
expofitorifchem und explicatorifhem Wege eine Reunion zugeben, Treffend be- 
merkt Boffuet gegen den Vorſchlag, das Eoneil von Trient zu umgehen, daß die 
ftrittigen Artifel von der Kirche fohon in ven vorhergehenden Concilien, die 
alfo wieder aufzuheben wären, befinirt worben feien, „Finden Sie ein Mittel 
. gegen diefe Unordnung, gegen dieſe Verwirrung, ober verzichten "Sie auf dag 
Ausfunftsmittel, welches Sie vorſchlagen!“ ſchreibt er hierüber an Leibnitz. Der 
1694 von Boſſuet unterbrochene, von Leibnig fünf Jahre ſpäter wieder aufge- 
nommene Briefwechfel befchränfte fich bald auf die befondere Frage, ob das Zri- 
dentinum das Necht gehabt Habe, die deuterocanoniſchen Bücher in ven Canon 
der Hl, Schrift aufzunehmen. Boſſuet ſteht in diefem ganzen Briefwechfel nicht 
bloß durch die einzig richtige Stellung, die er einnimmt, fondern auch durch 
Ruhe und perfönlihe Würde weit über Leibnig, der dem großen Bifchofe die bit- 
terfien Dinge nicht erlaffen hatte, ſowohl was ihn felbft, als die katholiſche Kirche 
betraf, wie Guhrauer richtig bemerkt, — Sp beftätigt fich denn auch hier das 
oben ausgefprochene Urtheil, daß, fo nahe Leibnit auch in einzelnen Puncten der 
Lehre und Berfaffung der katholiſchen Kirche fteht, wir dennoch weit entfernt find, 
bloß äußere Umftände als Urfache anzugeben, warum er nicht in den Verband 
der Kirche eingetreten ift, oder eine einzelne Schrift, wenn nicht gar eine einzelne 
Stelle als fein Firchliches Teftament zu betrachten, Wir faffen ven Mann nach 
feiner Gefinnung, nach der Neinheit feines Willens, nach feinem innerſten Wefen, 
und beurtheilen darnach fein Glaubensbekenntniß, ohne die Freude derjenigen 
ſtbren zu wollen, welche an Leibnigens Proteftantismug glauben, — Wir machen 
noch auf die vortrefflihe Biographie Leibnigeng von Guhraner — Breslau 
1846 in Hirt’8 Verlag — aufmerkſam. — Zur Philoſophie Leibnigens vrgl. dem 
Art, Harmonia praestabilita. [Münft.] 
Leichen, ihre Behandlung bei den alten Hebräern und neuern 
Juden. Es ift hier zu dem, was bießfalls fchon in den Artifeln Begrabniß 
b. d. Hebr. und Grab, jüdiſches 20, vorkommt, nur noch Einiges nachzutragen 
über die Zubereitung der Leichen zum Begräbniffe, In den biblifchen Schriften 


fommen jedoch hierüber nur wenige vereinzelte Andeutungen vor, nach denen ſich 








Leihen. 429 


die betreffenden Dbfervanzen mehr nur muthmaßen als mit Sicherheit angeben 
laſſen. Nah diefen Andeutungen zu ſchließen, drüdte man dem BVerfiorbenen 
zuerft die Augen zu und Füßte ihn (Genef. 46, 4, 50, 1. Tob. 14, 15. Vulg.), 
wufch dann die Leiche und wickelte fie in Leinwand (Matth. 27, 59. Marc, 15, 
46, Luc, 23, 53.), umwand die Glieder wohl auch noch befonders mit breiten 
Binden (Joh. 11, 44.) und that zwifchen die Leinwand und die Binden oft auch 
no föftlihe Salben und Specereien (Joh. 12, 1. 7. 19, 39 f.). Die Leichen 
vornehmer und befonders fürftlicher Perfonen erhielten häufig außer einer großen 
Menge folder Specereien auch noch fehr Foftbare Todtenfleider (Jos. Antt. XVII 
8, 3. Bell. Jud. I. 33, 9.). Jacob und Joſeph wurden fogar auch einbalfamirt 
(Genef. 50, 2. 26.), doch war dieß offenbar nur ägyptifche Sitte, denn die Ein- 
balfamirung (f. d. A.) fommt fonft bei den alten Hebräern nie vor. Nachdem 
die Vorbereitungen zum Begräbniffe zu Ende waren, wurde diefes felbft ſobald 
als möglich vorgenommen, Diefe Eile wurde aber ohne Zweifel erft in der mo— 
faifchen oder nachmofaifchen Zeit üblih, und Hatte ihren Hauptgrund in den mo- 
ſaiſchen Verordnungen über die Verunreinigung dur Todtenberührung (Num. 19, 
11 ff.), denn in der patriarchalifchen Zeit ſcheint man nichts von derfelben ge- 
wußt zu haben (Geneſ. 23, 2 ff.). Die Leiche wurde dann in einem Garge 
(00005 Luc, 7, 14. Augve& Jos. Antt. XV. 3, 2.), der nad Luc, 7, 14. oben 
offen gewefen zu fein, und nah 2 Sam. 3, 31. auf einer Bahre (Tao) gelegen 
zu haben fcheint, zum Grabe getragen (Luc. a, a. D, Ang. 5, 6. 10.), und die 
Anverwandten und Freunde gaben das Geleit unter Weinen und Wehflagen 
(2 Sam. 3, 32, Baruch 6, 31.). — Die Behandlungsweife der Leihen vor dem 
BDegräbniffe bei den fpätern und heutigen Juden ift nicht überall ganz die gleiche. 
Am gewöhnlichften befteht fie in Folgendem. Nachdem man fich überzeugt hat, daß 
der Tod wirklich eingetreten fei, fprechen die Anwefenden: „Gepriefen ſei, der in 
Wahrheit richtet” (mas 777 7172), und die etwaigen Erben des Berftorbenen 
- fagen: „Geprieſen feift du Herr unfer Gott, König der Welt, der du gut bift 
und Gutes thuſt· ran Dar mas 82). Dann nimmt man den Todten aus 
dem Bett und legt ihn auf den Boden des Zimmers, den man zuvor mit Stroß 
oder mit einem Tuche bedeckt hat und ftellt zum Kopfe hin ein Licht, Nachher 
fommt die „heilige Genoffenfhaft”“ Crosp man), deren Gefchäft es ift, mit 
den Leihen umzugehen, legt den Todten auf einen Tifch oder ein Brett, wafcht 
ihn mit warmem Waffer, pußt ihm die Haare, fihneidet ihm die Nägel an den 
Fingern und Zehen ab, und gießt zulegt noch Faltes Waffer über die Leiche hin— 
unter; die Anwefenden aber beten unterdefjen Pfalmen und andere Gebete für 
‚den Berfiorbenen, Darauf wird ihm das Sterbefleid angezogen, das immer bloß 
aus Leinwand beftehen darf, und die TallitH umgehängt, nachdem man zuvor die 
Zizith weggeriffen, zum Zeichen, daß er nicht mehr unter dem Geſetze ſtehe, und 
zulegt wird er noch in ein weißes Leintuh gewidelt, Nach, einer Verordnung 
Gamaliels foll diefe Todtenfleivung immer diefelbe fein, der Verftorbene mag ge- 
ring oder vornehm, arm oder reich gewefen fein. Nur ein Ermordeter ſoll mit 
feinen blutigen Kleidern, eine Kindbetterin mit einem Theile ihrer Kindbettkleidung, 
und eine Braut, die während der Hochzeit geftorben ift, mit ihrem Hochzeitſchmuck 
begraben werben. Bevor man die Leiche zur Beerdigung fortnimmt, mandmal 
auch gleich nach der vorerwähnten Wafhung, kommen die Anverwandten und An- 
dere, bie mit dem Berfiorbenen vielen Umgang gepflogen, berüßren feine Füße 
und bitten ihn um Verzeihung, wenn fie ihn etwa follten beleidigt und von ihm 
noch nicht Verzeifung erhalten haben. Vgl. Bodenfhas, kirchliche Verfaſſung 
der heutigen Juden, fonderlich derer in Teutfchland sc. Erlang. 1748, Thl. IV. 
©. 170 f. — B. Mayer, das Judenthum in feinen Gebeten, Gebräuhen, Ge— 


ſetzen und Ceremonien. Regensb. 1843, S. 458, [Welte.] 





430 Leihenbegängnig — Leidrad, 


Reichenbegängniß, f. Begräbniß. 


Leichenhäuſer oder Leichenballen heißen die Gebäude, welche man in 
neuerer Zeit auf Kirchhöfen größerer Städte errichtet zum Zwecke der Verhütung 
des Lehendigbegrabeng und des Wiedererwachens im Grabe, Die Leihen werben 
in der Negel bald nach eingetretenem Tode dahın verbracht, gewöhnlich in aller 
Stilfe, da und dort (z. B. in Münden) unter Begleitung eines Priefters; eigens 
aufgeftellte Wärter haben Wache zu halten; durch an Händen und Füßen des 
Todten angebrachte Klingelzüge werden fie von jeder etwaigen Bewegung ber 
Leichname in Kenntniß gefebt; brennende Wachskerzen, Blumen u, ſ. w. bilden 
den Schmurf, womit riftlihe Pietät diefe Kammern des Todes ausftattet, die 
Angehörigen der ausgefeßten Verftorbenen finden fih ein, um für fie zu beten; 
nad Ablauf der gefeglihen Zeit oder in befondern Fällen bei unzweideutigen 
Zeichen des Todes erfolgt dann vom Leichenhaufe aus die Firchliche Beerdigung. — 
Die Einrichtung der Leichenhäufer ift neu; das erfte in Teutfchland wurde auf 
Hufelands Vorſchlag 1792 in Weimar errichtet. Im Mittelalter blieben die Lei- 
hen oft wochenlange in den Kirchen ausgeflellt, Die der Ercommunicirten unter 
freiem Himmel; vgl, Binterim, Denkwürdigfeiten ꝛc. VI. 385, und den Art, 
Begräbniß, Bo, 1. 734 ff. — Die Leichenhäufer. auf Fatholifchen Gottesäckern 
folfen wie diefe Eirchlich eingeweiht werden; das Nituelle wird daffelbe fein wie 
bei den Kirchhöfen (f. d. A), und fo gehören fie zu den geweihten Sachen (ſ. die 
Art, Geweihte Sahen und Kirhenvermögen). Weber die ſanitätspolizei— 
liche Bedeutung der Leichenhäufer vgl. P. 3. Schneider, medieiniſch-polizeiliche 
Würdigung der Leichenhallen ꝛc. Freiburg i. B. 1839, 

2eichenrede, |. Grabrede. 

Leichnam, Gebete vor ihm ıc., f. Begräbniß. 

Leiden, Johann v., f. Wiedertäufer. 

Leidensgefchichte Sefu, ſ. Jeſus Chriftus. 

Reidrad, Erzbifhof von Lyon, einer der vorzüglichften Prälaten unter 
Carl dem Großen, geboren in Noricum („Noricus hunc genuit* fagt Biſchof 
Theodulph von Orleans, fein Freund, Sirmond. opp. Venet. 1728. II. p. T41— 
742), alfo wahrfcheintihft ein Bayer, wie auch aus feinem innigen Verhältniß 
zu Erzbifhof Arn von Salzburg (ſ. d. A.) bervorzugehen ſcheint, war Bibliothe- 
car Carls des Großen und wurde von biefem im J. 798 auf den erzbifhöflichen 
Stuhl von Lyon erhoben, Nach Neugart (episcop. Const. I, 89—91) wäre Leidrad 
vor dem Episcopate eine Zeit lang Decan des Münfters zu Zürich gewefen. 
Gleich nach der Befteigung des erzbifchöflihen Stuhles mußte Leivrad im Auf- 
trage Carls als Missus Dominicus zugleich mit dem Bifchof Theodulph von Or- 
leans mehrere Provinzen des fränfifchen Reiches bereifen (ſ. Sirmond. 1. cit.). 
Weil der Adoptianismus (ſ. d. A) auch in den an Spanien grengenden Provinzen 
des fränfifchen Neiches vielen Eingang gefunden hatte, fendete Kaiſer Carl im 
% 799 den Erzbifchof Leivrad, den Biſchof Nefried von Narbonne und den Abt 
Benedict von Aniane in diefe Provinzen ab, fowohl um der Verbreitung der Irr— 
lehre entgegenzuarbeiten, als auch um den Felix von Urgell, den Urheber diefer 
Serlehre felbft (f, den Art, Felix), zur Reife nach Frankreich zu bewegen, wo 
nicht mit Gewalt gegen ihn verfahren, fondern eine ruhige Unterfuchung über den 
fireitigen Gegenftand gehalten werben follte, Wirklich vermochte Leivrad den 
Felir, mit ihm nach Frankreich zu gehen, wo dann zu Aachen 799 in Gegenwart 
Carls die befannte Synode gehalten wurde und Felix feinen Irrthum befannte, 
Weil man aber Lesterem doch nicht recht fraute, übergab ihn das Concil dem 
Erzbifchof Leidrad „ut secum teneret eum et probaret si verum esset quod se ait 
credidisse et si per epistolas suas damnare voluisset pristinum suum errorem* (f. 





a de ne ER 











Leipziger Disputation — Leipziger Interim, 431 


Epist. Alcuini ad Arnon. p. 113—114, 238, 917 in opp. Alcuini edit. Frob. 1.). 
Sm 3. 800 wurde Leidrad mit den zwei genannten Gefährten abermals nad 


jenen Gegenden gefendet und brachte da nah Alcuins Bericht (ibid. p. 136) 


20,000 Anhänger des Adoptianismus zur rechten Lehre zurück. Aus einem Briefe, 
welchen Leivrad nicht Tange vor Carls Tod an dieſen fihrieb, erfieht man, mit 
welchem Eifer er das bifhöfliche Amt verwaltete, „Ich habe alles Mögliche ge- 
than, fagt er darin, um fo viele Cleriker, ald zur Feier des Gottesdienftes nöthig 
waren, zu erhalten, und Gott fei Dank, ich habe fehr viele und es fehlen nur 


noch wenige, Ich habe die Pfalmodienordnung, wie fie in deinem Palaſte beobach⸗ 


tet wird, zurückgeführt und Schulen von Sängern errichtet, von denen die meiften 


3 fähig find, andere Anfänger zu unterrichten. Ich Habe Schulen von Lectoren, 


welche nicht bloß die gottesdienftlihen Lectionen zu recitiren, fondern auch die 
heiligen Schriften zu meditiren und zu erffären verfiehen, und von denen einige 
den geiftlihen Sinn der Evangelien, viele den Sinn der Propheten, der Bücher 
Salomons, der Pfalmen und des Job faffen. Ich habe fo viele Bücher als ich immer 
konnte, für den Gebraud der Lyoner Kirche abfihreiben Iaffen, Prieſtergewänder 


und hl. Gefäße herbeigefchafft, und es. nie, wo es möglich war, unterlaffen, Kir— 
chen zu repariren,” Unter den reparirten Kirchen und Klöftern zählt er auch die 
Reparation einer „domus episcopalis“ und den Neubau einer andern domus episc. 
auf, worin, wenn der Raifer in diefe Gegenden fommen würde, er abfteigen 
bkönnte; ferner die Erbauung eines „peristylium“ für die Eferifer, wo alle zu= 


fammen wohnen fünnen, und die Reftauration des Kloſters Insula Barbara (l’Isle- 
Barbe bei Lyon), das er durch Benedict von Aniane (ſ. d. A.) reformirte, welchem 
er auch die Binde- und Löfegewalt und für den Fall der Sedisvacanz des erz⸗ 


biſchöflichen Stuhls das Recht der Mitregierung über die Didcefe verlieh (vgl. 
{| bie vita S. Bened. Anian. Mabill. Act. SS. IV. 1). Nach dem Tode Carls, deſſen 
I Xeftament Leidrad unterzeichnete, refignirte er dem erzbifchöflichen Stuhl und zog 


fi in das Klofter des Hl, Medardus zurüf, wo er ftarb, ohne daß man das 
Todesjahr angeben könnte. Mabillon hat in feinen Vet. Analectis die treffliche, 
auf Carls Geheiß gefchriebene Abhandlung Leidrads über das Sarrament der 
Taufe mit den darauf bezüglichen Briefen des Verfaſſers an den Raifer veröffent- 
licht. Baluzius bat im Anhang zu den Schriften Agobards auch die übrigen 


- opuscula und Briefe Leidrads herausgegeben. Leidrad’s Styl ift klar und bündig 


und feine Schriften beurfunden einen Mann von Geift, folider Frömmigkeit und 
großer Kenntnig der Hl. Schrift und Väter, ©. Mabill. Annal. IIz Alcuini epp. 
bei $rob. I; hist. lit. de la France IV. [Schrödl.] 


Leipziger Disputation, |. EA, Carlftadt, Luther. 


Seipziger Interim. Um den religiöfen Verfall Teutihlands zu Kindern, 
war Raifer Carl V. bemüht, auf frievlihem Wege den Zwiefpalt der Gemüther 
auszufühnen und fo die Religionseinheit zu wahren. Zu diefem Ende Hatte er 
bereits das Regensburger und Augsburger Interim zugeftanden, d. h. die Bier 
aufgeftellten Säge follten bis zur Beilegung der Händel auf canonifhem Wege 


einſtweilen Cinterim) Geltung haben. Da aber die Halbheiten des Augsburger 
Interims (ſ. d. A.) Niemanden befriedigten und nur neue Streitigfeiten, zumeist 
unter den Neuerern, bervorriefen, fo entftand auch das Leivziger Interim. 
5 Daffelbe Heißt eigentlich: Beſchluß des Landtages zu Leipzig. Als nämlich 
1 Earl V. dem Churfürften Moriz von Sachſen das Augsburger Interim vorgelegt 
I Hatte, nahm diefer dafjelbe nicht unbedingt an, fondern berief feine Landftände 
I und Theologen, um ihr Gutachten darüber zu vernehmen. Sie famen am 22, Dec. 


1548 zu Leipzig zufammen. Da nun die Theologen in vielen Stüden mit dem 
Augsburger Interim einverftanden waren, hieß man ihren Beſchluß auch Interim, 
nur zum Unterfhiede von jenem das Leipziger; es hieß auch das neue oder junge, 


432 Leitmerig, 


weil das Augsburgiſche als feine Mutter galt, Aus ihm entwidelten ſich bie 
adiaphoriſtiſchen Streitigkeiten Ci. den Art, Adiaphoriften), Zu Grund lag 
demfelben zunächft das fog. Feine Interim, das am 16, Nov. die Meißnifchen 
Theologen auf Befehl des Churfürften zu Zelle zu Stande gebracht hatten, weß- 
wegen das Leipziger Interim au das große genannt wurde, wiewohl das Augs- 
burgifehe gewöhnlich mit diefem Attribute bezeichnet ward und das Leipziger dag 
Heine hieß. Die Verfaffer der Testen find: Melanchthon, Paul Eher, Bugen- 
bagen, Georg Major, Theologen von Wittenberg, Pfeffinger, Superintendent zu 
Leipzig, und der Churfürft Georg von Anhalt, Um es mit dem Kaiſer nicht noch 
weiter zu verderben, glaubten fie wenigſtens in den Mitteldingen (res mediae) 
das Augsburger Interim anerkennen zu follen, Zwar erhob ſich Widerſpruch da= 
gegen; allein dennoch fiegte die adiaphoriftifche Partei, In diefem Interim nun 
erklärten die Theologen, daß man in Betreff der Adiaphora, d. h. der an ſich 
gleichgültigen oder mittfern Dinge, wie gottesdienftliche Gebräuche und Cere— 
monien, fich einverftanden erklären fünne, Zugleich zeigte man fih auch in Be- 
treff der Lehre höchſt nachgiebig, um dem Kaifer einen Beweis unterthänigen 
Gehorſams zu Kiefern. Bon der Rechtfertigung heißt es: „Wiewohl Gott den 
Menſchen nicht gerecht macht Durch Verdienſt eigener Werfe, die der Menſch thut, 
fondern aus Barmherzigkeit, umfonft, ohne unfer Verdienft, daß der Ruhm nicht 
unfer fet, fondern Chrifti, Durch deffen Verdienſt allein werden wir von der Sünde 
erlöfet und gerecht gemacht; gleihwohl wirft ber barmherzige Gott nit 
alfo mit dem Menfhen wie mit einem Plocke, fondern zieht ihn alfo, 
daß fein Wille auch mitwirkt, fo er in verftändigen Jahren iſt.“ Mit 
diefem Satze, der fofort weitläufig bewiefen wird, war Luthers Lehre vernichtet, 
Gott wirfe nicht mit ung, wie mit einer Mafchine, hieß es, obwohl Chrifti Ver- 
dienft ung allein gerecht made; die von Gott gebotenen Werke feien gut und 
ndthig, die Tugenden, Glaube, Hoffnung und Liebe, zur Seligfeit nothwendig; 
andere (gute) Werfe aber, die Gott nicht geboten habe, können ohne Verlegung 
des Gewiffens geübt werden. Dieß bildet den dogmatifch-moralifhen Theil des 
Interims. Dann folgt die Erflärung von der Gewalt und Auctorität der Kirche 
dahin: „Was die wahre hriftlihe Kirche, die, im heiligen Geifte verfammelt, in 
Ölaubensfachen erkennt, anorbnet und Iehrt, das foll man auch lehren und pre- 
digen, wie fie denn wider die heilige Schrift nichts ordnen foll noch kann.“ Au 
die früher verworfenen Sacramente der Firmung und Delung wurden wieder an— 
genommen; die Meffe follte nach alter Art, nur mit teutfchen Liedern, wie 3. B. 
für das Graduale zu Weihnachten: Ein Kindlein fo löbelich; zu Oftern: Chriftus 
ift erftanden, gefeiert werden; der Gebrauch der Bilder wird geftattet, das Fleifch- 
effen unter den gewöhnlichen Befchränfungen am Freitag und Samftag und wäh- 
rend der Faftenzeit verboten, Sp war das Interim entftanden, dem man wohl 
anmerfte, daß Luther bereits vom Schauplage abgetreten war und es bloß aus 
Rückſicht oder Furcht vor dem Kaifer abgefaßt worden war; allein von Seiten 
der Iutherifchen Prediger entftand ein fürmlicher Aufftand dagegen und der heftig 
geführte adiaphoriftifche Streit (|, d. A). Vgl. Died, das dreifache Interim, 
fo in Regensburg, Augsburg und Leipzig... . zum Vorſchein gekommen. Leipz. 
1721, Das Gefhichtlihe S. 132—199, die Beſchlüſſe felbft S. 361—386, 
J. A. Schmidt, historia interimistica. Helmst. 1730. [8ebr.] 
Leitmeritz, Bisthum. Der erzbifchöfliche Stuhl von Prag, zu dem bie 
bifhöflihen Stühle von Leitomifchl in Böhmen und Olmütz in Mähren als 
Suffraganftühle gehörten, war durch die Verheerungen der Hufiten um alle feine 
Güter gefommen und über 140 Jahre unbefegt geblieben, Kaiſer Ferdinand I. 
dotirte denfelben aufs Neue mit jährlich 6000 Thalern, und Papft Pius IV. über- 
trug am 5, Sept, 1561 dem Kaiſer und allen feinen Nachfolgern auf dem Throne 
Bohmens das Necht, die Erzbifchöfg yon Prag zu ernennen, Die Prager Mes 





Zu Bub le u a an DE 





Leitmeris, 433 


tropole ſtand aber auch da ohne eine Suffraganfirche in Böhmen ‚ denn auf das 
Bisthum Leitomifl war, feit die Stadt 1425 von den Taboriten war eingenom⸗ 
men worden, eine Beute des Huſitenthums geworden. Die dringende Noth, 
Suffraganftühle in Böhmen zu errichten, wußte insbefondere der um die Wieder- 
geburt der böhmifchen Kirche Hochverdiente Cardinal und Erzbifhof von Prag 
Erneft Il. (1623—1667) aus dem Haufe der Grafen v. Harrach, dem Kaiſer 
Ferdinand II. an’s Herz zu legen. Im Folge deſſen wies dieſer aus dem Er- 
trage der Salzftener in Böhmen den Betrag von 15,000 Ducaten an, welde 
jährlich an die Congregatio de propaganda fide zu dem Zwede gezahlt werden 
follten, daß, wenn unter ihrer Verwaltung die zur Dotation eines Bisthums 
nöthige Summe angewachfen, ein folhes in Böhmen gegründet werde. So foll- 
ten im Laufe der Zeit nach und nad) vier neue Bisthümer im Lande dotirt und 
geftiftet werden, Das erfte Bistum, das auf diefe Weife gegründet wurde, 
war das Bistum von Leitmerig. In diefer uralten, am rechten Ufer der Elbe 
gelegenen Stadt (Litomerice, Litomericium) des nördlichen Böhmens hatte ſchon 
Herzog Spitih aew IL 1057 zu feinen Andenfen und zur Ehre des HI. Proto= 
martyr Stephanns eine Collegiatfirche geftiftet. Der apoſtoliſche Stuhl war mit 
Raifer Ferdinand II. dahin übereingefommen, daß die Einfünfte ver bisherigen 
Leitmeriger Propftei dem zu errihtenden Bisthum zugewiefen werden follten. Und 
fo erhob denn Papft Innocenz X. 1654 die Leitmeriger Collegiatfirche zu einer 
Eathedrale. - Das Gebiet des Leitmeriger Kreifes (12 teutfhe Meilen Tang und 
8 Meilen breit) aus der Prager Erzdideefe ausgefchieden, bildete den netten bi- 
fhöflichen Sprengel, und Cardinal Erzbifhof Harrah erwarb aus feinem Ver- 
mögen die Herrfhaft Drum und ſchenkte fie für immer zur Deckung des bifchöf- 
lichen Tiſches von Leitmerig, Zum erften Bifchofe ernannte der Kaifer den letzt⸗ 
gewefenen Propft von Leitmerig Marimilian Rudolph Freiherrn v. Schleinig, 
welcher fih 1655 perfonlih nah Rom begab, wo er von Papſt Alerander VIL 
beftätigt wurde und am 9; Juli d. J. durch Cardinal Franz Brancacci die Bifchofsweihe 
erhielt. Er nahm am 25. Mai (Chrifti Himmelfahrt) 1656 feierlich Befis von 
feinem Stuhle. Er war ein eben fo eifriger als erleuchteter Kirchenfürft, und 
wie er für den innern Ausbau feiner Didcefe (ſ. instructio parochialis. Vetero- 
Pragae 1674) forgte, fo verwendete er auch die reichen Einfünfte feiner Familien- 
herrſchaften Schlufenau und Tollenftein zum Beften des Bisthums. Die Cathe- 
dralficche zum hl. Stephan baute er 1671—79 von Grund auf new, flattete fie 
foftbar im Innern aus und forgte auch für immerwährende Unterhaltung derfelben, 
Er farb ven 13. Det. 1675. Seine bifhöflihen Nachfolger waren: Jaroslaus 
Franz, Graf v. Sternberg (1676— 1709), Hugo Franz, Graf v. Rönigsegg 
und Rothenfels (1716—1720), Johann Adam, Graf Wratislam v. Mitrowig 
(1722— 33), Morig Adolph Carl, Herzog zu Sahfen-Zeit (1734—59), 
Emanuel Ernft, Graf v. Waldftein (1759—89), Ferdinand Kindermann, 
Ritter v. Schulftein (1790-1801), Wenzel Leopold Chlumizanffy, Ritter 
v. Preſtawlk und Chlumizan (1802—15), Joſeph Franz Hurdalef (1816— 
1821), Vincenz Eduard Milde (1823—31). Der jegt regierende Bifchof, 
Herr Auguftin Bartholomäus Hille, ward 1832 am 16, Sept. confeerirt und 


beſtieg den bifhöflichen Stuhl am 7. Det. deffelben Jahres. — Das Leitmeriger 


Bisthum, welches in den erfien Zeiten feines Beftandes nur etlihe SO Pfarr- - 
kirchen und einige 50 Filialen zählte, erhielt 1784 einen bedeutenden Zuwachs, 
indem auf Betreiben des Bifhofs Waldſtein Kaiſer Joſeph U. mit Genehmigung 
des römischen Stuhls den ganzen Bunzlauerund Saazer Kreis dem Dioceſan⸗ 
gebiete zuwies. Daffelbe ift gegenwärtig in 24 Vicariatshezirfe (Decanate) ab- 


1 geteilt, und es zählt die Didcefe laut Schematismus von 1849: 1 Propftei, 


308 Pfarreien, 75 Toealfeelforgsftationen, 25 Erpofituren und 14 Schloßcapellen, 
Bon diefen Kirchſprengeln find 310 von Gläubigen rein teutſcher Zunge, 90. 
Kiräenleziton. 6. Up, 28 


A34 Reitomifhl — Le Long. 


rein cehifcher bewohnt, und in 23 iſt gemifchte Bevölkerung; die Zahl aber aller 
Gläubigen beträgt eine Million und 19,527, — Das Domcapitel hat 6 
Canpnicatpräbenden und 6 Ehrencanonicate; der Dechant und Senior der Capitu- 
laren find infulirt. Die Diöcefe hat ein Elericalfeminarium am Bifchofg- 
fie (mit 3 Vorſtehern und in der Negel 100 Alumnen), mit dem eine theolo- 
gifche Lehranftalt verbunden ift, an welcher 8 Profefforen doeiren. — Der 
Stand des Clerus überfteigt die Zahl von 1000 Prieftern — mit Inbegriff des 
Negularcelerug, An Ordensinftituten und Klöftern zählt die Didcefe 1 Cifter- 
eienferabtei zu Dffegg (geftiftet 1197), 3 Piariftencollegien zu Hayda, 
Zungbunzlau und Brür, 2 Predigerordensconvente zu Leitmerig und Außig, 
4 Auguftinerflöfter zu Böhmiſchleippa, Biela, Rotſchow und GStranfa, 3 
Franeiscanerkflöfter zu Haindorf, Turnau und Kaaden, 1 Minoriten- 
Eofter zu Brüx, 6 Capuecinerflöfter zu Leitmerig, Ruinburg, Reichftadt, 
Melnif, Brür und Saaz, 1 Elifabethinerinnenkflofter zu Raaden, 4 Häufer 
der barmberzigen Schweftern von der Kongregation des hl. Carl Borromäus 
zu Leitmeritz, Podoll, Oſſegg, Reichenberg. (Vgl. Berghauer, Protomartyr etc. 
Augustae Vindelicorum 1736 fol. de episcopatibus Litomeric. etc. pag. 278 sqq. 
Series episcoporum Litomer. Vetero-Pragae 1804. und Umriß einer kurzen Ge- 
fohichte des Leitmeriger Bisthbums von Franz G Freiherr v. Bretfeld, 
Wien 1811.) [&inzel,] 

Keitomifchl, ſ. Röniggräz und Leitmerig, FIR ; 

Lellis, Camillus de, ſ. Camillus, | 

Le Long, Jacques, Priefter des franzöfifhen Dratoriums, und ausgezeich- 
net durch feine bibliographiſchen und Hiftorifchen Leiftungen, war zu Paris den 
19, April 1665 geboren, und wurde fchon als Knabe von feinem Vater, einem 
bemittelten Parifer Bürger, nah Malta geſchickt, um dafelbft im Sohanniter- 
Nitterorven als Elerifer erzogen zu werden, Als aber in Malta die Peft aus- 
gebrochen war, und überdieß das Klima diefer Inſel der Gefundheit des Knaben. 
nicht zufagte, bat er um die Erlaubniß, in feine Heimath zurüczufehren. Dieſe 
wurde ihm von dem Großmeifter des Drdens, Gregor Caraffa aus dem Haufe 
der Fürften son Nucella auf ſechs Jahre ertheilt, um zu Paris den Studien ob— 
zuliegen, und nach dem Verlaufe diefer Zeit noch auf vier Jahre verlängert, um 
den philofophifchen und theologiſchen Curſus zu vollenden. Le Long kehrte Daher 
im 5. 1676 nach Frankreich zurück, widmete fih mit Fleiß und Auszeichnung in 
feiner Geburtsftadt den Wiffenfhaften, und erwarb fich den Grad eines Magiſters 
der freien Künſte. Doch je länger er in Paris verweilte, deſto geringer wurde 
feine Neigung, nad Malta zurückzukehren, und ba er unterdeffen mit mehreren 
gelehrten Dratorianern befreundet worden, dem Johanniterorden aber durch Die 
Gelübde noch nicht verbunden war, fo trat er im 3. 1686 zu Paris in die Con- 
gregation der Priefter des Dratoriums, Nach vollendetem Probejahre wurde er 
in das Colfegium zu Zuilli in der Didcefe Meaur geſchickt, um an der dortigen 
Lehranftalt die Jugend in den mathematifchen Wiffenfhaften zu unterweifen. Hier 
erhielt er auch bie heiligen Weihen und wurde im J. 1689 zum Priefter ordinirt. 
Bald nach feiner Priefterweihe verfiel er in eine fihwere Krankheit, welche ihn 
dem Tode nahe brachte; doch wurde er gerettet, umd zu feiner Erholung in dag 
Seminar de Notre Dame des Vertus in der Nähe von Paris geſchickt, um in un— 
geftörter Ruhe feinem Lieblingsftudium obliegen zu Tonnen. Zugleich wurbe unter 
feine Aufficht die Bibliothek des Seminars geftellt. Hier verlegte er fich nun mit, 
großem Eifer auf das Studium der alten und neuern Sprachen, ſtudirte fleißig 
die franzöfifchen Gefhichtsquellen, und erwarb ſich fo bedeutende bibliographiſche 
Kenntniffe, daß ihn feine Ordensobern im 3. 1699 nach Paris riefen und zum 
Borfteher der Bibliothek des Parifer Dratoriums Saint Honoréè machten, welde 
eine der anfehnlichften in Paris und befonders reich an orientaliſchen Handfihrif- 








Lemberg. 435 


ten war, Diefem Amte widmete er durch volle zweiundzwanzig Jahre, zurüd- 
gezogen von der Welt, doch im lebhaften Verlehre mit den meiften Gelehrten des 
In- und Auslandes, feinen Fleiß und feine ununterbrochene Thätigfeit, und ſtarb, 
geliebt von feinen Mitbrüdern und geachtet und geehrt von der gelehrten Welt, 
zu Paris den 13, Auguft 1721. Mit feiner großen Gelehrfamfeit verband Le 
Long ſtets wahre Frömmigkeit, ein durchaus anſpruchsloſes Wefen, und ein be= 
ſcheidenes, gefälliges Betragen gegen Jedermann, Befonders freigebig zeigte er 
fich gegen die Armen, und freute fih nur deßhalb über die bedeutenden Erbfchaf- 
ten, die ihm von feinen reichen Anverwandten zufielen, weil fie ihm die Mittel 
verichafften, Nothleivenden zu helfen und Andere zu beglüden, denn er feldft 
hatte die wenigften Bedürfniffe. — Sein Hauptwerf ift: Bibliotheca sacra 
in binos Syllabos distinota, quae (1.) omnes sive Textus sacri sive Versionum ejus- 
dem quavis lingua expressarum Editiones, nec non praestantiores MSS. Codices 
cum notis historieis et eriticis, — (II.) omnia eorum opera quovis idiomate con- 
scripta, qui hucusque in s. Scripluram quidpiam ediderunt, et grammaticas et Lexica 
linguarum praesertim orientalium, quae ad illustrandas sacras paginas aliquid ad- 
jumenti conferre possunt, continet. Parisiis 1723. Diefes für das Bibelftudiun 
fo nüglihe Hilfswerk, deffen vollftändigen Inhalt der Titel gibt, erfchien zuerft 
zu Paris 1709 in 2 Bänden in 8. und enthielt bloß die Ausgaben und Ueber— 
feßungen der hl. Schrift (Syllab. 1). Da aber die teutfche- Bibelliteratur dem 
Berfaffer nur unvollftändig befannt war, fo veranftaltete Profeffor Chrift. Fried, 
Börner, überzeugt von der Trefflichfeit diefes Werkes, noch in demfelben Jahre 
zu Leipzig eine vermehrte Ausgabe deffelben, Le Long felbft vervollſtändigte fein 
Werk durch Beifügung aller das Bibelftudium betreffenden Schriften (Syllab. IL) 
und bereitete die zweite vollftändige Ausgabe deffelben vor, welche jedoch erſt nach 
feinem Tode durch den Dratorianer Desmolets vollendet wurde und zu Paris 
1723 in zwei Foliobänden erfihien. Die neuefte Ausgabe mit fortgefegter Litera- 
tur (emendata, suppleta et continuata) ift von A. G. Maſch, Halae 1778 -90, 
in vier Duartbänden, — Seine übrigen Schriften find: Biblioth&que histo- 
rique de la France, contenant le catalogue des ouvrages imprimes et manu- 
scrits, qui traitept de l’histoire de ce royaume, ou qui y ont rapport; avec des 
notes critiques et historiques. Paris 1719 in Folio. Dieſes Werf erregte in ihm 
den Entfohluß, die scriptores coaetaneos der franzöfifhen Gefchichte in einem Sam- 
melwerfe herauszugeben, von dem er jährlich zwei bis drei Foliobände dem Drucke 
zu übergeben gedachte, weßhalb er auch eine genaue Chronologie der franzöfifchen 
Könige verfaßte; doch der Tod verhinderte ihn, diefes Corpus scriptorum historiae 
Francicae zu Stande zu bringen. Vorarbeiten dazu und die Chronologie der Kö— 
nige bat Frevet de Fontette in die zweite Ausgabe der Bibliothöque hist. de 
la France, Paris 1768. 5 Vol. fol. aufgensmmen,. — Discours historiques sur les 
prineipales editions des Bibles polyglottes. Paris 1713 in 12, — Supplement a 
Phistoire des dictionnaires hebreux de Wolfius, im Journal des Savans, Paris 1707 
de Janvier. — Lettre a Mr. Martin ministre d’Utrecht, über die Stelle 1 Joh. 
5, 7. im Journal des Sav. 1720. Jan. — Auch gab er des Dratorianers Jo han— 
nes Renou von Anjou Novam methodum discendi linguam hebraicam et chal- 
daicam, Paris. 1708 in 8, und Adrian Baillet’$ Histoire des demeles du Pape 
Boniface VIII. avec Philippe le Bel. Paris 1718. in 12. heraus, Seine Biogra— 
pbie bat P. Desmolets gefhrieben und der zweiten Ausgabe der Bibliotheca 
sacra beigegeben, [Sebaf,] 
Lemberg, politiſch-kirchliche Verhältniſſe; griechiſch-katholiſches, 
armeniſches, lateiniſches Erzbisthum. Geſchichtlich und ftatiftiich, 
Lemberg, Hauptſtadt des öſtreichiſchen Königreiches Galizien, am Bache Peltew 
in einem von Hügeln umſchloſſenen Keſſel, polniſch Lwow (Löwenburg), nicht 
vom Löwen, dem Könige ber Thiere, ſondern »o« Leo Danilowiez (+ 1301), 


28* 


436 Lemberg. 


Fürften von Halicz in Nothreußen, welcher die Stabt gegründet hat, fo genannt, 
— AS nämlich im 13ten Jahrhunderte die Alles zerftörenden Tataren ganz 
Europa bedrohten, das Fürſtenthum fammt der Hauptftadt Halicz mehrmals ver- 
wüfleten, verlegte Leo, vor dem Feinde nach Nordweften fich zurücziehend, feinen 
Sit nach diefer Stadt (1269), welche ſchon von feinem Vater Daniel einige 
Sabre früher gegründet worden fein fol, und die damals Leontopolis, in der 
Landesforahe Lwihorod (löwenburg) hieß (dux Leo mihi fundamenta jecit, po- 
steri nomen dedere Leontopolis; dieß war eine alte Aufichrift auf dem ehemaligen 
halizifchen Thore von Lemberg) und durch den fortwährenden Andrang der vor 
den wilden Horden der Tataren fich hieher flüchtenden und anfäßig machenden Ru⸗ 
ihenen, Armenier und Juden in kurzer Zeit bedeutend vergrößert und zu einer 
Hauptftadt des Fürſtenthums wurde. 1339 oder 1340 fam Lemberg durch Cafimir 
den Großen, und zwar durch Eroberung, an Polen, es blieb von num an bie 
Hauptftadt der polnifchen Provinz Nus und wurde durch Begünftigungen und 
Privilegien von Caſimir und feinen Nachfolgern eine der erften Städte des pol— 
nifchen Reiches, befonders im 17ten Jahrhunderte, wo es zum Hauptftappelplag 
des damals fehr Iebhaften Handels mit dem Driente für's ganze Königreich diente, 
Seit 1772 bei der erften Theilung Polens fiel es an Deftreih, und blieb die 
Hauptſtadt der Rönigreiche Galizien, Lodomirien und Bufowina, Heutzutage ift 
88 die fiebente Stadt der dftreihifchen Monarchie mit einer auf 60,000 Seelen 
ſich belaufenden Einwohnerfchaft, worunter Juden. Hier befindet fi der Sig 
de8 vierten Generaleommandos der Statthalterei und oberen Gerichtsſtelle. — 
Diefe Stadt ift eine Reſidenz von drei Erzbifhöfen von eben fo verſchiedenem 
Ritus, L Die griehifh-unirte Metropolie, Urfprünglich in Halicz, wahr- 
fcheinlich von Jaroslaus Wladimirowicz (1152-1180) entweder als einfaches 
Bisthum oder Ehrenmetropolie, und vom Kijower Metropoliten abhängig ge= 
gründet; jedoch ſchon im Jahre 1293 in einem Diplom von Leo Danilowiez wird 
Sofeph und 1301 in einem andern Diplom von eben vemfelben Leo wird Gregor 
als Metropolit von Halicz gleichzeitig mit dem Kijower Metropoliten als von 
demfelben unabhängig genannt, Diefe Metropolie blieb alfo damals, wie bie von 
Kifow, bloß dem Patriarchen von Conftantinopel ſubordinirt. Durch die fort⸗ 
waͤhrenden Einfälle der Tataren ging dieſe Metropolie von 1361—1539 allmäh- 
Yig ein, und hatte während dieſer Zeit nur unterbrochen und feit Ende des 15ten 
Sahrhunderts bis 1539 Feine Vorſteher mehr, bis fie im J. 1539, jedoch nur als 
ein einfaches Bisthum, wieder in's Leben trat. Seit 1570 unter Sigmund Auguft 
verlegte der Bifchof Johann Lopatka Oſtalowski das Bisthum von Halicz nach 
Lemberg, welcher fowie auch feine Nachfolger nebft dem Titel eines Biſchofs von 
Lemberg auch den eines Bifchofs von Halicy führten, dann auch von Kamieniee in 
Podolien, weit ſich bis dorthin ihre Jurisdietion ausdehnte, Im J. 1807 wurde 
diefes Bisthum von Lemberg zu feiner urſprünglichen Würde einer Metropolie 
wieder erhoben, und dauert als ſolche bis auf den heutigen Tag fort, — In dem 
Ilten Jahrhundert, wo die Befehrung der Ruthenen unter Wladimir dem Großen 
vollendet wurde, beharrten diefelben (wiewohl einige ältere und neuere ruſſiſche 
Geſchichtſchreiber das Gegentheil behaupten) in dem fatholifhen Glauben, wie 
dieß eine Gefandtfchaft Jaroslaw's, Fürſten von Kijow, welche fein Sohn an den 
Papft Gregor VII. ausrichtete, und die darauf vom Papſte an denſelben erfolgte 
Antwort in einem Briefe hinlänglich beweist. Die Sciſſion begann erft, feit- 
dem bie Kijower Metropoliten, von welchen bie ganze ruthenifche Kirche abhing, 
dem römischen Stuhle ihren Gehorfam verfagten, und don dem eonftantinppolita= 
nifchen Patriarchen beftätigt, eonfeerirt, ja fogar gerade gefchieft zu werden an—⸗ 
fingen, — Im 13ten Jahrhundert ift ſchon das Schisma zufolge diefes Berhält- 
niffes zu Conftantinopel unter den Neußen tief eingewurzelt gewefen; und feit 
diefer Zeit theilte die griechiſche Kirche daſelbſt und folglich auch die Metropolie 

















Lemberg. ; 437 


in Halicz ein gleiches Schickſal mit Conftantinopel. Seit der Florentiner Kirchen⸗ 
verfammlung (f. d. A.), wiewohl die Patriarhen von Eonftantinopel bald ab» 
trünnig wurden, blieb doch die ruthenifhe Kirche den Bemühungen der polniſchen 
Könige, fowie Iſidors, Metropoliten von Kijow (welcher felbft dem Eoneil bei» 
wohnte), dann Cardinals und Patriarhen von Eonftantinopel zufolge, der Ver- 
. einigung mit Rom ein halbes Jahrhundert getreu; dur moskovitiſche Emiffäre 
jedoch wurde fie allmählig, und zwar nicht ohne Erfolg, zur Abtrünnigfeit ver- 
leitet, welche bis in die andere Hälfte des 16ten Jahrhunderts fortvauerte, bis 
endlich die Patriarchen durch ihre Erpreffungen felbft einen Anlaß der ruthenifchen 
Kirche darboten, fih von Eonftantinopel zu befreien. Als nämlich der conftantino- 
politanifche Patriarch Feremias (ſ. den Art. Jeremias 1.) 1588 von Amurat III. 
abgefegt, nach Lithauen ſich flüchtete, und zu Wilno den Michael Rahoza zum 
Kijower Metropoliten orbinirt hatte, und bald wieder denfelben wegen Weigerung, 
ihm 14,000 polnische Gulden (nach Andern eben fo viele Ducaten) zu zahlen, zu 
entſetzen drohte (diefe Summe forderte Jeremias als Weihtare, unter dem Vor— 
wande jeboc zur Wiederberftellung der Kirche Pantofrator in Conftantinopel), rief 
Michael Rahoza 1590 zu Brzesc in Lithauen eine Synode zufammen, welder er 
die Anmaßungen und Ungerehtigfeiten des conftantinopolitanifhen Patriarchen zur 
Beurtheilung vorlegte, um ſich über die Mittel, denfelben zu feuern, zu berathen. 
Es wurde beſchloſſen: Jeremias den Gehorfam zu verfagen, und um ſich des Er- 
folges mehr zu vergewiffern, das ganze polnifhe Ruthenien der Dbforge des rö- 
mifhen Stuhles anzuvertrauen. Dem Metropoliten Michael war befonders der 
eifrige und fireng Fatholifch gefinnte Hipacius Pociej, Biſchof von Wlodzimirz, 
Hilfreich an die Hand gegangen. Jeremias dagegen, nachdem er, durch die Weih- 
tare eines gewiffen, vom Fedor Jwanowicz, Czaren zu Moskau, zum Metropo— 
liten von Moskau ernannten Zob bereichert (die war das erfte Beifpiel der Er- 
nennung eines Metropoliten dur den Ezar), fih die Rückkehr nah Conſtantino⸗ 
pel erfauft Hatte, ſchickte ein Sendfchreiben an die reußifchen Bifchöfe, worin er 
zuerft alle Bifchöfe, welche an der Synode zu Brzese Theil genommen, ſcharf rügte, 
dann aber Michael, theils wegen der ohne fein Wiffen und feine Einwilligung zufam- 
mengerufenen Synode, theild wegen der verweigerten Weihtare feiner Würde 
entfegte und ercommunicirte. Die ruthenifchen Bifchöfe, Dadurch aufgefordert, ver- 
fammelten fih mit Rahoza zum zweiten Male in Brzesc 1595, welde Verſammlung 
König Sigmund II. durch einen föniglihen Erlaf billigte, und zu welcher er fogar Ia= 
teinifche Präfaten, nämlich Kainkowski, Primas von Polen, Solikowski, Erzbifchof von 
Lemberg, Maciejowsti, Biſchof von Luk, und Gmolnisfi, Biſchof von Chelm, ab⸗ 
ordnete, und wo die Erneuerung der Florentiner Union befonders motivirt wurde. — 
Die Berfammelten fandten ven Hipacins (Bifhof von Wlodzimirz) und Cyrill 
Terlecki (Biſchof von Lu) zum König Sigmund IH., welcher der griechifchen 
Geiſtlichkeit unter der Bedingung der Union gleihe Rechte und Privilegien mit der 
lateiniſchen zuſicherte. Mit Empfehlungsfihreiben vom König und apoftolifhen 
Nuntius verfehen, gingen diefe Gefandten nah Rom, wo fie von Clemens VII. 
auf eine freundliche und ihrer Würde angemefjene Weife aufgenommen wurden; 
und nachdem fie dem Gottesdienfte im Batican beigewohnt, und feierlich die ka— 
tholifche Treue, und Gehorfam dem römifchen Oberhaupte gefihworen, gab, der 
hl. Vater feine Beftätigung dur die berühmte Bulla unionis mit anderen Privi- 
legien, jedo mit dem Auftrage, fo bald als möglich eine Synode zufammen«- 
zurufen, um alle noch etwa obwaltenden Schwierigkeiten auszugleichen. — Michael 
Rahoza ermangelte nicht, alfogleih 1596 in Brzese eine neue Verfammlung der 
rutheniſchen Bifchöfe zu dieſem Zwecke zu veranftalten, welcher der Lateinifche 
Erzbifchof von Lemberg, dann die Iateinifchen Bifhöfe von Luk und Chelm als 
päpftliche Gefandte, dann Fürft Nicolaus Radziwill, Leo Sapieha, Dymitr Cha- 
lecki als Föniglihe Commiffäre beiwohnen follten, als plöglich der Geift der Un- 


438 Lemberg 


einigfeit auf Anftiften der griechifhen Bifchöfe Gedeon Balaban von Lemberg und 
Michael Kopyſtynski von Przemysl eines großen Theiles der Verſammlung fich 
bemädtigte; ihn unterftügten Conflantin, Fürft von Oſtrog, und Nicephor, Kanz— 
fer (protosigillarius) des ceonftantinopolitanifchen Patriarchen, welcher durch das 
Anfehen Conftanting den Titel eines ruthenifchen Erarchen erlangte; vorzüglich aber, 
wiewohl nur heimlich, fohürten Die Zwietracht Arianer (Speinianer), Lutheraner 
und Calviniſten. — Sie hielten in einem Privathaus ihre Berathungen, wo fie 
Michael fammt fünf Bifhöfen von Wlodzimirz, Lu, Plock, Chelm und Pinsk 
ihrer Würde verluflig erflärten und ercommunieirten, und zugleich den Vorfas 
foßten, die Abtrünnigfeit uneingevenf der früher in Brzesc gefaßten Befchlüffe 
hartnäckig zu vertheidigen, — Michael Rahoza dagegen, diefes vernehmend, be= 
ftätigte in Gegenwart der obengenannten päpftlichen und königlichen Legaten mit 
eigenhändiger Unterfehrift die Union und belegte Nicephor mit den genannten zwei 
Biſchöfen von Lemberg und Przemysl und ihren Anhängern feierlich mit dem 
Banne. — Sp endigte diefe Synode in Brzesc. Ihre Befchlüffe wurden, mit dem 
königlichen Edicte verfehen, dem ganzen polnifchen Reiche veröffentlicht, Dieß 
gab zu vielen, felbft blutigen Streitigkeiten und Verfolgungen von Seite der 
Nichtunirten Anlaß, welchen fih Hipacius Pociej, Nachfolger Michaels in der Me- 
tropolie von Kijow, mit apoftolifcher Begeifterung, Weisheit und Mäßigung mil- 
dernd entgegenftellte, Unter Welamin Rudi, Nachfolger des Hipacius in der 
Metropolie, nahm die Sache dur Intriguen der Ufrainer Koſaken ein noch trau— 
rigeres Schieffal; in Kijow, Nowoyrodek (Lithauen), Wilno wurden von den 
Nichtunirten Gräuelthaten verübt, im Witebsf wurde Zofaphat Konczewicz, ihr 
eigener Erzbifchof (von Polo) graufam ermordet; bis endlich der König Sig- 
mund II. der Unirten fich väterlih annahm, ihre Verfolger des Majeftätsverbre- 
chens ſchuldig erflärte, und eine neue Synode in Lemberg 1629 den 2, Det, an— 
ordnete, — Es erfihienen dafelbft Welamin Rudi, zwei Erzbifchöfe von Smo— 
lensk und Polo nebft den Bifchöfen von Wlodrimirz, Lu, Przemysl und Pinsk, 
und viele von der unirten nieveren Geiftlichfeitz der nicht unirte ruthenifche Adel war 
zahlreich vertreten; die nichtunirten Bifchöfe ſchickten bloß Stellvertreter, Nach 
feierlihem, vom Metropoliten felbft abgehaltenen Gottesdienſte in der Cathedrale 
zum hl. Georg, und nach einigen öffentlichen Sigungen trat der größere Theil 
vom ruthenifchen Adel, durch authentifche Briefe Cyrill's Lucaris (ſ. d. U), Pa— 
triarchen zu Conftantinopel, von deffen Heterodoxie und Calvinismus überwiefen, 
zur Union; der andere Theil feßte die Bedingung bei: er wolle nicht früher die 
Union anerfennen, bis eine Antwort und Rechtfertigung vom Patriarchen über 
die Anflagepuncte, welche er ihm kurz vorher in einem Briefe mittheilte, an— 
gelangt wäre, — Die Ablegaten der nichtunirten Bifchöfe überreichten der Synode 
ein NRefeript in der Art eines Concordates, worin fie jedoch folche Forderungen 
ftellten, welche ohne großen und offenbaren Nachtheil für den Glauben und das 
Anfehen der Fatholifchen Kirche auf Feinen Fall berückfichtigt werben konnten; fie 


⸗ 


verlangten: daß ganz Ruthenien (Rus) vom Patriarchen in Conſtantinopel ab⸗ 


hängig fein ſollez daß man den Kijower Antimetropoliten Job Borecki und bie 
nichtunirten Biſchöfe als legitim anerkenne, während indeſſen ganz Ruthenien von 
ihrer Illegitimität volllommen überzeugt war. Sie wurden nämlich von einem 
Griechen Theophanes (der, indem er ſich für einen Hieroſolimitaniſchen Patriar— 
chen ausgab, von den Ukrainer Koſaken aus Moskau nach Kijow gerufen war) 
mit offener Verhöhnung der Kirchencanonen und der königlichen Gewalt daſelbſt 
heimlich und unwürdig eonfeerirt. Aus diefen und andern Gründen würbigte man 
diefes Nefeript von Seite der Lemberger Synode Feiner Antwort. Indeſſen farb 
Sigmund, einer der eifrigften Beförderer der Union, deffen Tod die Nichtunirten 
zu vielen Zerwürfniffen theils in Firchlicher, theils politifcher Hinficht am Wahl- 
reichstage 1632 benüsten, Ladislaus IV., vor feiner Erwählung im Einverftänd- 











= 


Lemberg. 439 


niffe mit dem Metropoliten Rucki, verfäumte nichts, um fie zu gewinnen; fo ver- 
ſprach er ihnen den freien Befig einiger Kirchen, ſelbſt das Bisthum von Lemberg 
follte ihnen übergeben werden, was fie aber, übertrieben in ihren Sorderungen, 
bartnädig verwarfen. Als er aber ſchon zum König erwäßlt war, ertheilte er 
den Nichtunirten am Krönungstag zu Warſchau ein befonderes Privilegium, fraft 
deffen ihrem neuen Metropoliten Peter Mohila die Cathedrale zur HI. Sophia in 
Kijow, dann die Bisthümer von Przemysl und Luck übergeben, ja fogar eine 
Academie für Nichtunirte in Kijow gegründet werden ſollte. Unterdeffen beauf- 
fragte er feinen Gefandten in Rom, die Beftätigung diefer präliminären Puncte 
zur Union von dem apoftolifhen Stuhle zu erwirfen, Urban VII. aber, die 
Scähwierigfeiten der weiteren Verfühnung, dann aber auch die fleigende Macht 
des Schisma daraus nur zu fehr einfehend, mißbilfigte diefe Bedingungen, als 
dem göttlichen und menfchlichen Rechte zumwiderlaufend, Wie fehr der König, um 
dem Neiche den fo lange entbehrten Frieden zu geben, die Nichtunirten zu ge= 
winnen trachtete, beweist feine 1635 denfelben trog dem entfchieden entgegen- 
gefegten Decrete des Papftes ertheilte Eonftitution, welde er aber auf dringende 
Bitten des Metropoliten Nudi, und Proteftationen der Iateinifchen und griechifch- 
unirten Bifhöfe, fowie der erſten Reihsbeamten bald widerrufen mußte. Diefer 
Eonftitution folgten jedoch nah dem Tode Rucki's bald vier andere, welche nebft 
der erwähnten Eonftitution von 1635 noch andere Conceffionen den Nichtunirten 
geftatteten, gegen welche aber Anton Sidawa, Kijower unirter Metropolit, mit 
allen Tateinifchen Biſchöfen einen feierlichen Proteft im Senat einlegte, indem fie 
erflärten, daß die Neihsftände in diefer als einer rein kirchlichen Angelegenheit 
feine Macht hätten, Beſtimmungen zu treffen. Bald überzeugte ſich Ladislaus, 
daß diefe Eonceffionen, abgefehen von dem ungerechten Eingriffe in die Rechte 
der Kirhe, auch nur eine neue Farfel der Zwietracht in die Hände der leiden— 
ſchaftlichen Parteigänger fpielen würden, er fing daher an, die Forderungen von 
beiden Seiten allmählig zu mäßigen; und um den, durch lange Wirren in diefem 
Theile des Reiches zerftörten Frieden endlich Kerzuftellen, verordnete er eine neue 
Berfammlung nah Warfhau (30. Mai 1647), deren Zuftandefommen jedoch 
fein plöglicher Tod Cihon den 20. Mai deffelben Jahres) verhinderte, Die 
Uneinigfeit zwifhen den Unirten und Nichtunirten nährten neue Kriege mit den 
Ufrainer Koſaken; und das bis jegt mit fo vieler Mühe und Anftrengung an- 
gefirebte Werf der Union fing an gewaltig zu fheitern, als Johann Cafimir dur 
die fogenannten Pacten von Zborow und Hadriaf erflärte, in ganz Polen und 
Lithauen die Union aufzuheben, fünf nichtunirten Bifhöfen (unter ihnen auch dem 
von Lemberg) im Senat den Sitz einzuräumen, fowie den Nichtunirten alle früßer 
den Unirten angehörigen Kirchen und Güter übergeben zu wollen. Als aber die 
Koſaken, eidbrüchig gegen ihr feierliches Verſprechen, und verrätherifch gegen den 
König, auf die Seite der Mosfowiter übergingen, fo wurde dadurch nicht nur die 
Beftätigung der obgenannten Pacten von Seite der Reichsſtände vereitelt, fon- 
dern fie wurden auf dem Tandtage zu Warfchau 1661 durch eifrige Bemühungen 
des Kijower Metropoliten Gabriel Kolenda dahin erklärt, daß alles dasjenige, 
was in denfelbeu von der griechifchen Religion enthalten war, von den Unirten 
ausſchließlich zu gelten habe. — Das nun neuerdings angefangene Werf der 
Union Rutheniens verfolgte viel Fräftiger Johann II. (Sobieski), zu welchem Ende 
er 1680 am 24, Januar eine Berfammlung in Lublin veranftaltete. Es er- 
ſchienen daſelbſt alle unirten Bifhöfez von den Nichtunirten, den Lemberger Bi- 
ſchof ausgenommen, kamen mehr Laien als Geiſtliche. Es hatten die Berathungen 
bereits begonnen, als plöglich die Abgeordneten von Luck, wegen der Einwilligung 
auf den Patriarhen von Eonftantinopel fih berufend, den König erfuchten, einen 
andern Ort für die Verfammlung zu beftimmen, wozu auch der König aus un- 
befannten Gründen für's fünftige Jahr Warſchau beflimmte, was jedoch nicht zu 


440 Lemberg. 


Stande fam. Nach einigen Jahren wurde zwar vermöge des Tractates Cin Grzy- 
multow 1686) mit Moskau einigen nichtunirten Bifchöfen Cunter diefen auch dem 
von Lemberg) bie freie Uebung ihres Ritus und dem Kijower Metropoliten bie 
Jurisdietion über diefelben verwahrt; als aber einige Bedingungen deſſelben Trac- 
tates von Seite Moskau's nicht erfüllt wurden, fo wurde im Reichsrathe zu War- 
ſchau 1710 unter Auguft IL der Inhalt diefes Tractates in Bezug auf den grie- 
chiſchen Ritus dahin erklärt, Daß er nur von der unfrennbaren Einheit des grie- 
ehifch-Fatholifchen Ritus zu verſtehen ſei; denn ſchon bald nach dieſem Tractate 
(von Grzymultow) hatte der griechiſche Biihof von Lemberg, Joſeph Szum— 
lanski, fich mit der römifchen Kirche vereinigt, und auf dem Landtage in Warfchau 
1700 öffentlih in Gegenwart des Erzbifchofs von Onefen, Radziejowski, und 
des apoftolifhen Nuntinus Anton Davia das Fatholifche Glaubensbekenntniß ab- 
gelegt mit dem DBerfprechen, feine ganze Exarchie (Didcefe) zur Einheit zu 
bewegen. Sp wurbe endlich der über ein Jahrhundert mit fo vielem Wechfel und 
Leidenſchaft verfochtenen Abtrünnigkeit Nutheniens und den graufamen Wirren 
des Bürgerfrieges ein Ende gemacht. Die Einheit von Lemberg mit dem römifchen 
Stuhle dauert bis auf den heutigen Tag unerfchütterlich fort. Die übrigen griechifch- 
katholiſchen Bisthümer Rutheniens, welche feit der Theilung von Polen an Ruß— 
Sand verfielen, verharrten nicht ohne großen Muth und Entfchloffenheit, trotz der 
vielen und langwierigen Berfolgungen von Seite der Nichtunirten, bei der Union, 
bis fie 1839 den Künften und der Gewalt von Petersburg endlich unterlagen (vgl. 
Persecution et souffrances de l’Eglise catholique en Russie ... par un ancien conseiller 
d’etat de Russie [S, 80—136, 182 ꝛc.] Paris 1842.), wodurch die vielen Anftrengun- 
gen und Aufopferungen der polnischen Könige und Kijower Metropoliten für die fa- 
tholiſche Kirche neuerdings zerftört wurden. — Das griechifh-Fatholifche Metropoli- 
tancapitel von Lemberg beſteht aus vier Prälaten: dem Archipresbyter CDompropft), 
Archidiacon (Domdechant), Scholiarcha (Scholasticus), Chartophylar (Kanzler, ſ. 
d. Art, Chartophylar) und eben fo vielen Gremialdomherrn (d. i. den bei der 
Cathedrale refidirenden wirklichen Domherrn, numerariü residentiales; vgl. den Art, 
„Sanonici“); dann aus 12 Ehrendomherrn, welche letztere gewöhnlich als Pfar- 
rer bei den Kirchen der Didcefe fungiren, Zum Pfarrdienfte bei der Metropplitan- 
eathedrale befinden fich noch 2 Prediger, 1 Pönitentiarius und 2 Bicare, Die 
griechifch-Fatholifche Didcefe von Lemberg, die fih über 9 Kreife: Lemberg, Stryf, 
Stanislau Kolomea, Brzezany, Zlvezow, Tarnopol, Czartkow, Bukowina erſtreckt, 
mit einer Seelenzahl von 1,317,000, wird eingetheilt in 48 Decanate. Auch be— 
finden fich in derfelben 8 Drdenshäufer des HI. Bafilius für Männer und eines 
für Frauen; das Drdenshaus in Buczacz bat zugleih ein Gymnafium daſelbſt 
mit Lehrern zu verfehen. — Ju Lemberg befteht feit 1783 ein griechiſch— 
katholiſches Generalfeminar, in: welhem über 150 Zöglinge für den geift- 
Yihen Stand gebildet werden. — I. Das armenifhe Erzbistum. Die 
Gründung deffelben reicht beinahe bis an die der Stadt felbft, indem die Armenier 
wie die Ruthenen zu den erften Einwohnern der Stadt gehörten, Cafimir d. Gr., 
der ihnen eine vollfommene Freiheit der Uebung des Gottesdienftes nach ihrem 
Ritus gewährte, ertheilte zugleich ihrem Biſchof Gregor 1367 Erlaubniß zur 
Gründung einer Cathedrale in Lemberg. Ueber ihre Ortho- ober Heterodoxie 
läßt fich zwar für jene Zeiten nichts mit Gewißheit ausmitteln, wahrſcheinlich 
jedoch find fie unirt gewefen. — Gewiß ift es, daß fie um's Jahr 1535 mit 
Nom vereinigt waren; als Beleg dafür ıft in ihrer Cathedrale ein Grabmal 
eines gewiffen Stephan, der als Patriarch von Großarmenien diefer Würde ent- 
fagte, nach Nom ging, und, nachdem er dort den Eid des Gehorfams abgelegt 
hatte, nach Polen fam, wo er 1535 in Lemberg als armenifcher Erzbifchof ein- 
gefegt und als ſolcher 1551 ftarb, Sie flanden unter der Furisbietion des Pa- 
triarchen in Großarmenien, der in Etfehmiabin in Irwan feinen Sig hatte, fo 








Lemberg. 441 


ange er nämlich mit Rom in Gemeinfhaft blieb. Bald jedoch, entweder aus 
Mangel einer gehörigen Wachſamkeit und Auffiht, oder in Folge fchismatifcher 
Emiffäre, wurde das Einvernehmen der Lemberger Armenier mit dem römiihen 
Stuble unterbrochen, und in diefem Zuflande der Abtrünnigfeit verblieb die ar- 
menifche Kirche in Ruthenien bis zum J. 1624, Seit diefem Jahre wurde die 
Union wieder bergeftellt durch Melchiſedech, ebenfalls früher Patriarch von Groß- 
armenien, welcher wegen Erpreffungen des perfiichen Königs nah Rom floh, und 
nach dafelbft abgelegtem Gehorfam das in Lemberg erledigte armeniſche Erzbis- 
thum übernahm. — Im Jahre 1626 vrdinirte er unter feierlihem Eide der Treue 
und Einheit mit der römischen Kirche den Nicolaus Toroszewicz zum armenifchen 
Erzbifchof, wodurd die Union einen feften Pfeiler gewann, als plöglih ein Ab- 
gefandter des großarmenifchen Patriarchen Mofes, ein gewiſſer Chriftoph, Bifchof 
von Afpahan, erfhien, welcher das zufälligerweife nicht befte Einvernehmen der 
Armenier mit ihrem Oberhirten benügend, die Union mit allen Kräften zu trüben 
anfing. Toroszewicz jedoch, vomP. Elias, Prior der barfüßigen Earmeliter, vom 
Inteinifchen Erzbifhof und vom Lemberger Staroften nebft anderen Magnaten 
‚und Räthen der Stadt fraftig unterftügt, gab feierlich fammt zwei armenifchen 
Prieftern 1630 am 2, Det. in der Kirche der Carmeliter das Berfprechen der ka— 
tholifhen Treue; und als Chriftoph deffenungeachtet nichts unterließ, verbrecheri- 
ſcher Weife im Geheimen den Samen der Abtrünnigfeit und Uneinigfeit zu ftreuen, 
wurde er endlich auf immer von der weltlihen Behörde als Unruheftifter des 
Landes verwiefen. Die Anhänger Chriſtophs, dadurch aufgereizt, gingen fo 
weit in ihrer Leidenfhaft, daß fie dem Erzbifchof die Thüre der Cathedrale 
verfperrten. Der Erzbifchof wendete fih in diefer Angelegenheit an die Stabt- 
räthe, welche im Eifer für die Union weder auf Drohungen, noch auf Ber- 
ſprechungen der Abtrünnigen achtend, die Rirhenthüre ohne weiteres mit Gewalt 
öffnen ließen und dem Erzbiſchof die Cathedrale fammt dem bifhöflihen Sig 
zurüdftellten, Um jedoch das Werk der Union auf immer zu befefligen, ging 
Toroszewiez nah Rom, von wo er, von Urban VII. in feiner Würde beftätiget, 
nah einigen Jahren in Gefellihaft zweier Theatiner nah der Stadt Lemberg 
zurückkehrte, welchen er die Erziehung der dem geiftlichen Stande ſich widmenden 
Eandidaten anvertraute, wodurd das angeftrebte Werf der Vereinigung feiner 
Didcefe mit dem römifchen Stuhle glücklich vollendet wurde und bis auf den heu- 
tigen Tag fortdauert. Die Didcefe, mit einer geringen Seelenzahl von 5000 
und einigen Hundert Seelen, zählt bis jest 20 Erzbifchöfe. Der erfte von ihnen, 
Johann (feit 1365), ſtammte aus einer Föniglichen Familie, Sie wurden An— 
fangs in Großarmenien confeerirt und als ſolche nach Lemberg auf den erledigten 
Stuhl geſchickt, wo fie noch von den polnifchen Königen die Beftätigung einholten; 
feit der Union aber ertheilte die Beftätigung bloß der HI. Vater, Unter der öft- 
reichiſchen Regierung pflegt der Kaifer einen aus den dreien von der armenifchen 
Geiftlichkeit vorgefchlagenen Kandidaten zu wählen. Die Zurisdietion des arme- 
nifhen Erzbifhofs von Lemberg erſtreckte fich früher über Roth- und Weifruß- 
land, Polen, Lithauen, Podolien und Wolhynien; heutzutage ift fie bloß auf die 
in der Lemberger Didcefe zerfireuten Armenier befchränft, Nebft ver Cathedrale 
zur Himmelfahrt Mariä in Lemberg befteht die Diöcefe aus fieben in der Lem- 
berger Diöcefe zerftreuten Pfarrfirhen: in Stanislawow, Brzezany, Tyrmienica, 
Kutty, Lyfiee, Horodynfa und Sniatyn. Neben der Cathedrale fieht ein Klofter 
armenifcher Nonnen, welche die Regel des HI. Benedict beobachten, und fich mit 
der Erziehung armenifcher Töchter befaffen. Das armenifhe erzbiſchöfliche Cathe— 
dralcapitel befteht aus vier Prälaten: d. i. dem Dompropfte, Domdechant, Ardi- 
diacon und Pönitentiarius, zugleih aus zwei oder mehreren Ehrendomberrn, 
welche entweder bei der Eathedrale wohnen, oder als Pfarrer auf dem Lande 
fungiren. Zur Seelforge find vier Bicare an der Cathedrale, und ein Katechet 


442 Lemberg. 


an der Mädchenſchule angeſtellt. — II. Das Yateinifche Erzbisthum. Es 
gibt kaum ein Factum in der Gefchichte, wie das der urfprünglichen Gründung 
diefes Bisthums, über weldes fo viele und fo von einander abweichende Nach- 
richten und Anfichten herrſchen. Bzovius berichtet, daß noch 150 Jahre vor Ca— 
fimir d. Gr. in Halicz ein lateiniſches Erzbisthum beftand, deffen erfter Vorfteher 
ein gewiffer Bernhard aus dem Predigerorden, den der HI. Hyacinth 11208) aus 
Stalien mit fih gebracht hätte, gewefen fein foll. Ihm foll ein zweiter Bernhard 
aus eben demfelben Orden gefolgt fein, welche Beide von den Tataren den Mar— 


tyrertod geftorben. Diefes jedoch ſtimmt mit der Lebensgefchichte vom HI. Hyacinth 


in fofern nicht überein, als derfelbe erft 1219 in Nom in den Prebigerorden ein- 
trat, — Sfrobiszewsft Cein Lemberger Domberr in der erften Hälfte des 17ten 
Jahrhunderts, der die Biographien der Iateinifchen Erzbifchöfe von Halicz und 
Lemberg fchrieb) behauptet: daß ein gewiffer Chriflinus- aus dem Franeiscaner- 
orden für den erften Iateinifchen Erzbifchof von Halicz feit 1361 CH 1375) zu halten 
fei. In dem Regifter der Lemberger Erzbifchöfe wird von den Nubriciften der— 
felbe Ehriftin als erfter Iateinifcher Erzbifchof von Halicz, und zwar als gewiß 
angeführt (von 1361—1375). Baszko, Fortfeger der polnifchen Chronik von 
Boguchwal, macht von einem gewiffen Gotthard, Liftereienferabt von Opatow, 
als erftem Iateinifchen Erzbifchof in NRothreußen Erwähnung, über deffen Perfon 
jedoch nichts Gewiffes ausgemittelt werden kann; wahrfcheinlich ift es derfelbe 
mit Gerhard aus dem Predigerorven, deffen Bzovius erwähnt, und welcher auf 
Bitten Salomea’s, der Gemahlin des haliziſchen Königs Coloman, von Gregor IX. 
zum ruſſiſch-lateiniſchen Bifchof, jedoch nicht in Haliez, fondern in Kijow, ernannt 
wurde, Die polnischen Gefchichtfchreiber Diugosz und Kromer fprechen von zwei 
Iateinifchen Erzbisthümern in Nuthenien, und zwar: in Lemberg, welches 1361 
von Cafimir d. Gr., und dann in Halicz, welches von dem ungarifch-polnifchen 
König Ludwig 1376 gegründet fein fol, was jedoch am unwahrſcheinlichſten iſt 
und aller Hiftorifchen Grundlage entbehrt, Naruszewicz (der polnifhe Tacitus, 
Erzbifchof von Gneſen und Primas von Polen) und Oſtrowski (dzieje i prawa 
Kosciota polskiego) widerfprechen jedoch den obigen Berichten, namentlich dem von 
Sfrobiszewstt, und behaupten, daß das lateiniſche Erzbisthum in Halizien nicht 
von Caſimir d. Gr, gegründet fein könne, da derfelbe früher flarb, als die Grün- 
dung diefer Metropolie nach hinreichenden Hiftorifchen Zeugniffen anzunehmen fei, 
Es iſt zwar gewiß, daß Cafimir d. Gr. nad) der Eroberung Rutheniens fehr eifrig 
mit dem Gedanfen umging, in der neuen polnifchen Provinz, in der fih fchon 
ohnehin fehr viele Tateinifche Kirchen und Gemeinden befanden, auch eine zweite 
Metropolie im Reiche nebft der von Gnefen (f. d. A.) zu gründen, weßwegen er 
auch mit Innocenz IV. in diefer Hinficht unterhandelte; als aber diefer 1362 fein 
Leben endete, fo erreichte Caſimir von Urban V. feinen Wunſch und foll (jedoch 
nicht 1361, fondern um ein Jahr fpäter) den obgenannten Chriftin zum erften 
Erzbifchof ernannt haben, Wenn wir jedoch erwägen, daß von einer fürmlichen 
Erection der Tateinifchen Metropolie in Halicz erft unter Gregor XI. die Rede ift, 
fo verliert die Angabe von Skrobiszewski an hiſtoriſchem Gehalte eben fo viel, 
als die von Naruszewic, und Oſtrowski, auf unläugbare hiſtoriſche Documente 
fih flügend, daran gewinnt. Aus allen diefen, auf den Urfprung der latei— 
nifchen Metropolie in Halizien fich beziehenden, und fo fehr von einander ab- 
weichenden Berichten kann jedoch diefes mit Gewißheit entnommen werden, daß 
ſchon, von der zweiten Hälfte des 11ten Jahrhunderts angefangen und im 12ten 
Sahrhundert, der Gottesdienſt nach dem Iateinifchen Ritus in zahlreichen Kirchen 
Rutheniens abgehalten worden fei, was auch die internationalen Verhältniffe zwi- 
fchen ven Polen und Nuthenen in jenen Zeiten hinreichend erklären, Beſonders aber 
im 13ten Jahrhunderte iſt durch die Anftrengungen Colomans, des Sohnes des un— 
garifchen Königs Andreas, welcher 1214 vom Graner Erzbifchof zum König vom 





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Lemberg. 443 


Halizien gekrönt worben ift, dann des mazowifchen Prinzen Boleslaw Trojden, 
welcher durch die Vermählung mit Maria, der Schwefter des ruthenifchen Fürften 
Leo, in den Befig Rutheniens gelang, endlich der römischen Päpſte für die Aus- 
breitung der Fatholifchen Kirche nach dem Tateinifhen Ritus in Ruthenien fehr viel 


geſchehen. Biele Verdienfte erwarben fih in diefer Hinficht die neu errichteten 


Drden der Dominicaner und Franciscaner, von denen einige zwar mit der bifchöf- 
lichen Weihe verfehen waren, jedoch mehr den Charakter von Miffionären, als 
eigentlihen, an Sig und Stelle und an genau begrenzte Didcefen gebundenen 
Biihöfen an fi trugen, Sol’ ein Bifhof mag auch der obgenannte Epriftin 
gewefen fein. — In den erften Zeiten fanden diefe römifch-Fatholifchen Gemein- 
den in Ruthenien unter der Jurisdiction des Krafauer Bifhofes; feit 1228, als 
der Fürft von Breslau, Heinrich der Bärtige (Bormund des minderjährigen Kö— 
nigs Boleslaw’s V. oder des Züchtigen) die Zügel des Reiches führte, übertrug er 
diefelbe an den Bifchof von Lebus (Bisthum in der Marf Brandenburg, 6 Meilen 
von Franffurt a. d. O., im J. 966 von Mieczyslaw J. gegründet, f. Lebus), wie 
dieß auch aus einem Briefe Aleranders IV. (1257) an Johann, Bifchof von Lebus, 
in welchem er ihn wegen einer zu großen Entfernung von der canonifchen Vifitation 
dispenfirt, zu erfehen ift. — Und als nach dem Tode Chriſtins derfelbe Johann 
feine Jurisdiction über die römifch-Fatholifhe Kirche in Ruthenien zu behaupten 


ſuchte, und der Wahl eines neuen Biſchofs Hinderniffe in den Weg legte, wandten 


fih die Lemberger Bürger fammt andern römifch-Fatholifchen Gemeinden an Papft 
Gregor XI. mit der dringenden Bitte: Er möge ihnen Fatholifhe und von Lebus 
unabhängige Bifhöfe zufenden, bevor aber diefes geſchähe, den Prieftern aus dem 
Prediger- und Franciscanerorben Vollmacht ertheilen, die kirchlichen Angelegenheiten 
dafelbft zu verwalten, Diefe Bitte gewährte der HI. Bater in einem Schreiben 
an die Lemberger. Er ſchickte auch ein Breve an den Generalvicar der Francis- 
eaner, worin er ihm die Vollmacht ertheilt, felbft gegen Einfprache des Bifchofs von 
Lebus die Kirche dafelbfi zu regieren. Nachdem nun auf diefe Weife die Iateinifche 
Kirche in Ruthenien einige Selbftftändigfeit erlangt hatte, wandte fich Ladislaus, Fürft 
von Oppeln, des ungarifch-polnifchen Königs Ludwig Stellvertreter in Ruthenien, 
im Einverftändniffe mit dem König an denfelben Papft Gregor XL, und ftellte 
ihm die Notbwendigfeit eigener und felbftftändiger Iateinifcher Bifhöfe in diefem 
Lande dar, Es delegirte nun der HI. Bater in diefer Hinfiht eine Commiffion, 
beftehend aus dem Erzbifhof von Gnefen und den Bifchöfen von Krafau und Plod, 
um nad angeftellter Unterfuhung ihm abermals den Sachbeftand genau mitzuthei- 
Ten. — Nach einer forgfältigen Unterfuchung berichtete die Commiffion dem HI. Vater 
Folgendes: Daß die Zahl der römifch-Fatholifhen Seelen in diefem Lande fehr 
beträchtlich feiz daß die römifch-Fatholifchen Kirchen in Kijow, Halicz, Przemysl, 
Wlodzimirz und Chelm ſchon früher ſich der biſchöflichen Sige erfreut hätten; 
daß die Bifhöfe von Lebus ſich die Jurisdietion über diefe Sprengel unrechtmäßig 
aneigneten, und daß fie diefelbe wegen der allzumweiten Entfernung nicht einmal 
ausüben fönnten, — Dur) die Wichtigkeit dDiefer Gründe bewogen, erließ Gre- 
gor XI. (13. Febr. 1375) aus Avignon eine Bulle, Fraft welcher die Kirchen in 
Halicz, Przemysl, Wlodzimirz und Chelm ihre eigenen Bifchöfe Haben und von 
Lebus unabhängig fein follten; nebftdem beftimmte er, daß der von ihm zum la⸗ 
teinifchen Erzbifchof ernannte Antonius die Jurisdiction eines Metropoliten über 
die drei übrigen Bisthümer von Przemysl, Wiodzimirz und Chelm ausüben folle, 
Hieraus ift alfo erfichtlih, daß die Gründung einer wirflichen Iateinifchen Me— 
tropolie in Rothreußen erft in diefe Zeit zu fegen fei, wiewohl es damit nicht im 
Widerſpruche fteht, daß der obgenannte Chriftin fhon zu Cafimirs Zeiten als 
Biſchof von Halicz eine gleihfam Metropolitanjurisdiction über die benachbarten 





Kirchenſprengel ausgeübt haben mochte. Wegen der fortwäßrenden feindlichen 


Einfälle der Tataren Fonnte die Metropolie nicht Iange in Halicz verbleiben. Schon 


Aula Lenfant, 


derfelbe Ladislaus von Oppeln firebte die Hebertragung der lateiniſchen Metropolie 
nach Lemberg an, zu welchem Zwede er fein. eigenes Haus dem Erzbifchof und 
feinen Nachfolgern fchenfte, ja fogar die Einwilligung von Gregor XI. einholte; 
deffenungeachtet wohnten die ſechs erften lateiniſchen Erzbifchöfe: Antonius, Ma— 
thias, Bernardus, Petrus, Jacobus Strepa und Nicolaus Tromba in Halicz. — 
Sohann Rzeszowski war der erfte, der fih 1411 (unter Ladislaus Jagello) Erz- 
bifchof von Lemberg nannte; die eigentliche und feierliche Uebertragung des Erz= 
bisthums nach Lemberg jedoch gefchah erft 1414, nachdem Johann XXI. (23, Der, 
1414) feine Einwilligung dazu gegeben hatte, Nebft den drei oben erwähnten 
Bisthümern wurden in Folge der Zeit noch andere, wie das in Kamieniec, Kijow, 
Seret (in der Moldau), der Jurisdietion des Iateinifhen Lemberger Erzbifchofs 
untergeorbnet, was aber bei den damals fo oft vorfommenden politifchen Um— 
wälzungen durch Kriege nicht immer Beftand hatte. Seit der Theilung Polens 
1772 blieb dem Lemberger Erzbifchof die Zurisdietion bloß über Przemysl, feit 
1783 wurde fie auch über das in demfelben Fahre neu errichtete Bisthum von 
Tarnow erweitert, Vermöge eines Neferiptes des KRaifers Franz. vom 13, Febr, 
1817 bei der Einführung der galizifchen Stände wurde der damalige Tateinifche 
Erzbifchof von Lemberg Andreas Aloyfins Graf Sfarbef Ankwicz auch für feine 
Nachfolger mit der Würde eines Primas der Königreiche Galizien und Lodomirien 
befleivet, welche Würde feit 1849 dem griechifch-Fatholifchen Metropoliten Michael 
Lewicki verliehen wurde, Das lateiniſche Metropolitancapitel von Lemberg zählt 
4 Prälaten: einen. infulirten Dompropft, einen infulirten Domdechant, einen 
Eufios und einen Scholafticus nebft 6 Gremialdomherrn — dann find noch 8 
Ehrendomherrn. Die Iateinifche Lemberger Erzdidcefe, welche fih über 10 
Kreife, nämlich: Lemberg, Zolfiew, Brzezany, Stryj, Stanislawow, Kolomea, 
Tarnopol, Czortkow und Bufowina erſtreckt, wird eingetheilt in 25 Decanate, 
und zählt 91 Pfarreien, von denen 18, dann 30 Localcapellanien, von Denen 
eine den Drbenscollegien incorporirt iſt. In der lateiniſchen Erzdidcefe von Lem- 
berg find 6 Männerorden: I. Dominicaner mit 8; II. Carmeliter (antiquae regu- 
laris observantiae) mit 35 IH. Minoriten (ordo minorum cenventualium) mit 35 
IV. Bernardiner (ordo minorum observantium) mit 75 V. ordorecollectorum seu re- 
formatorum mit einem; VI. Capueiner mit 2 Drbenshäufern; dann 4 Frauenprden, 
und zwar J. Benedictinerinnen mit einem; II. Vom Hochwürdigften Gut mit einem; 
IH. Bom Herz Jeſu mit einem Ordenshauſe; IV. barmherzige Schweftern mit 8 
Collegien; ein Jateinifches Seminar, worin 50—60 Zöglinge zum geiftlichen 
Stande gebildet werden; und ein Knabenfeminar für ungefähr 20 Zöglinge. — 
Nebftvem befindet fich in Lemberg der Sig eines proteftantifhen Superintendenten 
und eines ifraelitifchen Oberlandesrabbiners, An Unterrichtsanftalten befigt Die 
Stadt Lemberg die feit 1784 geftiftete und 1817 wieberbergeftellte Univerſität 
(Alma Franciscea), an welcher AO Profeſſoren angeftellt find. Das Univerfitäts- 
gebäude fammt einer reichen Univerfitätsbibliothet wurde (1848) während bes 
Bombardements ein Raub der Flammen; eine Privatlehranftalt für Ordenscandi— 
daten, für die Theologie mit 7, für die Philofophie mit 3 Profefforen; eine ftän- 
diſche Academie mit landwirthſchaftlichem Inſtitute; zwei Gymnaſien und eine 
Realſchule. — Endlich ift noch bemerfenswerth das berühmte Dffolinskifhe In— 
flitut mit einer 45,000 Bände ftarfen Bibliothek, [Öwiazdon.] 
2enfant, Jacob, am 13, April 1661 zu Beauffe in Frankreich geboren, 
war der Sohn eines reformirten Predigers, welcher, nachdem Ludwig XIV. das 
Ediet von Nantes widerrufen hatte (1685), nah Marburg in Heffen auswan- 
derte und dafelbft ſchon im J. 1686 flarb. Der Sohn hatte Anfangs zu Saumur 
in Frankreich unter dem berühmten hugenottifchen Theologen Jacob Eapellus, 
fpäter zu Genf und Heidelberg fludirt, und war in Yegterer Stadt im J. 1684 
Kaplan der verwittweten Churfürftin yon der Pfalz und Paftor an der franzfl- 














Leo L 445 


ſchen Kirche geworden. Als im J. 1688 die Franzofen in die Pfalz einfielen 
and Melac dieſelbe Cauch Heidelberg) verheerte, floh Lenfant nach Berlin und 
erhielt Hier 1639 eine Predigerftelle an der franzöfifch-reformirten Kirche, die er 
auch bis an feinen Tod, 39 Jahre lang verwaltete, Daneben ward er fpäter 
auch zum Hofprediger der Königin Charlotte Sophie, und zum Dberconfiflorial- 
rath erhoben, überdieg Mitglied mehrerer gelehrten Gefellichaften. Im 3. 1707 
bereiste er Holland und England, predigte Hier vor der Königin Anna, und er- 
hielt von ihr den ehrenvollen Auftrag, ihr Hoffaplan zw werden. Er wollte 
jedoch feine feitherige Stellung nicht verlaffen, machte aber noch mehrere andere 
Reifen, um Materialien für feine gelehrten Arbeiten zu fammeln, bie er am 
7. Auguft 1723 an einem Schlagfluffe ſtarb. Er war ein tüchtiger, meiſt gründ- 
licher und fehr fruchtbarer Gelehrter, namentlich in kirchenhiſtoriſchen Special- 
werfen ausgezeichnet. Seine vorzüglichftem Arbeiten find die Histoire du Concile 
de Pise in 2 Duartbänden, 1724 (zugleich eine Gefhichte des großen vorange- 
gangenen Schismas) und die Histoire du Concile de Constance. 1727, ebenfalls 
in 2 Dnartbänden (auch in's Teutfche überfegt, Wien 1735). Das dritte große 
Hauptwerk follte die Gefchichte des Basler Eoneild und der Hufitenfriege werben, 
aber das firhtlihe Herannahen feines Todes veranlaßte Lenfant, mit Beendigung 
diefer Arbeit zu eilen, und fo ift denn die Histoire de la guerre des Hussites et 
du Concile de Bäle (die nach feinem Tode ebenfalls in 2 Duartbänden 1731 er- 
ſchien), weniger gründlich, namentlich weniger reichlich auf Duellenftudium bafirt, 
als die beiden erfigenannten Werfe, Außerdem fihrieb Lenfant: Histoire de la 
Papesse Jeanne 1694; L’£loquence chretienne dans PIdee et dans la Prafique par 
le P. B. Gisbert de la compagnie de Jesus, nouvelle edition, oü Yom a joint- les 
remarques de Mr. Lenfant, 1728; Traduction du N. Testament evec des remarques; 
Poggiana 1728; Pröservatif contre la Reunion avec le Siege de Rome 1723; 
Lettres entre Mr. d’Artis et Mr. Lenfant sur les matieres du Socinianisme und noch 
ziemlich viele andere, jegt meift vergeffene Werke. (Hefele.] 
Leo L—XIE, Päpſte. Leo L, mit dem Beinamen der Große, ſtammte 
vom einer fehr angefehenen toscanifhen Familie ab und wurde gegen Ausgang 
des vierten Jahrhunderts in Rom geboren, Sein Leben und Wirken bis zum 
Diaeonat ift ganz unbefannt. Daß er bei feinen außerordentlichen Fähigkeiten 
und feltenen Charafterftärfe ſchon unter Papſt Cöleftin (423—432) großes An= 
fehen genoß und auf die Leitung der Firchlihen Angelegenheiten einen bedeutenden 
Einfluß Hatte, fpringt aus mehreren Thatfachen in die Augen, So wandte fi 
Cyrill von Alerandrien an ihn, um durch feine Vermittlung den Papſt zu be— 
wegen, den unbefcheidenen Anfprühen Juvenals von Jeruſalem auf ven Primat 
in der paläftinenfifhen Rirchenprovinz nicht zu willfahren; und wie er von dem⸗ 
felben Papfte, als Prosper von Gallien die Hilfe des römifchen Stuhles gegen 
I den in Gallien überhandnehmenden Semipelagianismus anrief, mit der Unter« 
I. fuhung und Entfcheidung darüber betraut wurde, fo wußte er auch im J. 439 
I unter Papft Sirtus II. den Bemühungen des wegen feiner Anhänglichfeit an den 
Pelagianismus ausgefhloffenen Julianus von Eclanum, der fi wieder in die 
Kirche einſchleichen wollte, ſehr glücklich entgegen zu wirken. In demſelben Jahre 
wurde Leo als die hiezu tauglichfte Perfon auch nah Gallien geſchickt, um eine 
zwifchen dem römifchen Feldherrn Aetins und dem Senator Albinus ausgebrochene 
Streitigfeit zu ſchlichten. Während feiner Abwefenheit war Sirtus im Monat 
März 440 geftorben, und nun wählte die gefammte Geiftlichfeit, wie von Einem 
Geiſte befeelt, den Diacon Leo zum Nachfolger des verftorbenen Papftes, Rom 
und die ganze Ehriftenheit jubelte bei der Nachricht der getroffenen Wahl, Es 
war ein in mehr als einer Beziehung Fritifcher Zeitpunet, der von dem oberſten 
Biſchofe der ganzen Kirche vor Allem überlegendes und dabei doch entſchiedenes 
Handeln und große Thätigfeit, ein Bewußtfein feines Berufes und feiner Auf« 


446 Leo J. 


gabe in Bezug auf die in Lehre und Verfaſſung gleich ſchwierigen und verwickelten 
Angelegenheiten erforderte, wie ſie, da zu Allem die große Gährung der Ge— 
müther in Staat und Kirche ſelbſt und die in jeglicher Weiſe immer wachſende 
Noth und Bedrängniß der Zeit hinzukam, ſpäter nicht oft wieder verlangt wurde. 
Wie aber Leo in der innerften Tiefe feines Fräftigen Geiftes die Aufgabe und die 
Pflichten feines Berufes erfannt hatte, was ſchon aus feiner in der Octav feiner 
Confeeration an das Volk gehaltenen Rede erhellt, fo bot er auch alle Kraft auf, 
feine Aufgabe in einer ihrer Wichtigkeit angemeffenen Weife zu Iöfen. — Die 
Kirche in Africa zog zuerft feine Aufmerffamfeit auf fih. An den Einfall der 
arianifchen Barbaren in diefes Land (429) knüpfte fih Noth und Bedrängniß; 
eine furchtbare Verfolgung erging über die Orthodoxen und eine Menge von 
Nachläffigfeiten und Mißbräuchen ftellte fih ein. Zwar ſchloß Valentinian II. 
mit dem Bandalenfönig Genferich einen Frieden, in Folge deffen die drei mau— 
ritanifchen Provinzen den Römern zurückgegeben wurden, aber bie kirchliche Drd- 
nung war damit noch nicht hergeftellt; bedeutende Unregelmäßigfeiten und Ab— 
weichungen von dem, was in Bezug auf die Weihung der Geiftlichen ꝛc. durch 
gefeglihe Beftimmungen feftgefegt war, dauerten fort, Darum erließ Leo kurz 
hinter einander zwei Nundfchreiben an die mauritanifchen Bifchöfe, um den dieß- 
fallfigen Firhlichen Beftimmungen Geltung zu verſchaffen. Wie aber die kirch— 
liche Disciplin durch die immer ſich erneuenden Unruhen und politifchen Umwäl— 
zungen und durch die ganze und allgemeine Zerriffenheit des Lebens eigentlich in 
der ganzen Ausdehnung der abendländifchen Kirche bedeutend in Verfall gefommen 
war, fo fuchte auch der Papſt in Gallien wie in Africa, in Stalien wie in Spa= 
nien diefelbe wieder herzuftellen und größere Strenge und Gefesmäßigfeit wieder 
einzuführen. Im nämlichen Jahre noch (443) hatte Leo für die Reinigung und 
Aufrechthaltung der Lehre einzutreten, Nach der Eroberung Nordafrica's durch 
die Vandalen waren viele Manichäer nach Stalien, befonders nah Rom gekom— 
men; fie gerirten fich äußerlich als Katholifen und, um ihre Gräuel im Verbor— 
genen defto ficherer üben zu fünnen, nahmen fie den äußern Schein einer ganz 
vorzüglichen Enthaltfamfeit an. Sp gelang es ihnen, ihre fchändliche Seetirerer 
Sahre lang zu verbergen, Aber dem erleuchteten Eifer und der unermüdeten Wach— 
famfeit Leo's konnte diefe im Stillen immer mehr um fich greifende Peft nicht 
lange entgehen. Sobald er deßhalb die nöthigen Vorbereitungen getroffen, Tei- 
tete er eine ftrenge Unterfuchung ein, und nach Beendigung derfelben verfammelte 
er die Geiftlichfeit Noms und der Umgegend, Senatoren, Patrizier und einen 
großen Theil-des Bolfes, Ein manichätfcher Biſchof und die angefehenften Mit- 
glieder der Secte wurden vorgeführt, Sie geftanden nicht bIoß ihre Ketzerei ein, 
fondern auch abfcheuliche Verbrechen der Unzucht, welche bei ihren Feftverfamm- 
lungen verübt worden feien, Recht Viele entfagten fofort ihrem Irrthume und 
fehrten bußfertig zur Kirche zurück. Um aber die Widerfpenftigen, die mit dem 
Banne belegt und aus Nom vertrieben wurbeh, fowie jene, die noch vor Beendi= 
gung des Proceffes aus der Hauptftadt geflohen waren, unſchädlich zu machen, 
feste Leo die Bifchöfe der morgen- und abendländifhen Kirche von dem in Nont 
Borgefallenen in Kenntniß, forderte fie zur ftrengfien Wachſamkeit auf und wirkte 
bei den Kaifern Valentinian II. und Theodoſius dem Jüngern ein Gefet aus, 
welches alle früher gegen irgend welche Keger verfügten Strafen erneuerte und 
verfehärfte. Kurze Zeit nach diefer Unterbrüdung der Manichäer befam Leo von 
dem Biſchofe Septimus Kunde, daß in Oberitalien der Pelagianismug unter Cle— 
rus und Volk Anhänger zähle, er forderte deßhalb die Biſchöfe zu wiederholten 
Malen auf, mit vereinten Kräften auf die von ihm bezeichnete Weife dieſer Irr— 
lehre entgegenzumwirfen. Auch von Spanien aus erhielt er eine dringende Ver— 
anlaffung, feine Aufmerffamfeit und Thätigfeit der Widerlegung und Hemmung 
bäretifcher Beftrebungen zuzuwenden. Um die Mitte des fünften Jahrhunderts 














Leo J. 447 


nämlich breitete ſich wieder die priscillianiſtiſche Ketzerei, begünſtigt durch die 
Einfälle der Barbaren, mit Macht in Spanien aus, Turribius, Biſchof von 
Aftorga, kämpfte in Wort und Schrift Dagegen an, und forderte auch feine Mit- 
bifchöfe Hiezu auf, ohne aber bei ihnen großen Anklang zu finden, Deßhalb 
brachte er die Sache zur Kenntniß des römifchen Stuhles, die Entſcheidung des- 
felben erbittend. In einem längeren Schreiben entwidelt der Papft das Eigen- 
thümliche diefer Härefie, und wie fehr fie der Fatholifchen Rechtgläubigfeit wider— 
fireite; fofort unterrichtet er den Bifchof, wie er es anzugreifen habe, um bie 
weitere Ausbreitung der Secte zu hemmen, Zn Toledo wurde eine Synode ge— 
halten, welche ein Fatholifches Glaubensbekenntniß nebft 18 Anathematismen 
gegen die Priscillianiften abfaßte; da aber die Bifchöfe von Gallizien, in welcher 
Provinz die Ketzerei am meiften um fih gegriffen hatte, fi) dabei nicht hatten 
einfinden fönnen, fo ließ der Papft jenes Glaubensbefenntnig dem Metropoliten 
von Gallizien überfenden, damit e8 von ihm und feiner Geiftlichfeit unterfchrieben 
werde; etwas ſpäter fprach ſich dann eine gallizifche Provincialfynode gegen die 
priscillianiftifche Härefie aus. Daß Leo im obigen Schreiben zuerft und haupt- 
fählih von Seite der Kirche zur Ergreifung der ſtrengſten Maßregeln gegen die 
Srrlehrer aufgefordert und die Beftrafung derfelben mit dem Tode von der welt- 
lichen Macht verlangt habe, ift ein ungerechter Vorwurf, erflärte er ja vielmehr 


ausdrücklich, daß die Kirche ſich mit dem geiftlichen Urtheile begnüge und bfutige 
Rache fliehe. Wenn man ihm aber verübeln will, daß er gegen das firenge Ver— 
fahren des Staates nicht mißhilligend auftrat, fo ift zu bedenken, daß eben Nie- 


mand, feldft die geiftig am höchſten Geftellten, nicht über ihre Zeit hinausfönnen, 
und daß der Maßftab für die Würdigung irgend welcher Handlung nicht in der 
Anfiht und dem Wefen unferer Zeit, fondern in dem Sein derjenigen zu fuchen 
ift, in welcher fie gefchehen. — Noch gegen Ende des Jahres 444 war unter den 


galliſchen Bifchöfen ein Streit entfianden, in welchem Leo als oberſter Schieds- 


richter aufzutreten Hatte, Schon früher buhlten die Stühle von Arles und 
Vienne um den Vorrang; Papft Zofimus (417—413) entſchied fih für Arles, 
ernannte den Bifchof diefer Provinz zu feinem Vicar in Gallien und ftellte die 
drei Provinzen Biennenfis und Narbonenfis I et II. unter die Gerichtsbarkeit des 
Erzbifchofs von Arles. Hilarius (ſ. d. A.), feit 428 Erzbifhof von Arles, ver- 


I anftaltete nun im Sommer 444 zu Veſontio (Bafangon, f. d. A.) eine Synode, 
welche den Chelidonius, Biſchof von Befangon, den kirchlihen Canonen gemäß 


auf die motivirte Anklage Hin, daß er vor feiner Weihe eine Wittwe geheirathet, 
und früher, da er noch römifcher Beamter war, ein Todesurtheil gegen einen 
Berbrecher gefällt und vollzogen habe, abfegte. Chelidomius ging nach Nom und 
legte hiegegen bei Leo Appellation ein; auch Hilarius war dahin gegangen, um 
die Beftätigung des von der genannten gallifchen Synode gegen den Chelidonius 
erlaffenen Urteils auszumwirfen, Auf dieß Hin veranftaltete Leo eine Synode zu 
Rom, auf welcher Chelivonius durch Zeugen die Unwahrheit der ihm zur Laft 


gelegten Befchuldigungen darthat, während Hilarius, unzufrieden über die päpft« 


lie Annahme der Appellation, auf der Synode, ob auch vom Papfte ausdrücklich 
biezu aufgefordert, gegen Chelidonius nicht nur als Kläger nicht auftrat, fondern 


ſogar heimlich aus Nom fich entfernte, Chelidonius wurde für unſchuldig erklärt 
and von Leo wieder in fein Amt eingefegt, Konnte Leo ſchon mit diefem Betragen 


des Hilarius nicht zufrieden fein, fo waren noch andere Klagen eingelaufen, welche 


I ihn zu einem firengeren Verfahren gegen Hilarius beftimmten. Projectus näm— 


lich, ein anderer gallifcher Biſchof, beklagte ſich bei Leo auf das Bitterfie, daß 
Hlarius willfürlih einen andern Bifchof zu feiner Stelle geweiht Habe, als er, 


I Projertus, an einer Krankheit darnievergelegen habe, ohne den Ausgang derfelben 


abzuwarten, In einem Schreiben fest Leo die Bifhöfe der Viennenfifhen Kirchen- 
provinz son dem Dergange und wahren Verhalten der Angelegenheiten des Che— 


418 Rep]. 


lidonius und Projeetus in Kenntniß, ſpricht ſich ſehr ſcharf gegen Hilarius aus, 
entzieht ihm die Metropolitanrechte und trägt fie auf ven Stuhl von Vienne über, 
Diefe Mafregel erſchien Vielen ſchon als eine unrechtmäßige Anmaßung; während 
Onesnell den Hilarins gegen Leo fehr in Schug nimmt und Baronius zum Jahre 
464 durchblicken läßt, als wäre Leo bei dem ganzen Streite nicht immer gut be— 
sathen gewefen, haben bie Ballerini in der Ausgabe der Werke Leo’s den Papſt 
und fein Verfahren gelehrt und gründlich verteidigt, Durch ein Geſetz Balen- 
tinians IIL., welches am 6. Juni 445 aus Beranlaffung diefes Streites erfchien, 


thätige Weife aus. Bald liefen deßhalb Klagen über Klagen in Rom ein; be= 
fonders beflagte ſich der Bifchof Atticus von Nicopolis, den Anaſtaſius, weil er 
an einer Provinciaiſynode nicht Theil genommen, im Winter mit Gewalt nach 
Theſſalonich hatte bringen laſfen, in Nom bei dem Papſte bitter über bie ihm von 
Seiten des Metropoliten widerfahrene Harte Behandlung. Nun ſah ſich Leo ver- 
anlaßt, in einem Schreiben feinen Bicar zu maßregeln, die Bande der Abhängig- 
keit Schraffer anzuziehen, die Berhältniffe der Metropoliten zu den Biſchöfen ihrer 
Provinz und mehrere andere Digciplinarpunete von Neuem feftzufegen. — Gegen 
das Jahr A48 begannen Streitigfeiten, welche bald bie größten Folgen haben 
folften und die Kirche fange Zeit hindurch mit Zwift und Unruhe erfüllen, die des 
Eutyches (ſ. d. A.) nämlich. Nachdem er auf der Synode zu Eonftantinopel im 
November 448 aus der Rirchengemeinfchaft ausgefchloffen worden war, fuchte er, 
unterflügt von Kaiſer Theodsfing, den Papft für feine Sache zu gewinnen. Les 
verlangte nun im Febr. 449 von Flavian (f, d. A.) einen ausführlichen Bericht, 
aus dem er in der Folge, fowie aus den mitgeteilten Synodalacten die Richtig- 
feit des gegen Eutyches gefäfften Urtheils erkannte, Eine Synode, welche den 
Eutyches reftituiren folfte, wurde noch im März 449 von Theodoſius auf den 
4. Auguft deffelben Jahres nach Epheſus ausgeſchrieben. Leo gab ſich alle Mühe, 
daß das neue Concil entweder in Jialien abgehalten werde, oder ganz unterbleibe, 
aber vergebens, darum ordnete er zu der Synode (ſ. den Ark, Ephefus, Räu— 
berſynode daſelbſt) Geſandte ab und erließ unterm 13. Juni 449 an Flavian 
fein berüßmtes Schreiben, weldes mit Necht als das wichtigfte dogmatifhe Do⸗ 
enment des Jahrhunderts betrachtet werben muß, da durch dieß einer Der wichtigften 
und fehwerften Punete des chriftlichen Glaubensſyſtems entſchieden und feſtgeſetzt 
wurde. Kaum hatte Leo über das in Epheſus Vorgefallene Kunde erhalten, als 
er dem Kaiſer auf's Beftimmtefte erflärte (Br. 42, 43), daß er die Beſchlüſſe 
diefer Synode als null und nichtig betrachte; zugleich verlangte er die Verfamm- 
fung einer beumeniſchen Synode in Italien, und in gleichem Sinne ſchrieben auf 
feine Bitte auch Valentinian HI, und die Kaiſerin Placidia und Eudoria ah den 
Vater ver letztern, Theodoſius. Ebenſo ſchickte Leo Briefe ireniſchen Inhalts an 
Pulcheria, die Schweſter des Theodoſius, an die Gemeinde und Aebte der Klöfter 
in Eonftantinopel, Aber Theodoſius war von einer eutychianiſchen Partei be⸗ 








ur = Les I 449 


herrſcht und Leo hatte fo nicht die mindefte Ausficht auf deſſen Beiftand zur Unter- 
drückung jener unruhigen und unkirchlihen Bewegungen im Drient, Damit aber 
wenigftens der Dccident nicht auch in die Irrlehre mit hineingezogen werde, ſchickte 
der vapſt Abfchriften feines Briefes an Flavian als Ausdruck der gefunden Lehre 
an alle abendländifchen Bifchöfe. Unverfehens aber änderten ſich die Verhältniffe 
in Eonftantinopel, Pulcheria gewann wieder mehr Einfluß am Hofe, Chryſaphius 
aber fam-in Abnahme, und Anatolius, bisher eine Creatur Dioscurs und Nach— 
folger Slavians, bewarb fih um die kirchliche Gemeinfhaft mit Rom, Auf diejes 
bin ſchickte Leo eine Geſandtſchaft nach Eonftantinppel mit einem Briefe an den 
Raifer, worin die Anerkennung des Anatolius unter der Bedingung zugefagt war, 
daß diefer das Schreiben Leo's an Flavian fowie die zwei Briefe Cyrills an Ne- 
ſtorius feierlich anerfenne und die Keßerei des Eutyhes verdamme, Che no die 
Gefandten anfamen, war Theodofius geftorben, und fein Tod wurde ein höchſt 
wichtiger Wendepunct für die Firhlichen Angelegenheiten. Das neue Herriher- 
paar, Marcian und Pulcheria, trat in ein fehr freundliches Verhältnig zu Leo 
und verſprach alle Mitwirkung zur Beilegung der Firhlichen Wirren. Nun wußte 
- Anatolius nichts Eiligeres zu thun, als Leo's Forderungen nachzufommen; auch 
viele Bischöfe, die fih damals in Eonftantinopel befanden, um die neuen Herr- 
fher zu beglüfwünfchen, vermochte er, daß fie ihm nachahmten; wieder andere 
Bifhöfe, welche ebenfalls die Beihlüffe von Ephefus unterzeichnet hatten, wand— 
ten ſich jest theils unmittelbar, theils mittelbar durch Anatolius an den Papſt, 
verficherten reumüthig, nur durch Furt und Gewalt überwältigt feien fie ge- 
fallen, und baten um Wiederaufnahme in die Gemeinfhaft der Kirche und des 
römifchen Stuhles. Jetzt hielt Leo unter den gänzlich veränderten Umftänden eine 
allgemeine Synode ganz natürlih, zumal da die abendländifshen Biſchöfe nicht 
daran Theil nehmen fonnten, für Höchft überflüffig ; allein Marcian berief fie, ehe 
er noch das abrathende Schreiben des Papftes erhalten hatte, zuerſt nach Nicäa, 
dann, der Nähe wegen, nach Chalcedon (ſ. d. A.). Nah Beendigung derfelben 
ſchickten Marcian, Pulcheria und Anatolius Briefe, und die fämmtlichen Bifchöfe 
ein Synodalihreiben und eine griechifhe Abfchrift der Arten an den Papft mit 
der Ditte, das von der Synode Feſtgeſetzte zu beftätigen; befonders beflagte fich 
Anatolius in feinem Briefe bitter über die päpftlichen Legaten, die Allem, was 
das Concil in Anfehung der Kirche von Conftantinopel verfüget, fih eigenfinnig 
viderſetzt hätten. Sp bereitwillig Leo Alles beftätigte, was in den ſechs erſten 
Siztzungen des Concils gefhehen war, fo entfhieden war er gegen den 28ten 
Canon, und zwar mit Net. Lie fih auch vom Standpuncte augenbliclicher und 
drtlicher Nüslichkeit Viel für den Canon fagen, fo hatte ihn der Papft von einem 
höheren Gefihtspuncte aus in feinem Berhältniß zum Ganzen der Kirche zu be— 
traten, in wiefern er diefem und feiner Entwicklung für die Zukunft frommen 
oder haben Fönnte, Leo glaubte, durch diefen Canon fei die Möglichkeit einer 
Trennung ber orientalijchen und veeidentalifhen Kirche fehr nahe gelegt, und die 
Geſchichte beweist, daß der Riß zwifchen der lateiniſchen und griechifchen Kirche 
in Wahrheit feinen erfien Grund in der Erhöhung des Stuhles von Conftantinopel 
bat, Der Papft bat deßhalb in einem wohl motivirten Schreiben den Kaifer auf 
das Angelegentlichfte, diefe der Einheit und dem Frieden der Kirche fo nachthei— 
ligen Beftrebungen mit aller ihm zu Gebote flehenden Macht zu unterdrücken, dem 
Anatoling aber verwies er auf eine eben fo ernfte ald würdige Weife feine eiteln 
Sorderungen und flolzen Anmaßungen, Bevor noch die Angelegenheiten der orien— 
talifhen Kirche für vollklommen geordnet gelten fonnten, zogen die politifchen Ner- 
haltniſſe Italiens des Papftes Aufmerkfamfeit und Sorge auf fih. Dem fo oft 
erſchütterten weftrömifhen Reiche drohte ein naher und furchtbarer Untergang, 
Attila ([. d. A, aus Gallien vertrieben, z0g nach Stalien, und der Schrecken 
war allgemein, Aquileja mit Feuer und Blut verheert, Mailand, Verona, Man— 
Kirchenlexikon. 6, Bd. — 29 


450 Leo L 


tua und Piacenza geplündert, bezeichneten bald wie rauchende Scheiterhaufen den 
Zug des Triumphators, Die Völker flohen vor ihm her und juchten am Meere 
die Sandbänfe auf, um nicht von der „Geißel Gottes” erreicht zu werben, Der 
hl. Leo warf ſich jegt als Schüger der Schwachen auf und ging ihm entgegen; 
wie ein Gefandter des Himmels zug er mit Verfprechen und Drohung vorwärts, 
und Attila vor ihm zurück, Die von Vielen verſuchte Nahweifung, Attila habe 
aus äußerer Nothwendigkeit Frieden gefchloffen, fo plaufibel fie beim erfien An- 
blick auch fein mag, ift nicht ftihhaltig, vielmehr iſt der ganzen Perfönlichkeit des 
Papſtes, feiner Meberredungsfraft und geifligen Ueberlegenheit die Rettung Noms: 
zuzufchreiben. Ein paar Jahre fpäter mußte Leo unter ähnlichen Verhältniffen 
Rom zu Hilfe fommen. Der flumpffinnige Balentinian II., welcher fich über ven 
Berfuft der Provinzen in Ausfchweifungen entfihädigte, war den 17. März 455 
yon der Hand des Marimus gefallen, und der Mörder hatte den Throm und das 
Ehebett feines Schlachtopfers beftiegen; doch Eudoria, die Wittwe Valentinians, 
empörte fich darüber und rief ven Genferih (ſ. d. U.) herbei, Diejer kam Mitte: 
Sunius, und Rom hatte alfe Urfache, vor dieſem beutegierigen Zerftörer zu zittern. 
Leo ging mit dem Worte des Friedens in's feindliche Lagerz aber dießmal Fonnte, 
er mit allem Bitten und Flehen nur die Rettung der Bevölkerung und ber drei 
Hauptlicchen erlangen, Nom wurde während 14 Tagen ein Raub der Plünderung. 
Damals verſchwanden die goldenen und filbernen Gefäße des Tempels von Jeru- 
falem; damals wurde au) das eherne vergoldete Dach auf dent Tempel des ca= 
pitolifchen Zupiters mit allen übrigen Reichthümern der Stadt hinweggeichleppt. 
Taufende wurden mit den griechifhen Statuen und den Schägen ber Kirchen auf 
die Schiffe ald Gefangene gebracht, und Leo forgte aus allen Kräften dadurch für 
ihre geiftigen und Förperlichen Nöthen, daß er ihnen eifrige Priefter und reich“ 
Yiche Almofen nach Africa fendete; die Kirchen ließ er wieder aufbauen und ver- 
ſah fie mit neuen Gefäßen und Ornaten. — Die oben berührte abſchlägige Ant« 
wort des Papftes machte ven Anatolius fehr unzufrieden; er fuchte deßhalb das, 
was in dem päpftlichen Schreiben fih auf den 28ten Canon bezog, ber Kunde 
alfer morgenländifhen Kirchen zu entziehen, und wie er bei den Bifhöfen Illy⸗ 
riens die Anerkennung des fraglichen Canons auszuwirfen fuchte, fo machte er 
auch wieder mehr gemeinfhaftlihe Sache mit den Häretifern, Auf diefes hin 
forgte der Papft feldft für die möglichft größte Publicität feiner nach Conftanti- 
nopel erlaffenen Schreiben, ſchickte Abſchriften davon an mehrere morgenländifche 
Biſchbfe, auch das Herrfiherpaar forderte er auf, durch gütliche Borfiellungen den 
Anatolius von feinem verkehrten Verfahren abzubringen. Um aber fortan die ehr⸗ 
füchtigen Beftrebungen des Biſchofes von Conftantinopel zu beauffichtigen, über- 
haupt aber um bie allgemeinen Intereſſen der Kirche und bie befondern des Papftes 
an dem bortigen Kaiferhofe zu vertreten, rief Leo jegt eine Inſtitution in's Leben, 
welche ſpäter bei veränderter kirchlicher und ſtaatlicher Beziehung weiter aus⸗ 
gebiidet und für die Leitung der Angelegenheiten von großer Wichtigkeit geworden 
iſt, die Sitte nämlich, beftändige päpſtliche Legaten bei den Höfen zu unterhalten. 
Dem Julian von Kos, einer der Cycladen, der ſich ſchon längere Zeit gleichſam 
als paͤpſtlicher Geſchäftsführer zu Conſtantinopel aufgehalten hatte und in die dor⸗ 
tigen Berhältniffe eingeweiht war, wurden nun von Leo ausführliche Inſtructionen 
gegeben, der Raifer aber gebeten, demfelben Wohlwollen und Schuß zu gewähren. 
Wie wenig der Friede in der vrientalifchen Kirche durch das Coneil von Chalcedon 
bergeftelft worden, follte fih bald in Paläſtina Syrien und Aegypten zeigen. 
Wie hier der Monch Timothens Aelurus, fo ftellte ſich dort der Mönch Theodo⸗ 
fius an die Spige der mit dem Concil Unzufriedenen, das Volk wurde durch 
Ligen, namentlich durch eine verfälſchte griechiſche Ueberſetzung von Leo's Brief 
an Flavian getäufcht, als hätte man zu Chaleedon den rechten Glauben über Bord 
geworfen, der Fanalismus fteigerte fih bis zu ſchauerlichen Greuelfeenen, und 








Leo L 451 


nur den vereinigten Bemühungen des Kaiſers und Papſtes gelang es, die Ruhe 
und Ordnung wieder herzuftellen. Das gute und innige Berhältnig zwifchen Papſt 
und Kaifer ließ nachgerade auch dem Anatolius ein gutes Vernehmen mit Leo alg 
vortheilhaft erfcheinen, und er fuchte deßhalb durch Vermittlung des Kaiſers die 
Ausfohnung mit dem Papſte nah; Leo erffärte fih in einem Antwortſchreiben 
hiezu bereit; weil er aber gewiffe Bedingungen ftelfte, fo blieb es vorderhand 
bei diefen Annäherungsverfuchen; auch dadurch, daß Anatolins etwas fpäter nach- 
gab, wurde das Berhältnig zwifchen ihm und dem Papfte nicht viel freundlicher; 
Leo Fam ihm zwar freundlich entgegen, aber er fonnte doch den BVerfiherungen 
deffelben nicht volffommen trauen. Um diefe Zeit follte auch die Feftfegung der 
Paſchafeier für das Fahr 455 zur Entfheidung fommen. Die Beflimmung des 
Tages, an welchem Dftern gefeiert werden follte, hing größtentheils von aſtrono— 
mifhen Berechnungen ab, das Refultat diefer Berechnungen war aber oft ver- 
fhieden, und darum wurde auch Oſtern nicht überall am nämlichen Tage gefeiert. 
Um diefe Ungleichheit zu vermeiden, hatten fihon frühere Päpfte dem Biſchof von 
Alerandrien den Auftrag gegeben, die Dfierzeit zu berechnen und die gefundenen 
Tage dem römifhen Stuhle anzuzeigen. So hatte Bifhof Theophilus von Ale- 
xrandrien feit 379 auf 100 Jahre hinaus das Pafıha berechnet, und man hielt ſich 
geraume Zeit lang daran; fpäter aber machten fich theilmeife andere Berechnungen 
geltend, und der alte Mißſtand war wieder da. Um diefem zu begegnen und 
Conformität Herzufteller, ließ Leo durch mehrere erfahrene Männer Berechnungen 
anftellen und befeitigte fo einen Zanfapfel vieler Streitigfeiten. Im J. 457 flarb 
der trefflihe Kaifer Marcian, und die dem Frieden und der Ordnung feindliche 
Partei, deren Unterdrückung eine Folge von feiner und des Papſtes Bemühungen 
geweſen, veranlaßte eine neue hartnädigere Empörung. Aegypten ift der Schau- 
platz; der fhon genannte Mönch Timotheus Aelurus wird zum Patriarchen aus- 
gerufen, und Proterius, der nah Divscur’s Sturz auf den Metropolitanftußl 
gefommen war, in dem Baptifterium feiner Kirche mit ſechs Geiftlichen ermordet. 
Hierauf wüthete Timotheus gegen das Andenken feines Opfers, nahm alle Feinde 
der Synode von Chalcedon in feine Gemeinfhaft auf, die orthodoxen Biſchöfe 
und Geiftlihe feßte er ab; vier Bifchöfe feiner Partei erfchienen zu Conſtantinopel 
vor dem neuen Kaifer Leo (diefer hatte ſich jedoch gleich nach feiner Thronbeftei= 


I gung für ven Befhüger des Coneils von Chalcedon erklärt) mit der Forderung, 


daß ein neues Concil berufen werde; auch betheuerten fie, Alerandrien genieße 
der vollfommenften Ruhe, die dort eben gefchehenen traurigen Vorfälle feien allein 


I der Schuld des Proterius und feiner Partei zuzufchreiben. Alfein auch viele der 





I sethodoren Bifhöfe, die aus Aegypten geflohen waren, Hatten dem Raifer ven 
| wahren Hergang mitgetheilt, befonders war e8 aber Papſt Leo, der unterbeffen 
von Anatolius und feinem neuen Legaten, Aetius, über die Vorgänge im Drient 
Kunde erhalten Hatte, und fih nun an den Raifer wandte mit der Bitte, die Au- 
torität des Coneils von Chalcedon aufrecht zu erhalten, und durch Fräftiges Ein- 
foreiten den Frieden in Aegypten wieder herzuftellen. Da jedoch auch in der 
Hauptftadt eine fehr mächtige eutychianiſch gefinnte Partei nicht unthätig war, fo 
forderte der Kaiſer ſämmtliche Metropoliten durch ein Rundſchreiben anf, in ihren 
- Provinzen Synoden zu veranftalten, und fich fowohl über die Autorität der De- 


| erete son Chafcedon als über die Perfon und Sache des Aelurus frei und ge— 





wiffenhaft zu erklären. Sobald auch der Papſt diefes Rundſchreiben erhalten, for- 
} derte er zu wiederholten Malen den Anatolius auf, allen feinen Einfluß auf ven 

Kaiſer dahin zu verwenden, daß er nicht zugäbe, daß jene häretiſchen und ge- 
I waltthätigen Bifchöfe irgend eine Gewalt ausübten; auch ſchrieb er jetzt wieder 
I am den Raifer, ihn an feine Pflicht erinnernd, und in einem noch etwas fpäteren 
Briefe feste er ihm die dogmatifche Wahrheit auseinander, welche von den Eu- 
tychianern befämpft wurde, Auch die Antworten der Metropoliten and Biſchöfe, 

29 


452 Leo L 


die ſich für Chalcedon und gegen Aelurus erklärt hatten, waren unterdeſſen ein- 
gelaufen, aber der Kaiſer, von Freunden des Aelurus bethört, wollte dieſen ſich 
rechtfertigen laſſen, und ſchrieb deßhalb an den Papſt, zu der von Aelurus pro— 
ponirten Conferenz Geſandte nach Eonftantinopel zu ſchicken. Noch im März 458 
beantwortete Leo in angemeffener, aber fehr nachdrücklicher Weife dieſes Faifer- 
liche Schreiben dahin, daß das nicht mehr von Neuem unterfucht werben bürfe, 
was durch das allgemeine Coneil von Chalcedon ſchon feftgefeßt fei; er wolle zwar 
Legaten fenden, aber nicht um mit irgend Jemanden zu disputiren, fondern um 
Die Gläubigen zu unterrichten. Bei der Anfunft der papfllichen Legaten war be— 
reits Anatolius gefiorben, und Gennadius hatte den Stuhl von Conftantinopel 
beftiegen. Diefer und die Gefandten vermochten nun den Kaifer, entfchiedene 
Mafregeln gegen Aelurus zu ergreifen; die Mörder des Proterius wurden be— 
ftraft; Aelurus ward nah Gangra und fpäter nach dem taurifchen Cherfones ver- 
bannt, und der aufrichtig Fatholifche Timotheus Salophaciolus beftieg 460 ben 
Stuhl von Alexandrien. — Während der leßtern Zeit wandte der Papſt feine ganze 
Aufmerkfamfeit auf den innern Zuftand der abendländifchen Kirche, Die häufigen 
Züge der Barbaren und die durch diefelbe hervorgebrachte Unficherheit aller Ver- 
hältniffe hatten auf das Firchliche Leben der Geiftlichen fowohl wie des Volfs einen 
höchſt nachtheiligen Einfluß ausgeübt; darum erließ jeßt Leo mehrere Decretalen 
und Verordnungen, um jenem ungeorbneten Zuftande Firchlicher Dinge ein Ende 
zu machen, Nun war aber auch der Abend feines thatenreichen Lebens gefommen, 
denn er endete feine Laufbahn im J. A615 der Tag feines Todes wird verſchieden 
angegeben, entweder III. Idus April., oder III. Idus Nov.; die römifche Kirche feiert 
fein Gedächtniß am 11. April, Papft Benediet XIV. verordnete, feinen großen 
Vorgänger den Lehrern der Kirche in der höchften Bedeutung des Wortes (Doctores 
Ecclesiae) beizuzählen (f. Kirhenvater), und beftimmte außerdem die Firchliche 
Beier feines Gedächtniffes genauer als bisher, Aus dem Gefagten dürfte einleuchten, 
daß, wenn je Einer, gewiß Leo I. den Beinamen „der Große” verdient hatz groß 
waren feine Verdienfte in dogmatifcher Beziehung dadurch, daß er einen der wich» 
tigſten Puncte der Lehre, recht eigentlich ihren Mittelpunct in mehreren Briefen, 
namentlich in dem an Flavian, in einer Weife feftfegte, die eben fo fehr dem 
wahren Bewußtfein der Kirche über die Perfon ihres Stifters entſprach, wie fie 
die häretifchen Auffaffungen verfelben widerlegte; groß waren feine Verdienfte um 
die Entwicklung der Firchlichen Organifation und Berfaffung. In diefem Puncte 
wirft man ihm zwar dfters „Anmaßung“, „Herrſchſucht“, „Berfchlagenheit ohne 
Öleichen” u, ſ. w. vor, allein mit Unrecht, Abgefehen von aller durch die Glau— 
benslehre felbft gegebenen Gewähr hat es der Verlauf der Gefhichte hinreichend 
bewiefen, daß in dem Primat, troß alles Widerſpruchs und aller Anfeindung, die 
böchfte und vollkommenſte aller Firchlichen Verfaffungsformen zu finden fei. Inner— 
lich von der Gründung der Kirche an gegeben und feinem Wefen nach vorhanden, 
fonnte er fich als folcher feinem ganzen Umfange nach erft geltend machen und 
zur Anerfennung bringen, als die Verfaffung der Kirche im Allgemeinen ſchon 
alle andern möglichen Formen der Entwicklung durchlaufen, die an fich befchränft 
und unvollfommen, dadurch gerade, daß fie fih als nur für gewiffe Zeit und 
Localverhältniſſe Wahrheit habend erwiefen, jenen gerade als die höchſte und voll- 
fommenjte Verfaffungsform bewährten, indem fie in ihn über- und in ihm auf- 
gingen, Gerade zur Zeit Leo's aber war die organifirende Bewegung in der Kirche 
an einem Punete angelangt, daß er e8 für feine Höchfte Pflicht Halten mußte, fie 
ihrem Ziele, der Realifirung der vollfommenften kirchlichen Berfaffungsform, des 
Primats, zuzuführen, — Unter den Schriften, welche Leo I. zum Verfaſſer haben, 
find zu nennen: a) 96 Reden (sermones), welche er während feines 20jährigen 
Pontificats und bei verſchiedenen Veranlaffungen an das römifche Volk hielt, Alle 
diefe Reden, deren homiletiſcher Werth fehr Hoch anzufchlagen ift, haben einen 





Leo. 453 


gemeinfchaftlichen Charakter, der mehr noch als die durchgängige Gleichheit des 
Styls für einen und denfelben Verfaſſer zeugt. Leo's Schreibart ift durchaus an- 
gemefjen und gehalten, wie die Gegenftände, welche er behandelt, es mit ſich 
bringen, Seine Bergleihungen find treffend, feine Definitionen in einem Hohen 
Grade fharf und beftimmt, aber in dem Ganzen herrfcht das der Zeit eigenthüm— 
liche Beftreben vor, die Rede mit Antithefen, Beziehungen, Wortfpielen und 
einem rhetorifchen Prunf zu fohmüden, der den Zuhörer hinreißt und blendet, 
aber ihrer Einfachheit und Würde ſchadet. Die Zweifel, welche gegen die Aecht- 
beit der Reden fohon erhoben worden find, haben gar fein Gewicht. b) 41 Briefe, 
die für die Gefchichte der Zeit und die nähere Kenntniß des Charakters, des Wir- 
fens und der Anfichten des Papftes von der höchſten Wichtigkeit find, Es bleibt 
aber felbft nach den gelehrten und Fritifch-gründlichen Arbeiten der Ballerini (ſ. d. A.) 
noch fehr viel für die Reinheit des Tertes und die richtige Ordnung der Briefe der 
Zeitfolge nach zu thun übrig. c) Mehrere andere in den Ausgaben Leo's auf- 
genommene Schriften können nicht in gleicher Weife auf Aechtheit Anfpruch machen, 
müſſen ihm vielmehr vielleicht ganz abgeſprochen werden. Hieher gehört die Schrift 
von der Berufung aller Völfer (de vocatione omnium gentium, libri duo). Diefe 
Schrift, die flets eine fehr große Achtung genoß, wurde bald Leo, bald dem Am— 
brofius, bald dem Prosper von Aquitanien zugefehrieben; ältere Zeugniffe fehlen 
aber gänzlich, und nur die Aehnlichfeit der Schreibart des Buches mit der der 
ächten Schriften Leo's läßt auf Leo als den Verfaſſer ſchließen. Auch den Brief 
an die Jungfrau Demetrias (epistola ad S. Demetriadem seu de humilitate trac- 
tatus) fuchte Duesnell dem Papfte, wiederum geftügt auf die Aehnlichkeit der 
Schreibart, zu vindieiren, die Ballerini haben ihn aber mit fehr trifftigen Grün- 
den widerlegt, Ein fehr altes Sacramentarium (codex sacramentorum, ritus Ro- 
manae ecclesiae), ebenfalls Leo zugefchrieben, rief viele und gelehrte Unterfuchun- 
gen hervor, befonders befchäftigten fih damit Muratori (dissert. de reb. liturg. 
c. IV) und die Ballerini. Nach dem Refultate diefer Unterfuchungen ift dieß Sa— 
eramentarium die ältefte derartige Sammlung der römifchen Kirche (f. Liturgien), 
Einzelne Stellen und Theile deffelben find ganz in dem Geifte und der Schreibart 
Leo's abgefaßt, fo daß fie von ihm herrühren fonnen, Das Ganze ift aber erft 
unter Felir II. oder unter Gelaſius (433— 493) zufammengeftellt worden, Edit. pr. 
Rom. 1479. edit. Quesnel. Paris. 1675, 2 vol. 4. edit. Rom. 1753—55 per 
Petr. Thom. Caceiari 3 tom. fol. edit. Venet. 1757. von den Gebrüdern Bal- 
Terini, 3 tom. fol. — Die Duellen, die wir oft wörtlich benüßten, find: Opera 


1: Leonis, edit. Ballerini. Arendt, Leo der Große und feine Zeit. Mainz 1835, 


Gfrörer, Kirchengefch. 2ten Bdes 1te Abth. Stolberg, Gefch. der Religion 
Jeſu Chrifti, 16. u. 17. Thl. Papft Leo's I. Leben und Lehren, von E. Per- 
thel. Acta Sanctor. mens. April. T. II. Schröckh, Kirchengeſch. 16.14.17. Thl. 
Tillemont’$ memoires T. XV. Bower’s Hift, der röm, Päpfte, 2, Thl. — 
Leo II., aus Sieilien gebürtig, war zuerft regulirter Chorherr, dann Cardinal- 
priefter an der römifchen Kirche, und beftieg nach dem Tode Agatho's den päpft- 
lichen Stuhl im Auguft 682. Die Nachrichten der Alten lauten fehr verfchieden 
in der Angabe des Tages feiner Wahl, Ordination und feines Todes. Anaſtaſius 
und Andere berichten, daß nach Agatho (+ im Januar 682) der päpftliche Stuhl 
1 Jahr, 7 Monate und 15 Tage unbefegt geblieben fei, dann fei Leo erwählt 
worden und babe fofort 10 Monate und 17 Tage höchſt rühmlich die Kirche re= 
giert, Allein man hat nicht nur feinen Grund für eine fo lange Vacatur des 
päpftlihen Stuhles, fondern Anaftafins felber fügt an einer andern Stelle eine 
Zeitbeftimmung bei, womit er mit fich felber in Widerfpruch kommt und fo gegen 


| Die gewößnlihe Annahme, Leo fei Furze Zeit nach dem Tode Agatho's zum Papfte 





gewählt worden, Feine Inftanz bildet. Auf die Nachricht von dem Tode Aga- 
thos und. der neuen Papftwahl kehrten die päpftlichen Legaten, welche ver ſechsten 


454 Leo II. 


allgemeinen Synode präfivirt hatten, von Conſtantinopel mit den Synodalaeten 
und einem Briefe von Kaiſer Conftantin IV., Pogonatus (der Bärtige) nach Nom 
zurück. In diefem Briefe ftellte Conflantin an Papft Leo II. das Anfinnen, er 
möchte einen Botfchafter mit unumfhränfter Vollmacht nah dem Hofe fenden, 
damit man mit demfelben im Nothfalle ohne Verzug über dogmatiſche, canoniſche 
und andere firchliche Angelegenheiten verhandeln könne (Harduin. II. 1463), Der 
Papſt mochte Hierin eine Schlinge fehen und fihicte flatt des gewünſchten Bot- 
fchafters einen Subdiacon nach Conftantinopel, der ohne Anfrage in Nom nichts 
Wichtiges unternehmen konnte, mit einem Schreiben, worin Die Beſchlüſſe der 6ten 
allgemeinen Synode von Leo beftätigt wurben (Hard. IN. 1470 sqg.), Ordinirt 
wurde Leo erft im Auguft 682, und zwar, wie ausdrücklich berichtet wird, durch 
den Bischof von Oſtia, unter dem Beiftande des Biſchofs Johannes von Porto, 
der auf der fechsten allgemeinen Synode päpftlicher Legat gewefen war, und eines 
andern Biſchofs. Die Sitte, daß der Papſt von drei Bifchöfen ordinirt wird, 
nahm jedoch nicht mit Leo II, wie Sigonius und Andere behaupten, ihren An- 
fang, fondern beftand ſchon von früher her. Die Synodalacten der ſechsten alls 
gemeinen Synode überfeßte Leo aus der griechifhen in die lateiniſche Sprache 
und fhiefte eine Copie davon durch feinen Bevollmächtigten, Petrus mit Namen, 
an die Bifchöfe Spaniens, zugleich gab er feinem Geſandten vier ziemlich gleich 
Yautende Briefe mit (Mansi XI, ©. 1050—1058), von denen. der eine an bie 
Biſchofe des weftgothifchen Reichs, der andere an den Örafen Simplicius, der 
dritte an König Erwig, der vierte endlich an den Metropoliten Quirieus von To— 
ledo gerichtet war. In allen vieren erftattet der Papſt längern „der kurzen Be⸗ 
richt über die glücklichen Ergebniſſe des fechsten allgemeinen Coneils und ſpricht 
ſodann den Wunſch aus, daß ſämmtliche Biſchöfe Spaniens dag Glaubensbefennt- 
niß des eben erwähnten Coneils, das er ihnen beiliegend zufende, unterfihreiben 
möchten. Baronius ad ann. 683, $ 16 ff. erflärt dieſe vier Briefe Leo's IL, weil 
fie für das auf der ferhsten allgemeinen Synode über den Papft Honorius (ſ. d. A.) 
ausgeſprochene Anathem Zeugniß ablegen, für unterſchoben; aber ex behauptet 
dieß ohne Grund, wie fihon Pagi bewiefen hat. Auffallend mag Leo's Verfahren 
nur in fofern erſcheinen, als er erſtens von den fpanifhen Biſchöfen ſchriftliche 
Anerkennung des ſechſsten Concils fordert, während doch daffelbe Anfinnen an 
feine der andern Iateinifch-germanifhen Kirchen geftellt worden iſt, und zweitens 
den oben erwähnten Brief an den Metropoliten Duirieus richtet, der doch, was 
zu Rom im 3. 682 befannt fein mußte, [on im J. 679 geftorben war, Gfrörer 
macht es „mit Hilfe der Hiftorifhen Rechenkunſt“, da die Nachrichten der Alten 
hierüber nur fpärlich find, wahrſcheinlich, daß Leo dem Julian die Ehre nicht 
anthun wollte, ihn, fei e8 auch nur durch ein Schreiben, als Erzbifhof von To— 
Yedo anzuerfennen. Bei dem Kaiſer wirkte Leo die Verorbuung aus, daß die 
Erzbifchöfe von Ravenna, die fih von Rom ziemlich unabhängig gemacht hatten, 
nach ihrer Wahl nad Nom fommen mußten, um fi) dort, wie früher gebräuch⸗ 
ih, weihen zu laffen, wogegen der Papfi den erzbifhöflihen Stuhl Ravenna's 
von der Entrichtung der Abgabe, welche fonft bei jener Weihe bezahlt worden 
war, dispenfirte. Leo war ber lateiniſchen und griechifchen Sprache fehr mächtig, 
hatte auch fehöne Kenntniffe in der Mufif, wie er denn auch den Gregorianifchen: 
Kirchengefang verbefferte und mehrere Hymnen verfaßte, Er führte auch nah 
alten Nachrichten den Friedenskuß bei der Meffe und die Befprengung des Volks 
mit geweihtem Waffer ein, beſonders aber erwies er fich als Vater der Armen; 
er farb in der Mitte des Jahres 683, der Tag feines Todes aber wird nicht 
übereinftimmend angegeben; die Kirche feiert fein Andenken am 28. Juni, Vgl. 
Breviarium historico-chronologico-eriticum etc. Fr. Pagi; Vitae et res gestae pon- 
tificum Rom. ete. Alphonsi Ciaconii; Rerum lItalicar. soriptores etc. Mura- 
torius; Gesta ponlificum Rom, ete, Jo, Palatius; Anastasius, de vilis Romanor, ; 


Leo IL 455 
£ pontific. Auf diefe Duellen fei auch für das Folgende verwiefen. Gfrörer, 


= Kirchengeſch. 3. Bandes 1. Abthl. Schröckh, Kirchengeſch. 19. Thl. Geſchichte 





der röomiſchen Paͤpſte von Artaud von Montor, herausgegeben von J. A. 
Booſt, L Bd. 1. Lieferung. — Leo HL, ein geborener Römer, war anfänglich 
regulirter Chorherr von St. Johann im Lateran, dann Benedictinermönd, zuletzt 
Eardinalpriefter an der Kirche der hl. Sufanna, Wegen feines wiffenfhaftlichen 
Strebens, feiner theologifhen Bildung und feines biedern, menfchenfreundlichen 
Wefens fland er bei Clerus und Bolf in hoher Achtung, befonders erwarb er fi 
die Liebe des Iegtern durch feinen Eifer im Kranfenbefuh und durch feine reich- 
lichen Almoſen. Hieraus begreift es ſich auch leicht, daß er gleich nad dem Tode 
feines Vorgängers, des Papftes Hadrian I., um 26. December 795 einftimmig 
zum Papfte gewählt und Tags darauf confeerirt wurde, Alsbald zeigte Leo dieſes 
dem Könige Carl vem Großen (f. d. A.) an und überſchickte ihm auch die Schlüf- 
fel des Grabes Petri fammt dem Banner der Stadt Rom und andern Geſchenken 
mit der Bitte, einen feiner Großen zu ſchicken, um den Römern den Eid der 
Treue (ob gegen den Papſt oder gegen den König als Patricius ift eben fo wenig 
- Har, als die Schriftfteller darüber einig find, was die Schlüffel gewefen, vb, 
wie Bellarmin und Baronius behaupten, fchlüffelförmige Käftchen, welche mit 
Reliquien gefüllt waren, und welche die Päpfte aus Gold und Eifenftaub von 
den Ketten des Apoftels verfertigen ließen, oder wirkliche Schlüffel, mit welchen 
man die Thore des Baticans öffnete und ſchloß) und Unterwerfung abzunehmen. 
- Earl ſchickte zu diefem Zwecke feinen Erzfaplan Angilbert nah Rom, auch gab er 
ihm einen großen Theil des Schages mit, den er in diefem Jahre den Hunnen 
Ollvaren) abgenommen hatte; zugleich war Angilbert, wie aus dem Briefe ar 


| 8 erhellt, beauftragt, in Gemeinfchaft mit dem Papfte Alles anzuordnen, was 
I zur Erhöhung der Kirche Gottes, zur Befeftigung des römischen Stuhles und 


zur Sicherung des Patriciats nöthig ſcheine. Wenn fodann Earl dem Angilbert 
no die weitere Inftruction gab: „Du folft den Anoftolicus fleißig ermahnen, 
daß er ein reines Leben führe und den hl. Canones Genüge thue. Auch treib’ ihn 
an, die Simonie abzufhaffen, welche jegt den heiligen Leib der Kirche an vielen 
Drten befleckt!“ fo fcheint doch der Schluß, den ein neuerer Schriftfteller hieraus 
zieht, Leo Habe auch in den Augen Carls mit Geld den Stuhl Petri erfauft und 
I  flehe nicht fittenrein da, mehr als gewagt, zumal da die alten Nachrichten das 
1  Gegentheil bezeugen. Gegen Ende des Jahres 798 oder im Anfange des folgen- 


I den hielt Leo in Rom eine Synode. Alcuin Hatte nämlich nicht bloß mündlich, 
ſondern auch dur einen Brief den Felir von Urgel (f. den Art. Adoptianer) 





I von feinem Irrthume abzubringen gefucht, diefer aber verfaßte als Antwort hier⸗ 
1 auf ein Bud, das eben von der berührten Synode verworfen wurde, während 
über Felir das Anathem ausgefprohen wurde, wenn er nicht retractire. Bald 
follte Leo's IN. Pontificat durch traurige Unruhen beimgefucht werden. Zwei im 
Palafte angeftellte Hohe Beamte, Anverwandte des Papftes Hadrian J., der Pri- 
micerius Pafhalis und der Schagmeifter Campulus, die fich wohl felbft auf den 
Stuhl Petri Hoffnung gemacht und in Leo den glücklichen Nebenbuhler haften, 
faßten den Entſchluß, Leo zu tödten. Als der Papft am 25. April 799 nach ver 


I Kirche des HI. Laurentius ritt, um den Gottesdienft und die große Proceffion zır 


balten, fielen fie an der Spige einer Schaar Bewaffneter über ihn her, warfen 


+ ihn zu Boden, zerriffen feine Kleider und verfuchten ihm die Augen und die Zunge 
I berauszureifen. Das Volk, welches ihn umgab, ftäubte bei dem Ueberfall aus— 








einander, die Mörder glaubten ihren Zweck erreicht zu haben, als fie den Papft 

- bewegungs- und ſprachlos daliegen fahen, und zogen fi zurüd; aber Paſchalis 
I amd Campulus erfchienen bald wieder auf dem Schauplag, ſchleppten Leo in die 
benachbarte Kirche des HI. Syivefter in capite und ſchlugen ihn am Fuße des Al- 
tares blutrünſtig; da fie fürdteten, er möchte fie erfennen und verrathen, fo: 


456 Leo. 


wütheten fie am fihreeffichften gegen diefe Organe (Nugen und Zunge) des un- 
glücklichen Papftes, Des Abends brachte man Leo in das Alofter des HI, Eras- 
mus auf dem Berge Cölius; er war noch am Leben und Gott hatte ihm Geficht 
und Sprade erhalten, oder, wie bie Alten berichten, durch ein Wunder von 
Neuem wieder gegeben, inigen Gläubigen, voran der treue Kämmerer Albinus, 
war es indeffen gelungen, genau die Bewegungen der Verſchworenen zu beobach⸗ 
ten, des Papfies habhaft zu werden, und fie brachten ihn nach St, Peter. Leo 
ſah ſich hier mit Huldigungen alfer Art umgeben; der Herzog von Spoleto, Wi- 
nigis, brachte denfelben in feinen Palaft, und von da machte fich Leo auf die 
Reife nach Paderborn, wo fich damals Carl d. Gr, aufhielt; eine glänzende Auf- 
nahme wurde ihm bier zu Theil, Diefer Schritt des Papftes brachte Schreifen 
unter Paſchalis und feine Mordgenvffen; um denfelben nach Kräften unſchädlich 
zu machen und den Papft in der Meinung des Königs zu verderben, richteten fie 
an Carl eine ſchreckliche Klagefhrift gegen ihn. Sie legten ihm Meineid und 
Ehebruch zur Laft und verlangten, Leo folle freiwillig vom Stuhle Petri, den er 
durch Berbrechen befledt Habe, Herabfteigen und feine Schande in dem Dunfel 
eines Klofters verbergen. Leo zögerte indeffen nicht, nah Nom zurüdzufehren ; 
überall, in Städten und Dörfern, wurde er wie ein Martyrer empfangen. Die 
ganze Bevblkerung Noms, Männer und Frauen, Welt- und Kloftergeiftliche, die 
Fremden aller Nationen zogen ihm bis Ponte-Molle mit Fahnen entgegen und 
führten ihn im Triumphe nach St, Peter, wo er die hl. Meffe feierte, Mehrere 
Erzbifchöfe, Bifhöfe und Grafen, die den Papft nach Nom zurücdbegleitet hatten, 
ſtellten nun, von Carl hiemit beauftragt, eine richterliche Unterfuchung in Betreff 
der blutigen Auftritte an, die im vorigen Jahre dafelbft fich zugetragen hatten; 
die fchuldig Befundenen wurden ergriffen und nach Frankreich abgeführt, Diefe . 
leichte Strafe erklärt fih, wenn man bedenkt, daß Leo felbft für feine Gegner 
intercedirte, Bald darauf, am 4. November, fam Carl felbft nah Rom, um bier 
in der Eigenfchaft als Patricier und höchfter Beſchützer der römischen Kirche auf- 
zutreten, Eine große Berfammlung von Erzbifchöfen, Bifchöfen und Aebten, fowie 
auch vom weltlichen Adel fand in der Bafılica des HI. Petrus Statt; ſchon hatten 
fih Papft und König neben einander nievergelaffen, das Volk die Kirche erfüllt 
und an die verfammelten geiftlichen Würdeträger war die Aufforderung ergangen, 
die Ankläger Leo's zu hören und die Verbrechen zu unterfurhen (declinare), deren 
man Leo zieh, als fich plöglich die Bifchöfe und Aebte erhoben, einflimmig er- 
Härend, daß fie feine eompetenten Richter in diefer Sache fein Fönnten, Niemand 
darf e8 wagen, den hl. Vater anzuflagen, viefen fie einflimmig; der apoftolifche 
Stuhl ift jegt noch wie früher oberfter Schiedsrichter und kann von Niemanden 
gerichtet werden. Tags darauf wurde eine zweite Verfammlung gehalten; Leo 
beftieg einen Ambo und ſchwur, das Evangelium in der Hand, mit lauter Stimme, 
er fei fich durchaus Feines der Verbrechen bewußt, die man ihm zur Laft gelegt 
habe. Diefe Worte des Papftes bewegten das Volk, und die ganze Verfammlung 
flimmte den ambrofianifhen Lobgefang an, In diefem ganzen Verfahren mit 
Gfrörer nur eine abgefartete Poffe zu fehen, dazu liegt Fein trifftiger Grund vor. 
Leo lebte nun der Ueberzeugung, die Ruhe und Ordnung, welche jegt it Nom 
völlig Hergeftelft war, bleibe nur dann gefichert, und ähnlichen Scenen, nament= 
Lich den Unruhen, welche die Papftwahl öfters begleiteten, Tünne nur dadurch 
vorgebeugt werden, wenn dem ſtolzen Rom wieder ein Kaiſer gegeben werde und 
das abendländiſche Reich von Neuem in ſeinem Glanze erſtehe. Darum nahm er 
am Weihnachtsfeſte im J. 800 während des Gottesdienſtes, dem Carl im Pracht- 
gewande eines Patriciers beigewohnt hatte, eine goldene Krone vom Altar und 
feßte fie demfelben auf, und die zahllofe, im Dome verfammelte Volksmenge brach 
in den Zubelruf aus: Heil Earl, dem von Gott gefrönten Auguftus, dem großen 
und Friede bringenden Kaiſer Leben und Sieg! Dann falbte der Papft Carl'n und 








rn. 


tes I. 457 


feinen Sohn Pipin mit dem heiligen Dele und betete nach einer alten Sitte für 
den Raifer, Nach Eginhard Ccefr. Einhardi vita Caroli M. c. 28) und Andern Hätte 
Earl diefe Krönung gar nicht erwartet, und es läßt fih wohl denfen, Leo habe 
aus freien Stüdfen, aus Dankbarkeit gegen Carl und in der Abſicht, der Kirche 
einen mächtigen Schüger zu geben und das abendländifche Kaiſerthum wieder her- 
zuftellen, diefen Schritt getban. Neuere Schriftfteller dagegen, geftügt auf das 
Chronicon Joannis Diaconi, abgedruct bei Muratori scriptores rerum Italicar. II. a. 
p. 312, glauben, die Erneuerung der Kaiferwürbde fei fihon früher zwifchen Leo 
und Carl verabredet worden. Mag dem fein, wie ihm will, die eigentliche und 
wahre Erflärung ift außerhalb der menfchlihen Verhältniffe zu fuchen, in der 
Lenkung der göttlichen Vorfehung, die, nachdem fie Alles dazu vorbereitet, den 
Gedanken in die Seele des Papftes Iegte und durch ihn ein Werf vollführte, wo— 
durch der Schlußftein des politifchen Staatengebäudes, welches nach dem Sturze 
des römifchen Reichs im Abendlande entflanden war, gefegt wurde, Der Eid der 
Hulde, den Earl dem Papfte Ieiftete, war aber nur ein Act perfönlicher Ehr— 
erbietung und Ergebenheit und bezog firh auf die von ihm übernommene Pflicht, 
die Kirche in allen weltlihen Dingen zu ſchützen, zur Ausbreitung derfelben über 


ben ganzen Erdfreis beizutragen; untertban in zeitlihen Dingen oder gar ein 


Bafall des Papftes, wenn er gleich feine Würde und Gewalt mittelft feiner er- 


hielt, wurde der Kaifer keineswegs, gleichiwie auch der Papft, was feine weltliche 


Gewalt über Rom und den Kirchenftaat betrifft, durchaus nicht ein Bafall des 
Kaifers wurde, Nur in fofern der Kaiſer als oberfter Herr in weltlichen Dingen 
über das ganze chriſtliche Abendland angefehen wurde, in fofern war ihm auch 
der Kirchenſtaat auf gewiſſe Weife untergeben, ja-die Stadt Rom war gleichfam 
aufs Neue der Mittelpunct des chriſtlichen Reiches, weldhes fogar den Namen 
des römifchen führte, geworden, Daher erklärt fih die Ausübung gewiffer Hoheits- 
reihte der Raifer in Rom und dem Kirchenftaat, unbefchadet der weltlichen Hoheit 
des Papftes, wie auch die Römer nur mit ausdrüdlihem Vorbehalte der dem, 
Papſte als ihrem Oberherrn ſchuldigen Treue dem Kaifer einen Eid der Treue 


ſchworen. — Im 3. 801 verfpürte man durch ganz Italien ein fehr heftiges 


Erdbeben, viele Gebäude flürzten alfenthalben ein, namentlih wurde auch die 
Bafılica des Hl. Paulus außer ven Mauern zerflört. Um fortan von ähnlichen 
Uebeln frei zu bleiben, ordnete jet Leo nach dem VBorgange des HL. Mamertus von 
Bienne die drei Bittgänge (ſ. d. A.) vor Chriſti Himmelfahrt an. Daß Leo im J. 804 
bei Earl in Frankreich Weihnachten gefeiert und darauf mit diefem nach Teutfch- 
land gefommen fei, ift richtig, nicht aber, daß er bei diefer Gelegenheit den 
Suidbert feierlich canonifirt Habe. Um dem Teftamente, worin Carl im J. 806 
beftimmt Hatte, in welcher Weife fein Reich nach feinem Tode vertheilt werden 
folle, mehr Kraft zu geben, fchiefte es der Kaiſer nah Rom zur Unterfohrift, und 
Leo erklärte fih mit den Beftimmungen deffelben einverftanden. Auch in dog⸗ 
matifher Beziehung hatte Leo fein Urtheil abzugeben. Dem nicäno-conftantinn- 


politaniſchen Symbolum waren zuerft in Spanien, nach und nach auch in Franf- 


reich die Worte „filloque* beigefügt worden, Fränkiſche Möndhe auf dem Oel— 
berge bei Jerufalem wurden von griechiſchen Klofterbrüdern wegen diefes Zufages 
der Ketzerei befchuldigt, und fie wandten fih nun in ihrer Verlegenheit an Leo; 
diefer brachte die Sache auch zur Kenntniß Carls, und es wurde fofort von ihm 
im 3. 809 zu Aachen eine Synode veranftaltet, Hatte gleich Theodulph, Bifchof 
von Orleans, in einem eigenen Buche (liber de Spiritu S. in Sirmond. opp. T.I. 
p- 695—730) durch lauter Stellen der Hl. Schrift und der Kirchenväter den Be— 


weis zu liefern gefucht, daß der HI. Geift auh vom Sohne ausgehe, fo wollte 
I Boch die Synode nicht eher ein Urtheil fällen, bis der Papft geſprochen. Es wur- 


den deßhalb die Bifchöfe Bernhard von Worms, Jeſſe von Amiens und der Abt 
Adelhard von Eorbie als Gefandte des Aachener Concils nah Rom abgeſchickt. 


458 Leo IV. 


Leo hieß natürlich die franfifche Lehre, daß der Hl, Geift auch vom Sohne aus- 
gehe, volllommen gut, er ſprach auch das Anathem über Alle aus, welche nicht 
eben fo dachten, wie er auch bald nachher an die morgenländifchen Gemeinden 
und an die Mönche auf dem Delberg ein Glaubensbekenntniß fchiefte, das bie 
Lehre von der Dreieinigfeit fehr ausführlich entwirfelt und das den Abendländern: 
Eigenthümliche (Spiritum Sanctum a Patre et Filio aequaliter procedentem) noch 
einmal wiederholt; dagegen erklärte er fich gegen den Beiſatz im Symbolum, wohl 
mit Rüdficht darauf, daß von dem deumenifchen Coneil zu Ephefus ein Fluch 
darauf gefegt war, wenn Jemand fich erfühnen würde, den allgemeinen Kirchen— 
glauben und die Öffentlichen Bekenntniſſe deffelben zu ändern (Harduin, I. 152595 
er wünfchte deßhalb auch, man möchte in der franfifchen Hpfcapelle ven Gebrauch, 
die Worte filioque mit dem Symbolum abzufingen, nach und nach abfchaffen, 
indem man dann anderwärts fchon nachfolgen werde, Doc die Einſchaltung, weil 
fachlich richtig, erhielt fi in jenen Ländern, wo fie einmal aufgenommen war, 
bis fie endlich felbft von einem allgemeinen Concil fanctionirt wurbe, Leo ſelbſt 
ließ in der Petersfirche zwei filberne Tafeln aufftellen, von denen bie eine im 
griechifcher, die andere in lateiniſcher Sprache die Worte des conſtantinopolitani— 
ſchen Symbolums, ohne den toletanifchen Beifag, enthielt, Nach dem Tode Carls, 
gegen Ende des Jahres S14, wurde eine Verſchwörung vornehmer Nömer gegen 
den Papft entdeckt; dießmal aber ftellte Leo fogleich eine Unterfuhung an und 
ließ die Schuldigen hinrichten. Kaiſer Ludwig, der darin einen feiner Jurisdietion 
als Schirmvogt vorbehaltenen Fall fehen mochte, fandte deßhalb feinen Neffen, 
den König Bernhard von Stalien, nah Nom, um an Ort und Stelle eine genaue 
Unterfuhung einzuleiten, Bevor aber diefer anfam, hatte Leo eine Gefandtfhaft 
nad Aachen gefchieft, um dem Kaifer den näheren Hergang darzulegen, und Lub- 
wig gab fih damit zufrieden, In der legten Zeit, wo namentlich die Römer auch 
dadurch ihren Zorn gegen ihn ausließen, daß fie über feine Landhäuſer herfielen: 
und diefelben verbrannten, pflegte Leo, um in feiner gedrückten Lage mehr Troft 
und Stärfe zu fchöpfen, des Tages mehrmal die hl. Meffe zu leſen. Diefe Sitte, 
fpäter öfters nachgeahmt Cof. Card. Bona lib. I. de reb. liturg. c. 18) wurde in 
der Folge von Papft Alexander II abgefchafft, Aus dem Verzeichniß des Anaſta— 
ſius erhellt Leo's ungemeffener Eifer, kirchliche Gebäude, Paramente ze, verfertigen 
zu laffen, auf dem fihriftftellerifchen Gebiete that er fich jedoch nur wenig hervor; 
man hat von ihn einige wenige Briefe; das ſog. Enchiridion Leonis Papae, wegen 
feines dunfeln und myfteriöfen Charakters ehedem viel citirt und mißbraucht, 
rührt nicht von ihm her, Er flarb den 11, Juni 816 und die Gongregatio rituum 
Vieg im 17ten Jahrhundert feinen Namen in das römische Martyrofogium ſetzen; 
die Feier feines Andenfens ift den 12, Juni. Vgl. Phillips, teutfhe Gefchichte, 
mit befonderer Rückficht auf Religion, Recht und Staatsverfaffung, IL Bd, ©. 
75ff. Dillinger, Lehrbuch der Kirchengeſch. Bd. Möller, Geſchichte des 
Mittelalters. 1. Bd. Das hriftliche Nom von Eugene de la Gnurnerie, I. Bi, 
Gfrörer, Kirchengefhichte, Schröckh, Kirchengeſchichte. ꝛc. — Leo IV. ſtammte 
aus einer vornehmen römiſchen Familie ab, Um dem Sohne eine tüchtige Er— 
ziehung und Bildung zu Theil werden zu laſſen, brachten ihn feine Eltern ſchon 
frühe in das Benebictinerflofter des hl. Martinus, und bier zeichnete ſich Leo 
durch fein mufterhaftes Benehmen wie durch feinen Fleiß und feine Fortfehritte 
auf dem Gebiete des Wiffens fehr vortheilgaft aus. Papft Gregor IV. wurde 
bald auf feine moralifche und feientivifche Gediegenheit aufmerkfam, zug ihn deß⸗ 
halb in feine Nähe und weihte ihn zum Subbiacon; Papft Sergius aber eon⸗ 
feerirte ihn zum Carbinalpriefter an der Kirche der vier gefrönten Heiligen, in 
welchem neuen Wirkungsfreife er eine höchſt fegensreiche Thätigkeit entfaltete, 
Bei dem Tode des Papftes Sergius (+ 27. Januar 847) waren: bie römifchen 
Berhältniffe fehr mißlicher Art; neue Einfälle der Saracenen, die fhon im Jahr 





Leo IV. 459 


846 bis Rom vorgerüsft waren, die Petersfirche, welche außerhalb der Mauern 
fand, verwüftet und die filbernen Altäre, Goloverzierungen, Edelſteine ıc, mit 

fortgenommen hatten, wurden befürdtet, und es war deßhalb von großer Be— 
deutung, wer jeät auf den Stuhl Petri erhoben wurde, Bald waren die Römer 
mit fi im Reinen; einftimmig wählten fie Leo IV.; allein ihm fofort ohne Faifer- 
liche Erlaubniß die Weihe zu ertheilen, wagten fie nicht, weil der vor drei Jahren 
abgeichloffene Vertrag fie band, und weil die legte Züchtigung noch in friſchem 
Andenken war, Kaifer Lothar hatte nämlich, weil Sergius II. den päpftlihen 
Stuhl beftieg, ehe feine Wahl vom Kaifer gutgeheißen war, feinen Sohn Lud- 
wig und feinen Oheim Drogo nah Nom geſchickt mit der Aufforderung, daß für 
die Zufunft fein neuer Papft anders confeerirt werden folle ald nad erfolgter 
faiferlicher Zuftimmung und in Gegenwart faiferliher Gefandten (Annal. Bertin. 
ann. 844). Dritthalb Monate lang dauerte daher eine Art Zwiſchenreich Cinter- 
pontificium). Endlich aber, da Lothar, wie es fcheint, nichts von fi hören ließ 
und doch andererfeits der befürchtete neue Einfall der Saracenen die Nothwendig- 
keit auferlegte, entſcheidende Maßregeln zu ergreifen, fohritten die Römer zur 
That und weihten am 11. April 847 den neugewählten Papſt; fie fanden indeß 
zugleich für gut, ausdrücklich das Beſtätigungsrecht des Kaiſers vorzubehalten, 
Die erfie Sorge Leo's ging nun dahin, die von den Saracenen verurfachten Ver— 
wüſtungen wieder herzuftellen, Er gab dem Culte in der Bafılica des HI, Petrus 
feine ganze Würde wieder, aber auch an andere Kirchen der Stadt machte er be— 
deutende Schenkungen in Drnamenten u. dgl. Sofort fihuf der Papft Vertheidi- 
gungsanftalten gegen die Saracenen ; er ließ die alten Stadtmauern Noms aus- 
beffern, die Thore befeftigen, fünfzehn Thürme Herftellen, zwei andere führte er 
an dem Ufer der Tiber auf und verband fie dergeftalt mit eifernen Ketten, daß 
fein Schiff durchkommen fonnte, Um ferner die Petersfirche vor aller Verheerung 
zu fhüsen, befehloß er, das Stadtviertel des Baticans, in deffen Mitte fie lag, 
mit einer Mauer zu umgeben. Bon allen Seiten vereinte man ſich eifrig zu die— 
fen, fhon von Leo IL projectirten Werfe, Der Kaifer Lothar und feine Brüder 
ſchickten Geld, die Großen und Klöfter Arbeiter, und der Papft überwachte, ſtets 
I zu Fuß oder zu Pferd gegenwärtig, die Arbeiter. Im J. 852 verfammelten fich 

eines Tags die Biſchöfe und das Bolf barfuß und das Haupt mit Aſche beftreut, 
- fie umſchritten in einer Proceffion, Litaneien und Palmen fingend, den neuen 
Bau; Leo fegnete die Mauern, Thore und Häufer diefer neuen Stadt, die von 
I da an Leo'sſtadt, civitas Leonina, hieß, Die Einwohner der Stadt Centumcellä, 
jest Eivita vechia, irrten fchon längere Zeit aus Furcht vor den Saracenen in 
den Wäldern und auf den Gebirgen umher; Leo erbaute ihnen eine ftarf befeftigte 


| Stadt, die Leopolis genannt wurde, Auch Andern wußte Leo feinen fühnen und 


thatigen Geift mitzutheilen. Durch feinen Eifer Fam eine Verbindung mehrerer 
Seeftädte des mittleren und unteren Staliens zu Stande. Die Bürgerfchaften 
von Amalphi, Neapel und Gaeta ließen ihre Schiffe zu den päpſtlichen ſtoßen; 
der Papft nahm fie fehr freundlich auf, und nachdem er zuvor, auf ihr ausdrück- 
liches Verlangen hin, der ganzen Mannſchaft das HL. Abendmahl gereicht, erftrit- 
ten im Sommer 849 die vereinigten Flotten auf der Höhe von Oſtia einen herr- 
lichen Sieg über die Saracenen; viele diefer famen um, und die, welde dem 
Schiffbruche entgangen waren, wurden gefangen genommen, und diefelben Hände, 
welche Nom hatten zerfiören wollen, mußten nun an feiner Befeftigung und Ber- 


| - fhönerung arbeiten, Im 3. 850 frönte Leo Ludwig IL, der im vorhergehenden 
Jahre von feinem Bater Lothar zum Mitfaifer erklärt worden war. Wie die Ein- 
I wohner von Eentumcellä hatte au eine Menge Corfen aus Furcht vor den räu- 








I beriſchen Landungen der Saracenen ihre Heimath verlaffen und in Rom Schuß 
geſucht. Leo fiedelte fie im J. 852 in der wohlbefeftigten Stadt Porto am Aus- 
fluffe der Tiber an und fopenfte ihnen Weinberge, Wiefen, Acer, Pferde ır., 


460 Leo V. — Leo VL 


wogegen die braven, Friegsluftigen Corfen ihm ihre Hilfe und Unterwürfigfeit zu- 
fagten. Im folgenden Jahre hielt der Papft in der Petersfirche zu Nom eine 
Synode, auf weldher 67 Bifchöfe verfammelt waren und 42 Canones in Betreff 
der RKirchendiseiplin gegeben wurden; auch der Carbinalpriefter Anaftafius, ver 
fih an den kaiſerlichen Hof begeben hatte und alle Hebel in Bewegung feste, um 
fpäter auf den päpftlichen Stuhl zu fommen, wurde deponirt, nachdem fihon vor⸗ 
her zwei Synoden und Leo felbft ihn an feine Pflicht, aber vergebens, ermahnt 
hatten. Leo's Bethätigung am Streite zwifchen Ebbo und Hincmar ift aus dem 
Artikel „Hinemar von Rheims“ zu erfehen; vie Nachricht des Flodvarbus aber, 
als habe Leo dem Hinemar auf Verwenden Lothars das Pallium zum täglichen 
Gebrauche eingeräumt, hat ſchon Cardinal Bona lib. I. rerum liturg. c. 24. als 
eine falfche dargethan. Schon im Anfange feines Pontificates war Leo in den 
Auf eines Wunderthäters gefommen, Neben der Kirche der HI. Lucia hatte ein 
Baſilisk feine unterirdifhe Behaufung, und wer nur ein wenig in feine Nähe 
fam, deffen Tod war fiher. Nachdem ſich der Papft durch Faften und Gebet vor- 
bereitet, hielt er an Mariä Himmelfahrt eine Proceffion zu dem gefürchteten Drte, 
ſtellt ſich an deſſen Deffnung, ohne Schaden zu nehmen, und erflehte vom Himmel 
die Befreiung feines Volkes von dieſer Plage, Zum Danke biefür erhielt das Feft 
Maris Himmelfahrt eine Octavfeier. Ein anderes Mal foll er durd Gebet und das 
Kreuzzeichen einer fehr heftigen Feuersbrunft ein Ende gemacht haben, Unter Leo 
fom auch eine Veränderung im römischen Ranzleiftyl auf. Während frühere Päpſte, 
wenn fie an Kaifer oder andere mächtige Fürften fchrieben, in den betreffenden Briefen 
gewöhnlich die Namen der Empfänger voranftellten und den ihrigen folgen ließen, 
ftellte Leo in allen feinen Schreiben feinen Namen voran, auch gibt er den Für- 
ften, an welche er fchreibt, nicht mehr den fonft üblichen Titel Dominus. Im 
J. 855 wollte noch eine Verſchwörung gegen die fränkifche Herrfchaft entdeckt 
werben. Nach dem Bibliothecar Anaftafius Fam nämlich der fränfifhe Vefehls— 
haber Daniel von Nom zum Kaifer Ludwig II. mit der Anzeige, daß zu Nom 
eine Verſchwörung gegen die fränfifche Herrfchaft angezettelt werde; auf Diefe 
Meldung bin fei Ludwig wie ein Rafender nach Nom geeilt, aber Daniel habe 
feine Anflage nicht beweifen fönnen, worauf der Kaiſer wieder im Frieden abge- 
veist fei, Gfrörers Beweis, daß die Verſchwörung ernftlih gemeint gewefen, 
und daß namentlich Leo ſelbſt dadurch) Unabhängigfeit habe erftreben wollen, hinkt. 
Nicht Lange nach Ludwigs Heimkehr aus Nom farb Leo, den 17. Juli 855, an 
welchem Tage auch fein Andenken gefeiert wird, Dean hat von ihm noch eine 
Homilie, welche nach feiner Abſicht die Bifchöfe auf den Didcefanfgnoden ihren 
Elerifern vorleſen follten, um ihnen fo ihre kirchliche Pflichten in's Gedächtniß 
zurüczurufen. Unmittelbar auf Leo IV. folgte Benediet IH., nicht die vermeint- 
liche Papftin Johanna (ſ. d. A). Vrgl. das chriſtl. Nom von Eugene de Ta 
Gpurnerie 1. Bd, Gfrörer, Kirchengefh. 3. Bandes 2, Abthlg. Gfrörer, 
Geſchichte der oſt- und weftfränfifchen Carolinger. I. Bd. ©. 285. ff. Phillips 
teutfche Geſchichte IL. Bd. Geſchichte der römifchen Päpfte von Artaud von 
Montor, von Booft, I. Bd, I. Lieferung. Schröckh, Kirchengeſch. 22. Thl. — 
Leo V., beftieg am 28, October 903 den päpftlichen Stuhl; geboren zu Priapi 
bei Ardea in der Campagna di Roma, nicht zu Arezzo, war zuerft einfacher Bene- 
dietinermönch, hierauf wurde er Cardinal; als Papft foll er wenig Geſchick zur 
Regierung gezeigt haben, und unter diefem Vorwande Ließ ihn der Cardinalpriefter 
Chriſtophorus (f. d. A.) in's Gefängniß werfen, um ihn fo zu zwingen, der päpft- 
Yihen Würde zu entfagen und das Verfprechen abzugeben, wieder in fein Kloſter 
zurüczufehren. Nah Sigonius flarb er ſchon nach vierzig Tagen im Gefängniß 
aus Gram über die Behandlung, welche er von Chriftoph erfahren, der ſich noch 
im nämlichen Jahre auf den päpftlihen Thron ſchwang. Frodoard. de Pontif. 
Rom. Sigeb. Gemblac. in Chronico ad a. 905. — Te» VI, ein geborner Ro— 








Leo VII. 461 


mer, wurde im Juni 928 zum Papſte gewählt, nahm jedoch den römifchen Stuhl 
nur fieben Donate und fünf Tage ein. Der Verdacht, die berüchtigte Marozia 
mit ihrer Partei habe etwa durch Gift feinen Tod herbeigeführt, läßt ſich aus 
Mangel an Hiftorifhen Zeugniffen nicht zur Gewißheit erheben; daß er in's Ge- 
fängniß geworfen worden und dort geftorben fei, wie Baronius berichtet, davon 
finden wir bei feinem Gewährsmann Flodoardus nichts. Nah Platina, Johan- 
nes Stella ıc. war Leo ein guter, friedliebender Deann, der die römifchen Bürger 
zur Eintracht zurücdzubringen, in Jtalien Ruhe und Ordnung herzuftellen und die 
Feinde von Italien abzuhalten ſuchte. — Leo VIL, ebenfalls ein Römer von Ge- 
burt und dem Benedictinerorden angehörend, wurde nach dem Tode Johann's XI. 
wider feinen Willen auf den päpſtlichen Stuhl erhoben, und zwar fand feine Eon- 
feeration, wie aus einem Briefe von ihm an Hugo, den Abt des Martinsflofters 
zu Tours, hervorgeht, noch vor dem 9. Januar 936 Statt. Die Leiden und 
Drangfale, unter welchen die Kirhe damals fohmachtete, gingen ihm fehr zu 
Herzen, er hatte auch den beften Willen, einen beffern Zuftand herbeizuführen, 
alfein fein Pontificat währte nur drei Jahre, 6 Monate und 10 Tag. Nachdem 
ihre zweiter Gemahl, der Herzog Guido von Tuſeien geftorben war, theilte die 
berüchtigte Marozia die weltlihe Herrfhaft Roms mit ihrem Sohne Alberich. 
Als fie aber fpäter, in der Hoffnung ihr Anfehen über ganz Italien auszudehnen, 
— dem Könige von Niederburgund und Stalien, Hugo von Provence, ihre Hand bot, 
und diefer fie annahm und fo die von der Kirche verbotene Ehe mit der Wittwe 
feines Halbbruders einging, da erhob fich fein Stieffohn Alberich gegen ihn und 
die römischen Berhältniffe ſchienen noch trauriger werden zu wollen, Nun ließ 
Ley den hl. Odo, zweiten Abt von Elugny, fommen, um zwifchen beiden Parteien 
ein leidliches Verhältnig Herzuftellen. Wirklich Fam auch ein Friedensvertrag zwi— 
Then dem König Hugo und dem Fürften Alberih von Rom zu Stande und erfterer 
gab diefem feine Tochter Alda zur Gemahlin, Zugleich beauftragte der Papft den 
Dodo, für die römischen Klöfter die Ordensregeln zu verbeffern und das Klofter, 
weldhes ehevem neben der Kirche des HI. Paulus befand, wieder aufzubauen. 
Auch die firhlihen Verhältniſſe Teutfchlands nahmen Leo's Aufmerkfamfeit in 
Anſpruch. Biſchof Gerhard von Lorch in Ober-Deftreih war zu ihm nach Nom 
gekommen, theils um dort zu beten und die Schwellen des HI. Petrus zu ehren, 
theils um die Mißbräuche, „durch welche gegenwärtig die bayerifche Kirche ver- 
unreinigt werde,” aufzudeden und Mafregeln einzuholen. Bald darauf erließ 
Leo zwei Schreiben, das eine ift an den genannten Gerhard gerichtet und beehrt 


I denfelben mit vem Namen Erzbifchof und mit dem Pallium, fowie mit einer An- 





weifung, diejes Föftlihe Unterpfand erzbifchöflicher Würde auf canonifche Weife 
zu brauchen ; das andere Schreiben trägt die Heberfhrift: an die Könige, Fürften, 
Bifhöfe, Aebte ıc., an Egilolph von Salzburg, Iſengrim von Negensburg, Lant- 
bert von Freifing, Wifund von Seben und die übrigen Kirchenhäupter von Gal«- 
lien, Germanien, Bayern, Alemannien. Nachdem Leo im Eingange auseinander- 
gefegt, daß Gerhard nah Rom gefommen und ihm über verfchiedene Mißbräuche 
Mittheilung gemacht habe, gebt der Papft auf einige Abweichungen in den Cere- 


I monien und dem Eherecht näher ein, erklärt befonders die Priefterehe für einen 





abſcheulichen Gräuel und Fündigt ihnen fofort an, daß er Gerhard von Paſſau 
zum apoſtoliſchen Stellvertreter in ihren Bezirken aufgeftellt Habe, die Aufforde= 
rung beifügend, von nun an demfelben ven pünctlichften Gehorſam zu leiften, 
1 Schließlich bemerkt Leo noch, Herzog Eberhard von Bayern fei beauftragt, diefe 
I Berfügung in Vollzug zu fegen (Harduin. acta concil. Tom. VI. P. 1. p. 575 sqq.). 
I An diefe neue Anordnung Leo's, welde dem Stuhle von Salzburg feine alten 
1 Borreihte entzog und auf den von Lorch übertrug, ſchloß ſich ein bitterer Kampf 
I am, der nicht eher rubete, bis Papſt Benediet VI. die Metropolitanhoheit Salz- 

burgs wiederherftellte, Leo farb den 18, Juli 939 und wurde im Batican bei- 


162 Les VII. 


gefegt. Vrgl. Möller, Gefchichte des Mittelalters. Gfrörer, Kirchengeſch. 
II. Bandes 3. Abthlg. — Leo VIII., ein Afterpapft. Auf der Synode, melde 
Raifer Otto der Große im November des Jahres 963 zu Rom hielt, war Papſt 
Sohann XU., der bei der Annäherung des Kaifers aus Nom geflohen war, troß 
zweimaliger Vorladung nicht erfchienen. Das Winfeleoncil fegte nun den Papft, 
welcher der fihwerften Verbrechen angeklagt war, ab und wählte an feine Stelle 
Leo VII. Schon Baronius (annal. eceles. ad ann. 963. n. 31. sq.), Petrus de 
Maren (de concordia sacerdot. et imper. Lib. I. c. 11), Pagi (Crit. in annal. 
Baron. ad ann. 963), Muratori (Geſch. von Stalien. Thl. 5) und Andere haben 
Har dargethan, Daß der Kaiſer und die Synode hier eine ungefeglihe Handlung 
begingen, infofern fie ein Necht fih anmaßten, das fie nicht beſaßen; Leo kann 
daher auch nicht als rechtmäßiger Papft angefehen werden. Er war bei feiner 
Wahl noch ein Laie, Secretär der römifchen Kirche und eine Creatur Otto's. 
Die Römer waren deßhalb mit ihm auch fo wenig zufrieden, daß ein großer Theil 
verfelben, von Johann XII. bearbeitet, fogar während des Aufenthaltes Otto's 
in Rom eine Berfchwörung anzettelte, die jedoch vom Kaiſer mit der größten 
Strenge unterbrüdt wurde. Acht Tage nach dem Aufftande verließ Dito die 
Stadt, nachdem er zuvor auf Bitten Leo's VII. die Geißeln zurückgegeben hatte, 
Raum hatte aber Dito den Kirchenftaat verlaffen, fo riefen die Römer Johann XU. 
zurück, und Leo fah fih gezwungen, die Flucht zu ergreifen; nur mit genauer 
Noth, von Allem entblößt, Fam er in das Faiferliche Lager zu Camerino. Als 
aber Johann XI. nicht gar Tange nach feiner Wiedereinnahme des päpftlichen 
Stuhles farb, wählten die Römer alsbald zu feinem Nachfolger Benedict V. 
(ſ. d. A.); doch Dito glaubte die Rechte Leo's unterflügen zu müffen, und ver- 
weigerte deßhalb nicht nur die Beftätigung des Neugewählten, fondern fanmelte 
ein Heer, rückte im Mai 964, begleitet von feinem Papfte Leo, vor Nom, und 
ſchloß die Stadt aufs Engfte ein, Die Römer, vom Papfte Benedict angefeuert, 
Teifteten den hartnädigften Wiverftand ; als fich aber zu den Leiden der Belagerung 
noch der Hunger gefellte, ergaben fie ſich, und Leo VII. wurde von Neuem auf 
den Stuhl des hl Petrus gefegt. Leo hielt fofort ein Concilium in der Bafllica + 
des Lateran, dem italienische, lothringiſche, fächfifche ze. Biſchbfe und Cleriker, 
die Angeftellten der Stadt und das Bolt beiwohnten, Benediet V. wurde das 
Pallium, die Stola und das Meßgewand abgenommen, den Hirtenftab aber, den 
derfelhe getragen, zerbrach Leo und ſprach: Wir entfegen hiemit den Räuber des 
Heiligen apoftolifhen Stuhls Benediet der bifhöffichen und priefterlihen Ehren, 
auf die Fürbitte des Kaiſers jedoch, durch deffen Bemühung wir auf unfern Stuhl 
wieder eingefegt worden find, Iaffen wir dem Abgefegten die Würde eines Dia- 
con, aber zu Nom darf er nicht bleiben, fondern er wird in die Verbannung ab⸗ 
geführt werden, Ob auf dieſem Eoneil oder auf dem vom Jahre 863 ſchon Dito’8 
Befugniffe von Leo und den Römern erweitert wurden, ift weniger wichtig, als 
der Inhalt diefer Befugniffe. Diefe lernt man aber fennen aus einer Urfunde 
Leo's, abgedruckt bei Perg, leges I, Anhang S. 167, und ihr Hauptinhalt ift: 
Dtto darf fih nah Wunfh und Willen Nachfolger für das Königreich Italien 
wählen, die Päpſte und Bifchöfe inveftiren, Wenn der Clerus und das Volk 
einen Biſchof erwählt, ohne daß derſelbe vom Könige gutgeheißen und belehnt 
würde, ſo darf Niemand bei Strafe der Excommunication und des Todes dem 
Gewählten die Weihe ertheilen. Baronius und andere katholiſche Schriftſteller 
fuchten die Unächtheit dieſes Actenſtückes zu erweifen, und auch proteftantifche 
Säriftftelfer erhoben gegen feine Aechtheit aus formellen Gründen Zweifel; allein 
die Anfict derer, melde das Stück für ächt Halten, Hat fehr viel für ſich; eine 
Creatur wie Leo konnte Teichtlich nach dem Beifpiele aller Ufurpatoren bie Macht 
und das Anfehen, welche er dem rechtmäßigen Befiger geraubt hatte, wohlfeilen 
Raufes dahingeben. Aber auch fo viel fieht man ein, daß, wenn es Otto's Ge 


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Leo IX. 463 


fhlehte gelungen wäre, diefen Grundfägen des Vertrags mit Leo dauernde Gel- 
tung zu verfhaffen, die Nationen des Abendlandes den Papft nicht mehr als 
Statthalter Eprifti und Haupt der ganzen Kirche Hätten verehren können, fondern 
als Knecht teutfcher Ehrſucht verabſcheuen müffen. Leo farb im März 965, 
Bol. das hriftl. Nom von Eugene de la Gournerie. Möller, Gef. des 
Mittelalters. Schröckh, Kirchengeſch. 22.THl. Gfrörer, Kirchengeſch. 3. Bandes 
3. Abth, Neander, Kirchengeſch. IV. Bd. Liutprand, histor. Ottonis cap. 16. 
— Leo IX. Bruno, geboren den 21. Zuni 1002, ftammte aus dem Gefchlechte 
der im Elſaße höchſt begüterten Grafen von Dachsburg ab, ein Blutsserwandter 
des Kaiſers Conrad I. und auch verwandt mit dem Habsburgifhen Haufe. Seine 
Erziehung und Bildung genoß er bei Berthold, Biſchof von Toul, und deffen 
Nachfolger Hermann, Bald befam er am Ffaiferlihen Hofe einen bedeutenden 


Einfluß, und der Weg zu den höchften kirchlichen Würden fand ihm offen, aber 


er ftrebte nicht nach äußerer Auszeichnung und war nur deßhalb fo zufrieden, als 
im J. 1026 Clerus und Bolf von Toul ihn zum Biſchofe wählte, weil er fich in 
der Leitung diefer kleinen Didcefe fiher glaubte, zu dem glängenderen Stellen 


nicht befördert zu werden, Nachdem er fein bifhöflihes Amt 22 Fahr lang fehr 
rühmlich befleivet hatte, follte er auf den Höchften Leuchter geftellt werden. Papft 
- Damafus IL. war unvermuthet bald geftorben, und die Römer ſchickten Gefandte 
- an Heinrich II. (1039— 1056) mit der Bitte, ihnen einen neuen Papft zu geben. 
Der Raifer berief deßhalb im December 1043 eine große Berfammlung nad 
- Worms, und hier bezeichnete der Wille Heinrihs und die Stimme der weltlichen 


und geiftlihen Fürften unfern Bruno zum Dberhaupte der Chriftenheit. Bruno 
gab ſich alle Mühe, diefe Wahl rüdgängig zu machen, ald aber Heinrich und die 


| Großen darauf beftanden, bat er fich drei Tage Bedenfzeit aus, und nachdem er 
fie im firengften Faften unter Gebet und Betrachtungen zugebracht, legte er unter 
| einem Thränenguffe ein öffentliches Sündenbefenntniß ab, damit man beim An- 


blife feiner Unwürdigfeit einen Würdigeren auf den papftlihen Stuhl erhebe, 


- Allein das Volk antwortete diefem demüthigen Geftändnig nur mit Thänen und 


Beharrlichkeit in feiner Forderung. Auf dieſes Hin erflärte fih Bruno zur Ueber— 
nahme des hohen Amtes unter der Bedingung bereit, wenn Elerus und Bolf von 
Rom feine Wahl einftimmig gutheiße. Weihnachten feierte Bruno noch zu Toul, 
dann trat er, nachdem er noch die nöthigen Anftalten zur Leitung feiner Diöcefe 


während feiner Abwefenheit getroffen hatte, im Pilgerkleide feine Reife nah Rom 
} an, begleitet von dem Erzbifchofe Eberhard von Trier, Hildebrand von Sana 
I und Andern (ſ. den Art. Gregor VII). Seine Reife war ein wahrer Triumph 
zug chriſtlicher Demuth und Einfalt, und auf der ganzen Reife fam fein anderes 


Wort über feine Lippen als Gebete, In der Nähe von der Stadt Augufta (ob 
darunter Augsburg, oder Turin, oder Aoſta zu verfichen fer, ift eine offene Frage) 
hörte er eine Stimme, welche ihm die Worte bei Jeremias 29, 11. 12. 14, zu= 
rief, und fihöpfte daraus nicht wenig Troft und Beruhigung. Die ganze Be- 
völferung der Stadt Rom z0g ihm in Feftffeivern entgegen, Hymnen fingend, 
Bruns aber ging barfuß unter der jubelnden Menge und forderte fie auf, ihren 


I Willen offen auszufprechen. Aber zu Rom wie zu Worms war eine Stimme; 
der Archidiacon der römifchen Kirche rief unter dem Namen Leo IX. den Bruno 
I zum Papfte aus, und das Volk gab mit dreifachen Zurufe feine Zuftimmung. 
I Sofort wurde Bruno am 2, Febr. 1049 confecrirt und am 12. Febr. auf ven 
I päapftlichen Stuhl erhoben. ine feiner erften Amtshandlungen war, daß er Hilde- 
brand zum Subdiaeon weihte und zum Güterverwalter des Stuhles Petri er- 
nannte, Auf ein unabhängiges Vermögen mußte vor Allem gefehen werden, wenn 
das Papſtthum vom weltlihen Joche frei werden follte; nun fand aber Leo in 


Rom feinen Pfenning päpftlicher Einkünfte vor; fein Bisthum Toul, das er bis 
zum Jahre 1051 beibehielt, warf ihm auch nicht gar viel ab, und deßhalb war 


A464 Leo IK. 


Hilvebrands Amt ein eben fo fehwieriges als wichtiges. Die Hauptforge Leo's 
aber ging dahin, die Simonie, den Coneubinat der Geiftlihen, die Erpreffungen 
des Adels. und die abfiheulichen Lafter des Volkes ernftlich zu unterdrücken. Zu 
dieſem Zwecke berief er auf die zweite Woche nah Oſtern eine Synode nah Rom, 
an welcher namentlich auch die Bifchöfe Galliens Theil nehmen follten. Bor dem 
Zufammentritt der Synode befuchte Leo verfchiedene Kirchen und Klöfter, nament- 
lich auch Monte Caſſino, und beftätigte einzelnen Abteien ihre Privilegien. Auf 
der Synode felbft wurden die Befchlüffe der vier älteſten allgemeinen Concilien 
und die Decrete früherer Päpfte feierlichft beftätigt, die unter Clemens II. (ſ. d. A.) 
gegen die Simonie getroffenen Beftimmungen erneuert mit der befonderen Ver— 
ordnung für die Stadt Nom, daß alle Perfonen weiblichen Gefchlechts, welche im 
Bereiche der Stadt Rom verbotenen Umgang mit Geiftlichen hätten, fogleich unter 
die Leibeigenen des Iateranenfifhen Balaftes aufgenommen werben follten. Andere 
Befchlüffe betrafen überhaupt das Zufammenwohnen der Priefter mit Weibern, 
Aufrechthaltung der Firchlichen Ehegefese, regelmäßige Entrichtung ber Zehnten 
und die Behandlung folcher Clexiker, die fich gewiffer Ketzereien ſchuldig gemacht 
(Mansi,, XIX. p. 722 sqq.). Während feines Pontificats fortwährend auf Reifen 
begriffen, um durch feine Gegenwart an Ort und Stelle die Firchliche Reformation 
mit größerem Nachdrude durchzuſetzen, hielt Leo bald Darauf neue Synoden, zuerft 
in Pavia. Von bier aus ging er über den Bernhardsberg in's teutſche Reich nach 
Sachſen zum Kaifer, und von da in feiner Gefellfehaft nah Cöln, Wie mehrere 
Bifchöfe Brabants und Lothringens zu Anfang des Jahres 1049 gegen den Her— 
zog von Dberlothringen, Gottfried, und gegen den Grafen Balduin von Flandern 
zu Felde gezogen waren, fo wendete auch jetzt Leo IX. ſelbſt geiftliche Waffen 
wider die Empörer an, bei Gottfried mit Erfolg, während Balduin mit Hilfe 
der Könige von England und Dänemark erft noch von Heinrich bekämpft und be- 
fiegt werden mußte. Che Leo Cöln verließ, ernannte er den dortigen Erzbifchof 
zum Kanzler der römifchen Kirche und zum Carbinal, geftattete, daß täglich in 
der Cathedrale zu Cöln an dem Altare des hl. Petrus fieben Carbinalpriefter mit 
Sandalen angethan die Meffe lefen dürften, gab dem Erzbifchof den Vorrang auf 
den Coneilien, die innerhalb feines Sprengels gehalten werden würden, fowie bie. 
Befugniß, teutfche Könige zu Frönen, und die Unmittelbarkeit unter dem römifchen 
Stuhle; auch fprach Leo dem Cölner Capitel das Recht zu, in Erledigungsfällen 
mit vollfommener Freiheit Erzbifchöfe zu wählen. Bon Aahen oder Chln aus 
fam Leo Ende Auguſts nah Mainz; da aber die Verhältniffe wegen des Feld— 
zuges gegen Balduin noch nicht günftig waren für Abhaltung einer Synode, fo 
feste er eine folche erft für die Mitte Detobers an und ging vorher über Toul 
nach Rheims, um ein Verfprechen, das er noch als Bischof gegeben, zu erfüllen. 
Er wollte nämlich Die Grabftätte des HI. Nemigius befuchen und das Feſt dieſes 
Heiligen mit Erhebung feiner Gebeine feiern; zugleich follte aber auch eine Sy⸗ 
node gehalten werden, und darum hatte er noch von Toul aus durch Rundſchreiben 
die Bifchöfe und Aebte Neuftrieng und der benachbarten Provinzen aufgefordert, 
unverweigerlih den 3. Oet. 1049 in Rheims zu erfcheinen. Lep traf am 29. Sept, 
im Rlofter zum hl. Remigius ein, die Feftfeier diefes Heiligen wurde unter einem 
ungeheuren Andrange von Wallfahrern aus dem ganzen Abendlande begangen, 
und am 3, Det, begann das Eoneil, das viele franzöfifche Prälaten, welche ſich 
fhuldig fühlten, durch Vorfehiebung des Königs zu Hintertreiben geſucht hatten, 
Auf diefem drei Tage dauernden Eoneil, einem der wichtigften für die galliſche 
Kirchenentwicklung, zählte Leo die Gebrechen des franzöfifchen Kirchenweſens auf 
und ermahnte die Bifchöfe und Aebte, die fih ſchuldig wüßten, es offen zu be— 
fennen; dieß thaten Einige und refignirten zugleich ; die Bifchöfe von Langres und 
Nantes wurden abgefegtz die, welche ſchuldbewußt nicht erfchienen, wurden ex— 
eommunieirt, Noch wurde eine Neihe Firchlicher Gefete, die Simonie, wider⸗ 























Leo MR. 465 


rechtliche Befigergreifung von Altarpfründen durch Laien, verbotene Chen, Ent- 
weihung von Kirchen, ungefeglihe Eheſcheidungen und zweite Heirathen, Rücktritt 
der Mönche von ihren Gelübden, Kriegsdienfte der Geiftlihen, Beraubung und 
Einferferung der Armen, Sodomie und gewiffe Regereien betreffend, erneuerf, 
Bon Rheims z0g Leo über Verdun und Meg, da und dort Kirchen einweihend, 
Klöfter beftätigend, nah Mainz, und die hier abgehaltene Synode bezweifte 
Aehnliches wie die zu Rheims, auch wurden einige Streitigkeiten der Prälaten 
entfchieven. Bon Mainz zog Leo nach den Bogefen hinauf, nah Straßburg, dem 
Schwarzwald und Bodenfee, überall Merkmale feiner Frömmigkeit und feines 
Eifers zurücklaſſend, verfhiedenen Kirchen und Klöftern Privilegien ertheilend. 
Bon Neichenau trat Leo dann über Donauwörth, Augsburg die Nüdreife nad 
Stalien an, und feierte in Verona Weihnachten. Einige Tage nad) Dftern 1050 
eröffnete Leo in Rom das Coneil, weldes ſchon zu Rheims mit dem größten Ge- 
fhicfe vorbereitet worden war. Lanfranf reinigte fih vom Verdachte der Härefie, 
Dagegen wurde aber über Berengar von Tours (ſ. d. U.) einftimmig das Ber- 
dammungsurtheil ausgeſprochen, zugleich Tieß ihm der Papſt die Aufforderung 


h zugehen, vor einer im fünftigen Herbfte zu Vercelli abzuhaltenden Synode per- 


ſonlich zu erſcheinen und ſich zu rechtfertigen. Auch gegen Simonie und Eon- 


 enbinat wurden Mafregeln ergriffen, war doch der Mailänder Sprengel Haupt- 
ſitz verbeiratheter Cleriker, und hielt e8 ja der Erzbifchof von Mailand, Guide, 
and Humfried von Ravenna nur dadurd für möglich, ihre Unſchuld darzuthun, 


daß fie mit einem ftarf bewaffneten Gefolge nah Rom gefommen waren, 
gleihfam um durch daffelbe mit Gewalt die gegen fie erhobenen Anklagen nie- 
derzufchlagen; in Uebereinſtimmung mit dem Concil fprach Leo die Canonifation - 
des im 3. 994 geftorbenen Bifhofs von Toul, Gerardus, aus und feste feft, 
dag fein Andenfen durch die ganze Fatholifche Welt am 23. April jeden Jahres 
gefeiert werben folle. Nach diefem Ofterconeil ging der Papſt nach Apulien, Tieß 
mehrere Städte fih und dem Kaifer ſchwören; Benevent, das in der Empörung 
wider ihn bebarrte, belegte er mit dem Kirchenbanne, und wie er den Einwohnern 
des Landes gegen die Normannen Schuß bringen wollte, fo follte namentlich auch 
kirchlichen Mipftänden abgeholfen werden, daher hielt er Synoden zu Sipont und 
Salerno. Nach einem zwar furzen, aber für Unteritalien höchſt wichtigen Auf- 


15 enthalte Fehrte Leo, ohne feinen Wunfh, Sieilien den Saracenen zu entreißen, 
erfüllt zu fehen, zurüf, fhloß mit den Pifanern gegen die africanifchen Sara- 


eenen ein Schus- und Trugbündniß, und eröffnete fofort Anfangs September 


das Eoneil in Verceli, Berengar war nicht erfhienen, zwei Geiftliche aber füßr- 


ten feine Sache mit fo geringem Erfolg, daß feine Lehre wie die von Johannes 
Erigena verdammt wurde; Simonie, Coneubinat und verwandte Puncte famen 
auch hier zur Sprade, Humfried von Ravenna wurde mit dem Kirchenbanne be- 
legt. Bon Bercelli begab fih Leo nach Toul, um die vorausserfündete Erhebung 
der Teiblihen Ueberreſte Gerards vorzunehmen; Kirchenfürften von überall her 
und zahliofe Gläubige hatten fich bei diefer Feier eingefunden. Auch dießmal be- 
ſuchte Leo verſchiedene Kirchen und Klöfter und flattete fie mit Gnadenbriefen und 


I Privilegien aus. Lichtmeß 1051 feierte der Papft mit Kaiſer Heinrich und vielen 
I geiftlihen und weltlichen Fürften in Augsburg, und hier ertheilte er auch, aber 
1 mehr gezwungen als frei, dem vom Raifer herbeigerufenen Humfried son Ra— 
I venna die Losſprechung. Nach feiner Nücfehr nah Nom ernannte Leo den Pri- 
micerius Udo von Toul flatt feiner zum Bifhofe von Toul, dem Hildebrand 
7 übertrug er die Abtei des HI, Paulus, an der Straße nah Oſtia gelegen; die 
rage aber, was mit jenen gefchehen folle, die, ohne felbft Simonie geübt zu 
I Haben, von fimoniflifchen Bifhöfen geweiht worden waren, wurde auf dem un- 
I mittelbar nah Dflern zahlreich befuchten römiſchen Concil aufs Neue erörtert; 
7 am Eompetenzftreitigfeiten wurden auf diefer Synode geſchlichtet, und König 


Kirchenlexikon. 6. Br, 30 


A66. Leo XR 


Eduard von England von feinem Gelübde einer Wallfahrt nach Rom entbunden 
Nach diefem Concil nahm das Güterwefen des Stuhles Petri die Thätigfeit des 
Papftes auf lange Zeit faft ausſchließlich in Anſpruch, Benevent Fehrte zum Ge— 
horſam gegen ihn zurüd, er z0g den 5. Juli in diefer Stadt ein und ſuchte eine. 
feftere Drbnung herzuftellen. Da die Normannen aber ihre Herrfchaft immer 
mehr auszubehnen, namentlich gegen Benevent von mehreren Geiten ihre Netze 
auszufpannen ſuchten, ging Leo im Frühling 1052 abermals nach BDenevent, um 
mit jenen eine leidliche Uebereinkunft zu treffen, auch wurden mit dem Hofe von 
Conftantinopel Unterhandlungen angefnüpft, um im Nothfalle gemeinfchaftlich mit 
den Griechen der normanniſchen Gewaltherrſchaft über Unteritalien ein Ende zu 
machen, Nachdem aber der Papft alle Gründe der Meberrevung und der Güte 
erfchöpft, nachdem er e8 bei der Feigheit und der geringen Anzahl feiner italieni- 
fen Truppen vergebens verſucht hatte, die Normannen durch Schredfen zur Nach- 
giebigfeit und zur Ruhe zu bewegen, richtete er feine Blicke auf teutfche Hilfe, 
die ihm vom Kaiſer auch veriprochen aber nicht gewährt wurde, Im Sommer 
1052 nämlich war Leo nach Teutfehland geeilt, um zwifchen dem Kaiſer und dem 
Könige Andreas von Ungarn einen Frieden zu vermitteln, Nachdem ihm dieß 
nicht gelungen, ging er mit Heinrich, der aus Mangel an Lebensmitteln die Be- 
lagerung von Preßburg aufgeben mußte, nach Regensburg, und fprach hier zwei 
ehemalige Bifchöfe diefer Stadt, Erhard und Wolfgang, heilig. Gemeinſchaftlich 
fegten dann Raifer und Papft ihre Neife über Bamberg, Tribur nah Worms 
fort, wo fie Weihnachten feierten. Pier war es, wo der Papft das Bisthum 
Bamberg nebft der Abtei Fulda dem Kaifer abtrat und dafür von ihm eine Ver- 
zichtleiftung aller Faiferlichen Nechte auf Benevent und andere italienische Orte 
empfing, Zugleich gab ber Kaifer hier das DVerfprechen, ein Heer nach Stalien 
zu fhiden, um die Normannen mit Waffengewalt aus den ehemaligen Beſitzungen 
des Stuhles Petri, namentlih aus dem Gebiete Benevents zu vertreiben. Allein 
bald mußte Leo die traurige Erfahrung machen, wie wenig Ernſt e8 dem Heinrich 
mit diefem Berfprechen gewefen; er entließ nämlich die aufgebotene Mannfhaft 
wieder, und nur ein Haufe von etwa 700 Mann Freiwilliger, theils Verwandte, 
theil8 Befreundete Leo's, folgten dem Papfte nach kurzer Zeit nah, um für dag 
Oberhaupt der Kirche und ihren Stammgenoffen zu fechten. Nachdem der Papft 
Lichtmeß zu Augsburg gefeiert, ging er über die Alpen nach Padua, wo er drei 
längſt Verſtorbene heilig ſprach. Bon da begab er fih nah Mantua, wohin er 
ein Iombardifches Coneil ausgefhrieben hatte, um dem moralifchen Berberben der 
Geiſtlichkeit zu feuern; doch viele Kirchenhäupter Lombarbiens widerfegten ſich 
dem Reformationseifer des Papftes mit fürmliher Gewalt, und nur mit Mühe 
gelang e8 dem Papfte, den Aufruhr zu flillen, Noch während der Faftenzeit 
kehrte Leo nach Rom zurück und hielt in der Woche nach Dftern eine Synode, um 
gemeinfam mit andern Bifchöfen die Angelegenheiten der Kirche in Berathung zu 
ziehen, Neue Verwicklungen hatten ſich nämlich unterbeffen im Driente vorberei— 
tet; das griechifhe Schisma wurde von dem ehrgeizigen Michael Cerularius er- 
neuert und vollendet. Was Leo hiegegen gethan, erhellt aus deu Artikeln Ce— 
rularius, Michael“, und „griehifhe Kirche.“ Diefe Ofterfynode von 1053 
beftimmte auch, daß Grado für immer als Haupt und Metropole von Venetien 
und Iſtrien geehrt werden, der Stuhl von Aquilefa dagegen fih mit den ihm 
untergebenen Sprengeln des Tombarbifchen Feftlandes begnügen folle, womit, zum 
Wohle Staliens und aus Rückſicht auf die Freiheit Europa’s, der im April 1097 
auf der unter Kaifer Conrad IL. gehaltenen römifhen Synode zu Ounften des 
Patriarhats von Aquilefa gefaßte Beſchluß zurücfgenommen war, Da son 
Apulien fortwährend die gränlichften Schilderungen von den Verwüflungen der 
Normannen eingelanfen, die teutfihen Freiwilligen in Rom aber angefommen 
waren, fo gab Leo nach der Synode dem teutfchen Heere den Befehl, die Grenze 








Leo X. 467 


Apuliens zu überſchreiten; zugleich bot er alle römifchen Dienſtmannen auf, über 
welche Petri Stuhl noch verfügen fonnte, und fhlenderte den Kirhenbann gegen 
die Normannenz Leo felbft begab fih zuerft nach Monte Eaffino, und nad einer 
Beſprechung mit dem griechiſchen Oberſtatthalter Calabriens, Argyrus, nah Ci— 
vitella. Unweit dieſes Städtchens kam es den 18. Juni 1053 zur Schlacht. Die 
Italiener flohen beim erſten Anlauf der Normannen auseinander, die Teutſchen 
aber kämpften wie Löwen, doch konnten fie bei der zu großen Ungleichheit der 
Streitfräfte den Sieg nicht erringen, Leo felbft wurde von den Normannen ge= 
fangen genommen und blieb faft neun Donate zu Benevent in ihrer, wenn auch 
milden, Haft. Er war dur dieſe Niederlage und den Tod fo vieler theurer 
— Berwandten, die für ihm und die Kirche bluteten, aufs Tieffte erfhüttert; nie 
ruhte er zur Beuevent in einem Bette, hüllte feinen Leib in ein härenes Gewand, 
fchlief, das Haupt auf einen Stein geftügt, über einer Matte, faftete über die 
Mafen, betete oft ganze Nächte durch und verfhenkte, was er erübrigen fonnte, 
an Arme, Aber mitten unter diefen Werfen ungewöhnlicher Frömmigkeit ver— 
fäumte der Papſt die allgemeinen Angelegenheiten der Kirche nicht. Unter den 


20 Bisthümern in Africa hatten nach den Eroberungen der Bandalen und Sa- 


reacenen nur fünf ihe Dafein bewahrt, aber unter diefen felbft war in Betreff des 
— Borranges Streit und heftige Spaltung ausgebroden. Kaum war diefe Sade 
am den Panft gebracht, als er fie mit eben fo großer Umficht als fiherem Tacte 
I in Dronung brachte, Mansi XIX, 657 ff. Auch mit dem Hamburger Erzbifchof 
Adalbert wurden die fihon früher begonnenen Unterbandlungen fortgefegt; der 
Papſt war geneigt, ihn zum Patriarchen oder päpftlichen Legaten für den Norden 
Eurspa’s aufzuftellen; weil aber Adalbert feine Bürgſchaft unverbrüchlicher Trene 


gewährte, fo zerfchlug fich die Sache. Wihrend feines Aufenthaltes in Benevent 
I merfte er ein befchleunigtes Hinfchwinden feiner Kräfte, er verließ daher den 





I 12. März 1054 Benevent, um nah Rom zurüdzufehren. Der Normanne Hum= 

fried geleitete ihn nach Capua, von wo er in Gefellichaft des Abtes von Monte 
I Eaffino die Reife fortfegte. In Rom flieg er in feinem bifchöflichen Palafte am 
Lateran ab, bald ließ er fich aber in die St. Petersfirche tragen und brachte hier die 
I Testen Tage unter brünftigen, wahrhaft hohenpriefterlihen Gebeten und Ermaß- 
I nungen zu, bis er den 19, April 1054 felig im Herrn entfhlief. Seinem Wunfche 


gemäß ward die Leiche neben dem Altare Gregors I. beigefegt. Wie Leo während 
I feines Lebens Wunder wirfte, fo gefihahen auch nachher noch ſolche bei feinem 
I Grabe. Mit- und Nachwelt ift einftimmig in feinem Lobe. Die Kirche verehrt 
I ihn am 19. April ald einen Heiligen. Vgl. Gfrörer, Kirchengeſch. IV. 1. ©. 
484 ff. Höfler, die teutfchen Päpfte. I. S. 3—214. Eugene de la Gour— 








I nerie, das chriſtl. Rom. L 2. 8,409 ff. Möller, Gef. des Mittelalters, 
849 ff. Döllinger, Lehrb. der Kirchengefh. . S.479 f. Wiberti vita 
S. Leonis P. IX. S. Leonis P. IX. vita a S. Brunone Signiensi episc. Pagi, bre- 
viar. T. I. p. 327—357. — leo X., hieß früher Johannes und ift geboren den 
11. Derember 1475 zu Florenz, der zweite Sohn des dortigen Großherzogs, des 
Lorenz von Medici, der den Beinamen des Großen und eines Vaters der Wiffen- 


ſchaft führte, Ber einem mufterhaften Fleiße zeigte Johannes von feiner früheften 
I Jugend an ausgezeichnete Anlagen, welche zur Reife zu bringen er eine attifche 
I Erziehung genoß, wie fie nur ein Pericles zu denfen vermochte und wie fie in 
7 jener Familie nicht ausbleiben fonnte, nad welcher das damalige Jahrkundert, 
I um ihres großen Einfluffes auf Künfte und Wiffenfohaften willen, feinen Namen 





erhielt. Chalcondyl und Eginent, zwei griehifche Flüchtlinge, führten ifn in die 
Schönheiten der homerifhen Sprache ein; Politianus Iehrte ihn die „Sprache ver 


I Götter“, die er ſelbſt eorreet und mit Eleganz ſprach; Bernardo Dovizi, der 





foäter unter dem Namen Cardinal Bibiena berühmt wurde, lehrte ihn das ele— 
gante und ungenirte Sappir-viore, mit dem ſich natärfih die volle Sanftmuth 
30* 


468 Leo X. 


und Güte des Schülers verſchmolzen. Auch Marfilins Ficinus, Pico de la Mi- 
randola u. a, m, hatten bedeutenden Einfluß auf feine Entwicklung und Aus- 
bildung. Bon feinem Vater für das Prieſterthum beftimmt, erhielt Johann ſchon 
mit fieben Jahren Tonfur und Anwartfchaft auf firchlihe Würden; und wie ihm 
Ludwig XI, König von Franfreih, im J. 1483 die Abtei Font douce übergab, 
fo belehnte ihn bald nachher Papſt Sixtus IV, mit dem reichen Klofter Paffignanp, 
und Innocenz VII. verlieh ihm noch im J. 1488 die Würde eines Cardinals 
Bevor er jedoch die Infignien diefer Hohen Würde erhielt, mußte er noch drei 
Jahre lang die Theologie und das canpnifhe Recht findiren, was er auch zu Piſa 
mit ebeh fo großem Fleiß als Erfolg that, Am 9. März 1492 erfolgte fofort 
feine Aufnahme in's Carbinalscollegium. Am 8, April deſſelben Jahres ftarb fein 
Bater Lorenzo, und mit dem Tode diefes Mannes ſollte bald eine Kataſtrophe 
höchſt trauriger Art wie für Stalien überhaupt, fo namentlih für Florenz und 
das mediceifhe Haus eintreten, Der Cardinal begab fich alsbald nach Florenz, 
um durch feine Gegenwart das Anfehen und den Einfluß feiner Familie aufrecht 
zu erhalten, was um fo nöthiger war, als fein älterer Bruder Pietro nicht der 
rechte Mann war und die Einwohner immer fchwieriger wurden, ja eine von Sa— 
vonarola's Predigten aufgehete Partei mit dem Sturze feiner Familie umging. 
Um diefe Zeit hatte fi Ludwig Sforza an die Spike Mailands und feiner ſchö— 
nen Provinzen geftellt und war fo wenig geneigt, die rechtmäßigen Anfprüche ſei— 
nes Neffen Galeas zu achten, fo dringend er auch vom König Ferdinand von 
Neapel hiezu aufgefordert worden war, daß er ven König von Franfreich, Carl VII., 
nah Stalien einlud, um als Erbe des Haufes Anjou feine Anſprüche auf das 
Königreich Neapel geltend zu machen. Die Uneinigfeit und das gegenfeitige Miß- 
trauen der kleinern italienischen Fürften erleichterten Carls Kriegszug, und die 
italienifchen Völfer, von Savonarola bethört, erwarteten in ihm den von Gott 
Hefandten Würgengel, das heilige Land zu befreien. Ber diefer Sachlage hielt 
es Pietro von Medici für das Gerathenfte, mit Earl fih in eine Unterhandlung 
einzulaffen,, aber der abgefchloffene Vertrag rief bei den Florentinern allgemeinen 
Unwilfen hervor, ein Aufftand der verheerendften Art brach aus, bis Carl am 
17, Nov. 1494 in Florenz einzog. Nur mit Mühe hatten Pietro und der Car 
dinal noch nach Bologna entfliehen fünnen, und da fie hier nur fehr kalt aufge- 
nommen wurden, ſo vertauſchte Johannes von Mediei fein rothes Kleid mit der 
Kutte eines Franciscaners und fand einige Tage nachher eine Zufluchtsflätte zu 
Caſtello bei den Vitelli, Nun lebte der Cardinal während einer Zeit von fünf 
Sahren bald da, bald dort, bei den alten Freunden feines Haufes, in Rom felbft 
mochte er fih nicht aufhalten, da er fich mit dem neuen Papfte Alexander VL, 
der das Haus Medici hate, nicht gut zu fielen wußte, Mehrmals fihien es 
während diefer Zeit, als könnten die Medici wieder nach Florenz zurücffehren, 
fie verfuchten e8 auch mit Gewalt, aber umfonftz ein Bündniß der Florentiner 
mit König Ludwig XI. benahm ihnen vollends die Hoffnung. Um nun die ſchwar— 
zen Gedanfen zu entfernen, die fein Gemüth verbüfterten, befchloß der Carbinal, 
Stalien zu verlaffen und, den Undank feiner Mitbürger vergeffend, im fremden 
Lande die Sitten, Einrichtungen und geiftige Bildung der übrigen Nationen zu 
fludiren, Mit noch eilf Genoffen trat er eine Titerarifche Reife an und befuchte 
die vorzüglichften Städte in Teutfehland, wie Mm, Augsburg, Innsbruck ꝛc. in 
den Niederlanden und in Frankreich, Bei feiner Rückkehr fand der Carbinal die 
politiſchen Verhältniffe in Stalien bedeutend verändert; er begab ſich nach einem 
fürzern Aufenthalte in Genua nah Nom, wo Alexander, äußerlich wenigfteng, 
fortan fih freundlich gegen ihn betrug. Dieß und noch mehr der Umftand, daß 
28 der Negierung in Florenz an Einficht und burcgreifender Thätigfeit fehlte, 
daß die Stadt in ihren Finanzen erfihöpft und durch innere Unruhen zerrüttet 
war, richtete Die Mediei zu der Hoffnung auf, ihrer Zamilie bie vorige Gewalt 





Leo X 469 


imn Florenz wieder zu verſchaffen; allein auch dießmal mißglückte ihr Verſuch. 
Gunſtigere Ausſichten eröffneten ſich dem Cardinal unter dem Papſte Julius IL 
Zu diefem ſtand er in einem guten Einverſtändniß, und da fein Bruder Pietro 
geftorben war, fo lief der Cardinal nicht länger Gefahr in den Maßregeln, die 
er nahm, um feine Rückkehr nach Florenz zu bewirken, zumal er nur langfaur 
and mit großer Mäßigfeit vorfuhr, und die Florentiner großentheild mehr auf 
Pietro wegen feines unruhigen Ehrgeizes und heftigen Leidenfchaften als gegen 
feine Familie erbittert waren. Nachdem Julius am 12, Sept. 1506 in Perugia 
eingezogen war und von der Oberberrfchaft darüber Befig genommen hatte, über- 
trug er diefelbe bald nachher dem Cardinal von Medici, und diefer übt von nun 
an einen größern Einfluß, als bisher, auf die Angelegenheiten Italiens. Unter 
dem Titel eines Legaten von Bologna wurde unfer Cardinal zum päpftlichen Feld- 
miarſchall ernannt und ihm die Leitung jenes ganzen Feldzuges überlaffen, dur 
den der Papft die Franzofen aus Stalien vertreiben wollte, Doch der Feldzug 
endete, nachdem das Kriegsglüdf öfters gewechfelt, unglüdklih für das päpftliche 
Heer, der Cardinal wurde in der Schlacht bei Ravenna gefangen genommen, 
441: April 1512, Zuerft wurde der Cardinal nach Bologna, dann nah Mailand 
geführt, und von hier aus follte er nah Franfreich gebracht werden, gemäß dem 
Befehle Ludwigs XII.; doch er wurde noch zur rechten Zeit und zur größten 
Freude des Papftes aus der Gefangenschaft befreit, kehrte nach Nom zurück, und 
Städte, Eitadellen und Menſchen, die fich bald dem heiligen Stuhle wieder unter- 
warfen, fanden an ihm einen Fräftigen Vermittler, Nun follte auch das Haus 
Medici wieder in die Herrfchaft über Florenz eingefest werben, die heilige Ligue 
nahm die Sache in die Hand, und in Folge hievon Fonnte der Cardinal am 
31. Auguft 1512 wieder in fein theures Florenz zurücfehren, Damit hatte die 
1 Bolfsherrfchaft ein Ende; eine Verſchwörung von mehreren Unzufriedenen wurde 
noch zur rechten Zeit entverft, und die Anftifter derfelben fanden die gebührende 
Strafe. Auf die Nachricht von dem Tode des Papftes Julius II. eilte unfer Car- 
Dinal von Florenz nah Rom zur Papftwahl. Rauſchender Beifall erfüllte die 
I] Lüfte, als der Decan der Cardinaldiaconen das Fenfter des Conclave öffnete und 
I feierlich ausrief: ich verfündige euch eine große Freude; wir haben einen Papft, 
| ven verefrungswärdigen Herrn Johannes von Medici, Cardinaldiacon ad Sanctam 
] Mariam in Dominica, der den Namen Leo X. angenommen bat, Da rief die 
I Menge, Geiftlichkeit, Adel und alles Volk: es Iebe Leo! und Palle! Palle! wor⸗ 
] unter man die Wappen der Medici verftand; man zündete Freudenfeuer an, und 
unter den Donner der Kanonen von der Engelsburg mifchten fih taufend Bom— 
1 barben, Dean begrüßte die neue Regierung als die Aurora friedlich-ruhiger Tage, 
I als eine Aera des Glücks, die fih Allem öffnen follte, was Charakter, Geift, 
Wiffenfhaft, Talent und Tugend des Menſchen erheben kann. Am 15. März 
1 1513 erhielt Leo, da er bisher nur Cardinaldiacon gewefen, die Priefterweihe, 
1 am 17. die bifhöflihe Weihe und am 19. Hatte die Krönung Statt. Seine Thron 
beſteigung weckte mit einem Male allen Ehrgeiz der Künftler und Literatoren. 
I Man erinnerte fih nur an die gnädige Aufnahme, welche alle Männer von Ber- 
4 dienft bei ihm fanden, als er noch Cardinal und fein Palafl auf der Piazza Na— 
I sona der Mittelpunet aller Gelehrten und Künftler geworden war. Bor Alfem 
berief Leo den gelehrten Lascaris nah Rom, um das Studium der griechifchen 
4 Sprache und Literatur dafelbft zu erneuern; zu gleicher Zeit erhob fih auch die 
4 große römifche Univerfität, die Sapienza, zu neuem Glanze, feine Koſten wurden 
> som Papſte gefcheut, um einen eben fo tüchtigen als zahlreichen Lehrförper zu 
I arquiriren; über Theologie, bürgerliches und Firchliches Recht, Arzneifunde, Sit- 
 tenlehre, Logif, Beredtfamfeit, Mathematik ze. wurden Vorleſungen gehalten, ein 
I Beweis, wie falfch die Behauptung ift, Leo babe feine Freigebigfeit nur auf die 
4 Feihte und ſchoͤne Literatur beſchränkt. Mit befonderer Sorgfalt Tief er auch die. 


je : 























470 Leo X. 


Handſchriften ver alten griechiſchen und römiſchen Schriftſteller ſammeln, ſo be— 
zahlte er z. B. für die fünf erſten Bücher der Annalen des Tacitus, welche man 
in der Abtei Corvey in Weſtphalen aufgefunden hatte, und wovon noch Fein Ab- 
druck eriftirte, 500 Zechinen. Kurz Leo bot Alles auf, daß Nom, wie in anderer 
Hinficht, fo auch in Beziehung auf Gelehrfamfeit die erſte Stadt wurde, Wie 
fehr Leo auch die Kunft, Muſik, Architeetur ꝛc. ſchätzte und beförderte, dafür 
zeugen Raphael, Michel Angelo, Leonardo da Vinei ꝛc. Do ift es unmöglich, 
alle die geiftreichen Männer, voll Wiffen und Genius, auch Hier nur zu nennen, 
welche die Großmuth des Papſtes anzog, Man follte bei dem Anblick dieſes 
hohen Geiftesauffihwunges meinen, unter der Regierung Leo's X. habe fih das 
Chriſtenthum eines innigen Friedens zu erfreuen gehabt, und Fein Ungemach, fein 
trauriges Ereigniß habe diefe Ruhe getrübt, Und doch verarmten bie mweftlichen 
Provinzen Staliens immer mehr unter der Laft eines langen biutigen Krieges, 
Belgrad fiel unter ven Schlägen der Türfen, und die Stimme Luthers Hatte Die 
Farfel der Zwietracht in Teutfchland angefacht. Leo's höchſter Wunſch wäre es 
freilich gewefen, die Herzen aller chriftlichen Fürften durch die Bande einer hei- 
ligen und gegenfeitigen Freundſchaft vereinigt zu fehen, ganz Europa follte Frie- 
den genießen; aber diefer Wunfch wurde zuerft vereitelt durch die Frangofen, Um 
fih in den Befit des Herzogtums Mailand zu fegen, hatte Ludwig XII. zu Blois 
am: 15. März 1513 mit der alten Nebenbuhlerin Roms, Benedig, einen Bertrag 
gefchloffen; fobald der Papft hievon Kunde erhalten, gab er fih alle Mühe, 
Stalien vor dem Ausbruce neuer Kriegsflammen zu bewahren und ſchloß deßhalb 
auch am 5, April 1513 zu Mecheln ein Bündniß mit Heinrich VII. von England, 
dem Kaifer Marimilian und dem Könige Ferdinand von Spanien, Die Schlacht 
bei Novara fiel für die Franzofen ungünftig aus, und Benedig fand bie verdiente 
Züchtigung. Am 6. April eröffnete Leo die fechste Sitzung des Coneils im La- 
teran, welches fchon Julius IL. veranftaltet hatte; die ſchismatiſchen Carbindle 
fehrten größtentheils zum Gehorfam zurück, das Coneciliabulum von Pifa wurde 
für aufgehoben erflärt und dagegen die Nechtmäßigfeit der lateranenſiſchen Sy- 
node ausdrücklich anerkannt, Ludwig felbft hielt e8 für gerathen, fih mit dem 
Papfte auszufühnen. — Bei feinem unermüdlichen politifhen Streben Tieß Leo 
nie das Ziel aus dem Auge, Italien von dem Joche der Frembherrfchaft zu be= 
freien und aus der Erhaltung des europäifchen Gleichgewichts für feine weltliche 
Macht Vortheil zu ziehen, Höchſt unlieb war e8 daher dem Papfte, als Franz. 
von Franfreih nah dem Tode Ludwigs XI. CH 1. Januar 1515) den Plan 
Yoieder aufnahm, Mailand zu erobern; fihnell ſchloß jeßt Leo mit dem Könige 
von Spanien und dem Kaiſer von Teutfihland ein Schug- und Trugbündnif, und 
es fam jet Alles darauf an, ob die verbündeten Schweizer den Franzofen wider- 
fiehen würden, Bei Marignano fam e8 im September 1515 zur Schlacht, und 
diefe ift deßhalb fo wichtig, weil die Schweizer feit diefer Niederlage nie wieber 
einen felbftftändigen Einfluß in Stalien ausgeübt haben. Hätten die Franzofen 
diefen ihren Sieg ernftlich verfolgt, fo würden ihnen weder Toscana noch der 
Kirchenftaat viel Wiverftand geleiftet Haben, und e8 würde auch den Spaniern 
ſchwer geworben fein, fich in Neapel zu behaupten, Um diefes abzuwenden, nahm 
Leo in der fo äußerſt fohwierigen Lage feine Zuflucht zu Unterhandlungen mit 
Franz L; er begab fich fpäter felber zu ihm, wider den Rath feiner Carbindle, 
nad Bologna. Hier fhloffen fie das Concordat (ſ. den Art, Concordate), im 
welchem fie die pragmatifche Sanetion aufpoben (f. den Art. Frankreich). Au 
mußte Leo Parma und Piacenza aufgeben, doch gelang es ihm, den Sturm zu 
beſchwören, den König zum Ruͤckzuge zu bewegen und unangetaftet in dem Befige 
feiner Länder zu bleiben. Wenn man aber dem Papfte vorwirft, er habe fein 
Franz I. gegebenes Wort nicht gehalten, als im Frühjahre 1516 Maximilian gen 
Italien zug, um die Franzofen aus Mailand zu verbrängen, fo iſt biefer Vor— 


7 








Leo X 471 


wurf Tange nicht fo erwiefen, als man glauben follte, Audin fucht vielmehr auch 
hierin die Unſchuld des Papftes darzutfun. Wie Leo die Integrität des Kirchen⸗ 
aates zu erhalten, ja ihn zu vergrößern flrebte, wobei er gegen manche Große, 
die in einigen Städten des Kirchenftaates ihre Herrfhaft begründet hatten, oder, 
wie der Herzog von Urbino, obwohl Bafallen, im Augenblide der Entſcheidung 
abtrünnig wurden, den Krieg erflären mußte; fo fegte er feinen Stolz; au auf 
die Bergrößerung des Haufes Medici; fein jüngerer Bruder Julius von Medier 
wurde zum Erzbifhofe von Florenz ernannt; fein Neffe Laurentius von Medici, 
Herzog von Urbino, erhielt die Stelle des Rovere, der ein Neffe Julius II. war, 
und die weltliche Gewalt der Medict über Toscana wurde durch Gefege und 
Berbindungen befeftigt. Diefer Familienftolz z0g dem Papfte Heftige Feinde zu; 
bald wurde das Haus des Cardinals Petrucci der Schürherd des heftigften und 
befeidigendften Haſſes. Diefer Cardinal Hatte ſich entfchloffen, um feinen aus 
Siena vertriebenen Bruder zu rächen, den Papft öffentlich in einem Eonfiftorium 
zu erdolchen. Hierzu gebrach es ihm freilich an Muth, aber fein Wille blieb un- 
verändert derfelbe. Er beſtach einen Chirurgen und erhielt von ihm das Ver— 
ſprechen, den Papft zu tödten, entweder bei Behandlung einer Fiftel, an der Leo 
litt, oder durch Gift an der Tafel, Die Verfhwörung wurde entdeckt, ehe das 
- Berbrechen zur Ausführung fam, Petrucci wurde mit Vercelli, dem Chirurgen, 
— mit dem Tode beftraftz mehrere Eardinäle wurden ihrer Würden beraubt, weil 
ſie um das Complott gewußt, ohne es zu verhindern, Wenige Tage fpäter, den 
26. Juni 1517, ernannte leo, um die Würde der Kirche und feine Sade auf- 
recht zu erhalten, 31 Carbinäle, lauter durch Geift, Rang, Erfahrung und Ge- 
lehrfamfeit ausgezeichnete Männer, worin eine Haupturfache fowohl der Ruhe 
amd Glückſeligkeit feiner noch übrigen Lebenstage, als des Ruhmes und Glanzes 

feiner Regierung liegt. Um diefe Zeit befchloß der Papft auch zwei große Unter- 
nehmungen, die vom Beginne feiner Regierung an vor feinem Geifte ſchwebten, 
auszuführen, Es war dieg die Bewaffnung der chriſtlichen Fürften zur Befämpfung 
der Türfen, welde fih um jene Zeit unter Selim II. furdtbarer als je zuvor 
erwiefen, und dann die Berfhönerung Roms, vor Allem aber die Beendigung des 
Baues der St. Peterskirche. Zu diefem Zwede ließ Leo in Europa einen fünf- 
jährigen Waffenftilfftand ausrufen‘, und fuchte durch Briefe und tüchtige Gefandte 
- die Großen diefer Welt in's Intereſſe zu ziehen, und eine Zeit lang ſchien fein 
- Bemühen mit einem ſchönen Erfolge gekrönt werben zu wollen. Ebenfo hatte 
Leo noch im J. 1516, da die dffentlihe Schatzlammer erfchöpft, feine Privat- 


beſitzungen aber verfihuldet waren, um jene große Unternehmungen dennoch zu 
ermöglichen, einen Ablaß ausgefchrieben, und es ift als eine Verläumdung zurüd- 


zuweifen, ald wäre das für die Abläffe eingegangene Geld für die Schwefter des 
Yapftes beftimmt gewefen. An diefer Ablaßpredigt und dem Almofenfammeln 
durch Albert (ſ. d. U.), beziehungsweife Tegel (f. d. A.) nahm Luther (f.d. 9.) 
Anſtoß und bewirkte dur feine Thefen, daß der fo reichlich vorhandene Brenn- 
ftoff bald in eine fo ungeheure Flamme ausbrach. Ob es wahr ift, daß Luther, 
wenn er anftatt Leo X. Papft gewefen wäre, die Kirche gegen einen weit gefähr- 
licheren Feind gefhügt haben würde, als der Mönch von Wittenberg war, mag 
dahingeſtellt fein, aber irrig iſt jedenfalls die fo oft wiederholte Behauptung, 
man babe von Anfang an den Vorgängen in Sachſen Feine Wichtigkeit in Rom 
beigelegt. In Nom Ffonnten Luthers Thefen kaum befannt geworden fein, als 
1 Leo dur ein Schreiben som 13, Febr, 1518 an Gabriel von Venedig, Pro- 
FT magifter der Auguftinermöndhe, den Auftrag gab, das von Luther angefchürte 


I Teuer zu dämpfen, denn „nichts fcheine fo gefährlich zu fein, als der Verzug.” 





Gabriel folle dur Briefe und Unterhändler Luthern zum Schweigen Bringen, 
Doch ertheilt ihm Leo Feine beftimmte Inſtruction. Bon feiner erften Forderung, 
3 daß Luther perſonlich in Rom zur Vertheidigung ſich ſtellen follte, ging Leo, von 


472 Leo X. 


verſchiedenen Seiten darum angegangen, ab, und bewilligte, daß die Vernehmung 
Luthers in Teutſchland ſtattfinde, und Cajetan (ſ. d. A.) wurde damit beauftragt. 
Da in Augsburg die Sache nicht beigelegt wurde, fo übertrug der Papft bald 
darauf dem Miltitz diefe Verſohnungsmiſſion, und diefem gelang es im ber That, 
den beiven Hauptgegnern Luthern und Tetzeln das Verſprechen abzugewinnen, 
binfort zu ſchweigen. Doc diefes Friedensgebäude flürzte in Folge der Leipziger 
Disputation bald zufammen und Luther ging in feiner Oppofition immer weiter, 
nicht hörend auf Staupig, Spalatin u.a. m.; darum erlich Ley am 15. Juni 
1520 eine Bannbulle gegen Luther, die diefer, nachdem er ihre Aechtheit eine 
Zeit lang in Zweifel gezogen, am 10. Dee. 1520 verbrannte (ſ. den Art, Ed). 
Nun ſuchte Leo vor Allem den Kaifer Carl V. (ſ. d. A.) zu gewinnen und zum 
thätigen Schuge des römifchen Stuhles zu bewegen, und Hieronymus Aleander 
(ſ. Aleander) wurde ald Nuntius abgefandt, um die Ketzerei Luthers und feiner 
Anhänger auszurotten; aber weder ber Rirchenbann, den diefer über Luthern aus— 
ſprach, noch der Neichstagsabfhied von Worms vom 26. Mai 1521 Fonnte die 
geftörte Drbnung wieder herftellen. Wie die Firchlichen fo hatten auch bie politi- 
ſchen Angelegenheiten in der leßtern Zeit die Thätigfeit des Papftes in Anſpruch 
genommen. Neben Frankreich eonſolidirte fich eine zweite große Macht, Oeſtreich. 
Noch zu den Lebzeiten Marimiliansg wurde Alles aufgeboten, die Erhebung des 
Hauſes Deftreih dadurch zu fördern, daß der Papſt, des Kaifers Enkel, ven jun- 
gen König von Spanien, Carl, mit Neapel belehnen und ihm zur Würde eines 
römifchen Königs verhelfen follte, Franz I. von Frankreich fuchte diefen Plan zu 
hintertreiben, und Leo felbft bezeugte au Feine beſondere Luft dazu; als aber Ma- 
ximilian am 12, Januar 1519 ftarb, traten beide, Carl und Franz, als Bes 
werber um die Kaifersfrone aufz biegegen fuchte Leo zu wirken, indem er über- 
zeugt war, bie Wahl eines diefer beiden Fürften werde die Freiheit Europa's, die 
Unabhängigkeit des bl. Stuhles und die Ruhe Italiens in Gefahr fegen; allein 
Carl wurde am 5, Juli zum Kaiſer von Teutfchland ausgerufen, und die Macht 
von Deftreich feßte fih dem Uebergewicht von Frankreich auf der Stelle entgegen, 
Durch die Faiferlihe Würde befam Carl V. gefegliche Anfprüche auf ein »ber- 
herrliches Anfehen, wenigftens in der Lombardei; aber über diefe italienifchen 
Angelegenheiten eröffnete fih ohne viel Zögern’ der Krieg, Wohl fuchte Leo noch 
eine Zeit lang fein Heil in gefchiefter Benugung der Lage der Dinge, aber von 
zwei bei weiten überlegenen Gewalten in die Mitte genommen, fonnte er bei 
dem Kampfe derfelben nicht neutral bleiben. Es mußte dem Papfte unendlich viel 
daran liegen, Parma und Piacenza wieder zu erlangen, und das Berfprechen 
Carls V., einen Italiener in Mailand einzufegen, war ihm fehr genehm, auch 
lag in dem Firchlich-politifchen Zuftande Teutſchlands der Grund einer natürlichen 
Annäherung zwifchen dem Papfte und dem Kaiſer; es beburfte nur noch einer 
Beranlaffung, ven Bruh Noms mit Frankreich zu entfeheiden, und diefe war ge— 
geben durch den unglüdlichen Ueberfall Reggio's. Die kaiſerlich-päpſtlichen Waf- 
fen waren in Italien glüdlich, Einer der nächften Verwandten des Papſtes, 
Sohn des Bruders feines Vaters, Cardinal Julius Medici, war felbft im Felde, 
und z0g mit in das eroberte Mailand ein. Parma und Piarenza waren wieder. 
erobert, die Franzofen entfernt; auf den neuen Fürften in Mailand mußte ber 
Papft unausbleiblich einen großen Einfluß erlangen. Es war einer der wichtigften 
Momente, Eine neue politifche Entwicklung war begonnen: eine große kirchliche 
Bewegung eingetreten. Es war ein Augenblid, in welchem Leo ſich ſchmeicheln 
konnte, jene zu leiten, diefer Einhalt gethan zu haben. Er war noch jung genug, 
um zu hoffen, ihn ganz zu benugen. Aber fonderbares, trügerifches Geſchick des 
Menfchen! Leo war auf feiner Villa Malliana, als ihm die Nachricht von dem 
Einzug der Seinen in Mailand gebracht ward, Er gab ſich dem Gefühl hin, in 
das ein glücklich zu Ende geführtes Unternehmen zu verfegen pflegt: Mit Ver— 











ar 
ıh 

— 
F 





Leo XI. —Leo XII. 473 
gnügen ſah er den Feſtlichkeiten zu, welche ſeine Leute deßhalb anſtellten; bis tief in 


die Nacht ging er zwiſchen dem Fenſter und dem brennenden Kamin — es war im 
November — hin und her. Etwas erfchöpft, aber überaus vergnügt fam er nach Nom, 


wo drei Tage hindurch öffentliche Luſtbarkeiten flattfanden. Eine Unpäßlichfeit (Ea= 


F tarrh) nahm bei Leo fchnell einen gefährlichen Charafter anz noch am Sonntage den 


1. Dee. 1521 Morgens richtete er die Augen gegen Himmel, faltete die Hände, 
murmelte einige Worte frommen Gebetes, ſank auf das Ropffiffen zurück und ftarb. 
Der Catarrh hatte eine Erftifung herbeigeführt. Er hatte fein 46tes Jahr 
vnllendet und 3 Jahre, 3 Monate und 19 Tage regiert. Niemals hat der Tod 
eines Bapftes fo großes Bedauern erregt. Das Volk ergriff in dem erſten Aus— 


; bruche feiner blinden Wuth den Mundfchenf des Papſtes, weil es eine Vergiftung 


vermuthete; allein es fanden fih feine Beweife hiefür. Betrachtet man alle 
Thaten feines Pontificates, fo möchte man glauben, es babe ein Jahrhundert 
dauern müffen; fein Wunder, wenn er auch, wie andere große Männer, fhon fo 
verſchieden beurtheilt worden ift; vor dem Richterftubl der unparteiifhen Ge— 
fihichte erfcheint er als ein fehr wohlwollender, hochgebildeter Fürft, an dem man 
kaum etwas anders tadeln möchte, als daß er in hriftliher Beziehung etwas auf 
der Oberflächlichkeit blieb, zu fehr die humaniſtiſche Bildung pflegend; eigentliche 
Shhattenfeiten bietet jedoch fein Charafter nicht dar. Vergl. Gefhichte des Papftes 
Leo X. von 3. M. Audinz aus dem Franzöfifchen überfegt von Brug. Augsburg 
1845. Leben und Regierung des Papftes Leo des Zehnten von W. Roscoe; 
aus dem Engliſchen überfegt v. ©. Glafer. Leipzig 1806, 3 Bde. Die römi- 
Shen Päpfte, ihre Kirche und ihr Staat im 16ten und 17Tten Jahrhundert, Bon 
2% Rante, I. Bd, Berlin 1844. Das Kriftlihe Rom von Eugene de fa 


Gournerie, teutfh von Müller, I. Bd. Franffurt a. M. 1844. Smet’s Ge- 
ſchichte der Päpfte, II. Bänden. C. Riffel, Kriftlihe Kirchengeſchichte der 
 meueften Zeit, 1. Bd. Petri Bembi Cardinalis epistolarum Leonis Decimi Pon- 


tifieis Maximi nomine seriptarum libri sexdecim. — Leo XI, ebenfalls aus Florenz 
gebürtig und dem Haufe der Mediceer angehörig, folgte Clemens VIH. auf dem 
päpftlihen Stuhle. Bor diefer Erhebung war er Erzbifchof von Florenz, und wie 
ihn fhon Gregor XI. zur Würde eines Cardinals erhoben, fo übertrug ihm fein 


\ Vorgänger Clemens VIII. das äußerſt fhwierige Gefhäft, vermittelnd und friede- 








ſtiftend zwifchen den Königen von Franfreih und Spanien aufzutreten. Diefe 
Wiſſion führte er eben fo weife als glüdlih aus, fo daß er bei feiner Rückkehr 
- aa Ferrara unter allgemeinem Jubel empfangen wurde. Obwohl der König von 
— Spanien gegen feine etwaige Wahl ausdrücklich Proteft eingelegt hatte, wurde er 
doch von den unter franzöfifhem Einfluffe ftehenden Cardinäfen am 1. April 1605 - 


zur päpftlihen Würde erhoben. Boll Jubel find die Briefe, in denen der Car- 
dinal Du Perron diefen unerwarteten Erfolg Heinrich IV. meldet: in Frankreich 
beging man ihn mit öffentlichen Feftlichkeiten. Nur war e8 ein kurzes Glüf, 
Leo überlebte feine Wahl nur 26 Tage, Nach Platina wäre er in Folge einer 
Erfältung geftorben, nach Andern hätte, wie Ranfe bemerkt, der Gedanke feiner 
Würde und das Gefühl der Schwierigkeit feines Amtes feine alterfhwachen 
Lebensfräfte vollends erdrückt. Vergl. Ranke, die römifchen Päpfte, ihre Kirche 
und ihr Staat, Bd. I. S. 312, Platina de vitis pontificum. — Le» XIL 
Hannibal Franz Clemens Melchior Nicolaus della Genga, geboren am 22. Auguft 
1760 auf dem Schloffe della Genga in dem Gebiete von Spoleto, zeigte ſchon 


| früße einen äuferft aufgewerften Geift, und erwarb ſich bei feinem großen Fleiße 
T und vortrefflihen Gedächtniffe im Collegium Campana d'Oſimo, dann im römi- 
I hen Collegium Piceno und dann in der geiftlihen Academie fehr ſchöne Kennt- 


niffe; am 14. Juni 1783 erhielt er die Prieſterweihe. Bald z0g er die befondere 


| Aufmerlſambkeit des Papſtes auf ſich und Pius VI. ernannte ihn zu feinem ge- 
beimen KRämmerling. Im J. 1790 hielt er in der Sirtinifhen Capelle vor dem 


474 Leo XI 


Papſt und dem HL. Collegium die Leichenrede auf Kaiſer Joſeph I., und erregte 
allgemeine Bewunderung durch feine Berebtfamfeit und das Geſchick, der Wahr- 
heit nichts zu vergeben, ohne das öſtreichiſche Cabinet zu beleidigen, Im J. 1798 
wurde della Genga vom Papſt zuerft zum Prälaten, dann zum Erzbiſchof von 
Tyrus ernannt, und im darauffolgenden Jahre als Nuntius nach Cöln gefandt, 
um Pacca zu erfegen, In diefer Eigenfchaft traf er am 28, September 1794 in 
Augsburg ein, hielt fih, da Cöln und die ganze Rheingegend fihon von ben ba- 
mals Alles vor fich niederwerfenden Franzofen überfhwemmt war, hier längere 
Zeit auf und feffelte bald Alfer Herzen an fi; Teutfelig gegen Jedermann, ohne 
fich von feiner hohen Würde etwas zu vergeben, ernfthaft ohne Stolz, gebildet 
in jedem Fache der Wilfenfchaften, Freund, Kenner und Befchüger der Künfte; 
dabei ganz anſpruchslos, fehr heiter und voll Wig in der Gefellichaft, ohne ſich 
je einen beleidigenden Scherz zu erlauben; fireng in Beobachtung aller feiner 
Pflichten, die ihm Religion und fein erhabener Stand auferlegt hatten; ſich zu- 
rüdfziehend von jedem dffentlichen Vergnügen, wo feine hohe Würbe auch nur 
anfcheinend hätte compromittirt werden können; dagegen überall erfiheinend, wo 
feine Gegenwart zur Erbauung beitragen fonnte, herablaffend gegen Gelehrte und 
Künftler, ohne auf ihre Neligion Nüdfiht zu nehmen; mitleidsvoll und groß- 
müthig gegen Alle, die feiner Hilfe bedürftig waren; Bifchof im firengften Sinne 
des Wortes und Fuger Staatsmann in jeder ihm anvertrauten Angelegenheit, 
nachgebend, wo es Stand und Gemiffen erlaubten, und fireng auf das Net 
haltend, wo es das Wohl der Kirche und feines Souveräns ihm zur Pflicht ge- 
macht hatte, — fein Wunder daher, daß er die Hochachtung Aller genoß, die 
ihn näher zu beobachten Gelegenheit hatten, Er wurde ſowohl vom Churfürften 
Clemens Wenceslaus, als vom damaligen Beherrſcher Bayerns, Carl Theodor, 
und allen benachbarten Fürften nicht allein verehrt, fondern auch wahrhaft geliebt 
und bewundert, Noch zur rechten Zeit, als die Franzofen im Auguft 1796 gegen 
Augsburg anrürten, verließ er diefe Stadt und begab fih, vom Ehurfürften 
Friedrich Auguft von Sachſen eingeladen, nah Dresden; doc noch im nämlichen 
Sabre konnte er wieder nach Augsburg zurüdfehren. Bald follten noch trau— 
rigere Berhältniffe eintreten. Pins VI. wurde gefangen genommen, der ganze 
Kirchenſtaat als Nepublif erklärt, auch della Genga’s Befigungen und felbft feine 
Mutter und Gefhwifter geriethen in die Gewalt der Feinde und er mußte 
darum aus Mangel an Zuflüffen fowohl aus der päpftlichen Kammer als auf 
yon feinen Patrimonial-Nenten fich fehr einfchränfen. Als Moreau fpäter in dag 
Herz von Schwaben vordrang und Augsburg befeste, ging Genga nach Wien, 
wo er vom Raifer Franz mit ausgezeichneter Achtung behandelt wurde, dann 
wieder nach Sachfen und Augsburg, Nachdem Pins VII. den päpftlihen Stuhl 
beftiegen, fehrte della Genga nah Nom zurüd, um dem Papfte zur huldigen, 
auch war ihm bei feiner gefehwächten Gefundheit eine Tängere Ruhe von Ge— 
fehäften fehr nothwendig. Aber nicht Iange war ihm dieſe Nuhe gegönnt, Die 
kirchlichen VBerhältniffe in Teutfehland trübten fih immer mehr, die Bisthümer 
yerwaisten nach und nach, die Stifte wurden geleert, die Kirchen und ihre Güter 
in ven Säcularifationsabgrund hinein gefrhleudert. Zur Negulirung diefer Ber- 
hältniffe fhien fein Dann geeigneter als eben della Genga, daher wurde er im 
3.1805 von Papft Pins VIL als anßerordentlicher Nuntius beim teutfchen Reichs— 
tag zu Regensburg acereditirt. Allein alle Bemühungen, alle Unterhandlungen, 
alle Anftrengungen waren vergeblich, Die Cabinete der Großen hatten damals 
alle ihre eigenen Anfichten, von denen fie nicht abzubringen waren, Nur den 
König von Würtemberg, Friedrich I, gewohnt felbft zu handeln, war willfährig zu 
einer Convention mit dem päpftlichen Stuhle. Zu diefem Zwecke traf della Genga 
unterm 25, Sept. 1807 in Stuttgart ein und die Conferenzen nahmen den glüd- 
Vichften Fortgang, als der Nuntins am 1, November ganz unerwartet erkfärte, 








Leo X. 475 


neue Befehle von Rom erhalten zu haben, welde ihn verbänden, feine Vollmacht 
für erlofchen anzufehen, alle Unterhandlungen abzubrechen und fich ohne Zeitver- 
luſt nad) Paris zu begeben. Hier follte ex vereint mit den Cardinälen Caprara 
und Bayane einige Gefhäfte des hl. Stuhles mit dem Kaifer behandeln; aber 
die Eonferenzen wurden bald abgebrochen und della Genga mußte ganz fehnell 
Paris verlaffen. Nach Italien zurücfgefehrt, wurde er wie ein Staatsgefangener 
behandelt und während Pius VIL in der Gefangenfhaft ſchmachtete, hielt er fich 
in der äbtlichen Pfarrei Monticelli in der Didcefe Fabriano auf, Zur Reftau- 
rationgzeit erhielt della Genga den Auftrag, Ludwig XVIL Namens Pius VI. 
ein Beglüdwünfhungsfchreiben zu überbringen, Mit diefer Miffion war der 
Cardinal Conſalvi (ſ. d. A.), der zu Paris bei allen dort anmefenden Fürften 
accreditirt war, fehr unzufrieden und er ließ diefe feine Unzufriedenheit auf eine 
unwärdige Weife merken; in Folge diefes Streites erfranfte della Genga und 
ward fo verhindert, dem großen Monarcen-Congreffe in Wien beizumohnen, 
Sm 3.1816 wurde della Genga der erfte Carbinalpriefter, auch erhielt er das 
Bisthum Sinigaglia, und im J. 1820 das Amt eines Vicars Sr. Heiligkeit, mit 
welchem Amte die geiftliche Adminiftration Roms verbunden if. Noch eine höhere 
Würde follte ihm gegen feinen Willen zu Theil werben, Pius VIL flarb den 
20, Auguft 1823 und es folgte ihm della Genga auf dem päpftlihen Stuhle als 
Leo XI, zur größten Freude nicht bloß Roms, fondern der ganzen Ehriftenheit, 
23, Sept. 1823, Eine der erften Handlungen feines Pontificats war die Er- 
neuerung der fehönen und frommen Sitte, die einft Gregor der Große eingeführt 
hatte, daß jeden Tag in einem Saale des apoftolifhen Palafles für zwölf Arme 
der Tifch gedeet werden ſolle. Um ihm in der Regierung beizuftehen, ernannte 
er den Carbinalderan Somaglia zum Staatsfeeretär und den Cardinal Zurla zum 
Generalvicar von Rom und beftätigte die übrigen Beamten in ihren Stellen, 
Bald wurde der von Natur aus Franfliche Papft fo gefährlich Frank, dag man ihm 
die HI. Wegzehrung reichte und an feinem Aufkommen zweifelte. Doch Gott hatte 
es anders befchlofien. Leo genas allmählig und entfaltete fofort eine fehr große 
Thätigfeit. Noch am 6. März 1824 wurde mit Baron von Reden, Gefandten 
Sr. Majeftät des Königs von England, in der Eigenfchoft eined Königs von 
Hannover ein Concordat abgefihloffen (ſ. d. A. Hildesheim). Am 3. Mat des- 
felben Jahres erließ der Papft ein Rundfchreiben an alle Patriarchen, Primaten zr,, 
worin er biefe Träger der Kirchengewalt an verfchiedene Pflichten erinnert und 
fie befonders ermahnt, dem Umfichgreifen des Indifferentismus und der Bibel- 
gefellichaft Fraftigft entgegen zu treten. Um ven Gläubigen der Kirche das Jubel- 
jahr zu verkünden, erließ er am 27. Mai 1824 eine Jubiläumsbulle. Bon vielen 
Seiten hatte man dem Papfte hievon abgerathen, aber vergebens, und der Erfolg 
zeigte auch, daß man ungerechte Befürchtungen hatte, Groß war die Anzahl 
derer, welche in diefem Jubeljahre nad Rom pilgerten, um aber allen Gläu— 
bigen es möglich zu machen, aus dem Gnadenfchage der Kirche zu ſchöpfen, erließ 
Leo am 25, Dec. 1825 eine Bulle, wodurch das Jubiläum über Die ganze 
Ehriftenheit ausgedehnt wurde. Um die Bafılica des HI. Paulus an der Straße 
nach Dftia wiederherzuftellen, erließ er am 15. Januar 1825 ein rührendes Rund» 
ſchreiben an alle Bifchöfe der Fatholifchen Welt, worin er feine erhabene Abſicht 
fundgab und zugleich fein Vertrauen ausſprach, daß die Gläubigen mit groß— 
müthigen Beiträgen zur Ausführung diefes frommen Unternehmens mitwirken 
würben, Zu den wichtigften Verordnungen Leo's XU. gehört der denfwürdige Erlaß 
gegen die Freimaurer (ſ. d. A.) und Carbonari vom 13, März 1825, Diefes Acten- 
ſtück, voll Entfchiedenheit, Willensfeftigfeit und Liebe, umfaßt Alles, was die 
Päpfte zu verfihiedenen Zeiten über diefen Gegenftand erlaffen und verordnet 

aben, Wenn man die Note liest, worin Cardinal Caprara am 18. Auguft 1803 
gegen Heren von Talfeyrand feine Befchwerbe geäußert Hat, und welche Note 


476 Leo XI. 


Leo nicht annullirte, fo begreift man, wie ungerecht der Vorwurf ift, ber Kl. 
Stuhl habe gegen die. im 3. 1801 gleichzeitig mit dem Concordat zu Paris be- 
kannt gemachten „organifchen Artikel” Feine Einfprache erhoben, Wie der Papft 
die kirchlichen Intereffen in Frankreich nie aus dem Auge ließ, fo forgte er auch 
für die oberrheinifche Kirchenprovinz durch die unterm 11. April 1827 von ihm 
erlaffene Bulfe „ad dominici gregis custodiam*; befonders aber Yeiteten er und 
fein Vorgänger mit ihren Miniftern Confaloi und della Spmaglia den Eman— 
eipationsact der englifchen Katholiken ein, Was auf den Tod eines Papſtes er- 
folgt, gehört zwar dem nächſtfolgenden Pontificat an, aber Leo hatte ſo thätig 
an der Rückkehr des englifchen Volks zu billigern Gefegen gearbeitet, daß ber 
Emaneipationsact als der ſchönſte Kranz auf Leo's Sarg niedergelegt werben 
muß, weil die Katholifen den Sieg unter feiner Anführung errungen haben. 
Mit dem Könige der Niederlande wurde ein Concordat gefchloffen den 18, Juni 
1827 und wenigftens von Seite Noms gehalten, Nicht gering anzufhlagen find 
auch die Erfolge, welche Leo's Beftreben dem Wiener Cabinet, Rußland und 
Preußen gegenüber für die Kirche hatte, Doch nicht bloß Europa, auch die andern 
Welttheile erfreuten fi des Segens feiner oberhirtlichen Sorgfalt, Wie er das 
Miffionswefen überhaupt zu fördern fuchte, ſo vereinigte er namentlich einige 
fchismatifhe Kirchen Aftens mit der Mutterfiche zu lebensvoller Verbindung. 
Und als die ehemaligen fpanifchen Befisungen in America fich die Freiheit er- 
fampft und zu Republifen erhoben hatten, da ging er in einem Confiftorium 
(Suni 1827) mit väterlihem Wohlwollen auf ihren Wunſch ein, ihnen recht⸗ 
mäßige Hirten zu geben und die Wunden zu heilen, welche der Religion gefchlagen 
waren. In gleicher Weife forgte er nach dem Verlangen Dom Pedro's I. für Die 
Bläubigen Brafiliensz weniger glüdlich war fein Bemühen, die legten Nefte des 
janfeniftifchen Schigmas (f. Janfenismusg) in den Niederlanden zu unterbrüden, 
Wie Ley der ganzen Chriftenheit ein wahrer Vater war, fo befonders den Jtalienern, 
Er führte eine heilfame Reform der Staatsverwaltung, des Eivilrerhtsganges und 
der Gerichtstaren ein; Ließ vom 1. Januar 1826 an ein Viertheil der Grund- 
fteuer nach, hob mehrere drückende Laften auf, errichtete Hofpitäler, verwendete 
altjährlih große Summen für Hffentliche Arbeiten; er vollführte den von Pius VIL 
fo oft gehegten Plan, den Orden der Hofpitaliterinnen zur Beforgung der Krau— 
fen in den Spitälern zu begründen, wie er in Frankreich beftand, Er berief 
ebenfalls die Frauen zum Herzen Jeſu aus Paris zur Leitung der Erziehung junger 
Mädchen aus der römifchen Arifiveratie, und die Brüder der hriftlichen Lehre 
für den Unterricht der Kinder aus der Volfsclaffe. Auch die Juden find Zeugen 
feiner Humanität und weifen Toleranz, ließ er doch im J. 1825 das Juden- 
quartier in Rom erweitern, gefunder machen und einen Brunnen anbringen. Auch 
für die Studien traf er wichtige Verfügungen, Er ftellte das Collegium Romanum 
den Sefuiten wieder zu, nachdem fie 54 Jahre daraus waren verbannt gewejen, 
und wies ihnen nebft Bibliothef und Sternwarte ein jährliches Einfommen von 
12,000 Seudi an. Unfterbliches Verdienft Hat fich Leo auch dadurch erworben, 
daß er das Erziehungswefen des Kirchenftaates neu conftituirte, Die von ihm in 
diefer Beziehung am 28. Auguft 1824 erlaffene Bulle ift ein bleibendes Denkmal 
der Umficht und Weisheit diefes Kirchenfürften und feiner Liebe zur Wiffenfchaft 
und Bildung. Nicht nur befteht die von Leo erlaffene Drganifation des Er- 
ziehungswefens im Kirchenſtaate großen Theils noch gegenwärtig in Kraft, ſondern 
fie ift auch in einigen andern Staaten als Vorbild adoptirt worden, Diefe Con- 
ftitution über das Erziehungswefen, fowie die von Leo erlaffene Cireumferiptiong- 
bulfe des Bisthums Bafel vom 7. Mai 1828 hat Scherer dem Werke des Artaud 
son Montor: „Papft Leo der Zwölfte” als Beilage beigegeben, Leider. flarb 
Lep, in religidfer Beziehung über allen Tadel erhaben, ſchon am 10, Febr. 1829, 
Doc fein kurzes Pontificat war fo ſegensreich daß fein Andenken in den reichen, 





ar 3 





Les der Armenier — Les VL 477 


und ruhmwürdigen Annalen der Päpfte fortleben und von der chriſtlichen Menfch- 
heit fort und fort gefegnet werben wird, Bol. Athanafia, eine theologiſche 
Zeitfchrift v. Benfert, I. Bd. 1. Heft. Papft Leo der Zwölfte. Nah Artaud 
yon Montor, bearbeitet und herausgegeben durch Theodor Scherer. Schaff- 
baufen 1844. Eugene de la Gournerie, das chriſtliche Rom, teutſch von 
Müller. Bd. II. Abth. 1. S. 172 ff. Alzog, Univerſalkirchengeſchichte, 3. Aufl. 
©. 1066 f. Reyfher, vollftändige Sammlung der würtembergifhen Gefege, 
Einleitung des zehnten Bandes, [Sris.] 
2ev der Armenier, f. Bilderftreit. 

2eo der Sfaurier, f. Bilderftreit, 

Leo VI., von feinen Schmeichlern auch der Weife oder Philoſoph ge— 
nannt, der Sohn und Thronfolger des griechifchen Kaifers Bafılins Macedo, 
regierte von 886 bis 911, in welchem Jahre er an der Dyfenterie ftarb, Zahl- 
reiche Barbarenvölfer bedrohten das griechifche Reich, befonders die Ungarn, Bul- 
garen und Saracenen; vergeblich fuchte fie Leo zu bezwingen. Die zu Hilfe ge— 
rufenen Türfen drangen in Bulgarien ein, verheerten Alles mit Feuer und Schwert, 
machten eine ungeheure Beute und unzählige Gefangene, welde fie an Leo ver- 
kauften. Indem fich Leo der Waffen diefer Barbaren bediente, bahnte er ihnen 
den Weg nach Eonftantinopel, das fie fpäter eroberten. Eine That diefes Kai— 
fers fleht preiswürdig da, die Vertreibung des Patriarchen Photius von Eon=- 
ſtantinopel. Diefer verfhmigte Eindringling, der durch die Ränfe des entfittlich- 
ten Hofes den Sig des frommen Patriarchen Ignatius fih angemaft hatte, war 
zwar vom Papfte Nicolaus I. und durch das achte dcumenifche Eoneil zu Conftan- 
tinopel als Ufurpator abgefegt worden, hatte fich nichtspeftoweniger nach dem 
Tode des Patr. Ignatius abermals auf den Patriarhenftuhl gefhwungen, ward 
aber som Papfte Johann VII. mit dem Banne belegt. Dur die Unterſtützung 
Leo's VL, der feinem Bruder Stephanus das Patriarchat zutheilte, gelang ihm 
nun die völlige Abfegung des fihlauen Photius, (S. den Art. Griechiſche 
Kirch e). Einer feiner Nachfolger, der Patriarh Nicolaus (Myfticus), that 
Leo in den Bann, weil er wider das Verbot der griechifchen Kirche fich zum vier- 
ten Male verbeirathet hatte, wogegen der Kaiſer den Patriarchen abfegen Tief. 
Leo fuchte fich das Anfehen eines Gelehrten zu geben, worin er jedoch nicht viel 
glüflicher war, als in feiner Politif, Statt das Reich zu ſchirmen, fihrieb er 


; mittelmäßige Reden, deren 33 von Baronius aus den Handfhriften der Batira- 
niſchen Bibliothek verzeichnet, und wovon einige dur Combefis, Savil, Maffer 
und Gretfer Herausgegeben worden find. Diefelben beziehen fih auf die Haupt- 


fefte des Herrn, der feligften Jungfrau Maria, und auf mehrere andere Heilige, 
wie 3. D. auf den HI. Johannes Chryſoſtomus. Leo vollendete die von feinem 
Bater angefangene Gefegesfammlung, die aus den griechifchen Ueberſetzungen 
von Juftinians Gefegbuh aus den Commentarien der Rechtsgelehrten über 
dafjelbe, aus den Gefegen der fpäteren Kaifer, den Ausfprüchen der Kirchenväter 
und den Decreten der Concilien zufammengetragen war. Sie führte den Namen 
„taiferlihe Verordnungen“ (Baoıkızal dierakeıs vder ſchlechtweg Ba- 


 oukıra). Fabrotti Hat diefelben überfegt und 1747 zu Paris in fieben Folio— 
banden griechiſch und Iateinifch herausgegeben, Dazu Famen die Novellae Con- 
 stitutiones als Correctionen mehrerer von Juſtinian eingeführten Neuerungen, 


Bon Leo's eigenen Schriften erregte das meifte Intereffe fein Buch über bie 
Kriegsfunft, von Meurfius beransgegeben zu Leiden 1612, Es enthält vie 
Drdnung der Schlachten feiner Zeit, und den Plan, wie die Ungarn und Sara- 


cenen follten gefchlagen werden, Auch hat man von ihm ein Schreiben an ben 
- Saracenen Omar über die Wahrheit der chriſtlichen Religion und die Irrthümer 


der Saracenen (enthalten in der Biblioth. PP. Lugdun. I. XVII). Ferner ein Ge- 


dicht über das letzte Gericht, dann Vorherfagungen über das Schieffal Conſtan⸗ 


478 Leoben in Steyermarf — Leodegar, 


tinopels, herausgegeben von Georg Codinus in feinem Werke: de Imperatoribus 
Constantinopolitanis, Paris. 1655. | [Dir] 
Leoben in Steyermarf, Bisthum, f. Kärnthen. * 
Leodegar, der Heilige und Martyrer, ungefähr um's Jahr 616 geboren, 
ſtammte aus einer berühmten franzöſiſchen Familie. Noch ſehr jung kam er an 
den Hof Chlotar's II. und hierauf zu feinem mütterlichen Oheim Dido, Biſchof 
von Poitiers, unter dem er trefflich erzogen und Abt eines Klofters im Bisthum 
Poitierd wurde, Nach ſechs Jahren feiner eifrigen Klofterverwaltung warb er 
unter dem unmündigen Chlotar II. der Reichsverweſung beigefellt und 659 zum 
Bifchof von Autun erwählt, wo er viel in Drbnung zu bringen hatte und 670 
eine Synode hielt, befonders zur Sittenbefferung, namentlich der Mönde, Nach 
dem Tode Chlotar’s III. eilte er an den Hof und erflärte ſich für Childerich I, 
während der Hausmeier Ebroin auf Theodorich's Seite fand, Childerich ward 
König und Ebroin auf Leodegar's und anderer Bifchöfe Bitten begnadigt, aber 
in's Klofter Luxeul gefperrt. Childerich, der fi anfangs weife von Leodegar 
leiten ließ, fanf bald in Wolluft und heirathete fogar feine Nichte. Leodegar er- 
mahnte ihn im Stilfen und da folches nichts fruchtete, rügte er öffentlich. Natür- 
Lich mißfiel dieß dem Könige, und elende Hofleute, vor Alfen der Hausmeier 
Wulfvad, fohürten das Feuer. Leodegar ward nach Luxeul verbannt, wo er 
Ebroin traf, der ihm ewige Freundfchaft fhwur, Wie er diefen Schwur hielt, 
werden wir fehen, Nach Childerich's Ermordung durch Bodilo fand eine Um— 
wälzung Statt, welche Leodegar feiner bocherfreuten Didcefe zurücftellte. Auch 
Ebroin kam los, fihaffte den Hausmeier Leudes aus dem Wege, ftellte einen 
Chlodwig, als angeblichen Sohn Chlotar's III., als Gegenfönig auf und ließ 
unter Waimer, Herzog von Champagne, ein flarfes Heer gegen Burgund rürfen, 
das zuerft Autun belagerte, Es war auf Leodegar wegen feiner Treue gegen 
feinen Fürften abgefehen, der, da die Stadt wiederholt beftürmt wurde, das hl; 
Abendmahl empfing und fih im Lager der Feinde ftellte, Diefe ftahen ihm Die 
Augen aus, was der hl. Bifchof ohne Seufzer und Gegenwehr duldete, indem er 
unter der entfeglihen Marter die Pfalmen betete. Waimer führte ihn nach 
Champagne und erhielt von Ebroin den Befehl, ihn in einem Gehölze verhungern 
zu laffen, Waimer aber behielt ihn in feinem Haufe und ftellte ihn fogar das 
aus der Kirche zu Autumn geraubte Geld zurück, welches Leodegar dahin zurück- 
fandte zur Vertheilung unter die Armen. Waimer ward ſchändlich und graufam 
von Ebroin erfihlagen, Leodegar aber fortgefchleppt durch raue Wege, ſo daß 
feine Füße ganz wund wurben. Hierauf wurden ihm bie Lippen und ein Theil 
der Zunge abgefihnitten. Der Graf Vanning mußte ihn bewachen, ehrte aber 
in ihm einen Blutzeugen Jefu und barg ihn in dem von ihm geftifteten Klofter 
Fecamp im Ländchen Caur, wo Leodegar drei Jahre zubrachte, von feinen Wun- 
den genas und fogar wieder fprechen konnte. Er brachte feine Zeit mit dem Unter- 
richte der Nonnen, beftändigem Gebet und Darbringung des hl. Meßopfers zu, 
Ebroin Flagte Leodegar und deffen Bruder Guerin der Mitfchuld an Childerich's 
Tod an, Guerin "ward gefteinigt und flarb als Martyrer unter Gebet. Leodegar 
tröftete darüber in einem Schreiben feine Mutter Sigrada, die damals Klofter- 
frau war in der Abtei zu Unferer lieben Frau in Spiffons, voll apoftolifcher 
Salbung. Einige beftochene Bifchöfe wurden verfanmelt, und da fie ihn nicht 
zum Geſtändniß der Mitfehuld an Childerich's Tod bringen konnten, zerriſſen fie 
ihm fein Gewand als Zeichen feiner Entfegung. Hierauf follte ihn der Haus— 
meier Chrodobert heimlich hinrichten, damit man ihn nicht als Martyrer verehren 
fonnte, Aber fein Benehmen rührte Chrobobert fo, daß er ihn vier Soldaten 
übergab, um ihn im Gehölze zu ermorden. An Ort und Stelle. angefommen, 
fielen drei zu Leodegar’s Füßen und baten rührend um Vergebung. Der Heilige 
betete für fie, erflärte fich nun zum Tode bereit und der vierte Soldat enthaup- 





Leonian — Leopold L 479 


tete ihn. Dieß gefhah im Jahre 678 im: Fveliner Walde, im Bistum Arras, 
an der Grenze der Dideefe Cambrai, und heißt nun der Forft des HI. Leodegar, 
Chrodoberts Gemahlin, die ihn ſchmerzlich beweinte, hatte er um Beftattung 
gebeten und die Gräfin ließ ihn alfo zu Sarein in Artois beftatten. Bei einem 
Streite der Bifhöfe von Arras, Autumn und Poitierd um diefe HI. Ueberrefte 
fielen fie dur das Loos dem Biſchofe von Poitiers zu, der fie an das Kloſter 
zum hl. Maxentius übertragen ließ. Gott verherrlichte den Heiligen dur Wun- 
der, und es erhoben fih an verjhiedenen Orten Kirchen zu feiner Verehrung, 


- wamentlih in Franfreih und den Niederlanden, Zu den Zeiten Lubwig des 


Frommen foheint man fein Anvdenfen am 3. Detober gefeiert zu Haben; in den 
— Martyrologien des neunten Jahrhunderts findet fi der 2, October, was die 
mieiſten neueren in Uebereinſtimmung mit dem römischen beibebielten. (Leben der 
- Bäter und Martyrer von A. Buttler, bearbeitet von Dr. Räß und Dr. Weis, 
XIV. Bd, ©. 86—97.). [Haas.] 
2 Leonian, auch Leunian genannt, Abt zu Vienne. Nach den äußerft dürftigen 
Nachrichten, welche über ihn auf uns gefommen find, ift Panonien fein Bater- 
laud (ſ. v. A. Gran, B. W. ©, 661.); in der zweiten Hälfte des fünften Jahr— 
hunderts begegnet er uns aber in Gallien. Bei der VBerwilderung und Barbarei, 
welche fi daſelbſt um jene Zeit auszubreiten fuchte, hatte auch er zu leiden; er 
wurde gefangen genommen, und eine einfache Zelle, bald in Vienne, bald in 
 YAutun, war über 40 Jahre lang fein Aufenthaltsort. War er auch auf diefe 
Weiſe vom menſchlichen Verkehr abgefhloffen, fo fanden fih doh in der Nähe 
feiner Zelle bei Vienne bald mehrere Mönche zufammen, die er von feiner Zelle 
aus als ihr geiftlicher Vater leitete, und fo der erfte Abt des Klofters St. Peter 
bei Bienne wurde, Auch ein Nonnenflofter wurde jest in der Stadt Bienne er- 


richtet und fand gleichfalls unter feiner Leitung. Vergl. Histoire ecclesiastique par 


 Fleury, Tome VI. Acta SS. Bol. T. I. 
J Leopold I, teutſcher Kaiſer 16681705. Die lange Regierung Leopold's 
zeichnete ſich zwar nicht wie die feines Zeitgenoſſen und Gegners Ludwig's XIV. 


durch befondere Thatkraft, Glüd und Genie aus, aber doch durch mehr wie eine 


I tief eingreifende Geftaltung. Der Aufruhr der Ungarn unter Rafoczy ſchien zuerft 
SDeſtreich und Teutſchland in den Abgrund des Verderbens zu fihleudern, da er 
die Türken zu jener furdtbaren Entfaltung ihrer Streitfräfte brachte, die 1683 
den legten Kreuzzug veranlaßte, und „wo endlich Wien der Damm wurde, an 
dem ſich die barbarifche Fluth brach.“ — „Das Haus Deftreih, das fih durch 


150 Jahre gegen die Osmanen nur vertheidigt Hatte, befreite nach der Belage- 
rung im raſchen Siegeslauf Ungarn von der türfifhen Obergewalt und fo erhielt 


die Hflreihifhe Monarchie im Großen genommen jene Geftalt, die fie jest hat. 
Wenn nun die Belagerung von Wien in Bezug auf die Monarchie als eines der 
beveutendften Momente hervortritt, fo war diefes Kriegsereigniß nicht minder be— 
deutjam für ganz Europa. Die Eroberung diefer Stadt durch die Türfen hätte 
die Monarchie unfehlbar aufgelöst. Es unterliegt wohl feiner Frage, daß als— 
dann Ludwig XIV. zur Rettung Teutfchlands und Europa’s mit feiner ganzen 
- Kraft aufgetreten wäre — Teutſchland, im Falle daß Ludwig gefiegt Hätte, ſei— 
nem Despotismus heimgefallen fein würde, — Die Selbftftändigfeit Teutſchlands 
lag damals in den Mauern von Wien“, (Mailath, Gefchichte des öſtreichiſchen 


1 Kaiferftaates IV. ©, 167 20., wo man das Nähere über diefe herrliche Waffenthat 
I des Hriftlihen Abendlandes nachleſen mag.). Wie heutigen Tages die Ungarn, 
— Polen und Franzofen wider ihren König aufgerufen, gefhah es fchon damals und 
I wie 1849 Deftreih „nicht durch eigene Kraft, fondern durch fremde Hilfe gerettet 





wurde“, war es auch 1683, nur mit dem Unterfchiebe, daß im bezeichneten Jahre 
F ein Ludwig XIV., der Erbfeind Teutfchlands, über den Sieg der Teutfhen und 
I Polen bei Wien tranerte, und das teutſche Neih mit den Faiferlihen Schaaren 


480 Leopold IL — Leopold IV. 


gleichen Antheil an den glorreichen Ungarfämpfen nahm, während 1849 die Teutſchen 
unpatriotifch und undanfbar genug waren, Deftreih, das Schild Teutſchlands, 
im Unglüde ftesfen zu laffen und Hilfe von dem andern Erbfeinde, von Rußland zu 
begehren zwangen. Nachdem aber die Schlachten von Wien, Parfany, Gran und 
Mohaz, die Lorbeeren Carl's IV., Leopolds, Herzogs von Lothringen, Ahnherrn des 
jeßt regierenden Kaiferhaufes, + 1690, Ungarn nach 150jähriger Knechtſchaft 
der Dsmanen entriffen, war es nur billig , daß das auch nicht durch eigene Kraft 
befreite ftolze Bolf der Ungarn, die Wahlmonardie, welche es in die Knechtſchaft 
geftürzt hatte, mit der Erbmonarchie vertauſchte. Als drittes großes Ereigniß 
der Negierung Leopolds ſtellt fi dann noch der unheilvolle Kampf gegen die 
franzöfifche Suprematie dar (fiehe Ludwig XIV.), deffen Höhepunet für Leopold 
die Iette teftamentarifche Beflimmung Carl's U. von Spanien war, dur die bie 
teutfche Linie des Haufes Habsburg nicht ohne päpftlichen Einfluß von der Suc— 
ceffion in Spanien ausgefchloffen wurde, Das Ende des darüber geführten 
Kampfes erlebte Leopold nicht mehr. Wohl aber fand bereits unter ihm jene 
merkwürdige Wendung in der Faiferlichen Politit Statt, daß diefelbe nicht bloß 
fih an die proteftantifchen Niederlande, bisher die erffärteften Gegner aller katho— 
liſchen Staaten, anfchloß, fondern au an Wilhelm IV., König von Großbritannien, 
der den Fatholifchen Jacob I. entthront hatte — eine Wendung in der natürlichen 
Stellung, welche zwar dem unheilvollen Berwirrer Eurppa’8, Ludwig XIV., zur 
Laft fällt, aber unter Joſeph I. und deffen Nachfolger bald noch weiter ging, 
übrigens ihr Vorbild darin fand, daß im Anfange der Regierung Leopold's bie 
geiftlihen Churfürften für Carl Guftav von Schweden gegen Johann Caſimir 
von Polen Partei genommen hatten, wie fie auch bei der Kaiſerwahl nach dem 
Tode Kaiſer Ferbinand’s II. nicht für Leopold, fondern für Franfreih fih er- 
Härten. Das Zeitalter fündigte fih an, in welchem e8 für Weisheit galt, alle 
ererbten Grundfäge aufzugeben, erft von Seiten der Cabinete, dann von Seiten 
der Völker, bis die unheiluofle Verwirrung unferer Tage fertig wurde, [Höfler.] 
Leopold II, teutfcher Kaifer 1790— 1792. Erſt Großherzog von Toscana, 
welches nach der Beflimmung feines Vaters Franz (1763) Secundogeniturbeſitz 
des öftreihifchen (lothringiſchen) Kasferhaufes geworden war, erwarb er fi den 
fhönen Beinamen eines Neformators, durch viele Einrichtungen im Geifte jener 
Zeit, als die Fürften glaubten, das Necht, umzuwälzen, gehöre zu den geheiligten 
Prärpgativen der Krone, und wo, was wirkliches und tief begründetes Bedürfniß 
war, durch Haß und Gewalt nur zu oft aufhörte, Wohlthat zu fein, Ueber die 
unter ihm auf dem Firhlichen Gebiete vorgehenden Bewegungen fiche den Art: 
Piftoja, Synode daſelbſt, die weltlichen gehören nicht hieher. 

Reopold IV., der Heilige, aus dem Geſchlechte ver Babenberger, 
Markgraf von Oeſtreich, ein Sohn Leopold's II. des Schönen, geboren 1073, 
erhielt feine Erziehung unter dem Einfluffe des berühmten Bischofs Altmann von 


Paſſau, und gelangte 1096 nach dem Tode feines Vaters zur Negierung, Gottes 


furcht, Eifer für die Religion und eine wahrhaft väterlihe Liebe zu feinen Unter— 


thanen im Bunde mit Muth und Tapferfeit, Demuth und Weisheit ſchmückten 
diefen Fürften in ausgezeichneter Weife und verbreiteten während feiner A0jährigen ° 
Regierung Friede und Gegen über die son ihm regierte Marf, Als er die 
Regierung antrat, zugen eben die erfien Kreugfahrer durch Deftreich und Ungarn 


nach Paläftina: er verfah die durchziehenden Schaaren mit Speis und Trank und 


überfendete an Gottfried von Bouillon ſoviel an Geld, um damit 300 Reiter 


auf ein Jahr zu unterhalten, Um der gefährlichen ungarifchen Grenze nahe zu 
fein; erbaute er um 1101 auf der letzten von der Donau herauf ſich erhebenden 
Höhe des Kahlengebirges (ubch jeht Leopoldsberg genannt) eine Burg und ©t, 


Georgscapelle und verlegte hieher feine Reſidenz, die er vorher zu Melk Hatte, < 
wo ſchon der Babenberger Leopold ver Erlauchte CH 994) nach Vertreibung ber 





Leopold IV. 481 


Ungarn feinen Aufenthalt genommen und eine Collegiatkirche erbaut hatte. Indem 
Leopold's neue Burg unweit von der alten Fabiana Tag, damals fhon Wien 
genannt, aber durch die Ungarn ganz herabgebracht, Iegte Leopold den erften 
Grund zu dem Glanze diefer KRaiferftadt, Alle Kirchen und Klöfter feines Landes 
empfingen Beweife feiner Freigebigkeit. Befonders erfreute fih das Klofter Dielf 
ef. d. 4.), wo fein Vater Benedictiner eingeführt hatte und er felbft fih ven 
1. Mai 1106 mit Agnes, der Tochter des K. Heinrich IV. trauen ließ, feiner 
Gunft, erhielt von ihm anfehnliche Schenkungen und vorzüglid auf fein Betreiben 
die Eremption von der Gerichtsbarkeit des Bifchofes von Paffau. Betete Leopold 
zuweilen mit den Mönchen zu Melt im Chor, fo wußte er, der, Muthige und 
Tapfere, welcher nach einem unter feinem Bildniß zu Klofterneuburg befindlichen 
Map faft 7 Schuh Hoch war, auch gar wohl fiegreich das Schwert zu ſchwingen, 
was er im J. 1117 bewies, da er die in Deftreich eingefallenen Ungarn tapfer 
zurückſchlug. Einen Angriffsfrieg führte er nie; fein Volk unter dem Schuße des 
Friedens auf eine Höhere Stufe der Ordnung und Eultur zu heben, galten ihm 
unendlich mehr. Wohl Teiftete er aber auswärtigen, von ihren Feinden ungerecht 
bedrängten geiftlichen Fürften Hilfe mit den Waffen, Was man ihm vorwirft, 
iſt, daß er fih von Heinrich V. habe verleiten laſſen, zulegt den K. Heinrich IV. 
zu verlaffen (1105), um dafür von dem aufrührerifchen Sohne deffen Schwefter 
Agnes, die Wittwe Friedrihs von Hohenftauffen, zur Gemahlin zu befommenz 
indeß hatten ihn zu diefem Schritte ſowohl das Beifpiel der andern Fürften als 
I au Heinrichs IV. flets eitle Verheißungen einer Verfühnung mit dem Papfte 
vermocht. Nach Kaifer Heinrihs V. Tod im J. 1125 brachten die zu Mainz ver- 
fammelten NReichsfürften durch eine Vorwahl drei Fürften, und unter diefen den 
Markgrafen Leopold, in VBorfchlag, aus denen der Kaifer gewählt werden follte, 
allein Leopold bat unter Thränen und auf den Knieen, ihn mit_biefer Würde zu 
verfihonen! Durch diefe weife Demuth wurde der hriftlichfte Fürft, der Vater 
der Geiftlihen und Armen (wie ihn fein Sohn Otto Bifchof v. Freyfing nennt), er, 
den die Hffentlihe Stimme feiner und der folgenden Zeit mit den Beinamen des 
Frommen, des Gütigen, des Freigebigen beehrte, feinem Lande erhalten, Hier 
wirfte er in gewohnter Weife eifrig fort, ftiftete das Ciftercienferflofter Heiligen- 
freu; und in Gemeinfchaft mit feinen Vettern Heinrih und Rapoto die Bene- 
dietiner-Abtei Rleinmariazell, und führte in der wichtigften feiner Stiftungen, 
zu Klofterneuburg, regulirte Chorherrn von der Regel des HI. Auguftin ein, 
Den Bau einer Collegiatkirche für 12 weltliche Chorherrn und einen Propft hatte 
Leopold ſchon 1106 begonnen und 1108 vollendet; fie Tag nicht ferne von Wien 
und dem Leopoldsberge an der Stelle, wo Leopold auf der Jagd den Schleier 
wieder gefunden, welchen eines Tags ein Windſtoß, da Leopold und Agnes eben 
von der Burg auf ihr ſchönes Land herabſchauten, von Agnes’ Haupte geriffen 
hatte, Der erſte Propft diefer Stiftung (Klofterneuburg) war Otto J. Sechs 
Jahre nachher (1114) ließ Leopold durch den genannten Propft, weil er felber 
fich deffen unwürdig hielt, den Grundftein zu einer größern Bafilica Iegen. Nach 
dem Tode des erften Propftes ernannte Leopold feinen 14jährigen Sohn Dtto 
(den nachherigen Bischof v. Freyfing, f. d. A. Freyfing, Bisthum) zum Propft, 
ftellte aber zugleich als deſſen Stellvertreter den Mönch Opold auf. Als Otto 
einige Jahre darauf von Paris, wo er ftudirte, mit Reliquien für Klofterneuburg 
heimfehrte, wurden diefelben mit großer Feierlichkeit hier zur Verehrung reponirt, 
Nachdem Dito Abt im Klofter Morimund geworden, führte endlich Leopold im- 
3 1133, weil ihm die Säcular-Canonifer zu Tau fohienen, Regular-Canpnifer 
des HI. Auguftin ein. Die neue, ſchon 1114 begonnene Bafılica wurde erft 1136 
vollendet und eingeweiht. Als erfter Propft fund dem regulirten Chorherrnftift 
Hartmann vor, bei Paſſau geboren, dafeldft zu St. Nicola Chorherr, nachher Propft 
zu Ehiemfee (ſ. d. A.), von da nad Klofterneuburg berufen und feit 1141 Bifchof 
Kirchenlexikon. 6. Br. - 31 











482 | Leovigild — Lerinum, 


von Brixen: er war ein heiliger Mann, der feinen Conventualen zu Klofternen- 
burg Conſuetudines aufzeichnete und den Marquard zum Nachfolger hatte, einen 
Bruder des berühmten Abtes Gerhoh (ſ. Gero) von Neichersberg. Leopold 
der Heilige farb am 15. Nov. 1136 allgemein betrauert. Bon 19 Kindern, die 
ihm Agnes geboren, überlebten ihn ſechs Söhne und fünf Töchter, unter denen 
Otto, der Bifhof von Freifing und Geſchichtſchreiber, Leopold und Heinrich 
(Safomirgott), die beide nad) einander dem Vater in der Regierung folgten, und 
Conrad, Erzbifchof von Salzburg, hervortraten. Agnes, feine Gemahlin, folgte 
ihm den 24. Sept. 1157 in das Grab nad. Beide erhielten ihre Nuheftätte in 
der Gruft zu Klofterneuburg. Durch Bulle des Papftes Innocenz VII. dd. 
6. Jan. 1485 wurde Leopold in die Zahl der Heiligen aufgenommen und ſeitdem 
als Landespatron von Deftreich verehrt, Am 15. Febr. 1506 erfolgte die feier- 
liche Erhebung feiner Reliquien in Oegenwart des Kaifers Marimilian'l., der 
im berzoglihen Mantel, mit einer Zinfenfrone auf dem Haupte und mit gefalteten 
Händen andächtig hinter Leopolds Sarg einherfohritt. Noch bewahrt das ehr— 
würdige Stift diefen Foftbaren Schaß und andere Leberrefte, wie den Reifealtar 
des Heiligen, den Schleier der Agnes, die Brautkleider Leopolds und Agnefens 
in Meßkleiver verarbeitet, S, über Leopold Cuspiniani Austria; Surius 15. Nov.; _ 
B. Polzmann, compend. vitae et mirac. S. Leop, 1591; Raderi Bavaria s;; 
Scharrer Adam, öftreihifhe Marfgrafen, Wien 1670; Pez, Hier. Script. 
rer. Austr. t. I. u. II; Leopold der Heilige, Schußpatron v. Deftreih, Wien 
1835 bei d. Mechit. Buchhandlung; Klein, Gefch. des Chriſtenth. in Deftreih 
und Steiermark, Bd, L—I. Vgl. den Art. Neuburg, und die Schrift von 
Marimilian Fifher, Schatzmeiſter und Archivar zu Nlofternenburg: „Merk- 
würdige Schirffale des Stiftes und der Stadt Klofterneuburg, zwei Bände, 
Wien 1815.”  [Scröbl.] 

Levvigild (Leuwigild), f. Gothen. 

Leporius, f. Pelagianer, 

Lepton, ſ. Geld. 

Le Quien, Michael, wurde zu Boulogne den 8. Detober 1661 geboren, 
Seine Studien machte er in dem Eolleg du Pleffis zu Paris, und trat zu St 
Germain im 20, Jahre in den Orden der Dominicaner, Er fludirte befonders 
das Hebräifche, Oriehifhe und Arabifhe. Wegen feiner Gelehrfamfeit und fei- 
ner Berbienfte weit berühmt, ftarb er als Bibliothecar feines Convents zu St. 
Honpre den 12, März 1733, Er fand mit den berühmteften Gelehrten feiner 
Zeit in beftändigem Briefwechfel. Bon feinen Schriften find Die wichtigern: 
1) Panoplia contra Schisma Graecorum, contra Nectarium, Patriarcham Hieros. 
unter dem Namen des Stephan von Altimura. 2) Joannis Damasceni opera 
omnia, gr. et lat. Par. 1712 in zwei Bänden Fol., mit Anmerkungen und bei- 
gefügten Differtationen, Ein dritter Band, der die unterfchobenen Schriften die— 
fer bis jeßt beften Ausgabe des J. D, liefern follte, ift nicht erfchienen. 3) Hi- 
stoire abröge des comtes de Boulogne. 4) Bon feinem wichtigen und umfaffenden 
Werfe: „Oriens Christianus, insuper el Africa* machte Le Duien im J. 1713 den 
Profpeet unter demſelben Titel befannt. Der erfte Theil des großen Werkes er- 
fchien noch zu Lebzeiten des DVerfaffers, der zweite bald nah feinem Tode, Im 
% 1740 war das ganze Werk in drei Fol, gedruckt. Die Mauriner hatten dem 
te Duien vorgearbeitet. Die Sammlungen für dfe orientalifhe Statiftif, welche 
Mitglieder dieſes Ordens zum Behufe ihres großartigen Werkes „Orbis Chri- 
stianus“ angelegt hatten, wurden dem Le Quien übergeben und von ihm in feinem 
Werke verarbeitet, Noch ift derfelbe Verfaffer verfhiedener Streitfhriften, be— 
fonders über die Weihe der englifhen Bifchöfe, Vgl. Echard, biblioth. prae- 
dicat. T. II. Nova acta erudit. 1734. Jan. + [®ams.] 

Lerinum, berübmtes gallifhes Kloſter. Der hl. Honoratus, nachher 











Leſſing. 483 


Biſchof von Arles, errichtete dieſes Klofter an der Südküſte Galliens auf der 
Juſel Lerins um 410, Nachdem er fih als Füngling gegen den Willen feiner 
Eltern Hatte taufen laffen, begann er ein fehr firenges Leben zu führen, und an 
ihn ſchloß fi fein Bruder Venantins an. Sie theilten ihr Vermögen unter bie 
Armen aus und übergaben fih zur Unterweifung dem hl. Eremiten Caprafius, der 
die Infeln bei Marfeille bewohnte und in deſſen Gefellfhaft fie einige Zeit zu 
Adaja fih aufbielten, Auf der Rüdreife nah Gallien farb Venantius zu Mou— 
don. Honoratus, in die Provence zurückgekehrt, wählte die Eleine verlaffene und 
mit Schlangengezücht erfüllte Inſel Lerins zum Aufenthalte und erbaute dafeldft 
das Klofter, welches bald eine Niederlaffung von Mönchen ans allen Nationen, 
das Mufter aller gallifchen Klöfter und eine Schule wurde, aus welcher viele 
Heilige, Gelehrte und Biſchöfe Hervorgingen. Als Abt Honoratus gegen feinen 
Willen Bifhof von Arles werden mußte (+ 428), folgte ihm als Abt der Hl. 
Marimin, der nah fiebenjähriger VBorftandfchaft den bifhöflihen Stuhl von 
Niez beftieg. Marimins Nachfolger zuerfi in der Leitung des Klofters und dann 
der Didcefe Riez war Fauſtus (ſ. d. A. und die Art. Hilarius von Arleg, 
Hormisdas, Day). Auf Fauftus folgten im fünften Jahrhunderte noch die 
Aebte Nazarius und Porcarius, denen im Anfange des fechsten Jahrhunderts 
Abbo ſuccedirte. Unter diefen Aebten, die felber ausgezeichnete Männer waren, 
entfaltete fih in diefem Kloſter, welches Caſſian (f. d. 4.) bereits ein „ingens 
fratrum coenobium et congregationem“ nennt, und deſſen Inwohner theils gemein- 
ſchaftlich theils abgefondert als Anachoreten lebten, ein reiches Leben, denn aus 
diefem Klofter gingen die Zierden der gallifchen Kirche hervor, wie Hilarius von 
Arles, Lupus von Troyes, Vincentins (Lirinensis, f. d. A.), Eucherius von Lyon 
4.» U) mit feinen zwei Söhnen Salonius und Beranius, Valerianus, Bifchof 
von Cimelia, Cäfarius von Arles (ſ. d. A). Noch im fehsten Jahrhundert gab 
Lerinum der Kirche mehrere vorzügliche Männer, wie den Virgilins von Arleg, 
aber gegen Ende diefes Jahrhunderts und im darauffolgenden verfiel diefe einft 
fo blühende Anftalt mehr und mehr, wie man unter Anderm aus den Briefen 
Gregors des Großen entnehmen kann Cep. V, 56, IX, 8.). Dabei fehlte es aber 
doch auch nicht in diefer Zeit an einzelnen trefflichen Mönchen, und noch immer 
befuchte man Häufig ein Klofter, deſſen Ruf fih über die ganze Chriftenheit ver- 
breitet hatte. Wie zahlreich noch im achten Jahrhunderte Hier die Mönche waren, 
erhellt daraus, daß bei dem Einfall der Sararenen in Gallien 732 das Klofter 
unter dem Abte Porcarius 500 Mönche zählte, welche fammt dem Abte theils 
getödtet, theils zerfprengt wurden. Leber die weitern Schickſale diefes Klofters 
f- Mabill. Annales. Den erften Anfang zu den fpätern Eremtionen und Smmuni- 
täten diefes Klofters Iegte das Decret des 461 zu Arles abgehaltenen Concilg, 
wonach ein Bifhof von Frejus, in deffen Didcefe das Klofter lag, fein anderes 
Recht über daffelbe in Anfpruch zu nehmen habe, als das der Ordination der 
Elerifer, der Diftribution des Chrisma, der Firmung etwaiger Neophyten und 
der Mitwiffenichaft der Aufnahme auswärtiger Eferifer in den Kloſterverband; 
in allem Uebrigen ſtehe die Jurisdiction über die ganze Brüdergemeinde dem Abte 
zu und dürfe ohne deſſen Erlaubniß der Bischof feinen Mönch in den Eferical- 

d aufnehmen. ©. Fleury ada. 428, 461 w. Mabill. Annal.I. [Schrödl.] 

Leſſing (GGotthold Ephraim), der Sohn eines fireng Iutherifchen Paftors, 
wurde den 22. Januar 1729 zu Kamenz in der Dberlaufig geboren, Im Sabre 
1741 bezog er die Fürftenfchule zu Meißen, und fünf Jahre fpäter die Univerfi- 
tät zu Leipzig, wo er fih, ohne fih einem befiimmten Fachſtudium Kinzugeben, 
vorzugsweiſe mit Fiterarifchen Arbeiten beichäftigte. Im Jahre 1750 begab er 
ſich nach Wittenberg, um ſich nach dem Wunſche feiner Eltern um die Magifter- 
würde zu bewerben. Nachdem er fih in den folgenden Jahren bald zu Berlin, 
Bald zu Leipzig, bald wieder zu Berlin, in welch’ Ießterer <a er mit feinen 

1 


184 | geffing. 


Freunden Nicolai und Mendelfohn die Literaturbriefe Herausgab, und zum Mit- 
Hliede der Föniglichen Academie der Wiffenfchaften ernannt wurde, aufgehalten 
hatte, wurde er im Jahre 1761 Secretär des Generals Tauenzien in Breslau, 
Hier unternahm er zeitweife philofophifche und theologifche Unterfuchungen, wäh- 
rend er auf der andern Seite fih in hohem Grade den Vergnügungen und be- 


fonderd dem Hazardfpiele hingab, 1765 Fehrte er nach Berlin zurück. Zwei 


Sabre fpäter begab er ſich nach Hamburg, wo er feine berühmte „Dramaturgie” 
verfaßte. Doch trafen bier verſchiedene Umftände zufammen, welche eine un— 
muthige Stimmung in ihm hervorriefen, Schon hatte er den Entfhluß gefaßt, 
alle feine Habfeligfeiten loszuſchlagen, um nach Stalien zu reifen und in Rom 
ganz für fih zu leben, ald er 1770 unerwartet als Bibliothecar an die berühmte 
Bibliothek in Wolfenbüttel berufen wurde, Die Iiterarifchen Kämpfe, in welche 
er bier durch feine fohriftftellerifchen Arbeiten verwicelt wurde, und welche ihm 
mancherlei Unannehmlichfeiten und Berfolgungen zuzogen, fowie förperliche Nebel 
hatten ſchon Tängere Zeit die Kraft und den Humor feines fonft fo frifchen und 
lebhaften Geiftes gebrochen, ehe er den 15. Febr. 1781 ftarb, Seine fämmt- 
lichen Schriften wurden herausgegeben von feinem Bruder 8. ©, Leffing, J. J. 
Eſchenburg und Fr. Nicolai, Berlin 1771 ff., und in einer neuen Auflage in 30 
Bänden 1796 ff.; von 3. J. Schink in 32 Bänden ebend, 1825 ff. Die neuefte 
Ausgabe von K. Lachmann erfchien ebend, in 13 Bänden 1837—41, Zu feinem 
Gedächtniſſe wurde ihm 1823 zu Kamenz ein Kranfenftift und zu Wolfenbüttel 
ein Denkmal errihtet. — Leffing ift obenan unter den Schriftftellern des vorigen 
Sahrhunderts zu nennen, welche ihren Zeitgenoffen auf den verfehiedenften Ge- 
bieten des geiftigen Lebens neue Bahnen brechen halfen. Es Liegt ung hier nicht 
ob, die Verdienfte, die er fih als Kritifer und Dichter um die teutfche Kunſt und 
Wiffenfchaft erwarb, zu ſchildern. Was feine Philoſophie betrifft, fo hat er 
zwar fein vollſtändiges Syſtem derfelben aufgeftellt, jedoch eine Menge von frag- 
mentariſchen Arbeiten hinterlaffen, welche ihn uns als einen felbfiftändigen und 
tiefen Denker erfennen laffen. Im engften Zufammenhange mit feinen philoſo— 
phiſchen Anfichten fanden feine religiöfen Grundfäge, welde er fi gegenüber 
den herrfchenden theologifchen Syftemen feiner Zeit ausbildete, Leffing’s eonfequent 
denfender Geift fonnte fi) weder der flarren Orthodoxie der lutheriſchen Con- 
feffion anfchließen, noch auch mit den Aufflärungsverfuchen des damals in voller 
Frifche aufblühenden Nationalismus ſich befreunden, Zwar hatte er ſich durch die 
Herausgabe des für die Kirchengefhichte Höchft wichtigen Werkes Berengars de 
sacra coena, aus welchem fich herausftellte, daß der genannte mittelalterliche 
Theologe fo ziemlich der nachmals von Luther aufgeftellten Abendmahlslehre hul— 
digte, bei den Theologen feiner Eonfeffion großen Beifall erworben, da er die» 
felbe mit einem testis veritatis bereicherte, den bisher die Ealviniften für ſich in 
Anſpruch genommen hatten, Sein alter Lehrer Ernefti in Leipzig wurde über 
diefes Unternehmen fo erfreut, daß er erflärte, Leffing verdiene defwegen zum 
Doctor theologiae creirt zu werden, Der Lestere dagegen fehrieb hierüber an 
feine nachmalige Frau nah Wien: „Sie glauben nicht, in was für einen Tieb- 
Iihen Geruch der Nechtgläubigfeit ich mich durch diefe Arbeit bei unferen Iutheri- 
ſchen Theologen gefest habe. Machen Sie fich nur gefaßt, mich für nichts Ge- 
ringeres als für die Stüge unferer Kirche ausgefchrieen zu hören. Ob das mich 
aber fo recht Fleiden möchte, und ob ich das gute Lob nicht bald verlieren dürfte, 
das wird die Zeit Iehren.” Diefer Fall trat ſchon einige Jahre fpäter ein, als 
Leffing mit der Herausgabe der Wolfenbüttler Fragmente begann (ſ. den Art. 
Fragmente, Wolfenbüttler). Eine Reihe von Streitfchriften, in denen Leſ— 
fing feinen Hauptgegner, den durch diefe Kämpfe berüchtigt gewordenen Haupt- 


paſtor Götze von Hamburg, völlig vernichtete, da er die innere Unhaltbarkeit 


des altlutherifchen Standpunctes gegenüber ben Angriffen ber Freigeifter (ſ. d. A.) 


— 











Leffing. 485 


aufs Ueberzeugendſte nachwies, fnüpfte fih an diefes, man darf wohl fagen wich- 
tige und folgenreihe literarifhe Ereigniß. Leffings Gegner gingen in. diefem 
Streite zulegt fo weit, daß fie über ihn das Gerücht ausfprengten, er babe ſich 
von der Zudenfhaft zu Amfterdam ein Gefchenf von 1000 Ducaten überreichen 
laffen, weil er jene Fragmente an’d Tageslicht gezogen habe, in denen ja doc 
die jüdifhe Religion noch fhonungslofer angegriffen wurde als die chriſtliche. Zu 
feiner Rechtfertigung wollte Leffing unter dem Namen feines Stiefſohnes König 
die Heine Schrift: „Wahre Berichtigung des Mährchens von 1000 Ducaten oder 
Judas Iſchariot IL“ in das Wiener Diarium einrüden Iaffen. Der Auffag wurde 
jedoch nicht aufgenommen, und ed wurden dann von Regensburg aus, wo er im 
Drude erfhien, eine Anzahl Eremplare deffelben nah Wien geſchickt. Mit kluger 
Berehnung auf das Fatholifhe Publicum, jedoch der Wahrheit nicht ungetren, 
wurde in diefem Auflage der Verlauf des Streites mit Göge furz dargelegt, und 
befonders darauf aufmerkffam gemacht, daß die Leffing’fchen Gegenfäge zu dem 
Fragmenten in den Augen des Iutherifchen Paftors nur deßhalb „weit mehr Gift 
enthielten, als die Fragmente felbft“, weil fie demfelben „mit einem Worte zu 
gut Fatholifch ſeien.“ Es fer überhaupt notorifh genug, aus welchem Geſichts— 
puncte diefer überfpannte Lutheraner zum Aergerniß feiner eigenen Glaubens- 
genoffen die Fatholifche Kirche fowohl in feinen Predigten, als in feinen Schriften 
anzufehen gewohnt fei, und wie weit er gebe, ihr alle Anfprüche auf den Namen 
und die VBorrechte einer hriftlichen Kirche abzufprechen. Außerdem zieht er weiter 
unten eine Stelle aus feinen Streitfchriften gegen Göge an, in welchen er den 
fanatifhen Haß der Proteftanten gegen die Katholiken mit folgenden Worten 
tabelte: „Dover find die Ratholifen Feine Chriſten? Wär’ ich Fein Eprift, wenn 


ich in diefem Stüfe — daß die heilige Schrift nicht der einzige Grund der chriſt⸗ 


lichen Religion ſei — mich auf die Seite der Katholifen neigte? Unartig genug, 
daß viele Proteftanten den Beweis für die Wahrheit der hriftlichen Religion fo 
führen, als ob die Ratholifen durchaus feinen Theil daran hätten,“ Gegenüber 
dem fhmählichen Benehmen feiner Gegner, welde, wie e8 bei Leuten diefer Art 
gewöhnlich ift, den weltlihen Arm da angewendet wiffen wollen, wo ihre geiftige 
Macht nicht Hinreicht, Hatte er in gerechtem Unmuthe fich folgende Aeußerung er— 
laubt, welche au in unferer um 80 Jahre ältern, aber deffenungeachtet nicht um 
eben fo viel weiter vorgefihrittenen Zeit ihre Wahrheit noch nicht verloren hat: 


Und nun möchte ih gerne wiffen, mit welchem Zuge ein Intherifher Paftor und 


verborbener Adoocat einem Manne mit dem Reichsfiscale drohen könnte, weil er 
aufrichtig genug ift, als Lutheraner Lieber feine Zuflucht zu einem Lehrfag der 


zömifchen Kirche zu nehmen, als die ganze chriſtliche Religion unter Einwürfen 


der Freigeifter unterliegen zu laffen, die bloß die Bibel und nicht die Religion 
treffen; die bloß das Bud treffen, in welhem, nach dem höchſt neuen und bis 
auf diefen Tag unbewiefenen Lehrfage der firengen Lutheraner, die Religion einzig 
und allein enthalten fein fol, Diefe Herrn mögen fih nur felbft vor dem Reichs— 
fiscale in Acht nehmen, Denn es wird dem Neichsfiscale Leicht begreiflich zu 
machen fein, daß nur fie und ihres Gleichen die Stänfer find, welche den Groll, 
den bie im teutfchen Reich geduldeten Religionsparteien gegen einander doch end— 
Ich einmal ablegen müffen, nähren und unterhalten: indem fie Alfes, was ka— 
tholiſch iſt für undriftlih verdammen und durchaus feinen Menfhen, auch nicht 
einmal einen armen Schriftfteller, dem es nie in den Gedanfen gefommen ift, 
fih eine Partei zu machen, auf den aus feiger Klugheit verwüfteten und öde ge= 
laſſenen Confiniis beider Kirhen dulden wollen.“ Ganz befonders empfindlich 
aber mochte e8 Göge berühren, als Leifing ihm zurief: „Wenn Sie es dahin 


‚bringen, daß unfere Iutherifchen Pastores unfere Päpfte werden — daf fie ung 


vorſchreiben fonnten, wo wir aufhören follten, in der Schrift zu forfhen — daß 
diefe unferem Forſchen der Mittheilung unferes Erforfchten Schranfen fegen dürf- 


a Leffing. 


ten: fo bin ich der Erfte, der die Päpftchen wieder mit dem Papfte vertaufcht.” — 
Wie nun Leffing das von Luther yroclamirte Prineip der freien Forſchung als 
Proteftant gegenüber der ftarren Orthodoxie der Lutheraner für fih in Anfpruch 
nahm und überhaupt wieder in Fluß und Geltung gebracht wiffen wollte, damit 
aus dem Kampfe der Geifter und Meinungen die Wahrheit hervortrete, fo fprach 
er fich auch auf der andern Seite mit großer Bitterfeit gegen die Aufklärer feiner 
Zeit aus, Wenn er der lutheriſchen Orthodoxie vorwarf, daß fie offenbar mit 
dem gefunden Menfchenverftande ftreite, und ihr unreines Waffer längſt nicht 
mehr brauchbar fer, fo verglich er die neumodifche Religion der Aufklärer fogar 
mit Miftjauche, Er fah in der leßteren ein Machwerf von Stümpern und Halb» 
philoſophen, welche unter dem Vorwande, ung zu vernünftigen Chriften zu machen, 
zu höchſt unvernünftigen Philofophen ung machen. Beſonders tadelte er ihre Nei- 
gung zu der Lehre der Unitarier, zum Arianismus und- Speinianismus, deſſen 
feichte PHilofophie ihm verhaßt war, und in dem er mit Leibnis (ſ. d. A.) nicht 
ohne Grund Abgötterei fand. Daher fahen denn auch die Aufklärungstheologen 
jener Zeit in Leffing fo wenig einen Parteigenoffen, daß einer ihrer Wortführer, 
Semler, mit welhem Walch ihn auf eine Linie ftellte, denfelben vielmehr 
in’s Berliner Tollhaus bringen ließ. — Wie Leffings Stärfe überhaupt in feinem 
fritifchen Geifte lag, fo war er, der nie die Verbindung mit dem Chriftenthume 
aufgab, ohne fih jedoch zu einer der beftehenden Confeffionen zu befennen, Zeit- 
lebens immer in einem Ringen nah Wahrheit begriffen. Ja, er hielt diefes 
Suchen fo fehr für die eigenfte Natur des menfchlichen Geiftes, daß er in feinen 
theologifchen Streitfchriften jene berühmte Stelle ſchreiben konnte: „Wenn Gott 
in feiner Rechten alle Wahrheit und in feiner Linken den einzig immer regen 
Trieb nah Wahrheit, obſchon mit dem Zufag, immer und ewig zu irren, ver- 
ſchloſſen Hielte, und fpräche zu mir: Wähle, — ich fiele ihm mit Demuth in 
feine Linfe und fagte: Vater gib, die reine Wahrheit ift ja doch für dich allein.” 
Aus diefem Grunde find denn auch feine philofophifchen und religiöfen Grund» 
ſätze und Anſichten, die er an verfchiedenen Orten, oft nur gelegentlih, aus— 
ſprach, mehr nur als Verfuche zu betrachten, der Wahrheit habhaft zu werben, 
Auch Fonnte es ebendefhalb nicht fehlen, daß diefelben nicht immer in engem Zu- 
Sammenhang, fondern vielmehr zuweilen fogar in innerem Widerſpruche zu ein- 
ander fanden, — Was nun zuvörberft feinen Gottesbegriff anlangt, fo foll der- 
felbe nach der befannten Mittheilung Jacobi's der fpinoziftifche gemwefen 
fein, Doch möchte immerhin mit Heinrich Nitter angenommen werben können, 
daß, wenn auch Leffing felbft fih Jacobi gegenüber einen Spinoziſten nannte, er 
fich doch bei der unhiftorifchen Richtung jener Zeit über das Wefen des Spinozis- 
mus feldft nicht Har war. Wenigftens finden fih bei Leffing Aeußerungen vor, 
welchen zufolge er eine Transcendenz Gottes annahm. Die Lebendigkeit feines 
Gottesbegriffes Ließ ihn auch den fpeculativen Gedanken der Trinität auffaffen, 
in fofern er eine folche transcendentale Einheit Gottes verlangte, welche eine Art 
von Mehrheit nicht ausfchließe. Daß er deffenungeachtet Jacobi gegenüber feinen 
Unwillen gegen den Gedanfen eines perfönlichen Gottes zu erfennen gab, dürfte 
darin feinen Grund haben, daß er über dem diefer Auffaffung Gottes anklebenden 
Anthropomorphismus die Diomente des Bewußtfeins und des Willens, welde 
den Begriff der Perfönlichfeit eonftituiren, zu wenig in's Auge faßte: wie er denn 
überhaupt noch nicht zu einer den religiöfen und weiterhin hriftlichen Wahrheiten 
entfprechenden Erfenntnißthegrie vorgedrungen war, Bon der Theologie wurde 
dann Leffing weiter zur Cosmologie geführt, Entweder denkt Gott alle feine Boll- 
Iommenpeiten auf einmal und ſich als den Inbegriff derfelben, oder er denkt feine 
Bollfommenheiten zertheilt, eine von der andern, und alle nach Graben abgefondert, 
Wenn dag erftere der Grund der Trinität, fo iſt das Iegtere der Grund der Welt, 
Diefe ift ihm ver Inbegriff alfer Gedanfen Gottes, welche feine Volllommenheiten 











Leffing. 487 


zertheilt denfen, oder der endlichen Dinge, deren Endlihfeit daraus hervorgeht, 
weil die — nothwendigerweife fhöpferifhen — Gedanken Gottes, welche nicht 
feine ganze Vollkommenheit denken, nur ein befchränftes Weien, gleichiam einen 
eingefehränften Gott Heroorbringen fünnen, In Uebereinftiimmung mit dem idea⸗ 
liſtiſchen Charakter, den feine Anfichten über die Dinge der Welt an fih tragen, 
nahm er nur belebte und befeelte Wefen in der Welt an. In der Reihe der Wefen, 
welche feinen Sprung zuläßt, müffen num aber auch folge Weſen fein, welche fih 
ihrer Bollfommenheiten nicht deutlich genug bewußt find, diefe Wefen find ihm 
die Menfchen, denen die Duelle ihrer Vergehungen, nämlich die Macht der finn- 
lichen Begierden, der dunfeln Vorftellungen über alle noch fo deutliche Erfenntnig 
angeboren worden fer, — weßhalb es heiße, wir hätten Alle in Adam gefündigt, 
- weil wir Alle fündigen müßten, denen jedoch das Ebenbild Gottes inſofern zu— 
komme, weil fie doch eben nicht nichts Anderes thäten, als fündigen, fondern Etwas 
in fich Hätten, durch welches die Macht der dunklen Borftellungen geſchwächt wer- 
den fünnte, Deßwegen und weil nah ihm ein allmächtiges, aber aud lebendiges 
und feineswegs blindes Gefeg alle — in Harmonie mit einander ftehenden — 
Dinge der Welt beherrfeht, dem ſich nicht das Geringfte, weder Gutes noch Böfes 
entziehen fann, nahm er auch eine doppelte Duelle des Handelns für die morali- 
fhen Gefhöpfe an, theils in ihren dunfeln Vorftellungen und natürlichen Begier- 
den, weil fie von Gott in einer bejchränften Natur verfegt find und erhalten werden, 
theils in ihren dunfeln Begriffen, weil fie innerhalb ihrer Schranfen doch ihres 
Geſetzes und ihrer Bollfommenpeiten bewußt find. Die Abhängigkeit der ganzen 
Welt nun von dem einen göttlichen Gefeg war ihm die metaphyfifhe Grundlage 
feiner Lehre „von der Erziehung des Menfchengefchlechts”. In der diefen Titel 
führenden Schrift machte er fich ganz befonders die Aufgabe, das Verhältniß der 
Bernunft und Offenbarung zu einander, welches die Cardinalfrage jener Zeit war, 
aufzufuhen, Der Gedanfe_ einer Erziehung des Menfchengefhlehts durch Gott 
war zwar nicht neu, vielmehr war derfelbe, wenn es auch Leffings Zeitgenoffen 
entging, ein Gemeingut der alten Kirche gewefen, und es ift höchſt wahrfchein- 
lich, daß Leffing, welcher mit dem Studium der Kirchenväter fich viel befchäftigte, 
und wie er felbft geftand, befonders dur Irenäus und Tertullian zum Verftänd- 
niffe des Berhältniffes zwifchen Bibel und Tradition, fowie zur tiefern Auffaffung 
des Wefens der Kirche geführt wurde, die Grundgedanken jener Lehre bei denfel- 
ben gefunden oder wenigftend wiedergefunden habe.- Wenn wir nun die wich- 
tigften Gedanfen der genannten Schrift in ihrem Zufammenhange furz heraus- 
heben, fo verglich er die pofitive Religion mit der poſitiven bürgerlichen Verfaf- 
fung. Wie es eine Bereinbarung über Verfaſſung und Gefeg im Staate geben 
muß, jo muß man eine folche auch bei der Religion annehmen. Die bürgerliche 
Berfaffung verlangt zur Einigkeit unter den Menfchen eine Uebereinfunft über 
eonventionelle Dinge in der Verehrung Gottes. Daher mußte man aus der natür- 
lichen Religion eine pofitive Religion bauen, wie man aus dem Rechte der Natur 
aus demfelben Grunde ein pofitives Recht gebaut hatte, Das Pofitive in der Re— 
ligion erhielt feine Sanction durch feinen Stifter, welcher vorgab, daß die conven- 
tionellen Vorſchriften feiner Religion durd ihn von Gott fämen, und die Unent- 
behrlichfeit der pofitiven Religion verfchaffte ifm Glauben. In ihr, wie fie modi- 
fleirt wird, nach der natürlichen und zufälligen Befchaffenheit jeden Standes, be- 
ſteht das, was man ihre innere Wahrheit nennen kann. Daber find alle pofitiven 
Religionen gleich wahr und gleich falſch: erfteres, weil es überall gleich notbiwen- 
dig gewefen ift, über verfchiedene Dinge fich zu vergleichen, um Uebereinftimmung 
in der öffentlichen Religion hervorzubringen; Ießteres, weil das Conventionelle 
in der Gottesverefrung das Wefentlihe der Religion nicht allein vervollſtändigt, 
fondern au verdunfelt, ſchwächt und verdrängt. Nach diefen allgemeinen Grund- 
fügen wird nun auch die chriſtliche Religion beurteilt, Sie entipricht der Abficht 


A88 Leffing. 


einer geoffenbarten Religion fo gut als irgend eine andere. Ihre hiftorifchen Be- 
weife laſſen fih durch Feine gleichen Beweife überbieten; daher befennt Leffing, 
daß er fie glaube und für wahr halte, fo gut man irgend etwas Hiftorifches glau- 
ben und für wahr halten könne. Aber nicht minder hält er auch andere pofitive 
Religionen für wahr, Wie er es feinem Nathan in den Mund gelegt hatte, fonn- 
ten verfchiedene Religionen zur Seligfeit führen. Auch konnte es gute Leute geben, 
welche über alle geoffenbarten Religionen fich Hinweggefest hatten. Wenn nun 
aber gleich alle pofitiven Religionen Hinfichtlich der Wahrheit einander gleich feien, 
fo fei dennoch ein Unterfchied zwifchen fchlechteren und befferen zu machen. Und 
zwar ift ihm diejenige bie befte geoffenbarte Religion, welche die wenigften con- 
ventionellen Zufäge zur natürlichen Religion enthält. Diefer Unterfhied begrün- 
det denn auch den Vorzug, welchen das Chriftentfum vor den andern geoffen- 
barten Religionen behauptet. Leffing ift hiebei nicht, wie es den Anfıhein haben 
könnte, der Anficht der Politifer unter den Freidenfern, welche die conventionellen 
Zufäge zur natürlichen Religion als Ausflüfe einer gefesgeberifchen Thätigkeit 
erleushteter Menfchen betrachten, die Alles wußten, was von Gott und feinem 
Geſetz gewußt werden kann, fondern er entfcheidet fich dafür, daß wir alle dur 
jene Zufäße hindurchgehen mußten, weil wir nur unter finnlicher Hülle die Wahr- 
heit begreifen Iernen, Bernunftwahrheiten mußten Anfangs geoffenbart werden, 
um nachher als Vernunftwahrheiten erfannt zu werden. Ohne eine folhe Dffen- 
barung und fich felbft überlaffen,- würde die menfchliche Vernunft nie auf ſich ſelbſt 
gefommen fein, Da nun aber die conventionellen Zufäge zur natürlichen Religion 
von den Religionslehrern nicht willfürlich zugefegt werden, fo können ſie nichts 
anders als Vorſchriften fein, welche wirflih von Gott fommen. Für die Wahr- 
heit der Offenbarung zeugt die Gefihichte, welche eine Führung, eine Erziehung 
der Menfchheit unter Gottes Vorfehung ift. Und zwar fieht Leffing den Beweis 
hievon nicht fo faft in den Wundern und Prophezeiungen, welde nur Gerüfte 
find, deren fih Gott bedient, um auf feine Propheten aufmerffam zu machen, 
als vielmehr in der Kraft der Ueberzeugung, welche fie gewährt, in ihrer Dauer 
und ihrem Siege. Die göttliche Leitung der menfhlichen Angelegenheiten kann 
nicht zulaffen, daß eine Religion fiege, welche nicht ein wirffames Erziehungs- 
mittel für die Menfchheit in fich trägt. Bon diefem Gedanfen der göttlichen Lei— 
tung ift Leffing erfüllt. Weder das viele Uebel, das er fießt, kann ihn irre 
machen, noch das Böſe, welches ebenfalls von Gott gebilligt werde. Die Schritte 
der Vorſehung foheinen ung zumeilen zurückzugehen; aber wir follen nicht ver— 
zweifeln; es ift nicht wahr, daß die kürzeſte Linie immer die geradefte ift. Wenn 
nun aber der menfhlihe Verſtand einer langen Erziehung bedarf, um zur rich- 
tigen Einfiht über Gott und das göttliche Gefeg zu gelangen, und infofern in 
demfelben Fein fiherer Führer gegeben ift, wodurch wird Gott ven Menfchen leiten? 
Leffing recurrirt hier auf das innere Gefühl, auf das Herz des Menſchen; in 
diefen findet er die Erfahrungen, welche uns die Wahrheit einer religidfen Ueber— 
zeugung verbürgen. Das Gemüth ift gleihfam eine Burg, welde gegen alle 
Zweifel und Angriffe des Verftandes fih zu halten vermag. Die Gefühle find es, 
durch welche Gott die Herzen der Menfchen Ienft, und fie für die Pläne erzieht, 
welche er mit ihnen ausführen will. Nun ift es aber freilich unentſchieden, was 
Leffing unter religiöfem Gefühle verfland: ob er es in dem Sinne nahm, im 
welchem es ſpäter Schleiermacher feinem theologifchen Syſtem zu Grund legte, 
oder aber ob er, was nicht unwahrfcheinlich if, es als das unmittelbare Bewußt- 
fein des Göttlichen in ung auffaßte, welchem Ideen zu Grunde liegen, die durch 
die Thätigfeit des philofophirenden Geiftes auf eine immer höhere Stufe des Er- 
fennens erhoben werben follen, Diefes hängt wohl mit feiner Forderung zuſam—⸗ 
men, daß die Wahrheit der geoffenbarten Religion fich an ihrer Vernünftigfeit 
erweifen müßte, Was wir Anfangs als Offenbarung anftaunten, fol bie Vernunft 








Leffing. 489 


aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten Herleiten, und mit ihnen verbinden 
lernen, Die geoffenbarte Religion hat ja nur den Zweck, die Vernunft zu erziehen; 
würde fie aber nicht zur Einficht erzogen, welche fie erreichen fol, fo würde die 
Abſicht Gottes, zu welcher er die Offenbarung gab — VBernunftwahrheit zu wer- 
den — nur vereitelt werden. — In der Erziehung der Menfchheit im Ganzen, 
in welche nicht allein die Juden, fondern auch die Heiden und überhaupt alle 
Bölfer der Welt eingreifen follen, ſoll durchgehends eine fortfihreitende Entwicf- 
lung flattfinden, Ein mächtiger Hebel in diefer Bewegung ift das Chriftenthum, 
welches ebenfalls einer immer größern Vervollkommnung fähig if. Immer mehr 
drängt e8 zur Erleuchtung, zur Einfiht in feine eignen Dffenbarungen vor. Diefe 
Einfiht, welche nicht bloß Bedingung, fondern Ingredienz der Seligfeit ıft, iſt 
der Offenbarung Ziel, welches gewiß erreicht werden wird, Wenn Leffing diefes 
Ziel fonft auch das neue ewige Evangelium nennt, fo ift diefes nicht, wie fchon 
geihah, fo zu faſſen, als ob er eine neue Stufe der Entwicklung annähme , in 


- welcher das Chriſtenthum einer vollfommeneren Religion weichen würde, vielmehr 
ſprach er feine Ueberzeugung dahin aus, daf die chriftliche Religion ewig fort- 
dauern werde. Er denkt fi unter dem neuen ewigen Evangelium nichts anderes, 


als die Erfüllung der Verheißung des Chriftentfums! Dur die Speculationen 
über die Lehren des Chriſtenthums fol das menſchliche Gefhlecht zu der höchſten 
Stufe der Aufflärung und NReinigfeit gelangen und die Zeit der Vollendung er— 
reichen, da der Menfch, je überzeugter fein Berftand einer immer beffern Zufunft 
fi fühlt, von diefer Zufunft gleihwohl Beweggründe zu feinen Handlungen zu 
erborgen nicht nöthig haben wird, da er das Gute thun wird, weil es das Gute _ 


iſt, nicht weil willfürliche Belohnungen daran gefegt find, die feinen flatterhaften 


Blick ehedem bloß Heften und ftärfen follten, die inneren befferen Belohnungen 


deſſelben zu erfennen. — Da Leffing nicht zugeben fonnte, daß in der Deconomie 


des Heiles auch nur Eine Seele verloren gebe, fo erfchien ihm auch die Erzie— 
hung durch die Dffenbarung nur als der gewöhnliche Weg, welcher freilich am 
fiherfien führe, aber nicht ſchlechthin nothwendig ſei. Uebrigens wollte Leffing 


deßwegen nicht irgend einer Seele die Möglichkeit eröffnen, ohne durch die Stufen 


der güttlichen Erziehung, aljo auch ohne durch das Chriſtenthum hindurch zu gehen, 
ihre Seligfeit gleihfam als Geſchenk zu erhalten. Denn eben die Bahn, auf 
welder das Gefhleht zu feiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne 
Menih, der eine früher, der andere fpäter, erft durchlaufen haben, ehe er zur 


Vollkommenheit feiner Einfiht und feines fittlihen Lebens gelangen kann. Da 


es ihm nun aber nicht entging, daß fo viele Menfchen fterben, die wir für wahre 
aufrichtige Chriften nicht Halten köͤnnen, fo nahm er zur Hypothefe der Seelen- 
wanderung feine Zuflucht. Der Bevdenklichfeit, daß wir eines frühern Lebens 


I uns nicht bewußt werden, glaubte er durch die Annahme zu begegnen, daß, was 


wir gegenwärtig nicht im Gedächtniß Haben, deßwegen nicht immer für ung ent- 
fhwunden fein müffe. Unfer fei die Ewigkeit; wenn es ung gut fei, werden wir ung 
wohl unfers frühern Lebens wieder eingedenf werden. Sonderbarer Weife wollte 
Leffing feine Forderung, daß alle Menfchen felig werden müffen, mit der dhrift- 
lien Lehre von der Ewigkeit der Höllenftrafen in Einklang bringen. Er ſtützte 
diefe Lehre auf die Behauptung der Notbwendigkeit, alle Folgen und alfo auch 
die natürlihen Folgen des Böfen, die Rückſchritte, welche wir in unferer Ent- 
wicklung zugelaffen haben, als ewig zu fegen. Da nun aber nicht bloß die natür— 
lichen Folgen und Strafen des Bofen, fondern auch die des Guten ewig fein 
müffen, und aud das Gute, welches felbft den fihlechteften Menfchen nicht ganz 
verlaſſen hat, feine ewigen Folgen Haben muß, fo Eonnte Leffing eine völlige Ab- 


| fonderung des Himmels von der Hölle nicht zugeben. Eine Erflärung diefer An= 


nahme einer Miſchung des Guten und des Böfen, des Himmels und der Hölle, 
werden wir dann finden, wenn wir bedenken, daß Leffing zwar eine reine und 


290 Leſſius. 


vollkommene Sittlichkeit als das Ziel unferer Erziehung fordert, dagegen den 
Menſchen einer reinen und vollkommenen Erkenntniß nicht fähig hält, und in dieſer 
Beziehung nur eine immer weitere Entwicklung unſers Bewußtſeins, aber nie ein 
vollkommenes Schauen der Wahrheit in Ausſicht ſtellt. Freilich hat er hiebei den 
großen Widerſpruch überſehen, welcher darin liegt, daß eine reine Sittlichkeit 
ohne reine Erkenntniß angenommen wird. So iſt Leſſing auch hier von der reinen 
hriftlichen Wahrheit abgewichen, wie er auf der andern Seite Die Lehre von dem 
Sünvenfalle ausſchloß, und den Menfchen urfprünglich aus einem in Bezug auf 
Erfenntniß und Willen, wenn nicht verkehrten und fündhaften, fo doch jedenfalls 
fehr unvollfommenen Zuftand ausgehen ließ. Deßhalb geht auch durch die ange- 
führten Lehren Leffings ein naturaliftifher Zug hindurch, welchen auch Herder 
(f. d. U), der auf deffen Anfichten von der Erziehung des Menfchengefchlechts 
fortbaute, in feinen berühmten „Ideen zur Philofophie ver Geſchichte der Menfch- 
heit“ nicht zu verwifchen gewußt hat, Immerhin aber liegen in Leffings religiöfen 
und philofophifchen Anfichten manche trefflihe Keime zu tiefern Unterfuchungen, 
wie fie denn auch wirklich auf den in der neueflen Zeit eröffneten Gebieten der 
Religionsphilofophie und chriftlichen Apologetik fowie der Bhilofophie der Ge— 
fchichte der Menfchheit Fräftige Wurzeln gefchlagen haben, Vgl. unter den vielen 
Schriftſtellern, welche Leffings Anfchauungen zum Gegenftande von Unterfuhungen 
gemacht haben: „Leffings Erziehung des Menſchengeſchlechts“, kritiſch und philo— 
fophifch erörtert von Guhrauer, Berlin 1841, und Heinrih Ritter: „über 
Leffings philofophifche und religiöfe Grundſätze“. Göttingen 1847. GBriſchar.] 

Leſſius, Leonhard, geboren 1554 zu Brechten, einem Flecken in Brabant, 
zeigte ſchon in zartefter Zugend eine ſolche Frömmigkeit, daß ihn feine Mitfchüler 
den „Propheten“ nannten, und eine folhe Liebe zum Studium, daß er oft die 
Zeit der Erholung vergaß und den nöthigen Schlaf fich entzog. In feinem 14, 
Sahre kam er nah Löwen, wo er in einem Collegium einen Freitifch erhielt und 
dem Studium der Humaniora und der Philofophie mit großem Erfolg oblag, bis - 
er in feinem 18. Jahre 1572 in den Jefuitenorden eintrat, Nach feinem No— 
viciate von 1574 an lehrte er fieben Jahre hindurch in Douay Philofophie, Als 
er während der religiöfen Unruhen in den Niederlanden 1578 fich flüchten mußte, 
zog er fich ein fehmerzliches Leiden zu, das ihn nie mehr ganz verließ, Als er 
nach feinem Aufenthalt in Douay die Priefterweihe erhalten hatte, warb er nad 
Nom berufen, wo er unter dem befannten Franz Suarez zwei Jahre lang Theo— 
Ingie ſtudirte. Im Jahre 1585 kamen er und fein Orbensgenoffe Johannes 
Hamelius als Lehrer der Theologie nah Löwen, wo fie, als die Bafifchen 
Streitigkeiten (f. Bay) eben erfi waren beigelegt worden, durch die in ihren 
Borlefungen vorgetragenen Lehren zum Ausbruch neuer Unruhen Anlaß gaben. 
Bisher waren es hauptfählich die Franciscaner gewefen, die als Anhänger des 
Duns Scotus eine der ftrengen Auguftinifchen Gnadenlehre abgefehrte Richtung 
einhielten, und fie hatten fich in derfelben um fo mehr befeftigt, als fie im Gtreite 
mit Bajus in der Verwerfung feiner Säte eine Befräftigung ihrer Lehrart zu 
finden glaubten. Diefe Richtung fchlugen nun auch vielfach die Jefuiten ein, ins— 
befondere Leffius und Hamelius. Der von Aquaviva (f. d. A.) 1586 für bie 
Geſellſchaft Jeſu entworfene Studienplan: Ratio atque institutio studiorum ver⸗ 
Yangte zwar, daß im Allgemeinen der Lehre des Hl. Thomas zu folgen fei, er- 
Yaubte aber, im einzelnen Puncten von ihr abzuweichen, und führte unter den— 
felben insbefondere den Sa des hl. Thomas auf: secundas causas esse proprie 
et univoce instrumenta Dei, et cum operantur, Deum in eas plurimum influere auf 
eas movere. Hatte Bajus, ftatt die wahre Lehre Auguftins zur Geltung zu 
bringen, diefelbe vielmehr an Strenge überboten und fo entftellt, fo wich jegt 
Leſſius nach der entgegengefegten Seite von der Auguſtiniſch-thomiſtiſchen Lehr- 
weife ab, Als darüber unter feinen Zuhörern Streitigkeiten entftanden, Teitete 








Leſſius. 191 


die theologiſche Facultät von Löwen unter Mitwirkung des Bajus eine Unter— 
ſuchung ein, indem fie aus den Borlefungen des Leffins 34 Säge aushob, die fie 


ihm zufandte. Als Leffins diefe Säge im Allgemeinen als die feinigen anerfannte, 


ä verfaßte H. Gravius über diefelben eine Cenfur, die fofort die Billigung der Fa— 


eultät erhielt. Im Eingange derfelben drückt die Facultät ihren Schmerz aus 
über die in den cenfurirten Säten enthaltene Verkehrung der firchlihen Gnaden- 
lehre und rechtfertigt ihren Schritt damit, daß die verworfenen Säge der durch 
fo viele Eoncilien und Papſte und durch die berüßmteften Lehrer der Kirche body 


ä gefchäzten Lehre und Auctorität des heiligen Auguftin zuwiberlaufen und alle jene 


Einwendungen und Vorwürfe erneuern, mit denen einft die Semipelagianer im 


oermeintlichen Intereſſe der menschlichen Freiheit die Auguftinifhe Lehre befimpft 


hätten. Zulegt erinnert fie den Leffius und Hamelius an ihren Ordensgenoſſen 
Bellarmin, der einft in Löwen die entgegengefegte Lehre über die Gnade und 
Prädeftination vorgetragen habe, (D’Argentre, Collectio judiciorum de novis errorib. 
tom. IL.) Der belgifhe Episcopat nahm von diefem Vorgange in Löwen Kennt- 
niß insbefondere wandten fih die Erzbifchöfe von Mecheln, Cambrai und Gent 
an die Facultäten zu Paris und Douay um Gutachten. Während erftere eine 


Beurtbeilung ablehnte, erfolgte von der Facultät in Douay im Januar 1588 


eine Cenfur, welche Eftius in ihrem Auftrage verfaßt hatte, und in welcher die 
Lehre des Leffius noch viel entfchiedener und ausführliher abgewiefen wurde 
(D’Argentre Collect). Um diefe über ihre Lehre ergangenen Cenfuren zu entfräf- 


ten, fuchten au die Jefuiten ihrerfeitS von den Facultäten in Mainz, Trier 
und Ingolftadt für fih günftige Gutachten zu erlangen. Ein weiteres Umſich- 


> der entitandenen Aufregung wurde durch das Einfchreiten Roms, das die 
ache vor fein Forum 308, verhindert. Der päpftlihe Nuntius in Cöln, Fran- 
gipani, erhielt im April 1558 von Sirtus V. ein Breve, worin er beauftragt 


| wurde, fih fobald als thunlich nach Löwen zu begeben und die ftreitenden Par- 


teien mit einander zu verfländigen, und wenn diefes nicht gelänge, ihnen zu er- 
Hären, daß es nur dem Nachfolger des Heiligen Petrus zufomme, in Glaubens- 


ftreitigkeiten zu entfcpeiden, und daß fie bis zu einer Enticheidung durch den apo— 


ſtoliſchen Stuhl vom Streit ablaffen follten; zugleich follte er in dieſem Iegtern 
Fall zum Zweck einer Entſcheidung durch den römifchen Stuhl die den Streit be- 
treffenden Schriften nah Rom fenden. Als vie Parteien bei der Anfunft des 


| Nuntius in Löwen im Juni 1588 fich nicht mit einander verftändigen fonnten, fo 


verfaßte die Facultät eine fchriftliche Rechtfertigung der von ihr ergangenen Cen- 


‚für, die fodann Leffius übergeben wurde, um ſich gegen diefelbe gleichfalls fchrift- 


lich zu vertheidigen. Bei feiner Abreife (Nov. 1588) ermahnte der Nuntius 
beide Theile, die Entfcheidung des päpftlihen Stuhles, dem er ihre Schriften 
überfenden werbe, ruhig abzuwarten, Zur Herftellung und Befeftigung der Ruhe 


| Hatte der Nuntius außerdem ſchon im Zuli ein Decret ergehen laffen, in dem 


alle, die die Lehren des einen oder andern Theils in öffentlihen Verfammlungen, 
in Predigten, Disputationen oder Schriften fo vertheidigten over befämpften, daß 
fie die entgegenftehenden Lehren als Häretifch, verdächtig und gefährlich bezeich- 
neten, oder jene, die ihnen anhingen, der Härefie befchuldigten oder verbächtigten, 
mit der excommunicatio latae sententiae bedroßt wurden. Die Leffifhen Streitig« 
feiten nahmen dafjelbe Ende, wie jene, welche durch das in eben jenem Jahre 
1588 erfchienene Werk des Molina: Concordia liberi arbitrii cum donis gratiae 
veranlaßt wurden, nnd zu denen die Leffiihen Streitigkeiten nur das Vorfpiel 
bildeten. Achnlih wie in der Moliniftifchen (f. den Art, Congregatio de 
auxiliis divinae gratiae), ift au in der Leffifchen Angelegenheit die von 
Rom in Ausficht geftellte Entfeheidung nie erfolgt. — Leffius ftarb 1623 zu 
Löwen, wo er 38 Jahre Yang mit Ruhm gewirkt hatte, Sein Leben zeichnete fi 
durch tiefe Frömmigkeit, durch Strenge gegen fih ſelbſt und unermüdliche Thätig- 


492 | Leſſius 


keit aus, und man hatte bei feinem Tode eine ſolche Meinung von feiner Tugend, 
daß man gleihfam metteiferte, von ihm etwas zu befigen, Leffius hatte zwei 
Generalverfammlungen feines Ordens beigewohnt und großes Anfehen genoffen, 
fo daß die ausgezeichnetftien Mitglieder feines Ordens es für Pflicht hielten, nach 
feinem Rathe zu handeln, Zu feinem Anſehen Hatten insbefondere die verfchie- 


denen Schriften beigetragen, in denen er wie Schärfe und Klarheit des Geifteg - 


fo auch einen großen Umfang des Wiffens an den Tag legte. Er verftand fehr 
gut griechifch und befaß außer der Theologie auch in der Geſchichte, in dem ca= 
nonifchen und bürgerlichen Rechte, in der Mathematik und in der Medicin aus- 
gebreitete Kenntniffe. Seine Schriften, die einzeln oft erfchienen, find von Balth. 
Moretus gefammelt und 1625 und 1630 zu Antwerpen in zwei Bänden heraus- 
gegeben worden. Die bedeutendften derfelben find: das vielfach aufgelegte Werk 
De justitia et jure ceterisque virtutibus cardinalibus libri IV. ad Sec. Sec. Thomae 
a Qu. XLVII: usque ad CLXXI. Aus diefem Werfe wurden mehrere Propofitionen, 
3. B. überden Diebftahl, Mord u, f. w., von Bifchöfen und theologifchen Facul- 
täten cenfurirt, Appendix: De licito usu aequivocationum et menlalium restric- 
tionum. — Dissertatio de montibus ‚pietatis. — Quae fides et religio sit capessenda, 
consultatio. — De gratia efficaci, deorelis divinis, libertate arbitrii et praescientia 
Dei conditionali disputatio apoligetica- 1620. — De praedestinatione et reprobalione 
angelorum et hominum ; item de praedeslinatione Christi. — Hygiasticon seu de 
vera ratione valetudinis bonae et vitae una cum sensuum, judicii et memoriae 
integritate ad extremam senectulem conservandae. Subjungitur: tractatus Ludovici 
Cornari Veneti. (Weber das Leben und die Streitigfeiten des Leffius f. Alegambe, 
bibliotheca scriptorum Societalis Jesu. — Sotwel, bibliotheca scriptor. Societ. 
Jesu. — De vita et moribus R. P. Leonardi Lessii. Paris. 1644. Le Blanc, hist. 
congregat. de auxil. div. grat. — Habert, defense de la foi etc) — Was. die 
Lehre des Leffius und Hamelius betrifft, fo bezogen fich die erften drei der cen— 
ſurirten Säge auf die Infpiration der heiligen Schrift, welde fo lauteten: 
1) „Damit etwas heilige Schrift ſei, ift nicht nothwendig, daß die einzelnen Worte, 
2) noch auch, daß die einzelnen Gedanken und Wahrheiten dem Schriftfteller un- 
mittelbar vom heiligen Geift:infpirirt worden feien.. 3) Es fann ein Buch, wie 
vielleicht das zweite Buch der Maccabäer, zur Hl. Schrift gehören, wenn es mit bloß 
menschlicher Kraft ohne Beiftand des hl. Geiftes niedergefchrieben worden iſt und 


der Hl. Geift nachher nur erffärt hat, daß in demfelben nichts Unmwahres enthalten . 


ſei.“ Ganz befonders wurde diefer letzte Sag anftößig gefunden. — Den Haupt- 
gegenftand des Streites bildete die Lehre des Leffins über Gnade und Präde- 
ftination. Diefe Lehre, wie fie theils in den übrigen 31 cenfurirten Sägen, 
theils und zwar ausführlicher in feinen Schriften: De praedest. et reprobat. und 
De gratia efficaci eto. enthalten ift, kommt der des Molina im Wefentlichen gleich, 
was fchon daraus hervorgeht, daß Leffius die zulegt genannte Schrift eigens zur 
Bertheivigung der Moliniftifchen Lehre gegen die Angriffe der Thomiften verfaßte, 
Seine Lehre ift folgende: Unverdient und auf zuvorkommende Weife verleiht Gott 
Allen, wenn auch nicht in gleichem Maße, die gralia sufficiens, d. h. eine folde 
Gnade, mit der der Sünder ſich befehren und das Gute thun fann, wenn er 
will. Denn könnte fi) der Sünder mit ihr nicht wirklich befebren, wäre dazu 


aufer ihr noch eine weitere Gnade nothwendig, fo wäre diefe Gnade nicht hin 


veichend. Bon ſich aus oder in aclu primo will Gott, daß jede Gnade Erfolg 
habe; daß fie aber in actu secundo bald wirkſam wird, bald nicht, bat feinen 
Grund nicht in einer befondern Wirkſamkeit oder Beihaffenheit der Gnade, fon- 
dern hängt von dem Einflimmen oder Nichteinſtimmen des freien Willens ab, 
Die Gnade ift gleichfam ein Inſtrument, das der Wille gebrauchen oder nicht ge— 
brauchen kann, gleichwie er die natürlichen Anlagen bethätigen oder nicht bethäti= 
gen kann, Es ift aber nicht fo zu verſtehen, fagt Leſſius weiter, als ob der Wille 





Leifius, 493 


der Gnade eine Kraft mittheile, wenn er fie wirffam macht, oder als ob er fie 
directe verurfache. Efficacia gratiae in actu secundo non pendet per se primo 
et secundum suam rationem supernaturalem directe a libero arbitrio, sed secundum 
eircumstantiam temporis modi ete. Hinc fit, ut rafio, cur gratia hic et nunc in- 
fluat in opus, referenda sit in liberum arbitrium gratia sic utens, sicut vicissim , 
ratio, cur liberi arbitrii,opus sit supernaturale et meritorium, referenda sit per se 
primo in gratiam. Sunt enim haec dua principia partialia ac proinde agunt cum 
matua dependentia et in ipso opere effectus sibi correspondentes habeat, Wie 
Leffius im Gegenfas zu Auguftin und Thomas die Gnade überhaupt ald eine 
folche faßte, die bloß bewirkt ut possimus fatere, si velimus, fo befteht nad ihm 
insbefondere auch die Gabe der Ausdauer nur in einer folhen Gnadenhilfe, durch 
die wir ausdauern fönnen, wenn wir wollen. In statu innocentiae sufficiebat 
homini ad salutem gratia, qua poterat perseverare, si vellet, ergo et nunc. ass. 
22. — Wenn Auguftin fagt, wir bedürfen nicht bloß einer Gnade, qua possi- 
mus, fondern auch qua faciamus, fo ift diefes nach Leffius davon zu verftehen, 
daß wir das Gute nicht thun fünnen sine concursu vel auxilio gratiae concomi- 
tantis, qui (concursus) peccatori ita praeparatus est, ut generalis et naturalis 
. eoncursus praeparatur naturali potentiae, v. gr. potentiae videndi. Gott ift bereit, 
die begleitende Gnade in actu secundo ung zu ertheilen, wenn wir wollen. Daß 
wir wirklich wollen, dazu ift feine wirffame, den Willen unfehlbar determinirende 
. Gnade nothwendig, wie diejenige etwa war, durch welche Paulus, Magdalena 
u. 9. befehrt wurden; es genügt eine viel geringere Gnade, die der vollften 
Freiheit Plag läßt, ass. 8, 9, 10. Gegen die legten Worte bemerft die Eenfur 
der Facultät von Douay: Wird, wie ed der Urheber der Affertionen zu thun 
fcheint, bei der Befehrung Pauli und anderer ohne Beeinträchtigung oder Auf- 
bebung der Freiheit eine wirffame, den Willen unfehlbar determinirende Erregung 
durch die Gnade anerfannt, warum follen wir eine folde Erregung bei der Be- 
kehrung Anderer beftreiten und die Worte Auguftins gewaltfam verdrehen? Mit 
diefer Lehre über die Wirkfamfeit der Gnade hängt die Prädeſtinations lehre 
des Leifius auf das Engfte zuſammen. Wenn Gott nah ihm in diefem Leben 
Allen, wenn auch nicht Jedem in gleihem Maße, die hinreichende Gnade zuvor= 
fommend und unverdient verleift, fo hat er diefe Gnade auch von Ewigkeit her 
unverbient aus reinem Wohlwollen zubereitet — praedestinatio ad gratiam (primam) 
mere gratuita. Die Prädeftination als Vorberbeftimmung zur Gnade ift aber noch 
incomplet; ihr Complementum bildet die Vorherbeftimmung zu den weitern Gna- 
denmitteln, und insbefondere zum ewigen Leben, Diefe Iegtere Vorberbeftiimmung 
geſchieht nach Leſſius ex praevisis meritis grafia comparatis. Nam jasti possunt, 
fagt er, nova auxilia mereri et beneficia, quibus crescant, et istis rursus alia et 
sic deinceps usque ad mortem; ergo in potestate justorum est complere suam prae- 
destinationem i. e. per gratiam efficere, ut conditionata Dei voluntas, illa beneficia 
conferendi,‘quibus ad salutem perducantur, transeat in absolutam. Defhalb hat 
nad ihm der Saß: si non es praedestinatus, fac ut praedestineris, Geltung, nicht 
als ob Jemand die Prädeftination zur erſten Gnade‘ verdienen Fonnte, fondern 
weil die Prädeftination zu den fpätern Gnaden und endlih zum ewigen Leben 
von dem Borherfehen der treuen Mitwirkung zu der erfien oder der je vorber- 
gehenden Gnade abhänge. Für diefe Auffaffung der Prädeftination berief fi 
Leffius auf ſämmtliche griehifhe Väter; auch bei Auguftin glaubte er feine Lehre 
zu finden, Quod si tamen, fügt er hinzu, contraria sententia est D. Augustini, non 
admodum referret, ass. 20. Was ihn Hierin über die Auctorität Auguftins fo 
leicht wegfehen Tief, war die Meinung, daß nur bei feiner Auffaffung der Gnade 
und Prädeftination die menfchliche Freiheit beftand, und das Streben des Men- 
Shen in der Zeit für die Ewigfeit eine Bedeutung habe, während bie fireng Au⸗ 
guſtiniſche und die Thomiftifche Lehre von einer unfehlbaren abfoluten Wirkfamfeit 


494 nenn 


der Gnade und von einer unbedingten Prädeftination ad gloriam die Freiheit und 
das fittliche Streben des Menſchen beeinträchtige und in Bezug auf Erlangung 
des Heils entweder zu Verzweiflung oder zu gottlofer Zuverficht führe, Haec sen- 
tentia de praedestinatione maxime consentanea est divinae bonitati, scripturarum 
auctoritati, patrum testimoniis, et nafuralis rationis aequitati, in nulla re omnino 
Pelagio favens et quam longissime a sententia Lutheri et Calvini et reliquorum 
haereticorum nostrae tempestatis recedens, a quorum sententia et argumentis diffi- 
cile est alteram sententiam (die Auguftinifch-thomiftifche) vindicare. ass. 31. Das 
Weitere fiehe in dem Art. Molina, { [8198.] 

Leß, Öottfried, proteftantiicher Theolog, geboren zu Conis in Weftpreußen 
am 31. Januar 1736, fludirte zu Jena und Halle unter Baumgarten, war 1756 
ordentlicher Profeffor der Theologie in Gdttingen und 1766 Doctor der Theologie, 


1784 erfter Profeffor der Theologie und Confiftorialrath, zulegt 1792 erfter Hof⸗ 


prediger in Hannover, Er farb den 28, Auguft 1797 nach einem fehr thätigen 
und achtungswerthen Leben bei fteter Kränflichkeit. Schriften hinterließ er fol- 
gende: Die Ehre der Bekenntnißbücher der evangelifch-Iutherifchen Kirche, Leipzig 
1758, Betrachtungen über einige neuere Fehler im Predigen, welche das Rüh- 
rende des Kanzelvortrags verhindern, 1765, Abriß der chriftlihen Moral, 1767 
(mit übertriebenem Rigorismus),. Entwurf eines philofophifchen Curſus der chriſt— 
Vichen Religion, 1790. Chriftlihe Religionstheorie für's gemeine Leben, oder 
Verſuch einer practifhen Dogmatik, 1779 (3. Auflage 1739 - unter dem Titel: 
Handbuch der riftlihen Religionstheorie für Aufgeflärtere), Ueberſetzung der 
Briefe Pauli an die Nömer und Eorinther. 1778. Ueber hriftliches Lehramt, 
deffen würdige Führung und ſchickliche Vorbereitung dazu, 1790, „Ueber den Zus 
ftand der Söhne- und Töchterfihule. 1796. — Leß war fein gelehrter, fondern 
mehr practifcher Theolog; fein Gemüth zog ihn zur Myſtik, feine Zeit und Bil- 
dung zum Nationalismus, fo daß Orthodoxe wie Heterodore ihn zu dem ihrigen 
rechneten, fo lange er blühte; nachher verläugneten ihn beide Theile. Seine 
Schriften befagen nicht viel; nicht felten fiehen an der Stelle der Beweiſe baare 
Tiraden und Decelamationen mit allerlei Unarten und Sonderbarfeiten des Styls 
und der Sprache. Am Beften nahm er fi als Kanzelredner aus, weil er mit 
Eifer und Wärme ſprach. (S. Necrolog auf das Jahr 1797. 8: Jahrg. IL Bd, 
©. 219. ff.) [Haas] 


Leti, Öregor, Gefchichtfhreiber. Er wurde geboren zu Mailand im 3.1630, | 


Seine erfte Bildung genof er bei ven Jeſuiten zu Eofenza, wo er bis zum J. 1644 
blieb, In den nächften Jahren weilte er meiftens zu Nom, Unfteter Sinn und 
andere Gründe trieben ihn im J. 1657 zu Reifen nach Frankreich und im die 
- Schweiz. Zu Laufanne, wo er mit einem Arzte, Joh. Ant, Duirin, befannt 
wurde, trat er zu den Neformirten über, und heirathete die Tochter des Duirin, 


Bom J. 1660 wohnte er in Genf. Im J. 1674 erhielt er das Chrenbürgerreht 
daſelbſt. Im J. 1679 ging er nach Franfreich auf Reifen; im J. 1680 nad) Eng- 


land, wo er am Hofe Carls I. wohl empfangen wurde. Der König gab ihm 
1000 Thaler zum Gefchenfe, und verfprad ihm die Stelle eines Hiftoriograpben, 
Da er in der Geſchichte Englands, die er fofort fihrieb, durch feine Sprache Anftoß 
gab, fo erhielt er Befehl, in zehn Tagen das Reich zu verlaffen, Im 3. 1682 
fam er nach Amfterdam, wo er als Geſchichtſchreiber eine Stelle fand, die er bis 
zu feinem am 9. Juni 1701 erfolgten Tode begleitete. Von feinen italieniſch ver— 


- 
N 


faßten Schriften nennen wir: Das Leben der Donna Olympia; Das Leben Sixtus V.5 


Der Cardinalismus; Hiftorifche Geſpräche; Politifhe Geſpräche ; Reife des rö- 
mifhen Hofes; Das regierende Italien; Leben Philipps I.; Britannifches Theater; 
Die Monarchie Ludwigs XV. ; Gefchichte von Genf; Teutfches Theater; Ge- 


fhichte von Brandenburg; Saͤchſiſche Geſchichte; Belgifhes Theater; das Leben N 
Cromwells; Das Leben der Königin Elifabeth; Das Leben Carls V., und vieles i 


Lettner — Restwillige Berfügungen. — 


Andere. Leti war Tendenzfchriftfteller, deffen Werfe auf Hiftorifche Glaubwürdig- 

feit feinen Anſpruch machen. Er ſchrieb eilfertig, und nahm es mit der Wahrheit 

nicht fehr genau. Vrgl. Iſelin u. d. A. [Gams.] 
Lettner, ſ. Kirche als Gebäude, 

Letztwillige Verfügungen. Die Lehre von den letztwilligen Verfügungen 
iſt beſonders im römiſchen Rechte von großer Bedeutung und von ſehr beträcht- 
lichem Umfange. Das Kirchenlericon kann fih auf diefe ganze Lehre nicht ein- 
laffen, fon aus dem einfachen Grunde, weil es feiner Tendenz nah das welt- 
liche Recht, infofern diefes nicht mit kirchlichen Berhältniffen in Verbindung fteht, 
von ſich ausſchließt. Daher können auch die Iegtwilligen Verfügungen nur mit der 
gleichen Einſchränkung hier behandelt werden. Nebſtdem wird aber noch von Allem 
Umgang genommen, was in den Art. „Erbredt, Erbfhaft“ und „Fidei- 
eommiffe” vorgefommen if, Im Allgemeinen ift eine legtwillige Verfügung 
nach mehreren Stellen im Tit. X. de-testam. et ult. volunt. 3. 26. ultima v. ex- 
trema v. suprema voluntas) die Willenserklärung einer Perfon auf den FL ihres 
Todes, namentlich in Anfehung ihres zeitlichen Bermögens, Vgl. L. 1. Dig..qui . 
testam. fac. poss. (28.1). Eine ſolche Dispofition ift in der Regel eine einfeitige, 

und die dabei vorfommenden Perfonen find einestheils der Disponent, von welchem 
der letzte Wille ausgeht, anderntheils die Honorirten, welche zu ihren Gunften 
darin bedacht find, Jener muß die Fähigkeit haben, zu disponiren, und bei diefen 
wird die Fähigfeit erfordert, mit Wirfjamfeit bedacht zu werben. Beides nennen 
die Römer testamentifactio, L. 16. Dig. qui testam, fac. poss. (28. 1.), wobei 
die Neueren eine active und paffive unterfheiden. Vgl. Schweppe, Röm, Pri- 
vatrecht. IV. Ausg. (Götting. 1823— 1833) Bd. V. $ 737T—788. Bon den ein- 
zelnen Arten Iegtwilliger Verfügungen, von Teftamenten, Legaten u, ſ. w. wird 
weiter unten die Rede fein, nachdem vorher die Geſchichte derfelben dargeftellt 
fein wird. Das Inſtitut folder Verfügungen war bei den Römern feit den älte- 
ſten Zeiten begründet. Wir finden es ſchon in den Gefegen der zwölf Tafeln. 
Ulpian. fragm. XI. 14. Gaji comment. II. 224. Cic. de invent. H. 50. Daß es 
fodann in das juftinianifche Recht überging, ift aus dem Corpus juris civilis be= 
kannt. Dagegen galt bei den alten Teutfchen nur die von dem Willen des Ver— 
ftorbenen unabhängige Inteftat-Erbfolge. Tacit. Germ. 20: „Heredes tamen suc- 
cessoresque sui cuique liberi, et nullum testamentum. Si liberi non sunt, 
proximus gradus in possessione, fratres, patrui, avunculi.* Man findet heut zu 
Tage auch noch in der Schweiz, wo fo viele alttentfche Elemente fih erhalten 
haben, daß die gefegliche Erbfolge die Regel bildet, und daß legtwillige Dispo— 
fitionen verhältuigmäßig felten find. Bluntſchli, Staats- und Rechtsgeſchichte 
der Stadt und Landſchaft Züri. 2 Thle. Zürih 1838 und 1839. Th. I. $ 51. 
©. 294. Imdeffen bei den Römern zur heidnifchen Zeit hatte die Kirche Chriſti 
überhaupt noch feine rechtliche Erwerbfähigkeit, konnte alfo auch durch letztwillige 
Verordnungen nichts erwerben. Jedoch hatten die Heidnifchen religiöfen Phantome 
und Perfonen bereits eine gewiffe Erwerb- und Erbfähigfeit. Sp z. B. fonnten 
nad Ulpian. fragm. XXI 6. ausnahmsweife gewilfe Götter und Göttinnen als 
Erben eingefegt werden, Auch ift an gewiffen Stellen von an Tempel refp. deren 
Priefterichaft überwiefenen Feideicommiffen und von Sclaven und Freigelaffenen 
der Tempel die Rede. L. 20. $ 1. Dig. de ann. legat. (33. 1.) Varro de ling. 
lat. Ed. Ottfr. Mueller. Lips. 1833. VII. (ſonſt VIL) c. 41. $ 83. Cie. divin. 
in Caecil. 17. Mit der Einführung des Chriftentbums und mit der in ibm wur- 
zelnden Einheit und Selbftftändigfeit der Kirche, fowie in Folge feiner hervorra— 
genden Macht über die Gemüther und Herzen der Menſchen änderten fich die Ver- 
hältniffe. Die Kirche kam befonders dur das Ediet des Lurinius vom J. 313 
in eine andere Lage, Diefes Ediet Tautet bei Lactant. de mortib. persecut. 48: 
„Et quoniam iidem Christiani non ea loca fanfum, ad quae convenire consueveranl, 


496 gestwillige Verfügungen. 


sed alia etiam habuisse noscuntur , ad jus corporis eorum, id est ecclesiarum, non 
hominum singulorum pertinentia, ea omnia lege, qua superius comprehendimus, 
eitra ullam prorsus ambiguitatem vel controversiam hisdem Christianis, id est cor- 
pori et convenliculis eorum reddi jubebis.* Damit war alfo fchon Die rechtliche 
Perfönlichkeit der Gefammtlirche, wie der Tocal- Kirchen und einzelner Inftitute 
anerfannt, die in der Folge unter dem allgemeinen Namen pia corpora hervor⸗ 
traten. Bol. Schilling, Inſtit. u. Geſchichte des röm. Rechts. Bd. I. $ 49, 
Endlich im J. 321 ertheilte der Kaiſer Eonftantin fpeciell den Teftamenten zu 
Gunften der Kirche rechtliche Kraft, welche fie bis dahin nicht hatten, L. 1. cod. 
de ss. eccles. (1. 2.) Vgl. üb, d. Oanze u. Savigny, Syflem d, röm._ Rechts, 
Br I. S. 267—272. Mit der Neception des römischen Rechts in Teutfchland 
famen auch bier die Teftamente und andere letztwillige Willensverorbnungen auf, 
und es ift anzuerkennen, daß bei der frommen und mildthätigen Richtung des 
Mittelalters auf diefem Wege der Kirche große Vergabungen zufloßen. Alles 
dieß ift feit der fogenannten Reformation durch die Verweltlihung der Menſchen, 
durch den einreißenden Unglauben und durch die maßlofen Webergriffe der welt- 
lichen Gewalt zwar anders geworden. — Die wichtigfte letzte Willensverordnung 
ift ohne Zweifel das Teftament, d. h. eine Dispofition über den Nachlaß, ver- 
bunden mit der Einfegung eines directen Erben. Erbe aber ift derjenige, welder 
in das Vermögen und damit auch in alfe Nechte und Verbindlichfeiten des Ver— 
ſtorbenen, fofern fie nicht höchſtperſönlich find, wie z. B. die väterlihe Gewalt, 
eintritt, und fofort den Verftorbenen repräfentirt, L. 37. Dig. de adquir. v. omilt. 
hered. (29. 2.) Nov. 48. pr. Weiter ift ein dir eeter Erbe ein folder, der un- 
mittelbar von dem Erblaffer felbft die Erbſchaft erlangt, nicht alfo aus den Hän- 
den eines -Andern, welchen der Erblaffer dazu beauftragt hat. Die Einfegung 
eines direeten Erben ift bei vem Teftamente weſentlich, und eben dadurch unter- 
ſcheidet es fih von dem Codieill, d. h. einer letztwilligen Verfügung ohne Ein- 
feßung eines directen Erben. $ 34. Inst. de legat. (2. 20.) $ 2. Inst. de codic. 
(2. 23.) L. 14. Cod. de testam. (6. 23.) L. 7. Cod. de codie. (6. 36.). Auch 
muß das Teſtament den ganzen Nachlaß erſchöpfen, nach dem Grundſatze: Nemo 
pro parte testatus, pro parte intestatus decedere potest, d. h. von mehreren Erben 
des nämlichen Erblaffers fönnen nicht Einige als Teftamentserben und die Uebri— 
gen als Inteflaterben fuccediren, und wenn daher über einen Theil nicht disponirt 
ift, fo erhält ihn dennoch der Teftamentserbe, $ 5. Inst. de hered. instit. (2. 14.) 
L. 7. Dig. de reg. jur. (50. 17.) — In Teftamenten und auch in Eodicillen fün- 
nen Bermächtniffe angeordnet fein, und diefe find entweder eigentliche Le— 
gate oder Fideicommiffe,. Nach den römifchen Duellen ift Die Definition der 
Legate fehr mangelhaft. $ 1. Inst. de legat. (2. 20.) Legatum est donatio quaedam 
a defuncto relicta. L. 36. Dig. de legat. I. (31.) — donatio testamento relicta. 
Der Begriff wird am Beflen negativ gegeben: Legat ift nämlich eine letztwillige 
Beftimmung, durch welche Jemanden, der nicht Erbe ift (dem Legatar), etwas 
zugewendet wird, fo daß der Erbe es ihm überlaffen muß. L. 116. pr. Dig. de 
legat. I. (30.) L. 2. Cod.,de his, quae sub modo leg. (6. 45.) ‚m älteften rö- 
mifchen Rechte wurde unter legare jede letztwillige Dispofition verftanden. L. 120. 
Dig. de verb. signif. (50. 16). Den Legaten hat Juftinian bie Fideicommiffe 
gleichgeftefft. L. 2. Cod. Commun. de legat. et fideicomm. (6. 43.) Es befteht 
aber doch noch bei ung im Begriffe ein Unterfchied fort. Ein Fideicommiß ift da 
gegeben, wo Jemanden etwas in der Art vermacht ift, daß es erft vorher ein 
Anderer befömmt, 3. B. wenn nach dem Tode des Legatars das Legat an einen 
Dritten falfen fol, Bemerfenswerth ift das Univerfal-Fideicommiß, wenn nämlich 
verordnet ift, daß die Erbſchaft von dem directen Erben auf einen nachfolgenden 
Erben (héres obliquus v. fideicommissarius) übergehen foll. Vgl. den Art, „Fidei⸗ 
commiſſe“. Endlich find noch die Schenkungen auf den Todesfall zu er⸗ 


Letztwillige Verfügungen. 497 
waͤhnen, d; 5. Schenfungen, die erft nad dem Tode des Schenfers in Erfüllung 


gehen. Schenkungen auf den Todesfall zu frommen Zweden, wenn fie über 500 








Solidos (nach der gemeinen Uſual⸗ Interpretation 500 Ducaten) betragen, müffen 
gerichtlich infinuirt werben. L. 19. Cod. de ss. eccles. (1. 2.) L. 34. pr. $ 1. 
%.-36. pr. Cod. de donat. (8. 54.) — Im Verlaufe der Zeit wurden den letzt⸗ 
willigen Verfügungen zu Gunften der Kirche und ihrer Inftitute manderlei ma- 
terielle und formelle Borrechte eingeräumt. Jede ſolche Dispofition, wenn auch 
die Perfonen und Inſtitute nicht genau bezeichnet waren, z. B. bei Erbeinfegun- 
gen Jeſu Chriſti, bei Vermächtniffen für die Armen oder für den Loskauf von Ge- 
fangenen, wurde für gültig erklärt, und die Bergabung fiel alddann an die Local- 
kirche des BVerlebten oder an den Bifchof der Didcefe, als Ereeutor. War über- 
dieß der mit einem frommen Legate beſchwerte Erbe fäumig, und von dem Bifchofe 
oder feinem Deconomen durch öffentliche Perfonen fhon zu zwei verſchiedenen 
Malen vergebens gemahnt worden, fo follte der Erbe unbedingt alles ihm Zuge— 
dachte verlieren, und zwar mit allen Früchten und allem Zuwachs der Zwifchen- 
zeit. Die Ereeutoren follten Alles zu Handen nehmen, und zu den angeoroneten 
Zwecken verwenden. L. 26. Cod. de ss. eccles. (1. 2.) L. 24. 28. 46. 49. Cod. 
de episcop. et cler. (1. 3.) Nov. 131. c. 11. Aug follte bei frommen Bermädt- 
niffen die fogenannte Quarta Falcidia (ſ. Faleidiſche Duart) nicht in Anreh- 
nung gebracht werden, L. 49. Cod. de episc. et cler. (1. 3.) Nov. 131. c. 12. 
Bol. Marezoll in der Zeitfhrift f. Civilrecht und Proceß v. Linde u. And, 
- (Gießen) B>. V. S. 76—106. Noch ein Privilegium hat die Praris eingeführt, 
darin beftehend, daß in dem Falle, wenn ein Teftament nichtig ift, gleichwohl 
das darin ausgefeste fromme Legat bei Kräften erhalten wird. Ueber das Privi- 
Tegium, welches in Cap. 4. de sepult. in VI. enthalten fein foll, vgl. Frig im 
Archiv f. d. civiliſt. Prax. Bd. V. S. 211— 212. Was die Form der Tefta- 
mente betrifft, fo kam feit dem fechsten Jahrhunderte die Anficht auf, daß man 
es der Religiofität wegen bei frommen Dispofitionen mit den Formalitäten nicht 
fo genau nehmen dürfe, wie bei gewöhnlichen Teftamenten, vorausgefegt nur, 
daß der Wille des Erblaffers gewiß fei. Conc. Lugdun. II. a. 567. e. 2., wo e$ 
beißt: „Quia multae tergiversationes infidelium ecclesiam quaerunt collatis privare 
donariis, id convenit inviolabiliter‘observari, ut testamenta, quae episcopi, pres- 
byteri, seu inferioris ordinis clerici, vel donationes aut quaecunque instrumenta 
- propria voluntate confecerint, quibus aliquid ecclesiae aut quibuscunque conferre 
videantur, omni stabilitate consistant. Id specialiter statuentes, uf etiamsi quorum- 
cunque religiosorum voluntas aut necessitate aut simplieitate aliquid a saecularium 
legum ordine videatur discrepare, voluntas tamen defunctorum debeat inconcussa 
manere et in omnibus Deo propitio custodiri.“ Unter Gregor IX. wurde fogar die bloß 
mündlich Hinterlaffene Berfügung für rechtsbeftändig erflärt. Cap. 4. X. de testam. 
@. 26.) Endlich im zwölften Jahrhundert wurde es Grundfaß, dag vor zwei 
oder drei Zeugen zum Beften der Kirche gültig teftirt und legirt werden könne. 
Cap. 11. X. de testam. (3. 26.) Auch geftattete Innocenz II. im 3. 1202, den 
legten Willen der Dispofition eines Dritten anheimzuftellen. Cap. 13. X. eod. 
Diefe beiden Privilegien wurden auch von den weltlichen Gerichten anerfanntz 
nur ift bei dem erfteren darüber Streit entftanden, ob die zwei oder drei Zeugen, 
wie die fieben Zeugen bei den Teftamenten nach römifchem Recht, der nothwen- 
digen feierlichen Form wegen, oder nur, um nöthigen Falls den Beweis des Testen 
Willens führen zu können, beigezogen werden. Die legtere, dem Geifte des ca- 
nonifhen Rechtes am meiften entſprechende Meinung führt zu der Folgerung, daß 
die Beiziebung der Zeugen auch unterbleiben fünne, und das Teftament dennoch 
gültig fei, wenn der Wille des Teftators durch andere Beweismittel außer Zweifel 

gefest ift. Die Literatur diefer Controverfe findet man bei Richter, Lehrb. des 
Kirchenrechts. IH. Aufl, $ 286. Note 7. und Permaneder, Handb. d, Kirchen- 

Kiräeufeziton. 6, 3b. ! 32 


48. | | Leuchter. 


rechts, Bd. IL $ 706. Das canoniſche Recht Hat übrigens noch überhaupt und 
ganz abgefehen von Iegtwilligen Verordnungen zum Beften der Kirche eine alfge- 
meine einfache Form der Teftaments-Errichtung vor dem Pfarrer und zwei Zeugen 
eingeführt, Cap. X. 10. de testam. (3. 26) und wenn fie gleich nicht gemeinvechtlich 
geworben ift, fo wurde fie doch im einzelne Landes- und Provincial- Gefeßgebungen 
aufgenommen, 3. B. in das Bamberger Landrecht, An den meiften der bisher 
aufgezählten Privilegien haben in den neueren Zeiten die weltlichen Gefege und 
Verordnungen viele Befhränfungen gemacht, bisweilen diefelben gänzlich aufge- 
hoben, und die Amortifationsgefege haben überhaupt Die Erwerbsfähigfeit der 
Kirche vielfach unterdrüct und verlegt. Namentlich wurde der Einfluß der Geift- 
lichen auf Errichtung und Vollſtreckung der Teftamente befeitigt, obgleich noch 
neuere Coneilien darauf verweifen, Clem. c. un. de testam. (3. 6.) Conc. Trid. 
Sess..XXIl, c. 6. de reform. Was jeßt die Kirche von Todeswegen erwirbt, er— 
Yeivet nicht mehr den Abzug der Quarta legatorum für den Bifchof, Cap. 14. 15. 


X. de testam. (3. 26). Dafür mußte aber in Bayern der vierte Theil deg Be— 


trags für die Armen (quarta pauperum) und ein weiterer vierter Theil für die 
Schulen (quarta scholarum) gegeben werden. Diefe die Freiheit und das Recht 


gröblich verlegende Einrichtung ift feit 1840 aufgehoben. Gefegblatt f. d. Kö⸗ 


nigreich Bayern v. 1840, Col. 21. — Alle Teftamentsfachen reffortiren nach den 
Decretalen, Cap. 3. 6. 17. X. de testam. (3. 26) zur geiftlichen Gerichtsbarkeit, 
diefe Einrichtung ift aber lange ſchon durch die weltliche Gewalt außer Wirkfam- 
feit gelegt, i TSartorius.] 
euchter (Candelabra, Cereostata, Cereofala, Cerostala), auf denen während 
des Gottesdienſtes Wachsferzen (Candelae, Cerei) brennen, hat man im Driente 
und Occidente feit den früheften Zeiten (Baron. ad a. 324 n. 64; ad natal. S. 
Felic. 3; Hier. contra Vigil. e. 3: August. contr. Crescent. 1. 8. c. 29, Bgl. Bin» 
terims Denkw. 4 Bd. 1. Th, 124. ff.): fowohl die Natur der Sache, daß ein 
Kerzenlicht auf einem Behälter ruhe, als auch das Beifpiel der Synogoge (2 Moſ. 


25, 31. ff.) munterten zu ihrem Gebrauche auf, Sie find dermalen vorzugsweiſe 


ein nothwendiger Schmuck eines jeden Altares; jedoch fo, daß die Hauptaltare 
gewöhnlich mit 6, 12 oder bei feftlichen Anläffen mit noch mehr Leuchtern geziert 
find, während auf Seitenaltären bloß 2 oder A Leuchter ſtehen. Ueberdieß werben 
auch dem Celebranten im Hochamte 2 Leuchter mit brennendem Lichte von Mini- 
ftranten bei der Proceffion zum und vom Altare vorgetragen, während des Amtes 
ſelbſt auf dem Crevenztifhe niedergeftelft, und nur während des Evangeliums 
son demfelben weggenommen, um in ber nächften Nähe des Evangelienbuches 
gehalten zu werben (Miss. Rom.). Minder wichtig find die Leuchter, die in ein- 
zelnen Gotteshäuſern theils an der Kirchenwand angebracht find oder in maffiver 
Größe vor dem Hochaltare ſtehen. Es hat fich der heutige Gebrauch erft nach 
und nad) entwicelt, So fpricht Hieronymus nur von Anzünden von Lichtern wäh- 
rend des Evangeliums (l. c.). Amalarius läßt vom Anfange der hl. Meffe bis 
nach gelefenem Evangelium Lichter brennen Ceclog.). Iſidor von Sevilla zeugt 
für das Brennen der Lichter während des Evangeliums und Opfers (orig. 1. T. 
c. 12). Biel fpäter fommen erſt Nachrichten, daß nah römifcher Sitte an den 
meiften Orten während der ganzen Meffe Lichter gebrannt werben (Microl. c. 11; 
Rath. Veron. ep. Syn.; Regin.l. 4. c. 60). Befonders alt ift im Morgen- und 
Abendlande die Sitte, die Leuchter durch fogenannte Kerzenträger (Kngogögoı) 


bei der Proceffion zum und vom Altare vortragen zu laffen. So heißt es ſchon 


im gregorianifhen Sacramentarium: „Pontifex procedit cum 7 cereostalis ad 
Missam“, und dann weiter: „Duo semper procedunt®. Dagegen ift Innocentius II, 
der ältefte Zeuge, daß Leuchter auf den Altar geftellt werden (de myst. Miss. 1. 2. 
e. 21), früher ſtellte man fie nämlich einfach auf den Boden nieder (Aocolythi po- 
nunt cereostata in pavimento ecelesiae, tria quidem in dexteram partem, et tria 





— Leusden — Leveller. 499 


in sinistram, unum vero in spatium, quod est inter eos; Ord. Rom. Vulg. cfr, 
Amalar.-(eclog.). Der Stoff, aus dem die Leuchter gefertigt werden, ift fehr ver⸗ 
ſchieden: e8 gibt folhe von Holz, Meffing, Zinn, Silber u, dgl. Der Reichthum 
oder die Armuth eines Gotteshaufes find hier maßgebend. Uebrigens hatte man 
auch fhon in früher Zeit foftbare Leuchter. Sp beriätet z. B. Anaftafius (in 
vit. Hormisd.) von filbernen Leuchtern, deren jeder 70 Pfund wog. Wie viele 
Leuchter auf dem Altare während der hl. Meffe brennen, ift an und für fich gleich- 
giftig (Conc. Trid. Sess. 22. decret. de observ. et evit. in celebr. M.). Beil man 
nun aber bie und da deßwegen eine größere Anzahl Lichter anzündete, um geift- 
lichem Hochmuthe frößnen zu fönnen, fo hat Nom geboten, daß Priefter (mit 
Einfluß der niedern Prälaten) die ſtille Meffe nur mit 2 brennenden Kerzen 
celebriren dürfen (S. R. €. 7. Aug. 1627; 27. Sept. 1659). Bei gefungenen 
Meſſen find der brennenden Lichter 4, bei Hochämtern 6 oder noch mehr, bei der 
bifhöflichen feierlichen Meffe haben nach alter Sitte mindeftens 7 Lichter zu bren- 
nen (S. R. €. 6. Aug. 1763). (Fr. X. Schmid.] 
Seusden, Johann, Orientaliſt. Er wurde geboren zu Utrecht im J. 1624, 
und bildete ſich daſelbſt neben den Sprachen beſonders in der Mathematik aus, 
Nachdem er in Amſterdam in ſeinem Fache ſich weiter umgeſehen, wurde er im 
J16409 Profeſſor des Hebräiſchen und der Alterthümer zu Utrecht, welchem Amte 
er zeitlebens mit vielem Erfolge vorſtand bis zum J. 1699. Sein Bemühen war 
beſonders, auf dem von den Buxtorf gelegten Grunde (ſ. I. Bd. ©. 238) fort- 
zubauen. Seine zahlreihen Schriften beziehen fich meiftens auf das Hebräiſche 
und das A. T. 
2eute, gute, f. Bons hommes. 
2eutard, Vorläufer der Neu - Manichäer oder Ratharer, Im J. 1000 
n. Ch. fand in einem gallifhen Dorfe im Gebiete von Chalons (apud vicum Vir- 
tutis vocabulo, in pago Catalonico), ein Mann auf mit Namen Leutardug, der 
unter dem Scheine der Verrücktheit undriftliche Lehren zu verbreiten fuchte. In 
diefen Lehren, ob fie uns auch verftümmelt berichtet werden, treten doch unver- 
fennbar manichälfche Elemente hervor. Er felbft berief fih auf höhere Dffen- 
barungen, die ihm geworden; auch auf die HI. Schrift berief er fih; doch nur fo= 
weit, als fie zu feinen Anfichten ftimmte, Die Propheten, meinte er, haben neben 
vielem Nüglihen zum Theil Unglaubwürdiges gelehrt. Bon feiner Frau trennte 
er fich, angeblich auf Befehl des Evangeliums, Dann zog er aus, wie zum Gebet, 
trat in eine Kirche, ergriff das Kreuz, und zerträmmerte das Bild des Heilandes; 
die es fahen, erfchraden und hielten ihn für wahnfinnig. Er wollte fie glauben 
machen, daß er all’ das in Folge einer Offenbarung thue. Viele aus dem Volfe 
hingen ihm anz hatte er ja auch gelehrt, Zehnten zu geben fei überflüffig und 
unfinnig. Der Bifchof der Didcefe, Gebuin, rief ihn zu fih. Bor ihm hielt er 
mit Bielem zurüf, und fuchte fonft feine Meinungen durd das Zeugnif der HI, 
Schrift zu erhärten. Dem Bifchofe gelang es, feine Anhänger ihm abwendig zu 
machen, und fie zu der Kirche zurüdzuführen. Leutard aber flürzte ſich in einen 
Brunnen und ertränfte fid. — 3. Glaber Rodulph. I. c. 11 bei Bouquet X. £. 
23. cf. Pertz, monum. T. IX. p. 61. Hahn, Geſch. d. neu-manichäifchen Keger, 
I. ©. 31. Stuttgart 1845. [Gams,] 
Leutomiſchl, Bistyum, f. Königgratz. 
Zeuwigild, f. Gothen. | 
Zeveller, religiös -politifhe Secte in England. Allmählig traten 
während der Kämpfe des englifhen Parlaments mit König Carl I. im. Gegenfage 
gegen die englifhe Hochfirche und die Presbyterianer die fogenannten Sndepen- 
denten hervor (vgl, Art. Jndependenten), eine religiös -politifhe Partei, 
deren Anhänger bei aller fonftigen Verſchiedenheit in den religidfen Meinungen 
doch darin übereinfamen, daß fie die Unabhängigkeit jeder einzelnen veligiöfen 
32? 


500° | Levi. | - 


Gemeinde und Enngregation von jeder andern fowie von ben Synoden und Pres- 
byterien behaupteten, Feinen eigenen geiftlichen Stand annahmen, nach Ouädfer- 
Art jedem Erleuchteten und Begeifterten das Auftreten als Prediger geftatteten 
und in politifher Beziehung nach Abfchaffung der Monarchie und Ariftveratie und 
Einführung einer allgemein gleichberechtigenden und freien Nepublif zielten. Inter 
den Independenten thaten fih aber als bie entfchiedenften die Nationaliften 
hervor , welche fich felbft diefen Namen gaben, weil fie fih, wie fie meinten und 
porgaben, nach ben Befehlen der Vernunft richteten, wogegen fie von ihren Wider- 
ſachern Teveller, d. i. Gleichmacher, benannt wurden, weil fie die Abſchaffung 
alles geiftlichen und weltlichen Regimentes, die Gleichheit der religidfen und bür- 
gerlihen Nechte Aller, die damit zufammenhängende Bolksfouverainetät und zum 
Theil auch eine größere Öleihmäßigfeit des Befiges predigten. Die Herrfchaft 
der Könige, fagten fie, mit der Bibel in der Hand, fei Gott verhaßt, Gott felbft, 
der Herr der Schlachten, habe über Carl den Stab gebrochen, Carl habe feine 
Anſprüche auf den Thron verwirkt, indem er den bei feiner Thronbefteigung gelei= 
ſteten Eid, die Freiheit feiner Interthanen zu ſchützen, gebrochen habe, er habe 
in ungerechten Schlachten das Blut feiner Unterthanen vergoffen und müffe dafür 
nah Gottes Befehl im 5. Buche Mofis zur Nechenfchaft gezogen und beftraft 
werben. Diefe fo Fategorifch und blutdürftig ausgefprochenen Anfichten machten 
große Fortſchritte, bald Huldigte ein großer Theil des Volkes und die Mehrzahl 
des erommellifchen Heeres diefen Lehren mit wüthender Begeifterung, bald faßen 
die Häupter ber Leveller im fogenannten NRumpf-Parlamente, wo fie fih von dem 
Prediger Hugh Peters als die zur Befreiung des Volks aus der Knechtſchaft 
Argyptens von Gott beftimmten Werkzeuge begrüßen ließen. Aber wie fol — 
prebigte der Fanatifer weiter fort, dieß in Erfüllung gehen? Das ift mir noch 
nicht offenbart worden. Hier Iegte er fein Haupt in die Hände und beugte ſich 
auf ein vor ihm Liegendes Kiffen. Nach einer Weile fuhr er empor und ſprach: 
„Jetzt eben erhalt’ ich die Offenbarung und will fie euch verkünden. Diefes Heer 
wird die Monarchie ausrotten, nicht bIoß hier, fondern auch in Frankreich und 
den übrigen Rönigreichen, die ung umgeben. Dadurch wird es euch aus Aegypten 
führen. Dan fagt, daß wir einen beifpiellofen Weg einfchlagen. Was aber fagt 
ihr zu der Jungfrau Maria? Gab es früher ein Beifpiel, daß ein Weib ohne 
Zugefellung eines Mannes empfangen konnte? Diefe unfere Zeit wird fünf- 
tigen Zeiten zum Beifpiele dienen,” Man fieht, diefe Rationaliften ver» 
Banden es, mit größter Leichtigkeit außerordentlich gottfelig zu than und fromme 
Betrügereien ald Mittel zu ihren Zwecken nicht zu verſchmähen; dabei herrfchte 
bei den Levellern ein noch viel größerer religiöfer Fanatismus als bei den Pres- 
böterianern, wie Cromwells betendes, fingendes, vifionäres und mordendes Heer 
bezengt. Endlich erreichten die Leveller in der Hinrichtung Carls und in der Eon- 
ſtituirung Englands zur Republik ihr Ziel, aber bald befand fih Crommell im 
Beſitze einer Macht, wie fie die Könige vorher nicht gehabt hatten, Aus den Le- 
vellern gingen, wie es feheint, „Die Männer der fünften Monarchie“ her- 
vor, welche die nahe Ankunft CHrifti und das taufendjährige Neich erwarteten, 
die Kirchen und den Clerus als überflüffig und fchädlich verwarfen und 1658 ſich 
zur Ermordung des Protector und zum Umfturz der Verfaffung verfhworen, was 

jedoch entdeckt und vereitelt wurde, Vgl. hiezu d. A. Großbritannien. [Schröbl.] 
Levi (775 Anfohließung), , LXX. Aevi, Vulg. Levi) wurde der dritte Sohn 
Jacobs von der Lean genannt, weil Ietere bei feiner Geburt gefagt: jest wird 
fih mein Dann an mich anſchließen (Ha urn 757 Genef. 29, 34), Er hatte 
drei Söhne, Gerſchon, Kehat und Merari (Genef. 46, 11), und wurde Urheber 
und Haupt des nach ihm genannten ifraelitifchen Stammes, der fih nad jenen 
drei Söhnen in drei levitiſche Familien oder Gefchlechter theilte (Exod. 6, 16), 


Levin — Leviten. 501 


Er ſtarb, wie die übrigen Söhne Jacobs in Aegypten, nachdem er ein Alter von 
137 Jahren erreicht hatte (Exod. 6, 16). Bon feinen ſonſtigen Lebensverhält- 
niffen und Schickſalen wird in der Schrift weiter nichts gemeldet, als die Gräuel- 
that, die er in Verbindung mit Simeon an den Sichemiten verübte. Dina näm— 
lich, eine Tochter Jacobs von der Lea, mithin Schwefter Simeons und Levis 
son väterlicher und mütterlicher Seite, wurde von Sihem, dem Sohne Hemors, 
entehrt; und als er fie zur Frau verlangte, gaben der Vater und die Brüder ihre 
Einwilligung nur unter der Bedingung, daß fih die Sihemiten befchneiden laſſen. 
Letztere fügten fich auch wirklich diefem harten Anſinnen. Am dritten Tage aber, 
als die Wunden am ſchmerzlichſten und gefährlichften waren, überfielen Simeon 
und Levi die Stadt, tödteten alles Männliche, auch Hemor und Sichem felbft, 
und nahmen ihre Schwefter Dina mit fich fort, worauf die übrigen Söhne Jacobs 
die ganze Stadt plünderten und große Beute machten, während Simeon und Levi 
um den Tadel ihres Vaters ſich nicht viel Fümmerten (Benef. 34). Außerdem 
erwähnt die Genefis in Betreff Levi's nur noch den auf ihn und Simeon zugleich 
bezüglichen Ausfpruch Jacobs, als er am Ende feines Lebens feine Söhne fegnete, 
der aber mehr einem Fluch als einem Segen gleicht (Genef. 49, 5—7), und na= 
mentlih gegen den Ausſpruch über Levi im Segen Mofes (Deut. 33, 8— 11) 
auffallend abſticht. Jacob nämlich weiffagt Zerftreuung Levi's unter die übrigen 
Stämme zur Strafe für fein Unrecht und feine hinterliftige Grauſamkeit an den 
Sichemiten, Mofes dagegen preist Levi glücklich als Inhaber des Prieftertfums, 
Berwalter des HI. Dienftes, Lehrer des Volfes und Eiferer für Gottes Ehre. Die 
Weiffagung Jacobs erfüllt fih nun zwar in der Folgezeit, aber auf eine Weife, 
daß auch Mofe’s Glüdlichpreifung volle Wahrheit behält; die Zerftreuung Levi's 
unter feine Brüder tritt ein, aber nicht als Strafe, fondern als Folge des Priefter- 
thums, nicht nur ohne Nachtheil für Levi, fondern als Auszeichnung und Bevor— 
zugung. Was alfo ald Strafe angedroht war, nahm den Charakter des Lohnes 
an, wo das bedrohte Subjeet durch Eifer für Gott und fein Geſetz die Straf- 
würbigfeit verloren und fich des Lohnes würdig gemacht hatte, (Bol. L. Reinke, 
die Weiffagung Jacobs. über das zufünftige glückliche Loos des Stammes Juda ꝛc. 
Münfter: 1849. S. 36, ff.) Levi aber (als Stamm) hatte diefes gethan bei Ge— 
Vegenheit der Anbetung des goldenen Kalbes in der Wüfte (Exod. 32, 26 — 29), 
Was in dem apoeryphiſchen Teftament der 12 Patriarchen über Levi vorkommt, 
3: B. daß er feinen Söhnen ihre Schiefale bis zum Gerichtstage vorhergefagt 
und feinen Tod vorbergefehen habe, daß er von einem Engel zur Rache an den 
Sichemiten aufgefordert worden fei, daß er in einer Efftafe durch den erflen und 
zweiten Himmel bis in den dritten geführt worden fei und über die noch höheren 
Hier Himmel Auffehlüffe erhalten habe ꝛc. Ccf. Fabricii codex pseudepigraphus vef. 
Test. 1.544) gehört in’8 Gebiet der Fabeln und verdient Hier feine weitere Erwähnung. 
Im N. T. kommt Levi als Eigenname wiederholt vor (Luc, 3, 24.29), nament- 
Ih wird von Marcus (2, 14) und Lucas (5, 27. 29) ein Zolleinnehmer fo ge— 
nannt, der vom Herren zum Apoſtel berufen wurde. Da diefe Berufung ganz 
unter denfelben Umftänden und auf diefelbe Weife erfolgt, wie die des Matthäus 
(Matth. 9, 9. f.), fo kann es faum einem Zweifel unterliegen, daß diefer Levi 
einerlei fer mit dem Apoftel Matthäus und wahrfheinlich in Folge feiner Beru— 
fung zum Apoftelamte einen andern Namen angenommen babe, [Welte,] 

Zevin, der heilige, f. Lebuin. 

Leviratsehe, f. Che bei den Juden, 

Leviten (arı7>, gewöhnlicher 775 2,LXX. Aevizaı, Vulg. Levitae) find 
im weiteren Sinne die ſämmtlichen Nachkommen Levi's (ſ. d. U), die den Stamm 
Levi bilden. Sie theilten ſich ſchon in Aegypten nach den drei Söhnen Levi's, 
Gerſchon, Kehat und Merari, in die drei Familien oder Geſchlechter der Gerſcho— 
niten, Kebatiten und Merariten (Exod. 6. 16, Num. 26, 57), deren zweiten 


502 Reden 


Mofes und Aaron angehörten (Exod. 6, 18— 20). Zur Zeit Mofe’s belief fi 
die Zahl der männlichen Angehörigen des Stammes Levi von einem Monat und 
darüber auf 22,000 (Num, 3, 39)5 nur um weniges höher (22,273) war die 
damalige Zahl der männlichen Erftgebornen der Jfraeliten, ſtatt deren die Leviten 
zum hl. Dienfte gewählt wurden (Num, 3, 41—45). Der Grund diefer Bevor- 
zugung Levi's Tag ohne Zweifel theils darin, daß Mofes und Aaron diefem 
Stamme angehörten , theils in dem Eifer, den die Leviten gegen die abgöttifchen 
Berehrer des goldenen Kalbes bewiejen (Erod. 32, 26—29). Erfteres erhellt 
ziemlich deutlich aus Num. 18, 2—6, wonad die Leviten um Aarons willen zum 
Dienfte beim heiligen Zelte berufen wurden, und für Letzteres (worauf ſchon Philo 
das Hauptgewicht legt Vita Mosis c. 3) ſpricht die nachbrüdlihe Hervorhebung 
jenes Eifers der Leviten (I. 0.). Damit wilf natürlich nicht behauptet werben, 
Daß das Prieftertfpum vom Stamm Levi eigentlich verdient worden fei, und die 
dagegen gemachte Bemerfung Bährs, das Prieftertfum fer „eine Würde, bie 
Sehova ertheile, die ganz und gar von feinem freien Willen und Rathſchluß, wie 
von feiner abfoluten Macht abhänge” (Symbolif des mofaifhen Eultus, II. 18), 
fpricht ebenfowenig dagegen, als fich ihre Wahrheit beftreiten läßt. Als ein dem 
Sehova und feinem Dienfte geweihter und geheiligter Stamm follte der Stamm 
Levi nicht, wie die übrigen Stämme, durch Aderbau für feinen Unterhalt zu for- 
gen haben, und erhielt daher bei der Austheilung des Landes an die Stämme 


Iſraels fein eigenes Stammgebiet oder Erbtheil (par, am: Num, 18, 20, 26, 62, 


. + 


Deut, 12, 12. 14, 27. Joſ. 13, 14, 14, 3). Sehova wollte fein Antheil und 
Erbe fein, und trat daher das, was das Volf ihm als dem oberfien Herrn und 
König der Theocratie zu leiften hatte, an die Leviten als Diener feines Heilige 
thumes ab (Num. 18, 20. 20, 23. f. Joſ. 13, 33), weßhalb ebenfp wie Jehova 
auch der priefterlihe Dienft Gm n3772) als ihr Erbe bezeichnet wird (Sof, 
18, D. Der ganze Stamm Levi theilte fih in Bezug auf den heiligen Dienft 
wieder in zwei Claffen, in Leviten im engeren Sinne und Priefter, In diefer 
Hinficht bilden die Priefter die höhere, die Leviten die niedere Stufe des Dienft- 
yerfonals, fo daß diefe bei ver Vornahme von Opfern und andern priefterlichen 
Functionen im Heiligtfume nur ald Gehilfen von jenen erſcheinen. Ihre Ein- 
weihung zum Amte wird Num, 8, 5—22, genau befchrieben, Sie wurden zuerft 
mit dem Entfündigungswaffer (nxem 2), deffen Zubereitungsweife nicht ange- 
geben wird, befprengt, mußten dann die Haare ihres Leibes abfcheeren, fich ſelbſt 
und ihre Kleider wachen, und fo in Gegenwart der ganzen Gemeinde Iſraels 
vor das hl, Zelt treten, wohin zugleich zwei junge Stiere, der eine fammt dem 
zugehörigen unblutigen Opfer zum Brandopfer, der andere zum Sündopfer, ge= 
bracht wurden, Dann Iegten ihnen die Söhne Iſraels die Hände auf und fie 
wurden von Aaron als Webe vor Jehova Cungewiß auf welche Weife) dargebranht, 
Durch beides (die Handauflegung und die Webe) wurben fie als fombolifches 
Dpfer für Jehova und feinen Dienft behandelt, zum Zeichen, daß fie die Stelle der 
männlichen Erftgeburt in Sfrael vertraten, die wie alfe Erftgeburt (ſ. d. A) dem 
Jehova als Opfer gehörte. Hernach mußten fie ihre Hände den beiden Opferthieren 
auflegen, welche fofort zur Sühne für fie gefchlachtet wurden. So deutete dieſer 
Einweihungsritus theils auf den Opfercharafter der Einweihenden, theilg anf die 
Reinheit und Heiligkeit hin, deren fie fich als Diener des Heiligtbums zu befleißi- 
gen hatten. Die Weihe galt aber nicht bloß ihnen felbft für ihre Perſon, fondern 
auch allen ihren Nachkommen, wenigftens zeigt fich in der Folgezeit nirgends eine 
Spur, daß Leviten beim Antritt ihre® Dienftes wären geweiht worden. Die Ob— 
liegenheit der Leviten beftund im Allgemeinen darin, die Priefter in der Ver- 
waltung des hl. Dienftes zu unterftüßen Mum. 8, 19. 22. 18, 6), nur eigent- 
liche priefterlihe Handlungen, die am Altar und mit den heiligen Geräthen ver— 


Leviten. 503 


richtet werben mußten, waren ihnen unterſagt (Num. 18, 3). Indeſſen waren 
ihre Gefchäfte nicht zu allen Zeiten ganz diefelben. Anfangs war außer der 
Unterflügung der Priefter beim HI. Dienfte ihre Hauptobliegenheit die Beauffih- 
tigung des HI. Zeltes, weßhalb fie auch unmittelbar um daffelbe gelagert waren, 
die Gerfhoniten gegen Abend Num, 3, 23), die Rehatiten gegen Mittag (Num, 
3, 29) und die Merariten gegen Mitternacht (Num. 3, 35), während Mofes und 
Aaron mit feinen Söhnen gegen Morgen vor dem Eingang des HI. Zeltes fi 
befanden, Bei den Wanderungen in der Wüfte hatten fie dann das Zelt abzu- 
brechen, feine Beftandtheile und Geräthe fortzufhaffen, und e8 am erforderlichen 
Orte wieder aufzurichten. Und diefes war fo ausschließlich ihr Geſchäft, daß jeder 
Angehörige eines andern Stammes, der fich daſſelbe anmaßen würde, mit dem 
Tode geftraft werden follte (Num. 3, 10. 38). Damit aber die diepfallfigen 
Berrichtungen in gehöriger Ordnung vor fi) gingen, war für jede der drei levi— 
tifchen Familien ihr Gefchäft genau beftimmt, Die Kehatiten hatten die Geräthe 
im Alferheiligften ,-im Heiligen und im Borhofe und den Abtheilungsvorhang des 
Zeltes zu beforgen (Num. 3, 3. f. 4, 1—16). Die Gerſchoniten hatten die Deden 
des Zeltes, den Eingangsvorhang an demfelben, die Umbänge des Vorhofes und 
den Vorhang an deffen Eingang fammt allen dazu gehörigen Seilen, Nägeln und 
andern Geräthen zu beauffichtigen und beim Weiterziehen des Lagers fortzufchaffen 
Rum, 3, 25. f. 4, 24— 28). Die Merariten Hatten die Bohlen, Säulen und 
Fußgeſtelle des Zeltes, die Säulen des Vorhofes nebft ihren Fußgeftellen und 
fonftigem Zubehör zu beauffihtigen und nöthigenfalls fortzufhaffen Num, 3, 
33. 37.-4, 29—32). Da den Gerfhoniten und Merariten die genannten Gegen- 
fände zu tragen zu befehwerlich gewefen wäre, fo erhielten erflere zwei, letztere 
vier bedeckte Wagen, mit je zwei Rindern befpannt, zu ihrem Gebraude (Num, 
7,3—8). In der befhpriebenen Amtsthätigfeit treffen wir die Leviten auch in 
der nachmofaifchen Zeit bald da bald dort an (vgl. 1 Sam, 6, 15. 1 Chron. 15, 
2. 27. 2 Ehron. 5, 4). Als jedoch fpäter der Tempel an die Stelle der Stifis- 
hütte trat, und damit das Heiligtum eine bleibende Stätte erhielt, verwandelte: 
fih für die Leviten zunächſt die Beauffihtigung der Stiftshütte in die Bewachung 
des Tempels. Derfelbe wurde nah allen vier Himmelsgegenden hin an den dort 
befindlichen Thoren bewaht; gegen Aufgang hielten fehs, gegen Mittag und 
Mitternacht je vier, gegen Abend zwei Leviten die Wache (1 Chron, 26, 12—19), 
und die Wachehaltenden fcheinen jeden Sabbath durch andere abgelöst worden zu 
fein (2 Chron. 23, 4. Im zweiten Tempel wurden nah Middoth 1, 1. die 
Wachen. bedeutend vermehrt, und es wurde an einundzwanzig Orten Wache ge— 
halten, nämlich an den fünf Thoren des Tempelberges, an den vier Eden des- 
felben innerhalb der Mauer, an den fünf Thoren des Vorhofes, an vier der Eden 
außerhalb, dann bei der Opferfammer, bei der Vorhangfammer und hinter dem 
Allerheiligften. Die Warhehaltenden fiunden unter dem Vorfteher des Tempel— 
berges, der zuweilen bei Nacht umberging und nachſah, ob fie nicht fehlafen ; die 
er fchlafend antraf, konnte er geifeln laffen und ihre Kleider verbrennen (Mid- 
doth 1, 2.) Außerdem hatten die Leviten den Tempel zu öffnen und zu fehließen 
ci Chrom. 9, 27), die Heiligen Geräthe und das vorhandene DOpfermaterial 
Mehl, Del, Wein und Weihrauch) zu beauffihtigen (1 Chron. 9, 23. f.) und 
für die nöthige Reinigung der erfteren, fowie der Tempelgebäude überhaupt, zu 
forgen (1 Ehron. 23, 28, 2 Chron. 29. 16), fodann die nöthigen Dele und Spe- 
cereien, die Schaubrode und das erforberlihe Backwerk zu bereiten (1 Chron. 9, 
30—32, 23,29), fowie überhaupt die Tempelvorräthe zu beauffihtigen (1 Chrom. 
26, 20. f.). Bei der Feier des Gottesdienſtes Tag ihnen einerfeits die Tempel: 
muſik und der Vortrag Heiliger Gefänge ob (1 Chrom. 15, 16. ff. 25, 1. ff. 
2 Ehron. 5, 12. 7, 6. Esra 3, 10. Neh, 12, 27), andererfeits mußten fie die 
Priefter beim Opferſchlachten unterflügen, namentlich den Opferthieren die Häute- 


504 Leviten. 


abziehen (2 Chron. 29, 34. 35, 11) und das Blut derſelben für die Prieſter 
auffammeln (2 Chron. 30, 16. 35,11), auch für die Unreingeworbenen die Pafcha- 
lämmer ſchlachten (2 Chron. 30, 17. 35, 11). Endlich wenn Collecten für Tem- 
pelreparaturen .nöthig wurden, hatten die Leviten biefelben einzufammeln, und 
dann bei den Neyaraturen felbft die Aufficht zu führen (2 Chron, 34, 9, 12, f). 
Zum Behufe des Dienftes beim Heiligthum und der regelmäßigen Abwechslung 
in bemfelben wurden nad Joſephus CAnt .VIL 14, 7) die Leviten wie die Priefter 
in 24 Claffen oder Ephemerieen abgetheilt, die einander je nach 8 Tagen ab- 
lösten, Außer diefen verfchiedenen Dienftleiftungen beim Heiligthum hatten aber 
die Lesiten auch noch anderartige Dbliegenheiten. Sie waren nämlich, und zwar 
wie es ſcheint zu allen Zeiten, auch als Richter thätig (Deut, 17, 18, f. 1 Ehron. 
23, 4. 2 Chr. 19, 11), und hatten das Volk im Geſetz zu unterwerfen (2 Chron, 
17, 8. f. 35, 3), und nah dem Exil namentlich‘ das Geſetz nicht bloß vorzuleſen, 
fondern auch in der dem Volke geläufigen aramäiſchen Sprache zu erflären (MNeb, 
8, 7. f.). — Dienftfähig waren die Leviten nach mofaifchem Gefege vom 25. 
bi8 zum 50. Jahre (Num, 8, 24); nachher wurden fie zwar vom gefeglichen 
Dienft beim Heiligthum entlaffen, durften aber ihren Familiengenoffen, wenn fie 
noch Fräftig waren, in biefem Dienfte Hilfe leiften (Num. 8, 25. f.). Wenn 
Dagegen nah Num, 4, 2. f. ihre Dienftfähigfeit erfi mit dem 30. Jahre beginnt, 
fo iſt damit nicht der Dienft überhaupt, fondern eine beflimmte Art deffelben, 
nämlich die Fortfchaffung der Stiftshütte und ihrer Geräthe gemeint (vgl. Welte, 
Nachmpfaifches im Pentateuh S. 145, f.). Später, wo die Zahl der Leiten 
größer und ihr Dienft leichter wurde, begann ihre Dienftfähigfeit ſchon mit dem 
20. Jahre (2 Chr, 31, 17), was auch in der nacherilifchen Zeit wieder fo ge— 
halten wurde (Esra 3, 8). Wenn dagegen 1 Chron. 23, 3. das 30. Jahr als 
Anfang ihrer Dienflzeit genannt wird, fo ift dieß bIoß ein Schreibfehler, der in 
demſelben Capitel ®, 24 noch berichtigt wird, wo in Uebereinſtimmung mit 2 Chron. 
31, 17. und Esra 3, 8. das 20. Jahr als folder Anfang genannt wird. Beach— 
tenswerth ift aber, daß weder die Chronik noch das Buch Esra bei ihren Angaben 
über die Dienftzeit der Lesiten das Ende derfelben beſtimmen. Es wird dadurch 
die alte rabbinifche Behauptung wahrſcheinlich, daß feit dem Beftande des Tem- 
pels ein beftimmtes Lebensjahr als Dienftaustritt für die Leviten nicht feftgefegt 
gewefen fer (Rabboth, 182, b.). — Eine befondere Amtskleidung ſchreibt das 
Geſetz für die Leviten nicht vor. Samuel trug als Diener der Stiftshütte ein 
feinenes Ephod (1 Sam. 2, 18), ebenfo die Leviten, welche die Bundeslade aus 
dem Haufe des Obed-Edom abholten (1 Chron. 15, 27). Diefes fiheint daher 
obfervanzmäßig ihre gewöhnliche Kleidung gewefen zu fein. Erft gegen das Ende 
des jüdischen Staates fuchten und erhielten die beim Tempelgefang thätigen Le— 
viten von Agrippa I. die Erlaubniß, die priefterliche Kleidung tragen zu dürfen 
(Jos. Ant. XX. 9,6). — Zu Wohnfigen erhielten die Leviten 35 in den 9 Stamm 
gebieten, außer Juda, Benjamin und Simeon, zerſtreut liegende Städte nebft 
deren Umgegend zu Lagerftätten und Weideplätzen für ihre Herden (Hof. 21, 5—7). 
Die Ausdehnung der Umgegend wird dahin beftimmt, daß fie von der Mauer 
an nach allen vier Himmelsgegenden hin taufend Ellen betragen müffe (Num. 35, 
4. 5. vgl, Rosenmüller , Scholia in lib. Num. Excursus Il. p. 447. sqq.). Wenn 
im Buch Numeri für die Leviten 48 Städte beflimmt werden (35, 7), fo find bie 
Lesiten im weiteren Sinne mit Einſchluß der Priefter gemeint, denn 13 von jenen 
48 Städten in den Stammgebieten Juda, Benjamin und Simeon waren Priefter- 
ftädte (Sof, 21, 4, 19). Nah der Trennung des Reiches aber entfernten fi 
die Lesiten aus dem Reich Iſrael und zogen ins Neid Juda und nah Jeruſalem 
(2 Chron. 11, 13, f.), und ebendort (in und um Jerufalem) ließen fie fih auch in 
der nacherilifchen Zeit wieder nieder (Ne. 11,18. 20.22.36). Für ihren Unter- 
haft forgte, wie ſchon bemerkt wurde, Jehova felbft, indem er gleihfam feinen 








Leviten, | 505 


Naturalbezug von den Sfraeliten als deren oberfter Landes- und Lehensherr an 
die Leiten abtrat. Derfelbe beftund in. der Zehentabgabe, die entrichtet werden 
mußte nicht bloß von Feld- und Oartenfrüchten, fondern auch von reinen Haus— 
thieren. Bon letzteren wurde je das zehnte Stüf, ohne auf die beffere oder 
ſchlechtere Befhaffenheit zu achten, genommen, und ein Umtaufch durfte nicht 
fattfinden, fonft fielen beide Stüde an das Heiligtfum, Bei den Feldfrüchten 
fonnte man den Naturalzehnten ablöfen, mußte aber dann den fünften Theil über 
den Schägungspreis geben (Levit. 27, 30—32. Num. 18, 21—24). Außerdem 
follten aber die Iſraeliten noch einen weitern Zehenten von ihrem Feldertrag, 
oder das aus ihm erlöste Geld zum Hejligtfum bringen und zu Mahlzeiten ver- 
wenden (Deut. 14, 22—26), und in jedem dritten Jahre außerdem noch an ihren 
Wohnorten Zehentmahlzeiten veranftalten und unter andern namentlich auch die 
Leviten an demfelben Theil nehmen Iaffen (Deut. 14, 28, 26, 12). Daher unter: 
ſcheiden auch die Thalmudiften einen erften (rosn Tr», Sota f. 49. b. Jebamoth 
86. a. oder einfah Awsn), zweiten Co Yo>n, Maaser scheni, 1, 1.2. 7. 2, 1. 
2. 3. 4. etc.) und dritten Zehenten (">> mo», Armenzehnte Pheah, 8, 2. 3. 8. 
Demai 4, 3. 4.). Ob aber der letztere ihrer Meinung nach in jedem dritten Jahre 
zum zweiten binzufommen oder an deffen Stelle treten follte, iſt nicht ganz klar. 
Man hat fogar die Entrihtung des zweiten und dritten Zehenten als eine Sache 
bezeichnet, die in der Wirklichkeit nie vorgefommen fei; allein da auch das Bud 
Tobiä einen zweiten (devrioe dezarn 1, 7) und dritten Zehenten (Toirn dexarn 
1, 8) kennt, und ebenfo FI. Joſephus CAntt. IV. 8, 8. 22), auh im Thalmud 
der Hohepriefter Jochanan es tadelt, daß Einige zwar den zweiten Zehenten ent- 
rihten, Andere aber es unterlaffen (Sota f. 49. b.); fo foheint es Faum bezwei- 
felt werden zu können, daß die verſchiedenen Zehentabgaben wirklich in Hebung 
gewefen feien, wenn gleich der Thalmud gelegenheitlich auch zeigt, daß und wie 
man die Zehententrichtung zu umgehen gefucht habe (Berachoth f. 35. b.). Die 
zum Theil etwas allgemeinen und unbeftimmt gehaltenen gefeglichen Beftimmun- 
gen in Betreff der Zehenten haben den alten Rabbinen zu einer Menge von nä- 
bern Deftimmungen und Zufägen Anlaß gegeben, die im Thalmud an verfchiedenen 
Stellen, namentlich in den Tractaten Pheah, Maaſeroth und Maafer fcheni vor- 
fommen; 3. DB. e8 müffe alles verzehntet werden, was eßbar fei, und werde zehent⸗ 
ſchuldig, fobald es genießbar zu werden anfange, Feigen z. B., wenn ihre Spigen 
weiß werden, Trauben, wenn man die Kerne in ihnen fehen fonne, Datteln, wenn 
fie Risen befommen, Mandeln, wenn fih am Kern eine Haut zeige (Maaseroth 
1, 1. 2); namentlih wird unter anderem Kraufemünge (7:7:7 Schebiith 7, 1. 
- 3Ödvoouov), Anis (n20 Maaseroth 4, 5. &v790v), Kümmel (712> Demai 2, 1. 
zuvor), Gemüfe (>77 Joma 83. b. Aayavov), wovon nah Matth. 23, 23. und 
Luc. 11, 42, die Schriftgelehrten und Pharifäer den Zehenten gaben, als zehent- 
ſchuldig bezeichnet, dagegen von der Nautes(D3>, uryavor), die jene ebenfalls 
verzehnteten (Luc. 11, 42), ausdrücklich gefagt, daß fie zehntfrei fer (Schebiith 
9, ) u. ſ. w. Diefes Zehenteinfommen gehörte jedoch noch nicht ganz den Le— 
viten, fondern fie mußten den zehnten Theil davon (Auyaz Ta ur) an die 
Priefter abtreten (Num. 15, 26. ff. Neh. 10, 39), und erſt das Uebrige war ihr 
Eigentum. Nach Joſephus (Vita, c. 15) und dem Thalmud (Jebam. f. 86.-a. 
Kethub. f. 26, a.) hätten übrigens zur Zeit des zweiten Tempels die Priefter den 
Zebenten auch unmittelbar vom Volk bezogen. Was hieran Wahres fer, wird 
wohl, da jo Manches dagegen fpricht, dahin geftellt bleiben müffen. Zum Behufe 
pünctlicher Entrihtung der Zehentabgabe ordnet übrigens das Gefeg weder eine 
befondere Eontrolirung noch wegen Unterlaffungen eine beſtimmte Strafe an; die 
Zehententrihtung war Religions- und Gewiffenspfliht, und wurde auch nur als 
ſolche eingefhärftz Borenihaltungen waren nicht bloß eine Beeinträchtigung der 
Leviten, fondern gewiffermaßen Jehova's ſelbſt, weßhalb auch die richtige Erfül- 


506 Levitenamt. 


lung dieſer Pflicht wiederholt als verdienſtlich und ſegenbringend bezeichnet wird 
(Deut. 26, 12—15, Sprüchw. 3, 9. f. Mal. 3, 8—12). Deßungeachtet konnte 
es an Unterlaffung derfelben in unruhigen Zeiten und unter abgöttifchen Königen 
nicht fehlen, und es war gewiß nichts Weberflüffiges, wenn einzelne Könige, wie 
3. B. Hisfia (2 Chron. 31, 4—10) die richtige Abtragung der Zehenten und 
Erftlinge einfchärften. Vrgl. dazu die Art. Hoherpriefter u. Priefter, [Welte.] 

Levitenamt. Wenn das hl. Mefopfer feierlich vom Priefter unter Affiftenz 
eines Diacons und Subdiacons, der Leviten, mit Gefang und Räucherung dar- 
gebracht wird, fo ift dieß ein Levitenamt (f. d. Art. Hohamt). Die Levitenämter 
unterfcheiden fi wieder von einander, je nachdem der Celebrant ein Priefter, 
oder ein Biſchof CPontificalamt) oder der Papft ift (Papalamt). Bei jedem diefer 
legtern fteigert ſich einerfeits die Liturgifche Fülle, andererfeits die hiftorifche Treue 
im firhlichen Eult der Meßliturgie, Schon bei dem gewöhnlichen Levitenamt tritt 
diefe Wahrnehmung der Privatmeffe eines einzelnen Priefters gegenüber fehr 
augenfällig hervor, Von der wefentlihen Dienftleiftung des Diacons bei der Li— 
turgie im Altertbum (f. Art. Diaconat) find feine Functionen in der feierlichen 
Meffe abzuleiten. Er war immer der nächſte Diener des celehrirenden Bifchofs 
per Priefters, darum ift er auch jest am Altare, wie es das Verhältniß feiner 
facramentalen Weihe zum Prieſterthum mit fich bringt, der Nächfte am Celebran- 
ten und der eigentliche und einzige Minifter deffelben, während der Subdiacon, 
wie er Anfangs nicht gefannt, fpäter unter die niedern dem Diacon im Ganzen 
und Einzelnen untergeordneten Kirchendiener gezählt ift, auch jest, nad feiner 
Erhebung zu den höhern Drbnungen des hl, Dienſtes, immer nur als Minifter 
des Diacons oder an gewiffen Stellen der Liturgie als deffen Stellvertreter beim 
Gelebranten erſcheint. Diefes Verhältniß, wie es einerfeitS in den hl. Weihen 
des Subdiaconats, Diaconats und Presbyterats gegründet if, erfcheint im Levi— 
tenamt auch Titurgifch ausgefprochen in der Stellung, welde die Leviten da zum 
Gelebranten einnehmen, wo fie feine Functionen vorzunehmen haben, Der Diacon 
ſteht nicht auf der oberfien Stufe des Altars, Suppedaneum , wo der Priefter ftebt, 
fondern eine Stufe weiter unten, während die Stelle des Subdiacons Feine Stufe 
des Altares, fondern der freie Raum unten am Altare hinter dem Diacon ift, 
zum Zeichen, daß fein Minifterium feine unmittelbare Beziehung zum Priefter 
alfp auch nur mittelft des Diacons am Dpferact dienend Theil zu nehmen hat, 
Seine einzelnen Berrichtungen haben wie die des Diacons ihre Hiftorifche Grund- 
lage und Berechtigung (fd. Art. Subdiaconat). Uebrigens fleht der Subdiacon 
von jeher dem Diacon und durch ihn dem opfernden Priefter näher als irgend 
ein Elerifer der niedern Weihen. Er erhält in feiner Weihe die Vollmacht, Kelch 
und Patene, den ganzen Meßapparat dem Diacon darzubieten, denfelben in der 
Mifhung des Weines mit Waffer zu unterflügen, wie er urſprünglich die Hl. 
Gefäße bereit halten und in den Opferwein das Waffer zu mifchen hatte. Daher 
denn auch feine Function beim Dffertorium, das Tragen der Patene big zur 
Brodbrechung (ſ. d. A.) nah dem Gebet des Herrn, und nah der Communion 
die Reinigung, Bederfung und das Wegtragen der hl. Gefäße vom Altare. Bei 
am diefen VBerrichtungen ift er begleitet und unterftüßt von einem Acolythen, der 
als Ceremoniar am Altare bald den Diacon, bald auch den Celebranten, bald 
den Subdiacon in ihren Functionen unterftügen muß, den Eelebrant jedoch nur 
da, wo der Liturgifche Gefang feine Hilfe dur Halten des Buches verlangt, Wie 
früher der Diacon die Obforge hatte über den ganzen Öottesdienft, fo hat jest 
an feiner Statt der Ceremoniar. die Obliegenheit, dafür beforgt zu fein, daß bie 
Liturgie ihren gefegmäßigen Verlauf habe; hat alfo das Meßformular zuzurichten, 
die Gebete zu bezeichnen, die Funetionen der Leviten zu begleiten, und bie übri- 
gen Acolythen zu dirigen, Allen aber, wenn fie fih vom Altare Hinwegbegeben, 
um auf den hiefür bereit ſtehenden Sitzen auf der Epiftelfeite fih zu feßen, das 


- 








gevitenrod — Lex Romana. 507 


Zeichen Hiezu, zur Bedeckung des Hauptes und zum Abnehmen des Birets bei den 
HE Namen u. f. w. und am Schluffe des Theiles, während deffen geſeſſen wird, 
zum Erheben und Hinfchreiten an den Altar wieder zu geben. Er vertritt beim 
Levitenamt die niedern Weihen , während die Leuchterträger und Thuriferare nur 
als Acolythen erfcheinen. So ift dann die ganze Ordnung der hierarchiſchen 
Stufen in der Kirche am HI, Acte des Opfers thätig und repräfentirt, [Kollmann.] 
Levitenrock, f. Kleider, Heilige, 

 2eviticus, ſ. Pentateuch. 
Lex barbarorum. Barbaren wurden bekanntlich von den Griechen 

und demnach von den Nömern überhaupt alle Bölfer genannt, die außerhalb des 
Bereiches ihrer Herrfihaft und der griechifch -römifchen Eivilifation flanden. Im 
engern Sinne aber wurden von den Römern feit des Cäſars Conſtantius 
Chlorus Zeiten die Burgunder, Franfen und die andern in Gallien eingewan- 
derten Bölfer Barbaren genannt. Seit diefer Einwanderung hießen Romani die= 
jenigen, welche im Lande geboren, barbari die, welche in die römifchen Provinzen 
eingewandert waren. Da die Römer die Herrfchaft verloren hatten, unter der 
Botmäßigfeit der Eingewanderten flanden und daher auch alle Bevorzugung jener 
aufgehört hatte,"fo verlor auch jene Benennung barbari das Gehäffige und Ver— 
ächtliche, das fie in früherer Zeit gehabt Hatte, und nannten fich jegt die einge- 
wanderten Bölferftämme, die Burgunder, Franken, Weftgothen, Vandalen ꝛc. 
felbft Barbaren zur Unterfoheidung von den eingeborenen (römifchen) Landesbe- 
wohnern. Barbari hieß alfo jeßt nichts Anderes, als Eingewanderte. Lex 
barbarorum ift daher au, im Gegenfage zu lex Romana, das eigene Recht der 
in’ die römischen Provinzen eingewanderten Völferftämme (vgl. den Art, lex Ro- 
mana), Noch unter der Regierung Ludwig des Frommen führt Agobard 
Cin feiner Schrift De lege Gundobadae) Klage über die große Verſchiedenheit der 
im fränfifhen Reiche geltenden Geſetze. Erſt allmäplig ift es dem Chriſtenthume 
gelungen, die noch aus den frühern uncivilifirten Zuftänden diefer Völker herrüß- 
renden Härten auszufcheiden, und Einheit und Gleichförmigfeit in denfelben her— 
beizuführen. [Marr.] 

Lex dioecesana, f. Abgaben und Didcefanredt. 

- —— Jurisdictionis, ſ. Biſchof, Dibceſanrecht und Gerichts— 
arkeit. 

Lex Romana. Unter dieſem Namen wird das römiſche Recht begriffen 
im Gegenfage zu den Gefegen der im fünften Jahrh. in die römifchen Provinzen 
des Abendlandes, befonders in Gallien, eingewanderten Völker (f. Lex barba- 
rorum), wo den eingeborenen Bewohnern der Provinzen (den Römern) noch 
lange Zeit hindurch von den neuen Eroberern geftattet wurde, nach ihren früher 
Gefegen (den römifchen) zu leben, während der eingewanderte Theil der Bevöl- 
ferung nad feinen eigenen Gefegen regiert wurde, Diefe lex Romana ift dann 
aber nicht das römifche Recht, wie es in fpäterer Ausbildung in den Pandecten 
und dem Rechtsſyſteme Juſtinians vorliegt, fondern ein Breviarium des Codex 
Theodosianus, welches im 20. Jahre des Weftgothenfönigs Alarich II. zu Ton- 
louſe zufammengeftellt und zwei Jahre fpäter (506) veröffentlicht worden ift und 

zuweilen Auctoritas Alarici regis, zuweilen Liber legum, gewößnlich aber lex Ro- 
mana genannt wird. Diefes Breviarium hat aus den 16 Büchern des Codex. Theod. 
(1.8. A) und aus den fpätern Novellen Theodoſius (des jüngern) und Balen- 
tinan II, die jenem Codex als Anhang beigefügt waren, ausgehoben und zu— 
ſammengeſtellt, was in den durch die Eroberung berbeigeführten veränderten Zu— 
fänden noch als beftehendes römifches Necht für den römifhen Theil der Landes- 
bewohner gelten follte, Daffelbe findet fi abgedruckt in Walter s Corpus juris 
germanici antiqui Vol. II. p. 691 — 756. Diefe lex war nun aber in Gebraug 
bei den romiſchen Galliern, d, i, bei jenen Galfiern, die vor Einwanderung der 


508 Leyfer — Libanius, 


Burgunder und Franken zum römischen Reiche gehört hatten, Sie war nament- 
lich in Gebrauch in den Provinzen Galliens, welche zu dem weftgothifchen Reiche 
gehörten Cin Süd - Gallien bis an die Pyrenäen). Auf diefe lex ift nun auch in 
kirchlichen Canones Bezug genommen und biefelbe als Nechtsquelle angezogen: 
z. B. im Coneil zu Arles (511) can. 1. in Betreff des Aſylrechtes; im Concil, 
Turon. II. (567) can. 20. 21. in Betreff gottgeweihter Zungfrauen, welche hei- 
rathen oder entführt worden find, wo Die lex Romana Tobesftrafen auf Entführung 
folcher Zungfrauen und Wittwen feßt, und gegen Ehen in nahen VBerwandtfchafts- 
graben. [Marx,] 
Leyſer (Lyſerus und Leiferus), eine ziemlich zahlreiche Gelehrten - Familie 
des 16ten, 17ten und 18ten Jahrhunderts, wovon mehrere den Zunamen Poly- 
carp führten. Der erfte bemerfenswerthe ift Polycarp Leyſer, geb. zu Winenven 
in Würtemberg den 18. März 1552, Sein Stiefvater war Lucas Dfiander, Leyfer 
wurde Pfarrer zu Göllersdorf bei Wien, hierauf Fam er zum Confiftorium in 
Wittenberg als Affeffor, wo er fich die Anerfennung der fogenannten Concordien⸗ 
formel fehr angelegen fein Tieß. In Streit gerieth er mit Johann Major, Samuel 
Huber (ſ. d. A.) und Jacob Gretfer (ſ. d. A.). Verheirathet war er mit einer Toch- 
ter des Lucas Cranach. Er ftarb am 22. Februar 1610, Seine Schriften, meift 
bibliſche Bearbeitungen und Streitfipriften, find Längft vergeffen, — Sein Sohn 
(ebenfalls Polycarp) war Dr. theol, und zuletzt Superintendent zu Leipzig, wo er 
1633 ftarb. Seine Hauptfohpriften find: Centuria quaestionum theol. de artieulis 
Christianae consordiae und feine Analysis theologica et scholastica in epist. ad 
Galatos. — Ein Johannes Leyfer aus obigem Gefchlechte zeichnete fih Durch Ver- 
theidigung der Polygamie aus, wodurd er viele Federn wider fi in Bewegung 
fegte, Er flarb in den bürftigften Umftänden 1684 zu Amfterdam, — Leyfer, 
Polycarp, geb. 1660, geftorben 1728 als Profeffor in Helmftädt, Er war Pro- 
feffor ver Philofophie, Dr. medicinae und Dr. juris und hinterließ viele Titerär-hifto- 
rifche Schriften. Mit einer für feine Zeit und Glaubensgenoffen feltenen Unpar« 
teilichfeit fehrieb er feine Oratio de ficta medii aevi barbarie. Die übrigen Leyfer 
fönnen wir füglich übergehen und verweifen auf Iſelins hiftorifch, Lexicon Bd, IIL 
und Supplementband II. [Haas.] 
Libanius, berühmter griechifcher Sophift aus dem vierten Jahrhundert n, 
Chr, Er wurde zu Antiochien aus vornehmen Geſchlechte geboren, zwifchen 
314—316 n, Chr. Nachdem er in feiner Vaterſtadt feine erfte Bildung erhalten, 
ging er nach Athen, wo er befonders die alten Elaffifer ſtudirte. Bald wurde er 
fo befannt, daß er ein öffentliches Lehramt zu erhalten hoffen konnte, Der Rhetor 
Nicoeles bewog ihn, nach Conftantinopel zu ziehen. «Aber der Neid feiner Gegner, 
die den ihm gefpendeten Beifall nicht leiden mochten, vertrieb ihn bald, Er wurde 
ber Magie befchuldigt, und durch den Präfeeten Limenius verwiefen — um 346, 
Er begab fih nach Nicomedien, wo er mit vielem Beifall Tehrte, und von wo ex 
nach fünf Fahren nah Conftantinopel zurüdgerufen wurde, Müde der dortigen 
Kämpfe, und einen Nuf nach Athen ablehnend, wirkte er von Cäſar Gallus fich 
die Erlaubniß der Rückkehr in feine Vaterſtadt aus. Dort blieb er auch nad) dem 
Tode des Gallus (354) bis an fein Ende, welches bald nach dem J. 391 ers 
folgte, in welch’ letzterem Jahre er noch lebte. Kaifer Zulianus (ſ. d. A.) war 
Gönner und Bewunderer des Libanius; er machte ihn zum Quäſtor und fand in 
Briefwechfel mit ihm. Von Kaifer Valens wurde er zuerft verfolgt, erlangte 
aber fpäter deffen Gunft. Er verfaßte eine Lobrede auf den Kaifer, und ver— 
anlafte ihn zu einem Gefege, das den natürlichen Kindern ein gewiſſes Erbrecht 
ſicherte, wobei Libanius perfönlich betheiligt war. Libanius, obwohl Hellenift 
und Anhänger des Julianus, war nicht befonders intolerant gegen bie Chriften, 
Er war Lehrer des Baſilius und Chryfoftomus, und blieb mit ihnen befreundet, 
Bon einer großen Eitelfeit, in Folge deren er empfindlich und ſtreitſüchtig war, 














Libanon. 509 


ift er nicht freizufprechen. — Schriften: 1) rooyvuvaouerwv nagadeiyuare, 
Muſterſtücke als Vorübungen zur Beredtſamkeit, in 13 Abfchnitten. 2) Reden, 
im Ganzen 65, zu denen noch zwei weitere hinzufamen, die fpäter aufgefunden 
wurden. 3) ueltrar vder Derlamationen, Reden über fingirte Gegenftände, und 
mannigfadhe Schilderungen, im Ganzen 51. 4) Ein leben des Demofthenes und 
Smbaltsangaben zu deffen Reden — auch den meiften Ausgaben des Demofthenes 
beigegeben, — Ju feinen Reden zeigt fih Libanius als gewandter Nahahmer der 
Alten, befonders des Demoſthenes. Seine Sprache iſt rein und attifch elegant; 
doch wird Einfachheit und Natürlichkeit vermißt, die feiner Zeit überhaupt fremd 
waren, Seine Reden enthalten viel über die gleichzeitige Gefchichte und Literatur, 
3. B. die Lobreden auf Conftantins und Conftans, die Reden an und über Ju— 
lianus, mehrere auf Antiochien ſich beziehende Neden, mehrere gegen Jcarius, 
den Comes Orientis um 384 oder 385, und gegen andere Gegner, die er wegen 
feiner politifchen Haltung unter den höhern Beamten oder als Lehrer fich zu— 
gezogen. Auch verfaßte er mehrere Reden moraliihen Inhalts nah dem Ge— 
ſchmacke jener Zeit, 3. B. über die Freude, über den Reichthum, über die Ar— 
muth u. f. w. 5) Faſt noch wichtiger in Beziehung auf die Zeitgeſchichte find die 
Briefe des Libanius, wovon ung eine große Zahl (1605 bei Wolf, in griechiſcher 
Sprade, wozu noch 522 in Iateinifcher Ueberfegung fommen) erhalten iſt. Diefe 
Briefe find zum großen Theil gerichtet an die politifch oder Literarifch bedeutendften 
Männer der Zeit, 3.3. Julianus, Athanafins, Baſilius, Gregor von Nyffa, 
Ehryfoftomus u. a. m., neben denen auch viele ganz Furze Briefe, bloße Em- 
yfehlungen, Höflichfeitsbezeugungen oder perfönlihe Nachrichten vorfommen ; alle 
diefe Briefe find mehr oder weniger anziehend und zierlich gefchrieben. Dazu ge= 
hören noch die von W. Morell herausgegebenen errısokızoi Xagaxrıjgss oder 
Briefformulare. Andere noch nicht befannt gewordene Briefe follen fih noch in 
manchen Bibliothefen finden; ebenfo auch Reden deffelben. — Bon den Schriften 
des Libanius erfihien bis jest Feine Gefammtausgabe. Die befte Ausgabe feiner 
Reden ift von Reiske: Libanii sophistae orationes et declamationes ad fidem opt. 
cod. recens. et perp. adnot. illustravit Reiske. Altenburg. 1734 sqq. IV vol. — 
Die befte Ausgabe feiner Briefe iſt: Libanii Epp. Gr. et Lat. ed. et nott. ill. Wolf. 
Amstel. 1738 fol. — Das Leben des Libanius findet ſich befchrieben in einer Art 
Selbſtbiographie — Buös 7; L0yoS nregl eis Euvrov TuynS, fowie bei Suidas 
und Eunapius (Vit. Sophist.), Bon Neuern haben e8 gefchrieben: Berger, de 
Lib. Disp. VI. — 696; Reisfe vor feiner Ausgabe. T. I. und Peterfen, Comm. 
de Libanio soph. P. I. Havn. 1827. [&ams.] 
SLibanon, 75:22, Alßavos, Libanus; der Name nicht etwa von Alßavog, 
der Weihrauchbaum, fordern von j2> canduit; 712 heißt fomit der weiße Berg, 
entweder wegen des ewigen Schnee’S auf feinen (bef. des Hermon) Gipfeln (vgl. 
Alpes = albi montes), oder vielmehr, da der Schnee nicht in fo großer Menge vor- 
handen ift, um dem ganzen Gebirge ein ſtets markirtes Ausſehen zu verleihen, 
wegen des weißen Kalkſteins, aus dem es befteht, und wodurch die felfige Ober- 
flache überall weißlich erſcheint (Robinfon III, 723). — Der Libanon, das große 
Gebirg (der Berg Ar zer. 28. Ezech. 17, 25. Hagg. 1, 8.) an der nördlichen 
Grenze des alten Paläftina (Deut. 11, 24. Joſ. 1, 4.) zerfällt in zwei von 
Nordoft nah Südweſt parallel fih binziehende Bergfetten, deren weftlihe, der 
eigentliche Libanon Ciegt LU) >, Dſchebel Libnan) füblih von Sidon an- 
hebt und fih Tängs dem mittelländifchen Meere Hinzieht, bald mehr, bald weniger 
F gegen die Küfte hervortretend und mehrfach mächtige und fteile Vorgebirge in’s 
I Meer ausfendend; die öftliche Höhere Kette, bei den Griechen und Römern Arrı- 
Aßevos, Antilibanus (die Schreibung Antilibanen iſt den Alten nicht befannt, 
iegt PA N/ Oſchebel eſch Schurky, d. i. der oͤſtliche Berg) fällt gegen 


510 Libanon. 


Nordoſt und Oſt nach der Wüſte und Damascus zu ab. Letzterer Stadt beinahe 
gegenüber theilt ſich die öſtliche Kette in zwei Rücken, die etwas auseinander 
laufen und den fruchtbaren Wady et-Teim einſchließen. Der öſtlichſte ver beiden 
Rüden fegt feine fünweftlihe Richtung fort und iſt die eigentliche Verlängerung 
des Antilibanus, diefes ift der majeftätifhe Hermon ET) des A. T, (Deut 

3, 9. Pf. 29, 6. 89, 13. Hohesl. 4, 8. 9.), auh Baal Hermon (Richt. 3, 3, 
1 Chrom. 5, 23.) und, weil er nicht eine einzelne Bergfpige, fondern eine Berg 
fette, fo erklärt fih der Plural (oraan Pf. 42, 7.). Die Eanaaniter nannten 
Cnad Deut. 3, 9.) den Hermon jo, Schirjon Cogl, Pf. 29, 6,), und bie 
Amoriter Ani, Senir (Ezech. 27, 5. vgl. Hohesl. 4, 8. noch erhalten in der 
arab, Form Sunir zu Abulfed, Zeit), auch jin”w, Sion (Deut, 4, 48,), wahr- 
fcheinlich weil diefe befondern Spigen ihnen die nächften waren; der höchfte Punct 
des Hermon erhebt fih 10,000 Fuß über dem Mittelmeer, fein Anblick entzückt 
jest noch alle Reifenden und erflärt Stellen, wie Hphest. 5, 15. Der Gipfel ift 
mit ewigem Schnee bedeckt; daher führt der Hermon ſchon von Alters her Die 
Benennung Schneeberg (chald. ab "10, Tur Talga, Targ. Hieros. Deut, 4, 


48., arab. zZ! > Digpebel es⸗Saldſch, jeht al M> Digebet eſch⸗ 


Scheikh, vgl. Robinfon II, 505, II, 609 ff. 625 ff. u. a.). Bon diefem bibl, 
Hermon ift zu unterfcheiden der fog. „Eleine Hermon“ der h. Dfehebel ed Duby, 
im Norden der Ebene Jesreel, eine Stunde fühlih vom Thabor. Die Bibel 
fennt diefe Bezeichnung nicht, fie entftand wahrfcheinlich im vierten Jahrhundert 
aus unrichtiger Deutung von Pf. 89, 13, (Thabor und Hermon jauchzen ob dei- 
nem Namen); da fie hier zufammen erwähnt find, fo wurde angenommen, fie 
müßten auch nahe bei einander gefucht werden; in den Tagen des Hieronymus 
war die Verwechslung fhon allgemein üblich (vgl. ep. 44. ad Marc. ep. 86. ad 
Eustoch. Robinfon III, 404 ff.). — Zwifchen beiden Bergrüden, dem eigentlichen 
Libanon und dem Antilibanus, Tiegt die äußerſt fruchtbare „Ihalebene des Li— 
banon“ (Joſ. 11, 47.), das alte Coleſyria (xoidn Svoie Plin. 5, 17. Str. 16, 
754), jest — „el⸗Bukaa, vom Fluß Litany (d. alten Leontes) bewäſſert. 


Traurige Reſte der ehemaligen Herrlichkeit dieſes Thales find die Ruinen von 
Baalbek (Heliopolis). — Der nördlichſte Theil des Libanon, wo Canaaniter und 
Sfraeliten vermifeht wohnten, hieß Grenzmarke der Heiden (DYa7 2723 Jeſ⸗ 
8, 23,, daraus der Name Galiläa Matth, 4, 15.). Das herrfchende Geftein des 
Libanon ift weißlicher Zurafalf (Nichter, Wallfahrt S. 683), es finden fih 
Mufcheln und Fifchverfteinerungen auf 3000 Fuß Höhe (Korte, Reife, 270), 
Die Höhe erhebt fih, der Gebirgsart gemäß, ftufenweife und endet in wellen- 
förmigen Plateau’s. Die Höhen bleiben ſtets mit Schnee bedeckt (Tacit. hist. 5, 
6. ipsa aestas eorum [jugorum Libani] est hiems), in alter Zeit Holte man ihn 
son dort, um die Getränke zu fühlen (vgl. Spr. 25, 13. 3a3U nz, Gähnee- 
abfühlung); in den nievern Regionen ſchmilzt er zur Sommerzeit, ſpendet reich- 
liche Bewäfferung (Hohesl. 4, 15.), und erzeugt eine fehr üppige Vegetation 
(Hof. 14, 6. Nah, 1, 4.); arabifhe Dichter fagen daher vom Libanon: er trage | 
den Winter auf feinem Haupte, auf feinen Schultern den Frühling, in feinem 
Schooße den Herbft, der Sommer aber fhlummere zu feinen Füßen am Mittel- 
meer (BoIney, Reife ꝛc. I, 243), Namentlich ift jegt der Weſten vortrefflich 
bebaut, die fteile und felfige Oberfläche wird durch gemauerte amphitheatralifch 
fich erhebende Terraffen für den Anbau zugerichtet, diefe find von oben mit Erde 
belegt, von unten angefehen ift die Vegetation nicht fichtbar, man. glaubt nur 
Maſſen nackter weißliher Felfen durch tiefe, wilde, nach der Ebene hinlaufende 
Schluchten getrennt vor fi zu haben, hinter welchen eine Menge betriebfamer 








i _ Libellatiei — Liber diurnus Romanorum Pontificum. 541 


Dorfer mit ausdauernden und fleifigen Bewohnern verborgen iſt; am meiften 
wird der Maulbeerbaum gepflanzt und viel Seide erzeugt, faft die einzige Er— 
werbsquelle; außerdem ganze Haine von Gilberpapeln, Platanen, Eichen, Cy— 
preffen, Acarien; au die Rebe gedeiht in den tiefern Lagen und liefert treff- 
lihen, ſchon in alter Zeit (Hof. 14, 8. Hohesl. 8, 11.) gefannten Bein, Nahe 
beim nördlichen und vielleicht höchſten Gipfel des Libanon beim Dorfe Bſchirrai, 
zwei Tagreifen von Beirut, liegt der altberühmte Cedernhain. In der neueften 
Zeit fcheint die Zahl diefer herrlichen Bäume wieder im Zunehmen, Robinfon 
fand ihrer mehrere Hundert. Lange hielt man diefen Hain für den einzigen Ueber— 
reft der alten Cedern des Libanon; im J. 1805 entdedte Seetzen noch zwei an- 
dere von großem Umfang (Zachs, monatl. Eorrefpondenz;, XII, 549, f. d. Art. 
Cedern). Der Libanon ift reich an manderlei Thieren, auf den Triften weidet 
Schaf- und Ziegenvieh (Jerem. 40, 16.); in den Wäldern, fowie in den vielen 
Höhlen und Schluchten Haufen Bären, Wölfe, Schafale, Löwen ꝛc. (Hohes. 4, 
5 ff. vgl. 2 Kön. 14, 9.). — Libanon und Antilibanus fenden Flüſſe nah allen 
Richtungen; gegen Norden den Drontes, gegen Südweften den Leontes, beide 
in's Mittelmeer; der Antilibanus entfendet oftwärts die Waſſer Amana und Phar- 
phar nach dem alten Damascus; gegen Süden endlih ſtrömt der Jordan dur 
den Genezareth in's todte Meer. Zn der falomonifgen Zeit gehörte der Libanon 
dem Hiramz jegt bewohnen ihn Hauptfählih die Maroniten; im Diftrict Kesra— 
wän find fie faft die einzigen Einwohner; der gewöhnlihe Wohnfig ihres Pa- 
triarchen ift das Klofter Ranöbin auf dem Libanon Hinter Tripolis, Früher waren 
die Drufen (ſ. d. A.) die Herren des Gebirges; feitvem aber die herrfchende 
Emirsfamilie, das Haus Schehäb, zu dem maronitifchen Glauben übertrat, und 
in Folge Hievon der ganze höchfte Adel des Berges, werden fie an Zahl und 
Macht von den Maroniten übertroffen (Robinfon II, 744 ff. 753 ff.). [Rönig.] 
Libellatiei, f. Abgefallene, * 
 Libelli paecis. f. Abgefallene. 

Libelli poenitentiales, ſ. Beichtbücher. 

Liber diurnus Romanorum Pontifiecum — eine fehr alte 
Sammlung son Formularien der römifchen Kirche, nach welchen die beftändig 
fih wiederholenden Gefhäftsfchreiben der Päpfte abgefaßt wurden. Diefes For- 
mel- oder Kanzleibuch der römifchen Kirche zerfällt in fieben Capitel, welche 
wiederum in Titel abgetheilt find: das erfte Capitel (indiculum scribendae epi- 
stolae) enthält die ſtehenden Formularien der päpftlihen Schreiben an den Raifer, 
die Kaiſerin, den Patricius, Exarchen, Conful, König, Patriarhen, Erzbifchof 
von Ravenna ꝛc.; das zweite Kapitel (de ordinatione Summi Pontificis) handelt 
von der Wahl und Drvdination des Papſtes und den dabei vorfommenden Ge- 
ſchäftsſchreiben an den Kaifer, Erarchen ꝛc.; in derfelben Weife Handelt das dritte 
Capitel (de ordinatione Episcopi Suburbicarii a Summo Pontifice) son der Wahl 
und Confecration der fuburbicarifhen Bifhöfe; im vierten Capitel (de usu Pallü) 
finden ſich vier Formularien für die Verleihung des Palliums; das fünfte Capitel 
(de praeceptis Summi Pontifieis ad Episcopos suae ordinationis, de sacris locis ef 
Sanctorum reliquiis) umfaßt 21 Formeln für die verfchiedenen Gefchäftsverhält- 
niffe, in welchen der Papft zu den von ihm ordinirten italifchen Bifchöfen ſtand; 
das fechste Capitel (de rebus ecelesiae procurandis et alienandis) bezieht fih auf 
; die Verwaltung und Veräußerung der römifchen Kirchengüter; und endlich das 
fiebente (diversa privilegia apostolicae autoritatis concessa Monasteriis, Diaconiis 
et Xenodochiis) auf die Ertheilung von Privilegien und Conceffionen an einzelne 
tirhliche Inftitute und Corporationen. — Ber diefe für die Kenntnif der Nechts- 
verhältniffe dersrömifhen Kirche im fechsten und fiebenten Jahrhundert höchſt 
wichtige Sammlung veranftaltet Habe, läßt ſich nicht ermitteln, und ebenfo ift 
auf die Zeit ihrer Abfaffung unbeſtimmt; indeffen ſetzt fie der Jeſuit Garnier 








512 "Liber pontificalis — Liber septimus. 


mit großer Wahrfcheinlichkeit bald nach dem J. 714. In den Oefegesfammlungen 
des Zoo von Chartres, Gratian, Anfelm von Lucca u, A. finden ſich einzelne 
Bruch ſtücke aus dem Liber diurnus, aber die Sammlung in ihrer Bollftän- 
digkeit blieb lange unbekannt; Baluzius bemerft zu Petrus de Marca CL. 1. 
e. 9. n. 8), ſchon Lucas Holftenius habe im J. 1660 eine vollftändige Ausgabe 
des Liber diurnus zu Nom veranftaltet, allein fie fei unterbrücdt worden, Die 
erfte, mit einer ausführlichen Einleitung und gelehrten Noten und Differtationen 
serfehene Ausgabe beforgte der fehon erwähnte Jeſuit Joannes Garnerius: 
Liber diurnus Rom. Pontif. ex antiquissimo codice. MS. nunc primum in lucem 
editus. Parisiis, 1680. Nachträge hiezu Iieferte J. Mabillon, Museum Italicum, 
T.I. P. II. p. 32. Mit diefen erfehien er in Christ. Godof. Hoffmann, Nova 
scriptorum et monumentorum collectio, Lips. 1733. T. II., und zulegt von P. J. 
Riegger, Viennae, 1762. 3 [Rober.] 

Liber pontificalis, ſ. Kirchengeſchichte. 

Liber septimus. Unter diefem Namen ift eine Sammlung päpftlicher 
Derretalen befannt, die gegen das Ende des 16ten Jahrhunderts Petrus Mat- 
thäus von Lyon ohne Öffentliche Auctorität verfaßte. Er nahm in fein Werf alle 
diejenigen päpftlichen Conftitutionen auf, die von Gregor XI. bis auf Sirtus V. 
erfchienen waren, ohne in's Corpus juris canonici (ſ. d. U.) aufgenommen zu fein; 
er theilte fie nach dem Mufter der bisherigen Sammlungen in fünf Bücher und 
Titel ein und Hatte die Abficht, einen Anhang zu den im Corp. jur. befindlichen 
Ertravaganten zu geben. Zum erftien Male wurde diefe Sammlung in Lyon im 
J. 1590 gedrudt, aber obwohl fie bald nachher auch in die Gefammtansgaben 
des canonifchen Gefegbuches aufgenommen wurde, fo hat fie doch weber in ben 
Schulen noch in den Gerichten fich gefegliches Anfehen verfhaffen Tonnen und be⸗ 
ſitzi ſolches auch heutzutage in keiner Weiſe; die in ihr enthaltenen Deeretalen 
haben nur diejenige öffentliche Geltung, die fie einzeln für fi in Anſpruch 
nehmen fönnen, auch wenn fie nicht in der Sammlung flünden. Der Werth der 
Compilation, wenn überhaupt von einem folhen die Rede fein kann, iſt demnach) 
lediglich ein Hiftorifher — und wenn fie als Anhang zu den Ertravaganten in 
den Ausgaben des Corp. jur. von Petrus Pithöus und J. 9. Böhmer noch auf⸗ 
genommen wurde, ſo wurde ſie in der neueſten Edition von Richter mit Recht 
hinweggelaſſen. — Mit dieſer Sammlung des Petrus Matthäus iſt ein anderer 
Liber septimus, welcher derfelben Zeit angehört, nicht zu verwechfeln. Gre— 
gor XIII. hatte drei Carbinälen den Auftrag ertheilt, eine officielle Compilation 
der neuern päpftlichen Eonftitutionen zu verfaffen. Nach feinem Tode ſetzte Six⸗ 
lus V. im J. 1587 eine neue Commiſſion von Rechtsgelehrten zu demſelben Zwecke 
nieder und wählte zum Vorſtand derſelben den Cardinal Dominicus Pinelli; 
unter Clemens VIII (1592—1605) wurde die Sammlung, die nach der Form 
der bereits vorhandenen in Bücher und Titel eingetheilt war, vollendet. Aber 
obwohl fie im J. 1598 unter dem Namen Liber septimus Decretalium Clementis VII. 
bereits gedruckt war, fo erfolgte ihre Publication doch niemals. Pins IV. hatte 
nämlich, und zwar vollfommen im Sinne des Triventinums (Sess. XXV, decret. 
de recipiendis et observand. decret. Conc.), ſchon im 3. 1564 „ad vitandam per- 
versionem et confusionem® die Anordnung getroffen, daß die Befchlüffe diefes 
Concils, über welche Zweifel entftehen follten, nur durch ben römifchen Stuhl 
interpretirt werben bürften und diejenigen mit der Ercommunication bedroht, 
welche Privateommentare, Gloffen und was immer für Snterpretationen der be= 
treffenden Befchlüffe veröffentlichen würden (Magnum Bullar. Rom. Tom. Il. p. 111). 
Nun enthielt der in Frage ſtehende Liber septimus gleichfalls die Beſchlüſſe des 
Tridentinums, und es Tag die Gefahr nahe, daß die Sammlung, wenn fie ver- 
bffentlicht würbe, nach ber bisherigen Praxis alsbald mit Commentarien und 
Gloſſen verfehen und ebendamit in Betreff der Trienter Deerete das wohlbegrüns 


4 512 


dete Verbot Pius’ IV. mißachtet würde. Um hiezu Feine Veranlaſſung zu geben, 
unterblieb dje Publication. — Vgl. Prosper Fagnani, Comment. ad c. 12.X. 
de judie. (2. 1.) ar. 61 sqq. und Prosper tambertini, Instit. eccles. Ingolstad, 
1751, p. 304. BE [Rober.] 
- Liber sextus — der dritte Theil des Corpus jur. can. (ſ. d. A.). Nach⸗ 
dem im Jahr 1234 die große Deeretalenfammlung Gregors IX. erfhienen und 
überall als Gefegesbuh anerfannt worden war (f. den Art. Gregorii IX. de- 
eretales), floffen die Duellen des Eirhlihen Rechts ununterbrochen fort. Die 
feit dem bezeichneten Jahre erfchienenen päpftlihen Deeretalen wurden wie bisher 
efammelt, jedoch nicht mehr von Privatperfonen, — denn dieß hatte die 
blicationsbulle Gregors IX. ausdrüdlich unterfagt, — fondern auf Veranlaffung 
und unter Mitwirkung der Päpfte ſelbſt. Die Gefhichte des canoniſchen Rechts 
kennt drei folder Decretalenfammlungen. Die erfte ift von Innocenz W. 
(1243—1254) veranftaltet und enthält die Befhlüffe des erften Lyoner Concils 
(1245) nebft einigen Deeretalen defjelben Papftes; er fandte fie an die Univer— 
fitäten von Bologna und Paris zum Gebrauche in den Gerichten und Schulen. 
Sie wurde von Henricus, Cardinal von Oſtia (+ 1254) gloffirt und von J. 9. 
Böhmer in feinem Corp. jur. can. (Tom. Il. App. Nr. 3. p. 349 sqqg.) nad einem 
Manuferivte der Berliner Bibliothek zum erſten Male edirt, — Die zweite ift von 
Gregor X. (1271— 1276), begreift bloß die Decrete des zweiten Lyoner Eon- 
eils (1274) und wurde von der Synode feldft redigirt. Wilhelm Durantis hat 
zu ihr einen Commentar gefhrieben, fie findet fih in den Eoncilienfammlungen, 
3.3. bei Manfi, Tom. XXIV, p. 81; ein Berzeihniß der Varianten gibt Boh— 
mer 1. o. Nr. 4. p. 369. — Die dritte ift bloß aus einer Handfhrift der. Er- 
langer Bibliothek: befannt und enthält fünf Deeretalen Nicolaus’ HI.; an der 
Spige der Sammlung ftehen zwar die Worte: incipiunt constitutiones NicolailV.; 
da aber in den Conftitutionen feldft immer der Name Nicolaus’ IH. ſteht, und da 
fie auf im Liber sextus (ec. 16. 17. de elect. 1. 6; c. 1. de jurejur. 2. 11.) dem- 
felden Papſte zugefhrieben werben, fo ift Far, daß die betreffende Ueberſchrift 
aus der Unfenntniß eines Abfchreibers entftanden und Nieplaus III. (1277 — 1280) 
ihr Berfaffer if. Sie wurde, wie die voranftehende Publicationsbulle beweist, 
an die Pariſer Univerfität geſchickt. — Diefe Sammlungen follten nun nach dem 
Willen der Päpfte nicht abgefondert für fich beftehen bleiben, vielmehr waren fie 
- bereits in Bücher und Titel abgetheilt und mit dem ausdrüdlichen Befehl an die 
Univerfitäten geſchickt worden, die einzelnen Stüdfe in die Sammlung Gregors IX. 
an den geeigneten Stellen einzurüden; „uti velitis, fagt die Bublicatioushulle Inno⸗ 
‚senz’ IV. bei Böhmer 1. c. p. 351, a modo tam in judiciis, quam in scholis, ipsas 
‚sub suis titulis, prout super qualibetexprimitur, inserifacientes.“ 
Allein diefe Einverleibung wurde nie vollzogen, fondern jede einzelne Sammlung 
abgefondert gefhrieben, gloffirt und ver Sammlung Gregors IX. angehängt, 
fo daß das Corpus Decretalium jegt aus vier Theilen beftand. Diefer Umftand, 
und noch mehr die Thatſache, dag feit Abfchluß der gregorianifhen Sammlung 
viele Deeretalen erlaffen worden waren, die fih in feiner der feinen Samm- 
lungen vorfanden und über deren Aechtheit in den Gerichten und Schulen vielfach 
Zweifel erhoben wurden, veranfaßten Bonifaz VIII zu dem Entſchluß, eine 
umfaffende authentiſche Sammlung ſämmtlich er feit Gregor IX. erfchienenen 
Decretalen zu veranfialten und fo die entftandene Rechtsunſicherheit zu bejeitigen, 
Die Ausführung diefer Arbeit übertrug der Papft im J. 1297 drei gelehrten 
Prälaten, dem Erzbifhof von Embrün, Gutlielmus de Mandagots, dem Bifchofe 





| yon Bezierd, Berengarius Fridellus und dem Cardinal-Virefanzler Richardus von 








Siena, Ueber den Antheil des berühmten Legiften Dinus f. d. Art. und Sa- 

Yigny, Gefhichte des römischen Rechts, V. Bd. S. 399, 405, Das Materiale, 

welches die Redactoren benügten, find die drei bereit$ erwähnten Compilationen, 
Kirchenlexikon. 6. Br. 33 


514 Liber status animarum — Libera. 


einzelne Extravaganten Gregors IX. (z. B. c. 1. de rescript. VI. 1. 3; ec. 1de 
testib. VI. 2. 10.) und feiner Nachfolger, hauptfädhlich aber die von Bonifaz 
felbft erlaffenen Conftitutionen. Bon den Deeretalen, die fih vorfanden, wurden: 
jedoch nicht alle aufgenommen, fondern nur Diejenigen, die zu allgemeinen Ge— 
fegen geeignet fehienen, und an den aufgenommenen wurden, um fie dem all- 
gemeinen Gebrauche anzupaffen, viele Veränderungen vorgenommen, theils 
durch Ausſcheidung ungeeigneter Gtellen (3.8, c. 1. de decimis VI. 3. 13.), 
theils durch Beifügung neuer Zufäße (3. 3. c. 2. ne clerici. VI. 3. 24.), fo daß 
die weggelaffenen papftlihen Verordnungen hinfort ihre Wirffamfeit gänzlich ver- 
Toren und die aufgenommenen nur in der Form gefegliches Anfehen erhielten, im 
welcher fie aufgenommen wurden, ein Verfahren, gegen welches lediglich Nichts 
einzuwenden ift, und weldes Bonifaz in, feiner, Publicationsbulle (bei Böhmer): 
offen darlegt. Die neue Sammlung wurde genau in biefelben Bücher und. 
Titel eingeteilt, wie die Sammlung Gregors IX., nur mußten einzelne Titel 
wegen Mangels an Stoff binweggelaffen werden, das Ganze aber wollte Bonifaz 
nur als Anhang zu der Sammlung Gregors betrachtet wiffen und gab ihm deß⸗ 
halb mit Rüdficht auf die fünf Bücher der Iegtern den Namen Liber sextus 
decretalium. Binnen Jahresfrift war die Arbeit vollendet, am 31. März 1298 
publicirte fie Bonifaz in einem Eonfiftorium, und nad einer genauen Prüfung 
durch die Cardinäle wurde fie nach Bologna und Paris geſandt; ob fie auch an 
die legtere Univerfität geſchickt worden fer, wurde wegen der heftigen Streitig- 
feiten zwifchen dem Papfte und Philipp von Frankreich vielfach bezweifelt, allein 
ohne Grund, denn das in der Bibliothek zu Gießen befindlihe Manuſcript ent⸗ 
hält die Publicationsbulfe für Paris, welde mit der für Bologna beſtimmten, 
die in den Ausgaben des Sextus gewöhnlich vorangedruckt ft, wörtlich überein- 
flimmt. — Alsbald wurde die Sammlung gloffirt, in den Schulen erflärt und in 
den Gerichten als Geſetzesbuch gebraucht, fo daß fie, wie die Sammlung Gre— 
gors IX., allgemeines Anfehen erlangte und noch heute einen integrirenden 
Beftandtheil des Corp. jur. can. bildet, Weber die Eitirart gl, den Art, Corp. 
jur. can. II. Bd. ©. 891. — Eine Gloſſe zum Sextus fhrieb Guido de Baifo, 
feit 1283 Archidiacon zu Bologna; die Glossa ordinaria verfaßte Johannes An- 
dreä (f. den Art, Andrei Joh.), Profeffor des canonifhen Rechts zu Bologna 
(+ 1348); Apparate lieferten Johannes Monahus, Picardus und Zen- 
zelinus de Caſſanis. — Vgl. über den Liber sextus: Van Espen, Commen- 
tarius in Canones, dissertaf. histor. in Lib. sextum. J. H. Böhmer, Corp. jur. 
can. dissertat. de decrelalium Pontif. Rom. variis collect. p.XXX. Koch, opuscula 
juris can. p. 43 sqg. [Rober,] 
Liber status animarum, f. Kirchen bücher. ae 
Libera. Darunter verfteht man das feierliche, mit den fymbolifchen Arten 
der Befprengung mit Weihwaffer und der Beräucherung begleitete Gebet, welches 
am Tag des Begräbniſſes erwachfener Perfonen, wie auch am 3. 7. und 30. 
darnach, am Jahrestag und am Gedächtnißtage aller Abgeftorbenen nad dem 
Requiem verrichtet wird, Es heißt Libera vom Anfangswort des dabei gefungenen 
Refponforium, auch Absolutio; das Iegtere wohl deßhalb, weil die Dration bei 
den Erequien mit Absolve anfängt. Absolvere defunctos est dicere collectam 
mortuorum: „Absolve etc.“ Du Cange s. v. Absolutio. Weber das hohe Alter 
einer derartigen, von der Darbringung des hl. Meßopfers verfchiedenen Fürbitte 
ſ. Fr. X. Schmid, Liturgif, Bd, I. ©, 470, Heut zu Tage befteht fie in einem 
Refponforium und einer Eoflecte, ©, die Art, Erequien und Abfolution, Dag 
Refponforium Yautet: „Errette mich, v Herr, von dem ewigen Tode, an jenem 
furchtbaren Tage, wenn Himmel und Erde bewegt werden, da du fommen. wirft, 
die Welt zu richten durch Feuer. Zittern und Furcht überfälft mich, wenn ich 
gedenfe an das Gericht und die kommende Rache an jenem furchtbaren Tage, 








Liberius. 515 


Sener Tag, der Tag des Zornes, der Tag des Elends und bes Jammers, der 
große und bittere Tag, da du fommen wirft ꝛc.“ Es wird von Chore, der Bier, 
wie fonft, die gefammte Kirche repräfentirt, gefungen und hat als lyriſcher Erguß 
im Ritus der Erequien feine paffende Stellung und findet da feine Erflärung, 
Die Kirche, wenn fie eines ihrer Glieder in das über ihr flehende Bereich auf- 
genommen weiß, fucht zunächft den Herrn deffelben zur Milde zu beftimmen durch 
das große Dpfer des neuen Bundes (Requiem), ſchaut aber auch die Noth ihres 
Kindes, Als Mutter veräußert fie fih ganz in diefe Noth; fie empfindet das 
Bangen und Zagen einer Seele, welde, geftellt vor den dreimal Heiligen und 
durchleuchtet vom Lichtglanz ewiger Wahrheit als reinftes Eigenthum nur Nichtig- 
feit und Sünde an fich erfennt; fie fühlt, wie groß der Befig des erfannten In— 
begriffs alles Guten ift: beides drängt die Bitte hervor, nur nicht ewig von Gott 
gelondert zu werden, fomme dann der Befig, wann er wolle. Die Kirche fegt 
Alles ein, um diefe ihre Bitte Fräftiger zu machen. Faſſen wir dad Officium divin. 
als Opfer der Kirche und diefes Reiponforium ald Surrogat des ganzen Officium 
Defunctorum (aus welchem es auch entnommen ift); fo kann diefe Fürbitte als 
die fräftigfte angefehen werden. Aus dem Gefagten erklären fih die Ausdrücke: 
libera me, a morte perpetua etc. wohl von felbft zur Genüge. Man hat für 
den Chor an die Stelle des Libera in gewiffen Gefangbücern gefegt: „Hier 
Menſch, bier lerne, was du bift! Lern’ Bier, was unfer Leben ift: Ein Sarg nur 
and ein Leichenfleid Bleibt dir von aller Herrlichkeit 0.” Wo mehr Geift, Poeſie 
und mehr Einheit mit den übrigen Eulttheilen fei, kann füglih dem Urtheil des 
Lefers überlaffen werden. Die römifche Liturgie zeigt fih großartig auch im 
Heinften, ſcheinbar unbedeutendften Theil. [Frid.] 

Siberius, Bapft, ein geborener Römer, gelangte nach Papſt Julius. 352 auf 
St. Peters Stuhl, für welchen ihn feine Frömmigfeit und fein Glaubenseifer in 
reihem Maße befähigten. Das Kirchenhaupt bedurfte aber aud damals einer 
befondern Glaubensfraft. Grimmig war der Haß der arianifchen Hofbifchöfe 
gegen Alle, welche nicht in ihre Gemeinfhaft treten wollten; der Kaifer Con— 
fantius cf. d. Art. Conftantius II.) war der tyrannifhe Bollftreder ihrer Ge— 
füfte, die geiftlichen Höflinge aber feine fügfamen Werkzeuge, die in ihrem feigem 
Hochmuthe dem Kaiſer gerne das Prädicat „ewig” beigelegt hätten, was fie dene 
Sohne Gottes verweigerten. Der Hauptgegenftand ihres Haffes war der glau— 
benstreue Bifhof Athanafius (f. d. A.). Um die dur die Verfolgung diefes 
katholiſchen Glaubenshelden entftandenen Wirren beizulegen, verlangte der Papft 
Liberius die Synode von Arles (353). Durch Erfhöpfung alfer Mittel der 
Liſt und Gewalt fegte Conſtantius die Abfegung des Athanafins durch, felbft der 
päpftliche Legat unterzeichnete diefe. Auf einer neuen Synode zu Mailand (355) 
trat der Despotismus des Kaifers gegen die Kirche ganz offen hervor; er fagte 
es den Bifchöfen rund heraus: Was Ich will, muß euch Kirchengefeg fein! Unter- 
zeichnet, oder weichet von euren Kirchen! Einer folhen Sprade gegenüber er— 
Härt fi wohl die Sprache eines Hofius von Eorbuba, der dem Kaiſer muthig 
erflärte: „Mifche dich nicht in Eirchliche Dinge, und gib uns darin feine Vor— 
ſchriften, fondern lerne das lieber von uns. Dir hat Gott das Reich übertragen, 
uns aber. die kirchlichen Angelegenheiten” u. ſ. w. Der tyrannifhe Wille des 
Kaiſers erwirkte die Verbannung des Athanaſius und die Unterzeichnung eines 
arianifhen Symbolums. Papft Liberins war nicht zu gewinnen, dafür mußte er 
nach Thrazien in's Eril wandern, aus welhem ihm jedoch der Kaifer auf die Für- 
bitten der römifchen Frauen und wegen der unruhigen Bewegungen des Bolfs 
die Rückkehr nah Rom geftatten mußte. Auch andere muthige Bifhöfe, wie der 
I 100jährige Hofius, Hilarius von Poitiers, Lucifer von Eagliari, Eufebius von 
I Bercelfi (f. diefe Art.), Divnys von Mailand, mußten ihre Glaubensftärfe dur 

Verbannung: büßen, Die arianifchen Bifhöfe fannen auf eine zweckdienliche 

: 33* 


516 Libertiner. 


Weiſe, wie fie den von ihnen ausgehenden Glaubensformeln eine minder an- 
flöffige, den Sinn mehr verdedende Faffung geben möchten, um bie Katholiken 
zum Unterzeichnen zu locken. Man verwarf die bisher im Streite Tiegenden Aus» 
drücke Öuoovoırog und ororovauog (f. Homouſianer und Hompiufianer) 
als unbibliſch, die Synode zu Ancyra (358) erflärte ſich gegen die an ombiſche 
Lehre, d,i. gegen ben firengen Artanismus, und entſchied, daß der Sohn dem 
Bater dem Wefen nach ähnlich feiz ja die dritte firmifhe Formel, ein Ergebniß 
der Unterhandlungen des Urfacius und Valens mit den femiarianifchen Biſchöfen, 
erffärte fpgar, freilich in verfänglicher Abficht, daß der Sohn dem Vater in 
Allem (zaıa svavce) ähnlich ſei. Wirklich ließen fih Männer, welche zuvor 
jeder Drohung unbeugfamen Widerftand geleiftet hatten, von der arianifchen Lift 
fangen; felbft der greife Hoſius (ſ. d. A.) unterzeichnete in feiner Verbannung 
die zweite firmifche Formel, Liberius dagegen, wie berichtet wird, die im Jahre 
351 von den Arianern (f, d. A.) mit ausgefuchter Feinheit gefertigte erfte For- 
mel, welche felbft nach dem Zeugniffe eines Hilarius noch eine Fathofifche Deutung 
zuließ. Liberius trat auf diefe Werfe, jedoch nur getäufcht, in die Gemeinfchaft 
der Arianer, und flimmte zur Verurtheilung des Athanaſius. Allein abgefehen 
davon, daß das ganze Factum von mehreren Gefhichtfchreibern als eine arianifche 
Erfindung angefehen wird, da Sulpieius Severus, Socrates und Theodoret nichts 
davon melden, zeugt für Die ungefchwächte Glaubenstreue des Papftes Liberius 
fein Betragen vor und nach dieſem, wenn auch wirklich flattgefundenen factifhen 
Irrthum. Ein formales Jrren im Glauben fann ihm die fchärffte Kritik nicht 
nachweiſen. Er ſetzte vielmehr das Anathem auf Alle, welche behaupteten, daß 
der Sohn dem Bater nicht gleich fei in der Subftanz (dieſes ging gegen jene 
Arianer, welde das Wort ovoie ganz entfernt haben wollten) fo wie in allen 
andern Stücken. Als fpäter (359) auf der Synode zu Nimint die vecidentalifchen, 
größtentheils katholiſch gefinnten Bifchöfe durch das fortwährende Drängen und 
Drohen des Kaiſers Conſtantius trog ihres anfänglichen Feſthaltens an dem 
nicänifchen Symbolum fi dennoch beftimmen ließen, die zweidentige Formel zw 
unterzeichnen: „daß der Sohn Gottes dem Vater ähnlich fei gemäß der Schrift”, 
wo alfo, wie Hieronymus fagt, der Erdfreis flaunte, daß er arianifch fei: da 
war es neben den Bifchöfen Vincentius von Capua und Gregor von Elvira der 
einzige Liberius, der ftandhaft geblieben. Eine vorübergehende und tief bereute 
Schwäche ift alfo bei Liberius Hinlänglich erfegt dur fo ftandhaften Glaubens— 
muth, und durch fo viele Proben von Ausdauer und Pflichttreue in den unzähligen 
Gefahren feines 14jährigen PontificatS (er regierte von 359— 366). Sp fam 
es, daß er ſchon bei den Vätern in dem Rufe eines flandhaften und feligen Be— 
fenners ftand, welchen Ruf er niemals von da an in der Fatholifchen Kirche verloren 
hat. Sein Name fteht deßwegen in den älteften Tateinifhen Martyrologien. 
Seine Briefe hat D, Couftant in die Sammlung der papftlichen Epifteln auf 
genommen. Ka 

Zibertiner, Aıßsorivor, werben Apg. 6, 9. als Inhaber einer Synagoge 
zu Serufalem genannt. Es find libertini im gewöhnlichen Sinne, d. i. Frei- 
gelaffene, und zwar freigegebene Juden oder Nachkommen von folhen, Unter 
Pompejus wurden fehr viele Juden als Sclaven nah Rom gebradt, in der Kolge 
aber wieder in Freiheit gefeßtz der größere Theil derfelben Tieß fih in Nom 
nieder jenfeitS der Tiber Cof. Philo Legat. ad. Caj. II. p. 568 ed. Mang. Taeit. 
Annal, II. 85.), andere fehrten in ihr Vaterland zurüd, Bon diefen Anfünm«- 
lingen muß jene Synagoge gegründet worben fein, welche das Eigenthum und der 
religiöfe Berfammlungsort ihrer Nachkommen geblieben if, Weil neben den 
Libertinern a. a. D. Cyrenäer und Alerandriner angeführt werden, die gleichfalls 
Synagogen in Jeruſalem hatten, fo glaubte man auch in jenem Ausdrucke einen 
geographiſchen Namen annehmen zu müffen, und es wurde erklärt: Juden aus 


| 








min 


Lihertiner unter ben Reformirten. 517 


Lbertum, wie eine Stadt oder Landſchaft in Africa proconsularis heißen foll, 
was aber nur aus dem auf einer carthaginenſiſchen Synode vorkommenden Titel 
episcopus Libertinensis erſchloſſen wird (Gerdes de synag. Libert. Groning. 
1736 u. A.); Andere braten eine Aenderung des Tertes in Vorſchlag: in 
Außvorivom, Libyer GOecumenius, Beza, Clericus, Valkenar), ober in 
Außvw» TOV xara zuvonvnv (Säulthef, de charism. "Spirit. S. p. 162 sqgq.), 
wogegen aber die Lebereinftimmung aller Fritifchen Zeugen die gewöhnliche Lesart 
vollkommen ſichert. [A. Maier.] 
Libertiner unter den Reformirten. Calvin bekämpft in mehrern feiner 
Schriften, beſonders in feiner „Instructio adversus fanaticam et furiosam sectam 
Libertinorum, qui se Spirituales vocant“ die Seete der Libertiner oder Spiritualen, 
die unter ihren Anführern und Stiftern Podes, Ruffi, Duintin u, N., gleich 
dem Calvinismus und dem Lutherthum felbft, aus altem Sauerteig und neuer 
Zuthat um 1525 in den Niederlanden entftanden war, fich von da nach Franf- 
reich verbreitete, wo fie bei Margaretha, der Königin von Navarra, Eingang 
fand, und auch in andern Gegenden der Reformirten Befchüger erhielt. In den 
Niederlanden nämlich waren noch aus alten Zeiten Ueberbleibfel der antinomiſti— 
ſchen Begharden (f. d. A.) und Brüder des freien Geiftes (f. d. A.) vorhanden 
oder doch die Erinnerung an fie und ihre Lehren nicht untergegangen, als die 
NReformatoren des 16ten Jahrhunderts die evangelifche Freiheit, den Glauben 
ohne Werfe und zum Theil auch wie Calvin die abfolute Prädeftination procla= 
mirten und Gott zum Urheber der Sünde machten. Eine gewiffe Berwandtichaft 
diefer Lehren mit denen der Begharden und Brüder des freien Geiftes mußte bald 
in die Augen fallen, und ed war daher fein Wunder, daß es einigen Nachzüglern 
des mittelalterlihen Tibertinismus fehr gelegen kam, ihre Geiſtesfreiheit unter 
den Reformirten zu verkünden. Wenn man alle nicht immer ganz deutlichen 
Streitfihriften betrachtet, welche Ealvin und einige Andere wider diefe Libertiner 
verfaßt haben, fo beftand ihre Lehre in Folgendem: Gott wirft Alles in allen 
Menſchen felbft oder er ift die Urfache aller menfhlichen Handlungen; was man 
alſo von dem Unterfihied zwifchen guten und böfen Handlungen fagt, ift falſch 
und nichtig; die Menſchen können alſo im eigentlichen Sinne gar nicht ſündigen; 
die Religion beſteht in der Vereinigung der Seele des Menſchen mit Gott, und 
wer durch Betrachtung und Erhebung der Seele zu dieſer Vereinigung gelangt 
ift, der fann feinen Trieben frei folgen, bleibt bei allen feinen Handlungen un= 
fhuldig und wird nach dem Tode des Leibes mit Gott vereiniget werden; zudem 
werben die Libertiner befchuldiget, die Auferfiehung der Leiber geläugnet, die 


HE Schrift für Fabelwerk erflärt und den Ihrigen geftattet zu haben, fih nad 


Umftänden Ratholifen, Lutheraner oder Reformirte zu nennen, da die äußerlichen 
Handlungen ganz in der Willfür des Menfchen flünden und Alles nur auf dem 
Geift, auf das innere Leben und auf das Leben Cprifti in uns anfomme, Bon 
diefer Art Tibertiner find die Genfer-Libertiner zu unterfeiden, mit wel- 
Sen Calvin, fo lange er lebte, im heftigften Kampfe lag. Zwar mögen auch zu 
Genf Libertiner jener Art gewefen fein, doh im Ganzen waren die Genfer- 
Tibertiner jene Partei zu Genf, welche mit Calvins Cäfareopapismus, mit feiner 
Glaubens- und Sittenpolizei, mit feinem tyrannifchen und Hlutdürfigen Regimente 
unzufrieden waren. Diefe Partei beftand aus verfchiedenen Elementen, theild aus 


. ganz ungläubigen und fittenlofen Denfchen, theils aus folden Neugläubigen, welche 


von Calvins Lehren abwichen, theils aus folhen, welche in Calvins Verfahren 
eine Beeinträchtigung der durch die Reformation errungenen natürlichen und evan⸗ 
geliſchen Freiheit und die Einführung eines neuen Papismus viel ärgerer Art als 
der vorige gewefen erblickten. Vorzüglich befanden ſich unter den Libertinern 
viele von Jenen, welche, ehe noch Calvin nad Genf gefommen war, zuerft und 
am bereitwilligften die Reformation ergriffen hatten und wie aus den Wolfen 


518 Libna — Libri Carolini. 


fielen, als Calvin der Fremdling, der Präbeftinatianer,, der Läugner der menfch- 
lichen Freiheit, der Prediger einer Lehre, die Gott zum Urheber der Sünde 
machte und bei allem dem ber Tobredner der evangeliſchen Freiheit das düſterſte 
Snquifitionstribunal errichtete. Vergl. ferner die Art, Antinomismus, und 
Bemeinfgaft ver Güter, [(Schröbt.] 
Libna, 7:25, LXX. Aeßve, Aoßsd, Vulg. Lebna, Lobna, canaanitifche 
Königsftadt af. 10, 29, 12, 15.), in der Niederung Zuda’s Gb. 15, 42), 
wurde von Joſua erobert (10, 29. 30.) und zur Priefter- und Freiftadt beflimmt 
Goſ. 21, 13. 1 Chron. 6 [7], 57.), fiel unter Joram ab von Juda (2 Kön. 
0,22. 2 Ehron. 21, 10.), und wurde ſpäter von Sanherib belagert (2 Kon. 
19, 8. ef. 37, 3). Die genaue Lage diefer Stadt ift big jet noch nicht er- 
mittelt; vgl. Robinfon, I. 654, Eufebiug und Hieronymus (im Onom.) be- 
zeichnen fie als villa in regione Eleutheropolitana, quae appellatur Lobna, Aoßava. 
Liborius, der Heilige, vierter Bischof von Mans, fuecebirte feinen 
Borgänger, dem HI. Pavacius, etwa feit 348, und farb am Ende des vierten 
Sahrh. um 397. Die vorhandenen Berichte über fein Leben find unfiher und 
wenig verbürgt und enthalten im Wefentlichen nichts Anderes, als daß Liborius 
ein frommer, fenntnißreicher und wohlthätiger Bifchof gewefen fer, viele Kirchen 
gebaut, auch Wunder gewirft und ‚den Hl, Martin von Tours zum vertrauten 
Freunde gehabt habe, Siehe hierüber die Bollandiften z. 23. Jul. in vita s. 
Liborii, Tillemonts Memoiren X. 307, Mabillons Analecten de Pontif. Geno- 
mannensibus. Im neunten Jahrh. wurde der Leib des hl. Liborius von Mans nad 
Paderborn trangferirt, und wir befigen hierüber einen glaubwürdigen und intereffan- 
ten Bericht, verfaßt auf Befehl des Biſchofs Bifo von Paderborn von einem 
Elerifer daſelbſt. Der anonyme Berfaffer, der am Ende des neunten Jahrh. 
fihrieb, empfing feinen Bericht aus dem Munde des Priefters Ido, welder an 
der Spitze der mit Erlaubniß Ludwigs des Frommen vom Bifchof Baduradus von 
Paderborn nah Mans abgefhickten, aus Elerifern und vornehmen Laien beftehen- 
den Gefandtfhaft fund, die einen HI. Leib für die im chriftlichen Glauben noch 
rohen und zu heidnifchem Aberglauben geneigten Sachſen erbitten follten, damit 
fie durch die Wunder, gewirkt durch die Fürbitte des Heiligen an feinem Sarge, 
von ihrem Irrthume abftünden (og. d. Art, Felicitas mit ihren 7 Söhnen). 
Im Eingange viefes Berichtes Fommen über die Anfänge des Chriſtenthums bei 
den Sachſen und der Kirche von Paderborn nicht unbedeutende Nachrichten vor, 
fodann folgt der anziehende und merkwürdige Bericht über die Hin- und Herreife 
der Gefandtfchaft im J. 836 und über die zahlreichen Kranfenheilungen, welche 
bei der Erhebung des h. Leibes zu Mans,’ bei deffen Durchzug dur Franfreich 
und auf dem ganzen Wege bis nach Paderborn gefhahen. Die Bürger von Mans 
wollten den HI, Leib gar nicht Herlaffen, bis der Bifchof von Mans fih auf den 
erlaffenen Faiferlichen Befehl berief und auseinanderfegte, daß es ein Irrthum fer 
zu glauben, die Heiligen legten bei Gott ihre Fürbitte bloß da ein, wo ihre Leiber 
ruhen, Als der Bifchof Alderich von Mans die hl. Gebeine den ſächſiſchen Ab— 
georbneten übergab, gefhah dieß unter der feierlihften Befhwörung, dem hl. 
Leibe nie die gebührende Ehre zu entziehen: „Dehinc inter utriusque ecclesiae, 
Cenomannicae videlicet et praefatae Patherbrunnensis, congregationes firmata kari- 
late perpeluae fraternitatis, ad patriam eis redeundi licentiam dedit.* Schon auf 
der ganzen Reife und fodann auch in Sachſen eilten zahllofe Schaaren zur Ver— 
ehrung des HI. Leibes herbei und des Jubelns und Betens war fein Ende, be= 
fonders als der Bifchof von Paderborn mit feiner Clerifei und unzähligem Volke 
dem anfommenden Zug feierlihft entgegenging und feiner Cathedrale den Schatz 
einverleibte, den fie noch befigt. Siehe den Translationsbericht bei den Boll. 
Leit. und bei Pertz Script. IV. (VL) ©, 149, ꝛc. [Schrödl.] 
A bꝛeĩ Carolini, ſ. Bilderfireit, B* 








Libyen. 519 


09 2ibyen, Außie, Aßun. Die ältefte Geographie der Griechen theilte die 
Erde in zwei Hälften, wovon die nörblige Europa, die füdlihe Aſien war, Teg- 
teres begriff Alten im engern Sinne, und Libyen; in fpäterer Zeit gilt Libyen 
als für fich beftehender Erdtheil (fo bei Pindar, Pyth. IX. 13, 14); feit Eratofige- 
nes wurde dieß allgemeine Anfiht und Libyen entweder durch die Landenge von 
Suez, oder durch den Nil oder die Weſtgrenze Aegyptens von Aſien gefchieden ; 
erftere$ wurde die Herrfchende Annahme, Das libyſche Gebiet, auch den jüngern 
Griechen nur wenig befannt, war fehr ausgedehnt. Herodot läßt daffelbe im S. 
und W, vom atlantifchen Meere umftrömt fein und theilt es in drei Striche: das 
bewohnte Libyen am Mittelmeer, das Libyen der wilden Thiere ſüdlich davon 
und das fandige Libyen noch füdlicher (ib. U. 32. IV. 181); die libyſchen Bölfer 
find einzeln aufgezählt lib. IV. 168— 151, 186. Nah der fpätern Eintheilung 
umfaßt Libyen: Marmarica weſtlich vom ägyptifchen Libyen (ſ. unten), weſtlich 
von dieſem Cyrenaica, weiterhin Africa propria (Tripoli, Tunis). mit Carthago 
(ie Libyer waren hier die älteften Einwohner, bei ihnen fiedelten fih die Phöni- 
eier an und es entfland das mixtum Punicum Afris genus der Libyphönicier, Polyb. 
8, 33. Strabo 17, p. 835. Diod. Sic. 20, 55), darauf Rumidien und zulegt Maure- 
tanien (Algier, Fez, Marocco), fowie das von diefen Ländern ſüdlich gelegene 
Libyia interior, welches auch von Aethiopiern bewohnt war (Ptol. 4, 1—6. Strabo, 
2,p. 131. Plin. 5, 1— 6. ete.). Das A. T, erwähnt die Libyer (A fveg, die 
eodd. lefen au Aößızs) in folgender Weife. In der Völfertafel (Gen. 10,13) 
iſt or27> Lehabim der dritte Son von Mizraim, identiſch mit Lehabim ift aran> 
Lubim Coom St. 275, 285, ar5 brennen, die Lihyer daher Bewohner eines 
dürren Landes, der Name fam wahrfiheinlich durch die Phönicier zu den Griechen, 
Die ihn auf ganz Africa ausdehnten); diefe Lubim CLehabim) find in der Bibel 
immer neben den Aethiopiern und ANegyptern genannt (2 Chron. 12, 3. 16, 8. 
Dan, 11, 43), gemäß ver Völfertafel, erfchöpfen aber feineswegs die ganze libyſche 
Nation, fondern bezeichnen nur den ägyptifgen Theil derfelben, welder 
das Land auf der Weftfeite der weftlichften Nilmündung, den Nomos Mareotis 
und den nach ihm genannten Nomos Libya inne Hatte, Diefer Bezirf wird, ob⸗ 
wohl zu Aegypten gehörend, daher zu Libyen gerechnet und Libyen genannt (Ptol. 
4, 5. 2—10, 22. Herod. 4, 168). Biblifche Bezeihnung nun des ganzen Bol- 
tes der Libyer ift =>, Put, in der Völfertafel (Gen. 10, 6) nad Cuſch (Aethiopier) 
und Mizraim (Aegypter) der dritte Sohn Chams (f. d. A.), womit die Anfichten 
des übrigen Altertfums ganz übereinftimmen, welche außer diefen drei Bölfern 
feine eingeborne Nation in Africa erfennen (vgl. Herod. 4, 197). Die angegebene 
Bedeutung von Put ift durch den Namen felbft gefordert; ägyptifche Bezeichnung 
des Libyers ift Phet, welches ſich aus dem ägyptifchen pet, pelte und koptiſchen 
pitte, phit, phätte d, i, Bogen (womit in der ägyptifchen Bilderfprache der Libyer 
vornehmlich bezeichnet wird), erflärt. Von den Kopten wird das ägyptifche Libyen 
und deffen Bewohner phaiat, niphaiad, auch phaiad genannt, welch’ legterem das 
bibliſche Dovd (im Buche Judith 2, 23. und bei den LXX. zu Gen. 10, 6. und 
4 Chron. 1, 8) fehr nahe fommt. Die weitere Erwähnung Put’s im A, T, bes 
flätigt die vorige Beftimmung; er wird genannt unter den Bundes- und Hilfe- 
völfern der Aegypter (Ser. 46, 9. Ezech. 30, 5), im Heere der Tyrier, welde 
auch fonft africanifche Söldner hielten (Czech. 27, 10), erfcheint überhanpt im 
AT. als ein africanifches Volk, verſchieden von den Aethiopiern, Nubiern, Aegyp⸗ 
tern, Ludim, Numidiern und Phöniciern. Die Tradition folgt derfelben Auf⸗ 
faſſung: die griechifche MHeberfegung der LXX. und die Bulgata geben (zu Ser. 
46, 9. Ezech 27, 10. 30, 5. 38, 5) v2 durch Aidves, Libyes; Joſephus 
 Cantt. 1, 6. 2) berichtet, Libyen fei durch Dovzrg bevölfert worden, im Lande der 
Mauren fei ein Fluß gleichen Namens (vgl. Ptol. A, 1, 3. Plin. 5, 1), nach wel- 
chem die Gegend benannt worden, dafür fer aber der libyſche aufgefommen nach 


520 Licentiat — Lightfoot. 


Libys, einem Sohne des Mizraim, ebenfo Hieronymus (quaest. in Gen. 10. 6), 
Sfivor Hisp. (Cetymoll. 9, 2. 11). — Bl, Knobels Unterfuhungen über die 
Bölfertafel der Genefis, 1850. S. 282—285 und 295—305. [Rönig.] > 

Licentiat, f. Gnade, gelehrte. 

Licentiatoriae literae, f. Dimifforialien, 

Richt, das ewige, f. Ewiges tigt, 

Licht beim Gottesdienft, ſ. Kerzen und Leuchter, 

Lichtmeß, ſ. Marienfefte. 

Licinius, Kaiſer, ſ. Conſtantin der Große, 

Liebe, ſ. Tugenden, die drei göttlichen. 

Liebesfamilie, Serte in England, ſ. Familiſten. 

Liebesmahle, ſ. Agapen. 

Lied der drei Jünglinge im Feuerofen, ſ. Loblied. 

Liefland. Da die Bekehrung Lieflands in den Artikeln Albert (Albrecht), 
Apoſtel der Liefländer, und Berthold, Apoſtel der Liefen, beſprochen iſt, ſo iſt 
hier nur mehr von der Einführung der Reformation die Rede. Dieſe wurde von 
dem Heermeiſter Walther von Plettenberg, der ſich 1521 feine Unabhängig- 
feit von dem Hochmeifter des teutfchen Ordens erfauft hatte, fehr begünftigt, in⸗ 
dem er darin ein Mittel fah, um Herr über den Erzbifchof von Riga, dem bie 
Stadt felbft unterworfen war, und über feinen Clerus zu werden. Die erften 
eifrigen Berbreiter des Luthertfums waren der pommerifhe Schullehrer An- 
dreas Knöpken und Silvefter Tegetmeier aus Roſtock; Iegterer fo voll des 
Eifers, daß er zu Riga und Reval einen Bilderſturm verurſachte. Demungeanhtet 
fand Tegetmeier bei dem Nath zu Riga und bei dem Heermeiſter Schug, welcher 
1523 feinen Kanzler an Luther fendete, wodurch Luther veranlaft wurde, den 
neuen Gemeinden zu Niga, Neval und Dorpat ein Gratulations- und Mahn- 
fchreiben zuzufenden, Eine andere Aufmunterung, auf der Bahn des Fortſchrittes 
zu beharren, gab den Bürgermvon Riga der Hauseomthur des Heermeiſters — 
er überfendete ihnen ein große Knute mit der Vermeldung, damit den Fatholifchen 
Clerus aus der Stadtzu peitfhen! Dieß gefhah zwar nicht, doch wurde ange- 
ordnet, daß die Geiftlichen entweder das reine Evangelium annehmen oder ihren 
Gottesdienſt nur bei verfähloffenen Thüren halten oder auswandern müßten! 
Darüber flarb der tugendhafte und friedliche Erzbifhof Caspar (Linde) den 
29. Zuni 1524, betrübt über den geringen Erfolg feines Eifers für den Fatholi- 
fchen Glauben, Seinen Nachfolger, Johann VI. Blanfenfeld, Bifhof von 
Dorpat und Neval, erkannte der Nath von Niga als feinen Landesherrn gar 
nicht an und ließ ihn in Niga nicht ein, während gleichzeitig auch zu Reval und 
Dorpat gewaltthätig fortreformirt wurde ; im J. 1525 nahm man den Erzbifchof 
fogar gefangen. Aber doch erſt nach dem Tode des Erzbiſchofs Thomas Scho— 
ning (+ 1539) unter dem neuen Erzbifchof Markgraf Wilhelm von Branden- 
burg breitete ſich die Reformation über ganz Liefland aus; er, der legte Erz- 
bifhof von Riga, ftarb 1563 mehr als zur Hälfte tutheraner, Zwei Jahre vorher 
hatte der Heermeifter Kettler Liefland durch einen Vertrag an Polen unter der 
Bedingung abgetreten, daß das ganze Land bei dem Lutherthum gelaffen werben 
folfte. Im J. 1566 wurde von König Sigismund Auguft das Erzftift völlig ſäeu— 
Yarifirt, nachdem die übrigen Tiefländifchen Bisthümer ſchon früher ein Ende ge— 
nommen hatten, Vgl, Schröckhs Kirchengefch. feit der Reform, IL; 5. 3. Dam- 
bergers Fürſtenbuch, Regensburg 1831. ©. 814. ꝛc. Vgl. hiezu noch die Artikel: 
Bruno, Xpoftel der Preußen ꝛc., ferner Eſthen, und Kurland, [Schrödl.] 

Liga, die katholiſche, ſ. dreißigiähriger Krieg. 
Lightfoot, Johann, berühmter Vicefanzler der Univerfität Cambridge 
und großer Drientalift, wurde 1602 zu Stock in der Grafſchaft Stafford geboren, 
fiudirte zu Cambridge, Iegte den erften Orund zu feiner rabbiniſchen Erudition 





Ligue — Liguori, 521 


als Kaplan bei Cotton, fegte mit unermübetem Eifer, während er zugleich als 
Vrediger und Pfarrer wirkte, das Studium der orientalifhen Sprachen, des Thal- 
muds und der Rabbiner fort und öffnete fo, einer der erften, für die Eregefe 
eine noch wenig benüste reichliche Duelle. Zu den berühmteften Gelehrten feiner 
Zeit fand Lightfoot in freundfihaftlihen Berhältniffen. Als er 1642 zum Pre— 
diger an der Bartholomäusfirhe zu London ernannt worden war, wurde er in 
die Berfammlung der Theologen in Weftmünfter berufen. Den wilden Enthu— 
fiaften feines fturmbewegten Baterlandes war er abhold. Er flarb am 6. Decem- 
ber 1675 zu Ely, wo er eine Canonitatspfründe befaß. Bon feinen Schriften, 
welche größtentheils den biblifhen Studien gewidmet find, erfhienen mehrere 
Editionen, von denen die Utrechter 1699 die befte ift. Johann Strype hat zu 
London 1700 einen Supplementband geliefert. Unter diefen Schriften haben einen 
befondern Werth die „Horae Hebraicae et Talmudicae“, worin die Schriften des 
N. Teftamentes aus dem Thalmud und der Schriften der Rabbiner erläutert 
werden. Auch in den andern zahlreihen Schriften Lightfoots werden aus dem 
rabbinifchen Schriften und dem Thalmud die jüdifshen Gebräude, Sitten, Re— 
densarten u. dgl. zum Behufe des Berftändniffes der Bibel beleuchtet. Wenn 
dabei gleich, bemerft Schröckh (Kirchengeſch. ſ. d. Reform. VIH. 561) die Ber- 
gleihungen zu freigebig, auch wohl am unrechten Drt oder ohne firenge Prüfung 
angeftelit find, fo hätte doch Richard Simon Lightfoots Arbeit nicht zu gering- 
ſchätzig behandeln follen. [Schrödl.] 

Ligue in Frankreich, f. Hugenotten. 

2iguori, Alphonfus Maria, der heilige und Stifter der VBerfammlung 
des allerheiligften Exrlöfers , geboren zu Neapel den 27. September 1696 und 
geftorben den 1. Auguft 1737. Das Leben des HI. Alphonſus umfaßt bis auf 
wenige Jahre ein volles Jahrhundert und zwar das trübfalreihfte, welches die 
Kirche Gottes feit ihrer Gründung zu durchlaufen hatte, Nicht bloß der Unglaube 
und die Gnttesläugnung waren gegen die Kirche in allen Ländern in die Schranfen 
getreten, fondern auch der weltlihe Arm hatte feine Waffen den Feinden der 
Kirche geliehen, um den Stuhl Petri zu flürzen und ein Glied um das andere 
vom Leibe der Kirche zu reißen, Mit Ausnahme der Gefellihaft Jeſu und ein— 
zelner Zweige des Benedictinerordens waren die geiftlichen Genoſſenſchaften viel- 
fah von dem Geifte und der Strenge ihrer Stifter abgefallen und ihrer Negel 
untren geworden: und nicht wenige Kirchenfürften hatten durch ein weltliches 
üppiges Leben die Strafgerichte felber herabgerufen, von denen die Gläubigen in 
allen Ländern fo ſchwer betroffen wurden, In diefem höchſt betrübten Zeitraume 
gehört der HI. Alphonfus zu den leuchtenden Erfiheinungen, durch welche offenbar 
wird, wie der die Kirche leitende HI. Geift zu allen Zeiten feine Auserwählten 
beruft, um in ihnen die nie untergehende Heiligkeit und Schönfeit der Braut 
Chriſti darzuftellen und deren unverirrlihe Wahrheit dem Irrthum und der Lüge 
gegenüber zu bezeugen. — Alphonfus war der Sohn frommer Eltern aus adeli= 
gem Geſchlecht: wie fo viele Heiligen verdanft auch er die erfien Keime einer tie= 
fen und innigen Frömmigfeit feiner trefflihen Mutter, welche ihn eben fo fehr durch 
ihren gottjeligen Wandel und die im Geifte Gottes geleitete Erziehung in die 
Uebung aller Tugenden einzuführen wußte. Später übergab fie ihren Sohn den 
Prieftern vom Dratorium des hl. Philipp Neri, unter deren fehr forgfamer Lei— 
tung Alphonſus im geiftlihen Leben fo ſchnelle Fortſchritte machte, wie in Erler- 
nung der Wiffenfchaften, fo daß er, unterflügt von den beiten Geiftesanlagen: 
und dem regften Eifer, fchon im 16. Jahre den Doctorgrad der Nechte zu erlan- 
gen im Stande war. Nah dem Wunſche der Eltern follte er die Laufbahn eines 
Rechtsgelehrten betreten, da ihm hier der Zugang zu den höchſten Ehrenämtern 
um fo ficherer ſchien, als er neben feinen Kenntniſſen alle Vortheile eines be— 
rühmten Namens und hoher Verbindungen hatte, Es hatte den Anfchein, Als 


522 2 Ligusrk 


würde Alphonfus ganz den ſtolzen Erwartungen feines ihn zärtlich Liebenden Ba- 
ters entſprechen, denn um legterem zu gehorchen, fuchte er fogar in allen ritter- 
lichen Künften eine Fertigkeit zu erlangen, durch welche die natürliche Anmuth 
feiner ganzen Perfönlichfeit in den Augen der Welt nur um fo mehr gewinnen 
mußte. Der junge Rechtsanwalt zog au bald Aller Blicke auf fih; erwarben 
ihm feine feltenen Kenntniffe, feine glänzende Beredtfamfeit allgemeines Ver— 
trauen, ſo war er aber auch durch die bewunderungswürbige Reinheit feiner Sit- 
ten das nahahmungswürdigfte Beiſptel feiner Altersgenoffen, Sein Vater gab 
fih immer mehr den fühnften Hoffnungen hin und fuchte bereits in den erften 
Familien des Reiches nach einer Tochter, mit der Alphonfus die Ehe fchließen 
follte, Allein Gott hatte ihn zu Höherem berufen: nicht an dem Hofe eines Kö— 
niges follte Alphonfus zu Glanz und Ehren gelangen, fondern vermählt mit der 
Kirche die höchſte Stufe der Heiligfeit erkllimmen. Darum berief ihn Gott aus 
dem Dienfte der Welt in den Dienft feiner Kirche, doch nicht, ohne ihm zuvor 
eine fehr empfindliche Befhämung bereitet zu haben, Alphonfus war eben mit 
Führung eines bedeutenden Proceffes befchäftigt, zu deffen vorausſichtlich fehr- 
glängender Beendigung er bereits beglückwünſcht wurde, Er hatte alle Mühe und 
Beredtfamfeit aufgeboten, allein deßungearhtet ein unbeveutendes Verſehen ge— 
macht, an dem feine ganze Beweisführung in dem Augenblick feheiterte, als er 
den Sieg bereits erfämpft zu haben glaubte, Das Geſtändniß feines Irrthumes 
war das Teste Wort, das Alphonſus auf der Nebnerbühne fprah, denn nach 
Veberwindung des heftigften Widerftandes feines fehmerzlich getäufchten Baters 
trat er im J. 1725 in den Priefterftand und bald darauf ließ er fi in die Eon- 
gregation der Propaganda zu Neapel aufnehmen, um Miffionär zu werben, Von 
bier beginnt die apoftolifhe Wirkfamfeit des Heiligen, welche der Kirche zu fo 
großem Segen gereichen ſollte. Vor Allem fuchte er die Armen und Verlaſſenſten 
auf, umd nicht leicht mochte ein Herz feiner heiligen Berebtfamfeit und noch we— 
niger feiner Alles gewinnenden Milde widerſtehen. Mehrere Jahre wirfte Al- 
phonfus fo mit ganz außerordentlichem Segen, bis er ſich auf höhere Eingebung ent⸗ 
Schließen mußte, eine eigene geiftliche Genoffenfchaft zu gründen, Es war im J. 1732, 
als er nach Meberwindung der größten Hemmniffe zu Scala mit zwölf gleichgefinn- 
ten Gefährten die Berfammlung vom allerheiligften Erlöfer gründete, deren Haupt- 
aufgabe e8 fein follte: dem Dienfte der ärmflen und verlaffenften Seelen 
fih zu weihen. Drei Jahre darauf entfland das zweite Haus zu Cionani im ber 
Didcefe Salerno; die Regel der neuen Genoffenfchaft, welche Alphonfus unter 
Beiziehung erleuchteter Männer forgfältigft ausgearbeitet hatte, erhielt im J. 1759 
durch Papft Benedict XIV. die Firchliche Gutheißung. Alphonfus wurde auf Le— 
benszeit als Generaloberer beftätiget, aber fchon 1762 berief ihn Clemens XIIL 
frog feiner flehentlihen Bitten auf den biſchöflichen Stuhl von St. Agatha ber 
Gothen. Ein Generalcapitel feiner Congregation erklärte einftimmig, feinen 
neuen Generaloberen wählen zu wollen, vielmehr follte Alphonfus auch als Biſchof 
mit feinen von ihm aufs Zärtlichfte geliebten Brüdern dadurch verbunden blei- 
ben, daß von ihm ein Generalvicar ernannt werden follte, der in feinem Namen 
die Verfammlung zu leiten hätte. Diefer Befchluß erhielt die Beflätigung vom 
hl. Stuhle und erfeichterte dem Heiligen die fo fhmerzlihe Trennung von feiner 
Eongregation. — Als Bifchof vereinigte Alphonfus den brennenden Eifer eines 
hl. Carplus Borromäus (f. d. A) mit der rührenden Milde eines Franciseus 
son Sales (ſ. d. A.), und ſetzte troß feiner fehr anftrengenden Hirtenarbeiten das 
arme büßende Leben in derfelben Strenge fort, wie er es als Miſſionär zu üben 
fih gewöhnt hatte, In Allem war er ein getreues Nachbild des hi. Apoftels, 
der fich berufen hielt, Allen Alles zu werden. Er wurde der Miſſionär feiner 
ganzen Didcefe, die er von zwei Jahren zu zwei Jahren durchreiste, um alle 
Bedürfniffe Fennen zu Iernen und allen Uebelſtänden abzuhelfen, Es läßt fich Teicht 





Liguori. | 523 


denken, daß er fein Hauptaugenmerk auf die Erziehung eines fittenreinen und 
feeleneifrigen Clerus fegte; zur Befferung der Gefallenen wendete er alle Mittel 
einer erfinderifchen Baterliebe an, aber er trat auch nicht vor der äußerſten 
Strenge zurück, wo liebreihe Bitten und Mahnungen nichts fruchten wollten, 
Den Armen war er ein helfender Engel, der gewohnt war, den bitterften Mangel 
zu leiden, am überall der Noth zu flenern. Durch unausgefegte Anftrengung 
zieb der Heilige feine ohnehin abgefhwächten Körperfräfte alfo auf, daß während 
der Testen 17 Jahre feines Lebens fein Kopf durch unheilbare Krümmung des 
Nackens bis auf die Bruft herabgedrückt wurde; aber auch in diefer immer ſehr 
fhmerzenden Lage unterlieg er nie, den Pflichten feines erhabenen Berufes mit 
ängfiliher Gewiffenhaftigkeit zu obliegen, Wenn der gebeugte Greis die Kanzel 
betrat, fo wirfte feine Erfcheinung mehr als feine Worte, obwohl der fieche Körper 
das Feuer feiner Liebe nicht zu dämpfen oder zurücdzuhalten vermochte, Die 
immer wachfende Furcht jedoch, durch die Förperlichen Leiden an der vollen Aus- 
übung feines bifhöflichen Amtes gehindert zu fein, trieb den Heiligen zu flehent- 
lichen Bitten an den HI, Stuhl um Enthebung — aber fange vergebens; bis 
endlich Papft Pius VI im J. 1775 feine Abdanfung annahm, nachdem Alphonſus 
13 Jahre lang Biſchof gewefen war. In derfelben Armuth, in der er gefommen 
war, verließ er auch feine trauernde Didcefe, um den Reſt feiner Tage im Schooße 
der Eongregation zu Nocera de Pagani zuzubringen. Sp lange er feine Ölieder 
zu rühren vermochte, benügte er jede Gelegenheit, zum Heile der Seelen zu 
wirfen; und als er fein Schmerzenslager nicht mehr verlaffen fonnte, fuchte er 
durch Schriften die Ehre Gottes zu fördern. Es ift erftaunlih, wie fruchtbar 
der Heilige an fohriftftellerifchen Arbeiten war, und man begreift faum, wie er 
zu ihrer Abfaffung bei feinem fo thätigen und mühevollen Leben als Miffionär 
und Biſchof Zeit finden Fonnte. Es gibt aus der neueren Zeit feinen Heiligen, 
defien Schriften fo allgemein verbreitet find, wie die des HI, Alphonſus, welche 
durch ihre Einfalt, Tiefe und Gründlichfeit den Ungelehrten wie den Gelehrten 
erbauen und ſchon Unzähligen der Weg zum Heile geworden find. Wo immer 
ein tieferes religiöfes Leben erwacht, wo immer mit regerem Eifer die Gnaden- 
Thäge der Kirche gefucht werden — die Schriften des HI. Alphonſus haben ent- 
weder ben Sinn hiefür aufgefchloffen, oder fie find für die Erweckten das Mittel 
weiterer Förderung und ernftlihen Fortfchrittes geworden, Dieß ift ver Fall bei 
Laien’ wie bei Prieftern, denn die Erfahrung bezeugt, dag wo immer auch nur 
ein Fünklein priefterlichen Eifers lebt, er durch die Schriften des Heiligen er- 
halten und allmählig zur Flamme angefacht wird. Das Geheimniß diefes ganz 
» außerordentlihen Segens beruft in jenen Gegenftänden, welde Alphonfus mit 
befonderer Liebe und befonderer Tiefe zu behandeln pflegt, nämlich das allerhei- 
ligſte Sacrament des Altars und die allerfeligfte Jungfrau Maria. Durch fie ift 
Alphonſus der Heilige des Jahrhunderts des Nationalismus geworden, denn durch 
fein anderes Geheimniß unferer Kirche wird der Menfch fo fiher vor der Duelle 
jedweden Unglaubens und aller Berirrung bewahrt, als durch dem euchariftifchen 
Epriftus. Wer vor dem Altare Fnieet und Gott im Sacramente anbetet, der if 
für die Flachheit des Nationalismus nimmer zu gewinnen, und wer die jungfräu— 
liche Gottesmutter wahrhaft ehret, ift für immer von der Hoffart und üppigen 
Weltluf gerettet, Darum war Alphonfus während feines ganzen Lebens vor 
Allem darauf bedacht, Aller Herzen dem heiligften Sacrament und Maria zu ge- 
winnen und allen Schwanfenden und Verirrten die Fülle des Lebens und ewiger 
Schönheit zu enthüllen, welche ihnen in diefen Schätzen der HI, Kirche geboten iſt. 
- Die glühende Begeifterung, welde er in feinem eigenen Herzen hiefür trug, 
vermochte ihn zu jener zärtlichen den Seelen fi einfchmeichelnden Beredtfamfeit, 
von der auch feine einfältigen Schriften Zeugniß geben, und der Niemand wider- 
ſtehen kann, der guten Willens if, Je mehr noch in unfern Tagen der Kampf 


524 Liguorianer ober Nebemptoriften, 


des Unglaubens gegen die Kirche Gottes fich entzunden wird, um fo fruchtbarer 
wird der Heilige für ung und fpätere Gefchlechter werben, und ein um fo rei- 
cheres, gefegneteres Feld muß fich feiner Congregation eröffnen, je vollkommener 
fie die Glut der Liebe ihres Stifters zum heiligften Sarrament und zu Maria zu 
wahren weiß. — Alphonfus wurde im J. 1839 von Gregor XVI. heilig geſpro— 
hen. : Die Geſchichte der Congregation fiehe im nachfolgenden Artifel, [Schm.] 
> Ziguprianer oder Nedemptoriften. Zu den vielen Mitteln, welche im 
18ten Jahrhundert die italienifchen Bifchöfe zur Erneuerung und Erfrifchung des 
religiöfen Lebens anwandten, gehören befonders die Miffionen, Zu den Congre— 
gationen aber, welche ſchon früher ſolche Miffionen beforgt hatten, kam jest noch 
die der Nedemptoriften, oder, wie fie auch nach ihrem Stifter Alphonſus Ma- 
via von Liguori genannt werben, der Liguprianer hinzu, Das Leben des hei— 
tigen Stifters fiehe in dem vorigen Artikel. Nachdem er am 23, Sept. 1724 
die Tonfur und im 1725 die Priefterweihe erhalten hatte, trat er in das 
Miffionsinftitut der Propaganda zu Neapel, und hielt auf Anfuchen des Erz- 
bifchofs von Neapel mit dem Clerus diefer Stadt Erercitien und prebigte da— 
ſelbſt. Einige Zeit nachher begab er fih, um feine angegriffene Gefundheit wieder 
berzuftellen, in die Didcefen Amalft und Scala; hier befchäftigte er fih, von 
einigen andern Prieftern unterftüßt, befonders mit Unterweifung der Landleute 
und Schäfer, Die Früchte diefer feiner apoftolifchen Thätigfeit nun befriedigten 
ihn fo fehr, daß er fich entfchloß, einen Verein von Miffionären zu gründen, 
welche in gleichem Geifte mit ihm wirfen follten. Zu diefem Ende ftiftete er am 
8. Nov. 1732 zu Scala, im Bezirk von Benevento, die Congregation unferes 
alferheiligften Erlöfers (Redemptoris, wovon ihre Mitglieder „NRedemptorifien“ 
genannt werden), ungefähr nach denfelben Regeln, wie die Stiftung des hl. Vin— 
cenz von Paula. (S. die Eonftitution und Regel in der Sion von 1842, Ja— 
nuarheft Nr. 7 ff). Indeß fam dieß weitausfehende Werf nicht ohne große 
Schwierigfeiten zu Stande, indem es felbft in hohen Würbeträgern Gegner fand, 
Dagegen erhielt e8 den Beifall und die Genehmigung des Erzbifchofs von Neapel; 
Liguori zählte Anfangs zwar nur wenige Gefährten; allein fie erbauten durch Wan- 
del und Predigten fo fehr, daß ihre Anzahl fehnell wuchs. Außer den einfachen 
Gelübden der Armuth, Keufchheit und des Gehorfams, welche fie ablegten, ver- 
pflichteten fie fich noch, Feine Würde, fein Amt, Fein Benefictum außerhalb der 
Eongregation annehmen zu wollen, außer auf ausbrürlichen Befehl des Papftes 
oder des Generalfuperiors, und bis zu ihrem Tode in dem Vereine zu bleiben, 
wovon jedoch fowohl der Papſt als auch der Generalfuperior dispenfiren konnte. 
Am 21. Zuli 1742 fand die erfte Gelübdeablegung Statt, und bald darauf ward 
dem Stifter in der Eigenfchaft eines Generalfuperiors die Oberleitung des Gan- 
zen anvertraut. Benediet XIV. beftätigte durch ein Breve vom 25. Febr, 1749 
die Stiftung, gewährte ihr viele Privilegien und veranlaßte ihre Mitglieder, fich 
zum Unterfchiede von den Canonifern des allerheiligften Erlöfers Redempto— 
riften zu nennen. Bald verbreitete fich die Anftalt im Königreich Neapel, in 
Sieilien und im Kirchenftaate, Bon Papft Clemens XI. im Jahre 1762 zum: 
Bifchof von St. Agatha de Goti (Neapel) erhoben, behielt Liguori noch fort- 
während die Oberaufficht über feine Stiftung, nur daß er von einem General- 
vicar hierin unterflüßt wurde. Wegen. feiner zerrütteten Gefundheit erhielt ex 
von Papft Pius VI. die Erlaubniß, die bifhöfliche Würde niederzulegen (1775), 
Nunmehr zog er fih nach Nocera in ein Haus feiner Genoffenfchaft zurüd, von 
wo aus er derfelben auch fortwährend vorſtand. In feinem hohen Alter wurbe 
er noch durch die in feiner Congregation eingetretene Spaltung betrübt. Die 
neapolitanifche Regierung, von den in Frankreich fich geltend machenden neuen Lehr⸗ 
meinungen angeſteckt, beabſichtigte nämlich die Vernichtung der religiöſen Ge— 
noſſenſchaften. Als nun die Congregation bie Beſtätigung der Regierung nahe 








Liguorianer oder Redemptoriſten. 525 


ſuchte, Fonnte fie diefe nur durch bedeutende Veränderungen in der Negel er- 
wirken, und dafür wurden die neapolitanifchen Nedemptoriften von dem Papfte 
aus derfelben ausgefchloffen, und erft durch ein Fonigliches Edict vom 29, Det. 
1790 Fam die Wiedervereinigung zu Stande. Diefe aber erlebte Liguori nicht 
mehr, denn er ftarb am 1. Aug. 1787 in feinem 91, Lebensjahre. Pius VI. er⸗ 
Härte ihn fhon am 4. Mai 1796 ehrwürdig, und am 6. Sept. 1816 made 
Pins VH. feine Seligfpredung fund, die am 15. Sept, in der Baticanfirche flatt- 
fand, Sein ruhmgefröntes Wirken aber ift in gutem Andenken geblieben, und 
daher war die Freude feines Vaterlandes überaus groß, als Gregor XVI. im J. 
1839 den Drodensftifter heilig ſprach, der durch feine falbungsreihen Schriften 
ZTaufenden eine Duelle des Troftes, der Ermunterung und der Erweiterung ihres 
Willens geworden if. Seine Schriften erfchienen complet zu Paris 1835 in 
16 Bänden in Octav und Duodez; ſämmtliche Werfe teutih zu Regensburg 
1842 ff.5 einzelne Werfe in vielen teutfchen Ueberfegungen und Bearbeitungen, 
Sein Leben haben befchrieben A. Giatini vita del. b. Alfons Liguori, Rom, 1815. 
4. teutfh Wien 18355 Jeancard, vie du b. Alfons Liguori, Cono 1829, 
teutfh von M. Haringer, Regensb. Vgl. Sion 1839. Nr. 86—88. In Be- 
treff feiner Heiligfprehung f. „Heiligfprechung des HI. Alphons Maria Liguori, 
enthaltend das Feftprogramm, die Heiligfprehungsbulle und 11 Reden”, Wien 
1842, Auf diefe Weife war die Congregation der Redemptoriften in Stalien ver- 
breitet worden; nad Polen, Teutfchland und der Schweiz wurde diefelbe durch 
P. Elemens Maria Hoffbauer verpflanzt. Diefer erfte teutfche Redemptorift 
wurde am 26, Dec, 1751 zu Taßwitz in Mähren als der Sohn ſchlichter, aber 
frommer Landleute geboren und erhielt als das fchönfte Erbtheil eine vortreffliche 
Erziehung. Nah dem frübzeitigen Tode feines Vaters führte die Mutter den 
Knaben vor ein Erucifir und ſprach: „Siehe, diefer ift von nun an bein Vater; 
gib acht, daß du auf dem Wege wandelt, der ihm wohlgefällig if.“ In der 
Schule zeichnete er fih durch Sittlichkeit und Fortſchritte vortheilhaft aus; früh— 
zeitig faßte er den Plan, auf irgend eine Weife geiftlih zu werden. Da aber 
feiner Mutter die Mittel fehlten, ihn ſtudiren zu laſſen, begab er fich in feinem 
16ten Jahre 1767 nah Znaim, einem Städtchen in Mähren, und erlernte da= 
felbft das Bäckerhandwerk. Nach feiner Freifprechung arbeitete er eine Zeit lang 
in der Bäderei des Prämonftratenferffofters Bruck; der Prälat gemwahrte feine 
Luft zum Studiren, nahm ihn in feine Dienfte und ließ ihm in der untern Elaſſe 
der Klofterfchule das Lateinifche erlernen; allein nunmehr ergriff ihn die Sehn- 
ſucht nad einer einſiedlerichen Lebensweife; er verließ daher das Kloſter, begab 
ſich nad) dem eine Stunde von demfelben gelegenen Wallfahrtsort Müplfrauen 
und fuchte bei der Regierung um Baubewilligung nach (1775 oder 1776), wurde 
aber, wie bei dem damaligen Firchenfeindlihen Syfieme der Regierung zu er- 
warten fland, abfchläglich beſchieden. Nachdem er zwei Jahre die umliegende 
Bevölkerung durh Wandel und Ermahnungen erbaut hatte, begab er fih nad 
Wien, und arbeitete wieder in feinem Handwerfe; allein auch hier fand fein Geift 
feine Nahrung, vielmehr wünſchte er eine Wallfahrt nach Nom zu unternehmen 
und erfparte fi zu diefem Ende mit einem Freunde mehrere Monate den Ar- 
beitslohn zufammen; dann traten beide Jünglinge die Pilgerfahrt an und ar- 
beiteten Hierauf nach ihrer Zurücfunft wieder im ihrem Handwerfe. Aber Hoff- 
bauer ergriff immer mehr das Berlangen, die Welt zu verlaffen. Nochmals 
ging er mit feinem erften Reifegefährten nah Rom, um im Kirchenſtaate Ein- 
‚ Fiedler zu werden, und erhielt von dem Bifhof von Tivoli, dem nachmaligen Papfte 
Pius VIL, wirklich die Erlaubniß, fih in feiner Didcefe nieverzulaffen. In inbrün- 
fligem Gebete flehte er Hier zu Gott, ihn bei der Wahl feines Standes zu erleuchten, 
fühlte ſich Hernach immer mehr und mehr zu dem Priefterfiand hingezogen und kehrte 
ſchon nach einem halben Jahre nach Wien zurück, um feine früher begonnenen Stu= 


526° Ligudrianer oder Nedemptoriften. 


dien fortzufegen, was ihm durch die Unterflügung einer frommen Wittwe auch 
gelang. Die Ferienzeit brachte er dann meiftens in der Einſiedelei bei Tivoli zu, 
Während diefer feiner Studienzeit in Wien lernte er einen armen aber frommen 
Züngling Namens Zohannes Taddäus Hibel fennen, der nun fein innigfter 
Freund wurde und mit dem er feine Studien fortfegte, Nach Beendigung der: 
philofophifchen Studien begab fih Hoffbauer in Begleitung. feines Freundes aber- 
mals nah Nom. Die erfle Kirche, die fie hier zufällig befuchten, war die der 
Revdemptoriften, Hoffbauer war von ihrer Andacht fo ergriffen, daß er den Obern 
des Haufes zu fprechen wünſchte; alle Einrichtungen und Berhältniffe des Hauſes 
wurden ihnen gezeigt und endlich bot ihnen der Rector unaufgefordert, obwohl fie 
Fremde und Ausländer waren, die Aufnahme in daffelbe an. Hoffbauer, obwohl 
ſchon 32 Jahre alt, fchrieb fich ſogleich als Candidat ein, Hibel dagegen war noch un- 
entfchloffen, wurde jedoch gleichfalls mit feinem Freunde ine J. 1783 in dag Noviciat 
zu Frofinone aufgenommen, Alphons Liguori feste felbft in diefe Aufnahme die 
Hoffnung, feine Stiftung auch in Teutfchland verbreiten zu Fünnen, was ihm um 
fo erfprießlicher erfchien, als diefes Land durch Aufhebung der Geſellſchaft Jeſu 
feine Miffionäre verloren hatte. In der That war Hofbauer faum zum Priefter 
geweiht, als er auch fehon mit dem Gedanken umging, in Wien ein Haus feiner 
Eongregation zu errichten. Im J. 1785, alfo noch zu Lebzeiten Liguori’s, reiste 
er mit dem gleichfalls zum Priefter geweihten Hibel und zwar ald Superior nach 
Wien ab, um wo möglich den gefaßten Plan auszuführen ; allein damals war, 
da Kaiſer Joſeph U. eben erft die Zahl der Klöfter durch ihre Aufhebung fo ftarf 
befchränft, die Verbindung der öftreichifchen Klöfter mit den auswärtigen Obern 
aufgehoben und dadurch den Nero des Klofterlebens zerfchnitten hatte, für die 
Ausführung deffelben der ungünftigfte Zeitpunet eingetreten, Daher begab ſich 
Hoffbauer mit Hibel und einem Laienbruder nah Warfhau und erhielt hier 
durch Vermittelung des päpftlichen Nuntius bie Kirche des hl. Benno, woher fie 
in Warfhau „Bennoniten” genannt wurden, und ein Haus zur Wohnung, 
Obwohl fie in übergroßer Armuth leben mußten, verloren fie dennoch den Eifer 
für die Heilige Sade nicht und wirkten mit glänzendem Erfolge; insbefondere 
nahm fih Hoffbauer der Erziehung der Waiſenkinder an, Zuerft predigten fie auf 
der Straße, bis ihnen diefes von der Regierung verboten wurde; hierauf hielten 
fie jeden Sonn- und Feiertag in ihrer Kirche zwei Predigten für die Polen, zwei 
für die Teutſchen und fpäter auch eine franzöfifche; ihr Beichtftußl war beftändig 
umlagert und ſchon im J. 1796 belief fih die Zahl der Communicanten auf 
19,000. Für ein fo ausgezeichnetes Wirfen ließ ihnen noch Pius VI. einen jähr- 
lichen Beitrag von 100 Seudi aus der Caſſe der Propaganda anweifen. Nach 
acht Jahren meldeten fich viele polnifche Jünglinge zur Aufnahme in die Congre= 
gation. Zulegt errichtete Hoffbauer auch noch ein Conviet für Elerifer, Schon 
im J. 1794 wurden die Bäter nah Mietau in Rurland berufen, erhielten in 
Warſchau felbft eine zweite Kirche und ein Haus, zählten im J. 1799 25 Mit- 
glieder dafelbft, genofen die Achtung der Gutgefinnten und erbuldeten die Ver— 
folgungen der Böfen mit apoftolifher Sanftmuth. Der Ruf einer ſolchen fegens- 
reichen Wirkfamfeit verbreitete fih fehnell und fo erging an Hoffbauer von dem 
apoftolifchen Nuntius in der Schweiz die Einladung, in Eonftanz ein Collegium 
zu gründen; ebenfo bot auch der Propft des Capitels in Lindau ein Haus an 
und der Bifchof von St. Pölten wünfcte die Patres zur Abhaltung von Exer⸗ 
eitien für die Priefter feiner Didcefe und zur Heranbildung von Feldfaplänen, ein 
Plan, der indeß wegen der Landesgefee wieder aufgegeben werden mußte, Vom 
Nector Major mit der Vollmacht ausgerüftet, Collegien zu errichten, war Hoff- 
bauer im J. 1792 zum Generalvicar der Congregation jenfeits der Alpen er- 
nannt worden, Im J. 1803 gründete er in Teutfehland im Gebiete des Für— 
fen yon Schwarzenberg an der Grenze der Schweiz nächſt dem Dorfe Jeftetten 





Ligusrianer oder Nedemptoriften. 527. 


auf dem Berge Tabor die erfte Niederlaffung in Teutſchland; im J. 1804 wurden 
die Redemptoriften auch an der Wallfahrtsfirhe zu Tryberg im Schwarziwalde 
- angeftellt. Allein gegen beide Nievderlaffungen erhob ſich joldhe Anfeindung, daß 
fih Hoffbauer entihloß, diefelben wieder aufzugeben und dafür eine andere zu 
gründen. Dieß follte zu Babenhaufen gefchehen, wo fie vom Volke mit Freu 
den begrüßt, aber auch alsbald fo fehr mit Verdächtigungen und Berläumdungen 
überbäuft wurden, daß zur gerichtlichen Unterfuhung geſchritten werden mußte, 
die jedoch die Unfchuld der Väter Far berausftellte. Man hatte einmal in ihnen 
eine Abart der Zefuiten entdeckt, und diefer Umftand allein fhon genügte, um fie 
in der öffentlichen Meinung zu verderben, während ihr Acht Fatholifches Wirken 
in dem. Zeitalter der feichten Aufflärung und des Unglaubens von felbft Anftoß 
erregen mußte. Im J. 1806 begab fih Hoffbauer nah Warfchau zurück. In 
Teutſchland wollten indeß die Niederlaffungen nicht recht gedeihen und find faft 
bloß als vorübergehende Miffionsftationen zu befragten; die Väter wanderten 
von Tabor, Tryberg und Babenhaufen hinweg, um der Verfolgung zu entgehen 
und in der Schweiz am Heil der Seelen zu arbeiten. Allein aud in Chur, 
wo fie eine freundliche Aufnahme gefunden hatten, mußten fie der VBerläumdung 
weichen; fie zogen nah Wallis, erhielten ein Haus zu Vi ſpach, wurden aber 
von hier durch den Kriegslärm hinweggeſcheucht. Auch in Polen follte ihr Schickſal 
entſchieden werden. Als im 5. 1807 hier die durch Napoleon angeordnete neue 
Regierung in's Leben trat, wurde am 15. Juli eine Unterfuchung gegen fie einge- 
leitet, ihre Papiere hinweggenommen und hierauf erfolgte der Befchluß der Re— 
gierung, daß diefe Congregation aufgehoben fei, und zugleich wurde diefer Beſchluß 
militärisch erequirt. - Unter Bedefung wurden die Bäter auf einem Leiterwagen 
auf die Feflung Küftrin gebracht, wo fie einen Monat in Gewahrfam blieben 
und hart behandelt wurden; hierauf wurden fie je zwei und zwei entlaffen und im 
ihre Heimath gefendet. Hoffbauers Begleiter war der Elerifer Martin Starf, 
er begab fih nah Wien und wurde hier vom Erzbifhofe Grafen Sigismund 
yon Hohenwart mit väterlicher Liebe aufgenommen, Dur Verwendung des Hof- 
rathes Baron Penfler befam er in dem Gebäude der italienifchen Nationalkirche 
eine Feine Wohnung. Anfangs las er in der Kirche Mariahilf Meffe, und ge— 
wann durch feine Andacht Aller Verehrung; im 3. 1809 wurde ihm bie Beforgung 
des Gottesdienſtes in der italienischen Kirche übertragen. Auch bier wirkte er 
ungemein fegensreich. Endlich zeigte fich wieder ein Strahl der Hoffnung, feiner 
- Eongregation ein Haus in Wien verfchaffen zu fonnen. Es hatte nämlich die 
Tamilie Klinfowfirom bei ihm convertirt und nun redete er Friedrich von Klin— 
kowſtrom zu, für feine Congregation ein Haus zu Faufen. Ein Proteftant ſchoß 
Geld dazu und fo wurde in einer Vorſtadt ein Haus gefauft und in demfelben 
eine Erziefungsanftalt errichtet, die bis zur Wiedereinführung der Jeſuiten in 
Oeſtreich ſich erhielt. Im J. 1813 wurde Hoffbauer Beichtvater bei den Urſu— 
lerinnen und bald wurde die Kirche derſelben zu einem Miſſionsort; ſein Einfluß 
wuchs ungemein, fein Anhang ſteigerte ſich bei Laien und Geiſtlichen ungeheuer, 
er erfchien als der geiftlihe Vater derſelben. Im 5. 1815 fandte er einige feiner 
Priefter nach Bufareft in der Wallachei. Zu befonderem Trofte gereichte ihm, 
daß die in verfhiedene Pfarreien zerfprengten Nedemptoriften in der Schweiz zu 
Balfainte eine Niederlaffung erhielten, welche jedoch fpäter wegen des dortigen 
I rauhen Klimas nah Freiburg verlegt wurde, Den größten Gewinn aber follte 
1. Hpffbauer aus einer fchmerzlichen Kränfung ziehen. Die Menge der bei ihm Aus- 
I and Eingehenden Hatte nämlich die Aufinerfjamfeit der Polizei erregt und nun ent- 
deckte diefe bald, daß P. Hoffbauer einer auswärtigen Congregation angehöre 
I und gegen das Gefeg mit einem ausländifhen Ordensgeneral in Verbindung 
| fliehen fünne. Es warb daher eine Unterfuchung gegen ihn eingeleitet, die aber 
I Fein Bergehen deffelben aufdecken konnte. Da er indeß feinem Orden nicht ent- 








528 Lilienthal. 


fagen wollte, follte er nad) dem Spruche der Unterfuchungscommiffion Deftreich 
verlaffen, America hatte er fih zum Ziele feiner Reife gefegt, um dort für dag 
Chriſtenthum zu wirken; allein der Erzbifchof verwendete fih für ven Schwerge- 
kränkten bei Raifer Franz und diefer, von allen Seiten auf den apoſtoliſchen Mann 
aufmerffam gemacht, entfchloß fih, demfelben eine Gnade zu erweifen, Auch 
geſellten fich viele hochflehende Männer um Hoffbauer, um die Einführung feiner 
Eongregation durch ihre Verwendung möglich zu machen, Am 29. October 1819 
richtete nun diefer ein Mempriale an feinen Kaifer mit einer teutfchen Neberfegung 
feiner Ordensregel, worauf dieſer am 22, April 1820 die Errichtung eines Colle- 
giums genehmigte, Allein diefe Freude hatte der fromme Mann nicht mehr erlebt. 
Er ftarb am 15. März 1820. Vgl. Friedrich Post: Clemens Maria Hoff- 
bauer, der erfte teutfche Redemptorift, Regensburg 1844, Am 23. December 1820 
erhielt die Eongregation auf Befehl des Kaifers die reftaurirte Kirche zu Maria- 
fliegen in Wien und das daneben flehende Haus und im Herbft 1826 ein zweites 
Haus zu Frohnle ithen in Unterfieiermarf, Seither wirkten die Väter der Con- 
gregation unter heftigen Anfeindungen fegensreich in der Hauptftadt Oeſtreichs, 
bis fie in den Märztagen 1848 unter der Herrfihaft der Aula und des Pobels 
auf eine höchſt ungerechte und fchmähliche Art aus derfelben vertrieben wurden, 
©, hierüber hiftorifch-politifhe Blätter, Bd. XXIL Hft. 5, 6 u. 7. Die erſte Niever- 
laſſung der Redemptoriften in Frankreich war zu Bifhenberg in der Didcefe 
Straßburg, einem berühmten Walfahrtsorte; diefelbe wurde in Folge der Zuli- 
revolution aufgehoben, ift aber jest wieder hergeftellt und hat noch mehrere 
Niederlaffungen in Frankreich erhalten, Haupthaus und Sitz des Generalvor- 
fiehers ift gegenwärtig Nocera de Pagani im Königreich Neapel; von ihren 
übrigen Häufern mögen genannt werben Altötting in der Didcefe Paffau, Fal- 
mouth in England, Vgl. über ihren gegenwärtigen Beſtand P. Carl vom HI. 
Alois, Statiſtik ꝛe. S. 596 ff, und nah ihm Henrion- Fehr, Gefchichte ver 
Mönhsorden, Bd, U. ©. 224. Auch in America haben fie Niederlaffungen zu 
Baltimore, Philadelphia, Pittshburg, New- York, Rocheſter, Albany, 
Buffalo und Monroe; bier ift eine ihrer. vorzüglichften Beftrebungen, teutfche 
Zünglinge zum Priefterfiande heranzubilden, um dem Mangel an Seelforgern 
für die teutfchen Katholiken daſelbſt wo möglichft abzuhelfen. — Vgl. Salz- 
bachers Reife nach Nordamerica. Wien 1845. ©, 343. — Auch einen Verein 
von Redemptorifiinnen hat Liguori 1732 gleichfalls zu Scala geftiftetz fie 
hatten gleichfalls in Wien und in Stein Niederlaffungen, theilten aber im 
J. 1848 daffelbe Schieffal mit den Nedemptoriften in Oeſtreich; ein weiteres Haug 
derfelben befteht zu Brügge in Belgien, [&ebr.] 


Lilienthal, Theodor Chriſtoph, Profeffor der Theologie zu Königsberg, 
1717 geboren, nimmt unter den Apologeten des 18ten Jahrh. einen rühmlichen 
Platz ein, In raſchen Fortfhritten griff damals der Deismus und Naturalismus 
die biblifhe Gefchichte in ihren einzelnen Theilen an. Lilienthal verfaßte gegen 
diefe Angriffe feine Schrift: „Die gute Sache der göttlichen Offenbarung gegen 
die Feinde derfelben”, 1750— 1782. 16 Thle. Mit vielem Fleiß, großer Be— 
lefenheit, Gelehrfamfeit und meiftens richtigem Urtheile geht er auf alle einzelnen 
Einwendungen und Einwürfe ein, die hauptfächlich von englifchen Deiften gegen 
den Text des A. u. N. T. vorgebracdht worden waren. (Vgl. den Art. Deis- 
mus und Deiften), Es ift nicht zu läugnen, daß diefe umfangreiche Vertheidi- 
gung auch Meberflüffiges und weniger Stichhaltiges in ſich befaht, Indeß ift fie 
für uns jedenfalls infofern lehrreich, als fie zeigt, die Feinde des Pofitiven un- 
ferer Zeit wärmen nur die Säge ihrer Urväter auf, Außerdem find von Lilien— 
thal herausgegeben eine große Anzahl Differtationen, wie der Kampf Jacobs 
mit einem Engel und gleich viele Journalartikel. (Vgl, chriſtl. Kirchengeſch. feit 











Limburg. 29 


der Reform. von Schröckh. 6. Thl, ©; 2915 Biographie universelle. T. 24; 
pP. 495 ; Vermiſchte, Scpriften von Tholud. 1. Thl. ©. 363. ff. 

Limburg, Bisthum. Daffelbe umfaßt die Fatholifchen Einwohner des Her— 
zogthums Naffau und der freien Stadt Frankfurt a. M. Es ift gegründet durch 
die päpftliche Bulle „Provida sollersque* vom 16. Aug. 1821, ift eines der drei 
oberrheinifchen Bisthümer, fonah ein Beſtandtheil der oberrheiniihen Kirchen- 
provinz, und nebft den Bisthümern Mainz, Rottenburg und Fulda dem neuge- 
gründeten erzbifchöflichen Sige in Freiburg i. B. unterftellt. In der obigen Bulle 
beißt es in Beziehung auf Limburg: „Ebenfo errichten und beftimmen wir Lim- 
burg an der Lahr, im fruchtbarer Gegend und in der Mitte des Herzogthums 
Nafſau gelegen, welches 2700 Einwohner zählt, zur bifhöflihen Stadt und die 


daſelbſt befindliche St. Georgsfirche zur Cathedrale.“ Das Domeapitel in Lim 


burg foll aus einem Decan und fünf Canonifern beftehen. Ihnen follen zur Aus- 
hilfe für die Seelforge zwei Dombicare beigegeben werden. Das Bisthum follte 
aus liegenden Gründen mit einer Ertragsfumme von 21,606 Gulden ausgeftattet 
werden. Davon fallen dem Bifchofe zu: 6000. Der Domderan erhält 2400 fl., 
der erfie Domperr , zugleih Stabtpfarrer von Limburg, foll 1800 fl., der zweite 
ebenfoviel ; der dritte, zugleich Pfarrer in Dietfirchen, ebenfoviel; der vierte Ca⸗ 
nonifer , zugleich Pfarrer in Eltville, fol 2300 fl.; der fünfte, zugleih Stabt- 
pfarrer im Frankfurt, fol das Einfommen der dortigen Pfarrei erhalten. Für 
das Seminar in Limburg find 1500 fl., für die bifchöfliche Kanzlei und die übri- 
gen Berwaltungsfoften find 2130 fl. beftimmt. Die Bulle vom 11. April 1827 
„Ad dominici gregis* enthält befonders nähere Beftlimmungen über die Art und 
Weife der Erwählung fowohl der Biſchöfe als der übrigen Würdeträger der Kir» 
chenprovinz. — Nach einer Zählung vom J. 1843 hatte das Herzogtum Naffau 


184,282 Ratholifen, neben 215,632 Proteftanten, 160 Mennoniten, 6630 Juden. 


Sranffurt zählte bei 65,524 Einwohnern an 6500 Katholifen. Nach dem genea— 
logifchen Kalender vom J. 1849 zählte Naſſau Katholifen: 183,466 — Prote- 
ftanten: 218,894 — Mennoniten: 151 — Juden: 6733 — zufammen: 424,817 
Einwohner. Das Bisthum Limburg umfaßt in Naffau (nah dem Stande vom 
1. Zuli 1850) 15 Decanate mit 143 (140) Pfarreien. Die Decanate find: 
4) Braubah mit 7 Pfarreien; 2) Eltville mit 11 Pfarreien; 3) Hadamar mit 
41 Pfarreien; 4) Höhft mit 10 Pfarreien; 5) Idſtein mit 9 Pfarreien; 


I 6) Königftein mit 12 Pfarreien; 7) Langenfhwalbah mit 9 Pfarreien; 3) Lim⸗ 


burg mit 12 Pfarreien; 9) Meudt mit 10 Pfarreien; 10) Montabaur mit 11 
Pfarreien; 11) Rennerod mit 6 Pfarreien; 12) Rüdesheim mit 11 Pfarreien; 


43) Selters mit 9 Pfarreien; 14) Ufingen mit 7 Pfarreien; 15) Wiesbaden 


mit 8 Pfarreien. In Frankfurt wird die Dom- oder St. Bartholomäi-Gemeinde 
verwaltet von dem Stadtpfarrer, Geiftl. Rath und Domcapitular (zur Zeit Herr 
Beda Weber), mit 3 Raplänen. Die Liebfrauenfirhe fteht unter einem Director 
und 2 Kaplänen; die St. Leonharbsfirche fteht unter einem Director, 2 Raplä= 
nen und 1 Auspilfsfaplan; endlich die Teutfh-Hausfirhe in Sachfenhaufen unter 
einem Pfarrer und einem Kaplan. Regularclerifer hat das Bisthum Limburg 
bis jegt nicht befeffen; doch hat unter Iebhaftem Widerfireben der weltlichen Be— 
hörden der hochwürdigſte Bifchof von Limburg in den legten Tagen 2 Redemp- 
toriften an den Walffahrtsort Bornhofen, Gemeinde Lamp, eingeführt. Gegen- 
wärtiger Bischof ift Peter Joſeph Blum, geboren zu Geifenheim den 18. 
April 1808, Priefter ſeit 1832, zum Biihofe gewählt und eingefegt im J. 1842, 


I nachdem eine vorausgegangene uncanonifhe Wahl verworfen worden war (S. Hiſt.⸗ 
pol. Blätter, Bd. VI. S. 297. „Die Limburger Bifhofswahl.”). Den guter 
unter den Katholiken Naffaus herrfchenden Geift zeigten die im Taufenden Jahre 
in diefem Bishum durch die Patres Nedemptoriften gehaltenen Miffionen, (Siehe 


Katholik, Zuli 1850.). Die obigen Bullen find abgedrudt in Phillips, Kirchen» 
Rirhenlsziton. 6. Sd. 34 


530 Limbus — Lindſey. 


recht, II. Bd, 1850, im Anhange. Vergl. au: Hand- und Adreßbuch über alfe 
Berhältniffe der kath Kirche, — Eine Statifif der kath. Kirche f. d. Jahr 1850. 
von Dr. J. A. M. Brühl. ſGams.] 
Limbus iſt der Name für jene Oertlichkeit des Jenſeits, die den ohne 
ihr Verſchulden außer dem Kreife der Erlöfung ſtehenden Seelen zum Aufenthalte 
angewiefen iſt. Da innerhalb der bezeichneten Beziehung ein doppeltes Verhält⸗ 
niß flattfindet, fo unterjcheivet fi ein limbus patrum und ein limbus infantium. 
Die Angehörigen der erften Abtheilung ſtehen gefchichtlich außerhalb ver Er- 
löſung; diefe iſt noch nicht vollbracht und fo der ihnen beftimmte Ort der An- 
ſchauung Gottes, der Himmel, noch verfchloffen Nachdem nun die große Ver- 
fohnung auf Golgatha vollbracht worden und die bisher beftehende Scheinewand 
zwifchen Gott und dem Menfchen gefallen, hat ſich ihnen der durch den Ueber— 
winder der Sünde und des Todes wieder zugänglich gemachte Himmel, an deſſen 
Saum (daher der Name) fie bis zu deſſen Hölfenfahrt (ſ. die Art, Höllenfahrt 
und Erldfung) geweilt, unter dem froben Jubel der feligen Geifter genffnet, 
Der jetzt leer flehende limbus patrum trägt auch den Namen Vorhölle, Fonnte 
aber auch „Vorhimmel“ heißen. Was die Angehörigen der zweiten Abtheilung 
des limbus anlangt, fo find dieß ſolche, auf welche das Ergebniß ver gefihichtlich- 
objectiv vollbrachten Erföfung feine Anwendung finden kann, weil fie ohne Waffer- 
ober Bluttaufe aus dem Leben gefchieven und zur Begierdtaufe in Ermangelung 
des reifen Vernunftgebrauches die fubjertive Fähigkeit nicht befaßen, Solche in 
einem Findlichen Alter ohne Taufe dahingeſchiedene Seelen befinden fih nun zwar 
nicht in der eigentlichen Hölle, wohl aber gleichfam am Saume, am Rande der- 
felben, (Das Nähere hierüber im Art. Hölle.). [Fuchs. 
Lindſey, Theophilus, Stifter einer unitariſchen Gemeinde in 
London, In England wurde die Ausbreitung der Speinianer und Unitarier 
frühzeitig durch die härteften Gefege gehindert und in Folge davon Fonnten fi 
die Unitarier noch bi8 gegen Ende des 18ten Jahrhunderts in Feine Secte zur- 
fammenthun, obgleich der Unitarismus von Siebenbürgen, Polen und Holland 
ber durch Flüchtlinge und Schriften auch auf die britifche Infel eingefhmuggelt 
worden war, arianifhe und forinianifche Anfichten fih unter dem Einfluß der. 
Sreivenferei und Freimaurerei (f, dieſe Art.) feit dem Ende des 17ten Jahr- 
hunderts fehr verbreiteten und Johann Biddle CH 1662) (f. d. Art) und 
Thomas Emlyn CH 1741) den Verſuch, der ihnen aber theuer zu ſtehen Fam, 
gemacht Hatten, eine eigene Gemeinde auf unitarifcher Bafis zu gründen, All— 
mählig famen indeß die gegen die Arianer und Soeinianer erlaffenen Geſetze 
außer Brauch, wiewohl man fie nicht förmlich abfehaffte, und es bedurfte nur 
mehr eines Führers, um endlich eine unitarifche Gemeinde zu fammeln. Ein 
folcher Führer erſchien im J. 1773 in der Perfon des anglicanifchen Pfarrers zu 
Carterick in Yorkfhire, Theophilus Lindfey, Er Iegte fein Amt mit der Erflärung 
nieder, daß er dazu von feinem Gewiffen gebrungen fei, weil fih feine Ueber— 
zeugung in Betreff der 39 Artikel (ſ. Hochkirche), befonders in Anfehung des 
athanafifhen Glaubensbefenntniffes geändert habe, begab fih nach London, wo 
Thon genug vorgearbeitet war, und machte befannt, daß er einen eigenen 
Gottesdienſt nach der Lehre des unitarifchen Syftems in feinem Haufe einzuführen 
entichloffen fei, Er eröffnete ihn auch wirklich im April 1774 unter dem Zus 
fammenftrömen einer Menge von Zuhörern, Aus biefen bildete ſich allmählig 
eine zahlreiche Gemeinde, welche regelmäßig in Lindfey’s Haus zum fonntäglichen 
Gottesdienſt zufammenfam und nach einigen Jahren durch Subfeription die Koſten 
zur Herftellung einer eigenen Capelfe zufammenbradte, wo Lindfey feit 1778 
wohnte und alfe Sonntag nach einer eigens von ihm verfaßten Liturgie den 
Gpttesdienft hielt. Lindfey’s Beifpiel fand Nachahmung nicht bloß in England, 
wo nun auch mehrere Geiftliche fich erfaubten, die Liturgie im antitrinitarifchen und 








Lingard. 531 


unitariſchen Siun (f. Antitrinitarier) zu verändern, und Joſeph Prieſtley, be— 
Fannt durch feine Gefhichte der Verfälfhungen des Chriſtenthums, die unitarifchen 
Prineipien noch weiter fortbildete ald Soeinus felbft, fondern auch in Schottland, wo 
William Ehriftie, ein Kaufmann zu Montrofe, im J. 1781 eine unitarifche Ge- 
meinde fliftete und für den Gottesdienft die Liturgie Lindfey’s einführte, Der er- 
wähnte Prieftley, geftorben 1804 in America, wohin er vor dem Volksunwillen 1794 
hatte flüchten müſſen, bahnte dem Unitarismus in America den Weg an, ©, 
Schröckh's Kgſch. feit der Reform. TH. IX.; Mosheim’s Kgſch. fortgef, v, 
Schlegel, Bd, VI; Plant, neue Religionsgefh. Th. 1. €, [Schrödt.] 
Lingard, John. Der Mann, der fo viele Notizen für Mit- und Nad- 
welt gefammelt und binterlaffen hat, war nie zu vermögen, Notizen über fein 
eigenes Leben mitzutheilen, Was wir von ihm wiffen, verdanfen wir einem 
feiner Jugendfreunde, dem ihm im Tode längſt vorangegangenen Gradwell, Coad⸗ 
jutor des Bifchofs von London, veröffentlicht in der Bonner Zeitfchrift für Philo— 
fophie und Theologie, Eöln 1834. 9. Heft ©. 101 ff. Lingard entflammte 
C5. Febr, 1771) einer frommen und ebrfamen Fatholifchen Familie zu Wincefter, 
Gemäß feiner Neigung und trefflichen Anlagen übergaben die Eltern den zwölf: 
jährigen Kuaben dem englifhen Collegium zu Douai in Franzöfifh-Flandern, der 
beiten Pflanzfchule englifcher Katholiken. Durh Talent, Fleiß und Liebens- 
| würbigfeit ausgezeichnet, durchlief er die philologiſchen und philofophifchen Studien 
nebft einem Theile der Theologie bis zum Frühjahre 1793, wo er das Collegium 
verließ und als Erzieher und Neijegefellfchafter des Lords Stourton nach England 
zurückkehrte. Nah 1'/,jährigem Aufenthalt auf dem Landfige diefer Familie bei 
Jorkſhire, wo eine trefflihe Bibliothek feine Mußeftunden ausfüllte, begab er 
ſich nad Croof-Hall, um in diefem Collegium das Studium der Theologie zu 
vollenden. Sogleich nad) feiner Priefterweihe wurde er bei den glänzenden Proben 
feines Predigertalentes nach London eingeladen. Aber bei der Berrichtung aller 
| Fatholifchen Collegien auf dem Feftlande, die fonft Engländer befucht Hatten, fegte 
er eine glänzende Laufbahn dem Verdienfte nach, zur Bildung Fünftiger Priefter 
mitzuwirken. So ward er im Elerical-Seminar Vicepräfident, Profeffor der 
Philoſophie und General-Studiendirertor, wo er, mit Einfluß der drei Tegten 
Jahre, die er im neuen Coffegium zu Uſhaw zubrachte, über 15 Jahre voll Eifer 
und Segen wirfte, ohne feine Studien und Ausbildung zu vernachläfigen, Ge- 
ſchichte war fein Lieblingsfach, und die feines Vaterlandes fand er reichlich aber 
ſehr einfeitig bearbeitet vor, entflelft durch Religionshaß und eine darnach fich 
richtende politifche Anſchauung. Im 3. 1806 trat Lingard als Hiftorifer auf und 
ſelbſt die geachtetften englifchen Zeitfihriften, obwohl antikatholiſch gehalten, fprachen 
fih -mit Hoher Anerfennung über Lingard's Gelehrfamfeit, Scharffinn, Fleiß, 
Duellenftudium und edlen Freiheitsfinn aus, Ein glänzendes Zeugniß ftellte 
ihm auch das Journal des Debats aus. — Kaum war Lingard’s Nuf als Hiftorifer 
begründet, fo follte er gleiche Lorbeeren fih auch als theologifcher Polemiker 
fammeln, Eine Anzahl englifcher Bifhöfe, ihren Collegen Durham an ver 
Spige, derlamirten und fihrieben Heftig gegen alles Ratholifche im J. 1807. 
Mit einer Ruhe, Klarheit, Leichtigkeit, einem Ernfte und Fronie wies der junge 
‚Mann die gewaltige Schaar feiner Gegner zurecht, daß ſelbſt proteftantifche 
Kritiker ihm die Palme des Sieges über die gefchloffene Phalanx feiner Gegner 
zuerfannten, Seine dießfallfigen Brofchüren, die er nur wie zur Erholung ohne 
Beeinträchtigung feiner fonftigen Gefchäfte fchrieb, wurden von Ratholifen und Pro— 
teſtanten verfchlungen und mußten in ftarfen Auflagen wiederholt gedruckt werden, — 
Nah dem Tode feines Freundes und Collegen Thomas Eyre mußte Lingard im 
3. 1810 Präfes des Colfegiums werden. Im J. 1811 trat er den Kleinen Poften 
| der Fatholifchen Eapelle zu Hornby trog der Armuth der Gemeinde und des ganz 
I geringen Einfommens an, um ſich mehr der Abfaffung feiner engliſchen Geſchichte 
34 


532 Linie — Linus, 


widmen zu können. Hier Iebte er treu feinem Berufe ald armer Landpfarrer und 
glüclich in feinen Studien bis in fein hohes Alter, Im 3. 1821 machte er eine 
gelehrte Reife nach Italien und wurde in Nom auf das Zuvorkommendſte auf- 
genommen, Pius VII. hatte ihm die Würde eines Prälaten der römifchen Kirche 
zugebacht, wegen des Auffehens aber, was diefe Würde in England erregen 
Tonnte, lehnte fie Lingard beſcheiden ab. Dagegen erhielt er aus der Hand des 
hl. Vaters das Doctorbiplom der Theologie und beider Rechte. Im J. 1822 
ward er zum Mitglied der Fatholifchen Academie zu Rom und 1824 zum Mit- 
glied der füniglichen Speietät der Wiffenfchaften zu London ernannt. Auf feine 
ftilfe Pfarre zurücgefehrt, Tebte er wieder ihr und feinen Studien bei befter 
Befundheit und. widerlegte fo die Zeitungslüge, daß er fih ausgehungert habe, 
Bei aller Schärfe und Gelehrfamfeit war fein Styl edel, Far und einfach. 1806 
erfchienen feine: The Antiquities of the Anglo-Saxon Church, in zwei Banden; 
1831 auch in's Franzöfifche überfegt. 1806—1820 erfchienen feine apologetiſchen 
Schriften, gefammelt unter dem. Titel: A collection of Tracts, on several Sub- 
jects, connected with the civil and religious principle of Catholics by the Reve- 
rend D. Lingard (in zwei Auflagen zu London erfchienen, auch 1829 in's Fran- 
zöfifhe zum Theil, aber an manchen Stellen unrichtig überfegt), Remarks on 
the „St. Guthbert“ of Reverend James Raine, Zurückweiſung der Angriffe Naine’s 
auf die Fatholifche Kirche. Sein Hauptwerf aber, zu dem er als Rechtfertigung 
ſchrieb Vindication of the History of England, iſt: A History of England, from the 
first invasion of the Romans. By John Lingard, D. D. erfchien in England, Paris 
und Heidelberg in verfihiedenen Auflagen, auch in franzöfifcher und auf Befehl 
Papſt Leo's XI. auch in italienifcher Sprade, in teutfher von Salis, fortgeſetzt 
von Berly, Frankfurt 1823—1833, 15 Bde. und Duedlinburg 1827—1837, 
10 Bde. Die Fortfegung von 1688 bis auf unfere Tage erfchien in Franfreich 
von de Marles, in's Teutfche überfegt von Pfarrer Ste I. und II. Bd,, Tübingen 
bei Laupp 1847, [Haas.] 
Linie, ſ. Verwandtſchaft. 
Linus, Papſt. Die verſchiedenen Verſuche, die Reihenfolge und die Regie— 
rungszeit der erſten Päpſte feſtzuſtellen, ſehe man in den Artikeln: Anaclet, 
Clemens J. und Cletus. In Bezug auf Linus iſt, wenn nicht ſicher, ſo doch 
höchſt wahrſcheinlich, daß er, wie das römiſche Brevier fagt, primus post Petrum 
gubernavit ecclesiam, ſei es nun, daß er bei Lebzeiten des Apoſtels als deſſen 
vicarius der Kirche vorfland, fei eg, daß er nach dem Tode deffelben Papft wurde, 
Sei e8 endlich, daß er, wie Stilting (Acta Sanctorum 23. Sept.) nad dem 
iberianifchen Catalog annimmt, anfangs vicarius des HI. Petrus, dann aber nah 
deffen Tode noch zwei Jahre wirklicher Papft war. Mit ziemlicher Sicherheit 
fann man auch die Dauer feines Pontificats auf ungefähr 11 Jahre anfegen, 
Nach einem alten Papal- Catalog war er aus Etrurien gebürtig, der Sohn eines 
Hereulanus, nach dem römifchen Brevier aus Voleterrä in Etrurien. Nach 
ſpätern Nachrichten wurde er in einem Alter von 22 Jahren von feinem Vater 
nah Rom geſchickt, um fich dort auszubilden, wurde von Petrus befehrt und 
wegen feines Glaubens und feiner Beredtfamfert zum Bifchof geweiht und zum 
Stelfvertreter des Apoflels ernannt, Ferner wird von ihm in dem erwähnten 
Catalog erzählt, er habe den Frauen verboten, unverfchleiert in die Kirche zu 
kommen. Nah dem römifchen Brevier heilte er Befeffene und erweckte Todte 
und wurde auf Anftiften des Eonfularis Saturnin, deffen befeffene Tochter er 
geheilt hatte, enthauptet und auf dem Vatican neben dem Apoftelfürften beerbigt. 
Daß er als Martyrer geftorben, dafür fpricht auch die Tradition und feine Auf- 
nahme unter die martyres im Canon; die von Tillemont (Mem. t. II. S. Clement 
Mote A) dagegen vorgehrachten Bedenken find nicht erheblich und von Stilting 
{l. 0.) wiverlegt, Das Martyrologium Romanum nennt mit alten Nachrichten den 





BT a ge _ EEE EN FE 





| Binz 533 


28. Sept. als dies natalis des HI. Linus, andere (denen das cölnifche Brevier 
folgt) den 26. Nov., andere den 7. Det,, die Griechen den 5. Nov. Es wird 
dem Linus eine Gefhichte des HI. Petrus, namentlich feines eng mit Simon 
Magus zugefhrieben; die in der Biblioth. PP. Paris. 1644 t. 7. abgedrucften 
Mariyracten der Apoftel Petrus und Paulus find aber fiher nicht von ihm 
G. Henſchen, Acta Sanct. Jun. t. 5.; Tillem. Lc.), und wahrſcheinlich, wie 
Bellarmin (de script. eccl.) vermuthet, an die Stelle der ächten unterfchoben. 
Daß der 2 Timoth. A, 21. erwähnte Linus unfer Linus fer, fagt ſchon Irenäus 


dl, 3, 3.). [Reufch.] 


Linz, Didcefe in Dberöftreih. Der größte Theil der Diöceſe Paſſau 


ag feit ihrem Entftehen in Deftrei, und diefer öfreicpiiche Theil des Bisthums 


Paſſau blieb damit bis auf 1783 größern Theils verbunden. Als in diefem 
Sabre der Cardinal und Fürftbifhof von Paffau, Leopold Ernft Graf von Firmian, 
mit Tod abging, ließ Kaifer Zofeph IL unverzüglich erflären, daß Oeſtreich ob 
und unter der Enns von der Paſſauer-Diöceſe nunmehr getrennt ſei und eigene 
Biſchöfe erhalten werde; zugleich wurde durch Faiferlichen Befehl die bifchöflich- 


paſſauiſche Gerichtsbarkeit in ganz Deftreich eingeftellt und alles paffauifhe Bis— 


thums- und Domcapiteld-Gut in Befig genommen. Auf die gerechten Gegen- 
vorſtellungen des Domcapitels von Daffau erfolgte die Antwort, der Kaiſer könne 


| und werde vermöge feiner Regentenpflichten und im Hinblif auf das Befte feiner 
I Untertbanen nicht anders handeln, Das Eapitel wandte fih nun um Unterftügung 


an einzelne churfürftlihe Höfe, und wählte im Mai 1783 den bisherigen Bifchof 
son Gurf, Grafen Joſeph Franz Anton von Auersberg, zum Bifchof 
von Paffau, in der Hoffnung, demfelben werde es beffer gelingen, mit dem 
Kaifer einen annehmbaren Vergleich abzufchließen. Alfein der Vergleich, welchen 
Diefer mit dem Kaifer am 4, Juli 1784 abfhloß, war dem Bisthum Paſſau 
außerft nachtheilig: Auersberg entfagte in demfelben für fich und alle feine Nach— 


folger jeder bifchöflichen Gerichtsbarkeit in ganz Deftreih, und verpflichtete fich 


fogar, in dankbarſter Anerfennung der alferhöchften Gerechtigfeitsliebe und Gnade 
des Kaifers, gegen Zurüdgabe der von diefem dem neu zu errichtenden Bisthum 
Linz beftiimmten paffauifchen Güter die Summe von 400,000 Gulden zum Behufe 
der Ausftattung des neuen Bisthums Linz zu bezahlen! Doc ließ nachher Kaifer 
Leopold U. die Hälfte diefer Summe nad. In's Leben trat das neue Bisthum 
Linz im 3. 1785. Zu feinem Sprengel unter dem Metropolitanrecht der Erz- 


Fire von Wien erhielt es ganz Oberöftreih. Zum erſten Bifchof von Linz er- 
nannte der Raifer den Grafen Ernft Johann von Herberftein. Zur Cathe- 
drale beftimmte man die ehemalige Jefuitenfirche zu Linz, und- die Zahl der Dom— 
‚eapitularen wurde auf fieben feftgeftellt, mit dem Chrenrechte der Jufel für den 


Generalvicar, den Dompropft, Domdechant und Domſcholaſter. Nach Ernſt 
Johann (4 1783) folgte Anton Joſeph Gall. Als dieſer 1807 ſtarb, blieb 


| Das Linzer-Bisthum acht Jahre lang ohne Oberhirten, indem der 1809 zum 


Bifchofe ernannte Sigismund von Hohenwart wegen der Zeitumftände fein 
Amt erft 1815 antreten fonnte, Sigmund (+ 1825), unter deffen Regierung die 
Shwärmerifchen Serten der Boofianer ( Kempten) und Pöſchelianer 
€. d. Art, und Kleins Gef. d. Chriſtenth. in Deftr. u, Steiermark, VIL. 200 :6,) 
in der Linzer-Didcefe zum Vorſcheine famen, erhielt im J. 1827 zum Nachfolger 
den eifrigen und gelehrten Biſchof Gregor Thomas Ziegler, der noch gegen- 
wartig den bifchöflichen Stuhl von Linz ziert. Laut Schematismus der Linzer- 
Dideeſe vom J. 1850 befteht gegenwärtig das Domcapitel aus drei Dignitätens 


 Dompropft, Domdechant und Domfcholafticus, und aus vier andern Domecapitu- 
lJaren, fammt einigen Ehren-Domberren. Die Diöcefe ift in 24 Decanate getheilt 


und zählt 294 Pfarren, 46 Pfarrvicariate, 43 Localftationen, 25 Erpofituren 
und 40 Bensficien, Die Gefammtzahl des Secularelerus beträgt 694, des 


531 Lippomani. 


Regularelerus 323 Prieſter und die Seelenzahl der Dibeeſe 706,566. Klöſter 
hat die Didcefe folgende: Benedietinerklöſter 2, Kremsmünſter und Lambach, 
regufirte Canoniker 2, zu St. Florian und Neichersberg, Ciftercienfer 2, Wil- 
hering und Schlierbach, Prämonftratenfer 1, Schlägel, Carmeliterflofter 1, zu Linz, 
Sapueinerflöfter 2, zu Linz und Gmunden, Piariften-Collegium 1, zu Freiftabt, 
Barmherzigenflofter 1, zu Linz, Urfulinerinnen 1, zu Linz, Elifabethinerinnen 1, 


zu Linz, Carmeliterinnen 1, zu Omunden, Salefianerinnen 1, zu Gleink, Barm-⸗ 


herzige Schweftern 2, zu Linz und Steyr. Im J. 1834 wurden durch Erzherzog 
Marimilian die Zefuiten auf dem Freinberge bei Linz eingeführt, nachdem er bie 
fchöne Kirche dort erbaut und ben dortigen Thurm in ein Collegium umgeftaltet 
hatte; allein die fogenannten März - Errungenfchaften follten den armen Jefuiten 
nicht gelten, fie wurden ſchmählich vertrieben, ©. Klein, Gef, des Chriſtth. 
in Deftreih und GSteiermarf VIL, Prig, Geſch. des Landes ob ber Enns, 
B. I.ʒ Verzeichniß über den Geiftlichen- Perfonalftand der Linzer-Dibceſe auf das 
% 1850. [Schrödl.)] 
Lippomani, Aloyſius oder Ludovieus, wurde zu Venedig im J. 1500 ge⸗ 
boren, Er ſtammte aus einer Familie, welche im J. 1381 nah dem Kriege mit 
Genua unter den Adel Venedigs aufgenommen war, In den Sprachen hatte er 
fich tüchtige Kenntniffe erworben, war fehr bewandert in der Gefhichte, ſowohl 
der Rirchengefchichte als der Profangefhichte, und beſonders gründlich unterrichtet 
in der Theologie. Wegen feines fittenreinen Lebens war er ebenfo berühmt: als 
wegen feiner Gelehrfamfeit. Lippomani war nacheinander Bifhof von Modon, 
Berona und Bergamo, Wegen feiner ausgezeichneten Eigenfchaften warb Lippo— 
mani zu wichtigen Gefchäften verwendet. Als das allgemeine Eoneil von Trient 
nach Bologna verlegt wurbe, erhielt Lippomani den Auftrag nach Rom zu reifen 
und diefen Schritt vor dem Papfte zu rechtfertigen. Ber der Unterbredung des 
Eoneils ging Lippomani 1548 als Nuntius nach Teutſchland, wo er zwei Jahre 
verweilte, Im folgenden Jahre war Lippomani einer der drei Präfidenten des 
allgemeinen Coneils zu Trient. Zugleich bekleidete er die Stelle eines Geeretärs 
des Papftes Julius IN. Papſt Paul IV. fhicte ihn im 3. 1556 nach Polen, um 
dort den Fortfchritten der Neformation entgegen zu arbeiten. Früher war das 
Neifen auf proteftantifche Univerfitäten verboten (vergl. Lasko, J. Erzbiſchof), 
im 5. 1542 aber wurde das Neifen in's Ausland erlaubt, nur follte Keiner nach 
feiner Rückkehr neue Lehren ausftreuen. Mit der Thronbefteigung Sigismund's II. 
pder Sigismund Auguft’8 breitete fich der Proteſtantismus immer mehr aus, 
Durch die Aufnahme der Hufiten oder böhmifchen Brüder (1548) erhielt der 
Proteftantismug eine Verſtärkung in der Zahl, aber es trat zugleich eine Schei- 
dung in ber Lehre ein, denn bis dahin hatten die Proteftanten ın Polen das Augs- 
burgifche Glaubenshbefenntnig angenommen. Später fand auch Lälius Soeinus 
willige Aufnahme. Daß dadurch die Fatholifhe Neligion Nachtheile erleiden 
mußte, liegt in der Natur der Sache. Es zeigte ſich diefes auf den Reichstagen 
zu Petrifan 1550, 1551 und befonders 1555, wo ein Nationaleuneilium bean- 
tragt wurde ganz nach proteftantifchem Zuſchnitt; die Fürften follten die Nichter 
in Glaubensſachen fein, und die Religionsftreitigfeiten bloß nach der hl. Schrift 
entfchieden werben; die Fatholifchen Biſchöfe follten mit den proteftantifchen Theo- 
Ingen berathfchlagen, und auch auswärtige Theologen, wie Calvin, Melanchthon, 
Beza u. ſ. w. follten hinzugezogen werden fönnenz zum Schluffe follte dann auch 
ein Glaubensbefenntniß aufgeftellt werden, Der König genehmigte diefes nicht 
nur, fondern ließ durch feinen Gefandten beim Papfte noch weiter gehende An- 
träge ſtellen, welche der Papft nur abweifen Fonnte, Die Bemühungen der Bi- 
Thöfe beim Könige waren dagegen ohne: einen bedeutenden Erfolg, Auf der 
Provincialfynode zu Petrifan 1551 Tießen fie durch Stanislaus Hofius (ſ. Hoſius, 
Stan.) ein Glaubensbekenntniß auffegen, weldes bald fo beliebt wurbe, daß 





Lipſius. 535 


man es in den verſchiedenſten Sprachen und Ländern druckte. Die Biſchöfe er— 
fuchten auch den Papft um Abfendung eines Nuntius, als folcher Fam Lippomani 
1556 nach Polen, Lippomani mußte gegen fchändlichen Mißbrauch einer con- 
feerirten Hoftie von drei Juden und einer Chriftin die Strenge der Gefege an 
rufen, und wurde durch feine Wirffamkfeit gegen den Proteftantismus den Häre- 
tifern fo verhaßt, daß fie mehrere Male Nachſtellungen gegen fein Leben berei= 
teten, welche glücklicher Weiſe nie ihren Zweck erreichten.  Lippomanı ward 1558 
Bifhof von Bergamo und ftarb den 15. Auguft 1559, Bon feinen Schriften 
find zu nennen: Catena sanctorum Patrum in Genesin. Parisiis 1556. fol. — Catena 
sanctorum Patrum in Exodum. Parisiis 1550. fol. — Catena in aliquot psalmos. 
Romae 1585. — Vitae sanctorum. Venetis 1551. 8 voll. 4. — Constitutiones 
synodales super reformatione cleri. — Confirmatione di tutti gli dogmi catho- 
liei etc. Venezia 1555. — Espositioni volgari sopra il simbolo Apostolico, ibid. 
1541. 4. ; [Uedind.] 
Lipſius, Zuftus, berühmter Gelehrter des 16ten Jahrhunderts, 
geboren 1547 zu Iſch, einem Dorfe bei Brüffel, hatte ein folches außerordent- 
liches Genie, daß er in einem Alter, in welchem andere Rinder zu leſen anfan- 
gen, fhon zu fohreiben begann; denn neun Jahre alt, machte er fihon einige 
Gedichte, in einem Alter von zwölf Jahren arbeitete er Reden aus; 19 Jahre 
alt edirte er fein Werk: Variae lectiones. Weberrafpt und eingenommen von 
diefem Genie, nahm ihn der Cardinal Granvella (f. d. Art.) als Seeretär mit ſich 
nah Rom, wo er feine Kenntniffe fehr erweiterte, Bon Nom zurüdfgefehrt, ward 
er durch den Kriegszuftand feines Baterlandes bewogen, die Profeffur der Be— 
redtfamfeit und Geſchichte an der Univerfität Jena zu übernehmen und befaunte 
fih hier äußerlich zur Iutherifchen Kirche. Indeß nöthigte ihn diefer gezwungene 
 Religionszuftand, feine Stelle im 3. 1574 heimlich zu verlaffen, Im J. 1579 
beriefen ihn die Stände von Holland zur Profeffur der alten Literatur nach 
Leiden; bier wendete er fih äußerlich zum reformirten Befenntnif. Nachdem er 
bier 13 Jahre gelehrt, verließ er Leiden, um zu Löwen die Profeffur der ſchönen 
Wiffenfchaften zu übernehmen, Fehrte aber vorher wieder zur katholiſchen Kirche 
zurüf, Seine Borlefungen verſchafften ihm fo großen Ruhm, daß der Erzherzog 
Albert mit feiner Braut, der Infantin Jfabella, und dem ganzen Hof diefelben 
beſuchte, ihn auch zum Staatsrath machte. Philipp I. zeichnete ihn mit dem 
Titel eines Hiftoriographen aus; Heinrich IV., Paul V. und die Nepublif Bene- 
dig bemühten fich vergeblich, ihn in ihre Dienfte zu ziehen. Seitdem er wieder 
zur fatholifchen Kirche zurücgefehrt, blieb er big zu feinem Tode 1606 aufrichtig 
derfelben ergeben und wurde ein außerorbentliger Verehrer der jungfräulichen 
Gottesgebärerin; er fihrieb fogar die Gefchichte der Frauenkirche von Hall, worin 
er aber, gleichfam als gehörte diefes zum Wefen eines guten Ratholifen, ohne 
alle Prüfung alle noch fo ungewiffen Traditionen aufnahm, und weihte diefer 
Kirche, doch nicht ohne überfchwengliches Selbftlob , feine filberne Feder, Lipfius 
war einer ber vorzüglichften Commentatoren der römifchen Claſſiker; fein Meifter- 
werk in diefer Beziehung ift fein Commentar über Tacitus, Diefen Hiftorifer 
wußte er von Wort zu Wort auswendig, und furhte auch feine und Seneca’s 
Schreibweiſe nachzuahmen, verfiel aber dabei in einen falfch-Iaconifchen, abge— 
brochenen, zugefpiäten und gefünftelten Styl, welcher demungachtet allenthalben 
Nachahmung fand. Für die Gefhichte der Philofophie ift Lipfins deßwegen nicht 
I ohne Bedeutung, weil er den Stoicismus wieder in Aufnahme zu bringen fuchte, 
edoch fo, daß er ihn foniel wie möglich dem Chriftenthum anzupaffen fih bemühte, 
Zu diefem Behufe gab er außer feiner Schrift „de constantia* eine „manuductio 


} ad philosophiam Stoicam“ und eine „physiologia Stoica“ heraus und beleuchtete in 





ber von ihm beforgten neuen Ausgabe der Werfe des Seneca das ſtoiſche Syftem 
in einer Weife, wie es vor ihm noch Fein Commentator gethan hatte, Aus den 


530 Liquoriſtiſcher Streit — Lismanin. 


ungemein zahlreichen andern Schriften des Lipſius ſeien nur noch angeführt ſeine 
Schriften de una religione, de cruce 1. III., de erucis supplicio apud Romanos. 
©, Aubert, Miraei vita J. Lipsii, Antw. 1609; Dupin, bibl. Ecel. XV; Bayle, 
dict.; Feller, diet. hist.; Rixner, Geſch. d. Philofophie; Schröckh's Kgſch 
feit d. Ref. II. [Shröpt.] 

Siqupriftifcher Streit, Derfelbe dreht fih um die Frage, ob auch andere 
Slüffigfeiten Cliquores) als Wein zum Abendmahle gebraucht werben dürfen 
und hat fomit Berwandtfhaft mit den hydroparaſtatiſchen Streitigkeiten in der 
alten Kirche (f. d. Art. Eneratiten). Kaum war Schweden von der Fatho- 
liſchen Kirche abgefallen, fo gab ein in diefem Reiche um's J. 1560 entflanvener 
Weinmangel die Beranlaffung, daß mehrere der Neuerer auch an der Materie 
des Abendmahls neuern und ihre fubjectiven Anfichten der Firchlichen Objee- 
tioität auch in diefem Puncte überoronen wollten. An der Spige biefer Partei, 
die das Abendmahl auch im Bier, Waffer, Meth und Milch abhalten wollte, 
ftanden der Iutherifhe Theologe Dionys Beurius und der Iutherifche Bifchof 
Johann Nicolaus Dfreg oder Dfeg von Wefteräs, Die Biſchöfe von 
Upſala und Stregnäs aber, Lorenz Petri und Helfing, traten ihnen entgegen 
und wollten, daß man dag Abendmahl für einige Zeit Tieber gar nicht halte, als 
daß man von der GStiftungsform abweiche. Der Streit wurde higig und viele 
Schriften wurden gewechfelt, die fhwedifhe Synode vom J. 1563 aber entfchied 
gegen die Liquoriften und erließ darüber ein ſymboliſch Buch unter dem Titel: 
De fundamentis fidei de sanguinis dominici participatione in vino et non in alio 
potu. Vgl; Schinmeyer, Lebensbefhreibung der drei ſchwediſchen Neformatoren, 
—— n, Geſch. der drei Parteien, und Fuhrmann, kirchenhiſt. Lexicon, 

dv, I. 

Lismanin, Franz, Speinianer. Er ſtammte aus Corfu, wurde, als Doctor 
der Theologie und Franciscaner, nachdem er in Stalien feine Studien gemadht, 
Beihtvater bei der Königin Bona, der Gemahlin Sigmund's I. von Polen, Auf 
ihre Verwendung erhielt er neben andern Aemtern die Würde eines Provincials 
feines Ordens in Polen. Durch das Leſen der Schriften Ochin's und der teutjchen 
Reformatoren wurde fein Eirchlicher Glaube erfchüttert; er trat jedoch aus Rüd- 
fichten mit feinen neuen Anfichten nicht offen hervor. Die Königin, welde an 
feinen Abfall nicht glauben wollte, ſchickte ihn im 3. 1549 nah Rom, um dem 
Papfte Julius III. zu feiner Erhebung Glück zu wünfhen. Im J. 1550 kehrte 
Lismanin nach Polen zurüf, wohin im nächften Jahre auch Lälius Soein Tam, 
Mit diefem wurde Lismanin in Krakau befannt, und nahm ihn fogar in feine 
Wohnung auf, Lismanin wußte fih das volle Vertrauen des Königs Sigmund II. 
Auguft (feit 1548) zu erwerben. Der König fandte ihn um das J. 1553 nad 
Stalien und in die Schweiz, um für bie fönigliche Bibliothek Bücher zu kaufen, 
und um über den Firhlichen Zuftand fremder Länder Bericht einzuziehen. In 
Benedig weilte Lismanin feh8 Monate, Ueber Padua und Mailand, wo er an— 
gehalten und wieder freigelaffen wurde, zog er in die Schweiz. Er hatte vorher 
zu ben Lutheranern gehalten; doch der einfache Gottesdienft der Neformirten zog 
ihn zu Diefen hinüber, Bon Zürich reiste er nach Bern und Genf, hierauf über 
Lyon nach Paris. Bald fehrte er nach Genf zurück, und heirathete daſelbſt auf 
Zureven Calvin's und Socin's, obwohl ihm fein Secretär Stan. Budzinski die 
Ungnade des Königs vorgehalten hatte, Wirklich zog der König auf diefe Nach— 
richt feine Hand von ihm zurück, und fandte ihm Fein Geld mehr; er wurde in bie 
Acht erklärt, und durfte e8 nicht mehr wagen, nach Polen zu kommen; befonders 
war bie Königin Bona fehr wider ihn erbittert, Er felbft fhrieb öfter an ven König; 
auch Calvin, Bullinger und Geßner verwendeten fih umfonft für ihn: die An— 
Hänger der Augsburger Confeffion hielten im 3. 1555 eine Synode zu Pinczow 
in Polen, zu welcher, auf Calvin’s Betreiben, Lismanin geladen wurde, Im 








Liſoi — Liſt. 537 


Februar reiste dieſer über Straßburg nach Polen, und hielt ſich eine Zeit lang 
im Lande verborgen. Auf mächtige Fürbitte hin wurde ihm der Aufenthalt in 


dem Lande wieder erlaubt. Allein da er in der Lehre vom Abendmahl Calvin 


huldigte, und in der Lehre von der Dreinigfeit zu den Socinianern neigte, fo 


zerfielen feine bisherigen Befchüger bald mit ihm. Blandrata (f, d. A.), der im 
3. 1558 nah Polen fam und bei Lismanin Aufnahme fand, wirfte befonders 
auf Lismanins fhon gefhwächten Glauben ein. Als diefer auch andere zum 
Sprinianismus verleiten wollte, fo wurde er vor das Eonfiftorium in Krakau 
gerufen, Es gelang ihm nicht, fich zu vertheidigen; er fah fih gezwungen, Polen 
zu verlaffen, und zog fih nah Königsberg zurüf, wo er auf Verwenden des 
Paul Scalih zum Rathe des Herzogs Albrecht ernannt wurde, Hier führte er 
den hoben Titel: F. L. SS. Theologiae Doctor, quondam Sereniss. Reginae- Poloniae 
Confess.; etiam lllustris Ducis Consiliarius, ex nobil. et antiquiss. Patacina Familia 
Dalesmaninorum oriundus. Bald indeß verfiel er in eine Gemüthsfranfpeit, wozu 
er eine Anlage hatte, wie Manche berichten, durch die Schuld feiner Gemahlin, 
Er flürzte fi in einen Brunnen, und endigte fo fein Leben (1563). — Lismanin 
hat fat Nichts geſchrieben. — Friefe, Reformations-Gefchichte von Polen 
1. Th 1.30. ©. 247 f. : [&ams.] 

Liſoi, Keger zu Orleans, f. Orleans, 

Liſt, abfiract aufgefaßt, ift ein den Begriff der Klugheit ergänzendes Moment, 
das in dem geſchickten Verbergen der mit einer Handlung oder Handlungsweife 
verknüpften Abfihten befteht. Faßt man aber das Wort „Lift“ concret und ob— 
iectio, jo bedeutet es ein beftimmtes Mittel, feinen Zweck zu verſtecken und 
heimlich zu demfelben zu gelangen, Weder in der einen noch in ber andern Be— 


‚deutung ift mit diefem Begriff an und für ſich etwas Unfittliches oder Unftatt- 
haftes verbunden. Aber wohl nicht leicht ein anderer Begriff flreift näher an 


diejes Gebiet, daß man fchon von vornherein fich geneigt finden möchte, ihn als 
die Schattenfeite der Klugheit zu faffen. Jedenfalls muß zugeflanden werden, 
daß Lift und Klugheit in vielfacher Hinfiht ſchwer von einander zu unterfcheiden 
find. Abgefeben aber davon, fo müffen die bei einem Flugen oder liſtigen Be— 
nehmen in Anwendung fommenden Mittel an und für ſich erlaubt und fittlich 
flattbaft fein. Solhe für die Zwecke des Reiches Gottes anzuwenden und die 
gewöhnlihen Rüdfihten der menfhlihen Klugheit zu beobachten, empfiehlt der 
göttlihe Heiland ſelbſt feinen Züngern mit den Worten: „Seid Flug, wie die 
Schlangen!” Matth. 10, 16. Indeß vergißt er feineswegs, vor den Abwegen 


dieſer Art von Klugheit zu warnen, indem er fie mit der anempfohlenen Schlan- 


genflugheit Taubeneinfalt, d. h. Sinnesreinheit und Arglofigfeit zu verbinden an- 
mahnt. Derjelben Bedingung und Befhränfung unterwirft der Apoftel Paulus 
die Anwendung der von der Klugheit und Verftändigfeit des menfhlichen Geiftes 
dargebotenen Mittel und Wege, indem er den Gläubigen einerfeits vorſchreibt, 
an der Bosheit Kinder zu fein, am Verftändniß aber vollfommen (1 Cor. 14,20), 
weije zu fein auf's Gute, einfältig aber auf's Böfe (Rom. 16, 19), andererfeits 
fie ermahnt, vor der Schalkheit der Menfhen und arglifiigen Runftgriffen ver 
Berführung auf der Hut zu fein (Epheſ. 4, 14). — Der offene Gegenfaß zu der 
mit der menfhlihen Verftändigfeit und Klugheit in Betreff der Erreichung guter 
Zwede iventifchen Liſt ift die Arglift, Die auf einen böfen, unerlaubten Zweck gerichtet 
ift und zu Erreichung deffelben fih Täuſchung und Verftelfung jeder Art erlaubt, 
Iſt die Schlange das Symbol der argen, auf Verderben lauernden Lift im Natur- 


gebiet Cogl. Sir. 25, 21. Gen. 3, 1), fo ift Satan der Vater der feelenmörde- 
I zifhen Arglıft auf dem moraliihen Gebiet, weßhalb er auch die alte Schlange 


heißt (Off. 12, 9. vgl. Joh. 8, 44. Apg. 13, 9. 19. Eph. 6, 11—12). Ueber 
die arge eitle Liſt feiner Widerfacher Hagt der Pſalmiſt (38, 13. u. a. DO.) und 


538 Liszezynski — Ritanei, 


Sira (25, 18) fagt von den Frauen, wohl nicht um ihnen ein Compliment zu 
machen, aus, daß feine Lift über die ihrige gehe, -[8J 

Liszezynski, ſ. Lyszezynski. 

Litanei. Dieſes Wort hat eine mehrfache Bedeutung; es bedeutet ein in- 
brünftiges Bittgebet, eine Bittandaht, Bittgänge (ſ. d. A.), fogar Elaffen 
der Gläubigen bei Proceffionen (f. Lüft, Liturg. Bd. I. S. 64). Hier wird 
darunter verftanden jene Art von Wechfelgebet, in welchem der Vorbeter die 
Perfonen, an welde die Bitte gerichtet ift, auch den Inhalt der Bitte wie den 
Beweggrund zur Gebetserhörung namhaft macht und die Gemeinde in furzen, 
dfter wiederfehrenden Refpenforien mit der Bitte felbft antwortet, welches ſodann 
mit einem oder mehreren zufammenhängenden Gebeten gefihloffen wird, Der 
Form nad, als Wechfelflehen, ift die Litanei fo alt als der chriſtliche Cult, kommt 
indeß in der alten Kirche nur in ber eigentlichen Liturgie vor, Doch mit der 
äußern Entfaltung des Cultes und der innern Abrundung und Vollendung der 
einzelnen ultformen finden wir fie auch außerhalb der Meſſe verwendet, An— 
fangs befonders bei Proceffionen, Bitt- und Bußgängen. Im Antiphonar Gre- 
gors d. Gr, find fchon mehrere Formulare angegeben. Binterim, Denfw. 
Br. IV.1. ©, 578. Beliebt war befonders das dftere Kyrie eleison-Rufen. Bei 
einer Proceffion, welche Mabillon (Comment. in ord. Rom. t. 2. p. XXXIV.) 
befchreibt, fang das Volk abwechfelnd 300 Mal Kyrie eleison und Christe eleison. 
Nach ven Eapitularien Carls d. Or. t. VI. cp. 197. foll bei Leichenbegängniffen, wenn 
man feine Pfalmen wiffe, von den Männern Kyrie eleison und von den Frauen 
Christe eleison Yaut gefungen werden, Im Mittelalter fand diefe Art zu beten 
nicht allein große Verbreitung, fondern wurde auch in folche wichtigere Theile des 
Eultus eingefchaltet, die für die Kirche oder die einzelnen Glieder derfelben von 
größerer Bedeutung find, Man fehe die Gefchichte derjenigen Theile der Litur- 
gie, wo jeßt noch die Litanei vorkommt. Allmählig nahmen auch die Formulare, 
welche eine fleißige Bearbeitung fanden, die Geftalt an, welche fie jetzt noch haben, 
Es kann nicht geleugnet werden, daß die Litanei, abgefehen davon, daß fie eigent- 
lich mit dem riftlihen Cult entftanden ift, ſchon als Wechſelflehen, eine in- 
nige Beziehung zum hriftlichen Cult hat, ganz befonders aber ift fie für das 
Bittgebet, welchem fie den Charakter ver Gemeinfamfeit und Beharrlichfeit auf- 
drückt, angemeffen ; fie erhält außerdem und fürdert ganz befonders den Geift der 
Andacht und die Sammlung. Was nun die Formulare für die Litanei anlangt, 
fp lag gegen Ende des 16ten Jahrh. eine folhe Maffe vor, daß fih Papft Ele- 
mens VIII veranlaßt ſah, im 3. 1601 eine eigene Eonftitution (Sanctissimus) 
zu erlaffen: „Weil heutzutage Viele, auch fogar Private, unter dem Vorwand, 
die Andachtsweifen zu erweitern, täglich neue Litaneiformulare verbreiten, fo daß 
diefelben faft nicht mehr zu zählen find, und in einigen unpaffende, in andern 
fogar anftößige Gebetfprüche Aufnahme gefunden Haben, fo findet fi der apoſto— 
liſche Stuhl bewogen, zu gebieten, daß die uralten und allgemeinen Litaneifor- 
mulare, die in den Miffalen, Pontificalen, Nitualen und Brevieren enthalten 
find, wie auch jene der hl. Jungfrau, welche in der Lorettocapelle pflegt gefun- 
gen zu werben, beibehalten werden follen, Wer übrigens andere Litaneien heraus— 
geben oder der fihon herausgegebenen bei'm Gottesdienſte ſich bedienen will, fol 
gehalten fein, folche der Congregation für die Ritus zu überfenden ; fie ſollen fi 
nicht unterftehen, folhe ohne Erlaubniß genannter Congregation an's Licht zu 
geben oder öffentlich vorzubeten unter firenger Strafe, welche die Biſchöfe oder 
Drts-Drdinarien auflegen werben,“ Zu den genannten, Firchlich autorifirten For- 
mularen gehört auch die Litanei vom Namen Jefu, in Beziehung auf welde 
von Rom aus eine eigene Conceffion erging 14, April 1646, Was den Gebrauch 
anderer Litaneien zum öffentlichen Gottesdienſt anlangt, fo hat man ſich an obige 
Regel zu binden; doch iſt für den Einzelnen bie bifchöfliche Approbation eines 








Litanei, 539 


zum öffentlichen Gottesdienft beftimmten Buches Grund genug, eine darin aufge- 
nommene, etwa durch Gewohnheit oder frühere Billigung fanctionirte Litanei zu 
gebrauchen. „Warum doch immer ſolche Litaneien?” Hat eine vergangene Zeit, 
welche den Gebetsgeift der Kirche nicht mehr verſtand, gefragt. „Pflichten- 
Litaneien wären beffer.” „Jedoch ſolche,“ antwortet Sailer: Beiträge ıc. I. 
©. 125, „welche immer nur vom Soll, aber wenig von Gott, fo viel als nichts 
von Chriſtus, und gar nichts von dem Geifte Chrifti zu fingen wiffen, find feine 
Kirchenlieder; es fehlt ihnen das Wefen des Kirchenliedes: die HI. Muſe der Re- 
ligion hat fie nicht eingegeben , und die hl. Muſe der Religion kann fie auch nicht 
fingen,“ Was vom Singen, gilt vom Beten; was der hl. Geift nicht eingegeben, 
fann auch nicht als Ausdruck der Andacht benügt noch zur Förderung derfelben 
verwendet werden. Dem Gefagten zufolge find es befonders 3 Formulare, welche 
allgemeines Anfehen und kirchliche Sanction erlangt haben, nämlih: 1) die fog. 
Allerheiligen-Litanei, Sie heißt fo, weil im erften Theil beſonders die 
Heiligen und ihre Fürbitte angerüfen werden, worauf dann bie Bitten felbft, die 
Gründe zur Gebetserhörung und das erneuerte Rufen um Gnade und Erbarmen 
folgt. Gegenſtand der Bitte find alle Anliegen eines Chriften und der Kirche; offen- 
bar hat ver Abfaffung derfelben das allgemeine Gebet (ſ. d. A.) in der alten Liturgie 
vorgeſchwebt. Sie ift die älteſte; wenn fie auch nicht die jegige Geftalt von An- 
fang an hatte, fo findet ſich Doch in uralten Ordd. bei Martene eine der jegigen 
Form ganz übereinftiimmende, Sie ift eigentlich die einzige Litanei, welche in der 
kirchlich firirten Liturgie als Beftandtheil aufgenommen wurde (heißt deßhalb auch 
im kirchlich en Sprachgebrauch bloß Litaniae ohne nähere Bezeichnung), hat aber 
da bie vielfeitigfte Verwendung gefunden, namentlih wo es fih um Abwendung 
großer, leiblicher und geiftlicher Noth (Proceſſionen ꝛc.), um das Wohl der Kirche 
und ihrer Glieder handelt, bei wichtigen Weiheacten, bei Ertheilung der höhern 
Weihen, bei der Conſecration der Bifchöfe ze., bei der Confecration von Kirchen zc., 
bei der Segnung des Taufwaſſers zc., bei Ertheilung der legten Delung ıc. Diefe 
Litanei ift ein ächt Fatholifches Erzeugniß und der erhebendfte Ausdrud des Glau— 
bens an die Gemeinfchaft der Heiligen. Einfhaltungen und Zufäse zu machen, 
ift durch einen Befchluß der C. S. R. 22. Mart. 1671 verboten. 2) Die Lau re— 
tanifche Litanei, fo genannt von dem Ort, wo fie ihren Urfprung zu haben 
ſcheint; jedenfalls war fie am früheften in ver Eapelle der hl. Jungfrau zu Lo- 
rettp (Lauretum) im Gebraud, Der Berfaffer und die Zeit der Abfaffung ift 
- ganz unbefannt, Wegen der darin bemerflichen fymbolifhen und allegorifchen 
Form Datirt man ihre Abfaffung in das 13te oder 14te Jahrh. Ihrem Inhalt 
nah ift fie eine feierliche Anrufung Mariä und befonders eine Lobpreifung der- 
felben. Nach der Iegtern Seite bildet diefe Litanei einen feierlichen Hymnus auf 
die Gottes⸗ und Gnadenmutter, entfirömt einer vom höhern Geifte gehobenen 
Seele, Das nevlogifirende Anfämpfen gegen diefes alt hergebrachte Gebetsfor- 
mular hängt fih nur an einzelne, aus dem Zufammenhang herausgeriffene Stellen 
dieſes prächtigen Hymnus, Er Täßt fih nicht unſchwer in zwei Theile zerlegen ; 
im erfien erfheint Maria als geheiligte Perfönlichkeit nach ihrer irdiſchen Erfchei- 
nung, d.h. als Gottesmutter in ihrer Tugend- und Gnadenfülle; im zweiten Theil, 
der mit Rosa mystica beginnt, erfcheint fie in ihrem Zufammenhang mit der ge- 
ſammten Heilsordnung und mit der, Himmel und Erbe umfaffenden Kirche, deren 
Typus, Mutter uud Königin fie iſt. Es find unverfennbar in der zweiten Ab- 
theilung die drei Hauptmomente des Erlöfungswerfes hervorgehoben, die Einlei- 
I tung und der Beginn deffelben im A. B., die Verwirklichung deffelben im N. B. 
I amd die Bollendung defjelben im Reiche der Seligfeit. Der Glanz, der aus der 

Mutter des Schlangenzertreters fließt, wirft fih auf alle diefe drei Momente ; 
bie mittelalterliche Theologie hat ihn erfannt und eine heilige Seele hat ihn zum 
Gegenſtand des Preifes gemacht. Die Sprache diefer Anſprache on Maria ift 


540 Literae commendatitiae — Literae formatae., 


jungfräulich zart, wie e8 fi geziemt. Man fehe übrigens die über diefen Punct 
erfchienenen Monographien, welche ſich zur Aufgabe fegen, die Waffen, die. man 
aus biefer Litanei gegen den Mariendienft geholt hat, ftumpf zu machen, In bie, 
von der Kirche firirte Liturgie iſt dieſe Litanei nie übergegangen, dagegen hat fie 
dur Empfehlung und dur die mit ihrer Abbetung verbundenen Indulgenzen 
(ſ. Bulle von Sixtus V. Reddituri) einigermaßen kirchliches Anfehen erhalten, 
3) Die Litanei vom Namen Jefu. Ob fie zur Zeit des hl. Bernhard be- 
kannt gewefen, ift äußerft zweifelhaft; jedenfalls war fie vor Stiftung des Je— 
fuitenordens in manchen Kirchen im Gebrauch. Vielleicht ift fie am Anfang des 
15ten Jahrh. von den Predigern ded Namens Jeſu Bernardinus (ſ. Bernharbin) 
and Johannes Capiftran (ſ. Capiſtran) verfaßt worden, Den Gebrauch anlan- 
gend, fo gilt, was von der lauretanifchen Litanei; der allgemeine Gebrauch hat 
fie geheiligt, und Päpfte haben das Vorbeten derfelben bei öffentlichen Andachten 
in der Kirche erlaubt; Sixtus V. (ſ. oben) hat einen Ablaß von 300 Tagen an 
ihre Abbetung gefnüpft, Diefes Formular hat die formellen und materiellen Eigen- 
ſchaften eines kirchlichen Gebetes mit den genannten gemein; es ift einfach, an- 
ſchaulich, reichhaltig; es iſt zugleich Bitt-, Lob- und Danfgebet, fett aber auch 
einen Findlichen Sinn voraus. Vgl. hiezu den Art. Gebetsformeln. [Frie,] 
Literae commendatitiae, f. Commendatitiae literae, 
Literae encycelicae, Rundfhreiben , heißen dem Wortlaute nad 
folhe Schreiben, welche einen Kreis zu durchlaufen haben, vom griechifchen Worte 
Eyrunlı0s — was die Reihe herumgeht, die Runde macht, Im kirchlichen Sinne 
gefaßt verfieht man darunter NRundfchreiben des Papftes an alle Oberhirten der 
Fatholifhen Kirche als feine Mitarbeiter. In diefen Encyclifen legt das Ober- 
haupt der Kirche feinen geiftlihen Mitbrüdern feine Anfichten über gewiffe alfge- 
meine Bebürfniffe der Kirche, oder über beflimmte herrſchende Meinungen dar, 
oder es eröffnet ihnen feinen Schmerz, feine Mißbilfigung und Verwerfung herr— 
fchender Vorurtheile, Mißſtände oder bevenflicher Zeitbeftrebungen wider Reli— 
gion, Sitte und Kirche, es warnt vor falfchen, den wahren Glauben gefährbenden 
Nichtungen innerhalb der Kirche ſelbſt, oder es deutet auf Gefahren hin, 
die von Außen drohen, Sn allen diefen Verhältniffen nimmt dag Rirchenober- 
haupt die Theilnahme und apoftolifhe Thätigfeit feiner Gehilfen im heiligen 
Amte zur Vorkehrung und Befeitigung der Zeitübel in Anfpruh, mahnt zur 
Wachſamkeit über die gläubige Herde, und deutet die Gegenmittel gegen die 
Krankheiten, fowie die Art ihrer Anwendung im Allgemeinen an. Die Encyclifen 
werden, was ſchon das Wort bedeutet, für die gefammte Kirche, reſp. zunächft 
an die RKirchenvorfteher, in Folge allgemeiner Anliegen und mißlicher Lage der 
katholiſchen Kirche, erlaffen, während Breven und Bullen eine mehr oder weniger 
Iocale und ſpecielle Veranlaſſung und Beftimmung haben. In neuerer Zeit er— 
ließ Papſt Pius IX. eine denfwürdige Encyelica, deren Inhalt man nur zu be- 
trachten hat, um fich über die Natur und Tendenz der Encyelifen überhaupt eine 
Heutliche VBorftellung zu machen, [Dür.] 
Literae formatae, epislolae formatae, nennt man heutigen Tags jene 
Urkunden, welche den Elerifern, die eine Weihe empfangen, von dem ordinirenden 
Bifchof ausgeftellt werden und in welchen bezeugt ift, daß eben eine rechtmäßige 
Drdination flattgefunden. Sie werden ebenfp von den eigenen Biſchöfen der Or— 
dinanden wie von den fremden ausgeftellt, Ehemals wurben formatae auch die 
lit. commendatitiae (f, Commendatitiae) und dimissoriae (ſ. Dimifforialien) 
genannt, Diefe Benennung ift darin begründet, daß die genannten Urkunden oder 
Briefe, zur Abwehr möglichen Betrugs, gewiffe Zeichen enthielten, welde aur 
die Bifchöfe verftehen follten, in der Regel griechiiche Buchftaben, zur Bezeich- 
nung des Urfundenftellers, des Empfängers, des Ortes und der Zeit u. dgl. 
- Bol, c. 1, und 2, D. 73, Die erfte diefer Stellen enthält ein Formular, deſſen 








Literae testimoniales — Litis consortium. 541 


Schluß Tautet: see vestram Christus nobis incolumem conservet. 7. v. 
a. m. B. ©. C. E. aunw. Data Wormatiae“ etc. Das Formular, weldes die zweite 
Stelle enthält, Seginnt mit den Worten: „Sanctissimo in Christo fratri summa 
dulcedine caritatis amplectendo, «, illius civitatis episcopo, v, illius ecclesiae prae- 
sul... @v. @. w. De caetero noverit“ etc. Affe diefe Briefe heißen auch literae 
oder epistolae canonicae, ehemals, weil fie Beweife der unter den verfchiede- 


nen Biihöfen und Kirchen beftependen Freundfchaft und Berbindung waren, 


daher im Griehifchen Eipnvıza; fpäter weil fie von den Canones vorgeſchrieben 
find, [Mattes.] 

Literae testimoniales, f. Commendatitiae literae. 

Lithauen, ſ. Jagello. 

Lithoſtroton, ArIborewrov, wörtlich Steinpflaſter, nach xb. 19, 13 
die Stätte, auf welcher von Pilatus Gericht über den Herrn gehalten wurde, in 
der Sprade der Juden (Efoeior: d. i. aramaiſch) yaßßaya, d. h. entweder 
mna5 von 23 Nüden, ober nnm23 von 25 hoc fein, oder Nn>23 von 7933 
Hügel, immerhin rüßrt der aramäifche Name von der Erhöhung des Drtes ber; 
über die Bedeutung des Griechiſchen an unferer Stelle beftehen verfchiedene An— 
ſichten. Viele Erflärer denfen an einen Marmor-Mufivboden (aus farbigen vier- 
eigen Stücfen zufammengefegt, parvulae crustulae, Plin. 36, 25. 60); bei den 


‚Römern feit Sulla gebräuchlich (Plin. 1. c.), befonders in den Srachtjimmern; die 


Beamten und Feldherren führten dergleichen pavimenta tessellata mit fih auf ihren 
Reifen in den Provinzen und im Kriege, um darauf den Gerichtsſtuhl (Arjue) 
zu feßen (Suet. Caes. 46). Andere (vgl. Winer, Bibl. R. W. s. v.) halten diefe 
Erklärung an der berübrten Stelle des oh. für unftatthaft, die Beifügung des 
ſyrochald. Namens wäre allerdings ganz überflüffig, weil befagten Lurusgegen- 
ftand nicht bezeichnend. Dieß Hebt fih, wenn man annimmt, es fei in der Nähe 
des Prätoriums ein etwa mit Steinplatten, die nicht gerade aus Marmor fein 
mußten, belegter Pla& gewefen, den die aramäiſch Nedenden Gabbatha, die 
griehifh Nedenden Lithoſtroton nannten, auf welhen Pilatus den Richterſtuhl 
aufftellen Tieß. Jo ſephus erwähnt (hell. j. 6, 1, 8. et 3, 2) ein foldes Litho— 
firoton zwifhen der Burg Antonia und dem weftlihen Vorticns des Tempels, 
diefe Lage paßt ganz treffend zu der des Prätoriums in dem mit der Burg An— 
tonia zufammenbängenden Palaſte des Herodes, bier fand das Berhören und das 
Anhören des Angeklagten Statt, der feierliche Richterfpruch wurde dort im Freien 
som Richterftuhle herab gegeben. — Winer erhebt (1. c.) unnöthige Bedenflih- 
feiten gegen diefe (von Hug, Einl. I. 17. binlänglich nachgewiefene) Lage des Li— 
thoftroton. [Rönig.] 
Litis consortium, Im Civilproceffe gibt es befanntlih zwei Strei- 


‚tende, welche man Parteien nennt, nämlich den Kläger und den Beflagten; 


jener if dabei derjenige, welcher vor dem Richter einen Anſpruch mittelft der 
Klage geltend zu machen fucht, der Beflagte dagegen ift der Gegner, gegen wel- 
hen die Klage gerichtet iſt. Nicht aber immer ift die eine oder die andere Partei 
Eine Cohyfifhe oder moralifhe) Perfon, fondern auch mehrere Perfonen 
Tonnen gemeinfhaftlih die Rolle des Klägers vder Beflagten übernehmen, 
Solche in der nämlichen Parteiroffe vereinigte Perfonen heißen Streitgenpf- 
fen (litis consortes), und ihr Verhaltuiß ift das der Streitgenoffenfhaft 
(litis consortium), und zwar ift die Streitgenoffenfchaft eine active, wenn 
Mebrere klagend auftreten, eine paſſive, wenn Mehrere beffagt werden, und 
eine beiderf eitige, wenn Mehrere gegen Mehrere Hagen, Die Streitgenoffen 
bleiben indeffen immer noch Einzelne, fie bilden daher Feine moraliſche Perſon, ja 
nicht einmal eine formliche Societät. Das litis consortium iſt auch in den meiften 
Sällen ein freiwillig eingegangenes Verpältniß; denn 1) wenn Jemand auf das 
Ganze ein Recht Hat, fo braucht er im Falle der Klage feine correos credendi 


542 | Litis contestatio. 


nicht beizuziehen,, 2) wer mehrere ihm folidarifch Verpflichtete Hat, muß nicht alfe 
diefe correos debendi beflagen ; 3) wer an einer theilbaren Sache oder Forderung 
mitberechtigt ift, darf ohne die übrigen Berechtigten auf feinen Theil lagen, und 
4) eben fo, wenn mehrere zu gewiffen Theilen Verpflichtete eriftiren, kann jeder 
auf feinen Theil beflagt werben. L. un. Cod. Theod. de dom. rei, quae posc. 
(2.5) L. 1. Cod. Just. de consort. ejusd. lit. (3.40). Streitig ift dagegen, ob bei 
untheilbaren Sachen oder Forderungen, bei welchen Mehrere berechtigt oder verpflich- 
tet find, dem einzelnen Kläger dien Einrede (f. d. A.) der mehreren Streitgenoffen 
mit Erfolg entgegengefegt werben fünne, fo daß nad Umftänden die Klage von allen 
Berechtigten oder gegen alle Berpflichtete angeftellt werden muß, — Im Falle 
der Streitgenoffenfhaft wird nun zwar der Proceß formell in denfelben Acten 
zugleich verhandelt und entfchieden, allein die materielle Entfcheivung fällt nicht 
immer für jeden Streitgenoffen gleich aus, z. B. wenn ein einziger Streitgenoffe 
minderjährig ift, und die Einrede der Minderjährigfeit vorgefhüst hat, kann für 
ihn der Proceß ein weit günftigeres Nefultat Haben, als für die übrigen volljäh- 
rigen Beklagten. [Sartorius.] 
Litis contestatio beftand nach dem claffifchen römifchen Rechte in einer 
Zeugenaufrufung am Ende des Verfahrens vor dem Magiftrat von Seite beider 
Parteien, um vor dem nun in Wirffamfeit tretenden judex dasjenige zu confla= 
tiren, was bereits in jure d, 5. vor dem Magiftrat in der zu behandelnden Sache 
gefchehen war. Man beruft fih dabei auf eine Stelle bei Feftus, de verb. signif. 
v. Contestari, wo es heißt: „Contestari est, cum uterque reus dicit: Testes estote. 
Gontestari litem dicuntur duo aut plures adversarii, quod ordinato judicio utraque 
pars dicere solet: Testes estote.* Diefer Begriff veränderte ſich aber mit dem 
Berfahren und im Laufe der Zeit fo, daß in der heutigen litis contestatio jene 
alte gar nicht mehr zu erfennen und herauszufinden if. Im gemeinen Civilpro— 
ceffe der Gegenwart ift die litis contestatio (Rriegsbefeftigung, Einlaffung auf die 
Klage) die gerichtliche Antwort des Beklagten auf die der Klage zum Grunde lie— 
genden Thatfachen. Ram, Ger, Ord. v. 1555. Th. II. Tit, 13, $$ 1.4, Züngfter 
Reichs-Abſch. $ 37. Die früheren Juriften bezeichneten indeffen die litis conte- 
statio noch als von beiden Parteien ausgehend, z. B. Pillius de ord. judicior, 
P. II. pr. „Post haeo lis contestatur, quae fit per narrafionem actoris ei respon- 
sionem rei.“ Tancred. ord. jud. P. II. tit. 1. $ 2. „Litis contestatio fit per nar- 
rationem et responsionem partium in judicio factam.“ Wefentlich ift e8 bei dem 
Begriffe, daß die litis contestatio nur Antwort iſt, alfo nicht, wie bei der Ein- 
rede (f. d. A.), die Angabe neuer, in der Klage nicht enthaltenen Thatfachen, 
Ihrem Inhalte nach ift die litis contestatio entweder bejahend (confessio), oder 
verneinend (defensio), oder auch der Beklagte bejaht weder, noch verneint er, 
fondern er erflärt, von den fraglichen Thatfachen nichts zu wiffen, endlich kann 
die litis contestatio auch gemifcht fein, wenn einige Thatfachen zugeflanden, andere 
widerfprochen find. Die bejahende litis contestatio muß ſtets ausdrücklich und fac- 
tifch erfolgen, die verneinende kann auch als erfolgt fingirt werden, wenn nämlich 
der Beflagte ungehorfam ift, und auf die Klage gar nicht antwortet, fo wird auf 
Antrag des Klägers angenommen, daß jener ſich negativ eingelaffen habe. Kam: 
Ger. Ord. v. 1555, IN. Th. Tit, 43,5 4. Züngfter Reichs-Abſch. $ 36. — Wenn 
die Klage beantwortet ift, fo find auch die Streitpunete feftgeftellt, d. h. es Liegt 
nun vor , über welche Puncte der Klage die Perteien einig und uneinig find. Um 
aber dieſes Nefultat gehörig zu erlangen, iſt der Einlaffung eine beftimmte Be— 
fchaffenheit vorgeſchrieben. Wenn e8 nämlich auch geftattet ift, fich auf Die Klage 
im Allgemeinen bejahend einzulaffen, fo ift doch die allgemeine negative litis con- 
testatio unterfagt, der Beklagte foll vielmehr feinen Widerfpruch ganz fpecielf jeder 
einzelnen Thatfache entgegenfegen. Jüngſter Reichs-Abſch. $ 37. — Die wihtig- 
ften Wirkungen der litis contestatio find folgende ; 1) Uebergang der fonft nicht 








Liturgien. 543 


vererblichen Klagen auf des Beklagten Erben. L. 58. Dig. de oblig. et act. (44.7) 
 L.29. Dig. de novat. (46.2) L. 87. 139. pr. Dig. de reg. jur. (50. 17); 2) Ent=- 


fiehung der mora und mala fides. Arg. L. 82. $ 1. Dig. de verb. oblig. (45. 1) 
L. 25. $ 7. vgl. mit L. 20. 6. $ 11. Dig. de hered. pet. (5. 3) L. 2. Cod. de 
fruet. et lit. expens. (7. 51); 3) die Haftung für die omnis causa, d. h. für 
Früchte und Zinſen ſelbſt mit Einſchluß der verſäumten Früchte. S 2. Inst. de off. 
jud. (4. 17) L. 17. $ 1. L. 20. 35. $ 1. Dig. de rei vind. (6. 1) L. 25. $ 9. 
L. 27. pr. L. 29. Dig. de hered. pet. (5. 3); 4); Vergütung von Seite des Be— 
Hagten, wenn durch dolus oder culpa deffelben die Sache noch während des Pro— 
eeffes untergeht,, vgl. v. Savigny, röm, Recht. Bd, VL $ 272; 5) Vergütung 
auch bei zufälfigem Untergang der Sade, wenn der Beflagte mala fide befaß, 
v. Savigny a. a. D. $$ 273, 2745 6) endlich die Nechtshängigfeit (litis pen- 
dentia) mit ihren mancherlei Folgen. [Sartorius,] 
Liturgien. Die Vieldeutigkeit diefes Wortes macht es nothwendig, die be= 
grenzte Bedeutung, in der e8 hier genommen wird, ein für allemal zu bezeichnen, 
Wir bedienen ung dazu der Worte Nenaudot’$, welcher fagt: „Liturgiarum 
nomine intelligi debent officia seu Rituales libri autoritate publica ecclesiarum 
scripli, earumque usu comprobati, quibus rilus et preces ad consecrandam et ad- 
ministrandam eucharistiam continentur.‘“ (Liturg. oriental. collectio. Tom. 1. p. 152. 
Edit. secunda. Francofurti 1347). Obgleich das euchariftifche Opfer vom Anfange 
an nicht nur dem Inhalte, fondern au der Grundform nach unverändert das- 
felbe geblieben, fo lag es doch in der Natur der Sache, daß feine Feier ſowohl 
an verichiedenen Orten und bei verfchiedenen Völkern fih verfchieden geftaltete, 
als auch am gleichen Orte mit der Zeit fo zu fagen von Innen heraus fich er- 
weiterte oder entwickelte. Rückſichtlich ihrer urfprünglichen Heimath zerfallen die 
oprhandenen befannten Liturgien in zwei Hauptflämme, von denen der eine die 
morgenländifhen, der andere die abendländifchen enthält. Doch ift diefe 


| Eintheilung feineswegs bloß auf die Dertlichfeit des Urfprunges, fondern zugleich 
| auf die dem Drient und Derident je eigenthümliche Auffaffung der HI. Handlung 


gegründet, L Morgenländifohe Liturgien, Um die Grenzen eines Tericali= 
ſchen Artikels nicht ungebührlich zu überfchreiten, Haben wir aus der reihen Samm— 
lung vrientalifher Liturgien eine Auswahl zu * wobei das Alter und der 
kirchliche Gebrauch entſcheiden. Es werden, wie fih von feldft verfteht, die Litur- 


| gien der Haupt- und Mutterfirchen nicht bloß in erfter Reihe, fondern auch vor- 
| zugsmweife zur Sprache kommen; andere nur nebenher und im Vorbeigehen er- 


wähnt werben. — a) Die Liturgie der Rirhe von Jerufalem, gewöhnlich 
„Liturgie des hl. Jacobus“ genannt, Sie ift in griechifcher Sprache vorhanden 


| Chei Jos. Al. Assemani, „Codex liturgicus universae ecclesiae.“ L. IV. P. I. 


p. 1, sqq. Romae 1752); ob fie urfprünglich in diefer oder in der gemeinen Lan- 
desſprache Palaſtina's abgefaßt gewefen fei, ift nicht abfolut entfchieden, die mei- 
fien Gründe fprechen für die griechifche Sprache. — Die erſte lateiniſche Ueber— 
ſetzung, die 1560 zu Paris herauskam, hat der Canonieus Johannes a Sancto 


1 Andrea unter Mitwirkung des Claudius de Saintes, nahmaligen Bifchofs 
I von Eoreur und des Theologen Gentian Hervet gefertigt, Die Authorität 
| einer Liturgie hängt nicht davon ab, daß fie aus der Feder irgend eines berühm— 
I ten Mannes gefloffen fei, fondern davon, daß fie einer Kirche angehöre, die öffent- 


liche Anerkennung und den öffentlichen Gebrauch für fih Habe. Für das Anfehen 


} der in Rede ſtehenden Liturgie iſt daher die Frage entſcheidend: War fie in der. 
Kirche von Jeruſalem im Gebrauch? Die ung so lautet bejahend. In der Li— 
turgie felbft Heißt e8 nach der Confecration u. A: „Wir opfern Dir, o Herr, 
auch für Deine HL, Orte, welhe Du durch die göttliche Erfcheinung Deines 


Gefaldten und durch die Ankunft Deines Hl. Geiftes verberrlichet Haft u, f. mw.” 
Diefe Worte, weil fie ihr ausſchließlich eigen find, hat man von jeher und mit 


544 Liturgien. 


Recht auf den Ort der Feier bezogen, — Der Ritus, welchen der hl. Cyrill 
von SJerufalem in der fünften myſtagogiſchen Katechefe erklärt, flimmt in der 
Hauptfahe mit unferer Liturgie überein, Warum bloß in der Hauptfache, nicht 
auch in allen Einzelheiten? Weil der HI. Lehrer Feine Darftellung oder Befchrei- 
bung der Liturgie, fondern einen Unterricht, eine Erklärung über einzelne Theile 
derfelben beabfichtigte und deßhalb die wichtigften Puncte und ſolche, die eine paf- 
fende Unterlage für die Belehrung darboten, aus dem gefammten Ritus hervor— 
bob; fodann, weil er ſich, wie eine forgfältige Vergleichung erkennen läßt, nicht 
an ein einziges Titurgifches Formular band, fondern auch andere berückfichtigte, 
Mehr als das Bisherige zeugt die Tradition der Griechen und Orientalen für 
die Liturgie von Jerufalem, die fie dem HL, Jacobus zufchreibt und der höchften 
Achtung werth hält; die Trullanifhe Synode vom Jahr 692 beruft fih auf 
fie, um den Armeniern zu beweifen, daß der Dpferwein mit Waffer gemiſcht 

werben müffe; die griechifchen Gelehrten, wie Nicolaus von Methone, Mar- 
eus von Ephefus u. A. bis herab auf den conflantinopol, Patriarchen Jer e— 
mias anerkennen fie. Im Laufe der Zeit gelang es den Patriarchen von „‚Neu-Rom”, 
die Liturgie ihrer Kirche den Patriarchaten des Orients aufzubringen ; nichts defto 
weniger wurbe in Jeruſalem die alte Liturgie einmal im Jahr, am Feſte des hf. 
Jacobus, den 23. October, fortan gefeiert. — Der Titel, der die Liturgie der. 
Mutterkiche Paläſtina's dem HI. Jacobus zueignet, hat zu einem höchſt uner- 
quicklichen Streite Anlaß gegeben. Proteftantifche Gelehrte eröffneten den Kampf; 
fie hoben einzelne Säße, Ausprüde und Namen aus dem Ganzen hervor und 
argumentirten dann: Dieß und das, was in der Liturgie vorkommt, 4. B. das 
Trifagion, Ouoovosos und Heoroxog, die Erwähnung der Confefforen und Ana- 
ehoreten u. dgl, ift nicht vom HL. Jacobus, folglich iſt die Liturgie ſelbſt nicht von 
ihm, iſt unterfchoben, ift das Werk eines Betrügers und verbient als ſolches 
feinerlei Beachtung. — Wir wollen, um möglichft furz die Sache abzuthun, ohne 
Weiteres zugeben, die beanftandeten Partien ſtammen nicht aus der apoftolifchen 
Zeit: folgt nun daraus, daß die Liturgie unterfchoben, daß fie das Werf eines 
Iiterarifchen Freibeuters fer und mit Unrecht den Namen des HI. Jacobus an der 
Stirne trage? Es fragt fih zunächſt, ob die Kirche von Jeruſalem fie anerfannt 
und gebraucht habe, und ob fih etwa nachmweifen laſſe, daß fie dort in fpäterer 
Zeit eingeführt worden ſei; das eine ift eben fo entfchieden zu bejahen, als das 
andere zu verneinen, was zu dem Schluffe bereihtigt, daß die fragliche Liturgie 
die ältefte und urfprüngliche der Kirche von Jeruſalem fei, Weil aber diefe Kirche 
den hl. Jacobus als ihren erſten Bifchof verehrt, auf ihn ifre Gründung zurüdführt, 
ſo behauptet fie auch, von ihm Die Drbnung ihres Gpttesdienftes empfangen zur 
haben. Die Liturgie von Jerufalem kann gewiffermaßen als das Vorbild oder als der 
Grundriß der befannteften Liturgien des Drients betrachtet werden. Nach der alt- 
üblichen Eintheilung zerfällt fie in die Liturgie der Katechumenen und in die der 
Gläubigen (ſ. Gläubigen-Meffe). Jene befteht aus Gebeten, Öefängen und Lefun- 
gen aus den Büchern des alten und neuen Bundes; diefe beginnt mit der Darbrin- 
gung der Dpfergaben, an die das Glaubensbefenntnig und der Friedensfuß fich 
anfchließen ; dann wird durch die Präfation und eine paränetifhe Darftellung der 
göttlichen Heilsanftalten die Conſecration eingeleitet, Nach den Einfegungsworten, 
die mit lauter Stimme ausgefprochen, und von Seite des Volfeg mit „Amen“ 
beantwortet werben, folgt das Andenken an das Leiden, den Tod, die Auferfte- 
bung, die Himmelfahrt und zweite Ankunft Jeſu Chriſti mit der Bitte um Til— 
gung der alten Schuld und Verleihung der Himmlifhen Gaben, Nun fommt die 
vielbefprochene, den morgenländifchen Liturgien eigenthümliche „‚Anrufung des 
heiligen Geiſtes“, worauf der Priefter einige Gebete und Fürbitten verrichtet 
und zur nähern Vorbereitung auf die HL, Communion übergeht, Mit ven Worten: 
„Das Heilige Dem Heiligen” , werben bie hl. Gaben emporgehoben, ſodann 











Liturgien. 545 


die Theilung der Hoftie, von ber ein Theil in den Kelch getaucht wird, vorgenom⸗ 
men. Unter verfchiedenen Gebeten und Gefängen folgt jegt die Communion des 
Priefters und des Bolfes, Danffagung, Segnung und feierlihe Entlaffung der 
Gemeinde bilden den Schluß. — Mit der Liturgie der Kirche von Jerufalem wird 
die im achten Buche der apoſtoliſchen Conftitutionen (Gallandii, Bibl. Patr. Tom. II.) 
enthaltene gewöhnlich in Verbindung gebracht. Die Verwandtſchaft zwiſchen beiden 
ift nicht der Rede werth, ift nicht größer, als die der orientaliſchen Liturgien 
überhaupt zu einander. Die Abfaffung der Liturgie der Eonftitutionen wird in 
das Ende des dritten oder den Anfang des vierten Jahr. gefegt. Goar und 
Renaudot behaupten , die Liturgie der Conftitutionen fei in feiner orientalifchen 
Kirche im Gebrauche gewefen; man hat dieß einen großen Mißverſtaud genannt 
und das Gegentheil behauptet, aber nicht bewiefen. Im annehmbar zu machen, 
daß fie älter fei, als die übrigen Liturgien, die auf ung gefommen, wird unter 
Anderm bemerkt, fie habe das „Vater unfer” vor der Communion noch nit; im 
dem Memento der Hingefchiedenen werden „noch Feine befondern Namen von Hei- 
ligen, am wenigften die Gottesmutter erwähnt”, und in den Fürbitten für die 
Lebenden ſtehen die Afceten ftatt der Mönde; auch jene VBorbereitungsgebete des 
Prieſters, die in der Liturgie des HI. Jacobus fich finden und auf die fpätere Ge— 
ftaltung des Gottesdienftes Hinweifen, fommen in ihr nicht vor. Allein, was dag 
Water unfer” betrifft, fo ift die Borausfegung, als ob es erft fpäter, etwa im 
vierten Jahrh. der Liturgie einverleibt worden, ganz unbegründet und widerfpricht 
der älteften Firchlichen Tradition. ES wird zugegeben, daß die Erwähnung der 
„Oottesgebärerin“ im öffentlichen Gottesdienfte nach dem Concilium zu Epheſus 
(431) allgemein üblich wurde, daß die namentliche Aufzählung von Heiligen, die 
Fürbitte für die Mönde, die angedeuteten Vorbereitungsgebete des Priefters ſpä— 
tere Zufäge find; folgt nun unfehlbar, ein Titurgifches Formular, welches nichts 
von diefen Zufägen hat, fei älter, als andere, die fie aufgenommen haben? Kann 
man nicht eben fo gut fchließen, die Liturgie der apoftolifchen Conftitutionen fer 
son Zufägen und Veränderungen deßhalb freigeblieben, weil fie nicht öffentlich 
gebraucht worden, darum dem Einfluffe der Bewegungen und Entwickelungen im 
Tirchlichen Leben entrückt gewefen fei? — b) Die Liturgie von Antiochia fallt 
mit der bierofolemitanifchen zufammen, befanntlich gehörte Paläftina in den drei 
erften Jahrhunderten zum Patriarchate von Antiochien (ſ. d. Art, Antiochien, 
Patriarchat), bis dem: Bifchofe von Jerufalem zuerft dur die Synode von Nicäa 
ein Ehrenvorrang (ohne Eremption von der Gerichtsbarkeit des Erzbifchofs von 
. Eäfarea), fodann aber durch die vierte allgemeine Synode von Chalcedon das 
Patriarchat über die drei Provinzen von Paläftina zuerfannt wurde. — Außer der 
griehifchen Liturgie des. HI. Jacobus war im antiochenifchen Sprengel auch eine 
fprifhe diefes Namens im Gebrauhe. (Bei Affemana. a. O. ©, 131. ff.ʒ 
lateinifch und vervollffändigt bei Renaudot a. a. O. Bd. 1.6.29. ff.) Sie 
ift eine freie Bearbeitung der erftern für die Syrer. Da fie nach der monophyſi— 
tifchen Spaltung nicht nur von den Melchiten (damals — Orthodoxen), fondern 
auch von den Häretifern anerkannt und gebraudt wurde, fo ift anzunehmen, daß 
fie zur Zeit des Conciliums von Chalcedon im J. 451 nicht nur vorhanden ge⸗ 
weſen fei, fondern auch in hohem Anfehen geftanden Habe, Die Monophyfiten, 
in der Folge Jacobiten genannt, produeirten eine Menge von Liturgien unter 
erbichteten Titeln; Abraham Echellenfis gibt ihre Zahl auf fünfzig an, Re— 
naudot zählt etliche und dreißig auf. Die Melditen hielten fih an die alther- 
gebrachte Liturgie, bis es den Patriarchen von Eonftantinopel gelang, die Ein- 
führung der ihrigen durchzufegen. — c. Die Liturgie des hl. Marcus, dv. 
der Kirde von Alerandrien, Sie wurde im J. 1583 zu Paris mit einer 
Tateinifchen Ueberfegung von dem Canonieus Johannes a Saneto Andrea 
herausgegeben. Das griechifche Manuſeript hatte ſich in einem Klofter der Mönde 
Kirchenlexikon. 6. Dr. 35 


546 Liturgiem, 


des hl. Bafılins in Kalabrien vorgefunden und der Cardinal Wilhelm Sirlet 


ließ eine Abfchrift deffelben für den Heransgeber fertigen. Die Scheidung der 
ägyptiſchen Chriften nach der Synode von Chalcedon in Melditen und Monophy— 


fiten (gewöhnlicher Jacobiten oder Kopten, ſ. d. U.) darf hier als befannt voraus- 


gefegt werben. Die genannte Liturgie nun ift allem Anfehen nach die alte, vor 
der monophyfitifhen Spaltung in Aegypten eingeführte, die von den Melchiten 
auch nah der Spaltung beibehalten und erft im 12ten Jahrhunderte durch die 
Liturgie von Conftantinopel verdrängt wurde, Sie wird dem HL. Marcus zuge- 
fhrieben, weil er die Kirche von Alerandrien gegründet hat, Daß fie fpätere 
Zufäse aufgenommen und dem Wahsthume und den Bewegungen des kirchlichen 
Lebens nicht verfhloffen geblieben, ift fein Beweis gegen ihren apoſtoliſchen Ur— 
fprung. Die Kopten haben viele Liturgien verfaßt, von denen aber nur drei 
gebraucht werben dürfen: bie Liturgie des HL, Bafilius, die an gewöhnlichen 
Sonn- und Wochentagen, fowie zum Gottesdienfte für die Verftorbenen genom- 
men wird; bie Liturgie des bl, Gregor, des Theologen, die an den Feften 
des Herrn und andern hohen Feiertagen vorgefchrieben ift; die des HL, Cyrill 
endlich, die für die Faftenzeit und den Weihnachtsabend beftimmt ift. Gabriel, 
Tarichs Sohn, der 7Ofte foptifhe Patriarch, verbot bei Strafe der Excommuni— 
eation den Gebrauch jeder andern Liturgie, Während die Melchiten fortwährend 
den Gottesdienft in der griechifchen Sprache feierten, entfchieden fih die Häretifer 
für die fog. Foptifche Sprache, die zur Zeit des Einfalles der Araber in Negypten 
Umgangsfprache war. Uebrigens wurde in weniger als 200 Jahren die Sprache 


der Eroberer die herrſchende, fo zwar, daß felbft die Priefter die alte Landes- 


fprache nicht mehr verflanden und man fich gendthigt ſah, dem Eoptifchen Texte 
der liturgifchen Bücher eine arabifche Heberfegung beizufügen, Es ift mehr als 
naiv, wenn man ſich da und dort auf die Foptifche Liturgie beruft, um die Ein- 
führung der Landesſprache bei'm Gottesbienft zu urgiren (vgl. d. Art, Kirch en— 


ſprache). Einmal ift die Foptifhe Sprache feit dem Ende des neunten oder. 


Anfang des zehnten Jahrh. aus der Reihe der lebenden Sprachen verſchwunden; 
wäre dieß aber auch nicht der Fall, fo follte fih ein Katholik doch befinnen, 
ehe er feiner Kirche zumuthet, daß fie das Beifpiel der Häretifer nachahme. Mit 
der Kirche von Negypten hängt die abyffinifche von ihrer Gründung an zufammen, 
Der hl. Frumentius, dem Abyffinien (ſ. d. A.) feine Befehrung verdankt, wurde 
in Merandrien durch den großen Athanaſius zum Biſchofe geweiht und von da an 
empfing Abyffinien von Aegypten feine Oberbirten, feine kirchliche Verfaſſung, 
feine Gottesdienftordnung und zulegt die monophyfitifche Härefie, der es zur 
Stunde noch verfallen if. Die Zahl der abyffinifchen Liturgien wird von Einigen 
auf zwölf von Andern wohl richtiger auf zehn angegeben, nämlich 1) die Liturgie 
des hl. Johannes des Evangeliften; 2) der 318 Väter von Nicäa; 3) des Epi- 
phanius; 4) des Jacob von Sarug (f. d. A.)5.5) des Johannes Chryſoſtomus; 
6) eines Ungenannten; 7) der bh. Apoftel; 8) des Cyriak; 9) des Gregor von 
Nazianz und 10) des Patriarchen Divseur, Die unter 7 genannte Liturgie der 
65. Apoſtel wurde in Rom 1548 durch den abyffinifchen Archimandriten Petrus, 
auch Tesfa — Sion genannt, äthiopifch herausgegeben. Im folgenden Jahre 
erfchien eine Tateinifche Ueberfegung. Sie enthält den vollfiändigen „Ordo‘‘ des 
abyffinifchen Oottesdienftes und die übrigen Liturgien müffen aus ihr ergänzt 


werden, Ohne Mühe fann man in ihr eine Nachbildung der Foptifchen Liturgie. 


des hl. Baſilius erkennen. — d) Die byzantinifhen Liturgien, Die Kirche 
von Conftantinopel over Byzanz hat feit mehr denn 1300 Jahren zwei Liturgien, 
Hon denen bie eine dem hl. Bafilius, die andere dem hl. Chryfoftomus zu- 
gefchrieben wird. a) Daß der HI. Bafilius, vom J. 370—379 Biſchof zu 
Cäfarea in Cappaborien, eine Liturgie verfaßt habe, fteht außer Zweifel, und 
wird von Proclns, (rrcob ragad00EwS TyS Felas Asırovpyias in. Gallandii 


u er ee 








Liturgien. 547 


Biblioth. efe. Tom. IX. p. 680.), von dem Diacon Petrus, (De incarnatione 
et gratia D. n. J. Chr. etc. cap. 8.) vom zweiten Eoneilium von Nicde 
(Harduin, Tom. IV. col. 370) und vielen Andern bezeugt, Ob aber die Liturgie, 
welche unter dem Namen des heiligen Baſilius in der eonflantinopolitanifchen 
Kirche gebraucht wird oder ein anderes Eremplar deffen aͤchtes Werk fei, iſt 
völlig ungewiß, und ohne Rüdfiht auf die Tradition der Griechen glaubt 
Goar, (Eucholog. p. 158,), einem Cremplare der Bafilianifchen Liturgie, 
das ihm Iſidor Pyromalus mitgetheilt, den Vorzug geben zu müffen, 
— Immerhin zeigen die fehr bedeutenden Abweichungen der Codices von 
einander, daß die Liturgie durch den Namen, mit dem fie geſchmückt iſt, 
gegen die Verbefferungsverfuhe Feineswegs gefhügt worden fei, — Der Got— 
tesdienft wird nach der Liturgie des hl. Baſilius gefeiert: an den Sonntagen der 
HI. und großen Faftenzeit mit Ausnahme des Palmfonntags; am hohen Grün- 
donnerftage; am großen Sabbath, d. i. am Charfamflage; an den Vigifien von 
Weihnachten und Epiphanie, und am Fefte des heil, Bafılius, welches nach dem 
griech. Kalender am Neujahr, — dem Todestage des Hl. Bafılins, begangen wird, 
2) Die Liturgie des Hi. Chryfoftomus, welde, die genannten Tage ausge- 
nommen, das ganze Jahr hindurch im Gebraude ift, wird im fiebenten Jahr⸗ 
hunderte no von Leontius „die Liturgie der hl. Apoſtel“ genannt und ſcheint 
erft im achten ven Namen des Johannes „mit dem goldenen Mund“ erhalten zu 
haben. Dur die Ueberlieferung der Drientalen, durch die gläubige Annahme 
der Deeidentalen und durch die Zeugniffe fehr vieler Schriftfteller wird dem hl. 
Chryſoſtomus die Bearbeitung einer Liturgie, und zwar der in der Kirche von 
Eonftantinopel gebräuchlichen, zuerfannt, Er Habe, fagt Proclus, wegen der 
Schlaffheit der menfhlihen Natur und in der Abficht, jede teuflifche Ausflucht 
gleihfam zu entwurzeln, den Gottesdienft in Vielem abgefürzt. Uebrigens iſt 
die Berfihiedenheit der vorhandenen Eremplare diefer Liturgie fo groß, dag Goar 
zweifelhaft war, welches derfelben er einer Vergleihung zu Grunde legen follte 
und erflärt: „tanta... varielas, ut nos qui octo sola (sc. exemplaria) ex illis tibi, 
Lector..., ob oculos ponimus, cunctfa illa simul, tantae dissimilitudinis aspectu 
territi, inter sese conferre, vitandae nimiae confusionis grafia, non potuerimus“ efe. 
— Es ift daher nit nur unrichtig, fondern faft lächerlich, wenn der Verfaffer 
der „Briefe über den Gottesdienft der morgenländifhen Kirche“ 
(Andreas Nikolajewitſch Murawieff) Bd. II. fagt: „Im folgenden Jahrhunderte 
ließ der HL. Johann Chryfoftomus, Erzbifhof von Conftantinopel, einiges aus 
der Liturgie des HI. Baſilius weg, und diefe feine Gsttesdienftordnung Fommt 
alle Tage bei ung vor, Denn nad diefem Hierarchen wagte es feine Hand 
mehr, und wird es feine wagen, die Liturgie anzutaften, da in ihr der 
Gpttesdienft die höchſte, dem Menfchen mögliche Stufe der Vollkommenheit 
erreicht Hat.” — Nur zu Häufig Haben die Griechen die dem Altertum und den 
überlieferten Jnftitutionen ſchuldige Pietät perfönliher Eitelfeit zum Opfer ge- 
bracht, nur zu häufig die wahre Authorität, die Trägerin des Gefeges des geiſtigen 
Lebens, mißachtet, bis fie zulegt einer Art Erftarrung anheimfielen, — Die Ord- 
nung der beiden Liturgien von Eonftantinopel if jener der Liturgie des 5. Jacobus 
ähnlich. Wir begegnen der Eintheilung in Ratechumenen- und Gläubigen-Liturgie 
(Cl. Gtläubigenmeffe); der Friedensfuß, dem hier das Symbolum folgt, wird 
nach der erfien Oblation ertheilt; die Prafation und die unmittelbare Vorbe— 
reitung auf die Eonferration befteht im Dank und Preis für die Heilsanftalten 
Gottes; die Einfegungsworte werden laut gefprogen.und mit „Amen“ beant- 
wortet; dann folgt die „Anrufung des Hl. Geiftes“; die Aufopferung zu Ehren der 
Heiligen; die Fürbitten für die VBerftorbenen und Lebenden; die Elevation und 
Brechung der Hoftie (f. Brodbrehung); die Communion und zuletzt die Danf- 
fagung und Segnung. — Die Liturgie von Conftantinopel wurde in ſlaviſcher 
35* 


548 Liturgien. 


Ueberfegung von den heiligen Eyrill und Methodius zuerft in Pannonien 
und Mähren eingeführt, Methodius mußte fih in Rom im 3. 880 ſowohl 
wegen feiner Lehre als auch- wegen der Sprache des Gottesdienſtes verantworten. 
„Wir hören auch“, fchrieb ihm Papft Johann VIIL unter'm 14. Juni 879, „daß 
du die Meffe in einer fremden Cbarbara), d. i. in der ſlaviniſchen Sprache feierft, 
weßhalb wir ſchon durch unfer Schreiben unterfagt haben, daß du die HI. Feier 
der Meffe in jener Sprache begeheft, fondern entweder in der Tateimifchen oder 
griechifchen Sprache,” u. f. w. Es gelang dem Apoftel der Slaven, den Papft 
in diefem Puncte zur Nachgiebigkeit zu bewegen, Ohne Zweifel leitete ven hl. 
Bater hiebei hauptſächlich die Rüdficht auf die Erhaltung der Kircheneinigfeit, 
welche gerade damals durch Photius gefährdet war, Es fei, erffärte er, dem 
wahren Glauben oder der Lehre nicht entgegen, in der ſlaviſchen Sprache die 
Meffe zu feiern, das Hl. Evangelium und die gut überfegten Stücke aus dem 
alten und neuen Teftamente vorzulefen, fowie die Tagzeiten zu beten ober zu 
fingen, — Jedoch follte das Evangelium zur größern Verherrlichung erft lateiniſch, 
dann flavifch gelefen werden. „Und wenn eg bir gefällt”, heißt es am Schluffe 
des päpftlichen Briefes an Swatopluf, „und deinen Beamten, die Meffe lieber in 
Iateinifcher Sprache zu hören, fo befehlen wir, daß dir die HI. Meffe lateinisch 
gefeiert werde,’ (S. Cyrill und Method, der Siaven-Apoftel von Joh. Do— 
browsfy. Prag, 1823. ©. 98 ff.) Die flavifche Meberfegung der griechiſchen 
Liturgie fand auch in Rußland Eingang, wo fie heute noch gebraucht wird, — 
e) Die Liturgie der Armenier, wahrfcheinlich im vierten Jahrhunderte ver- 
faßt, doch fo, daß fie im fünften ihre Vollendung erhielt, hat große Aehnlichkeit 
mit der byzantinischen, was nicht befremdet, wenn man bedenkt, daß der Dann, 
dem die Befehrung von Groß-Armenien vorzugsweife zugefchrieben wird, Gregor 
der Erleuchter (ſ. d. A.), in Cäſarea unterrichtet und geweiht worben und daß der 
hl. Ehryfoftomus zu Romana in Pontus flarb und bei den Armeniern Hoch verehrt 


ward. — Die befannteren Ueberſetzungen find: 1) die unter dem Titel „Codex. 
mysterii Missae Armenorum, sive Liturgia Armena* 1677 aus der Typographie. 


der Propaganda hervorgegangen. Sie ift in zwei Bücher gefondert, wovon dag 
eine für den Priefter, das andere für die Diener beftimmt ift. 2) Die Iateinifche 
Ueberfegung des Theatiners L. M. Pidon, mit dem Zunamen von St. Dion 
(geb. 1659, geft. 1717.), welche Lebrun in den fünften Band feiner „Expli- 
cation de la Messe“ aufgenommen und mit gelehrten Unterjuchungen begleitet 
bat, Sie ift betitelt: „Liturgia Armena, cum rilu et cantu ministerüi, ex originali 
Armeno manuscripto.“ Die Handfchrift enthielt bloß die priefterlihen Gebete 
und Formeln, das Uebrige mußte -aus der rom, Ausgabe von 1677 und aus 
dem Gedächtni des Meberfegers ergänzt werben. 3) Die italienifche Heberfegung 
des P. Gabriel Avedichian, Mechitariften im Klofter St. Lazaro bei Venedig. 
Sie wurde von J. B. E. Paſcal nah der Ausgabe v. 1832 in's Franzöſiſche 


übertragen. 4) Eine teutfche Meberfegung von F. X. Ste: „Die Liturgie. 


der Fatholifchen Armenier,” Tübingen, 1845. Der Werth jeder Ueberſetzung ift 
durch Die Treue, mit der fie das Driginale wiedergibt, bedingt, Ohne ung ein 





TE TEN RE HTTREENNE 


Urtheil über die genannten Ueberſetzungen zu erlauben, bemerken wir bIoß, daß. 


fie in einem wichtigen Puncte von einander abweichen, wir meinen „die Anrufung 
des HI. Geiſtes.“ Die erſte und vierte drücken die bereits vollzogene Conſecration 
aus, nämlich jene: „Quo (sc. Spiritu Sancto) benedicens corpus vere fecisti 


Dom. nostri et Redemtoris J. Chr.‘“; diefe: „Durch Welchen (hl. Geift) Dur dieſes 


gefegnete Brod wahrhaftig zum Leibe unferes Herrn und Erlöſers Jeſu Chriſti 
gemacht haſtz“ — u. ſ. w. — In der zweiten und dritten lautet die Formel: 
„Durch welchen Du dieſes gefegnete Brod wahrhaft zum Leibe unferes Herrn und 
Erlöfers Jeſu Ehrifti mach eſt,“ — oder: „Durch welchen diefes gefegnete Brod 


uw, gemacht werde,“ Es ift fein Zweifel, daß hier die Armenifche Liturgie, 








-Liturgien. 549 


wie fie ift, dort, wie fie gewünſcht wurde, vernommen wird. f) Die Serte ber 
Neſtorianer, deren eigentlihe Geburtsftätte Syrien iſt, hatte nach dem Con— 
eilium von Ephefus (431) ihre Hauptniederlaffung in Mefopotamien, von wo fie 
ſich über Perfien, die Tartarei, China und Dftindien ausbreitete, Ihr Oberhaupt 
Bagdad ufurpirte den Titel Patriarch oder Katholicos, Jetzt ift fie fehr zufan- 
mengefehmolzen, Sie hat drei Liturgien: 1) Die der Hl. Apoſtel, die zugleich 
den „Ordo“ und die allen gemeinfchaftlihen Gebete enthält, fo daß in den beiden 
andern vielfach auf diefe verwiefen wird. Bei Renaudot (Tom II. p. 578 sq.) 
führt fie eine doppelte Auffchriftz vor dem Eingang: „Liturgia apostolorum sanc- 
torum, seu ordo sacramentorum“: vor der Anaphora (Missa fidelium): „Liturgia 
beatorum apostolorum, compositä a. S. Adaeo et S. Mari orientalium doctoribus.* 
Der Titel fündigt fie alfo als das Werf des Hl. Adäus oder Thadäus, des 
Apoftels son Mefopotamien an, und es ift nicht unwahrfcheinlich, daß fie in Mes 
ſopotamien fhon im Gebrauche war, ehe fih die Neftorianer dort niederließen. 
2) Die Liturgie des Theodor von Mopsveſte, der feiner eregetifchen 
Leiftungen wegen den Zunamen „Interpres‘ erhielt und nicht bloß ein Anhänger 
des Neftorius war, fondern ald der Urheber der Härefie, die von legterem den 
Namen erhielt, zu betrachten ift. Sie ift überfchrieben: „Liturgia Theodori Inter- 
pretis, und beigefügt: „‚Quae celebratur a dominica prima Annuntiationis usque ad 
dominicam Oschanae (i. e. Palmarum.)* Sie wird alfo vom erſten Adventsfonn- 
tage an bis zum Palmfonntag, und zwar, wie Renaudot meint, bloß an Sonn=- 
tagen gebraudt, 3) Die Liturgie des Neftorius, Die dem Titel: „Liturgia 
Nestorii“ angehängte Rubrif bezeichnet die fünf Tage im Jahr, an welchen der 
Gpttesdienft nach diefer Liturgie gefeiert wird. Doch macht fich hier eine Ab- 
weichupg bemerkbar, In dem Miffale, welhes R. Simon von einem Priefter 
aus Babylon erhalten, heißt die Rubrik: quae celebratur quinquies per annum: 
in Epiphania; in festo divi Joannis Baptistae; die festo doctorum Graecorum; feria 
quarta rogationum Ninivae, et Paschate.“ Bei Renaudot (l. c. p. 620.) werden 
die Vigilien vom Hl. Johannes d. Täufer und von den griechifchen Kirchenlehrern 
angegeben. Die „Doctores Graeci‘, deren Andenfen die Neftorianer am Freitag 
der fünften Woche nah Epiphanie feiern, find: Divdor von Tarfus, Theodor vor 
Mopsvefte und Neftorius, Die Bitt- oder Bußtage von Ninive find drei Faft- 
tage, die vor der großen Faſten zur Erinnerung an die dreitägige Buße der Nini- 
viten gehalten werden. Die malabarifchen Neftorianer nennen fie „Kafttage des 
Jonas“, was zum Verſtändniß der angeführten Nubrif bemerkt fei. — Die Sprache 
des neftorianifchen Gottesdienſtes ift allenthalben die fyrifhe. — I. Liturgien 
des Abendlandes, Der Decident iſt bei weitem nicht fo reich an Liturgien, 
als der Drient, und die wenigen, die er zählt, gehören nach Charakter und Ab— 
ffammung theilweife dem Morgenlande an, wie fich zeigen wird, — 1) Wir 
reden zuerfi von der römifchen Liturgie, deren Pflanzung mit Recht dent 
Apoſteln zugefhrieben wird, doch fo, daß fie unter dem Beiftande des HL. Geiftes 
mit der Zeit herangewachfen ift und in allen Jahrhunderten neue Zweige und 
Blüthen erhält. Die älteften ſchriftlichen Aufzeichnungen der römifchen Liturgie 
fiegen in drei Sacramentarien vor, die nach dem drei Päpſten Leo, Gelaſius 
und Gregor genannt werden. a) Das „Sacramentarium Leonianum“, auch „Saer. 
> Veronense“ wurde zum erfien Mal im J. 1735 von Joſeph Blanhini aus 
einem Codex der Bibliothek des Kapitels von Verona herausgegeben. Die Auf- 
ſchrift, welche Leo J. als den Author bezeichnet, ift eine Zugabe des Herausgebers, 
welcher den gemachten Fund wohl etwas zu hoch werthete, J. A. Or ſi und mit 
I ihm Caj. M. Merati und J. A, Affeman halten Gelafius für den Verfaffer, 
Euſebius Amort ift ver Anficht, es fei nicht das Werk eine s Papftes, ſondern 
das Sarramentarium der röm. Päpſte überhaupt, Lud. Ant. Muratori hat 
die Frage über das Alter und den Urheber diefes Sarramentariums einer umſich— 








550 Liturgien. 


tigen Prüfung unterzogen, deren Ergebniß dahin geht, es ſtamme daſſelbe aus 
der Zeit Felix II. (483—492,), ſei das Werk eines ungenannten und dazu noch 
ungeſchickten Privaten, der, was er an Orationen, Präfationen und dgl, vorge- 
funden, ohne Wahl und Ordnung zufammengeftellt, Diefes Urtheil, mit welchem 
das der Brüder Ballerini, — Herausgeber ber Werfe Leo's J. wefentlich über- 
ſtimmt, erſcheint bei genauerer Einficht in das Buch gerechtfertigt, Das Ganze 
ſtellt fi als das Bruchſtück einer, man möchte faft fagen planlofen Sammlung 


liturgifcher Zormularien dar, Während einzelne Nummern eine Collecte, ein 
Dpferungsgebet (Seereta), eine Präfation und Pofteommunion enthalten, dem 


hergebrachten röm, Ritus gemäß, — zeigen andere die größte Unregelmäßigfeitz 
Nummer VII. z. B, befteht aus drei Collecten, zwei Seereten und zwei Präfationen; 
Nr. IX. aus zwei Collecten, einer Seereta und einer Präfation; Nr, X aus einer 
Seereta, zwei Präfationen und zwei Poftcommunionen; Nr, XIX. aus vier Eolfecten, 
einer Secreta, zwei Präfationen und zwei Poftcommunionen, — Sp durch das 
ganze Buch. Ein ſolches Dperat konnte nur dadurch entfichen, daß Jemand die 
liturgiſchen Formularien, die ihm da und dort begegneten, zufammenftellte. An 
eine Beftimmung zum kirchlichen Gebrauche ift nicht zu denken, weßhalb ihm auch 


der Name „Sacramentarium‘, fofern darunter ein Kirchenbuch verflanden wird, . 


DE ET 





BT N 


firenge genommen nicht gebührt. — Uebrigens find in vorliegender Sammlung 


die Alteften Monumente der röm. Liturgie gegeben. Für das hohe Alter zeugt 
der Umſtand, daß weder Fefte der Confefforen, noch die Feſte des HI. Kreuzes 
und ber Geburt der fel. Jungfrau Maria in der Sammlung vorkommen, und 
daß die darin enthaltene Reihenfolge der Fefte dem Feftverzeichniffe des Aegidius 
Bucherius, angeblich aus der Mitte des vierten Jahrhunderts, fehr ähnlich ift. — 
Daß man in der Sammlung Beftandtheile der röm. Liturgie vor ſich habe, wird 
aus dem Inhalte mehrerer Gebete und Präfationen, fowie ans der Angabe der 
Cömeterien und hl. Orte, wo einzelne Fefte gefeiert wurden, unwiberleglich be- 


tiefen. — Vergl. L. Ant. Muratorii de rebus liturgieis dissertatio. Cap. W.— 
b) Das „Sacramentarium Gelasianum.“ Die eigentliche Auffchrift Iautet: 


„Innomine Domini nostri Jesu Christi. Incipit liber Sacramentorum 
Romanae ecclesiae ordinis anni circuli.“ — Es wurde von Joſeph 
Maria Thomafins im J. 1680 zu Nom dem Drucde übergeben. Die Hand- 
Thrift, früher Eigentbum des Parifer Senators Petavius (Petau), fam in der 
Folge in die Bibliothef der Königin Chriftina von Schweden. Wird diefes Sarra- 
mentarium mit Recht dem HI. Gelaſius I. zugeeignet? — Ja, antworten die Fathol, 
Gelehrten einftimmig, denn daß Gelafius ein Sarramentarium verfaßt, bezeugen 
Gennadius, der Bibliothecar Anaftafius, Johannes der Diacon und die alten Ver— 
zeichniffe der römifchen Päpſte bei ven Bollandiften (Tom. I. Aprilis p. 34.). Nun 
‚fennt aber die röm. Kirche bloß zwei offieielle, d. h. für den Hffentlichen Gebrauch 
beftimmte und herausgegebene Saeramentarien, das Gregorianifche und das vor 
Gregor gebrauchte, von ihm emendirte Gelaſianiſche. Das vorliegende ifl ein Sa- 
eramentarium der röm. Kirche, was nicht bloß aus dem Titel, fondern auch aus 
den darin vorfommenden Feften erfichtlich if. Daß es das Gregorianifhe fei, be- 
bauptet niemand; es muß alfo das Öelafianifche fein. — Die ungefalzenen Mei- 
nungen des Jacob Basnage und des Tübinger Profeffors Mathias Pfaff hat 
L. A. Muratori in der angeführten Differtation cap. V. gebührend abgefertigt. 


Für das Alter des Cover führt der Heransgeber Thomafius in feiner Vorrede 
Tolgendes an: 1) in dem Symbolum fehlt der Zufag „Filioque“, 2) Der Eoder ' 


enthält die Meffen für Die Donnerftage der Faftenzeit noch nicht. 3) Es fehlen 
mehrere Meffen (Fefte), die vom fiebenten Jahrhunderte an üblich waren. 4) Es 
find weniger Heiligenfefte aufgenommen, als in bie fpäteren Saeramentarien, 
5) Nur die Martyrer haben eigene Feſte. — Aber der Eoder hat Beftandtheile, 
die auf eine fpätere Zeit hinweiſen ? Allerdings; der Coder iſt eben wicht zum 


ech: 


— a ET; 


EEE rei ee a 











‚Liturgien. 551 


Zwecke der Erudition, fondern für den Öffentlichen Gebrauch abgefaßt worden; 
. er konnte und follte daher der Erhaltung des gottesdienftlichen Lebens nicht ver- 
ſchloſſen bleiben. — Das Gelafianifhe Sacramentarium iſt in drei Theile ge- 
theilt, wovon der erfte „De anni circulo* überfohrieben, die Firhlihe Zeit von 
der Weihnachtsvigil bis zur Pfingftoctav umfaßt; der zweite mit der Aufſchrift: 
„De natalitiis Sanctorum“ die Fefte der Heiligen und der dritte „De dominieis 
Diebus“ betitelt die Gebete für die Sonntage nah Pfingften, fowie den Canon 
der hl. Meffe enthält: — c) Das „Sacramenlarium Gregorianum.“ Die gewid- 
tigften Stimmen bezeugen einhellig, daß fich der HI, Gregor L, der von 590 big 
604 auf dem Stuhle des Apoftelfürften faß, ganz vorzüglich um die Liturgie ver- 
dient gemacht habe, Namentlih wird diefem außerordentlihen Manne, diefem 
nicht minder bewunderungsmwürdigen Lehrer als großen Hirten, deſſen Geift in 
die ewigen Wahrheiten, in die himmliſchen Geheimniffe vertieft, zugleich die irdi= 
ſchen Anliegen, die Leiden und Bedürfniffe der Kirche forgend und helfend um— 
faßte, — die Bearbeitung eines Sacramentariums zugefährieben. „Er hat auch“, 
ſchreibt ſein Biograph, der Diacon Johannes (L. II. cap. 17) „den Gelafianifchen 
Mefeoder in ein Buch zufammengedrängt, wobei er Vieles ausgelaffen, Weniges 
geändert, Einiges für die Erläuterung der evangelifchen Leſeſtücke hinzugethan.“ 
Welches Eremplar der Gregorianifhen Meſſe aus der Zahl der vorhandenen am 
wenigften interpolirt fer, ift fehwer zu entfcheiden. 8. A. Muratori gibt einem 
Codex der vaticanifchen Bibliothek, welchen er in feiner „Liturgia Romana vetus“ 
Tom. I, abdruden ließ, den Vorzug. Er beginnt mit einer Rubrif, welche die 
Beftandtheile der hl. Meffe vom „Introitus“ an bezeichnet, darauf folgt die Präfation, 
der Canon, das Vater unfer mit dem Embolismus (f.d. A.) und das „Agnus Dei“, 
— Nach diefem fommen die Formularien für einzelne Tage und Anläffe von der 
Weihnachtsvigil anfangend. Jede Meffe Hat in der Regel nur eine Eoffecte, 
eine Serreta und eine Pofteommunion, Manchmal find mehrere Drationen an- 
gehängt, über deren Gebrauch nichts Beftimmtes aufzubringen ift. Daffelbe gilt 
von den Präfationen, die am Ende des Coder in großer Anzahl verzeichnet find, 
Außer dem, was zur HI. Meffe gehört, enthält der Codex viele Benedictionen, 
Eroreismen, Gebete u. f. w. — Die Sacramentarien der alten Kirche enthalten 
nicht den vollftändigen Ritus ver HI. Meffe, fondern bloß das, was der Priefter 
zu beten oder auszufprechen hatte; e8 waren defhalb neben ihnen noch andere 
Bücher bei der Feier des Gottesdienftes erforderlih, — namentlich drei: das 
Antiphonarium (f. d. A.) mit den Gefängen zum Eingang, nach der Epiftel, 
zur Opferung und zur Communion; das Lectivonarium (ſ. d. 9.) mit den 
Leſeſtücken aus dem alten Teftamente, der Apoftelgefchichte, den Briefen der Apoftel 
und der Offenbarung des HI. Johannes, und das Evangeliarium(f. d. A.) mit 
den Abfchnitten aus den vier Evangelien. Jedes diefer einzelnen, zur Feier der HI, 
Meffe verwendeten Bücher wurde mitunter „liber Missalis“, „Meßbuch“ genannt, 
Es war aber, wie begreiflich, ein Bedürfniß, man kann fagen, eine Notbwendigfeit, 
die vier befondern Bücher zu vereinigen, zumal für Orte und Anläffe, wo ein Prie- 
fter ohne Affiftenz von Diaconen und Subdiaconen zu celebriren hatte. Diefes, 
das Ganze umfafjende liturgiſche Buch hieß dann „Missale plenarium“, und fpäter 
einfach „Missale.“ Dergleihen „Meßbücher” waren lange vor der Zeit der Rir- 
SHenverfammlung von Trient allenthalben vorhanden; allein fie ließen, obſchon 
fie ven Gregorianifhen Ritus zur Grundlage hatten, fo viele Abweichungen er- 
Tennen, waren da und dort mit fo ungeeigneten Zufägen bedacht worden, daß der 
Ruf nach einer Reform immer lauter wurde, und nachdem er bereits auf dem 
Eoneilium von Bafel und 1536 auf einer Synode zu Cöln fih erhoben, ward er 
wiederholt auf dem Eoneilium von Trient, In der erften Periode der Rircdhen- 
verfammlung konnten fi die Bäter nicht mit diefem Gegenftande befaffen; in 
der achtzehnten Sigung ernannten fie eine Commiffion, die aber das ihr auf- 


552 Siturgien, 


getragene Werk nicht zu vollenden vermochte ,-weßhalb in der fünfundzwanzigſten 
Sigung beſchloſſen wurde, die Reform des Breviers, des Miffale und Rituale 
dem Papfte anheimzuſtellen. Da es fich nicht um die Anfertigung einer neuen 
Liturgie, fondern darum handelte, die vorhandene zu reinigen, die alte und zwar 
die römifche in ihrer Einfachheit und Würde wieder herzuftellen, fo konnte dag 
Gefhäft nirgends beffer als, in Nom bewerfftelligt werben, Bon Pius IV. über- 
nommen, wurde es unter Pius V. beendigt, Aus der Commiffion werden bIoß 
der Kardinal Bernarbin Seotti, und Thomas Golduelli, Bischof von Afaph, ge- 
nannt, Zaccaria meint, auch dem Cardinal Wilh. Sirlet und dem Gelehrten 
Julius Poggi fei ein erheblicher Antheil an dem Werke zuzufchreiben. — Die 
Herausgabe des neuen Miffale gefhah unterm 14, Zuli 15705 ihr folgten zwei 
Reviſionen unter Clemens VII. (Bulle v. 7, Juli 1604) und Urban VII. (Bulle 
9. 2. September 1634), Daffelbe zerfällt in die Einleitung, drei Haupttheile 
und in den Anhang. Die Einleitung gibt den Kalender, die ‚allgemeinen Ru— 
brifen, ein Summarium des Ritus und einen Unterricht über die möglicherweife 
vorkommenden Defecte. Die drei Haupttheile find: a) das „Proprium mis- 
sarum de tempore“ mit den Formularien für die fortlaufende Feier des Kir- 
chenjahres. Es ift nach den Sonntagen geordnet, fangt an mit dem erſten Sonn— 
tag des Advents und ſchließt mit dem Testen nach Pfingften. Uebrigens bewegt 
fih das Kirchenjahr um die drei Hauptfefte: Weihnachten, Oftern und Pfingften, 
unter denen das Ofterfeft der Mittelpunet ift, Zwifchen dem Charfamftag und 
Dftern ift der „Ordo Missae“ eingeſchvben. b) Das „Proprium missarum de 
sanctis“ enthält die Kormularien für die Feier der hl. Meffe an einzelnen Feten 
der Heiligen u. f. w. Diefer Theil des Deiffale ift nach den Monaten und Tagen 
des bürgerlichen Jahres geordnet, denn die Kirche pflegte von jeher die jährlich 
wieberfehrenden Todestage ihrer Heiligen als Natalitien, d.i. als Geburtstage 
zum ewigen Leben zu feiern. c) Das „CGommune sanctorum“, zur Ergänzung 
des vorhergehenden Haupttheiles für folche Heiligenfefte, die fein eigenes Meß— 
formulare im „Proprium“ haben. Die Eintheilung halt fih an den Charakter der 
Heiligen und an die Nangorbnung der Alferheiligenlitanei, E8 find Mepformu- 
larien darin: für die Vigil eines Apoftelfeftes; für die Fefte der Martyrer außer 
und während der öfterlichen Zeitz für die Fefte der Confefforen, der Jungfrauen 
und derer, die nicht als Jungfrauen farben. — Der Anhang des Miffale ift fehr 
reichhaltig, — er bietet. die Jahrestagsmeffe einer Kirchweihe, — verſchiedene 
Botivmeffen und die Meffen für die Verftorbenen; dann fommen mehrere Bene- 
dietionen, und endlich die Meffen für folhe Fefte oder Commemorationen, Die an 
gewiffen Orten mit -päpftlicher Genehmigung begangen und deßhalb „Missae ex 
indulto ‚apostolico“ genannt werden. — 2) Die mailändifhe oder ambrofia- 
nifche Liturgie, welde bis auf den heutigen Tag in der Kirche von Mailand 
gebraucht wird, verdankt ohne Zweifel dem HI. Ambrofius, der im J. 374 Bi- 
fchof wurde, ihre Vollendung. J. Visconti behauptet, der HL. Barnabas fei der 
Urheber diefer Liturgie, der Hl. Miroclet habe fie erweitert und Ambrofius voll⸗ 
endet, Wie fie vor Ambrofins befchaffen gewefen, was er an ihr geändert, mit 


was er fie bereichert habe, läßt fich nicht ermitteln... Die Anfpielungen auf die 


Liturgie in den Werfen des großen Kirchenlehrers Liefern ein höchſt unfiheres 
Ergebniß, Gewiß iſt, daß er den Wechfelgefang der Pfalmen und Hymnen ein» 
geführt, wahrſcheinlich, daß er nicht nur die Meffen der hl. Martyrer Nazarius 
und Celfus, Gervaflus und Protaſius, Vitalis und Agrieola, fondern auch eine 
beträchtliche Anzahl von. Drationen, Präfationen u, ſ. w. verfaßt habe. — Die 
mailändifche Liturgie flimmt in der Hauptfache mit der römifchen überein, nament- 
Lich Hat fie ven Canon von dieſer. Die Abweichungen find untergeorbneter Art, 
3: B. im Staffelgebet ftatt des. Pſ. 42. bloß der Vers 1. des Pf, 117 „Confite- 
mini“ .eto.; nach dem Confiteor und der -Abfolution find andere Verfifel, und auch 








Liturgien. 553 


die Dration weicht nicht dem Sinne, aber dem Wortlaute nah ab. Nach der 
Ingreffa (dem Introitus) folgt ein „Dominus vobiseum“, dann das „Gloria“, nach 
diefem ein dreimaliges „‚Kyrie eleyson.“ Viele Meffen haben vor dem Evangelium 
zwei Lertionen, eine aus dem alten und eine aus dem neuen Teflament; die Ge- 
bete zur Darbringung der Dpfergaben find von den römifhen verſchieden; das 
Symbolum wird erft nach der Opferung reeitirtz in die Heiligenverzeichniffe des 
Canon find einige Didcefanheilige aufgenommen; das „Haec quotiescunque“ nad 
den Eonfecrationsworten ift paraphrafirt; das Schlußgebet des Canon „Per quem 
haec“ etc. hat eine doppelte Erweiterung; die Theilung der Hoftie gefchieht vor 
dem „Pater noster“ mit eigenem Formulare; das „Agnus Dei“ ift bloß in den 
Seelenmeffen vorgefchrieben; die zweite Dration vor der Communion und die 
zweite Sumtionsformel weichen ab, auch in dem, was nad der Communion folgt, 
find einige Eigenthümlichfeiten. — Die Mailänder, Clerus und Volk, haben ſtets 
eine folhe Anhänglichfeit an ihre Liturgie bethätigt, daß die wiederholten Ver— 
fuche, fie zu verdrängen, nie von Erfolg waren. Schon Carl der Große mußte 
feinen Plan, den römifhen Ritus auch in Mailand einzuführen, wieder aufgeben, 
Sm J. 1060 machte Nicolaus II. den gleichen Berfuh, der aber ebenfalls miß- 
Yang, obgleich der eifrige, umfichtige und thatkräftige HI. Petrus Damiani zur 
Bollführung auserfehen worden war. Später unternahm es der Cardinal Branda 
de Eafliglione, welden Eugen IV. im 3. 1440 als Legat in die Lombardei ab— 
geordnet hatte, den römischen Ritus in Mailand einzuführen; die Folge feines 
Berfuches war, daß er ſich aus der Stadt flüchten mußte. — Im 3. 1497 wurde 
der matländifche Ritus von Alerander VI. feierlich anerfannt und gutgeheißen, und 
da der hl. Pius V. in feinen Bullen, mit denen er das verbefferte Miffale und 
Brevier einführte, die Erklärung gab, daß von der Pflicht, die Iiturgifchen Bücher 
der römifchen Kirche anzunehmen, alle Kirchen erimirt feien, die feit 200 Jahren 
einen eigenen Ritus haben, fo ward damit auch die ambrofianifche Liturgie im 
ihrem Beftand gefichert, — Der Hl. Earl Borromäus fhügte und vertheidigte mit 
größtem Eifer den Ritus feiner Kirche, und als der damalige Gouverneur von 
Mailand die Erlaubniß von Rom erwirkt Hatte, die HI. Meffe in jeder Kirche, die 
er befuchen würde, nach römiſchem Ritus celebriren zu laffen, reclamirte der Hei- 
lige Eräftig gegen diefe Conceffion, wie aus feinem Briefe vom 12. Nov, 1578 
an den apoftolifchen Protonotar Speciand zu erfehen iſt. Der mailändiſche Ritus, 
fagte der HI. Carl bei einem andern Anlaß, fei nicht bloß mailändifh, fondern 
fraft der päpſtlichen Authorität und Beftätigung römifh und apoſtoliſch. Die 
neuefte Ausgabe des ambrofianifhen Miffale erfchien unter vem Tegtverftorbenen 
Erzbifhof, Tardinal Carl Eajetan von Gaisruf im J. 1831. — 3) Die go— 
thiſche, fpäter mozarabiſche Liturgie. Als „gothifche“ wird fie bezeichnet, 
weil ihre Ausbildung, ihre Blüthe in die Zeit der gothifchen Herrfihaft in Spa— 
nien fällt; „mozarabijche” Liturgie wurde fie nach der Eroberung Spaniens durch 
die Mraber genannt. Die Einwohner des Landes, die fih den Mauren unter- 
worfen hatten, befamen nämlich den Namen Mozaraber (Mostarabes oder Must- 
arabes), gleihfam „arabifirende Araber” zum Unterfchiede von den wirklichen, 
ächten, urfprünglichen Arabern, Das Wort ift nicht aus der Verbindung von 
„mixti“ und „Arabes“, oder von „Muza“ (Name des maurifchen Heerführers, der 
Spanien unterjochte) und „Arabes“, fondern von dem Zeitworte „araba“,' deffen 
Participium der zehnten Conjugation es entipricht, Herzuleiten, — Die Frage 

ch dem Urfprunge der mozarabifchen Liturgie führt zu unlösbaren Schwierig- 
eiten, Das Hauptgepräge diefer Liturgie weist auf ihre Abftammung aus dem 
Meorgenlande Hin, Wann und durch wen ift der anatolifche Ritus nach Spanien 
gefommen? Habem ihn die Gothen im Anfange des fünften Jahrhunderts‘ erf 
son Kleinafien und Conftantinopel Her nah Spanien gebracht, oder fanden fie ihn 
bei ihrem Einfalle in diefes Land fchon vor? Joh. Pinius in feiner ausgezeich- 


“ 


554 Liturgien. 


neten Abhandlung: „De Liturgia antiqua Hispanica.“ Acta Sanct. Juli Tom. VI. 
p. 1—112. vertheidigt die Anficht, daß in den vier erften Jahrhunderten der rö- 
mifhe Ritus in Spanien üblich gewefen ſei; daß die Gothen im fünften Jahr— 
hundert eine der griechifchen ähnliche Liturgie mitgebracht hätten, und daß durch 
diefe die alte, urfprüngliche verdrängt worden ſei. Uebrigens habe die von den 
Gothen eingeführte Liturgie namhafte Veränderungen erfahren und fiheine be- 
fonders durch die hl. Bifchöfe Leander und Iſidor von Gevilla überarbeitet und 


— 
Be 


ausgebildet worden zu fein, Alexander Lesley behauptet das Gegentheilz 


nach ihm hat das alte Spanien feinen Ritus aus dem Orient befommen, und bie 
Gothen haben fih um fo leichter Damit befreundet, alg er dem ihrigen in ber 
Hauptfache ähnlich war. Auf die beiderfeits geltend gemachten Gründe fann hier 
begreiflich nicht eingegangen werden. — In der zweiten Hälfte des eilften Jahr— 
hunderts, unter Alexander II. und Gregor VII, fing man an, den römifchen Ritus 
auf der Halbinfel einzuführen; als aber im 5. 1088 ein Synodalbefchluß die Be- 
feitigung der mozarabifchen Liturgie auch in Toledo anprdnete, fand die Maß— 
regel heftigen Widerftand, und man entfchloß fi nach der Sitte der damaligen 
Zeit, die Entſcheidung erft von einem Zweifampfe, dann von einer Feuerprobe 
abhängig zu machen. Beide fielen zu Gunften der mozarabifhen Liturgie aus, 
der König Alphons VI. aber ſprach fich dahin aus, daß beide Liturgien, die rö- 
mifche und mozarabifche, in feinem Reiche neben einander beftehen follten. — 
Don da an wurde der Önttesdienft zu Toledo in ſechs Pfarrkirchen, namlich: 
St. Marcus, St. Eulalia, St. Juſta und Nuffina, St, Lucas, St. Sebaftian 
und St, Torquatus, nah mozarabiſchem Ritus gefeiert. Als in der Folge der 
römifche Ritus auch in den genannten Kirchen mehr und mehr in Gebrauh Fam, 
machte der Cardinal Franz Kimenes im Anfange des 16ten Jahrhunderts groß- 
artige Anftrengungen, um die Erhaltung der mozarabifchen Liturgie zu fichern. 
Er veranftaltete nicht bloß eine neue, revidirte Ausgabe des mozarabifchen Mif- 
fale und Breviers,- fondern er baute auch eine Capelfe (ad Corpus Christi), bie 
er mit einer Fundation für dreizehn Kapläne, welche täglih das Dfficium und 
die hl. Meffe nach mozarabifhem Nitus verrichten follten, — ausftattete. — Auch 
in Salamanca und Valadolid wurden nach dem Beifpiele des Kimenes Stiftungen 
zur Erhaltung diefes Ritus gemacht, wenngleich von geringerem Umfange. ©. 
Pinius, 1. c. p. 66. 67. und C. 3. Hefele, „der Cardinal Kimenes” u ſ. w. 
Tübingen 1844. S. 161 ff. — Die mozarabifhe Meffe beginnt ähnlich der unf- 


rigen mit dem Staffelgebete, darauf folgt der Introitus, das „Gloria in excelsis“ 


(legteres jedoch nicht immer); die Dration des Tages, die Prophetie, d. 1. Le— 
fung aus dem alten Teftamente, das Pfallendum, unferm Grabuale ähnlich, die 
Epiftel und das Evangelium, — nad diefem die Zubereitung und Darbringung 
der Gaben, die aber noch nicht als eigentliche Dpferung zu betrachten ift und der 
vor Alters die Ratechumenen noch beimohnen durften. — Für die Oläubigenmeffe 
(ſ. d. A.) ift folgende Ordnung: eine Dration, „Missa“ genannt, die nach dem 
Zeiten und Feften wechfelt; eine andere Dration, die Commemopration der Hei- 
ligen und Abgeſtorbenen; die „Oratio post nomina“; die „Oratio ad pacem“ mit 
dem Friedensfuß; die Präfation unter dem Namen „Ilatio“, mit dem Trifagion 


——— — — 


ee re 


endend; die Dration „Post sanctus“; die Conferration und Elevativn und während % 


der legtern das „Post pridie“, ein Gebet, welches dem Schlußgebete unferes 


Canon nicht unähnlich iſt; das Symbolum, die Brechung der Hoftie in neun 


Theile, von denen jeder den Namen eines Geheimniffes des Glaubens bekommt, 
(. den Art, Brodbrehung); Memento der Lebenden, befonders der Anwefen- 
den; das Vater unferz Vermifchung des neunten Partifels mit dem hl. Blute; 
Segnung des Volkes; Communion mit Gefang und Gebet, Danffagung; Schluß- 
anfündigung und feierliche Segnung mit den Worten: „In unitate sanoti Spiritus 
benedicat vos Pater et Filius, Amen.“ — 4) Die galliſchen Liturgien, Hier 











Liturgif. 555 


begegnet und zuerft das „Missale Gothicum“, von Mabillon „Gothico-Gallicanum“ 
genannt, welches ohne Zweifel vor den Zeiten der Carolinger im narbonenfifchen 
Gallien gebraudt wurde. Sein Charafter beurfundet den orientalifchen Urfprung, 
wie ja auch die erfien Glaubensprediger und Bifhöfe Galliens, die hl. Trophi— 
mus, Crescentius, Pothinus, Irenaͤus und Saturninus vom Morgenlande ge— 
fommen find. Das zweite Denkmal, das „Missale Gallicanum vetus“, wie Tho— 
mafius und Mabillon es betitelten, ftimmt gleich dem erflern der Hauptfache nach 
mit den Liturgien des Drients überein. Zwei andere Liturgifche Urkunden, das 
„Missale Francorum“ und das „Sacramentarium Gallicanum“, ftellen nicht mehr 
den älteften gallicanifchen Ritus dar und find deßhalb minder wichtig. Beide ge- 
bören wahrfcheinlich der Periode des Ueberganges von der urfprünglichen Liturgie 
zur römifchen; jenes, meint Lebrun, fei zwifchen 768 und 771 verfaßt; dieſes, 
von Mabillon im Kloſter Bobbip in der Lombardei gefunden, fcheint älter zu fein; 
wo es im Gebrauche gewefen, bleibt unentfchieden. Von großem Werthe für die 
Kenntnif der gallifchen Meſſe ift die Erpofition des HI. Germanus (ſ. d. A.), der im 
3 555 Bifchof zu Paris wurde, Man fand fie im Klofter St. Martin zu Autun, 
wo Germanus 533 zum Diacon und 536 zum Prieſter geweiht worden war, 
Ed, Martene und Urfin Durand haben fie im „Thesaurus Anectodorum‘“ Tom. V. 
veröffentlicht, — Einen unfhägbaren Beitrag zur Kenntnif der Liturgie des alten 
Oalliens verdankt die Firchliche Literatur dem gelehrten Archivdirector Fr. 5, 
Mone zu Carlsruhe. Es find diefes eilf Mekformularien aus einem referibirten 
Eoder des ehemaligen Klofters Reichenau. Obgleich nur Bruchſtücke und nur die 
veränderlichen Gebete enthaltend, gewähren fie doch ein getreues Bild des älteften 
Gpttesdienftes im füdlihen Franfreih. Sie erſchienen unter dem Titel: „Latei- 
nifche und griechifche Meffen aus dem zweiten bis fechsten Jahrhundert.“ Frank- 
furt a. M. 1850, Der Herausgeber hat ihnen werthvolle Abhandlungen bei— 
gegeben über die gallicanifche, africanifche und römiſche Meffe u. ſ. w. Wenn er 
auch, wie Dr. Denzinger in der Tübinger Quartalſchrift, 1850. 3. 9. ©. 500 ff. 
darzuthun unternommen hat, das Alter der Formularien zu hoch anfegt und mit feinen 
Beweiſen nicht immer durchdringt, fo find diefe Meffen doch älter, als die bisher 
edirten Monumente der alten gallifchen Liturgie. — Ueber die Liturgie der gallifchen 
Kirchen f. „Missale Gothicum, Francorum et Gallicanum vetus.“ Cura et studio Jos. Mar, 
Thomasii. Romae 1680. — „De liturgia Gallicana.‘“ Opera J. Mabillon. Paris. 1279. 
Deffen „Museum Italicum.“ Tom. I. p. 278 sq. Lutetiae Parisiorum, 1724. [Röffing.] 

Liturgif — seientia liturgica — ift die Darftellung der Liturgie einer 
xeligiöfen Gemeinfhaft. Auf Fatholifhem Gebiete ift demnach Liturgif die 
Erpfition des Fatholifchen Cultus feinem ganzen Umfange nah, Sie bat die 
Aufgabe, darzuftellen, wie die Liturgie der Kirche geftaltet ift und geftaltet fein 
und durch den Priefter und die Gemeinde ausgeführt werden muß, um ihrem 
Ziel und Geifte wirkfich zu entfprechen. Die Liturgif, als eine wiffenfhaft- 
lie Darftellung des Eultus, unterfcheidet fih von der bloßen populären Aus- 
legung des Gottesdienſtes und feiner einzelnen Theile; fie geht von beflimmten 
Prineipien aus, faßt das Ganze in ein geordnetes Syſtem, erponirt, prüft und 
beleuchtet die einzelnen Beftandtheile der Gottesdienftordnung nach ihrem gefchicht- 
lichen , dogmatifchen, facrramentalen, fombolifchen und äfthetifhen Gehalte. Bon 
der Archäologie unterſcheidet fich die Liturgif, indem bei jener das gefchichtliche 
Moment Zwed iſt. — Die Liturgif zerfällt in einen allgemeinen und befon- 
dern Theil, Die allgemeine Liturgif hat zu ihrem Objecte zunächſt die all- 
gemeinen Titurgifchen Prineipien; fie entwickelt die eonflitutiven und Teitenden 
Grundfäge über Begriff, Zwed, Nothwendigfeit, Wefen und Form des Eultus; 
fie behandelt dann in ihrer zweiten Abtheilung die Grundlagen, Formen und 
Thätigfeitem des Eultus, die den einzelnen Ganzen deffelben gemeinfam find, wie 
Dpfer, Sarrament, Segnung und Weihung, — Gebet, Gefang und 


556 Liturgik. 


heilige Muſik, Predigt, liturgiſcher Bibelgebrauch; — und die be— 
gleitenden und dienenden, außerweſentlichen Formen — Kniebeugung, Kreuz— 
zeichen, Kirche und kirchliche Baukunſt uf. w. — Die unmittelbaren 
Duellen der Liturgik find die beftehenden, von der Kirche fanctionirten und zum 
firchlichen Gebrauche beftimmten Liturgifchen Bücher; die mittelbaren — bie 
heilige Schrift, die Schriften der Kirchenväter, die verſchiedenen alten Liturgien, 
die Coneilien und Synodalbefhlüffe, Bullen und Breven, bie Praxis ecolesiae 
und befonders die Decrete der Sacra Riluum Congregatio. Die vorzüglichften 
Hilfswiffenfhaften find Dogmatif und Moral, Archäologie, Kirchengefchichte, 
Aefthetif, namentlich Poetik und Tonfunft, Maler-, Bildhauer- und Baufunft. — 
Der Fatholifchen Liturgie ift von jeher eine vielfeitige Titerarifche Thätigfeit zu— 
gewendet worden, Die hieher gehörigen Leiftungen find aber von ſehr verfchie- 
dener Art, Sehr Viele befaßten fich mit der bloß einfachen populären Darftel- 
lung des Cultus oder feiner einzelnen Theile, ihres Sinnes und Geiftes; Andere 
fammelten die Liturgifchen Formulare und commentirten fie; die fog. Rubriciften 
befaßten fih mit der Erklärung und Anweiſung über die wirkliche Befhaffenheit 
und canonifche Ausführung des Eultus, Ein befonderer Fleiß wurde der geſchicht— 
lichen Darftellung gewidmet, Schon in den Schriften der Kirchenväter finden fich, 
jedoch meiftens beiläufig und zerfireut, fehr viele der trefflichften Notizen über 
einzelne Theile des Gottesdienſtes. Namentlich gehören dahin Clemens von Nom, 
Ignatius, Zuftinus M,, Irenäus, Clemens von Alerandrien, Tertullian, Cy— 
prian, Bafılins, die Gregore von Nyffa und Nazianz, Chryfoftomus, Leo d. Or, 
Auguftinus, Gregor d. Gr. u. A. Der erfte, der eine geordnete Beſchreibung 
der wichtigften Theile der Gottesdienſtordnung herausgab, war der heilige Iſidor, 
Erzbifchof von Sevilla im fiebenten Jahrhundert (De divinis s. ecelesiasticis oſſi- 
eiis 1.11.). Aber eigentlich erft vom achten Jahrhundert an beginnt für liturgiſche 
Bearbeitungen eine fruchtbarere Periode, Beſonders genannt zu werden verdienen 
Alcnin, Rhabanus Maurus, Walafried Strabo, fpäter der Verfaſſer des Miero- 
logus de ecclesiastieis observationibus; Honoring von Autun, Odo von Cambray, 
Hildebert von Tours, Nupert von Deug, Hugo von St. Victor, Johannes Be— 
leth, Innocenz III., Wilhelm Durandus, Albertus Magnus, Johannes de Lapide, 
Gabriel Biel, Cochläus, Joh. Stephanus Durandus u, A.; fpäter befonders 
Bona und Martene. Die mittelalterlihen liturgiſchen Schriften Haben das 
mit einander gemein, daß fie der hiftorifchen Kritif entbehren und bie myftifche 
Auslegungsweife vorwalten laffen. Vom 16ten Jahrhundert an wurde der ka— 
tholiſchen Liturgik die thätigfte Pflege zugewendet durch die Herausgabe und Fri- 
tifche Beleuchtung der alten Titurgifchen Formulare, Als Rubricifien haben 
ſich befonders hervorgethan Gavantus, Merati, Lohner, Romfee, In der neuern 
Zeit find eine Menge populärer Schriften über den Gottesdienſt, jedoch nur theil- 
weife mit Geift und Geſchick geſchrieben, erfihienen, und bie paftoral-theologifchen 
Werfe geben Anleitungen zur richtigen und würdigen Verwaltung bes Eultus, 
Eine fehr ausgedehnte Verbreitung hat davon Rippels Schrift: Altertfum, Ur- 
fprung und Bedeutung aller Ceremonien u, |. w. Augsburg und Freiburg 1764, 
ganz neu bearbeitet von Himioben unter dem Titel: die Schönheit der kathol. 


Kirche u. ſ. w. Mainz 1841, erhalten, Durch Geiſt und Auffaſſung ausgezeichnet 


find Staudenmaiers Geiſt des Chriſtenthums u. ſ. w. Mainz 1835, und 
Wiſemann's Vorträge über die in der päpftlichen Capelle übliche Liturgie ber 


ſtillen Woche (aus dem Engl. von J. M. Aringer, Augsburg 1840); Cha— 
teaubriand, die Schönheiten des Chriftentfums oder Religion und 55 
t 


der Katholiken (aus d. Franz. Münden 1828), und Sailer, Geiſt und Kraft 
der Fatholifchen Liturgie, Münden 1820, fowie deffen Beiträge zur Bildung des 
Geiftlichen, ebendaf. 1820, — Den erften Verſuch einer wiſſenſchaftlichen 
Darftellung der gefammten katholiſchen Liturgie, alfo den erfien Verſuch einer 











Liturgifhe Büher — Llorente, 557 


eigentlichen Liturgif machte 5. Lav. Schmid in feiner Liturgif der chriſtkatho— 
liſchen Religion, Paffau 1832 ımd 1833, Iſt diefer Verfuh auch nicht ganz ge— 
lungen, fo verdient der Berfaffer bei dem Gedanfen, daß es eben der erfte Ber- 
ſuch ift, doch ehrende Anerfennung. Befonders fehlte bis jest noch immer die 
allgemeine Liturgif, die, gleichfalls als ein Berfuh, von 3. B. Luft in 
zwei Bänden 1344—1847 erſchienen ift unter dem Titel: Liturgif oder wiffen- 
ſchaftliche Darftellung des f. Eultus, Mainz. Köſſing's BVorlefungen über die 
hl. Meile (Billingen 1843) verdienen no befonders ehrend erwähnt zu wer- 
den. — u der legten Hälfte des vorigen und im Anfange diefes Jahrhunderts 
traten, der flachen moralifirenden Richtung ihrer Schule folgend, einzelne katho— 
liſche Shhriftfteller gegen den beftehenden Fath, Cultus auf. Als die beveutendften 
müffen Werfmeifter (über die Meß- und Abendmahlsanftalten in der kath. 
Hpfeapelle zu Stuttgart, 1787, und defjelben Beiträge zur VBerbefferung der 
Fath. Liturgie in Deutfhland, Um 1789), und Winter (kiturgie, was 
fie fein fol u. f. w. Münden 1808; die Theorie der öffentlichen Gottesverehrung, 
Münden 1809, und: Erftes teutfches kritiſches Meßbuch, Münden 1810) be- 
zeichnet werden. Wäre es den Männern jener Richtung gelungen, den Prin- 
eipien ihrer flachen Lichtmacherei auf dem Gebiete des Cultus wirflih Geltung 
zu verfchaffen, er würde aller Sarramentlichfeit und heiligen Myftif, alles Geiftes 
und aller Salbung, aller höhern Weihe und Göttlichkeit entfleidet worden fein. 
Diefe Richtung hat die Liturgif Tängft bewältigt und überwunden. Indeſſen ift 
dem Studium und der wiffenfhaftlihen Bearbeitung der Liturgif und ihrer 
einzelnen Theile immer noch nicht die ganze gebührende Thätigfeit zugewenvet 
worden, [£uft.] 
2iturgifche Bücher, f. Ceremoniale, Kirchenbücher und Liturgiem, 
2iturgifche Sprache, f. Kirchenſprache. 

Sintprand von Cremona, f. Luitprand, 

Zivin, der heilige, f. Lebuin. 

2ivland, f. Liefland. 

Llorente (ſprich: Liorente), Johann Anton, ward aus einer adeligen Familie 
Aragoniens am 30. März 1756 geboren, ftudirte das weltliche und canoniſche 
Recht zu Zaragoza, wurde 1779 Priefter der Didcefe Ealahorra und Doctor des 
canoniſchen Rechts zu Valencia. Schon damals gehörte er zu den fogenannten 
aufgeklärten Prieftern, und da die fpanifche Regierung eben diefe Richtung be- 
günftigte, fo eröffnete fih ihm fihnell die Bahn der bürgerlihen und Firchlichen - 
Ehren. Schon zwei Jahre nach feiner Priefterweihe ward er zu Madriv Advocat 
bei dem Hohen Rath von Laftilien und Mitglied der Academie zum HI. Iſidor, 
welche fih nach Vertreibung der Jeſuiten gebildet und von Anfang an dem Jan— 
fenismus gehuldigt Hat. Im folgenden Jahre 1782 wurde Llorente, obgleich erft 
26 Jahre alt, Generalvicar des Bistums Calahorra, und fol im 5. 1784 nad 
feinem eigenen Geftändnig durch Verbindung mit einem unterrichteten Manne, 
von den Testen Reften des ultramontanen Sauerteig fih vollends gereinigt 
haben. Nach feinen eigenen Worten ift Faum ein Zweifel, daß er damals mit 
Freimaurern (f. d. A.) in Verbindung gefommen fei. Seine Fortfchritte in der 
neuen Richtung bewirkten aber, daß er jegt von dem Könige auch zum Domherru 
von Calahorra, von dem aufgeflärten Minifter Graf Florivablanca zum Mitglied 
der neuen Academie für Gefhichte, von dem Großinquifitor (Auguftin Rubin de. 
Cevallos, Bifchof von Jaen) aber zum Generalfecretär des Tribunals zu Madrid 
ernannt wurde (1789). Die Stelle eines Inquifitionsfecretärs befleidete er big 
1791, wo er aus der Hauptfladt verbannt und in fein Canonicat nad Calahorra 
gewiefen wurbe; aber von dem aufgeflärten Großinguifitor Manuel Abad y Ia 
Sierra 1793 wieder berbeigerufen, arbeitete er mit diefem, und nah feinem 


I Sturze mit dem Minifter Jovellanos, der Gräfin Montijo u. A, an der Herbei- 


558 Llorente. 


führung einer kirchlich- und politiſch-liberalen Umgeſtaltung Spaniens. Durch 
aufgefangene Briefe compromittirt, wurde Llorente, obgleich er ſchon auf dem 
Verzeichniß der Candidaten für ein Bisthum ſtand, verhaftei, ſeiner Stelle bei 
der Inquiſition entſetzt und zu einer einmonatlichen Bußübung in einem Kloſter 
verurtheilt. Die Ungnade dauerte bis 1805, wo der berüchtigte Friedensfürſt, 
der ſpaniſche Miniſter Godoy, den baskiſchen Provinzen ihre Freiheiten (fuéros) 


zu rauben und fie feinem Deſpotismus zu unterwerfen beſchloß. Damit das Werk 


der Tyrannei leichter gelinge, follte die Gewaltthat von einer fogenannten wiffen- 
fhaftlihen Begründung begleitet und gerechtfertigt werden, und Godoy warf 
biezu feine Augen auf Llorente, der jeßt nah Madrid berufen und ſchnell zum 
Domherrn an der Primatialfirhe von Toledo, zum Scholafticus des Erzftifts, 
Kanzler der Univerfität und Ritter des Ordens Carl's II. erhoben wurde, weil 
er in einem breibändigen Werfe Noticias historicas sobre las tres provincias bas- 
congados (Madrid 1806) die Freiheiten der genannten Provinzen beftritten hatte, 
Der freifinnige Llorente Hatte fih als Werkzeug des Defpotismug gebrauchen 
laffen, und wurde nun dafür, den beraubten Provinzen zum Hohne, zum Mit- 
glied ver patriotiſchen Gefellfchaft der basfifhen Provinzen ernannt. — 
Bekannt ift, wie Napoleon am 10. Mai 1808 den König Ferdinand VII. von 
Spanien zu Bayonne zur Abdanfung zwang, um den fpanifchen Thron feinem 
Bruder Joſeph geben zu können. Muthig erhoben fih die fpanifchen Patrivten 
gegen den aufgebrungenen Fremdling, aber e8 gab auch eine Partei, welche, der 
Nationalehre vergeffend, fih an den frangöfifchen Zwingherrn verfaufte, und zu 
diefer gehörte Llorente. Die geiftlihen Drden wurden jetzt unterdrüdt, bie 
Klöfter ihrer Güter beraubt, und der Priefter Lorente übernahm den ſchönen 
Auftrag, das Kloſteraufhebungsdecret in Vollzug zu fegen, einen Naubzug durch 
Spanien zu machen und das feeularifirte Gut zu verwalten, wobei mancher Edel- 
flein von Rirchenparamenten in feine Privatcaffe gefallen fein fol, Er zeigte 
ſolche Tüchtigfeit im Confiseiren, daß er bald zum Generaldirector der foge- 
nannten Nationalgüter erhoben ward, mit welchem Titel man das eonfigeirte 
Eigenthum der Patrivten belegte, Einer Unterfhlagung von 11 Millionen Realen 


angeflagt, verlor er dieß Amt nach einiger Zeit wieder, erhielt dagegen, da feine 


Schuld nicht erwiefen wurde, das Amt eines Generalcommiffärd der Kreuzbulle 
(ſ. 9. U), durch welche einft die Papfte den fpanifchen Königen befondere Ein- 
fünfte zum Zwere der Maurenfriege geftattet hatten, Der Zweck war ver- 
ſchwunden, aber die Abgabe geblieben. Bon 1809 an beihäftigte ſich Llorente 
auf Befehl des Königs Joſeph neben Abfaffung verſchiedener franzöfifirender 
Flugſchriften hauptſächlich mit Bearbeitung feiner Geſchichte der Jnquifition, 
wofür er mit mehreren Gehilfen Documente fammelte, Diefe Arbeit nahm er 
mit, als er nach dem Sturze der. Jofefinos aus Spanien als Hochverräther ver- 
bannt, im J. 1814 fih nad Paris begab. Hier edirte er nun feine berühmte 
Histoire critique de YInquisition d’Espagne in 4 Octavbänden, die er felbft ſpaniſch 
nievderfihrieb und Alexis Pellier (1817—18) unter feinen Augen in's Fran- 
zöfifche überfegte Cteutfch von J. K. Höck, Gmünd 1819 ff. in 4 Octavb.). Die 
bifchöfliche Behörde von Paris unterfagte ihm wegen diefes Buchs das Recht, 
Beicht zu hören und Meffe zu Iefen, und als er nun durch Privatunterricht in 


der fpanifchen Sprache ſich ernähren wollte, verbot ihm die königl. Univerfität 


auch den Unterricht in Privaterziehungsanftalten, fo daß er jetzt theils von der 
Fever, theils von der Unterflügung der Parifer Freimaurerlogen zu leben ges 


nöthigt war. Obgleich feit 1820 mit den andern Verbannten amneftirt, blieb er | 


dennoch in Paris, überfegte in dieſer Zeit die unfittlichen Aventures de Faublas 
und gab feine nicht minder verwerflichen Portraits politiques des Papes im 3. 1822 
heraus, Letztere Schrift veranlaßte die franzöfifche Regierung in December 1822 
zu feiner Verweifung aus Frankreich. Kaum in Madrid wieder angefommen, ſtarb 


re 





J 








Loayſa — Loblied. 559 


er daſelbſt am 5. Febr. 1823. — Ein hervorſtechender Zug in Llorente's Schrift- 
flelferei ift feine ungewöhnliche Bitterfeit gegen die Kirche, welde feiner Feder 
eine Reihe von Unwahrheiten und Unrichtigfeiten entlodte. Wie unter feiner 
Hand die Gefchichte zum Zerrbilde wird, mag das zeigen, was er in feiner In— 
quifitionsgefhichte CT. I. p: 26) über die Kreuzzüge fhreibt: „Diefer Krieg (der 
erfte Kreuzzug), fagt er, und die andern Erpeditionen der nämlihen Art, die 
daranf folgten, würden Europadurd ihre Ungerechtigkeit empört haben, 
wenn nicht den Völkern ſchon die widerfinnige Idee beigebracht gewefen wäre, 
daß zur Verherrlihung und Ehre des Chriſtenthums das Kriegführen erlaubt 
ſei.“ Sch möchte fragen, wo noch eine zweite Feder fei, die fo zu fchreiben ſich 
nicht fhämen würde? In feinem Werfe über die Päpfte (Portraits etc.) nennt er 
Papft Gregor dv. ©, (I. p. 166) den „feilften Schmeichler“, Gregor VII. aber 
„Das größte Monftrum, welches der Ehrgeiz zu erfchaffen vermochte, die Ur- 
fahe von taufend Kriegen und Mordthaten, einen Menjhen, der mehr Unheil 
geftiftet, als irgend ein anderer in der ganzen Geſchichte.“ Rom ift dem Llorente 
le centre des intrigues, und die Gefchichte, meint er, werde den europäiſchen 
Monarchen die Wiederberftellung des Kirchenſtaats niemals verzeihen. Erfennen 
wir hieraus den höchſt unfirchlichen Sinn Llorente's, fo zeigt und Anderes feine 
Ungenauigfeit und Leichtfertigfeit als Hiftorifer, Mit der Wahrheit nimmt er es 
gar nicht genau. In den Portraits des Papes (I. 66) berichtet er ung, daß Paul 
von Samoſata in die Irrlehre des Sabellius verfallen fei, eine Angabe, deren 
lächerliche Thorheit jeder Anfänger in der Kirchengeſchichte Hinlänglich begreift. 
An einer andern Stelle erfehen wir, daß Zuftin ſchon vor Ignatius von Antiochien 
feine Bücher gefchrieben habe, daß Apollonius von Tyana ein Häretifer gewefen 
fein. |. f. An ähnlichen Fehlern iſt auch feine Znquifitionsgefhichte reich: Gregor VII. 
muß bier 3.3. (1. 23) mit 8, Heinrich IH. in Kampf gerathen, die pfeudoifi- 
dorifchen Deeretalen werden ſchon im achten Jahrhundert verfaßt ꝛc. Was aber 
deßungeachtet diefem Werfe große Bedeutung gibt, find die ungemein vielen Aus— 
züge aus den Driginalurfunden der Inquifition, und gerade diefe festen ung in 
Stand, ein richtigeres Urtheil über die fpanifche Inquifition zu gewinnen, als big- 
ber gewöhnlich war (ſ. d. Art. In quiſition). Llorente hat nach feiner ganzen 
Geiftesrichtung jene Arten, welche die Inquifition am meiften anflagen Fönnten, 
gewiß nicht unterfchlagen, er ftrebte vielmehr, gerade die famofeften Proceffe ur- 
kundlich mitzutheilen. Und doch laſſen alle von ihm mitgetheilten Urkunden, 
Statuten u. dgl. die Inquifition in einem befferen Lichte erfcheinen, als ihm felbft, 
feinen beigegebenen einfeitigen Reflexionen gemäß, lieb gewefen ift. — Näheres 
über Lorente und feine vielfältigen Unwahrheiten gerade in der Inquiſitions- 
geſchichte findet fich in meiner Schrift über den Cardinal Ximenes, ©. 257 ff. 
Eine Biographie Llorente's lieferten feine Freunde Mahul und Laujuinais in 
der Revue encyclopedique (1823), überfegt im Katholifen, 1824. Bd. XII. 
S. 1-35. [Hefele.] 

2vayfa, f. Garcia, 

Loblied der drei JZünglinge im Feuerofen. Das dritte Capitel im 
Buche Daniel bat in der alerandrinifchen Neberfegung und der Iateinifchen Vul— 
gata Hinter V. 23. einen ziemlich großen Abfchnitt, der im chaldäiſchen Urterte 
fehlt. Seinem In halt nach fohließt er fich fehr gut an das Vorausgehende an, 
Nachdem nämlich berichtet worden, daß Nebucadnezar die drei jüdifchen Jüng- 
Iinge, die zugleich mit Daniel an feinem Hofe erzogen worden waren (f. Daniel), 
in einen brennenden Feuerofen habe werfen laffen, wird gejagt, ein Engel des 
Herrn babe ſich denfelben beigefellt und fie mitten im Feuer unverfehrt erhalten, 
‚zugleich wird ein Gebet mitgetheilt, in welchem Afaria die Strafe des Erils zwar 
als eine wohlverdiente anerkennt, aber do um Gnade und Erbarmen für bie 
zerfirenten und verfolgten Sfraeliten fleht, und ein Lobgeſang, den alle drei aus 


560 | Loblied 


Freude über ihre wunderbare Erhaltung anſtimmten, und in dem ſie die ganze 
Schöpfung zum Lobe Gottes aufforderten. Die Urſprache dieſes Abfchnittes ſt 


allen Anzeichen nach die hebräiſche oder vielmehr die chaldäiſche, die jenen Jüng⸗ 


lingen nad) dem bereits langen Aufenthalt in Babylonien wohl die geläufigere 
geworben fein muß. Denn für's Erfte fhimmern in dem ganzen Abſchnitte, wie 
ſelbſt Eichhorn bemerkt (Einleitung in's A. T. IV. 532), hebräifche oder, was 
bier im Ganzen daſſelbe ift, chaldäiſche Ausdrücke durch, zum Theil in folder 
Weife, daß man die griechifchen Worte wieder hebräiſch ober chaldäiſch denken 
muß, wenn man fie erläutern will, Sodann finden fih in dem Abfchnitt mehrere 
Stellen, die fih wie unrichtige oder ungenaue Weberfegungen eines hebräifchen 
ber haldäifchen Driginals ausnehmen, Die Babylonier z.B, werden drro- 
orereı genannt (V. 34.), was unpaffend fcheint, weil fie nie den wahren Gott 
verehrt hatten; denft man nun das Wort als Ueberfegung von 7772, fo ift es 
zwar an fih richtig, aber in Nüdficht auf den Zufammenhang doch unrichtig 
überfegt, indem 7777 allerdings „Abtrünnige”, aber auch „Harte, Graufame“ 
beveutet und vom Weberfeger im letzteren Sinne hätte genommen werben follem, 
Sodann V. 37. erwartet man flatt zameıvoi Ev naon cn yi den Superlativ 
Tarssıvoraror ; dieſer aber ift wirklich in der Stelle ausgebrückt, wenn man bie 
Worte als Meberfegung etwa von aan bon 77729 denft, wobei ber Ueberſetzer 
» mit 2 verwechfelt Haben mag. Ferner V. 40, ift Exzeitoas Drıodev an fi 
faum verftändlich, als Ueberfegung dagegen etwa von 73 Yarın ab ober —J 
>73 enyna ma ganz deutlich. Ferner V. 44. iſt bei Zvdeuzvinevor zwar aus 
dem Zufammenhang deutlih, daß es „zufügen, erfahren laſſen“ bedeuten müffe, 
wie es aber zu diefer Bedeutung fomme, ſieht man erft, wenn man e8 als Ueber⸗ 
fegung etwa von j1na ober jan (fehen Yaffen ſ. m. a. erfahren Iaffen) denkt, 
wo e8 dann zwar eine richtige, aber, auf den Zufammbang gefehen, ungenaue 
Meberfegung ift, Endlich kommt es vor, dag mitunter diefelben Gegenftände mehr 
als einmal erwähnt und zum Lobe Gottes aufgefordert werden, wie d00008 
V. 64, 68, Wixos B. 67. 69,, worüber ſchon Bertholdt mit Recht bemerkt, 
daß einerlei Gegenftände nicht fchicklich zweimal nach einander zum Lobe Gottes 
aufgefordert werben (Einleitung IV. 1569,), Denkt man nun ein bebräifches 
oder chaldäiſches Original, wo je zum zweiten Male ein anderer aber ähnlicher 
Gegenftand wie vorher mit einem Worte genannt wurde, das ber Ueberfeger 
falſch oder ungenau wiedergab, fo ift alles in Ordnung. Dazu kommt noch, daß 
fi im Codex Chisianus auch bei diefem Abfchnitte die Fritifhen Zeichen des Ori— 
genes finden (of. Javın) zara« reg Eßdounzovre. E Codice Chisiano et secun- 
dum versionem syriaco-hexaplarem recognovit etc. H. A. Hahn. Lips. 1845.), 
welde nur in Hinficht auf einen hebräifchen oder chaldäiſchen Urtert hinzu fommen 
konnten. Iſt aber der Abfchnitt urfprünglich hebräiſch oder chaldäiſch gefchrieben 
worden, fo Fann die Frage nach feinem Verfaffer feine große Schwierigkeit 
mehr haben. Der Abfchnitt will als ein Werk deffelben Verfaffers gelten, wie 
das Buch felbft, in dem er vorkommt, alfo des Propheten Daniel, und die Gründe, 
die man dagegen vorgebracht, haben Feine genügende Beweiskraft. Man bat 
nämlich gefagt, der Tempel und Tempeldienft werde als beftehend vorausgefegt 


(V. 53, 55. 84. 85.), das Prophetenthum aber habe aufgehört (V. 38.), die 


führe fchon in Die nachexiliſche Zeit; in Uebereinſtimmung damit beziehen fich die 
Verſe 33 und 38 auf die Neligionsbedrüdungen unter Antiochus Epiphanes, und 
vom Berfaffer des Buches Daniel felbft könne der Abſchnitt jedenfalls nicht her- 
rühren, weil er bie drei Jünglinge mit ihren hebräiſchen Namen nenne, während 
fie im chaldäiſchen Text haldäifhe Namen erhalten, Allein daß Gott preiswürdig 
genannt wird in dem Tempel feiner heiligen Majeftät und fisend auf den Cheru- 
bim (V. 53, 55.), und die Priefter zu feiner Lobpreifung aufgefordert werben. 


— 


* * u Be 


ee ae 














Lobfied, 561 
AB. 84 f.), beweist fo wenig etwas für das wirkliche Beftehen des Tempels und 
regelmäßigen Opferdienftes, als z. B. die Bemerkung des Jeremias, daß nad 
der Zerfiörung des Tempels Leute aus Sihem, Silo und Samarien nad 
Serufalem gefommen feien, um Opfer darzubringen im Haufe Jehova's 
(Serem. 41, 5.);5 zudem zeigt V. 38. deutlich, daß der regelmäßige Opferdienſt 
nicht befieht, und was dießfalls gefagt wird, paßt vollfommen auf die Zeit des 
Erils und führt nicht über daffelbe herab, Sodann die Bemerfung, daß Fein 
Prophet vorhanden fei, kann Teichtlich den Sinn haben, daß den Propheten feine 
Dffenbarungen zu Theil werden (vgl. Klagl. 2, 9.), denn wenn dieſes der Fall 
war, waren fie fo viel wie nicht vorhanden, oder es kann damit auch bloß gefagt 
werden wollen, daß ihre ordentliche regelmäßige Wirkfamfeit aufgehört habe, 
Beides konnte von den Gefährten Danield zu Babylon gefagt werden, zumal 
wenn ihnen Daniel nicht als eigentliher Prophet (8727) galt und Ezechiel ihnen 
etwa unbefannt war. Damit fällt die Behauptung von felbft weg, daß die-Verfe 
33 und 33 auf die Lage der Juden unter Antiohus Epiphanes fig beziehen, 
Die hebraiſchen Namen endlich der drei Zünglinge fönnen für einen befondern 
Verfaſſer des Abfchnittes, verfhieden vom DVerfaffer des Buches Daniel, nichts 
beweifen; denn gerade son diefem felbft Täßt ſich am eheften erwarten, daß er 
natur= und fahgemäß die drei Jünglinge einander mit ihren eigenen hebräiſchen, 
nicht mit ihren chaldaͤiſchen von ihren Berfolgern ihnen gegebenen Namen anreden 
Taffe, Ein pofitiver Grund aber für die Urfprünglichkeit des Abfchnittes im Bude 
Daniel, und fomit für feine Abfafung durch den Propheten Daniel, ift der 
Umftand, daß fih nicht nur der Abfchnitt ganz natürlih an das Vorhergehende 
anjchließt, fondern eben fo auch an ihn wieder der Paſſus 3, 24 ff. des chal⸗ 
daiſchen Tertes, der in feiner jegigen Geftalt eine ziemlich merkliche Lücke Hat, 
indem 3, 24 ff. fich gerade fo ausnimmt, als ob vorher bereits über das Be- 
nehmen der Zünglinge und das Hinzufommen einer vierten Perſon Aufſchluß 
gegeben worden fe. — Sind wir demnach nicht befugt, den Abſchnitt dem Pro— 
pheten Daniel abzufprechen, fo iſt auch die Frage nad dem Hiftorifhen Gehalt 
defielben nicht mehr ſchwer zu beantworten, Die Hauptgründe, warum man dem 
Abſchnitt für unhiſtoriſch erklärt Hat, Liegen theils in feinem wunderbaren In— 
halte, theils in feiner vorgeblichen Unangemeffenheit zur Lage der Betenden, 
Das Hauptwunder jedoch, die Erhaltung der Zünglinge im Feuerpfen, wird, ab- 
gefehen von unferem Abfchnitt, auch im chaldäiſchen Texte des Buches berichtet, 
und e8 gilt dießfalls die ſchon oben gemachte Bemerfüng (f. Daniel), Daß die 
Junglinge mitten im Feuer beten und Gott preifen, ıft nicht einmal eitte Ver- - 
Hrößerung des Wunders, vielmehr wäre es zu verwundern, wenn eine fo wunder- 
bare Rettung für fie fein Antrieb zum Danf und zum Lobe Gottes gewefen wäre, 
Unangemefjen aber ift ver Inhalt des Gebetes und Liedes gar nicht zur Lage der 
drei Zünglinge. Wenn man behauptet, es follten fih in beiden nur Jammer, 
Klage und Todesangft vernehmen laffen, fo ift das ganz verfehrt. Gerade dieſes 
wäre der Lage der ünglinge ganz unangemeffen; denn wo fie fi wunderbar 
erhalten und durch einen Engel gegen die Macht des Feuers geſchützt fahen, 
fonnten fie feinen Grund zur Wehflage, fondern umgefehrt nur zum Danf und 
Lobpreifung Gottes haben, und zu Bitten um Gottes Erbarmung nit bloß 
fir fie ſelbſt, fondern auch für ihr bedrängtes Volk. Demnad liegt fein Grund 
vor, den Hiftorifchen Charakter des Abſchnittes in Abrede zu fielen. — Der 
Iateinifhe Tert der Bulgata rührt hier wie beim ganzen Daniel von Hieronymus 
E ‚ bat aber nicht die alerandrinifche, fondern Theodotion’fche Heberfegung zur 
Grundlage, aus welcher au die armenifche, und die in den Polyglotten gedrudte 
yrifhe und arabifhe Ueberſetzung gefloffen if. Der alerandrinifhe Text Tiegt 
bloß der hexaplariſchſyriſchen Ueberfegung zu Grunde, Vgl. Herbft, Einleitung 
ms A. T. Thl. II. Abth, 3, S, 239—245. Welte.] 
Kirchenlexikon. 6. Bd. 36 


562 Lobreden — Loci theologici. 


Lobreden, ald Cafualreden (ſ. d. A), werden zur Verherrlichung Gottes 
und zur Verehrung der Heiligen gehalten; ihr Zweck ift zunächſt die Verehrung 
eines Heiligen zu befördern und nüglich zu machen, und dadurch Gott felbft zu 
verherrfichen und zu preifen. Sie fünnen gehalten werben: a) Bei einer Canpni- 
fation, einer Selig- oder Heiligfprechung eines Menſchen. b) Bei Mebertragung 
ober Ausfegung eines heiligen Leibes oder einer großen Reliquie, oder fogenann- 
ter Heiligthümer, c) Am Feſttage eines Patrons einer Kirche, unter deſſen Schug 
das Gotteshaus bei der hl. Weihe empfohlen wurde, und von dem daſſelbe den 
Titel hat; diefe Reden heißen auch Patrpeiniumspredigten. d) Am Fefte des 
Patrons, oder am Schußfefte einer Bruderſchaft oder Congregation oder Sodali— 
tät. — Gegenftand diefer verfchiedenen Predigten kann fein entweder das Leben 
des betreffenden Heiligen, oder fein Gefammtcharafter, oder eine einzelne Tugend, 
welche in feinem Leben befonders hervorragend ift, oder die Abficht, welche feinem 
Leben und Wirken zu Örunde lag, oder die Reliquie, die in der Kirche aufgeftellte 
Statue oder das Bild des Heiligen, weldes dann in der Rede erflärt wird, oder 
eine religiös-moraliſche Wahrheit, welche fih in feinem Leben ausfpricht u, f. w. 
Die Lebensſchickſale und Handlungen, Beftrebungen, Abfichten, Die Denf-, Ge- 
finnungs- und Handlungsweife des Heiligen bieten dann ben weitern Stoff zur 
Ausführung des gewählten Thema’s, fo daß fie palfend vertheilt, den Inhalt der 
Predigt erläutern, begründen oder motiviren; anzufchließen find dann die fi 
aus dem Leben des beftimmten Heiligen ergebenden practifhen Anwendungen 
auf die Gemeinde, wobei auf die in ihrem Gefühle mehr aufgeregte Stimmung 
derfelben Rüdficht genommen werden dürfte, Den Schluß fann das Lob Gottes 
bilden, der fich in feinem Heiligen verherrlicht. Styl und Vortrag feien lebhaft 
und tbeilweife feierlich und ergreifend, Was fonft noch zu beachten kömmt, ſiehe 
in dem Art, Feftpredigten, [Schauberger.] 

Loca pia, f. Causae piae. 

Loeci theologiei — find ein Erzeugniß der Tutherifchen Reformation. 
Das Prineip diefer Reformation ift befanntlih vollfommener Subjectivismus 
Jeder macht fich feine Religion zurecht, wie e$ ihm zufagt und wie es gehen mag. 
Wird in der Kirhe das Wirfliche als wirklich angenommen, geglaubt, weil es 
wirklich ift, fo wird bei den im 16, Jahrhundert Neformirten für wirklich ge— 

alten, was man glaubt; man glaubt, folglih muß, was man glaubt, wahr fein, 
as Gott fei, was er gethan, wie er ſich geoffenbart Habe, ift ganz gleichgültig, 
an diefer Objectivität iſt Nichts gelegen; unfer Verhältniß zu Gott, unfere Re— 
ligion und Neligiofität, beſtimmt fich nicht darnach, fondern lediglich nach unfern 
BDedürfniffen, nach dem Bedürfniß eines jeden Einzelnen, Damit ift von feldft 
gegeben, daß die Theologie aufhöre, Syftem zu fein. Das Syflematifche, srga- 
niſch Wiffenfchaftliche ver Theologie beruht wefentlich auf der Wirflichfeit Gottes 


und der Objeetivität der göttlichen Offenbarung. Iſt Gott an fih wirklich, d 6, 


wirklich ohne unfer Zuthun, und hat er fich wirklich, in wirklichen Werfen und 
Thaten, alſo objectiv, genffenbart; iſt es demgemäß nicht in unfer Belieben ge- 
ſtellt, unſer Verhältniß zu Gott zu beflimmen, ift dieſes vielmehr durch Die Ob— 
jeetivität, durch das, was wirffich ift, beſtimmt: fo iſt ein objectives Syſtem vorhan⸗ 


den, die Wirklichkeit als folche ift Syftem; und folglich ift die Thenlogie, als Er- 
kenntniß diefer Wirklichkeit, wefentlih Wiffenfchaft d, 1, ein Organismus von Begrif- 


fen. Das ift der Grund, warum die Fatholifche, die auf die riftlihe Offenbarung 
gegründete Thenlogie Wiffenfchaft, Syftem, Scholaftif geworden ift, Im Gegenfaße 
biezu Fennt der Proteftantismus „Fein ewiges ©efeg in der Vergangenheit, bat alfo 
auch Fein Bedürfniß, jene nach der Gegenwart zu deuten“ z wovon ausgegangen wirb 
und was allein Befriedigung fucht, ift das fubjective religidfe Bedürfniß ; und worin 
biefe Befriedigung gefunden wird, ift das ebenfo ſubjective, das unmittelbare religiöfe 
Bewußtſein. Diefes „unmittelbare religidfe Bewußtfein herrſchte bis zur Ahnung 














Loci theologici. 563 


por, daß nur, was in demſelben als nothwendig nahgemwiefen werden 
Könne, religiöfe Wahrheit fei“ (Haſe, Hulterus redivivus S, 38), Dem- 
gemäß werden einzelne Puncte, wie fie fih zufällig anbieten oder Intereffe bieten, 
vorgenommen, betrachtet, erörtert, begründet — 3. B. das Bewußtfein der 
Sünde, der Erlöfungsbedürftigfeit ze. und die Behandlung folder einzelner Puncte 
— der Eine wird diefe, der Andere jene intereffant finden und vornehmen, je nach 
dem religiöfen Bewußtfein, welches Jedem zu Theil geworden —, ſolche Be— 
handlung alfo einzelner Puncte ift dann Die Theologie. Folglich ift die Theologie 
nicht mehr Syftem, nicht ein einheitliches Ganzes, fondern Erörterung, Neflerion 
über einzelne religidfe Gegenftände, die Beſprechung einzelner Fächer, Diefe 
erſcheinen mithin als Derter, loci, bei welchen der reflectirende Theologe ver- 
weilt. Folglich find an die Stelle der alten hriftlichen fyftematifchen Theologie 
loci theologici, einzelne theologiſche Tractate, getreten. — Der Erfte, bei welchem 
das vorgelegte Bewußtfein ausgeprägte Geftalt und volle Klarheit empfing, if 
Melanchthon. Wozu, fagt diefer Gottesmann, foll es gut fein, zu fragen, was 
Gott fei, was von der Einheit und Dreifaltigkeit Gottes zu halten, welche Be— 
wandtniß e8 habe mit der Schöpfung, der Menfhwerbung u. dgl. (Proinde non 
est, cur multum operae ponamus in locis illis supremis, de Deo, de unitate, de 
frinitate Dei, de mysterio creationis, de modo incarnationis). Was ein Chrift 
fennen muß, ift die vis peccati, lex, gratia — und was etwa fonft noch dem Me- 
lanchthon ald wichtig erfcheinen mag. Daber ift Melanchthon der erfte Verfaffer 
son loci theologici. Er hat fie indeffen nicht loci theologiei, fondern loci com- 
munes genannt, um anzudeuten, es handle fih nicht fowohl um Erkenntniß Gottes, 
als um Erplication fogenannter religiöfer Gefühle; und hypotyposes theologicae, 
um zu erfennen zu geben, feine Schrift foll Gott und der objectiven göttlichen 
Dffenbarung gegenüber diefelbe Stellung einnehmen, als des Sertus Empiricug 
berühmte hypotyposes Pyrrhoniae gegenüber der Natur und deren Erfenntniß, 
der Philoſophie. Sei die Wirklichkeit was fie wolle, das Subject ſtellt ſich ihr 
ffeptifch gegenüber und anerfennt als wirklich eben nur, was ihm beliebt, nur ſich 
ſelbſt. Wenn Melauchthon fpäter Mehreres in feine loci theologici aufgenommen 
bat, was in der erften Auflage ausgefchloffen war, unter Anderm auch die Lehre 
von Gott, fo hat ihn das nicht, wie man behauptet hat, in Widerfpruch mit ſich 
felöft gebracht, fondern den Beweis geliefert, fein „unmittelbares religiöfes Be—⸗ 
wußtfein“ habe fpäter mehr enthalten als früher. — Die faft göttliche Auctorität, 
deren Melanchthon fich erfreute, mag der Grund fein, daß fehr viele Proteftanten 
bis ins 17, Jahrhundert hinein ihre theologifchen Lucubrationen loci theologici 
genannt haben: Musculus, Strigel, Chemnis, Gerhard, Hutter, Hafenreffer, 
Makowsky u, f. w. — Nur um den direrten Gegenfag auszubrüden, hat Joh, 
Eck feine gegen Melanchthons loci gerichtete Schrift (1525) enchiridion locorum 
communium genannt, Die fpätern loci theologici des Melchior Canus haben 
mit den Schriften Melanchthons und Ecks Nichts gemein; fie find nicht eine 
Dogmatik, fondern eine Einleitung in die Dogmatik (f. d. Art. Bd, I. ©. 316 ff.) 
Außerdem befigen wir dann freilich mehrere Schriften von Fatholifchen Theologen 
aus jener und der fpätern Zeit, welche mehr oder weniger den Charafter von loci 
theologici an fich tragen. Es find dieß die Eontroversfäriften, alfo Schriften, welche 
proteftantifchen locis theologicis entgegengefegt find. Sp z. B. die Controverfen 
Bellarmins, Die Fatholifche Dogmatik als ſolche aber ift nie eine Sammlung von loci 
theologiei geworben, fondern, wie billig, immer ein fyftematifches Ganzes geblieben, 
Allerdings gibt es dogmatifche Lehrbücher, welche beinahe ausfehen wie loci theolo- 
gici, ſo 3. B. die praelectiones von Perrone, welche als Sammlung einzelner theo— 
 Ingifcher Trartate erfcheinen ; allein näher angefehen verläugnen fie denn doch nicht, 
- Wollen ohnehin nicht verläugnen den organifhen Zufammenhang der einzelnen 
amd in einzelnen Tractaten behandelten Materien, [Mattes.] 


36 * 


564 Locke. 


Locke, John, einer der ſcharfſinnigſten und berühmteſten Philoſophen Eng- 
lands, war geboren zu Wrington 1632, unweit Briſtol; ſtudirte auf der Uni— 
verfität zu Oxford, wo er jedoch ber ſcholaſtiſchen Philoſophie wenig Geſchmack 
abgewinnen konnte. Erſt die Lectüre der Schriften des Cartefius flößte feinem 
Geifte wieder Liebe zur Philofophie ein. Er wurde im Jahre 1658 Magifterz 
widmete fih ferner der Mediein und dieß mit glänzendem Erfolg, fo daß felbft 
Sydenham feine Kenntniffe in derfelben als bedeutend anerfannte. Doch ward 
er wegen feiner fhwächlichen Gefundheit Fein practifcher Arzt, Er machte eine 
Reife nach Teutfchland und Franfreih, Seinen Kenntniffen aus der Anatomie, 
Chemie und Naturgefhichte verdankte er feine Bekanntſchaft mit Lord Ashley, 
nachmals Grafen von Shaftesbury. ALS diefer Großkanzler (1672) geworden, 


gab er ihm eine einträgliche Gefchäftsftelle, und nachdem derfelbe als erfter Minifter 


in Ungnade fiel, fo ward auch er entlaffen und folgte dem Verbannten nad Am— 
ſterdam (1682). Dort hielt er fich verborgen, um den Verfolgungen der Hof- 
partei zu entgehen, Nach dem Tode des Grafen blieb Lore no‘ ferner in 
Holland, wo er auch mit Limborch und Te Elere in freundfchaftlichen Verkehr trat, 
Der Brief über die Toleranz, welchen er urfprünglih in Tateinifcher Sprache 
fohrieb, war an Limborch gerichtet. Von feinem „Verſuch über den menfhlichen 
Verſtand“ gab er die erfte Probe in le Clere's Bibliotheque universelle (1688), 
Doch vollftändig erſchien diefes berühmte Werf erft 1690 in London, gewidmet 
feinem Freunde Herbert, Die Nevolution, welche Wilhelm IN. zum Könige erhob, 
machte e8 ihm möglich, wieder in fein Vaterland zurüczufehren, Er erhielt hier- 
auf das Amt eines Commiffärs des Handels und der Colonien, dag er jedoch bald 
wieder aufgeben mußte, da die Luft von London feiner Geſundheit nicht zuträglich 
war, Er hielt fih von nun an faft befländig zu Dates in der Grafſchaft Effer 


auf dem Landfige feines Freundes, des Sir Masham, auf, wo er auch 1704, 


zweiundfiebenzig Jahre alt, farb, Er warb im Haufe von Masham fehr ge= 
Ihäst. Lady Masham, die Toter des berühmten Cudworth, erzog felbft nach 
Locke's „Gedanken über die Erziehung” *) ihren einzigen Sohn. m den legten 
Jahren feines Lebens befchäftigte er fich einzig mit der Lefung der Bibel; er ver- 
faßte auch Commentare über die Briefe Pauli, nämlich über den Brief an bie 
Römer, Galater, Ephefer und über beide an die Corinther aber in rationaliſtiſcher 
Richtung, (im VII. Vol. der Oefammtausgabe von 1824, London, unter dem 
Titel: The Works of John Locke in Nine Volumes). Die Hauptquelle für feine 
Lebensgefchichte fiehe: Jean le Clerc, Eloge historique de feu Mr. Locke in feiner 
Bibliothöque choisie, 6 Bde, Seine Schriften zeichnen fich befonders durch Klar— 
beit in der Darftellung und durch Scharffinn aus, — Wir erfehen hiernach, daß 
Locke's Literarifche Arbeiten fich auf Philoſophie und Theologie bezogen, Wir 
wollen zuerft feine Leiftungen in der Philoſophie würdigen. In diefer nun fpricht 


er zwei Grundgedanfen aus: erftens, es gibt Feine angebornen Ideen und Grund» 


fäße; zweitens, alfe unfere Erfenntniß ftammt aus der Erfahrung. Dieß ſucht 
er zu beweifen in dem obbefagten Werfe: An Essay concerning Human Under- 


* 


standing (Verſuch betreffend das menſchliche Erkenntnißvermögen oder über den 
menfchlichen Verftand) **), Diefes Werf ward aus dem Engliſchen in's Fran- 


zöfifche überfegt von P. Coſte, wozu Locke ſelbſt einige erläuternde Anmerkungen 


noch hinzufügte **xx). Es zerfällt in 4 Bücher, Das erſte beftreitet die Annahme, 





*) Toughts on education. London 1693, teutfe von G. 5. Rudolphi, Braunſchweig 1788. 

*N Ueberſetzt in's Teutfche von 9, E. Poley, Altend. 1757, Bon ZTennemann, Jena 
1796. 1. Leipzig 1797. IE Thle, 

*x) Essay philoso 


parvenons, traduit de l’anglais par Mr. Coste sur la quatrieme edition, revue, corrigee 
et augmentee par l’auteur. Amst. 1700, 4, 


58 eoncernant l’entendement humain, ou Lon montre, 
quelle est l’etendue de nos. connaissances certaines, et la maniere, dont nous y 











Lode 565 


daß ed angeborne Ideen gibt; das zweite befhäftigt fih mit bem Urſprunge der 
mienſchlichen Ideen (Borftellungen); das dritte handelt von der Sprade, von 
ihrem Zwecke und von der Verbindung zwifchen den Borftellungen und Worten; 
das vierte endlih vom Wiffen und Meinen, d, i. von der Erkenntniß, Wahrheit 
und Evidenz, von dem Umfange derfelben, von dem Fürwahrhalten, den Gründen 
und Graden deffelben. Diefe Unterfuchung ift ſonach eine Fritifche, pſychologiſch⸗ 
philofophifche Betrachtung des Erfenntnigoermögens, Sie ift nöthig, um zu willen, 
- wie weit der menfhlihe Verſtand zur Erfenntniß der Wahrheit fih erheben 
fann, und wo die Grenzen feines Gebrauches find. Die Annahme der ange- 
bornen Ideen befämpft Locke befonders gegen Cartefins. Seine Gründe dagegen 
find: a) Die Berufung, daß gewiffe Ideen bei Allen eine Geltung haben, be- 
weife noch gar nichts, fobald man aufzeigen kann, dag die Menfchen auch auf 
einem andern. Wege noch zu. diefem allgemeinen Fürwahrhalten gelangen fünnen, 
b) Auch iſt e8 falſch, daß es Grundfäge gebe, in welchen alle Menfchen allgemein 
einftimmig wären. Dieß fünnen wir im theoretifhen Gebiete daraus erfehen, 
daß felbft foldhe Säge, welche noch am erften und meiften auf allgemeine Geltung 
Anſpruch machen fönnten, nicht einmal von Allen anerfannt werben. Dahin ge- 
bören z. B. die Site: „Was ift, das if.“ — „Es ift unmöglich, daß ein und 
daſſelbe Ding fei und nicht fei.“ Die Kinder wie die Ungebilveten wiſſen von 
dieſen abftracten Principien nichts, alfo fonnen fie denfelben nicht von. Natur 
eingeprägt fein. Wären gewiffe Ideen wirklich angeboren, fo müßten Alle ſchon 
yon der frübeften Kindheit an davon wiffen. Denn „im Berftanden fein”, heißt 
nichts anderes, als „gewußt werden.“ Daher nützt die Ausflucht gar nichts: 
Sene Ideen feien wohl dem Verſtande eingeprägt, aber nur wiffe man es nicht. 
Entgegnet man: Sobald die Menſchen ihre Bernunft richtig anwenden, fo kommen 
aud jene angebornen allgemeinen Grundfäge ihnen fogleih zum Bewußtfein; fo 
ift zu bemerken, dag Kinder viel früher ſchon mehrere Erfenniniffe gewonnen, 
und auch lange Zeit ihre Vernunft gebraucht haben, ehe fie von diefen Principien 
wußten. Sm Gegentheile find die erfien Erfenntniffe feine allgemeinen Säge, 
fondern beziehen fih mehr auf einzelne Eindrüfe, Meint man.aber mit dem 
Einwand, daß der Gebrauch der Vernunft bewirke, daß jene allgemeinen Grund» 
ſatze entdeckt werben; fo bezeugt dieß gerade, daß fie nicht angeboren find. Denn 
wären fie diefes, fo brauchten fie ja nicht erft durch Vernunftſchlüſſe entdeckt zu 
„werden; indem man nur ſolches zu erfihließen fucht, was man bicher nicht gewußt 
hat. — Noch leichter läͤßt es fich aber auf dem practifchen Gebiete darthun, daß 
es feine angebornen allgemeinen Grundfäge gibt. Denn wir finden feine mora- 
liſche Regel, welche bei allen Volkern Geltung hätte, Sp wird die Heiligkeit der 
Berträge feineswegs von Alfen beobachtet; indem die Banditen diefelben wohl 
gegen ihre Mitgenoffen, aber nicht auch gegen alle andern Menſchen erfüllen, 
Die practifhen Grundfäge fonnen aber ſchon deßhalb auch nicht angeboren fein, 
weil fie eines Beweifes bedürfen; mithin find fie nicht durch ſich ſelbſt evident, 
fondern beruhen auf Bernunftfihlüffen (Essais I. liv. chap. 2, $ 4). Ebenfo wenig ift 
‚Der practifhe Grundfag: „Gott foll verehrt werden”, angeboren (1. 0.3, ST). Denk 
‚Die Idee Gottes, welche gewiß die wichtigfte ift, ift nicht augeboren. Die zeigen 
die Atheiften, und fowie auch jene, welche eine Mehrheit von Göttern lehren. 
Und würden auch alle Menſchen diefe Idee haben, fo beweist dieß noch gar nicht, 
daß fie angeboren iftz da man diefelde ja auch durch die Betrachtung der werfen 
Einrichtung der Welt gewinnen kann. — Wollte man dieß daraus folgern, daß 
alle weiſen Männer fie befigen, fo fünnte man dann auch behaupten, daß die 
Idee der Tugend angeboren ift (I. c. 3, $ 16). Was jedoch die Idee der Ber- 
ehrung Gottes betrifft, fo willen oft feld erwachfene Menſchen nicht Har und 
beftimmt, worin fie beftehe. Wie follte dann jener Begriff angeboren fein? — 
Locke geht nun zur Beantwortung der Frage über: Wie gelangt der Berfland zu 


566 Tode, 


Ideen? Er fucht zu erweifen, daß die Erfahrung der Urfprung aller unferer Er- 
fenntniffe fei. Alle Ideen kommen aus der Erfahrung. Diefe ift aber eine dop⸗ 
yelte: eine äußere und eine innere, Die äußere wird erzeugt durch die Wahr- 
nehmung der äußern (förperlichen) Gegenflände, alfo durch die Vermittlung der 
Sinne, Sie heißt Senfation. Die innere Erfahrung iſt die Wahrnehmung der 
Thätigfeiten unferes eigenen Verſtandes (der Seele), und fonnte als innerer 
Sinn paſſen oder aber als Neflerion bezeichnet werden. In beiden Fällen ver- 
hält fich der Verftand bloß paſſiv. Der Geift ift nur ein Spiegel der Außenwelt, 
vder wie ein Papier, auf welchem nichts geſchrieben fleht, Die Ideen aber werden 
eingetheilt: in einfache und complexe (zufammengefeste). Einfache Ideen find 
folche, welche dem Verftande von Außen fo aufgedrungen werben, wie dem Spiegel 
die Bilder derjenigen Gegenftände, welche fich in ihm abſpiegeln. Gie entfpringen 
a) aus der Senfation, und zwar entweder aus der Wahrnehmung eines einzigen 
Sinnes, z.B, die Ideen der Töne, welche dem Berftande durch das Ohr zufom- 
men; oder aus der Wahrnehmung mehrerer Sinne zugleih (I. 0.3, 8 1:2), 3. B. 
die Ideen des Raumes und ber Bewegung, indem hier der Gefichts- und Taft- 
finn zugleich thätig iſt; oder b) aus der Reflexion, nämlich die Ideen des Denkens 
und Wollens; oder c) endlich aus der Senfation und Reflerion zugleich, wie 3. 
DB, die Ideen von der Eriftenz, Kraft u. ſ. f. Die einfachen Ideen bilden den 
Stoff aller unferer Erfenntniffe, Aus den einfachen Ideen entftehen die com= 
plexen, durch die Thätigfeit des DVerftandes, und zwar 1) durch die Verbindung 
einfacher Vorftellungen in eine, Das Reſultat hievon find: die Begriffe von den 
Eigenschaften Cmodi—Xeeidenzen) und hierauf die Begriffe von den Subftanzen, 
Unter den Ideen der modi betrachtet Lore hauptſächlich die Modificationen des 
Naumes (Entfernung, Längenmaß, Unermeßlichkeit u. |, w.) und der Zeit (Suc— 
eeffion, Dauer, Ewigfeit). Den Urfprung des Subftanzbegriffes erflärt er alfo: 
Der Verſtand bemerkt fowohl bei der Senfation als Neflerion, daß mehrere ein- 
fache Ideen, welche er hat, immer zufammengehen und mit einander verbunden 
beftehen, Nun fann er aber feineswegs fich denken, daß felbe durch ſich felbft 
getragen werben, daher gewöhnt er fich, ihnen ein für fich beftehendes Subject zu 


Grunde zu legen, welches fie gleichfam trägt, und in welchem fie beflehen, und 
aus welchem fie hervorgehen, Diefes Subftrat bezeichnet er fodann mit dem Wortes 


Subftanz. Nach diefem Begriffe iſt die Subftanz ein rein Unbefanntes, Wir 
fennen nur ihre Attribute, Man kann zwei Arten von Subftanzen unterfcheiden: 
denfunfähige Cmaterielfe) und denkfähige (geiſtige). Die Attribute der Körper 
find: Solidität und Beweglichkeit; die des Geiftes: Denken und Wille, Die 
Frage, ob der Geift materiell oder immateriell fei, läßt fich nicht auf eine ent» 
ſcheidende Art beantworten, Nur die Subftanz Gottes iſt abfolut immateriell, weil 
fie frei von jeder Paffivität if. In der Materie liegt Fein actives Vermögen, 
Die Idee Gottes bilden wir auf folgende Weiſe: Nachdem wir die Begriffe von 
Eriftenz, Dauer, Macht, Intelligenz, Vergnügen und Glück erzeugt haben, als— 
dann erweitern wir diefelben vermittelft der Zdee des Unendlichen und vereinen fie 
alle in eine complexe Zdee. — Weiterhin entftehen die compleren Ideen auch 
2) dur Entgegenfegung und Vergleichung der Vorftellungen der Dinge, woraus die 
Berhältnißbegriffe, als z. B. Urſache und Wirkung, Identität und Verſchiedenheit, 
hervorgehen. Und endlich 3) werben fie durch Abftraction von den Zufälligfeiten 
gebildet, Dieß gibt die allgemeinen Begriffe, Die complexen Ideen laſſen ſich 


daher auf 3 Hauptelaffen zurüdführen: auf die Ideen der modi, der Subſtanzen 
und der Verhältniffe, — Mit der Erfenntniß fleht die Sprache in Verbindungz 


die. Worte bezeichnen nur das Allgemeine der Gegenftände, Sie find größten- 
theils Zeichen der Alfgemeinbegriffe, Diefe find nicht Bilder von etwas Nealem, 
denn nur die einzelnen Dinge (Individuen) eriftiren. — Bisher wiffen wir, wie die 
Ideen gebildet und bezeichnet werben, Es frägt ſich nun; wie werben fie ver- 





ee us 1 ab ‚ 


Ze ne 


Locke. 567 


bunden? Dieſe Combination der Ideen unter einander gibt den Begriff des Er— 
kennens. Die Erkenntniß iſt das Erfaſſen der Verbindung und Uebereinſtimmung, 


I oder des Widerſpruches und der Unvereinbarkeit zwiſchen irgend welchen unſerer 


einfachen oder abgeleiteten Jdeen. Bon unferem eigenen Dafein befigen wir eine 


intuitive, von der Eriftenz Gottes eine demonftrative, und von der Eriftenz an= 


derer Dinge eine fenfitive Erfenntnig (Liv. IV.). Den Beweis für das Dafein 
Gottes führt Locke CIV. c. 10, $ 1—6) alſo: der Menfh weiß mit anſchaulicher 
Gewißpeit, daß er felbft eriftirt; aber Nichts kann nicht etwas (ein reales Wefen) 
hervorbringen, fondern es muß ein ewiges Wefen eriftirt haben, Diefes muß 
den höchſten Grad von Macht befigen, da es nur fo der Urfprung alles Daſeins 
und aller Kräfte ſein kann. Und ebenfo muß es auch die höchſte Jutelligenz 
fein; denn ein nichtdenfendes Wefen kann Fein denfendes hervorbringen, Ein ewig 


|  denfendes Wefen iſt fonach nothwendig; mit diefem fann aber die Materie nicht 








gleihewig fein: es muß alfo eine Gottheit geben. — Nach Locke's Prineipien 
ſtammt alles Willen von Gott und göttlichen Dingen, fo wie auch die ethifchen 
Begriffe aus der Erfahrung, Nur nimmt er nicht durchgängig den Standpunct 
des reinen Empirismus ein, da er auch ein demonftratives Wilfen von Gott und 


- son den religiöfen und fittlichen Verhältniſſen für erreichbar halt. Uebrigens 


erhebt er fih aber nicht über die empirifche Beobachtung. Daher fagt er au, 
daß das Gewiffen noch Fein Beweis für das Angeborenfein der practifhen Grund- 
ſätze fet, da oft manche Menfhen nur in Folge der Erziehung, ihrer Gefellichaft, 
und der Sitten des Baterlandes dazu gelangen, derfelben Meinung zu fein, 
Denn fo werden oft Lehren, deren Duelle der Aberglaube einer Amme ift, durch 
die Uebereinftimmung der Nachbarn und durch die Länge der Zeit zur Würde von 


- Grundfägen der Moralität erhoben. Das Gewiffen felbft ift nichts anderes als 


unfere eigene Meinung oder unfer Urtheil über die fittlihe Rechtichaffenheit oder 


Verkehrtheit unferer eigenen Handlungen (I. c. 2, $ 8). Der Geift ift-e8, der 


allein den Willen zu etwas beftimmt. Er felbft aber wird zum Wollen beftimmt 
durch den Mangel, in welchem er fich findet. Der Wille ift die Fähigkeit, Hand- 
Iungen und Bewegungen zu beginnen. Die Freiheit ift felbft ein Vermögen, und 
fommt nur dem Wollenden, aber nicht dem Willen, welder auch nur ein Ver— 
mögen ift, zu. Die Gefege, nah welchen die Menfhen über die Rechtſchaffenheit 


und Berfehrtheit ihrer Handlungen urtheilen, find das göttliche und bürgerliche 


Geſetz, und hierauf das Gefeg der öffentlihen Meinung und Adtung. Durch 
die Vergleihung einer Handlung mit dem göttlichen Gefege ergibt fih: ob fie 
Hfliht oder Sünde ift, und ob die Glüdfeligfeit son dem Allmächtigen biefür zu 


erwarten fteht. Nach dem vom Staate gegebenen Gefege wird entfihieden: ob 


eine Handlung Berbrechen ift oder nicht. Nach dem Gefege der öffentlichen 
Meinung wird erfannt: ob eine Handlung Lob oder Schande nad ſich ziehe, und 
welche fie als Tugend oder Lafter bezeichne (I. c. 28, $ 5—13). Weiter bleibt 
Locke die natürliche Religion und Offenbarung feftftehen. Auch behauptet er die 
Creation: „ES ift Fein Widerſpruch, eine Schöpfung aus Nichts anzunehmen, 
Denn wenn wir das, was Gott thun fann, auf das einfchränfen, was wir davon 
begreifen Fünnen, fo machen wir unfern Berftand unendlich, und Gott zu einem 


- befchränften Wefen.” Wichtig ift für den Theologen noch, zu wiffen: welche Au— 


ſchauung Lore von dem Verhältnif der Vernunft zur Offenbarung, der Erkenntniß 
zu dem Glauben bat. Lore fagt: Der Glaube fann nie der Vernunft entgegen 
fein. Bernunftmäßig find folhe Säge, deren Wahrheit wir entdeefen Fonnen durch 
- Prüfung und Entwicklung der Begriffe, welche aus der Senfation und Refleriom 


- entftehen; die fonach durch natürliche Deduction als wahr oder wahrſcheinlich 


edacht werden fönnen, Ueber die Vernunft find folhe Säge, deren Wahr: 
Beit und Wahrfcheinlichkeit wir nicht durch die Vernunft aus jenen Prineipien 


ableiten Fönnen, Gegen die Vernunft aber find folhe Säge, die im Wider- 


568 Lock + 


fireit mit fich find, oder -fonft mit deutlichen Begriffen nicht vereinbar find 
(IV. c. 17,.8.23) Der Glaube ift die Zuflimmung, welde man einem 
Satze im Vertrauen auf denjenigen, alfo auf deffen Anfehen gibt, der ihn als 
auf einem außerprbentlichen Wege von Gott mitgetheift vorträgt. Diefe Art, 
den Menfchen Wahrheiten zu entdeden, nennen wir Offenbarung. Es kann Fein 
von Gott infpirirter Dann durch Offenbarung den Menfchen etwas mittheilen, 
wovon fie vorher gar Feine Vorftellung gehabt haben. Eine ganz neue Vorftel- 
Yung können die Worte nicht bezeichnen. Auch können wir etwas. nicht als wahr 
and als göttliche Offenbarung annehmen, das mit. einer evidenten Erkenntniß 
unferer Vernunft in directem Widerſpruche flieht, indem dieß alle Grundſätze der 
Erfenntniß und des Zürwahrhaltens umftoßen würde, Die Vernunft kann ung 
bewegen, eine Offenbarung anzunehmen. Sie hat zu urtheilen, ob etwas wirf- 
lich Offenbarung, und dann, was der Sinn diefer Offenbarung fei. Locke gibt 
auch zu, daß es Dinge gebe, von welchen wir fehr unvollfommene oder gar Feine 
Begriffe Haben, und deren Wirkfichfeit wir daher nicht durch den natürlichen Ge- 
brauch unferer Vernunft zu erfennen vermögen. Diefe Dinge find deßhalb über- 
vernünftig, und der eigentliche Gegenfland der Offenbarung und des Glaubens, 
z. B. die Lehre von dem Abfalle eines Theils der Engel. Die Offenbarung ver- 
Dient demnach gehört zu werden, wo die Vernunft gar nicht, oder nur mit Wahr- 
fcheinlichkeit urteilen Tann CIV. c. 18. $ 9). Die Schwärmerei möchte gerne die 
Dernunft verdrängen und eine Dffenbarung ohne Bernunft aufftelfen CIV. co. 19. 
$ 3). Die Bernunft iſt die natürlihe Offenbarung, durch welche Gott dem 


Menfchengefchlechte dasjenige Maß von Wahrheiten mittheilt, welches er in ven 


Bereich ihrer natürlichen Kräfte niedergelegt hat. Die Offenbarung aber ift die 
natürliche Vernunft, erweitert durch eine neue Reihe von Entdeckungen, welche 
Gott unmittelbar mitgetheilt hat, und deren Wahrheit die Vernunft dur das 
Zeugniß und durch die Beweife, daß fie von Gott kommen, verbürgt, Der 
Schwärmerei fehlt e8 an Evidenz, daß fie wirklich eine Eingebung Gottes iſt. 
Zum Schluffe feines Werkes fucht Locke noch den Inbegriff des Wiffens auf ein 
Syſtem zu bringen, und fo die Wiffenfchaft zu gliedern, Nach ihm gibt e8 drei 
Arten der Wiffenfihaft: 1) Die Phyfif der Körper und Geifter, Hier handelt er 
auch die Erfenntniß des Wefens Gottes ab, 2) Die Ethik, Diefe Hat Locke 
wenig bearbeitet. Er neigt fih übrigens in derfelben zum Eudämonismus (fd. A). 
3) Die Logif (Semistid. — Locke's Syſtem ift ein empirifher Verſtandes 
Realismus, Sein Verdienft um die Philofophie befteht hauptſächlich darin, daß 
durch ihn eine neue Epoche für die Piychologie begründet ward. Seine Philofo- 
phie fand große Verbreitung in England, Franfreih, und nach und nach auch in 
Teutſchland Eingang. Doch folgte feinem intelfectuellen Empirismug auf dem 
Gebiete der Logik nun alsbald auch der practifche auf dem Felde der Ethik (Sa- 
muel Clarke ſ.d. A.). Seine Lehre von dem Urfprunge alfer menfchlichen Erkenutniß 
aus unmittelbaren Sinnesempfindungen ward befonders in Frankreich ausgebildet, 
fo jedoch, daß der Empirismus in den craffeften Senfualismus und Materialismus 
überging, wodurch die Verwerfung alles Leberfinnlichen entftand, wie dieß aus dem 
Werke des unbefannten Berfaffers: „Systeme de la nature“ ‚ erfichtlich iſt (f.d. Art. 
Hol bach). Wird Locke's Empirismus confequent durchgeführt, fo ift eine Erkenntniß 
mit dem Charakter firenger Allgemeinheit und abfoluter Nothwendigkeit nicht möglich, 
Die innere Erfahrung hatte nach Rode feinen felbftftändigen Inhalt, fondern die— 
fer war nur das Product der Reflexion des Verftandes über die von äußern und 
Hon innern Zuftänden des Körpers: gewonnenen Vorftellungen. Hätte aber Locke 
erfannt, daß auch die innere Erfahrung ihren felbfiftändigen Inhalt Habe, da ja 
auch der Geift feine eigenen Lebenserfcheinungen befigt, fv würde er die Duelle 
und Leitung der fogenannten angebornem Ideen gefunden haben, — Was feine 
politiihen Grundfäge betrifft, fo. hat er dieſelben in feinen „Two Trealises on govern- 








BE N Ing 
a 


Tode, 569 


ment“, London 1691 (Vol IV. in d. Geſammtausg. von 1824) ausgeſprochen. Sie 
lauten kurz alfo: Die Staatsmacht kann feinen andern Grund haben, als den 


Gefammtwillen aller, die fi ihr unterwerfen. Der Zwed ver Errichtung der 
bürgerlichen Gefellfhaft ift die Erhaltung des Eigenthums und der Freiheit. 
Das Bolk Hat vermöge feiner fouveränen Gemalt wenigftens Antheil an der Ge- 
fesgebung. Doc die gefeßgebende Gewalt foll von der vollziehenden getrennt 
fein. Diefe Trennung conſtituirt das Weſen der beſchränkten Monarchie und der 
beſten Regierung überhaupt. Die abſolute Monarchie iſt mit dem Zwecke der 


bürgerlichen Geſellſchaft unvereinbar, weil hier wieder Alles der unumſchränkten 


Gewalt eines Einzigen übergeben iſt. Hiedurch iſt aber den Nachtheilen nicht 
abgeholfen, welche im natürlichen Zuſtande ſtattfinden, daß Jeglicher in eigener 
Sache Richter iſt. Uebrigens bilden feine politiſchen Anſichten ſonſt ven geraden 
Gegenſatz gegen die Theorie von Hobbes. — Doch Locke nahm nicht bloß Einfluß 
auf die weitere Entwicklung der Philoſophie, ſondern auch auf eine nachfolgende 
Richtung der chriſtlichen Theologie, die ſich zum Deismus gewandt hat. Beachtens⸗ 
werth find daher auch feine Leiftungen auf diefem Gebiete. Hieher gehören nun 
befonders folgende Schriften von ifpm: „A Discourse of Miracles“ (im VIIL Vol. 


der Geſammtausg. von 1324). In diefer Abhandlung zeigt er den Begriff, den Zweck, 


die Nothwendigkeit und die Criterien der wahren Wunder auf. Er ſagt, daß wir 
nur alsdann eine Offenbarung als eine göttliche anzuerkennen vermögen, wenn 
der Bote, der ſie überbringt, von Gott geſendet iſt. Dieß aber kann nur aus 
gewiſſen Creditiven erkannt werden, welche ihm als von Gott ſelbſt gegeben ſich 


erweiſen. Dieſe Creditive find die Wunder, Sollen fie den Zweck der Legitima— 


tion erfüllen, fo müffen fie zum Zeugniß der göttlichen Sendung gewirft worden _ 
fein. Ein Wunder ift eine finnlih wahrnehmbare Wirkung, welche über das 
Saffungssvermögen des Zufhaners, und feiner Meinung nah dem beftehenven 
Laufe der Natur entgegen ift, von ihm jedoch als von Gott herſtammend genom— 
men wird. Bon folhen, welche im Namen des Einen, allein wahren Gottes ge— 
fommen find, behauptend, daß fie ein Gefes von ihm überbringen, hat man in 
der Geſchichte eine klare Nahrit nur von Dreien, nämlih von Mofes, Jeſus 
und Mohammed. Mohammed hat jedoch Feine Wunder gewirkt, und fih auf 
nicht darauf zum Zeugniß feiner höhern Sendung berufen. Es find daher die 


- einzigen Dffenbarungen, welche durch Wunder befräftigt find, die von Mofes und 


Chriſtus. Demjenigen aber, welcher mit einer Botjchaft von Gott fommt, daß 
fie der Welt übergeben werden foll, Fann nicht füglih der Glaube verweigert 


werden, wenn er feine Sendung durch Wunder befräftigt, weil dann diefe Ere= 


ditive ein Recht dazu haben. Ein genügender Grund ift aber dann vorhanden, 
eine außerordentliche Wirkung für ein Wunder zu Halten, wenn fie die evidenten 
Merkmale einer größeren Macht trägt, als die Wirkung, welde auf Seiten der 
Oppoſition erfcheint. Denn von der Güte und Würde Gottes läßt es fih mit 
vorausfeßen, daß er feinen Gefandten und feine Wahrheit durch Erfcheinung einer 
größern Macht auf Seite eines Betrügers und zu Gunften der füge werde unter- 


drücken laffen. So zeigte fih 3. B. die größere Macht auf Seite des Mofes zur 
Beglaubigung feiner göttlihen Sendung, als feine Schlange jene der ägyptifchen 


Zauberer fraß. In gleicher Weife tragen auch die Wunder, gewirkt zur Befräf- 
tigung der durch Chriſtus überbrachten Lehre, die Merkmale einer außerordent- 
lichen, einer höhern, d. 5. der göttlichen Macht. Es bleibt daher die Wahrheit 


feiner göttlichen Sendung unzweifelhaft ſtehen. Wie weit die Macht der natür- 
lichen Agentien, oder der gefhaffenen Wefen reiche, weiß man zwar nicht, aber 


daß diefe nimmer der Allmacht Gottes gleichfomme, ift jedem Verſtande far, 


Die höhere Macht ift daher ein eben fo leichter als fiherer Führer zur göttlichen 


Dffenbarung. Uebrigens darf a) feine Miſſion als eine göttliche angefehen wer- 
den, bie der Ehre Gottes Eintrag thut, oder deren Botjchaft der natürlichen 


570 Tode, 


Religion und den Gefeten der Vernunftmoral widerfpricht. b) Auch wirb eine 
wahre göttlihe Offenbarung feine indifferenten Dinge, oder foldhe, deren Er- 
fenntniß durch den Gebrauch der natürlichen Vermögen leicht erreichbar wäre, ent- 
halten. Denn zu diefem Unterricht wird Gott Niemand in die Welt ſenden. Dieß 
würde nur die Würde feiner Majeftät zu Gunften unferer Trägheit verringern, 
c) Deßhalb muß eine wahre göttliche Sendung die Mitteilung übernatürlicher 
Wahrheiten zum Zwede haben, Sie muß entweder die Verherrlichung Gottes 
oder eine große Angelegenheit ver Menſchen betreffen. Nur übernatürkiche Wir- 
fungen, bezeugend eine folhe Offenbarung, mögen mit Necht als Wunder an- 
genommen werben. Hieraus erhellt, daß Lore zwei Kennzeichen eines wahren 
Wunders aufftellt: 1) die Superiorität der Macht und 2) die Wichtigkeit, Ver— 
nunftmäßigfeit und Heiligkeit der Lehre, zu deren Beftätigung daſſelbe gewirkt 
wird, — Eine fpecielfle Anwendung feiner im „Verſuch über den menfhlichen 
Berftand” aufgeftellten Grundfäge auf die hriftfiche Religion machte Lore in fei- 
ner Schrift: The Reasonableness of Christianity, as delivered in the scriptures 
(„die Bernunftmäßigfeit des Chriftentbums, wie es in der Schrift überliefert ıft“, 
vom Jahr 1695, im VI. Vol. ver Gefammtausg. v. 1824, überfegt in's Teutfche von 
Dr. 3, Ch, Meinigen, Braunfchweig 1733, in’s Franzöfifhe von einem un- 
befannten Berfaffer, Amfterdam 1731, 2 Bände). In der Vorrede diefer Schrift 
erklärt Locke, daß er, als er fich durch die Syſteme der Theologen unbefrienigt 
fand, indem er aus denfelben erfehen, daß fie oftmals nur Spisfinbigfeiten zu 
nothwendigen und wefentlichen Theilen der Religion erhoben haben, fich zur Le— 
fung der hl, Schrift wandte, um aus ihr ausfchließlih das Chriftentfum Fennen 
zu lernen, Als Nefultat feiner Forſchung aber ergab fih ihm, daß der einzige 
wefentlihe Glaubensartikel des Chriftenthbums der ſei: „Jeſus ift der Meffias,” 
Und an den Sohn Gottes glauben, Heißt nichts anderes, als an den Meffias 
glauben (IV. Cap.). Alle andern Wahrheiten der Schrift können Einem, unbe— 


Schadet des Seelenheiles, unbefannt bleiben, Jene Glaubenswahrheit aber iſt 
die wichtigfie und nothwendigfte zu wiffen, um ein Chrift werden zu fonnen. Dieß - 


wird befonders erfannt, wenn wir beachten, was uns Chriftus wieder geſchenkt 
hat (I. Cap.). Der erſte Menſch Adam verlor dur die Sünde den Zuftand der 


Glückſeligkeit und der Unfterblichfeit. In Folge diefes Falles wurden auch feine 


Nachkommen fterblih, Es geſchah aber hiedurch Keinem Unrecht, weil Niemand 
einen Nechtsanfpruch auf den Zuftand der Unfterblichkeit hatte, Deßhalb iſt der 
Tod nach dem Falle Adams auch feine Strafe um fremder That willen, Chriftus 
erwarb uns das Leben wieder und wird uns vom Teiblihen Tode am Tage 
der allgemeinen Auferftehung befreien. Urfprünglih war dem Menfchen das 
Gefeg der Vernunft oder der Natur gegeben, welches er jedoch nicht erfüllt Hat. 


Die Erfenntniß deffelben war in verfihiedenen Gegenden verfhieden, Die Ver— # 
nunft allein vermochte die Mängel und Irrthümer der fittlichen Negeln nicht zu. 


heilen, Es fonnten weder die bürgerlichen Gefege, noch die Vorſchriften der 
Philoſophen ihre Auctorität ganz geltend machen. Denn nirgends warb bie Ber- 
pflichtung hiezu allgemein anerfannt, noch galten fie als Norm des höchſten Ge- 


ſetzes, des Naturgeſetzes. Dieß zu erfennen war auch nicht möglich, Die Men- # 
fchen hatten noch nicht die Elare Erfenntniß des höchſten Gefeßgebers, des Ur 
hebers vom natürlichen GSittengefege, Der Religion der Heiden fehlte eg am 


fittlicher Wahrheit, fowie an der Beziehung der fittlichen Erfenntnif auf Gott als 
Gefesgeber, Die Philoſophen redeten in der Ethif wenig von Gott, Das Ceres 
monialgefeß des Mofes war nur von temporärer Bedeutung und Verpflichtung. 
Das mofaifhe Moralgeſetz allein ift bleibend, weil es der ewigen Negel des 
Rechten entfpricht, und gilt daher auch unter dem Evangelium. Doch Keiner hat 
das Geſetz der Werfe ganz erfüllt. Niemand Fann aber gerecht fein ohne voll— 
fommene Erfüllung diefes Geſetzes. Jeder bedarf deßhalb einen Erfag (Ergan- 














Locke. 571 


9) zum vollen Gehorfam, Diefer ift nur erreichbar durch den Glauben an 
Jeſum als Meffias. Denn diefer Glaube wird den Chriften als Gerechtigkeit, 
d. 1. als vollfommene Erfüllung des Gefeges, angerechnet. Daß die Wahrheit: 
Chriſtus ift der Meffias, der wefentliche Inhalt des reihifertigenden und felig- 
machenden Glaubens fei, fucht Locke ausführlich zu beweifen. Er bemerkt, daß 
diefe Wahrheit bereits durch Johannes den Täufer, durch Chriſtus felbft und die 
Apoftel ift verfündet worden, Chriſtus fagte ed Anfangs nicht frei heraus, daß 
er der Meffias fei, um fich hiedurch nicht einer Hemmung in feinem Predigtamte 
durch feine Feinde auszufegen (VI. Cap.). Wer aber an feine Auferftehung 
glaubt, kann es nicht in Abrede flellen, daß er der Meffias fei. Doc der Glaube 
alfein genügt noch nicht zur Rechtfertigung. Es iſt biebei auch nöthig, das Ge- 
ſetz zu erfüllen. ChHriftus fchreibt den Gläubigen auch Gefege vor. Diefe find 
ebenfalls verbindlich. Denn er wird am jüngften Tage darnad fein Gericht Hal- 
ten (XH. Cay.).: Do wird Niemand verdammt werden, weil er nicht geglaubt, 
fondern bloß, weil er böfe gelebt hat. Die Menfhen, welde nichts vom Meffias 
gehört, werden mit Gott durch die Buße und durch die Bitte um Verzeihung ver- 
fühnt. Bon ihnen fann der Glaube nicht gefordert werden, wohl aber von denen, 
welchen die Verheißung des Meffias im alten Bunde befannt geworden. Wurden 
dieſe aber durch das Vertrauen und die bloße Hoffnung auf die Erfüllung dieſer 
- Berheifungen von Seite Gottes felig, fo fann Gott allerdings au ſolche Men- 
ſchen gerecht machen, welche nicht gerade jeden Glaubensartifel für wahr halten, 
den irgend einige aus einem fymbolifhen Glaubensbuche vortragen (XIII. Cap.). 

faube und Buße find die nothwendigen Bedingungen des neuen Bundes zı 

figfeit Calfo predigte auch Vaulus, Act. 17, 30.). Das Gefes des Meffiade 
reiches befteht tHeils in dem durch Chriftus beftätigten, und von den verborbenen 
Traditionen gereinigten natürlichen Sittengefege, theils aber in neuen Geboten, 
welche Chriſtus felbft gegeben, nebft dem Beweggrunde unausfprehlicher Be- 
Iohnungen und Strafen in der Ewigfeit. Die Welt verdanft Chrifto dem Erlöſer 
die reine Erkenntniß des Einen unfichtbaren, wahren Gottes, welche die heid— 
nifchen Priefter früher ob ihrem Nugen gehindert; die Flare und vollftändige Er— 
fenntniß der Pflihtz die Verbefferung des veräußerlihten Eultus zur Anbetung 
im Geifte und in der Wahrheit; die Fräftigeren Beweggründe zur Tugend durch 
die VBerbürgung einer vergeltenden Unfterblichkeit, durch feine eigene Auferſtehung 
und Himmelfahrt, fowie endlich die Verheißung der Hilfe des Geiftes Gottes zur 
Hebung der Tugend und Religion. Hieraus ergibt fih zur Genüge, wie noth— 
wendig es war, daß Chriftus in diefe Welt gefendet worden (XIV. Cap.). Denn 
foll die Sittlichkeit allgemeine Geltung gewinnen, fo ift es ohne Zweifel der 
fürzefte und ficherfie Weg für die Vorftellungen der Menge, daß Einer, der von 
Gott gefendet und mit Wunderfraft von ihm ausgerüftet ift, als Gefeggeber und 
Herr (König) auftritt, und ihnen ihre Pflichten fundgibt. Denn der gemeine 
Mann ift nicht fähig, eine ganze Neihe von verwicelten Beweisgründen der Ver— 
nunft zu überfehen und zu prüfen, Irrig ift es aber, zu glauben, daß die Ver- 
nunft uns die erfte gewiffe Erfenntnig von den fittlihen Wahrheiten, welche die 
Dffenbarung lehrt, ertheilt Hat, deßhalb, weil fie diefelben beftätigt. Der erfte 
Borzug der übernatürlihen Offenbarung befteht darin, daß fie Wahrheiten mit- 
theilt, deren Erfenntnig die Vernunft nur mit Mühe, oder auch vielleiht gar 
nicht entderft Hätte, Dazu fommt ihr zweiter Borzug, daß fie ihren Inhalt in 
populärer Form gibt. Fundamentalartifel find nur jene, welche der Erlöfer und 
feine Apoftel von denen gefordert Haben, welche fie zum chriſtlichen Glauben be— 
kehrten (XV. Cap). (In den Briefen der Apoftel noch andere neue Zundamental- 
artikel zu ſuchen, hat man Feineswegs Urfache,) In Bezug auf die übrigen gött- 
lichen Wahrheiten wird nur gefordert, daß man bereit fer, alle Wahrheiten, welche 
von Öott fommen, anzunehmen, Die Religion darf den Verſtand der gemeinen 


> 


572 | Locke. 


Leute nicht überſteigen. Der Satz aber: „Chriſtus iſt der Meſſias und der Rich— 
ter der Welt“ — ift für alfe Menfchen Leicht faßlich, daher auch annehmbar und 
practiſch. — Locke ſchrieb dieſe Abhandlung, wie e8 fheint, zum Zwecke der Union. 
Denn fo fpricht es auch der von uns bereits erwähnte Ueberſetzer dieſes feines 
Werkes in's Franzöfifche aus, indem er in einer hinzugefügten Differtation be- 
merkt, daß felbes das einzige und wahre Mittel enthalte, alle Chriften, ungeach- 
tet der Differenz ihrer Glaubensgefinnungen, zu vereinen. Lode gab durch, feine 
Behauptung in diefem Werke: daß ſich der übrige Glaubensinhalt außer dem be- 
fagten Fundamentalartifel nicht mit voller Sicherheit ermitteln laſſe, offenbar 
Beranlaffung zum Indifferentismus gegen die Glaubensfymbole, fowie auch zum 
Skeptieismus. Denn nach feiner Anficht hat jeder Chriſt die Schrift auszulegen 
nach feiner individuellen Erkenntniß, und ıft nur an dieſes rein hiedurch gewon- 
nene Refultat gebunden, daher Keiner das Recht hat, den Andern, der fie anders 
erklärt, für einen Jrrgläubigen oder Häretifer zu halten, Viele von den ver- 
ſchiedenen Secten waren deßhalb mit Locke's Theorie nicht einverftanden, und es 
wurde ihm auch der Einwurf gemacht, daß e8 auch andere Fundamentalglaubeng- 
artifel noch gebe, deren Annahme eben fo notbwendig ift, um. ein Chrift zu wer- 
den, außer jenen zwei, „daß es Einen Gott gibt”, und daß „Chriftus der Mef- 
fias it“, — Doch gleichwie Locke's Tendenz in dem Werfe über „die Vernunft— 
mäßigfeit des Chriſtenthums“ dahin ging, die-Chriften von verfchiedenen Glau— 
bensbefenntniffen zu vereinen, ebenfo ſuchte er diefe Idee auch auszuführen in 
einem Plan einer Conftitution im Werfe: Fundamental Constitution of Carolina 
(im IX. Vol. 9. d. Gefammtaugg. v. 1824), die er in Folge eines Auftrags von den 
acht Lords (unter denen auch Lord Ashley, fein Gönner, war), welden Carl I. 
die nordamericanifche Provinz Carolina gefchenft hatte, verfaßte. Sie warb von 
den Lords im J. 1669 beftätigt. In diefer fanden ſich folgende Beftimmungen 


in Betreff der Religion: Nur wer das Dafein Gottes glaubt und anerfennt, daß 
er Öffentlich verehrt werben foll, Fann freier Bürger in Carolina fein und Land» 


gut und Wohnung dafelbft Haben, Zur Eonftituirung einer Kirche oder Confeffion 
wird Die Uebereinftimmung von fieben oder mehr Perfonen in einer Religion ver- 


langt. Jede Kirche oder Confeffion muß, wenn fie als folde angefehen werben 


will, folgende Kundamentalartifel anerfennen: 1) daß ein Gott ift, 2) daß Gott 
öffentlich und feierlich verehrt werben fol, und 3) daß jeder Menfch verpflichtet 
ift, der Wahrheit Zeugniß zu geben (Eid), fobald er hiezu von der Regierung 


“ aufgefordert wird, — Wer nicht Mitglied irgend einer Kirche iſt, kann Feinen ° 
Anfpruh auf Genuß von bürgerlichen Rechten mahen. Niemand darf den An- 
dern wegen feiner Glaubensmeinung oder wegen feiner Art der Gottesverehrung ° 


verfolgen, und die religiöfe Verfammlung ‚einer andern Eonfeffion ſtören. — 


Diefes Princip von Locke: die völlige Neligionslofigfeit des. Staates, oder die 
Öleichgültigfeit der Negierung gegen alfe Unterfchiede der Glaubensparteien, 


fand feine Verwirklichung in den norbamericanifchen Freiftaaten, Dieſelben 
Grundgefege fprach Lore auch 20 Jahre fpäter in feinen vier Briefen über bie 


Toleranz aus Cim V. Vol. der Gefammtausg. v. 1824). Der erfte ift in Holland 7 
1685 geſchrieben; der zweite (1690) ift gerichtet gegen die Gegenfhrift des Dx- 7 
forder Theologen, Jonas Proaft; der dritte erfchien auf eine Replik 16925 end 7 
lich der vierte Tautete gegen denfelben Gegner, als er 12 Jahre fpäter wieder 7 
auftrat, Locke empfiehlt in diefen Briefen Duldung gegen jede religiöfe Mei- 
nung und Gemeinſchaft. Er bemerkt, daß eine unbefchränfte und gleichmäßige 
Duldung Bedürfniß, Recht und Pflicht ſei. Deßhalb follen allen religiöfen Be- 7 
fenntniffen Verſammlung, öffentlicher Gottesdienſt, Feſte mit gleicher Freiheit 7 


geftattet werden; alfo den Presbyterianern, Jubependenten, Quäckern und auch 
den Andern; feldft die Heiden, die Mohammenaner und Juden follen ihrer Re— 


ligion wegen nicht ven Genuß von den Nechten der Staatsbürger verlieren, Dieg 7 


— 

















Locke. 573 


ſucht Locke zu erweiſen 1) aus dem Begriffe der Kirche. a) Denn das Haupt- 
unterfcheidungszeichen der wahren Kirche ift Duldung. Niemand kann Chriſt fein 
ohne Bruderliebe, CHriftus hat feine Krieger nur mit dem Evangelium des Frie= 
dens aber nicht mit dem Schwert ausgerüftet. b) Dann ift die Kirche ein frei= 
wilfiger Verein, zum Zwecke der öffentlichen Verehrung Gottes, welde man als 
Gott wohlgefällig und feligmachend erkennt. Deßhalb darf fie nicht durch Gewalt 
Semand zu ihrem Belfenntniffe zwingen, Sie will bloß mittelft der freien Gottes— 
verehrung das ewige Leben erwerben, Daher darf die Ercommunication Feine 
bürgerlichen Nachtheile nach fich ziehen. Uebrigens hat jede Kirche als freie Ge— 
ſellſchaft nur Gewalt über foldhe, die ſich als ifre Glieder befennen. 2) Leitet 
Rode die Pflicht ver Duldung auch aus dem Begriffe des Staates ab, Deun der 
Staat hat bIof die bürgerlichen Intereffen zu wahren, Zur Sorge für die Seelen 
hat die weltliche Obrigkeit eine Vollmacht weder von Gott, noch von dem Volfe, 
Religion ift Sache der freien innern Ueberzeugung. Daher ift es Pflicht des 
Staates, die verfehiedenen religiöfen Gefellfchaften zu dulden. «) Deßhalb darf 
der Staat feine religidfen Ceremonien einführen und befehlen, weil ſolche Hand«- 
Jungen nur in fofern religiös find, als fie von Gott angeordnet worden, Selbſt 
den Götzendienſt darf der Staat nicht beftrafen, obgleich er Sünde if. 9) Auch 
kann der Staat fpeeulative Meinungen und Glaubensartifel weder befehlen noch 
verbieten, Denn etwas zu glauben oder nicht zu glauben, hängt nicht von unferer 
reinen Willfür ab. Ebenfo fann der Staat das Bekenntniß von fpeculativen Mei- 
nungen nicht verbieten, indem fie zu den bürgerlichen Rechten der Unterthanen in 
gar Feiner Beziehung ftehen, Denn wenn ein Ratholif das für den wirffichen, 
wahrhaftigen Leib Chrifti Hält, was die Leute von anderer Eonfeffion nur ein⸗ 
faches Brod nennen, fo thut er hiedurch feinem Nachbar Fein Unrecht. )) Do 
anders verhält es fich mit den practifchen Meinungen, Die fittlichen Handlungen 
gehören zur Gerichtsbarkeit fowohl des äußeren (der Obrigkeit) als des Innern 
Gerichtshofes (Gewiffens), Ueber practifhe Meinungen hat die Geſetzgebung 
des Staates in fofern zu wachen, als fie die Pflicht Hat, für die äußere Sicher— 
heit und das äußere Wohl der Unterthanen zu forgen; deßhalb Hat die Obrigfeit 
das Recht, Feine Meinung zu dulden, welche den zur Erhaltung einer bürger- 
lichen Geſellſchaft nothwendigen Gefegen widerftreitet, Der Staat kann z. B. 
die Meinung nicht dulden, daß man den Häretifern fein Wort zu halten nicht ver- 
pflichtet werden fünne. — Locke zeigt auch außerdem noch die Wohlthätigkeit und 
Ungefährlichkeit der Toleranz. Er meint: Sobald die Duldung aller Kirchen feft- 
geftellt wäre, fo würden alle jene Beforgniffe aufhören, daß derlei neue religiöfe 
Verſammlungen nur Pflanzfchulen von Aufruhr bilden. — Auf diefe Art hätten 
wir denn auch die theologischen Anfichten Locke's Fennen gelernt, Ein Jeglicher 
wird Hieraus Teicht entnehmen, daß man ihm darin gewiß Unrecht gethan, wenn 
man ihn des Atheismus verdächtigt hat. Auch ift er keineswegs reiner, abflracter 
Deift, wie Manche e8 von ihm behaupten, obſchon ein Element der negativen 
Kritik der Freidenferei (f. d. A.) ſich in ihm findet, Nur mag er zum Deismus 
(f. 9. 4.) den Grund gelegt haben durch feine Behauptung, daß e8 zum Seelen- 
heile einzig nothwendig fer, an Einen Gott und an Ehriftum als Mefftas zu 
glauben, Doch nimmer fann man fagen, daß er alles Supranaturale im Chriften- 
thume verworfen, da er die Wunder, fowie die göttliche Sendung Ehrifti an- 
erfannte. Aber die Gottheit Chrifti fiheint er bezweifelt zu haben, da er fih 
nirgends hierüber direete ausfpricht, auch felbft wo er Veranlaffung hiezu hatte; 
deßhalb ſchreibt Leibnitz (ſ. d. A.) von ihm nicht ohne Grund: Inclinasse eum ad 
Socinianos (Anti-Trinitarios). Auch ung dünft es: er Habe vom Meffias bloß an- 
genommen, daß er einzig Menfch gewefen, der aber auf wunderbare Weife (durch 
göttliche Kraft gezeugt) in die Welt eingetreten ift. Denn er bemerkt: daß Chri- 
ſtus nur in fofern dem Vater gleich, d. 5. nach feinem Ebenbilde iſt („Sohn Got⸗ 


574 Loen. 


tes”), als er unſterblich wie der Vater iſt. Es Heißt in feinem Werke über „die 
. Bernunftmäßigfeit des Chriſtenthums“ (XI. Cap.) ausdrücklich: „Der größte Be- 
weisgrund, daß Jeſus der Sohn Gottes fer, wird von feiner Auferftefung her— 
genommen, Denn da erfihien ganz Far das Bild feines Vaters in ihm, weil er 
alsdann fihtbarlicher Weife in den Stand der Unfterblichfeit ift verfegt worden,“ 
— Die posihumous Works von Lore wurden herausgegeben zu London 1706, 
find von Le Clerc zum Theil in's Franzöfifche überfegt, und enthalten mehrere 
philofophifche Abhandlungen über die Leitung des Verſtandes über die Freiheit 
u. ſ. w. Seine fämmtlichen Werfe erfchienen zu London 1714 in 3 Foliobänden, 
jedoch ohne die Collection of several pieces; dann ebend, 1812, 10 Bände; zu⸗ 
legt 1824, 9 Bände, [Zulrigl.] 

Loen, Johann Michael, Unionift der verfchiedenen chriſtlichen Religions— 
parteien, geboren zu Frankfurt a. M. 1695, geftorben als preußifcher Geheim- 
rath und Kammer- und Negierungspräfident zu Lingen in Weftphalen, trat, nach—⸗ 
dem er fohon früher Mehreres gefchrieben, im Jahr 1724 als Schriftſteller über 
die Religion auf, indem er unter dem fingirten Namen Gottlob von Friedenheint 
„den evangelifchen Friedenstempel nach der Art der erften Kirche” herausgab, dem 
er im Jahr 1725 eine andere Schrift nachfendete: „Höchftbedenflihe Urfachen, 
warum Lutherifche und Neformirte in Fried und Einigfeit zufammenhalten und 
einerlet Gottesdienft pflegen follen.” Nach einer langen Paufe erfchien im Jahr 
1748 eine Abhandlung ähnlichen Inhalts von ihm über die „Vereinigung der 
Proteftanten”, worin er zeigte, wie leicht eine folche Vereinigung wäre, wenn bie 
Eontroyerfen abgefchafft würden. Diefe und andere theologifche, moraliſche, po— 
litiſche und ähnliche Auffäge find in eine zweifache Sammlung feiner Heinen 
Schriften vom Jahr 1749 und 1751 eingerücft worden, Aber Feine von feinen 
bisher erfchienenen Schriften erregte fo viel Auffehen, als die, welche er 1750 
berausgab: „Einzige wahre Religion, allgemeinin ihren Orundfägen, 
yerwirret durch die Zänfereien der Schriftgelehrten, zertheilet in 
allerhand Secten, vereiniget in Chriſto.“ In diefem merfwürbigen 
Buche, das den Anbrucd einer neuen Zeit für Teutfchland verkündete, errichtet 
Loen auf den Trümmern aller pofitiochriftlichen Bekenntniſſe die einzig wahre 
Religion Chrifti, bei welcher es nur auf das Gebot Chrifti von der Liebe Gottes 
und des Nächſten anfomme und deren Glaubensinhalt fih nur auf diejenigen 
Wahrheiten erftredfe, welche alle vernünftigen Menfchen, au die einfältigften 
und fhwarhfinnigften, anzunehmen vermögend find. Für diefe einzig wahre Re— 
ligion (ſ. d. Art, Freimaurer) zeuge auch die Gefchichte, da die Grundwahr- 
beiten der Neligion zu allen Zeiten diefelben geweſen feien, und die natürliche 
Religion felbft bei den heidnifchen Werfen mit der geoffenbarten übereinftimme, 
Dagegen habe man freilich vor ‚Zeiten die Religion in äußerliches Geſpräch und 
Ceremonienweſen verfegt, auch die Neformatoren hätten mehr ihre eigenen Meinun- 
gen als den Grund des Glaubens vertheidiget, weßhalb feit ihren Zeiten die geift- 
liche Zank⸗ und Disputirfucht aufgefommen fei, und auch jet fege man die Re— 
ligion mehr ing Gehirn und disputire darüber nach der Kunſt. Allein ungeachtet 
aller diefer Differenzen im Außerwefentlichen, fommen doch alle Ehriften im Grund 
des Glaubens überein, weil fie alle die HL, Schrift annehmen und fie nur ver- 
fchiedentlich auslegen, und daher fei denn auch eine Vereinigung aller verfchiedenen 
hriftlichen Secten bald geſchehen: fobald man ſich erflärt, daß man fih an 
Chriſtus und fein Wort Halten wolle, fei man einig. Bon den Geiftlihen fei 
aber diefe Vereinigung nicht zu hoffen, da diefe für ihre ſymboliſchen Bücher und 
befondern Lehrfäge kämpfen, fondern dieß fei das Werf einer werfen Regierung, 
welche diefe Aufgabe auch ohne Zuziehung der Geiftlichen löſen koönne, zumal die 
Theologie jegt eine allgemeine Wiffenfhaft geworden fei. Im Zufammenhang 
mit Diefen Orundfäsen macht dann Loen verfchiedene Vorſchläge für die Einrich- 








Löffler — Logos. 575 


tung des Kirchenwefens ‚der vereinigten Kirche, Reinigung der Bibel von den 
vielen Druck⸗ und Veberfegungsfehlern, Berbot aller Eontroverfen, furze Syn=- 
bola mit Auslaffung aller ftreitigen Punete, Beſchränkung der Ceremonien, doch 
fonne man vor der Hand die Kindertaufe noch beibehalten, dagegen fei das Abend- 
mahl, als vorzüglichfter Gegenftand ewiger Zänfereien, aus dem öffentlichen 
Gottesdienfte auf fo lange auszulaffen, bis man ſich hierüber vereiniget habe; 
Herflellung der Kirchenzucht nach dem Mufter der erften Kirche, wobei aber be- 
merft wird, man habe fie mit Recht der weltlichen Obrigfeit überlaffen, weil die 
Geiftlichfeit ihren Eifer nicht zu mäßigen wiffe und ohnehin Fein Recht zu ercom- 
municiren habe, wie auch die Kirchenzucht hauptfächlich die Geiftlichfeit felbft be— 
treffe. Unter Anderm tadelt es Loen an den Proteftanten fehr, daß fie die hohen 
geiftlihen Standeswürden aufgehoben hätten, -indem dadurch das Lehramt ganz 
verächtlich geworden ſei; man müffe fie wieder einführen, damit auch vornehme, 
beffer erzogene Perfonen dem geiftlihen Stande fih zuwendeten, ja man könne 
fowie zur Leitung der gemeinen Clerifei Bifchöfe und Prälaten, fo auch felbft einen 
Papſt oder oberften Biſchof fih gefallen laſſen und ihn den Statthalter Chriſti, 
den Nachfolger Petri und das firhtbare Haupt der Kirche nennen, nur müffe immer 
die geiftliche Macht der weltlichen unterworfen bleiben. Die neuen Bifchöfe und 
Prälaten follten aber nicht in den Cheftand treten dürfen; überhaupt habe man 
nicht wohlgethan, bei den Proteftanten alfen Geiftlihen ohne Unterfihied die Ehe 
zu erlauben, Ebenſowenig billigt e8 Loen, daß man die Klöfter insgefammt ftatt 
fie zu reformiren abgefhafft Habe; er fchlägt daher mancherlei Gattungen von 
Klöftern vor, folhe, worin fromme Leute allein der Religion Ieben fönnten, ſolche, 
worin vornehme bejabrte Perfonen von Verdienſt den Neft ihrer Tage zubringen 
fönnten, wieder andere zur Verpflegung der Armen und Kranfen oder zur Uebung 


| der Öaftfreiheit an Drten, wo feine Herbergen und Gafthöfe angelegt werden 





können, endlich auch Klöfter zur Unterwerfung der Jugend. So fehr der religiöfe 
Indifferentismng im proteftantifchen Teutfchland zu Loens Zeit ſchon um fich ge— 
griffen Hatte, fo konnte damals doch noch nicht Loens Unions-Project realifirt 
werben, aber deßhalb war es gar nicht umfonft ausgehedt, es erlebte in Einem 
Sabre drei Ausgaben, und hat der in unferm Jahrhundert durch „weife Obrig- 
keiten” unter Anwendung von Bajonetten bewerfftelligten Union als Mufter und 
Borarbeit wohl gedient. ©. Krafts theol. Bibl. B. V.5 Schröckhs Kgſch. f. 
d, Reform, VIII. Mosheims Kgſch. fortgef. v. Schlegel, VL [Schrodl.] 
Söffler, Friedrich Simon, proteſtantiſcher Theolog. Er iſt geboren den 
9. Auguſt 1669 zu Leipzig, wo fein Vater Licentiat der Theologie und Archidiacon 
an der St, TIhomasfirhe war. Seine Studien machte er in feiner Baterftadt, 
wurde dafelbft im Jahr 1689 Magifter der Philofophie und fpäter Baccalaureus 
der Theologie. Nachdem er noch im Jahr 1694 pro loco in der philoſophiſchen 
Faeultät eine Differtation: „de iis, qui inter gentes in vitam rediisse perhibentur“, 
gehalten, als deren Verfaſſer der Baron von Leibnig bezeichnet wurde, erhielt er 
1695 die in der Nähe von Leipzig gelegene Pfarrei zu Probfl-Heida, fpäter pa- 
prirte er in Holtz⸗ und Zudelhaufen, trat 1745 in den Ruheftand und flarb zur 
Leipzig den 26, Februar 1748, Er war ein Neffe und ab intestato einziger Erbe 
des berühmten Gottfr. Wil, von Leibnis (ſ. d. AI Bon feinen Schriften iſt 
anzufübren: Specimen exegeseos sacrae de operariis in vinea. Epistola ad G. 
Serpilium de versibus, qui in soluta N. Foederis oratione habentur. Dissertatio de 
litteris Bellerophonteis; und „doppelte Nachricht von der römifchen Kirchen Zubel- 
Sabre.“ Leipzig, 1725. Vgl. JZöcher, allgemeines Gelehrten-Lericon, 2, Thl. 
und 2, Supplementband zu dem biftorifchen Lericon von Iſelin. [Srig.] 
Logos. Der Hl. Evangelift Johannes nennt die zweite Perfon der Gott- 
beit, den Sohn Gottes, einige Male Logos, Wort Gottes, Verbum Dei, nämlich 
Offb. 19, 13; Joh. 1, 1 und 14 und unter Voransfegung der Aechtheit, 1 Joh. 


576 29998, 


5,7. Da diefer Johanniſche 20/05 vollfommen daſſelbe ift, ald vıös zov Ieov 
und LovoyerynSg, wie die zweite Perfon der Gottheit fonft überall in der HL, Schrift 
von Johannes ebenfo wie von den übrigen Apofteln und Evangeliften genannt 
wird: fo haben wir hier über das Dogmatifche und Theologiſche als ſolches, 
nämlich über die Einheit und Dreifaltigkeit Gottes, über das Verhältniß des 
Sohnes zum Vater und zum Geifte, ebenfo über die Menſchwerdung des Sohnes 
nicht zu handeln; von all diefem ift anderwärts die Nede (vgl, die Art, Chriftus, 
Sefus Chriſtus und befonders Trinität). Was ung demnach hier befchäftigt, 
ift nur die Frage: warum hat Johannes die zweite Perfon der Gottheit, welche 
fonft überall Sohn Gottes oder Eingeborner Gottes heißt, etliche Male Aöyos 
genannt ? Die nächfte Antwort auf diefe Frage lautet: er Hat e8 gethan, weil ex 
es thun Eonnte, Der Sohn Gottes namlich ift die Macht und Weisheit Gottes, 
dvvanig al ooplae voü Heod (1 Cor, 1, 24), in der Geftalt Gottes ſeiend, 
&v uoopN; IEoV vunaoywv; fo daß es nicht ein Raub ift, wenn er fi) Gott 
gleich fest (Phil. 2, 6), das Bild des unfichtbaren Gottes, zindv Tod Heod 
Tod aoparov (Col, 1, 15), in dem die ganze Fülle der Gottheit fubftantiell 
wohnt, &9 adzd zaroızel av TO nAyowue CAS HeornTog OWwuarırdg 


(Ent, 2, 9), ebendeßhalb der Abglanz der Herrlichkeit und das Abbild over der 


Ausdruck der Subſtanz Gottes, arradyaoua TTS Ö0EnS al Xapaxırg NS 
vrrO0Ta 0808 alzov (Hebr. 1, 3), fo daß wer ihn ſieht, den Vater fieht, 0 &w- 
DaxoS Eus Emgaxe Tov rarega (305, 14, 9). Kurz, der Sohn Gottes oder 


die zweite Perfon der Gottheit, welche in der Negel Sohn Gottes genannt wird, 


ift der offenbare Gott, Diefen Begriff aber fann man und konnte alfo au 
Johannes mit Aoyog bezeichnen. Aoyos ift zunächſt Wort, Rede, Aeußerung, 
verbum, oratio, sermo, dietum ete. dann aber ebenfo der Grund folder Neußerung, 
das urſächliche oder das noch nicht feiende, aber fein werdende Wort, Wenn 
man als diefen Grund die Vernunft, ratio, bezeichnet, fo iſt das richtig inwie— 
fern unter Vernunft die geiftige Energie überhaupt verflanden wird, unrichtig 
dagegen, wenn man nur den wiffenden Geift darunter verflünde, Wenn fi 
der Geift nicht frei beftimmte, d. 5. wollender Geift wäre, fo kaͤme er nicht zur 
Aeuferung und Offenbarung feiner ſelbſt. Die doppelte Beflimmung aber, die 
wir Wiffen und Wollen nennen, macht eben das Geiftfein oder die geiflige 
Energie ang; und diefe nun ift es, was als Grund des nach Außen erſchei— 
nenden Adyos, des Wortes, zu bezeichnen ift und in fofern felbft als Aoyog 
erfcheint. Demgemäß ift Aoyos zunächſt in beiden angegebenen Bedeutungen zu- 
fammen, dann aber auch in jeder derfelben für fich, (weil die eine in der andern 
enthalten ft), Offenbarung des Geiftes oder der offenbare Geiſt. Iſt nun Gott 
Geift, fo ift der offenbare Gott Aoyos und kann alfo auch Aöyog genannt werden. 
Der vffenbare Gott aber iſt, wie wir oben gefehen Haben, der Sohn Gnttes, 
Alfo konnte Zohannes diefen mit Aoyog bezeichnen, Wir aber thun recht daran, 
diefes Aöyos mit Wort zu überfegen. Ueberſetzen wir es mit Wille oder Ber- 
nunft, fo wäre dieß wenn auch nicht geradezu unrichtig, fo doch mißverſtaͤndlich. 
Wollten wir fagen: Kraft, Geiftegerweifung u, dgl., fo wäre damit foviel als 
Nichts gefagt. Das Wort dagegen ift das Nefultat der geiftigen Energie, gleich- 
ſam die Spige, in welche diefe ausläuft, und fo ift es in dem Worte, daß Gott 
als Geift am volfftändigften und beftimmteften offenbar if, Demgemäß brüden 


wir den Begriff, den Johannes mit Aoyog verbunden hat, unftreitig am vollflän- | 
digften und beften aus, wenn wir Aoyog mit Wort überfegen. — Iſt nun aber | 


die Benennung des Sohnes Gottes mit Aoyog ſchon genügend erflärt, went fie 


als möglich erfannt ft? Sehen wir die Sache näher an, fo erfennen wir ohne | 


Schwierigkeit den Grund, warum der Apoftel wirklich gethan, was er thun Fonnte, 
Es iſt derfelbe Grund, warum auch dev Apoftel Paulus nicht bei der gewöhn⸗ 
lichen Benennung „Sohn Gottes“ fliehen geblieben iſt, fondern diefen, wie 

















Logos. 577 


wir oben gefehen, Abglanz der Herrlichkeit, Ausdruck der Subftanz Gottes u. bel, 
genannt hat. Die Apoftel hatten, weil fie Augenzeugen der Offenbarung Gottes 
in Chrifto gewefen waren, das Evangelium zunächft und vorzugsweife hiſtoriſch 
Horzutragen, zu erzählen; und in wieweit fie diefes thaten, fonnten fie Chriftum 
nicht anders denn ald Sohn Gottes, als Eingeborenen ded Vaters bezeichnen, 
als göttliche Perfon beſchreiben. Unmöglich aber Fonnten fie im Verlaufe ihrer 
gt den Berfuch umgehen, Erklärungen zu geben, welche geeignet wären, den 
Brit Sohn Gottes an fih näher zu erklären und insbefondere der Frage zu 
genügen, wie die Einheit Gottes nicht aufgehoben werde, wenn von Vater und 
Sohn (und Geift) die Rede fei. Diefen wiffenfhaftlichen Anforderungen — denn 
fo muß man fie doch wohl nennen —, welde fhon an die Apoftel geftellt wor- 
den, find diefe mehr oder weniger nachgefommen, am entfchiedenften und voll- 
fländigften Paulus und Johannes; jener dur die mehrgenannten Benennungen, 
womit er das Wefen des Sohnes anfhaulih zu machen fucht, diefer durch die 
Bezeichnung deffelben als Logos. Man beachte: er bedient fi dieſer Bezeich- 
nung nur da, wo er nicht Hiftorifch referirt, fondern Erklärungen, Begriffsbeftim- 
mungen geben will, Im Evangelium erzählt er die Gefhihte des menſchgewor— 
denen Gottesfohnes, und da nennt er diefen fortwährend vios FeoV, LoVoyErng, 
Sm Prologe aber, d. i. in der Einleitung zum Evangelium will er angeben, was 
diefer Sohn Gottes, deffen Gefhichte eben erzählt werden will, an ſich fei, was 
man ſich unter demfelben beftimmt zu denfen habe. Und diefe Erklärung nun fallt 
dahin aus, daß man ihn zu denken habe als Logos, als die perfönlihe Dffenba- 
zung Gottes, als den offenbaren Gott. Ebenfo deutlich ift Dffb. 19, 13. Nad- 
dem Chriſtus befchrieben, in feinem Auftreten dargeftelt und zulegt gefagt iſt 
ner war befleidet mit einem blutbefprengten Kleide”, heißt es zum Schluſſe: 
fein Name aber ift Wort Gottes”, zai zalsizaı TO bvoua wvroö 0 A0yos 
Tov Yeod. Diefe Iegten Worte fließen fih als Begriffsbeftimmung an bie 
boransgegangene Beſchreibung. — Hiemit ift die Frage, die wir aufgeworfen 
en, zur Genüge beantwortet, und wir hätten nicht nöthig, uns in der Ge- 
chichte der Philofophie-umzufehen, um auch noch eine äußerliche Veranlaffung 
fraglicher Bezeichnung aufzufuhen, Weil indeffen eine ſolche immerhin als Ac- 
eivenz denkbar ift, befonders aber weil eine übel berichtete Wiſſenſchaft die Frage 
an dieſem Puncte angefaßt und ganz falfh beantwortet hat, fo müffen wir furz 
darauf eingehen. Dean Hat gefagt, der Zohanneifche Logos fei ein Philonifcher 
Begriff. Um diefe Behauptung annehmbarer zu machen, hat man folgende Com=- 
bination vollzogen: unter den alerandrinifchen Juden fei Tängft vor Chriſto der 
Begriff einer perfonificirten Vernunft Gottes, eines Aöyos Heov, einheimifch ge- 
weſen. In Alerandrien habe fodann zur Zeit Chriſti Philo jenem Begriffe Aus- 
bildung und beftimmte Geftalt gegeben. Therapeuten aber und. Effäer haben 
denfelben nah Paläflina getragen, Bei diefen aber fei Johannes in die Schule 
gegangen. Folglich erfcheine fein Logos als aus derfelben Duelle gefloffen, wie 
der Philoniſche Logos. Diefe Combination ift fo durch und dur abgeſchmackt, 
dag man faum im Stande ift, fie anzufaffen. Wenn Johannes die Dffenbarungen, 
die ihn fo Hoch erheben, von Eſſäern, Therapeuten oder einem ähnlichen Volt em=- 
p hat, wie kommt er dann dazu, ſie auf Jeſum zurückzuführen, wie iſt er 
dann im Stande, Alles, was ihn erhebt, erfreut, beglückt, einem landfremden 
Menſchen zu verdanfen? Solche Undankbarkeit, ſolche Verläugnung der Eltern, 
der geiftigen Väter, ift unerbört. Noch mehr: fie ift fo rein unmöglich, daß die 
Annahme derfelben ebenfo rein abfurd ift. Nur in einem Falle wäre der be- 
yauptete Zohanneifche Efäismus oder Therapeutismus nicht eine Abgeſchmackt- 
eit, dann nämlich, wenn Jeſus feldft ein Iharapeute oder Effäer gewefen wäre, 

Ä m weist man dieß nicht nah? Es Haben allerdings in neuerer Zeit Einige 
auch felbft dieß behauptet, aber nur einige leichtfertige Individuen, die fonft Nichts 

Kirchenlexikon. 6. Br, 37 


578 20908 


aufzubringen wußten, Jeder ernflere Mann wendet fih von diefem Abſurdum 
mit Indignation hinweg. Gefegt aber au, es nähme Einer, der effäifch-thera- 
peutifhen Hypotheſe zu Lieb, Zuflucht zu ihr, er hätte wenig genug, hätte Nichts 
gewonnen, denn er müßte es doch umbegreiflih finden, daß der therapeutifche 
Lehrer des Johannes fich ſelbſt nicht ein einziges Mal Logos nennt, daß ſich Jo— 
Hannes diefes Ausdrucks nur da bedient, wo er in eigenen Worten fpricht. — 
Weiterführung diefer Kritif wäre eine Beleidigung der urtheilsfähigen Menſchen. 
Es wird als unbeftritten erklärt werben dürfen, daß das Evangelium des 
Sohannes Nichts gemein habe mit Philo's Philoſophie, Feine Anklänge an den 
Philoniſchen Logos enthalte, Wenn aber das Evangelium, dann auch der Prolog, 
denn beide bilden ein ungertrennliches Ganzes, Das Evangelium gibt die Ge- 
fihichte des menfchgewordenen Gottesfohnes. Damit aber diefe Geſchichte be- 
griffen werbe, belehrt der Prolog über denfelben Gottesfohn an ſich — eine 
Theologie, welche dem Johannes eben durch den menfchgeworbenen Gottesfohn 
geoffenbart ift, deffen Gefhichte er zu geben im Begriffe fteht. Geſetzt aber es 
ließe fi, wenn auch nur zum Scheine, barthun entweder, der foeben behauptete 
Zufammenhang zwifhen Prolog und Evangelium beftehe nicht, oder, das Evan— 
gelium enthalte ebenfo wie der Prolog philoniſch-eſſäiſch-therapeutiſche Philoſophie, 
auch dann wäre man der Abfurbität noch lange nicht entronnen, welcher man mit 
jener Theorie verfallen iſt. Lehrt denn nicht der Apoftel Paulus über den Sohn 
Gottes vollkommen daſſelbe als Johannes? Stellt er nicht mit feinem erzauyaanıe, 
XaEaRTno, Eixwv 2. denfelben ganz ebenfo ald den vffenbaren Gott dar, wie 
Johannes mit feinem Aoyog? — Bringen wir die Sache zu Ende, indem wir 
ung zur Philoniſchen Philofophie felbft wenden, um eine kurze Vergleichung 
anzuftellen. (Mit den Effäern und Therapeuten können wir ung nicht weiter 
beſchäftigen, weil wir Nichts von ihnen wiffen. Dean kann fih nur an Wirkliches 
halten, nicht an Phantafiegebilde). Logos iſt der Eentralbegriff der Philoniſchen 
Philofophie; man kann fagen, dieſe fei weſentlich Logoslehre. Was ift aber 
diefer Philonifche Logos? Nichts Anderes, als die göttliche Vernunft, welde 
realifirt d. 5. in der Materie ausgeprägt die Welt iſt. Zwei Elemente, fagt 
Philo, find der Grund oder die Urfache der Welt (Urwelt over Welt an fih), 
nämlich ein Bildendes und ein Bildungsfähiges, doaozngıov und masnzızör. 
Senes ift Vernunft, reine, abfolute Vernunft, voüg Eilızgıveoraros zul argaı- 
gyveoraros, erhaben über alles gegenwärtig Wirkliche ; diefes ift Teblofe, unbe- 
wegte und umgeftaltete Materie, fähig jedoch, durch die Vernunft belebt, bewegt, 
gefaltet zu werden, Kıluyov zul axivnzov EE Eavrov (xal aruoıov zul au0g- 
por), zırnd&v dE nal OXnuatıadEv nal Wuywdev vd Tov vov. In ber Ver- 
bindung diefer beiden Elemente befteht die Weltbildung. Die Vernunft, auch 
Gott genannt, dringt belebend, bewegend und geftaltend in die Materie ein; 
fo wird diefe zur Welt, uerißaksv eis To Teheıörarov Eoyov, TOVdE Tov no0uov. 
Diefem Acte geht aber natürlicher Weife die Entwerfung eines Planes voraus, 
groövore, Aoyos, Aoyıowös. Das Erfte ift, daß die Vernunft (Gott) denke, ein 
Gedankenſyſtem fchaffe, das heißt eben jene Geftalt als Gedanfenfpftem ſchaffe, 
welche fofort der Materie eingedrüdt werden fol, Diefes Gedankenſyſtem 
ift alfo nichts Anderes, als die im Bewußtfein Gottes enthaltene, bloß ge— 
dachte oder ald Gedanke feiende Welt, xomuos »onzos. In wiefern nun 
die Bernunft den genannten Act vollzieht, erfeheint fie als Aoyos. Tod wer 
yag yeyovovos Eruueriioger (dieß ift namlich das Hauptmoment, fozufagen 


die Seele des Weltplans) Tov mareon xab moımenv aigei — instruit, docet | 
— Aöoyog. Aber auch der entworfene Weltplan felbft erfcheint als Logos, | 


denn er ift ja nichts Anderes, als ein. Gedankenſyſtem. Wil man fic, fagt 
Philo, genau ausprüden, fo muß man fagen, die Gedanfenwelt fei nichts 
Anderes als die Bernunft des bereits im Weltbilden begriffenen Gottes 














Logos. 579 


(ei ö2 rıg 29ehrjosız youvorzgois ygraaosaı Tois ovöuacıw, oοαν @v Ere- 
009 &imoı Tor vonzov elvaı x0ouov, 7 Feod koyov 761 Xo0uoroLoÜvros, 00dE 
Yag 7) vonen rrökıs (der Bauplan eines Werkmeifterd) Eregov zu Eoriv, 7) 6 
too doyırizuovog hoyıouös, 7dn zyv elodneny mokıv vn vonch zuilen 
dievoovusve. Etwas fpäter ebenfo deutlih: drjkor d2, OTı zal — 

Öv pauev elvaı x00U0v vonTov, aUTOS Gy En TO aoyETUrTOV raQd- 
deryue, lId&a zov dev, 6 Heov Aöyog. De mundi opif.). Es verhält ſich mit 
der weltbildenden Thätigfeit Gottes ganz genau wie mit der bildenden Wirkſam— 
feit des Menfchen, eines KRünftlers, Baumeifters ze, (a. a. D,); womit eine voll- 
fommen are Anſchauung des göttlichen Logos gegeben if. Vernunft und Ges 
danken des Menfchen auf Gott, die abjolute Vernunft, übergetragen d. 5, ver- 
Höttert, fo haben wir den göttlichen Logos des Philo. Alles Weitere ergibt fi 
aun von felbft. Der Logos, den wir foeben fennen gelernt haben, muß, um welt- 
bildende Kraft zu fein, beflimmter mehrere Momente in fich vereinigen. Weis- 
heit (drıorzun, vopıc), Güte, (dyatorng als divanıs momrızn Abfiht), 
Macht (dexn, efovaie, xgaros, ald duvauıs Baikırmn), Gnade (img), 
und zwar näher gebietende (mooozarrovoa a dei) und verbietende 
(eneyogevovse & um dei). Die find dann die fogenannten Kräfte, dunaucıs, 
koyor, auch Mittelfräfte genannt, weil eben der göttliche Weltgedanke und die 
Gedanfenwelt d. 5. der ganze Logos, 6400 Aoyos, in der Mitte zwifchen ver 
Bernunft als folder und der Materie als folder ſteht, uEoos zov &xowv 
(Quis rerum div. her. p. 502. M.). Die näheren Prädicate, welche dem fo beftimmten 
Logos gegeben werben, Organ, Säule und Band, Sigilf, Ordner der Dinge, Orf 
der göttlichen Gedanfen u. f. w., verftehen fich ohnehin von felbft und bedürfen 
feiner Erläuterung, fowie auch die Perfonification des Logos ſchon jegt dem Miß— 
verftändniß enthoben ift, als ob fie mehr als bloße Perfonification wäre. (vgl. 
u. a. de saerif. Ab. et Cain. p. 177. M.) Das Beitere iſt ebenfo einfach. Der 
in die Materie eingedrungene und in ihr ausgeprägte Gedankencomplex oder 
die durch die Vernunft geftaltete Materie ift die Welt, x00u0S, und diefe mithin 
gleichfalls nichts Anderes, als göttlicher Logos. Sieht man freilich auf die Materie, 
welche die Subftanz der Welt ift, fo wäre diefe das Andere Gottes, Gott geradezu 
entgegengefegt. Allein die Materie als ſolche ift ja Nichtfeiendes, ur) Ov, was 
mithin an der Welt ift, iſt nicht die Materie, fondern das andere Element, der 
Gedanke, die Form. Folglich if, wie gefagt, die wirkliche Welt, der x0auog 
6guros, wioInTös, ebenfo Aoyos deov, wie die Gedanfenwelt, Der einzige 
Unterfchied iſt, daß der zö0uoS vonzog früher, der zoouos elosınros fpäter iftz 
jener ift der Erfigebprene, diefer der Zweitgeborene; jener VioS rosoßuregog; 
diefer vios vewzegog Feoö (Quod Deus immut. p. 277 M. De migrat. Abrah. p. 
437 M.). Hiemit find wir an dem Puncte angelangt, wo der Fundige Lefer vor 
ſelbſt erkennt, die Philoniſche Philoſophie fei wefentlich nichts Anderes, als Wie- 
derholung Platonifcher Gedanken (vgl. Tim. p. 30 ff. 38 f. 47 f. 925 Philab. p. 
30; Epin. p. 986). Die Welt if realifirte Vernunft, d. h. als das die Materie 
geftaltende und belebende Prineip ift Vernunft begriffen. Das ift Alles. Jetzt 
exit verfiehen wir Ausprüde, wie folgende: „Gott erfüllt Alles und geht durch, 
Alles Hindurch, und Nichts ift, worin er nicht wäre” (nase yag rerringwrey 
0 E08, zei dıc navraw dusknavdev nal xevOv oÜdEy ovdE Eonuov Arrolk- 
horse Euvrod); „er ift das Prineip und das Begrenzende von Allem” (aoxn- 
xl sregas anavrov — ein Lieblingsbegriff des Plato); „er ift Einer, und er 
ſelbſt das Univerfum (eis zul To av euros @r. Leg. alleg. III. p. 88 M; de 
Plantat. p. 341 M; Leg. alleg. I. p. 52M.) Alle diefe und ähnliche Säge, wie fie 
fih zu Hunderten bei Philo finden (der fog. Pantheismus des Philo) wollen 
nichts Anderes fagen, als: Alles was ift, ift vernünftig; und das verſteht fich bei 
Philo ebenfo wie bei Plato von felbft, nachdem als weltfchöpferifches oder viel= 


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580 Logos. 


mehr weltbildendes Princip die Vernunft, vous, bie als A0yog wirfenbe Kraft, 
erfannt war, Das Eigenthümlihe der Philoniſchen Philofophie, das von 
Plato Abweichende in der Ausdrucksweiſe hat feinen Grund einfach darin, daß 
Philo Jude gewefen ift und fih an die Sprache des A. T. angefchloffen hat (vgl, 
über Philo Dähne, gefhichtl. Darftellung der jüd.-alex. Relig.-Philof, Halle 
1834, Semifh, Juſtin d. Mart, Breslau 1839 und befonders Stauden- 
maier, Philofophie des Chriftenth, I. Bd, Gießen 1840). — Nunmehr find wir 
in den Stand gefegt, die entfchievene Erklärung abzugeben: Johannes kann 
weder aus Philo, noch aus einer ihm und dem Philo gemeinfchaftlichen Duelle 
gefhöpft Haben; er und Philo haben Nichts gemein, als das Wort; die Begriffe 
find toto coelo verfchieden. Der Zohanneifhe Logos ift Perfon, Gptt, in ewigem 
Verhältniffe zum Vater flehend (rrgos 7ov Heov), der Philonifche dagegen ift 
Product der (fireng genommen unperfönlichen) Vernunft, Gedanke; der So: 
banneifche Schöpfer der Welt, der Philonifche die Welt felbft. Wir brauchen das 
Evangelium nicht ein Mal herbeizuziehen; fchon der Prolog ift entfcheidend. (Vgl. 
hierüber Staudenmaier a, a, D. u. A. Maier, Commentar über d, Ev, d. Joh. 
Bd. I. S, 115—119.) — Indeſſen fann man diefes erfennen und dennoch in 
Detreff des Sohanneifchen Logos im Irrthum fein. Nicht zufrieden mit der un— 
mittelbar vor Augen Tiegenden Wirftichfeit, wie wir fie oben erkannten, und dem 
Hang zum Dichten folgend, haben Einige, da fie dem foeben Vorgetragenen die 
Anerfenntniß nicht verfagen Fonnten, dem HI. Johannes die Thargumim der R. 
Onkelos und Jonathan Ben Ufiel als Duelle angewiefen, aus welder er feine 
Logoslehre fhöpfen follte. Jene beiden Rabbi haben, bald nach Chriſto, Para 
phrafen verfaßt, der Erfte zum Pentateuch, der Zweite zu den Propheten. Diefe 
Paraphrafen find die fog. Thargumim. Und diefe nun, wie gefagt, follen bie 
Duelle fein, aus der die Johanneiſche Logoslehre gefloffen. Jene Thargumim 
nämlich ſetzen faft überall, wo in den altteftamentlichen Schriften Gott, Geift 
Gottes ze. fteht, Wort Gottes, Memra (822) und perfonificiren Diefes, Jo— 
hannes aber, fo argumentirt man nun, machte fih während feines Aufenthaltes 
in Judäa mit diefen theologiſchen Vorftellungen, welche eine tiefere Erfenntnig 
der altteft. Schriften enthalten, befannt, und fo wurden und waren diefelben ein 
Bildungselement feines Logosbewußtſeins, fo daß die Logoslehre des Johannes 
weiter nichts ift, als eine höhere Entwicklung der thargumiftifchen Lehre von der 
Memra, Diefe Annahme ift grundfalfch und wenig beffer, als die philoniſch— 
effäifch-therapeutifhe Hypothefe. Wenn Johannes außer dem Chriflus, den er 
gefehen, gehört, berührt hat, noch einer Lehre oder Lehrmweife bedurfte, um zu 
dem Begriff und Worte Logos zu kommen, fo brauchte er doch feine Zuflucht 
nicht zu den Thargumiften zu nehmen; er fonnte fih an die altteſt. Schriften 
ſelbſt, namentlich die Deuterocanonifchen, anfchließen, woſelbſt Aeußerungen Gottes 
(Weisheit, Wort) im Ueberfluſſe perfonifieirt find. Einem Apoſtel nachchriſtliche 
Juden zu Lehrern geben, heißt das Wefen des Chriftenthums total verfennen, 
denn nach Chriftus gibt es Feinen Propheten, Feinen Lehrer mehr, fo wenig als 
einen Priefter, Wer immer nach Chriſtus die Wahrheit Iehrt, thut e8 als Drgan 
Chriſti. Davon aber abgefehen: wie konnte aus der thargumiſtiſchen Memra der 
Sohanneifche Logos entftehen? Ganz ebenfo wenig, als aus dem Philonifhen 
Logos. Man entwirle das unperfünliche Wort Gottes fo weit over hoch als 
man wolle, man perfonificire e8 aufs Vollftändigfte, e8 wird nie zum Sohne 
Gottes, nie zu Gott werden, was ber Sohanneifhe Logos if. Der Begriff, 
ven Johannes gibt, hat fih aus Feiner fremden Duelle fchöpfen, fondern nur aus 
der Wirklichkeit, dem menfchgeworbenen Logos, abftrahiren Yaffen, mit andern 
Worten: nur durch den Logos felbft geoffenbart werden köͤnnen. Das alte Te- 
ftament weist auf Chriftum Hinz was wir daher in ihm erblicken, was auch R. 
Onkelos und R. Jonathan in ihm erblickt haben, ift der Schatten des in Chriſto 











Logotheta. 581 


erſchienenen und von Johannes wie den übrigen Apoſteln geſehenen Körpers. — 
Daß indeſſen zwiſchen dem Philoniſchen und altteſtamentlich-thargumiſtiſchen Logos 
einerſeits und dem Johanneiſchen andererſeits gar feine Beziehung ftattfinde, 
wollen wir nicht behaupten. Es iſt allerdings denkbar, ſogar wahrſcheinlich, daß eine 
ſolche vorhanden ſei, aber nur eine negative. Die Apoſtel hatten Chriſtum als den 
Sohn Gottes, dem Vater weſensgleich, verkündigt, und zwar ſo, daß derſelbe als der 
offenbare Gott erſchien und daß an der Einheit Gottes feſtgehalten wurde. Da lag 
nun Beides ganz nahe: daß man einerſeits den Philoniſchen, anderſeits den altteſt. 
thargumiſtiſchen Logosbegriff auf den fo verfündigten Chriſtus anwende. Ju dem 
einen wie in dem andern Falle aber hatte man nicht mehr den wirklichen Chriſtus, 
nicht den wahren Gottesſohn. Die Apoftel mußten folglich gegen das Eine wie 
das Andere proteftiren, ALS ſolchen Proteft kann man den Prolog anfehen, wel- 
hen Johannes feinem Evangelium vorausſchickt. Der Apoftel würde damit er— 
Hören: der Sohn Gottes, deffen Gefhichte im Folgenden erzählt werden foll, 
kann allerdings Wort Gottes, Logos, genannt werden; aber unter diefem Logos 
iſt nicht das unperfönliche und bloß perfonificirte Wort des alten Teftaments, und 
eben fo wenig das Bernunftproduct oder die ‚Bernunftäußerung des Philo zu ver⸗ 
fliehen, vielmehr iſt derſelbe abſolut ſeiend (Ev aoxn 7v), in ewigem Verhältniffe 
zum Vater fiehend (oös zov 3er), kurz, flehthin Gott (Feög 7v 6 A0yog), 
der Schöpfer des Univerfums (navre di’ aurov Eyevero) u. !. w., und diefer 
Logos ift es, welcher Menſch zu (zei 0 A0y0S 0aoE Eyevero) und als 
Chriſtus unter uns gelebt Hat. Es ift Elar, der Apoftel Eonnte den angedenteten 
Srrlehren nicht wirffamer entgegentreten, als auf die angegebene Weife. Nehmen 
wir nun dazu, was wir gleich Anfangs erfannten, daß es wiſſenſchaftlich erlaubt 
gewefen, den Sohn Gottes Logos zu nennen, fo haben wir mit genügender 
Sicherheit erfannt, wie Johannes dazu gefommen, fi einige Male, namentlich 
im Eingang zu feinem Evangelium, des Ausdruckes Logos zu bedienen, Daß 
dann aber freilich gerade an diefen Ausdrud fpäter fi vielfahe Mißverſtändniſſe 
geknüpft haben, lehrt die Dogmengefhicte. Man denfe nur z. B. an den Aoyos: 
Evdi@IEToS und TTEOPOgLxOS des Theophilus, an das Mittelwefen der Arianer 
u. dgl. Hier kommt dieß nicht weiter in Betradt. [Mattes.] 
Logotheta — ift einer der zahlreihen Titel am byzantinifchen Hofe und 
heißt nach dem Wortlaute (AoyoIErns) Rehenfhaftsgeber, Amtsvorſteher. Es 
gab mehrere Logotheten: Aoy. rou yerızov, aerarii generalis — Vorſteher über 
das Steuerwefen; A. roü doouov, publici cursus — Borfteher über die Courier- 
oder Poftanftalt; A. zwv oizsıazcov, rerum domesticarum familiarium — Vor- 
fieher über die Faiferlihe Haushaltung, Haus- und Hofminifter; A. cov oroa- 
TıorıxoV, logotheta castrensis — Kriegsminifter oder (im eigentlichen Sinn ge= 
nommen) Feldzeugmeifter; 4. ov ayskov, rei pecuariae — Auffeher über die 
Domänen ꝛc. Der wichtigfte Logothet aber war der große, hoyoFErns uEyaS. 
Eodinus bezeichnet deffen Amt in folgenden Worten: „Der große Logothet be— 
forgt die kaiſerlichen Erlaſſe und goldenen Bullen an die Könige, Sultane und 
Statthalter“ (6 ueyas hoyoFErns dtararzeı vo rrag« Tov Baoıkkas AT0— 
srehköueva MOOGTEYuaTE zei zovooßovAhe rrgög Te oNnyaS (reges), vovVl— 
Tavovug za Torragyas). Er war demnach Sigelbewahrer oder Kanzler, wie er 
in der That foäter genannt wurde — zayxeilagıos. — Diefem Logotheta pala- 
tinus entfprach der Logotheta ecclesiasticus. Derjelbe war Vorſteher der biſchof⸗ 
lichen Kanzlei, des kirchlichen Gerichtes (eis TO Aoyoygagpeiv zal eis Tag dn— 
UODLERUS ze Kpxovrıras UnoFEosıs koyoyoapeiv — was Gretſer fo über- 
fest: praeest discutiendis et conscribendis rationibus, tam quas reddunt qui ex plebe 
quam qui ex ordine ecclesiastico principali), bewahrie das re des Patriarchen, 
und beforgte die biſchoflichen Erlaſſe Goxgerc nv BovAk av TOU EEXLEQEWS, 
el Eirtı av youpeı 6 dpyısgsös, opguyilera rag avrov), ſprach wohl au 


m. Lohner — Lollharden. 


ſelbſt zu dem Volke (vermuthlich durch Hirtenbriefe) als Stellvertreter des Pa- 
iriarchen (mov  Aöyovs zarmyntızovS 70008 zov Auov, Ölxuıog — vicege- 
rens — TOD mergLaoxov), war alfo mit einem Wort der Kanzler (Syndicus) 
und Generalvicar des Patriarchen, und flund zu dieſem in demfelben Verhältniffe, 
als der Groß-Logothet zum Kaifer. In der Kirche hatte er die Patene zu halten, 
wenn der Patriarch felbft das Abendmahl austheilte, Bol. Georgii Godini 
Curopalatae de officiis magnae Ecclesiae et aulae Gonstantinopolilanae. Cum ver- 
sione et comment. P. Jac. Gretseri S. J. Ed. Jac. Goar. Par. 1648. Ferner: 
Joh. Meursii Glossarium graeco-barbarum. Mattes.] 
Lohner, Tobias, Jeſuit, geboren 1619 zu Neuötting in Bayern, erhielt 
1637 die Aufnahme in den Orden, in weldhem er verfchiedenen Lehrftellen und 
dem Neetorate zu Luzern und Dillingen vorftund und um 1680 ftarb, Außer 
verfehiedenen ascetifhen Schriften in teutfcher und Iateinifher Sprache hat er auf 
dem Gebiete der practifchen Theologie mit großer Thätigfeit gearbeitet und Werfe 
geliefert, die noch immer fehr gefchägt und gebraucht werben, Dbenan flieht die 
Bibliotheca manualis concionatoria, in qua copiosa et selecta pro concionibus, ex- 
hortationibus aliisque spiritualibus instructionibus materia facili, ordinata et grala 
methodo proponitur. Diefes trefflihe Werk, das manche Prebigerlexiea der neuern 
Zeit weit übertrifft, ift in Teutfchland und Italien oft aufgelegt worden, zu 
Augsburg in drei Foliobänden 1712, 1717, 1771, und aus dem Lateinischen 
überfegt und neu geordnet zu Wien erfihienen unter dem Titel: Handbibliothek 
für Prediger, überfegt und neu geordnet von L. Leopold Lauſch, 3 Bände gr. 8, 
Wien 1838—1839,. Die andern nicht weniger geſchätzten Werke Lohners find: 
Instructio practica de ss. missae sacrificio; instructio practica de officio divino juxta 
ritum breviarii Romani recitando; compendium ritualis pro administratione sacra- 
mentorum; instructiones practicae varii argumenti, partes XI cum compendio ri- 
tuali, worin über folgende Materien gehandelt wird: 1) de sacrificio missae, 
2) de horis canonicis, 3) de conversatione apostolica, 4) de munere pastorali pie 
et fructuose obeundo, 5) de confessionibus rite excipiendis, 6) institutiones quin- 
tuplieis theologiae posilivae videlicet, ascelicae, polemicae, speculalivae et mo- 
ralis, 7) de munere concionandi et catechizandi, 8) theologiae mysticae institu- 
tiones, 9) de sacerdotii origine et praestantia, 10) de summa doctrinarum asceti- 
carum, 11) de armamentario seu panoblia spirituali, cum compendio ritualis pro 
administratione sacramentorum. Auch diefe Werke Lohners find Hfter im Drucke 
aufgelegt worden, [Schrödl.] 
Lollharden. Im Beginne des 14ten Jahrhunderts bildeten ſich zuerſt zu 
Antwerpen und dann in andern Theilen Niederlands beghardiſche Vereine fuͤr 
Krankenpflege und Todtenbeſtattung, deren Mitglieder den Namen Alerianer 
(ſ. d. A.) und Celliten trugen und vom Volke häufig Lollarden, Lollharden i. e. 
Luller, Loller, Nollbrüder, Sänger, von ihrem Todtengeſang bei den Begräb— 
niſſen her, genannt wurden. Ob gerade dieſen Vereinen, die ſich auch nach 
Teutſchland verpflanzten, der Name Lollharden zuerſt gegeben worden ſei, und 
ob fie denſelben Anfangs ausſchließlich getragen, läßt ſich nicht ermitteln; gewiß 
ift, daß diefer Name felbft fehon im erften Decennium des 14ten Jahrhunderts: 
vorzüglich zur Bezeichnung herumziehender fectirerifcher Heuchler und Andächtler 
gebraucht und bald ganz allgemein als identiſch mit verſteckten, ſcheinheiligen und 
betrügerifhen Schwärmern, Sectirern und Kegern genommen wurde, Insbeſon⸗ 
dere fommen die Lollharden bald als iventifch, bald in Verbindung mit den Beg- 
harden, Beghinen (f. d. A.), Fraticellen (ſ. d. A) und verwandten Seeten vor, 
und von diefer Art Lollharden mögen diejenigen gewefen fein, von denen ber Ca- 
nonicus Hocſemius von Lüttich in feinen Annalen zum Jahr 1309 fhreibt: 
‚eodem anno quidam hypocritae gyroragi, qui Lollardi sive Deum lau- 
dantes vocabantur, per Hannoniam et Brabantiam quasdam mulieres nobiles. de-. 





| Lombarden — Lombardus. 583 


| eeperunt.“ Ferner wird der Name Lollharden öfter von den gnoſtiſch-manichäiſchen 
| Regern und Abfümmlingen der Albigenfer, wie auch von verdeckten Waldenfern 
gebraucht; fo gab man dem Erzfeger Walther, welder 1322 zu Cöln verbrannt 
wurde, und den ihm gleichgefinnten manichäiſchen Regern ſchlechteſter Art, die im 
| Anfang des 14ten Jahrhunderts in Deftreih zum Vorſchein kamen, wohin fie aus 
den Niederlanden her fich eingefchlichen hatten, ven Namen Lollharden (f, Rayn. Annal. 
a. 1318, nr. 44, und Klein, Geſch. d. Chriftenth, in Oeſtr. u. Steierm, Bd. I. 
©. 395). Es ift daher wohl ein Irrthum, wenn man früher häufig den genannten 
Walther zu Cöln als den Stifter der Lollharden angefehen oder auch gemeint hat, 
der Name Lollharden fehreibe fich erft von ven Wiclefiten ber, weil diefe in England 
allgemein fchimpf- und fpottweife mit dem Namen „Lollharden“ bezeichnet wurden. 
Demnad find es vor Allen die Wiclefiten, welden der Name Lollharden beigelegt 
worben ift, worüber Mehreres im Art, Wielef, Wiclefiten, Val. auch vie Art, 
Ehriftenverfolgungen ©, 505 und Großbritannien S,782, [Schröpl.] 

Lombarden, f. Longobarden, 

Lombardifch-Benetianifches Königreich, f. Stalien. 

Lombardus, Petrus, und die wihtigften feiner Commentatoren, 
Petrus Lom bardus war im Gebiete der Iombardifhen Stadt Novara, woher 
er feinen Beinamen führt, aus einer armen und unbefannten Familie geboren, 
Ein Wohlthäter gab ihm die Mittel, in Bologna feine Studien zu beginnen; 
von da begab er ſich nach Frankreich mit Empfehlungsfchreiben an den heiligen 
Bernardus, welcher ihn in die Schule von Rheims ſchickte. Der Ruf der Pro- 
fefforen von Paris zog ihn in diefe Stadt, welche ihn fo fehr feffelte, daß er die- 
felbe gegen feine anfängliche Abficht nie mehr verlieh, Seine Gelehrfanfeit ver- 
ſchaffte ihm bafd eine thevlogifche Lehrfanzel, welche er mehrere Jahre lang mit 
der größten Auszeichnung inne hatte, Im Jahre 1159 wurde er auf den Bor- 
flag des Bruders des Königs Philipp, welcher Archidiacon an der Cathedrale 
von Paris war, zum Biſchofe der genannten Stadt gewählt; er ſtarb jedoch ſchon 
im Jahre 1164. Ueber feine Wirffamfeit als Biſchof ift nichts befannt; doch 
reicht der einzige Zug, welden ein ferrarefifcher Chronift über ihn aufgezeichnet 
bat, Hin, einiges Licht über feinen Charakter zu verbreiten. Einige Edelleute 
aus feiner Vaterftadt reisten nach Paris, um ihrem berühmten Landsmanne ihre 
Ehrerbietung zu bezeugen, und nahmen auch feine Mutter mit, Da ihnen aber 
diefe gar zu ärmlich geffeidet fchien, fo Tegten fie derfelben dem Range ihres 
Sohnes entfprechendere Kleider an, obwohl diefelbe verfiherte, fie kenne ihren 
Sohn; ein folder Aufzug werde ihm nicht gefallen, Als man ihm diefelbe als 
feine Mutter vorſtellte, bemerkte er, er kenne fie nicht; er fei der Sohn einer 
armen Frau, und erft, nachdem fie ihre alte Ländliche Kleidung wieder angezogen 
hatte, erfannte er fie als feine Mutter und umarmte fie. — Petrus Lombar- 
dus iſt der Verfaffer der vier berühmten Sentenzenbücher (libri IV sen- 
tentiarum). Zur Zeit des Lombarden herrfähten in den Schulen zwei Methoden, 
welche einander feindfelig gegenüberflanden: die der Kirchlichen oder Pofitiviften 
und die fueculative oder dialectiſche. Die erfte befand darin, dag man die Firch- 
liche Lehre aus der Heiligen Schrift und aus der Tradition zufammenftellte. Die 
zweite, welche durch Abälard (f.d. A.) auf ihre Spige getrieben wurde, erörterte 
die Gegenftände der Religion auf dem Wege des Ratfonnements, ftellte Sag und 
Gegenfag einander gegenüber und fuchte dann die fheinbaren Widerfprüche dia- 
leetifch zu Töfen, Petrus Lombardus ſuchte nun beide Methoden mit einander zu 
vereinigen, Nachdem Borgange früherer Gelehrten, welche Sammlungen von Sen=- 
tenzen der Rirchenväter und Concilien veranftalteten — Wilhelm von Cham- 
peaur, Hugo von St. Victor, Robert Pulleyn (f, diefe Art.) — wollte er 
„die ſicheren Säge des Glaubens gegen die Regerei der Meinungen” zufammenftel- 
len, Das dialectiſche Moment aber nahm er in fofern in fein Werk auf, als er aͤhn⸗ 





584 Lombardus. 


lich dem von Abälard in feiner berühmten Schrift: „Sic et non“ beobachteten 
Berfahren, die ſcheinbaren Widerſprüche feiner Auctoritäten nicht übergeht, Ton- 
dern ausdrücklich Hinftellt und zu Löfen ſucht. Er ſelbſt gibt in feiner Einleitung 
als Zweck feines auf Verlangen feiner Ternbegierigen Brüder verfaßten Werkes 
an „die Feftigfeit des kirchlichen Glaubens darzuftellen, das Verborgene theolo— 
giſcher Unterfuchungen zu Öffnen und die Sacramente der Kirche verfländlih zu 
machen.“ Entfprechend dem großen Anfehen, welches der heilige Auguftin im 
Mittelalter genoß, ift die Orundanlage feines Werkes vorherrfchend Auguftinia- 
niſch, wie fhon Daraus hervorgeht, daß derfelbe Die Slaubenswahrheiten in 
Lehren von Sachen und von Zeichen eintheilt, Die drei erſten Bücher und 
der Tractat von der Auferftehung des vierten behandeln die Lehre von den Sachen, 
während der übrige Theil des vierten Buches die Lehre von den Zeichen Cunter 
welchen befonders die Sarramente verflanden werden) enthält. (Eine Analyfe 
des ganzen Werkes fiehe in der Hist. lit. dela France X, 509—601. Era= 
mer in feiner Fortfegung der Einleitung ber Weltgeſchichte Boſſuets VI, 
591— 782. Flügge, Verſuch einer Geſchichte ber thevlogiſchen Wiffenfehaften 
Iu, 443—465. Schröckh, Rirhengefichte 28, 489—518. Ritter, Ge⸗ 
fhihte der Philoſophie VII, 480-499. Kuhn, Dogmatit I, 1. 260 fi) — 
Als Mangel an dem Werke des Lombarden wird hervorgehoben die oberflächliche, 
nicht in der Natur der Sache begründete Eintheilung des Stoffes und die Zu⸗ 
fammenfafjung der Dogmatik und Moral, welche von ihm auf das ganze Mittel- 


alter fich forterbte. Das außerordentliche, faft fymbolifche Anfehen, welhes 


die Sentenzenbücher unter den Scholaſtikern erhielten, legt übrigens den ſprechen⸗ 
den Beweis ab, daß der Lombarde, wenn er auch fein productiver Geiſt war, 
doch einem wirklichen, viefverbreiteten Bedürfniffe feiner Zeit entſprochen habe, 
Die Nüchternheit und Mäßigung der theologiſchen Anſchauung, die Reichhaltigkeit 
des aufgenommenen Stoffes und der geſchickte Tact, mit welchem eine Menge 
ſpitzfindiger, unfruchtbarer Fragen von der Erörterung ausgeſchloſſen wurden, 
gaben dieſem Werke eine ſolche Bedeutung, daß daſſelbe faſt in allen theologiſchen 
Schulen des Mittelalters den Vorleſungen als Lehrbuch zu Grunde gelegt wurde. 
— Uebrigens fanden bie Sentenzenbücher ſchon bei Lebzeiten ihres Berfaffers 
Anſtoß. Einer der ausgezeichnetfien Schüler des Lombarden, Johann von 
Cornwallis, fuchte zwölf Jahre hindurch bei dem Papfte Alexander II. es durch⸗ 
zuſetzen, daß ſein Lehrer als der Ketzerei des Nihilismus ſchuldig verdammt 
werde, Endlich vermochte er den Papſt, daß er im Jahre 1170, am Ende feines 
Pontificats, durch ein Reſeript allen Profefjoren verbieten ließ, den Satz, daß 
Jeſus Chriftus, als Menſch betrachtet, Nichts ſei, vorzutragen. Kurz 
darauf erneuerte Walter von Mauritanien, damais Prior in dem Stifte 
der regulären Chorheren des HI. Bictor zu Paris, welcher einer der erfien Geg- 
ner Abälards gewefen war, denfelben Angriff in dem gegen ihn, gegen Abälard, 
Peter von Poitiers und Gilbert de la Porrée EG. d. A.) gerichteten Bude 
„contra quatuor Galliae labyrinthos.“ Auch warf er den genannten Theologen, die 
er ungerechter Weife in eine Linie mit einander ftellte, insgefammt vor, daß fie 
durch die Art und Weife, wie fie die Dialectit anwendeten, überall Gegenfäge 
aufftelften und über Alles Fragen aufwürfen, Alles in Der Religion ſchwankend 
machten, Endlich erhob ſich der Abt Joach im von Calabrien (f. d. A), ein. 
bekannter Myftifer jener Zeit, gegen den Rombarden. In einer der Kirchen- 
verfammlung im Lateran (1179) überreichten Schrift behauptete der genannte 
Abt, Petrus nehme eine Biereinigfeit (quaternitas) in Gott an, da er gelehrt 
habe, der Vater, der Sohn und ber hl. Geift feien ein höchftes Ding (summa 
quaedam res), welches nicht zeuge, nicht gezeugt werbe und nicht ausgehe. Das 
Eoneil ging nicht auf dieſe Anfhuldigung ein, Auf einer fpätern Kirchenverſamm⸗ 
fung im Lateran, welche unter Innocenz II. 1215 gehalten wurde, ward bie Lehre 











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Lombarbus, 585 


des Lombarden gebilligt und die Schrift des Denuncianten verdammt, Obgleich 
diefe Angriffe das Anfehen des Lombarden nur hatten erhöhen helfen, fo. Famen 
doch im Jahre 1300 die Profefforen der Theologie zu Paris darin mit einander 
überein, 16 Säge der Sentenzenbücher nicht vorzutragen. Doc hatte diefe Maß— 
regel nah D’Argentree nicht fo faft einen eigentlich theologifhen, als viel- 
mehr einen öconomifchen Grund; auch findet man nicht, daß andere theologifche 
Säulen derfelben beigetreten wären. Die fpäteren Theologen tadelten außerdem 
no an dem Lombarden, daß er mehrere wichtige Lehrftüde, z. B. über die hei- 
lige Schrift, die Kirche, den Primat und die Coneilien, in fein Werk nicht auf- 
genommen habe und einen großen Mangel an Kritik an den Tag lege. Allein 
beide negative Eigenfchaften hat derfelbe nicht bloß mit feiner Zeit, fondern über- 
haupt mit dem ganzen Mittelalter gemeinfam, da auch die größten Scholaftifer, 
3. DB. der heilige Thomas von Aquin, auf einem niedern Standpuncte der Kritif 
fiehen, und die Lehren von der heiligen Schrift, von dem Primat u, ſ. w. erft 
durch die Beftreitung derfelben durch die Reformatoren ein Gegenftand der gründ- 
licheren Unterfuhung wurden, — Ueber die verfchiedenen Ausgaben der Senten- 
zenbücher fiehe Hist. lit. 1. c. 607— 617. — No haben wir hier eines Iiterari= 
ſchen Streites zu erwähnen, welcher über die eigentlihe Urheberſchaft der 
Sentenzenbüder erhoben worden iſt. Dr. Eck Hatte in der Abtei Mölk ein 
„summa magistri Bandini‘‘ betiteltes Danufeript gefunden, welches außerordentlich 
große Aehnlichkeit mit den Sentenzen des Lombarden darbot und dur den Abt 
der Schotten zu Wien, Chelidonius, im Jahre 1519 zum Drude befördert wurde. 
Eramer, welder einen Auszug der summa des Bandinus in fein oben genanntes 
Werk aufgenommen bat und beide Schriften mit einander vergleicht, vermag den 
Streit nicht genügend zu fohlichten. Doch geht aus einem von dem befannten 
Bernhard Bez aufgefundenen Manuferipte, welches den Titel führt: „Abbreviatio 
magistri Bandini de libro sacramentorum magistri Petri Parisiensis episcopi fideliter 
acta“, welche von dem genannten Gelehrten in dem erften Bande feines thesaurus 
anectodorum novissimus abgedruckt wurde, hervor, daß die Arbeit des Bandinus, 
eines fonft gänzlich unbekannten Theologen, nur ein Auszug aus den Sentenzen 
des Lombarden fei. Gewiß“, fagt in diefer Beziehung Neander (Kirchengeſch. 
VI. 795) mit Recht, „war Peter der Lombarde niht der Mann, der einer 
ſolchen Borarbeit bedurft Hätte,“ — Petrus Lombarbus ift außerdem der 
Berfaffer von Commentarien über die Pfalmen und das Hohe Lied, ſo— 
wie über die Briefe des heiligen Apoftels Paulus, welche 1537 und 41 
zu Paris gedruckt wurden. Doch haben diefe eregetifchen Werfe feinen bedeutenden 
wiſſenſchaftlichen Werth, da fie faft nur in Auszügen aus den Schriften der Kir— 
chenväter und Theologen des Mittelalters beftehen. In Beziehung auf feine Er— 
Härung der Briefe des heiligen Paulus, in welchen Lombardus befonders dem 
heiligen Ambrofius, Hieronymus und Auguftinus folgte, bemerken übrigens die 
gelehrten Benedictiner in der ſchon angeführten Literärgefchichte Franfreichs, die— 
felbe fei klar, methodiſch und enthalte außer den Gedanfen der Väter fehr gute, 
dem Verfaſſer eigenthümliche Anfichten. Leber die ungedrucdten Werke des Petrus 
— Gloſſen zu dem Buche Job, Sonn- und Fefttagsprebigten,, einige Briefe, eine 
Methode der practifchen Theologie und eine Selbfivertheidigung gegen die An- 
griffe des Johann von Cornwallis — fiehe das fo eben genannte Werf ©. 603. 
— Hinfihtlich der bisher von und noch nicht angeführten Altern Literatur über 
den Lombarden verweifen wir auf Gräße's Lehrbuch einer Literärgefchichte der 
berühmteften Völker des Mittelalters, II. Abth. 1. Halfte, S. 211 ff. — Unter 
den zahliofen Commentatoren der Sentenzenbücher des Lombarden heben wir 
mit Umgebung derjenigen, welche, wie die großen Scholaftifer Alerander von 
Hales, Thomas von Aquin u. f. w., in eigenen Artifeln dargeſtellt werben, als 
die bedeutendften hervor: Peter von Poitiers (nicht zu verwechfeln mit feinem 


586 Lombardus. 


ältern gleichnamigen Zeitgenoſſen, einem Dichter aus dem Orden son Clugny), 
einer der ausgezeichnetfien Schüler des Petrus Lombardus, welcher dem leßteren 
auf feinem Lehrfiuhle folgte und als Kanzler der Kirche und Univerfität von Paris 
im Jahre 1206 ſtarb. In feinem Commentare zu den Sentenzen des Lombarden 
fihließt er fih ganz getreu an den Vortrag feines Lehrers an, den er zu begrün- 
den und zu beftätigen fucht. Einen Auszug aus diefem Werfe fiehe bei Cramer 
a0. O. VI. 754 ff. Auch verfaßte er eine „genealogia und chronologia sanctorum 
Patrum ab Adamo ad Christum* und noch einige unbedeutende Werke eregetifchen, 
theologifchen und philofophifhen Inhalts, S. Schröcdh 28, 540 ff. Flügge 
0,0. O. II. 484 ff. — Petrus Aureolus, zu Vermeria in Franfreich ge- 
boren, trat frühzeitig in den Franciscanerorden, war von 1516—21 Profeffor 
an der Univerfität zu Paris, wurde dann Erzbifchof von Air, wo er 1345 ftarb, 
Wegen feiner Beredtfamfeit hatte er den Beinamen Doctor facundus erhalten, 
Er hinterließ außerdem „quodlibeta varia“, und einen „‚tractatus de immaculata 
Virgine.“ Cfr. Oudinus de script. saer. III. 850 sqg. — Johannes Baffolig, 
ein Schüler des Duns Scotus, wahrfcheinlich ein geborner Schotte, Derfelbe 
lehrte in der erften Hälfte des 14ten Jahrhunderts als Profeffor der Theologie 
zu Rheims und Mecheln mit folhem Beifalfe, daß er den Ehrennamen Doctor 
ornatissimus erhielt, — Petrus von Aquila aus dem Franciscanerorden, Bi— 
ſchof von St. Angelo im Neapolitanifchen und 1338 von Trivento, fehrieb einen 
„Scotellus“, in welchem er die Lehren des Seotus zufammenfaßte, und ein „com- 
pendium super magistrum sententiarum“, fowie ein eng damit verbundenes Werk 
„quaestiones in IV lib. sent. juxta Scoti doetrinam.‘“ — Johannes Bacon oder 
Bacon Thorpe, fo genannt von feinem in der Nähe von Norfolk gelegenen heimath- 
lichen Dorfe, trat frühzeitig in den Carmeliterorden, wurde zu London 1329 zum 
Provincial feines Ordens gewählt und flarb 1346 mit dem Beinamen eines 


Doctor resolutus. Er fchrieb außer feinem Commentar über den Lombarden ein 
„compendium legis Christi“ und „quodlibeta*, welche öfters gedrunft wurden. — 


Gerardug Odonis aus Rodez in Frankreich gebürtig, wurde 1329 General 
des Minoritenordens, in den er frühzeitig getreten war, und flarb 1349 als 
Adminiftrator der Kirche von Catanea in Sicilien, Er führte den Titel Doctor 


moralis. — Johannes Canon, ein Minprite und Schüler des Duns Scotus, 


wurde 1329 zu Paris Doctor der Theologie und flarb als Profeffor der Theo- 
logie zu Orford, — Petrus Paludanus aus Burgund, Dominicaner und 
Thomift, war feit 1314 Lehrer der Theologie zu Paris, feit 1330—42 Patriarch 
zu Serufalem, ſchrieb außerdem ein „directorium terrae sanotae*, einen „trao- 
tatus de causa immediata ecclesiasticae potestatis* und eine „determinastio facult. 
Paris. de visione beatifica contra Joh. XXI. — Adamus Goddam aus Nor- 
wich, wegen feiner Abfunft gewöhnlich Anglicus genannt, ein Minorit, Schüler 
Oecam's und Lehrer der Theologie zu Drford um die Mitte des Uten Jahr» 


bunderts, — Robert Holeot aus Northampton, Dominicaner, farb 1349 als 


Profeffor der Theologie zu Drford und Hinterließ mehrere moraltheologifche 
Schriften. — Thomas de Argentina, aus Straßburg gebürtig, Profeffor der 





Theologie zu Paris, ftarb 1357 als General des Auguſtinereremitenordens. ©; 


Tiedemann, „Geift ver fpeeulativen Philoſophie“ V. 235 ff. — Gregorius 
von Rimini, Nachfolger des vorigen, den er nur um ein Jahr überlebte, ver— 


faßte außerdem Commentarien zu den Briefen des heiligen Apoftels Paulus und 


Jacobus. — Alphonfus Bargas aus demfelben Orden, früher Profeffor der 


Thenlogie zu Paris, zuletzt Erzbifhof von Sevilla, wo er 1359 ftarb, — Jar 


cobus von Teramp oder auch von Ancherano, wo er 1349 geboren wurde, 
wurde 1384 Archidiacon zu Averfa, dann Bifchof in verſchiedenen Didcefen und 
zulegt in Spoleto, wo er 1417 farb, Derfelbe ift befonders berühmt durch feine 


„eonsolatio peccatorum s. liber Belial, processus luciferi contra Jesum judice Sa-- 








ck. — ii 
Lombarbug, 587 


lomone*, in weldem nah Gräße der Prophet Jeremias der Sahwalter des 
Teufels und Ariftoteles der Advocat Chriſti iſt. Siehe die ziemlich reichhaltige 
Literatur bei Oräße a. a. D. II. 1, 319, — Johannes Capreolus, ein fran= 
zöfifeher Dominicaner, zuerfi Profeffor der Theologie zu Paris, danı Rector fei- 
ner Ordensſchule zu Touloufe, farb 1444 in feinem Profeßhaufe zu Nodez, im 
das er fih 1326 zurüdgezogen hatte. — Dionyfins von Rykel, fonft au 
de Leewis genannt, trat in feinem 2iten Lebensjahre in das Carthäuferflofter 
zu Ruremonde, wo er 1471 ftarb. Derfelbe führt gewöhnlih den Beinamen 
eines Doctor ecstaticus und ift befonders auf dem ascetifchen und moralifchen Ge— 
biete ein außerordentlich fruchtbarer Schriftfieller. — Heinrih Gorcum oder 
von Gorchheim Ceiner gleichnamigen Stadt in Holland oder Bayern) war ein zu 
feiner Zeit — er lebte um die Mitte des 1äten Jahrhunderts und war im Jahre 
1460 Bicefanzler der Univerfität zu Cöln — fehr berühmter Scholaftifer. — Ein 
ebenfalls angefehener Theologe feiner Zeit war Petrus Aquilanus aus dem 
Minpritenorden, welcher zulegt 1337 —44 Jnquifitor zu Florenz wurde und den 
Beinamen Doctor sufficiens, oder auch wegen feiner Anhänglichfeit an die ſco— 
tiftifche Lehre Scotellus führte. — Gabriel Biel zu Speyer, nah Einigen zu 
Tübingen oder Conftanz geboren (ſ. Biel). Derfelbe wurde zuerft Prediger an der 
Martinskicche zu Mainz, dann Propft an der Eoflegiatfirche zu Urach. Der Graf 
und nachherige Herzog Eberhard von Würtemberg bediente fich feiner bei Errich⸗ 
tung der Univerfität zu Tübingen (1477); im folgenden Jahre war er einer der 
Begleiter diefes Fürften auf feiner Reife nah Rom, Er lehrte feit 1484 die Theologie 
zu Tübingen und trat fpäter unter die fratres de communi vita (f. Clerici et fratres 
vitae communis), in welcher Bruderſchaft er 1495 farb, Mit Gabriel Biel wird 
gewöhnlich das dritte und letzte Zeitalter der Scholaftif als abgefchloffen betrachtet. 
Derfelbe war ein Nominalift und ſchrieb eine „epitome scripti Guielmi de Occamo et 
collectorium super IV lib. sent.“ Außerdem war er ein berühmter Ranzelredner. Seine 
Predigten wurden in zwei Sammlungen gedrudt („sermones Gabrielis de tempore* 
herausgegeben von Wendelin Steinbach, Profeffor der Theologie zu Tübingen, 
1500, und „sermones Gabrielis de festivitate gloriosae virginis Mariae*), und 
find vorherrſchend moralifch gehalten. S. Schröckh a. a. O. 33, 533 ff. Die 
freimüthigen und öfters von den Meinungen der übrigen Lehrer abweichenden Ur— 
theile, welche Gabriel Biel Hinfichtlich mehrerer Firchenrechtlichen Fragen in feiner 
„iectura super canone missae in alma universitate Tubingensi ordinarie lecta®* — 
und in feiner „sacri canonis Missae literalis et mystica expositio*, cfr. fein „de- 
fensorium contra aemulos suos de obedientia sedis apostolicae* — ausſprach, 
haben demfelben die zweideutige Ehre verfchafft, von den Proteflanten unter ihre 
fogenannten testes veritalis aufgenommen zu werden, Bon Wernsdorf und Hie- 
ronymus Wigandus wurden nämlich alle feine von den Beftimmungen des Eon— 
cils von Trient abweichenden Meinungen in einer in Heftigem polemifchen Tone 
abgefaßten Schrift gefammelt, welche 1719 zu Wittenberg unter dem Titel: „de 
Gabr. Biel celeberrimo Papista Antipapista* abgedruft wurde, S. Schrödg 
a. a. O. 34, 215 ff. Biographie universelle 4, 472 suiv. — Johannes 
Zach ariä, Auguftinereremit, von 1400—1428 Profeffor der Theologie in fei- 
ner Baterfladt Erfurt, wegen feiner auf dem Eoneil von Conſtanz gegen Hus an 
den Tag gelegten Heftigfeit Hussomastix genannt, — Unter die Commentatoren 
des Petrus Lombarbus wird gewöhnlich auch Paulus Eortefius gerechnet, 
welcher zu Rom, wo fein Vater päpftliher Serretär war, 1465 geboren wurde 
und 1510 als apoſtoliſcher Protonotar auf feinem Eaftell Eortefiano in Toscana 
ftarb, Derfelbe ift unter dem Namen des Eicero der Scholafifer bekannt. 
Er verfaßte „disputationes in IV lib. sentent.“, welche im Jahre 1540 zu Bafel 
unter dem Titel: „P. Cortesius in sententias; qui in hoc opere eloquentiam cum 
theologia conjunxit; boni igitur ac studiosi gaudento et emento* gedruckt wurde, 





588 Lombardus. 


Doch hat dieſes Werk mit Petrus Lombardus faſt nur die Eintheilung und An- 
ordnung des Stoffes gemein. Statt dem Lombarden zu folgen, macht er fi 
vielmehr über die Scholaftifer an vielen Stellen luſtig. Ueberhaupt gehört diefer 
Theologe einer von der der bisher angeführten Scholaftifer abweichenden Geiftes- 
richtung an. Ein Auszug aus feinem obengenannten Werke fiehe bei Schröckh 
a. a, S. 34, 219 ff. Außerdem verfaßte verfelbe: „Dialogus de hominibus doc- 
tis* und „de sacrarum lillerarum omniumque disciplinarum scientia.* — Conrad 
Summenhart aus Calw in Schwaben, 1465 geboren und 1511 als Profeffor 
der Theologie zu Tübingen an der Peft geftorben, der Verfaffer vieler theologifcher 
Schriften. ©. Gräße a. a. O. I. 1. 395. — In Spanien, wo die Scholaftif 
noch fortblühte, nachdem die theologifchen Wiſſenſchaften zum Theile in Folge der 
Einwirkung des Proteftantismus in andern Ländern großentheil® eine andere 
Richtung erhalten hatten, traten während des ganzen 16ten und im Anfange des 
ATten Jahrhunderts noch eine Menge Theologen auf, welde den Zußftapfen des 
Lombarden folgten und feine Sentenzenbücher ceommentirten. Unter diefen heben 
wir hervor: — Dominieus Soto. Diefer, einer der gründlichften Theologen 
feiner Zeit, im Jahre 1494 in Segovia von armen Eltern geboren, ſtudirte 
zuerft zu Alcala Philofophie, und erhielt zu Paris, wohin er einen reichen Mit- 
ſchüler begleitet hatte, die Magifterwürde, Nach feiner Rückkehr lehrte er die 
Philoſophie zu Alcala, trat 1524 in den Dominicanerorden und erhielt dann eine 
Lehrkanzel auf der Univerfität zu Salamanca, wo er Commentarien über bie 
ariftotelifche Philofophie herausgab. Im Jahre 1545 ſchickte ihn Earl V. mit dem 
Titel feines erften Theologen auf das Coneil von Trient, wo er mit der Erdrte- 
rung der fohwierigften dogmatiſchen Fragen beauftragt wurde und mit dem befannten 
Catharinus (ſ. d. A.) öfters in gelehrten Streit gerieth. Carl V. wählte ihn fpäter 
zu feinem Beichtvater und wollte ihn zum Bifchofe von Segovia erheben. Auch 
ftelfte ihn diefer Fürft, deffen volles Vertrauen er beſaß, als Schiedsrichter in 
der Streitfache des Lascafas (ſ. den Art, Cafas) und Sepulveda hinfichtlich der 
unglüdlichen Indianer auf. Im Sabre 1550 zog er fih von dem Hofe nad Sa- 
Yamanca zurüd, wo gr 1560 flarb, Sein Commentar über die Sentenzen des 
Lombarden hat einen bedeutenden wiſſenſchaftlichen Werth, Ferner verfaßte er 
einen Commentar zu dem Nömerbriefe, in weldhem er befonders die Erflärung 
Cajetans (ſ. d. A) zu widerlegen ſuchte, eine Abhandlung über die Natur und Gnade, 
in welcher er die Lehre des Concils von Trient über die Erbfünde, den freien Wil- 
Yen und die Rechtfertigung vertheidigte, und einen Tractat „de justitia el jure.* 
Cfr. Nicolai Antonii „bibliotheca Hispana“ 1. 255 sqq. Biographie univer- 
selle Tom. 43, 143 suiv. — Antonius de Eorduba, aus dem Drden der 
Minoriten, deffen Provincial er wurde. Derfelbe genoß zu feiner Zeit ſolches 
Anfehen, daß ein Zeitgenoffe von ihm behauptete, er habe in der. Theologie wie 
ein pythifches Drafel gegolten, bei dem man fih von allen Seiten her Raths 
erholt habe. Er verfaßte außerdem ein „quaestionarium theologieum sive silva 
casuum conscientiae“; eine „expositio regulae fratrum minorum“; „annotaliones in 
Dominicum Sotum de ratione tegendi et detegendi secretum“ etc. Cfr, Antonius 
1. c. 1 88. — Bartholomäus de Ledesma, ein Dominicaner, welcher den 
erften Lehrſtuhl auf der Academie zu Mexico inne hatte und vom Könige zum 
Bifchofe von Guaxaca ernannt wurde, — Didacus de Leon aus dem Carme- 
Yiterorden, wohnte als Bifchof von Eoimbra dem Concil von Trient bei, auf 
welchem er mehrere Neden hielt, und farb 1589 im Rufe großer Gelehrfamfeit, 
— Der legte bedeutende Commentator des Lombarden ift der niederländifche 
Theologe Wilhelm Eſtius, welcher überhaupt den ausgezeichnetften Gottes- 
gelehrten feines Zeitalters beizuzählen iſt. Derfelbe wurde 1652 zu Goreum in 
Holland geboren, fudirte zuerft zu Utrecht, dann zu Löwen, wo er 1580 die 
Doelorwuͤrde der Theologie erhielt, Bald darauf wurde er nach Douai auf eine 











London — Longobarden, 589 


theologische Lehrkanzel berufen, welche er mit großer Auszeihnung inne hatte, 
Er wurde Superior des dortigen Seminars, Propſt an der St. Petersfirhe und 
zulegt Kanzler der Univerfität, und farb 1613 in feinem T2ten Lebensjahre, 
Zuerft befchäftigte er fih mit der Herausgabe der Werke des HI. Auguſtin, 
dann verfaßte er eine „historia martyrum Gorcumensium“, d. h. eine Geſchichte 
son 19 Prieftern und Ordensleuten, welche 1552 wegen ihrer Anhänglifeit an 
die Fatholifche Kirche bei der Einführung des Ealvinismus in feiner Vaterſtadt 
ermordet worden waren, Seine „commentaria in IV lib. sentent. Pet. Lomb. 
Doct. Paris. II Vol. fol.“, welche öfterg gedrudt wurden, werben von den Theologen 
auch in unferer Zeit noch fehr gefhägt. Sie find überhaupt dem Beſten bei- 
zuzäßlen, was die fpeculative Theologie feit der Reformation zu Tage gefördert 
bat. „Die biblifche und patriftifche Beweisführung ift in diefem Werfe mit großer. 
Sorgfalt behandelt, und das dialectifche fpeculative Moment einfach und klar ge- 
halten; dagegen ift die Anordnung und Aufeinanderfolge der einzelnen Lehrſtücke 
und Lehrpuncte, der Zufammenhang und die fyftematiiche Einheit offenbar ver- 
nahläßigt“ (Kuhn, kath. Dogm. I. 282.). Nicht minder berühmt find die 
Eommentare des Eftius zu den Briefen des Heiligen Apoftels Paulus, welde 
zwei Foliobände umfaffen, In der Ausarbeitung eines Commentars über die 
katholiſchen Briefe wurde er bei dem fünften Capitel des erfien Briefes Jo— 
bannis durch den Tod unterbrochen. Minder werthvoll find feine „annotationes 
in praecipua et difficiliora scripturae loca“, an welchen jedoch die überhaupt in 
allen feinen Werfen herrſchende Klarheit und Gründlichkeit gerühmt wird, Noch 
find endlich zu erwähnen feine „oraliones theologicae* XIX. Cfr. Biographie 
univers. Tom. XII. 400 suiv. Dupin, nouvelle biblioth. des auteurs ecclesia- 
stiques Tom. XVI. 45 suiv. [Brifar.] 
SLondon, Bisthum, f. Angelfahfen Bd. J. S. 245, 246, 250, Groß⸗ 
britannien Bd, IV. ©, 803, und Hochkirche. 

2ong, ſ. Le Long. 

Longobarden, Chriftentbum bei denfelben und Religionszuftand 
bis auf Carl den Großen. Die Longobarden, ein teutſcher Bolksftamm, von 
der Elbe Her allmählig gegen die Donau rückend, nahmen gegen Ende des fünften 
Sahrhunderts das Land der im J. 487 von König Odoaker unterworfenen und 
zerfireuten Rugier in Befig, i. e. das fogenannte Rugiland, das heutige Unter- 
dftreich etwa mit Theilen von Mähren und Ungarn. Bald darauf gerieihen fie 
in Abhängigkeit von den Herulern, befiegten fie aber im J. 512, festen um 526, 
aufgefordert von Raifer Zuftinian, auf die rechte weftliche Seite der Donau, führ- 
ten da häufige Fehden mit den Gepiden, und madten etwa um 566—567 dem 
Gepidenreich ein Ende. Und nun, nachdem ſchon früher Iongobardifche Hilfs- 
truppen im Kriege des Narfes gegen die Oſtgothen in Jtalien auf Seite der 
Römer gefämpft und das oſtgothiſche Reich hatten flürzen helfen (553), verließen 
die Longobarden unter ihrem König Alboin im 3. 568 die Donauländer, um fi 
in Italien ein Reich zu gründen (Lombardei). — Wie andere teutfhe Stämme 
an der untern Donau feit dem vierten und fünften Jahrhundert arianifhe Chriſten 
waren (f. über die Gothen die Art. Fridigern und Gothen; über die Ge- 
piden den Sornandes de reb. Get. c. 25. und Schloffers Arhiv für Gef. 
und Lit, VI Abth. 25 über die Nugier die vita S. Severini von Eugippius; 
Kleins Kirchengefch. von Deftr. und Steierm, I und den Art, Bayern, Bd. J. 
©. 700), fo fennt Procop (bell. Goth. II, 14) auch die Longobarden fhon als 
Ehriften zu der Zeit, da fie von den noch Heidnifchen Herulern unterjocht wurden, 
„und nun kann man auch die Glaubwürdigfeit der, obwohl fpäten, Angabe in der 
Gothaer Handſchrift (des longob. Gefegb.) nicht mehr beanftanden, wonach die 
Longobarden während ihres Aufenthaltes in Rugiland, alfo gegen das Ende des 
fünften Jahrhunderts, unter König Godehoc oder Elaffo zum Chriſtenthum über- 





590 Longobarden, 


getreten fein ſollen“ (Abel, Gefchichtfchreiber ver teutſchen Vorzeit, 8, Jahrh. 
Paulus Diaconus, Berlin 1849, ©, 241), Ohne Zweifel gefhah die Ein- 
führung des Chriſtenthums bei den Longobarden von Oben herab durch den König 
und Adel, und mögen wohl feit Godehoe oder Claffo alle Iongobardifchen Könige 
Chriſten gewefen fein, Bon König Wacho 4. B. ſcheint eg gewiß, da feine 
zwei Töchter mit fränfifchen Königen vermählt wurden, alfo wohl getauft waren, 
Ebenfo weiß man es von König Alboin felbft, weldyer die Chlodeswinda, Enfelin 
des großen Chlodwigs, zur Gemahlin hatte, an die der Hl, Biſchof Nicetius von 
Trier das befannte Mahnſchreiben erließ, ihren Gemahl von dem arianifchen 
Irrthume zum katholifchen Glauben zu befehren (ſ. Schriften des hl. Nicetius, 
überf. von 5. M. Mandernach, Mainz 1850). Leiver hatten aber auch die 
Longobarden, wie man fieht, das Chriftentfum in arianifcher Form empfangen, 
und wie wenig das eigentlich ein Chriſtenthum war, und-wie fehr daffelbe nur in 
einigen ceremoniellen Aeußerlichkeiten beftand, mit welchen ber eraffefte heidniſche 
Aberglaube und alle mögliche heidniſche Unſitie, Rohheit und Grauſamkeit Hand 
in Hand ging, wird ſich ſogleich zeigen. Außerdem waren viele Longobarden und 
mit ihnen ziehende Slaven und Teutſche aus andern Stämmen, als fie in Stalien 
einwanderten, noch völlige Heiden. — Bei diefen religiöfen Zuftänden der Lon— 
gobarden iſt e8 zu verwundern, daß der fiegreihe König Alboin nach den erften 
Stürmen des Einfalls in Jtalien, wobei die Tatholifche Kirche ſchrecklich mitgenom⸗ 
men wurde, allmählig anfing, die katholiſchen Biſchöfe milde zu behandeln, Sp 
fonnte der Patriarch Paulus von Aquileja, der Anfangs aus Furcht vor den Lon- 
gobarden mit den Kirchenfchägen geflohen war, wieder zurückkehren. Dem Bifchof 
Selig von Treviſo beftätigte Alboin alle Kirchengüter. Und als er nach dreijahri— 
ger Belagerung Tieinum (Pavia) eingenommen, begnabigte er die ganze Fatho- 
liſche Bevölferung, gegen den Eid, den er gefhworen, fie fämmtlich umzubringen. 
Allein weder war Alboin im Stande, die Wildheit und Graufamfeit und den Ka— 
tholikenhaß feiner Longobarden burchgreifend zu zügeln, noch lebte er lange, Nach 
feinem Tod begannen die Longobarden unter ihrem König Kleph CH 575) und 
der auf ihn folgenden Herzogen- Herrfchaft ein graufames Ausrottungsfyftem gegen 
die römifchen Decurivnen und Poffefforen, und wiederholten an der Fatholifchen 
Kirche das graufame Schaufpiel, welches die arianifchen Vandalen (f. d. A.) in 
Africa gegeben hatten, Im Allgemeinen bemerkt hierüber Paulus Diaconus (IV, 
6): „Die Tongobarden hatten, als fie noch im heidniſchen Unglauben be- 
fangen waren (fie waren ja auch Heiden, obgleich fie größtentheils die Taufe 
empfangen hatten!), faft das gefammte Kirchenvermögen in Befig genommen, 
aber, durch das fruchtbare Flehen der Königin (Theodelinde) beftimmt, hielt der 
König Agilulph) fett am Fatholifchen Glauben, begabte die Kirche mit vielen 
Defisthümern, und wies ben (katholifchen) Biſchöfen, die bisher gedrückt 
und mißachtet gewefen waren, ihre alte ehrenvolle Stellung wieder ein,“ 
Noch wichtiger ift, was Paulus (IV, 32) erzählt: „Die Longobarden blieben nach 
Kleph's Tod zehn Jahre ohne König und flanden unter Herzögen, ;. Zu jener 
Zeit wurben viele vornehme Nömer aus Gewinnfucht ermordet, die Uebrigen 
zinsbar gemacht und den Longobarben in der Art zugetheilt, daß fie den dritten 
Theil ihrer Früchte an fie zu entrichten hatten, Unter diefen Iongobardifchen Her- 
zögen und im fiebenten Jahr feit dem Einbruch Alboins und des ganzen Volkes 
geſchah es, daß die Kirchen geplündert, die Priefter ermordet, die Städte zer- 
fört, die Einwohner, die den Saaten gleich aufgefchoffen waren, umgebracht und 
der größte Theil Italiens von den Longobarden erobert und unterjocht wurbe, 
ausgenommen die Gegenden, die ſchon Alboin eingenommen hatte,“ Die beften 
und detaillirteften Nachrichten über die damalige Schrecfenszeit, über bie von 
den Tongobarden verübten Gränel, über ihre religiöfen Berhältniffe und ihre Ver- 
folgungen der Katholiken, namentlich der Geiftlihen und Mönche, theilt der be= 








d 
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Longobarden. 591 


rühmte Zeitgenoſſe, Papſt Gregor der Große, in ſeinen Dialogen und Briefen 
mit (ſ. Dial. 1, 4; U, 17; HI, 11, 26, 88; IV, 21, 23; epp. I, 3, 31; B, 29; 
II, 29; IV, 16; V, 16, 20, 21,40, 41; VI, 60; VII, 26 eto.); namentlich 
möge nur Folgendes angeführt werden; Nah Dial. HI, 27 wurden einmal von 
den Longobarden 40 Bauern aufgefangen und aufgefordert, den Götzen geopfertes 
Fleiſch zu effen, da fie aber davon nichts anrührten, tödtete man fie fämmtlich, 
Weiter erzählt Gregor Cibid. II, 28): „Als einft die Longobarden 400 Gefan- 
gene gemacht Hatten, fo opferten fie nah ihrer Weife unter Gefang und Tanz 
dem Dämon den Kopf einer Ziege und tödteten hierauf, weil die Gefangenen ſich 
weigerten, das Gleihe zu thun, Alle ohne Ausnahme, Da, wo Gregor dieſe 
blutige Thatſache erzählt, läßt er den Diacon Peter auftreten und bemerken, es 
fei doch eine wunderbare Fürfehung Gottes, daß wenigftens die Geiftlichen der 
Longobarden die orthodoxe Lehre nicht verfolgten, entgegnet aber hierauf: „Das, 
mein Petrus, haben fie wohl auch fehr häufig verfucht, allein bimmlifhe Wunder 
haben ihrer Graufamfeit Widerftand geleiftet,“ und führt als Beifpiel an, ein 
arianiſcher Biſchof der Longobarden habe von dem Fatholifhen Biſchof yon Spo— 
leto eine Kirche für die Arianer begehrt und fei, da fie ihm verweigert worden, 
mit einem Haufen Longobarden gewaltthätig in die Paulsfirche eingedrungen, aber 
plöglih erblindet, zum heilfamen Schreden der Longobarden in der ganzen Um— 
gegend, welche die geheiligten Stätten der Katholifen nicht mehr zu entweihen 
wagten.” Etwas befonders Merfwürdiges berichtet Gregor «ibid. HI, 37) von 
dem Briefter Sanctulus, feinem Freunde, Ein fatholiiher Diacon wurde von 
den Longobarden gefangen und zum Tode beſtimmt. Vergebens flehte Sanctulus 
für den Diacon; Alles, wad man ihm zugeftand, war, daß ihm der Diacon in 
Gewahrfam übergeben wurde unter der Bedingung, Sanetulus feldft müffe im 
alle der Entweichung des Diacons mit feinem Leben büßen. Sanctulus forderte 
aber den Diacon auf, nächtlicher Weile zu fliehen, und wurde dafür von den Lon— 
gobarden wirklich zum Tode verurtheilt, jedoch nur zur Enthauptung, indem fie 
fagten: „Du bift ein guter Menſch, wir wollen dich daher nicht durch verfchiedene 
Deinen um das Leben bringen.“ Schon famen alle Longobarden der Umgegend 
freudig zum blutigen Schaufpiele, ſchon knieete Sanctulus, um den Todesftreich 
zu empfangen, aber fiehe da, als er den HI. Johannes anrief, vermochte der Lon— 
gobarde, der ihn tödten follte, das Schwert nicht zu fihwingen , feine Hand war 
erlahmt. Ehrfurcht und Verwunderung ergriff die Longobarden, fie flehten, Sane- 
inlus möge den Arm des Unglüdlichen heilen; aber nicht eher betete Sanctulus 
für deſſen Heilung, als bis er gefhworen hatte, daß er feinen Ratholifen mehr 
umbringen werde, und erlangte dann auch deffen Heilung. Nun wetteiferten die 
Longobarden,, dem Diener Gottes Gefchenfe mit geraubtem Vieh zu machen, doch 
diefer nahm es nicht an, fondern erbat fi von ihnen die Losgebung aller Ge— 
fangenen und erhielt fie, — Selbſt der nach der zehnjährigen Herrfchaft der Her- 
zöge im 3. 585 von den Longobarden gewählte König Authari, der fih im Mar 
589 mit der bayerischen Princeffin Theodelinde verheiratete, ein im Uebrigen 
von Paulus Diaconus belobter Fürft (II, 16), blieb fortwährend ein fefter 
Arianer und den Ratholifen abgeneigt, obgleich die Fatholifche Theodelinde es nicht 
an Bemühungen gefpart haben wird, ihn zur Fatholifchen Lehre zu befehren, Doc 
geihahen unter Authari's Regierung, wie es fcheint von Seite vieler Longo- 
barden, annähernde Schritte zur Fatholifchen Kirche, was aus einer Anordnung 
Authari's vom 3. 590 abzunehmen ift, worin er den Longobarden verbot, ihre: 
Kinder auf den Fatholifchen Glauben taufen zu Iaffen (ſ. ep. Greg. M. 1, 17): 
Einzelne Longobarden hatten ſich fhon früher zum Fatholifhen Glauben be— 
fehrt (ſ. Paul. Diac. II. 27; II, 2). — Nach Authari's Tod C+ 590) überliegen 
es die Langobarden der Königin Theodelinde, „weil fie ihnen fo wohl gefiel”, 
einen Gemahl und König zu wählen; fie wählte den tüchtigen Herzog Agilulph 


592 Longobarden. 


von Turin, Jetzt machte die Bekehrung der arianiſchen Longobarden zur katholi—⸗ 
hen Kirche rafchere Fortfchritte, befonders in Folge des großen Eifers der Theo- 
delinde, Durch diefe Königin, fagt der Diacon Paulus (IV, 5), erlangte die 
Kirche Gottes viele Vortheile, durch ihr Flehen beftimmt, hielt König Agilulph 
feft am katholiſchen Glauben, gab der Kirche ihre Befigungen zurüdf, und wies 
den bisher gedruͤckten und mißachteten Fatholifchen Bifchöfen ihre alte ehrenvolle 
Stellung wieder an. Hieraus allein fchon erhellt, daß Theodelinde die Befehrung 
Agiluphs zum Fatholifchen Glauben bewirkte, und beftärkt wird dieſes dadurch, 
daß ihre Tochter Gundiperga und der 603 geborene Thronerbe Adelwald auf den 
Fatholifchen Glauben getauft wurden. Die Taufe des Prinzen geſchah in ver von 
Theodelinde neugebauten prächtigen St. Johannesfirce zu Monza Gibid. IV, 27). 
Bon diefen freudigen Ereigniffe fegte Theodelinde den großen Papſt Gregor I. 
in Kenntniß, mit dem fie überhaupt, insbefondere bezüglich der religiöfen Ver- 
hältniſſe im Iongobardifchen Neiche in Briefwechfel fund, und der fowohl durch 
feine Briefe an fie, wie auch durch Mahnfchreiben an die Fatholifchen Bifchöfe 
Italiens (ſ. ep. Greg. I, 17; II, 2; IV, 2, 4, 38; IX, 42, 43; XIV, 12) eifrig 
zur Befehrung der Longobarden mitarbeitete. Gregor erwiederte Theodelindens 
Brief mit einem freudigen Gratulationsſchreiben, wiederholt den fchon in früheren 
Driefen an Theodelinde und Agilulph ausgefprochenen Dank für den mit ihm 
(Gregor) abgefchloffenen Friedenstractat Cabgefchloffen vorzüglich durch Theode— 
lindens Vermittlung bei ihrem Gemahle), und legte als Geſchenk für ven kleinen 
Prinzen eine Kreuzpartifel und ein Evangelienbuch in Foftbarer Lade, und für 
deffen Schwefter drei mit Evelfteinen verzierte Ringe bei, Früher ſchon hatte 
Gregor der Theodelinde feine vier Bücher Dialogen zugefendet, „weil er wußte, 
daß fie dem Glauben an Chrifto treu ergeben und flarf in guten Werfen fer” 
(Paul. Diac. IV, 5). Nur Eines wäre zu wünfchen gewefen, daß ſich Theodelinde 
und Agilulph nie hätten verleiten laffen, aus Mißverftändniß und Anhänglichkeit 
an die vier erften allgemeinen Synoden, alfo eigentlich aus zu großem Eifer für 
den Fatholifchen Glauben, e8 einige Zeit mit jenen fchismatifchen Bifchöfen ihres 
Reiches zu halten, welche in dem fogenannten Dreicapitelftreit (f, d. A.) dem 
apoftolifchen Stuhle gegenüberftanden, Papft Gregor bemühte fich fehr, die Kb— 
nigin rücfichtlich der Dreicapitel-Angelegenheit aufzuflären (f. Greg. ep. IV, 2, 
4,38), und der Hauptfahe nach mit glücklichem Erfolg, denn in den fpätern 
Briefen zwifchen dem Papft und der Theodelinde ift ferner nichts mehr von einer 
Art Zwiefpalt betreffs diefer Sahe zu bemerfen, Erft als nach Gregors Tod 
der hl, Columban (f. d. A) um 612 nah Italien in das Neich der Longobar- 
den fam, der bei Agilulph eine ehrenvolle Aufnahme fand, fcheint das Tongobar- 
difche Königspaar, befonders Agilulph, wieder von einem Iebendigeren Intereſſe 
für die Dreicapitelfache eingenommen worden zu fein, denn Columban fehrieb im 
Namen Agilulphs zwifhen 612—615 an Papft Bonifarius IV., ihn mahnend, 
von der Verdammung der Dreicapitel abzuftehen und dadurch den Wünfchen des 
Königs und der Königin zu entfprechen, die verlangen, daß der Fatholifhe Glaube 
erhöht und befeftiget werbe, während die frühern Inngobarbifchen Könige das 
KRatholifche unter die Füße getreten hätten (ſ. Mabill. Annal. t.I. 1.11. n. 4), Im 
Uebrigen ift aus dem Gefagten zu erfehen, mit welchem Ungrund Abel Paulus 
Diaconus, Gefchichtfchreiber der teutfchen Vorzeit, 8. Jahrh. S. 243 1.) die 
Dreicapitel-Angelegenheit als eine Gefahr für Theodelinde, gar zum Arianismus 
abzufallen, erklärt und den Brief Columbans an Papft Bonifacius als einen Be— 
weis anſieht, daß Agilulph noch in feinen letzten Jahren ein Arianer gewefen fer, 
Eben fo falfch ift es, wenn Abel bemerkt, Paulus fohreibe zwar, der König habe 
feftgehalten am Fatholifchen Glauben, flechte aber unmittelbar darauf einen um 
599 gefchriebenen Brief Gregors an Theodelinde ein, worin fie der Papft er- 
mahne, e8 bei ihrem Gemahle dahin zu bringen, „daß er nicht länger fi 











Longobarden. 593 


ER balte von der Gemeinſch aft der Chriſten“, denn diefe Ueberfegung 


der Worte „horfamur ut apud excellentissimum conjugem vestrum ita agatis, qua- 
tenus Christianae reipublicae societatem non rejiciat* iſt offenbar 
ganz verfehlt und widerfprigt dem ganzen Contert (f. Greg. ep. IX. 43). Der 
erwähnte Columban, ehrenvoll von Agilulph aufgenommen, erhielt von ihm die 
Erlaubniß, überall im ganzen Neiche der Longobarden, wo ed ihm nur gefalle, 
fich niederzulaffen. Er ſchlug zuerfi bei Mailand feine Wohnung auf und fand 
fogleih Gelegenheit, gegen den Arianismus durch Herausgabe einer Schrift auf- 
zutreten, Unterdeß zeigte ein gewiffer Jocundus dem Könige einen in den Ape- 
ninnen gelegenen, für ein Klofter paffenden Ort an, Bob bio genannt, wo noch 
die Ruinen einer ehemaligen Bafllica ftanden. Da au Columban den Drt zur 
Errichtung eines Klofters fehr geeignet fand, machte ihm der König damit eine 
Schenkung, und fo entftand das berühmte Klofter Bobbio, welches nah Colum— 
bans Tod (+ 615) unter den ausgezeichneten Aebten Attala, Bertulph und 
Bobolenus zu großer Blüthe gelangte und mächtig zur allmähligen Ausrottung 
des longobardiſchen Arianismus und Heidenthums wirfte (ſ. die vit. Columbaus 
und der genannten Aebte bei Mabill. Act. II. und Annal. I.). — Agilulph ftarb im 
Anfang des Jahres 6165 ihm folgte unter der Bormundfchaft und Negentfchaft 
Theodelinde's fein junger Sohn Adelwald. Unter diefem, berichtet der Diacon 
Paul (IV, 42), wurden die Kirchen wieder hergeftellt und viele reihe Schenfun- 
gen an heilige Stätten gemacht. So wirkte Theodelinde bis zu ihrem Tod, wel- 
er zwiihen 622—624 fiel, fort, und ſuchte durch die Kraft der Religion, durch 
BDegünftigung der Fatholifchen Geiftlichkeit, die allein Bildung befaß und ver— 
breitete, und durch Friedensliebe ihre Longobarden zu entwildern, Nach ihrem 
Tode ſcheint eine Reaction des arianifchen Sertenhaffes und der Iongobardifchen 
Raubfuht und Unbändigfeit eingetreten zu fein; Adelwald wurde entthront und 
farb etwa um 628, Dennoch lebte Theodelinde in ihrem Gefchlechte und in der 
Adtung, welche man diefem zollte, noch lange Zeit fort, und ift die Blüthezeit 
des Iongobardiihen Reiches fowie vorher an fie felbft, fo auch noch nachher an 
ihr Geflecht geknüpft. Dem Adelwald fuccedirte König Ariowald (+ 636), 
Schweftermann Adelmalds, zwar ein Arianer, der als Herzog den Mönch Blituff 
von Bobbio infultirt, aber ihn doch wieder um Verzeihung hatte bitten laſſen (ſ. 
die vit. s. Attalae bei Mabill. Act. U. und Boll. 2. Jan.), allein als König die Ra- 
tholiken ſchonend behandelte und die Dazwifchenfunft bei einer zwifchen dem Bi- 


ſchof von Tortona und dem Abt Bertulph von Bobbio entftandenen Jurisdictiong- 





ftreitigfeit ablehnte und die Streitenden an eine Synode oder den Papft verwies 


Gi. vit. s. Bertulfi, Mabill. Act. II; Boll. 19. Aug.). Nach feinem Tode wurde feine 
fromme Gemahlin Gundeberga, die Tochter der Theodelinde, die er nicht gut 
behandelt zu haben fiheint, gebeten, gleich der Mutter denjenigen zu erfiefen, 


welchen fie ihrer Hand und des Thrones für würdig hielte. Ihre Wahl fiel auf 
den tapfern Herzog Rothari (636—652), welcher zwar auch ein Arianer war, 
von dem aber Oundeberga vermuthen mochte, er werde wie Ariowald die Katho— 
liken gut behandeln. Kaum aber hat er diefer Erwartung entfproden, denn „in 
den Zeiten Rotharis, fagt Paulus Diaconus (IV, 43), waren faft in alfen Städ- 
ten feines Reiches zwei Bifhöfe, ein Fatholifcher und ein arianifcher; bis auf 
diefen Tag zeigt fi das in der Stadt Tieinus (Pavia), wo der arianifhe Bi- 


ſchof am der Kirche des HI. Eufebius ift und das Baptifterium Hat, während ber 


katholiſchen Kirche ein anderer Biſchof vorfteht; der arianifche Bifchof jedoch, mit 
Namen Anaftafins, trat zum Fatholiihen Glauben über und regierte nachmals 


| die Kirche Chriſti.“ Ueberdieß verftieß er bald feine fromme Gemahlin, welche 
| gottjelig 642 zu Pavia flarb, wo fie dem Hauptpatron des Iongobardifchen Nei- 
I-Hes, dem HI. Johann dem Täufer, eine prächtige Kirche erbaut batte (IV, 49). 


Rothari, der zuerft das Iongobardifche Volksrecht aufzeichnen ließ hinterließ das 
Kirchenlexikon. 6. Bo. 38 


594 2008 — Lope de Vega, 


Neich feinem Sohne Rodoald, der ſchon nach einigen Monaten getödtet wurde, 
— Mit Rodvald Hatte die Nachfommenfhaft der Thendelinde ein Ende, Aber ihr 
Andenken ſcheint noch fo lebhaft bei Longobarden und Nömern gewefen zu fein, 
daß man auch jest noch in der Thronbefeßung bei ihrer Familie blieb, und ihren 
Brudersfohn Aripert zum König wählte. Unter Aripert, einem eifrigen Kalho— 
Yifen, wurben viele Arianer katholiſch; in einem uralten Rythmus zum Lobe der 
Könige Aripert, Bertari und Eunibert heißt e8: „Rex Haribertus, pius-et catho- 
licus, Arrianorum abolevit haeresem et christianam fidem fecit crescere,* (Döl— 
lingers Geſch. der riftl- Kirche, Bd. J. Abth. 2, ©, 172), Zu Pavia erbaute 
er dem Heilande eine Kirche und flarb dafelbft 661. In der Negierung folgten 
ihm feine zwei Söhne Bertari und Gundepert, allein fie entzweiten ſich, und 
dieſe Entzweiung benügend, fhwang fih Herzog Grimoald (+ 671) auf den 
Thron. Durch den frommen Bifhof Johann von Bergamo vom Arianismus zum 
Tatholifchen Glauben befehrt und von feiner Gemahlin Theodata darin beftärft, 
begünftigte Grimoald den katholiſchen Glauben und die Fatholifche Geiftlichkeit, 
erbaute zu Mailand eine ſchöne Ambrofiusficche und verbefferte das longobardiſche 
Geſetzbuch. Unter ihm wurde der Hauptfache nach die Befehrung der Longobarden 
vollendet; von da an verlieren fich Die arianifchen Bifchöfe und befteigt fein Arianer 
mehr den Föniglichen Thron (Paul. Diac.V, 33); vielmehr thaten ſich mehrere der 
folgenden Könige, wie Bertari (+ 688), der von der Geiftlichfeit und dem 
Bolfe vielgeliebte Eunibert (+ 700), Aripert IL, Luitprand CH 744) und 
deffen Bruder Rachis (geſt. als Mönch im Klofter Monte Caſſino) durch ihre ka— 
tholifche Gefinnung hervor, Insbeſondere verdient, ungeachtet feiner auf ganz 
Stalien mit Einfhluß Roms gerichteten Eroberungsplane, Der große Luit- 
prand (713—744) hervorgehoben zu werden, Bon ihm fagt Paulus Diaconus 
am Schluffe feiner Gefhichte ver Longobarden: „Er war ein Dann von großer 
Weisheit, Flug im Nath, fehr gottesfürdtig, ein Freund des Friedens, im Streite 
gewaltig, gegen Fehlende milde, keuſch und züchtig, wachſam im Gebet, frei= 
gebig gegen die Armen, mit der Wiffenfchaft zwar unbekannt, aber. den Philo— 
fophen gleich zu achten, ein Vater feines Volfes und ein Verbefferer der Gefege.” 
Alles, was ſich in den Geſetzen auf geiftliche und Firhlihe Angelegenheiten be— 
zieht, zeigt die Fatholifche Gefinnung Luitprands und namentlich auch feine Sorge, 
die noch immer zahlreichen Ueberreſte des Heidenthums auszurotten. Er erbaute 
mehrere Klöfter und Kirchen und innerhalb feines Palaftes eine Capelle, wobei 
er zum täglichen gefungenen Gottesdienft Priefter und Kirchendiener anftellte, 
Dem Papfte beftätigte er die Schenfung der Fottifchen Alpen und fland auf feiner 
Seite gegen die bilderflürmenden Kaifer, Um hohen Preis brachte er den Leib 
des hl. Auguftin an fih und Tief ihn zu Pavia beiſetzen. Die auf der Reife nah 
Rom begriffenen Pilger und Miſſionäre nahm er freundlichft zu Pavia auf. Kurz, 
Luitprand befchloß glanzvoll die Neihe der tüchtigeren Negenten des longobardi— 
{hen Reiches, das nach ihm eiligen Schrittes feinem Untergange entgegenging. 
Veber den Untergang des Iongobardifchen Neiches Tefe man den Art, Defideriug, 
König der Longobarden, Bd, TIL des Lericons nach, S. außer den bereits ſchon 
eitirten Duellen und Schriften: Erchemperti, historia Longobardorum bei 
Pers, Scriptores MI (V); Muratori, Scriptores I und Antiquitates IV; Manzoni, 
opere, discorso storico , in verfchiedenen Editionen; Leo, Heinrich, Gef, von 
Stalien, I; Kerz, Fortf. der Gefch. der Nel, J. von Stolberg Bd, VIL—XI; 
Koch⸗Sternfeld, das Neich der Longobarden in Italien; Damberger, ſynchr. 
Geſch. der Kirche und Welt im Mittelalter, I. u. I. Vgl. hierzu auch die Art, 
Italien und Kirchenſtaat. [Schrödl.] 

Loos, ſ. Önttesurtheile, 

Lope de Vega, hochberühmter ſpaniſcher Dihter, Im Zweige ber 
dramatiſchen Poeſie Hat die ſpaniſche Nation am Höchſten eulminirt und dabei Die 











Lope de Vega. 595 


Poeſie des Fatholifhen Chriftenthums zu Höhen emporgetragen, zu welchen bie 
Maſe anderer Bölfer wie zu unerreihbaren Zielpuneten hinaufſchaut. In Spa« 
nien, wie überall in den hriftlichen Ländern, ging die Dramaturgie (gleich. der 
Tonkunft und den zeichnenden und bildenden Künften) ans der Religion und dem 
Eultus hervor, welcher in gewiffem Betracht nicht mit Unrecht ein großes, heiliges 
Kunfl- und Schaufpiel genannt werden kann. Schon fehr frühzeitig begegnet man 
in Spanien, neben dem heiligen dramatifchen Elemente im Gottesdienfte felbft, 
Spuren von geiftlihen Schaufpielen; fo wird folcher Schaufpiele, aber zum Theil 
mit weltlichen Poſſen vermifcht, ſchon in Alphons' X. Gefegen gedacht, und ven 
Prieftern nur heilige Darftellungen, wie die Geburt, die Epivhanie und das 
Leiden und die Auferftehung Chrifti, ohne profane Deimifhung, erlaubt, Wäh— 
rend in andern Ländern das heilige Schaufpiel fpäter fih immer mehr verwelt- 
lihte und deßhalb, aus der Kirche verlegt, im Verlaufe der Zeit in ein ganz 
weltliches und zulest felbft antichriftliches umfchlug, fo fanf es in Spanien, ob 
auch aus der Kirche eingeführt in die Salons und fäcularifirt, doch nie fo tief, 
und ftellte fih big auf die neuere Zeit in zahllofen Bühnenſtücken, von den erſten 
Genies der Nation verfaßt, dar, welde, allerdings mit weltficher Einführung und 
Beimiſchung, Gegenftände der Religion, dramatifirte Lebensläufe der Heiligen 
und die fogenannten „autos sacramentales‘, i. e. allegorifhe Dramen zu Ehren 
des Frohnleihnams Chrifti zum Inhalt Hatten. Der erfte wirfliche Dramatifer 
Spaniens, welcher zuerft das Drama in die Welt einführte und mehrere Weih- 
nachts⸗ und Paffionsipiele dichtete, war der berühmte Tonfünftler und Dichter 
Juan de la Eneina, geb. 1468 zu Salamanca, ein Priefter. Zum höchſten 
Ruhme ald Berfaffer heiliger Schaufpiele brachte es Lope de Bega, einer der 
genialften Yramatifhen Dichter aller Zeiten und Bölfer, Geboren zu Madrid 
1562, erhielt er, obgleich feine Eltern nicht reich waren, eine Literarifche Erzie- 
hung, hörte, nach deren früßzeitigem Tod, unterftügt von dem Biſchof Geronymo 
Deanrique, die PHilofophie zu Alcala, Fehrte ſodann nah Madrid zurück, traf 
als Serretär in die Dienfte des Herzogs von Alba und verheirathete fih. Im 
Folge eines Duells mußte er einige Jahre Madrid verlaffen, ging fpäter wieder 
nach Madrid, und nahm dann, ebenfo patriotifch als katholiſch gefinnt, Militär- 
dienfte bei der fogenannten unüberwindlichen Flotte. Zuruͤckgekehrt ward er wieder 
Secretär und. lieg ih nah dem Tode feiner zweiten Gemahlin zum Priefter 2 
weihen. Bon Kindheit an ſchon mit den poetifhen Studien befchäftiget, hatte er 
ſchon vor der Priefterweige durch poetifhe Werke verfchiedener Art ſich einen 
großen Namen gemacht, zuerft durch feine „Arcadia, eine Mifhung von Verſen 
und Profa, Romanze, Schäfer- und Heldengedicht, worin die Schäfer mit ihrem 
Duleineen die Sprache des Amadis reden und Unterfuchungen über Theologie, 
Grammatif, Rhetorik, Poefie, Mufif, Arithmetik und Geometrie anſtellen, dan 
neben andern befonders durch feine Lobgefänge und Schaufpiele auf ven HI. Iſidor 
bei Gelegenheit der Canonifation deffelben im 3. 1598, Nachdem er nun Priefter 
geworden, nahm feine dichterifhe Thätigfeit dergeftalt zu, daß die Menge feiner 
Dichtungen an das Wunderbare grenzt. In alfen damals üblichen Dichtungsarten 
verfuchte er fih und erntete Beifall; aber zum höchſten Enthuſiasmus ward das 
ſpaniſche Volk dur feine geiftlihen und weltlichen Schaufviele Hingeriffen, worin 
er den Ton des Fatholifchen fpanifchen Volkes getroffen hatte, Haufen bewundern- 
den Volks umgab ihn auf den Straßen, jubelnd Liefen ihm die Knaben nach , die 
Großen wetteiferten ihn zu ehren und auszuzeichnen, und da er in feinen Werfen 
ein fo begeiftertes Intereſſe für den Triumph der Fatholifhen Religion zeigte, fo 
wurden ihm auch geiftlicherfeits mancherlei Auszeichnungen zu Theil, indem er 
zum capellan mayor, zum Familiar der Inquifition, und vom Papft Urban VII, 
dem er ein Gedicht auf die unglückliche Königin Maria Stuart dedicirt hatte, zum 
Doetor der Theologie und zum apoftolifhen Rammerfiscal ernannt und mit dem 
38* 


596 Lorch — Boretto, 


Maltheſerkreuz gefhmüct wurde. Bis zum 3. 1635 fuhr Lope ununterbrochen 
fort, Gedichte und Schaufpiele herauszugeben, aber von da an befchäftigte er ſich 
bloß mit religiöfen Gedanken und Uebungen und ftarb den 26. Auguft deffelben 
Jahres, Obgleich ihm feine Schaufpiele fehr viel Geld eingetragen hatten, fo 
hinterließ er doch wenig, da die Armen Madrids bei ihm ftets eine offene Caffe 
getroffen Hatten. Sein Leichenbegängniß war fürftlih; drei Tage dauerten die 
Erequien, wobei drei Biſchöfe in Pontificalibus fungirten, Man ſchlägt Lope's 
Theaterftüce auf 1800 und deffen Frohnleichnamsſtücke auf 400 an, und dazu 
fommen eine Menge geiftliche und profane Gedichte, Daß die ungeheure Frucht- 
barfeit des Dichters ihn gehindert habe, im Dichten und Reimen Bollfommeneg 
bervorzubringen, ift wahr, aber doch lebt auch in dem fihlechteften feiner Werfe 
ein poetifcher, Achter Spaniergeift und hat er durch feine unerfchöpflihe Phan— 
tafie und die fiegende Leichtigfeit feiner Tebendigen Darftellung das fpanifche 
Schauſpiel zu dem gemacht, was es bis auf das Einreißen des franzöfifchen Ge— 
ſchmackes blieb, indem die auf ihn folgenden Schaufpieldichter in feine Fußftapfen 
traten und fein Werf eigentlih nur verfeinerten, Derjenige, welcher unter den 
nach Lope aufgetretenen fpanifhen Schaufpieldichtern und Verfaffern heifiger Co— 
mödien durch die Feinheit der Erfindung, der Ausführung und des Styls der ſpa— 
nifhen Comodie ihre letzte Bildung gab und im den heiligen Schaufpielen das 
Sinnreichfte und Größte Teiftete, war Pedro Calderon de la Barca, geb, 
1600, geft. 1687, feit dem 52, Jahr feines Alters Geiftliher, ©, Ludwig 
Clarus, Darftellung der ſpan. Literatur im Mittelalter, Mainz 1846, Bd. I. 
©. 290. 225; Schaf, ſpan. Theater, 2 Bde.; Schlegel, Vorlefungen über dra— 
matifhe Kunſt; Bouterwec, Geſch. der Poeſie und Beredtfamfeit feit Ende des 
43ten Jahrh. Bd, I. — Zwei Jahrhunderte vor Lope de Vega zeichnete ſich 
Durch poetifche und profaifche Schriften aus Lopez de Ayala, aus hochadeligem 
caſtilianiſchem Gefchlehte, geb. um 1332, geft. 1407 zu Calahorra, nachdem er 
unter vier Königen in Anfehen und Würde geftanden, Sein vorzüglichftes poe— 
tifhes Werk „das Buch vom Palafte” ift.ein Zeitfpiegel, worin die damaligen 
Gebrechen in Kirche und Staat Iebendig gefchildert und die Regeln für eine hrift- 
Tich-mweife und gerechte Regierung aufgeftellt werden. Seine Fleinern frommen Ge— 
dichte und Lieder, befonders zur jungfräulichen Gottesgebärerin Maria, find volf 
Innigkeit religiöfen Gefühles. Außerdem hat er fhäsbare Chroniken von Peter 
dem Graufamen, Heinrich IL., Johann I. und Heinrich II. gefehrieben., ©. Ela- 
ru$ I. 432, ꝛc. [Schrödl.]) 

Lorch, Bisthum, ſ. Paſſau. 

Lorettinerinnen, ſ. Frauen von Loretto. 

Loretto, Uebertragung des Hauſes, worin das Wort Fleiſch ge- 
worden, aus Nazaret nach Loretto. Das Haus, oder vielmehr nur ein Theil 
oder ein Zimmer deſſelben, worin Maria den Sohn Gottes vom hl. Geiſt empfing, ſei 
nach dem unglücklichen Ablauf der Kreuzzüge auf wunderbare Weiſe nach Europa 
übertragen und zulegt nach Loretto in Italien gebracht worden ;diefe Sage verbreitete 
fich feit dem 14ten Jahrh. mehr und mehr und machte Loretto allmählig zu einem 
der berühmteften Wallfahrtsorte. Der Inhalt diefer Sage ift folgender, Im 
J. 1291 wurde nächtlicher Weile diefes Heiligthum, das fchon die Apoſtel in hohen 
Ehren hielten und einweihten, von Engeln nah Dalmatien übertragen und auf 
einer Anhöhe zwifchen den Städten Terfato und Fiume niedergelaffen. Ueber 
diefe allen Bewohnern diefer Gegend unerflärlihe und wunderbare Erfcheinung 
erhielt der Bifchof (oder Pfarrer) Alexander von Terfate in einer Viſion durch) 
die Mutter Gottes felbft Aufſchluß und wurde zum Zeichen, daß die Viſion Fein 
leerer Traum gewefen, plöglich gefund, Eine eigene Gefandtfchaft wurde nach 
Nazaret abgefendet, welche die Grundlage des hl. Haufes dafelbft und die Länge 
und Breite des Plages, worauf es geftanden, ganz übereinftimmend mit dem in 





Lorinus — Lorſch. 597 


Dalmatien angekommenen neuen Heiligthume fand. Allein ſchon nach 3 Jahren 
und 7 Monaten wanderte die sanla casa in der Nacht des 10. December 1294 
hinüber über das adriatifhe Meer in das picenifhe Gebiet und ließ fich in der 
Nähe der Stadt Recanati in einem Lorbeerwalde nieder, welcher einer reichen 
und frommen Matrone Laureta gehörte, woran fih dann der Name „Lauretani= 
fches Haus, Loretto“ anfnüpfte. Bei der Anfunft des HI. Haufes beugten ſich 
die Bäume ehrerbietigft und noch lange nachher erblidte man an ihnen die Spuren 
davon. Hirten, welche Nachts über ihre Herden wachten, waren die erſten Zeu- 
gen des Wunders und bald fonnte fih ganz Recanati und Umgebung davon über- 
zeugen. Da aber zahlreiche Pilger fi einftellten, weil an der HI. Stätte auf 
viele Wunder gefhahen, fo fanden fih bald Räuber ein, welche die Wallfahrt 
unfiher machten, und das Hl. Haus erhob fih nach 3 Monaten von neuem und 
ließ ſich auf einen benachbarten Hügel nieder. Allein die Befiger des Grund- 
ſtücks, zwei Brüder, geriethen wegen der fallenden Dpfergaben in Streif, das 
Heiligtfum erhob fih nach zwei Monaten abermals und fenfte fih an die Stelfe 
nieder, wo es noch fieht. Eine nene nah Dalmatien und Nazaret abgeſchickte 
Gefandtfchaft Fehrte mit dem nämlihen Nefultate zurüdf wie die frühere. Sp 
lautet die Sage, die aber dur Zeugniffe gleichzeitiger Schriftfteller nicht ver- 
bürgt if. — Papſt Paul H. (+ 1471) verlieh den Befuhern des lauretaniſchen 
Haufes Abläffe und führte aus den reichlichen Opfern der zahlreihen Pilger die , 
jegige prächtige Kirche auf, welche das lauretanifhe Haus umſchließt. Auch 
Papft Sirtus IV. CH 1484) und Julius IL Cr 1513) ertheilten Indulgenzen; 
zudem erimirten fie die Lorettoficche von der Jurisdietion des Biſchofs von Reca— 
nati, wobei Julius II. in der hierüber erlaffenen Bulle (Raynald. Annal. ad. a. . 
1507 no. 27 etc.) die erzählte Loretto-Sage mit dem Beifage anführt: „ut pie 
- ereditur et fama est“. Die fpätern Päpfte, namentlih Sirtus V. deifen colof- 
fale Bildfäule von Bronze am Eingang zur Kirche fteht, haben die santa casa 
durh das Aufgebot aller Künfte verherrlichet, und Papft Innocenz XIL hat für 
die Gedächtnißfeier der Translation des HI, Haufes ein eigenes Offictum cum 
missa am 10. December concedirt. ©. Turselini S. J. Lauretana. historia; 
Raynald. Annal. ad a. 1291 no. 68, 1294 no. 24, 1295 no. 58, 1296 no. 35, 
1471 no. 58, 1507 no. 27, 1533 no. 37; Benediet. XIV. de Servorum Dei bea- 
tif. et B. canoniz. 1. IV. pars II. c. 10. no. 11—17. [Schroͤdl.] 
Lorinus, Johann, Jeſuit, einer der vorzüglichen Exegeten feiner 
Zeit, geboren zu Avignon 1559, Lehrer der Theologie zu Paris, Rom, Mai— 
land u. a. D,, geftorben 1634 zu Dol 75 Jahre alt, verfaßte Commentarien zu 
dem Lesiticus, den Numeri, Palmen, Prediger, Weisheit, Apoſtelgeſchichte und den 
- Fatholifchen Briefen. Dupin in feiner bibl. ecel. XVII, wo er von den Eregeten 
aus der Gefellfhaft Jeſu während der erfien Hälfte des 17ten Jahrh. Ribera, 
Sa, Vilfalpande, Juſtinien, Mariana, Lorin, Zirin, Cornelius a Lapide, Pi- 
neda, Bonfrer, Menohius, Gourdon und Phelippeaur handelt, bemerft von den 
Commentarien des Lorinug: „Il y explique les mots hebreux et grecs aver beau- 
Coup de precision et en crilique, et s’etend sur diverses questions d’histoire, de 
dogmes et de discipline“; dazu fest Feller (dict. hist.) hinzu: „mais plusieurs 
de ces questions pouvaient &ire trail&es d’une maniere plus concise, et quelques- 
unes n’ont qu’un rapport eloigne à leur sujet.‘“ 
Lorſch (Lauresbam, Lauresheim, monasterium Laureacense, Laurissense, Lau- 
rissa), wurde im J. 763 von Cancor, einem Grafen im Oberrheingau und 
feiner Mutter Williswinda, Wittwe des am Hofe Pipin’s einft fehr einfluß- 
zeichen Grafen Ruprecht geftiftet und auf einer Inſel der Wafhnig, eine 
Stunde weftlih von Heppenheim an der Bergftraße, erbaut, Im folgenden Jahre 
übergaben fie die Stiftung ihrem Verwandten, dem berühmten Biſchof Chrode— 
gang von Mes (ſ. d. A. und Codex Lauresham. T. I. p. I1.), damit derfelbe die 





598 Lorſch. 


klöſterliche Ordnung einführe, Er weihte die Kloſterkirche nach dem Wunſche der 

Stifter zu Ehren des hl. Petrus ein und berief 16 Mönche aus dem vom ihm zur 
Gorze in Lothringen geftifteten Benedirtinerfipfter, Durch feine Vermittlung 
ſchenkte Paul I. der neuen Stiftung die Reliquien des HI. Nazarius, In einer 
feierlichen Proceffion wurden diefelben auf den Schultern der Grafen Cancor, 
Wariund und anderer Adeligen in die Klofterfirche gebracht, wo fie nun der 
Grgenftand zahlreicher VBerehrer aus Nah und Ferne und der Anlaß zu fo vielen 
und bedeutenden frommen Schenkungen wurden, daß bald ein neuer größerer 
Kirchenbau auf einer Fleinen Erhöhung ausgeführt werben fonnte. Gundeland, 
Hon dem vielfeitig befchäftigten Bruder, der nach den erften Anordnungen wieder 
in fein Bisthum zurüdgefehrt war, zum Abte eingefegt, vollendete den Neu- 
bau und leitete das Klofter mit vieler Umſicht. Der erfte Gegner der from- 
men Stiftung war Cancor's eigener Sohn, Heinrich, der das Ganze zu 
feinem Privatbefige umzuwandeln fuchte. Allein durch die Vorſicht der Stifter 
war fohon vorgebeugt: die Stiftung war von ihnen dem Biſchof Chrodegang 
(„sub traditionis titulo‘“, fagt der Codex Lauresh. 1. c.) förmlich vermacht und da- 
durch mittelbar dem Schutze des franfifchen Hpfes, mit welchem Chrodegang ver— 
wandt war, übergeben worden. Gundeland wählte aber überdieß ausdrücklich 
Carl d, Gr, zum Schußherrn des Kiofters, der daffelbe, nachdem Heinrich allen 
Anfprücen feierlich entfagt hatte, mit zwei Freibriefen ausftattete, von welchen der 
eine die freie Abtwahl, der andere Freiheit von jedem fremden Gerichtszwange 
zufierte (772). Außerdem ſchenkte er dem Kiofter die anfehnliche Heppenheimer 
Marfung (773). Auch verherrlicte er die Einweihung der neuen Kirche durch 
Erzbifchof Lullus von Mainz, dem noch vier benachbarte Biſchbfe affıftirten, am 
14, Auguſt 774 nach Beendigung des Longobardenfriegs durch feine Gegenwart, 
Unter einer Reihe trefflicher Aebte gelangte das Klofter nach Innen und Außen 
zu großem Anſehen; wir heben aus den nächſten Nachfolgern Gundeland's, der 
den dritten Theil der Einkünfte für die Armen verwendete, Helmreich, zugleich 
Architect, der damals in feinem der beffern Klöfter fehlte, Rich bod, der ſtatt 
des hölzernen Haufes für Die Mönche ein anderes Gebäude in fühlicher Lage er— 
baute und es mit Mauern umgab, hervor. Er wurde fpäter Bifchof von Trier, 
behielt aber feine Stelle als Abt bei (+ 803), Unter diefem Abte war e8, daß 
der bayerifhe Herzog Taffilo um Gnade flehend vor Carl d, Gr, in Lorſch er- 
erfhien, Er wurde damals in ein Klofter verwiefen und nur das fonnte er von 
Carl erlangen, daß der Act des Haarabfehneidens nicht in Gegenwart der frän— 
fifchen Großen, fondern zu St. Goar anggeführt wurde (vgl. die Annales Naza- 
riani bei Pers I. ©, 44), An Richbod reiht fih an Abt Adelung und der 
gelehrte Sammel, Bifchof von Worms. Unter Abt Thiodrich (Dietrih), der 
eine Kirche zu Oppenheim baute, erhielt das Klofter von Ludwig dem Teutfchen 
(870) Seeheim und Bickenbach. Die Befigungen des Klofters nicht nur an 
der Bergſtraße, fondern auch in entfernteren Gauen, müffen damals fhon fehr 
bedeutend gewefen fein, wie aus dem intereffanten Codex Laureshamensis zu er- 
Sehen ift, der über 3000 einzelne Schenkungen, größtentheils aus der Zeit Carl's 
d. Gr, und Ludwigs des Frommen, aufzählt, Zu Lorfch gehörten außer den fchon 
erwähnten Befigungen Hohnheim an der Selz (Bezirk Oppenheim), die erfle 
Schenkung Cancor's, Bürftadt, Biblis, Weinheim, Sedenheim, Virnheim, Groß- 
ſachſen, Hirfchhorn, Fürth, Wißloch, Laudenbach, Crüfftel 22.5 außerdem hatte es 
Tiegende Güter im Nahe- und Speierergan, im Nerfargan, in der Wetterau, im 
Kocher- und Jaxtthale, dann auch Giengen an der Brenz. — Die erfte bedeit- 
tende Störung in der Klofterzucht trat im neunten Jahrh. ein; das Klofter verlor 
zur Strafe das Wahlrecht und Adelbero, Bifchof von Augsburg, erhielt som 
Kaifer die Leitung des Kloſters. Er ftellte während feiner fünfjährigen Verwal— 
fung die Ordnung wieder ber, feine dringende Bitte jedoch um Zurückgabe des 





Lorſch. 599 


I Wahlrechtes ging erſt 914 unter König Conrad in Erfüllung. Eine Zierde für 
das Klofter war der gelehrte Abt Salomon, der drei Bücher moralia ſchrieb 

1 und 28 Jahre mit dem beften Erfolge regierte. Bald nad feinem Tode fonnte 
es den Ditonen Bruno, Erzbifhof von Coln, wiewohl nur furze Zeit, 949 — 
50, unter feinen Aebten aufzählen. Eine große Gefahr für die Selbfiftändigfeit 
und gute Ordnung des Klofters erhob fih in der Mitte des eilften Jahrh.: der 
länderſüchtige Erzbifchof von Bremen, Adalbert (f. d. U), Hatte feine gierigen 
Augen auch auf diefes ſchöne geiftlihe Gut geworfen und Heinrich IV. hatte ihm 
bereits die Erfüllung feines Wunfches zugefagt. Aber das Klofter, unter Abt 
Ulrich, widerfegte fih mit der Außerften Anftrengung: zur Schugwehr wurde 
damals die Starfenburg erbaut (1066). Muthig und kühn ſchlug fie mehrere 
Angriffe der Belagerer zurück, bis der verhaßte Erzbifchof auf dem Reichstage 
zu Tribur, auf welchem befanntlih die meiften teutfchen Reichsfürften dem von 
Gregor VI. gebannten Kaiſer (f. Heinrich IV.) die Ausfohnung mit der Kirche 
empfablen, auf den dringenden Wunfch der Fürften aus der Umgebung des Kai— 
fers entfernt wurde, -Damit fhwand auch die Gefahr für Lorfh. Im 3. 1090 
wurde die Klofterfirche durch Unvorfichtigfeit einiger Soldaten, weiche am Schluffe 
eines Volksfeſtes Feuerfugeln warfen, ein Naub der Flammen. Doch war diefer 
Berluft durch reihliche fromme Spenden bald wieder erfegt, Schwieriger war 
die Wiederherfiellung der abermals bedeutend erfchütterten Drbnung und Disciplin. 
Der im J. 1110 gewählte Ermenold, ein Mönch aus Hirfhau, entließ eine 
Anzahl Mönche aus Lorſch und feste andere aus Hirfhau an ihre Stelle. So 
berichtet ung Tritenheim (chronic. ad ann. 1114). Anders freilich erzählt die 
Lorſcher Chronik, welche erft dur unwürdige aus Hirfchau gewaltfam eingedrun- 
gene Mönde die Ordnung geftört werden läßt. Aber bald nachher fehen wir den 
beſſern Theil der Brüder, als er bei der Abtwahl die Majorität erlangte, ſchon 
wieder zu einem Auswärtigen feine Zuflucht nehmen. Im J. 1153 wurde der 
gelehrte und fromme Heinrich aus dem Klofter Sinsheim gewählt. Er war ein 
treuer Anhänger Friedrich’ I., führte bei der Belagerung Cremona's perſonlich 
ein Corps und erhielt dafür von dem von den Kaiferlichen gewählten Victor IV. 
eine Inful. Nach ihm zerfiel das Klofter fittlich und finanziell immer mehr, es 
verlor dadurch feine Selbftftändigfeit und Fam an das Erzftift Mainz. Abt Con— 
rad wurde bon Gregor IX. 1229 abgefegt und Erzbifchof Sigfried I. von Mainz 
mit der Berwaltung und Reformation des Klofters beauftragt. Friedrich I. über- 
gab Siegfried die „fürftliche Abtei” Lorſch 1232. Erzbifchof Siegfried III entließ 
fämmtlihe Benedietiner und feste an ihre Stelle Eiftereienfer, die fih aber 
wegen forfgefegter Gehäffigfeit und felbft gewaltfamer Angriffe der vertriebenen 
Monde bald wieder zurücdzogen, worauf der Erzbifhof Prämonſtratenſer 
Chorherren aus dem Klofter Allerheiligen in der Straßburger Didcefe berief 
(1248). Aus der fürftlichen Abtei wurde eine Propſtei. Noch lange hatte aber 
Mainz gegen benachbarte Großen, namentlich die Pfalzgrafen, welde unter eini- 
gen ſchwachen und nachläffigen Aebten bereits mehrere Befisungen von Lorfh an 
fih gebracht hatten, für die neue Erwerbung mande blutige Fehde zu führen. 
Endlich erreichte Churpfalz doch fein Ziel: als ver von Rom 1462 abgefeßte 
Erzbiſchof Dietrih von Mainz (ſ. d. A.) gegen den an feine Stelle gefegten 
Adolph von Naffau eine Fehde begann, mußte, um Geld zu befommen, Lorfch 
an Churpfalz (1463) verfegt werden. Daher follte Lorſch im 16ten Jahrh. auch 
den Glauben von Churpfalz annehmen, Die Prämonftratenfer wurden ver- 
trieben und 1555 wurde ein Jutherifcher Prediger aus Worms, Johann Car- 
pentarius zum Propfte in Lorfch eingefegt, die Verwaltung ging an eine 
„Hurfürftlide Adminiftration” über, bis im J. 1623 Lorfch wieder an Mainz 
gelangte, was im weftphälifchen Frieden (Bergfträßer Vertrag von 1650) beftätigt 
wurde, Im J. 1664 Cfaiferlihes Deeret vom 31, März) wurde Churmainz wegen 








600 Löſcher. 


des Beſitzes dieſer fürſtlichen Abtei mit Sig und Stimme in den Reichsfürſten—⸗ 
rath aufgenommen, Nun machten auch die Prampnftratenfer Verſuche, wieder in 
ihre frühere Behaufung zu fommen. Der Öeneralvicar des Ordens, Abt Johann 
David zu Ninau, beftellte einen neuen Propft in der Perfon des Johann Silvius, 
der aber wegen der ſchwediſchen Unruhen nicht zum Befise gelangen fonnte, Das 
Generalcapitel des Ordens ſchickte den von demfelben beftellten Provft an Ale- 
xander VIL, um bie Sache zu verfechten. Es Fam zu mehrjährigen Verhandlungen 
zu Rom, Wien und Mainz, die zu feinem Nefultate führten, Das Kloftergebäude 
war 1621 abgebrannt und die Erbauung eines neuen war wohl in den dama— 
Ligen fihweren Zeiten zu koſtſpielig. Nachdem fi) die Bergſtraße von ven Ver— 
beerungen des dreißigjährigen Krieges (Guſtav Adolph eroberte 1631 die Veſte 
Gernsheim, Starfenburg und die ganze Bergftraße) etwas erholt hatte, Famen 
neue Leiden über fie durch den Einfall der Franzofen unter Turenne 1674. Tu— 
renne blieb Sieger bei Sinsheim und Meifter der Pfalz und Bergftraße, 1688 
famen die wilden Schaaren Melae's; alle Drtfchaften ver Bergftraße litten auf's 
Neue furchtbar dur Feuer und Schwert, Starfenburg behauptete Damals 
feine Ehre gegen eine harte Belagerung. Im J. 1803 erhielt Heffen-Darmftadt 
die churmainzifchen Befigungen an der Bergfirafe und damit auch die Propftei 
Lorfh. Duellen: Codex. principis olim Laureshamensis Abbatias diplomaticus, 
edid. Academia elect. Theodoro-palatina. Mannh. 3 Tom. 1768-—70. Annales Lau- 
resham. bei Berg T. L.; Hiftorifch = topographifch = ftatiftifche Beſchreibung des 
Fürſtenthums Lorfh, von C. Dahl, Stadtpfarrer zu Gernsheim, Darmftadt 
1812. [Scharpff.] 
Löſcher, Caspar, ein berühmter Iutherifcher Theolog. Er ift geboren den 
8, Mai 1636 zu Werda im Vogtlande, und bezog 20 Jahre fpäter Die Academie 
Leipzig, wo er unter bürftigen Umftänden feine Studien mit recht gutem Erfolge 
machte. Noch im 3. 1660 ward er Magifter, 1662 Baccalaureus der Theologie, 
1668 Superintendent zu Sondershaufen und zu Leipzig Licentiat der Theologie. 
Sm 5. 1674 erhielt er zu Leipzig die Doctorwürde und 1676 das Paftorat an 
der Predigerfirche, auch die Infpection an dem Gymnaſium zu Erfurt, 1679 die 
Superintendur zu Zwickau. Endlich Fam er 1687 als Generalfuperintendent und 
Profeffor der Theologie nach Wittenberg, wo er auch als Professor primarius, 
Senior der Academie und des Eonfiftoriums, Paftor an der St. Marienkirche 
und Generalfuperintendent des ſächſiſchen Churfreifes den 11. Juli 1718 flarb, 
Wie er in den pietiftifchen und terminiftifchen Streitigfeiten feiner Zeit eine Rolle 
fpielte, fo ließ er auch das Literarifche Gebiet nicht unangebaut; er ſchrieb fehr 
viele Differtationen, auch mehrere Abhandlungen verfchiedenen, meift theologifchen 
Inhalts, die natürlich jegt von fehr untergeorbnetem Werthe find, — Eine ganz 
ähnliche Laufbahn, wie er, ſchlug auch fein Sohn, Valentin Ernft Löſcher, 
ein, und gelangte zu noch größerem Nuhme, Geboren den 28. December 1672 
zu Sonvershaufen, genoß er gleich Anfangs eine trefflihe Erziehung, ftubirte 
fpäter zu Wittenberg und wurde hier auch 1692 Magifter, und 1695, nachdem 
er fih inzwifchen zu feiner weitern Ausbildung noch eine Zeit lang zu Jena auf- 
gehalten, Adjunet der philofophifhen Facultät. Im J. 1698 wurde er Paftor 
und Superintendent zu Jüterbock, 1700 Doctor der Theologie zu Wittenberg, 
1702 Superintendent zu Delitfh, 1707 Profeffor der Theologie zu Wittenberg 
und endlich 1709 Superintendent zu Dresven, wo er den 8, Februar 1749 farb, 
Die theologiſche Zeitfchrift, betitelt: „das Alte und Neue aus dem Schage ber 
theologiſchen Wiſſenſchaften“, fpäter „unfchuldige Nachrichten von alten und neuen 
theologifhen Sachen, Büchern, Urkunden u, f. w.“ wurde von ihm gegründet, 
Wie er in diefe Zeitfehrift viele Arbeiten Tieferte, fo erwies er fich auch fonft als 
fruchtbarer Schriftfteller, hatte dabei aber manden Strauß zu beftehen ſowohl 
mit Fatholifchen als reformirten, und ſelbſt proteftantifchen Schriftftellern und 








2-3 Sunigher ae r u Ya a re m 





Losfprehung von den Sünden — Lot. 601 


Theologen. Befonders befämpfte er alle von den Pietiften herrührende Schriften 
auf eine fehr heftige Weife, und verlor dadurch fehr an Anſehen bei den „From- 
men“, wenn er glei auf ein thätiges Chriftenthum mit aller Entfchiedenheit drang 
und eine Menge afcetifher Schriften abfaßte. Bon feinen vielen Werfen wollen 
wir nur folgende anführen: Hiftorie des römifchen Hurenregiments, Leipzig 17045 
geheime Gerichte Gottes über das Papſtthum, Leipzig 1706, wogegen fich die 
P. P. Krauſe und Nonhard erhoben. Bollftändiger Timotheus Verinus oder 
Darftellung der Wahrheit und des Friedens in den bisherigen pietiftifhen Strei- 
tigfeiten. 2 Thle, Wittenberg 1718 u. 26, Bol. Fuhrmann, Handwörterbug 
der chriſtl. Religiong- und Rirchengefh. 2, Bd, Jöch er, allgemeines Gelehrten- 
lerieon. I. Thl. Iſe lin, hiſtor. Lericon. (Fritz.] 

SLosſprechung von den Sünden, ſ. Abſolution und Beicht. 

Lot (S, LXX. Aor, Vulg. Lot.), ein Sohn Horans, eines Bruders Abra- 
bams (Genef. 11, 27), begleitete Iegteren und feinen Vater Terab, als fie von 
Ur in Chaldäa, ihrer Heimath, nach Horan zogen und dort fich niederließen (Ge- 
nef. 11, 283— 31). Und fpäter, als Abraham auf Gottes Geheiß auch von da 
wieder fortzog, während fein Vater und feine Berwandtichaft blieben, begleitete 
ihn fein Brudersfohn Lot ebenfalls bis in’s Land Canaan (Genef. 12, 4. f.). 
Es dauerte jedoch nicht lange, fo entſtunden Streitigkeiten zwifchen den Hirten 
Albrahams und Lots, in Folge deren fie fih von einander trennten, und Lot den 
Sordanfreis bezog, bi8 gegen Sodoma hin, eine Gegend, gut bewäſſert und 
fruchtbar, wie ein Garten Gottes (Genef. 13, 5—12). Bald aber traf ihn Bier 
ein großer Unfall, Fünf Städte des Jorbanfreifes, Sodoma, Gomorra, Adama, 
Zeboim und Bela, wurden von Keborlaomer und feinen Verbündeten mit Krieg 
überzogen, weil fie nach zwölfiähriger Dienftbarfeit von ihm abgefallen waren. 
Im Thale Siddim fam es zum Treffen. Die Könige von Sodoma und Gomprra 
fielen, die übrigen flohen, die eroberten Städte wurden ausgeplündert, und da 
Lot zu Sodoma wohnte, wurde auch er fammt feiner Habe fortgeführt. Als Abra— 
ham hievon Kunde erhielt, fegte er mit feinen Leuten und feinen Verbündeten 
den Feinden nach, überfiel fie unvermuthet bei Nacht in der Gegend von Dan, 
flug fie und verfolgte fie bis Choba in der Nähe von Damascus, und nahm 
ihnen alles Geraubte, namentlich auch Lot und feine Habe, wieder ab (Genef. 
14, 1—16). Später al$ die vier Städte des Jordankreiſes, Sodoma, Gomorra, 
Adama und Zebvim, wegen ihrer Lafterhaftigfeit zerflört werden mußten, wurde 
Lot auf eigenthümliche Weife davon in Kenntniß gefegt und vor dem Untergange 
bewahrt. Zwei Engel nämlich famen als unbekannte Fremdlinge nah Sodoma 
und folgten der dringenden Einladung Lots, in feinem Haufe zu übernachten. 
Als aber die Bewohner von Sodoma einen vergeblihen Verſuch machten, die 
yermeintlihen Fremdlinge zu mißhandeln, Fündigten diefe den nahen Untergang 
der Stadt an und führten am frühen Morgen Lot mit den Seinigen hinaus, wobei 
jedoch Lots Weib, weil fie das Verbot der Engel nicht beobachtete, in eine Salz- 
fäule verwandelt wurde (Genef. 19, 1— 28). Jene wunderbare Nettung für 
einen Mythus zu erflären, und mit dem beidnifchen Mythus von Philemon und 
Baucis auf gleiche Linie zu ftellen Cogl. Winer, Realwörterb. s. v. Lot), hat 
man feinen andern Grund, als die rationaliftifhe Wunderfcheue; und der Ver— 
ſuch, die Verwandlung in eine Salzfäure hinweg zu eregefiren (vgl. Roſen— 
müllers Scholien zu Genef. 19, 26. und Winer a, a, O.), verfioßt in alfen 
feinen Wendungen gegen die Tertesworte. Nah Sodoma's Zerftörung begab ſich 
Lot mit feinen beiden Söhnen zunächft nach Zoar, und fpäter von da auf das nahe 
| Gebirge, wo er in einer Höhle ſich aufhielt, Hier wußten es feine beiden Töchter 

dahin zu bringen, daß er ihnen beiwohnte, ohne es zu wiffen. Beide befamen 
Söhne, der Sohn der älteren wurde Stammvater der Moabiter, und der Sohn 
der jüngern Stammpater der Ammoniter (Geneſ. 19, 22. fe 30— 38). Auf 


EEE TER — 
602 Lothar LIE 3 


bier hat man eine aus Nationalhaß entfprungene Bolfsfage, eine fehr gehäffige 
und garflige Dichtung finden wollen, deren etymologifches Fundament felbft ver 
grammatifhen Wahrjcheinlichfeit entbehre (de Wette, Beiträge zur Einleitung 
in das Alte Teftament. II. 94, f. Winer a. a. DJ. Mlein daß gegen dag ety- 
molsgifhe Fundament nichts einzuwenden fei, behauptet felbft Tuch (Commentar 
über die Genefis ©. 370), und Baumgarten bemerkt mit Recht, „diefe Mei- 
nung fei rein aus der Luft gegriffen” , und fügt bei: „denn nirgends wird dieſen 
Volkern ihr biutfhänderifher Urfprung zum Vorwurf gemacht, im Gegentheil 
wird den Ifſraeliten unterfagt, das Gebiet zu betreten, welches Jehova „ven 
Söhnen Lots“ gegeben hat (ſ. 5, 2. 19—21), Erſt nachdem fie fih unbrüderlich 
gegen Iſrael bezeugt haben, wird ihnen und zwar ausdrücklich aus diefem Grunde 
der Eingang in die Gemeinde Iſraels unterfagt (ſ. 5, 23, 4,5)%, (Theologiſcher 
Eommentar zum Pentatend. Kiel 1843, ©, 216). Weber die rabbinifhen und 
mohammedanifchen Zuthaten zu dem biblifchen Berichte über Lot vgl, Calmet, 
Dictionarium Biblicum s. v. Loth. [Welte,] 
Lothar J. II. Lothar L, weftrömifcher Kaifer, Sohn König Ludwig des From- 
men, Die Regierung Lothar’s zerfällt in zwei Perioden, die der Mitregentfchaft mit 
feinem Bater, der ihm im J. 817 die Kaiſerwürde neben fih verlieh, und die 
feiner Alleinregierung als Kaifer nach dem Tode feines Vaters 84L0— 855, Bon 
dem Tage an, als er fich verleiten Tieß, den Eid zu brechen, welchen er feinem 
Vater zu Gunften des jüngften Bruders (aus zweiter Ehe) Carls des Kahlen 
geſchworen, wurde das Franfenreich, deffen Vereinigung nach Carls d. Gr. Tode 
König Ludwig nicht ohne gewaltfame Mittel bei feiner Familie herbeigeführt, den 
heftigften Stürmen zweier Bürgerfriege, mehrfachen Theilungen, der zeitweifen Ent- 
thronung Ludwigs wie der Entfernung Lothars nach Italien Preis gegeben (ſ. Ludwig 
der Fromme). Als aber endlich der alte Kaiſer nach fo vielen Kämpfen mit feinen 
Söhnen auf dem Feldzuge gegen Ludwig den Teutſchen geftorben war, gedachte 
Lothar das Gefammtreich (universum imperium. Nithardi hist. II.) an fich zu reifen, 
Er betrieb deßhalb den Krieg feiner Brüder Pipin und Carl und hoffte den dritten, 
Ludwig, felbft aus feinem Neiche zu vertreiben. Allein er bewirkte nur, daß fi 
die drei Brüder verfländigten, Lothar, der fie mit einem fehändlichen Spiele fal- 
ſcher Eide hintergangen, in der gewaltigen Schlacht bei Fontanetum, welche dem 
Tranfenlande den Kern feiner krieger iſchen Mannſchaft Foftete, 25, Juni 841 be= 
fiegten und zulegt den Kaiſer zwangen, zur Vermittlung die Hand zu bieten, 
welche er nicht nur vor ber Schlacht beharrlich abgewiefen, fondern zu deren 
Fernhaltung er nach derfelben die Normannen wider das fränkiſche Reich aufbot. 
Erft im 3. 843 fam der Friede zu Verbun zu Stande und durch ihn die befannte 
Theilung des Carplinger- Neihes in drei große Theile, Frankreich, Teutſchland 
und Lothringen mit Italien; letztere Länder mit der Kaiſerkrone behielt Lothar, 
War fo zum zweiten Male, den Brüdern wie zuerft dem Bater gegenüber, der 
Pan des Ehr- und Ländergeizigen gefiheitert, fo war er nun in der letzten Zeit 
feines Lebens gezwungen, auch den Sturm zu ernten, den er in der Mitte feines 
Lebens ausgefäet. Der Bruderfrieg der Carplinger hatte den auswärtigen Fein— 
den des Neiches Gelegenheit gegeben, ihre Krafte zu fammeln und das weite 
Küftenland wie herrenlofes Gut zu behandeln. Nur die größte Eintracht Eonnte 
ein fo großes Reich erhalten, nur ein fortwährender Kampf gegen Außen die 
ziwieträchtigen Beftandtheile zuſammenhalten. Lothar fah ſich genöthigt, um Jta- 
lien gegen die Saracenen zu vertheidigen und bie Italiener an’s Reich zu knüpfen, 
dem wichtigen Rande, deffen Beſitz die Kaiferfrone verlieh, feinen Alteften Sohn 
Ludwig IT. zum Herrfcher zu geben; er felbft aber wurde in Lothringen dermaßen 
im Rampfe mit den von ihm entfeffelten Normannen — namentlich nach der Er- 
mordung des mit friesfändifchen Diftrieten belehnten Haralds (845) verwidelt, 
daß Kummer über feine Unfälle und wohl auch Neue über feine ſchweren politi— 








Louvois — Löwen. 603 


fchen und moraliſchen Miſſethaten ihn bewögen, 15 Jahre nach dem Tode feines 
Baters in ein Klofter zu gehen, Hier in der nothgedrungenen Zufluchtsftätte feines 
Baters vor feinen Söhnen, und wohin die Carolinger ihre befiegten Gegner, 
wie ihre Blutsverwandten, Halbbrüder, Schweftern, Vettern gewöhnlich zu ent 
fernen pflegten (per monasteria sub libera eustodia etc. Nith. I. 2), endigte au 
er, ber dritte Kaiſer des wiederhergeftellten weftrömifchen Neihes 855 fein Leben. — 
Lothar U, König von Lotharingien, zweiter Sohn des Vorigen (855—869). 
Berfiel der ältere Lothar in den einen Fehler feines Geſchlechtes, unbegrenzte 
Herrſchſucht, die Treulsfigfeit und Zwietracht gebärt, fo verfiel der jüngere au 
noch in den andern Fehler, finnliche Ausſchweifung. Statt nah einem fruchtlofen 
Berfuhe, wie fein Vater 840 geftrebi, das ganze Erbe fich allein zuzueignen, 
das ihm zu Theil gewordene Neih von der Nordfee bis zu den Vogeſen defto 
rühmlicher gegen die äußern Feinde zu vertheidigen, flürzte ſich Lothar II. um der 
Waldrade feiner Concubine willen in einen heftigen Streit mit dem römifchen 
Stuff, Obwohl nämlich die Erzbifhöfe von Cöln und Trier, Verwandte Wald- 
rada’8, fih gegen Theutberge, die rechtmäßige Gemahlin Lothars erklärt hatten, 
jene ſelbſt die Legaten Papft Nicolaus I gewonnen hatte und die Synoden von 
Aachen und Mes 862 und 863 gleichfalls gegen die verftoßene Königin auftraten, 
and Lothars Ehe bei Lebzeiten der rechtmäßigen Gattin mit der früheren Concu— 
bine billigten, erflärte fich nicht nur Hinemar, Erzbifhof von Rheims (ſ. d. 4.), 
gegen diefe Procedur, fondern ſprach fih Papft Nicolaus I. auch fo entſchieden 
für die Heilighaltung der ehelichen Bande und den Beruf des romifhen Stuhles, 
der Hilfeflehenden Recht zu verfchaffen, aus, daß felbft der Heereszug König 
Ludwigs I. nah Rom zu Gunften feines Bruders Lothar, Drohungen und Ge— 
walt ihn nicht bewegen fonnten, von dem wider die Synoden, die beiden Erzbifchöfe, 
Lotharn und Waldraden ausgefprochenen Urtheile abzugeben, (S. Nievfaus 1). 
Und als nun König Ludwig felbft, hiedurch erfchüttert, fih mit dem Papfte ver- 
föhnte und nach deffen Tode Papft Adrian H. den widerfirebenden König von 
Lothringen zu fich berief, diefer in guten Treuen gehandelt zu haben vorgab, fo 
theilte mit ihm der Papft, gleihfam daß ein Gottesurtheil zwifchen ihm und dem 
Könige entfheide, das Hl, Sacrament in der Communion, Beide riefen das Ge- 
richt Gottes über den Schuldigen herab, und zum Entfegen des Jahrhunderts 
5 nicht nur Lothar, ehe er die Heimath wieder gefehen, fondern auch feine 

jefährten, die ihm im der Unterdrüdfung Theutbergens die Hand gereicht, mit 
ihnen das Gericht Gottes zur Entfheidung angerufen hatten (869), [Yöfler.] 

Louvois, f. Tellier, 

Sovt (Lavtus, Loftus), Dudley, Rechtsgelehrter und Drientalift, wurde zu 
Refernham bei Dublin um das J. 1683 geboren. Auf Beranlaffung des berühm— 
ten Ufferius fandte ihn fein Vater nach Orford (1639). In feinem Vaterlande 
erlangte er fpäter hohe Würden, unter andern bie eines Vicarius generalis in 
Irland, die er bis zu feinem im 5. 1695 erfolgten Tode mit großem Ruhme 
bekleidete. Er war auch Profeffor des Rechts und der morgenländifchen Sprachen 
zu Dublin. Bon feinen verfihiedenen Schriften über das Morgenlaͤndiſche nennen 
wir: Ueberfegung der Palmen aus dem Armenifchen in das Lateinifche; Ueber— 
fegung des äthiopifchen N. T. in das Lateiniſche; Dionyſius des Syrers Reden 
und Erflärung der Evangelien und mehreres Andere überfegte er aus dem Sy- 
riſchen; aus dem Arabifchen das Leben des Abulpharadfh. Noch befigt man von 
ihm: Reductio litium de praedestinatione et libero arbitrio; Aıyaulas adızla u, 

m, a. cf. Wood. ath. Oxon. Taylor, Life of Jesus. 

Löwen (Lovanium), eine alte Stadt in der Provinz Brabant, Die dortige 
Univerfität wurde von dem Herzog Johann IV. von Brabant geftiftet, am 
9, Derember 1425 von Payft Martin V. beftätigt und am 7. September 1426 

eröffnet, Sie wurde im Laufe der Zeit durch zahlreiche Stiftungen bereichert und 


= 


604 | Löwen, 


hatte bei der Aufhebung 42 zum Theil fehr reich dotirte Collegien (eines der 17 

Eollegien für Theologen hatte 36,000 Gulden Einfünfte), Im 16ten Jahrh. 
hatte fie an 6000 Studenten. Sie zählte viele berühmte Männer unter ihren 
Lehrern, 3. B. den Papft Adrian VI. (ſ. d. A.) und Zuftus Lipfius (ſ. d. A). 
Namentlich ftand die theologiſche Facultät immer in einem ausgezeichneten Nufe, 
der indeß fpäter durch die theologiſchen Streitigfeiten des Michael Bajus, Eor- 
nelius Janſenius und Leſſius (ſ. diefe Art.) befledt wurde, Durch Joſeph IL | 
wurde zu Löwen ein Öeneralfeminar (f. d. A.) errichtet und im Juni 1788 für 
einige Zeit die Univerfität mit Ausnahme der theologifhhen Facultät nach Brüffel 
verlegt (f. d. Art, Joſeph II. Bd, V. 805. 806. und Franfenberg). Nach 
der franzöfifhen Revolution rückten die Franzofen in Belgien ein. Am 4. Bru- 
maire des Jahres VI. (25. Det. 1797) bob die Sentral-Verwaltung des Depar- 
tements de la Dyle die Univerfität auf, weil fie nicht den republicanifchen Grund— 
fäßen gemäß Iehre: die Hallen, Collegien, Sammlungen u. |. w. wurden ge— 
fchloffen, die Hauptwerfe der Bibliothek, welche ſchon 1794 und 95 von fran- 
zöfifchen Commiffären geplündert war, nah Brüffel gebracht, den Präfiventen 
der Collegien wurde geboten, binnen zehn Tagen die Collegien zu räumen, ber 
Reetor J. J. Havelange wurde nach Brüffel und von da nach Frankreich geführt, 
mehrere geiftliche Profefforen deportirt; das Vermögen der Univerfität wurbe der 
Direction der National- Domänen überwiefen. Später wurde zu Löwen ein Ly— 
ceum errichtet, — Nachdem Belgien unter niederländifche Herrfchaft gefommen 
war, bemühten fi) in den Jahren 1814 und 15 mehrere Profefforen bei der Re— 
gierung für Wiederherftellung der alten Univerfitätz durch eine Verordnung des 
Königs Wilhelm I. vom 25. September 1816 wurde aber eine neue Univerfität 
mit vier Facultäten (einer philoſophiſch-philologiſchen, mathematifch -naturwiffen- 
Schaftlichen, medieinifchen und juriftifchen) errichtet und am 6, Det. 1817 eröffnet, 
Sie zählte im erfien Jahre 230, kurz vor der beigifchen Nevplution 6— 700 
Studenten, Seit der Revolution im J. 1830 hat Belgien nur zwei Staatsuni- 
verfitäten, Gent und Lüttich, Die Bifchöfe benüsten die von der Verfaffung 
gewährleiftete Unterrichtsfreiheit und befchloffen mit Genehmigung des hl. Stuhles 
die Errichtung einer rein Fatholifchen Univerfität als Fortfegung der alten Uni- 
verfität Löwen. Im Februar 1834 forderte ein von dem Erzbifchof von Mecheln 
und den Bifhdfen von Tournay, Gent, Lüttich, Namur und Brügge ergangener 
Aufruf zu freiwilligen Beiträgen für diefen Zweck auf, Troß des Lärms der 
„Liberalen” wurden am 4. November 1834 zunächſt die philoſophiſche, natur- 
wiſſenſchaftliche und theologiſche Facultät zu Mecheln eröffnet; fie zählten 86 Stu- 
denten, Im folgenden Jahre wurde die Univerfität nah Löwen verlegt und 
dort am 1. December vollftändig eröffnet. Die Zahl der Studenten betrug gleich 
im erſten Jahre 261 und flieg in der Folge auf 700. Die katholiſche Uni- 
Yerfität wird noch fortwährend durch freiwillige Beiträge der Fatholiihen Geift- 
lichen und Laien unterhalten; alljährlich wird in ganz Belgien eine Richen-Col- 
leete für fie abgehalten. Die Bifhöfe fuchten im Januar 1841 bei den Kammern 
für die Univerfität Corporationsrechte nach, nahmen aber wegen des Wiberftandes 
und der Verdächtigungen der „Liberalen“ im Februar 1842 ihr Geſuch zurüd, 
Die Univerfität zählt fünf. Facultäten, Theologie, Jurisprudenz, Medien, Philo— 
fophie und Philologie und Sciences (Mathematif und Naturwifienfchaften). An 
der Spite ſteht der Rector (Prof, de Nam), ein Conseil rectoral (der Vicerector, 
die fünf Decane und der Seeretär) und der Senat, ber aus allen Profefforen be— 
ſteht. Die Profefforen werben von den Biſchbfen auf ihren jährlihen Zufam- 
menfünften ernannt, Die Studenten müffen alle Fatholifch fein und werden zur 
Erfüllung ihrer religiöfen Pflippten, zum Befuch der Vorlefungen und zur Beob— 
achtung der academiſchen Disciplin angehalten. Ein Theil wohnt in Eollegien, 
deren drei beftehen, das College du St. Esprit für Theplogen, das Collöge du 





Loyola — Lübeck. 605 


Pape Adrian VI. für Studenten der Philoſophie und Jurisprudenz und das College 
de Marie-Therese für Studenten der Mediein und Sciences. Im J. 1839 wurde 
mit der Univerfität eine Art von Gymnafium, das Collöge de la Haute - Colline 
mit einem Snternat und Erternat verbunden; es zählte Anfangs 125, fpäter am 
160 Schüler. Seit dem Detober 1844 ift auch ein Institut philologique, philolo- 
gifches Seminar, ähnlich wie an teutſchen Univerfitäten, errichtet. Ferner befteht 
an der Univerfität eine „Literarifche Geſellſchaft“ von Profefforen und Studenten, 
‚unter einer Direction von drei Profefforen und vier Studenten, welche alle vier- 
zehn Tage wiffenfchaftlihe Zufammenfünfte Hält; in ähnlicher Weife ein „Verein 
für flämifche Literatur“ und ein „Verein vom hl. Vincenz“ zur Unterflügung ber 
Armen und Kranfen, Für die Promotion, namentlich in der Theologie und dem 
canonifchen Recht, befteht ein firenges Neglement : das Baccalaureat in diefen beiden 
Fächern Fann erft nach A, das Licentiat nad 6, das Doctorat nah I—10 Stu- 
dienjahren erworben werden, Der Erteilung der Doctorwürde, welde unter 
großen academiſchen und kirchlichen Feierlichkeiten geſchieht, geht eine dreitägige 
Dispütation über 72 Thefen vorher, Die Fatholifche Univerfität Hat von den 
Päpften Gregor XVI. und Pius IX. mehrfadge Zeichen des Wohlwollens erhalten ; 
Pins IX. Hat befanntlich die iriſchen Biſchöfe zur Errichtung eines ähnlichen Ju— 
flituts aufgefordert. Die Anfeindungen der liberalen Partei, welche in gleicher 
Weife eine freie Univerfität zu Brüffel errichtet Hat, haben das Aufblühen der 
katholiſchen Univerfität nicht hemmen fonnen. Die Eramina, welche alljährlich von 
einer Jury für alle belgiſchen Univerfitäten gehalten werden, fallen immer für Lö- 
wen ſehr günftig aus, (Vgl. die Annuaires de l’Universit& catholique de Louvain.) 

2oyola, Ignaz v., ſ. Jefuiten 

Lübeck, Bisthum, und Reformation daſelbſt. Der eigentliche Gründer Lü— 
becks iſt Heinrich der Löwe (ſ. d. A.), der die Stadt ſeit dem J. 1158 beſaß. 
Derſelbe erwirkte die Verlegung des Bisthums Aldenburg (in Wagrien) nad 
Lübeck 1163, und gründete die Domkirche 1173, nachmals die Grabſtätte der 
Lübecker Bifhöfe. Im J. 1342 hielt der Biſchof Johannes von Muhl Hier eine 
Dideefanfynode gegen die Angriffe auf geiftlihe Perfonen (Con. Germ. T. IV.). 
Ebenſo wurden im J. 1420 durch den Biſchof Johannes Schele auf einer Synode 
verfhiedene aus andern Coneilien entnommene Befchlüffe erneuert (T. V.). Das 
Bisthum Lübeck ftand unter dem Erzhistfume Hamburg-Bremen (ſ. d. A). Der 
Magiftrat von Lübeck widerfegte fih lange der Einführung der Neformation. Im 
J. 1525 wurde ein gewiffer Johann von Osnabrück, der nach dem Wunſche des 
Volkes Iutherifh predigte, vom Rathe eingefperrt und auch auf Anfuchen des 
Ehurfürften von Sachſen nicht freigegeben. Hierauf traten Andreas Wilhelmt, 
Paſtor zu St. Aegidi, Michael Fund und Johann Walhof als Neformatoren auf, 
Sie wurden, auf Anzeigen der Geiftlichfeit, der Stadt verwiefen ; Luthers Po- 
ftilfe und andere Schriften wurden durch Henfershand auf dem Marfte verbrannt. 
Die Unzufrievenen aus Lübe zogen nun in die Nachbarorte zu dem [utherifchen 
Opttesdienfte. Ein aus Belgien geflohener Prediger, Peter Friwersheim, follte 
in die Stadt eingeführt werden, wozu fih bald Wege fanden. Die Stadt war 
verſchuldet; neue Steuern follten eingeführt werden, die proteftantifche Parter 
benügte die Gäfrung, um Leute von ihrer Farbe in den Bürgerausfhuß zu 
bringen, Diefe mußten die Aufftellung von Predigern verlangen, die das Evan— 
gelium rein und lauter verfündigten, wie das in Braunfhweig, Hamburg und 
Wismar geſchehe. Der Rath widerftand. Als er aber den Bürgern die Artifel 
in Betreff der Steuern vorlegte, worüber er fih mit dem Ausfhuffe von 48 
- Bürgern geeinigt Hatte, erffärten die lauteſten Stimmen jener, fie würden nichts 
bezahlen, wenn nicht die vertriebenen Prediger zurücgerufen, und die Nebung 
der neuen Lehre freigegeben werde. Alle Gegengründe des Nathes halfen nichts; 
Wilhelmi und Walhof wurden zurückberufen; jener Prediger in St, Peter, diefer 


606 2ubienidi, 


zu St. Maria, unter der Bedingung jedoch, daß fie Frieden Halten, Doch — 
fie griffen den Fatholifchen Glauben an; die Geiftlihen der Kirche vertheidigten 
ihren Glauben, und mußten auch gegen die neue Lehre wegen Gefahr der Ver- 
führung der Gläubigen anfämpfen, Die Neuerer beflagten fich über Läfterungen 
ihrer Gegner; fie verlangten vom Nathe eine Disputation, und daß denen Stilf- 
fhweigen geboten werde, welche ihre Lehre nicht aus der HL. Schrift beweifen 
könnten. Die Stiftsherren verweigerten dag Erflere und überreichten ein Schrei» 
ben des Herzogs Heinrich von Braunfchweig des Inhalts, daß er die Stiftung 
feiner Ahnen befhügen werde, Alfein das Volk fehritt zu Drohungen; es fam- 
melte fih zum Deftern in hellen Haufen vor dem Dome, und verlangte Abftellung 
der Schmähungen und des Göhendienftes der Pfaffen. Es erzwang endlich ven 
Beſchluß: das Predigtamt dürfe nur der verwalten, der vom Nathe, von eigens 
beftellten Bürgern und den Predigern des reinen Wortes tüchtig erfunden wor- 
den; denen, Die. es wünſchen, folfe dag Abendmahl in der Kirche des hl. Aegidius 
unter beiden Öeftalten gereicht werben; in den andern Kirchen folle es, unter Vor— 
behalt fpäterer Reform , vorerft bei'm Alten bleiben — 2, April 1530. Die für 
die Katholiken günftigen Beflimmungen wurden nicht erfüllt; Aus dem größern 
Ausſchuſſe der Bürger verfügten ſich zwölf Abgeorbnete zu den katholiſchen Geift- 
lichen und verboten ihnen, bis auf Weiteres Die Kanzel zu befteigen. Bald wurde 
die Meſſe ald Götzendienſt in allen Pfarr= und Kloſterkirchen — 27. Juni, und 
auch im Dome — 2, Juli abgeſtellt. Ein fiharfes Eaiferliches Ediet — Detober, 
verlangte die Wiedereinführung des alten Gottespienftes. Umſonſt. Der große 
Ausſchuß wurde um 100 Mann vermehrt und Johann Bugenhagen (ſ. d. U.) 
herberufen, der den neuen Gottesdienſt ordnete und ſogleich eine Schule grün- 
dete.. Da der Senat noch immer dem Neuen wiberfiand, fo fehritten Die 164 des 
Ausfchuffes gewaltfam vor, und feßten die Glieder des Raths in Haft, Der 
Rath wurde völlig eingefchüchtert und mußte zu Allem fein Jawort geben, 
Neue entfprechende Mitglieder wurden ihm einverleibt und bald war alfer Wider— 
ftand gebrochen. Der ehrgeizige fihlaue Wollenweber, der in Kurzem Bürger- 
meifter wurde, beutete die Religion für feine weltlichen Zwecke aus; unter feiner 
Herrfhaft wurden die Kirchen in der Stadt und dem ganzen Gebiete geplündert, 
Lübeck nahm die Befchlüffe des (1535) zu Hamburg gehaltenen Convents an, durch 
welche die neue Lehre im Gegenſatz gegen die Katholiken und Wiedertäufer be- 
ffimmt wurde. Nach ihnen folle jeve Obrigfeit die Sacramentirer und die Katho— 
liken aus ihrem Gebiete verbannen; jeder Prediger folle an das Augsburgifche 
Bekenntniß gehalten fein; von dem alten Gottesdienſte und der alten Kirchenprd- 
nung follten noch beliebige Stücfe beibehalten werden, damit nicht alle Zierbe des 
Gottesdienftes fehle, und öffentliche Sünder mit dem Kirchenbann belegt werben 
fönnten, Die Fatholifche Kirche war aus der Stadt und dem Gebiete Lübecks ver- 
ſchwunden. In neuefter Zeit haben fih wieder einige Katholiken Dort zufammen- 
gefunden, Ihre Zahl wird auf 200 angegeben, Bgl. Chytraeus Sax..L. XII. 
et XIV. Niffel, Kirchengeſch. U. Bd. Schlegel, Kirhen- und Neformationd- 
geichichte von Norbteutfchland, I. Bd, [Oams.] 
Lubienicki, (lat, Lubienicius) Stanislaus, ward aus einer abeligen Familie 
im J. 1623 den 23. Auguft zu Rakow (nicht zu Krakau, wie bie Biographie uni- 
verselle, Bd. XXV. ©. 328. und Feller, dictionnaire historique S. v. haben), 
dem Sige der polniſchen Antitrinitarier im Gebiete von Krakau geboren, In 
feiner Zugend befuchte er das Gymnafium feiner Vaterftadt, Später ſchickte ihn 
fein Vater Chriſtoph Lubienicki, welcher Prediger in Rakow war, nah Thorn, 
wo er zwei Jahre blieb, damit er dort in der teutſchen Sprache ſich vervoll⸗ 
kommnen möchte. Hier ward er mit Jonas Schlichting und Martin Ruar, den 
bekannten Antitrinitariern, welche ſich wegen des Colloquium charitativum dort 
aufhielten, befreundet. Dieſes Colloquium hatte den Zweck, die Abgefallenen mit 








Lubienicki. 607 


den Katholiken wieder zw vereinigen (vgl. €. A. Menzel, neuere Geſchichte der 
Zeutfhen, Bd. VIII. ©. 105 ff.), erreichte aber eben fo wenig diefen Zwed, als 
die vielen andern abgehaltenen Colloquia. Lubienicki war bei diefem Colloquium 
Schriftführer von Seiten der Soeinianer, Darauf ging er als Hofmeifter des 
iungen Grafen Niemyryez nach Franfreih und Holland, Als aber 1645 fein 
Bater ftarb, kehrte Lubienicki wieder nach Polen zurück und verheiraihete ſich mit 
der Tochter des Paul Brzeski Zegota, welcher aus einem Lutheraner ein eifriger 
Unitarier geworden war, In demfelben Jahre ward er dem Prediger in Sied- 
liaka, Soannes Ciachowski, zum Coadjutor gegeben. Nicht lange nachher übertrug 
ihm die antitrinitarifche Synode zu Charfow das Amt eines Predigers in diefer 
Stadt (Rubieniki war nie Prediger in Lublin, wie die Biographie universelle aus 
einer VBerwerhfelung mit Andreas Lubienicki Hat.). Während des ſchwediſchen 
Krieges begab ſich Lubienicki ebenfo wie die meiften Proteftanten unter den Schuß 
des Röniges von Schweden und fam mit ifm nach Krafau. Hier fihrieb er den 
Brief, welcher vem Eommentare des Jonas Schlihting zum Evangelium Johannes 
vorgedrugft ift und fuchte für feine Seete möglihft zu wirken, Als aber Krakau 
1657 von den Polen wieder eingenommen wurde, folgte Lubienidi mit andern 
Speinianern der ſchwediſchen Garnifon und begab fih zum Könige von Schweden, 
um ihn dringend zu bitten, er möge doch beim Friedensſchluß mit Polen dahin 
wirken, daß für alle Unitarier Amneftie ausbedungen werde, Sp kam Lubienidi 
nad Stettin und traf am 7. Det. 1657 in Wolgaft ein. Er warb vom Könige 
von Schweden und deffen Miniftern recht gnädig aufgenommen und häufig zur 
Tafel geladen, obgleich die Intherifchen Prediger diefes durchaus nicht gern ſahen, 
da Lubienicki feine Gelegenheit vorbeiließ,, von feiner Religion zu ſprechen. Bon 
dort reiste er nah Dliva bei Danzig, wo die Friedensunterhandlungen zwiſchen 
Polen und Schweden ihren Anfang genommen hatten, Fonnte aber aller Anften- 
gungen ungeachtet es nicht bewirken, daß die Unitarier in die Amneflie aufge- 
nommen wurden, Als er fo die Hoffnung auf Rückkehr in fein Vaterland ver- 
Ioren hatte, begab er fich nach Kopenhagen, hier traf er am 28, Nov. 1660 ein, 
um. dort für. feine aus Polen vertriebenen Glaubensgenoffen vom Könige Fried- 
rich II. von Dänemarf die Erlaubniß, dort fih aufhalten zu dürfen, zu erlangen. 
Es gelang ihm aber nur für fih, nicht aber für feine Glaubensgenoffen, diefe 
Erlaubnig zu erhalten. Der König bewilligte ihm auch eine jährliche Penfion, 
unter der Bedingung, daß Lubienici, welcher einen fehr ausgedehnten Brief- 
wechſel führte, ihm die merfwürdigfien in Abfihrift mittbeilte, Die Lutheraner 
‚Liegen aber den Lubienicki in Kopenhagen nicht ruhig leben. Er wendete ſich deß- 
halb nah Pommern, zuerfi nad Stralfund und dann nah Stettin 1661. Da er 
aber auch bier Feine Ruhe fand, reiste er nah Hamburg und ließ 1662 feine 
Familie nachkommen, Bon hier begab er ſich nochmal! nah Dänemark und fand 
beim Könige wieder eine gnädige Aufnahme. Die Behörden in Friedrihsburg 
erlaubten Lubienicki's Glaubensgenoffen in ihren Häufern Gottesdienſt zu halten. 
Doch trat dem der Superintendent Johannes Rembott eifrig entgegen und in 
Folge deffen erließ der Herzog von Holftein-Oottorf an Lubienicki den Befehl, die 
Stadt zu verlaffen, Lubienicki wollte nun wieder nah Hamburg zurüdfehren, 
allein auch Hier erwirften die Iutherifchen Prediger von der Obrigkeit den Befehl, 
daß Lubienicki wieder aus der Stadt fortgehen follte, Aber noch ehe dieſer Befehl 
zur Ausführung fommen Fonnte, farb Lubienicki, wie feine Glaudensgenoffen 
felbft berichten, nebft zweien Töchtern an Gift, welches das Hausgefinde ihnen 
beigebracht hatte, am 8. Mai 1675, Die Leiche ward zu Altona begraben, aber 
nicht ohne heftigen Widerftand der Iutherifchen Prediger. — Bon feinen Werfen 
- find zu nennen: Theatrum cometicum, Amstelodami 1688. 2 tom. fol, - Diefes 
Buch ift dem Könige von Dänemark dedieirt und enthält die Geſchichten aller 
- Kometen, und iſt gerade im Gegenſatz zu der früheren Meinung gefchrieben, 


608 Lubranski — Lucia, 


welche beim Erfcheinen der Kometen alferlei Unglück befürchtete. Historia refor- 
mationis Polonicae, in qua tum reformatorum tum antitrinitariorum origo et pro- 
gressus in Polonia et in finitimis provinciis narrantur, autore Stanislao Lubienicio, 
equite Polono. Freistadii apud Joannem Aeonium 1685. Diefe Geſchichte ift im 
Geifte feiner Secte gefihrieben, aber für die Gefchichte der Reformation in Polen 
fehr wichtig. Außerdem hat Lubienicki noch eine. Menge yon Schriften hinterlaffen, 
welde noch gar nicht einmal gedruckt find. [Uedind,] 

Rubransfi, Johann, Bifhof von Pofen (1499—1520), verwendete große 
Summen auf die Verfhönerung der Domkirche, ließ zum befferen Schuß des 
Domes gegen räuberifche Anfälle eine große zum Theile noch beftehende Mauer, 
welche alle Wohnungen der Domherren und Vicarien umfchloß, aufführen; fliftete 
ein Collegium von 12 Pfalteriften mit einem befonderen noch jest flehenden Ge— 
bäude u. f. w. Befonders aber machte er fich verdient durch Stiftung einer ge— 
Iehrten Schule, Gymnafium oder Academie genannt, welche durch mehrere Jahr- 
hunderte, wenngleich unter verfchiedenen Werhfelfällen, eine der berühmteften 
Bildungsanftalten in Polen wurde. Das von ihm für dieſe Academie aufgeführte 
Gebäude ift jegt der Sig des Clericalſeminars. 

Sucaris, f. Cyrillus Lucaris, 

Rucas, ſ. Evangelien, 

Lucas von Tun (Lucas Tudensis) erhielt diefen Namen von der Stadt 
Tuy in Gallicien, wo er Diacon und von 1239 an Bifhof war, Zuvor war er 
Canonicus regularis im Klofter St. Iſidor zuleon, Er machte verſchiedene Reifen 
in den Drient und nach) andern Ländern, um über die Religion und die Gebräuche 
der verfchievdenen Völker Studien zu machen. Nach feiner Rückkehr fehrieb er mit 
viel Urtheil und Genauigkeit I. ein Werk gegen die Albigenfer (epistola de 
altera vita, fideique controversiis adversus Albigensium errores libr. I.), Sngol- 
ftadt 1612, auch zu finden in der „Biblivthef der Väter”, wie in Gretſers 
Werfen. I. Eine Gefhihte Spaniens von Adam bis 1236, eigentlich eine 
Fortfegung vom Chronicon Isidori Hispalensis bis zum genannten Jahre; fie be- 
findet ſich in Schotti Hispania illustrata. II. Vita et miracula S. Isidori, eingereiht 
beim 4, April in den Actis Sanctorum und bei Mabillon in Saeculo II. Sanctor. 
Ord. D. Bened. Lucas von Tuy flarb 1288, 

Qucernarium, ſ. Brevier. 

Lucia, hochverehrte HI. Jungfrau und Martyrin, Im Meßcanon, 
wie er im Saeramentar Gregor's des Großen vorfommt und noch jetzt gebetet 
wird, fommt unter den Namen der hl. Martyrinnen auch der Name der h. Lucia 
vor (f. S. Greg. opp. ed. Maur. III, 4); ferner enthält das Sacramentar Gregors 
(5.144) die Gebete auf ihr Feft, und der liber responsalis oder das Antiphonar 
deffelben Papftes (ſ. S. 842) gibt für ihren Feſttag am 13. Dec, dieſelben Anti- 
phonen, wie fie mit einigen Abweichungen noch jegt ad laudes et per horas im 
Brevier vorkommen. Aldhelm, der berühmte englifche Dichter, Abt und Biſchof 
son Sherburne C+ 709) führt in feinem befannten Brief an die Nonnen des 
Kloſters Berkin über die jungfräufihe Neinigfeit unter den hochberühmten hl. 
Jungfrauen auch die Lucia von Syracus an (ſ. Erſtes Jahrh. d. Engl. Kirche, 
©. 295, und Basnage-Canifing, lect. antiq. I, wo von 709—754 Aldhelms 
Brief, von ihm felbft in ein Gedicht übertragen, zu Iefen und ©, 743— 744 von 
em Martyrium Lucia’8 die Rede ift). Beda in feinem Martyrologium, (Boll. 
im II. Band des Monats März zum 13. Dec.), Ufuard, Wandelbert, Rhabanus 
Maurus u. A. in den ihrigen, erwähnen alle am 13. December die Leidensge— 
fchichte der HI. Lucia, Hieraus erhellt einerfeits, in welch’ hoher Verehrung feit 
der älteften Zeit die hl. Lucia in der ganzen Kirche (auch die Öriechen gevenfen 
ihrer zum 13, Dec.) fund, und andererfeits wie alt und ehrwürbig die von Surius 
zum 13, Dec, gelieferten Leidensacten der hl. Lucia find, denn auf die ſe Duelle 





BE SE 








Lucianus. 609 


gehen Gregor's Antiphonar, Aldhelms Schrift und alle martyrologiſchen Berichte 
über Lucia zurück und mit dieſer Duelle ſtimmen fie alle der Hauptſache nach 
überein; freilich mag etwa erft ein Jahrhundert nach Lucia’ Tod die in Nede 
ſtehende Paffio abgefaßt worden fein, weßhalb, wie es ſcheint, einige Aus- 
ſchmückungen und in Nebendingen einige Irrthümer unterlaufen, welche Ruinart 
bewogen, biefelbe nicht in feine Martyreracten aufzunehmen. Das Wefentlihe 
der Surianifhen Acten ift Folgendes. Lucia, aus vornehmem Gefchlecht der 
Stadt Syracus entfproffen und Hrifilich erzogen und ſchon frübzeitig ihres Baters 
durch den Tod beraubt, mußte mit Schmerz mehrere Jahre zufehen, wie ihre 
fromme Mutter Eutychia ungeachtet aller ärztlihen Hilfe von einem Blutfluffe 
nicht frei wurde, und beredete fie endlich, zu Cataneaı am Grabe der HI. Agatha, 
der hochberühmten ficilianifhen Jungfrau und Martyrin, welde in der Berfol- 
gung des Decius ihr Leben für Chriſtus opferte (ſ. die Bolland. zum 5. Febr.), 
ihre Heilung zu erflehen. Als diefe wirklich erfolgte, entvedte Lucia ifrer Mut- 
ter, welche fie mit einem vdrnehmen, aber heidniſchen Fünglinge zu vermählen 
wünfchte, daß fie durch ein Gelübde Ehrifto ihre Keufchheit geweiht Habe, und 
gerne gab nun die Mutter den Plan mit ihrer Tochter auf und willigte auch ein, 
daß diefe Vieles von ihren Gütern verfaufen und den Erlös an die Armen ver- 
iheilen durfte, Da der Züngling fih in feinen füßen Hoffnungen getäufcht fah, 
Hagte er die feufhe Jungfrau wuthentbrannt bei dem Richter Paſchaſius als 
Epriftin an. Es geſchah dieß während der Diorletianifchen Verfolgung. Stand- 


| Haft befannte fich Lucia vor dem Richter zu Chriſtus, daher befahl Paſchaſius, 
| fie, wie e8 der hl. Agatha gefihehen war, in ein Haus der Unzucht abzuführen, 


allein als man fie dahin bringen wollte, war feine Gewalt im Stande, fie von 
der Stelle zu fhaffen. Unverfehrt blieb fie au von dem Feuer, das hierauf 


I Yafhafins rings um fie anlegen ließ. Beſchämt befahl der Tyrann, ihr einen 


Dolch in den Hals zu ſtoßen, worauf fie no einige Stunden Iebte, den Leib 
Ehrifti empfing und ein baldiges Ende der Verfolgung und den Verfolgern die 


| nahen Strafgerichte vorausfagte. In der Folge kamen ihre Gebeine nah Meg 


und Venedig. Vgl. Tillemont, Mem. V, 142; Butlers Leben der Väter und 
Martyrer 13, Dee. — Mit der HI. Lucia von Syracus ift aicht zu vermiſchen 
die HI. Wittwe Lucina, über welde man bei Tillemont IV, 554 sqq. nach- 
lefen fann, _ ISchrodl.) 
Lucianus (wie er bei Epiphanius haer. 43. und Johannes Damascenus 
haer. 43. heißt) oder Lucanus (wie Andere ihn nennen, Tertullian. de resurrect. 
carnis c. 2. Origenes c. Cels. 1. II. n.27. S, Philastr. haer. 46. ed. Fabricius) 
war einer der vornehmften Anhänger des gnoftifchen Häuptlings Marcion (ſ. d. A.). 
Diefer Lucian wird von den meiften alten Verfaffern eigener Werfe über bie 
Regereien der erften Jahrhunderte und deren Urheber als Haupt einer eigenen 
guoftifchen Secte (der Alt-Lucianiften) aufgeführt, die jedoch bald wieder erlofch, 
da ſchon der eifrige Forfcher Epiphanius im vierten Jahrhundert nicht viel Sicheres 
mehr davon aufzutreiben vermochte. Lucian behauptete, das Syſtem feines Mei- 
ſters Marcion weiter ausbildend und ſchärfer entwidelnd, drei ewige Wefen oder 
Prineipien. Diefe find ihm das oberſte gerechte Wefen (zugleid Schöpfer und 
Richter), das oberfte gute Wefen, und das oberfte böfe Wefen, wofür er ſich 


auf gewiffe Stellen der Propheten berief, Außerdem verwarf er die Ehe aus 


prineipieller Oppofition gegen den Schöpfer, um nicht durch diefelbe, wie er fagte, 


| die Macht des Schöpfers, indem Kinder gezeugt und die Geſchöpfe vermehrt 
] werben, noch zu verftärfen (S. Epiphan. haer. 43.). In Betreff der fünftigen 


Auferfiebung ließ er zwar für jest Leib und Seele des Menſchen untergehen, 

dafür aber dermaleinft eine ganz neue Subftanz („tertium quiddam*) auferftehen 

(Tertullian. de resurrect. carnis c. 2. ed. Semler). Endlih wird auch von ihm 

und feiner Seete berichtet, daß fie gleich dem Anhang des Marcion und des Va— 
Kirchenlexikon. 6. Bd. 39 


610 Lucidus — Lucifer von Calaris, 


lentinus das Evangelium verfälfchten (Origenes c. Cels.-1. IL.-n. 27. ed. Maur.). 
Vgl. Tillemont les Marcionites Art. IX. (T. IL. p. 281—82). Vgl, hierzu ven 
Art, Gnoſticismus. i [Seßler.] 

Sueidus, ein pradeftinatianifher Priefter im fünften Jahrhun— 
dert, Im Gegenfage zu den Semipelagianern, welche die auguftinifche Lehre 
durch falfche Eonfequenzmacherei präbeftinatianifch deuteten und fie dadurch eines: 
ganz unerträglihen Widerſpruchs mit dem allgemein-menfchlichen und dem chrift- 
lich⸗ſittlichen Bewußtfein zu überführen fuchten, gab es in der zweiten Hälfte des 
fünften Jahrhunderts in Galfien eine, wenn auch nicht gar große, Partei, die um 
jeden Preis an dem Lehrbegriff des verehrten Bifchofs von Hippo hing. An ihrer 
Spige ftand als befonderer Vorkämpfer und Vertreter ein fonft unbekannter Pres- 
byter, Namens Lueidus, 0. 474, Weil aber diefe Anhänger der auguftinifchen 
Lehre nicht die Geiftesfraft eines Prosper, Hilarius, Fulgentins ze. befaßen, um 
die jener Lehre von den Semipelagianern aufgebürbeten Confequenzen als ſolche 
zurückzuweiſen und den wefentlichen Unterfchied zwifchen dem wahren Auguftinis- 
mus und dem femipelagianifhen Zerrbilde deffelben hervorzuheben, fo nahmen 
fie, nur um den Auguſtinismus nicht fallen zu Yaffen, diefe fälfchlich gezogenen 
Eonfequenzen Tieber als wefentliche Beftimmungen der auguftinifchen Lehre an, 
und behaupteten alfo: 1) daß der freie Wille durch die Sünde Adams gänzlich 
vernichtet fe — ex foto arbitrium voluntatis extinctum ; 2) daß das menfhliche 
Thun und Streben neben der göttlichen Gnade unnüß ſei; 3) daß durch den 
Willen Gottes verloren gehe, wer immer verloren gehe, indem das göttliche 
Borherwiffen als ein abfolutes zugleich ein Vorherbeſtimmen fei und den Men- 
fchen mit Gewalt zur Sünde treibe — praescientia Dei hominem violenter com- 
pellit ad mortem; 4) daß Einige zum Tode, Andere zum Leben prädeſtinirt ſeien; 
5) daß Chriftus nicht für Alle geftorben fei; 6) daß auch nach empfangener Taufe 
alle in Adam fterben, welche wieder fündigen, d. 5. daß die Erbfünde in der 
Taufe nur zugedeckt, nicht aber wahrhaft und mit der Wurzel ausgetilgt werde, 
und daß folglich die facramentale Wiedergeburt nur in den Auserwählten eine 
wahrhafte fei. — Aus der vollfommenen Nebereinftimmung diefer Säge, die man 
als den Inbegriff des Prädeftinatianismus der damaligen Zeit betrachten muß, 
mit den Confequenzen, welche die Semipelagianer aus der auguftinifihen Lehre 
zogen, geht klar hervor, daß diefe Lehrbeſtimmungen nicht erft von Lueidus und 
Seinesgleichen erfunden und felbftfländig entwicelt, fondern ſchon vorgefunden 
und als wefentlihe Beftimmungen der auguftinifchen Lehre angenommen wurden. 
. Während fich ſchon mehrere Bifchöfe über die Frage berathſchlagten, ob man Lu— 
ridus nicht geradezu feines Amtes entfegen ſolle, um dur diefes Beifpiel der 
Strenge weitere Anhänger zurückzuſchrecken, ſchlug Fauftus (ſ. d. A.) von Riez 
vor, erſt ven Weg der Güte zu verſuchen. Ein Brief (abgedruckt bei Canisius 
lectiones antiquae, Ausgabe von Basnage I, 352), den er zu biefem Zwecke 
an Lueidus ſchrieb, feheint ohne Erfolg geblieben zu fein, darum fam die Sache 
um 475 vor eine Synode zu Arles. Hier verbammten 30 Biſchöfe Die obigen 
Site, Nun verftand fich Lucidus gerne zum Widerrufe fraglicher Lehrbeftim- 
mungen, was aus feinem Schreiben an die gallifchen Bifchöfe Cofr. Mansi T. VII. 
p. 1108 sgq.) deutlich erhellt, und damit war feine Rolle ausgefpielt; überhaupt 
ſcheint die präbeftinatianifche Partei jebt bald ganz verfehwunden zu fein, denn 
fonft Hätte fi) die zweite Synode von Drange 529 nicht fo zweifelhaft darüber 
ausdrücken fünnen, ob es je Solche gegeben habe, welche Iehrten, daß Gott auch 
zum Tode oder zum Verberben prädeftinire. Vgl, Natal. Alexand, histor. eccl. 
Paris. TV. Schrödp, Kirchengefih, 18, Thl. S. 148 ff, Gfrdrer, Kirchen⸗ 
geſch. Bd. I. Abthlg. 2, (Fritz.] 

Lucifer, ſ. Teufel, 

Lucrifer von Calaris und das luciferianiſche Schisma. Bon dem 








al nnd u Sie de ae due 2 . 


Lucifer von Ealaris, 611 


frühern Leben Lucifer’s Haben wir feine fihern Nachrichten; im Jahr 354 tritt 
er fhon als Bifchof von Ealaris (Cagliari) auf der Inſel Sardinien auf, 


Yapft Liberins fuchte damals von dem Kaiſer Eonflantius, der fih, von Va— 
lens und andern Arianern umgeben, zu Arles aufhielt, nah dem unglüclichen 
Ausfall der Synode von Arles im F 353 (f. d. A.), die Zuſammenberufung 
einer neuen Synode zur endlichen Beilegung der arianifchen Streitigfeiten zu er- 
fangen. Er ſchickte alfo Lucifer, der fih gerade zu Rom befand, und den Priefter 
Pancratius und den Diacon Hilarius mit einem Briefe an den Kaiſer nach Arles; 
zugleich gab er ihnen ein Schreiben an Eufebius, Bifchof von Vercelli (ſ. d. A.), 


mit, welcher fih darauf der Gefandtfhaft anſchloß. Conftantins ging auf den 


Borfhlag des Papſtes ein, und das Eoneil fam im Frühjahr 355 zu Mailand 
zufammen, Lucifer war auf demfelben einer der Hauptgegner der Arianer, welche 
befonders auf der Verdammung des Athanafius befanden; um die übrigen katho— 
liſch gefinnten Bifchöfe feinem mächtigen Einfluffe zu entziehen, wurde er im 
Faiferlihen Palafte eingefperrt, fand aber Gelegenheit, an feine Gefinnungsge- 
noffen zu fihreiben und wurde nach einigen Tagen wieder freigelaffen. Bald nach« 
ber wurde derfelbe Gewaltftreich wiederholt, und der Kaiſer hörte dießmal, hinter 
einem Borhang verborgen, Lucifers furchtloſe Disputationen mit den Arianern 
an, Er wurde nun noch einige Zeit militärifch bewacht und dann, da feine Stand- 
baftigfeit gar nicht zu breiden war, verbannt, zuerft auf furze Zeit nach Cappa— 
docien, dann nach Germanicia (Tomagene) in Cölefyrien, darauf nad Paläftina, 
zulegt nach Aegypten. Da er überall feine Anfichten frei ausſprach und fland- 
haft verteidigte, fo wurde er von den Arianern vielfach belaftigt und mißhandelt; 
in Paläftina überfielen fie ihn fogar einmal in der Kirche während der hl. Meſſe, 
zraubten die bl. Gefäße und Bücher und tödteten mehrere Anwefende, In der 


Verbannung verfaßte Lucifer feine Schriften: de non conveniendo cum haereticis; 


de regibus apostatis; pro S. Athanasio libri duo; de non parcendo in Deum delin- 
quentibus und moriendum esse pro Dei filio. In dem erften Buche beweist er, 
daß zwiſchen den Katholiken und Arianern ebenfowenig jemals Eintracht und Friede 
fein fonne, als zwifchen den Siraeliten und Götzendienern. Das zweite Werk 
widerlegt eine Aeußerung des Conftantins, daß Gott feine arianiſche Gefinnung 
nicht fo fehr- mißfällig fein müffe, da er ja trotz derfelben glüdlich lebe und re= 
giere, durch das Beifpiel vielermifraelitifchen Könige, die Gott auch troß ihrer 
Schlechtigkeit ange am Leben und Regieren gelaffen habe, In den Büchern pro 
S. Athanasio fest Lucifer die Gründe auseinander, warum er fich geweigert habe, 
die Verdammung des Athanafius mitzuunterzeihnen. In dem vierten Werfe ant- 


wortet er auf die- Einrede des Kaifers, daß es doch undriftlich von Lucifer und 


den andern Orthodoxen fei, die Arianer fo hart anzufahren: man finde in der hl. 


Schrift ebenfo Harte Ausfprüche und bei den Heiligen des alten und neuen Bundes 


ein ebenfo unerbittlich firenges Auftreten gegen Gottlofe, Ketzer und dergleichen 
Menfhen, die doch nicht ſchlimmer feien als die Arianer. In dem legten Werfe 
endlich erklärt Lucifer, daß und warum er mit Freuden bereit fei, für feinen 
Glauben das Martyrium zu erdulden. — Lucifer behandelt diefe Gegenftände in 
einer ganz eigenthümlihen Weife: eine georbnete Aufzählung und Ausführung 
son Gründen und einen ruhigen Beweis für feine Behauptungen ſucht man ver- 
gebens; er führt in allen feinen Werfen eine ganze Reihe von Schriftftellen (und 
zwar immer ganz ausführlih) an und wendet jede einzeln auf feinen Gegenftand 


an. In den meiften Werfen folgen diefe Stellen faft ganz in derfelben Ordnung 


E 
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— 


auf einander, wie fie in der hl. Schrift vorkommen, fo daß die Vermuthung nahe 

Liegt, Lucifer Habe jedesmal die HI. Schrift durchgeleſen und dabei die Stellen, 

die ihn paſſend fchienen, ausgewählt und der Reihe nach in feiner Weife commen- 

. Das einförmige Wiederholen derfelben Gedanken in verfihiedenen Ausdrüden, 

das ununterbrochene Drohen und Warnen, dazu der harte, ungefämeibige Styl 
39 


612 Lucifer von Calaris, 


machen das Lefen diefer Werfe wenig erquidlich, wenn auch die eiferne Kraft 
und unbeugfame Feftigfeit, die fich in jevem Satze ausfpricht, und Die fühne und 
eigenthümliche Beredtfamfeit vieler Stellen Bewunderung erregen muß. Uebri— 
gens hat fihwerlich jemals ein Fürft einen Biſchof in einer ſolchen Sprache mit 
fich reden hören , wie fie Lucifer dem Conſtantius gegenüber führt: Anreden, wie 
folgende: vos estis servi diaboli, spirituales adulteri, filii pestilentiae et tenebra- 
rum ; intelligeris esse filius pestilentiae; apostatas (angelos) in aeternum tecum vi- 
surus eris torqueri, nisi femet eripueris ab eis; non delegimus ardere, sicut tw 
delegisti cum amatore tuo-diabolo, ftehen gar nicht vereinzelt, und doch meint Lu= 





eifer felbft (de reg. ap.) , feine Schriften feien eher instructiones, als increpationes 


zu nennen, Der ganze Charakter Lucifer’s, feine rückhaltloſe Dffenheit, feine 


freimüthige Kühnheit, fein ſtandhaftes Feftgalten an feiner Neberzeugung, feine 


Geringfohägung aller irdifchen VBortheile, aber auch fein gänzlicher Mangel an 
ruhiger Ueberlegung und fein unbefonnener Eifer fprechen fich in dieſen Schriften 
aufs Klarfte aus, — Er ſchickte diefelben Coder einige derfelben) auch direct an 
den Raifer, der über diefe Kühnheit fo erflaunt war, daß er durch den Magister 
officiorum Florentius bei Lucifer anfragen ließ, ob die Schriften wirklich von ihm 
überfandt ferien. Lucifer war nicht der Mann, das zu läugnen; er fagt in feiner 
Antwort an Florentius fogar: jam tuae erit generositatis, agnitum a me sine ulla 
eunctatione defendere. Athanafius bat den Lucifer, als er von deſſen Schriften 
hörte, um eine Abfehrift, und ertheilte venfelben in einem fpätern Briefe große 
Lobſprüche; er fol fie auch in's Griechiſche überfegt Haben. Um biefelbe Zeit gab 
Hilarius von Poitiers fein Werf de synodis heraus; obſchon feine Orthodoxie 
gewiß über jeden Zweifel erhaben war, meinte Lucifer doch, er habe den Häre- 
tifern in einigen Puncten zu vielnachgegeben, und veranlaßte dadurch den Hila— 
rius, in furzen feinem Werfe beigefügten Erläuterungen die getabdelten Ausdrücke 
zu erflären und zu rechtfertigen. Mit dem Tode des Conftanting (Ende 361) 


endete Lueifer's Verbannung; Julian erlaubte allen Bifchöfen die Nüdffehr, Lu— 


eifer ſcheint aber zunächft gar nicht oder nur auf ganz furze Zeit nach Calaris zu— 
rückgekehrt zu fein; denn ſchon im J. 362 finden wir ihn wieder mit Eufebius von 
Vercelli im Drient thätig, Diefer und zwei Diacone Lucifer's wohnten dem von 
Athanaſius nach Alerandrien berufenen Concil bei; Lucifer felbft ſuchte unterbeffen 
das in Antiochien entfiandene fogenannte meletianifhe Schisma (I. d. A.) zu heben, 
Er wählte dazu das eigenthümliche Mittel, den zwei Bifchöfen einen dritten, Pau- 
Yinus, beizugeben; berfelbe wurde indeß gleich in Aegypten und Cypern und im 
Abendlande, auch vom Papfte, anerkannt, Eufebius mißbilligte diefe Mafregel. Zu 
Alerandrien hatte man den Befchluß gefaßt, die reumüthigen Arianer follten, wenn 
fie nicht Häupter der Härefie gewefen wären, nicht nur wieder in bie Kirche auf- 
genommen, fondern auch in ihren Kirchenämtern belaffen oder darin wieder ein- 
gefegt werden. Diefer Befchluß erregte Lucifers Unzufriedenheit im höchſten 
Grade; aber er war durch die Unterfchrift der von ihm bevollmächtigten Diaconen 
gebunden, Nach Rufin, dem auch Ambrofins (de Sat. 1. 1. p. 1127), Auguftin 
Cep. 50. cap. 10), Hieronymus (dial. 6. Lucif. c. 20) und Profper (chron. p. 732) 
beiftimmen, hätte fih nun Lucifer von der Gemeinfchaft derjenigen, welche das 
alerandrinifche Eoncil annahmen, und damit auch von der Kirche — denn daffelbe 
fand allgemeine Zuftimmung — ganz getrennt;- nach Sorrates und Sozomenus 
aber wären nur feine Anhänger foweit gegangen, er felbft aber nicht ſchismatiſch 
geworden. Sicher ift, daß man diejenigen, welche es für unerlaubt hielten, daß 
die Bifchöfe, die einmal Arianer gewefen, oder die auf dem Coneil zu Ari— 
minum fich zur Unterfehrift hatten zwingen laffen, jemals wieder als katholiſche 
Bifhöfe anerfannt würden, und die wegen biefer Strenge fi von ber Gemein— 
Schaft der Kirche Iogfagten, Luciferianer nannte. Hieronymus (dial. c. Lucif. 
6,20) mißbilligt Lucifer's Verfahren, nimmt ihn aber gegen die Verbächtigung 











Lucifer von Calaris. 613 


in Schuß, als hätte er aus Ehrſucht und gefränfter Eitelfeit (weil Euſebius 
feine Mafregeln in Antiochien mißbilligte), fo gehandelt, und in der That erflärt 
ſich auch Lucifers Fehltritt, wenn er wirklich ſchismatiſch geworden ift, hinlänglich 
aus feinem rigoriftiihen und harten Charakter, 363 fehrte Lucifer in fein Bistum 
zurüd; er reiste über Neapel, wo er mit dem Biſchof Zofimus, welder ftatt des 
unter Conftantius verbannten Marimus eingefegt war, jest aber wahrfcheinlich 
den Arianismus aufgegeben hatte, in Gemeinfchaft zu treten fich geweigert haben 
fol. Er flarb 370 oder 371. Db er ſich no vor feinem Tode, wenn diefes 
aöthig war, mit der Kirche wieder ausgefühnt hat, darüber fehlen alle Nachrichten. 
Ueberhaupt ift das Urtheil über Luciferd Benehmen und darüber, ob er zu dem 
Heiligen zu zählen fei, oder nicht, getheilt. Urban VII. verbot 1641, bis auf 
weitere päpftilihe Verfügung über die Heiligkeit und Verehrung Lurifers zu dispu- 
tiren (f. Bened. XIV. de beatif. et canoniz. Set. t. 1.1.1. c. 40). — Die Secte 
der Lurciferianer wird oft von Auguftinus erwähnt (de agone chr. c. 30; im 
Ps. 57 nro. 39). Er fagt de haer. ad Quodr. c. 81, fie würden von Epiphanius 
und Philafter im Verzeichniß der Häretifer nicht erwähnt, wahrfcheinlich weil diefe 
fie nur für Schismatifer gehalten hätten; doch würden diefelben von Jemand 
darum für Häretifer gehalten, weil fie Traducianer feien; auch Gennadius 
(de dogm. c. 14) erwähnt diefes ald Meinung der Luciferianer, animus cum 
corporibus per coitum seminari. — Wir haben noch (bei Migne Patrol. t. 13) 
eine Bittfhrift von den Iuciferianifchen Prieftern Fauftin (ſ. d. A.) und Mar- 
eellin, worin fie die Kaiſer Balentinian II., Thevdofius und Arcadius (383 vder 
384) erfuchten, fie als orthodor anzuerfennen, Theodoſius ließ ſich auch täuſchen 
und nahm fie in Schuß. Wir fehen daraus, daß ihr Schisma damals in Spa- 
aien, Stalien, Palaftina, zu Antiochien und in Africa Anhänger zählte, daß fie 
in Rom einen von Taorgius geweihten Biſchof, Epheſius oder Eurefius, hatten, 
und daß wenigftens ein Theil ihrer Anhänger auch gegen Damafus für den Gegen- 
papſt Urfinus oder Urfieinns Partei genommen hatte. Mit befonderer Auszeich- 
aung erwähnen diefe Luciferianer Gregor, Bifhof von Elvira und Heracliveg, 
Biſchof von Oxyrinchus in Aegypten. Die Schrift ift übrigens fehr gewandt und 
beredt abgefaßt, wimmelt aber von Entftellungen und Verläumdungen, namentlich 
gegen Papſt Damafus, und von fohresflichen Erzählungen über göttliche Straf- 
gerichte, die über die Abgefallenen und ihre Gönner bereingebrochen feien; die 
Menge der Abgefallenen fei fein Grund, gegen fie milder zu verfahren, zumal 
diefelben doch meift nur aus irdifchen Rückſichten wieder Fatholifch würden, näm— 
Th um des Rirchenguts willen, quod utinam nunquam possedisset ecelesia, uf 
apostolico more vivens fidem integram inviolabiliter possideret; daß ihrer firengen 
Anfiht nur ſehr wenige zugethan feien, Fonne der Wahrheit derfelben feinen Ein- 
trag thun; die fogenannten Orthodoren feien unter fich gar nicht einmal einig und 
hielten nur darum mit einander Gemeinfchaft, ne bonum pacis in ecclesia pereat, 
aber fie glichen den falfchen Propheten, qui clamant: pax, pax; ei non est pax, 
wf.f. — Bon Hieronymus haben wir einen Dialog contra Luciferianos; ob der= 
felbe wirklich fo zu Antiochien zwifchen dem Luciferianer Helladius und einem 
Ratholifen gehalten, oder ob diefe Situation von Hieronymus erdichtet ift, iſt 
zweifelhaft; jedenfalls find darin die Grundfäge der Serte nach des Berfaffers 
eigener Erfahrung dargeftellt. Es zeigt fih darin wieder ganz Lucifer’s hartes 
und firenges Wefen: die ganze Welt, fagt der Luriferianer , ift des Teufels; die 
Biihöfe, die ans dem Artanismus zurückkehren, find nicht beffer, als Gögen- 
prieſter; ein arianifcher Bifhof mag Arianer bleiben, wenn er Bifchof bleiben 
will; will er aber Katholif werden, fo verzichte er auf fein Bistfum. — Die 
Secte erlofh übrigens bald. Noch weiter, als die eigentlichen Luciferianer, ging 
der römische Diacon Hilarius, Lucifers Begleiter bei der Gefandtfhaft an Kaiſer 
Eonftantins: er wollte feine Arianer in die Kirche aufnehmen ohne Wiederholung 


614 Lueiferianer — Lucius J. 


der Taufe, Da er aber felbft nur Diacon war und fein Bifhof ihm beitrat, fo 
ftarb die Secte mit ihm aus, Diefem Hilarius werben von einigen der Com— 
mentar über die paulinifchen Briefe unter den Werfen des Ambrofins und die 
quaestiones in V. et N. T. unter Auguſtin's Werfen zugefchrieben (ſ. d. A. Am- 
brofiafter). — Die erſte Ausgabe ver Werfe Lucifers beforgte Joh. Tiling, 
Biſchof von Meaur (Paris 1568); diefelben finden fi auch in der Biblioth. PP. 
t. 4, bei Galland t. 6 und bei Migne Patrol t. 13. — Man vgl, über Lueifer 
und fein Schisma befonders die Einleitungen zu den Werfen Lucifers, der Priefter 
Fauſtin und Marcellin und des Papſtes Damafus bei Migne, Tilfemont 1.7 
und die Acta SS. 20. Maji. | ſReuſch.] 

Luciferianer, Häretiker im 13ten und 14ten Jahrhundert, Unter 
dieſem Namen kommen mehrere Secten des 18ten und 14ten Jahrh. vor, welche 
die aus dem Morgenlande in das Abendland eingeſchleppten gnoſtiſch-manichäi— 
Then Irrthümer bis zu dem Extrem fteigerten, daß fie den Lucifer wie ihren Gott 
verehrten, feinen Sturz vom Himmel für eine Ungerechtigkeit hielten und behaup- 
teten, er mit feinen andern gefallenen Engeln werbe einft wieder erhoben, dagegen 
der Erzengel Michael mit feinem Anhange in das ewige Feuer geftürgt werden. 
Daß fih die gnoſtiſch-manichäiſche Keserei in mehreren Sectirern und Secten bis 
zu diefem Grade des Haffes gegen Gott und die fihtbare Kirche ausgebildet, ift 
ganz glaubwürdig; nur fragt es ſich, ob Alfe, welche des Luciferianismus ange- 
fhuldigt worden find, auch wirklich demfelben huldigten. Unter ven Luciferianern 
werben obenan die Stedinger aufgeführt, Bewohner des Gaues Steding an 
den Niederungen der Wefer, welche 1234 von einem gegen fie ansgezogenen 
Kreuzheere gänzlich gefchlagen und großentheils aufgerieben wurben (f. den Art. 
Stedinger). Hieher gehören auch die im Anfang des 1Aten Jahrh. in Deftreih 
entdeckten und zahlreich verbreiteten Manichäer, welche ſich der gräulichften Blas— 
phemien und Unfittlichkeiten ſchuldig machten, und vor dem Lucifer eine hohe Achtung 
bezeigten, ihn dem Erzengel Michael vorzogen und feinen endlichen Triumph über 
diefen behaupteten (Klein, Geſch. des Epriftenth. in Deftreih und Steiermarf, 
Wien 1840. Bd. I. ©. 394—402;5 Raynald. Annal. Eccl. ada. 1318. no. 44). 
Daß unter die Fraticellen (f. d. A.) und geiftesverwandtes Gefindel auch Luci- 
ferianer ſich einſchlichen, hat alle Wahrfcheinlichkeit für ſich; vielleicht waren bie 
14 Luciferianer beiderlei Gefchlechts, welche 1336 zu Tangermünde in der 
Mark Brandenburg verbrannt wurden, folche Neberläufer; indeß reichte auch der 
Fraticellismus, die Brüder- und Schwefterfchaft vom freien Geifte (f. d. U.) 
allein ſchon hin, um aus fich heraus Luciferianer zu erzeugen. [Schrödt.] 

Lucilla, ſ. Donatiften, | 

Lucius 1.— IH, Päpſte. Lucius J. Nah dem Martertod des Papftes 
Eornelius wurde Lucius an feine Stelle eingefegt — 25. Sept. — 28, Det, 252 
n. Chr. Alsbald wurde er in die Verbannung geſchickt. Als der HI. Cyprian um 
die gleiche Zeit feine Weihe und feine Verbannung vernommen, richtete er an ihn 
in feinem und feiner Amtsgenoffen Namen theilnehmende Briefe, auf welche Cy- 
prian felbft in einem fpätern Schreiben verweist (Cyp., Ep. 61. ad Lue. al. 58; 
Constant. Ep.’Rom. Pont. 1. p. 207), in welchem er ihn nach feiner Rücklehr aus 
der Verbannung beglückwünſcht. Wann diefe und fein vermuthlich baldiger Marter- 
tod erfolgt fer, iſt nicht gewiß. Damit Liegt auch die Zeit feines Pontificats im 
Dunkeln, Nicephorus CH. E. VI. 7) theilt ihm kaum 6 Monate zu; Eufebius 8 
Monate (H. E. VI. 2), Sicher ftarb Lucius nicht unter Balerian den Martertod, 
und der Liber pontif. und andere mit ihm irren, wenn fie dem Papfte Lucius 
3 Jahre 8 Monate feiner Würde zutheilen. Ein (falfcher) Decretalbrief wird 
dem Papfte Lucius zugefchrieben, Nach Eyprian Cep. 67) fiheint Lucius mehrere, 
jegt verloren gegangene, Briefe über die Behandlung der Gefallenen gefhrieben 
zu haben, Er trat auch den Novatianern entgegen, Lucius hielt 2 Ordinationen 





—Laclns IL 615 


im Monat December; er befielfte A Prieſter, A Diacone und an verfchiedenen 
Drten 7 Bifhöfe. Das Papſtbuch fchreibt ihm die Verordnung zu, daß den Biſchof 
allenthalben 2 Priefter und 3 Diacone begleiten follen als Zeugen feines Wan- 
dels, Sein Martertod wird mit vielem Grund bezweifelt; die Bezeichnung Mar- 
tyrer bei Eyprian (Baron. a. a. 257. num. 5) ift zu allgemein, und geht auch auf 
die Befenner. Sein Todestag fällt auf den 4. März (des J. 253); am folgen- 
I den Tage wurbe er beerbigt auf dem Leichenarfer des Calliſtus an der appiſchen 
1 Strafe. (Bgl. Fr. Pagi breviar. Cypriani epist. ad L. bei Migne Tom. II. der 
1 Ser. Pr. p. 969— 984.) — Lucius II. Nach dem Tode Eöleftin II. wählten die 
Cardinäle nah 3 Tagen den Cardinal Gerhard, aus Bologna ſtammend, der fi 
Lucius I. nannte — 12. März 1144. Bald erhoben die von Arnold von Brescia 
Ci. d. Art.) gereizten Römer fich gegen den Papſt. Sie wollten zu dem Senate, 
den fie hatten, einen Patricius als weltliches Haupt; fie verlangten von dem 
Papſte, daß er alle Einfünfte in und außerhalb der Stadt ihrem Patricius ab- 
trete; er folle felbft nah der Sitte der alten Priefter nur von den Zehnten und 
freiwilligen Gaben leben. Zugleih wandten fih die Anhänger Arnolds an dem 
Kaifer Eonrad IM. (ſ. d. A.), er möge nah Rom fommen, und dort den Sig 
feiner Herrſchaft auffchlagen. Sie hatten das Capitol eingenommen, um nad 
der Weife des Alten Roms von da aus zu herrfchen. Auch der Vapft, der aus 
Nom hatte fliehen müffen, wandte fih an den Kaiſer um Hilfe und erhielt die 
- Zufage derfelben. Borber wollte Lucius die Römer durch Gewalt zur Unterwer- 
fung zwingen. Er drang mit Bewaffneten gegen das Capitol vor, wurde aber 
zurüdgefhlagen, und in diefem Kampfe durch einen Steinwurf zum Tode ver- 
wundet. Er farb den 25. Februar 1145. Lucius that Mehreres zur Reformation 
der Kirche und -der Klöfter, und. intereffirte fih, foweit die Berhältniffe es er— 
laubten, für das heilige Land, (Golfr. Viterbiens. chron. act. Vatic. ap. Baronium 
ad a. 1145. Martene et Dur. coll. ampl. I. p. 396. sqq. Der hl. Bernhard von 
Neander, 2, Aufl. 1848, Die Briefe des Lucius bei Mansi coll. c. XXII. Sein 
Leben von Pandulph. Pis., Bern. Guidonis und Cardin. Arag.) — Lucius. Nah 
dem Ableben des Papftes Alerander IH. wurde den 1. Sept. 1181 Humbaldus 
zum Papfte gewählt, aus Lucca in Etrurien, Biſchof von Oſtia und Beletri und 
Decan des HI, Collegiums. Im J. 1182 brach zwifchen dem Papft und den Rö— 
mern Streit aus. Der Papft wurde genöthigt, aus Rom zu fliehen. Zu feinem 
Schutze rüdte Chriftian, Erzbifchof von Mainz und Kanzler des Kaiſers, gegen 
Rom mit einem großen Deere und bedrängte die Römer; doch ftarb er bald darauf. 
Im Anfange des J. 1183 befand ſich der Papft zu Beletri, wo er Aci Reale 
in Sieilien zum Erzbistfume erhob. In diefem Jahre fheint der Papft no 
einmal nah Rom zurüdgefehrt zu fein; aber die Römer begingen neue Schand- 
thaten und Verbrechen; fo flachen fie Anhängern des Papſtes die Augen aus, 
und triebigen fonftigen Hohn mit dem Papſithum. Lucius belegte die Verbrecher 
mit dem Banne, und verließ mit den Seinigen die Stadt für immer, Er begab 
| fih nach Berona, weil er hier dem Schutze des Kaiſers Friedrih näher war. Er 
reiste über Bologna, wo er die Kirche zum HI, Petrus weihte, und über Modena, 
wo er die Kirche zum HI. Geminianus einweihte, und zwar beides auf Erfuchen 
des Erzbifchofs von Ravenna, nah Verona, in welcher Stadt er im Juli des 
J. 1184 ankam. Kurz darauf fam auch Kaifer Frievrih dahin, Es wurde in 
Gegenwart des Papftes und des Kaiſers eine Verſammlung gehalten, welche be» 
fonders die-damaligen Firchlichen Angelegenheiten behandelte, Die Römer wurden 
als Feinde der Kirche erklärt, und den im Morgenlande nothleidenden Chriften 
folle Hilfe gebracht werben. Leber die Angelegenheit der mathildifchen Güter 
konnten fih Papft und Raifer nicht einigen. Bon diefer Verfammlung aus erlieg 
der Papſt auch ein firenges Edict gegen die Katharer oder Neumanichäer; auch 
gegen Die Armen son Lyon (ſ. Waldenfer) und gegen die Schüler Arnolds, 








616 — Lucius, der Heilige, 


Die Anhänger diefer Secten wurben mit beftändigem Anathem belegt. — Zwi— 
Then dem Papfte einerfeits und den Sultanen Saladin und Seifeddin wurben 
Verhandlungen gepflogen über die Behandlung und Auslöfung der Gefangenen, . 
Im J. 1184 kam eine Gefandtfhaft der morgenländifchen Chriften zu dem Papfte 
mit der Bitte um Hilfe. Der Papft fandte fie mit Briefen an ven König Hein- 
sich II. von England, welchem zur Sühne für die Ermordung des Erzbifchofs Thomas 
son Santerbury (ſ. Becket) ein Kreuzzug oblag. Die Gefandten famen im J. 1185 
nach England. Indeß blieb diefes Vorhaben ohne Erfolg. Der Papft ftarb zu 
Verona den 24. November des J. 1185, nach einem Pontificate von 4 Jahren, 
2 Monaten, 8 Tagen. Er wurde zu Verona begraben, — Bol. Artaud de 
Montor, Par. 1847. T. U. p. 278. Pagi Brev. T. II. Seine Briefe und Er- 
Jaffe bei Mansi T. XXI. [®ams,] 
Lucius, der Heilige, König, Biſchof und Apoftel von Noricum, Bindelicien 
und Rhätien, Wag außer fagenhaften over glaubwürdigen Ueberlieferungen von 
feinem Leben erhalten worden, ift in Beda's Gefchichte der Angelfahfen Bd, I. 
Cap. 4 und in Gaufried's von Monmuth Geſchichte der altbrittifchen Könige 
enthalten, Beda zog den einleitenden Theil feiner Gefchichte iS zur Belehrung 
der Angelfachfen meiftens aus fehriftlichen Denfmälern der Vorzeit; er berichtet: 
„unter der Regierung des Marcus Antonius Berus und feines Bruders Aurelius 
Eommodus zur Zeit, da der HI. Eleutherus dem Pontificat der römischen Kirche 
vorgeftanden,, habe Lucius, König der Dritten, ein Bittfchreiben an jenen Papft 
Hefendet, daß er ihm zum chriftlichen Glauben verhelfen möge, Der König habe 
alsbald das Ziel feiner Bitte erreicht, auch die Britten hätten ſodann die chriſt— 
liche Religion angenommen und fie bis zur Zeit des Kaiſers Diveletian unverletzt 
und im ungeftörten Frieden bewahrt,” Gaufried von Monmuth in feiner Ge— 
fchichte der altbritannifchen Könige von Brutus his Cadrelader (450) ſchreibt 
(ib. I. cap. 63): „Lucius, der einzige Sohn des gutmüthigen Königs Coillus, 
ererbte alle guten Eigenfchaften feines Vaters, Er fandte Briefe an Papft Eleu— 
therus und verlangte von ihm das Chriftenthum zu empfangen. Denn die Wun- 
der, die die Schüler Chrifti unter den verſchiedenen Völfern wirkten, hatten feinen 
Geiſt erleuchtet, und von Liebe zum wahren Glauben erglühend, erreichte er 
das Ziel feiner Bitte, Denn der felige Papft, wahrnehmend die gottfelige Ge- 
finnung des Königs, fandte zwei glaubenseifrige Männer Fuganus (Cauch Fega— 
tius genannt) und Digamus Cauh Damian, Dumian, Duvian genannt, eine 
Pfarrkirche zum Hl. Deruvian findet fih zu Dunftar, Grafſchaft Somerjet) zu 
ihm, welche die Menfchwerbung des göttlichen Wortes verfündeten, ihn tauften 
und zu Chriftus befehrten, Spgleich ftrömten auch feine Unterthanen, dem Bei- 
fpiele ihres Königs. folgend, herbei und wurden durch daſſelbe Bad der hl. Taufe 
dem Reiche Gottes einverleibt, Die heiligen Lehrer haben dann beinahe auf der 
ganzen Inſel das Heidenthum zerſtört und die Götzentempel zum Dienfte des 
Einen und wahren Gpttes und feiner Heiligen eingeweiht; an die Stelle der frü- 
bern 27 Flaminen und der drei Archiflaminen haben fie eben fo viel Biſchöfe und 
Erzbifchöfe aufgeftellt, Darauf find fie wieder nah Rom gegangen, um ihre An- 
ordnungen vom Papfte beftätigen zu Iaffen und fpäter mit vielen andern Prieftern 
nah Britannien heimgefehrt, durch deren Lehre das Volk der Britten in kurzer 
Zeit im Glauben Chrifti ift befeftigt worden. Ihre Namen und Thaten find im 
Buche Gildas „vom Siege Aurelius“ in erhebender Sprache zu lefen, darum fie 
bier übergangen werben. Inzwiſchen bat der ruhmwürdige König Lucius, als er 
von großer Freude überwallend den Dienft des wahren Glaubens in feinem Reiche 
verherrlichet fah, die Befigungen und Güter der vorigen Götzentempel zu befferm 
Gebrauche den Kirchen der Gläubigen übergeben, fie mit vielen andern noch ver— 
mehrt und mit Gebäuden erweitert, Unter folchen verbienftlichen Thaten ift er 
endlich zu Gloceſter (Claudiocestriae) aus dieſem Leben geſchieden und in ber 








- Kirche des erften biſchöflichen Sites ehrenvoll begraben worden im Jahre nad 
Ehrifto 156. Er Hinterließ feinen Sohn, der ihm in der Regierung nachgefolgt 
wäre. Parteiungen brachen unter den Dritten aus, bis der Senator Severug 
von Nom entfendet nah blutigen Kämpfen die römifhe Oberherrſchaft auf der 
Snfel wieder berftellte ; fo viel aus der alten Chronif des Gaufrieds von Mon- 
muth (f. d. Art. Oalfried von Monmuth), die im Wefentlihen mit Beda 
übereinftimmt, Daß König Lucius einen Brief an Papft Eleutherus fandte zum 

angegebenen Zwede, wird auch von einem unter Kaifer Zuftinian verfaßten Ca- 
talog der römifchen Päpſte serbürgt und Lucius, der Einer jener Könige war, die 
unter römifcher Oberherrlichfeit einzelne Landestheile Britanniens regierten, iſt 
fona als der erfte hriftliche König in Europa anzufehen. Dieß darf keineswegs 
auffallen. Denn ſchon zur Zeit der Apoftel drang das Licht der chriſtlichen Reli- 
sion bis nach Britannien. Papſt Clemens (ep. ad Corinth.) verfihert, der HI, 
Paulus habe das Evangelium an den äuferften Enden des Abendlandes verfündet, 
Gildas (de exeidio Britanniae c. 8) behauptet: der erſte Strahl des göttlichen 
Lichtes fei in Britannien um das achte Jahr der neronifchen Regierung erſchienen, 

und außer Juflin (in dialogo cum Triphon.) und Jrenäus (adv. haeres. lib. 1. c. 2) 
bezeugt Tertullian im Anfange des dritten Jahrh. (Clib. contr.' Judaeos c. 8), 
„ielbft diejenigen Landestheile von Britannien, die den römifchen Waffen unzu- 
gänglich waren, wurden Jeſu Chriſto unterworfen“, Dem Coneil von Arles 
(314) wohnten drei brittifche Bifchöfe bei, Eborius von Yorf, Reftitutus von 
London und Adelphius, wahrſcheinlich Bifchof von Lincoln. — Eine große Lücke be— 
ſteht nun zwifchen dem brittifhen Könige Lucius und dem HI. Bifchof Lucius, 
dem Apoftel von Noricum, Vindelicien und Rhätien, welche bei völligem Abgange 

Weiterer hiftorifcher Denkmäler nicht mehr ausgefüllt werden kann. Alte Sagen 
und Veberlieferungen, die bei Sprecher Paladis Rhaeticae 1. 2., Raderus Bavaria 
Sancta Tom. I. p. 14 und im Churer Brevier propr. ad diem 3.Decemb. enthalten 
find, verfnüpfen jene Beiden zu Einer Perfon und berichten: König Lucius habe 
Äpäter der Krone entfagt, fich auf das Feftland begeben, einen großen Theil Eu- 
ropas durchwandert, in Noricum, Bindelicien und befpnders zu Augsburg das 
Evangelium verkündet und dort einen der Vornehmften der Stadt, Campeftriug 
und viele Bürger zum chriſtlichen Glauben bekehrt. Bon dort vertrieben, feier 
nach Rhätien gegangen, babe die Kirche und den bifhöflichen Sig von Chur 
gegründet und in ganz Nhätien das Chriftentfum ausgebreitet. Bon den Heiden 
verfolgt, babe er fi lange an dem Orte, der nah ihm St. Lucienſteig ge- 

.nannt wird, verborgen gehalten, fei dann an feinen frühern Aufenthalt in eine 

Höhle (St. Lucislöhlin) zurüdgefehrt, endlich von den Heiden ergriffen und 

in der Feflung Martivla zu Chur, wo nun die bifhöfliche Kirche fteht, am 3. De— 

eember des J. 182 gefteinigt worden, Das Bistum von Chur verehrt ihn als 
feinen erſten Stifter und Gründer, hält feinen Fefttag am 3. Derember und 
bewahrt einen Theil feiner Gebeine; ein anderer fam nah Augsburg in die - 

Kirche zum HI, Franciseus und in die ehemalige Sefnitenfirhe, Die Dom- 

kirche in Chur ift das ältefte Firhlihe Gebäude der Schweiz und fällt in das 

fiebente Jahrhundert, Vrgl. hiezu die Artifel Angelfahfen Br. I. ©. 246, 
Bayern Br, I. ©, 698, Chur und Eleutherus, Papfı, Bd. IM. 
©. 520, [©reit6.] 

Sud, -7>, LXX. Aovd, Vulg. Lud. Die Völfertafel (Gen, 10, 22) nennt 

Lud 1) als vierten Sohn Sem's. Das A, T. fowie die alten Ueberfeger und Er⸗ 

Härer haben über diefen Stammnamen feine weitere Ausfunft gegeben; ‘die mei- 
fien Autboritäten erfennen darin die Lydier, fo Joſephus Cantt. 1,6. 4. vis 
Avdovs vor zahodcı, Aovdovg dt rore, Aovdas Exrıos); nad ihm Eufta- 

thius im Hexaöm., Eufebius, Hieronymus u, Andere, Durch Bochart (Phal. 2. 12) 

wurde biefe Erklärung faft zur herrfchenden erhoben; Neuere, wie Feldhoff (die 


618 Lud. 


Bölfertafel der Geneſis S. 125), Krücke (Erklärung der Völkertafeln S. 53) 
haben fie ohne weitere Begründung beibehalten; Michaelis (Spicil. I. 14. sqq.) 
vermuthet einen Schreibfehler flatt 7777 oder Ta ober 727> Indier (ogl. arab, 


ag) ; Hißig (zu Jeſ. 66, 19) nimmt +5 = > Übyer; Simonis erklärt es 
etymologiſch durch 73>° (geboren), Die neueften Unterfuhungen find auf mehr 
gefiherte und befriedigende Nefultate gekommen, — Lud ift (nach Gen. ]. c.) 
femitifcher Abftammung, die ihm vorausgehenden Söhne Sems: Elam, Arphach- 
ſad, Affur Haben den Dften des Semitenbereichg befegt Cogl. die Art,), es fann 
da fein bedeutendes Volk mehr nahgemjefen werden, Lud muß dem Weften des 
femitifchen Gebieted angehören und zwar dem ſüdlichen, Aegypten nahe gelegenen 
Theile, da es auch bier (ogl. N. 2) Ludim gab. Eine arabifhe Sage kennt Yaud 
ober Lawad (Ss) als Sohn des Sem und läßt von ihm die Söhne Pharis, 
Djordian, Tasm und Amlik oder Amlaf abflammen (Abulf. hist. anteisl, p. 16). 
Lesterer habe anfänglich in Chaldäa gewohnt, von da durch die Affyrer veririe- 
ben, in Bahrein, Oman, Jemen, befonders aber in Hedjaz und endlich au in 
Paläftina und Syrien Cibid. p. 178). Von diefen Stämmen fennt das A. T. 
die Amlik, d. 5; die Amalefiter, Amalek heißt zwar (Gen. 36, 12, 16) ein 
Enfel des Eſau, damit fann aber nur ein Feiner amalefitifch-edomitifcher Miih- 
ſtamm gemeint fein, nicht das Volk der Amalefiter, diefes war lang vor Eſau 
vorhanden (Gen. 14, 7) und wird als Erftling der Bölfer (ovs mrunn Num, 
24, 20) bezeichnet. Ueber feine Abftammung berichtet das A, T. nichts; was es 
aber über die geographifche Lage der Amalekiter berüßrt, ftimmt ganz überein mit 





den arabifhen Angaben; zur Zeit Abrahams wohnen fie auf der finaitifchen Halb- -⸗ 


infel (Gen. 14, 7), in der mofaifchen Periode befeinden fie Iſrael (Exod. 17, 
8. ff. Num, 14, 25. Deut. 25, 17. ff), in der Richterzeit find fie mit den Moa- 
bitern, Ammonitern, Didianitern und Söhnen des Oſtens verbündet gegen Sfrael 
Richt. 3, 13, 6, 3. 33, 7, 12). Saul und David, legterer von Philiſtäa aus, 
befriegten fie (1 Sam. 14, 48. 15, 1. 27, 8. ff. 30, 1. ff). Sie wohnten dem⸗ 
nach in hiſtoriſcher Zeit im norbweftlihen Arabien, Nach der arabifchen Sage 
wohnten Amalefiter auch in Canaan, welde von Mofes und Joſua vertilgt wur- 
den (Abulf. 1. e. p. 178)5 auch diefes ift durch das A. T. bezeugt; in Ephraim 
gab es ein Gebiet oder Gebirge Amalek (Nicht. 5, 14. 12, 15); die LXX. (zu 
2 Sam, 10, 6. 8) geben 7>>72 (maacha) dftlich vom Jordan, fonft ald aramäiſch 
bezeichnet, durch Auadrz. Bol, zu dem Bisherigen Knobel, die Wölfertafel der 
Genefis S, 198— 215, wo weiterhin die Amoriter, Pherefiter, Heviter, Philifter, 
die Riefengefchlechter der Nephaim und Enalim, die Hyffos u, A. als Abfömm- 
Iinge von Lud nachgewiefen werben, und Lud überhaupt ald das Voll der Ur- 
araber, welches durch die Affyrer im Oſten verdrängt, weftwärts z0g, in Aegypten 
einfiel und felbft in das nordweftlihe Africa vordrang; nach langer Herrſchaft 
wurde es aus Aegypten vertrieben und Fehrte zu ven Stammgenofjen im Semiten- 
bereiche zurück; diefe, die arabifchen und hebräifchen Völker, zeigten ſich ftets feind- 
felig und fuchten es auszurotten, woher ſich vielleicht der Name 77> als part. pa. 
son 5 = Ag) drücken, mißhandeln, ald Bedrückte, erffären läßt, oder von 
ey) perversus, injustus fuit, wie denn die urarabifchen Stämme von den Arabern 
Kr ungläubige, gottlofe Menfhen und die Amalefiter vom A. T. geradezu als 
Sünder (1 Sam, 15, 18), die Amoriter als Uebelthäter (Gen. 15, 16, 1 Köm. 
21, 26) dargeftellt werben, — Die Bölfertafel (Gen, 10, 13) kennt 2) Dys3>, 
Aovdısın als Abkoömmling Mizraims, das übrige A, T. führt den Stamm auf 
neben den Aethiopiern und Libyern als Kriegsgenoffen von Aegypten (Jer. 46,9. 
Ezech. 30, 5); Ludim ift der ägyptifiete Theil des Cim Vorigen beftimmten) ſemi⸗ 
tifchen Lud, entftanden vielleicht durch Verfehmelzung von Hykſos mit Aegypten; 





Ludgardis. 619 


nach den von den alten Ueberſetzern gegebenen ethnographiſchen Umſchreibungen 
von Ludim (z. B. durch Neutäer Thargum Jonathans, Tenniſiter Saad.) wohnten 
fie im nordoſilichen Theile von Aegypten, wo nach Herodot (2, 165. ff.) die Krie— 
ger Cals welche das A. T. die Ludim kennt) größtentheils ihre Wohnſitze hatten, 
Bol. Knobel a. a. O. ©. 279. ff. [Rönig.] 
Ludgardis (Ludgaris, Lutgardis), die heilige, eine der hervorragendſten 
Geftalten auf dem Gebiete der chriſtlichen Myſtik, entfproffen 1182 zu Tongern 
son anfehnlihen Eltern, wurde zwar ſchon frühzeitig von ihrem Vater zum Ehe— 
flande auserfehen, aber doch theils durch das Zureden der Mutter, theils durch 
innern Trieb zum Eintritt in das Catharinenflofter der Benedictinerinnen bei der 
Stadt des hl. Trudo beftimmt. Sie war erft etwas über 12 Jahre alt, als fie in 
diefes Klofter fam. Zwei Zünglinge, die ihr nachftelften, wies fie ftandhaft ab, wobei 
ihr, im Gefpräch mit dem einen, Chriftus erfchien und auf feine blutende Geiten- 
wunde zeigend fprach: „Hier betrachte, was du und warum du Lieben folleft, bier 
wirft du die reinften Wonnen finden !“ Seitdem trat fie in ein immer innigeres 
Wechſelverhältniß zu ihrem Heilande, der ihr oft erfchien und fie mit den außer- 
ordentlichften Gnadengaben überhäufte. Auch die Mutter Gottes, die HI. Engel, 
die Hl. Johannes der Täufer und Johann Baptift, die HL. Catharina und andere 
Heilige pflegten mit ihr einen vertraulichen Verkehr. Sp erſchien ir einft Johann 
der Evangelift in Geftalt eines Teuchtenden Adlers, der mit dem Schnabel ihren 
Mund öffnend ihre Seele mit überirdifcher Weisheit erfüllte. Am Defteften ftellte 
fih in ihren Efftafen Chriftus dar mit der offenen blutenden Seitenwunde, aus 
welcher fie himmlifche Süße und Kraft einfaugte. Im Gebete und in der Be- 
trachtung verkehrte fie mit Chriftus in naiver Einfalt — „warte, mein Herr, bis 
ich wieder komme,” fprach fie, von einem nothwendigen Gefchäfte dem Gebete 
entriffen! Einft goß fih in ihrem Gebete die Gnade fo über fie aus, daß es fogar 
von ihren Fingern wie Del floß. Defter fah man fie frei über die Erbe erhoben 
und nächtlicher Weile über ihrem Haupte einen Glanz wie den der Sonneuftraßlen. 
Wenn fie zu Ehren Marias im Chor den Verfifel: Diffusa est gratia in labiis tuis 
fang , fo hatte ihre Stimme etwas unbefchreiblih Schönes und Etgreifendes, wie 
wenn himmlifhe Töne aus ihrem Herzen ftrömten, an das fich (wie es ihr ſchien) 
während diefes Gefanges Chriftus in Geftalt eines Lammes legte, Ein myſtiſcher 
Umtauſch ihres Herzens mit dem ihres himmlischen Bräutigam befiegelte den 
Liebesbund zwifchen Gefhöpf und dem Schöpfer. Bei allen diefen Gnadenftrö- 
mungen verharrte fie in Demuth und getrener Pflichterfülung. Nachdem fie um 
1200 die Kiofterprofeß abgelegt, ward fie 1205 zur Priorin des Kloſters gewählt. 
In diefem Amte geſchah es, daß, als der Abt von St. Trudo, unter dem ihr 
Nonnenkloſter fund, aus Nom zurücffehrte und im Capitel alle Nonnen zum 
Friedenskuß Herbeiließ, Ludgardis nur gezwungen den Kuß annahm und babei, 
wie wenn die Hand bes Heilandes zwifchen fie und den Abt fich gelegt hätte, nicht 
das Geringfie von dem Kuffe fühlte. Im J. 1206 trat fie auf den Rath des 
berühmten Predigers Johann de Lirot und unter Zuthun der Hl. Ehriftina der 
Wunderbaren (f. d. Boll. 24, Zul.) in das Eiftercienferflofter zu Agquirie un⸗ 
weit Brüffel. Hier genoß fie, was fie wünfchte, Freiheit von jedem VBorfteher- 
amt, da fie die franzöfifche Sprache nicht verftand und nie erlernen fonnte, die 
man hier redete, obgleich fie fonft in geiftlihen Dingen eine tiefere und höhere 
als bloß menfhlihe Weisheit beſaß. Indeß dauerten die Gunftbezeugungen des 
Heilandes gegen feine treue Magd auch in dem neuen Aufenthalte fort, Während 
fie das Leiden Chriſti betrachtete, erfchien fie am ganzen Leibe mit Blut über- 
goffen. Einft nad der HL. Communion vor Wonnen, wie gewöhnlich, überftrömt, 
bat fie, da es Zeit zum Tifche war, aus Gehorfam und Demuth ihren Heiland, 
fie zu verlaffen und bei einer andern Nonne einzufehren, und ihr Gebet fand Er- 
börung, Im heftigften Verlangen nah dem Martyrium fprang ihr eine Herzaber, 


e 


— 


620 Ludger, } 


was ihr großen Blutverluft zuzog, und wobei fie von CHriftus die Verficherung 
erhielt, er nehme diefes Blut als Martyrerblut auf. Einer Menge von Armen, 
Kranken und Verfuchten verfchaffte fie durch ihr Gebet Befreiung von ihren Lei- 
den. Durch Gebet und firenge Bußwerfe, zuweilen auch nur durch einen einzigen 
Blick, befehrte fie die größten Sünder. Auf göttliches Geheiß übernahm fie drei- 
mal ein fiebenjähriges firenges Faften, das erſte Dal wegen der Albigenfer, 
hierauf für die Befehrung der Sünder, und zulegt zur Abwendung einer großen, 
der Kirche bevorfichenden Verfolgung. Ausgerüftet mit der Einfiht in die Ge- 
heimniffe der Herzen, fagte fie prophetifch Vieles voraus, und antwortete unter 
Anderm dem Bruder Bernhard, der ihr fehr nahe fund und ihre Biographie re- 
vidirte, auf deſſen ängſtliche Frage, ob die Mongolen auch in Teutſchland ein- 
fallen würden, fie fei gewiß, daß dieß nicht gefchehen werde, Und während fie 
nach allen Seiten hin den Lebenden half, ergoß fie ihre erfolgreichen Gebete auch 
für die Verftorbenen, deren Seelen ihr oft bald Hilfefuchend, bald danfend und 
mit himmliſcher Glorie umftrahlt erfihienen, Sp foll ihr unter Andern auch Papſt 
Innocenz II. nach feinem Tode erfchienen fein und ihr feine VBerurtheilung in das 
Fegfeuer bis auf den allgemeinen Gerichtstag gemeldet haben, mit der Bitte um 
ihr Gebet (2). Ludgarbis ftarb am 16, Juni 1246 in einem Alter von 64 Jah⸗ 
ven, nachdem fie 40 Jahre zu Aquirie gelebt hatte, Ihre intereffante und merf- 
würdige Biographie hat der befannte Dominicaner Thomas Cantipratanıs, ein 
Zeitgenoffe und vertrauter geiftliher Freund Ludgardis, verfaßt und der vorher 
erwähnte Bernhard revidirt. S. die Boll, ad 16. Jun. [Schrödl.) . 

Ludger, Lüdiger, Liudger, erſter Bifchof von Münfter in Weftphalen, 
Apoftel von Sachſen, Brabant und Friesland, Gründer der fo berühmten Bene- 
dietinerabtei zu Werden an der Ruhr, war ein Friefe von Geburt, Seine Vor— 
eltern gehörten zu den angefehenften Familien des Landes, mußten aber des 
chriſtlichen Glaubens wegen fliehen und im fränkifchen Reiche Schug fuchen. Die 
Eltern Ludgers, Theatgrim und Liafburga, wohnten Doch bereits wieder im Lande 
ihrer Väter, als der berühmte Sohn, den die Kirche als verdienten Heiligen ver— 
ehrt, zur Welt’ fam. Sein Geburtsjahr fällt zwifchen 744—49, Die erſte Zeit 
feiner Jugend brachte Ludger, der ſchon frühe Spuren feines vortrefflichen Geiftes 
und hohen Berufes verrieth, bei feinen Eltern zu. Dann fam er in die Schule 
Gregors von Utrecht (ſ. d. A). Seine erften Dienfte leiftete er als Diacon an der 
Kirche zu Deventer, Er ging darauf nach York in England zu feiner Fortbildung, und 
als er im Jahre 774 von dort, wo er unter Alenin ſtudirt hatte, zurüdfam, ers 
hielt er von Alberich, Gregors Nachfolger, eine abermalige Sendung nad) De— 
venter, Ludger fammelte die in den damaligen Unruhen zerftreute Herde zum 
zweiten Male und ging dann mit Alberih nach Coln. Alberih wurde daſelbſt 
zum Bifchofe und Ludger zum Priefter geweiht (778). Das gab ihm wieder neuen 
Eifer im heiligen Amte, und er trat nach feiner Rückkehr die Miffion im Dfter- 
gau in Friesland an. Hier wählte er nun feinen Geburtsort Doffum zum Sitze 
feines Pfarrfprengels. Der Ort war dadurch merfwürdig, daß Bonifacius (hd. A.) 
an demfelben feine Martyrfrone erworben, und auch Ludger fuchte durch unermüd- 
liche Arbeiten hier die Palme zu erringen, Er Ichrte vor dem Volle und ver— 
einte die zerftreuten Glieder an feften Wohnfigen, fowie zur Eultur des Bodens, 
Seine Verwandten aber leifteten ihm in diefem Werke fowohl dur ihren Einfluß 
bei ihren Landsleuten, als den fränfifchen Königen die größten Dienfte, So ver- 
blieb er denn fieben Jahre in diefer Stellung und fuchte fih in Allem des großen 
Apoſtels der Teutfchen, den er eben noch gefehen hatte, würdig zu machen, Dabei 
blieben nun die Prüfungen nicht aus. Denn während Carl in Spanien war, 
erhob fi Wittefind,, der mächtige Sachfenführer, und machte einen wohlgelunge- 
nen Einfall in das Land der Friefen. Alles, was fih nicht flüchtete, oder der 
chriſtlichen Neligion nicht entfagte, wurbe niebergemacht, Alberih, Biſchof von 





Er ui 


Ludger. 621 


Utrecht, ftarb vor Schmerz, und Ludger hielt ein längeres Bleiben nicht für rath- 
fam, Er begab fih mit feinem Bruder Hildegrim, der ſpäter Bifchof von Halber- 
ftadt ward, nah Nom, Auf diefer Reife traf er mit Pipin, einem Sohne Carls, 
und dem Papfte Adrian zufammen und klagte feinen Schmerz. Der Teste gab 
die Sache in Friesland doch noch Feineswegs verloren, fondern fröftete ihn mit 
der Hoffnung eines fohnellen Werhfels der Dinge. Ludger aber begab fih nad 
Montecaffino, wo er 2, Jahr zum Studium der Benedictinerregel verweilte, 
Während diefer Zeit ward Wittefind gefchlagen und Ludger konnte wieder nach 
Friesland zurückkehren. Da ftarb gegen das Jahr 789 Bernhard, Vorfteher der 
Kirche zu Münfter, Earl dachte hier einen Bifchofsfis zu gründen, zu deſſen Be- 
fegung war Ludger auserfehen, Er ließ ihn daher zu ſich kommen. Unterdeß war 
aber auch Othegrim, Bifhof von Trier, geftorben, Carl bot ihm daher diefes 
Bisthum an, weil er ihn für den würbigften hielt. Ludger aber wollte in feiner 
Demuth die angebotene Stelle nicht annehmen, weil er glaubte, es feien andere, 
die mehr geeignet wären, Sein einziger Wunfch ging nur dahin, die Sachfen zu 
befehren. Das war Carl gerade recht, und das Bisthum Münfter als eine 
Stütze dafür nicht ungelegen. Er beftimmte ihn daher für diefes Amt. Ludger 
aber, wiewohl er fih lange nicht entfchließen Fonnte, die bifhöfliche Weihe und 
mit derfelben ein Amt zu übernehmen, das felbft für die Schultern der Engel 
zu ſchwer, befchäftigte fich nicht bloß mit den Friefen und Sachſen, er dachte auh 
dem fernen Norden das Heil zu verfünden. Carl hielt jedoch die dortigen Zu— 
fände nicht für fiher genug, und es war ihm lieber, wenn er feine ganze Kraft 
auf die Sachſen verwendete, Hierin Teiftete er ihm auch jeden Vorſchub. Er 
wählte ihn zu feinem vertrauten Rathgeber, ſchenkte ihm Helmftädt und was er 
fonft noch bedurfte, Nun baute Ludger eine Kirche zu Münfter, theilte das Land 
in Pfarriprengel und fammelte einen gottbegeifterten Clerus um fich herum. Aber 
auch auf die bürgerliche Berfaffung Hatte er großen Einfluß. Er fammelte die 
zerfireuten Höfe unter Ein Oberhaupt und mehrere derfelben wiederum zu einer 
größern Genoffenfhaft, Er forgte für die Pflege der Armen, für das Unter- 
fommen der Reifenden und fonftigen Hilfsbebürftigen, und beftimmte nicht nur 
einen Theil der Zehnten zu jenem Zwede, fondern auch dasjenige, was er fich 
bei feiner Einfachheit felbft entzog. Nichts fchien ihm aber fo wichtig, als die 
Gründung einer eigenen Pflanzfchule für feine Miffionäre, zur Verbreitung und 
Defeftigung Hriftliher Bildung, und zum Unterrichte des Volkes, Er hielt hiezu 
die Stiftung eines Benedictinerflofterd am geeignetflen. Nur darüber war er 
anfänglich noch nicht mit fich einig, wo er ein folches errichten follte, Er hatte 
vermöge feiner frühern Wirkfamfeit Haltpuncte und Befisungen in Friesland und 
in Brabant, links und rechts am Nheine im Theifterband und den fonfligen 
Gauen, und es darf ung nicht wundern, wenn er jenes Klofter anfänglich außer 
feinem fpätern Sprengel zu erbauen gedachte, Zudem waren die Zuftände bier 
fiherer. Nachdem er lange mit fich zu Rathe gegangen, wählte er endlich auf 
göttlichen Winf eine Stelle am Ruhrfluffe zu Weneswald, dem jegigen Werden, 
in der eölnifchen Dideefe, aber auf der Scheide der Franfen und Sachſen und 
der Grenze feines. bifchöflihen Sprengels, Aber auch hier zeigten fih, ungeachtet 
der Genehmigung Carls, des Papftes und des Bifchofes von Coln, unglaubliche 
Schwierigkeiten. Indeß Gottes Hilfe und Ludgers Segen war mit dem Klofter, 
das-fpäter unter dem Namen der reihsunmittelbaren und eremten Abtei Werben 
zu einer großen Berühmtheit gelangte. — Ludger gab doch endlich nach und Tief 
fih im Jahre 801 zum Bifchofe weihen, Das war für ihn ein neuer Antrieb 
feiner fegensreihen Wirkfamfeit. Er fehlte nirgends, wo er nöthig war, überall 
war er mit Rath und That zur Hand, und fo beſchloß er fein fhönes Ende auf 
einer biihöflichen Rundreife zu Billerbeck in: Weftphalen (809). Die Bewohner 
von Münfter ließen ihn zu fih bringen und hätten die theuren Reſte gerne bei 


622 Eudmilla, 


ſich behalten, aber die Leiche wurbe da beerdigt, wo ber Lebende es gewünſcht 
hatte, nämlich in dem Klofter zu Werben, wo feine fo berühmten Reliquien in 
der dortigen Pfarrfirche, nachdem das Klofter im Strome ver Zeit feinen Unter- 
gang gefunden, bis zur heutigen Stunde aufbewahrt und verehrt werben, — 
Ludger hinterließ nach feinem Tode ein wohlgeorbnetes Bisthum, als deffen eigent- 
‚licher Gründer er mit dem vollften Nechte zu betrachten ift. Er fand zwar eine 
Heine Gemeinde vor, aber die Mehrzahl der Bewohner des Landes war durch 
ihn zum Chriftenthume gebracht und durch feine Anordnungen darin befeftigt. — 
Die Menplogien der Benedictiner, Mabilfon und Tritbem, nennen Ludger einen 
Benedietiner. Er hat jedod nach dem ausdrücklichen Zeugniffe feines gleichzeitigen 
Lebensbefchreibers und Retters, Altfred, nie das Ordenskleid getragen, und die 
Annalen der Abtei nennen ihn und feine nächſten Verwandten, die ihm folgten, 
nie Aebte von Werden, fondern Procuratoren, Auch als Schriftfteller hat Ludger 
ſich ausgezeichnet, und unter feinen Schriften werden genannt eine Erklärung ber 
Briefe des Anofteld Paulus, eine Lebenshefchreibung feiner Lehrer Gregor und 
Alberih, und die Erftlinge von Bonifazens Wirkfamfeit, fowie einen Bericht über 
die Erhebung der Reliquien des HI, Suitbert in Kaiſerswerth. — Bal, hierzu 
die Art, Friesländer und Lebuin, Priſae.] 
Ludmilla, erſte ſchriſtliche Herzogin von Böhmen und hl. Mar— 
tyrin. Obwohl ſchon um die Mitte des neunten Jahrhunderts einige vornehme 
Böhmen ſich zu Regensburg taufen ließen, ſo begann doch erſt mit der Bekehrung 
der herrſchenden Familie des Landes in der zweiten Hälfte des neunten Jahr- 
hunderts eine dauerhafte, wiewohl nur allmählige Chriftianifirung Böhmens (f. 
den Art, Böhmen). Der erfte hriftliche Herzog war Boriwoy, und feine Ge— 
mahlin Ludmilla, die Tochter eines Grafen von Melnif, ſäumte nicht, ihrem 
Gatten in Annahme des Chriftentbums zu folgen. Chriftian de Scala (ſ. Bol- 
land. 16. Sept. vit. s. Ludmillae) erzählt die Bekehrung der herzoglichen Familie 
in folgender Weiſe. Boriwoy befuchte einft den chriftlichen Mährenfürſten Swa- 
topluf und wurde von ihm zur Tafel geladen, durfte aber an der Tafel nicht 
unter den hriftlihen Gäſten Play nehmen, fondern aß nach heidniſcher Art mit 
den andern anwefenden Heiden am Boden, An der fürftlihen Tafel war eben 
der große Slavenapoſtel Methodius gegenwärtig. Diefer drüdfte über die felbft- 
verfchuldete Erniedrigung Boriwoy's fein Bedauern aus und redete ihm eindring- 
Lich zu, fich mit feinen Begleitern taufen zu laffen, dann werde er und feine 
Nachkommenſchaft zu Ruhm und Macht gelangen. Bon der Gnade berührt, Tief 
ſich Boriwoy nach vorgängiger Unterwerfung und Vorbereitung fammt feinen Be— 
gleitern taufen , und Methodins gab ihm den ehrwürdigen Priefter Catch mit 
nach Böhmen, Die mag fih um 871 oder zwifchen 871—890 ereignet haben, 
und es fcheint nicht, daß Ludmilla damals. ihren Gemahl an den mährifchen Hof 
begleitet und dort die Taufe empfangen habe, Boriwoy, nach Böhmen zurüd- 
gefehrt, bewies thatfächlich die Aufrichtigfeit feines Uebertrittes zur chriſtlichen 
Religion; er Tieß im Caftell Königgrag zu Ehren des HI Papftes und Martyrers 
Clemens eine Kirche bauen, an welcher Caich den Gottesdienſt verrichtete, und 
war mit diefem und den aus Mähren zurücgefehrten Täuflingen eifrig auf die 
Belehrung feiner Böhmen bedacht. Eine ver erften, die ſich beferte, war bie 
Gemahlin des Herzogs, Ludmilla, früher eine eifrige Gdgendienerin, bald 
durch chriftlichen Eifer felbft ihren Gemahl übertreffend, Allein während bei einem 
Theile der Böhmen die chriftliche Neligion Fortfchritte machte, erhob ſich der über» 
mächtige heidnifche Theil der Nation gegen den Herzog uud zwang ihn, das Land 
zu derlaffen. An Boriwoy's Stelle beriefen jept die Böhmen den Fürften Stroy- 
min ; da jedoch diefer durch feinen Tangen Aufenthalt bei den Teutſchen (in Bayern) 
die böhmifche Sprache ganz vergeffen batte Cund wahrfcheinlich ferbft ein Chriſt 
“ war), fo wurden die Böhmen auch feiner bald überdrüffig, daher vertrieben fie 


— 


Ze 


N rn 623 
ihn wieder und Boriwoy Fam mit Hilfe feines eifrigen Anhanges in Böhmen 
(ſowie des teutſchen Königs Arnulph und des Mährenfürften Swatopluf) aus 
Mähren, wohin er fih geflüchtet Hatte, nach Prag zurück, baute dafelbft, ein⸗ 
geben? feines in der Verbannung gemachten Gelöbniffes, der Mutter Gottes eine 





3 Kirche und verbreitete das Chriſtenthum nach Kräften: „hie, fagt Chriftian, pri- 





mus fundator locorum sanctorum congregatorque clericorum et tantillae, quae tunc 
fuit, religionis institutor exstat.“ Ohne Zweifel gebüßrt der Ludmilla an dem 
Eifer ihres Gemahles ein großer Antheil. Nach feinem Tod förderten feine zwei 
Söhne und Nachfolger, die aber nur furze Zeit regierten, Spitihbnew (+ um - 
912) und Wratislaw (+ 926) die neue Religion, mehr aber noch die Lud⸗ 
mille, Als Wittwe, erzählt Chriftian, beweinte fie ihre im Heidenthum began- 
genen Sünden, forgte für die Llerifer wie für ihre eigenen Kinder, ſchmüuckte 
Kirchen, Half ven Armen und übte Gaftfreundfchaft. Jedoch eine noch größere 
Wohlthäterin für Böhmen wurde fie durch ihren Einfluß auf die Erziehung ihres 
Enfels Wenzeslaus, des nahmaligen HI. Herzogs und Martyrers (ſ. d. A). 
Nach dem Tode des Herzogs Wratislaw übertrugen die Böhmen (vorzüglich wohl 
die Chriften, die alfo bereits ftarf waren) die Regierung und Bormundfchaft über 
deffen zwei unmündige Söhne, den genannten Wenzeslaus und Boleslaus, der 
Ludmilla, nicht der noch heidnifhen Drahomira, der Mutter der beiden Kinder, 
So fhhien die Erziehung der Prinzen noch länger in Ludmilla's Händen zu bleiben, 
allein Drahomira, begierig nach der Herrſchaft und dem Chriſtenthum feindlich 
gefinnt, fann auf Rache an Ludmilla und den Chriſten. Vergebens erklärte Lud- 
mille, auf Regierung und Vormundſchaft gerne Verzicht Leiften zu wollen, went 
ihr nur geftattet werde, an einem beliebigen Drte Chrifto dienen zu dürfen, und 
zog von Prag nach dem Caftell Tetin. Das Schlimmfte ahnend und fih darauf 
vorbereitend,, empfing fie Hier aus der Hand des Prieflers Paulus (wahrſcheinlich 
eine Perfon mit dem obengenannten Priefter Caich) am nämlichen Tage die HI, 
Sacramente, an welchem Abends zwei heidnifche Fürften in Drahomira’s Auftrag 
Ludmilla erdroffelten (15. Sept. 927). Bon da an mwüthete Drahomira gegen 
die Chriften, vorzüglich gegen die Geiftlihen, und fuchte diefe namentlih aus 
ihres Sohnes Wenzeslaus Umgebung zu entfernen; allein fie war, obgleich der 
größere Theil der Böhmen noch dem Heidenthume anhing, unvermögend, das 
Chriſtenthum auszurstten, und aus Ludmilla’s Gruft wehte ein himmliſcher Hauch 
hervor, der die Gläubigen ſtärkte und ihre Zahl vermehrte, Endlich beftieg Dra- 
bomira’s älterer Sohn, der hl. Wenzeslaus, den Thron und warb ein neuer 
Apoſtel Böhmens, Er Lie Ludmilla's unverfehrt gefundenen HI, Leichnam von 
Tetin (wo Drabomira über demfelben eine Capelle zu Ehren des hl. Erzengels 
Michael erbaut Haben fol, um für die auf Ludmilla's Fürbitte gefchehenden 
Wunder den HI. Michael einzufegen) nah Prag bringen, wo die hl. Gebeine von 
dem eigends dazu berufenen Bifhof Tuto von Regensburg in der St. Georgi- 
kirche feierlichft beigefegt wurden. Diefe Kirche, damals erft vollendet, nachdem 
Schon Herzog Wratislaus den Bau derfelben begonnen hatte, erhielt bei biefer 
Gelegenheit. durch den genannten Bifhof die Eonfeeration, S. die Boll. ad 
16. Sept. in vit. s. Ludmillae, und ad 28. Sept. in vit. s. Wenceslai; Cosmas Prag. 
chronicon Bohemorum; Palacky, Geſch. v. Böhmen, I; Pers, Script. IV. (VL) 
p. 211. Gumpoldi vita s. Venceslavi ducis Bohemiae; Boll. 9. Mart. de ss. Cyr. 
et Methodio. [Schrodl.] 
Ludolph (Leutholph, de Saxonia, Saxo), aus Sachſen gebürtig, begab ſich 

um 1300 in den Orden der Dominicaner, ob zu Mainz, oder Cöln, vder an⸗ 
derswo, weiß man nicht, Er verharrte in dieſem Orden 26 oder 30 Jahre, 
eminirte durch Frömmigkeit und in der Wiffenfchaft der Heiligen und glänzte im 
Kranze jener ausgezeichneten Dominicaner des 14ten Jahrhunderts, welche wie 
ein Heinrich Sufo das Gebiet der chriſtlichen Myſtik durch ihr Leben und ihre 


’ 
* 


624 Ludwig der Bayer, . m 


Schriften verherrlihten. Um noch ungehinderter, als es bei den Dominicanern 
gefhehen fonnte, der Betrachtung des Göttlichen fih widmen zu fönnen, trat er 
in den Orden der Carthäuſer zu Straßburg, Er flarb als Carthäufer-Prior, _ 
ohne daß man angeben kann, wo und wann, Er fehrieb: 1) vita Jesu Christi, e 
sacris qualuor evangeliorum Sanctorumque patrum fontibus derivata, eine oft auf 
gelegte und in mehrere Sprachen überjegte Schrift5 2) enarratio in psalmos Da- 
vidicos ex SS. Hieronymo et Augustino ‘et ex Cassiodoro Petroque Lombardo col- 
lecta. S. Quetif und Echard Script. Ord. Praed. t. 1. 
Ludwig der Bayer und fein Kampf mit den Päpſten. Da feit den 
Tagen 8. Heinrichs VI. eine ftrittige Königswahl bei den Teutſchen beinahe 
als Regel angefehen werden mußte, fo konnte e8 auch nicht anders fein, als dag 
das Königthum in dem Maße fank, in welchem fich die Kronprätenbenten bei den 
Päpſten um Ertheilung ber Raiferkrone bewarben, diefe ein noch höheres fchieds- 
richterliches Anfehen erwarben, als je die teutfchen Kaiſer bei den ftrittigen Papft- 
wahlen der früheren Jahrhunderte (des 10ten, 1iten, 12ten) erlangt hatten. 
Auch Ludwig, Herzog von Oberbayern, war nah dem Tode K. Heinrichs VII 
im Schisma mit Herzog Friedrich von Deftreich erwählt worden (1314), und da 
beide nach der aus den Händen, des Papftes Johann XXIL zu empfangenden Kai— 
ferfrone trachteten, war es natürlich, daß diefer fie nicht als Preis für den Sie— 
ger auf der Wahlſtatt in Ausficht fielfte, fondern beide Parteien zur friedlichen 
Ausgleihung ermahnte, Da aber beide in einen fiebenjährigen Kampf mit ein- 
ander gerietben, fo ſuchte Papft Johann XXII. nach ber Weiſe feiner Vorgänger 
durch Aufftellung eines von ihm, dem Papfte, ernannten Reichsvicars für Stalien 
wenigftens dieſes von Parteien zerfleifchte Land zur Ruhe zu bringen. Als aber 
nun Ludwig in der Schlacht bei Ampfing 1322 feinen Gegner gefchlagen und ge- 
fangen batte, und im Gefühle des Sieges den Iombarbifchen Ghibellinen im 
Kampfe mit den päpftlichen Legaten Hilfe fandte, den Grafen von Neuffen zum 
Reichsvicar in Jtalien ernannte, erfolgte der erfte feindliche Zufammenftoß des 
erwählten römifchen Königs mit dem Papfte, der gleichfam unbefümmert um bie 
in Teutſchland vor fih gegangene Kataftrophe in Ludwig nur einen „gewilfen 
Herzog von Bayern” gewahrte, der fih gemäß feiner Aufforderung vom 8. Det, 
1323 der Neichsverwaltung zu enthalten und fih binnen drei Monaten in Adig- 
non zu ftellen habe, Gegen diefes maßloſe Benehmen, welches weder ein Juno- 
cenz III. no ein Gregor IX. gutgeheißen hätte, gab es, um zum Siege zu fom- 
men, nur einen, aber auch einen fihern Weg, ſelbſt fich alles Maßlofen zu ent- 
halten, feine Sande zur Sache des Reiches zu machen und durch kluge Feftigfeit 
den Papft zulegt moralifch zur Nachgiebigfeit zu zwingen, es zu machen, wie es 
die Päpfte gegen Friedrich II. gemacht. Dazu war jedoch Ludwig der Bayer nicht 
der Mann, Er glaubte am Flügften zu handeln, wenn er den bogmatifchen Streit 
der Fraticellen (f. d. A.) über die Armuth chriſli zu dem ſeinigen mache und den 
Papft, welcher ſich gegen die Anſicht einiger ſpuͤzfindiger Bettelmönche erklärt 
hatte, als angeblichen, fomit nicht rechtmäßigen Papſt behandle, ohne zu gewah- 
ren, welche Waffen er dadurch feinem von der ganzen Chriftenheit anerkannten 
Gegner in die Hand gebe, und wie er fein eigenes gutes Necht durch Hdentifici- 
rung mit einer von Anbeginn verlorenen Sache bloßſtelle. Diefer gewöhnlich fo 
fehr gerühmte Schritt Ludwigs, feine Allianz mit Michael von Ceſena, Buona- 
grazia, Wilhelm Decam ꝛc. war unzweifelhaft das Unglüdlihfte, was Ludwig 
unternehmen fonnte; in einem Streite mit dem Papfte, der fich felbft fo viele 
Dlößen gab und diefe mit denen feines Gegners Hug zu bedecken wußte, durfte 
fih Ludwig am wenigften in Betreff feiner Kirchlichkeit und Nechtgläubigfeit eine 
Bloͤße und dadurch der kirchlichen Partei im Reiche, die anfänglich für ihn ge— 
weien, Anlaß geben, ſich von ihm abzuwenden, Der zweite politiſche Fehler war 
der, wie aus Böhmers fontes hervorgeht, im Stegreife unternommene, mit 





* Ludwig der Bayer. 625 


einem ſchmachvollen Rückzug endende Römerzug, auf welchem zwar das ghibelli- 
niſche Italien, die Bisconti in Mailand, Caſtruccio Caſtracani in Lucca fih an 
Ludwig anfhloffen, auch, was feit Friedrich Barbaroſſa vom den Teutfchen nicht 
mehr gewagt wurde, ein Gegenpapft, Nicolaus V. (Pietro von Corbara), er= 
nannt, die KRaiferfrönung auf eine bisher ungefannte Weife empfangen wurde, 
aber der ganze Zug entfhwand wie ein Schattenfpiel, Ludwig mußte vor dem an- 
rücfenden König Robert von Neapel, von den Steinwürfen der Römer verfolgt, 
aus Nom abziehen, fein Papft fih dem rechtmäßigen mit dem Strife um den 
Hals unterwerfen, das Pfeudocardinalscollegium ging auch in Trümmer, bie 
ghibelliniſchen Städte ſuchten fih mit Johann XXI. auszuföhnen, und Ludwii 74 
felbſt, weit entfernt, feinen Gegner vernichtet zu haben, hatte fih nur lächerlich 
und dem Papfte verächtlich gemacht, fo daß diefer jegt fih mit dem Plane be— 
ſchaͤftigte, ihn abzufegen und das Kaiſerthum den Franzofen zuzuwenden. Als 
Johann XXI. unter diefen Bemühungen im 3. 1334 geftorben war, ſuchte König 
Ludwig durch äußerſte Nachgiebigfeit von deffen Nachfolger Papft Benedict XIL 
zu erlangen, was Gewalt bei dem Vorgänger nicht erreicht hatte. Allein bereits 
war ber kirchliche Streit ein politifcher geworden, und wurde jegt Ludwigs Los— 
fprehung von der Zuftimmung der ſtammverwandten Könige von Franfreich und 
Neapel abhängig gemacht. Aber gerade diefes Hineinziehen fremdartiger Elemente 
amd die notorifche Abhängigkeit Papſt Benedictd von dem franzöfifchen Hofe be= 
feftigten Ludwigs finfende Sade in Teutjchland, bis neue Hebergriffe von feiner 
Seite, Verlegung der firhlihen Gerechtſame und feine Länderſucht felbft feine 
Freunde in das feindliche Lager führten. Es war wie die ganze Zeit, die fih in 
zwei feindliche Lager, Welfen und GHibellinen, gefpalten hatte, ein ftetes Auf 
und Niederfleigen der Wagſchale, ohne daß es zu einer richtigen Mitte, zu einer 
Ruhe, Ausgleihung und Verſohnung fommen konnte. Sp lange der teutſche 
- König fo in die Enge getrieben wurde, daß das Königthum und die Rechte der 
Teutſchen in Gefahr geriethen, war auch die Nation anf Ludwigs Seite, und die 
Reichstage zu Franffurt, wie der Churverein zu Rhenſe 1338, wo die Erhaltung 
der Wahlrechte der Churfürften erhärtet, die Unabhängigkeit der Königswahl vom 
päpftliher Beftätigung ausgeſprochen wurde, find als der Ausdruck diefer Stim- 
mung zu betrachten. Als aber nun Ludwig, fih einhüffend in die von den Fra— 
ticellen verfochtenen Grundfäge Faijerliher Allgewalt, ſich erdreiftete, die Ehe 
Margarethens ven Tyrol mit Johann Heinrich, Prinzen von Böhmen, zu tren- 
nen und die Getrennte mit feinem gleichnamigen Sohne zu vermäßlen, brachte 
er dadurch das Haus Luremburg (in Böhmen) wie den Papſt (feit 1342 Cle— 
mens VL) gegen fih auf, gefährdete er dadurch auch die teutfche Rönigsfrone, 
ohne Tyrol feinem Haufe in die Länge erhalten zu können. Erft fuchte ihn Papſt 
Clemens zu einer beinahe unbedingten und überaus fhimpflichen Unterwerfung zu 
zwingen, und als der Reichstag zu Frankfurt 1344 diefe verwarf, erfolgte am 
Gründonnerfiage 1345 Abfegung und Bann in fihaudervoller Weife. Allein erft 
der Umftand entfhied den Sturz Ludwigs, daß ihm an dem Luremburger Earl 
von Mähren ein päpftlicher Prätendent entgegengeftellt wurde, deifen Wahl au 
1 diejenigen befriedigen Eonnte, welche bisher fchon deßhalb für Ludwig waren, 
I damit nicht ein Franzoſe Raifer werde. Fünf Churfürften wählten im Zuli 1346 
I Earlnz er empfing zu Bonn die Krönung, und fhon war dem Ausbruch eines 
neuen Thronfampfes, einer neuen Schlacht von Ampfing mit zweifelhaften Er— 
folge entgegenzufehen, als Ludwig, vom Schlage gerüßrt, bei Fürſtenfeldbrück 
Det, 1347 flarb, Seine Regierung bezeichnet fo recht die Löfung der Bande, 
durch welche die niedern Ordnungen in der Kirhe wie im Neiche den höhern 
gegenüber feitgehalten wurden; den Einbruch fogenannter revolutionärer Prin- 
eipien, die fih unter dem Desfmantel des Kaifers breit zu machen wußten. Daß 
ſeine Regierung von denjenigen gefeiert wird, welche der Städteentwicklung, dem 
Kirchenlexilon 6. Bd. 40 








626 Ludwig der Fromme, * 
Kampfe der Bauern gegen Adel und Fürſten, überhaupt der Entfaltung des de— 
mocratifchen Prineips mit Freuden zufehen, tft begreiflich ; darin ruht auch ihre 
Bedeutung. Daß man aber, wenn man nicht unbedingt Ludwigs Auftreten gegen 
die Päpfte beipflichtete, — und diefem verdankte das dbemocratifche Princiv feine 
Entfaltung — politifch verdächtigt wurde und als fein guter Patriot galt, dieß 
war nur bei einer Unfenntniß der Geſchichte und einer Verwirrung der Begriffe 
möglich, wie fie heutigen Tages in den höhern Schichten der Gefellfchaft gleich- 
wie in den niederften zu treffen iſt. Freilich feitvem man bayerifhe Geſchichte 
und namentlich Negentengefchichte bi zur Mythologie verfehre, mußte eine nüch⸗ 

terne Anfchauung der Gefhichte König Ludwigs des Mißfallens der Herrſchenden 
fiber fein; aber wird deßhalb, weil fih Creaturen finden, die nur den Ton ver- 
Yangen, in dem gelehrt oder gefchrieben werden folf, die Hiftorifche Wahrheit eine 
andere, und ift e8 da nicht doppelte Pflicht, unbefümmert um das eigene Schid- 
fal, ver Wahrheit rückſichtslos Zeugniß zu geben? [Höfler.] 

Ludwig der Fromme war der Sohn Carls des Großen und der Hilde- 
gard. Schon im Jahre 813 war er von feinem Vater zur Nachfolge beftimmt, 
batte aber weder deffen Fähigkeiten, noch fein Glück. Man kann nicht fagen, daß 
er ganz ohne Anlagen gewefen, wie er denn auch Anfangs Glück im Kriege nad 
Außen Hatte, aber Familienzwifte verdarben Alfes. Ludwig war, wie die alten 
Ehroniften fagen, ftarf an Körperbau, thätig und gewandt, ein guter Reiter und 
guter Bogenſchütze, auch geiftig nicht ohne Fähigkeiten. Er kannte Vieles, be- 
forgte Alfes mit möglichfter Klugheit und Vorfiht, aber er hatte nicht die er- 
forderlihe Kraft. War er langſam zum Zorne und leicht zum Mitleiven bewegt, 
fo traute er feinen Rathgebern doch mehr, als nothwendig war, Endlich waren 
28 die Weiber, welche das Glück feines Neiches ſtörten. Sein Vater Earl gab 
ihm vor feinem Hinfcheiden in feierlicher Verfammlung der Fürften und Bifchöfe 
die Mahnung, Gott zu ſcheuen und die Kirche gegen fihlechte Menfchen zu ver- 
theidigen, die jüngern Gefchwifter und Verwandten zu ſchützen, die Priefter wie 
Bäter zu ehren und das Volk väterlich zu lieben, ſtolze und böfe Menfchen auf 
den Weg des Rechtes zurücdzuführen, ein Tröfter und Helfer der Armen und 
Klöfter zu fein, nur ſolche anzuftellen, welche Gott Tiebten und die Gefchenfe ver- 
arhteten, feinen vom Amte zu entfernen ohne hinlänglichen Grund, und fich feldft 
untabelhaft vor Gott und allem Volfe zu zeigen, Ludwig verfprah Alles, was 
der Vater verlangte, mit Hilfe Gottes im Herzen zu bewahren und zu beobachten. 
Aber dennoch ging's ſchlecht, und daran waren theils die Schwäche feines Cha- 
rakters, theils feine Frauen und Kinder, theils Ereigniffe Schuld, die er auch bei 
größern Eigenschaften nicht hätte bewältigen können. Ludwig war zweimal ver- 
beirathet, Seine erfle Gattin hieß Irmengard. Mit diefer hatte er drei Söhne, 
Lothar, Pipin und Ludwig. Als Irmengard ftarb, Heirathete er Judith, die 
Tochter des Herzogs Welf, Sie gebar ihm einen Sohn mit Namen Earl, Judith 
war fhön und hatte viel Einfluß am Hofe, Das verdroß die Uebrigen und gab 
den erften Vorwand zu Klagen. Einen andern bot Ludwig felbft, und der Taftet 
allerdings ſchwer auf ihm. Im Jahre 817 Hatte er das Reich alfo unter feine 
Söhne vertheilt: Lothar ward nach feinem Tode Kaifer, erhielt Italien und den 
Strich Landes zwifhen Nhein und Maas mit ihren Flußgebieten. Die übrigen 
Söhne follten bloß Könige genannt werden, und von ihnen befam Pipin Aquita- 
nien und Ludwig Bayern nebft dem übrigen Theile von Tentfchland, der nicht 
an Lothar fiel. Diefe Theilung wurde auf dem Neihstage zu Nymwegen 821 
von den verfammelten Fürften feierlich anerfannt und befhworen. Daß er aber 
fpäter nad) der Geburt feines Sohnes Carl diefen fo feierlich gefchloffenen Ver- 
trag umwarf, war ber zweite Fehler. Lothar, der am meiften dabei Titt, hatte 
zwar feinem Vater verfprochen, er werde nichts dagegen haben, wenn er feinem 
Sohne Carl den Randestheil gebe, welchen er immer wolle; doch ward er unzu⸗ 


Ludwig der Fromme 627 


x 


8 frieden, als er Alemannien, Rhätien und einen Theil von Burgund zu Gunfter 








Tarls abtreten follte, und es fam zu einem förmlihen Bruce zwifchen ihm und 
feinem Vater, Auch Pipin war heftig aufgebracht gegen feine Stiefmutter Judith, 
und die Sache ging fo weit, daß diefe den Hof verlaffen mußte, der Kaifer aber 
der Regierung für unwürdig erklärt und abgefegt wurde, Doc bald gereute es 
Pipin und feinen Bruder, daß fie den Vater abgefegt hatten, und er fam dur 
ihre Vermittlung wieder auf den Thron, Auch Judith wurde zurücgerufen. Aber 
das alte Wefen fing damit wieder an, und als Ludwig zu einer abermaligen Theilung 
ſchreiten wollte zwifchen Lothar und Carl, da fand fich ein neuer Anlaß zur Empörung. 
Die Söhne aber hatten das Volk vom Vater, der viel betete und wo er es vermochte 
auf firenge Zucht hielt, abgewendet, und da es in der Gegend zwifchen Bafel und 
Straßburg auf einer weiten Ebene zur Schlacht fommen follte, verließen alle 
Anhänger den Kaifer und gaben ihn in die Gewalt feiner Söhne (833). Es 
war aber daffelbe Feld, worauf fie ihre Treue gefhworen, und weil fie diefelbe fo 
fhmählich gebrochen, befam es den Namen des Lügenfeldes, Lothar und Ludwig 
führten den Vater gefangen mit fi) hinweg über Mes, Soiffon nah Compigny. Hier 
verfammelten fih einige Biihöfe, die ihren Grund hatten, mit Ludwig unzufrie= 
den zu fein, oder. weiter nichts waren, ald Werkzeuge treulofer Sieger, und 
fprachen über den alten Kaiſer das Urtheil, er folle abdanfen und in ein Klofter 
gehen. Ludwig aber wollte nicht, Da wurde er gezwungen, die Waffen nieder- 
zulegen und auf den Anieen und im bloßen Hemde Buße zu thun. Nun entfegte 
man ihn feiner Würde, Der ehrlofe Lothar aber ging noch weiter. Er hielt fi, 

fo lange fein Vater noch Iebte, der Kaiferwürde nicht fiher genug. Er wollte 
daher den Vater tödten. Das hintertrieb jedoch fein Bruder Ludwig. Es waren 
damals fhlimme Zeiten, Schlechtigkeit und Berworfenheit allgemein. Earl der 
Große felbft fühlte gegen Ende feiner Tage, was noch kommen würde. Die 
Kriege, die zu vermeiden nicht ſtets in feiner Macht Tag, hatten nicht vortheilhaft 
gewirft, und die rohen Franken, ungeachtet fie der fähigfte der teutfhen Stämme 
waren, fonnten nur allmählig an die Zucht des Chriftenthums gewöhnt werden, 
Die mit dem Hofe verwandten, durch Hofgunft emporgefommenen, oder vielfach 
mit dem einen oder andern der ſich befämpfenden Söhne Ludwigs, des Frommen, 
verwickelten Bifchöfe kannten auch nicht allenthalben ihre Pflichten, weßhalb der 
apoſtoliſche Stuhl ernftlih einfchritt und den damaligen Erzbiſchof von Cöln als 
einen Unwürdigen entiegte. Lothar aber handelte, nachdem Ludwig abgefegt war, 
ganz nah Willkür. Er maßte fig des gefammten Reiches an, vernachläßigte die 
Wohlfahrt der Bölfer und forgte bloß für feinen eigenen Bortheil. Das verdroß 
aber Pipin und Ludwig, feine Brüder, und fie gingen damit um, ihren Vater 
Hon Neuem auf den Thron zu fegen. Sie fammelten daher eine Kriegsmacht und 
fchlugen den Lothar in die Flucht. Diefer ſchleppte feinen gefangenen Bater mit 
nah Paris, Aber auch dahin kamen die Sieger und fchrieben Gefege vor. Lud⸗ 
wig ward in St. Denys von den Bifhöfen freigefproden, mit dem Schwerte 
umgürtet und abermals in fein Reich eingefegt. Er fühnte fih mit feinem Sohne 
Ludwig aus und führte ihn nach Aachen. Lothar Fam ebenfall® dorthin und bat um 
Berzeihung. Er erhielt fie, aber der Zankapfel mußte wieder durchgefchnitten 
werden, Es fam im Jahre 837 zu einer neuen Theilung. Nach diefer Theilung 
follte Lothar, als der Aeltefte, die Kaiſerwürde erhalten, Italien und den Theil 
von Francien, der zwifchen Nhein und Maas liegt, Ludwig Bayern, Sachen und 
die angrenzenden Länder, Pipin Aquitanien, Gasconien und den Tandesftrih an 
der Örenze von Spanien; Carl, der Sohn zweiter Ehe, aber Franfreih, Bur- 
gund und Neuftrien, Lothar war dieß recht, aber feineswegs Ludwig, der fpäter 
unter dem Namen des Teutfchen befannter wird, Er hätte gern noch ein Stüd 
Land mehr gehabt. Dazu hatte fi auch unterdeß eine günftige Gelegenheit ge— 
boten. Denn Pipin, der Bruder von feiner erfien Mutter her, war im Jahre 

40* 


623 Ludwig von Granada. 


838 geftorben, Auch Judith fand neuen Stoff zur Intrigue, Sie fürchtete den 
Tod des Kaifers und für den Fall Gefahr für fih und ihren Sohn. Sie ſuchte 
daher einen von ihren Stieffühnen zu gewinnen. Lothar fchien ihr hiezu am 
geeignetften. Sie berevete daher ihren Gemahl, den alten Ludwig, diefem noch⸗ 
mals Verſohnungsvorſchläge zu mahen. Ja, diefem follte jegliche Beleidigung 
verziehen fein, wenn er nur den Willen des Vaters in Bezug auf die Carl’n an- 
gewiefenen Länder unterflügen wollte. Auch follte das ganze fränfifhe Reich, nur 
Bayern ausgenommen, welches Ludwig erhielt, zwifchen Lothar und Carl getheilt 
werden. Als Ludwig dieß vernahm, fammelte er gegen das Jahr 840 ein Heer 
und fiel in Alemannien ein. Da ward der alte Kaifer fehr aufgebracht. Er ging 
über den Rhein und kam nach Thüringen, Der jüngere Ludwig aber fonnte das 
Feld nicht Halten und floh. Der Kaifer hielt darauf nach diefer Waffenthat einen 
Reichstag in Worms, Hier fühlte er, daß feine Kräfte fhwanden, und als er 
fi feinem Ende nahe glaubte, ließ er fich auf eine Nheininfel bei Mainz bringen, 
um daſelbſt in Ruhe feine Tage zu befchließen, Bevor er verfihied, hatte er voll⸗ 
ftändig über feine Güter verfügt und feine Seele in frommem Gebete Gott em— 
pfohlen, Er bedachte die Kirchen und Armen reichlich und traf auch über Lothar 
und Carl Verfügungen, Lothar erhielt von ihm Krone, Schwert und Scepter mit 
dem Auftrage, Judith und Carl zu ſchirmen. Dann verfchied er im Juli des 
Jahres 840, im 64ten Jahre feines Alters, und ward in Meg bei feiner Mutter 
Hildegard begraben, Die Jahre Ludwigs waren voll Kummer, und es ıift nicht 
leicht, fein Leben gerecht zu beurtheilen, Denn ſchon frühe Haben die gleichzeitigen 
Schriftſteller, je nachdem fie diefer oder jener Partei angehörten, auch für pder 
gegen ihn gefprochen. Aber felbft feine Feinde Iaffen feinen Fähigkeiten und fei- 
nem guten Willen Gerechtigkeit widerfahren, Er meinte es überall gut, aber er 
war feiner Zeit nicht gewachfen, Wir haben die obige Schilderung größtentheils 
aus den Annales Francorum Fuldenses genommen, die dem ältern Ludwig nicht 
ganz günftig find, weil fie fih auf Seiten des jüngern, befannter unter bem 
Namen des Teutfchen, ftellen. Nach den Annalen von Met war Ludwig der 
Fromme von mittlerer Statur, hatte große und klare Augen, einen feurigen Blick, 
eine lange und gerade Nafe, weder große, noch dünne Lippen, eine ftarfe Bruft 
und breite Schultern, Seine Arme waren fehr ftarf, im Bogenſchießen, in Hand- 
babung der Lanze und im Reiten hatte er feines Gleichen nicht, Er war im 
Griechiſchen und Lateinifchen erfahren, Letzteres fprach er fogar wie feine Mutter- 
ſprache. Sein Gemüth war edel, und fein Herz mit allen guten Sitten aus— 
geſchmückt, weßhalb er denn au der Fromme genannt wurde, Denn er betete 
gerne, verziehb Teicht und war nicht bloß freigebig gegen die Kirche und milde 
Stiftungen, fondern auch ernftlich darauf bedacht, die Sitten zu beffern und zu 
mildern, was ihm jedoch nicht immer gelang, befonders da man ihn für aber- 
gläubifch hielt, oder böswillig verſchrie. Für die Firchliche Geſetzgebung ift Lud— 
wig der Fromme befonders wichtig, und man fieht daraus, daß es ihn wenigfteng 
an gutem Willen nicht fehlte, hätte nur fein Charakter mehr Stahl gehabt und 
er felbft unter andern Zeitumftänden gelebt. Ludwig war aber feinen Umftänden 
nicht gewachſen, und feinem Gemüthe fehlte jene eiferne Kraft und Feſtigkeit, 
welche allein einige —28 den damaligen Wirrniſſen hätten ſchaffen können. 
Darum verfehlte er die Aufgabe feines Lebens, Priſae.] 
Ludwig von Granada (Frai Luis de Granada, Ludovicus Granatensis) 
ift gleich groß als ascetifcher Schriftftelfer und als fpanifcher Claffifer, Capmany 
fagt im Teatro historico oritico de la Elocuencia espanola von ihm, er müffe noch 
immer als der berebtefte Spanier des 16ten Jahrh. angefehen werben; wie hoch 
er ald Ascet von der ganzen Fatholifchen Welt, von Pärpften, Fürften, befonders 
auch von großen Heiligen, z. B. von ben I. Carl Borromäus und Franz v. Sales, 
gejhägt wurde, ift den Freunden feiner Werfe befannt genug. Geboren im 


> 








Ludwig von Granada. 629 


J. 1504 in Granada, der Sohn armer Eltern, hatte er als Knabe ſchon das 
Glück, eine höhere Bildung zu befommen, weil ihn der Graf von Tendilla in 
fein Haus aufnahm und mit feinen Söhnen erziehen ließ. Merfwürdig ift die Ber- 
anlafjung zu dieſer Wohlthat, indem fih an ihm als Kind fchon bei diefer Ge— 
Tegenheit die angeborne eminente Beredtſamkeit zeigte, Ludwig hatte namlich 
einen heftigen Streit mit einem andern Knaben, wobei thätliche Mißhandlungen 
nicht ausblieben. Der Graf, zufällig Augenzeuge des Eindifchen Zwiftes, Tief die 
Erbitterten trennen ; Ludwig trat nun auf ihn zu und vertheidigte fich mit fo Ieben- 
diger Beredtfamfeit, fo ſtarken und wohlgeordneten Beweifen, daß Tendilla in 
Erftaunen darüber gerietb und den beredten geiftvolfen Knaben liebgewann. Im 
19. Jahre trat Ludwig in den Dominicanerorden, den er als eine feiner erfien 
Zierden verberrlichen follte. Nachdem er in Valencia Philofophie und Theologie 
ftudirt hatte, wirfte er für feinen Orden als Lehrer, als Wiederherfteller des 
verfallenen Convents Scala coeli bei Cordova, als Provincial in Portugal; für 
die Außenwelt als eifervoller Prediger und unermüdeter Verfaſſer geiftlicher 
Bücher. Zum Erzbifhof von Braga augerfehen, lenkte er die ehrenvolle Wahl 
von fih ab und auf den berühmten Bartholomäus a Martyribus, Nachdem er 
allgemein hochverehrt durch Wort und Schrift unglaublich Vieles und Großes ge- 
leiftet hatte, endete er fein mufterhaft frommes, durch jede Tugend gefchmücktes 
Leben am 31. December 1583 in Laffabon im hohen Alter von 84 Jahren, Die 
Schriften diefes großen Mannes find theils in Tateinifcher, theils in fpanifcher 
Sprache verfaßt; einige feiner urfprünglich Iateinifch gefchriebenen Werfe über- 
feßte er felbft in's Spanifhe. Den erftien Rang unter feinen Schriften räumte 
er felbft dem Werfe La guia de pecadores ein, das in teutfcher Ueberſetzung unter 
dem Titel die Lenferin ver Sünder befannt ift, und von dem ein Schrift- 
ftelfer bemerkte, es habe mehr Irrende auf den Weg des Heiles zurücfgeführt als 
es Buhftaben enthalte, Ein anderes berühmtes großes Werk des geiftreihen 
Mannes ift: EI Memorial de la vida Christiana = Gedenkbuch des chriſt— 
lihen Lebens (Nahen, Cremer, 1834, 4 Bde), worin der Chrift eine volf- 
ftändige Anleitung findet, wie er von den erfien Anfängen der Bekehrung an zur 
höchſten Vollfommenheit gelangen kann. Seine Predigten überfeste befanntlich 
Silbert in 5 Bänden, gr. 8. Landshut und Regensburg. Anftatt weitläufiger 
feine Werfe einzeln aufzuzählen, mögen einige allgemeine Bemerkungen über feinen 
fchriftftefferifchen Charakter hier ſtehen. Alle feine Werke zeichnen fich durch ſüd— 
liche Lebendigkeit, nicht felten durch dichterifchen Schwung, immer durch ächt hrift- 
liche Wärme aus. Man fieht, er war felbfi von dem, was er lehrte und ſchrieb, 
innigft erfüllt und durchdrungen. Capmany fagt von ihm: „Nie hat ein ascetifcher 
Schriftſteller mit folder Würde und Erhabenheit von Gott geredet. Wenn er 
anfere Schwähe und Armfeligfeit mahlt gegenüber der Allmacht und Erbarmung 
Gottes, wenn er Seine unendliche Liebe und unfere Undanfbarkeit darſtellt, ift 
er groß, erhaben, unvergleihlih. Er ift unter den Myſtikern, was Boffuet unter 
den Rednern.“ Nach einem langen, glänzenden Lobe feines ebenfo reinen als 
erhabenen, Anmuth mit Pracht vereinenden Styles vergleicht er ihn an Leichtig- 
Zeit, Rlarheit, Neichtbum und Fülle mit dem hl. Chryfoftomus. Das eifrige Stu= 
dium Ciceros bildete ihn zum großen Nebner, das tiefe Studium der Hl, Schrift 
und hl. Väter zum großen Asceten. Nebft den Ueberfegungen einzelner Schriften 
in's Teutſche haben wir auch eine lateinische Ausgabe von Fr. VBalefius, als Nach— 
druck in 3 Bänden in Fol. 1626 in Eöln erſchienen. Franzöfifch fam heraus 
Sermons et Rhetorique des predicateurs, trad. par Girard. 5 Voll. 8. Paris 1809. 
Spaniſche Ausgaben kenne ich die zwei folgenden: Luis de Granada Obras, pre- 
cedente su vida escrita por Luis Munoz. 6 Tom. Fol. Madrid 1788—1800. Und 
eine D ctavausgabe von 18 Bänden, wozu die nämliche Biographie von L. Munoz 
den 19, Band bildet, Schon aus diefem kurzen Artikel geht übrigens hervor, 


630 Ludwig, der Heilige, 


wie fehr Ludwig von Granada befonders von Prieftern beachtet und gelefen zu 
werben verbient. a [Zingerle,] 
2udwig (IX.), der Heilige, König von Franfreich, folgte feinem frommen 
Bater gegen das J. 1227 auf dem franzöfifhen Throne, Er war damals unge- 
fähr 12 Jahre alt und wäre großen Gefahren preisgegeben gewefen, wenn ihn 
nicht feine Mutter Blanca unter ihre vorforglihe Dbhut genommen. Diefe Tiebte 
ihn zärtlich, aber fie war eine verftändige Frau und forgte vor allen Dingen für 
eine hriftliche Erziehung ihres geliebten Sohnes, den fie durch fromme Männer 
aus dem Franciscaner- und Dominicanerorben bilden ließ. Denn beide Genoffen- 
fchaften Hatten damals noch alle jene geiftige Elaftieität, welche allen berühmten 
Drden in ihrer Jugendzeit fo eigenthümlich ift, Ludwig, der fich durch viele Ga- 
ben des Geiftes und des Herzens auszeichnete, widmete fich fchon früh den Werfen 
der Frömmigfeit und verlebte feine Jugend in Unſchuld und Reinheit. Man 
ſchreibt dieß größtentheild der Sorgfalt der Mutter zu, die ſich nicht wenig an 
feiner Heiligkeit erbaute und ihm einftens in der Freude ihres Herzens fagte: Es 
macht mich unendlich glücklich, Kieber Sohn, wenn du Gott dienft, und fei ver- 
fihert, ich wollte dich Tieber todt fehen, als wenn du deinen Schöpfer durch eine 
fhwere Sünde beleidigen würbeft. Ludwig vergaß dieß nicht, Gegen das J. 1234 
heirathete er Margaretba von Province und nachdem er ſchon früh mit allerlei 
Ungemach zu kämpfen gehabt, welches feinem Leben und dem Glücke feines Reiches 
drohte, mußte er zunächft gegen den Grafen Hugo von der Marf, der fih gegen 
den König empört hatte, zu Felde ziehen, Diefer ftügte fich vorzüglich auf feinen 
Berwandten, König Nihard von England. Es kam zu einem Kampfe, in dem 
Hugo und die Engländer unterlagen und um Frieden baten, der ihnen milde ge— 
währt wurde, Bald darauf fiel Ludwig in eine ſchwere Krankheit, Einige hielten 
ihn fogar für tobt, Aber er erholte fih bald und befchloß, gleich nach feiner Ge— 
nefung dag Kreuz zu nehmen, Ludwig fonnte jedoch den Kreuzzug erft gegen das 
J. 1248 antreten und landete im September auf Eypern. Hier befchloß er zu 
überwintern, mehr Kräfte an fich zu ziehen und fichere Vorbereitungen zur Be— 
hauptung des hl. Landes zu ergreifen, Auch Famen Gefandte verfhiedener Fürften 
Kleimafiens und des Feftlandes dorthin, um mit ihm zu unterhandeln. Unglüd- 
Ticherweife zog ſich aber die Sache fehr in die Länge, Ludwig glaubte endlich feinen 
erften Angriff auf Aegypten machen zu müſſen. Er Tandete im Spätfrübjahr des 
folgenden Jahres vor Damiette, Die Stadt ward mit Hilfe der Kreuzfahrer des 
übrigen Europas, befonders auch der Teutſchen erobert und war der Schauplag 
glänzender Thaten, Aber Ludwig blieb den ganzen Sommer bier, ohne weiter 
vorzudringen, Der Nil fhwoll und das Heer gerieth in große Gefahr, Im Oe— 
tober erhielt Ludwig Verftärfungen und z0g dann im November weiter. Im fol- 
genden Monate kam es zur Schlacht, Ludwig und fein Heer waren Anfangs 
Sieger, aber fie wagten fich zu weit vorwärts und erlitten einen großen Verluft, 
obgleich fie am Ende an jenem Tage dennoch das Feld behaupteten. Die Lage 
des Heeres wurde indeffen immer fohwieriger, Krankheiten rafften einen großen 
Theil der Mannfchaft mit fich fort und von 32,000 Mann waren kaum noch 6000 
übrig. Auch Lebensmittel fehlten und es farben viele vor Hunger, Denn die 
Sararenen hatten alle Wege befett und die Verbindung mit Damiette abgeſchnitten. 
Es blieb daher nichts übrig, als der Rückzug. Am 5, April machten die Sara» 
cenen einen Hauptangriff, in welchem fie König Ludwig und zwei feiner Brüder 
Alphons und Carl gefangen nahmen, wie ber Lebensbeſchreiber des frommen Königs 
fagt, entweder wegen der Sünden einiger, bie in feinem Geleite waren, ober 
um deſſen Tugend und Geduld in ein defto glänzenderes Licht zu ſtellen. Denn 
Ludwig hätte für feine Perfon Leicht fi retten können. Er wollte ſich aber von 
feinen Gefährten nicht trennen und ihnen feinen Troft nicht entziehen, ja möglicher 
Weiſe durch Abſchluß eines günſtigen Waffenſtillſtandes zur Befreiung derfelben 





TE) — 


Ludwig, der Heilige. 631 


beitragen. Der Waffenſtillſtand kam auch wirklich unter folgenden Bedingungen 
zu Stande: Ludwig und fein Heer ſollten freien Abzug erhalten, den Chriſten 
einige Drte des HI. Landes verbleiben, der König dagegen Damiette räumen und 
zur Erftattung der Kriegsfoften 8000 Byzantiner zahlen, alle gefangenen Sara— 
cenen zurüdgeben. Der Waffenftillftand follte zehn Jahre dauern. Diefe Bedin— 
gungen fchienen jedoch einigen von den Saracenen zu günftig, Ste empörten fich 
wider den Sultan und fuchten König Ludwig zu tödten. Sie bedachten fih aber 
eines Andern und erfuchten ihn, daß es bei dem Frieden verbleiben möge. Ludwig 
gab daher Damiette zurüd, Aber die Sararenen hielten fchleht Wort, Denn 
son 12,000 Gefangenen fehrten die wenigften zurück. Bei folder Lage der Dinge 
glaubte Ludwig noch eine Zeitlang im Morgenlande verbleiben zu müffen. Er 
fchiefte daher feine Brüder Alphons und Carl zur Mutter nach Frankreich zurück. 
Er felbft blieb noch fünf Jahre, indem er viele Sararenen zum Chriſtenthume 
befebrte, manchen Chriften aus der Gefangenſchaft befreite, die noch geretteten 
Städte und Burgen befeftigte und mit Hilfe der Seinigen die Werfe der Barm— 
bherzigfeit an Lebenden und Todten übte, Da erfuhr er das Hinſcheiden feiner 
Mutter Blanca, Nun war es Zeit, nach Franfreich zurüczufehren. Am dritten 
Tage nah der Rüdfahrt jedoch ftieß das Schiff fo gewaltig wider einen Felfen, 
oder eine Sandbanf, daß Alle und auch die Schiffer glaubten, es müffe unter- 
gehen. Selbft die Priefter wurden erfchredt. Sie fuchten den König und fanden 
ihn vor dem Afferheiligften Inien. Sie fhrieben aber ihre Rettung vorzüglich 
dem Gebete des frommen Königs zu. Ludwig ward in Franfreich wohl empfan- 
gen, Er war fieben Jahre abwefend gewejen, Aber der Ruf feiner Heiligkeit und 
Milde Hatte durch feine Abwefenheit nicht verloren, Alfe Unglüdlichen und Hilfsbe- - 
dürftigen fuchten daher bei ihm ihre vorzüglichfte Zuflucht. Auch baute er Hofpitäler, 
Klöfter, ließ unter die Dürftigen Geld austheilen und widmete inshefondere ven Blin- 
den eine große Sorgfalt, fo daß in jeder Stadt und Burg ein eigenes Haus zu ihrer 
Aufnahme bereit geftellt wurde, ja er felbft entzog fich nicht der chriftlichen Liebes— 
pflicht des Kranfendienftes. Er pflegte die Kranken perfönlich, wuſch fie, reichte 
ihnen zu effen, umarmte und füßte fie und litt nicht, daß einem etwas fehle; nicht 
einmal die ſchreckliche Plage des Ausſatzes erfchredte ihn, Wie gegen Arme war 
er auch freigebig gegen die Kirche und frommen Ordensleute, unter denen beſon— 
ders feine ehemaligen Erzieher die Franciscaner und Dominicaner bedacht wurden. 
Sein religiöfer Sinn hatte fih während feines Aufenthaltes im Morgenlande nicht 
wenig mit den chriftlihen Denkwürdigfeiten und den Werkzeugen der Erlöfung be— 
ſchäftigt. Er brachte von daher mit fi) nach Paris die Dornenfrone, die HL, Lanze 
und einen großen Theil des HI, Kreuzes, den er ſich mit bedeutenden Koften von Con— 
ftantinppel verfchafft hatte, Zur Aufbewahrung feiner Heiligtümer erbaute er in 
der Nähe feines Palaftes eine eigene Kirche, welche noch heutigen Tages unter 
dem Namen der HI. Capelle befannt ift, wo er fo manche Stunde in Gebet und 
Thränen zubrachte. Denn er hatte eine große Verehrung gegen das hl, Kreuz, 
fo daß, wo er daffelbe am Boden gezeichnet fah, er es nie wagte, daffelbe mit 
dem Fuße zu betreten und überall dahin wirfte, es nie auf den Boden zu zeichnen, 
Ludwigs Frömmigfeit war aber nicht der Art, daß fie ihn von den Negierungs- 
gefhäften abhielt. Er widmete vielmehr diefer die größte Sorgfalt und fchaltete 
mit vieler Weisheit. Weil er aber fürdtete, die Sache der Armen möchte dennoch 
nit gehörig vertreten fein, hielt er zweimal öffentliche Sitzung, wo er Jeden 
anhörte und ſchnelles Necht übte, Auch wahrte er mit fräftiger Hand, wenn es 
fein mußte, Frieden und Ruhe im Lande, Sonft vermittelte er in Güte, worin 
er eine große Geſchicklichkeit beſaß. Die betrübenden Nachrichten aus dem HL. 
Lande bewogen den König noch in hohem Alter zu einer Heerfahrt dorthin, die er 
mit dreien von feinen Sößnen und vielen Vornehmen feines Neiches und großer 
Kriegsmacht unternahm, Als fie im Begriffe waren, das Schiff zu befteigen, 


* 


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632 Ludwig, ber Heilige 


blickte er freundlich auf feine Söhne Hin und redete den älteften und Nachfolger 
alfo an: „Sieh, wie ich zum zweiten Male diefe Neife antrete, obfchon ich 
ein alter Mann bin, die Königin, deine Mutter ebenfalls vorgerückt an Jahren 
und wir ein Reich Haben, das wir mit Gottes Schuß ohne alle Störung befigen, 
Freuden und Ehren in Ueberfluß genießen, Sieb, wie ich wegen der Sache Chrifti 
und ber Kirche mein Alter nicht ſchone, ja felbft die Troftlofigkeit deiner Mutter 
mich nicht abhalten kann, wie ih Freude und Ehren verachte und meine Schäge 
für Chriftum verwende, Ich nehme euch und meine erftgeborne Tochter mit, ja 
ih würde felbft den vierten Sohn nicht zurüdgelaffen haben, wenn er nur reifern 
Alters wäre. Ich wünfhe aber, daß du dieſes zu Herzen nehmen mögeft, damit, 
wenn bu nach meinem Tode die Negierung antrittfi, du für den Schug Chrifti, 
den Schuß der Kirche und des Fatholifchen Glaubens nichts fchoneft, weder deiner 
Gemahlin, noch deiner Kinder, noch deines Reiches, Ich will dir und deinen 
Brüdern hiemit ein Beifpiel geben, das euch zur Nachahmung dienen möge,” — 
Nicht abgeſchreckt von der frühern Niederlage, noch ungebeugt vom Alter zog 
Ludwig im März des 3. 1270 zu Marfeille vor Anker, Er hielt es zuerft von- 
nöthen, Tunis zu züchtigen, weil von dorther den Pilgern viel Abbruch geſchehen 
war. Schon hatte er den Hafen von Carthago genommen, als eine verheerende 
Seuche das Heer überfiel, zuerfi den Sohn des Königs, Johann, und dann ihn 
ſelbſt ergriff und fortraffte. Damit war nun der Zwed des ganzen Zuges ver- 
fehlt. Ludwig aber war eben ſo fromm und gottergeben geftorben, wie er gelebt 
hatte, Denn von der Krankheit ergriffen, hörte er nicht auf Gott zu loben, indem 
er ſich häufig der Seufzer bediente: „Mach' o Herr, daß wir das Glück der Erde 
verachten und ihr Ungemach nicht ſcheuen!“ Auch für die, welche ihn begleiteten, 
betete er, indem er ſprach: „Sei, o Herr, der Heiligmacher und Schüßer deines 
Volkes!“ Dem Tode nahe, begehrte er den Leib des Herrn, Als der Priefter 
ihm das hl. Sacrament entgegenhielt und fragte: ob er glaube, daß in bemfelben 
der Sohn Gottes enthalten und er mit demfelben geftärft werde, fagte er: das 
fei ihm eben fo wenig irgend einem Zweifel unterworfen, als er Chriftum in der 
©eftalt erblide, worin er zum Himmel gefahren. Er felbft blickte gen Himmel 
und ſeufzte: „Sch gebe, o Herr, in dein Haus, Ich werde dich in deinem Tempel 
anbeten und deinen Namen befennen.“ Als er das gefagt, entfchlief er glüdlich 
in dem Herrn. Es war am 25. Augufl. — Das Heer fehrte nach Ludwigs Tode 
nad) Frankreich zurüd, Man nahm aber den Leichnam des Königs forgfältig ver- 
wahrt mit fih und begrub ihn in St. Denys. Der Herr verberrlichte ihn durch 
Zeichen und Bonifaz VI. verfegte ihn unter die Zahl der Heiligen, — Ludwig 
hatte vier Söhne, an deren Erziehung er nichts verfäumt hatte, wenn fie ſchon 
dem Vater nicht gleich famen. Er hatte fie durch Lehre und DBeifpiel forgfältig 
zur Gottfeligfeit angehalten, Denn fo oft ihm das feine Zeit geftattete, befuchte 
er fie und gab ihnen heilfame Ermahnungen, von denen diejenigen, bie er an 
feinen Nachfolger richtete, noch heute als eine glänzende Probe feiner Heiligkeit 
und Weisheit bewundert werden. Er warnte fie vor jeder Sünde als dem größten 
Unglücde und ging ihnen befonders in der Hebung der Demuth, in den Werfen 
der Mildthätigfeit und Barmherzigkeit voran, Bon feiner Verehrung gegen das 
Kreuzzeichen haben wir fchon oben gehört. Er duldete aber auch nicht, daß Frei- 
tage, an jenem Tage, wo fein Heiland eine Dornenfrone getragen, feine Söhne 
fih mit Rofen und Blumen befräuzten und da er wohl wußte, welchen Gefahren 
der Keufchheit von der Ueppigkeit, der Frömmigkeit von dem Neichtfume, ber 
Demuth von den Ehrenftellen drohen, fo befliß er ſich ganz befonders der Nüch— 
ternheit, der Befcheidenheit und Mäßigung, indem er fih forgfältig vor den Nach- 
ftellungen der Welt, des Fleifches und des Satans in Acht nahm und der Mah- 
nung und dem Beifpiele des Apoftels gemäß feinen Körper in Zucht hielt, Er ſelbſt 


trug lange Zeit ein Bufibemb und als er diefes auf Anrathen feines Beichtvaters 





nn 7 TE BE An Mr 





Ludwig XIV., König von Franfreid, 633 


ablegen mußte, da fuchte er durch Reichthum der Spenden an die Armen einen 
Erfag zu gewinnen. Vebrigens faftete er an allen Freitagen und wollte an jenen 
Tagen, befonders in der Advents- und Faftenzeit, nicht einmal Fifche oder Früchte 
genießen. Was er fih aber felbft entzog, das gab er den Armen, die er immer 
um fih herum hatte und in denen er die Perfon Ehrifti verehrte. Es darf nach 
dem Geſagten nicht auffallend fein, daß eine Perfönlichkeit, wie Ludwig, bald der 
Lieblingsheilige des franzöfifhen Volkes und das Mufter des katholiſchen Franf- 
reichs wurde, Priſae.] 
Ludwig XIV., König von Frankreich 1643 — 1715. Wenigen Fürften war 
es vergönnt, in einer ſo langen und glänzenden Regierung ihrem Jahrhunderte 
einen fo eigenthümlichen Charakter zu verleihen, als Ludwig XIV., dem Begründer 
des abfoluten Staates, der äußerſten Größe Franfreihs wie feines von nun an 
unaufhaltſamen Verfalles. Fällt diefes zu zeigen der politfchen Geſchichte anheim, 
fo wird bier diejenige Wirkfamfeit zu erörtern fein, welche Ludwig ald Mitgarant 
des weftphälifchen Friedens , als Beherrfcher des mächtigſten katholiſches Reiches 
in Firchlicher Beziehung übte. Der in feiner Jugend von Eardinal Mazarin ab- 
geichloffene Friede von Münfter und Osnabrück hatte die Macht des Fatholifchen 
Kaiſers des teutfchen Reiches durch die in weitem Umfange gehandhabten Grund- 
füge der Säcularifation und die Occupation Nordteutfchlands durch die Schweden 
auf das Heftigfte erfihüttert, als der flandrifche Krieg erft den Pyrenäen-, dann 
den Aachner Frieden herbeiführte 1659 und 1668, in welchen die ſpaniſche Linie 
des Haufes Habsburg an Macht und Anſehen kaum weniger verlor als die teutfche 
dur den erwähnten Frieden des J. 1648. Bon diefem Augenblife an fand 
Frankreich unbeftritten als der erfte Fatholifche Staat da und fonnte, wenn es wirf- 
li die Grundfäge des Friedens und der Gerechtigkeit, der Mäfigung und Auf- 
oferung für eine höhere Sache befaß, die feit 150 Jahren in den Fundamenten 
aufgewühlte Ordnung der Dinge wieder herftellen,, der katholiſchen Sache einen 
neuen und herrlichen Aufihwung verfhaffen. Ludwig dachte jedoch nur als Fran 
z0fe, fannte fein anderes Ziel als das der Befriedigung franzöfifcher Ehrliebe, 
fein anderes Streben als das, Franfreih um jeden Preis groß zu machen, Mit 
dem Wiederausbruche des flandrifchen Krieges 1667 war bereits die unfelige Rich— 
tung entfehieden, welche Ludwig von Krieg zu Krieg führte, zwar den Nymweger 
Frieden 1678, den Ryswiker 1697 nach einer Reihe der glänzendften Schlachten 
und überaus vortheilhafter Gebietserweiterung zur nächften Folge hatte, aber auch 
Ludwig zur blutigen Geißel feiner Nachbarn machte und die heilloſeſte politiiche 
Berwirrung über Europa brachte, DVergeblih fuchte ihn Leibnig von diefer ver- 
derblihen Bahn hinweg auf jene Pfade Hinzulenfen, welche vor ihm ſchon Lud— 


- wig IX., der Heilige, betreten (ſ. d. A.), nad ihm von einem großartigen politi= 


fhen Inſtinete geleitet, Napoleon Bonaparte einfchlug. Ludwig zog es vor, 
einerfeits die Proteftanten in ven Niederlanden und der Pfalz heimzuſuchen, anderer- 
feits wider Papft Innocenz XI. den Tyrannen zu fpielen und als mädhtigfter Fatho- 
liſcher Fürft den Papft bereuen zu machen, daß feine Vorgänger an dem BVerfalle 
der teutfchen Schußherrlichfeit der Kirche Antheil genommen. Noch in der Zwi- 
fchenzeit zwifchen dem Nymmeger- und dem Nyswifer Frieden wäre die Möglid- 
keit einer großartigen Entfaltung wahrhaft hriftlicher Grundfäge vorhanden ge- 
wefen, Ludwig, nachdem er den Papft (ſ. Innorenz XI. und Öallicanismus) 
verfolgt, um ſich zum factifhen Haupte der Fatholifhen Kirche in Franfreih em⸗ 
porzufhwingen, fühlte fih aber jegt berufen, den unumftöglihen Beweis feiner 
Katholicität dadurch zu Liefern, daß er, während er den Hauptgrundſatz ber 
Glaubensfpaltung, den Sieg der Laien gegen die Geiftlihen auf dem Fatholifchen 
Gebiete geltend machte, den Proteftanten (Hugenotten) die bisher von ihnen ge- 
noffenen Rechte mehr und mehr zu entziehen fuchte. Sei es au, daß er darin 
yon dem Volkswunſche getragen und die nachherige Nevpration des 1598 verlie- 


4 


634 Ludwig XIV., König von Franfreid, 


henen Edictes von Nantes durch den Umftand erleichtert wurde, daß die Parla- 
mente dafjelbe nur unter der Claufel einregiftrirt hatten, die Nachfolger Hein- 
richs IV. hätten die Freiheit es zurücdzunehmen, wenn fie es dem Bortheile der 
Religion und des Staates für angemeffen erachteten: nachdem der Gallicanismus 
eine Fülle von Gewalten auf ihn übergetragen, welde die Bifchöfe ihm dienftbar 
machte; nachdem bei Hofe, in der Adminiftration, im Heere wie in der Kirche, 
in der Sache des guten Geſchmacks, wie der Sitte und ehelichen Treue fein Wille, 
ja fein Winf allein geboten, war für die Hugenotten um fo weniger Heil zu finden, 
als fie mit den Niederlanden in einer Verbindung flanden, welde dem Staats- 
oberhaupte gefährlih dünfen mußte, Spanien hatte Tängft nicht ohne Applaus 
Franfreihs feine Morisco's aus ähnlichen Gründen vertrieben; der furchtbare 
Strafeoder. Englands gegen die irifchen Katholifen war im Werben begriffen und 
das Haupt eines Fatholifchen Priefters dafelbft noch Tange dem Kopfe eines Wolfes 
gleichgefegt. Ludwig XIV. verfuchte zuerft die Mittel der Ueberredung, der Beloh- 
nung für die Hebertretenden, dann der fucceffiven Rechtsentziehung für die bei 
dem calviniftifhen Glauben Beharrenden, ALS diefe Mittel nicht ausreichten, 
ließ er die Miffionäre mit Dragonern begleiten (Dragonaden) und die Wiber- 
firebenden dur Soldaten heimfuchen, bis fie der Gewalt wichen und an 195,000 
den Nebertritt als Mittel der Rettung der Habe, der Ehre und des Lebens er- 
griffen. Unterdeſſen hatte aber feine Gewaltthätigfeit nach jeder Seite furchtbar 
zugenommen. Mitten im Frieden entriß er Straßburg den Teutfhen, die Os— 
manen reizte er zum Zuge gegen Wien auf und bombardirte Luremburg, als bie 
Osmanen Wien nicht erobern konnten. Wie den Hugenotten in Betreff ihrer 
Rechte und Privilegien geſchah, gefchah zu gleicher Zeit der teutſchen Reihsritter- 
fchaft und den teutfchen Neichsftänden durch die Neunionsfammern im Elſaß. 
Ueberall daffelbe Verfahren grenzenlofer Willfür, ſchrankenloſen, Gott und die 
Welt verhöhnenden Uebermuthes. Endlich wurde am 22, Detober 1685 das 
Ediet zu Nantes aufgehoben, alle Privilegien der Calviniften unterbrüct, ihnen 
die Erlaubniß entzogen, ihre Religion auszuüben, ihnen auferlegt, ihre Kinder 
Fatholifch zu erziehen, kurz im Ganzen daffelbe vorgenommen, was mehr als ein 
Sahrhundert das Fatholifche England, Irland ꝛc. von den Proteftanten zu leiden 
hatte, Nur harrten die Infelbewohner unter dem furdtbaren Drude größtentheils 
aus; die Hugenotten wanderten zu 100,000— 230,000 Menfchen aus und trugen 
in den nachfolgenden Kriegen die Waffen gegen ihr Vaterland und deſſen Ge— 
bieter. Diefe Politik, zu der fih, um das Unmaß der Schandthaten voll zu machen, 
auch noch die Verbrennung von 1400 pfälzifchen Ortfchaften 1688 gefellte, brachte 
endlich, was der religiöfe Zwift fonft nie geftattet hätte, hervor eine allgemeine 
Conföderation gegen den allgemeinen Friedensftörer, Als Wilhelm von Dranien 
den letzten Fatholifchen König Englands, den Stuart Jacob IL (ſ. d. U.) flürzte, 
hatte er den teutfchen Kaiſer Leopold (f. d. A.) auf feiner Seite, und der Papft ließ 
ihm (dem Ludwig) in feinem Miffionseifer bemerken, ſolche Mittel habe Ehriftus 
der Herr nicht angewendet, die Welt zu befehren. Fünfunddreißig franzöſiſchen Bi⸗ 
fchöfen verweigerte Innocenz XI. die Beftätigung und Einfegung. Der König ließ 
feine Gefandten mit Friegerifchem Gefolge in Nom einziehen, den Nuntius gefangen 
fegen , wie der Großſultan die Gefandten der mit ihm zerfallenen Mächte, Doch 
Innocenz XI. erklärte, lieber als Martyrer fterben zu wollen, als in die Forderungen 
Ludwigs einzugehen (f. Chriftenverfolgungen), Auf diefem Gebiete erlitt denn 
auch der ftolze König die erfte Niederlage, Die franzöfifhen Prälaten, welche ſich 
von der milden Herrfchaft des Papftes Iosgefagt, um der Herrfchaft des Könige zu 
verfallen, baten am 14, September 1653 dem Papfte ab und erflärten Alles, 
was von ihnen 1582 über die geiftliche Gewalt des Papftes ausgeſprochen und 

befhloffen worden, für nicht geſchehen; der König, welcher alle Lehrer der Theo- 
logie, alle geiftlihen Würbenträger 0, auf fein neues Staatskirchenrecht hatte 


E 





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Ludwig be Leon. | 635 


fhwören laſſen, nahm feine auf die vier Artifel der gallicanifhen Kirche gegrün- 
deten Befehle zurück, und feßte dann wie zur Sühnung im Ryswiker Frieden die 
Elaufel dur, daß in allen zurücfgegebenen Drten des teutfchen Reiches die (fran= 
zöfifher Seits) eingeführte katholiſche Religion in ihrem dermaligen Zuftande 
verbleiben folle. Als furze Zeit darauf der fpanifche Erbfolgefrieg ausbrach, er— 
folgte auch die weitere Züchtigung des Uebermüthigen. Das Schlahtenglüd ver- 
ließ ihn im Augenblide, als nach feinem berühmten Worte es Feine Pyrenäen 
mehr geben follte, die Vereinigung Franfreihs und Spaniens angebahnt war, 
Das Unglüf brach in feine Familie ein, die äußerſte Erfhöpfung im Staate, 
Ale Hilfsquellen waren aufgezehrt, als es nochmal einer großartigen Anftren- 
gung gelang, den Utrecht-Raftatter Frieden abzufhließen, Er verfchaffte dem Kö— 
nige die Möglichkeit, im Frieden zu flerben, 1. September 1715, die Laft feines 
erichöpften Reiches feinem fünfjährigen Urenfel Ludwig XV. Hinterlaffend, feinen 
Nachkommen aber das traurige Verhängniß, daß fieben Generationen hin- 
durch nicht mehr der Erfigeborne dem Vater folgte, endlich über fein ganzes Ge— 
fchlecht, das überall dieſelben Grundfäge befolgte, ein ſchreckliches Gericht er- 
ging. [Höfler.] 
Ludwig de Leon, aus dem Orden der Eremiten des HI, Auguftin, 
ein Stern erfter Größe am fpanifhen Dichterhimmel, wurde zu Gra— 
nada aus einer der vornehmften fpanifhen Familien 1527 geboren und traf, der 
ihm eingeborenen himmlischen Richtung folgend, ſchon als Jüngling von 16 Jahren 
in das Auguftinerffofter zu Salamanca. Mit den theologiſchen Studien feste er 
im Kloſter auch die claſſiſchen Studien fort und oblag der heiligen Poefie, Mit Ruhm 
flund er dem Amte eines Profeffors der HI. Schriften zu Salamanca vor. Ju feiner 
Schrift „de legitimo tempore utriusque agni typiei ac veri immolationis® (Salamanca 
1587) wird diefe Frage mit großer Genauigkeit behandelt ; eine andere von ihm ver- 
faßtetheologifche Schrift handelt in drei Büchern von den Namen Jefu Chrifti. Außer- 
dem überfegte und commentirte er das hohe Lied, gerieth aber dadurch leider, obwohl 
er nichts weniger als häretifch gefinnt war, bei der Inquifition in den Verdacht 
der Härefie und wurde som diefem Gerichte in das Gefängniß geſetzt, wo er fünf 
Jahre abgefondert von aller menſchlichen Gefellfchaft und des Tageslichtes beraubt 
ſchmachtete, aber dennoch dabei im Gefühle feiner Unſchuld einer Seelenruhe und 
Heiterkeit fich erfreute, wie er fie nachher nicht wieder empfand, Endlich warb 
er freigefprochen, feinem Drden zurüdgegeben und in feine Aemter und Würden 
wieder eingefegt. Er flarb am 13. Auguft 1591 zu Salamanca ald General- 
und Provincialvicar feines Drdens.- Ein Zeitgenoffe des fpanifchen Geiftlihen 
und berühmten Dvendichters Fernando de Herrera (+ 1578), hat Ludwig de 
Leon durch feine poetifhen Erzeugniffe, welche größtentheils feinen jüngern Jahren 
angehören, fi das Lob des correcteften fpanifchen Dichters verdient, wie fein 
neuerer Dichter ein richtiges Gefühl für den wahren Geift der Nahahmung der 
Alten in der neuern Poefie und eim ſolches Dichtergenie gezeigt, daß es, wie 
Bouterwed bemerkt, fehwer zu entfcheiden ift, ob Horaz oder Ludwig de Leon als 
Dichter im ganzen Sinne des Wortes höher ſtehe. Gewiß ſtehen Ludwigs Oden, 
wenn auch die Oden des Horaz Funftreicher und durch die feinften Verhältniffe 
der Gedanfen und Bilder anziehender find, durch hohen religiöfen Ernft und 
Schwung und dur die unmittelbare Poeſie der reinften Erhebung des Geiftes 
in die moralifch-religiöfe Ideenwelt weit höher als die Dven des epicuräifchen 
Romers. Seine fämmtlichen poetifhen Werfe Hat Ludwig felbft in drei Bücher 
abgetheilt. Das erfte Buch enthält feine eigenen Gedichte, die faft alle in die 
Elafje der Dden gehören und mit folcher Zartheit und fanfter Liebesgluth ge— 
ſchrieben find, daß fie den Lefer über das irdifche Dafein mächtig zu einer befjern 
Belt erheben und in derfelben ganz einheimifh machen. Befonders berühmt find 
die zwei Oden: „Die heitere Nacht” und „das Leben im Himmel,“ Das zweite 


6236 Ludwig de Ponte — Lugduno. 


Buch enthält metrifhe Ueberfegungen verſchiedener Gedichte alter Claffifer, und 
das dritte metrifhe Neberfegungen von Pfalmen und Stellen aus Job, Zu er- 
wähnen ift noch eine andere Schrift Ludwigs in Profa „la perfecta casada“, over 
„das Weib wie es fein fol”, oder „die vollfommene Ehefrau“, ein treffliches 
Buch, in teutfcher Ueberfegung herausgegeben von dem Verein zur Berbreitung 
guter katholiſcher Bücher in ber Mecitariften- Congregationg - Buchhandlung zu 
Wien 1847. — ©. Bouterweck's Gef, der Poefie und Nhetorif, Göttingen 
1804, Bd. III. ©. 239—2535 Dupin, Bibl. Ecel. XVI, 157. [Schrödt.] 
Ludwig de Ponte, (Luis de la Puente, Ludovicus de Ponte). Bei der 
hohen Bedeutung der Ascetif für die Fathol. Theologie und das hriftliche Leben 
dürfen wir diefen berühmten Asceten nicht übergehen. Er ift zwar Fein Elaffifer 
der fpanifchen Literatur (wie Ludwig v. Granada f, d. A.) nimmt aber als 
©eifteslehrer eine der erften Stellen ein und gehört zu den beliebteften ascetifchen 
Sähriftftellern. Er wurde unter der Negierung des Kaifers Earl V. 1554 in 
Baladolid geboren als Sprößling eines eben fo edlen als tugendhaften Gefchlechtes., 
Der frühe ungewöhnliche Ernft des Knaben war ein Vorzeichen der hohen chrift- 
lichen Vollkommenheit, wodurch er fich einft auszeichnen follte, Im 20. Jahre 
feines Alters trat er in die Gefellfchaft Jeſu ein, welcher er hernach durch die 
Heiligkeit feines Lebens fowohl als durch feine Schriften zu fo großer Ehre ge- 
reichte. Nach Vollendung der Studien, worin er unter andern den berühmten 
Franz Suarez zum Lehrer hatte, wurde er feiner eminenten Gaben wegen bald 
als Lehrer der Philofophie an der ausgezeichneten Univerfität von Salamanca 
angeftellt. Später mußte er das wichtige Amt eines Novizenmeifters übernehmen, 
wobei er vorzüglich feine Tüchtigfeit in Anleitung zur Vollkommenheit bewies, 
Während der Verwaltung mehrerer anderer Stellen zeichnete er fich befonders 
als Seelenführer aus, Unter anderm war er 30 Jahre Tang Beichtvater der 
wunderbar begnadigten Marina von Escobar. Im letzten Drittel feines Lebens 
endlich, da er Fürperlicher Gebrechen wegen zu andern Anftrengungen unfähig 
war, begann er feine fegensreiche fchriftftellerifche Laufbahn, auf der er fo unermüdet 
fortfchritt, daß die fpanifche Ausgabe feiner Werfe vom Jahr 1690 fünf Bände 
in Folio beträgt. Durch teutfche Ueberfegungen befannt find davon: Der geift- 
liche Führer, herausgegeben von JZoham in 4 Theilen, Sulzbach, Seidel, 
Zweitens: Betrahtungen über die vorzüglichſten Geheimniffe des 
Olaubens Neu überfegt von Fr. Dirnberger, Regensburg. Drittens: 
90 Betrachtungen über das Leiden und Sterben Jeſu Chrifti nach den Betradh- 
tungen des Ludwig del Ponte, Bon Etz in ger. Sulzbach. Dritte Auflage 1847. 
Die Tatein. Heberfegung feiner Betrachtungen ift in den Händen vieler Priefter 
und Ordensleute. Ludwig de Ponte ftarb 70 Jahre alt im Geruche der Heilig- 
feit im Jahr 1624, Wer fein erbauliches Leben weitläufiger kennen lernen will, 
findet e8 im Werke: „Leben des ehrw. Ludw, del Ponte, nach dem Lateini- 
fchen (von Lamparte) frei bearbeitet von Magnus Jocham.“ 2 Theile, Sulz⸗ 
bach, Seidel, Die Betrachtungen Ludwigs de Ponte find in der einfachſten Far- 
ften Sprache gefchrieben,, erörtern die Glaubens- und Sittenlehren und die 
evangelifchen Pericopen mit alffeitiger Ausführlichfeit, athmen trog ihrer ruhigen 
Haltung eine Kiebliche Wärme der Andacht, und ehren auf eine ungemein prac- 
tifhe Weife die Ausübung der Tugenden. Sie bieten eine reiche Fundgrube für 
Prediger die denfen und Gelefenes felbft verarbeiten, nicht bloß auswendig 
Gelerntes wiedergeben wollen, In feinem Werfe über die Volllommenheit des 
Ehriften in jedem Stande behandelt er die Pflichten der verfchiedenen Stände und 
die Mittel zur Erlangung der Vollkommenheit in jeglichem derfelben mit ber 
tiefften Menfchenkenntniß und erfhöpfender Bollftändigfeit. Darum find feine 
Schriften wohl würdig, gründlich ſtudirt und fleißig benügt zu werben, [Zingerle,] 
Lugduno, pauperes de, fs Waldenſer. 





— 





Lugo — Luitprand, 637 


Zugo, Johann, gelehrter Jefuit und Carbinal, geboren 1583 zu 
Madrid, Ins fhon als Knabe von 3 Jahren Bücher und verteidigte in einem 
Alter von 14 Zahren in öffentlicher Disputation Thefen aus der Logik, trat 1603 
in den Orden, lehrte nach abfolsirten Studien Ppilofophie und Theologie an ver- 
ſchiedenen fpanifhen Collegien, und wurde fobann nach Rom berufen, wo er 20 
Sabre als Profeſſor der Theologie im Römifhen Collegium großen Ruhm erntete, 
Payfl Urban VIIL ernannte ihn 1643 ganz unvermuthet zum Cardinal und be- 
diente fich feiner bei verfchiedenen Gelegenheiten. Die neue Hohe Würde änderte 
in der Demuth und Befcheivenheit des damit Befleiveten fo wenig, daß er in feinem 
Palafte feine koſtbaren und glänzenden Möbel duldete, dagegen war er deſto freige- 
biger gegen die Armen. Sein ausgezeichneter Schüler, der berühmte Pallavieini, 
welcher ſich ſtets rühmte, den Lugo zum Lehrer gehabt zu haben und diefem auf 
dem theologifchen Lehrſtuhl nachfolgte, reichte ihm die Sterbfacramente, Lugo 
farb 1660 in einem Alter von 77 Jahren, Man hat von ihm eine große Anzahl 
von Schriften, welche in 7 großen Foliobänden gefammelt worden find und zur 
Gattung der verbefferten und gereinigten fcholaftifchen und Moral-Theologie ge= 
hören. Der Hl. Alphons Liguori fhägte Lugos Schriften fo hoch, daß er ihn 
den Fürften unter den Theologen nach dem HI. Thomas nennt. Diejenigen, be- 
merft Feller (Dict. hist.), welche dem Cardinal nachgeſagt, er habe in feinen 
Schriften zuerft das fogenannte „peccatum philosophicum* vorgetragen, haben in 
diefer Beſchuldigung vielmehr den Geift der Parteilichfeit als den Irrthum des 
Cardinals bewiefen, der nie eine folche Lehre behauptet Hat. Zu unterſcheiden 
von dem Cardinal ift deſſen älterer Bruder Franz Lugo, gleichfalls Jeſuit und 
Schriftſteller, + 1652. Bgl. Alegamb. Bibl. Script. S. J. [Schrodl.] 

Luitprand, König der Longobarden, ſ. Longobarden. 

Luitprand (Liutprand), Biſchof von Cremona und berühmter 
Geſchichtſchreiber des zehnten Jahrhunderts, geboren zu Pavia, ſtammte 
von anſehnlichen Eltern her, da ſowohl ſein Vater als auch Stiefvater als Ge— 
ſandte der Könige Hugo und Berengar fungirten, und wurde nach dem Tode 
feines rechtſchaffenen und eloquenten Vaters (+ 927) von feinem Stiefvater in 
den lateinischen und griechiichen Elaffifern unterrichtet, von deren Kenntniß feine 
Schriften zeugen; fpäter fludirte er auch die HI. Schrift und die Väter, Im Jahr 
931 fam der talentoolfe junge Luitprand wegen der Anmuth feiner Stimme an 
den Hof des Königs Hugo und warb naher Cleriker und Diacon zu Pavia. 
Nah Hugos Vertreibung 945 Ffaufte ihm fein Stiefvater eine Stelle am Hofe 
Derengars von Foren. Bei diefem begleitete Luitprand die Stelle eines Se— 
eretärs und ging zwifchen 945—950 in deifen Auftrag als Gefandter nach Con—⸗ 
ſtantinopel. Auf diefer Reife lernte er die Sitten und Einrichtungen der Griechen 
fennen und verfchaffte fih eine nicht unbedeutende Kenntniß der griechiichen 
Sprache und Authoren, die er in feinen Schriften durch Einflechtung griechifcher 
Worte und Sentenzen und durch feinen oft blumen- und wortreichen Styl felbft- 
gefällig zur Schau trägt. Nah Italien zurüdgefehrt, fiel er in Berengars Un- 
gnade und floh zu Kaifer Dito I. nach Teutfchland, der ihn gerne aufnahm und 
bei dem er zu großer Geltung gelangte. Damals Iernte er die teutfche Sprade, 
An Otto's Hofe fam er 956 in vertraute Berührung mit Recemund, Bifchof von 
Elvira und Gefandten Abderrhamans, und ließ fih von diefem bereden, die Ge- 
ſchichte feiner Zeit zu beſchreiben und machte damit zu Frankfurt 958 den An» 
fang. Zum Lohne für geleiftete treue Dienfte gab ihm Dito 963 das Bistkum 
Cremona. Im Sommer 964 mit dem Bifchof Landohard von Minden an Papft 
Johann XI. nach Rom abgefandt, nahm er an der gegen diefen Papft gehaltenen 
Synode Theil und betheiligte fich im faiferlihen Auftrage bei der Wahl Leos VIIL, 
der Abjegung Benedicts V., und nach Leo’s VII. Tod 965 abermals nah Rom 
gefandt, an der Wahl Johanns XI. Nachdem er 967 der Synode zu Ravenna 


6383 Lullus. 


und Nom und dann der Krönung Otto's I. beigewohnt, ging er 968 als kaiſer⸗ 
licher Gefandter nach Conftantinopel, um für Otto I. um die Hand der griechi— 
fchen Princeffin zu werben. Später foll er noch einmal oder gar zweimal als Legat 
nach Conftantinopel gefchicft worden fein, Sein.Zod ift wahrfcheinlich auf das Jahr 
972 zu fegen, Luitprands auf ung gefommene Schriften beftehen aus drei Werfen: 
1) Der historia imperatorum et regum, von ihm felbft „Antapodosis“ 
genannt, weil er darin feine Freunde loben und an feinen Feinden ſich rächen zu 
wollen befennt; diefe Gefchichte umfaßt in ſechs Büchern, von denen das lebte 
nicht vollendet if, den Zeitraum von 893 — 950; 2) dem Bude „derebus 
gestis Ottonis Magni imperatoris“, welches bei Muratori u, U. dem 6, 
Buche der Antapodosis angefügt, bei Perg aber richtiger davon abgetrennt iſt; 
3) dem Berichte über die conftantinopolitanifhe Geſandtſchaft vom 
Sahr 968. Alle andern auf Luitprands Namen gefchriebenen Werfe find unächt; 
vgl. den Art, Dexter, Luitprand, an Geift, Talenten und Kenntniffen einer der 
erften Dänner feiner Zeit, fheint in Bezug auf feinen Charakter nicht auf gleicher 
Höhe geftanden zu fein, vielmehr verräth eine gewiffe Behaglichkeit und Luftig- 
feit, womit er in feiner Antapodosis die größten Schandthaten erzählt, Fein edles 
und reines Gemüth, fowie auch feine auffallende Jagd nach Anecdoten (je ſchmutziger 
defto Lieber!), feine Liebhaberei für Abenteuerliches und Romantifches, fein oft far- 
eaftifcher und ironifcher Styl nicht geftatten, ihm durchgängig jene hiftorifhe Olaub- 
würdigfeit zuzugeftehen, welche ihm Martini (Abhandl. der Münchner Acad, der 
Wiffenfch. Jahrg. 1808 und 1809) gegenüber dem berühmten Muratori (Annal. 
d'Italia V.) und fogar Perg zulegen, um die ſchönen Geſchichtchen von der 
Marozia und Theodora nicht aufgeben zu dürfen, Uebrigens find bei Perg 
Script. III. (V.) und bei Muratori Script. U. die Werfe Luitprands am beften 
edirt. ESchröðdl.] 
Lullus Raymundus (auch Lullius) iſt einer jener koloſſalen Menſchen, 
wie fie das Mittelalter, vorzugsweiſe das 13, Jahrhundert, fo zahlreich hervor— 
gebracht Hat. Um's Jahr 1235 zu Palma auf der balearifshen Infel Mallorca 
(Majorca) geboren und einer vornehmen Familie angehörend, trieb er fich bis zu 
feinem dreißigften Jahre als nichtsnugiger Cavalier am Hofe des Königs (Jacob 
von Aragonien) herum, allen Thorheiten, Verfehrtheiten und Laftern fröbnend, 
wie fie an den fürftlichen Höfen geliebt und gepflegt werden, Um's Jabr 1265 
flößte ihm der Anblick einer gräßlich zerſtörlen Schönheit, die ihm bisher am 
meiften gefeffelt Hatte, plöglich einen entfchiedenen Efel wider die Welt und alle 
weltlichen Genüffe und Freuden ein; er floh vom Hofe weg in die Einfamfeit 
und fuchte durch ernfte Betrachtungen fich felbft und Gott zu finden, Eine Er» 
fcheinung des Gekreuzigten, weldhe ihm zu Theil wird, bringt in ihm fehr bald 
den Entfhluß zur Reife, von nun an Chrifto allein zu dienen und zur Ver— 
hreitung des Evangeliums nach Kräften beizutragen, Dazu aber bedarf er 
Kenntniffe, die er nicht befigt, einer Wiffenfchaft, die ihm gänzlich unbekannt iſt. 
Alſo entfchließt er fih zum Studium der Wiffenfehaft, von der Grammatif an, 
Da er e8 bei der Fünftig zu unternehmenden Miffionsthätigkeit vorzugsweife auf 
die Araber in Africa abgefehen hat, fo bildet die arabifche Sprache einen Haupt- 
gegenftand feiner Studien, Zu dem Behufe Hält er fich, während er in Paris 
Theologie ftudirt, einen arabifchen Bedienten. Nach ungefähr 10 Jahren hat er 
feine Studien vollendet und begibt fih im Jahr 1275 auf's Neue in die Ein- 
famfeit, um über die nunmehr zu beginnenden Unternehmungen zu meditiren, 
Schon vorher hat er fein ganzes, fehr bedentendes Vermögen an die Armen wegge- 
geben, um von der Verfuchung freizu fein, zur Welt zurüdzufehren. Sinnend, wie es 
ihm gelingen möge, die Ungläubigen von der Wahrheit des Chriftenthums zu 
überzeugen und zur Annahme deſſeiben zu beftimmen, verfällt er bier auf feine 
weltberühmte Kunft, ars universalis seienliarum. Er geht von ber Ueberzeugung 





Lullus, 639 


aus, die Ungläubigen feien nicht zum Glauben anzuhalten, fondern durch Vernunft- 
gründe zu überzeugen; man könne ihnen nicht zumuthen, ihren Glauben nur mit 
einem andern Ölauben zu vertaufhen; Haben fie dagegen Etwas ald wahr und 
nothwendig erfannt, dann fei es ihnen unmöglich, die Annahme zu verweigern 
(Durum enim et periculosum infidelibus credulitatem suam pro altera credulitate 
seu fide dimittere; sed falsum et impossibile pro vero et necessario non deserere 
quis eorum poterit sustinere? De artic. fid. Edit. Argent. p. 965). #reilich ent- 
ftehen hiebei fogleich die zwei Fragen, 1) ob durch ſolches Verfahren nicht der 
Glaube und das Verdienftlihe deffelben beeinträchtigt, und 2) ob es nicht un— 
möglich fei, die Wahrheit des Fatholifchen Glaubens zu beweifen. Raymund ver- 
neint beide Fragen. In Betreff der erften macht er geltend, der Glaube erhalte 
ſich bei alfer wiffenfchaftlichen Erfenntniß des Chriſtenthums ganz unverfehrt einer 
Seits als Grundlage, anderer Seits als Spige; Jenes bleibe der Glaube als 
biftorifcher, Diefes als ein das logiſche Denfen weit überfteigender reltgidfer Act, 
Sp wenig dag Del durch Zufließen von Waffer nach unten fomme, fo wenig 
verliere durch die Wiffenfchaft der Glaube die Priorität (I. c. passim, bef, am 
Schluß). Die zweite Frage anlangend bemerft Raymund vorläufig, die Be— 
bauptung, daß die Wahrheit des Fatholifchen Glaubens niht bewiefen werben 
fönne (fides sancta catholica est magis improbabilis quam probabilis), eine Be- 
bauptung, welche Teider von den meiften Theologen vernommen werde, verurſache 
uns den Ungläubigen gegenüber große Schmach (unde sequitur infamia magna 
apud infideles); ja auch Chriften koͤnnen dadurch verleitet werden, verächtlich vom 
Glauben zu denfen, sinistre suspicari. Hierauf fucht er pofitiv zu beweifen, daß 
begrifflihe Erfenntni und folglich Demonftration unferer Glaubenswahrheit im 
der That möglich fei., Daß nämlich Gott fei, und daß er die und die Eigen- 
ſchaften, perfectiones, habe, fann man ftricte beweifen; ift aber dieß bewiefen, fo 
folgt alles Andere, was den Inhalt unferes Glaubens bildet, von felbft, und mit- 
bin ift alsdann der verlangte Beweis geliefert. Wenn die Theologen fagen 
Lullus hat Hier nicht undeutlich vorzugsweife den Thomas im Auge), die gegen 
den hriftlichen Glauben erhobenen Einwürfe laſſen fi) per rationes necessarias 
widerlegen, fo behaupten im Grunde auch fie die probabilitas des chriſtlichen 
Glaubens als ſolchen, denn diefelbe ift mit jenem von felbft gegeben. Sagen 
fie deßungeachtet das Gegentheil, nun fo widerfprechen fie fich felbft und ihre 
ratio ift inanis (I. c. pag. 917 und 918). Iſt nun aber das Angegebene richtig, fo 
handelt es fich weiter um eine rechte Methode, um folhe Demonftration, welche 
allen Menſchen einleuchtend und zugänglich fei, Das kann von der gewöhnlichen 
Schulwiffenfchaft nicht gelten — was allerdings einleuchtend iſt. Folglich muß 
eine neue Methode erfunden werden, Das ift nun die bereits erwähnte große 
Kunft des Lullus. Diefelbe befteht Furz in Folgendem, Es ift an allem Wirf- 
lichen Viererlei zu unterfheiden, nämlich 1) Subftanz (Subject); 2) Aceidenz, 
und zwar a) phyfifche, b) moralifche, und diefe wiederum ift «) Tugend, 9) Laſter; 
3) Prädicat, und zwar a) abfolutes, b) relatives; 4) Fragen. Demnach ift es 
alfo genauer Siebenerlei was überall in Betracht Fommt, Die Gegenftände aber, 
an welchen diefe Sieben fih finden, find neun d. h. es gibt 9 Subjecte, 9 Acci- 
denzen, I Prädicate und 9 Fragen, in folgender Weife: 1) Subjeete: Ott, 
Engel, Himmel, Menfh, Bild, Animalifches, Vegetatives, Elementariſches, In— 
ſtrumentales; 2) Phyfifche Accidenzen: Duantiät, Dualität, Relation, Acti- 
sität, Paffivität, Zuftand, Lage, Zeit, Ort; 3) Tugenden (als erfte Claffe der 
moralischen Aecivenzen): Gerechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit, Mäßigkeit, Glaube, 
Hoffnung, Liebe, Geduld, Frömmigkeit; A) Lafter (als zweite Elaffe der mora- 
liſchen Accivenzen): Geiz, Fraß und Völlerei, Schwelgerei, Hochmuth, Trägpeit, 
Neid, Zorn, Lüge, Unbeftändigfeitz 5) Abfolute Prädicate CI. Elaffe der 
Prädieate): Güte, Groͤße, Ewigkeit (Dauer), Macht, Weisheit, Wille, Tugend, 


640 Lullus, 


Wahrheit, Herrlichkeit (gloria); 6) Nelative Prädicate CU. Claffe der Prä- 
dicate): Unterfchiedenheit, Einftimmigfeit, Gegenſätzlichkeit, Urſächlichkeit, Mittel, 
Zwed, Mehrheit Cmajoritas), Gleihheit, Minderheit; 7) Fragen: Ob, Was, 


- Worüber, Warum, Wie groß (wie viel), Wie befhaffen, Wann, Wo, Wie oder 


Womit. — Was immer fein und gedacht werben möge im Himmel und auf Er- 
den, es fällt unter eine der genannten Kategorien. Lullus bezeichnet diefelben 
mit den Buchftaben B, C, D, E, F,G, H, I, K, und hat alfo 7B, 7C, 7 Du, f.w,, 
was er das Alphabet feiner Kunft nennt; und um was es fih nun allein handelt, 
ift Combination, ift das Zuftandbringen von Sägen. Das aber ift äußerft Leicht, 
ift einfacher Mechanismus, der fich freilich in's Unendlihe compliciren fann und 
muß, aber doch immer ſehr Teicht vollziehbar iſt. Wir wollen die Sache kurz an— 
fhaulih mahen. Es fei gegeben: 
A. B. C. D. 

1) Subject: Gott. Engel. Himmel. 

2) Aceidenz: Größe. Beſchaffenheit. Relation. 
ſo hätten wir hiemit unmittelbar etwa folgende Sätze: Gott iſt unendlich; die Engel 
find reine Geiſter; der Himmel (sc. der Complex von Geſtirnen) übt entfcheiden- 
den Einfluß auf das irdifche Leben. Nun denfe man fich die erfte der angeführten 
Linien als unbeweglich , die zweite aber ald beweglich (Lullus macht zu diefem 
Behufe Kreife oder vielmehr Drebfheiben, die ſich innerhalb einer. feſtſtehenden 
Peripherie bewegen), und fofort diefe von Rechts nach Links bewegt, fo daß Be- 
fhaffenheit unter Gott, Relation unter Engel zu ftehen fomme: fo hat 
man etwa folgende Sätze: Gott ift gütig, iſt die Weisheit u, dgl.z die Engel 
intercebiren für die Menfhen ꝛc. Nun fee man, um fogleich das Ganze zu haben, 
alle fieben Linien in der angedeuteten Weife unter einander und denfe ſich ſechs 
derjelben als concentrifh bewegte Kreife, fo daß jede Kategorie unter alle an- 
dern, ſowohl allein als mit jeder beliebig andern, zu ftehen fommen kann; fo 
fiebt man, daß die Combination geradezu unendlich mannigfach, und daß es doc 
dabei äußerfi Leicht fer, alle nur erdenklichen Fragen augenblicklich zu beantworten; 
und hierin num befteht die Lullifhe Kunft, Aber auch das: wird Jedermann 
einfehen, daß ein wirkliches Wiffen mit diefem Mechanismus nicht gegeben fei. 
Es müffen die 63 Kategorien ausgefüllt, d. h. es muß erfannt fein, was im Ein- 
zelnen ald Güte, Weisheit, Trägheit, Element u, f, w. zu bezeichnen fei; man 
muß im Stande fein, die Begriffe Relation, Differenz, Concordanz u. f. w. im 
Einzelnen anzuwenden; man muß, mit einem Worte, von jedem Dinge vorher 
wiffen, was es fei, und welche Prädicate ihm alfo zukommen, ehe man ben 
Mechanismus anwenden fann. Alfo ift mit diefem, wenn man Gewandtheit im 
Sprechen und Disputiren abrechnet, die er allerdings verleiht, im Grunde Nichts 
gewonnen, Das zeigt fih auch an den Schriften des Lullus felbft am beften. 
Er gibt vor, feine Abhandlungen, fo z.B. die allerdings nicht ungediegene de 
artioulis fidei (vgl, 1. c. p. 966) auf feine Kunft gegründet und vermittelſt der- 
felben durchgeführt zu haben, In Wahrheit aber begegnen wir in denfelben voll» 
kommen den nämlichen Argumentationen, Begründungen, Erflärungen, wie in 
den Schriften der übrigen Scholaftifer. Während er ferner auf feine (künftigen) 
Disputationen mit den Arabern verweist, wo man fehen werbe, was feine Kunft 
vermöge, zeigt der Erfolg, wie wir bald fehen werden, daß fie gar nichts ver» 
mocht habe, Doch er war einmal davon überzeugt, und handelte diefer Ueber— 
zeugung gemäß, — Nachdem er fih in dem oben angeführten Jahr 1275 fieben 
Monate in der Einfamfeit aufgehalten und die Grundgedanken feiner Kunft Klar 
gemacht hatte, begab er ſich in die Heimath zurück und beftimmte ben König 
Jacob, in Majorca ein Klofter für 13 Franeiscaner (fratres ordinis minorum) 
mit der Beftimmung zu gründen, daß dafelbft die arabifche Sprache gelehrt und 
fo Miffionäre für die Mohammebaner gebildet werden. Die Einrichtung und 


* 








Lullus. 641 


Leitung dieſes Inſtitutes mag ihn einige Zeit in Anſpruch genommen Haben, 
Dann aber begegnen wir ihm in Montpellier, Paris und Genua, befchäftigt, feine 
Kunft zu lehren, Im J. 1287 begibt er ih nah Rom zu Papſt Honorius IV., 
um fein Znflitut in Majorca zu empfehlen, die Errichtung ähnlicher an andern 
Orten anzurathen und fih Erlaubniß zu Hffentlihem Bortrag feiner Kunſt zu 
erwirfen. Da er in Rom feinen Anklang findet und namentlich feiner Kunſt die 
erbetene Anerfennung verfagt wird, fo geht er nah Africa, um die Araber zu 
befehren, Eine Disputation in Tunis bringt ihm Lebensgefahr. Mit Mühe er- 
langt er Freilaffung, und nur unter der Bedingung, daß er nicht wieder komme. 
Nun begibt er fih nah Neapel und lehrt dafelbft feine Kunft bis zum Jahr 1290, 
Bon jest an aber treibt er fih an alfen Hauptorten Europa’S herum, in Rom, 
Piſa, Genua, Paris, zeitenweife auch in feiner Heimath. Selbft nach Paläſtina 
ift er gefommen. Während diefer Zeit gibt er zahlreiche Schriften heraus, alle 
im Intereſſe feiner Kunſt, Abhandlungen, worin er die Anwendung letzterer in 
allen Wiffenfhaften, Phyfif, Mathematif, Aftronomie, Medicin, Zurisprudenz ꝛc. 
darzuthun verfucht, Halt viele Disputationen, befonders mit Juden und Sara- 
cenen. In Eypern will er Jacobiten und Neftorianer befehren und geräth dabei 
in Gefahr, vergiftet zu werden. Weil feine Kunft überall verachtet wird und 
wenige Schüler findet, fo geht er zum zweiten Mal, zu Anfang des 14ten Jahr 
hunderts, nah Africa, um es noch einmal mit der Praris zu verfuhen. Au 
diegmal belehren ihn die Araber, daß feine Wiffensgründe fo gar ftarfe Auctorität 
denn doch nicht befigen, als er ſich gefchmeichelt, daß fie ihre credulitas nicht bloß 
gegen eine andere credulitas, fondern auch gegen rationes nicht hinzugeben gefon- 
nen feien. Sie werfen in in’s Gefängniß (zu Mugid). Durch genuefifche Kauf- 
leute wird er gerettet, Nach Europa zurücgefehrt, predigt er einen Kreuzzug. 
Dabei findet er zwar, namentlich in Italien, vielen Anflang und bringt große 
Summen Geldes zufammen; daß er aber in der Hauptſache doch nichts ausgerich- 
tet, verſteht fi faft von felbft, Clemens V. in Avignon begegnet ihm mit Ge- 
ringfhägung. Nicht beffer ergeht es ihm, da er fih im J. 1311 an das zu 
Bienne verfammelte Eoneil wendet und außer dem Kreuzzug auch noch die Errich- 
tung arabifher Seminarien und Verdammung und Verbot der Schriften des 
Averroes, ohnehin Empfehlung feiner eigenen Kunſt in Antrag bringt. Nicht 
ermüdend, betreibt er jegt an den Höfen von Spanien, Frankreich und England 
die Veranftaltung eines Kreuzzuges. An die Reife nach England fnüpft fih die 
Fabel, daß er Gold gemacht, eherne Säulen in goldene verwandelt habe. Daß 
er fih mit den Naturwiffenfchaften, vorzugsweife mit der Chemie befchäftigt habe, 
unterliegt feinem Zweifel, Eben fo wenig aber auch, daß das Meifte, was über 
alchymiſtiſches Treiben von ihm berichtet ift, erdichtet und die meiften oder alle 
alchymiſtiſchen Schriften, welche feinen Namen tragen, unterfchoben feien. — 
Endlih nahdem er auch an dem Föniglichen Höfen Nichts ausgerichtet, verläßt er 
im 5. 1314 die Welt gänzlich, tritt in den dritten Orden der Franciscaner und 
geht bald darauf, das Martyrium wünfchend, nach Africa hinüber. Alsbald wird 
er in Tunis eingeferfert und arg mißhandelt. Auch dießmal befreien ihn genue- 
ſiſche Kaufleute, Er flirbt aber, in Folge der erlittenen Mißhandlungen, ſchon 
auf der Nüdreife im J. 1315, achtzig Jahre alt. — Sein Leichnam wurde nach 
Majorea gebracht und er dafeldft als Martyrer verehrt. Eine ihm zu Ehren 
errichtete und nach ihm benannte Academie, Academia Lulliana, ift von den fpa- 
niſchen Königen Alphons I., Ferdinand dem Katholifchen, Carl V., Philipp II., I. 
u, ſ. w. reich befchenft und forgfam gepflegt worden, Die Urtheile der Gelehrten 
über ihn find ſehr verſchieden; die Einen haben ihn über Alles erhoben, feine 
Univerfalbildung bewundert und namentlich von feiner Kunft alles Heil für die 
Wiſſenſchaft erwartet; die Andern haben micht verächtlich genug über ihn zu 
ſprechen gewußt, ihn einen Abenteurer und Gaukler, und wenn fie milder fein 
Kirchenlexilon. 6. Br, 41 


642 Lullus. 


wollten, einen verwirrten und fanatiſchen Menſchen genannt. Obige Darſtellung 
bat, wie man hofft, von ſelbſt das richtige Urtheil über ihn an die Hand gegeben, 
Dffenbar ift feine Stellung zur Scholaftif der des Roger Baco (f. d. A.) ähnlich, 
and feine Wiffenfchaft hat in Betreff des Umfangs denſelben Charakter, als die 
deffelben Baco und des früheren Gerbert (Sylvefter IL) und Albertus Magnus 
Cſ. d. A). Daher hat er auch mit denfelben Männern den zweidentigen Ruhm thei- 
Ien müffen, die Goldmacherkunſt, eine allgemeine Arznei, ein Lebensverlängerungs- 
mittel u. dgl. befeffen, den Stein der Werfen gefunden zu haben u, f. w. Recht 
gut fpricht fich hierüber der befannte Vers aus: 
Qui Lulli lapidem quaerit, quem quaerere nulli 
Profuit, haud Lullus, sed mihi nullus erit. 

Auch das feheint nicht begründet zu fein, daß Gregor XI. eine Anzahl Säge aus 
feinen Schriften ausgezogen und verdammt habe. Der merkwürdige Mechanis- 
mus, in welchem fih alle wiffenfhaftliche Thätigkeit des Lullus concentrirt, ift 
ein leicht erflärliches, faft nothwendiges Nefultat aus dem Gang, den die mittel- 
alterlihe Wiffenfchaft genommen, und der Geftalt, die fie nah und nad empfan- 
gen hatte, Es war eine beftimmte Summe von Begriffen erzeugt, und dieſe 
waren in beftimmte feftftehende Worte und Formen gekleidet; und man müßte fich 
wundern, wenn fih nicht Einer gefunden hätte, der eine Denkmaſchine aus ihnen 
eonftruirte, Es geſchieht ja Daffelbe in einzelnen Wiffenfhaften zu allen Zeiten. 
So ift die gewöhnliche Grammatik nichts Anderes als eine philologifhe Mafchine, 
ganz deffelben Charakters als die Lullifche; eben fo viele Rechnungsbücher u. |. w. 
— Raymund Lullus bat faft unzählige Bücher, d. h. Tractate, größtentheils vor 
geringem Umfange, gefchfieben. Die Angabe, daß es 4000 feien, fiheint aller- 
dings etwas zu übertreiben; die andere dagegen, daß es 400 feien, unter der 
Wirklichkeit zu bleiben. Die meiften find, theils mittelbar, theils unmittelbar, 
der Empfehlung feiner Kunft gewidmet, wie die ars brevis, ars magna (fürzere 
und ausführlichere Darftellung derfelben Sache), de auditu cabbalistico (Einfei- 
ung in alle Wiffenfchaften), logica, philosophiae principia etc. Die zahlreichen 
chemiſchen und überhaupt naturwiffenfchaftlihen Schriften des Lullus, wie de se- 
cretis naturae s. quinta essentia libellus, secretla secretorum, clavicula et aperto- 
rium alchymiae, liber de mercuriis etc. muß man fritifch anfehen, denn viele der- 
felben find unterfchoben, Nicht minder zahlreich find auch die theologiſchen Schrif- 
ten aus allen Gebieten der Theologie: Psalterium s. liber de 100 nominibus Dei, 
tractatus de confessione, viele Schriften de contemplatione et oratione, de con- 
scientia, de consolatione eremitica, ars praedicandi (eine major und minor), de 
sensibus s. scripturae, liber 52 sermonum contra omnes incredulos, de antichristo, 
de articulis fidei, de Deo ignoto et mundo ignoto, de trinitate in unitate seu de 
essentia dei, de spiritu s. contra Graecos, liber adv. Judaeos, de modo conver- 
tendi infideles; de praedestinatione et libero arbitrio, de natura angelica, liber na- 
talis pueri Jesu, de laudibus B. Virg. Mariae, commentaria in primordiale Evan- 
gelium Joannis u, ſ. w. Viele find öfter gedruckt worden, theils einzeln, tbeils 
mehrere zufammen, So die ars brevis, de auditu cabbalistico, duodecim principia 
philosophiae Lullianae, dialectica s. logica, rhetorica, ars magna, artiouli fidei; zu 
Straßburg 1617 unter dem Titel: Raymundi Lullii opera ea quae ad adinven- 
talam ab ipso artem universalem seientiarum . . . pertinent, Zulegt bat Salzinger 
fämmtliche Werke des Lullus in 10 Folianten herausgegeben, Mainz 1721 ff. 
Raymund Lullus hat viele Commentatoren gefunden, Die befannteften find Jor« 
danus. Brunus, P. Kircher, Agrippa, Valerius de Valeriis, ganz befonders La- 
vinheta (Bernardi de Lavinheta opera omnia quibus tradidit artis Raymundi Lullü 
compendiosam explicationem et ejusdem applicationem ad Logica, Rhetorioa, Phy- 
sica, Mathematica, Mechanica, Medica, Methaphysica, Theologica, Eithica, Juri- 
dica, Problematica, Ed. J, H. Alstedio. Cöln 1612) und Alfted (Clavis artis 








Lumper — Luna. 643 


Lullianae etc. Straßburg 1633). Vgl. auch Leibnig de arte combinatoria- 
Biographien von Lullus haben wir mehrere. Die gefchägteften find Bouilly, Vita 
Lullii, Par. 1514; Perroquet, la vie de R. L., Vendome 1667; und J. M. de Ver- 
non, la vie etc. Paris 1668. Die gewöhnlichen Geſchichten der Philofophie, 
Bruder, Tiedemann, Ritter ꝛc. haben wie das ganze Mittelalter, fo auch den 
Raymundus Lullus nicht verftanden, deffen Bedeutung nicht erfannt. Unter den 
Literärgefchichten verdient die von Cave den Vorzug, Namentlich gibt fie das 
vollftändigfte Verzeichniß Lullifcher Schriften. [Mattes,] 
Lumper, Gottfried, ein gelehrter Benedictiner des vorigen Jahrhunderts, 
wurde am 9, Febr. 1747 zu Füffen im Allgäu, damald dem Fürftbifchofe von 
Augsburg, jest zum Königreiche Bayern gehörig, geboren, und trat ſchon in fei- 
ner Jugend in das durch Zucht und Wiffenfchaft blühende Benedictinerflofter zum 
hl. Georg in Villingen auf dem Schwarzwalde ein (jetzt badifh). Viele Jahre 
hindurch war er Präfeet des dortigen Gymnaſiums, das unter feiner Leitung 
großes Anfehen genoß und viele tüchtige Männer bildete. Zugleich wurde er auch 
zum Prior des Kloſters und zum Profeffor der Kirchengefchichte und Dogmatik 
in der theologifchen Hauslehranftalt beftellt und verfah alle diefe Aemter mit 
großem Eifer bis zu feinem frühen Tode am 8. März 1801. Er wurde nur 54 
Sabre alt. Einen Beleg feines großen Fleißes und umfaffenden Gelehrfamfeit 
gibt fein Hauptwerf, die Historia theologico-critica de vita, scriptis atque doctrina 
SS. Patrum, aliorumque scriptorum ecclesiasticorum trium primorum seculorum, 
eine fehr ausführliche Patrologie und Literärgefchichte der drei erften Jahrhunderte, 
die in 13 Octavbänden zwifchen 1783—1799 zu Augsburg bei Rieger erfihien. 
Lumper hatte fich befonders auf Zureden des berühmten Freiburger Theologen 
Engelbert Klüpfel (f. d. A.) zur Herausgabe diefes Werfes entfchloffen und 
darum auch feinem Freunde den vierten Band deffelben gewidmet, Nicht zu ver- 
fennen ift übrigens, daß diefe historia critica in manchen Theilen mehr compila- 
torifcher Natur als eigentliches Driginalwerf ift, und eine Reihe Differtationen 
Anderer, 3. B. von Gallandius, Mosheim ꝛc., bier faft unverändert wieder ab- 
gedruckt worden find. — Geringeren Werth haben einige Fleinere Schriftchen 
Lumpers, nämlich feine Ueberarbeitung des Schröckh'ſchen Compendiums der Kir— 
hengefchichte unter dem Titel: J. Matth. Schroekhii historia religionis, in usus prae- 
lectionum catholicorum reformata et aucta. Es erfihienen davon zwei Ausgaben, 
ebenfalls zu Augsburg, im 3. 1788 und 1790 je in einem ziemlich ftarfen Detav- 
band, Außerdem gab Lumper anonym noch zwei teutfche Büchlein heraus: „die 
römifch-Fatholifche HL. Meffe in teutfcher Sprache, nebft angehängten Gebeten, 
Ulm 1784”, und: „der Chrift in der Faften, d. i. die Faften-Evangelia nach dem 
Buchftaben und fittlihen Sinne, Ulm 1796”, Vgl. Jöchers Gelehrtenlericon, 
fortgefegt von Adelung, und Klüpfel, Necrologium sodalium et amicorum efc. 
p. 250. [Hefele,] 
una, Peter de, Gegenpapft unter dem Namen Benediet XII., ſtammte 
aus einem adeligen Geſchlechte Aragoniens und widmete fih Anfangs den Waffen. 
Später trat er zu den Studien über und in den geiftlichen Stand ein, und brachte 
es in legterem fo weit, daß ihn Gregor XI. im J. 1375 zum Cardinal erhob, 
Dieß gefhah zwei Jahre vor dem Ende des Avignon'ſchen Exils (ſ. den Art, 
Avignon); faum war aber Gregor geftorben und ein Jtaliener als Urban VI. 
(f. d, WU.) gewählt worden, fo beftritten 13 Carbinäle, faft lauter Franzofen, die 
Rechtmäßigkeit diefer Wahl, erhoben ihrerfeits den Bifchof Robert von Cambrai 
als Clemens VII. (1378), und veranlaßten fo das große abendländifhe Schiema, 
Und unter diefen 13 fhismatifchen Cardinälen war auch Peter de Luna, Er folgte 
dem Afterpapfte nach Avignon, und wurde nach deffen Tod im J. 1394 felbft zum 
Gegenpaft erhoben unter dem Namen Benedict XIII. Dem Schein nah war er 
geneigt, für Wiederherſtellung der Firchlichen Einheit alle möglichen Opfer zu 
41% 


644 | Rund, 


bringen, Schon beim Eintritte in's Eonclave ſchwur er, wie die übrigen Car- 
dinäle, falls er gewählt werde, fogar abzubanfen, fobald die Majorität der Car— 
dinäle es für nothwendig erachte, Außerdem äußerte er wiederholt: Ego si eli- 
gerer, stalim ea celeritate et facilitate papatum abdicarem, qua cappam exuere 
possem, und: „Wenn er auch taufend Pontificate Hätte, er würde gerne auf alfe 
verzichten.” Als er nun ſchon am zweiten Tage des Conclaves, am 28. Sept. 
1394, einftimmig zum Papfte gewählt worden war, rief er in fheinbarer Demuth 
aus: Heu me! Domini mei, quid facitis? Heu me! Vos profecto destruitis ecele- 
siam sanctam Dei! Allein nicht Tange, fo zeigte fih, daß Benediet fo wenig als 
fein Gegner (Bonifaciug IX. und fpäter Gregor XI., ſ. diefe Art.) Luft hatte, 
durch eigene Nefignation der Kirche den Frieden wieder zu geben, und beide trie= 
ben fo lange ein die Chriftenheit Argerndes Spiel mit Vorſchlägen, projectirten 
Zufammenfünften und Nichtworthalten, bis die Cardinäle beiver Dbedienzen ein 
allgemeines Eoneil 1409 nah Pifa beriefen (ſ. den Art. Pifa, Eoneil), in deſſen 
15ter Situng fowohl über Benediet XI. als Gregor XII. die Abſetzung ausge- 
gefprochen und ein neuer Papft, Alerander V., gewählt wurde, Allein das Schisma 
war dadurch nicht beendigt, im Gegentheil gab es jegt drei Päpſte ftatt den bis- 
herigen zweien, indem Gregor XII. in Stalien, befonders Neapel, Benediet XII. 
. aber in Spanien, Schottland und von einigen Örafen und Heren (Armagnac und 
Foix) auch fortan noch als wahrer Papft anerfannt wurde, Nachdem unterdeifen 
auf Alerander V. der berüchtigte Balthafar Coſſa als Johann XXI. (f. d. A,) ge= 
folgt war, machte die Synode von Conftanz (1414—1418) einen neuen Verſuch, 
das Schisma beizulegen (f. den Art, Eonftanzer Concil). Gregor XIL refig- 
nirte, Johann wurde abgefegt und unterwarf fich, aber alle Berfuhe, auch den 
Peter de Luna zur Refignation zu bewegen, blieben gänzlich erfolglos, unerachtet 
jebt feine bisherigen Anhänger, nachdem fie mit Kaifer Sigismund deßhalb den 
Vertrag von Narbonne gefchloffen Hatten (13. Der, 1415), von feiner Obedienz 
feierlich abfielen (6. Jan, 1416). Einen Hauptantheil hieran und ein Haupt— 
verbienft bei der nun erfolgten Rückkehr Spaniens zur Firchlichen Einheit hatte 
der hl. Vincenz Ferrer (f. d. A.), welcher längere Zeit der Fräftigfte Verthei— 
diger Benediets und fogar fein Beichtvater gewefen war. Benediet felbft aber 
lebte fortan in der feiner Familie angehörigen, aus der Gefchichte Cid's berühmten 
Berpfeftung Penisceola in der Nähe von Balencia. Die Conftanzer Synode ver- 
fuchte e8 noch einmal, durch befondere Bevollmäctigte, die fie nach Peniscola 
ſchickte, Benedicten zur Nefignation zu bewegen; aber auch diefer Verſuch miß— 
Yang, und Benediet erflärte: „Nicht in Conflanz, fondern in Peniscola fei die 
ganze Kirche verfammelt, wie fih einft. in der Arche Noe's die ganze Menfchheit 
befunden habe.” Auf dieß hin fprach die Synode in ihrer 37ten Sigung den 
26. Juli 1417 feierlich die Abfegung über ihn aus, und bald wurde Cam 11. Nov, 
1417) Martin V. zum allgemeinen Dberbaupte der ganzen Kirche gewählt, Das 
Coneil ſchickte noch einmal Gefandte nach Peniscola, um den Schismatifen zur 
Anerfennung Martins zu bewegen; da jedoch der König von Aragonien in Balde 
mit Papft Martin V. zerfiel, fo konnte fih Benedict in feinem Felfennefte, fogar 
troß eines Kreuzzuges gegen ihn, halten, und als er im 3. 1424 flarb, ver- 
ftattete der König von Aragonien, daß die drei Pfeudocardinäle von Peniscola 
einen neuen Gegenpapft wählten, nämlich den Canonicus Munoz von Barcelona, 
der fih Clemens VIH. nannte. Fünf Jahre fpäter (1429) refignirte jedoch Mu- 
no;, und feine Cardinäle wählten in einem Scheineonclave den bereits allgemein 
anerfannten Martin V., womit nun das traurige Schiema endete, — Vgl. bierzu 
den Art, Albo und Clemangis, [Hefele.] 
Lund, däniſches Erzbistbum. Das Bisthum Lund in Schonen, er- 
richtet 1065 von König Svend Eftrithfon, hatte zum erften Bifchof einen gewiffen 
Heinrich, welcher durch feine Trunffucht der bifchöflichen Würde wenig Ehre 


Lüneviller Friede, 645 


- machte und fich zu todt tranf, Ihm fuecedirte der gelehrte, Fromme und eifrige 
Bifhof Egino von Dalby, indem derfelbe mit feinem Bisthum Dalby auch das 
von Lund verband, dahin feinen Sig verlegte und fih den Ruhm der Befehrung 
der Heiden in Dlefingen und Bornholm erwarb (Adam Brem. bei Pers Seript. 
VI. [IX] 371). Als König Erif der Gütige ‚als Pilger Rom befuchte (1098), 
erhielt er auf feine Bitte von Papft Urban I. das Berfprechen, daß die bisherige 
tirhlihe Unterordnung Dänemarks unter dem Hamburg-Bremifhen Stuhl auf- 
hören und an einem angemeffenen Ort in feinem Reiche ein eigener erzbifchöflicher 
Stuhl aufgerichtet werden folle. Aber erft nah Erifs Ableben (+ 1103 zu Cy— 
pern) erfhien der päpftliche Legat Alberih in Dänemarf und erfah Lund zum 
Sig des däniſchen Erzbiichofes und befleidete auch den Biſchof Adcer von Lund 
mit dem erzbifhöflichen Pallium. Allein Papſt Innocenz I. erflärte (1133) die 
dem Hamburger Stuhle entzogenen Bistümer, mithin auch Lund, demfelben 
wieder untergeordnet, und noch weniger wollte man von Seite des teutfchen 
Reiches von einem Erzbistfum Lund etwas willen. Indeß Papft Hadrian IV. er- 
fannte den Bifhof Eskil von Lund ſchon als Erzbifchof an. Eskil wurde auf der 
NRüdfehr von Rom nah Dänemark in Burgund gefangen genommen und beraubt, 
und da Raifer Friedrich I. diefe Unthat ungeahndet ließ und fih um die Befreiung 
diefes Prälsten nicht befünmerte, erließ Papſt Hadrian IV. ein fehr ſcharfes 
Schreiben an den Kaifer, Eskil refignirte fehr erbaulih 1177 und farb 1182 
als Mönd zu Elairveaur; fein Andenken lebte in dem von ihm ausgegangenen 
Schoniſchen Kirchenrechte und in der Stiftung mehrerer Eiftercienferflöfter fort. — 
Ihm fuccedirte Bifhof Abfalon von Seeland, ein in jeder Beziehung aufer- 
srdentliher Mann, der zwar viel Rauhes und Hartes an fich hatte und dem 
Bolfe lieber im Panzer als im Bifchofsgewande war, der aber doch, kann man 
mit Dahlmann fagen, vom Schuggeift Dänemarfs das Steuer, den Bi- 
Thofsftab und das Schwert in die Hand befam. Er wurde in feinem 
Klofter Soroe begraben, wo er 1201 ſtarb. Selbſt in der Theologie war er fehr 
bewandert, war Beiftand und Duelle feines Gefchichtfchreibers und Erbauers der 
Stadt Kopenhagen, — Erzbifhof Andreas (1201—1223), Stifter des erften 
Dominicanerklofters in Dänemark zu Lund, betheiligte fih, voll Eifer für die Re— 
ligion, an der Defriegung und Bekehrung Eſthlands, Livlands und der Inſel 
- Defel, und befam in Folge der Eroberung Eſthlands durch den Dänenfönig Wal- 
demar II. das däniſch-eſthiſche Bisthum Neval unter feinen Erzfprengel, wozu 


dann nad Eroberung der Inſel Defel auch noch das Bistum Defel Fam. Andreas 





reſignirte 1223 und farb 1228, — Erzbifhof Jacob Erlandfon (+ 1274) 
hatte große Streitigkeiten mit König Chriftoph IL, die jenem eine ſchmachvolle 
Einferferung und dem Lande das Interdiet zuzogen; erft 1274 fchlichtete Papft 
Gregor X. auf dem Eoneil von Lyon diefe Sache, — Noch weit ärger wurde Erz= 
bifhof Johann Grand (1239—1307) in den Zwiften mit König Erich Menved 
von diefem mißhandelt — er wurde zwei Jahre, zuerft in einem dunflen feuchten 
Thurm, Schwer gefeffelt, dann ein wenig beſſer, doch noch immer in Banden ge- 
halten, bis er entfam. Des Friedens halber verfegte Papft Bonifaz VII. zuletzt 
den Erzbifchof nah Riga, und 1307 wurde Grand Erzbifhof von Bremen. — 
Der legte kathohiſche Erzbifhof von Lund war Johann, ein Nieder- 
länder, der, aus Dänemark flüchtig, 1538 Bifchof von Conftanz wurde, Vgl. 
Dahlmann, Gefh. von Dänemark; ferner den Art, Dänen, [Schrödf.] 


Lüneviller Friede. Zwei Thatfachen hatten fih, lange ehe der franzöfifche 
Revolutionskrieg ausbrah, in Teutichland Far heransgeftellt; einmal, daß das 
Neich bei feiner tiefbegründeten Spaltung in eine Fatholifche und proteftantifche 
Hälfte, in ein öftreichifches und ein preußifhes Syftem, in die Länge nicht mehr 
fortdauern Fönne, und was Fürftbifchof Friedrih Earl von Bamberg 1742 ge= 


646 Lüneviller Friebe 


fchricben, „es habe mit dem teutfchen Reichsweſen eben die Befchaffenheit wie mit 
einem alten Bettfermantel, welcher zum Zufliden feinen Stich mehr halte und 
ungeflicft fein Mantel bleibe”, nur zu begründet fei. Für's Zweite, daß der nächſte 
Sturm gegen die Neichsverfaffung den geiftlichen Stiftern gelte, zu deren Ver— 
nichtung die Neformation die erfte, der weftphälifhe Friede die zweite Hand an- 
gelegt hatte, und von letzterem an bald der Wunſch, bald thatfächlicher Verſuch 
der Säcularifation fich immer mehr fund that. Schon bei dem öſtreichiſchen Suc- 
eeffionskriege fürchtete man, daß die füdteutfhen Stifter als Entfhädigungsmaffe 
für die beiden im Hader befindlichen Fatholifchen Höfe gelten follten. Im Jahr 
1749 argwöhnte man die Eriftenz eines eigenen Bundes zwifchen Preußen, Pfalz 
und Würtemberg zum Untergang der geiftlihen Fürften, durch deren Säculari- 
" fation das Erbfürſtenthum gehoben, das Kaiſerthum bei dem Haufe Deftreich ver- 
nichtet, die Macht der proteftantifchen Fürften auf den Höhepunct gebracht werben, 
wenn auch Teutfchland untergehen follte, Niemand betrieb dieſes Project eifriger 
als Friedrich II., der zwar zur Aufrechthaltung Bayerns und der geiftlihen Für- 
ſtenthümer den Fürftenbund ftiftete, damit Deftreich nicht nehme, was er ſich vor— 
behalten hatte, allein 1743 wie 1767 und 1775 in feinen Briefen an Boltaire 
hievon als von der Sache ſprach, die im Auftrage jener Phifefophie unternommen 
werben müffe, welche das Chriftentyum mit dem Titel des vorzugsweife Nieder- 
trächtigen belegte, Als nun der franzöfifhe Revolutionskrieg ausbrah und das 
2098 der Säcularifation mit ganz befonderem Betreiben der Directoren den Kir— 
chenftaat traf, brauchte es nur diefes Anftoßes von Außen, um das längft vor- 
bandene Project zu zeitigen. Herodes und Pilatus, das Erbfürſtenthum, weldes 
die Faiferlihe Gewalt zur Null erniedrigt und Teutfchland in heillofe Schwäche 
verfegt hatte, und die Republicaner, welche, fo weit fie fonnten, Thron und Altar 
zugleich umftürzten, fanden bald den Punct aus, in welchem fie übereinftimmten, 
um in entente cordiale einen Umfturz herbeizuführen. Vergeblich fuchten die Be— 
theiligten fich dur engeren Anfchluß an einander zu retten, riefen fie die Hilfe 
Rußlands, des teutfchen Kaifers an, der felbft von Preußen und Nordteutfchland 
verlaffen, in Stalien wie in Teutfchland ſich der Früchte feiner früheren Siege 
beraubt ſah, nach der Schlacht bei Hohenlinden nur mehr durch Preisgebung des 
Reiches Hoffen Fonnte, fich felbft zu retten. Sp wurden denn am Testen Tage 
des Jahres 1800 die Friedensunterhandlungen zu Lünevilfe durch den Faiferlihen 
Gefandten eröffnet und am 8. Febr, 1801 zugleich für das — fonft nicht ver- 
tretene teutfche Neich unterzeichnet, Legteres verlor alle Befigungen auf dem 
Iinfen Rheinufer, da der Thalweg diefes Fluffes, fein mittlerer Lauf, ald Grenze 
zwifchen Frankreich und Teutfchland gelten follte., Indem es aber daburd feine 
drei erften Churfürftenthümer mit einem Schlage einbüßte, wurde eine Entſchädi— 
gung nur für die Erbfürften (princes hereditaires) ausgefprochen, welde auf dem 
kinfen Rheinufer Befigungen hatten, jedoch nicht für die am meiften einbüßenden 
zahlreichen geiftlichen Stifter. So wurde denn der Anfang zu der burd ben 
Reichstag von Negensburg nachher vollendeten Umwälzung des teutſchen Reiches 
gelegt, feine zweite Theilung (die erſte 1648) eingeleitet. Der Friede felbft 
wurde fobann auch auf die neugefihaffene batavifche, helvetiſche, eisalpinifche, li— 
gurifhe Nepublif ausgedehnt, während er wie im VBorübergehen der uralten, nicht 
von Franzofen geftifteten venetianifhen, zu Gunften Deftreihs den Todesftoß 
verſetzte. Uebrigens muß, um auch die Kehrſeite des Bildes hervorzuheben, er— 
wähnt werben, daß, wenn der Lünevilfer Friede Teutfchland am haͤrteſten traf, 
gerade er dem democratifchen Principe die größte Niederlage zufügte, indem ber 
von den republicanifhen Waffen erfochtene Sieg dem Militärdespotismus Napo« 
leon Bonapartes den Weg bahnte, die alle Cultur Europa’s mit Bernichtung be⸗ 
drobenden Neuerungen der Nationalverfammlung, des Conventes ꝛc. noch zeitig 
einſtürzen machte, aber erft nachdem fo auf's Neue die alte Lehre erhärtet worden, 





Lupus, Chriſtian — Lupus, Servatus, 647 


daß aller ſchwer zu erringende Gewinn der europärfchen Civilifation mit teutſchem 


| Herzblute bezahlt werden müffe, [Höfler.] 


Lupus, Chriftian, Auguftiner, Chriftian Wolf (Lupus) ſtammte aus der 
Stadt Upern, geboren im J. 1612, trat mit 15 Jahren in den Orden der Ein— 
fiedler des hl. Auguftin, und ftudirte in Löwen. Sofort wurde er nah Cöln ge— 
ſchickt, um dort Philoſophie zu lehren. Er erwarb fich Hier große Achtung; Ale— 
zander VII, damals Nuntius und Legatus a latere in den Nheingegenden, wür- 
digte ihn feiner befondern Freundfchaft. Bon Cöln fehrte er nah Löwen zurück, 
um dort Theologie zu lehren. So groß war fein Eifer, daß er 15 Stunden täg- 
lich auf das Studium verwendete, Hierauf wurden ihm Gefchäfte feines Ordens 
übertragen; zweimal mußte er nah Rom reifen, unter dem Papfttfum Aleran- 
ders VIL und Innocenz XI. Welche Achtung er in Rom genoß, geht daraus her— 


vor, daß der Papft, ald er in Nom erfranfte, ihm feinen erften Arzt fandte und 


ihn reich befchenft aus Nom entließ. Trog anderweitiger Anerbietungen blieb 
Lupus in Löwen. Er flarb dafeldft den 10. Juli 1681. — Lupus fohrieb 1) einen 
Eommentar oder Bemerfungen zu den allgemeinen und befondern Eoncilien im 
fünf Bänden in 4,, wovon die zwei erfien im J. 1666 erſchienen. An dem 
Schluſſe jedes Concils fteht eine gefhichtlihe Abhandlung, worin er unterfucht, 
aus welchem Anlaffe, wo und wann das Concil gehalten worden, und was fich 
fonft noch der Forfhung darbot, 3. B. über die Befchläffe der Concilien, über 
wichtige Fragen der Kirchenzucht und Kirhengefhichte Handelt. Dabei fieht er 
überall auf ſtreng kirchlichem Boden. Diefe Schrift ift eine vortreffliche Anleitung 
für das Studium der Kirchen-, befonders der Eonciliengefhichte, 2) Im Jahre 
1681 erſchien feine Abhandlung über die Appellationen, worin er gegen Petrus 
de Marca u. A. kämpft. 3) Im 3. 1675 erfihienen feine Bemerfungen zu dem 
Buche Tertulliang „de praescriptionibus h.“ 4) Im $. 1666 erfchien zu Löwen 
eine Abhandlung über den wahren Sinn der Väter von der Attrition und Con— 
trition. 5) Im 3 1682 erfhien in Löwen eine Sammlung von Briefen und 
Aetenftücen über die Eoneilien von Ephefus und Chalcedon, welche er zum erften 
Male, die eine aus den Handfhriften von Monte Caffino, die andere aus dem 
Batican, veröffentlichte. In einem zweiten Bande in 4. erfchienen von ihm Scho— 
lien und Noten dazu. 6) In zwei Bänden in 4. erfhienen 1632 zu Brüffel das 
Leben und die Briefe des Thomas Becket, des Papftes Alerander II, Ludwigs VIL 
von Franfreih, und Heinrichs II. von England in Angelegenheiten der Kämpfe 
zwifchen Staat und Kirche jener Zeit, 7) Noch erfihienen zu Brüffel (1699) ge— 
fammelte Abhandlungen von Lupus, welche fih zum Theil auf die Firchlichen 
Streitfragen jener Zeit: beziehen, Vgl, Dupin, n. B. T. 13. p. 131. Sabbatini 
vit. Christ. Lupi. [®am$;] 
Lupus, mit dem Vornamen Servatus, Abt vom Ferrieres, geborem 
um 805 im’ Sprengel oder der Pfarre Sens von vornehmen Eltern, erhielt im 
Klofter Bethlehem zu Ferrieres bei Sens unter dem Abt Aldrih, nachherigent 
Erzbifhof von Sens, der ihm einen Lehrer der Grammatik und freien Künfte gab, 
den Unterricht, und wurde zu weiterer Ausbildung, befonders im dem Hl. Schrif- 
ten, nach Fulda in die Schule des berühmten Rhabanus Maurus geſchickt. Hier 
gerieth ihm Eginhards Leben Carls des Großen im die Hände, was auf feine 
Schreibart von Einfluß war und zwifchen beiden Männern: ein Freundfchafts- 
verhältniß Fnüpfte, Theils Ternend, zulegt auch, wie es fcheint, die freien Künfte 
lehrend, brachte er zu Fulda mehrere Jahre zu, nur befaßte er fich nicht mit dem 
ihm zu fchwer fallenden Studium der teutfchen Sprache, fendete jedoch, Abt ge= 
worden, mehrmals junge Leute zur Erlernung derfelben im teutſche Klöfter. Bald 
nah dem Tode des Erzbifchofs Aldrih von Sens (+ 836) kehrte Lupus nach 
Ferrieres zurüd und wurde daſelbſt mit dem Lehramte betraut; Bei der Raiferin 
Judith, Ludwig dem Frommen und Carl dem Kahlen in Gunften, erhielt er vom 


648 Lupus, Servatus, 


letztern 842 die Abtei Ferrieres, mußte aber auf Carls Befehl erft den bisherigen 
Abt Odo, einen Anhänger des Kaifers Lothar, aus dem Klofter fhaffen und that 
dieß fo fchonend als möglich. Als Abt feste er zum Theil das Lehramt noch fort 
und blieb fortwährend der Pflege der Wiffenfchaft fehr zugethan, wie aus feinem 
brieflihen Verkehr mit den Gelehrten feiner Zeit erfichtlih iſt; beſonders war er 
unermüdlich, fih Codices profaner und Heiliger Schriften, namentlih der Tatei- 
nifchen Claffifer, der Hl. Schrift und der Bäter zum Vergleichen und Abfchreiben 
zu verfchaffen, und wendete fich deßhalb überall hin, felbft nah Nom an Papft 
Benediet III. Inzwiſchen mußte er vielfältig an den Hffentlihen Angelegenheiten 
ſich betheiligen als Vorſtand eines Klofters, welches zu Gefchenfen und Kriegs- 
dienft verpflichtet war, wider feinen Willen, „und obgleich er nicht gelernt, den 
Feind zu verwunden und vom Kriegshandwerf nichts verftehe”, in's Feld ziehen, 
in Gefchäften oft an Carls Hof erfcheinen, manderlei Aufträge Carls beforgen ; 
diefer übertrug ihm unter Anderm gemeinfchaftlih mit: dem Biſchofe Prudentius 
von Troyes im J. 844 die Vifitation der Klöfter in Burgund, und fendete ihn 
SAT nah Nom an Papft Leo IL. Nicht weniger nahmen ihn die Biſchöfe in An- 
fpruch, bei welchen er wegen feiner Gelehrfamfeit und Frömmigkeit in hohem 
Anfehen ftand; er mußte an den Synoden Antheil nehmen, die Synodalcanonen 
ausarbeiten, im Namen der Biihöfe Synodalfchreiben abfaffen. Die legte Sy— 
node, welcher er anwohnte, war die zu Spiffons 862; bald darauf ſcheint er ge— 
fiorben zu fein. Lupus’ Schriften find in einem für die damalige Zeit recht guten 
Latein gefohrieben; man fieht darin den Liebhaber der alten Claffifer auf jeder 
Seite, den fleifigen Lefer der HL. Schrift und Väter, den Gelehrten, der feinen 
eigenen Ausſpruch befolgte, das Studium der ſchönen Wiffenfohaften müffe be— 
gleitet fein von der Weisheit und Tugend, und während man die Sprachfehler 
verbeffere, müffe man auch die Sitten beffern! Die befte Ausgabe der Schriften 
des Lupus ift die von St. Baluzius, Paris 1664, Antwerpen (Leipzig) 1710. 
Lupus’ auf ung gefommene Schriften find: 1) Briefe an Männer jeden Standes, 
Papfte, Fürften, Bifchöfe, Aebte, Mönde, Lehrer, Freunde, Anverwandte über 
ihre und feine, wiffenfchaftlihe, Kirchliche und andere Angelegenheiten; 2) das 
Leben des HL. Abtes Wigbert von Friglar fammt zwei Homilien auf denfelben, 
und etwa auch einigen Hymnen; 3) das Leben des HI. Bifhofs Maximin von 
Trier; 4) das Buch „de tribus quaestionibus.* In Bezug auf die legtere Schrift 
ift Folgendes zu bemerken: Carl der Kahle hatte fih bei dem Beginne der Gott- 
ſchall'ſchen Händel von Lupus mündlich deffen Anficht von der Lehre des Möndhes 
Gottſchalk (ſ. Gottſchalk) und von den dadurch angeregten Fragen über bie 
Prädeftination, den freien Willen und den Umfang der Erlöfung durch Ehrifti Tod 
mittheilen laſſen. Da die Anficht des Lupus bei Einigen Anftoß fand „qui me 
pufant de Deo non pie fideliterque sentire*, beftimmte er fie um 850 in einem 
Schreiben an den König noch genauer (ep. 123), und fhrieb in der gleichen Zeit 
und Sache auch an den Erzbifchof Hinemar von Nheims Cep. 129). Endlich 
führte er feine Anficht über den freien Willen, die Prädeftination und den Tod 
Chriſti in der etwa um 852 vollendeten Schrift „de tribus quaestionibus‘‘ weit- 
Yäufiger aus, In diefer Schrift nun und in den erwähnten Briefen ftellt er unter 
Auguſtins Gewährſchaft folgende Säge auf: In Folge der Sünde Adams hat 
das ganze von Adam ftammende Menfchengefchlecht die Strafe der ewigen Ver— 
dammung zu den Höllenqualen verdientermaßen ineurrirt; in Folge diefer Sünde 
bat nebft Adam auch fein ganzes Gefchlecht nur mehr den freien Willen zum Bd- 
fen, aber zum Guten haben die Menfhen ohne die freimahende Gnade 
Gottes fein liberum arbitrium mehr, weßhalb das Gute principaliler Gottes 
Werk, consequenter jedoch auch ein Werk des menfhlichen Willens iftz Gott, 
der nach feiner Gerechtigkeit alle Menfchen in der Verdammung, bie fie origina- 
liter oder actualiter verdient, hätte belaffen und umgekehrt nach feiner Barm⸗ 


Lupus, der Heilige, 649 


herzigkeit auch alfe befreien und falviren fönnen, hat von Ewigkeit her befchloffen, 
einen Theil ver Menfhen felig zu machen, die Andern aber in der Berdammnif 
zu Iaffen und ihnen die Gnade zu entziehen; — Jene, welche fagen, Gott habe 
einen Theil der Menfhen zur Seligfeit prädeſtinirt, weil er vorausfah, daß fie 
ihm treu bleiben würden, find ganz und gar nicht zu hören, wenn fie auch im 
andern Stüden großes Anfehen befisen, denn nicht die Vorausficht ift der Grund 
der Prädeftination, fondern die Präveftination ift der Grund des heiligen und un- 
befleckten Lebens; die in der Verdammniß Gelaffenen fonnen Gott nicht der Un— 
gerechtigfeit zeihen, weil fchon wegen der Erbfünde alle Menfhen die Berdamm- 
niß verdient haben; auch können fie Gott nicht zum Urheber der Sünde machen, 
denn der böfe Wille im Menfhen fommt nicht von Gott, fondern von der Sünde 
Adams, und dann begeht der Menfh das Böfe nicht mit Nöthigung, fondern 
sponte und libenter; obgleich „quaedam praeclara praesulum lumina* und über- 
haupt die Meiften vor einer zweifachen Prädeftination Scheue tragen, damit 
man nicht glauben möchte, Gott Habe einige Menſchen aus Neigung zum Strafen 
erihaffen und verdamme diefenigen, welche der Sünde und Strafe nicht entgehen 
fönnten: fo kann man doch mit Auguftin eine doppelte Prädeftination annehmen, 
alfo auch eine Prädeſtination ad poenam, worunter man aber nicht eine „fatalem 
periturorum necessitatem*, fondern bloß „immutabilem relietorum desertionem“ 
zu verfiehen hat; weder die eine noch die andere Prädeftination führt eine „fa- 
talem  necessitatem® herbei, weil dadurd die Willensfreiheit nicht aufgehoben 
wird, indem die Guten das Gute und die Böfen das Böfe sponte und libenter 
tun; durd die Lehre von der Präbeftination fol ein getaufter Chriſt fih nicht 
von der Befferung abſchrecken Laffen, und felbft wenn man gewiß wüßte, daß 
man verworfen wäre, follte man noch Gutes tun, weil mdn fih dadurd die 
Höflenftrafen doch verringern könnte; Chriftus hat fein Blut nur für diejenigen: 
vergoffen, die wirklich felig werden; Chryfoftumus und Fauftus von Rhiez, deffen 
Schriften Papft Gelafius I. unter die apvergphifchen gefegt bat (vgl. die Artikel 
Fauſtus, Hilarins v. Arles, Hormisdas), dehnen zwar den Tod Chriſti 
> auf alle Menſchen aus, allein ohne Grund; im Uebrigen Hat die Meinung ; Chriftus 
fei für alle getauften Ehriften, für die guten fowohl wie auch für die reprobirten, 
geftorben, Wahrfcheinlichkeit für fih. Alferdings näherte fih alfo Lupus der Irr— 
Iehre Gottfchalfs, aber keineswegs war er ein eigentlicher Gottjchalfianer, was 
man ſchon auch daraus erfieht, daß er den Gottſchalk wegen feiner Sudt, Fragen 
aufzuwerfen, tadelt, daß er im Briefe an Carl über die durch Gottſchalk angereg- 
ten Fragen ausdrüdlih fagt, er wolle feine Meinung Niemanden aufdringen, 
und am Schluffe der Schrift de tribus quaestionibus fich bereit erklärt, gerne auch 


zur Meinung des Todes Chriſti für Alle übergehen zu wollen, wenn bewiejen 





werden fünnte, „sanguinem redemptoris prodesse aliquid etiam perditis‘, mit dem 
Beifage, für Jene, denen die Meinung von dem Tode Chrifti für alle Menſchen, 
auch die Ungläubigen, gefalfe, führe er den hl. Chryfoftomus an: Jeder möge 
nun wählen! Das Bud de tribus quaestionibus hat Mauguin irrtümlich dem 
Abt Lupus von Ferrieres abgefprohen und einem Mainzer Priefter Lupus Ser- 
vatus beigelegt, was Sirmond, Dupin, Mabillon ze, leicht widerlegen konnten. 
Auch trug Lupus von Ferrieres, nicht ein anderer Lupus, den Namen Servatus, 
Mabillon (Annal. III, 126 etc.) ift nicht ganz abgeneigt, einen Dialog de statu 
ecclesiae, der für die Zeitgefhichte Intereffe hat, unferm Lupus zujueignen. ©, 
Hist. litt, de la France, V; Mabillon, Annal. t. I. u. Ill; Dupin, bibl. Ecel. VII; 
Sirmondi opp. Venet. 1728, t. U; Phillips, Borlefung über Abt Servatus 
Lupus; f. gelehrte Anzeigen der fönigl, bayer, Acad, d. Wiffenfch, zu Münden, 
Jahrg. 1847, Nr. 147 u. 148. [Schrodl.] 
Lupus, der Heilige, Biſchof von Troyes. Lupus wurde um das Jahr 
383 zu Toul in Lothringen geboren; er ſtammte aus einer ſehr angeſehenen Fa- 


650 Lupus, der Heilige, 


milie. Sein Bater Epirihius farb früh; deffen Bruder Aliftihins übernahm die 
Sorge für die Erziehung feines jungen Neffen. Bei feinen guten Anlagen machte 
Lupus in den Wiffenfchaften große Fortfchritte und war als junger Dann nament- 
lih wegen feiner Beredtfamfeit berühmt, Er heirathete die Schwefter des Hl. 
Hilarius von Arles, Pimeniola; nah einer fiebenjährigen, wie es ſcheint, kinder— 
Iofen Ehe befchloffen beide, fi von der Welt zurüczuziehen, Lupus ging zu dem 
Hl. Honoratus, dem Vorfteher des damals fehr blühenden Klofters Lerin (ſ. d. A.). 
Nach ungefähr ſechs Jahren verließ er das Klofter, um fein Vermögen den Armen 
zu verteilen, und wurde nun wider feinen Willen zum Bifhof von Troyes in 
der Champagne erwählt (426). Dur feine Frömmigkeit und feinen Hirteneifer 
gelangte er bald zu großem Anfehen: auf einer VBerfammlung der gallifhen Bi— 
ſchöfe im 5. 429 erhielt er den Auftrag, mit dem Bifhof Germanus von Aurerre 
nach England zu gehen, um bort dem Pelagianismus entgegenzumwirken. Weber diefe 
Reife fehe man den Artikel: Germanus v, Aurerre und Großbritannien 
Bd. W. ©, 777. — Auf der zweiten Reife nach England hatte Germanus einen 
Schüler des HI. Lupus, den Bifhof Severus von Trier, zum Begleiter. Lupus 
war ein Mufter von Frömmigkeit, Sittenftrenge und Abtödtung, dabei auch als 
Gelehrter von feinen Zeitgenoffen geachtet; feine alte Biographie erzählt mehrere 
durch ihn gewirfte Wunder, Als Bischof war er befonders bemüht, die hriftliche 
Zucht, namentlich unter dem Clerus, firenge aufrecht zu erhalten. Große Lobfprüche 
ertheift ihm namentlich fein Zeitgenoffe Sydonius Apollinaris (pater palrum et epis- 
copus episcoporum et alter seculi tui Jacobus). Berühmt ift die Erhaltung, der 
Stadt Troyes durch den HI. Lupus bei dem Einfalle Attila's (451). Die ältefte 
Biographie des Heiligen erzählt darüber nur, er habe durch fein Gebet die Stabt 
vor der Verwüflung’durd die Hunnen bewahrt, habe dann Attila auf feine Bitte 
bis an den Rhein begleitet und fei dort unverlegt entlaffen. Nah fpätern Be— 
richten ging Lupus mit feinem Clerus dem Hunnenfönige entgegen; als diefer auf 
die Frage, wer er fei, antwortete: ich bin Attila, die Geißel Gottes, ſprach 
Lupus: und ich bin Lupus Cein Wolf), der Verwüfter der Herde Gottes und der 
Geißel Gottes wohl werth. Er befahl darauf, die Thore der Stabt zu Öffnen; 
die Hunnen zogen aber, wunderbar mit Blindheit gefohlagen, mitten durch bie 
Stadt und zu dem entgegengefegten Thore hinaus, ohne Jemand zu ſehen. Nur 
ein Wolf (Lupus) und ein Löwe (Papft Leo J.), fagte man fpäter, habe den furdht- 
baren Hunnenkönig zu ſchrecken vermocht. (Vgl. die Art, Attila, und Hunnen,) 
Auch andere barbarifche Könige hatten vor Lupus große Achtung; man erzählt es 
namentlich von Gebavult oder Gibuld, dem Könige der Alemannen, der auch dem 
hl. Severin in Noricum große Achtung bewies: die Alemannen (f. d. A.) waren 
auf einem Naubzuge bis Brienne in der Didcefe Troyes vorgedrungen und hatten 
mehrere Einwohner gefangen genommen; Lupus fohrieb darüber an Gebavult, und 
fie wurden gleich in Freiheit gefegt, Nach feiner Rückkehr von Attila's Heere 
308 fih Lupus, um fi) den Danferweifungen der Bewohner von Troyes zu ent» 
ziehen und dem Gebete obzuliegen, auf den Berg Latisco in der Nähe von Troyes, 
und da das Volf auch da ihn nicht allein Tieß, nach zwei Jahren nach Mascon in 
Burgund zurück. In Burgund traf er mit dem hl. Euphronius vom Autun zu⸗ 
fammen; fie antworteten in einem gemeinfamen Schreiben dem Biſchof Tarafius 
von Angers auf einige Fragen über Liturgie und über die Heirathen der nievern 
Elerifer. Wie es foheint, im J. 455, kehrte Lupus auf feinen biſchoflichen Sig 
zurüc und leitete nun die Didcefe Troyes noch 24 Jahre. Im 3 471 wurde 
Sivonius Apollinaris (ſ. d. Art, Apollinaris, Sidonius), mit dem Lupus in: 
vielfachen freundfchaftlichen Beziehungen fand, Bifchof von Clermont; er beglüd- 
wünfchte ihn in einem herrlichen Briefe, dem einzigen, dev uns (außer dem er- 
wähnten, mit Euphronius gemeinfam erlaffenen Schreiben) von Lupus? Briefen 
erhalten ift (bei Sirmond Cono, gall. t. 1., d’Achery Spie; t 5; Galland; u, Migue- 





Luscinius — Luther, 651 


Patrol; t. 58). Lupus farb im J. 479, nachdem er 52 Jahre Bifhof geweſen 
war; die alten Martyrologien geben als feinen Todestag den 29. Juli an, an 
welchem auch in mehreren Diöcefen fein Feft gefeiert wird. Die Kirche zu Troyes, 
wo er beerdigt war, trug ſchon im fechsten Jahrh. feinen Namen; fie lag außer- 
Halb der Stadt, wurde fpäter von den Normannen verwüftet und feine Reliquien 
in die Stadt gebracht. Lupus hatte viele Schüler, die duch Tugend und Wunder 
berüßmt wurden, namentlich St. Severus yon Trier, Polychronius von Berdun, 
Albin von Chalons, St, Aventin u. A. Vgl. Tillemont mem. t. 16. AA. SS. 
29. Jul. [Reuſch.] 

Luscinius (Nachtigall), Othmar, fatholifher Theolog und bedeu— 
tender Gelehrter in der erſten Hälfte des 16ten Jahrh., wurde 1487 
zu Straßburg geboren und von Kindheit an durch die Predigten des trefflichen 
Geiler von Kaifersberg (f. Geiler) und dur theilweifen Aufenthalt in deffen 
Haufe gottesfürdtig erzogen, Noch fehr jung durchreisſte er den größten Theil 
son Europa und fludirte auf den vornehmften Univerfitäten und fland in einem 
Alter von 23 Jahren im Rufe eines ausgezeichneten Gelehrten; namentlich zeich- 
nete er fich durch die Kenntniß der Hebräifchen Sprache und griechifchen Literatur 
aus. Selbft in der Mufif war er fehr gefchieft und lehrte diefelbe unter großem 
Zulauf zu Wien, Zu Augsburg in dem Benedictinerftift St. Ulrich lehrte er die 
griechiſche Sprache, und in derfelben Stadt bekleidete er auch das katholiſche 
Predigeramt zu St. Morig, bis ihm der Stadtmagiftrat das Predigen verbot, 
weil er in einer Predigt gegen die Wiedertäufer auch die Lutheraner unter dem 
Namen „Reger” mitbegriffen hatte, Er ſcheint um 1533 geftorben zu fein, Auch 
Luscinius war Anfangs, wie fo manche edle Männer, der Sache der Reformation 
gewogen, aber er erfannte die neue evangelische Freiheit und die Solafides früh— 
zeitig genug an ihren Früchten, blieb dem Glauben der alten Kirche treu und 
legte in Wort und That Zeugniß für denfelben ab, weßhalb Zwingli und Me- 
lanchthon fich nicht entblödeten, in einfältigen Wigeleien über feinen Namen zu 
fpötteln. Die zwei Hauptwerfe des Luscinius, worin er zugleich auch das Be— 
fenntniß der Fatholifchen Lehre gegenüber dem proteftantifchen ablegt, find: 1) die 
ganze evangelifhe Hiftorie, Augsburg 15255 2) Pfalter des Königs und Pro» 
pheten David, eine Summari und furzer Inbegriff aller Heiligen Gfchrift, Augs- 
burg 1524. Auch in's Lateinifche hat Luscinius den Pfalter aus dem Urterte und 
der LXX. übertragen und die Iateinifche Ueberfegung im nämlichen Jahr zu Augs- 
burg edirt. Durch diefe Schrift Ieiftete er für die Erklärung der Pfalmen mehr, 
als irgend ein Teutfcher feiner Zeit. Andere Werke feiner Feder beurfunden eben- 
falls feine Studien der Hl. Schrift und griechifchen Literatur, Eine Anregung zu 
den humaniftifchen Studien hatte er durch Erasmus (f. d. A.) erhalten, aber 
zulegt urtheilte er über diefen, dem er die Hauptfhuld an der hereinbrechenden 
kirchlichen Anarchie beilegte, ſehr ungünftig. S. Strobel's Miscell. IV.; Döls 
lingers Reformation. I. 5475 Jöchers Gelehrten-Lericon; Pl, Braun, Ge— 
fhichte der Bifchöfe von Augsburg. III. 622. In J. Bruders Miscell. hist. 
phil. und in Schelhornus amoen. lit. findet fih eine umftändliche Biographie des 
Lusciniug, [Schrödf.] 

Luſt, böfe, f. Begierlichkeit, 

Luther. Martin Luther, der Sohn eines Bergmannes, geboren zu Eisleben 
den 10. November 1483, hatte 1501 die Univerfität Erfurt bezogen, war 1505 
hier Magifter geworden und follte fih nad dem Willen feiner Eltern der Rechts— 
wilfenfchaft widmen. In einem Momente plöglichen Schredens und heftiger 
Todesfurdt — ein Freund foll an feiner Seite vom Blig erfchlagen worden fein — 
verband er fih durch ein Gelübde, Mönch zu werden, Nicht leicht mochte Jemand 
weniger zu diefem Stande geeignet fein, als eben er; gleichwohl trat er wider 
feines Baters Willen, und felbft fein übereiltes Gelübde Halb bereuend, in das 


652 | Luther. 


Auguſtinerkloſter zu Erfurt. Im Beginn ſeines Prüfungsjahres mußte er ſich 
nach Kloſterſitte läſtigen Hausarbeiten und demüthigenden Verrichtungen unter— 
ziehen, wurde jedoch bald als Magiſter durch den Provincial Staupitz davon 
befreit. Im Mai 1507 empfing er die prieſterliche Ordination, die er ſpäter als 
Malzeichen des apvcalyptifhen Thieres ſchmähte und verwünſchte; daß ihn und 
den ordinirenden Biſchof damals nicht die Erde verſchlungen, äußerte er, das fei 
unrecht und allzugroße Gpttesgebuld gewefen, Nach fleißigem Studium der ſcho— 
laſtiſchen Theologie ward er 1508 auf Staupisens Vorfchlag an der neuerrichteten 
Univerfität Wittenberg Lehrer der Dialeetif und Ethik, ging aber fchon im fol- 
genden Jahre zu dem ihm viel mehr zufagenden Vortrage der Theplogie über, 
Im Jahre 1516 gab er eine myftifche Schrift des 1Aten Jahrhunderts die „teutfche 
Theologie” heraus, Es war wohl nicht der fpeculative Pantheismus diefer Schrift, 
der ihn fo fehr anzogz es war dieß feiner ganzen Geiftes- und Lebensrichtung ein 
allzufremdes Element, deffen wahre Befchaffenheit und Bedeutung er hier nicht 
einmal verftanden zu haben ſcheint, fondern die Confequenzen, die in diefer Schrift 
aus pantheiftifchen Vorderſätzen bezüglich des menfhlihen Willens gezogen wer— 
den, diefe waren e8, die ihm das Buch fo wichtig und theuer machten: daß es 
nämlich nur Einen Willen gebe, den göttlichen, daß nur diefer Eine, der gött- 
liche Wille in der Creatur wirfe, daß alfo weder von Freiheit des menfhlichen 
Willens, noch von einem den Willen bindenden Gefege die Nede fein Fönne, 
Darum follte das „edle Büchlein übertröftlih in Kunſt und göttlihem Werth“ 
fein, — Che noch der Ablapftreit begann, hatte Luther fih von der bisherigen 
Theologie und der allgemeinen Lehre der Kirche in einem Puncte entfernt, der 
neben dem Dogma von der Perfon Ehrifti der wichtigfte im ganzen Firchlichen Lehr- 
gebäude ift, und über die Auffaffung und Geftaltung des ganzen practifch-hrift- 
lichen Lebens entfcheidet — im Dogma von der Nechtfertigung des Menſchen. 
Der Reim, aus welchem fein ganzes nachheriges Syftem hervorwuchs, war be— 
reits in den Jahren 1515 und 1516 bei ihm entwicelt, und feine Doetrin, wie 
er fie an der Univerfität vortrug, hatte bereits Anftoß und Veranlaffung gegeben, 
von einer neuen, auf Irrwegen befindlichen Theologie zu reden, er felber aber war 
freifich noch nicht einmal der nächſten und unabweisbarften Confequenzen, die ſich 
aus feiner Vorftellung ergaben, fih bewußt geworben, Diefe neue Lehre Luthers 
von der Rechtfertigung und dem ganzen Verhältniffe des Menfchen zu Gott war 
das Ergebniß eines peinigenden und troftlofen Geifteszuftandes, in welchem er 
fih lange Zeit Hindurch befunden hatte. Er Hatte den Flöfterlihen Stand und 
deffen ascetifche Vorfchriften und Uebungen mit der ganzen Energie feines hef— 
tigen, tief-Teidenfchaftlichen und der größten Anftrengungen fähigen Charakters 
ergriffen; es ift fein Grund vorhanden, feine deffallfigen Aeußerungen zu be= 
zweifeln, aber die Geſtändniſſe, die er dabei über feinen damaligen Seelenzuſtaud 
ablegt, geben auch hinlänglichen Auffhluß über die Urfache, warum fein asceti- 
ſches Ringen und Arbeiten ihn nicht förderte, warum endlich ein Zuftand der 
völligen Entmuthigung und Verzweiflung fich einftellte, der mit einem Umſchlag 
in das gerade Gegentheil endigte. Jene Neigung zur Verzerrung, zur unnatür« 
lichen und franfhaften Entftellung an fich wahrer Gedanfen und chriſtlicher Vor— 
ftellungen und Empfindungen, die fich fpäter bei ihm immer wieder geltend machte, 
findet fih Schon in feiner katholifchen und Föfterlichen Lebensperiode. Er verſichert 
„B., es habe ihm, als er in Nom gewefen, leid gethan, daß feine Eltern noch 
nicht todt feien, damit er fie durch feine Meffe aus dem Fegfeuer hätte befreien 
konnen; er meint felber, wenn er Gelegenheit dazu gefunden hätte, würde er im 
feinem Neligionseifer oder Fanatismus der graufamfte Todtfchläger geworben fein, 
Wenn auch nach feiner Losfagung von der Kirche und nach dem gewaltjamen 
Bruce mit feiner ganzen Vergangenheit eine große Veränderung in feinem fitt« 
lichen Charakter vor fih ging, fo iſt doch nicht zu verfennen, daß jenes Feuer 








Luther. 653 


des Zornes und des bis zum Haffe ſich fleigernden Ingrimmes, das fpäter in 
helfe Flammen auffhlug, damals ſchon, wenn auch noch niedergehalten und ge— 
bändigt durch feine ascetifhen Anftrengungen, in ihm glühte, und daß er über- 
haupt gegen fein mit edlen, wie mit bedenklichen und ſchlimmen Anlagen rei 
ausgeftattete$ Temperament einen Kampf führte, der oft mit Niederlagen endete, 
Er fagt es felbft, daß es außer den Verfuhungen der Wolluft vorzüglih Re— 
gungen des Zornes, des Haffes und Neides gewefen, die er nicht zu überwinden 
vermoct habe. Dabei fehlte es ihm feinem Geftändniffe nah an der Liebe Got— 
tes, er habe — fihrieb er nachher an Staupig, ‚eigentlich vor Gott nur geheuchelt, 
wenn er Buße zu thun verfucht und eine erdichtete und gezwungene Liebe 
in Worte gefaßt. Im Klofter, erzählt er ferner, fei er Chrifto fo feind gewefen, 
daß, wenn er fein Gemälde oder Bildniß gefehen, wie er am Kreuze hing, er 
davor erſchrocken ſei, die Augen niedergefchlagen, und Fieber den Teufel gefehen 
hätte. Das Gebet fonnte ihm nicht helfen, weil er, wie er jagt, in dem Wahne 
befangen war, man müffe, um zu Gott zu beten und von ihm erhört zu werben, 
bereit8 ganz rein und ohne Sünde, wie die Heiligen des Himmels fein. Alles 
diefes verfegte ihn begreiflicher Weife in einen Zuftand düfterer Entmuthigung 
und troftlofen Verzagens, der aber wieder mit trogiger Vermeffenheit und felbft- 
gefälliger Einbildung abwechfelte; in ſolchen Momenten war er dann feinem Aus- 
drucke nach ein höchſt anmaflicher Selbftgerechter (praesumtuosissimus justitiarius) 
und fah nichts von dem Schalf in feinem Innern. Es iſt allerdings ein peinlicher 
Zuftand, fih fo nad kurzer Beraufhung in trügerifcher Selbftzufriedenheit hinab— 
geftürzt zu fehen in den Abgrund des Schreckens und der Verzweiflung und in 
dem Kampfe mit der Hydra der Sünde ftatt der abgefchlagenen immer neue Köpfe 
nachwachſen zu fehen. Die Pein diefes Zuftandes ward immer unerträglicher und 
Luther forfchte und grübelte mit ängftlihem Bemühen, wie er den Stadel, der 
die Wunde feiner Seele ſtets offen erhielt, aus der Bruft reifen oder ihm we- 
nigftens die Spige abbrechen fünne. In diefer Stimmung las und fuchte er in 
der Bibel, befonders in den Briefen Pauli an die Römer und Galater, und er, 
der mit jo glühendem Durft, mit der Erwartung und dem Entfchluffe, eine für 
feinen perfönlichen Zuftand erwünſchte und tröftliche Lehre in der Bibel zu finden, 
an diefes Buch herangetreten, hätte noch jemals das gefuchte nicht auch gefunden, 
oder zu finden gewähnt? Luthers Entdeckung beftand aber wefentlich in Folgendem: 
der Menſch ift einmal in diefe Welt des herrfchenden Böfen, eine Welt, die nicht 
in der Finfterniß, fondern die die Finfterniß felbft ift, verfegt. Er felbft ift in 
Folge der Erbfünde durh und dur böfe, das Streben nah innerer Heiligung 
und Reinigung von Sünde, in der Meinung, daß dieß vor Gott etwas gelte, ift 
verfehrt und vergeblich; Gott bietet vielmehr dem Menfchen, der es zu feiner 
eigenen, wirklihen inneren Gerechtigfeit zu bringen vermag, eine ſchon fertige, 
fremde an, die er fich nur zuzurechnen braucht, und die durch diefe gläubige Zu— 
rechnung fein Eigenthum wird, Das, was Chriftus auf Erde für ung gethan 
und gelitten hat, das ift diefes Kleid der Gerechtigkeit, in welches der Menfch 
ſich nur zu hüllen, mit weldem er feine ganze Schuld und ſtete Sündhaftigkeit 
nur zuzudecken braucht, um fofort von Gott für gerecht erklärt zu werden. Denn 
was immer Chrifius gethan und gelitten bat, das hat er alles an meiner Stelfe 
gethan und geduldet, damit ich felber diefer ohnehin für mich unlösbaren Aufgabe, 
innerlich wahrhaft gerecht und vermöge dieſer Gerechtigkeit gottgefällig zu werben, 
überhoben wäre; mir aber liegt nur ob, dieſe Leiftung nunmehr durch den Act 
des Glaubens zu meinem Eigentum zu machen, fie mir zuzurechnen und mich im 
Bertrauen auf diefe zwar fremde, aber mein gewordene Gerechtigfeit vor Gott, 
der mich fofort ald Gerechten anerfennt und behandelt, darzuftellen. Luther ver- 
ftärfte und erweiterte diefe feine imputative Gerechtigkeit gerade in dem Maße, 
als feine Berwerfung einer wirflichen Gerechtigkeit des Menſchen es erforderte; 


654 Luther. 


diefer weite Mantel der Gerechtigkeit Chriſti deckt feiner Vorftellung nach nicht 
nur fortwährend alfe Sünden, die der Menſch begeht, zu, fo daß Gott fie nicht 
ſieht, fondern fie ift auch ein volllommener und überflüffiger Erfas für ven Man- 
gel einer pofitiven Gerechtigkeit im Menfchen, die ganz geeignet fchien, jeden 
Zweifel, jede Beforgniß eines ängftlihen Gewiſſens zu befeitigen. Hier war 
alfo eine Art der Nechtfertigung für den Menfhen gefunden, das große, bisher 
unbefannte Princip war verfündigt; daß die wirkliche Güte der Perfon nichts mit 
feinem von Gott für Gutgeachtetwerden zu thun babe, oder daß die Gerecht— 
erflärung der Menfchen an Feine ethifchen Bedingungen gefnüpft fei, als nur die, 
welche für den Act der Imputation felbft erforderlich find, nämlih an das Be— 
wußtfein der eigenen Schuld und Ohnmacht und an die Erkenntniß, daß biefe 
Zurechnung der Gerechtigkeit und Heiligkeit Chrifti der von Gott beftimmte Weg 
der Errettung fe. Das war der Sinn der von Luther fo Fräftig vertretenen Ab= 
fchaffung des Geſetzes, des moralifchen ſowohl als des ceremoniellen; daher der 
abfolute Gegenſatz, in dem er Gefeg oder Mofes und Chriftus einander entgegen- 
ftellte, das Gefeg, das dem Menfchen zumuthet, nicht zu fündigen, fromm zu 
fein, dieß und jenes zu thun, und Chriftus, der zum Menfchen fpricht: du biſt 
nicht fromm, ich habe aber alles für dich gethan, und du brauchſt dir dieſe meine 
Leiftung nur zuzurechnen, Daher die fo oft wiederholte Zumuthung, dem Gefege 
durchaus feinen Einfluß auf das Gewiffen zu geftatten, das Gewiffen „freudig 
einfchlafen zu laſſen in Chrifto ohne ale Empfindung des Gefeges und der 
Sünde,” Dieß alfo war die große Entdeckung, das zvonxa Luthers, mit ber 
ihm die Löfung aller Räthſel des religiöfen Lebens volfftändig gelungen zu fein 
ſchien; jegt erft waren Gefes und Gewiffen, diefe unverföhnlihen Feinde, ver- 
ſöhnt; und zu der neuen, trofivollen Lehre bot fich fofort auch der rechte Name 
son felbft dar — er nannte fie das Evangeliums denn welche fröhlihere Bot- 
fchaft, meinte er, kann e8 geben, als daß der Menfch nicht durch Anftrengung, 
durch die Arbeit der Buße und Befferung, fondern auf fo leichte und bequeme 
Weife, durch einen bloßen Act des gläubigen Annehmens und fih Zurechnens 
vor Gott gerecht und feines ewigen Heiles gewiß werde? Und diefe fröhliche 
Botfchaft, fie war feit vielen Jahrhunderten ſchon verloren gegangen, und die 
ganze Chriftenheit Hatte, in tiefer Nacht herumirrend, fich mit einer Gerechtigkeit 
abgemüht, die dem Menfchen, nachdem er Alles gethan, nur das Gefühl lief, 
daß er ein größerer Sünder ſei, als er vorher gewefen. Es war offenbar, fo 
Schloß Luther weiter, Gottes fpecielle Wahl und Berufung, die ihn zum Ver— 
fünder und Wiederherfteller diefer verſchollenen Freudenbotfchaft auserforen, und 
ihm felber war diefe Einfiht und das rechte Verftändnig der Briefe Pauli an die 
Römer und Galater nur durch höhere Infpiration zu Theil geworden. Zugleich 
war nun auch der Prüfftein gefunden, der über den Werth oder die Verwerflich- 
feit aller in der Kirche damals vorhandenen Dogmen, Einrichtungen und Uebun— 
gen entfchied; Alles, was mit dem neuen Evangelium und feinen nothwendigen 
Eonfequenzen fih nicht vertrug oder überflüffig erfchien, das war hiemit ſchon ge- 
richtet und mußte fallen; die Kirche felber, die diefe Hauptlehre zum Verderben 
fo vieler Millionen verfälfcht, und den armen Chriften ihren ficherften Troft, die 
Duelle ihres Heils geraubt hatte, fie war nun gleichfalls gerichtet, fie konnte 
unmöglich die wahre fein. Das Ablaßwefen Tezels und feiner Gehilfen, und ber 
* Streit, in den er darüber verwicelt ward, war demnach nicht etwa die erfte Ver« 
anlaffung für Luther, über den Firchlichen Lehrbegriff nachzudenken, mit Herab- 
fegung, dann Verwerfung der Indulgenzen zu beginnen und fo fortfchreitend von 
einem Lehrpunete zum andern das ganze beftehende Spftem umzugeftalten, fon- 
dern geraume Zeit vor diefem Zwifte hatte Luther bereits eine Doctrin fih an- 
geeignet, welche nur unter vielen andern Confequenzen auch die Verwerfung der 
kirchlichen Lehre von der Buße und Genugthuung und damit dann freilich auch die 








Luther. 655 


Befeitigung der völlig überflüffig gewordenen Indulgenzen als nothwendige Folge 
nad fi zog. Der Streit felbft Hatte für Luther nur die Wirfung, jene Entwie- 
lung feines Syftems, welde ohne diefe äußere Veranlaffung langſamer und wohl 
auch mit mehr Scheu und Bedenflichfeit ftattgefunden haben würde, zu beſchleu— 
nigen, ihm eine höchſt populäre, durch die Hffentlihe Meinung in Teutfchland 
und Europa mädhtig getragene und geſchirmte Stellung anzuweifen und feiner 
Lehre, die nur aus einen gegen offenbare Mißbräuche in befter Abficht unter- 
nommenen Widerftande hervorgegangen zu fein fhien, um fo größeren Beifall 
und leichteren Eingang zu verſchaffen. Früher Hatte er die Mißbräuche in der 
Kirche, die Unfähigfeit und Lafterhaftigfeit fo vieler Geiftlihen, die Berwahr- 
Iofung des Volkes und Anderes gefühlt und beflagt, wie andere ber Kirche er- 
gebene und einfihtige Männer fie empfanden und betrauerten; doch war ihm noch 
nicht eingefallen, für ſolche Zufälligfeiten, die au damals je nach dem einzelnen 
Ländern fehr verjchieden waren, die allgemeinen Snftitutionen der Kirche felber, 
ihren Gottesbienft u. f. w. verantwortlich zu machen; indeß hatte er überhaupt 
einen gefchärften Blid für das Böſe in allen Geftaltungen und Erfoheinungen des 
Lebens, ein Temperament, das fih vorzugswerfe mit Erfpähung des felbftifchen, 
unreinen Elements in den Handlungen und Zuftänden der Menfchen wie in den 
öffentlichen Angelegenheiten des Staats- und Kirchenlebens befchäftigte und nährte, 
Daß der Menſch, nicht bloß der noch Gott entfremdete, fondern auch der bereits 
im Zuftand der Begnadigung befindliche, fortwährend in allen Handlungen, auch 
den aufs Beſte gethanen fündige, und jeder That etwas Böfes, Gott an ſich 
Mibfälliges beigemifiht fer, daß auch das leichtefte der göttlichen Gebote von den 
Frommen nicht wahrhaft gehalten werden könne, das war bei ihm Lieblinge= 
behauptung. In nächſter Verwandtſchaft mit diefer Anfıhauungsweife fand die 
Neigung, auch in den firhlihen Zuftänden das vorhandene Gute über dem fi 
ohnehin mehr hervordrängenden Böfen zu überfehen, die Schäden zu vergrößern, 
und fie, ohne auf die mildernden Umftände zu achten, in grellen Farben aus- 
zumalen. Sobald aber Luther einmal mit der Firchlihen Lehre in Zwiefpalt ge— 
rathen war, fobald in Folge. davon eine argwöhnifhe und bittere Stimmung 
gegen die Kirche felbft, als die Trägerin des ihm verhaßten Dogma, ſich feft- 
gejest hatte, da mußte auch in feiner Betrachtungsweiſe der kirchlichen Zuftände 
und Einrichtungen, in feinem Urtheile über das Firdliche Leben eine große Ver— 
änderung eintreten. Wie nahe lag e8 jest, in allen Erfcheinungen und Geftal- 
tungen des Firchlichen Lebens die fchlechten Früchte einer fehlechten Lehre zu ent- 
decken und alles begierig zufammenzutragen, was nur immer als practifches Zeug- 
niß gegen die Doctrin gebraucht werden konnte; wie nahe lag die Verſuchung, 
durch übertreibende gehäffige Darftellung und Verzerrung der kirchlichen Zuftände 
die Anklage gegen das Syftem, das ſolche Zuftände verfchuldet, zu verjchärfen! 
Aus allen Aeußerungen Luthers, aus feiner ganzen Betrachtung von Natur und 
Geſchichte ergibt fih, daß er fich das Reich des Satans als ein unermeßlich weit 
ausgebreitetes dachte, daß der Einfluß des Teufels feiner Vorſtellung nah mit 
unwiderftehlicher Macht Alles, was Gott ihm nicht entriß, fih unterwarf, Geit- 
dem aber in Luthers Seele die Thatfache feftftand, daß die Kirche in den wich— 
tigften Puncten von Chrifti reiner Lehre abgefallen fei, Fonnte auch der Glaube 
an eine befondere göttliche Leitung und Bewahrung der Kirche fich bei ihm nicht 
mehr halten, Sie war ihm nun ein Reich, in welches der Satan ſiegreich ein— 
gedrungen, in welchem er feinen Sig aufgefchlagen, und weithin alles befudelt 
und vergiftet Hatte, und immer mehr gewöhnte er fih nun, was ihm an den 
kirchlichen Dingen irgend mißfiel, fofort als ein Erzeugnig fatanifher Einwir- 
kungen darzuftelfen. Ohnehin ift, fobald man einmal die Gefühle der Ehrfurcht 
und Anhänglichfeit an eine Inflitution abgefchüttelt Hat, nichts Teichter und be- 
auemer, nichts für die Eigenliebe ſchmeichelhafter, als fich über fie zu Gericht zu 


656 Luther, 


fegen und von einem ganz Außerlihen Standpuncte aus jeden wirklichen oder 
möglichen Mißbrauch an derfelben aufzudecken und nach Herzensluft zu fcheltem, 
Die Bedenken, daß er hierin zu weit gehe, das Gute mit dem nur zufällig an» 
Hebenden Schlimmen verwerfe, daß er Gebrechen, die ihren Grund nur in ber 
allgemeinen menſchlichen Fehlerhaftigkeit und der Neigung der Menfchen haben, 
auch das Befte zu mißbrauhen und in den Dienft ihrer Leidenſchaften zu ziehen, 
der Sache felbft, dem Inſtitut oder Ritus zur Laft Iegen möchte — diefe Be- 
denfen hielten ihn nicht mehr zurück; er hatte fi) ja mit alfer Kraft in die Vor— 
ftellung hineingearbeitet, daß die Berunftaltung der Rechtfertigungslehre ein tödt- 
liches Siechthum, ein zerflörendes Gift in alle Glieder und Säfte des kirchlichen 
Drganismus getragen habe, daß die falfche Werfheiligfeit, die Lehre vom Zweifel 
an der Gnade Gottes und die Verwerfung des Specialglaubend, die Verläug- 
nung der imputirten Gerechtigkeit, der hochmüthige Dünfel, es zu einer eigenen 
innern Gerechtigkeit vor Gott bringen, und fich die Seligkeit mit feinen Werken’ 
erfaufen zu wollen — daß dieß Dinge feien, die nothwendig ein allgemeines Ver— 
derben über die Kirche bringen, ihre Berfaffung, ihre Sacramente und ihren 
Gottesdienft verfälfchen und in das Gegentheil der urfprünglich von Chrifto ge— 
troffenen Einrichtungen verfehren mußten, Er war alfo feiner Borftellung nad 
ganz fiber, daß er auch bei den ftärfften und fchonungslpfeften Angriffen doch nie 
zu tief in's Fleifch fchnitt, daß Feiner feiner Schläge ein noch gefundes Glied am 
Körper der Kirche traf, „Es ift ja, fagte er, Fein Buchftabe fo Hein in ihrer 
Lehre, und fein Werflein fo geringe, es verläugnet und läſtert Chriftum und 
fohändet den Glauben an ihn,“ „Und vor Luther hatte ja Niemand gewußt, was 
das Evangelium, was Chriftus, was Taufe, was Beichte, was Saerament, was 
der Glaube, was Geift, was Fleifh, was die zehn Gebote, was das Bater 
unfer, was Beten, was Leiden, was Troft, was weltliche Obrigkeit, was Ehe— 
ftand, was Eltern, was Rinder, was Herr, was Knecht, was Frau, was Magdır, 
fer, Summa! Wir haben gar nichts gewußt, was ein Ehrift willen fol,” — 
Luthers erfte Schritte wurden mit Muth und Vertrauen auf die Güte feiner Sache 
und in dem Bewußtfein, daß er in feinem Orden und außerhalb deffelben Gleich— 
gefinnte habe, unternommen, Wenn in den erften Monaten nach Veröffentlichung 
feiner Thefen die Zeichen der Theilnahme und Beiftimmung noch fparfam hervor— 
traten, fo änderte fich dieß bald, Nicht nur durfte er auf den Schuß feines weit- 
verbreiteten Ordens, aus deffen Mitte fich Feine einzige Stimme gegen ihn erhob, 
rechnen: im Mai 1518 wußte er bereits, daß die ganze Univerfität Wittenberg, 
mit Ausnahme eines Einzigen, daß fein Didcefan-Bifhof und mehrere andere 
Prälaten auf feiner Seite ftanden oder fich beifälfig äußerten, ja daß fehr Viele 
fagten: fie hätten vorher Chriftum und das Evangelium nicht gefannt, und nichts 
davon vernommen. Seine Gegner gehörten dem zwar mächtigen, aber durch 
eigene Schuld in der dffentlihen Meinung fehr gefunfenen Dominicaner-Drden 
an, während Luther Mitglied eines in Teutfchland durch feine fittliche Haltung 
und feine Gelehrfamfeit geachteten Ordens war. Sehr bald erfuhr er, daß die 
Gunft und der Beiftand der einflußreichen Humaniften ihm in weiten Rreifen zu 
ftatten fam, und nicht nur Freunde, auch Feinde arbeiteten ihm in bie Hände, 
wie denn die plumpe und ungefchickte Gegenfchrift eines Sylvefter Prierias ihm 
fiher mehr nügte als ſchadete. Luther felbft führte einige Monate hindurch die 
Sprache demüthiger Unterwerfung unter das Urtheil der Firchlichen Dbern, und 
verfiherte den Papft, daf er unbedingt über feine Perfon und Lehre verfügen 
fonne; um fo leichter geftattete diefer auf die Verwendung des Chürfürften von 
Sachſen, daß Luther, ftatt der Anfangs Auguft erlaffenen Vorladung gemäß ſich 
perfönlih in Nom zu ftellen, feine Sache vor dem Cardinal Thomas de Bio, der 
als Legat nach Augsburg ging, führen durfte. Jetzt mifchte fih das alte Mif- 
trauen und ber Widerwilfe der Teutfehen gegen die fchlauen Italiener in's Spiel, 





Luther. 657 


- Luther erſchien nur mit einem Geleitsbriefe und weigerte fih, den Widerruf, den 
- der Cardinal von ihm forderte, zu leiften, appellirte an den beffer zu unter= 
richtenden Papft, und dann, als eine papftlihe Bulle die Ablaßlehre beftätigte, 
an ein allgemeines Concil. Die Verhandlungen mit dem päpftlihen Rammer- 
herrn Miltiz, die fi durch das Jahr 1519 Hindurchzogen, blieben ohne ein we— 
fentliches Ergebniß; Luther verſprach zwar zu fohweigen, aber nur, wenn auch 
alle feine Gegner ſchweigen würden; er richtete wirffih am 3. März 1519 ein 
Schreiben an den Papft, worin er verficherte, er habe nie die Authorität des rö— 
mifhen Stuhles antaflen wollen, die mit Ausnahme Chrifti über Alles im Him- 
mel und auf Erden gehe, und zugleich geftand, er fei in feiner rauen Schärfe 
wider die römifche Kirche bis zum Mißbrauche gegangen; er wolle dafür das Volk 
in einer eigenen Schrift zur rechten Ehrfurcht gegen diefe Kirche auffordern, Dieß 
war jedoch nicht fehr ernftlich gemeint, denn wenige Tage fpäter äußerte er in 
einem Briefe an feinen Freund und Gönner, den hurfürftlichen Hofprediger Spa- 
latin: „er wiffe nicht, ob der Papft der Antichrift felbft oder nur deſſen Apoftel 
fei.” Indeß waren die Bande, die ihn an die Kirche feffelten, noch immer flarf 
genug, am ihn von der entfchiedenen und offenen Behauptung mancher Säge, zu 
denen ihn fein Lieblingsdogma mit Gewalt drängte, zurüdzubalten. Ueber diefen 
Eonfliet feines bald von der noch haftenden Ehrfurcht vor der kirchlichen Autho— 
rität, bald von der Confequenz feines Dogma beherrfihten und zerriffenen Ver— 
ſtandes und Gewiffens äußerte er in fpäterer Zeit: Er habe damals den Geift 
mit fo ftarfer Begierde, gleichfam verwirrt im Geift und beinahe finnlos, er- 
wartet, daß er faum gewußt, ob er wache oder ſchlafe; nur mit großem Kampfe 
und fehr ſchwer habe er endlich durch die Gnade Ehrifti den Gedanfen, dag mar 
die Kirche Hören müffe, überwunden. Der Eintritt in diefes Stadium feiner 
innern Entwiclung wurde befchleunigt durch äußere Anläffe, namentlich die Leip- 
ziger Disputation, die zwar zuerft nur zwifchen Erf und dem jest noch eng mit 
Luther verbündeten Carlſtadt geführt werden follte, an. ber aber Luther, und zwar 
als Beftreiter des papftlichen Primats, theilnahm; dann durch die von den Uni- 
verfitäten Cöln und Löwen ausgefprochene Verurtheilung feiner Säge. Den Ver- 
ſuch, ſich an die Unterfcheidung zwifchen der römischen Kirche als der Braut Chriſti 
und Gebieterin der Welt und zwifchen der römifhen Curia mit ihren ſchlechten 
Früchten anzuflammern, ließ er bald wieder fallen, denn ſchon ſchien es ihm ge— 
wiß, daß der päpftliche Stuhl der Sig des in der Schrift geweiffagten Antichrift 
fei. Wenn fein Ruf und der feiner beiden Gehilfen Carlſtadt und Melanchthon 
bis zum Beginne des Jahres 1520 bereits 1500 Studirende nah Wittenberg 
gezogen hatte, wenn ihm immer häufiger werdende heiftimmende und bewundernde 
Zufäriften aus den verfchievenften Gegenden zufamen, Sickingen und andere 
Edelleute ihm Schuß und Aſyl anboten, fo wußte Luther wohl, daß er unbeforgt 
noch weiter geben dürfe, und daß er ſchon an dem in Teutfchland damals unter 
Geiftlihen und Weltlichen weit verbreiteten Widerwillen gegen Nom einen mäd- 
tigen Bundesgenoffen habe, Die von Eck betriebene papftlihe Bulle, welche 41 
Säte Luthers, darunter mehrere, die ſchon den ganzen neuen Lehrbegriff im Keime 


I in fi trugen, theils als offenbar Häretifh, theils als ärgerlich und vermeffen 
I. verdammte, und ihm, wenn er nicht widerrufe, die Ercommunication anfündigte, 





bekräftigte ihn in dem Entfhluffe, den offenen Bruch zu vollenden, befonders, 
nahdem ihm jene Zuficherungen eines mächtigen Schuges zugefommen waren, 
Er, der am 15. Januar 1520 noch in einem Schreiben an den neuerwählten 
Kaifer Earl erklärt Hatte, er wolle als ein treuer und gehorfamer Sohn der ka— 
tholiſchen Kirche fterben, und fich das Urtheil aller nicht verdaͤchtigen Univerfitäten 
I gefallen laffen, hatte im Juni deffelben Jahres die Schrift „An den teutfchen 
I Adel von des Hriftlihen Standes Befferung” herausgegeben und ließ im Dectober 
| das Buch von der babylonifchen Gefangenſchaft folgen, In beiden Büchern war 
Kirchenlexilon. 6. Od. 42 


658 Luihe = 


neben der Aufdeckung und Rüge vieler wirklicher und ſchwer genug gefühlter Miß— 
bräuche eine fo volfftändige Losfagung non ber Kirche, ihrer Lehre, ihrem Gottes- 
dienfte und ihrer Verfaffung enthalten, daß Luther fpäter im weitern Verlaufe 
feines neuen Kirchenbaues nicht viel mehr hinzuzufegen hatte, Als die Folge ber 
im Iegten Buche ausgefprochenen Verwerfung des euhariftifchen Opfers, alfo 
derjenigen Handlung der Kirche, welde den Mittelpunct des ganzen Gpttes- 
dienftes bildet, gab er felber die Nothwendigfeit an, daß „der größte Theil ver 
Bücher, die jego die Oberhand haben, und fihier der Kirche ganze Geftalt weg- 
gethan und verändert werde. Dem auch in der Kirche behaupteten allgemeinen 
Prieſterthum aller Chriften gab er einen folhen Umfang, daß damit das ganze 
Gebäude der Kirchenverfaffung von Grund aus umgeftürzt wurde, jede kirch— 
liche Hierarchie, jedes an einen befonderen Stand gefnüpfte Necht der Leitung 
und Verwaltung der Kirche als Ufurpation wegfiel, Nicht ein geiftliher Stand 
follte mehr exiftiren, fondern nur durch Auftrag der Gemeinden  aufgeftellte 
Beamte, die das verrichteten, wozu Alfe die gleiche Gewalt hätten, Dabei fchmei- 
helte Luther mit kluger Berechnung den andern Ständen, den Fürften, dem Adel, 
und den ftädtifchen Gewalten, denn diefen vorzüglich mußte, wenn nach feiner 
Adficht ver Bau der teutfchen Kirche in Trümmer zerfiel, die reiche Beute zu— 
falfen; der hundertſte Theil des gegenwärtigen Kirchengutes, meinte er, fei 
hinreichend zur Erhaltung einer Kirche; ausdrüdlih behielt er zu Gunften des 
Adels vor, daß die Domftifte als Verforgungsanftalten für die jüngeren Söhne 
des Adels fortbeftehen ſollten; auch dem Kaifer hatte er eine Lockſpeiſe hingewor— 
fen; Einziehung des Kirchenftaats, und Zerreißung des Lehnsverhältniffes von 
Neayel, Ein neuer Verfuh Miltizens, der auch jegt noch nicht einfehen wollte, 
daß Luther feine Schiffe verbrannt habe, und bereits durch eine breite Kluft von 
der Kirche getrennt fer, veranlaßte nur ein höhnifches, an Papft Leo gerichtetes, 
aber für das große Publicum beftimmtes Schreiben, worin Luther die gefuchteften 
Ausdrücke der Schmah und Verachtung auf den römifchen Stuhl häufte. In 
diefem Schreiben, welches er nach feiner Zufammenfunft mit Miltiz, alfo nad 
dem 10. October, erließ, aber auf den 6. September vor Publieirung der Bulle 
zurückdatirte, hatte er die Perfon des Papftes noch gepriefen, ihn einen Daniel 
unter den Löwen, einen Ezechiel unter den Scorpionen genannt; aber ſchon am 
17, November wurde Papft Leo, ohne daß irgend etwas Neues von Nom unterbef 
ausgegangen wäre, in einer öffentlichen Appellation an ein Concilium ein ver- 
ftocfter, verdammter Ketzer und Abtrünniger, ein Feind und Unterbrüder der hei- 
ligen Schrift, ein Verräther, Läfterer und Schmäher der heiligen hriftlichen Kirche 
und eines freien Concils genannt. Dazu fam die alles bisher in der Chriftenheit 
Bernommene überbietende Schrift: „Wider die Bulle des Endechriſts“ und am 
10, December die feierliche Verbrennung der Bulle und der. canonifchen Rechts— 
bücher vor dem Thore von Wittenberg. Diefes Verbrennen der „gottlofen Bücher 
des Firchlichen Nechts, worin nichts Gutes ift, und wenn auch etwas Gutes darin 
wäre, alfes doch zum Schaden und Befeftigung ihrer antichriftlichen Tyrannei ver- 
kehrt iſt“, wie Luther zur Vertheidigung diefes Schrittes drucken ließ, war eine 
bedeutungsvolle Handlung ; fie drücfte aus, daß es jetzt um nichts geringeres als 
um die völlige Zerftörung aller bisherigen, kirchlichen Nechtsverhältniffe und be— 
ftehenden Einrichtungen fich handle, und daß eine kirchliche Genoffenfhaft ge» 
gründet werden folfe, die ihren gefelffchaftlichen Bau rein von vorne anfange, 
Nach Worms auf den Reichstag folgte Luther dem Nufe des Kaifers gerne; er 
freute fi, vor den Fürften und dem Adel des Reiches, unter dem er bereits fo 
viele Gönner zählte, als Bekenner feiner Lehre auftreten zu fünnenz feine Neife 
dahin glich einem Triumphzug; im Bewußtſein perfönlicher Sicherheit und ge- 
waltiger Popularität bewegte er fich auf der Verfammlung mit einer Zuverficht, 
die Vielen als ein neuer Beweis für die Güte feiner Sache galt; den Verfuchen, 








Luther. 659 


die befonders der Erzbiſchof von Trier machte, ifn zum Widerrufe oder zu irgend 


einer berufigenden Erflärung zu bewegen, ftellte er die Berufung auf die Bibel 
und fein Gewiffen entgegen; felbft einem Eoncilium wollte er die Entfcheidung 
nur dann überlaffen, wenn daffelbe nach Bibelftellen (er meinte natürlih: und 
nad) feiner Auslegung diefer Stellen) den Ausſpruch thue. Auf feiner Rückreiſe 
wurde er auf Anordnung feines Churfürften und mit feiner Zuftimmung aufgehoben 
und als Ritter verkleidet nach der Wartburg gebracht, während in Worms der 
Kaifer die Reichsacht über ihn verhängte, die aber erfi nach Abreife der meiflen 
Fürſten von der geringern Zahl der Zurüdgebliebenen unterzeichnet wurde. Der 
Fortgang der neuen Lehre wurde dadurch, daß ihr Urheber auf Furze Zeit den 
Augen der Menfchen ſich entzog, nicht gehemmt, der Feuerbrand diefer Lehre 
war einmal in das dürre Geftrüppe, deffen es allenthalben in Teutfchland genug 
gab, Hineingeworfen, und bald da, bald dort fihlugen die Flammen auf, Es 
war auch ein Schaufpiel, das billig Alle in Spannung erhielt, ein Contraft, der 
au die Sympathien der Beften ihm und feiner Sache zumwendete, Da fand auf 
der einen Seite eine ganze Schaar von Prälaten, Firchlichen Dignitären und 
Pfründenträgern, die, mit irdiſchen Gütern überreich ausgeftattet, forglos dahin 
lebten, fich wenig um die Noth und den Verfall der Kirche fümmerten, und auch 
jest den flürmifchen Angriffen auf die Kirche in ruhiger Trägheit zuſchauten; auf 
der andern Seite ftand ein einfacher Auguftinermönd, der Alles das, was jene 
in Fülfe Hatten oder erfirebten, weder befaß, noch fushte, der aber dafür mit 
Waffen firitt, wie fie jenen nicht zu Gebote ftanden, mit Geift, mit binreißender 
Beredtſamkeit, mit theologiſchem Wiffen, mit feftem Muthe und unerfchütterlichem 
Gelbftvertrauen, mit dem Schwunge der Begeifterung, der Energie eines zur 
Herrfchaft über die Geifter berufenen Willens, und mit eiferner Arbeitfamfeit, 
Teutſchland aber war damals noch ein jungfräulicher, durch Feinen Journalismus, 
feine Brohürenliteratur überwucherter Boden; wenig noch und nichts von Be— 
deutung war über öffentliche, Alle gemeinfam berührende Angelegenheiten ge— 
fhrieben worden; Fragen von höherem Intereffe, welche die Geifter anderweitig 
befchäftigt Hätten, Tagen nicht vor; um fo größer war daher in allen Ständen die 
Empfänglichfeit für religiöfe Aufregung, um fo größer aber auch in einem noch 
nit an pomphafte Declamationen und rhetorifche Uebertreibungen gewöhnten 
Bolfe die Bereitwilligfeit, einem Manne, der als Priefter und Lehrer der Theo— 
Iogie an einer Hochſchule mit Einfegung feiner Perfönlichfeit und mit im Ganzen 
ſo geringem Widerfpruche die furchtbarften Anflagen gegen die Kirche erhob, alles 
aufs Wort zu glauben, Und diefe Befhuldigungen, diefe Hinweifungen auf eine 
troſtvolle, bisher boshafter Weiſe unterdrückte und verfchwiegene Lehre, die jetzt 
in ſo ausgeſuchten Kraftworten vorgetragen wurde, waren verbunden mit ſteten 
Berufungen auf Chriftum und auf das Evangelium, mit apocalyptiſchen auf das 
Papſtthum und den ganzen Zuftand der Kirche angewendeten Bildern, welche die 
Phantafie mächtig ergriffen; die Schriften aber, die jest zum erfien Male das 
ganze Rirchenwefen und deffen Gebrechen befprachen, waren einerfeit$ mit bib- 
chen Worten, Sprüchen, Gedanfen durchwebt, andererfeits mit der berechnenden 
Kunſt einer ihrer Zwecke fi wohl bewußten, und die Schwäkhen des National- 
charakters vollfommen fennenden Demagogie abgefaßt, und ebenfo gut geeignet, 
in Wirthshäuſern und auf öffentlichen Plägen, als von den Ranzeln vorgelefen 
zu werben. Mächtiger noch als die äußerlichen Mittel der Förderung wirkten die 
inneren, die in dem Syfteme felbft gelegenen Motive; es waren füße, troſtvolle, 
gern vernommene Lehren, wie fie feit zwei Jahren und noch entwickelter in den 
nähftfolgenden Jahren von fo vielen Kanzeln, in Liedern, in zahlloſen Schriften 
dem Volke beigebracht wurden, von der Rechtfertigung ohne alle Vorbereitung 
durch bloße Jmputation der Leiden und Verdienfte Chrifti, von der unmittelbaren, 
buch einen einzigen Ofaubensact zu erlangenden Gewißheit des Gnadenſtandes 
42° 


660 Luther, 


und der Seligfeit, die Lehren ferner, daß die guten Werke von allem Einfluffe 
auf die jegige Gerechtigkeit und Fünftige Seligfeit der Menfhen ausgefchloffen 
feien, daß aber jeder Ehrift ſchon im Beſitze einer ohne alle Mühe durch einen 
bloßen Glaubensact erworbenen, bloß zugerechneten Heiligkeit fei, wobei er aller- 
dings fündhaft bleiben folle und müffe. Und dazu kam nun die neue chriftliche 
Freiheit, wie fie Luther als felbfterwählter Schirmvogt der in der Kirche bisher 
mit Füßen getretenen Chriftenrechte fo nachdrücklich verfündigte, die Freiheit, ſich 
über die Sagungen und Ordnungen der Kirche wegzufegen, nicht zu beichten, 
nicht zu faften u. f. f., oder dieß und Aehnliches nur nah Willfür und eigenem 
Gutdünfen zu thun. „O eine feine Predigt war das, fchrieb Wicel fpäter, nicht 
mehr faften, nicht mehr beten, nicht mehr beichten, nicht mehr opfern und geben 
u. ſ. f. Solltet ihr doch wohl zwei teutfche Lande, nicht eines allein damit ge— 
födert und in euer Netz gerüdet haben! Denn wenn man einem erſt feinen Wil- 
len laßt, fo ift er wohl zu gewinnen!” — Das neue Evangelium verhieß aber 
nicht nur einen viel Teichteren und ficherern Erwerb der geiftigen und Fünftigen 
Güter, es eröffnete auch, befonders für die Fürften, den Adel und die ſtädtiſchen 
Gewalthaber, lockende Ausfichten auf Gewinn an irdifchen Gütern; gar Viele 
unter ihnen waren damals tief verfchuldet, und erblickten jegt im Kirchengute die 
geöffnete Schatfammer, aus der fie ihre Schulden bezahlen fonnten, zugleich bot 
die Einziehung der Bisthümer fich den Größern als erwünfchtes Mittel dar, ihre 
Staaten zu arrondiren und ihre Territorialmacht erft jest feft zu begründen und 
. auszubilden. Endlich hatte Luther in dem deftructiven Kampfe, den er gegen bie 

Kirche führte, zwei mächtige Menfchenclaffen zu Bundesgenoffenz bie eine beftand 
aus den Humaniften, Philologen und gelehrteren Schulmännern, wie fie vorzüg- 
ih aus der Erasmifchen und in den nächften Jahren auch aus der Melanchthoni— 
Then Schule hervorgingen, Männern, die dem bisher übermächtigen, und im Be— 
fise aller einträglicheren Stellen befindlichen Clerus, dem fie ſich meiftens an 
Kenntniffen überlegen wußten, von Herzen gram waren, und begierig mithalfen, 
die Abneigung und das Mißtrauen des Volkes gegen diefen Stand zu fihüren, 
Alle diefe fehen um fo mehr in Luther einen der Ihrigen und einen Beförberer 
ihrer Nichtung wie ihrer Standesintereffen, ald er den Untergang der reinen Lehre 
aus der Bernachläffigung des Studiums der griechifchen und hebräiſchen Sprade 
ableitete, und die neue Theologie, fowie den Neubau feiner Kirche auf der Baſis 
des Sprachſtudiums aufzurichten verhieh, Die andere Claſſe war noch weit zahl- 
reicher, fie umfaßte eben die heranwachfende Generation, die ftudirende Jugend 
und die jüngeren, feit Kurzem erft in's practifche Leben eingetretenen Männer; 
alle diefe bewunderten und verehrten in Luther den Helden des Tages, die impo— 
nirendfte Perfönlichkeit, die Teutſchland damals aufzuweifen hatte, den Mann, 
der ein Schwert im Munde führte, dem Feiner feiner teutfchen Gegner irgend 
ebenbürtig war, der überhaupt das Fraft- und lebensvolle Neue, dem Fortſchritt 
und die Aufklärung repräfentirte, während die Fatholifche Kirche und ihre Ver— 
theidiger als die Vertreter des Veralteten, der Neaction erfchienen — wenn man 
das auch damals mit andern Namen bezeichnete. — Inzwiſchen hatte Luther auf 
der Wartburg, feinem „Pathmos“, ſich mit Schriften gegen den Fatholifhen Theo- 
Iogen Latomus und die Univerfität Löwen, dann gegen das kirchliche Opfer (von 
Abfchaffung der Privatmeffe) befchäftigt. In der Iegtern Schrift verfierte er, 
erft nach fihwerem Kampfe mit feinem Gewiffen fei er endlich dahin gefommen, 
den Papft für den Antichrift, die Bifchöfe für feine Apoftel, die hohen Schulen 
für feine Hurenhäufer zu halten, fein Herz habe gar oft gezappelt und ihm vor« 
geworfen: „Wie, wenn du irrteft, und fo viele Leute im Irrthum verführteft, 
die alle ewiglich verdammt würden!” Diefe Beforgniß und Ungewißheit Fehrte 
auch fpäter noch oft wieder, doch nie mit folher Stärke und Dauer, daß fie ihn 
auf der betretenen Bahn einzuhalten ober umzufehren vermocht hätte, Vielmehr 








Luther, 661 


entſchied er fih nun auch, den Cölibat der Geiftlichen und die Gelübde des Flöfter- 
lichen Lebens mit aller Energie zu beftreiten und „zur Freiheit des chriftlichen 
Glaubens zurüdzufehren“, d. 5. die von ihm abgelegten Gelübde felber zu brechen, 
und Andere aufzufordern, das Gleiche zu thun. Damit verftärkte er feine Parter 
unermeflih, denn ihm fiel fofort die Schaar der Geiftlihen zu, die bisher im 
Coneubinat gelebt Hatte, und eine Lehre begierig ergreifen mußte, die ihr Gelegen- 
heit bot, den Mafel dur Eingehung einer fürmlichen Ehe zu tilgen; ihm fielen 
ferner Taufende von Mönchen zu, die der Föfterlihen Zucht und Einfchränfung 
überdrüffig waren, Inzwiſchen drohte zu feinem Verdruffe die von ihm hervor— 
gerufene Bewegung ihm felber über den Kopf zu wachfen und ihn bei Seite zu 
ſchieben. Die erſten Wiedertäufer erhoben fih, und zwar in der Nähe von Wit- 
tenberg; ganz mit denfelben Gründen und mit dem gleichen Rechte, mit dem 
Luther bisher die Sacramente und Inſtitutionen der Kirche angegriffen und ver- 
worfen hatte, beftritten fie die Kindertaufe, und brachten Melanchthon, der ihnen 
nichts zu entgegnen wußte, in große Verlegenheit, Zugleih begann Carlſtadt 
mit feinem Anhang die Bilder in den Kirchen zu zertrüämmern, die Altäre um— 
zuftürzen, die Beichtflühle wegzufhaffen u. f. f. Da eilte Luther von der Wart- 
burg weg, fam am 7. März 1522 nah Wittenberg, und bradte, vom Chur- 
fürften dabei unterftüßt, die Reformation von der rafcheren Fortbewegung wieder 
zurüc in den langfamern Gang, der die äußern Dinge und Zeichen mehr fchontez 
man müffe nur die Lehre von der Nechtfertigung recht nachdrüdlich treiben und 
predigen, meinte er damals und fpäter, dann werde Alles, was im Firchlichen 
Leben diefer Lehre nicht entfpreche, fchon von feldft fallen, ohne dag man jest 
dem Volfe das Joch eines neuen Zwanges und neuer Gefege aufzulegen brauche, 
Carlftadt mußte Wittenberg verlaffen, Luther veranftaltete, daß ihm auch das 
Predigen verboten und der Drud feiner Schriften unterfagt wurde, befämpfte ihn 
dann zu Jena und Orlamünde, und nun wurde derfelbe Mann, der bisher Lu— 
thers vornehmfter Gehilfe mit Rath und That gewefen, feitdem von ihm als 
ein bitterer Feind behandelt; derſelbe Mann, den Luther bisher mit Lobeserhebun- 
gen überhäuft, und für einen Theologen von unvergleichlihem Urtheil erklärt 
hatte, wurde von nun an in den Schriften des Reformators als ein. fchändlicher, 
mit alfen erdenklichen Laftern gebrandmarfter Menfch gefchildert, und Luther be— 
theuerte: Wenn Carlftadt glaube, daß ein Gott im Himmel fei, fo folle ihm 
@uthern) Chriſtus nimmermehr gnädig fein. — Luther pflegte von Anfang au 
fi wenig auf die alte Kirche zu berufen, theils weil, wie er felbft geftand, feine 
Hauptlehre der alten Kirche völlig unbefannt war, theils weil er fühlen mochte, 
daß man die Tradition und Authorität der Kirche nicht flücfweife annehmen, nicht 
gegen die gleichzeitige Kirche fih auflehnen und dafür beliebig fih an die Lehre 
und Praris der Kirche eines frühern Jahrhunderts anfchließen könne. Ber feiner 
geringen Kenntniß der altkirchlichen Literatur hatte er doch fo viel gefehen, daß 
der ganze in jenen Schriften herrſchende Geift, daß die Praris der alten Kirche 
in Oottesdienft und Disciplin feinem Syfteme ſchroff entgegengefeßt ſei; er hielt 
ſich alfo ausfchlieflih an das neue Teftament, welches über die Zuftände, die 
Einrichtungen und das religiöfe Leben der erſten Kirche fo Weniges und au 
diefes Wenige oft in fo dunfeln Andeutungen enthält, daß er um fo freierem 
Spielraum für die Entwidlung feines Syftems zu haben wähnte. Wie wenig 
ihm das Zeugniß und die Autborität des Firchlichen Alterthums gelte, dieß zeigte 
er recht augenfällig, als er nunmehr die bitterften Ausfälle feiner ſchmähſüchtigen 
Polemik gegen dasjenige Document der Kirche richtete, welches gerade das ältefte, 
und in feiner unverändert igebliebenen Geftalt und Univerfalität efrwürdigfte iſt, 
gegen den Canon der Meſſe. Es ift Thatfahe, daß diefer Canon fhon am An= 
fange des fünften Jahrhunderts, ein Paar kurze, erft nachher hinzugekommene 
Sormeln abgerechnet, wörtlich fo Tautete, wie wir ihn jegt haben, daß in ven 


662 Luther. 


Gebeten und Formeln deſſelben ganz der gleiche Geiſt, dieſelbe Anſchauungsweiſe 
herrſcht, wie in den übrigen alten Liturgien des Orients und Oceidents. Dieſen 
Canon nun gab jetzt Luther in einer teutſchen Ueberſetzung und mit feinen An— 
merfungen heraus, „damit Jeder fih davor entfege und fegne, wie vor dem Teufel 
ſelbſt“. Faſt jeder Sat des Textes ward für einen Öräuel, eine Östtesläfterung, 
eine Lüge, für ein heillofes und verfluchtes, von ungelehrten, tollen Pfaffen zu- 
fammengerafftes Werf erklärt. Mit diefer negirenden und deſtructiven Thätigkeit 
hielt aber die pofitive des Neformators gleichen Schritt; fo forgte er für die Pre- 
diger feiner Lehre fowohl als für das Bedürfniß des Volkes durch die Heraus- 
gabe feiner Poftille (1523); er brachte bald nachher feine Heberfegung der Bibel 
zu Stande, ein Meifterftül in ſprachlicher Hinfiht, aber feinem Lehrbegriffe 
gemäß eingerichtet, und daher in vielen wichtigen Stellen abſichtlich unrichtig und 
ſinnentſtellend. Der Streit mit Erasmus über den menfchlichen Willen und deſſen 
Freiheit oder Anechtichaft, der Luthern in den beiden nächften Jahren befchäftigte, 
vffenbarte wieder die Eigenthümlichfeiten des Mannes; die einfachften, klarſten 
Stellen der heiligen Schrift in ihr Gegentheil zu verkehren, war nie einem Men- 
ſchen fo Teicht geworben wie ihm; wenn die Bibel voll von Ermahnungen ift, daß 
der Menfch felber etwas thun, Sünde meiden, ſich reinigen folle, fo fer, behaup- 
tete er, der Sinn: thut es, wenn ihr könnt, aber freilich ihr könnt es nicht; oder 
Gott wolle damit nur der Ohnmacht der Menfchen fpotten, als ob er fagte: laßt 
doch einmal fehen, ob ihr es thun Fonnt, Wenn ihm Erasmus die Stellen, nach) 
denen Gott nicht das Verderben der Menſchen, fondern ihr Heil will, entgegen» 
hielt, fo feste ihm Luther feine Unterſcheidung zwifchen einem geoffenbarten und 
einem verborgenen Willen Gottes entgegen; vermöge des Iegtern wolle Gott 
allerdings die ewige Verbammniß des größern Theiles der Menfchen, während 
er freilich in der heiligen Schrift ganz anders rede, fein verborgener Wille alfo 
feinem geoffenbarten geradezu widerfpreche. Den Glauben und zwar den höchſten 
Grad des Glaubens fegte er darein, daß der Menfch auch das fich logiſch Wider- 
fprechende dennoch für wahr und gewiß halte, alfo feft annehme, daß Gott nicht 
nur gerecht, fondern auch barmherzig fei, indem er Millionen Menfrhen, ja die 
große Mehrzahl des Menfchengefchlechtes erft durch feinen allmächtigen Willen 
verdammenswürdig mache, und fie dann in die ewigen Dualen der Hölle ftürze. 
Und bei diefer Gelegenheit fowie bei der Vertheidigung und Empfehlung feiner 
Rechtfertigungsichre pflegte er gegen den Unglauben, der in folden Dingen auch 
der menfchlichen Vernunft Gehör geben wolle, zu eifern; der Teufel fei es, der 
die römischen Pfaffen verführe, Gpttes Willen zu meffen mit der Vernunft; „denn 
daß zwei und fünf fieben find, kann ich faffen mit der Vernunft; wenn e8 aber 
von oben herab heit: Nein es find acht, fo fol ih’S glauben wider meine Ver— 
nunft und Fühlen,” Deßhalb müſſe man, verlangte er, als Chrift der Vernunft 
den Hals umdrehen, ihr die Augen ausftechen und die Beſtie erwürgen, Ueber- 
haupt trug er auch in diefen Schriften feine Behauptungen mit jenem Tone zweifel- 
Iofer Gewißheit und Evidenz vor, den Niemand beffer zu handhaben wußte, als 
er, Seinen Gegner, dem früher auch) er, wie das ganze Zeitalter, feine Hul- 
digung und Bewunderung dargebracht hatte, behandelte er in dieſem Schriften- 
wechfel mit jener wegwerfenden Oeringfhägung und ſchmähſüchtigen Seurrilität, 
die ihm nun ſchon zur Natur geworden war; unbedenklich fhilderte er ihn als 
einen Epicuräer, Sfeptifer und Atheiften, ſchrieb ihm aber dann einen entſchul⸗ 
digenden Brief, in dem er ihn mit Berufung auf die Vehemenz feines Tempera» 
mentes, das er num einmal nicht in feiner Gewalt habe, zu verfühnen fuchte; 
Erasmus aber hielt ihm in feiner Antwort einen Spiegel vor, und fehilderte mit 
einigen treffenden, einfchneidenden Zügen fein ganzes Treiben. Geit dieſem bald 
zur Deffentlichkeit gelangten Briefe war Erasmus für Luther einer jener Men- 
fhen, deren er nie anders als mit dem Ingrimme eines brennenden Haffes ge— 





Luther. 663 


Sg dachte, eine giftige Schlange, ein Feind Chriſti und aller Religion, ein vollkom⸗ 
I - menes Ehenbild und Abdruck des Epieur und Lucian. Inzwiſchen hatte der Zwift 





mit Erasmus feine weiteren Folgen für Luther und den Fortgang feines Unter- 
nehmens; Erasmus felbft Hatte vorausgejehen, Daß er wohl vergeblich verfuchen 
werde, gegen den Strom der Popularität, von dem fein Gegner getragen ward, 
zu ſchwimmen; vielmehr diente die Anfiht, die Luther hier verfocht, ſichtlich dazu, 
fein Syftem bei der Menge noch beliebter zu machen, denn die Folgerung Teuch- 
tete Jedem ein, daß der Menfh, wenn er feinen freien Willen habe, auch Feiner 
moralifchen Zurechnung und Berantwortlichkeit fähig fer. Bon viel größerer, ja 
unberechenbarer Tragweite war aber der Hader über das Sacrament der 
Eudariftie, der fi jest entipann. Luther hatte in den erfien Jahren gemäß 
der Richtung feiner Doetrin, die Alles, was zum Heile des Menfchen dienen 
fann, in den Act der gläubigen Aneignung der Leiftungen Chrifti zufammendrängte, 
auf die fubftantielle Gegenwart des Leibes Chriſti im Sarramente nur geringen 
Werth und untergeordnete Bedeutung gelegt; der Hauptzwerf des Abendmahles 
folfte nur in der Hebung und Stärfung des Glaubens beftehen; die Meffe, meinte 
er, fei bloß dazu gut, daß der Menſch da die Verheißung Gottes von der Ver— 
gebung der Sünden vernehme, fie fei nur um der Predigt willen eingefegt; der 
im Saeramente gegenwärtige Leib Chrifti follte nur als das Pfand oder Siegel 
für die Wahrheit des Teftamentes, d. 5. der Predigt, dienen. Sp erflärt ſich 
auch, daß er feiner eigenen Aeußerung nad eine Zeitlang ftarf zur Ergreifung 
der Anficht verfuht war, im Abendmahle fer nichts als Brod und Wein, eine 
Lehre, die ihm ſchon darum fehr willfommen gewefen wäre, weil er „damit dem 
Papſtihume Hätte den größten Puff können geben.” Aber der Tert der Bibel, 
der zu gewaltig fei, hielt ihn, wie er behauptete, gefangen. Indeß pflegten ihn 
fonft die klarſten Bibelftellen, wenn fie mit feinen Lieblingslehren in Conflict ge— 
riethen, nicht zurücdzubalten, und er hatte eben erft während des Streites mit 
Erasmus in Mißhandlung und gewaltfamer Verdrehung klarer Schrifttexte das 
Unglaubliche geleiftet. Es war die Oppofition, erft gegen Earlftadt, dann gegen 
Zwingli und Decolompadius, die ihn antrieb, ſich mit aller Kraft feines Geiftes 
in die Ueberzeugung bineinzuarbeiten, daß die flreitigen Terte der Schrift nur 
von einer fubftantiellen Gegenwart und Mittheilung des Leibes Chriſti verſtanden 
werben fünnten. Den Ölauben hielt er feſt, daB er ein von Gott auserforenes 
und mit allen erforderlihen Gaben reichlich ausgerüftetes Werkzeug zur Wieder- 
bringung des verlornen Evangeliums, zur Wiederherftellung der feit den Zeiten 
der Apoſtel verfalienen Kirche fei, daß daher auch im langen Laufe der Jahr- 
hunderte Niemand erfihienen, der mit ihm an Reichtum der Gaben und Erhaben- 
heit der Sendung verglichen werden könne. Jetzt fah er in der Schweiz und in 
Dberteutfchland eine von ibm unabhängig ſich entwicelnde Partei, an deren Spibe 
Zwingli ftand, fich erheben und raſch um fich greifen; fo mifhte fih auch bie 
Bitterfeit der Eiferfuht und des verlegten Stolzes in den Streit, und Luther 
gab dieß felber durch den nachher ausgefprochenen Borwurf zu erfennen: Zwingli 
trachte feinen Ruhm als Neformator zu fohmälern, er babe fih in das Werf, 
welches ihm, Luthern, eigenthümlich fei, hineingebrängt. Die gereizte Gehäffig- 
feit und Leidenfhaftlichkeit feiner Stimmung und feines polemifhen Verfahrens 
ward aber dadurch noch erhöht, daß er jest eben die Waffen gegen ſich ‚gefehrt 
ſah, die er felber gefchmiedet Hatte: willtürlihe, von aller Tradition Losgeriffene 
Interpretation einzelner Schriftftellen , und daß er bald genug auch erfennen mußte, 
wie auf diefem Boden der Streit ſchlechthin unausgleihbar und endlos werben 
würde, Er felber hatte die Hauptbollwerfe ded Dogma’s, das er nun vertheidigte, 
niedergeriffen, durch feine Berwerfung der Berwanblungslehre hatte er bereits den 
einfachen fich zunähft darbietenden Sinn der Einfegungsworte verlaſſen und die 
Figur einer Syneldoche angenommen; es fei, erläuterte er auf der Eonferenz zu 


664 | Luther, 


Marburg, eine eingefaßte Rede, wie man etwa von einem Schwerte rede, aber 
mit dem Schwerte auch zugleich die Scheide meine; denn der Leib Chrifti fei im » 
Brode, wie der Degen in der Scheide, Er hatte ferner die Euchariftie ihres 
Opferharafters entlleidet, hatte durch feine Imputationslehre den ganzen Dr- 
ganismus des Syftems, in welchem die fubftantielle Mittheilung des Leibes Chriſti 
ein wefentliches Glied bildet, zerflört, und fah fih nun von ben Gegnern mit 
Gründen, Analogien, Wahrfiheinlichfeiten und Confequenzen überfehüttet, die fo 
nahe lagen, und fobald einmal Luthers Vorberfäge zu Grunde gelegt waren, fo 
plaufibel erfchienen, daß es ein Wunder gewefen wäre, wenn fie nicht gleich in 
den erften Jahren der neuen Bewegung hetvorgetreten wären, Jetzt begann er 
eine feiner Schriften wider „Die Schwärmgeifter”, d. h. wider Zwingli und Decv- 
lompadius, mit einem Weherufe über „alle unfere Lehrer und Buchſchreiber, die 
fo fiher daher fahren, und fpeien heraus Alles, was ihnen in's Maul fället, und 
fehen nicht zuvor einen Gedanken zehnmal an, ob er auch recht fei vor Gott“, 
einen Weheruf, der, wenn irgend einen in jener Zeit, ihn vor Allen traf; er ver- 
fiherte gleich im Beginne des Streites: Die einen von uns beiden müffen des 
Satans Diener fein; er überhäufte fie alle zufammen, Zwingli aber ganz befon- 
ders, mit den biffigften und plumpften Schmähungen; fie hätten, fihrieb er, ein 
eingeteufeltes, durchteufeltes, überteufeltes Täfterliches Herz und Lügenmaul, fein 
Ehrift folle für fie beten, und er müffe ſich felber in ven Abgrund der Hölle ver- 
dammen, wenn er mit ihnen Gemeinfchaft haben follte, Im Einzelnen aber war 
feine Widerlegung ihrer Gründe oft fehr ſchwach, feine Polemif, wie immer und 
gegen Jedermann, im hohen Grade unredlich. Da er, um fein Prieftertfum zu— 
geben zu dürfen und das Opfer zu befeitigen, auch die Eonfeeration in katholi— 
Them Sinne verworfen hatte, fo mußte er nun, durch Zwingli's Einwürfe ge— 
drängt, einen neuen Weg, auf welchem die Vereinigung des Brodes mit dem 
Zeibe des Herrn vor fich gehen follte, erfinnen, und fo wurde er bis zur Behaup- 
fung einer wirklichen Ubiquität fortgetrieben, d. 5, er lehrte ein fürmliches Aus- 
gedehntfein des Leibes Chrifti in's Schranfenlofe, vermöge deffen er buchſtäblich 
affenthalben zugegen wäre, fich alfo auch in jedem Brode, jeden Nahrungsmittel 
überhaupt befände, — Luthers Verheirathung fiel mit dem erſten Anfange 
diefes Zwiftes nahe zuſammen; fie fam fo plöglich, fie wurde mit folder auf- 
fallenden, der allgemeinen Sitte widerfprechenden Eile vollzogen, daß Jedermann, 
auch feine nächften Freunde überrafcht waren. Am 3, Juni 1525 batte er dem 
Cardinal und Churfürften von Mainz, den er zum Heirathen aufforderte, fagen 
laffen, er felber habe darum nicht geheirathet, weil er nur noch gefürchtet, er fer 
nicht tüchtig dazu. Einige Tage nachher hatte er bereits die Ehe mit der aus 
dem Klofter entwichenen Catharina Bora in größter Stilfe vollzogen, und etwa 
14 Tage fpäter, am 27, Juni, hielt er erft das Hochzeitmahl, Was ihn zu die- 
fem Schritte, und zu der Art, wie er ihn that, vermocht habe, ift nicht recht Harz 
feine eigenen Erklärungen in feinen unmittelbar darauf erlaffenen Briefen find 
nicht befriedigend: Durch Münzer und die Bauern, fihrieb er, fei das Evange- 
lium fp unterdrückt (da hd. der Bauernaufruhr habe Luthers Lehre bei Vielen fo 
verdächtig gemacht), daß er zu deffen thatfächlicher Bezeugung, und um den 
triumphirenden Feinden feine Verachtung zu zeigen, eine Nonne gebeirathet babe; 
dann beruft er fich wieder auf einen früheren Wunfch feines Vaters und auf die 
Nothwendigkeit, denen das Maul zu ftopfen, die ihm und ber Bora ihres Ver— 
bältniffes wegen Uebles nachgeredet; und ein anderes Mal fhreibt er: Plöglich 
und während er an ganz andere Dinge gedacht, habe ihn der Herr wunderbarer 
Weife in die Ehe mit der Nonne geworfen, und nun müffe er um biefes Gottes— 
werfes willen Schmach und Läfterung erbulden. Er felber fcheint eine Art von 
Triumph darein zu fegen, daß fie beide, er und feine Braut, ihre früheren Ge- 
lübde gebrochen und eine Ehe geknüpft hatten, bie feit mehr als taufend Jahren durch 


J Luther. 665 
die kirchlichen wie durch die weltlichen Geſetze verpönt und für ungültig erklärt 


war, Aber feine Freunde und Viele feiner Anhänger dachten anders. „Ich habe 





mich, fehreibt er bald darauf, durch diefe Heirath fo niedrig und verachtet ge- 
macht, daß ich Hoffe, die Engel werben lachen, und alle Teufel weinen.“ Selbſt 
- an anftößig plumpen und widerlich rohen Aeußerungen über fein eheliches Ver— 
hältniß fehlt es nicht in feinen damaligen Briefen; aber hinter all’ diefem Trotz 
und diefer ſcheinbar Teichtfertigen Auffaffung feines Schrittes verbarg ſich doch 
das demüthigende Gefühl einer fhweren, feinem perfünlichen Anfehen gefchlagenen 
Wunde, und felbft feine unbedingteften Bewunderer fanden wenigftens die Wahl 
des Zeitpunctes — mitten in den Stürmen und dem Blutvergießen des durch den 
Bauernaufrußr entzündeten Bürgerfriegeg — unerflärlih, — Diefes Ereignif 
des Banernaufruhrs griff erfihütternd in Luthers Leben ein; daß er mit Ab- 
fiht und Bewußtfein die Bauern zu diefer Empörung aufgeftachelt habe, iſt hi— 
ftorifch nicht ausgemittelt, obgleich eine auf eingefehene Procefacten fich berufende 
Angabe bei Bodmann auch dieß Hinfichtlich der Bauern im Nheingau behauptet, 
Daß aber in feinen für das Volk verfaßten Schriften und Pamphleten mande 
Aeußerungen und aufmunternde Stellen vorfommen, die in eine ſchon gährende 
Maſſe wie Zündftoff fielen, Fann nur parteiifche Befangenheit Täugnen, Er felber 
hatte bereits von der Gefahr gefprochen, daß ein Aufruhr, freilich wie er meinte, 
nur gegen die Bifchöfe und geiftlichen Fürften würde erregt werden, und mit einem 
Ausdruf des Wohlgefallens und der Freude dem Ausbruche deffelben entgegen- 
gefehen; er Hatte bereits Alfe , die zur Zerftörung der Bisthümer und Vertilgung 
des bifchöflichen Negiments mithelfen würden, für liebe Gotteskinder erklärt, 
Seine Hoffnung ging denn auch, wiewohl nicht ganz in feinem Sinne, in Er- 
füllung; die empörten Haufen Fündigten Affe an, daß ihre Erhebung der Wieder- 
berfiellung des reinen Evangeliums gelte; Prädicanten der Iutherifchen Lehre, aus 
den Klöftern entfprungene Mönche, betheiligten fiih in anfehnlicher Zahl an dem 
Aufruhre, und Luther — erlich im Mai 1525 eine Schrift (Ermahnung zum 
Frieden), worin er zuerft die grelfften und übertriebenften Anflagen auf die Bi— 
ſchöfe und auf diejenigen Fürften, die das Evangelium in ihren Staaten nit 
predigen laſſen wollten, häufte, dann aber die bereitd unter den Waffen flehenden 
Bauern aufforderte, fich geduldig zu fügen, weil alle Notbwehr oder Selbfthilfe 
in der heiligen Schrift verboten fer, Es iſt ganz undenkbar, daß ein Mann, der 
fo viel Menfchenfenntniß als Luther befaß, von diefer feiner Aufforderung irgend 
eine bedeutende Wirfung auf die fanatifirten und bereits Durch arge Frevel com— 
promittirten Bauernhaufen erwartet habe; auch hatte er in eben dieſer Schrift 
Dinge einfließen laffen, die weit eher die Aufrüßrer zu ermuthigen, als fie ab- 
zufchrerfen geeignet waren. Kaum aber war die Nachricht von der Niederlage der 
Bauern erfchollen, als Luther in einer neuen Schrift die Fürften ermahnte, ein 
erbarmungsiofes Blutbad unter ven Bauern anzurichten, denn jebt gelte e8 nicht 
Geduld und Barmherzigkeit, fondern es fei des Schwertes und des Zorneg Zeit, 
Jedermann ſolle dareinfchlagen, würgen und ftechen, und ein Fürft könne jest 
den Himmel mit Blutvergießen beffer verdienen, denn Andere mit Beten, Die 
Mahnung wurde nur allzugetreu befolgt. Als nun vielfacher Tadel laut wurde, 
daß gerade er, der diefes Feuer anzünden helfen, von jeder Schonung und Barm— 
berzigfeit gegen die Verirrten abmahne, überbot er fich noch in einem ausführ- 
lichen Sendſchreiben, worin er die Tadler feines Büchleins gleich damit zu ſchrecken 
ſuchte, daß er fie als Aufrührerifh-Gefinnte verbächtigte, und die Obrigfeit auf— 
- forderte, denen, die fich der Aufrührerifchen annähmen und erbarmten, „auf die 

: Haube zu greifen”, Nach der Bemerfung des Sebaftian Frank war die Anficht, 
daß Luther erft die Bauern verführt und dann zu ihrer Vertilgung aufgefordert 
babe, fo verbreitet, daß man an etlichen Drten, wo feine Lehre gepredigt wurde, 
beim Läuten zur Predigt zu fagen pflegte: Da läutet man die Mordglocke. Kaum 


666 i Luther, 


war indeß der Bauernfrieg beendigt, als Luther eilte, den, wie er beforgte, etwas 
erfalteten Eifer feiner Anhänger gegen die Fatholifche Kirche zu neuer Thätigkeit 
anzufpornen, „Laßt uns, lieben Freunde, ſchrieb er zu Neujahr 1526, aufs 
Neue wieder anfangen, fohreiben, dichten, reimen, malen, Unfelig fei, wer hier 
fauf ift, denn das Papſtthum ift noch Lange nicht genug zerſcholten, zerfchrieben, 
zerfungen, zerdichtet, zermalet,“ Auch verfuchte er, unter den Fürften und Kö— 
nigen neue Förderer und Beſchirmer feiner Lehre zu gewinnen; in diefer Abficht 
fhrieb er an den König von England, den er früher in feiner Antwort auf deſſen 
bekanntes Buch, die Vertheidigung der Sarramente, arg mißhandelt und mit 
Schmähungen überhäuft hatte, einen Iriechend bemüthigen Brief, und erbot fich 
zu einem öffentlichen Widerruf; tief beſchämt wage er Faum die Augen vor ihm 
aufzufehlagen; er fei ja nur ein Koth und Wurm, den der König am beften durch 
bloße Beratung habe überwinden können, und er wolle in einer neuen Schrift 
den Namen Sr, Majeftät wieder zu Ehren bringen, wenn ver König dieß nicht 
verſchmähe. Die Antwort des Königs fiel ſcharf aus: Nicht zu feinen Füßen, 
wie er fich erboten, fondern vor der göttlihen Majeſtät ſolle er Abbitte leiſten, 
die unglücliche Nonne, die er verführt, in ein Klofter gehen laſſen, und fein 
ganzes Leben hindurch Buße thun für die Zaufende, die er um ihr zeitliches 
Leben, und die Zehntaufende, die er um ihr Seelenheil gebracht habe, Aehn— 
lichen Inhaltes war die Antwort des Herzoges Georg von Sachſen, bei dem 
Luther gleichfalls einen Verſuch gemacht hatte, die früheren Schmäßungen durch 
einige freundliche und Verzeihung erbittende Phrafen zu mildern und den ſchwer 
gefränften Fürften zu verfühnen, Georg zählte die fittlihen Wirkungen und 
Früchte der neuen Lehre auf, wie er fie in feinem Lande fowohl als im Nachbar- 
lande feit einigen Jahren beobachtet habe, und Fnüpfte daran die Nusanwendung. 
Luther ſäumte nicht, nach feiner Weife Rache zu nehmen; feine Antwort auf die 
Schrift des Königs follte zugleich auch den Herzog und vorzüglich die Zwinglifche 
Partei, feine „goldenen Freunde, die Rottengeifter und Schwärmer”, treffen, die 
ihm, während er gegen die Papiften zu Felde gelegen, die Stadt angezündet, 
und Alles, was darinnen, gemordet hätten, Durch das Ganze zieht fich das Be— 
wußtfein einer erlittenen und felbftverfehuldeten Demüthigung, der Ton der Schrift 
ift aber darum nur um fo troßiger und hochfahrender, Inzwiſchen war es Zeit 
geworden, dem Kirchenwefen, zunächft in Sachfen, eine dem Syfteme Luthers 
entfprechende fefte Geftaltung zu geben, und an die Stelle der verworfenen und 
thatfächlich bereits abgefchafften bifchöflichen Berwaltung eine neue Ordnung der 
Dinge zu fegen. Die Lehre von der apoftolifchen Sueceffion und der daran ge— 
bundenen Fortpflanzung der Gewalten in der Kirche Fonnte in dieſem Syſteme 
feine Bedeutung mehr haben, die Nothwendigkeit einer bifchöflichen Ordination 
mußte ohnehin fallen, und im Mat 1525 fand die erfte Ordination nah dem 
neuen Lehrbegriffe an Norarius in Wittenberg Statt; ein Jahr nachher drang er 
endlich mit feiner Forderung, daß der Churfürft eine Vifitation zur Feftftellung 
des neuen Kirchenwefens vornehmen laſſe, durch, Nach einer frühern Anfiht Lu- 
thers würde die Genoffenfhaft, die fih zu feiner Lehre befannte, eine abfolut 
demoeratifche Kirchenverfaffung erhalten Haben; lauter vereinzelt ftebende Ge— 
meinden, mit Predigern, die auf Nuf und Widerruf durch eine Majorität der 
Kopfzahl gewählt und von diefer wieder nach Gefallen abgefegt worden wären, 
Eine folche Einrichtung würden indeß die proteftantifchen Fürften felbftverftändlich 
nicht geduldet Haben, und Luther felber drang nicht weiter darauf, fondern ge= 
wöhnte fich, je häufiger die Fürften und die ſtädtiſchen Machthaber feiner Lehre 
zufielen, immer mehr an die Vorftellung, daß diefe an die Stelle der Bifhöfe 
treten und Träger der neuen Kirchengewalt werden follten, Immer bloß mit dem 
Nächſten befchäftigt, und zufrieden, wenn nur das alte Kirchengebäude zu Trüm«- 
mern zerfihlagen wäre, war er für jegt bamit einverftanden und bot felber bie 





Luther. 667 


I Hand dazu, daß fein Kirchenwefen und feine Prediger der Vormundſchaft der 
Fürftenhöfe und der Herrſchaft der Juriſten unterftellt wurden ; das freilih ahn— 
dete er damals noch nicht, daß gerade die Juriften und ihre Rirchengewalt ihm 
fpäter fo verhaßt werden würde, In diefen erften Zeiten der beginnenden neuen 
Drdnung wurde noch Alfes nach feinem Willen gehandhabt, man fragte bei ihm 
über Alfes an, ftellte die Prediger an, die er empfahl; zudem war Melanchthon 
einer der vier Vifitatoren, Nun hatte Luther bisher alle Gefege, alle bindenden 
Einrichtungen und Anordnungen in der Kirche für ſchlechthin verwerflih und mit 
der hriftlichen Freiheit unvereinbar erffärt; jest aber follte eine allgemein bin- 
dende, von den Wittenbergern entworfene Kirchenordnung im ganzen Lande 
eingeführt, Pfarrer und Gemeinden zur Beobachtung derfelben genöthigt, felbft 
manches bisher auf den Grund jener criftlichen Freiheit Abgefchaffte (wie z. B. 
die Privat-Abfolution) wieder hergeftellt werden. Diefen grellen Widerſpruch 
einigermaßen zu befchönigen, fehrieb Luther eine Vorrede zu dem Pfarr-Unterrichte 
Melanchthons, worin er erklärte: nicht als ftrenge Gebote fönnten fie diefe Ver— 
ordnung ausgehen laſſen, damit fie nicht neue päpftlihe Deeretales aufwürfen, 
fondern als eine Hiftorie und Gefhichte, und als ein Zeugniß und Bekenntniß 
ihres Glaubens, Sofort werden nun aber die Pfarrer und Gemeinden darüber 
verftändigt, daß diefe „Hiftorie” und diefes „Zeugniß“ allerdings für fie ver- 
pflihtendes Gefet fei, fo lange nicht der Heilige Geift durch die Wittenberger 
Theologen etwas daran ändere; denn der Churfürft müffe als chriſtliche Obrigkeit 
darüber halten, daß nicht (durch Ungleichheit ver Gebräuche und der Lehre) Zwie- 
trat, Rotten und Aufruhr fih erhebe, wie denn auch Kaifer Conſtantin die 
Chriften zu einträchtiger Lehre und Glauben gehalten Habe, Dieß war die Form, 
in welcher fich jegt die „Hriftliche Freiheit” in den Ländern Iutherifhen Belennt- 
niffes entwickelte, Luther aber kam bald von feiner frühern Anficht über das Recht 
der Gemeinden, ihre Pfarrer ein- und abzufegen, fo weit ab, daß er die, welche 
dieß thaten, für Saerilegi erflärte, die fich felbft zum Heiligen Geift machten, 
weil fie ihres Gefallens Prediger ab- und einfegen wollten. Ueberhaupt aber 
find feine Aeußerungen über die Frage von der Berufung zum Kirchenamte fort und 
fort ein Gewebe von Widerfprühen. Der Betrug des Dito von Par, der den 
Landgrafen von Heffen überredete, die Fatholifchen Fürften hätten ein geheimes 
Bündniß zur Verjagung der proteftantifhen FZürften und zur Theilung ihrer Län- 
der gefchloffen, war für Luther eine willfommene und fogleih ansgebeutete Ge- 
legenheit, feinem Grimme gegen die fatholifchen Fürften, vor Allem gegen Herzog 
Georg, wieder Worte zu leihen, Während der vorfichtigere Melanchthon das 
Lügengewebe bald durchſchaute, redete Luther von Todfchlägern, gegen welche 
man beten müffe, und als die Erbichtung fo Far aufgedeckt war, daß ſelbſt er 
nicht mehr wohl fih anftellen fonnte, als glaube er fie, da gab er fih noch 
alle Mühe, den Herzog möglichft zu verbächtigen, und bediente fich eines für ihn 
recht charakteriftifchen Kettenfchluffes, der ihm wie für diefen Fall, jo auch für 
alle ähnlichen dienen Fonnte. Denn was er auch immer VBerläumbderifches und 
Schmachvolles feinen Gegnern, den Eatholifchen Fürften, Bifhöfen und Theo— 
logen, nachgefagt hatte oder künftig noch gegen fie druden ließ, das ließ fih auf 
diefe Weife befchönigen, „Herzog Georg, fagte er, ift ein Feind meiner Lehre, 
folglich tobt er wider Gottes Wort; ich muß alfo glauben, daß er wider Gott 
ſelbſt und feinen Chriſtum tobet. Tobt er wider Gott felbft, fo muß ich heimlich 
glauben, er fei mit dem Teufel befeffen; ift er mit dem Teufel befeffen, fo muß 
ich heimlich glauben, daß er das Nergfte im Sinne habe” (Wald, Ausg. XIX, 
642). — Das Gefpräh zu Marburg (Drtober 1529), in welchem Luther den 
beiden Häuptern der zweiten Neformation, Zwingli und Oecolompadius, gegen- 
überftand, lenkte inzwifchen feine Aufmerkfamfeit wieder auf den Abendmahlsftreit. 
Die Berbindung mit den der Zwingli’fchen Lehre ergebenen Stäbten und Kantonen, 


668 Luther. 


die der Landgraf von Heffen, felbft zwinglifch gefinnt, betrieb, um dem Kaifer 
und den katholiſchen Ständen ein mächtiges, compactes proteftantifches Bündniß 
entgegenftellen zu fünnen, war ihm damals ein Gräuel, und er rieth daher auch 
dem Churfürften von jedem Bündniß zur Vertheidigung wider den Kaiſer ab, 
Bald folgte ver Neihstag zu Augsburg (1530); die Verlefung und Ueber— 
gabe der von Melanchthon verfaßten Augsburgifchen Confeffion, während Luther, 
auf dem noch die Neihsacht laftete, zu Coburg weilte, um dem Schauplage der 
Ereigniffe näher zu fein, Daß Melanchthon in der Confeffion den neuen Lehr- 
begriff in fo gemilderter, Vieles verfihweigender, über Anderes Teicht hinüber⸗ 
gleitender Form barftellte, duldete er; aber um fo fehärfer und drohender wurden 
feine Briefe, als er von den dort gepflogenen Vergleichehandlungen vernahm 
Nichts dürfe nachgegeben werden, fihrieb er: „Wenn wir nur den Canon oder 
nur die Privatmeffe zugeben, fo genügt Beides, um unfere ganze Lehre zu ver- 
werfen und bie ihre (die Fatholifche) zu beftätigen.” Was würde er erſt gefagt 
haben, wenn er gewußt hätte, wie weit dort die Nachgiebigfeit Melanchthons eine 
Zeitlang fih erſtreckte. Während er feine Anhänger in Predigten verficherte, jeder 
der Bischöfe habe auf den Reichstag nach Augsburg eine ganze Legion Teufel 
mitgebracht, erklärte fein Freund und Gehilfe im Namen der Partei ſich bereit, 
das ganze Iutherifche Kirchenwefen wieder unter die Authorität und Gerichtsbarkeit 
der teutfhen Bifchöfe zu ſtellen. Doch wurde an dem Beftand und der Entwid- 
lung des nenen Syſtems und der Iutherifchen Kirche durch die Verhandlungen 
und Beſchlüſſe des Reichstages nichts geändert, die Aufforderung des Kaifers 
zur Nücffehr in den Schoß der Fatholifchen Kirche wurde nicht beachtet, und bie 
fhmalfaldifhe Eonföderation der proteftantifchen Stände zu gemeinfamer Abwehr 
erhielt nun auch Luthers Zuftimmung. In den nächften Jahren C1531—36) trat 
für Luther der Streit gegen die alte Kirche, den er eigentlich in allen Haupt- 
puncten bereits durchgeführt hatte, Hinter den zunächft practifch wichtigeren und 
weit mehr drängenden Abendmahlsftreit mit den Zwinglianern zurüd, Die Nach— 
richt von dem Falle Zwingli's in der Schlacht bei Kappel und von dem kurz dar- 
auf gefolgten Tode des Oecolompadius hatte er mit Wohlgefallen vernommen ; 
nur eines bedauerte er, daß nämlich die Fatholifchen Eidgenpffen ihren Sieg nicht 
zur Unterbrüfung der Zwingli'ſchen Lehre bemüst hätten; wenn fie dieß getan 
hätten, dann würde ihr Sieg „faft fröhlich und großen Ruhmes wertb fein.” 
Beide Theologen, fehrieb er, feien im Irrthum vertieft in Sünden untergegangen, 
und er müffe an Zwingli's Seligfeit verzweifeln, obgleich ihn feine Jünger zum 
Heiligen und Martyrer machten, Inzwiſchen fühlte er immer deutlicher, daß der 
Streit mit Bibelterten und über fie fich in’s Endlofe fortfpinnen müffe und un— 
möglich zu irgend einem andern Ergebniß führen könne, als zur Verbreitung vor 
Ungewißheit und von Zweifeln, die bald mehr um fich greifen und auch auf an- 
dere Lehrpuncte fich erftreefen müßten. Er zog ſich daher auf den Standpunet 
der früher fo gefchmähten und vernichteten Firchlichen Ueberlieferung, auf das 
Alter und die Univerfalität der Lehre, die ein entfcheidendes und unfehlbares 
Kennzeichen der Wahrheit fein müffe, zurück. Er, der fonft in den mannigfaltig- 
ften Wendungen zu verfichern pflegte, es habe vor feinem Auftreten feit vielen 
Jahrhunderten Kon ein aflgemeiner Abfall vom Glauben Chrifti flattgefunden, 
im ganzen Papfttgume fei vom Glauben nicht ein Buchftabe, nicht ein Pünctlein 
übergeblieben, e8 habe gar Feine Ehriften Cetwa mit Ausnahme der Feinen Kin— 
der in der Wiege) mehr gegeben — er erflärte jegt (1532): Das Zeugniß der 
heiligen chriftfichen Kirche, die von Anfang an in aller Welt bis auf diefe Stunde 
die Gegenwart Chrifti im Sacramente einträchtiglich geglaubt und gehalten hätte, 
ſei allein ſchon entfcheidend; wer daran zweifle, der thue eben fo viel, als glaube 
er feine chriftfiche Kirche, und verdamme wicht allein die ganze Kirche, fondern 
auch Chriſtum feldft und alle Apoftel, die den Artikel von der heiligen chriſtlichen 





Luther. 669 


| Kirche gegründet und ihr die Verheißungen gegeben haben. „Kann Gott nicht 

lügen, alſo auch die Kirche nicht irren,“ So ſchrieb jegt der Mann, der fih im 
I Streite mit Erasmus gerühmt hatte, wie er nach langem Kampfe es endlich dahin 
gebracht habe, über diefe Authorität der ganzen Kirche fih wegzufegen; der Mann, 
der felber befannte, daß feine Hauptlehre, die von der Rechtfertigung, der ganzen 
Kirche fremd gewefen, und erft dur ihn an’s Licht gezogen worden fer, und daß 
die entgegengefeste „Teufels-Lehre“ feit vielen Jahrhunderten weit und breit ge— 
berrfcht habe, Freilich war er damals weit von dem Gedanfen entfernt, von 
diefem Princip einer unantaftbaren allgemeinen Rirchenlehre irgend eine ernftlich 
gemeinte und practifche Anwendung zu geftatten, und wer ihn an die Lehre vom 
Prieftertfume und Opfer, vom Episcopat und der Ordination und Aehnliches 
erinnert, und ihm die allgemeine Kirchenlehre bezüglich diefer Lebensfragen vor— 
gehalten Hätte, würde von ihm mit jener Fülle von Schmähungen überfchüttet 
worben fein, welche Luther für jeden bereit hatte, der ihm mit unwillfommenen 
Einwürfen zuſetzte. Auch fam bald die Zeit, in der, Angefichts der drohender 
werdenden Stellung des Kaiſers und der Fatholifchen Partei, Luther es rathſam 
fand, fich gemäß der längſt vom Landgraf Philipp empfohlenen und gehandhabten 
Politif den fonft fo verabfcheuten Zwinglianern wieder zu nähern und ein Ab- 
fommen mit ihnen zu treffen, welches diefe im Beſitz ihrer Lehre ließ, Sp wurde 
die Wittenberger Concordie gefhloffen, in der zwar Bucer mehr nachgab als 
Luther, dann aber fchrieb diefer am 1. December 1537 jenen Brief an bie 
Schweizer, der den Schülern Zwingli’s geftattete, die Concordie in ihrem Sinne 
auszulegen, ließ fich diefe Auslegung, als fie ihm von dort mitgetheilt wurde, 
gefallen, und äußerte ſich über feine eigene Lehre in einer diefelbe fo abſchwächen— 
den und in's Ungewiffe ziehenden Weiſe, daß die Theologen zu Zürich fih ſchon 
ihres Sieges freuten. Es war dieß die Zeit, wo der Raifer die teutfhen Pro- 
teftanten drängte, ihre Sache auf die Entfeheidung des allgemeinen Conciliums, 
mit deffen VBerfammlung es nun Ernft werden follte, zu ftellen. Diefe hatten fich 
durch frühere Berufungen und Zufagen verftricft, während die Theologen recht 
gut wußten, daß ein Coneil, wenn es nicht auf eine in der Kirche unerhörte und 
alfen kirchlichen Prineipien widerjprechende Weife zufammengefest werde, bag 
ganze neue Syftem unfehlbar verdbammen werde, Und felbft wenn man auf ein 
günftigeres Ergebniß hätte rechnen fünnen, würde fohon die bloße Anerfennung 
der Authorität eines Coneiliums, die vorausgegebene Zufage, fich feiner Entfchei- 
dung zu unterwerfen, ein Abfall von der Grundlehre der Reformation gewefen 
fein. Luther felbft vergaß am wenigften, daß er die Concilien überhaupt dem 
Zeufel übergeben, daß er in feiner Kirchenpoftilfe dem Volke verfihert hatte, 
Eoneilien feien „mit ihrer Lehre auch dem geringften Chriften, ob's gleich ein 
Kind wäre von fieben Jahren, das den Glauben Hätte, unterworfen“, Daher 
die neue Erbitterung gegen den Papft, der nun wirflih ein Concilium halten 
wollte, eine Erbitterung, die fi bi8 zu einem an Naferei grenzenden Paroxysmus 
ſteigerte. Wie er von feinen Anfechtungen zu fagen pflegte, in ſolchem Zuftande 
wife er nicht, ob Gott der Teufel oder der Teufel Gott fei, fo ging es ihm jegt 
mit dem Papfte; der Satan ſchien ihm mit dem Papfte dergeftalt Eins geworden, 
daß er eine Art von fatanifcher Incarnation, die zu Nom auf dem Stuhle Petri 
fise, fih und Andern einzureden fuchte, und noch beim Herausfahren aus Schmal- 
kalden den ihn begleitenden Prebigern zurief: Gott erfülle euch mit Haß gegen 
den Papft! In diefer Stimmung und diefem Geifte waren denn auch die Schmal- 
kaldiſchen Artikel (Januar 1537) abgefaßt; wenn die Ieife und vorfichtig auf- 
- tretende Augsburger Eonfeffion Melanchthons Sinnesweife reflectirte, fo verrieth 
diefes neue Bekenntniß, das im Namen der teutfchen Proteftanten auf dem etwa 
zu haltenden Coneil übergeben werden follte, auf den erften Blick, daß es Luthers 
Werk fei, Aeußerlich ging indeß in diefem und den nächften Jahren Alles nach 


670 Luther, 


Wunfh, felbft weit über die Erwartung des Reformators. Ganze Königreiche, 
wie Schweden und Dänemark, nahmen feine Lehre an, faft jede Woche brachte 
Kunde von neuen Mebertritten; der Adel, die Fürften, die Städte — Älles ſchien 
ihm in Teutfchland mehr und mehr zufalfen zu wollen, und dem Untergang ber 
Fatholifchen Kirche, wentigftens in Teutfchland, Fonnte er und feine Freunde alg 
einem ziemlich nahen Ereigniffe mit Zuverficht entgegenfehen, Wie triumphirte 
er, als im Jahre 1539 fein alter Gegner H. Georg flarb, und num aud das 
Meißner Land von der alten Kirche Iosgeriffen und unter die Herrfchaft feiner 
Lehre geftellt ward, als wenige Donate nachher auch der Churfürft Joachim von 
Brandenburg fein Land der neuen Lehre zuführte, Dafür wurde aber freilich ver 
innere Zuftand der jungen Kirche immer bevenflicher, und die Freude an ben 
äußern Siegen und Eroberungen wurde durch die Wahrnehmung fo vieler unheil- 
barer innerer Schäden vergällt, Der Landgraf von Heffen, der Borfämpfer des 
Proteftantismug, forderte 1540 ein Gutachten zur Nechtfertigung der von ihm 
beabfichtigten Bigamie, und Luther Hatte nicht den Muth, es zu verweigern; Me— 
lanchthon felbft wohnte der Vermählung bei, und Luther, der wenigftens auf Ber- 
fchwiegenheit und Geheimhaltung der Gefchichte gerechnet hatte, mußte zu feinem 
Berdruffe bemerfen, daß fie ruchbar werde; doch wollte er, wie er fagte, des 
Teufels und der Papiften wegen feinen Kummer verbergen. Darüber fam das 
wichtige, 1540 zu Worms begonnene, 1541 zu Negensburg fortgefegte Colloquium 
herbei, welches für die Sache der Fatholifchen Kirche, in Teutfchland wenigſtens, 
fehr bedenklich Hätte werden können, wenn Luther nicht, ganz einverflanden hierin 
mit dem fächfifchen Churfürften, jede Annäherung und jedes Nachgeben zurück— 
gewiefen hätte; daran fcheiterten die Tiftigen Künfte des Landgrafen Philipp und 
Bucers. Dem Kaifer war damals fo fehr an der Heilung der kirchlichen Spal- 
tung in Teutfchland gelegen, daß er in die Abfendung einer förmlichen Gefandt- 
Schaft an Luther nach Wittenberg willigte; fie beftand aus dem Fürften Johann 
von Anhalt, von Schulendburg und dem proteftantifchen Theologen Alefins, aber 
Luthers Antwort fohnitt jede Hoffnung ab; die Fatholifchen Theologen, forderte 
er, follten öffentlich befennen, daß fie bisher falfch gelehrt, und ihre Faſſung des 
Dogma’s von der Nechtfertigung widerrufen. Ein Mann, der kurz nachher (20, 
Januar 1542) in der fihranfenlofen Fülle feiner oberſten Kirchendictatur ſelbſt 
einen Bifhof — in der Perfon feines Jüngers Amsdorf für das Bistum Naum- 
burg — ordinirte, Fonnte freilich nicht geneigt fein, feine Authorität durch irgend 
ein Aufgeben feiner bisherigen Behauptungen und Dogmen felber zu ſchwächen. 
Damals war er überhaupt durch die raſchen glänzenden Erfolge feiner Lehre und 
den Weihrauch, der feiner Perfon geftreut wurde, fo berauſcht, daß er z. B. in 
einem Schreiben an den Prediger Lauterbach zu Pirna (7. Mai 1542) forderte; 
Die Meißnifchen Staatsbeamten und Edelleute, die bereits das Lutherthum an— 
genommen und zum Beweis davon unter beiden Geftalten communieirt hatten, 
müßten nicht nur Buße thun, fondern auch Alles, was er und feine Collegen be— 
reits gethan und in Zukunft noch thun würden, unbedingt gutheißen. Doch 
die Gelüfte des Firchlichen Despoten reichten viel weiter als feine wirkliche Macht, 
Man ließ ihn frei fchalten in Sachen der theofogifchen Controverfe und der Lehre; 
er durfte nach Herzensluft an der fleten Erweiterung der Kluft zwifchen feiner 
neuen Kirche und der alten arbeiten; foweit traf feine Gefinnung mit den Plänen 
und Intereffen der Fürften zufammen, aber man ließ ihn feine Ohnmacht fühlen, 
fobald er Miene machte, in das Gebiet, welches der Adel, die Juriften und 
Beamten fich vorbehalten Hatten, hinüberzugreifen, bei der Verwendung bes 
Kirchengutes mitzureden u, dgl, Der Verdruß, den er darüber empfand, wurde 
noch gefteigert durch die Zwietracht, die unter feinen Anhängern und ſelbſt on 
ſchen ihm und Melanchthon herrſchte. „Alle Glieder des Leibes in der Kirche 
find wider einander, fagte erz' auch wir, fo ein Stü des Herzens find, plagen 





Luther, 61 


ung einer den andern.” Schon im Jahre 1537 Hatte er fih über die Lehre von 
der Rechtfertigung, welche Melanchthon durch das Dogma von der Nothwendig- 
- Feit der guten Werfe mildern, oder, vom Iutherifhen Standpuncte aus die Sache 
betrachtet, verfälfhen wollte, mit diefem feinem vornehmſten Gehilfen entzweit. 
Wenn zu deiner Zeit ſchon, fehrieb Melauchthon damals an Dietrih in Nürn— 
berg, die Knechtſchaft Hier fchlimm genug war, fo ift Luther feitdem noch viel 
härter geworden.“ Die Differenz in der Abendmahlsiehre Fam als neuer Stoff 
- zu Argwohn und Spannung hinzu, denn Luthern fonnte es nicht verborgen blei= 
ben, daß Melanchthon ſchon feit Fahren fih der Zwinglifhen Lehre zuneigte, 
Während Melanchthon mehr als einmal von Wittenberg fortzuziehen gedachte, 
ftand Luther im Jahre 1544 gleichfalls auf dem Puncte, in feinem Verdruſſe 
über ihn, Eruciger und die meiften andern Theologen von dort wegzuzie- 
ben; es bedurfte dringender Bitten und Borfiellungen, um ihn zum Bleiben 
zu bewegen, „Es fann es — fhrieb damals Eruriger an Veit Dietrihd — faft 
Keiner von uns vermeiden, fi) Luthers Unwillen zuzuziehen, und auch öffentlich 
von ihm gegeißelt zu werden.“ — Früher ſchon hatte er fih mit feinem alten 
Hausfreunde Agricola entzweit, und nun verfolgte er diefen Dann mit jener Be- 
bharrlichfeit und Energie des Haffes, die ihm eigen war; er verläumdete feine 
Lehre, furhte ihm jede Anftellung zu verfchließen und alfenthalben Feinde zu er- 


I werden, verdächtigte ihn in Briefen und Tieß ihm die Herausgabe von Schriften 


verbieten — denn Luther ließ durch den weltlichen Arm des Churfürften eine 
firenge auf alfe ihm mißfälligen Schriften ſich erſtreckende Cenfur üben, und fuchte 
Alles, was Bedenfen oder Zweifel gegen feine Lehre erregen fonnte, fo weit fein 
Arm und der feiner Anhänger reichte, zu unterdrüfen, War irgendwo eine 
ſchreiende Gewaltthat verübt worden, fo war er, falls fie nur im Intereſſe feiner 
Lehre und Partei gefchehen war, fofort bereit, fie zu befohönigen. Als der König 
son Dänemark alle Bifchöfe feines Landes ohne irgend einen gefeglichen Grund 
an Einem Tage hatte gefangen fesen Iaffen, bloß um ſich ihrer Güter zu be— 
mähhtigen und das Land ungehindert proteftantifch zu machen, bezeugte ihm Luther 
brieflih fein Wohlgefallen, daß er die Bifchöfe „ausgerottet” habe, verſprach 
auch gleich, er wolle „ſolches, wo er Fünne, zum Beften helfen deuten und ver- 
antworten.” Im Auguft 1543 brach er denn auch noch einmal gegen die Zwing- 
lianer los; die Beranlaffung gab ihn der Zürcher Buchhändler Froſchauer durch 
Veberfendung der Bibelüberfegung von Leo Jud; in feiner Antwort drohte er den 


1 Züridern mit dem Strafgerihte, welches ihren Meifter Zwingli erreicht habe. 
| Einige Monate nachher erfchien fein „kurzes Befenntni vom Sacramente wider 





die Schwärmer“, die vollftändigfte Losfagung von der Schweizer Fraction des 
Proteftantismus und von der Wittenberger Concordie, denn durch die „über- 
flüffige Liebe und Demuth, die er zu Marburg bewiefen, fei nur Alles ärger ge— 
worden, und da er nun auf der Grube gehe, wolle er die Zeugniß vor den 
Richterſtuhl Ehrifti bringen, daß er die Schwärmer und Sacrament- Feinde, Carl- 
fladt, Zwingli, Oecolompadius, Stenffeld (der Schlefier Schwenffeld) und ihre 
Zünger zu Zürich und wo fie find, mit ganzem Ernfle verdammt und gemieden 
babe, fie und ihre Täfterliche und Tügenhafte KRegerei”, Noch im folgenden Jahre 
(1545) fand Major, als er, im Begriffe nah Negensburg zum Colloquium zu 
geben, fi von Luther verabfihieden wollte, an der Stuvirfiube des Reformators 
die Worte von feiner Hand gefchrieben: Nostri Professores examinandi sunt de 
coena Domini. Das galt Melanchthon und deffen Freunden. Während er fo volf 
Argwohnes gegen feine alten Waffengefährten und nächften Umgebungen war, 
faßte er noch einmal den ganzen Grimm, den er gegen die alte Kirche im Herzen 
näßrte, in zwei Schriften zufammen; die eine war feine „Schrift wider die 32 
Artifel der Theologiſten zu Löwen“; fie beftand aus 76 Thefen, in denen er die 
son ihm verworfenen Fatholifhen Lehren nicht etwa widerlegte, fondern nur 


672 Luther, 


verneinte, verzerrte, und mit jenen giftigen und ungeheuerlihen Schmähworten, 
wie fie nur ihm eigen waren, zu befudeln firebte; er meinte, ſcheint es, den durch 
die Menge der theologifhen Schmähfchriften und polternden Predigten abge- 
finmpften Gaumen des Volfes nur noch mit fo draſtiſchem Stoffe Figeln zu können; 
oder er befand fih fortwährend in einer Stimmung, deren natürlicher Ausdruck 
diefe Art der Polemik war, Faft gleichzeitig erſchien „das Papſtthum zu Nom 
vom Teufel geftiftet”, eine Schrift, deren Entftehung ſich kaum anders als durch 
die Annahme erklären läßt, daß Luther fie großentheilg im Zuftande der Erhitzung 
durch beraufchende Getränfe gefchrieben habe, War er wirklich bei Abfaffung 
diefes Buches nüchtern, fo verftand er es, ſich bis zu jener Stufe des eraltirteften 
Ingrimmes hinaufzufhrauben, wo der Geift, der Selbfiherrfchaft baar, der Ver— 
rücftheit zu verfallen beginnt. Gleich als ob es ihm an Objecten des Grolles 
fehle, fohrieb er in jenen Testen Jahren feines Lebens auch noch gegen Die Juden. 
Schon in den erftien der gegen fie gerichteten Schriften forderte er förmlich die 
Chriften auf, die Synagogen der Juden mit Feuer zu verbrennen, und jeder, 
der könne, folle Schwefel und Pech zuwerfen; dann folle man ihnen alle ihre 
Bücher, auch die Bibel nehmen; ihnen allen Gottesdienſt bei Tobesftrafe ver— 
bieten, mit ihnen nach aller Unbarmberzigfeit verfahren, und fie zuletzt aus dem 
Lande jagen, Die zweite Schrift, „vom Schem Hamphoras” , begann gleich mit 
der Erflärung, die Juden feien junge zur Hölle verdammte Teufel; im Verlauf 
aber ergeht er fih in fo widerwärtigen, efelhaften, gemeinen Bildern und Schil- 
derungen, daß felbft feine Anhänger fpäter diefer Schrift nur mit Scham gedach- 
ten, Meberhaupt brachte Luther die legten Jahre feines Lebens in einer büfteren 
Stimmung, in fortwährender Bitterfeit, in fruchtlofen Klagen und Zornesergüffen 
und in dem ſtets wiederkehrenden Wunfche zu, recht bald durch den Tod dem Au— 
blife fo vieler ihm unerträglichen Dinge entrüdt zu werben, Die katholiſche 
Kirche hatte feine Hoffnung und Vorausfegung eines baldigen gänzlichen Zerfalles 
getäufcht, und ihre Fortbeftand drückte feiner Genoffenfhaft das Brandmal einer 
von dem alten Stamme der Kirche Losgeriffenen ahnenlofen Seecte auf; die 
Schweizer Kirchenpartei breitete fich weiter aus, die Verſöhnung zwifchen ben 
beiden großen proteftantifchen Körpern war mißlungen, die Spaltung eine voll- 
endete Thatſache. Seine eigene Kirche aber — Luther ftand vor dieſem Werfe 
feiner Hände mit dem Gefühle eines Mannes, dem die Macht und Herrſchaft 
über feine Schöpfung genommen ift, und der der weiteren Entwicklung unthätig 
zufehen muß. Fürften, Adel, Bürger und Bauern bereicherten fih mit der Beute, 
des Kirchengutes, ließen die Prediger darben, oder mißhandelten fie, tröfteten ſich 
fleißig mit dem neuen Evangelium und führten dabei ein Leben, das den ethi— 
ſchen Charafter der proteftantifchen Lehre in ein höchſt ungünftiges Licht ftellte, 
Die Prediger aber haderten allenthalben unter einander und brachten ihre Streit- 
händel auf die Kanzel, Luther Fonnte den Zufammenhang, in welchem Alles dieß 
mit feinen Lehren und Thaten ftand, fich nicht abläugnen, und fo wurbe ber 
Kummer und zornige Mißmuth feiner fpätern Jahre nur bie und da dur ein- 
zelne Lichtblide, wie z. B. die Niederlage und Gefangenfchaft des vom ihm fo ge- 
haften und gefchmähten Herzogs Heinrich von Braunſchweig — aufgeheitert. 
Wenn er mit ber ihm bereits zur andern Natur gewordenen DBitterfeit und 
Schmähfucht auch die Zuriften zulegt noch anfiel, fo lag der Grund davon wohl 
weniger in der nächften und aͤußerlichen Veranlaffung, dem Streite wegen ber 
Gültigkeit der VBerlöbniffe, als in der Wahrnehmung, daß die Herrfchaft über 
die neue Kirche und deren Prediger immer mehr diefem Stande zufalle, und daß 
eben darum auch das gefammte Kirchenwefen in die Zwangswefte der juriſtiſch- 
büraueratifchen Verwaltungsform fih einfchnüren laffen müffe — eine Wahr- 
nehmung, doppelt drückend für einen Mann, der noch die alte bifhöflich-Eirchliche 
Berwaltung gekannt hatte, und der fich geftehen mußte, daß er es fei, ber dieſe, 





Luther. 673 


bei allen ihren Gebrechen doch Kirhliches auf kirchliche Weiſe behandelnde Ver— 
faſſung zertrümmert und der neuen fo durch und durch unkirchlichen Ordnung die 
Wege gebahnt habe. In Wittenberg war unterdeß die Zuchtloſigkeit ſo arg ge= 
worden, daß Luther, wie er feiner Frau im Juli 1545 ſchrieb, eher umher— 
ſchweifend das Bettelbrod effen wollte, als in diefem Sodoma leben. Zulegt 
trug er ſich noch mit manderlei Entwürfen: er wollte noch einmal wider die Pa— 
piſten fchreiben, da ihm fein vor zwei Jahren erſchienenes Buch noch nicht derbe 
genug zu fein ſchien, dann wollte er an der Austreibung der Juden arbeiten, am 
19. Zanuar 1546 „übte er fih im Schreiben wider die Parififhen und Löwen’- 
ſchen Efel”, und zwei Tage vorher hatte er fih mit den Worten des Pfalmes 
felig gepriefen, daß er nicht im Rathe der Zwinglianer und auf dem Lehrſtuhle 
der Züricher fite. In folder Stimmung ereilte ihn der Tod am 22, Februar 
1546 zu Eisleben, wohin er, um einen Streit der Grafen von Mansfeld zu 
ſchlichten, gekommen war. — Wenn man den mit Recht einen großen Menn 
nennt, der mit gewaltigen Kräften und Gaben ausgerüftet Großes vollbringt, 
der als ein Fühner Gefeggeber im Reiche der Geifter Millionen fih und feinem 
Syfteme dienfibar macht — dann muß der Sohn des Bauern von Möhra den 
großen, ja den größten Männern beigezählt werden. Auch das ift richtig, daß 
er ein theilnehmender Freund, frei von Habfucht und Geldgier, und Andern 
zu helfen bereitwillig war, Aber wir müffen ihn als öffentlichen Charakter, 
als Neformator und Stifter einer neuen Kirche weiter zeichnen oder vielmehr 
ihn fi felber fchildern laſſen. Die Sprache der zweifellofeften Zuverficht, 
der unfehlbarften Gewißheit in allen feinen Behauptungen wußte Luther mit 
der größten Leichtigkeit zu handhaben; er verfiherte in den mannigfaltigften 
Wendungen, er babe feine Lehre vom Himmel und durch göttliche Eingebung, 
er fei ganz gewiß, daß fein Wort nicht fein, fondern Chrifti Wort, fein Mund 
alfo auch der Mund Ehrifti ſei; Ehriftus felbft Habe ihn zu einem Evange- 
liſten berufen, mit feiner Lehre fei er Richter nicht nur der Menfchen, fondern 
auch aller Engel, und wer fie nicht annehme, der fei unfehlbar verdammt. Mit 
folden Aeußerungen war er ftets zur Hand, und es Foftete ihn Feine Ueberwin— 
dung, fi alles Ernftes für den größten und begabteften Lehrer zu Halten, der 
feit der Apoftel Zeiten unter den Ehriften aufgeftanden, Bei folhem Glauben 
vermochte er Leicht fih und Andere zu überreden, Gott wirfe fort und fort Wun- 


I der zu feinen Gunften, und hier fam ihm feine angeborene Neigung zum Arg- 





wohn, und die Lieblingsidee, daß der größte Theil der Menſchen eigentlich unter 
der Herrfchaft des Teufels ftehe, fehr zu ftatten, Er bildete fih nun ein, feine 
Gegner feien nicht nur feiner Lehre abhold, fondern auch gegen fein Leben ver— 
fhworen, und hätten viele Menfchen in Sold genommen, um ihn zu vergiften; 
diefe Bergifiungsverfuhe aber wurden immer durch ein Eingreifen Gottes- wun— 
derbarlich vereitelt; er babe, behauptete er, oft Gift getrunfen, es habe ihm aber 
nie fhaden fonnen; ja die natürlichen Folgen eines allzureichlich genoifenen Abend- 
fhmaufes ſchrieb er folden Vergiftungen zu; felbft die Predigtftühle und Lehnen, 
auf denen er gepredigt, waren, wie er nicht zweifelte, oft vergiftet, und doch Fam 
er immer wohlbehalten davon. Indeß eigneten fich dergleichen Wunder nicht zu 
Beweiſen feiner göttlichen Sendung und der Wahrheit feiner Lehre, und Luther, 
der e8 mehrfach theils als nothwendig, theils als fehr wünſchenswerth anerfannte, 
daß feinem Syſteme au die Beftätigung durch Wunder und Zeichen nicht fehle, 
ſah fich daher nach Ereigniffen um, die als folhe außerordentliche Wirkungen der 
unmittelbar eingreifenden göttlichen Allmacht gelten Fönnten, „Denn — meinte 
er — wenn es die Noth erforderte, fo müßten wir wahrlich daran, und müßten 
auch Zeihen thun, ehe wir ung das Evangelium ließen [hmähen und unterdrücken.“ 
Er wußte jedoch nichts anzuführen, als daß es einzelnen Nonnen gelungen fei, 
aus ihren wohlverwahrten Klöftern zu entfommen, Das feien Wunder, die fein 
Kirchenlexikon. 6. Br, 43 


a En —— 


674 Luther. 
Evangelium thue, die aber freilich die Gottloſen nicht ſehen wollten. Indeß be- 


hauptete er auch wieder, es fei nicht mehr Noth, Wunder zu thun, und berief 


fich dann Lieber auf die ſchnelle Ausbreitung feiner Lehre und auf die Uneinigfeit, 
die fie in der Welt angerichtet habe, dieß fei der ftärffie Beweis und Wunder- 
zeichen, daß er die Sache in Gottes Namen angefangen, und das rechte Wort 
Gottes lehre. Er vergaß nur dabei, daß dieß bei fo vielen älteren und neueren 
Irrlehren auch der Fall gewefen, oder, wie er felbft einmal fihrieb, „daß bie 
Welt faft allen Kegereien anfänglich mit ausgebreiteten Armen, fie zu empfahen, 
entgegengelaufen ſei.“ — Aber jene Zuverfiht und jener Ton einer unerfchütter- 
lichen Feftigfeit war bei Luther zum großen Theil nur das Erzeugniß der pole— 
mifchen Erhigung und eines künſtlich gefleigerten Taumels, fowie des Bewußtſeins 
feiner natürlichen Ueberlegenheit, feiner dialectifchen Stärke und rbetorifchen Ge— 
wandtheit. Es findet ſich in dieſer Beziehung die charakteriſtiſche Aeußerung von 
ihm: „Die äußeren Anfechtungen machen mich nur ftolz und hoffärtig, wie ihr 
das in meinen Büchern feht, wie ich die Widerfacher verachte; ich halte fie ſtracks 
für Narren,” War er aber fich felbft überlaffen und im einfamen Verkehr mit 
feinem Gewiffen, dann wollte diefe Zuverficht, die eben oft nur erzwingen und 
ertrogt war, nicht Stich halten. Oft fhlug die Dual der Neue und der Ge- 
wiffensangft ihren ſcharfen Zahn in feine häuslichen Freuden und Hffentlichen 
Triumphe. Diefe mahnenden Stimmen eines erſchreckten und gequälten Gewiffens 
nahmen verfchiedene Formen an, und immer fuchte Luther fich mit der Vorftellung 
zu beruhigen, daß es fatanifche Berfuhungen, Einflüfterungen des Erzfeindes 
feien, der ihm vor allen Menſchen auffägig fei, weil Niemand noch dem Neiche 
Satans fo großen Abbruch gethan. Hauptfächlich war es der Zweifel an der Wahr- 
heit feiner eigenen Lehre, ein beängftigendes Gefühl dogmatifcher Unficherheit, was 
ihn peinigte; er geftand oft, er könne felber nicht glauben, was er Anderen Iehre; 
als der Prediger Anton Diufa von Rochlitz einmal Luthern Flagte, er Tünne nicht 
glauben, was er predige, erwieberte diefer: Gott fei Danf, daß es Andern au 
fo geht; ich meinte, mir wäre allein fo, Der Satan, äußerte er ein anderes 
Mal, habe ihn mit Sprüchen der Schrift alfo zerplagt, daß ihm Himmel und 
Erde zu enge geworben, und im ganzen Papſtthum Fein Irrthum gewefen fet. 
Dazwifchen war es dann wieder das fih aufprängende Bewußtſein, daß er ohne 
Beruf und göttlihe Sendung fi zum Gründer einer neuen Lehre und Kirche 
aufgeworfen habe, und die kläglichen Troftmittel, an denen er fih wie ein Ver- 
finfender an einem Strohhalm zu halten fuchte, beweifen, wie niederbeugend diefes 
Bewußtſein für ihn war, „Sch hab’ oft gefagt, und fag’ es noch, ich wollte der 
Welt Gut nicht nehmen für mein Doetorat, denn ich müßte wahrlich zulegt ver— 
zagen und verzweifeln in der großen und fohweren Sache, die auf mir liegt, wo 
ich fie als ein Schleicher ohne Deruf und Befehl Hätte angefangen.” Der Teufel, 
äußerte er ein anderes Mal, hätte mich mit diefem Argument getödtet: Du bift 
nicht berufen, wenn ich nicht wäre Doctor gewefen, Er überfab nur dabei, 
daß ıhm das Doctorat bloß für den gelehrten Bortrag in der Schule, und nur 
mit der Bedingung und dem Auftrage, die heilige Schrift nach der Meberlieferung 
and herrfchenden Lehre der Fatholifchen Kirche auszulegen, verliehen worden war, 
— Häufig waren es aber auch die traurigen Folgen feiner Lehre, die mahnend 
vor fein Gewiffen traten, die Zerreifung ber vor ihm einigen Kirche, die in ſei— 
nem eigenen Kirchenwefen aufgehende Saat der Zwietracht, die allentbalben ſich 
fundgebende Sittenfofigfeit, die mit dem neuen Rechtfertigungs-Dogma ſich trö- 
ftende Sicherheit, und das Schwinden aller ernfleren Neligiofität, und dazu fam 
noch das mehrfach von ihm ausgeſprochene, niederfählagende Bewußtſein, daß er 
felber feit feiner Trennung von der Kirche ethiſch herabgekommen und erfaltet fer, 
So geftand er zum Beifpiel: „Ich befenne für mich felbft, und ohne Zweifel auch 
Andere müffen befennen, daß mir's mangelt an ſolchem Fleiß und Ernft, den ih 








Luther. 675 


jeßt viel mehr, denn zuvor, haben foll, und viel nachläffiger bin, denn zuvor 
unter dem Papfitfum, und ift jest nirgend Fein folder Ernft beim Evangelium, 
wie man zuvor hat gefehen bei Mönchen und Pfaffen.” Affe diefe Vorwürfe und 
Gedanfen mit ihren daran fih Fnüpfenden unabweisbaren Conſequenzen fuchte 
er num mit äußerfter Anftrengung dur die Vorſtellung zu entkräften und fi 
aus dem Sinne zu ſchlagen, daß es der Teufel fei, der fie ihm eingebe, um ihn 
damit irre zu machen und zur Verzweiflung zu treiben, Darum ift in feinen 
Sihriften und befonders in feinen Briefen und vertrauten Aeußerungen fo viel die 
Nede davon, daß er „in der Hand des Teufels fei, daß der Satan ſich in Chriſtus 
ſelbſt umgeftalte, und er, Luther, mit feiner Kenntniß der heiligen Schrift gegen 
ihn nicht ausreihe, daß er ganze Nächte hindurch mit dem Satan kämpfen müffe, 
der es ihm oft mit feinem Disputiren fo nahe bringe, daß ihm der Angſtſchweiß 
darüber ausgehe“ u. ſ. f. Mitunter fuchte Luther einen eigenthümlichen Troft und 
eine Befriedigung feines Selbfigefühles in der Borftellung, daß der Teufel für 
ihn ganz befondere große und außerordentliche Anfechtungen erfonnen habe, von 
denen feine Gegner, die Papiften, freilich nichts wüßten, gleihwie auch die 
Kirchenväter ehemals fie nicht gefannt hätten, Berglichen mit diefen Anfechtungen 
feien Die gewöhnlichen Verfuchungen zu Fleifhes-Sünden und dergleichen nur 
Kleinigkeiten; er befchreist nun diefe afferfchwerften Anferhtungen als einen Zu- 
fland, in welchem man nicht wife, ob Gott der Teufel, oder der Teufel Gott 
fer, und vor Angft glei den Geift aufzugeben fürdte, Aus allen feinen hyper— 
bolifhen Wendungen und paradoren Beſchreibungen ergibt fih aber am Ende nur 
dieß, daß es die Borwürfe ſeines Gewiffens und die Zweifel an der Richtigkeit 
feines Syftemes, befonders feiner Nechtfertigungsiehre, waren, die er vor ſich 
felöft und vor Anderen gerne dem Satan als deffen ganz befondere Kunftgriffe 
zugefhoben hätte, Es waren alfo Verfuhungen, wie fie wohl jeder aufrichtige 
und ernft gefinnte Chriſt zu beftehen Hat, nur mit dem freilich fehr großen Unter- 
ſchiede, daß diefer nicht das zu verantworten hat, was Luther unternommen hatte, 
und dag ein in der Kirche wurzelnder Chriſt Zweifel und Regungen des Un— 
glaubens viel leichter überwindet, da fein Glaube von dem Zeugniß und Anſehen 
der ganzen Kirche getragen wird, Wenn demnach Luther von jenen höchſten An— 
fehtungen redet, die ihn an feinem Leibe fo erſchöpft und gemartert hätten, daß 
er kaum Techzen und Athem holen Fonnte, wenn er in feiner Schwermuth gräu- 
liche Gefihte gefehen haben wollte, fo Tiegt der Schlüffel dazu in der gleich 
darauffolgenden einfachen Erklärung: „Der traurige Geift ift das Gewiffen felbft“, 
und in dem Geftändniffe, daß er dem Satan, wenn diefer ihm fo zufege, dem 
„Gräuel des Papſtes“ vorwerfe, der fo groß fer, daß er nad Chriſto fein größter 
Zroft fei, „Darum — fügt er hinzu — find das heilloſe Tropfen, die da fagen, 
man folle den Papft nicht fehelten. Nur flugs gefcholten, und fonderlih, wenn 
dich der Teufel mit der Juſtification anfiht.” Es bedarf wohl feiner Ausführung, 
welch' einen Blick uns diefe Aeuferungen in das Innere des Mannes thun laffen, 
(Siehe Luthers Colloquia, beransg. von Förftemann, II, 102, 103, 116, 
1 121, 136. IV, 62). Als Polemifer und Berfaffer theologifcher und beſonders 
populärer Streitfhriften verband Luther mit einem unläugbaren großen dialectifch- 
1 rhetorifchen Talente eine Gewiffenlofigfeit, wie fie auf diefem Gebiete wohl nur 
felten im gleichen Grade vorkommt, Es ift einer feiner gewöhnlichften Kunſt— 
griffe, eine Lehre oder Inſtitution erft bis zur abfurdeften Frage zu verunftalten, 
und fi dann, vergeffend daß das, was er befämpft, in folder Geftalt nur ein 
Phantom feiner gefolterten Einbildung fer, mit behaglihem Tadel darüber zu 
verbreiten, Nur allzu oft finft er zum Tone eines geiftlichen Marktfchreiers herab, 
und blaht fich mit Hyperbofifchen Phrafen und hohlen Uebertreibungen auf. So 
wie er eine theologifche Frage anfaßt, verwirrt er fie auch, oft mit berechnender 
Abſichtlichleit, und die Gründe der Gegner werden bis zum Unkenntlichen ver- 
43* 


676 Luther, 


ftümmelt und verzerrt, Aber bei allen diefen Gebrechen, welche das Lefen feiner 
Schriften jegt zu einer fo ermübdenden und widerwärtigen Beichäftigung machen, 
fühlt man doch, daß er eine wunderbare Gabe hinreißender Popularität befaß, 
und daß feine Demagogie auf die genauefte Kenntniß und Berechnung aller 
Schwächen des teutfchen Nationalcharakters gebaut iſt. Die Art, wie er in diefen 
Streitfhriften die Perfonen feiner Gegner behandelt, ift wirklich beifpiellos, Nie 
ift e8 die trauernde Liebe, die, nur den Irrthum haffend, den Irrenden zu ge— 
winnen fucht, fondern es iſt fhmähender Groll, trogiger, wegwerfender Hohn, 
und eine mafjenhafte Häufung von Invectiven, oft der perfönlichften, oft zugleich 
der pöhelhafteften Art, die wie ein Strom aus unverfiegbarer Duelle ſich er- 
gießen. Es iſt durchaus unwahr, daß Luther in dieſer Beziehung nur einer in 
jener Zeit überhaupt herrfhenden Unſitte gefrößnt habe; das Gegentheil weiß 
jeder Kenner der gleichzeitigen und unmittelbar vorausgegangenen Literatur ; 
Luthers Schriften erregten gerade durch diefen Charakter allgemeines Erftaunen, 
und während Alle, die nicht zu feinen unbedingten Anhängern gehörten, ihr Be— 
fremden darüber ausprüdten, oder ihm deßhalb die fohärfften Vorwürfe machten, 
und auf die verderblihen Wirkungen diefer ſchmähenden Ergüffe hinwiefen, pfleg- 
ten feine Jünger und Bewunderer fih mit dem „heroifchen Geiſte“ des Mannes 
zu tröften, dem Niemand Maß oder Ziel zu fesen fich unterfangen dürfe, und 
der eben durch eine Art von Inſpiration von der Beobachtung des Sittengefeges 
dispenfirt, fich das geftatten dürfe, was bei Anderen unfittlih und frevelhaft fein 
würde, In feinem andern Schriftftelfer findet fih ferner Begeifterung für den 
unerfhöpflichen Reichthum und göttlichen Charakter der Heiligen Schrift mit der 
gewaltfamften Mißhandlung derfelben fo dicht beifammen, wie bei Luther, Sein 
Verſuch, ven Brief Jacobi aus dem biblifchen Canon zu werfen, die verächtliche 
Sprade, in der er fich über dieſen Beftandtheil der HL, Schrift ausdrückt, ift be- 
fannt; die neuerdings vorgebrachte Behauptung, daß er fpäter von diefer Ver- 
irrung zurüdgefommen fer, ift grundlos; noch in feinem legten größeren Werfe, 
feiner zweiten Auslegung des erfien Buches Mofis, äußerte er fich über den Brief 
und deſſen Berfaffer in der alten, tadelnd-wegwerfenden Weiſe. Er hatte freilich 
nur die Wahl, entweder den Brief ganz zu verwerfen, oder den ſchroffen Wider- 
ſpruch, in weldem die Erflärung diefer heiligen Urkunde über Rechtfertigung mit 
feinem Syfteme fteht, in der Weife, wie es die fpäteren proteftantifchen Theo- 
Iogen gethan, durch gewaltfame Snterpretation zu entfernen. Warum er fich nicht 
biefür, fondern für das erftere entfchied, ift nicht Harz; Gewiffenhaftigfeit der 
Eregefe und Scheu vor der einfachen Klarheit des Textes war es fiherlih nicht, 
was ihn beftimmte, denn die willfürlichften, Handgreiflich falfchen Interpretationen 
find in feinen polemifchen Schriften ganz gewöhnlih. Es ift faum möglich, es 
hierin ärger zu treiben, als er e8 z. B. in feinen Schriften gegen Erasmus in 
den felbft von Planf angeführten Beifpielen gethan. Ja es läßt fih in feinen 
Schriften eine förmliche Gradation eregetifcher Wilffür und Gewaltfamfeit an 
zahlreichen Beifpielen nachweiſen. Wenn er allerdings am bäufigften dadurch falſch 
interpretirt, daß er feine eigenthümlichen Vorſtellungen, die er fich feinem eigenen 
©eftändniffe nach nicht durch ruhiges, unbefangenes Bibelftudium, fondern in dem 
Zuftand einer peinlichen Geiftesverwirrung und Gewiffensangft gebildet hatte, 
den biblifchen Stellen unterlegte, fo war es ſchon ein weiterer Schritt gewalt- 
famer Wilffür, daß er den Text, den er zu feinen polemifchen Zwecken gebrauchen 
wollte, erft dafür zurichtete, theils durch falfhe Ueberfegung, theils durch Inter- 
polation, Reichte auch dieß nicht aus, dann fegte er Schrift und Chriſtus ein- 
ander entgegen, wie 3. B. in folgender Stelle: „Da Papift pocheft faft (ſehr) 
mit der Schrift, welche doch unter Chrifto als ein Knecht ift, daran kehre ich mich 
gar nichts. Ich aber troge auf Chriſtum, der der rechte Herr und Kaiſer ift über 
die Schrift, Ich frage gar nichts nach allen Sprüchen der Schrift, wann du ihrer 








Luther. 677 


noch mehr wider mich aufbräcteft, denn ich habe auf meiner Seite den Meifter 
und Herrn der Schrift, mit dem will ich's Halten, und weiß, er wird mir nicht 
fügen, noch mich verführen, ihm will ich Tieber die Ehr’ geben und glauben, denn 
daß ich mich in allen Sprühen um ein Haar, breit bewegen Iaffen wollte.” — 
Mitunter gefhah es auch, daß eine biblifhe Stelle, die einer feiner Lieblings- 
lehren befonders Far widerfprach, ihm unruhige Stunden machte; zulest aber 
wußte er fein eregetifches Gewilfen auch bier mit der Borftellung zu beſchwich— 
tigen, daß diefe Beunruhigung nur eine Verfuchung des Teufels fei, der ihn mit 
Schriftſtellen irre machen und zur Verzweiflung treiben wolle. Sp machte Luther 
es mit der Stelle 1 Timoth. 5, 12. — Mit diefen Zügen zu einem Bilde des 
Reformators müffen wir uns hier genügen laffen; nur das darf nicht unerwähnt 
bleiben, daß er, befonders feit dem Jahre 1520, über Gefhlechtsverhältnig, 
Ehe und Eölibat Behauptungen aufftellte und unter dem Wolfe verbreitete, die 
in den weiteften Kreifen, nach dem Zeugniffe von Zeitgenoffen, einen höchſt nach— 
theiligen moralifchen Einfluß ausübten. Er ift wohl feit der Stiftung der drift- 
lichen Kirche der Erfte gewefen, der die Lehre aufftellte, der Menſch fei ein Sklave 
feines mit unwiderftehliher Macht Herrfchenden Naturtriebes, und das Gebot, ſich 
zu verheirathen, ſei daher nicht nur ein Jedermann verpflichtendes, fondern ver- 
binde auch noch ftrenger, als jene Gebote des Decaloges, welche Mord und Ehe- 
bruch verbieten. In einer im Jahr 1522 gehaltenen Predigt über die Ehe trug 
er Dinge vor und geftattete Rechte, von denen das natürlihe Gewiffen eines 
Heiden fi abwenden würde. Auch die Erlaubniß, die er dem Landgrafen Philipp 
gab, war eine Folge feiner — freilih wieder mit feinem ganzen Syfteme zu— 
fanımenhängenden — Anfiht, dag es — felbft für Ehriften — fein Gebot der 
Monogamie gebe, Zum Schluffe nur noch die Erwähnung, daß zwifchen Luthers 
Tateinifchen und feinen teutfchen Schriften ein großer Unterſchied ift, In den letz⸗ 
tern liegt feine Stärke und (theilweife) das Geheimniß feiner außerordentlichen 
Erfolge, während die Theologen in Franfreih, England, Italien, Spanien, 
welche bloß feine Iateinifhen Schriften lafen, und in denfelben weder befondere 
Beredtfamkeit, noch glänzenden Scharffinn oder imponirende Erudition fanden, 
vielfach ihre Verwunderung darüber äußerten, daß diefer Mann in Teutſchland 
fo vergöttert werde, und felbft unter den Gelehrten fo viele Anhänger und Ver— 
ehrer habe. Luthers Leben muß aus feinen eigenen Schriften, vorzüglich feinen 
Briefen, gefhöpft werden — eine befriedigende und vollftändige Darftellung des— 
felben eriftirt noch nicht. Unter den älteren Biographien ift die „Hiftorie von 
Martin Luthers Anfang, Lehre, Leben“ von dem Prediger Matthefiug, der 
Luthers Tiſchgenoſſe gewefen (eigentlich eine Reihe von Predigten, Nürnberg 1565), 
brauchbar wegen einzelner Züge; die Historia de vita et actis M. Lutheri vor 
Melauchthon (Wittemb, 1546) ift gar zu dürftig und oberflächlich; viel reich- 
haltiger, aber freilich auch in hohem Grade parteiifch, iſt das Werf eines per- 
fönlihen Gegners Luthers, des Cochläus (Commentaria de actis et scriptis M. 
L. Mogunt. 1549 fol.), aber da es von einem Zeitgenoffen und Theilnefmer an 
den Ereigniffen herrührt, immer wichtig und brauchbar, Auch das fpätere Werf 
des Ulenberg, eines zur Fatbolifchen Kirche übergetretenen Lutheraners: Historia 
de vita, moribus, rebus gestis, studüs ac denique morte M. L., Colon. 1622, hat 
als Materialienfammlung Werth, Die „merkwürdigen Lebensumftände Luthers“ 
von F. S. Keil (4 Thle. 4., Leipzig 1764) beſchäftigen fih hauptſächlich mit 
Luthers „Leibesconftitution, Krankheiten, geiftlichen und leiblichen Anfechtungen 
und anderen Zufällen.” Das Leben Luthers von G. H. A. Ufert (Gotha 1817, 
2 Thle,) bietet nur einen Wuft von großentheil® werthlofer Literatur. Die 
Schriften von Pfizer (1836), Stang (1838), Meurer (1843), Ledder- 
bofe (1336), Fönnen nur fehr genügfame Lefer befriedigen. Das Werk von 
K. Jürgens, Prediger in Braunfhweig, würde unter den vom proteftantifchen 


678 Lüttich. 


Standpunet aus geſchriebenen weitaus das wichtigſte und brauchbarſte ſein, aber 
die drei Bände (leipzig 1846—47) gehen nur bis zum Ausbruch des Ablaf- 
flreites, Das bekannte Werf von Audin ift mit einer allzugroßen, mitunter am 
Naivetät grenzenden Unfenntniß der Schriften Luthers, der gleichzeitigen Literatur 
und des ganzen damaligen Zuftandes von Teutfchland gefchrieben. Die Mömoires 
de Luther von dem Parifer Profeffor Michelet beftehen hauptfählich aus an- 
einander gereibten Stellen der Colfoquien und derjenigen Schriften, in benen 
Luther von fich felber fpricht, — Ueber den Charakter und Entwidlungsgang des 
Reformatorg vergleiche man die Studien und Sfizzen zur Geſchichte der 
Reformation, Schaffhaufen 1846, und die Darftellung im dritten Bande des 
Werfes: „Die Reformation, ihre innere Entwidlung und ihre Wir— 
fungen.” [J. Döllinger.] 
Rüttich, (Leodium), Bisthum. Die Anfänge des nachmals fo berühmten 
Bisthums Lüttich find in Tongern und Maftricht zu fuchen, denn erft im Anfange 
des achten Jahrhunderts iſt der bifchöflihe Stuhl von da nach Lüttich. verlegt 
worden, Der Sage zufolge foll die Kirche von Tongern ſchon im erften rift- 
lichen Jahrhundert von Maternus I., einem unmittelbaren Schüler Petri, zugleich 
mit der Kirche von Eöln geftiftet worden fein. Derfelbe Maternus fei dann auch 
der erfte Bifhof von EChln und Tongern, und nach feines Freundes Balerius 
Tod überdieß auch (der dritte) Biſchof von Trier geweien (vgl. den Art, Cöln, 
Bisth.). Der Hiftsrifhe Maternus Tebte jedoch erft im Anfange des vierten 
Jahrhe, und es ift zweifelhaft, ob derfelbe zur Kirche von Tongern irgend eine 
nähere Beziehung gehabt habe, Die alten, freilich fabelhaften Eataloge nennen 
ganz andere Namen alter Tongerſcher Biſchöfe aus den erfien Jahrhunderten 
(Navitus, Marcellus, Metropolus, Severin, Florentius, Martin, Marimin, 
Valentin), die mit denen der angeblichen uralten Trier'ſchen Biſchöfe ſo ſehr 
übereinſtimmen, daß man die Vermuthung aufſtellen mußte, Tongern und Trier 
ſeien lange unter einem Biſchofe geſtanden. Einen hiſtoriſchen Boden für die 
Tongern'ſche Kirche gewinnen wir jedoch erſt mit ihrem Biſchofe Ser vatius oder 
Servatio, der ſich um die Mitte des vierten Jahrh. an den arianiſchen Hän- 
deln betheiligte, und nad dem Zeugniffe des Sulpitius Severus (historia sacra 
lib. II) einer der muthigften Vertheidiger der nicänifchen Lehre auf dem Coneilzu 
Rimini im 3. 359, darum aber auch dem Faiferlichen Statthalter Taurus befon- 
ders verhaßt war. Auch Athanafius nennt unter den gallifchen Bifhöfen, deren 
Zuftimmung er ſich auf der Synode von Sardiea erfreute, einen Gervatius, je- 
doch ohne Angabe feines Bifchofsfiges; er wird auch wohl derfelbe fein, der zu— 
gleich mit Biſchof Maximus nicht Darimin) von Trier als Gefandter an Kaiſer 
Conſtantius gefchieft wurde (Athanas. Apolog. ad Constant. T. I. p. 300. Mansi, 
Collect. Concil. T. IH. p. 63). Weiterhin erzählt Gregor von Tours (hist. Franc, 
1. 5), daß Bifhof Servatins von Tongern bei dem Einfall der Hunnen unter 
Attila dur eine Viſion über die dem Lande drohende Gefahr belehrt, nah Rom 
gepilgert fer, um durch ein dort zu verrichtendes Gebet die Gefahr abzuwenden. 
St, Petrus habe ihn aber belehrt, daß Gallien von den Hunnen werbe verwüftet 
werben, weßhalb num Servatius nach feiner Nüdkehr den Stuhl von Tongern 
nah Maftriht Cetwas weiter öftlih) verlegt habe, Wahrfcheinlich ift hier von 
einem zweiten Servatius die Nede, welcher hundert Jahre fpäter, als der erfi« 
genannte, um die Zeit Attila’s, alfo um die Mitte des fünften Jahrh. lebte. 
Nach diefer Zeit tritt die Gefchichte des Bisthums Tongern-Maftricht (es führte 
nämlich noch immer den Titel Tongern) wieder in's Dunfel zurück, felbft die 
Namen der angeblichen Bifchöfe find mehr als zweifelhaft, und erſt gegen die 
Mitte des fechsten Jahrh. treffen wir wieder mit Sicherheit einen Biſchof Domi- 
tian, der im 3. 535 zu Clermont und 549 zu Orleans auf einem Coneil unter 
zeichnete, Unter feinen Nachfolgern ragte im fiebenten Jahrh. der hl. Amandus 





Luzern — Lycien. | 679 


(fd. 9), der Apoftel Belgiens hervor (684), ein Paar Decennien fpäter aber 
- treffen wir den Hl. Lambert (ſ. d. U.) auf dem Stuhle von Maſtricht. Er wurde 
son einem fränfifhen Großen Dodo, angeblih einem Bruder der Alpais, im 
5.708, wie die Sage geht, deßhalb ermordet, weil er gegen die ehebrecherifche 
Berbindung Pipins von Heriftall mit diefer Maitreffe geeifert hatte, Sein Nah 
folger war der hl. Hubert (ſ. d, A.), der befannte Patron der Jagd, unter 
welchem im J. 721 das Bistum nach Lüttich verlegt worden fein fol. Daffelbe 
behielt jedoch noch mehrere Jahrhunderte lang den Namen Tongern, bis Anno 
- 1091 der Papft dem Bifchofe Heinrich die Führung des Namens von Lüttich er— 
laubte. Das Bisthum Lüttich gehörte zur Rirchenprovinz Coln und zum teutjchen 
Reiche, näherhin zum weſtphäliſchen Kreife defjelben, und der jeweilige Bifhof 
war Reihsfürft und hatte feinen Sig neben dem Bifhofe von Münfter. Unter 
den Befigungen des Bisthums, deren es fehr viele waren, ragte befonders das 
Herzogtum Bouillon hervor, welches der berühmte Gottfried vom Bouillon und 
feine Brüder an den Bifchof Dbert von Lüttich entweder verfauft oder verfchenft 
hatten. Das Stift verlor zwar diefe Befigung wieder im 17ten Jahrh. an bie 
Familie de la Tour D’Auvergne, zählte aber doch noch 22 Städte, und mehr als 
1200 Flecken und Dörfer. Das Hochſtift Hatte auch nicht weniger ald 61 Canonici, 
darunter Söhne von Königen und Fürften. Im 3. 1791 nahmen die Franzofen 
das Lüttiher Land in Befig und vertheilten e8 unter mehrere Departements, der 
Wiener Congreß aber gab es an die Niederlande und durch die belgifche Revo— 
Intion endlich Fam es zum Königreihe Belgien. Die gegenwärtige Didcefe Lüttich 
zählt gegen 600,000 Gläubige und gehört zum Erzbistyume Mecheln. Vgl, Rett— 
berg, Kirchengeſchichte Teutihlands Bd, I. ©. 204, ff. u. 550, ff., wo auch die 
ältere Literatur angegeben ift. [Hefele.] 
Luzern, f. Schweiz. 
Lycaonia, Auzaovia, Landſchaft im ſüdlichern Theile von Kleinaſien; im 
1  »perf. Zeitalter, wo fie zuerft befannt wird, umfaßte fie zugleich den größten Theil 
des fpätern Cataonieng, war im Süden dur den Taurus von Cilicien getrennt 
1 und erfiredte fih von Fconium im W. 23 g. M. weit gegen D, (Xenoph. An. 
1, 2. 29. Strabo p. 563). Während der Herrfchaft der Römer wechfelten die 
Grenzen häufig, das Hauptland Fam zur Provinz Cappadocien, einzelne Theile 
wurden bald an diefen bald an jenen Fürften verſchenkt; aus diefer Unbeftimmt- 


1 beit mag es erklärt werden, daß die Apg. (14, 6. 11) die Städte Lyſtra und 


Derbe nad Lycaonien verlegt, während fie nach Andern damals zur Provinz Ga- 
latia gehörten (Plin. 5, 42. Str. 12, 569), an weldhe die lycaoniſche Landſchaft 


5 in ihrer Gefammtheit in N. grenzte, in D. an Cappadorien, in ©. an einen 
1 heil von Cilicia aspera, an Jfaurien, in W. an Großphrygien. Lycaonien, größ- 





tentheil® eben, in S. und N, von Gebirgen umgeben, war reih an Schaf- 
herden und an Salz. Die Einwohner, nad einer griegifhen Sage Abfommlinge 
vom Arcadier Lycaon, alſo helleniſchen Urſprungs, galten für Friegsfundig, na- 
mentlich als gute Bogenfgügen. Vgl. Pauly, Realencyel. des claff. Altertfums, 
IV. 1253. 

Lyceen, f. Mittelſchulen. 

ELyeien, Aurie, 1 Macc. 15, 23. Apg. 27, 5. Halbinſel an der Südküſte 
Kleinafiens gegen W. und N. W. von Carien, gegen N. von Phrygien und Pifi- 
dien, gegen N. D. und D, von Pamphylien und gegen Süden vom mare inter- 
num umfshloffen. Der ältere Name des Landes war Mılvas (Herod. 1, 173), 
Homer, der diefen nicht Fennt, nennt feine Einwohner Solymer (Il. 6, 480. 
10, 430. Od. 5, 282), welche auch in Pamphylien und Pifivien bis an den Taurus 
hinauf getroffen werden (Str. 1. p. 21, 34. Ptol. 5, 3. 7), fie fheinen Semiten 
zu fein, denn Namen mit diefer Wurzel (2>©) find bei den Semiten häufig, 
auch ihre Sprache war ſemitiſch (Chörilus bei Euseb, praep. evang. 9, 9; nad 


680 Lydda — Lyon, 


Tacit. hist. 5, 2. wurden die Juden mit diefen Solymern in Zufammenhang ge- 
bracht, vgl. Knobel, die Völfertafel ꝛc. ©, 231). Die Splymer wurden von 
den Termilern, einem zur Zeit des Minos aus Creta ausgewanderten Stamme 
verdrängt und Letztere nannten ſich nach dem Athener Lykos, der von feinem 
Bruder Aegeus vertrieben worden, Lykier (Aöxıor, Str. 12. p. 573. 14, 667); 
der Name Solymer verlor fih nach und nah, Milyas erhielt fih in ven nörd- 
lichen Gebirgsgegenden (Str. 667). Die Lycier blieben allein unabhängig von 
Eröfus (Herod. 1, 28), erlagen aber den Perfern (id. 1, 176) und theilten fofort 
alle Schickſale des perfifhen, macedonifchen und fyrifhen Reiches, Die Römer 
ließen ihnen lange ihre Freiheit (Polyb. 30, 5. 12. Liv. 45, 25); das Land bil- 
dete einen aus mehreren ſelbſtſtändigen Nepublifen beftehenden Städtebund mit 
einem Generalſtatthalter (Auxzıcdoyng) an der Spiße (Str. 14. p. 664), Innere 
Zwifte brachten fie um die Freiheit, Claudius machte Lyeien zur römifchen Pro— 
vinz (Appian. b. c. 4, 65. Dio Cass. 47, 34. 16, 17. Suet. Claud. 25). Die Lycier 
waren ein fleißiges, wohlgefittetes Volk und bildeten namentlich einen eigenthüm- 
lichen Bauftyl aus, von welchem erft in neuefter Zeit zahlreiche Ueberreſte ent- 
deckt wurden, die ſich vortheilhaft von den roheren Bauwerken der Nachbarvölker 
unterfcheiden ; vgl. Fellows discoveries in Lycia, London 1841. Pauly, Real- 
encyel, des claffifchen Alterth. IV. 1256, Bon den zahlreichen Iyeifhen Städten 
nennt die Bibel: Patara, Hauptfladt des Landes, wohin Paulus von Rhodus 
aus gelangte (Apg. 21, 1), fie Hatte einen berühmten Apollotempel mit Drafel 
(Str. 14, 665. Plin. 5, 28)5 Phafolis (1. Mace. 15, 23), hatte drei Häfen 
(Herod. 2, 178), Paulus Servilius zerftörte fie im Seeräuberfriege (Cic. Verr. 
6, 10. Plin. 5, 26), fpäter ift fie Januensis portus genannt; Myra (Apg, 27, 5), 
Hafenftadt (vgl. Plin. 32, 8. Str. 14, 665). [Rönig.] 


Lydda (ra Audda und 7 Avddn) Lod, 7> der Benjaminiter (1 Chron, 
8,12. Esra 2, 32, Nehem. 11, 35), nicht weit von Joppe (Apg. 9, 38) auf 
der Straße von Jerufalem nad Cäfarea, nah thalmudifchen Notizen eine Tag- 
reife, nach dem itiner. Anton. 32 römifhe Meilen von Jeruſalem; im ſyriſchen 
Zeitalter gehörte e8 Anfangs zu Samaria, wurde aber von Demetrius Goter 
Judäa zugetheilt und dem Jonathan überlaffen (1 Mace. 11, 34, vgl, 10, 30, 38). 
Sofephus Cantt. 20, 6. 2) fennt es als bedeutenden Drt, der unter römifcher 
Herrſchaft den Namen Divspolis erhielt, und im Tegten jüdiſchen Krieg von Ceſtius 
zerfiört wurde (bell. j. 2, 19. 1); wieder aufgebaut war Lydda eine Zeitlang Sig 
einer jüdifhen Schule, feit dem vierten Jahrh. eines Bisthums, genannt nach 
dem HI. Georg, der hier unter Diocletian den Martyrertod ſtarb. 415 wurde in 
Lydda Pelagius von einer Synode von 14 Bifchöfen verhört (Neander, Krehgſch. 
11. 3. ©. 1222. f.). Im diefem Orte foll der Antichrift getödtet werben (Abulf. 
tab. Syr. 7). Das jebige Ludd ift ein ziemlich anfehnliches Dorf, mit den Ruinen 
der berühmten, von Kaifer Zuftinian erbauten, von Richard Lowenherz (?) reftau- 
rirten St. Georgskirche, deren Befchreibung ſowie das Ausführliche über die Ge- 
ſchichte Lydda's bei Robinſon CI. 262, ff.) zu finden iſt. 

Lyon (Lugdunum), Bisthum. Die Stadt Lyon, etwa ein Yabrbundert 
vor Chrifto an der Einmündung des Ararfluffes in den Nhodanus von Planens 
gegründet, wurde hundert Jahre nah feiner Gründung von einer Feuers brunſt 
zerftört. Die Römer hatten es in kurzer Zeit aus feinem Schutte wieder erhoben, 
und bald bevedte e8 wieder den Hügel, an deffen Fuße fih Nhone und Sapne 
verbinden. Bald wurde diefe Stadt die blühendſte in Gallien. Die Paläfte der 
Caſaren und des Statthalter ragten hervor; ein geräumiges Ampbitheater fehlte 
nicht, und im Norden breitete fih fpäter das Forum des Trajan aus, Unterhalb 
der römifchen Gebäude am rechten Ufer der Saone lagen die Handlungshäuſer 
der fremden — zum Theil aus dem Orient eingewanderten — Kaufleute und die 





Lyon, 681 


Hütten der Fifcher, Ber dem Zufammenfluffe der beiden Ströme fanden die 
Dentmale, welche 60 gallıfche Völker zu Ehren des — vergötterten — Roms 
und Auguftus errichtet Hatten. „Im Jahre 14 vor Chr. wurde hier ein ungeheurer 
Tempel zu Ehren des Auguftus eingeweiht. Die gallifhen Götter erfannten den 
Raifer, den Gottgewordenen, für ihren Lehensherrn. — Im römifhen Sinne 
verdiente Gallien die ältefte Tochter der Neligion der Göttlichfeit des Auguſtus 
und der Kaiſer genannt zu werden, wie diefelbe Gegend einige Jahrhunderte 
darauf es verdiente, die ältefte Tochter der von Jeruſalem ausgegangenen Kirche, 
der neuen Religion zu heißen, deren authentifchfter Ausdrud und wahres Centrum 
zu fein Rom gleichfalls die Beftimmung hatte” (Salvador, Römerherrfhaft in 
Judäa, 1847. 1. 252). — Die ältefte Tochter der römifchen Kirche nennt ſich 
mit befonderer Auszeichnung die Kirche in Frankreich. Die Kirchen von Arles, 
son Vienne, von Limoges, von Marfeille, von Narbonne, felbft von Paris leiten 
ihren Urfprung auf Apoftel oder Apoftelfhüler zurüf. Auch in Lyon mag es im 
erften Jahrhunderte nach Chrifto ſchon Chriften gegeben haben; wer aber das 
Chriſtenthum zuerft dorthin gebracht habe, kann nicht ermittelt werden, Aber eine 
Eirchliche Hierarchie gab es kaum dafelbft vor der Mitte des zweiten Jahrhunderts, 
Der Hl. Pothinus, aus Smyrna in Kleinafien von Polycarp gefandt, gilt als 
der erfte Bifchof von Lyon. „Mitten unter der Finfternig der neuen Bewohner 
son Gallien, die fih Hier mit den alten vermifchten, erfhien mit einem Male 
wie die Morgenröthe der demüthige Miffionär von Smyrna, ein Diener der Re— 
ligion der Reinigfeit, der Liebe und der Menfchlichfeit, einer Religion, welde 
bier dem Menfchen eine ganz neue Lehre und ein ganz neues Licht über feine 
Pflichten mittheilt, und ihn für das jenfeitige Leben mit den größten und dauernd— 
fien Hoffnungen erfüllt” (Abbe Jacques, Origine de l’Eglise de Lyon p. 7). 
Die Kritiker verlegen die Anfunft Pothins in Lyon in die Jahre 140—150. In 
der Berfolgung der Chriften zu Lyon im J. 177 n. Chr. farb auch Pothinus — 
neunzigjährig. Sp wird fein letzter Kampf in dem Schreiben der Kirchen von 
Lyon und Vienne befchrieben: „Der felige Pothinus, dem das Bisthum der Ge- 
meinde zu Lyon anvertraut war, wurde, älter als 90 Jahre, und faum Athem 
fhöpfend, aber wegen feiner Begierde nah der Marterfrone mit wunderbarer 
Heiterkeit des Geiftes geftärkt, von den Soldaten zu dem Nichterftuhl gefchlepptz 
ihn verfolgten die Obrigfeiten der Stadt und das ganze Volk mit alferlei Gefchrei, 
wie wenn er felbft Chriftus wäre, Von dem Statthalter gefragt, welches der 
Gott der Chriften fei, erwiederte er: Wenn du deffen würdig bift, wirft du es 
erfahren, Nach diefem wurde er ergriffen und mit unzähligen Schlägen gefoltert; 
die Nächſtſtehenden ftießen und fohlugen ihn mit Füßen und Fäuſten; die Ent- 
ferntern warfen, was ihnen zur Hand war, gegen ihn, und Alle hätten fih für 
Berbrecher gehalten, wenn fie nicht mit Wort oder That ihn angegriffen hätten, — 
dann wurde er, faum noch athmend, in das Gefängniß geführt, und nach zwei 
Tagen hauchte er feine Seele aus“ (Euseb. h. e. V. 1.). Auf Pothinus folgte der _ 
Hl. Irenäus als zweiter Bifchof von Lyon (ſ. d. A, und „der HI. Irenäus“ von 
Prat, teutfch Regensburg 1846). Sein Martertod wird in das Jahr 202 n. 
Ehr, verlegt. Die zwei folgenden Bifhöfe follen Zacharias und Aelius geweſen 
fein. Der fünfte Bifhof, Fauftinus, ift eine unbeftrittene hiſtoriſche Perſon; er 
war Zeitgenoffe des Cyprian und wird von diefem erwähnt, Bon drei folgenden 
Bifhöfen find nur die Namen in alten Verzeichniffen enthalten. Vocius (9) 
wohnte der erfien Synode von Arles (3. 314) in Sachen der Donatiften bei, 
Beriffimus (12) wohnte der Synode von Sardien (3. 347) an. Bon Juſtus (13) 
wird viel Wunderbares erzählt. Er wohnte den BVerfamnlungen von Balence 
und Aquileja (J. 374 und 381) an. Die unter feiner Anrufung gebaute Kirche 
des Hl. Zuftus Hat für die Kirchengefchichte Feine geringe Bedeutung. Er genoß 
in Lyon in allen Jahrhunderten eine ausgezeichnete Verehrung, Der HI. Eucherius 


682 Lyon, 


war ber 19. Bischof von Lyon (ſ. d. A.). Das chriſtliche Gallien fegt feinen Tod 
in das Jahr 450, Der Hl. Ruſtieus wurde Bifhof um das Jahr 494, Ste— 
phanus (23) war mit Avitus von Vienne (ſ. d. A.) eine Stütze der. Katholiken 
gegen die arianifchen Burgunder, Stephanus veranftaltete das Religionsgeſpräch 
vom Jahr 499 in Lyon, in welchem die arianifchen Bifhöfe auf das Haupt ge= 
ſchlagen und der König Gundobald (f. Burgunder) für die Kirche günftig geſtimmt 
wurde. Viventiolus, fein Nachfolger (24), wohnte im J. 517 der Synode von Epaon 
(ſ. d. A.) bei. Er wird von Agobard wegen feiner gelehrten Schriften gerühmt. 
Der Hl. Nicetius (29) wird befonders von Gregor yon Tours (ſ. d. A.) gerühmt 
(Hist. Franc. IV. 36. — de glor. conf. c. 61. bei Migne Patrol. T. 81. 1850). 
Bis auf die jüngfte Zeit, in der Gregor feinen Ruhm der Bekenner ſchrieb, ge- 
fchahen große Wunder an feinem Grabe (4573). Der berühmte Leivrad (f.d. A.) 
war (46) Bifhof in den legten Zeiten Carls des Großen, Ihm folgten die in 
der Gefhichte ebenfo befannten Männer Agobard (ſ. dv. A.), 816—840;5 Amolo 
(852); Remigius I. (875); Aurelian [50] (895). Humbert I. (64 in der Reihe 
der Bifhöfe) wurde wegen Simpnie von Gregor VII. entfegt (1076). Seine 
beiden Nachfolger Gebuin und Hugo hatten eine einflußreihe Stellung in Kirche 
und Staat, Zur Zeit des erften Lyoner Concils vom Jahr 1245 war Hugo (82) 
Erzbifchof von Lyon, und wurde von Papft Innocenz IV. zum Cardinal erhoben 
(. Hugo von St. Charo). Petrus II. war Erzbifhof von Lyon während der 
zweiten allgemeinen Kirchenverſammlung dafelbft, fodann Carbinal von Dftia durch 
Papft Gregor X., und wurde, ber Erfte aus dem Denedietinerorden, Papſt im 
Sahr 1276 unter dem Namen Innoecenz V., ftarb aber noch in demfelben Jahre, 
— Franz Paul von Villeroy war der 118, Bifchof von Lyon feit dem Jahre 
1714, Unter den neueften Bifchöfen von Lyon ragen der Cardinal Feſch (ſ. d. A.) 
und der gegenwärtige Erzbifchof, Cardinal de Bonald, hervor, Erzbifhof feit 
1839, Cardinal feit 1842, — Unter den Kirchen Frankreichs erhebt fich die Kirche 
von Lyon mit befonderem Ruhm; fie ift, wenn nicht die erfte, fo doch eine ber 
erfien Frankreichs. Der Ruhm ihrer ftandhaften Belenner, ihrer wunderbaren 
Blutzeugen erfüllte in den erften chriftfihen Jahrhunderten alle Gläubigen der 
Erde mit Freude und "Ehrfurcht. Und die nachfolgenden Zeiten blieben hinter dem 
Ruhme der erften Gefchlechter nicht zurüd, So fpricht der HI. Bernhard zum 
Ruhme diefer Kirche: „ES ift offenbar, daß unter den Kirchen Frankreichs bisher 
Lyon hervorragte, wie durch die Würde des Bifchofsfiges, fo durch ehrenwerthen 
Eifer und lobwürdige Ordnung; denn wo herrſchte eine fo firenge Zucht, ernſte 
Sitten, Befonnenheit in den Befchlüffen,, ein fo gewichtvolles Anfehen, ein folcher 
Borrang des Alterthums?“ Imnocenz IV. überhäufte diefe Kirche gleichfalls mit 
Lobſprüchen. — Eine dreifache kirchliche Oberherrſchaft hatte die Kirche von Lyon 
— als Sig eines Bifchofs, eines Erzbifchofs und eines Primas. Das Bisthum 
erftrecfte fih über die Stadt, über die Vorſtädte und über 800 Pfarreien, die in 
18 Deecanate zerfielen. Das Erzbisthum Lyon umfaßte vier Bisthümer, die von 
Autun, Chalons fur Sapne, Langres und Maron. Der Bifchof von Autun hatte 
die (kirchliche und weltliche) Verwaltung des Lyoner Erzbistpums bei erledigtem 
Site, Das (freilich vielfach beftrittene und zurücdtretende) Necht eines Primaten 
hatte der Erzbifchof von Lyon über vier Kirchenprovinzen, über die von Tours, 
oder die dritte Rugdunenfifche, über die vierte oder die von Gens, und über bie 
von Paris, und ehedem über die von Rouen. Factifch war biefes mehr ein Ehren- 
titel von Lyon, als eine wirkliche Macht, Narh der neuen kirchlichen Eintheilung 
Frankreichs vom Jahr 1821, wornad Frankreich 15 Erzbisthümer und 65 Bis— 
thümer hat (f. den Art. Franfreich), find dem Metropolitanfig Lyon und Vienne 
untergeordnet die Bisthümer Autumn, Langres, Dijon, Saint-Cfaude und Ore- 
noble (of. Gallia christiana. T. IV.). — Was die zu Lyon gehaltenen Synoden be- 
trifft, fo find davon befonders zwei allgemeine hervorzuheben, Die erfte 


Lyon 683 


1 sllgemeine fand Statt im Jahr 1245 (vgl, die Art, Friedrich IL. und Juno— 
1 ven; IV.) Nachdem die zwifchen Innocenz IV. und dem Kaiſer Friedrich IL. ge- 
führten Verhandlungen durch die Schuld des Letzteren ohne Ergebniß geblieben, 
fo entfloh der Papft den ihm gelegten Fallfiriden und begab fih mit Genehm— 
haltung Ludwigs IX. nach Frankreich, Hierauf fhrieb er eine allgemeine Synode 
nach Lyon auf den 24. Juni 1245 aus, Der Papft ließ Einladungschreiben er- 
gehen an den Kaifer Balduin II. von Conftantinopel, an die Könige von Franf- 
reih, Spanien, England u, f. w., und forderte diefe Fürften auf, daß fie ent- 
weder felbft erfcheinen, „oder Vertreter zu der Verfammlung abordnen möchten. 
ALS befondere Zwede der Synode werden in dem encyelifchen Einberufungsfchrei= 
ben hervorgehoben der traurige Zuftand des römischen Reichs, die Verfolgungen 
der Tartaren, und die den bedrängten Chriften in dem heiligen Lande zu bringende 
Hilfe. Am VBorabende des Feftes des HI, Petrus und Paulus des Jahres 1245 
wurde die Rirchenverfammlung in dem Kloftergebäude des HI. Juſtus eröffnet, 
Den Borfig führle Papft Innocenz IV.; ihn umgaben die Cardinäle, welche hier 
zuerft zur bejondern Auszeichnung den rothen Hut trugen, Ferner waren drei 
Patriarhen anmwefend, von Aquilefa, von Conftantinppel und von Antiochien, 
Anwefend war auch der Kaiſer Balduin II. von Conftantinopel; ferner der Graf 
von Zouloufe, Thadäus von Sueffa, kaiſerlicher Kammerrichter, Procurator 
Friedrichs II.; Gefandte (oratores) Ludwigs IX. von Franfreih, des Königs von 
England und anderer Fürften, Aus Paläftina war nur der Biſchof von Berytus 
anwejend; Niemand aus dem fchredlih verwüfteten, von den Mongolen zer- 
tretenen Ungarn; fehr wenige Biſchöfe aus Teutfchland, und überhaupt den Län— 
dern des Kaiſers. Nach gehaltenem Gottesdienfte hielt der Papſt eine Nede über 
den traurigen Zuftand der Chriſtenheit; wie Chriftus das Haupt, fo blute auch 
der Leib der Kirche diefer Zeit aus fünf Wunden, Diefe Wunden waren: 1) der 


I Einfall der Barbaren in die hriftlihen Länder, 2) Das Schigma der griehifchen 


Kirche. 3) Die aufwuchernden Irrlehren. 4) Der Fall Jerufalems in die Hände 
der Chowaresmier. 5) Die Verbrechen Friedrichs IL und feine feindlichen Thaten 
gegen die Kirche. Sonft füllten die erfte Sigung Anflagen des Papftes gegen 
den Kaiſer, und Entfhuldigungen deffelben durch Thadäus. Der Iegtere bot unter 
anderm die Könige von Franfreih und England ald Bürgen an, daß der Raifer 


1 das halten werde, was er verfprochen habe und verſpreche. Dieß wollte ber 





Papft nicht annehmen, Denn wenn der Kaifer nicht Wort halte, fo müffe der 
Papft gegen drei der mächtigften Fürften der Erde feindlich auftreten, und die 
letzten Dinge würden ärger als die erfien. — Die zweite Sigung war einige 
Tage nachher. Mehrere Bifchöfe erhoben fich Hagend gegen den Kaifer, welchen 
Thadäus mit Energie vertheidigte. Diefer bat auch inftändig um Hinausfchiebung 
der dritten Sigung, weil der Kaifer perfönlich zu erfcheinen im Begriffe ftehe, 
Dem Raifer wurden zwei Wochen Frift gegeben, Die dritte Sigung wurde zur 
beftimmten Zeit gehalten. In diefer Sigung verfündigte der Papft, daf von nun 
an das Feſt Mariä Geburt mit einer Detave gefeiert werden folle, Dann ließ 
der Papft mehrere Beftimmungen vorlefen, welde für die Wiedergewinnung des 
HI. Landes, die Unterftügung des lateiniſchen Kaiſerthums und zum Schuge der 
Chriſtenheit gegen die Einfälle der Tartaren von ihin erlaffen wurden, Die Con- 
flitution wegen des Iateinifchen Kaiſerthums beginnt mit den Worten: „Arduis 
mens nostra occupata negotiis.“ Mit der gemeinfamen Billigung des Concils war 
diefes die Weife der Unterftügung: die Hälfte der jährlichen Einfünfte ver Dig- 
nitäten und der Perfonate wie der Präbenden, und anderer firchlichen Beneficien, 
jener Perfonen, welche wenigftens nicht fehs Monate im Jahre Reſidenz halten, 
fei es, daß fie ein oder mehrere Beneficien haben, ſolle dem lateiniſchen Raifer- 
thume als Deifteuern überlaffen werden, Frei hievon find die perfönlich bei dem 
Papfte, bei den Cardinälen und andern Prälaten angeftellten Elerifer; ſodann die 


684 Lyon. 


in Geſchäften ihrer Kirchen oder der Studien wegen nicht Reſidenz halten können; 
frei find natürlich auch die Kreuzfahrer oder die dem Reiche von Conftantinopel 
zu Hilfe eilen, Ausgenommen von der Befreiung, außer den zwei Testen Claffen, 
find indef auch jene, welche über hundert Mark jährliches Einfommen beziehen; 
diefe müffen auf drei Jahre den dritten Theil ihres Ueberfchuffes abtreten. Wer 
nicht beiträgt, wird mit dem Banne bedroht, Bon den Einfünften der römifchen 
Kirche verfpricht der Papft nach vorherigem Abzuge des Zehnten für das heilige 
Land einen zweiten Zehnten zu diefem Zwecke, Abgefandte des apoftolifchen 
Stuhls werden diefe Gelder einziehen, Die Theilnehmer an diefem frommen 
Werke erhalten diefelben kirchlichen Wohlthaten, wie die Kreuzfahrer. — Diefe 
Beichlüffe, Heißt es, erwirkte der Kaifer Balduin II. auf vieles Bitten, Die Con— 
ftitution gegen die Tartaren beginnt mit den Worten: „Christianae religionis cul- 
tum.“ Die riftlichen Länder follen gegen ihre Einfälle durch fefte läge geſchützt 
werben. Bon der etwaigen Ankunft der Feinde möge der apoſtoliſche Stuhl in 
Kenntniß gefegt werden, Er felbft werde für die Ausgaben und Opfer beifteuern, 
und werde dafür forgen, daß die Hilfe des hriftlichen Erbfreifes den bedraͤngten 
Ehriften in reichlihem Maße zufließe. Die dem heiligen Lande zu bringende Hilfe 
war ein befonderer Öegenftand der Sorgfalt diefes Eoneils. Die betreffende 
Eonftitution beginnt: „Afflici corde pro deplorandis terrae sanctae periculis.* 
Die Priefter und die Elerifer, die fih in dem chriftlichen Heerlager befinden, 
folfen fleißig beten und ermahnen, follen die Kreuzfahrer zur Reue über ihre 
Sünden, zur Mäßigung, zu gegenfeitiger Liebe durch Wort und Beifpiel er- 
wecken, daß fie nicht bloß mit weltlichen, fondern auch mit geiftlihen Waffen die 
Feinde Gottes niederwerfen. Diefen Clerifern verwilligt der Papft mit Zuftim- 
mung des Coneils, daß fie ihr ganzes Einkommen durch drei volle Jahre beziehen 
folfen, wie wenn fie Refivenz hielten, Die übrigen Geiftlihen follen zu perfön- 
licher Theilnahme an den Kreuzzügen, oder doch zu Opfern für diefelben alles 
Volk dringend ermahnen. Alfe Elerifer, niedere und höhere, follen den zwanzigften 
THAT aller Einkünfte drei Jahre lang beifteuern zum Schuge des heiligen Landes 
unter Strafe der Ercommunication, der Papft und die Cardinäle den zehnten 
Theil. Die Kreuzfahrer find von den gewöhnlichen bürgerlichen Laften exempt; 
ihre Perfonen und ihre Güter find unter den Schuß des hl. Petrus aufgenommen, 
Wenn fie eidlih zu Entrichtung ihrer Zinfen fich verpflichtet haben, fo follen die 
Gläubigen ihnen den geleifteten Eid erlaffen und follen von Eintreibung der 
Zinfen abſtehen; die Juden aber folfen zum Nachlaffe der Zinfen durch den welt- 
lichen Arm gezwungen werden, Die Seeräuber und ihre Beſchützer werden mit 
dem Banne belegt, auch follen die Prälaten den Bann über die Fürften und 
Beamten ausfprechen, welche ihre Untergebenen vom Seeraube nicht abhalten, 
Alte Strafgerichte der Kirche werben verhängt und alle Strafen über die berab- 
abgerufen, welche den Mohammedanern Schiffe, Waffen oder Munition Tiefern, 
ihnen mit Hilfe oder mit Rath zur Seite gehen zum Schaden des heiligen Landes. 
Sie follen nicht abfoloirt werden, wenn fie nicht das gewonnene Geld zum Nutzen 
des heiligen Landes verwendet haben, Bier Jahre lang möge dur bie ganze 
Chriftenheit der Friede gehalten werden; die Prälaten follen Allen Frieden oder 
Waffenftiliftand befehlen unter Strafe der Ercommunication gegen fie und des 
Snterdiets gegen ihre Lande, Den Theilnehmern und Gehilfen an diefem heiligen _ 
Werke aber werden alle Schäge der kirchlichen Gnaden eröffnet, — In biefer 
Berfammlung wurde fodann befonders verhandelt über die Gefangennehmung der 
Prälaten, welche zu dem durch Gregor IX. nah Nom ausgefchriebenen Coneil 
reifen wollten, Alle Beredtfamfeit des Thadäus konnte den Kaiſer nicht entſchul- 
digen. Da er feinen andern Ausweg wußte, fo appellirte er für feinen Herrn an 
das nächte allgemeinere Coneil, Der Papft erwiederte: Es genügt das allgemeine 
Coneil fo Bieler, welche deinen Herrn nicht ohne Befchwerlichfeit umfonft erwartet 


Lyon. 685 


haben, fo vieler Patriarchen, Erzbifhöfe, Biſchöfe und anderer Edlen aus ver- 
ſchiedenen Theilen der Welt oder deren Stellvertreter. Und die abwefend find, 
die find e8, gebunden von den Stricken deines Herrn. Darum ift es nicht ge= 
recht, daß darum der gegen ihn auszufprechende Urtheilsfpruh der Entjegung 
verzögert werde, damit er nicht noch aus feiner Bosheit einen Vortheil zu ziehen 
heine, da doch Niemanden fein Betrug nügen fol, Am 17. Juli wurde fofort 
das Abfegungsurtheil gegen den Kaifer verfündet, welches beginnt: „Ad aposto- 
liei dignitatis apicem.“ Alerander Natalis fucht weitläufig zu beweifen, daß der 
Papſt diefe Abfegung nur in feinem, nicht in dem Namen des Concils ausge- 
foroden habe. — In diefem Urtheile wird der Kaiſer vorzüglich wegen vier über- 
wiefener Berbrechen entfegt. 1) Wegen vielfahen Meineids und Friedensver- 
Vegungen zwifhen Staat und Kirche. 2) Wegen dringenden, faft evidenten Ver— 
dachts der Härefie. 3) Wegen Kirchenraubs in der Gefangennehmung und 
gewaltthätigen Zurüchaltung von Carbinälen und andern kirchlichen Würdeträgern, 
4) Wegen Verlegung der päpftlihen Majeftät durch feine Briefe an Gregor IX; 
weil er ferner die Völfer des Kirchenſtaats gegen ihren rechtmäßigen Herrn auf- 
gereizt, Städte und Caſtelle des Kirhenflants weggenommen babe. Dazu fam 
die Anklage der Unterdrüdfung firhlicher Freiheit, befonders in der Defegung der 
firhlichen Aemter; denn durch feine Schuld flanden damals 11 Erzbisthümer 
und viele Bisthümer Hirtenlos. In Folge diefer und anderer Verbrechen werden 
die, welche ihm den Eid der Treue geſchworen haben, von demfelben entbunden, 
— Die meiften Bifhöfe unterfhrieben die Entfegung des Kaiſers. Die Ber- 
fündigung des über ihn verhängten Urtheils wurde fpäter den Dominicanern über- 
tragen — den 21. Der. 1245. — Noch traf die Synode eine Reihe Firchlicher 
Beftimmungen, welche fih in dem L. VI Decret. finden, befonders über das Ge- 
richtswefen, und andere ſehr nügliche Beftimmungen über die Verwaltung und 
Erhaltung des kirchlichen Vermögens, welches, wie wir oben fahen, mit feinen 
geringen Laften belegt war. Auch mehrere Privatverbandlungen famen vor, 5.8. 
Beihwerden der Engländer über Gewaltthätigfeiten eines dortigen päpftlihen 
Legaten Martin. — Vgl. Raynaldus ad h. a, 1245. Natalis Alex. — Matthaeus 
Paris histor. Anglic. ad a. 1245. — Harduin conc. T. VI. p. 375—406; Mansi 
T. XXIII. p. 605. — Die zweite allgemeine Synode dafelbft (die vierzehnte 
allgemeine. Vgl. Gregor X.). Kaum hatte Gregor X. den yäpftlihen Stuhl 
beftiegen (27. März 1272), als er die hriftlihen Fürften und Prälaten zu einem 
allgemeinen Eoncil auf den 1. Mai des hres 1274 einlud. Zweck der Be— 
rufung waren die allgemeinen Anliegen der Ihriftenheit, u. a. die bedrängte Lage 
des heiligen Landes und das griehifhe Schisma. Das Einladungsfhreiben an 
die Prälaten im heiligen Lande ift vom 31. März 1272 datirt; fie werden fireng 
aufgefordert, zu der beftimmten Zeit an dem Drte zu erfheinen, den ihnen ber 
Papft erft fpäter befannt machen werde. Eine ähnliche Einladung erging an den 
griehifhen Raifer Michael Paläologus, der feit dem Jahre 1261 wieder in dem 
Befige son Eonftantinopel war, und ſchon im Jahre 1262 feine Geneigtheit zu 
einer Union mit den Abendländern an den Tag gelegt Hatte. Der Papſt fpricht 
fein inniges Verlangen nad der Bereinigung, wie feine Hoffnungen des Zuftande- 
fommens derfelben aus. Unter vemfelben Datum erging eine Einladung an ben 
Patriarchen Joſeph von Conftantinopel, Ueber das Nähere verweist er den Pa- 


:. triarchen an die Jängern Briefe für den Kaifer, Der Kaifer antwortete im Jahr 





1273, und erhielt von dem Papfte eine beftimmtere Einladung von Lyon aus, 
datirt vom 24. Der. 1273. — Das Coneil felbft wurde durch den Papft zu Lyon 
eröffnet den 7. Mai 1274 in der Cathedrale zum heiligen Johannes. Anmwefend 
war der König Jacob von Aragonien, die Patriarchen Pantaleon von Conftanti- 
nopel und Opizio von Antiochien, lateinifhen Ritus, Unter den Carbinälen faß 
auch der heilige Bonaventura, Anwefend waren die Gefandten der Könige von 


686 Lyon. 


Franfreih, aus Teutfchland, England und Sicilien. Der Papft Hielt die Ein- 
leitungsrede unter dem Vorſpruche: „Sch habe ſehnlich darnach verlangt, dieſes 
Dfterlamm noch vor meinem Leiden und Tode mit euch zu effen.” Als Gründe 
der Berufung des Eoncils führte er an: 1) Die Unterflügung des heiligen Lan- 
des, 2) Die Vereinigung mit den Griechen. 3) Die BVerbefferung der Sitten. 
Nach feiner Rede erhob ſich der Papft und ſchloß die erfte Sikung. Am 18, Mat 
fand die zweite Sigung Statt. Der Papft hielt eine Allocution, und es wurden 
Beftimmungen über Glauben und Regierung der Kirche vorgetragen. In der 
Zeit zwifchen der erften und zweiten Sitzung brachte e8 der Papſt durch befondere 
Berathungen mit den kirchlichen Würdeträgern dahin, daß fie den Zehnten alfer 
ihrer Einkünfte auf ſechs Jahre zur Unterſtützung des heiligen Landes abtraten, 
Vor der dritten Gigung wurde die baldige Anfunft der griegifgen Gefandten 
gemeldet; der Papft ließ darum alle Prälaten zufanmenrufen, vor denen ber hl. 
Bonaventura eine Rede hielt, mit dem Vorſpruche: „Stehe auf, Jeruſalem, ſtelle 
dich auf die Höhe, und blicke im Kreife hin nach dem Lande des Morgens, und 
yon da zähle deine Söhne vom Aufgang bis zum Niedergang.” Nah diefem 
Bortrage wurden die Briefe über die Ankunft der Gefandten verlefen. Am 
17. Juni wurde bie dritte Sigung gehalten, Vorher war der König von Ara— 
gonien abgereist. Der Cardinal Petrus von Dftia hielt eine Rede über den 
Text: „Erhebe im Umfreife deine Augen, und fiehe, alle diefe haben fich ver- 
fammelt, fie find zu dir gefommen,” Hierauf wurde eine Anzahl von Eonftitu- 
tionen verlefen, Nach diefer Verlefung hielt der Papft eine Anrede an die Ver- 
fammelten, und hierauf gab er alfen Prälaten die Erlaubniß, Lyon zu verlaffen 
und fih auf ſechs Meilen zu entfernen, Den Tag der nächſten Sigung beſtimmte 
er nicht wegen der ungewiffen Zeit der Ankunft der Griechen, und damit endete 
die dritte Sigung. Jedoch Tieß der Papft zwifchen der zweiten und dritten Sitzung 
die Prälaten zufammenfommen und die obigen Eonftitutionen ihnen vorleſen. Am 
24. Juni famen die Gefandten des griechifchen Katfers Michael Palävlogus an. 
Sie wurden unter allen Chrenbezeugungen empfangen und zu der Wohnung bes 
Papſtes geleitet. Der Papft fland in dem Vorhofe mit allen Carbinälen und 
vielen Prälaten, und die Gefandten wurden von ihm mit dem Friedensfuffe em- 
pfangen; fie übergaben die ihnen eingehändigten Briefe ihres Kaiſers und der 
morgenländifchen Bifchöfe, und fprachen in Gegenwart des Papftes, fie feien ge- 
fommen, um jeglichen Gehorſam zu Teiften der heiligen römischen Kirche, und zu 
dem Vefenntniffe des Glaubens, welchen diefe Kirche feſthält, und ihres Pri- 
mates, Einige Tage nachher, am 29. Juni, an dem Fefte der Apoftel Petrus 
und Paulus, hielt der Papft die feierlihe Meffe in der Hauptfirdhe des HI, Jo— 
hannes, in Gegenwart alfer Cardinäle und Präfaten, die zu der Synode berufen 
worden waren, Die Epiftel wurde Yateinifch und griechifch gelefen, ebenfo das 
Evangelium gefungen, Hierauf hielt der HI, Bonaventura feinen Vortrag bis zum 
Ende, Ebenfo wurde das Glaubensbekenntniß Tateinifch und griechiſch gefungen, 
Der Artifel: „und an den heiligen Geift, welcher von dem Bater und von dem 
Sohne ausgeht”, wurde dreimal gefungen, — Am 4, Juli ftelften fi dem Papfte, 
umgeben von feinen Cardinälen, Abgefandte des Königs der Tartaren (Abagha) 
vor, Freitag den 6. Juli war die vierte allgemeine Sigung. Nach der Predigt 
des Cardinals Petrus von Oftia hielt der Papft eine Anrede; unter Darlegung 
der drei Gründe der Berufung des Coneils fagte er, wie gegen die Meinung 
Alter die Griechen freiwillig zu dem Gehorſam und zu der Einheit des Bekennt⸗ 
niffes mit der römifhen Kirche gefommen feien, und zwar ohne Forberung welt- 
licher Vortheile, Dann wurden die Briefe des griechiſchen Kaifers und der grie- 
fhen Bifhöfe verlefen, Der Kaifer erfennt nach der ihm von dem Papſte vor- 
gelegten Glaubensformel den Primat des Papſtes, den Ausgang des heiligen 
Geiftes von dem Vater und dem Sohne, und die Strafen des Fegfenerd an, Die 





Lyons. 687 


Schreiben der Biſchöfe waren von ähnlichem Inhalte, Hierauf trat einer der Ge— 
ſandten, der Logothet Georgius Afropolita, auf und fagte, er babe von feinem 
Kaifer den Auftrag, ftatt feiner den Glauben der römischen Kirche zu befchwören, 
Er befannte feierlich, daß der Kaifer ven Glauben der römifchen Kirche, wie er 
in diefer Berfammlung verlefen worden, fefthalte, der Kaifer und fein Reid, 
daß fie diefen immer fefthalten und nie von ihm abweichen werden. Der Eid ver 
Angelobung ift in den beftimmteften Worten gefaßt. Der Gefandte ſchwört und 
befräftigt einen förperlihen Eid auf feine und des Kaifers Seele, daß er diefen 
römifchen Glauben als den wahren anerfenne, daß er ihn unverlegt bewahren, 
daß er nie von ihm abweichen werde; und wie den Glauben, fo werde er den 
Primat der römifchen Kirche, den er freiwillig befenne, unverlegt bewahren. Der 
Papſt fimmte fodann „Großer Gott, wir Ioben dih”, an, Dann hielt er in der 
Freude feines Herzens eine Anrede an die Berfanmlung, wieder mit den Anfangs- 
worten: „Ich habe verlangt, diejes Dfterlamm mit euch zu effen”. Der Papft 
fimmte dann das Credo Iateinifh an, und die Griechen fangen es griechifch, 
indem fie zweimal: „der von dem Bater und dem Sohne ausgeht“ , wiederholten. 
Nach diefem richtete der Papft wieder einige Worte an die Verſammlung, worin 
er unter Anderm fagte, daß der König der Tartaren Gefandte mit Briefen an 
ihn und die Berfammlung geſchickt habe; diefe Briefe ließ er vorlefen, Am 
Schluſſe fündete der Papft zwei weitere Sigungen und mit ihnen zugleih das 
Ende der Berfammlung an, Am 7. Zuli theilte der Papft den Cardinälen die 
neue Conftitution über die Papfiwahl mit, worüber Mißhelligfeiten zwifchen ihm 
und den Earbinälen entflanden, die fih fpäter ansglichen, Am 15, Juli flarb 
der Hl. Bonaventura zum Schmerz der ganzen Chriftenheit. Petrus von Oſtia 
predigte über den Tert: „Ich bin betrübt über dich, mein Bruder Jonathan“, 
Biele Thränen und viele Seufzer folgten ihm nach: denn diefe Gnade hatte Gott 
ihm gefchenft, daß alle, die ihn ſahen, fogleih von herzlicher Liebe zu ihm er- 
griffen wurden, Am 16, Juli war die fünfte Sigung, vor welcher Petrus von 
Oſtia einen der Gefandten der Tartaren taufte. In der Sigung wurde wieder 
eine Menge von Eonftitutionen verlefen. Nach diefer Lefung ſprach ſich der Papft 
in einer Anrede an die Verfammlung über den unerfeglichen Berluft aus, welchen 
die Kirche in dem Hintritte des Bruders Bonaventura (ſ. d. A) erlitten habe, 
Er befahl alfen Prieftern durch die ganze Welt, eine Meffe für ihn zu fingen, 
und eine andere für die Seelen alfer Andern, welde mit dem Tode abgegangen 
auf der Her- und Nüdreife, fowie während des Aufenthaltes bei dem Eoncil, 
Am folgenden Tage, den 17. Juli, war die feste und Teste Sigung. Mehrere 
Eonftitutionen wurden verlefen. Der Papft fprach über den Zwed der Berufung 
des Coneils. Was zur Berbefferung der Sitten auf dem Coneil noch nicht habe 
gefchehen fünnen, das werde er unverzüglich nachtragen. Die Sahe wegen des 
heiligen Landes und der Vereinigung der Griechen fei glüdlich begonnen und mit 
der Hilfe Gottes glücklich vollbracht. Damit endete diefes Concil. Die Union 
mit den Griechen aber wurde alsbald von den Griechen wieder aufgelöst (f. 


Griechiſche Kirche), und dem heiligen Lande wurde von der Ehriftenheit Feine 





Hilfe gebracht. — Cr. Harduin, act. Coneil. T. VI. 670—722. Mansi T.XXIV. 
p. 27 sqq. — Hefele, Union der griehifchen Kirche. Quartalſchr. 1847, ©, 
56 ff. — Leo Allatius, de ecclesiae oceidentalis atque orientalis perpefua con- 
sensione. L. I. ce. XV. — Ueber die „Armen von Lyon“ (Pauperes de Lugduno) 
gl. den Art, Waldenfer und Lucius IN. [Gams.)] 
Lyons, William, engliſcher Deiſt, Zeitgenoſſe Schaftsburys, Collins und 
anderer Deiſten und Freidenker, ſuchte das, was ſeine Collegen vorausſetzten, 
daß nämlich die menſchliche Vernunft untrüglich ſei, in einer eigenen Schrift zu 
beweiſen, welche er 1713 herausgab und welche den Titel führt: „die Untrüg- 
Tichfeit, Würde und BVortrefflichkeit des menfhlihen Urtheils“, Diefes Urtheil 





688 Lyra. 


ift, nach feiner Meinung, eben das, was man fonft das Gewiffen, ven heiligen 
Geift, die Vernunft, das Licht der Natur, den Ausfluß des Lichts von Oben, den 
Strahl der Gottheit, das Ebenbild Gottes oder den Geift der Wahrheit nennt, 
Er läßt Fein heiliges Anſehen gelten, wenn nicht durch die Vernunft vorher der 
Werth derfelben unterfucht worden ift, und glaubt, daß alle Wahrheiten ver Reli— 
gion und Sittenlehre, ohne Gefahr zu irren, durch Beobachtungen der Begeben- 
beiten herausgebracht werben können. Dabei beſchuldigt er die Geiftlichen der 
etablirten Kirche ver größten Betrügerei, rechnet alle göttliche übernatürliche Dffen- 
barung unter die ungereimteften Dinge, und entzieht mit Schaftsbury den Wun- 
dern alle Kraft des Beweifes für die Wahrheit einer Dffenbarung, worauf dann 
Collin in feiner Schrift von den Gründen und Beweifen der hriftlihen Religion 
auch den Beweis aus den Weiffagungen des alten Teftamentes angriff, Lyons 
babe, bemerkt Schlegel (Fortf. der Mosheim, Kirchengefh. V. 300, Heilbronn 
17834) feinem vermeinten Beweife der Untrüglichfeit der Vernunft weder die Deut- 
Tichfeit, noch die Ordnung, noch die Bollfommenheit der Schreibart zu geben ge= 
wußt, die er hätte haben müffen, wenn er einige Wirkung hätte hervorbringen 
folfen — indeß bezeugt die 1730 zu London erfchienene vierte Ausgabe feines 
Buches Wirkung genug und wäre eher die Bemerkung am Plate gewefen, der 
Abfall von der Kirche im 16ten Jahrh., die Erniedrigung der Vernunft dur die . 
Reformatoren zu einer „meretrix“, die Erhebung des spiritus privalus über die 
Authorität der Kirche, die heilloſen Zänfereien der proteftantifchen Secten unter- 
einander und bie jämmerliche Entftellung und Verzerrung der Offenbarung durch 
den Proteftantismus hätten naturnothwendig den Deismus mit feiner Natur- und 
Bernunftreligion hervorrufen müſſen. Lyons fchrieb außer dem erwähnten Buche 
auch noch eine Abhandlung von der Nothwendigkeit der menfchlichen Handlungen 
und ftarb fhon im J. 1713. Bol, hiezu die Art. Deismus und Deiften, 
und Freidenfer, [Schrödl.] 
Lyra, Nielaus von, (Lyranus), wurde geboren zu Lyra, einer kleinen Stadt 
in der Normandie, in der Nähe von Verneuil in der Didcefe Evreux. Nach der 
gewöhnlichen Angabe waren nicht allein feine Vorfahren Zuden, fondern aud er 
feldft im Judenthum geboren und erzogen: feine Grabfchrift, welche die Haupt- 
momente feines Lebens angibt (bei Wadding, annales Min. t. 3. ad a. 1340 $ 20) 
ſchweigt darüber; außer der Erzählung, daß feine Mutter ihn fehon bei der Ent- 
bindung dem Herrn gelobt habe, fpricht auch dagegen die Angabe des Paul von 
Burgos, daß Lyra erft fpäter hebräifch gelernt habe. Im J. 1291 oder 92 trat 
Nicolaus, noch fehr jung, in den Franciscanerorden und machte im Klofter zu Ver— 
neuil feine erften Studien, zu Paris wurde er Doctor der Theologie und hielt 
dort theologiſche Vorlefungen. Seine Gelehrfamfeit und Tugend babnten ihm 
den Weg zu den höhern Würden feines Ordens: 1325 war er Provineial in Bur- 
gund, und wird in dieſer Eigenfchaft unter den Erecutoren des Teftaments der 
franzöfifchen Königin Johanna genannt. Er ftarb zu Paris den 23, Det. 1340, 
nachdem er, wie feine Grabfchrift fagt, 48 Jahre das Drdensfleid mit Ehren ge- 
tragen und fich der Ruhm feiner Tugend und Gelehrſamkeit „per diversa mundi 
climata“ verbreitet hatte, Man ehrte ihn fpäter durch den Beinamen Doctor utilis. 
Gleich nach feinem Eintritt in den Orden verlegte fih Lyra vorzüglich auf das 
Studium der Hl. Schrift und wandte feine Aufmerkfamfeit hauptfächlih dem da- 
mals fehr vernachläffigten Wortfinne zu, Schon 1293 war er mit der Erklärung 
des Iſaias befchäftigt, 1330 war fein Commentar über die Bibel vollendet, 
Diefem Commentar, Postilla in universa biblia, bat Lyra feinen Ruhm zu ver- 
danken. Die Grundfäge, welde er bei der Abfaffung deffelben befolgte, ſpricht 
er in ben fehr intereffanten Vorreden mit mufterbafter Klarheit aus, In dem 
erften Prolog, de commendatione s. seriplurae in generali, zeigt er die Erhaben- 
heit der Bibel über die Werke der Philoſophen, und erwähnt als eine beſondere 





* 


Lyra. 689 


Eigenſchaft derſelben, daß ſie einen mehrfachen Sinn habe, weil der Urheber 
derſelben, Gott, nicht bloß die Worte zur Bezeichnung einer Sache gebrauche, 
wie auch die Menſchen, ſondern auch die durch die Worte bezeichneten Sachen 
wieder als Bezeichnung von andern Sachen anwende, worauf er denn die übliche 
Unterſcheidung in sensus literalis, moralis, allegoricus und anagogicus erklärt und 
an der vierfachen Bedeutung des Wortes Jerufalem (Stadt, anima fidelis, ecclesia 
militans und ecclesia triumphans) nacdhweist, In der zweiten Vorrede, de inten- 
tione auctoris ei modo procedendi, fagt er dann, die Erflärung müffe flets von 
dem sensus literalis ausgehen; denn diefer fei das Fundament, auf welches die 
myftifche Auslegung gebaut werden müffe; auch könne aus ihm allein ein dogma—⸗ 
tifher Beweis geführt werden. Der Wortfinn der Bibel fei aber in der legten 
Zeit aus mehrern Gründen fehr verbunfelt: einmal fei der Tert fehr fehlerhaft; 
dann weiche die Vulgata oft vom Urtert ab, und auf diefen müffe man, wo nicht 
eine aus polemifchen Rückſichten gefchehene Eorruption deffelben dur die Juden 
anzunehmen fei, zurüdgehen; endlich hätten die bisherigen Erflärer den Wortſinn 
ſehr vernachläffigt und unter zahllofen myftifchen Deutungen gleichfam verfihüttet, 
Er fest fih demnach zur Aufgabe, ven Wortfinn vorzugsweife zu entwickeln; die 
myftifchen Auslegungen werde er nur felten und, kurz berühren; er werde aber 
nicht bloß die Fatholifhen Ausleger, fondern auch die jüdiſchen berürffichtigen, 


I namentlich den Rabbi Salomo (Jarchi); übrigens führe er ihre Anfichten oft nur 


an, um die Blindheit der Juden zu zeigen; in Allem aber unterwerfe er fein 
Werk dem Urtheil der Kirche und der Gelehrten. Der Erklärung fhidt er noch 
die fieben ifivorifchen claves voraus; diefelben beziehen ſich meift auf Einzelnheiten; 
bemerfenswerth ift aber, daß er in der dritten clavis für einige Stellen einen 
doppelten Wortfinn zuläßt, fo beziehe fih 1 Par. 17,13 nah dem Wortfinn un— 
sollfommen auf Salomo, vollfommen auf Chriftum, deffen Vorbild Salomo fei, 
Diefe, wenn gleich noch in mancher Beziehung unvollfommenen, Orundfäge, na- 
mentlich die Ausfcheidung des Wortſinns von den myftifchen Ausfegungen, er- 
heben Lyra weit über feine Vorgänger in der Erxegefe und haben einen neuen 
Aufſchwung diefer Wiffenfchaft angebahnt, Nach diefen Grundfägen erflärte Lyra 
nun die ganze Bibel nah dem Wortfinn; nach Vollendung diefes Werks begann 
er feine myftifhe Auslegung, die er Moralitates nennt. In der Borrede zu diefer 
fagt er, einige Stellen hätten einen Wortfinn und einen myflifchen Sinn, wie 
Gen. 15, 16. (ſ. Gal. 4, 22.), andere nur einen Wortfinn, wie Deut, 6, 4., 
andere endlich nur einen myftifchen Sinn, wie Zub. 9, 8. Matth. 5, 29., wie- 
wohl man den sensus parabolicus auch einen Wortfinn in weiterer Bedeutung 


‚nennen fünne, da an Stellen, wo die Worte in ihrem eigentlichen Verftande 


feinen paffenden Sinn gäben, der parabolifhe Sinn der nächſte ſei. — Diefe 
Moralitates, urfprünglich ein eigenes Werf, wurden fpäter mit der eigentlichen 
Poftilfe verbunden und am Ende jedes Eapitels eingefchaltet, — Lyra’s Werf 
fand allgemeinen Beifall und war nad Furzer Zeit in Spanien und Franfreich 
allgemein verbreitet. Ungefähr ein Jahrhundert nachher fand es einen trefflichen 
Bearbeiter in Paul von Burgos. Diefer, ein geborener Jude, Salomo Levi, 
war 1390 mit feinen drei Söhnen Chriſt geworden und hatte ven Namen Paulus 
a ©, Maria erhalten, wurde fpäter Magifter der Theologie, dann Bifchof von 
Eartagena, fpäter Biihof von Burgos und Erzkanzler des Königs Johann II. 
von Eaftilien und Leon; er farb als Patriarch von Aquilefa 1435. Im Jahre 
1429 überfandte er feinem Sohne Alphons, damals Decan zu Compoftella, fpä= 
ter Nachfolger feines Vaters zu Burgos, fein Exemplar der Poftille, welches er 
mit zahlreichen „Additiones“ am Nande bereichert hatte, Er erfennt die Vorzüge 
der Poftille vollftändig an, fagt aber, fie fei, wie jedes menfchlihe Werk, noch 
der Vervolllommnung fähig und er habe fie diefer durch feine Zufäge näher zu 
bringen gefucht; namentlich Habe er Zufäge für nöthig gehalten, wo der Poſtillator 
Kirchenlexikon. 6, Bo. 44 





690 Lyſias. 


ohne hinreichenden Grund eigene oder jüdifhe Auslegungen der Ausl 
der Väter und namentlich des hl. Thomas vorziehe, oder wo feine mangelbe 
Kenntniß des Hebräifchen Irrthümer veranlaßt habe; die Berückſichtigung der 
Nabbinen fei zu Toben, Lyra habe aber den Jarchi zu viel und andere zu wenig 
benugt, Die Vorrede enthält eine ganz in ſcholaſtiſcher Form gehaltene, a 
ſehr fcharffinnige Erörterung der Frage: utrum sensus spiritualis an literalis sit 
dignior. Paul mag mitunter Lyra gegenüber Unrecht haben, im Ganzen find 
aber feine Bemerkungen, namentlih die ſprachlichen, eine danfenswerthe Ver—⸗ 
befferung und Vervollftändigung der Poftiffe, Es fiheint aber fon damals Ors 
denseitelfeit eine Ueberſchägung des Poftillators veranlaßt zu baden; ein Franeis⸗ 
eaner ſprach in einem fehr geſchraubten Briefe an Paul feine Bedenken gegen die 
verſuchte Verbefferung der Poftiffe ans, welche indeß Paul auf das Bündigfte 
zurüchwies, Später unternabm es Matthias Doring (Thoring), Profeſſor 
der Theologie und Minoriten-Provincial in Sachfen, die vermeintlich feinen 
großen Ordensbruder durch Paul angetbanen Unbilden zurückzuweiſen; er ſchrieb 
Replicae defensivae postillae ab impugnationibus Domini Burgensis oder Correoto- 
rium oorruptorii Burgensis, Die Art feiner Polemik, namentlich die ungiemlichen 
Perſonlichkeiten, zeigen aber, daß Doring ſich nicht bloß durch wiſſenſchaftliches 
Intereſſe Teiten ließz zudem feheint es ihm an Kenntniß des Hebrälfchen ganz ge⸗ 
fehlt zu haben. Die Beſchuldigung Doring's gegen Paul, welche ſelbſt 8 
wiederholt: multa ex profosso studuit in Lyrano carpere, iſt jedenfalls ganz un« 
gerecht; denn in feinen Zufägen zeigt fi gar Feine Bitterfeit gegen den Poftilfa- 
tor, fondern nur das reinfte wiſſenſchaftliche Beſtreben. — Lyra's Poftifle ift der 
erfte Bibel Commentar, welcher gedruckt wurde (Nom 1471 u 72); Calmet er⸗ 
wähnt noch fieben Ausgaben derfelden aus dem töten Jahrhundert, Eine Basler 
Ausgabe von 1498 enthält ſchon die Poftille fammt den Zufägen Pauls und Dos 
rings mit der Glossa interlinearis und Glossa ordinaria verbunden (f, den Art, 
Ofoffen, bibliſche), und in diefer Weife wurde fie noch ir oft abgedrudt, 
am beften Antwerpen 1694. De la Haye nahm die Poſtille in feine Biblia maxima 
Paris 1660) auf, — —J der Poftille verfaßte Nieolaus von Lyra noch viele 
andere Schriften, welche aber wenig Verbreitung gefunden haben, namentlich ein 
Buch de corpore Christi, sermones de tempore et de sanctis, liber contra Judaeos, 
einen Commentar zu den vier Sentenzenbüchern, quaestiones voteris et novi tosta- 
menti, einen Tractat de visione Dei, eine Erklärung der zehn Gebote, einen 
Tractat de idoneo ministro et suscipiente sacram, altaris, eine Erffärung ber 
bräifchen Namen, ein Buch de differentüs V, et N. T., eine Abhandlung de diflo- 
rentia translationis nostrae et hebraicae voritalis, und nach Wabding auch eine 
pia oontemplatio de vita et gestis S. Franeisei, — Vgl, Wadding, annales Mi- 
norum t, Il. ad annum 1291, $ 20. und t, II. ad a. 1340. $ 20, Rohrbacher, 
histoire de l’öglise t. 20, p. 185. ©, W, Meyer, Geſchichte der Schrifterflärun 
LBd. S, 109, Du Pin, bibliothöque t XL. p. Ti. wm t. XI p. 86. "Reufe.] 
Lofiad, Motas, 1) Keldherr des fprifchen Königs Antiochus Epiphanes 
dA): als diefer gegen die oſtlichen Provinzen zog, übergab er dem Lyfias 
die Negierung des Reiches und die Erziehung feines Sohnes, Tief ihm auch die 
Hälfte des Heeres zurück, um damit die Juden zu züchtigen, Lpfias fendete unter 
drei Anführern eine Armee von 40,000 Mann und 7000 Neitern gegen das 
Maccabäng; diefer, obgleich um Vieles ſchwächer an Macht, blieb Sieger; Lypfias 
führte nun felbft ein neues Heer gegen die Juden, der Erfolg war derſelbez er 
kehrte nach Antiochien zurüc, Judas reinigte den Tempel Ci Mace, 3, 32 ff. 4.) 
Antiochus Epiphanes farb in Perfien (6, 16), der junge Antiochus tor 
wurde als König eingefept; diefer unternimmt einen neuen Zug gegen die Juden, 
belagert Jerufalem (6, 28 ff). Inzwiſchen war Philippus, der eigentlich von 
Antiohus Epiphanes beftellte Neicheverwefer und Vormund des jungen Könige, 





Lyſimachus — Lyszezynski. 691 


aus Perſien zurückgekehrt mit den Truppen; um gegen dieſen ſich zu behaupten, 
räth Lyſias, von der Belagerung Jeruſalems abzuſtehen und mit Judas Friede 
zu ſchließen; dieß geſchieht; Antiochus ließ aber gegen den Vertrag die Mauern 
von Jeruſalem ſchleifen (6, 18—63.). Im folgenden Jahre fielen Beide, Lyſias und 
der junge Antiochus, dem Prätendenten Demetrius Soter (f.d. A.) in die Hände und 
wurden hingerichtet (1 Mace. 7, 1 ff. 2 Mace. 14, 2.). — 2) Claudius Lyſias, 
römifcher Chiliarch auf der Burg Antonia während des letzten Aufenthalts Pault 
in Serufalem; er ließ den Apoftel verhaften und Nachts nach Cäſarea zum Pro— 
eurator Felix bringen, um ihn fo den Verfolgungen der Juden zu entziehen ; vgl, 
Apg. 21—23. 

Lyſimachus, der Bruder des Hohenpriefterd Menelaus. Als diefer bie 
Summe, um welde er das Hohepriefterthum erfauft- hatte, nicht bezahlte, wurbe 
er nad Antiochien berufen, um fich zu verantworten, und während. feiner Ab» 
wefenheit von Zerufalem trat Lyfimahus an feine Stelle, Nach der Lesart der 
Bulgata 2 Macc. 4, 29. fiheint es, daß Menelaus abgefegt und Lyfimahus zu 
feinem Nachfolger ernannt wurde; nah dem Griechiſchen aber Tief Menelaus 
felbft feinen Bruder als Stellvertreter (dıa@doxos cf. v. 31.) zurüd, wofür auch 
das gute Einvernehmen beider (v. 39.) fpricht, Lyſimachus benugte feine Gewalt 
zur Pünderung des Tempelſchatzes und veranlaßte dadurch einen Aufftand zu Je— 
ruſalem, in welchem er felbft neben der Schagfammer des Tempels erſchlagen 
wurde, Dbmwohl,er nicht eigentlich Hoherpriefter gewefen zu fein fcheint, wird 
er doch mitunter in der Reihe der Hohenpriefter mitgezählt. | 

Lyſtra, Avorga (7 und ze), Stadt, welhe Apg. 14, 6, zur Provinz Ly- 
I saonien gerechnet wird (vgl. d. A), nicht weit von Derbe (Apg. 14, 6. 16, 1.) 

- and Iconium (14, 20. vgl. 2 Tim, 3, 11.). 

Lyszezynski, Cafimir, ein polnifcher Edelmann, welcher als Atheift ver- 
urtheilt wurde. Auf dem Neichstage von Grodno wurde er von den Biſchöfen 
von Pofen und Wilna des Atheismus angeflagt und in Folge deffen am 21, Oe— 
tober 1688 in Warfchau verhaftet, Die Anflage ward dadurch befonders begrün— 
det, daß man unter feinen Papieren folgenden eigenhändig von ihm gefchriebenen 
Sat fand: Gott ift niht Schöpfer ves Menfhen, fondern der Menſch 
ift vielmehr Schöpfer Gottes, da er fih aus Nichts einen Gott ge— 
macht hat, Dazu fam noch, daß er auf etwa 15 Blättern die ftärfftien Gründe 
für den Atheismus zufammengeftellt und dabei einige Male den Ausdruck gebraucht 
hatte: Wir Atheiften. Dann Hatte er den Beweisgründen, welche Alftevins in 
feiner theologia naturalis für das Dafein Gottes aufftellt, zuweilen beigefchrieben, 
es folge aus ihnen eher das Grgentheil. Auch hatte er nicht immer die Gefege 
der Fatholifchen Religion befolgt. Zu feiner Verteidigung erflärte Lyszezynski, 
er glaube an Gott und habe die Gründe der Atheiften nur zuſammengeſtellt, um 
fie fpäter defto gründlicher zu widerlegen; den Alftevius habe er aber nur deßhalb 
angegriffen, weil diefer das Dafein Gottes nicht fo gründlich und bündig be» 
wiefen habe, als er habe fünnen und follen. Zudem bezog er fich darauf, er habe 
von Jugend an ein mufterhaftes Leben geführt, noch wenige Tage vor feiner 
Berhaftung die heilige Communion empfangen und zum Anbau einer Capelle ſchon 
die erforderlichen Materialien anfahren laſſen. Am 1. März 1639 mußte Lys— 
zezynski zu Grodno vor dem Bifchofe von Wilna einen feierlichen Widerruf leiſten 
und ward dann von der weltlichen Dbrigfeit dazu verurtheilt, daß feine Schriften 
in feiner Hand und dann er felbft lebendig verbrannt, fein Vermögen in Beſchlag 
genommen, fein Haus abgebrodhen und der Platz ewig wüfte gelaffen werben 
folfe, Doc milderte der König diefes Urtheil dahin, daß Lyszezynski feine Schrif- 
ten an einem Stode, welchen er in der Hand hatte, am 20, März verbrennen 
mußte und dann mit dem Schwerte hingerichtet wurde, [Mevind.] 


44% 


MM, 


Maacha, 75>2, auh = Ds, fiehe den Art. Aram. Dem dort Gefagten 
haben wir nur Folgendes ergänzend beizufügen, Joſue 13, 9. wird das Dftjordan- 
Gebiet in feiner Ausdehnung von Süd nah Nord angegeben, Dafeldft ift das 
Gebiet von Maacha zwifchen Galaad (ſ. d. A.) und Bafan (f. d. A.) geftellt, 
Nah Hof. 12, 1—5. gehörte Geffur (f. d. A.) und Maacha nicht mehr zum Ge- 
biete des Königs Dg, deffen Neih vom Hermon bis an den Jabbof reichte, Alſo 
muß Maaha im Norden von Galaad und an der Weft- oder Dftgrenze von Ba— 
fan gefucht werden, Da Maacha den Beinamen „Aram” bat, da es von den 
Kindern Iſrael wohl erobert, aber nicht in Befis genvmmen, die Einwohner nit 
Hertrieben wurden (of. 13, 13.), fo fönnen wir es nur auf der Oftgrenze, füd- 
Iih von Damaseus, fuchen. =2>n2 heißt: Senfung, Niederung (vgl. Fürft, 
onomast. sacr. aus Concord.), fo daß der Name auf die Niederung und Ab- 
dachung wiefe, welche fih von Damascus bis an den Euphrat hinzieht, Indeß 
darf Maacha nicht in der Nähe von Haran (Kagdaı, u, am ber Bibel) geſucht, 
noch damit iventificirt werden. Haran (f. d. A.) lag viel zu weit nördlich, STR. 
u. 36° Br,, während wir nicht über 33° Br. und 54° %, hinausrücken dürfen. 
Burkhardt (R. I. 350) nennt au ein Charran im Diftriete Ledſcha, was mit 
unferer Lagenannahme übereinflimmen würde; ob aber der Syrer bei feiner Ueber— 
ſetzung „> an dieſes Charran gedacht habe, und nicht vielmehr an das bibliſche? 
Das Gebiet von Maacha hatte eigene Könige; daß es aber nur klein und un— 
bedeutend war, ſieht man aus 2 Sam, 10, 6. Es ſcheint, daß auch dort zuerſt 
die nördlichen, dann die öftlihen Nachbarvölfer und Bundesgenoffen der Söhne 
Ammons aufgezählt werden. — 2) Maacha — ein eigener Name, der von Män- 
nern und Frauen öfter vorfommt, 1 Kön. 2, 39. 1 Chron. 11, 45, 2 Sam, 3, 
3. u. ſ. w. 

Manafe beiden alten Hebräern. Dieſelben find theils I. Längen- und 
Weitenmaafe, theils IL hohle oder fubifhe Maaße. I. Die Yängen- 
maaße (7772, m372) find, vom Hleinften angefangen: 1) die Fingerbreite 
Cars); 2) die Handbreite (non oder mai), welde vier Fingerbreiten be- 
trug; 3) die Spanne (nA), welde drei Handbreiten betrug; 4) die Elle 
C28) , welche zwei Spannen, fomit ſechs Handbreiten und vierundzwanzig Fin- 
gerbreiten betrug; endlich 5) die Ruthe (mp), welde ſechs Ellen betrug. — 
Es ift Mar, daß, wenn eines dieſer Maaße genau beftimmt wäre, auch die übrigen 
ed wären. Diefe Beftimmung aber hat ihre Schwierigkeiten. Die Rabbinen 
gehen dabei vom Fleinften Maaße aus und ſetzen die Fingerbreite gleich ſechs 
neben einander gelegten Gerftenförnern. Daß jedoch damit feine Genauigkeit zu 
erzielen fei, Teuchtet ein. Einen. befferen Weg haben neuere Gelehrte betreten, 
indem fie bei der Elle begannen. Es ift nämlich kaum zu bezweifeln, daß ſchon 
der Name der hebräifhen Elle Tax) ägyptifchen Urfprunges und einerlei fei mit 
dem altägypi’fhen Mahe und bem koptiſchen Mahe oder Mahi, mit dem Präfie 











u Yuan Lu Zu = 





I * u Maaße bei den alten Hebräern, 693: 


= Ammahi, was Elfe bedeutet, daß fomit die Sache ſammt dem Namen von den 
I Qegyptiern zu den Hebräern gekommen fei. Nun find aber in neuerer Zeit in 
Aegypten, namentlih in den Gräbern bei Memphis, mehrere alte Ellenftäbe auf- 


gefunden worden, die zum Theil nach fiheren Indicien noch aus der Zeit der 


I Pharaonen herrühren Cogl. Otto Thenius in den „Verhandlungen der erften 


Berfammlung teutſcher und ausländischer Drientaliften in Dresden 1844”, S. 36). 
Die Elle wird auf ſolchen Maaßſtäben mit Hieroglyphenſchrift als königliche Elfe 
bezeichnet, ift aber nit in allen Eremplaren gleich lang; die durchfchnittliche 


- Länge jedoch beträgt nach dem angeftellten Unterfuhungen und Meffungen 232,55 


Parifer Linien, Sie ift daher ohne Zweifel urfprünglich einerlei mit der babylo- 
nifhen Elfe, welche auf 234,333 Par. Linien berechnet wird, und von gleicher 
Länge mit ihr. Neben diefer Föniglichen Elfe war aber in Aegypten noch eine 
andere fürzere üblich, deren durchfchnittlihe Länge 204,8 Par. Gran betrug (gl. 
A. Boöckh, metrologiſche Unterfuhungen ic. S. 222—228, — E. Bertheau, 
zur Geſchichte der Siraeliten ıc. S. 61, 73). Gerade fo wie bei den Negybtierm 
findet fih nun auch bei den Hebräern eine doppelte Elfe, eine fog. Heilige und 
eine gewöhnliche; jene Heißt auch die Elfe nach altem Maaße (FHERIT TT22 TER 
2 Chron. 3, 3.) und wurde beim Bau des falomonifhen Tempels angewendet, 


| — Diefelde Elfe muß wohl auch gemeint fein in der Befchreibung des vifionärem . 
Gzechiel'ſchen Tempels, da fie ald Normal-Maaß für das Heiligtfum erfcheint. 
I Dom diefer Elle wird aber bemerkt, daß fie eine Handbreite größer gewefen jet, 


als die gewöhnliche Elle (Ezech. 40, 5. 43, 13.). Hatte alfo die gewöhnliche 
Elle, die wahrfgeinfih unter Sn man Deut. 3, 11. (Elfe für Jedermann, vgl. 


WR vom ef. 8, 1.) gemeint ift, ſechs Handbreiten, fo betrug die heilige fieben 
derſelben. Die ift aber Allem nach nicht fo zu denfen, daß fie in fieben Hand- 
I breiten wirklich wäre abgetheilt gewefen, fondern ihre ſechs Handbreiten waren 
1 fo groß, daß fie fieben jener Handbreiten ausmachten, deren die gewöhnliche Elfe 
I sechs Hatte, weßhalb auch im Thalmud die Handbreiten der Heiligen Elfe lachende, 
I die der gewöhnlichen weinende genannt werden GBertheau, a. a.O. ©. 56). 
- Da nun die Hebräer ihre Elfe von den Aegyptiern entlehnt Haben, wofür außer 
] Anderem gerade au wieder die eben berührte Zweierleiheit derfelben fpricht, ſo 
I wird die Folgerung feinem großen Anftande mehr unterliegen können, daß die 
Heilige Elle der Hebräer mit der Föniglichen der Aegyptier und die gewöhnliche 
I der Hebräer mit der gemeinen der Aegyptier gleiche Größe gehabt haben werde. 
I Auch im Thalmud wird noch verfihert, daß in dem Gemache über dem Oftthore 
I des Temyels zweierlei Ellenmaaße feien aufbewahrt worden, das mofaifche und 
ein anderes (Chelim XVIl. 9.), das mofaifche aber war doch wohl ein ägyptiſches. 


Wenn einzelne Arhäologen den Hebräern aufer diefen beiden Elfen noch eine 
dritte, eine „Eönigliche”, und andere dazu noch eine vierte, eine „geometrifche”, 
zuſchreiben, fo beruht Erfteres nur auf einer unftatthaften Folgerung darans, daß 
ursrnan Deut. 3, 11. von Onkelos mit 7>9 nen überfegt wird, und Letzteres 


auf der willfürfihen Annahme, daß die Arche Noe's zu Fein gewefen wäre, wenn 


die in der Beſchreibung derfelben erwähnte Elle die gewöhnliche gewefen wäre, 
weßhalb man fofort diefe Elle fehsmal länger als die gewöhnliche fein ließ. — 
Sind Dbigem zufolge die beiden hebräiſchen Ellen den beiden ägyptifhen gleich- 
zufegen, fo ergibt fih aus dem Geſagten für die Größe der hebräifchen Längen- 
maaße Folgendes: - 


Die heilige Elle beiträgt 234,333. Par. Lin., die gewöhnl. Elle 2048. 9 &:- 
„ Spanne 2 117,166 — > ei Spanne I 
„ Dandbreite „ El — Handbreite 34,133 „ „ 
w. Bingerbreite „976975 „ „ * Fingerbreite 8,533 „ „ 


I Bon Weiten maaßen kommt im hebräifhen Bibeltert außer der Tagreife, die 


ein ſehr unbeſtimmtes, oder vielmehr gar fein eigentliches Maaß ift und darum 


694) Maaße bei den alten Hebräern. 


auch nicht hieher gerechnet werben kann, nur das verfihieden gebeutete mna22 
yıyı dreimal vor (Geneſ. 35, 16. 48,7. 2 Kön. 5, 19). Der Sprer und 
Araber nehmen e8 als eine perfifhe Parafange (etwa °/, einer teutfchen Meile), 
die LXX. nehmen es unüberfegt in ihren Text auf (yaßoaIa) und feßen nur 
Genef. 48, 7. noch irırzodoouos Hinzu, An eine ziemlich große Strede läßt 
fhon der Ausdruck 7I22, nach der gewöhnlichen Bedeutung des Stammes 425, 
denfen; nach 1 Sam, 10, 2, vergl. mit Genef. 35, 16, muß wohl eine Strede 
von mehr als einer teutfchen Meile damit bezeichnet worden fein (ogl. Duartal- 
fchrift 1846. ©. 214 f.). In den beuterocanonifchen und neuteflamentlichen 
Schriften werden von Weitenmaaßen erwähnt: a) der Sabbath-Weg (App. 1, 
12.), d. h. die Strede Weges, welche die Juden auch am Sabbath außerhalb 
ihres Wohnortes machen durften. Weil nämlich Exod. 16, 29, den Sfraeliten 
verboten wird, fih am Sabbath aus dem Lager hinauszubegeben, und nach einer 
Ueberlieferung der Pharifäer, die auch der Thalmud fennt (Schabb. XXIU. 3. 4. 
Erub. IV. 7), die Strede vom äußerften Ende des Lagers bis zum hl. Zelte 2000 
Ellen betrug, fo verorbneten fie, daß fein Sfraelit am Sabbath mehr als 2000 
Ellen weit außerhalb feines Wohnortes gehen dürfe. Nach der Peſchito (zu Ang. 
1, 12.) betrug der Sabbath-Weg fieben Stadien, nah Epiphanius (Haer. LXVI. 
82) nur fehs Stadien; mit Legterem flimmt auch Zofephus überein, indem er 
die Entfernung des Delberges von Jeruſalem, um die es fih Apg. 1, 12, ban- 
delt, auf fehs Stadien angibt (Bell. Jud. V. 2, 3.). b) Das Stadium (ore- 
Jıov), das feit Alexander d. Gr. auch im Orient gebräuchlich wurde (3. B. 2 Mace. 
11, 5. 12, 9. Luc. 24, 13.). Es beträgt nach Herodot (II. 149) 600 griechiſche 
Fuß, nah Plinius CH. N. I. 21) 125 römifhe Schritte, d. i. 625 Fuß, An- 
geftellte Meffungen haben gezeigt, daß ein Stadium den A0ten Theil einer geo- 
graphifchen Meile ausmacht, und fomit die 60 Stadien Luc. 24, 13. anderthalb 
Meilen und die 15 Stadien Joh. 11, 18. %, Meilen ausmahen (Winer, 
Nealw. s. v.). c) Die römische Meile CwuiAıov, Matth. 5, 41.), eine Strede 
von 1000 (daher der Name milliare, milliarium) römifhen Schritten, fomit, da 
125 folde Schritte ein Stadium ausmadhen, von acht Stadien, und daher (da 
5%xX8=40) der fünfte Theil einer geographifchen Meile. — II. Die hohlen 
oder Fubifchen Maaße find theils A. Maaße für trodene Dinge, tbeils 
B. Maaße für flüffige Dinge A. Die Maaße für trockene Dinge find: 
1) das Chomer (Han), das größte Maaf der Hebräer, das fpäter zur Zeit 
der Könige gewöhnlich Cor (>) genannt wurde, fo daß diefer Name den frühern 
ziemlich verdrängte (1 Kön. 5, 2. Ezech. 45, 14), und auch in’s Griechiſche 
0908) und Syrifche (1a) überging; 2) das Epha (on, LXX. olpl, olgpel, 
olyı, olpıy, vpl, ige), nah Hefychius ein ägyptiſches Maaf, wie auch der 
Name altägyptifch ift Cef. Gesenius, thesaur. s. v.); es faßte nach Czech 45, 
11, 14. eben fo viel als das Bath, und fomit den zehnten Theil des Chomer 
ober Cor; 3) das Seah (xD, LXX. odrov, zuweilen auch uergov Genef. 18, 
6. 2 Kön. 7, 1. 16., für den Dual diuszoov 2 Kön. 7, 1. 16,, und ungenau 
oigpt 1 Sam, 25, 18,); nah LXX. und Targ, zu Gef. 5, 10, faßte es den dritten: 
Theil des Epha; 4) das Dmer (Ar, Touog), nach Exod. 16, 36. faßte es 
den zehnten Theil eines Epha; 5) das Kab (27, xuRos), welches den Nabbinen 
zufolge Cof. Leusden, philol. hebraeo-mixtus p. 220), womit auch die Angaben 
des Joſephus zufammenftimmen (Antt.IX. 4, 4.), den fechsten Theil eines Seah, 
den achtzehnten eines Epha ausmacht; 6) das Letech (772), das nur Hof. 3, 2. 
vorfommt, ift nach LXX. (rudxopog) und Hieronymus (Vulg. corus dimidius) die 
Hälfte eines Chomer oder Cor, mithin ſ. v. a. fünf Epha. B. Die Maaße für 
flüffige Dinge find; 1) das Bath (n2), das übrigens im A, T. erft zur Zeit 








Maaße beiden alten Hebräern. 695 


der Könige erwähnt wird (1 Kön. 7, 26. 38. Jeſ. 5, 10.), nah Ezech. 45, 11. 
ift es dem Epha gleih und faßt_den zehnten Theil eines Chomer oder Cor; 
2) das Hin (777, LXX. &v, tv, vv), deffen Name ohne Zweifel altägyptifch iſt, 
da er von den LXX. beibehalten wird, und trzor au als ägyptifche Bezeichnung 
des Sertarius vorfommt (Böch, metrologifhe Unterfuhungen ꝛc. S. 244); eg 
faßt nach den Angaben des Joſephus (Antt. IM. 9, 4.) und der Rabbinen ven 
fehsten Theil des Bath; 3) das Log (>>), das nur im Gefege über den Ausfag 
Levit. 14, 10. 12. 15. 21. 24. vorkommt; es faßt nach den Rabbinen den 24ten 
Theil eines Seah, alfo den 12ten eines Hin (Leusden, I. c. p. 223). Diefe 
Maafe ftehen demnach wieder, wie die Längenmaafe, in einem ſolchen Berhält- 
niffe zu einander, daß, wenn die Größe von einem derjelden genau beftimmt 
wäre, darnach auch die der übrigen ſich Teiht angeben Tieße. Bei Beſtimmung 
folder Größe hat man wiederum verfhiedene Wege eingefhlagen. Die Rabbinen 
gehen vom Heinften Maaße, dem Log, aus, und beflimmen daffelbe auf ſechs 
Eierſchalen, d. h. ein Log hält nach ihnen fo viel Waffer als aus einem vollfom- 
men angefüllten Gefäße durch Hineinlegen von ſechs Eiern ausgetrieben wird, 
Darnach ift dann die Größe der übrigen Maaße, die nur Mehrfahe vom Log 
find, Teicht zu berechnen. Joſephus dagegen beftimmt die Größe der genannten 
Maaße nach den Maafen der Griechen, und ſchon Theodoret bemerft, daß er 
Glauben verdiene (mıorevriov ÖL Ey TETOIS auro, axgıßos TE EIvag Ta 
uerga Ertioreuevo. Quaest. 64. in Exod.). Joſephus kannte den Tempel und 
die dort aufbewahrten heiligen Gefäße genau, diefe aber ſtammten aus alter Zeit 
ber und wurden für das wiederherzuftellende Heiligtum unter Cyrus den Jfrae- 
Viten zurütfgegeben (Esra 1, 7 ff.); fie entfprachen alfo ohne Zweifel den Nor- 
malmaafen, und es ift beachtenswerth, daß Joſephus felbft von Salomo fagt, 
er habe eine Menge von Gefäßen mofaifhen Maafes in Gold und Silber an- 
fertigen Iaffen CAntt. VII. 3, 8.). Es ift daher begreiflih, daß auch die neueren 
Gelehrten in ihren Unterfuchungen über diefen Gegenftand faft ohne Ausnahme 
den Joſephus zum Führer nefmen, obwohl ihnen nicht entgangen ift, daß ihm 
auch Fehler und Verftöße begegnet find. Joſephus nun beftimmt das Bath oder 
Epha zu 72 Xeften (Antt. VII. 2, 9.), 72 Xeften (Scorer) aber machten einen 
attifchen zeronzris aus (Eisenschmid, de ponderibus et mensuris etc. p. 80). 
Mit jener Beftimmung im Einklang ift es, wenn Jofephus ein Seah zu 1',, 
itafienifchen Modien angibt (Antt. IX. 4, 5.); denn der Modins enthält 16 Xeften, 
das Seah fomit 24 Keften, alfo den dritten Theil eines Bath oder Epha oder 
ueroneng, denn 24 %X3— 72, Ebenfo ift damit im Einflang, wenn Joſephus 
das Kab zu vier Keften berechnet, denn vier Rab machen ein Seah, und AX 6= 
24. Wenn daher das Ehomer oder Cor bei Joſephus, welcher wohl weiß, daß 
daffelbe 10 Bath oder Epha oder Metreten Hält, zu 12 attifhen Medimnen an- 
gegeben wird (Antt. XV. 9, 2.), fo ift dieß einfach als ein Berfehen zu betrachten; 
fowie auch, wenn dort das Dmer, das als der zehnte Theil des Epha (72 XKeften) 
75 Teſten enthält, wie Epiphanius auch ausdrüdflih angibt (vgl. Böckh, a. a. 
9, ©. 260), zu fieben attifchen Kotylen beftimmt wird (Antt. II. 6, 6.). Sf 
aber demnach ein Bath oder Epha fo groß als ein attifcher Metretes, fo ift feine 
Größe befannt, denn ein attifher Metretes faßt 739,800 Par. Gran Regen- 
waffer, welche einen Raum von ungefähr 1985,77 Par. Kubikzoll ausfüllen, Es 
ergibt fih alfo (nah Bertheau, a. a. O. ©, 73) folgende Tabelle: 


Größe. Waſſergewicht. 
Chomer 19857,7 Par. Kubikzoll. 7398000 Par, Gran, 
Epha 1985,77 * Re 
Seh 661,92 „ ä 246600: :.4 -:% 


Hin Be. 193300: 2:8 


696 3346” Ru 


’ Größe. Waflergemwicht. 
Omer 198,577 Par, Kubikzoll. 73980 Par. Gran. 
Kab 110,32 „ "H 41100 HM ir 4 
Log 27,98 7 v \ 10275 u ; n 


Nah Wurm (de ponderum, nummorum, mensurarum, ac de änni ordinandi ratio- 
nibus apud Romanos et Graecos. Stutg. 1820. p. 123. 125. 126.) faffen drei 
zömifhe urnae, denen der attifhe Metretes gleihfommt, 21,14436 würtem- 
bergifche Maaß. — Neulich hat Otto Thenius dem Verfahren der Rabbinen 
bei Beftimmung der hebräifchen Maaße wieder den Vorzug gegeben (a. a. D. 
S. 35 f.); allein was er genen das gewöhnliche Verfahren und das Ergebnif 
deſſelben vorbringt, fcheint nicht fehr erheblich zu fein, und auf der andern Seite 
wird man fich wohl fhwerlich überzeugen können, daß das rabbinifche Verfahren 
geeignet fei, zur erwänfchten Genauigkeit und Sicherheit zu führen. Auf den 
Zufammenhang des. hebräifhen Maaßſyſtems mit den Maaßſyſtemen anderer alten 
Bölfer, namentlich der Aegyptier und Babylonier, und das gegenfeitige Verhält- 
niß derfelben näher einzugeben, würde bier zu weit führen; fpecielle und aus— 
führliche Auskunft darüber findet fi in den ſchon wiederholt genannten Schriften 
son Börh und Bertheau, [Welte.] 
Mabillon, Johann, der berühmtefte Benedictiner der Kongregation von 
St, Maurus und einer der größten Gelehrten. des 17ten Jahrhunderts, wurde 
den 23, November 1632 zu Pierremont, einem Fleinen in der Didcefe Rheims 
an den Grenzen der Champagne gelegenen Orte Franfreihs, geboren, und er— 
hielt feine erfte Bildung in dem Haufe feines Oheims, eines Pfarrers in der 
Nachbarſchaft. Da fih aber in dem Knaben befondere Fähigkeiten entwickelten, 
wurde er nach Nheims geſchickt, wo er durch feinen außerordentlichen Fleiß, die 
Lebhaftigfeit feines Geiftes, feine Gottesfurcht und Beſcheidenheit fih bald die 
Liebe feiner Lehrer und der höheren Geiftlichfeit gewann, die mit größter Theil- 
nahme für ihn forgten. Nach abfoloirten Humanitätsclaffen wurde ihm als einem 
der ausgezeichnetften Schüler eine Stelfe im Seminar der Metropolitankirche zu 
Theil, welches der Erzbifchof von Nheims, Cardinal Carl von Lothringen, nad 
feiner Rückkehr vom Trienter Concilium gegründet und nach jenem des hl. Carl 
von Borromäo zu Mailand eingerichtet hatte, Hier befchäftigte er ſich gleich eifrig 
mit den Wiffenfihaften wie mit den gottesdienftlichen Uebungen, und bereitete ſich 
unermüdet auf das heilige, ernfte Amt vor, einft als Priefter zur Ehre Chriſti 
und zum Beften der Kirche wirken zu fönnen, doch war er auch unfchlüffig, ob er 
den Weltpriefterftand wählen, oder einer Ordensregel und den feierlichen Ge— 
lübden ſich unterziehen ſollte. Endlich entfchied er fich für den Kloſterſtand. 
Schon lange hatte der Drden des hl. Benediet und befonders, das rühmliche 
Wirken der Congregation des hl. Maurus, welche die Abtei St. Denis zu Nheims 
befaß, feine Aufmerffamfeit auf fich gezogen, und das wahrhaft religiöfe Leben 
diefer Denedictiner fagte vor Allem feinem frommen Gemüthe zu. Daber trat er 
den 5. September 1653 in die Benedictinerabtei St. Denis, und verband fi 
nach vollendetem Probejahre am 6. September 1654 durch Ablegung der Ge- 
lübde dem Orden und der Kongregation, deren größte Zierde er geworben ift, 
Sein Eifer, mit dem er fih dem Studium der- heiligen Wiſſenſchaften bingab, 
und feine ſtrenge Genauigkeit in der Erfüllung der Ordensregeln bewogen feine 
Vorgeſetzten, ihm die Aufficht und Leitung der übrigen jüngeren Mitglieder der 
Congregation zu übertragen, und fo wurde er, noch nicht Priefler und erſt fürzere 
Zeit Profeß, Novizenmeifter, und durch Wort und Beifpiel ein Lehrer Höfter- 
licher Frömmigkeit und ein Eiferer für die Wiffenfhaft und die Ehre des Ordens, 
Wohl aber mag er, vom Eifer hingeriffen, feine Geiftesfräfte zu viel angeftrengt 
- haben, denn bald befielen ihm heftige und anhaltende Kopffchmerzen, bie feinen _ 
zartgebauten Körper fo ſehr ſchwächten, daß er jede ernfte Befchäftigung ver- 


re a — TE ER — 
Mabillon. 697 


meiden mußte. Die einzigen Mittel ſeiner Herſtellung, welche die Aerzte an— 
| riethen, waren Enthaltung von jeder geiſtigen Auſtrengung und Luftveränderung, 
und deßhalb fanden fih feine Obern gemöthigt, ihn in das einfame Klofter der 
- Heiligen Bottesmutter zu Nougent, zwifchen Laon und Soiffons, zu ſchicken. In 
diefem alten Klofter, das nur von einigen greifen Mönchen bewohnt wurde, fand 
er in ftiller Zurücgezogenheit bald die nöthige Kräftigung und Erholung, und 
die vielen Ueberrefte der Vorzeit und einige alte hiſtoriſche Schriften, die er hier 
vorfand, gewährten ihm eben fowohl Zerftreuung, als fie zuerft in ihm jene Liebe 
zu Altertfumsforfhungen wecten, durch welche er in der Folge fo Großes und 
Herrliches Teiftete. ALS feine Ordensobern zu St. Denis Mabillons Liebe zu den 
antiquarifhen Studien erfuhren, befchloffen fie, ihn nach Corbie (ſ. d. A.) zu ſchicken, 
da diejes Klofter reichlichen Stoff zu antiquarifchen Forfhungen darbot, befahlen 
jedoch, ihm durchaus fein Amt zu übertragen, welches feine Geiftesfräfte in An— 
fpruch nehmen fönnte. So fam er im Jahr 1653 nach Corbie, und da man ihr 
zu andern Gefhäften für untauglich Hielt und feine Kopfleiden wirklich noch fort- 
dauerten, übertrug man ihm das Amt eines Klofterpförtners und Ausfpenderg der 
milden Gaben, dem er fih in aller Demuth unterzog. Als es mit feiner Ge- 
fundheit beffer geworden war, wurde er zu Amiens den 27. März 1660 zum 
Priefter geweiht, und nun nach Eorbie zurücfgefehrt, Tieß er fich nicht mehr von 
feinen gelehrten Befchäftigungen abhalten, bejuchte die theologifchen Eollegien des 
Klofters, und fammelte in der an alten und merfwürdigen Handichriften fo reichen 
Bibliothek viele höchſt intereffante Documente, die er fpäter feinen größern Wer- 
fen einverleibte. Im Archive diefes Klofters fand er auch die Lebensgefchichte des 
heiligen Adelhart, der, ein Bruder Carlomanns, den Föniglihen Hof verlieh 
und ald Mönch zu Eorbeja ftarb. Diefe Gefhichte, vom Hl. Mönde Gerhard 
im eilften Jahrhundert gefchrieben , begeifterte ihn fo fehr, daß er Adelharts Leben 
in Berfen befang und fpäter mit mehreren Hymmen zu Ehren ber hl. Königin 
Dathildis, der Stifterin des Klofters Corbeja, die er gleichfalls verfaßte, im 
Drude heransgab, die erſte Literarifche Arbeit Mabillons. Doch diefe geiftige 
Thätigfeit beunruhigte die Ordensobern zu Corbie, denn fie fürdhteten, daß der 
ihnen anvertraute junge Ordensmann, kaum genefen, wieder in feine Krankheit 
zurücfallen möchte, und deßhalb glaubten fie ihn durch andere Gefchäfte von fei- 
nen wiffenfhaftlihen Strebungen abziehen zu müffen. Sie übergaben ihm nun 
die Leitung der weltlichen Angelegenheiten des Klofters, die Auffiht über dag 
Geld und den Keller, und machten ihn zum Depositarius und Cellarius. Allein 
zur Führung diefer Aemter fühlte er fich nicht geeignet und bat daher inftändigft, 
ihm eine andere Befchäftigung anzuweiſen. Er wurde daher in die Abtei St, Denis 
geſchickt, wo ihm das Amt eines Schagmeifters zu Theil wurde, das er im Juli 
1663 antrat. Als folder mußte er den häufig nach St. Denis ſtrömenden Gäften 
die Gräber der Könige und den Schag und die Merfwürdigfeiten des Klofters 
zeigen, was feine Zeit fehr in Anfpruch nahm; doch veroollfommnete er fich nebft- 
bei in allen Zweigen der Theologie und befchäftigte fich fleißig mit: der Lefung 
der heiligen Väter, Schon in diefer Zeit hatte er, als er vernahm, daß feine 
Congregation eine neue correcte Ausgabe der Kirchenväter zu veranftalten im 
Sinne hatte, die Werfe des HI. Bernhard aufmerffam gelefen und mit mehreren 
Handſchriften verglichen, um den Herausgebern dadurch nüßlich zu werden, ohne 
zu ahnen, daß er felbft die Seele diefes herrlichen Unternehmens, das allein ſchon 
den Namen der Mauriner Congregation in der Geſchichte der Literatur unfterblich 
macht, werden würde, Da num feine Vorgefegten diefe gelehrten Beftrebungen 
Mabillons fahen, wollten fie ihm feine weitern Schranken mehr fegen und ſchickten 
ihn im Juli 1664 nach Paris in die Abtei Saint Germain, um den Bibliothecar 
Lucas d' Ach ery im Amte zu unterftügen und bei der Herausgabe feines Spici- 
legiums behilflich zw fein Ch, den Art, Dacherius). D’Adery, der jüngere 











698 Mabillon, 


Priefter feines Ordens befonders deßhalb von den Dbern forderte, damit er fie 
in den Stand fege, feine großen hiftorifchen Arbeiten nach feinem Tode fortfegen 
zu fünnen, hatte in Mabillon, was er fuchte, gefunden, Mit unermüdetem Eifer 
benügte dieſer d'Achery's gefammelte Materialien, ordnete das Einzelne zum 
Ganzen,_und arbeitete raftlos unter der Leitung des greifen Meifters an den 
legten Bänden des Spicilegiumd. Aber auch mit eigenen Arbeiten fih zu be- 
faifen, hatte er bald Gelegenheit. Die projectirte Herausgabe der Kirden- 
väter follte jegt in Wirflichfeit treten, Schon waren die verſchiedenen alten 
Handfhriften, die man großentheils dem Fleiße der Benedictiner verdanft, ge- 
fammelt und aus den Ordensbibliothefen herbeigefchafft, ſchon hatte der um diefes 
Unternehmen viel verdiente Mauriner Claude Chantelou einen Band der 
Neden des hl. Bernhard herausgegeben, als Chantelou’s Tod die Fortjegung zu 
vereiteln fohien. Da übernahm Mabillon die Leitung des ganzen großen Unter- 
nehmens, und unterzog fich der vollftändigen Bearbeitung der Werfe des hl. 
Bernhard, Diefe Opera s. Bernardi erfchienen zu gleicher Zeit im J. 1667 in 
zwei fchönen Ausgaben, die eine in zwei Bänden in Folio, die andere in neun 
Detavbänden, eine dritte mußte Mabillon noch fpäter auf Verlangen des Papſtes 
Alerander VII. veranftalten. Aber noch eine größere Arbeit, welche die Aufgabe 
feines ganzen folgenden Lebens geworden ift, wurde ihm zugewiefen. Die Be— 
nebictiner waren feit der Gründung ihres Ordens gewohnt, die einzelnen Ereig- 
niffe ihrer Klöfter, fowie auch die in die DOrdensgefhichte eingreifenden Welt- 
. begebenpeiten mit forgfamer Genauigfeit aufzuzeichnen. Da gab es nun Hand- 
fohriften und Gefchichtsquellen in Menge, die, weil Benedicts Orden ſich ſchnell 
im ganzen Abendlande verbreitet Hatte, nicht nur die Kirchen-, ſondern auch bie 
Profangefhichte ungemein beleuchten und manches gänzlich unbefannte Geſchichts— 
factum erzählen. Diefe Handfchriften ließ die Kongregation des HL. Maurus fam- 
meln und nach Paris bringen, um aus ihnen eine vollfommene Gefhichte des 
Denedictinerordens auszuarbeiten, und biefe Arbeit wurde vom Orden an 
Mabillon übertragen. Freudig übernahm er fie, doch feine Liebe zur heiligen 
Geſchichte bewog ihn, zuerft das Leben und Wirfen der Heiligen des Be— 
nedictinerordens an’s Licht zu fördern, und ſchon im J. 1668 erſchien der 
erſte Band feiner Acta Sanctorum Ordinis s. Benedicti, dem bis zum Jahre 1702 
noch acht andere folgten. Diefes Werk, obwohl alfenthalben mit großem Beifall 
aufgenommen, erregte dennoch den Unwillen einiger feiner Ordensbrüder, die, 
von unmäßigem Eifer getrieben, glaubten, Mabilfon wäre bei der Kritik der alten 
Acten der Heiligen zu weit gegangen, und babe dadurch, daß er die Heiligen, 
deren Acten ihm verdächtig ſchienen, oder die bei genauerer Unterfuhung dem 
Drden gar nicht angehörten, als dubios und extraneos darftellte, der Ehre des 
Drdens durchaus nicht Nechnung getragen, ja fie legten felbft dem Oeneralcapitel 
eine Klagfchrift vor und verlangten den Widerruf Mabillons. Allein diefer, wel- 
her das Streben nach der firengften Wahrheit für eine heilige Pflicht des Ge- 
fchichtfchreibers hielt, vertheidigte fih auf eine fo überzeugende Art, daß das 
Drdenscapitel den thörichten Eifer feiner Ankläger mißbilligte, und feiner Liebe 
für die Wahrheit das verdiente Lob beilegte, er alfo nicht nötig hatte, einen 
Widerruf zu leiften, Und von nun an arbeitete er ungeftört an ber Geſchichte 
des Ordens ſowohl als feiner Heiligen, leitete mit Umficht die Ausgabe der Kir- 
henväter, fchrieb während diefer Zeit gelegenpeitlich mehrere kleinere Werfe, wie 
z. B. die dem Cardinal Bona gewidmete Dissertalio de pane eucharistico azymo 
et fermentato, und ftand mit den gelehrteften Männern feiner Zeit in wiffenfchaft- 
licher Verbindung. Es ift faunenswerth, wie dieſer Mann bei feiner fchwäd- 
lichen Gefundheit fo Vieles zu leiften vermochte, Um zwei Uhr nah Mitternacht 
ftand er gewöhnlich auf und arbeitete, jene Stunden ausgenommen, bie er ber 
Lefung und Anhörung ber heiligen Meffe und dem Gebete widmete, ununter« 





Mabillsn, 699 


brochen bis zur Mittagszeit, nach derfelben feste er wieder, ohne an eine Er- 
holung zu denfen, feine Arbeiten bis fpät in Die Nacht fort, und dennoch befand 
ex ſich recht wohl bei diefer Lebensweife. Merkwürdig iſt e8 auch und ein Beweis 
feiner Beſcheidenheit, daß er, obwohl er-bei vielen Werfen die ganze Laſt der 
- Arbeit allein auf fih nahm, doch den eingeernteten Ruhm gerne mit feinen Ge- 
noffen teilte, — Da Mabillon bei der Bearbeitung der Acta Sanctorum fo viele 
Duellen des Mittelalters aus Franfreihs und Hollands Bibliothefen vorfand, 
die nicht zunächft die Drdensgefchichte betrafen, er auch genöthigt war, gelehrter 
Forſchungen wegen mehrere Klöfter zu bereifen, alles Merkfwürdige aber für den 
Forſcher Intereſſe hatte, wollte er die Ausbeute feiner Unterfuchungen nicht nuß- 
los verborgen halten, fondern entfchloß fih, das Wichtigfte derfelben bekannt zu 
machen, Diefes that er in feinen Analectis Veterum, von denen der erfte 
Band im J. 1675, der vierte legte 1685 erfhien. Sie enthalten eine Samm- 
lung der trefflihftien Abhandlungen über gottesvienftlihe Gebräuche, einzelne 
Werfe alter Kirchenfchriftfteller, Fragmente aus der Gefhichte und aus alten 
Ehronifen, Beihlüffe der Eoncilien, Urkunden vieler Klöfter und Kirchen, Briefe 
von Kaifern, Königen, Päpften und Bifchöfen, und viele andere ſchätzbare, bisher 
ungedructe profaifhe und poetifhe Schriften alter Seriptoren. Noch größere 
Berühmtheit aber brachte ihm fein im J. 16831 berausgegebenes Werf de re di- 
plomatica. Die Unterfuhung einer unzähligen Menge alter Urkunden und 
Handfhriften, zu der ihn feine frühern Arbeiten nöthigten, brachten ihn auf den 
Gedanken, das Wefen der Diplomatif gewiffen Regeln zu unterwerfen und auf 
fihere Grundfäge zu bauen. Zwar hatten fchon feit Laurentius Valla (1440) 
mehrere Gelehrte verfucht, der diplomatischen Kritif die Bahn zu brechen, aber 
noch fehlte ihr die fyftematifche Begründung, bis endlih Johann Mabillon 
in dieſem feinem Werfe die Urfundenlehre zur Freude aller Gelehr— 
ten wiffenfhaftlich dvarftellte (f. Wachlers Handbuch der Literaturgefchichte, 
Bd. IV. ©. 153). Diefes Werk machte den Föniglihen Minifter Colbert auf 
Mabillon aufmerkffam, und da diefer in feiner Diplomatif fih auch um die Rechte 
der Könige Frankreichs verdient gemacht Hatte, trug ihm Colbert eine Penfion - 
von jährlichen 2000 Liores aus dem Foniglihen Schage an. Eine folche Unter- 
ſtützung aber wies der demüthige, genügfame Mann zurücf mit der einfachen Ent- 
fhuldigung , feine Eongregation laſſe es ihm an dem Nöthigen nicht fehlen, und 
mehr brauche er nicht, Ueberhaupt Hatte Mabillon fehr wenige Bedürfniffe, und 
wünfchte nichts mehr, ald arm zu fein. Einfach war die Einrichtung feiner Zelle, 
einfach feine Kleidung, einfach feine Koft, und der Mann, um deffen Freundfchaft 
fih die größten und gelehrteften Männer Europa’s eifrig bewarben, lebte als 
ſchlichter Mönch in den Mauern von St. Germain, ein Mufter evangelifcher Ar- 
muth. Da aber Eolbert einmal die Tüchtigkeit diefes Gelehrten erfannt hatte, 
ließ er nicht ab, fich feiner zu Frankreichs Ehre zu bedienen, Schon im J. 1682 
ſchickte er ihm auf Föniglichen Befehl nach Burgund, um einige die Genealogie 
des föniglihen Haufes betreffende wichtige Documente aufzufuchen und nach Paris 
zu bringen. Und der glüdliche Erfolg diefer Sendung bewog ihn, bei Ludwig XIV. 
auszuwirken, dag Mabillon auf Foniglihe Koften und im Auftrag des Königs eine 
gelehrte Reife nach Zeutfchland unternehme, um die Bibliotheken und Archive der 
Stifter und Klöfter diefes Landes zu durchforſchen und zu fammeln, was fih in 
denfelben für die Geſchichte überhaupt und für die franzöfifche insbefondere vor— 
fände, Mabilfon trat in Begleitung feines Drdenshruders Michael Germain 
den legten Juli 1683 diefe Reife an, durchwanderte Elſaß, Schwaben, den nörd- 
lichen Theil der Schweiz, Tirol, Bayern und Salzburg, machte fehr viele für 
bie Geſchichte wichtige Entdeckungen, die er im vierten Bande der Analecten mit- 
theilt, und kehrte mit Kenntniffen bereichert nach fünf Monaten nach Paris zurück. 
Wäsrend Mabillons Reife war fein großer Gönner Colbert geflorben, und der 


700 Mabillon 


Erzbiſchof von Rheims, le Tellier, an deſſen Stelle getreten; aber auch dieſer 
erlauchte Kirchenfürſt wußte die Verdienſte Mabillons vollfommen zu würdigen 
und ſein gelehrtes Wiſſen in Anſpruch zu nehmen. Durch den günſtigen Erfolg 
der teutſchen Reiſe aufgemuntert, machte er dem Könige den Vorſchlag, Mabillon 
nun auch nach Italien zu ſenden, um theils Bücher für die Fönigliche Bibliothek 
anzufaufen oder abzufchreiben, theils durch die Nefultate neuer Forfchungen die 
Literatur zu bereichern. Und Ludwig, der für Alles, was feines Namens Ruhm 
erhöhen und den Auffhwung der Literatur in Frankreich befördern konnte, Teicht 
gewonnen wurde, gab alfogleih Befehl, Mabilfon ſolle nicht nur auf königliche 
Koſten, fondern auch unter föniglichen Aufpieien gleichfam als Legat feines Mo- 
narchen fih zur Reife nach Italien rüften. Wieder von Michael Germain be- 
gleitet trat Mabilfon den 1. April 1685 diefe Reife an, nahm den Weg über 
Lyon, überftieg Die Alpen, befushte Turin, Mailand, Verona, Pabua, Venedig, 
Florenz, fam den 5. Juni nah Rom, und von da nach Neapel, befuchte faft jede 
Bibliothek und Runftfammlung und die Kirchen, die nur immer etwas Merfwür- 
diges befaßen, und fand überall bie ehrenvollſte und freundlichfte Aufnahme, Aber 
nicht bloß der Forfchergeift des Gelehrten, auch das Findlich Fromme Gemüth des 
Mönches fand auf diefer Reife reichliche Nahrung, denn nicht bloß die Schäge 
der Bibliothefen und der Umgang der Gelehrten waren e$-, die er da fuchte, fon- 
dern auch jene heiligen Drte, in deren ftilfer Einfamfeit er fih fammeln und fei- 
nen frommen Uebungen und Betrachtungen überlaffen fonnte, Voll frommer An- 
dacht verweilte er in jener Höhle der Einöde von Ballombrofa, in der einft ber 
heilige Abt Johannes Gualbert gelebt und feinen berühmten Orden geſtiftet 
hatte; mit heiliger Scheu trat er ein in die Höhle der Wüfte von Sublaco, und 
begeiftert rief er aus: „In hoc sacro specu Benedictus Ordinem suum obstefricante 
gratia parturiit, hic cunabula gentis nostrae, haec petra, unde exeisisumus!* Big 
in's Innerſte gerührt, betrat er auf dem Monte Caffino die Zelle, in der einft 
der große Benedietus gehaufet, und von der aus Benediets Geift und Negel 
und die Zweige feines großen Ordens durch das ganze Abendland fich verbreitet 
hatten, Ganz verfunfen in tiefe Andacht fah man ihn in Loretto um des Sohnes 
Erbarmen die heilige Gottesmutter anrufen, zu Pavia vor Auguftins, zu Ver— 
celli vor Euſebs, zu Mailand vor Ambrofius’ und Carls heiligen Ueber— 
reften betend im Staube liegen. Bon nichts erzählte er nach feiner Zurücklunft 
freudiger, als von feinem Beſuche der Grabftätten der Apoftelfürften Petrus 
und Paulus, von Roms herrlichen Kirchen, den Katakomben der Martyrer, und 
von dem Glücke, das ihm zu Theil geworden, Roms heilige Erde betreten zu 
haben, Seine ganze Reife durch Italien war daher nicht weniger die Wallfahrt 
eines frommen Ordensbruders, als fie die Forfchungsreife eines Gelehrten ge— 
wefen, Nachdem Mabillon durch fünfzehn Monate Jtaliens heilige und gelehrte 
Schätze emfig durchforſcht, in Vergeffenheit begrabene Werfe der Literatur au's 
Licht gefördert, Foftbare Bücher gefammelt, und Manuferipte, die um feinen 
Preis anzufaufen waren, abgefchrieben hatte, kehrte er um die Mitte des Jahres 
1686 nach Frankreich zurück, und bereicherte die Fönigliche Bibliothek mit mehr 
als drei Taufend feltenen Büchern und Handfhriften. Bald nach feiner Rückkehr 
gab er die Beſchreibung feiner italicnifchen Neife und der Ergebniffe derjelben: 
im Drude heraus, welcher er mehrere merfwürdige, dort aufgefundene Schriften 
und Doeumente beifügte, unter dem Titel Museum ltalicum. — Nah Paris zurück- 
gefehrt, lebte Mabillon wieder fo zurücfgezogen in St. Germain, daß wohl Nier 
mand in dem ftilfen, bemüthigen und befcheidenen Kloftergeiftlichen den Mann 
erfannt haben würde, deffen gelehrten Kenntniſſen Teutfchland und ganz Italien 
gehufdigt hatte, Bald aber mußte er auf Befehl feiner Obern mit einem Werfe 
auftreten, das feinen Namen aufs Neue ruhmvoll Frönte und nicht etwa nur auf 
feinen Orden, fondern auch auf das Höfterliche Leben und den Geift aller veli« 











Mabillon. 701 


giöfen Communitäten einen wohlthätigen Einfluß Hatte, ihn feldft aber mit dem 
berühmten Abt von la Trappe, Armand Bouthilier de Rance, in einen 
Streit verwidelte. Es ift diefes fein Werf über die Klofterfiudien: Traite 
des Etudes monastiques, welches im 3.1691 zuerft in Paris erfhien und bald 
nad feinem Erſcheinen in verfhiedene Sprachen überfegt wurde: Mabillon zeigt 
darin, da literarifche Befhäftigungen und das Fortſchreiten in den Wiſſenſchaften 
mit dem Flöfterlihen Stande nicht nur in feinem Widerfpruche ſtehen und ven 
Kloftergeiftlichen niemals unterfagt gewefen feien, fondern daß fie vielmehr ge- 
hörig betrieben zur Aufrechthaltung Flöfterlicher Disciplin nothwendig wären, und 
der wahre Drdensgeift und eine gegründete Religiofität gewiffermaßen nur durch 
fie beſtehen konnen. Diefes beweifet er aus der Regel des hl. Benediet, aus den 
ausgezeichneten Leiftungen der Söhne feines Ordens, aus den älteften Bibliothefen, 
deren gerade die Klöfter fich erfreuen, und aus den vielen Handichriften und li— 
terarifhen Duellen, die man faft einzig dem Fleiße der Religioſen verdankt. Hier- 
auf zählt er verfchiedene Wiffenfchaften auf, deren Studium er den Religiofen 
empfiehlt, fchreibt die Art des Studirens vor und macht mit den dazu nöthigen 
Hilfsmitteln befannt, Schließlih gibt er jene Werfe an, mit welchen er jede 
Klofterbibliothef verfehen wünſcht. Allein furz bevor hatte der Abt de Rance 
fein Werk de vitae monasticae Officiis herausgegeben, und darin den Kloftergeift- 
lichen ohne Ausnahme alle Wiffenfhaften und das Lefen beinahe aller Bücher 
außer der heiligen Schrift und einigen ftreng moralifchen und ascetifhen Werfen 
unterfagt, und zugleich auch von den gelehrten Strebungen der Benedietiner mit 
vieler Anzüglichfeit geſprochen. Da Mabillon in feinem Werfe gerade das Ge- 
gentheil behauptete, fo fonnte es wohl kaum anders fommen, ald daß der etwas 
heftige Abt von la Trappe feine Stimme erhob, indem er glaubte, dur 
diefes Werk werde der Verfall der Flöfterlihen Sitten herbeigeführt und die den 
Drdensmann fo ſchön zierende Demuth untergraben. Deßhalb Tief er im J. 1692 
eine Schrift gegen Mabillon in den Drudf legen, betitelt: Response au Trait& 
des Etudes monastiques, in welcher er niht nur ihn, fondern auch den ganzen 
Benedictinerorden hart mitnimmt. Auf diefes durfte nun Mabillon, aufgefordert 
von feinen Dbern, diefe Shmah vom Drden abzuwälzen, und aufgemuntert von 
mehreren Bifchöfen Franfreichs, nicht [hweigen, und antwortete durch feine Schrift: 
Reflexions sur la response de Mr. PAbbé de la Trappe ou traite des Etudes monast., 
worin er alle Einwürfe und Mißverftändniffe des Abtes zwar mit großer Be- 
fcheidenheit, aber doch vollfommen widerlegt. Der Streit ging nicht weiter, denn 
die beiden großen Männer vereinigten fih bald in ihren verfchieden ſcheinenden 
Anfichten, da der eine gegen den Mißbrauch einer eitlen Gelehrfamfeit, der an- 
dere aber für die Beförderung wahrer Wiffenfchaft gefchrieben Hatte. Mabillons 
Werk aber erhielt von nun an ungetheilten Beifall und wurde von den Päpften 
Innocenz XU. und Elemens XI gelobt und gebilligt. — Neue Unannehmlich- . 
feiten verurfachte ihm feine Anfangs anonym erfchienene Schrift: Eusebii Romani 
ad Theophilum Gallum epistola de cultu Sanctorum ignotorum, die, obwohl 
er fie ſchon vor mehreren Jahren gefchrieben hatte, endlich auf Verlangen einiger 
feiner Freunde im 3. 1698 durch den Druck veröffentlicht wurde, Obgleich Ma- 
bilfon fih in diefer ganzen Abhandlung feiner gewohnten Beſcheidenheit befleißet, 
von der wahren Reliquienverehrung mit aller Achtung fpricht, und nur gegen 
* den Mißbrauch, der fich befonders in Franfreih mit den angeblich aus Rom ge- 
braten Reliquien unbefannter Heiligen (Sancti ignoti, auch baptizati, f.d. Art. Ka- 
tafomben) einfhlih, mit Kraft und Nachdruck eifert, fo fand doc diefe Schrift 
firenge Tadler. Man befhuldigte ihn, da er zuebel war, feine Autorfchaft zu läug- 
nen, daß fein Brief über den Reliquiencult die Ehre der römifchen Kirche verffeinere, 
und brachte ed fo weit, daß diefer Schrift ſchon das VBerbammungsurtheil ber 
Eongregation des Inder drohte. Nur das Anfehen, in dem Mabillon bei dem 


702 Mabillon. 


Papſte Clemens XI. und den römiſchen Cardinälen ſtand, vermochte es, dem 
Urtheile der Congregation Einhalt zu thun, und es dem Verfaffer, der ſich ftets 
als frommer Sohn der Fathofifchen Kirche gezeigt hatte, felbft zu überlaffen, feine 
Schrift zu verbeffern, Mabillon unterdrückte nun fo viel als möglich die erfte 
Ausgabe, erflärte, was dunfel, milderte, was zu flrenge war, ließ alles weg, 
was nur einigen Stoff zum Mergerniffe gegeben hatte, und ſchickte diefe zweite, 
umgearbeitete, im 3. 1705 gedruckte Ausgabe vem Papfte, deffen Urtheile er fih 
und fein Werk in Demuth unterwarf. Diefe Ausgabe wurde nun der Congrega= 
tion des Inder vorgelegt und von derfelben adprobirt und empfohlen. Diefe beis 
den Zwifte hatten Mabilfon nur noch berühmter gemacht, Aus der Nähe: und 
Ferne erhielt er beinahe ununterbrochen Briefe, in ‘denen man feinen Rath ver- 
langte, und felbft Männer, die das Staatsruder Franfreihs in ihren Händen 
führten, verfchmähten e8 nicht, den demüthigen Zelfenbewohner oft in Gefchäften 
von größter Wichtigkeit zu Nathe zu ziehen, Wohl fahen es feine Ordensbrüder, 
welch’ herrliche Perle fie an ihm hatten; wenn fie aber feine Verdienſte rühmten, 
da entgegnete er ihnen mit trauriger Miene: „Affe jene Verdienſte, die ihr mir 
zutheift, kenne ich nicht, aber meine Fehler, die Fenne ich. Betet für mich, und 
bittet Gott, daß er mich zu dem erft mache, für den ihr mich ſchon haltet,” Do 
blieb feinen Verdienſten auch die Hffentlihe Anerkennung nicht aus, indem die 
Fönigliche Academie der Infchriften ihn im J. 1701 zu ihrem Mitgliede ernannte, 
Allein feine Kräfte fingen immer bedeutender zu ſchwinden an, die befländige 
Geiftes- und Gemüthsanftrengung (denn fein Leben war getheilt zwifchen Arbeit 
und Gebet) und die genauefte Befolgung der ftrengeren Obfervanz des Ordens 
mußten feinen ohnehin fchwächlichen Körper nur noch mehr ſchwächen; die Leiden, 
welche den Frühling feines Lebens getrübt hatten, drängten ſich mit neuer Kraft 
heran, aber die Stärfe der Jugend fehlte dem Manne, der bereits das neun- 
undfechzigfte- Lebensjahr zurücfgelegt hatte, Diefer Franfliche Zuftand und bie 
ſichtbare Abnahme feiner Kräfte drängten ihn nun, am Abende feines Lebens an 
die Herausgabe ver Annalen des Benedictinerordens ernſtlich zu benfen, 
eines Werkes, welches er durch den Fleiß vieler Jahre vorbereitet und zum Ziel- 
puncte aller feiner Studien gemacht hatte, und das nicht nur über die Geſchichte 
de8 Ordens, fondern auch über die Kirchen- und Profangefchirhte bedeutendes Licht 
verbreitet, und als Hiftorifche Fundgrube für jeden fpäteren Geſchichtſchreiber des 
Mittelalters wichtig und ergiebig ift. Im J. 1703 erfchien der erſte Band dieſes 
großen Gefchichtswerfes, dem bis zum J. 1707 noch drei andere Bände folgten. 
Schon war auch der fünfte Band beinahe vollendet, doch ihn herauszugeben war 
Mabillon nicht mehr geftattet. Es war nämlich im December 1707, ald Ma- 
billon fih in das Benedictiner-Nonnenflofter zu Chelles früh Morgens begab, 
wo einige geiftliche Verrichtungen feiner harrten. Auf dem Wege dahin erkrankte 
er aber an fchmerzlihem Harnzwang, und das Uebel verfchlimmerte ſich durch die 
serfehrte Behandlung unwiffender Landehirurgen fo fehr, daß der aus Paris her⸗ 
beigeholte Arzt erffärte, Mabillon fei unrettbar für diefe Welt verloren. Und er 
täufchte fich nicht, Todkrank brachte man ihn nach Paris, und ſchon am 27. De- 
cember 1707 enteilte unter dem Gebete feiner Brüder feine fromme Seele des 
Körpers irdifchen Banden, Treffend bezeichnet fein Schüler Nuinart des ge— 
Yiebten Lehrers Leben und Streben mit den Worten: „Sie moriebalur, ut vivere 
non recusaret, sic autem vivebat, ut supremum non metueret diem, et spiritu 
magno vidit ultima.“ — Mabillons vorzüglidere Schriften find: 
Acta Sanctorum Ordinis $. Benedicti, in saeculorum classes distributa. Paris, 
1668—1702. Neun Bände in Folio. Der zehnte Band, welcher diefes Werf 
beendigen follte, wurde nach Mabillons Tode von dem Mauriner Franz Te 
Terier gefchrieben, doch blieb: er bisher ungebrudt, Das Manufeript ſoll fih 
noch zu St, Germain des Pres befinden (Biogr. universelle, Vol, 26, P. 3.) — 











Macarius. 703 


Veteéra Analecta, i. e. varia fragmenta ef epistolae scriptorum ecclesiasticorum 
tam prosa quam metro hactenus inedita. Paris. 1675—1685. Bier Bände in 8, 
(Edit. II. dur Louis de fa Barre, Par. 1723.). Der vierte Band enthält: 
Iter Germanicum J. Mabillon et M. Germain. — De Re Diplomatica libri VL. 
Paris. 1681 in $ol. und Librorum de re diplomatica Supplementum. Paris. 1704: 
Folio, — De Liturgia Gallicana libri II. Paris. 1685. in 4. (Edit. I. 1720). 
— Museum Italicum, seu Collectio veterum scriptorum ex Bibliothecis Italieis 
eruta. Paris. 1687—89. Zwei Bände in 4. — Trait& des Etudes Mona- 
stiques. Paris 1691 in 4,, und Reflexions sur la response de Mr. l’Abbe de 
la Trappe. Paris 1692 in 4. Beide Werfe fammt Thuillier’s Gefhichte des 
Streites zwiſchen Mabillon und de Rance in's Lateinifche überfegt von Joſeph 
Porta als Tractatus de Studiis monasticis in tres partes distributus. Venetiis 
1729— 32. Drei Bände in A. — Annales Ordinis S. Benedicti. Paris. 
1703—1739. Sechs Bände in Folio. Der fünfte Band wurde von Renatus 
Maffuet 1713, der fehste aber, welcher das Werf befchlieft, von Edmund 
Martene 1739 Herausgegeben, — La Mort Chretienne, dedide à la Reine‘ 
@’Angleterre. Paris 1702 in 12., eine Zufammenfteffung deffen, was die beften 
Schriftſteller über den Tod der Heiligen gefchrieben, und feiner eigenen frommen 
Gefühle, die der Gedanke an den Tod in ihm erregte. — Die Oeuvres post- 
humes, Paris 1724. Drei Bände in 4., herausgegeben von dem Mauriner Vin- 
eenz Thuillier, enthalten nebft den nachgelaffenen Schriften Mabillons auch 
einige bereits gedruckte, aber felten gewordene Abhandlungen deifelben (über das 
ungefäuerte Brod, die Berehrung unbefannter Heiligen, den Verfaffer der Bücher 
von der Nachfolge Eprifti, die alten Gräber der franzöſiſchen Könige u. f. w.), 
und Ruinarts Titerarifchen Nachlaß. — Mabillons Leben befchrieb fein Schüler 
und Ordensbruder Theodorich Nuinart: Abrege de la vie de Dom. Mabillon. 
Paris 1709; einen kurzen Lebensabriß fchiekte ver Mauriner Maffuet dem fünften 
Bande der Drdensannalen voraus; die neuefte Biographie aber fihrieb Profeffor 
Emil Ehavin de Malan: Histoire de Mabillon. Paris 1843. Das genaue 
Berzeichnig feiner Werke findet fih in Ruinarti Vita Joannis Mabillonii in latinum 
translata a Claudio de Vic Ord. s. Benedicti. Patavii 1714. — Taffins Ge- 
lehrtengefchihte der Kongregation von St. Maur. I. Bd. und Sebaf’s Bio— 
graphien Fatholifcher Gelehrten. Nr. 11. Mabillon, in Ples theolog. Zeitfchrift, 
4, und 5, Jahrgang. [Sebad.] 
Macarius. Diefen Namen führten viele berühmte Männer des firchlichen 
Altertfums, namentlich mehrere der ägyptifchen Einſiedler; diefes hat, zumal bei 
der allgemeinen Bedeutung des Namens (uar2oıog, felig) und bei ver Aehnlich- 
keit deffelden mit Marcus zu manchen Verwechfelungen Anlaß gegeben, fo da 
ſich von Vielen nicht fiber beftimmen läßt, welchem der heiligen Einfiedler es 
angehört. Doc dürfte, namentlich nach den Unterfuchungen von Tilfemont (Tom. 
VII.) und neuerdings von Floß Cin dem unten angegebenen Werfchen) , Folgendes 
feſtſtehen: Die berühmteften unter den Mönchen diefes Namens find Macarius 
der Aegyptier und Macarius der Alerandriner, Macarius der Aegyptier, 
auch „ver Aeltere” oder „ver Große”, war gebürtig aus Dberägypten. In einem 
Alter von 30 Jahren z0g er fih in die feytifche Wüfte zurück und führte dort 60 
Jahre Tang ein Leben der firengften Abtödtung. "Schon nach zehn Jahren war er, 
obſchon noch verhältnigmäßig jung, den älteften Einfiedlern an ascetifcher Voll- 
fommenpeit gleih und wurde darum raıudagıoyeow» genannt; auch hatte er um 
diefe Zeit fchon die Gabe der Weilfagung, der Kranfenheilung und anderer Wun- 
der, Um 340 wurde er auch zum Priefter geweiht. Bon feiner Abtödtung und 
feinen Wundern erzählt Palladius, der ein Jahr nach feinem Tode in die Wüfte 
fam, die auffallendften Beifpiele, Unter Anderm machte er einmal einen Todten 
reden, um einen Häretifer yon der Auferfiehung zu überzeugen, Unter Kaifer 


704 Mararius, 


- Balens und dem arianifhen Biſchof Lucius von Alerandrien traf die ägyptiſchen 
Mönche, welche eifrig an dem nieäniſchen Lehrbegriff fefthielten, eine heftige Ver- 
folgung; Macarius wurde mit andern Einſiedlern für einige Zeit re eine Inſel 
verbannt, wo es gar feine Chriften gab. Macarius ftarb im J. 390 in einem 
Alter von 90 Jahren. Noch jegt heißt ein Klofter in der Libyfchen Wüfte das 

Kloſter des Hl, Macarius und die ganze Gegend die Macariuswäfte (Tifhen- 
dorf, Reife in den Orient 1, 110). Wir haben von dem ägyptifchen Macarius 
50 Homilien, welche zuerfi zu Paris 1559, fpäter noch mehrere Male gedruckt 
und in Galland's Bibliothek aufgenommen find. Wohl mit Unrecht wird ihnen 
Semipelagianigmug vorgeworfen. Einen langen griechifchen Brief und einen 
fürzern in Iateinifcher Ueberſetzung, beide ascetifhen Inhalts, hat Floß nebft 
einem Gebete des Hl. Macarius und zwei bedeutenden Ergänzungen zu den Ho— 
milien herausgegeben (Macarii Aegyptii epistolae, homiliarum loci, preces, ad 
fidem Vatic., Vindob,, Berolin. aliorum codicum primus edidit H. J. Floss. Acce- 
dunt de Macariorum Aegypti et Alexandrini vitis quaestiones criticae et historicae etc. 
Coloniae, Bonnae, Bruxellis, sumt. J. M. Heberle 1850). Die von P. Poſſin zu 
Touloufe 1683 herausgegebene Opuscula ascelica (auch bei Gall. ıl. c.) find wahr- 
fcheinlich von Simeon Togotheta im 12ten Jahrhundert, aber größtentheils aus 
den Homilien des Macarius, compilirt. — In dem römifchen und den alten la- 
teinifchen Martyrologien ift das Feſt des Agyptifchen Macarius auf den 2, Ja- 
nuar, das des alerandrinifchen auf den 15. Januar angefeßt, die Griechen feiern 
das Feft beider am 19, Januar. — Der alerandrinifhe Macarius war 
aus Alerandrien gebürtig, daher auch roAırırog, ver Städter, genannt, Auch 
er Iebte an_60 Jahre in der Wüfte; er wurde erft in feinem vierzigften Lebens- 
jahre getauft, Später war er Priefter der Einfiedler, welche in den fog. zeille 
(Zellen in der libyſchen Wüfte) lebten, Außerdem hatte er noch eine Zelle in 
der feytifhen Wüfte und eine andere in dem nitrifchen Gebirge; nur eine derfelben 
war fo geräumig, daß er darin die zahlreich zu ihm firömenden Befucher und 
Hilfsbedürftigen empfangen konnte; in der zweiten fonnte er nicht einmal bie 
Füße ausftredfen, und die dritte war ganz dunfel, Palladius, welcher noch drei 


Sabre unter feiner Leitung in der Wüfte verlebte, erzählt von feiner Abtödtung 


und feinen Wundern fehr auffallende Beifpiele, Auch ihn traf die Verfolgung 
des Valens und Lucius, Er flarb um 395 in einem Alter von ungefähr hundert 
Jahren. Der ihm zugefihriebene Aoyog rrepli 2E0dov Wuyijs dızamwv za 
aucotoAoy (bei Tollius, Itinerarium ital. Traj. 1696, bei Caye bist. lit, T. L 
und bei Gall. VII.) wird von guten Wiener Eodices (f. Flof 1. co. p. 243) einem 
Mönch Alerander zugefhrieben Cwahrfcheinlich Tiegt eine Verwechfelung von ua- 
xdoroo AktEavdoos mit Maxdgıos ’Akekavdgevs zu Grunde), Der Jeſuit 
Roverus hat eine Mönchsregel in 30 Capiteln unter dem Namen des alerandri- 
nifchen Macarius herausgegeben (fie fteht bei Holsten. codex regularum I, 19). 
Eine andere Negel foll von 38 Vätern der ägyptiſchen Wüfte herrühren, vom 
denen „Serapion, Macarius, Paphnutius und ein anderer Mararius” genannt 
werben, — Ein anderer Macarius war ein Schüler des hl. Antonius im Klofter 
Pispir in der Nähe des rothen Meeres, namentlich war er während ber Testen 
15 Lebensjahre diefes Heiligen fein unzertrennliher Gefährte, war bei feinen 
Tode zugegen und beerdigte ihn. — Ein anderer war Vorſteher des Kloſters 
Pachnum (Tillemont VI, 481; VII, 574); wieder ein anderer, ein Bruder bes. 
Theodorus,  Einfiedler zu Tabenne in der Thebais (Tillemont VII, 472; VII, 
574). Palladius erzählt außerdem noch von einem Macarius, der ald Jüngling 
von 21 Jahren einen unfreiwilligen Mord begangen hatte und dafür in der Eindde 
firenge Buße that, und von einem Priefter Macarius zu Alerandrien, ber dem 
dortigen Rranfenhaufe vorftand und ein Alter von 100 Jahren erreichte. — Unter 
den vielen andern Männern des chriſtlichen Altertbums, die Macarius hießen, iſt 


| ver berüßmtefte der Bifhof Macarius von Jerufalem (312—331), welcher 
der Synode zu Nieaa beimohnte, und unter welchem die Kaiſerin Helena das HL. 


15 





Maccabäer, ; — 


Kreuz fand (ſ. Kreuzerfindung). Reuſch.] 


Macceabäer (Mahabäer). Name, Geſchichte, Büher Der Name 
Macrcabäer (Maxxapeios) war urfprünglih Beiname des dritten Sohnes des 
Mattathias, jenes religionseifrigen jüdifchen Priefters zur Zeit des Antiochus Epi— 
phanes (1 Macc. 2, 4. 66.). Später ging aber der Name auf feine ganze Fa- 
milie über und wurde dann auch überhaupt denjenigen Juden gegeben, welche in 
Berbindung mit ihr die väterlihe Religion gegen die fyrifche Uebermacht verthei- 
bigten, Ueber die Bedeutung des Namens gibt es verfchiedene Anfichten. Delitzſch 
glaubt (zur Geſch. der jüd. Poeſie. S. 28), dem Maxzapeiog entipreche im He- 
braiſchen 222, und diefes fei einerabbinifche Abbreviatur für j271°"72 jr7> mnnm 
Allein in diefem Falle wäre es Bezeichnung des Mattathias und Fönnte nicht von 
ihm felbft feinem Sohne Judas als Beiname gegeben worden fein (2, 66.), auch 
wäre für das einfah > im Griechifhen fiherlih nicht xx gefchrieben worden, 
Zudem find folhe Abbreviaturen für die Maccabäerzeit unerweislih und unwahr- 
ſcheinlich. Es läßt fih darum auh nicht annehmen, daß Judas die Buchftaben 


i Zu in — 


232 al® Abbreviatur von Im Drnamansm (Erod, 15, 11.) auf feine 


I Fahnen gefchrieben Habe und daraus foäter für ihn der Beiname Maccabaios ent- 
- fanden fei; ohnehin trug er denfelben fchon bei Lebzeiten feines Vaters und kann 
ihn fomit nicht erſt in Folge feiner felbftftändigen Kriegführung gegen die Syrer 


erhalten haben. Eben fo wenig läßt fih annehmen, daß "220 Abbreviatur von 
777722 m> nan>o (belli vis in Juda), oder ein Zahlzeichen fei, das fih auf 
die 72 Namen Gottes beziehe = 40, 2> = 20, 2=2,—= 10) Am 
wahrſcheinlichſten ift und bleibt e$, daß dem Maxxaßatos das hebr. oder aram. 
252, 8252 (Hammer) entſpreche, und Dadurch die den Feind zermalmende Tapfer- 
feit des Judas bezeichnet "werde, Die Maccabäer führten aber auch noch den 
Namen Hasmonder, Aaguuwvaioı (Jos. Antt. XIV. 16, 14. XX. 8, 11. 10,3.), 
sıynwr (Baba bathra, f. 3. a.), Dmr2wr oder "nımwr "22 (Jos. Gorionid. ed. 
Breithaupt. p. 66. 159. 443.); und es find auch über die Bedeutung diefes Na- 
mens verfhiedene Anfihten aufgeftellt worden (vgl. Eichhorn, Einleitung in 
die apoer. Schriften des A. T. ©. 217. Henke, introd. in libros apoeryph. vet. 
Test. p. 35.7, Bertholdt, Einleitung. HI. 1043. 1045), Am meiften hat dies 
jenige für fih, welche den Namen vom: Urgroßvater des Mattathias herleitet 
unter Berweifung auf Joſephus Anti. XIL 6, 1. (Marzadies, vıos Iwarva tä 


 Zuusavos cd Acauwveis), — Die Gefchichte der Maccabäer beginnt 


mit den Bedrückungen und Gewaltthaten des Antiohus Epiphanes (f. d. A.) 
gegen die Juden, um fie zum Abfall von ihrer Religion zu zwingen. Im Jahr 
175 v, Chr. gelangte er zur Herrſchaft über Syrien, zu dem auch Paläftina ge- 
hörte, und ftellte ſich in Iegterem Lande fogleich die Aufgabe, die jüdifhe Reli- 
gion auszurotten und das Heidenthum an ihre Stelle zu fegen, Biele Juden 
gingen bereitwillig in feine Pläne ein, und die es nicht thaten, waren den gröbften 
Mipgandlungen und BVerfolgungen ausgefegt. Im Jahre 169 Fam Antiochus 
ſelbſt nach Jeruſalem, ließ eine große Zahl der Treugebliebenen, hinrichten und 
plünderte und entweihte den Tempel (1 Mace. 1, 10—28. 2 Mac. 5, 1 ff.). 
Einige Zeit fpäter ließ er durch Apollonius wiederum ein großes Blutbad in Je— 
rufalem anrichten, den Tempel dem olympifchen Jupiter weihen und dur ein 
Deeret verfünden, daß in feinem ganzen Reiche bei Todesftrafe Niemand eine 
andere Religion haben dürfe, als er felbft (1 Maccab, 1, 29—64. 2 Maccab, 5, 
24,— 6, 17.). Um dieſe Zeit floh Mattathias (ſ. Hebräer. IV. 914), ein alter 
feommer Priefter, mit fünf Söhnen aus Jerufalem nah Modein, um hier un- 
geflört von den föniglihen Beamten nach ihrer Religion Ieben zu Fönnen, Bald 
Kirchenlexilon. 6, Br, 45 


706 Maccabäer, 


jedoch erfchienen auch hier jene Beamten, und als ein jübifher Mann vor Alfer 
Augen hinging, um den Götzen zu opfern, erfhlug Mattathias denfelben am Al— 
tare, fowie auch den Beamten, der ihn zum Opfern genöthigt hatte, zerftörte 
dann den Altar und floh in das Gebirg, wo fih bald viele Gleichgefinnte um ihn 
fammelten und er fih fofort im Stande fah, die heidnifchen Altäre im Lande 
umher zu zerflören und die Mebertreter des Gefeges zu beftrafen (1 Mace. 2, 
1—48.). Nach Furzer Zeit jedoch flarb er (166 v. Chr.), und feine Anhänger 
wählten feinen Sohn Judas, mit dem Beinamen Maccabäus, zu ihrem An- 
führer, der auch ihr Zutrauen vollkommen rechtfertigte (1 Mace, 2, 31—39.). 
Zuerft ſchlug er das wider ihn ziehende, an Zahl weit überlegene Heer des Apol- 
lonius; bald darauf das noch größere des fyrifchen Feldherrn Seron, dann bie 
von Lyſias gegen ihn gefendeten Heere unter Ptolemäus, Nicanor und Gprgias, 
‚und im folgenden Jahre das mehr als fünfmal überlegene fyrifhe Heer unter 
Anführung des Lyfias felbft, der zwar bald darauf ein neues Heer gegen die 


Juden führte, aber auf's Neue gefchlagen und zum Abfchluffe eines den Juden 


vortheilhaften Friedens gezwungen wurde (1 Macc. 3, 10,—4, 35. 2 Mace, 8, 
9 ff.). Jetzt war der Sieg der Maccabäer entfchieden, Judas begab fih nach 
Serufalem, reinigte den Tempel, ſtellte den gefeglichen Gottesdienſt wieder ber, 
brachte am 8, Chaslev im J. 164 v. Chr, das erfte Opfer dar, feierte dann acht 
Tage lang das Feft der Tempelreinigung und verordnete die jährliche Wieder- 
holung diefer Feier (1 Macc. 4, 36—61. 2 Mace, 10, 1—8.). Jetzt ergrimm- 
ten aber die benachbarten heidnifchen Volfsftämme gegen die Juden und unter- 
nahmen an verfchiedenen Orten Feindfeligfeiten gegen fie. Judas jedoch demüthigte 
fie im Norden und Süden des Landes in mehreren Treffen und zerftörte ihre Al- 
täre und Götzenbilder (1 Mace, 5. 2 Mace. 8, 10. 12.). Inzwiſchen flarb An- 
tiochus Epiphanes, nachdem er noch feinen Sohn Antiohus, der den Beinamen 
Eupator erhielt, zum Nachfolger beftimmt hatte (163 v. Chr. vgl. 1 Mac, 6, 
1—17, 2 Mace, 9.). Diefer unternahm auf Zureden der abtrünnigen Juden 
einen Kriegszug gegen Judas, ſchloß aber nad einigen gelieferten Schlachten 
Frieden mit ihm und fiherte den Juden freie Religionsübung zu (1 Mace, 6, 


18—63, 2 Mace. 13.). Im Jahre 161 v. Chr, wurde Demetrius Soter (f, 


Demetriug) fein Nachfolger und fogleich wieder durch abtrünnige Juden gegen 
die Maccabäer aufgereizt. Er fandte ein großes Heer unter Anführung des 
Bacchides (f. d. A.) gegen fie, das aber nichts ausrichtete, Ein anderes unter 


Nicanpr verlor zwei Schlachten und Nicanor felbft das Leben, Ein drittes end- 


lich, wiederum unter Bacchides, 20,000 Mann zu Fuß und 2000 Reiter zählend, 
entmuthigte das Heer des Judas, das nur aus 3000 Mann- beftund; fie ver— 
ließen ihn bis auf 800 Mann, mit denen er den ungleichen Kampf wagte, aber 


der Uebermacht unterlag und Schlacht und Leben verlor (160 v. Chr, vgl. 1 Mace, 


7, 1.9, 22. 2 Mace. 14, 1,—15, 37). Zu feinem Nachfolger wurbe fein 
Druder Jonathan gewählt, der ſich zunächft gegen Baechides hielt und zwei 
Sahre fpäter (158 v. Chr.) ihn in. großes Gedräng brachte und einen vortheil- 
baften Frieden erlangte (1 Macc, 9, 23—73.), As darauf Alexander Balas 
dem Demetrius die ſyriſche Krone ftreitig machte, wurde Jonathan von Erſterem 
als Hoherpriefter und Fürſt der Juden feierlich anerfannt (1 Mace. 10, 1—47,). 
„Daffelbe gefhah fpäter von Demetrius Nicator im Anfange feiner Regierung, 
bem Jonathan dafür wichtige Dienfte Teiftete, deßungeachtet aber in der Folge 
von ihm heftig angefeindet und bedrängt wurde, bis endlich Antiochus, ein Sohn 
Aleranders, den Demetrius vertrieb und felbft den fyrifchen Königthron beftieg. 
Ihn jedoch fuchte wiederum Tryphon vom Throne zu verbringen, und um an 
Jonathan feinen Gegner zu haben, brachte er ihn mit Lift in feine Gewalt und 
tödtete ihn (ſ. Jonathan V. 783 f.). Die Juden hatten fchon während der Ge— 
fangenfchaft Jonathans deffen Bruder Simon zum Anführer gewählt (1 Macc, 


- J 
Ders: 








- Maccabien 707 


13, 8.). Gegen diefen zog Tryphon mit einem ftarfen Heere, richtete aber wenig 
aus und fehrte nach Syrien zurüf, wo er den König Antiochus tödtete und ſich 
ſelbſt die Krone aufjegte (1 Macc. 13, 12—32.). Inzwiſchen brachte Simon 
die jüdifchen Feftungen wieder in guten Zuftand, ſchloß mit König Demetrius 
Freundfchaft und Bündnif, und wurde von ihm als Hoherpriefter und Fürft der 
Zuden anerfannt und beftätigt; und von da an beginnt die Unabhängigfeit der 
Maccabäer (142 v. Chr.). Simon reinigte jegt noch die Burg zu Jerufalem von 
der fremden Befagung, und feine Regierung war von da an eine Zeit lang ruhig 
und glüflih, und das Volk felbft bezeugte in einem öffentlichen Denfmale die 
Wohlthätigkeit feiner Regierung (1 Macc. 13, 33.—14, 49). Auch der Nad- 
folger des Demetrius, Antiohus, ſchloß Anfangs mit Simon Freundfchaft und 
Bündniß und erkannte feine Herrſchaft in Zudäa an; bald jedoch begann er Feind- 
feligfeiten und fandte den Cendebäus mit einem großen Heere gegen die Juden, 
der jedoch von den beiden. Söhnen Simons, Johannes und Judas, gänzlich ge— 
ſchlagen wurde (1 Mace. 15, 1.—16, 10.). Als Simon bald darauf das Land 
bereiste, um deſſen Zuſtände und Bedürfniffe beifer fennen zu lerıten, wurde er 
zu Jericho von feinem Schwiegerfohne Ptolemäus (135 v. Chr.) meuchlerifch 
umgebracht. Sein Nachfolger in der Regierung und im Hohenprieftertfume wurde 
fein Sohn Johannes, mit dem Beinamen Hyrcanus (1 Mace: 16, 11—24,). 
Ueber feine und feiner Nachfolger Regierungen bis zum Sturze der maccabäifchen 
Herrfchaft dur Pompejus f. Hebräer. IV. 915f. — Bon den ſchon im Alter- 
thume erwähnten vier Büchern der Maccabäer haben nur das erfle und 
zweite canonifhe Dignität, und darum hier Anfpruh auf Berüffihtigung. Sie 
müffen aber wegen ihrer großen Berfchiedenartigkeit abgejondert in Betracht ge- 
zogen werben, Das erjte Buch der Maccabäer bat zum Inhalt die eben 
vorhin kurz fizzirte maccabäifhe Gefhichte von Mattathias bis zu Johannes 
Hyrcanus. Die Urf prache dieſes Buches ift die hebräiſche, ohne Zweifel in der- 
jenigen Mundart, wie fie damals in Paläftina üblih war, Drigenes fennt ein 
hebräiſches Bud "ber Maccabäer mit der Ueberfhrift IaegdnI auoßave 2% 
(Euseb. H. E. VI. 25), und Hieronymus fagt geradezu: Maccabaeorum primum 
librum hebraicum reperi (Proleg. gal.). Daß der griechiſche Text diefes Buches 
die Meberfegung eines Hebräifchen fei, zeigen fihon die vielen, zum Theil fehr 
harten Hebraismen, noch mehr aber einzelne Stellen, die fih nur als Ueber- 
feßungsfehler aus einem hebräifchen Driginal erklären laffen. Zu erfieren gehört, 
daß das Buch gleich mit zul Eyevero beginnt und öfters mit zei den Nachſatz 
anfängt, wie 5, 1. 9, 29., daß in Abfichts- und Selgefägen gern der Infinitiv 
gebraucht wird, entfprechend dem hebr. Infinit. mit >, 3. B. 2, 22. 29. 34. 3, 
10. 15. 8, 18.5 daß Redensarten gebraucht werden, wie ylveosaı eis P0g0v 
E22: mm), = 4,, Öuvausvos Övvrjastaı 7008 nuds (a2> bar 222), 3,40, 
ZroaIn0av TE noıjacı TO rrovnoov (ogl. san nhioya Team { Kön. 21, 
20.) 1, 15. Noch auffalfender ift der Gebraud von oi Aöyor, Ta ejuare, für 
Greigniffe, Begebenheiten, wie das hebr, 21277 (5, 37. 7, 33. I von Eroı- 
ualo für das Befeftigen der Herrſchaft, wie > (1, 16 N von olxos ns Ba- 
ouleias für das, was der Föniglichen Herrſchaft unterworfen iſt, wie Sꝛ8 
@, 10.). Als fehferfafte Heberjegung eines hebräiſchen Textes erſcheint die 
Stelle: Keil 2osioIn yn Eni Tas xa@Totxävras even» (1, 28.), wo das 
rel als ungenaue eberfegung von ->n oder > zu betrachten ift; ebenfo der Aus⸗ 
druck Bıßkia (1, 44. ) , fofern er im gegebenen Zufammenhang nur die Bedeutung 
Brief” haben ann; in diefer fommt a’150 zuweilen vor (3. B. 2 Kön. 19, 14. 
Jeſ. 37, 14.), und dieß iſt ohne Zweifel wörtlich mit Bıßlia, ftatt nad Sinn 
und Zufammenhang mit Ersuorokn überfegt worden; ebenfo die Worte: &ru ıAn- 
gövros I3da raüra.(4, 19,), ag nach dem Zufammenhange nur beißen kann: 
45 * 


708 Maccabäer, 


„Als Judas diefes noch redet”, und fomit ohne Zweifel auf einer Verwechslung 

von >> mit won beraubt, Solchen Erfcheinungen gegenüber find die Gründe von 
fehr geringem Belange, mit denen Hengftenberg beweifen will, daß der griechifche 
Text unferes Buches der Urtert fei (ogl. Herbft, Einleitung II. 3, ©. 70 ff.). 
Uebrigens zeigen jene Erfcheinungen zugleich, daß der Ueberfeßer fih ſtreng nach 
feinem Driginal richtete, und genau und wörtlich zu überfegen fuchte, daß wir 
alfo durch ihn eine im Ganzen richtige Heberfegung der hebr. Urfhrift erhalten 
haben. Der Berfaffer ift, nach der Sprade, in der er fohrieb, und nach der 
genauen Kenntnif, die er überall vom Schauplage der Begebenheiten zeigt, zu 
ſchließen, jedenfalls ein paläftinenfifcher Jude, Seine Perfon aber näher zu be- 
zeichnen, ift bisher nicht gelungen, und die dießfalls aufgeftellten Meinungen, 
daß Johannes Hyreanus, oder einer der Söhne des Mattathias, oder die Män- 
ner der großen Synagoge das Buch verfaßt haben, haben weit mehr gegen als 
für fih. Das Zeitalter hat mar aus dem Schluffe des Buches, aber auf mehr 
als Eine Weife, zu beftimmen gefucht, Weil von den Unternehmungen und 
Kriegen des Johannes Hyreanus gefagt wird, fie feien aufgezeichnet Ev Außkiop 
ÄuEEBV KEXLEQWOVVNS auTd, GP 3 EyEvnIN7 doXLEgEVS  uETa Tov aTege 
aus (16, 23 f.); fo glaubten die Einen, das Buch müffe noch vor dem Tode 
des Hyrcanus entftanden fein; die Andern aber fagten, es feien ja dem Verfaffer 
die Regierungsannalen des Hyrcanus als ein abgefhloffenes Ganzes vor- 
gelegen. Allein Lesteres Tiegt augenfällig nicht in den Worten der Stelle; viel- 
mehr fpricht das ap’ 3 EyevjIn zri., das bloß den terminus a quo und nicht 
auch ad quem angibt, offenbar dafür, daß Hyreanus noch am Leben fei, und nad 
feinem Tode wäre diefe Bemerkung in ihrer jegigen Geftalt wenigftens fehr un— 
paffend gewefen, Für eine Entſtehung des Buches noch zur Zeit des Hyreanus 
Spricht auch der Umftand, daß nirgends die Leifefte Hindeutung oder Nüdficht- 
nahme auf fpätere Zeiten und Zeitverhältniffe vorflommt, was doch zu erwarten 
ftünde, wenn der Verfaffer erſt nach Hyrcanus gelebt und gefchrieben hätte, Die 
Entftehungszeit der griechiſchen Ueberſetzung läßt fih nicht genau an- 
geben. Jedenfalls ift fie vor Joſephus entflanden, weil biefer fie bereits ge— 
braucht, Zahn vermuthet, daß fie noch vor den Testen Jahrhundert vor Chriftus 
entftanden ſei; und dafür läßt fih anführen, daß ein auch für die auswärtigen 
Juden fo wichtiges Buch wohl ziemlich bald nach feinem Erfcheinen auch in's 
Griechifche werde überfegt worden fein, In Betreff ver Duellen hat man be- 
Hauptet, der Verfaffer habe Feine fchriftlihe Duellen benügt, weil er nie auf 
folche verweife, und am Schluffe feines Buches zu verfiehen gebe, daß er die 
Gefchichte der früheren Maccabäer nicht befchrieben haben würde, wenn über fie 
Hlaubwürdige ältere Auffchreibungen vorhanden gewejen wären. Allein das 
Schweigen von fohriftlihen Duellen ift Fein Beweis gegen die Benugung von 
ſolchen; die Bücher Samuels z. B. verweifen auch nie auf fhriftlihe Duellen 
und ruhen doch auf ſolchen. Die Schlußbemerkfung des Buches aber, daß über 
die Regierung des Hyrcanus Tagbücher geführt worden feien, läßt vermuthen, 
daß unter feinen Vorgängern Achnliches werde gefchehen fein, Und wirklich wird 
in Bezug auf Judas bemerft, daß feine Thaten, Kriege ic, wegen ihrer Menge 
nicht alfe haben aufgefehrieben werden Fonnen (9, 22.), womit wenigftens bie 
Auffhreibung von einigen indirect behauptet wird, Aber es wird überdieß auch 
noch ausdrücdtich gefagt, Judas habe feine Friegerifchen Thaten auffchreiben Taffen 
(2 Mace. 2, 14). Verhalte es fich jedoch mit diefen Ausfagen wie es wolle, 
die Benügung fchriftlicher Quellen bei unferm Buche liegt am Tage, denn es 
werden in demfelben mehrere fehriftliche Documente aus der Maccabäerzeit theils 
wörtlih mitgetheilt, 3. B. 8, 23—32. 10, 18 12. 25—45. 12, 6—23, 18, 
36—40. 15, 2—9. 16—21. u. a., theils nur kurz dem Hanptinhalte nach ge— 
geben, z. B. 10, 6, 15,22 f, zum beutlihen Beweife, daß dem Berfaffer 





Maccabier 709 


ſchriftliche Duellen zu Gebote ſtunden. Was er außer den ausdrücklich nam— 
haft gemachten Duellen noch für anderweitige benützt habe, läßt fich nicht-fagen, 
aber noch weit weniger läugnen, daß ſolche Benüsung ftattgefunden, und es ift 
immerhin am wahrfcheinlichften, daß Tagbücher, wenn auch fragmentarifche, über 
die TIhaten der erſten Maccabäer feine Hauptquelle gewefen feien. Die Glaub- 
würdigfeit des Buches kann fofort feinem Anftande unterliegen theild wegen 
der zuverläffigen Duellen, die dem Berfaffer zu Gebote fiunden, theils wegen 
der geringen Zeitferne, die ihn von den berichteten Ereigniffen trennt, Dazu 
fommt noch eine Menge fehr genauer Zeit- und Ortsangaben, die eine fichere 
Sachkenntniß verraten, und eine auffalfende Uebereinftimmung mit griechifchen 
und römischen Geſchichtſchreibern, wo fie die maccabäifche Geſchichte berühren, 
Lestere hat ſich namentlich in Folge der dießfallfigen Erörterungen zwifchen den 
Sefuiten Frölih und Khell und den beiden Wernsdorff (f. Herbft, Einf. I. 3, 
©. 22 f.) im fhönften Lichte gezeigt, Die Bedenken, die immer noch gegen ein 
Paar Angaben des Buches gerichtet werden, daß nämlich Alerander fein Reich 
unter feine Feldherrn getheilt babe (1, 6.), daß Antiohus d. Gr. in römifche 
Gefangenfhaft geratben fei (8, 7.), daß die Spartaner mit den Juden verwandt 
feien (12, 1 ff.), find fo unbedeutend, daß fie hier Feine befondere Erörterung 
verdienen Ffönnen (vgl. Herbft, a. a. O. ©. 23 ff.). — Das zweite Buch 
Der Maccabäer zerfällt in zwei nach Inhalt und Umfang fehr ungleiche Theile. 
Der erfte enthält zwei Briefe von den paläftinenfifchen Juden an die ägyptifchen, 
um legtere zur jährlichen Gedächtnißfeier der dur Judas vorgenommenen Tem— 
pelreinigung zu bewegen (1, 1.—2, 18.). Der zweite Theil (2, 19.—15, 39.) 
ift der Hauptſache nach eine Ergänzung deffen, was das erfte Buch der Macca— 
bäer zum Theil nur fehr furz über Judas Maccabäus berichtet. Die Urſprache 
diefes Buches ift ohne allen Zweifel die griechifche. Hieronymus fagt: secundus 
se. liber Maccab.) graecus est, quod ex ipsa quoque phrasi probari potest (pro- 
log. gal.), und Alfes fpricht für diefe Ausfage, nichts gegen fie. Jene Erfcei- 
“nungen, die bei griechiſchen Ueberfegungen hebräifcher Texte fih fonft immer zei- 
gen, fehlen hier, und die Schreibart verräth einen der griechiſchen Sprache mäch- 
tigen und feldftftändig fehreibenden Verfaſſer. Dazu fommt, daß der Haupttheif 
des Buches (von 2, 19. an) ausdrücklich als ein Ercerpt aus dem umfaffenden 
Gefhichtswerfe des Jaſon von Cyrene bezeichnet wird (2, 23.). Diefes äber 
war ſchon vermöge feines Entftehungsortes griehifch gefchrieben, weil die Landes- 
ſprache von Eyrene die griechifhe war; und daß der Epitomator fich einer andern 
Sprade bedient habe als der Verfaffer feldft, wird Niemand annehmen wollen, 
Aber auch die zwei Briefe an die ägyptifchen Juden, welche den erfien Theil aus— 
machen, müffen urfprünglich griechifch gefchrieben worden fein, weil fie fenft von 
den Empfängern nicht verftanden worden wären. Denn die ägyptifchen Juden 
verftunden die hebräifche Sprache nicht, wie fchon die Nothwendigfeit einer grie- 
chiſchen Bibelüberfegung für fie zeigt, und aus den Schriften des Philo deutlich 
hervorgeht, von Juftinus aber ausdrüdlich bezeugt wird CApol. I. 31.), In der 
That zeigen fih auch in den Briefen fo wenig ald in den nachherigen Berichten 
die Merkmale einer Ueberfegung aus einem bebräifchen Original, und wenn Ber- 
tholdt namentlich in Bezug auf den erften Brief das Gegentheil verfichert, fo hat 
er eine fpecielle Begründung diefer Verfiherung gar nicht einmal verfucht (Einf. 
I. 1072). Der wirklich angeftellte Berfuh würde ihn wahrfheinlih auf eine 
andere Anficht gebracht Haben. Was das Zeitalter betrifft, fo hat man in 
Hebr. 11, 35. eine Bezugnahme auf 2 Mace. 6, 18 ff. 7, 3. 24. finden wollen, 
die allerdings wahrfcheinlich, jedoch nicht ganz ficher ift. Daß dagegen der Ver— 
faffer der Rede &ıs Muxzußeies 7, reol auToxgar0008 Aoyıous, diedem Jo— 
ſephus zugefhrieben wird, und jedenfalls von einem Iſraeliten noch vor der Zer- 
förung Jeruſalems durch die Römer herrührt, das zweite Buch der Marcabäer 


710 Maccabäer. 


kenne, wird allgemein zugeſtanden. Somit iſt wenigſtens das unbegründet, daß 
ſich von demſelben vor dem Zeitalter der Kirchenväter nirgends eine ſichere Spur 
zeige. Da num der zweite Brief das Jahr 188 (alſo 123 v. Chr.) als Datum 
hat, fo kann das Buch begreiflich nicht vor diefem Jahre gefchrieben worden fein. 
Eine erheblich fpätere Entftehungszeit aber anzunehmen, verbietet der Umftand, 
daß die genaue Kenntniß der erzählten Ereigniffe damals noch nicht fehr allgemein 
war, jedoch von Vielen gewünſcht wurde (2, 24 f.), und daß eine Epitome des 
umfaffenden Zafon’fhen Werfes wohl ſchon einige Decennien nach feiner Ver— 
dffentlichung wünfhenswerth erfcheinen mußte, Veröffentlicht wurde daffelbe aber 
wahrfcheintich bald nach dem Jahre 160 v. Ehr., weil es (der Epitome zufolge) 
die Gefchichte bloß bis auf diefes Jahr herabführt, und nach der Befchreibung 
der Niederlage des Nicanor bemerkt, daß die Hebräer von da an Jerufalem be- 
bauptet haben (15, 37.). Demnach mag die Epitome, oder unfer zweites Buch 
der Maccabäer, gegen das Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr, gefchrieben 
worben fein. Der Berfaffer deſſelben ift unbefannt, und die dießfalls geäußer- 
ten Vermutungen theils entfchieden unrichtig, theils wenigftens jeder nähern 
Begründung entbehrend. Unrichtig if es, daß Judas Maccabäus felbft, oder 
daß Philo, oder daß Joſephus Verfaſſer fei, denn in all’ diefen Fallen Fönnte 
feine Entftefung nicht in die vorhin bezeichnete Zeit fallen. Gegen Judas den 
Effener, oder einen Freund und Zeitgenoffen des Ariftobulus würden zwar bie 
Zeitverhältniffe nicht fprechen, aber es läßt fich auch Fein irgend erheblicher Grund 
für den einen oder andern vorbringen. Die Duellen des Buches werden vom 
Berfaffer felbft angegeben und die Hauptquelle fogar etwas näher befchrieben. 
Defungeachtet ift Dagegen Einfprache erhoben und behauptet worden, der Ver— 
faffer Habe bei den vier Tegten Kapiteln nicht mehr Jaſon's Gefchichtswerf, fon- 
dern eine andere Duelle benügt. Allein der Hauptgrund für diefe Behauptung, 
daß nämlich 2, 19 f., wo der Umfang des Zafon’fchen Werkes angegeben werbe, 
des Demetrius nicht mehr gedacht fer, ift von geringem Belange, Denn wenn 
ganz alfgemein die Thaten des Judas und feiner Brüder (2, 19.) als Gegen- 
ftand jenes Gefchichtswerfes bezeichnet werden, fo ift ihr Verhältniß zu Demetrius 
ſchon mitbezeichnet, wenn er auch nicht mehr ausdrücklich genannt wird; daß aber 
Antiohus Epiphanes und fein Nachfolger ausdrücklich genannt werden, ift nur 
Hervorhebung des wichtigften Theiles aus dem Ganzen, Anderes, was noch zu 
Gunften jener Anficht gefagt wird, beruft auf unrichtiger Beobachtung oder Aus— 
legung, und fpricht weit mehr gegen als für diefelbe (f. Herbft, Einf, I. 3. ©. 
37 fe). Die Integrität des Buches ıft in fofern geläugnet worden, als man 
die beiden Briefe im Anfang deffelben für fpätere Zuthat erklärt at. Zu Ounften 
diefer Anficht iſt auf „die falfchen Zeit- Daten 1, 7. 10, und die Fabeln 1, 19,— 
2, 8.” und den Widerfpruch zwifchen 1, 13. und Cap. 9. hingewiefen worben 
(de Wette, Einl, 6. Ausg. ©. 445 f.). Alfein daß die paläftinenfiihen Juden 
erft im Jahr 169, alfo zwei Decennien nach der Tempelreinigung durch Judas, 
die ägyptifchen Juden zur jährlichen Gedächtnißfeier derfelben auffordern (1, 7.), 
ift Feineswegs unmöglich oder unglaublich, abgefehen davon, daß diefe Aufforbe- 
rung eine etwaige frühere derfelden Art nicht ausfchließt. Sodann die Zahl 188 
(1, 10.) müßte nur unrichtig fein, wenn der unter den Ausfertigern jenes Schrei- 
bens erwähnte Judas der Sohn des Mattathias wäre, das aber ift nirgends ge— 
fagt, und anzunehmen nirgends ein Grund, Zwifchen 1, 13. und Cap, 9. iſt 
allerdings eine Differenz, der Tod des Antiochus Epiphanes wird in dem Briefe 
des jerufalemifchen hohen Nathes anders erzäplt, als in der Gefchichte Jaſoms 
nah Mafigabe der Epitome; aber diefes Fonnte für den Epitomator, der ja nicht 
als felbftftändiger Gefchichtfehreiber auftreten will, Fein Grund fein, jenen Brief, 
die Schrift einer hochſtehenden amtlichen Genoffenfchaft, vorzuenthalten. Noch 
weniger Fonnten für ihm die angeblichen Fabeln ein folcher Grund fein, Denn 








Maccabäier 711 


die in dem Briefe Fabeln finden, finden folhe im ganzen zweiten Buche der 
Maccabier an verfihiedenen Stellen; hätte der Epitomator diefelbe Anficht und 
Siheue vor diefen Fabeln auch gehabt, fo hätte er fein ganzes Epitomiren unter-. 
laffen oder in ganz anderer Weife vornehmen müſſen. Die Aechtheit des Buches 
bat man in fofern geläugnet, ald man bie in demfelben mitgetheilten Documente 
denjenigen Perfonen abgeſprochen hat, denen fie zugefohrieben werden. Dieß ge- 
ſchah zunähft in Bezug auf die eben berüßrten beiden Briefe, und man berief 
fi dabei 1) auf jene zwei Jahreszahlen (1, 7. 10.), 2) auf die falfhe Angabe 
über den Tod des Antiochus Epiphanes (1, 13.), 3) auf die 1, 18, behauptete 
Erbauung des zweiten Tempels dur Nehemias, endlih 4) auf die offenbaren 
Fabeln über die Wiederfindung des HI, Feuers durch Nehemias, und die Ver- 
bergung der Bundeslade durch Jeremias. In al’ diefen Puncten, fagt man, 
wäre der hohe Rath zu Jerufalem beifer unterrichtet gewefen, als der Berfaffer 
der fraglichen Briefe, Allein jene Jahreszahlen müffen wir dem vorhin Bemerften 
zufolge als richtig anfehen. Sodann in Betreff der Todesart des Antiochus 
Epiphanes fonnte fi in Judäa leichtlich eine falfhe Nachricht verbreitet und auch 
bei den Mitgliedern des Hohen Rathes Glauben gefunden haben (vgl. überdieß 
den Art. Antiohus Epiphbanes, Anmerf, 2.). Die Erbauung des ferubabe- 
Iifchen Tempels aber durch Nebemias wird mit den Worten: Nesuiag 0ix0do- 
unoaS Tore iegör zei TO Fvaıaorngıov, ayıveyze Fvoiev (1, 18.) nicht noth- 
wendig behauptet; fie fönnen ſich gar leicht auf wichtige bauliche Berbefferungen 
des Tempelgebäudes beziehen. Endlich gehören diejenigen, die an den erwähnten 
angeblichen Zabeln Anftoß nehmen, am wenigften zu denen, die den damaligen 
hohen Rath zu Jerufalem von Wunder-, Mährchen- und Fabelfuht freifprechen, 
und follten ihm daher eine Schrift, die nach ihrem Dafürhalten Mähren und 
Fabeln enthält, nicht ſchon aus diefem Grunde ftreitig machen. Außerdem hat 
man auch noch die übrigen Briefe, die in unferem Buche vorfommen, ihren aus— 
drüdlih angegebenen Urhebern abgeſprochen und für unächt, für bloße „Dichtung 
zur Dramatifirung der Geſchichte“ erklärt, allein aus fo unerheblichen Gründen, 
dag wir fie hier füglich unberührt laſſen können (f. Herbſt, a. a. O. S. 47 f.). 
Die hiſtoriſche Glaubwürdigkeit hat man zunächſt und ſehr zuverſichtlich 
beim zweiten Briefe geläugnet und dabei theils auf die bereits berührten und er— 
ledigten angeblichen Unrichtigkeiten in demſelben, theils und beſonders auf ſeine 
Angaben über die Wiederfindung des HI. Feuers und die Verbergung der Stifts- 
Hütte und Bundeslade Gewicht gelegt. Jene Wiederfindung ließe fih aber fehr 
leicht und ohne alles Wunder begreifen, wenn fich in den Waffer (1, 20.) etwa 
Naphta befand, und das wird man wegen 1, 36, nothwendig annehmen müffen. 
Der babylonifhe Thalmud, dem nachher die Nabbinen folgen, nennt allerdings 
das heilige Feuer unter den Gegenftänden, die im zweiten Tempel gefehlt haben, 
aber der jerufalemifche Thalmud nennt es nicht unter denfelben, Erfterer fann 
übrigens nur dasjenige Feuer meinen, welches im vorerilifchen Heiligtfum wun- 
derbar angefacht und ununterbrochen unterhalten worden war; von biefem aber 
konnte er fagen, es habe im zweiten Tempel gefehlt, wenn ihm auch die frag- 
liche Angabe des Briefes befannt war und als richtig galt. Am meiften ift die 
Nachricht über die Berbergung der Stiftshütte und Bundeslade angefochten und 
für fabelhaft erflärt worden, weil 1) die Bundeslade im zweiten Tempel fehlte, 
2) Jeremias diefelbe nicht fammt der Stiftshütte hätte fortfchaffen fünnen, und 
3) die Bundeslade nach 2 Kön. 24, 13, von den Chaldäern geplündert und zer- 
ſtört worden fei. Allein der erfte Punet ift nicht gegen den Bericht, denn diefer 
fagt nicht, daß die Bundeslade im zweiten Tempel fi befinde, oder verborgen 
worben fei, um fpäter in denfelben gebracht zu werden, Der zweite Punct hat 
in fofern Recht, als er behauptet, Jeremias felbft Hätte die Stiftshütte und Bun- 
deslade nicht fortihaffen Fönnen, aber Unrecht, fofern er meint, der Prophet hätte 


712 Macchiavelli. 


keine Helfer bekommen und wäre durch die Chaldäer gehindert worden, da doch 
befannt iſt, daß er immer feine Freunde und Anhänger hatte und die Gunſt Ne— 
bucadnezars befaß (Serem. 39, 11 f.), fo daß er von ihm wohl die Bundeslade 
und den Nauchopferaltar (2, 4. 5.) fammt der. Stiftshütte, die noch im ſalomo⸗ 
nifhen Tempel aufbewahrt wurde (1 Kön. 8, 4. 2 Chrom, 5, 5.), erhalten konnte, 
Daß endlich die Bundeslade nicht unter den von den Chaldäern geraubten Tem— 
pelgeräthen fich befand, erhellt daraus, daß fie, wo biefelben fpeciell aufgezählt 
werden, nie genannt wird (Jerem. 42, 17, Esra 1, 711), Auch über den 
zweiten Theil oder die Epitome des Jaſon'ſchen Werkes ift in Bezug auf biftorifche 
Glaubwürdigkeit fehr ungünftig geurtheilt worden. De Wette fagt dießfalls noch 
in der fechsten Ausgabe feiner Einleitung (S, 446): „Die Erzählung iſt voll 
von abentheuerlichen Wundern (III, 25 fs V, 2. XI, 8, XV, 12.), Biftorifchen und 
chronologiſchen Fehlern (vgl. X, 3 ff. mit 1 Mace, IV, 52. I, 20. 295 X, 1, 
mit 1 Mace, IV, 28 ff: XI, 24 ff, mit 1 Macc. VI, 31 ff; IV, 11. mit 1 Macc; 
VI.) übertriebenen und willfürlihen Ausſchmückungen (VI, 18 ff. VII, 27 f. IX, 
19—27. XI, 16—38,)*, - Eine gründliche Würdigung dieſes weitgreifenden Ta- 
dels müßte natürlich in einer fpeciellen Betrachtung und Vergleichung all’ der 
vielen angeführten Stellen beftehen, auf die er fich zu fügen fucht, Allein eine 
folhe geftattet der Raum hier nicht, und es wird daher eine einfache Ver— 
weifung auf Herbſt's Einleitung II. 3. S, 52—62, genügen müffen, Auch fogar 
der Lehrgehalt des Buches iſt beanftandet' und behauptet worven, es finde ſich 
in demfelben der alerandrinifch-jüdifhe Irrthum, daß Gott von der Welt abfolut 
getrennt fei und nur durch Mittelwefen auf fie einwirfen fünne. Allein die wun- 
derbare Erfheinung, die den Helivdor am beabfichtigten Tempelraube hinderte 
(3, 24. 29 fi), tft augenfällig mit Unrecht als ein Beweis dafür geltend gemacht 
worden, da fie weit eher dagegen fpricht, und mit manchen ähnlichen Erfcheinun- 
gen, die ſchon in den älteften Büchern des hebr. Canons berichtet werben, ganz 
auf gleicher Linie fteht. Die Bemerkung aber, daß im jerufalemifchen Tempel 
eine gewiffe Kraft Gottes (IE duvauıg) fei, die den Ort befchüse (3, 38.), 
will diefe Kraft Gottes Feineswegs als ein philonifches Mittelmefen gedacht wif- 
fen; denn der folgende Vers (3, 39.), der die Fed divanıs nur näher erklärt, 
läßt geradezu Gott felbft- unmittelbar den Drt beauffichtigen und Berlegungen 
deffelben beftrafen. Die Kraft oder Macht Gottes wird alſo nur in ähnlicher 
Weiſe neben Gott felbft genannt als das, wodurd er fich wirkfam erweist, wie 
3.8. Pf. 21, 14. 66, 7. 68, 35, 1 Chron. 16, 11., und an ein felbfiftändiges, 
son Gott fubftantieft verfchiedenes Wefen iſt nicht im Entfernteften gedacht. — 
ALS exegetifche Hilfsmittel find zu nennen außer den Commentarien über die ganze 
Bibel: die Kommentare von Nie, Serarius, Eafp. Sanetius, J. E. Fullo über 
beide Bücher der Maccabäer, und die oben berührten Schriften von Fröfich und 
Khell, Dann J. D. Michaelis, das erſte Buch der Maccabäer, Gött, 1772, und 
Haffe, das andere Buch der Maccabäer ꝛe. Jena 1786. [Welte,] 
Macchiavelli, Nieolo — einer der unglücklichſten Menfchen, wenn es 
ein Unglüd ift, als NRepräfentant verabfeheuenswerther, in der Wirklichfeit aber 
faft allgemein befolgter Grundfäge fortwährend in dem Munde aller Welt zu fein, 
Das Wort Macchiavellismus ift eine wahre Vogelſcheuche in Betreff welcher nur 
zu bedauern, daß fie, von einem Vogel gegen den andern gerichtet, der gewünfch- 
ten Wirkung nothwendig entbehrt. Macchiavelli ift im 3. 1469 zu Florenz ge= 
boren, der Sprößling einer altabeligen, aber, wie es ſcheint, etwas zurück⸗ 
gedrängten Familie, Sein öffentliches Leben beginnt zu der Zeit, da die Söhne 
des im J. 1492 verflorbenen großen Lorenzo di Medici, nämlich Piero, Giovanni 
und Giuliano, fammt der ganzen Mediceifhen Familie aus Florenz vertrieben 
wurden im 3. 1493, Mit reichen Kenntniffen ausgerüftet und in den Gefchäften 
gewandt, wurde Mackhiavelli bald zu den wichtigften Dienften der Nepublit ver— 





’ 





N RDBETN * — 


* 


Macchiavelli. 713 


| wendet, mit mehreren Geſandtſchaften, namentlich an den paͤpſtlichen und fran- 
I zöfifchen Hof, betraut und endlich zur Würde eines Staatsfecretärs erhoben, 


Als es im J. 1513 den Mediceern gelang, nach Florenz zurüdzufehren, war 
Macchiavelli unter den Erften, welche die Berfolgung traf. Er wurde einer 
firengen Unterfuhung, man fagt fogar der Tortur, unterworfen und fofort durch 
den zur Herrfchaft gelangten Lorenzo, Sohn des in der Verbannung geftorbenen 
Piero di Medici, feiner Aemter entfegt und gendthigt, außerhalb Florenz auf 


einem Landgute zu wohnen. Sei es, daß er an fih den Mediceern nicht ab- 
‚geneigt gewefen, fei e8, daß er fih den Umftänden gefügt Habe, eine der erſten 


Früchte feiner Titerarifchen Thätigkeit, wozu er fih in der Verbannung wandte, 
war fein Fürft, il principe, ein Buch, welches dem genannten Herrfher von 
Slorenz, Lorenzo, dedieirt iſt und fich direct an die Mediceer wendet mit der Auf- 
forderung, fih an die Spige von Italien zu fielen, um die eingedrungenen 
Fremdlinge (Franzofen, Spanier 2c,) zu vertreiben, a liberare Vltalia dei barbari. 
In der That wurde diefes Buch von den Mediceern günftig aufgenommen, Mac— 
chiavelli erhielt aldbald von dem im J. 1513 auf den päpftlichen Stuhl erhobenen 
Giovanni di Medici, Leo X. (Oheim des Lorenzo), den Auftrag, Vorſchläge zu 
einer Reformation (und Regeneration) der florentinifchen Republif zu machen, 
was denn auch gefchehen ift in dem Discorso sopra il reformare lo stato di Firenze, 
fatto ad istanza di papa Leone decimo, worin Macchiavelli den Rath ertheilt, die 
republicanifche Verfaffung in Florenz beftehen zu laffen, aber fo einzurichten, da 
das Prineipat der Mediceifchen Familie gefichert bleibe. Bon nun an ſteht Mae— 
chiavelli in dem Dienfte der Mediceer, ohne fich ferner an der Staatsverwaltung 
zu betheifigen. Die freie Zeit, die ihm fo zu Gebote ſteht, verwendet er zu lite⸗ 
rarifchen Arbeiten, Die vorzüglichften derfelben find eine Kriegsfunft Carte della 


+ guerra), Erörterungen über die erflen zehn Bücher des Livius (discorsi sopra 


i primi dieei libri di Livio) und eine Geſchichte von Florenz oder vielmehr floren- 
tiniſche Gefhichten (dell’ istorie fiorentine). Die Grundfäge, die er in den dis- 
corsi über Livius ausfprach, follen ihn den Mediceern noch einmal verdächtig ge- 
macht haben, Nah Andern Hätte er fogar.in dem Verdacht geftanden, an einer 
Berfhwörung gegen Eardinal Julius Medici, nachherigen Papft Clemens VII. 
(Better Leo's X.), Theil genommen zu haben, wogegen aber die Thatfache fpricht, 
daß er die storie fiorentine dem Papfte Clemens VII. dedieirt und in dem Dedi— 
eationsfchreiben der hohen Gunft danfbar erwähnt, deren er fich fortwährend er- 
freue, Die Angaben über fein Todesjahr ſchwanken zwifchen 1526—1530, Die 
Annahme des Tegtern Hat mehr für fih. Es ift Thatfache, dag Mackhiavelli wäh- 


rend der zweiten Verbannung ver Mediceer (des Aleffandro, Sohnes des im J. 


1519 verftorbenen Lorenzo) noch lebte — ziemlich verachtet —, und Paul Jovius 
berichtet ausdrücklich, derfelbe fei geftorben furz vor der Wiedereinführung der 
Mediceer durch Carl V. (fato defunctus est paulo antequam Florentia Caesarianis 
subacta armis Medicaeos veteres dominos recipere cogeretur), Diefe Wiederein- 


‚führung aber gefchah im 3. 1531, während die Vertreibung im J. 1527 ftatt- 


gefunden hatte," Die Nachricht, daß Machiavelli ein Spötter, und Atheift ge- 
wefen (Paul. Jovius, Elogia), unter Blasphemieen geftorben fei (Theoph. Ray- 
naudus, de bonis et malis libris), zum Empfang der GSterbfacramente beinahe 
habe genöthigt werden müffen u. dgl., ift nicht genügend verbürgt, aber doch auch - 
nicht ganz zu überfehen, — Die Hauptbedeutung Macchiavelli's Tiegt in feiner 
Viterarifchen Hinterlaffenfhaft. Die wichtigften feiner Schriften wurden bereits 
genannt. Außer denfelben befigen wir von ihm mehrere Hiftorifche und politifche 

Abhandlungen: über Lucca, Piſa, Franfreih, Teutfchland, mehrere biographiſche 
Skizzen und Charakteriftifen, darunter eine meifterhaft gefihriebene Biographie 
des Caftruccio Caftracani von Lucca, Gefandtfhaftsberihte, Reden, Gutachten :c., 
auch ein Paar dramatifhe Gedichte. Alle dieſe Schriften find ſowohl einzeln als 


1a Machiavelli, 


insgefammt fehr ft gedruckt (die neuefte Gefammtausgabe Florenz 1813 in acht 
Bänden) und wiederholt in's Franzöfifche, Englifche, Spanifche, Teutfche ꝛc. über- 
ſetzt worden. Machhiavelli wird allgemein den beften italienifhen Schriftftellern 
beigezählt, von Einigen felbft über Boceaceio geftellt. — Was ung hierorts allein 
näher intereffirt, ift das Buch vom Fürften ald dasjenige, welches die fog. Po— 
litik Macchiavelli's in gedrängter Kürze enthält und den durch die ganze Welt 
(A. Macchiavelli's „Fürft“ iſt fogar in's Arabifche überfegt worden) verbreiteten 
zweideutigen Ruhm dieſes Mannes begründet hat. Es wird nöthig fein, den In— 
halt diefes vielbefprochenen, ebenfo gepriefenen wie verabfcheuten Buches in den 
Grundlinien vorzuführen, Die Frage iſt, wie fürftliche Herrfhaften zu führen 
und zu erhalten feien (come i principati si possono governare e mantenere), Es 
hängt von der Art und Weife ab, wie fie erworben oder entflanden find, Ent- 
weder nun find fie vererbt oder ohne Vererbung erworben, J. Die Erbfürften 
halten fih ohne Schwierigfeitz fie brauchen fih nur einiger Klugheit zu befleißen 
und der gröbften Fehler und Lafter zu enthalten. Davon braucht alfo nicht ein- 
gänglich gehandelt zu werden, IL. In Betreff der gewordenen Fürften (novi 
prineipi) muß mehrfach unterfchieden werden, Zunächſt find diefelben entweder 
bereit8 Fürften eines Staates und find neue Fürften nur eines andern Staates 
geworben, den fie erobert haben (principati misti), oder fie find völlig neue Für- 
fien, d. 5. aus Bürgern Fürften geworden (nuovi tutti); ſodann find die neu er- 
worbenen Unterthanen vorher entweder unter einem Fürften geftanden oder frei 
gewefen; die Eroberung ferner ift gemacht entweder mit eigenen oder mit fremden 
Waffen, durch Glück oder dur Kraft. a) Erobert ein Fürft ein fremdes Land, 
fo Hat er, um fi zu Halten, zunächft im Allgemeinen Diejenigen unſchädlich zu 
machen, die er bei der Eroberung beleidigt hatz Jene dagegen, die ihm geholfen 
haben, nieberzuhalten, dabei aber noch auch fo viel möglich zufrieden zu ſtellen. 
Näher fodann ift zu unterfcheiden. Iſt das eroberte Land ein mit dem Erbland 
des Eroberers in Sprache und Sitten verwandtes, fo hat jener weiter nichts zu 
thun, als die herrfchende Familie zu vertilgen, im Uebrigen Alles beim Alten zu 
laffen. Iſt es dagegen ein entferntes und fremdes Land, fo muß er 1) die min- 
der Mächtigen begünftigen, die Mächtigen gänzlich niederhalten, 2) Eolonien an- 
legen (mit beliebiger Beraubung der Einwohner), 3) feinen fremden Mächtigen 
in das Land dringen laffen, 4) wo möglich felbft im Lande wohnen. b) Hat man 
einen freien Staat erobert, fo ift es höchſt unficher, denfelben nach den alten 
Geſetzen leben zu laffen. Vortheilhafter, jedoch gleichfalls ungenügend, ift es, 
dafelbft zu refiviren. Das ſicherſte Mittel, einen folhen Staat fih zu erhalten, 
ift gänzliche Zerftörung deffelben, welche demnach anzurathen ift. ©) Diejenigen 
Fürften, welche ganz durch eigene Kraft und Tugend Fürften geworden und einen 
Staat erft gefchaffen haben, wie Cyrus, Theſeus, Nomulus, Mofes, thun Leicht, 
fih zu erhalten und bedürfen feiner Inſtruetion. d) Diejenigen dagegen, welde 
durch fremde Macht und durch Glück (con forza d’altri e per fortuna) zur Herr- 
fchaft gelangt find, müffen, wollen fie fih erhalten, äußerſt Flug, verfchmigt, 
falſch, treulos, meineidig, heuchleriſch, ſcheinheilig, räuberiſch, verſchwenderiſch, 
graufam, Mörder, kurz vollendete Boſewichte fein — Alles, wie Cäfare Borgia 
(f. d. A.), welcher derartigen Fürften als vollendetes Vorbild vorzuftellen iſt 
(Raccolte adunque fulte queste azioni del duca, non saprei riprenderlo; anzi mi 
pare, come ho detto, di proporlo ad imitare a tutti coloro che per fortuna e con 
le armi d’altri sono saliti all’ imperio), e) Will Einer dur Verbreden, Mord, 
Verrath ꝛc. die Herrfchaft am fih reifen, fo vollbringe er jene Verbrechen alle 
auf einmal, ermorde alfo z. B. alle Großen, Reihen, Magiftrate einer Stadt 
auf Einen Schlag, damit er nachher nicht nöthig habe, derartige Verbrechen zu 
wiederholen und ſich dadurch wiederholt verhaft zu machen, Hat er alle Mäd- 
tigen auf Einen Schlag, durch Ermordung und Beraubung, unſchaͤdlich gemacht, 


Machiavelik, 715 


fo ift er für alle Zufunft gefihert. f) Iſt Einer durch die Gunft feiner Mit- 
bürger (ohne Gewalt) Fürft geworden, fo befreunde er fih vorzugsweie dem 
Bolfe, auch dann, wenn nicht diefes, fondern der Adel ihn erhoben hat, denn 
auf das Volk, nicht auf den Adel fann er fih fügen, Die Hauptſache aber im 
Allgemeinen ift, daß er fih immer als unentbehrlich erweife (E perö un principe 
savio deve pensare un modo, per il qual i suoi cittadini sempre ed in ogni modo 
e qualitä di tempo abbiano bisogno dello stato di lui, e sempre poi gli saranno 
fedeli). I. Nach diefem folgen Vorſchriften für die Fürften überhaupt, nämlich 
für die weltlichen, denn die geiftlichen bedürfen dergleichen nicht, fie find durchaus 
ſicher, fowie die ihnen untergebenen Völker glücklich (solo adunque questi princi- 
pati — sc. ecclesiastici — sono sicuri e felici). Jene Vorſchriften zerfallen in 
drei Claffen. Sie betreffen a) die Sicherung der Herrſchaft dur Feſtungen und 
Militär, Beide find durchaus nöthig; nützlich aber nur, in wiefern fie nicht gegen 
die eigenen Unterthanen, fondern nach Außen gerichtet find. Die fiherfte Feftung 
ift die Liebe des Volfes, das fiherfte Heer die eigenen Unterthanen oder Bürger, 
milizie proprie, während Mietbfoldaten und Hilfstruppen immer verderblich find, 
| 5) Diejenigen Tugenden, welche den Fürften zu Ruhm und Heil, und diejenigen 
- Fehler, welche ihnen zu Schmad und Verderben gereihen. Jene Tugenden find 
vorzugsweiſe Freigebigfeit, Milde, Treue, und befonders Neligiofität, Es wäre 
| ehr gut, wenn jeder Fürft diefe Tugenden befäße. Allein fo wie die Welt iſt, 
ſo iſt es nicht möglich, auch nicht nöthig; der Schein leiſtet dieſelben Dienfte. 
Freigebigfeit ift notwendig nur im Anfange einer Herrfhaft, und nüglih nur, 
wenn fie mit Hilfe fremder Güter ‚geübt wird. Auf Koften der Unterthanen geübt, 
ift fie verderblich. Die Milde darf einmal nicht auf Koſten des Allgemeinen im 
Sntereffe Einzelner, und fodann nicht zum Nachtheile der nöthigen Unterthanen- 
‚Furcht geübt werden. Treu zu fein ift einem Fürften felten anzurathen. Denn 
ift er es fo wird er, da die Andern treulos find, betrogen. Eben fo felten hat 
er ndthig, treu zu fein, denn es gibt immer Leute genug, die ſich von ihm be— 
frügen laffen, und warum follte er diefes nicht zu feinem Bortheile benützen? 
Unzählige Beifpiele zeigen, daß treulofe und wortbrüchige Fürften ſich recht wohl 
befunden haben. Eines der Teuchtendften Beifpiele diefer Art ift Alerander VI. 
Derfelbe hat nie ein wahres Wort geſprochen, Fein Verfprechen gehalten, immer 
betrogen, immer hinterliftet; und immer — haben fih Solche gefunden, die ihm 
geglaubt und ſich Haben betrügen laſſen; und alle Pläne find ihm gelungen. Re— 
üigion braucht ein Fürft gar nicht zu haben, Da genügt der Schein ftets voll- 
fommen,. Mit Einem Worte alfo: ein Fürft [heine zu fein tulto pieta, tutto 
- fede, tutto umanita, tutto integritä, tutto religione; befonders das Legte; aber zu 
fein braucht er es nicht, ja er ſoll es nicht fein, wenn er Schaden davon hätte, 
Wovor fih ein Fürft abfolut zu hüten Hat, find diejenigen Fehler, welde ihm 
Haß und Beratung (odio e disprogio) bereiten, denn ein gehaßter und ver- 
achteter Fürft iſt unreitbar verloren. Jene Fehler find 1) Eingriffe in das ma=- 
teriefle und eheliche Eigentum der Untertanen (roba e donne de’ sudditi), 
2) Unbeftändigfeit, Wankelmuth, Weichlichkeit, Zaghaftigkeit, Unentfchloffenpeit. 
0) Berfhiedenes, Ein Fürft muß wiffen, wann er feine Untertfanen zu ent- 
waffnen, wann mit Waffen zu verfehen habe; muß außerordentliche Thaten ver- 
richten, Ruhm erwerben; unter allen Umftänden wahrer Freund oder wahrer 
Feind fein, mithin nie neutral bleiben, wenn feine Nachbarn fih im Krieg mit 
einander befinden; muß Freund und Beförderer der Kunft und Wiffenfchaft fein, 
Agricultur und Gewerbe Heben, Bolfsfefte geben u. dgl.; gute Minifter und 
Rathgeber zu wählen wiffen, Schmeichler meiden wie die Peft, feinen Rathgebern 
gegenüber ſtets die nöthige Authorität bewahren, — Nach diefer allgemeinen Er- 
Örterung über die Fürften wendet fih Macchiavelli zu dem nächften Zwede fei- 
nes Buches, zur Aufforberung an die Mediceer, fih für Italiens Befreiung zu 





En 








16 Macchiavelli. 


erheben. Dieſe Aufforderung leitet er ein 1) mit der Bemerkung, die italieniſchen 
Fürften haben die Herrſchaft verloren und Italien Fremden überantwortet, weil 
fie Miethſoldaten gehalten, weil fie fih bei dem Volke ſowohl als bei ven Großen 
verhaßt gemacht und endlich bei dem Naben der Gefahr feige geflohen feien ; 
2) mit einer kurzen Erörterung über das, was man Glück, fortuna, nennt, Die 
fortuna thut nur die Hälfte; die andere Hälfte haben wir zu thun; und foll das 
Glück uns günftig fein, fo müffen wir daffelbe zu unferem Dienfte zwingen und 
fo handeln, wie wenn wir allein das Ganze zu verrichten hätten, Das Glück 
gleicht den Frauen, welche nicht den Bedächtigen und Schüchternen, fondern den 
jugendlich Verwegenen günftig find (e sempre, come donna, & amico dei giovani, 


MR 


perch& sono meno rispellivi, piü feroci, e con piü audacia la commandano), Nach 
‚ diefer Belehrung werden nun die Mediceer aufgefordert, an die Spige der Jtaliener 


zu treten , Ztalien von den eingedrungenen Barbaren zu befreien. Alfe Umftände, 
ruft ihnen Macchiavelli zu, find euch äußerſt günftig, nicht minder als einft dem 
Mofes, Cyrus und Thefeus, denn ebenfo wie die Ffraeliten in Aegypten Selaven, 
die Perfer unter den Medern unzufrieden, die Athener zur Zeit des Thefeus zer- 
ftreut gewefen, fo find e8 gegenwärtig die Jtaliener, und werben alfo gerne bereit 
fein, einem Führer zu folgen, der fie befreien, vereinigen, begfüden will, vor 
Allen einem Führer aus eurem Haufe, da diefes durch Leo X. über alle Fürften- 
häuſer Staliens erhoben iſt. — Dieß ift der Inhalt des Mackhiavellifhen Fürften, 
Wie follte ein folhes Buch nicht in den Mund aller Welt gefommen und ein 
Gegenftand vielfacher Befprechung für alle Zeiten geworben fein! Nie find der— 
artige Grundfäge mit folhem Cynismus geäußert worden wie hier, Selbſt die 
opllendetften Eyrenaifer und Epieuräer haben ſich anftändiger auszuſprechen ge— 
pflegt. Aber e8 wäre Irrthum, wenn man meinte, über Mackhiavelli und fein 
Buch ohne Weiteres ein beſtimmtes Urtheil fällen zu können und zu dürfen, Es 
find mehrere Auffaffungen ftatthaft und auch in Wirklichkeit geltend gemacht wor- 
den. Um gerecht zu fein,.muß man fie ſämmtlich in Betracht ziehen, Sie laſſen 
fih auf drei Claffen zurüdbringen. 1) Das Nächſte ift, daß man Alles, was 
Machiavelli vorbringt, für baaren Ernft nimmt und dann ein unbedingtes Ver— 
dammungsurtheil über ihn ausfpricht. In diefer Auffaffung iſt vorangegangen 
Ambroſius Catharinus (delibris a christiano detestandis et ex christianismo penitus 
removendis. Rom 15525 ſ. den Art. Catharinus). Ihm folgen ſodann Alte, 
welche fogenannte Antimacchiavelli gefihrieben haben, von Gentillet (Dis- 
cours sur les moyens de bien gouverner et maintenir en bonne paix un royaume 
ou aufre principauté, divises en trois libres: assavoir du Conseil, de la Religion 
et Police que doit tenir un Prince. Contre Nicolas Machiavel Florentin. 1576) 


bis Friedrich II. CAntimacchiavelli ou examen du Prince de Macchiavelli. 1740), 


und Alle, die, auf diefe Antimacchiavelli geftügt, die Leichte Mühe über ſich ge- 


nommen haben, Mackhiavelli zu verdammen und fein Buch als ein fehr gefähr- 


Yiches darzuthun; fo P. Poffevin 1592 (der, wie Conringius [Nie. Macchiavelli 
Princeps. Helmstadi. 1660. Praef. p. 8 sq ] nachgewiefen, den Principe des Mac- 
chiavelli gar nicht gelefen Hat), Nibandeira (de prineipe christiano adv. Macch, 
caeterosque hujus saeculi politieos. Antw. 1603), P. Luckhefini (Saggio della 
sciocchezza di Nicolo Macch., Rom 1697) u, ſ. w. Diefer Auffaffung ift fihwer- 
lich beizupflichten. In wiefern ſich beftimmter die Meinung damit verbindet, daß 
Macchiavelli blutige Tyrannei empfohlen und die feinem Fürften angerathenen 
Schändlichkeiten nicht für Schändlichfeiten gehalten habe, ift fie entjchieden für 
falfch zu erflären; jede Seite des Prineipe fowohl als der übrigen Schriften Mac« 
chiavelli's fpricht dagegen. Auf das kirchliche Verdammungsurtheil kann fie fi 
nicht berufen, Allerdings ift der Principe Macchiavelli's Firchlich verdammt wor« 
den. Aber erft unter Clemens VIIL, alfo faft hundert Jahre mach feinem Ers 
feinen, Dieß beweist, daß ihn die Kirche von Anfang an anders als die Anti- 


Machiavelli. 717 


macchiavelli aufgefaßt habe. Jenes Verdammungsurtheil wurde erft erlaffen, 
nachdem das Buch wirklich, in Folge der darüber entflandenen Streitigfeiten und 
Mißverſtändniſſe, gefährlich geworden war. 2) Die zweite Partei ſchreibt Mac- 
chiabelli die gerade entgegengefegte Gefinnung und Abficht zu. Ein ächter Freund 
des Bolfes und Feind aller Tyrannei, fagt Alberieus Gentili$ (de legalionibus 
II, 9), wollte Machiavelli die Schlechtigfeiten der Tyrannen aufdecken, bloß— 
ſtellen vor Aller Augen, nicht um die Fürften, fondern die Völker zu belehren 
- (itaque tyranno non favet. Sui propositi non est tyrannum instruere, sed arcanis 
ejus palam factis ipsum miseris populis nudum et conspicuum exhibere... Con- 
silium fuit, ut sub specie principalis eruditionis populos erudiret). An der Spige 
dieſer Anſchauung fieht Baco von Berulam, welcher Mackhiavelli darüber Iobt, 
daß er die fürftlihen Schlechtigfeiten durch fehonungslofe Aufdeckung unſchädlich 
zu machen gefuht habe (De augm. scient. VII, 2). Man wird diefer Anfhauung 
- beizuftimmen in demfelben Grade geneigt fein, ald man Intereſſe hat, an einem 
Menſchen menfhliche Gefinnung zu gewahren, Ueberdieß fcheint fie einen An— 
baltspunct zu haben an der Dedication und dem Schluß des Prineipe, fowie an 
dem Gutachten für Leo X. in Betreff der Reformation der florentinifchen Republif 
und befonders an den fehr republicanifch gehaltenen discorsi über Livius. Gegen 
fie jedoch ſpricht dieß, daß fie den Principe ganz von Principien entblößt, 
I Man faun nicht wohl annehmen, daß ein fo forgfältig ausgearbeitetes Buch, wie 
| der Principe ift, nicht von allgemeinen politifchen Prineipien getragen und weiter 
I nichts fein fol, als eine Zufammenftellung von Momenten, welde eine gewiffe 
I Regierungsform gehäffig machen, Die übrigen Schriften Mackhiavelli’s geben 
beftimmte politifche Principien zu erfennen; und es ift ohne Zweifel anzunehmen, 
diefelben feien die Seele auch des „Fürften“. Wäre die genannte Anficht richtig, 
fo ließe fih die Thatfache nicht begreifen, dag Macchiavelli die [händlihen Hand= 
I Iungen der neuen Fürften ald notbwendig darftellt. Er hätte jenen Zwed 
I nicht nur auf, fondern beffer erreicht durch den Hiftorifchen Nachweis, daß alle 
I neuen Fürften fo und fo handeln, und durch eine Belehrung der Völker, wie fie 





ſich gegen ſolche Fürften zu fhügen haben. Ueberdieß erfcheint Macchiavelli, ohne 





I ein abfolut verworfener Menſch zu fein, doch auch überall nicht als ausgezeich- 
I neter Eiferer für Recht und Tugend. Hierin hat die dritte mögliche Auffaffung 
I unferes Buches ihre Berechtigung. 3) Sehr Biele, vielleicht die Meiften unter 
I den Politifern, welche fih mit Macchiavelli befchäftigt, haben deffen Fürften ein- 
1 fa, wie er Tiegt, vertheidigt, Er ift, fagt 3. B. Bocalin, eine getreue Copie 
der wirklichen Fürften. Iſt ed aber nicht ungerecht, die Copie zu verdammen, 
während man das Driginal verehrt, preist, verherrliht? Nicht die Fürften, 

zuft ein Anderer Cbei Bayle) aus, haben von Mackhiavelli, fondern diefer hat 
I von jenen gelernt; und man verdamme, verbrenne fein Buch, die Politik wird 
I doc diefelbe bleiben. Il faut, fest er bei, par une malheureuse et funeste né— 
cessil& que la politique s’eleve au dessus de la Morale. Man muß fih, fagt Con—⸗ 
zingius (I. c. praefat.), in der Politik nicht mit einem idealen, fondern mit dem 
I wirklichen Staat befchäftigen, nad) dem Vorbilde des Ariftoteles; und entiprechend 
erklärt Amelot de la Houffaye Lfranzöf. Ueberfeger des Principe): Diejenigen, 
welde Macchiavelli tadeln, verftehen gar nichts von der raison d’etat; woher es 


I Fommt, daß angehende Staatsmänner, Prinzen :c., Mackhiavelli verdammen, dann 








I aber, fobald fie zur Herrfchaft gelangt find, fich als treue Schüler deſſelben er- 
| weifen, feine Politif Schritt für Schritt befolgen. Wie richtig diefe Bemerfung 
fei, bedarf Feines Beweifes. ALS eclatantefted Beifpiel fann Friedrich IL gelten, 
4 welcher nicht nur als König ein vollendeter Macchiavel gewefen, fondern auch 
ſelbſt in feinem von Heiligenfhein umfloffenen (von Voltaire herausgegebenen) 

I Antimachiavel den reinften Machiavellismus vorgetragen hat. — Iſt diefe dritte 
| Auffaffung des Macchiavelliſchen Fürften richtig, fo Tiegt die’ Bedeutung des 


718 Machiavelli, 


legtern darin, daß er der wiffenfchaftlihe oder, wie man eher fagen muß, Tite- 
rarifhe Ausdruck einer in der Wirklichkeit geübten Politif ift, Worin befteht diefe 
Politif? Darin, daß man im Intereſſe eigenen Vortheils einen Plan entwirft, 
alfo einen beftimmten Zweck fegt und dann dieſen Zweck zu erreichen beftrebt ift, 
indem man nicht nur die eigene Kraft in Bewegung fest, fondern auch alles 
außerhalb des eigenen Kreifes Liegende fich dienftbar macht oder, wenn es im 
Wege fteht, vernichtet oder fonft entfernt, Wie die einzelnen Menfchen, fo fün- 
nen fich auch die Staaten und Staatsoberhäupter auf zweierlei Weife verhalten: 
‚entweder wirfen und bewegen fie fich Tediglich in dem ihnen angewiefenen Kreiſe 
und refpectiren 1) das Gebiet (das Eigenthum, die Rechte) aller Andern eben fo, 
wie fie ihr eigenes refpectirt wünfchen, und überlaffen 2) den Erfolg dem Lenfer 
der Weltorbnung und alles Einzelnen in derfelben; oder fie wirken fo, wie wenn 
1) nicht eine allgemeine, unter Einem Lenker ſtehende Drdnung wäre, der fi 
alles Einzelne einzufügen hat, und befchränfen fich eben deßhalb 2) nicht auf den 
ihnen angewiefenen Kreis, fondern fegen fich ald Centrum, um alles außen Lie— 
gende an fich zu ziehen und fich dienftbar zu machen. Mit andern Worten: fie 
beachten bei ihrem Thun und Laffen das Necht, oder fie beachten es nicht, indem 
fie Iediglih das vollbringen, was fie für zweckdienlich, nämlich dienend dem in 
eigenem Sntereffe freigefegten Zwecke, halten, Eine Politif in erfterer Weiſe 
nennt man fittlich , unfittlich dagegen die in letzterer Weiſe geübte. Diefe letztere 
nun ift die Mackhiavelliftifche Politif, Sie tritt und ebenfo in den übrigen Schrif- 
ten wie in dem Fürften Mackhiavelli’$ entgegen. Wornach bei politifchen Hand— 
lungen überall die Frage ift, ift nur die unmittelbare Zweckmäßigkeit. Diefe er- 
fennen und ihr gemäß zu handeln verfiehen, macht die ganze politifche Weisheit 
aus. Ob das von folder Weisheit Gebotene die Nechte Anderer verletze und 
göttlihen Geſetzen widerfpreche oder nicht, Fommt nie in Frage. Es ift von fol- 
chen Nechten und Gefegen nie die Rede, Die Erörterung darüber wird einer 
abftracten Rechtsphilofophie überwiefen. Gegenftand der Politif als einer con- 
ereten Wiffenfchaft ift nur jene als politifhe Weisheit bezeichnete Klugheit, Geben 
wir ſolche Politik einer Republik, fo wird ein Verfahren entftehen, wie wir es 
etwa in Sparta, auch, nach den verfifhen Kriegen, in Athen, gegenwärtig in 
England wahrnehmen. Geben wir fie einem werdenden Fürften, Uſurpator 
oder Eroberer, fo werden wir fogleih vor und fehen — den Mackhiavellifpen 
Fürften. Macchiavelli's Fürftenpolitif ift demnach nur ein Theil von deſſen ge— 
fammter Politif, aber ein dem Wefen des Ganzen genau entfprechender Theil, 
Macchiavelli, fagt Friedrich IL. und nah ihm Stahl (Geſch. d. Rechtsphiloſophie 
I, 339), ift der Spinoza der Politik. Es ift diefelbe Losreißung von dem leben- 
digen Gott, welche in der Philofophie zum Spinozismus, in ber Politif zum 
Mackhiavellismus mit Nothwendigkeit führt... Läßt man einer höhern Macht 
noch etwas zur Leitung über, dann fällt diefe ganze Art der Politifz oder man 
will felbft Alfes verforgen, dann fommt man unvermeidlich auf feinen Stand- 
punct, Mackhiavellismus aber ift diefe Politif nur in dem Sinne zu nennen, wie 
man die neuere, mit Entfchiedenheit und vollem Bewußtfein atheiftifche Philoſophie 
Spinozismus nennt. Macchiavelli Hat nur das Unglück gehabt, der Erſte zu fein, 
durch den fie einen wiffenfchaftlichen Ausdruf empfangen, Sie ift längft vor 
Mackhiavelli, ift aber freilich vorzugsweife zu feiner Zeit die Politif aller Welt 
gewefen und ift e8, mit wenigen rühmlichen Ausnahmen, bis auf den heutigen 
Tag. In häßlichſter Geftalt (weil am vollftändigfien ausgeprägt) erſcheint fie 
freilich auf den beiden pofitifchen Extremen, wenn fie nämlich geübt wird einer- 
feit8 von einem Fürften (der dann als Tyrann erfheint), andererfeitd von der 
Demagogie. Ob nun Macchiavelli das Bud vom Fürften gefchrieben habe nur 
um feiner überafl, befonders in den Erdrterungen über Livius und in ber floren- 
tiniſchen Gefchichte zu Tage tretenden Politik einen recht beftimmten Ausdruck zu 


 Macedonien. 719 


geben, ober ob er Mebenabfihten damit verbunden, etwa die Mediceer habe ver- 
warnen wollen, einen formlichen Fürftenthron, mit Unterdrüfung der republica- 
nifchen Verfaffung, zu errichten, ift zwar nicht für feinen Charafter, für ung da— 
gegen ganz gleichgültig. Wie immer es fi damit verhalten möge, er ift zu be- 
I Hagen 1) überhaupt, weil er zu denjenigen Menfchen gehört, welche nicht begreifen 
| oder nicht beachten, daß das Leben der Menfchen eben fo wie das Leben der Na— 
| tur unter einem einheitlichen, unabänderlihen und unverleglichen göttlichen Gefege 
I fehe, und 2) weil er feinen Namen zur Bezeichnung einer Unfittlichfeit hergeben 
I muß, deren fih faft alle Welt eben fo fchuldig maht wie ſchämt. — Wenn gefagt 
wird, der Mackhiavellismus fei wefentlih die Politif des päpftlichen Hofes und 
der Fatholifchen Staaten, während er in proteftantifchen Staaten, Danf dem 
wahren Chriftenthum, nicht Wurzel zu faffen vermöge (fo, nah dem Vorgange 
vieler feiner Glaubensgenvffen, neuerdings Matthäi, Verhältniß des Chriften- 
thums zur Politif, Göttingen 1850, S.4): fo fann man Nichts erwiedern, fon- 
dern nur flaunen, wie e8 einem Menfhen möglich fei, fo boshaft und zugleich fo 
abgefhmadt zu fein. — Eine reihe Sammlung von Urtheilen über Mackhiavellt 
aus älterer Zeit enthält Tob. Magiri Eponymologium criticum cte. Francof. et 
Lipsiae 1697. gl. aud Bayle, diction. hist. crit. und Artaud, Macchiavelli, 
son genie et ses erreurs. Par. 1833. Das Neuefte ift Benedey, Macchiavell, 
Montesquieu , Rouffeau, Berlin 1850. [Mattes.] 
Macedonien (Maxedoria), das lange Zeit als ein Theil von Thrazien 
betrachtet wurde, war von mehreren Fleinen Bölferfchaften des illyriſchen Stam— 
mes (Hermann, griech. Staatsalterth. S. 41) bewohnt, von deren eigenthüm= 
licher Sprache noch Reſte in der walachiſchen und arnautifhen übrig find, Im 
erſten Biertheile des achten Jahrhunderts (v. Chr.) Tiefen ſich griechifche Colo= 
niften an ihrer Spige argivifche Herafliden nieder, und flifteten einen erblid- 
maonarchiſchen kleinen Staat, deffen erfter König Perdiecas war. Im fteten Rampfe 
gegen die Thrazier erhielt fih zwar eine friegerifche Stimmung und Uebung; doch 
konnte Macedonien dem übrigen Griechenland gegenüber zu feiner Bedeutung ge= 
langen, bis auf Philipp, den zehnten aus jener Königsreihe. Indem er fein 
Reid vom Strymon und dem ägäifhen Meere bis an das adriatifhe Hin erwei- 
terte, die Thrazier zurücdrängte, die Päonier und Illyrier unterwarf, Amphipolis 
(858) eroberte, und ſich in den Befis der reichen Goldbergwerke von Krenidä 
feste, welche ihm jährlich eine Million Thaler eintrugen, und durch die er ſich 
I bald faft in jeder Stadt eine Partei zu erfaufen wußte, wurde er Herr über 
Griechenland felbft, ehe er noch das Glück der Waffen dagegen verfucht hatte, 
Der Sieg an der Ebene von Cheronea (333) machte der Freiheit Griechenlands 
vollends ein Ende, Während Alerander, Philipps Sohn, in Aften kämpfte, ver- 
waltete Antipater Macedonien und Griechenland. Obgleich die griehifhen Städte 
weder macedonifche Befagungen zu tragen, noch Tribut zu zahlen hatten, ließ fie 
doch ſchon das Gefühl der Abhängigkeit über den frühen, beflagenswerthen Tod 
des macedonifchen Heldens nur frohloden und den Kampf um ihre Freiheit ver— 
ſuchen, der indeß zu ihrem Verderben ausfchlug. Macedonien felbft aber war, 
von da an der Schauplag fleter Kämpfe um die Oberherrſchaft. Antipater hatte 
mit Umgehung feines eigenen Sohnes Caffander den erfahrenen Polyfperhon zu 
feinem Nachfolger beftimmt, das Signal zu langen Unruhen-und Kämpfen. Dazu 
famen noch die blutigen Streitigfeiten in der Familie Aleranders, die gegenfeitigen 
BDefämpfungen feiner Feldherrn, und die Verfuhe des Abentheurerd Demetrius 
Poliorcetes, die in der Schlacht bei Ipſus in Phrygien verlorene Herrfchaft fei- 
nes Vaters wieder zu gewinnen, was endlich feinem Sohne Antigonus Gonatas 
(279) gelang. Ihm folgten feine beiden Söhne Demetrins II. und Antigonus 
Dofon, und endlich Philipp II. CV), fein Enfel (221). Durch den ächäiſchen 
Stäbtebund (251) war Griechenland unterbeffen zu einiger Selbftftändigfeit und 











720 Macedonius — Mahmas. 


inneren Feftigfeit gefommen. Um fich aber gegen Sparta zu behaupten, mußten 
die verbündeten Städte Macedonien zu Hilfe rufen, was feinen Principat auf's 
Neue hervorrief. Doch als Philipp feine Hegemonie in eine eigentliche Herrfchaft 
über Griechenland erheben wollte und in Athen einfiel, gefhah das Tängft Ge- 
fürchtete — Athen rief die Römer um Hilfe, In der Schlacht bei Kynoskephalä 
von Flaminius befiegt, warb Philivp zu einem fehimpflichen Frieden gezwungen, 
und mußte feinen Sohn Demetrius als Geifel geben, Da er diefen aus falſchem 
Berdacht heimlich vergiften Ließ, ftarb er bald darauf aus Gram unter fteten 
Nüftungen gegen die Römer. Unter feinem zweiten (natürlichen) Sohne und 
Nachfolger brach der Krieg gegen die auf feine Macht eiferfüchtigen Römer nur 
zu fchnell aus. Nach einem augenblicklichen Waffenglüde wurde er von Aemilius 
Paulus bei Pydna aufs Haupt geſchlagen, gefangen genommen und zu Nom im 
Triumphe aufgeführt (167 v. Chr.). Diefe legten zwei Könige werben 1 Macc. 
8, 5. (Dikımrov zal vov Ilegoie Kırrısov Baoıkea) aufgeführt, fowie ebend. 
1, 1. Alexander Gr. (05 EENAHev Ex TS yig Xerreieiu) vgl. den Art. Chit- 
tim. — Macedonien- wurde erobert und in vier Provinzen getheilt, indeß einft- 
weilen noch für frei erflärt, Innere Zerrüttungen riefen aber die Nömer von 
Neuem herbei, welche nun das Land zu einer römischen Provinz machten (142 
v. Ehr.). Living gibt folgende claffifche Befchreibung der macedonifchen Pro- 
vinz nach ihren vier Diftrieten: Prima pars Bisaltas habet, fortissimos viros; trans 
Nessum amnem incolunt et circa Strymonem: ‚et multas frugum proprietales et 
metalla et opportunitatem Amphipolis, quae objecta claudit onmmes ab oriente sole 
in Macedoniam aditus. Secunda pars celeberrimas urbes Thessalonicen et Cassan- 
driam habet: ad hoc Pallenen fertilem ac frugiferam terram: maritimas quoque 
opportunitates ei praebent portus ad Toronem ac montem Atho, alii ad insulam 
Euboeam, alii ad Hellespontum opportune versi. Tertia regio nobiles urbes Edes- 
sam et Beroeam et Pellam et Vettiorum bellicosam gentem: incolas quoque per- 
multos Gallos et Illyrios impigros cultores. Quartam regionem Eordaei et Lyn- 
cestae et Pelagones incolunt. Juncta his Atintania et Stymphalis et Elimiothis. 
lib. 45. c. 30. — In Europa hatte Paulus zuerft auf macedoniſchem Boden das 
Evangelium gepredigt, durch eine himmlifche Erfcheinung dazu ermuthigt. Nea- 
polis, Philippi, Amphipolis, Apollonia, Theffalonih und Berda find die vom 
hl. Apoftel betretenen macedonifhen Städte. Das Evangelium hatte in ihnen 
einen außerorventlihen Fortgang. Vgl. darüber die einzelnen Artikel: Amphi— 
polig, Berdau,f,w. [Schegg.] 


Macedonius, Macedonianer, f. Pneumatomachen. 


Machmas (Mihmas) 0u>n, wn>n, d. i. Schaf (Drt, Haus des Schakes), 
eine durch ihre Lage wichtige Stadt im Stamme Benjamin, dag heutige Dorf 
Mufpmas, öftlich von Bethel, neun rom, Meilen nördlich von Jeruſalem. Es 
bebherrfchte den nördlichen Eingang eines Engpaffes, der durch zwei fteile Fels— 
zacen Bofes (zy2, der Hervorragende) und Sene (730, Zehe, Kippe) gebildet 
wurde. Die Philifter hatten diefen Engpaß befegt und fih von bier aus über 
das ganze nördliche Gebiet von Juda (1 Sam, 13, 17.), zunächft den Stamm 
Benjamin, verheerend ausgebreitet, während Saul mit feinen 600 im Süden 
des Engyaffes lag. Erft fpäter treffen wir ihn zu Migron Cl. co. 14, 2,) im An» 
gefihte der Ppilifter, die Jonathan durch feine muthvolle Neberfteigung des Eng- 
paffes, wo er fie von oben angriff, zum Rückzuge brachte, Die Furcht des Herrn 
fam über fie und fie Tösten fih in wilder Flucht auf: Die Befchreibung bes 
afyrifhen Heerzuges bei Zfaias 10, 23—32, ift ideal, aber auch aus ihr erhellt, 
daß mit der Befegung von Machmas das legte Hindernif, Jeruſalem zu erreichen, 
gehoben ift. Der Macabäer Jonathan refidirte in Machmas, bis er in Jerufalem 
ſelbſt einziehen fonnte, Noch war die ganze Umgegend wegen ihrer Fruchtbarkeit 


ei 
TR 


Madien \ 724 


hodh berühmt. Robinſon ſah im heutigen Mukhmas viele Grundmauern von 
großen gehauenen Steinen, und zwiſchen ihnen einige Säulentrümmer. 
Machſor (Ar772 Zurüdfehr, Kreisbewegung von Ir zurüdfehren), Name 
des hebräifchen Gebetrituals für das ganze Jahr, im Gegenfage zum gewöhn- 
lichen Gebetbuche der Juden, welches man ſchlechthin Thephilla (Gebet, T>on) 
zu nennen pflegt. Es unterfcheidet fich vom Iegteren, dem es für den täglichen 
- and jährlichen Gottesdienft mit entfprechender Einrichtung ergänzend zur Seite 
geht, nur durch verſchiedene Zufäge, namentlich religiöfe Feſtgeſange. Ein voll- 
ſfländiges Machſor enthält außer den in Profa gefhriebenen Gebeten: 1) Feft- 
geſänge verſchiedener Verfaſſer; 2) die Abfıhnitte aus dem Pentateuch und den 
Propheten, welche an den Fefttagen vorgelefen werben; 3) die fogenannten war 
mr>r32 (fünf Rollen, fünf Bücher, d. 1. das Buch Ruth, das hohe Lied, die 
Rlageliever des Jeremias und den Prediger); 4) die Pirfe Aboth, Sprüde der 
Bäter, einen Tractat aus der Mifchna (es ift der neunte Tractat [n>0%] der 
vierten Abtheilung [172] in gewöhnlichen Mifchnaausgaben, im Thalmud felbft 
aber der legte Tractat diefer Abtheilung). Es gibt aber auch kürzer abgefaßte 
Machſorim, welche nur die Gebete und Feftgefänge enthalten. Auch find fie im 
Ritus abweichend, je nach den verfohiedenen Nationen und Ländern, zu: deren 
Gebrauche fie beftimmt find. Es gibt daher italienifche, teutfche, polnifche, fpanifche 
I und vortugiefifche, die fich nach den Gebräuden und dem Ritus diefer oft in einer 
I und derfelben Stadt und Gemeinde fich findenden verſchiedenen Volfsgenoffen richten, 
Der werthoolifte Theil des Machfor ift die vielfach eingewebte Poeſie, die Feft- 
gedichte, Diefe Fefigedichte, gewöhnlich Pijutim genannt (aror?> ein Lehnwort, 
- das mit poeta zufammenhängt), enthalten einerfeits thalmudifche Ideen, anderer- 
ſeits find fie Ausflüffe der mittelalterlihen ariftotelifch-fholaftifhen Religions— 
ſpeculation, daher denn auch gewöhnliche Juden, welche nicht eigene Studien 
darüber gemacht haben, fie nicht verſtehen. Der Form nad find fie Nachahmun— 
I gen arabifcher Poeſie, — viele fehr gelungen, doch nicht von allen fann man 
Letzteres behaupten, manche davon find Erzeugniffe des gefunfenen Geſchmackes, 
I gefallen fi in eitlen Wortfpielereien und enthalten wenig Jdeen, fo daß felbft 
Heidenheim, der Kimchi der neuern Zeit, welder das Machſor in's Teutſche über- 
feste und Hebräifh commentirte, manche Stüdfe übergehen mußte, weil fie durch— 
- aus in einer andern Sprache ungeniefbar find. Leider ift das fehönfte Gedicht 
des außerbiblifhen Hebraismus mı2:n An> (teutfch Herausgegeben unter dem 
F zitel: Konigskrone von ben Gabirol”, metriſch überfegt von Leopold Stern, 
I Frankfurt a. M. 1833) in den neuern Ausgaben ausgelaffen. Die Berfaffer 
diefer Feftgedichte, Peitanim (or:0°2) genannt, welche mit näheren Angaben in 
der hebräiſch gefihriebenen Einleitung zur Heidenheimifchen Ausgabe des Machſor 
alphabetifch aufgeführt find, Fann man in zwei Claſſen theilen: 1) in fpanifche, 
die befonders zwifchen 1070— 1170 blühten, und an deren Spige Salomo ben 
Gabirol, Zfaac ben Giath, Mofes ben Esra, Jehuda Hallewi, Abraham ben Esra 
ftehen ; 2) in teutfch-franzöftiche, ungefähr von 1040—1293. Diefe find größten- 
theils Nachahmer des Jtalieners Kalir. — Manuferipte und Ausgaben vom Mad 
I for find unzählbar. Die erfte und feltenftle Ausgabe ift die von Soncino und 
I Eafalmaggiore 1486. Eben fo felten find die Soncinifhen Abvrüde in Pefaro 
I. beforgt. . Für die vollfländigfte und gefchägtefte von allen Ausgaben gilt die von 
Dologna 1541, Alle diefe find nach italienifhem Ritus. Die erfte Ausgabe nach 
teutſchem Nitus ift die Augsburger von 1536, die erfie nach polniſchem Ritus 
die aus Prag 1533, Neuere Ausgaben bei Schmid in Wien: Machforim na 
polniſchem Nitus, zwei Theile. Diefelben mit teutfcher Ueberſetzung, zehn Theile, 
fowie noch in verfhiedenen andern Ausgaben mit und ohne Ueberfegung. Machſor 
nach teutſchem Ritus, fünf Theile. — Machſorim, Feiertagsgebete für den ita— 
lieniſchen Ritus. Macfor für alle Seiertage, drei Theile (nad —*2 Ritus); 
Kirchenlexilon. 6. Br. : 





Re TG 











722 Macrina — Madian, 


Die jegt in Teutſchland gebräuchlichfte Ausgabe ift Die von Heidenheim in fünf 
Theilen (nach den fünf Feften: Neujahr, Berföhnungstag, Lauberhüttenfeft, Oftern, 
Pfingften) mit teutfcher Heberfegungz die befte Ausgabe davon ift die Rödelhei— 
mifche, Meberhaupt über Machfor, deffen Ausgaben, Einrichtung, Gefchichten. ſ. w, 
vergleihe: De Roſſi, Hiftorifches Wörterbuch der jüdischen Schriftfieller, über- 
fest von Hamberger; Dukes, zur Kenntniß der neubebräifchen Poefie; oben 
erwähnte Einleitung von Heidenheim; Wolf, Bibliotheca hebraica; Zung, re- 
Yigiöfe Vorträge; Catalog der hebräifchen Buchhandlung des Franz Edlen v. 
Schmid und 3. 3. Buch, Catalog der in Prag erfihienenen Hebräifchen Bücher. 
Einzelnes zerftreut findet fih auch in den neuern jüdifchen Zeitfehriften, z.B. 
an DS5, Dinsm nano, Orient von Fürft, Geigers Zeitfehrift, Buſch, Ka- 
Yender und Jahrbuch für Sfraeliten u. ſ. w. 

Macrina, die heilige, f. Bafilius der Große. 

Madian (Midian), 7777, Vulg. Madian, der vierte Sohn Abrahams und 
der Ketura, Stammvater der Madianiter (Miidianiter), welche mit den Jimae- 
Yitern (ſ. d. A.) das nordweftlihe Arabien (Nabatäa) bewohnten, und zu den 
Moftarabern (Araba Moftaraba, d. i. durch Berfchwägerung gewordene Araber) 
gegenüber den Urarabern (Arab al Araba), d. i. den Kindern und Nachlommen 
Kaihtans (Joctans der Bibel) gezählt wurden, Ihre urfprüngliche Heimath geben 
die arabifchen Schriftftelfer übereinftimmend am öftlichen Ufer des älanitifchen 
Meerbufens auf der 23. Station der ägyptifchen Meccapilger Maghair Schvaib 
27° Br,, im Norden von Ajin Unne (dem Onne —"Ovvn des Pol.) an. Das 
arabifche Itinerar bei Seegen (v. Zach, monatl, Correfpondenz. 1809, Bd. 20, 
S. 310) fagt ausdrücklich: Madajin war eine Stadt an der Küfte des Meeres, 
wo man noch Nefte vormaliger Gebäude finden ſollte. Es iſt Hier ein großer, 
Schlechter Brunnen und daneben ein Teich, aus dem Mofes die Schafe des Schoaib 
(Zethro) tränfte, In einer hier befindlichen Grotte, Mgar (Maghair) Schoaib 
genannt, verrichten die Pilger ihr Gebet und fegen dann ihre Neife weiter fort, 
Diefes Maghair Schoaib ift iventifch mit dem von Nüppel befuchten Wadi Beben, 
wo er zahlreiche Gruppen von Katafomben und die Trümmer einer antiken Eul- 
fur fand, welche von der des übrigen Arabien ganz verſchieden war, Auch Ptole— 
mäus Fennt ein Modıave, deffen Lage hienach beftimmt werden muß. Die An- 
gabe bei Ritter (XIII. 287) 66° 40° Länge muß irrig fein; es muß zwifhen 53 
und 54° Länge gelegen fein, gegenüber (weftlih) von Tebuf, Die Araber mit 
Rüppel bezeichnen diefe Gegend als eine der Tiebfichften Stationen, ein Thal voll 
füßen Waffers, mit Dattelpflanzungen und vielen Bäumen zwifhen den Felſen. 
Die Madianiter hatten fomit zu ihren bſtlichen und norböftlihen Nachbarn die 
Bruderftimme Thema (Gen, 25, 15.) und Kedar (If. 21,17., meinen Eom- 
mentar I, 226), und waren ganz an dem Plage, den Karawanenhandel aus dem 
Innern von Arabien nach Aegypten (1 Mof. 25, 24.) und Paldftina (If. 60, 6.) 
zu vermitteln, indem noch heutzutage die ägyptiſchen Meccapifger mitten durch 
ihr Gebiet ziehen, Die biblifche Erzählung, nach der Mofes im Lande Madian 
fi vor Pharao verbarg, möthigt ung nicht, die arabifhe Tradition aufzugeben. 
Da nad Ibn Sayd, den Abulfeda anführt, das Meer bei Madian eine Tagfahrt 
breit ift, fo konnte Mofes auf feiner Flucht hier die Meerenge übderfegt haben, 
Indeß hatte Madian als ein nomadifirender Stamm in der früheften Zeit Tein 
fireng begrenztes Gebiet; Fam ja Mofes mit den Herden Jethro's bis an den 
Sinai, Schon damals feheint ſich ein Theil von feiner urfprünglichen Heimath 
losgeriſſen zu haben, und nach Norden, dem öſtlichen Ufer des tobten Meeres 
entgegen, gerückt zu fein, Wir finden fie, feindlih den fraeliten gegenüber, in 
Verbindung mit den Moabitern (4 Mof, 31, 1.), und fpäter mit den Amalefitern 
(Nicht. 6, 3.), bis fie durch die Siege Gedeons (f. d. A.) völlig aufgerieben 
wurden, Die einzelnen Schwärme ohne Anführer (Richt. 7, 25.) verloren ſich— 


Madruss. — 


| Bon dieſen dürfen wir die Madianiter (Iſ. 60, 6.), welche friedlich in ihrer 
Seimath geblieben waren, unterſcheiden. [Schegg.] : 
z Madruzz, Chriftoph (nicht zu verwechfeln mit feinem Neffen, dem etwas 
| jüngern Cardinal und Fürftbifchof von Trient, Ludwig von Madruzz), war ein 
| Mann von großen Geiftesgaben, fehr gewandt in weltlihen Geſchäften, bei 
| _Saifer Earl V. und feinem Bruder 8, Ferdinand fehr beliebt, von den größten 
1 Männern feines Jahrhunderts Hoch geachtet, befeelt von großem Eifer für Her- 
ſtellung einer beffern Kirchenzuchtz pur ein Schatten haftet an feinem Charakter, 
daß er gegen die Kirchengefege zu viele Bisthümer in feiner Perfon zu vereinigen 
1 fuchte, was fih aber durch die Umftände, in denen er lebte, etwas entfchuldigen 
I Habt. Er ſtammte väterliher Seits aus dem alten angefehenen Geſchlecht ver 
Freiherren von Madruzz, mütterlicher Seits aus dem Geſchlechte der Ritter von 
Sporenberg, Herrn zu Billanders und Pradel. Geboren im J. 1512, machte er 
feine Studien auf der berühmten Hochfhule zu Bologna und ſchloß dort Befannt- 
Schaft mit Männern, die nahmals zu den höchſten kirchlichen Würden emporſtiegen 
und ihm flets in Liebe und Achtung zugethan blieben; aus diefen hebe ich nur 
hervor Alexander Farnefe, Hugo Buoncampagni (als Papft Gregor XL), Otto 
Truchſes und Stanislaus Hofius. Schon gar früh, während er faum 17 Jahre 
I alt no in Padua ſtudirte, überlieg ihm fein älterer Bruder fein Canonicat im 
I Zrient und die Pfarre Tirol bei Meran, welche er dann dur einen Stellvertre- 
] ter verfehen ließ. Einige Jahre fpäter befam er dazu noch ein Canonicat in Salz- 
burg (1536) und ein Canonicat in Briren (1537), während er um dieſe Zeit 
I bereits Domdecan in Trient geworden war und ald Gefandter des römifchen 
- Kaiferd Ferdinand an die Republif Benedig fowohl die Wünfche feines Herrn 
glücklich erfüllt, als auch die Achtung des Dogen von Benedig CP. Lando) in 
ausgezeichnetem Grade fih erworben hatte. Bald darnach ftarb der berühmte 
Fürfibifchof von Trient und Cardinal Bernard von Cles. Kaifer Carl V. empfahl 
ihn, das Domcapitel von Trient wählte ihn, der Papft beftätigte ihn 1539 zum 
Fürſtbiſchof von Trient, obwohl er nur Subdiacon und erft 27 Jahre alt war, 
I worauf er dem Raifer in den Niederlanden einen Befuh machte, und nach kurzer 
1 Srift als fönigliher Botjchafter auf den Reichstag zu Regensburg fih verfügte 
als eifriger Kämpfer gegen Luthers Irrlehre. Im Jahr 1542 ließ er fih endlich 
zum Diacon, Priefter und Biſchof weihen. Nicht lange darauf poftulirte und er= 
bielt ihn das Domcapitel von Brixen als Bistyums-Adminiftrator (1543 im 
Januar). Im nämlihen Jahre (1543) erhob ihn Papft Paul IIL zum Cardinal 
(Presbyter Cardinalis tituli S. Caesarii), mit befonderer Rüdficht auf das Berhält- 
niß diefes ausgezeichneten Kirchenfürften zu der demnächſt in Trient abzuhaltenden 
I allgemeinen Kirchenverfammlung. Bon diefer Zeit an nahm er, während ber 
I ganzen achtzehnjährigen Dauer des Eonciliums von Trient, eine in vielfacher 
Beziehung aͤußerſt wichtige und einflußreiche Stellung ein als Cardinal, als Bi- 
ſchof von Trient und Fürft jenes Gebietes, auf welchem diefe Kirhenverfammlung 
- gehalten wurde, als vertrauter Freund und Nathgeber des Kaifers, ja felbft durch 
I mehrere Jahre, in welden das Eoncilium durch ungünftige Zeitverhältniffe unter- 
brochen war, als föniglicher Statthalter in Mailand (1555—58). Einige Jahre 
nach dem Schluß des Conciliums (1567) refignirte er das Bisthum Trient zu 
I Gunften feines Neffen Ludwig von Madruzz. In Brixen hatte er ſchon früher 
4 mit Genehmigung des Papftes feinen Neffen Johann Thomas von Spaur als 
I  Eoadjutor angenommen, behielt aber diefes Bistbum bis zu feinem Tod. Die 
legten Jahre feines Lebens brachte er in Italien zu als Cardinal-Bifchof von 
Sabina, fpäter von Pränefte und zulegt von Porto, Er ftarb hochbejahrt zu 
Tivoli am 5. Juli 1578, — Mit Beifeitlaffung feiner politifhen Berdienfte um 
Raifer und Reih, welde ihm das bejondere Woplwollen des Kaifers Earl V., 
des römischen Königs Ferdinand und deffen Sohnes Marimilien figerten, möge 
46 








721 Madruzz. 


hier nur ſeiner Bedeutung auf dem Concilium von Trient und ſeiner reformato— 
riſchen Thätigkeit im Bisthum Brixen gedacht werden. Auf dem Concilium ver— 
trat er mit großem Nachdruck die auch vom Kaiſer kräftig unterſtützten Forderungen 
der Teutſchen in Betreff der Reform der Kirchendisciplin, durch deren Gewährung 
man von einer Seite her immer noch eine Bereinigung und friedliche Verſtändi— 
gung mit den Proteftanten vermitteln zu können glaubte, Deßhalb wollte er im 
Auftrag des Kaifers die Verbefferung der fo tief gefunfenen Kirchenzucht vor den 
Differenzen im Glauben behandelt wiffen. Schon neigten fi die meiften Bi— 
fchöfe auf feine Seite, als der erfte päpftliche Legat erklärte, er habe auch nichts 
dawider, aber dann müßten vor Allem die anwefenden Cardinäle und Bifchöfe 
mit gutem Beifpiele vorangehen, Jeder nur Ein Bisthum behalten, das zweite 
refigniren, allen Prunk und weltliche Eitelfeit ablegen (Madruzz war fehr pracht⸗ 
Yiebend), den Hofftaat entlaffen; er fei für feine Perfon gern hiezu bereit, Das 
wirkte; Madruzz und die übrigen Bifchöfe auf feiner Seite Tiefen von ihrem un— 
geftümen Drängen etwas nach und man fam endlich dahin überein, die Glau— 
benslehre und die Herftellung der Kirchenzucht in jeder Sigung nebeneinander zu 
behandeln. Auch auf die Heberfegung der Hl. Schrift in die Volksſprache drang 
er mit großem Eifer, und verwendete fih mit Kraft für die Teutfhen, daß ihnen 
geftattet werben möchte, die hl. Communion unter beiden Geftalten zu empfangen, 
Während des Conciliums und nach demfelben ließ er fih, namentlich im Bisthum 
Briren, die Erhaltung des wahren Glaubens und die Herftellung einer beffern 
Kirchenzucht fehr angelegen fein. Zu dem Ende drang er ernftlih auf die Er- 
füllung des Rirchengebotes über die jährlihe Beicht und Communion, fowie daß 
diefe nur unter Einer Geftalt empfangen werde; defgleichen auf die Entfernung 
verbächtiger Schullehrer und gefährlicher Bücher, und nahm hiefür auch den Fräf- 
tigen Beiftand der Iandesfürftlihen Negierung in Anfprud. Sodann veranftaltete 
er öftere VBerfammlungen des Clerus, ließ Paftoral-Bifitationen vornehmen und 
fuchte fo raſch als möglich die Befchlüffe des Conciliums von Trient durchzuführen. 
Deßhalb ließ er dem einberufenen Clerus zunächft Dreierlei bedeuten, 1) daß 
Jeder innerhalb 14 Tagen jede verbächtige Perfon aus feinem Haufe entfernen, 
2) fih vor den Wirthshäufern und Unmäßigfeit im Trinken hüten, und daß fie 
3) alfe Obliegenheiten ihrer Beneficien treulich erfüllen follten; den Uebertretern 
dieſer Vorſchriften wurde die Ercommunication angedroht. Das vom Tridenti- 
niſchen Coneilium für jede Didcefe vorgefchriebene Priefterfeminar fuchte er mit 
. allem Eifer in's Leben zu rufen, wenn auch fein Bemühen an ungünftigen Um— 
ftänden immer wieder ſcheiterte. Für fein Fürftentbum Trient gab er eine eigene 
Gerichtsordnung heraus, genannt: Constitutiones Christophorinae. Für das Bis— 
thum Brixen ließ er das ältere Obsequiale (von Melchior v. Mefau) mit einigen 
Berbefferungen 1555 als Norm bei Ausfpendung der Sacramente und Sacramen- 
talien neu auflegen (Obsequiale secundum consuetudinem et staluta Brixinensis 
dioecesis. Dilingae excudebat Sebaldus Mayer. 4.), mit dem gemeffenen Auftrag 
an alle Priefter, bei Verwaltung der Sacramente, fowie bei Vornahme von Be— 
nebietionen und andern gottesdienftlichen Handlungen fih genau darnach zu achten, 
Vebrigens war er nicht nur felbft fehr gebildet, fondern auch ein befonderer Gön- 
ner der Wiffenfchaften, dabei außerordentlich freigebig. Wenn man erwägt, welde 
große Ausgaben ihm feine Stellung als Fürft von Trient, wo bie allgemeine 
Kirhenverfammlung mit fo vielen Bifchöfen, fürftlichen Oefandten u, ſ. w. tagte, 
zur Pflicht machte, und in welch’ hohem Maße er die Gaftfreundfchaft gegen den 
Kaifer und feine Leute, wie gegen die des Papftes übte, fo wird man gerne ent« 
ſchuldigen, daß er nicht nur während der Dauer des Conciliums zwei Bisthümer 
befaß, fondern auch überdieß noch feit 1546 durch die Gnade Kaifer Earls V. 
aus den Einfünften des fpanifchen Erzbisthums Compoftella eine jährliche Penfion 
von 2000 Ducaten bezog, Die Wiffenfchaft hat den Hingeſchiedenen tief betrauert 








Maffei 725 


und ihm ehrende Denfmale gefegt; feine allfälligen Schwächen entſchuldigen bie 


Berhältniffe; fein Name ift durch die Kirhenverfammlung von Trient verewigt, 
Ausführlicheres über ifn gibt Bonelli, Monumenta Ecclesiae Tridentinae Vol. III. 
P. II. (Tridenti 1765) p. 195— 211, und in dem zunächft sorausgehenden Band 
deffelben Werfes mit dem Titel: Notizie Istorico-Critiche della Chiesa di Trento 
Vol. II. P. L, in welchem eine eigene Sammlung von Documenten: Memorie 
Madruziane p. 399—448, vorfommt. Bol. au: Die Kirche des HI. Vigilius und 
ihre Hirten (von Schniger), Bogen 1825. 1. Bd. S. 316—44. Dann über fein 
Wirken in Briren: Sinnacher Beiträge zur Gefihichte der biſchöfl. Kirche Säben 


| amd Briren in Tirol, VIL Bd. (Briren 1830) S. 392—616. Ueber feine Stel- 


fung auf dem Coneilium zu Trient ſ. auch Pallavicini, Historia Gonsilii Tri- 
dentini lib. 5. 6. 7. et 8. [&e$ler.] 
Moaffei. I. Maffei, Vegius, geboren zu Lodi, Canonieus zu St. Jo— 
hann im Lateran und päpftliher Datarius, geftorben 1458, ift der Verfaffer 
von trefflihen Schriften, fo daß ihm Dupin (Nouv. bibl. des aut. ecel. t. XII. p. 
95, Paris 1700) das Lob fpendet, Maffei fei unter den Schriftftellern feiner Zeit 
derjenige gewefen, der am nüglihften, angenehmften und zierlichften gefchrieben 


I Habe. An der Spige feiner Werfe fieht der Tractat über die chriſtliche Kinder- 


erziebung, eine der beften und vollftändigften Schriften über diefe Materie; die 
ſechs Bücher über die Perfeveranz in der Religion, der Discours über die vier 


letzten Dinge des Menfchen zeichnen fich gleichfalls nah Form und Inhalt aus, 


Noch find zu nennen der Dialog über die erilirte Wahrheit, mehrere Poefien, das 
13te Buch der Aeneide u, f. w. — II. Maffei, Raphael, geb. 1450 zu Bol- 


terra in Toscana, gefl. 1522, machte ſich durch feine „Commentaria Urbana*, 


Lyon 1599, und ald Ueberfeger mehrerer griehifhen Werke (z. B. zehn Reden 
des HI. Bafılins) in's Lateinifche befannt. — IH. Maffei, Bernardino, Car- 
dinal, geb, zu Nom 1514, gef. 1553, wurde von feinen Zeitgenoffen als Für« 
derer der Wiffenfhaften fehr gefeiert und verfaßte einige Schriften. — IV. Maf- 


I fei, Giampietro, berühmter Jefuit, wurde 1535 zu Bergamo geboren, 


trat zu Rom, wo er einige Zeit bei einem Prälaten in Dienften ftand, in freund- 
ſchaftliche Verbindung mit Caro, den Manucci's und andern Gelehrten, lehrte 
feit 1563 mit großem Applaus die Beredtfamfeit zu Genua, kehrte aber ſchon 


; nach zwei Jahren nah Rom zurüf, wo er am 25. Aug. 1565 in die Gefellfihaft 


Sefu trat und im römifhen Collegium die Profeffur der Eloquenz bekleidete. Da 


I e fi durch die Ueberfegung von P. Acoſta's Geſchichte Indiens in’s Lateinifche 


große Eelebrität erworben hatte, berief ihn der Kardinal Heinrih von Portugal 


nah Liſſabon, um dafelbft nach fihern Arhival-Urkunden eine allgemeine Ge— 


ſchichte Indiens zu ſchreiben. Nach mehrjährigem Aufenthalt in der pyrenäifchen 
Halbinfel nah Italien zurüdgefehrt, Iebte er noch mehrere Jahre theils zu Rom, 
theils zu Siena, und flarb zu Tivoli 1603. König Philipp I. und Papſt Gre- 
gor XI. hielten ihn fehr Hoch. Seine Schriften find ausgezeichnet durch ſchöne 
Latinität, auf die er fo viel hielt, daß man ihm aufbrachte, er babe beim Papſt 


die Erlaubniß nachgefuht, das Brevier griechifch beten zu dürfen. Er verfaßte 


eine Biographie des HI. Ignatius von Loyola, die erwähnte allgemeine Geſchichte 
Indiens in 16 Büchern, und die Geſchichte des Pontificats Gregors XI. S. 
Maffei, storia della lett. ital., Milano 1825, t. II. 275; Fellers diet. hist. — 
V. Maffei, Francesco Scipione, geb. zu Verona 1675, geft. 1755, der 
berühmtefte unter allen Maffei’s, Dichter, Theater-Neformator, Herausgeber einer 
für Hebung der Literatur einflußreichen Titerarifchen Zeitfehrift, Gründer einer 
gelehrten Gefeltfchaft zu Verona zur Förderung des griechiſchen Sprachſtudiums, 
ausgezeichneter Alterthumsforfcher, Diplomatifer und Hiftorifer (Istoria diploma- 
lica, Mantua 1727, — Verona illustrata, Verona 1731—32 fol., und Verona 
1792—93, VII. Bd.) , bat auch das religiöfe und moralifche Gebiet mit mehreren 


726 Magdala — Magdalena. 


intereffanten Schriften bereichert, Seine Ausgabe der Werke des Hl, Hilarius von 
Hoitiers erfihien 1730 zu Verona; feine „istoria teologica delle dottrine e delle 
opinioni corse nei einque primi secoli della chiesa in proposito della divina grazia, 
del libero arbitrio e della predestinazione* ift gegen den Janfenismus gerichtet; 
fein Tractat „de teatri antichi e moderni® befämpft die übertriebenen Eenfuren 
des P. Concina gegen das Theater und erhielt den Beifall des Papftes Bene- 
diet XIV.; in feiner Schrift „scienza cavalleresca* bewies er, daß das Duell der 
Religion, den guten Sitten und den Intereſſen des bürgerlichen Lebens widerftreite; 
in einer andern Schrift „dell’ impiego del danoro* zeigt er, daß man gegen Zin- 
fen Geld ausleihen dürfe; auch ſchrieb er einige Fleine Werklein gegen die Eriftenz 
der Magie. ©. Maffei, storia della lett. ital. t. III. ©.281:r, [Schrödl.) 
Magdala (Maydcad) am weſtlichen Ufer des See's Geneſareth (ſ. d. A.), 
das heutige Madſchel, ein elendes, ſchmutziges Dorf (Schubert II. 250). Alte 
Gemäuer bezeichnen noch den Umfang und die Bedeutenheit des ehemaligen Mag- 
dala. Nach den Nabbinen lag es der Stadt Tiberias fo nahe, daß man gegen- 
feitig die Ausrufer vernehmen fonnte (Hieros. Scheviit fol. 38, 4.)5 jest liegen 
die Ruinen beider Städte ungefähr eine Stunde weit auseinander, Statt May- 
darha Matth, 15,-39. hat die Vulg. Mayedav gelefen; B, D, Syr. Cant. haben 
(von Lachmann adoptirt) Mayador. Diefer Name findet ſich nicht mehr, fonnte 
aber Teicht durch das von Maria Magdalena her befanntere Magdala verdrängt 
werden. Indeß ift auch Magedan wie das rabbin, w>73n auf die Weftfeite des 
See's zu verlegen (vgl. den Art, Dalmanutha), nur die Lage laßt fih, wenn 
nicht beide Drte identifch find, nicht mehr genauer nachweifen. 
Magdalena, die heilige, Ausprüflih wird Maria Magdalena in 
der hl. Schrift genannt a) bei Lucas 8, 2,, wo fie mit andern frommen Frauen, 
die Jeſus von böfen Geiftern und Krankheiten befreit hatte, ihn auf feinen Reifen 
durch die Städte und Flecken Galiläa's begleitet und es von ihr ausdrücklich heißt: 
„Maria, Magdalena genannt, aus welcher fieben Teufel ausgefahren waren” —; 
b) bei Matth, 27, 56. Marc, 15, 40. und 305. 19,25., wo fie unter den Frauen 
genannt wird, die Jeſu aus Galiläa nachgefolgt waren, um ihm zu dienen, und 
die bei feiner Kreuzigung zugegen waren und von ferne zufahen —; c) Matth. 
27, 61. und 28, 1. Marc, 15, 47. und 16, 1. 9, Luc, 24, 10. und Joh. 20, 1, 
18., wo fie mit den Frauen aufgeführt ift, welche zufahen, wohin Jeſu Leichnam 
gelegt wurde, mit Spezereien zum Grabe famen und durch Engel die Runde von 
der Auferftehung Jefu erhielten mit dem Befehle, fie feinen Jüngern zu über- 
bringen; bei 30h. 20, 1—18. wird ganz befonders das ausführlich behandelt, 
was Marcus 16, 9, nur kurz erwähnt, wie nämlich Chriftus zuerft der Maria 
Magdalena, aus welcher er fieben Teufel ausgetrieben,, erfchienen fei, Daß Maria 
den Zunamen Magdalena von Magedan oder Magdala (Magdalel of. 19, 38.), 
einer Stadt 1", Stunde ſüdlich von Tiberias, erhalten habe, hat alle Wahr- 
fcheinlichfeit für ſich. — Es ift allgemeine Meinung der lateinifchen Kirche, wenig- 
fteng feit Papft Gregor I. C+ 604), daß Maria Magdalena iventifch ſei ſowohl 
mit Maria, der Schwefter Martha’s und des Lazarus, weldhe den Heiland ſechs 
Tage vor feinem Tode im Haufe Simons des Ausfägigen zu Bethanien falbte 
(Matth, 26, 6—13, Joh, 11, 13. und 12, 1—8.), als auch mit jener öffent- 
lichen Sünderin, welche ſchon früher zu Naim im Haufe eines Pharifäers die 
Füße Jeſu geſalbt hatte (ſ. Luc, 7, 37.). Diefe allgemeine Meinung der Tatei- 
nifchen Kirche, gegen welche fich vom exegetifchen Standpuncte aus wenig Erbeb- 
Yiches vorbringen läßt, was nicht fehon eine folide Löfung gefunden hätte (ſ. in 
diefer Hinficht befonders die Bolland, 22. Juli in vita s. Mariae Magdalenae, com- 
ment. praev. $ IV. u, $ VI. w. VI), wurde im 16ten Jahrhundert von Faber 
Stapulenfis (f. d. A.) angegriffen, der zu beweifen fuchte, daß Maria Mag- 
dalena, Maria, die Schweſter des Lazarus, und die öffentlihe Sünderin drei 











Magdalena de Pazzi. 727 


verfchiedene Perfonen feien. Viele gelehrte Katholiken, darunter der Biſchof 
Fiſher von Rocefter, traten gegen Fabers Anfiht in die Schranfen; deffen- 
ungeachtet brach fie fih, namentlich beiden Franzofen, Bahn, und zählt Gelehrte, 
wie einen Eftins (ſ. d. A.), Tillemont, Launoy, zu ihren Anhängern, die außer 
der hl. Schrift zur Begründung ihrer Meinung mehrere Väter, befonders grie= 
chiſche, anführen, ferner die griechiſchen Menden, in denen für die Sünderin, 
die Magdalena und Maria, die Schwefter des Lazarus, drei verfihiedene Feft- 
tage (für die erfle der 21. März, für die zweite der 22. Juli, und für die dritte 
der 18. März) angegeben werden, wie auch in den. lateiniſchen Martyrologien- 
des Rhabanus Maurus und des Notker Maria, die Schweiter Martha’s, und 
Maria Magdalena an verfchiedenen Tagen commemprirt werden, jene XIV Cal. 
Febr., diefe am 22. Juli, endlich auch Nachrichten über Maria Magdalena’s und 
Maria's, der Schwefter des Lazarus, Grabflätten, wornach erftere zu Ephefus 
io gibt Modeftus, Patriarch von Jeruſalem, im Anfang des 7. Jahrh., Gregor 
v. Tours gl. M. c. 30. und das Leben des HI. Willibald an), leßtere aber ſammt 
ihren Gefchwiftern zu Jerufalem begraben worden wäre, Die Entgegnung des 
gelehrten Bollandiften 3. B. Sollerius auf alle diefe von Fabers Anhängern vor= 
gebrachten Gründe für ihre Meinung ſ. in comment. praev. ad vit. s. M. Magda- 
lenae $ V, VII— XI. Derfelbe Gelehrte weist fodann in den S$ XI, XII. u. XUL 
die Grundlofigfeit der wahrſcheinlich erſt im 14ten Jahrhundert entflandenen 
Sage von der Translation des Leibes der Hl, Maria Magdalena aus Serufalem 
oder der Stadt Aquä Sertiä in der Provence in das Klofter Bezelay der Didcefe 
Autun nah, hält es jedoch nicht für ganz unwahrfheinliih, daB Marin Magda- 
Iena mit Martha, Lazarus und einigen andern Jüngern Jeſu nach Gallien in die 
Provenge gereist und dafelbft geftorben fei und im ehemaligen Dominicanerklofter 
des hl. Marimin der Didcefe Air ihre Ruheftätte gefunden habe, eine Meinung, 
welche von Launoy u, A. eben fo heftig befämpft als von Andern gleihfam wie 
ein biftorifches Dogma vertheidiget worden ift. Vgl, Tillemonts Memoiren, 
t. II. s. Marie Madeleine; Alex. Nat. hist. Eccl. saecul. I. diss. 17. de b. M. Mag- 
dalenae, Lazari et Marthae in Gallias appulsu, deque illorum reliquis Provinciae 
vindicatis; in der mantissa zu diefer Difjertation vertheidigt fodann Alerander Na— 
talis den Sag: „Graecorum Patrum nonnullo plures mulieres evangelicas unctrices 
Domini asseruerunt, Latini Patres contrariam plerumque propugnarunt sententiam + 
porro licet neutra opinio Scripturae sacrae palam aperteque repugnet, eidem magis 
consona est Latinorum Patrum assertio mulierem unicam statuentium.* [Schrödl,] 

Magdalena de Pazzi, die heilige, geboren zu Florenz 1566, ſtammte 
von Seite ihres Vaters aus der berühmten Familie der Pazzi, und von Seite 
ihrer Mutter aus dem Gefchlechte der Buondelmonti ber. In der Taufe erhielt 
fie ven Namen Catharina (von Siena), an deren Beifpiel fie bald unter aufer- 
orbentliher Gnadenfirömung zu einer der herrlichſten Nofen im Gottesgarten der 
Kirche heranwuhs, An verborgenen Orten beten, Armen das vom Mund. weg 
Erfparte zu fihenfen, Kinder in der Religion zu lehren, bildete die Freude der 
ſiebenjährigen Catharina. Für und mit Jefu leiden, in diefer Weisheit des 
Kreuzes übte fih das zarte Mädchen eben fo fehr, wie fit ven gewöhnlichen Kin— 
derfreuden abhold war. Unausfprehlih war ihre Andacht zu dem Altaresgehein- 
niß, und fie hielt fich, unerflärlih angezogen, gerne um Jene auf, welche erft 
die hl. Communion empfangen hatten, Sie durfte daher auch fchon, zehn Jahre 
alt, dem Tiſch des Herrn nahen, und da war ed, wo fie fi durch das Gelübde 
der Jungfräufichkeit auf ewig mit Jefu verband, wo ihrer Liebe die Schwingen 
wuchſen und der Abfcheu gegen alles Böfe, der ihr fhon von Natur innewohnte, 
fortwährend ſich fleigerte, fo daß fie ganze Nächte weinen fonnte, wenn fie von 
Jemanden auch nur ein unchriftliches Wort gehört hatte, In ihrem fechszehnten 
Jahre trat fie, jeden irbifhen Bräutigam verfchmähend, in das Klofter St. Fri- 


728 Magdalena de Pazzi. 


gidian der Carmeliterinnen zu Florenz ein, vorzüglich aus dem Grunde, weil 
man da beinahe alle Tage die Hl. Communion empfing, Als fie am 30, Januar 
1583 das Ordenskleid erhielt und der Geiftlihe ihr das Erucifir in die Hände 
gab mit den Worten: „In nichts anders will ich mich rühmen als in dem Kreuze 
des Heilandes“, erglühte ihr Angeficht von jenem Feuer der Kreuzesliebe, deſſen 
Gluthen bis am ihr Lebensende ihr Herz zu einem fortwährenden Brandopfer 
machten, fo daß fie öfter den Wunſch ausſprach, Tänger leben zu dürfen, um 
defto mehr leiden zu Tonnen. Im Noviciat befiel fie eine ſchwere Krankheit, und 
da man an ihrem Auffommen verzweifelte, durfte fie am Kranfenlager die Profeß 
vor der beflimmten Zeit ablegen. Sie that dieß mit größter Freudigfeit, worauf 
fie ihre erfte, zwei Stunden lang dauernde Efftafe einftellte, wobei fie, die vorher 
bleiche und abgemagerte Magdalena (diefen Namen erhielt fie bei der Profeß), 
Yieblih in Gott ruhend, das Antlig fchön und blühend, das Auge auf das Eru= . 
eifix geheftet, erſchien. Bon da an, 40 Tage hindurch, wurde fie jeden Morgen 
nach Empfang der hl. Communion auf gleiche Weife in Gott entrüdt, und au 
in der Folge bis an ihren Tod festen fich ſolche Efftafen fort, bei denen fie wie 
in einem Meere von Licht und Liebe fhwamm, Merfwürdig ift, daß fie in der 
Berzufung oft in der Form eines- Zwiegefprädhes bald mit dem ewigen Bater, 
dem incarnirten Worte, dem hl. Geifte, bald mit der HI. Jungfrau und andern 
Heiligen redete, und dabei fragte und antwortete je nach Umfländen in ihrer oder 
der andern Perfon, die Stimme bei jeder Perfon in wunderbarer Angemeffenheit 
verändernd, Merfwürdig ift insbefondere auch, daß fie einft in der Ekſtaſe ein 
Bekenntniß aller der Fleinen Vergehen ablegte, die fie einen ganzen Tag hindurch) 
fi) Hatte zu Schulden fommen laſſen, und daß fie oft mitten in der Arbeit und 
ihren Gefchäften, ohne diefelben zu unterbrechen, von der Verzuckung heimgefucht 
wurde, Ein Jahr nach der Profeß, die fie am 27, Mai 1584 ablegte, trat indeß 
an die Stelfe innerer Nuhe und Wonne in Gott ein Leidens- und Verſuchungs— 
zuſtand außerordentlicher Art bei der Heiligen ein, der mit Unterbrechungen fünf 
Jahre lang dauerte, Verſuchungen aller Art, der Gottesläſterung, der Berzweif- 
lung, der Unfeufchheit, der Efbegierde, des Ungehorfams u, f. we, fürchterliche 
Beläftigungen von Seite der Dämonen, Entziehung des fühlbaren Troftes in 
Mitte aller diefer Kämpfe, Alles vereinigte fih, fie mit entfeglichen Peinen zu 
quälen, in denen fie nur durch den Hinblicf auf das Kreuz, dur Demuth und 
Gehorfam aufrecht erhalten wurde, Endlih am Pfingftfefte 1590 war ihre Prü- 
fungszeit vollendet, Nach der hl. Communion frahlte ihr Antlig von außer— 
srdentlicher Freude, und ihren Oberinnen die Hände drückend, fprach fie zu ihnen: 
„Das Ungewitter ift vorüber, danfet und preifet mit mir meinen liebenswürdigen 
Schöpfer.” Seitdem hatte fie nie mehr Aehnliches zu beftehen. Ihre Seele, 
durch und durch gereinigt und zu einer uneinnehmbaren Burg Gottes befeftiget, . 
wurde mehr und mehr mit den auferordentlichften Gnaden geſchmückt und zu 
einem Tempel eingeweiht, auf deffen Altar eine ſolche Gottesliebe flammte, daß 
das Feuer derfelben fie oft auch am Leibe ganz entzündete, daß fie alle Welt ein- 
lud, mit ihr die ewige Liebe zu lieben, und ein Vogel zu fein wünfchte, um im 
ſchnellen Fluge alle Weltgegenden durchfegeln und Allen das Lied der Liebe fingen 
zu fünnen, Aus diefer Liebe entfprang ihr unausſprechlicher Schmerz über alle 
Beleidigungen Gottes, zu deren Sühnung fie Gott ihre glühenden Gebete und 
die ſchwerſten Bußübungen aufopferte, ihr unausgefegtes Flehen um die Be— 
fehrung der Sünder, Jrrgläubigen, Heiden, und namentlich auch der unwür— 
digen Geiftlichen; diefer Liebe entquoll ihre zarte und unermüdete Thätigkeit, mit 
welcher fie zuerft als Lehrerin der Kloftermädchen, dann als Novizenmeifterin und 
zulegt als Unterpriorin wirkte, wobei fie zugleih eine wahrhaft übernatürliche 
Weisheit und Klugheit in der Geelenleitung an den Tag Iegte und öfter den 
Ausſpruch that, die Werfe der Liebe feien weit allen Efftafen, Vifionen, Neve- 


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Magdalenerinnen. 729 


lationen und ähnlichen Dingen vorzuziehen, denn dieſe letzteren ſeien rein nur ein 
Geſchenk Gottes, durch die Liebeswerfe aber unterflüge man fozufagen Gott felber, 
In den legten Fahren ihres Lebens Hatte fie dur Krankheiten Vieles zu Teiden, 
fie litt es gerne, betete, obgleich nad Gott fi fehnend, aus Leidenshunger um 
längeres Leiden ohne Troft, um fo beffer den Leidenslelch des Heilandes genießen 
zu fonnen, Am 25. Mai 1607 ward ihre reine Seele von den Banden des Lei— 
bes befreit. ALS ein Jahr nach ihrem Tode ihr HL Leib erhoben wurde, fand 
man ihn unverfehrt und floß 12 Tage lang Del daraus hervor. Papft Urban VIIE 


3 ſprach fie 1607 felig und Papft Alerander VII verfegte fie 1669 in die Zahl der 


Heiligen. ©. Bolland. ad 25. Maji in vita s. M. Magd. und die Myſtik von Gör— 
te8, Bd. Lu. L. [Schrödl.)] 
Magdalenerinnen oder Orden von der Buße der hl, Magdalena. 
Die älteften und zahlreichften Klöfter diefes Ordens fanden fih in Teutfchland, 
und zwar ſchon im Anfange des 13ten Jahrhunderts, ohne daß jedoch ihr Stifter 
befannt wäre, Schon die Päpfte Gregor IX. (1227—41) und Innocenz IV. 
(1243—54) beehrten diefelben mit bedeutenden Privilegien. Es gab auch Neli- 
giofen diefes Ordens, unter deren geiftliher Führung die Klofterfrauen flanden, 
Die urfprünglihe Beftimmung diefer Stiftung war Aufnahme und Befehrung 
Öffentlicher Sünderinnen; nahmals wurden jedoch bloß unbefholtene Mädchen 
aufgenommen, fie behielten aber den Namen „Büßerinnen“ bei, um damit ihr der 
Welt abgeftorbenes Leben zu bezeichnen, Die Kleidung diefer Büßerinnen war 
weiß, woher fie auch gewöhnlich „weiße Frauen” genannt wurden. Im Jahre 
1272 wurde das erſte Haus mit diefem Zwecke zu Marfeille, 1472 zu Paris 
errichtet und unter die Regel des HI. Auguftin geftellt. Den geiftlihen Beiftand 


des letztern beſorgten Religioſen deſſelben Ordens (ſ. Helyot, Geſchichte der 


geiſtlichen Orden. Bd. III. S. 401 ff.). Aehnliche Anſtalten entſtanden zu Neapel 
(1314), Mes (1432). Bon der bereits genannten Stiftung zu Paris iſt eine 
fpätere vom Jahre 1618 zu unterfcheiden, nämlih das Klofter der Magdelo- 
netten, wie es denn überhaupt zu Paris mehrere Häufer zur Aufnahme und 
Beflerung von Freudenmädden gab, z. B. vom guten Hirten, vom HI. Pelagion, 
hl. Theodor u, f. w. Im Jahre 1629 wurde die vberfte Leitung der Magdalenen- 
ftiftung Mlofterfrauen vom Orden der Heimfuhung Maria’ übertragen; nachmals 
fam diefelde an die Urfulinerinnen und endlich an die Hofpitaliterinnen von der 
Barmherzigkeit Jeſu. Die im Jahre 1637 entworfenen Sagungen erhielten 1640 
firchlihe Genehmigung und das Haus wurde zu einem Kloſter erhoben; von ihm 
aus wurden noch zwei andere, zu Borbeaur und Rouen, begründet. Die Ein- 
richtung diefer drei Häufer fennen wir genauer. Bei Strafe des Bannes durften 
bloß Tafterhafte Mädchen aufgenommen werden, gleichwohl konnten auf Anfinnen 
der Eltern auch ſolche Mädchen Aufnahme finden, deren Sittlichfeit bedroht war, 
Die Mitglieder feldft zerfielen in drei Elaffen: unter die erfte gehörten diejenigen, 
welche nach einer binlänglichen Probezeit die Gelübde ablegen durften und ihren 
Namen von der hl. Magdalena, diefem erhabenen Vorbilde reuiger Sünderin- 
nen, erhielten; ihre Sagungen waren ziemlich firenge; die zweite Claffe, von 
der Hl. Martha benannt, begriff folhe Individuen, welche die Gelübde nicht 
ablegen durften, fei es, weil man fie hiefür nicht für würdig hielt, oder weil fie 
es aus einer andern Urfache, 3. B. weil fie verehelicht waren, nicht thun fonntenz 
dem Webertritte von der zweiten in die erfte Elaffe ging ein zweijähriges Noviciat 
voraus, Die Mitglieder der zweiten Claffe braten den Tag unter Gebet, Be— 
trachtung und zweckdienlichen weiblichen Arbeiten hin; waren fie gebeffert und in 
der Tugend erftarft, fo war es ihnen freigeftellf, in die Welt zurüdzufehren oder 


im die erfte Claſſe einzutreten. Die dritte Elaffe, genannt von dem Hl, Lazarus, 


faßte lauter ſolche Mitglieder in fih, welde gegen ihren Willen der Anftalt zum 
Zwecke der Befferung übergeben worden waren, Hier follten fie ſich bei ſtrenger 


730 - Magdeburg. 


Elaufur, bei Kafteiung, Gebet und Arbeit an dem guten Beifpiele der Schweftern | 
der zweiten Elaffe erbauen und wieder auf den Pfad der Tugend geleitet werden, 
Sie fpeisten und wohnten abgefondert von den übrigen Rlofterfrauen und erhielten 
von den Schweftern der zweiten Claffe Unterricht und Anleitung zu allem Guten, 
Deftere Prüfung, ob fie die Freiheit ertragen fönnten, bedingten ihre Entlaffung 
oder firengere Elaufur. Ueberhaupt wurde die Claufur bei allen drei Claſſen fehr 
firenge eingehalten. Bgl. Helyot u a. O. ©, 442 ff, — Auch Papft Leo X. 
errichtete unter dem Namen St, Maria Magdalena ein Klofter zu Rom, in 
das alle Mädchen aufgenommen wurden, welche die Verirrungen eines ausfchwei- 
fenden Lebens beweinen und Buße thun wollten, Verſöhnt mit Gptt und der 
Geſellſchaft fanden fie da alle Sorge für Seele und Körper, Verzeihung ihrer 
Fehler und Vergeffenheit des Vergangenen, Die Anſtalt wurde durch die Erz— 
bruderfchaft von der Barmherzigfeit geleitet und von den Gefchenfen des Papftes, 
den Almpfen der Gläubigen und den Sammlungen in der Kirche unterhalten. 
©. Helyot a. a. D, ©. 429. — Im Jahre 1550 wurde zu Sevilla ein Klofter 
mit demfelben Zwecke geftiftet, Wie fehr find ſolche Anftalten auch unferer an 
Worten fo reihen und Thaten fo armen Zeit zu empfehlen! [&ehr.] 
Magdeburg, Erzbisthum. Der frühere Beftand von Magdeburg (Ma- 
gadaburh, Magathaburg, Magadeburg, Mangetheburg, Parthmeopolis) kann 
bis auf die Zeit Carls d. Gr, rückwärts verfolgt werden Ccapit. Car. M. n.805). 
Ihre Blüthe Teitet diefe Stadt von Kaifer Otto d, Gr. Auf Erfuchen feiner Ge— 
mahlin Editha baute und erweiterte Dito Magdeburg (a. 92I—939). Die Re— 
Viquien des Martyrers Innocentius ließ der Kaiſer unter großen Ehrenbezeugun- 
gen in die Stadt bringen. Er gründete und flattete aus die Kirchen des hl. Pe— 
trug, des hl. Mauritius und Innocentius (21. und 27, Sept. 937). Den Ort 
ſelbſt fchenfte er feiner Gemahlin, Editha aber ftarb im J. 946, nach einer Ehe 
von 19 Jahren. Magdeburg nebft Umgegend gehörte zu dem Bisthum Halber- 
ſtadt. Sp lange Bernhard, der fiebente Biſchof von Halberftadt (ſ. d, U.) lebte 
(968), widerſetzte er fih der von Dito Längft gewünfchten Errichtung eines Bis— 
thums in Magdeburg. Nach deffen Tode gab fein Nachfolger Hilliward dem 
längſt gehegten Wunfch des Kaifers gerne nach, und trat an das neubegründete 
Erzbisthum Magdeburg bedeutende Theile von feinem Bistfume ab; parlemque 
parrochiae, quae sita est inter Aram et Albim et Badam fluvios, et insuper viam, 
quae Fritherici dieitur, Deo concessit sanctoque Mauricio ac inperatori — Thietmar 
N. chronic. II. 14. — Dazu famen noch alle Pfarren, welche zwifchen dem fog. 
gefalzenen See, der Saale, Unftrut, Helme und der Grube bei Walhaufen ge- 
legen waren, Damit das Erzbisthum auch feine Suffraganbisthümer habe, fo 
wurden ihm die drei neugegründeten Bisthümer Merfeburg, Meißen und Zeig 
untergeben; ferner wurden Havelberg und Brandenburg, zwei unter Dito ge- 
gründete und Mainz unterftellte Bisthümer, nun mit dem neuen Erzbisthun 
Magdeburg vereinigt (968). — Der erfte Erzbifhof von Magdeburg war Abel- 
bert (970). Diefer Adelbert eonfecrirte den erften Bifchof von Merfeburg, von 
Zeig und Meißen; diefe aber und die ſchon geweihten Bifhöfe von Brandenburg 
und Havelberg ließ er fih und feinen Nachfolgern den canonifchen Gehorſam an- 
geloben, Nah Thietmar hätte er auch den Jordan, erſten Bifchof von Pofen, 
geweiht. — Kaiſer Dito wurde in Magdeburg begraben (973), Nachdem Adel» 
bert in’s dreizehnte Jahr mit allem Eifer eines Oberhirten fein Erzbisthum ver— 
waltet hatte, ftarb er im 3. 981. Nach ihm regierte Gifilharius, welcher vorher 
Bischof von Merfeburg gewefen war, Er behielt beide Bisthümer neben einander, 
wurde fchon unter Kaiſer Dtto I. (9. 1000 n. Ehr.) zu feiner Berantwortung 
nach Nom gerufen, und bald daranf befahl ihm Kaifer Heinrich II., das Erzbis- 
thum zu verlaffen und in fein Bistum Merfeburg zurüdzufchren, Aber er flarb 
fhon wenige Tage nach Empfang diefes Befehls im J. 1003, Zu feinem Nach- 








Magdeburg. | 731 


folger wurde auf den Wunfch des Kaifers deſſen Kanzler Dagan (Taginus) ge- 
wählt. Er wird gerühmt als „gerecht, gottesfürdtig, Tiebevoll, freigebig und 
treu , feufch und fanftmüthig, Flug und ſtandhaft.“ Ihm folgte Waltherdus (1012). 
Er war vor Dagan gewählt worden, mußte aber auf den Wunſch des Kaiſers 
hinter Dagan zurüdftehen. Auch er wird gerühmt, obgleich er in wenigen Wochen 
mit Tod abging. Das Lapitel wählte den Theodorich zu feinem Nachfolger; 
aber es nahm auf die Empfehlung Kaifers Heinrich IL. deffen Kaplan Gero zum 
Erzbifchofe, der Kaifer aber nahm den Erwählten des Capitels als feinen Kaplan 
an, Gero, den Albert von Stade einen heiligen Mann nennt, verwaltete das 
Erzbistum zehn Jahre (bis 1023). Nach ihm regierte, wieder durch Kaiſer Hein- 
rich U. empfohlen, Hunfrid (Manfriv), vorher des Kaiſers Kaplan, und früher 
noch Mönch in Würzburg. Er trat, nachdem zwifchen Magdeburg und Halber- 
ftadt über die beiderfeitigen Grenzen und Güter bitterer Unfriede geherrfcht hatte, 
an Halberftadt 22 Pfarreien, wie auch einige Zehnten und Güter ab. Hunfrid 
ftarb im 3. 1051. Krang nennt ihn einen gottesfürdtigen Mann, Engelhard 
folgte ifm bis 1063, Heinrich IV. fchenfte dem Erzbistfum aus Liebe zu ihm 13 
BDezirfe und andere Güter, Werner, der Bruder des Erzbifchofs Hanno von 
Eöln, war fein Nachfolger. In den Kämpfen der Sachſen mit Heinrich IV. ftand 
er gegen den Raifer, Im 3. 1075 wurden die Sachſen bei Hohenburg von dem 
Kaifer auf das Haupt gefhlagen. Nach einem abermaligen Feldzuge gegen fie 
unterwarfen fih die Sachſen. Ihre Großen mußten ald Geißeln einzelnen Fürften 
übergeben werden. Auch Werner von Magdeburg und der Bifchof Bucco von 
Halberftabt wurden fo von dem Kaiſer Einzelnen feiner Anhänger zur Verwahrung 
übergeben, Neben Andern wurde Werner im J. 1076 von dem Raifer freigegeben. 
Aber Werner trat wieder auf die Seite der Gegner des Kaiſers. Bon diefen 
war im J. 1077 Rudolph von Schwaben zu Forchheim als Gegenfaifer gewählt 
worden, während fih Heinrich IV. noch in Stalien befand, In der Schlacht von 
Melrihftadt an der Streu, an der Grenze von Franfen (8. Auguft 1078), in 
welcher der Sieg mehr auf die Seite Heinrichs IV. fich neigte, fand auch Werner 
für Rudolph von Schwaben, Auf der Flucht wurde er in einem Walde erfchlagen, 
Als Erzbifhof von Magdeburg folgte ihm auf Verwenden des Gegenkaiſers Ru— 
dolph Harduicus, vorher erfter Raplan des Erzbifchofs Siegfried von Mainz. 
Auch er fand gegen Kaifer Heinrich IV. und wurde auf Betreiben des Iegtern 
auf einer Mainzer Synode vom 3. 1085 feiner Stelle entfeßt; ein anderer Har- 
duieus, Abt von Hirfchfeld, trat an feine Stelle, während der abgefegte Erz- 
bifchof etwa vier Jahre in der Verbannung lebte. Im J. 1089 wurde er wieder 
von Heinrich IV. in feine Würde eingefegt, nachdem er demfelben Treue gelobt 
hatte, Er verwaltete nun das Erzbistbum bis zu feinem im 5. 1102 erfolgten 
Tode. Heinrich von Asle, vorher Domherr in Hildesheim, folgte ihm, verwaltete 
aber nur wenige Jahre fein Amt, denn er ftarb fchon im J. 1107. Sein Nach— 
folger Adelgot regierte bi8 zum 3. 1119, unter harten Kämpfen mit dem Raifer 
Heinrich V. Erzbiſchof Ruggerus farb fhon im J. 1125. Die nene Wahl rief 
Kämpfe hervor; drei Parteien ftanden fich gegenüber, aus der Zahl der Bewerber 
wurde Einer, Arnold, durch die Bürger ermordet, Um Frieden zu fliften, em- 
pfahl Kaiſer Lothar H. den HI, Norbert als Erzbifchof (ſ. d. A.). Diefer wurde 
in Magdeburg mit großem Jubel aufgenommen, Er ftarb im 3. 1134. Conrad, 
Graf von Duerfurt, folgte ihm durch einmüthige Wahl; er regierte über fieben 
Jahre bis 1142, Erzbifchof Friderich verwaltete das Erzbisthum bis zum J. 1152. 
Wihmann, vorher Bifhof von Naumburg, trat an feine Stelle. Er ſtand auf 
der Seite Kaiſers Friedrich I. gegen Papft Alerander II. Er führte mit mehreren 
andern Bifchöfen und Großen Krieg gegen Heinrich den Löwen; doch verglichen 
fih die Gegner fpäter derart, daß Heinrich während feines Kreuzzuges nah Pa- 
laͤſtina (1172) dem Wichmann die Verwaltung feiner Befigungen übertrug. Im 


132 | Magdeburg 


J. 1177 vermittelte Wihmann den Frieden zwifchen dem Kaiſer und Papſt; denn 
er war felbft in Venedig anwefend. Diefer berühmte Erzbifchof regierte Magde— 
burg bis zum J. 1192. Sein Nachfolger Ludolph Fämpfte für Philipp von 
Schwaben gegen Dtto von Braunfhweig. Er regierte bis zum J. 1205. Sein 
Nachfolger Albert (ſ. d. A.) erhielt von dem Papfte felbft Beftätigung in feiner 
Würde und wurde von ihm zum Cardinal erhoben, Im J. 1207, und zwar am 
Charfreitage, wurde die bisherige Domkirche von Magdeburg durch Brand zer- 
flört, Albert begann nun den Bau des Heute noch flehenden berühmten Doms 
von Magdeburg, der wie der frühere unter Anrnfung des HI. Mauritius geweiht 
wurde. Im J. 1211 wurde der Anfang mit dem Bau gemacht, derfelbe aber 
durch mehrere Menfchenalter bis zum 3. 1327 fortgefegt. Im 3. 1363 wurde 
der neue Dom geweiht, und in denfelben das Haupt des hl. Mauritius und die 
Finger der hl. Katharina niedergelegt. Albert ftarb im J. 12345 fein Nad- 
folger Willebrand im J. 1253. Nah Rudolph von Dingelftedt (1260) war Erz- 
bifhof Rupert, Er wurde zu Rom von Papft Alexander IV. confecrirt, Auf Rus 
pert bis 1268 folgte Conrad von Sternberg (1278). Nah Conrads Tod fand 
eine Doppelwahl Statt. Die beiden Gewählten traten für eine Entfchädigung 
an Geld zurück, und Günther von Schwalenberg wurde Erzbifchof, Indeß legte 
diefer ſchon nach einem Jahre die Hohe Würde nieder, Sein Nachfolger Bernhard 
ftarb im J. 1232, nach zweijähriger Amtsführung, Ericus, Markgraf von Bran- 
denburg, welcher von einem Theile der Wähler fhon nah dem Tode Conrads 
gewählt worden war, erhielt jegt, zum größten Verdruß der Bürger von Mag- 
deburg, die Stimmen der Wähler. Kaum war er in bie Stadt eingezogen, als 
die Bürger fich gegen ihn erhoben, und er mußte fliehen; doch wußte er bald die 
Bürger für fich zu gewinnen, Er verwaltete fein Amt bis zum J. 1295. Na 
Bernhard II. (1304) und Heinrich IL. (1307) regierte Burchard UI. Zwifchen ihm 
und den Bürgern fam e8 zum Kriege; er mußte die Stadt verlaffen und belagerte 
fie im 5. 1314, mit Hilfe des Markgrafen von Meißen und des Herzogs von 
Braunſchweig. Dießmal wurde der Streit vermittelt, aber die Kämpfe dauerten 
noch viele Jahre, Burchard wurde im J. 1325 von Berfihworenen im Gefäng- 
niffe ermordet, Die Stadt wurde darum von Papft Johann XXI. mit dem Banne 
belegt. Otto, Landgraf von Heffen, wurde im J. 1327 durch die Empfehlung 
des Papftes Johann XXI. Erzbifhof, der unter vielen Kämpfen und politifchen 
Unruhen die Regierung bis zum 3. 1361 führte. Auf Betreiben Kaifers Earl IV. 
und des Papſtes Innocenz VI. nahm das Capitel den Bifchof Theodorih von 
Minden Cüber ihn eriftirt eine Monographie des Prof. Gericke in Helmftädt, 
Hannover 1743) als feinen Erzbifchof an. Er forgte mit allem Eifer für das 
zeitliche und ewige Wohl des Erzbistbums, Eine Menge neue Befigungen erwarb 
er für das Erzflift, Den 27, October des 3.1363 war die prächtige Einweihung 
der neuen Domfirchez zugegen waren T—8 Bilhöfe, 6 Achte, 8—12 Reichs- 
fürften, viele Grafen und Nitter, nebft dem Landadel, Der Rath der Stadt 
präfentirte feinen Gäften den Ehrenwein. „Die folgenden vier Tage wurben mit 
ritterlihen Uebungen und Luftbarfeiten hingebracht, Allen beforglichen Unordnun— 
gen und Gefährlichkeiten war, durch die Fugen Anftalten diefes Stendaliſchen 
Stadtfindes (der Erzbifchof war eines Schneiders Sohn ans Stendal) vorgebaut, 
Sole prächtige Ausrichtung ift in Magdeburg nie gewefen, hatte auch wegen 
der großen Koften in andertHalbhundert Jahren vor ihm nicht zu Stande gebracht 
werden fönnen” (ſ. Lengen, Hiftorie von Magdeburg). Der vielgepriefene Theo- 
derich ftarb fchon im J. 1367 und Ließ fi in dem Klofter Lehnin beifegen, def 
fen Mitglied er einft gewefen war, Nach Andern wurde er im Dom zu Magbe- 
burg begraben. Zwar wählte das Capitel den Biſchof Friedrih von Merfeburg 
zu feinem Nachfolger; aber der Raifer Earl IV. empfahl ihm durch Papft Urban V. 
wieder einen Erzbischof, Albert aus Böhmen, Doc legte Albert bald dieſe Würde 











: Magdeburg 733 


nieder, indem er mit dem Bifchofe Petrus von Leutomifhl die Stelle vertaufhte 
(1372). Diefer Petrus von Leutomiſchl war Erzbifhof von Magdeburg bis zum 
5. 1381, legte dann gleichfalls diefe Hohe Würde nieder und farb im J. 1387 
in Olmütz, wohin er gezogen war, Ludwig, Sohn des Landgrafen Friedrich 
Severus von Thüringen, wußte nun unter dem Titel eines Adminiftrators das 
Erzftift Magdeburg in die Hände zu bekommen. Diefer wanderte durch viele 
Kirhen hindurch, fuchte Ruhe und fand fie nicht, Erft war er in Halberftabt, 
fodann in Bamberg Bifchof gewefen. Bon Gregor XL erhielt er auf Fürfprade 
des Raifers Carl IV. das Pallium für Mainz; aber neben feinem Nebenbubler 
Adolph von Naffau fonnte er nicht auffommen. Weil er Mainz nicht aufgeben 
wollte, fo nannte er fih nur Verwalter von Magbveburg. Aber der Tod fhlich- 
tete den Streit. Er fam fhon im 3. 1381 bei einer Feuersbrunft in Calbe um, 
indem er eine Treppe herunterſtürzte. Der obengenannte Friedrih von Merfe- 
burg war im 3. 1382 einige Monate Erzbifchof, als der Tod ihn wegraffte, 
Nun verwaltete Albert von Duerfurt 20 Jahre im Frieden und mit Ruhm die 
Kirche von Magdeburg; er ſuchte, foweit e8 möglich war, den Frieden zu er- 
halten, und mehrte die Güter feiner Kirche (1403). Günther, Graf von Schwarz- 
burg, fein Nachfolger, brachte beinahe die ganze Zeit feiner Regierung in Kriegen 
bin. Im J. 1429 wurde das Erzftift von den Hufiten verwüftet; der fo Frie- 
gerifche Günther Fonnte feine Schlacht gegen fie wagen. Das bei Leipzig gegen 
fie gefammelte Heer, zu dem alle Fürften Sachſens ſich gefammelt, zerftreute fich 
wieder (1430). Bald darauf brach Iange Fehde zwifchen der Stadt Magdeburg 
und Günther aus, in Folge deren die Stadt mit dem Banne belegt wurde, Die 
unruhige Regierung Güntherd endete mit feinem im J. 1444 erfolgten Tode, 
Auf dem Sterbebette empfahl er als feinen Nachfolger einen wadern Mann, den 
Grafen Friedrich. Diefer fuchte vor Allem den Frieden zu bewahren. Nicolaus 
von Cuſa, der als päpfilicher Legat damals durch Teutfchland reiste, wurde im 
Magdeburg mit großen Freuden aufgenommen. Um den glühenden Eifer Fried- 
richs für die Religion zu bezeichnen, pflegte Nicolaus nachher zu fagen: er habe 
einen einzigen Biſchof in Teutfchland “gefunden. Friedrichs Hauptbemühen war 
die Reformation der Sitten. Er trug ſtets ein Cilicium,. Ihm wurde (er farb 
im 3. 1464) die Grabſchrift gefegt: „Hier ruht die irdifche Hülle eines vortreff- 
lichen Hirten, er war das Gefeg der Klöfter, das Licht des Clerus, der Friede 
der Völker.” Bis zum F. 1475 regierte Johannes, vorher Bifchof von Münfter, 
Sriedrihs würbiger Nachfolger in allem Guten. Der legte Erzbifhof im 15ten 
Sahrhundert war Herzog Ernft von Sachen. Sein Bater, der Churfürft Ernft, 
wußte es bei Papft Sirtus IV., Kaifer Friedrich IL, dem Erzbifhof Johannes 
- und bem Domcapitel zu Magdeburg dahin zu bringen, daß der eilfjährige Ernft 
zum Coadjutor poftulirt wurde, Im 5. 1495 wurden auf Betreiben Ernſt's die 
lange obwaltenden Streitigkeiten zwifchen der Stadt und dem Erzbiſchof ausge- 
glihen, Ernft flarb im J. 1513. Auf feinem Grabftein heißt es: „Er lebte 49 
Sabre; er leitete die Kirche von Magdeburg 37 Jahre, die von Halberfiadt 33 
Jahre, Seine Seele möge ruhen in der Erquickung des Lichtes und des Friedens.“ 
— Bon Erzbifhof Ernft werden viele gute. Eigenfchaften gerühmt. Ihm folgte 
Albert (ſ. d. A.) aus dem Haufe Brandenburg, der in demfelben Jahre Admini- 
firator von Halberftadt, und im J. 1514 au Erzbifchof und Churfürft von Mainz 
wurde, Albert hatte nicht Zeit, dem Erzbisthum Magdeburg fich zu widmen und 
darum auch dem Eindringen der Reformation einen Damm entgegenzufegen. Diefe 
Einführung erfolgte im 3. 1524, An die Stelle der bisherigen Erzbifchöfe traten 
nun die fogenannten Adminiftratoren, die meiften aus dem Haufe Brandenburg 
(2.4), bis das Hochſtift Magdeburg ganz mit dem Churfürftientfume Bran- 
denburg vereinigt wurde, Diefe Adminifiratoren waren — neben dem Carbinal 
Albert, der im J. 1545 ſtarb — der Adminiſtrator Albert, der Adminiftrator 


734 Magdeburg 


Friderich, der Adminiftrator Sigismund, Joachim Friverih und Chriftian Wil- 
beim, Markgrafen zu Brandenburg, endlich der Adminiftrator Auguftus von 
Sachſen. Der Adminiftrator Albert war noch Biſchof; er farb im J. 1549, 
Sein Nachfolger Friedrich farb ſchon im J. 1552. Deffen Bruder Sigismund 
folgte ihm als Erzbifchof mit 14 Jahren, Diefer fogenannte Erzbifchof, feit 1557 
auch durch Gewalt Bifchof von Halberftadt (ſ. d. A.), fhaffte den noch übrig ge- 
bliebenen fatholifchen „Götzendienſt“ ab. Nach feinem Tode wählte das großen- 
theils von der Kirche abgefallene Domeapitel zum Adminiftrator des Erzftiftes 
den Joachim Friverich, den Sohn des Churfürften Johann Georg von Branden- 
burg, mit Genehmhaltung des Kaifers Marimilian IL. (1565). Diefer Friderich 
war vorher Bifhof von Havelberg (ſ. d. A.) und Lebus (f. d. A) gewefen; doch 
batte fein Vater, Johann Georg, wegen Friderichs Minderjährigkeit dieſe Bis- 
thümer für feinen Sohn verwaltet, Friverich führte das von feinem Oheime be- 
gonnene Werf der Reformation des Hochftifts zum Ende, Im $. 1570 feierte 
„der Erzbifhof JZoahim Friderich auf eine neue und außergewöhnliche Weife, mit 
Genehmigung feines Domcapiteld“ feine Hochzeit in Cüftrin; er heirathete Ca— 
tharina, die Tochter feines Dheims, des Markgrafen Johann von Brandenburg, 
welche Ehe mit Kindern reich gefegnet war, Bei dem Ableben feines Vaters 
Johann Georg folgte ihm Joachim Friverich als Churfürft von Brandenburg, und 
hinterließ feinem zweiten Sohne Chriftian Wilhelm das Erzbisthum Magdeburg. 
Diefer Chriftian Wilhelm war im J. 1587 zu Wolwirftädt geboren und über- 
nahm erft im J. 1608 die „erzbifchöfliche” Regierung in Magdeburg. Im Prager 
Trieden von 1635 wurde das Erzbisthum Magdeburg dem Prinzen Auguft von 
Sachſen auf Lebenszeit überlaffen, unter der Bedingung, daß er an Chriſtian 
Wilhelm jährlich 12,000 Thaler bezahle. Durch den weftphälifchen Frieden er- 
bieft Chriftian Wilhelm ftatt jener Befoldung einige Güter, von denen er bis zu 
feinem im J. 1665 erfolgten Tode (er ftarb ohne männliche Nachkommen) zehrte, 
Mit dem Ableben Augufl’8 (1680) fiel Magdeburg nach den Beftimmungen des 
weftphälifchen Friedens unter dem Namen eines Herzogthums an das Churfürften- 
thum Brandenburg; und bei dem Haufe Brandenburg ift es bis heute geblieben, 
— Man zählt bis auf Auguft 48 Erzbifchöfe von Magdeburg. — Ueber die Re— 
formation von Magdeburg wollen wir bier noch Einiges beifügen. Wer die 
Einführung der Reformation an einem Orte gelefen hat, der fennt den Gang, 
den diefe Einführung allenthalben eingehalten hat. Es findet ſich nirgends eine 
wefentliche Verfchiedenheit, Sp auch mit Magdeburg. Diefe Stabt ging den 
andern in der Annahme der neuen Lehre voran, Die Predigten des Melchior 
von der Heyden (Myricius), eines von Hildesheim vertriebenen Auguftiners, des 
aus Halberftadt verjagten Eberhard Widenfee, und des Franciscaners Johann 
Fritſchhans, beftehend aus Angriffen auf die Geiftlichen und auf religiöfe Uebungen 
der Kirche, gefielen einem Theile der Bürger, Diefe verfammelten fih den 
23. Zuni 1524 mit fieben Predigern im Auguftinerffofter. Sie legten dem Se- 
nate ihre Forderungen vor: Er folle das reine Wort Gottes ohne Menfchen- 
faßungen predigen laſſen; die Opfermeſſen follen verboten, das Abendmahl unter 
beiden Geftalten ausgetheilt, ein allgemeiner Kirchenfaften aus den Stiftungen 
angelegt werden. Dan folle die Klöfter aufheben, den Mönchen und Nonnen die 
Ehe erlauben; wer bei feinem Orden bleiben wolle, möge es thun, nur müffe er 
fein Ordenskleid und feine Heuchelei ablegen und fich im Evangelium unterrichten 
laſſen; endlich follen die Geiftlihen ihre Amtshandlungen unentgeldlich verrichten, 
Der Rath genehmigte diefe Forderungen, erbat fih und erhielt von dem Chur« 
fürften Friedrich von Sachfen den Nicvlans Amsdorf ald Neformator (f. den Art, 
Amsdorf). Im Sturme wurde nun das „Evangelium“ eingeführt, Die katho— 
liſchen Fefte und Gottesvienfte wurden geflört, Pöbelhaufen drangen mit Steinen 
und Prügeln in die Kirchen, Tärmten und tobten, mißhandelten bie Geiſtlichen 








Mageddo — Magiſter. 735 


unter den hl. Amtsverrichtungen; Laien fliegen auf die Kanzel und verkündigten, 
daß man das Wort Gottes mit dem Schwerte vertheidigen müffe. Die Reliquien 
amd heiligen Bilder wurden zerſtreut und zerriffen, die HI. Gefäße geraubt, die 
Haufen drangen in die Klöfter ein und vertrieben die Nonnen mit Gewalt daraus, 
Unterdeffen gerirte fih der Nath als der oberſte Bifhof der Kirche; er entwarf 
eine Gottesdienftordnung, fohaffte die Meffe ab, führte die Ausjpendung des 
Abendmahls unter beiden Geftalten und den teutſchen Gefang ein, und verthei= 
digte fein Verfahren in einer befondern Schrift. Am 31. December des J. 1526 
erlofchen alle Lichter im Dome, Als der Rath von dem Kaiſer zur Verantwortung 
gezogen wurde, fo deducirte er feine gethanen Schritte aus den Rechten und Pflih- 
ten hriftlicher Obrigkeit, und entfehuldigte fih mit der Unmöglichkeit, ven wilden 
Pobel im Zaume zu halten. Doc ftellte er auch 1500 Reiter auf -und rüftete 
ſich gegen etwaige Gewalt; auch ſchloß fih Magdeburg bald darauf an das Tor- 
gauer Bündnif an. Was der Rath, die Prädicanten und der Pöbel in dem Erz- 
ftifte son der alten Kirche noch etwa Hatten ftehen laffen müffen, das fegten die 
nachmaligen „Erzbifchöfe” aus dem Haufe Brandenburg völlig aus, Erft in der 
neueften Zeit hat fich wieder eine Fatholifche Kirche in Magdeburg gebildet. — 
Vgl. Thietmar, chron. bei Pertz scriptorum T. Ill. p. 723. Krantz, Metro- 
polis und Chytraeus, Saxonia. Lentzii P. Hist. Archiepisc. Magdeburg. 1738. 
S. Lengens Stifts- und Landeshiftorie von Magdeburg. Cöthen 1756, [Gams.] 

Mageddo (Megiddo), 57372, LXX. Mayeddw, Maxeddo, Vulg. Mageddo, 
faft immer mit Thaanach (Vulg. Thenac) genannt, früher canaanitifhe Königs- 
ftadt, wurde von Jofua dem Stamme Manaffe zugewiefen (Sof. 12, 21. 17, 11. 
Nicht, 1, 27. 5, 19. 1 Chrom. 7, 29.), aber lange nicht erobert (Nicht 6, 29,), 
lag im Gebiet des Stammes Iſſaſchar in der Ebene Zisreel (Esdrelon) am Kifon, 
welcher daher ppetifch das Waſſer Megiddo's (732 2) genannt wird (Richt, 5, 
19.). Die Lage des Ortes war namentlich in firategifcher Beziehung fehr wich— 
tig, von der Seefeite aus war es der Schlüffel zu Mittel- und Norbpaläftina, 
Salomo hatte es deßhalb befeftigen Iaffen (1 Kön. 9, 15.) und zum Sig eines 
Schatzmeiſters beſtimmt (1 Kön. 4, 12.); die Ebene Megiddo's (732 pr» 
2 Chron. 35,22, 7732 nap2 Zac. 12,11.) iſt auch wirklich öfters zum Schlagt- 
feld geworden; in feiner Nähe fiegten Debora und Baraf (Richt. 5, 19.), Ahaſia, 
vor Jehu fliehend, flarb hier (2 Kön. 9, 27.), Joſia fand Hier feinen Tod in der 
Schlacht gegen Pharav Necho (2 Kon. 23, 29. u. 30, 2 Chron,35, 20—25. He= 
rodot nennt 1. II. c. 159, daffelbe Factum erzählend, den Ort Maydolov, ohne 
Zweifel das ägypt. Migdol mit Megiddo verwechfelnd, f. die Erfl.). Nah Ro- 
binfon (IM. 412) iſt Magiddo iventifch mit dem alten Legio (Euseb. et Hier. im 
Onom.), erhalten in dem heutigen Dorfe el-Lejjün an der großen Karawanen- 
firaße zwifchen Aegypten und Damascus, 

Magen, f. Berwandtfhaft. 

Magie, f. Zauberei. 

Magier, f. Dreifönigsfeft. 

Magiſter — hieß urfprünglich in ven Canonicaten derjenige Elerifer, wel- 
chem der Unterricht und die Erziehung der Domicellaren (ſ. d. A.) übertragen 
war — magister scholarum, scholasticus —, er ertbeilte den Unterricht theils per= 
fonlich , theils führte er die Aufficht über das untergeordnete Lehrerperfonal, Al- 
mählig aber wurde das Amt des Scholafticus zu einer eigentlichen Capiteldwürbe, 
in welcher Stellung ſich feine Wirffamkeit nur mehr auf die allgemeine Leitung 
der Schulen und die Anftellung der wirklihen Magiftri erſtreckte. Nach der Auf⸗ 
] Töfung des canoniſchen Lebens blieben an einigen Orten die Domicellaren in dem 
I. gemeinfamen Gebäude unter dem Scholafticus vereinigt, an andern Orten da= 
I gegen börten diefe Schulen völlig auf; daher verordnete das dritte Lateranconcıl 





736 Magister sacri palatii. 


Ce. 1. X. de magistris. 5. 5), daß an jeder Cathebralfirche ein Magiſter angeftelft 
und ihm vom Bifchofe ein Beneficium zugewiefen werde, wogegen er die Ver— 
pflichtung hatte, die einheimifchen Scholaren und diejenigen ver auswärtigen, 
die arm waren, unentgeldlich — in der Grammatif — zu unterrichten (ma- 
gister grammatices, grammalicus), In gleiher Weife mußte an jeder Metropo— 
Vitanfirche ein magister theologiae, theologus angeftellt werden, der in den ein— 
zelnen theologifchen Diseiplinen, namentlich in der Exegeſe und Paftoral, unent- 
gelvlichen Unterricht zu ertheilen hatte Ce. 4. X. h. 1.), Mit dem Aufblühen der 
Univerfitäten änderte fih, wie das ganze Studienwefen, fo auch Die Bedeutung 
des Wortes Magifter, Jeder öffentliche Lehrer, der eine Anzahl Schüler um fi 
gefammelt hatte und ihnen in irgend einer Wiffenfhaft (Theologie, Zurisprudenz, 
Medicin, freie Künſte) Vorlefungen hielt, hieß Magifter oder Doctor, womit 
urfprünglich noch Feine befondere Würde bezeichnet werden wollte; erft allmählig 
bildeten fih das Magifterium und der Dostorat zu einer eigentlichen academifchen 
Würde aus (f. den Art, Grade, gelehrte). Als folde ftehen fih beide recht— 
lich gleich, beide bezeichnen den vberftien Grad, beide gemiefien dieſelben 
Rechte und Privilegien, und wo immer zwifchen ihnen ein Unterfchied gemacht 
wurde, da beruhte diefer Tediglich auf fpeciellen Verhältniffen und Localgewohn- 
beiten, Sp wurden z. B. in Franfreih, Spanien und Italien diejenigen, welche 
in der Theologie die höchfte arademifhe Würde erlangt hatten, regelmäßig ma- 
gistri theologiae genannt, während die der übrigen Facultäten Doctoren hießen; 
in Teutfchland dagegen wurde bei allen Facultäten die Bezeihnung Doctor ge- 
braucht, nur die in der Philoſophie Oraduirten nannten ſich Magiſtri, eine 
Dezeihnung, die in neueren Zeiten auch bier außer Gebrauh Fam, — Bol. 
Reiffenstuel, J. C. U. Tom. V. Lib. V. tit.5; Fagnani, Comment in I. part. 
Lib. V. Decretal. p. 203; Ferraris, prompta bibl. s. v. magister. [Kober,] 
Magister sacri palatii. Der hl, Dominieus (ſ. d. A.), ein großer 
Freund der HI, Schrift, interpretirte bei feiner Anmwefenheit zu Rom am päpftlichen 
Hofe, wo die theologifhen Schulen waren, die Hl. Schriften vor vielen Zuhörern und 
Prälaten, und daran fol fi allmählig das Amt des magister s. palatii ſammt der 
Dbfervanz gefnüpft haben, es immer nur einem Dominicaner zu übertragen 
(Bolland. ad 4. Aug. de s. Dominico comment. praev. $ XXIX; Echard und Quetif 
Script. Ord. Praed. t. I. p. 15. und t. 1. p. 996). Nach andern und fpätern Be- 
richten hat der Hl. Dominieus, fehend, wie, während die Carbinäle mit dem Papfte 
zu thun hatten, ihre Diener mit Müßiggang und Poffen die Zeit vertändelten, 
bei Papſt Honorius III. bewirkt, daß ihnen, während ihre Herrn mit dem Papſte 
zufammen waren, die hl. Schrift erflärt werben follte, was auf den Wunfch des 
Papftes Dominieus felbft einige Zeit übernahm und den erſten Anfang zur Ein» 
führung eines fländigen Magister s. palatii gebildet haben foll Cf. Boll. 1. c.). Im 
13ten Jahrhunderte, fchreibt Echard (Script. Ord. Praedic. t. I. p. XXL), beftand 
das Amt des Magifters s. p. vorzüglich „in scholae Romanae et Ponlificiae regimine 
et in publica s. scripturae expositione* ; allmählig wuchs fowohl das Anfehen wie 
der Wirfungsfreis des Magifters, befonders feit Johannes de Turrerremata 
(f. d. A.), und ift derfelbe noch dermalen als päpftlicher Theolog mit dem Range 
eines Uditore der Nota zu betrachten. Ihm fommt es zu, Alles, was am päpft« 
lichen Hofe vor dem Papfte vorgetragen wird, zu prüfen, ob es mit der Fatholi- 
chen Lehre übereinftimme; er beftimmt für gewiffe Solemnitäten die Prediger 
und fieht ihre Predigten durch; er ift Cenfor aller zu Rom erfcheinenden Bücher 
und Schriften, und Confultor bei mehreren Congregationen; er affiftirt mit den 
Uditoren der Nota, nach denen er bei der päpftlichen Capelle einen fehr bistin- 
guirten Plag einnimmt, der Bewachung des Conclave, kann den Doctorgrad in 
der Theologie und Philoſophie ertheilen, und hat noch mehrere andere Präroga- 
tiven und Facultäten cf. Zaccaria, Corte di Roma, Roma 1774, t. IL), Reihen» 





BE u ERDE, GE Oo VE N GE 





Magister sacramenti— Magnentiud, 1737 


folge der Magistri s. palatii bis zum Anfang des 16ten Jahrhunderts: I. im 13ten 


| Zahrpunderte: Dominicus; d. fel. Bartholomäus de Bragantiig unter 


Papſt Gregor IX. (f. Echard Script. Ord. PP. I, 254; Bolland. 1. Jul.); Gau— 
fridus de Blevello unter Innocenz IV.; Albert der Große während der 
Sabre 1255 —1256 (.d.4.); Wilhelm Boderispinenfis unter Papft Ur- 
ban IV. (Echard 1. 0.259); HYannibaldus de Hannibaldis um 1259—1261, 
ein fehr gelehrter und frommer Mann, Freund des Hl. Thomas von Aquin, Car- 
dinal (ſ. Echard 1. c. 261, 326, 328); St. Thomas von Aquin von 1262— 
1268 (f. Echard 1. c. 271, und den Art. Thomas); der fel. Ambrofiug San- 
fedonins etwa um 1269—1275, ausgezeichneter Prediger und Lehrer der Theo- 
Iogie in Ztalien und Teutfchland, wo er zu Cöln mehrere Jahre lehrte (f. Echard, 
l. c. 401. Bolland. ad 20. Mart. in vit. s. Ambr.); Raymundus de Corſavino; 
Hugo de Biliomo, von Papft Nicolaus IV. zum Cardinal befördert 1288 
(Echard, 450); Albertus de Roma cibid. 466). I. Befanntere Reihen- 
folge im 14ten Jahrhunderte bis zum Ende des Schisma von Avignon: 
Wilhelm Petri de Godino, von Papſt Clemens V. zum Cardinal erhoben 
Gb. 591); Durandus de St. Portiano (ib. 586 und den Art. Durandug 
a St. P.); Wilhelm de Lauduno, von 1318—1321, Erzb. von Touloufe 
Gb. 627); Raymundus Bequin, von 1321—1324, zum Patriarchen von 
Serufalem conſecrirt 1324 (ib.561); Dominicus Grima (al. Grenier), 1324— 
1327, Bifhof von Pamiers (ib. 612); Armandus de Bellovifu, 1327— 
1334 (ib. 585); Arnoldus de St. Mihaele Cib. 584); Petrus de Pireto, 
von 1334—1336 (ib. 584); Raymundus Durandi, 1336—13425, Johan- 
nes de Molendino, 1342—1349 (ib. 627); Wilhelm Sudre, 1349 — 
1361, Cardinal (ib. 670); Wilhelm Romani Brito, 1362—1375 (ib. 664); 
Nicolaus de St. Saturnino, 1375—1378, Cardinal, der zu Papft Cle— 
mens VII überging (ib. 683); Petrus Ylperinus von 1373—1379-Cib. 687) 
und Simon Saltarelli von 1379—1385 unter Papft Urban VI. (ib. 687); 
Bartholomäus de Bolfenheim, um 1385—1395 unter Urban VI, und Bo— 
nifaz IX. (ibid.); Jacobus Arigonius 1395—1407, und HYugolinus de 
Camerino 1407—1417 Gb. 783, 759). UL Bom Ende des Schisma von 
Avignon big zur Neformation: Johannes de Caſanova von 1420— 
1424, Cardinal (ib. 791); Andreas de Pifis von 1424—1429 5 Johannes 
9. Eonftantinopel von 1429—1431;5 Johannes v. Turreceremata von 
1432—1439 (f.d. 4); Bartholomäus Lapaceius (ib. 834) von 1439— 
1443; Heinrich KRalteifen von 1443—1452 (f.d. A); Jacob Gil oder 
Aegidii von 1452—1465 (ib. 331); Leonhardus de Manfuetis von 1465 — 
1474 (ib. 348); Salvus Caffetta von 1474— 1481, Drdensgeneral; Mar- 
eus Maronus von 1481—1487; Paulus de Monelia von 1487—1499 
Gb. 910 u. I. 3)5 Johannes Annius al. Nannius von 1499—1502 (f. II, 
4); Johannes de Rafanellis von 1502—1515;5 Silvefter Mozolini 
Prierias von 1515—1523, unter deffen zahlreihen Schriften befonders die 
gegen Luther.verfaßten anzumerfen find Ct. II, 55). Die übrigen Magiftri s. p. bis 
auf das 18te Jahr. f. bei Echard Script. Ord. Praed. t. II, p. XXI. [Schröpl.] 

Magister sacramenti, f. Sarramente, 

Magisterium, ſ. Lehramt der Kirche. 

Magistruccia, ſ. Caſuiſtik. 

Magnentius. Ueber feine Familie iſt nichts Gewiſſes bekannt. Nach 
einigen Geſchichtſchreibern ſoll ſein Vater Magnus ein Britte geweſen ſein, nach 
andern einem germaniſchen Volksſtamme angehört haben, dem Maximianus Her— 
eulins erlaubt hatte, fih in Italien niederzulaffen ; wieder andere laffen ihn von 
einer barbarifhen Colonie abftammen, weldhe Conftantius Chlorus (ſ. d. A.) in 
Gallien gründete, Durch perfönliche Tapferfeit wußte er fih im römifchen Heere 

Kirchenlexikon 6. Bd. 47 


738 EN Magnentius, J—— 


Anſehen, durch Schmeichelei das Vertrauen und die Liebe des Kaiſers Conſtans 
€: d. A.) zw erwerben, der ihn zum Befehlshaber über die auserleſenſten Faifer- 
lichen Truppen der Jovianer und Hereufianer erhob, ja ihm einft bei einer unter 
den Soldaten ausgebrochenen Meuterei durch Vorhalten feines Kriegsmantels dag 
Leben rettete. Magnentius vergalt diefe Liebe dur den größten Undanf und 
mißbrauchte das in ihn gefegte Vertrauen, um fich felbft den Purpur anzueignen, 
and ließ fich, unterflügt von Marcellinus, dem Staatsfhagmeifter, der freigebig 
die Mittel dazu bot, von den Truppen zu Autun, wo der Hof damals refidixte, 
den 18, Januar im Jahre 350 zum Kaifer ausrufen, Conſtans ward auf feinen - 
Befehl auf ver Flucht ermordet. Dem Beifpiele der Soldaten in Autun folgten 
bald die Provinzen des Weftens, und in Furzer Zeit fonnte der Ufurpator über 
die beiden großen Präfeeturen Gallien und Italien gebieten, fo daß felbft ver 
Thron des Conftantins im hohen Grade gefährdet war. Wiewohl Magnentius 
dem Chriftenthume ergeben war, wie dieß die Kreuzfahne auf feinen Münzen be- 
fundet (f. Edel 8. 122.), fo ward doch dur feine Empörung daſſelbe beein- 
trächtigt, denn in der Perfon des Kaifers Conſtans fiel eine der fefteften Stützen 
deffelben und einer der Fräftigfien Vertreter des Fatholifchen Principe gegenüber 
dem fo umfichgreifenden Arianismus, fo daß jegt das Heidenthum wieder feinen 
Cultus mit um fo größerer Freiheit erneuerte, als bei den entflandenen Wirren 
den einzelnen Parteien hinreichend Spielraum gegeben war, ihre Leidenschaften 
und vorzüglich ihren Haß gegen die Nechtgläubigen zu entfalten, Ueberall fuchte 
Magnentius die Zahl feiner Anhänger zu mehren und fandte zu dem Zwecke feine 
Bertrauten in die Provinzen, um das Anfehen des Kaifers Conftantius zu unter- 
graben und die Bewohner zu feiner Partei zu ziehen; fo kamen nach Libyen und 
Aegypten Valens und Clementius, deren Legterer befonders den hl. Athanafius 
gewinnen follte, indem er mit Zuverficht erwartete, daß ganz Aegypten durch 
deffen Wort für feine Perfon geftimmt würde, Allein hier fiheiterte feine trü- 
gerifche Kunſt. Wenn fih auch Athanafius aus dem, was er bisher erlebte, im 
Conftantius feinen Fraftigen Schüger gegen die Umtriebe der Arianer verſprach, 
fo forderte er doch die verfammelte Gemeinde dringend auf, dem rechtmäßigen 
Kaifer die angelobte Treue zu bewahren, Indeffen hatten die Legionen in Pa⸗ 
nonien ihren Führer, den greifen Vetrano, ebenfalls zum Auguftus ausgerufen, 
doch ging diefer bald mit dem Ufurpator ein Bündniß ein, um vereint mit ihm 
gegen den Kaifer Conftantins zu ziehen. Als Conſtantius hievon Runde erhielt, 
rüftete er fich zum Kriege wider die Empdrer und empfing zu Heraclea die Ge— 
fandten verfelben, welchen Magnentius, durch die günftigen Erfolge feiner bis— 
berigen Unternehmungen fühn gemacht, den Auftrag gab, unter der Bedingung 
einer Doppelheirath, des Conftantius nämlich mit der Tochter des Magnentius, 
und diefeg mit der Schwefter des Conftantius, der Conftantina, den Frieden und 
die Mitregentfchaft anzubieten; im entgegengefegten Falle aber die für ihn noth- 
wendig Verderben dringenden Folgen vorzuftellen, Conftantins weigerte fi, auf 
diefe Bedingungen einzugehen, und da Vetranio mit 20,000 Reitern und einer 
noch zahlreicheren Abtheilung von Fußvolk fih dem rechtmäßigen Kaiſer ergab, 
zog diefer mit einer großen Heeresmacht dem Magnentius entgegen, ber feiner- 
feits die fruchtbarften Gegenden Pannoniens verwüſtete, die Stabt Siscia mit 
Sturm nahm, bis er bei Murfa, dem heutigen Effef, in einer bintigen Schlacht 
gefhlagen die Flucht ergriff, um in Aquilefa feine Reſidenz anfzufhlagen, Allein 
auch hier hatte die Stimmung der Bevölferung fich gegen ihn gewendet, Seine 
verübten Grauſamkeiten hatten ihm verächtlih gemacht, und Nom wie die übrigen 
Städte Italiens erflärten fih vffen für Conftantius, fo daß Magnentius ge— 
zwungen ward, mit dem Nefte feiner ihm treu gebliebenen Truppen in Oallien 
eine Zuflucht zu fuchen. Sept, von allen Seiten hart bedrängt, bat er um Frie- 
den, den aber Conftantins ihm nicht gewährte, Eine von Conftantins ausgerüftete 





— 








— — — 


Magnifieat — Magnus, 739 


4 Flotte ficherte den Wiederbefig von Africa und Spanien und feste bedeutende 


Streitfräfte an das Land, welche über die Pyrenäen gegen Lyon zogen, um den 
Magnentius an diefer feiner Zufluchtsftätte zu übermwältigen. Bei Mons Seleuci, 
einem Heinen Orte in den fottifhen Alpen, kam es zur Schlacht, die fein Schief- 
fal entfohied. Er war außer Stand, ein zweites Heer nad diefer verlorenen 
Schlacht in das Treffen zu bringen, und da auch der noch übrig gebliebene Reſt 
feiner Truppen fih für Eonftantiug einftimmig erflärte, flürzte er fih, um nicht 


lebend in die Hände feiner Feinde zu fommen, den 10. Auguft 353 in fein eigenes 


Schwert. (Aurel. Victor de Caesaribus; Julian orat. 1. et 2; Socrates lib. 2. c. 
20; Sozomenus lib. 4. c. 1; Zosimus lib. 2. Gibbon p. 538. Moͤhler, Athanafius, 
Bd... ©, 115.) (Thaller.) 
Magnificat (Evangelium Mariae). Sp nennt man von feinem Anfangs- 
worte den Lobgefang, mit welchem die feligfte Jungfrau Maria den Gruß er- 
wiederte, mit dem fie Elifabeth in ihr Haus aufnahm, Er findet fih in dem 
Evangelium des Hl. Lucas (1, 46—55.), und ift der Erguß einer frommen Seele, 
die, von der Gnade Gottes überhäuft, voll Demuth dem Herrn allein die Ehre 
gibt. In der abendländifhen Kirche wird er finnig alle Tage im Jahre in der 
Befper des Officium divinum gebetet oder gefungen. Sinft nämlich der Tag hinab, 


nahet die düſtere Nacht mit ihren Schrefniffen, fo vergegenwärtigt fi freudig 


die Kirche, daß alle diejenigen, die um ihres frommen und demüthigen Wandels 
willen Sfraeliten und Nahfommen Abrahams im Geifte find, in Jeſu Chrifto 
einen Tag erlebt Haben, der feinen Untergang mehr kennt, fondern ewiges Mittags- 
licht um fich verbreitet, In der feierlichen Vefper wird während feiner Abfingung 
geräuchert, um theilg auch hiedurch die große Freude auszudrüden, die wir Alle, 
Weltlihe und Geiftlihe, wegen der Menfchwerdung des Sohnes Gottes Haben, 
insbefondere aber fundzugeben, daß der Altar Jeſu EHrifti der Born ift, aus dem 
uns die Segnungen des Chriftenthumes vorzugsweife zufließen. 

Maguus (Mang, Magnvald), der heilige, Apoftel des Algäues, 
Noch im gegenwärtigen Jahrhunderte Hat der fonft gelehrte PL. Braun, Ver— 
faffer der Gefhichte der Bifhöfe von Augsburg, den Hl. Magnus in das achte 
Jahrhundert verwiefen, da derfelbe doch, als Gefährte und Schüler des HI, Gal- 
lus (ſ. d. A.), dem fiebenten Jahrhunderte angehört, Diefer Irrthum, fowie 
viele andere Irrthümer und Verirrungen über die Chronvlogie und Thaten des 


- Hl. Magnus, entftammen größtentheils einer Biographie diefes Heiligen, die, wie 


wir fie befigen, fälfchliher Weile dem Mönde Theodor, einem andern Schü- 
ler Gall's und Freunde des Hl, Magnus, oder dem Abte Ermenrih von Ell- 


. Wangen, einem Zeitgenoffen des Walafrid Strabo (der fie auf Befehl des Bi— 


ſchofes Lanto von Augsburg verbeffert haben foll), zugefhrieben wird, Dabei 
Kann e8 jedoch allerdings fein, daß der genannte- Theodor über feinen Freund 
Magnus einige Nakprichten, einen furzen Necrolog oder ein Epitaphium verfaßt 


Habe, deffen Inhalt dann von Ermenrich verbeffert und erweitert worden fein 


mag, aber nachher in der in Nede ftehenden Biographie fo fehr entftellt wurde, 
Daß auch Ermenrich nicht Verfaffer der Magnus-Legende, wie wir fie jegt be- 
fisen, fein Fonnte, ift gewiß, da es unglaublich erfcheint, ein Zeitgenoffe Strabo's, 
wie e8 Ermenrich war, habe wagen fönnen, was der Legendift getan, außer 
der Mebertragung der Wunder und Thaten des hl, Eolumban und 
feiner Schüler Authiernus und Chagnvald auf unfern Magnus auf 
Strabo's Biographie des HI. Gallus zu dem gleihen Zwede für die 
Magnud-Legende zu benügen, um den HI. Magnus vorzugsweife zu 
dem völligen Gleichbilde des HL. Gallus zu ftempeln. Uebrigens mag 
allerdings die erfle Hälfte diefes Lebens einen jüngern Verfaſſer haben als die 
zweite, welde mit dem Auszug des Hl. Magnus aus St. Gallen nah dem Algäu 


beginnt, alfein auch die zweite trägt Spuren genug von Ueb ertragungen der 
AT 


740 — Magnus 


Wunder und Thaten Galls auf Magnus, und enthält die eclatanteften 
Anahronismen und Widerfprüche, indem fie z. B. den Magnus einerfeits als 
‘Gefährten und Schüler des HI. Gall anerkennt, der (Gall) im J. 625 geftorben 
fei, den Magnus aber andererfeits gleichzeitig mit den Bifhöfen Wilterp und 
Toſſo von Augsburg im achten Jahrhundert leben läßt. Mit vollem Recht haben 
alfo Mabillon und die Bollandiften den Stab über diefes Machwerk gebrochen, 
wobei es die Ießteren jedoch für wahrfheinlich halten, daß der betrügerifchen und 
heillos verwirrten Compilation einige von dem erwähnten Theodor herrührende 
Nachrichten und ein daraus von Ermenrich gemachtes Leben zu Grunde liegen 
Fönnten, was vorzugsweife von der zweiten Hälfte diefer Biographie gelten mag. 
— Aechte Nachrichten über Magnus vor feinem Auszug aus St. Gallen 
nach dem Algäu bietet das im achten Jahrhundert von einem Gallenfer-Mönd 
verfaßte Leben des HL. Gall (ſ. Perg IL) und die Ueberarbeitung dieſes Lebens 
von Walafriv Strabo. Hienach fchloffen ſich nach der Abreife des Hl, Columbanus 
nach Stalien (612) zwei Clerifer des Pfarrers Willimar von Arbon, Magnoald 
und Theodor, an Gall an und erfheinen bi8 zu feinem Tod feine treueften 
Gefährten und Jünger, Daß Magnold Fein Irländer, fondern ein Teutfcher ge- 
wefen fei, Theodor. etwa ein Rhätier, ift fehr wahrfcheinlih. Diefer Magnvald 
nun ift eine und diefelbe Perfon mit unferm Magnus, Mang. Denn abgejehen 
davon, daß Rritifer, wie die Bollandiften, Mabillon, Arc in der Gefhichte von 
St, Gallen und in den Noten zu Galls Leben bei Pers IL. u, a. m. darüber kei— 
nen Zweifel hegen und die ältefte Tradition der Klöfter St. Gallen und Füſſen 
und der Kirche von Augsburg die Identität Magnvalds und des Magnus Far 
bezeugt, fo wird Magnus nicht bloß in der Pfeudobiographie, fondern in allen 
bewährten Nachrichten über ihn, obgleich er gewöhnlich nicht Magnoald, wie 
in den angeführten zwei Biographien Galls, ſondern Magnus genannt wird, 
als Gefährte und Schüler des hl. Gallus, und zwar als der vorzüglichfte und 
berühmtefte feiner Gefährten und Schüler aufgeführt (ſ. Notker in Martyrol. 8. 
ld. Sept.; Ratpert in hymn. de s. Magno; Mabill. Act. SS. t. IL. p. 509—510), 
was nur auf Magnold paßt; ferner wurde derfelbe Magnus, den die Algäuer 
als ihren Apoſtel und erſten Gründer der Zelle zu Füffen verehren, und deſſen 
Leib dafelbft begraben ward, ſchon im neunten Jahrhundert von den Gallenfer- 
Mönchen als einer ihrer drei Hauptpatrone (St. Gall, St. Magnus, St. Dibmar) 
verehrt und demfelben in der Nähe des Gallus-Stiftes um 890 eine Kirche ge— 
baut, in welche von Füffen her ein Arm des Hl. Magnus Cein Gefchenf des Bi— 
ſchofs Adalbero von Augsburg) gebracht wurde, und welde der hl. Biſchof Ulrich 
von Augsburg gerne zu befuchen pflegte (Perg II, 79, 108), was wieder auf 
Magnold zurücführt, den Hauptſchüler Galls; endlich fteht für die Identität des 
Magnus mit Magnoald auch die alte geiftliche Verbindung des Klofters St. Gal- 
len mit dem Klofter Kempten (f. den Art. Kempten), welde fih wohl nur von 
Theodor herfchreibt, einem andern Schüler Galls und Mitſchüler und Reife 
gefährten des Magnus nah Schwaben. Bon Magnus alfo erzählen die zwei 
oben erwähnten Leben des hl. Gallus des Nähern Folgendes, Er war bei der 
durch Gallus bewirkten Heilung der einzigen Tochter des allemannifhen Herzogs 
Gunzo, Friveburga, gegenwärtig, wohnte mit Gallus der Synode zu Conftanz 
(613—615) bei, reiste aus Galld Auftrag nach Italien in das Klofter Bobbio, 
um über Columbans Tod Nachrichten einzuziehen, und brachte bei der Rücklehr 
die „cambutta“ Columbans mit, blieb nad Galls Tod (+ 625, 646?) im Klofter 
St. Gallen, und zwar als Vorftand des Klofters (Arr, Geſch. v. St. Gallen H, 
©. 20), bis 40 Jahre nah Galld Tod (40 Jahre geben die zwei Biographien 
Gall an, die vita s. Magni nur drei Jahre; Arr in den Noten zur vita I. s. Galli 
bei Perg meint, 40 Zahre fünnten e8 unmöglich gewefen fein) das Stift durch 
einen fränkifchen Ueberfall verwüftet und die Mönche verfprengt wurden, Magnpald 














Magnus 7a 


und Theodor ausgenommen, denen in ihrer bilflofen Lage der Biſchof Bofo vor 
Eonftanz zum Beiftand herbeieilte. Am Schluffe der vita I. s. Galli fagt der Bio- 
graph: „Haec omnia comprobata sunt testimonio Meginaldi et Theodori 
diaconorum electi Dei etc.“ (f. Perg I, S. 20). — Hätten wir nur für die Zeit 
der apoftolifchen Wirfjamfeit des hl. Magnus in Algäu eben fo verbürgte Nach— 
richten! Allein da fteht und nur die zweite Hälfte der Biographie des HI, 
Magnus zu Gebote, welche jedod älter (fie gehört dem 10ten Jahrh. an) und 
deßhalb auch glaubwürdiger als die erfte Hälfte ift (f, Braun, Gef. d. Bild. 
2. Augsb. I, S. 905 Rettberg, Kirchengeſch. Teutſchl. II, 149) und dem Haupt- 
inhalte nach Folgendes erzählt. Kurz nad der erwähnten Berwüflung des Kloſters 
St. Gallen durd die Franken beſuchte der Priefter Toffo (Tozzo) aus der Augs- 
burger Diöcefe die Grabftätte des HI. Gallus. Magnus hatte fhon zuvor einen 
göttlichen Ruf erhalten, nach den julifhen Alpen zu ziehen, wo einft der Biſchof 
Narciffus von Tolofa dem Teufel befahl, einen Drachen zu tödten; er ſchloß ſich 
alfo bei Toſſo's Rüdfehr fammt Theodor an Thaffo an, um in das Algäu zu 
ziehen. Zu Bregenz heilte Magnus einen Blinden. Zu Kempten erlegte er, mit 
Galls cambutta bewaffnet, eine gewaltige Schlange, „boas“ genannt, und ver— 
ließen auf fein und Theodors Gebet Schlangen und Dämonen die Gegend. Nach— 
dem bier Magnus viele Bewohner befehrt Hatte und eine Capelle errichtet worden 
war, bei welcher Theodor zurüdblieb, zog er mit Toffo nah Epfach (Eptaticus), 
wo fih, damals Wikterp, der Biihof von Augsburg, aufhielt. Sp nennt den 
Bifhof die Biographie des Magnus — daf es aber der Bifchof Wilterp, al. 
Wigo, Wiho, Wizo genannt, welcher in einem Schreiben des Papftes Gregor II. 
dd. 739 genannt wird und über die Mitte des achten Jahrhunderts hinaus re— 
gierte, nicht fein Fonnte, leuchtet von felbft ein, indem ja nach dem oben Gefag- 
ten Magnus ſchon um 612 fih an Gallus anfhloß; mithin muß man, wenn 
etwas Wahres an der großen Rolle ift, welche der Augsburger Biſchof Wikterp 
im Leben des hl, Magnus fpielt, an einen Augsburger Bifchof des fiebenten Jahr— 
hunderts denken, etwa an Wiggo (al. Wizo, Wihpert), welden Braun (Bifch, 
9. Augsb. I, 73) um 667 fterben läßt. Bei Wilterp alfo hielten fih Magnus 
und Toffo einige Tage auf; Magnus erhielt die Erlaubnif, in dem engen Paß 
am Fuße der julifchen Alpen (Füſſen) fih anzufiedlen und eine Capelle zu errich-: 
ten, und nahm in Begleitung Toſſo's und einiger von Wifterp beigefellten Weg- 
weifer den Weg dahin über Roßhaupten. Bei Roßhaupten hatte Magnus 
wieder einen Kampf mit einem großen Drachen zu beftehen, dem er, nach Gebet 
und dem Genuß geweihten Brodes, die cambulta Galls und einen Pechkranz in 
der Hand und ein Reliquienfäftchen um den Hals, entgegentrat, den Pechkranz in 
den Rachen fehleuderte und ihn tödtete. Hierauf Fam Magnus mit Tozzo und 
den Wegmweifern dem Lech entlang in eine große ſchöne Ebene, wo jet das Dorf 
Waltenhofen fteht, nicht weit von Füffen. Hier gefiel es ihm fehr; er King feine 
Reliquienfäftchen an einem Baume auf, betete davor, errichtete zu Ehren der 
Mutter Gottes und des Florian ein Kirchlein, das Bifhof Wikterp einweihte, 
und ging endlich, nachdem er einige Zeit hier verweilt und gepredigt und für die 
Paftorirung den Toffo Hinterlaffen hatte, nah Füllen, feinem Endziele, wo er ein 
kleines Dratorium fammt Zelle errichtete. Diefe Capelle ward wieder von Biſchof 
Wilterp dedicirt, welcher, da der Wunderruf des Hl. Magnus fig mehr und mehr 
verbreitete, dem Heiligen mehrere Cferifer zur Unterweifung zufendete, Zudem 
erwarb Wilterp dem Hl. Magnus bei dem fränfifhen Hofe (bei König. Pipin, 
fagt die Legende, früher und fpäter Gefchehenes bunt durcheinander mifchend!) 
einige Danationen und ertheilte ihm, nachdem er die von Theodor neuerbaute 
Kirche zu Kempten geweiht hatte, die Priefterweihe. Fünfundzwanzig Jahre, fagt 
die Legende, brachte Magnus zu Füffen zu, befehrte das Volk zum Glauben 
CHrifti, Heilte Kranke, entdeckte auf dem Berge Säuling Eifenadern und ftarh 


742 Magog — Magyaren. 


endlich in Gegenwart Theodors von Kempten und Toſſo's, welch' letztern der 
Legendiſt durch Vermittlung des Magnus bei König Pipin! bereits zum Nad- 
folger Wilterps auf dem bifhöflihen Stuhle Augsburg hatte werden laffen, fo 
daß alfo entweder der von Pl. Braun auf das achte Jahrhundert gefegte Bifchof 
Toſſo in das fiebente gehört oder zwei Biſchöfe Toffo, einer dem fiebenten und 
der andere dem achten Jahrhundert angehörig, anzunehmen find, oder von dem. 
Legendiften der Priefter Toſſo des fiebenten Jahrhunderts mit dem Biſchof Toffo 
des achten Jahrhunderts confundirt worden iſt. Theodor legte, erzählt ferner 
die Magnus-Biographie, einen furzen Abriß der Thaten des Magnus unter das 
Haupt des HL, Leichnams, der in der Capelle zu Füffen feine Grabftätte fand, 
Biſchof Simpert von Augsburg (4 807) reftaurirte das Magnusklofter zu Füſſen; 
die Bischöfe Nidgarius (+ um 830) und Lanto (4 um 857) erbauten dem Hei- 
ligen eine ſchöne Kirche, und Lanto nahm auch die feierliche Erhebung des Leibes 
vor, wobei die furze Lebensgefchichte des Heiligen unter deffen Haupte ganz ver- 
gülbt doch noch Ieferlih befunden und dem Mönch Ermenrih von Ellwangen zur 
Berbefferung übergeben wurde, ©, die Bollandiften zum 6, Sept. vit, s. Magni; 
Mabill. Acta ss. t. HH. ad a. 665; Basnage-Ganis. lect. antiq. t.I. p.H. p. 651; 
Goldast, script. rer. Alem. t.I.; PM. Braun, Geſch. der Bifch. v. Augsburg, 
Bd. 1 ©, 87 10.5 Butlers Leben der Väter und Martyrer von Räß und Weis, 
6. Sept; J. B. Tafrathshofer, der hl. Magnus, Kempten 1842, Bol. 
hierzu die Art. Alemannen und Bayern, [Scrödt.] 
Magog 6a), ein Bölfername, welder in der hl. Schrift dreimal vor- 
fommt, ©enef. 10, 2. Ezech. 38, 2. u. 6. Nach den beiden letztern Stellen er— 
ſcheint dieſe Nation neben Thubal und Meſchech, welche jedenfalls über Mediens 
Nordgrenze hinaus Tiegen. Da Ezechiel dem Volke Magog, an deffen Spitze 
Gog erfeint, in der Zukunft eine große Rolle in der Weltgefohichte einräumt, 
fo mußte nothwendig die Erinnerung an daffelbe durch die Bibel lebhaft erhalten 
werden. Sie erfcheint in zahlreichen jüdifchen Sagen vom Ende der Dinge (f. 
Eifenmenger, entdecktes Judenth. II. 732 ff.), in der chriftlichen Literatur der 
Sprier , fowie in den Schriften der Moslimen, als der Schüler der Juden. Schon 
der Koran (ſ. d. A.) fpricht von Jagug (Gog) und Magug (Magog) und fihreibt 
dem Dfu-I-Rarnain (Alerander dem Großen) ihre Bändigung zu. Sura 18, 98, 
Die fpätern arabifchen Schriftfteller wenden beive Namen auf Bölfer der Tartarei 
und Mongolei an, Ibn al Wardi z.B. gibt Jagug und Magug als nördliche 
Nachbarn der Chinefen an und nennt die chinefifche Mauer „Wall von Jagug und 


Magug“ — lo 7 >15 Aw Cod. or. monac. nr. 107. p. 13 u, 58.). 


Damit ift die Lage im Allgemeinen bezeichnet, Auffallend bleibt e8 aber, daß 
von diefem Völfernamen in der von der Bibelſprache nicht influenzirten Literatur 
des Morgenlandes fich feine Spur findet, Sollte es nicht geftattet fein, einen 
frühen Schreibfehler anzunehmen für 577 Sog und 3772 Mafog? Dann Tiefen 
fih die Maffageten Herodots (I. 105) *), wie die Safen, Daben der fpätern 
Zeit erkennen. Magog und Gog wären dann unter den wilden Horben Juvans 
am Oxus und Jarartes zu fuchen, Ueber die Safes f. Nitter VI. ©, 628 ff. 
und 672 ff. DVergleiche die Altern Anfichten über Magog bei Bochart, Phaleg 
p. 212 sggq. [Haneberg.] 
Magyaren, die, werden Chriften. Die Magharen, nach der Meinung 
der Meiften ein türfifcher oder ſeythiſcher Volksſtamm, die ihren Namen von der 
durch fie eroberten und von ihnen genannten Stadt Mad’shar oder Magyar (an 
Fuße des Faufafifchen Gebirge am Iinfen Ufer des FI, Kuma) tragen mögen, 


* Ueber 5 in 317% und. 00 in Maacrayeraı dgl. 218 und veewrrog. 











Magyaren, 743 


aber von ihren flavifhen und zum Theile auch teutfhen Nahbarn Ugri, Ungri 
genannt wurden, brachen 894 unter ihrem gefeierten Anführer Arpad — die legte 
von jenen Schaaren, welche, aus Afien nach Europa wandernd und bleibend fich 
hier niederlaffend, in dem großen Länderverein Europa’s einen riftlihen Staat 
begründeten — in das damals von einem bunten Gemifch von Slaven, Bul- 


. garen, Wallahen, Teutſchen und Ftalienern bewohnte und unter verfhiedenen 


Fürften ſtehende Ungarn ein und eroberten e8 ohne große Mühe, obwohl das ge- 
fammte magyarifche Volk bei feiner Einwanderung nur aus einer Million Seelen 
beftand, darunter etwa 200,000 waffenfähige Männer, Und nicht zufrieden mit 
der Befignahme Ungarns, fonnten die wilden und raubſüchtigen Barbaren nicht 
lange in ihrer neuen Heimath ruhig bleiben, fondern fuchten über ein halbes Jahr— 
hundert lang die benachbarten und oft fogar entfernte Länder, wie es vor ihnen 
die Hunnen gethan (f. den Art. Hunnen), mit ihren Einfällen heim, raubend 
und mit Feuer und Schwert alles verwüftend, was ihnen in den Weg fam, fo 
dag man in Teutfchland und Italien in den Litaneien betete: „Vor der Wuth der 
Magyaren befhüge ung, o Herr!“ Am meiften hatte dabei Bayern und überhaupt 
Zeutfchland zu leiden, bis ein Wendepunct eintrat mit Heinrich dem Finfler, der 
es für fhimpflich Hielt, noch ferner den Feinden Gottes und der Kirche das Eigen— 
thum der Gotteshäufer und Unterthanen preiszugeben, ihnen ftatt des Tribute 
einen räudigen Hund mit abgefchnittenem Schwanz und Ohren gab und fie in 
mehreren Schlachten befiegte. Und unter Heinrihs Sohn, Otto dem Gr., kam 
endlich im J. 955 der Tag am Lechfeld, feitdem fie für immer darauf verzichte- 
ten, Teutſchland anzugreifen. Nachdem der HI. Ulrich, Biſchof von Augsburg 
(f. d. 4.), dur feinen priefterlihen Heldenmuth ihren Anfall auf Augsburg fieg- 
reich abgewehrt hatte, wurden fie von Kaiſer Dito L, der vor der Schlacht bei 


] dem Hl. Mrich die Sacramente empfing, auf das Haupt gefchlagen, Otto trug 
bei diefer Gelegenheit die HI. Lanze (ſ. d. A.). Nur fieben Magyaren entfamen 


nach Ungarn und wurden hier als Feiglinge auf ewig für ehrlos und alles Befig- 
thums unfähig erflärt; ihre Nachfommen fchenkte fpäter der HI, König Stephan 
dem Lazarusflofter zu Gran, und fie hießen fortan die Armen des hl. Lazarus, 
— Die Einfälle und Raubzüge der Magyaren trugen indeß Vieles zur Belehrung 
derfelben bei, indem zu den vielen eingeborenen Ehriften, welche die Magyaren 
bei Ungarns Eroberung vorfanden, durch die von den Magyaren auf ihren Raub— 
zügen gemachten riftlihen Gefangenen eine ſolche Anzahl von Ehriften in Ungarn 
erwuchs, daß fie an Zahl das magyariſche Volk überfliegen und ein mächtiges 
Element zur religidfen Umwandlung ihrer Herrn bildeten. So geſchah es auch 
in Folge der magyarifchen Einfälle in das griechifche Kaiferreich, daß von hier 
aus um 948 ein Berfuh zur Befehrung der Magyaren gemacht wurde, Zwei 
magyarifche Unterführer, Oyula und Verbulcs, welde fih einige Jahre zu 
Conftantinopel als Geifeln eines zwifhen den Magyaren und Griechen abge— 
fchloffenen Waffenftillftandes aufgehalten Hatten, ließen fih dafelbft taufen und 


kehrten, zu Patriziern ernannt und mit Ehrenbezengungen überhäuft, im Geleit 


des griehifhen Mönches Hierotheus, der zu Byzanz zum Biſchof von Ungarn 
geweiht worden war, nach Ungarn zurück. Heimgefehrt, fiel zwar Verbules vom 
Ehriftentyum wieder ab, Gyula jedoch blieb ſtandhaft und befehrte durch den 
Mond Hierotheus feine Familie und viele feiner Untertanen in Siebenbürgen, 
wo er die Würde eines Führers befleivete, Näheres über Hiersthens und feine 
Wirkſamkeit ift nicht befannt; ob daher der Bekehrung des Hierotheus fo großes 


Gewicht beizulegen fei, wie Neuere annehmen, ift fehr problematiſch. Nah Hie- 
rotheus kamen feine griechiſchen Miffionäre mehr zu den Magyaren, und biefe 


blieben ven Angelegenheiten der griechifchen Länder fremd, ſeitdem fie auch hier 
dfters und noch zulegt 970 gefchlagen worden waren. — Abgewendet von den 
griegifchen Angelegenheiten und nicht mehr von griechiſchen Miſſionären befucht, 


214 — Magyaren. 


kehrten die Magyaren ihre Blicke dem abendländifchen Kaiſerreiche zu und ſuchten 
ſich damit in Verbindung zu ſetzen. Im J. 971 wurde zwiſchen den Teutſchen 
und Takſony, dem Fürſten der Magyaren, ein Friedensbündniß geſchloſſen. Dieſe 
Gelegenheit ergriff ungeſäumt, im Einverſtändniß mit dem Biſchof Piligrim von 
Paſſau, der hl. Mönch Wolfgang, der nachherige berühmte Biſchof von Re— 
gensburg (ſ. den Art. Wolfgang), den Reigen der abendländiſchen Miſſionäre 
bei den Magyaren zu eröffnen; allein ſeine Beſtrebungen hatten keinen Erfolg, 
wohl hauptfächlih deßhalb, weil Takfony dem Chriſtenthum feind war, daher 
berief Piligrim den Wolfgang zu fich zurüf, Als nun aber im J. 972 Takſony 
farb und deffen Sohn Gejfa zur Regierung gelangte, brachen für die Einführung 
des Chriſtenthums günftigere Tage an. Gejfa hatte die Sarolta, eine Epriftin 
und Tochter des obengenannten Gyula, eine fihöne, verftändige, männlich ge— 
finnte und mehr als Gejfa felbft regierende Frau zur Gemahlin, die viel dazu 
beitrug, daß er, ohnehin von Natur aus den Naubzügen feind und von der 
Nothwendigfeit des Friedens für fein erfchöpftes Volk überzeugt, mit den Nach— 
barn, namentlich den teutfchen, die ſchon angefnüpften freundfhaftlichen Be— 
ziehungen befeftigte, die Seinen zur Aufgebung der Raubzüge beredete und fi 
allmählig mehr und mehr mit der chriftlichen Religion befreundete, Um das ver- 
ddete Land zu bevölfern und zu enltiviren, wurde zu Einwanderungen eingeladen 
und den einwandernden Ehriften Hofpitalität und Sicherheit zugefagt; andererfeits 
lag aud dem Kaifer Otto fehr daran, daß das Bekehrungswerk der Magyaren 
zu Stande käme. Und fo ſchickte denn zuerft Piligrim, der gefeierte Biſchof 
von Paffau (f. den Art. Paffau), Miifionäre zu den Magyaren, wie früher 
feine Vorgänger auf dem bifchöflichen Stuhle unter den Hunnen oder Avaren ge= 
wirft hatten (f. die Art. Hunnen, Bayern). Wie bedeutend diefe Miſſion 
war, erhellt aus Piligrims Brief an Papfl Benedict VI. (oder VIL); der abge- 
fchloffene Friede, heißt e8 darin, habe ihm das Vertrauen eingeflößt, die Predigt 
bei den Ungrern zu unternehmen; viel gebeten von diefen, habe er taugliche 
Mönche und Elerifer aller Weihftufen gefendet, und durch ihre Predigt feien in 
kurzer Zeit 5000 aus den vornehmen Ungrern beiderlei Gefchlechts befehrt wor— 
den; die Chriften, welche den größern Theil der Einwohner Ungarns bilden und 
von allen Seiten her nah Ungarn eingefchleppt worden feien und bisher nur im 
Geheimen ihre Kinder hätten taufen können, brachten fie nun offen zur Taufe, 
erbauten Dratorien und fendeten frei ihre Gebete zum Erlöfer empor, denn bie 
Barbaren, obgleich zum Theil noch Heiden, verböten doch Feinem ihrer Unter— 
thanen, ſich taufen zu laffen, geftatteten den Prieftern, frei im Lande umber- 
zureifen, und Heiden und Chriften fänden mit einander ganz friedlih; da dem— 
nach die ganze Nation der Ungrer zum Glauben neige, möge der Papft auch 
einige Bifchöfe für Ungarn aufftellen (f. Hansiz, Germ. sacra, I, de Piligrimo). 
Dielen fo hoffnungsvollen Anfang unterbrachen jedoch ſchon im J. 975 die in 
Teutfchland ausgebrochenen Unruhen, nach Wiederherftellung des Friedens aber 
fegte Piligrim durch feine Miffionäre das Werk der Bekehrung fort, Nach dem 
Berfufte von Mölf, das Leopold der Glorreiche, der Stifter des babenbergifhen 
Haufes, 985 den Magyaren entriß, vermittelte Gejſa's Gemahlin den Frieden 
und fnüpfte zwifchen ihrem Gemahle und Kaifer Otto III. eine enge Freundſchaft. 
In Folge diefer freundfchaftlihen Verhältniffe wanderten viele chriſtliche Kauf- 
leute -und Handwerker in Ungarn ein, Der Hl. Adalbert, Bifhof von Prag 
(f. den Art. Adalbert), fam nach Ungarn und wirkte durch fich und einige mit 
ihm gefommene Priefter für die Verbreitung des Chriftenthums, Adalbert war 
e8 auch, welcher den Gejſa fammt feinem Sohne Vaik und feiner ganzen Familie 
im 3. 994 zu Gran taufte, wenn nicht etwa Gejfa ſich ſchon früher hatte taufen 
laffen. Daß das Beifpiel der fürftlichen Familie nicht ohne Einfluß blieb, ver- 
fteht fich von feldftz aber Viele gab e8, welche Gejſa's Mahnungen zur Annahme 








Magyaren. * 


der chriſtlichen Religion verſchmähten; gegen dieſe nahm er Drohungen und Ge— 
walt zu Hilfe und wirkte bei dem Kaiſer einige Fahnen teutſcher Truppen aus; 
zudem ſchloß er durch Vermittlung des Kaiſers Otto nicht ohne Rückſicht auf die 
Thriſtianiſirung Ungarns die Vermählung ſeines Sohnes Vaik mit Giſela, der 
Schweſter des Herzogs Heinrich von Bayern im J. 996 ab. Kurz darauf, im 
J. 997, ſtarb Gejſa. — Nah Gejſa's Tod übernahm die Zügel der Regierung 
der größte Mann, den die ungarifhe Geſchichte aufzuweifen hat, Gejſa's Sohn 
Vaik, der in der Taufe den Namen Stephan erhalten hatte und wegen feines 
Lebens und feiner Thaten mit vollfiem Nechte der Heilige Heißt, Geboren im 
J. 979 zu Gran, empfing er in feiner Jugend den’ Unterricht durch den Grafen 
Devdat von San Severinn aus Apulien, und als der Hl. Adalbert nah Ungarn 
fam, war Stephan außer feiner Mutterfprache der flauifchen und Tateinifchen 
mächtig und im Glauben fo unterrichtet, daß Adalbert ihn nach kurzer Belehrung 
zur Taufe reif fand. Noch vor der Taufe hatte ihm Gejſa den Eid der Treue 
von den Ungarn fhwören laffen und mit ihm die Sorgen der Regierung getheilt. 
In dem Heirathsvertrag mit Gifela verpflichtete fih Stephan eidlih, nicht nur 
für feine Perfon dem angenommenen Glauben treu zu bleiben, fondern. auch fein 
Volk zu demfelben zu befehren. Und treu feinem aus der innigften Ueberzeugung 
von der Wahrheit des Chriſtenthums entquollenen Verfprechen, trat er die Re— 
gierung mit dem feften Entfhluß an, fein Wort zu löſen und feine hl. Aufgabe 
zu erfüllen. Allein faum hatte er mit feinem Werfe begonnen und den Ungarn 
geboten, fich taufen zu laffen und die chriſtlichen Selaven freizugeben, fo brach 
plöglich ein gegen die eingewanderten und begünftigten Teutfchen und zugleich 
gegen das Chriſtenthum gerichteter Aufftand unter Kupa's, Führers von Somogy 
und Verwandten Stephans, Anführung aus. Stephan hatte den zahlreichen Em— 
pörern nur ein Feines Häuflein dem Kriftlihen Glauben treu gebliebener Ungarn 
entgegenzuftellen ; zum Glüd fand er an den Teutfchen glaubenseifrige und hel— 
denmüthige Retter in der Noth, mit ihnen fiegte er, und damit war der Sieg 
des Chriftentgums über Heidenthum und Barbarei entſchieden. Dankbar erfüllte 
er das vor der Schlacht gemachte Gelübde, den zehnten Theil aller Erzeugniffe 
der Somogy dem Klofter zu geben, welches noch fein Bater auf dem St. Mar- 
tinsberg zu bauen begonnen hatte, und feste das begonnene Befehrungswerf mit 
erneutem Eifer und großem Erfolge fort. Auf feine Einladungen zogen aus 
Stalien, Teutfchland, Böhmen und Polen viele Mönde und Geiftlihe, darunter 
fehr Fenntnißreiche und heilige, herbei, um dem bald im ganzen chriftlichen Abend- 
lande mit Ehrfurcht genannten apoftolifhen Fürften Hilfreihe Hand bei feinem 
heiligen Unternehmen zu leiften. Und nahdem die Belehrung einen erfreulichen 
Fortgang genommen und Stephan den Plan gefaßt hatte, fein ganzes Neid in 
zehn Bisthümer einzutheilen, unter denen Gran ald Metropole an der Spike 
ftehen follte, fandte er den Aftricus (auch Anaftafins genannt), Abt des Klofters 
Martinsberg, nah Rom an Papſt Syivefter II., mit dem Auftrag, den Papft 
von dem in Kenntnif zu fegen, was Stephan bisher für das Chriſtenthum in 
Ungarn gethan und was er noch thun werde, und ihn um die Beflätigung der 
Didcefaneintheilung und der getroffenen Einrichtungen, fowie auch um die Ver— 
leihung des Rönigstiteld und einer Krone zu bitten, Freudig beftätigte Sylvefter 
alle Bitten Stephans, ertheilte ihm das Recht, an feiner Statt über die An- 
gelegeneiten der ungarifchen Kirchen zu bisponiren und fandte ihm für fih und 
feine Nachfommen ein doppeltes Kreuz zum Vortragen und eine Krone, - Amt 
15. Auguft des Jahres 1000 ließ fih Stephan zu Gran, feinem föniglichen Sige, 
mit diefer Krone feierlich frönen und wurde fo der erfte König von Ungarn, — 
Allmaͤhlig wurben jest Bisthümer errichtet, dotirt und bejegt zu Gran, Rolocza, 
Baes, Veszprim, Fünffichen, Raab, Erlau, Cfanad, Waigen, und Alba Gyulä 
oder Alba Julia Cfpäter Alba Carolina, Tarlöburg) für Siebenbürgen, Die 


746 Magyaren, 


Gründung des Bisthums für Siebenbürgen gefhah nah Stephans Sieg über 
Gyula den Züngern, der nach dem Tode feines Oheims Gyula des Aeltern die 
Fahne der Empdrung aufgepflanzt und mit Hilfe der zu ihm geflüchteten noch 
beidnifchen oder vom Glauben abtrünnigen Ungarn und des Petfchenegen-Fürften 
Kean dem Chriftentyum in Siebenbürgen und Ungarn feindlich entgegengetreten 
war; zum Danf für die über Gyula und Kean ihm verliehenen Siege ließ ver 
fromme König, wie er gelobt, zu Dfen und Stuhlweißenburg Kirchen zu Ehren 
der Mutter Gottes erbauen. Db Stephan auch das (lat.) Bisthum Großwardein 
gegründet, tft zwar nicht ganz gewiß, aber doch wahrfcheinlich. So weit man die 
Bifchöfe fennt, welche der König auf die neuerrichteten bifchöflihen Stühle feste, 
waren fie trefflihe Männer, vie fih die Förderung und Befeftigung der chriſt— 
lichen Religion fehr angelegen fein ließen, und unter ihnen ragten befonders 
hervor: die zwei erften Erzbifchöfe von Gran, DominiensI. und der felige 
Sebaftian, der Bilhof Aftricus von Koloeza, die zwei erflen Bifhöfe von 
Fünffirden, Bonipert (fränfifcher Benedictiner und Stephans Sarellan) und 
ver hl. Maurus (vorher Abt zu Martinsberg), der Bifchof und nachherige Mar- 
tyrer St. Gerhard von Cſanad (vorher Abt in Venedig) u, a, m, (f. die Art. 
Erlau, Gran, Kolveza, und Fejers Schrift: Religionis et ecelesiae chri- 
stianae apud Hungaros initia), Auf die Errichtung von Pflanzfhulen für den 
Elerus bedacht, gründete Stephan nebft dem Stifte auf dem St. Martinsberge 
noch vier andere Benedictinerabteien zu Pecdvar, Szalavar, Bafonybel und auf 
dem Berg Ezobor; Domſchulen errichteten mehrere Bischöfe, namentlich der HI. 
Gerhard zu Cſanad und Bonipert zu Fünfkirchen; auch zu Stuhlweißenburg, wo 
Stephan eine berühmte und mit vielen VBorrechten ausgeftattete Propftei gründete, 
entftand eine blühende Schule. Durch Baumeifter aus Teutfchland und aus dem 
griehifchen Reiche ließ Stephan Cathedralen, andere Kirchen und Klöſter auf- 
führen, worunter fi die Cathebralen zu Gran, Koloeza, Raab und Erlau, die 
Propfteifirhe zu Stuhlweißenburg und das Erzflofter auf dem St. Martinsberg 
auszeichneten, Andererfeits ließ er von je zehn Dörfern eine gemeinfchaftliche 
Kirche erbauen, welche er dann felbft im Verein mit feiner Gemahlin Giſela mit 
firchlihen Geräthen und Gewändern ausftattete; zur Anfchaffung der Bücher und 
Erhaltung der Geifllichen verpflichtete er aber die Bifchöfe. Um den Ungarn das 
Wallfahrten und den Verkehr mit andern chriftlichen Völfern zu erleichtern und 
geheiligten Stätten feine Ehrfurcht zu bezeugen, ftiftete er zu Jerufalem, Rom, 
Ravenna und Conſtantinopel klöſterliche Hofpitien. Unfterbliche Berbienfte erwarb 
er fich endlich dadurch, daß er feinem Bolfe eine neue, auf Grund der alten ge- 
baute Berfafjungs- und Negierungsform gab, wobei er, umgeben von teutfchen 
Biſchöfen und Aeligen, Teutfchland zum Mufter nahm und außer der Stärkung 
der königlichen Gewalt die Ehriftianifirung feines Volkes fih zum Hauptziele 
feste. Ueber 40 Jahre ſchenkte Gott den Ungarn die Gnade eines ſolchen Herr- 
ſchers, der übrigens ſchon durch fein Beifpiel, durch feinen Eifer des Gebetes 
und Rirhenbefuches (wobei er zugleich nachſah, ob den Gotteshäufern nichts 
fehle), durch feine Wohlthätigfeit gegen die Armen und Pilger, die durch Ungarn 
nach Jeruſalem reisten, durch feine Demuth, womit er den Niedrigen die Füße 
zu wafchen pflegte, und vorzüglich durch feine zarte Verehrung der jungfräulichen 
Gottesgebärerin, unter deren Schug er fein Reich ftellte, ein Prediger feines 
Bolfes war, Würdig fand dem Hl, Könige feine fromme Gemahlin Gifela, 
die Schwefter des HI. Königs Heinrich, zur Seite, die mit ihren Frauen reiche 
Kirchengewänder und Geräthfchaften anfertigte. Leider traf das edle königliche 
Paar der Schmerz, allen feinen Söhnen in das Grab fehen zu müffen; fie farben 
Alle im zarten Alter, nur Emerich, von feinem Vater und dem hl. Biſchof Ger- 
hard forgfältig erzogen und zu den fehönften Hoffnungen berechtigend, erreichte 
das 24fte Jahr und follte eben die Negierung feines Vaters, der fi von der 





Mahlſchatz. 7147 
Welt zurüdziehen wollte, übernehmen, ald er am 2. Sept. 1031 ſtarb. Stephan 
folgte ihm am Mariahimmelfahrtsfeft des 3. 1038 nad. Fünfundvierzig Jahre 
nachher wurde er fammt feinem Sohne Emerich von der Kirche in die Reihe der 
Heiligen aufgenommen. Seine rechte Hand wird noch jegt unverwest im der 
Burgeapelle zu Dfen als theuerfte Reliquie der ungariſchen Ehriftenheit aufbewahrt. 
Gifela, feine Gemahlin, überlebte ihn und flarb im Kloſter Niedernburg zu Jaf- 
fan, weldes ihr Heiliger Bruder König Heinrich reflaurirte und wo fie ihre Grab- 
fätte fand. — Daß Stephan feine Leibeserben hinterließ, flürzte Ungarn nad 
feinem Tode in heillofe Berwirrung, und in der allgemeinen Verwirrung erhob 
auch das Heidenthum neuerdings fein Haupt gegen das noch nicht genug flarfe 
und befeftigte Chriftentfum. Die Häupter der Empörung gegen König Peter, 
Stephans Nachfolger, zwangen den von ihnen auf den Thron erhobenen König 
Andreas (1046—1061), ihnen auf den Trümmern des Chriftentfums die 
Wiederherftellung des Heidenthums zu geftatten, griffen mit rafender Wuth das 
Chriſtenthum an, zerftörten die Kirchen, richteten unter den Chriften ein großes 
Blutbad an und tödteten viele Mönche und Geiftlihe und drei Bifchöfe. Unter 
den damals gefallenen Opfern befand fih au der Hl. Bifhof Gerhard von Cſa— 
nad, Zu Venedig geboren und fchon von Jugend an das Mönchskleid tragend, 
ward er, nach Jeruſalem durch Ungarn pilgernd, von König Stephan hier zurück- 
gehalten, führte zu Bakonybel mehrere Fahre ein Einfiedlerleben, und erhielt 
dann von Stephan den bifchöflichen Stuhl zu Cſanad. Er war einer der aus— 
gezeichnetfien Prediger des Chriftentfums in Ungarn. In Bockspelz gekleidet 
reiste er in einem ärmlichen Fuhrwerk, auf dem Wege feine Schriften durchlefend, 
herum, das Evangelium zu predigen, und wenn er in Städten dieß HI. Gefchäft 
betrieb, pflegte er Abends im nahen Walde in einer fhuell errichteten Zelle zu 
übernachten, Er erbaute viele Kirchen, darunter feine Cathedrale zu Cfanad, 
weldhe Stephan reich dotirte. Gleich diefem war auch Gerhard ein glühender 
Berehrer Mariens und begründete mit feinem Föniglichen Freunde die tiefe An- 
dacht des ungarischen Volkes zur Mutter des Heilandes. Dem König Samuel 
C1041—1044) weigerte er ſich die Krone aufzufegen, weil er feine Hände felbft 
in der Faftenzeit mit ungerecht vergoffenem Blute vornehmer Ungarn befledte. 
Gefteiniget von den empörten Heiden und mit einer Lanze in der Bruft durd- 
ſtochen, befchloß er fein Leben glorreih mit dem Martertode. Bei diefer ſchreck— 
lichen Reaction des Heidenthums gegen das Chriſtenthum blieb der größere Theil 
des Volkes dem Kriftlichen Glauben treu, Als fih der Sturm gelegt hatte, ließ 
fih König Andreas von den drei aus der Verfolgung übrig gebliebenen Bifchöfen 
frönen und erließ das firenge Geſetz, daß Alle bei Todesftrafe das Heidenthum 
verlaffen und zu dem Chriftentbum zurüdfehren follten. Seitdem flörten die Hei- 
den die Rube nicht mehr bis zum J. 1061, da die heidnifche Partei bei Gelegen— 
heit der von König Bela berufenen Reichsverfammlung wuthentflammt die Er- 
laubniß verlangte, die Geiftlihen und Zehnteinfammler zu ermorden, die Kirchen 
zu zerftören und die Kreuze und Glocken zu zertrümmern. Aber Bela bemeifterte 
den Aufruhr und ließ die Führer hinrichten. Dieß war der letzte, bedeutendere, 
offene Kampf des Heidenthums gegen das Chrifteutbum; doch erließen noch König 
Ladislaus der Heilige (LOTT—1095) und König Koloman firenge Gefege 
zur Ausrottung heidnifcher Sitten und Gebräuche. S. bei den Bollandiften die 
Leben des hl. Stephan (2. Eept.), des hl. Gerhard (24. Sept.), und außer den 
ältern ungarifchen Hiftorifern die Gefhichte der Ungarn von Mailath und WM; 
Horvath. [Schrodl.J 
Mahlſchatz. Die Eheverloöbniſſe (ſ. dieſen Art.) find nicht ſelten von ſolchen 
Handlungen begleitet, welche dazu dienen ſollen, dieſelben noch mehr zu bekraäf⸗ 
tigen, und deren Auflöfung zu erfhweren. Ein ſolches Verftärfungsmittel der 
Sponfalien ift unter anderen der fog. Mahlſchatz (arrha sponsalitia), Man 


ws Mähren 


verfteht darunter diejenigen Gegenftände, welche fih VBerlobte zum Zeichen und 
\ zur Befräftigung des gefchloffenen Eheverlöbniffes gegeben haben. Nähere Be- 
‚ftimmungen darüber enthält das römische Recht in einem eigenen Titel des ju- 
‚ftinianifchen Cover: „De sponsalibus et arrhis sponsalitiis“ ,.V. 1, welchen Grund⸗ 
fägen auch das gemeine canonifche Necht folgt. Man unterfcheivet aber von dem 
Mahlfchage die fog. Brautgefchenke (sponsalitia largitas, auch donationes ante 
nuptias), d. i. die Gefchenfe, welche fih Brautperfonen während ihres Braut- 
ftandes als Beweife ihrer Liebe geben; obgleich auch von diefen im Wefentlichen 
diefelben Grundfäge gelten. (Vgl. hierüber die Beftimmungen des römifchen 
Rechtes unter der Rubrif: De donationibus ante nuptias in den Digeften XXXIX, 
5, und im Coder V. 3.). Gehen die Verlobten die verfprochene Ehe wirklich ein, 
fo behalten beide Theile den Mahlſchatz ſowohl als die Brautgefhenfe. Erfolgt 
aber die Ehe nicht, fo fommt es darauf an, ob das Eheverlöbniß durch gegen- 
feitige Uebereinfunft der Brautperfonen aufgehoben, oder ob die Ehe in anderer 
Weiſe verhindert worden ift, Im erfteren Falle müffen beide Theile den Mahl- 
[hab (nicht aber auch die Brautgefchenfe) einander aushändigen, da. derfelbe 
unter der ftillfehweigenden Bedingung fünftiger Ehefchliefung gegeben wurbe; es 
müßte denn ausdrüdlich anders ftipulirt worden fein, Iſt aber die wirkliche Ein— 
gehung der Che fonftwie vereitelt worden, fo ift zu unterfcheiden, ob folches durch 
einfeitigen Rücktritt oder ungegründete Weigerung des einen Berlobten, oder 
aber durch Zufall oder ohne Verfchulden des einen pder andern Theild geſchehen 
iſt. Erfteren Falls hat der fhuldige Theil alles Empfangene zu reflitwiren, ber 
andere aber den Mahlfchat und die Gefchenke zu behalten, Zur Verfolgung ſei— 
nes Nechtes ſteht diefem ſowohl die actio causa data causa non secuta als auch. 
die ulilis in rem actio zu (I. 15. Cod. De donat. ante nupt. V. 3), Die Verord⸗ 
nung des römischen Nechts aber, daß der fhuldige Theil, wenn er nicht noch 
minderjährig ift, das Doppelte des Empfangenen zu erftatten habe (I. 5. Cod. 
De sponsal. V. 1.), ift heute nicht mehr anwendbar, Wird dagegen die Ehe— 
abſchließung ohne Schuld des einen oder andern Theils verhindert, fo haben ſich 
die Verlobten den Mahlſchatz gegenfeitig zurüczugeben. Hieher rechnet das Ge- 
feg namentlich auch die Fälle, wenn eine Brautperfon vom Eheverlöbniffe zurüd- 
tritt, um in einen geiftlihen Orden zu treten, oder weil fie nach Empfang des 
Mahlihages erft die Neligionsverfhiedenheit des andern Theild erfahren Hat, 
was fie jedoch beweifen muß (I. 56. pr. Cod. De episc. et cler. I. 3, 1. 16. Cod. 
De episc. audient. I. 4). Diefelbe Rechtswirkung Hat der vor dem Abſchluß der 
Ehe eingetretene Tod des Bräutigams oder der Braut, wenn die Sponfalien big 
dahin gültig befanden Haben, Der Ueberlebende hat den Mahlſchatz des Defunc- 
ten an deffen Erben zu extradiren, und erhält dagegen den feinigen zurüd (l. 3. 
Cod. De sponsal. V. 1). Diefen gemeinrechtlihen Beſtimmungen derogirt bis— 
weilen das Particnlarrecht einzelner Staaten und Provinzen. Sp ift z. B. bie 
und da gebräuchlich, daß bei Verhinderung der Ehe durch den Tod des einen oder 
andern Verlobten jedem Theile das Empfangene verbleibe, oder daß (wie nad 
Preuß, L-R, TH. I. Tit. 1. $ 122 f.) der Meberlebende die Wahl habe, ob er 
die erhaltenen Gefchenfe austaufchen wilf oder nicht. Uebrigens bedarf es faum 
der Erinnerung, daß, da der Mahlſchatz ein bloßes Verftärfungsmittel der Spon« 
falten ift, der Geber durch das bloße Fallenlaffen deffelben feineswegs ſich 
son der Verbindlichkeit der Verlöbnißtreue befreien fann. Ausführlicheres bei 
J. Wolf, De arrhis sponsalitiis, Aldorf. 1670; B. Bardili, De sponsalitia largitate, 
Tubing. 1675; C. U. Grupen, De donationibus ante nuptias, Francof. et Lips. 
1741. 4. | [Yermaneder.] 
‚Mähren, Moraver hießen jene Slaven, welche längs des Flußgebietes der 
Morawa (March) ſich angefiedelt hatten, Die gegen die Avaren (f. d. A.) feit 
791 geführten Kriegszüge benüßte Kaifer Carl der Große nicht nur bei, diefem 





Mähren. 749 


Bolfe, fondern auch bei den Mähren, dem Chriſtenthume Eingang zu verfchaffen. 
Diefer Fürft erteilte dem Erzbifchofe Arno (ſ. d. A.) von Salzburg den Auftrag, 
für die weitere Ausbreitung des Chriftenthums in Mähren die nöthigen Bor- 
fehrungen zu treffen. Carl befiegte au die Mähren und brachte deren König. 
Samoslav dahin, daß er fih taufen ließ. Im Jahre 826 mußte in Mähren be— 
reits eine anfehnlihe Kirche befanden Haben; das beweist ein Schreiben des 
Papftes Eugen II. an die Bifchöfe Rathfred von Faviana (Wien), von Olmütz, 
(Ecclesia Speculi Juliensis), von Nitrawa, von Betuara (Wettau in Mähren, 
nah Andern auch Wellifrad), defgleichen an die Herzöge Tuttund und Moy- 
mar und an andere Große des Reichs. Ju diefem Schreiben beftellt der Papſt 
den Erzbifchof Yrolf von Lorch (Laureacum) zum oberften Kirchenvorfteher in 
Mähren fowohl, als in Pannonien und Möften. Gewiß if aus den überein- 
flimmenden Nachrichten, daß in der Mitte des neunten Jahrhunderts das Epriften- 
tum in Mähren bereits Wurzel gefaßt hatte, nur nicht allenthalben war daffelbe 
begründet; die völlige Befehrung der Moramer war vielmehr das Werf der bei- 
den Brüder Eyrillus und Methodius, Nadislav nämlich, der Brudersfohn 
Moymars, war im J. 846 unter Zuftimmung des teutfchen Königs Ludwig in 
der Regierung feinem Oheime nachgefolgt. Da er fi aber gegen Ludwig, in 
Berbindung mit den Serben, Winden, Böhmen und andern Slaven, auflehnte, 
fo ward er von demfelben befriegt und ihm 870 ausgeliefert. Während des Kriegs 
hatte Radislav, um fih gegen Ludwig zu verflärken, feinen Neffen Swatopluk 
an den Bulgarenfonig Michael gefandt, um mit vemfelben ein Bündniß zu ſchließen. 
Bei diefer Gelegenheit lernte Swatopluf die beiden Apoftel der Bulgaren (ſ. d. A.), 
Eyrillus und Methodius, kennen und die von ihnen gepredigte Neligiom hoch» 
ſchätzen; nad feiner Rüdfehr fuchte er feinen Oheim gleichfalls für diefelbe zu 
gewinnen, was auch endlich gelang. Kaifer Michael ward erfucht, die beiden 
Glaubensprediger nach Mähren gehen zu Iaffen. Die beiden griehifhen Mönche 


kamen wirflih in Mähren an, bewiefen ſich als gehorfame Söhne der römifchen 


Kirche, Radislav, Smwatopfuf und die Vornehmen ließen fih taufen, das Bolf 
und die Gdgenpriefter folgten nah; zum Beweife, wie lieb den Mähren- die 
chriſtliche Religion fer, nannten fie ihre hriftlihen Priefter Knezi, d. i. Fürften, 
Eyrilfus und Methodius hatten vor Iateinifhen Miffionären fhon den Vorzug, 
daß fie der flavifchen Sprache fo weit mächtig waren, um dem Bolfe darin den 
chriſtlichen Unterricht ertheilen zu Fonnen. Um aber den Erfolg zu fihern, feßte 
Eyrilfus ein eigenes flavonifches Alphabet feit, überfegte darnach die Bibel (f. 
Bibelüberfegungen Bd. 1. S. 951) und fonft Bieles- aus dem Griechifhen 
und Lateinifchen für die Mähren in’s Slaviſche. Schon der Hl. Hieronymus fol 
für die Slaven ein eigenes Alphabet, auch das Glagolitifche genannt, erfunden 
haben, und Diehrere nehmen an, daß Eyrillus (früher wegen feiner Wiffenfhaft 
Eonftantinus der Phil oſo ph genannt) nur die Hieronymianifchen Schriftzüge in 
eine bequemere Form gebracht habe. Beiderlei Alphabete finden ſich noch vor, 
die Cyrilliſchen Schriftzüge find bis auf die neueren’ Zeiten in der Bulgarei, im 
Servien, Bosnien, in der Moldau und Walachei üblih gewefen. Gewiß ift, daß 
Eyriffus durch den Gebrauch der altflavifhen Spradhe bei dem Religionsunter- 
richte und der Liturgie wefentlich die Belehrung der Mähren befchleunigte, welche 
im J. 867 bereitd mußte zu Stande gefommen fein; denn in diefem Jahre oder 
im folgenden haben die Glaubewsprediger eine Reife nah Rom angetreten, Cyrill 
fol bald nach ihrer Ankunft in Nom (zwiſchen 868 und 870) geftorben fein; _ 
Methodius aber ward von Papft Hadrian II. zum Bifhof von Mähren und Pan- 
nonien confeerirt (868), weßwegen er auch Archiepiscopus Pannoniensis Ecelesiae 
benannt ward, Der Sprengel, über den Methodius gefegt war, hatte demnach 
eine fehr bedeutende Ausdehnung, da er außer der Markgrafihaft Mähren einen 
anfehnlichen Theil des heutigen Deftreih und Ungarn umfaßte, Diefe große 


50 Mähren. 


Ausdehnung entforach allerdings ganz ben Wünfchen der gegen die Teutfchen ein- 
genommenen mährifhen Negenten; aber eben fo mißliebig war den angrenzenden 
teutfgen Kirchen die daraus hervorgehende immer fleigende Befchränfung ihres 
ZJurisdietionsgebietes. Vorzüglich betheiligt dabei waren die Bifhöfe von Salz— 
burg und Paſſau. Der Erftere mit feinem Clerus verflagte den Methodius zu 
Rom, daß er irrig lehre und flatt der Tateinifhen die flavifhe Sprache beim 
Gottesdienfte eingeführt habe. _ Beides verhebt ihm Papft Johann VIN. in einem 
Schreiben vom 3. 879, befcheidet ihn nach Nom zu fih, „um zu erfahren, ob 
er (der Glaubensbote) in Wort und Schrift dem Glauben der römifhen Kirche 
gemäß Iehre, wie er vorbem gelobt habe.” . „Zn jener „barbarifchen” (d. i. fla- 
vifhen) Sprache dürfe er ferner nicht mehr die hl. Meffe feiern, fondern in der 
lateiniſchen oder griechifchen Sprade, die dafür alfer Drten im Gebrauche feien, 
Predigen aber dürfe er in ſlaviſcher Sprache vermöge des Ausfpruchs des Apoftels 
(Phil. 2, 11.): Jede Sprache thue es Fund, daß der Herr Jeſus in der Herr- 
Tichkeit des Vaters iſt.“ Methodius reiste nach Nom und rechifertigte vor dem 
Papfte fein Verfahren auf eine fo glänzende Weife, daß ihm der Papft feine Zu- 
flimmung ertheilte, ihn in allen Firchlichen Lehren und Nechten bewährt fand und 
ihm die flavifhe Sprache au für die hl. Meffe zugeſtand; „denn“, fo ſchreibt 
der Papft im J. 880 an Swatopluf, „es gezieme fih, Gott nicht bloß in drei 
Sprachen, der hebräiſchen, griechifchen und Lateinifchen, zu loben und zu befennen, 
fondern auch in allen übrigen, denn auch die übrigen habe Gott zu feinem Lobe 
und Ruhme gefhaffen. Wohl könne man die von einem Philoſophen Conftantin 
(Cyrillus) erfundene flavifhe Schriftiprahe dazu benügen, um wohlüberfegte 
bibliſche Abſchnitte in ihr vorzulefen und Lieder zu fingen, felbft das Meffelefen 
in diefer Sprache widerftreite dem Glauben nicht, doch verordne er, daß zum 
Zeichen größerer Chrerbietung in allen Kirchen das Evangelium zuerft lateinisch, 
und dann in flavifcher Heberfegung verlefen werde (f. den Art, Kirchenſprache). 
Er ſchickte dem Könige (Swatopluf) hiemit den Methodius als beftätigten Erz- 
bifchof der mährifchen Kirche zurück, deßgleihen den ihm von dem Könige zu— 
gefandten Priefter Wichin, den er zum Bifchofe von Nitra geweiht Habe, Der 
König möge ihm noch einen andern Priefter fenden, den er für eine andere Ge— 
meinde, wo es nöthig fei, zum Bifchof weihen könnte, damit immer mehr Lehrer 
und andere Elerifer unter dem Gehorfame des Erzbifchofs angeftellt würden.” 
Sp kehrte Methodins mit neuen Anfehen umgeben nah Mähren zurüd, Aber 
auch jegt Tief ihn die Mißgunft der Nachbarn nicht unangefochten. Auch fanden 
viele eifrige Anhänger des Lateinischen Nitus noch in fpäterer Zeit bedeutenden 
Anftoß an der flavifchen Sprache; noch um die Mitte des 1tten Jahrhunderts 
ward auf einer Synode der Bifhöfe von Dalmatien und Croatien befchloffen, 
daß Niemand fih Fünftig unterftehen folfe, in der Liturgie das Slaviſche zu ge— 
brauchen, auch follte Keiner, der diefe Sprache allein redete, in den Clerus aufs 
genommen werden. Neue Mifverhältniffe führten Methodius abermals nah Nom 
(881), von wo an ung beftimmte Nachrichten über ihn fehlen. In den Tegtern 
Jahren des Königs Swatopluf, der nach mißglückter Empörung gegen den teut- 
fhen König Arnulph im 3. 894 ftarb, ſoll Methodius vielen und beilbringenden 
Antheil an den Negierungsgefchäften gehabt Haben, Wenn es mit der Annahme 
richtig ift, die des Methodins Tod bis zum Jahre 910 hinausrückt, fo hat der 
maͤhriſche Glaubensapoſtel noch den Sturz des Mährenreihes erlebt, das 908 
von den Böhmen und Ungarn zertheilt wurde, worauf auch die mährifchen Bis— 
thümer verſchwinden. Papft Agapet II. gab die Jurisdiction über Mähren an 
Paffau zurück, 981 ward es dem Bisthume Prag einverleibt, 1062 erhielt bie 
mährifche Kirche ein eigenes Bistum in Olmütz. Von Mähren aus drang das 
Licht des Evangeliums durch Methodius auch nach Böhmen (f. d. A.) vor, deffen 
Herzog Borziwoi Cum 894 nach Cosmas Prag.) fammt feinem Gefolge von 








Mährifhe Brüder — Mailand, 751 


Methodius getauft ward. Der befehrte Herzog wirkte in Verbindung mit feiner 
Gemahlin Ludmilla (ſ. d. A.), welche die erfte böhmifche Heilige geworden, unter 
der Leitung des Methodius raftlos für die Weiterverbreitung des Chriftenglaubeng 
in Böhmen, und ihr Sohn Spitignew trat in die Fußflapfen feiner Eltern. Zwar 
erhielt das begonnene Glaubenswerk einen empfindlichen Rückſtoß durch die Wittwe 
feines Bruders Wratislaw, die empörungsfüchtige Drahomira, welche ihre Schwie- 
germutter Ludmilla ermordete und die erbauten Kirchen zerftörte. Ihr Sohn 
Wenzeslaw war zwar dem Chriftenthume wieder gewogen, allein nach deffen Er- 
mordung durch den graufamen Boleslaw ſchien das Heidenthum über das drift- 
liche Slaubenslicht triumphiren zu wollen. Doch erzwang Dtto I. von Boleslaw 
das Verfprechen, die hriftlichen Kirchen wieder herzuftellen, Sein Sohn Boles- 
law II. ward ein Schild der Kirche, und befeftigte diefelbe befonders durch die 
Gründung des Bisthums Prag Ceirca 967), welches Johann XII. unter der Bes 
dingung des Tateinifchen Nitus beftätigte, Vortrefflihe Stügen der neuen böhmi- 
fhen Kirche waren deren erfte Bifchöfe Dithmar und Adalbert (f. d. A.), wovon 
der legtere bei der Befehrung der Preufen fish die Martyrerfrone errang. — 
Die Details liefern folgende Werke: Die Bollandiften, Schwandtner scriptor. rer. 
Hungaric. Die griechiſche Lebensbefchreibung des Elemens, Erzb. d. Bulgarei, 
Wien 1802. Neander, Kirchengeſch. Bd. IV. Pilarz et Morawetz Moraviae hist. 
eccles. et pol. 3. T. Dobrowsfy, Cyrill und Methodius, d. Siavenapoftel, Prag 
1823, und deffelben mähr. Legende v. Cyrill u. Meth. Stredowsky sacr. Mora- 
viae hist. Salisb. 1710 ift unfritifh gefchrieben, Eritifch gehalten ift die Bearbei- 
tung in Assemani Calendaria L. I. II. — Glagolitica, über den Urfprung der 
röm.-flav. Liturgie, Prag 1832. [Dür.] 

Mährifche Brüder, f. Böhmifhe Brüder. 

Maiandacht (Maigebet) nennt man die Gebete, welde von vielen Gläu— 
bigen den Monat Mai hindurch zu Ehren der feligften Jungfrau Maria verrichtet 
werden, Es liegt ihrer Einführung die Zdee zu Grunde, daß Maria ein Cultus 
hyperduliae (f. d. A.) gebühre,, viefelbe daher auch mehr als alle andern Heiligen 
geehrt werden fol, und es fih fomit gar wohl zieme, den fchon beftehenden ma— 
rianiſchen Feierlichkeiten, die theils auf Anordnung der Kirche als Feft- oder Ge— 
dächtnißtage einmal im Laufe der Jahresperiode, theild durch die Frömmigkeit 
der Öläubigen an jedem Samflage in der Wochenperiode wiederfehren, Andachten 
anzureihen, durch die der ganze Mai eines jeden Jahres Maria gleichfam ge- 
weiht, d, i. ein marianifcher wird. Es bat ſich diefe Andacht erft in der neueften 
Zeit von Italien aus verbreitet; Pius VII. hat fie in einem Breve vom 21. März 
1815 nicht bloß gutgeheißen, fondern auch mit großen Abläffen begnadigt, indem 
jedem Gläubigen, der diefe Andacht öffentlich oder zu Haufe vornimmt, nicht bIoß 
täglich ein Ablaß von 300 Tagen, fondern noch überdieß an einem beliebigen 
Tage des Monats, an welhem er reumüthig beichtet, andächtig communieirt und 
für die Anliegen der Kirche nach der Meinung des hl. Vaters betet, ein voll- 
fommener Ablaß angeboten wird; auch können diefe Abläffe fürbittweife den armen 
Seelen im Fegfeuer zugewendet werben. An manchen Orten wird das Bolf durch 
tägliche Predigten und andere gottesdienftliche Feierlichkeiten aufgemuntert, fie zu 
entrichten. Der Monat Mai dürfte hiezu gewählt worden fein, weil er ber 
fhönfte im Jahre ift, und ſchon durch das Wiedererwachen der Natur Jedermann 
einladet, auch geiftiger Weife wieder zu erwachen, und fih im Hinblife auf 
Maria die Tugendreine mit Blumen der Seele zu ſchmücken. Auch mag man 
daran gedacht haben, daß im Monate Mai fein marianifcher Feft- oder Gedächt- 
nißtag begangen wird, fomit eine folhe Andaht um fo füglicher eingefchalten 
werden fönne, Bol, hierzu den Art. Abendgottesvienf, IFr. & Schmid,] 

Mailand, Erzbisthum. Daß die Kirche von Mailand fhon zur Zeit der 
Apoftel geftiftet worden fei, hat nichts Unwahrfheinliches an fih, Als erften 


752 4 Mailand, : 


Bifhof von Mailand nennt man ben hl. Anatolon, welden ber Apoſtel Bar- 
nabas aufgeftelit Haben fol. Mehr als bloße Namen von Biſchöfen, welche dem 
Anatolon fuccedirt haben follen, bietet erfi das vierte Jahrhundert. Im Anfang 
des vierten Jahrhunderts von 303—315 fand dem Bisthum Mailand vor der 
Hl. Myrocles, der bei den gegen die Donatiften gehaltenen Synoden zu Rom 
313 und zu Arles 314 anwefend war, Inter Myrocles erließ Kaifer Eonftantin 
313 das befannte Ediet zu Mailand (ſ. Conftantin d, Gr.), weldes den 
Chriſten freie Neligionsübung geſtattete. Auf Myrocles folgte der von dem BI, 
Ambrofius als Confeffor befobte Hl, Euftorgius (315—331), und auf diefen 
der HI. Protafius (331—352), der dem Colloquium zu Mailand zwifchen 
Athanaſius und Kaiſer Conftanz 345 und der Synode zu Sardica 347 beiwohnte. 
Unter dem Nachfolger des Protafius, dem Hl. Divnyfius (352—355), ver- 
fammelte Kaifer Conftantius im 3. 355 eine große Synode von 300 Bifchöfen 
zu Mailand, in welcher der Kaifer die Bifchöfe durch Gewalt und Betrug zur 
Aufgebung des Hl. Athanaſius und zur Aufnahme der Arianer in die Kirchen- _ 
gemeinschaft zwang und bie flandhaften Biſchöfe, zu denen auch Dionyfius von 
Mailand gehörte, mißhandelt und verbannt wurden. Dionyſius farb im Exil, 
An des Vertriebenen Stelle fam der Arianer Aurenting, eine der vorzüglichften. 
Stügen des Arianismus im Abendlande. Auxentius CH 374) hatte den großen 
HL, Ambrofins zum Nachfolger (ſ. den Art. Ambrofius), dem gegenüber die 
Kaiſerin Zuftina (ſ. d. A.) einen zweiten Auxentius zum Bischof von Mai- 
land ernannte, der aber für feine Partei nicht einmal eine einzige Kirche zu Mai— 
land erlangen fonnte, Ueber die Ambrofianifche oder Mailändifche Liturgie, welche 
der Hauptfache nah fhon vor Ambrofius eingeführt worden ift, f. den Art, Liz 
turgien. Ebenſo hatte Mailand fchon vor Ambrofius die Metropolitanwürde 
erhalten; bald darauf wurde auch die Kirche von Aquileja (ſ. die Art, Aquileja, 
Bayern, Kärnthen) zur Metropole erhoben und erlaubten die Päpfte den 
beiden Metropoliten, wegen zu weiter Entfernung von Nom fich wechfelfeitig zu 
prdiniren. — Die zwölf Nachfolger des HL. Ambrofius CH 393) bis auf Lauren- 
tins I. einfchließlich werden von Ennodius (ſ. d. A.) in zwölf Epigrammen als fehr 
würdige Bifchöfe gefeiert; e$ waren: der hl. Simplician von 398—400, „der 
felige Venerius“ A00—A08, der „ehrwürdige“ Marolus 408—423 (f. 
Boll. 23, Apr), „der Diener Gottes" Martinian 423—435, „ber ehr- 
wiürdige” Glycerius A35—438, der hl, Lazarus 438-449 (f. Bolland. 
11. Febr.), „der Freund Gottes“ Eufebius 449—464, von dem man einen 
Brief an Papft Leo I. Hat, Gerontins 464— 470 (f. Boll, 5. Mai), „der ehr- 
würdige” Benignus ATO—ATT, „der feligfte Mann“ Senator ITT— 
480 (f. Boll, 28, Mai), „der mit allen Tugenden gefhmüdte” Theo- 
dor 480-490, endlih Laurentius. 490-512 (f. Ennod. in Sirmondi opp. 
Venet. 1728, t. I. p. 1131 eto.). Ennodiug war ein Freund des genannten Lau— 
rentius und preist ihn in verfihiedenen Stellen feiner Schriften, Namentlich 
machte fich Laurentius zur Zeit des Kampfes zwifchen Odoaker und Theodorich 
bochverbient um Mailand, erbaute und reparirte dafelbft mehrere Kirchen und 
ftand an der Spige der Kämpfer für den rechtmäßigen Papft Symmachus gegen- 
über ven Schismatifern (f. bei Sirmond, ibid. p. 985, 1047—1051, 1053, 1116, 
1119, 1127, 1128; Bolland. 27, Juli), — Dem Laurentins fuecedirte Euftor- 
gius Il. 512—18 (f. Cassiod. Var. I. 9), diefem Magnus 518—530, dem 
Magnus der Hl. Datius 530—552. Datius erhielt auf einen Bericht an 
Eaffiodor über eine ausgebrocdene Hungersnotb Getreide für die Armen zur 
Bertheilung. Zur Zeit des Datins brach der Dftgothenfrieg in Italien aus 535; 
im darauffolgenden Jahre wurde Datins als Faiferlich gefinnt von König Theodat 
aus Mailand verbannt, 539 Mailand von den Oſtgothen zerftört, In dem Drei- 
eapitelftreit (ſ. d. A.) fand Datius dem bedraͤngten Papft Vigilius als treuer 








Mailand, 753 


Freund in Eonftantinopel zur Seite (f. Bol, 14. Jan). Nah dem Tode des 
Datius (+ 552) ſchloß ſich fein Succeffor Bitalis (552—555) den Gegnern 
der Berdammung der drei Capitel an und ftellte firh mit Bifchof Paulinus von 
Aquileja an die Spige des im nördlichen Jtalien und Iſtrien wegen der Drei— 
eapitel-Angelegenheit entftandenen Schisma's. Des Vitalis unmittelbarer Nach— 
folger (555— 566), deffen Name unbefannt if, hing gleichfalls dem Schisma an, 
> was vielleicht nicht mehr bei Auranius (566—568) und Honvratus (568— 
570) ver Fall gewefen fein wird, da beide von der Mailänder Kirche zu den 
- Heiligen gezählt werben (f. Papebrochii exeg. de episc. Mediol.), Unter Honvo— 
ratus zog 569 Alboin mit feinen Longobarden in Mailand ein, Honpratus aber 
rettete fih mit Vielen nah Genua, Gewiß ift, daß der Nachfolger des Hono- 
ratus, Laurentius Il. (+ 592), dem Dreicapitel-Schisma entfagte, indem er 
eine von einer binlänglichen Anzahl fehr vornehmer Mailänder unterzeichnete 
„distrietissimam cautionem*, worin er der Verdammung der drei Capitel zuftimmte, 
an den päpftlihen Stuhl einſchickte (f. Greg. M. ep. IV, 2, 39; I, 82; II, 26; 
XI, 16). Dem Laurentius ſtand einige Zeit der Pfeudobifhof Fronto gegen- 
über, wahrfcheinfich ein Dreicapitel-Schismatifer. Wichtig ift der Episcopat des, 
Eonftantins (592— 600), guter Freund des HI. Papftes Gregor. Einftimmig 
vom Clerus gewählt und nach Gregors eingeholter Beftätigung von den Biſchöfen 
feiner Provinz ordinirt (feit dem Dreicapitel-Schisma hörte der Biſchof von Aqui- 
leja auf, Ordinator des Bifhofs von Mailand zu fein), erhielt er von Gregor 
das erzbifhöfliche Pallium, verwaltete fein Amt zur Zufriedenheit feiner Kirche 
und des Papftes, der ihn mit mehreren Commiffionen betraute, und arbeitete im 
Berbindung mit diefem dem oftgenannten Schisma entgegen; aber eben um des 
lestern Grundes wegen trennten fich drei feiner Suffraganbifchöfe von feiner Ge— 
meinfhaft, und wie leicht verzeihlich war feldft die fonft durchaus katholiſche Kö— 
nigin Theodefinde (Greg. M. ep. I, 82; III, 29, 30, 31; IV, 1—4, 22, 38, 39; 
IX, 67; XI, 4; und den Art, Longobarden). Gleich nach dem Tode des Con- 
ſtantius ward ebenfo einmüthig Deusdedit gewählt (600—629). ALS dagegen 
der Longobardenfönig Agilulph fih in die Wahl einmifchen wollte, erflärte Papft 
Gregor, er werbe nie einen Bifchof anerfennen, der von den Longobarden auf— 
geftellt würde, Wir befigen noch zwei Briefe diefes Papftes an Deusdedit Cf. 
Greg. ep. XI, 4; XII, 38; XIII, 30). Der letzte Erzbifchof von Mailand, der feit 
der Flucht des Honoratus aus Mailand nah Genua in der letztern Stadt vor— 
zugsweife ſich aufhielt, war Aufterius (629—640). — Nah Aufterius faßen 
auf dem Stuhle zu Mailand: Fortis, + 644; St. Johannes, der Gute, 
+ 655, anwefend bei der Synode zu Rom 649 (f. Boll. 10. Febr.); Antonius, 
+ 6575 Mauricillus, + 668%; Ampelius, + 6725 Manfuetus, + 681, 
welcher zu Mailand 679 eine Synode hielt und 680 der römifchen Synode unter 
Papft Agatho beimohnte (ſ. Boll. Febr.); Benedictus, + 725, „ein Mann 
von ausgezeichneter Frömmigkeit, der in ganz Stalien großen Ruhm Hatte”, fagt 
Paulus Diaconius (hist. Longob. VI, 28; f. Boll. 11. März), Theodor, + 7395 
Natalis, + 7415 Arifred, + 7425 Stabilis, + 744; Lätus, + 759. — 
Unter dem Erzbifhof Thomas, + 783, Fam das Iongobardifhe Neih an die 
Franfen, Gleihwie über die Lage der Kirche im letzten Jahrhundert der longo— 
bardifhen Herrfchaft große Dunkelheit herrfcht, weil nur Weniges in diefer Zeit 
aufgezeichnet worden ift, ebenfo dunfelt es für die Zeit der fränfifchen Herrſchaft 
in Stalien von 774—888, da Italien in diefer Epoche Feine Hiftorifer Hatte, 
Daher find denn auch die Nachrichten über die Mailänder Kirche von 774 bis 888 
fehr mager, Erzbifchof Petrus regierte 733—805, und fein Nachfolger Odel- 
bert von 805— 8145 dem Einen oder dem Andern foll Carl der Große die an 
die Mailänder Kirche von Kaifer Conftantin und feinen Nachfolgern gemachten 
großen Schenfungen wieder reftituirt haben! (f. Papebr. exeg. ep. Mediol.) Frei- 
Kirchenlexilon. 6. Bd, 48 


754 Mailand. 


lich erlangten die Kirchen in Italien während der fränkiſchen Herrſchaft dieſelben 
Nechte wie im übrigen Frankenreiche, und kamen die italieniſchen Biſchöfe zu 
gleicher hohen politiſchen Stellung und weltlicher Gewalt wie die andern frän- 
kiſchen Prälaten. Der Erzbifhof Anfelm I (814—818) wurde wegen feiner 
Betheiligung an der Empörung Bernhards gegen König Ludwig I. des erzbifchöf- 
lichen Stuhles verluftig und an feine Stelle Bonus gefeßt. Als aber Bonus 
822 farb, wurde der wieder zu Gnaden aufgenommene Anfelm reftituirt, lebte 
jedoch nur mehr einige Monate, Um diefe Zeit herrfchte in der Mailänder Kirche 
Thon ſtark das Lafter der Simonie; Papft Paſchalis I. (817— 824) machte hier- 
über der Mailänder Kirche Vorwürfe; allein feitvem fcheint der Elerus von Mai- 
Yand eine bis zum Schisma getriebene Abneigung gegen den römifchen Stuhl ge- 
faßt zu haben, welche faft 200 Jahre lang die Einwirkung der Päpfte auf die 
mailändifchen Angelegenheiten fehr Hinderte; man fagte, daß die Kirche des HI. 
Ambroſius nicht erniedriget werden dürfe! (Döllingers Lehrb, d. Kirchengeſch. 
Bd. U. 87, Regensb. 1838), Erzbifhof Angilbert I. flarb ſchon 8235 fein 
Nachfolger Angilbert II. regierte bis 860, Tado bis 869, Anspert bis 832 
<. über Angifbert II. und Anspert Perg, Script. II, p. 234, 237), Anfelm I. 
His 897. Angilbert IL war einer der drei Vorfiger der Nationalfygnode zu 
Pavia 850; im J. 855 und 875 oder 876 wohnten die Erzbifhöfe von Mailand 
gleichfalls den Synoden zu Pavia bei. — Seit dem Ausgang der Carolingifchen 
Dynaftie in Italien bietet diefes Land ein Bild der Auflöfung aller Bande dar; 
die mächtigen Fürftenhäufer rieben fich gegenfeitig auf; nur die Biſchöfe beſaßen 
noch Macht und Einfluß. Ueber die damaligen traurigen Zuftände der lombardi— 
ſchen Rirche berichten Atto von Vercelli (ſ. d. A.), Ratherius von Verona 
und Luitprand von Cremona (f. diefe Art). Bifchöfe zu Mailand waren 
nach Anfelm IL: Landulph, +9005 Andreas, +9075 Atho, +919; Ouari- 
bert, +922; Lampert, + 9325 Hilduin, + 937; Arderieus, + 947. Lam- 
yert mußte dem König Berengar für den Episcopat eine große Summe bezahlen, 
wofür Lampert fih wohl zu rächen wußte (ſ. Luitpr. Antapod. bei Pers Seript. IH. 
@V) p. 298, 305, 312). Hild u in war früher Bifhof von Leodium, ging, von 
da vertrieben, nach Italien zu dem ihm verwandten König Hugo, welder ihm 
das Bisthum Verona und nah Lamperts Tod das Erzbisthum Mailand gab. 
Mit Hilduin Fam auch der Minh Natherius nah Italien und wurde Biſchof 
von Verona (ibid. p. 312, 369, 370, 576— 77). Ardericus war ſchon ziemlich 
alt, als ihn König Hugo auf den erzbifchöflihen Stuhl brachte; er follte namlih 
einftweilen, bis Hugos Baftard Tedbald etwas herangewachfen wäre, einen Lücfen- 
büßer abgeben; aber wider Vermuthen und ungeachtet eined Vergiftungsverfuhes 
von Hugo regierte Ardericus 22 Jahre Cf. ibid. p. 319, 335 und Script. VII. 
IX] p. DO. — Angefangen von dem Archiepiscopate des Ardericus bis zum Jahr 
1077, liefern für diefe Zeit die „gesta archiepiscoporum Mediolanensium* des 
maifändifchen Elerifers Arnulph (+ gegen Ende des 11ten Jahrh.), fowie bie 
„historia Mediolanensis* Land ulphs, eines andern mailändifchen Clerikers des 


11ten Jahrhunderts (f, beide Werfe bei Pers, Soript. VII. [X]) viele, zum Theil 


wichtige Nachrichten, befonders Arnulph. Nach dem Tode des Erzbifchofs Arde- 
rieus fämpften fünf Jahre lang um den erzbifchöflihen Stuhl Manaffes und | 
Adelmann. Während diefer vom Volke unterflägt wurde, erhielt jener die Mai- 

Yänder Kirche von König Berengar II., obwohl ihm König Hugo, fein Vetter, be— 
reits die Bisthümer Verona, Mantua und Trient fimoniftifh übergeben: hatte, 
wozu auch noch das Bisthum Arles zu rechnen ift, welches Manaffes, nach Italien 
gehend, verließ, aber nicht aufgab, „Inter hos fluctus, fagt Arnulph, natabat 
caute Walpertus“ und gelangte auf dem erzbifchöflichen Stuhl; er rief mit an- -⸗ 
dern Grofen den KR. Dtto I. nach Italien und farb 969. Sein Nachfolger, 
Erzbifchof Arnulph I. „vere deolinans a malo et faciens bonum*, war ein Ver- 








Mailand, 755 


wandter des Hiftorifers Arnulph und farb ſchon 973. Dem Arnulph I. ſuccedirte 
der Subdiacon Gotefred (+ 978), dem Clerus und Volk Anfangs wenig ge- 
nehm, weil er als bloßer Subdiacon zum Erzbifhof gewählt worden war. Noch 
unbeliebter war dem Volke Erzbifhof Landulph IL CH 997) wegen der Inſolenz 
feines Vaters und feiner Brüder, doch fand zulegt eine Ausföhnung zwifchen Lan— 
dulph und dem Volke Statt. Landulph war auf der von Papft Gregor V. prä- 
fidirten Synode zu Pavia 997 anwesend (ſ. Pers, Script. Il, 649). Erzbifchof 
Arnuph ll. C+ 1017) reiste im Auftrage Otto's IH. nah Conſtantinopel, um für 
ihn eine Gemahlin zu erhalten, und erhielt hier vom Kaiſer die eherne Schlange 
zum Gefchent, welche Mofes in der Wüfte erhöht Habe, Auf der Rückkehr machte 
. ze bei dem Papfte zu Nom feine Aufwartung. K. Heinrich IL hatte den noch 
befegten bifhöflichen Stuhl von Afti vem Alverie übergeben, und diefer war zu 
Nom conſecrirt worden, weil Arnulph fih zur Confecration nicht herbeigelaſſen; 
bierüber erbittert, fprach Arnulyh über Alderie die Excommunication aus und 
überzog ihn mit Krieg, in deffen Folge fih Alderie unterwarf, Im Uebrigen, be— 
merft Arnulph in gest. Arch. Mediol. „sacerdotaliter suam regebat ecelesiam, cle- 
rum fovens ac populum, suisque plane vacans negotüs*. Arnulphs IL. Nachfolger, 
Heribert CH 1045), der Gipfelpunet der weltlihen Macht der Mailänder Kirche, 
der mächtigfte Fürft feiner Zeit in Oberitalien, ein berrfchfüchtiger und Friegeri- 
ſcher Gebieter, Iud fo fehr den Zorn Conrads U., der ihm die italifche Krone 
dankte, auf fih, daß er ihn 1036 gefangen nehmen ließ und den Priefter Am- 
brofius an deffen Statt zum Erzbiichof aufitellte, doch entrann Heribert bald der 
Gerfangenfhaft und föhnte fid 1040 mit K. Heinrich II wieder aus, Indeß 
fehlte es dem Heribert auch nicht an guten Eigenfchaften, die Armen empfingen 
Hon ihm viel, und vor feiner virga pastoralis, wenn fie auf das Gebiet der mit 
einander Streitenden eingeftecft wurde, hatte man großen Reſpect. Merfwürdig 
ift, was Landulph von dem Manichäer Girard erzählt (Perg, Script. VII, 65), 
den Heribert um fein Glaubensbefenntniß fragte. S. Weiteres bei Vers, ibid. 
p. 11—17. u. 57— 69, — Unter Erzbifhof Guido (1045—1071) brad 
endlich das Gefhwür auf, an dem die Mailänder Kirche ſchon feit Langem tödt- 
lich Eranf lag. Die Iombardifchen Kirchen, und an der Spige derfelben die mai— 
ländiſche, waren per excellentiam die Heimath der Simonie und des Coneubinats 
der Geiftlichen geworden, und flatt daß die Bifchöfe dem Unweſen gefteuert hät- 
ten, waren fie felbft die ärgften Simoniften und Coneubinäre, Auch Erzbiſchof 
Guido von Mailand war von diefer doppelten Peft angeſteckt. Da erhob endlich 
der mailändifhe Priefter Anfelm da Baggio (nachher Papft Alerander IL) feine 
Stimme gegen das Verderbniß, die mailändifchen Cleriker Landulyh Cotta und 
Ariald fielen ihm bei, und bald fanden fih in Mailand und ganz Oberitalien 
zwei Parteien gegenüber, wovon die eine, unter der Einwirfung des päpftlichen 
Stuhles für Reformation fämpfte und zulegt auch fiegte, die andere aber unter 
den Fittigen des Kaiſers Heinrich IV. (ſ. d. A.) fih um das Fett der Kirchen- 
pfründen und um ihre Weiber und Huren wüthend wehrte, dabei als Lofung die 
Freiheit der Kirche des HI. Ambrofius von dem Joche der römifchen Kirhe im 
Munde führend, Im Berlaufe des Kampfes verkaufte Erzbifchof Guido feine 
erzbifhöflihe Würde an einen gewiffen Gottfried, Schügling Heinrichs IV., 
wogegen die Neformpartei 1072 den mailändifchen Priefter Atto zum Erzbifchof 
wählte; aber Atto wurde nie geweiht und Gottfried in Mailand nie anerkannt, 
Dagegen nahm der von Heinrich IV. intrudirte Ted bald den erzbifhöflichen Stuhl 
von 1076—1085 ein (f. Arnulph und Landulph bei Perg, 1. eit.; Döllinger, 
Lehrb, der Kirchengeſch. Bd. I. S. 76 ꝛc.). — Nach diefen Stürmen begann unter 
Erzbifhof Anfelm II. (1086—1093), der fih an Papft Urban I. anſchloß, 
eine beffere Richtung, aber noch lange ging es her, bis ein vollfommen geordneter 
Zuftand zurüdfehrte, Erzbifchof Arnulph II. (1093—1097) ward bloß von 
45* 


einem Bifchofe ordinirt, mit Beiftimmung mehrerer anderer Bifchöfe, welche 
jedoch, weil fie Schismatifer und vom römiſchen Stuhl ercommunieirt waren, 
die Hände nicht auflegten, und da er nad feiner Wahl fih vom Kaifer hatte 
inveftiren laffen, durch den Legaten des apoftolifhen Stuhles deponirt, aber nach— 
ber wieder reſtituirt. Erzbifhof Anfelm IV. (1097—1101), der allen die von 
ihm dedicirte HI. Grabfirhe zu Mailand Befuchenden einen Ablaß „tertiae parlis 
delictorum“ gewährte, hatte zum Nachfolger den Peter Grpfulanus, früher 
Biſchof von Savona, einen unterrichteten und um die römische Kirche durch feine 
Dienfte gegen die griechifchen Schismatifer verdienten Mann, deffen Eingang in 
den Episcopat aber nicht rein von Simonie war, und den der mailänder Clerus 
zur Abdication zwang. Nah den Erzbifhöfen Jordanes (1112—1120) und 
DIrieus (1120—1122) regierte Anfelmus V. de Pufterla die Mailänder 
Kirche (1122—1132). Obwohl Anfelm wider den ausgefprochenen Willen der 
Mailänder nach Nom zu Papft Honorius II. reiste, fo weigerte er fich hier doc, 
das Pallium aus der Hand des Papftes zu empfangen, denn die Mailänder er- 
blieften eine Demüthigung der Kirche des HI. Ambrofius darin, daß ihre Erz— 
bifchöfe perfönlih nach Rom reifen und da das Pallium erhalten follten, weil die 
alten Päpſte den Erzbifchöfen das Pallium bloß zugefchickt hätten. Ereommunieirt 
von dem päpftlichen Legaten Johannes von Crema, weil er den Hohenftaufen 
Eonrad, Heinrihs V. Neffen, gekrönt hatte, hielt er es nad) des Papſtes Hono— 
rius U. Tod mit dem Afterpapft Anacletus II. und nahm von diefem das Pallium 
an, wurbe aber, nachdem die Partei des rechtmäßigen Papftes Innocenz IL. auch 
in Deailand die Oberhand gewonnen, aus Mailand vertrieben. Damals fam der 
hl. Bernhard nach Mailand und wurde mit ungeheurem Jubel empfangen. Die 
Mailänder wollten ihn an die Stelle des Anfelmus zu ihrem Erzbifchofe machen, 
aber er fihlug e8 aus, und unter feinem Einfluß wurde Robaldus, Bifchof von 
Alba CH 1145) zum Erzbifchof gewählt. Bernhards Anwefenheit wirkte auf Alfe 
fo mädtig, daß Alles Buße that, Alles von feinen Winfen abhing, Altes fi 
für Papft Innoeenz und Kaifer Lothar erklärte. Unter Robalds Nachfolger 
Dbertus (1145—1166) brach der Kampf zwifchen Papft Alerander II. und den 
Lombarden einerfeitsS und dem Kaifer Friedrich I. und feinem Afterpapft anderer- 
feits aus, Erzbifchof Obert fprah im Verein mit dem bäpftlichen Legaten Jo— 
hann von Anagni den Bann über Friedrich und den Afterpapft aus, Mit un- 
erhörter Graufamfeit verwandelte Kaifer Friedrih im J. 14162 Mailand in einen 
Schutthaufen. Erzbifhof Galdinus (1166—1176), Kanzler des Dbertus, 
deffen treuer Begleiter auf der Flucht vor Kaifer Friedrich er gewefen, hatte die 
Freude, die aus ihrer DVaterftadt vertriebenen Mailänder wieder zurüdgeführt 
und den Wiederaufbau ihrer Stadt zu ſehen. Er zeigte ſich ald wahren Helfer 
und Tröfter feines Volkes, feste ſtatt der ſchismatiſchen, mit Friedrichs Afterpapft 
es baltenden, Fatholifche Bifchöfe in feiner Provinz ein und predigte eifrig gegen 
die Katharer, welche in Mailand auftauchten. Galdinus wird den Heiligen bei- 
gezählt (ſ. Bolland. 18, April). Nach Galdins Tod wurde nah längern Wahl- 
ftreitigfeiten Algifing zum Erzbifchof gewählt (1176—1185)5 diefem folgte 
Ubertus Erivelli, welcher, zum Papfte gewählt, ſich Urban IL nannte und 
das Erzbisthum beibehielt CH 1187) 5 dem Übertus fuccedirte Milo (1187—1195), 
diefem Ubertus de Terziago (1195— 1196) und Philippus (1196— 1207), 
Bol, über alle diefe mailändifchen Erzbifchöfe des I1ten und 12ten Jahrhunderts 
die Exegefe Papebrochs über die Erzbifchöfe von Mailand bei den Bollandiften 
t. VII. Maji ab initio und Pers, Script. VII. (X) p. 104 eto. — Bei Perg 1. eit. 
p- 106 etc. findet ſich eine Fortfegung des von Papebrod erläuterten Catalogs 
der Mailänder Erzbifchöfe, welche die Erzbifchöfe des 13ten und zum Theil auch 
bes 14ten Jahrh. enthält. Erzbifchöfe des 13ten Jahrhunderts nah Philipp 
waren; Ubertus de Pirovann (1207—1211); Girardus de Seffa, ge 











Mailand. 757 


ftorben noch vor der Conſecration; Heinrich de Setara, 1213 vom Papſt 
aufgeftellt, weil fih die Parteien über eine Wahl nicht vereinigten, ein Kämpfer 
„pro totius ecclesie tuenda libertate, pro istius majoris ecclesie honore conser- 
vando, pro hereticis expellendis, pro episcopis qui videbantur a subiectione Me- 
diolanenis ecclesie absoluti, recuperandis*, + 12305 Wilhelm de Ruzolio 
c1230—1241), dem bei Perg 1. c. großes Lob gefpendet ift; Leo de Perego 
(1241—1257), durch ſich feldft gewählt, nachdem er mit der Wahl beauftragt 
worden war, ein tapferer Vertheidiger der Freiheit feiner Kirche, aus Mailand 
durch die Bolfspartei verbannt; Dtto degli Bisconti (1262—1295), ernannt 
von Papft Urban IV., zwar mehr Krieger und Staatsmann, als Bifhof, doch 
auch als Bifchof nicht ohne Verdienfte, nach dem Siege über die Torrianen 1277 
und fpäter nochmal zum Signore von Mailand erwählt, als welcher er die Ge- 
walt fo benügte, daß er feiner Familie den Weg zur fürftlichen Stellung bahnte. 
Bol. Leo's Gef. von Stalien, Bd. I. Zu Otto's Zeit zählte Mailand zw, 
150— 200,000 Einwohner, 13,000 Privathäufer, Lehrer für Grammatif und 
Logik 15, und für den Elementarunterriht T0—80, Bürherabfihreiber, die zu— 
gleich Buchhändler waren, 50. — Bon den Mailänder Erzbifhöfen des 14ten 
Sahrhunderts nur Folgendes. Da die Wähler über einen Nachfolger Dito’s ſich 
nicht vereinigten, ftellte Papft Bonifacius VII den Rufinus da Friffeto zum 
Erzbifchof auf, der als Fremdling zu Mailand nicht eingelaffen, fih durch einen 
Bicar vertreten Tieß und Fein volles Jahr lebte, Sein Nachfolger Franz, ein 
Parmefaner (+ 1307), war von feiner größern Bedeutung. Diefem fuecedirte 
Caffone della Torre, der durch die Verbannung, welde feine Familie traf, 
von dem Site des Erzbisthums ausgefchloffen, das erledigte Patriarhat von 
Aquileja erhielt CH 1318). An feine Stelle wählte man Giovanni degli Vis— 
eonti, einen Sohn Matteos, des Signore von Mailand, worauf aber Papft 
Johann XXI. feine Rüdfiht nahm, fondern den Franeiscaner Aicardo zum Erz- 
bifchof ernannte. Aicardo wurde von Matteo erft um 1320 anerkannt, Der 
Afterpapft Ludwig des Bayern, Nicolaus V. genannt, erhob zwar 1323 den Gio— 
Hanni Visconte zum Cardinal, päpftlichen Legaten und Erzbifhof von Mailand, 
dieß hatte aber für Giovanni feine andere Folge, als daß ihn Papft Johann XXIL 
ercommunicirte, Erft nah dem Tode Aicards (+ 1342) erhielt er, da er wieder 
zum Erzbifchof von Mailand gewählt worden war, hiefür die päpftliche Beftäti- 
gung, und nach dem Tode feines Bruders Luchino 1349 wurde er auch alleiniger 
Sigupre von Mailand. Er farb 1354 im 6Aften Jahre feines Alters, Ohne. 
. Sinn für das geiftliche Leben, war er für die weltlichen Verhältniſſe fehr gefchickt, 
ein Freund Petrarca’s, ein Verehrer des Dante, zu deffen Comedia divina er 
einen Commentar durch zwei Theologen, zwei Philoſophen und zwei Meifter der 
freien Rünfte auszuarbeiten befahl. — Nah Giovanni verfhwand mehr und mehr 
der Einfluß der Mailändifchen Erzbifhöfe auf die bürgerlihen und politifchen 
Verhaͤltniſſe; dagegen nahm fih die Geiftlichfeit mehr um die Pflege der Wiffen- 
ſchaft und der Frömmigkeit an. Die Mailänder Erzbifchöfe bis auf Friedrich 
Boreomäus herab fuccedirten fih in folgender Neihe: Robert Visconti, 
1354—13605 Wilhelm Puftrella, vorher Patriarh von Conſtantinopel, 
1361—-13705 Simon Borfanus, wegen feiner großen Kenntniffe im canpni= 
{hen Rechte zum Cardinal erhoben, 1370—1373; Antonius de Saluzzi, 
1373—1402, deffen Regierung durch den Bau des herrlihen Mailänder Domes 
verberrlihet iftz Petrus Bilargus, 1402—1409, im Conecil zu Pifa zum 
Papft gewählt (Alerander V.); Franeiscus de Ereppa und diefem gegenüber 
Sohannes Visconti, jener von Papft Alerander V., diefer von Papft Gre- 


gor XII. aufgeftellt5 nach de Creppa's Tod 1414 Bartholomäus Capra, im 


Eoneil zu Conftanz von Papft Martin V. als rechtmäßiger Mailänder Erzbifchof 
erklärt, + 14355 Francis eus Piceiolpaffi, + 14435 Heinrich Nampini, 


798 Maimburg. 


1443—1450, Cardinal; Johannes Visconti, 1450—14535 Nicolaus _ 
Amidanus, 1453—1454; Gabriel Sforzia, 1454—1457;5 Carl, 1457— 
14605 Stephan Nardini, 1460—1484, einer der trefflihften Mailänder 
Erzbifhöfe; Johannes Arcimboldus, Cardinal, 1484—1488, und deffen 
Bruder Vido Antonius, 1488—1497;5 Hippolythus L, Eardinal, 1497— 
1520, und Hippolythus ll. 1520—1550, beide aus dem Haufe Efte; Jo— 
bannes Angelus Arcimboldug, 1550—15555 Philippus Archintus, 
1556—1558. Diefem folgte der unfterblide Carl Borromäus (f, den Art, 
Borromäus) und deffen würdiger Vetter Friedrich Borromäus (+ 1631), 
ver Carls Reformation der Mailänder Kirche mit allem Eifer fortfegte und ſich 
um die Ambroſianiſche Bibliothek unfterblihe Verdienfte erwarb, ©, F. Ughelli, 
Italia sacra, t. IV, Romae 1652, de Archiep. Mediol. Vgl. Hierzu den Artikel 
Stalien. [Schrödl.)] 
Maimburg, Ludwig, zu Nancy 1610 von adeligen Eltern geboren, trat 
1626 in die Geſellſchaft Jefu, Tegte in derfelben die vier Gelübde ab, und Tehrte 
zuerft feh8 Jahre lang die Beredtfamfeit und die fhönen Wiffenfchaften; darauf 
verfah er viele Jahre hindurch das Predigtamt in den erften Städten Frankreichs 
mit viel Beifall und Segen. In feinen alten Tagen (im J. 1682) erlebte er 
das herbe Geſchick, daß er auf Befehl des Papftes Innocenz XI. aus der Gefell- 
fhaft austreten mußte, weil er gegen den römifchen Hof zu Ounften des fran- 
zöfifchen Clerus gefchrieben hatte. Vergebens bat der König feine Obern, ihn 
aus der Geſellſchaft nicht auszuftoßen. Der König bedachte ihn mit einer anfehn- 
lichen Penſion; Maimburg z0g fi in die Abtei von St. Victor zu Paris zurüd, 
wo er fich mit gelehrten Arbeiten befchäftigte, und wo er gerade, als er eine Ge- 
ſchichte der Spaltungen der anglicanifchen Kirche unter der Hand hatte, 1686 in 
einem Alter von 77 Jahren von einem töbtlihen Schlagfluffe befallen ward, 
Maimburg eiferte fehr gegen die franzöfifche Ueberfegung des neuen Teftaments 
zu Mond; daher wurden die Janfeniften feine Feinde, die er, ein fühner und 
lebhafter Charakter, wie er war, auch feinerfeits fowohl öffentlich als privat bei 
allen Gelegenheiten angriff. Man hat von Maimburg viele Schriften hiftorifchen 
Inhalts, die 14 Bände in 4, und 26 Bände in 12. füllen. Seinen hiſtoriſchen 
Schriften ließ er homiletifche Arbeiten, Predigten, Lobreden, Faftenreden Cetztere 
in 2 Bden. 8.) ꝛc. Cmeiftens zu Paris gedrudt) vorangehen, Merkwürdig ift es, 
daß Maimburgs Homiletifche Arbeiten, obgleich Früchte feiner Jugend, ſämmtlich 
ungemein froftig ausfielen, während feine hiftorifchen Arbeiten, obgleich in feinen 
reiferen Jahren verfaßt, im Style eine pompöfe, oft überfhwängliche und pitto— 
resfe Lebhaftigkeit athmen, eine Meberladung, die der Hiftorifchen Glaubwürdig- 
feit nicht felten Abbruch thut, Er fohrieb eine Histoire de l’Arianisme aveo P’he- 
resie de Sociniens (Paris, 1672, 2 Tom. in 4.); Histoire des Iconoclastes et de 
translation de l’Empire aux Frangois; — de la decadance de ’Empire aprös Charles 
Magne; Histoire du schisme des Grecs; Histoire de croisades (2 vol. in 4.), ein 
zierlich gefchriebenes, aber mit zweifelhaften Geſchichten angefülltes Werk, welche 
übrigens der Verfaffer aus namhaften und oft gleichzeitigen Hiſtorikern ſchöpfte; 
dann Histoire de la Ligue; Histoire du pontificat de $. Gregoire le Grand, et de 
celui de S. Leon; dann Traite historique de prerogatives de l’Eglise de Rome, 
beide Schriften heftig angegriffen von dem Cardinal Sfondrati in feiner „Gallia 
vindicata*, 2 vol. in 4. Ferner die Histoires du Lutheranisme (die Gegenfhrift 
son Serfendorf ift der Commentarius de Lutheranismo), du Calvinisme (Gegen- 
ſchriften erfchienen von Jurieu und J. Bapt, Nocoled u, A.), du grand schisme 
d’oceident, du Wiclefianisme, lauter Schriften, die zwar von Ungenauigfeiten nicht 
frei, aber mit Details von großer Gründlichfeit ausgeftattet find. Auch Contro- 
vers- und irenifche Schriften hinterließ der thätige Maimburg, fo: Des Sermons 
contre le Nouveau Testament de Mons; la methode pacifique pour ramener sans 





Maimonides, 759 


dispute les proteslans & la vraie foi sur le point de l’Eucharistie; de la vraie eglise 
de Jesus Christ; de la vraie parole de Dieu ete. . [Dür.] 
Maimpnides, Mofes (yon ja nun I [Rabbi Mofe ben Maimon], 


abbrev, bu [Rambam]), der größte jüdifhe Gelehrte im Mittelalter, wurde 
zu Eordova, dem Wohnorte feiner Vorfahren, am 30. März 1135 geboren. 
Sein Bater, R. Maimon, fund als vieljähriger Richter zu Eordova in großem 
Anfehen, und erwarb fih ald Gelehrter einen bedeutenden Namen, Er jhrieb 
einen Commentar zum Buch Efifer, ein Werf über die Gefege der Gebete und 
Fefttage, einen Commentar zum Thalmud und Anderes, und nah Abraham 
Zachuth Hat er auch feldft feinen Sohn Mofes in den rabbiniſchen Wiffenfchaften 
unterrichtet. Die arabifche Sprache dagegen, Mathematif, Aftronomie und Arz= 
neifunde lernte derfelbe bei Averrves, Zbn Tophail und Ihn Saig (oft, Gef.‘ 
der Sfraeliten zc, VI. 168). In der hebräifchen Sprahe und den thalmudiſchen 
Studien machte Mofes ſchon ald Knabe außerordentliche Fortfchritte und verwen- 
dete auf fie in feiner Jugend am meiften Fleiß, fo daß fie bis zum Jahre 1160 
feine Hauptbefchäftigung bildeten. Schon hatte er mehrere nicht unbedeutende 
Schriften, die in diefen Studienfreis einfchlagen, verfaßt, wie namentlih Com— 
mentarien über einzelne Abtheilungen der Gemara, Gefege aus dem jerufalemi- 
fhen Thalmud, einen Commentar über die Mifchna (den er aber erft fpäter voll- 
endete), und Anderes (vgl. Ziraelitifche Annalen. Jahrg. 1839. ©, 31T f), als 
im genannten Jahre eine große Störang in feine Thätigfeit Fam und derfelben 
auf einige Zeit eine ganz andere Nictung gegeben wurde, Mohanımed ben Tome 
rut nämlich, Beherrſcher von Nordafrica und Spanien, erließ den Befehl, daß 
fih alle Sfraeliten entweder zum Islam befehren, oder innerhalb eines Monats 
alle unter feiner Herrfchaft fiehenden Länder verlaffen follten, widrigenfalls fie 
der Tod treffen werde, In Folge deffen nahm die jüdische Gemeinde zu Cordova 
und au die ganze Familie des Maimon äußerlih den Islam an, Und Mofes 
fuchte fih gegen einen Rabbinen, der diefes Benehmen fcharf tadelte, in einem 
ausführlichen, ziemlich derben Schreiben zu rechtfertigen, und erntete dafür bei 
den übrigen Rabbinen großen Beifall, Bon jest an befannte er fih nicht nur 
dffentlih zum Islam, fondern lernte fogar den ganzen Koran auswendig, be= 
fchäftigte fih viel mit den philofophifhen Werfen der Moslimen und ertheilte 
Einzelnen aus ihnen fogar Unterricht, Der Beweis für feinen Abfall zum Islam, 
der von manchen jüdifchen Gelehrten noch jest gern geläugnet wird (cf. Rabbi 
Davidis Kimchi radicum liber etc. ed. Biesenthal et Lebrecht. Berol. 1847. pag. 
XXXIV sq.), liegt in feinem eben erwähnten unzweifelhaft ächten Schreiben an 
jenen anonymen Nabbi, und fteht auch ganz im Einklang mit feinen im nur wıTP 
(Heiligung des göttlihen Namens) ausgefprohenen Grundfägen (Sir. Annalen, 
a. a. O. ©, 325 f. Jahrg, 1840. ©. 32 f.). Im Jahr 1162 farb zwar Mo— 
hammed ben Tomrut, aber fein Nachfolger erneuerte fein Berfolgungsediet und 
die Verfolgung wurde härter und ärger als zuvor, Maimonives indeflen, ob— 
wohl äußerlich und öffentlich als Mohammedaner fich betragend, fcheint doch inner— 
lich fletS dem Judenthum angehört zu haben, und befhäftigte fih vorzugsweife 
mit dem Studium jüdifher Schriften, namentlich der Mifhna und des Thalmud, 
zugleich aber auch mit griehifhen und arabifhen Philofophen. Jenes feinem 
Innern widerfprechende äußerlihe Benehmen wurde ihm jedoch in die Länge zu= 
wider und unerträglid. Er faßte daher, dreißig Jahre alt, den Entfhluß, fi 
an einen Ort zu begeben, der es ihm möglich machte, „feiner eigenen Religion 
anzugehören und fein Gefes auszuüben ohne Zwang und Angfl.” Er begab fich 
daher mit feinem Vater und feiner ganzen Familie auf ein Schiff, das nah Pa- 
läftina fegelte, und Fam innerhalb eines Monats, wiewohl unter vielen Gefahren, 
noch in demfelben Jahre glücklich nach Acco, Bon da ging er nach Serufalem, 
dann nad Hebron, verweilte aber nirgends Tang, aus Furcht vor den Chriften, 


760 Maimonides, 


die damals jene Drte in Befig hatten, Bon Hebron begab er fich nach Aegypten 
und hielt fih zunächft in Alerandrien auf, ließ fi aber fpäter in Foftat nieder, 
Da er felbft diefe Reife ausführlich befchreibt (ſ. Sfr, Annalen. Jahrg. 1840, ©, 
45), fo erfcheint die gewöhnliche Angabe, daß er fih von Spanien unmittelbar 
nach Aegypten begeben habe (Basnage, histoire des Juifs, V. 1617), oder zu- 
nächſt in's marokkaniſche Gebiet und von da nach Aegypten gefommen fei (Joſt, 
Geſch. d. Sfraeliten. VI. 173), als eine irrige, Zu Foftat war damals gerade 
der Kampf zwifhen den Nabbaniten und Karaiten (f. den Art, Karäer) fehr 
lebhaft, und Iegtere waren bereits daran, die Dbhand zu gewinnen, als Mai- 
monides den alten vabbanitifhen Geſetzen wieder volle Geltung zu verfchaffen 
wußte und es dahın brachte, daß in Betreff der Hauptpuncte eine fürmliche Be- 
fanntmahung, von zehn Nabbinen unterzeichnet, in allen Schulen und Synagogen 
verlefen und auf die Zuwiderhandelnden der Bann gelegt wurde, Diefe Thätig- 
feit verſchaffte ihm zwar auf der einen Seite große Hochachtung und Verehrung, 
30g ihm aber von der andern auch bittern Haß zu, fo daß er mitunter fogar in 
Lebensgefahr Fam. So fehr er übrigens auch) hier das Studium des Geſetzes zu 
fördern und Andere darin zu unterweifen bemüht war, fo ſoll er für ſolche Unter- 
weifung doch nie eine Belohnung angenommen, fondern fih mit Zuwelenhandel 
und Ausübung der Arzneilunde feinen Unterhalt verfchafft haben, denn auch in 
letzterer hatte er fich nicht nur bedeutende theoretifche Kenntniffe, fondern auch großes 
practifches Gefchiek erworben, Im 3. 1168 wurde fein Commentar zur Miſchna, 
den er fchon in feinem 23ten Jahre begonnen hatte, endlich vollendet unter dem 


Titel: Ze us, in arabifcher Sprache, In einer ausführlichen Einlei- 


tung, die er vorausfchickt, halt er fih vorzugsweife an die Anfichten der grie- 
chiſchen und arabifchen Philoſophen, die er den Werfen Iſraels vorzuziehen pflegt, 
und ſtellt fich die Aufgabe, Die Lehren der hl. Schrift mit denen der Philofophen 
in Uebereinſtimmung zu bringen, Das arabifche Original diefes Werfes wurde 
bald auch in's Hebräifche überfegt unter dem Titel: Sina D und öfters ge— 
druckt, zuerft zu Neapel 1492 (De-Rossi, annales hebraeo-typographici sec. 
XV. p. 90 sq.), dann zu Sabioneta 1559, Mantua 1561, Venedig 1566 und 
1606, endlich in Lateinifcher Neberfegung in der Mifchna-Ausgabe von Surenhus, 
Amſterd. 1693— 17035 die Einleitung wurde von Pococke arabifch herausgegeben 


unter dem Titel: ( „w9% 5 (porta Mosis) Oxf. 1655. Nach Vollendung 
diefes Commentars entfchloß fih Maimonides zur Abfaffung des Werkes m2Wn 
nz, häufig auch mprm 77 genannt, weldes in 14 Büchern alle Sagungen 
enthält, welche Gültigkeit behalten haben, fie mögen die Zeit der Zerſtreuung 
pder die Zeit des Tempels betreffen. Sie find aus allen vorgängigen Werfen, 
Miſchna, Thalmud u. ſ. w., gefloffen. Er arbeitete es in reiner bebräifcher 
Sprache aus, und beftimmte es zum Coder, damit jeder Lefer ſchnell jedes Geſetz 
nad allen feinen Verzweigungen auffinden fünne, alfo um die Mühe des Zu- 
fammenfuchens der vielfach zerfireuten Saßungen und der daraus zu ziehenden 
Folgerungen unnöthig zu machen (Jr. Annalen, Jahrg. 1840. ©. 218). Eine 
ausführliche fpecielle Inhaltsangabe davon findet fih in Wolfs Bibliotheca he- 


braea. I. 840—851. Das Werf ift öfters gedruckt worden, zuerft ohne Drts- 


angabe und Jahreszahl (De-Rossi I. c. p. 126 sq.), dann zu Soncino 1490, 
zu Eonftantinopel 1509, zu Venedig 1524, 1550 m, 1575 mit verfchiedenen Zu⸗ 
gaben, am beften zu Amfterdam 1702. Außerdem find auch fait alle einzelnen 
Theile des Werfes abgefondert hebräifh und Tateinifch herausgegeben worden. 
Im Jahr 1179 wurde Maimonides Leibarzt Saladin’, und von ihm und feinen 
Großen fehr Hoch geachtet, Cine Demuneiation feiner Feinde, daß er den Islam, 


ee Vi ee 





Maimonides, 761 


den er früher angenommen, wieder verlaffen habe, wurde mit der Bemerfung ab- 
gewiefen, daß ein erzwungenes Befenntniß Feine Gültigkeit habe. Auch unter 
den beiden Nachfolgern Saladin’s war er Leibarzt, und fein regelmäßiger Auf: 
enthalt war jeßt Aegypten, weßhalb er au der Negyptier genannt wird, Un— 
gearhtet aber die ärztliche Thätigfeit einen großen Theil feiner Zeit in Anſpruch 
nahm, fo hörte darum fein Wirken für die Wiffenfhaft doch nicht auf. Er ver- 
faßte noch mehrere Schriften, und gründete zu Alerandrien eine Academie, an 
welcher fih zahlreiche Schüler aus Aegypten, Paläftina und Syrien einfanden, 
Im 3. 1204 ftarb er und wurde feinem früheren Wunfche gemäß nach Paläftina 
gebracht und zu Tiberias begraben. Sein bedeutendftes und berühmteftes Werk 
ift neben dem Tyınm mac der viel genannte Drah2zı rn (Rehrer der Ver⸗ 
wirrten), den er zunächft für feinen Schüler R. Joſeph in arabifher Sprade 
unter dem Titel: AI au verfaßte und zu zeigen fuchte, daß und wie 


man die altteftamentlichen Dffenbarungsurfunden geiftig auffaffen und deuten müffe, 
wobei er fi zugleih über eine Menge philofophifcher und theologifcher Anfichten 
verbreitet, und namentlich für einzelne fcheinbar grundlofe mofaifche Gefege den 
wahren Grund nachzuweifen fucht, dabei aber auch nicht felten bei feiner Vorliebe 
für griechifche und aradifche Philofophie manches dem thalmudiſch-jüdiſchen Re— 
ligionsſyſtem Fremdartige beimifcht. Das arabifhe Driginal wurde noch unter 
feinen Augen und mit feiner Billigung von Aben Tibbon in’s Hebräifche über- 
feßt und diefe Ueberfegung öfters gedrudt, zuerft ohne Ortsangabe und Jahres— 
zahl, wahrſcheinlich ſchon vor 1480 (De-Rossi, annales etc. p. 121 sq.), dann 
zu Venedig 1551, zu Sabioneta 1553, zu Bafel 1629 vom jüngern Burtorf, 
endlich zu Berlin 1791 von R, Salomo Maimon. Außerdem verdienen hier 
etwa noch Erwähnung die dreizehn Ölaubensartifel (OrıE> yo SW), f. den 
Art, Judenthum, die Schrift (Brief oder Nede) über die Auferftehung der 
Todten (Da mınn=>3 mas oder Ta), bie Logif (73°37 5) und die Pſy⸗ 
Hologie (ü>27 0). Bgl. darüber, fowie auch über mande andere minder be- 
deutende, namentlich auch medicinifhe Schriften Wolfs Biblioth. hebr. I. 860 sqq. 
— Carmoly (in den ifraelit. Annalen, Jahrg. 1839. S. 308) vindieirt dem 
Maimonides unter allen Gelehrten Iſraels den erften Rang, und er hätte un- 
bedenklich noch behaupten dürfen, daß auch fein Einfluß auf die rabbinifche Theo— 
logie größer gewefen und geblieben fei, ald von irgend einem andern. Dieß zeigt 
fih am deutlichften in den Klagen, welche noch jest von manchen Rabbinen gegen 
Maimpnides erhoben werden, weniger wegen feiner irrthümlichen Lehren und An- 
fihten, als wegen der Starrheit und Abgefchloffenheit, die der rabbinifche Lehr- 
begriff durd ihn erhalten. Gegen feine Drthodorie werben feine fo heftigen An— 
griffe mehr gerichtet, wie bald nach feinem Tode und zum Theil noch bei feinen 
Lebzeiten von den „Stocdthalmudiften” in Frankreich und mitunter au in Spa- 
nien felbft, welche nicht nur feine Hauptwerfe, fondern auch ihn felbft mit: dem 
Banne belegten und erftere verbrannten, Die Irrthümer, die ihm gegenwärtig 
noch von Manchen zur Laft gelegt werden, wollen Andere nicht in feinen Schrife 
ten finden, wie namentlich die Läugnung der Auferftehung des Fleifhes und der 

individuellen Fortdauer der Seele, und die nicht feltene Abweichung von der hl. 
Schrift und dem Thalmud. Uebrigens fheint Feine von beiden Parteien ganz 
Net und eben darum auch Feine ganz Unrecht zu haben und der wahre Sach— 
verhalt darin zu beftehen, daß Maimonides in feinen Behauptungen und Lehren 
ſich nicht gleich bleibt. Cinerfeits folgt er etwas unvorfihtig den griechifchen und 
arabifhen Philofophen und adopirt von ihnen manche Anficht, die fich in den thal- 
mudiihen Rabbinismus nicht fügen will, andererfeits aber fucht er doch wieder 
das Lehrſyſtem diefes Rabbinismus zu geben und Fommt dann natürlich mit feinen 


762 Mainz 


Philoſophemen in Colliſion. Während er 3. B. das eine Mal die leibliche Auf- 
erftehung als einen Olaubensfag des Judenthums hinſtellt, und demjenigen, der 
fie läugnet, den Antheil am ewigen Leben abfpricht, erflärt er das andere Mal 
diefes Leben, in Folge feiner philoſophiſchen Borftellungen von Gott und der 
Seele, als ein rein geiftiges ohne alle Teibliche Beimiſchung, was natürlich die 
Negation der leiblichen Auferftehung zur Borausfegung hat (ſ. Geiger, wiſſenſchaft⸗ 
liche Zeitfchrift für jüdifche Theologie Bd. V. ©.89, 92). Die Hauptklage neuerer 
Rabbiner gegen Maimonides bezieht ſich auf die durch ihn bewirkte Kryftallifirung 
des jüdifchen Lehrbegriffs. David Luzzato z. B., Profeffor am Collegio Rabbinico 
zu Padua, fagt, Maimonides habe mit aller feiner Philoſophie Verderben ge- 
bracht, Was der Thalmud ſchwebend gelaffen, Habe durch ihn eine eiferne Feftig- 
feit erhalten. Sein abgefchloffenes Glaubensſyſtem fei eine Erfindung, von der 
die Alten Feine Ahnung gehabt, Mit einem mehr mohammedanifchen als jüdifchen 
und thalmudifchen Despotismus habe er einen Codex gebildet, damit alle Glau— 
bensfäge und Uebungen bis in’s Kleinſte feftgeftellt und entfchieden feien (f. Iſrae— 
Iitifhe Annalen, Jahrg. 1839, ©, 6. 405), Und Iſaac Neggio in Görz gibt 
biezu Beifall und Iobt den edlen Eifer zur Entfernung des Joches, das dieſer 
Dann den Sfraeliten aufgebürdet habe und das alle Freiheit im Denken raube 
Cebend. ©. 22), Die Hauptfache ift jedoch hier die Stellung, die Maimonides 
feinen jüdischen Neligiongurfunden gegenüber einnahm, Und in diefer Beziehung 
fann als zugeftanden betrachtet werden, daß er nicht gerade eben diefe, ſondern 
vielmehr feine aus Griechen und Arabern gefhöpfte Bhilofophie zum Ausgangs- 
puncte machte, und daher nicht fo faft die Ergebniffe feiner philofophifchen For- 
ſchungen mit der Schrift und dem Thalmud in Einflang zu bringen, als vielmehr 
legtere fo zu deuten fuchte, daß fie mit feiner Philofophie harmonirten. Es fonnte 
daher nicht fehlen, daß er in feinen biblifchen und thalmudifchen Auslegungen 
überall zum Symbolifiren und Sublimiren fi genöthigt fah, und in Folge deffen 
den Tert zuweilen nicht bloß willfürlih, fondern auch gewaltfam behandelte 
(Geiger a. a. O. ©, 89), weßhalb er auch von Einigen nicht ganz mit Unrecht 
als der Vater des neuern jüdischen Nationalismus bezeichnet wird, Er ift na= 
mentlich fein Freund von Wundern, und obwohl er die Möglichkeit und Wirklich- 
feit derfelben anerfennt, nachdem er einmal eine Schöpfung aus nichts flatuirt 
bat, fo fucht er doch in gegebenen Fällen durch uneigentlihe Deutung der betref- 
fenden Berichte dem wirklichen Wunder, wo möglich, auszuweichen. Eine ſpe— 
eielere Angabe und Würdigung feiner philofophifchen Anfichten kann nicht hieher 
gehören, Vrgl. über ihn außer den gelegenheitlich ſchon angeführten Schriften 
noch: Revue orientale, Bruxell. 1841. — Beer, Leben und Wirken des Mai— 
monides, Prag 1844, — Lebrecht im Magazin f. d. Lit, d. Aust, 1844, Nr, 45. 
62, — Scheyer, das pſycholog. Syſtem des Maimonides, Franff, 1845, — 
Gumpoſch, Gefhichte der Philofophie, Supplement zu Dr, Rixners Handbuch 
der Gefch. der Philofophie, Sulzbach 1850. S. 136—39, [Welte,] 
Mainz, Bisthum. Der Mainzer Tradition zu Folge foll Erescenz, 
ein Schüler des Apoſtels Paulus, wie in Gallien, fo auch in der Gegend von 
Mainz gepredigt haben und der erfle Bifchof diefer Chriftengemeinde geworden 
fein, Daß Crescenz nach Gallien gekommen fei (und Mainz war mit Gallien 
ſowohl nahbarlich wie politifh als Hauptftadt der Germania prima verbunden), 
will man durd die Stelfe 2 Timoth, 4, 10. erweifen, wo Paulus fagt: Konaxng 
(sc. &rrogevIn) eis Taharlav, d.h, „Crescens reiste nah Oalatien”, 
Statt Takarlav (Oalatien) Tefen nämlich hier ziemlich viele alte Kirchenväter, 
fo wie noch mehrere vorhandene Bibel-Codices PaAdlav oder Taehktas, fo Codex 
C. 23. 31. 39. 73. 80 (vgl. Griesbach in Apparatu a. h. 1.). Was aber noch 
wichtiger iſt: die beiden Ausdrüde Gallien und Gallatien wurben in ber 
alten Zeit ganz promifene gebraucht, und mit beiden Worten bald das weſtliche 








Mainz. 163 


bald das öſtliche Eeltenland bezeichnet. Nur der Plural Tailicı geht immer 
auf das weftliche, d. h. unfer Gallien. Daraus folgt: es mag im zweiten Briefe 
Pauli an Timotheus Takariov vder Tekklav die richtige Lefeart fein, immerhin 
kann darunter ebenfogut Gallien als Galatien verftanden werden (vgl. Rett- 
berg, Kirchengeſch. Teutfchlandg, Bd. I. ©, 83, ff.). Im den erften Jahrhun— 
derten wiederholten Irenäus (adv. haer. III. 14. n. 1) und die avoftolifhen Con— 
ſtitutionen (VII. 46) die Worte Pauli mit der Lefeart Takariav; feit dem vierten 

Jahrh. dagegen wurde unfere Stelle immer entfchiedener auf das weftlihe Gallien 
bezogen. Eufebius (hist. eccl. IH. 4) fagt: „Erescens wurde eis TMicc 
geſchickt“; Hieronymus (calal. script. ecel. append. 1) erzäßft: „Crescens in Gal- 
lüs praedicavit.“ Ebenſo gebraucht das Chronicon paschale (Olymp. 220, T. 1. 
p- 471. ed. Bonn.) den Plural; Epipbanius aber (haer. 51, 11) und Thev- 
doret (in II Tim. 4, 10) erflären fich entfchieven gegen Galatien und für Gal- 
lien (wgl. Rettberg a.a.D. und meine „Geſchichte der Einführung des Chriften- 
thums im fübweftlihen Teutſchland ©. 53. ff.“). Es kann ſich hienach nur fragen, 
welches Gewicht dieſen Zeugniſſen beigelegt werden dürfe. Ich meinerſeits habe 
in meiner ebenangeführten Schrift (S. 54. f.) die Sache fo aufgefaßt: Euſebius 
und die Uebrigen würden die Worte Pauli nicht auf das weftliche Gallien (und 
damit auf Mainz) gedeutet Haben, wenn nicht die in Gallien felbft vorhandene 
Tradition dieß nahe gelegt Hätte. Im Gegenjag hiezu will jedoh Nettberg 
(l. c. ©. 86. f.) geltend machen, daß weder in Mainz, noch in Gallien (nament- 
lich Vienne) in jenen frühern Jahrhunderten irgend eine Tradition über Erescens 
vorhanden gewefen, vielmehr erfi aus den Worten Pauli, Eufebit u, A, entftanden 
fei, und zwar fehr ſpät. Ado um's 3. 860 fei der Erfte, der diefe Traditiom- 
fenne, Die ganze Argumentationsweife Nettbergs ift jedoch Feineswegs ſieghaft; 
im Gegentheil glauben wir eben in den Aeuferungen des Eufebins, Hieronymus 
w 4. Delege von der Erxiftenz und dem höheren Alter der gallifch - mainzifchen 
Tradition erbliden zu dürfen. — Der zweite Pag in der Mainzer Miffions- 
geihichte wird gewöhnlich der 22. römischen Legion eingeräumt, und behauptet, 
fie fei früher in Aegypten geftanden, babe an der Zerfiörung Jeruſalems Theil 
genommen, von diefer Zeit an viele Chriften unter ſich gezäßlt, und fei gleich 
darauf, (70 oder 71 n, Ehr.) an den Rhein verlegt worden, Es ift jedoch nach⸗ 
gewiefen, daß es zwei Legionen mit der Nummer 22 gegeben habe, wovon die 
eine fhon im J. 66 n, Chr. am Rheine fland, während die andere im J. TO noch 
vor erufalem lag (vgl. P. S. A. Wiener, de legione Rom. vicesima secunda, 
1830). Daraus folgt jedoch noch nicht, wie Nettberg (S. 170) erſchließen will, 
daß diefe 22, Legion gar fein Moment für die Chriftianifirung des Mainzerlandes 
und des erfien Germaniens biete; denn ſchon im zweiten Jahrh. gab es wohl 
fhwerlih eine Legion, die nicht auch Chriften enthalten Hätte (vgl. Tertull. 
Apolog. c. 37; hesterni sumus ef vestra omnia implevimus, urbes ... castra 
ipsa etc. Vgl. auch den Eingang zu feinem Buch de corona); in jener alten 
Zeit aber fah fih der Soldat, wie der Kaufmann, jeder für einen Miffionär an. — 
Daß aber in der That im zweiten Jahrh. in Germania I et II wirklich ſchon chriſt⸗ 
liche Gemeinden beftanden, bezeugt Irenäus (I. 10) mit den Worten: At neque 
hae, quae in Germaniis sitae sunt ecclesiae, aliter credunt, nec quae in Hispa- 
nis aut Gallüs. (Vgl. meine Gef. d. Einführung ıc. S. 49), Er nennt zwar 
bier Mainz nicht ausdrücklich; aber da Mainz die Hauptftadt des erſten Ger- 
maniens, Cöln die des zweiten war, und nach einem allgemeinen Canon die 
größten und befuchteften Städte überall zuerft Hriftlihe Gemeinden hatten, fo 
müfjen die Worte des HI. Irenäus notwendig als ein Zeugniß für die Eriftenz 
einer chriſtlichen Kirche zu Mainz im zweiten Jahrh. angefehen werden. Dagegen 
Laßt ſich nicht mit Sicherheit erweifen, daß ſchon Kaifer Domitian, wie Profeffor 
Drüpl in feinem Werke über Mainz (1829) wahrſcheinlich machen will, bei fei= 


764 Mainz. 


nem geräuſchvollen aber thatlofen Einfall in Germanien über die Chriften der 
Nheingegend eine Verfolgung verhängt habe, und daß unter Kaiſer Septimius 
Severus (193—211) bei der Feier feiner Duinquenalfefte in Mainz viele Ehriften 
ermordet worden feien. Beranlaffung zu diefer Verfolgung, vermuthete Pater 
Fuchs, habe der blinde Eifer einiger riftlicher Soldaten gegeben, und in der 
That fand man in einem Gewölbe bei Mainz ein halbzerträmmertes Standbild 
der Diana mit einer Inſchrift, wonon noch die Worte zu leſen waren: qui ferreo 
fuste percussit Dianam. — Daß gegen Ende des dritten und im Anfange des 
vierten Jahrh. die Uferlande des Rheines ſchon chriftianifirt waren, beweifen nicht 
nur einzelne in jenen Gegenden aufgefundene altchriftliche Inſchriften (der Grab- 
fein des Eppoeus zu Wiesbaden, aus dem dritten oder vierten Jahrh.; ver 
Grabftein der Lindis zu Ebersheim, und der Servandia Barbara zu Mainz, 
vgl. Nettberg S. 174), fondern auch die ausdrückliche Erklärung des Kirchen- 
hiſtorikers Sozomenns (Sec. V.): „daß zu Eonftantin’s Zeit die Stämme auf 
beiden Ufern des Rheins ſchon chriftlich gewefen feien“ (707 ya ra ve anıpl 
rov Pivov püla Eygrorıdvıkov, lib. 1. 6). Doc) ift e8 auffallend, daß auf 
der Synode von Arles (ſ. d. A.) im J. 314 unter den übrigem gallifchen und 
teutfchen Bifchöfen (von Cöln und Trier) nicht auch ein Bifchof von Mainz mit- 
unterfhrieben hat, Binterim fucht dieß in feinen Denkwürdigfeiten (Bd. L. 
Thl. 2. ©. 607) durch die Hypothefe zu erklären, der damalige Mainzer Bifchof 
fei vielleicht durch den Einfall des Bandalenfünigs Karofo eben aus feinem Sitze 
vertrieben gewefen; fpäter nahm er jedoch diefe Erklärung wieder zurüdf, zumal 
die Chronologie in Betreff des Karoko oder Chrocus gar nicht feftftehe, und ftellte 
dafür die Vermuthung auf, daß bei Weitem nicht alle Bifchöfe, die in Arles ge— 
wefen, vielmehr nur ein Ausfhuß von ihnen die Aeten unterfchrieben Habe (Bin- 
terim, pragm. Gefchichte der teutfchen Coneilien Bd, I. S. 19. fi). — Daß 
Mainz um die Mitte des vierten Jahrh. ſchon eine zahlreiche chriſtliche Ein- 
wohnerfchaft hatte, beweist das Ereignif vom J. 367. Der alemannijche Häupt- 
ling Rando nämlich hatte ſchon lange gegen Mainz Böfes im Sinne, Zur 
Ausführung feines Vorhabens nun erfah er fich einen Fefttag der Chriften im 
J. 367, und während eben der größte Theil der Bevölkerung zum Gottesdienfte 
in der Kirche verfammelt war, brach er unverfehens in die Stadt, überrumpelte 
Alles und führte viele Gefangene und große Beute hinweg (Ammian. Mar- 
cellin. XXVII. 10). Aehnlich wurden auch bald nach dem J. 400 wieder meh— 
rere taufend Einwohner von Mainz in einer Kirche erſchlagen (Hieron. Ep. 123 
ad Ageruch.). — Den älteften Catalog ver Mainzer Bifchöfe liefert ung 
der Fuldaer Mönh Megenfried aus dem zehnten Jahrh. Er führt die Reihe 
vom apoftolifchen Crescens an ununterbrochen fort, hat aber manches Unwahr- 
ſcheinliche, 3. DB. die fpeeififch teutfchen Namen fo mancher unter den allerälteften 
Biihöfen. Diefem Catalog zu Folge wäre die Reihe der Mainzer Bifchöfe bis auf 
Bonifaz, den Apoftel der Teutfchen, folgende: Crescens, Marinus (Martin), 
Crescentius, Cyriacus, Hilarius, Martinns, Celfus, Lueiuns oder 
Lucas, Gothard (Godeard), Sophronius (Suffronius), Heriger, Ru— 
thber, Avitus, Ignatius, Dionyfins, Nudbert, Adelhard, Auneus 
Lucius, (Lueas Annäus), Maximus Cum die Mitte des vierten Jahrh.), Si« 
doniusl, Sigismund, Lupold, Nieetius, Marianus, Aureus, Eutro- 
pius, Adalbert, Nather, Adelbald, Lanfried, Radhard, Sidonius I. 
(545), Wilbert, Ludgaft, Rudhelm, Ludwald (Ruthwald), Leowald, 
Sigbert (oder Richbert), Gerold, Gewilieb (Vila s. Maximi, ed. Trithem. 
bei Surius, vitae Sanctorum. T. VI. p. 403. Colon. 1618). — Wie wir feben, 
gibt der Catalog um die Mitte des vierten Jahrh. einen Marimusan, der an 
dem (freilich erdichteten) Cölner Coneil im J. 346 Antheil gehabt habe (ſ. d. A. 
ECöln), In den Acten biefer Colner Synode dagegen (Mansi Al. 1372) führt, 


Mainz. 7165 


der Mainzer Bifchof den Namen Martinus, und obgleich Binterim diefe Acten für 


unächt hält, gibt er doch dem Namen Martin den Vorzug. Er beruft fich dafür 


auf Athanafius. Diefer hatte während feines Erils in Trier mehrere Biſchoͤfe 





Galliens und der Rheingegenden für fich gewonnen, und führte nun fpäter (Apolog. 
contra Arian. c. 50. Opp. T. I. 1. p. 133. ed. B. B. Patav. 1777) ihre Namen 
an, jedoch ohne Angabe ihrer Bisthümer, Es Taffen fih aber die Site dieſer 
Biſchöfe noch ermitteln, und es bleibt dann für den von Athanafius ebenfalls 
genannten Martinus nur mehr der Stuhl von Madoz übrig. Daß übrigens Atha- 
nafius von Trier aus wie mit dem Wormfer und Speierer, fo auch mit vem Mainzer 


Biſchofe befannt geworden fer, ift nicht zu zweifeln (vgl, Binterim, teutfche 


Eoneil. 1 22. und Rettberg ©. 209). — Nicht lange fpäter foll ver Biſchof Au- 
reus von Mainz nebft feiner Schwefter Juftina von den Hunnen gemartert worden 
fein. Eben damals fei auch der Hl. Alban enthauptet worden und habe feinen 
abgefchlagenen Kopf felbft bis an den Play feines Begräbniffes (wo jegt die 
Albanskirche fteht) getragen. Die älteren Mainzer Gefchichtfchreiber jedoch wiffen 
nur von dem Martertod des hl. Albanus, nicht aber von diefem auffallenden 
Wunder, wie denn auch die älteften Siegel des Klofters St. Alban diefen Heiligen, 
den Kopf auf den Schultern, darftellen (Nettberg ©. 211). — Der erfte ganz 
verbürgte Name aus der Reihe der Mainzer Bifchöfe ift Sidonius II. aus der 
Mitte des fechsten Jahrh., Erbauer eines Baptifteriums, Wiederherfteller der 
zerfallenen Stadt und mehrerer Kirchen, und berühmt durch feine Wohlthätigkeit, 
Später, im Anfange des achten Jahrh., treffen wir ven Bifhof Gerold, der in 
einem Kriegszuge gegen die Sachſen fiel, und es folgte ihm fein Sohn Gewie- 
lieb over Gerwilio, welcher nachmals von dem hl, Bonifaz (ſ. d. U.) abge- 
fest wurde, Jetzt, im J. 747, beftieg Bonifaz felbft ven Stuhl von Mainz, 
welcher ebendamit auch zur Metropolitanwürde erhoben wurde. Die beiden 
fränfifhen Fürften, Carlmann und Pipin, ſchickten nämlich gleich nach diefer Stuhl— 
befteigung des HI. Bonifaz eine Gefandtfchaft nah Rom, um hier die Erhebung 
der Mainzer, bisher unter Trier geftandenen Kirche, zur Metropolitanwürde zu 
betreiben, Papft Zacharias war damit einverftanden, und erließ (Epist. 83) im 
J. 748 das Ediet: „daß die Kirhe von Mainz dem Bonifacius und feinen Nach— 
folgern für ewige Zeiten ald Metropolitanfirche übertragen werde, und die Städte 
Tongern (f. d. A. Lüttich), Cöln, Worms, Speier und Utrecht, fo wie 
alle Bölfer Germaniens, welche durch Bonifacius zum Chriſtenthum befehrt wor= 
den, unter fih haben folle” (vgl. Seiters, Bonifacius ©. 502). Durd die 
lestern Worte: „alle Völfer Germaniens 20.” waren dem Stuhle von Mainz die 
von Bonifaz neu errichteten Bisthümer Erfurt, Buraburg, Würzburg und 
Eihftädt unterftellt worden, fo daß derfelde 9 Suffraganate zählte. Bon 
Augsburg, Straßburg, Eonftanz und Chur fagt das Decret des Papftes 
Zacharias Feine Silbe; doch treffen wir diefe 4 Bisthümer furze Zeit nachher fac- 
tiſch als GSuffragnate von Mainz, indem z. B. ein noch vorhandenes Fragment 
zeigt, wie Erzbifchof Rieulph von Mainz (787—813) dem Bifchof Egino von 
Eonflanz einen Befehl ertheilt Habe (Nettberg ©. 579 f.). Später hörten 
die Bisthümer Erfurt und Buraburg auf, und Eöln mit Tongern und 
Utrecht wurde von Mainz getrennt (f. d. A. Coln); dagegen erhielt Mainz 
neue Suffraganate an Paderborn, Halberftadt, Hildesheim und Verden, 
wozu fpäter auch Prag und Dimüg famen, fo daß Mainz 14 Suffraganftühle 
unter ſich hatte, Kaifer Carl IV. jedoch löste um die Mitte des 14ten Jahrh. 
Prag und Dimüg wieder von Mainz ab; Halberftadt und Verden aber gingen 
durch die Reformation Cbleibend durd den weftphälifchen Frieden) verloren, fo 
daß der Mainzer Metropole fortan 10 Suffraganate blieben: Würzburg, 
Worms, Eihftädt, Speier, Straßburg, Conftanz, Augsburg, Chur, 
Hildesheim und Paderborn, wozu im 3. 1752 noch das durch Benedict XIV. 


766 Mainz. 


nen errichtete Bisthum Fulda hinzukam. — Der erfte Nachfolger des hl. Bonifaz 
auf dem erzbifchöflichen Stuhle von Mainz war fein Schüler Lullus, den er ſchon 
bei feinen Lebzeiten, als er zulegt noch als Miſſionär zu den Friefen ging, zu feinem 
Stellvertreter beftimmt Hatte Cugl.d.A. Bonifacius). Lullus gerieth bald mit dem 
Abte Sturm von Fulda (ſ. d. A.) wegen der bifchöflichen Jurisdietion über diefeg 
Klofter in Streit, und foheint auch in Nom nicht beliebt gewefen zu fein; wenig» 
ftens mußte er 20 Jahre warten, bis er das Pallium erhielt, im J. 780. Uebri— 
gend war er firenge in Handhabung der Zucht und Ordnung, befonders unter 
feinem großentheils noch fehr rohen Clerus. Auch gründete er das Klofter Hers- 
feld (f. d. U.) an der Fulda, wo er am 16. Detober 786 oder 787 ftarb. Ihm 
folgte Rie ulph (787—813), früher ein Vertrauter Carls d. Gr, und gelehrter 
Freund Alecuins. Er wurde fälfchlich befchuldigt, daß er die von Earl erbaute 
Mainzer Rheinbrüde habe anzünden laffen, weil ein Raubverbrechen darauf be- 
gangen worden fei, Nach ihm ſaß Haiftulph, ein Benedictiner, 12 Fahre auf 
dem erzbifchöflichen Stuhle von SL4A—826 ; darauf beftieg ihn Dtgar (826—47), 
der muthmaßliche Urheber der Pfeudoifivor’fhen Sammlung (ſ. d. A). Noch be- 
rühmter wurde Nabanus Maurus (f. d. A), früher Mönch und Abt in Fulda, 
feit 847 Erzbifchof, einer der gelehrteften Männer feiner Zeit. Nach feinem Tode 
Cer ftarb den A, Febr, 856 auf feiner Billa — Winkel im Rheingau) wurde Earl, 
der Sohn des Königs Pipin I von Aquitanien (856—63), darauf der friegerifche 
Liutbert (863— 89), fofort Sungo oder Sunderhold erhoben, welder im 
% 891 in einer Schlacht gegen die Normannen an der Geule fiel. Die nächften 
Erzbifhöfe hießen Hatto I. (ſ. d. A.); Heriger (913— 27); Hildebert 
(+ 939; Friedrich CH 954), der Felonie gegen Dito I. ſchuldig und darum 
längere Zeit verbannt; Wilhelm (+ 968), Otto's I. natürlicher Sohn (feit ihm 
haben die Mainzer Erzbifchöfe ven Titel als Erzfanzler des Reihe); Hatto ll. 
von 968—70 (ſ. d. U), der angebliche Erbauer des Mäufethurms bei Bingen ; 
Nobert (+ 975). Jetzt folgte der berühmte Willigis CH 1011), groß als 
Staatsmann, wie ald Bifchof, der Erbauer der neuen Domkirche (978), welde 
fein dritter Nachfolger Cunmittelbar folgten nämlih Arhimbald 1011—1021, 
und Aribon 1021 —1031), der hl. Bardo vollendete, Bardo war Mönch in 
Fulda und Verwandter der Kaiferin, der Gemahlin Conrad's IL, der ihn auch 
(vor dem Inveſtiturſtreit) zum Erzbifchof wählte, Gleich nach feiner Erhebung 
wurde er an Weihnachten zur Feftpredigt nach Goslar, wo fich der Kaiſer eben 
aufhielt, eingeladen, Seine Predigt fiel, weil er nicht die gehörige Zeit zur Vor— 
bereitung hatte, zu kurz und inhaltsleer aus, und wurde von der des Dietrich 
von Mes am Stephanstage weit übertroffen. Viele Bornehme waren darum 
mit der Wahl des Kaiſers unzufrieden und warfen ihm Parteilichfeit vor, Aber 
am dritten Feiertage prebigte Bardo abermals, fo gewaltig und falbungsvoll, 
daß alle Zuhörer weinen mußten, der Kaiſer aber darauf freudig ausrief: „heute 
feire ich mein Weihnachtsfeft“ (Fleury, hist. ecel. Livre LIX. n. 30). — Ihm 
folgte (Leopold (Liutpold) 1051 — 59, diefem Sigfried L, Graf von 
Eppenftein, und nach feinem Tode (1084) Wezilo, der auf ber Synode 
von Halberftadt als Häretifer mit dem Banne belegt wurde, weil er behauptet 
hatte, die Weltgeiftlichen, die ihrer Güter beraubt feien, ftünden nicht mehr unter 
dem geiftlichen Gerichte. Er entfagte jedoch diefem Irrthum und ftarb 1088, 
Sein Nachfolger Ruthard betheiligte firh bei einer biutigen Judenverfolgung, 
und floh darauf, aus Furcht vor dem Kaifer, nach Thüringen (4 1109). Albert 
oder Adelbert I., ein Graf von Saarbrück (1100 — 1137), war ein Gegner 
Heinrihs V. (f. d. A), und wurde deßhalb von diefem gefangen, aber von den 
Mainzer Bürgern wieder befreit, Aus Dankbarkeit verlieh er ihnen den Freidrief, 
der auf den erzenen Thüren des Doms eingegraben iſt. Nach Heinrichs V. Tod 
berief er im J. 1125 jenen Neichstag, auf welchem und die erfie Spur ber 





* 


Epurfürften begegnet.’ Auf feinen und des paͤpftlichen Legaten (Earbinal Ger- 


hard) Vorſchlag nahmen jetzt nicht mehr wie früher ſämmtliche teutfche Fürften 
an der Raijerwahl Theil, fondern es wurden 10 aus jedem der vier Hauptflämme 
CHranfen, Sachſen, Schwaben und Bayern) ausgewählt, und diefe 40 nun wähl- 
ten den Sahfenherzog Lothar zum Kaiſer. So war Albert oder Adelbert nicht 
nur felbft der erſte Churfürft von Mainz, fondern au der eigentliche Urheber 
der Hurfürftlihen Würde (vgl. Luden, Gef. d. teutſch. Bolfes X. 13). Noch 
deutlicher trat die Churfürftenwürde im J. 1152 bei der Wahl Friedrich Barba- 
rofja’8 hervor, indem nur die principes electores wählten, die übrigen Fürften 
bloß beiftimmten. Ein paar Menfchenalter fpäter fpricht Albrecht von Stade, ein 
Zeitgenoffe Friedrichs I., bereits von 7 Churfürften, 3 geiftlichen (Mainz, Trier, 
Eöln) und 4 weltlichen (Pfalz; Sachfen, Böhmen, Brandenburg), und nach Frie- 
drichs I. Tod fehen wir bei der Wahl feiner Nachfolger Richard von Cornwall und 
Alphons von Caftilien bereits nur mehr die Churfürften tätig (Schmidt's Gef. 
d. Teutſch. III. 80); der Erzbifhof von Mainz aber hatte ſtets den erſten Rang 
unter den Ehurfürften, wie er überhaupt allen Fürften und Prälaten des teutfchen 
Reiches voranging. Auf Albert oder Adelbert I. folgte fein Bruder Albrecht 
oder Adelbert li. 1138—41, dann Marculph (Arnulph) 1141—42, Hein- 
zich 1. 1142—53, Arnulph oder Arnold von Seelenhofen 1153 — 1160, 


der von den Bürgern von Mainz, weil er befondere Steuer verlangt hatte, er- 


mordet wurde. Sein Nachfolger Conrad von Wittels bach war ein Anhänger 
Alerander’s II., mußte deßhalb vor Kaijer Friedrih I. fliehen und wurde Erz- 
biſchof von Salzburg. Statt feiner erhob der Kaiſer jegt feinen Kanzler, Graf 
von Buche als Ehriftian I. im J. 1166 zum Erzbifhof von Mainz, der nun 
auch an den Kämpfen des Kaifers gegen Rom und Oberitalien Iebhaften Antheif 
nahm. Cogl. Raumer’s Geſch. d. Hohenftf. IL. 195. 198. 207, 227. 275). Nah 
feinem Tode 1183 wurde fein Borfahrer Conrad wieder eingefegt, und diefem 
folgten im J. 1200 — 1230 Sigfried IL von Eppenſtein; Sigfried II 
aber (1231 — 1249), des Vorigen Neffe, au ein Graf Eppenftein, ftellte 
die durch Brand verunglüdte Cathedrale wieder her, billigte die Abjegung Fried- 
richs I. und hatte ſolches Anfehen, daß er hintereinander zwei Raifer , Heinrich 
Rafpe und Wilhelm von Holland, auf den Thron erhob. Ein darauf bezügliches 
Denkmal findet fih noch jest im Mainzer Dom. Weniger berüfmt waren Chri- 
fiian IL, der im J. 1251 felbft refignirte, Gerhard J. (1251—1259), Wern- 
ber von Eppenftein (1259— 1284), Heinrich IL, ein Franciscaner bürger- 
licher Abkunft, und firenge in Handhabung der Kirchenzucht CH 1233), und Ger- 
hard U. von Eppenftein (1233— 1305). Einen großen Namen dagegen erwarb 
ſich Peter Aihfpalt (ſ. Aihfpalt) von 1305—20, dem von 1321 — 28 
Matthias, Graf von Buher folgte. Nach feinem Tode ernannte der Papft 
den Örafen von Birneburg, Heinrich II, den jedoch das Eapitel längere Zeit 
nit anerkennen wollte. Später übrigens, 1346, fegte ihn Papft Clemens: VI. 
wieder ab, aber Heinrich erhielt fih doch im Belige bis an feinen Tod 1353, 
und nun erft fonnte der vom Papfte ſchon feit länger gewählte Gerlach, Graf 
von Naffau, den erzbifchoflichen Stuhl befleigen, Er ftarb 1379 und hatte 
Adolph. von Naffau zum Nachfolger, weldem entgegen der Papft und Kaiſer 
den Ludwig von Meißen erhoben. Sie verglichen fih jedoh, und Ludwig 
wurde Erzbifchof von Magdeburg; Adolph aber fliftete 1389 als Erzbifhof von 
Mainz die Univerfität Erfurt (f. d. A.) und ftarb 1390. Conrad I von Weins- 
berg fofort verfolgte die Waldenfer (+ 1397), Johann I. von Naffau, Adolphs L. 
Druder (13IT—1419), nahm Theil an der Abfegung des Kaiferd Wenzel, und 
hatte lange Kriege mit Braunfchweig und Heffen, Aehnlich Tag Conrad III. 
Rheingraf von Stein, in beftändiger Fehde mit den Mainzer Bürgern (+ 1434), 
welche erft fein Nachfolger Dietrich von Erb ach im J. 1435 unter Beiftand 


768 Mainz. 


zweier Commiffarien des Basler Coneils fohlichtete, Unter ihm wurde auch die 
Buchdruckerkunſt (ſ. d. A.) in Mainz erfunden, Nach feinem Tode (1459) fritten 
fih Diether, Graf von Iſenburg (f. d. U.) und Adolph I. von Naffau 


um den erzbifchöflichen Stuhl, Die Bürger der bisher freien Neichsftadt Mainz 


nahmen Partei für den Erftern; aber er wurde, weil er die Annaten nicht ent= 
richtet hatte, von Pins II. abgefegt und von feinem Gegner in einer Schlacht bei 
Heidelberg 1462 überwunden, Adolph eroberte und plünderte darauf Mainz und 
unterwarf jest auch diefe Stadt (1462) der weltlihen Hoheit der Erzbifchöfe, 
die bereits auch manche andere Herrfchaften erworben hatten und im Laufe -der 
Zeit. deren noch mehrere erhielten, Nach Adolphs IL. Tod 1475 erhielt wieder 
Diether das Erzftift und gründete jegt 1477 die Univerfität Mainz (fie wurde 
im 5. 1798 unter franzöfifcher Herrfchaft wieder aufgehoben). Ihm folgten Al— 
bert II, 1482—84; Bertholt, Graf von Henneberg (f. d. A.), Erzkanzler 
Marimilians I., 1484—1504 5 Jacob von Liebenftein bis 1508; Uriel von 
Gemmingen bis 1514; darauf Albrecht von Brandenburg (ſ. d. A.), ein 
Zeitgenoffe Luthers, Anfangs der Neuerung nicht abgeneigt, fpäter ihr entſchie— 
dener Gegner, CH 1545). — Während fodann Sebaftian von Heufenftamm 
(1545 — 55) Erzbiſchof war, eroberte Albert Alcibiades von Brandenburg die 
Stadt Mainz, und verbrannte den churfürftlihen Palaft und mehrere Kirchen, 
Bon da an bis zum dreißigjährigen Kriege regierten Daniel von Homburg 
C+ 1582) , Wolfgang von Dalberg (+ 1601), Johann Adam von Biden 
(+ 1604), Johann Schweifard (Suifard), Edler von Kronberg (+ 1626), 
Georg Friedrih von Öreiffenflau (+ 1629), und Anfelm Cafimir von 
Umftadt. Unter Iegterem wurde Mainz wiederholt Tummelplag der ſchwediſchen, 
franzöfifchen und Faiferlichen Truppen, Zulegt blieben die Franzofen Meifter der 
Stadt, während der Churfürft nach Frankfurt hatte flüchten müffen, wo er im 


J. 1647 ftarb, Es folgte Johann Philipp von Schönborn, und blieb im. 


Befige, obgleich die Schweden beim weftphälifchen Frieden (1648) die Säcularifi- 
rung des Erzftifts verlangten. Unter ihm begann der Streit zwifchen Mainz und 
Coln wegen des Rechtes, den teutichen Kaiſer zu ſalben. Er ftarb 1673. Schon 
er , noch mehr feine Nachfolger Lothar Friedrich von Metternih-Burfheid 
C+ 1675), Damian Hartard von der Leyen (1678), Carl Heinrich von 
Metternih- Winneburg (+ 1679) und Anfelm Franz von Ingelheim 
waren vielfach in weltliche Händel verflochten; Teßterer wird fogar eines geheimen 
Einverftändniffes mit den Franzofen befchuldigt, denen fih Mainz im 3. 1688 
ergab, Aber fchon im folgenden Jahre wurde die Stadt von den Teutfchen wieder 
erobert und auch der Churfürft fehrte wieder zurück C+ 1695). Nach ihm regier- 
ten noch Lothar Franz Schönborn (+ 1729), Franz Ludwig von Pfalz- 
Neuburg (+ 1732), Philipp Carl von Eltz-Kempenich (+ 1743), Johann 
Friedrich Carl von Dftein (+ 1763), Emmerich Joſeph, Baron von 
Breitbah-Burresheim (+ 1774), und Friedrid Carl Joſeph Baron 
von Erthal, der an der Emfer Punctation (ſ. d. A.) Antheil nahm und über- 
haupt die Febronianifhen Grundſätze (f. d. A. Hontheim) befchügte, Wahrend 
feiner Negierung fiel Mainz im J. 1792 durch Feigheit und Berrath in die Hände 
der Franzofen unter General Cuftine, wurde ihnen zwar wieber entriffen, aber 


am 29, December 1797 wieder von ihnen erobert und der Nepublif einverleibt. 


Schon beim Bombarbement der Stadt im J. 1793 gerieth die Domfirche am 
18, Zuni in Brand, und verlor die Dächer ihrer Schiffe, der Thürme und des 
Kreuzgangs, auch ihre Foftbare Bibliothek. In den folgenden Kriegsjahren war 
fie zu einem Fouragemagazin entwürdigt, geplündert und verwüftet, Im Januar 
1798 ſteckten die Franzofen die Tricolorfahne an der Spige des Domthurmes auf. 
ALS darauf durch den Lünevilfer Frieden (1801) die Stadt Mainz nebft einem 
großen Theile des Erzftifts an Frankreich fiel, erhielt der franzöfifche Domainen« 





Maiftre, | 769 


director Guyon von der Regierung die Weifung, alles, was fih noch an beweg- 
lichen Gegenftänden im Dome befinde, öffentlich an den Meiftbietenden verſtei— 
gern zu Iaffen; und dieß gefhah auch. Während der Neihspeputationg- 
Berhandlungen, welche auch eine Entfhädigung des Erzbifhofs von Mainz 
herbeiführen follten, ftarb der genannte Tegte Mainzer Churfürft Erthal, und fein 
bisheriger Coadjutor Dalberg (f. d. A.) erhielt nun zur Entfhädigung ſammt 
dem Titel Churerzfanzler die Fürſtenthümer Afhaffenburg und Regensburg 
und die Graffchaft Weslar. Zugleih wurde das Erzbistfum nah Negensburg 
verlegt. Das Churfürftentfum und Erzbisthum Mainz hatte aufgehört. An welt- 
lichem Gebiet hatte daffelbe 150 Duadratmeilen mit ungefähr 350,000 Einwoh- 
nern umfaßt. Der Churfürft hatte 1,400,000, das Capitel, aus 24 Canonicis 
und 15 Domicellaren beftehend, 330,000 Gulden Einfünfte. — Nachdem der 
der erfte Eonful von Franfreih im J. 1801 mit Pius VII. ein Concordat geſchloſ⸗ 
fen hatte, erhob er auch Mainz, jetzt Hauptfladt des Departements Donnersberg, 
wieder zu einem Bistum, und ernannte am 23, Detober 1802 den edlen Jo— 
ſeph Ludwig Colmar aus Straßburg, der während der franzöfifchen Schreckens— 
berrfchaft taufendmal fein Leben auf's Spiel gefest hatte, um die Segnungen der 
Religion zu fpenden, zum erften Bifchofe von Mainz. Bon dem Eultminifter 
Portalis unterftügt, brachte es Colmar, von Bonaparte perfönlich geachtet, dahin, 
daß im J. 1803 der Dom wiederum dem kirchlichen Gebrauce zurücgegeben wurde. 
Von da an begann auch mit großem Eifer deffen Reparation, Aber nach der 
Schlacht von Leipzig wurden wieder 9000 Soldaten vom 9.—27. November 1813 
in den Dom einquartirt, welche, aus Notb, alles Holzwerf der Kirche verbrannten, 
Gleich darauf ward diefelbe abermals als Fouragemagazin benüßt, und erft nach 
Wiederbefegung der Stadt durch die Teutfchen am 4. Mai 1814 konnte zur Rei— 
nigung des Doms gefchritten und am 12, November 1814 wieder der erfte Gottes— 
dienft darin gehalten werden. Um diefelbe Zeit wurde Mainz durch den Wiener 
Eongreß dem Großherzogthum Heffen-Darmftadt einverleibt. Einige Jahre ſpäter, 
15. Derember 1818, ftarb Bifhof Colmar (eine ausführliche Biographie deffelben 
ift dem erſten Bande feiner Predigten vorangeftellt), und e8 folgte eine zwölf- 
jährige Sedisvacanz, bis nad) Errichtung der oberrheinifchen Kirchenprovinz (1827) 
Bitus Burg zum Bifchofe von Mainz erhoben und am 13. Januar 1830 feier- 
lich inftallirt wurde, Er flarb den 23. Mai 1333 und es folgte ifm 1834 Jo— 
bann Jacob Humann, und nad deffen früßzeitigem Tode (+ den 19. Auguft 
1334) Peter Leopold Kaifer 1835 — 48 (+ 30. Dee, 1848); am 25. Juli 
1850 aber beftieg Wilhelm v. Retteler den Stuhl des HI. Bonifacius. — 
Die jesige Didcefe Mainz, zur oberrheinifchen Kirchenprovinz (f. d. A.) gehörig 
und ein Suffraganat von Freiburg (ſ. d. A.) umfaßt das ganze Großherzogthum 
Heffen mit 148 Pfarreien und ungefähr 180,000 Gläubigen. Literatur: außer 
den bereit angeführten Werfen Serarius, res Moguntiacae. Mog. 1604. Wer- 
ner, Franz (+ Domdehant in Mainz), der Dom zu Mainz und feine Denfmäler, 
nebſt Darfiellung der Schidfale der Stadt und der Gefhichte feiner Erzbifchöfe 
bis zur Translation des erzbifhöflihen Siges nad Negensburg. 3 Bde. Mainz 
1827. Schaab, Gef. der Stadt Mainz. 3 Bde. Mainz 1844. [Hefele.] 
Maiftre, Graf Joſeph von, ausgezeichneter Fatholifcher Schriftfteller, 
1753 zu Chambery geboren, von einer urfprünglic aus Languedoc ftammenden 
Familie, die fih in Piemont niedergelaffen hatte, wurde 1737 Senator zu Cham- 
berg und emigrirte 1793 nach der Befegung feines Baterlandes durch die Fran 
zofen. Als 1799 der König von Sardinien ſich genöthiget fand, das fefte Land 
zu verlaffen, folgte ihm der treue Graf von Maiftre auf die Infel Sardinien 
und wurde mit ber Leitung der fardinifchen oberften Kanzlei beauftragt, Im 
J. 1803 wurde der Graf als bevollmächtigter Minifter an den ruffifhen Hof 
geſchickt, von wo er erſt 1817 zurückkehrte und als Staatsminifter, Kanzler von 
Kirchenlexilon. 6. Br. 49 


770 Majeſtät Gottes — Major und Majpriftenftreit. 


Sardinien und Mitglied der Academie der Wiffenfchaften zu Turin im Februar 
1821 vom Tode überrafcht wurde. Außer mehreren Heinen gehaltreihen Schrif- 
ten erfchienen von dem Grafen von Maiftre folgende vier größere Werfe: 1) Con- 
siderations sur Ja France, suivies d’un essai sur le principe generateur des con- 
stitutions politiques, Paris 1814; 2) Du pape, die zweite und verbefferte Ausgabe 
Lyon und Paris 1821; 3) De Yeglise gallicane etc. Lyon et Paris 1821; 4) Les 
soirdes de St. Petersbourg, 1821. In Teutſchland machte Friedrich v. Schlegel 
in. dem 9. und 10. Heft feiner Concordia und dann in B. 2 der neuen Ausgabe 
feiner Literatur-efhichte auf dag Werf Du pape aufmerkfam, und alle vier ge- 
nannten Werfe Maiftres fanden in den Wiener Jahrbüchern der Literatur, Iteg 
Duartalheft 1821 , eine ausführlige Beurtheilung. Bald darauf unternahm es 
Morig Lieber, ein um bie Fatholifche Sache Teutſchlands wohlnerbienter Gelehrter, 
die genannten Werfe Maiftre’s in Verbindung mit einigen gelehrten Fatholifchen 
Freunden in's Teutſche zu überfegen, Frankfurt 1822— 1825. Katholifcher Glaube 
und Fatholifche Lehre ift Geift und Seele der nah Inhalt und Form ausgezeich- 
neten Schriften des Grafen Maiſtre. Niemand hat beffer als er es einleuchtend 
gemacht, daß die wahren Grundurfachen der allgemeinen Erfchütterung aller Ver— 
bhältniffe von Kirche und Staat die verfebrten Lehren der Zeit feien, und daß das 
erfte und feftefte Band aller Geſellſchaft nur in der Religion beſtehe. Maiftre 
war auch der erfie, der es unternahm, die Verdienfte des Papfitbums um die 
Öefammteultur Europas ausführlich darzuftellen und die hohe Wichtigkeit der 
päpftlihen Macht für die wahren Grundlagen der Sprietät und Civilifation zu 
zeigen, Das hohe Intereffe der Maiftre’fchen Schriften für Religion, Gefes- 
gebung, Philoſophie und Geſchichte Hat den fel. Dr, Windifchmann bewogen, die 
Soirdes de St. Petersbourg mit einer philofophifchen Einleitung und philofopbifchen 
Bemerkungen zu begleiten. [Scrödl,] 

Majeſtät Gottes, f. Gott. 

Meajeftätsbrief, f. Dreißigiähriger Krieg. 

Majeftätsrechte, ſ. jura circa sacra. 

Majplus, Abt von Elugny,f. Elugny. 

Major und Majprijtenjtreit. Diefer Streit, der zunähft durd Major 
veranlaßt wurde und in dem es fih um die Notbwendigfeit der guten Werke han- 
delte, nahm im J. 1552 feinen Anfang , verfegte viele Jahre hindurch ganz 
Teutfchland in Spannung und trug zu jenem Abfchluffe der proteftantifhen Recht— 
fertigungslehre, wie er endlich in der Coneprbienformel (f. d. A) erfolgte, am 
meiften bei, Major, Georg, ift geboren den 25, April 1502 zu Nürnberg, 
wurde am Hofe Friedrichs des Werfen als Capellfnabe erzogen, und bezog, unter- 
fügt von ber Mildihätigkeit des Churfürften von Sachſen und des Nathes zu 
Nürnberg, im 3. 1521 die Univerfität Wittenberg. Mit regem Eifer fah er fi 
bier auf dem philologifchen und theologifchen Gebiete um und genof eines nähern 
Umgangs mit Luther und Melanchthon. Schon im J. 1529 wurde ihm das Ner- 
torat an der Schule zu Magdeburg anvertraut und dur feinen rühmlichen Fleiß 
und Eifer fam die dortige Schule zu bedeutendem Flor. Sieben Jahre fpäter 
wurde er Superintendent zu Eisleben und im J. 1539 fam er als Profeffor der 
Theologie und als Prediger an der Schloffirche nach Wittenberg; im I. 1544 
erhielt er die theologifche Dortorwürde, Zu dem Religionsgefpräche, welches nach 
dem Wunſche des Kaiſers in Regensburg flattfinden follte, wurde Major, ba er 
nach Luthers Meinung Mann’s genug dazu wäre, am 10, Januar 1546 abgefer- 
tigt; beigegeben waren ihm Bucer, Brenz und Schnepf, und die augeburgifche 
Confeffion und Apologie war ihnen in ihrer Inſtruction als Richtſchnur geftellt, 
BDegreifliher Weile fam aber bier fo wenig eine Vereinigung zu Stande, daß 
die fähfifhen Colloeutoren ſchon am 20. März Negensburg wieder verließen, 
Nun brach der ſchmalkaldiſche Krieg (ſ. d. A) aus und Major fah ſich veranlaßt, 


ne re ah 








Major und Majporiftenftreit. u ti 


das bedrohte Wittenberg zu verlaffen. Nur der Umſtand, daß ihm der Herzog 
Auguft das Amt eines Hofpredigerd und Superintendenten in Merfeburg 1547 
übertrug, rettete ihn und die Seinen vor bitterer Noth. Doc fchon im folgenden 
Jahre nah Beendigung des Kriegs fonnte er wieder nach Wittenberg zurücffehren, 
Bergebens ließen ihm der König von Dänemarf und der Herzog Friedrich von 
Holftein im 5. 1551 glänzende Stellen anbieten, dagegen nahm er im Anfang 
des 3. 1552 einen Ruf nad Eisleben als Superintendent der Mansfelder Kirche 
am, Er war jedoch um diefe Zeit dur feine Theilnahme an den Verhandlungen 
über das Leipziger Interim (f. d. A.), in welchem die Feinde diefer Formel fo 
viele päpftlihe Irrthümer witterten, und befonders dur die in daffelbe aufge- 
nommene Aeuferung, daß der Menfch bei dem Werfe der Befferung und Nedt- 
fertigung fi nicht als einen todten Bloc verbalte, der Zelotenpartei fehr mif- 
fällig oder mindeſtens verdädtig geworden ; dazu fam noch, daf ihn Amsdorf 
(G. ». 4.) zu Ende des 3. 1551 in einer Schrift des Adiaphorismus (f. Adia- 
phoriften) und der Verfälfhung der Rechtfertigungslehre befchuldigte, und ihm 
namentlih vorwarf, 1) daß er irgendwo gefchrieben habe: er wolle über das 
Wörtlein: Sola, oder über die Formel, daß der Glaube allein gerecht made, 
nicht freiten; 2) daß in einer feiner Schriften der Ausdruck vorkomme: ver 
Glaube made fürnehmlich felig; 3) daß er mehrmals ausdrücklich gelehrt Habe, 
gute Werke feien nötbig zur Seligfeit. Deßhalb erhoben die Prediger der Graf- 
ſchaft, als heftige Gegner des Interims befannt, Anfangs Schwierigfeiten , ihn 
als ihren Borgefegten anzuerfennen, und Liegen ſich endlich Majors Anſtellung 
nur gegen die Zufage gefallen, daß der neue Superintendent an dem bisherigen 
tirhlichen Zuftande nichts ändere und fih von der ſchon berührten öffentlichen 
Anflage genügend reinige. Major verfaßte deßhalb noch im J. 1552 eine Ant- 
wort auf die Anklageſchrift Amsdorfs und wies die erfte der Befhuldigungen als 
eine Unwahrheit zurüf, indem er Jedermann aufforderte, ihm diejenige Stelle 
feiner Schriften, in welcher jener Ausdruck ſtehen follte, namhaft zu machen, 
Hierauf erflärte er ſich über die Anhänglichkeit an die Lehre vom allein rechtfer- 
tigenden Glauben in der beflimmteften Weife, glaubte fih nun aber auch in Be— 
ziehung auf die Lehre von den guten Werfen berechtigt, feinen weitern Rückhalt 
zu beobachten, und ließ daher in feine Vertheidigungsfchrift die Worte druden: 
„das befenne ich aber, daß ich alfo vormals gelehrt Habe und noch Iehre, und 
fürder alle reine Tage fo Iehren will, daß gute Werfe zur Seligfeit nothwendig 
find, und fage öffenllich und mit klaren Worten, daß Niemand durch böfe Werfe 
felig werde, und daß auch Niemand ohne gute Werke felig werde, und fage noch 
mehr, daß wer anders Iehrt, auch ein Engel vom Himmel, der fei verflucht !* 
Major wollte wohl, durch die Wirfungen der neuen Rechtfertigungslehre erfchreckt, 
ihr durch befhränfende Zufäge die gefährlichfte Spitze abbrechen, und er hielt 
fih hiezu um fo mehr für berechtigt, als nicht bloß in einer der Schriften Me- 
lanchthons, durch welche die Theologie der neuen Kirche größtentheils beftimmt 
worden war, die Säge, daß gute Werfe zur Seligfeit nöthig feien, und daß die— 
felben geiftliche und Teibliche Belohnungen in diefem und in jenem Leben verdie- 
nen, fih vorfanden Lfiehe 3. Ausgabe der loci theologici vom J. 1543 im Ab- 
ſchnitt de bonis operibus), fondern auch Luther felbft, befonders in der antino— 
miftifhen Streitigfeit mit Agricola ſich auf das Entjchiedenfte für die guten Werke 
erffärt Hatte, Allein dem großen Haufen der Anhänger des Lutherthums hatte 
fi die Lehre vom gänzlichen Unwerthe der guten Werfe, mit welder die Refor— 
matoren zuerft aufgetreten waren, tiefer eingeprägt und inniger mit allen Vor— 
ftellungen verſchmolzen, als daß die nachträglichen Einfchränfungen, durch welche 
fie den bebenflihen Folgerungen derfelben vorzubeugen bemüht gewefen waren, 
Eingang finden fonnten, und es mußte fonach den eifernden Gegnern Majors 
fehr Teicht werden, ihn auf den Grund eines zu beftimmten Widerſpruchs gegen 


49* 


772 Major und Majoriftenftreit. 


die angenommene Grundlehre der neuen Kirche als einen Irrgläubigen verdächtig 
zu machen. Amsdorf, Flacius, Gallus, die Prediger zu Hamburg und Lübed, 
die Lüneburger, Magdeburger und Mansfelder Prediger, fie alle beeilten fich, in 
Schriften oder Gutachten gegen jede Nothwendigfeit der guten Werke zur Selig- 
feit, wie fie auch dargeftellt und motivirt werden möchte, zu proteftiren. Die 
nächfte Folge war, daß der ältere Graf Albrecht von Mansfeld dem Major, 
unter Androhung harter Berfahrungsweifen fagen ließ, daß er Eisleben und die 
ganze Graffchaft fofort zu räumen habe. Dem Angeflagten wurde nicht einmal 
die gegen ihn erhobene Klage mitgetheilt,. Dennoch fand e8 derfelbe der Klugheit 
gemäß, dem Befehl des Grafen durch ſchleunige, fluchtartige Entfernung nachzu—⸗ 
fommen und begab fich wieder in feinen frühern Wirfungsfreis nach Wittenberg. 
Hier gab er fih nun alle Mühe, feinen Sag fo mit Elaufeln zu umftellen, von 
feiner behaupteten Nothwendigfeit fo viel wieder hinwegzunehmen, daß fie prote- 
ftantifchen Ohren allenfalls erträglich Flingen möchte; er verwahrte ſich nachdrück⸗ 
Lchft gegen jede DVorftellung eines Verdienftes: er wiffe wohl, daß der Menſch 
dur den Glauben ohne alle Werfe gerechtfertigt werde, daß er als Gerechtfer- 
tigter auch ſchon die Seligfeit befige, und die guten Werfe alfo durchaus nicht 
zur Erwerbung der Seligfeit, die der Menfch bereits und allein durch den Glau— 
ben habe, dienten ; nur eine Nothwendigfeit des Zufammenhanges oder der Folgen, 
necessitatem conjunctionis et debiti, non meriti, behaupte er, weil ver Glaube 
nicht ohne gute Werfe fein fünne, Dann aber wies er auch darauf hin, wie an=- 
ftößig und gefährlich die entgegengefegte Lehre von der Entbehrlichkeit der guten 
Werke zur Seligfeit ſei. Die Gegner beftritten nun alfererfi Major's Behaup- 
tung, daß die von ihm aufgeftellte Nothwendigkeit der guten Werfe zur Seligfeit 
noch keineswegs eine verbienftliche Beziehung derfelben auf die Geligfeit invol- 
vire, und man muß mit Döllinger geftehen, daß Amsdorf und die übrigen Geg- 
ner Majors hier im Nechte, und befugt waren, feine Diftinetion als unhaltbar 
zurückzuweiſen. Wenn gefagt wird, daß die guten Werfe zur Seligfeit nothwendig 
feien , fo kann diefe Nothwendigfeit ihren Grund nur darın haben, daß Gott die 
Heiligkeit und ihre Früchte, die guten Werfe, für die unerläßliche Bedingung 
erflärt hat, von welcher das ewige Heil abhängt, fo daß, wer die guten Werfe 
bat, damit als mit der von Gott gefegten und von ihm geleifteten Bedingung 
die Seligfeit erwirbt ; und da nach allgemeinem menſchlichen Sprachgebrauche das 
Leiften desjenigen, wodurd man ein Gut oder eine Wohlthat erwirbt, oder bie 
Bedingung erfüllt, unter welcher die Wohlthat verheißen ift — ein Verdienen 
genannt wird, wie ineommenfurabel verfrhieden auch die Leiftung und das dafür 
gegebene Gut oder der Lohn fein mögen, fo ift es richtig, daß der Begriff der 
Berbienftlichfeit der guten Werfe von dem Begriffe einer Notbwendigfeit derfel- 
ben zur GSeligfeit nicht getrennt werden fann, Zulegt nahm Major den ange» 
fochtenen Sag (im 5. 1562) ganz zurüf, ja er appellirte, al8 man ihn dennoch 
nicht in Nuhe Tief, in einem neuen Bekenntniß im 5. 1567 und in feinem Tefta- 
mente vom J. 1570 an den Richterftuhl Gottes, des allwiffenden Herzensfün- 
digers, daß er niemals beabfichtigt, der ftreng Iutherifchen Lehre vom allein felig- 
macenden Glauben den mindeften Abbruch zu thun. Aber vergebens. Die 
Theologen zu Jena gaben nun eine riftlihe, in Gottes Wort gegründete Er— 
innerung heraus, in welcher fie die Welt warnten, Fein Wort von allen diefen 
Berficherungen zu glauben, und zwar noch Gott baten, daß er den armen alten 
Mann befehren möge, damit er nicht ohne Buße dahinfahre, am Ende aber doch 
die Vermuthung äußerten, daß ihm wohl nicht mehr zu helfen fein werde, Ja 
Flaeius (f. d. A) fhloß eine Schrift, die er dem Teftamente Majors entgegen- 
fegte, mit dem Wunfche, daß doch Chriftus bald auch diefer Schlange den Kopf 
zertreten möchte. Bei dem langen und mit fo vieler Leidenfchaftlichfeit und Bitter- 
Feit geführten Majoriftenfireit (vgl. Osttfried Arnold in feiner Kirchen- und 


——— RETE Dei 











Major und Majoriftenftreit, 773 


Kegerhiftorie par. II. libr. 16. cap. 27. $ 8. sqgq.) war unter alfen Theologen, 
die fich dabei betheiligten,, Feiner, der fih dahin erklärte, Major fei nach feinem 
Urtheil nicht von der reinen Iutherifchen Lehre felber wenn ſchon von ihren Aus=- 
drücken abgewichen,, der Superintendent Juſtus Menius zu Gotha allein aus⸗ 
genommen. Diefer verweigerte, vielleicht nur aus Dppofition gegen Amsdorf, 
im $. 1554 einem amtlihen Ausfchreiben,, in welchem Majors Lehre förmlich 
verdammt ward, die Unterfchrift,, zog dadurch aber auch die Verfolgung auf fein 
eigenes Haupt. Der Herzog Johann Friedrich Tief ihn fogleih mit harten inqui- 
fitorifchen Maßregeln bedrogen. Zwar kamen diefelben damals noch nicht zur 
Ausführung, weil es an allen Beweismitteln fehlte; dafür aber braten die Ze— 
Ioten das Gerücht unter das Volk, daß Menius ein Papift geworden fei, Vor— 
nehmlih um ſich von dieſem Verdachte zu reinigen, ließ derfelbe zwei Jahre 
darauf (1556) eine Schrift von der Bereitung zum feligen Sterben und eine 
Predigt von der Seligfeit drufen. In beiden Schriften trug er die rein luthe— 
rifche Lehre, daß und warum fein Menſch durch das Geſetz und dur Werfe felig 
werden fünne, auf das Beftimmtefte und Deutlihfte vor und hütete ſich fehr forg- 
fältig, von der Nothwendigfeit guter Werke zu ſprechen. Doc hatte er nicht vermie= 
den, der Nothwendigfeit der Buße zur Seligfeit zu gedenfen, und in der Predigt 
auch davon gehandelt, daß denjenigen, die ohne alles Geſetz und Werke allein durch 
den Glauben an Chriftum felig geworden, doch von Nöthen fei, fi vorzufehen, 
daß fie die Seligfeit, die ihnen ohne alles Verdienft aus Gnaden widerfahre, 
durch öffentliche Sünde wider Gott und wider ihr Gewiſſen nicht wiederum ver- 
lieren, fondern fie vielmehr in reinem Herzen, gutem Gewiffen und ungefärbtenz 
Glauben erhalten und darin beftehen und bleiben möchten. In diefen und ähn— 
lichen Stellen fand Amsdorf majoriftiihes Gift. Auf deßhalb gemachte Anzeige 
ließ der Herzog die ſchon früher gegen den Menins beabfichtigten Maßregeln in 
Anwendung treten, ihn vom Amte fufpendiren und vor einer in Eiſenach verfam- 
melten thevlogifhen Commiffion zur Verantwortung ziehen. Menius vereitelte 
aber den zu feinem Verderben entworfenen Plan durd feine Bereitwilligfeit, ein 
son der Commiffton ihm vorgelegtes firenggläubiges Bekenntniß zu unterfchreiben 
und dabei zu verfihern, daß er die in feinen Aeußerungen gefundene Meinung 
nicht gehegt Habe, und gern alle auf diefelbe gedeuteten Ausdrüde berichtigen 
werde. Diefer Ausgang hatte eine Trennung unter den Strenggläubigen ſelbſt 
zur Folge. Menius verlor zwar, ungeachtet feiner nachgiebigen Erklärung, fein 
Amt und farb bald darauf in Leipzig, wo er eine andere Anftellung erhalten 
hatte, Amsdorf fand ſich aber hiedurch noch nicht zur Ruhe beftimmt. Boll Ver- 
druß über die Weigerung mehrerer feiner Parteigenoffen, der von ihm aufgeftellten 
Behauptung beizupflihten, daß gute Werfe in feinem Sinne und in feiner Be- 
ziehung nöthig zur Seligfeit feien, trieb er num diefe Behauptung auf die äußerfte 
Spitze und lief im 3. 1559 eine Schrift unter dem Titel druden: da die Propo- 
fitio: gute Werke find zur Seligfeit ſchädlich, eine rechte, wahre, chriſtliche 
Propofitio fei, durch die Heiligen Paulum und Lutherum gelehrt und gepredigt. 
Auch Wigand äußerte in einem Schreiben an Weller: man könne wohl fagen, daß 
gute Werke zur Seligkeit fhädlih wären; wer das nicht flatuire, der verfleinere 
die Schredflichfeit der Sünde und den Ernft des göttlichen Gerichtes, wenn man 
hingegen fage: gute Werke find ſchädlich, fo treibe man Chrifti Verdienft und 
Gehorfam fein in die Höhe. Es Tiegt in der Natur der Sade, daß feine andere 
Eontroverfe jener Zeit einen fo mächtigen und durchgreifenden Einfluß auf die 
Form und den Inhalt des Neligionsunterrichtes übte, als die majoriftifche, und 
dag an der Entfheivung des Streites die Gemeinden nicht geringeres Jutereſſe 
nehmen mußten als die Theologen und Prediger. Die befürchtete Annäherung 
an die Fatholifche Lehre, welche in Majors Lehrform lag, und die Heberzeugung, 
daß leichter Troft und Beruhigung gefunden werde, wenn man die Seligfeit nur 


774 Majorinus — Malachias. 


von dem Act des Glaubens oder Vertrauens abhängig mache, als wenn man bie 
Nothwendigkeit der guten Werke zur Seligfeit Iehre, gab den Ausfchlag, zumal 
ohnehin befannt war, daß jene Lehren, welde der Licenz des großen Haufens 
fhmeicheln, am Tiebften gehört werden. Die Eoneordienformel verwarf den Ma— 
jorismug, wenn gleich mehrere Mitarbeiter diefer Formel, wie felbft Jacob Ans 
drei (f. d. 9.) dem Majorismus geneigt waren, Major feldft erlebte ven Aus— 
gang des Streites nicht mehr; nahdem er faft drei Jahre hindurch gefränfelt, 
farb er zu Wittenberg den 28, November 1574, Ein Theil feiner Schriften ift 
unter dem Titel: Opera D. Ge. Majoris, Viteb. 1569. Fol. 3 Bde,, herausgegeben. 
Cr. Adam vit. theolog. Schröckh, Kirchengeſch. feitder Reform, Bd. 4. Planf, 
Geſchichte des proteft, Lehrbegriffse Bd, 4, Döllinger, die Reformation Bd, 3. 
Menzel, neuere Geſch. der Zeutfhen Bd. 2 u. 4. 3. G. Wald, Religions» 
fireitigfeiten in der Tutherifchen Kirche, Vgl. auch den Art, Chemnig. [äris.] 

Majprinus, f. Donatiften. 

Majoritas (Vorrang) wird in der Sprache des Kirchenrechtes in einem 
fubjectiven und objectiven Sinne gebraudt. 1) Im fubjectiven Sinne be— 
greift man darunter den Vorrang, den nicht nur der geifllihe Stand überhaupt, 
deffen Gefammtheit eben die Iehrende und regierende Kirche bildet, vor Dem Laien 
ftande hat, fondern den auch die Geiftlichkeit ſelbſt rückfichtlih ihres Standes 
untereinander behauptet; demnach, wenn alles Uebrige gleich ift, die ältere Weihe; 
wenn aber die Weihen ungleich find, die höhere Weihe den Vorrang gibt Ce. 1, 
15. X. De major. et obed. I. 33). Nur ein vom Papſte Geweiheter geht den 
Elerifern deffelben Weihegravdes ohne Nüskficht auf das Alter der Ordination vor 
Ce. 7. X. eod.). Die Weltgeiftlihen gehen bei gleiher Weihe den Regularen, 
unter den Weltgeiftlichen felbft aber die Domeapitularen den Canonifern der Eol- 
Vegiatftifter ; unter den Drodensgeiftlihen die Regular » Canpnifer den Mönchen, 
die übrigen Mönchsorden den Mendicanten, unter leßteren wieder die Domini- 
caner den Vebrigen vor. Vgl. Benedict. XIV. De syn. dioec. Lib. II. c. 10, wo 
- von diefen Rangverhältniffen ausführlicher gehandelt wird, — 2) Im objer- 
tiven Sinne verfieht man unter majoritas die Amtsgewalt, d. i. den Inbegriff 
der Befugniffe eines Kirchenamtes, Die mit folcher Amtsgewalt befleideten Per— 
fonen heißen die Kirchenoberen (superiores ecclesiastici) und bilden zufammen dem 
Kirchenbeamtenftand (status hierarchicus), Der firhlichen Amtsgewalt aber ent- 
fpricht der kirchliche Gehorſam Cobedientia canonica) Seitens der Untergebenen, 
d. i. nicht nur der Nichtbeamteten, fondern auch der niederern Beamten, Denn 
auch die Kirchenbeamten ſtehen in einer ftrenggeregelten Unterordnung unter- 
einander, und verpflichten fich, der niedere dem höheren, zur Unterwürfigfeit und 
zum Gehorfame durch einen formfichen Eid (ſ. Obedientia canonica, Dbedienz- 
Eid, Bol: auch den Art, Competenz. [Permaneder.] 

Malabaren, f. Franciscus Kaverius und Jndiem 

Malacca, ſ. Franciseus Kaverius und Indien, — 

Malachias (Maleachi), "2872, LXX. MeAaylas, Vulg. Malachias, der 
Teste unter den 12 Heinen Propheten. Die HI. Schrift theilt über feine Lebens- 
umftände nichts mit. Sein Name bedeutet: „mein Bote (Engel)* oder „Bote 
Gottes” fir (m’>8>72) und ift darum in ben LXX. mit &yyeAog überjegt; ex 
wird darum von den Vätern zuweilen unter dem Namen Angelus citirt, Die 
Meinung des Drigenes, er fei ein wirklicher Engel in Menfchengeftalt gewefen, 
was auch von Haggai (f. d. A.) geglaubt wurde, ift durch diefe Bedeutung feines 
Namens veranlaft und ſchon von Hieronymus (in Agg. 1, 13; prol. in Mal.) 
widerlegt, Die Rabbinen und Hieronymus (prol. in Mal.) halten Malachias für 
identifch mit Esra, wofür fich aber Fein flihhaltiger Grund vorbringen läßt, Nach 
Pfeudo- Epiphanius und Dorotheus war er ans Sapha im Stamme Sabulon und 


Malblachias, Imarus. 75 


ſlarb fehr früh; feinen Namen habe er davon erhalten, dag ein Engel dem Volfe 





erfhienen fei und feine Prophezeiung beftätigt habe, Nach rabbinifchen Nach— 
richten war er auch mit Daniel, Haggai, Zaharias und Esra Mitglied der 
großen Synagoge und der unter Darius Hyftafpes gehaltenen Synode zur Feft- 
ftellung des Canons. Sicher ift nur, dag Malachias nah Haggai und Zacharias 
und nad der Vollendung des Tempelbaus (Mal. 1, 10; 3, 1) auftrat, Seine 
kurze Prophezie (3 Capitel, in der Vulgata bilden 3, 19—24 das vierte Capitel) 
bezieht fih zum Theil auf die Gegenwart, zum Theil auf die Zufunft. Er tavelt 
das geringe Gottvertrauen feiner Zeitgenoffen, welhe, von Unglücksfällen be- 
troffen, in die Klage ausbrahen, Gott habe fie nicht lieb und es nüge nichts, 
ihm zw dienen (1, 2—5); dann tadelt er an den Prieftern die Mißachtung des 
Gefeges und Entweihung des Heiligthums durch mangelhafte Opfer (1, 6—2, 9), 
an dem Volke namentlich die häufigen Ehefcheidungen und die Ehen mit auslän- 
difhen Weibern (2, 10—16) und das Vorenthalten des Zehntens (3, 7. f.). 
Er verfündet dann die Anfunft des Meffias und feines Vorläufers; der Meſſias 
werde Priefter und Volk fäutern, wie Gold und Silber (3 u. 4). Berühmt ift 
die Stelle über „das reine Opfer, weldes Gottes Namen ar allen Orten wird 
dargebracht werden” (1, 11). [Reuſch.] 
Malachias, Imarus, Erzbiſchof von Armagh in Irland. Der Hl. Bern- 
hard, ſein Freund, hat das Leben des hl. Malachias, auf Erſuchen des Abts 
Conganus aus Irland geſchrieben, aus deſſen Vita das Folgende ein Auszug iſt. 
Malachias wurde in Irland in der Mitte eines barbariſchen Volls geboren, er- 
zögen und gebildet zu Armagh, Er flammte aus einem vornehmen Haufe; feine 
gute Naturanlage erhielt befonders durch feine chriſtliche Mutter eine gute Rich- 
fung. Das Rnaben- und Jünglingsalter verlebte er in Einfalt und Reinigfeit des 
Herzens und „mit dem Wachsthum feines Alters wuchs feine Weisheit und Lie- 
benswürdigfeit bei Gott und den Menſchen“. Er machte fih zum Schüler eines 
frommen Einfiedlers Imarus, und viele ahmten diefe neue Lebensweife nach, 
Hierauf wurde er, gegen feinen Willen, von feinem Bifchofe zum Diacon geweiht. 
Als folder machte er es fih zum befondern Gefchäfte, arme BVerftorbene zu beer- 
digen. Etwa 25 Jahre alt, wurde Malachias zum Priefter geweiht. Der Bifchof 
aber machte ihn bald zum Stellvertreter der ihm eigens zufommenden Gefchäfte, 
Aus dem vermwilderten Acer des Herrn hatte Malachias viel Unkraut, befonderg 
abergläubifhe Gebräuche und Feindfchaften, auszureifen, um den guten Samen 
des Wortes Gottes in ihn ausftreuen zu fönnen. Er gab neue vortrefflihe Be— 
flimmungen. Er führte auch nad Kräften die Befchlüffe und Gewohnheiten der 
römischen Kirche in allen feinen Kirchen ein. Denn bis dahin wurden dort „die 
canoniſchen Stunden nicht nach der Sitte des ganzen Erdfreifes gehalten”. Er 
führte auch, wie er es in feiner Jugend gelernt hatte, den kirchlichen Gefang ein, 
Ebenfo führte er wieder ein „den Heilfamen Gebrauch der Beichte, das Sacrament 
der Firmung und der Ehe, was fie alles entweder nicht wußten oder verabfäum- 
ten, das führte er wieder ein”, Das einft fo berühmte, nun zerfallene Klofter 
Bangor ftellte er Her, bei welcher Gelegenheit Malachias fein erftes Wunder 
sollbrachte, auf welches von nun an viele andere folgten, Durch das fegensreiche 
Wirken des Malahias wurde die Geftalt Irlands nah und nach in’s Beffere 
umgewandelt, fo daß damald „auf jenes Volk das Wort des Herrn durch den 
Propheten zutraf: das vorher nicht mein Volk war, das ift Heute mein Volk.“ 
Als der Erzbifchof Eelfus von Armagh aus der Zeitlichfeit fheiden wollte — und 
er hatte ven Malachias zum Diacon, Priefter und Bifhof erhoben — fo empfahl 
er diefen als den würdigften zu feinem Nachfolger, Leider war dur üble Gewohn- 
heit diefer Sig des Hl. Patricius, das Erzbisthum Armagh, nach Gunft und Vor— 
rang der Geburt früher vergeben worden, fchon durch fünfzehn Geſchlechtsfolgen 
herab, Ja vor Eelfus Hatten diefen Biſchofsſitz ſchon acht verheirathete Männer, die 


776 Malachias, Imarus. 


ſelbſt die Weihen nicht erhalten, innegehabt. Daher auch eine Auflöfung aller Bande 
der Ordnung über die ganze Inſel, daher war ein neues Heidentfum unter dem 
Namen des Chriftentbums eingeführt worden, Innere Unruhen, Mord und Gräuel 
aller Art Iafteten auf dem unglüdlihen Volke, und eine Barbarei der fchlimmften 
Art drohte die Reſte der chriſtlichen Gefittung vollends zu erſticken. Diefem 
Gräuel der VBerwüftung abzuhelfen, Irland wieder zum Chriſtenthum und damit 
zur Gefittung zurüdzuführen, dazu war Malachias gefandt von Gott, In ihm 
erſchien St. Patricius zum zweiten Male, um Irland zu einer Juſel der Heili- 
gen zu machen, Che indeg Malachias Erzbifchof wurde, fo regierte ein gewilfer 
Mauricius die Kirche von Armagh, nicht als Bischof, fondern als Tyrann — 
durch fünf Jahre, Im 38, Jahre feines Lebens zog Malachias als Oberpriefter 
und Metropolitan von ganz Irland in Armagh ein. Einige Jahre fpäter machte 
er eine Reife zu dem Grabe der Apoftelfürften in Nom, und fam unterwegs auch 
zu dem Hl. Bernhard nach Clairveaux. Damals war Innocenz II. Papft (1130— 
1143). Malachias bat fih von dem Papfte die Gnade aus, in Clairveaur leben 
und fterben zu dürfen; erhielt fie aber für jet nicht. Der Papſt ernannte ihm 
zu feinem Legaten für ganz Irland. Wohfbehalten und zur Freude des ganzen 
Volkes kam Malachias in fein Vaterland zurück. In der ganzen Inſel verwal- 
tete er nun das Amt eines päpftlichen Legaten. Homilien wurden überall gehalten, 
Ein große Anzahl von Wundern, die er vollbrachte, befräftigten und beftätigten 
feine höhere Sendung, Nachdem der hl. Bernhard eine große Zahl derfelben 
berichtet, fügt er bei: „Daraus leuchtet genügend ein, wie groß an Verbienften 
mein Malachias war, der zu einer Zeit, wo Zeichen und Wunder faſt aufgehört, 
fo viele Wunder vollbrachte, Denn in welcher Art der Wunder der alten Zeit 
bat Malachias ſich nicht hervorgetfan? Wenn wir das Wenige, was wir eben 
von ihm berichtet haben, aufmerkfam würdigen, fo fehlte ihm nicht die Gabe der 
Weiffagung und der Offenbarung, nicht die Gabe, zu flrafen die Gottloſen, nicht 
die Gabe der Kranfenheilung, fowie der Verwandlung des Gemüthes, nicht end- 
lich die Gabe der Todtenerweckung.“ Als fih Papft Eugen III. in Frankreich 
aufhielt — im 3. 1147. — ſo verlangte e8 den Malachias, ebendahin zu reifen, 
unter anderm, weil er für die Kirche Irlands noch nicht das Pallium erhalten 
hatte, Doch verzögerte fich die Reife des Malachias, und als er nad) Frankreich 
kam, fo war der Papft ſchon nach Italien zurückgekehrt. Malachias Fam zu fei- 
nem Freunde Bernhard, und verlebte und bereitete bier den Brüdern felige Tage, 
Bald wurde er von einer Krankheit ergriffen, die im Anfange nicht bedenklich 
fhien. Schon früher hatte der Heilige gefagt, wenn er außerhalb Irlands fterben 
follte, fo möchte er am Liebften in Clairveaux fterben. Sein Wunfch follte in 
Erfüllung gehen, Auch fein Wunfh oder feine Prophezeiung, am Fefte Aller— 
feelen zu fterben, erfüllte fi. Heilig, wie fein Leben, war fein Tod, Mit Pfal- 
men und Hymnen und geifligen Gefängen geleiteten die zahlreich verfammelten 
Brüder die Seele ihres in fein Vaterland zurücfehrenden Bruders, Im vier- 
undfünfzigften Jahre feines Lebens, zu der Zeit und an dem Orte, die er ge- 
wünfcht und vorausgefagt, wurde Malachias der Bifchof und Gefandte bes apo- 
ftolifchen Stuhls gleihfam aus den Händen der Menfhen durch die Hände ber 
Engel emporgetragen, Er entfohlummerte zum wahren Leben, denn ob auch Aller 
Augen auf ihn gerichtet waren, fo fonnte doc Keiner den Augenblick beobachten, 
in welchem er entichlafen war. Und noch ſchien er zu leben, nachdem er ſchon 
geftorben war. Dieß gefhab im J. 1148. Noch im Tode wirkte Malachias 
ein Wunder, Er wurde heilig gefproden von Papft Clemens II. — 6, Juli 
1189, gl. Bern. Abb. L. de vita et rebus gestis S. Malachiae Hiberniae epis- 
copi — in S. Bernardi opera ed. Mabillon T. I. p. 663—698. — Sermones II. 
in transitu S. Malachiae ib. T. IN. p. 1048, sqq. — Des Erzbifhofs Malachias 
fogenannte Prophezeiung über die Paäpfte ſteht mit dem hl. Malachius nur in 








Maldion — Maldonatus, 777 


dem Zufammenhange, daß fie unter feinem Namen ausgegeben wurde, und big 
jest unter diefem Namen angeführt wird. Irgend einen pofitiven Beweis für 
die Authenticität berfelben hat Niemand beigebracht. Dagegen fpricht befonders, 
daß der Benedickiner Arnold Wion, der diefe „Prophetia de futuris Pontificibus 
Romanis“ -zuerft mit Anmerkungen des Dominicaners Franz Alphons Ciae— 
eoni bis auf Clemens VII. veröffentlichte, „in Ligno vitae L. I. p. 307 — 311. 
Venet. 1595° feine Duelle angibt, woher er fie genommen. Die fog. Prophe— 
zeiung war früher nie gekannt. Ferner der hl. Bernhard erwähnt wohl der 
Prophetengabe des Hl. Malachias, aber feiner derartigen Prophezeiung. Auch 
läßt die durchaus unbeftimmte Faffung der Worte, in welche man das Verſchie— 
denfte hineinlegen kann, auf diejelbe faum den Namen der Prophezeiung an- 
wenden. Die berüßmteften und eifrigftien Katholifen haben wenig auf diefelbe 
gehalten. Sp nehmen Baronius, Spondanus, Bzovins, Raynaldus u. A, 
feine Rüdfficht darauf, Indeß fagen wir gern mit Binterim: „Wenn ed au 
mehr als wahrfheintich ift, daß diefelbe von dem Hl. Bifhof Malachias nicht 
herrühre, fo traue ich mich doch nicht, ihr allen Werth abzufprechen.“ (Denf- 
würdigfeiten III. 1. S. 107.) Authentifhe Prophezeiungen werden wir gebüh- 
rend aufnehmen; denn Niemand verkündet die Zufunft, es fei denn im heiligen 
Geifte, Aber es Heißt auch: prüfet die Geifter, ob fie aus Gott find, „Zuge 
fiehen muß man indef, daß es einige von diefen Prophezeiungen gibt, welche auf 
feltene und merkwürdige Berhältniffe treffen, wie die „Peregrinus apostolicus*, 
welche, in diefer langen Reihe von Nachfolgern Pius VI. bezeichnet, und welche 
ihre Beftätigung gefunden zu haben fcheint durch die Reife diefes Papftes nad 
Teutſchland“ (Feller, Biogr. univ. s. N. V.). — Ueber das Zutreffen des „cerux 
de cruce* wird man erft urtheilen fönnen, wenn die Laufbahn des gegenwärtigen 
Papſtes gefhloffen ift. Die meiften Beurtheifer diefer fog. Prophezeiung des 
Malachias find der Anfiht, daß fie in dem Eonclave von 1590 erdichtet wurde, 
und zwar von ber Partei des Cardinals Simoncelli, welde denjenigen genau 
bezeichnen wollte, den fie zu der Würde des Papſtes zu erheben wünfchte. Vgl. 
außer den obigen Citaten Schrödh, 8. ©. 26 Th. S. 124. Fabricius, Biblioth, 


- med. et inf. lat. T. V. v. Malachias. Menestrier, Traite s. les proph. altribuées 








à S. M. — Jean Germano Vita, gesti e predittioni del padre san Malachia. 
Neapel 1670, 2 vol. 4. — Bgl. ferner die Art.: Cöleftin II. u Srland. [&ams.] 

Malchion, f. Paulus von Samofata, 

Malchus. Der Bericht der Synoptifer (Matth. 26, 51. Marc, 14, 47, 
Luc. 22, 50), daß bei der Gefangennehmung Jeſu dem Knechte des Dberpriefters 
das rechte Ohr abgehauen worden fei, ift im Evangelium des HL. Johannes 18, 10, 
noch durch die Worte: „der Knecht hieß Malchus“ vervollſtändigt. Weiteres über 
diefen Malchus ift nicht befannt geworden, der Name fommt aber auch fonft, 
wenn gleich nicht oft, in der Gefchichte vor. Sp Heißt ein arabifher Fürft Mal- 
chus (Joseph. Antt. 13, 5. 1. 14, 14. 1. 15, 6. 2). Nah Suidas lebte auch ein 
Sophiſt diefes Namens, aus Philadelphia gebürtig, im fünften Jahrh. unter 
Kaifer Anaftafius zu Byzanz, und Photius nennt ihn ein Mufter eines volllom- 
menen Hiftorienfchreibers. Man bat noch zwei fchöne Fragmente feines Gefhichts- 
werfes in eclogis legationum. Vgl. Winer, biblifhes Realwörterbuch Bd, 2, 
Iſe lin, Hiftor. Lericon Thl. 3. 

Malcoutenten, f. Hugenotten. 

Maldonatus (Malvdonado), Johannes, einer der größten Fatholifchen 
Eregeten, wurde im Jahre 1534 zu Cafas de Ia Reina in der fpanifhen Pro- 
vinz Eſtremadura geboren, Er ftudirte zu Salamanca Anfangs die Rechte, ging 
dann aber auf den Rath eines frommen Freundes zur Theologie über und hatte in 
diefer Dominicus Spto, den fpätern Cardinal Franz Toletus und andere aus- 
gezeichnete Männer zu Lehrern, Nach Vollendung feiner Stubien trat er in dem 


778 Maldonatus. 


Jeſuitenorden und hielt nun zu Nom theologiſche Vorleſungen (1562). Um dieſe 
Zeit erhielten die Jefuiten (ſ. d. A.) zuerft das Recht, an der Univerfität Paris 
zu lehren, und Maldonat wurde, nachdem er nur einige Monate zu Nom gelehrt 
hatte, nach Paris geſchickt, um dort als der erfte Profeffor feines Ordens auf- 
zutreten, Man hätte feine beffere Wahl treffen fünnen, denn feine theologiſchen 
und philofophifchen Vorlefungen fanden folden Beifall, daß täglich fchon zwei 
bis drei Stunden vor dem Beginn derfelben der Hörfaal gefüllt war, und daß 
er mehrere. Male gendthigt war, da der Saal die Zuhörer nicht faßte, im Hofe 
des Jefuitencollegiums zu Iehren. Es gab kaum einen Theologen in Frankreich, 
der ihm nicht gehört oder ſich feine Hefte verfchafft Hätte; felbft caloinifche Pre- 
diger befuchten feine Vorlefungen und achteten, obwohl fie ihn wegen feiner ſchar⸗ 
fen Polemif maledicentissimus Maldonatus nannten, feinen Geift und feine Ge- 
lehrſamkeit. Maldonat befaß auch, wie ihn Calmet treffend ſchildert, alle An- 
Yagen, um ein ausgezeichneter Gelehrter zu werden; er verband mit Scharffine 
gründliche Sprachfenntniffe, eine große DBelefenheit in der Firchlichen Literatur 
und einen unermüdlihen Fleiß, So lange er Iehrte, befchäftigte er ſich weniger 
mit fchriftftelferifchen Arbeiten, al8 mit der Vorbereitung auf feine Vorträge und 
Disputationen mit den Proteflanten, welche ihn wegen feiner großen Gewandt- 
heit und Lebhaftigfeit, fowie wegen feiner Geiſtesgegenwart beim Disputiren in 
hohem Grade fürchteten. Sie mußten oft feine Ueberlegenheit fühlen, namentlich 
zu Poitiers, wohin ihn der franzöfifche König Carl IX. ſchickte, um dem Prote- 
ftantismus entgegenzuwirfen. Dabei wird feine Befcheidenheit, Zurückgezogenheit 
und Demuth gerühmt und zum Beweife feiner Strenge in der Beobachtung der 
Drdensregeln angeführt, daß er, wenn er von einem Drte an einen andern ver— 
feßt wurde, nichts mitzunehmen hatte, als ein fihlechtes Drdensffeid und feine 
Manuferipte. Für einige Zeit folgte er einem Rufe des Herzogs Earl IN. von 
Lothringen an die von dieſem unter Mitwirkung des Cardinals von Lothringen 
gegründete Academie zu Pont a Mouffon. Zu Paris trug er erft die Theologie 
in einem vierjährigen Curſus vor, und begann dann diefelbe noch ausführlicher 
zu lehren, Er wurde nun aber in mehrere Unannehmlichfeiten verwickelt, Einmal 
wurbe er befhuldigt, den Präfiventen Montbrun zu einem Teftament zu Gunften 
feines Ordens verleitet zu haben, von welcher Anklage ihn aber das Parifer Par- 
lament freifprad, Die Sorbonne aber klagte ihn gar Häretifcher Anfichten a, 
weil er gefagt hatte, die von der Sorbonne recipirte Lehre von der unbefleckten 
Empfängnig Mariens fei Fein fiheres und unbeftreitbares Dogma, fondern nur 
eine fromme Meinung; es entftand darüber ein heftiger Streitz der Bifchof von 
Paris, Peter ve Gondi, welchen Papft Gregor XIN. mit der Unterfuchung der 
Sache beauftragte, ſprach Maldonat im J. 1575 frei. Da die Anfeindungen in- 
deffen, wie es feheint, doch nicht aufhörten und Maldonat ohnehin durch große 
Anftrengungen feine Gefundheit gefhwächt hatte, fo gab er feine Profeffur auf 
und zog fih in das Collegium zu Bourges zurück, wo er fih nunmehr mit ber 
Ausarbeitung feiner Schriften befchäftigte und namentlich die Commentare über 
die Evangelien und die Propheten verfaßte, Er beabfichtigte, die ganze hl. Schrift 
zu commentiren, und befchäftigte fi namentlich auch mit der Erflärung der Idio— 
tismen und Hebraismen der Bibel, Nach einem 1'/,jährigen Aufenthalt zu 
Bourges wurde er von Papft Gregor XII. nah Nom berufen, um an der neuen 
Ausgabe der Septuaginta zu arbeiten, Er ftarb dort bald nachher in einem 
Alter von 50 Jahren, den 3, Januar 1583, — Er wird mit Necht zu den größten 
Männern feines Ordens und zu dem gelehrteften Theologen feines Jahrhunderts 
gezählt, — Sein Hauptwerf ift der Conımentar über die vier Evangelien. Der- 
felbe war fehon 1578 im Ganzen vollendet; Maldonat Fonnte ihn aber ſelbſt 
nicht zum Drude vorbereiten und übergab das Manufeript kurz vor feinem Tode 
feinem Ordensgeneral, Claudius Aquaviva (ſ. d. A.). In deffen Auftrage wurde: 














Maleachi — Malerei, hriftliche. 719 


das Werk son den Jeſuiten zu Pont a Mouffon nochmals durchgefehen, nament- 
lich mit Rückſicht auf die unterdefien (1592) erfihienene clementinifhe Ausgabe 
der Bulgata, und im J. 1596 herausgegeben. Weber die Vortrefflichfeit diefes 
Eommentars herrfht nur Eine Stimme; feldft R. Simon ſpricht davon, trog 
feiner Abneigung gegen die Jefuiten, in den ehrendften Ausdrücken; wahrſcheinlich 
würde er in mehreren Beziehungen noch vollendeter fein, wenn der Verfaſſer ſelbſt 
die legte Hand hätte daran legen fünnen, Er wurde mehrere Male gedrudt; die 
Ausgaben nach 1617 follen aber an manchen Stellen geändert fein; ‚neuerdings 
iſt derfelbe von Saufen in fünf Octavbänden herausgegeben (Mainz 1840). 
Außerdem hinterließ Maldonat einen Commentar über Jeremias, Baruch, Ezechiel 
und Daniel, gedrudt 1609 in 4., Scholien über die Palmen, Proverbien, das 
Hohelied, den Prediger und Iſaias (Paris 1643 u, 1677), Abhandlungen über 
die Gnade, Erbfünde, Sarramente und andere Fleinere Schriften (&yon 1614, 
Paris 1677), eine Abhandlung über die Engel und Teufel, die Franz Arnault 
de Laborie in einer franzöfifchen Neberfegung herausgab, und einen traclatus de 
caeremoniis, den F. A. Zaccaria in feiner Bibliotheca ritualis (Rom 1781) Yer- 
ausgegeben hat. Die Summula casuum conscientiae, welche zu Venedig unter 
Maldonats Namen erfihien, und deren Moral man zu lax gefunden hat, ift ihm 
unterſchoben. Andere theologiſche Schriften von ihm follen fih handſchriftlich in 
der Ambrofianifchen Bibliothek zu Mailand befinden, — Vgl. R. Simon, hist. 
erit. des prine. comment. du N. T. p. 618. Feller, dict. hist. [Reufd.] 

Maleadhi, f. Malachias. 

Mealerei, chriſt liche. Die Gefhichte der Malerei, wie fich diefelbe unter 
den Einflüffen des chriſtlichen Prineips entwickelt hat, kann in drei Perioden ge- 
theilt werden. Die erfle Periode geht vom erften Jahrhundert bis zur Mitte des 
dreizehnten Jahrhunderts; die zweite von der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts 
bis zur Mitte des fechszehnten; die dritte von der Mitte des fechszehnten Jahr— 
hunderts bis auf unfere Tage. Die erſte Periode bietet wenig Erheblihes dar, 
In den erften drei Jahrhunderten fonnte ſich die chriſtliche Malerei wie die hrift- 
liche Runft überhaupt nur in leiſen Anfängen entwickeln (f. den Art, Chriftus- 
bilder und Bilder in ven Kirchen). Die Scheu, in den altheidnifchen Bilder- 
dienft zurüdzufallen, die Armuth und gedrüdte Lage der erſten Chriften ließen 
eine freie Entwicklung der Künfte nicht zu. Die erften Spuren chriſtlicher Malerei 
findet man freilih Höchft unvollfommen, die zierlihen Formen der Antife ver- 
ſchmähend, in den Ratafomben (f. d. A). Ihr Charakter ift wie der Charakter 
der chriſtlichen Kunſt damals überhaupt mehr andeutend als darftellend, und 
alle theils durch die Sculptur, teils dur die Malerei gefchaffenen Bildwerfe 
find rein fymbolifher Natur, z. B. das Schiff als Symbol der Kirche, der 
Pfau als das der Unfterbfihfeit, der Anfer als das der Hoffnung, das Lamm, 
der Weinſtock, der Fifh, das Einhorn, der Pelifan — Chriftum, die Taube mit 
dem Delzweige den hl. Geiſt finnbildend. An den Wänden findet man Gemälde, 
darftellend Jonas im Walfifch, die Knaben im Feuerofen, Daniel in der Löwen- 
be, Iſaac auf dem Holzftoß, als meſſianiſche Vorbilder einerſeits, anderer- 
s um die erften Befenner dadurch Hinzuweifen auf den Martyrtod und den 
daraus entfpringenden ewigen Sieg und Triumph; ferner finden fi viele gemalte 
Kreuze, aus denen Roſen hervorblühen (f. den Art. Kreuz, als Bild). Epriftus 
wird mit Bezug auf die Parabel im Evangelium dargeftellt als der gute Hirte, 
das verirrte Lamm auf den Schultern tragend; Mofes, Waffer aus dem Felfen 
fhlagend, als Prototyp der göttlichen Gnade. Selbſt mythologiſche Figuren 
fommen in prototypifcher Bedeutung vor, 3. B. Drpheus, die feier ſchlagend und 
dadurch die wilden Thiere zähmend, Hindeutend auf den Sieg des Epriftentgung, 
Indeſſen ermangeln diefe Bilder des fünftlerifchen Werthes ; ihr Zweck iſt der der 
seligiöfen Erbauung, fie deuten nur hin auf den tiefen Geift und Gehalt der 


+1, Malerei, chriſtliche. 


neuen Religion, Erft fpäter, als im vierten Jahrhundert durch Conftantin das 
Chriftentgum zur herrſchenden Staatsreligion erhoben worden und der Firhliche 
Lehrbegriff, namentlich dur die Synode von Nieaͤa über die Gottheit Chrifti dem 
Arianismus gegenüber, dogmatifch firirt war, fehritt die hriftliche Malerei über 
das bloße Symbol zu wirklichen Abbildungen Chrifti, der Apoftel, Maria’s und 
der Martyrer fort, Die neu erbauten chriftlichen Kirchen wurden mit ſolchen, 
meift auf. Goldgrund gemalten Bildwerfen gefhmüct, Indeſſen find alle Ge- 
mälde in diefer Periode im byzantinifhen Style gehalten, deffen Wefen ſich 
durch eine harte, fteife und flereotype Manier charakterifirt. Die Geftalten, welche 
in der Weife diefes Styles gefhaffen wurden, find, wenn auch die Köpfe nicht 
felten vollkommen griechifch fchön genannt werben können, doch todt und leblos, 
bager geftreeft, ungelenf, Die Augen weit offen, die Farbe fehr in's Bräunliche 
fpielend, Anftatt der hellern Schattirung bildet in der Negel ein Gploftri den 
oberften Nand der Falten an den Gewändern, Diefe harte, flereotype Manier 
erhielt fih fowohl im Drient als im Deeident bis in die Mitte und gegen das 
Ende des 13ten Jahrhunderts. Die politifchen Stürme jener Zeit, im Drient 
der fanatifhe Bilderftreit (ſ. d. A.), und im Decident die alle Nefte früherer 
Kunft vollends zerftörende Völkerwanderung hemmten lange die Entwicklung der 
chriſtlichen Malerei, Erſt gegen die Mitte und das Ende des 13ten Jahrhunderts 
begann die chriſtliche Malerei fih von den Härten des byzantinifchen Styles Ing- 
zuringen und gelangte im Laufe des 14ten, 15ten und 16ten Jahrhunderts zu 
ihrer höchſten Blüthe und Ausbildung. Namentlih geſchah diefes in Stalien 
und Teutfhland, In Italien blühten in diefer Beziehung befonders zwei 
Schulen, die florentinifche und die umbrifche Cfrüher fienefiihe genannt). 
Beide verfolgten diefelbe Richtung, den Geift des Chriftentbums in feiner Tiefe, 
Fülle und Innerlichkeit darzuftellen. Sie nehmen durchweg ihre Stoffe aus der 
heiligen Gefchichte und aus dem reichen Gebiete der Legende. Es ift nicht, wie 
in. der antifen Kunſt, das bloß äußerliche, finnlihe Schöne, die Regung gewal- 
tiger Kräfte, das Wilde, Trogige, was in diefen KRunftfchöpfungen zu Tage tritt, 
fondern das innerlich Schöne, die von der Gnade gehobene Tugend, die Ver— 
Härung des Endlichen durch das Unendliche, das Heilige, Durchdrungen von dem 
Geifte Gottes, der in der Kirche lebt, fhufen die Maler diefer Schulen Gebilde, 
welche, felbft belebt vom Hauche des Göttlichen, einen Geift offenbaren, welcher 
der antifen Kunſt gänzlich verfchloffen war, Das Eigenthümliche, das diefe bei- 
den Schulen wieder charakterifirt, befteht darin, daß die florentinifche Schule 
einen mehr dramatifchen Charakter an ſich trägt; fie liebt es, im ihren Gebilden 
die Handlung vorberrfihen zu laffen, das Objective, die Wirklichkeit, Sie prä- 
valirt dur Zeichnung und Farbe und neigt gerne in's Weltlihe, Der Charakter 
der umbrifchen Schule ift ein Iyrifcher, weich, die innere Seelenfhönheit dar- 
ftellend. Die Anfänge diefer Schule tragen noch vielfah die Härten des byzan« 
tinifchen Styles an fih, die Künftler vernachläßigen über der Darftellung des 
Snnerlihen das Aeußerliche; doch entfalten fie eine Innigkeit des religiöfen Ge- 
müthslebens, ein Aufgegangenfein des Endlichen in's Unendlihe, daß namentlich 
in den Gebilden diefer Schule das chriftlihe Princip feinen vollften Ausdruck 
findet, Die Meifter diefer Richtung Tieben es, flille Scenen aus der bi. Ge- 
fchichte ohne Handlung darzuftellen, befonders Scenen aus dem Leben der heiligen 
Zungfrau Maria mit dem Kinde, Engelsgeftalten ꝛe. An den fhönen, altlirh- 
Yihen Köpfen find die Augenliever halb geſchloſſen; das Auge fiheint auf Feinen 
befondern Gegenftand gerichtet, nach Innen, in die eigene felige Welt zu ſchauen. 
Die Staffage entfpricht in myftifcher Weife den dargeftellten Gegenftänden; Blu- 
men entfpriefen in der Nähe des göttlichen Kindes, ein Lamm ftebt an feiner 
Seite, eine Duelle bricht hervor, Die Hintergründe find Ficht und fonnig, Alles 
deutet auf eine höhere, verflärte Welt bin. Zu den erfien bedeutenden Erſchei- 





—58 


Malerei, chriſtliche. 781 


nungen der florentiniſchen Schule gehören: Cimabue, geb. 1240. Er malte in 
der Kirche St. Croce in Florenz auf Goldgrund, dann namentlich in der Kirche 
zu Affifi, wo um das Grab des hl. Franciscus ein neues Runftleben erblühte, 
Er überwindet die Härten des byzantinifchen Styles bereits vielfah und bahnt 
eine beffere Periode auf dem Gebiete der Hriftlihen Malerei überhaupt an. Be— 
fonders ift eine Madonna mit dem Kinde hervorzußeben, die er für die Kirche 
St. Maria Nouvella in Florenz malte, Diefes Bild wurde in feierlicher Pro- 
ceffion von feinem Haufe in die Kirche getragen. + 1300. Höher noch ſteht 
Giotto, der Zeitgenoffe und Freund Dante's (ſ. d. A.), geb. 1276. Limabue 
traf ihn, während er die Schafe hütete und eines verfelben mit einem fpigen 
Steine abzeichnete; er nahm ihn unter feine Schüler auf; bald übertraf Giotto 
den Lehrer, Er malte in den Kirchen zu Florenz und vollendete zu Aſſiſi Cima- 
bue's begonnene Gemälde. Feuer, Wirklichkeit und Wahrheit Tiegt in feinen 
Eompofitionen. Er liebte allegorifhe Darftellungen. Sp malte er 3.2. die 
Keufchheit, eine weibliche Figur, auf einem Felfen figend; fie läßt ſich weder 
durch Kronen noh Palmen, die ihr dargeboten werden, befiegen; die Buße, 
welche, eine Geißel in der Hand, die Unlauterfeit von bannen treibt, die Armuth, 
mit bloßen Füßen auf Dornen gehend. + 1336. Ein befonders großer Meifter 
diefer Schule ift Maſaccio. Er malte in der Carmeliterfirhe zu Florenz. 
Würde, Hoheit, männliher Ernft harakterifiren ihn. Seine Compofitionen find 
lebendig, wahrhaft und natürlich, fonft voll Anachronismen. Befonders zu nennen: 
die Vertreibung aus dem Paradiefe, Scenen aus dem Leben des hl. Petrus und 
Paulus. + wenig gefannt 1443. Fratre Giovanni da Fiefole, geb. 1387, 
mit dem Beinamen Angelico, ein Dominicanermöndh in Florenz, feiner Richtung 
nach mehr der umbrifhen als der florentinifhen Schule angehörig. Er malte in \ 
Florenz und zu Rom in der vaticanifhen Kapelle, Malen nannte er mit dem 
Heiland umgehen und ergriff den Pinfel nie, ohne ein Gebet verrichtet zu haben, 
Den Ertrag gab er den Armen. Die Formen feiner Geftalten find hölzern, aber 
der Ausdruck voll Innigfeit. Ein Himmlifcher Hauch durchdringt feine Gemälde, 
Eolorit Ficht, Hell. + 1455. Sein Schüler iſt Benoz zo Gozolli 1400— 1478, 
Sein bedeutendſtes Werk find 24 große Fresken in Campo Santo zu Pifaz neigt 
bereits zu weltlihen Darftellungen, Mehr noch Philippo Lippi 1400—1469, 
dem bei allem Farbenſchmelz Tiefe und Innigkeit abgehen. Ihm ähnlich Botti- 
celli und Philippino Lippi (Sündenfall, Petrus im Gefängniß). Dagegen 
wieder ernft und würdig in feinen Darftellungen Coſimo Nofelli 1441—1521, 
malte zu Florenz. Dominico Ghirlandajo; er malte zu Florenz und Nom, 
Seine Gemälde zeichnen fih dur große, technifhe Vollendung aus, Befonders 
ſchön ift das Bild von ihm: der Tod des HI, Franciscus, dann Johannes der 
Täufer ꝛc. Sonft viele Anachronismen und ein Hinneigen zu weltlihen Darftel- 
lungen. Ferner: Lucas Signorelli. Berühmt find feine Fresfen im Dome zu 
Drvieto (das Paradies, der Fall des Antihrifts, das jüngfte Geriht). Die 
größten Meifter diefer Schule find: Leonardo da Vinei und Michel Angelo 
Buanarvtti, Leonardo, gleich ausgezeichnet als Plaftifer, Baumeifter und 
Maler, ift in feinen Schöpfungen groß und genial; er einigt in ihnen Kraft und 
Weichheit und weiß eben fo fehr in feinen Madonnabildern das Zarte, jungfräulich 
Reine und Milde darzuftellen, als er e8 verſteht, Feuer, Kraft und Handlung 
in feinen Hiftorifchen Bildern wiederzugeben, Zu feinen beveutendften Gemälden 
gehört das Abendmahl zu Mailand, al fresco ausgeführt (Chriftus ſpricht eben 
die Worte: Einer aus Euch wird mich verrathen, Wie ein Blitz durchfährt diefes 
Wort die Jünger; der Eine Gedanke, der des Verraths, befchäftigt fie Alle), 
Bierge aux rochers, Charitas u. U. In feinen Madonnabildern, fennbar an den 
blonden, reichen Loden, neigt er fehr zur umbrifhen Schule hin. Sein bedeu— 
tendfier Schüler iſt Bernardino Luini 1530, Ein höherer himmliſcher Neiz 


782 Malerei, hriftliche. 


fpricht aus feinen Gemälden. An ihn fehließen fih ferner an: der weiche Cäfare 
da Sefto und der Fräftigere Gaudentiv Ferrari; befonders ſchön und be- 
rühmt ift das Bild des Lestern, das Martyrthum der HI, Catharina darftelfend, 
Michel Angelo Buanorotti, ein fühner, gewaltiger Geift, geb. 1474, ift 
berühmt als Bildhauer, Architect, Maler, Mufifer und Dichter, Alte feine Werfe 
tragen den Charakter des Erhabenen und Gewaltigen an fi; er befigt nicht, wie 
Leonardo, die Gabe, den ftillen, innern Reiz ruhiger Schönheit wiederzugeben, 
er fennt nur die Negung gewaltiger Kräfte. Seine Zeichnung ift meifterhaft, zu⸗ 
weilen liebt er Fühne Verfürzungen, fein Eolorit ift leicht. Er malte hauptfäch- 
Lich zu Nom in der ſixtiniſchen Capelfe. Berühmt find feine Scenen aus der 
Shöpfungsgefhichte: Befeelung des Adam, Erfhaffung des Mondes und der 
Sonne, Sündenfall ꝛe. befonderd das jüngfte Gericht genial, großartig auf- 
gefaßt, bereits in's Titanenhafte überfchlagend, Chriftus fpricht eben die Worte: 
Hinweg von mir ꝛc. Maria ſchmiegt fih an den göttlichen Sohn, ringsumher 
find die Heiligen geſchaart. Unten haben fich die Gräber geöffnet. Die Teufel — 
gräaßlihe Geftalten — ringen mit den Engeln um Seelen, Berdammte wollen 
nah Oben flimmen, werden aber zu Klumpen geballt und mit Schlangen um— 
wunden wieder in die Tiefe geftürzt, Ein Fahrmann führt, mit dem Ruder auf 
fie ſchlagend, die Jammernden dem fehredlihen Hölfenrichter entgegen, M. An 
gelo's bedeutendfter Schüler ft Dan. Rizzarelli 1566. Kreuzabnahme zu St, 
Trinitate in Rom, Beiden Meiftern Leonardo und M. Angelo folgt eine Reihe 
von Künftlern nach, die unter dem Namen die Elaffifer in der Runftgefhichte 
befannt find. Inter den Iegtern verdienen befonders genannt zu werden Bar- 
tolomeon und Andrea del Sarto 1488--15305 beide vortreffliche Künftler, 
Erfterer befonders ausgezeichnet durch Tiefe und Innigkeit. Seine Geftalten 
foheinen einer höhern Welt anzugehören (Simeon, das Kind auf den Armen). 
Er malte zu Florenz. Noch find zu nennen: Raphael Limo del Garbo, Al- 
bertinelli Rofo, Ridolpho Ghirlandais, Naphaels Freund und Schüler, 
— Der umbrifhen Schule geht voran die fienefifche. Dahin gehören: Gib— 
vanni di Siena, Matteo di Siena, Anfano di Pietro; wenn auch Vieles 
in ihren Gemälden, 3. B. die langen Profile, die magern Hände, noch an by» 
zantinifche Steifheit erinnert, fo fpricht fih doch in ihnen ſchon die Innigfeit, das 
Seelenvolle des hriftlichen Principes aus. Dieß tritt noch mehr zu Tage in den 
der umbrifchen Schule angehörigen Meiftern, beſonders in den Werfen des 
Pietro Perugino 1446—1524, dem Meifter Raphaels, der erften bedeutenden 
Erfoheinung diefer Schule. Er liebt befonders Darftellungen aus dem Leben Ma- 
ria's. Hervorzuheben find: die Himmelfahrt Maria’s (die Jungfrau verſchwebt 
in goldenen Wolfen; die Jünger unterhalb finden anftatt des Leihnams Blumen 
im Grab), die Anbetung der Hirten, das Kind Jeſu auf einem Polfter im Rofen- 
garten, Magdalena. Mit Weichheit weiß er übrigens auch Kraft zu verbinden, 
ernft und Fräftig Männergeftalten darzuftellen, Die Formen find noch vielfach 
mager, die Hintergründe Mar, warm und leuchtend. Noch find zu nennen: Der- 
nardino Pinturichio, fein Schüler, der ihn glücklich nachahmt; Andrea di 
Luigi, Sancio von Urbino, Raphaels Vater, der befonders fhöne Engels» 
finder malte; Tiberio d'Aſſiſi, Girolamo Genga, Givvannidi Spagna, 
Melanei v, Montefaleo, befonders Franzesco Fra nza aus Bologna, der 
feiner Richtung nach ſich ganz an diefe Schule anſchließt und ihren Geift befonders 
treu repräfentirt, Auch ex malt wie Peruging gerne Madonnen allein mit dem 
Kinde, dann überhaupt gefhichtlihe Compofitionen, Fromme Befhaulichkeit dar« 
fteffend, Die Augen feiner Köpfe find groß, dunkel, rings durch ftarfe Schatten 
gehoben; fein Colorit feuriger, als das Perugino's, die Hautfarbe weißer, die 
Haare dunfelbraun, der Ausdruck fireng. In den Körperformen übertrifft er Pe— 
rugino; fie verrathen mehr plaſtiſche Studien (Sebaftian in der Pinacothek zu 








Malerei, chriſtliche. 783 


Padua). Gemälde, die befonders hervorgehoben zu werden verdienen, find: die 
 Berfündigung Mariä in Matland, die Kreuzabnafme in Parma; Maria fohaut 
dem göttlihen Sohne ſchweigend, ohne Thränen, in das todtmüde Antlig, indem 
fie deffen liebe Hand Halt; Magdalena betrachtet die Nägelmale. In Münden 
ift ein fehr ſchönes Bild von ihm: das Kind Jeſu, in einem Nofenhag liegend, 
die Mutter fniet anbetend davor. Der größte Meifter, der. aus diefer Schule 
hervorgegangen, überhaupt der größte Meifter auf dem Gebiete der chriftlichen 
Malerei ift Raphael Sanciv, Sohn des Giovanni Saneio, geb. zu Urbing 
1483, Schüler des Pietro Perugino, bald denfelben überbietend, In der Manier 
Perugino's nur deffen Härten überwindend, führte er 1495—1504 die Gemälde 
aus: Krönung Maria's Cim Vatican) und die Bermählung Maria’ (Mailand), 
ein befanntes Bild, Joſeph bält eine Lilie, Maria ſchaut erröthend zur Erde, 
ein ernſter Priefter mit herabfliegendem Barte verbindet ihre Hände, Ein Jüng— 
ling zerbricht feitwärts einen Stab über dem Iinfen Knie, In den Jahren 1504— 
1508: die Madonna mit dem Stieglig (Florenz), die Madonna im Grünen, die 
Hl. Familie (Münden), die Grablegung Chrifti (Rom), Glaube, Hoffnung und 
Liebe (Rom), dann mehrere weitere Madonnenbilder, von denen fih einige zu 
Münden, Berlin und Wien befinden. Ueberhaupt liebte er e8, den Kreis der 
hl. Familie darzuftellen, und ſtets mit neuer überrafchender Originalität. Alfe 
diefe Bilder tragen den Stempel hoher Genialität und einer freien, idealen Rich- 
tung an fih, wozu Raphaels Bekanntſchaft mit florentinifhen Meiftern, nament- 
lich mit Leonardo, nicht wenig beitrug. Seine großartigftien Werfe fchuf er in 
den Jahren 1508—20. Papft Julius I. berief ihn nah Nom und wies ihm hier 
ein großes Feld für feine Thätigfeit an, Hier malte er in den päpftlichen Zim- 
mern folgende Gemälde: die Theologie Cin diefem Gemälde ſtellt Raphael das 
höchſte Geheimniß des Glaubens dar, die Idee der Transfubftantion, Auf der 
Erde ſteht ein Altar, darauf der Kelch und über dem Kelche ſchwebt die Hoſtie. 
Um den Altar figen die großen Kirchenlehrer, über ihnen ift der Himmel geöffnet, 
darin die. hl. Dreieinigfeit, Strahlen auf die Hoftie gießend, welche Himmel und 
Erde vereint, Herrliches Bild!) , (Disputa), Zurisprudenz, Philoſophie und Poefie 
darſtellend; Heliodors Tempelraub, Leo und Attila, Sieg Conftantins über Ma— 
xentiug, Dann ſchmückte er den Vorhof des Baticans mit ornamentalen Fresfen, 
43 Scenen aus dem alten und vier aus dem neuen Teftament, ganz im Geifte 
des Morgenlandes aufgefaßt. Leo X. übertrug ihm ferner die Ausfhmüdung der 
firtinifhen’Capelle, Zu diefem Zwecke follten prachtvolle Teppiche den untern 
Theil der Wände zieren, in welde Bilder aus dem neuen Teftament eingewirft 
würden, Raphael fertigte 1515 und 16 die Cartone dazu; die Teppiche wurben 
in Flandern gewoben. Dahin: der Fifchzug Petri, die Beftrafung des Ananias, 
Bekehrung Pauli, Beftrafung des Zauberers Elymas, die Predigt Pauli zu Athen, 
Raphael zeigt fich Hier als Hiftorifcher Maler voll Ernft und Würde, Unter den 
Madonnen, welde er in diefer Zeit malte, find befonders ausgezeichnet: Ma- 
donna della Sedia und Madonna di Faligno. Sein größtes Meifterftüf und dag 
Höchſte, was auf dem Gebiete der hriftlichen Malerei gefhaffen wurde, ift die 
ſirxtiniſche Madonna; urfprünglich war diefes Bild für eine Kirchenfahne beftimmt 
und fam nah mannigfahen Schidfalen in den Befig Auguſts von Sachſen. 
Maria fhwebt als Himmelsfönigin, das göttliche Kind auf den Armen, in den 
Wolfen, rechts Eniet der HI. Papft Sixtus und deutet aus dem Bilde heraus - 
hinab auf die Gemeinde, die er dem Schuge Maria’s empfiehlt; links kniet bie 
HL. Barbara, gleichfalls wehmüthig freundlich auf die Gemeinde herniederblickend. 
Unterhalb befinden fich zwei Engel, die Naphael erft fpäter anbrachte; fie fühlen 
ſich ganz heimifh, Eine göttliche Hoheit Liegt in dem Antlige der HI. Jungfrau; 
. nicht minder fprechen Göttlichfeit und Tiefe aus den Augen des Kindes, das fanft 
und wei in den Armen der Mutter liegt; es ift fein gewöhnliches Kind, Fernere 


784 Malerei, chriſtliche. 


Gemälde: die Kreuztragung, jest in Madrid. Chriftus fpricht unter der Laſt des 
Kreuzes zufammengefunfen zu den weinenden Frauen: Weinet nicht über mich ıc, 
Die Viſion des Ezechiel und fein letztes Bild, das neben feinem Katafalfe auf- 
geftellt wurde, die Transfiguration (unten am Fuße des Berges Tabor das Bild 
des menſchlichen Jammers [der befeffene Knabe und feine Eltern], auf dem Berge 
das der himmliſchen Freude und Verklärung — Chriſtus im rofigen Lichte zwi- 
ſchen Mofes und Elias fchwebend), alle durch Kupferftiche befannt. Raphael ftarb 
37 Jahre alt, fchöpferifch, fruchtbar, unerreicht, alle Vorzüge der umbrifchen und 
florentinifhen Schule in fi) einigend, die Grazie des Schönen, die Hoheit des 
Erhabenen, die ganze Liebesfülle des chriftlihen Geiſtes. Auch in weltlichen, 
ſelbſt mythologiſchen Darftellungen ift er Meeifter, doch ohne fich darin zu verlieren; 
ſtets kehrt er wieder zur religiöfen Kunſt zurüd, Leonardo, Angelo und ins 
befondere Raphael, die drei größten Meifter in Stalien während diefer Periode, 
haben zahlreihe Schüler, ausgezeichnet durch Talent und Fertigfeit, hinterlaffen, 
welche theilweife ihre oft nur begonnenen Arbeiten ausführten, doc) erreichen fie 
ihre Meifter nicht; fie beginnen in Willfür auszuarten; überhaupt entfernt fich 
nach dem Tode diefer Meifter die hriftlihe Malerei von ihrem Principe und be- 
ginnt vielfach weltlih zu werden. Der talentvollfte Schüler Raphaels ift Julio 
Romano 1492—1546. Noch ragt aus diefer Richtung hervor Antonio Allegri, 
von feinem Geburtsorte Eorregio genannt, geb. 1494, + 1534, Seine Haupt- 
meifterfchaft, in der er unübertroffen daſteht, Tiegt im Helldunkel; er weiß wun- 
derbare Lichttöne zu ſchaffen. Sp in feinem berühmten Bilde: die heilige Nacht 
(zu Dresden). Vom Kinde Jeſu fließt in myftifcher Weiſe das Licht aus und 
übergießt mit magifhem Schimmer die Hirten, Zofeph und Maria. Sonft ent- 
fernt fih Eorregio vom ftreng kirchlichen Style; in feinen religiöfen Bildern Tiegt 
eine gewiffe Sentimentalität und falfhe Grazie. Hier find nicht mehr die Ge- 
falten Perugino's, F. Franza’s, Naphaels, Leonardo's. Zu feinen bedeutendfien 
religiöfen Gemälden gehören außer der hl. Nacht die Fresfen in der Kuppel des 
Domes zu Parma, das Bild der hl. Magdalena als Büßerin (?), in einer dun- 
keln Waldgegend dargeftellt, Vermählung der HI. Katharina mit dem Rinde Jefu 
(Neapel), Madonna Cingarelli. — Neben der florentinifchen und umbrifchen Schule 
blüht auch in diefer Periode die venetianifche, befonders durch die Gluth der 
Farbe ausgezeichnet; fonft weltlih, auf dem Boden der Mythologie und des ge- 
wöhnlichen Lebens heimiſch. Die Maler diefer Schule wählen zwar noch immer 
religiöfe Stoffe, aber ohne den Geift derfelben darzuftellen; das Höhere, Gött- 
liche fehlt bei aller ausgezeichneten Behandlung der Farbe und vortrefflihen Com— 
pofition. Zu den ausgezeichneten Erfcheinungen diefer Schule gehören: Titian 
1477— 1576, Orablegung, Himmelfahrt; herrlicher Farbenfchmelz; fonft mytholo⸗ 
gifche und weltlich Hiftorifche Darftellungen Tiebend. Giorgione 1477—1511, 
Bordenone, fein Schüler, 1487— 1531. Paolo Beronefe 1530-83, Ho 
zeit zu Cana mit 120 Figuren zu Paris, Bellini 1426—1516 und fein Bruder 
Gentile Bellini 1421—1501. Proceffion ; eine wieder wunderfam gefundene 
Hoftie wird zur Kirche getragen; malerifche Trachten. Tintoretto 1512—1594, 
fehr fruchtbar, neigt zur Allegorie. Bafano — Scenen aus dem Landleben, 
biblifhe und mythologifche Vorftellungen liebend, der Unbedeutendfte der Ge» 
nannten, Der religiöfe Geift verliert fich nach und nach gänzlich. Einzelne Kunſt- 
richtungen, welche theilweife der florentinifchen, theilweife der umbrifchen Schule 
zuneigen, finden fich außerdem in Padua und Mailand, auch in Neapel und 
Ferrara. Dahin die Meifter: Caftagno, Pollaiuolo, Berochio, Lorenzo 
Eofta, Squarzone, Forli, Antonio, Solario ıc, — Außer den Jtalienern 
hatten die Teutſchen in diefer Periode eine felbftftändig blühende Schule, Bes 
reits im achten Jahrhundert pilgerte die riftliche Malerei unter Carl dem Großen - 
über die Alpen und wird meiftens im Kloͤſtern durch Darftellung von Miniaturs 








Malerei, chriſtliche. 185 


bildern auf Handfriften geübt (f. den Art. Biblia pauperum). Diefe Bildchen 
find oft fehr fleißig, finnig, fauber und prachtvoll ausgeführt, z. B. das Evan- 
gelienbuch auf der Bibliothef in Münden aus dem Klofter Niedermünfter bei 
Regensburg. Sonft herrſchte bis in's 13te Jahrhundert durchweg der byzan- 
tiniſche Typus. Erſt mit dem 13tem beginnt auch in Teutſchland eine beffere 
Periode für die chriſtliche Malerei, und diefe entwickelt fi im Laufe der folgenden 
Sahrhunderte zugleich mit dem teutfchen Bauftyle und der Poefie immer reicher 
und blühender, namentlich in Augsburg, Cöln, Nürnberg, Ulm, in Sachſen und 
den Niederlanden. Die hriftliche Malerei in Teutfchland Hat vieles mit der um— 
briſchen Schule in Jtalien Aehnliches. Bei vielfaher Verfümmerung der äußern 
Form offenbaren die Geftalten der teutfhen Meifter einen ungemein tiefen, gänz- 
ich vom riftlihen Geifte durhdrungenen Ausdruck. Man Fann nicht leicht etwas 
Schöneres fehen, als die Köpfe der altteutfhen Meifter. Ein außerordentlicher 
Fleiß und ein warmes, faftiges Colorit harafterifiren ihre gerne auf Goldgrund 
gemalten Bilder. Die heilige Gefhichte und die Legende ift das Gebiet, auf dem 
fie fi bewegen; die Feinde Jefu werden in der Regel fragenbaft bis zur Ent- 
menfhlihung dargeftelt. Zu den ausgezeichneten Meiftern diefer Periode ge— 
hören Johann und Hubert v. Eyf (f. Eyf) 1366—1426, Hans Hem- 
meling c. 1479, ernft und würdig; 3.3. der HI. Ehriftoph, das Kind Jeſu 
dur die Fluthen tragend. Das Kind, dem ernſten Männerfopfe gegenüber, iſt 
fehr fhön und lieblich. Im Hintergrunde geht die Sonne auf. Iſrael v. Me- 
cheln; Hans Holbein der Aeltere, malte in Augsburg, hart, fireng; Martin 
ShKön von Colmar weiher. In Nürnberg Michael Wohlgemuth, + 1519, 
zart, dann wieder hart bis in's Häßliche. Beſonders ausgezeichnet Albrecht 
Dürer 1471, + 1528, der teutfche Leonardo (f. Dürer). Lucas Rranad, 
geb. 1472, + 1553, der fähfifhen Schule angehörig. Zu Um Zeitblom, 
warmes, feuriges Eolorit. Hans Holbein der Jüngere 1498— 1544, Madonna 
in Dresden, Todtentanz in Bafel. Der Holländer Lucas von Leyden, der 
Niederländer Duintin Meffis, + 1529. Dann Johann Schoreel, Tod 
der HI. Jungfrau. Münden. Auch die Kunft der Glasmalerei fam in diefer 
Periode zu Hoher Blüthe. Da in den Kirchen des germanifchen Bauftyls die 
fonftigen Gemälde feinen Plag fanden, ſchmückte man die Fenfter derfelben mit 
Glasmalereien. In der Glasmalerei gibt fi die Myftif der Kriftlihen Kunſt 
befonders zu erfennen. — Mit der dritten Periode von Mitte des 16ten Jahr- 
hunderts an beginnt der Verfall der chrifilihen Malerei. Wenn in der erfien 
Periode die Kunft nach diefer Richtung hin fleif und eckig war, fo wird fie nun- 
mehr fhwülftig, üppig, weltlih, dem herrfchenden Zeitgeifte dienend. Bereits in 
ber venetianifhen und fpätern florentinifhen Schule ift diefes Aufgeben des fireng . 
religiöfen Typus wahrzunehmen, in den Kunftrichtungen diefes Abfchnittes ſchrei⸗ 

tet diefes Abirren noch weiter fort. Allegorienſucht, Effeethafcherei, theatralifcher 
Charakter machen fih mehr und mehr geltend, Die Kraft artet in's Ueber— 
fhwellende, die Weichheit und Zartheit in falfche, finnlihe Grazie aus. Wie im 
kirchlichen Bauftyle, fo zeigt ſich auch in der hriftlichen Malerei, befonders gegen 
das 18te Jahrhundert Hin, abgefhmadte Ueberladung; im Winde flatternde 
Gewänder, tanzende und Pofaunen blafende Engel, mädchenhafte Madonnen treten 
an die Stelle der frühern ſchönen kirchlichen Geftalten. Das gefunfene kirchliche 
Leben, die Hinneigung zum Heidenthum, der rigorofe, religiöfe Fanatismus der 
fogenannten Reformatoren, der Prunf und Lurus der Höfe, die politifhen Be- 
wegungen jener Zeit — Alles wirkte zufammen, die riftliche Malerei ihrem 
Principe zu entfremden. Zu den bedeutendften Erfeinungen diefer Periode, in 
denen fich bei fonftiger Grofartigfeit und Runftfertigfeit das Berlaffen des reli- 
gidfen Typus mehr oder minder zeigt, gehören in Italien: Annibale und Lu- 
bovico Carraci 1609; Dominihins, Duido Reni, + 1642, im Einzelnen 

Kirchenlexilon. 6. Br, 50 


u 8 a A a 3 Yan ET u a a ER 


786 Maliz:Eid — Maltefer-Drden, 


großartig (f. männlichen Figuren), fpäter fentimental, theatralifh: Himmelfahrt 
Marias, Saffoferrato, Barrveiv, ©, Lanfranco, Carlo Dolce 1686 
wie fein Name, Pietro de Cortona, 71669, meiftens Eclectifer, In Teutfch- 
Yand zeichnet fih aus Peter Paul Rubens, geb, zu Cöln 1577, großartig; 
frifheg glühendes Eolorit, ungemein fruchtbar; es gibt wenige Kirchen in den 
Niederlanden, welche nicht ein Gemälde von ihm aufzuweifen haben; ganze Säle 
in den Galerien find mit Rubens'ſchen Bildern geſchmückt, befonders in Paris 
befinden ſich viele Bilder diefes Meifters, Unter feinen religiöfen Bildern ift 
berühmt: die Abnahme des Heilandes vom Kreuze in der Cathedralfirche von Ant- 
werpen, Die Formen feiner Geftalten entbehren der Idealität, Körper übervolf, 
Bewegungen leidenfhaftlih. + 1640, Sein größter Schüler ift Anton van 
Dyk, geb. zu Antwerpen 1599, + 1641, zarter und weicher als Rubens; 
Cafpar Erayer, + zu Gent 1669, malte viele Altarblätter, Rembrand, 
geb. 1606 bei Leyden. Helldunkel. Seine religiöfen Gemälde haben wenig 
Würde, Die übrigen niederländischen Maler geben größtentheil$ die religiöfen 
Stoffe auf und bewegen fih im Genre, — In Spanien fland eine Zeit Tang, 
theils von teutſchen, theils von italienifhen Einflüffen beftimmt, die chriſtliche 
Malerei in hoher Blüthe. Der größte Meifter der fpanifchen Schule ift Mu- 
rillos, geb. zu Sevilla 1618 und + im Hofpital daſelbſt 1682, Tiefe, Innig- 
feit, Gluth der Farbe, Viele Gemälde von ihm find in Sevilla, Madrid, Paris 
und Wien, Seine Madonna mit dem Rinde in der Leuchtenberg’fchen Gallerie 
zu Münden. Im Laufe des 18ten und Anfang des 19ten Jahrhunderts wurde 
auf dem Gebiete der hriftlihen Malerei wenig Bedeutendes geſchaffen; die Ma— 
lerfunft wandte fih mit Vorliebe der Landfchaft und dem Genre, theilweife der 
Hiftorie zu; desgleichen wurden die Stoffe gerne aus der Mythologie entlehnt 
und die Alfegorie häufig in Anwendung gebracht; nicht felten ungenießbares Zeug 
zu Tage gefördert und als Kunft gepriefen, Die alten, einzig Firchlichen, im 
Geifte des Chriſtenthums ausgeführten Gemälde des Mittelalter wurden un— 
beachtet gelaffen. Die hriftlihe Malerei fchlief, einzelne Künftler ausgenommen, 
die auf diefem Gebiete Würdiges leifteten (Knoller, Zid, Huber von Wei- 
Benhorn), bis König Ludwig von Bayern für die chriſtliche Malerei eine 
neue Aera heraufführte, Unter den Einflüffen diefes Funftfinnigen Fürften be- 
gannen zwei Malerfchulen in Teutfchland zu erblühen, die eine zu München und 
die andere zu Düffeldorf, Beide fihließen fih mit mehr oder weniger Glück 
an die umbrifche, florentinifche und teutfche Schule der zweiten Periode an und 
fuchen den Geift derfelben theils wieder in's Leben zu rufen, theils weiter fort- 
zuführen, Die bedeutendfien Meifter derfelben find Overbef (viele Darftellun- 
gen aus der hl. Gefhichte, Geburt Ehrifti, Tod des HI. Zofeph, der Triumph 
der Religion in den Künften). Cornelius (malte in der Ludwigskirche zu 
Münden; jüngftes Gericht al fresco), Schnorr, Hef (von ihnen die fehönen 
Fresken in der Bonifaciuskirche in München), Schadov, Schraudolph (malt 
im Dom zu Speier). Kaulbach (Zerflörung Jerufalems). Hundertpfund in 
Augsburg, Auch die Glasmalerei wurde wieder und man darf fagen meifter- 
baft nach langer Vergeffenheit geübt, Wenn auch die herrliche Farbenpracht der 
Alten noch nicht ganz erreicht ift, fo befteht ein Vorzug der neuern Ölasmalerei 
darin ,. daß die flörenden DBleieinfaffungen größtenteils vermieden find (die Au- 
ficche in München, der Dom zu Cöln). Schöne Anfänge find auf dem Gebiete 
der hriftlichen Malerei im 19ten Jahrhundert gemacht worden, diejelbe wirb aber 
erft dann wieder zur vollen Blüthe gelangen, wenn bie Kirche, die einzig wahre 
Pflegerin der hriftlihen Kunſt, das alternde Europa wieder mit ihrem Geifte 
belebt und verjüngt haben wird, Vgl. hierzu den Art, Aeſthetik. [Werfen] 
Maliz:Eid, f. Calumnien- Eid, 
Maltefer: Orden, fs Johanniter, 








a. Pi m * 


Malvenda — Mamachi. 787 


Malvenda, Thomas, gelehrter Dominicaner, 1566 zu Kativa in Spanien 
von vornehmen Eltern geboren, zeigte frühzeitig feine großen Geiftesanlagen, 
indem er die griechifche und hebräifche Sprache ohne Lehrer Iernte. Im J. 1581 
trat er in feiner Vaterftadt in den Drden der Dominicaner und befleidete nachher 
vier Jahre die Profeffur der Philofophie und zehn Jahre die Profeffur der Theo- 
Iogie zu Lombay. Ein fleißiger, gelehrter und fcharffinniger Lefer der Annalen 
und des Martyrologiums des Baronius, fohrieb er 1600 an diefen eben fo de- 
müthigen als gelehrten Cardinal einen Brief, worin er aufrichtig ausfprach, was 
ihm in deſſen Martyrologium nicht gefalle, Baronius nahm dieß fehr gut auf, 
und da er in Malvenda einen Mann erkannte, der ihm wichtige Dienfte Teiften 
fönnte, bewerfftelligte er bei dem Drdendgeneral deffen Berufung nah Nom. 
Hier unterftüßte er den Baronius bei feinen Arbeiten, entfprah dem von der 
Eongregation des Index ihm ertheilten Auftrag, die Bibliotheca Patrum des M, 
de la Bigne zu expurgiren, verbefferte im Auftrage feines Ordens die Ordeng- 
Miffalien und Breviere, fehrieb die Annalen feines Ordens (oder vielmehr den 
Apparat dazu), die aber nur bis auf das Jahr 1246 reichen, und gab fein Werf 
über den Antichrift heraus, Im J. 1608 nad Spanien zurüdgefehrt, feßte er 
im Dominicanerconvent zu Balenzia feine gelehrten Arbeiten fort und flarb 1628 
im erzbifhöflichen Palafte zu Balenzia, wo er feit Erhebung feines Freundes 
Iſidor Aliaga zum Erzbifchof diefer Stadt feine Wohnung hatte nehmen müſſen. 
Malvenda gehörte zu den gejhägteften Eregeten feiner Zeit. Seine Hauptwerfe 
find: 1) De Antichristo libri XI, welches Werf er zu Rom 1604 und ftarf ver- 
mehrt 1621 zu Valenzia herausgab und damit den größten Beifall der ganzen 
gelehrten Welt erntete; eine Analyfe diefer Schrift f. in Dupins nouv. Bibl. 
t. 17. p. 86 ete. sec. edit. Amst. 1711; 2) Gommentaria in s. scripturam unacum 
nova de verbo ad verbum ex Hebraeo translativone variisque lectionibus, Lugd. 
1650; 3) De paradiso voluptatis, Romae 1605, eine Analyfe davon f. bei Dupin 
Leit. ©. Echard und Quetif, Script. Ord. Praed. t. II. p. 454. [Schröpl,] 

Mamachi, Thomas Maria, einer der gelehrteften Männer des Domini- 
canerordens, wurde am 3. Dec. 1713 auf der Inſel Chio von griechifchen Eltern 
geboren, Er fam noch jung nah Stalien, trat bier in den Dominicanerorden, 
zeichnete fi durch Talent und Eifer für die Wiffenfhaften aus, wurde 1740 
Profeffor an der Propaganda zu Rom, und erhielt bald noch andere Aemter, 
Der Aufenthalt in Rom gewährte feiner Wißbegierde die reihlichfte Nahrung und 
brachte ihn mit den gelehrteften Männern feines Ordens, namentlich Concina, Orfi 
und Dinelli, in Verkehr. Am ftaunenswertheften waren feine Fortfchritte in der Kennt- 
niß der hriftlichen Alterthümer, fo daß ihm ſchon der gelehrte Papft Benedict XIV. 
durch ein ehrenvolles Breve die höchften theologifchen Würden und eine Stelle alg 
Eonfultor des Inder ertheilte. Die Parteilofigfeit, welche er in diefer Stellung 
ſowohl den Appellanten (Janfeniften) als den Jefuiten Crefp. ihren Büchern) gegen- 
über einnahm, zog ihm bei Manchen den Vorwurf eines charafterlofen Schwan- 
tens zu; aber Rom hielt ihn ftets in hohen Ehren, und Pins VI. ernannte ihn zum 
Magister sacri palatii (f, d. A.). Auch bediente er fich oft feines Nathes und feiner 
Feder. Ueberdief leitete Mamachi die Herausgabe des Firchlichen Journals, das 
feit 1785 zu Rom erfhien. Er flarb im Juni 1792 an einem Gallenfieber zu 
Eorneto bei Montefiaseone, wohin er fi kurz zuvor Gefundheitshalber begeben 
hatte, Seine Werke find: 1) De ethnicorum oraculis, de eruce Constantino visa 
et de evangelica chronotaxi, Florenz 1738; 2) De laudibus Leonis X. Rom. 1741; 
3) De ratione temporum Athanasianorum, deque aliquot synodis IV. seculo cele- 
bratis, epistolae IV, Florenz 1748 gegen Manfi und befonders feine Zeitbeftim- 
mung der Synode von Sardica (vgl. darüber H. J. Wetzer, restitutio verae 
chronologiae etc. Francof. 1827). 4) Das Hauptwerf Mamachi's ſollte feine 
chriſtliche Archäologie werben unter dem Titel: Originum et antiquitatum christia- 

50* 


788 Mamertug, 


narum libri XX, 1749—55. Es erfchienen von den 20 Büchern jedoch nur fünf 
in vier Duartbänden, denn andere Gefhäfte, dogmatifhe und Firchenrechtliche, 
hinderten leider die Vollendung diefer eben fo fcharffinnigen als gelehrten Arbeit, 
Einen Theil davon gab Mamachi überdieß auch italienifch heraus unter dem Titel: 
De costumi de primitivi christiani, Rom. 1753—57, in drei Bänden, und hievon 
erfchien im J. 1796 zu Augsburg eine teutfche Neberfegung in drei Duartbändchen: 
„Sitten der erften Chriften.” 5) De animabus justorum in sinu Abrahae ante 
Christi mortem expertibus beatae visionis Dei, libri II, Rom. 1766, zwei Bände 
in Duart gegen den Canonicus Cadonict von Cremona, welcher behauptete, daß 
die Gerechten des alten Teftamentes ſchon vor dem Hinabfteigen Chrifti ad inferos 
die Seligfeit der Gottesanſchauung genoffen hätten, 6) Del dritto libero della 
Chiesa d’acquistare e di possedere beni temporali, Rom. 1769. 7) La pretesa 
filosofia de’ moderni increduli esaminala e discussa, de’ suoi caralteri, Rom. 1770. 
8) Alethini Philaretae epistolarum de Palafoxii orthodoxia, Rom. 1772 u. 73 in 
zwei Octavbänden, eine Antwort auf die Einwürfe der Jefuiten gegen die Beati- 
fieation des B. Palafor, den fie des Janſenismus befchuldigt Hatten, Mamachi 
urtheilt darin ziemlich hart über mehrere franzöfifche Notabilitäten, 3. B. Tour- 
nely. Diefe Schrift beleidigte die Jefuitenpartei; aber zu gleicher Zeit erflärte 
fih Mamachi auch fehr flark gegen deren Gegner, die Appellanten und die jan- 
feniftifche Kirche von Utrecht. Endlich war Mamachi einer der Erften, welche den 
Kampf gegen Febronius aufnahmen, durch feine Schrift: 9) Epistolae ad Justinum 
Febronium de ratione regendae christianae reipublicae, deque legitima romani pon- 
tificis auctoritate, Rom. 1776 u, 1777 in zwei Detavbänden, Vgl. Biographie 
universelle, T. 26. [9.] 
Mamertus, der heilige, Erzbifchof von Vienne, Urheber ver Ro— 
gationen, zu unterfheiden von feinem Bruder Claudianus Mamertus 
(f. den Art. Claudianus Mamertus und Tillemont’s Memoiren, XVI, ©, 
119—126), hat Niemanden gefunden, der über feine Eltern, fein Geburtsjahr, 
feine Lebensverhältniffe vor dem Episcopate und das Jahr des Antritts feines 
bifhöflichen Amtes berichtet hätte; eine Spur möchte indeß darauf hindeuten, daß 
er von angefehenen und reichen Eltern abftammte und vor dem Episcopate ver— 
heirathet gewefen fei (f. Tillemonts Mem. XVI, ©. 104). Die erfte Erwäh- 
nung des Bifchofes Mamertus fällt auf das J. 463, in weldem Papft Hila- 
rind, deffen Vorgänger Papft Leo d. Gr. im J. 450 die Viennenfifhe Provinz 
zwifchen dem Erzbifchof von Arles und dem von Vienne getheilt hatte, dem Erz- 
bifchof Leontius von Arles die Angelegenheit des Bifhofs Mamertus zur Syno- 
dalunterfuchung übertrug, der (Mamertus) außerhalb feiner Provinz einen Biſchof 
orbinirt hatte, dadurch Unruhen veranlaßt haben follte (f. Tillem. 1. cit. ©. 105, 
106, 109) und daher von dem Papfte als ein ehrgeiziger, zorniger und gewalt- 
thätiger Priefter bezeichnet wurde, Gemäß dem päpftlichen Befehl veranftaltete 
Leontins eine Synode von 20 Bifchöfen, welche einen von ihnen mit einem Sy- 
nodalfchreiben an den Papſt abfandten, worauf diefer im J. 464 zurüdjchrieb, 
Mamertus folle durch den Bifchof Veranus vermahnt werden und bei demfelben 
als dem Stellvertreter des Papftes verfprechen, fünftighin fih unerlaubter Dr- 
dinationen zu enthalten, widrigenfalls wurde mit der Abfegung und Entziehung 
der verliehenen Privilegien gedroht; zugleich erließ der Papft an alle Bifhöfe 
der Provinzen von Lyon, Vienne, den beiden Narbonne und den Alpen ein Klage- 
fchreiben über Mamertus, mit ver Mahnung an Alle, fi gegen einander feine 
Uebergriffe zu erlauben und fih der Authorität des Bifhofs von Arles zu unter- 
werfen, dem er das Vorrecht verliehen, Coneilien der fünf Provinzen zu ver— 
fammeln (Tillem. S. 106-107), Muthmaflich hat Mamertus fih den For— 
derungen des Papftes gefügt. Bon einer erfreulicheren Seite erfcheint Mamertus 
als Urheber der fogenannten Nogationen, Im diefer Beziehung bemerkt fein 


a in 7 PR 2 


Mamertug, 789 


Freund Apollinaris Sidonius (I. V. epist. 14. ad Aprum in Sirmond. opp. t. I. 
Venet. 1728. p. 566): „Quidquid illud est, quod vel negotio vacas, in urbem 
tamen, ni fallimur, rogationum contemplatione revocabere. Quarum nobis solem- 
nitatem primus Mamertlus pater et pontifex, reverentissimo exemplo, utilissimo 
experimento, invenit, instituit, invexit. Erant quidem prius (quod salva fidei 
pace sit dietum) vagae tepentes, infrequentesque, utque sic dixerim, oscitabundae 
supplicationes, quae saepe interpellantum prandiorum obieibus hebetabantur, ma- 
xime aut imbres aut serenilatem deprecaturae, ad quas, ut nihil amplius dicam, 
figulo pariter atque hortulano non oportuit convenire. In his aufem, quas supra- 
fatus summus sacerdos et protulit pariter et contulit, jejunatur, oratur, psal- 
litur, fletur. Ad haec te festa cervicum humiliatarum ef sternacium civium 
suspiriosa contubernia peto.“ Wohl rührt alfo nicht von Mamertus der ſchon 
lange vor ihm in der Kirche eingeführte Gebrauch der Litaneien (f. d. A.) und 
Supplicationen her, aber er ift es, welcher zuerft die Buß- und Bittgänge in 
der fogenannten Kreuzwoche eingeführt und, wie Sirmond in der Note zum an- 
geführten Tert bemerkt, „supplicationum formam usitata sanctiorem augustiorem- 
que praescripsit.* Die VBeranlaffung zur Einführung der Rogationen erfahren 
wir zunächft wieder aus Sidonius, der in einem Briefe (1. VII, ep. 1. bei Sir- 
mond ©, 585) an Mamertus felbft („domino Papae Mamerto“) hierüber fchreibt, 
auch zu Arvernum fei bereit die Rogationsandacht eingeführt, welche fih für 
Bienne fo heilfam erwiefen, und welhe Mamertus angefangen habe — er, der 
fon früher einen Brand zu Vienne, indem er fi dem Feuer entgegengeworfen, 
auf wunderbare Weife geftillt Habe — zur Zeit, als Vienne's Stadtmauern durd 
Erdbeben zitterten, oftmalige Brände die Häufer in Afche Iegten und die fonft 
furdtfamen Hirſche aus den Wäldern in die Stadt liefen und ſich mitten auf dem 
Marfte Sagerten, da habe er (Mamertus) nämlich zuerfi feine Geiftlihen, dann 
auch das Volf zum Bußgeifte aufgewert und für die Nogationen geftimmt, Um- 
ſtändlicher fpricht der HI. Avitus, nah Mamertus und Iſicius (Vater des Avi- 
tus) Erzbifhof von Vienne, in feiner Homilie über die Nogationen von der Ver— 
anlaffung und Einführung derfelben. Häufige Brände, erzählt er feinen Zuhörern, 
die theilweife noch felbft Augenzeugen deffen waren, was Avitus erzählte, be= 
ftändige Erdbeben, nächtliches Getöfe und Thiere, die aus den Wäldern in die 
Stadt liefen, fegten die Einwohner von Vienne in großen Schrerfen. Sp ging 
es längere Zeit fort, bis die gnabenreiche Dfternacht heranrüdte, und man gab 
fih der fröplihen Hoffnung hin, die Auferfiefung des Heilandes werde dem 
Strafgerihte ein Ziel fegen; allein gerade in der Ofternacht, während das Volk 
dem Gottesdienſte anwohnte, brach in einem großen öffentlichen Gebäude ein ge— 
waltiges Feuer aus, Alfes eilte voll Beftürzung aus der Kirche, nur Mamertug 
blieb und Löfchte durch feine Thränen vor Gott den Brand, nach deffen Stillung 
die Gläubigen wieder in die Kirche zurücfehrten, die im Glanze der Lichter 
leuchtete. In diefer fürchterlihen Naht war es, da Mamertus fill vor Gott 
den Plan der Rogationen entwarf und die Pjalnıen und Gebete anordnete, die 
jest die Welt bei diefen Bittgängen fingend zum Himmel ſendet. Um aber feinen 
Plan in's Werk zu fegen und zu einer dauerhaften Gewohnheit zu machen, betete 
er zuerfi, Gott möge die Herzen der Gläubigen günftig für den Plan flimmen, 
fegte hernach denfelben in Predigten auseinander und fand allgemeine Beiftim- 
mung, auch von Seite der Bornehmen, von denen man gefürchtet hatte, fie möc- 
ten, faum das Herfömmliche beobachtend, der neuen Einrichtung widerſtreben. 
Als Zeit der Abhaltung der Nogationen wurden die drei Tage vor Chriſti Him- 
melfahrt feftgefegt. Bald folgten mehrere gallifche Kirchen dem gegebenen Bei- 
fpiele, ohne jedoch die Rogationen gerade auch immer an den genannten drei 
Tagen abzuhalten, aber noch zu Avitus Zeit hörten ſolche Verfhiedenheiten auf 
und war die neue Bußandacht bereits ein Gemeingut von ganz Gallien nicht bloß, 


790 Mamertus Claudianus — Manaffes, 


fondern beinahe von dem ganzen chriftlichen Europa (f. Avit. homil. de rogat, bei 
Sirmond. opp. t. 2. p. 90 etc. und bei Boll. ad 11. Maji in vit. s. Mamert.), Was 
Gregor von Tours (Hist. Franc. II, 34) über den Urfprung der Nogationen durch 
Mamertus vorbringt, ift der Homilie des Avitus entnommen und beftätiget die 
allgemeine Verbreitung derfelben, Zu Nom wurden die Rogationen des hi. Ma— 
mertus erft von Papft Leo II um 801 bei Gelegenheit eines heftigen Erdbebeng, 
das fih über ganz Italien erſtreckte, eingeführt und hießen hier „litania Galli- 
cana“, auch „litania minor“, legteres im Gegenfag zur „litania major“ am 
Mareustag (f, Pagi, brev. R. P. de Leone IIl.), — Im Uebrigen weiß man von 
Mamertus nur Weniged. Bemerkenswerth ift, daß ihn Avitus Chom. de rog.) 
feinen „spiritualem a baptismo patrem* nennt, Zu Vienne erbaute Mamertus 
eine neue Kirche zu Ehren des HL. M. Ferreolus, deffen aufgefundenen Leib er 
dahin transferirte (Greg. Tur. gl. M. II, 2; Sidon. Ap. Sirmond. opp. t. I. ep. 
vu, 1), Ein Bifhof Mamertus fommt in dem Eoncil von Arles 475 vor; ift 
es, wie wahrfcheinlich, unfer Mamertus, fo hat diefer damals noch gelebt. Vgl. 
hierzu den Art, Bittgänge, [Schrödt.] 

Mamertus Claudianus, f. Claudianus Mamertus, 

Mammäa Zulia, f. Drigenes, 

Mamre, urfprünglich der Name eines Amoriters, der mit feinen Brüdern 
Eſchkol und Aner zu den Bundesgenoffen Abrahams gehörte (Gen, 14, 13, 24.)5 
dann eines Thales mit einem Terebinthenhaine bei Hebron. In der Mitte jener 
drei Brüder hatte Abraham fein Zelt aufgefchlagen, und zwar, wie es näher 
heißt, „unter ven Terebinthen Mamre’s bei Hebron, und dort bauete er einen 
Altar” Cebend, 13, 18.). Da Abraham hier die Verheifung der Geburt eines 
Sohnes und einer großen Nachkommenſchaft, in der alle Völker gefegnet werben 
würden, erhalten hatte, fo befam der Ort frühe eine heilige Bedeutung und furz- 
weg den Namen des Befiters ann, Heutzutage wird eine unfenntlihe Ruine, 
aus zwei Mauern beftehend, die einen rechten Winfel bilden, mit einer feichten 
Eifterne, ungefähr eine Stunde nördlich von Hebron, als das alte Mamre be— 
zeichnet, Die Araber nennen es Ramet el Kalıl, die Juden das Haus Abrahams. 
„Unfer Weg, fagt Schubert CI, 486), öftlicher als die gewöhnliche Heerfiraße 
nach Jeruſalem, ging zuerft zwifchen den üppig grünenden, ſchon dem Aufblühen 
naher Weingärten hin, welche aufwärts im Thale und im Norden der Stadt 
(Hebron) ſich weithin ausbreiten, Wir wendeten ung dann rechts von der Strafe 
durch dichtgrünende Saatfelder und famen etwa nad einer Stunde an ein aus 
riefenhaften Werkftücden zufammengefegtes Gemäuer, welches einen großen, vier- 
ecfigen Raum, wie einen Hof, umfchließt, innerhalb welchem nach der einen Ecke 
hin eine ſchön gemauerte Cifterne fich zeigt. Hier Eonnte wohl die Wohnung des 
reihen Befißers der Herden fein, von denen ein großer Theil in dem geräumigen 
Hofraum bei Nacht Schuß fand. Die Umgegend rings um dieſes Gebäude her 
gehört zu den fruchtbarften, die wir in Paläftina ſahen; die Hügel find mit 
Strauchwerk und Bäumen bewachfen, und auch die üppig gebeihenden Kräuter 
der Ebene machen hier den vormaligen Waldboden fund.“ Eufebius und Hiero— 
nymus hielten Mamre für einen Altern Namen von Hebron, aber Gen, 23, 19. 
ift nach Gen. 13, 18, zw erflären; die Höhle Machpelah, darin Abraham fein 
Weib begraben ließ, lag außerhalb der Stadt Hebron am Thal-Abhange Mamre 
gegenüber, [Schegg.] 

Manaſſes (msn [vergeffen machend], LXX. Mavaoors, Vulg. Manasses). 
1) Erſtgeborner Sohn Joſephs von der ägyptiſchen Prieſtertochter Asnath, und 
ſomit älterer Bruder Ephraims (ſ. d. A,). Die Urſache feines Namens gibt Jo— 
fepb felbft an mit den Worten: Denn Gott hat mich vergeffen laffen all’ mein 
Ungemach und das Haus meines Vaters (Genef. 41, 50—52, 46, 20, 48, 1). 
Jacob adoptirte ihn, wie feinen jüngern Bruder Ephraim, den ex ihm jedoch 


Dr 17 2 


ET. EUR SENUEER 





Manaffes, 791 


vorzog; und fo wurde er gleich den Söhnen Jacobs, den Brüdern feines Vaters, 
Haupt eines ifraelitiihen Stammes, der feinen Namen erhielt; und Jacob weif- 
fagte ihm, daß er zwar groß und zahlreich werden, jedoch hinter Ephraim zurück— 
ftehen werde, und daß man in Segenswünfdhen fagen werde: Gott made dich 
wie Eppraim und Manaffes (Genef. 48, 5. 14— 20), Zur Zeit Mofe’s zählte 
der Stamm zuerfi 32,000 (Num. 1, 34, 2, 21), dann 52,700 waffenfähige 
Männer (Num, 26, 34). Sein Stammgebiet erhielt er zum Theil ſchon unter 
Mofes im oftjordanifhen Lande, nämlich ganz Bafan, das vormalige Reich des 
Königs Dg von Bafan , fammt den Dörfern Jair's, und dazu noch halb Gilead 
nebft Aſtharoth und Edrei (Mum. 32, 39. f. 34, 14, f. Jof. 12, 6. 13, 29—31). 
Uebrigens fcheint diefer Diftrict weder füdlih und ſüdweſtlich gegen das Gebiet 
des Stammes Gad hin, noch öſtlich und nördlich gegen die nicht ifraelitifchen 
Volksſtämme Hin fiharf abgegrenzt gewefen zu fein. Zwar wird der Jabbok als 
Grenzfluß zwifhen Gad und Halbmanaffes bezeichnet (Deut, 3, 13. ff.) ; diefes 
fann jedoch nicht im firengen Sinne gemeint fein, weil nach Joſ. 13, 27. das 
Stammgebiet der Gaditer fih am Jordan hinauf bis zum See Genefareth hinzog. 
Diefes ziemlich ausgedehnte Gebiet war jedoch nur für die eine Hälfte des Stam- 
mes ausreichend, die andere Hälfte erhielt ihren Wohnfig unter Zofua im weft 
lichen Zordanlande neben dem Stamme Ephraim; derfelbe grenzte weftlich au's 
mittelländifhe Meer, nördlih an Afer, öflih an Iſſachar (Hof. 17, 10) und 
ſüdlich an Ephraim, Legtere Grenze war jedoch nicht feharf gezogen; e8 wird 
zwar Nachal-Kana (Rohrbach) als Grenzfluß bezeichnet (Fof. 16, 8. 17, 9), 
zugleich aber auch Ortſchaften im Gebiete Manaffes als zu Ephraim gehörig erwähnt 
(Sof. 16, 9. 17, 8), fo wie Manaffes wiederum in Afer und Iſſachar Befigungen 
hatte (Joſ. 17, 11). Die Manaffiten waren jedoch längere Zeit nicht im Stand, 
aus den ihnen angewiefenen Gegenden und Drifchaften die Canaaniter zu ver- 
treiben (Sof. 17, 12. Richt. 1, 17). Nah Salomo war Manaffe ein Theil des 
Reiches Iſrael und theilte dann auch die Schieffale diefes unglüdlihen, dem 
wahren Gott und feinem Dienfte fih immer mehr entfremdenden, in Abgötterei und 
ihre Folgen verfinfenden Reiches. 2) Sohn und Nachfolger des jüdifchen Königs 
Hiskias (698 — 643 v. Chr. f. Hebräer IV. 911. f.), im fittlicher und religiöfer 
Beziehung aber das Gegenſtück deffelben. Er kam ſchon als zwölfjähriger Knabe 
zur Regierung und pflegte und förderte auf alle Weife ven Gögendienft, ftellte 
die von feinem Bater zerftörten gefegwidrigen Höhen wieder ber, errichtete Altäre 
dem Baal und der Aftarte und trieb Geſtirndienſt. Sogar in den beiden Tempel- 
sorhöfen baute er Götzenaltäre und flellte dort ein Bild der Aftarte auf, trieb 
Zauberei und Todtenbefhwörung, opferte einen Sohn dem Moloch und verleitete 


‚ auch das Bolf zum Abfall und Gögendienft, „fo daß fie fchlimmer thaten, als 


die Völfer, welche Jehova vertilgt hatte vor den Söhnen Iſraels“ (2 Kön, 21, 
1—9. 2 Chrom. 33, 1—9), auch vergoß er unfchuldiges Blut in Menge, „fo 
daß er Jeruſalem damit anfüllte von einem Ende bis zum andern” (2 Kön. 21, 
16); felbft der Prophet Jeſaias wird von der Tradition unter die Opfer feiner 
Graufamfeit gezählt. Darum drohte Jehova durch Propheten, deren Namen nicht 
genannt werden, deren Reden aber in den Jahrbüchern des Reiches Juda aufge- 
zeichnet waren (2 Chron. 33, 18), daß er die Meßſchnur Samariens und das 
Senkbfei des Haufes Ahabs über Jerufalem bringen und die Stadt auswifchen 
werde, wie man eine Schüffel auswifcht und dann fie ummwendet (2 Kön. 21, 
10—13). Eine Art Vorbote von Erfüllung zeigte fich bald, Die Affyrier mad 
ten, man weiß nicht, aus welcher Veranlaffung, einen Einfall in Juda, und 
Manaſſes felbft wurde gefangen und mit Ketten beladen nach Babel abgeführt, 
Hier in feinem Elende wurde er anderen Sinnes, befehrte und demüthigte fich vor 
Jehova, und erhielt dafür bald wieder feine Freiheit und den jüdifchen Königs- 
thron unter Umftänden, die uns unbefannt find, Jetzt ließ er an der Weftfeite 


792 Manaffes Gebet — Mandeville. 


der Stadt eine zweite hohe Dauer aufführen, Iegte in die jüdifchen Städte Be- 
fagungen, entfernte die Gögenbilder und Odgenaltäre wieder aus dem Tempel 
und aus Jeruſalem, ftellte den Altar Jehova's und den geſetzlichen Opferdienft 
wieder ber und befahl dem Volke, den Jehova zu verehren (2 Chron, 33, 11— 
17). Nah einer 55jährigen Regierung ftarb er, und wurde im Garten feines 
Hauſes, im Garten Uſſa's, begraben (2 Kön, 21, 1. 18). Die babylonifche Ge- 
fangenfchaft des Manaſſes und feine Befehrung wird von den neuern Kritikern 
meiſtens als undiftorifh verworfen Cogl. Winer, Realwörterbug s. v.). Da je- 
doch die vor einiger Zeit heftig angegriffene Glaubwürdigkeit der Chronik in 
Folge der neuern dießfallſigen Unterfuchungen wieder außer Zweifel geftelit ift 
(vgl. Keil, apologetifcher Verſuch über die Bücher der Chronik ıc, S. 261. ff, — 
Hävernid, Handbuch der Hift, erit. Einleitung in's A, T. Thl. I. Abth. 1.S, 207. ff. — 
Herbft, Einleitung Th. II. Abth. I. ©, 199, ff.), fo ift das Schweigen des frü- 
heren Berichterflatters von dem Ereigniß noch bei weitem fein genügender Grund, 
dafjelbe für bloße Fiction oder „fromme Vermuthung“ (de Wette, Einleitung 
©. 278) zu erklären, In einem Widerfpruch ſteht der chroniftifche Bericht mit 
dem früheren jedenfalls nicht, fondern dient demfelben nur zur Ergänzung und 
Bervollftändigung, und bewiefen hat man die vorgeblihe Geſchichtswidrigkeit des 
chroniſtiſchen Berichtes auch nicht annäherungsweife, [Belte,] 

Manafjes Gebet, f. Apveryphen Literatur, 

Mandata de providendo, ſ. Anwartfhaften. 

Mandatum, |. Fußwaſchung. 

Mandeville, Bernhard von, Die Angriffe der Deiften (f. d. A.) waren 
meiftens und zunächft gegen den Glaubensinhalt des pofitiven Chriftentbums ge— 
richtet, wobei fie freilich fiher darauf rechnen fonnten, daß, wenn nur einmal 
diefer eliminirt, alle Moralität von felbft dann aufhören werde, Es gab jedoch 
auch folche, welche die hriftliche Moral directe befämpften, und eben bieher ge- 
hört Bernhard von Mandeville. Er ift geboren zu Dortreht in Holland im 
3. 1670, von franzöfifcher Herkunft, war Doctor der Medicin und brachte bie 
meifte Zeit in England zu, wofelbft er au am 19. Januar 1733 flarb, Sein 
Hauptwerk ift feine Fabel von den Bienen, In diefer Fabel, die zuerft im 
3. 1706 erfhien, und die er nur für ein unfchuldiges Neimfpiel gehalten wiffen 
wollte, führt er einen Bienenfohwarm vor, in welchem zwar alle Arten von La— 
ftern, aber auch Handel und Gewerbe, Kunftfleiß und Kriegsruhm, Ueberfluß 
und Wohlleben einheimifh waren, bis daß gewiffe empfindliche Geſchöpfe alle 
Sünden zu verbannen und firenge Tugend einzuführen begehrten. Jupiter er- 
hörte diefe Bitte und nunmehr erfolgte die fonderbarfte Veränderung. Ehrlichkeit, 
Drdnung und Necht berrfchten von nun an im ganzen Stode; Betrüger und 
Gauner, Spieler und Falfpmünzer entfernten fih; alle Richter und Advocaten, 
Schergen und Henker waren überflüffig; Aerzte, Geiftlihe ꝛe., Alles Tief fi 
nun die gewiffenhaftefte Pflichterfüllung angelegen fein. Aber der bisher fo blü— 
bende Staat verlor auch merklich an Volfsmenge und innerer Stärfe, viele Ge- 
werbe, alle feineren Künfte und Lebensarten mußten von felbft eingehen; bie 
Kriegsmannfchaft war abgedanft, weil man gegen benachbarte Körbe weder Feind- 
fhaft noch Mißtrauen hegte. Einige unvermuthete Angriffe von außen wehrten 
die tugendhaften Bienen tapfer und glüdlih ab, doch auch immer mit großem 
Berlufte; der immer mehr verringerte Weberreft flüchtete in eine befeftigte Ge- 
gend; zulegt aber bezog er aus Furcht, durch den bequemen Ruheſtand nach den 
Anftrengungen des Kampfes in die Gefahren der Unmäßigfeit und Weichlichkeit 
zu verfinfen, die finftere Höhlung eines alten Baumes, wo ihm von feinem Wohl⸗ 
ftande nichts übrig blieb, ald Genügſamkeit und Redlichkeit. Es ift nicht unwahr- 
ſcheinlich, daß Mandeville in diefer Fabel auch eine Satyre auf manderlei Fehler 
in ber Verwaltung des englifchen Staates, auf Thorheiten und Lafter ber höheren 














Mandirte Gerichtsbarkeit, 793 


Stände ſchreiben wollte; aber feine Haupttendenz ging dahin, die Immoralität 
von vortheilhafter Seite zu ſchildern, indem er eben ihren fürdernden Einfluf 
auf die Zuduftrie, den Wohlftand, die Größe und Macht einer Nation auseinander- 
feste. Dabei vergiftete er die Gebote des Chriſtenthums, indem er ein Gemifch 
von träger Gleihgültigfeit und harter Selbftverläugnung , von Verftellungsfunft 
und Menfhenhaß zufammenfegte,, und dieß für die Tugend ausgab, welde dort 
gelehrt werde. Seine Hriftlihen Tugendhelden waren alfo vornehmlich welticheue 
Einfiedfer , die jeden Gebrauch der Erdengüter, fobald er über den Zweck der 
nothdürftigften Lebenserhaltung hinausgeht, als fündlihen Mißbrauch verdam- 
men, immer nur ihre Sünden befeufjen, gen Himmel bliden und für die Welt 
nichts thun, als beten, dabei auch alle zeitliche Ehre verfhmähen. So fehr er 
aber die Ueberzeugung zu vertreten ſuchte, „daß das Laſter einem blühenden 
Staate eben fo nothwendig fei, als der Hunger, der uns zu effen nöthigt“; fo 
war er doch nicht im Stande, die Lehre, daß jenes von ihn alfo genannte Lafter 
der einzelnen Menfchen ihrer Gefammtheit vortheilhaft fer, zu beweifen, ohne im 
Beweife die beirügerifche Einfchränfung anzubringen, daß es nur in gewiffem 
Grade vortheilhaft fei, indem er den Zwed des Gefellihaftsvereins und den 
Beruf der Obrigfeit eben darein feste, den Anftrebungen diefes Lafters Maß 
und Ziel zu halten, und daher ftillihweigend einräumte, daß daffelbe nicht ſchlech— 
terdings und unbedingt, fondern alsdann, wenn es von der Bernunft in Schranfen 
und Drdnung gehalten werde, außerdem aber nur zufälliger Weife, der Gefell- 
Schaft nüge. Wie fein Staat ein Widerſpiel des Platonifchen war, daher Dieberei 
ihm unentbehrlich, weil fonft die Schloffer Hungers fterben würden, der Brannt- 
wein ſehr heilfam, weil er die unglüdlichften Menſchen ihr Elend vergeffen made 
und denen, die ihn bereiten, reichlich zu leben gebe ıc.; fo hatte.er im Allgemei- 
nen feine höhere Idee von der fittlihen Natur des Menfchen, und in Abficht auf 
die Art und Weife, wie er die Entſtehung der fittlihen Begriffe unter den Men- 
fen erflärt, flimmt er ganz mit den griechifhen Sophiften überein. Den Men- 
fhen, wie er von Natur ift, befihrieb er als ein wildes Thier oder als den 
Selaven feiner Leidenfhaften, und was er durch Erziehung wird, ald einen ab— 
gerichteten Gaukler; fittlihe Tugend nannte er eine Geburt des Hochmuths, 
Selbfibetrug und Heuchelei; Mäßigung des Zorns, Menfchenliebe und Großmuth, 
alles bloße Künftelei; die jungfräulihe Schamröthe bei ſchlüpfrigen Reden eine 
anerzogene Berfleivung und Eitelfeit ꝛc. Selbftliebe ift nah ihm der natürliche 
Anfang und rechtmäßige Endzwed aller Tugend. Diefe Lehren erregten Auffehen, 
darum gab Mandeville dem Gedichte 1714 einen großen Commentar bei, und da 
auch diefer nicht befriedigte , einige Gefpräche zur Vertheidigung. Die 6te Aus- 
gabe ift vom 3. 1732 und nach ihr ift die franzöfifche Ueberfegung gemacht, welche 
& Londres 1740 in A Theilen in 8. unter folgendem Titel erfdien: La Fable des 
Abeilles, ou les fripons devenus honnötes gens, avec le commentaire etc. Allein 
man merkte es zu deutlih an allen feinen Erklärungen und Netractationen, daß 
er mit dem pofitiven Chriſtenthume zerfallen war; fein Buch wurde au von dem 
Landgerichte von Middleffer im J. 1725 vor der Königsbanf verurtheilt, und 
eine Neihe tüchtiger Gegner trat gegen ihn auf, fo namentlih J. Fr. Jacobi in 
feinen Betrachtungen über die weifen Abfichten Gottes u. f. w. Thl. II. S,146 ff. 
Auch in den übrigen Schriften zeigte ſich Mandeville als einen Deiften, der 
überall, wo er fonnte, namentlich dem geiftlichen Stande einen Hieb beizubringen 
ſuchte. Bgl. Sigwart, Gefhichte der Philofophie Bd. IL S. 121 ff. Denke, 
allgem. Geſchichte ver hriftl. Kirche 6. Thl. ©. 85. ff. Trinius, 3. U, Frei- 
denfer-Lericon ꝛc. Leipzig 1759. ©. 343— 349, Flügel, Geſchichte der fomifchen 
Literatur Bd. I. S.588. Schröckh, chriſtl. Kirchengeſch. ſeit d. Reform. Thl. 6. 
S. 204. ff. Fuhrmann, Handwörterbuch ꝛc. Bd. II. [äris.) 
Mandirte Gerichtsbarkeit (jurisdietio mandata), häufig zwar im gemei— 


a * 4 Bene REN e—r nl —— — 
* 


704 Manes, Manichäismus, Manichäer. 


nen Sprachgebrauche mit „delegirter Gerichtsbarkeit“ dem Namen nach ver- 
wechfelt, jedoch der Sache und dem Begriffe nach wefentlich von Ießterer ver- 
ſchieden, heißt jene Gerihtsbarfeit, welche von dem ordentlichen Richter (vom 
Papfte, Erzbifchofe, Biſchofe) an eine andere phyfifhe oder moralifhe Perfon 
nicht als feldfiftändiges Amtsrecht angelaffen (f. Delegirte Gerichtsbarkeit), 
fondern als ein rein flelfvertretendes fohin im Namen und Auftrag des ordent- 
lichen Gewalthabers feldft auszuübendes Recht übertragen if, Eine ſolche man- 
dirte Gerichtsbarkeit haben beifpielswerfe die erzbifchöflihen und bifchöflichen Ge— 
neralvicare und Dfficiale oder die nach neuerer Drganifation unter dem Namen 
„Beneralvicariate” und „Dffteialate” zufammengefegten Collegien. Ein folder 
judex mandatus fann zwar einem Dritten ein Commifforium für den einen oder 
andern Jurisdietionsact, nicht aber, wie ein judex delegatus, feine Amtsgewalt 
felbft ganz oder theilweife übertragen, oder mit anderen Worten: der mandirte 
Richter kann feinen Submandatar beftellen, wohl aber ein delegirter Richter einen 
andern fubdelegiren, Da der judex mandatus mit feinem Mandanten d, i. mit 
dem orbentlihen Richter Eine und diefelbe Inſtanz bildet, fo geht begreiflich gegen 
ein Erfenntniß oder eine Verfügung des mandirten Nichters nicht erft an den 
Mandanten, fondern gleich an den nächſthöheren Nichter, während von dem dele— 
girten Richter an den Deleganten ald Dberrichter und von diefem dann erft an 
den nächftgöheren als dritte Inſtanz appellirt werben fann und muß, Der Um— 
fang der mandirten Gerichtsbarkeit richtet fih nach der ertheilten Vollmacht, und 
die Amtsgewalt des Mandatars erlischt mit der Zurücknahme des Mandats und 
mit dem Tode des Mandanten; daher mit dem Tode oder der Verfeßung oder 
Nefignation des Biſchofs ipso facto auch die Amtsgewalt des Generalvicars 
( d. A) gebrochen if, Brgl, auch den Art. Delegat, und Gerichts— 
barfeit, [Permaneder.] 
Manes, Manichäisnus, Manichäer. Die gnoftifhen Ideen übten 
einen fo mächtigen Zauber auf den in die Naturanfchauung vertieften und in ihre 
Räthſel verwicelten Menfchengeift, daß fie immer und immer wieder in neuen 
Geftalten auftauchten und Zaufende bethörten, Kaum hatten die edelften Vor— 
fämpfer der geoffenbarten Wahrheit in gewaltiger Anftrengung das glänzende 
Wahngebilde des Gnoſticismus (ſ. d. A.) erſchüttert und theilweife zertrümmert, 
fo erhob fich im fernen Dften aus der in Aſien weitverbreiteten dualiſtiſchen An- 
fhauungsweife durch Manes Funftreich ‚geformt und mit altperfifchen refigiöfen 
Ideen verwoben der alte Irrthum als neues Syſtem, das gleich in feinem Be— 
ginn ſtark angefeindet und auch fpäter noch zu Zeiten heftig verfolgt, bisweilen 
den Namen wechfelte oder im Stillen fortwircherte, ohne je wieder gänzlich unter- 
zugehen. Die Gefchichte des Manes und der Inhalt feines Lehrſyſtems find trotz 
vielfacher Unterfuchungen noch in manchen Einzelheiten nicht genügend aufgeheflt 
und feftgeftellt, wenn auch die Hauptumriffe ziemlich alfgemein in gleicher Weife 
anerkannt find. Das Leben des Manes wird verfchieden dargeftellt, je nachdem 
den orientalifchen Cd. h. den perfifchen, fyrifchen, arabifchen) oder den gri n 
und Iateinifhen Duellen der Vorzug gegeben wird, Die prientalifhen Duellen 
find vergleichsweife fehr jung Chöchftens aus dem 9. oder 10. Zahrh.), aber fie 
haben den Vorzug einheimifche zu fein, Die griechifchen und lateiniſchen reichen 
zwar in's dritte oder vierte Jahrhundert hinauf, fließen aber ſämmtlich aus Einer 
Duelle, die ſelbſt manchen Bedenken unterliegt. Diefe Duelle bilden die größ- 
tentheils nur in alter Tateinifcher Ueberfegung vorhandenen Acta Disputationis Ar- 
chelai cum Manete, die vom hl. Archelaus urfprünglich fyrifch verfaßt, dann in's 
Griechiſche überfegt und von den Vätern des vierten Jahrh. bei ihren Schilde— 
rungen der äußern Lebensverhältniffe des Manes offenbar benugt wurden, fo von 
dem hl. Eyrillus von Gerufalem (Cateches. 6), vom hl. Epiphanius Chaeres. 66) 
und von den Kirchengefchichtfehreibern Sperates (Hist: Eccles. hb. I. 0. 22) und 


’ 


ER NER 











f Manes, Manichäismus, Manichäer. 795 


Theodoretus (Uaeret. fabul. lib. I. c. 26. lib. V. c. 9). Eufebius, der Kirchen- 
geſchichtſchreiber, ſcheint von diefen Acten noch nichts gewußt zu Haben CHist. Eceles. 
lib. VIL c. 31). Nach diefen Acten, welche bis auf einige neuere Proteftanten 
(Beaufobre, Neander u. A) ftets als die Duelle der Gefhichte des Manes 
galten, verdankt der Manihäismus eigentlich feinen Urfprung einem vielgereisten 
faracenifchen Handelsmann Seythianus, der fih zulegt in Aegypten niederließ. 
Diefer hatte einen Schüler Terebinthus, welcher fih fpäter den Namen Buddas 
beilegte, fih für den Sohn einer Jungfrau ausgab und weiter behauptete, ein 
Engel habe ihn im einfamen Gebirg auferzogen. Diefer Terebinthus verfaßte 
feinem Meifter vier Bücher, genannt: Die Geheimniffe — Die Hauptftüfe — 
Das Evangelium — Der Schag. Nah des Meifters Tod z0g Terebinthus nach 
Babylon, welches damals eine perfifhe Provinz war, und wohnte dort bei einer 
alten Wittwe. Da rühmte er fich feiner ägyptiſchen Weisheit und verfündete, 
wie es vor Erfhaffung der Welt zugegangen fei und was die beiden Lichter am 
Himmel (Sonne und Mond) zu bedeuten hätten, und wie die Seelen aus- und 
einwandern u, dgl, mehr. Aber eines ſchönen Morgens, als er auf das (nad 
srientalifcher Weife) flache Hausdach geftiegen war, um dort nach feiner Weife 

im Stillen Gott zu verehren oder Magie zu treiben, fiel er herunter und brach 

den Hals, Die Hausfrau erbte feine Papiere und Faufte fih einen fiebenjährigen 
Knaben, Cubrieus, als Sclaven, Diefem ſchenkte fie die Freiheit und ließ ihn 
in den Wiſſenſchaften unterrichten. Nach etlichen Jahren ftarb fie und feste ihn 
zum Erben ein, Der junge reiche gebildete Erbe zog nun in die Hauptfladt, nahm 
den Namen Manes an (fo heißt er bei den Griechen, die orientalifhen Quellen 
nennen ihn Mani, die Lateiner Manichaeus, über die verfchiedene Deutung und 
über den Urfprung diefes Namens ſ. J. A. Fabricii Biblioth. Graec. ed. Harles. 
Vol. VII. p. 310—11), überfegte und erweiterte die geerbten Bücher, und gewann 
bald mehrere Schüler, deren einer, Thomas, nach Aegypten (fpäter vielleicht 
nah Judien Theodoret. haeret. fabul. lib. I. c. 26), der andere, Addas, auch 
Buddas genannt, nah Scythien (nach Syrien Theodoret. 1. c.) ging, der dritte, 
Hermas, bei ihm blieb, fpäter vielleicht fih nach Aegypten wendete (Theodoret. 
l. c.). Um diefe Zeit fiel der Sohn des perfiihen Königs Sapor in ſchwere 
Krankgeit und es wurde allenthalben für ihn Hilfe gefucht. Manes im Vertrauen 
auf feine Zauberfünfte meldete fih beim König und verfprach Heilung. Aber die 
Kur fiel übel aus, Der Prinz ftarb unter feinen Händen und Manes ward mit 
Ketten belaftet in's Gefängniß geworfen. Indeſſen fehrten die Boten feiner Lehre 
zurüd und berichteten ihm den geringen Erfolg ihrer Bemühungen, und wie ihnen 
befonders die Chriften, wo es ſolche gebe, hinderlich gewefen feien. Da fandte 
er fie hin mit dem Auftrag, die heiligen Bücher der Chriften zu faufen, was 
ihnen durch Berftellung gelang. Diefe benüste er nun, um feinen eigenen Bü— 
chern einen hriftlichen Anftrich zu geben und ihnen durch den Namen Chrifti Teich- 
tern Eingang zu verfchaffen. Als er auf die Stellen von dem verheißenen Paraclet 
ſtieß, der die Jünger in alle Wahrheit einführen follte, deutete er diefe auf ſich 
ſelbſt. Hierauf fendete er feine Schüler abermals aus, um die fo modificirte Lehre 
zu verfünden. Bald darauf gelang es ihm zu entwifhen und in einem alten 
Schloß Arabion, an der Grenze von Verfien und Mefopotamien, ein ficheres 
Verſteck zu finden. Bon dort aus febte er feine Bemühungen fort, neue Anhänger 
zu gewinnen, und hatte es insbefondere auf einen reichen angefehenen und überaus 
wohlthätigen Dann zu Caskar in Mefopotamien, Marcelfus, abgefehen, Diefem 
ſchrieb er als „Apoftel Eprifti” einen noch vorhandenen Brief, worin er ihm fein 
tiefes Bedauern ausdrüdt, daß er bei feiner großen werfthätigen Liebe nicht den 
rechten Glauben habe, indem er Gott noch für den Urheber des Böfen und Chri— 
flum für einen wirklihen vom Weib (Maria) geborenen Menfchen halte, da doch 
Deides der hl. Schrift widerſpreche. Marcellus zeigte diefen Brief feinem Biſchof 


er 


796 Maned, Manichäismus, Manihäer, 


Archelaus. Diefer gab ihm den Nath, den Manes zu einer öffentlichen Difpu- 
tation über die neue Lehre aufzufordern, Manes ging darauf ein und erfchien 
am feftgefegten Tag zu Casfar. Hier fand eine förmliche Disputation zwifchen 
Arhelaus und Manes Satt, die mit der gänzlichen Niederlage des letztern endete, 
Der beſchämte Irrlehrer kehrte auf fein Schloß zurück, wurde aber dort nicht 
Yange darnach ergriffen, vor den König gebracht und auf deffen Befehl mit fpigi- 
gen Rohren Iebendig gefunden im J. 277 Cüber das Todesjahr Pagi Crit. ad 
a. 277. n. 6). Seine ausgeftopfte Haut wurde zur Schau aufgehängt. Seine 
Anhänger pflegten zum Andenfen an die Todesart ihres Meifters vergleichen Rohr 
unter ihr Bett zu legen (S. Archelai Acta Disput. c. Man. n. 51 — 55. 1— 6. et 
12. Cf.. S. Epiphani haeres. 66. n. 1—12), Es iſt fehr beachtenswerth, daß die 
ältefte griechifhe Duelle auf Baſilides (den Gnoftifer) als auf einen ältern Gei- 
flesverwandten des Manes und Scythianus, der nicht ohne Einfluß auf die Bil- 
dung des neuen Syſtems geblieben fei, hinweifen (S. Archelai Acta Disput. c. 
Man. n. 55). Abweichend bievon berichten die fpätern orientaliſchen Duellen, 
Mani, ein geborner Perfer aus einer angefehenen Priefterfamilie, fei in der alten 
perfiihen Religion Zorvafters erzogen worden, fpäter in männlichen Jahren zum 
Chriſtenthum übergetreten und Presbyter einer chriftlihen Gemeinde zu Ehbaz, 
der Hauptftadt der perfifchen Provinz Huzitif geworden, Damit nicht zufrieden, 
wollte er die Religion Chrifti und Zoroafters in Ein Syftem verfohmelzen, er 
wollte hiefür als von Gott berufener und erleuchteter Neformator angefehen fein, 
wurde aber deßhalb von der Rirchengemeinfchaft der Chriften ausgeſchloſſen. Au— 
fangs gelang es ihm, die Gunft des Königs Sapor zu gewinnen (um das 3.270); 
da aber feine nach der Anficht der Magier fegerifchen Lehren befannt wurden, 
mußte er fich durch die Flucht retten und Fam bis nach Oftindien und China, Zu— 
rücfgefehrt hielt er fich eine Zeitlang in einer Höhle der Provinz Turkiſtan ver- 
borgen und verfertigte dort eine Reihe fhöner Gemälde, welche eine ſymboliſche 
Darftellung feiner Lehre enthielten, das Buch, welches unter den Perfern Ertenki- 
Mani genannt wurde, Er gab vor, fich Teiblich in den Himmel zu erheben (wie 
fpäter Mohammed) und von dort jene Bilder mitzubringen. König Babram, 
der fih ihm Anfangs günftig zeigte, ließ zwifchen ihm und den Magiern eine 
Disputation veranftalten, deren Ergebniß war, daß Mani für einen Ketzer erklärt 
wurde. Da er nicht widerrufen wollte, wurde er lebendig gefchunden, feine Haut 
ausgeftopft und zum Schreden für feine Anhänger vor den Thoren der Stadt 
Dſchondiſchapur aufgehängt im J. 277 (f. Neander, Kirchengef. I. 2, S. 817 — 
24). — Manes hinterließ außer den ſchon erwähnten vier oder fünf Schriften 
(Geheimniffe, Hauptftüdfe, Evangelium, Schatz, Ertenfi-Mani, wovon die erften 
vier näher befprochen werben in J. A. Fabricii Biblioth. Graec. ed. Harles. Vol. VII. 
p. 312— 13) auch noch eine Anzahl Briefe, unter denen die befannte Grund— 
legungsepiftel (Cepistola fundamenti) wohl am bedeutendften und ung zum Theil 
noch erhalten if. Sonft ift von diefen der Brief an Marcellus ganz auf ung 
gefommen (S. Archelai Acta Disput. c. Man. n. 5. S. Epiphan. haeres. 66. n. 6); 
aus den übrigen befigt man heut zu Tag nur wenige Bruchſtücke Ceinige ſolche 
Fragmente in Fabricii Biblioth. Graec. ed. Harles. Vol. VI. p. 315—16, das 
vierte derfelben auch in A. Maji Collect. Nova Vet. Script. T. VII. p. 17). Seine 
Schriften verfaßte er in fyrifcher Sprache (Titi Bostr. contra Manich. ib. I.n. 14, 
S. Epiphan. haeres. 66. n. 13). Außer diefen eigenen Schriften des Manes die- 
nen alg Duelle des manichäifchen Lehrbegriffs noch die Disputation des Biſchofs 
Archelang mit demfelben, wo namentlich fein Schüler Turbo die ganze Lehre des 
Meifters ausführlich darlegt, endlich die Streitfehriften ber Kirchenväter des vier» 
ten Jahrh. gegen die Manichäer, befonders die Werfe des HI. Auguftin, welcher 
felbft viele Jahre lang Manichäer gewefen war, gegen diefe Secte (Opp. S. Au- 
gustini ed, Maur, Tom. VII), — Der tieffte Orund diefes in feiner Ausſchmückung 


ee.» 


Manes, Manichäismus, Manichäer, 797 


fo phantaftifh aufgepugten Syſtems ift der alte immer wieberfehrende, nur im 
Chriſtenthum gelöste große Widerſpruch, welder zwifhen dem Wefen Gottes 
einerfeitS und dem zerrütteten Wefen des Menfhen und der Natur andererfeits 
fo offen hervorfritt, der flete Kampf und innere Widerftreit fowohl im einzelnen 
Menfhen, als in der gefammten Natur, Das ganze Syftem, als Löſungsverſuch 
diefes großen Näthfels der Menfchheit, Täßt fih auf drei Fundamentalſätze zurüd- 
führen, nämlih: die ganze Welt mit Inbegriff des Menfchen ift eine Mifchung 
von Gutem und Böfem, daher der beftändige Kampf; ed war aber nicht immer 
fo, und wird nicht immer fo bleiben, Diefe an fih wahren Säge, die feiner An- 
ſchauung zu Grunde lagen, dienten in ihrer weitern undhriftlichen Ausführung als 
Folie eines durch und durch falſchen und gottestäfterlihen Syftemes. Zur Löfung des 
in der Welt vorhandenen Widerfpruches griff er nach dem abfoluten Dualismus, den 
> er mit Pantheismus vermiſchte. Hiebei Iehnte er fih an die altverfiichen religiöfen 
Borftellungen, in denen das Licht, zuerft ald Symbol der Gottheit gebraudt, 
foäter im Sonnendienft und in der Feueranbetung felbft die Stelle der Gottheit 
einnahm, Stellen der Bibel, nach feinem Sinn verdreht und mißdeutet (S. Ar- 
chelai Acta Disput. c. Man. n. 40), mußten dann dem Syſtem den Anfchein eines 
riftlichen geben und unter den Chriften Anhänger werben, Hienach lautete das 


manichaiſche Syflem in feinen Hauptzügen alfo: Es gibt von Anbeginn zwei 








gleihewige, ungezeugte, Iebendige Wefen, deren eines gut (Licht, Geift), das an— 
dere böfe (Finfternig, Materie) if. Beide ſtehen im directen, vollfommen aus— 
gebildeten Gegenfag. Jeder, der Gute, wie der Böfe, hat fein wohlgegliedertes, 
ihm gleichartiges Reich, beftehend aus fünf Regionen, bevölkert von unzähligen 
aus ihm hervorgegangenen Wefen, vom andern fiharf gefchieden, Sp wenig dem— 
nach das Böfe von Gott ausgeht, da e8 vielmehr feine eigene ewige Wurzel hat, 
ebenfowenig fann die Bermifchung des Guten und des Böfen von Gott ausgehen. 
Die Fürften des Reiches der Finfternif, in dem die Begierlichfeit zu finden ift, 
bemerften von ferne den Glanz des Lihtreihs; neidifch und Tüftern befchloffen 
fie einen Angriff auf daffelbe. Da zeugte der gute Gott zum Schuge feines Rei— 
ches die Mutter des Lebens, diefe aber den Urmenfhen (mowros avdgwrcos, 
auch Jeſus genannt), der wohl gerüftet den Kampf gegen das Reich der Finfter- 
niß unternahm, Aber die Fürften der Finfterniß überwältigten ihn, eroberten 
und verfchludten einen Theil feiner glänzenden Waffenrüftung. In diefer Noth 
fhikte der gute Gott dem gefangenen Urmenfchen eine andere aus fich erzeugte 
Kraft, den lebenden Geift (Tor nmvevue, beim HI. Auguftin „spiritus potens“ 
c. Faust. lib. 20. n. 9) zu Hilfe, der ihm die rechte Hand reichte und ihn fo be= 
freite. Aber feine verlorene Waffenrüftung, die doch auch zum Lichtreich, zum 
Wefen des guten Gottes gehörte, blieb den Fürften der Finſterniß, und es fam 
nun darauf an, fie wieder herauszubringen, Sie war aber theils in den Fürften 
der Finfterniß, theils in der zu ihrem Reich gehörigen Materie zerfireut und als 
gebunden eingefhloffen. Um fie loszumachen, zu erlöfen, war der durch feinen 
Berluft gefhwächte Jefus mit dem in der Sonne befindlichen Theil feines Wefens, 
während der andere zu erlöfende Theil (Jesus patibilis) im Reich der Finfternig 
gefangen fchmachtete, nicht mehr Fräftig genug. Daher zeugte der gute Gott aus 
fi zur Vollziehung diefer Erlöfung noch einige hilfreiche Wefen, die Lich t ju ug⸗ 
frau und den HI. Geift (0 mgsoßvrng 0 roıros), Es find demnach ihrer drei, 
welche bei der Erlöfung der gefangenen Lichttheile mitwirken, wobei der lebende 
Geift die Oberleitung hat und zu diefem Ende nah dem Willen des guten Gottes 
die Welt erſchuf. Die Fürften der Finfternif, als fie merkten, welche Kräfte im 
Lihtreih aufgeboten werden zur Befreiung der von ihnen eroberten Lichttheife, 
fingen an ſich zu fürdten, und gaben auf den Vorfchlag ihres Oberhauptes die 
Hauptmaffe der in ihmen vorhandenen Lichttheile an diefen ab, welcher daraus 
nah dem Borbild des von ihnen erfchauten Urmenfchen und nach ihrer eigenen 





798 Maned, Manichäismus, Manichäer. 


Aehnlichkeit den Menſchen Adam erſchuf. (So Manes ſelbſt bei 8. Augustin. de 
natura boni n. 46. S. Archelai Disput. c. Man. n. 10.) So beſteht der Menſch 
aus der dem Lichtreich geraubten Seele, welche ein Theil (particula Dei), ein 
Ausfluß des guten Gottes iſt CPantheismus) und aus der dem Neich der Finfter- 
niß entflammenden Materie (Körper) mit der ihm eigenthümlichen Thätigfeit in 
blinder Begierde (concupiscentia), welde auch die böfe Seele genannt wurde, 
So hatte der Menfch nothwendig zwei Seelen, eine gute und eine böfe, daher 
der ftete Kampf im Menſchen, fo Iange er den Leib nicht los wird; daher das 
Döfe in ihm eine eigene Gubftanz ift und zu feinem Wefen gehört. Gefräftigt 
durch andere vom höchften Gott gezeugte Mächte ergriff nun der lebende Geiſt die 
Fürften der Finſterniß und bildete aus ihnen das Firmament, fo daß das wenige 
noch in ihnen vorhandene Licht überall an demfelben hervorſchimmert. Dann ge- 
ftaltete derfelbe aus dem geretteten Licht des Urmenfchen Sonne und Mond und 
wies ihnen ihren Kreislauf an, wie zwei großen Lichtſchiffen. Zufegt fhufer aus . 
der von einigen Lichttheilen durchdrungenen Materie die Erde und legte fie dem 
Dmophorus (wuogpogos Achfelträger, bei Auguftin Atlas genannt c, Faust. lib. 20. 
n. 9. et 11) auf die Schultern; wenn e8 dem zu fehwer wird und er fich ſchüttelt, 
oder wenn er feine Laft von einer Schulter auf die andere nimmt, gibt es Erb- 
beben. Um nun die im Firmament befindlichen Lichttheife herauszubefommen (oder 
die Geftirne zu erlöfen), dient die Lichtjungfrau (S. Archelai Dispuf. c. Man. n. 11, 
bei Auguftin „splenditenens“ c. Faust. lib. 20. n. 9. et 11) mit ihren männlichen 
und weiblichen Gehilfen,, welche den in die Höhe gebannten Fürften der Finfter- 
niß durch allerlei Verführungsfünfte das Licht entlocken (ſ. Manes bei S. Augustin. 
de natura boni n. 44), Das in der Materie diefer Erde noch gefangen gehaltene 
Licht wird theils durch die Kraft der Sonne (des erlöfenden Jefus), theils durch 
den Einfluß der die Erde umgebenden Luft, in welcher der bi. Geift thront und 
wirft („Spiritus S., qui est majestas terlia“ S. Augustin. o. Faust. lib. 20. n. 2), 
in Pflanzen und Früchten hervorgeloct und fo allmählig befreit (S. Augustin. de 
mor, Manich. n. 36). Hier zeigt fih am deutlichften, wie diefes Syſtem das 
Ehriftenthum zu einer bloßen Naturphilofophie ummodeln wollte, wenn z. B. ge- 
fagt wird, Jeſus hänge an jedem Baum („Jesus patibilis omni suspensus ex ligno; 
quapropter et nobis circa universa, et vobis similiter erga panem et calicem — 
die Euchariftie — par religio est“, fagt ein Manichäer bei S. Augustin. c. Faust. 
lib. 20. n. 2), oder die Auffchlüffe des Manes über die vorweltlichen Zuftände, 
über die Schöpfung der Welt, über Sonne und Mond, die man bei den Apofteln 
vergeblich fuche, feien der befte Beweis, daß er der von Chrifto verheißene Para- 
elet fei (S. Augustin. de Actis cum Felice Manichaeo lib. I. n. 9). Die Erlöfung 
der Lichttheile im Menfchen follte auf folgende Weife vor fich gehen. Im erften 
Menfchen Adam wäre diefelbe Feicht von Statten gegangen ; denn bie in der menfch- 
lichen Natur eoncentrirte Lichtnatur oder Seele fonnte nun um befto eher zum 
Bewußtſein ihrer felbft und zur Entwicklung ihres eigenthämlichen Wefens ge- 
Yangen, Aber die Fürften der Finfterniß fuchten dieß zu — ſie gaben 
ihm das Weib Eva und reizten ſeine Begierlichkeit, ſo daß er durch die Zeugung 
die in ihm vorhandene Fülle des Lichtes zerfplitterte und verlor G. Archelai 
Disput. c. Man. n. 10. S. Augustin, de mor. Manich. n. 73), wie denn überhaupt 
durch die Zeugung, da die Seele von der Seele, wie ber Leib vom Leibe gezeugt 
wird (Traducianismus), nah Manes bei S. Augustin. Op. imperfect. o. Julian. 
lib. 3. n. 172, die Lichttheile im Menfchen immer mehr zerfplittert, daher au 
immer tiefer in die Materie verfenft und fefter an biefelbe gebunden werden. 
Auch luden diefelden den Menfchen ein, von allen Bäumen des Parabiefes zu eſſen, 
das heißt alle irdifche Luft zu geniefienz nur wollten fie ihn davon zurüchalten, 
von dem Baum des Erfenntniffes des Guten und Böſen zu effen, das heißt zum 
Dewußtfein des Gegenfages zwifchen Licht und Finfternif, zwifchen dem Goͤttlichen 








a TE EnE  : Zu —R 


Manes, Manihäismus, Manichäer. 799 


9 
- and Ungöttlihen in feiner eigenen Natur und in der ganzen Welt zu gelangen. 
Aber ein Engel des Lichts oder gar Chriſtus ſelbſt in Geftalt der Schlange nad 
S. Augustin. de Genesi c. Manich. lib. 2. n. 39, veranlaßte den Menfchen, dag 
Gebot zu übertreten, das heißt er führte ihm zu jenem höhern Selbfibewußtfein, 
das die Mächte der Finfternig ihm vorenthalten wollten (S. Archelai Disput. c. 
Man. n. 10. Titi Bostr. c. Manich. lib. II. Praefat.). Als aber diefes Bewußtfein unter 
den Menfchen fih immer mehr verlor, da Fam der erlöfende Jefus aus der Sonne 
herab (die Sonnenincarnation war im Drient eine beliebte Form des religiöfen 
Mythus) und nahm einen Scheinleib an, in dem er unter den Menfchen herum— 
wandelte und fie über ihre wahre Lichtnatur aufffärte. Die Worte des Evange— 
liums: „das Licht ſcheint in der Finſterniß, die Finfterniß aber hat es nicht be- 
griffen”, taugten ihm vortrefflih zur Beftätigung feines Irrthums. Ber der 
Verklärung Chrifti auf dem Berg und da er mitten durch die Juden, welde ihn 
fteinigen wollten, unfichtbar hinweg ging, da habe er feine wahre Natur gezeigt 
(ſo Manes in feinen Briefen in Fabricü Biblioth. Graec. ed. Harles. Vol. VIL 
p. 316. und in Photii Cod. 230. ed. Hoeschel p. 447), Das Leiden Chrifti und 
feine Kreuzigung traf ihn nicht wirklich, fondern nur zum Schein (hier die nahe 
Verwandtſchaft mit dem Dofetismug der Gnoftifer); beides war nur ſymboliſche 
Darſtellung der höchſten Wahrheit von der leidenden Lichtnatur; in Folge deffen 
fällt auch feine Geburt von der Jungfrau Maria und alles Menfhlihe an ihm 
hinweg. Die Seelen werden aber auf mannigfache Weife geläutert, indem fie 
in verſchiedene Körper der Menfchen, wie der Thiere und Pflanzen wandern, 
daher auch die Thierfeele ein Stüf Gott ift (S. Augustin. ep. 236. n. 2), Sind 
fie ganz geläutert, fo fleigen fie als reines Licht auf in die beiden Lichtfchiffe, 
Sonne und Mond, durch welche fie in das Lichtreich abgeliefert werden; darum 
nimmt der Mond an Licht zu, bis er voll if; dann wird er wieder in das Licht- 
zeich geleert und beginnt ſich abermals zu füllen. Diefer große Scheidungsprocef, 
welder die Geftirne, die Menfchen und die Ieblofe Natur gleihmäßig umfaßt, 
geht fo Lange fort, bis alles Licht, das losgemacht werden Fann, erlöst if. 
Nachdem die Materie alles ihr fremden Lichtes beraubt worden, foll fie zu einer 
todten Maffe verbrannt werden. Die Seelen könnten vermöge ihrer Lichtnatur 
alle ver Erlöfung theilhaft werden; wenn fie aber ſich freiwillig dem Dienft des 
Böſen oder der Finfterniß hingeben, werden fie zur Strafe nach der endlichen gänz- 
lichen Scheidung beider Reiche an die todte Maffe der Materie gefettet und zur 
Wache über diefelbe (als Grenzhüter) gefegt werden. „Diefe. Seelen werden 
alfo an denjenigen Dingen, welche fie geliebt haben, Eleben bleiben, weil fie fi 
nicht, als e8 noch Zeit war, davon gefondert Haben” (fo Manes, angeführt in 
Lib. de Fide contra Manichaeos, qui Evodio tribuitur, n. 5. inter Opp. S. Augustini 
ed. Maur. T. VIII. Append.). Das Ende vom ganzen Weltlauf wird fein die 
Wiederherfiellung des uranfänglichen Zuftandes (aroxaraseaıs), die gänzliche 
Sonderung der beiden Reiche, Das ift des Manes abenteuerlihes Syſtem in 
feinen Hauptumriffen nad) den aus andern Quellen (bef. Augustin. lib. de haeres. - 
©. 46) ergänzten Mitteilungen feines Schülerd Turbo in S. Archelai Disput. c. 
Man. n. 7—11 (auch in S. Epiphanii haeres. 66. n. 25—31). — Mit dem eben 
entwieelten Syſtem des Manichäismus fteht deffen Sittenlehre im engſten Zu- 
fammenhang. Diefe befteht in den drei Siegeln des Mundes, der Hände und des 
Schooßes (tria signacula oris, manuum et sinus), womit die Enthaltung von allen 
Sünden angedeutet werben follte. Das Siegel des Mundes verbietet alle 
Läfterung, d. h. alles Reden gegen die manihäifche Lehre, defgleichen den Genuß 
von Fleifh und Wein, von Milch und Eiern (S. Augustin. lib. de haeres..c. 46); 
das Siegel der Hände verbietet das Tödten der Thiere, das Abreißen oder 
Abfchneiven der Pflanzen und das Pflücen des Obſtes, was fie alles dem Mord 
gleich achteten, weil dadurch die Entwirlung und Befreiung der überall einge- 


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800 Manes, Manihäismus, Manihäer, 


ſchloſſenen Lichttheife gewaltfam verhindert werde; das Siegel des Schobßes 
endlich verbietet dag Heirathen oder doch das Kinderzeugen, weil hiedurch die 
Lichtfeele immer mehr in die Materie verwicelt werde, während fie hingegen die 
fleifhlihe Vermiſchung der Gefchlechter fonft keineswegs unterfagten, wobei dann 
freilich der Keim der abfcheulichften Unfittlichfeit Tag, der fih auch nur zu bald 
entwicfelte (S. Augustin. de mor. Manich. n. 19 — 67. et lib. de haeres. c. 46), 
Da aber eine ſolche Sittenlehre fich practifch unausführbar zeigte, wenn nicht 
die ganze Secte binnen Kurzem verhungern und ausfterben follte, wozu fie eben 
feine Luft verfpürte, fo fah man fich gendthigt, gegen die Eonfequenz der aufge- 
ftelften Principien in der Secte gewiffe Claffen oder Grade zu unterfcheiden, Def- 
halb gab es eine Elaffe der Hörer (auditores) und eine der Auserwählten (electi), 
Die Hörer, als die minder Vollfommenen, durften zwar auch Fein Thier tödten, 
wohl aber Pflanzen aller Art abreigen oder abfchneiden und Obſt pflüden (frei- 
lich nicht ohne Sünde) ; ja fogar heirathen durften fie, nur follten fie feine Kinder 
zeugen. Die Ausefwählten aber mußten die manichäiſche Sittenlehre mit ihren 
drei Giegeln ganz genau beobachten ; dafür hatten fie den Vorzug, daß fie dur 
den Genuß der Pflanzen die in diefen eingefchloffenen Lichttheile befreien Fonnten; 
je mehr fie aßen, defto mehr Licht, defto mehr Gott erlösten fie, daher man ſich 
erzählte, daß einige aus lauter heiligem Eifer fih zu Tod gegeffen haben. Weit 
fie aber feine Pflanze abreißen oder abfehneiden durften, fo mußten das die Hörer 
für fie thun und ihnen Speife bringen; zum Lohn empfingen fie dann für die 
biebei begangene Sünde von den Auserwählten die Abfolution, Einem, der nicht 
zur manichäifchen Secte gehörte, durfte aber fein Manichäer Speife oder Tranf 
geben, weil derfelbe die Lichttheile durch den Genuß nicht befreite, fondern nur 
unlösbarer in die Materie verwicfelte (S. Augustin. de mor. Manich. n. 36. 52— 
53. 57—60. 65), Sp war denn der Manichäismus nach feiner practifchen Seite 
eine Religion voll des unheilbaren Widerfpruches, eine Religion der Faulheit 
und der Lieblofigfeit. — Es ift eine für die Geſchichte des menſchlichen Geiftes 
höchft merfwürdige Erfcheinung, daß ein fo willfürliches, fo widerfprechendes 
Syftem gerade auf feine Vernunftmäßigfeit pochte und den blinden Köhlerglauben 
ver Ratholifen verhöhnte. Ihre „Hochtönenden Verheifungen von Vernunft und 
Wahrheit” (S. Augustin. de mor. Manich. n. 55) gewannen ihnen junge hochſtre— 
bende, talentvolle Männer und hoffärtige Weiblein, welche lieber Vernunftgläu- 
bige, als einfache Gläubige fein wollten (S. Augustin. de utilit. ered. n. 2. 4. 
De Genesi contra Manich. lib. 2.n. 33—40. Contra epist. Manich. n. 5. et 19). 
Die Hl. Schrift behandelten fie gleichfalls mit der freventlichften Willfür ; die 
Bücher des Alten Bundes erklärten fie für ein Werf des Teufels (S. Archelai 
Disput. c. Man. n. 10. 13. 29. 40), der einiges Wahre in diefelben gebracht habe, 
um viel Falſches dadurch einzufhwärzen, während fie die Schriften des Neuen 
Bundes doch noch für ein Werf des guten Gottes anfahen ; daher bemühten fie 
fih fo fehr, einen durchgängigen Widerfpruch zwifchen dem Alten und Neuen 
Bund Herauszubringen. Weil aber auch im Neuen Bund nicht Alles in ihren 
Kram paßte, fo behaupteten fie, ein bedeutender Theil des Neuen Bundes fei 
erft fpätere Erfindung (S. Augustin. de mor. Eccles. Cathol.n. 2. De mor. Manich. 
n. 35. et 55. epist. 82. n. 6); insbefondere erflärten fie für falfch und unterfcho- 
ben, was aus dem Neuen Bund gegen ihr Syſtem vorgebracht wurde (S. Au- 
gustin. c. Faust. lib. 16. n. 33. et lib. 33. n. 6.), insbefonbere die ganze Lehre 
von der Erbfünde (S. Augustin, Retraot. lib. I. o. 9. n. 6); daher der hl. Auguftin 
mit Recht gegen fie bemerkt: „Sagt e8 nur rund heraus, daf ihr dem Evangelium 
Chriſti nicht glaubet; denn da ihr im Evangelium glaubt, was euch gefällt, und 
was euch nicht behagt, verwerfet, fo glaubt ihr offenbar mehr euch felbft als dem 
Evangelium” (S. Augustin. ce. Faust. lib, 17. n. 3. lib. 32. n. 19). Ja fie gingen 
fo weit, das Evangelium des Matthäus und die übrigen Schriften der Apoſtel 





a Per er a 





Manes, Manihäismus ‚ Manihäer, 801 


fpätern unbefannten Verfaffern zuzuſchreiben (S. Augustin. c. Faust. lib. 17, n. 1), 
die nur fo vom Hörenfagen und aus unfihern Gerüdten ihre Erzählungen zu- 
fanmengeftoppelt und ihre eigenen halbjüdiſchen Anfichten den wirklichen Reden 
Sefu und der Apoftel beigemifcht Haben (S. Augustin. c. Faust. lib. 32. n. 7), was 
fie Hauptfählich durch die vergleichende Kritif ver Darftellung der einzelnen Evan— 
geliften und dur die angeblihen Widerſprüche in den Berichten derfelben zu 
erbärten fuchten (S. Augustin. c. Faust. lib. 32. n. 16. lib. 33. n. 2. 3. vgl, hie— 
mit die merfwürdige Stelle bei Origen. Comment. in Johannem tom. 10. n. 2. 
Opp. ed. Ruaei T. IV. p. 162— 63). Während fie die ächten Evangelien und 
befonders die Appftelgefhichte ſammt einigen Briefen der Apoftel verwarfen, waren 
fie dagegen fehr thätig, unächte Schriften der Apoftel unter dem Namen des 
Thomas (Thomas - Evangelium), Philippus u, f. w. zu fabrieiren, fo daß die 
Apoeryphen⸗ Literatur des Neuen Bundes dur fie namhaft bereichert wurde (S. 
Augustin. ep. 64. n. 3. vgl. Cave Histor. literar. Scriptor. Eccles. Vol. I. p. 141. 
143. u, J. A. Fabricii Biblioth. Graec. ed. Harles. Vol. VII. p. 322). Aber un- 
gleich höher als die Schriften des Neuen Bundes, ja als die Apoſtel ſtellte Maneg 
fich felbft als den von Ehrifto verheißenen Paraclet (im Syro-Chaldäifchen, welches 
nad) S. Archelai Acta Disput. c. Man. n. 36, die Sprache war, deren fih Manes 
bediente, heißt Drı:2, Menahem oder Manem, der Tröfter, was befanntlich auch 


negaxıntos, Paraclet bedeutet), welhem die Aufgabe geworden, die lautere 
vollfommene Wahrheit zu verfünden, die man in der Hl, Schrift des Neuen Bundes 
nur fehr getrübt und mangelhaft finde. Hiefür berief er fih auf Stellen, wo der 
künftige Paraclet von Chrifto verheißen wird (auch auf 1 Eorinth. 13, 9—10). 
Den Beweis aber, daß er diefer verheißene Paraclet fei, blieb er ſchuldig; das 
mußte man ihm auf's Wort glauben, was feine Anhänger auch bereitwillig tha— 
ten troß ihrer gerühmten Vernünftigfeit (ſ. S. Archelai Acta Disput. c. Man, n. 13. 
27. 54. S. Augustini Confession. lib. V. c. 5. et c. Faust. lib. 32. n. 6. 15—18. 
c. epist. Manich. n. 7). Bie ſich Chriſtus nad Fatholifcher Anficht zum Alten 
Bund verhält, gerade fo verhält ſich nach manichäifcher Anfiht Manes als Para- 
elet zum Neuen Bund (S. Augustin. c. Faust. lib. 32. n, 6—7). Gemeiniglich 
verfieht man heut zu Tag unter Manihäismus oder manichäiſchen Vorftellungen 
die dualiſtiſche Anfhauung, welde diefem Syſtem zu Grund Tiegt und 
feinen Hauptfag bildet, mit ihren Confequenzen, wonach zwifchen Geift und Ma— 
terie ein unverföhnlicher Gegenfag feftgehalten oder doch die Materie zu tief 
herabgedrüdt und das Böfe als etwas von ihr Untrennbares, als etwas Subftan- 
tielles, nicht aus der Freiheit des Gefchöpfes Hervorgehendes gedacht wird. — 
Als Folgefäge des manichäiſchen Syſtems treten zunächft hervor die Läugnung 
der Auferftehung des Leibes (Theodoret. haeret. fabul. lib. I. c. 26), die Anbetung 
der Sonne, deren Wefen Gottes Wefen, die Chriſtus ſelbſt iſt (daher S. Au- 
gustinus: „Vos in die, quem dicunt solis, solem colitis“ c. Faust. lib. 18.n. 5. 
vgl. S. Archelai Disput. c. Man. n. 36), die hohe Verehrung gegen Manes den 
Paraclet, deſſen Todestag ihr Hauptfeft war (Bema, Aryuc, Feft des Lehrſtuhles), 
an welchem fie den unvergleichlichen Lehrer, der ihnen die fünf Regionen des 
Lichtreichs erſchloſſen hatte, ſymboliſch feierten (S. Augustin. c. epist. Manich.n. 9), 
das geheime Erfennungszeichen der Secte, indem ihre Mitglieder fich zu diefem 
Zweck die rechte Hand reichten, weil durch diefe der Iebende Geift den gefangenen. 
Urmenfhen wieder befreit hatte (S. Archelai Disput. c. Man. n. 7). — Die Or- 
ganifation der Secte war der Einrichtung der hriftlihen Kirche nachgebildetz 
Manes als Paraclet Hatte, Chriftum nachäffend, 12 Apoftel angenommen. Das 
erhielt fih in der Weife fort, daß beftändig 12 Lehrer fi unter den Auserwähl- 
ten befanden als die Nachfolger der 12 Apoftel, ein dreizehnter aber als Nach- 
folger des Manes ihr Oberhaupt war ; diefe feßten durch die Weihe 72 Biſchöfe 
ein, von welchen dann die Priefter (presbyteri) geweiht wurben; auch Hatten fie 
Kirgenlsziton, 6, Bp, 51 


802 Manes, Manihäismus, Manichäer. 


Diaconen und Miffionäre, — hr Gottesdienſt wurde fehr geheim gehalten; bie 
Sarramente der Kirche, in welcher die Materie als Trägerin der Gnade erfcheint, 
verwarfen fie ganz; der Taufe legten fie Feine befondere Bedeutung bei, wenn 
fie diefelbe auch theilweife beibehielten ; die Euchariſtie feierten fie im Kreis der Aus— 
erwählten, aber ohne Wein, den fie für die Galle des Teufels erflärten („vinum 
non bibunt dicentes, fel esse principum tenebrarum* S. Augustin. lib. de haeres. 
c. 46), wobei es jedoch ganz ſchändlich und greuelhaft zuging, — Die Irrlehre 
des Manes gewann bald Anhänger und verbreitete fi im Morgenland, wie im 
Abendland, in Perfien, Mefopotamien, Syrien und Paläftina, in Aegypten und 
in Africa, in Italien, Oallien und Spanien, Aber fchon Kaiſer Diveletian er- 
ließ, wohl zunächſt aus politifhen Gründen, ein fehr fcharfes Geſetz gegen die 
abicheulihe Secte der Manichäer Cin Africa), die aus dem feindlichen in. 
reich eindringend das ruhige und brave römische Volk aufrege und verberbe ; 
Todesftrafe und Güterverluft traf die Anhänger dieſer Secte, ja die Häupter 
fogar der Tod auf dem Scheiterhaufen (ſ. das Gefe in Baronii Annal, ad a. 287). 
Auch die hriftlihen Kaiſer erließen, und zwar biefe aus fittlic-religiöfen Gründen, 
fort und fort firenge Gefege gegen die Manichäer, fo Balentinian I., II. und IIL., 
Theodoſius der Große, Honorius und Theodofins der Jüngere, Juſtinus und 
Suftinianus (ſ. Cod. Theodos. lib. 16. tit. 5. de haeret. u, Cod. Justin. lib. 1. tit. 5. 
de haeret.), ein ficheres Zeihen, daß die Secte, wenn auch häufig nur im Ver— 
borgenen, fih im römifchen Reiche während des vierten, fünften und fechsten Jahr- 
hunderts forterhielt. — Unter die befanntern und angefehenern Schüler und An- 
bänger des Manes, deren mehrere auch durch ihre Schriften fih einen Namen 
machten, find außer den drei fchon oben im Leben des Manes genannten noch zu 
erwähnen Akuas (von dem die manichäiſche Secte fogar in einigen Gegenden den 
Namen: Afuaniten erhielt, S. Epiphan. haer. 6. 6. n. 1), Adimantus, Fauſtus, 
Felir, Fortunatus, Secundinus (welche alfe der HI. Auguftin in eigenen Werfen 
befämpft), Ariftofritus Cwelder ein theofophifches Werk, Hzooopia, fihrieb, in 
dem er beweifen wollte, daß die Religion der Juden, der Heiden und der Ehriften 
ganz die nämliche fei, Tollii Insignia Itinerarii Italici. Trajecti 1696. p. 142). 
Diefe und manche andere berühmte Manichäer zählt die alte Formula receptionis 
Manichaeorum auf in dem angeführten Werf von Tolliug (p. 144), deßgleichen 
die fieben Hauptkirchen der Manichäer in Samofata, Taodicea u, f. w. (Die be- 
rühmten alten Manichäer auch zufammengeftelft in J. A. Fabrieii Biblioth, Graec. 
ed. Harles. Vol. VII. p. 318—22). Aber auch an gewandten Gegnern fehlte es 
feit Archefaus den Manichäern nicht, deren Schriften zum Theil noch auf ung 
gefommen find, zum Theil verloren gingen. Unter jene, deren Schriften gegen 
die Manichäer wir noch befigen, gehören Alerander von Lyeopolis (in Galland, 
Biblioth. Patrum T. IV), Serapion, Bifhof von Thunis in Aegypten, Titus, 
Biſchof von Boftra in Arabien, Divymus der Blinde in Alexandria, fänmtlich 
dem vierten Jahrh. angehörig (griech. u, latein. zu finden in H. Canisii Leckt. 
anfig. ed. Basnage. Amstelodami 1725. Vol.I., auch in Galland. Biblioth. T. V, et VD), 
Fabius, Marius, Victorinus aus Africa (Victorini Afri liber ad Justinum Mani- 
chaeum contra duo principia Manich. in Sirmondi Opp. var. T. L, au in Galland. 
T. VID), der Hl. Ephräm der Syrer (in feinen Sermon. polem. adv. haereses), 
der hl. Cyrillus von Jeruſalem (in Catech. VD, der HI. Epiphanius Chaeres. 66), 
der 51. Auguftin in den ſchon genannten Werfen und mehrere andere Väter, 5. B. 
Chryfoftomus, Hieronymus, Rufinus, Prudentius, Leo der Große gelegentlich, 
fpäter auch noch der gelehrte Patriarch von Conftantinopel Photius (Photü libri 
IV, contra Manichaeos gr. et lat. in J. Ch. Wolfli Anecdot. Graec. Hamburgi 1722. 
T. I. et I); andere gegen die Manichäer verfaßte Werke, 5.8, vom HI, Bafilius 
dem Großen, von dem Häretifer Apollinaris, Diodor von Tarfus, Eufebius von 
Emefa, Herackianus, Biſchof von Chalcedon, find Tängft verloren gegangen Leine 





Mang — Manna, 803 


vollftändige Lifte aller Schriften gegen die Manichäer in J. A. Fabricii Biblioth. 
Graec. ed. Harles. Vol. VIR p. 323 — 39. Troß diefer zahlreihen wiffenfhaft- 
lichen Gegner, trotz der Faiferlichen Strafgefege, troß der eben fo undriftlichen als 
unvernünftigen Willfür des ganzen Syſtems haben fich dennoch die Manichäer früher 
unter ihren eigenen, fpäter unter andern Namen, als Priscillianiften, Paulicianer, 
Bogomilen, Albigenfer und Waldenfer (f. die Art) über taufend Jahre erhalten, 
Bgl. über diefe Irrlehre Tillemont, Mem, T. IV. ’heresie des Manicheens p. 367 — 
411. Beausobre, histoire critique de Manichee et du Manicheisme. Amsterdam 
1734—39. 2 Bde. G. Cave, Histor. literar. Scriptor. Eccles. s. v. Manes (Basi- 
leae 1741. Vol. I. p. 138— 45). Walch, Histor. haeres. Vol. I. p. 685. sqgq. 
J. Basnagius in Praefat. generali c. 1. ad Ganisii Lectt. antiq. Vol. L p. 1—10. 
P. Th. Cacciari Exereitationes in universa Leonis M. Opera. Romae 1751. Fol. 
p. 1—200 (Historia Manichaeorum). A, Neander, Kirchengeſch. L Bd, II. Abtheit, 
(Hamburg 1826) S. 813—59. [Se$ler.] 

Mang, f. Magnus, , 

Manifeitationseid, ſ. Eid, 

Manipel, f. Meffleider, 

Manna, 72, uavve, die den Sfraeliten in der Wüfte Sin wunderbar ge- 
fvendete Nahrung. Die Bücher Erodus C. 16 und Numeri C. 11 berichten Fol- 
gendes darüber. Das Manna fiel mit dem Thau auf die Erde und blieb, wenn 
am Morgen die „Lagerung des Thaues“ wegging, auf der Bodenfläche zurüd, 
in feiner, zerftücter reifähnlicher Geftalt, an Farbe gleich dem Bdolach (Bdel- 
lium, f. d. A. weiß und durhfichtig), in der Größe wie Corianderfamen), es 
wurde gemahlen oder zerfioßen und dann entweder verfocht oder zu Kuchen ge- 
baden, fo präparirt hatte es einen füßlichen Honigartigen Geſchmack; für jeden 
Kopf mußte je täglich ein Omer (nach Thenius, althebr, Maße S. 56 etwas 
über 2 Dresd. Kannen) gefammelt werden, am fechsten Tage wegen des folgen- 
den Sabbath zwei Dmer; aufbewahren ließ es ſich nicht, es ging fohnell in 
Fäulniß über, — Gleich andern im Pentateuch berichteten wunderbaren Vor— 
gängen wollte man auch diefen ganz im Natürlichen untergehen laſſen, das von 
Mofe beſchriebene Manna fei nichts anderes als das jegt noch in der Pharmacie 
unter demfelben Namen befannte und gebrauchte Harz, das von mehreren Bäu- 
men und Sträuchern (wie Fraxinus Ornus, Hedysarum Alhagi, Tamarix mannifera) 
Südeuropas und des Drients gewonnen wird und meift in gefrodneten Tropfen 
oder Körnern zu ung fommt, biefe Subflanz werde, wie es fcheine, oft von ber 
Luft fortgeführt und falle dann als Honigthau, Lufthonig aegöuekı, d. i. Manna 
auf die Erde herab, diefe Art fei an den angeführten Stellen des A. T. gemeint, 
die es als vom Himmel gefallen darſtellen. Allein der biblifche Bericht ift diefer 
Annahme durhaus entgegen, er ift ſich Far bewußt, ein wunderbares Fartum 
vor fih zu haben und ein foldes will er auch berichten ; das noch neueftens (vgl. 
Winer, bibl. R. W. 3. Aufl, s. v.) vorgefhlagene Expediens, anzunehmen, 
„daß die Sage gefhäftig gewefen fei, das einfache Ereigniß auszufhmüden”, 
zerflört den ganzen Zufammenhang, verfennt die tiefe Bedeutfamfeit, welche dieſes 
und andere Wunder für die geiftige Entwicklung des Volkes während der finai- 
tifhen Wanderung haben. Jehova gibt die Nahrung als etwas Außerorbentliches, 
woran feine Herrlichkeit erfannt werden ſoll (Exod. 16, 5— 7), das Manna ift 
ein Brod vom Himmel (ibid. V. 4), als ſolches galt e8 dem Bewußtſein der 
ganzen Solgezeit ; Pf. 78, 24 nennt e8 „Korn des Himmels”, die LXX. geben 
dieß mit Ggros ayyeloy, das Buch der Weisheit 16, 20 nennt es ayyelov 
Tg0gp7 , womit nicht eine Speifebebürftigfeit der Engel, fondern nur das gejagt 
wird, das Manna fei auf. außerordentliche Weife von Gott vom Himmel gefen- 
det worden, wo die Engel wohnend gedacht find; am Sabbath trat die fonft 
ſchnell erfolgende Faͤulniß nicht ein (Exod. 16, 24); das Manna war für die 

51 


804 Manſi. 


vielen Tauſende vierzig Jahre lang tägliche Nahrung Cibid. V. 35); der Be- 
richt erzählt nach allen diefen Zügen ein Wunder, das aber wie die Wunder in 
Aegypten eine natürliche Grundlage hat; das natürlihe Manna bildete die 
Bafis des wunderbar ertheilten und gerade diefes Anfchliefen an das Natürliche 
dient dem Wunderbaren zur Beftätigung. — Das heutige Manna in der finai- 
tiſchen Halbinfel findet fih vor in der Geftalt durchfichtiger Tropfen an den Ruthen 


und Zweigen, nicht an den Blättern, des Turfa \5_> (Tamarix Gallica manni- 


fera , Chrenberg), wo es in Folge eines Stiches von einem Inſect des Coccus— 
geihlechte8 (Coccus manniparus) ausfchwigt, hat das Anfehen von Gummi und 
einen füßlihen Geſchmack, es kommt oft erft nah 5—6 Jahren vor, die ergie- 
bigfte Ernte liefert auf der ganzen Halbinfel kaum 6 Centner, meift aber nur das 
Drittel hievon; dgl. Robinfon 1. 189. ff. Schubert, Reife II. 347. ff. Für das 
befte Manna wird das orientalifche, verfifche DI 2 Terendſchabin, gehalten, 


vgl, Gmelin, R. nach Perf. II. 28. Niebuhr B, 145, Burkhardt R. I. 662, — 
Der Name 77 (man) wird verfhieden erklärt; nach Einigen ift 77 eine unge- 
wöhnliche aramäifche Form für 2 „was“, die Jfraeliten, die Gabe nicht fen- 
nend, fragen (Exod. 16, 15): 72 = 77) m was ift das? dieß fei dann bie 
fiehende Bezeichnung geworden, Diefe Anpmalie ift jedoch hart und von dem 
Text nicht gefordert. Es findet wie oft ein Wortfpiel ftatt, in dem aber die fach- 
liche Beziehung nicht aufgeht; die Iſraeliten nennen das Brod ganz allgemein 


= (yo dt. Gabe, Geſchenk, denn da fie nicht wiſſen, was (72) es ift, 
haben fie feinen beftimmteren Namen; fo ſchon das Lericon von Kimi. [Rönig.] 

Manji, Johann Dominieus, flammte aus einer Patricierfamilie von 
Lucca und wurde dafelbft am 16. Febr. 1692 geboren. Obgleich der ältefte Sohn 
widmete er fich doch dem geiftlichen Stande, trat in die Congregation der Clerici 
regulares Matris Dei (geftiftet zu Lucca von Joh. Lennardi 1583), lehrte meh— 
rere Jahre lang zu Neapel die Theologie, wurde dann von dem Erzbifchof von 
Lucca, Fabius Colloredo, zurücberufen und zu feinem Theologen ernannt. Um 
feine Renntniffe zu bereichern, mit berühmten Gelehrten Verbindungen anzufnüpfen 
und große Bibliothefen zu benügen, bereiste er Italien, Teutfchland und Franf- 
reich, und gründete ſodann in Lucca eine Academie, welche fich fpeciell mit Kir- 
chengeſchichte und Liturgie befchäftigen follte, er felbft aber erwarb fih durch 
feine gelehrten Werfe in Bälde folhen Ruhm, daß ihn Papſt Clemens XII. im 
J. 1765 zum Erzbifchof von Lucca erhob, und ihm noch andere Ehren bezeugte, 
Doch Manſi farb ſchon nach A Jahren, am 27. September 1769, in einem Alter 
von 77 Jahren, — Seine Fiterarifchen Arbeiten find fehr zahlreich und von dreierlei 
Hauptarten: Meberfegungen, neue Ausgaben älterer Werfe und eigene Arbeiten, 
Sp überfeßte er das große biblifche Lericon von Calmet, und deffen volumindfen 
Commentar über die Bibel, fammt Differtationen, aus dem Franzöfifchen in's 
Lateinifche, Lucca 1730—38 (f. d. Art. Calmet), Nach Vollendung diefer Ar- 
beit beforgte er von 1738—59 die trefflihe, 38 Foliobände füllende neue Aus- 
gabe der Annalen des Baronius, mit der Fortfegung des Naynaldus und 
der Kritik des Pagi. Lestere unterfegte er ftetS dem Texte an jeder bezüglichen 
Steffe und fügte außerdem noch einige Noten und einen Apparalus hinzu. Außer- 
dem beforgte er neue, durch Moten ıc, vermehrte Ausgaben a) der historia ecoles. 
des Natalis Alerander in 9 Kolb. (ſ. d. Art, Kirchengeſchichte ©, 15055 
b) der hist, ecel. Graveſon's (ſ. d. A); o) der Thomaffin’fihen nova et 
vetus eccl. disciplina, d) der Moraltheologie von Reiffenftuel und Laymann 
(. d. 9), ©) des Martyrologiums von Hieronymus, f) der Miscellanen von 
Baluzius, g) der bibliotheca mediae et infimae lalinitatis yon Fabricius, 





Mansionaticum — Mantelfinder, 805 


h) der orationes politicae et ecclesiasticae Pü U. u. A. Am verbienftlichften aber 
war feine Beforgung der größten und an Urkunden reihften Eoncilienfammlung : 
sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, Florenz 1759, ff., wovon 31 
Foliobände erfchienen. Leider reichten diefe nur bi8 zur Mitte des 15ten Jahr— 
hunderts (ein paar Dorumente ausgenommen), während die Harduin'ſche Samm- 
Jung in 12 Folianten bis in den Anfang des 18ten Jahrhunderts geht. Auch ift 
die Correctur bei der Manft’fchen Ausgabe nicht immer forgfältig gewefen. Gleich- 
ſam einen Vorläufer diefer großen Concilienfammlung bildeten die ſechs Folio- 
bände Supplemente zu den früheren Sammlungen, 1748—52, Außerdem ſchrieb 
Manſi 1) einen tractatus de casibus et excommunicationibus episcopis reservatis, 
Lucca 1724 in 4,5 2) die Schrift de epochis conciliorum Sardicensium et Sir- 
-miensium, 1746 in 4., wogegen Mamachi (ſ. d. A.) mit Heftigfeit auftrat; 
3) eine epitome doctrinae moralis ex operibus Benedicti XIV. depromptae, Venedig 
1770; endlih A) eine Abhandlung de insigni codice Caroli Magni aetate scripto 
et in bibliotheca majoris ecelesiae Lucensis servato. Mehrere hinterlaffene Ma— 
auferivte Manſi's blieben ungedruft. Eine Lebensbefhreibung diefes gelehrten 
Prälaten lieferte Zatta, Comment. de vita et scriptis J. D. Mansi etc. Venet. 
1772. Bgl. Biogr. univ. T. 26. und Sartesch, de scriptoribus Congregationis 
Clericorum reg. Matris Dei. [9.1 

Mansionaticum, f. Abgaben, 

. Mansus war im fränfifchen Reiche unter den Carolingern jener Theil des 
Grundbefiges einer Pfarrkirche, welcher von alfen Laften und Abgaben frei blei- 
ben mußte (daher mansus integer), Capp. Reg. France. Lib. I. c. 85; co. 24. c. 
XXI. qu. 8. Ueber die etymologifche Ableitung des Wortes „mansus* iſt man 
nicht einig. Eihhorn (Städt, Verf. S. 152) leitet daffelbe von manere; An- 
dere, wie Birnbaum (die rechtl. Natur der Zehnten, ©. 174, Anm. 73) von 
‚manumissio ab, jedenfalls bedeutet mansus ein Grundſtück, womit ein Frei— 
gelaffener für fih und feine Nachkommen noch in einem gewiffen Verbande (Hörig- 
feit) mit dem Patrone ftand. Daher lautete die Formel einer ſolchen unvollfom- 
‚menen Freilaffung: „Cum peculio suo maneat sub patrocinio*, während e$ bei der 
vollfommenen Freilaffung hief: „Peculiare, in quo ante laboravit, cessum in per- 
petuum habeat* (Formul. Sirmond. 12). Und ganz in der Bedeutung obiger For- 
mel fagt das Concilium Tolet. IV. a. 633 c. 69 (f. e. 3. X. De reb. eccl. alien. 
el non) von Geiftlihen, welche einer Kirhe Schenfungen oder Vermächtniſſe 
zuwendeten: „Liceat iis aliquos de familia ejusdem ecclesiae manumittere, ita ut 
cum ‚peculio et posteritate sua sub patrocinio ecclesiae maneant“. Solche Hörige 
nannte man mansionarii. Demnach begriff ein mansus ungefähr fo viel Land, als 
gewöhnlich ein mansionarius (etwa unfer „Kleingütler, Söldner“) bewirthfchaftete, 
Unter jenem fleuerfreien mansus waren aber nicht folhe Grundſtücke begriffen, 
welche die fränkifchen Könige felbft aus befonderer Munificenz einer Kirche ge— 
ſchenkt hatten, und welche ohnehin regelmäßig völligfreies Eigentum der Kirche 
waren (Cone. Aurel. I. a. 511. c. 5.). Bgl. hierzu den Art. Beneficium eccles. 
Bd. I. S. 801. [Vermaneder.] 

>. Mantelgriff heißt bei den Juden eine eigene Solennität zur ftärferen Be- 
fräftigung eines abzufchließenden Vertrages, insbefondere auch zur Berftärfung 
eines Eheverſprechens. Diefes feierliche Verlöbniß gefhieht in Gegenwart zweier 
Hlaubhafter Zeugen, welche ein Stüf Tuch oder einen Mantel vor ſich ausbreiten, 
den die Brautperfonen oder überhaupt die Eontrahenten eines Vertrages zur Be— 
fräftigung der eingegangenen Verpflichtung berühren müffen, 

Mantelfinder, Alle außerehelich erzeugten Kinder (mit alleiniger Aus- 
nahme der im Ehebruch erzeugten) werben, wenn deren Eltern fpäter eine gül- 
tige Ehe fließen, Tegitimirt, d. i. fo angefehen und rechtlich behandelt, als 
wären fie ehelich erzeugt (fog, Legitimatio per subsequens matrimonium), 


‘806 | Mantun, 


Solche erft durch die nachfolgende Ehe ihrer Eltern Tegitimirte Kinder hießen ge- 
wöhnlich Mantekfinder, auch Buchkinder, fo genannt, weil fie von ihren Eltern 
während der Trauung unter den Mantel genommen und dadurch feierlich als die 
ihrigen erklärt wurden. Buchkinder hießen fie aber, weil man ſodann ihre Namen 
als Tegitimer Kinder nachträglich in das Pfarrbuch einzuzeichnen pflegte, wie dieß 
noch Heutzutage gefhieht. Vgl. hierzu die Art, Gewiffensehe und Legitima= 
tion durch nachfolgende Ehe. | 
Mantua, Hauptftadt in ver gleichnamigen Delegation im Gouvernement 
Mailand, zum Iombardifh-venetianifchen Königreiche gehörig. Die Delegation 
zahlt auf 41 Q.⸗M. 235,000 Einwohner, Die Stadt Mantua ift der Sig eines 
Biſchofs, zählt gegen 28,000 Einwohner, Tiegt 17 Meilen von Mailand und 
eben fo weit von Venedig. Mantua, an einem vom Mincio gebildeten Landfee 
gelegen, ift eine durch Natur und Kunft flarfe Feftung, hat aber wegen feiner 
fumpfigen Umgebung befonders im Sommer eine ungefunde Lage, Merfwürbig- 
feiten von Mantua find der große k. Palaft, der in Form des Buchſtabens T ge- 
baute Palaft del Te, ver Zuftizpalaft, einige großartige Adelspaläfte (Arco, Collo- 
redo etc.), eine fchöne Cathebrale, 18 Pfarrkirchen mit vielen Monumenten, ein 
Lyceum mit einer anfehnlichen Bibliothek, große Pläge, unter diefen der Virgils- 
Play, die fog. Birgilianifhe Academie der fchönen Künfte, ein großes Kranfen- 
haus, die Gebäude der 1625 geftifteten Univerfität u. f.f. Das Herzogthum 
Mantua gehörte Anfangs zum Iongobardifchen, dann zum italienifchen Rönigreiche, 
Sm Anfang des 14ten Jahrhunderts Fam es unter die Herrfchaft der Bonacolfi; 
Ludwig von Gonzaga, teutfcher Abfunft, rottete diefelben aus, und warf ſich feiöft 
unter dem Titel eines Neichsvicard von Mantua als Herrfcher auf. Die Herten 
von Mantua hießen zuerft Hauptleute, darauf (von Kaiſer Sigismund an) 
Marchefen oder Marfgrafen, und zulegt (von König Earl V. an) Herzöge. 
Als der Herzog Carl IV. von Mantua fich verleiten ließ, Partei gegen den Raifer 
zu nehmen, nahmen die Kaiferlihen 1707 vom Lande Befis, in welchem ſeitdem 
Deftreich auch geblieben iſt (mit Ausnahme der Periode der eisalpinifchen Re— 
publik von 1796— 1814). Zur Zeit der alten Römer war die Stadt Mantun 
ein vorzüglicher Sig der Wiffenfchaft, in feiner Nähe (zu Andes) war die Hei- 
math des Dichters Virgilius, In der chriſtlichen Zeitrechnung hatte Mantun ſich 
gleichfalls mander Glanzpuncte zu erfreuen. Hier wurden mehrere Concilien ge— 
feiert, das erfle im J. 835 in Gegenwart zweier päpftlicher Legatenz es handelte 
fih hier um Streitigfeiten zwifchen den Patriarchen zu Friaul und Grado. Der 
Confliet entfchied fich fo, daß dem Patriarchen von Grado einige in Iſtrien ge- 
legene Bisthümer abgenommen und an den Patriarchen von Friaul übergeben 
wurden, In einem andern Concil zu Mantua im J. 1064 warb die Wahl des 
Papfıes Aleranders II. beftätigt und der Gegenpapft verdammt, welchen Kaifer 
Heinrich II. (ſ. d. A.) in der Perfon des Bifhofs Cadalous von Parma umter 
dem Namen Honvrius II. (ſ. d. A.) aufgeftelit hatte. Im Jahre 1459 fand zu 
Mantua jene denfwürdige Fürftenverfammlung Statt, welche Pius II. aus hoher 
Begeifterung für die Ehre des hriftlihen Namens in der Abficht berief, um über 
die Mittel zur Fortfegung des Türfenfriegs mit den enropätichen Nogenten Rath 
zu pflegen. Diefe aber bewiefen eben fo viel Gleichgültigfeit für Bekämpfung 
der Türfen, ald Pius Kampfesmuth an den Tag legte, Lange wartete der Papft 
der Ankunft der Fürften zu Mantua; unter den meiften derfelben herrſchten Zers 
würfniffe, ſelbſt zwiſchen dem Ungarnfönig Matthias und dem Kaifer Tagen 
Irrungen wegen der Krone Ungarns in Mitte, Der Kaiſer entſchuldigte fih bei 
Pius, der ald Aeneas Sylvius früher fein Seeretär gewefen war, mit dringenden 
Geſchäften, die ihm nicht erlaubten, perfönlich zu erfeheinen. Der Papft machte 
ihm darüber Vorwürfe, Nachdem endlich einige Neichsfürften ſich zu Mantua 
eingefunden hatten, fo eröffnete der Papft den Congreß (21, Juni 1459), un» 


Manualbenefieien — Manuell 807 


geachtet den meiften der DVerfammelten, felbft papftlihen Hoflenten, Mantua 
mißftel als ein ungefunder fumpfiger Ort, wo man nichts als Fröſche höre, In— 
zwiichen Famen allmählig von allen Richtungen die Abgefandten an, unter andern 
die des Herzogs Philipp von Burgund, auch jene Frankreichs und der italienifchen 
Staaten, Am 26. September hielt —— — an die Verſammlung eine faſt drei⸗ 
ſtündige Rede über die Nothwendigkeit eines Türkenzugs, über die Mittel und 
die Eontingente der einzelnen Reihe. Nach dem Papfte Hielt der griechiſche Car— 
dinal Beffarion (f. d. A.) eine Rede ähnlichen Inhalts, ALS die Teutfchen ihr 
Eontingent beftimmen follten, zeigte fih Uneinigkeit zwifhen den Gefandten des 
Kaiſers, der teutfchen Fürften und der Reihsftände, woran der berühmte Rechts- 
gelehrte Gregor von Heimburg (f. d. W.), der Gefandte Herzogs Albrecht von 
Deftreih, viel Schuld trug. Endlich verfprachen die Teutfhen dem Papſte den- 
noch 32,000 Dann Fußvolk und 10,000 Reiter, Das Nähere follte auf zwei 
Reichstagen zu Nürnberg und zu Wienerifh Neuftadt ausgemacht werden. Den 
Kaifer Friedrich beftimmte der Papft zum Oberfeldherrn. Affein die Uneinigfeit 
und die Streitigfeiten, die damals gerade unter ſolchen Fürften herrſchten, auf 
welde der Papft viel rechnen mußte, Hinderten den gewünſchten glücklichen Erfolg 
de8 Congreffes zu Mantua; alle Reden und Beratsfhlagungen, womit man fi 
abmühte, waren nicht im Stande, die Theilnahmloſigkeit an dem heiligen Kriege 
u entfernen, welche befonders dur die befländigen einheimifchen Kriege in 
eutfchland war hervorgerufen worden, E8 bedurfte der ganzen Begeifterung 
eines Pins, um die Sache endlich Doch in den Gang zu bringen, Pius richtete 
zum Ueberfluß an den Sultan Mahomed ein umfaffendes Sendfhreiben, worin er 
ihm unter Zugrundlegung von Cuſa's „cribratio Alcorani* die Wahrheit des 
Chriſtenthums und die Irrthümer Mohammeds vor Augen legt. Endlich begab 
16 Pins, obſchon beventend Teidend, jedoch vertrauend auf Gott und auf ein 
egsheer von mehr als 88,000 Mann, unter dem tapfern Scanderbeg, per- 
fönli zum Kreuzheere, erlag aber unterwegs bald feinen Leiden, nachdem er 
den Cardinälen den Krieg gegen den Chriftenfeind an das Herz gelegt hatte, Die 
Berfammlung von Mantua benüste Pius auch dazu, ein frenges Verbot gegen 
alfe Appellationen vom päpftlihen Stuhle befannt zu geben. (S. Gobelin und 
andere gleichzeitige Hiftorifer.) Bol. Hierzu den Art. Italien. [Dür.] 

Manualbeneficien, f.Beneficium ecelesiasticum. 

Manuell. Comnenus, griechiſcher Raifer von 1143— 1180, ift befannt aus 
der Zeit des zweiten Kreuzzuges. Nachdem er fich in verfchiedenen Kriegen aus 
gezeichnet Hatte, folgte er durch die Beflimmung feines Vaters Johann I. mit 
Umgehung feines ältern Bruders Iſaac diefem in der Regierung des zerrütteten 
und angefreffenen Reiches. Schon fein Vater hatte fih mit dem teutfhen Kaifer 
Lothar (f. d. A.) gegen Roger von Sieilien verbündet, diefe Verbindung mit 
Eonrad erneuert (f. Conrad IM.) und zur Befiegelung der Freundfchaft um eine 
Prinzeffin feiner Familie für feinen Sohn Manuel angehalten, Conrad ging 
darauf ein und beſtimmte die Sihwefter feiner Gemahlin Gertrude, Namens 
Bertha, für diefe Ehe, Die Braut reiste nach Griechenland ab, traf aber Jo— 
Hann II. wicht mehr unter den Lebendigen. Ihre Ehe war nicht glücklich; fie Ciegt 
Irene genannt) ſuchte allein durch Sittfamfeit und tugendreihen Wandel ihren 
Gemahl zu gewinnen, während diefer alsbald im Schooße der Conceubinen die 
ehelihe Treue brach. Nah Außen war Manuels erfte Thätigfeit gegen die Tür- 
fen gerichtet. Zwar war feine Thronbefteigung Anfangs mit Freude und Hoff- 
nung begrüßt worden; allein bald zeigte er ftatt der feitherigen Tugenden Lafter 
alfer Art, ward flolz und graufam und verachtete die Menfchen als willenloſe 
Sclaven. — Was zunähft feine Stellung zu Conrad II. von Teutfchland und 
Ludwig VII. von Franfreich und dem Kreuzheere anlangt, fo hatte er Ludwig VII. 
die freundlichfte Aufnahme verfprochen, aber treulos wie er war zugleich den 


E De LE ı a ia 0 u 


808 he Mahl, 


Sultan von Jeonium von ber ihm drohenden Gefahr benachrichtigt, und als Con— 
rad mit feinem ſtreitbaren Heere angelangt war, behandelte er ihn nicht mit Liebe, 
fondern mit Mißtrauen und flellte gegen ihn ein Obſervationscorps auf, was 
ihm alferdings nad den Vorgängen im erfien Kreuzzug nicht zu verübeln war, 
In der That erlaubten fih auch dießmal die teutfhen Krieger Exceffe., Um nun 
weitern nachtheiligen Folgen vorzubeugen, ließ Manuel das Kreuzheer auf Schif- 
fen über den Bosporus ſetzen; die beiden verſchwägerten Kaiſer hatten fich auf 
diefe Weife verföhnt, ohne fi gefehen und gefprocen zu haben. Dagegen hatte 
Manuel mit Ludwig VL. eine Zufammenkunft in feinem Palafte und nahm ihn 
gaftlich auf. Um ihn jedoch bald wieder los zu werben, ließ er in Conflantinopel 
die Nachricht von glücklichen Erfolgen des teutfchen Kreuzheeres verbreiten, ver- 
langte endlich bei einer zweiten Zufammenfunft, daß die franzöfifchen Heere ihm 
Treue ſchwören, wie jene des erfien Kreuzzuges feinem Großvater Alerius gethan 
hätten; zugleich verlangte er für feinen Neffen eine Verwandte des Königs zur 
Gemahlin; dann werde er Beiftand leiſten. Ungern willigten die Heere ein, und 
der Graf, von Dreux nahm die ihm verwandte Verlobte des Neffen Manuels fort, 
um fie einer ſo unwürdigen Verbindung zu entziehen. Indeß trägt Manuel an 
dem Mißlingen des zweiten Kreuzzuges nicht die legte Schuld durch feine abficht- 
liche Srreleitung des Kreuzheeres, durch mangelhafte Lieferung der Lebensmittel 
und alle feine treulofen Nänfe, Seine Kriege mit Roger, mit ben Ungarn und 
Türfen u. ſ. w. gehören nicht hieher, wohl aber fein Verhältniß zur Tateinifchen 
Kirche. In zweiter Che, vermählt mit Maria, der Tochter Raymunds, Fürften 
von Antiochien, hatte er überhaupt während feiner ganzen Negierung die lateini- 
fchen Chriften in feinem Reihe [honend behandelt und ihre Kirchen verfchönert, 
was diefe dankbar anerkannten. Diefe feine günftige Stimmung benüßgend, mahnte 
Papft Hadrian IV. (1154—1159) Baſilius, Erzbifchof von Teffalonih, zum Ver- 
fuche einer Bereinigung der griechiſchen Kirche mit der Tateinifchen. Alfein diefer 
Berfuch fheiterte an der Abneigung der Griechen gegen den oberſten Biſchof von 
Rom (ſ. Sriehifhe Kirche). AS fih jedoh nah dem Tode Habrians ber 
teutfche Kaifer Friedrich I. gegen feinen Nachfolger Alexander II. und für den 
Gegenpapft Victor erklärte, empfahl fih Manuel auf ein Schreiben Ludwigs von 
Sranfreih dem Gebete Aleranderg, ald eines würdigen Papftes, und fchrieb auf 
die Nachricht von der Ausrüftung zu einem neuen Kreuzzuge an Alexander II. 
und zeigte feine Bereitwilligfeit zur Mithilfe, bat aber zugleich, der Papft möchte 
zur Aufrechterhaltung der Ordnung einen Cardinal dem Kreuzheere zur Seite 
ſetzen. Indeß Fam der beabfichtigte Kreuzzug nicht zur Ausführung. Im Jahre 
1160 ließ ferner Manuel dem Papfte feine Hilfe gegen die Gewaltthätigfeit 
Friedrichs I. anbieten, wollte jedoch, daß Alexander die Krone des römischen Kai- 
ſerthums wieder den griechifchen Kaiſern übergebe, als welchen fie allein rechtlich 
gebühre, verſprach dagegen hinlängliche Hilfe, um den Papft in den Befig von 
ganz Italien zu feßen und die von ihm laͤngſt gewünſchte Vereinigung beiber 
Kirchen zu Stande zu bringen, Nach einer zweijährigen Unterbandlung erklärte 
jedoch der Papft, daß er ganz und gar für Vereinigung beider Kirchen feiz daß 
er aber, um den Frieden unter den hriftlihen Mächten nicht zu flören, nicht in 
die gewünfchte Mebertragung der abendländifchen Kaiferfrone willigen Fönne, 
Damit endigte die Unterhandlung, aber die Freundfchaft zwifchen Aerander und 
Manuel dauerte fort, Auch befchickte der Kaiſer das dritte Lateranconeıl und er⸗ 
Härte fih flets für die Orthoborie, Als fofort Friedrich I. Stalien mit Krieg 
überzog, hatte fich diefes der Unterflügung Manuels zu erfreuen ; in. Kriege mit 
Ungarn verwickelt, fuchte er jedoch das Bündniß Friedrihs und der ruffifchen 
Fürften und erhielt daſſelbe. Was nun endlich Manuels Stellung zur griechiſchen 
Kirche anlangt, fo wollte auch er, wie fo viele feiner Vorgänger feit Juſtinian, 
ſelbſt in dogmatifchen Tragen entfcheiden, z. B. in dem über den Sap: „Mein 


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Hanıg mortua — Mara, 809 


Bater iſt größer als ih” erhobenen Streite, Sonſt verfhönerte er die Kirchen 
und begünftigte Klöfter und Mönche. Im Jahre 1158 erflärte er die Mönche 
als rechtmäßige Befiger aller ihrer wirflihen Güter und nahm fie dadurch gegen 
die Habfucht des Fiscus und der Privaten in Schug, wodurch er eine Menge 
roceffe befeitigte, verbot ihnen aber neue Acquifitionen; auch wünſchte er be- 
a ‚daß die Klöfter ferne von Städten und Dörfern erbaut würden, um fie 
vor dem Verderbniß derfelben zu bewahren, und baute, um ein Mufter Heiliger 
Zurüdgezogenheit zu flatuiren, ein Klofter am fhwarzen Meer, beſetzte daffelbe 
mit den frömmften Mönchen und wies ihnen ein Einfommen aus der Staatscaffe 
an. — Ein Tyrann in der Regierung, war er ed auch in kirchlichen Dingen; 
feine Meinung mußte entfoheiden, und. mehr als Ein Biſchof büßte feinen Wider- 
ſpruch mit Abfegung und Verbannung; er ſchaffte aus eigener Machtvollkommen— 
heit eine Reihe kirchlicher Feſttage ab oder verordnete bet andern, daß der Vor— 
mittag dem Gottesdienfte, der Nachmittag den bürgerlichen Gefchäften gewidmet 
werde, — Die Verwaltung des Reichs wurde auch unter ihm noch mehr ver- 
fchlechtert, und fo Fam e8, daß die armen Bürger, ſchon längſt Sclaven der 
Reichen, auch ihre perfönliche Freiheit verfauften. Aber auch hier zeigte fich die 
beffere Seite des höchſt ausfhweifenden und verfhwenderifchen Fürften: er gab 
durch ein Edict allen, welche als Freie geboren waren, ihre Freiheit zurüd, CH, 
Lebeau, histoire du Bas-Empire. Paris 1834. T. XVI. p. 63—305 und dafelbft 
die Duellen, [öehr.] 

Manus mortua, f. Amortifation, 

Mapn (7792), woNabal wohnte, an der Grenze der Wüfte Juda, die hier 
Wüſte Maon Heißt (1 Sam. 25, 2, Joſ. 15, 55.), das heutige Ma’in, ein 
Dorf auf einem fegelförmigen Berge mit einer prachtonffen Ausfiht, neun röm. 
Meilen im S. ©. D. von Hebron, Robinſon fand dafelbft Ruinen von nicht 
großem Umfange, Grundmauern von gehauenen Steinen, eine-Mauer in’$ Ge- 
viert und verſchiedene Eifternen. — 2) Ein nicht ifraelitifcher Carabifher) Volks— 
flamm; er wird unter den Feinden Iſraels (Nicht. 10, 12.) neben den Sidoniern 
und Amalefitern aufgeführt, 1 Chron, 4, 41. Cim Keri) und 2 Chron, 26, 7; 
fommt diefelbe Völferfhaft unter dem Namen Meunim (0727>%2) vor. Schon 
den Alten war diefer Name unbefannt; Hieronymus hat ihn an der erſten Stelle 
1 Chron,. 4, 41. als nom. appell. genommen, an der letzten aber „Ammoniter“ 
gelefen; Richter 10, 12. gibt er mit Chanaan (j1>2 —= Bewohner Canaans), 
Eben fo im Ungewiffen waren die LXX.;5 fie Haben im Buche der Chronif Mivaioı, 
eine Bölkerfhaft im glücklichen Arabien am rothen Dieere; doch find diefe viel zu 
tief im Süden gelegen (23—20° Br.), um mit den Jfraeliten in eine feindliche 
Berührung zu fommen, daher man beffer die Stadt Maan im peträifchen Arabien 
mit dem biblifchen Maon iventificirt, Maan ift noch jegt eine Stadt, in deren 
Umgebung fi viele Ruinen befinden; es liegt auf der Strafe nah Mecca faft 
in der Mitte zwifchen der Süpfpige des todten Meeres und der nördlichen des 
Buſens von Afaba, [Schegg.] 

Mara (772), eine bittere, falzige Duelle in der arabifchen Wüfte, deren 
Waſſer Moſes füß und trinkbar machte 2 Moſ. 15, 23. Als Mara bezeichnet 
man den Brunnen Howara, deffen „Elares, aber fehr bitteres Waffer eine berfen- 
artige Eintiefung des Felfens ausfüllte, an welcher wahrfcheinlih die Hand des 
Menſchen mitbilden Half,” Er ift von Ajin Mufa 15, Stunden entfernt, mit 
einigen Palmen verfehen und 484 Par, Fuß über der Meeresfläche auf einer 
Heinen Anhöhe gelegen. Diefe Angaben ſtimmen mit dem biblifhen Berichte voll- 
fommen überein: „Und Mofes Tieß aufbrechen Iſrael vom Schilfmeer und fie 
zogen nad) der Wüſte Sur und gingen drei Tage in der Wüfte und fanden Fein 
Waſſer. Und fie famen nah Mara, und fie fonnten fein Waffer trinfen, weil es 
bitter war, 2 Mof, 15, 22. 23,” Bon Ajin Mufa beginnt die Wüfte Sur; ein 


810 Marburg Er Maren 


ganzes Volk Hat drei Tagreifen bis Mara; in biefem Zwifchenraume fehlt e8 
gänzlich an Brunnenwaffer, und Ajin Howara ift der einzige abfolut bittere Brun- 
nen der ganzen Küſte, der die Klage und das Murren des Volkes, welches an 
das wohlſchmeckende und heilfame Nilwaffer gewöhnt war, fehr begreiflich macht, 
Selbſt Heute noh, fagt Burkhardt, fei fein Volk fo empfindlich gegen ben 
Mangel guten Waffers, als der Nilanwohher, „Dem Brunnen gegenüber (reits 
vom Karawanenwege) iſt ein Fleines Keffelthal recht wie zu .einer Yagerftätte von 
der Natur eingezäunt und eingerichtet, Der Boden ift dort an manden Stellen 
feucht; es Hlüheten und wuchfen dafelbft Blumen, aus der Familie der Kreuz- 
blüthigen, mit fetten, den Wohlſtand des Standortes verrathenden Blättern.” 
Schubert, Reife in dag Morgenl, II, 274, Burkhardt vermuthet, Mofes 
babe die faftigen Beeren des Strauches Gharkad angewandt, welcher die Kraft 
haben foll, bitteres Waffer trinfbar zu machen, Db aber für eine Volksmaſſe von 
mehr als einer Million mit ihren Herden? Unfer Gewährsmann (Schubert) 
weiß von einem folchen Experiment nichts, und deffen Unzulänglichkeit ift von 
Andern ſchon Tängft nachgewieſen. Geſen. zu Burdhardt II. ©. 1071. Robin- 
fon, Paläſt. I, S, 107 u. ſ. w. [Schegg. 
Marburg, Religionsgeſpräch zu. Der Landgraf Philipp von Heſſen, 
fagt Guerife in feiner Eindifch-befchränften Luther-Drthodorie: allzugeneigt, über 
feinem lebendigen Intereffe für die Sache des Evangeliums das Intereffe für 
die Unverleglichkeit der Faiferlihen Authorität gering zu achten, war nal dem 
NReichstage von Speyer (1529) eifrigft bemüht, alle Proteftanten zu einem Bünt- 
niß gegen den Kaiſer zu vereinigen und zu diefem Behufe das in der Lehrnerfchie- 
denheit Iiegende Hinderni zu befeitigen, In diefer Abficht veranftaltete Philipp 
das Colloquium zu Marburg, abgehalten in den erſten Tagen des Detobers 1529, 
zu welchem einerfeits Luther, Melanchthon, Juſtus Jonas, Brenz, Oſiander, 
Agricola und noch Andere, von der andern Seite Zwingli, Decolompadins, Bucer, 
Hedio und noch Einige erſchienen. Bei der Gefinnung Luthers, „dem es ſchrecklich 
war, zu hören, daß in einerlei Kirchen oder an einerlei Altar beide Theile einer- 
lei Sacrament folften haben und empfahen, und ein Theil follte glauben, es em—⸗ 
pfahe eitel Brod und Wein, das andere Theil aber glauben, es empfahe dem 
wahren Leib und Blut Eprifti”, war der Ansgang des Colloquiums vorauszufehen, 
Zwar erflärte man fich über 14 Artifel, in denen die Schweizerifihen für jegt 
um ber drohenden Zeitverhältniffe halber möglichft nachgeben zu müffen glaubten, 
einverftanden, allein in der Hauptfache, der Lehre vom Abendmahle, kam eine 
Bereinigung nicht zu Stande. Als die Schweizerifihen erklärten, daß fie mit 
Luther die wahrhaftige, jedoch geiftige Gegenwart des Leibes Eprifti befennen 
wollten, und Zwingli ihn öffentlich mit weinenden Angen bat, fie als feine Brü- 
der in Chriſto zu erfennen, da ihnen Alles daran liege, mit ihm einig zu fein, 
verwarf er die angebotene Hand mit den Worten: Ihr habt einen andern Geift! 
Der Deffentlichfeit halber und auf Verlangen des Landgrafen wurbe jedoch feits 
der Wittenberger erflärt, daß fie die Zwinglifchen zwar nicht als ihre Brüder er- 
fennen Fönnten, doch von der chriſtlichen Liebe nicht ausſchließen wollten, Daß 
jedoch auch diefe Erffärung tur eine Phrafe war, zeigte fi bald, Befonders 
war es die Marburger Univerfität felber, anf welcher fich Lutherlhum und Zwing- 
lianismus heftig und Tange befehdeten, worüber Döllinger in feiner Schrift, 
„die Reformation, ihre innere Entwicklung ꝛe. Bd, II. ©, 204—224”, fi des 
Nähern verbreitet, Vgl. den Art. Heffen. [Schroͤdl.) 
Marca, Petrus de, wurde geboren zu Gant im Béarn am 24, Jan. 1594 
und ftammte ans einer altadeligen katholiſchen Familie, Er erhielt feine Huma- 
niftifche Bildung im Zefuitencolegium zu Auch und fludirte darauf zu Toulonfe 
erft Philoſophie, dann drei Jahre die Nechte, 1615 wurde er Nath beim Conseil 
souverain von Béarn. Alle feine Collegen waren damals Calviniftenz bald dar⸗ 


Marcella — Marcellinu 811 


auf wurde aber die katholiſche Religion im Bearn wiederhergeſtellt, und de Marca 
erhielt zum Lohne für feine Mitwirkung dabei 1621 die Stelfe eines Präfiventen 
des (ganz Fatholifhen) Parlaments zu Pau, 1639 wurde er zum Staatsrath 
ernammt, Sein Ruf als Gelehrter fiieg, als 1640 feine Histoire de Bearn er- 
ſchien. Im Auftrage des Königs verfaßte er 1641 fein befanntes Werk: de con- 
cordia sacerdotii et imperii s. de libertatibus ecclesiae gallicanae. Nach dem Tode 
feiner Frau, mit der er mehrere Rinder hatte, trat er in den geiftlichen Stand 
amd wurde 1643 zum Biſchof von Conferans ernannt, Papft Urban VII ver- 
weigerte ihm aber wegen mehrerer in feinem Werke ausgefprochener anftößigen 
Anfihten die Beftätigung, und er erhielt diefelbe erft 1647 dur Innocenz X., 
nachdem er weitere Erläuterungen herausgegeben hatte unter dem Titel: libellus, 
quo editionis librorum de concordia etc. consilium exponitur. Er wurde 1648 con= 
fecrirt, ging aber bis 1651 nach Catalonien zurüf, wohin er ſchon 1644 als 
General-Bifitator und Intendant gefchieft war. 1652 wurde er zum Erzbifchof 
von Toufoufe ernannt, 1654 beftätigt und 1655 inthromifirt, Er wurde aber 
noch fortwährend zu politifchen Gefchäften verwendet, 1653 wurde er wieder 
Staatsrath, wohnte den Sigungen der Stände von Languedoe bei, präfldirte ven 
Provincralftänden zu Touloufe 1659 und wurde 1660 nach dem Rouffilon gefchiekt, 
um Örenzftreitigfeiten zwifchen Franfreih und Spanien beizulegen. Im Sept, 
1660 zog er nad Paris, wurde nach der Abdanfung des Cardinals de Retz zum 
Erzbiſchof ernannt, ftarb aber ſchon einige Tage, nachdem die päpftliche Beftäti- 
gung eingelaufen war, den 29. Juni 1662, Seine Manuferipte übergab er dem 
Stephan Baluzius, der feit 1656 bei ihm wohnte (f, den Art. Baluzius) und 
1663 eine Biographie de Marca's herausgab und eine neue vollftändigere Aus— 
gabe des Werfes de concordia etc. beforgte (daffelbe ift fpäter noch mehrere Mate 
gedrudt Par. 1669, 1704 mit Marca’s dissert. eccl. varii argumenti Francof. 
1708. Lips. 1709 [ed. J. H. Böhmer], cum observat. Böhmeri et C. Fimiani Neap. 
1771 u. Bambergae 1783 in ſechs Duartbänden). Außerdem verfaßte Marca 
noch eine Anzahl kirchenrechtlicher und kirchengeſchichtlicher Differtationen. Baluzius 
gab 1681 zu Paris 16 opuscula deffelben heraus, und P. de Faget dissertaliones 
posthumae sacrae et ecclesiasticae Paris. 1699 mit einer Biographie de Marea's. 
Endlich gab Baluzius 1688 noch feine Marca Hispanica heraus, eine hiftorifch- 
geographifche Befchreibung von Catalonien, Rouſſilon und den franzöfifep-fpani- 
ſchen Grenzprovinzen. (Vgl. Bayle, Jöcher.) 

Marcella, ſ. Hieronymus. 

Marcellina, die Gnoſtikerin, hat nur dadurch Bedeutung, daß fie dem 
gnoſtiſchen Syftem der Rarpofratianer (f. den Art, Rarpofrates) Eingang in 
Rom verfhaffte, wo fie unter dem Papft Anicet gegen das Jahr 160 auftrat und 
Biele gewann nach den übereinftimmenden Berichten der Alten (S. Irenaeus adv. 
haeres. lib. I. e. 25. n. 6. S. Epiphan. haeres. 27. n. 6.). Sie mag wohl in ver 
gebildeten Hauptftadt dadurch Auffehen erregt und Anhänger gefunden haben, daß 
fie ald Frau bei ihren Vorträgen mit den Bildern des Pythagoras, Homer, Plato 
und Ariftoteles auch das angeblich auf Befehl des Pilatus verfertigte Bildnig 
Jeſu und das Bild des Apoſtels Paulus aufftellte, diefe Bilder (f. ven Art. 
Chriſtusbilder) nach heidniſcher Sitte befränzte, ihnen Weihrauch freute und 
göttliche Verehrung bezeigte (S. Irenaeus I. c. S. Epiphan. 1. c. S. Augustin, lib. 
de haeres. c. 7. et Praedestinatus e. 7. in Sirmondi Opp. Var. ed. Venet. T. I. p. 
270). Der gleichzeitige heidniſche Philoſoph Celfus (f. d. 9.) erwähnt in feiner 
Streitfhrift gegen die Chriften als eine eigene hriftliche Secte „vie Marcelli- 
niften (MagzeAhıevor), die ihren Namen von der Marcellina haben“ (Origen. 
c. Celsum lib. V. n. 62. ed. Ruaei T. I. p. 626), und nicht zu verwechfeln find mit 
den Marcellianern, den Anhängern des Biſchofs Marcellus von Ancyra (f.d, A.) im 
vierten Jahrhundert, Doch war die Serte der Marcelliniften, die wohl nur zu 


812 Marcellinus — Marcellus, Päpfte, 


Nom unter diefem Namen befannt war, offenbar bloß ein Zweig der Karpofra- 
tianer, ohne in den Irrthümern felbft etwas Befonderes zu haben. Das eitle 
Weib mochte die Lehre des Karpokrates als ihre eigene vortragen, weßhalb die 
Secte in Rom nad) ihr genannt ward, die alten Väter und Kirchenſchriftſteller 
aber fie nur bei der Secte der Rarpofratianer als Hauptverbreiterin namhaft 
machen. Daher fonnte auch Drigenes im dritten Jahrhundert bezeugen, daß er 
von diefer Secte troß feines eifrigen Forſchens in der chriftlichen Lehre und in 
den verfchiedenen Meinungen ihrer Befenner nie etwas gehört habe (Origen. 1. 0.); 
welche Angabe wir mindeftens als ein ficheres Zeichen betrachten dürfen, da die 
Secte der Marcelliniften jedenfalls um die Mitte des dritten Jahrhunderts nicht 
mehr eriftirte, und daß fie daher wohl nur eine vorübergehende Erfcheinung unter 
dem wetterwendifchen hohen und niedern Pobel der großen Welthauptftadt ge- 
wefen fei, wie dergleichen auch heutzutag noch in Paris und anderwärts vor- 
fommt, Ä - [eßler.] 
Marcellinus, Payft, Nachfolger des Cajus C+ 296), ein Römer von Ge- 
burt, hat fozufagen das Unglüd gehabt, daß beinahe Alles, was man bis auf die 
neuere Zeit über ihn zu. berichten pflegte, der Hiftorifhen Wahrheit entbehrt. 
Erftens find von Einigen irrthümlich Marcellinus und deffen Nachfolger Mar- 
cellus (f. d. Art.) identificirt worden, da doch beide in der Chronik, welche den 
Namen des Papftes Damafus trägt und unter dem Pontificate des Papftes Li- 
berius verfaßt wurde, fowie au von Optatus von Milevi, Auguflin 2c, genau 
von einander unterfhieden werden, Zweitens hat man dem Marcellinus, wie fo 
vielen Andern, fälfchlicher Weife einige Decretalbriefe beigelegt, Drittens ift es 
wenigftens zweifelhaft, ob er ald Martyrer geftorben fei, indem über ein Mar- 
tyrium Marcellins authentifche Acten nicht vorhanden find, und Pagi (Breviar, 
R. P.) ſowohl, wie au Papebrock Cconat. chron. hist. ad catal. Pont. de S. Mar- 
cell. in Propyl. ad Majum) noch aus andern Gründen hierüber zweifeln, Viertens 
endlich ift die Gefihichte von dem Falle und. der Buße Marceflins wohl nichts 
weiter als eine Fabel. Marcellin nämlich fol, in der Verfolgung Marimians 
und Dioeletiang von Drohungen eingefhüchtert, den Götzen Weihrauch dar- 
gebracht, aber feinen Schritt bald bereut und den Martyrtod gelitten haben; hin— 
zugefügt wird noch häufig, kurz nah Marcelling Fall fei in der Provinz Cam- 
panien in der Stadt Sinueffa eine große Synode von 180—3001! Bifhöfen zu- 
fammengefommen, und in diefer Synode habe Marcellin, das Haupt mit Afıhe 
beftreut und angethan mit einem Cilictum, feine Schuld befannt, Daß es be- 
fonders die Donatiften waren, melde dieſe Fabel in Umlauf fegten, erhellt aus 
Auguftin, der in 1. de unico bapt. c. 16. dem Donatiften Petilian antwortet; 
„Was iſt nun noch nöthig, die Päpfte, welche Petilian mit unglaublichen Calum- 
nien verfolgt hat, davon zu reinigen: Marcellin und deffen Priefter Melchiades, 
Marcellus und Sylvefter werden von ihm ber Auslieferung der hl. Schriften und 
der Thurification angeklagt. Aber find fie deffen dur Documente überwiefen Pac.“ 
Was die Acten der angeblichen Synode von Sinueffa anbelangt, fo waltet gegen- 
wärtig über ihre Ervichtung fein Zweifel mehr ob; alt find fie indeß allerdings, 
da fchon Papft Nicolaus I. ihrer gedenft, Da nach Eufebius Chist, VII, 3) in 
der Verfolgung Marimians und Diveletians viele Chriften mit phyfifcher Gewalt 
gegen ihren Willen zu materiellen gögenbienftlichen Aeten gezwungen oder öfter 
auch als thurificati und saorificati bloß angegeben wurden, fo mag es möglich fein, 
daß etwa auch Marcellinus ohne irgend eine Schuld von feiner Seite während 
der Verfolgung dem Martyrtod in diefer Weife entging. Das Gedächtniß Mar- 
cellins feiert die Kirche ain 24. April, Er farb im J. 304. ©, Papebroch. 1. 
eit.; Bolland. 24. April.;.Pagi brev, R. P.; Nat..Alex. hist, Eccl. saec, 3. [Schrödl.] 
Marcellus I. u, I, Päpſte. Marcellus, der unmittelbare Nachfolger 
des Papftes Marcellinus (ſ. d. A.), folgte diefem erft nach einer. beinahe vier- 


 Marcellus, Kriegshauptmann 813 


jährigen Sedisvacanz und regierte die Kirche nur anderthalb Jahre, von 308 — 
310, Bon ihm Heißt es im liber Pontificalis: „titulos in urbe Roma constituit, 
quasi dioeceses, propter baptismum et poenitentiam multorum, qui convertebantur 
ex paganis, et propter sepulturam martyrum*. Er hatte unter dem Tyrannen 
Marentius ſchlimme Tage und fol von diefem zu wiederholten Malen zu Stall- 
dienften verurtheilt worden fein. Indem er einige Zeit im Haufe der frommen 
Wittwe Lucina, wie im liber P. ferner berichtet wird, wohnte, wurde dafjelbe in 
diefer Weife in ein Gotteshaus für die Chriſten umgewandelt. Das Gedächtniß 
diefes HI. Papſtes begeht die Kirche am 16. Januar, ©. Bolland. 16. Jan.; 
Papebroch. conat. chronicohist. ad catal. Pontif. de Marcello; Pagi, brev. R. P.— 
Marcellus H. (Marcello Eervini), geb. zu Montepulcianv, ein Mann von fel- 
tenen Geiftesgaben, Kenntniffen und großer Mäßigung, Klugheit und Güte, be- 
gann feinen Lauf zur höchſten Würde in der Chriftenheit als Secretär des Car— 
dinals Farnefe, wurde 1539 zum Bifhof von Nicaftro und 1540 zum Carbinal 
promopirt, Teiftete durch geſchickte Ausführung päpftlicher Aufträge und als päpftlicher 
Cardinallegat auf der Synode zu Trient dem Papfte und der Kirche gute Dienfte 
und wurde nach dem Tode des Papftes Julius II. am 9, April 1555 auf den 
apoſtoliſchen Stuhl erhoben, Wegen der Nähe des DOfterfeftes wurde er ſchon 
am 10. April confecrirt und am Mittwoch in der Charwoche gefrönt, Marcellus, 
der, wie Hadrian VI., feinen Namen nicht änderte (was den Sarpi zu feinen ge= 
wohnten Bemerfungen veranlafte), berechtigte zu den fehönften Hoffnungen, Und 
wirflich hatte er ſchon angefangen, fich mit der großen Angelegenheit der fo noth= 
wendigen Reformation zu befhäftigen, als er fhon 22 Tage nach feiner Wahl 
in Folge der Krankheit, die er fich bei den Functionen in der Char- und Ofter- 
woche zugezogen, ſtarb. Sarpi, der feinen Papft unverläumdet läßt, dichtet dem 
Marcellus ein großes Vertrauen auf die Aftrologie an, durch die er feine Er- 
bebung und ein langes Pontificat ſich prognofticirt Habe; Pallavicini hat biefe 
Lüge widerlegt, [Schrödt.] 
Marcellus, Kriegshauptmann und HI. Martyrer, wurde in der Verfolgung 
des Marimian und Discletian, nah der Meinung des Baronius und Nuinark 
etwa im J. 298, artenmäßig am 30. Detober, ein Opfer feines Befenntniffes 
Jeſu Chrifti. Als am Geburtstag des Kaifers (Marimian) in der Stadt Tingis 
in Africa (Tanger) Alles bei Gaftmählern ſchwelgte und DOpferdienft trieb, warf 
ein darüber empörter Hauptmann der Trajanifchen Legion, Marcellus mit 
Namen, feine Soldatenbinde vor den Standarten der Legion weg und forach mit 
lauter Stimme: „Jh diene Jeſu Chrifto, dem ewigen Könige.” Er warf 
auch den Weinrebenftod (Ehrenzeichen eines Hauptmanns) und die Waffen weg, 
beifügend: „Bon nun an diene ich euren Kaifern nicht mehr und verfchmähe die 
Anbetung eurer hölzernen, feinernen, tauben und ſtummen Götzen. Wenn e8 
fo mit dem Dienfte der Soldaten befhaffen ift, daß fie gezwungen 
werben, ven Ödttern und Kaiſern zu opfern, da werfe ich den Stv 
und das Eingulum weg, verlaffe die Fahnen und weigere mich, zu 
dienen,” Diefe Antwort, welche feineswegs den militärifhen Gehorfam, fon- 
dern nur den mit dem Soldatendienft verbundenen Gößendienft abwies, wieder- 
holte er vor dem Präſes der Legion, erklärend, daß er als Chriſt einen ſolchen 
Gottesdienſt nicht mitmachen Fonne, fondern nur Jeſu Chriſto dem Sohne 
Gottes des allmähtigen Vaters diene, und vor den Nichterfiufl des Au- 
relius Agricolanus, Stellvertreters des Oberſten der Leibwache, geführt, blieb 
er gleich fandhaft, Er wurde zur Hinrichtung mit dem Schwerte verurtheilt, 
Als er zum Tode ausgeführt wurde, fagte er zu Agricolanus: „Gott laſſe es dir 
wohl ergehen”; „denn, fegen die Martyreracten bei, fo geziemte es ſich für einen 
Martyrer aus der Welt zu ſcheiden, und als er das gefagt hatte, ward er ent- 
hauptet und flarb für den Namen unfers Herrn Jefu Chriſti, der glorreich ift in 


— nn 4, "4 


814 Marcellus von Ancyra und Mareellianer, 


Ewigfeit, Amen.” Das Gedächtniß diefes HL. Kaämpfers begeht bie Kirche: am 
30. October. ©, Ruinarts Acta mart. — Bei dem Verhöre des hl. Martyrers 
Marcelfus diente in feinem Amte als Militärgerichtsfchreiber ein gewiffer Caf- 
ſianus. Der geiftige Sieg des chriſtlichen Hauptmanns über den heidnifchen- 
Richter und. die Wuth diefes Richters über den fiegreichen Bekenner, und deſſe 
Berurtheilung zum Tode machte auf Caffian einen folhen Eindruck, daß er 
Schreibzeug und Schriften zur Erde warf, Deffen freute ſich Marcellus, im 
Geifte vorausfehend, daß Caſſianus bald ihm folgen werde, Und fp war es auch; 
wenige Tage nad, dem Triumphe des Marcellus wurde auch dem Eaffian die 
Martyrerfrone zu Theil, Caſſians Andenken feiert die Kirche am 3. December, 
Daß Caffian ſchon im vierten Jahrhundert fehr befannt gewefen, fieht man aus 
dem vierten Hymnus des Prudentius (de coronis), wo er, die vorzüglichften Pa— 
trone verfchiedener Kirchen aufzählend, V. 45, fingt: „Ingeret Tingis sua Cassia- 
num.“ ©, Ruinarts Act. mart. [Schroͤdl.) 
Mareellus von Ancyra und Marcellianer, Der Name des Biſchofes 
Marcelfus findet ſich ſchon im Eoneil von Ancyra (ſ. d. U), gehalten im J. 314, 
dem Marcellus in der Eigenfchaft eines Bifchofs diefer Stadt beiwohnte, Im J. 
325 war er auf dem Concil von Nicäa anwefend und widerfegte fih tapfer der. 
Härefie des Arius (ſ. d. A.), fo daß die Legaten des Papftes Sylveſter über ihn 
ein fehr vprtheilhaftes Zeugniß feines Eifers und feiner Glaubensreinheit zu Rom. 
abgaben, Später fihrieb er gegen Aſterius, den Adooraten der Arianer; es mar 
dieß feine erſte Schrift, die, obgleich lang, doch in feine Bücher eingetheilt war, 
indem fie auf diefe Weife ein Bild der Einheit Gottes fein follte, Da Marcellus 
in diefer Schrift fpwohl gegen Die Lehren wie gegen die Häupter des Arianismus 
mit großer Kraft auftrat, da er, empört über das Verfahren der arianifchen Bi- 
fchöfe, auf der Synode zu Tyrus 335 (f. den Art. Athanaſius) nicht nur ihre 
Beihlüffe nicht unterzeichnete, fondern e8 fogar für gottlos hielt, mit ihnen nach, 
Serufalem zur Einweihung der HI. Grablirche zu ziehen: fo machten fih bie 
Arianer, als fie die Verbannung des HI. Athanaſius nach Trier durchgefegt hatten, 
auch über Marcellus her, erklärten in einem Conecil zu Eonftantinopel ihn des 
Sabellianismus ſchuldig und für abgefegt, fprachen über ihn das Anathem ans 
und festen an feine Stelle einen Oefinnungsgenoffen, Bafilius mit Namen, Diefe 
Berdammung und Abfegung eines fo würdigen und angefehenen Mannes: enregte 
großes Auffehen, weil man nun immer Harer begriff, daß die Arianer es auf bie 
Entfernung aller Bifhöfe, und gerade am meiften der beften und hervorragendſten, 
abfahen, die ihrer Härefie und ihren Schandpractifen Widerftand Teifteten. Daher 
verfaßte Eufebius von Cäfaren (f. d. A.), der zweidentige und verſchmitzte Hof- 
bifchof, im Auftrag der Eufebianifchen Partei zwei Werfe gegen Marcellus („gegen 
Marcellus zwei Bücher”, und drei Bücher „von der kirchlichen Theologie”), worin 
er die Vertheidigung des Coneils von Conftantinopel übernahm und ben Mar- 
cellus aus feiner Schrift gegen Afterius des Sabellianismug zu überführen ſuchte, 
Der Borwurf des Sabellianismus wurde überhaupt den Katholiken vom dem 
Arianern fehr häufig gemarht, verfteht fih, ohne daß an der Sade etwas war, 
als zuweilen gewiffe Worte und Redensweiſen, in welche die Arianer den Sa- 
bellianismus hineinlegten. So machte es nun auch Enfebius von Cäfarea; ex 
dichtete dem Mareellus den Sabellianismus an, und wußte dieſe Anklage auf 
nichts Anderes zu begründen, als auf Verdrehungen und böswillige Deuteleien 
verfchiedener Ausprüde des Marcellus, während dieſer die Dreiperfönlichkeit 
Gottes und die Perfönlichfeit des Logos nicht bloß nicht aufhob, fondern überall 
adſtruirt, den Sabelliug ſelbſt in manchen Stelfen beftreitet und drei Hypoſtaſen 
nur im Sinne der Arianer Täugnete, nach welchen Hypoftafis gleihbebeutend mit 
Weſen war und in den drei Perfonen drei verfhiedene Wefen fein follten, Kurz, 
man warf dem Marcellus den Sabellianismus vor, weil er Katholik und nicht 


u, 2 IP. nd} 


Marcellus von. Ay ame e 815 


Arianer war, weil er Einen Gott und nicht zwei ober drei Götter: lehrte, und 
die Einwürfe des Eufebius gegen bie Lehre des Marcellus find nichts weiter, alg 
die gewöhnlichen der Arianer gegen die Fatholifche Lehre im Allgemeinen. Nur 
Eines fann dem Marcellus vorgeworfen werden, daß er fabellianifh Elingende 
Ausdrücke nicht firenge genug vermied und, während er doch die Zeugung des 
Logos allentHalben Iehrt, die Jdentität der Ausdrüde „Sohn Gottes” und „Lo- 
908" aufgab. S. Näheres über die Lehre des Marcellus in Möhlers Athanaſius 
Thl. I. Bd. IV. S. 21—36, wo Marcelfus aus feinen und feines Gegners Wor- 
ten gerechtfertigt wird. Alerander Natalis hat andererfeitd den Marcellus durch 
die Urtheile der Alten zu rechtfertigen gefucht, und hebt mit Recht die Worte des 
Athanafius in feiner Geſchichte der Arianer hervor: „Es ift Allen befannt, daß 
Marcellus zuerft die Eufebianer des Irrthums befchuldiget Hat, worauf fie eine 
Gegenklage gegen ihn vorbrachten und den alten Mann verbannten“ (f. Nat. Alex. 
hist. ecel. saec. IV.). Nah dem Zode Conftanting (+ 337) durfte auch Mar- 
cellus gleich den andern vertriebenen katholiſchen Prälaten auf feinen biſchöflichen 
Stuhl zurüdfehren, aber der Afterbifhof BafıliuS wurde zu Ancyra von dem 
Arianern eingeſetzt; diefe machten ihm viel durd ihre Lügen, Verläumdungen und. 
Gewaltthätigfeiten zu ſchaffen, und zulegt wurde er wieder von feinem Sige ver- 
trieben, Marcellus verfügte fih nun nah Rom zu Papft Julius I. (ſ. d. 4.) und 
wurde von dem Papſte, dem er ein vollfommen genügendes Glaubensbekenntniß 
überreichte, von allen arianifchen Aecufationen freigefproden. Zu gleicher Zeit, 
da der Papſt die Katholieität des Marcellus feierlich erklärte, wurde er und feine 
Anhänger „oi arro Magxelhov” von den Arianern ercommunicirt. Aber dag 
Concil zu Sardica 347 erklärte ihn, wie es vorher der Papft gethan, für un- 
fhuldig. Die Frage, ob Marcellus nicht etwa nach diefer Synode in den Sa— 
bellianismus ſich verftrikt habe, weil ja fein Diacon und Schüler Photinus 
(j.d. 4.) wirklich die Dreiperfönligfeit Gottes geläugnet und den Logos für eine 
unperfönlihe göttlihe Kraft erklärt babe, wird wohl auch mit Recht negativ 
beantwortet, wiewohl hierüber felbft bei den Katholiſchen verfchiedene Meinungen 
ſowohl noch bei Lebzeiten wie auch nah dem Tode des Marcellus herrſchten. 
Marcellus ſchrieb noch mehrere Werfe und flarb 372 in einem hohen Alter, Vgl. 
Tilfemonts Mem. £. VII. im Art, Marcel d’Ancyre. ESchrödl.] 
Marcellus von Apamea, berühmter orientaliſcher Abt im fünf- 
ten Jahrhundert, zu Apamea in Syrien von fehr angefehenen und reichen 
Eltern in Syrien geboren, ging nach dem früßzeitigen Tode feiner Eltern nad 
Antiochien, wo er fih ganz den Wiffenfhaften und der Frömmigkeit weite. Nad- 
dem er al’ fein Vermögen unter die Armen vertheilt, begab er ſich nach Epheſus, 
wohin ihn der Ruf vieler tugendhafter Männer zog, und wo er feinen Unterhalt 
durh Bücherabfchreiben fih verdiente, Zu Conftantinopel blühte damals unter 
dem Abte Alerander (f. deffen Leben bei den Bolland. 15. Jan.), dem erften 
Urheber der Acometen (ſ. d. A), i. e. jener Klöfter, in welchen die Mönche, ab- 
getheilt in Chöre, die ſich nacheinander ablösten, ohne Ausfegen Tag und Nacht 
der Pfalmodie oblagen, ein ſolches Klofter, das ungefähr von 300 Mönchen aus 
allen Zungen bewohnt war. Diefes Inſtitut entfprach ganz den Neigungen des 
Marcellus; er trat in daffelbe ein und machte fo große Fortfchritte im geiftlichen 
Leben, daß feine Wahl zum Abte nach Aleranders Tod alle Waprfcheinlichkeit für 
fih Hatte, Um nun diefer Ehre auszuweichen, verließ Marcellus Conftantinopel 
und wanderte in verfchiedenen Klöftern herum, bis Alexander geftorben (um 430) 
und ein neuer Abt, Johannes mit Namen, gewählt war, Unter Johannes 
wurde das Klofter von Conftantinopel weg, wo es verſchiedenen Anfechtungen 
ausgefegt war, in die Umgegend von Eonftantinopel transferirt. Marcellug unter- 
ftüste den Abt Johannes in feinem Amte; er wurde zum Diacon geweiht gleich- 
zeitig, da Johannes bie Priefterweihe empfing. Sp auferbaulich indeß der Wandel 


su = 2 DE a a u 
816 Marheswan — Mareion. 


des Marcellus war, fo fehlte es doch nicht an Mönchen, die ihn der Eitelkeit be— 
ſchuldigten, weßhalb Johannes ihm die Sorge für die Efel übertrug, ein Geſchaft, 
das Marcelfus im Angefichte der gefammten Congregation bereitwilligft übernahm, 
fehriftlich fi verpflichtend, er wolle für fein ganzes Leben bei dieſem Dienfte ver- 
bleiben. Sp waren feine Neiver beſchämt und baten ihn nun ſelbſt, zu feiner 
vorherigen Stelle zurüczufehren, Nach dem Tode des Johannes trat Marcelfus 
an deffen Platz. Unter dem neuen Abte vermehrte fih die Zahl feiner Mönche 
außerordentlich und wurde zu deren Aufnahme ein neues großes Klofter erbaut, 
Viele ausgezeichnete Männer gingen daraus hervor, und die Erbauer von Kirchen 
und Klöftern wendeten fih an Marcellus, um fich feine Schüler zu Vorftänden 
zu erbitten. Was dieß für ein Mann war, fieht man auch daraus: die Nacht 
und einen guten Theil des Tages verwendete er zum Gebet, die übrigen Stunden 
zu den Werfen der Nächftenliebe, die Bedrängten tröftend , die einen Schaden 
erlitten hatten, zu ihrem Recht verhelfend, die Spitäler befuchend u. |, w. Im 
dem zu Conftantinopel gegen Eutyches gehaltenen Concil unterzeichnete er die 
Berdammung diefes Häretiferd, Er farb um 485, ©, Sur. 29, Dec, und Fleury 
hist. ad a. 448. [Schrodl.)] 

Marcheswan, ſ. Monat. 

Marcion, ein Dann lebhaften Geiſtes, von großem Talente und reichem 
Wiſſen (8. Hieronymi commentar. in Oseam c. 10. v. 1), war aus Sinope in 
Pontus gebürtig ; fein Vater war im höhern Alter Bifchof geworben, Der Sohn 
widmete fih dem Stand höherer Vollkommenheit, verführte aber nach einiger 
Zeit eine gottgeweihte Jungfrau und wurde deßhalb vom eigenen Vater, der ein 
fehr frommer eifriger Mann war, aus der Kirchengemeinfchaft ausgefchloffen. 
Da ihm fein tiefgefränfter Vater auf fein Flehen die Wiederaufnahme verwei- 
gerte, begab er fih im J. 142 (ſ. d. A. Hyginus) nah Nom und fuchte dort 
Aufnahme in die Kirche. Es ward ihm bedeutet, daß diefes ohne Zuftimmung 
feines Vaters nicht angehe. Darüber zornentbrannt wendete er fich zu dem Häre- 
tifer Cerdo (ſ. d. A.), welcher eben damals in Rom eine gnoflifche Secte bildete, 
um mit diefem die Kirche, welche ihn nicht mehr in ihren Schooß aufnehmen 
wollte, zu zerreißen (S. Epiphanii haeres. 42. n. 1—3. vgl. Tillemont Mem. 
T. H. les Marcionites Art. VI— VII. p. 275—78), wozu er fich einer Weibsperfon 
coielleicht der von ihm Verführten ?) als Gehilfin bediente (S. Hieronymi ep. 133. 
n. 4). Er foll dann mehrere Reifen in verfchiedene Länder gemacht haben, Doc 
fheint er den Hauptfig feines Wirfens in Nom aufgefchlagen zu haben, wo in 
fpäterer Zeit der HI, Polyearp, der Schüler des Jüngers der Liebe, diefen Ver— 
führer und Verderber fo vieler Seelen, den „ächten Proteftanten” (nach Neander, 
Kirchgefch. I. Bd, 782), den „Erfigebornen des Satans” nannte ($. Irenaeus 
adv. haeres. lib. IM. c. 3. n. 4. Eusebii Hist. Eccles. lib. IV. ec. 14. S. Hieronym. 
de viris illustr. c. 17), Er führte das Syſtem des Cerdo weiter aus und ver- 
ſchaffte demſelben in kurzer Zeit weite Verbreitung, wie ſchon Juftin der Mar- 
tyrer um das J. 150 Fagt (S. Justini M. Apolog. I. n. 26. auch in Eusebü Hist, 
Eccles. lib. IV. c. 11). Bei der Darftellung feines Lehrfyftems ergibt ſich zuvor⸗ 
derft die Streitfrage, ob er zwei oder drei ewige Wefen angenommen babe. Der 
chriſtliche Philoſoph und Martyrer Juftin, welcher gleichzeitig mit Marcion in Nom 
lebte (CApolog. I. n. 26), der wenig jüngere Irenäus, Bifchof von Lyon (adv. 
haeres. lib. I. c. 27. n. 2—4) und deffen Zeitgenoffe Rhodon (wörtlich angeführt 
in Euseb. Histor. Eccles. lib. V. c. 13), auch Zertullian, der Hauptgegner Mar- 
eions (adv. Marcion. lib. I. c. 15), als die älteſten Zeugen, geben einftimmig 
und ausdrücklich an, daß Marcion nur zwei ewige Wefen gelehrt habe, Da- 
gegen fagen Andere, daß er drei ewige Prineipien gelehrt und fo die Dreieinig- 
feit auseinandergeriffen habe, nämlich der römifche Bifhof Dionyfius um das 
3 260 (feine Worte bei S. Alhanas, de deoret, Nicaenae Synodi n. 26), der hl. 


2 








A ir 3 Ya FRE ba FETTE ii 1 J — — hl 
Marcion. 817 


Cyrillus von Jerufalem (Catech. 16. n. 4. et 7), der HI. Epiphanius Chaeres. 42. 
n. 3) und Theodoretus Chaeret. fabul. lib. I. c. 24). Auguftin erwähnt zwar 
diefe Tegtere Anfiht, entfcheidet fich aber für die erflere (lib. de haeres. c. 22), 
Diefe drei oberften ungefchaffenen Grundwefen wären: das gute, aber unfichtbare 
höchſte Wefen, der Bater Jeſu Chrifti; das gerechte, fihtbare höchſte Wefen, der 
Gott der Juden, der Schöpfer, Gefeggeber und Richter; endlich das böfe mit der 
dazu gehörigen Materie. Die Sache ſcheint fih aber in Wahrheit fo zu verhalten, 
Mareion lehrte nur, daß neben dem oberften guten Gott („tantummodo bonus atque 
optimus“ Tertull. adv. Marcion. lib. I. c. 6) noch ein anderer gerechter Gott eriftire 
(HE00S dıapogovs, Whov Tov ayaHov zul vov @Ahov vov Öizaıov S. Cyrilli 
Hierosolym. Catech. 6.n. 16), den er auch zum Urheber des Böfen machte („malorum 
factorum, bellorum concupiscentem, et inconstantem quoque sententia et contrarium 
sibi*, „ferum, bellipotentem“ S. Irenaeus adv. haeres. lib. I. c. 27. n. 2. Tertullian. adv. 
Marcion. lib. I. c. 6). Hierin lag aber ein geheimer Widerfpruch, da gerecht und bös in 
Einem Wefen fih gegenfeitig ausfchließen ; diefen Widerfpruch ließ Marcion nicht 
auffommen, daher die Zeitgenoffen nur zwei Principien in feinem Syftem erwäh- 
nen; feine Schüler entwidelten jedoch die Confequenzen der von ihm aufgeftellten 
Grundfäge, daher einer aus ihnen, Syneros, drei Principien annahm (nach 
Rhodon in Eusebii Histor. Eccles. lib. V. c. 13); deßhalb Fonnten die fpätern 
Sthriftfteller feit dem dritten Jahrhundert dem Marcion mit einigem Necht drei 
ewige Principien als die Grundlage feines Syftemes zufchreiben, Den Haupt- 
gedanfen defjelben bildet der äußerft ſcharf ausgeprägte Gegenſatz zwifchen Ge— 
rechtigfeit und Gnade, Gefes und Evangelium, Judenthum und Ehri- 
ſtenthum, den er für einen unverföhnlichen Hielt und daher auf zwei ganz ver- 
ſchiedene Urheber zurüdführen zu müffen glaubte (Tertullian. adv. Marcion. lib. IV. 
c. 6), jedoch fo, daß die Gnade unendlich weit über die Gerechtigkeit erhaben 
fei. Daher ließ er fich befonders angelegen fein, diefen Gegenfag nachzuweiſen, 
und verfaßte zu diefem Ende ein eigenes Werf: Antitheses (Tertullian. adv. Mar- 
cion. lib. I. c. 19. lib. IV. e. 1. S. Hieronym. adv. Rufin. lib. I. c. 5), worin er 
den durchgängigen Widerfpruch zwifchen dem Gefeg und dem Evangelium offen 
darzulegen bemüht ift (f. A. Hahn Antitheses Marcionis Gnostici, liber deperditus, 
nung quoad ejus fieri pofuit restitutus. Regiomonti 1823). Diefer abfolute Gegen- 
fa nöthigte ihn und feine Anhänger zur Annahme der beiden höchften Wefen, 
die er fih nun aus den Schriften des Alten und Neuen Bundes conftruirte 
(„Separatio legis et Evangelii proprium et principale opus est Mar- 
cionis; nec poterunt negare discipuli ejus, quod in summo instrumento habent, 
quo denique initiantur et indicantur in hanc haeresin. Nam hae sunt antitheses 
Marcionis, id est contrariae oppositiones, quae conantur discordiam cum lege 
commiltere, ut ex diversitate sentenfiarum utriusque instrumenti di- 
versitatem quoque argumententur deorum“ Tertullian. adv. Marcion. lib. I. 
e. 19. vgl. lib, IV. ec. 6), Das der Grundgedanfe des ganzen Syſtems, wober 
die Bemerfung gelegentlich ihre Stelle finden mag, daß man Fatholifcher Seits 
einen burchgreifenden Unterfhied von Gefeg und Evangelium gar nicht in Ab⸗ 
rebe ftellte, diefen aber nicht in dem Grad zugab, um defhalb zwei verſchiedene 
Götter anzunehmen, wie Mareion that (f, Tertullian. adv. Mareion. lib. IV. c. 1. 
et 24). Die beiden Götter find nah Marcion zwar ewig und ungefhaffen, aber 
doch nicht gleich Hoch ſtehend; der gute, der nichts als Güte und Gnade kennt 
(„deus solius bonitatis“ eine ganz neue Erfindung des Marcion nach Tertullian. 
de praescript. haeret. c. 34), ift weit über den andern erhaben, welcher jedem 
noch Gerechtigkeit vergilt; eine Höchft gefährliche und verderbliche Unterfcheidung, 
infofern dabei die Güte und die Gerechtigkeit Gottes fo weit auseinander gehalten 
werben, daß fie in Einem Wefen gar nicht vereint gedacht werden fünnen. Jedem 
diefer beiden höchften Wefen gab er fodann eine eigene Welt; dem guten, aber 
Kirchenlexikon. 6, Br. 52 





J ee en a nn 


818 Mareion. 


unſichtbaren und unbekannten Gott eine höhere, aber völlig unſichtbare und im⸗ 
materielle, den oberfien Himmel, wo auch fein Sohn Jefus CHriftus thronte; 
dem gerechten eine tiefere, fihtbare, materielle, wozu auch der untere Himmel 
gehörte (S. Justin. Apolog. I. n. 26. Tertullian. adv. Marcion. lib. I. c. 15. lib. IV. 
e. 7). Was mit diefem einfeitig falfchen Begriff eines bloß guten Gottes fi 
nicht vereinigen ließ, ſchob Mareion Alles auf den andern, fo der Urfprung des 
Böfen, Krieg und Unfrieven in der Welt, die mannigfachen Leiden u, ſ. w, (f. oben 
Die Stellen aus Irenäus und Tertullian), Da nun in den Hl. Schriften des 
Alten Bundes fo oft von Gott die Rede war und er die vorbereitende, erziehende 
Bedeutung deffelben nicht zu begreifen vermochte, fo machte er ihn zu einem Werf 
des gerechten (böſen) Gottes, Was dort von Gott erzählt wird, hat Alfes der 
Böſe gethan. Er hat die ganze fichtbare Welt fammt dem Leib des Menfchen 
aus der böfen Materie erfhaffen, dem er dann eine Seele von feinem eigenen 
Weſen gab (Errhaoe vov Adau, x T5S oixeius oVolag dedwrng aurd mv 
uynv, Theodoret. haeret. fabul. lib. I. c. 24., wo die ganze fichtbare Schöpfung 
näher befhrieben wird) ; er hat den erſten Menfchen das Gebot gegeben, zu deffen 
Uebertretung fie der gute Gott durch die Schlange ermahnte, welche fie darum 
über den Schöpfer ſetzten (fo wenigftend war der Glaube der Marcioniten im 
fünften Jahrh., daher auch bei einigen Schlangencultus nad Theodoret 1. c., 
was jedoch vielleicht erft nach den Zeiten Marcions durch die Berührung mit den 
Ophiten bei den Mareioniten Eingang gefunden haben könnte); er hat fpäter das 
mofaifche Gefes mit feinen firengen Strafen gegeben und die Propheten gefendet. 
Endlich Hat fih der gute, bisher gänzlich unbekannte Gott der Menſchen erbarmt 
und feinen Sohn Jeſus Chriftus zu ihrer Erlöfung gefendet, welcher weit erhaben 
über den Weltfhöpfer („Cosmocrator“, wie Marcion diefen legtern nannte, S. Ire- 
naeus adv. haeres. lib. I. c. 27. n. 2) alle Werfe deffelben zerftören, insbefondere 
das Gefeß aufheben (CS. Iren. 1. c. S. Epiphan. haeres. 42. n. 4) und die bisher 
an den Schöpfer Glaubenden von der Selaverei deffelben befreien follte (Theo- 
doret. 1. c.), wozu er jedoch von der böfen Materie feinen Leib annahm, fondern 
in bloßer Scheingeftalt (f. Dofeten) unter den Menfchen wandelte (Tertullian. 
adv. Mareion. lib. V. c. 7. S. Epiphan. haeres. 42. refutat. 71. Theodoret. 1. 6.) 
Daran fhließt er in feiner alle Welt umfaffenden weichherzigen Güte die Behaup— 
tung, daß Chriftus in die Unterwelt Hinabgeftiegen fei, um den Seelen aller Hin- 
gefchiedenen zu predigen; da habe er dann Cain und die Sodomiter und die Negyp- 
tier und all’ das gottlofe Heidenvolf, das ihm gläubig zugeeilt fei, erlöfet, die 
Gerechten aber des Alten Bundes, Abel, Noe, Enoch, die Patriarchen und Pro- 
pheten müffen unten bleiben, weil fie ihm nicht getraut und gemeint haben, feine 
Predigt fei nur fo eine Verſuchung, wie fie felbe von ihrem Weltfchöpfer her ge— 
wohnt waren; übrigens erftredfe fich die ganze Erlöfung bloß auf die Seele, nit 
auf ven Leib (S. Irenaeus adv. haeres. lib. I. c. 27. n. 3. S. Epiphan. haeres. 42. 
n. 3. 4. Theodoret. 1. c.). Seine Feindfchaft gegen das moſaiſche Gefeg, wo bie 
Ehe in hohem Werth gehalten war, trieb ihn zu dem verwerflichen Extrem, daß 
er den Colibat ald allgemeine Pflicht und die Ehe für unerlaubt erklärte (S. Epi- 
phan. haer. 42. n. 3. Tertullian. de praescript. c. 33. adv. Mareion, lib. V. c. 7. 
lib. I. c. 29. lib. IV. c. 11); aus der nämlichen Urfache machte er den Samftag 
für die Seinigen zum Fafttag, weil an diefem Tag der Schöpfer geruht und das 
alte Gefeg ihn zum Feiertag erhoben habe (S. Epiphan. haer. 42. n. 3), In 
firenger Kolgerichtigfeit des Syſtems verwarf er alle Bücher des Alten Bundes 
als ein Werk des Weltfhöpfers, als den Ausdrudf feines Gefeges (Tertullian. de 
praescript. haeret. c. 38. $. Epiphan. haeres, 42. n. 4). Im Neuen Bund übte 
er eine unbarmherzige Kritik, indem er der erfle (nach Irenaeus adv. Haeres. lib. I. 
0. 27. n. 4), freventlih Hand anlegend an die hl. Schrift drei Evangelien (bes 
Matthäus, Marcus und Johannes) ganz verwarf, das des Lucas aber arg ver- 





ee — — 
Mareion. 819 


ſtümmelte, und Alles davon ausſchied, was ſeinem Syſtem widerſprach, ſo zum 
Beiſpiel alle Stellen, welche für das moſaiſche Geſetz günſtig lauteten, und die 
Genealogie, welche auf die wirkliche Menfchheit Chriſti einen Schluß begründete, 
endlich andere Stellen geradezu verfälfchte (S. Cyrill. Hierosolym. Catech. 16.n.7. 
S. Irenaeus adv. haeres. lib. I. c. 27. n. 2. Tertullian. adv. Marcion. lib. IV. c. 1, 
et:2. S. Epiphan. haeres. 42. n. 9. 10. 11. et ibid. n. 78. Theodoret l.c. Daher 
fing fein Lufas-Evangelium mit Weglaffung der erfien zwei Eapitel, der ganzen 
Gefhichte von Zacharias und Elifabeth, der Verkündung und der Geburt des 
Herrn, fowie feiner Jugendzeit, Taufe und Verſuchung einfach an: Anno 15. 
imperii Tiberii Caesaris descendit in eivitatem Galilaeae Capharnaum Luc. 3, 1. 
4, 31. (Tertullian. adv. Marcion. lib. IV. c. 7. S. Epiphan. haeres. 42. n. 11). Das 
zweite Buch des Neuen Bundes, welches er noh annahm, waren zehn Briefe 
des HI. Paulus, aber theilweife verftümmelt und verfälſcht; dieſe Sammlung Pau- 
liniſcher Briefe nannte er zO A4mosolızov (S. Irenaeus ady. haeres. lib. I. c. 27. 
n. 2. Tertullian. adv. Marcion. lib. V. ce. 1. et 21. S. Epiphan. haeres. 42. n. 9. 10. 
item p. 317. et 321. ed. Colon. Adamant. de recta in Deum fide in Origenis Opp. 
1. 823— 24). Die beibehaltenen Briefe ftellt er in folgende Ordnung: Galater, 
1. u. 2., Corinther, Römer, 1. u. 2., Theifalonicenfer, Ephefer, Eoloffer, an 
Philemon und an die Phifippenfer; auch von dem apoeryphen Brief an die Laodi- 
eenfer nahm er einige Stücke an (Epiphan. I. c.n. 9), wenn er nicht etwa den 
an die Ephefier bisweilen unter diefem Titel anführte (Tertullian. adv. Marcion, 
lib. V. e. 17. et 11. vgl. Epiphan. haeres. 42. p. 374. 375. edit. Colon.), Aus= 
drücklich bezeugt Tertullian, daß Marcion die Apoftelgefhichte und die Apocalypfe 
verworfen habe (adv. Marcion. lib. IV. c. 5. lib. V. c. 2. und Marcus der Mar- 
eionit bezeugt: Jusıs rrsov Tov Evayyehıov za Tov arrosohov ou deyousFa 
Opp. Orig. I. 828). Tertullian (adv. Marcion lib. IV. et V.) und Epiphanius 
(haeres. 42. p. 311 — 74. edit. Colon. 1682) haben uns fehr viele Stellen aus 
feinem Lucas- Evangelium und aus feinen 10 Pauliniihen Briefen aufbewahrt, 
woraus man zur Genüge erfieht, mit welcher fohranfenlofen Willfür er das Evan- 
Helium und die Briefe Pauli behandelt Habe, Auch das ift fehr intereffant ber 
Tertullian zu fehen, wie die Fatholifchen Gelehrten im zweiten Jahrh. die An— 
griffe rationaliftifcher Hyperfritif gegen die Authentie und Aechtheit der vier Evan- 
gelien und der übrigen canonifchen Bücher des Neuen Bundes abwiefen (Tertullian. 
adv. Marcion. lib, IV. c. 2—6), und wie fie das Verhältniß des Alten zum Neuen 
Bunde auffaßten (Tertullian. adv. Marcion.lib. IV. et V.). Wenn wir nun no hinzu⸗ 
fügen, daß er die fireng buchſtäbliche Schriftauslegung fefthielt Cbehauptend, u) derv 
ahheyogeivenv yoapnv nach Origen. Comment. in Matthaeum tom. 15.n. 3. Opp. ed, 
Ruaei T. Ill. p. 655), fo wird Marecions, des „ächten Proteftanten“ Verhältnig zur 
hl. Schrift nach den Angaben der Alten ziemlich vollftändig dargelegt fein, es müßte 
denn Jemand noch vermiffen, daß feine Anhänger als eifrige NReformatoren 
immerfort an ihrem Evangelium änderten („nam et quofidie reformant illud“, 
i..e. Evangelium, bezeugt von ihnen XTertullian adv. Marcion. lib. IV. c. 5), — 
Außerdem find einige Befonderheiten diefer Secte hinſichtlich der Disciplin zu 
erwähnen. Die Taufe foll er zweimal zu wiederholen geftattet Haben, um nad 
fhwerem Sündenfall die Taufunfhuld wieder zu erlangen ; fein eigener Fall foll 
ihn auf diefen Gedanfen gebracht haben (S. Epiphan. haeres. 42. n. 3. vgl, S. Cy- 
rilli Hierosolym. Procatech. n. 7); dann foll er auch Weibern zu taufen erlaubt 
Haben (S. Epiphan. l. c.n. 4). Ganz feltfam aber ift die practifche Auslegung 
der dunfeln Paulinifhen Stelle von der Taufe für die Todten (1 Corinth, 15, 
29), die man im vierten Jahrh. bei einem Theil diefer Secte fand. Starb ein 
Ratehumen vor Empfang der Taufe, fo mußte fih ein Lebender unter das Bett 
verfterfen ; dann wurde an den Verftorbenen die Frage gerichtet, ob er getauft 
zu werben begehre. Auf die Antwort: „Sch will“, die für den flummen Todten 


52% 





Bi 4 * 3— er ro u. 2.0 EEE 
9 3 * 


820 Mareion, 


der verſteckte Lebende geben mußte, wurbe diefer getauft und eine ſolche fteffser- 
tretende Taufe follte nun dem Verftorbenen zu Gute fommen (S. Chrysostomi in 
1 Corinth. Homil. 40. n. 1), Da indeffen weder Tertullian, der diefe Paulinifche 
Stelle ausdrücklich befpricht Cadv. Marcion. lib. V. c, 10), noch Epiphanius, der 
son der Taufe der Marcioniten mehreres Tadelnswerthe erwähnt, noch Theodoret, 
der diefelben recht gut Fannte, hievon eine Erwähnung macht, fo hat wohl nicht 
Mareion felbft, fondern nur eine Fraction feiner Anhänger diefen Gebrauch ein- 
geführt. Die uralt firhliche Sitte, daß die Myſterien Cinsbefondere das Hl. Opfer) 
nur in Gegenwart der Öetauften verrichtet wurden, bat Marcion, geftügt auf 
feine buchftäblihe Auslegung einer mißverftandenen Bibelftelle (Paulus an die 
Galater 6, 6. nad} S. Hieronym. Gommentar. in h. 1), aufgegeben, was ihm noch 
im vierten Jahrh. als ein freventliches Erfühnen, als eine Profanation des Hei- 
ligen angerechnet wurde (S. Epiphan. haeres. 42. n. 3. 4). Marcion hat, wie 
fhon oben aus dem gleichzeitigen Juftin bemerkt worden, gleich Anfangs viele 
Anhänger gefunden; im vierten Jahrh. war feine Secte (Marcioniten oder Mar- 
eioniften genannt) fehr zahlreich nicht bloß in Nom und Italien, fondern auch in 
Aegypten und Paläftina, in Arabien und Syrien, auf der Inſel Cypern und in der 
Thebais, ja fogar in Perfien (S. Epiphan. haeres. 42. n. 1). Daß fie fchon früßer 
in Africa ftarf verbreitet war, fieht man aus Tertullian. Aber jene Zerfplitte- 
rung, welche das gemeinfame Loos aller von der durch Chriftus gegründeten Einen 
wahren katholiſchen Kirche abfallenden Secten ift, traf auch Mareion's Anhang 
in hohem Grade, wie ſchon Rhodon um das J. 200 bezeugt (f, die Stelle bei 
Euseb. Histor. Eccles. lib. V. c. 13) und fpäter im vierten Jahrh. Epiphanius 
Chaer, 42. n. 13), im fünften Theodoretus beftätigt (Theordoret. haeret. fabul. 
lib. I. c. 24. et 25); als Urheber folder Spaltungen in diefer Secte werden ge— 
nannt Apelles (f. d. A.), Lucinianus (ſ. d. A.) oder Lucanus, Blaftus, Syneros, 
Potitus und Baſilieus, Prepon und Pithon. Die Secte der Marcioniten wurde 
fchon im zweiten Jahrh. von Juftin dem Martyrer, Rhodon, Theophilus von 
Antiochia, Philippus von Gortyna, Modeftus (Euseb. Hist. Eccles. lib. IV. c. 24. 
25) und Tertullian in eigenen Werfen befämpft, wovon nur das große Wert 
Tertullian’s (Tertulliani adv. Marcionem libri V.) ſich bis auf unfere Zeit erhalten 
hat; fpäter Hat ein fonft nicht näher befannter Adamantius die Irrtümer der 
Marcioniten in einem uns noch erhaltenen Werfe nachdrücklich befämpft (Ada- 
mantii Dialogus de recta in Deum fide contra Marcionitas in Origenis Opp. ed, 
Ruaei T. I. p. 803— 872); auferdem haben die meiften Kirchenväter und ange— 
fehenen Kirchenfchriftftelfer einzelne Behauptungen der Marcioniten an verfchiede- 
nen Stellen ihrer Werfe befämpft, fo ſchon der Hl. Jrenäus, Clemens von Ale- 
xandria, Drigenes, Hippolytus, Cyrilfus von Jerufalem, Epiphaniug Chaeres. 42), 
Chryſoſtomus, Hieronymus, Prudentius u. A. Auch die häretifchen Clementinen 
foheinen gegen Marcions Syſtem gerichtet (f. d. A. Clemens II. Bd, ©, 588). 
Schon Kaiſer Conftantin der Große erließ gegen fie Strafgefege und verbot ihnen 
jeden, fowohl öffentlichen, als Privat-Gottesdienft (Euseb. de Vita Constantini 
lib. III. o. 64. et 65), defgleichen die fpätern Kaiſer. Dennoch fand Theodoret, 
der Bifhof von Eyrus in Syrien, noch im fünften Jahrh. fo viele Anhänger 
diefer Secte in feiner Didcefe, daß er freilich nicht ohne große Mühe und Gefahr 
ihrer mehr als zehntaufend befehrte und taufte (Theodoreli epist. 145). Do 
ſcheint die Secte um diefe Zeit mehrere Tehrfäge der Manichäer (ſ. d. U.) aufge» 
nommen zu haben, wie aus der Schilderung, die Theodoret Chaeret. fabul. lib. I. 
c. 24) von ihrem Syftem gibt, ziemlich deutlich hervorgeht; die nicht zur latho— 
liſchen Kirche zurückfehrten, find wohl bald darnach in den Manichäismus auf« 
gegangen. Vgl. über Marcion und feine Secte Tillemont, M&m. T. II, L’heresie 
des Marcionites (p. 266 — 85), G. Neander, Kirchengeſch. I. Band 2. Abthl. 
©, 779 — 812 (der ihm aus parteiifcher Vorliebe fo ibealifirt, daß man ben 








F 


——— —— 93 F a > 
Marco Polo — Marcus Aurelius, 821 


geſchichtlichen Marcion oft nur mit Mühe erkennt), Matter, Geſchichte des Gno— 
ſticismus, überfegt von Dörner. Heilbronn 1833. S. 205—59, [feßler.] 
Marco Polo, ſ. Johannes de Monte Corvino. 

Marculpb, ſ. Formelbächer. 

Marcomannen, werden Chriſten. Dieſer große germaniſche Volks— 
ſtamm wohnte noch vor Chriſti Geburt zwiſchen dem Rhein und Maine bis herein 
in den nördlichen Theil des heutigen würtembergiſchen Neckarkreiſes. In Folge 
des unglücklichen Kampfes unter Arioviſt gegen Druſus wurde ihre Macht ge— 
brochen und die Gefahr, in gänzliche Abhängigkeit von den Römern zu kommen, 
lag nahe. Als deßhalb Marbod, dieſer gebildete und kräftige Germane, mehr 
ſeinem Volke als ſeinem Verſtande nach zu den Barbaren gehörend, nach ſeiner 
Entlaſſung aus römiſcher Gefangenſchaft und römiſcher Schule den Plan propo— 
nirte, die Sitze am Rheine, Maine und Neckar zu verlaſſen und ein neues Reich 
zu gründen, das von den römifchen Grenzen entfernt ihnen die Freiheit, ihm aber 
die Herrfchaft verſpräche; da gingen die Marcomannen gerne auf diefen Vorſchlag 
ein, braden um bie Zeit der Geburt Chrifti auf, und Marbod führte fie in's 
heutige Böhmen, damals von den Bojen bewohnt und erfämpfte fich dieſes von 
hohen Gebirgen umfchloffene Biere, dem aber von feinen alten Bewohnern der 


- Rame Bohemien blieb. Hier verbielten fie ſich längere Zeit ruhig, dann aber 


verfuchten fie zu wiederholten Malen das Kriegsglüdf gegen die Römer, wobei 
fie aber öfters, wie unter Nerva, Trajan, Marcus Aurelius (ſ. d. A.) ſchwere 
Niederlagen erlitten, bis fie im fünften Jahrhundert aus der Gefhichte verfhwin- 
den, theils in Folge der Hunnenzüge (f.d. W., teils in Folge ihrer Vermifhung 
mit "andern Stämmen, namentlich den Gothen 1.» A). Wann die Marco⸗ 
mannen mit dem Chriftentfume befannt wurden, ift nicht genau befannt. Wahr- 
ſcheinlich erhielten fie fchon frühe durch die Römer, mit denen fie in häufige Be— 
rührung famen, durch Kriegsgefangene zc. einige Kunde davon. Nah Paulinus 
(in vita Ambros. c. 36), wovon freilich gleichzeitige Schriftfteller nichts melden, 
wäre die Chriftianifirung der Marcomannen alfo vor fi) gegangen. Ihre Köni- 
gin Fritigil oder Fridigil (f. Bayern Bd. L ©. 700. und Böhmen Bd. I. 
©. 62) fei dur einen Chriften, der aus Stalien zu ihr gefommen, für die hrift- 
liche Religion fehr günftig geftimmt worden, habe deßhalb Gefchenfe an die Kirche 
zu Mailand geſchickt mit der Bitte, der berühmte Bischof Ambrofius möchte ihr 
ſchriftlichen Unterricht in der Hriftlichen Religion zu Theil werden laffen, Am- 
brofius babe ihr fofort eine Art Katechismus zugeſchickt, und bald wäre dann 
nicht bloß fie, fondern auch ihr Gemapl und die Unterthanen, alfo gegen Ende 
des vierten Jahrh., in die chriftlihe Kirche eingetreten. Vgl. Schröckh, chriſtl. 
Kirhengefh. 7. Thl. Hefele, Gefhichte der Einführung des Chriftenthums im 
füdweftlihen Teutſchland. Tacitus annal, Dio Cassius hist. Rom. L. 54. [Frig.] 
Marcus, Evangelift, ſ. Evangelien. 
. Marcus Aurelius, römifher Kaifer. Er war ein Sprößling einer 
aus Spanien nad der Hauptfladt des römischen Neiches eingewanderten Familie 
und wurde zu Nom geboren den 26. Mai 121 n. Chr, Anfänglich hieß er Anniug 
Berus nah dem Namen feines Grofvaters, welcher ihn nach dem frühen Tode 
des Baters in fein Haus aufnahm und adoptirte, Der Großvater, auf's Eifrigfte 
für den Enfel beforgt, übergab ihn zu Unterricht und Erziehung den angefehenften 
Gelehrten jener Zeit. Unter ihrer Leitung machte daher der Knabe ſchon frühe 
ungemeine Fortfhritte in dem Studium der griechifchen und Lateinifchen Literatur, 
der Mufit, Geometrie, Rechtskunde, griechiſcher und römiſcher Beredtſamkeit. 
Nachdem fo der Örund zu einer foliden Bildung gelegt war, Fam die Reihe an 
das Studium der Philoſophie. Daf der Jüngling in diefem Zweige des Wiſſens 
zu dem Syſteme der Stoifer ſchwur, hatte feinen Grund einestheils darin, daß 
diefelben um jene Zeit allein unter allen philoſophiſchen Schulen yon einiger Be— 


822 Marcus Aurelins, 


deutung waren, während andererfeitd der Geift ver Stoa mit dem ernflen und 
gemeffenen Wefen des jungen Mannes fo innig harmonirte, Durch alle das z0g 
er frühe die Aufmerffamfeit Hadrians fo fehr auf fih, daß jener Kaifer im Ge- 
fühle der mehr und mehr hinfchwindenden Kräfte feines Lebens nach der einen 
Meberlieferung den Antoninus Pius unter der Bedingung adoptirte, daß diefer 
den Marcus Aurelius, diefer den L. Verus adoptirte, während eine andere Nach- 
richt die beiden Leptgenannten dur Antoninus Pius an Kindesftatt annehmen 
läßt. Nach feiner im 18, Lebensjahre erfolgten Adoption nahm Marens den 
Namen Aurelius Antonius an, und erhielt fogleich die Duäftur, Als Antoninus 
Pins nach Hadrians Tod den römifchen Kaiferthron beftiegen, Töfete er das von 
feinem Adoptivfohn früher gefchloffene Eheverfprechen wieder auf, gab ihm die 


eigene Tochter, die des Marcus in aller Beziehung unmwürdige Fauflina zur - 


Gattin, und verlieh dem Marcus Aurelius nebft der Beförderung zum Confulate 
den Titel eines Cäſars. Zweiundgwanzig Jahre lebte nun derfelbe in dem Haufe 
des Kaifers, welcher ihn ungemein hochſchätzte und auch zu Negierungsangelegen- 
heiten beizog. Und Marcus Aurelius war folher Auszeichnungen in vollem Maße 
werth. Er gab feinem Adoptiovater fo augenfällige Beweife von Thätigfeit, Liebe 
und Treue, daß das Band ihrer Herzen ein immer engeres, die erfreulichfte Ein- 
tracht derſelben bis zum Tode von Antoninus Pins auch nicht einen Augenblick 
getrübt wurde, Nach dem Tode des Antoninus Pius beftieg Marcus Aurelius 
den Thron der Cäfaren und nahm fogleich theils wegen der Schwärhe feiner Ge— 


fundheit theils aus Vorliebe für wiffenfhaftlihe Studien den Lucius Verus zum 2 






DW Vo 


— 


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Mitregenten an, Indeß follte Marcus Aurelius alsbald die ganze Schwere der 


Pflichten fühlen, welche ihm die Faiferliche Würde auferlegte. Gegen das Ende 
des erften Jahres feiner Regierung wurde das römische Neih von allerlei Land- 
plagen heimgefuht. Eine fürcterliche Ueberfhwemmung der Tiber befhädigte 
zu Nom eine Menge von Gebäuden, führte den Verluft vieler Hausthiere und 
eine ſchreckliche Hungersnoth herbei. Auf die Ueberſchwemmung folgten aufer 
einem heftigen Erdbeben Feuersbrünfte in vielen Städten und Verheerungen durch 
Inſectenfraß. Endlich brachen auch noch von allen Seiten her Kriege aus. Die 
Parther machten einen Einfall in Armenien, drangen von da nah Syrien vor 
und fchlugen den dort commandirenden römischen Statthalter in die Flucht. Ein 
Krieg drohte ferner von den Dritten und die Chatten (ſ. d. A.) fuchten das längs 
dem Rheine fich hinſtreckende römische Germanien mit Feuer und Schwert zu ver- 
beeren, Der Kaifer traf fofort die nothwendigen Veranftaltungen, allen diefen 
Feinden mit Nachdrud zu begegnen, In den Drient fendete er gegen die Parther 
feinen DMitregenten L. Verus. Diefer indeß, das reine Widerfpiel von Marcus 
Aurelius und nun zum erfien Male dem wachfamen Auge deffelben entrückt, 
wälzte fih namentlich zu Antiochia im Schlamme der niedrigften Ausfchweifungen, 
während feine Unterfeloherren den parthifchen Krieg führten und fiegreich been- 
digten, Jetzt kehrte Verus nach Nom zurüc und feierte einen glänzenden Triumph, 
War aber nunmehr der Orient nach fo gefährlichen Kriegsftürmen wieder zur Ruhe 
gefommen, fo wurde die Freude darüber alsbald dur den fatalen Umſtand ge» 
ftört, daß die aus dem Parthifchen Kriege heimfehrenden Legionen Noms die orien- 
talifhe Peft mitbrachten, die fich nun über das ganze Abendland verbreitete und 
ungeheure Verwüftungen anrichtete, Und diefe furchtbare Plage blieb nicht einmal 
die einzige Plage des Neiches, denn im J. 169 entbrannte auch noch der Krieg 
mit den Marcomannen (ſ. d. A.). Diefe brahen im Verein mit vielen andern 
teutfchen und flavifchen Stämmen in Rhätien ein und rücten bis Aquileja vor, 
Der gegen fie geführte Krieg, von deffen Einzelheiten wir feine nähere Runde 
befigen, befchäftigte den Kaiſer faft fein ganzes Leben hindurch. In Geſellſchaft 
des Mitregenten eilte Marcus Aurelius felbft auf den Schauplag deffelben, brachte 
drei Jahre zu Carnuntum in Pannonien zu, brachte den Barbaren vielfache Nie- 





re este 





| 


* 
—— 


* Marens Aurelius, 823 
derlagen bei und traf alle Anftalten, bie Grenzprovinzen und Italien wider bie 
Barbaren fiher zu ſtellen. Nach dem Tode des Berus 170 oder 171 kehrte der 
Kaifer nah Nom zurüf und feierte einen Triumph. Doc der entweder durch 
Frieden oder durch Waffenftiliftand unterbrochene Krieg entbrannte vor Fahresfrift 
zum zweiten Male. Da der erfte Krieg die Schagfammer erfchöpft und im Ver— 


eine mit der Peft die Reihen der Heere gelichtet Hatte, fo veranftaltete Marcus 


Aurelius in diefer äußerſten Noth, um die Provinzen zu fhonen, eine zweimonat- 
liche Verfteigerung des koſtbaren Faiferlihen Hausgeräthes und ergänzte durch 
Sclaven, Gladiatoren, dalmatinifche und dardaniſche Räuber und germanifche 
Hilfstrupven feine Armeen, Diefe außerordentlichen Anftrengungen krönte auch 
diegmal wieder das Kriegsglüf, fo daß Marcus Aurelius Marcomannien viel- 
leicht zu einer römifchen Provinz gemacht hätte, wenn fein Siegeslauf nicht durch 
den Aufftand des Avidius Caſſius unterbrochen worden wäre. Auf die Nachricht 
über die genannte Empörung eilte Marcus Aurelius perfönlich in den Orient, 
wo inzwifchen der aufrührerifhe Statthalter durch Meuhelmord gefallen war, 
Marcus Aurelius blieb nichtsveftoweniger drei Jahre im Morgenlande, deſſen 
Angelegenheiten er theils fchlichtete, theils befeftigte und den Provinzen ſich gnädig 
bewies. Inzwiſchen hatten die Marcomannen und ihre Verbündeten abermals 
losgefchlagen, Genöthigt zum dritten Male wider fie auszuziehen, focht Marcus 
Aurelius mit dem alten Glücke. Doc ehe er den Krieg zu beendigen vermochte, 
erreichte er im J. 180 m. Ehr. zu Syrmium oder nach einer andern Nachricht 
zu Bindobona das Ziel feiner Tage nach einer Regierung von neunzehn Jahren, 
Das Reich betrauerte tief und fohmerzlich den Hingang des Kaiſers, deffen Bild 
uns in der That wie eine Erfcheinung aus den beften Zeiten des römifchen Volkes 
anmuthet, Im glänzendften Lichte hatte Marcus Aurelius feine Liebe für Wahr- 
heit und Gerechtigkeit, feine Würde und Milde, feine Strenge gegen fich felbft, 
feine treue Sorge für Juftiz und Verwaltung, fein faft republicanifches Beneh— 
men gegenüber dem Senate, endlich feine militärifche Tüchtigfeit Teuchten laſſen. 
Der allgemeinen Verehrung dieſes Kaifers ift es daher auch nach einer feinen 
Demerfung Niebuhrs ohne Zweifel zuzufchreiben, daß wir von ihm noch unzäh- 
lige Büften befigen, in welchen er in den verfchiedenen Perioden feines Lebens 
als Knabe von zehn Jahren bis zu feinem Tode dargeftellt iſt. So fehr wünſchte 
jeder Römer jener Zeit fein Portrait zu befigen, Bewundernswerth ift auch 
dieß, daß der Kaiſer unter den taufendfältigen Mühen und Sorgen feiner Negie- 
rung noch Zeit zu fohriftftellerifcher Thätigfeit finden konnte. Wir beſitzen von 
ihm noch 12 Bücher Denfwürdigfeiten an fich ſelbſt (ra eis Eavrov) d. h. eine 
Reihe moralifher Betrachtungen, aus denen eine fo edle Gefinnung, ein fo ächt 
humaner Geift fpriht, daß Niemand jenes Buch Iefen kann, ohne von Liebe und 
Bewunderung gegen feinen Faiferlichen Verfaffer erfüllt zu werden. Wollen wir 
indeß der hiftorifhen Gewiffenhaftigfeit nichts vergeben, fo dürfen wir nicht un= 
erwähnt Iaffen, daB auch Marc Aurels Perfönlichkeit Feineswegs als eine ganz 
reine und fledenlofe zu betrachten iſt. Nicht mit Unrecht bat man ibm Schwäche 
und Nachgiebigfeit gegen feine unwürdige Gemahlin Fauſtina vorgeworfen, Das 
gleiche Urtheil gilt der Thatſache, daß er feinen Sohn Commodus zum Nachfolger 
auf dem Ffaiferlihen Throne beftimmte, Unmöglich konnten ja feine ſchlimmen 
Eigenfhaften der Aufmerkfamfeit des Vaters entgehen, und es wäre von Seite 
des Letzteren eben fo Teicht als pflichtmäßig gewefen, dem römischen Reiche einen 
tüchtigen und hoffnungsreichern Herrfher zu geben. Was uns aber noch befremd⸗ 
licher erfheinen muß , befteht darin, daß auch diefer fonft fo gerechte und milde 
Kaifer zum Berfolger der Ehriften geworden iſt. Unterfuchen wir daher, 
welhe Momente retten um denfelben zu diefen blutigen Mafregeln 
zu veranlaffen, Wir haben oben der verfihiedenen Landplagen erwähnt, welche 
bald nah dem Regierungsantritt Mare Aurels über die römiſche Welt mit fo 





821 Marcus Aurelius, - 


zerftörender Gewalt hereinbrachen. In diefen Landplagen erblickte das römifche 
Volk Strafen der Götter hauptſächlich deßwegen verhängt, weil von fo vielen 
Angehörigen der Cult der Nationalgötter aufgegeben und eine neue Religion an- 
genommen worden fei. Mußte fchon dadurch wie unter Antoninus Pius der Haß 
des heidnifchen Volkes gegen die Chriften von Neuem mächtig fi entzünden , fo 


werben auch die Priefter, deren Tempel zu veröden drohten, ohne Zweifel diefe 


Stimmung der Gemüther benügt haben, um Del in das auflodernde Feuer der 
Volkswuth zu ſchütten. Mit nicht weniger neidifhen Augen und baßerfüllten 
Herzen wurden die Ehriften auch von der Zunft der Philofophen angefehen, Das 
Leben der chriſtlichen Gemeinden war ſchon an und für fich allein der augenfälligfte 
Tadel des ausfchweifenden Lebens derjenigen, welche vorgaben, die Borfhriften 
der ſtrengſten Moral zu befolgen, während fie zum größern Theil in ihrem Thun 
und Laffen das ©egentheil bewiefen. Auch darf man nicht vergeffen, daß die 
Borfämpfer des Chriſtenthums den heidniſchen Philofophen oft hart zur Leibe 
gingen, Sie begnügten fih oft nicht, in ihren Vertheidigungsfihriften die dem 
Chriften gemachten Borwürfe in ihrer Nichtigkeit aufzuzeigen, fondern fie deeften 
auch, die Dffenfive ergreifend, das ſchale und eitle Wefen ihrer philoſophiſchen 
Gegner mit fhonungslofer Wahrheit auf (ſ. JZuftin, und Athenagoras). Man 
müßte fih daher wundern, wenn biefe Leute nicht alle Hebel angefegt hätten, 
um bie Chriften zu verderben, Inder That fteht von Dem Eynifer Erescenz (f.d. X.) 
fiber, daß er öffentlich alle Chriften durch falfche Anflagen der Verachtung, dem 
Haß und der Verfolgung preiszugeben bemüht war, Wodurch fanden aber die 
Gegner des Chriſtenthums Eingang in das Herz eines fonft fo gerechten und feldft 
bei perfönlichen Beleidigungen milden und verföhnlichen Herrfhers ? Man wußte 
dem Kaifer offenbar von zwei Seiten beizufommen. Marc Aurel war ein Mann, 
deffen bis zur Superftition heidnifh=religiöfer Sinn dem Culte der Götter von 
Jugend an eifrig und aufrichtig ergeben war und namentlich beim Beginne wich- 
tiger Kriegsunternehmungen nie-unterließ, durch die reihlichften Opfer fih ihrer 
Gnade zu verfehen, Wie leicht war e8 möglich, daß die Stimmen des Volkes, 
die Einflüfterungen der Philofophen eben deßwegen in feiner Seele Anklang und 
Wiederhall fanden, daß er glaubte, die Götter würden ihm Ruhm und Sieg 
über die Feinde des Neiches nur dann gewähren, wenn er ald Vertheidiger der 
hergebrachten Staatsreligion gegen die Chriften einfohreite? Betrachten wir aber 
Mare Aurel als Philoſophen, jo konnte er in der falten und nüchternen Denf- 
weife der Stoa das Wefen der Chriften eben fo wenig begreifen; er mußte fie 
sielmehr für blinde, gefegwidrige und gefährliche Schwärmer halten, wie er dieß 
in feinen Denfwürdigfeiten felbft ausgefprochen hat. Endlich Fonnte es dem Kaifer 
auch unmöglich verborgen bleiben, welche großen Fortfchritte das Chriftenthum 
in den legten Zeiten gemacht hatte, um dem Heidenthume und damit der ganzen 
römischen Staatsform gefährlich zu werden. Nimmt man alle diefe Momente zu— 
fanmen, fo wird es vollfommen begreiflich, wie auch Marc Aurel zu dem Ent- 
Schluß gebracht werden Fonnte, der. weitern Verbreitung des Chriftenthums mit 
allem Nachdruck entgegenzutreten, Es erhebt fih nun zunächft die Frage, ob der 
Kaifer direste Berfolgungsbefehle wider die Chriften habe ausgeben laſſen oder 
nicht? Nach Tertullian wäre diefe Frage zu verneinen, nach Melito von Sardes 
muß fie bejaht werden; offenbar müffen wir dem letztern als dem altern mit Mare 
Aurel gleichzeitigen Gewaͤhrsmanne folgen. Der Schauplag der erſten Chriften- 
verfolgung unter Marc Aurel, von der wir ausführlicher unterrichtet find, traf 
bie Gemeinde von Smyrna, 167 n. Chr, Der römifhe Proconful gab dort der 
Wuth des jüdischen und heidnifchen Pöbels nach, ließ die Chriften aufſuchen und 
bemühte ſich, fie durch die fchredlichften Drohungen und durch Anwendung ber 
gräßlichften Martern zum Abfalle zu bewegen. Umfonft! Er vermochte ihre 
Standhaftigfeit nicht zu erſchüttern. In dieſer Verfolgung errang unter, andern 





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2 Mareus, Papſt. 825 
auch der greife Polycarp (ſ. d. A.), Biſchof von Smyrna und letzter Jünger des 
Hl. Johannes, die Palme des Martyriums. Von der Polizei aufgeſucht und er- 
griffen, befannte er vor dem römischen Proconful frei und offen feinen Glauben 
und weigerte fih aufs Beftimmtefte, feinem Herrn und Heiland zu fluchen, 
Darauf wurde er zum Scheiterhaufen verurtheilt und hauchte unter dem Lob und 
Preife Gottes feine Seele aus. Und wie die Standhaftigfeit feines Glaubens 
den Ölaubenseifer feiner Gemeinde ftärfte, fo gereichte ihr fein Tod auch zu leib— 
licher Erquickung. Denn nachdem die Volkswuth mit diefem Dpfer der Chriften- 
gemeinde zu Smyrna das Haupt entriffen hatte, fühlte ſie ſich allmählig ab, der 
zömifhe Proconful ftellte die Nachfuhungen nach den Chriften ein. Daß unter 
einem, ſolchen Marimen huldigenden Kaifer die CHriften zu Rom nicht unangefodh- 
ten bleiben fonnten, wäre wohl an und für fih Far, auch wenn wir von hiſto— 
rifhen Zeugniffen darüber verlaffen wären. Aber eben um der Graufamfeiten, 
durch welche fo viel Chriſtenblut floß, Einhalt zu thun, ſchrieb Juſtin der Mar- 
tyrer und Philofoph feine zweite Apologie, in Folge deren er felbft den blutigen 
Tod der Bekenner Chriſti ftarb (ſ. Juſt in). Einige Jahre nachher (174) ge— 
rieth Mare Aurel im Marcomannenfriege in die äußerſte Bedrängniß; fein Heer 
wurde von der glühenden Sonne und brennenden Durfte gequält, während ein 
Meberfall der Feinde drohte. In diefer Noth nun fol nach Euſebius V. 5 eine 
römische ganz aus Chriften beftehende Legion auf die Kniee gefallen fein und fi 
am Hilfe und Rettung an ihren Gott gewendet haben. Als ihr Gebet Erbörung 
gefunden, habe Mare Aurel diefer Legion den Namen fulminatrix gegeben und 
eine den Chriften fo günflige Öefinnung angenommen, daß er die Chriftenver- 
folgungen einzuftellen befahl (f. d. Art, Legio fulminatrix), Allein diefer 
Erzählung fann in der die nunmehrige Duldung der Chriften betreffenden Haupt- 
| ſache feine Hiftorifche Wahrheit beigemeffen werden. Denn drei Jahre fpäter brach 
ja noch unter feiner Regierung die biutige Verfolgung der Chriften in Gallien, 
| insbefondere zu Lyon und Vienne aus. Die Wuth des heidniſchen Volkes war 
diefelbe wie zu Smyrna und die Obrigfeiten fcheinen Chorus mit derfelben ge— 
macht zu haben. Diefe Berfolgung war darum eine äußerſt harte und blutige, 
Indeß wie Polycarp zu Smyrna, fo leuchtete Pothinus, der neunzigjährige 
Biſchof von Lyon (ſ. d. A. Lyon), feiner Gemeinde durch unbefiegbare Stand- 
baftigfeit vor. Nach groben Mißhandlungen farb er mit vielen Andern im Kerfer, 
Andere wurden enthauptet oder den wilden Thieren vorgeworfen, die Leichname 
verflünmelt, verbrannt und in die Rhone geworfen. Endlich mit dem Austoben 
der Volkswuth erreichte die Chriftenverfolgung auch hier allmählig ihr Ende. 
Sonft fennen wir Feine römifchen Provinzen, in denen unter Marc Aurel Chriften- 
verfolgungen vorgefallen wären, ſei es daß darüber feine Nachrichten aufdie Nachwelt 
gefommen find, oder daß fih die Ehriftenverfolgungen nur auf die genannten Pro— 
vinzen erftrecft haben, Vgl, hiezu d. Art, Chriftenverfolgungen. [Allgayer.] 
Marcus, Papft. Er war ein Römer, und beftieg nah Sylvefter I. den 
päpftlihen Stuhl den 14. Februar 336, den er aber nur 3 Monate, nicht, wie 
Platina, Anaftafins u, A. melden, 2 Jahre, 3 Monate und 20 Tage inne hatte, 
Ein Brief, den er an Athanafius und die ägyptiſchen Bifchöfe gefhrieben haben 
ſoll, iſt offenbar unächt. Er foll nämlich eine Antwort auf ein Schreiben eben 
diefer fein, worin fie fih über die erlittenen Mißhandlungen von Seite der Arianer, 
namentlich darüber beffagten, daß ihre nicänifhen Canones und alle übrigen 
» Bücher von denfelben verbrannt worden feien, und deßhalb von der römischen 
Kirche fih ein Exemplar fraglicher Canones erbaten. Sowohl in diefem Schreiben 
als in der angeblihen Antwort des Marcus wird ganz feft behauptet, die nicä- 
nifhe Synode habe nach der Anzahl der Jünger des Herrn 70 Canones aufge- 
ſtellt. Wenn beide Schreiben ächt wären, dann hätte nimmermehr zwifchen der 
africaniſchen Kirche und den Päpften Zofimus und Bonifacius ein fo heftiger 






826 Marcus Eugenicug, 


Streit über die Anzahl genannter Canones entflehen fönnen, Dann begreift fich 
nicht, wie Athanafius von Alerandrien aus habe an Marcus fhreiben fünnen zu 
einer Zeit, wo er ſich als Erilirter in Gallien aufbieltz auch ift befannt, daß die 
Arianer erft fpäter, unter Conftantius, fich fo arge Gewaltthätigfeiten in Aegyp⸗ 
ten erlaubten; und Marcus felbft müßte feinen Brief einige Tage fpäter ge— 
fhrieben haben, als er, wie Hieronymus ganz beftimmt verfichert, nicht mehr 
unter den Lebenden war, Marcus verordnete, daß unter der Meffe das nicänifche 
Glaubensbekenntniß gebetet werden folfe, weßhalb es auch in dem berühmten 
Werke des Jo. Palatio: Gesta pontificum Romanorum a sancto Petro usque ad 
Innocentium IX., vier Quartbände mit den Bildniffen der Papfte, Ausgabe von 
Venedig 1687 heißt: Ut Marcum a Marco non dignosceres, Nisi Pontifex praece- 
deret Evangelistae. Quod hunc pingant sine Evangelio, Ex eo est, quod corde, 
non manu, servat. Vel fidem fecerit compendiorem. Ut quid credas, habeas vel 
post Evangelium Quod brevi conclusit Symbolo. Er baute auch zwei Baſiliken, 
die eine am Wege Ardeatina und die andere am Palatinus, Bei Platina ift genau 
verzeichnet, womit Conftantin d, Gr, beide verziert und botirt hat. Die Beftim- 
mung, daß der Bifchof von Dftia den Papft zu confeeriren habe und das Pallium 
tragen dürfe, foll von ihm herrühren, allein factifch wurde es ſchon früher fo ge- 
halten, Sein Leichnam wurde auf dem Kirchhof des Balbinus an der Straße 
Arden beerdigt, fpäter in die Kirche des hf, Marcus, deren Stifter eben er nach 
einer alten Tradition gewefen, transferirt, Bgl, Eugene de la Gournerie, 
das chriftl, Nom, Baronii annal, eccles. Historia Platinae de vit. roman. Pontif, 
Anastasii Bibliothec. hist, de vit. pontifie. Fritz.] 
Mareus Eugenicus, Metropolit von Epheſus, bat unter den Griechen 
den unfeligen Ruhm erlangt, die auf dem Eoneil von Ferrara und Florenz nach 
großen Mühen errungene und ausgefprochene Vereinigung mit den Lateinern 
wieder vernichtet zu haben. Der griechifche Raifer Johann VI, Paläologus 
d. j., welchem in Folge der unaufhaltfamen Fortfchritte der Türfen unter Sultan 
Murad I. von den weitgedehnten Ländern der Ahnen faft nichts mehr übrig ge— 
blieben war als das hart bedrängte Conftantinopel, dachte nun ernftlih daran, 
durch Vereinigung der griechifchen Kirche mit der römifchen die Hilfe der abend- 
ländifchen Fürften zu gewinnen, nachdem 1430 auch Theffalonich, die letzte Stüge 
feiner bedrohten Hauptftadt, gefallen war. Noch in demfelben Jahre ſchickte er, 
um die Verhandlungen möglichft fchnell zu beginnen, eine Gefandtfhaft an den 
Papft Martin V., und nachdem diefer im folgenden Jahre geftorben war, auch 
an deffen Nachfolger Eugen IV. mit der Verficherung, daß er die Union fehn- 
lichſt wünſche und nach Kräften zur Vollbringung derfelben mitwirken werde, 
Eugen erfaßte den von den Griechen felbft gemachten Antrag mit großer Freude; 
aber durch die leidige Zänferei der Basler Synode wurde die Angelegenheit auf 
mehrere Jahre verfihoben, bis der Papft, da er alle gütlihen Verfuche an den 
Baslern vereitelt fah, am 18, Sept. 1437 mit feierliher Bulle die Verlegung 
des Concils nah Ferrara ausfprah, und im einer andern ben 8. Januar 
1438 als Eröffnungstag der neuen Synode beftimmte (Harduin. coll, ooncil. IX. 
698— 708). An diefem Tage eröffnete dem Befehle des Papfted gemäß nun 
auch wirklich der Cardinal Nicolaus Albergati die Synode in der uptfirche 
von Ferrara. Mehrere vorbereitende Verſammlungen und zwei feierliche Sigungen 
wurben gehalten, bis endlich die Griechen in Ferrara anlangten. Zahlreich waren 
diefe erfehienen, der Kaiſer ſelbſt mit feinem Bruder Demetrius, der Patriarch 
von Conftantinopel, die Bevollmächtigten der andern Patriarchen des Orients, 
viele Bifhöfe, Priefter, Beamtete und Große des Neihes — zufammen an 700 
Perfonen. Darunter befand fih auh Marcus Eugenicus, welcher gerade vor 
der Abreife nach dem Tode des Metropoliten Joaſaph den Stuhl der Kirche 
von Ephefus beftiegen hatte, und auf der Synode mit dem ruſſiſchen Metropoliten 


Marcus Eugenicus, 827 


Iſidor den Patriarchen von Antivchien vertreten ſollte. Am 9, April 1438 
wurde die erſte Sigung, oder vielmehr die Eröffnungsfeierlichkeit der Unions— 
fonode in der Cathedrale von Ferrara abgehalten. Als nach Tanger Zögerung 
die Griechen ſich endlich Herbeigelaffen, in gemeinſchaftlichen VBerfammlungen die 
ftreitigen Lehrpuncte zu befprechen, und zu dieſem Endzwede von den Lateinern 
und Griechen je ein Ausſchuß von zehn Perfonen fowohl zur vorläufigen Unter- 
fuhung der abweichenden Lehren, als auch zur Auffindung vermittelnder Vor— 
fchläge gewählt worden war, traf es den Marcus Eugenicus und Beffarion 
mit den Bifchöfen von Monembafia, Lacedämon und Anchialus, dem Großcharto— 
phylax Balfamon, dem Großecclefiarhen Syropulus, nebft zwei Aebten und 
einem Mönche, die Sache der Griechen zu vertreten, dergeftalt, daß Marcus und 
Deffarion die Sprecher fein, die andern aber mit Rath ihnen beiftehen follten, 
Die Conferenzen wurden vom Cardinal Julian Cäfarini, dem Haupte des 
von den Lateinern gewählten Ausfhuffes, mit einer glänzenden Rede eröffnet, 
worin er die Union mit warmem Herzen empfahl und zur Beförderung derfelben 
mahnte, Marcus Eugenicus antwortete Falt und ſalbungslos; man erfannte leicht, 
daß es ihm um eine Vereinbarung nicht zu thun fei. Selbft die Griechen waren 
mit ihm unzufrieden und verlangten, daß er dem Beffarion für den weitern Ver— 
lauf diefer Unterredung das Wort überlaffe. Monate lang hatte man bereits in 
den Conferenzen verhandelt, ohne dem Ziele auch nur nahe gerücdt zu feinz die 
Sache hielt fih beftändig in der Schwebe, weil der Kaiſer jede tiefer eingreifende 
Beſprechung vermieden wiffen wollte und die Griechen jede beftimmte Erflärung 
ablebnten; man fchügte auch vor, die Ankunft der Basler abwarten zu wollen, 
Marens Eugenicus und mit ifm viele Griechen, meiftens folche, welche der Union 
abhold waren, benüsten diefen Umftand, heimlich aus Ferrara zu entfliehen, Aber 
der Raifer ließ fie durch nachgefandte Boten zurücrufen. Endlich drang der raft- 
108 thätige Eugen mit feinen Borftellungen beim Kaifer durch , die Verhandlungen 
wurden im Detober wieder aufgenommen, follten aber nicht in Conferenzen, fon- 
dern in förmlichen Synodalfigungen geführt und zur Entfiheidung gebracht werden, 
Die Griechen wählten aus ihrer Mitte ſechs Männer, welche mit den Lateinern 
disputiren follten, darunter befand fih wieder Marcus Eugenicus, und zwar 
auch dießmal ald Redner, ihm zur Seite fland wie früher Beffarion, Sofort 
begann am 8. Det, 1438 die zweite, oder wenn man die Eröffnungsfeierlichkeit 
am 9, April nicht als eigentlihe Sigung betrachten will, die erfte Sigung, 
welcher in Ferrara fünfzehn, und neun andere in Florenz folgten, Bei allen 
Sigungen war Marcus Eugenicus anwefend und fand Gelegenheit genug, feinen 
Groll und feine Feindfhaft gegen die Lateiner ohne Schen und Rüdhalt ſpielen 
zu laffen, Als Redner verfocht er die Sache der Griechen gegen Andreas, Bi- 
fhof von Rhodus, gegen den Cardinal Julian Cäfarini und den Dominicaner- 
Provineial Johannes a Raguſio, oder vielmehr er firäubte fich gegen jede 
Vereinbarung mit einer Hartnädigfeit und Leivenfchaft, daß der Kaiſer, um die 
von ihm erwünfchte Union möglich zu machen, ſich genöthigt fand, demfelben die 
Anwejenheit bei der vorlegten Sigung, wo die Disputationen in Betreff des 
wichtigften Differenzpunetes, nämlich über den Ausgang des HI. Geifles vom 
Bater und Sohn und den Zufag filioque gefchloffen werden follten, glattweg zu 
verbieten (Harduin. IX. coll. 307). Als nah Beendigung der Testen Synodal- 
figung (24. März 1439) die Griechen unter einander noch öftere Conferenzen 
hielten, um ſich endlich beftimmt für oder gegen die Lateiner zu entfcheiden, fo 
war ed wieder Marcus Eugenicus, welder aus vollen Kräften der Vereinbarung 
entgegentrat und in feiner Teidenfchaftlichen Heftigkeit nicht nur die Lateiner Reber 
fhalt, fondern auch dem edlen Beffarion, welcher unter den Griechen am meiften 
die Union empfahl, feine uneheliche Geburt vorwarf. Am 2. Juni 1439 ſprachen 
fi die Griechen in ihrer allgemeinen Berfammlung vor dem Kaifer, nachdem der 


828 Marcus Eugenicug, 


Patriarch von Eonftantinopel den Ausgang bes hl. Geiftes auch aus dem Sohne 
als dogmatifch richtig anerkannt hatte, für die Union aus, und begaben ſich ſechs 
Tage darauf zum Papft, um diefe ihre endliche Erklärung niederzulfegen, und 
empfingen von ben Lateinern den Friedenskuß — Marcus Eugenicus und 
Sophronius von Anchialus waren die einzigen aus allen griechifchen Bi- 
fhöfen, welche in die Vereinigung nicht einftimmten. Endlich wurde am 5, Zuli 
1439 die feierliche Erflärung der Union (definitio, 6905) von den Griechen unter- 
fihrieben und Tags darauf in der Hauptfirche zu Florenz während bes Gottes- 
dienſtes öffentlich verfündet. Nicht nur die Bifhöfe der Griechen im engeren 
Sinne, fondern auch die Bevollmächtigten der Walachen, Zberier, Ruſſen und 
des Raifers von Trapezunt hatten diefelbe unterzeichnet — aber niht Marcus 
Eugenieus; er beharrte unbeweglich in feinem Starrfinne, Als der Papft dieß 
erfahren hatte, foll er im dunfeln Vorgefühle deffen, was fich bald auch wirklich 
ereignete, wehmüthig ausgerufen haben: „Sp haben wir alfo nichts zu Stande 
gebracht!“ Ungefähr einen Monat nah dem Abfchluffe der Union traten bie 
Griechen über Venedig die Nüdreife in ihre Heimath an; den Marcus Eugenicus 
hatte der Kaifer auf fein Schiff genommen, um ihn, wenn möglich, durch Freund- 
fchaft zu gewinnen, oder widrigen Falls defto beffer beobachten zu fönnen, Aber 
ſchon in Venedig zeigte fich die zweifelfafte Gefinnung der Griechen auf eine fehr 
bedenkliche Weife, und die Anhänglichfeit an die Union wanfte mehr und mehr, 
als fie fhon während der Heimkehr von ihren Landsleuten bittere Vorwürfe über 
die abgefchloffene Bereinigung hören mußten und bei ihrer Landung in Conftan- 
tinopel (im Januar 1440) fehr unfreundlich empfangen wurden, Man fchalt fie 
Abtrünnige, welche die Sache der Orthodoxie verrathen, während von allen Seiten 
ber das Lob des Marcus Eugenicus ertönte, welcher allein noch den Lateinern 
widerftanden und die Ehre der Kirche gewahrt habe, Schon in der Faftenzeit des 
nämlihen Jahres war die unionsfeindliche Partei dermaßen erftarft, daß fie die— 
jenigen, welche für die Synode in Ferrara und Florenz fich erklärt hatten, von 
der Theilnahme an der Liturgie auszufchließen wagte, Es läßt fih nicht be— 
zweifeln, daß Marcus Eugenicus diefe Verhältniffe beftens benügt habe, um ber 
Union den Todesftoß zu geben, Indeſſen ſcheint der Kaiſer ihn abfichtlich in Con— 
ftantinopel zurüdgehalten zu haben; denn als an die Stelle des zu Florenz in 
Gemeinfchaft mit der römifchen Kirche verftorbenen Patriarchen der Metropolit 
son Cyzieus, Metrophanes, im Anfange Mai's 1440 den Stuhl von Eonftan- 
tinopel beftiegen, und feinen Entfchluß, an der Union feftzuhalten, öffentlich aus= 
gefprochen hatte, floh Marcus Eugenicus mit dem Metropoliten von Heraclen 
aus der Hauptftadt und begab fich in fein Bisthum zurüd, Nimmer verftummten 
fortan feine gehäffigen Reden gegen die Freunde der Union, nimmer ruhte fein 
Haß gegen die Lateinerz nicht bloß mündliche Anflagen erhob er, fondern au 
fhriftlich verbreitete er feine Verläumdungen weiter, Noch auf dem Todbette 
ordnete er an, daß Feiner von den Unirten feine Leiche begleite, und wie ein an« 
derer Hamilcar Tieß er feinen Freund Georgius Scholarius fhwören, bie 
Union immer zu befämpfen und Nom ewig zu baffen. Marcus Eugenieus flarb 
um das Jahr 1447. Vgl. hierzu die Artitel: Bafeler Coneil, Beffarion, 
Eugen IV., Ferrara-Slorenz, Griechiſche Kirche, Julian Eäfarini, — 
Bon den Schriften, welche Marcus Eugenicus verfaßt hat, nennt und Fabricing 
in feiner Bibliotheca graeca ahtundzwanzig (ed. Harles, Xl. 6T0—677)% 
Darunter find einige durch den Druck veröffentlicht, die meiften aber nur in Ma- 
nuferipten vorhanden oder aus Citaten befannt geworden, Ich theife hier bie 
wichtigften mit, und zwar befonders jene, welche fein Berbältniß zur Union be= 
treffen, Mit Umgehung mehrerer handfhriftlichen Briefe an den Kaifer Johannes 
Palaͤologus nenne ich zuerft jene beiden Sendfchreiben an die gefammte Ehriften- 
beit, welche Marcus Engenicus von Ephefus aus, wahrſcheinlich nach feiner Flucht 


ee * 


von Conſtantinopel, erlaſſen hat. Sie ſind uns dadurch erhalten worden, daß 
Biſchof Joſeph von Methone und der Protoſyncell Gregor, ſpäter Patriarch 
son Conſtantinopel, in ihrer Widerlegung dieſelben entweder ganz oder wenig- 
ſtens in Fragmenten dem Hauptinhalte nach aufgenommen haben, Dean findet fie 
abgedruckt fammt der Widerlegung bei Harduin IX. 549— 670, Das erfte Send» 
ſchreiben, welches er, wie Joſeph von Methone bemerkt, aller Orten verbreitete 
(rois dravrayouv Xoısıovois anoselhag) enthält eine kurze, fehr parteiiſche 
Geſchichte der Synode von Ferrara und Florenz; wie bie Union nur durch Be— 
ftehung zu Stande gefommen, wie er allein jedem Verſuche der Lateiner unzu- 
gänglih die Sache der griechifchen Kirche verfochten Habe, und daher mit mehr 
Recht das Vertrauen und den Glauben der Griechen anſprechen fünne, Das 
zweite Sendſchreiben ift ebenfalls gerichtet an alle Griechen zu Lande und auf den 
Sufeln Crois enevrayod 17$ yiS xal Tov vn0wv Evgıoxoutvors) und ent 
hält wieder einen fehr heftigen Angriff gegen die Freunde der Union, Er nennt 
fie Zwittergeftalten, Männer von einer unnatürlihen Mitte, Oräcolateiner, La— 
tinifirende, Halbmenſchen, welde den fabelhaften Centauren gleihen („Toaızo— 
Aarıvoi, Aurıvöpgoves, uıFoöngEeS avIgWnoı zara TolsS uvFog Inrtorev- 
Tevoo0ıS*); die zuftandegefommene Union fei eine Vereinbarung und doch in der 
Wirklichkeit Feine Vereinbarung; man habe Einen Glauben und doch zwei Be- 
fenntniffe mit und ohne den Zufag filioque; ein Sarrament, und doch zwei Abend- 
mahle im gefäuerten und ungefäuerten Brode u. f. w.; die Lateiner feien denn 
eigentlich doch Keger und die Freunde der Union wahrlich auch Freunde der 
Keger u. ſ. w. Einen andern Brief des Marcus Eugenicug, worin er dem 
Georgius Scholarius wegen feiner Hinneigung zur Union Vorwürfe macht, bat 
ung Leo Allatius (f. d. A.) erhalten. (Leonis Allatii in Roberti Creygtonis appa- 
ratum. Romae 1674. I. 88 nad) Hefele: die temporäre Wiedervereinigung der 
griechifchen mit der Tateinifchen Kirche. II. Art. Tübinger theol. Quartalſchrift 
1848, ©. 191.) Ebenfalls im Drude vorhanden ift von Marcus Eugenicus das 
Werk gegen die Lehre der Lateiner über den Zeitpunct, wann die Verwandlung 
der facramentalifhen Materie eintritt: „Ore ov uövov Eıro Pwvis ray deonorı- 
»0v Onusrwv ayıckorrer ca Feie dopa“ (griech. ald Anhang zur Ausgabe 
der orientalifchen Liturgien, Paris. 1560. p. 133—144.; Tatein. in den Liturgieis 
Claudii de Sainctes, Antwerp. 1560. p. 83—86). Nur in Manuferipten und aus 
Eitationen kennen wir feine capita syllogistica contra Latinos de processione spiri- 
tus sancti, die orationes duae de purgatorio, die epistola ad Georgium presbyterum 
contra ritus et sacrificia rom. ecclesiae, das antirrhelicum contra Andream Coloss., 
die apologia über feine Flucht aus Conftantinopel, die Schrift: contra encyclicam 
Bessarionis, den epilogus adversus Latinos u. a, a. (Duellen: Die ausführliche 
Gefhichte der Synode zu Ferrara und Florenz, wahrfcheinlih von Beffarion 
verfaßt, bei Harduin. acta concil. IX. coll. 1—442. Die Gefhichte deffelben Con⸗ 
eils von Horatins Juftiniani bei Harduin. 1. c. coll. 669—1044. Die Ge» 
fhichte der nämlichen Synode vom unionsfeindlihen und fehr parteiifchen Sil— 
vefter Syropulus — Vera historia unionis non verae inter Graecos et Latinos, 
sive concilü Florentini exactissima narratio, u, f. w., überfegt in's Lateinifhe und 
herausgegeben zu Haag im J. 1660 vom Anglicaner Robert Ereyghton. 
Veber die Werke des Marcus Eugenicus find außer Fabricius a. a. D, zu nennen: 
Oudini comment. de scriptor. ecclesiast. T. II. coll. 2343—2346; Gave, hist. 
litter. Basil. 1741. T. 11. Append. p. 136—138.) [G. Tinfpaufer.] 
Mareus, Onoftifer. Es gibt drei Gnoſtiker diefes Namens, die, wenn 
auch nicht Sectenhäupter erften Ranges, doch von einiger Bedeutung find. Der 
berühmtefte unter ihnen ift Marcus, der Schüler Balentins und Stifter einer 
befondern gnoſtiſchen Secte, der Marcofianer. Diefer Marcus, der allem 
Anſchein nach zuerft in Afien fih Herumtrieb, fpäter auch in das ſüdoöſtliche Gal- 


830 Marcus, Gnoſtiker. 


lien fam, und etwa um bie Mitte des zweiten Jahrhunderts oder bald darnach 
auftrat, war berüchtigt wegen feiner Zauber- und Verführungsfünfte, wodurch er 
bauptfächlich reiche und vornehme Frauen zu gewinnen fuchte, was ihm, nach dem 
Berichte des Zeitgenoffen Irenäus, mit Hilfe des Teufels theils durch Liebes— 
tränfe, theils durch Lockung ihrer Eitelfeit, indem er ihnen die Gabe der Pro- 
phezeiung verlieh, ja felbft die Darbringung des hl. Opfers geftattete, auch Häufig 
gelang. Unter andern Zauberkünften, die gerade wie Tafchenfpielerftücdihen aus- 
fehen, ift eines befonders merkwürdig, weil es auf den Glauben der Chriſten an 
die wahrhafte Verwandlung des Weines in das Blut Chrifti fehließen Läßt. Bei 
feinem Gottesdienft wendete er auch die Conferrationsformel an, und wenn er 
diefe ſprach, wußte er e8 zu bewerfitelligen, daß der weiße Wein die rothe Farbe 
annahm, um fo das Blut Jedermann anfchaulich zu machen (S. Irenaeus adv. 
haeres. lib. I. c. 13.). Diefer Verführer, dem befonders das Weibsvolk ſtark 
nachlief, ftellte ein dem Syſteme des Balentin (f. d. A.) ganz ähnliches auf, 
welches er jedoch in eine höchſt unverftändliche, aber hochklingende, den Pythago— 
räern oder der jüdiſchen Rabbala nachgebildete Zahlenmyftif einhüllte und mit 
häufigen Bibelftellen des alten und neuen Bundes verbrämte, Irenäus, der Bi- 
fchof von Lyon, in deffen Bereich diefe Irrlehre gleich Anfangs viele Anhänger 
fand, hat das häretifche Syftem des Marcus einläßlich mit fraunenswerther Ge— 
duld dargeftellt (adv. haeres. lib. I. c. 14—21, wörtlih aufgenommen von 8. Epi- 
phanius haeres. 34.), wo man die Einzelheiten nachfehen kann. Das Wefen des 
unerforfchlihen unbefannten höchften Gnttes (rroonerwo, BuFog) manifeftirt ſich 
nah Marcus in Lauten, Sylben und Worten, die nach beftimmten Zahlenverhält- 
niffen (tetras, ogdoas, dodecas, auch ſechs, zehn und befonders dreißig find ihm 
folche heilige und geheimnißoolle Zahlen) gegliedert werden und immer das Lob 
des Unergründlichen und Unerforfchlichen fortertönen laffen, bis fih die Mannig- 
faltigfeit der Laute und Buchftaben zulegt in Einen Ton zufammenfindet (arso— 
zarasaoıs Tv oAv), welchen jeßt noch das beim Gottesdienſt üblihe Amen 
der ganzen Gemeinde fymbolifh andeute. Die Unergründlichkeit des höchſten 
Weſens machte er dadurch erfichtlich, daß das erfte von Gott ausgefprochene Wort 
nicht bloß in feine Buchftaben fich auflöfe, fondern jeder einzelne Buchftabe des— 
felben, 3.3. A (Aauda), wieder in die Buchftaben oder Laute, mit welchen er 
ausgefprochen wird, und fo immer weiter, wonach freilich ein unendliches Fort- 
tönen und Durcheinanderfummen dieſer unabläffig fich vervielfältigenden Buch— 
ftabenlaute nothiwendig wurde (Die aus der Ureinheit hervorgehende unendliche 
Mannigfaltigfeit, die zulegt wieder in die Einheit — Einen Buchſtaben oder 
Laut, eig To Ev yoauua, uwıav zaı nV aurnv Expwvnoıv Iren. adv. haer. 1.1. 
0. 14. n. 1. zufammenfließt). Alle diefe Laute haben jeder feine Exiſtenz als ein 
eigenes Wefen nach Art der hriftlihen Engel, und bilden zufammen das Pleroma 
des Marcus, Er gibt denfelben verfchiedene gemeinfame Namen, als: Aeonen, 
Worte (Aoyovs), Wurzeln, Samen, Früchte; die befondern Namen eines jeden 
derfelben feien in dem Wort ecclesia enthalten, Ihm habe aber die Sige, eine 
der oberften Aeonen, die zum erften Tetras gehören, die Namen derfelben geoffen- 
bart, ja fie haben ihm die Wahrheit (aAndsıa), gleichfalls einen der höchſten 
Aeonen, unverhülft gezeigt, die er dann wunderlich genug, als aus lauter Buch- 
ftaben zufammengefeßt, befchreibt (Iren. adv. haeres. lib. I. c. 14. n. 3.); ferner 
babe fie ihm das Verhältniß der Aeonen unter einander, deren jeder das unerfaß- 
liche Wefen Gottes nach irgend einer Seite ausbrüde, genau mitgetheiltz unter 
diefen Aeonen befinde fich auch Jeſus Chriſtus, deffen Name in feinen einzelnen 
Buchftaben und Lauten wunderbare Geheimniffe in fich verfchließe und ganz außer⸗ 
ordentliche Kräfte befige. So ift diefes ganze Syſtem auf die 24 Buchftaben des 
griechifchen Alphabets gebaut, wobei er zur Ausfhmücung feiner phantaftifchen 
Gebilde wieder die ſtummen Buchftaben, die Halbfelbfllaute, die Selbftlaute und 


Marcus, Gnofifer. 831 


die Doppelbuchſtaben unterſcheidet. Die Schöpfung diefer fihtbaren Welt war 
ihm nur eine Nachbildung des unfichtbaren Pleroma mit feiner funftreihen Glie— 
derung (der Tetras, Ogdoas, Decas, Dodecas und der heiligen Dreifigzahl), 
welche der unvollfommene Demiurg, ohne etwas davon zu begreifen, als Werf- 
zeug der ihn leitenden himmlischen Mutter herftellte Cogl. über den Demiurg und 
feine Mutter und feine Schöpfung S. Iren. adv. haeres. lib. I.-c. 14. n. 2. 7. et 
c. 17), was Marcus aus der mofaifhen Schöpfungsgefhichte, aus der Einrich- 
tung des Menfchen und aus den Geftirnen und ihrem Lauf nachzuweifen verfuchte, 
Der Aeon Jeſus CHriftus, der durch Maria nur wie durch einen Canal durd- 
ging, ohne von ihr etwas anzunehmen, und in dem nach der Taufe die Kraft 
aller Aeonen eoncentrirt war, follte auf Erden nur den Menfchen den höchſten 
Gott verfünden und dadurh den Tod aufheben (Iren. adv. haeres. lib. I. c. 15.). 
Marcus und feine Anhänger fegten fodann großen Werth in ihre fogenannte Er- 
löfung (Avrowous, redemtio), womit fie jenen Act bezeichneten, in dem das 
Werk Chriſti in jedem Einzelnen aus ihnen zum Abfchluß und zur völligen Aus- 
führung kam. Diefer Act der Redemtion fam jedoch in mannigfacher Weife bei 
ihnen vor, indem ſich bier eine rein fpiritualiftiihe Richtung von der andern Rich— 
tung ausfhied, die mehr oder minder fich der altherfommlichen chriſtlichen Sitte 
und dem Gebot des Erlöfers fügte. Die Anhänger jener rein fpiritualiftifchen 
Richtung festen diefe Nedemtion in die bloße Erfenntnig des höchſten Gottes 
(vwaıs) und verwarfen jedes äußere finnliche Zeichen (dieſe werden auch mit 
dem befondern Namen der Asfodruten oder Askodrupiten als eigene Secte an— 
geführt bei Theodoret. haeret. fabul. lib. I. c. 10. Vgl. den Art, Tasfodru- 
giten). Andere hatten zwar eine Waffertaufe, verfälfchten aber nah ihrem 
Aeonenſyſtem die Taufformel, welche mehrere aus ihnen mit hebräifchen Worten 
ausdrüften, worauf fie eine Salbung mit Balfam beifügten; Andere. mifchter 
Waſſer und Del unter einander und tauften mit diefer Mifhungz Andere endlich 
verjchoben diefe Redemtion dur die Taufe mit Waffer und beigemifchten Del 
bis zur Sterbeftunde und gaben dann dem Sterbenden zugleich gewiffe Bann- 
formeln mit, wodurd er die Geifter, die ihn nach dem Tode auffangen wollten, 
ja den ihm auflauernden Demiurg felbft vertreiben fünnte (Iren. adv. haeres. lib, 
I. c. 21.). Es verdient befonders hervorgehoben zu werden, daß eine ähnliche 
Redemtion bei den im 12ten und 13ten Jahrhundert im ſüdlichen Franfreih auf- 
tauchenden gnoftifh-manichäifchen Secten der Albigenjer (f. d. A.) und Waldenfer 
unter dem Namen Consolamentum, Tröftung, fich findet (f. Fr. Hurter, Inno— 
eenz IH. im 13, Bud. IL. Bd. S. 219— 20). Marcus und feine Anhänger hatten 
einen ganzen Haufen von ihnen fabricirter Apvergphen, wußten aber auch die 
Stellen der ächten Evangelien ziemlich gewandt für ihre Zwecke auszubeuten 
(Iren. ady. haeres. lib. I. c. 20.). Sie erklärten fich felbft für die allein Weiſen 
und VBollfommenen (Iren. adv. haeres. lib. I. c. 19. n. 2. c. 21. n. 2. 4.), welcher 
Behauptung es feinen Eintrag that, daß fie fo fhamlos, wie ihr Meifter, die 
Frauen zur Unzucht verführten, indem fie fih als große erhabene Geifter mit dem 
Grundfag beruhigten, daß ihnen Alles erlaubt fei, und daß fie fih vor Niemand, 
nicht einmal vor dem fünftigen Richter, zu fürchten haben (Iren. adv. haeres. lib. 
L eo. 13. n. 6. 7.). Schon im zweiten Jahrhundert fand diefe Secte einen übri- 
gens unbekannten Fatholifchen Gegner in VBerfen (Iren. adv. haeres. lib. I. c, 15; 
n. 6.). Am nahdrüdlichften hat Irenäus in feinem großen Werk gegen die gno— 
ftifhen Härefieen diefe Irrlehre befämpft. Die Marcofier erhielten ſich fort bie 
in’s vierte Jahrhundert und trieben noch zur Zeit des HI. Epivhanius ihr Kunft- 
oder Zauberftüf mit der Verwandlung des weißen Weines in rothen, um hiedurch 
Anhänger zu gewinnen (S. Epiphan. haer. 34. n.1.). Sehr enge verwandt mit 
dieſer Secte find die beiden Secten der Archontifer und Colorbafianer (f; d. A.). 
Bol. über diefen Marcus und feine Secte Maſſuet in feiner Ausgabe des hl. 


832 | Mareeustag. 


Irenäus Diss. I. Art. 1. $ VI. Tillemont, M&m. T. II. Les heresies des Mar- 
cosiens et des Arcontiques (p. 291—96). Matter, krit. Geſchichte des Gnpfti- 
eismus, überfegt von Dönner. Heilbronn 1833. IE Bd, S. 109—112. 9. 
Neander, Rirchengefih. I. Bd. 2. Abth. S.741—43, 808-—10. — Der andere 
Marcus war zu Anfang des vierten Jahrhunderts einer der berühmteften An- 
hänger des Gnoftifers Mareion (ſ. d. A.), deffen in einigen Puncten eigenthüm— 
liches Syftem in dem befannten, mit Unrecht dem Drigenes beigelegten, Dialogus 
Adamantii de recta in Deum fide contra Marcionitas (Origenis Opp. ed. Ruaei T.1. 
p. 822—33) genauer dargelegt und befämpft wird. Es befteht aber feine Eigen- 
thümlichfeit darin, daß er die Erfihaffung des Menfchen in ganz befonderer Weife 
denft. Er unterfcheidet nämlich mit den Alten drei Beftandtheile des Menfchen, 
Leib (owuc), Seele (vuyn) und Geift (nvsvua), Nun ftellte er fi die 
Schöpfung fo vor: der Schöpfer habe ven Leib gebildet und die Seele (dvyn) 
ihm eingehaucht, aber das fei noch ein armfeliges Gefchöpf gewefen; der gute 
Gott habe von feinem vberften Himmel herab diefes armfelige Wefen in feinem 
Elend zappeln gefehen, fi feiner erbarmt, ihm von feinem eigenen Geift mit- 
getheilt und fo erft das Leben in ihm hervorgerufen; nur um diefen Geift (rvevuue) 
zu erlöfen, fei der vom guten Gott ausgehende Chriftus herabgefommen und fomme 
noch fortwährend herab in der Feier der Euchariftie (Dialog. de recta in Deum 
fide in Origen. Opp. I. 825—26). Es iſt nicht unſchwer, hier die Vorftellung des 
Gnoſtikers Saturninus (S. Irenaeus. adv. haeres. lib. I. c. 24. n. 1.) wieder zu 
erfennen, welche an dieſer Stelle in das Marcionitifhe Syftem eingedrungen ift, 
und durch deren Annahme Marcus fich unter den übrigen Marcioniten bemerflich 
machte. Sonft weichen feine Behauptungen von denen Marcion's nicht ab. Bon 
feinem Leben ift weiter nichts befanntz; nur vermuthet man aus der Aehnlichkeit 
feiner eigenthümlichen Lehrmeinung mit der Anficht des fyrifhen Gnoſtikers Sa— 
turninus, daß er fich in Syrien aufgehalten habe, Bol. Matter, krit. Gef. 
des Gnoſticismus. U. Bd. S. 247—49, Neander, Kirchengeſch. l. S. 804. — 
Der dritte Gnoflifer Marcus gehört erft dem vierten Jahrhundert an, Diefer 
legte Marcus, welchen der HI. Hieronymus unvorfichtiger Weife mit dem Balen- 
tinianer Marcus verwechfelt (S. Hieronymi epist. 75. n. 3. et Commenlar. in Isai. 
c. 64. v. 4.), fam aus Aegypten (er war aus Memphis gebürtig) etwa um bie 
Mitte des vierten Jahrhunderts (vielleicht durch Frankreich?) nah Spanien und 
brachte zuerft gnoftifch-manichäifche Irrthümer in diefes Land, mit denen er bei 
einer vornehmen Frau Agape und bei dem Nhetor Elpivins Eingang fand. Diefe 
unterrichteten darin den Priscillianus, welcher fodann die bedeutende Gecte der 
Priseillianiften (ſ. d. A.) begründete (Sulpicii Severi Histor. saor. lib. II. n. 46. 
S. Isidori Hispal. lib. de viris illustr. o. 15. n. 19., welcher ihn einen „Schüler 
des Manes und in der Kunft der Magie fehr bewandert” nennt). Bol. über 
diefen Marcus: Tillemont, Mém. T. VIII. Note 1. sur les Priscillianistes (p. 791). 
Ern. Grabii, Adnotat. in Irenaei Opp. p. 65 (auch in Irenaei Opp. ed. Massuet 
Venetiis 1734. P. H. p. 205). [Beßler.] 
Marenstag. So nennt man häufig den 25. April, weil an diefem Tage 
feit uralter Zeit das Andenfen des HI. Evangeliften Marcus als Festum chori 
begangen wird. Er ift dem kirchlichen Publicum befonders dadurch befannt, daß 
an demfelben in der abendländifchen Kirche faft in allen Pfarreien eine feierliche 
Bittproceffion gehalten wird. Diefe Proceffion ift uralt, indem fie Papft Gregor 
d. Gr. nicht bloß Fennt, fondern fie fogar eine „Solemnitas annuae devotionis* 
nennt (Ep. app. L. 3. IL). Ob der Ausdruck „Solemnitas annuae devolionis* be= 
rechtige, die Zeit ihres Entftehens über das Pontificat Oregors binaufzufegen, 
ift ſchwer zu entſcheiden. MWalafrid Strabo behauptet (de reb. ecol, 6.8), 86 
hätte fie Gregor bei dem Antritte feiner päpftlichen Regierung angeorbnet, um 
son Bott die Abwendung der Peft zu erflehen, welche in Nom nach einer großen 





u — u E- Ei: 4 3. > ® er Ws 
Mardochäus — Marefa. 833 


Ueberſchwemmung entſtanden war und ſeinen Vorfahrer Pelagius nebſt vielen 
Glaͤubigen weggerafft hatte; allein dagegen ſpricht gar Vieles, obwohl es richtig 
iſt, daß Gregor im J. 590 eine Proceffion zur Abwendung der Peſt veranſtaltet 
hat.) Es wurde nämlich die Peſtproceſſion nicht im April, fondern im Auguſt ge— 
halten und an drei Tagen wiederholt (Greg. Tur. hist. Franc. ]. 10. c. 1). So— 
dann wurde die Veftproceffion auf eine von der Marcusproceffion abweichende 
Weife gehalten. Erftere war, wie man aus der Oratio de/mortalitate Gregors 
erfieht (Litania clericoram exeat ab ecclesia b. Joannis Bapt., litania virorum ab 
ecel. b. martyris Marcelli, litania monachorum ab ecclesia 'martyrum Joannis et 
Pauli, litania ancillarum Dei ab ecclesia bb. martyrum Cosmae et Damiani, litania 
foeminarum conjugatarum ab ecclesia b. primi martyris Stephani, litania viduarum 
abvecclesia b. martyris Vitalis, litania pauperum et infantium ab ecclesia b. mar- 
tyris Caeciliae) eine fogenaunte Litania septiformis, es zogen die Gläubigen vor 
fieben verſchiedenen Gotteshäufern nah Ständen aus; bei Iegterer aber zog das 
gefammte Volk von einem und demfelben Gotteshaufe aus (A titulo b. Laurentii 
martyris, qui appellatur Luciae, egredientes, ad b. Peirum apostolorum prineipem 
Domino supplicantes cum hymnis et cantieis spiritualibus properemus). Gewiß ift, 
daß die über Gregor hinaufreichenden hiftorifchen Duellen von der ganzen Pro— 
ceffion fshweigen. Als Zwed der Mareusproceffion wird Mehreres angegeben: 
namentlich follen die Gläubigen fih durch diefelbe die Verzeihung ihrer Sünden 
erbitten, Gott für die empfangenen Wohlthaten danfen, um die Fortvauer feiner 
Baterhuld flehen, und fih zu Gemüthe nehmen, wie fehr es uns zieme, in allen 
Anliegen des Lebens uns vertrauensooll zu Gott zu wenden (efr. Alcuin. de lit; 
mag.). Jedenfalls überwiegt bei derfelben der Bußfinn, daher die blaue Farbe 
der Proceffionsmeffe und das zum Bittgebete und Bertrauen aufmunternde For— 
mular diefer Meſſe (fowohl die Leetion — Zac. 5, 16 ff. — als auch das Evan- 
gelium — Luc. 11, 5 ff. — weifen darauf hin). Nur in Gotteshäufern, wo 
Marcus Patron ift, wird das Mefformular bei der Proceflion vom Fefte des hl. 
Marcus genommen (S: R. €. 23. Maj. 1603). Eine allenfallfige Translation des 
Feftes des HI. Marcus hat auf die Proceffion feinen Einfluß; diefe wird vielmehr 
jederzeit am: urfprünglichen Tage (25. April) gehalten, aufer es fallt auf den— 
felben der Dftertag (Litaniae majores, si occurrant in die paschatis, transferantur 
in feriam tertiam sequentem non feriam secundam; S. R. C. 27. Sept. 1627; S.R, 
. 49. Sept. 1665). Zum Unterfchiede von den Bittproceffionen in der Bittwoche 
nennt man die Marcasproceffion Litania major, jene aber Litaniae minores. Diefen 
Namen hat fie ſchon zur Zeit des Papſtes Gregor geführt. Warum fie ihn führe, 
bleibt» wohl immer unentſchieden; vielleicht gefchieht e8, weil fich das Publicum 
bei derfelben urfprünglih mehr als bei irgend einer andern Proceifion betheiligte, 
oder weil fie fih über eine größere Strede Wegs als fonft bewegte (vgl. Bin- 
terims Denkw. IV. Bd. 1. Thl. ©. 573 ff.). In feinem Falle hat diefer Name 
Wichtigkeit, gibt ihn ja fogar eine Synode von Mainz im J. 813 auch den Bitt- 
proceffionen in der Bittworhe. Ein anderer Name ift „Litania Romana“, weil fie 
ſich von Rom aus verbreitet hat. Vgl. hierzu d, Art, Bittgänge. [Fr X. Schmid,] 
 Mardochaäus, f. Eſther. er 

Mareſa (niann, di. Beſitzthum) in der Niederung des Stammgebietes 
Juda (Jof. 15, 44.), zwei römiſche Meilen ſüdlich von Keutheropolis, eine im 
den HL Büchern oft genannte Stadt, von Roboam befefligt und durch den Sieg 
des Königs Afa über Sera, den Aethiopier, befannt (2 Chron, 14, 9.). Es ge= 
hörte bald’ zu Edom, bald zu Juda, und ward mehrmal zerfiört, zuletzt durch die 
Parther. Hieronymus und Eufebius fennen es nur an feinen Ruinen, welche Ro— 
binfon in der Nähe won Beit Dſchibrin, d. i. Eleutheropplis der Alten, neuerlich 
wieder aufgefunden. hat. Nördlich von Beit Dſchibrin Liegt ein Dorf Deir 
Dubban, bei welhem in dem weichen Kalkſteine, der den Boden bedeckt, ſich 

Riräenleriton. 6, Br. 53 


834 Margaretha. 


mehrere unregelmäßige Gruben befinden, einige beinahe viereckig und alle etwa 
15 oder 20 Fuß tief, mit perpendieulären Seiten. In dieſen find unregelmäßige 
Thüren oder niedrige, gewölbte, ſtark mit Schutt verflopfte Durchgänge, welche 
zu großen Höhlungen in den Felfen, an Geftalt Hohen Kuppeln vergleichbar oder 
glodenförmigen Kammern, binführen, 20 bis 30 Fuß hoch und 10 bis 20 Fuß 
im Durchmeffer. Nach oben zu Läuft die Kuppel gewöhnlich in eine Feine, runde 
Deffnung an der Oberfläche des darüber Tiegenden Bodens aus, wodurch Licht 
in die Höhle fallt. Diefe Kammern: find meiftentheils in Gruppen von drei oder 
Hier zufammen, welche mit einander in Verbindung ftehen, ja von einer Grube 
nach Südweften zu fand Nobinfon 16 folder Kammern, eine Art von Labyrinth 
bildend. Ganz ähnliche Aushöhlungen, nur im weit größerer Ausdehnung und 
forgfältigerer Bearbeitung, hohe, Euppelförmige Kammern und weite Räume mit 
Dächern von Säulen getragen, die aus dem Felfen beim Aushöhlen ſtehen ge— 
blieben, fand Robinfon in dem ſüdlich von Beit Dſchibrin gelegenen Wadi, be- 
fonders in einem aus kreidigem Kalfftein beftehenden Zell im Süden: des Thales. 
Veber den Urfprung und die Beftimmung biefer Höhlen ift Robinfon ganz im Un— 
gewiffen; v. Naumer vergleicht die Befchaffenheit derſelben mit ähnlichen Euppel- 
förmigen Aushöhlungen im Kalffieine bei Paris und Maeftriht, und ftellt die 
nicht unwahrfcheinliche Vermuthung auf, daß diefe Aushöhlungen von Troglodyten 
herrühren“ (Arnold, Paläſtina, Halle 1845. S. 174). Auf einem hervor- 
tretenden Puncte des eben erwähnten Tell fand das alte Marefa. [Schegs.] 
Margaretha, mehrere Heilige diefes Namens, Die berühmteren 
unter den heiligen Dienerinnen Gottes, welche diefen Namen trugen, find: 
1. Margaretha, heilige Jungfrau und Martyrin. Diefe von der grie- 
chiſchen Kirche feit den älteften Zeiten Hochgefeierte Jungfrau und Martyrin, die 
zuweilen auch Marina genannt und mit diefer verwerhfelt worden ift (ſ Ma- 
rinus), wurde feit dem fiebenten Jahrhunderte auch im Abendlande, befonders 
in England, verehrt, wo ihren Cultus wahrfcheinlih Erzbifhof Theodor von 
Canterbury verbreitet haben mag. Weder über die Zeit noch die Art ihres Mar- 
tertodeg weiß man etwas Gewiffes, weil Margaretha's Marteracten, ſowohl die 
griechifchen wie die lateiniſchen, nicht zu den ächten gehören; daher weiß man au 
nicht näher, worauf fi der Drache bezieht, mit dem fie häufig dargeftellt wird, 
wenn er nicht etwa eine bloße fymbolifche Bedeutung hat, oder, was am wahr⸗ 
ſcheinlichſten, der heiligen Martyrin erft nach dem Entftehen der apperyphen Mar- 
tergefchichte,, worin allerdings der Teufel in Geftalt eines Drachen als Berfucher 
Margaretha’s auftritt, beigelegt worden iſt. Das Wefentlihe der Margaretha- 
Legende ift, Margaretha, zu Antiochia in Pifivien geboren, fei von ihrem eigenen 
heidnifchen Vater als Epriftin verfioßen und in der Verfolgung der Kaiſer Ma— 
ximian und Diveletian (oder fhon früher) durch den Präfes Olybrius, der fie 
ihrer Schönheit wegen heirathen wollte, aber fein Gehör fand, für den Glauben 
und die Jungfräulichfeit der Martyrirone theilhaftig geworden. ©. Boll 
20. Jul. — I. Margaretha, die heilige, Königin von Schottland, vom 
Hl. König Eduard dem Bekenner abflammend, Gemahlin des Könige Malcolm 
son Schottland, im 24ten Jahre ihres Alters mit Malcolm vermählt 1070, ge- 
ftorben den 16. Nov. 1093, vom Papft Innocenz IV, canonifirt 1251, Die Ge- 
ſchichte diefer Heiligen bildet eines der ſchönſten Blätter der ſchottiſchen Geſchichte. 
Sie war cin Mufter ächter Frömmigfeit und. Tugend, der Engel ihres Gemahles, 
die befte Erzieherin ihrer Söhne und Töchter, die Schirmerin der Religion, Sitte 
lichkeit und Gerechtigkeit, eine wahre Eiferin für die Kirche, deren Gebote fie 
aufrecht zu erhalten, und die fie mit würdigen Hirten zu zieren bemüht war, eine 
Förderin der Künfte und Wiffenfchaften, eine wahre Landesmutter, welcher alle 
Armen, Bedrängten und Unglücklichen in's Herz gefchrieben waren, Näheres 
über dag Leben diefes Himmelsgefehenfes für Schottland ſiehe in ihrem Leben, 





“er 


Marheinede — Maria, bie heilige Jungfrau. ‘835 


das von ihrem Beichtvater gefchrieben ift und bei den Bolland, 10. Juni, ihrem 
Gedächtnißtage, ſteht. Es ift diefes Leben auch ein bedeutendes Actenftüf für 
die ſchottiſche Kirchengeſchichte. Nur: zwei Züge mögen daraus Hier noch ihre 
Stelle finden: Die Hl. Königin drang oft in ihren Beichtvater, ihr rückfichtslog 
alle ihre Fehler anzuzeigen; die hf. Königin veranftaltete auch mehrere Concilien 
und trat in einem derſelben redend und eifernd für die Wiederberftellung der 
Kirchengebote auf. — IU. Margaretha von Eortona, HI. Büßerin, ges 
boren zu Alviano im Toscaniſchen 1248, war bis zum 25ten Jahre ihres Alters 
im die gräulichfte Unzucht verwidelt. ALS fie einft einen ſchon halb von Würmern 
zerfreffenen Leichnam fah und gewahrte, daß es der Körper eines Menfchen war, 
mit dem fie Unzucht getrieben hatte, gingen ihr plöglich die Augen auf und be— 
gann fie ein Bußleben firengfter Art im Kloſter der Franeiscanerinnen zu Cor— 
tona. Sie ftarb den 22, Febr. 1297 und wurde 1723 von Papft Benedict XIIL 
canonifirt. Ein Gegenſtück zu diefer Hl. Büßerin bildet die Hl. Büßerin Maria 
von Aegypten, worüber Bolland. 9. April, [Schrödl.J 
Marheinecke, Philipp Conrad, geboren zu Hildesheim 1780, ſtudirte 
zu Göttingen die Iutherifhe Theologie, erhielt 1804 von der Erlanger Univerfität 
die philofophifche Doctorwürde, wurde 1809 ordentlicher Profeffor der Theologie 
in Heidelberg. Seine Lehrer Planf und Daub übten unverfennbaren Einfluß auf 
Marheinecke. 1811 erhielt er die theologiſche Doetorwürde, und zwar in Berlin, 
wohin er im befagten Jahre einen Ruf, den er zuvor nah Königsberg erhalten 
und abgelehnt hatte, annahm. 18320 ward er zugleich auch Prediger an der Drei« 
faltigfeitsficche, und 1821 Dberconfiftorialrath, Er las über Kirchen- und Dog⸗ 
mengefchichte, Kirchenrecht, Symbolik, practifhe Theologie und Homiletif;, Am 
9. Mai 1846 flarb er. Werke Hinterließ er folgende: Mehrere Predigten und 
Differtationen; Univerfalpiftorie des ChHriftentfums, 1806 Ceine Jugendarbeit, 
die Marheinecke nicht fortfegte, wie auch feine Gefchichte der chriſtlichen Mora); 
chriſtliche Symbolik oder Hiftorifche Kritik des kathol. luther., reformirt. und ſo— 
einianifchen Lehrbegriffs, 3 Bde., Heidelberg 1810—13; Aphorismen zur Er— 
nenerung des firdhl. Lebens, 1813; Gefhichte der teutfchen Reformation, 4 Bde,, 
1816— 34; Grundlagen der chriſtl. Dogmatif, 1819, 2. Aufl. 18275 Lehrbuch 
des chriftl. Glaubens, 18235 Einleitung zu öffentlihen Vorlefungen über die 
Bedeutung der Hegel'ſchen Philofophie in der chriſtlichen Theologie, 18425 
Möplers Symbolik und Görres Athanafius Fritifirte Marheinecke ausführlich vom 
einfeitigen Standpuncte des Proteftantismus aus, zeigte aber weit mehr Gerech-— 
tigfeit und Achtung vor Möhler als Dr. Baur im Tübingen im nämlichen 
Feldzuge gegen Möhler. In feinem Syfteme des Katholicismus vertheidigt Mar— 
beinede die eigene (todte) Kirchenſprache. — Unter den neuern proteftantifchen 
Dogmatifern ift Marheinede einer der berühmteften. Das Pofitive legte er im 
die fih felbft gleiche Religion der Vernunft. In der Idee von der Kirche fcheint 
Marheinecke ganz mit Schleiermaher zu harmoniren; allein bei Marheinede ift 
Idee etwas ganz Anderes als bei Schleiermarher; denn Marheinecke ift Hegelianer 
und einer der erften Dogmatifer, der diefe Philofophie eonfequent in der Dog- 
matif durchgeführt hat. [Haas.] 
Maria (Mirjam), die Heilige Jungfrau und jungfräuliche Mutter Jeſu 
Ehrifti, des Sohnes Gottes unferes Herrn, nimmt in der inneren und äußeren 
Geſchichte der göttlichen Heilsanftalt eine für uns Alle ebenfo einzige als wich— 
tige Stellung ein. So fehr aber um diefer wilfen das Intereſſe aller Gläubigen 
ſich ihr zuwendet, fo weithin auch ihr Name genannt und gepriefen wird, fo hat 
Doch über ihr Leben die Schrift uns nur Weniges aufbewahrt. Wie in der evan- 
gelifhen Heilsfunde Alles auf deren göttlihen und geiftigen Mittelpunct bezogen, 
und Alles, was von Perfonen in dem großen Werfe mitthätig erſcheint, nach 
Maßgabe diefes höchften Zieles berücfichtiget wird: fo wurde auch von Maria in 
53* 


836 | Maria, die heilige Jungfrau, 


die evangeliſche Berichterftattung bloß fo viel aufgenommen, als die Erkeuntniß 
und das Verftändniß des Geheimniffes Jeſu Chriſti erforderte. Altes Uebrige, 
namentlich Anfang und Ende ihres irdifchen Lebens‘, bleiben in Dunkel gehüllt, 
Zwar hat die productive Sage der Folgezeit, und vornehmlich jener Secten, 
welche viel „auf Fleifh und Blut“ hielten, ihrem Bilde gar Vieles beigefügt; 
für ung aber, welchen durch kirchliche Authorität gewehrt ift, ſolchen apoeryphiſchen 
Veberlieferungen, wie fie 3. B. das Protoevangelium Jacobi minoris, dag Evange- 
lium nativilatis Mariae in Fülle enthält*), viel Glauben zu ſchenken, üßriget nur; 
aus den authentifhen Mittheilungen der Evangeliften unter Zuziehung der älteften 
Väter das zu einem Ganzen zu verbinden, was bei dieſen zerſtreut fich findet. — 
Was vor Allem anzieht, ift die Genealogie Mariens, der Mutter Jeſu Chriſti 
Das Erfte, wodurd die Schrift den verheißenen und erfchienenen Chriſtus feinem 
Bolfe Fennbar macht, ift deffen Davidische Abkunft (2 Kon, 7, 12, Pf. 88,36, 
131, 11., vgl. die prompte Antwort Matth. 22, 42,);5 und darum, weil diefer 
aus unverlegtem jungfräulidem Schooße hervorgegangen ift, die Frage nad) ver 
Abftammung der jungfräulihen Mutter. Zur Zeit der irdifchen Erſcheinung Jeſu 
war darüber fein Zweifel, Man wußte es nicht anders, als daß er Davids Sohn 
fe. Sp ward er allgemein geehrt und begrüßt. Matth. 9, 27. 21, 15, Die 
Familie, welcher er angehörte, war befannt als eine Davidifche, und im erften 
canoniſchen Evangelium wird dieß Zeugniß begründet durch Darlegung der Ahnen, 
durch welche von Abraham und David her das Geſchlecht Joſeph's, „des Mannes 
Mariä”, aus der geboren worden ift Jeſus, genannt Ehriftus, ſich abwindet. 
Daß die Genealogie der Tegteren in der Wurzel eine fei mit der ihres Mannes, 
wird dabei ftilffehweigend fupponirt, oder nach den gegebenen Berhältniffen als 
befannt angenommen, Für die erſte Declarirung Jefu als Davids-Sohn unter 
feinem Volke war damit geforgt, — auf fo lange, als nicht das Myſterium der 
jungfräulichen Empfängnif für die Gläubigen in der Folge die Frage nach feiner 
wahren Abftammung aufs Neue anregte, Das Dunkel, weiches Matthäus hier- 
über belaffen, wird dur Lucas aufgehellt. Es darf jest mit aller Sicherheit 
behauptet werden, daß die Stammtafel Luc, 3, 23—38. mit den eigentlichen Bor- 
vätern Jeſu Seitens der Mutter, alfo mit deren wahrem Gefchlechte befannt 
macht, Nur in wieferne über diefen Gegenftand in den vorangegangenen Artikeln 
nichts zur Sprache gebracht wurde, möge, weil die negative Kritif in der angeb- 
lichen Disharmonie der beiden Stammregifter eine empfindliche Blöße an unfern 
evangelifchen Berichten aufgedeckt zu haben glaubt, eine kurze Bemerkung darüber 
Platz finden (eine gute Abhandlung darüber Tübing. Duartalfchr, Jahrg. 1836, 
©. 403 f. u. ©. 539 ff. von Shleyer). Was den Matthäus betrifft, ſo iſt von 
ſelbſt Mar, warum und wozu er jene Genealogie des Pater putativus Jeſu auf 
genommen. Unter feinem Namen wurde Jeſus, bis auf dem Wege der Verfündi- 
gung das Geheimniß der übernatürlichen Empfängniß enthüllt ward, unter dem 
JZuden als Davidide eingeführt und anerkannt, Als Joſephs-Sohn galt er auch 
für Davids-Sohn. Und es lag darin feine Unwahrbeit, vorausgefegt, daß, was 
zur Zeit nicht minder Tautfundig war, Maria deffelben Geblütes war, Dieſe 
Rückſichten alle fielen bei Lucas weg. hm, dem Späteren, Tag ein anderer 





Codex apocryph. N. T. P. I. p. 19. p. 66. Papft Innocenz I. in feiner Ep. 
ad 22 —— c. 7. ſagt darüber: Ceteraquae sub nomine Matthaei, PR 
Jacobi minoris etc... non solum repudianda, veram etiam noveris esse damnanda. — 

apft Gelafius, Decret. de libris apoeryph. Uolleet. Coneil. ap. Hardun T. 1. p> 
41. Evangelium nomine Jacobi minoris apoeryphum. Es if vielleicht darum abi 
diefe Urtheile der Kirche über diefe Categorie von Schriften anzuführen, weil man. in neuefter 
Zeit viefelben ausbeutet, um die hiftorifchen Quellen des Chriſtenthums durch ſolche Geſell⸗ 
ſchaft zu verbächtigen. Die Kirche hat nie etwas darauf gegeben, Vgl. August. contr, 
Faust, 1. XXI. c. 9. DR ı0 





* Maria, die heilige Jungfrau. 837 


Zweck vor. Nachdem er feinen chriſtlichen Leſern über das Myſterium der Menfch- 
werdung aus der unberührten Jungfrau Eingangs berichtet hat, und weiterhin 
Meldung gethan der himmlifchen Erfcheinung, welche bei der Taufe der Gottes- 
Sohnſchaft Jeſu Zeugniß gegeben, fährt er fort (3, 23): „Und Jefus war, an- 
fangend zu predigen, gegen dreißig Jahre alt, feiend Sohn, — wie man meinte 
Zoſephs — des Heli, des Matthat, des Levi... des Nathan, des David... 
des Adam, Gottes”. Man muß fih wundern, wie jemals Angefichts des klaren 
Buchſtabens verfannt werden konute, daß der Evangelift hier die Väter Herzäßle, 
deren Sohn Jeſus mütterliher Seits wirklih war, des Heli — bis Adam nad 
dem Fleiſche, und Sohn Gottes nach feiner göttlichen Wefenheitz und wie man, 
um Joſeph in irgend einem Sinne zu einem Sohne Heli's zu machen, zu ver⸗ 
wickelten und verwickeluden Hypotheſen von einer Leviratsehe, von Adoption u. ſ. w. 
die Zuflucht nehmen mochte *). Es Hätte davon ſchon die Erwägung zurückbringen 
follen, daß man am Ende weniger noch als bei Matthäus — nämlich bloß die 
putative Geſchlechtsreihe, nicht aber die wahren Vorväter Jeſu zeze 00024 vor 
ſich Hätte. Doch genug; war, wie Lucas. ausdrüdlich angibt, Jeſus Sohn (Or 
viog), — mit Ausfhluß Joſephs, — des Heli, fo war alfo Maria Tochter des 
legteren, und Sprößling aus Davidiſchem Blute durch die-Nebenlinie von Nas 
than. Und daß dem fo ſei, bezeugt die altjüdifche Tradition, welche, wenn fonft 
irgend, hier Glauben verdient, wo fie die iprer Perfönlichkeit nah namhaft macht, 
deren Andenfen den Juden fo verhaßt geworden, Es wird aber im Thalmud von 
Sernfalem Chagig. fol. 77. n. 4. Maria, die Mutter Jeſu des Nazareners, eine 
Tochter Eli's genannt (Vidit Mariam fillam Heli in umbris... Vectis-portae Ge- 
hennae erat infixus-ejus auri eto, Vgl. Sepp, Leben Jefu, Bd. II. S. 3. Note). 
Und wenn Epiphanius Haer. LXXVII. n. 17. davon abweichend berichtet, ihre 
Eltern Hätten JZoahim und Anna geheißen, fo verdient diefe Angabe, weil aus 
ſehr trüber Duelle, dem apoeryphiſchen Evangelium Nativitatis Mariae oder auch 
dem Protoevangelium Jacobi minoris — gefchöpft, mindeftens nicht mehr Glauben; 
Hieronymus und Auguflinus find noch ununterrihtet über den Namen derfelbenz 
— und angenommen auch, fo bleibt immer noch der Ausweg übrig, daß Heli, 
abgefürzt aus Heliafim, derjelbe Name ift, was Joakim oder Joachim. So viel 
über die Herkunft Mariens, — Welches aber der Wohnort Heli's geweſen, iſt 
fo wenig befannt, als von den übrigen Familienverhältniffen uns überliefert wor=- 
den iſt. Nur das fcheint aus Allem zu erfhließen, daß Maria das einzige Kind 
ihrer. Eltern, alfo, wie Epiphanius berichtet, eine duyarno Erulxl.7008 gewefen, 
womit zufammenhängt, daß fie zur Zeit der römifhen Schagung (Luc, 2, 3 f.) 
als Erbin für ihre Perjon in den römiichen Cenfus aufgenommen werden mußte 
(Tertull. contr. Jad. e. 9). Was von ihrer Weihung und Erziehung im Tempel 
zu Ierufalem, unter -Aufficht des Priefters Zacharias, die Legende vorbringt, er— 





*) Die Meberfegung der Vulgata Luc, 3, 23 ff. qui fait seil. filius Heli, qui fuit 
(filius) Matthat ift fhon aus dem Grunde nicht annehmbar, weil am Ende Adam in dem⸗ 
felben Sinne prädieirt: würde „Sohn Gottes“, wie Seth ein Sohn Adams, Gramma- 
dich, gebt diefe Deutung auch nicht, weil nah dem Gräcismus z.B. 0 13 Alpais, hier 
za derpoppelt fiehen müßte, Cs fireitet ferner gegen die Conftruction, welde 15 von dem 
vorhergehenden Nomen abhängen läßt, der ganze ii ne der Hebräer und der LXX. 
Wo viefe in linea ascendente genealogifiren, fo fegen fie entweder 6 1#, oder wenn meh⸗ 
rere Glieder folgen durch Ueberiegung des hebr. —r2, vis.. vis u ſ. w., z. B. 1 Chrom 
6, 33.: Altar öl weiraöns, vios 'Ioyk, vis Zauovn), vis Eixave xıh. Judith war Zub, 
8, 1.2 Iuyarıg ——— Ofeyk, vis Eixie, vis Hkis ꝛc. Zu N. T. findet ſich ein 
Beifpiel Math, 1, 1, vis Aevid, vis Adgeeu, wo das zweite vis wirklich nicht auf Ines 
Xgısrs, fondern auf David zurüdgeht. Nie und nirgends in der ganzen Schrift werden 
die Geſchlechter dur 7#... ra catalogifirt. Es Fönnen darum die fämmilichen Genitivt 
<5 bier nicht anders als von dem Einen Nominativ vios B. 23, abhängen, Bol. einen 
ähnlihen Fall mit na Genef. 36, 2. ihrer Aa 


— Maria, die Heilige Jungfrau 


kennt Feine frühere und andere als obige von ven Vätern und den Päpften als 
unlauter bezeichnete Duelle an, Eben fo unzuverläffig ift, was Nicephorus H. 
ecel. I. 3. aus einem angebligen Fragmente des antiochenifchen Biſchofs Evodius, 
Vorgängers des Ignatius, mittheilt, (Vgl. darüber Baron, Annal. eccl. in Appar, 
Edit. Colon. 1624. pag. 19.) Daffelbe geheimnigvofle Dunkel, womit Gott den 
übrigen Gang der von ihm zu realifirenden Heilsanftalt vor den Augen der Welt 
umfchleiert Hat, bebeckfte eben auch die Kindheit und Jugend der präbeftinirten 
Deipara. Unter ven Vorkehrungen, im Intereffe des Myfteriums getroffen, er- 
fiheint als das Erfte, was die evangelifche Geſchichte von ihr bezeugt, ihre Ver— 
lobung und VBermählung mit einem Abkömmling des Davidifchen Haufes, mit 
Sofeph, dem Sohne Jacob's. Den trifftigften und richtigften Grund diefer pro- 
videntiellen Vorkehrung Hat Ignatius d. M, bereits angegeben, Es follte die 
Zungfraufchaft und jungfräulihe Empfängnig und Geburt dem Fürften der Welt 
ein Geheimniß bleiben, Ep. ad Ephes. 6.19. Was abermals die Perfon Joſephs 
betrifft, fo erfahren wir auch von ihm nicht mehr, als daß er ein gerechter Mann, 
feines Gewerbes ein Zimmermann (Text), zur Zeit der Verlobung in Naza- 
reth , vem galiläiſchen Bergftäntchen, wohnhaft war, und allem Anfcheine nach in 
den Jahren bereits vorgerüdt, Heli's Erbtorhter, wie man vermuthet, als nächfter 
Agnat dem Gefege und der Pflicht gemäß zur Ehe nahm. Db er, wie Epipha= 
nius CHaeres. LXXVIII. n. 7 sq., auch Drigenes in Matth. 13, 55., Eufebius 
H. eccl. I. 1., Gregor v. Nyffa de Resurr. Dom. Or. 11.) anführt, feit Längerem 
Wittwer und hochbetagt (Epiphanius gibt ihm SO Jahre), zudem mit Kindern 
ans einer erften Ehe gefegnet, mit der HI. Jungfrau ſich verlobt Habe, ift zweifel« 
baftz Andere, wie Hieronymus (c. Helvid. c. 9.), find anderer Meinung; und 
daß, was Epiphanius bei diefer Gelegenheit von den fog. „Brüdern Jeſu“ mit- 
theilt, des Hiftorifchen Bodens ermangle, iſt fiher, — Wichtiger als diefer un- 
zuverläffige Sagenfreis, der theils auf Apoeryphen, theils auf haltloſe Eregefe 
ſich ftügt, ft deren Verhältniß nach der Verlobung und der Vermählung zu ein- 
ander, Beide, die Desponsatio und die Dedactio sSponsae in domum sponsi, waren 
nach jüdifcher Sitte durch eine Zeitfrift von einem Jahr und dfter darüber ge— 
trennt, Auch in der evangelifchen Gefchichte trifft dieß zu; und zwifchen inne liegt 
das große Ereigniß, von welchem die Heilsbereitung den Ausgang genommen. 
Maria war Verlobte (Euvnorevuivn, Luc, 1, 27.), noch nicht in das Haus des 
Bräutigams übergegangen (Matth. 1, 18 f. [rrolv 3 ovveoysoI+a avrovs]), 
als fie die Botfchaft des Engels empfing, welde ihr eröffnete, daß fie einen 
Sohn in ihrem Meutterfchooße empfangen und gebären würde, welcher Jeſus zu 
nennen, den Namen Sohn Gottes haben und feines Vaters David Thron auf 
ewig einnehmen werde Cogl. Pf. 131, 11. 88, 20—33.), Es hatte aber Maria 
früher ſchon, vor ihrer Verlobung, das Gelübde abgelegt, unverfehrte Jungfräu- 
Vichfeit zu bewahren (of. Baron. Annal. ]. c. p. 22 sq.). Es war die nicht blofes 
Vorhaben, fondern bereits unwiderrufliche That, Sie erinnert daher, wie dent, 
was der Engel angefündiget, im Wege ftehe der Umſtand, daß fie auf feinen ehe- 
lichen Umgang ſich einlaſſe. Der Engel hebt ihre Bedenken. Es werde die Be- 
fruchtung ihres jungfräufichen Leibes durch die Neberfhattung des HI. Geiſtes und 
die Macht des Allerhöchſten gefhehen, und darum auch [dıo zal) das aus ihr 
geboren werdende Heilige Sohn Gottes genannt werden, Zum Unterpfande gibt 
er ihr ein Wahrzeichen an der Verwandten Elifabeth, welche in ihren hohen Tagen, 
nach allen Jahren der Unfruchtbarkeit, mit einem Sohne im fechsten Monate ge— 
fegnet fei. Dieß Wort entfchied; — Maria ſprach: „möge mir gefchehen nad 
deinem Wort” (Luc. 1, 27--38.). — Des Engeld Hinweiſung auf Eliſabeth 
war mehr als eine bloße Anzeige des Geſchehenen; — es follte Maria zur Be— 
währ dienen, daß bei Gott fein Ding unmöglich fei, auch das wicht, was ihr 
war verkündet worden, Sie eilte num fofort, des verheißenen Wahrzeichens an« 


% Maria, die Heilige Jungfrau, 839 


ſichtig zu werben, nach dem jüdifchen Hochlande, wo Zacharias, wahrſcheinlich in 
der alten Priefterkadt Hebron, lebte, Raum war fie eingetreten, kaum batte fie 
die alte Elifabeth gegrüßt, als diefe ihr Tant den Gruß entgegenrief: „Gefegnet 
bift du unter den Weibern, und gefegnet ift die Frucht deines Leibes; und woher 
das Glüf mir, daß die Mutter meines Herrn zu mir fommt ?" Sie erklärte ihr 
auch, wie fie zu diefem Wiffen gekommen. Ihr Kind, das zum „Wegbereiter des 
Herrn“ beftimmte, habe, als Maria fie gegrüßt, voll Freude im Leibe gehüpft. 
Und fie pries Marien felig, daß fie dem Worte Gottes fo gläubig vertraut. 
Maria war durch diefes Zuvorfommen überrafcht, fie fand Alles, und mehr noch 
als fie erwartet hatte, beftätiget. Ihr Glaube zur VBollerfenntniß geworden, was 
Gott Großes an ihr gethan, und fo brach ihr begeiftertes Gemüth in den herr- 
lichen Hymnus aus (Luc. 1, 46 ff.). — So Fehrte Maria neugeftärft nad einem 
Aufenthalte von drei Monaten von Judäa heim nach Nazareth, Aber nad diefer 
Zeit zeigte fih, was vorher Geheimniß gewefen; und Joſeph trug num Gewiffeng- 
bedenfen, die Berlobte, die ſchwanger befunden war, zu fih in's Haus zu nehmen, 
Sei ed, daß fie mit dem Berlobten vorher nicht zufammengefommen, oder darüber 
nicht gefprochen,, ehe fie nähere Gewißheit erhalten; fei es, daß fie nachher fi 
ihm entdeckt, aber von ihm etwa die Antwort des zweifelnden Zacharias erhielt: 
Unde hoc sciam? — genug, Joſeph faßte Angefichts des Gefchehenen den Vorſatz, 
Maria, um ihre Ehre möglichft zu ſchonen, heimlich, d. i. mittels Scheidebriefs 
vor zwei Zeugen, ohne Angabe des Grundes eingehändiget, zu entlaffen*). Da 
übernahm Gott die Vermittlung. Diefer gibt dem gereihten Manne in einem 
Traumgefihte belehrenden Aufſchluß über die übernatürlihe Empfängniß der 
Leibesfruht im Schooße der Jungfrau, und beftimmte ihn, feinen Entfhluß zu 
ändern und Marien fofort zu fich zu nehmen — Virginis custos potius, quam ma- 
ritus (Hieronymus c. Helvid. c. 9.). Ihr Verhältniß hörte nicht auf, ein bräut- 
liches zu fein. Matth. 1, 25, Luc, 2, 5, — So ward dur die Vermählung 
gegenüber der Welt der Schleier des Geheimniffes über das Ganze geworfen, 
Maria erſchien und galt als Weib des Joſeph, und reifete als ſolches ſechs Mo- 
nate fpäter, ald der Eenfus des Auguftus fie von Galiläa nach der Stammes- 
heimath rief, mit ihm nach Bethlehem, Ihre Anwefenheit dajeldft fiel zufammen 
mit dem Ende ihrer Schwangerfchaft, und fo wurde das göttliche Kind bei Beth- 
ehem in einer Grotte (a. U. C. 747) unter Begrüßung der himmlifchen Heer- 
fhaaren geboren. Nahdem daffelbe am achten Tage befchnitten und nach Gefeges 
Vorſchrift im Tempel dargeftellt war (Luc, 2, 22 ff.) unter fortwährend neuen 
Dffenbarungen, welche darüber ergingen, nahmen die Eltern ihren Wohnfig in 
Bethlehem. Es dauerte dieß gegen Ein Jahr und darüber, bi die Ankunft der 
Magier und der Mordplan des Herodes zur Auswanderung nach Aegypten nö— 
thigte. Sie ließen fih, wie die Tradition fagt, in der Umgegend der Priefterftadt 
Heliopolis, wo zahlreiche Anfiedlungen der Juden waren, nieder. Diefer ägyp=- 
tifche Aufenthalt währte jedoch nicht lange. Nach des Herodes Tobe (750 U. C.) 
fehrte die Hl, Familie wieder heim (Matth. 1, 19.), und zwar, da das tyrannifche 
Auftreten des Thronfolgers Archelaus neue Gefahr fürchten ließ, nicht mehr nach 
Bethlehem, fondern nah dem unanfehnlihen Nazareth in Galiläa, das unter 
Herodes Antipas Scepter mehr Sicherheit für das Zefusfind darbot. — Bon nun 
an fällt wieder die Hülle über die Gefhichte der HI. Jungfrau. Nur viermal 
noch tritt fie in dem Leben ihres Sohnes Handelnd herein: bei der Dfterreife Luc, 





*) Was die jüdiſche Gehäffigkeit wider Mariens Reinigkeit aufzubringen nicht errötpete, 
wird in der Schmähihrift des Celfus einem Juden Jeſu gegenüber in Mund gelegt. 
Origen. c. Cels. 1 28. Es genügt, darüber anzuführen, was Mohammed darüber urtheilte. 
„Weil fie (die Juden) nicht geglaubt Can Jefum), und wider die Maria große Lä- 
ferungen ausgeftoßen, darum haben wir (Gott) fie verflucht.“ Sur IV. ©. 73. Aus= 
gabe von Ullmann, 1840, 


810 Maria, bie Heilige Jungfrau. =“ 


2, 41 ff., wo. fie den zwölfjährigen Jeſusknaben — 0 GER. 
im Tempel wieder findet; bei der Hochzeit zu Cana, Joh. 2, 1., einmal zu 

pernaum, Matth. 12, 46 ff., und endlich. am Leidenstage unter dem Kreuze, Joh 
19, 25 f., wo fie von Jefus dem Liebesjünger Johannes übergeben wird, -Wel- 
ches inzwifchen ihre Verhältniffe gewefen, läßt fi nur errathen. Sie lebte in 
armen Umftänden in der Familie des HL Joſeph, der inzwifchen »geftorben , zu⸗ 
fammen mit deffen Bruder Kleophas zu Nazareth (Matth. 13, 55. ff.) während 
Sefus feiner Miffion folgte, Diefe erlaubte ihm nicht: mehr, auf die Wünfche 
feiner Verwandten Nüffiht zu nehmen. (Joh. 7,3 ff; Mare: 3,81 FI. Nach 
der. Himmelfahrt wird ihrer nur noch Apg. 1, 14: gedacht; das übrige Leben hellt 
feine Nachricht und auf, Sie lebte noch, geht eine Sage, eilf Jahre, nach Andern 
bis 48 n. Chr., und ward am Fuße deg Delberges begraben (of. Baron. Annal. Toms I; 
ad ann. Chr. 48.). Vgl. hierzu die Art, Aufnahme in den Himmel und Mariä 
Himmelfahrt. Sp weit die vereinzelten Erlebniffe Mariens. Neben diefen ver- 
dient aber die tieffte Erwägung die eigenthümliche Führung Gottes, welche beſtim— 
mend und geftaltend auf das Leben der HI. Jungfrau wirkte, Wir dürfen nicht ohne 
Beachtung daran vorübergehen, und dieß um fo «weniger, als, ich weiß nicht 
warum, feit Urzeit auf den Ruhm der. jungfräulichen Mutter Ehrifti fo gerne ein 
neidifcher Blick fich geheftet und noch Manche fih wie befriediget fühlen, wenn 
fih irgend etwas in den Schriften des neuen Teflaments darbietet, was daran 
irre macht oder einigen Anhalt zu gewähren fcheint, um etwas: von ihrem Glanze 
wegzunehmen, Mag es zuweilen gefchehen fein oder noch gefihehen, daß Un— 
gemeffenheiten auf der einen Seite, noch. öfter Unklarheiten im der Sache, zur 
Aemulation reisten: das foll aber nicht hindern, was die Schrift darüber infinuirt, 
unbefangen zu erforfchen, Der Gewinn davon wird auch dem weiter folgenden 
Betrahtungen zu Statten fommen. — Wenn 8 ein auf riftlichem Boden un— 
beftreitbarer Sat ift, daß das Evangeliun oder die Heilsveranſtaltung in Chriſto 
die Nealifirung eines göttlichen Urgeheimniffes ift, deffen Aus- und Durchführung 
an gewiffe, Dazu auserfehene Perfönlichkeiten gefnüpft erfcheint, die Gott eigens 
dafür vorbereitet und zu Handen nimmt, wie den Täufer Johannes Aucr1, 15f.)y 
den Paulus (al. 1, 15.)5 wenn alfo auch und vor Allem der Beginn der Ver⸗ 
wirflichung des Planes davon nicht auszunehmen ift: fo wird für Jeden, der dieſe 
biblischen Vorberfäge annimmt, Maria: unter diefen vorbereiteten Gefäßen und 
Drganen wie der Zeit fo auch der. Sache nach die: vorberfte Stelle einnehmen. 
Sie, die zu diefem Werke Prädeftinirte, wird in eigener Werfe dazu ausgerüftet 
worden fein. Dieß drückt auch der Engel aus: „Sei gegrüßt, Begnadigte (xe- 
xeg1TwuErn), der Herr ift mit dir, gefegnet bift du unter den Weibern“, Sich 
felbft unbewußt, war-fie, als was der Engel fie declarirt und feiert — zegaegı- 
Touevn, was er fogleich erläutert: „Du haft Gnade gefunden. bei Gott”, Die 
Fülle des ihr eingeflößten Geiftes- oder Önadenlebens hatte in ihr eine homogene 
Entfaltung gefunden. In Folge davon nahm ihr ‚geiftiges Wefen jenen Auf 
ſchwung, der uns zuvörderſt überrafcht in der Erklärung: „Virum non cognosco®. 
Bereits hatte ihr erleuchteter Geift zu jenem Ziele fih erfchwungen ‚won bem es 
heißt: neque nubent neque nubentur, sed erunt sicut angeli Dei in coelo (Matth. 
22, 30.). Bon diefer Gnadenfülle her, welche auch ihr Teibliches Wefen zu einem 
vollfonmen reinen Gefäße des Geiftes machte, erflärt und begreift fih ihr jung 
fräufiches Gelübde weit einfacher. und ficherer, als. das Pfenddevangelium Jacobi: 
minoris darüber Auffchluß gibt. Das Außerordentliche der Begnadigung darf bier 
nicht auffallen, Handelte es fih um den Vollzug: des «göttlichen Urplanes, die 
Menschheit durch eine Art Neufchaffung, wie fie von Ehriftus ausgehen follte, zu 
ihrem Ziele zu vollenden, fo darf das Höchfte, was in der Art von Gotf ver- 
lieben wird, nicht überrafchen, Sp und nicht anders ſah es auch die demuths— 
solfe Jungfrau felber an: „Fecit mihi magna, qui potens est, et sanclum nomen, 


I, 





| * Maria, die heilige Jungfrau gat 


ejus* Lue. 1, AR Und begreiflich: ſollte, was Gott bezweckte, ſicher ſich voll⸗ 
enden, fo mußte der erſte Anfang zum großen Werk feſt gegründet fein. Indeß 
wie reich auch diefes Gnabenleben war, fo hatte es doch feine Stufen und feinen 
Fortſchritt. Schon die Erfenntniß von Allem , was das Diyfterium umfaßte, war 
nicht mit einem Mal in ihr vollendet; und: die ftrengen Geſetze der Heilsdeonomie, 
nach denen hier Alles zu bemeffen ift, machten bei’ Maria feine Ausnahme. Auch 
der hl. Jungfrau deckte fich allmählig und vom Schritt zu Schritt das auf, was 
nach Gottes Plan im Verborgenen ſich erfüllen follte; und wie die Zeitereigniffe 
vorrückten, fo erweiterte fich ihr der Kreis der Offenbarung, Sie eilte, als fie 
den Engel vernommen, die Wahrheit der Botfchaft durch das Zeichen inne zu 
werben, welches er ihr gegeben; und was ihr da entgegenfam, ſtärkte und fleigerte 
ihre Erkenntniß, daß und wie fehr Gott gnädig mit ihr gewefen, und erfüllte fie 
mit Glauben und Begeifterung. — Was die betblehemitifchen Hirten bei der Ge— 
burt ihres Kindes hinterbrachten, warf ihr neues Licht auf daffelbe, als den ge= 
borenen Heiland-feines Volkes und Friedensfürften, wie die Engel ihn be= 
fungen. Sie erwog all das in ihrem Herzen (Luc. 2,18 f.). Und was Sinieon 
zufegt im prophetifchen Geifterim Tempel ihr von dem Kinde weiffagte, daß es 
fein würbe nicht der Glanz allein feines Volkes, fondern auch das „Licht der 
Heiden, die im Finftern und Schatten des Todes ſitzen“, brachte einen neuen 
Zuwachs ihrem Wiffen, und feste „fie in Berwunderung” (luc 2,23.) Es 
war eine durch viele Zeugenflimmen wachfende harmonifche Enthüllung des ihr 
Anvertrauten, überrafchend durch die Mannigfaltigfeit derer, welde ſtets neue 
Mittheilungen zu dem brachten, was fie vordem einfah aus des Engels Mund 
empfangen hatte, Diefe Art Offenbarung tritt mit der Zeit zurück, und es über- 
nimmt ihr Sohn es felbft, ihr Lehrer zu werden, der fie über das menſchliche 
Denfen hinweg in die Heilsgeheimniffe einführt, Die uns befannte merkwürdige 
Einleitung bildet die Begegnung im. Tempel. Luc, 2, 46 ff. „Was fuchtet ihe 
mich auch, war die Antwort auf den fchmerzlichen Vorhalt der Mutter; — wuß⸗ 
tet ihr nicht, daß ich in dem, was meines Vaters ift, fein müſſe?“ Wohl war 
ihnen Alles bewußt, was die himmlifchen und prophetifchen Stimmen von ihm 
bezeugt hatten; aber über der Alltäglichfeit der äußern Anfhauung ward es dem 
Berftande nicht fo Teicht, die gemeffenen Folgerungen ſtets und mit ftets gleicher 
Klarheit fih vorzuhalten. Darum erinnert er fie darauf, wer er fer, um außer 
allem Zweifel zu fein, wo er fein müffe, welcher Beruf ihn, fern ab von der 
leiblichen Mutter, feßle. — Mit der Zeit, wo Zefus, der Menfchenfohn, alsı 
Knecht Gottes“ in die Ausführung der ihm vorgezeichneten EvroAn eingeht, und 
mit dem Anheben des Evangeliums (Mare, 1, 14 f.) das ganze Leben des Herem 
den ftrengen Charakter des Gehorfams nah Art der Knechte annimmt, treten) 
auch. deffen Rückſichten auf die natürlihen Bande immer entfihiedener in den Hin— 
tergrund, Es ift der gottoäterliche Auftrag, in dem fih von da an fein Lebens— 
opfer in vollftändigfter Selbftentäufßerung verzehrt. Gegen diefen fteht ſelbſt 
die Mutter ihm zurück. Wo diefe (30h. 2, 3.) zu Cana ihn drängt, berichtiget 
er. fie: „Weib, was ift mir und dir: meine Stunde ift noch nicht gekommen”, — 
fie erinnernd, wie er verfchieden von ihr, gebunden von dem höhern Willen, feine 
Handelnszeit von Gott dem Vater zu gewärtigen, nicht aber fich felbft zu nehmen 
babe (vgl. Iren. adv. Haer. II. 16. n.7.). — Und wie mächtig ihm, dem 
„Knechte Gottes“, die geiftigen Bande mehr gelten als die der Natur, drückt er 
feierlich Matth. 12, 48 f. aus: „Wer ift meine Mutter, und wer find ‚meine 
Brüder? Und ansftrerfend feine Hand über feine Jünger: Siehe hier meine 
Mutter und meine Brüder; denn wer den Willen thut meines Baters im 
Himmel, der ift mein Bruder und meine Schwefter und Mutter“, In welchem 
Sinne er diefes geſprochen, darüber gibt er Luc, 14, 26 f. felbft den Commentar. 
Was er als Gefeg feiner Züngerfchaft vorgezeishnet, hat er ſelbſt vorgethan. 








. Maria, die heilige Jungfrau. ” 


Die Selbftverläugnung deffen, was er war, in Rnechtsgehorfam unter Gott 
Phil. 2, 6 ff.) dehnte fih auch auf jedes andere menschliche Wollen, auch auf 
das der Mutter aus, wo diefe mit natürlicher Sorglichfeit ipm folgte. Sie aber 
lernte und übte, belehrt und geführt von ihrem Sohne, mit dieſem vollfommenen 
Gehorfam (Hebr. 5, 8.). Vielleicht gibt die Erwägung eben dieſes Gefeges, 
welches fich im Leben Beider fo ftreng abprägt, den Schlüffel auch zum tieferen 
Berftändniffe deffen, was unter dem Kreuze vorgegangen iſt. Daß mit ven Wor- 
ten: „Weib, fieh’ da dein Sohn”, — „Sohn, fieh’ da deine Mutter“, — letz⸗ 
tere in die Findliche Obhut des geliebten Jüngers übergeben wurde, iſt richtig; 
nicht minder liegt aber in den Worten des feine Selbftopferung eben vollendenden 
Gottmenfhen, daß er damit des Naturverbandes legte Fäden löste, als Alles, 
was er von ihr hatte, im Dpfer fich für Gott verzehrte, Beider Selbftentäuße- 
rung erreichte damit ihre Spige, aber auch ihre Verklärung, Als fie den ihr ent- 
fremdeten Sohn aus dem Tode bald darauf zurüf empfing, war das von ihr ge= 
nommene menschliche Wefen transformirt in’s Göttliche — Sohn Gottes eingefegt 
in Macht nach dem Heiligungsgeifte (ogl. Rom. 1, 4., bef. 2 Cor. 5, 16.) — 
Diefes ihre göttliche Führung. Es fällt, von diefem Gefichtspunete aus ihr Leben 
betrachtet, freilich mande Anficht weg, welche im vermeintlichen Intereffe ihrer 
Ehre hineingetragen wird, welche aber, indem fie die jungfräulihe Mutter zu— 
weilen über den in wahrhaft menfchlichen Leivensgehorfam Hingegebenen Sohn 
Gottes ftellt, ihr eher derogirt als zulegt. Es fallen damit aber auch weg bie 
Einwendungen alter und neuer Rritifer, die es unbegreifli finden, daß nach dem, 
was Gabriel zu Marien gefprochen, diefe fi noch „wundern“ fonnte, wie 
über etwas Neues, über das, was der Greis Simeon ihr weiffagte; daß fie nicht 
verftand, was der zwölfjährige Jefus wollte, als diefer ihr erwiederte, fie hätten 
wohl wifjen follen, daß er in dem, was feines Vaters iſt, fein müffe, Luc, 2, 
33, 49 f. Wohl wußte Maria Alles, und bewahrte und erwog alle Worte in 
ihrem Herzen; aber welchen Fort- und Entwirflungsgang das Menfhliche unter 
der Beftimmung der Gottheit dur das Leben hindurch fihrittweife nehmen werde 
bis zur Vollendung der großen evroAn des Vaters, indem der Sohn in Knechts— 
geftalt den Weg des Knechtsgehorfams ging, das hatte fie fueceffiv durch Dffen- 
barung zu lernen, Und daß fie lernte, machte fie wachſen, und machte fie. groß 
über Alle vor Gott und den Menſchen. Durch Leiden geprüft und vollendet, er= 
fiheint fie nicht bloß in ihrer erhabenften fittlichen Größe, fondern iſt fie auch, 
um den Gedanken Hebr, 2, 17 f. auf fie anzuwenden, mitleidsvolle Helferin 
ihres Gefchlechtes geworden, Bon diefem, dem biblifchen Standpuncte aus, um 
einen Blick auf früher Dagewefenes zurüdzumerfen, zeigt ſich auch das Unver- 
ftändige in jenen Sagen, womit die apveryphifche Literatur das Leben der Oottes- 
mutter auszuzieren befliffen war. Sie find Bilder rein menfchlicher Phantafie, 
welche nach ihrem Sinne webt, und auch das Göttliche nach ihrer Weife ſich 
geftaltet, welche aber mit der göttlichen Weisheit in der Führung feiner Aus- 
erwählten nichts gemein hat, Von hier aus werben andererfeits aber auch bie 
Berfleinerungen ihr rechtes Licht erhalten, welche fiih an die Glorie der Jung- 
frau gewagt haben. — Zwei Puncte find es inzwifchen vornehmlich, welche den 
Namen Maria’s mit dem Glauben und Hoffen der Epriften aufs Engfte ver- 
flechten, und felbft im Leben und Eulte der Fatholifchen Kirche aller Zonen ihre 
erhebende Kraft äußern, — daß fie ift Jungfrau und Gottesgebärerin, 
Der ganze Schwerpunet des Glaubens der Chriften ruht zunächſt auf der That- 
farhe, daß Maria als Jungfrau empfangen und geboren hat, durch Einwirkung 
des HI. Geiftes befruchtet. Alles was weiter won der Entfündigung und Be— 
freiung unferes Geſchlechtes durch das Blut Jeſu Ehrifti „als des unbefledten 
Lammes“ gelehrt und geglaubt wird, ftügt ſich auf diefes Kactum, Es hängt 
nämlich damit zufammen die Unbeflecktheit der ganzen menfchlichen Weſenheit 


Maria, die Heilige Jungfrau— 813 


Jeſu Chrifti von Allem, was Sünde heißt, welche Reinheit Niemanden zukommen 
fann, der auf vem Wege der Naturerzengung in den allgemeinen Naturverband 
unferes Geſchlechtes Hereingepflanzt wird, Deßhalb fand bei dem Artikel über 
Entfündigung in der apoftolifhen Predigt (vgl. Röm. 8, 3. Gal. 4, 6.) diefe 
Thefis voran, und bildete fie von Anbeginn einen Beftandtheil des apoftolifhen 

mbolums. Und bei den erfien Vätern wird diefes wor Allem urgirt, „daß 

us Chriftus wahrhaft geboren fei aus einer Jungfrau“ (Ignat. M. ad Smyrn. 
0.1.);5 Zuftin dv. M. macht es in feinem Dialoge mit dem Juden Tryphon zum 
Gegenftande einer eigenen ausführlihen Darlegung, daß nah apoftoliiher Pre— 
digt Zefus jungfräulih empfangen und geboren fei, und diefes im Einklang mit 
dem alten Teftament (Justin. Dial. c. 48 sqq., bef. c. 66.). Dieſen Punet in der 
Meberlieferung nahdrudfam und feierlich hervorzuftellen, gab zunächft Anlaß der 
Widerſpruch der Ebioniten (fd. A.). Es war diefes Moment der jungfräulichen 
Empfängnig des zu erwartenden Chriftus in der gemeinen chriftologifchen Vor— 
fteffung der Juden nicht aufgenommen. Es ging in das von ihm entworfene Bild 
nicht ein, daß er auf übernatürliche Weife feinem Gefchlechte follte eingegliedert 
werden. Der Häretifer Cerinth (ſ. d. A.) fammt allen Ebioniten vermochte es 
nicht über fih, dem apoftolifchen Zeugniffe Hierin fih zu unterwerfen (Iren. adv, 
Haer. I. 26.). Nach ihrer Annahme war Jefus Sohn Joſephs aus Maria natür- 
Fi erzeugt. Einen Anhalt Hatten fie dafür im Evangelium felber nicht. Aber 
bei der ganzen dürftigen Auffaffung von der Perfon und dem Werke Chriſti, we— 
nig erhaben über Mofes und Mofaismus, wie fie in der clementinifchen Homilie 
entfaltet vorliegt, vermochten fie nicht zu begreifen, welche Bedeutung jenes dog⸗ 
matifche Factum im EChriftianismus ihrer Anficht haben follte, und verwarfen fo, 
was, wenn fie es annahmen, ihrem ganzen Lehrfyfteme eine veränderte Geftalt 
nothwendig hätte geben müffen. Daffelbe practifche Intereffe drangte auch die 
neueren Ebioniten, jene vornehmfte Thatſache vom Umfange der hriftlichen Heils— 
lehre ausfallen zu laffen, — Die Fatholifche Lieberlieferung und Lehrbeftimmung 
reicht aber noch weiter. Sie behauptet nicht bloß, dag Maria vor und in der 
Geburt Jungfrau gewefen, fonvdern auch nachher und fortwährend geblieben, 
Es wird durch diefen weiteren Zufag dem Dogma von der Fleifhwerdung des 
Sohnes Gottes aus der Jungfrau zwar nicht mehr etwas Neues beigelegt, wohl 
aber der jungfräulichen Mutter jener Ruhm der Unberüßrtheit, womit fie in die 
bräutliche Ehe getreten, unverfümmert vindieirt. Nach dem, wie Maria Luc. 1, 
34. fih ausfpricht, follte eine andere Anficht kaum denkbar fcheinen, wenigftens 
auf dem Grunde der Bibel faum haftbar. Gleichwohl Fonnte man fon zu Ori— 
genes Zeit (Hom. VII. in Luc.) die Meinung hie und da vernehmen, daß Maria 
nach ihrer Erfigeburt fi in ehelichen Umgang mit Joſeph gefegt, und die im 
neuen Teflament vorfommenden „Brüder Zefa“ nahgeborne Söhne feien. Epi— 
phanius Hatte in Erfahrung gebracht, daß es namentlih in Arabien Anhänger 
diefes Wahnes gebe, und richtete eine eigene Epiftel wider fie (Haeres. LXXVIH.), 
Er nennt fie von der Richtung ihrer Controverfe Antivifomarianiten (ſ. d. A.) 
Die Arianer Eunomius und Eudorins (f, diefe Art.) waren diefer Anficht im 
Intereffe ihrer Härefie zugetfan. Bekannter find noch in der Gefchichte des dar— 
über geführten Streites die Namen Helvidins, Zovinian und Bonoſus (f. diefe 
Art,), welchen Hieronymus mit feinen Streitſchriften entgegengetreten iſt. Im 
Ganzen waren e8 wenige bibliſche Stügpunete, an welche die Antivifomarianiten 
fih anflammerten; z.B. Matth. 1, 25. und die ihnen zu entreifen einem Schrift- 
fundigen wie Hieronymus wenig Mühe machte. Vgl. den Art. „Brüder Jeſu“, 
und Schleyer in der Freiburger theol. Zeitfchrift. Bd. IV. S. 30. Im Grunde 
waren es auch micht diefe biblifchen Stellen, welche irre Teiteten, Die Ab- 
ſchwächung des Glaubens und des Sinnes für die fittlichen Ideale des chriſtlichen 
Lebens führten darauf, ven Werth der Jungfräufichkeit herabzufegen, und natürlich 


844 Maria, die heilige Jungfrau. 


alfo vor Allem die glorreichfte Blüthe derfelben zit verbunfeln. Wo die 

einmal entriffen oder entſtellt find, kann die Auflöfung des Höheren ſittlichen Le— 
bens nicht ausbleiben. Daß bei Helvidius und Jovinian diefes practifche Motiv 
den nächften und meiften Antheil an ihren Aufftellungen gehabt, tritt ganz uns 
verbfümt hervor; und daß in den fpäteren Zeiten und heutzutage die Herabftims 
mung der fittlichen Lebensforderungen auf ähnliche Umdentungen der Bibel-wieder 
geleitet Habe, wird fchwerlich Jemand: verfennen. — Maria’s höchſte Würde aber 
begründet, daß fie ift Deipara, daß fie Gottes Eingebornen in ihrem Fleiſche 
empfangen und geboren hat. „Darum auch, ſprach der Engel, wird das aus dir 
geboren werdende Heilige Sohn Gottes genannt werden“, Das nämlich iſt die 
Spitze des Fatholifhen Dogma's, daß der, welcher won Ewigkeit erzeugt aus 
Gott, bei Gott perfönlich fubfiftirte, Daß dieſer Nämliche in der Zeit empfangen 
und geboren worden ift als Sohn der Jungfrau aus «der Jungfrauz oder wie 
Ignatius d. M, es ausdrückt ad Ephes. c. 18: „Denn unfer Gott Jeſus Chriſtus 
wurde im Leibesfchoße getragen (ExvVoP097I7) von Maria , ‚gemäß der. Aus 
ordnung Gottes, aus Davids Samen zwar, aber vom hl. Geifter Einer iſt 


Arzt, fleiſchlich ſowohl als auch geiftig, geworden: und ungeworden, im Fleiſch 


geborner Gott, ... . fowohl aus Maria als auch aus Gott“, — genau fo, wie 
auch Paulus Gal. 4, 6. Röm. 1, 3. denfelben Lehrſatz vorträgt. Der Name 
„Sebärerin Gottes“, „Mutter Gottes“ iſt in fofern und: weil der im ihr 
eingefleifchte und aus ihrem: Fleifche wirklich Geborene ewiger und gleichweſent⸗ 
licher Sohn ift mit Gott dem Vater, nicht bloß vollfommen adäquat dem Sad 
verhältniffe, fondern ift auch biblifch, indem Eliſabeth fchon, erfüllt: vom hl, 
Geifte, Maria begrüßte als „Mutter Gottes ihres Herrn,” Die Bezeichnung 
Oe0roxos, ſchon fehr alt, umfaßt alle hier in Rede ftehenden Beziehungen und 
drücft das Dogma von der Incarnation wie am Kürzeften.fo am. Schärfften aus, 
Das Prädicat wurde allmählig um fo folenner, als die älteren Härefien faſt ohne 
Ausnahme um das Verhältnif des Göttlichen und des Menfhlichen, oder, was 
daffelbe ift, um die Lehrbeftimmung über die Fleifchwerdung des Logos ſich be— 
wegten, und die Katholiken ihrerfeits nach verfchiedenen Seiten immer einen und 
denfelben Satz zu vertheidigen hatten, daß der Sohn Gottes in Maria der Jungs 
frau mit gemeinmenfhliher Natur empfangen, zugleich vollkommener Gott und 
vollkommener Menſch, als Gottes Sohn und als Menfhenfohn aus ihr geboren 
worben fei. Die vollendetfte Ausprägung und feierlichfte Darlegung fand diefe 
Neberlieferung gegenüber den Diftinetionen, durch welche zulegt Neftorius (j.d. A), 
nach dem Vorgange des Paulus von Samofata, dann nad) den einſeitigen bib— 
liſchen Interpretationen des Divdor von Tarfus, Theodor von Mopfuefte, der 
Lehre von der Incarnation, eine Geftalt zu geben unternommen hatte, wodurch 
der Begriff der Oe0roxog als unangemeffen befeitiget wurde, Daß er die ge= 
meine Tradition nicht für fich habe, geſtand Neftorius zu; feine und feiner Lehrer 
Argumente waren bialectifch-biblifcher Natur, Ihre Prüfung und Entkräftung 
forderten, da fie mit feiner Grundanſchauung vom Erlöfungswerfe verwachfen 
waren, die Väter zur fubtilften Erforſchung der. hl. Schriften aufs Die Frucht 


aber war, daß das Prädicat Oeozoxos noch beftimmter und entſchiedener der hi. 


Jungfrau beigelegt und gegenüber der Härefie gefeiert wurde, — Eben dieje dog- 
matifche Thatfache und diefe Würde Mariens gründete ihr im innigften Zufammen« 
hange mit der Fortüberlieferung und Bertheidigung des. apoftoliihen Glaubens 
im Fortgange der Zeiten jene eminente Verehrung, womit fie in der katholiſchen 
Kirche aller Zungen gefeiert wird. Es wurbe gefagt: „im Fortgange der Zeiten“. 
Denn daß der Marianifche Cult gleich in dem erſten bis dritten Jahrhunderte 
ausgebildet vorhanden gewefen, wie im fünften und den folgenden Jahrhunderten, 
dürfte ſchwer zu beweifen fein, Bei allen großen Perfönlichkeiten wird ihr Werth 


und ihre fittlihe Größe und Bedeutung erſt erfannt und empfunden, wenn fie k 


. Maria, die heilige Jungfrau, 845 


vollendet und dem Erdenleben entrüdt find. Es tritt diefes bei dem Haupte und 
Bollender affer Heiligen, bei Jeſus Chriſtus, recht augenfällig hervor. „Unfer 
Gott Zefus Chriſtus, bemerkt Ignatius d. M. ad Rom. c. 3., tritt nun, im Vater 
feiend, mehr im die Sichtbarkeit herein“; So ging es auch mit der Mutter des— 
felben, Ihr Name fing an zw glänzen, als fie nicht mehr auf Erden gefehen 
wurde, Die bloß irdifchen Verhäftniffe gingen im Bewußtfein mehr und mehr 
zurüd, dafür aber trat defto Teuchtender hervor, was Gott in feiner Gnade an 
ihr gethan , und was fie in der Sache unferer Heilßbereitung für ung gewirkt, 
Dabei Fann und darf nicht verfannt und geläugnet werden, daß die Entfaltung 
ihres Ruhmes wie die Verehrung, welche ihr gezofft wurde, gleichen Schritt geht 
mit dem Kampfe gegen und mit dem Siege über die Härefie. Und es wäre nicht 
zu viel gewagt, wenn man behaupten wollte, daß der der Hl. Jungfrau im 
wachfenden Maße zugewendete Eult eine Art begeifterter Genugtbuung und 
Huldigung fei, weldhe man in der Kampfes- und Siegesfreudigfeit ihrem Namen 
brachte. So liegt e8 zum Mindeften in der Geſchichte. Je mehr die Chriften- 
heit oder die Kirche mit aller Wonne an dem Gedanken hängt: „Gott menſch— 
lich fihtbar geworden zur Neuheit ewigen Lebens“ (Ignat. M. ad Ephes. 
0,19), defto weniger ließ fie ſich durch häretifche Sophiftif Tosreißen von dem 
durch die Authorität der Apoftel ihr verbürgten Factum und Sate, daß Gottes 


° Eingebornen, der uns in feinem Blute ausgeboren, uns Maria aus ihrem Bfute 


eingeboren habe. Begreiflih wurde darum ihr Name mit feierlihdem Nachdrucke 
vorangeftellt und in das Befenntnif feierlich aufgenommen. „Unfer Gott Zefus 
Epriftus wurde von der Jungfrau Maria dur den HI. Geift im Schooße em- 
pfangen, getragen und aus ihr geboren” (Ignat. M. ad Ephes. c. 7. ad Trall, ce. 9. 
ad Smyrn. c. 1.etc.), wurde als Antivotum gegen alle häretifche Lehrcorruption 
eingeprägt, Nicht lange, fo nöthigte diefelbe Controverfe auch, die katholiſche 
Auſchauung tiefer zu begründen, Als nähfte fruchtbare Parallele bot ſich dar die 
Stammmutter unferes Geſchlechtes. Man fand es ganz entiprechend der Orb- 
nung der göttlichen Deconomie, daß „wenn durch eine Jungfrau, Eva, von der 
Schlange durch Annahme ihres Wortes befruchtet, Ungehorfam und Tod geboren 
hatte, dagegen durch eine zweite Jungfrau, Maria, auf des Engels Botichaft 
bin vom hl. Geifte befruchtet, Der geboren worden ift, durch welden Gott vie 
Schlange und die ihr verähulihten Engel und Menfhen entmächtet (Justin. M. 
Apol. 1. c. 100. Vgl. Iren, adv. Haer. Ill. 22. Tertull. de carne Christ. c. 17. 
Epiphan. Haer. LXXVIH. n. 18.). ©», urtheilte man, fei die rüdftändige Schuld 
des Weibes wieder reparirt worden, indem, wenn Eva aus einem Manne ents 
fprungen war, hinwiederum nun Maria, ohne Zuthun eines Mannes, aus ihr 
allein, "durch die Einwirkung des Geiftes, Jefum Chriftum geboren hat (Cyrill;: 
Hieros, Cat. XII. n. 19.). Und fein Wunder: je Harer und lebendiger man fich 
von der Idee angefprochen fühlte, daß durch die Einfleifhung aus Maria der 
Jungfrau eine geiftige Neufhöpfung angebahnt worden fei, defto inniger fühlte 
man ſich hingezogen zu dem Bilde derjenigen, dur deren nächſte Vermittlung 
diefer Umſchwung in der religiöfen Geſchichte unferes Gefchlechtes oder des Reiches 
Gottes eingeleitet wurde. Der Fortfchritt ihrer Verehrung darf daher nicht über»: 


raſchen. Je weiter die Härefie im Zeitenlaufe mit ihren Angriffen fich vorwagte, 


je mehrere der Lehrpuncte fie antaftete, defto weiter ward der Name der Qsoro= 
»08 vorgerüdt. Es ift nämlich eine fhon von Irenäus beobachtete und feitdem 
hundert Mal bewährte Erfahrung, daß alle Härefie von der Läugnung der In— 
carnation des Logos aus der Jungfrau entweder ausgeht oder damit enbiget, 
Daher denn in jener Bezeichnung eine Art Schibboleth der Katholiken enthalten 
ift gegen alle Härefie, wie denn der hl. Eyriffus von Alerandrien in der Ne— 
fiorianifhen Controverfe fein Bedenken trug, auszufprehen: Magie dori Ozo- 
oxos, vörcorı megwdeijun ıjs zudohırjsiahndelas. Bon diefer Seite 


846 Maria, die heilige Jungfrau. 


aus begreift fih eben fo einfach als gefhichtlih der Eult, welcher Maria der 
Jungfrau in der Fatholifchen Kirche erzeigt wurde und wird, Derfelbe ift mit der 
Tatholifchen Lehrüberlieferung auf das Innigſte verwachſen. Diefer Cult läßt ſich 
aber auch noch von einer andern Seite aus auffaffen, Maria ſteht zugleich als 
eine fittliche Größe da, welcher nicht vor noch nad eine andere zur Seite geftelft 
werden darf, Wir haben hier nicht im Mindeften vor, zum Panegyrifer zw wer- 
den; nur was dafteht, fol unbefangen in's Auge gefaßt und gewürdiget werden, 
Wie fie daſteht, ift fie ein hehres Gewächs, gepflanzt und großgezogen durch 
Gnade, und obendrein dazu bereitet, damit ein neues Geſchlecht fi daraus ent- 
falte, Als fhöne Blüthe erfheint an ihr die: gottgeweihte JZungfräulichkeit, In 
ihr aber, als worin das Gefeg der gemeinen Natur aufgehoben oder unterthan 
gemacht fich zeigt vom Geſetz des Geiftes, und worin nach Jeſu Ausfpruch dieſer 
einft feinen Triumph feiern wird, erfcheint zuvörderſt die Vollkraft der geftalten- 
den und verflärenden Gnade des Geiſtes. Maria fteht in diefer Hinficht als 
Blüthe wie der Zeit fo der Sache nad oben an, Und wenn es das Tebhaftefte 
Beftreben der Kirche iſt, daß das von Chriftus eingefenfte Element des Geiftes 
in Allen durchgebildet und die vorgehaltene Idee treue Nachgeftaltung finde: fo 
begreift fih auch wohl, warum und wozu fie jene fo einzige Perfönlichkeit, „wor= 
aus wie aus einer Wurzel fortan die jungfräulichen Zweige: ſich ausbreiten“ 
(Athanas. Fragm. in Lue. I. 46. T. I. P. U. p. 120), fo hellſtrahlend emporhebt. 
Es ift der Fatholifchen Kirche, der Härefie gegenüber , eine in's tieffte Bewußtfein 
und Gefühl eingeprägte Vorſtellung: wahre gottgeweißte Jungfräulichkeit fei der 
Triumph der geiftigen Gnade, fei die nächfte Berührung des Zieles unferes Ge- 
fohlechtes in englifcher Verklärung. — Das Chriſtenvolk fühlt fih aber auch fonft 
noch an fie hingezogen. „Hat die Jungfrau Maria durch Glauben und Gehorfam, 
um mit Jrenäus zu veden (adv. Haer. V.), die Bande gelöst, welche Eva durch 
ihren Ungehorfam gefnüpft“, und „ift fie fo die Fürfprecherin der Mutter Eva ge— 
worden”, ſo dehnt fich dieß Verhältniß begreiflich auf das ganze Gefchlecht aus, 
welches jener erften Mutter entfproffen, jene Feffeln der Sünde und des Todes 
von ihr geerbt hat. Schwerlich wird man fich der aus der Fleifchwerbung des 
Sohnes Gottes neugeftalteten Gnadenverhältniffe vollfommen bewußt werben 
fonnen, namentlich der daraus erblühenden Freiheit, ohne von ähnlichen Betrach- 
tungen und Empfindungen gehoben zu werben, Dazu fommt noch eine weitere 
Erwägung. Maria, die Gebenedeite, ging lernend und Teidend die Schule des 
Gehorfams. In dem aber, daß und was fie gefühlt, gelitten und gelernt, ver- 
mag fie ihres Theils Mitleid zu fühlen mit denen, die da unwiffend find und 
irren, und ift fie vollendet nun bereite mitleidsvolle Helferin denjenigen, welche 
noch mit den Verfuchungen ringen, Es ift hier nicht der Ort, die gegebenen An— 
Deutungen nach den verfchiedenen Beziehungen bin zu verfolgen; fiher aber dieſe 
aus den evangelifhen Thatfachen gefchöpften Anfchauungen die wahre Grundlage 
des Marianifchen Eultes, welcher in dem katholiſchen Kirchenwefen eine fo aus— 
gezeichnete Stelle einnimmt, Er ift wahr für Jeden, dem das Chriftenthum nicht 
ein Syſtem von abftracten Lehren, fondern eine lebendige, in der Gefchichte der 
Menfchheit wurzelnde, in gnädiger Annäherung Gottes zu unſerem Geſchlechte 
fi erfülfende und vollendende Religion ift, Wie die Kirche dadurch, daß fie alle 
befannteren Momente im Leben der HI. Jungfrau in ihrem Feſtkreiſe liturgiſch 
firirt und fo die Thatfachen unferer Heilsveranftaltung hiftorifch fefthält und gegen 
Verdunklung fhügt, der Lebendigkeit der Glaubensüberlieferung einen unverfiegbaren 
Zufluß zuführt: fo wird dadurch, daß fie die hohen fittlichen Charaktere, die Ge— 
bilde der Gnade, als folche bezeugt durch bie Stimme Gottes, hellleuchtend 
voran und ober fich ſtellt und Hält, verhütet, "daß je der Mafftab der fittlichen 
Forderungen fich ifr verringere, oder das Bild erbleiche, welches der Einzelne, 
jeder in feiner Befonderheit, nachzuformen hat, — Wurde hier aus dem Fonde 





Maria von Agreda — Marian, bie Katholiſche. 847 


der evangelifchen Gefhichte der Marianiſche Cult in feiner Berechtigung hingeſtellt, 
fo ift nicht zugleich auch nothwendig, die richtigen Gränzen näher zu marfiren, welche 
in dem Dogma ohnehin gegeben find (j. den Art. Gultus latriae). [Reithmayr.] 
Maria von Agreda, Dberin ded Conventd der Franciscanerinnen zu 
Agreda in Spanien, geboren zu Agreda 1602, geftorben 1665, über deren Leben 
Görres in feiner Myſtik weitläufig fih verbreitet, befonders Bd. I. S. 482— 
495 und Bd. II. S. 349, hat auf Geheif ihrer Vorgefegten und, wie fie felbft 
dafür hielt, von Gott getrieben und geführt, mehrere Schriften verfaßt. Unter 
diefen  fteht das Leben der jungfräulichen Gottesgebärerin oben an (Ciudad de 
Dios), anhebend mit Mariens Verkündigung vor ihrer: Geburt: und dann ihr 
ganzes Leben durhführend von ihrer Geburt bis zum Tode, mit Einflechtung des 
Lebens Chrifti bis zu ihrem Hingange. Da diefes Buch nach ihrem Tode dur 
Die Franeiscaner, deren Drden fie angehörte, zum Drude befördert und als gött- 
lihe Dffenbarung geltend gemacht wurde, fo regte fich dagegen von allen Seiten 
ber bald ein großer Widerſpruch. Die Sorbonne bob 1696 mehrere Artikel dar- 
aus hervor und verwarf fie als falfch und der reinen Lehre widerfirebend. Das 
fpanifche und portugiefifche Inquifitionsgericht verboten das Werk, und die. Eon- 
gregation des Inder zu Rom that 1710 desgleichen. Unter den verfchiedenen 
Theologen, welche gegen „die Stadt Gpttes“ ſchrieben, ift der berühmte Theolog 
Amort (ſ. d. A), Canpnieus des Stifts Pollingen in Bayern, zu nennen (ſ. 
deffen Schriften de revelatione, visionibus et apparilionibus privalis, controversia 
de revelationibus Mariae Agredanae). Natürlich hatte das Buch auch feine Ber- 
theidiger, namantlih aus dem Drden der Franciscaner, welche überdieß die Ca- 
nonifation der Berfafferin eifrig befrieben, Bei unparteiifcher Prüfung diefeg 
Buches möchte wohl das Urtheil des fel. Görres das gerechtefte und billigfte fein, 
Ohne allen Zweifel, fagt Görres (I, 352), ift eine große myſtiſche Anſchauung 
in diefem Buche ausgelegt, fein fpeculativer Theil ift mit großem Tieffinn durch- 
geführt, und fein Hiftorifcher fchildert zuweilen mit großer Anfchaulichkeit die ein- 
zelnen Umftände und Ereigniffe; aber was die Form belangt, fo Täßt fih wenig 
zu feinem Lobe beibringen. Ferner, bemerkt Görres, fann die Schrift von ver— 
fchiedenen Irrungen nicht freigefprochen werden: fie ſteht in einer bedenklichen 
Inhalts-Verwandtichaft mit den Apoeryphen „de nativitate b. V. Mariae et de 
infantia Jesu“, fie enthält verfchiedene chronologiſche, Hiftorifche und anderer Art 
Irrthümer, fo daß fie alfo der Sicherheit und Zuverläffigfeit entbehrt. Gewiß 
ift, daß dieſes Buch und die Vifionen, die Agreda gehabt, die Canpnifation der- 
felben feither eher gehindert als befördert Haben. Uebrigens ift fogar in Frage 
gezogen worden, ob Maria Agreda die Berfafferin fei. [Schrödl.) 
Maria, die Katholiſche, Königin von England. In den traurigen Wir- 
ren, welche die Reformation in Großbritannien zur Folge hatte, glänzt die Kö— 
nigin Maria als eine Regentin, welcher das Wohl ihrer Unterthanen aufrichtig 
am Herzen lag. Leider hat ihre Gefchichte in der eigenthümlichen Parteilichfeit 
der Proteſtanten eine fehr düftere Seite erhalten, welche aufgeklärt zu werden 
verdient, Ihre Regierungszeit fällt in jene Periode, in der die Gefhichte Eng- 
lands: mit Blut gefhrieben iſt. Sie war die Tochter Heinrich$ VIII. (ſ. d. A) 
und feiner erften rechtmäßigen Gemahlin, der unglüdlihen Catharina von Ara- 
gonien, und erblickte am 8. Februar 1515 das Licht der Welt. Durch die Ver— 
beirathung ihres Vaters mit Anna Boleyn wurde fie, die nächfte Erbin des Thro— 
nes, zum Baftard geftempelt, jedoch durch teftamentarifche Beftimmung deſſelben 
nach feinem Sohne Eduard VI. wieder als die nächfte Thronerbin bezeichnet. Unter 
Eduards VI. Regierung nun ging England vom Schisma zur Härefie über, die 
durch alle Gewalt der Tyrannei durchgeführt wurde, Nach dem im Juni 1559 
erfolgten Tode Eduard's VI. erklärte fih das Volf gegen die Ufurpation der Jo— 
hanna Grey für feine rechtmäßige Königin Maria (1553 — 1558). Sie hielt 


848 Maria, die Ratholifhe 


unter dem unbändigſten Jubel des Volkes mit ihrer heuchleriſchen Halbſchweſter 
Eliſabeth am 31. Juli ihren Einzug in London. Derſelbe Jubel a ſich = 
auf ihrer ganzen Reife von Framlingham in Souffolk wohin fie fich geflüchtet 
hatte, gezeigt, und alle englifchen Gefhichtsquellen ſtimmen darin übereit, daß 
eine ſo große Pracht und eine fo allgemeine Freudigkeit noch bei feiner Krönung 
zuvor gefehen worden fei (f. Lingard, Geſch. von England, überf, von Salis, 
Franffurt a. M. 1828. Bd; VI. S. 141. Eobbett, Gef. der prot. Reform, 
in England und Irland, teutſch, Afchaffenburg 1838, Fehr, Geſch, der euro- 
päifchen Nevolutionen feit ber Neformation, Bd, L ©.49). Zwar berichtet uns 
Hume, das Volk habe die Grundfäge der Königin nicht geliebt; allein dagegen 
forechen außer Thatfahen und Duellen felbft pfychologifhe Gründe, Das Bolt 
ift feinen innerften Wefen nach couſervativ, ganz befonders aber in Sachen der 
Religion. Wie nun wäre es zu erflären, wenn ein Volk, das erft vor drei Jah— 
ren in allen Theilen des Königsreichs gegen die neue Kirche und ihre Stifter auf- 
geftanden war, fih nit über die Thronbefleigung einer Fürftin gefreut Hätte, 
von der es nichts wußte, als daß fie das verhaßte neue Kirchenthum ſtürzen 
werde, Der Anfang ihrer Negierung war gemifcht mit Milde und Ernſt. Noch 
bevor fie Durch den eben feiner Haft entlaffenen Oardiner nach dem: katholiſchen 
Ritus gekrönt worden war, erließ fie zwei Prockamationen, für welche fie das 
ganze Volk fegnete. Durd die erfte fchaffte fie die fchlechte Münze ab, die ihr 
Bater eingeführt und ihr Bruder noch mehr verfchlechtert hatte, und durch bie 
zweite erließ fie dem Volke zum Danfe für feine bewiefene Anhänglichfeit an fie 
vie im legten Parlamente bewilligte Subfidie und bezahlte zugleich die feit- drei 
Sahren rüdftändigen Thronfchulden; eine allgemeine Amneftie ſchloß nur 60 na⸗ 
nıentlich genannte politifche Verbrecher feit ihrer Thronbefteigung aus, Im Rathe 
von lauter Feinden umgeben, bat fie, den teutſchen Kaiſer, Carl V. (1, d. A.) um 
feine Meinung in Betreff der Beftrafung der Verſchwörer und Wiedereinführung, 
des Katholicismus. In erfterer Beziehung rieth derfelbe zur Beftrafung, empfahl 
jedoch Milde fatt voller Gerechtigkeit. Nun traf.von allen Gefangenen bloß die 
fieben am fihwerften Gravirten gerichtliche Verfolgung. In Betreff der Religion 
vieth ihr der Kaifer, Nichts ohne Zuftimmung des Parlamentes zu ändern, Sie 
beftand daher zunächft auf dem Nechte, für fih im Palafte katholiſchen Gottes- 
dienft zu halten, gab aber zugleich mehreren unter: der vorigen Regierung ab— 
gefesten Bifchöfen ihre Bisthümer zurück. Durch die reformirten Prädi— 
canten aufgeftachelt, Ließ e8 bald der Pobel der Hauptftadt nicht an Tu— 
multen über eine Meffe fehlen. Die veranlaßte die Königin zu der Erflärung, 
daß fie Niemanden ohne gemeinfchaftlihe Zuftimmung zu dem Befenntniffe ihrer 
Religion zwingen werde, daß es aber Jedermann auf's Strengfte verboten fei, 
das Volk zum Aufruhr zu reizen oder durch die Schimpfworte Papift und Ketzer 
aufzuregen. Durch die Converfion der Prinzeffin Elifabeth ſchwand die letzte 
Stüße und Hoffnung der Neformirten, und Cranmer (ſ. d. A.) wurde wegen Der» 
ſuchs zum Aufruhr in den Tower geſchickt. Am 3. Detober eröffnete Maria ihr 
erftes Parlament, und Peers und Gemeine wohnten der üblichen Heiliggeiftmeije 
bei, Einftimmig wurde in beiden Häufern die Che Heinrichs VIIL mit Catharina 
von Aragonien als gefegmäßig anerkannt und dadurch ſtillſchweigend Elifabeth als 
Baftard erflärt. Ebenſo wurde am 8. November die Bill in Betreff der Wieder- 
einführung des Katholieismus angenommen, jedoch geſchah Huger Weife der Re— 
flitution des Kirchenguts und der päpftlichen Suprematie, welch’ letztere ein drei⸗ 
Figiähriges Schisma in Miferedit und Vergeffenheit gebracht Hatte, Feine Er— 
wähnung. Man verharrte alfo noch beim Schisma, und auch Maria nahm dem 
ihr verhaßten Titel eines Dberhauptes der Kirche an, Eine Verſchwörung gegen 
ihre Negierung im Januar und Februar 1554 hatte die Hinrichtung von drei Ins» 
dividuen zur Folge, „eine Milde, fagt Lingard a, an, D, ©, 185, bie, wenn man 


ee ee en v — ———— 


Maria, die Katholiſche. 849 


Aalle Umflände erwägt, in der Geſchichte jener Zeit vielleicht ohne Beifpiel if.” 
Dafür ward die Königin ſowohl vom Kaiſer als auch von ihren Raͤthen hart ge- 
tadelt, und num adoptirte fie von dieſen den Grundfag, daß Straflofigfeit die 
Nebelgefinnten zu neuen Verbrechen ermutbige, und daß daher gegen diefe die 
volle Strenge angewendet werden müffe. Nun büßten auch Johanna Grey und 
ihre Gemahl die Betheiligung an der Verfhwörung mit dem Tode. Fünfzig über- 

- gegangene Soldaten wurden flandrechtlich gehängt, aber 400 begnadigt und die 

Meiften, welche im Tower den Aufruhr bereuten, in Freiheit geſetzt. „Diefe 

Hinrichtungen, fagt Lingard a. a. D, ©. 188, haben einige Shhriftfteller be— 

wogen, Maria unnöthige Graufamfeit vorzuwerfen. Wer fie aber mit ihren 

Zeitgenoffen unter ähnlichen Umftänden vergleicht, dürfte nicht geneigt fein, jener 

Meinung beizutreten. Wurden in dem Hier befprochenen Fall 60 Aufrührer ihrer 

Gerechtigkeit oder ihrem. Zorne geopfert, fo werden wir in der Geſchichte der 

nachfolgenden Regierung fehen, daß nah einer Empörung von minder furdht« 

barem Ausfehen einige 100 Dpfer erfordert wurden, um die beleidigte Majeftät 

Eliſabeths zu befänftigen“. Da indeß die letztere bei diefer Verſchwörung be— 

theiligt war oder doch um fie wußte, jedenfalls ihre Unfhuld nicht beweifen 

fonnte, wurde fie in den Tower gebraht und harrte hier des Schickſals ihrer 

Mutter, als fie durch Gardiner's Vermittlung wieder ihre Freiheit erhielt, Nach- 

dem der von den Neformirten aufgeftellte Sag, daß die Herrſchaft eines Weibes 

der göttlichen Anordnung widerfpreche, durch das Parlament befeitigt war, ver- 
ehelichte fid Maria am 25. Zuli 1554 mit Philipp, Infanten von Spanien, 

Sohn und Erben Carls V. Das Parlament Hatte in diefe Ehe unter der Be— 

dingung gewilligt, daß Philipp Feine Negierungsrechte beanſpruche, felbft nicht 

nad Darien’s Tode. So in ihrer Macht befeftigt, glaubte fih Maria zur Wieder- 
einführung des Katholicismus verpflichtet. Schon wurden beweibte Priefter ent- 
laffen, fhon durch Gardiner mit päpflliher Erlaubnig Fatholifhe Prälaten ge- 
weiht, um die wenigen proteftantifchen Biſchöfe zu erfegen, aber das hauptſäch- 
lichſte Hindernig bildete das Kirhengut, an deffen Raube fih die höhern und 
höchſten Stände betheiligt hatten, und das durch Kauf und Vererbung in ganz 
verfchiedene Hände gelangt war, Indeß wurde von Papft Julius IN. eine Bulle 
erwirft (Det. 1554), durch welde er feinen Legaten Pole ermächtigte, Alles 
unter Heinrich VI und Eduard VI. der Kirche entriffene Gut den gegenwärtigen 

Befigern defjelben abzutreten und zu überlaffen. Nun erflärte der Kanzler am 

21. November bei Eröffnung des dritten Parlamentes, dag Ihre Majeftäten vor 

Allem die Wiedervereinigung mit der alten Kirche hoffen. In der That wurde 

fhon Tags darauf die Verurtheilung des Cardinals Pole widerrufen, worauf 

diefer feierlich in London einzog. Die Wiedervereinigung ging in beiden Häufern 
beinahe mit Acclamation dur, bei den Lords einftimmig, und bei den 300 Ge- 
meinen erhoben fi nur zwei Stimmen, aber auch diefe verzichteten am andern 

Tage auf den Widerſtand. Nun wurde den Majeftäten eine Petition überreicht, 

des Inhaltes: „Sie gedächten reuevoll des Abfalls des Reiches vom apoſtoliſchen 

Stuhle, feien bereit, jedes diefen Abfall verurfachende oder befräftigende Statut 

zu widerrufen, bofften durch die Vermittlung beider Majeftäten, die an der Sünde 

feinen Theil genommen, von allen Kirchenſtrafen abfoloirt und wieder in den 

Schooß der alfgemeinen Kirche aufgenommen zu werden.” Am 30. November, 

am Feſte des Hl. Andreas, abfoloirte der Legat im Beifein beider Majeftäten im 

Parlamente „alle Anwefenden, die ganze Nation und deren Länder vom jeder 

Ketzerei und jedem Schisma, fowie von allen Urtheilen, Cenfuren und Strafen, 

worin fie deßhalb verfallen, und nahm fie wieder im Namen der HI, Dreifaltig- 

keit in die Kirche auf.“ Amen“! ertönte es von allen Seiten, das Parlament 

erhob fih von den Knieen und folgte dem Könige und der Königin in die Ca- 

pelfe, wo das Te Deüm gefungen wurde, Nachdem auf diefe Weife England 
Kirdenlsziton: 6. Br. 54 





350 Maria, die Katholiſche. 


wieder ein Fatholifches Land geworden war, waren von felbft die Mafnahmen 
bezeichnet, die Parlament und Regierung zu befolgen hatten. Der Legat erklärte 
die Rechtmäßigkeit des Befiges von Kirchengütern, diefe wurde durch das Parla- 
ment beftätigt und zugleich alle Beichlüffe gegen die päpſtliche Auctorität wider- 
rufen. Im Januar 1555 folgte dann die Begnadigung mehrerer bei einem neuer- 
lichen Aufftand betheiligter Individuen, und auch Eliſabeth fam wieder an den 
Hof, — Wir haben nun in dem Folgenden von dem Berhältniffe Maria’s zu den 
Neformirten zu fprechen. Dabei haben wir an Zweierlei zu erinnern: einmal, 
daß Maria in einem Zeitalter lebte, wo von religiöfer Freiheit nirgends die Rede 
war, wie dieß das Benehmen der Reformirten in England felbft unter Eduard VI. 
am deutlichften gezeigt hatte, und wie es unter Efifabeth (ſ. d. A.) noch furchtbarer 
bervortrat, und fodann, daß die Neformirten jetzt eine religiös-politifche Seete 
bildeten. Maria für fih war für mildes Verfahren gegen biefelben (f. den Be- 
weis bei Lingard a. a, D. ©. 218); aber noch im December 1554 war in beiden 
Häufern eine Bill zur Wiedereinführung der Kegerftrafe durchgegangen, von ber 
Maria nur die gefegmäßige Bollftrederin war. Während dann die gefangen ge— 
festen reformirten Prediger eine demüthige Adreffe an die Königin richteten, be- 
tete im Abendgottesdienfte am Sylveftertage der berüchtigte Prediger Roß: 
„Gott möge das Herz der Königin befehren oder fie von diefer Welt nehmen”, 
Und fo follte im J. 1555 der Sturm gegen die Reformirten Tosbrechen, Am 
23. Januar wurde der Proceß gegen die angefehenften reformirten Prediger im 
Gefängniffe eröffnet; von den ſechs Angeklagten widerrief Einer und ein Anderer 
bat um Frift, die andern vier, unter ihnen der Biſchof Hooper, konnten nicht zum 
Widerruf vermocht werden, wurden daher ercommunieirt und dem weltlichen Ge— 
richte übergeben und büßten auf dem Scheiterhaufen, Bald traf daffelbe Schick- 
fal noch feh8 Andere, ohne Zweifel, weil der Fanatismus der Proteftanten neue 
Exceſſe hervorrief, wie denn in den Graffchaften Cambridge, Suffolk und Nor- 
folf eine new organifirte Verſchwörung entdeckt wurde, in deren Folgen mehrere 
Dpfer fielen und auh das Schickſal Cranmer’s (ſ. d. A.), Rudley’s und Lati- 


mer's entfchieden wurde, Allein je firenger man gegen die Neger verfuhr, defto 


ungeflämer wurde der Eifer ihrer Prediger. Daher dauerte die Verfolgung wäh- 
rend der ganzen Regierung Maria's mit unterbrechenden Zwifchenräumen fort. 
Die Zahl der Hingerichteten beträgt nah Lingard a,a,D, ©.239 beinahe 
zweihundert Menfchen, nah Hume, der wiederum nach For zählt, 279 Perjonen, 


unter denen jedoch viele wirflihe Verbrecher und Verfchwörer fich befanden, und 


nur Wenige wurden ihres bloßen Glaubens wegen hingerichtet. Es ift ſchon an 
einem andern Drte erinnert worden (f, den Art. Großbritannien), daß diefer 
Umftand in Rückſicht auf die zahlreicheren Opfer unter Heinrih VI und Elifa- 
beth nicht dazu berechtige, Maria des Blutdurfts zu befchuldigen, fo fehr unfere 
Zeit ein folhes Verfahren gegen Andersgläubige mißbilligt. Als gefeglihe Voll⸗ 
fireferin der Strafgefege gegen die Häretifer mußte fie gegen die Neformirten 
um fo ftrenger verfahren, als diefe das Volk gegen die Königin fanatiffeten und 
nicht aufhörten, gegen den zu Necht beftehenden Katholicismus Toszudonnern, 


Bei alle dem war Maria's Regierung eine milde; als fie nach drei Jahren zum 
erften Male Steuern verlangte, begnügte fie fih mit einer geringern Summe, 
als das Parlament bewilligt hatte; fie überließ ferner im November 1555, weil 


fie feinen Theil am Raub des Kirchengutes haben wollte, der Kirche wieder bie 


Zehnten und Annaten im jährl. Betrage von 63,000 Pf, Sterling oder nach dem 
heutigen Geldwerthe von einer Million Pfund, gab alle Rirhen- und Klöfter« 
güter zurück, ſoweit fie in ihrem Befige waren, und ſtellte wieder mehrere Klöfter 


ur u 


ber; auch das Ordenshaus der Johanniter erhob fih wieder aus dem Schutte, 


Die Verfhwörung Dudley’s zum Sturze Maria's und Erhebung Eliſabeth's 
auf den Thron wurde vereitelt, aber dennoch fehlte es nicht an ftetd neuen Com- 





Maria de Mercede — Maria Stuart. 851 


5 plotten. Die legten Tage Maria's wurden verbittert durch den Verluft von Calais 
- an die Franzofen. Sie farb am 19. Nov. 1558, und nad ihr follte unter Efi- 


fabeth England mit Gewalt zu der neu etablirten Hochkirche (f. d. A.) Hinüber- 
gezogen werden. Es unterliegt feinem Zweifel, daß Maria zu hart beurtheilt wurde; 
fie war bloß Vollſtreckerin von Gefegen, die fie nicht felbft gemacht Hatte, und 
machte dabei nicht felten von ihrem Begnadigungsreht Gebrauch. Die gemäßig- 
teren Reformirten haben fie zwar nicht zu den größten, wohl aber zu den beiten 
englifchen Monarchen gezählt, Haben ihre Tugenden, ihre Frömmigkeit und Milde, 
ihr Mitgefühl für Arme und ihre Freigebigfeit gegen Nothleidende gepriefen und 
in alleweg ihre ſtrenge Sittlichfeit anerfannt, Die Hofdamen ahmten ihrer Ge— 
bieterin nach, und der Anftand, der an Maria's Hof herrſchte, ward oft lobpreiſend 
von denen erwähnt, welche die Ausgelaffenheit und Zügellofigkeit ihrer jungfräu- 
lichen Nachfolgerin beffagten. In Allem lag ihr das Wohl der Unterthanen am 
Herzen; fo unterließ fie die üblichen Reifen, die durch Lieferung von Lebens— 
mitteln und Befpannung der föniglichen Wagen zu niedrigen Preifen für den Land- 
mann drüdend waren, befchränfte ihren ländlichen Aufenthalt auf ihr Gut Cray- 
don im Erzbistum Canterbury und befuchte von da aus felbft die Hütten der 
Armen, um ihre Noth zu lindern. Vgl. au den Art. Irland. [Sebr.] 
Maria de Mercede, ſ. Marienfefte, übrige, und Gregor X. 
Maria Stuart, Königin von Schottland, ſtammte von großmütterlicher 
Seite von Margaretha, Heinrich des VI. von England ältefter Shwefter, die 
mit dem ſchottiſchen Könige Jacob IV. vermählt war; ihr Vater war Jacob V. 
von Schottland, ihre Mutter Maria von Guiſe. Im April 1558 wurde fie, 
15 Jahre alt, mit dem faft gleich alten Franz, Dauphin von Franfreih, vermählt, 
Nah dem Tode der englifchen Königin Maria, der Katholifhen, nahm fie den 
Titel Maria Stuart, Königin von England, und das Wappen diefes Königreichs 
an, wozu fie indeß vollkommen beretigt war. Dur die Anerfennung der le— 
gitimen Geburt der Fatholifhen Maria war Elifabeth nach rechtlichen Begriffen 


: zum Baftard geftempelt, alfo nicht thronfähig, und das Anrecht auf den englifhen 


Thron ging auf die fchottifhe Dynaftie über, Allein der Befisnahme diefer eng— 
lifchen Krone ftanden große Schwierigkeiten im Wege. Die Politif Philipps ‚von 
Spanien , des Gemahls Maria’s, der Katholiſchen, mußte gegen eine Bereinigung 


Englands mit Franfreih fein; England aber, in dem nunmehr die proteftantifhe 


Partei die Oberhand gewonnen hatte, verabfcheute an der Hand eines durch und 
dur corrumpirten Parlamentes eine Fatholifche Regierung und gewährte daher 
Elifabeth alle Mittel und alle Macht, fih als Königin zu behaupten, Noch ver- 
weigerte Maria mit ihrem Gemahl, der als Franz II. den franzöfifhen Thron 
beftiegen hatte, die Natification eines Vertrags, durch den fie auf Zitel und Wap- 
pen einer Königin von England verzichten follte; allein am 5. December 1560 
ftarb Franz H., und damit ward ihre Kraft gebrochen; fie hatte aufgehört, Köni- 
gin von Frankreich zu fein und fand fi veranlaft, nah ihrem Erbreih Schott- 
land zurüdzufehren. Damit begann die Fülle ihres Unglüds, während fie in 
Franfreih nur Freude und Wonne genoffen hatte; ihr Herz blieb daher in diefem 


Rande, wo fie in Elöfterlicher Einfachheit erzogen worden war, und wo fie den 


Lenz ihrer Jugend in allgemeiner Verehrung verlebt hatte. Die engliihen Mi- 
nifter fuchten ihrerfeits ihre Nüdfehr zu verzögern, weil fie befürchteten, fie Fönnte 
fi wieder verehelichen und dann ihre Anfprühe auf den englifhen Thron mit 
Nachdruck erneuern; ja fie follte fogar auf ihrer Nüdfehr gefangen genommen 
werden. Den Winter über brachte fie bei ihren Berwandten in Lothringen zu 
und tröftete fich in ihrem Schmerze damit, daß fie Elegien auf ihren verblichenen 
Batten fhrieb, fonnte aber auch jegt noch nicht vermocht werden, den genannten 
Bertrag zu ratificiren, und berief fih dabei auf den zu befragenden Willen ihrer 
ſchottiſchen Stände, Darüber wurde Elifabeth fo aufgebraht, daß fie ihr die 


54* 


852 . Maria Stuart. 


Erlaubniß, durch England zu reifen, verweigerte. Das beirrte indeg Maria 
Stuart niht, und fie fehrte im Auguft 1561 nah Schottland zurüf, entging 
glüdlich der in den Dünen auf fie lauernden englifchen Flotte und zog bald dar- 
auf unter dem Jubel des Volkes in der Hauptfladt Schottlands ein. Diefer Tag 
des Einzuges war für fie ein Tag der Freude und des Glückes, der einzige viel- 
leicht, den fie in Schottland erlebte; allein nur zu bald war fie dem Unglüde 
verfallen, Unter der Negentfchaft ihrer Mutter Maria (feit 1542, wo Jacob J 
farb) Hatte der Proteftantismus in der Form. des finfterfien Puritanismus, durch 
eine Parlamentsacte 1560 förmlich eingeführt, vollftändig die Oberhand gewonnen 
und fih in furdtbarem Trotze gegen die Regierung Luft gemacht, Als eine 
18jährige Wittwe, Königin eines durch und dur unterwühlten Landes, mußte 
fih Maria nad fremder Hilfe umfehen. Frankreich, durch bürgerliche und reli- 
gidfe Kriege zerriffen und zerfleifcht, konnte eine folhe unmöglich gewähren, und 
fo ſah fih Diaria Stuart genöthigt, um die Gunft der Königin Elifabeth von 
England zu buhlen. Da fie Beleidigungen leicht und gerne vergaß, wurde ihre 
Freundfhaft zu Eliſabeth eine aufrichtige, während diefe das Mißtrauen gegen 
eine Fürftin, nicht unterdrücen fonnte, in der fie immer noch eine Nebenbuhlerin 
um ihre eigene Krone erblickte, Daher verlangte fie Natificatiom des genannten 
Vertrags von Leith, worauf ſich Maria nicht einlaffen wollte. Eine zum Zwede 
der Vermittlung vorgefchlagene perfönlihe Zufammenkfunft beider Königinnen 
lehnte Elifabeth ab, vielleicht aus Eiferfucht über Maria's höhere Grazie, vielleicht 
auch aus Furcht vor der Wirfung, die deren Gegenwart auf ihre Anhänger in 
England haben könnte. Als Maria Stuart ihre Abficht, zu heirathen, kundgab, 
bot ihr Eliſabeth Dudley an; allein diefe fchlug ihn aus und wählte den Fatholi= 
fhen Grafen Darnley, einen Stuart, zu ihrem Gemahl, Da auf diefe Weife 
der Befehl Elifabethens, Maria müffe den Grafen Leicefter ehelichen oder feier- 
Lich verfprechen, Wittwe zu bleiben, nichts gefruchtet hatte, wiegelte Eliſabeth 
die Schotten auf, fi einer folhen Che zu widerfegen, und nun follte wieder ein- 
mal der Glaube des Evangeliums in Gefahr fein, weßwegen Maria beruhigende 
Erklärungen abgab; auch gelang es ihr, die Infurgenten aus dem Lande zu trei- 
ben, Indeß war die neue Che Maria’s nicht glücklich. Der Trunfenbold Darn- 
Iey, ein Wüftling, eigenfinnig, Leidenfehaftlih und unverföhnlich, wie er war, ge= 
nügte ihrem zarten Gefühle und ihrer feinen Bildung nicht, Darnley verlangte 
gekrönt zu werden, Maria gab diefes nicht zu, und nun warf diefer feinen ganzen 
Haß auf ihre Nathgeber, und insbefondere auf den gefangfundigen, aber im Alter 
fhon weit vorangerücten und mißgeftalteten Riceio, Diefer, ein Piemontefe, 
war mit der favoy’fchen Gefandtfchaft nach Schottland gefommen und wurde nach— 
mals zum franzöfifchen Secretär der Königin ernannt. Im Befige ihres vollften 
Vertrauens, nahm er bei häuslichen Zwiften die Partei feiner Königin; fonft war 
er als Ausländer und Katholik den ſchottiſchen Höflingen und Pradicanten verbaßt, 
Durch verfohiedene Umtriebe des ränfefüchtigen Grafen Murray gelang es, den 
Darnley von Maria zu trennen, ihn in das Bündniß der verbannten Großen und 
in das Intereſſe der Proteftanten zu verflechten, Zugleich wurde den Neformirten 
ungemeiner Haß gegen die Fatholifche Königin und ihren Fatholifchen Serretär 
als einen Agenten des Papftes eingeflößt: Auch mußte Maria der Hl, Liga bei» 
getreten fein, und fo Fam endlich die Berfchwörung zum Ausbrud. Es wurde 
Riccio im Gemache der Königin auf Anftiften und im Beifein Darnley's von 
ſchottiſchen Großen ergriffen, ihm das Schwert des Königs in die Bruft geftoßen, 
er hierauf in ein Nebenzimmer gefchleppt und bier dur 56 Dolchſtiche ermordet 
(9. März). Nun löste Darnley eigenmächtig das eben eröffnete Parlament auf 
und zugleich wurde befchloffen, Maria fo lange gefangen zu halten, bis fie das 
„Evangelium“ gefeglich einführen und ihren Gemahl frönen laſſen würde, Indeß 
gelang Maria die Flucht; fie Fonnte jedoch am 18, März wieder fiegreih in ihre 


” —R— 


Maria Stuart, 853 


Hauptſtadt einziehen, worauf die Mörder entflohen. Eliſabeth Hatte um diefe Ver- 
ſchwoͤrung gewußt und fie unterflügt, und. brachte jegt Maria ihre heuchlerifchen 
Glückswuͤnſche dar. Nun lebte Maria eine Zeit getrennt von Darnley, bis die 


Geburt eines Prinzen (des nachherigen Jacob I. von England) beide Gatten 
wieder näher brachte. Durch die Geburt diefes Prinzen, deffen Taufe nad ka— 
tholifhem Ritus erbitterte, vergrößerte fih die Partei Maria's in England, wo— 


durch die Eiferfucht Eliſabeths gefteigert wurde, Jetzt erhielt der Graf Jacob 
soon Bothwell das Bertrauen Maria’s, Um gegen die Feindſchaft Darnley’s 
geſichert zu fein, wollten Murray, der unterbeffen zur Partei der Königin über- 


getreten war, Bothwell und einige andere Lords die Königin zur Ehefcherdung 


vermögen; da aber diefelbe auf diefen Plan nicht einging, faßten fie den Ent- 
- Schluß, Darnley zu ermorden, Bothwell unternahm die Ausführung des Ver— 
brechens, die andern verpflichteten fich dagegen, ihn gegen üble Folgen ſicher zu 


ſtellen. Am 17, December wurde der Prinz getauft, und am 24. Morton und 


- 76 andere Verbannte begnadigt. Jetzt verließ Darnley, vielleicht um feine Miß— 


bilfigung bierüber zu zeigen, vielleicht aus Beforgniß, ermordet zu werden, den 


Hof und begab fi in das Haug feines Vaters zu Glasgow ; jedoch fam im Ja— 


nuar 1567 zwifchen ihm und der Königin die Ausföhnung zu Stande. Da ge- 
ſchah e8 am 10. Februar 1567, daß der von Dlattern genefene und in einem 
Landhauſe bei Holyrood von Maria mit aller Sorgfalt gepflegte Darnley ver- 
mittelft Pulver in die Luft gefprengt und ermordet gefunden ward, während 
Diaria in derfelben Nacht auf einen Ball in der Nachbarfchaft gegangen war, 
Bothwell wurde diefes Verbrechens angeklagt, jedoch vom Parlament frei- 
gefprochen. Ueber die Schuld oder Unfhuld Maria’ an diefem Verbrechen iſt 
viel geftritten worden. So viel ift aber über allen Zweifel erhaben, daß in dem 
Benehmen Maria’s vor der Unthat fich fein Grund zum Verdachte hiezu findet; 


zwar ftand fie mit Bothwell auf vertrautem Fuße und im Briefwechfel, aber in 


einer durchaus fchuldlofen Weife; auch war ihre Trauer über den Tod ihres Ge- 
mahls eine herzliche und aufrichtige. Gleichwohl Liegt in ihrem nachmaligen Be= - 
nehmen allerdings Manches, was einen Schein der Mitfchuld auf fie werfen 
fonnte, wenn auch hierin die Macht der Umftände und die Gemwaltthätigfeit Both— 
wells mildernd dazwifchen treten. Der leichtfinnige Bothwell überfiel nämlich die 
Königin und führte fie gefangen nah Dumbar (24. April), und hier wurde fie 
zehn Tage in Haft gehalten, bis fie eingewilligt hatte, Bothwell heirathen zu 
wollen. Das Alles mußte nun verabredetermaßen gefihehen fein, ohne daß fich 
für eine folhe Behauptung unumftößlihe Gründe beibringen laffen. Am 3, Mai 
wurde die Trauung vollzogen. Sie hatte indeß an ihm einen harten und grau— 
fanen Gemahl und wurde darüber oft in Thränen gefunden, Mit dem Abfchluß 
diefer Ehe fiehen wir an dem Wendepuncte der Geſchichte diefer unglücklichen 
Fürftin, die mit ihrer Enthauptung ſchließt. Hatte einmal die englifhe Politik 
bie Verwirrung der fihottifchen Zuftände für ihre Zwecke benützt, fo mußte fie 
dieß auch in Zufunft thun, fo fehr ed mit den Principien einer geläuterten Moral 
im Widerfpruch ftand, Aber auch die einfeitige Verfolgung der eigenen Intereffen 
von Seiten der fihottifchen Lords brachte Maria in's Verderben. Ihr Beftreben 
ging nun dahin, den ihnen verhaßten Bothwell zu flürzen, einen aus ihrer Mitte 
auf den Thron zu bringen und fo ihre eigenen Privilegien zu erweitern, Alfererft 
fondirten fie, welche Partei die Königin von England in dem bevorftehenden 
Kampfe nehmen werde, Elifabeth lehnte zwar eine bewaffnete Intervention zu 
Gunften der Unzufriedenen ab, beftärfte fie jedoch in ihren Plänen. So fam von. 


Seiten der Lords am 11. Juni 1567 zu Stirling der Man zu Stande, die Kö— 


nigin und ihren Gemahl zu überfallen; alfein er fiheiterte an der fchleunigen 
Flucht derfelben nah Dunbar, Pier Tage nachher ftanden ſich die Heere der 
Eonföderirten und der Königin gegenüber, und nun fam es zu dem Vergleiche: 


854 Maria Stuart, 


Bothwell folle fih entfernen und Maria fih auf die Seite der Verbündeten ſtellen. 
Dieß gefhah; allein nah wenigen Tagen befand fie fih als Gefangene im 
Schloſſe zu Lochlewin. Ueber eine folhe Behandlung war indeß Eliſabeth höchſt 
aufgebracht, weil fie diefelbe als eine nothwendige Folge der ihr verhaßten 
Lehre Knoxens (ſ. d. A.) hielt; allein ihre Bemühung zu Gunſten Maria’s 
fpeiterte an dem rafıhen Handeln der fhottifhen Lords und der Politif ihrer 
eigenen Minifter; am 24. Juli mußte Maria zu Gunften ihres Sohnes dem 
Throne entfagen und Murray erhielt während deffen Minderjährigkeit die Negent- 
Schaft, Das war das Ende der Verſchwörung der „Heiligen“, Auch in Schott- 
land wie in England hatte die Reformation die Revolution gerechtfertiget. Um 
nun das flrafbare Benehmen in den Augen der Welt zu bemänteln, wurde Maria 
die Chatulle abgenommen, und hier follten fi) Briefe gefunden haben, die ihre 
Theilnahme an der Ermordung Darnley’8 bewerfen mußten, Endlich wurde am 
4, Dee, befhloffen, Maria des Ehebruchs und Mordes anzuflagen, und zugleich 
wurde höchſt bedeutungsvoll diefe hochwichtige Entdeckung der Königin Elifabeth 
überbracht. Auch das Parlament nahm diefen Rathsbeſchluß mit einigen Ab- 
änderungen an, verfügte zugleich Eonfiscation des Vermögens Bothwells, erflärte 
aber, fich jelbft widerfprechend, daß Bothwell ohne allen Zweifel Gewalt ange- 
wendet und feine Monarchin zur Che mit fich gezwungen habe, Es mußten alfo 
Maria’s Briefe unächt oder ihre Entführung nah Dunbar und die Heirath mit 
ihrem Willen gefrhehen fein, Unter folden Umftänden gelang es verfelben, am 
2. Mat 1568 aus ihrer Haft zu entfliehen in Begleitung ihrer Kammerfrau Ken- 
nedy; fie erreichte glücklich das Schloß Hamilton und widerrief hier die ihr ab- 
gendthigte Thronentfagung. Auf die Kunde hievon fehaarten ſich die Royaliften 
um ihre Königin, und jetzt erfuhr diefe zum erſten Male den wahren Hergang 
von Darnley’s Ermordung und Bothwells Schuld, Sie erbot fih dem Negenten, 
die Zwiftigfeiten durch das Parlament fchlichten zu Yaffen und jeden Schuldigen 
der Gerechtigkeit auszuliefern, vorausgefegt, daß er dafjelbe mit denen thun 
werde, die fie anflagen. Nun gerietben Morton und Maitland in Beforgniß und 
erffärten ihre Anhänger als Verräther, Als fie nun nach ihrem Schloffe Dum- 
‚barton unterwegs war, fprengte Murray mit einer Schaar auf ihr Gefolge; die- 
ſes griff an, gerieth aber in Verwirrung und wandte fih zur Flucht, Noch am 
nämlichen Tage der Schlacht ritt die Königin 60 ſchottiſche Meilen weiter und 
erflärte am Morgen des dritten Tages, fie fei entfchloffen, am Hofe ihrer guten 
Schwefter, der Königin von England, Zuflucht zu fuchen. Ihre beften Freunde 
waren dagegen, allein dennoch beftand die Unglücliche darauf, Die verfchmigte 
Politik des englifchen Cabinets während diefer Ereigniffe ift fchwer zu durchſchauen. 
Aeußerlich zeigte fich auch Eliſabeth als aufrichtige Freundin Maria's und erklärte 
fich den auswärtigen Mächten gegenüber bereit, ihr wieder die Krone zu verfchaf- 
fen und forderte in gebieterifhem Tone ihre Freilaffung, während andererfeits 
ihre Minifter in inniger Verbindung mit den Feinden diefer Fürftin ftanden, Als 
nun Maria in England anfam, jubelten Cecil und feine Genoſſen, das Jahre 
lang gehegte Opfer ihrer Mäne endlich im Nege zu haben, und trat bald mit 
dem Rathfchlag hervor, fie zur Sicherheit Elifabeth’8 und des Proteftantismus in 
England Iebenslänglich gefangen zu halten, Um nun hiezu wieber einen günftigen 
Borwand zu erhalten, gab man ihr zu verftehen, es fei vor der Dazwifchenfunft 
Eliſabeth's zu wünfchen, daß fie fih von dem ihr zur Laft gelegten Verbrechen 
reinige, Maria wünfchte in einer Zufammenkunft Elifabeth ihre Beſchwerden zu 
eröffnen; allein Cecil fagte feiner Gebieterin, als jungfräuliche Königin fonne fie 
nicht mit einer des Ehebruchs und Mordes beſchuldigten Fürftin perfönlih ver- 
fehren. Ferner meinte der Rath, Maria müffe fih, da nad dem Zeugniß ber 
Geſchichte die fhottifche Krone unter der englifchen ftehe, vor englifchen Com- 
miffären über ihre Schuld oder Unſchuld rechtfertigen, Diefe proteftirte jedoch 


Maria Stuart. 855 


gegen Alles, was einem Proceffe ähnlich fah, und zwar von Seiten einer Partet, 
welche ftets die Rebellion in Schottland gefhürt habe; fie verlangte vielmehr, als 
znabhängige Königin nah Schottland zurüdzufehren oder in Franfreih eine Zu- 
lucht fuchen zu dürfen, was jedoch abgefchlagen wurde, weil es nicht in die Pläne 
des englifhen Cabinets paßte. Indeß zeigte fih Maria bereit, Eliſabethen als 
ihrer Freundin, nicht aber als ihrer Richterin ihre Unſchuld zu erweifen, ver- 
langte aber zugleih ihre Freiheit, Allein alle Borftellungen fruchteten wenig; 
vielmehr beihloffen die Minifter, fie von Carlisle nah dem Schloffe Bolton zu 
bringen, wo weniger Gelegenheit zur Flucht fei, und zwar bloß, weil fie früher 
Anſpruch auf den englifhen Thron gemacht habe, als Katholifin auf den Beifand 
ihrer Glaubensgenoſſen im In- und Auslande rechnen fonne und mit ihrer Thron- 
befteigung der Untergang des Proteftantismus in England bedingt wäre. Endlich 
fand man den Ausweg, niht Marien, fondern ihren Feinden den Proceß zu 
machen. Eine hiezu niedergefegte Conferenz konnte nur zu ihrem Nachteile aus- 
fallen. Nun Elagte endlih Murray feine Königin am 22. Nov, des Mordes an 
und lieferte die Briefe und Ehecontracte derfelben aus, Da aber Maria im Ja— 
nuar 1569 ihre Unfhuld bewies und einen fühnen Ton annahm, wurde die Con— 
ferenz aufgelöst, Nunmehr wurde fie von einem Gefängniß in das andere ge— 
ſchleppt, fie, die Hoffnung aller Katholifen in Schottland und England, Graf 
Norfolt und mehrere andere engliihe Große ftarben den Tod des Hochverrathes, 
weil fie fih zur Befreiung Maria’s verbunden hatten, Es fanden daher auch 
wegen ihres Schijald neue Berathungen Statt. Die Vorſchläge gingen auf 
ihre Gefangenschaft oder Hinrihtung oder Sicherftellung gegen ihre Anfprüche 
auf den englifchen Thron, Uebermäßig war Maria’s Leid im Gefängniß; ihre 
Dienerfchaft ward vermindert, der Aufwand für ihre Tafel und die Bewegung 

in der frifhen Luft befchränft, ihre Briefe aufgefangen, während Elifabeth durch 
die Beſorgniß gefoltert wurde, ihre Flucht Fonnte gelingen und damit ihr Thron 
zerfiämettert werden. Auch nah der Thronbefteigung Jacobs VI. (f. Jacob 1.) 

in Schottland wurde die Lage feiner Mutter nicht beffer; er wußte feine Unab- 
bängigfeit zu behaupten, nicht aber feine Mutter zu retten, die er endlich ganz 
verließ, wiewohl er Morton als den Mörder Darnley’s binrichten ließ. Allein 
diefer Umfhwung der Dinge in Schottland flählte auch die Hoffnung der engli= 
ſchen Hartbedrüdten Katholifen, und allerlei Benachrichtigungen von Verſchwö— 
zungen beängftigten Eliſabeth. Endlich follte-eine Verſchwörung Babington’s 
gegen Elifabeth im Sommer 1586 das Schickſal Mariens entſcheiden. Diefelbe 
wurde der Theilnahme an dem Berbrechen befchuldigt; daher wurden im Auguft 

- ihre Papiere mit Befchlag belegt und der Befehl zu ihrem Proceffe gegeben. Es 
wurden 47 Peers, geheime Räthe und Nichter beauftragt, über ihr Benehmen 
das Urtheil zu fällen. Maria war nach Fotheringay gebracht worden. Unglück- 
licherweife willigte diefe ein, ihre Unfhuld zu erweifen, fie ohne Rechtsanwalt 
und Kenntniß der englifhen Geſetze. Angefchuldigt wurde fie, fih mit Ausländern 
und Verräthern verfhworen zu haben, um die Invafion des Neihs und den Tod 
der Königin zu bewirfen, Maria erflärte ihre zum Beweife hiefür beigebrachten 
Briefe für unächt, wurde aber dennoch am 25, Det. für ſchuldig erffärt, und nun 
fand ihr Leben in Eliſabeth's Hand. Diefe erwies ſich höchſt unentfchloffen und 
ſuchte alle Schuld von fih abzumälzen. Am 22. Nov. ward Maria das Todes— 
urtheil angefündigt und daffelbe im Februar 1587 vollzogen. Die Gegenvorftel- 
ungen des fpanifchen, franzöfifchen und fchottifhen Hofes waren vergebens ge— 
blieben. Maria ftarb einer im Unglück hart geprüften Ehriftin würdig, wies den 
Beiftand eines proteftantifchen Predigers entfchieden zurüdf und Iabte ihre Seele 
an einer durch den Papft confecrirten Hoftie, forgte für ihre Diener und betete 
für ihre Feinde, Mag Mariens Jugendleben auch nicht von Verirrungen frei- 
geblieben fein, ihre letzten Tage fühnen vollfommen mit ihr aus, Während ihr 





856 Maria Therefia, 


Schickſal Shillern Stoff zu einer herrlichen Tragödie gegeben hat, ift im Jahre 
1836 Friedrih 9. Naumer in feiner Schrift: „Die Königinnen Elifabeth und 
Maria Stuart" als Ankläger Maria's aufgetreten; vgl. „Wilhelm v. Schüß: 
Maria Stuart, Mainz 1839”. Hiſtoriſch-politiſche Blätter Bd. I. ©. 457. ff. 
und Bd. II. ©. 634. ff. Unter ihren engliſchen Vertheidigern find zu nennen: 


Whitaker, Maria queen of Scotland vindicated. 3 Bde. London 1787. Chal- 


mer, Life of Maria queen of Scotland, teutfch 2 Bde. Leipzig 1826. (Fehr.] 
Maria Therejia, Königin von Ungarn und Böhmen, Erzherzogin zu 
Deftreich und gefrönte teutjche Kaiferin. Sie war die ältefte Tochter Carls VI. 
und der Elifabeth yon Draunfchweig, geboren den 3. Mai 1717. Einfach und 
ftrenge erzogen, ließ die 16jährige Prinzeffin, als fie zum erfien Male von ihrem 
Bater in den Staatsrath eingeführt wurde, in welchem der polnifche Wahlkrieg 
zur Sprache fam, die große Negentin ahnen, die durch ihren männlichen Geift 
und Charakter die Netterin der öftreihifchen Monarchie zu werden von der Vor- 
fehung beftimmt war, Ein feltfames Schickſal hätte ihr beinahe den zum Ge— 
mahle gegeben, gegen welchen fie von dem Antritte ihrer Negierung an bis zu 
ihrem Lebensende faft einen unausgefegten Krieg führte, nämlich Friedrich I. von 
Preußen, Die Gefdhichte hätte vielleicht nie zwei gleich große Herrfchertalente 
auf Einem Throne vereinigt gefehen, wäre nicht das Vermählungsproject Prinz 
Eugens an Familienzwiftigfeiten, die von Berlin her laut wurden, fowie an dem 
Gerüchte von den jugendlichen Ausfhweifungen Friedrichs gefcheitert. Dafür 
wurde fie vermählt (17, Febr. 1736) mit dem Herzoge Franz Stephan von 
Lothringen, bald darauf Großherzog von Toscana und nachherigem Kaiſer Franz I. 
Der Tod ihres Vaters Earl VI. (20. October 1740) rief die junge Maria The— 
refia auf den Thron der öſtreichiſchen Erblande, gegen deffen rechtmäßigen Beſitz 
von allen Seiten wider fie Nechtsanfprüche erhoben wurden. Carl VI nämlich 
hatte durch feine pragmatifhe Sanction das habsburgifhe Erbfolgegefes dahin 
abgeändert, daß in Ermanglung männlider Erben die Nachfolge an feine ältefte 
Tochter und ihre Descendenten übergeben follte, und hatte dazu nicht bloß die 
Zuftimmung feiner Stände, fondern auch die Oarantie der meiften europäiſchen 
Höfe erlangt. In der fortwährenden Hoffnung jedoch auf die Möglichkeit männ- 
licher Nachkommenſchaft, hatte der Kaifer für die Sicherung feiner pragmatifchen 
Sanction den großen Mifgriff begangen, daß er e8 unterließ, durch Veranftal- 
tung einer römifchen Königswahl zu Gunften feines Eidams das Kaiſerthum bei 
der dftreichifchen Monarchie zu erhalten. Kaum hatte nun Carl VI. die Augen 
zugedrücdt, als der bayerifche Gefandte, Graf Perufa, im Namen feines Chur- 
fürften Earl Albrecht, Einfprache dagegen erhob, der vermöge feiner Abftammung 
von Anna der älteften Tochter Ferdinands I., die Grofherzogin von Toscana 
nicht als Erbin der öſtreichiſchen Monarchie anzuerfennen vermöge, bevor feine 
näheren Anrechte auf diefelbe geprüft feien. Er berief fi dabei auf die tefta- 
mentarifche Verfügung Ferdinands I., worin feftgefest fei, daß in Ermanglung 
männlicher Erben von Seite feiner Söhne die Nachkommen feiner älteflen 
Tochter in die Erbfolge eintreten follten. Er hatte jedoch gegen fich die Driginal- 
urfunde diefer teftamentarifchen Verfügung Ferdinands, wie fie in Wien nieder» 
gelegt war, worin jene Erbfolge bloß in Ermanglung ebelicher Leibeserben 
enthalten war, Weil dem Gefandten eine Entdeckung von einer Falfıhung diefer 
Urkunde nicht möglich war, fuchte er zu beweifen, daß unter dem Ausdrucke ehe» 
liche Leibeserben nur männliche verftanden werden fonnen, und verlieh (20. Nov. 
1740) Wien mit Zurüdlaffung einer von feinem Churfürften ausgeftellten Erflä- 
rung, worin berfelbe feine Rechtsanſprüche auf alle Öftreihifchen Erblande gel- 
tend machte, welche unbefchadet der von feiner Gemahlin, einer Tochter Joſephs I, 
zu Gunſten der pragmatifchen Sanction gemachten VBerzichtleiftung zu Rechte be— 
flünden, Die Naubluft des preußifchen Adlers lauerte bereits im Dinterhalte, 


ec 


« Maria Therefia, 857 


fih Bente zu Holen. Schon Mitte December 1740 rückte Friedrich I. mit 30,000 
Preußen in Schlefien ein, unter dem Vorgeben, das Herzogtbum Schlefien, wel- 
ches feinen Reichslanden zur Vormauer diene, gegen diejenigen fiher zu ftellen, 
weldhe an die Erblande des öftreihifchen Haufes „einige Prätenfion” haben zu 
können glaubten, Zugleich verfprach er der bedrängten Maria Therefia feine Mit« 
wirkung zur Aufrechthaltung der pragmatifchen Sanetion, feine Stimme für die 
Erwählung ihres Gemahls zum römifchen Kaifer, und einen Vorſchuß von 2 Mil- 
lionen Thalern; dafür wolle er fih mit der Abtretung des ganzen Herzogthums 
Schleſien, als Belohnung für fo wichtige Dienfte und Entſchädigung für die 


dabei zu übernefmende Gefahr, begnügen. Diefe großmüthige Opferwilligfeit 


fand bei der Königin ihre gerechte Würdigung. Sie wies diefelbe entjchieden mit 
der Erflärung zurüd, daß fie nicht Willens fei, ihre Negierung mit Zerftüclung 
ihrer Staaten anzufangen. Sie fehe ſich Chre- und Gewiffenshalber genöthigt, 
die pragmatifche Sanction wider alle mittelbaren und unmittelbaren Angriffe zu 
vertheidigen. Keine Gelegenheit ſchien der alten Politif Franfreihs, die auf 
Schwähung des habsburgifhen Haufes gerichtet war, günftiger als eben deffen 
damals verhängnißvolle Lage, Der verfchlagene Graf v. Belleisle faßte diefen 
Plan, für den er auch den alten Kardinal Fleury zu gewinnen wußte, mit aller 
Zuverfiht auf, und fah in den von mehreren Mächten erhobenen Erbanfprüchen 
die Möglichkeit einer Zerftüclung der dftreichifhen Monarchie, Nach einer Rund— 
reife durch Teutſchland zur Einleitung feines Planes, hatte er bereits in einer 
Berabredung mit dem Churfürften von Bayern auf dem Schloffe Nymphenburg 
die Theilung auf der Charte entworfen. Es fam fodann ein förmlicher Bundes- 
vertrag zu Stande zwifchen Bayern, Franfreih und Spanien (22. und 28, Mat 
4741). Die beiden letztern verfprachen dem Churfürften ihre Unterftügung zur 
Erlangung der Kaiferwürde; diefer dagegen dem Könige von Spanien die Ein- 
händigung der öftreichifchen Befigungen in Italien, und den Franzofen, wenn er 


- Kaifer fein werde, den ungeftörten Befig der Länder und Städte, welche fie am 


Rheine befegen würden. Der Churfürft eröffnete nun den Krieg wider Deftreich 
mit der Beſetzung von Paſſau; rückte dann verftärft durch ein franzöfiiches Heer 
unter Belleisle in Dberöftreich ein, nahm Linz ohne Schwertftreich und legte fich 
nad abgelegter Huldigung der Stände den Titel eines Erzherzogs von Deftreich 
bei, Auh König Auguft von Sachen fhloß fi den Verbündeten an, und ſchickte 
20,000 Mann zur Befisnahme Mährens nah Böhmen. König Georg II. von 
England, der Maria Therefia zu Hilfe ziehen wollte, wurde durch ein franzöfifches 
und ein preußifches Heer daran gehindert, und mußte als Churfürft von Hannover 
das Berfprechen geben, Earl Albrecht von Bayern bei der Kaiferwahl die Stimme 
zu geben, Rußland wurde durch eine auf franzöfifchen Betrieb erfolgte Kriegs— 
erklärung von der Hilfeleiftung abgehalten. Inzwiſchen hatte Friedrich IL. in 
Schlefien feften Fuß gefaßt und ſchloß ein Schug- und Trugbündnig mit dem Chur- 
fürften von Bayern, von welchem er fih Schlefien und die Grafihaft Glatz ge- 
währleiften ließ, Am 7. November 1741 empfing er zu Breslau die HYuldigung 
der niederfchlefifhen Stände, Ebenfo bemächtigten fih die Sachſen, Franzofen 
und Bayern (26. Nov, 1741) durd einen nächtlichen Ueberfall Prags, Der 
EhHurfürft nahm den Titel eines Königs von Böhmen an, und empfing die Hul— 
digung von den vier Ständen des Königreihs. Nur Eines fehlte ihm jet noch, 
die römische Kaiferfrone (f. A. Menzel, neuere Geſchichte der Teutfhen Bd, X. 
Cap, 22). In diefer bevrängten Lage ſucht und findet die unglüdlihe Maria 
Therefia ihre Ießte Zuflucht bei den Ungarn, Kaum war Carl Albrecht (24; Jan, 
1742) einftimmig zum Kaifer gewählt, und (12. Febr.) als Carl VII. mit großem 
Prunfe gefrönt worden, da fing auch das Glück an, ihn zu verlaffen, und fich 
auf die Seite der Königin von Ungarn zu wenden, Bereitd war fie in den Stand 
gefegt, zwei neue Heere in das Feld zu ftellen, Mit dem einen rückte ihr Ge— 


858 Maria Therefia, 


mahl in Böhmen ein, mit dem andern eroberte der General Bärenflau Ober- 
dftreih wieder, befegte das Churfürftentyum Bayern, und rüdte am 13, Febr, 
in Münden ein, wo vor wenigen Tagen die Erwählung des Churfürften zum 
Kaifer gefeiert worden war. Spaltung und Eiferfucht unter den Verbündeten 
begünftigte ihr Glück noch mehr, Durch Vermittlung des englifchen Gefandten 
Hyndfort wurde mit Friedrih von Preußen zu Breslau Friede gefchloffen 
(11. Zuni 1742), Nieder- und ein großer Theil von Oberſchleſien nebft der 
Grafſchaft Glag wurde in Folge deffelben an den König von Preußen und deffen 
Erben für immer abgetreten, wogegen diefer affe feine Truppen aus den Ländern 
der Königin zurüczuziehen und allen Bündniffen mit ihren Feinden zu entfagen 
fich verpflichtete, Für die Fatholifche Kirche Schlefiens wurde Aufrechthaltung 
ihres bisherigen Befisftandes mit Vorbehalt der den Proteftanten zu gewähren» 
den unumfchränften Gewiffensfreiheit und der den Souverain zuftehenden Gerecht⸗ 
fame feftgefegt (A, Menzel a. a. D, ©. 427), Als in Folge diefes Friedend- 
fchluffes auch Sachfen fih von den Verbündeten Iosfagte, wurde das Uebergewicht 
der. öftreichifchen Waffen immer mächtiger. Die Franzofen mußten Böhmen und 
die Oberpfalz räumen und die Bayern wurden in ihrem eigenen furz vorher er— 
oberten Lande gefchlagen. Der Kaifer mußte fih nach Franffurt flüchten, feine 
eigenen Untertbanen der Königin von Ungarn die Huldigung leiſten. Nach dem 
Anfhluß der fog. pragmatifchen Armee, die unter Georg I. von England zur 
Unterftügung Deftreih$ gefommen war, dachte man daran, den Krieg nad) Franf- 
reich zu verfegen. Ein Bündniß zu Worms (23, Sept. 1743) zwifchen Eng- 
land, Deftreih, den Generalftaaten und dem Könige von Sardinien, dem ſich 
bald auch der ſächſiſche Hof anſchloß, garantirte Maria Therefia auf's Neue die 
Aufrechthaltung der pragmatifchen Sanetion. Dafür erklärte nun Franfreih im 
eigenen Namen den Krieg an die Königin von Ungarn und an Großbritannien, 
und Ludwig XV. begab fich felbft zu der Armee, die in den Niederlanden einge— 
fallen war, Friedrich von Preußen beforgt, in Folge jenes Bündniffes Schlefien 
- wieder zu verlieren, ſchloß im Einverftändniffe mit Franfreich zu Frankfurt mit 
Bayern eine Union ab zur Wiedereroberung Böhmens, und fiel (Auguft 1744) 
mit 80,000 Mann von drei Seiten in daffelbe ein, Er mußte es aber bald wieder 
räumen und bereitS war ganz Schleſien wieder in den Händen ber Deftreicher 
und Ungarn. In einer ausführlichen und fräftigen Proclamation an das ſchleſiſche 
Volk feste Maria Therefia die widerrechtlichen Anfprüche Friedrichs auseinander, 
Das mörderifhe Treffen bei Keffelsporf (15. Dec. 1745) und der Friede von 
Dresden vereitelte aber ihre Hoffnung auf die nahe Möglichkeit einer vollſtändi— 
gen Vernichtung des preußifchen Staates. Der Dresdener Friedensfhluß beftäs 
tigte auf's Neue die im J. 1742 zu Breslau und Berlin gefchloffenen Verträge, 
worauf Friedrich in einer befondern Urfunde die bereits zu Gunften Franz Ste— 
phans ausgefallene Kaiſerwahl anerfannte, Earl VII. war nämlich (20. Jan. 1745) 
zu Münden plöglih geftorben. Sein 18jähriger Sohn Marimilian Joſeph ſah 
fih bald außer Stande, das Bündniß mit Franfreih und Preußen aufrecht zu 
erhalten und entfchloß ſich deßhalb zu einer Ausfühnung mit Deftreih, Es wurde 
zu Füßen (22. April 1745) zwifchen Deftreih und Bayern ein Friedensvertrag 
abgefhloffen, worin Maria Therefia alle in Bayern gemachten Eroberungen zu- 
rückgab, fowie die Kaiſerwürde des verftorbenen Churfürften anerfannte; Maxi— 
milian Joſeph dagegen allen Anfprüchen auf die Öftreichifche Erbfolge entjagte, 
die pragmatifche Sanction anerkannte und dem Großherzog Franz feine Stimme 
bei der fünftigen Raiferwahl zufagte. Diefe erfolgte am 13. Sept. 1745 und 
fiel troß der Umtriebe Franfreichs auf Franz Stephan, der am 4, October zum 
Kaifer gefrönt wurde, Mit diefem Ereigniffe ging ein fehnlicher Wunſch von 
Maria Therefia in Erfüllung: einem faft ebenfo entfcheidenden ging fie entgegen, 
Der Friede von Machen (18, Detober 1748) ſicherte für Oeſtreich auf's Neue die 





Maria Therefia, 859 


pragmatifche Sanction, und Maria Therefia fah fih wiederum im Befige aller 
ihrer Länder mit Ausnahme des Herzogthums Schlefien und der Grafſchaft Gag, 
fowie der Herzogthümer Parma, Piacenza und Guaſtalla, wel’ Iegtere fie an 
den fpanifchen Infanten Don Philipp abtreten mußte (A. Menzel a. a. O. 
X. Br. ©. 435. ff.) — Eine Regentin, die wie Maria Therefia erflärte, lieber 
ihren legten Evelftein verfaufen zu wollen, als auf Schlefien zu verzichten, läßt 
zum Boraus ahnen, daß fie mit nicht minderer Energie die Zügel der inneren 
Regierung ihrer Erbftaaten in die Hand nehmen werde, als mit der fie die Er- 
haltung derfelben verfolgt hatte, Und wirklih gewann das öſtreichiſche Staats- 
leben unter ihrer AQjährigen Regierung einen Auffhwung, wie ihn daffelbe kaum 
unter einem ihrer Vorgänger gefunden hatte, Bei ihrem Negierungsantritte hatte 
fie ihren Gemahl, den Kaifer, zum Mitregenten ihrer Erbftaaten ernannt, der 
fih aber ihr gegenüber faum mehr als ein Privatmann betrachtete und ſich be— 
gnügte, den Geheimeraths-Sigungen beizumohnen, Eine der erften Sorgen der 
Kaiferin war die Hebung der durch den Krieg allzufehr in Anfpruch genommenen 
Finanzen, die ſich alsbald trog des Verluftes von Schlefien und Parma bedeu- 
tend fteigerten. Eine neue Drganifation des Heer- und Kriegswefens unter der 
Leitung Dauns war gegenüber dem vorgeſchrittenen Militärwefen Friedrichs I. 
dringendes Bedürfnif. Für ausgezeichnete militärifche Verdienfte ftiftete fie nad 
dem Siege bei Eollin den von ihr benannten Maria Therefia-Drden Im 
Zuftizfahe wurden ebenfalls bedeutende Reformen vorgenommen: die Folter ab— 
geihafft. Imduftrie und Handel, fowie überhaupt Vermehrung der materiellen 
Staatsfräfte lag ihr befonders am Herzen. Die Schulen und Lehranftalten blie— 
ben dabei nicht vergeffen. Die Gründung der Ritteracademie zu Kremsmünfter, 
des Therefianums, des Obfervatoriums fowie der vrientalifchen Academie geben 
davon Zeugnif. Die Leitung des Studienwefens war noch in den Händen der 
Jeſuiten. Diefe Reformluft der Kaiferin begann aber eine gefährliche Richtung 
zu nehmen, als fie durch eine Firchenfeindlihe Partei am Hofe auch auf das fird- 
lihe Gebiet Hinübergelenft wurde. Wie Maria Therefia nicht nur die Mutter 
Joſephs II., fondern auch die Mutter des Fofephinismus war, vrgl. den Artifel 
Joſeph II. Bo. V. ©. 797. ff. Diefe firhenfeindliche Partei, an deren Spite 
der Minifter und Ratgeber der Raiferin, Wenzel Grafvon Kaunig, ihr 
Leibarzt v. Swieten, fowie der Logenmeifter Sonnenfels flunden (f. Frei- 
maurer), gewann bei Maria Therefia um fo leichteren Einfluß, je mehr fie ihre 
firchenfeindlichen Beftrebungen mit dem Scheine politifcher Nothwendigfeit zu 
umgeben wußte, und in ihrem Sohne Joſeph, der nach dem Tode feines Vaters 
(18, Auguft 1765) zum römifchen Könige gewählt und von ihr zum Mitregenten 
ernannt wurbe, einen gelchrigen Schüler fand. Es fcheint faft eine Eonceffion 
an die Politif Frankreichs zu fein, wenn die Kaiferin auf die Einflüfterungen diefer 
Partei Hin zuerft den Jeſuiten ihren Einfluß entzog. Nicht lange nach dem Aachener 
Frieden follte nämlich ein großer Wendepunct in der öftreichifchen Politik ein- 
treten. Mißtrauifch geworden auf das englifhe Cabinet, dachte Maria Thereſia 
daran, in eine engere Verbindung mit Franfreih um jeden Preis zu treten, 
Deßhalb Fonnte fie fih fogar dazu verftehen, fid mit der Maitreffe Pompadour 
zu diefem Zwede in eine vertrauliche Eorrefpondenz einzulaffen und fie mit dem 
Titel: „Madame ma chere soeur et cousine* anzureden, während es ihr fonft zur 
Dual und zum Xerger war, wenn fie mit Perfonen fohriftlich verfehren mußte, 
die mit jener auf gleicher Stufe der Sittlichfeit ſtunden, z. B. Elifabeth oder Catha— 
rina von Rußland (f. Anemonen aus dem Tagebuch eines alten Pilgermannes, 
Jena 1847 I. Bd. ©, 231 und II. Bd. ©. 22 f.). Wirklich kam das gewünfchte 
Bündniß zu Stande (1. Mai 1756) und hatte den fiebenjährigen Krieg zur Folge. 
Diefe Rüdficht auf den franzöfifhen Hof beftimmte fie auch den fehwerbedrängten 
Elemens XII. (ſ. d. A.) im Stiche zu laſſen, der fie und ihre Nachfolger mit 


860 Maria Therefia, 


dem ausgezeichneten Titel: „apoftolifher König“ beehrt Hatte, Schwieriger 
war es für die Firchenfeindliche Partei, die Kaiferin zur Durchführung der Auf- 
bebungsbulfe des Zefuitenordens (f. d. U.) zu beflimmen, und fie den bourboni- 
fhen Höfen willfährig zu machen. Schon im J. 1770 gab Joſeph dem Herzog 
von Choifeul zu verftehen, daß es fhwer halten. werde, feine Mutter für die In— 


triguen des Herzogs zu gewinnen, vertröftete ihn aber mit dem Einfluffe Kau—⸗ 


nitzens, der mit der Aufhebung einverflanden und nicht gewohnt fei, „die Sachen 
nur halb zu thun” Ch. Anemonen Bd, IV. ©, 143), Entſchieden ſtellte auch 
die Raiferin den häufigen Beſtürmungen wider die Jeſuiten die Erflärung ent- 
gegen: „fie begreife nicht, wie denn ein Orden fo verfehrt und verberbt fein fünne, 
dem fo viele fromme Geiftlihe, Prediger in fremden Zonen und unter wilden 
Bölfern, dem fo große Gelehrte in verfchiedenen wiffenfhaftlihen Gebieten ange- 
hörten.” Dit derfelben Anerkennung des Ordens fprach fie fich dem franzöfifhen 
Botfchafter, Cardinal Rohan gegenüber aus (a. a. D.). Es if eine von Go— 
rani (Memoires secrets et crilig. des gouvernements etc, Paris 1793. tom, II, 
pag. 59) erfundene Lüge, Maria Therefia habe einmal ihrem Beichtvater, Kau— 
phenhutter, eine Generalbeicht abgelegt und ihm das Verzeichniß ihrer Sünden 
fchriftlich übergeben, Eine Abſchrift davon habe fofort der gewiffenlofe Pater an 
feine Ordensgenoſſen nah Rom gefandt, Es habe fih aber auch der König vom 
Spanien eine Copie zu verfhaffen gewußt und diefelbe der Kaiſerin zugefchickt, 
um ihr ihre Vorliebe für die Zefuiten zu benehmen, Auf diefes Hin fei nun Maria 
Therefia bereitwillig in die Pläne der buurbonifchen Höfe in Betreff der Aufhe— 
bung des Sefuitenordeng eingegangen, Die Böswilligfeit diefer Anecdote liegt 
um fo mehr auf platter Hand, als der Beichtvater der Kaiſerin einmal befannt- 
Yich nicht Kauphenhutter, fondern Parhammer hieß. Sodann ift allgemein bes 
Fannt, daß nie und nirgends die Beichtenden ihr Sündenverzeichniß ſchriftlich 
übergeben dürfen, e8 wäre denn, daß fie ſtumm feien, was bei Maria Therefia 
befanntlih der Fall nicht war, Die Abforderung eines ſolch' fchriftlichen Ver— 
zeichniffes hätte alfo ſchon Hingereicht, das Mißtrauen der Kaiferin gegen ihren 
Beichtvater zu erwecken, und e8 hätte gewiß einer Veröffentlichung deffelden nicht 
mehr bedurft. Diefe coloffale Lüge aber würde fih nach dem fog. Jeſuiten Ka— 
tehismug, der im J. 1820 in Leipzig erfihien und eine der feindfeligften 
Schriften gegen die Jeſuiten ift, auf folgende Thatſache reduciren: Bei der erſten 
Theilung Polens im 3.1772 Habe die Kaiſerin außerhalb der Beichte ihren Beicht- 
vater, den Zefuiten Parhammer befragt, in wie weit diefe Handlung, an der fie 
Theil: nehmen follte, gerecht fei. Der Pater unfhlüffig, wie er in einem ſo 
ſchwierigen Falle zu entfcheiden habe, habe fih bei feinen Drdens-Dbern in Rom 
Raths zu erholen gefucht. Eine Abfchrift von feinem Briefe habe fich jedoch der 
dftreihifhe Gefandte am römifchen Hofe, Herr von Wil ſeck, zu verfchaffen 
gewußt und diefelbe dazu benügt, die Kaiſerin ungünftig gegen die Jeſuiten zu 


ftimmen (Gregoire, Gefchichte der Beichtväter , Leipzig 1825 1. Thl. S, 168, ° 


f. Neue Sion 1846 I. Hf. S. 10). Somit könnte alfo wohl von einer Ver— 
legung eines Geheimniffes, aber feines Beichtgeheimniffes der Kaiferin bie 
Rede fein, Der gehäffige „alte Pilgersmann“ hat in neueſter Zeit in feinen 
Anemonen (Bd. I. S 317) die Anecdote Gorani's in einer rührenden Berfion 
wiedergegeben, Er erzählt nämlich, wie ein junger Jeſuite, Namens Joſeph 
Monfperger, von feinen Obern auf feine Weife die Erlaubniß zum Austritt 
aus dem Orden in den Weltpriefterftand habe erhalten fünnen. Derfelbe habe 


nun in der geheimen Kanzlei am Hofe als fungirender Seeretär des Provin« 


eials gearbeitet, und in Folge eines höchſt glücklichen Zufalls in einem von außen 
gar nicht fichtbaren, fehr fünftlih mit einer Doppelwand verfehenen Wandfchranf 
eine Menge der wichtigften, längſt vergeffenen geheimen Papiere, Correfpon- 
denzen 20, gefunden, und zu feinem Erftaunen mehrere Generalbeichten 


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Maria Therefia, 861 


von gekrönten Häuptern, Prinzeſſinnen, Miniſtern und Großen aus 
den letzten Jahren Carls VI. und aus dem erſten Decennium Thereſias meiſt in 
Urſchrift, mehrere in Abſchrift, weil die Originale nach Rom gewandert ſeien. 
Monſperger habe nun dieſen glücklichen Fund durch einen Freund dem Miniſter 
Kaunig mitgetheilt, der dieſe Arcana begierig durchgemuſtert, aber noch mehrere 
Jahre darüber geſchwiegen habe, weil noch Manches zum offenen Falle nicht reif 
gewefen fei. Monſperger aber habe fih durch die Drohung einer Veröffentlichung 
feines Fundes von Clemens XII. feinen Austritt aus dem Orden ertrotzt. Abge- 
fehen nun von den innern Unwaährſcheinlichkeiten, an welchen diefe Anecdote „des 
alten Pilgermannes” wie die Gprani’s leidet, ergibt fih die Erdichtung deifel- 
ben aus feinen eigenen Worten, Unmittelbar vor Erzählung derfelben fagt er, 
Sofeph I: und Carl VI. haben die Jefuiten von allen Staatsgeheimniffen ausge- 
fchloffen , — und do foll nah ihm Monfperger fhriftliche Generalbeichten von 
Earl VI. gefunden haben. Ferner habe Maria Therefia ſtets auf die Vorftellungen 
Kaunigens, in der Aufhebung und Vertreibung des Ordens mit den bourbonifchen 
Höfen gleichen Schritt zu Halten und nicht den Einklang mit denfelben zu ge— 
fährden, nur mit Thränen geantwortet, Und doch war Kaunig nach obiger Er— 
zählung fhon längſt im Befige des angeblichen Documents, und follte es gleich- 
wohl, da doch fein Grund zur Verheimlihung mehr vorhanden war, der Kaiſerin 
gegenüber noch länger in der Tafıhe behalten haben. „Entrüftet aber habe die 
Karferin unterfchrieben, als Kaunig ihr eine, aus Rom ihm zugefommene Gene- 
ralbeichte zu Handen ftellte, die fie in früherer Zeit einem Jefuiten gethan habe”; 
und dennoch Foftete e8 (Anemonen Bd, IV. ©, 144) viel, daß fie nach der Auf- 
bebungsbulle nicht mehr, wie ihre Borfahren und Anverwandten, einen Jefuiten 
zum Beichtoater hatte, fondern hiezu den Propft des Chorherrnftiftes St. Doro— 
thee, Ignatz Müller, erwählte, der auch Zeuge ihrer legten Stunde war. Es 
würde fomit gewiß mehr als ein Glaube, der Berge verfegen kann, erforderlich 
fein, wenn man nicht mit A. Menzel (a, a. 4, Bd. XIL S. 37) zum Alfer- 
wenigjten zweifeln wollte, als wäre die Einwilligung der Kaiſerin in die Aufhe— 
bung des Jefuitenordens in Folge eines verlegten Beichtgeheimniffes erfolgt. 
Ein nicht unwahrſcheinlicher Erflärungsgrund, warum fie dem Andringen nad= 
gab, und welcher auch der Schlauheit Raunigens Ehre genug machte, ſcheint in 
der Angabe des Abbe Georges (M&moires pour servir a l’'histoire etc. Paris 1817 
pag. 138) zu liegen, daß nämlich Clemens XIM. der frommen Maria Therefia 
ihren hartnäckigen Widerftand als eine Berfündigung an der firhlichen Auctoritäk 
dargeftellt Habe; wenn man nicht Lieber annimmt, daß auf die Kaiſerin die Vor— 
ftellung ihres Ranzlers, das Glüf ihrer an den Dauphin von Franfreich ver- 
mählten Tochter fei von ihrem Nachgeben abhängig, den meiften Eindruck machte 
(A Menzel a. a, O.). Nicht mindere Berlegenheit und Gewiſſensunruhe als 
die Aufhebung des Jefuitenordens hatte Maria TIherefia die im J. 1772 vollzo- 
gene und von Preußen und Rußland längſt projectirte Theilung Polens bereitet, 
Mit tiefem Schmerze fah fie die Unterdrüdfung der Katholiken dur die Gewalt« 
thätigfeiten Catharina’s von Rußland, und deren Plan, Polen an fih zu reißen, 
Deßhalb unterftügte fie die Eonföderirten, und erflärte, nie eine Zerftüdlung der 
Republif, welcher Art fie auch fei, zugeben zu wollen. Erft als ihr Minifter 
Kaunig ein Eingehen auf das Theilungsproject als einen unvermeidlich politifchen 
Schritt darftellte, fiegte in ihr die Luft, die Früchte des Unrechts zu genießen, 
über ihre Gewiffenhaftigfeit, und unterzeichnete den Kaunitz'ſchen Vortrag mit 
der beigefügten Bemerfung: „Placet, weil fo viele große und gelehrte Männer 
ed meinen. Wann ich aber fchon längft todt bin, wird man erfahren, was her⸗ 
vorgeht aus dieſer Berlegung von Allem, was bisher gerecht und heilig war.“ 
Noch offener ſprach ſich ihr beunruhigtes Gewiffen in einem Handbillet an Kaunitz 
aus (ſ. Ad, Menzel, a. O. Bd. X. ©, 17, Anemonen IV. ©, 46, f.). 


862 Maria Therefia, 


Ein wichtiges Ereigniß follte noch den Schluß des vielbewegten Lebens der Kai— 
ferin bilden; es war dieſes der bayerifche Erbfolgefrieg (f. Art, Joſeph IL), 
Derfelbe aber war ihr um fo läftiger geworden, je zweifelhafter das Necht und 
je unentfchiedener das Glück auf ihrer Seite war, Deßhalb fuchte fie zum Aerger 
ihres Sohnes Joſeph fowie ihres Minifters Raunig eine alsbaldige Beendigung 
deffelden, was ihr auch in dem Frieden von Tefchen glücklich gelang (13. März 
1779). Im darauffolgenden Jahre, 18. Detober 1730, Hatte fie fchon eine Ahnung 
von ihrem herannahenden Tode. Die in ihrer Jugend mit außerordentlicher Schön- 
heit begabte Kaiferin ward nämlich in ihrem fpätern Alter in Folge einer Poden- 
franfheit und eines unglücklichen Falles fehr verunftaltet und ihre übermäßige 
Eorpulenz machte ihr das Gehen unmöglich. Als fie nun eben das Grab ihres 
Gatten befuchte, brad) das eine Seil des Stuhles, auf dem fie in die Gruft 
hinuntergelaffen worden, und darin eine Vorbedeutung ahnend, rief fie: „Er will 
mich behalten — ich fomme bald.” Sie hatte fich nicht getäufht. Bon einem 
heftigen Bruftcatarrh befallen, ftarb fie nach wenigen Tagen 29. Nov. 1780, 
nachdem fie zuvor ihren Sohn Joſeph befchworen hatte, von der Religion feiner 
Väter niemals zu Taffen. Wenn der Berfaffer der Anemonen fagt: „die Frau 
bat faum gelebt, die zugleich größer auf dem Throne und mafellofer im Privat- 
leben gewefen wäre , als diefe Fürſtin“, fo fcheint ung diefes Lob, wenn auch fehr 
groß, doch nicht übertrieben, Jedenfalls ift dafjelbe gerechtfertigt, wenn man fie 
mit andern Perfonen ihres Gefchlechtes, die zu ihrer Zeit auf Thronen faßen, 
3. B. einer Elifabeth oder Catharina von Rußland in Vergleihung bringt, Sie 
war das Mufter einer treuen Gattin, die mit einer außerordentlihen Zärtlichkeit 
und Treue ihrem Gatten ergeben war, wenn fie gleich diefelbe weniger auf feiner 
Seite fand, Sein unerwarteter Tod, der zu Innsbruck während der Bermählungs- 
feierlichfeiten des Erzherzogs Leopold mit der Infantin von Spanien, Maria 
Louife , erfolgte, verſetzte fie in eine tiefe Trauer, die fie während ihres ganzen 
Lebens nie ablegte, Mit ihren eigenen Händen fertigte fie des Kaiſers Leichentuch 
und ging mit dem Gedanfen um, ihr Leben in einem Klofter zu befihließen. Den 
18. jeden Monats ſchloß fie fih einfam ein und weilte flundenlang in der Gruft 
bei den Capueinern an Franzens Grabmonumente, Die von ihr in's Leben geru- 
fenen fog. Reufchheits-Commiffionen, wenn fie auch weniger ihren Zwed erreich- 
ten, beftätigen nur, daß das, was ihr heilig und unverleglich war, es auch bei 
ihren Unterthanen fein follte, Mit befonderer Vorliebe nahm fie fi der Wittwen 
und Waifen an, wie ihr dena überhaupt die Wohlthätigkeit faft zur Leidenſchaft 
geworden war, „Man muß mich tödten,” foll fie einmal Joſeph gegenüber ge- 
äußert haben, „wenn man mich hindern will, Wohlthaten zu erzeigen“ (Paga- 
nela. a. O. ©, 218). Wie fie eine treue Oattin war, war fie auch eine lie- 
bende Mutter, Bon ihren 6 Söhnen und 6 Töchtern überlebten fie folgende: 
1) Joſeph I., ihr Nachfolger. 2) Leopold, Großherzog von Toscana und Nach- 
folger Jofephs. 3) Friedrich, Gouverneur der Lombardei. 4) Marimikian, Groß⸗ 
meifter des teutfchen Ordens, deffen Wahl zum Coadjutor von Münfter und Colu 
vor ihrem Lebensende ihr noch befonders am Herzen lag. Sie hoffte dadurch 
einen nicht unbedeutenden Einfluß für das öftreihifhe Haus im Norden Teutſch⸗ 
lands zu gewinnen, Allein nicht nur Friedrich von Preußen ftund einer folden 
Wahl entgegen, fondern fie hatte auch den alten Churfürften von Coln Marimi« 
lian Friedrich gegen fi, der die Wahl gerne auf feinen Staatsminifter im Hoch» 
ftifte Münfter, den um das Schul: und Erziehungswefen nicht unverdienten Frei« 
berrn Franz von Fürftenberg gelenft hätte, Allein da Fürftenberg für ein An« 
bänger Preußens galt, das damals im Erzftifte Cöln wenig Sympathien hatte, 
fo wußte der in demfelben regierende Miniter von Belderbufc feine Wahl 
auf eine fchlaue Werfe zu hintertreiben, Er forderte angeblich im Namen des 
Churfürſten den Prinzen Joſeph Chriftian von Hohenlohe» Waldenburg« Barten- 


De — 





Marian, 863 


flein, welcher cölnifher Domgraf und Domherr in Straßburg und Breslau 
war, auf, fih um die Coadjutorie zu bewerben, und den Churfürften feldft 
um Unterftügung hiezu anzugehen, Der Anfıhlag gelang vollfommen. Und nun 
wußte Belderbufh dem Churfürften diefe Bewerbung als eine vom König von 
Preußen angeftiftete darzuftellen, fo daß derfelbe nicht nur die Einwilligung in 
die Wahl des Erzherzogs Marimilian gab, fondern auch noch ein befonderes 
Empfeplungsihreiben für denfelben an das Eapitel von Cöln richtete. Die Pro- 
teftation Friedrihs gegen diefe Wahl machte, daß fie um fo fiherer zu Stande 
fam zu Coln 7. Auguft 1780 und bald darauf (16. Auguft) auch zu Münfter 
(A. Menzel a, a. DO. XI. ©. 165). — 5) Muria Anna, Aebtiffinn von Prag 
und Klagenfurt, 6) Maria Chriftina, vermählt an Albrecht von Sachen, Sohn 
des Königs Auguft II. von Polen. 7) Maria Elifabeth, Aebtiffinn von Inns— 
bruck. 8) Maria Amalia, Gemahlin des Herzogs Ferdinand von Parma. 9) Maria 
Charlotte Louiſe, Gemahlin Ferdinands IV., Königs beider Sicilien, und endlich 
10) die unglückliche Maria Antoinette, Königin von Frankreich. — Es ift auf- 
fallend, wie ſchon größtentHeil® unter der Regierung Maria Therefia’s, die öf- 
terd von anderer Seite fogar des kirchlichen Fanatismus befchuldigt wird, bie 
Bande gefhmiedet wurden, welhe man zur Hemmung und linterbrüdfung des 
kirchlichen Lebens in Deftreich bis auf die neuefte Zeit anwendete, Diefe Erfchei= 
nung läßt fih aber vollftändig begreifen, wenn man bedenft, wie der Machia— 
vellismus der Politif ihrer Zeit überhaupt auf die Vernichtung der Selbftitändig- 
feit der Kirche Hinarbeitete, und wie fodann bei dem allzugroßen Vertrauen der 
Kaiferin in ihre Minifter und Näthe, welche die Träger jener politifchen Rich— 
tung waren, fie die gefährliche Stellung, die fie der Kirche gegenüber einnahm, 
in ihren Folgen nicht fannte, noch auch bei ihren Uebergriffen in das kirchliche 
Gebiet fih eines Wiverfpruhs mit ihrem Firchlichen Glauben bewußt war, Dabei 
war aber Maria Therefia perfönlih eine fromme Frau, und dem Fatholifchen 
Glauben von Herzen ergeben, Sie foll felbft ein Gebetbuch gefhrieben haben: 
und wohnte täglich zwei HI. Meſſen bei. Indeß fohügte fie ihre Frömmigkeit 
nicht immer gegen die Aufwallungen Ieidenfchaftliher Gereiztheit, noch auch gegen 
Berlegungen ihrer Gewiffenhaftigfeit in Fällen, wo politifhe Nothwendigkeit ſolche 
ihr zu gebieten ſchien, wie diefes z. B. in jenem Briefe an die Pompadour der 
Fall war. Immerhin wird aber die Gefchichte einer Verfönlichkeit die Anerkennung 
ihrer Borzüge nicht verfagen, deren politifcher Gegner ihr nah dem Tode das 
fhöne Zeugniß gibt: „Sie hat dem Throne und ihrem Gefchlechte Ehre gemacht; 
ich babe fie befriegt, aber ich bin niemals ihr Feind gewefen.“ (Oeuvres de Fre- 
deric tom. XI. pag. 292.) [Röuen.] 
Mariana, Johann, fpanifcher Jeſuit und Hiftorifer, geboren zu Tala— 
vera in der Didcefe Toledo im J. 1537, trat 1554 in die Gefellichaft Jeſu, in 
deren Schule er fo große Fortfihritte in ven Wiffenfhaften machte, daß er fpäter 
nicht bloß durch feine Kenntniffe in der Lateinischen, griechifchen und hebräiſchen 
Sprache, fo wie in den ſchönen Künften überhaupt, fondern auch als Theolog 
und Hiftorifer fih einen fehr großen Namen erwarb. Mit hohem Anfehen lehrte 
er zu Rom (1561), in Sicilien (1565), zu Paris (1569), von wo er fih nad 
Spanien zurückzog, und zu Toledo 1624 in einem Alter von 87 Jahren farb, 
Wir Haben von Mariana eine Gefhichte Spaniens in 30 Büchern, urfprünglich 
lateiniſch gefchrieben, Anfänglih gab Mariana zu Toledo 1592 nur 20 Büder 
heraus , die in Andreae Schotti Hispaniae illust. T. II. enthalten find; darauf folg⸗ 
ten noh 10 Bücher, die bis zum J. 1516 reichen (enthalten in Schotti Hispan. 
illustr. T. IV). Die lateinifchen Ausgaben von Mariana’s Gefchichte find außer 
der‘ obengenannten von Toledo die vollftändige Ausgabe zu Mainz 1605, und die 
zu Haag 1733 in 4 Bänden Fol, , die fhönfte und befte. Eine franzöfi sche Ueber⸗ 
fegung erſchien vom Jeſuiten P. Charenton zu Paris 1725 in 6 Bänden in 4. 


864 Marianı. 


Mahudel fügte eine hiftorifche Abhandlung hinzu, Mariana überfegte feine Ge- 
ſchichte, jedoch nicht wörtlih, in das Spaniſche. Vom fpanifchen Terte if die 
befte Ausgabe die zu Madriv 1678 in 2 Foliobänden, Diefe Ausgabe enthält 
eine Fortfegung der Gefhichte bis zum J. 1678. Petrus Mantuanus, Cohon- 
Truel, Ribeyro de Macedo warfen ihm mehrere Verftöße gegen die Chronologie, 
Geographie und die Gefchichte vor, ohne ihre Angaben hinreichend begründen zu 
fönnen. Mariana's Gefchichtfchreibung zeichnet fih durch einen hohen Grad von 
Gerechtigkeit und Unparteilichfeit aus; fein Styl iſt edel und dem des Titus Li— 
vius nahefommend. Außerdem fchrieb Mariana 2) furze Scholien über die Bibel 
in Fol., bei denen fich eine fehr gelehrte und gründliche Differtation über die Aus— 
gabe der Vulgata, und über die alten Heberfegungen der hl, Schrift findet, Diefe 
Differtation findet fih auch in der Ausgabe des Menochius von P. Tournemine, 
3) Eine Abhandlung: de ponderibus et mensuris, Toledo 1599. 4) Sechs Heiz 
nere Schriften, gebrudt zu Cöln 1609 in Fol,, unter diefen befindet ſich die 
Schrift de monetae mutatione. In diefer Schrift ließ fih Deariana beifommen, 
die vielen Veränderungen im Münzwefen Spaniens zu rügen, worüber der Ver- 
faffer in die Gefangenfhaft wandern mußte. 5) Die famofe Schrift de rege et 
regis institutione (Toledo 1599. in 4.). Die Schrift erfchien ohne alles Hinder- 
niß von Geite der geiftlihen und weltlichen Gewalt. Merkfwürdig ift der Im- 
ftand, daß Martana diefelbe auf inftändiges Bitten des D. Garcia de Loayfa 
(69. U), Lehrers Philipps III., verfaßte, und daß fie die Beftimmung hatte, bei der 
Erziehung und dem Unterrichte des Thronerben zu dienen. Freimüthig wird darin 
die Tyrannei verdammt, und eine volfsthümliche Regierungsweife proclamirt, Diefe 
Schrift trägt Anfihten über den Tyrannenmord vor, die allerdings in mancher Be=- 
ziehung gefährlich werben fünnen, die aber ſchon lange vor den Jeſuiten von ein- 
zelnen Theologen waren gelehrt worden, „Dadurch feste Mariana, jagt Bayle, 
die Jeſuiten überhaupt, und insbefondere die Jeſuiten Franfreihs, den em— 
pfindfichften Vorwürfen und Angriffen aus, welche man immer wieder erneitert, 
und welde niemald aufhören werden, fo lange die Gefchichtfchreiber fortfahren, 
fih Teidenfchaftlicher Werfe einander abzufchreiben.“ Die Schrift warb von der 
Sorbonne verdammt, und auf Befehl des Parlaments zu Paris 1610 durch den 
Sharfrichter verbrannt, Uebrigens hat der General der Jeſuiten Aquaviva diefe 
Anfichten in Betreff des Tyrannenmords fofort verworfen und den Mitgliedern 
der Gefellfchaft dur ein eigenes Decret für immer ftrengftens verboten, diefelben 
weder öffentlich noch privatim vorzutragen (vgl. d. A. Aquaviva). Es ıft daher 
ungerecht und thöricht, diefelben immer wieder den Jefuiten vorzuwerfen, — Dem 
Mariana fchreibt man auch ein Werk zu, das „über die im Regiment der Societät 
Jeſu vorfommenden Fehler” handelt — discursus de erroribus, qui in forma gu- 
bernationis Societatis Jesu oceurrunt. Das Werf erſchien in fpanifchen, Tateini= 


fhen, italienifchen und franzöfifchen Ausgaben. Mariana, fagt man, babe fein 
ſpaniſches Danufeript nicht für den Druck beftimmt gehabt, daffelbe fei ihm aber 


im Gefängniß von einem Franeiscaner befeitigt worden, der es dann auf eigen 

Fauft zu Bordeaur (1625) habe drucken laffen, Die Jefniten verlangten, daß 
man ihnen das fpanifche Original vorzeige; als aber diefes Niemand Eonnte, fo 
machten fie daraus den Schluß, das Buch fer zum Mindeften eutſtellt und ver« 


ändert worden, und der Herausgeber habe feine guten Gründe gehabt, warum er 


es erfi nach Mariana’s Tod erfcheinen Ließ,. Die Grundanlage des Werfes, meint 
Abbé Felfer (diction. histor. T. 6), möge allerdings von Mariana gewefen fein; 
es fei ja auch gar leicht möglich gewefen, daß Mariana in feinem Drden einzelne 
Negierungsfehler zu fehen glaubte, oder wirffich gefehen habe: Fein Regiment fer 
ohne Fehler, und für das befte halte man nur dasjenige, was die wenigften 
Fehler habe — Optimus ille est, qui minimis urgetur. Vergleiche die Schrift 
des Abbe Balmes; der Proteftantismus, verglichen mit dem Katholicismus im 


Y 


= 


Marianum officium — Mariä Empfängnig. 865 


feinen Beziehungen zur europäiſchen Eivilifation, Regensburg 1845. 3. IH. 
©, 101. f. Ey : [Dür,] 
Marianum officium, ſ. Drevier. 
Marienfeite. Die Verehrung der hl. Jungfrau breitete fih auf dem Grunde 
der in dem Art, „Marin“ angegebenen Thatfachen aus, erweiterte und fteigerte ſich 
mit der Zeit, und verzweigte fich über einen nicht geringen Theil des Firchlichen Feft- 
freifes. Bald begnügte fich die Pietät nicht mehr mit dem, was die Gefhichte nahe 
legte, die befannteren Momente ihres Lebens in die kirchliche Gedächtnißfeier herein- 
zuziehen und in danfbarer Erinnerung zur Belebung des’ Glaubens zu vergegen- 
wärtigen; die durch fie beflimmte und genäßrte Verehrung ward felbft auf's Neue 
productiv, und ſchuf nacheinander zu den Hiftorifch gegebenen Memorien, wie die 
Geburt, Vermählung der hl. Jungfrau u. a. auch noch ſolche, welde in dem 
Eulte felber ihren Grund haben, wie des Patrociniums der HI. Jungfrau, des 
Rofariums u. ſ. w. oder fonft einer ſpeciellen Inflitution den Urfprung verdanken, 
wie bas Feſt Mariae de Mercede, Mariae ad Nives etc. Die religiöfen Orden weit- 
eiferten miteinander in der Bereicherung des Marianifchen Feſteyelus; und diefe 
Erfoheinung ift den Lateinern fo wenig eigenthümlih, daß die Drientalen ihnen 
bierin nicht bloß vorangingen, fondern auch fonft fie im Eifer übertrafen, Diefer 
Euft blieb dabei nicht ohne allen Einfluß auf die Lehrentwiclung, wie umgekehrt 
vorher diefe jenen angeregt und gefördert hat. Wie überhaupt nicht der Falte 
veflectirende Verſtand für fich das erzeugende und belebende Princip des Eultes 
ift, fondern derjelbe mehr aus dem erleuchteten, frommen und tieffinnigen Ge— 
müthsgrunde fi erhebt und entfaltet, fo hat eben diefer in feinem Streben, zu 
den gegebenen neue Seiten an den Dbjecten der Verehrung aufzufuchen, ver- 
einzelte Beziehungen daran entdeckt, zu feiner inneren Befriedigung hervorgekehrt 
und ſich aufgeftellt. Sowie nun die Kirche überall im Culte das, was dem Dogma 
angemefjen und der Beförderung der Frömmigkeit und des religiöfen Lebens dien- 
Lich ift, jelbft hervorhebt und anoronet, oder was von dem frommen Eifer ange- 
regt wird, in fofern fie es dem Dogma gegenüber unverfänglich und dem ge— 
nannten Zwede förderlich findet, gerne geflattet, weil fie nichts von dem, was 
erbaut und die Heiligung fördert, der frommen Gefinnung vorzuenthalten pflegtz 
fo Hat fie auch bezüglich des Marianifchen Cultes ſtets daſſelbe gethan, indem fie 
ihm im Culte der Heiligen einen hervorragenden Rang eingeräumt, wie es bie 
eminente Stellung der heiligen Gottesmutter mit fich bringt (f. den Art. Cultus 


- hyperduliae), und ihn in jeber angemeffenen und erfprießlichen Weife gefördert, 


zugleich aber auch dabei die Grenze zwifchen Dogma und frommer Meinung feft- 
gehalten Hat. 

Mariä Empfängnif. Die Erinnerung an das freudenvolle Ereigniß, da 
die HI. Jungfrau und Gottesgebärerin Maria im Dlutterleibe empfangen wurde, 
wird in der ganzen Kirche gefeiert, und zwar in der abendländifchen Kirche am 
8. December, und in der morgenländifchen am 9. December, weil das ältere Feft 


- Mariä Geburt neun Monate darauf, den 8. September, gefeiert wird, — Der 


Urfprung diefes Feftes ift ungewiß ; aber in der morgenländifchen Kirche wurde 
es fhon im fünften Jahrhundert gefeiert, denn das Typicon des hl. Sabas 
(+ 531) fegt es auf den 9. December als das Feſt: 7 ovAinung TyS dylag 
Avvas, untoös Ss Osoröxs, d. i. Conceptio S. Annae, parentis Genitrieis Dei, 
unter welhem Namen es auch bei den Griechen gefeiert wird, alfo als das Feft 
der Empfängniß der HI. Anna, der Mutter der Gottesgebärerin, oder da die HL 
Anna die Opttesgebärerin empfangen hat. Georg, Biſchof von Nicomedien, im 
fiebenten Jahrhundert, unter Kaiſer Heraclius C+ 641), bezeichnet es als ein Feft, 
das längft eingeführt fei (non novissime institutam), cf. Bened. de festis J. Ch. et 
Mariae part. II. $202; und ver Kaifer Immanuel Comnenus (+ 1180) fagt in 
einer Novelle bei Theodor Balfamon in deffen Observat. ad Nomocanonem Photii, 
Kirchenlexikon. 6. Dr. 5 


866 Mariä Empfärngnif. 


wo er die Fefte herzählt, welche vom Volke gefeiert werden ſollten: Nonus dies 
Decembris; quia tunc Genitricis Dei nostri Conceptio celebratur. Und in ver 
abendländifchen Kirche fommen Spuren davon ſchon im fiebenten Jahrhundert vor, 
und zwar zuerfi in Spanien, wo es der hl. Ildephons, Biſchof von Toledo 
C+ 667), einführte, wie deſſen Lebensbefchreiber Zulian berichtet; vgl. auch Mar- 
tene de antig. ecel. disc. c. 30. und Mabillon notae fusiores ad S. Bernardi epist. 
174.; dann in England im eilften Jahrhundert, wo e8 dur Anfelm, Erzbifchof 
von Canterbury CH 1109), eingeführt wurde, wie eine Synode in London vom 
Sabre 1323 bezeugt Cef. Bened. I. c. $ 203); in Frankreich wenigftens im An- 
fang des 12ten Jahrhunderts, da der hl. Bernhard (+ 1133), welder in einem 
bald näher zu befprechenden Schreiben, worin er bie Canonifer der Cathebral- 
firche von Lyon wegen der Einführung diefes Feftes tadelt, fagt, daß er diefes 
Feft auch ſchon bei andern Kirchen bemerkt habe; in Nom jedoch erft im 1äten 
Sahrhunderte, wie aus einer Bemerfung des Hl, Bonaventura CH 1274) in ib, 
3. sentent. dist. 3. qu. 1. hervorzugehen fcheint, jedenfalls aber im Anfang des 
14ten Jahrhunderts, indem Alvarus Pelagius C+ 1340) berichtet, daß er an 
dieſem Feſte in Nom gepredigt habe; und ebenfo berichtet ver Carmeliter Bacon 
C+ 1350), daß diefes Feft in der Kirche feines Ordens jährlich vor den Cardi- 
nälen feierlich begangen werde (ef. Bened. 1. c. $ 206). — In Bezug auf den 
Grund oder die Bedeutung dieſes Feftes Hat fi in der abendländifchen Kirche 
ein Streit erhoben, wovon jedoch die morgenländifche unberührt geblieben ift, Es 
fnüpfte fih nämlich im Abendlande bald die Frage an dieſe Feftfeier: ob die hl. 
©pttesgebärerin ohne die Erbfünde oder mit der Erbfünde im Mutterleibe em- 
pfangen worden, und daher ihre Empfängniß eine unbefleckte oder mit jener Sünde 
beflecfte fer; und es bildeten fich unter den Theologen zwei Parteien, wovon bie 
eine diefe, die andere jene Meinung vertheidigte, Alle ſtimmten und flimmen 
darin zufammen, daß die HI. Jungfrau, ald von Gott vorberbeftimmt, den Sohn 
Gottes und Erlöfer der Welt zu gebären, durch die zuvorfommende Önade, 
bezüglich der Verbienfte ihres göttlichen Sohnes Jeſu Ehrifti, noch vor ihrer 
Geburt im Mutterleibe geheiligt, d.h. von der Erbfünde befreit worden und nach 
ihrer Geburt von jeder andern Sünde, auch von den läßlichen, wie die Kirche ſelbſt 
lehrt CConc. Trident. Sess. VI. can. 23.), frei geblieben fei, während bei allen andern 
Menſchen diefe Heiligung, beziehungsweife Befreiung von der Erbfünde (f. d. U.), 
erft nach der Geburt durch die Taufe eintritt; da ja auch der Prophet Jeremias 
(Cap. 1, 6.) noch im Mutterleibe von Gott gebeiligt wurde (antequam exires de 
vulva, santificavi te) und Johannes der Täufer (Luc, 1, 15.: Spiritu sanctoreplebitur 
adhuc ex utero matris suae), wie vielmehr alfo Diejenige, welche „das Heilige“, 
„ven Sohn Gottes”, gebären follte (Luc, 1, 35.). Aber darin weichen fie von 
einander ab, in welchem Zeitpunete die Heiligung Maria’ vor fih gegangen 

fei, ob im Momente ihrer Empfängniß, oder erft vor ihrer Geburt, alſo nach— 
dem ihr Leib und ihre Seele ſchon vereinigt waren, Diejenigen, welche das 
Erftere behaupten, nehmen die unbefleckte, d.h, von der Erbfünde befreite Em- 
pfängniß Maria’s an; und Diejenigen, welche die Heiligung Maria’s erft in die 
Zeit nad) ihrer Empfängnif, aber noch vor ihrer Geburt fegen, nehmen an, daß 
die hl. Jungfrau wie. alle andern Menfchen, CHriftus ausgenommen, in der Erb» 
fünde empfangen worden, und daher ihre Empfängnif Feine unbefledte fei. Den 
Anlaß zu diefer Controverfe gab der HI. Bernhard. Als nämlih die Canonifer 
von Lyon das Feſt Mariä Empfängniß, das fonft fchon vielfach eingeführt war, 
in ihrer Kirche einführten, fehrieb er im J. 1131 den ſchon genannten Brief 
(Cepist. 174. ad canonicos Lugdunenses in ed. Mabillonii), worin er diefelben bar- 
über fehr tadelte, theils wegen Mangels eines Grundes zu diefem Fefte, tbeils 
weil fie es ohne den Vorgang, beziehungsweife ohne Genehmigung des römifchen 
Stuhles gethan hätten, Er hielt nämlich dafür, daß, obwohl er die Heiligung 


Mariä Empfängniß. 867 


WMaria's vor ifrer Geburt im Mutterleibe, gleich der des Propheten Jeremias 
und des Täufers Johannes, anerkannte, weßmwegen er auch das Feft Mariä Ge- 

burt freudig feiere, die Empfängniß derfelben nicht gefeiert werden fünne, weil 

diefe mit dem Makel der Sünde, wie alle Menfchen von der Sünde Adams her, 

behaftet und folglich nicht Heilig fei, fondern daß, wenn man diefes annehmen 

wolle, man annehmen müffe, daß Anna die Maria nicht von ihrem Manne, fon- 
- dern vom hl. Geifte empfangen habe, und daß folglich die Empfängnig Maria’g 
der Empfängnig Chriſti gleich fei, was aber der Lehre der Kirche widerftreite und 
eine Kegerei fei. Allein abgefehen davon, daß der Sinn des Briefs des hl. Bern- 
Hard über diefen Punet des vermeintlich fehlenden Grundes zur Feftfeier nicht 
ganz klar ift, fo gibt er auch felbft am Schluffe feines Briefes zu erfennen, daß 
er hierin nicht mit fih im Keinen war, indem er entſchieden die Canonifer nur 
deßhalb tadelte, weil fie diefes Feft ohne Genehmigung des römifhen Stuhles 
eingeführt hätten; das Uebrige aber, was er fonft über diefe Materie fagt, ohne 
Präjudiz eines Andern, der es beffer wiſſe, gefagt haben will, und daffelbe ing- 
befondere dem Urtheile des römiſchen Stuhles unterwirft und ſich bereit erklärt, 
wenn er anders denke, als diefer, fein Urtheil darnach zu verbeffern. Diefer Brief 
hatte auch rüdfichtlich der Feier des Feftes wirklich Feine Wirfung, indem ſich 
weder die Canonifer von Lyon dadurch von der Feier diefes Feftes abhalten ließen, 
noch die andern Kirchen, wo es bereits eingeführt war, davon abflanden, viel- 
mehr diefe Feier immer weiter ſich verbreitete, ohne daß vorerft fih Jemand in 
die Unterfuhung der Frage einließ, ob Maria von der Erbfünde frei geblieben 
ſei oder nicht (Bened. 1. c. $ 189). Der HI. Bernhard ging dabei von einem 
andern Begriff der Empfängniß aus, als dabei vorausgefegt wird; und er ver— 
langte einerfeits zu viel, wenn er behauptete, daß, um von der Erbfünde frei zu 
bleiben, eine Empfängnig vom hl. Geifte nöthig fei, da dazır die zuvorkommende 
heiligmachende Gnade Gottes genügt; und andererfeits folgerte er zu wenig für 
die Heiligung Maria’s vor ihrer Geburt noch im Mutterleibe aus dem Beifpiele 
der Heiligung des Propheten Feremias und des Täufers Johannes vor deren 
Geburt im Mutterleib, da Maria, die Osttesgebärerin, mehr ift, als beide, die 
nicht ohne die Erbfünde empfangen wurden, und daher auch einer größern Gnade 
Gottes gewürdigt ift, als beide; denn wem unter den Menfchen wurde ein himm— 
liſcher Gruß zu Theil, wie der, welcher der Hl. Maria zu Theil geworden ift? 
@ue. 1, 28.) Auch ift feine Berufung auf die alte Tradition, welche diefes Feft 
nicht empfehle (non commendat antiqua traditio), nur in fofern zutreffend, als es 
die Feier des Feftes betrifft, die allerdings im der älteften Zeit noch nicht vor— 
fommt, wie aus dem Obigen zu erfehen ift, nicht aber in fofern, ald es dem 
Grund des Feftes, nad feiner (des: hl. Bernhard) Auffaffung, angeht. Denn die 
alten Bäter des Morgen- und des Abendlandes reden in den höchſten Ausdrücken 
von der Erhabenheit und Heiligkeit der Jungfrau Maria über alle Gefchöpfe, 
Engel und Menfhen (ef. Pallavicini hist. conc. Trident. lib. 7. ce. 7. n. T—9.)J5 
und wenn fie nicht ausdrüdlich fagen, daß fie au von der Erbfünde frei ge— 
blieben fei, fo folgt daraus nicht, daß fie das Gegentheil geglaubt und gelehrt 
Hätten, denn fie hatten feine Veranlaffung, fih ausdrüdlih über diefen Punct 
auszuſprechen. Dagegen hat derjenige, welcher durch die Pelagianer dazu Ver— 
| anlaffung erhielt, nämlich der HI. Auguftinus, fi allerdings ziemlich deutlich 

darüber ausgefprochen, indem er die hl. Maria von der Sündhaftigfeit aller 

Menfhen ausnimmt, und diefelbe in jeder Hinficht für fündenfrei erflärt, Seine 

Worte find (in lib. de gratia et natura cap. 36): Excepta itaque Sancta Virgine 

Maria, de qua, propter honorem Domini, nullam prorsus, cum de peccalis 

agitur, haberi volo quaestionem: unde enim scimus, quid ei plus gratiae 

collatum fuerit ad vincendum omni ex parte peccatum, quae concipere ac parere 

meruit eum, quem constat nullum habuisse peccatum? Wenn er fie nun aber im 


55 * 


868 Marii Empfängniß. 


jeder Hinficht für fündenfrei erffärt, fo läßt fih gewiß nicht ohne Grund der 
Schluß ziehen, daß er fie nicht bloß von der wirklichen, fondern auch von der 
Erbfünde für frei erflärt, Cf. Natalis Alex. hist. eccles. saec. II. dissert. XIV. 
Ss 21. Was aber den Begriff ver Empfängnig Maria's betrifft, welchen fich der 
hl. Bernhard davon machte, fo beftand derfelbe in dem Acte der phyfifchen Zeu— 
gung durch ihre Eltern, denn er meinte, wenn man die hl. Jungfrau von der 
Erbfünde freifprechen wolle, fo müffe fie es ſchon vor ihrer Zeugung durch ihre 
Eltern gewefen fein, alfo in einem Zeitpuncte, wo fie noch nicht eriflirte, was 
unmöglich ſei, oder man müffe den Act der Zeugung für heilig halten, was wieder 
nicht angehe, alfo müffe man annehmen, daß fie erfi nach ihrer Empfängniß, 
jedoch noch im Mutterleib, ihre Heiligung erhalten habe, Seine Worte find: 
Si igitur ante conceptum sui sanctificari minime potuit, quoniam non erat; sed nec 
in ipso quidem conceptu, propter peccatum, quod inerat; restat ut post conceptum, 
in utero jam exsistens, sanctificationem accepisse credatur, quae excluso peccato 
sanctam fecerit nativitatem, non tamen et conceptionem. Die Theologen aber 
unterfcheiden zwifchen der activen und paffiven Empfängniß (conceptio activa 
et passiva), und verftehen unter der activen den Act der Zeugung durch die Eltern, 
unter der paffiven aber den Moment, wo die Seele in den fchon gebildeten Leib 
son Gott eingegoffen wird. Benedict XIV. fagt hierüber 1. c. $ 185: Conceptio 
dupliciter accipi potest; vel enim est activa, in qua sancti B. Virginis parentes 
opere maritali invicem convenientes praestiterunt ea, quae maxime spectabant ad 
ipsius corporis formationem, organizationem et disposilionem ad recipiendam ani- 
mam rationalem a Deo infundendam; vel est passiva, cum rationalis anima cum 
corpore copulatur. Ipsa animae infusio et unio cum corpore debite or- 
ganizato vulgo nominatur Gonceptio passiva, quae scilicet fit illo 
ipso instanti, quo rationalis anima corpori omnibus membris ac suis 
organis constanti unitur. Diefe paffive Empfängnig Maria’s nun iſt es, 
um welche es ſich Hier handelt, und welche Diejenigen verftehen, welche die un— 
befleckte Empfängniß Maria’$, oder die Immunität derfelben von der Erbfünde 
durch die zunorfommende Gnade Gottes vertheidigen, Denn Benebict ſagt e. 
$ 186: Non hic de activa Gonceptione sermo est, sed de passiva, quae pura et 
immaculata fuisse dieitur. Beata onim Virgo ab originali labe fuit immunis, et & 
communi omnium hominum contagione libera per gratiam sanctificanfem, quam 
Deus illi indidit in primo conceptionis momento, cum anima corporijam 
membris suis instructo unita fuit. Diefes werde, fagt Benediet weiter, 
von denjenigen Theologen, welche die unbefleckte Empfängnig Maria's vertheidig- 
ten, durch folgende gleichhedeutende Säte ausgedrügft, nämlich: Conceptio B, Vir- 
ginis est immaculata; oder B. Virgo in eo puncto temporis, quo anima corpori 
unita est, ab originali peccato munda fuit et immunis; oder B. Virgo, praeveniente 
gratia, numquam actu originali peccato subdita fuit; oder B. Virgo primo existen- 
tiae suae momento fuit sanctificante gratia praedita; oder endlich B. Virgo ab ori- 
ginali peccato servata fuit. Derjenige aber würde die unbefleckte Empfängniß 
Maria’s nicht deutlich genug ausdrüden, welcher fagte, fie fei, bevor fie aus dem 
Mutterleibe hervorgegangen, geheiligt worden, denn Jeremias (Cap, 1.) und Jo= 
hannes der Täufer (Luc. 1.) feien auch im Mutterleibe geheiligt worben, aber 
doch beide mit der Erbfünde behaftet gewefen. Es komme alles auf den Mo— 
ment an, in welchem die Gnade eingegoffen worden, Wer alfo der Meinung von 
der unbefleckten Empfängnif Maria’ folge, müffe einen von den obigen Sägen 
anwenden, um biefen Sinn auszubrüden, welche Säge nicht nur ausdrückten, daß 
fie im Mutterleibe geheiligt, fondern auch, daß ihr die heiligmachende Gnade in 
demfelben Moment eingegoffen worben fei, als mit dem Leibe die Seele vereinigt 
wurde, fo daß die heiligfte Frau von dem gemeinfamen Erbmafel Aller frei ge— 
wefen fei, Der hl. Bernhard aber ging von dem Momente ber artiven Zeu— 


Mariä Empfängnif. 869 


gung aus, welcher hier nicht in Betrachtung fommt, — Nachdem jedoch die Sache 
von dem HI. Bernhard angeregt war, entftand auch der Eifer, damit in’s Reine 
zu fommen, und fo entflanden unter den Theologen die ſchon berührten zwei Par- 
teien, wovon die eine für und die andere gegen die unbefleckte Empfängnig Ma- 
ria's firitten, von welchem Streite jedoch die Feier des Feftes Feine Notiz nahm, 
die fih vielmehr immer weiter in der Kirche verbreitete. Endlich fchien die Mei- 
nung von der unbefledten Empfängnig Maria's den Sieg davon zu tragen durch 
den Franeiscaner Johannes Duns Scotus, welcher im Jahr 1307 in einer 
feierlichen Disputation vor der Parifer theologiſchen Facultät, die auf Befehl des 
Papftes und in Gegenwart der päpftlichen Legaten gehalten wurde, den Sag: daß 
die hl. Jungfrau Maria von der Erbfünde frei geblieben fei, fo glänzend ver- 
theidigte und die Einwendungen dagegen widerlegte, daß fih jene Farultät, in 
welcher früher berühmte Profefforen die entgegengefegte Meinung vertreten hatten, 
nunmehr für diefe von Duns Scotus vertheidigte Meinung erklärte und dem 
felben ven Namen Doctor Subtilis beifegte. Diefem Beifpiele der Pariſer then- 
Ingiihen Facultät folgten nach und nach ziemlich alle theologiſchen Facultäten 
und Theologen (Bened. 1. c. $ 189). Namentlich war es der Orden der Fran- 


. eiscaner, welcher nach dem Borgang feines berühmten Ordensmannes Duns 








Scotus diefe Meinung vertrat, und worin ſich demſelben nachmals der Orden 
der Jeſuiten beigefellte. Die entgegengefegte Meinung, daß nämlich die HI. 
Jungfrau Maria bei ihrer Empfängniß, wie alle Menfchen, mit der Erbfünde 
behaftet worden fei, wurde jedoch fortan durch den Drden der Dominicaner ver- 
treten, im Hinblick auf feinen berühmten Drdensgenoffen, den HI. Thomas von 
Aquin (+ 1274), und auf andere berühmte Scholaftifer, wie Petrus Lombarbus 
Cr 1164), Alerander von Hales (+ 1245) und Bonaventura CH 1274), beide letztere 
Sranciscaner, und Albertus Magnus, Dominicaner (+ 1280). Doch trat diefe 
gegnerifche Partei nicht ganz in die Fußftapfen des HI. Bernhard ein, fondern wich 
vielmehr darin von ihm ab, daß fie nicht von der activen Conception ausging, 
wie er, fondern von der paffinen, indem fie behauptete, daß die hl. Jungfrau 
in dem Moment, als ihre Seele mit ihrem Leibe vereinigt wurde, der Erbfünde 
unterworfen, und erft nachher, jedoch vor ihrer Geburt, noch im Mutterleibe, 
durch die heiligmachende Gnade davon befreit worden, alſo einige Zeit damit be= 
haftet gewefen fei. Denn Alerander von Hales fragt part. 1. qu. 9. art. 1.: 
1) an B. Virgo fuerit sanctificata in conceptione (i. e. in commixtione, quae est 
in prineipiis seminalibus viri et mulieris, wie Bernhard die conceptio auffaßte); 
2) an post conceptionem ante animae infusionem? Und Thomas fagt hierauf in 
mag. dist. 3. qu. 1. a. 1. c.; ad hoc dicendum, quod B. Virgo nec ante concep- 
tionem, nec in conceptione ante animae infusionem sanctificata sit. Vgl. Mabillon 
in not. fus. in S. Bernardum ad epist. 174. Der hl. Bernhard Fonnte alfo Leichter, 
als diefe, zu der andern Meinung von der unbefledkten Empfängnif übergeben, 
fowie er gefehen, daß der römifhe Stuhl, deffen Urteil er feine beffallfigen 
Behauptungen unterworfen hatte, fi zu derfelben Hinneige, und er würde dieſes 
ohne Zweifel auch getban haben (ef. Bened. 1. c. $ 189). — Die Meinung von 
der unbefleften Empfängniß nahm nunmehro (nach Duns Scotus) an Kräftigung 
zu. Als 80 Jahre nach des Duns Scotus Tode CH 1308), nämlich im J. 1387, 
der Dominicaner Johannes de Monteſono den Sag aufftellte: daß die hl. Jungfrau 
in der Erbfünde empfangen worden fei, wurde diefer Sat von der Parifer theol; 
Faeultät verurtgeilt und diefes Urtheil von dem Bifchof von Paris beftätigt (Benedi 
1.0. $ 190). Ferner auch das Eoneil zu Bafel Ceröffnet 1431) nahm die Frage 
von der unbefleckten Empfängniß Maria's zur Behandlung, und beauftragte den 
Sohannes de Turrecremata, den Stand der Sache zu bearbeiten und mit feinem 
Urtheife vorzulegen, Er fohrieb auch eine Abhandlung darüber, legte fie aber nicht 
mehr por, da das Eoneil vom Papſt Eugen IV. nach Ferrara verlegt wurde (1438), 


870 Mariä Empfängniß. 


and Turrecremata ſich gleichfalls dahin begab, Der in Baſel zurückgebliebene 
Theil der Väter fegte jedoch, wie befannt, feine nunmehr fchismatifh gewordenen 
Berathungen fort, und nahm auch die Frage über die unbefleckte Empfängnif 
Maria’s wirklich noch in Berathung und gab darüber in der 36ſten Sigung im 
J. 1439 folgende Entſcheidung: Doctrinam illam asserentem gloriosam Virginem 
Dei Genitricem Mariam , praeveniente et operante Divini Numinis gralia singulari, 
nunquam actualiter subjacuisse peccato originali, sed immunem semper fuisse ab 
omni originali et actuali culpa, sanctamque et immaculatam, tamquam piam et con- 
sonam cultui ecclesiastico, fidei catholicae, rectae rationi, el sacrae scriplurae, ab 
omnibus Catholicis approbandam fore, tenendam, et amplectendam definimus, et 
declaramus, nullique de caetero licitum esse in confrarium praedicare, seu docere, 
Allein fo wichtig auch diefer Beſchluß materiell ift, fo hatte er doch Feine Gültig- 
feit, weil das Coneil felbft nicht mehr rechtmäßig war, Dagegen gab Papft Sir- 
tus IV. im Jahr 1476 eine Conftitution heraus, worin er, ohne des Decrets des 
Bafeler Eoneils zu gedenken, einige Abläffe Denjenigen verlieh, welde am Fefte 
der Empfängniß Mariä die HI. Meffe und das von ihm Hierzu approbirte Officium 
beten und den canonifchen Stunden beiwohnen würden, und mithin diefes Feft 
dadurch begünftigte. Und als im Jahr 1481 der Dominicaner Vincentius de 
Brandelis zu Ferrara in einer öffentlichen Disputation die der unbefledten Em- 
pfängniß entgegengefegte Behauptung vertheidigte, und in demfelben Jahre einen 
Trartat herausgab , worin er zu zeigen fuchte, daß die Gottesmutter ebenfo wie 
die übrigen Menfchen in der Erbfünde empfangen worden fei, und daß es unrecht 
fei, zu glauben, daß fie ohne Erbfünde empfangen worden fei, fowie auch unrecht, 
die Predigten folcher zu hören, welche Teugneten, daß fie in der Erbfünde empfangen 
worden, feine Meinung jedoch dem Urtheile des römischen Stuhles unterwerfend; 
fo gab Sirtus IV. im J. 1483 eine zweite Conftitution heraus, worin er Die- 
jenigen verdammte, welche zu behaupten wagten,, daß derjenige eine Todfünde 
begehe, welcher jenes Feft feiere, oder ein Keger fei, welcher den Satz verthei- 
dige, daß die feligfte Jungfrau von der Erbfünde frei gewefen fet (Bened. I. c. 
$. 192.), Und als im J. 1497 der Varifer Theologe Johannes Verus öffentlich 
predigte, daß die heilige Jungfrau zwar gereinigt, aber nicht vor der Erbfünde 
bewahrt worden fei, fo veranlaßte ihn die theologifche Facultät dafelbft, dieſe 
Behauptung öffentlich zu widerrufen, und faßte im nämlichen Jahre, um berlei 
Streitigfeiten vorzubeugen, den Befchluß: Feinem in Zukunft den Doctorgrad zu 
verleihen, welcher nicht der Meinung von der unbeflerften Empfängniß Maria’s 
zugethan fei, und fich nicht durch einen feierlichen Eid verpflichte, diefelbe zu ver- 
theidigen, und bezeichnete die entgegengefegte Meinung als eine falfche, gottlofe und 
irrige (falsam, impiam, et erroneam. Cf. Bened. 1. c. $. 193.). Als fpäter das Coneil 
von Trient von Paul IM. im J. 1542 ausgefchrieben worden war, verbreitete fi 
die Nachricht, daß auf demfelben auch die Eontroverfe über die unbefledte Ems 
pfängniß Maria's in Anregung gebracht werden folle, weßhalb ber Magister 
palatii Bartholomäus Spina mit Einwilligung des Papftes die Schrift Turreere- 
mata's, welche für das Coneil von Bafel beftimmt gewefen, aber demfelben nicht 
mehr vorgelegt worden war, durch den Druck befannt machte, Die Eontroverfe 
wurde auch wirklich von den Cardinälen von Giaen und Pacecco bei den Berhand« 
ungen über die Lehre von der Erbfünde angeregt und in der fünften Sigung am 
17. Juni 1546 von der Eynode zu dem Deerete über die Erbfünde folgende Er— 
Härung in Betreff der hl. Maria beigefügt: Declarat tamen haec ipsa sancta Syno- 
dus, non esse suae intentionis comprehendere in hoc decretö, ubi de peccalo ori- 
ginali agitur, beatam et immaculatam Virginem Mariam Dei Genitricem; sed obser- 
vandas esse Constitutiones felicis recordationis Sixti papae IV. sub poenis in eis 
Constitutionibus contentis, quas innovat. (Cf. Pallavicini hist, cone. Trident. lib. 7. 
©. 3,0. 8 et 0, 10. n. 5.), Obgleich die Synode durch diefe Erklärung bie Con« 








Mariä Empfängnig. 81 


troverſe nicht entſchied, fondern diefelbe in dem Stadium, in welches fie unter 
Sirtus IV. getreten war, beließ, fo ift doch nicht zu Teugnen, daß dadurch die 
Meinung von der unbefleften Empfängnig Maria's einen Zuwachs an Gewicht 
erhielt. Indeſſen eben weil fie die Controverje dogmatiſch nicht entfchied, fo blieb 
fie au, und erhob ſich bald wieder an der pariſer theologifchen Facultät, indem 
diefe legtere durch den Jefuiten Maldonat wegen ihres Eides angefochten wurde, 
den fie in diefem Betreff von ihren Doetoranden fordere, und worin fie die Mei— 
nung von der unbeflecten Empfängniß dadurch, daß fie die gegentheilige Meinung 
für falſch, gottlos und irrig erkläre, gleihfam zum Glaubensartifel made, da fie 
doch von der Kirche felbft noch nicht dogmatiſch entichieden, und daher nur eine 
fromme Meinung fei; auch wurde die Controverfe von den Geiftlichen wieder in 
den Predigten vor dem Bolfe verhandelt. In Folge deifen ließ die theologifche 
Facultät zu Paris in ihrem Eide den Zuſatz: daß die gegentheilige Meinung falfch, 
gottlos und irrig fei, fallen Cef. Bened. 1. c. 8.193. 197 et 210. und Natalis Alex, 
hist, eceles. saec. II. Dissert. 16. $, 21.); und Papft Pius V. verbot im J. 1570 
in einer Conftitution, unter Androhung fhwerer Strafen, die beiderfeitigen Mei— 
nungen auf den Kanzeln oder in öffentlichen Berfammlungen von Perfonen beiderlei 
Geſchlechts zu berühren, oder die eine von beiden Meinungen, da der apoftolifche 
Stuhl noch nicht entfchieden habe, für irrig zu erflären; und nur den Gelehrten 
geftattete er, in öffentlichen Disputationen, wo Männer anwejend feien, welche 
die Sache verftänden, darüber zu ftreiten (Bened. 1. c. $. 197). Später ging 
Philipp IH., König von Spanien, den Papft Paul V. an, den Streit zu entſcheiden. 
Derfelbe ging jedoch darauf nicht ein, fondern beftätigte bloß durch eine Conftitu= 
tion vom Jahr 1616 die Verordnungen der Päpfte Sirtus IV. und Pins V. und 
den Befchluß des Eoneils von Trient in diefer Sache, und fügte noch neue Strafen 
für die dawider Handelnden hinzu, Da aber diefen Verordnungen doch nicht 
überall nachgefommen wurde, fo verbot er im 3. 1617 durch eine Eonftitution, 
in allen öffentlichen Berhandlungen, wie Predigten, Borlefungen, Thefen u. dgl. 
die Behauptung aufzuftellen: daß die hl. Jungfrau in der Erbſünde empfangen 
worden fei, fügte jedoch bei: Per hujusmodi provisionem Sanctitas sua non inten- 
dit reprobare alteram opinionem, nec ei ullum prorsus praejudicium inferre, eam 
relinquens in iisdem statu et terminis, in quibus de praesenti reperitur, praeter 
quam quod disposita. Bald darauf ging auch Philipp IV., König von Spanien, 
den Papſt Gregor XV. an, die Eontroverfe zu entſcheiden. Derfelbe Iehnte es 
auch wieder ab, doch fügte er durch eine Eonftitution vom 3. 1622 zu den vor= 
bandenen Verordnungen in Betracht diefer Sache drei neue hinzu: 1) daß, wer 
in Öffentlichen Verhandlungen behaupte, die HI. Jungfrau fei ohne die Erbfünde 
enipfangen worden, die gegentheilige Meinung nicht angreifen, fondern davon 
gänzlich ſchweigen folle; 2) daß es niemand mehr erlaubt fein folle, auch nicht 
einmal mehr in privaten Verhandlungen, die der Meinung von der unbefleckten 
Empfängniß entgegenftehende Meinung zu vertheidigen, mit Ausnahme der— 
jenigen Perſonen, welchen es der apoftolifche Stuhl erlaubt habe, und er er⸗ 
faubte e8 den Dominicanern, jedoch nur privatim und unter fi) davon zu reden; 
3) daß fih in dem Offieium und in der heiligen Meffe, welche am Fefte ver Em— 
pfängniß der feligften Jungfrau von der Kirche gefeiert werde, niemand, ſei es 
öffentlich oder privatim, eines andern, als des Namens „Empfängnig” be= 
dienen folfe (alio, quam Conceptionis nomine); alfo nicht immaculata Gonceptio 
B. Mariae Virginis, fondern Gonceptio B. Mariae Virginis immaculatae (Bened.l. 
$. 208). Nah diefem ging Papft Alerander VIL weiter und verordnete durch 
eine Conftitution vom 3. 1661, daß der Eult der Empfängniß der unbefledten 
und fteten Jungfrau Maria in der römifchen Kirche, nachdem er einmal eingeführt 
fei, immerwährend (perpetuo) beibehalten werden folle, und verbot unter ſchweren 
Strafen, die Meinung, das Feft, und den Eult der (unbefleckten) Empfängniß 


872 Marii Erwartung. 


jemals in Zweifel zu ziehen, oder unter was immer für einem Vorwande mit 
Worten anzugreifen, fügte aber bei: Vetamus aufem Sixti IV. Constitutionibus in- 
haerentes, quemquam asserere, quod propter hoc contrariam opinionem tenentes, 
videlicet gloriosam Virginem Mariam cum originali peccato fuisse conceptam, hae- 
resis crimen aut mortale peccatum incurrant, cum a Romana Ecclesia et ab Apo- 
stolica Sede nondum fuerit hoc decisum, prout Nos nunc minime decidere volumus, aut 
intendimus (Bened.]. c. $. 199). Bald darauf fügte Papſt Clemens IX. (1667-1669) 
die Detav zu diefem Feſte; und Clemens XI. erhob es endlich durch feine Eonfti- 
tution vom 6. December 1708 zu einem gebotenen Feiertage (festivitalem de prae- 
cepto) für die ganze Kirche (Bened. 1. c. $. 207), Papft Gregor XVI. geftattete 
zulegt auch noch den franzöfifchen Biſchöfen, auf ihre Bitte, in der Präfation zu 
fingen: Et te immaculata conceptione B. M. V., und in ber Iauretanifchen Litanei: 
Regina sine labe originali concepta. So haben fich denn die Päpfte immer, und 
immer mehr zu Gunften der Meinung von ber unbefledten Empfängniß ausge- 
ſprochen. Auch das Haupt des Ordens, welder bisher die entgegengefegte Diei- 
nung vertreten hatte, der General der Dominicaner, fuchte beim hl. Stuhle um 
die Erlaubniß nach und erhielt fie im 3.1843, die Meffe und das Offieium von 
der unbeflerften Empfängnig Maria’ adoptiren zu dürfen, Endlih haben in 
neuefter Zeit die americanifchen und franzöfifchen Bifchöfe in Verbindung mit den 
Sefuiten abermals an den römifchen Stuhl die Bitte gerichtet, den Streit zu ent- 
fiheiden, und die fromme Lehrmeinung von der unbefledten Empfängnig Maria’s 
zu einem Dogma zu erheben. Pius IX. hat jedoch nicht fofort diefer Bitte nach- 
gegeben, fondern unter vem 2, Februar 1849 eine Encyelica an fämmtliche Biſchöfe 
des Erdfreifes gerichtet, um ihr Gutachten darüber einzuholen. — Diejes der 
Berlauf der Verhandlungen über diefen Gegenfland, — Wir ſchließen daher zur 
Zeit noch mit den Worten Benediet XIV. in feiner mehr erwähnten fehr gelehrten 
Abhandlung über diefe Materie (F. 200): „Die Summe der ganzen Sache geht 
dahin, daß die Kirche ſich mehr zu der Meinung von der unbefledten Empfäng- 
nit Maria’s neigt, daß jedoch der apoftolifche Stuhl diefelbe noch nicht als 
Glaubensartifel ausgefprochen hat CItaque summa totius rei huc redit, ut Eoclesia 
ad opinionem immaculatae Conceptionis propensior sit; nondum tamen Apostolica 
Sedes tamquam fidei arliculum eam definierit). — Uebrigens ift von der dogmatiſchen 
Eontroverfe die Feier des Feftes unberührt, da, wie Bellarmin fagt, der Haupt- 
grund derfelben nicht die Unbeflerftheit der Empfängniß iſt, fondern die Erinnerung 
an das freudige Ereigniß der Empfängniß der Gottesmutter, Seine Worte (de 
cultu Sanctorum lib. 3. cap. 16. in Op. de Controversüs, Venet. 1721. tom. II. 
pag. 453) find: Fundamentum hujus festi (scil. Conceptionis B. V.) praecipuum 
non est Gonceptio immaculata, sed simplieiter Gonceptio matris Dei futurae, Qua-— 
liscunque enim fuerit illa Gonceptio, eo ipso quod Gonceptio fuit matris Dei, sin- 
gulare gaudium affert mundo ejus memoria. Tunc enim primum habuimus pignus 
cerium redemptionis, praeserlim cum non sine miraculo ex matre sterili concepia 
fuerit. Itaque hoc festum etiam illi celebrant, qui putant Virginem in peocato oon- 
ceptam,. — Die neuefte Schrift über diefen Gegenftand -ift von dem Jeſuiten 
Perrone mit dem Titel: De immaculato B. V. Mariae conceptu, an dogmatico 
decreto definiri possit. Romae 1848, dem Papfte Pius IX, gewidmet, und zu dem 
Zwede gefehrieben, die endliche dogmatifche Entſcheidung damit anzubahnen. 
Mariä Erwartung (Exspectalio partus B. V.M.), Erwartung ber Nieder- 
funft der feligften Zungfran, Sinn und Geift diefes Feſtes, das als ein Feslum 
internum am 18, December begangen wird, ift von felbft klar. Einige hielten es für 
identifch mit dem Fefte Marii Verkündigung (ſ. d. A.). Die Verwechslung kam 
daher, daß e8 an demfelben Tage begangen wird, welchen die Synode von Toledo 
im Jahre 656 für die Feier der Verkündigung beftimmt hatte, Aber letzteres Feft 
wurde nie und nirgends Exspectatio partus genannt, Es muß fomit das Feft 


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Mariä Geburt. 873 


Mariä Erwartung” jüngern Urfprunges fein. Als fih nämlih Spanien 


der Praris der römischen Kirche, welche das Feft Mariä Verkündigung am 25. März 
feiert, accommodirte, fo fubftituirte es das Feft Mariä Erwartung auf den 18, Der,, 
wo es vorher Mariä Verkündigung gefeiert hatte, Diefes Feft, das Gregor XIM. 
im $. 1573 approbirte, ift nur ein Rirchenfeft und Heißt in Spanien, weil bie 
großen Antiphonen am Borabende deffelben mit der Interjection O anfangen, auch 
Festum Dominae nostrae de ©. (Bened. XIV. de fest. p. . $ 226. 227. Bin= 
terim, Denfw, V. 1.) 

Mariä Geburt (Nativitas B. V.M.). Ueber die Abfunft Mariens und deren 
Eltern ift fhon früher im Art, „Maria” das Nöthige gefagt worden. Nach der zu- 
verläffigften Auslegung von Luc. 3, 23, wie nach der Angabe beider Thalmude war 
ihr Bater Eli, daffelbe was Eliafim oder Joakim oder Joachim, und ihre Mutter 
bieg Anna. Lestere empfing, nach alter Tradition, gleich jener Anna, welche als 
Elkana's Gemahlin und Samuels Mutter im A. T. gepriefen wird, ihre Tochter alg 
eine Frucht heißer Gebete nach längerer Unfruchtbarkeit, Nach Baronius (in appar. 
ad annal. eccl. $ 48} war Nazareth die Geburtsftadt Mariens; dorthin hatten 
fih auch wirklich, als in Herodes ein dem Bolfe fremder König aufkam, die 
Nachkommen der fat vergeffenen davidiſchen Königsfamilie in gerechter Beſorgniß 
zurüdgezogen. Johannes Damascenus dagegen (de fid. orth. 1. IV. c. 15) ift der 
Meinung, Maria habe zu Jeruſalem das Licht der Welt erblickt. Wie dem au 
fei, die Geburt Mariens ift ein würdiger Gegenfland kirchlicher Feftfeier. Groß 
war der Ahnenruhm und der Geburtsadel diefer Tochter der Patriarchen und Kö— 
nige; aber größer noch ift die Würde ihrer Mutterfchaft und der Glanz ihrer 
Tugenden. Auf beide Beziehungen weist die Kirche hin in dem Officium dieſes 
Seftes. Die evangelifche Feft-Pericope fließt nach Herzählung der Stammpäter 
Mariens mit Jefus Chriftus, um anzudeuten, daß er der Zweck ihrer Geburt 
fei, daß fie ihm ihre Würde verdanfe, daß, wenn fonft wohl der Ruhm son den 
Eltern auf die Kinder übergeht, hier die Herrlichkeit von dem Kinde auf die 
Mutter zurüdftrahle. Diefem Verhältniſſe Mariens zu ihrem göttlichen Sohne 
und dem gefammten Erlöfungswerfe entſprechend war auch ihre Geburt infofern 
eine ausgezeichnete, als fie ohne die Makel der Erbfünde in’s Leben trat. Somit 
if ihre Geburtsfeier eine wohlbegründete Ausnahme von der kirchlichen Regel, 


‚nur die Sterbetage der Heiligen ald deren Geburtstage zum neuen unvergäng- 


lichen Leben zu feiern. Schon im vierten Jahrh. wurde der Geburtstag des Vor- 
länfers CHrifti-gefeiert, und das aus feinem andern Grunde, als weil er zwar 
in der Erbfünde empfangen, aber fchon im Mutterleibe geheiligt, d. 5. von der 
Erbfünde gereinigt und folglich frei von derfelben geboren wurde. Was lag dem- 
nad näher, als auch der Geburt der Mutter des Herrn eine befondere Berürf- 
fihtigung zuzuwenden? — Gleichwohl aber gehört die Feier der irdifchen Geburt 
der Gottesmutter nicht zu dem äfteften Firchlichen Feften. Es ward im Oriente 
zuerft begangen, und zwar, wie Gavantus (Thes. T. I. Sect. 7. c. 11) bemerkt, 
in der Epoche zwifhen den allgemeinen Eoneilien von Ephefus und Chalcedon 
(431— 451); wenigftens findet fi unter den von Riecardi herausgegebenen Reden: 
des Patriarchen Proclus von Eonftantinopel CH 447) eine über die Geburt der 
heiligen Jungfrau. Diefe Anfiht, die auch Binterim vertritt, gewinnt viel an 
innerer Wahrfcheinlichkeit, wenn man bebenft, wie geeignet die Feier der Geburt 
Mariens fein mußte, jenes Schibboleth des Neſtorianismus, fie fei nicht Heoroxog, 
fondern Kpıororoxos, und der von ihr Geborne nicht Ieog ougL yerouevog, 
fondern Rogöoos oder 0d6x06, zurüdzumeifen. Aus dem fiebenten Jahrh. 
haben wir von Andreas von Ereta eine Rede und ein Gedicht, Zdiomelon genannt, 
auf diefes, wie er andeutet, damals nicht mehr neue, fondern allgemein unter 
den Griechen befannte Feft (Galland. bibl. vet. Patr. tom. XIII. p. 93. Combef. 
editio opp. Andr. Cret. Paris. 1644), Aus dem Driente wanderte unfer Feft im 


874 Mariä Heimfuhung. 


den Occident. Auguftin kennt e8 noch nicht; denn er bemerft (Serm. 287. 292. 
de Sanct.) ausdrücklich, daß nur die Geburt Chrifti und feines Borläufers in der 
Kirche gefeiert zu werden pflege. Zwar find die Lectionen der Il Nocturn, die 
auf diefen Tag treffen, dem HI. Auguftin entnommen; allein fie find Bruchſtücke 
aus einer Nede, die Auguftin für das Feft Mariä Berfündigung bearbeitet hatte 
(Benedict. XIV. de fest. p. Il. $ 132), Unter ven veciventalifhen Kirchen ift es 
jedenfalls die römiſche, in welcher Martä Geburt zuerft gefeiert wurde. Bei 
Leo I. (440— 461) findet fi zwar noch feine Spur davon; ein fiheres Zeugniß 
aber für diefe Feftfeier bietet bereits das gelafianifche und gregorianifche Sacra- 
mentarium. Auch meldet der Bibliothecar Anaftafins, Papſt Sergius L 
(687 — 700) habe nicht nur das Feft gefannt, fondern auch Anordnungen über 
die Feier deſſelben, namentlich über eine von der Hadrianskirche nad St. Maria 
zu führende Proceffion getroffen (Bened. de fest. p. II. $ 135). Was die Kirchen 
von Sranfreih und Teutſchland betrifft, fo wird zwar in dem Werfe de 
miraculis S. Genovefae Virg. (tom. I. Januar. Bolland. p. 148) von einem Wunder 
berichtet, das fih an demſelben am Grabe diefer heiligen Jungfrau nicht lange nach 
deren Tode (+ 512) ereignet haben foll. Aber unfer Feft fehlt noch in dem Feftkalender 
des hl. Bonifacins, welches auf fein Pönitentiale folgt; auch indem des Con— 
eiliums von Mainz (813); Dennoch aber fheint Thomaffin zu weit herab- 
zugeben, wenn er fagt (de fest. 1. II. c. 20), erft um das 3. 1000 habe man 
Maris Geburt in Franfreich zu feiern angefangen ; denn es ift davon bereits in 
den Statuten des Bifhofs Sonnatius von Nheims aus dem fiebenten Jahrh., 
in den Statuten Walthers von Orleans aus dem neunten Jahrh. und in dem 
Calendarium deffelben Jahrhunderts bei Gerbet die Rede, Für Spanien be— 
zeugt unfere Feſtfeier IIdephons von Toledo aus dem fiebenten Jahrh. und für 
Britannien Beda der Ehrwürdige aus dem achten Jahrh. Deffenungeachtet 
aber kann die allgemeine Feier diefes Feftes nicht über den Anfang des eilften 
Jahrh. Hinaufgefohoben werden. Petrus Damiani ift der erfle Zeuge für bie 
Allgemeinheit diefer Feier im Deeidente, — Das Feft wird am 8, Sept, gefeiert. 
Ob es übrigens von jeher und überall an diefem Tage gefeiert wurbe, ift wohl be— 
zweifelt worden; aber mit Unrecht; denn alle angeführten Zeugniffenicht minder als 
die griechifchen Menden, d.i, Sammlungen der Dfficien der Heiligen und Meno— 
logien, die unfern Martyrolngien entfprechen, kennen feinen andern als diefen Tag _ 
(Binterim, Denfw. V. 1.). Warum man aber gerade diefen Tag gewählt habe? 
Spller (in Auct. Usuard.) u. 4, finden die Veranlaffung dazu in der Vifion eines 
Eremiten, der alle Jahre und zwar nur am 8, Sept. Engelsharmonieen vernommen 
babe, die, wie eine übernatürliche Belehrung ihm angedeutet, der Verherrlichung 
der Geburt der Gottesmutter gegolten hätten. Allein wer könnte mit folder Er— 
Härung fi begnügen? Dan fühlte fich nicht gedrungen, zu fragen: wann geſchah 
die Vifion? welches ift ver Name des Viſionärs ? welches die kirchliche Authorität, 
die darauf hin die nothwendige Beftimmung traf? Davon fohweigen die Bericht⸗ 
erftatter über jene Viſion (Bened. de fest. p. II. $ 130 und Bint, Denfw, V: 1.) 
Hiftorifeh fefter fleht die Veranlaffung zur Einführung der Octave von Mariä 
Geburt. Als nämlich nach dem Tode Gregors IX. die durch Friedrich IE vielfach 
bedrängten Cardinäle zu einer neuen Papſtwahl fehritten, nahmen fie ihre Zuflucht 
zur mächtigen Fürbitte Mariens und verbanden fich durch ein Gelübde, zur Er« 
böhung ihrer Geburtsfeier nach glücklich vollzogener Wahl die Einführung einer 
Detave zu veranlaffen, Der gewählte Eöleftin IV. ftarb fhon nah 18 Tagen, 
Sein Nachfolger Innoeenz IV. (1243— 1254) erfüllte das Gelübde und bie 
deßfallſige Beftimmung fand, einzelne teutfhe Didcefen ausgenommen, fofort 
freudige Aufnahme, [Kraus.] 
Mariä SHeimfuchung (Festum visitationis B.V. M.). Der hiſtoriſche Grund 
und die Idee dieſes Feſtes iſt der Luc, 1, 39—57 erzählte Beſuch Mariens bei 








Mariä Heimfuhung 875 


Elifabeth. Wenn man bedenkt, daß diefer Beſuch nicht bloß der Beobachtung 
einer Sitte der Höflichkeit und der Berückſichtigung verwandtfchaftliher Bezie- 
hungen galt, fondern die Heiligung des Borläufers Chriſti im Mutter- 
leibe (Luc, 1, 41. 44), die erſte menfhlihe Seligpreifung der Gottes— 
gebärerin (Luc, 1, 42. 43) und der Ausdruck herrlicher Empfindungen 
der danferfüllten Gnttesmutter (Luc, 1,46—56) fih daran knüpften: fo erſcheint 
gewiß diefe Feftfeier als auf tieffinnigen und paränetifch fruchtbaren Ideen ruhend. 
Auch der Umftand, daß fie unmittelbar auf die Feier ber irbifchen Geburt des 
Johannes folgt (ſie trifft auf den 2. Juli), verdient keineswegs den hie und da 
ausgefprochenen Tadel. Da nämlih Maria vor der Geburt des Johannes zu 
Elifabeth Fam, fo hat man gemeint, diefes Befuhs- vder Heimfuchungsfeft follte 
der Geburtsfeier des Täufers vorangehen. Allein nah der Chronologie ift 
diefe Feier nicht fo ſehr auf die Zeit der Anfunft, als vielmehr auf die der Ab- 
reife Mariens aus dem Haufe des Zacharias zu beziehen. Da nun Maria nach der 
Empfängnig vom hl. Geifte zu Elifabeth reiste und ungefähr drei Monate bei der- 
felben blieb (Luc, 1, 39. 56), Johannes aber ſechs Monate vor Jefus empfangen 
wurde (Luc. 1, 36), fo ift es im höchſten Grade wahrfcheinlih, daß ihre Nüd- 
reife von Hebron erft nach der Geburt des Täufers ftattfand, Eben wegen diefer 
Berbindung der dem Heimfuchungsfefte zu Grunde liegenden Thatſache mit der 
Geburt des HI. Johannes wurde in früheren Zeiten die darauf ſich beziehende 
evangelifche Erzählung in die Liturgie der Vorfeier des Geburtsfeftes des Täu- 
fers verflochten. Als eigenes Feft wurde und wird Mariä Heimfuhung nur in 
der abendländifchen Kirche gefeiert, denn die griechiſchen Menden und Calendarien 
erwähnen NichtS davon. Zwar will Baillet Chist. fest. visit. $ 2) den Urfprung 
der Feier in den Drient verweifen; allein feine Gründe beziehen fih nah Bin- 
terim (Denfw. V. 1.) mehr auf das Befündungsfef. Es wird zum erften Male 
in dem zweiten Feftverzeichniffe des Conriliums zu le Mans in Franfreih 
im 3. 1247 und zwar als ein Feft „neuer Inftitution” erwähnt (Mansi suppl. 
Concil. tom. 11.). Befonders thätig für deffen Verbreitung war ver hl. Bona- 
ventura, der in der im J. 1263 gehaltenen Generalverfammlung feines Ordens 
den Antrag machte, es im ganzen Bereiche des Franciscanerordens zu begehen 
(Van den Haute hist. ord. Min.). Bon den Franciscanern verbreitete es ſich 
allmählig weiter, 3. B. in die Didcefen Cöln, Salzburg, Briren m. f.w. All- 
gemeines Kirchenfeſt aber ward es erfi unter Papft Urban VI., der im Hin=- 
blide auf die Bedrängniffe der durch das damalige Schiema zerffüfteten Kirche 
und im Vertrauen auf die Macht der Fürbitte Mariens dem gelehrten Cardinal 
Ada aus England den Auftrag gab, aus der Schrift und den Kirchenvätern nach 
dem Borgange des HI. Bonaventura ein Dffieium behufs der allgemeinen Ein— 
führung des Heimfuhungsfeftes zu verfaffen (Schulting, biblioth. eceles. tom. I. 
p. 2.). Die Publication des Decretes gefhah, da Urban vom Tode übereilt ward, 
im Jahre 1390 dur Bonifaz IX., warb aber von den Anhängern der damali- 


- gen Gegenpäpfte nicht in Ausführung gebracht, Darum wurde im Jahre 1441 
- die allgemeine Feier des Feftles dur das Bafeler Eoncil aufs Neue ein- 


gefhärft, und zwar im Hinblicke auf die politifhen Wirrniffe und die kirchliche 
Zerfaßrenheit der damaligen Zeit. „Weil in diefen Tagen“, fagt das Eoncil 
Sess. 43. Decret. 33, „die Chriftenheit überall beängftigt ift, und allenthalben 
Krieg und kirchliche Trennungen wüthen, und fomit die fireitende Kirche auf ver- 
ſchiedene Weife bedrängt wird: fo erachtet es die heilige Verſammlung für Pflicht, 
daß die Feier, welche die Heimfuhung der heiligen Jungfrau genannt 
wird, in allen Kirchen begangen werde, damit die Mutter der Gnade, weni fie 
von frommen Gemüthern wahrhaft geehrt wird, ihren gebenedeiten Sohn durch 
ihre Fürbitte verfößne und fo der Friede wieder über die Oläubigen ſich ergieße“. 
Wollte Jemand im Hinblicke auf den damals ſchismatiſchen Charakter der Bafeler 


876 Marii Himmelfahrt. 


Synode die Legitimität diefes Feftes in Zweifel ziehen, fo bedenfe er, fein Ge- 
genftand wurzle im Evangelium und die Feier felbft wurde nachmals vom römi- 
fchen Stuhle ausdrücklich approbirt (Gavant. ad Rubr, Brev. Rom. Sect. VIl. cap. 
9. 8 2.). Sie erfirecft fih übrigens gewöhnlih nur mehr auf Meſſe und Bre- 
vier (Bened. de fest. p. II. $ 68.). | [Rraus.] 
Maris Himmelfahrt, oder Aufnahme in den "Himmel (Assumtio 
beatissimae Virginis Mariae) wird in der abendländifchen wie in der morgenländi- 
ſchen Kirche am 15. Auguft gefeiert, Die HL. Schriften enthalten nad) dem Tode 
des Heilandes nichts Ausdrüdliches mehr von den legten Lebensjahren und dem 
Tode der HI. Jungfrau Maria; auch Haben die älteren Kirchenväter ſchriftlich 
nichts darüber hinterlaffen. Der hl. Epiphanius C+ 403) fagt in haeres. LXXVIN. 
11. gegen die Feinde der hl. Jungfrau: „Sie mögen in der HI, Schrift nad- 
forfchen, fie werden darin den Tod Maria's nicht finden, weder ob fie geftorben 
oder ob fie nicht geftorben, noch ob fie begraben oder nicht begraben worden fei. +. 
Sch entfcheide darüber nicht und fage nicht, daß fie unfterblich geblieben iſt; aber 
ich behaupte auch nicht, daß fie geflorben if“. Es eriftirte zwar im fünften 
Sahrhundert eine Schrift unter dem Titel: Transitus S. Mariae Virginis (ef. Baron. 
Annal. eccles. ad an. 48 Christi n. 12—14. und Natalis Alex. hist. eccles. seculi Il. 
- art. III. $ unic.); alfein diefelbe war fälfchlih dem Melito, Biſchof von Sardes 
Cblühte um 170), zugefehrieben worden und enthielt fo viel des Falſchen und 
Fabelhaften über den Tod Maria’s, daß fie von Papft Gelafius I. auf der römi- 
fchen Synode im J. 496 als ein Apvergphum bezeichnet wurde (Harduin, Collect, 
conc. t. II. pag. 491). Dagegen berichtet Nicephorus Eaffiftus in ſ. Hist. eccles. lib. 
XV. co. 14: Zuvenalis, Bifchof von Jeruſalem, welcher mit den übrigen Bifchöfen 
Paläftina’s auf der Synode zu Chalcedon Cim J. 451) war, habe dem Kaifer 
Marcianus, welcher ihn nebft den andern paläftinenfifchen Biſchbfen zu fih nach 
Conſtantinopel hatte kommen Iaffen, um ihn zu fragen, ob der HI, Leib der Mut- 
ter Gottes noch in Paläſtina in dem Grabe liege, wohin er gelegt worden fei, 
da er denfelben in die neue Kirche, welche feine Gemahlin Pulcheria zu Conftan- 
tinopel der HI. Jungfrau Maria zu Ehren gebaut und Blachernä CHAeyepvar) 
genannt hatte, transferiren wolle, zur Antwort gegeben: „in der hl. Schrift 
werde zwar von dem Tode Maria's nichts erwähnt, aber gemäß einer fehr alten 
und ganz zuverläffigen Tradition Cantiquissima aufem et verissima omnino tradi- 
tione) feien die Apoftel, als der Tod Maria's herangenahet, aus den verfihie- 
denen Ländern, wohin fie das Evangelium zu predigen zerfireut gewefen, nach 
Serufalem gefommen..... und ihr Sohn (Jeſus) fei dazu gefommen und habe ihren 
Geiſt aufgenommen; ihr HI. Leib aber fei in Gethfemane unter dem Geſange der 
Engel und Apoftel begraben worden; als aber am dritten Tage das Grab wieder 
geöffnet worden, habe fich ihr HI. Leib nicht mehr vorgefunden, fondern nur ihre 
Leichentücher, welche einen unbefchreiblichen Wohlgeruch verbreitet hätten; bie 
Apoſtel hätten alsdann das Grab wieder verfiegelt, und über biefes große Wun- 
der erftaunt bloß das gedacht, daß der Herr den umbeflecften HI. Leib Maria’s 
vor der allgemeinen Auferftehung Alfer mit der Unfterblichfeit geehrt und Durch 
Engel in den Himmel habe bringen laſſen. Nachdem Juvenalis biefes geſagt, 
hätten die fürfilichen Perfonen (Marcianus und Pulcheria) von ihm verlangt, 
daß er daffelbe hf. Grab mit den HI. Kleidern wohlverfiegelt ihnen nad Conftan- 
tinopel ſchicken möge. Juvenalis habe dann auch das hl. Grab nad Conftanti« 
nopel gefchieft, und es fei in die Blachernä-Kirche neben den HI. Tifch geftellt wor- 
den. Das hl. Kleid aber fei etwas fpäter unter Leo dorthin gebracht und in bie 
runde Kirche, welche diefer Leo erbaut Habe, gelegt worden“. Die griechifchen 
Väter des fiebenten und achten Jahrhunderts, wie Andreas Cretenfis, in oral, 2. 
de laudibus assumtae Virg. Germanus, Patriarch von Conftantinopel, in orat. 1. 
in dormilione Deiparae, und Johannes Damascenus in orat, 2, in dormitione B. 


i 
* 
* 





—— — = 


Maria Himmelfahrt, * 877 


Nariae wiederholen, daß die HI, Jungfrau Maria geftorben und begraben, aber 


am dritten Tage wieder aus dem Grabe erweckt, und ihr Leib mit der Seele ver- 
einigt in den Himmel aufgenommen worden fei. Die orientaliſche Kirche Hat 
diefes endlich felbft ausgefprocden. Sp wurde auf einer Synode der armenifchen 
Bifhöfe im J. 1342 erflärt: Sciendum est, quod ecelesia Armenorum credit et 
tenet, quod S. Dei Genitrix virtute Christi assumta fuit in coelum cum corpore. 
Und die griechifche Kirche bezeugt e8 in ihrem Menologium zum 15. Auguft, und 
auf ihrer Synode zu Jerufalen, welche fie unter dem Patriarchen Dofitheus im 
Jahre 1672 gegen die Ealoiniften gehalten (f. den Art, Griedifhe Kirche 
Bd. WW. S. 773), wo fie im Capitel über die Verehrung der Heiligen von ber 
hl. Zungfrau Folgendes ausgefprochen hat: Ipsa est procul dubio Virgo Sanctissima, 
quae magnum in terra signum cum exliterit, eo quod Deum in carne genuit, et 
post partum integerrima virgo permansit, recte etiam signum esse dicitur in coelo, 
eo quod ipsa cum corpore assumta est in coelum. Et quamvis conclusum in se- 
pulchro fuerit immaculatum corporis ejus tabernaculum, in coelum tamen, ufi 
Christus fuerat assumtus, tertio et ipsa die in coelum migravit. — In der abend= 
ländiſchen Kirche berichtet zuerfi Gregor von Tours (+ 595) in feinem Bude de 
gloria martyrum lib. 1. c. 4. die obige Ueberlieferung über die Teiblihe Aufnahme 
Maria’s in den Himmel, und zwar auf folgende Weife: „Denique impleto a beata 
Maria hujus vitae cursu, cum jam vocaretur à seculo, congregati sunt omnes apo- 
stoli de singulis regionibus ad domum ejus. Cumque audissent, quia esset assu- 
menda de mundo, vigilabant cum ea simul: et ecce dominus Jesus advenit cum 
angelis suis, accipiens animam ejus, tradidit Michaeli Angelo et recessit. Diluculo 
autem levaverunt apostoli cum lectulo corpus ejus, posueruntque illud in monu- 
mento et custodiebant ipsum, adventum Domini praestolantes. Et ecce iferum 
adstitit eis Dominus, susceptumque corpus sanctum in nube deferri jussit in para- 
disum: ubi nunc resumptfa anima, cum electis ejus exultans, aeternitatis bonis nullo 
occasuris fine perfruitur*. Auch haben ſich die angefehenften Theologen der ka— 
tholiſchen Kirche durch das Mittelalter herab zu der Meinung befannt, daß die 
hl. Zungfrau Maria nicht bloß ihrer Seele nah, fondern zugleih mit ihrem 
Leibe in den Himmel aufgenommen worden fei, und haben dieſes auch dur 
Gründe aus der Hl. Schrift und aus der Congruenz und Analogie zu unterſtützen 
gefuht. Sp 3. B. Ildephons von Toledo aus dem fiebenten Jahrhundert in serm. 
6. de assumtione, Fulbertus in serm. 2. de nativitate, Petrus Damiani in serm. 
de assumtione, Petrus Blefenfis in serm. 28. de assumtione, Hugo a f. Vietore 
lib. 3. erudit. theolog. ex miscell. 2. cod. cap. 125. aus dem zehnten und eilften 
Jahrhundert; Thomas von Aquin aus dem 13ten Jahrhundert in 3. part. qu. 27. 
art. 1. und 3. part. qu. 83. art. 5., und nach ihm alle Theologen des 14ten und 
15ten Jahrhunderts; Petrus Eanifius aus dem 16ten Jahrhundert, welcher in 
feinem großen Werfe: De Maria Virgine libri quinque. Ingolstadii 1577. in lib. 5. 
cap. 5. die verfhiedenen Zeugniffe und Beweife dafür gefammelt hat. Im Hin— 
blick auf diefe Zeugniffe und Gründe, fowie im Hinbli auf die Keger, welde 
unter dem Namen der Collyridianer die HI, Jungfrau göttlich verehrten und be= 
haupteten, daß fie nicht geftorben fei, und auf die Keger, welche unter dem Na— 
men der Antivifomarianiten (ſ. d. A.) die beftändige Sungfraufchaft Maria’s läug- 
neten, dann im Hinblick auf die, welche behaupteten, daß Maria den Martyrertod 
geftorben fei, und endlich im Hinblick auf diejenigen, welde zwar an bie Auf- 
nahme der Seele Maria’s in den Himmel nicht zweifeln, aber daran, ob ihre 
Seele wieder mit dem Leibe vereinigt in den Himmel aufgenommen worden (cf. 
Nat. Alex. hist. eceles. seculi 2. cap. 4. $. unic.), fagt Baronius in feinen annot. 
ad Martyrologium Romanum ad diem 15. Augusti: daß die Kirche die Meinungen 
der genannten Keger, fowie die von dem Martyrertod der hl. Jungfrau verwerfe, 
und dagegen befenne, daß fie (hie HI, Jungfrau) als Menfch eines natürlichen Todes 


J 


878 Maris Himmelfahrt. ? 


geftorben fei, daß fie aber ſich mehr auf die Seite zu neigen fiheine, daß fie (die HL. 
Jungfrau) zugleich mit dem Kleifche in den Himmel aufgenommen worden, weil fie 
(die Kirche) in der Feier diefes Tages jene Homilien der HI, Väter Iefen laſſe, 
worin diefes von der Aufnahme Maria’s in den Himmel befräftigt werde; und es 
feine diefe Meinung ſowohl durch das Anfehen der meiften Theologen als auch 
durch die allgemeine Uebereinſtimmung der Gläubigen jet die angenommene zu fein 
(Porro Dei ecclesia in eam partem propensior videtur, ut una cum carne assumpta 
sit in coelum: nam in hujus diei celebritate illas sanctorum patrum homilias legen- 
das tradidit, quibus eadem de ejus assumptione firmantur: quae quidem sententia 
cum plurimorum theologorum auctoritate, tum etiam communi consensu fidelium 
jam recepta videlur). ®gl. dazu deſſen Annales eccles. ad an. 48. n. 10. 12, 17. 
24. Dem flimmt Papft Benedict XIV. in commentariis de D. N. Jesu Christi ma- 
trisque ejus festis, part. U. $ 114 bei, indem er noch aus dem Sacramentarium 
Gregors d. Gr, eine Dration für diefes Feft anführt, welche alfo Tautet: Vene- 
randa nobis, Domine, hujus diei festivitas opem conferat salutarem, in qua sancta 
dei genitrix mortem subiit temporalem, nec tamen mortis nexibus deprimi 
potuit, quae fillum tuum de se genuit incarnafum (vgl. dazu $ 102), und fagt 
dann $ 115 unter Beziehung auf Dominieus Sotus in 4. sentent. dist. 43. qu. 2. 
art. 1, den Cardinal Claudius Foly in dissert. de verbis Usuardi pag 13, Suarez 
3. part. qu. 37. art. 4. disput, 21. sect. 2, Theophilus Renaudus in dyptichis 
Marianis tom. 7. operum suorum pag. 220, Thomaffinus tract. de dierum fest. 
celebrit. lib. 2. c. 20, n. 20, Melchior Canus lib. 12. de locis theol. c. 10, 
Natalis Alerander in hist. eccles. seculi 2. c. 4. $ unic. schol. 1, den Cardinal 
Gottus 2. part. tom. 4. de verit. relig. Christ. c. 41. c. 2. n. 20. und Petrus 
Caniſius 1. c.: daß die Leibliche Aufnahme der hl. Jungfrau Maria in den Himmel 
zwar fein Glaubensartifel fer, weil einige Steffen der hl. Schrift, die dafür 
angeführt zu werben pflegten, auch anders erflärt werden fünnten, und weil auch 
Die Tradition nicht von der Befchaffenheit fei, daß fie diefe Meinung zu einem 
Glaubensartikel zu erheben hinreiche, fo fei e8 doch eine „Fromme und wahrfchein- 
liche Meinung” (pia et probabilis opinio), von welcher abzuweichen nicht bloß gott- 
108 und Täfterlich, fondern auch thöricht und unverftändig ſei. Vrgl. hierzu den 
Art. Aufnahme in den Himmel. — Diefes Feft wird mit verfchiedenen Na- 
men bezeichnet bei den Rirchenfchriftftellern und in einzelnen Calendarien, wie 
Pausalio s. Mariae (Ruhe), Dormitio (Entfchlafung), Mors (Tod), Depositio 
(Sterbetag), und Assumtio (Aufnahme in den Himmel); biefer legte Name 
aber ift der Firchlich recipirte, weil er in dem römifchen und mehreren an- 
nern alten abendländifhen Martyrologien und Lalendarien und überhaupt in 
der Liturgie gebraucht wird Cef. Benedict. 1. c. $ 120). — Der Unterfhied zwi— 
Then Chrifti und Mariä Himmelfahrt wird ſchon in der Kirchenfprache dadurch 
angezeigt, daß jene Ascensio (Auffahrt), diefe aber Assumtio (Aufnahme) genannt 
wird und befteht, wie Benedict 1. c. $ 110 fagt, darin, daß Chriftus durch eigene 
Macht (propria virtute) in den Himmel aufftieg, Maria, die hi. Jungfrau aber 
nach ihrer Rückkehr zum Leben durch eine befondere Gnade Gottes (peouliari pri- 
vilegio) mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde. — Ueber den 
Ort, wo Maria geftorben, beftehen zwei Meinungen; die eine bezeichnet Jeru- 
falem als folhen, und hat ihren Grund in der alten Tradition, auf welde fih 
oben Juvenalis, Bifhof von Jerufalem, beruft; die andere Ephefus, doch beruht 
diefe auf einer bloßen, fehr fhwachen philologifchen Vermuthung (ſ. Bened. 1. c. 
$ 108), fo daß die erftere den Vorzug verbient (vgl. auch d. Art. Maria). 
Ueber das Todesjahr der Hl. Jungfrau ift Feine verbürgte hiſtoriſche Nachricht 
vorhanden, Baronins hat die verfchiedenen Ausfagen der Alten darüber gefam- 
melt in feinen Annal. ad an. 48 Christi, weil Eufebins in feinem Chronicon zu 
diefem Jahre bemerft; Maria Virgo Christi maler ad Nlium in coelum assumilur, 





Mariä Himmelfahrt. 879 


ut quidam fuisse sibi revelatum scribunt. Hiernach hätte fie ihren Soßn 14 oder 
15 Jahre überlebt. Diefe Angabe ift aber, wie man ſieht, ganz unficherer Art, 
und ebenfo, wiediefe, find auch die übrigen, fo daß fih Baronius für feine entfcheiden 
kann; ebenfo macht es Benediet XIV.1.c. $ 103 u. 109. Nicht minder unfiher end- 
Ih, wie das Jahr, ift auch der Tag des Todes und der Wiedererwedung und 
Aufnahme Maria’s in den Himmel. Die gewöhnliche Meinung, die fih gleichfalfs 


auf die obige von Juvenalis angeführte alte Tradition fügt, if, daß Maria drei 


Tage nach ihrem Tode wieder auferwedt und in den Himmel aufgenommen wor- 
den fei (Bened. 1. c. $ 122). — Die Feier diefes Feſtes gehört aber zu den äl- 
teften, und fein erfter Urfprung läßt fich nicht mehr ermitteln. Nach einem alten, von 
Florentinius herausgegebenen Martyrologium der abendländifchen Kirche wurden 
urfprünglich der Todestag der HI. Jungfrau, und der Tag ihrer Himmelfahrt jeder 
befonders gefeiert, und zwar jener am 18. Januar, und diefer am 15. Auguft. 
So findet ſich's auch in der Liturgia Gallicana von Mabilfon lib. 2. pag. 118. 
(Bened. 1. c.). Die Kirche feiert aber feit dem fechsten Jahrh. das Andenfen am 
diefe Ereigniffe an Einem Tage, nämlih am 15. Auguft, indem, wie Nicephorus 
berichtet in hist. eccles..lib. 17. c. 28, der Kaifer Mauritius (582 —602) befahl, 
daß das Feft des Todestags (Dormitionem) der Hl. Gottesgebärerin am 15. Aug. 
gefeiert werden folle, fei es nun, daß im Driente, wo es nach dem Eoneil von 
Ephefus (431) eingeführt worden fein foll Cef. Gavanti Thesaurus S. Rit. I. 10), 
damals nur Ein Feft für beide Ereigniffe gefeiert wurde, und er daher daffelbe vom 
23. Januar auf den 15. Auguft verlegte, oder daß er das erfle mit dem zweiten 
vereinigte. Hieraus geht aber hervor, daß es ſchon lange vorher von der Kirche 
eingeführt worden war (cf. Baronius ad Martyrolog. Roman. annot. ad 15. Augusti, 
und Bened. l. c. $ 126). Nah Einigen foll es Papſt Damafus (366 — 384) 
eingeführt haben; im Sacramentarium des Papftes Gelafius (+ 496) fommt es 
Schon ausdrüflich vor; und Papft Sergius I. (687 — 701) verordnete, wie der 
Liber pontificalis zeigt, uf diebus Annunciationis Domini, Nativitatis, et Dormi- 
tionis sanctae Dei Genitricis semperque Virginis Mariae... Litania 
exeat à St. Hadriano, et ad S. Mariam populus ocourrat (Bened. I. c. $ 126). 
Es war alfo hiernach ein Hauptfeft in Nom, welches mit einer Proceifion von 
der St. Hadriansfirhe aus begangen wurde, und woran das Volk Theil zu neh— 
men hatte, und zwar mit einer Bigilie am Borabend, wie ein alter Codex bei 
Thomafius angibt: Vigilia Pausationis S. Mariae, und einem Faften am Tage 
vor dem Feft, wie Nicolaus I. (853) diefes in feinem Schreiben an die Bulgaren 
unter andern Faften erwähnt, mit dem Zufaß: quae jejunia sancla Romana sus- 
cepit antiquitus et tenet_ecclesia (cf. Bened.1. c. $ 123). Als Hauptfeft wurde 
es auch ſchon im fechsten Jahrh. in Franfreih und Teutſchland begangen — cf. 
Gregor. 'Turon. de gloria martyr. c. 9. Auf der Synode zu Rheims 625 oder 
630 wird es zu den Feften gezäßlt, quae absque omni opere forensi excolenda 
(CHarduin, Collect. Conc. t. III. p. 576). In der Regula Chrodegangi unter Pipin, 
Carls dv. Gr. Bater , und im Pönitentiale des Hl. Bonifarius wird ed unter den 
Feften erwähnt, quas in anno tofus populus sabbatizare debet. Nach den Be— 
fhlüffen der Synoden zu Mainz 813 und Aachen 818 befahl Ludwig der Fromme 
(Capitular. lib. 2. c. 35. u. lib. 6. 6.189), daß es im ganzen fränfifchen Reiche mit 
vieler Feierlichfeit begangen werde (Bened: 1. c. $ 125). Am folenneften wurde 
es in England begangen. In den Gefegen des Königs Alfred war die ganze 
Woche des Fefttages zu einer freien oder Feierwoche erklärt: Omnibus liberis 
hominibus dies isti condonati sunt, praeter servos et pauperes operarios. Eine 
Detav erhielt dieſes Feft durch Vorfchrift des Papftes Leo IV. im 3. 847, wie 
der Liber pontificalis berichtet, auch Sigebert in feinem Chronic. ad annum Christi 
847 (cf. Bened. 0..$ 124), In Frankreich erhielt dieſes Feft eine neue Wich⸗ 
tigkeit, feitvem Ludwig XI. im J. 1638 diefe Gedächtnißfeier gewählt Hatte, 


880 Mariä Lichtmeß. 


um fih und fein Neich der HL, Zungfrau zu weihen, und von Gott einen Thron⸗ 
erben zu erflehen, — In manchen Gegenden Teutſchlands werden an diefem Tage 
auch gewiſſe Kräuter zu Ehren der HI. Jungfrau geweiht, woher diefes Feft au 
„Mariä Kräuterweihe” oder „Würzweihe” genannt wird, Vgl. hierüber dag Ri- 
tuale Bambergense. \ 

Mariä Lichtmeß oder Neinigung. Diefes Feft iſt der Erinnerung 
mehrerer mit einander in Verbindung ſtehender Thatfachen der hl. Gefchichte ge— 
weiht. Es hat daher auch verfchiedene Namen erhalten, je nachdem die eine oder 
die andere derfelben befonders hervorgehoben und berüsffichtiget wurbe bei der 
Feier deffelben, ES heißt das Feft der Reinigung Maria’s, das Feſt der Dar- 
bringung Jeſu im Tempel, das Feft der Begegnung (urrarseven), und endlich 
das Feft der Lichtmeffe oder Mariä Lichtmeß. Jene verfohiedenen, aber mit ein- 
ander in Verbindung ftehenden Thatfachen der HL. Gefchichte, welche zur Feier 
diefes Feftes Veranlaffung gaben, und von denen die verfchiedenen Benennungen 
bergenommen, find folgende: Nah dem mofaifchen Gefege (3 Mof. 12, 2 ff.) 
war jede Mutter, die einen Sohn geboren hatte, vierzig Tage unrein und ihr 
während diefer Zeit der Zutritt zum Heiligthum unterfagt. Nach Verlauf diefer 
Frift mußte fie im Vorhofe des Tempels erfcheinen, mußte ein Lamm und eine 
junge Taube oder Zurteltaube zum Opfer bringen, oder wenn fie arm war zwei 
Turteltauben oder zwei junge Tauben, und ward dann vom dienſtthuenden Priefter 
für rein erklärt, Diefem Gefege unterwarf fih nun auh Maria (Luc. 2, 22.) 
Sie ging nah Jeruſalem und brachte das vorgefchriebene Opfer, worauf die 
Neinerflärung erfolgte, Hievon hat das Feft ven Namen „Reinigung Maria’s 
(Festum purificationis B.M.), und dem vorgefchriebenen Termin von vierzig Tagen 
gemäß ift ed auf dem vierzigfien Tag nach Weihnachten, .ald dem Tage der Ge- 
burt, alfo auf den 2. Februar feftgefett. Die hl. Meſſe diefes Tages berüdfich- 
tiget übrigens dieſen Umftand der gefeglichen Reinigung Maria's nicht vorwiegend, 
fondern der Mutter des Herrn wird nur im letzten Gebete derfelben befonders 
gedacht, während der gefammte übrige Inhalt fih auf die Darbringung Zefa im 
Tempel bezieht, Nach einem andern mofaifchen Geſetz nämlich (2 Mof. 13, 2.) 
war jeder Erftgeborne zum Andenken an die Verſchonung der tfraelitifhen Erft- 
geburten in Aegypten dem Dienfte des Herrn geweiht, von welcher Verpflichtung 
er, da in der Folge die Beforgung des Gottesdienftes dem Stamme Levi über- 
tragen worben war, um Geld Iosgefauft werden mußte (4 Mof, 18, 15. 16.). 
Diefer Anordnung unterzog fich die hl. Jungfrau ebenfalls (Luc, 2, 22. 27.), 
um in Bezug auf Jeſus allen Forderungen des Gefeges zu genügen, Gie brachte 
daher Jefum im Tempel dar und kaufte ihn los. Daher erfiheint diefes Feft auch 
unter der Bezeichnung: „die Darftellung Jefu im Tempel“, Diefes wird 
auch in der That, wie ſchon erwähnt, in der Meffe.diefes Feftes befonders ber- 
vorgehoben, Der Eingang (introitus), das erfte Gebet Coratio), die Epiftel und 
die Präfation beziehen fich darauf; denn es wird die Präfation von Weihnachten, 
nicht die von den Marienfeften, gebetet und gefungen. Dem Inhalte nad) ift alſo 
die Feier mehr ein Feft des Herrn als ein Marienfeft und wurde au, wie wir 
fehen werden, urfprünglich im Oriente als folches betrachtet und bezeichnet, wäh- 
rend ed im Abendlande vorzugsweife ald Marienfeft angefehen wurde, Nicht mit 
Unrecht Fünnte man die Feier diefes Tages als das Offertorium in ber Reihe der 
Jahresfeſte bezeichnen, geweiht der vorläufigen Ausfonderung und Aufopferung 
Jefu im Tempel durch die geheiligte Hand feiner jungfränlihen Mutter, — Bei 
diefer Darftellung des Herrn im Tempel trug es fich zu, daß der fromme reis 
Simeon, der die Verheißung erhalten, er werde den Tod nicht fehen, bis er ben 
Geſalbten des Herrn gefchaut, auf Antrieb des hl, Geiftes in den Tempel Fam 
und der Hl. Jungfrau mit dem göttlichen Kinde begegnete, Er erfannte in dieſem 
den lang erfehnten Heiland der Welt, und es in die Arme nehmend verkündete 


Mariä Lichtmeß. 881 


er prophetifch, daß daffelbe das Licht fein werde zur Erleuchtung der Völfer und 
der Ruhm des Bolfes Iſrael. Von diefem Vorfall wird die Feier diefes Tages 
auch „das Feft der Begegnung” genannt (Urenevrn occursus, obviatio). In 
der griechifchen Kirche war diefe Bezeichnung die vorherrfihende, — Die Worte 
Simeons, daß Jeſus das Licht fei zur Erleuchtung der Völfer, ſcheint die eigent- 
liche Beranlaffung gewefen zu fein, daß man diefe geiftige Erleuchtung fymboli- 
firend, diefes Feft fhon in frühefter Zeit durch einen Umgang mit brennenden 
Kerzen feierte, obwohl auch noch ein anderer Grund diefes Gebrauches angeführt 
werden kann, dem gemäß mehr die Reinigung durch die reinigende Kraft des Lich- 
te8 verfinnbildet würde, Wie dem auch fei, jedenfalls fommt von dem Gebrauche 
der brennenden Kerzen an biefem Tage die Bezeichnung „Lichtmeffe” für diefes 
Feſt Her, und wenn wir des äufßerlichen Brauches innere, tiefere Bedeutung 
ſuchen, fo können wir fagen, die „Lichtmeffe” fei das Feft der Erleuchtung der 
Welt dur die Wahrheit, die in Ehrifto den Menfchen erfchienen, einerfeits, und 
andererfeitS das Feft der Reinigung und Heiligung des innern Menfchen durch 
die Gnade, die Er uns erworben, Beides verfinnbildet durch die Teuchtende und 
reinigende Flamme, Der ganzen Feier Geift und Zweck iſt treffend ausgeſprochen 
in einer Homilie des Eligius von Noyon Cim Tten Zahrh.): „Wir müffen heute, 
fagt er, indem wir mit unferer glorreichen Gebieterin, feiner Mutter Maria, 
Ihn darbringen, oder mit dem ſel. Simeon Ihn aufnehmen wollen, mit Kerzen 


- und Hymnen, dur Reinheit des Sinnes und leuchtende Werfe glänzend, in 


Seinen Augen andädhtig daftehen, uns eifrig erinnernd an die Herrlichkeit der 
uns wiederum verheißenen, immer dauernden und glüdlichen Herrfchaft des himm- 
liſchen Reiches nämlich, welches fämmtliche Auserwählte dann erlangen werden, 
wann fie nach dem Gleichniffe des Evangeliums mit den Fackeln der guten Werfe 
dem unfterblichen Bräutigam entgegengehen, und, felbft Seine Braut geworben, 
das Brautgemach feiner hoben Liebe betreten werden”, — Indem wir uns nun 
nach Darlegung der Bedeutung diefes Feftes zur Gefchichte deffelben wenden, 
müffen wir befennen, daß fich nicht mit Sicherheit ermitteln läßt, wann und wie 
es entjlandeh und zum erften Male gefeiert wurde. Es fehlt an ficheren Nach— 
richten hierüber, Bor dem fünften Jahrhundert thut weder ein griechifcher noch 
ein Tateinifcher Kirchenvater Meldung davon, noch viel weniger findet fich eine 
Nede hierüber; denn die angeblichen Neden des HI, Methodius, Eyrillus von Je— 
sufalem, Chryfoftomus und Gregor von Nyfa find anerfannt unterfhoben und 
gehören in eine fpätere Zeit. In den älteften Feftverzeichniffen, z. B. im alten 
Ealendarium des Bucherius herausgegeben, in dem Earthaginenfifhen bei Rui— 
nart, und im Mozarabifchen bei Pinius, welche die Kritifer in's vierte und fünfte 
Jahrhundert fegen, findet man diefes Feft ebenfalls noch nicht erwähnt. Bor dem 
fünften Jahrhundert dürfte e8 demnach wohl nicht gefeiert worden fein. Daffelbe 
fiheint aber aufgefommen zu fein um die Mitte des fünften Jahrhunderts unter 
der Regierung des Kaiſers Marcian, und zwar in der Didcefe Jeruſalem. Auf 
diefe Annahme führt eine Stelle des Cyrillus von Scythopolis Cin vita Theodosiä 
Coenobiarchae), welche Leo Allatius in feinen Bemerkungen zu Methodius an— 
führt (Leo Allat. annot. in Method. p. 344), wo bemerft ift, die fromme Matrone 
Jeelia habe vornehmlich gezeigt, mit Kerzen die Begegnung des Erlöfers, unfers 
Gottes, zu feiern (Haec tunc beata Icelia, quae omnem exercuerat pietatis viam, 
inprimis demonstravit cum cereis celebrari occursum Salvatoris nostri Dei). Die 
Nachricht ift freilich etwas unbeftimmt, doch deutet fie an, daß diefe Icelia die 
Beranlafferin war, entweder zur Einführung diefer Feier überhaupt, oder wenig 
ftens des Gebrauches der brennenden Kerzen bei derfelben. Andere Kirchen der 
Umgegend fcheinen bald nachgefolgt zu fein, fo daß das Feft endlich bis Antiochien 
vordrang, wo es nach dem Berichte des Cedrenus (Cedrenus compend. hist. pag. 
366) unter dem Kaifer Zuftinus um das Jahr 526 eingeführt wurde (Norma data 
Kirchenlexilon. 6, Br, ; 56 


882 Maria Lichtmeß. 


est celebrandi festum Hypapantes, in illud tempus non celebratum), Als bald 
darauf zu Conftantinopel eine anftefende Seuche wüthete und andere Unglücks— 
fälle über das Volk hereinbrachen, verordnete Kaiſer Juſtinian, am zweiten Fe— 
bruar das Hypapantefeft feierlich zu begehen, „damit der Erlöfer, der dem Si— 
meon im Tempel entgegen gefommen war, auch den Bedrängten gnädig entgegen-, 
oder vielmehr zu Hilfe fommen möge”. Auf diefe Weife wurde, was früher nur 
Local- oder Partieularfeft für Jerufalem und Antiochien war, auf die ganze grie- 
chiſche Kirche ausgedehnt, wie Nicephorus in feiner Kirchengeſchichte berichtet 
CInstituit tum primum toto orbe terrarum, Festo die celebrari Hypapanten, i. e. 
occursum domini 1. 17. c. 28.). — Unterbeffen foll auch in der römifchen Kirche 
diefe Feier eingeführt worden fein, und zwar von Papft Gelafius im J. 494 in 
der Abficht, die im Februar zu Rom üblichen heidniſchen Luftrationsfeierlichkeiten 
zu befeitigen oder vielmehr in chriftliche zu verwandeln. Es wurden nämlich zu 
Rom im Februar die Lupercalien zu Ehren des Gottes Pan begangen und Luftra= 
tiong- oder Reinigungsfefte gefeiert, wovon auch der Monat Februarius (Reiz 
nigungsmonat) feinen Namen hat (februare = purgare), Hiebei hielt man Um= 
züge mit brennenden Kerzen und Fackeln. Um diefe heidniſchen Ceremonien in 
chriftliche zu verwandeln, gab es Feine paflendere Feier als die der Reinigung 
Maria’s, welche gerade in diefen römischen Reinigungs-Dionat fiel, und bei wel- 
eher Schon im Drient brennende Kerzen gebraucht wurden. Man bat die Ver— 
muthung ausgefprocdhen, daß diefes Feft überhaupt dem Decident und dem römi- 
fchen Bifchof feinen Urfprung verbanfe und von da an im fechsten Jahrhundert 
nach dem Orient verpflanzt ward, Allein dieß ift nicht wahrſcheinlich; es ift viel- 
mehr nach allen Anzeichen das Umgefehrte der Fall, Es war, wie wir gefehen, 
im Drient urfprünglich ein Feft des Herrn, wie die Bezeichnung und der ganze 
Inhalt der Liturgie fund gibt; diefen Inhalt behielt es auch im Decident, obwohl 
man ihm bier die Bezeichnung eines Marienfeftes gab und mit Rückſicht auf die 
römifchen Neinigungsfeierlichfeiten das Moment der Reinigung Maria's befonders 
hervorhob. Wäre die Feier zuerft in Nom und alfo urfprünglich zu Ehren Ma— 
ria’g entflanden, fo würde der Inhalt der HL. Meffe anders charakterifirt fein, — 
Im Sacramentarium und Antiphonarium Gregors 1. (590—604) ſteht diefes 
Feft in der Ordnung und Neihe der übrigen, Der erfte Kirchenfchriftfteller, der 
daffelbe nach Iateinifchem Ritus befchreibt, ift der HL. Jldephons von Toledo (+ 667), 
welcher auch die Veranlaffung zu diefer Feier in der römifhen Kirche überein- 
flimmend mit dem oben hierüber Bemerkten angibt und beifügt, daß nicht allein 
der Clerus, fondern das ganze Volk mit Wachsferzen und unter Hymnengefang 
Umzüge hält (non solum clerus, sed et omnis plebs ecclesiarum loca cum cereis 
et diversis hymnis lustrantibus circumeunt: non jam in memoriam terreni regni 
quinquennem, sed ob recordationem coelestis regni perennem), Auch Efigius von 
Noyon, Ildephons Zeitgenoffe, und Beda der Chrwürdige (+ 735) geben aus— 
führliche Beſchreibungen der Titurgifchen Feier diefes Feftes. In Teutſchland hat 
es wohl ſchon im achten Jahrhundert Aufnahme gefunden: denn deffelben erwähnen 
die Statuten des hl. Bonifacius und Chrodegang, die von Salzburg vom J. 799, 
das Feftverzeichnig Carls des Großen, das Concilium von Mainz im J. 813 
u. ſ. w. Die an diefem Tage üblihe Segnung der Kerzen ſcheint fpätern Ur— 
fprungs zu fein. Aleuin, der den römifchen Ordo hinfichtlich diefes Feſtes com« 
mentirt und die Proceffion ausführlich befchreibt, fagt nur, daß der Papft den 
Cardinälen und Bifchöfen Kerzen darreiche, In den früheften Neden über diefes 
Feft, den Achten und unächten, findet fih Feine Spur von einer Segnung ber 
Kerzen, Aus der Befhreibung, welche der HI. Bernhard (S. Bernard, Serm. II. 
de Purificat.) von der Proceffion mit den brennenden Kerzen macht, gebt bervor, 
daß nicht die Kerzen felbft befonders geweiht, fondern daf fie nur am gefegneten 
Licht angezündet wurden (Processuri sumus bini et bini, candelas habentes in ma- 


Mariä Namensfeſt — Mariä Opferung. 883 


nibus, ipsas quoque accensas, non quolibet igne, sed qui prius in ecclesiä sacer- 
dotali benedictione fuerit consecratus). Die jegt übliche Segnungsformel ſcheint 
aus dem eilften Jahrhundert zu flammen, — ©. Bolland. Acta Sanct. Febr. 
T.L Bened. XIV. de festis J. Ch. et B. Mariae Virginis. Binterim, Denf- 
würbigfeiten ꝛc. Bd, V. 1. Thl. 

Mariä Namensfeit (Festum Nominis B. V. M.), in foferne fich die Erin- 
nerung an ihre individuellen Vorzüge an den Namen Fnüpft, gleichfam das Cen- 
trum der Marianifchen Fefttage, wurde früher, da jüdiſche Mädchen erft am 15ten 
Tage nad der Geburt ihren Namen erhielten, am 22. Sept. gefeiert (Cherub. 
Bullar. Rom. t. VII). Jetzt trifft e8 auf ven Sonntag innerhalb der Octave des 
oben beſprochenen Feſtes Mariä Geburt, und die unmittelbare Aufeinanderfolge 
beider Fefte ift gewiß im höchſten Sinne congruent, Die erfte Spur einer Feier 
des Namens Mariä findet fih in Spanien, wo es in der Kirche zu Cuenca 
zuerft durch die Andacht der Gläubigen veranlaßt und im Jahre 1513 von Nom 
aus beftätigt wurde (Bened. de fest. p. II. $ 152.). Bon Papft Pius V. unter- 
drückt, wurde es durch Sixtus V. wieder Hergeftellt und durch Junocenz XI. 
auf die ganze Fatholifhe Chriftenheit im Fahre 1683 ausgedehnt. Veranlaffung 
dazu gab die Gefahr, welche damals dem Abendlande durch die Türfen drohte, 
Sie hatten bereits unter Cara Muſtapha's Anführung Wien zu belagern begonnen, 
Alles zitterte, Da flehte man durch Mariens Fürbitte zum Himmel um Hilfe, 
Johann Sobiesky, der Befehlshaber des hriftlichen Heeres, begeifterte die Seinen 
zum Angriffe mit den Worten: „Laffet ung mit vollem Vertrauen auf den Schuß 
de3 Himmels und unter dem Beiftande der feligften Jungfrau gegen den Feind 
türen”, Und der Sieg ward eben fo unerwartet als glorreich über die mehr als 
vierfach ftärfere Heeresmaffe des Halbmondes erfochten. Das Feft des Namens 
Mariä follte ein Danffeft dafür fein. — Obwohl dem Gefagten zufolge das Na- 
mensfeft Mariens neueren Urfprunges ift, fo reicht doch die demfelben zu Grunde 
liegende Ehrfurcht gegen den Namen der Gpttesmutter in's graue Altertfum der 
Kirche Hinauf. Wir wollen nicht unterfuchen, ob es wahr ift, was nach Bene— 
dict XIV. (de fest. p. I. $ 149) von Antoninus (p. IV. tit. 15. c.14) und Chry- 
ſtophorus Chist. B. V. c. II. n. 10) berichtet wird, daß der Name „Maria” durch 
eine himmlische Dffenbarung deren Eltern fundgegeben wurde; aber gewiß ift, 
daß Thon Ältere Kirchenlehrer fih mit Enträthfelung der Bedeutung dieſes Na— 
mens beichäftigten, Nah Hieronymus heißt Maria: „Leuchte, Erleuchtung”, 
Andere Teiten das Wort von „Mirjam“ (5752, 2 und 07), „Vitterfeit des 
Meeres”, ab; fo fei Maria, die Schwefter des Moſes, genannt worden, weil fie 
eben geboren wurde, als Pharao anfing, die neugebornen- ifraelitifchen Knaben 
erfäufen zu laffen; als aber die Sfraeliten trockenen Fußes durch das rothe Meer 
gegangen, fei der Name der Schwefter des Moſes von Mirjam in Maria, i. e, 
„Stern ded Meeres”, verändert worden. Als „Dieeresftern” dollmetſchen auch 
viele Andere diefen Namen. Allein ſprachlich richtiger ift es, Maria von An 
vehemens, forlis, oder von DIA (23) abzuleiten, wornach e8 bedeuten würde: 
Mächtige, Starke, oder Erhabene, Frau, Herrin, Als folhe ehrt fie das gläubig- 
fromme Gemüt. Darum war e$ früher nur in feltenen Fällen erlaubt, einem 
Mädchen den Namen Märia zu geben, Als Alphons VI. von Eaftilien eine aus 
maurishem Geblüte entfproffene Gemahlin ſich wählte, erlaubte er nicht, daß fie 
bei ihrer Taufe diefen Namen erhalte, Aehnliches wird von dem polnischen Kö— 
nige Cafimir I. erzählt (Bened. de fest. p. II. $ 150). [Rraus.] 

Mariä Opferung (Praesentatio B. V.M.). Nah einer alten Tradition 
wurde Maria in früher Jugend im Tempel aufgeopfert und brachte dann mehrere 
Jahre vor ihrer Bermählung mit Joſeph als Hierodule im Dienfte des Tempels zu. 
Nah Evodius (bei Niceph. hist. eccl. 1. I. c. 3) u. A. war fie damals drei Jahre 
alt, und nad dem Protoevang. Jacobi (Fabric. cod. apogryph. N. T. I. p. 85) 

56* 


884 Mariä fieben Schmerzen, 


erhielt fie während ihres Aufenthaltes am Tempel durch Engel ihre Nahrung. 
Allein wer möchte diefen apogryphiſchen Berichterftattern Glauben fchenfen? 
Einer größeren, wenngleich nicht Hiftorifchen, Gewißheit erfreut fich die Thatfache 
der Opferung felbftz von ihr fprechen: Canisius de deipara Virg. 1.1. c. 12. Suarez 
in III. par. Thom. tom. II. disput. 7. quaest. 29. Baronius in notis ad Martyrol. 
sub 21. Nov. u, f.w. Zwar verlangte das Gefeg nur bezüglich der erfigebornen 
Knaben eine folhe Weihung an den Herrn; allein auch bezüglih der weiblichen 
Kinder durfte es gefchehen. Sind doch fhon 2 Mof, 38, 8. Richt. 11, 39, und 
1 Sam, 2, 22. Frauensperfonen erwähnt, die, nach Joſephus CAntiqu. V. 10, 1.) 
Andeutung, durch das Gelübde der Jungfräulichfeit verbunden, vor der Thüre 
des Verfammlungszeltes dem Herrn dienten, Vgl. hiemit 2 Kön. 11. 2 Ehron, 
22, 11. über Zofaba, Dem fei aber, wie ihm wolle, das Feſt Mariä Opferung 
behält dennoch feine Bedeutung; denn es fann ja auch, wie bie treffende Feft- 
oration andeutet, als Feier der unfchuldigen Jugend Mariens und ihrer Hingabe 
an die Önadenwirfungen des hf. Geiftes betrachtet werben, Uebrigens wurde es 
im Driente zuerft gefeiert, Es führte dort den Namen „Introduclio V. M. in 
templum, Ingressus Dominae in templum®. Nah Sim. Metaphraftes entfland 
es im Jahre 730 zu Conftantinopel; laut. der Conftitution des Kaiſers Immanuel 
Eomnenus, der im Jahre 1143 den Thron beftieg, war es bereits ein im 
ganzen Reiche befanntes Feſt (Balsamon in Nomocan. Phot. tit. VIL co. 1.). 
Vom Morgenlande verpflanzte e8 fih in den Decident, wo man bie erſte Spur 
davon im Jahre 1374 findet, und zwar unter der Regierung Carls V. in Franf- 
reich, der eg nicht nur in feiner Schloßcapelle halten ließ, fondern auch mit Ge— 
nehmigung des damals zu Avignon refivirenden Papftes Gregor XI. auf das 
ganze Reich augsbehnte (Baron. in not. ad Martyrol. Martene de antig. disc. 
c. 34.n. 42. Bolland. tom. 8. Maj. p. 110). Es war ſonach nicht fo faft de 
praecepto, fondern mehr ein Privilegium, das vorerft nur Frankreich galt. Aber 
im Jahre 1460 bewilligten Pins II. und Paul II. auf des fächf. Herzogs Wilhelm 
Bitten auch für Sachſen diefe Feftfeier, und befahlen, fie alljährlich wie die 
Griechen am 21. Nov. zu begeben, Unter Pius V. erhob fih eine Oppofition 
gegen unfer Feft oder vielmehr gegen das für daffelbe angewendete alte griechifche 
Officium. Es ward ſonach die Sache nochmal unterfucht, und das Nefultat diefer 
Unterfuhung legte Sirtus V. am 1. Sept. 1585 in der Bulle „Intemeratae“ 
nieder, durch welche diefer Fefttag für die gefammte Iateinifhe Kirche mit Bei- 
behaltung des alten griechifchen, aber bedeutend veränderten Offieiums gefeglich 
vorgefchrieben wurde, Doch ift die Feier Feine erterne (Bened. de fest. p. II. 
$ 182.). .  [Rraus,] 
Mariä fieben Schmerzen (Festum septem dolorum B. V. M., ehedem auch 
Festum Spasmi Mariae). Diefes Feft wird alle Jahre am Freitage nah dem 
PBaffionsfonntage gefeiert und fol zunächft jene Leivensmomente Mariens 
vergegenwärtigen, da fie unter dem Kreuze des fterbenden Sohnes ftand, dann 
aber auch das gefammte geiftige Martyrium der Gottesmutter, das fie zur Kö— 
nigin der Martyrer” adelte, der gläubigen Betrachtung vor Augen ftellen. Auf 
die erftere Beziehung weifet der Introitus der Meffe aus Job. 19, 25., und das 
Evangelium aus demfelben Kapitel diefes Evangeliften, wie auch die Lection, aus 
Judith 13, 17 ff. genommen, worin die jungfräufiche Mutter diefer Heldin ver- 
glihen wird, Das gefammte geiftige Martyrium Mariens führt man gewöhnlich 
auf fieben Hauptpuncte zurück, daher auch der Name des Fefttages, Es find 
das die Schmerzen Mariens 1) bei der Weiffagung des Simeon, 2) bei ber 
Flucht nach Aegypten, 3) bei dem drei Tage Tang fruchtlofen Suchen des zwölf— 
jährigen Knaben, 4) bei dem Anblicke des Freuztragenden Heilandes, 5) bei der 
Kreuzigung ihres Sohnes, 6) bei der Abnahme feines Leichnams vom Kreuze, 
7) bei feinem Begräbniß. Andere zählen folgende fieben Schmerzen der Gottes— 


Mariä Berfündigung. 885 


mutter auf: 1) da Ehriftus von ihr Abfchied genommen, 2) da er mit der Dor- 
nenfrone dargeftellt wurde, 3) da man ihn an's Kreuz gefchlagen, 4) da er mit 
Effig getränft wurde, 5) da er ausgerufen: „Mein Gott, mein Gott, warum 
haft du mich verlaffen?” 6) da er geftorben, 7) da er todt in ihren Armen ge— 
legen. Noch Andere finden diefe fieben Schmerzen darin, daß fie 1) mit ihrem 
göttlichen Sohne nach Aegypten geflüchtet, 2) daß fie den zwölfjährigen Jeſus 
in Zerufalem verloren, 3) daß er gefangen genommen wurde, 4) daß er fein 
Kreuz hat tragen müffen, 5) daß er an’s Kreuz gebeftet wurbe, 6) daß er am 
Kreuze geftorben, 7) daß er begraben worden if. Sowohl Poefie als Mufif 
haben gefucht, die Schmerzen der Gpttesmutter zu verherrlichen; die erftere im 
berühmten Stabat mater, die andere in der Mufif dazu. Der BVerfaffer des Sta- 
bat mater ift der Franeiscanermöndh Jacob de Benedictig oder Jacopo— 
nus (ſ. d. Ad aus Todi im Herzogtfume Spoleto, + im Jahre 1306. Pergo- 
leſe aber feßte es in Mufif, in welcher die Lieblichkeit der Wehmuth mitten unter 
Schmerzen, ja fo recht in der Tiefe derfelben, das Lächeln in Thränen, der gött- 
liche Troſt im berzzerreißenden Kummer charafteriftifh if (Staudenmaier, 
Geift des Chriſtenth. 1). So hatte Poefie und Mufif dem Fefte felbft gleichfam 
den Weg gebahnt, bis endlich die unter vem Bifchofe Theodorih von Cöln im 
Sabre 1413 gehaltene Provincialfynode daffelbe als Palliativ gegen die Wuth, 
womit die Huffiten gegen die Bildniffe des leidenden Heilandes und feiner ſchmerz⸗ 
haften Mutter tobten, einführte (Bened. de fest. p. II. $ 48. 56.). Nachdem 
Sirtus IV. eine eigene Meffe dafür verordnet hatte, dehnte es Benedict XIE 
(Congr. Saer. Rit. 22, Aug. 1727) auf die ganze Kirche aus. Zwar ift das Feft 
fein gebotener Feiertag, aber unter allen Marienfeften, die nicht durch eine externe 
Feier ausgezeichnet find, wird diefem von frommen Gläubigen die größte Auf— 
merffamfeit zugewendet. Wer fünnte berechnen, von wel’ einem wohlthätigen 
Einfluffe der Aufblik zu Maria war. und ift, die unter dem Kreuze ihres unter 
fo großen Verheißungen empfangenen, nun von Nägeln durchbohrten, ſchrecklich 
feidenden und flerbenden Sohnes ſteht? Wie unendlich viele Belehrung, Zu⸗ 
rechtweifung, Tröftung mußten und müffen die Gläubigen zu jeder Zeit und ins— 
befondere am Schmerzenfreitage (fo nennen fie den Freitag in der Paffions- 
woche) darin finden, daß bie fündenreine Mutter des Sohnes Gottes das erleben 
mußte, was fie erlebte. (Vgl. über fämmtlihe Marienfefte die au bei Ab- 
faffung obiger Artifel benüsten Titurgifhen Werfe von Hnogek. I. Thl.; Mar- 
zohl und Schneller, IV. Thl.; Schmid II. Bd. und Binterim, Denfwürbig- 
feiten V. 1.) [Kraug,] 


- Mariä Berfündigung (Annuntiatio B. V.M.). Diefes Feft hat feinen 
biftorifhen Grund in der Luc. 1, 26—39. ‘berichteten Thatfahe, dem höchſten 
welthiftorifchen Momente, da auf die Botfchaft des Engels Gabriel, angenommen 
von der HI. Jungfrau, das Wort, das im Anfang bei Gott und Gott. war, 
Fleifh geworden ift zu unferer Erlöfung. Das Feft vergegenwärtiget demnach 
im Gedächtniß der Gläubigen und im Eulte gerade jene Thatſache, welche bie 
Mitte und Subftanz des Chriftenthums bildet, und um deren Behauptung ſich der 
Kampf der Kirche während der erften fieben Jahrhunderte mit der Härefie be= 
wegte, und deren Anerfennung zugleih die Summe aller Vorzüge in fich ſchließt, 
welhe Maria von der Kirche beigelegt wurden und ftet3 vindieirt werden, weß- 
balb fie Oz6z0x05 Heißt, — d. 1. die Menfhwerbung des Sohnes Gottes im, 
Schooße der Hl. Jungfrau. Wundern darf es nicht, wenn das Gedächtniß daran 
ſchon früßzeitig in den Eult überging, wenn es auch nicht erweislich ift, daß bie 
Feier fchon im apoftolifchen Zeitalter begonnen habe, Die Bollandiften zwar 
fügen diefe ihre Behauptung auf das befannte Ariom des heiligen Auguftin 
Ccontr. Donat. 1. II. c. 24.), daß, was immer in ber Kirche beobachtet und nicht 





886 Mariä Verkündigung. 


durch Eoneilien eingeführt wurde, auf apoſtoliſche Authorität fih ſtütze. Allein 
eben der Nachweis wird vermißt, daß das Feft Mariä Verkündigung immer in 
der Kirche gefeiert worden if. Dan hat fih auf Gregor von Neucäfaren 
aus dem dritten Jahrhunderte berufen, denn diefer habe drei Homilien auf Mariä 
Verkündigung uns hinterlaffen, in deren einer e8 heißt: „Heute ift Gabriel, der 
am Throne Gottes ſteht, zur reinften Jungfrau gefommen, fie begrüßend mit 
den Worten: „„Sei gegrüßt, du Onadenvollel”" Aber die Unächtheit diefer 
Homilien fteht außer Zweifel. Wir haben feinen früheren, Eritifch unantaftbaren 
Beweis für das Vorhandenfein unferes Feſtes, als die Reden des Patriarchen 
Proelus von Eonftantinopel (Gombefis. in Auotuar. biblioth. Patrum,. — Opera 
Leon. I. ad edit. Ballerin. tom. 1), der noch vor Ablauf der erften Hälfte des 
fünften Jahrhunderts ftarb, Da derfelbe in einer dieſer Reden bemerkt, „während 
des ganzen gegenwärtigen Jahrhunderts” werde das Feft von der „gau— 
zen” Kirche gefeiert, fo find wir berechtigt, den Beginn deffelben mindefteng an's 
Ende des vierten Jahrhunderts zu feßen, aber auch nicht weiter hinauf; denn 
ur Zeit der Lavdicder Synode vom Jahre 372 Ccan. 49. 51.) beftand das— 
Felbe ‚ wie es feheint, noch nicht, Wenigftens wird hier dafür die Ausnahme nicht 
aufgezählt, welche wegen der Faftenzeit diefe Feier notbwendig machte und Ge- 
genftand einer fpäteren conciliariſchen Beftimmung wurde, Wir fehen diefes aus 
den Arten der Synode von Conftantinopel 692. Den auf diefer fog. Trullani- 
fhen Synode verfammelten orientalifchen Biſchöfen war das Feft etwas bereits 
Bekanntes, denn fie verordnen (Conc. Quinisext..c. 52.), daß während der ganzen 
Duadragefimalzeit mit Ausnahme der Spnnabende, der Sonntage und des Feftes 
Mariä VBerfündigung die Meffe in Praesanctificatis gefeiert werde, — Auch 
im Abendlande war das Feft Maris Verfündigung um diefe Zeit befannt. Denn 
es ift ſchon im Sacramentarium des HL. Gregorius erwähnt und, entfprechend 
der Chronologie des jährlichen Feftcyelus, nach welcher am 25. Der. die Geburt 
des Herrn gefeiert wird, auf ben 25. März angefegt CThomass. de fest. celebr. 
1.1. 0.12.) Da ihm derfelbe Tag auch in den Salzburger Statuten vom 
Sabre 799, im Feftverzeichniffe von St. Gallen aus dem neunten Jahrhunderte 
und andern Urkunden diefer Zeit angewiefen ift, fo führt es in alten teutjchem 
Galendarien auch den Namen „Mariä in der Faften.” In Spanien aber 
verlegte die Synode zu Toledo vom Jahre 656 unfer Feft auf den 18, December, 
weil die Feier einer freudigen Begebenheit mit dem Bußernfte der Duadragefimal- 
zeit überhaupt unvereinbar fei, insbefondere aber die Feier der Empfängnif des 
Herrn der Feier feines Todes nicht fo nahe gerüct fein dürfe (Harduwin, Conc, 
tom, II). Auch die mailändifche Kirche beging es im December, und zwar 
am vierten Adventfonntage (Radulph. Tungr. propos. 16.). In dem darüber 
entftandenen Streite erhielt die Praxis der römifchen Kirche die Oberhand. Noch 
heute gilt fie als Regel; nur wenn Mariä Verfündigung in die Charwoche fällt, 
wird e8 auf den Montag nach dem erften Sonntage nach Dftern verſchoben (Congr. 
Sacr. Rit. 1690. 11. Mart.), — Das Feft, das übrigens auch in foro externo ge= 
feiert wird, ift aber nicht nur eine Feier der Mutterwürde Mariens, fondern auch 
eine Gedächtnißfeier der Menſchwerdung Jeſu Chrifti, Je nachdem nun in ver- 
ſchiedenen Zeiten die eine oder die andere Bedeutung mehr hervorgehoben wurde, 
führte e8 auch verfihiedene Bezeichnungen, 3. B. Annuntiatio B. V. M., Annuntiatio 
angeli ad Mariam, Mariae salutatio; aber auch Annuntiatio Christi, Annuntiatio do- 
minica, Initium redemtionis, Conceptio Christi, Festum incarnationis ; bei den Griechen 
j Tod ayyehıouod, 9 Too Evayyelıouod, xapırıouös. Aus unferer Mefi- 
iturgie und dem Officium geht hervor, daß die römifche Kirche das Feft Marik 
Verkündigung von dem MWeihnachtsfefte dadurch unterfheidet, daß bei dieſem ber 
Menſch gewordene Gott der einzige Gegenftand der Feier fein, während bei 
jenem auch Maria bevacht werben fol, die bemüthig und gehorfam ihre Ein- 


Mariä Verlobung — Marienfefte, übrige, 887 


willigung zur menfchlihen Vermittlung der Incarnation dem Gottesgefandten 
gegeben hat. * [Kraus.] 

WMariä Verlobung (Desponsalio B. V. M). So ſollte, wird nur auf den 
entſprechenden Ausdruck der kirchlichen Sprache Bezug genommen, eigentlich jenes 
Feſt genannt werben, welches unter dem Namen Mariä Vermählung befannt, 
alljährlich am 23. Januar, doch bloß in choro, begangen wird. Allein nach dem, 
was Benedict XIV. (de fest. p. I. $ 13.) über Genefis und Bedeutung dieſes 
Feſtes berichtet, ift Ießtere Bezeichnung vollfommen gerechtfertigt. Es iſt nämlich 
gewidmet dem Andenfen an die Bermählung Mariens, der Erbtochter Eli's, mit 
Joſeph, ihrem nächften Verwandten, welcher ein Sohn Jacobs und ebenfalls aus der 
alten beiblehemitifchen Linie, aber durch Salomo, wie Maria dur Nathan, von 
David entfproffen war (Matth. 1, 16, 18. 19. 24. Luc, 2, 5.). Die firdliche 
Feier diefer Thatfahe ward auf Anregung des berühmten Kanzlers Gerfon 
von dem Franciscanerorden unter Paul. begonnen. Diefer Papft ertheilte 
dem Dominicaner Peter Dore den Auftrag zur Abfaffung des Offierums, und 
DBenedict XII. dehnte endlich laut einer unterm 22, Auguft 1725 erlaffenen 
Bulle das Feft auf die ganze Kirche aus, Welche Bedeutung man auch übrigens 
der Gedächtnißfeier unterlege, die der Verlobung oder der Vermählung, der eine 
Moment wie der andere ift wichtig in der Gefhichte unferes Heiles, Jene wie 
diefe folften, wie ſchon Ignatius d. M. Ep. ad Ephes. c. 19. tieffinnig bemerft, 
dazu dienen, die Jungfräulichkeit und jungfräulide Nieverfunft Mariens nach 
Gottes Abſicht in’s Geheimniß zu Hüllen. Die Bermählung aber betreffend, fo 
ift ein Grund mehr zur Gedächtnißfeier in der Thatfache der befonderen Revelation 
gegeben, welche Diatth. 1, 20. diefelbe Herbeiführte. Diefe aber diente, bevor das 
Moyfterium der Sncarnation entfchleiert war, dazu, daß „Jeſus als Sohn Joſephs 
von Nazareth” (Joh. 1, 45.) als Davids-Sohn — mit diefem erften Merkmale 
der Meffiagwürde — bei feinem Volke eingeführt wurde (f. Maria). [Kraus] 

Mariä Bermählung, f. Mariä Verlobung. 

Marienfeite, übrige, d. 5. ſolche, welche fi nicht auf Momente aus dent 
irbifchen Leben der Gottesmutter, fondern auf Erweife ihrer fortwährenden Ge- 
meinfchaft mit der flreitenden Kirche beziehen. Hieher gehören: I. Das Feft 
Mariä vom Berge Carmel (Festum B. V. M. de monte Carmelo, solemnis 
commemoratio B. V. M. de monte Carmelo). Diefes Feft ward zuerft für den 
Earmeliterorven im Jahre 1587 von Papſt Sirtus V. genehmigt, dann ver— 
mehrte Paul V. für denfelben Orden deffen Offieium, endlich aber ward bie 
Feier im Jahre 1726 dur Benediet XI. (R. S. C. 24. Sept. 1726) allge= 
mein angeorbnet (Bened. XIV. de fest. 1. II. $ 78.), und zwar auf den 16. Juli. 
Den Ramen hat das Feft eben daher, daß es ſich auf die übrige Ehriftenheit vom 
Orden der Carmeliter aus verbreitete, welcher ſchon in der apoflolifchen Zeit ein 
Klofter auf dem Berge Earmel gehabt Haben will, Das ift eine Hiftorifch nicht 
begründete Prätention (Papebroch. Bolland. m. Apr. tom. I). — Das Feft Heißt 
aber auh „Sceapulierfeft”, und unter diefer Bezeichnung iſt es in unfern 
Bolfskalendern am Sonntage nach dem 16, Juli verzeichnet. Diefer Name grün 
det fih darauf, daß die Hl, Jungfrau Maria dem fechsten Carmeliterordend- 
General Simon Stod in England während feines Gebetes erfchienen fein und 
ihm das Scapulier (scapulare, Schulterkleid i. e. für Mönde, das fie bei ihren 
Handarbeiten trugen) gegeben haben foll mit der Verheißung: wer darin fterbe, 
werde das ewige Feuer nicht leiden, Die Wirflichfeit diefer Viſion wird be— 
ftritten von Launoy Copp. tom, II. p. 2.) und verteidigt von Benebict XIV. (de 
fest. p. I. $ 76). Daß Johann XXI. unterm 3, März 1322 auf Grund einer 
ähnlichen Bifion die Mönche des Carmeliterordens und die Träger des Scapu— 
Tieres mit befondern Abläffen privilegirt Habe, wie vielfach behauptet worden iſt 
(Privilegium sabbathinum), fann, abgefehen von den theologifchen Gegengründen, 


888 Marienfefte, übrige, 


ſchon darum nicht angenommen werden, weil bie betreffende Bulle fi weder im 
römifchen Bullarium findet, noch auch, fei es in forma speciali oder communi, 
Hon den römifchen Päpften approbirt worden ift (Bened. de fest. p. 11. $ 73. 77.). 
Pius V. hat den über die Aechtheit oder Unächtheit diefer Bulle entftandenen 
Streit mit einer Weisheit entfhieden, die nicht minder für den apoftolifhen 
Stuhl ehrend, als für den Katholiken befriedigend ift (Bullar. Carmelit. tom. 1.); 
Bol, Sailers Paftoraltheologie II. ©. 187, oder deffen Beiträge ze. IL ©. 300: 
auch Leibnigens Syftem der Theologie. — I. Das Feft der Weihe der 
Kirche zu Mariä Schnee (Festum dedicalionis S. Mariae ad Nives). Daffelbe 
fallt alle Jahr auf den 5. Auguft und war urfprünglih das Weihefeft einer ein- 
zelnen Kirche zu Rom, Johannes nämlich, ein römischer Patricier, und beffen 
Gemahlin, welche unter dem Pontificate des Liberius im vierten Jahrhunderte 
lebten, hatten, weil finderlos und ohne Erben, all ihr Vermögen der hl. Jung- 
frau gelobt und fie gebeten, fie möchte ihnen offenbaren, wie fie zu ihrer Ehre 
ihr Vermögen verwenden fünnten, Da fiel am äten des heißen Auguftmonats 
zur Nachtzeit auf der Spike des Berges Erquilia Schnee und an biefer Stelle 
ließen Johannes und deffen Gemahlin nach erhaltener vifionärer Mahnung einen 
Tempel zu Ehren der Gottesmutter erbauen, Diefe wunderbare Begebenheit, 
die hier dem römifchen Breviere nacherzählt ift, findet ſich auch in einigen fehr 
alten pergamentenen Brevieren, von denen das eine der Kirche zu Parma, das 
andere den Eremiten des hl. Auguftinus zum Gebrauche diente, Auch fehr alte 
Manuferipte, die in den römifchen Archiven aufbewahrt werben, erwähnen 
dieſes Ereigniffes, das nicht nur von Shriftftellern, 3. B. Baronius (in not. 
ad Mart.), Fulvius dem Römer (1. IL. e. 6.), Sigonius (tom. I. de ooeid. Imper.) 
u. f. w,, fondern auch von den Päpften Nicolaus IV., Gregor IX. und Pius Il. 
als wahre Thatfache berichtet wird (Bened. de fest. p. II. $ 90. 93. 94.). Ge— 
gründet auf diefe Begebenheit, ward das Feft im 14tem Jahrhunderte auf bie 
ganze Stadt Nom ausgedehnt und endlich durch Pius V. zu einer allgemeinen 
Feier der ganzen Chriftenheit erhoben. — IU. Das Feft des Rofenfranzes 
Mariä (Festum vel solemnitas S. Rosarii B. V. M.); Diefes wird immer am 
erften Sonntage im Detober gefeiert und war, wie das Scapulierfeft, Anfangs 
ein bloßes Bruderfhaftsfeft, fich füsend auf das Nofenkranzgebet, welches 
unter dem Einfluffe des Dominicanerordeng jene Ausbildung erhielt, in der es 
alle Geheimniffe unferer Erlöfung, die Angelpuncte des chriſtlichen Glaubens, 
enthält und der Verherrlihung der Gottesmutter gilt. Als in der Folge die be— 
rühmte Schlacht bei Lepanto am 7, Detober 1571 unter Don Juan von Deftreich 
gegen die Türken gewonnen wurde an eben dem Tage, an welchem die Nofen- 
franzbruderfchaften zu Nom ihre feierlihen Wallfahrten und befonderen An— 
dachtsübungen um Verleifung des Sieges über die Ungläubigen hielten, verord- 
nete der damalige, aus dem Dominicanerorden hervorgegangene Papft Sirtus V. 
ein eigenes Felt zu Ehren des Nofenfranzes, eine Verordnung, welde Gre— 
gor XII. am 1. April 1573 mit dem Beiſatze erneuerte, daß das Feſt in Zukunft 
in allen jenen Kirchen, in denen ein Altar oder eine Capelle „sub invocatione B. 
Virginis Rosarii* fich befände, und zwar am erften Sonntage im October gefeiert 
werden folle, Hieraus ift von felbft Far, warum dieſes Feft auch den Titel 
„Mariä vom Siege“ führt. Clemens X. dehnte im Jahre 1671 das Felt — 
ohne obige Bedingung — auf ganz Spanien aus, bis endlich Papft Clemens Xl. 
im Jahre 1716 theils auf Anſuchen des Kaifers Leopold, theild wegen des von 
Earl VI. im Jahre 1715 bei Temeswar in Ungarn über die Türfen erfochtenen 
Sieges fi bewogen fand, die Feier in der ganzen Chriftenheit einzuführen (Be- 
ned. de fest. p. II. $ 156—172.),. Als Zweck derfelben bezeichnet Clemens XI.: 
„die Herzen der Gläubigen dadurch defto mehr zur Verehrung der glomwürbigften 
bl, Jungfrau zu entflammen und das Andenken zur fhuldigen Danffagung für 


Marienpfalter — Marina von Escobar, sg 


die damals empfangene Hilfe von Dben nie erlöfchen zu laſſen. — IV. Das 
Feft Mariä von der Barmherzigkeit zur Befreiung gefangener Chri— 
ften (Festum B. V. M. de Mercede — merces heißt nach Düfresne im mittelalter« 
lichen Latein auch f. v. a, misericordia — redemtionis captivorum). Daffelbe fälft 
alljährlich auf den 24. Sept. und war urfprünglich ein Privatfeft jenes Or— 
dens, welcher, von dem Priefter Peter Nolascus (ſ. d. A.) in Verbindung mit 
Raymund von Pennaforte und Jacob von Aragonien im Jahre 1223 geftiftet, ſich 
zur Befreiung der in maurifcher Gefangenschaft ſchmachtenden Chriften durch 
feierliches Gelübde verpflichtete. Aus diefem in Spanien gegründeten Orden ver- 
breitete fich diefes Feft auch auf die übrigen Kirchen diefes Landes, ging von ba 
nach Franfreich über und wurde dann durh Innocenz XI. im 17ten Zahrhun- 
derte allgemein, — V. Das Schugfeft Mariä (Festum patrocinüi B. V. M.), 
auf den dritten Sonntag im November treffend, ward im 17ten Jahrhunderte 
den fpanifchen Kirchen concebirt (S. R. C. 6. Mai 1679) und dur Benediet XII. 
im Jahre 1725 auf die ganze Kirche ausgedehnt, als eine Feier der theilnehmen- 
den Verbindung Mariens mit der ftreitenden Kirche und deren Gliedern (Bened. 
de fest. p. II. $ 173). [Kraus,] 
Marienpfalter, f. Psalterium Marianum. 

"Marina von Escobar. Unter den vielen Seelen, die der große Geifteg- 
lehrer Ludwig de Ponte zu hoher Vollkommenheit führte, war diefe erleuchtete 
Zungfrau die bewunderungswürdigfte und gefeiertefte, Geboren 1554 zu Valla— 
dolid, Tochter des Nechtsgelehrten Jacob Escobar, gehört fie als einer der glän- 
zendften Sterne in den leuchtenden Kreis, der im 16ten und 17ten Jahrh. die 
Kirche Spaniens fo fehr verherrlichte, daß der Freund wahrer Kriftlicher Fröm— 
migfeit, von ber Zerriffenheit und Verwüſtung der Kirche Teutfchlands durch bie 
Reformation mit gerechtem Zorn und Schmerz ſich abwendend, fo gern feine Blicke 
auf die damaligen Firchlichen Zuftände der fchönen iberifchen Halbinfel wendet, um 
fih die Himmelsgeftalten zu befchauen, die wie Johannes vom Kreuz, Therefia, 
Petrus von Alcantara, Johannes v. Avila u. f. w. wahrhaft reformirend 
auftraten und zahlloſe Früchte Achter Tugend hervorbrachten, nicht wie Luther 
u. a, m, die fhönften Blüthen Fatholifcher Frömmigkeit, treue Gottesliebe, Keuſch— 
heit und Andacht mit Füßen traten. Marina ward fo hoch begnadigt, daß Ludwig 
de Ponte, der 30 Jahre lang ihr Führer war, fie ohne Bedenfen der HI, The= 
refia, Catharina von Siena und andern heiligen Frauen an die Geite ftellt, 
Schon als dreijähriges Kind tief ergriffen vom Gebote der Liebe Gottes über 
Alles, fuchte fie in Allem nur Gott, verirrte fih zwar im 10. Jahre zu weltlichen 
Zerftreuungen, ward aber im 14, Jahre durch einen Prediger wieder auf den 
rechten Weg geführt, verläßt fpäter das innere Gebet als gefährlich aufs 
Neue, bis fie endlich im 33. Jahre zum zweiten Male begnadigt erft recht und 
fe in Ehrifto zu leben anfing. Sp mußte zuerft in ihr felbft die Liebe Gottes 
allherrfchend werden, bis fie im J. 1599 auf Geheiß des Herrn anfing, nad 
Außen anregend zu wirken. Da fpricht fie bald mit flammenden Worten Klofter- 
geiftlichen zu, wie fie mit Gott fich vereinigen follen; bald ermuntert fie auf den 
Gaffen die Kinder, Gott zu lieben; redet dann wieder Bekannte und Unbekannte 
bittend an, daß fie recht oft beten und fo Gott ihre Liebe zeigen möchten. Es 
war alfo Marina’ Frömmigkeit nicht eine müffige wirfungslofe; fie redete mit 
befonderer Anmuth und der Herr gab ihren Worten fliegende Kraft, Umgeftaltend 
trat fie für den Brigittenorden (f. d. AU.) auf und Urban VIII. beftätigte die Re— 
form. Tiefe Demuth, engelgleihe Sanftmuth , heroifche Geduld bei 50jährigen 
oft fehr fchweren innern und äußern Leiden waren die Tugenden, die fie beſonders 
zierten. Bon ihrer armen dunfeln Kranfenzelle aus wirkte fie auch durch Briefe 
und fhriftlihe Aufſätze; um fi hatte fie viele Schülerinnen, die fie mit großer 
Weisheit, mit Ernft und Liebe leitete, Die letzten 30 Jahre ihres Lebens blieb 


890 Marinus, Martyrer. 


fie immer unter großen Schmerzen an ihr Bett gefeffelt; feldft arm war fie eine 
Pflegerin vieler Armen, Dürftige und Bebrängte nahmen zu ihrem Haufe ihre 
Zuflucht, Nabe 80 Jahre alt verfhied Marina am 9, Zuli 1633 in einer Ent- 
zückung, in die fie nach unausftehlihen Schmerzen der Todeskrankheit gefallen 
war, Ihr Begräbnig warb glänzend mit allgemeiner Theilnahme gefeiert, Un— 
gemein lieblich find die Bilder, die fie in ihren Gefichten ſchaute. Bald erſcheint 
fie al$ arme Pilgerin vor dem Herrn, um von ihm ein Almofen zu heifhen, und 
da wählt fie unter den ihr zur Auswahl vorgelegten Perlen und Edelfteinen nicht 
die Gaben der Weiffagung, Wunder und Sprachen, fondern — die Gabe der 
Gleihförmigfeit mit dem göttlihen Willen; bald ergießt fih ein Himm- 
lifcher Negen von Gnaden auf fie, während die Engel Lobliever anflimmen, Ober 
fie wird koͤſtlich geſchmückt und mit einer goldenen Krone geziert; ein ander Mal 
erblickt fie den Herrn ald Sonne, mit der dann ihre beftrahlte Seele ſich verei= 
nigt; wiederum ſieht fie fih vor ihm in einem fehneeweißen glänzenden Sonnen- 
Heide. Dieß Alles erzählt fie mit eben der mädchenhaften Naivität, wie bie hl. 
Angela v. Foligno die füßen Worte des Herrn an ihre Seele, Chriftus erfcheint 
ihr als goloftrahlender Stern, oder im föftlihen Gewande feiner unendlichen 
Berdienfte, fein Blut als heller Fluß voll wunderbarer Reihthümer in feinem 
Grunde, oder als ſchönes Hares Bächlein im himmlifchen Zerufalem, Alle diefe 
und andere Gefihte waren nicht unfruchtbare Phantafiegebilde für fie, fondern 
brachten reiche Früchte immer zunehmender Bollfommenheit in ihrer Seele hervor, 
Sie achtete nicht darauf, hatte große Furcht und Abneigung gegen diefe außer- 
ordentlichen Erfcheinungen, trachtete nur nad) wahrer gründlicher Tugend, wollte 
und meinte in Allem nur den Erlöfer, darum ihr auch einmal ihr Herz gezeigt 
ward ausnehmend fchön und fehimmernd gleich dem hellften Rubin‘, und in der 
Mitte ftand in den reinften Goldbuchſtaben gefihrieben: „Hier wohnt Jeſus“. 
Alſo lebte und wirfte Marina v. Escobar, über welche unter anderm der berühmte, 
Dichter Johannes Angelus Silefius in der Vorrede zu feinem herubinifchen Wan— 
dersmann fagt: „Was man bei den berühmteften myftifchen Lehrern von der ge— 
heimen Gottesweisheit gelefen, kann man am allertröftlichften in dem Leben der 
Marina von Escobar finden, die allein dur Gottes Gnade alles deffen ge— 
würdigt wurde, was je alle der geheimen Gotteskunſt Erfahrene insgeſammt 
gefhrieben, Marina's Leben befchrieb nach ihren eigenhändigen Berichten größ- 
tentheils Ludwig de Ponte (fiehe ven Art), dem fein Ordensbruder Ramirez 
ergänzend nachfolgte. Franz Cachupin, Provincial der Jefuiten, gab nad 
ihrem Tode 1664 diefe Biographie heraus, fo weit Ludwig de Ponte fie bearbeitet 
hatte, [Zingerle.] 
Marinus, Martyrer in Cäſarea. Als die Chriftenverfolgung unter 
Raifer Balerian nachgelaffen, unter deffen Sohne Gallienus (n. Chr, 260— 268) 
mildere Zeiten für die Chriften eintraten, fo litt Marinus in Cäſarea für Chriftus 
den Tod, Vielleicht war der Befehl des Gallienus, der Chriften zu fhonen, noch 
nicht allgemein fundgegeben; oder Fonnten, wie einft nach dem Willen des Trajan, 
in Kraft diefer Befehle zwar die Chriften nicht aufgefucht, aber die zur Anzeige 
gebrachten geftraft werden (vgl, Baronius ad a. 262. n. 78). Marinns, aus 
vornehmem Gefchlechte, diente im Heere, und hatte Anfpruch auf den Nang eines 
Centurio. Da klagte ihn Jemand vor Gericht an: dem Marinus, einem Chriften, 
der dem Kaifer zu opfern fih weigere, gebühre dieſe römifche Würde nicht, auf 
welche er, der Anfläger, Aufpruc habe, Der Richter Achäus Ind den Marinus 
vor fih, und erfuhr von ihm, daß er ein Chrift ſei. Darauf gab der Richter ihm 
drei Stunden Bedenkzeit. Theoteenus, Bifchof der Stadt Cäfaren, führte den 
Marin in die Kirche, und mahnte ihn zu ftandhaftem Beleuntniſſe. Marin wurde 
wieber vor Gericht gerufen, und dba er eine größere Freudigfeit des Glaubens, 
als zuvor, zeigte, fo wurde er auf der Stelle hinweggeführt, und mit der Marters 


Marinus, Päpſte — Maroniten, 891 


krone geſchmückt. „Ein römifher Senator, Afterius (Aftyrius) mit Namen, 
wegen feiner Reichthümer und feines Geſchlechts berühmt, und bei den Kaiſern 
fehr SF befiet ‚war Zeuge der Hinrichtung, nahm den Leichnam des Martyrers auf 
feine eigene Schultern und trug ihn fort, obgleich er felbft in ein weißes koſt⸗ 
bares Gewand gekleidet war; er hüllte den Leichnam in Föftliche Tücher ein, und 
beftattete ihn mit Anſtand.“ Bon demfelben Afterius wurden von feinen Be— 
kannten noch unzählige andere Thaten erzählt, und eines der von ihm vollbrach— 
ten Wunder berichtet Euſebius 1. c. (vgl. Eusebius hist. ecel. L. VI. c. 15. 16. 
47. — Acta Sanct. ap. Bolland, T. I. Mart.). Das Andenfen des HI. Blutzeugen 
Marinus feiert die Kirche am 3. März. [Gams.)] 

Marinus I. u. H., Päpſte. Es gibt zwei Päpſte, die eigentlich den Na— 
men Marinus trugen, Marinus L von 882 — 884, und Marinug Il. von 
943— 946, doch wurden diefelben nah dem 1äten Zahıh., wie Papebroch in 
paralip. ad "conat, chron. hist. Pontif. Bolland. Propyl. ad Majum pag. 106 meint, 
als Martin II. u. IH. bezeichnet. Siehe daher diefe Artikel. 

Marius Aventiens, Biſchof von Aventicum im fehsten Jahrh. lsen- 
ticum , jetzt Avenches oder Wifflisburg im Kanton Waadt), ift der Verfaffer einer 
Chronik, welche fich als Fortfegung der Chronif Prospers an diefe anſchließt und 
bis zum 5. 581 geht. Marius wohnte 585 der Synode von Macon bei, Er 
ftarb 64 Jahre alt, nachdem er in würbigfter Weife 20 Jahre fein Bistum ver- 
waltet hatte, Für die Gefchichte des burgundifhen Neiches und der Schweiz 
enthält feine Chronik manches Wichtige; fie ift bei Bouquet, Script. rer. Gall. 
t. I. abgedrudt. — Marius Mercator, Rirchenfchriftfteller des fünften Jahrh., 
der mit dem hl. Auguftin in vielfacher Berührung flund, aber über deffen Vater— 
land, Stand und Lebensverhältniffe man nichts Gewiffes weiß, ſchrieb mit viel 
Eifer wider die Pelagianer und Neftorianer, und bat fih um die Geſchichte diefer 
Ketzer verdient gemacht. Seine Werke gab der Jefuit Johann Garnier, Paris 
1673 und noch beffer Stephan Baluzius, Paris 1684 heraus. 

Markus, f. Marcus, 

Maroniten ift der Name einer Partei vrientalifcher Chriften, die, jegt un 
gefähr 150,000 an der Zahl, zum größten Theil auf dem Berge Kesruan, einem 
Theile des Libanons in Syrien, einen Flächenraum von 56 Duabdratmeilen inne 
haben, leber die Herleitung ihres Namens, ihre Entftehungszeit als häretifche 
Secte und ihr Verhältniß zu dem Monotheletismus fehlen uns ganz beftinimte 
Nachrichten. Wir ftellen die hauptſächlichern der älteften Duellen oben an, um 
daraus eine möglihfte Gewißheit über obige Puncte zu gewinnen. Nach Simon, 
Aſſemani, einem Marpniten aus einer der erfien Familien, T. I. ©. 497. feiner 

biblioth. orient. gab e8 fchon im fechsten Jahrh. ein zwifchen Apamea und Emefa 

am Fluffe Drontes in: Syrien gelegenes Mönchskloſter des Hl. Maro, deſſen 

Bewohner von ihn als dem Stifter Maroniten genannt wurden, Diefer Stifter 

ift wahrfcheinlich jener Maro aus dem Anfange des fünften Jahrh., deffen Theo— 

doret in feiner hister. religios. II. Thl. €, 16. ©, 1222 nad der Schulzifchen 

Ausgabe gedenft. Erft im fiebenten Jahrh. begegnet uns wiederum ein Mann 

deffelben Namens, der für feinen häretifchen Glauben einen Anhang gewinnt und 

diefem feinen Namen gibt. Eutychius, im 10ten Jahrh. Patriarh von Aleran- 
drien, erzählt: „Zur Zeit des Kaifers Morig, Ausgangs des fehsten und An- 
fangs des fiebenten Jahrh., Iebte ein Minh Marum, der in Ehrifto zwei Na— 
turen und Einen Willen und Eine Wirkung lehrte, Der größte Theil feiner 

Anhänger, von ihm her Maroniten genannt, waren die Einwohner der Städte 

Hamah, Kennesrim und Awaſem. Nach dem Tode des Hauptes haben die Bür— 

ger von Hamah das daſelbſt erbaute Klofter Dair Darum (Maronskfofter) ge- 

nannt und feine Lehre öffentlich bekannt.“ Bon der nämlichen Härefie fpricht ein 

Zufag der Schrift von Timotheus — de iis, qui accedunt ad ecclesiam — ber 


892 Maroniten. 


ſich in der histor. Monotheletarum des Combefis II. Thl. S. 460 findet. Nach dem⸗ 
felben feen die Maroniten, die das 4. 5. und 6, allgemeine Concil verwerfen, 
zu dem dreimalheilig hinzu: „der du für ung bift gefreuzigt worden und Iehren 
in Chriſto Einen Willen und Eine Wirkung”. Da biefer Zufag in der Hand⸗ 
fhrift des Timotheus fehlt und wahrfcheinlich erfi dem achten Jahrh. fein Dafein 
verdankt, fo müßte er an Wichtigfeit verlieren, wenn er nicht durch gleichzeitige 
und gleichlautende Nachrichten unterftügt würde, Damascenus nämlich, der als 
Syrer die Maroniten kennen konnte, nennt fie Ketzer, mit welchen er feine Ge- 
meinfchaft habe und fpriht vom obigen Schlußwort zum dreimalheilig (Libellum 
de vera sententia nach Lequiens Ausgabe T. I. cap. VII. ©, 395. und ep. de 
hymno trisagio cap. V. ©, 485 beffelben Werkes), Durch die weitere Nachricht 
des Wilhelm, Erzbifchofes von Tyrus, fommen wir in der Gefhichte der Maro- 
niten um ein Bedeutendes vorwärts, indem wir durch fie nicht bloß über den 
Namen und bie Entftehungszeit, fondern auch über die erfimalige Annäherung 
und Bereinigung diefer Härefie mit dem römischen Stuhle Kenntniß befommen, 
De bello sacro lib. XXI. cap. VIII. in Bongars. gestis Dei per Francos T. I. be— 
richtet diefer Schriftfteller über das J. 1182: „Da man nad Saladins Krieg des 
zeitlichen Friedens genoß, erlitt eine fyrifche Nation, die in Phönicien am Berge 
Libanon die Stadt Byblus bewohnt, eine große Veränderung ihres Zuftandes, 
Nachdem fie 500 Jahre dem Irrthume eines Kegerftifterd Maro ergeben war, 
fo daß fie son ihm den Namen Maroniten führten und, von der orthodoxen 
Kirche abgefondert, ihren eigenen Gottesdienſt hielten, befehrten fie ſich durch 
göttliche Eingebung und kamen zu dem Patriarchen von Antiochien, Aimerich IIL 
unter den lateinifchen Patriarchen, und wurden nach Abfchwörung ihres Irrthums 
mit der wahren Kirche wieder vereinigt. Sie erflärten fich bereit, die Vorſchriften 
der römifchen Kirche anzunehmen und zu beobachten, Es waren über 40,000 
Menfchen, die den ganzen Strich am Libanon inne hatten, und den Lateinern im 
Krieg wider die Saracenen fehr nüglih waren, Der Irrthum des Maro und 
feiner Anhänger ift und war, wie man in ber fechsten Synode leſen kann, daß 
in Jeſu Chrifto nur Ein Wille und Eine Wirkung fei und von Anfang an gewefen 
fei. Doch hatten fie nach ihrer Abfonderung noch einige andere fehändliche Lehren 
angenommen, Es hatte fih ihr Patriarch mit einigen Bifchöfen zur wahren Kirche 
gewendet," Da Wilhelm bloß von der Umkehr des Patriarchen und einiger 
Biſchöfe fpricht, fo iſt Affemani nicht berechtigt, Die Nachricht des jacobitifchen 
Primas, Abulfaradſch Ch. d. A.) aus dem Grunde als Fabel zu bezeichnen, weil 
er neben der obigen Vereinigung im 12ten Jahrh. auch noch im 13ten von ſyri— 
ſchen Maroniten fpreche, die fih dadurch von allen chriftlihen Secten unter- 
ſcheiden, daß fie den beiden Naturen in Chriſto nicht zwei Willen und zwei 
Wirkungen, fondern Einen Willen und Eine Wirkung zufhreiben (Abulfaradfch 
de theolog. bei Affemani im 2. Thl. feiner biblioth. orient. ©. 292). Im Gegen- 
theil, da eine vollftändige Vereinigung erft im 16ten Jahrh. vor fih ging, fo 
müßte ung eine anderslautende Nachricht aus dem 13ten Jahrh. als fehr unglaub- 
würdig erfcheinen, Folgern wir aus diefen Auctoritäten zuerft die Herleitung des 
Namens, fo foheint e8 mir wahrfcheinlich, daß nicht Mar o ni a, die Gegend zwi- 
ſchen Antiochien und dem Libanon, noch die Stadt Maronea, fondern der hl. 
Abt, deffen Leben Theodoret befchreibt, und der im Anfang des fünften Jahrh. 
lebte, als muthmaßliher Stifter zunächft dem Klofter und deffen Gliedern dem 
Namen gegeben hat, während die Bewohner des Libanons und Antilibanone in 
ihrer fpätern Vermehrung den gleichen Namen von dem fpätern Job. Maro aus 
dem fiebenten Zahrh. als dem erfien Patriarchen angenommen haben, Daneben 
ift es allerdings nicht unwahrfcheinlich, daß der vor dem fiebenten Jahrh. noch 
Heine Stamm bereits den Namen vom Klofter des hl. Maro führte, wenn es 
auch ziemlich gewiß ift, daß derſelbe Name als Bezeichnung einer beflimmten 


Maroniten. 893 


größern häretifhen Secte und zugleich eines bedeutenderen Volkes mit Joh. Maro 
und den Borfällen feiner Zeit im innigften Zufammenhange ſteht. Als nämlich 
die Monotheleten nach der Entthronung des Kaifers Philippicus Bardanes von 
Anaftafius II. verfolgt und aus dem griechiſchen Reiche vertrieben wurden, fant« 
melte fih ein Theil derfelben um das noch unbedeutende Bölflein des Libanous. 
Damit wollen wir aber nicht fagen, die Mönde vom Klofter des HI. Maro feien 
jest erſt durch diefe Einwanderer oder doch erft nach dem 6. Coneil, wie Mosheim 
meint, mit den monotheletifchen Anfichten befannt geworben, Das, daß der Pa— 
triarch von Antiochien diefer Lehre beipflichtete,, und ſyriſche Mönche auf der obi— 
gen Synode fie vertheidigten, läßt auf eine frühere, wenigftens theilweife Rennt- 
niß und Annahme diefer Irrlehre von Seite der Libanioten fließen. Wald 
glaubt, fie Hätten eine folhe Kenntniß ſchon zur Zeit des Kaifers Heraclins 
(f. d. 9.) erhalten fünnen, Die erneuerte Macht diefes Kaifers in Syrien, feine 
Bereinigungsverfuche dur den Vorſchlag Einer gottmenfhlihen Willensrichtung 
in Ehrifto mahen uns diefe Anficht ziemlich glaubwürdig. Wenn aber diefelbe 
auch nicht über allen Zweifel gewiß ift, die unter Anaftafius verfolgten Flüchtlinge 
fuchten bei den freien Mönchen und Bewohnern des Libanons Schuß und Sicherheit. 
In diefe Einwanderungszeit fällt unfer Joh. Maro, den, wie Einige meinen, Eu— 
tychius irrthümlich als Stifter des Monotheletismus darfielle. Allein es liegt dieß 
gerade nicht in den oben gegebenen Worten, Und felbft wenn dieß ihr Sinn wäre, 
wäre der Irrthum dadurch verzeihlich und begreiflih, daß Joh. Maro von der 
Fortfegung der monotheletifchen Lehre in Syrien mit dem Titel eines Patriarchen 
von Antiochien zum Oberhaupt erwählt worden ift, und ohne Zweifel feine Lehre 
in den verfchiedenen Städten Syriens zu verbreiten gefucht hat. Die durch die 
Einwanderung erfolgte rafhe Vermehrung der Maroniten verlieh den Schüß- 
Iingen und Beihügern Befefligung und Macht zur Verteidigung. Ihre ange- 
firebte Selbftftändigfeit in Glaubensfachen forderte die Behauptung einer politi- 
fhen Unabhängigkeit, Sie fündigten dem griechifchen KRaifer den Gehorfam und 
behaupteten fih immer mehr als freies, ſelbſtſtändiges, Friegerifches Volf. Ge— 
rade bei diefen und andern Feldzügen foll das obige Firchliche Oberhaupt befon- 
ders thätig gewefen fein. Er und feine Nachfolger nahmen an den Friegerifchen 
Unternehmungen ihres Volkes tätigen Antheil, fo daß die geiftliche und weltliche 
Dberherrlichkeit in Einer Perfon vereinigt wurde und der Name des erften patriar= 
chaliſchen Negenten nicht bloß Religionsname einer im achten Jahrh. unzweifel- 
haft abgefonderten Neligionspartei , fondern zugleich Bollsname wurde, während 
die Melditen, d. i. die Faiferlih Gefinnten die Maroniten wegen obiger Vor— 
gänge Mardaiten, d, i. Aufrührer fchalten. In Betreff ihres ſpecifiſchen Glau— 
bens fönnen fie mit den Monophyfiten nicht zufammenfallen, weil fie diefe Hä— 
refie befämpfen, Eutyches und die Seinen Jrrende nennen, Daß bloß Verſchie— 
denheit der Religionsgebräuche zu einer völligen Trennung geführt habe, ift an 
und für fih unglaublih und aus dem Grunde nichtsfagend,, weil fie hierin wohl 
von der römiſchen aber nicht von der griedhifchen Kirche abwichen. Wozu alfo in 
diefem Fall eine Auswanderung und Trennung von der Jegtern? Die Trennung 
mußte aber erfolgen, fobald fie ven Glauben der Monotholeten befannten und 
dadurch der Entſcheidung des 6. Concils 680, Trullanum genannt, fich wider» 
festen, Diefe Vermuthung bezeugen und befräftigen unfere Duellen, Nach dieſen 
war ber abweichende Glaubensfag der Marpniten der des Monotheletismus: 
beide Naturen find die Factoren Eines freien Wollens und Einer Perfon, con= 
flituiren Einen Willen — iv Helnua zei ulay Evegysıav Eni Xgıorod eineiv 
tolunoavres. — Den Beifag zum Dreimalheilig konnten fie auch im orthodoxen 
Sinne gebraucht Haben, Dbige irrige Glaubenslehre hat fih in Syrien Jahr- 
hunderte forterhalten und hier die meiften Befenner gezählt, Die Maroniten, die 
im Rampfe zu einem Bergoolfe erftarften, wußten wie ihre kirchliche fo ihre po⸗ 


894 Maroniten. 


litiſche Selbſtſtändigkeit gegen Griechen und Araber zit vertheidigen. Die letztere 
behaupten ſie bis heute unter türkiſcher Oberherrſchaft gegen Erlegung einer 
Abgabe an die Pforte. Ihre Hauptniederlaſſung in Syrien wurde der Libanon 
und Antilibanon und das Kloſter des hl. Maro. Ihren Hauptort, die Gegend 
Kesruan abgerechnet, ſind nur wenige in den übrigen Theilen Syriens, wie zu 
Aleppo, Damascus, Tripolis und auf der Inſel Cypern anfäßig; ihr vornehmſter 
Wohnfig bleibt der Libanon, — Rücken wir in der Geſchichte der Maroniten in 
die legten 6 Jahrhunderte vor, fo waren fie feit dem 12ten Jahrh. mehrmals 
(1182 und 1445) mit der römischen Kirche vereinigt; aber eine dauerhafte Ver⸗ 
einigung fam erft feit der Mitte des 1äten Jahrh. zu Stande (f. d. A. Ferrara- 
Florenz). Die BVeranlaffung zum erfimaligen Anfchluß gaben die Kreuzzüge, 
die fie mit unferer Kirche in Berührung brachten, Die legte Vereinigung wurde 
durch das von Gregor XII. (f. d. U.) 1584 zu Rom geftiftete Maroniten-Eoffe- 
gium befeftigt, aus deffen Schule die Maroniten feit Ende des 16ten Jahrh. 
ihre meiften Geiftlichen erhalten. Im J. 1736 vermochte fie Clemens XH. in 
einem auf dem Libanon gehaltenen Nationaleoncil zur Annahme der Trienter Be— 
fohlüffe, Aber feine Weisheit und Nachgiebigfeit im Erlaubten und Zuläffigen 
befundet der römifhe Stuhl, wie fonft, fo auch den Maroniten gegenüber, Die 
Bereinigung beläßt ihnen das Abendmahl unter beiden Geftalten, die Priefter- 
ehe nach Art der griechifhen Geiftlichen (wie denn ihr Eult überhaupt fehr viel 
an den Eult der griechifehen Kirche erinnert) und den Gebraud der fyrifchen und 
arabifchen Sprache beim Gottesdienft, Die Meffe wird in altfyrifher Sprache, 
die Pericopen dagegen werben zuerft in fyrifcher, dann in arabifcher Sprache ge- 
fefen, Sie leiten ihre Liturgie von Ephräm, dem Syrer (ſ. d. A), ab, Was ihre 
weitere kirchliche Verfaſſung betrifft, fo Haben fie einen Patriarchen, der, obſchon 
er in dem Klofter Dair al Schaft auf dem Libanon wohnt, den Namen eines Pa- 
triarchen von Antiochien auch nach der Vereinigung fortbehäft, ſtets Petrus heißt 
und alle 10 Jahre dem Papfte Nechenfchaft ablegt, Unter ihm ftehen 17 Bifchöfe, 
von denen 2 zu Aleppo, 2 in Mefopotamien, 1 in Beirut und die übrigen bei 
vem Patriarchen oder zu Mar Ephraim ihren Sit haben. Für die practifche 
GSeelforge in den 150 Gemeinden haben fie eine gleiche Anzahl von Geiftlichen, 
Die erftern beziehen fehr geringe Einfünfte, Tegtere nähren fich von Handarbeit, 
alle aber genießen von den Laien eine Hohe Achtung. Klöfter finden fich fehr viele, 
In Kesruan zählt man über 200 Manns- und Frauenflöfter, von 20 — 25,000 
Drdensgliedern bewohnt, welche der Negel des HI, Antonius (f. d. A) folgen, 
fehr ftreng leben und fich durch Feld- und Gartenbau nüglih machen, wovon fie 
fih zum Theil ernähren, Sie zeichnen fih vor den Weltleuten, wie die Geift- 
lichen, durch eine blaue Binde um die Kopfbedefung aus und genießen auch die 
Hohe Achtung der letztern. Mönche und Priefter find vom Kriegsdienfte frei. — 
Die kirchliche Statiftif von J. Wiggers bemerft S. 286 ff.: „Sie (die Ma- 
zoniten) fiheinen von dem monotheletifhen Dogma zu dem rechtgläubigen über- 
gegangen zu fein, wiewohl auch hiebei der Schein Teicht trügen kann und es iſt 
nicht unmöglich, daß im Innern der Gemeinfchaft das trennende Dogma von 
Einem Willen in Chrifto noch fortfebt. Sie verwerfen die Privatmeſſe.“ Zu 
dieſem ganz gleichen Schlußwort firgt die Firchliche Geographie und Statiftif von 
D. €. Frid. Stäudlin I. Thl. ©. 61 ff. noch Hinzu: „Wenn fie auch die geift« 
liche Gerichtsbarkeit des Papftes anerkennen, fo richten fie ſich doch nicht in allen 
Siücken nach der Vorfchrift diefes oberſten Glaubensrichters.“ Ich ftehe an, ob 
ich diefe Unwiffenheit als eine wirfliche bewundern, oder als eine vorgegebene 
desavouiren foll, Es wäre mir lieb, zu erfahren, wie es den Verfaffern möglich 
geworden, folch’ tiefe Herzensblicke zu thun. Teiche Anfichten Täßt Fuhrmann 
in feinem Handwörterbuch II. Bd. ©, 67 f. durchblicken. Wir fünnen daher auch 
ihm die obige Anerkennung nicht verſagen. — Seit der Zeit der Vereinigung 


| Marszia — Marſilius Ingenuus, 895 


haben ſich gelehrte Maroniten alle Mühe gegeben, die Welt glauben zu machen, 
die Maroniten hätten fih von Anfang an nur in Unmwefentlihem, in einzelnen 
Religionsgebräuchen, von der römifchen Kirche unterfchieden, in Glaubensfachen 
aber ſtets mit diefer übereingeftimmt, Joh, Maro fei orthodox gewefen und die 
Nachricht des Eutychius fei eine Fabel, Zu den Vertheidigern diefer quellen- 
widrigen Behauptung gehört Fauſtus Nayronus in feiner dissert. de orig. et relig. 
Maronit. Rom 1679 und in feiner enoplia fidei catholicae, Rom 1694. Simon 
Aſſemani ſucht in feiner bibliotheca orientalis Nayrons Anficht zu begründen. Es 
gelingt ihm dadurch, daß er die ältern Duellen, die gegen ihn fprechen, verwirft 
und bloß die neuern, die aus der Zeit nach der Trennung flammen, benügt hat, 
Dieß fein Verfahren Hat Renaudot in feiner histor. patriarch. Alexandr. und noch 
mehr Michaelis Lequien dargethan, welch’ Iegterer in einer Abhandlung de eccles. 
Maronit. alfe Gegengründe gefammelt und diefelben als einen Theil feinem „oriens 
Christianus* angehängt hat, Wir verbleiben ſonach bei der Unterfcheidung älterer 
und neuerer Maroniten und erfennen in den erſten die Fortpflanzer der monothe- 
Vetifhen Lehre. — Die politifhe Berfaffung der Maroniten ift die eines mili- 
tärifchen Freiftaats, der durch alte Gewohnheitsrechte regiert wird. Sie theilen 
fih in zwei Claſſen, Scheiks (Erbadel) und Bolf, Die Regierung führen vier 
Oberſcheiks, die patriarhalifh herrſchen; aber im Kriege Anführer fein müffen, 
Gegen Angriffe von Außen ſchon durch Iocale Verhältniffe gefhüst, nähren fie 
fih zwifchen ihren Bergen, indem fie Ader-, Wein, Tabafs- und Baumwollen- 
bau treiben. Die Nahrung der Familien in den einzelnen Dörfern ift einfach, 
Sie gleihen an Einfalt der Sitten, Mäßigfeit, Gaftfreiheit und Ehrlichkeit den 
alten Arabern. Auch gilt unter ihnen noch die Blutrache und zum Zeichen ihres 
Adels tragen fie den grünen Turban, ein fonft von den Türfen in Anfpruch ges 
nommenes Vorrecht. Aber die Maroniten find zugleich ein ſtets Friegfertiges und 
ftreitbares Volk mit einer Macht von 30—40,000 Mann, Alle gehen bewaffnet 
und find zur Bertheidigung ihres Eigentums bereit. Sie leben in ihren Gebirgen 
frei. Der oben berührte Tribut, deffen Größe nah dem Verhältniß der Ergie- 
bigfeit der Ernte jährlich feftgefegt wird, ift das einzige Merkmal ihrer Abhän— 
gigfeit, Mit ihren Nachbarn, den Drufen (ſ. d. A), Iebten die Maroniten 
bi8 in die neuefte Zeit in den beften Berhältniffen. Sie waren bei kriegeriſchen 
Unternefmungen mehrere Male ihre treuen Verbündeten. Diefer Ruhe erfreuten 
fie fi fo lange, bis Paſcha und Vicekönig Mehemed Alt durch den Einfluß der 
Großmäachte 1840 und die Niederlage bei St, Jean d'Aere zufrieden fein mußte, 
Aegypten als Statthalter des Sultan für feine Perfon behalten zu dürfen, Franf- 
reich machte eine Ausnahme. Es fagte Mehemed Ali Hilfe zu. Ob die Mächte 
Europas und deren Politif an der alsbald folgenden unglüdlichen Zeit der Maro— 
niten nicht bIoß eine negative, fondern eine pofitive Schuld tragen, können wir 
nicht entfcheiden. Geſchichtlich iſt, daß fchon gegen das Ende des J. 1841 zwi- 
hen den Maroniten und Drufen ein Kampf ausbrach, deffen Erbitterung zwifchen 
beiden Bölfern noch lange Zeit fortdauern wird, Die Maroniten haben in diefem 
blutigen Kampfe fehr viel gelitten, befonders find viele ihrer Klöfter zerſtört 
worden. (Vgl. außer den ſchon angeführten Duellen Chr. Wilh. Fried. Walde 
Entwurf einer Hiftorie der Kegereien ze. 9. Thl. S. 474. ff.; Schröckh, Kır 
hengefihichte 20. Band ©. 452, ff. u. 29. Bd. S. 3705 Pierers Univerfal- 
Lericon 18, Bd, S. 462 und Realencyelopädie von Brockhaus 9. Bd. ©. 352, 
1846). [Stemmer.] 

Marozia, f. Johannes X. m, XL 

Marfilius Fieinns, f. Ficinus, 

Marjilins Ingenuus, nah Tritenheim englifcher, wahrfcheintich jedoch 
teutſcher Abfunft, auf welche Schon fein Beiname (von Inghen) hinzumeifen fcheint, 
lehrte um's J. 1370 zu Paris, Bon da wurde er auf die (1336) neugegründete 





896 Marfilius Paduanus. 


Univerfität zu Heidelberg berufen, deren erfler Rector er war und wo er im 
$. 1396 ftarb. Der gemeinen Anfiht nach war er ein Nominalift und Anhänger 
DOeeams. Doch foheint er nach den Auszügen, welche Tiedemann und Tenne- 
mann aus feinen Schriften geben, derjenigen Richtung der Scholaftifer anzuge= 
hören, welche überhaupt feinem der herrfihenden Syfteme beitraten, fondern mehr 
eine vermittelnde Stellung einnahmen, — In Beziehung auf die Freiheit des 
Willens folgte Marfilius dem Indeterminismus des Duns Scotus und des Decam. 
Die Freiheit des Willens feßt er in die Zwanglofigfeit deffelben, vermöge deren ſich 
derfelbe ganz aus fich felbft beftimmt, fo daß er gegen die Einficht der Vernunft 
und gegen feine Ueberzeugung das Schlechte wählen und das Gute verwerfen 
kann. — Marſilius hat mehrere philofophifche Schriften verfaßt, von welchen 
übrigens bloß fein Commentar zu den Sentenzen des Lombarden (zu Straßburg) 
im Drude erfchienen iſt. Vgl. Schröckh, chriſtl. Kirchengefchichte 30, 4114. f. 
Tennemann, Gefchichte der Philofophie 8, 2. 909. ff. 

Marjilius, weil aus Padua gebürtig, Patavinus und Paduanus beige- 
nannt, war nicht ohne philofophifche und medicinifche KRenntniffe, Hatte aber auf der 
Academie zu Drleans vorzugsweife Zurisprudenz ſtudirt. Daß er Franciscaner- 
mönch gewefen und auch als Nector der Univerfität Wien vorgeftanden fei, iſt 
unrichtig. ALS Leibarzt war er viel in der Nähe des Kaifers, Ludwigs des 
Bayers (f. d. A.) und von nicht geringem Einfluffe auf deffen Gefinnungs- und 
Handlungsweife. Er war es gerade auch, der im Kampfe Ludwigs mit den Päpften 
die Partei des Kaifers ganz Iebhaft ergriff und in Verbindung mit Johann von 
Zandün, einem Lehrer der Philofophie und Theologie zu Paris, den Cäſareopapat 
zu vertheidigen ſuchte. Dieß erhellt aus feiner Schrift, „defensor pacis“ betitelt, 
welche im J. 1324 erfihien und auch bei Goldaſt (Monarchia Roman. Imperü 
T. U. p. 154—312. Francof. ad Moen. 1614. fol.) abgedrudt iſt. Die Hauptfäge 
find folgende: als Chriſtus von binnen ſchied, ftellte er feinen Stellvertreter, Fein 
fichtbares Haupt der Kirche aufz Petrus hat auch nach Feiner Seite hin einen 
Borrang vor den übrigen Apofteln, wie auch die Papfte, Biſchöfe und Priefter 
(ex institutione Christi) an Würde und Gewalt fi völlig gleich find. Die Stelle 
bei Matth. 16, 18, meint Marfilius, fpreche nicht für den Primat, da Chriſtus 
unter dem Felfen fich felber nnd das Belenntnif von ihm verftanden habe, und 
nah Luc, 22, 26, ausdrücklich gegen eine firchlihe Hierarchie eifere. Da ihm 
aber nicht entging, daß Petrus in der alten Kirche als princeps Apostolorum 
galt, fo Tegte er fich dieß einfach dadurch zurecht, daß er fagte, es werde dem 
Petrus nur infofern ein Prineipat zugefchrieben, als er älter gewefen denn bie 
übrigen Apoftel, und vor denfelben die Gottheit Chriſti befannt habe. Wenn 
aber auch fpäter die potior principalitas des römifchen Stuhles unverfennbar her- 
vortrete, fo fei dieß auf Rechnung Eonftantins des Großen zu fhreiben; dieſer 
habe den Primat des römifchen Stuhles begründet und die römischen Biſchöfe 
hätten ihre Vorrechte nach und nach zum Schaden der Chriften, befonders der 
Fürften uud vorzüglich des römifchen Neichs immer mehr ausgedehnt. Nicht dem 
Papfte, noch einem Bifchofe oder Priefter ftehe eine Gerichtsbarkeit über Jemand 
zu; das Gericht und die Beftrafung der Ketzer, Schismatifer und Ungläubigen 
fei Sache der weltlichen Obrigkeit; nur die weltlichen Fürften haben das Necht, 
allgemeine Kirchenverfammlungen zu berufen, die Art der Wahl eines römifchen 
Biſchofs vorzufchreiben und über den Elerus überhaupt eine Zwangsgewalt aus- 
zuüben; Fein Bifchof oder Priefter dürfe ohne Genehmigung des weltlichen Fürften 
die Ercommunication oder das Interdiet verhängen. Bei Olaubensftreitigkeiten 
oder einem andern Bedürfniſſe der Gläubigen fönne der römifche Bifchof, nad 
vorausgegangener Beratbfchlagung mit feinem Clerus, von dem höchften Negen- 
ten das Ausfchreiben einer Kirchenverfammlung beantragen, auf derfelben dem 
Borfig führen, und nur in völliger Uebereinſtimmung mit ihr und unter ihrem An= 


Martell — Martene, 897 


ſehen, ihre Beſchlüſſe abfaſſen und zur Vollſtreckung bringen, für ſich allein aber 
babe der römiſche Biſchof Fein entſcheidendes oder bindendes Urtheil in Glaubeng- 
ſachen, und daher ſei auch die Bulle „Unam sanctam“ falſch, irrig, und allen 
Menfchen fo ſchädlich, als fich nur denken Taffe (eunctis eiviliter viventibus prae- 
judieialissimam omnium excogibilium falsorum), Der Papft darf feine Heilig- 
ſprechung vornehmen, die Kirche ſoll keine zeitlichen Güter befigen, nur eine all 
gemeine Synode oder die weltlichen Fürften dürfen Faſt- und Feiertage einfegen, 
Veßteren fommt e8 auch zu, über Würdigfeit und Fähigkeit der zu Ordinirenden 
zu entfcheiden, die Anzahl der Kirchen und der Elerifer an denfelben zu beſtim⸗ 
men, bei den durch ein menfchliches Geſetz unterfagten Ehen zu difpenfiren ꝛc. 
Es konnte nicht fehlen, das Papft Johann XXI. (f. d. A.) diefe Schrift verwarf 
und über deren Berfaffer das Anathem ausſprach 13275 er ließ fich auch auf eine 
Wiverlegung der fraglichen Jrrthümer ein (efr. Raynald. ad ann. 1327 nr. 27), 
und mehrere Bifchöfe thaten daffelbe. Bei Gplvaft finden ſich noch weitere Trac- 
tate von Marfilius, fo de jurisdictione imperiali in causis matrimonialibus, it. de 
translatione imperii etc. Geift und Richtung ift auch Hier diefelbe wie im „de- 
fensor pacis“. Marfilius farb im J. 1328, Bgl, Goldaſt J.c. Schröckh, 
Kirchengefhichte Thl. 31, ©, 79. ff. Natal. Alex. hist. ecel. saec. 13 et 14. 
Cave. [örig.] 

Martell, |, Cart. 

Martene, Edmund, ein gelehrter Benedictiner und einer der fleißigften 
Schriftſteller der Congregation von St. Maurus, wurde zu St. Jean de Losne, 
einem nicht weit von der Hauptftadt Burgunds Dijon gelegenen Städtchen den 
22, December 1654 geboren, Seine Familie gehörte zu den angefeheneren in 
Burgund, und zählte unter ihre Mitglieder mehrere Parlamentsräthe, die bereit 
waren, für das Fortfommen ihres jungen Anverwandten im Staatsdienfte zu for- 
gen, wenn ihn nicht Neigung und frommer Sinn zum Flöfterlihen Stande gezo- 
gen hätten. Er trat noch nicht 18 Fahre alt in der Abtei Saint Nemi zu Rheims 
in den Drden des HI. Benediet und verband firh durch Ablegung der feierlichen 
Gelübde den 8. September 1672 der berühmten Congregation des hl. Maurus, 
Da er fich fogleich durch ungemeinen Fleiß und große Liebe zu den Wiffenfchaften 
auszeichnete, riefen ihn feine Dbern nah Paris in die Abtei Saint Germain 
des Pres, um theils bei der Ausgabe der Kirchenväter behilflich zu fein, theilg 
unter d'Achery's und Mabillons Leitung in den Wiffenfchaften fortzuftreben. 
Bon nun an widmete er fein ganzes Leben gelehrten Forfchungen und befonders 
hiftorifhen und liturgiſchen Studien, lebte in verfchiedenen Klöftern feines Drdeng, 
einige Zeit auch in der Abtei Bonnenouvelle zu Rouen, wo er mit dem Prior 
Divnys von Sainte Marthe die Werfe Gregors des Großen zur Her- 
ausgabe vorbereitete, und brachte viele Jahre feines Lebens auf Neifen zu, die 
er im Auftrage feiner Eongregation und im Dienfte der Wiffenfchaft unternahm, 
So erhielt er im J. 1708 vom Generalcapitel den Auftrag, die Archive aller 
Eathedralfirchen und Abteien in Franfreih zu durchforfchen und alle Documente 
zu fammeln, welche zur Vervollſtändigung der Gallia Christiana, deren neue Aus— 
gabe D, von Sainte Marthe übernommen hatte, dienlich fein könnten. Diefe 
Reife, welche er in Gefellfchaft feines Ordensbruders Urfinus Durand machte, 
dauerte ſechs Jahre, und mehr als 2000 Doeumente zur Gallia Christiana und 
jene Menge der intereffanteften Handfihriften und Gefhichtsquellen, welche beide 
Benedictiner gemeinfchaftlih al$ Thesaurus novus Anecdotorum herausgaben, 
waren bie Früchte diefer wiffenfchaftlihen Reife durd ganz Frankreich, Bald 
fand fig Gelegenheit zu einer neuen Neife. Als nämlich im J. 1717 der fran- 
zöffhe Kanzler Agueffeau zu einer Sammlung der Gefchichtfchreiber Franf- 
reichs aufforderte, zeigte fich die Congregation von St. Maur bereit, diefer Auf- 
forderung Genüge zu Jeiflen, und beftimmte ihre beiden Mitglieder Martene und 
Kirchenlexilon. 6. Vd. 57 





898 Martianay. 


Durand als die dazu tauglichften Männer, auf Koften ver Eongregation die Nieder- 
ande und Teutfchland zu durchreiſen, und alle Documente aufzufuchen, die für 
Frankreichs Gefhihte wichtig in einer Sammlung der Gefchichtfchreiber dieſes 
Landes aufgenommen werden könnten. Sie begannen ihre Reife im J. 1718 
und die große Sammlung alter Hiftorifcher und dogmatifher Schriften, die fie in 
den Jahren 1724—33 veröffentlichten, ift das reihe Ergebniß ihrer gemeinfchaft- 
lichen Forſchung. Nachdem die Herausgabe diefes Sammelwerkes vollendet war, 
durcharbeitete und vermehrte Martene feine frühern Werfe über die alten Kirchen- 
gebräuche, dann übernahm er die in Mabillons, Ruinarts und Maffuets 
Nachlaffe vorhandenen Materialien zur Gefhichte des Benedietinerordens, und 
gab den fechsten Band der Annales Ordinis S. Benedicti (Paris 1739) heraus, 
Sp lebte Martene ununterbrochen mit Fiterarifchen Arbeiten befchäftigt, beidenen 
ihn plöglich der Tod überraſchte. Er flarb in Folge eines Schlagfluffes den 
20. Zuni 1739, Martene war ein fleißiger Sammler , ein gelehrter Gejchichts- 
forfcher, ein ausgezeichneter Kenner der alten Liturgie, aber auch ein frommer 
Mönch, der bei allen feinen gelehrten Befchäftigungen und auf. feinen vielen 
Reifen nie feine Pflichten ald Drdensmann vernachläffigte, nie feine Gebete ver- 
fäumte, nie Benediets heilige Regel außer Acht lief. — Martene’s fämmt- 
lihe Schriften mit Ausnahme einiger kleinen Abhandlungen und den in den 
%. 1717 und 1724 gedruckten beiden Neifeberichten, find: Commentarius-in re- 
gulam S. P. Benedicti literalis, moralis et historicus. Paris 1690 in 4., nach Cal- 
mets Urtheil die befte Sammlung alles deffen, was über Benediets Regel ge— 
fohrieben wurde. — De antiquis Monachorum ritibus libri V., colleoti ex manu- 
seriptis et probatis auctoribus. Lugduni 1690. 2 Bde, in 4. — La Vie du vene- 
rable P. Dom Claude Martin, Benedictin de la CGongr. de S. Maur. Tours 1697. 
in 8. — Veterum scriptorum ei monumentorum moralium, historicorum et dogma- 
ticorum Gollectio nova. Rotomagi 1700. in 4 — De antiquis Ecelesiae ritibus 
libri IV, collecti ex libris Pontificalibus, Sacramentariis, Breviariis, Ritualibus etc, 
Rotomagi 1700—1702. 3 Bde. in 4. Zweite von Martene felbft fehr vermehrte 
Ausgabe Antverpiae 1736— 38. 4 Bde, in 4, — Tractatus de antiqua Ecclesiae 
disciplina in divinis celebrandis officiis. Lugduni 1706. in 4. — Thesaurus novus 
Anecdotorum. Paris 1717. 5 Bde. in Fol. Diefes Werk, welches Martene mit 
Durand gemeinfchaftlich herausgab, reiht fih würdig an d'Achery's Spicilegium 
und Mabillons Analecta vetera (f, die Art. Dacherius uns Mabillon), — 
Veterum scriplorum et monumentorum historicorum, dogmaticorum ‚et moralium 
amplissima Gollectio. Paris 1724 — 33: 9:Bde, in Fol, (gleichfalls gemein- 
fchaftlich mit Urfinus Durand). — Auch fhrieb Martene in franzöfifcher Sprache 
die Gefhichte der Congregation von St. Maur bis zu feinem Sterbe- 
jahre 1739, welche Jacob Fortet bis 1747 fortfegte, und. die ald Manufeript 
in drei Foliobänden in der Bibliothek von St. Germain des Pres aufbewahrt 
wurde, Vgl. Taffins Gelehrtengefshichte der Congregation von. St. Maur, 
2, Band, [Sebad,] 
Martianay, Jean, ein gelehrter Benedictinermönd der Congregation von 
St, Maurus, geboren den 30. December 1647 zu St. Sever-Cap., Schon frühe 
fand er Gefallen an dem Ordensleben, wurde auch mit zwanzig Jahren Noviz 
im Klofter la Daurade zu Touloufe und legte dafelbft den 5. Auguft 1668 feine 
Gelübde ab. Mit unermüdetem Fleiße legte er fich auf das Studium der vrien- 
talifchen Sprachen und der Bibelfunde, hielt auch bald in den Klöftern zu Monte 
majour, St. Andrei zu Avignon, zum hl. Kreuz in Bordeaur und zu Graſſe im 
Kirchenfprengel von Carcaffonne linguiſtiſche und eregetifche Borlefungen zur großen 
Zufriedenpeit feiner Zuhörer. Schon hiedurch, beſonders aber durch feine Ver- 
theidigung des hebräifchen Tertes und der Chronologie der Vulgata gegenüber 
dem Buche L’antiquit6 des tems retablie par le Pre Pezron, Abbe de la Charmoyo 


Martianay, 899 


de V’Ordre de Citeaux zog er bie. Aufmerffamfeit feiner Oberen auf ſich; dieſe 
beriefen ihn jetzt nach Paris und beauftragten ihn mit einer neuen Edition der 
Werke des HI. Hieronymus, Bon nun an entwicelte er bis zu feinem Tode — 
er flarb an einem Schlagfluffe in der Abtei St, Germain des Pres den 16, Juni 
1717 — eine fehr großartige fchriftftellerifche Thätigkeit, hatte aber dabei manchen 
Strauß zu beftehen mit Pezron, Richard Simon, Elericus, Paftel 2r.; war er 
im Umgang die Freundlichkeit felber, fo herrfcht dagegen in feinen Schriften ein 
ſehr biffiger, abfprechender Ton; feine literariſche Animofität brachte ihn fo weit, 
daß er die gerechteften Ausftellungen feiner Gegner , denen es freilich. an Leiden- 
ſchaftlichkeit auch nicht fehlte, nicht gelten Iaffen wollte, und die wohlgemeinteften 
Erinnerungen von Freunden fehr empfindlich aufnahm. Noch im 3.1690 erſchien 
eine Schrift in 4, : „Divi Hieronymi Prodromus, sive epistola D. Joannis Martianay 
ad omnes viros doctos ae studiosos, eum epistola sancti Hieronymi ad Sunniam 
ei Fretelam, castigata ad Mss. codices oplimae notae cum mulliplici observationum 
genere illustrata,“ worin er die Nothwendigfeit einer verbefferten Edition des 
hl. Hieronymus darthut. Sein Hauptwerk ift eben diefe neue Ausgabe, welde 
zu Paris in den J. 1693 — 1706 in 5 Foliobänden erſchien (f. d. Art. Hiero- 
nymus). Die Berfaffer des Journal des Savans urtheilen darüber alfp: „die 
gelehrie Welt hat gewiß dem Eifer des P. Martianay und feiner Liebe zur Ar- 
beit viel zu danfen. Damit die Werfe des hl. Hieronymus mit gutem Erfolg an’g 
Licht gebracht würden, mußte der Herausgeber diefem großen Heiligen einiger- 
maßen gleichen; er mußte fo gefchieft fein als der P. Martianay in der hl. Schrift, 
in den geiftlihen und weltlichen Altertfümern, und in den drei Sprachen, welde 
Hieronymus inne hatte,“ In dem eben berührten Journal befinden fich auch 
mehrere Briefe gelehrten, verfchievenen Inhalts von Martianay, auf die wir aber 
bier nicht näher eingehen fünnenz dagegen ift noch anzuführen : Vulgata antiqua latina 
et Ilala versio Evangelii secundum Matthaeum, e vetustissimis eruta monumentis, 
illustrata prolegomenis ac notis, nuncque primum edita studio el labore D. J. Mar- 
tianay. Paris 1695 in 12. Die angezogene Ueberfegung ift die von Hieronymus 
in der lateinifchen Kirche übliche. Martianay fpricht in den Prolegomenen von den 
Namen diefer Ueberfegung, ihren Verfaffern, der Inhaltsanzeige, welche die Alten 
zu Anfang eines jeden Buches der hl. Schrift fegten, und den Vortheilen , die 
aus derfelben gezogen werben fünnen. Trait& möthodique, ou maniere d’expliquer 
VEeriture par le secours de trois Syntaxes, la Propre, la Figur&e et ’Harmonique. 
Paris 1704 in 12. Und: Methode sacrde pour apprendre a expliquer l’Ecriture 
Sainfe par ’Ecriture möme, contenant une infinit& de concordances nouvelles eto, 
Paris 1716 in 8. In diefen zwei Schriften gibt Martianay eine Art biblifcher 
Hermeneutif; vor Allem habe man fich in der Exegeſe zu halten an die Kirchen- 
väter und Eoneifien, nicht aber an die Grundfäge der verbiendeten Juden und 
folgen Proteftanten ; dann an den Literal- oder bushftäblihen Sinn, und erft 
wenn biefer nicht befriedige, dürfe zum: uneigentlichen oder methaphorifchen ge— 
griffen werden; in der dritten Syntar flellt er Regeln auf, nach welchen der 
fheinbare Widerfpruch des alten und neuen Teftaments gelöst werden müffe; am 
beften erkläre fich die hl. Schrift durch fich felber , durch Parallelftellen ze, La 
vie de saint Jeröme, Prötre, Solitaire et Docteur de l’Eglise, tirée particulierement 
de ses ecrits. Paris 1706 in 4. In 10 Büchern befpricht hier Martianay die 
Geburt, Erziehung und Taufe des HI. Hieronymus, feine Studien und Streitig- 
Zeiten, die derfelbe mit Rufin und dem hl. Auguftin gehabt. Remarques sur la 
version italique de l’Evangile de saint Matthieu, qu’on a decouvert dans des. forts 
anciens manuserits, Par. 1695 in 12. Die Uebereinſtimmung der italienischen Ueber- 
fegung des Matth. Evangeliums, die nach den beiden Handfcpriften der Congre— 
gation von St, Maurus abgedruckt worden, mit derjenigen, deren ſich die Väter 
der vier erftien Jahrhunderte der Kirche bedient haben, wird * aqhgewieſen. 


900 Martinvon Duma. 


Harmonie analyfique de plusieurs sens caches, et rapports inconnus de l’ancien 
et du nouveau Testament, avec une explication literale de quelques pseaumes et 
le plan d’une nouvelle &dition de la Bible latine. Paris 1708 in 12. Martianay 
theilt das Reſultat feiner Forſchungen über die Bibel mit; der Plan aber, eine 
Art von Polyglotte herauszugeben, Fam nicht mehr zur Ausführung. Vgl. Ne- 
natus Prosper Taſſin's, Gelehrtengefchichte der Congregation von St. Maurz 
aus dem Franzöf. in's Teutfche überfegt, Bd. I. ©. 596 — 620, Schröckh, 
chriſtl. KRirchengefchichte feit ver Reform, Thl. 7. Biographie universelle tom. 27. 
p. 287. sqq. Biblioth. eritique de Lecerf. [&rig.] 
Martin von Duma, der heilige, Erzbifchof von Braga, in Pannonien, 
dem PVaterlande Martins von Tours geboren, ein Apoftel der fpanifchen Kirche 
im fechsten Jahrhundert, hatte fich nach Paläſtina zur Befuchung der Hl, Orte 
begeben und war dafelbft ein Mönch geworden , als er bier, etwa auf Zureden 
einiger fpanifcher Pilger, ven Entfchluß faßte, nach Galläcia in Spanien zu reifen, 
um die arianifchen Sueven, welche unter dem Fürften Hermerich 411 bier ſich 
ein Reich gebildet hatten, zur Fatholifchen Kirche zu befehren, Bei ihrem Einfall in 
Spanien waren fie Heiden; doch war ihr König Rech iar (+ 456) Fatholifch, 
aber ihr König Nemismund, geft. nach 469, trat mit feinem Volle i. 3. 465 
zum Arianismus über, Im Arianismus verharrten nun die Sueven bis auf die 
Zeit ihres Königs Rararich CH 559), der um 550 mit feinem Bolfe zur Fatho- 
liſchen Kirche fich befehrte, wozu unfer Martin von Duma nicht wenig beitrug. 
Unter Kararichs Negierung nämlich herrſchte eine anſteckende Krankheit, von der 
felbft der Sohn des Königs an den Nand des Grabes gebracht wurde, Jener 
Martin, fragte nun Kararich, der in Gallien fo viele Wunder wirken foll, weſſen 
Glaubens war er? Er war katholiſch, Tautete die Antwort. Begebt euch ſchnell, 
erwiederte der König, mit Gefchenfen an die Grabftätte diefes Heiligen, und 
wird mein Sohn gefund, fo werde ich den Fatholifchen Glauben prüfen und an— 
nehmen, „Pensato ergo auro argentoque ad filii pondus“, ging die Legation ab, 
opferte und betete am Grabe Martins, allein der kranke Sohn genaf nicht. Fest 
errichtete der König dem Heiligen zu Ehren eine ſchöne Kirche und erklärte, Alles 
glauben zu wollen, was die Priefter predigen, wenn er gewürdiget würbe, Neli- 
quien des Heiligen zu erhalten. Eine neue Legation geht wieder ab, unter Pfal- 
mengefang werden die Reliquien erhoben und den Abgefandten übergeben. Merk— 
würdig fügte es nun die Fürfehung fo, daß gleichzeitig mit den Reliquien auch 
der Diener Gottes Martin von Duma im Hafen Galläcias anlangte. Mit 
größter Andacht wurden die Reliquien aufgenommen, der Sohn Kararihs ward 
gefund, Kararich und fein ganzes Haus wurden katholiſch, und auch das ganze 
Volk nahm den Fatholifhen Glauben an. Martin von Duma hatte bei diefer 
Bekehrung der Sueven einen großen Antheil, indem er die Sueven im Fatholifchen 
Glauben unterrichtete, zu dem fie durch das auf Fürbitte des Hl. Martin v. Tours 
gewirfte Wunder beftens disponirt waren (f. Greg. Tur. mirac. s. Mart. I. 11% 
Kararihs Nachfolger und Sohn Theodom ir (al. Ariamir, Mir) begünftigte die 
Fortfegung und Befeftigung des Bekehrungswerks, wie er auch, wahrfcheinlich 
noch zu Lebzeiten des Vaters, unferm Martin ven Ort Duma nahe bei Braga 
zur Errichtung eines Klofters fchenfte, das bald zu einem Bisthum erhoben wurde, 
dem als erfter Bifchof unfer Martin vorſtund. Im J. 563 warb auf einer nach 
Braga berufenen Rirchenverfammlung das Fatholifche Glaubensbefenntnif von der 
fämmtlihen Geiftlichfeit der Sueven abgelegt und eine neue Kirchenzucht einge» 
führt: auf diefem Coneil war auch Martin anwefend und hatte großen Theil am 
ben neuen kirchlichen Einrichtungen, Er flarb als Metropolit von Braga dem 
20, März 580 und hinterließ mehrere Schriften. ©. Greg. Tur. 1. eit.; Isidor. 
Hispal. 1. de vir. illust. c. 35; Bolland.'ad 20. Marti; $errera u, Lembke, Gef, 
von Spanien, und den Artifel: Capitula episcoporum, [Schrödf.] 


Martin L—IL, Päpfte 901 


Martin L—V.; Päpſte. Martin J., Nahfolger des Papſtes Theodor, 
zu Todi in Tuseien geboren, von feinen Vorgängern im Pontificat mit Legatio— 
nen nach Conftantinopel betraut, wurde im Juli 649 zum Papft gewählt, Gegen 
ben Monothelitismus hielt er im Detober 649 die berühmte Synode im Lateran, 
worin er mit den verfammelten 105 Bifchöfen die genannte Ketzerei fammt ihren 
Urbebern und die Eetheſis und den Typus verdammte, ohne jedoch weder den 
Kaiſer Heraclius (ſ. d. A.) noch den Kaifer Eonftans II. mit einer Cenfur zu be— 
laden, Die Acten fammt dem fhönen Synodalfchreiben ver Synode an alle Gläu— 
bigen machte der Papft im Abendlande und im Morgenlande befannt, und die 
Beſchlüſſe diefer Synode wurden allenthalben von den Katholiſchen wie Befchlüffe 
eines deumenifchen Coneils verehrt, wie auch die Päpfte felbft, und zwar noch nach 
der fechsten allgemeinen Rirchenverfammlung, in der professio fidei, welche fie bei 
ihrer Erhebung auf den apoftolifchen Stuhl an die Hauptfirchen zu fenden pfleg» 
ten, nebft den beumeniſchen Synoden auch der Synode des Papftes Martin ge— 
daten und deren Deerete zu beobachten verfprachen. An Kaiſer Eonftans IL 
(. d. 9.) ſchrieb Martin fammt der Synode eigens einen höflihen Brief, worin 
er ihn zwar zur Treue an den orthodoxen Glauben mahnt, aber e$ vermeidet, 
ihm die Urbeberfchaft des Typus zuzulegen, Allein Raifer Conftanz, umgarnt vom 
den monothelitiichen Prälaten, beleidigt von der Nepugnanz des Papftes gegen 
feinen Cäfareopapismus (f. d. A.) und nad alter Sitte feiner Borfahrer gewohnt, 
die orientalifchen Bifchöfe wie elende Selaven zu behandeln, antwortete dem 
Papfte dadurch, daß er ihn im Juni 653 durch den Erarchen Kalliopas gefangen 
nehmen ließ. Der franfe Papft wurde auf ein Schiff gefchleppt, das gefliffentlich 
recht langfam die Fahrt nah Griechenland machte, zu Naros überwinterte und 
erft nach einem vollen Jahre, am 17. September 654, zu Conſtantinopel landete. 
Biele fromme Seelen braten dem Papfte unterwegs Gefchenfe dar, die aber die 
Wächter deffelben an fih riffen. Indeß wurde in Rom, aus Furcht der Kaiſer 
möchte einen monothelitifch gefinnten Papft eindrängen, Eugenius I. zum Papfte 
erwählt, was die betrübte Lage des Papftes wohl auch nicht Iinderte, aber von 
ihm, als er es fpäter erfuhr, doch hingenommen wurde, Zu Conftantinopel gab 
man den Angefommenen einen Tag lang am Ufer dem Hohne des Pöbels Preis, 
ließ ihn 93 Tage hilflos im Kerfer ſchmachten und ftellte ihn dann 19, Dec, 654 
vor Gericht. Zwei Soldaten müffen den Franken Papft fügen, damit er ſtehend 
die Anflagen höre; diefe Tauteten, aus dem Munde erfaufter Zeugen, auf Hoch— 
verrath an dem Kaifer und Einverftändniß mit den Mohammedanern in Africa, 


denen er Waffen und Gelder zugeſchickt habe! Mit ruhiger, edler Würde wies 


Martin diefe Anklagen von fih ab, aber es half nichts; Martin wurde für abge- 
fegt und des Todes fchuldig erklärt, in Gegenwart des zufehenden Kaifers von 
Henfern feiner Pontificatsfleider beraubt, in Ketten und mit einem Eifenring um 
den Hals durch die Straßen der Stadt gefchleppt und wenn er nicht hingerichtet 
wurde, fo gefchah die nur, weil der durch die Mißhandlung des Papftes erregte 
allgemeine Bolfsunwille zu fürchten war. Indeß war es doch aufden Tod, wenn 
au einen etwas Iangfameren, des Papftes abgefehen; man ſchleppte ihn wieder 
in. den Kerfer und dann in die Verbannung nach Cherfon, wo er am 15, Mai 
655 anlangte und am 16. September deffelben Jahres in großem Efende ftarbz 
nicht einmal, wie er fi kurz vor feinem Tode in rührenden Briefen aus Cherfon 
beflagt, die Römer trügen für feinen Lebensunterhalt Sorge und er wilfe nicht, 
ob dieß aus Haß oder Furcht geſchehe. Wohl mag Lesteres der Fall gewefen 
fein oder die Faiferlichen Beauffihtiger des Papftes ließen ihm feine Unterflügung 
zufommen. Der Leib des hl. Martyrers wurde Anfangs bei Cherfon begraben, 
dann nah Konftantinopel und von da nach Nom gebracht. Die Griechen feiern 
das Gedachtniß diefes Heiligen vorzüglih am 16. September, die Lateiner begehen 
e8 am 12, November, Eine beträchtliche Anzahl von Briefen vol apoftolifhen 


902 Martin IL—V., Päpfte. 


Geiftes bildet den ſchönen Nachlaß von Schriften, die wir von dem hl. Papft 
befigen. ©. die Acta Conc. bei Manfi; lib. Pontifiealis; Pagi Brev. R. Pont.; 
Conatus chronicohist. ad Catalog. Pont. 9. Papebroch ; Damberger, ſynchron. Gefch, 
d. Mittelalters Bd. H., und ganz befonders Anastasii bibl. Collectanea in Sir- 
monde opp. Venedig 1727 t. II. — Martin IE. (Mearinus 1.) regierte die Kirche 
von 882 — 884, Seine Tüchtigfeit erhellt daraus, daß die Papfte Nicolaus L, 
Hadrian I. und Johann VII. ſich feiner als Legaten zu Eonftantinopel in der An- 
gelegenheit des Patriarchen Photius bevienten, Wenn es, was jedoch nicht außer 
Zweifel fteht, wahr ift, daß Marinus ſchon vor feiner Erhebung auf den päpftlichen 
Stuhl Biſchof gewefen fei, fo ift er der erfte, welcher fhon als Bifchof zur paͤpſtlichen 
Würde gelangte, Den Photius ereommunieirte er, dagegen löste er den von Papft 
Sohann VII. gebannten Bischof Formofus von Porto von der Ercommunieation, 
Dem Erzbifchof Fuleo von Rheims überfendete er das Pallium, dem König Alfred 
von England ein Stüdf vom HI, Kreuze, S. Papebroch. conat. chronol. hist. ad 
catal. P. u, Pagi Brev. R. P. — Martin II. (Marinus II.) von 943 — 946, 
Pagi führt mehrere Privilegien an, welche diefer Papft Klöftern verlieh, Gewiß 
gehörte Martin II. zu den unbefholtenen Päpften des 10ten Jahrh. — Mar- 
tin IV., gebürtig zu Brie in Touraine, von niedriger Herkunft, von Papft Ur— 
ban IV. zum Cardinal creirt, bewies fchon als Legat des Papftes Nicolaus II, 
daß der Hofgeift mehr in ihm wohne als der HL. Geift, Zum Papft gewählt im 
J. 1281 weniger von den Cardinälen als von Carl von Anjou (f. d. U), der 
einen ihm gewogenen Papft franzöfifcher Abfunft für feine Zwecke brauchte, war 
Martin ein gefügiges Werkzeug der Politit und Tyrannei Carld und des fran- 
zoͤſiſchen Hofes und konnte ſich, wenn er auch hin und wieder gewollt haben mag, 
‚aus diefen Schlingen nicht befreien, MitRecht bemerft Dölfinger über Martin IV. 
and damit flimmt auch der Sache nah Damberger (Geſchichte des Mittelalters 
Bd. VII. S, 317—431) überein: „Bon diefer unglüdlichen Wahl (Martins IV.) 
ift nachher alles Unheil, das über den päpftlichen Stuhl gefommen, der Verfall 
und die Erniedrigung deffelben ausgegangen, und franzöfifche Gunft, Politik 
und Tyrannei hat von da an der Würde und dem Anfehen dieſes Stuhls tiefere 
Wunden gefchlagen als je die trogige Ferndfchaft der Hohenſtaufen“ — „der 
erfte unter den Päpften gab er fich jener engherzigen und Furzfichtigen Politik Hin, 
welche nur für das Bedürfniß des Augenblicks forgt und ohne Wahl jedes Mittel zu 
deffen Befriedigung ergreift, unbefümmert um die entfernteren Folgen,” Ein Selave 
Earls, machte er ihn zum Senator Noms, überließ ihm und den Franzofen, fo 
weit es an ihm war, die Herrfchaft, entzündete dadurch von Neuem den Kampf 
zwifchen Guelfen und Gibellinen, Tieß fich in Folge der fogenannten fieilianifchen 
Befper noch mehr in die eines allgemeinen Vaters der Chriftenheit unwürdige 
Stellung eines Parteigängers der Franzofen hineinzwängen (ſiehe das herrliche 
Begenbild in Papft Pius VIL!), verfehwendete die Cenfuren und firchlichen Zehn- 
ten und Abgaben im franzöfifchen Intereffe, und untergrub auf diefe Weife die 
Achtung des apoftolifchen Stuhles im Abendlande; und fo wirkte er anbererfeits 
durch feine feindfelige Stellung zu Kaifer Michael Paläologus auch mehr gegen 
als für die Aufrechthaltung der zu Lyon 1276 bewerfftelligten Vereinigung zwi- 
fhen der griechifchen und Tateinifchen Kirche, Er flarb zu Perugia 1285. Bol. 
Rayn. Annal. 1281 —1285; Muratori Script. t. II. p. II; Pagi Brev. R. P. — 
Martin V. (Cardinal Otto Colonna, geb. zu Nom). Weber deffen Wahl und 
Wirffamfeit in der Synode zu Conftanz |. den Artikel: Conftanzer Coneil, Nah 
beendigter Synode ging Martin nach Jtalien und ftelfte den Kirchenftaat wieder 
ber, der während des Schisma’s größtentheils in fremde Hände gefommen war. 
Der zu Conftanz gegebenen Verheißung gemäß ſchrieb er 1423 die allgemeine 
Synode nach Pavia aus, die bald nah Siena verlegt und vom Papfte wieder 
aufgelöst wurde, um fpäter zu Baſel erdffnet zu werden, worüber der Art, Ba- 


Martin von Dunin — Martin son Tours, 903 


ſeler Eoneil nachzulefen ift. Martin farb 1431 in der Nacht vom 19, auf den 
20. Februar. Bol, Muratori, Script. II. p. I; eo, Gef, v. Italien Bd. IV; 
Pagi, Brev. R. P. [Schrödl. J 

Martin von Dunin, ſ. Dunin, 

Martin von Tours, der hochberühmte Heilige Bifchof, wurde zwi— 
ſchen 316— 317 zu Sabaria in Pannonien (f. d. Art. Oran, S. 661) geboren. Sein 
Bater war ein Soldat, der fich von der unterften Stufe des Kriegsdienftes zum Tribun 
emporgefhwungen hatte. Noch als zartes Kind kam Martin mit feinen Eltern nad 
Pavia in Ztalien und erhielt dafelbft feine Erziehung. Obgleich feine Eltern heidniſch 
waren, fo ließ er fich doch fhon in einem Alter von zehn Jahren unter die Katechu⸗ 
menen aufnehmen, Dieß war die Schule, in der er lernte, gelehrte Studien machte 
er nicht, dennoch zeigte er in der Folge eine Beredtfamfeit, welcher es, abgefehen 
von dem höhern Lichte und Geiſte, wovon fie durchdrungen war, an Schönheit, 
Reinheit und Erudition nicht gebrach. Es entfland in ihm die lebhafte Begierbe, 
fih in die Einfamkeit zurüdzuziehen, aber er mußte diefes Vorhaben aufgeben 
und, erft 15 Jahre alt, in die römifche Neiterei eintreten. Römiſche Soldaten 
hatte e8 genug gegeben, welde für Chriſtus während der Berfolgungen zu fterben 
gewußt; diefen nacheifernd lebte er auch ald Soldat für Chriftus und trug unter 
dem Panzer ein mitleidsoolles Herz für die Armen, Zeugniß davon gibt unter 
Anderm das weltberühmte Factum, wie er einft, noch im Stande der Katechu— 
menen, einem von Kälte zitternden halbnackten Bettler, der ihn an dem Thore 
der Stadt Amiens um Almofen angerufen hatte, die Hälfte feines Mantels fchenfte, 
worauf ihm in der folgenden Nacht der Heiland erfchien, angethan mit der Hälfte 
des Mantels, den er dem Bettler gegeben hatte, und zu der ihn umgebenden 
Engelſchaar fprechend: „Martin, noch Katechumen, Hat mich mit dieſem Gewande 
bekleidet!“ An der Stelle, wo Martin diefes Liebeswerf vollbrachte, wurde nach— 
her eine Capelle gebaut, Im 18, Jahr feines Alters empfing er die Taufe, Nach 
der Taufe blieb er noch zwei Jahre im Kriegsdienſt, auf feinen Hanptmann war- 
tend, der nach diefer Frift ſich mit ihm zurüdzuziehen verfprochen hatte, und 
erhielt fodann den verlangten Abſchied. — Nachdem Martin die Waffen abgelegt, 
zog er fih, wie Sulpitius Severus erzählt, nach Poitiers zu dem hl. Hilarius 
zurück. Verhält fih nun dieß wirklich fo, fo gefchah es zur Zeit, da Hilarius 
noch ein Laie war, was aber nicht zum Contert paßt, indem Sulpitius weiter 
erzählt, Hilarius habe den Martin für feine Kirche behalten und zum Diacon 
weihen wollen, Martin aber dazu nicht bewogen werden können und fich nur zum 
Eroreiften weihen laſſen. Wahrfcheinlicher möchte wohl die Annahme fein, Sul- 
pitius habe mehrere Jahre, die zwifchen dem Abfchied Martins vom Militär- 
dienfte bis zu deffen Reife nach Poitiers Tagen, mit Stillſchweigen übergangen, 
Sei dem wie ihm wolle, Martin unternahm kurz nach feiner Ordination zum 
Exoreiſten eine Reife nah Pannonien, wohin feine Eltern zurücfgefehrt waren, 
um diefe, die noch dem Heidenthum anhingen, zur chriſtlichen Religion zu be— 
fehren. Als er durch die Alpen zug, machte er auf einen Räuber, der fchon im 
Begriff fand, ihn zu tödten, durch feine ruhige Zuverficht auf Gott und dur 
die Bemerkung, nicht für ihn, fondern für fie (die Räuber) fei Alles zu befürchten, 
weil fie fich der göttlichen Barmherzigkeit unwürdig machten, einen foldhen Ein- 
druck, daß er ſich befehrte und in einem Kloſter ein bußfertiges Leben führte, 
In Pannonien hatte Martin zwar nicht die Freude, feinen Vater befehren zu fün- 
nen, aber defto beffer gelang es ihm mit feiner Mutter und vielen Andern, Hier, 
wo der Arianismus wie in feinem Neiche thronte, erwarb er fich auch zuerft den 
Titel eines Bekenners, indem er für das Bekenntniß der Gottheit Jeſu Chrifti 
mit Ruthen gefhlagen und vertrieben wurde, Er wollte nun, feinem Verfprechen 
gemäß, nach Poitiers zu Hilarius zurückkehren, allein auf die Nachricht von deffen 
Verbannung ging er nah Mailand und von da durch den arianifchen Biſchof 





904 Martin von Tours, 


Aurentius (ſ. d. Art. Mailand, Erzbistum) vertrieben, zog er fih auf die 
verlaffene Heine Infel Gallinaria bei Genua zurüdf und führte hier einige Zeit 
mit einem Priefter ein ftrenges Einfievlerleben. Als endlich Hilarius im J. 360 
die Erlaubuiß erhielt, in feine Didcefe zurüczufehren, reiste ihm Martin nach 
Rom entgegen, und als er ihn hier nicht mehr traf, folgte er ihm nach Poitierg, 
Sowie die Einfamfeit von Jugend an Martins Wonne bildete, fo errichtete er 
nun, von Hilarius mit einem Fleinen Stück Land beſchenkt, zwei Stunden von 
Poitierd das Klofter Liguge (Locociagense), das erfte Klofter in Gallien und 
eines der älteften im ganzen Abendlande. Hier war e8 auch, wo er einen Kate— 
chumenen vom Tode erwecte, das erfte feiner vielen Wunder, die feinen Ruhm 
im ganzen Oceidente und Driente verbreiteten und über die ung fein intimfter 
Freund und treuer Biograph Sulpitius Severus, der von einem Theile derfelben 
felbft Augenzeuge war, unter der wiederholten Verſicherung, nur Wahres zu er- 
zählen, berichtet, dabei unter Anderm bemerfend, Martin habe ihm öfter gejagt, 
er babe als Bifchof Feine fo mächtige Gnade zu Werfen diefer Art in fich gefühlt, 
wie er fie vor dem Episcopat gehabt habe. — Zwifchen 371— 372 ftarb Lido— 
riug, der zweite Bifchof von Tours, der von 333 bis 371 — 72 Bifhof diefer 
Stadt gewefen war und den Gatianus, erften Bifchof von Tours, von Nom ber 
gefommen, zum Vorgänger gehabt hatte, Zum neuen Bifchof wünſchten fi die 
Tourpnenfer Niemand Andern ald Martin, aber wie ihn aus feiner Zelle loden, 
die er fo ungerne verließ? Ein Bürger von Tours bat ihn zu feiner mit dem 
Tode ringenden Frau, doch kaum hatte Martin ven Fuß über die Schwelle des 
Kloſters gefegt, als die im Hinterhalt verborgenen Schaaren von Bürgern aus 
Tours ſich feiner Perfon bemächtigten und ihn nach Tours braten, Hier war 
ganz Tours, die Umgegend und die benachbarten Städte verfammelt, Alles wollte 
den Martin zum Bijchof haben, nur ein Eleines Häuflein ausgenommen, worunter 
fih einige Bifchöfe befanden, denen er wegen feines Mundes, feiner ungefämmten 
Haare und feiner wenig eleganten Kleidung nicht ebenbürtig ſchien! Das Volk 
verlachte diefe Gegner und wählte Martin. Als Bifhof behielt Martin feine 
firenge, arme und demüthige Lebensweife bei und wohnte eine Zeitlang in einer 
Zelle nahe bei der Kirche, allein da er hier zu fehr von dem Andrange des Volks 
geftört wurde, baute er nicht weit von der Stadt das Klofter Marmoutier 
zu feinem gewöhnlichen Wohnfig. Der Ort, wo Martin diefes Kloſter errichtete, 
war eine zwifchen Felfen und der Loire gelegene Dede, wohin man nur auf einem 
fehr ſchmalen Wege gelangen Fonnte, Hier bewohnte er, und ebenfo mehrere 
Brüder, eine Zelle aus Holz, die meiften andern Brüder bauten fih Löcher in 
die Felfen und wohnten darin. Die Gefammtzahl diefer Mönche flieg bald auf 
80. Keiner durfte etwas zu eigen befigen, nicht einmal die Communität, fondern 
der nöthige Unterhalt wurde aus dem allgemeinen Kirchenfond beſtritten. Die 
jüngern Mönche fchrieben Bücher ab, die ältern oblagen nur dem Gebete und 
geiftlichen Verrichtungen. Selten verließen die Mönche ihre Zellen, außer zum 
gemeinfchaftlichen Gebet im Dratorium und zum gemeinfchaftlihen Abendtifch, 
der einzigen Erquickung des Tages, wobei nie Wein getrunken wurde, oder wann 
Martin auf das Land ging, denn da nah er immer viele Mönche mit fi, ging 
jedoch allein, getrennt von ihnen, Ihre Kleidung beftand in einer Tunica aus 
Rameelhaaren, gleichwohl lebten unter ihnen mehrere von edler Geburt und zarter 
Erziehung. In der Folge beftiegen die meiften diefer Mönche biſchöfliche Stüple, 
denn alfenthalben wollte man in Martins Schule und heiliger Atmofphäre gebil« 
dete Männer zu Hirten der Kirchen haben, Ueber die weitere Geſchichte dieſes 
Kloſters f. Mabill. Annal. — Bei diefer Lebensweife des Heiligen mit feinen Mön« 
chen fam die Ausübung der bifchöflihen Obliegenheiten nicht zu furz, Martin war 
für Gallien, wie im fechsten Jahrh. fieben gallifhe Bifhöfe in ihrem Briefe an 
die hl. Nadegundis (ſ. d, A.) erflären, ein von ber göttlihen Fürfehung gefen- 


Martin von Tours, 905 


deter und mit der apoftolifhen Gnade ausgerüfteter Apoftel (Greg. Tur. hist. IX. 

39). In Gallien wie in mehreren andern Ländern des römifchen Reiches gab 

es damals noch viele Heiden auf dem Lande, noch eriftirten hier Tempel, Sta- 

tuen und Priefler der alten Gottheiten, noch herrſchte bei den gallifchen Bauern 

bie Gewohnheit „simulacra daemonum candido tecta velamine misera per agros 
suos circumferre dementia* (Sulp. Sev. vit. Mart. c. 9), Folgen der Regierung 

des Raifers Julian und der zwei chriſtlichen Kaiſer Jovian CH 364) und Balen- 

| tinian I. CH 375), welche beide den Heiden Religionsfreiheit geftatteten. Martin, 

der große Berehrer der Demuth und Armuth, der glühende Liebhaber Chriſti war 
es nun, welcher durch fein Beifpiel, durch feine Predigt und die ihm gewordene 

| Wundergabe das gallifche Landvolk maffenwerfe zum Chriftentbum bekehrte. Dft 

gerieth er bei diefer apoftolifchen Arbeit, befonders wenn er Hand an die Gögen- 

| tempel legte und heilige Bäume umhaute, in Lebensgefahr. Sp flürzten, als er 

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im Lande der Aeduer einen Götzentempel zerftörte, die Bauern über ihn ber, einer 
ſchwang ſchon das Beil ihn zu tödten, Martin aber bot ihm feinen Hals dar, der 
Wüthende wird von Schreden ergriffen, finkt in die Knie und bittet um Ver- 
zeifung. Ein andersmal will ihn ein Gögendiener erdolchen, aber der Dolch 
entfiel feinen Händen und war nicht mehr aufzufinden, Wie wunderbar der Schuß 
Gottes über Martin waltete, leuchtet befonders aus Folgendem hervor, Martin 
hatte eben einen fehr alten Gögentempel zerflört und wollte auch eine vor dem— 
felben fiehende Fichte umbauen. Die Heiden widerfegten ſich, endlich fagten fie: 
„Haft du fo großes Vertrauen auf deinen Gott, fo wollen wir feldfi den Baum 
umbauen, unter der Bedingung, daß du, wenn er fällt, ihm deine Schultern 
unterlegefl.” Martin nahm die Bedingung an und ließ ſich gebunden an die 
Stelle bringen, wohin der Baum bei dem Falle neigte. Eine große Menfchen- 
menge ſah dem Schaufpiele zu, blaß vor Schreden ftanden Martins Mönche um— 
ber, jhon fiel der Baum mit großem Gekrach auf Martin zu, als er auf das 
Kreuzzeichen, welches der Heilige machte, wie von einem heftigen Sturme ergriffen 
auf die enfgegengefegte Seite fih wendete und beinahe die heidnifhen Zufchauer 
erſchlagen hätte, Diefe, betroffen durch diefes Wunder, begehrten alle durch Hand— 
auflegung unter die Katechumenen aufgenommen zu werden. Während aber Martin 
die Heiden befehrte und auf den Ruinen der Gößentempel Kriftliche Kirchen und 
Klöfter errichtete, trat er bei den Chriften dem Aberglauben entgegen, In der 
Nähe von Tours fand eine Capelle über der Grabftätte eines angeblichen Mar- 
tyrers, von dem man nichts Näheres wußte, Martin wollte weder die Andacht 
des Dolls, das an diefe Stätte zum Gebete fam, flören noch diefelbe authori= 
firen, bis er über die Sache in’s Reine gefommen wäre; als ihm aber endlich 
Gott zu erkennen gab, daß der vermeintlihe Martyrer ein hingerichteter Räuber 
fei, ließ er den Altar niederreigen und machte fo der Superftition ein Ende, — 
Nicht weniger merfwürdig ift, was Sulpitius Severus von den wiederholten 
Reifen Martins nach Trier an das Faiferliche Hoflager und von deffen Benehmen 
bei dem Verfahren gegen die Priscillianiften erzählt. Kaifer Valentinian I., be— 
fürchtend, der Heilige möchte etwas begehren, was er nicht bewilligen wollte, und 
- von feiner arianifchen Gemahlin Juſtina (f. d. A.) verleitet, ließ ihn Anfangs 
gar niht vor. Martin nahm zu feinen gewöhnlichen Waffen des Faſtens und 
Betens feine Zuflucht, und diefe eröffneten ihm denn auch die Pforte des Palaftes 
und das Herz des Kaiſers, der alle Bitten Martins gewährte, ihn öfters zu ſich 
lud und reichlih mit Gefchenfen beehren wollte, die aber der Heilige aus Liebe 
zur Armuth nicht annahm. Dem Kaifer Marimus verweigerte Martin längere 
Zeit die firhlihe Gemeinfhaft und nahm auch deffen Einladung zur Tafel nicht 
eher an, als bis er feine Unfchuld an dem Tode des Raifers Gratian betheuerte 
und verfiherte, nur gezwungen von den Soldaten den Purpur angenommen zu 
haben, Als nun Martin die Einladung zur Faiferlichen Tafel arceptirte, lud Ma— 


906 Martin von Tours, 


ximus, wie zu einer außerorbentlichen Feftlichkeit, die Vornehmften feines Hofes 
ein, Martin faß bei ver Tafel an der Seite des Kaiſers, und diefer reichte, ohne 
vorher getrunfen zu haben, feinen Weinbecher dem Heiligen dar, der ihn aber 
nicht, wie der Raifer erwartete, ihm zunächft zurüdgab, fondern vorher feinem 
priefterlihen Gefährten aus Hochachtung für das Prieſterthum darbot. Wenn 
übrigens Martin bei Hof erfchien, fo geſchah es immer, um für Unglückliche und 
Hilfsbedürftige Fürbitte einzulegen, namentlih um die Gnade des Kaifers für 
Biele, welche in die letzten politifchen Kämpfe verwicdelt waren, anzuflehen. 
Defter ließ ihn Maximus felbft rufen, fih mit ihm zu befprechen, wobei Martin 
nicht unterließ, das, was ihm der hl. Geift eingab, frei herauszureden; fo fagte 
er ibm prophetifch Das Loos voraus, das ihn treffen werde, wenn er den jungen 
Balentinian befriegen würde, Auch mit der Kaiferin, einer hohen Verehrerin 
Martins, mußte diefer verfehren, und fie ruhte nicht, bis er ihr die große Freude 
gemacht, ihn eigen® bei ihr bemwirthen und dabei wie eine andere Martha be- 
dienen zu können, Unter denen, für die fih Martin bei dem Kaifer verwendete, 
befanden fih auch die Priscilianiften (ſ. d. A.), nicht als Hätte er die Härefie 
nicht verdammt, fondern weil er e8 für eine beifpiellofe, verbrecherifche Neuerung 
hielt, eine Firchliche Angelegenheit dem weltlichen Gerichte zu unterwerfen und 
Häretifer mit Tortur und Tod zu beftrafen, Martin bat ven Marimus, das Leben 
der Priscilkianiften zu fchonen, genug fer es, daß fie durch bifchöflichen Urtheils- 
fpru als Häretifer erklärt und von ihren Kirchen vertrieben worben feien, Wäh- 
rend Martins Anwefenheit zu Trier (384— 385) zögerte man wirklich mit der 
gerichtlichen Unterfuchung , und der Kaifer verfprach ihm fogar vor feiner Abreife, 
daß Fein Blut vergoffen werden follte, Aber nad) Martins Abreife ließ ſich der 
Kaifer durch den fpanifchen Biſchof Zthacius und deffen Genoffen, welche die 
Häupter des Priseillianismus von dem weltlichen Gerichte inquirirt und geftraft 
wiffen wollten, wieder umflimmen und den Priscillian mit mehreren Anhängern 
binrichten, Bald darauf, um 386, unternahm Martin wieder eine Neife nad 
Trier zum Raifer, um die Begnadigung der zwei Faiferlihen Großbeamten Narfes 
und Leucadius durchzufegen, welche als Anhänger Gratians hingerichtet werden 
follten, Zu Trier war eben eine Verfammluug von Bifchhfen, um den neuge- 
wählten Bifchof von Trier zu ordiniren. Diefe Biſchöfe hatten dem Ithacius 
nicht, wie Martin, Ambrofius und der Papft Siricius, die kirchliche Gemein- 
fhaft entzogen, fondern ihn fogar für unfohuldig erklärt, Als fie daher von Mar- 
tins naher Ankunft hörten, fürchteten fie fich nicht wenig und brachten e8 bei dem 
Kaifer dahin, daß er dem Martin, ehe er in die Stadt fam, fagen ließ, er dürfe 
nicht kommen, wenn er nicht mit den Bifchöfen Frieden halten wolle, Martin 
‚antwortete, er fomme mit dem Frieden Chrifti, In Trier angefommen, trug er 
dem Kaifer feine Bitte für die zwei Beamten vor, und da er gehört, es folle eine 
Militäreommiffion mit unbefchränfter Vollmacht nah Spanien geſchickt werben, 
um die Unterfuchungen gegen die Priseillianiſten fortzufegen und gegen die Schul- 
digen mit Eonfiscation und Todesftrafe einzufchreiten, fo fügte er auch die Bitte 
bei, diefen Beschluß nicht zur Ausführung kommen zu laſſen. Marimus hörte 
den Heiligen fehr huldreich an, fuchte ihn aber von der Nechtmäßigkeit des Ver— 
fahrens gegen die Prisciflianiften zu überzeugen und mit den Bifchöfen auszu— 
föhnen ; trete er mit dieſen in KRirchengemeinfchaft, fo würden feine Bitten Er— 
börung finden. Als fih Martin auf diefe Bedingung nicht einließ, entließ ihn der 
Kaifer mit Unwillen. Auf einmal kommt dem Heiligen zu Ohren, die zwei Be— 
amten folfen wirffich hingerichtet werden und die Militäreommiffion fei ſchon auf 
dem Wege nach Spanien, Sogleich, obwohl e8 fhon Nacht war, eilte er in den 
faiferlichen Palaft und verfprach dem Kaifer die Kirhengemeinfchaft mit den Bi— 
fhöfen, und fo rettete er viele Unglückliche, ohne Zweifel felbft manche Rath o- 
liken, wenigftens fürchteten fich ſelbſt reiche Katholiken in Spanien vor den an« 


4 
| Martin von Tours, | 907 


gedrohten Confiscationen wohl nicht ganz ohne Grund, weil Eiferer, wie ein 
Sthacius, ſchon ein anhaltendes Studium und Faften für verdächtig hielten und 
Kaifer Marimus über Habfucht nicht erhaben war. Am andern Tag wohnte 
Martin mit ven Bifchöfen der Ordination des Felir bei, ließ fich aber nicht be— 
wegen, dem Drdinationsacte feine Unterfhrift zu geben. Seitdem vermied er 
firengftens jede Communion mit den Ithacianern und nahm an Feiner biſchöflichen 
Berfammlung Theil. Und oft erzählte er feinen Schülern, feit diefer Zeit habe 
fih die ihm gegen die Dämonen verliehene Gewalt vermindert, — Die übrigen 
Sabre, die Martin noch lebte, floßen in fegensooller Wirkfamfeit für feine Gläu— 
bigen und Mönche dahin und wurden dur eine Menge Wunder verherrlichet. 
Das größte Wunder der Gnade blieb aber immer Martin feldft, dem Jefus Alles 
in Allem war, der Alles in Gott ſchaute und auf ihn zurüdführte, an dem man 
nie eine Leidenſchaft bemerkte, deſſen Sanftmuth und Mitleid alle Herzen eroberten, 
veffen Demuth und Bußgeiſt fein Herz zum reinften Kryſtall läuterten, deſſen 
Thaten Thaten Gottes und deffen Worte himmlifche Einfalt und Weisheit waren, 
Wahrlich,, jener Präfeet von Rom, Arbor mit Namen, deffen Tochter Martin 
geheilt Hatte und die darauf eine gottgeweihte Jungfrau ward, hatte fein falfches 
Geficht, als er einft die Hand des Heiligen bei der Celebration der HI. Meffe 
von Licht ſtrahlend und wie mit Perlen befäet ſah! Enplich fam die Zeit, da 
ihm Gott die himmlische Krone reichen wollte, Er erfranfte auf einer Reife, die 
er nad Cande, einer Pfarrei an der äußerſten Grenze feiner Didcefe, gemacht 
hatte, und verlor plöglih alle feine Kräfte, Weinend fprachen feine ihn umge- 
benden Schüler: „Vater, warum verläßt du uns? wen läßt du uns Troftlofe 
zurück? Reißende Wölfe werden deine Heerde überfallen!” Martin entgegnete 
betend: „Herr, wenn ich noch deinem Bolfe nothwendig bin, ich weigere mich 
nicht der Arbeit, dein Wille geſchehe!“ Ganz in Gott verfammelt ftarb er am 
11. November 397 oder 400 auf einem mit Ajche beftreuten Bußſack. Die Bür- 
ger von Poitiers und Tours fritten fih um feinen hl. Leichnam, „unfer ift er,” 
fagten jene, „denn bei und war er Abt, ihr Habt ihn als Bifchof gehabt” ; „unfer 
gehört er,” entgegneten die Touroner, „denn bei ung ift er zum Bifhof geweiht 
worden“ (Greg. Tur. hist. Fr. I. 43). Tours fiegte. Als der Leihenzug des Hei- 
Iigen fih Tours nahte, firömte ihm die ganze Stadt und Umgegend entgegen, 
2000 Mönche fanden fih ein, ebenfo eine große Anzahl gottgeweihter Jung- 
frauen, Martins Nachfolger Briccius (f. Greg. Tur. hist. Fr. I. 1) Tieß über 
Martins Grab eine Cellula errichten, Bifhof Perpetuus von Tours (7 490) 
eine fchöne Bafılica Cibid. II. 14; X. 31)5 der berühmte Eligius (f. d. A.) ver- 
fertigte für Martins Gebeine einen mit diefen Goldplatten überzogenen und mit 
den koſtbarſten Edelfteinen überfäeten Neliquienfaften; eine Menge anderer im 
Berlaufe der Zeit fi) mehrender foftbarer Donativen verherrlichte die Grabftätte 
und noch König Ludwig XI. ließ das Heiligtum mit einem 6776 Mark wiegen- 
den Silbergitter umgeben. Martins Verehrung verbreitete fi bald über das 
ganze Abendland nicht nur, fondern auch über das Morgenland. Die Wallfahrten 
an fein Grab, an dem eine Menge unläugbarer Heilungen und Wunder gefihahen, 
erlangten eine Celebrität wie die Pilgerfahrten nach Jerufalem und Rom. Der Mar- 
tinstag wurde ein Feft, das im ganzen Abendland und befonders in Franfreich (ſ. d. 
Art. Bekenner) hochgefeiert wurde. Kirchen zu Ehren des hl. Martin errichtete man 
feit dem fünften Jahrh. alfenthalben und alle Martyrofogien verkünden feinen Ruhm, 
Frankreichs Regenten betrachteten St. Martin ftets als ihren und des Reiches 
Schugpatron, bedienten fih des großen Schleiers, womit feine Tumba bedeckt 
war, als Heerbauner und hielten es für eine Ehre, ald Domberren von St, Martin 
aufgenommen zu werben, Anders fahen die Sache die Hugenotten (f. d. U.) an, 
fie beraubten die Martinsfirche al’ ihrer Schäge und verbrannten Martins Ge- 
beine zu Aſche. ©, Sulp. Sev. opp. edit. Hieron. de Prato, Veronae 1754; Pau- 


908 Martinus Bracarensis — Martyrer, die vierzig. 


lini (Nolani?) 1. VI. de vita s. Martini; Greg. Tur. 1. IV. Mir. s. Martini; Venanf. 
Fortunati 1. IV. vit. s. Martini; Tillemont, Mem. t. 10. p.309—357 et p. 71 — 
787. — [Schrödl.] 
Martinus Bracarensis, ſ. Gapitula episcoporum. 

Martyr Petrus, f. Petrus Martyr, 

Martyrer (uagrvg, Zeuge, Blutzeuge) hießen in der Kirchenſprache 
ſchon in der älteften Zeit diejenigen Chriften, die in der Verfolgung für dem 
Glauben den Tod erlitten oder auch nur dur Teiblihe Mißhandlung durch Kerker 
oder Verbannung ihren Glauben bezeugt haben, ©. den Art, Befenner, Wenn 
wir die Oraufamkeit der heidnifchen Verfolgungen und die Abficht in's Auge faffen, 
die ihnen zu Grunde lag, das Chriftenthum felbft von Grund aus zu. vertilgenz 
wenn wir namentlich der Dualen und Leiden gedenken, zw denen die Verfolgten 
verurtheilt waren, und bie faft Alfes übertreffen, was die Gefchichte der Tyrannei 
aufzuweifen hat; und wenn wir zugleich das gläubige und fittlihe Bewußtfein, 
das höhere Vertrauen und die Freudigfeit, womit jene heldenmuͤthigen Dulvder 
dem heiligen Kampfe für den Glauben fi unterzogen, und die nicht ftoifcher Ver—⸗ 
nunftftolz und ſtoiſche Nefignation war, in Erwägung ziehen, fo kann man nicht 
anftehen, zu behaupten, nicht bloß daß diefe Blutzeugen als die größten Herven 
bezeichnet werden müſſen, die in der Gefchichte auftreten, fondern auch, daß mit 
auf ihrem Heldenmuthe die fchnelle Verbreitung und Befeftigung des Chriſtenthums 
beruhete, daher auch die ausgezeichnete Verehrung, die ihnen gleich Anfangs zu Theil 
wurde, War es geftattet, fie im Kerker zu befuchen, fo mußten Diacone fie bedienen; 
man füßte ihre Ketten und Bande und ihre Wunden, ftärkte fih an ihrem Worte und 
Beifpiel, und den Büßern wurde ein Theil der Kirchenbuße auf ihre Fürbitte er- 
laffen (f. den Art, Abgefallene). Diefe Verehrung wurde in noch höherem 
Grade nad ihrem Tode fortgefegt, Man beging mit hoher Feftlichfeit die jähr- 
liche Wiederkehr ihres Todestages, feierte dabei das heilige Opfer, indem man 
im Gebete ihrer gedachte, ihnen zu Ehren Hymnen fang, ihre Namen verkündete, 
und die Gefchichte ihrer Leiden und ihres Todes vorlag (f. den Art, Acta mar- 
tyrum). Bald wurden über ihren Gräbern und auf ihren Namen Capellen und 
Kirchen erbaut (martyria); man ehrte fie in ihren flerblichen Ueberreften (Re- 
liquien), und die berühmteften Eirchlichen Redner erfchöpften fih in ihrem Lobe. 
Das Verzeichniß der ausgezeichnetfien Martyrer findet fih in den Firchlichen 
Martyrologien. [Rüft.] 

Martyrer, die vierzig. Ueber das Martyrium diefer hl. Blutzeugen 
befigen wir Homilien mehrerer HI. Väter, namentlich eine des bl. Bafilius, aus 
welcher Gregorius von Nyfa, Ephräm und Gaudentins von Brixen gefchöpft 
haben. Jüngern Urfprungs, aber doch immer alt und ehrwürbig genug, um als 
Beleuchtung und Ergänzung der Homilie des Hl. Bafılins über die vierzig Mar- 
tyrer zu dienen, find die Acten diefer Martyrer bei den Bollandiften zum 10, März, 
wovon bie einen von einem anonymen Verfaffer herrühren, die andern aber eine 
Ueberfegung aus dem Griechiſchen in's Lateinifche find, geliefert von Johannes 
Diaconus, dem Biographen der Erzbifchöfe von Neapel bis auf feine Zeit Cer 
endet mit dem Erzbifchofe Athanafins, + 872), Die Feier diefer HL, Martyrer 
verbreitete fih nach ihrem Tode bald über den ganzen Orient und Fam durch den 
hl. Biſchof Gaudentius von Brescia (ſ. d. A) nach dem Dccident, indem dieſer 
von feiner Neife nach Jeruſalem mit Reliquien diefer HI. Martyrer zurückkehrte, 
die er zu Cäſarea in Cappadocien von den gottgeweihten Nichten des hl. Baſilius 
zum Gefchenf erhalten hatte, und zu deren Ehren er bei feiner Zurückkunft nad 
Haufe eine Kirche erbauen ließ, bei deren Einweihung er vor einer VBerfammlung 
der Comprovincialbifchöfe die noch vorhandene Homilie über die vierzig Martyrer 
hielt. Seitvem wurden auf den Namen ber vierzig Martyrer allenthalben im 
Abendland Kirchen erbaut, wie man damit ſchon vorher im Morgenlande ange- 





Martyrien — Martyrologia. 909 


fangen hatte, wo noch jest am 9, März das Gedächtniß diefer hl. Martyrer mit 
großer Feierlichfeit begangen wird, während das Abendland das Andenfen der- 
felben am 10. März begeht. Wie hoch man die Reliquien der hl. Martyrer über- 
haupt und namentlich die der vierzig Martyrer hielt, beweist die Stelle bei Gre— 
gor von Nyffa: „Ihre Leiber (i. e. der vierzig Martyrer) find zwar verbrannt, 
aber ihre Aſche und Reliquien find auf dem Erdkreiſe dergeftalt verbreitet, daß 
beinahe jede Provinz davon etwas befommen hat“, und die große Feierlichkeit, 
welche bei Gelegenheit der Auffindung von Neliquien der vierzig Martyrer zu 
Eonftantinspel unter der Regierung des Kaiſers Theodoſius jun. flattfand (Sozom. 
hist. ecel. 1. 9. c. 2.). Weber die Paffionsgefchichte derfelben erzählt ver hl. Ba- 
filius in der Eingangs erwähnten Homilie der Hauptfache nach Folgendes. In 
der Chriftenverfolgung des Raifers Lieinius (in welcher auch der HI. Biſchof 
Blafins von Sebafte den Martyrtod farb, f. den Art. Blafius und die Bol- 
and, zum 3, Febr), ungefähr um das Jahr 320, befannten ſich zu Sebafte in 
Armenien vierzig junge tapfere Soldaten als Chriften, und entgegneten auf alle 
Schmeicheleien und Drohungen, die man zu ihrer Apoftafie anwendete, fie wollten 
nichts als ein Geld, das immer währe, eine Ehre, die ewig blühe, Wonnen, welde 
alle irdifche Herrlichkeit unendlich übertreffen, und fürchteten nichts als die Peinen 
der Hölle. Sie wurden verurtheilt, nat unter freiem Himmel bei ftrengfter 
Kälte auf einem zugefrorenen Teiche ausgefegt, den Tod des Erfriereng zu leiden 
Cwahrfcheinlicher ift, daß fie im Teiche immergirt und dem Oberleibe nah im 
Freien gelaffen wurden, Boll. comm. praev. $ IV.). Freudig warfen fie ihre Ge— 
wänder weg, die fie wegen der Schlange angezogen, „ward ja auch unfer Herr 
entblöst”, eiferten fich gegenfeitig zur Standhaftigfeit an und beteten: „Vierzig 
haben wir ven Kampfplatz betreten, laß o Herr ung vierzig auch ge— 
krönt werden, denn diefe Zahl ift Heilig durch dein Faften, durch das 
Faften des Elias und des Moſes“. Ihre Bitte fand Erhörung, denn für 
den Einen, der abfiel und dem warmen Bade zulief, welches für die etwaigen 
Abtrünnigen hergerichtet war, ſtellte fih der Soldat, welchem über die HI. Be— 
fenner die Wache übertragen war. Zuletzt wurden fie theils noch athmend, theils 
ſchon todt auf einen Karren geworfen und zu einem Scheiterhaufen geführt, wo 
man fie verbrannte und die Aſche und Ueberrefte in den Fluß warf, Die Mutter 
eines diefer Martyrer legte ihren noch athmenden Sohn felbft auf den Karren, 
ihn zur Ausdauer mahnend! [Schrodl.] 

Martyrien, ſ. Bethaus. 

Martyrologia find die für den kirchlichen Gebrauch abgefaßten Ver— 
zeichniffe der Hi. Martyrer, nach der Folge der Monatstage eingerichtet. Anfangs 
waren ed bloße Calendaria martyrum, indem bei jedem Tage nur der Name des 
Martyrers angegeben wurde, deffen Gedächtnif begangen werbe, Es war aber 
natürlich, daß fih dem Namen bald biographifche Notizen über den Martyrer 
anfchloffen, und auch andere Heilige, die nicht gemartert wurden, zuerft die Con- 
fessores, dann die Bifchöfe ıc. in dem Martyrologium Aufnahme fanden. Die 
gleichen Bücher heißen bei den Griechen Menologien von up = Monat, 
gleihfam Monatregifter. Verfchieden davon find die griechifchen Cauch ruffifchen) 
Menden, die zwar das nämliche Etymon haben und auch Kirchenbücher find. Es 
ift dieß nämlich ein großes, aus zwölf Foliobänden (den zwölf Monaten analog) 
beftehendes Werf, welches für jeden Tag die officia der Heiligen mit den dazu 
gehörigen Legenden und Hymnen enthält, — Das berühmtefte griechifhe Meno— 
logium ift das auf Befehl des Kaiſers Bafılius Macedo im neunten Jahr- 
hundert veranftaltete und im J. 1727 von Cardinal Hannibal Urbini heraus- 
gegebene, In der Tateinifchen Kirche foll der HI. Hieronymus das ältefte Mar- 
tyrologium verfaßt haben, wenigftens ſchreibt ihm Caſſiodor ein folches zu; aber 
dasjenige, welches jegt noch den Namen des HI. Hieronymus trägt und mehrfach, 


910 Maruthas. 


auch im eilften Bande der Vallarſiſchen Ausgabe des Hieronymus abgedruckt wor⸗ 
den ift, ift nicht von fpäteren Zufägen ‚rein. Bon einem zu Rom im Rirchen- 
gebrauch vorhandenen Martyrologium fpricht Gregor d, Gre, es bleibt aber zwei⸗ 
felhaft, ob dieß römische identifch mit Dem des HI, Hieronymus fei, Im Mittel- 
alter haben namentlih Beda der Ehrwürdige in England, Floörus, Ado 
und Ufuard in Franfreih, Rabanus und Notfer von St. Gallen für Teutfch- 
land Martyrologien verfaßt, aber das unter dem Namen Beda’sıauf ung ge— 
fommene ift nicht ächt. Noch fpäter entfanden Die Martyrologia particularia für 
einzelne Länder und Mönchsorden. — Im Gegenfage hiezu ift das römifche Mar- 
tyrologium, weil es Heilige aller Länder umfaßt, das universale., Es wurde mit 
einem gelehrten Commentar auf Befehl Gregors XI. edirt von Baronius 1586 
und noch vermehrt in einer neuen Auflage von dem Jeſuiten Heribert Ros— 
weid. LHefele.] 
Maruthas, der heilige, Bifchof von Tagrit oder Maipherfat Cauh Mar— 
tyropolis) in Mefopotamien, gehört der fchönen, von ihm verfaßten Martyreractem 
wegen zu den berühmteften Schriftftellern der ſyriſchen Kirche. Blühend am Ende 
des vierten und im Anfange des fünften Jahrhunderts, ſchilderte er in denfelben 
auf lebendige anziehende Weife, nur manchmal in einer zu gefuchten Schreibart, 
die langen fehreeklichen Leiden, womit Sapors des II: ‚graufame Verfolgung 40 
Sabre hindurch die Kirche Perfiens heimfuchte. In 18 Geſchichten ſtellt der be- 
redte Verfaffer die glänzendften Beifpiele chriftlichen Heldenmuthes dar, hie und, 
da mit Prologen und Epilogen, worin er oft zu. dichterifchem Fluge fih erhebt, 
Maruthas ift aber nicht bloß als Schriftfteller, fondern auch feiner Tugenden 
und Verdienſte für die Kirche wegen unferer Aufmerffamfeit würdig. Die Freund» 
fchaft des großen HI, Chryſoſtomus, Gelehrfamfeit, bifhöflicher Eifer und bie 
Wundergabe zeichneten ihn aus, Nah dem Berichte mehrerer fyrifcher Schrift- 
fteller wohnte er dem im J. 380 gegen Macedonius gehaltenen: erften Coneilium: 
zu Conftantinopel bei; im Concilium zu Antiochia (383 nad) Baronius, 390 nad 
Tilfemont) trug er zur Verdammung der Meffalianer (ſ. d. A.) bei. Um zur 
feftern Stellung des Chriſtenthums in Perfien zu wirfen, unternahm er im Jahr 
403 eine Reife nach Conftantinopel zu Kaiſer Arcadius, in der Abficht, dieſen zu 
bewegen, daß er den Nachfolger Sapors, Jezdegerd, milder gegen die Chriften 
flimmen möchte, Weil aber der Kaifer damals zu. ſehr in Gefchäfte verwickelt 
war, indem die Verfolgung des hf. Chryfoftomus- gerade jetzt am beftigften wü— 
thete, reiste Maruthas bald zurück und das Jahr hernach wieder nah Eonftan« 
tinopel, um für die perfifche Kirche mehr wirken zu können und auch bie Sache 
feines verbannten Freundes zu vertheidigen. Der hl. Chryſoſtomus erfreute ihn 
mit zwei Briefen von feinem Eril aus und rühmt ihn auch in einem Briefe am 
Olympias. Vom nachfolgenden Kaifer Theodos IL, wurde Maruthas öfter als 
Gefandter an König Jezdegerd nach Perfien geſchickt, diefen zu einem Bündniſſe 
zu bewegen, und gewann durch feine herrlichen Eigenfchaften die Bewunderung 
und Liebe des mächtigen Monarchen. Sp fonnte er troß der Eiferfuht und bes 
Fanatismus der Magier thätig für die hriftliche Neligion wirken. Darin unter- 
ftüßte ihn vorzüglich der perſiſche Biſchof Abdas, mit dem er den Sohn des Kö- 
nigs von einem Dämon erlöste. Zur Erwedung der während, ber Verfolgung 
gefunfenen Kirchenzucht hielt Maruthas zwei Synoden in Kteſiphon. Sp madte 
er fih um die Kirche durch raftlofen Eifer verdient; darum fein Andenfen and 
mit Recht von den Lateinern und Griechen, Kopten und Syrern gefeiert wirde—, 
Die von ihm in ſyriſcher Sprache verfaßten Martpreracten bilden den erfien 
Theil der von Stephan Evodius Affemani 1748 in Nom edirten Acta SS, Martyrum 
Orientalium et Occidentalium. Eine teutfche Heberfegung davon ließ der Unter- 
zeichnete unter dem Titel: Echte Noten HL, Martyrer des Morgenlandes 
u, fe wi, Innshrud 1836, erſcheinen. [3ingerle,] 


Mafius — Mafora, 911 


Mafjius, Andreas, geboren 1516 zu Lennih bei Brüffel, war einer der 
größten Gelehrten und Staatsmänner des 16ten Jahrhunderts, In feiner Ju— 
gend verlegte er fih auf das Studium der Philofophie und Nechtsgelahrtheit, 
Seine hohe Befähigung verfchaffte ihm die Stelle seines Secretärs bei dem Bi— 
[hof von Conſtanz, Johann von Weze, Eine Sendung nah Rom, womit er nach 
des Biſchofs Tode betraut worden war, gab ihm die Gelegenheit zu einem län— 
geren Aufenthalt in der chriſtlichen Weltftabt, welchen Maſius dazu benügte, fih 
im Syrifhen auszubilden. Ueberhaupt befaß Mafius ein ausgezeichnetes Sprachen- 
talent; außer mehreren lebenden Sprachen war er des Lateinifchen, des Griedi- 
fhen , des Hebräifchen, Chaldäifhen und Syrifchen mächtig. Nach feiner Rüd- 
kehr von Rom ward er Rath beim Herzog Wilhelm von Eleve, und trat 1558 
dafelbft in den Eheftand, Schon im Jahre 1573 erreichte er, 57 Fahre zähfend, 
ein erbauliches hriftliches Ende, Mafius war fein einfeitiger Philploge, vielmehr 
befaß er au in andern Fächern des Wiffens eine ungemeine Belefenheit, die mit 
einem großen Scharffinne verbunden war, von welchem feine Literariichen Leiftun- 
gen ſtets eine kritiſche Haltung erhielten. In der Kenntniß der Gefhichte und 
alten Geographie, fowie in der Kritif der Bibel that es ihm wohl fein Gelehrter 
feiner Zeit zuvor. - So beurtheilten ihn fihon Seb. Münfter und Richard Simon, 
Auf die Bitte des Arias Montanus nahm Maſius Antheil ander Antwerpifchen 
Ausgabe der königlichen Polyglotte; er lieferte dazu die chaldäiſche Paraphraſe 
über die erften Propheten, die Palmen, den Prediger Salomons und das Buch 
Ruth; außerdem ſchrieb er ein fyrifches Lericon unter dem Titel: „Syrorum Pe- 
eulium* (Antw, 1571 in F0l.), dann eine Grammatik der ſyriſchen Sprade 
(Antw. 1571 in Fol), um beide der Polyglotte beizugeben. Sein Commentar 
über das Buch Joſua gilt als ein Meifterwerk bidlifcher Kritif, wie hiſtoriſcher 
und ſprachlicher Erudition Centhalten in den Criticis sacris, London und Amſterdam 
T. 1). As Anhang dazu erfchienen feine Annotationes in Deuteronomii caput XVI, 
bis XXXIV. Mafius überfegte mehrere ältere und neuere Stüdfe aus dem Sy- 
riſchen; die Sammlung if enthalten in der Bibliothek der Väter von Margarine 
de la Bigne und in den Criticis sacris (2. Edit.). Sp überfegte Maflus unter 
andern den Commentarium de Paradiso, ante annos DCC a Mose Bar-cepha Syro 
scriptum, und S. Basilii Aeırovoyiev. Antw. 1569. Auch ſchrieb Mafius eine 
Disputatio de coena Domini gegen die Ealoiniften, und Bemerkungen über einzelne 
Stellen des Jeremias und der Evangeliften. Mafius bereitete Commentare über 
die Hiftorifchen Bücher der Schrift vor, als er vom Tode überrafcht wurde, [Dür.] 

Maſora oder Maflora (7y102, 7Yı2%, MYDA2, Kmyıon, vom chald. 
„on. prodere, tradere) ift eigentlich traditio,. Weberlieferung im. allgemeinften 
Sinne, wird aber vorzugsweife und fpeciell von einer gewiffen Leiflung früherer 
Rabbinen in Betreff des Hebräifchen Bibeltertes gebraucht, welche eben deßhalb 
auch den Namen Maforetden (Tyy027 7222) erhalten Haben, Ihre Hauptauf- 
gabe war die allfeitige, endgültige Firirung der Form und Ausfprache des he— 
bräifchen Bibeltertes nach Maßgabe der fyftematifch bearbeiteten Ueberlieferung, 
Ihre wichtigfte Leiftung ift daher. zuvörberfi die Vocalifirung und Aeccentuirung 
jenes Zertes, in Betreff welcher bier einfach auf die hebräiſchen Sprachlehren 
verwiefen werben Fann, und nur etwa noch bemerkt zu werden braucht, daß in 
denfelben die fpäte Entfiehung der Vocalzeihen und Accente nicht immer genugfam 
beachtet wird, Außerdem haben die Maforethen eine Unzahl von Bemerfungen 
über den hebräifchen Bibeltert aufgezeichnet, welche theils A. auf den factifhen 
Beſtand deſſelben fich beziehen, theils B. in Eorrectionen beflehen. Bon er- 
flerer Art finds: 1). die Angaben der fogenannten Ittur sopherim (oYn210 107) 
und Tikkun sopherim (u’n570 77pn) und der anßerordentlihen Puncte (Puncta 
extraordinaria ">> 1p3),. die großentheils fhon im Thalmud vorkommen und 


912 Mafore, 


von den Maforethen von dort herübergenommen wurden (dgl. Tübing. Ouar- 
talſchr. Jahrg. 1848. ©, 601 ff.). 2) Die Angabe der ungewöhnlichen Buch- 
ftaben, namentlich der fogenannten literae majusculae, minusculae, suspensae, in- 
versae, bie zum Theil auch fhon im Thalmud erwähnt werden, Sp macht die 
Mafora glei zum erſten Buchftaben der Bibel, zum = in mrünya, die Bemer⸗ 
fung: ’na1 3, und zu 7 in DnYamz2 (Genef, 1, 4.) die Bemerkung: S"97 4, 
Und folhe Buchſtaben kommen fo häufig vor, daß die Mafprethen ein vollftändi- 
ges Alphabetum ex literis majusculis (n1>173 mn ax) und ein Alphabetum 
ex literis minusculis (nYoP nYmIRn A8) zufammenfegen fünnten, welches flelfen- 
weife fogar doppelt und dreifach wird, Zu Jin son Num. 10, 35, bemerft die 
Mafora: 73797 772 (nun inversum) und fehreibt demgemäß »oc2 mit dem Bei- 
fügen, daß eine folde Schreibweife an neun Stellen Statt habe, die fie anden- 
tungsweife citirt Cogl. jedoch Norzi's Minchat schai zu d. Stelle), Zu 71 in 
mon Richt, 18, 30, bemerkt fie: > 7%) (nun suspensum), und fo an manchen 
andern Stellen, gibt aber immer bloß den Sachverhalt an, ohne die Urfache des— 
felben zu berühren, 3) Die Zahl der Abfchnitte (Parafchen, Sedern ꝛc.), Verfe, 
Wörter und Buchftaben der einzelnen Bücher und Bezeichnung der Stellen, welde 
die Mitte derfelben einnehmen. So wird 3. B. in Betreff des Pentateuchs be- 
merft, er habe 5845 Verfe, 290 offene, 379 gefchloffene Parafıhen und werde 
balbirt durch die Stelle: 137 jun na 1759 Levit. 8, 8. Ein großer Theil 
folder Angaben fommt ebenfalls fchon im Thalmud vor, Die Maforethen haben 
aber diefelben nicht bloß einfach herübergenommen, fondern die früheren Leiftungen 
weiter geführt und nöthigen Falls auch berichtigt. An Wort- und Buchftaben- 
zählung 3. B. fheinen die Thalmudiſten noch nicht gedacht zu haben, 4) Die An- 
gabe verſchiedener Eigenthümlichfeiten einzelner Verſe. Sp wird z. B. zu Genef. 
4, 8. bemerft: pro» Txn2 pon Ton >, d. h. 28 Verfe enden in der Mitte des 
Verſes, fo nämlich, daß mit der zweiten Vershälfte ein neuer Sag beginnt. Zu 
Erod. 32, 8, wird bemerkt: {na no Zw Ton 3, d. h. zwei Verſe find im 
Pentateuch, die mit d anfangen (außer Exod. 32, 8, noch Num. 14, 19.). Zu 
Num, 29, 33, wird bemerkt: Da jımmyan >> m104 Ina ion 3, d. h. zwei Berfe 
find im Pentateuch, deren fämmtliche Worte mit D endigen, Zu Exod. 29, 5. 
wird bemerkt: mar i1 ma 3 Irma min 102 3, d.h. e8 kommen brei Verfe vor, in 
denen ſich dreimal on und dreimal may findet. Zu Num. 36, 8. wird bemerkt: 


TS 8 Jrma ns joD 3, d. h. drei Berfe fommen vor, deren jeder 88 Bud- 


flaben hat. Zu Jerem. 21, 7. wird bemerft: na Op jranı jrbn In jona nm, 
d.h. der Vers enthält 42 Wörter und 160 Buchſtaben. 5) Bemerkungen über 
gewiffe Wortverbindungen, wie z. B. die Bemerkung zu Geueſ. 16, 2,3 


7° bpb mynw, d. h. yraw mit Dpb conftruirt Fommt 17 Mal vor, oder die 


Bemerkung zu Ezech. 18, 21.: mwsı Taun jma nn Top ri, d. h. more iſt 


in acht Verfen mit To» conftrnirt. 6) Bemerkungen über die Bedeutung gewiſſer 
Wörter, die zuweilen in exegetifcher Hinficht beachtenswerth find. Sp wird z.B. 
zu 35 Genef, 29, 9. bemerft: w5 32 3, d. h. 94 kommt breimal dor in drei 
verfchiedenen Bedeutungen; die beiden andern Stellen find Jeſ. 24, 19. und 
Sprüchw. 25, 19, Zu 5ar7 Genef. 29, 10, wird bemerkt; w>> ana 3,» 
das Wort fommt zweimal fo vor, aber in zwei verſchiedenen Bedeutungen; bie 
andere Stelle ift Pf, 16, 9. Zu 82 Pf. 22, 17. wirb bemerkt: ana jenp 2 


ws, d.h, and mit Kamez unter Kaph kommt zweimal vor in zwei verſchiedenen 
Bedeutungen; bie andere Stelle iſt Jeſ. 38, 13., mo es die Bedeutung: „wie 
ein Löwe” Hat, welche in der Pfalmftelle allerdings nicht paßt, Endlih 7) eine 








Mafora. 913 


Menge grammatifher Bemerkungen über Bocale, Accente, diafritifhe Zeichen 
und plene und defective Schreibweife, dergleichen auch in den gewöhnlichen hebr. 
Bibelausgaben oft manche vorfommen, — B. Maſorethiſche Corrertionen find 
befonders die unter dem Namen Keri CAP) befannten und vom gefchriebenen 
Zerte (Ketib a'n>) abweichenden Lefearten. Sie find meiftens fritifcher und 
eregetifcher, zum Theil auch grammatifcher und orthographiſcher Art, und be— 
ziehen ſich a) theils auf Verwechslungen von Buchſtaben, wie wenn 1 Kon, 12, 
33. ſtatt des Ketib 252, das Keri zn, oder Ezech. 25, 7, flatt des Ketib 325 
das Keri 72> lautet; b) theils auf Berfegungen von Buchſtaben, wie wenn 1 Kön. 
7, 45. flatt des Ketib > das Keri may7, oder Sprüchw. 23, 26, flatt des 
Ketib T2zın das Keri mıyEn lautet; c) theils auf Erfegung eines fehlenden, 
oder Weglaffung eines überflüffigen Buchftabens, wie wenn Amog 8, 8. ftatt des 
Ketib pw: das Keri map Wr, oder Joſ. 8, 12. flatt des Ketib A>> das Keri 
>> lautet, d) Zuweilen betreffen fie au unrichtige Worttrennungen und ſuchen 
fie zu verbeffern, wie wenn Pf. 123, 4. im Ketib Dvsyns>, im Keri aber a3 
D933%, oder Pf. 55, 16. im Ketib marwr, im Keri aber mı2 nur vorfommt, 
e) Grammatifche Keris find 3.2. das im Pentateuh häufige NY für wıT und 
22 für 922. D) Orthographiſche Keris find Ezech. 27,15. 09337 für aan 
und 2 Chron. 8, 18. mir2R für nrrııs. g) Enphemififche Keris find z. B. on 
D77537 2 Kön. 18, 27. flatt Dmso und orano flatt Dr5e> 1 Sam. 5, 6. % 
12. Die Anzahl folcher Keris ift befanntlich fehr groß, aber in feiner Handſchrift 
und in feiner Ausgabe werden fie alle angemerft, auch flimmen in Betreff der- 
felben weder die Handfchriften noch die Ausgaben mit einander überein, wovon 
wohl die allmählige Entftehung der Mafora und noch mehr die Nachläffigfeit der 
Abfhreiber die Schuld haben mag. — Außer folhen Keris verdienen bier noch 
Erwähnung die maſorethiſchen Conjecturen unter dem Namen j>I729. An man« 
han Stellen nämlih, wo von der gewöhnlichen Conftruction und der grammati- 
fhen Analogie abgewichen wird, fegen die Maforethen das ihrer Meinung nad 
Richtige an den Rand, So bemerken fie zu xx Wnwrs Genef, 19, 22, : [177203 
mE, d. h. an drei Stellen iſt vermuthlih nz" flatt &Xx) zu leſen; die beiden 
andern Stellen find Jer. 48, 45. Dan, 8,9. Zu oınzn au Erod, 4, 19, be= 
merft die Heine Mafora: aızn 771720 , d. h. an fünf Stellen ift ſtatt orazn 
vermutplih arırn zu leſen; die große Mafora dagegen wiederholt die Bemer- 
fung mit 7 flatt 7 und führt außer Erod. A, 19. wirflich noch fünf weitere Stel- 
Ien an, wo nanxn flatt DYSzn vermuthet werde, nämlich Genef. 37, 36, 43, 
15. Deut. 28, 68. of. 24, 5. 1 Sam. 12, 8. Als maforethifche Correctionen 
erfcheinen auch die öfteren Keri welo Ketib ('n> a5 77) und Ketib welo Keri 
CH> 857 2°n>2), die jedoch zum Theil fhon im Thalmud vorkommen (Nedarim 
f. 37. b. 38. a.) und in foweit aus einer frübern Zeit herrüßren. Im erftern 
Falle Handelt es fih um Wörter, die gelefen werben follen, obwohl fie nicht im 
Texte ſtehen; der Text hat dann einen leeren Raum, ben die Vocale des zu le— 
fenden Wortes einnehmen, das Wort felbft aber ift am Rande beigefügt; im letz- 
tern Falle dagegen handelt es fih um Wörter, die nicht gelefen werden follen, 
obwohl fie im Texte gefhrieben find; fie find deßhalb auch bei der Vocalifation 
nit mit Vocalen verfehen und ſchon dadurch Fenntlich gemacht worden. So wird 
3. B. von Sy Ruth 3, 5., "IS Ruth 3, 17., 082 Jerem. 31, 38, ausdrücklich 
bemerkt: 272 851, 77p , und umgefehrt von nat Deut. 6, 1., 7777 Jerem. 51, 
3., vorn Ezech. 48, 16.: »257 a5 arn2, — Die Ent ſtehung s zeit der Mafora 
laͤßt fich leichter aus ihrem Inhalt und ihrem Verhältniß zum Thalmud, als aus 
Kirchenlexilon. 6, Bo. 58 


914 Maſora. 


den dießfallſigen Ausſagen der Rabbinen ermitteln. Letztere harmoniren nicht mit 
einander und ſind zum Theil augenfällig unrichtig. Einige bezeichnen die Maſora 
mit dem Ausdrucke ron mwn> m>>7 als ein von Moſes herrührendes Werk 
(ef. Carpzov. Crit. sacr. p. 285); Andere betrachten fie als eine der vielen Ar- 
beiten Esra's, wie namentlich Juda Levita HET) im Buche Eosri (f. d. 4), 
und fpäter Elias Levita im Maſoreth Hemmaforet$, denen dann auch manche 
chriſtliche Gelehrte, wie Burtorf, Bartolocei, Wolf, beiftimmten; Andere endlich 
halten fie für ein Werf der Gelehrten zu Tiberias nach dem Abfchluß des Thal- 
mud, wie ſchon Abenesra in feinem Zachut, und nachher viele andere, Die erftern 
beiden Anfichten find unhaltbar, und die letztere, fofern fie nicht alles in der 
Mafora Borfommende aus der nachthalmudiſchen Zeit herleiten will, verdient ent- 
fhieden den Vorzug. Denn die Mafora gehört im Ganzen augenfällig der nach— 
thalmudifchen Zeit an, wie binlänglih fhon daraus erhellt, daß der Thalmud 
noch Feine Vocale und Accente beim hebr, Bibelterte Fennt, Man Hat ihm zwar 
ſolche Kenntnig wegen einzelner Aeußerungen zugefchrieben, wie namentlich wegen 
des öfter vorkommenden NÄpn> DR wı und TÄ10n5 Da w"; allein im ſolchen 
Fällen Handelt es fich nicht um Vocale und Accente, und überhaupt nicht um 
etwas von dem, was wir unter Mafora verftehen, fondern um eigenthümliche 
exegetifche Kunftgriffe der alten Nabbinen (vgl, Duartalfchr, Jahrg. 1842, ©, 
43 f.). Hebrigens Tiegt e8 in der Natur der Sache, daß ein Werk, wie die Ma- 
fora, nicht auf einmal entftehen konnte; die Beobachtungen, deren Ergebniß fie 
mittheilt, und die Vergleichungen und Combinationen, auf welche ſich ihre Be— 
richtigungen ſtützen, Fonnten nur allmählig im Laufe geraumer Zeit gemacht wer- 
den, und Elias Levita, der die Mafora zwar von Esra herleitet, fie aber noch 
lange nach ihm fortgefeßt werden und zur Vollendung gelangen läßt, bat gewiß 
vollfommen Necht, wenn er fagt, die Maforethen feien Hunderte und taufende ge— 
wefen viele Generationen hindurch, und es laſſe fih weder ihr Anfang noch ihr 
Ende genau beflimmen (ef. Buxtorf, Tiberias, sive Commentarius Masorethi- 
eus etc. p. 3.). Denn obwohl der Zeitraum ihrer Thätigfeit im Allgemeinen be- 
fannt ift, fo Doch die Ausdehnung und Abgrenzung deffelben Feineswegs. Bon 
der Wichtigkeit der Mafora haben fchon die mittelalterlihen Rabbinen ſehr 
hohe Vorftellungen. Sie bezeichnen diefelbe ald Umzäunung des Gefeßes (370 
ınb cf. Carpz. 1. c. p. 290), und reden in der anerfennendften Weife von ihr, 
Abenesra z. B. fagt im Anfang feines 70 7707, man habe e8 nur den Be- 
mühungen der Maforethen zu verbanfen, daß das göttliche Geſetz noch unverfehrt 
fortbeftehe und die heiligen Bücher vor jeder Zuthat und Weglaffung bewahrt 
worden feien, und in ähnlicher Weiſe vindieirt Elias Levita den Maforethen das 
Verdienſt, die Hl. Schrift in ihrer vollfommenen Unverfehrtheit erhalten zu haben, 
die ohne fie das Schickſal anderer Bücher getheilt und gleiche Entftellungen wie 
fie erfahren haben würde, fo daß man nicht mehr recht wüßte, was zum HI. Text 
gehöre und was nicht, Mag in ſolchen Urtheilen immerhin einige Hebertreibung 
liegen, fo find doch auch die geringſchätzigen Urtheile, die fihon einzelne Nabbinen 
des Mittelalters (cf. Buxtorf, 1. c. p. 47 sq.) und manche neuere Gelehrten 
über die Mafora fällten, nicht zu billigen, Einer weitgehenden Entftellung und 
Berfhlimmerung des hebr. Bibelterted wurde durch die Maforethen jedenfalls 
vorgebeugt. Selbft die bloß mechanische Zählung der Berfe, Wörter und Buch— 
ftaben war ein zwar befchwerliches aber gutes Mittel, den Text gegen Zuthaten 
und Weglaffungen zu fihern. Auch was man als „Kleinigkeiten, die der Mühe 
des Aufzeichnens kaum werth waren” (Eichhorn, Einleitung. I. 417), bezeichnet, 
wie z. B. die Angabe auffallender Eigenthümlichfeiten einzelner Verſe oder bie 
Anzeige beftimmter Conftructionsweifen, war in der fraglichen Hinficht nicht gleich“ 
gültig. Die kritifchen und eregetifchen Bemerkungen behalten ohnehin als alte 
Traditionen ihre Bedeutfamfeit, Freilich wäre zu wünfchen, daß eine berichtigende 








— a ra en 
| Maffalianer — Maffilianer, 95 


ordnende Hand über das zum Theil noch ungeordnete und manche Verſehen ver- 
rathende (Eichhorn, a. a. O. ©. 433 ff.) maforethifhe Material fommen möchte, 
— Im Dbigen wurde gelegenheitlich ſchon eine Feine und eine große Mafora 
erwähnt. Die Fleine Mafora (Masora parva, TYIO97 Tır> oder TIUp 0%) 
macht ihre Bemerkungen in abbrevirten techniſchen Ausdrüden, gewöhnlih am 
Seitenrande des Textes, und heißt darum auch oft Masora marginalis; die große 
Mafora dagegen (Masora magna, >77: 77702 oder Kn2ı 702) findet ſich 
gewöhnlich über und unter dem Schrifttert und dient der Fleinen Mafora zur Er- 
gänzung und Vervollſtändigung, oder auch, was im Grund auf daffelbe hinaus- 
lauft, die Heine Maſora ift ein Auszug aus der großen. Wenn 5. B. die Heine 
Mafora zu >31 Genef. 29, 10. bemerkt: > "na 3, fo zeigt in ſolchen Fällen 
die große Mafora die Stellen an, um die es fich Handelt, entweder mit den An- 
fangsworten, oder mit fonft einem oder einigen Schlagwörtern. Außerdem unter- 
fheidet man noch eine Endmafora (Masora finalis, auch Masora maxima oder 
Masora magna finalis genannt). Sie ift eine Art Concordanz, welde in alphabe- 
tiſcher Ordnung die Wörter und Stellen aufführt, zu denen die Maforethen Be— 
merfungen zu machen hatten. Da die bisher beiprochene Maſora der Hauptſache 
nach von den Gelehrten zu Tiberias ausging, fo fonnte man fie au die palä— 
flinenfifche nennen im Gegenfag zur babylonifhen, welche ungefähr gleichzeitig 
mit ihr in den Schulen zu Sora, Nahardea und Pumbeditha entflund, von der 
ung jedoch wenig befannt geworden if. Es ſcheint fih nämlich von derfelben 
nichts erhalten zu haben, als ein Verzeihnig von morgenländifhen Lefearten 
gegenüber von abendländifchen aus unbefannter Zeit, und ein Berzeihnig von 
Leſearten unter dem Namen des R, Naphtali, eines babyloniihen Juden im 11ten 
Sabrhundert, gegenüber den Lefearten des R. Aaron, eines Paläftinenfers, Beide 
find in der großen Bomberg’fhen und Burtorf’fhen Bibel und im fehsten Theil 
der Londoner Polyglotte gedrudt. Die Lefearten des erften Berzeichniffes haben 
ed, zwei Fälle ausgenommen, bloß mit Confonanten zu thun, die des zweiten, 
einen Fall ausgenommen, bloß mit Vocalen und Accenten. Nun ift von felbft 
Har, warum unfer jegiger hebräiſcher Bibeltert der maforefhiiche genannt wird, 
und bei dem großen Anfehen, deffen fih die Maſora feit ihrer Entftehung erfreute, 
auch Leicht begreiflih , daß durch denfelben der vormaſorethiſche Tert völlig ver- 
drängt worben ift. [elte.] 
Mailalianer, ſ. Meffalianer. 
Maifilianer. Im ſüdlichen Franfreih, befonders in Mafftlia (Marfeilfe) 
— wovon der Name — gab es im Anfang des fünften Jahrhunderts viele Geift- 
liche und Mönde, welchen der Lehrbegriff des HI. Auguftinus über die Gnade 
und Prädeftination zu Hart erfchien. Diefe wollten eine mildere Erflärung auf- 
ſtellen, oder eine Art von Berföhnung ftiften zwifchen der Auguftinifchen Lehre 
und dem Pelagianismus, verfielen aber dadurch in den Semipelagianismus. Im 
Gegenfage zu Pelagius hatte Auguftinus gelehrt: Diejenigen, welche zur Selig- 
feit auserwählt feien, verdanften ihre Auserwählung nur der Gnade Gottes; 
weder in der Vorausficht Gottes, daf fie mit feiner Gnade treu mitwirfen wer- 
den, noch im Berdienft des Menfhen überhaupt fei der Grund der Auserwählung 
(praedestinatio ad vitam) zu ſuchen. Würden dagegen die übrigen von der Selig⸗ 
feit ausgefchloffen, fo liege der Grund davon nicht im Willen Gottes, der alle 
Menfchen felig Haben wolle, nicht darin, daß ihnen Gott die zureihende Gnade, 
felig zu werben, verfagt habe, fondern darin, daß fie wegen ihrer Luft am Böfen 
fich feldft des Lebens beraubten, oder daß ihnen die Gabe der Beharrlichkeit ab- 
gehe, welde Gabe ſtets der Vorzug der Prädeftinirten fei, fo daß diefe ver— 
mittelft diefer Gabe ihres Herrlichen Zieles gar nicht verluftig werben könnten. 
Das donum perseverantiae aber fei eine freie Gnade Gottes, die er unbefchadet 
58* 





916 Maffilianer, 


feiner Gerechtigfeit den Einen aus Barmherzigkeit ertheilen, den Andern verfagen 
fonne, Nach ver Lehre der Pelagianer Fonnte der Menfh, wofern er nur dem 
göttlichen Gebote nachlebte, durch ſich felbft — mittelft des Gebrauchs feines 
freien Willens — heilig und felig werden, Bon Jenen, bei weldhen Gott diefes 
vorausgefehen, heiße es in der hl. Schrift, Gott Habe diefelben vor der Schaf- 
fung der Welt auserwählt und in Chriſto vorberbeftimmt. Das waren Extreme, 
welche die Maffilianer vermeiden wollten. Proſper von Aquitanien, ein eifriger 
Anhänger des HI. Auguftinus, fehrieb an diefen um das J. 427 über die ſchwe— 
benden Anftände, welche die gallifchen Chriften an der Auguftinifchen Lehre fänden. 
Diefelben glaubten, daß Auguftin den freien Willen läugne, und dieß glaubten 
fie um fo fefter, feitvem die Mönde des africanifchen Klofters zu Adrumelum 
ähnliche Bedenken dem Bifchofe von Hippo vorgelegt, und diefer ihnen in dem 
Buche de correptione vollftändige Antwort gegeben habe, Nach Profper war die 
Anficht der Maffilienfer folgende: Affe, die fih dem Glauben und der Taufe 
näherten, könnten felig werden, denn das Blut Chrifti fei für Alle ohne Aus- 
nahme zur Verföhnung gefloffen. Diejenigen nun, welde glauben, und dur 
Gottes Gnade in Glauben verharren würden, diefe habe Gott fchon vor der 
Weltfhöpfung vorhergewußt, und diefe Habe er auch zum Leben vorberbeflimmt, 
Diefe Anfiht war ganz der femipelagianifchen Lehre gemäß, nach welder auf 
Geite des Menfchen ver anfangende Glaube als Bedingung der Präveftination 
gefordert ward, Die Auguftinifhe Prädeſtinationslehre war den Maffilianern 
deßhalb vorzüglich anftößig, weil fie daraus folgerten, daß alle fittlihe Thätig- 
feit des Menfchen dadurd aufgehoben fei, daß fonach an die Stelle von Tugend 
und Lafter die unbedingte Nothwendigfeit trete; denn fei die Auserwählung oder 
die Verwerfung nur von dem Wohlgefallen Gottes abhängig, dann fei bei den 
Gefallenen an feine Sorge wieder zu erflehen, und bei den Heiligen an Feine 
Wachfamkeit und Behutfamfeit mehr zu denfen, auf beiden Seiten könne ja die 
menfhlihe Bemühung an dem einmal verhängten Loofe nichts mehr ändern, Der 
Menfch, lehrten diefe Semipelagianer, müffe wenigfteng den Willen haben, zu 
glauben, fo verborben fei dur Adams Sünde der Menfh nicht, daß er nicht 
einmal den Willen haben könne, geheilt zu werden; die Gnade werde dadurch 
nicht geläugnet, wenn der Wille vorbergehe; das ewige Leben werde nur von 
jenen erlangt, welche freiwillig an Gott geglaubt, und durch ihre Bereitwilligfeit 
zu glauben (merito credulitatis) auch den Beiftand der Gnade empfangen hätten. 
Selbft die Gabe der Beharrlichfeit Iaffe fich mit dem freien Willen combiniren, 
denn diefe Gabe fünne der Menfch fich durch Gebet verfchaffen, oder durch Ueber— 
muth verlieren. Ein gewandter Vertreter der femipelagianifchen Lehre zu Maffilia 
war ein Schüler des HI. Chryfoftomus, Johannes Caſſianus, der als Abt 
zweier Klöfter fowohl, als dur feine Schriften ſich einen bedeutenden Einfluß 
auf die gallifchen Mönche fiherte. Caffianus (f. d. A.) nahm zwaran, daß alles 
Gute, felbft jeder gute Gedanfe, von Gottes Gnade herrühre; doch zeige fi 
auch manchmal durch unfere eigene Natur der Anfang eines guten Willens, der 
jedoch ohne Gottes Beiftand nicht zur vollen Tugend reifen könne. Caſſian bielt 
Unterredungen mit den Anachoreten der feytifchen Wüfte, deren Gegenflände er 
mitgetheilt hat. Die von Profper und nachher von Hilarius dem Hl. Auguftinus 
zugefommenen Berichte machten auf den letzteren merflichen Eindruck; er ſchrieb, 
um fich gegen feine gallifchen Gegner zu rechtfertigen Cum 428 oder 429) zwei ° 
Bücher, die er dem Profper und Hilarius zueignete, Darin tadelt er feine Geg- 7 
ner, daß fie nicht den Anfang des Glaubens felbft, fondern nur das Wachsthum 
deffelben der Gnade Gottes zufchrieben, da fie die Gnade vom Verhalten des 
Menfchen abhängig machen wollten u. ſ. w. In ber Schrift: de dono perseve- 
ranliae beweist Auguftin, auch die Beharrlichkeit fei ein Gnadengeſchenk Gottes, 
beinahe das ganze Gebet des Herrn fei eine Bitte um Beharrlichkeit ac, Uebrigens 








Mafillon. 917 


hatte die Maffikianifche Auffaffung nicht bloß bei Mönden (ſelbſt ver glaubeng- 
eifrige Vincenz von Lerin follte nicht ganz unberüßrt geblieben fein), fondern auch 
bei Bifchöfen, wie bei Fauſtus von Riez (ſ. d. A.), Gennadius von Maffilia 
(f. d. AI ee, Anklang gefunden, wozu allerdings die bis zur Schroffheit des 
Ausdrufs getriebene Darftellung Auguftins (ſ. d. A.) die nächſte Veranlaffung 
gewefen fein mag. [Dür.] 

" Majillon, Jean Baptift, wurde 1663 zu Hyeres in der Provenge ge= 
boren, wo fein Vater als Notar lebte. 1681 trat er in die Eongregation deg 
Dratoriums und zog bald durch feine Talente die Aufmerkfamkeit feiner Obern 
auf fih. Hier verfaßte er einige Reden auf Heilige und zwei Trauerreden auf 
Villars, Erzbifchof von Vienne, und auf Villeroy, Erzbifchof von Lyon, In der 
Nede auf Billars entwicelt er zugleich feine Anfiht von den Lobrednern der da- 
maligen Zeit, die nur „weltliche Angelegenheiten in die Betrachtung des Todes 
mifchten“. Beide Neden verrathen übrigens feine Jugend, fie find überhäuft von 
dialectifhen und rhetorifchen Formen, voll von Vergleihungen, Anfpielungen aus 
dem alten Teftamente, Antithefen. 33 Jahre alt wurde er in das Seminar St, 
Magloire als Borfteher berufen und verfaßte bier fünf Conferenzreden über die 
Wichtigkeit des geiftlichen Standes, Zurücgezogenheit von der Welt, Ehrgeiz ver 
Geiftlihen, Borbereitung zur Communion, Eifer der Geiftlihen gegen Aerger- 
niffe, Es zeigt fi im denfelben viel Eifer, Einfiht und Erfahrung; bei aller 
jugendlichen Frifche und Lebendigkeit ift die Darftellung einfach, jene mächtigen 
Entfaltungen rhetorifcher Kraft, welche ihn fpäter auszeichneten, waren hier nicht 
am Plage, Er entſchied fih auf die glüdlichen Erfolge der Eonferenzreden in 
St. Magloire, in die große Laufbahn der damaligen Fatholifchen Ranzelberedtfam- 
feit in Frankreich als Advents- und Faftenprediger zu treten. Bon La Tour, dem 
Borfieher des Dratoriums, gefragt, wie er von den Rednern in Paris urtheile, 
fagte er: ich finde, daß Alle viel Wig und große Gaben haben, aber wenn ich 
einmal predige, werbe ich anders predigen als fie. Mafillon war längft mit fi 
wegen der Beredtfamfeit einig. Seine großen Borgänger Boffuet (f. d. A.) und 
Bourdaloue (f. d. A.) Hatten die Seite der Einbildungsfraft und des Verſtandes 
erſchöpft, es blieb noch die des Gefühles übrig, und hier, glaubte er, fei fein 
Doden und fein Ruhm zu finden, Er verftand unter diefer Beredtfamfeit des 
Gefühls nicht jene weihe Empfindfamfeit fentimentaler Seelen, er wollte feine 
Rührungen hervorbringen, weldhe nit einem höhern Zwecke dienten, fondern 
wollte zu Gunften des Glaubens und der hriftlihen Frömmigfeit die gewaltigften 
und Fräftigften Gefühle des menschlichen Herzens aufregen, die ganze Gemüths— 
welt in das Streben nach Heiligung hineinziehen und fie aus einer feindfeligen 
Macht in eine fegensreiche verwandeln. Wenn ihm dieß auf eine fo ausgezeich- 
nete Weife gelang, fo verdanfte er es nicht allein feinem Talente, feinem erreg- 
baren Gemüthe, feinem tiefen Studium des eigenen Herzens und der Sitten der 
Menfchen, fondern der Geift der Zeit Fam ihm zu Hilfe, die Literatur war focial, 
practifch, die Sprache des Umgangs war feine andere als die der Literatur, da= 
durch wurde die Profa fehr veredelt und vervollfommnet, die bedeutendften Tas 
Iente ſchrieben in diefer Profa, Boffuet, Fenelon, Pascal, Marieaur, Rouffean, 
Büffon; Maſillon fonnte für feine Beredtfamkfeit diefe Vollendung der Profa be— 
nügen; dann gab gerade die große Unfittlichkeit feiner Zeit feiner Beredtfamkeit 
Kraft und Energie, gewaltig ftemmte er fich gegen das Verberben, und feine Be- 
redtfamfeit raufchte daher wie ein Strom, der auf feinem Wege viele und große 
Hinderniffe findet; dieß verlieh feinen Reden jene rührende Wehmuth und tiefe 
Trauer, welche fo anzieht. Sp gelangte er zu jener Beredtfamfeit, welde fo 
große Eigenfchaften in fich vereinigt, vor Allem jenes Pathos, bei dem er bie 
ftärfften und zarteflen Empfindungen mit Leichtigkeit erregt, in die Seele ein- 
dringt, Seufzer und Thränen erweckt und fie mit unwiderftehlicher Gewalt zwingt, 


918 Mafillon, 


ihre Noth zu befennen und Gott als den einzigen Helfer anzurufen. Die Rüh— 
zung fohreitet von Stufe zu Stufe fort, feine tiefe Kenntniß des menfhlichen 
Herzens, feine fruchtbare und lebhafte Einbildungskraft bieten ihm ftets neue 
Seiten, um zu rühren, bis auf das geringfie Detail hinaus weiß er den einzelnen 
Gedanken zu erfihöpfen und ihn fo lebendig und friſch als möglich darzuſtellen. 
Statt den Umfang der Pflihten zu entwideln, fegt er biefelben voraus, fagt, 
wie wenig wir fie erfüllen, ftellt das göttliche Gebot unfern Sitten gegenüber, 
ſtellt fich auf den Standpunet des Zuhdrers, geht in feine Anfichten ein und be- 
nimmt ihm mit fleigender Kraft alle und jede Entfhuldigungsgründe, Eben fo 
trefflich weiß er zu rühren durch Schilderungen der verfhiedenften Art, wo er 
mit den ernfteften Ausdrüden bald erfchrect, bald mit den glängendften Farben 
erfreut, aber immer erbaut und rührt, Dabei häuft er die Gedanken nicht auf 
einander, fondern wenige reichen oft hin, eine ganze Rede auszufüllen. Neben 
diefem Pathos glänzt er durch feinen Styl, er ift nicht kühn, ſchwingt fich nicht 
fchnell und unerwartet in die Höhe, um eben fo ſchnell zu fallen; Maſillon be— 
rechnet feinen Ausprud, fügt ihn zufammen, forgt emfig für Eleganz, Farbe, 
Adel, Pomp und Harmonie, dabei vermeidet er alle gezwungenen Bilder, ſcharf 
ausgeprägte Sentenzen, Kraftausprüde, welche den Styl bizarr und ſchwülſtig 
machen, dabei arbeitet er fo leicht, daß die Ausdrüde ohne alle Mühe fih ihm 
einftellen, und wenn er bei Wiederholungen der Leerheit des Begriffs nicht ent- 
gehen fann, entgeht fein Styl doch dabei der Einförmigfeit, indem er bald Fülle, 
bald Kürze ausdrückt. Seine erſten VBerfuche in den Predigten wurden von M. 
1698 in Montpellier angeftellt; fie waren im höchſten Grade ermuthigend, 1699 
trat er vor dem Publicum in Paris mit fehr großem Beifalle auf, und Bourda— 
Ioue, der ihn hörte, äußerte: er muß wachfen, ich aber muß abnehmen, In dem— 
felben Jahre trat er noch als Adventsprediger vor dem Könige und Hofe auf und 
eröffnete feine erfte Predigt an Allerheiligen mit einem fehr feinen glänzenden 
Eomplimente, 1701 und 1704 bielt er die Faftenpredigten zu Verſailles vor 
dem Könige und vor dem Hofe. Der König entließ ihn mit den fchmeichelhafteften 
Ausdrücen und fagte: „Wenn ich andere Redner hörte, war ich immer mit ihnen 
zufrieden, wenn ih Sie hörte, war ich mit mir unzufrieden“, und fügte bei: 
„Bon jegt an will ih Sie alle zwei Jahre hören.” Maſillon kehrte aber erft 
wieder 1718 an den Hof zurüd, um die Petit car&me zu halten, Diefe Advents- 
und Faftenpredigten nun, welche mit den Reden über die Geheimniffe fehs Bände 
füllen, begründen feinen eigentlihen Ruhm, In ihnen entwidelt fih der ganze 
Pomp feiner Sprache, trefflihe Bergleichungen, großartige Figuren wechfeln mit 
einander ab, alle pratorifchen Schönheiten hat er hier ausgegoffen, und fie treten 
frifch und Iebendig vor ung, Wäre Plan und Anlage der Nede gleich vollendet 
wie Form und Ausführung in diefen Neden, fie würden nichts zu wünfchen übrig 
Laffen und als kaum zu erreichende Mufter hriftlicher Beredtfamfeit ſtets ange- 
führt werden. Die fchönften von diefen Predigten find: Ueber das Glück der 
Gerechten, der Tod des Frommen und des Sünders, jüngſtes Gericht, Auffhub 
der Buße, Gottheit Chrifti, Wort Gottes, Unfterblichkeit der Seele, Rüdfall, 
Unbußfertigfeit im Tode, geringe Zahl der Auserwählten, Vermiſchung der Guten 
mit den Böfen, über den Tod, Almofen, Verzeihung der Beleidigungen, Unter- 
werfung unter den Willen Gottes, Geift Chrifti und Geift der Welt. 1718 
wurde Mafillon wieder an den Hof berufen, um in den Tuilerien vor dem achte 
jährigen Ludwig XV. Faftenreven zu halten. Mafillon war ſchon lange vom Hofe 
entfernt, er glaubte, feine Faftenreden feien für das Alter des Königs zu fireng 
und zu unzuverftändlich, und er entfchloß fich, neue Neden zu verfertigen, So ente 
ſtand die Petit caröme in der kurzen Zeit von drei bis vier Monaten, eine ganz 
neue Schöpfung ber Berebtfamfeit, Von Seite des Styls ift das Werf ausge» 
zeichnet, Harmonie, Eleganz, Kraft, Fülle, Werhfel des Tons, erhabene Poeſie 











Mafillon. 919 


des alten Teftamentes zeigen fich überall, und von Seite des Styls gehört es zu 
dem Schönften, was die franzöfifge Profa hervorgebracht hat. Eben fo trefflich 
ift die Arbeit in Bezug auf die Moral, mit unglaubliher Kenntni der Sitten 
der Großen, gleich als Hätte er an all’ ihren Spielen, Intriguen, ſinnlichen Ber- 
en Theil genommen, gleich als wäre er in ihr Herz hinabgedrungen, ent= 
wickelt er die Leidenfchaften der Großen, ihren Ehrgeiz, ihre Heuchelei, ihre 
Sittenlofigfeit, und zeigt dabei große Freimuth und eine erhabene Würde. Von 
Seite der Religion aber iſt die Petit car&me ein großer Mißgriff. Statt von 
Chriſto, feiner Liebe, feiner ©nade, feiner Leitung des Herzens der Könige und 
der Bölfer zu reden, und dem jungen Könige zarte Empfindungen gegen diefen 
Chriſtus einzuflößen, redet er nur von Moral, die erfehütternden oder befeligenden 
religiöfen Wahrheiten treten ganz in den Hintergrund, felbft am Charfreitage 
fpricht er nicht vom Leiden Ehrifti, fondern von den Leidenſchaften der Großen. 
Freilich war noch in lebendigem und traurigem Andenken Aller, wie verderblich 
die Leidenſchaften Ludwigs XIV. für Volk und Land geweſen waren. Aus den 
Sahren 1709, 1711, 1715, 1721 ftammen feine Lob⸗ und Trauerreden auf den 
Prinzen Conti, den Dauphin, Ludwig XIV., die Herzogin von Orleans, Seine 
Lobreden auf Heilige und diefe Trauerreden find der ſchwächſte Theil feiner Be— 
redtfamfeit, fie find Falt, trocken, voll von moralifchen Betrachtungen, es ift feine 
Entwicklung der Thatfachen, Fein dramatifches Jntereffe, der Heilige oder Held 
fliegt immer im Hintergrunde, wird nur zufälliger Weife herbeigezogen, man ver- 
mißt fühne Züge, großartige Schilderungen, Glanz des Auspruds, Kraft der 
Gedanken, und er ermüdet meift, ohne zu erbauen, Selbſt die Lobrede auf Lud- 
wig XIV. enthält nur wenige Schönheiten. 1719 wurde er als Mitglied in bie 
franzöfifhe Academie aufgenommen und hielt dafelbft eine geiftreiche Rede, welche 
fi über viele Gegenftände verbreitete, ohne einen einzigen zu erfhöpfen. Zu— 
gleih nahm er in diefer Rede Abſchied von der franzöfifchen Academie, fich mit 
feinen biſchöflichen Gefchäften entfchuldigend. Außer bei ver Rede auf die Her- 
zogin von Orleans verließ er bis zu feinem Tode, welcher den 28. Sept. 1742 
in einem Alter von 79 Jahren ihn erreichte, feinen bifhöflihen Sprengel nicht 
mehr, Als Bifhof von Eondom, wozu er erft fpät, im Jahre 1717, vom Re= 
genten, dem berüchtigten Herzog von Drleans, ernannt wurbe, entwidelte er 
einen großen Eifer, vertheilte nach und nach 20,000 Livres, ohne feinen Namen 
zu nennen, und fuchte durch wohlthätige Anftalten der großen Noth der Zeit zu 
Hilfe zu fommen. In diefe Zeit fallen auch feine Conferenzreden an die Geift- 
lichen, ausgezeichnet durch gerundete, harmoniſche Sprache, durch Würde und 
Kraft des Styls und durch väterliche Milde, welche aus diefen Reden ſpricht. 
Seine Gegenftände find immer aus der Mitte und Tiefe des Herzens und 
der Lebensverhältniffe der Geiftlihen genommen, er redet vom Eifer der 
Geiftlihen gegen die Aergerniffe, von der Beſcheidenheit, vom Ehrgeize, vom 
Umgange mit der Welt, von dem Gebrauche der Kirhengüter, in welcher eine 
Stelle eine Art Berühmtheit erlangt hat, weil er darin wegen Mißbrauchs der 
Kirchengüter die Entreifung derfelben prophezeit. Sein berühmter Name war 
Urfache, daß feldft feine Synodalreden, die er auf der jährlichen Synode feines 
Elerus Hielt, und feine Faftenmandate aufbewahrt wurden, Noch hat er Para— 
phrafen über die Palmen, Gedanken und Betrachtungen über moralifche und re— 
ligiöſe Gegenftände hinterlaffen, aus denen die Gefühle einer gläubigen Seele 
in edler Einfachheit ſprechen. Mafillon gefiel fehr durch den Vortrag. Er war 
nicht fo ſchnell, wie der des Bourdaloue, hatte aber mehr Reiz und Salbung. 
Er ſprach mit viel Würde, meift in aufrechter Haltung, obgleich von Heiner 
Statur, war feine Haltung edel, mit feinen feurigen, ftegenden Augen wußte er 
eben fo feltene als ehrwürdige Geberden zu entfalten, Seine Stimme war weich) 
und wohlflingend, wenn er fie anftrengte, wurde fie Häglich und weinerlih, Er 


920 Maffuek 


befaß übrigens ein treufofes Gedächtniß, und hatte mit vemfelben viel zu Fämpfen, 
lernte übrigens feine Neden genau auswendig und nannte diejenige die befte, 
welche er am beften auswendig wußte, In feiner Einfamfeit fah er feine Ar- 
beiten durch, gab ihnen die legte Zeile und machte wohl auch einzelne Zufäge, 
Man hat aus feinen fämmtlihen Reden Blumenlefen veranftaltet, 3. B. pensdes 
sur differents sujets de moral et de piet&, tir&es des oraisons de Masillon. Paris 
1748, oder: nouveaux choisis de M. Paris 1810, bildet in der Ausgabe von 
Benouard den 13ten Band. Seine Predigten wurden in verfhiedene Sprachen 
überfegt, in die portugiefifche, polnifhe, teutfche. Die teutfche Ueberſetzung, 
Dresden 1753—1759, 15 Bände, und Wien 1785—87, 15 Bände, iſt indeß 
ziemlich fehleppend. Neuere Arbeiten über Mafillon find: Theremin, De- 
moſthenes und Mafilfon. Berlin 1845. Lu, Chryfoftomus. Tübingen 1846, 
Lu, ausgewählte Predigten von Mafillon. Tübingen 1848, Eine ältere Schrift 
über Mafillon ift Maury &loquence de la chaire. Bd. 1. $ 23. u. 58, [us] 

Mafjuet, Dom Rene, wurde zu St. Duen de Mancelles in der Didcefe 
Evreux 1665 von frommen Eltern geboren, trat in das Maurinerflofter zu unfrer 
Yieben Fran in Lire, und legte dort noch nicht 17 Jahre alt (1682) die Ordens— 
gelübde ab, Seine Borbildungsfiudien betrieb er im Klofter Bonnenouvelle in 
Drleans, wo er durch feine Talente, Renntniffe und fittlihen Charakter bei feinen 
Dbern fih fo fehr empfahl, daß diefe ihn 1693 als Lehrer der Philofophie in die 
Abtei Dec, einige Jahre fpäter nach Caen fihieften, wo er in der Abtei St, 
Etienne die Theologie zu lehren hatte. Hier erlangte er die Würde eines Bacca— 
laureus und Licentiats der Nechte, Dem Wunfche der dortigen thenlogifchen Fa— 


eultat, ihn in ihrem Gremium zu befigen, konnte Maffuet nicht entfprehen, da 


ihn feine Obern als Profeffor der Theologie auf ein Jahr nach Jumiöge, und 
auf drei Zahre nach Fecamp riefen. Auch in St. Duen zu Rouen lebte er eine 
furze Zeit (1702). Hier verlegte er ſich mit regem Eifer auf die Erlernung der 
griechifchen Sprache. Hierauf (1703) erhielt er den Nuf als Profeffor der Theo— 
logie nah St. Germain des Pres. Neben feinem Lehramte befchäftigte er ſich 
hier mit der Abfaffung einer Gefchichte der Patriarchen und mit andern anflren- 


genden Literarifchen Arbeiten ; allein feine raftlofe Thätigkeit in einem gebrechlichen 


Körper erfchöpfte bald feine Kraft, er erlag 1716 am 11. Januar im fünfzigften 
Lebensjahre einem Schlagfluffe. Schon während feines Aufenthaltes zu Bonne- 
nouvelle befiel ihn eine Lähmung am rechten Arm, wovon ihn die Bäder zu Dour- 
bon nicht völlig wieder befreien Fonnten, Sein früher Tod war ein großer Ver— 
Yuft für den Orden und für die Wiffenfchaft. Seine vorzüglichfte Leiftung ift die 
herrliche Ausgabe der Schriften des HL. Irenäus (Paris 1710 in Fol). Die 
früheren Ausgaben des HI. Lehrers Irenäus waren die von Erasmus, Bafel 


15265 die zu Genf 15705 Bafel 15715 die durch den Franeiscaner P. Franz 


Fenardent beforgte Coft nachgedruckte) Ausgabe, Cöln 1596; endlich die kritiſche 
Ausgabe, welche der gelehrte Joh. Ernft Grabe (f. d. A.) 1702 Hatte erſcheinen 
Yaffen, Auch die Grabe'ſche, an fich vorzügliche Ausgabe Fonnte fih der Maffuet’- 
ſchen Arbeit nicht an die Seite ſetzen. Den Grabe'ſchen Tert verbefferte Maffuet 
anfehnlich durch Hilfe von drei, den früheren Heransgebern unbefannt gebliebene, 


sortreffliche Handſchriften; auch erhielt derfelbe eine Vermehrung durch Bei- 
fügung mancher ungedruckten Stücke, und überbieß eine koſtbare Bereicherung 
durch drei ausgezeichnete, viel Licht verbreitende Diſſertationen die erfte davon 
enthält die Gefhichte der von Irenäus befämpften Kepereien, die zweite das 


Leben und die Schriften des Kirchenvaters, und die dritte eine Erörterung feines 


Lehrbegriffs. Nebſtdem beforgte Dom Maffuet den fünften Band der Jahrbücher 


des Benedietinerordens, welchen Mabillon (f, d. A.) ungedruct hinterlaffen hatte; 
dazu gab er einige Zufäge und eine Vorrede, worin er Mabillons und Nuinarts 
Leben befchreist, Auch bat man von Maffuet eine Epiftel an R.P.E.LI di 





2 

4 
— 
1 

J 
34 








Mafiaur — Materialismug. » 921 


an den hochw. Pater Stephan Langlois, einen Fefuiten, Darin antwortet Maſſuet 

auf eine Schrift gegen die von feinen Ordensbrüdern beforgte Ausgabe des HI: 
Auguftin. Endlich fünf Iateinifche Briefe an Bernard Peg, die in Schellhorns 
„amoenitat. literariae“ enthalten find, Manche Schriftfteller, die der Gelehrfam- 
keit und den Eigenfhhaften des Herzens D. Maſſuet's volle Anerkennung zu Theil 
werden laffen, bedauern die Beziehungen, in welche ſich derfelbe mit einer Partei 
eingelaffen, welche fich ein Gefchäft daraus gemacht habe, den Samen der Zwie- 
tracht und des Unfriedens in der Kirche auszuftreuen. Vgl. die Abhandlung von 
Dr. Herbft in der Tübing. Quartalſchr. Jahrg. 1833. [Dür.] 

Majtiaur, Cafpar Anton von, geb. den 3. März 1766 zu Bonn am 
Rheine, von Pius VI. 1786 zum Domberrn in Augsburg ernannt, erhielt den 
29. März 1789 in Cöln die Priefterweihe und ward in demfelben Jahre Dom— 
prediger in Augsburg; 1803 Landesdirectiong-Nath der hurpfalzbayerifchen Pro- 
vinz Schwaben, 1804 Director der General-Landesdirection in Münden, 1806 
wirklicher geheimer Rath des Königs von Bayern, promovirte 1784 zu Cöln als 
Magiſter der Philofophie, 1786 zu Heidelberg als Doctor der Rechte, 1790 zu 
Rom als Doctor der Theologie, und war Ehrenmitglied mehrerer Academien und 
gelehrten Geſellſchaften. Nach dem Tode des geiftlichen Rathes Felder übernahm 
er die Redaction der Literaturzeitung für Fatholifche Religionslehrer, einer ent— 
ſchieden katholiſchen Zeitſchrift. Maftiaur ſchrieb ſcharf und fatyrifh. Seine 
herausgegebenen Schriften find: 1) De veterum Ripuariorum statu civili et eccle- 
siastico commentatio historica. Bonnae 1784. 2) Hiftorifch-geographiihe Be— 
fohreibung des Erzftifts Coln. Frankfurt 1785. 3) Ehriftliche Lieder. Erfurt 
1786. 4) Ueber das negative Religionsprineip der Neufranfen. Dillingen 1793; 
5) Earl Borromäus, Cardinal der römifchen Kirche und Erzbifchof von Mailand, 
Eine Skizze. Augsburg 1796. 6) Katholifches Gefangbuh zum allgemeinen 
Gebrauche bei öffentlichen Gpttesverehrungen,. 3 Bde. München 1810. 7) Boll- 
fländige Sammlung der beften alten und neuen Melodien nach Anleitung des ka— 
tholifchen Gefangbudhs. I. Bd. 1—4. Heft. Leipzig 1812. 4. Heft 1813, 5. Heft 
1816, 6. Heft 1817, 7. Heft 1818, 8. Heft 1819 (ie drei legten Hefte im 
Münden). 8) Ueber Choral- und Kirchengefänge. Ein Beitrag zur Gefchichte 
der Tonfunft im 19ten Jahrhundert, München 1813. 9) Chorgebet der römifch- 
katholiſchen Kirche am Fefte des HI. Frohnleichnams unfers Herrn Jeſu Chrifti, 
Herausgegeben von der teutfehen Bürgercongregation zu Münden 1815. 10) Die 
hl. Charwoche nach dem Ritus der römifch-Fatholifchen Kirche, von derfelben Con— 
gregation herausgegeben. München 1817 (mit einer Vorrede von Sailer), 
Außerdem erfchienen von Maftiaur mehrere Predigten, teutfhe und Yateinifche 
Neden zu Dillingen, Bonn und Augsburg. (Siehe Gelehrten- und Schriftfteller- 
Lericon der teutfchen Fatholifchen Geiftlichkeit von F. K. Felder. I. Bd. 457, und 
IE Bd, 530 u, 31.) Maſtiaux ftarb in Münden, nahdem er durch Einficht, 
Muth und Gefhäftsgewandtheit in geiftlihen und weltlichen Angelegenheiten ſich 
große Berdienfte erworben hatte, [Haas.] 

Maitricht, Bisthum, f. Lüttich, 

Moaterialismus ift jenes philofophifche, oder wenn man Lieber will, un— 
philoſophiſche Syftem, welches die Materie für das Erfte, Urfprüngliche erflärt, 
die Entfiehfung der Welt (z0ouog) von ihr ableitet, und dann confequent der 
wefentlihen Unterfchied zwifchen Geift und Körper läugnet, weil Materie nur 
wieder Materie erzeugen fann. Die rohefte Form deffelben ift die von Leucipp 
und Demoerit gegründete und von Epieur (f. d. A.) aufgenommene und be= 
nüßgte Lehre des Atomismus, wornach die Welt aus einer unendlichen Menge 
der Dualität nach gleichartiger, der Duantität nach aber verfchiedener, untheil- 
barer, im leeren Raume fchwebender Grundftoffe oder Körperchen, Atomen 
(j @rouos, sc. ovale, was Cicero in Academ. Quaestion. 1, 2. $ 55. mit indi- 


922 Materialismug. 


viduum überfegt), in Folge gegenfeitigen Zufammenftoßens entftanden fei. Höher 
als diefer atomiftifche, mechanische Materialismus fleht der dynam iſche, der 
nah Heraclit die Welt aus dem Zufammenwirken von Kräften (dvvauıg) zu 
erklären fucht, Es kann hier die Aufgabe nicht fein, dieſen theoretifchen, ab- 
firacten Materialismus zu würbigen; es findet dieß in der hriftlichen Lehre von 
der Weltfhöpfung (ſ. d. A.) feine Erledigung. Vielmehr ift e8 an ung, den- 
felben in feiner Anwendung auf das religiöfe Leben und fittlihe Handeln, alfo 
den prartifhen Materialismus zu befprechen. — Iſt au das ganze Heiden- 
thum won der materialiftiichen Anfchauung durchdrungen, weil es bei feiner Be- 
flimmung des gegenfeitigen Verhältniſſes zwifchen Geift und Natur jenem nie 
die richtige Stellung angewiefen, fo muß doch namentlich der Naturforfcher Pli— 
nius ald Vertreter diefer Richtung genannt werben, bei welchem auch die fran- 
zöſiſchen Materialiften, z. B. La Mettrie, in die Schule gegangen find (f. Ency- 
elopädiften). Er identificirte ven Geift mit der Materie, hielt ven Menfchen 
nicht wefentlih vom Thiere verfchieden, läugnete feine AUnfterblichfeit und ftellte 
gleichfalls das Dafein einer Gottheit in Abrede, Aus dem Judenthume gehören 
die Sadducäer (ſ. d. A.) hierher. Aus Matth. 22, 23. Mare, 12, 28. Apg. 
23, 7—9, wo fie die Unfterblichkeit der Seele und das Dafein höherer Geifter 
läugnen, fo wie aus der Thatfache, daß die Anhänger des Sadducäismus Män— 
ner des Genuffes aus den höhern Ständen waren, darf man ſchließen, daß ihre 
Lehre ein in Materialismus übergehender Deismus war. Materiakiftifch ift ferner 
der Gnoſtieis mus (ſ. d. U.) fchon defhalb, weil er Pantheismus ft, jeder 
Pantheismus aber, fobald man aus der Einheit zu deren Theilen übergeht, 
was namentlich in praetifcher Hinficht nicht wohl zu verhüten ift, zum Ma— 
terialismus führt; materialiftifh ferner, weil er dualiſtiſch iſt. Ebendahin ge- 
hört der Manihärismus (f. d. A.), der diefelben Prineipien enthält. Ihren 
Materialismus legt diefe Härefie ſchon in der Auffaffung Gottes an den Tag. 
Auguftinus fagt aus der Periode, in welcher er ihr angehörte: Multumque mihi 
turpe videbatur, credere figuram te (sc.:Deum) habere humanae carnis et mem- 
brorum nostrorum lineamentis corporalibus terminari. Et quoniam cum de Deo meo 
cogitare vellem, cogitare nisi moles corporum non noveram, neque enim 
videbatur mihi esse quidquam quod tale non esset, ea maxima et 
prope sola caussa erat inevitabilis erroris mei. Confess. 1. IV. 10, 19. Ganz be= 
fonders aber tritt der fittliche Materialismus in Folge jenes in das Leben einge» 
führten Dualismus hervor. Je ſtrenger diefe dualiftifche Lehre im Manichäismus 
als im Gnoftieismus feftgehalten ift, defto craffer und allgemeiner müßte fi) der 
Materialismus auch ausbilden, Nach derfelben nämlich ift ein ewig gutes und ein 
ewig böfes Princip; der Menſch, als geiftiges und förperliches Wefen zumal, ifteine 
Compofition diefer beiden Mächte, die mit Naturnothwendigfeit in ihm wirken, 
Damit nun, daß die fittliche Freiheit geläugnet ifl, gibt e8 eigentlich nichts Sitt- 
liches oder Unfittliches, Tugend wie Lafter find etwas rein Natürliches, weil der 
Menſch ja der Naturnothwendigkeit überantwortet ift, Da die Sünde nad dieſer 
Lehre in der Materie als folcher und an fich ſchon Liegt, kann im Menfchen, wenn 
der Widerftreit jener beiden in ihm wirfenden Prineipien aufhören foll, die Be— 
freiung oder Erlöfung von der Sünde nur durch Zerftörung oder Deftruction 
der Materie, d. h. durch Abſchwächung, Entfräftung des Körpers bewirkt werden, 
Es Teuchtet aber ein, daß diefe Erlöfung von der Sünde oder der Materie nur 
dur völlige Hingabe an die Materie, d, i, durch die graufenerregendfte Unfitt« 
lichfeit erzielt werben fann. So aber fümmt das gerade Gegentheil des Be— 
zwecten zu Stande, der Geift geht in der Materie aufz und die vermeintliche 
Erlöfung oder Entfündigung wird durch den ſchändlichſten Naturproceß vollzogen: 
der wahrhaft Erlöste wird derjenige fein, welcher der gröfte Schlemmer ift! 
Und in der That findet fih im Manichäismus der Satz: Adam primum heroöm 

















Materialismus, 923 


peccavisse et post peecatum fuisse sanctiorem ! (Augustin. de morib. Manich. 
$$ 72. 73.) Daher die empörende Entfittlihung und Lafterhaftigfeit, wie fie uns 
Auguftinus in dem fo eben eitirten Buche Cap. 18 bis Ende zur Erflärung des 
siguaculum sinus ſchildert. Diefe pantheiftifch-dualiftifche in Materialismus über- 
gehende Weltanfhauung ſchleppte ſich fort bis in's Mittelalter, wozu noch eine 
myftifch - pantheiftifhe Richtung Fam, und erzeugte diefelben unheiligen Früchte, 
Dem Fleifhe und feiner Luft wurde der Geift ganz und gar geopfert, um in der 
innern Ruhe bleiben zu können! Namentlich gehören die Brüder und Schwe- 
flern des freien Geiftes Hierher. Indem wir hieran nur erinnern und auf 
die betreffenden Artikel verweifen, gehen wir zum Materialismus der neuern Zeit 
über, Hat derfelbe auch einen andern Ausgangspunct, er ift für chriſtlichen 
Glauben und Hriftlihe Sitte gleich gefährlich. Sein wiffenfhaftliher Grund 
nämlih ift in dem in England entflandenen Empirismus oder Senfualis- 
mas (Ci. d. U.) zu fuchen, welcher die-Sinnenwelt nicht bloß als die Beran- 
laffung, fondern als die Urſache unferer Borftellungen und Erfenntniffe felbft 
anfieht. Locke (ſ. d. U.) war es, der in Folge jener fehlerhaften Verwechslung 
den Satz aufſtellte: Alle unfere Erfenntniffe entfpringen nur aus der finnlihen 
Erfahrung; die Seele ift an fi eine tabula rasa, welche nur durd, aus der Er— 
fahrung gewonnene Renntniffe vollgefchrieben werden kann. Hiernach ift der 
menfhliche Geift feine erfle, urfprünglide Subftanz, feine fubftantielle Wefen- 
heit mehr, noch gibt es angeborne Begriffe oder Ideen. Locke machte von jenem 
ungemein folgereichen Sage feine volle Anwendung, er capitulirte noch, wie Fr. 
Schlegel fih ausdrüdft, mit dem Bedürfnif des Glaubens einigermaßen und 
fuchte wenigftens den an das innere moralifhe Gefühl aufrecht zu erhalten; aber 
fein Empirismus verhielt fih dennoch prineipiell gegen alles Ueberſinnliche ne= 
gativ. So fann 3.3. nah Kant's Bemerkung aus der Erfahrung auf fittliche 
Freiheit nicht gefihloffen werden, weil die Erfahrung nur das Gefeg der Erſchei— 
nungen, mithin den Mechanismus der Natur, das gerade Widerfpiel der Frei- 
heit, zu erfennen gibt. Der fo gewonnene Begriff der Freiheit fei nur der einer 
pſychologiſchen, welche aber die Freiheit eines Bratenwenders fei, der auch, wenn 
er einmal aufgezogen worden, von felbft feine Bewegungen verrichte!l Ebenſo— 
wenig laffen fih aus der Empirie die Ideen der Unfterblichfeit und Gottes ge- 
winnen, eonfequent müffen fie alfo geläugnet werden. Wie gefagt, Locke zog diefe 
Eonfequenzen nicht; aber fie lagen in feinem Syſtem und liegen darum nicht 
lange auf fih warten, — Da die finnlihe Erfahrung für das Denken fein Geſetz 
der innern Nothwendigfeit, fondern nur Zufälligfeit geben kann, wurde der Locke'ſche 
Empirismus durch Hume (f. d. A.) zur Sfepfis fortgetrieben. Noch vor Locke's 
Auftreten artete die Theologie in Deismus (f. d. A.) aus, War früher der 
noch abſtracte Materialismus des Thomas Hobbes (f. d. A.) für die Theo- 
logie ohne weitere Folgen geblieben, fo Teiteten die Deiften jet die philofophifche 
Strömung des Senſualismus und des Sfepticismug (ſ. d. A.), und zwar 
jenen Skeptieismus, der nicht zweifelt, um zur pofitiven Wahrheit zu gelangen, 
fondern der fih der Skepſis bedient, um alles Pofitive verneinen zu fünnen, in 
die beiftifhe über, und machten damit ihre Oppofition nachhaltiger. Die jegigen, 
durch die ſenſualiſtiſche und ſkeptiſche Philofophie verflärkten Deiften traten daher 
viel fchroffer als die frühern, ja zum Theil mit Frivolität auf, Schon Toland 
(f. 8.9.) befiritt das Llebernatärlihe der Offenbarung; Collins (ſ. d. A.) madte 
die Subjeetivität des Denkens, oder wie man ed nannte, das Freidenfen geltend 
(I. Sreidenfer), und rüttelte an der Unfterblichfeit,, beftritt die Weiffagungen, 
Woolſton (ſ. d. U.) das Wunder, Chubb (ſ. d.A.) erklärte die natürliche 
Religion für die allein wahre, bis endlich diefer Naturalismus durd Boling- 
brofe’3 (f. d. U.) Leichtfertigfeit in Materialismus und Atheismus auszuarten 
drohte, Aber es Fam nicht vollends mehr zu diefem Facit. Die englifche Nation 


924 Materialismus. 


war einer derartigen Neligionsphilofophie durchaus abhold; der Deismus zerfiel 
in fi felbft. Die vollftändige Löfung diefer traurigen Aufgabe ward Franfreich 
vorbehalten! Peter Gaffendi, geb. 1592, Dompropft zu Digne, fpäter Pro- 
feffor der Mathematif am College royal, Heitgenoffe und Freund Hobbes, furhte 
dem Empirismus in Franfreih Eingang zu verſchaffen; mit Glück und einigem 
Erfolg frifchte er Epicurs Lehre auf, Aber erft Eondillae (f. dA.) gelang 
es, den englifhen Senſualismus mit tiefer Wurzel auf franzöfifhen Boden zu 
verpflanzen. Sein Sag: e8 gibt Feine erften Prineipien, fondern nur erfte Facta, 
fand allgemeinen Beifall, War er auch nicht confequent genug, die Materialität 
der Seele zu behaupten, fo ift er doch der eigentliche Vater des franzöfifchen 
Materialismus. Einige Zeit vorher hatte Voltaire (ſ. d. A.) während feines 
unfreiwilligen Aufenthaltes in England den frivol gewordenen Deismus fennen 
gelernt und ihm fodann in Frankreich durch Geift und Wis allgemeine Geltung 
verfhafft. Jene philofophifche und diefe naturaliftifch theologifche Richtung ver- 


banden fih miteinander, nahmen die Weiterentwiclung da auf, wo fie in Eng- 


land ftehen geblieben war, Helvetius (ſ. d. A.), in feiner befannten Schrift 
de Vesprit, ift fhon die Immaterialität der Seele etwas ganz Gleichgültiges; die 


Tugend hält er nicht für eine ewige Idee; nad ihm ift es eine reine Unmöglich- 


feit für den Menfhen, das Cute um des Guten willen zu thun Cil est aussi im- 
possible d’aimer le bien pour le bien que d’aimer le mal pour le mal); der einzig 
wahre Beweggrund der Tugend fei die Eigenliebe (le sentiment de l’amour de 
soi), die nur auf Befriedigung der finnlichen Luft gehe. Dieß fei die einzige 
Bafis, auf die man eine nüglihe Moral gründen fünne, Boltaire ging ſchon 


weiter ; ift er auch nicht geradezu Atheift, fpricht er auch noch von Vorfehung, fo 


bleibt bei ihm doch die fittliche Freiheit in suspenso; er hält die Seele für etwas 
Materielles und bezweifelt folgerichtig ſtark ihre Unfterblichkeit, Seine Lehren 


find zwar nicht fo craß, als die der folgenden Genoſſen; aber durch feinen bis 


zum Fanatismus gefteigerten Haß gegen alles Pofitive des Chriſtenthums, durch 


feinen frivolen Wig, fowie durch feine geiftreiche blendende Oberflächlichkeit hat 


er am Meiften gefchadet. Diderot (f. d. AU.) war Anfangs dem Deismus 
ergeben; den Atheismus (ſ. d. A.) Hielt er für Unfinn. Bald genug aber wurde 
er zur Sfepfis getrieben, wie ſich dieß in folgenden Gebet ausfpricht: O Dien, 
jene sais, si tu es, mais je penserai comme si tu voyais dans mon äme, j’a- 
girai comme si j’&tais devant toi. — Je ne demande rien dans ce monde, car le 
cours des choses est necessaire par lui-möme si tu n’es pas, ou par ton döcret, 
si tu es (Pensdes philos.). Endlich verfiel er in Materialismus, Er läugnet 
den Unterfchied zwifchen Leib und Seele, vergleicht den Menfchen einem mufica- 
liſchen Inſtrument, das fich nur dadurch unterfcheide, daß es fich felber fpiele, 


während beim Klavier ein Muficus erforderlich fei, Das „Gefühl“ der Unfterbliche 
feit ift nichts Anderes als die Begierde, fich bei der Nachwelt berühmt zu machen, 
Seine Moral ift jene des Helvetius. Herrfcht in diefen atheiflifch-materialiftifchen 


Schriften noch Etwas, was man Anftand, guten Ton nennen fünnte, wodurch 
fie aber nur um fo fehädlicher wirkten, fo treten die nämlichen Beftrebungen am 
Unverfchämteften und Plumpften in den Schriften von La Mettrie auf. Selbſt 
ein Voltaire hafte ihn, nannte ihn einen Narren, und Diderot fagt von ihm: 
il est mort comme il devait mourir victime de son intemp6rance (er ftarb an In— 


digeftion) et de sa folie. Nach La Mettrie macht nur der Atheismus die Welt 
glücklich; die Seele ift ein Teeres Wort, denn fie iſt nur der Theil des Körpers, 
welcher denkt! Der Menſch ift eigentlich nur Thierz ja bis zu einem beftimmten 
Alter ift er noch mehr Thier als die Thiere Cil est plus animal qu’eux), weiter 
weniger Inſtinet als fie mit auf die Welt bringt; und nachher unterfcheidet er 
fih von ihnen wefentlich nur dadurch, daß er mehr Bedürfniffe hat Cin L’homme 7 
plante), Im Systeme d’Epicure erffärt er den Atheismus für das Grgengift der 











Materialismus, 925 


Mifantkropie; vortheilhaft fei er für den Bürger, weil er ihn der Neue über 
die Lafter enthebe, indem er ja nicht Urfache fer, daß die Federn feiner Mafchine 
fo ſchlecht fpielen, für den Philoſophen, weil er fich nicht für verantwortlich Halte. 
In der Schrift ’homme machine heißt e$: la mort est la fin de tout, un neant 
eternel; alles Andere hierüber une fable. Und die Moral Hieraus? Das Leben 
ift nur Genuß; iß und trinf und geniefe darum fo früh als möglich, damit du 
nicht verfürzt wirft; du weißt ja nicht, warn du fterben mußt! — Auf gleicher 
Stufe ſteht mit ihm der unbefannte Berfaffer des Systeme de la nature (f. d. Art. 
Holbach); auch es Hält den Unterfchied zwifchen phyfifcher und moraliſcher Welt 
für einen groben Irrthum; der Unterfchied zwifchen Körper und Geift ift nur der 
Unterfhied zwifhen Körper und Gehirn; die Annahme eines Gottes ift ein fo 
großer Irrtum, als es die Unterfheidung zwifchen Körper und Geift iſt. Damit 
fällt auch die Religion im gewöhnlichen Sinne weg; den beften Sinn hat fie 
noch, wenn man fie als Mythologie auffaßt, denn Gott if die Natur, Die Un— 
fterblichfeit ift auch hier „vivre dans la m&moire des hommes*. Die Moral ift 
in folgenden Sägen niedergelegt: Etre utile c’est contribuer au bonheur de ses 
semblables, @tre nuisible c’est contribuer à leur malheur. Le bonheur n’est que 
le plaisir continue. Die Freiheit ift begreiflicher Weife auch geläugnet; die 
Reue beweife nichts Hiefür, denn fie fei nur ein fohmerzhaftes Gefühl über den 
Verdruß, den nur gegenwärtige oder zukünftige Folgen unſerer Leidenſchaften 
verurſachen; wären diefe Folgen immer nüglich für ung, wir würden nie Reue 
empfinden. Wie La Mettrie findet auch das Systeme de la nature im Atheismus 
einen großen Troft, nämlich, daß derfelbe die Menſchen zum Wenigften fein laſſe, 
wie fie find, während die Religion die Leidenschaften nur immer mehr fanatifire, 
Da ferner der Atheift weiß, daß fein Blick fich nicht über die Grenzen des Dies- 
feit$ erweitere, fo muß er mindeftens wünfchen, daß feine Tage in Glück und 
Frieden dahin fließen. Sp war der Menfch jest gänzlich in das Diesfeits herab— 
gezogen, die Materie fein Gott, ihr Dienft feine wahre Tugend. Der geiftige 
Menfh war feiner Würde entfleivet, feines idealen Inhaltes entleert und durch 
den Raufch der Sinnlichkeit in den Schlamm des gemeinften Materialismus hinab- 
geriffen! Die Entwiclung war confequent; der Empirismus hatte mit feiner Fdee, 
fondern mit der Materie begonnen, er endete ohne Fdee, mit der Materie! — 
Diefe revolutionäre Bewegung des philofophifchen und religiöfen Geiftes, mit 
der in unfeliger Berblendung, und ohne Ahnung ihrer eigenen Gefahr felbft die 
hohen und höchſten Herrfchaften, ja fogar ein Theil der Hohen ©eiftlichfeit koket— 
tirte,, war zunächft gegen das Chriſtenthum und die Kirche gerichtet. Es iſt 
aber Teicht begreiflih, daß fie auch auf die Wiffenfhaft den größten Einfluß 
ausüben mußte, In der Logik galt feit Helvetius der Grundſatz: Penser c’est 
sentir, rien que sentir; fie war ſonach nichts Anderes als die Lehre von den Ge— 
danfen als feiner Seeretion des Gehirnes. Der Arzt Cabanis empfing für 
diefe geiftreiche Erfindung ungetheilten Beifall. Die Pſychologie ging in Phyſio— 
Iogie und Medicin über; die cartefianifhe Metaphyſik (ſ. Carte ſius) galt als 
Hirngefpinnft und wandelte fich in Phyfif um. Die Moral wurde nicht etwa bloße 
Glückſeligkeitslehre oder Eudämonismus (f. d. A.) fondern die Theorie des Egois— 
mus! Wie fonnte da noch von Theologie die Rede fein! Noch im J. 1798 er= - 
regte der fromme St. Pierre allgemeine Entrüftung, als er aus Beranlaffung 
feiner Aufnahme in das Institut de France in feiner Antrittsrede zum erften Male 
den Namen Gottes ausſprach! Dieje materialiftiihe Richtung dauerte bis zu Ende 
des Kaiſerreichs. Sie ift eigentlich bis auf heute noch nicht ganz erlofchen. Das 
Bud von Lemaire, Initialion à la philosophie de la liberte, Paris 1842 — 43 
2 vol. ift nichts Anderes, als die Nepriftination des materiellen Pantheismus, 
wie er im Systeme de la nature enthalten ift. — In Teutfchland hatte diefelbe 
theologiſche Richtung wie in England ſich unter dem Namen des Nationalis- 


u ee ee re er 





926 Materialismug, 


mus (f. d. A.) geltend gemacht, ohne jedoch mit feiner theologia naturalis big 
zum Materialismus zu kommen. Dean hat dieß dem tieffinnigen und religiöfen 
Gemüthe des Teutfchen zugefchrieben, Jedenfalls aber hat an diefem Nefultate 
der glückliche Umftand, daß in Teutfehland das Bewußtfein der Nevolution auf 
politifhem Boden noch nicht erwacht war, auch feinen Antheil, Indeſſen follte 
der Materialismus darum nicht ausbleiben, Es follte bei den gründlichen und 
tieffinnigen Teutſchen nur auf eine ihrem philofophifchen Talente entfprechendere 
Weife als in Franfreich entwickelt werden! Der englifhe Empirismus und der 
dadurch veranlaßte Skeptieismus rief in Rant die Fritifche Philofophie hervor, 
welche den Idealismus begründete und mit rafchen Schritten durch Fichte, Schel— 
ling, Hegel zum Pantheismus (f. d. U.) führte, Mag nun der Pantheismus 
Gott in der Alleinheit der Welt fuchen, oder die Welt in Gott aufgehen laſſen, 
alfo die Welt eigentlih Täugnen, er führt in beiden Fällen zum Atheismus 
(ſ. Staudenmaier, Darftellung und Kritif des Hegelfh. Syft. S.852 u, f. w.), 
der aber felbft wieder zum Materialismus führt. Sieht doch Hegel felbft ven 
„sogenannten“ Materialismus und Atheismus der Encyelopädiften als das noth- 
wendige Refultat des reinen begreifenden Selbftbewußtfeins an. Und die An- 
hänger diefer Philofophie erflären felbft die abftracte Identifteirung Gottes und 
der Welt in d'Alembert's und Diderot's Materialismus als einen wenigftens for- 
mellen Fortfhritt zur modernen Immanenz des Göttlichen in der Welt (Noad, 
die theolog. Encyelopädie als Syftem, Darmfladt 1847, ©, 473), Diefes For: 
melle ging aber bald in's Materiefle über, Hegel fegt das Wefen der Neligiom 


in das Selbftbewußtfein Gottes; da aber nah ihm Gott ohne die Welt nicht 
Gott, d.h. das Endliche wefentliches Moment des Unendlichen in der Natur 
Gottes ift, fommt Gott erft im Menſchen zum Selbftbewußtfein. Daher ift das 
Wefen der Religion auch Selbftbewußtfein Gottes im Menfchen. Es war num 
nur Confequenz aus dieſen Pramiffen, wenn L. Fewerbac das Wefen der Ne 


ligion als das Verhalten des Menfchen zu feinem eigenen Wefen beftimmte und 


fodann das Geheimniß der Theologie in der Anthropologie fand, Darnach fann 


der Menſch Fein anderes Wefen als abfolutes Wefen denken, ahnden, vorftellen, 


fühlen, glauben, wollen, lieben und verehren als das Wefen ver menfhliden 
Natur, Feuerbach verwahrt fi wohl gegen den gemeinen Materialismus, 


fagt aber geradezu, daß nur durch die Verbindung des Menfchen mit der Natur 
der fupranaturaliftifche Egoismus des Chriſtenthums überwunden werben könne. 


Zu diefem Zwede, lehrt er, dürfe man nur bie religidfen Verhältniffe umkehren, 


das, was die Religion als Mittel fegt, immer als Zweck falfen, was ihr das 
Untergeordnete, die Nebenfache, die Bedingung ift, zur Hauptſache, zur Urſache 


erheben, und man habe die Illuſion (des Supernaturalen, Transfcendenten in der 
Hriftlichen Religion) zerftört und das ungetrübte Licht der Wahrheit vor feinen 
Augen. Das ift denn auch der Zwed des „Wefens des ChriftentKums“ 
im zweiten Theile, der von der Religion in ihrem Widerfpruche mit dem Wefen 


des Menfchen handelt. Feuerbach gibt zwei eclatante Beifpiele zum Beften, Der 
Widerfpruch in den Sacramenten ift der Widerfpruch von Idealismus und 
Materialismus, Nur Testerer ift das Wahre und er befreit ihn vom Jenem 
dadurch, daß er z. B. die Taufe als Zeichen von der Bedeutung des Waf- 
fers felbft betrachtet und im ihr ein natürliches Bad mit natürlicher Wirkung 
auf den Menfchen, nämlich der Reinigung des Schmuges vom Leibe, aber au 


klarer fieht und denkt, fich freier fühlt und die Glut unreiner Begierden und die 


Drunft der Selbſtſucht erlifcht, als das nächfte und erfte Mittel, fich mit der 


Natur zu befreunden, anficht! Die Myfterien des hl. Abendmahls aber find ihm 
Effen und Trinken!!! Aber Feuerbach ift noch viel Marer, Nach ihm ift die wahre 
Religion die Liebe und Verehrung des Wefens der menfchlihen Natur, Aber 


mit intelleetueller und moralifcher Wirkung, weil der Menfch nämlich im Waffer Ei 





Ei 


% 
Ro 
= 










welches ift diefes Wefen? Hören wir ihn ſelbſt. „Der Menſch unterſcheidet fich 
nur dadurch von den Thieren, daß er der Iebendige Superlativ des Senfualis- 
mus, das allerfinnlichfte und alferempfindlihfte Wefen von der Welt ift.... 
Iſt aber, fährt er fort, als Wefen des Menſchen die Sinnlichkeit nicht ein ge- 
ſpenſtiſches Abſtractum der „Geiſt“, fo find alfe Philoſophien, alle Religionen, 
alfe Inſtitute, die diefem Principe widerfprechen, nicht nur irrthümliche, fondern 
auch grundverberblihe, Wollt ihr die Menfchen beffern, fo macht fie glücklich, 
wollt ihr fie aber glücklich machen, fo gebt an die Duelle alles Glücks, aller 
Freuden — an die Sinne” | (Feuerbach, ſämmtl. Werfe Br. I. ©. 371. 73.) 
Iſt aber das Wefen des Menfchen die Sinnlichkeit, und nicht das gefpenftifche 
Abftractum der „Geift“, und foll nah Feuerbah der Menfh das Wefen der 
menfhlichen Natur allein Lieben und verehrten, fo tft Far genug, worin diefe 
Liebe und Verehrung befteht! Die Speculation ift eine atheiftifche, materia=- 
Tiftifche geworden und bei den franzöfifchen Encyelopädiften angefommen! — 
Die gleiche Richtung verfolgten die Genoffen „des jungen Teutſchlands“, deren 
geiftige Bäter Ludwig Börne (eigentlich Löw Baruch, geb. den 22. Mai 1786 
zu Franff. a. M., geft. 12. Febr. 1837) und Heinrich Heine find, Die jün- 
gern Genoffen Iehnten fih an die moderne Philofophie an, von deren Tiſche fie 
aber nur Brofamen aufgelefen hatten, mit denen fie, ohne fie verbaut zu haben, 
prunfen wollten. Heine’s „Salon”, in dem er offen den Materialidmus pre= 
digt, Gutzkow's Roman „Wally”, wo Emancipation des Weibes und Emanei- 
pation des Fleifches gelehrt wird, fein fchmerzlicher Ausruf in der Vorrede zu 
Schleiermacher's vertrauten Briefen über die Lucinde: „Ah! hätte die Welt nie 
von Gott gewußt, fie würde glüdlicher fein“, beurfunden binlänglich den craffen, 
atheiftifchen, materialiftifchen Pantheismus. Hieran reihen ſich endlich jene Natur- 
forfcher und Medieiner an, die eine wefentliche Verſchiedenheit zwifchen Geift und 
Körper, alfo den Geift felbft läugnen, weil fie ihn nicht mit Augen fehen und 
mit dem Meffer gleich dem Körper feeiren Fönnen! Auf das Würdigfte reprä- 
fentirt fie Carl Bogt, weiland teutfcher Reichsabgeordneter, in feinen „phy— 
fiologifhen Briefen“, Er Hält den Materialismus für die alleinige Welt- 
anſchauung, von der aus man in der Wiffenfchaft zu erfleflichen Refultaten gelange. 
Nah ihm ift die Materie das einzig Unvergänglide, die Seele nur ein Product 
der Entwicklung des Gehirns, ihre Thätigfeiten, 3. B. Gedanken find nur Func- 
tionen der Gehirnſubſtanz; die Unfterblichfeit ift ein Raifonnement, das ihm 
nicht Far werden will! Dan glaubt, La Mettrie zu hören! Endlich dürfen die 
unzähligen Dichterlinge, Literaten, Redactoren, befonders aus dem Haufe des 
jungen Iſraels nicht übergangen werden, Doc ihre Zahl ift Legion! Alle find 
einig darin, mit gefammelten, vereinten Kräften alle Religion , alles Transcen- 
dente in ihr, alle Sittlichfeit und Tugend, alles gefunde fociale Leben, die Ehe, 
die Familie zu defiruiren und nur das Fleiſch, feinen Geift, feine Vernunft leben 
zu laffen! Wehe ver Welt, wenn diefer dickſinnliche Materialismus ihre Ethik 
würde! Der fittlihe Zuftand könnte fein anderer fein, als jener, wie ihn der hl. 
Paulus von vielen feiner Zeitgenoffen fhildert: „Viele wandeln als Feinde Chrifti, 
ihre Ende ift Verderben, der Bauch ihr Gott, ihre Ehre fuchen fie in ihrer eige- 
nen Schande, fie, die nur das Jrdifche, die Materie denken“ (oi va Eruiyera 
poov00VVrES) Philipp. 3, 18. 19, Denn der Materialismus ift entweder aus 
Atheismus entfprungen oder führt dazu, Die Oottlofigfeit aber ift Glaubens- 
Iofigfeit und Glaubenslofigfeit führt immer zur Sittenlofigfeit. — Zur Litera= 
tur: Sigwart, Handbuch d. theoret. Philoſophie. Tüb, 1820. S. 201 — 209. 
Friedrich Schlegel’s philof. Borlefungen herausgegeb. v. Windifhmann. Bonn 
1836. Bd, 1. S, 191— 194, 250—255. Erdmann’s Gefhichte der neuern 
Philofophie Bd. II. 1. Abthlg., welche die Entwiclung des Empirismus und Ma- 
terialismns von Locke bis Kant enthält, Leipz. 1840, Beſonders Stauden- 


f Materialismus, 927 


928 Materie — Mathefius, 


maier: die Grundfragen der Gegenwart, Freiburg 1851. Vgl, auch d. Ark 
Antinomismus und Hylozoismus. — [Wörter], 
Materie, Öegenfag von Geiſt, f. Geift. 
Maternus, erfter Biſchof von Cöln, f. Coln. 

Maternus, Julius Firmieus, riftliher Apologet des vierten Jahrh., 
Berfaffer der an die Kaifer Conftantius und Conftanz gerichteten Schrift „de 
errore profanarum religionum*, wird bei den Alten felten erwähnt. Sp viel man 
aus feinen Schriften fhließen fann, war er aus Sieilien gebürtig und lange Zeit 
ein Heide, als welcher er eine anfehnliche Würde beffeivete, Baronius meint zwar, 
er fei nach feiner Befehrung zum Chriſtenthum Bifchof geworden, bringt aber 
dafür Feine ſoliden Beweife vor. Zwifchen den Jahren 334— 337 verfaßte er 
acht Bücher „Matheseos“ oder nach einer andern Aufichrift „Astronomicorum* 
an feinen Freund Lolfianus, worin er noch ganz im heidnifchen Sinne von dem 
Einfluß der Geftirne auf die menfhlihen Dinge und Schidfale handelt und fei- 
nen Freund befhwört, dieſe ägyptifchen und babylonifchen Geheimniffe nicht aus— 
zubreiten, Diefe Schrift, welche Maternus noch als Heide verfaßte, erſchien 
gedruckt zuerft zu Benedig 1501 , dann zu Bafel 1551, Die oben erwähnte an- 
dere Schrift, welche Maternus nach feiner Belehrung fehrieb, erfchien zu Venedig 
1499 , Bafel 1533, Straßburg 1562 Cedirt von M. Flaceius), Paris 1589 in 
der Biblioth. P. P. t. IV., Leyden 1672, 1709 (v. Wowern und Gronov), Haag 
1826 (v. F. Münter). In diefer letztern Schrift über den Irrthum der profanen 
d. i. heidnifchen Religionen erklärt Maternus den Urfprung der heidnifchen Reli- 
gionen und thut durch viele Beifpiele dar, daß die Heiden aus den Elementen, 
aus verftorbenen und felbft Lafterhaften Menfhen, aus den Gegenfländen ihrer 
Neigungen oder Bedürfniffe und aus andern Dingen ihre Götter und Gdttinnen 
fih erbichtet Haben; dabei macht er auch bemerklich, daß die heidnifchen Fabeln 
und Gebräuche auch aus Mißdeutung, Verzerrung und Verftümmlung der bibli- 
chen Gefchichte entſtanden feien, Insbeſondere halt fih Maternus bei gewiffen 
mpfteriöfen Zeichen und Redensarten auf, deren ſich die Heiden bei ihrem Gdgen- 
dienft bedienten, und wendet fie im geiftlihen Sinne auf Chriftus an. Dupin 
in feiner Nouv. Bibl. t. I. p. 212 bemerft über diefe Schrift: „Ce trait& est trös- 
elegant et rempli d’une erudition profonde; l’auteur y montre beaucoup de science, 
d’esprit ei d’6loquence*. Uebrigens forderte Maternus in feiner Schrift die Kaifer 
auf, die heidnifchen Tempel zu zerftören, den Götzendienſt zu beftrafen und das 
Heidenthum mit Gewalt auszurotten. Vgl. auch Schrödh’s Kirchengeſchichte 
VL 11. Schroͤdl.j 

Matha, ſ. Trinitarier. 

Matheſius, Johann, vertrauter Jünger Luthers und Verfaffer der Pre- 
digten über Luthers Leben, zu Nochliz in Sachfen geboren 1504, ftudirte einige 
Zeit an der Univerfität Ingolſtadt, Hielt fich fodann zu Münden und auf dem | 
Schloſſe Ovelzhaufen auf, fam, von Luthers Schriften eingenommen, um 1529 
nah Wittenberg, um Theologie zu fludiren, wurde hier Luthers mehrjähriger 
Tiſchgenoſſe und erhielt im J. 1532 das Schulrectorat und fpäter das Paftoramt | 
im Soahimsthale, wo er bis zu feinem Tode 1564 blieb, Mathefius hielt es, 
gleich allen damaligen Proteftanten für feine Hauptaufgabe, ‚vor Allem eifrig 
wider das Papſtthum zu predigen, dabei fonnte er aber nicht umbin unter vielen 


Klagen einzugeftehen, daß troß des neuen Evangeliums die Leute immer ärger 
werben, und fihreibt die Urfache nicht mit Unrecht den Predigern der Solafides 
zu. Gegen Ende feines Lebens hatte er ſchreckliche Aengſten auszuftehen, die er 7 
für Anfechtungen des Satans hielt, der ihn zum Abfalle von Gottes Barmherzig« J 
keit und von dem Blute Chriſti habe zwingen wollen! Er hinterließ ſehr viele Pre- 
digten, darunter 17 Predigten vom Anfang, Leben, Lehr, Bekenntniß und feligen 7 


Abfchiede Martini Lutheri, die Berg - Poftille Sarepta, einen Traetat von den” 


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, —— Mathildis. 929 


Retfertigung, eine fonn- und fefttägliche Poſtill über die Evangelia, dem Kaifer 
Maximilian II, dedieirt, Hiftorie von Lehr, Leben und Sterben und Auferfiehung 
Jeſu CHrifti, die Lieder: Aus meines Herzens Grunde, und Herr Gott, der du 
mein Vater bift u. |. w. Mathefius gehörte unter Majors (ſ. d. AU.) Anhänger, 
Ein Nachkomme von ihm, Balthafar Mathefius, Hat 1705 fein Leben in teutfcher 
Sprache herausgegeben. S. Jöch ers Gelehrten-Lexieon, Döllingers Refor- 
mation II. — —— [Schrödl.] 

Mathildis, die heilige, Mutter des Kaiſers Otto L, ſtammte aus 
dem Geſchlechte des berühmten Sachſenfürſten Witukind und hatte zum Vater den 
Comes Thietrich, der in der Villa Enger bei Herford wohnte, zur Mutter aber 
Reinhilda, die Toter eines däniſchen Vaters und einer friefiihen Mutter. Ihre 
Erziefung genoß Matbildis im Klofter Herford unter der gleichnamigen Abtiffin 
Mathildis, der Mutter des Comes Thietrih. Herzog Dito der Erlaubte von 
Sachfen, der Bruder jenes erlauchten ſächſiſchen Großgrafen (Herzogs) Ludolf, 
Yon dem das Haus der Ludolfinger — wird, und welcher das Kloſter Gan- 
dersheim fliftete (|. den Art. Gandersheim), Hatte zwei Söhne, Thancmar 
und Heinrich, und da er von der Schönheit und den trefflichen Eigenfchaften der 
Zöglingin Mathildis hörte, fchickte er, um fi davon zu überzeugen, zuerft den 
Grafen Thietmar in's Kloſter, der fie mit Anwendung von Lift zu fehen befam, 
worauf dann Heinrich felbft, Otto's Sohn, mit glänzendem Gefolge vor dem 
Klofter erfchien und um Mathildis warb und fie befam, Bald folgte die Hoch— 
zeit; zur Morgengabe ſchenkte Heinrich feiner Gemahlin: alles zur Stadt Wall- 
haufen Gehörige. Nach Otto's Tod (+ 912), welchem Heinrich füccedirte, und 
nach des Tegtern Erhebung zum König der Teutfchen wurde Mathildis nicht ftolz 
oder eitel, und wenn fie auch öffentlich in Seide und Evelgeftein erſchien, fo be= 
wahrte fie doch dabei ein gottgefälliges, demüthiges und Liebreiches Herz, ftahl 
ſich Nachts oft von der Seite ihres Gemahls zum Gebet weg, und intercedirte 
gerne für Unglüdliche, Gefangene und Verbrecher. Ihren Kindern Otto, Hein- 
rich, Bruno und Gerberga gab fie eine trefflihe Erziehung und war die Seele 
des ſchönen Familienlebens, das Eltern und Kinder umfchlang, wobei Mathilde 
nur den Einen Fehler fih zu Schulden fommen ließ, daß fie für ihren Sohn 
Heinrich eine große Vorliebe Hatte, Am Sterbebette dankte ihr Heinrich, ihr Ge— 
mahl (+ 936), daß fie feinen Zorn oft befänftiget, ihm zu affem Guten Rath 
gegeben, ihn zur Barmherzigkeit angeleitet habe. Ehe fie noch ihren Thränen 
über Heinrichs Tod freien Lauf ließ, war es ihre erfie Sorge, zu fragen, ob noch 
ein Priefter da wäre, welcher noch nichts gegeffen und daher für Heinrichs Seele 
das hf. Meßopfer entrichten fönnte? Cs fand fich der Priefter Adeldach; fie blieb 
ihm feitvem immer befonders gewogen und verfhaffte ihm in der Folge einen bi- 
fhöflihen Stuhl, Nachdem fie die Meffe gehört und dem Celebranten zwei gol- 
dene, Fünftlich gearbeitete Armfprangen gefchenft Hatte, eilte fie zur Leiche des 
Gemahls und goß ihren Schmerz in heiße Thränen aus. Zu diefem nie ver- 
fiegenden Schmerz gefellte fih bald ein neuer, Dem König Heinrich folgte als 
Herzog und König nicht fein Sohn Heinrich, wie e8 Mathilde wünſchte, fondern 
Dito, der ältere Sohn, in Folge deffen der alte Zwift zwifchen den zwei Brü- 
dern fih mehr und mehr verfchlimmerte, Hatte Mathilde dur ihre Vorliebe für 
den jüngern Sohn Heinrich den Samen zum Bruderzwift ausgefäet, fo war jetzt 
fie e8 auch, welche fich alle Mühe gab, die entzweiten Herzen zu verföhnen, was 
ihr auch allmählig gelang. Mathilde fonnte nun wieder ungeftört ihrem Hange 
zu Werfen der Frömmigfeit und Milde Folge leiſten. Mit unbefchreiblicher An- 
dacht wohnte fie der. HI. Meffe bei, bei der fie jedesmal Brod und Wein opferte. 
Speife und Schlaf genoß fie nur nah Nothbedarf und war mit dem Habnen- 
gefchrei oft fhon mit dem ganzen Pfalter fertig. Selten fah man fie erzürnt, 
nie übermäßig trauernd oder lachend. Bon ihren Einfünften fpendete fie frei— 

Kirchenlexikon. 6, Br. 59 


930 Mathildis. 


gebigſt an Arme und Diener Chrifti.” Allein ihre Freigebigkeit, ihre Mildthätig- 
feit zogen einen ſchweren Sturm über fie herbei. Es verbreitete ſich das Gerücht, 
fie hätte ungeheure Summen angehäuft und den Fön lichen Schatz durch ihre = 
überfchwänglihen Ausgaben für die Armen gänzlich erfhöpft; Dito glaubte daran 
und ließ fogar Häfcher aufftellen, welche Mathildens Almpfenaustheilern die Al 
mofen und Gaben abnehmen follten; felbft Heinrich wurde an der Mutter irre, 
und dieß that ihr beſonders wehe. Zulegt verließ fie notbgebrungen, und um 
nicht ferner ihren Söhnen eine Beranlaffung zu Beleidigungen Gottes zu fein, 
Die ihr von Heinrich, ihrem Gemahle, gefchenkten Güter und zog fich in ihre Hei- 
math zurück. Mit der Mutter zug fih aber der Segen von Dito und Heinrich 
weg, allerlei Strafen Gottes kamen über fie, Da berebeten Priefter und welt- 
Yihe Große die Gemahlin Otto's, Edith, fie möge doch Dito bewegen, bie 
Mutter wieder zurüdzurufen. Otto, fein Unrecht einfehend, folgte dem Rathe; 
er fchiekte eine glänzende Gefandtfhaft an Mathilde ab, fie zur Rückkehr einzu= 
Yaden, eilte ihr dann felbft entgegen, und flieg, als er fie erblicdte, fogleih vom 
Pferde und bat auf den Knicen um Vergebung, Weinend flehte auch Heinrich um 
Berzeihung. Mathilde wurde nun wieder in alfe ihre Ehren und Güter eingefegt, 
feitvem flörte nie mehr ein Mißklang die Einigkeit und Liebe der föniglichen Fa- 
milie. An andern Prüfungen fehlte es indeß Mathilden nicht, Die größte nah 
dem Tode ihres Gemahls war: der Tod ihres geliebten Sohnes Heinrich, des 
Herzogs der Bayern (+ 955). Eine bayerifche Gefandtfchaft Fündete ihr den— 
felben zu Duedlinburg an. Ihre Thränen flogen den ganzen Tag, an welchem 
fie die Trauerbotfchaft erhielt, ohne Aufpörenz zulegt rief fie alle Nonnen des 
Klofterd Quedlinburg, wo fie wohnte, zufammen, betet mit ihnen in der Kirche, 
geht fodann zu der Tumba, welche den Leichnam ihres Gemahls umſchloß, und 
brach mit darüber geneigtem Haupte in die Schmerzensworte aus: „OD mein Herr, 
wie glüclich bift du, der du diefen Schmerz nicht erlebt Haft! Bisher habe ich 
mich über deinen Tod nur immer durch dein Ebenbild, deinen Sohn, tröften 
fönnen, num ift auch diefer Troft dahin!“ Seit diefer Zeit vertaufchte fie die kö— 
niglihen Kleider mit Trauergewändern, feitden „neminem: voluit audire carmina 
secularia cantantem nec quemquam videre ludum exercentem, sed tantum audivik 
sancta carmina de evangelis vel aliis scripturis sacris sumpta nec non in hoc se- 
dulo delectabatur, ut de vita vel passione sanctorum sibi cantaretur“; feitdem nahm 
wie ihre Liebe zu Gott, fo auch ihre Mildthätigkeit um Chrifti willen noch einen 
böhern Schwung. Denn zweimal des Tages, erzählt ihre vortrefflicder Biograph, 
fpeiste fie die Armen und gab von ihrem eigenen Tifche weg die beften Gerichte 
den Nothdürftigen, Aber was Wunder, ruft der Biograph aus, daf fie gegen 
Menfchen fo wohlthätig ift, da fie auch den Hahn, der die Gläubigen zum Dienft 
Gottes aufwect, und die Vögel nährte? Wohin immer fie reiste, ließ fie neben 
dem Wagen her Wachsferzen für die Dratorien und Speifen für die Armen auf 
dem Wege tragen, Wenn fie im Wagen dem Gebete oder der Leetüre oblag 
oder etwas fihlief, fo durfte ihre treue Dienerin Richburga Feinen Armen ohne 
Gruß oder Gabe vorüberziehen laſſen, und wenn fie es verſäumte — wobei Ma- 
thilde gewöhnlich erwachte, fo feinhörend war ihr Ohr für die Stimme ber Ar- 
mut — fo mußte der Wagen anhalten und der vorübergelaffene Arme zurüd- 
gerufen werden. Wo immer fie fih im Winter aufpielt, da forgte fie dafür, dag 
unter jedem Dach täglich die ganze Nacht Hindurch das Feuer brannte, und zus - 
gleich Tieß fie unter freiem Himmel ein Feuer unterhalten, damit die Vorüber- ’ 
gehenden ſich wärmen fünnten und in der Finfternig der Naht ein wohlthätiges j 
Licht Teuchtete. Vorzüglich war es der Samftag, an welchem fie allwochentlich 
als am Vorabende des Sonntags und dem Sterbetage ihres unvergeßlichen Gat- i 
tem ihrer Mildthaͤtigkeit die Krone auffegte, für die Armen Bäder zubereiten Tief, ! 
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wobei fie oft die Dienfte einer Bademagd verrichtete, den Kranken Obſt und das 





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Mathuriner — Matrifelder Geiftliden. 931 


Befte von der königlichen Tafel überſchickte. Den Dreißigſten und Jahrestag des 
Todes ihres Gatten widmete fie gleichfalls in befonderer Weife frommen Werfen, 


= An Feiertagen las fie in HI. Büchern oder ließ fih daraus vorlefen, An Werf- 
- tagen pflegte fie auch Handarbeiten zu verrichten, und hatte fie irgend einen Tag, 


gehindert durch Liebeswerfe, nichts arbeiten Fönnen, fo nahm fie noch vor Tiſch 
und bei demfelben ftehend irgend eine Arbeit vor, um, wie fie fagte, das Brod 
nicht umfonft zu effen. Diefe herrliche Frau, wohl wiffend, daß damals vorzugs- 
weife aus den Mlöftern alles Gute ausging, wie.fie ja felbft eine der fchönften 
Blüthen diefer Inftitute war, nahm fih auch um die Klöfter fehr an und fliftete 
neue Klöfter zu Duedlinburg, Norbhaufen, Polde und Enger, worunter Dued- 
linburg (f. d. A.) das vornehmfle war und wohin die Nonnen des Klofters Wi- 
nithohufen (geftiftet von Liutbirga, Tochter des Oftphalenfürften Heffi, der ſich 
775 an Carl d. Gr. ergab, Chrift wurde und 804 flarb, f. Pers, Script, IV 
(VD, 158.ete.) transferirt wurden. Für fo viel Edles und Heiliges, das fie 
wirkte, empfing fie ſchon hienieden einen Theil des Lohnes. Zwar mußte fie auch 
ihrem jüngften Sohne Bruno, dem ausgezeichneten Erzbifhof von Coln (f.d.A.), 
im J. 965 in’s Grab ſchauen; allein in der tiefften Ehrfurcht und der zarteften 
Liebe Otto's und feiner zweiten Gemahlin, der hl. Adelheid (ſ. über Adelheid 
Pers, Script. IV (VD, p. 633—649 und Bolland. 9. Febr.) gegen fie, im fröß- 
lichen Kreiſe ihrer heranblühenden Enkel und Enfelinnen und in der glorreichen 
Regierung und Erhebung Otto's zum römifch-teutfhen Kaiſer fand fie einen 
reichen Erfag. Im Nonnenflifte Nordhaufen fahen ſich Mathilde und Dito zum 
legten Male, Nahdem fie ihm nochmal recht dringend dieſes Stift empfohlen, 
das fie bier, wo ihr Sohn Heinrich und ihre Tochter Gerbirg geboren worden, 
für die Seelen ihres Gemahls und Sohnes Heinrih, für die Stabilität des 
Reiches und für alle die Zhrigen errichtet Hatte, hörten fie mit einander die HL, 
Meffe, und weinend begleitete dann die Mutter den weinenden Sohn zum Pferde, 
Auf einmal, da Dito fhon im Begriff fand, abzureiten, verkündet ihm fein eben 
aus der Kirche fommendes Gefolg, nah dem Abfchied von ihm (Dito) in die 
Kirche zurücdgefehrt, fei Mathilde an die Stelle, wo er während der Meffe ge- 
fniet, bingeeilt, babe fih da auf die. Knie geworfen und füffe unter Thränen die 
Spuren feiner Füße. Otto fleigt fchnell wieder vom Pferde, begibt fih in die 
Kirche, fieht tief bewegt das rührende Schaufpiel und kniet fih zu ihrer Seite 
nieder. Doch gottergeben rafft fih jest Mathilde auf und entläßt ihren Sohn in 
Chriſti Frieden. Sie befuchte nochmal alle ihre Klöfter., Im Gefühle des nahen 
Todes begab fie fih in das Klofter zu Duedlinburg, um bier an der Seite ihres 
Gemahles Heinrich begraben zu werden. Sterbend gab fie ihrer Enfelin Ma- 
thilde (welche nachher das Klofter Duedlinburg erweiterte und demfelben würdig 
vorſtund, f. Pers, Script. III CV), T7A—75) heilfame Lehren. Man mußte fie 
zur Erde auf ein aufgebreitetes Cilicium legen und ihr Haupt mit Aſche beftreuen. 
So ftarb fie am 14. März 968, — Der Berfaffer ihrer ſchönen Biographie iſt 
ein Clerifer, der. vierzig Jahre nah Mathildens Tod auf Geheiß Kaifer Hein- 
richs des Heiligen, ihres Urenfels, ihr Leben befhrieben hat, das bei Perg, 
Seript. IV (VD, p. 2832—302 und bei den Bollandiften 14. März zu finden 
if. Auch der Minh Widufind von Corvey feiert ihr Andenfen durch ein herr⸗ 
liches Eloguium, f. Pers, Seript. IIE (CV), p. 465—466, [Schrödl.] 

Mathuriner, ſ. Trinitarier. 

Matrikel der Armen, ſ. Mensa pauperum. 

Matrikel der Geiftlihen heißt das Verzeichniß, welches den Perfonal- 
beftand der an einer Cathedral-, Collegiat- oder Pfarrkirche angeftellten und be- 
pfründeten Cleriker enthält. Bon jeher nämlich wurben die an einer Hauptfirche 
(titulus). bleibend. angeftellten Eferifer, zum Unterfhiede der nur aushilfsweife 
gebrauchten oder bloß eine Zeit lang in einer fremden Pfarrei — com⸗ 

9 


932 Mattathias — Matthäus von Weftminfter, Ä 


morirenden Geiftlichen, Cleriei intitulati genannt und in das Verzeichnif (matri- 
cula) der an der betreffenden Kirche beamteten Geiftfichen eingetragen, daher 
clerici immatriculati i. e. ecclesiae matrici adseripli. — 

Mattathias, |. Maccabäer. — 

Matthäi, ſ. Bibelausgaben. 

Matthäus der Apoſtel, ſ. Evangelien, 

Matthäus Blaftares, f. Canonenfammlungen. | 

Matthäus Florigerus, ſ. Matthäus von Weftminfter, 

Matthäus Pariſius (Paris, Parisiensis), englifher Benedietiner und 
Shhriftfteller des 13ten Jahrhunderts, wurde wahrfrheiniih gegen Ende des 
12ten Jahrhunderts geboren und führt feinen Zunamen Parifins von feiner Fa- 
milie, nicht von der Stadt Paris; denn obgleich man nicht weiß, wo in England 
Matthäus das Licht der Welt erblickte, fo fteht doch fo viel feſt, daß England 
fein Vaterland iſt. Im 3. 1217 Iegte er, wie er felbft berichtet, dag Ordens- 
gewand des hl. Benedict im Klofter des HI. Alban bei Altverulam an, Er war 
ein Mann von vielen Studien und Kenntniffen, fchrieb, wenn man den Eabmer 
(1. d. 4), Wilhelm von Malmesbury (f. d. A.) und Wilhelm von Newbury 
(ſ. d. A.) ausnimmt, unter den englifhen Ehroniften am beften lateiniſch, führte 
aber eine fehr fpigige und fcharfe Feder, theilt Hiebe nach) allen Seiten aus, fällt 
rückſichtslos über Papfte, Kaifer, Könige, Bifhöfe, Aebte, Mönche und Alles 
ber, was ihm über den Weg fommt, ift ſtets verworren, wie die vielen Irrthümer 
in feinen Schriften beweifen, und nahm es oft auch mit der Wahrheit fo wenig 
firenge, daß er, fortgeriffen von blinder Kritifirfucht und Leidenfchaftlichkeit, pi= 
cante Anecdoten, unverbürgte, felbft unfinnige Sagen, und allerlei Verdaͤchtigun⸗ 
gen, Vebertreibungen und Berläumdungen für Hiftorifche Thatfachen gibt. Für 
Sene, welche das Derlamiren gegen den Stolz und die Habfucht der Päpfte zu 
den befondern Merfmalen des proteftantifchen Geiftes zählen, ift Matthäus claf- 
ſiſch, und fie mögen ihn unter die Vorläufer der Reformation zählen, was indeß 
doch fchwer hält, da er nie das In ſtitut des Papfttbums angriff und ungeachtet 
feiner Iuvectiven gegen die Minpriten und Dominicaner doch ein eifriges Glied 
feines Drdens gewefen fein fol; ja er wurde fogar ein Reformator der Bene 
Dictinerflöfter Norwegens, wohin er auf Bitte der Norweger und im Auftrage 
des Papftes Innocenz IV. um 1248 reifen mußte. Von fich feldft redet Matthäus 
immer mit bedentendem Reſpect, und rühmt fi) namentlich feines: innigen Ber- 
bältniffes zu König Heinrich IN. von England, Man fest feinen Tod gewöhnlich 
auf das %. 1259. Seine fogenannfe historia major, eigentlih eine Chronif ' 
von Erfchaffung der Welt bis auf 1250 oder 1259, gehört größtentheils nicht 
ihm an, indem biefelbe von Erfhaffung der Welt an bis zu Chrifti Geburt einen 
unbefannten Chroniften, und von Ehrifti Geburt bis auf 1235 mit wenigen Aus- 
nahmen den Noger de Vendover, einen Genoffen des Matthäus im Klofter zu 
St, Alban (+ 1237), zum BVBerfaffer hat; erft von 1235 beginnt die Arbeit ves 
Matthäus, welche von 1259—1273 von W. Rishanger fortgefegt wurde, Außer- 
dem bat man von Matthäus Paris noch die Leben der zwei Dffa, Könige von 
Mercien, und die Leben der Aebte des Klofters St, Alban. ©, Oudin. com- 
ment. d. script. Ecel. t. III. p. 204, Lips. 1722 und ibid, p. 97; H. Schüz, S.I. 
comment. crit. de scriplis et scriptor. crit. historieis, Ingolst. 1761, tit. Pa- 
risius. 0 Schr) 

Matthäus von Wejtminfter, Mönd der Weftminfter-Abtei zu London, 
geftorben im Jahre 1307, wie Cafimir Dudin in feinem Commentar de soript. 
Ecel. t. II. p. 700 (Lips. 1722) gegen Jene nachweist, weldhe deſſen Tod auf das 
3. 1377 hinausgefchoben haben, Fommt öfter auch unter dem Namen Matthäus 7 
Slorigerus vor, weil er ein aus mannigfaltigen Chronifen zufammengefegtes 7 
Gefhichtswerf verfaßte, welches „Iores historiarum* betitelt iſt. Diefes fehr um- 7 













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— 


Matthias — Mauren. 933 


faſſende Geſchichtswerk hebt vom Anfang der Welt an und geht bis 1307. Die 
Sabre 1250 oder 1259 bis 1307 find von Matthäus felbft bearbeitet und zwar 
nach Oudins Bemerfung „cum tanta sinceritate, veritatis cura et studio, ut multam 
inde laudem apud aequos rerum aestimatores meruerit, quamvis ob dicendi cha- 
racterem maxime sordescat, pro more hujus saeculi“. Das Werk des Matthäus 
ift fehr viel benügt worden, theils weil die Duellen, aus denen er gefchöpft, 
Bielen nicht zugänglich waren, theils weil fich bei ihm Alles abgefürzt und zu- 
fammengezogen findet, Die vielen Legenden, die nacherzählt werben, und die 
ans Klofterchronifen gefammelten Nachrichten verleihen dem Werfe ein befonderes 
SIntereffe. Ausgaben dieſes Werkes erfihienen zu London 1567 und Frankfurt 
1601. Vgl. Lappenberg, Gef. Engl. Bd. 1. Einleitung. [Schrodl.)] 

Matthias, ohne Zweifel eier der zweiundſiebenzig Jünger Jeſu (efr. Cle- 
mens. Alex. stromat. lib. 4. Euseb. hist. eccles. Lib. I. c. 12. Hieronym. in Catal.), 
wurde in der Zeit zwifchen Ehrifti Himmelfahrt und der Geiftesfendung an des 
Zudas Iſcharioth Stelle durch's Loos und unter Gebet zum Apoftel erwählt, 
Apg. 1,23. Wie über fein früheres Leben, den Drt feiner Geburt ꝛc. nichts be— 
kannt ift, fo find auch über ferne apoftolifche Wirffamfeit, den Ort, die Zeit und 
Art feines Todes Feine ganz zuverläffigen Nachrichten auf uns. gefommen, Nah 
den griechifchen Martyrologien, womit auch Nicephorus h. e. lib. II. c. 40. über- 
einftimmt, bätte er zuerft in Judäa, dann in Aethiopien das Evangelium ge— 
predigt, dafelbft auch ein Bistum errichtet und fein Leben am Kreuze befchloffen, 
Geftüst auf die Nachricht in Dorothei Synops.: „Mathias in interiore Aethiopia, 
ubi Hyssus maris porlus et Phasis fluvius est, hominibus barbaris et carnivoris 
praedicavit Evangelium. Mortuus est aufem in Sebastopoli, ibique prope templum 
Solis sepultus“, nimmt Cave in f, antiquit. Apost. p. 743 an, daß Cappadocien 
mit Aethiopien verwechfelt fer, denn nur in Cappadocien fei der bifhöflihe Sig 
am Ausfluffe des Asparus (oder Phaſis) oder der Hafen Hyffus zu ſuchen. Wäh- 
rend fodann Hippolytus und Iſidor in tractatu de vita et morte sanctor. novi 
Testam. c. 80. ihn, ohne daß feines Martyrertodes erwähnt wird, zu Jeruſalem 
fterben und begraben werben Jaffen, wurde er nach Andern von den Juden als 
ein Gottesläfterer gefteinigt und dann enthauptet (Perionii vita apost. p. 178 sq.);5 
über die Zeit und den Drt feines Martyriums Taffen uns die alten Nachrichten 
noch mehr im Ungewiffen. Conftantins d. Gr, Mutter, die HI. Helena, habe die 
Reliquien des HI, Matthias nah Rom gebracht, und einen Theil derfelben be— 
wahrt man in der Kirche zum hl. Matthias zu Trier und in jener der HI. Maria 
ber Aeltern zu Rom. Das Feft diefes Apoſtels wird in der römifchen Kirche am 
24, und je im Schaltjahre am 25. Febr., in der griechiſchen Kirche dagegen am 
9. Auguft gefeiert, Schon frühe hatte man unter des Matthias Namen ein apo— 
ergphifches Evangelium, cfr. Euseb. h. e. III. c. 25, auch erwähnt Clem. Alex. - 
Strom. 2, 163. 7, 318. rreo@dooeıs des HI. Matth., welche Ueberlieferungen, 
traditiones (cfr. Hieron. Prooem. commentar. in Matth.) vielleicht mit jenem einerlet 
Schrift waren. ©, den Art. Apoeryphen-Literatur. Bol, Winer, bib- 
liſches Realwörterbuh, Band I. Augufti, Denkwürbigfeiten aus der drift- 
lichen Archäologie, Band II. S. 240 ff. Acta Sanctor. Tom. I. Februarü pag. 
431—454. [örig.] 

Matutin, f. Brevier. 

Mauren, die, in Spanien, Mit dem Namen Mauren bezeichnet man jenes 
Miſchvolk, welches in Nordafrica durch die Vermifhung der Berbern und Araber 
entftand, als Teßtere im fiebenten Jahrhundert das alte Mauritanien eroberten, 
d, i. mit Hilfe der Berbern den Byzantinern entriffen, Nordafrica war jetzt ein 
Theil des großen Kaliphates, deffen Nefidenz feit der Thronbefteigung der Omi— 
jaden (660 n. Ehr.) von Medina nach Damascus verlegt worden war. Bon der 
nordafricanifchen Küfte blickten nun die für Verbreitung des Islams und für Er- 


934 Mauren. j 


oberung gleich glühenden Araber nach dem nahen Spanien hinüber und fuchten eg 
auch bald mit räuberiſchen Streifzügen heim, wurden aber 672 von dem fräftigen 
gothifchen (ſpaniſchen) Könige Wamba mit großem Verkufte zurückgetrieben, Do 
nicht Tange, fo öffnete eine innere Parteiung in Spanien ihnen den Zugang zu 
dieſem Lande, Einer der nächften Nachfolger Wamba’s, Wittiza, hatte den 
Herzog Theofried von Cordoba blenden laſſen. Darüber erregte deffen Sohn 
Roder ich eine Empörung und bemädtigte fih 710 des Thrones, Aber Wittiza’s 
Söhne, in Verbindung mit ihrem Oheim, dem Erzbifhof Oppas von Sevilla, 
und dem Grafen Julian, Statthalter von Septum (Ceuta), riefen jeßt aus 
Haß, um Noderich zu flürzen, den arabifchen Statthalter Mufa aus Africa zu 
Hilfe. Schon 711 erfihien deffen Feldherr Tarif an der Südſpitze Spaniens und 
fiegte in ver großen Schlacht bei Xeres de Ia Frontera, König Roderich fiel mit 
dem größten Theil feines Heeres, Mufa aber rüdte jest felbft mit neuen Schaa— 
ren nah, eroberte in weniger als fünf Jahren beinahe die ganze pyrengiſche 
Halbinfel, und gründete fo die Herrfchaft ver Mauren in Spanien, Nur noch 
in den nördlichen Gebirgen von Afturien, Biscaya und Caftilien hatte ein Spröß- 
ling des alten Königshaufes, Pelayo, ein wenn aud Feines, doch unabhängiges 
chriſtliches Reich fich gerettet; in den weſtlichen Pyrenäen aber wußten die Basfen, 
wie früher gegen die Weſtgothen (f. Gothen), fo jegt auch gegen die Mauren 
ihre Freiheit zu bewahren. Alles übrige Spanien war in die Gewalt der Mo— 
hammedaner gefallen und dem großen Kaliphate einverleibt, von diefem aber in 
Bälde wieder getrennt und in das felbfiftändige Kaliphat Yon Corbova (756) 
verwandelt worden, welche eine Heimath der Künfte und Wiffenfchaften, aber 
auch des Lurus und aller Art Ueppigfeit wurde, Den weitern — —— der 
Araber hemmte Carl Martel (ſ. d. A.) durch die blutige Woche von Poitiers 
(732) fo gründlich, daß es die Geſchlagenen nie mehr die Pyrenäen zu über— 
fhreiten gelüftete, Dagegen griff fie in ihrem eigenen Lande ſchon des Ham— 
mers“ großer Enfel Carl an, nahm ihnen einen Theil des kürzlich Eroberten 
und verfhmolz es in die große hifpanifche Mark, woraus fih nach feinem Tode 
eine Reihe Heiner chriſtlicher Reiche, zuletzt das Königreih Navarra und die ſchöne 
Graffhaft Barcelona oder Catalonien bildeten. So ging der Stern der fpani= 
fchen Unabhängigkeit wieder auf, denn auch Pelayo's Feiner Staat war unter- 
deffen durch glückliche Kämpfe gegen die ungläubigen Fremdlinge gewachfen und 
hatte fich fchon im Anfange des zehnten Jahrhunderts (918) zum Königreiche 
Leon und der Graffchaft Burgos oder Caftilien erweitert. — Cine neue und große 
artigere ſpaniſche Staatenbildung begegnet ung feit der Mitte des eilften Jahr- 
hunderts, Im Jahre 1028 war die Grafichaft Caftilien durch Erbe an Sandholll, 
Major von Navarra, gefallen, aber durch Theilung erhielt fie fein Sohn Fer— 
dinand (1035) als eigenes Königreich, und da er drei Jahre fpäter auch Leon 
fammt Galicien ererbte, bildeten von nun an diefe drei Staaten, freilich nicht 
ohne Unterbrechung vereint, aber feit Ferdinand II. (1230) auf immer und ge- 
feglich verbunden, das größte unter den fpanifchen chriftlichen Reihen, das zu- 
gleich die Beſtimmung in fich trug, die fhöne pyrenäifche Halbinfel zulegt ganz 
von der maurifchen Gewalt zu befreien, Schon 1084 fiel Toledo, die alte 
weſtgothiſche Nefidenz, wieder in die Hände der Chriften und wurbe jeht bie 
Hauptftadt Eaftiliens, — Frühe erhielt diefer Staat einen flarfen Nachbar am 
Aragon, welches, Anfangs unbedeutend, fich ſchnell zu beträchtlicher Ausdehnung 
und Stärfe erhob, Bisher ein Theil des frühzeitig großen Navarra’s, war es 
durch diefelbe Theilung, wie Caftilien, im Jahre 1035 ein eigenes Königreich 
unter Sancho's Sohne Ramiro geworben. Erbſchaft und Eroberung brachten 
bald bedeutenden Zuwachs, und nach der Vereinigung mit Barcelona durch Hei 
rath (1137) nahm Aragonien alsbald den zweiten Nang im chriſtlichen Spanie 
ein, während Navarra nunmehr die dritte Stelle verblieb, Ja, es ſank ſogar 
















Mauren, * 935 


zur vierten herab, nachdem Alphons VI. von Leon und Eaftilien feinem Tochter- 
manne Heinrih von Burgund den wefllihen, den Mauren wieder entriffenen 
Küftenfirih als erblihe Grafihaft Portugal zugewiefen hatte, — Aehnliche 
Theilungen unter Söhne und Töchter ſchwächten und zerfplitterten wiederholt die 
fpanifhen Reiche, bis Ferdinand III. (ſ. d. A.) im Jahre 1230 Laftilien, Leon 
und Oalicien gefeglich auf immer verband und Gleihes für Aragon, Barcelona 
und Catalonien im Jahre 1319 erfolgte, — So lange der Kriftlihen Reiche in 
Spanien noch viele, ihrer gegenfeitigen Fehden aber unzählige waren, hatten die 
Mauren auch von dem begeifterten Heldenthum der fpanifchen Ritter nur wenig 
zu fürchten. Aber auch bei ihnen riß ſchon in den drei erſten Jahrhunderten nach 
der Eroberung Zwietradht in dem Maße ein, daß wiederholt einzelne Parteien 
den Beiftand der Chriften erflebten, und fo diefen den Fortfchritt ihrer Waffen 
felber erleichterten. — Noch mehr, gerade zu der Zeit, als Caftilien und Aragon 
ſich zur Selbftftändigfeit und Größe erhoben, erloſch im Jahre 1038 der Stamm 
der Dmijaden auf dem Throne von Cordova, und das bisher einige Kaliphat zer— 
fplitterte in eine Reihe Fleiner Gebiete unter befondern Theilfürften, wie einft 
das macedonifche Reich nach dem Tode Aleranders des Großen, Hatte ſchon das 
eine Raliphat im Norden Berlufte gegen die Ehriften erlitten, fo wurden jegt 
die faft immer uneinigen Theilfürften noch weit Teichter befiegt, und zwei Men- 
fchenalter nach dem Erlöfchen des Kaliphats war ſchon die Hälfte der pyrenäifchen 
Halbinfel, bis an den Tajo, Hhauptfählich durch die Grofthaten des Eid Cam- 
peador (+ 1099) von ven Chriften wieder erobert, Für die Mauren folgte jegt 
raſch ein Schlag auf den andern; felbft ihre prachtoolle Hauptfladt Cordovä fiel 
in die caftilifchen Hände, und um die Mitte des 13ten Jahrhunderts war von 
den vielen maurifchen Reichen nur mehr das fihöne Granada übrig. Eine 
ſchmale, aber paradiefifche Landfhaft an der Südfüfte Spaniens, im Innern 
blühend durch Wohlftand und Bildung, reich an poetifchem und ritterlichem Geifte, 
vrientalifche Sitte geſchmackooll mit europäischer mifchend, war es feft durch feine 
Lage, noch fefter durch den Muth feiner Bewohner, gefchügt durch die zahlreichen 
Thürme feiner Städte und die wilden Schluchten feiner Gebirge, zugleich im Be— 
fige alfer Mittel, welche Kunft, Handel und Reichthum bieten, dur das Meer 
gedeckt und durch die Glaubensbrüder im benachbarten Africa fräftig unterflügt, 
Sp wußte fih das Feine Granada noch über zweihundert Jahre in Unabhängig- 
feit und Kraft zu erhalten, Aber am 19. October 1469 vermäßlte fir) Ferdinand, 
der Erbe von Aragonien, mit Iſabella, der Erbin von Caſtilien, und letztere trat 
fhon im Jahre 1474, erfterer im Jahre 1479 in den wirklichen Befig der Re— 
Hierung ihrer Länder, Kaum Hatten fie fih in demfelben gefeftigt, fo richteten 
fi die Blicke diefes merkwürdigen Herrfcherpaars auf jene ſchönen Länder des 
fpanifhen Südens, wo ſchon feit nahezu achtgundert Jahren das Kreuz von dem 
Halbmond verdrängt war. Die Eröffnung der Feindfeligfeit von Seite der Mau- 
ren gab erwünfchte Gelegenheit zur Durchführung jener Pläne, die Ferdinand 
mit den Worten ausdrüdte: „Ich will die Kerne diefes Granatapfels (Granada) 
einen nach dem andern herauspicken.“ Muley Abul Hafen, König von Granada, 
zerbrac die bisherigen freundlichen Berhältniffe mit Caftilien, nahm diefem Reiche 
feine nicht gehörig bewachte Orenzfefte Zahara (1481) und führte deren ganze 
Bevölkerung in die Sclaverei nach Granada, Die nächſte Wiedervergeltung hie- 
für war die fühne Eroberung der reichen und ftarfen maurifchen Feftung Alhama 
(28, Febr, 1482), und einfichtige Mauren felber erfannten, daß dieß nicht die 
legte Strafe des gebrochenen Friedens, wohl aber der Vorbote noch größern Un- 
glüds fein werde, Und fo war es auch, Ferdinand mußte zwar im J. 1482 von 
der maurifchen Feftung Loja mit großem DVerlufte wieder abziehen, und noch viel 
ſchlimmer erging e8 dem Heinen Heere, welches im März des folgenden Jahres 
in den Engpäffen der Ararquia bei Malaga faft gänzliche Vernichtung fand, Allein 


936 — BR; Mauren. 


4 
Zu. 3 


— 


die Mauren wurden jetzt unter ſich ſelber entzweit, Abu Abdallah oder Boabdil, x 


wie ihn die Spanier nennen, empörte fih gegen feinen Vater, den König Abul 
Hafen, und entriß ihm den größten Theil feines Reiches fammt der Hauptfladt, 
fo daß jegt der alte Fürſt in Malaga, der junge in Granada regierte, die Spal- 
tung aber die Macht des Neihs ſchwächte und lähmte. Schon einen Monat nad 
dent Unglück der Chriften in den Schluchten der Ararquia wurde Boabdil in der 
Schlacht bei Lucena (21. April 1483) gefangen und von Jfabella nur unter ver 
Bedingung wieder in Freiheit gefegt, daß er jährlihen Tribut als Vaſall von 
Caftilien entrichte und den fpanifchen Truppen freien Durchzug und Verprovian- 
tirung auf dem Marfche gegen feinen eigenen Vater gewähre. Seine Rückkehr 
nad Granada erneuerte den Bürgerkrieg, und in der Hauptfladt felbft floß un- 
unterbrochen 50 Tage und Nächte lang maurifches Blut, von Mauren felber ver- 
goffen. EI Zagal, d. i. „ver Tapfere”, ein Bruder des alten Königs, hatte 
diefen vom Throne gefloßen und ftritt fih num blutig mit feinem Neffen Boabdil, 







während dag Glück fortan, wenn aud) langſam, die fpanifchen Waffen begünftigte, 


F 


Ri 
* 


Eine Feſtung nach der andern fiel in ihre Hände, und ſchon im Auguſt 1487 


mußte fih das herrliche Malaga den Siegern ergeben. Nach zwei Jahren folgte 


ihm Baza, die Hauptſtadt EI Zagals, welcher felbft am Glücke verzweifelnd im 


December 1489 auf den Thron feiner Ahnen verzichtete. Damit war jest ein 
Theil des maurifchen Neiches wieder gewonnen, die feflen Städte wurden mit 
Chriften bevölfert, in den Vorftädten dagegen und offenen Plägen durften bie 


Mauren verbleiben, Eigentum und Religion, Geſetze und Gebräuche unverändert 


behalten und an die caftilifche Krone nur fo viel entrichten, als fie bisher ihren 
eigenen Herrfchern geleiftet Hatten. Zu fol’ glücklichem Erfolge des Krieges 


hatte Zfabella mehr als der tüchtigfte Feldherr beigetragen, Häufig im Panzer, 


belebte fie durch perfönliche Anwefenheit den Muth ihrer Krieger und befchämte 
felbft ihre Helden durch Scharffinn und unbezwingbare Feftigfeit, Mit raftlofer 
Energie fohaffte fie alles Nöthige, fogar ihre Juwelen verpfändend, zum Kriegs— 
bedarf herbei, warb neue Truppen, verforgte die Armeen und nahm fich mitleidig 
auch der Berwundeten an, zu deren Pflege fie die Errichtung ambulanter Kranken— 
häuſer erfand, Wie ihr aber felbft diefer Krieg nicht bloß ein politifcher war, 
fo wußte fie auch in dem Heere den Gedanken eines Kampfes für die Ehre des 
Kreuzes Iebendig zu erhalten, Gebet und Firchliche Weihe mußte die Schlachten 
beginnen und fehließen, Fein Zanf durfte gehört, Fein Spiel gewagt und Feine 
Dirne im Lager gefehen werben. Bon der ganzen maurifchen Macht war jetzt 
nur mehr der ſchwache Boabdil mit der Hälfte des Neiches übrig, der an Ab- 
bängigfeit von Caftilien gewöhnt und nur durch deffen Schu auf dem Throne 
gehalten, ſchon früher die Uebergabe Granada's verfprochen hatte, falls auch EI 
Zagal feinen Antheil abgeben müßte, Auf die Mahnung Ferdinands aber, daß 
jegt diefe Bedingung erfüllt und die Zeit der Uebergabe gekommen fer, antwortete 
der Schwähling ausweichend, er fei nicht frei und könne fein Verfprechen nicht 
halten, Ohne Zweifel hatte er großentheils die Wahrheit gefagt, denn wirklich 
erhob fih das maurifche Volk mit neuer Degeifterung zum Kampfe gegen bie 
Ehriften, und das von 1030 Thürmen beſchützte Granada ſchien auch der größten 
Macht die Stirne bieten zu dürfen. In der That fonnte auch Ferdinand im erften 
Feldzug 1490 nichts Erflefliches Teiften, und erft im folgenden Jahre, ald Gra- 
naba gerade gegenüber mit wunderbarer Schnelligkeit die Stadt Santa Fe ſich 
erhob, und die Abficht der Spanier, nicht mehr von der Stelle weichen zu wollen, 
bezeugte, da erft entſchwand den Mauren mit dem Muthe zugleich die Hoffnung 
auf Rettung, Iſabella hatte der nenen Stadt den Namen Santa Fe, d. 1. „ber 
hl. Glaube“, gegeben, weil fie einerfeits den Krieg als einen Kampf für den hl. 
Glauben betrarhtete, und andererfeits an den glücklichen Ausgang des ganzen 
Unternehmens in Froͤmmigkeit glaubte, Diefe Hoffnung hatte auch nicht ge— 








® ? — a 
— 
Mauren. =. 937 
täufcht, denn ſchon am 2. Januar 1492 J ſie in die Hauptſtadt des Mauren⸗ 


landes ein, um die Huldigung des legten renfürften zu empfangen. Geuf- 
zend nahm diefer fofort Abſchied von dem Lande feiner Väter, und blickte zum 


% legten Dal von dem Zelfen, der jegt noch el ullimo sospiro del Moro Heißt, auf 








das fhöne Granada Hin, um nun ein Feines Fürftenthum in den Alpurarrag- 
Gebirgen zu beziehen, das er jedoch bald wieder verließ, um unter feinen Glau— 
bensgenoffen in Africa zu flerben. Sein Volk erhielt ähnliche, ja noch mildere 
Bedingungen, ald wenige Jahre früher das des EI Zagal, und Eigenthum, Cult 
und Mofheen, die nationalen Gefege, Gebräuche und Obrigfeiten follten ihm 
ungefchmälert verbleiben, feine größern Abgaben als früher, und innerhalb der 
nächften drei Zahre gar Feine erhoben werden. Dabei ward Jedem, dem es be- 
liebte, die Auswanderung freigeftellt. Was feit nahezu achthalbhundert Jahren 
das Ziel der höchſten Wuͤnſche aller Spanier geweien, das war nun erfüllt, die 
uralte Schande der Ahnen ausgetilgt und die Macht der Feinde nach einem zehn- 
jährigen, mit dem Trojanifchen verglichenen Kriege gebrochen. Faſt ganz Europa 
nahm an dem Jubel Spaniens Antheil, und die weltlihen Throne wetteiferten 
mit dem heiligen Stuhl in prachtvollen Feflen zur Feier diefes für die ganze 
Epriftenheit wichtigen und freudigen Ereigniffes. Der Papft aber verlieh ven 
beiden Herrfchern Ferdinand und Iſabella den Namen der Fatholifchen Könige, 
unter welchem Titel Los reyes catolicos fofort das große Herrſcherpaar welt- 
berühmt wurde (f. die Art, Ferdinand, der Katholiſche, und Sfabella). 
An die Spige der politifchen Verwaltung Granada's wurde der Graf Mendoza 
von Tendilla, zum Erzbifhof von Granada aber Fernando de Talavera aus dem 
Hieronymitenorden beftellt, beide gemäßigte, tüchtige und rechtfchaffene Männer, 
Natürlich fuchte der neue Erzbifchof alsbald den hriftlihen Glauben in dem er- 
oberten Lande zu verbreiten, und feine Sittenreinheit, Milde und Wohlthaͤtigkeit 
unterflügten dieß Bemühen, fo daß fehr häufige Bekehrungen vorfamen, und in 
ganz Granada Niemand mehr geliebt wurde, als der große Alfaqui der Chriften, 
wie die Mauren den Erzbifchof nannten. Bald wurde auch Zimenes, Erzbifchof 
von Toledo (f. den Art. Kimenes), dem Talavera zur Förderung der Miffion 
beigegeben (1499), und ſchon am 18. Dee, deffelben Jahres konnte Kimenes 
viertaufend Mauren an einem Tage taufen, Aber in feinem Eifer überfihritt er 
auch die Schranfen der Mäßigung, wollte Befehrungen erzwingen und ließ meh— 
rere taufend Eremplare des Koran ıc. verbrennen. Dieß und Anderes erzeugte 
in den letzten Tagen von 1499 einen gefährlichen Aufftand in Albaycin, d. i. im 
Maurenquartier von Granadaz aber Ferdinand und Iſabella flellten jest den Be— 
wohnern des meuterifchen Stadttheild die Alternative, entweder die Strafe des 
Hochverraths oder die Taufe zu empfangen. Die Folge war, daß faft alle mau— 
rifhen Bewohner der Stadt und Umgebung Granada’s zum Chriftentfum über- 
traten, die übrigen aber in die Gebirgsgegenden oder nach Africa flohen, um den 
Glauben ihrer Ahnen bewahren zu fünnen. Neue Emeuten der in den übrigen 
Theilen des alten Reiches Granada noch vorhandenen Mohammedaner gaben Ver- 
anlaffung, daß auch auf fie die gleiche Alternative, wie auf die Stadt Granada 
felöft angewendet wurde, und fo gab es ſchon im 3. 1501 im ganzen ehemaligen 
Königreihe Granada, nachdem die Nenitenten ausgewandert, feinen einzigen un= 
getauften Mauren mehr. Im folgenden Jahre erfchien die berühmte Pragmatif 
Ferbinands und Iſabella's, welche auch den in Caftilien und Leon anfäßigen 
Mauren (die in Aragonien blieben noch unberührt) auszuwandern oder gläubig 
zu werben befahl, und auch die meiften von ihnen Tießen fih taufen. Zu biefer 
erben Maßregel gegen die Mauren foll Don Diego de Deza aus dem Domini- 
canerorden, der Nachfolger Torquemada’s (4 16. Sept. 1498) im Amte eines 
Großinquiſitors, gerathen haben, und er war es überdieß, der den Fatholifchen 
Königen auch in Oranada die Inquifition (ſ. d. U) einzuführen riet, um die 


‚938 Mauriner — Maurus, 


Rückkehr der Moriscos (fo nannte man die getauften Mauren) zum Islam zu 
verhüten, Doc Iſabella geftand nicht mehr zu, als daß das Inquifitiong-Tribu- 
nal von Cordova feine Gerichtsbarkeit auch über Granada ausftrecfen, jedoch nur 
im Falle eines vollftändigen Abfalls vom Ehriſtenthum, nicht aber wegen einzelner 
geringerer Abweichungen einen Morisfen beunruhigen dürfe, Unter ähnlichen 
Bedingungen wurden auch die Morisfen in Caftilien und Leon, und feit Carl V. 
auch) die von Aragonien der Inquiſition unterftelft und meiftens fehr milde be— 
‚handelt, Papft Clemens VI. forgte dafür, daß fie einen tüchtigen Unterricht in 
der chriſtlichen Neligion erhielten, und zu gleicher Zeit gebot Raifer Carl V., die 
Güter der Apoſtaten dürften nicht confiseirt, fondern müßten ihren Kindern er- 
halten und Fein Abtrüänniger unter ihnen dürfe von der Inquifition zum Tode 
werurtheilt werden, Auch Gregor XII. fuchte durch Milde die Morisken zu ge- 
winnen, aber eine aufrihtige und nachhaltige Belehrung derfelben erfolgte fo 
wenig, daß fie vielmehr durch neue Aufftände, durch hochverrätheriſche Verbin- 
‚dungen mit den Mauren in Africa u, dgl. unter Philipp IH. im 3. 1609 ihre 
völlige Vertreibung aus Spanien felbft herbeiführten. Häufig wird diefe Ver- 
jagung der Moriscos den Spaniern zum großen Vorwurfe gemacht; aber richtig 
wiefen ſchon die Göttinger gelehrten Anzeigen (vom 28, Juli 1842) darauf hin, 
daß diefelbe von den aufgeflärteften und geiftreichften Zeitgenoffen, wie Cervantes, 
als eine dringende Nothwendigfeit erfehnt worden fei; und auch in der Zeitfchrift 
„das Ausland” (1845, Nr, 146) wird anerfannt, daf durch die offenen und ge- 
heimen Anhänger der Mauren die Staatseinheit in Spanien wiel flärfer gefährdet 
war, als man gewöhnlich zu glauben geneigt iſt. Vgl. meine Schrift: „ver Ear- 
dinal Kimenes”, ©. 1,24. 56, 294, und die dort citirten Werfe und Quellen. 
Außerdem Aſch bach, Geſch. der Weſtgothen; Conde, Gefh. der Mauren in 
Spanien. [Hefele.] 

Manriner, f. Maurus, 

Mauritius, der hl., Primicerius der thebätfchen Legion, f. Legio The- 
baica. — Ein anderer Mauritius wird in den griechifchen Martyrologien er— 
wähnt; er foll unter Diveletian mit 70 Andern zu Apamea in Syrien gemartert 
fein (f. Acta SS. 21, Febr). — Unter dem 10. Juli erwähnt das Mart. rom noch 
einen Mauritius, welcher mit Leontius, Daniel und Andern zu Nicopolis in Ar- 
menien unter Lieinius graufam gemartert und endlich verbrannt wurde, 

Manrns, Congregation des heiligen. Wie der heilige Placidus bie 
Negel des heiligen Benedictus in Sieilien verbreitete, fo fliftete der Hl. Maurus, 
Lieblingsfchüler des Legtern, die erſten Klöfter diefer Regel im Franfenreiche, 
weßwegen er bier bei den Benedictinern und der Kirche überhaupt in befonderent 
Anfehen fortwährend ftand, ja feine hauptfächlichfte Stiftung, die berühmte Abtei 
Glanfeuil, erhielt zu feinem Andenken den Namen St. Maurus an der Loire 
(St. Maur sur Loire), Befondern Ruhm erntete die ECongregation des hf. Maurus 
durch den moralifchen und wiffenfehaftlichen Gehalt. Ihren Urfprung 'verbanft fie 
der Reform, welche im J. 1613 in der Abtei St, Auguftin von Limoges ein- 
geführt und 1621 und 1627 Firchlich beftätigt wurde, Diefe unter dem Namen 
des heiligen Maurus, wie fie nach einem Eapitelsbeſchluß benannt wurde, be- 
Fannte Congregation begriff gegen 124 Abteien und Privreien in fih, war in 
fieben Provinzen geteilt und wurde von einem befondern General, der in der 
Abtei St. Germain des Pres zu Paris refivirte, geleitet. Zu ihren Haupthäufern | 
gehörte außer St. Germain noch St. Denis, Fleury oder St. Benoit sur Loire, 
Marmontier, Vendöme, St. Nemis de Rheims, St, Pierre de Corbie, Foͤcampe ıc, 
Zwifchen der Congregation St, Vanne und St. Hidulph beftand eine fehr enge‘ 
Verbindung; auch waren ihre Statuten beinahe diefelden, Die Congregation 
felbft war eine tief eingreifende Neform des Venedictinerordens, weßwegen ihr” 
auch der Cardinal Nichelieu eine befondere Aufmerffamfeit ſcheukte. Nachmals 

















Maurus Rabanus — Maury. 939 


wurde die Diseiplin freilich lockerer, aber immerhin erhielt fich der wiffenfchaft- 
liche Ernft, und die Novizenhäufer blieben gelehrte Schulen, in denen die Afpi- 
ranten einem regelmäßigen Curſe folgten und ſich durch tiefe ſyſtematiſche Stu— 
dien zur Aufnahme in den Orden vorbereiteten. In jeder Provinz befanden zum 
Zwecke der Ausbildung zwei Novizenhäufer, aus welden die Novizen in andere 
Klöfter verfegt wurden, um ein abermaliges Noviciat von zwei Jahren zu be— 
ſtehen, einen fünfjährigen Curs in der Philofophie und Theologie durchzumachen 
und dann erft noch ein Jahr in fich zu gehen (Un an derecollection) und fich ge= 
hörig zu fammeln, bevor fie die Priefterweihe empfangen könnten. Die Ver— 
faffung der Congregation felbft war folgende. An der Spige des Ganzen fand 
der General, nicht auf Lebenszeit, fondern auf eine unbeflimmte Dauer, gewöhn- 
lich auf drei Jahre, gewählt, Diefer wurde unterflügt von zwei Affiftenten, und 
für jede Provinz von einem Pifitator und einigen Definitoren, welche ſämmtlich 
som Generalcapitel gewählt wurden. Vom Anfang bis zum Ende der Congre- 
gation waren die Generale Tauter ausgezeichnete Männer, Eine andere paffende 
Einrichtung war eine Modification der ftrengen Drdensftatuten, Die literariſch 
‚befchäftigten Mönche waren größtentheild vom Chordienfte frei und Tonnten für 
ihre Zwecke Neifen machen; aber auch die übrigen Hatten wielfache Erholungen. 
Die Unzufriedenheit wurde am Teichteften dadurch niedergehalten, daß die Mönche 
Klöfter und Pfarreien wechfeln fonnten, Aber auch andere Umftände kamen der 
Eongregation zu gute. Einmal war es für jeden Mauriner ein flets erhebendes 
Gefühl, Mitglied eines Inſtitutes zu fein, welches ſich der allgemeinen Achtung 
rühmen fonnte; fodann traten immer hochgebildete Männer aus den höchſten 
Ständen in daffelbe ein, Die befte Garantie hatte übrigens die Congregation in 
dem religiöfen und moralifchen Charakter ihrer Mitglieder ſelbſt. Uebrigens war 
die wiffenfchaftliche Aufgabe, die nachmals mit fo großem Ruhme gelöst wurde, 
nicht eigentlicher Zweck der Neformationz aber fihon der erfle General Gregor 
Tariffe (1630—48) begünftigte befonders talentvolle und firebfame Jünglinge. 
Bald wurde auch jene Einrichtung getroffen, daß nach Vollendung ihrer Studien 
die jungen Benedictiner, welche höhere Talente befaßen und Neigung zu wiffen- 
fhaftlihen Arbeiten zeigten, Behufs weiterer Ausbildung in Klofteracademien 
oder in höhere Lehranftalten verfegt wurden. Aus diefen wurden die Lehrer für 
die Novizenhäufer und Seminarien (in wel’ Tegteren junge Evelleute erzogen 
wurden) und die Bibliothecare für die einzelnen Klöfter gewählt. Anderen wur- 
den fogleich gelehrte Arbeiten übergeben, deren Vollendung gewöhnlich die Auf- 
gabe ihres Lebens blieb. Anfangs beftanden diefe Arbeiten in Sammlungen von 
Materialien zur Gefchichte der zur Eongregation gehörigen Benedictinerflöfter 
und zur Gefchichte der Heiligen, was naturgemäß zu palävlographifchen und di— 
plomatifhen Ausarbeitungen führte, In der Folge erſtreckte fih die Thätigfeit 
der Mauriner über alfe Zweige menſchlichen Wiſſens. Auf ihre fohriftftelferifchen 
Arbeiten felbft näher einzugehen, ift bier nicht der Ort; trefflih und ausführlich 
handelt hierüber Herbft in der Tübinger theologiſchen Duartalfchrift Jahrg. 1833 
u. 1834: „Die Berdienfte der Mauriner um die Wiffenfchaften“, Leider erlag 
die einft fo blühende Eongregation dem Sturme der Revolution und Fonnte auch 
in ihren fpärlichen Ueberreften im Jahre 1815 nicht zu ihrem Nechte kommen; 
dagegen ift fie feit 1833 wieder bergeftellt und befigt durch die Bemühungen des 
Abbe Gueranger das Klofter Splösme in der Didcefe Mans, widmet fich wieder 
den Wiffenfchaften, und die Vollendung des meifterhaften Werfes Gallia Christiana 
wird den Ruf diefer Benedietiner auf's Neue begründen, Vgl. Hierzu den Art, 
Denedictinerorden, [&edr.] 
Maurus Nabanus, f. Rabanus Maurus, 

Maury, Jean, Sifrein, Eardinal, geboren zu Valreas in der Graffchaft 
Benaiffin den 26, Juni 1746, war der Sohn eines armen Schuſters. Frühzeitig 


940 Maury. ’ 


entwickelten fich die Hohen Gaben des Maury, der geiftliche Stand bot damals 
bei dem Mangel hoher Geburt noch am meiften Ausfichten zur Erhebung. Er 
wurde in das Seminar von St, Charles d'Avignon und dann in das von St, 
Garde gefickt, und wurde ſchon vor feinem 20ten Jahre als Hauslehrer in Paris 
angeftellt, 1766 veröffentlichte er eine Trauerrede auf den Dauphin und eine 
Lobrede auf Stanislaus. Bei allen Mängeln einer noch zu üppigen Einbildungs- 
fraft zeichneten fich Die Neden dur Eleganz und Klarheit, Kraft der Gedanken 
und Erhebung aus, 1767 eoneurrirte er um den Preis der Academie „Lobrede 
auf Earl V., König von Franfreih”, und die „Vortheile des Friedens“, Seine 
Arbeiten wurden beifällig aufgenommen, er fühlte fich gefchmeichelt und fehritt mit 
Bertrauen feinem Iiterarifchen Nuhme entgegen. Er wollte in die Laufbahn eines 
Bourdaloue und Mafillon eintreten, verfaßte aber vorher zu feinem eigenen Unter- 
richte fein Essai sur l’eloquence de la chaire. Maury betrachtete diefe Arbeit als 
einen volftändigen Unterricht über die Beredtfamfeit, und einzelne Herausgeber 
gaben vor Maury der Arbeit den Titel: Principes d’eloquence pour la chaire et 
ie barreau. Das Werk befolgt feinen methodifhen Gang, enthält opne alle Io- 
gifhe Ordnung in 79 Paragraphen treffliche Bemerfungen über Text, Pan, Ein- 
gang, Propofition der Rede, über die gerichtliche Beredtfamfeit, über Demoſthe— 
nes, Boffuet, feinen Einfluß auf die Beredtfamfeit, über Mafillon und feine 
Nachfolger, Bourdaloue, Flechier, dann über einzelne Figuren, einzelne Schreib- 
arten, Harmonie des Styls, Gemeinplätze, oratoriſchen Anftand, über Fenelon, 
franzöfifhe Redner zweiten Nangs, über einzelne englifche, ſpaniſche und ita— 
lieniſche Redner, über Citate, Pathos, Schluß, Gedächtniß. Die Arbeit ift klar 
gefchrieben, zeigt einen reinen, eleganten Styl, viel Geſchmack und gefundes Ur— 
theil, dabei aber verläugnet er den eitlen, etwas praßlerifchen Charafter des 
Franzoſen nicht. Dem Werke ſchickte Maury voraus eine Lobrede des Fenelon 
1771, eine gute Arbeit, welche ihm von der franzöfifchen Academie ein Acceffit 
erwarb, während La Harpe den Preis erhielt; Bemerkungen über die neuen Neden 
des Boffuet 17725 Lobrede auf den hl. Ludwig, gehalten vor der franzöfifchen 
Academie den 25, Aug, 1772; endlich die Lobrede auf den HI. Auguftin, 1775 in 
einer Berfammlung des franzöfifchen Clerus gehalten, Beide Reden fanden großen 
Beifall, der Ruhm des Maury wuchs fihnell, die vorzüglichften Ranzeln von 
Paris ertünten von feinen Neden, und der König lud ihn ein, in Verfailles bie 
Advents- und Faftenreven zu halten, Abt von Baisınont erwählte ihn zu feinem 
Mitarbeiter in der Herausgabe „geheimer Briefe über den gegenwärtigen Zuftand 
des Clerus und der Religion in Franfreih”, und beſtimmte ihn zu feinem Nach— 
folger in dem Privrate von Lires in der Picardie mit einem Einkommen, von 
20,000 Livres. 1785 hielt er zum erſten Male in der Kirche von St. Lazarus 
zu Paris feine Lobrede auf Vincenz von Paul, welche als fein Meiſterſtück be- 
trachtet wird. Mit den Iebhafteften Farben, untermifcht mit erhabenen Reflexionen 
und paffenden Vergleihungen, fihildert er das vielbewegte Leben des großen 
Mannes, weiß trefflich die Schriftftellen anzuwenden, fest die einfachen Mittel, 
welche Vincenz zu Gebote ftanden, mit feinen großen Leiftungen in lebhaften Com 
traft und Liefert durch großartige Behandlung des Grgenftandes, wie durch glͤn -⸗ 
zende Darftellung ein oratorifches Kunftwerf, welches allentyalben Bewunderung 
fand. Als er die Nede zum erften Male hielt, forderte er zu einem Denfmale 
für Vincenz auf, mit der Infhrift: Ein guter König einem guten Bürger, Wirf- 7 
Lich wurde nicht nur das Denfmal errichtet, fondern ber er ae au die 
Rede hören, und Maury hielt fie zum zweiten Male den 4. März 1785 in ber { 
Schloßeapelle von Verfailles, Bei feiner Aufnahme in die franzöfifche Acabemie 7 
erinnerte der Präfivent an diefe Rede, fie wurde mit Begierde von den Carbi- 
nälen und Ordensgeneralen in Nom gelefen, und Papft Pius VI. felbft ehrte fie 
mit feinem Beifalle. Den 27. Januar 1785 wurde Maury in die franzoſiſche 














Maury. 941 


Academie aufgenommen als Nachfolger des Lefrane von Pompignan. So Iebte 
er geehrt und hochgeachtet der Freundfchaft und den Wiſſenſchaften, bis die fran- 
zöfifche. Revolution ausbrach. Der Elerus des Sprengeld von Peronne wählte 
ihn zum Abgeordneten in die Verfammlung der Oeneralftaaten. Mit Klarheit 
und Scharffinn drang er in die politifhen Fragen ein, vertheidigte die monarchi— 
ſchen Snftitutionen und entwicelte in den parlamentarifchen Debatten die ganze 
Kraft feiner Beredtfamfeit. Zuerft trat er in einer Nede gegen Talleyrand, Bi- 
fchof von Autun, über den Verfauf der Kirchengüter auf, und zwar mit ſolchem 
Beifalle, daß Mirabeau durch eine Gegenrede den Eindrud verwifchen zu müffen 
glaubte, welchen Maury hervorgebracht. Maury ftellte fih an die Spige ver 
monarhifhen Partei mit Cazales, nahm am allen Verhandlungen Theil, impro- 
vifirte, und gab immer Beweife großer Kenntniffe; den 11. Januar 1790 ſprach 
er für die Einrichtung der alten Gerichtsbarkeit, dann über das abſolute Veto 
des Königs, über das Necht von Krieg und Frieden, über Abfegbarfeit der Rich— 
ter, über Finanzen, Öffentliche Schuld, befämpfte die Eivifeonftitution für den 
Elerus, improvifirte eine lange Nede über die Affignaten, ergriff zweimal das 
Wort über die Vereinigung von Avignon mit Franfreich, geißelte ven Baron von 
Menou, wie er nach den ſchrecklichen Tagen des 5. und 6. Detober den Herzog 
von Orleans und Mirabeau angriff; vertheidigte den Clerus von Elfaß, ſprach 
dfter in Sachen der Dotation der Königin von Spanien, über Steuern, Drgani- 
fation des Nationalgerichtspofes., Man verglih Maury mit Mirabeau, und der 
damalige „Freund des Königs“, von Freron herausgegeben, äußerte fih: „Beide 
fiehen an der Spige zweier Parteien und ziehen die Augen von Franfreih und 
Europa auf fih. Die lange Gefangenfchaft des Mirabeau übrigens, die Ge— 
wohnheit, zu dulden, die düftern Betrachtungen über die Einfamfeit gaben diefem 
eine hohe Energie, aber auch einen heuchlerifchen Charafter; Maury dagegen 
reifte in Ruhe und Frieden heran, und fannte Feine andere Leivenfchaft, als für 
die Wiffenfhaft und den Ruhm, feine erften Verſuche ftellen ihn den größten 
Rednern zur Seite, und er feßt durch feine tiefen Kenntniffe in der Politif und 
Geſchichte, durch feine Leichtigkeit, jeden Augenblic zu reden, durch feine glän- 
zende Einbildungsfraft und feinen Flaren Verftand in Staunen. Die Beredtfam- 
feit des Mirabeau gleicht den Statuen barbarifher Völfer, welche die Leiden- 
fhaften nur durch Verdrefungen auszubrüden wiffen, die Beredtfamfeit des Maury 
gleicht den Statuen Athens, wo Anmuth und Schönheit ſich mit dem pathetifchen 
Ausdrude verbinden”, Den 3, Februar 1791 beehrte ihn Ludwig XVI. mit einem 
Driefe, in welchem er feine Verdienſte um die Krone anerfannte und ihn feiner 
fünftigen Dankbarkeit verfiherte; Papft Pius VI. ernannte ihn den 26. Sept, 
1791 zum Cardinal in petto. Später wanderte Maury nach Teutfchland aus, 
ging nah Nom, wurde zum Erzbifchof in partibus von Nicäa ernannt, als Nun- 
tius zur Krönung des Kaiſers Franz I. nah Franffurt gefchieft 1792. 1794 
wurde er Bifchof von Montefiascone und Corneto und erhielt den Cardinalshut, 
Dei dem Einfalfe der Franzofen in Jtalien flüchtete er fih nach Venedig, nahm 
bier 1799 an der Wahl Pius VII. Theil und ging mit dem neuen Papfte als Ge- 
fandter Ludwigs XVII. nah Rom. Müde der vergeblichen Kämpfe gegen die re— 
publicanifchen Heere, nahm Papft Pius mildere Gefinnungen an, und Maury 
fohrieb auf Einladung des Papftes an Napoleon einen Brief, in welchem er fi 
biefem unterwarf, 1805 kehrte Maury auf einige Monate nach Paris zurück, 
1810 den 14, Det, wurde er zum Erzbifhof von Paris ernannt, Der Papft 
wollte feine Wahl nicht beftätigen, nach dem Sturze Napoleons wurde er nad 
Rom eitirt, um ſich * rechtfertigen, vier Jahre die Diöceſe verwaltet zu haben, 
ohne die päpſtliche Conſecration und trotz eines ausdrücklichen Verbots in einem 
Breve vom 5. Nov, 1810. Maury behauptete, das Breve nicht erhalten zu Haben, 
ging aber nah Nom, und fand Papft und Cardinalscollegium gegen fich geſtimmt; 















% 


942 Marentind — Marimilian J 


er verlangte, ſich rechtfertigen zu dürfen, wurde aber von allen einem Cardine 
gebührenden Ehren ausgefchloffen und lebte wie ein Verbannte Rt 

der Nüdfehr Pins VII. nah Rom betrieb er feine Sache mit noch m 
man wollte ihm einen Augenblif antworten, gab aber den Plan 

lich zu vernehmen, fei es, daß man von feinem. Ungehorfame hinläng 
zeugt war, ober daß man feine Dialeetif fürdtete, und Maury wu 
Engelsburg gebracht, Hier blieb er ſechs Donate, und fpäter noch fed 
in einem Lazariftenflofter und warb nach diefem Jahre der Buße wiede 
den vom Papſte angenommen. "Aber tiefer Gram und Bitterfeit hatten i 
zehrt, er vermochte den Wechfel des Glücks und das Herbe feines S 
nicht zu ertragen, und vom Verdruſſe aufgezehrt flarb er den 11. Ma e 
Kühn als Redner, geiftreich als Schriftfteller, hatte er in feinem Charakter etwas 
Unbeftändiges und Unruhiges und war ein Bifchof nach. modernem Gefhmade, 
mehr im Salon und in gelehrten Cirkeln, als in der Studirflube, Nachdem er 








bleibt mir nur noch die Liebe”. Seine Lobreden find als zweiter Band feinem 
Essai sur l’eloquence beigegeben, Paris 1842, CA. vie du Cardinal Maury. Paris 
1827. - [Ruß] 
Marentins, f. Conftantin, Er 
Marentinus, Johannes, f. Hormisdas. 
Marimianus, Raifer, f. Dioeletian. | 
Marimilian, der heilige, f. die Art, Bayern, und Paffau, Bisthum. 
Marimilian I. wurde im 3. 1459 zu Wienerifch Neuftadt geboren, Nach 
der Anoronung feines Vaters, des Kaifers Friedrich ili., erhielt er eine einfache 
und ſtrenge Erziehung und wurde forgfältig in Allem unterrichtet, fowohl was, 
förperliche als was geiftige Ausbildung betraf, Im 3. 1473 Iernte ihn Carl der ° 
Kühne von Burgund kennen, und ſprach, nach Haufe zurücgefehrt fo viel und 
warm zum Lobe des habsburgifchen Prinzen, daß diefe Neden einen füßen Stachel 
in dem Herzen feiner einzigen Tochter Maria zurücließen. Gleichwohl blieb 
diefer nach dem unglüclichen Ende des Vaters nur geringe Hoffnung, Hand und 
Herz demjenigen zu geben, deffen Bild fie fo tief und lebendig in der Seele trug, 
fondern fie fchien mit Land und Leuten das unerrettbare Opfer des eben fo länder- 
fühtigen als racheſchnaubenden franzöfifchen Königs Ludwigs XI. werden zu müffen, er 
Doch gerade die Niedertracht und der unverföhnliche Groll, mit welchem. Ludwig 
an Maria handelte, Half der Sache derfelben wieder auf, Die niederländifhen 7 
* 
8 


4 









Stände ſahen ein, daß Maria, um ſich und ihre Erblande zu retten, einen Fürſten 
heirathen müßte, der im Stande wäre, fie zu befhügen. Sp ward ihr unter 
andern Namen nebenbei auch der des Erzherzogs Marimilian genannt, Und num 
erſchien zu guter Stunde eine teutſche Gefandtfhaft, um für den jungen Habs— 
burger um Mariens Hand zu werben. Nachdem diefe zu großer Ueberrafhung 7 
ihres Hofes dazu voller Freude das Jawort gegeben, trat Marimilian fofort 4 j 
Brautfahrt in die Niederlande an, Mit dem glänzendften Gefolge hielt er im 7 
Auguft 1477 feinen Einzug in Gent, deffen jubelnde Bewohner | mit den J 
höchſten Ehrenbezeugungen empfingen. Doch konnte Maximilian der men gewon- 
nenen Lande weder fogleich, noch nach ihrem ganzen Umfange frob werden, Un- 7 
mittelbar nach feiner Verheirathung mit Maria wurde er von Ludwig XI. mit 
Krieg überzogen. Indeß erweckte der blutige Sieg bei Ouinegate in ihm die 7 
Hoffnung, Frankreich nach dem vorausſichtlich bald eintretenden Tode feines alten 7 
Königs nöthigen zu Fönnen, alle dem Haufe Burgund entzogenen Länder wieber 
herauszugeben. Allein nun traf ihn der herbfle und unerwartetfte Schlag des 
Schickſals. Durch einen Sturz auf der Jagd verlor Maximilian im März 14327 


* 












| 5 WMWaximilian L 943 
| "feine junge Gemahlin, nahdem fie ihm zwei Kinder, Philipp und Margaretha, 
geſcheunkt hatte, Nah dem Ehevertrag war nicht Marimilian, fondern der junge 
Erzherzog PHikipp der rechtmäßige Nachfolger Marias in den nieverländifchen 


= 










m Alsbald. ward nun der Vater des Prinzen in Streitigfeiten mit 

u Slanderern verwidelt. Denn während Mar das Recht der vormundfaft- 
lichen Verwaltung für fih in Anfpruh nahm, wollten diefe Feine andere Vor— 
mundfchaft als die von ihren Ständen zu beftellende anerkennen. Ja fie gingen 
noch weiter. In Uebereinftimmung mit den Ständen von Holland und Brabant 
* ließen ſie ſich in Friedensunterhandlungen mit Frankreich ein. Maximilian hatte 
keine andere Wahl, als alle dem zuſtimmend im Frieden von Arras (23. Dec, 
1482) in die Verlobung feiner Tochter Margaretfa mit dem Dauphin und in 
die Abtretung von Artois und der Freigraffihaft einzumwilligen, Jetzt erſt ward 
es ihm möglich, die noch wider ihn in Waffen ftehenden Utrechter und Flaminger 
von 1483—85 zu bezwingen. Nahdem Marimilian in diefer Weife ſich überall; 
in den Niederlanden Anerkennung verfchafft Hatte, wurbe er im Februar 1486 
zu Franffurt a. M. zum römifchen König gewählt, und begab fi fofort in die 
Niederlande zurüf, wo neue Kämpfe und Wiverwärtigfeiten feiner warteten, 
Denn nach dem Tode Marias betrachteten die Niederländer den Wittwer derfelben 
als einen Fremden, der nur gefommen fei, die Rechte und Freiheiten zu ſchmä— 
lern , auf welche fie fo eiferfüchtig waren. Mit Augen voll Angft und Mißtrauen 
wachten: fie deßhalb über allen Schritten und Tritten Marimilians und waren 
nur zw geneigt, denfelben die ſchlimmſte Auslegung zu geben. So fam es, daß 
die Bürger von Brügge im 5. 1483 fo weit gingen, fich der Perfon Marimiliang 
zu bemächtigen und ihm in engem Gewahrfam zu halten. Diefe Gewaltthat er- 
regte das größte Aufiehen, insbefondere in Teutſchland, wo man auf die Haltung 
und die Erfolge Marimilians in den Niederlanden bereits ftolz zu werben anfing, 
Daher rürfte auf Betreiben feines Vaters eine Reichsarmee in die Niederlande 
ein, was zur Folge Hatte, dag Marimilian feiner Haft entlaffen und in die vor— 
mundfchaftlihe Regierung wieder eingefegt wurde, Im J. 1489 verlobte fi 
Marimilian mit Anna der Erbin von Bretagne, Eine neue und glänzende Er- 
werbung ſchien für ihn im naher und ſicherer Ausfiht zw ſtehen. Allein diefer 
Plan kam dem franzöfiihen Hofe fo ungelegen, daß Earl VIIL die Erzherzogin 
Margaretha, die in Paris erzogen worden, ihrem Bater wieder nah Haufe 
ſchickte, Truppen an die Grenzen der Bretagne rüdfen ließ, und Anna nöthigte, 
ihm die Hand zu reichen. Indem aber durch diefe doppelte Treulofigfeit des fran= 
zöfiihen Hofes für Marimilian eine neue glänzende Hoffnung zu nichte wurde, 
ward ihm der Berluft auf einer andern Seite faft wieder erfegt. Denn in dem 
darüber gegen Frankreich ausgebrochenen Krieg gewann Marimilian das den Fran- 
zofen bereits übergebene Artois wieder, und erhielt im Frieden von Senlis (Mai 
1493) auf die Freigraffhaft zurück. Im Auguft deffelben Jahres ſtarb Kaiſer 
Friedrih I. Dar wurde der Nachfolger feines Vaters in Teutfchland, und trat 
nunmehr die Regierung der Niederlande ganz feinem Sohne, dem Erzherzog Phi— 
lipp ab. Haben wir aus diefen [hwahen Andeutungen gefehen, wie das Leben 
Marimilians fon in der erften Hälfte feiner Tage ein fo unruhiges, geplagtes, 
von innern und äußern Gefahren bedrohtes gewefen ift, fo war doch all’ das nur 
ein ſchwaches Vorfpiel von dem, was erft fommen follte. Maximilian beftieg den 
teutſchen Königsthron mit dem fefteften und erflärteften Willen, das Anfehen 
feiner erhabenen Würde nad innen und außen wieder herzuftellen. Nun berei= 
teten fih aber alsbald die wichligften politiſchen Ereigniffe vor. Auf dem Haupt- 
ſchauplatze derjelben in Jtalien wurden Mailand und Neapel der Zanfapfel der 
märhtigften Nationen Europas, Als daher Mar die Abficht hegte, nach Stalien 
zu eilen, ſich die Raiferfrone aufs Haupt fegen zu laffen, und das Anfehen des 
Reiches in demfelben wieder herzuftellen, fah er feine Pläne durch die Eroberung 


“ er 
944 j Maximilian . 
Neapels (1495) durch Carl VII. von Frankreich alt, 








; — 
eapı ; i ald durchkreuzt. Aus den 
wichtigften Gründen konnte er dem Umfichgreifen der Franzoſen in Italien nicht 
gleichgültig zufehen, und war darum entfchloffen, die ganze Macht Teutſchlands 
wieder dieſelben aufzubieten. Aber von vorneherein befand er ſich Frautreich 
gegenüber im dem entſchiedenſten Nachtheil. Denn während es dem franzö 
Hofe gelungen war, alle großen Kronlehen einzuziehen, dadurch und durch 
nete Finanzen die Macht des Königthums nach innen und außen zu Einer fehr 
eompacten zu machen, hatte der Lauf der Dinge in Teutfchland eine gerade ent- 
gegengefegte Richtung ‘genommen, Die feit Jahrhunderten in ununterbrochenem 
Zuge fortgehenden Beftrebungen der Neichsftände nach Spuverainetät in den ein- 
zelnen Territorien, nach immer größerer Befchränfung der kaiſerlichen Macht, fuch- 
ten gerade in dem Zeitalter Marimilians I. ſich volle Geltung zu erftreiten, 
Es kann natürlich nicht unfere Abficht fein, Die Lefer Durch das ganze Bunte Ge- 
wirre ber Reichstage, der Forderungen und Gegenforderungen, der diplomatiſchen 
Verhandlungen, der militärifhen Ereigniffe hindurchzuführen. Wir begnügen 
ung nur, Folgendes zu bemerken. Indem Maximilian des Gefühles feiner Würde 
viel zu voll war, als daß er zum Präfiventen einer fländifchen Reichsregierung 
hätte herabfteigen mögen, war die immer und immer wieberfehrende Folge die, 
daß er in feinen auswärtigen Unternehmungen von Neichswegen nur fehr un- 
vollftändig oder gar nicht unterftüßt wurde, in Italien, trogdem daß er bie 
Finanzen feiner Erblande ruinirte, wenig oder nichts ausrichten konnte, und fogar 
die Auctorität Teutfchlandg über die Schweiz gelöst fehen mußte, Und neben den 
äußern Kriegen Tiefen auch Unruhen und Händel im Innern her, wie 3. B. der 
Pfalz-Bayerifche Krieg. Indeß war Marimilian fo glücklich, denſelben mit Hilfe 
vieler teutfcher Fürften fiegreih zu beendigen und im Glanze frifchen Ruhmes 
vor die Reichsverfammlung zu Cöln zu treten (1505). Aber diefer augenblic-: 
liche Erfolg reichte nicht aus, dem Anfehen und der Unterflügung Marimiliand 
durch Die Reichsftände Fraftigen und nachhaltigen Vorſchub zu leiften. Im Gegen- 
theil, als er unmittelbar nachher alle feine Kraft auf Stalien werfen und die 
faiferliche Krone fih auf das Haupt fegen laffen wollte, als er fpäter der Liga 
von Cambrai gegen Venedig beitrat, wurde er vom teutfchen Neiche wie gewöhn- 
lich nur gering unterftüßt, oder man verweigerte ihm geradezu alle und jede 
Hilfe, Als die Liga von Cambrai dur den Nürktritt des Papftes Zulins I. und 
Ferdinand des Katholiſchen wieder zerfiel, vereinigte fih Marimilian mit Lud- 
wig XI. von Frankreich befanntlich zu einem neuen Bunde, um ihre Zwerfe gegen 
Venedig durchzufegen. Aus Erbitterung gegen Julius IL ließ Mar ſich zu einem 
beffagenswerthen Schritte von feinen Bundesgenoffen verleiten, "Um dem Papfte 
mit einer neuen und gefährlichen Waffe beizufommen, beriefen fie die fpäter nach 
Mailand und von dort nach Afti, endlich nach Lyon verlegte fhismatifche Kirchen- 
verfammlung von Pifa (ſ. d. A), um über eine Neformation der Kirche in Haupt 
und Gliedern zu befchließen. Die Lage des Papfles war hiedurch eine ſo kritiſche 








Auch im Felde waren die zum Schutze des Papftes- * ü \ 
lich, daß die Franzofen am Ende des I. 1512 mit Ausnahme von drei feften 





— 


0 Marimilion L 945 


durch ihn nach Augsburg berufenen Biſchöfe nichts Hatten Hören 
Wir übergehen die weitere Geſchichte der italienifchen Kriege und wenden 
den Blick auf die teutfchen Verhältniffe. Auch Hier war es mittlerweile gar ftür- 
miſch zugegangen. Maximilian Hatte bis 1516 alle feine Thätigfeit in Stalien 
erſchöpft und Feine Zeit erübrigt, fich ernftlich mit den Angelegenheiten des Reiches 
zu befchäftigen. Deßwegen hatten in den legten Jahren Fehden und Unruhen 
viele teutfhe Länder beunruhigt und verheert. So kam es erft 1517 wieder zu 
dem Reichstage zu Mainz zur Unterbrüfung der filingen’fhen Händel. Aber ftatt 
Hilfe wider diefelben zu gewähren, ergoffen fi die Stände lediglich in Klagen 
über die berrfihenden Uebel der Zeit. Der Reichsſstag ging auseinander, ohne 
einen Beſchluß gefaßt zu haben. Auf dem im folgenden Jahre zu Augsburg ge- 
haltenen Neichstage beabfichtigte Maximilian zwei Hauptzwecke durchzuſetzen. 
Einmal gedachte er feinen Enkel Earl zum römiſchen Könige wählen zu laſſen, 
und von den Ständen eine Steuer zu einem Kriege gegen die Türfen zu befom- 
men, Allein er erreichte weder das eine noch das andere, obgleich die von den 
Türfen drohende Gefahr täglich dringender wurde, und der Kaifer, Die päpftlichen 
Legaten und die Gefandten auswärtiger Mächte Alles aufboten, um die Stände 
zu einem entfprechenden Befchluffe zu bewegen. Bald nad diefem Reichstage fühlte 
Marimilian, an deffen Gefundheit feit einiger Zeit ein fchleichendes Fieber nagte, 
eine gänzlihe Abnahme feiner Kräfte und ftarb auf der Heimreifezu Wels in Oberöft- 
reich den 12, Jam, 1519 im 60. Jahre feines Alters. Werfen wir nun einen Rück—⸗ 
blick auf das ganze an Bewegung und That fo reiche Leben Marimilians J., fo 
foringt es für's erfte in die Augen, daß er, wie wir gefehen, in feinen auswär- 
tigen Unternefmungen faft immer unglüdlih gewefen ift, teils weil er von 
Reichswegen ungenügend vder gar nicht unterftügt wurde, theils weil er mit dem 
Gelde nicht gehörig zu wirthſchaften verftand, in dem romantifchen Auffhwung 
feiner Gedanken die Schwierigkeiten der Lagen und Verbältniffe oft viel zu leicht 
nahm und durch die Gerabheit feines ehrlichen teutſchen Gemüthes verhindert 
wurde, mit der Lift und Verſchlagenheit feiner Nebenbuhler zu wetteifern, Bei 
allevem aber war Marimilian feiner Zeit der Stolz der teutfchen Nation, Mit 
Recht! Denn an ritterlihem Sinne im Krieg und Turnier, an einer faft fabel- 
haften Kühnheit unter den Gefahren der Jagd, an unermüdlicher Thätigfeit in 
allen Berhältniffen, an Liebenswürdigfeit des Benehmens gegen Hohe und Nie— 
dere, an Kraft des Gedächtniſſes, an Richtigkeit und Schärfe der Auffaffung, an 
neugeftaltendem erfinderifchem Sinne ftand er feinem teutfchen Kaifer nah. Die 
zulegt genannte Eigenfchaft bewies er insbefondere durch feine berühmten Ver— 
befferungen des Militärwefend, Denn von ihm wurde die teutfche Kriegskunft 
auf eine neue Stufe der Bollfommenpeit erhoben, fo daß das teutfche Fußvolk 
der Landsfnechte fortan den Schweizern gleich gefegt, und den Teutſchen in der 
Anlage von VBerfhanzungen und in der Benügung des groben Geſchützes der 
Borzug vor allen andern Nationen zugeftanden wurde, Und obgleich die Negie- 
zung Marimilians von faft ununterbrodhenen Kriegen begleitet war, fo umfaßte 
der Raifer gleichwohl mit warmer Liebe den Eult der Künfte und Wiffenfchaften, 
Er fiand mit den berüßmteften Gelehrten feiner Zeit in enger Verbindung, er 
veranlaßte, ja er verfertigte ſelbſt mehrere in teutfcher Sprache gefihriebene Werke, 
er liebte und beförderte die zeichnenden Künſte und befuchte den berühmten Albrecht 
Dürer (ſ. d. 9.) in feiner Werfftatt zu Nürnberg. Beweist aber das Angeführte, 
wie empfänglich, vielfeitig und bewunderungswürdig der Geift war, der in Mari- 
milian L Tebte, fo ift nun auch anzuführen, was derfelbe Geift zu Nuß und 
Frommen des teutfchen Reiches austrug. Waren die Berfaffungsentwürfe, welche 
die Stände dem Kaifer in den erflen Jahren feiner Regierung mit hartnädiger 
Bebarrlichkeit aufzundthigen fuchten, unansführbar, fo war Marimilian doch ftets 
willig und bereit, zu dem Möglichen und Erreihbaren bie Hand zu bieten, Daher 
Kirgenfsziton. 6: Br 60 





946 MarimitianIl 


war fihon 1495 auf dem Neichstage zu Worms der ewige Landfriede feftgefest 
worden, wozu in der Folge die Eintheilung Teutſchlands in 10 Kreife, das Neichs- 
fammergericht und die Reichsmatrikel famen, Einrichtungen, welde drei Jahr— 
hunderte lang die Fundamente gewefen find, in denen die Einheit des Neiches 
ſich ausſprach. Und wenn alle Kriege für Marimilian wenig Ge brachten, 
fo fohüttelte das Glück die Gaben, welche ihm der Kriegsgott verfagte, auf an- 
dern Wegen defto reichlicher in feinen Schooß. Nicht nur daß er feit 1496 in 
den Gefammtbefig aller öftreichifhen Erblande fam, fowohl der alten habsbur- 
gifhen Befigungen in der Schweiz und in Schwaben als der öftlichen Reichs— 
leben, Deftreih , Steiermark, Krain, Kärnthen und Tyrol, — durch feine Hei- 
zath mit Maria von Burgund hatte er fhon früher, wie wir oben fahen, bie 
herrlichen Niederlande erworben. Ebenſo war es ihm gelungen, durch die Ver- 
heirathung feines Sohnes, des Erzherzogs Philipp mit der Tochter Ferdinands 
des Katholifchen (ſ. d. A.) den Grund zu der großen fpanifchen Erbfchaft zu legen. 
Nicht geringer war der Gewinn, ald Marimilian-durd ein drittes Ehebündniß 
das feines Enfeld Ferdinand mit Anna der Tochter Ladislaus, Königs von Un— 
garn und Böhmen, auch diefe beiden großen und reichen Ränder an fein Haus 
zu bringen wußte, Dieß find die großen Ländererwerbungen Habsburg-Deftreichs, 
auf welche der befannte Vers gebichtet worden ift: Bella gerant alii, tu felix Austria 
nube. Diefelben haben aber nicht bloß eine dynaftifche, fie Haben eine welthiſto— 
rifche Bedeutung gewonnen. In Frankreich Hatte fih, wie wir oben fahen, das 
Königthum eonſolidirt; es war bei den Franzofen ſchon im Beginne des 16ten 
Sahrh. die Idee der Rheingrenze erwacht und unter drei Negierungen hatten fie 
ihre ganze Kraft auf Ftalien geworfen, Daß dem Heberfluthen verfelben gewehrt 
werden fonnte, dazu hatten die großen Rändererwerbungen dur Kaiſer Maxi— 
milian das Haus Habsburg-Deftreih in den Stand gefegt. Dadurch ift daffelbe 
eine conditio sine qua non des Gleichgewichtes der Macht und damit der Freiheit 
der europäifchen Bölferfamilien geworden, darum ift es feit jenen Zeiten eine 
traditionelle Marime der franzöfifchen Staats- und Kriegsfunft gewefen, jenes 
Haus zu demüthigen, Hat aber der Machtzuwachs Deftreihs durch Kaifer Mari- 
milian ſchon dadurch welthiftorifche Bedeutung gewonnen, fo ift dieß nicht minder 
der Fall, wenn wir an die gerade von jenen Zeiten an Teutfohland und damit 
die chriſtliche Eultur fo Tange bedrohende Türkengefahr ung erinnern wollen. Die 
Rückſicht auf die Macht des Haufes Deftreih war fihon nah Marimilians I. 
Tode ein Hauptmotiv gewefen, zu feinem Nachfolger nicht Franz I. von Frankreich, 
fondern Earl, den Enfel Maria's zu wählen. Der Befig einer fo großen Macht 
machte es den fpätern Raifern möglich, fo lange jene Gefahr drohte, als fräftige 
Hüter der Oftmarf ftattlihe Schaaren ihrer eigenen Mannen aufzubieten, fremde 
Truppen in Sold zu nehmen und in Gemeinfchaft mit den Contingenten der Reiches 
fände den Türken den Einbruch in das Herz von Europa zu wehren, die Gefahr 
einer neuen Barbarei zu befeitigen, Müffen wir endlich auch geftehen, daß Carl V. 
(. d. 4.) eben durch die Weltftellung, in welche ihn die Verwirklichung der Pläne 
feines Großvaters gebracht hatte, fih außer Stande fah, der religiöfen Spaltung 
Teutſchlands vorzubeugen, fo muß doch anderfeits das unparteiifche Urtheil der Ge- 
fhichte dahin abgegeben werden, daß es zumeift die von Kaifer Maximilian I. be- 
gründete Macht von Habsburg-Deftreih gewefen, welche in den Nahfolgern jenes 
Kaifers zu verhüten im Stande war, daß durch die Kirchenfpaltung umd ihre Folgen 
nicht ganz Teutichland für die Fatholifche Kirche verloren gegangen ift. [Allgayer.] 
Marimilian IL, älteſter Sohn Ferdinande I. (f. d. A.), wurde ben 
31. Juli 1527 zu Wien geboren, Der ftreng Fatholifche Vater war nicht glücklich 
in der Wahl der Erzieher feines erftgebornen Prinzen, Bon dem erften derfelben, 
Wolfgang Auguftus Severns, weiß man gewiß, daf er ein Schüler Luthers und 
Melanchthons gewefen if, Da er 1539 feine Stelle verlor und nach Wittenberg 


a 





2 Waximilian IL 947 
zurüdfehrte, fo kann er wohl ſchwerlich unterlaffen haben, im Geifte ver genann- 
ten Männer auf feinen Zögling einzuwirken. Man vergl. Bucholtz, Geſchichte 
der Regierung Ferdinands I. 8, Bd. S. 700. Auch der zweite Erzieher Mari 


miliaus ſcheint derfelben Richtung gehuldigt zu Haben. Solhe Männer fonnten, 





flatt bei ifrem Schüler die Einheit der katholiſchen Denfweife zu erzielen, in dag 
Gemüth deffelben nur die Keime religiöfer Zerriffenheit ausftreuen, jenes unflare 
Hin- und Herfchweben zwiſchen dem alten und neuen Glauben, jenes im Zeitalter 
der Kirchenfpaltung eben fo häufige als natürlich und nothwendig fruchtloſe Be— 
fireben nähren und fordern, durch gegenfeitige Conceſſionen die tiefe Kluft zwi— 
fhen den Getrennten wieder auszufüllen, und zwar um fo mehr, ald Marimilian 
das, was er einmal in fih aufgenommen hatte, mit zäher Beharrlichkeit fefthielt. 
Dazu fam noch, daß derfelbe mit zunehmenden Jahren einer ziemlich ungebun- 
denen Freiheit in feinem ganzen Thun und Laffen fih hingab. Welch’ ſchweren 
und tiefen Kummer Marimilian feinem Bater durch all’ das bereitete, geht Har 
und deutlih hervor aus einem von Leitmeriz am 17, Februar erlaffenen Briefe 
Ferdinands, in welchem er feine Söhne zur Eintracht und zum treuen Fefthalten 
am Fatholifhen Glauben ermahnt und den älteren insbefondere mit rührenden 
Worten an Handfhlag und Verfprechen erinnert, welches er bei feiner Abreife 
in den ſchmalkaldiſchen Krieg zur Befräftigung des Vorfages der Befferung dem 
Bater gegeben habe, Buholg a, a. D. VII. 481. ff. Bald darauf entbot Kaiſer 
Carl V. feinen Sohn Philipp aus Spanien zu fih nah Teutfchland. Diefer follte 
die Teutfchen und Niederländer kennen lernen und für fih gewinnen, weil jener 
fih mit dem geheimen Plane trug, ihn zum nähften Erben und Nachfolger im 
allen feinen Reichen zu machen. Weil nun zu beforgen fland, daß die Spanier 
feinem aus ihrem einheimifchen Adel gewählten Statthalter willig gehorchen würden, 
warf Earl V. fein Auge auf den jungen Marimilian und verfprah ihm, um ihr 
fefter an das Intereffe feines Haufes zu fetten, feine ältefte Tochter Anna zur 
Gemahlin, Ferdinand I. gab dazu feine Einwilligung um fo lieber, als Marimi- 
lian dadurch die reichfte Gelegenheit fand, fih frühe in der Behandlung der wich- 
tigften Staatsangelegenheiten zu üben und fih außerdem erwarten ließ, daß er 
dur den Aufenthalt in dem fireng Fatholifchen Spanien von feiner Neigung für 
proteftantifhe Lehren und Anfichten abgebracdht werben könnte. Bon Augsburg 
aus machte ſich Marimilian fofort (1548) auf den Weg nah Spanien und voll— 
309 die Ehe mit feiner Baſe. Nahdem er die Verwaltung in Spanien zwei 
Sabre Sang zur vollen Zufriedenheit feines Oheims geführt Hatte, wurde er im 
November 1550 nach Teutſchland zurücberufen, Auf dem im Sommer 1550 
nah Augsburg berufenen Reichtstage follte nämlich über den oben angeführten 
Plan des Kaiſers ein definitiver Schluß gefaßt werden. Diefer Plan aber fagte 
fowohl den Anfichten Ferdinands und Maximilians als den Wünfchen der teutfchen 
Ehurfürften fo wenig zu, daß er für immer fallen gelaffen werden mußte, Bon 
nun an fand Marimilian einen wenn auch befchränften Wirfungsfreis als Gou— 
verneur von Ungarn, leitete wiederholt für feinen Bater die Landtagsverhand- 
lungen, namentlich mit den Ständen Niederöftreihs (Bucholtz a. a. DO, 706.) 
und hatte alles auf den Zürfenfrieg Bezügliche zu beforgen. Indeß hatte Maxi— 
milians Aufenthalt in Spanien feine kirchlich-religiöſſen Gefinnungen feineswegs 
erfhüttert. Im Gegentheil durch den Lauf der Dinge, welche den Religions— 
frieden von Augsburg herbeiführten, war er in denfelben fo fehr befeftigt worden, 
daß gerade die Jahre von 1555 — 1562 als die Periode feiner flärfften Hinnei= 
gung zum Proteftantismus bezeichnet werden müffen, In diefer Gefinnung ſchickte 
er 1555 einen Doctor Richer an Melanchthon, um fein Gutachten über eilf theo— 
Iogifhe Fragen einzuholen, correfpondirte er mit dem Wittenberger Theologen 
Paul Eber (f. d. A), erbat und erhielt er von dem ihm befreundeten Herzog 
Chriſtoph von Würtemberg die Schriften der Neformatoren (Bucholg a, a, D. 
60* 


948 es Marimilian IL 


487, Pfaff, Geſchichte Würtembergs I. Bd. 2. Abthlg. ©. 479). Der Einfluß, 
welchen die Leetüre folder Schriften auf Maximilian gewinnen mußte, wurde 
noch verflärft durch feinen Umgang mit Männern, welde der gleichen Richtung 
ergeben waren. Unter ihnen ftand oben an der Theologe Sebaftian Pfaufer, wel- 
cher, anfänglich Faiferlicher Hofprediger, wegen feiner antikatholiſchen Predigten 
Wien hatte verlaffen müffen, Dear erwirkte ihm die Erlaubniß zur Rücklehr und 
nahm ihn in feine eigenen Dienfte, Ebenſo übertrug er den Unterricht feiner 
Kinder dem Georg Muſchler, der nicht weniger im proteflantifchen Sinne Tehrte 
und machte vergebliche Anftrengungen, den antifatholifchen Theologen Sealich bei 
fih in Gratz behalten zu dürfen (Bucholg 487 u. 88). Unftreitig aus Rückſicht 
auf diefe Richtung Maximilians Hatte Ferdinand I. noch während der Verhand— 
lungen über den Neligiongfrieven von Augsburg eine eigenhändige Ermahnung an 
feine Söhne niedergefehrieben und den Aufjag feinem Teftamente beigelegt mit 
dem ausdrüdlichen Befehle, daß derfelbe erft nach feinem Tode und zwar in Bei- 
fein aller drei Söhne geöffnet werben follte. Der Hauptinhalt deffelben war bie 
dringende Ermahnung des Vaters, dem alten Fatholifchen Glauben treu zu bleiben 
(TE. AU Menzel, Neuere Gefhichte u. ſ. w. IV. 197 u. 98). Indeß vermochte 
viefe ebenfo bewegte als Liebevolle Anfprache des Vaters die Gefinnung Maxi— 
milians noch nicht zu erſchüttern. Im Gegentheil, als Papft Paul IV. im 3. 1558 
ber Anerfennung Ferdinands I. als teutfhen Kaifers fich weigerte, und fi gegen 
den Gefandten des Letztern unter anderem auch über die Fegerifche Erziehung des 
Erzherzogs Maximilian ausfprach, erhielt die antikirchliche Richtung des Prinzen 
neue Nahrung. Aus den Briefen, welche er um diefe Zeit mit Herzog Chriftoph 
von Würtemberg wechfelte (Bucholtz VI. 491), erfieht man zur Genüge, einmal 
wie bitter Marimilian e8 empfand, daß man ihn als „einen der Wahrheit wegen 
Verdächtigen“ zu Berathungen über kirchliche Angelegenheiten fo gut wie gar 
nicht beizog. Sodann geht aus jenen Briefen weiter hervor, welche tiefe Abnei- 
gung gegen den römifchen Stuhl fein Herz eben erfüllte, endlich wie angelegent- 
lich er Einigung der proteftantifchen Anfichten wünfchte, weil man durch Verglei— 
ung der andern Partei, d. h. der Fatholifchen, am beiten unter das Leben zu 
fommen vermöge (Buholg a. a. O. 491). Zu eben diefem irenifhen Zwede 
fandte er 1558, ohne jedoch etwas auszurichten, einen feiner Räthe nach Tü— 
Bingen, Heidelberg, Zürich und Sachſen. Mittlerweile ließ man aber Fatholifcher- 
feits nichts unverfucht,, den Erzherzog auf andere Wege zu bringen. Den erfien 
Verſuch dazu machte feine Schwägerin Johanna, vermählte Prinzeffin von Por- 
tugal, durch den Jeſuiten Chriſtoph Noderich. Diefer hielt mehrere Conferenzen 
mit Maximilian, welcher feinen Beweisführungen nicht ungern zu folgen ſchien, 
gleihwohl aber feinen entfcheidenden Schritt vorwärts that. Auch am päpftlichen 
Hofe ſchöpfte man in Betreff Maximilians wieder beffere Hoffnungen, Nach dem 
Tode des dem teutfchen Zweige der Habsburger fo abgeneigten Papftes Paul IV, 
beftieg Pius IV. den Stuhl des hl. Petrus und erkannte Ferdinand I. fogleih als 
tentfhen Kaifer an, Als nun auch Marimilian ein Oratulationsfhreiben an dem 
Papft erließ, antwortete diefer nicht nur auf's Freundlichfte (Bucholtz a. a, D, 
493), fondern entfendete auch gegen Ende des J. 1559 einen der erften Fatho- 
liſchen Gottesgelehrten jener Zeit, den berühmten Hofius, Erzbifchof von Erme- 
land, nach Wien, um auf Maximilian im Fatholifchen Sinne einzuwirken. Hoſius 
(ſ. d. A.) ſuchte nun in wiederholten Neligionsgefprächen, insbefondere durch Auf- 
zeigung der Veränderungen, Unbeflimmtheiten und Entzweiungen der proteftan- 
tifhen Lehrbegriffe dem Prinzen die Wahrheit und Nothwendigfeit des Feſthaltens 
am Fatholifchen Glauben zu beweifen, und gab auch mach feiner Abreife dur 
brieflichen Verkehr mit Maximilian fih alle Mühe, die jegt wieder kirchlicher 
ſcheinenden Anfichten deffelben zu befeftigen (Bucholtz a, a. D. 493—501). Indeß 
war noch nicht viel gewonnen, Denn wenn der Erzherzog auch viel Intereffe 


ee nn 0 lie 


j Maximilian IL I 949 


für die Beweisführungen des Hofins gezeigt hatte, fo irrt gleichwohl C. A, Menzel 
(a, a, D.IV.295), wenn er berichtet, es fei dem Biſchof von Ermeland gelungen, 
den Prinzen auf andere Gedanfen zu bringen. Diefer hatte im März 1560 
feinen Hofprediger Pfaufer auf Andringen des Kaifers abermals von fih ſcheiden 
fehen müffen. Diefe Nöthigung fheint die Seele Marimiliang mit einer Bitter- 
feit gegen feinen Vater fowohl als gegen die Kirchenlehre erfüllt zu haben, In 
den Briefen, welche er mit Pfaufer wechfelte, füttete er fein ganzes Herz aus 
und fagt in einem derfelben geradezu: „Gleichwohl, fo Laffen fie es an ihrem 
möglichen Fleiß gar nit erwinden und infonderheit der Oſius, sed frustra. So 
kann ih auch nit verhalten, daß ich auf mein täglichs und vielfältigs Anhalten 
von wegen eines chriſtlichen Predicanten bei J. kaiſ. DR, noch bis auf diefe Stunde 
nicht hab können erhalten“ (Bucholtz a. a. O. 502). Daffelbe geht aus der 
Thatfache hervor, daß Ferdinand I. noch 1560 auf die Gewährung des Laien- 
felches mit befonderer Rüdficht auf Marimilian drang, welcher wegen feiner dieß— 
fälligen Zweifel mehrere Jahre Iang vom Tiſche des Herrn weggeblieben war 
(E, A. Menzel a. a. O. V. 8), Endlich zeugt hiefür auch der Brief, in welchem 
 Marimilian im gleichen Jahre den Churfürften von der Pfalz für den Fall feiner 
Vertreibung um offenes Haus und Herberge bittet, fowie auch der Brief, den er 
noch im folgenden Jahre (1561) in der gleichen Angelegenheit an den Landgrafen 
Philipp von Heffen (ſ. d. A.) richtete (Bucholtz a. a. O. 503). Stund fo nad 
Allem zu erwarten, daß Marimilian ſich den -Proteftanten noch offen in die Arme 
werfen werde, fo ift dieß doch Feineswegs gefchehen. Vielmehr Iefen wir ftatt deſſen 
mit freudiger Berwunderung, daß Ferdinand I. feinen älteften Sohn im J. 1562 
den Churfürften des teutfchen Reiches zur Wahl als römifhen König mit den 
warmen Worten empfahl, „daß Marimilian mit hoher Vernunft, Schieflichkeit, 
Milde und Sanftmüthigfeit, auch allen andern fürftlihen Tugenden und guten 
Sitten trefflih begabt, von gerechten, ehr- und friedliebendem Gemüth ſei, und 
der gegen das H. R. teutfcher Nation und alle deffen Stände und Glieder große 
Lieb und Zuneigung trage, und deren Ehre, Aufnehmen, Wohlfahrt möglihft zu 
befördern zum höchſten begierig fer" (Weftenrieder, hiſtor. Kalender 1801, 
©. 186 u. 69). Durd einftimmige Wahl wurde Marimilian nun den 24. Nov, 
1562 zu Frankfurt a. M. zum römifchen König erforen, nachdem er ſchon den 
20. Sept. deffelben Jahres zum König von Böhmen gefrönt worden. Die eben 
angeführten Worte, in welchen Ferdinand den Churfürften die Wahl feines Soh— 
nes empfohlen hatte, fallen bei einem Fürften, fo wahrheitsliebend und gewiffen- 
haft wie der Kaiſer ohne Frage gewefen ift, fo ſchwer in’s Gewicht, daß diefelben 
ohne die Borausfegung der Wiederherfiellung guten Einvernehmens zwifchen Vater 
und Sohn unbegreiflih wären, d. 5. e8 mußte in der Seele Marimilians voffen- 
bar feit Kurzem, zwifchen den Jahren 1561 und 1562, ein entfcheidender Um— 
fhwung vor ſich gegangen, der Entſchluß zur Reife gelangt fein, an dem Glauben 
feiner Väter feftzubalten, Hiebei kann die intereffante Frage nicht umgangen 
werden, wie Maximilian diefen fo bedeutungsvollen Sieg über fich felbft errungen 
habe? Wir find über diefes merfwürdige pfychologifche Ereigniß durch Feine ſichern 
biftorifchen Notizen unterrichtet, werden jedoch fihwerlich irren, wenn wir folgende 
Momente als die entfcheidungsvollen annehmen. Für's Erfte hatte Marimilian 
auch auf feinem frühern proteftantifirenden Standpuncte feineswegs in allen Stüden 
mit der neuen Lehre harmonirt. Sp fiheint er früher gewohnt gewefen zu fein, 
zuerft die Predigten Pfaufers zu befuhen und dann der Fatholifhen Meffe beizu- 
wohnen (vgl. Bucholtz a, a. DO. 487 u, 88). Ebenfo Haben wir oben gehört, 
wie er in feinem Briefwechfel mit Herzog Chriftoph von Würtemberg und durch 
Adgefandte auf die Beilegung der Uneinigfeiten der Proteftanten fo nachdrücklich 
hinzumwirfen bemüht war, Nun war aber diefe Hoffnung fo wenig in Erfüllung 
gegangen, daß gerade um jene Zeiten die Streitigfeiten wegen der guten Werke, 


950 Maximilian. 


die fpnergiftifhen Händel, Die durch Oſiander hervorgerufenen Zänfereien, die 
Ergpto-calvinifchen Bewegungen im proteftantifchen Lager auf lange Hin das Zerr- 
bild der widrigften Zerriffenheit und der wüthendften Verfegerungs- und Verfol- 
gungsfucht zur Schau trugen. Da mögen nun die ſcharfen und eindringlichen 
Erdrterungen des Hoſius in der finnenden Seele Marimiliand Iebendig wieder 
aufgelebt, und die Kraft der leberzeugung, welde das lebendige Wort im Augen- 
blicke nicht gefunden, durch die beftätigenden Thatſachen bewirkt Haben, Außer- 
dem war mit der Gewährung des Laienkelches einer der hauptſächlichſten Anftände 
Maximiliaus gehoben worden. Endlich müffen wir auch noch der politifchen Er- 
wägungen gedenken, durch welche der Erzherzog beftimmt werden fonnte, zu fefter 
Treue gegen die Fatholifche Kirche zurückzufehren, War von einem Manne, wie 
Ferdinand I., zu hoffen, daß er feinen Erfigebornen ven Churfürften des Rei— 
ches zur römifchen Königswahl auch in dem Falle vorfihlagen würde, daß er von 
der rechtgläubigen Gefinnung deffelben Feine fefte Ueberzeugung hatte? Daher 
bat, obgleich durch Fein anderes Äußeres Zeugniß beftätigt, durchaus Feine innere 
Unwahrfcheinficheit, was Anton Maria Gratianus erzählt (Bucholtz a. a, O. 
VII. 708). Der Kaifer foll nämlich feinem Sohne wegen fortwährenden Wider- 
firebens gegen die väterlichen Ermahnungen angekündigt haben, daß er mit Heber- 
gehung des Erfigebornen die Faiferlihe Würde an einen jüngern rechtgläubigen 
Sohn zur bringen trachten werde, Aber felbft angenommen, daß diefer Notiz feine 
Hiftorifche Wahrheit beigemeffen werden fünne, angenommen Caber nicht zugegeben), 
daß Ferdinand die Wahl Maximilians, auch wenn diefer zum Proteftantismus 
überginge, nicht zu hindern gedachte, fo lagen, wenn Marimilian anders Kaifer 
werben und als folder etwas bedeuten wollte, in der Natur der Sache felbft die 
wichtigften und entfcheidenften Gründe dafür, dem Glauben feiner Väter treu zu 
bleiben. Man f. EA. Menzela. a. DV. 8 ff. Nimmt man all’ das zufam- 
men, fo erflärt fich der auf den erſten Anblick überrafchende Entſchluß Marimi- 
lians aufs Vollſtändigſte. Im Juli 1564 ſtarb Kaifer Ferdinand I. und Mari- 
milian wurde fein Nachfolger auf dem teutfchen Kaiſerthrone. Die Schwierigkeiten 
der Berhältniffe waren für den neuen Herrfcher nach allen Seiten hin Feine ge— 
ringen. Werfen wir unfern Blick zuerft auf die Erblande Marimilians IL, fo 
hatte der Proteftantismus in Böhmen, Schlefien, Laufig und Deftreich das ent- 
fchiedenfte Mebergewicht befommen, Der Landfrieden im teutfchen Reiche war 
dur die Grumbach'ſchen Gewaltthaten (ſ. d. A.) auf eine fo fihreiende Weiſe 
gebrochen worden, daß der Raifer auf feinem erften Neichstage zu Augsburg im 
% 1566 die bereits ergangenen Acht- und Executionsbefehle ernenerte und fchärfte, 
Bier Reichskreiſe, der ober- und niederfächfifche, der fränfifche und weftphälifche, 
wurden mit dem Vollzuge der Reichsacht betraut, der Churfürft Auguft von 
Sachſen trat an die Spitze der ftattlichen aus 18,000 Mann beftehenden Neichs- 
armee, Der Erfolg entſprach den großen Anftrengungen, Grumbach wurde mit 
feinem Anhange zu Gotha gefangen und nad der barbarifchen Juſtiz jener Zeiten 
vom Leben zum Tode gebracht, während der von ihm bethörte Herzog Johann 
Friedrih von Sachſen, der Sohn des von Carl V. im ſchmalkaldiſchen Kriege 
überwundenen gleichnamigen Fürften,, fein Verbrechen mit Iebenswieriger Haft 
büßen mußte. Auf dem erften Neichstage bereiteten die religiöfen Angelegenheiten 
dem Kaifer nicht geringere Schwierigfeiten, Die Proteftanten ergoffen fih über 
die Ratholifen in einer wahren Fluth von alferlei Klagen und drangen vor Alfem 
anf Befeitigung des in den Neligionsfrieden von Augsburg wider ihren Willen 
aufgenommenen geiftlichen Vorbehaltes. Nun banden aber den Kaiſer nicht bloß 
bie dem päpftlichen Stuhle gegebenen feierlichen Verfprechungen, dem Papfte und 
dem apoftolifchen Stuhle alles das Teiften zu wollen, was von feinen Vorfahren 
und namentlih von Marimilian I., Carl V. und feinem Vater Ferdinand dem- 
felben geleiftet worben fei, fondern auch die Rückſicht, daß mit der Befeitigung 





Mariminus. 951 


des geiftlichen Borbehaltes dem weitern Umfichgreifen des Proteflantismus un- 
möglich gewehrt werben könnte, dag mit der Vernichtung des Katholicismus in 
Teutſchland der Faiferlichen Macht der Boden vollends wie unter den Füßen hin- 
weggezugen würde, mußte ihn nothwendig dazu treiben, dem mehrgenannten Ans 
finnen der Proteftanten fih aufs Standhaftefte zw widerfegen. In demfelben 
Jahre gerieth Maximilian II. durh Johann Zapolya, der, mit Siebenbürgen nicht 
| zufrieden, auf ganz Ungarn Anfprüche machte, auch noch in Krieg mit den Türfen, 
Der Kaiſer fah fi dadurch genöthigt, die teutfhen Stände auf dem Reichstage 
zu Augsburg 1566 auch um Hilfe gegen den Sultan Soliman anzufprechen, wel- 
Ger feldft im Felde erfhienen war, Obgleich aber die zu Augsburg bewilligte 
Reichshilfe eine ziemlich bedeutende war, fo entfprachen doch die militärischen 
Ereigniffe nicht den beiderfeit$ gemachten großen Anftrengungen. Spliman ftarb 
im September 1566 vor dem durch Zrini heldenmüthig vertheidigten Sigeth und 
fein Nachfolger Selim II., mehr den Vergnügungen ergeben als von Kriegsfuft 
befeelt, ſchloß mit Marimilian IL einen ahtjährigen Waffenftillftand, nach weldhem 
beide Theile behielten, was fie in dem eben beendigten Kriege erobert hatten und 
Siebenbürgen als ein Theil Ungarns anerkannt wurde, Durch eben diefe Türfen- 
gefahr fah fih der Kaifer auch genöthigt, dem öftreichifchen Herren- und Ritters 
ftand im 3. 1568 eine befchränfte Erlaubniß zur lebung der augsburgifhen Con- _ 
feffion zu geben. Bom römifchen Stuhle darüber ziemlich Hart angelaffen, Eonnte 
der Raifer in der That nichts anderes fagen, ald was er gegen den päpftlichen 
Legaten ausſprach: er Habe mit diefer Bewilligung aus mehrern Uebeln das Fleinfte 
ausgewählt. Im Mebrigen war Marimilians Hauptgrundfaß der, am Augsburger 
Religionsfrieden feſtzuhalten, Ausſchweifungen der einen oder andern Partei in 
ihre Schranken zurüdzumeifen, damit der Neichsfrieden Feine Störung erlitte, 
Wenn der Kaiſer dadurch oft e8 weder den einen noch den andern recht zu machen 
vermochte, fo war diefe feine Haltung unter den gegebenen Verhältniſſen doch die 
Hügfte und den Jutereſſen der Katholiken angemeffenfte. Dieß zeigte fich Mar, 
als die Proteftanten wie auf dem Churfürftentage zu Regensburg (1575) fo auf 
dem 1576 ebendafelbft gehaltenen Reichstage erneuerte Anträge auf die Befeiti- 
gung des geiftlichen Vorbehaltes und die Anerfennung der Nebendeclaration Fer- 
dinands I. zu Gunſten proteflantifcher Unterthanen geiftlicher Reichsſtände ſtellten. 
Der Kaiſer wies beide Anfinnen als dem Reltgionsfrieden zuwider zurüf, wäh— 
rend die von Churpfalz geführte Oppofition beſchloß, die Sache auf dem nächften 
Reihstage zu wiederholen. Diefen follte Marimilian II. nicht mehr erleben. Denn 
zur nämlihen Stunde, in welcher der Mei era m. are wurde, ftarb der 
Kaifer ganz unerwartet den 12. October 1576 im 50, Jahre feines Lebens, 
Marimilian IE. fprach alle Hauptfprahen Europas, und verband mit den Tu— 
genden des Privatmannes die Eigenfchaften des Fürften, Er zeichnete fi) aus 
durch große Geſchäftskenntniß, firengen Haushalt mit der Zeit, Gerechtigfeits- 
liebe, Höflichkeit und Anmuth des Benehmens gegen Jedermann, Vgl. hiezu die 
Art, Böhmifhe Brüder, und Hufiten, [Alfgayer.] 
Mariminus, C. Julius Verus, der Thracier, römifcher Raifer, Er 
war in Thracien von barbarifhen Eltern geboren, Seine Mutter gehörte dem 
Bolfe der Alanen, fein Bater dem der Gothen an. Als Kaifer Septimius Se— 
verus auf der Nüdfehr von einer Expedition in den Drient in Thracien Halt 
machte, um den Geburtstag feines jungen Sohnes Geta durch allerlei militärifche 
Spiele zu verherrlihen, 309 ein junger Landmann — unfer Marimin — ſowohl 
durch riefenmäßige Stärfe und Gewandtheit ald durch coloſſale Größe des Kör- 
pers die Aufmerffamfeit des Kaifers fo jehr auf fih, daß er ihn fogleich unter 
die Armee aufnahm. Unter der Regierung des Septimus Severus und feines 
Sohnes flieg er, von beiden Fürften begünftigt, bis zu dem Nang eines Centurio 
auf, während er unter der Herrfchaft des Mörders von Earacalla und unter 


952. Masiminue; 


Heliogabal fih vom öffentlichen Dienfte zurückgezogen hielt. Nach der Throns 
befteigung des Alerander Severus fehrte er an den Hof zurück, befam den ehren- 
vollen Poften des Befehlshabers der vierten Legion und ſchwang fich nach und 
nach bis zur höchſten militärifchen Würde auf, Doch diefe Beförderungen und 
Gunftbezeugungen, weit entfernt feine Treue zu befefligen, dienten nur dazu, 
- feinen Ehrgeiz zu flacheln. Er wußte, daß der Kaifer die Liebe der Armee ver- 
Ioren Hatte und faßte den Entfhluß, durch allerlei Ausftreuungen die Herzen der 
Soldaten dem Alexander Severus vollends zu entfremden und für fi zu ge— 
winnen. Dieß gelang um fo leichter, ald Maximin offenbar trog feiner Strenge 
und Graufamfeit eine ächte Spldatennatur war, welche das Heer zu electrifiren 
und dauernd zu feffeln verfland, Sp fam es, daß der Kaiſer, welcher eben ein 
großes Heer am Rhein zufammengezogen hatte und gegen bie Teutfihen zu führen 
gedachte, in einem Soldatenaufftande erfhlagen, Marimin von den meuterifchen 
Truppen zu feinem Nachfolger ausgerufen wurde, Mit ihm gelangte zuerft ein 
nach Abkunft und Sinnesart ächter Barbar auf den Thron der römischen Cäfaren, 
welche bis zu diefer Zeit alle durch Abfunft, Kenntniffe und Verdienſt der grie- 
chiſch⸗rvmiſchen Eultur angehört hatten, Ohne Rom, den Mittelpunet des Reiches 
zu befuhen, führte Marimin fofort den Krieg am Rhein und an der Donau mit 
glücklichem Erfolg und begann den Rampf wider die Sarmaten, Daß er die Haupt- 
ftadt nicht fehen wollte, hatte feinen Grund darin, daß er beftändig feiner ge— 
meinen barbarifchen Abfunft, der Nohheit feiner äußern Erſcheinung, der gänz- 
lichen Unwiſſenheit in allen Künften und Einrichtungen des bürgerlichen Lebens, 
endlich des Blutes und Verrathes fich erinnerte, durch welchen er fi zum Ober- 
herrn des römischen Reiches aufgefhwungen hatte, Daher duldete er um feine 
Perfon feinen Dann von edlem Gefhlechte oder von Bildung, daher wurde feine 
Seele von dem Schredbild der Verachtung von Seite des römifchen Volkes erfülft 
und wie von feinem Schatten begleitet, Diefer Argwohn erzeugte einen wahrhaft 
terroriftifchen Haß, eine unbegrenzte Verfolgungswuth gegen Alle und Jede, welche 
Bildung und Berbienft befaßen und am Hofe feines edlen und milden Vorgängers 
in Ehren und Geltung geftanden hatten. Unter einem folchen Kaifer fonnten auch 
die Chriften nicht auf Zeiten der Ruhe und Duldung hoffen. Mammea, die 
Mutter von Alerander Severus, hatte ja einft zu Antiochia den Kirchenlehrer Dri- 
gines zu fih entbieten laffen, und, obwohl fie Heidin war und blieb, feinen Vor— 
trägen mit dem größten Intereſſe zugehört, „Die in jenen Zeiten häufige fynere= 
tiftifhe Betrachtungsweife und Hebung der Religion war auf Alexander Severus 
übergegangen, In feiner Hauscapelle hatte und verehrte er befanntlich neben den 
Bildern von Abraham, Orpheus, Apollonins auch das von Chriftus als eines 
ehrwürdigen um die Menfchheit verdienten Weifen, Defiwegen war er den Chriften 
hold und gnädig gewefen und viele feiner Freunde und Diener hatten ihrer Ge- 
meinfhaft angehört. Indem nun Marimin gegen alle Freunde und Anhänger 
feines Vorgängers zu wüthen begann, mußte feine Verfolgung natürlich auch die 
Ehriften treffen. Zwar fagen die Zeugniffe des Alterthums, daß Marimin nur 
die Häupter der Kirche mit dem Tode zu beftrafen befohlen, weil vielleicht in dem 
erften Zeiten von Alexander Severus riftliche Bifchöfe mit dem Hofe in Ver— 
bindung geftanden hatten, Aber felbft wenn der Kaifer feine Blutbefehle auf die 
Geiftlihen allein befchränfte, fo fonnte e8 dabei doch unmöglich fein Bewenden 
haben, fo mußten Einziehungen des Bermögens, Berbannungen und andere Strafen 
über die ganze Gemeinfchaft der Chriften hereinbrechen, Der Kaiſer brauchte ſich 
nur zum Feinde der Ehriften zu erflären, um alle Angehörigen des Evangeliums 
ben genannten Plagen zumal in ſolchen Provinzen auszufegen, in welchen der 
alte Haß des heidniſchen Volkes gegen die Chriſten durch zerftörende Naturereig« 
niffe auf's Neue entzündet wurde und der Fanatismus der Statthalter mit der 
Wuth des Bolfes gemeinfame Sache machte, Nun waren aber in der That ver= 


Maynz — Mazarin, 953 


ſchiedene Provinzen des Reiches von allerlei Landplagen heimgefucht worden und 
in Cappadorien und Pontus insbefondere hatte ein Erdbeben ganze Städte ver- 
ſchlungen. Wie gewöhnlich wurde die Schuld davon den Chriſten beigemeffen, 
Dazu Fam, daß auch Serenianus, der Statthalter von Cappadocien, ein grau- 
famer den Chriften feindfeliger Mann war, Sp geſchah es, daß in jenem Lande 
während der Verfolgung Marimins nicht bloß der Diacon Ambrofius und der 
Priefter Protoeletus Bekenner wurden, fondern daß die dortigen Chriften über- 
haupt gezwungen waren, von einem Ende des Landes zum andern zu fliehen, ihre 
Heimath zu verlaffen und in andere Provinzen auszuwandern. Auch zu Nom 
blieben die Chriften nicht ungefährdet. Der damalige Papft Pontianus wurde 
mit dem Presbyter Hippolytus im J. 235 unter der Regierung Maximins aus 
der Hauptfladt nah Sardinien verbannt und flarb dafelbft im gleichen Jahre 
wahrjheinlih in Folge von Mißhandlungen. Daffelbe Schickſal, wahrfheinlih 
durch diefelben Urfachen herbeigeführt, widerfuhr 236 feinem Nachfolger Anterus, 
Ob und in wie weit die Verfolgung auch die römifche Chriftengemeinde betroffen 
oder ſich noch auf mehrere Provinzen erftrecft Habe, müffen wir wegen Mangels 
an Nachrichten dabingeftellt fein laſſen. Jedenfalls erreichte die Verfolgung mit 
dem im 3. 237 gegen Marimin ausgebrochenen Aufftand ihr Ende, Die arg 
wöhnifhe und biutdürftige Seele des Tyrannen nämlich witterte überall Verrath 
und Berfhwörungen, Daher ward Italien, ja das ganze Reich mit geheimen 
Aufpaffern und Angebern erfüllt, und eine folhe Menge der graufamften Strafen 
verhängt, daß Tonfiscativnen, VBerbannungen und einfache Todesftrafen für Be— 
weife ungewöhnlicher Milde galten. Dieß führte zu einer allgemeinen Verzweif- 
Jung und führte einen Aufftand in Africa herbei, durch welchen die beiden Gor— 
diane, Bater und Sohn, jener zum Auguſtus, diefer zum Cäfar ausgerufen 
wurden. Zwar wurde die Empörung rafch unterbrüdt, die beiden Gordiane ka— 
men um's Leben, aber der römifhe Senat Hatte diefelben anerfannt und alle Pro— 
vinzen aufgefordert, fich wider den Tyrannen zu erheben, Als daher auch die 
Nachricht von dem unglüflihen Ende des africanifchen Aufflandes nah Nom fam, 
blieb dem römifhen Senat feine andere Wahl übrig, als in der Empörung gegen 
Marimin zu verharren, Deßhalb wurden Maximus Pupienus und Cälius Bal- 
binus als Kaifer ausgerufen und beſtimmt, daß diefer in der Hauptftabt bleiben, 
| jener zum Kriege gegen den Tyrannen ausziehen follte, M. Pupienus fhlug 
| fofort fein Hauptquartier zu Ravenna auf und verfah das wichtige und fefte Aqui— 
| lefa mit einer ftarfen Befagung, welche dem Heere Marimins einen verzweifelten 
Widerftand entgegenfegte, Dadurch zog fih die Belagerung in die Länge und 
Marimins Soldaten begannen in jenen fumpfigen Gegenden durch Fieber und den 
Mangel an den nothwendigften Lebensmitteln zu leiden. Deßhalb brach in ihren 
Reihen ein Aufftand aus, in welhem Marimin nach dreijähriger Regierung (235— 
38) erfihlagen wurde, Vgl. hiezu d. Art. Ehriftenverfolgungen, [Allgayer.] 
Maynz, f. Mainz. | — 
Mayr, Beda. Er iſt geboren zu Daitingen in Oberbayern im J. 1742; 
wurde im 3. 1762 zu Donauwörth Benedictiner, und Iehrte in feinem Stifte 
Mathematik, Poefie, Rhetorik, Philofophie, Kirchenrecht und Theologie. Er zählt 
zu den gebildetfien Männern und beften Talenten feiner Zeit, welcher er auch 
darin. huldigte, daß er einer liberalen, jofephinifchen Richtung (f. Joſe ph IL.) 
fih zu fehr Hingab. Seine vorzüglichfte, heutzutage noch vielfach genannte Schrift 
ift „VBertheidigung der natürlichen, chriſtlichen und Fatholifhen Religion nach den 
Dedürfniffen unferer Zeit”, Augsburg 1787 in 4 Theilen, Mayr flarb den 
28. April 1794. z 
Mazarin Ceigentlih Mazarini), Julius, Cardinal und erſter Minifter in 
Franfreih, geboren aus einer altadeligen Familie den 14. Juli 1602 zu Rom 
Cnadh weniger fihern Berichten zu Piseina in den Abruzzen), Er begann feine 








954 Ei Mazarin — 


Studien in dem Jeſuitencollegium in Nom, kam noch ganz jung mit Colonna, 4 
nachher Cardingl, nach Spanien und ſetzte feine Studien in Alcala de Henares 
fort, Er nahm bald darauf Kriegsdienfte unter den päpftlihen Truppen, machte 
fich bereits in feinem 20, Jahre rühmlich befannt durch eine geſchickte Unterhand— 
Yung mit dem Herzoge von Faria, Gouverneur von Mailand, unterhandelte in 
den Angelegenheiten von Turin und Mantua, nahm an dem für Frankreich fehr 
vortheilhaften Frieden zu Chierasco 1631 Tebhaften Antheil und verhinderte durch 
geſchicktes und energifches Unterhandeln ein blutiges Zufammentreffen zwiſchen 
Franfreih und Spanien. Schon bei feiner erften Borftellung in Paris 1628 
erregte er Auffehen, und erwarb ſich jet die Gunft des mächtigen Richelieu noch 
mehr, Er wurde Bicelegat in Avignon und 1634 Nuntius des Papftes in Franf- 
reich. Nach feiner Rückkehr wurde er auf Vorfchlag des Königs von Frankreich 
Cardinal im J. 1641, von Ludwig XI. zum Minifter erwählt und nach dem 
Tode des Nichelieu, welcher den A, December 1642 erfolgte, zum Premierminifter 
ernannt, Während der Zeit der Negentfchaft der Königin Anna von Deftreich 
bildete er mit Conde, Segnier, Bouthillier und Chavigny den Rath der Kö— 
nigin, und wurde zum Erzieher des jungen Ludwigs XIV. ernannt. Auf den 
höchſten Gipfel der Macht geftiegen, und fich der befondern Gunft der Negentin 
erfreuend, entwicfelte er feine guten wie feine fchlimmen Eigenfchaften. Mazarin 
hatte weder ven Glanz der Größe, welcher blendet, noch einen Charakter, der 
Schrecken einjagt, wie Richelien ihn befah. Er war im Ganzen furchtſam, Tieb- 
äugelte mit den Feinden, denen Richelien den Kopf abfehlug. In den Partei- 
fämpfen hatte er nicht den folgen Geift des Retz, Erzbifchofs von Paris, noch 
in ten Gefchäften die Thätigfeit und den Scharfblick des Nichelien, noch in der 
Berwaltung die weifen Grundſätze des Sully, noch in den politifchen Abfichten 
die Rühnheit und Tiefe des Cardinals Alberoni. Sein großes Verdienft war, zu 
anterhandeln, er brachte dazu die ganze Feinheit und Schlauheit eines Diplo- 
maten, kannte Verhältniffe und Menfchen genau und wußte fih derfelben als 
Werkzeuge zu feinem Glüde zu bedienen, Ein anderes großes Verbienft war, 
daß er eifrig dem Ruhme und der Größe Frankreichs ergeben war, daß er bei 
allem Ehrgeize feft an der Monarchie hielt und darin ſelbſt feine Stüge ſuchte 
und fand. Das war der Untergang feines ihm an Geift und Kühnheit überlege- 
nen Gegners, Ned, Geboren mit einem Talente für Staatsangelegenheiten, 
öffentlich beredt, einfchmeichelnd im Umgange, thätig und duldend, im Stande, 
bis zur äußerſten Popularität fich herabzulaffen, wie feinen Nang bis zum höchſten 
Stolz zu behaupten, vereinigte Net alle Eigenfchaften in fih, zu herrſchen. Er 
fühlte feine Kraft, trat in Verbindung mit den Frondiften, mit dem Parlamente, 
wirkte durch den Elerus auf das Volk, als diefes fich erheben wollte, berubigte 
e8, um den Preis, es zu regieren, Er hielt fich für unentbehrlich, trug feine 
Dienfte der Koͤnigin an, dieſe war zu ſtolz, diefelben anzunehmen, und von diefem 
Augenblicke an machte Retz alle Anftrengungen, Parteifaupt zu werden und ſich 
ein Vergnügen daraus, Öffentlich gegen Anna und Mazarin fich zu erheben, Er 

> mußte aber fallen, weil er nicht wie Mazarin eine fefte Grundlage hatte in dem 
engen Anſchließen an die Monarchie. Wenn auch Mazarin von dem Tage feiner 
Erhebung an nur harte Kämpfe zu erdulden hatte, wenn Bolt, Parlament, Condé, 

Longueville fih gegen Mazarin erhoben, fo gefchah es, weil fie den Fremdling 
ungerne auf diefem Poften fahen, weil Mazarin feiner Stellung fi bediente, 
um feinen. Verwandten die erften Stellen zu verſchaffen, weil er in feinem Ueber - 
muthe fo weit ging, daß er ernftlich daran dachte, eine feiner Nichten Ludwig XIV. 

zur Gemahlin zu geben, weil er mitten in einer großen Finanznoth ungeheure 

Meisthimer fammelte und anfehnliche Herzogthümer mit feiner Stelle verband, 
Die Königin Tieß auf den Rath des Mazarin Brouffel und Blanemesnil, Mit 7 
Hlieder des Parlaments, einferfern und zwei andere, Lainc und Loifel verbannen, 


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Mazarin se 955 


weil fie vorzüglich die Oppofition des Parlaments von Paris gegen Mazarin in 
einer Finanzangelegenheit unterftügten, Das Volk erhob fich, nahm eine drohende 
Stellung an, die Königin gab die Gefangenen frei, Blancmesnil trug im Parla- 
mente darauf an, das Gefet von 1617 zu erneuern, welches den Fremden die 
Berwaltung des Reiches verbiete, und die Königin zu bitten, Mazarin aus dem 
Rathe und von der Perfon des Königs zu entfernen, Mazarin fammt dem Hofe 
mußten nah St, Germain fih zurüdziehen, Kurze Zeit darauf ſchickte das Par- 
lament ihm einen Erlaß nah, welches ihn als Feind des Vaterlandes, als Ur- 
heber alfer Unruhen in Franfreich erklärte und ihm befahl, innerhalb acht Tagen 
Hof und Königreich zu verlaffen, Die Königin mußte nachgeben, Marzarin floh 
1651 nach Lüttich und dann nah Coln. Die Königin, das Parlament und Volk 
vereinigten fih, die Belagerung wurde aufgehoben, der König Fehrte nach Paris 
zurück. Auch Mazarin blieb nicht Iange in der Verbannung, er ward in den ge— 
beimen Rath der Königin zugelaffen, brach mit dem Prinzen von Condé, bewirkte 
deffen Gefangennehmung, mußte aber wieder fliehen, das Parlament erließ meh- 
rere Urtheile gegen ihn, feste fogar feine Bibliothef dem öffentlichen Verkaufe 

‚aus, In der Verbannung fuhte Mazarin Franfreih Dienfte zu Ieiften, foviel er 
fonnte, er unterftügte die Unternehmungen Frankreichs gegen Spanien mit feinem 
Rathe, Teitete fogar Belagerungen gegen die Spanier, Nach der Volljährigkeit 
Ludwigs XIV. berief ihn diefer 1652 zurüd und er zog im Triumphe in Paris 
ein und wurde in alle feine Würden wieder eingefebt. Doch war die Ruhe noch 
nicht gefommen, er mußte fih noch einmal nah Sedan auf furze Zeit zurüd- 
ziehen. Nach feiner Rückkehr erfreute er fich des unbedingten Zutraueng des 
Königs, fland diefem in feiner Krankheit wie ein Freund und naher Verwandter 
bei, brachte den pyrenätfchen Frieden und die Heirath der Infantin von Spanien 
mit Ludwig XIV. zu Stande, wodurch Franfreich ein bedeutendes Uebergewicht 
über Spanien erhielt, Ein Hauptpunct des Vertrags war auch die Zurückberu— 
fung des Prinzen von Conde und feine Wiedereinfegung in feine frühern Würden, 
da er in Spanien gegen Franfreich gefämpft. Der Vertrag wurde einige Monate 
nach Abſchluß deffelben auf der Inſel Faifans an der fpanifchen Grenze von dem 
Könige von Spanien und Frankreich ratifteirt und zugleich fand die Vermählung 
Statt, Das Parlament danfte Mazarin durch eine Gefandtichaft für feine Ver- 
mittlung diefer Angelegenheiten und die Stadt Paris gab ihm ein öffentliches 
Mahl in dem Stadthaufe. Ebenfo thätigen Anheil nahm Mazarin mit dem Grafen 
von Fuenfaldagne an dem Abfchluffe des weftphälifchen Friedens. Der Kaiſer 
wollte fpäter dem Könige von Aranfreih den Titel „Majeftät” nicht beilegen, 
und auch hier zeigte fih Mazarin als geſchickter Unterhändler. In feinem Tefta- 
mente feste Mazarin viele und große Legate für Gelehrte und zur Unterflüßung 
der Wiffenfchaften aus, wie er fi denn überhaupt in feinem Leben als eifriger 
Beförderer der Kunft und Wiffenfchaft zeigte. Das Collegium Mazarin follte 
die Studirenden derjenigen Landestheile aufnehmen, welche durch dem Frieden von 
Münfter und den pyrenäifchen Frieden an Franfreich gefommen waren, und eben 
diefem Collegium vermachte er feine reiche, äußerft Foftbare Bibliothek. Mazarin 
ftarb den 9. März 1661. Beſaß er auch nicht die hohe Einficht eines Staats- 
mannes, fo leiſtete er doch Frankreich die wichtigften Dienfte, Teitete den Frieden 
von Münfter, den pyrenälfhen Frieden, brachte das Elſaß an Franfreih, und 
ſah vieleicht voraus, daß Franfreih über Spanien Herr werben fönnte. Die 
Demuth bei feinem Tode und die Weife, wie er über feine Neichthümer in feinem 
Teftamente verfügte, verföhnte feine Gegner. Man hat von ihm die Berichte 
über den pyrenäifchen Frieden an den Kanzler Zellier, 2 Bde, Paris 1745, 
Vgl. Aubery, histoire du cardinal Mazarin, Amsterd. 1751. Richard, parallele " 
du cardinal Richelieu et du cardinal Mazarin. Amsterd. 1716. Bazin, histoire de 
France sous le ministere du cardinal Mazarin. 2 Bde, Paris 1842,  [Ruß.] 





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