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WILLE, MACHT UND
SCHICKSAL
VON
MAX LENZ
I( faut voufoir vi vre et savoir mourir.
Napoleon.
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V
MÜNCHEN UND BERLIN 1922
DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG
KLEINE HISTORISCHE SCHRIFTEN
m, BAND
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechtes, vorbehalten
THEODOR BIRT
DEM PHILOLOGEN UND POETEN
IN TREUER FREUNDSCHAFT
Vorwort.
Der Gedanke, der diese dritte Sammlung kleiner historischer
Schriften^) zusammenhält, ist schon in dem Titel zum Ausdruck
gekommen, so daß ich nur wenige Worte zur Entstehung derselben
mitzuteilen habe. Auch diesmal ist die Mehrzahl bereits ver-
öffentlicht. Ungedruckt waren bisher der Essay über Schweden
und Deutschland im 17. Jahrhundert, die Rede zum 18. Januar
1921 und die beiden parallelen Aufsätze: »Eine Prophezeiung
Napoleons« und »Bismarck als Prophet«; ergänzt und umgearbeitet
ist die Abhandlung über »Gleichgewicht und Großmacht«. Das
Schlußwort entnahm ich dem Dankschreiben, das ich vor zwei
Jahren den Freunden sandte, die mir ihre Glückwünsche zu meinem
70. Geburtstage ausgesprochen hatten; es will, und deshalb wieder-
hole ich es hier, der Stimmung Ausdruck geben, aus der heraus
ich jeden dieser Aufsätze niedergeschrieben habe, und die ich auch
den Lesern dieses Buches mitteilen möchte.
^) Es erschienen: Nr. i 1921 in den Schriften des Vereins für Reforma-
tionsgeschichte; 3, 4 und 9 1913, 1914 u. 191 7 in Velhagen und Klasings
Monatsheften (4 unter anderm Titel; auch im Sonderdruck); 5 und 6 191 4 in
den Süddeutschen Monatsheften; 7 und 8 191 5 in dem von Erich Marcks
und mir herausgegebenen »Bismarck- Jahr« (Hamburg, Verlagsbuchhandlung
Broschek & Co.); 10 am 9. Oktober 1918 in der Täglichen Rundschau; ir im
September 1920 in den Hamburger Akademischen Blättern; 15 1920 im Hand-
buch der Politik I^, ebenfalls unter anderm Titel (Verlag von Dr. Walter
Rothschild, Berlin und Leipzig).
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Luthers Tat in Worms i
Schweden und Deutschland im 17. Jahrhundert 41
Napoleon und das Schicksal 82
Die Religion im Aufbau der politischen Welt 96
Im Weltkrieg
Der deutsche Gott 114
Deutsches Heldentum 117
Bismaxck 121
Bismarck als Diplomat 130
Deutschlands Friedenspohtik vor dem Weltkriege 134
Partei oder Vaterland ? 164
In der Kneditschaft
Sedantag 1920 i6g
Einechtschaft (Rede zum 18. Januar 1921) 172
Eine Prophezeiung Napoleons 184
Bismarck als Prophet 197
Gleichgewicht und Großmacht 242
Schlu ßwort
272
Luthers Tat in Worms.
(1921.)
Man spricht von Luthers Tat in Worms und pflegt dabei im
Grunde doch nur an ein Wort zu denken, einen kurzen Ausspruch
des Reformators, der, wie wir heute wissen, nicht einmal buchstäblich
so gelautet hat, wie er auf dem Denkmal zu Worms in Erz gegraben
steht, dessen Sinn freilich in Verbindung mit den Sätzen, auf die er
sich zurückbezog, vom ersten Augenblick an feststand, und dessen
weltbewegende Bedeutung, unausgeschöpft bis heute, noch auf Jahr-
hunderte hinaus immer von neuem offenbar werden wird.
Für Luther selbst, ich meine für die innere Entwicklung des
Reformators, lag in dem Worte von Worms, in jenem »Gott helfe
mir, Amen«, mit dem er am Nachmittag des 18. April 1521 vor Kaiser
und Reich das Bekenntnis zu seiner Lehre abschloß und bestätigte,
nichts Besonderes. Über seinen Glauben war er seit Jahren, lange
bevor er die 95 Thesen über die Kraft des Ablasses an die Tür der
Schloßkirche zu Wittenberg angeschlagen hatte, mit sich ins reine
gekommen; die Schriften aber, durch die er ihn gerechtfertigt, und
die ihm nun von dem Offizial des Erzbischofs von Trier namens der
Stände des Reiches vorgehalten ^vurden, waren zu vielen Tausenden
in ganz Deutschland ausgegossen; sie hatten bereits die Grenzen des
Reiches überschritten. Hatte die Kirche den rebeUischen Mönch aus-
gestoßen, so hatte auch er alle Brücken nach Rom hin abgebrochen;
ja man kann zweifelnd fragen, wo anfangs das größere Maß der Feind-
Sehgkeit vorgewaltet hatte, in Rom oder in Wittenberg. Der An-
greifer war jedenfalls Luther gewesen, und der Gegensatz gegen die
römische Lehre mit dem Moment gegeben, wo er sich des neuen
Glaubens bewußt geworden war, lange bevor er ihn in die Welt hinaus-
trug, in der Stille des Klosters und im Ringen seiner Seele. Man muß
die Thesen lesen, welche sich unmittelbar gegen die Person des regie-
renden Papstes richten, etwa die 8^. : warum er nicht um der Liebe
zum Höchsten und der Not der Seelen \villen das Fegfeuer ganz aus-
Lenz, Wille, Macht und Schicksal. I
lösche, da er doch für einen so gleichgültigen Zweck wie den Bau
einer Kirche um unseliges Geld zahllose Seelen erlöse ? oder die 8y. :
warum er, der reicher sei als Krassus und Krösus, nicht von dem
eigenen Golde, statt dem Schweiße der armen Gläubigen, die Basihka
Sankt Peters erbaue? — um sich darüber klar zu werden, wie tief
der Reformator bereits damals den Riß empfand, und wie frei er
im Grunde seiner Seele sich bereits von den Fesseln fühlte, mit denen
ihn sein Gelübde an die Gebote seiner Kirche band. Argumente und
Skrupel der Laien nannte er solche Fragen: als plagten ihn, den
Mönch, weder Skrupel noch Zweifel. Aber, setzt er sofort hinzu,
mit bloßer Gewalt solche Einwände niederhalten, anstatt sie mit
rechtfertigenden Gründen aufzulösen, heiße Kirche und Papst den
Feinden zum Gelächter und die Christgläubigen unglücklich machen.
Es waren die Zustände, die vor aller Augen lagen, über die in
Deutschland alle Welt seit Jahrzehnten schalt oder spottete. Zu den
Spöttern gehörte Luther nicht; die hohnvolle Satire in den Briefen
der Viri obscuri war gar nicht nach seinem Herzen. Er sah so gut
wie die andern, daß, wie er mit einem Bibelwort sagte, alle Gassen
Jerusalems voll des Gestanks waren; aber er mochte nicht, daß das
Heilige, auch nicht in seiner Verkehrung, dem Volk zum Gespött
gemacht werde; er nannte dies ein Beißen unter dem Zaun her. Viel
zu ernst nahm er es mit seinem Beruf und den Aufgaben, die ihm
darin gestellt waren, um an Angriffen gegen seinen eigenen Stand
Freude zu haben, die mehr auf Belustigung der Leser als auf Besserung
des Volkes abzielten und in ihrer Verallgemeinerung der Pfaffen-
sünden voll von Ungerechtigkeit waren; wir brauchen nur an Luther
selbst und seine Seelenkämpfe zu denken, um uns zu sagen, wie viel
Ernst und Gedankentiefe in den Mauern deutscher Klöster eben
damals lebendig war. Vor seinen Brüdern im Kloster, den Kollegen
an der Universität, selbst vor den Studenten verbarg er freilich seine
Gedanken längst nicht mehr. Schon im Jahre 1515 auf 1516, in der
Vorlesung über den Römerbrief, ja schon zwei Jahre früher in der
über die Psalmen hatte er die Geißel über die Verrottung in Kirche
und Welt geschwungen; man fühlt sich an seine Sturmschrift vom
Sommer 1520, »An den christlichen Adel deutscher Nation«, erinnert,,
wenn man darin liest, wie scharf er mit dem geistlichen wie dem welt-
lichen Regiment ins Gericht geht. Aber damit glaubte Luther noch
nicht den Kreis zu überschreiten, in den ihn sein Amt, wie er es ansah»
gestellt hatte; als Doctor Sacrae paginae fühlte er sich dazu berufen,
für die Ehre und Reinheit der Kirche zu streiten. Formell über-
schritt er die Schranken, in die Kloster und Universität ihn bannten,
nicht einmal mit der Veröffentlichung der Thesen; denn er folgte
dabei nur dem allgemeinen Universitätsbrauch und dem Recht, das
ihm seine Professur gab, und an dem gerade die philosophische Schule,
der er angehörte, mit besonderem Nachdruck festhielt. In Wirklich-
keit freilich war er über die Tragweite seines Schrittes nicht im un-
klaren. Er tat ihn, als ihm seine Beichtkinder die Ablaßzettel vor-
zeigten, für die sie sich in dem nahen Jüterbogk von dem Mainzer
Ablaßkrämer ihre Sünden hatten abkaufen lassen, mit andern Worten,
als der böse Feind ihm in die eigene Hürde, in den Bereich seiner
Seelsorge eingebrochen war: nun aber sogleich mit einer Wucht
und einer Entschlossenheit, die kein Zurück mehr kannte und allen
Konsequenzen entgegensah; in das Zentrum des feindlichen Systems,
gegen das Herz des Gegners, unmittelbar gegen Rom führte er den
Stoß.
An dieser Auffassung der Tat vom 31. Oktober 1517 darf uns
nicht irre machen, daß Luther sich in den Thesen so gibt, als führe
er im Grunde die Sache des Papstes, spräche dessen eigene Meinung
aus, die nur von den Ablaßkrämern gefälscht würde. Das war eine
Wand, hinter der er Deckung suchte, ein Schild, den er vor sich hin-
stellte, um die Gegenstöße der überstarken Macht, gegen die er an-
ging, einigermaßen abzuschwächen. In der gleichen Absicht hat er
den »Resolutionen «, d. h. den Erläuterungen zu den Thesen, die er
im Sommer darauf ausgehen ließ, ein offenes Schreiben an den Papst
selbst vorangestellt, worin er sich dem heiligen Vater zu Füßen legt,
sein ganzes Leben und Sein, sein Urteil selbst ihm unterwirft : »Befiehl
über Leben und Tod, rufe mich zu dir oder verstoße mich, bestätige
oder verwirf, wie es dir gefällt. Ich will deine Stimme als die Stimme
Christi, der in dir regiert und spricht, anerkennen. Habe ich den Tod
verdient, ich weigere mich nicht, zu sterben.« Liest man dann aber
die Schrift selbst, so stößt man auf Sätze über das »römische Babel«,
den Schlund, der alle Reichtümer der Welt verschlinge, welche hinter
den Episteln Huttens gegen den Blutsäufer Julius II. (der uns übrigens
auch in Luthers Vorlesung über den Römerbrief begegnet, sowie
in den Resolutionen der blutige Schatten Alexanders VI. auftaucht)
nicht zurückstehen. Man wird dem Reformator nicht gerecht, man
würde ihm sogar Unrecht antun, wollte man annehmen, daß er welt-
fremd und im kindlichen Vertrauen sich dem Oberhirten der Christen-
heit genaht hätte, als wisse derselbe nichts von den Missetaten seiner
Diener und werde sich gern eines Besseren belehren lassen, auch gegen
die Übertreter der Lehre Christi einschreiten. Als ob Luther Rom
nie gesehen und von den literarischen Fehden der Humanisten gegen
die Römlinge auf beiden Seiten der Alpen nie etwas gehört habe!
Gewiß: daß er der Anfänger einer ungeheuren Weltverwirrung war,
daß er die Kirche des Abendlandes zerreißen und also die Nationen,
die bisher in ihrem Schöße geruht hatten, von ihrer Kulturgemein-
schaft getragen waren, einer Ära von Revolutionen, einer Umgestaltung
von Grund aus entgegenführen würde, ahnte der Reformator nicht,
als er sich zum Kampfe stellte. Eher glaubte er an das Umgekehrte:
daß er mit dem Johannesruf, mit dem er seine Thesen eröffnete,
nicht durchdringen, daß er sich am Ende von aller Welt ebenso ver-
raten und verlassen sehen werde, wie sein Herr und Meister und
tausend andere, welche der blöden Menge die Wahrheit verkündet
und sich zu ihr bekannt hatten. »Dieser Handel,« so schreibt er,
noch vor dem Kolloquium in Leipzig, seinem Vertrautesten, Georg
Spalatin, »ward, wenn er von Gott ist, nicht eher enden, als bis, wie
Christum seine Jünger, so auch mich alle meine Freunde verlassen
haben und die Wahrheit allein bleibt, welche sich errettet mit ihrer
Rechten, nicht mit meiner, nicht mit deiner, noch mit der irgend-
eines Menschen. Und daß diese Stunde kommen wird, habe ich von
Anfang an gewußt.« Zu den Optimisten im landläufigen Sinne ge-
hörte Luther nicht, wenigstens nicht, seitdem er Mönch geworden;
er wäre sonst nicht ins Kloster gegangen. Auch die Friedfertigen,
die nach Versöhnung, Verständigung mit den Feinden Dürstenden
konnten ihn nicht zu den Ihrigen zählen, so sehr er sich allezeit nach
dem Frieden sehnte. Nur im Sturm, in der Not der Seele erschien
ihm das ewige Licht. »Mich wundert, daß ich noch traurig bin« —
das ist der Grundakkord in seinem Leben.
Daß er trotz allem durchbrach, sobald er sah, daß die Zeit ge-
kommen war — gerade darin offenbarte sich die Stärke seines Glau-
bens. Damit soll nicht geleugnet werden, daß der Reformator Schritt
für Schritt, bald vorsichtig tastend, bald stürmisch vordringend,
vorwärts gegangen ist, und daß er zunächst nicht wußte, wohin die
Reise ging. So wie es ein anderer Gewaltiger aus späterer Zeit, auch
er ein Weiterschütterer, obschon aus einer ganz anderen Sphäre
stammend, im Hinbhck auf sich selbst ausgesagt hat: Derjenige
komme nicht weit, der sogleich wisse, wohin er gehe. Es war in dem
Reformator jene Bhndheit der Simsonskraft, welche diejenigen, in
denen sie wohnt (und das sind eben die Mächtigen, die ganz Großen
in der Geschichte), wohl auf Nebenwege führen kann, sie auch wohl
ein paar Schritte zurücktun oder gar straucheln und an Dingen,
welche bereits ebenfalls reif zum Untergange sind, vorübergehen
läßt; die aber, wenn einmal ein solcher vom Geist Getriebener, von
seinem Dämon Geführter seine Hand an die Säule legt, welche ein
altgewordenes Welts5^stem trägt, sie dann um so gewaltiger anpackt
und aus ihrem Grunde reißt.
Wie weit aber der Reformator schon in dem ersten Kampf jähr
gekommen war, lehrt uns eben jene Schrift, deren Kirchenbegriff
sich gar nicht mehr mit dem der römischen Hierarchie deckt, die
von den Sakramenten nur noch drei, neben der Buße Taufe und
Abendmahl, nennt und diese allein an den Glauben bindet, den Papst
aber und alle Heiligen als irrende und sündenbeladene Menschen
bezeichnet. Wenn Luther darin dem Papst noch die Gesetzgebung
in der Kirche im Verein mit dem Konzil zuerkennt, so ist auch das
nur eine neue Deckung, die er gegen die Summa potestas des römischen
Pontifex aufsucht; denn das Konzil selbst ist ihm schon nicht mehr
die letzte Instanz: gerade das jüngste, das Laterankonzil Julius' IL,
verwirft er, und zwar aus dem Grunde, weil es dem Papste die Un-
fehlbarkeit zugeschrieben und damit selbst gegen die göttliche Wahr-
heit verstoßen habe. »Die Kirche«, so schreibt er, »bedarf einer
Reformation, aber diese ist nicht die Sache eines Menschen, wie der
Papst, oder vieler Kardinäle, wie auf den letzten beiden Konzilien,
sondern der ganzen christlichen Welt — nein, Gottes selbst, der allein
die Zeit dazu bestimmen kann, er, der die Zeiten geschaffen hat.«
Schon tönt uns aus dem Widmungsschreiben an Leo X. das Wort
von Worms entgegen, an einer Stelle, die im übrigen wiederum an-
zeigt, vAe vertraut dem Wittenberger Mönch auch das Rom des
Medizäerpapstes war; denn er spielt darin auf die am römischen Hof
heimisch gewordene humanistische Eleganz an, die feinste Blüte
italienischer Kultur, der gegenüber er, mit sichtHcher Ironie, in wohl-
geformter, feinziselierter Redewendung seine deutsche Ungelenkheit
betont. »Was soll ich tun?«, so lauten die Worte: »Widerrufen kann
ich nicht und sehe doch den Haß der Menge gegen mich entflammt;
ungern trete ich hinaus in die Gefahren und den Lärm der Welt,
ich ungelehrter, beschränkter, nicht feingebildeter Mann in unserm
Jahrhundert voll Geist und Schönheit, das einen Cicero in den Winkel
drücken könnte. Aber die Not zwingt mich, die Gans muß unter
den Schwänen schnattern.« Um dann zum Schluß dem heiligen
Vater, vor dem er selbst sich in den Staub wirft, die Majestät des
Allmächtigen gegenüber zu stellen, als dessen Stellvertreter auf
Erden jenen die Theoretiker des heiligen Stuhles und tausend Bullen
rühmen: »Denn Gottes ist die Erde mit allem, was sie trägt: er sei
geheihgt in Ewigkeit, Amen; er bewahre auch dich immerdar, Amen!«
Indem aber Luther so in die Arena herabstieg, führte er den
Kampf schon nicht mehr, wie bisher, für sich allein, für die eigene
Seele, sondern, wie bemerkt, auch für seine Beichtkinder, für seine
Mitbrüder und Kommilitionen im Kloster und an der Universität,
ja auch für ihren hohen Protektor, Kurfürst Friedrich selbst, der
durch sein Amt als der Defensor Ecclesiae in seinem Lande bestellt
war, und der dem Orden Luthers und seiner eigenen Pflanzung, der
jungen Hochschule in Wittenberg, seine ganz besondere Huld zuge-
wandt hatte. So fühlte sich der Reformator sofort durch hundert
Rücksichten gebunden. Er konnte gar nicht damit rechnen, daß
der Fürst, soviel Verständnis derselbe für die frommen Lehren seines
Doktor Martinus besaß, und so hoch er ihn und seinen Einfluß an
der Universität schätzte, alle Schranken, die ihn selbst in Kirche
und Reich umgaben, durchbrechen und sich sofort mit seinem ganzen
Land für den Bettelmönch einsetzen würde. Und dies nicht bloß
um der Gefahren willen, die der Kurfürst damit über sich und sein
Land wie über die Universität heraufbeschwor: hätte Friedrich der
Weise sich nur von Furcht oder von Motiven des Eigennutzes und
der Begehrlichkeit leiten lassen, etwa von der Eifersucht auf seine
Nachbarn, die hohenzollernschen Brüder, den Erzbischof, der ihm
durch die Ablaßverkäufer sein gutes Geld aus dem Lande zog, und
den Markgarfen Kurfürsten, der ihm den Weg zum Magdeburger
Stiftsland versperrte, oder von seinen nachbarlichen Irrungen mit
dem Vetter in Dresden, dem steif nackigen Herzog Georg — er hätte
Luther wahrhch nicht so weit auf seinem dornigen Wege begleitet.
Sowie auch der Reformator schwerlich bis Worms gelangt wäre,
wenn er, wie die Gegner sofort zu erkennen glaubten, seine Thesen
nur, um dem Fürsten bei jenen Konflikten zur Hülfe zu kommen,
veröffentlicht hätte. Beide, Fürst wie Reformator, hatten schwer
an der Verantwortung für ihr Tun zu tragen; denn sie sahen klarer
als andere die Gefahren, die sich ihnen von überallher auf ihren Wegen
entgegentürmten. Wenn Friedrich der Weise nicht bloß die Inter-
essen seines Hauses und die Pflichten gegen sein Land zu berück-
sichtigen hatte, sondern auch die weitgespannten Netze der allge-
meinen Politik, die gerade in diesen Jahren auf die großen Entschei-
dungen hindrängte, so mußte Luther bei jedem seiner Schritte, die
soviel Bande des Alten, Herkömmlichen zerbrachen und dem frommen
Kurfürsten tausend Verlegenheiten schufen, ebenfalls auf dessen
Stellung im Reich und in der Hierarchie selbst acht geben, die der
sächsischen Politik an sich eine vermittelnde Richtung, die Aus-
gleichung der Gegensätze vorschrieb: er durfte um so weniger daran
vorübergehen, als seine universale, von allem Erdenstaub befreite
Religion ihrem Ziel und Wesen nach der bürgerlichen Gewalt, der welt-
lichen Obrigkeit, wie Luther es nannte, ihre Würde zu wahren, ihre
Eigenkraft, Freiheit und Selbständigkeit zu befestigen und zu be-
stätigen gewillt war.
Drei Jahre hindurch haben so Fürst und Reformator gemeinsam
den Kampf gegen Rom geführt, nicht ohne allerhand Listen und
Kunstgriffe zu gebrauchen, um sich dem Zugriff der römischen
T5n:annei zu entziehen. In jeder Phase des Kampfes nehmen wir
wahr, wie eng sie miteinander verbündet, und wie wohlüberlegt jeder
Schritt des Reformators war, zugleich aber auch, wie unmöglich eine
Versöhnung der Gegensätze war, die sich zwischen dieser aus der
Tiefe des deutschen Gewissens geschöpften ReHgion und derjenigen,
die von Rom her die Welt gefangen hielt, erhoben hatten.
Daß hier Weltanschauungen miteinander rangen, zwischen denen
€in Ausgleich nicht zu erreichen war, darüber waren sich auch die
Gegner des Wittenberger Mönchs keinen Moment im unklaren. Wenn
Rom dennoch so lange gezögert und verhandelt hat, bevor es den
Bannblitz gegen den Rebellen schleuderte, so geschah es in der Hoff-
nung, diesen zu isolieren, ihn mit seinem Herrn oder mit sich selbst
in Widerspruch zu bringen, oder — was den Monsignori fast das
liebste gewesen wäre — ihm, wenn nicht eiserne, so doch goldene
Fesseln anzulegen, ihn, nach altem Brauch, mit einer reichen Pfründe
(man wäre am Ende bis zur Anbietung des roten Huts gegangen)
zu begaben und dadurcli mundtot zu machen. Seit dem Sommer
1520, als Johann Eck die Bannbulle über die Alpen brachte, Luther
aber in seinen drei großen Reformationsschriften den Abgrund, der
zwischen Wittenberg und Rom gähnte, in seiner ganzen Tiefe auf-
gedeckt hatte, war jedoch jede Aussicht auf eine friedhche Lösung
verschwunden. Wenn Luther im Herbst sich durch seine Freunde
bei Hof und durch ängstliche Kollegen von der Universität doch
noch einmal überreden ließ, die Bulle als untergeschoben auszugeben
und an ein Konzil zu appellieren, in zwei Flugschriften, worin er
freilich den Verfasser dieses »unechten« Schriftstückes als den Anti-
christ selbst bezeichnete und den Stuhl zu Rom, falls es wirklich von
ihm ausgehe, als den Sitz des Satans, des Erzfeindes Christi, im Namen
Gottes des Barmherzigen, seines Erlösers, von sich aus verfluchen zu
wollen drohte, so schob er wenige Wochen später auch diese letzte
Kulisse beiseite : mit der großartigen Demonstration der Verbrennung
der Bulle am 20. Dezember vor dem Elstertor zu Wittenberg in Gegen-
wart der Dozenten und Scholaren der Universität hatte er die Schiffe
hinter sich verbrannt.
Demnach liegt die Bedeutung, die dem Tage von Worms im
Lebensgange Luthers zukommt, nicht in der Auflehnung gegen die
höchste kirchliche, sondern gegen die höchste staatliche Gewalt, an
die er mitsamt seinem Landesfürsten gebunden war, nicht in dem
Bruch mit Rom — der nun hinter ihm lag — , sondern mit Kaiser
und Reich, mit dem Römischen Reich Deutscher Nation.
Hier aber war Luther nicht der Angreifer; er stellte sich viel-
mehr willig seinen Richtern. An Versuchungen, ihn zurückzuhalten,
hat es nicht gefehlt. Auf dem ganzen Wege von Wittenberg bis Worms
haben sie ihn begleitet: in der Angst, dem Mitleid, der Sorge um sein
Schicksal, die sich in den Beifall mischten, mit dem er, wohin er
kam, aufgenommen ward, in der Nachricht von dem Sequestrations-
mandat gegen seine Bücher, das ihn unterwegs, noch in seiner thürin-
gischen Heimat, erreichte, in der Einladung nach der Ebernburg, die
ihm Martin Bucer, der Dominikaner, der seit drei Jahren, seit den
Tagen von Heidelberg, sein glühender Anhänger geworden war, ihm
nach Oppenheim überbrachte, und die auf Lockungen des kaiser-
lichen Beichtvaters selbst zurückging, und — was für ihn fast das
Peinlichste von allem war — in den besorgten Warnungen, die er
durch Spalatin von seiten seines kurfürstlichen Freundes erfuhr, den
er in sein eigenes Schicksal zu verwickeln fürchten mußte, fanden
dieselben ihren Ausdruck. Für ihn aber gab es kein Schwanken: die
Ladung, im Namen des. Reiches an ihn ergangen, war für ihn Befehl:
er wollte, er mußte nach Worms, und wenn darin so viel Teufel wären
als Ziegel auf den Dächern. Das also war die Stimmung, in der er
seinen Freunden entgegentrat, als sie ihn vor seiner Herberge im
Johanniterhof der alten Reichsstadt empfingen: »Gott wird mit mir
sein«, sprach er, als er vom Wagen stieg.
Was seiner dort harrte, war ihm unverborgen. Hatte er im ver-
gangenen Sommer noch seine Hoffnung auf den Laienstand gesetzt,
nachdem der geistliche »unachtsam« und »untüchtig« geworden war,
dem »christlichen Volk, vornehmlich deutscher Nation« zu helfen,
hatte er damals den »christlichen Adel deutscher Nation« und den
Kaiser selbst, »das junge edle Blut Carolus«, d. h. die weltlichen Ver-
treter des deutschen Staates in ihrer Gesamtheit für sich und sein
Evangelium aufgerufen, so war er seitdem auch in dem Vertrauen
auf sie längst erschüttert. Sah er doch in seinem eigenen Lande, in
Stadt und Universität, bei Hofe und an seinem trotz allem so verehrten
und treuen Fürsten selbst, weviel weltliche Interessen sich in ilire
Opposition gegen die römischen Zwangsgebote mischten, und wie
schwach der Wille entwickelt war, dem »Reiche Gottes«, an das er
sich halten wollte, zu dienen. »Verlasse dich nicht auf Fürsten noch
auf das Urteil der Menschen «, so hatte er schon im November seinem
Spalatin geschrieben, »denn wenn das Evangelium von den Mächtigen
der Erde gepflanzt und erhalten werden sollte, würde Gott es nicht
den Fischern geoffenbart haben.« »Ich will«, so hatte er den Kaiser
selbst, indem er sich zum Verhör anbot, angeredet, »keinen Schutz,
wenn ich der Gottlosigkeit und der Ketzerei überführt werde. Das
eine bitte ich, daß meine Lehre, sei sie nun wahr oder falsch, nicht
verdammt werde unverhört und unüberwunden.« Jetzt war die
Stunde da, von der er von Anfang an geweißt, daß sie kommen werde:
der Tag der Bewährung, der Moment, wo er verlassen »wie die Blume
auf dem Felde« allein bleiben sollte mit der Wahrheit zu seiner Rechten.
So trat er nun hin vor Kaiser und Reich; so antwortete er auf die
Fragen, die ihm der Anwalt der Stände vorhielt; so verteidigte er
sein Evangelium, und so griff er die päpstlichen Irrlehren an, die
römischen Tyrannen, welche die Wahrheit zum Verderben Deutsch-
lands gefälscht hätten; so bekannte er seine Freude an der Zwie-
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tracht über das göttliche Wort, wie ja der Herr spreche: »Ich bin
nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert, ich bin
gekommen, den Sohn zu erregen wider seinen Vater und die Tochter
wider ihre Mutter«; so wagte er, der Bettehnönch, den jungen Mann,
der da im Glanz der kaiserlichen Majestät, von seinen Räten und
Dienern und den Fürsten des Reiches umgeben, vor ihm saß, an die
vielen Exempel der Schrift zu erinnern, vom Pharao, vom König
zu Babel und den Königen Israels, welche gerade dann das Verderben
über sich herzogen, wenn sie mit den klügsten Anschlägen ihre Reiche
zu befrieden und zu befestigen gedachten. Und so gab er zum
Schluß auf das Drängen des Offizials, ohne Umschweife und Ecken
zu bekennen, ob er die Sätze des Hus und anderer Ketzer gegen die
Beschlüsse der Konzilien, besonders des von Konstanz, aufrecht-
erhalte, jene »unstößige und unbissige« Antwort in den unsterblichen
Worten : »Es sei denn, daß ich durch Zeugnis der Schrift überwunden
werd' oder aber durch offenbare Gründe (denn ich glaub' weder dem
Papst noch den Konzilien allein, weil es am Tage ist, daß dieselben
zu mehrmalen geirret und wider sich selbst geredet haben) : ich bin
über%\ainden durch die Schriftstellen, welche ich angeführt habe, und
gefangen im Gewissen an dem Wort Gottes; derhalben ich nichts
mag noch will widerrufen, weil wider das Ge\vissen zu handeln be-
schwerHch, unheilsam und gefährlich ist, Gott helf mir, Amen!«
Die beiden Nuntien, Caracciolo und Aleander, die dem kaiser-
lichen Hoflager von den Niederlanden bis Worms gefolgt waren,
hatten an den beiden Verhörstagen durch Abwesenheit geglänzt.
Für sie war die Sache abgetan, denn Rom hatte gesprochen. Sie
hätten sich und ihrem Herrn etwas vergeben, wenn sie auch nur einen
Blick auf den Ketzer, es sei denn, daß er auf dem Holzstoß stand,
geworfen hätten. Schon daß er von dem Kaiser freies Geleit erhalten,
zimi Verhör vor den Ständen des Reiches zugelassen war, war ein
Verstoß gegen das Recht der Kirche gewesen, nach dem die weltliche
Macht einfach auszuführen hatte, was der Herr der Christenheit be-
fahl; hatte ihm sein Gott doch beide Schwerter in die Hand gegeben!
So hatte denn Aleander, dessen besonderer Auftrag die Betreibung
des lutherischen Handels war, lediglich seine Pflicht getan, wenn ei
alles daran gesetzt hatte, um die Hinkunft des Mönches nach Worms
zu hintertreiben; wie er denn auch jetzt noch hinter der Szene un-
aufhörlich seine Gönner und Freunde bei Hof und unter den Ständen
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gegen Luther bearbeitete und scharf zu machen suchte. Niemand
hatte darum ein brennenderes Interesse als er, zu erfahren, wie sich
der Ketzer verhalten, wie er vor den Ständen aufgetreten, was er
gesagt, und wie seine Worte aufgenommen wären. Seine Freunde
hatten ihm von einer Geste des Bruder Martin berichtet, die sie be-
obachtet, als er in einem Schwärm von Neugierigen und geleitet von
vielen sächsischen Edelleuten den Saal verlassen hatte. Da habe er,
so schreibt der Nuntius seinen Auftraggebern, die Hand in die Höhe
gereckt, »wie die deutschen Landsknechte pflegen, wenn sie im Kampf-
spiel über einen wohlgelungenen Hieb frohlocken«. Und ähnliches
erzählt ein Spanier: »mit hocherhobenen Armen, die gespreizten
Hände ausgestreckt, wie die Deutschen beim Lanzenbrechen zum
Zeichen des Sieges zu tun pflegen«, seien der Ketzer und seine Be-
gleiter hinausgegangen. So war es in der Tat: wie ein Sieger vom
Kampfplatz, so kehrte Luther zum Johanniterhof zurück. Gerade
so hat es ein Deutscher, Sixtus Ölhafen von Nürnberg, von seinem
Eintritt in die Herberge noch in derselben Stunde aufgezeichnet: die
Hände in die Höhe gehoben, sei Dr. Martinus unter seine Freunde
getreten, »und mit fröhlichem Angesicht schrie er: Ich bin hindurch,
ich bin hindurch!« Ob aber jene Beobachter, der Deutsche wie die
Ausländer, den Sinn jener Gebärde Luthers und des Ausspruchs,
mit dem er sie begleitete, richtig verstanden haben? Daß er nun
eben den Weg, den Gott ihn geführt, vollendet und das Ziel erreicht
zu haben meinte, das er von Anfang an vor sich gesehen hatte: den
Moment, wo die Wahrheit allein blieb, wo sie — nicht ihn, aber sich
erretten werde, mit ihrer Rechten, nicht mit seiner, auch nicht mit
der Spalatins und seines Fürsten, noch mit der irgendeines Menschen ?
Wir aber fragen : war dies wirklich bereits das Ziel ? Hatte Luther
den letzten Schritt getan? Weshalb war er denn nach Worms ge-
kommen ? Weil der Kaiser ihn gerufen hatte, im Namen des Reiches,
das Gott ihm gegeben, als der Träger des Schwertes, das Gott ihm
anvertraut hatte, als der Inhaber der richterlichen Gewalt, die nach
dem Willen des Höchsten in seine Hände gelegt war. Eben dieser
Gewalt hatte Jesus Christus sich gebeugt. Ihm hätten Legionen der
Engel zu Hilfe kommen können: er rief sie nicht herbei; er unterwarf
sich dem Spruch seiner Richter, wie ungerecht er war; er bot dem
Henker seinen Nacken dar, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank
geführt wird ; Geißelung, die Dornenkrone und den Tod am Kreuze
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nahm er auf sich, weil er dem Kaiser geben wollte, was des Kaisers
war — dem Staate seinen Leib, seine Seele Gott: er bestätigte seine
Lehre durch das Opfer seiner selbst.
Luther folgte hierin seinem Herrn und Meister nicht: das Mar-
tyrium hat er nicht auf sich genommen. Was Tausende erduldet
hatten, seitdem Christus in die Welt gekommen war, mochten sie
Ketzer gewesen sein oder Roms Kinder, alle die Heiligen, zu denen
er einst gebetet, und die er nun als Sünder, wie er selbst sich nannte,
erkannt hatte, vermied er. Er wartete den Rechtsspruch, der nun
unabwendbar erschien und den auch die Besprechungen, die in den
nächsten Tagen im Beisein des alten Vermittlers, Erzbischofs Richard
von Trier, noch stattfanden, nicht mehr verhindern konnten, nicht
mehr ab: unter dem Schutz des zugesagten Geleits, das noch ein
paar Wochen in Kraft blieb, zog er davon, um, bevor man noch in
Worms zum Schluß gekommen war — sich unsichtbar zu machen.
Durfte Martin Luther das? Vertrug sich solche Haltung mit
dem Gehorsam gegen die weltliche Obrigkeit, den er predigte, und
den seine Lehre verlangte? Lag darin nicht eine Verleugnung des
Glaubens, von dem alle seine Bücher sprachen, und zu dem er sich
eben erst vor Kaiser und Reich bekannt hatte ?
Vergegenwärtigen wir uns, bevor wir auf diese alles entscheidende
Frage die Antwort suchen, die allgemeine Lage und die Persönlich-
keiten, die im Vordergrunde der Handlung standen.
Wäre alles so gegangen, wie der Kaiser es wünschte, so wäre
Luthers Schicksal bald entschieden gewesen. »Der soll mich nicht
zum Ketzer machen«, in diesen Worten, die Karl an seine Umgebung
richtete, als er den hageren, abgehärmten Augustinereremiten mit
den glühenden Augen in dem bleichen Gesicht vor sich stehen sah,
malte sich die Stimmung, in der er der Begegnung bereits entgegen-
gesehen hatte. Es war nicht bloß die mit hochmütigster Verachtung
gepaarte Ignoranz (was wußte dieser junge Mensch, dessen religiöses
Innenleben, soweit davon gesprochen werden kann, die entscheidenden
Eindrücke in Spanien erhalten hatte, der weder Latein noch Deutsch
genügend verstand, um der Rede Luthers zu folgen, von den Seelen-
kämpfen des deutschen Mönches!): es mischte sich darin doch auch
der Unwille, daß die Stände ihn, den Kaiser (denn das Gefühl der
Majestät, die einzige große Leidenschaft, die in dieser schwerblütigen.
13
melancholischen Persönhchkeit glühte, war schon damals voll in
ihm entwickelt), gezwungen hatten, den Ketzer überhaupt zum Verhör
vor ihm zuzulassen. Eine Zeitlang hatte er oder wer ihn darin beraten
(an erster Stelle also wohl noch der Duc de Chievres) daran gedacht,
den Mönch zu benutzen, um auf den päpstlichen Stuhl zu drücken
und ihn von seiner Hinneigung zu Frankreich zu kurieren, wie ja
schon der Ahnherr, Kaiser Max, mit solchen Gedanken gespielt hatte ;
seitdem aber hatte man sich miteinander verständigt, und damit
war für die kaiserliche Pohtik Luther zum Stein des Anstoßes ge-
worden, der aus dem Wege geräumt werden mußte. In diesem Sinne
ließ Karl gleich am Morgen des 19. April sich gegen die Kurfürsten
und viele andere Fürsten, die er dazu entboten hatte, aus, in einer
Erklärung, die er mit eigener Hand in französischer Sprache (eine
andere beherrschte er nicht) niedergeschrieben hatte, und die er nun
aus dem Original und in deutscher Übertragung vorlesen ließ. Hierzu
waren auch die Nuntien herbeigekommen, und sie konnten zufrieden
sein, es war mehr, als sie erwartet hatten. Karl gab sich darin so,
als sei jetzt alles entschieden, als bleibe den Ständen nichts anderes
mehr zu tun übrig, als den überwiesenen Ketzer den Traditionen der
Kirche gemäß zur Ahndung seines Verbrechens ihrem kaiserlichen
Herrn zu überlassen. Ganz überglücklich war Aleander. Er gab
dem Kaiser gleich beide Titel, des allerchristlichsten und des wahrhaft
katholischen Fürsten; Karl habe nun soviel für Gott und den Papst
getan, daß er und Caracciolo schon mit etwas weniger zufrieden ge-
wesen wären. Er glaubte bei der Verlesung der Erklärung bemerkt
zu haben, daß viele der Fürsten so bleich wie der Tod geworden seien.
Wie jetzt der Kaiser, so waren die Spanier von vornherein ge-
stimmt gewesen. Für sie war Reinheit des Glaubens und des Blutes
ein und dasselbe, Abfall von der Kirche Verrat an der Nation. Von
dem Herzog von Alba (es war der Großvater des Henkers der Nieder-
lande) schreibt Aleander schon in den ersten Wormser Tagen, er würde
sich, wie jeder gute Spanier, dem Papst und der Kirche zuliebe das
Zeug vom Leibe reißen. »Ins Feuer mit dem Ketzer!« schrien die
Trabanten des Herzogs, die am Ausgang des Saales postiert waren,
Luther nach, als er nach dem zweiten Verhör fortgeführt wurde. Sie
hätten es aber nur wagen sollen, dem Mönch ein Haar zu krümmen!
Wo Luther ging und stand, sah er sich von Landsleuten umgeben.
Als er zum Verhör in den Saal eintrat, drängten sich sechs oder sieben
14
Männer so ungestüm mit hinein, daß sie alles beiseite schoben; es
war der Westfale Hermann von dem Busche, ein Humanist und so
heißblütig wie sein Freund Ulrich von Hütten, mit seinen Gesellen;
sie stellten sich als freiwillige Leibwächter dem geistlichen Helden
zur Seite. Von persönlicher Gefahr war für Luther in allen diesen
Tagen keine Rede. Im Gegenteil, Aleander hatte für sich zu fürchten ;
wenigstens besorgte er für seine Person das Schlimmste ; und über Püffe,
die ihm ein »höchst lutherischer Türhüter«, wie er mit schmerzHchem
Humor schreibt, versetzt hatte, konnte er in der Tat sich mit Recht
beklagen. Er meinte, der Kaiser selbst würde verloren sein, wenn die
aufrührerisch Gesinnten ihm an den Leib wollten. Das mochte allzu
ängstlich gedacht sein: Kaiser Karl wenigstens ließ sich nicht ein-
schüchtern, auch nicht durch den Zettel mit dem aus den Bauern-
revolten bekannten Drohruf »Bundschuh! Bundschuh! Bundschuh!«,
den man am Morgen des 20. April, also dem Tage nach jener Er-
klärung Karls vor den Fürsten, an der Rathaustür und anderen Orten
der Stadt angeheftet fand, und als dessen Unterzeichner »400 Edel-
leute«, vorsichtigerweise ohne ihren Namen darunterzusetzen, sich
»bekannt « hatten. Er lachte über die Feigherzigkeit Albrechts (denn
dieser war es, der ihm und den Fürsten das Plakat zugesandt hatte,
dessen Ursprung vielleicht in seiner eigenen Umgebung, aber sicher-
hch ohne sein Zutun, zu suchen war) und bemerkte zu den Nuntien,
denen es der Erzbischof ebenfalls hatte zugehen lassen, es verhalte
sich mit dieser Verschwörung wie mit der des Mucius Scävola, der
auch 300 Genossen haben wollte, während er ganz allein stand. Es
war die Haltung, die Kaiser Karl auch später, in gefahrvolleren Mo-
menten seines Lebens, bewahrt, und die ihm so oft über die schwierig-
sten Lagen hinweggeholfen hat — bis zu dem Tage, wo er vor den
Heerhaufen des Kurfürsten Moritz über den Brenner flüchten mußte
und der Verrat, zu dem er jenen angestiftet, ihm von dem Verräter
selbst vergolten wurde; in ihr liegt der Zug der Größe, die der Politik
Karls V. bei allen ihren Schwächlichkeiten und Schwankungen eignet.
Mochte nun auch die Sorge des wälschen Prälaten, dem beim
Zungen- und Federkampf jedenfalls wohler zu Mut war, als da, wo
die Schwerter klirrten, vergebhch sein, so ist es doch nicht zu leugnen,
daß der Kaiser in jenem Moment so gut wie wehrlos war; und man
kann in der Tat fragen, ob er nicht, wenn es wirklich zum Aufruhr
kam, doch mit seinen Spaniern und Burgundern allein geblieben
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wäre. Reiter und Knechte hatte jedenfalls nur einer im Reich zur
Stelle, das war Franz von Sickingen, dem sie auf allen Straßen zu-
liefen; der sei, so meldete Aleander es nach Rom, zurzeit König in
Deutschland. Nun rüstete Franz allerdings wohl — ganz sicher war
jedoch auch das noch nicht — für den Kaiser. Aber zugleich war er
der Führer der Reichsritterschaft, von allen öffentlichen Gewalten
im Reich diejenige, die sich dem Wittenberger Professor ganz offen
zum Kampf gegen Rom und die Römlinge in deutschen Landen zur
Verfügung gestellt hatte; ihr Hauptgebiet war gerade die Pfalz;
rings um Worms lagen ihre Burgen, die festeste, die nahe Ebernburg,
eben der Sitz Sicldngens, die »Herberge der Gerechtigkeit«, auf der
die Häupter des jungen Deutschlands, Martin Bucer von Schlettstadt,
Johann Oecolampad von Basel und der Heißsporn der Poetenpartei,
Ulrich von Hütten, des Ritters. Gäste waren. Sie hatten eine eigene
Presse in dem Hause ihres Beschützers aufgestellt, von der ihre
Schriften, vor allem Huttens wilde Invektiven gegen Papst und
Kardinäle, die Nuntien und alle Romanisten, wie Brandpfeile ins
Land flogen. In Worms fand man sie auf allen Straßen; in ganzen
Wagenladungen brachten die Buchführer sie und, dem Mandat zima
Trotz, auch Luthers Schriften in die Stadt, und das Volk riß sich um
sie und die zahllosen Spottschriften und die kunstlosen Holzschnitte,
auf denen es seine Helden abgebildet sah, die Schwertträger Sickingen
und, mit dem Lorbeer bekränzt, Hütten, vor allem aber, wie ein
Heihger in der Strahlenkrone, den Mönch, in dem es seinen Messias
erblickte; auch Aleanders Porträt (er selbst schreibt es) bot man feil
— den aber, wie er am Galgen hing. Und das alles, ohne daß auch
nur der Versuch einer Hemmung erfolgte; die Pfaffen auf den Kanzeln,
gegen die der Sturm doch ging, predigten selbst im Sinne der neuen
Lehre. Man sieht, weshalb der Kaiser nicht daran gedacht hat, im
Sinne seines Vorfahren, des Kaisers Sigmund, zu handeln und dem
überwiesenen Ketzer das Geleit zu brechen; er hätte den Strom un-
mittelbar gegen sich gewendet. Nur wenn er die Stände für die Achts-
erklärung gewann, konnte er hoffen, an Luther heranzukommen.
Nun waren freiHch die Fürsten und Städte noch keineswegs
sämtlich oder auch nur in der Mehrzahl für Luthers Evangelium zu
haben. Der Kurfürst von Brandenburg z. B. stand zu dem Witten-
berger Handel von jeher nicht viel anders als der Kaiser. Sein Bruder
Albrecht hatte freilich Zeiten gehabt, wo er von so etwas wie einer
16
nationalen Führerschaft in geistlichen und weltlichen Dingen (etwa
nach Art seines Amtsvorgängers Dieters von Isenburg oder gar des
großen Grafen Berthold von Henneberg) geträumt hatte, und an das
Abenteuer mit Tetzels Aussendung mochte er wohl noch immer
ungern und mit leichter Gewissensbeschwerung zurückdenken; aber
im Sommer 1520 hatte er gemerkt, daß die Herren in Rom nicht mit
sich spaßen ließen, und seitdem wurde er sichtlich, wie eine zwischen-
weltliche Seele, hin und her gerissen von der Hoffnung, unter römischen
und kaiserlichen Auspizien zur Höhe der Position eines Kardinal-
legaten Germaniens emporzusteigen, und der Aussicht, dem Druck
der aus demselben Germanien aufstrebenden Elemente der Tiefe
folgen zu müssen, die nirgends stärker wühlten, als in seiner Mainzer
Diözese, und ihn noch immer mit sich fortzuziehen suchten. Mit
ihrem Primas und Erzkanzler waren auch die andern Glieder der
deutschen Kirche, Bischöfe und Prälaten, alles, was von den Ständen
geistliche Farbe trug, von dem sächsischen Mönch abgerückt, den
anfänglich viele so freundlich begrüßt hatten, seitdem ihnen der Ernst
der Lage zu Bewußtsein gekommen war. Auf der Bank der weltlichen
Fürsten hielt Herzog Georg an der starren Haltung gegen den Schütz-
hng seines Vetters und Nachbarn unbedingt fest, von den andern
hatten die wenigsten bereits eine feste Stellung genommen. Wenn
der jugendliche Landgraf von Hessen, dessen lebensvolle Persönlich-
keit Aleanders besonderes Interesse erregte (er schien ihm ein junger
Mann von glänzender Begabung zu sein), seiner Sympathie für den
Mönch, den er im Johanniterhof besuchte, unverhohlen Ausdruck
gab, so stand doch einem offenen Eintreten für den Reformator seine
Feindschaft mit Sickingen und dessen Gesellen, die dem Unmündigen
in das Land gefallen, Aufruhr und Verehrung hineingebracht hatten,
im Wege; bevor dieser Spahn beigelegt war, durften Luther und die
Seinen kaum auf Hilfe von Philipps Seite rechnen. In den Städten,
-zumal in denen vom Reich, besaß die Bewegung bereits ihre Haupt-
herde, und die Magistrate hatten schwere Arbeit, um die andrängende
Flut in gefahrlosere Bahnen zu lenken; aber zurzeit lag ihnen fast
noch mehr daran, einen gnädigen Kaiser als einen gnädigen Gott zu
haben; auch hatten sie in der Tat Ursache, zu klagen, denn sie sahen
sich auf dem Reichstage überall zurückgedrängt zugunsten der Fürsten,
die Reichsregiment und Reichskammergericht nach ihrem Gefallen
emrichteten und durch die Zollgrenze, die um das Reich gelegt werden
17
sollte, dem Handel eine Fessel anzulegen sich anschickten, welche
allen Städteboten als etwas ganz Unerhörtes, Unerträgliches erschien;
ihrer Hinneigung zu der evangelischen Partei ward dadurch, soweit
sie überhaupt vorhanden war, ein starker Dämpfer aufgedrückt.
Aber %vie verschieden auch die Interessen der Stände und die
Aussichten, die sich Luthers Sache von ihrer Seite darboten, waren,
in einer Richtung standen zum mindesten die weltlichen unter ihnen
alle beieinander: sobald es gegen Rom ging. Am wenigsten hatte der
Hohenzoller in Berlin Ursache sich zu beschweren, da er seine Kirche
durch das Konkordat von 1448 fester als die andern in der Hand hielt ;
an Häkeleien fehlte es aber auch bei ihm nicht; gerade jetzt hatte er
Mühe, seinen Kandidaten für den Brandenburger Bischofsstuhl,
seinen geistlichen Rat Scultetus, Luthers scharfen Gegner, gegen den
Kandidaten des Domkapitels, Georg von Blumenthal, bei der Kurie
durchzudrücken. Herzog Georg forderte ebenso energisch, wie die
Unterdrückung der lutherischen Lehre, die Herstellung der Kirchen-
zucht, und Aleander bezeichnete sowohl ihn wie die Witteisbacher
beider Linien ausdrücklich als Feinde des päpsthchen Stuhles. Auch
in kirchlichen Kreisen waren solche Stimmungen keineswegs un-
erhört. War doch die Bewegung mehr von ihrer Seite als von der
Laienwelt ausgegangen. Die Führer waren fast durchweg Geist-
liche; und der Stoß wirkte gerade dadurch so stark und unwider-
stehlich, weil er aus dem Schoß der Kirche hervorgebrochen war; die
Humanisten selbst waren vielfach, oder gar in der Mehrzahl, Kleriker.
In dieser allgemeinen Empörung über die römische Verwaltung, die
mit ihrer zentralisierenden Tendenz und durch die selbstsüchtige
Ausnutzung der innerdeutschen Parteiungen den in jedem territorialen
Bezirk bis zu den Burg- und Dorfgemeinden herunter lebenden Willen
zur Zusammenfassung und zum Ausbau der eigenen, partikularen
Macht hemmte und damit auch die Ausbildung eines nationalen
Gesamtwillens in allen kirchlichen Fragen unmöglich machte, lag
der Kern der Bewegung; daher stammte die unerhörte Wucht und
Wut, mit der sie zum Ausbruch kam: so daß Aleander mit Recht
schreiben konnte, neun Zehntel der deutschen Nation und die Steine
selbst schrien: »Luther«.
Wie wenn nun der Reformator die Aussichten, die sich daraus
für seine Sache ergaben, benutzt, wenn er jene Strömungen in sein
Bett geleitet, sich zum Führer der Nation gegen Rom gemacht hätte?
Lenz, Wille, Macht und Schicksal. 2
18
Daß er den Zusammenhang seines Evangeliums mit den nationalen
Hoffnungen und Notwendigkeiten längst begriffen hatte, lehren seine
Briefe; mit jedem seiner Schritte war es ihm nur immer klarer ge-
worden, daß er im tiefsten Grunde nicht bloß um das Heil seiner
Seele, sondern um die Seele seines Volkes selber kämpfte. Hätte er
da nicht hoffen können, auch die Bischöfe und Prälaten hinter sich
her zu ziehen, die, mochten sie ihn auch noch verleugnen, weil sie
(schreibt Aleander) vor Sickingen und seinen Gesellen zitterten wie
die Hasen, die gejagt und verspeist werden sollten, dennoch bereits
selbst an den Ketten zerrten, mit denen sie an den römischen Stuhl
gefesselt waren ?
Es wäre der Weg geworden, den einst Wiclif und Hus gegangen
waren. Sie waren dabei gescheitert. Aber seitdem war die Welt ein
gutes Stück vorwärts gekommen. Und daß die Gedanken Luthers
an sich wohl fähig waren, einen nationalen Staatsbau zu fundamen-
tieren, sollte der Siegeszug offenbaren, den sie noch in demselben
Jahrzehnt rund um die Ostsee vollendeten. Die ganze nordische
Welt ruhte fortan auf dem Grunde, den der sächsische Mönch gelegt
hatte. Auf ihm errichteten in Schweden die Wasas, indem sie das
dänische Joch von dem Nacken ihres Volkes nahmen, ihren Staat,
der dann dem Norden Gesetze gab. Luthers Lehre verlieh Dänemark
selbst, das sich nun gegen den eigenen König erhob, neue Kraft. Sie
zerstörte die hierarchischen Formen, in denen die preußischen und
baltischen Kolonisationen von ihrer Gründung ab gelebt hatten,
und schuf auch hier Staatsgebilde, die den Stürmen der Zeit (und
wo waren sie stärker als zwischen der Weichsel und dem finnischen
Meerbusen?) Jahrhunderte getrotzt und dem deutschen Geist, der
diesen Boden der abendländischen Kultur erschlossen hatte, die Herr-
schaft neu gesichert, ja nun erst recht ihm den Zugang zu dem Osten
ermöghcht haben. Für alle diese Länder, von Grönland bis Narwa
und Dünaburg, ward auf Generationen hinaus Wittenberg das geistige
Zentnmi, allen politischen und völkischen Wirren und Gegensätzen,
die in ihnen herrschten, zum Trotz. Auch dann noch, als unter neuen
Weltverhältnissen die Starrheit der kirchlichen Formen allgemein
nachließ und, jedoch immer noch auf dem alten Grunde, der deutsche
Geist sich in neuen Gestaltungen versuchte, blieb diese geistige Einheit
gewahrt : man denke nur an die Missionsfahrten des Grafen Zinzendorf
und seiner geistlichenBrüder und Schwestern nach Grönlands Küsten,,
19
an die Abhängigkeit, ja die Gleichsetzung und Unterwerfung der
dänisch-norwegischen Literatur unter den Geist unserer Klassiker zur
Zeit eines Holberg und Steffens, an die innige Verbindung des schwe-
dischen und des deutschen Geistes in denselben Jahrzehnten, und an
die bis Charkow und über den Ural hinweg reichende Hegemonie der
auf lutherischen Universitäten vorgebildeten deutschen Gelehrten,
die hier bis tief in das 19. Jahrhundert hinein ungebrochen blieb.
Das gleiche Bild bietet uns Ungarns Entwicklung . In Johann Zapolya,
dem Woiwoden von Siebenbürgen, dem Lande der Szekler und der
Sachsen, tritt uns wiederum schon in dem Jahrzehnt nach dem Reichs-
tage von Worms zum erstenmal der Vertreter einer magyarischen
Nationalpartei entgegen, der den Staat auf den Grund der lutherischen
Ideen stellte, kaum 40 Jahre nach dem Tode des Matthias Corvinus,
der das gleiche Ziel, den Aufbau eines magyarischen Nationalstaates,
in engster Verbindung mit der Kurie verfolgt hatte; durch zwei Jahr-
hunderte hin ist so das deutsche Evangelium das stärkste moralische
Element in der magyarischen Nationalpartei gewesen; die Bethlen,
Rakoczy und Tököly waren, wenn auch nicht mehr persönlich Lu-
theraner, politisch doch alle Nachfolger Johann Zapolyas.
Hätte also Luther, wir wiederholen es, die deutsche Nation nicht
auch auf solche Wege führen sollen ? Hätte er es überhaupt gekonnt ?
Oder war etwa, was der nordischen Staatenwelt zum Heil ward, für
Deutschland unmöglich?
Ranke, der in seiner Darstellung des Wormser Reichstages diese
Fragen (nur etwas anders gestellt) ebenfalls aufgeworfen hat, war
noch geneigt, wenigstens die zweite in gewissen Grenzen zu bejahen.
Indem er der 100 Gravamina gedenkt, jenes Schriftstücks, in dem alle
Vorwürfe und Anklagen gegen die T5n:annei und Simonie des römischen
Stuhls, welche die Nation, geistlichen wie weltlichen Standes, seit
Jahrzehnten in Erregung hielten, zum Vortrag vor dem Kaiser ge-
sammelt waren, fügt er hinzu: Man könnte sich fast zu dem Wunsche
versucht fühlen, daß Luther fürs erste hierbei stehen geblieben sein
möchte. Luther hätte dann von den Ständen nimmermehr verlassen
werden können; denn er hätte dann nur die Gesinnung der Stände
selbst zum Ausdruck gebracht ; auch der Kaiser, den der eigene Beicht-
vater mit dem Zorn des Himmels bedrohte, wenn er die Kirche nicht
reformiere, hätte ihr wahrscheinlich nicht \viderstehen können. »Es
würde«, so schließt Ranke diese Gedanken ab, »die Nation in ihrer
20
Einheit befestigt, zu einem Bewußtsein derselben erst vollkommen,
geführt haben, wenn sie einen gemeinschaftlichen Kampf wider die
weltliche Herrschaft von Rom unter seiner Anführung bestanden hätte.«
Ich weiß nicht, ob wir den Meister auch nur soweit folgen dürfen.
Ranke selbst weist darauf hin, daß die geistlichen Stände bereits
schwankend geworden waren, so daß die Räte der weltlichen Fürsten
die Eingabe, in der doch ein ganzer Teil den Beschwerden der Geist-
lichen selbst gewidmet war, vor dem Kaiser allein zum Vortrag brachten,
am 22. April, also im Anschluß und, wie es fast scheint, als Gegenzug
gegen die kaiserliche Erklärung vom 19. und im Zusammenhang mit
der Vermittlungsaktion, die Richard von Trier durch die neue Be-
fragung Luthers in Gang brachte. Erscheint es daher schon an sich
mehr als zweifelhaft, ob Luther auch nur die Stände in der Viel-
gestaltigkeit ihrer Interessen auf diese Parole insgesamt hinter sich ge-
bracht hätte, so wäre es völlig unmöghch gewesen, die kaiserliche
Politik, die sich eben erst mit der Kurie verständigt hatte, gerade
jetzt, unmittelbar vor dem ersten großen Waffengange Karls mit
dem französischen Rivalen, von Rom abzureißen und auf der Linie
einer national-deutschen Politik festzulegen.
Wir haben es jedoch nicht nötig, solchen Erwägungen weiter
nachzuhängen : hat doch der Altmeister selbst ihre Nutzlosigkeit durch
die herrhchen Worte dargetan, die er jener Äußerung unmittelbar
folgen läßt, und in denen er sie in einem höheren Sinne beantwortet.
»Jedoch die Antwort ist«, so schreibt er: »die Kraft dieses Geistes
würde gebrochen gewesen sein, wenn eine Rücksicht ihn gefesselt
hätte von einem nicht durchaus religiösen Inhalt. Nicht von den Be-
dürfnissen der Nation, sondern von religiösen Überzeugungen war er
ausgegangen, ohne die er nie etwas gemacht hätte, und die ihn nun
freilich weiter geführt hatten, als es zu jenem politischen Kampf
nötig oder auch nützlich war. Der ewig freie Geist bewegt sich in
seinen eigenen Bahnen.«
Wir bemerkten, daß Wichf und Hus ein Jahrhundert zuvor bei
dem Versuch, den Aufbau ihrer Nationen auf dem Grunde romfeind-
hcher Gedanken zu erreichen, gescheitert wären. Luther selbst hat,
wie man weiß, im Weiterschreiten auf seiner Bahn in der Ideenwelt
des böhmischen Reformators seine eigenen Gedanken weder zu finden
geglaubt; und man hat lange Zeit in jenen beiden wirklich die »Vor-
reformatoren«, in Luther aber eben nur den Fortführer und Vollender
21
ihrer Ideen sehen wollen. Heute werden \vir dies nicht mehr nach-
schreiben dürfen, auch abgesehen davon, daß dem Tschechen über-
haupt die Originahtät abzusprechen ist, da er in seinen Schriften, wie
wir seit Loserths eindringenden Forschungen wissen, bis auf den
Wortlaut von seinem englischen Vorgänger abhängig war. Gewiß,
persönlich neigten beide nicht zu den Extremen; die Kirche des
Utraquismus, in der der Geist des Gründers des böhmischen Wicli-
fitismus fortlebte, trug Züge, die in Verfassung und Kultus an die
englische Hochkirche erinnern, und die Anschauungen Wiclifs von den
Sakramenten, der Schlüsselgewalt des Papstes, vom Heiligenkult und
Reliquien dienst, ja von der Gnadenwahl und Kirche selbst deuten
ohne Frage bereits auf Luther hin. Es war wie ein Wetterleuchten
vor dem Blitzen und Donnern, das in dem folgenden Jahrhundert los-
brechen und Segen wie Zerstörung über die Welt bringen sollte. Und
niemand wird jenen Männern den Ernst der Überzeugung absprechen
dürfen; sie haben beide für ihren Glauben gelitten, Hus hat für ihn,
und nicht bloß für die Sache seiner Nation, den Tod des Märt5n:ers
auf sich genommen. Aber es läßt sich doch nicht leugnen, daß sie
von politischen, nationalen Interessen ausgegangen sind und sich
immer von diesen und den Parteien, die sich im besonderen zu ihren
Trägern gemacht hatten, haben leiten lassen. Beide waren, wie
Luther, Theologen und Professoren an ihren Landesuniversitäten.
Aber Mönche waren sie nicht ; zu jeder Zeit waren sie in die kirchlichen
und staatlichen Verhältnisse ihrer Länder tief verflochten. Hus war
der Führer der tschechischen Magister gewesen, welche die deutschen
Dozenten und Scholaren von der Prager Universität vertrieben, und
Wiclif, mochte er selbst, als er dem Parlament bei seiner Opposition
gegen die Geldforderungen der Kurie von Avignon seine Feder heh,
und so auch späterhin sich in Schranken halten, hat seine Lehre von
dem Recht des Besitzes, an dem der Todsünder keinen Teil habe,
und die für jenen Kampf die Rechtfertigung sein sollte, auf Gedanken
gestellt, deren Konsequenzen die Taboriten gezogen haben; hat er
doch selbst zugegeben, daß sie in vielen Punkten mit dem gegen-
wärtigen Stand der Gesellschaft unverträglich seien. Luther hingegen
war, als er ins Kloster trat, fern von jeder Auflehnung, von jedem
Gedanken an einen Konflikt mit der Hierarchie. Was wußte er, der
Plebejer, der Mansfelder Bergmannssohn, der Student, der gerade
erst die Vorstufe des Fachstudiums hinter sich gebracht, weder
Juristerei noch Theologie studiert hatte, von den Welthändeln? Er
glaubte wirklich der Welt Valet zu sagen, für immer in den Mauern
des Klosters zu bleiben, als er von den Freunden Abschied nahm und
mit seinem Vater, der so viel Hoffnungen auf seinen Martin gesetzt,
darüber brach. Ein Gottsucher war er bereits, aber Theologe ist er
erst im Kloster geworden. Es war der Gott seiner Kirche, der sich
täglich in tausend Wundern offenbarte, der hinter jedem Tüttelchen
ihrer Lehre, jeder Willensäußerung, jedem Anspruch, den sie machte,
sich verbarg, dessen Macht und Ehre alle Jahrhunderte, Himmel und
Erde priesen und bezeugten, vor dem alles, was irdisch, Staub war,
und verloren, wenn er zürnte. Daß dieser Gott auch sein Gott sei,
war für den jungen Mönch die Voraussetzung, der Boden, auf dem er
stand ; er hatte ihn niemals verlassen. Was er wollte, war das gleiche,
was die Kirche ihm anbot, in dessen Besitz sie war (so sagten ihm ihre
Diener), sie allein, das was sie einem jeden gab, und umsonst, wenn er
nur danach verlangte, sich ihr anvertraute, die Gnadenmittel annahm,
die sie in verschwenderischer Fülle aus Schätzen, die sie seit Jahr-
hunderten aufgehäuft und unablässig vermehrte, feilbot: die Gewiß-
heit der göttlichen Gnade, die Errettung aus der Sünden Schoß, den
Frieden der Seele. Eben deshalb suchte dieser junge Sünder (so be-
trachtete er selbst sich) das Kloster auf. Denn einen Weg, der sicherer
zum Ziel, zu dem Heil, nach dem er dürstete, führte, gab es nach der
Lehre der Kirche nicht. Und so schritt er auf ihm vorwärts, durch
das Heer immer neuer Anfechtungen hindurch, ohne jeden anderen
Ehrgeiz, jeden anderen Gedanken, als den einen, der ihn ins Kloster
getrieben • — bis er ins Freie kam, oder wenigstens zu einer Lichtung,
von wo er den Himmel und seine Sterne über sich erblickte, mochten
auch die Schatten der Dämmerung noch um ihn sich lagern.
Von hier aus, von der Weltferne seines Gottesbewußtseins gegen-
über dem der römischen Kirche müssen wir die Tat Luthers in Worms
betrachten, um ihre Größe und ihre Bedeutung ganz zu ermessen:
weil seine Religion so ganz persönlich war, weil sie ihn vor Gottes
Angesicht frei hinstellte, keinen andern Mittler anerkannte, als den,
in dem er sich selbst offenbart hatte, jedes Feilschen und Markten
um die götthche Gnade ablehnte, dehnte sich ihr Bereich über alle
Jahrhunderte und alles, was irdisch war, hinaus, war sie nicht an
Zeit noch Stätte gebunden. Eben dies war aber auch der Anspruch
Roms. Auch seine Gebote richteten sich zunächst nur an das Indi-
23
viduum. Dies hielt seine Kirche durch das siebenfache Band ihrer
Sakramente gefesselt, das jedermann, der ihr Untertan geworden war,
von der Wiege bis zur Bahre, an jeder großen Station seines Lebens-
weges, umschloß. Eben deshalb behauptete sie die universale Kirche
zu sein, und war es in der Tat, insofern sie sich lun die politischen
Formen nicht kümmerte, über nationale Grenzen hinwegsah und alle
Parteiungen, jeden partikularen oder allgemeinen Willen nur von sich
aus und von jenem Zentralgedanken her beachtete. Gerade dadurch
aber umklammerte und durchsetzte sie alle Ordnungen in Staat und
Gesellschaft, bannte sie jeden persönlichen Gestaltungswillen in die
Grenzen, die sie selbst setzte, ließ sie auf keinem Gebiete, in keiner
Höhenlage des Lebens gelten, was ihrem eigenen Willen widerstrebte.
Das war das »babylonische Gefängnis«, aus dem Luther sich und seine
Nation zu retten versucht hat.
Was hätte es ihm nun genutzt, wenn er die Klagen und An-
klagen der deutschen Stände, das ganze Chaos ihrer Wünsche und
Interessen sich zu eigen gemacht, sich zum Führer jener antirömischen
Bewegung gemacht hätte! Er wäre bald am Ende seines Lateins
gewesen. Sie hätten ihn alle für sich zu benutzen, an ihren Karren
zu spannen gesucht: Sickingen, Hütten und ihre Freunde ebenso
wie die herzogHch Sächsischen, oder die Witteisbacher, oder Kardinal
Albrecht und die Bischöfe. Es wäre ein Wirrwarr, ein Kampf aller
gegen alle geworden, in dem er selber den Boden unter den Füßen
und seine Ziele rettungslos aus den Augen verloren hätte; in tausend
Widersprüche verstrickt, wäre er gerade in die Untiefen gefallen, in
die ihn die römischen Diplomaten hatten führen wollen, und nichts
hätte die Kirche in ihrem Anspruch, die Versöhnerin, die Friedens-
stifterin, die universale Mutter aller Christgläubigen zu sein, besser
rechtfertigen können.
Diese Kirche hatte in den letzten beiden Jahrhunderten schon
stärkere Erschütterungen erfahren, als ihr damit beschieden worden
wären: Spaltungen, die um so gefährlicher sich angelassen hatten,
als sie nicht, wie im Mittelalter so oft, von der weltlichen Macht,
dem Imperium oder einem der Könige des Westens, in die Kirche
hineingetragen wurden, sondern von ihr selbst, und zwar von der
Spitze her ihren Ausgang nahmen. Jene hatten die Glieder an das
Zentrum der Kirche nur noch mehr herangetrieben; im Kampf war
die Hierarchie erstarkt, war das Papsttum seiner Macht bewußt ge-
24
worden, hatte auch die Theorie des kirchlichen Absolutismus ihre
schärfste Formulierung gefunden. Als aber das Haupt sich spaltete,
wurden alle Gheder mitergriffen und drohte dem ganzen Körper
die Lähmung. So unlöslich ward der Konflikt, daß innerhalb der
hierarchischen Kreise selbst der Gedanke auftauchen und für den
Moment siegen konnte, der Kirche parlamentarische Ordnungen zu
geben, die Pyramide (nach dem bekannten Wortbild aus einer modernen
politischen Revolution) auf ihre Basis, statt auf ihre Spitze, zu stellen,
die Provinzen der Kirche, die Obedienzen, wie man damals sagte, in
geschlossenen Verbänden vereinigt zu ihren Trägern zu machen.
Allmählich war jedoch die Kurie ihrer Feinde von neuem Meister
geworden. Denn daß die Einheit zum Wesen der Kirche gehöre, war
von jedermann zugestanden und trat, je größer die Verwirrung war,
um so mehr ins allgemeine Bewußtsein. Gerade um diese Einheit
wiederherzustellen, kam der Gedanke an ein über den Päpsten ste-
hendes Konzil auf; die Bewegung, die zu den Konzilien von Pisa und
Konstanz führte, hatte darin gerade ihren Ursprung. An ihr und
der Universalität der Kirche, von der jene ja nur die Konsequenz
war, hielten die Gegner des päpstlichen Absolutismus (die Radikalen
mit eingeschlossen) ebenso fest wie die Freunde, nur daß die Theorie,
der Begriff der Kirche sich änderte. Der Jubelruf »Papam habemus«,
der die Wähler des Konzilspapstes empfing, als aus dem Konklave
im Kaufhaus von Konstanz der staatskluge Kardinal Otto von Colonna
als Papst Martin V. hervorging, brachte zum Ausdruck, wie sehr das
Gemeingefühl des Zeitalters nach dieser Lösung verlangte. Und so
lange die Kirche ein in sich ruhender, den weltlichen Ordnungen
gegenüber souveräner, ja ihre Organe durchsetzender Körper bheb,
war ihre Zusammenfassung in einer zentralen, alle Teilgewalten über-
ragenden und ausgleichenden Gewalt das Gegebene. Die Geschichte
der Reformkonzihen des 15. Jahrhunderts hat es bewiesen. Der Ver-
such eines ständisch-parlamentarischen Wiederaufbaus der Papst-
kirche überlebte die Regierung Martins V. nur um ein paar Jahre.
Aus dem Schöße des zu Basel zusammengekommenen neuen Reform-
konzils selbst brach das Schisma aus, zerrüttender und kläglicher noch
in seinem Verlauf als der Kampf der Päpste von Avignon gegen ihre
römischen Gegner, und das Ende vom Ganzen war die Herstellung
des Papsttums zu einer Vollgewalt, wie es sie im ganzen Mittelalter
nicht gehabt hat ; niemals hatte es sich in der ewigen Stadt so unbesorgt
lo
fühlen dürfen und so glänzend zu repräsentieren verstanden, wie in
den 70 Jahren, die ihm, seitdem die geistlichen Rebellen von Basel
zu Kreuze gekrochen, noch vergönnt waren, bevor das Ungewitter
der Tiefe hervorbrach, in der Epoche der Rovere, der Medici und
der Borgia.
Freilich gelang dies nur auf dem Wege des Kompromisses. Denn
auch die Obedienzen, oder, besser gesagt, die in ihnen vorwaltenden,
in ihrem staatlichen Zusammenhang bereits gefestigten Mächte hatten
die große Spaltung ohne Schaden überstanden. Wie diese bereits
hinter den Konflikten, die im Zentrum der Kirche zum Ausbruch
gekommen, gestanden und in jedem Moment der nachfolgenden
Kämpfe ihren Vorteil wahrgenommen, im Zusammenschluß mit der
eigenen Geistlichkeit (was denn auch hier Reibungen genug herbei-
führte) ihren Staat aufgebaut hatten, so ließen sie sich den Friedens-
schluß mit der Kurie und ihren Wiederaufbau auch nur wieder ab-
kaufen; nur so gelang es Eugen IV., den Widerstand der Baseler zu
brechen, und so konnten auch seine Nachfolger niemals sich gestatten,
etwa in der Art eines Gregor VII. oder der großen Päpste des 12. und
13. Jahrhunderts gegenüber den neuen Mächten aufzutreten. Indem
sie aber die Macht respektierten, sich auf die Teilung des Einflusses
in Konkordaten einließen, konnten sie im übrigen die Zentralisierung
der Verwaltung, auch in den Ländern, mit deren Regierungen sie
ihre Verträge abgeschlossen, so gut oder besser als in den früheren
Zeiten betreiben. Es waren vor allem die großen Monarchien des
Westens, in denen diese Vereinbarungen zwischen Staats- und Kirchen-
gewalt getroffen wurden; aber auch die Königreiche des Nordens
und des Ostens waren kraftvoll genug oder durch ihre politische Lage
so begünstigt, daß sie auf diese Weise einer allzu straffen Anziehung
der papalen Gewalt sich erwehren konnten; sogar die italienischen
Teilstaaten vermochten sich so oder so mit der Kurie, an deren Bestand
in ihrem Lande sie schließlich mehr oder weniger alle interessiert
waren, auseinanderzusetzen. Einzig der deutschen Nation blieb dies
versagt. Nur zwei Fürstenhäuser gab es hier, denen dies schon beim
Abschluß des Baseler Konzils vergönnt war: die Habsburger und die
Hohenzollern. Für alle anderen partikularen Gewalten im Reich und
für dessen Gesamtorganisation selbst waren die Reformkonzilien,
trotzdem sie auf deutscher Erde abgehalten waren, umsonst gewesen:
in der allgemeinen Zersplitterung, in dem Durcheinander fürstlicher,
26
städtischer, ritterlicher und bäurischer Elemente, geisthcher und
weltlicher Korporationen und Eigengewalten, war Rom die einzige
Macht, die in sich geschlossen und von einem Willen beherrscht war
und so die Instanz geworden oder geblieben war, an die sich alle
Sonderinteressenten wenden, Gnaden für sich erlangen, oder ihre Ab-
weisung zugunsten ihrer Gegner befürchten mußten. Bheb es hierbei,
vermochte sich nicht ein Zentrum, ein Machtwille in der Nation zu
erheben, der alle auseinanderlaufenden Strömungen in ein Bett lenkte,
einem gemeinsamen Interesse, einer die Nation zusammenschließenden
Idee unterwarf, so war nur die Verewigung des Zwiespalts, ja eine
wachsende Zerrüttung zu erwarten.
Auch die konziliaren Theorien waren mit dem Scheitern der
konziliaren Reformen in Mißkredit gekommen; niemals waren, wir
sahen es, die papalen Ansprüche rückhaltloser ausgesprochen und so
widerspruchslos als die heiligsten Gesetze der Mutter Kirche ex Ca-
thedra verkündet worden, als von den Päpsten, deren Andenken
voll Blut und Wollust der Abscheu der Jahrhunderte geworden ist.
Es war dasselbe Rom, um das der Kultus edelster Schönheit unver-
gänglichen Glanz gewoben hat : genährt von den erhabensten Gedanken
der Antike, durchgebildet mit den Formen ihrer Kunst, hatte der
italienische Geist im Vatikan seinen schimmernden Thron errichtet;
ein Leuchten wie vor dem Erwachen des jungen Tages ging nun von
dort, von dem Pontifikat eines Julius IL, eines Leo X. durch die
Jahrhunderte hin. Und so hat man wirklich in dem Geist der Re-
naissance die Kraft sehen wollen, welche die Welt erneuert, den Typus
des modernen Menschen, einen neuen Begriff der Gesellschaft ge-
schaffen habe. Aber wir brauchen uns bloß daran zu erinnern, daß
das Latein des Laterandekrets über die päpstliche Unfehlbarkeit und
der Bulle, welche den deutschen Ketzer in den Abgrund der Hölle
verwies, von denselben Männern entworfen worden ist, die sich mit
jener humanistischen Bildung schmückten, um zu erkennen, daß,
wer ihrem Zeitalter solche Vorstellungen entgegenbringt, von den
die Tiefen bewegenden, das Antlitz der Nationen und den Aufbau
ihrer Staaten bedingenden und gestaltenden Kräften keine Ahnung
hat. In Wahrheit hat die Renaissance der hierarchischen Welt-
gestalt kaum die Haut geritzt. Gewiß ist sie aus dem italienischen
Geist in seiner Vermählung mit dem der Antike, in der er sich selber
wiederzufinden vermeinte, hervorgegangen und ruht auf den poli-
27
tischen Fundamenten und Konstellationen, welche das Italien des
14. Jahrhunderts darbot, so wie jede geistige Bewegung aus dem
Schöße einer Nation und ihrer politischen Gestaltung geboren wird.
Aber schon in der Epoche Petrarcas und Cola Rienzis, in denen die
neue Bildung sich dieses Ursprunges voll bewußt ward und wirklich
von nationalem Schwünge sich tragen heß, schloß sie sich von der
Menge, von der Welt des Volgare ab, auch wenn sie es gelegentlich
meisterhaft handhabte und in klassische Formen goß, und suchte
die Höhen, die Welt der Mächtigen auf, in der sie allein atmen konnte
und leben wollte. Ihre Vertreter waren und blieben doch nur ein
Ausschnitt aus der Nation, ein Kreis von Privilegierten, eine neue
geistige Aristokratie; an die Tiefen reichten sie nicht heran, sie scheuten
eher mit ihr die Berührung. Die Tiefen blieben durch sie unbewegt ;
wo sie aber einmal in Konfhkt gerieten mit jener Bildung, wie in
dem Zank, den die Neapolitanischen Mönche mit Laurentius Valla,
dem Skeptiker, hatten, oder bei dem Angriff des großen Bußpredigers
Savonarola, des Dominikanermönches von San Marco, auf das medi-
zäische Florenz, versagte die Selbstgewißheit der vornehmen Herren
gänzHch, und bewiesen sie damit, daß sie bei aller ihrer Bildung mit
dem, was die Masse war und wollte, nichts zu schaffen hatten, zugleich
aber, daß sie den auf die Empfindungen und Bedürfnisse eben dieser
Masse abgestellten und durch sie bedingten sozialen Institutionen in
Staat, Kirche und Gesellschaft nicht gewachsen waren und den-
selben nichts anhaben konnten.
Vollends dem deutschen Geist standen diese Wälschen durchaus
fremd gegenüber. Nichts lehrreicher hierfür als das Auftreten und
Verhalten Aleanders in Worms. Auch er war ein Professor wie
Luther, einer der namhafteren Humanisten, sein Fach das Griechische;
an der berühmtesten Universität der Christenheit, an der Sorbonne
in Paris, hatte er vielbesuchte Vorlesungen gehalten, er war ein Gräcist,
der sich neben Erasmus, mit dem er rivalisierte, sehen lassen konnte;
als Bibhothekar des päpsthchen Stuhles und Kardinal der Kirche ist
er gestorben. Aber niemand stand dem Wittenberger Mönch ver-
ständnisloser gegenüber als dieser bestgebildete Italiener. Für ihn
war Luther immer nur der Rebell, der Hund, der Basilisk, ein Ketzer,
tausendmal schlimmer als Arius; sov.ae er nur den Namen des deutschen
Kollegen hinschreibt, steigt ihm die Galle ins Blut. Auch die deutschen
Humanisten sieht er kaum anders an. Er kann allerdings nicht
28
leugnen, daß diese tollen Hunde, die Deutschen, jetzt auch mit den
Waffen des Geistes ausgerüstet sind und sich dessen zu rühmen
wissen, daß sie nicht mehr die dummen Bestien seien, wie ihre Vor-
fahren, daß sie das Wasser des Tiber in ihren Rhein geleitet, und daß
ihnen Itahen die Schätze seines Wissens habe abtreten müssen. Aber
Barbaren bleiben sie mit ihrem Hütten an der Spitze für ihn doch;
so etwa wie Emil Boutroux, der Pariser Philosophieprofessor, sonst
ein trefflicher Mann, der seine Gedanken im wesentlichen aus Deutsch-
land bezogen hat, nach Ausbruch des Weltkrieges und offenbar unter
dem Einfluß einer Kriegspsychose von der durch die Wissenschaft
verstärkten deutschen Barbarei zu schreiben vermochte.
Und in der Tat, der Gegensatz zwischen dem deutschen und
dem italienischen Humanismus war von Anfang an gegeben, und
man spürt ihn mit jedem Schritt der deutschen Entwicklung mehr.
Gerade in diesem Moment, in den Tagen von Worms, war er auf
seiner Höhe. Vor allem: die deutschen Humanisten sonderten sich
von ihrem Volke nicht ab, wie sie denn auch meist aus dem Volke
stammten, als Bauern- und Bürgersöhne auf den Universitäten
studiert hatten, sondern sie standen mitten in der nationalen Be-
wegung, deren W^ortführer sie von jeher gewesen, und der sie in der
Mehrzahl eben jetzt, allen voranstürmend Ritter Ulrich von Hütten,
ihre Feder liehen. Auch sie mieden nicht gerade die Höfe; Kaiser
Max hatte sie sogar geflissentlich an sich herangezogen, und ein
Hütten es nicht verschmäht, dem Hohenzoller in Mainz zu dienen;
schon als dieser Tetzel ausgesandt, war er an seinem Hofe
gewesen. Aber auch dies Verhältnis hatte einen populären Hinter-
grund; gerade durch die Poeten auf die öffentliche Meinung zu wirken,
war die Absicht jener beiden gewesen. Aleander empfand diesen
Gegensatz durchaus. »Ich sage es«, schreibt er, »unsern Poeten und
Rhetoren, deren ganzes Tun darin besteht, an ein paar Verschen
monatelang zu feilen und um eines armen Wortes willen einander zu
verleumden, gerade ins Gesicht, daß sie sich vertragen und einmütig
in ihren Schriften unsern Glauben verteidigen sollten.« Mit ihren
Einsichten und Fähigkeiten, meint er, würden sie mehr als sieben
dieser Schreihälse zum Schweigen bringen, die allein mit ihren schrift-
stellerischen und poetischen Künsten sich bei der Menge in solches
Ansehen gesetzt haben, als wenn sie die echte Theologie schon ganz
unter die Füße getreten hätten. Diese Schreihälse wurden aber dem
29
römischen Glauben um so gefährlicher, als sie jetzt, dem Beispiel
Luthers folgend, schon dazu übergingen, dem Volke ihre Klagen
und Spottreden über Rom und die Romanisten auf Deutsch in Vers
und Prosa vorzutragen.
Bei alledem darf man den Einfluß der deutschen Humanisten
auf die Nation im Kampf gegen Rom nicht überschätzen. Sturm-
geister wie Hütten waren doch die wenigsten. An Spott und Satire
hatten sie sich gerne beteihgt, auch so ernste Geister wie schon vor
Jahren Professor Bebel in Tübingen. Aber zum Scherz waren die
Zeiten nicht mehr angetan. Das bekam Willibald Pirckheimer zu
spüren, als der von ihm so grausam »abgehobelte« Eck seinen Namen
in die Bannbulle gegen Luther gebracht hatte: er beeilte sich, um
nicht mit Rom in Konflikt zu geraten, zu deprezieren. Mut war
auch bei den deutschen Literaten (wie man das ja auch zu andern
Zeiten finden mag) nicht die Haupttugend, darin stand Hütten ziemlich
einsam, dem es daran wenigstens, obschon gerade er nirgends in die
Tiefe schürfte, so wenig fehlte wie an echtnationaler Gesinnung. In
der Mehrzahl waren sie doch Schulmeister, wie ja die Bewegung von
den Schulen ihren Ausgang genommen hatte, und vielfach froh, bei
aller Sympathie für den kühnen Professor an der Eibuniversität, so
wie etwa der alte Jakob Wimphehng, der nun in Straßburg lebte,
und Beatus Rhenanus in Schlettstadt, in ihrem Winkel bei ihren
geliebten Büchern bleiben zu können; im Hinblick auf die stolzen
Herren an der Tafelrunde eines Lorenzo Medici oder die Tischgenossen
Papst Leos X. erscheinen uns diese braven Landsleute kaum viel
anders als so, wie Albrecht Dürer sich seinen Hieronymus im Gehäus
vorstellte, verglichen mit Rafaels platonischer Akademie.
Jedenfalls, die Führung der nationalen Bewegung behielten die
deutschen Humanisten, die sich schon zu spalten begannen (trat
doch ein Cochläus schon persönlich in Worms gegen Luther in die
Schranken), nicht mehr, seitdem der Mönch von Wittenberg im
Vordergrunde des Kampfes stand. Es gab fortan nur noch die eine
Alternative: für oder gegen den Reformator.
Man darf aber, um die Größe der Tat von Worms würdigen zu
können, überhaupt nicht an der Tatsache vorübergehen, daß das
hierarchische System, von außen angesehen, noch an keinem Punkte
wirklich durchbrochen war. Die Universitäten, auch die neuge-
gründeten in Wittenberg und Frankfurt, waren noch immer geisthche
30
Körperschaften, ausgestattet mit päpstlichen Privilegien, organisiert
wie alle ihre Mitschwestern im ganzen Abendland, geistlich auch
die Fakultäten, die Theologie die Königin der Wissenschaften, die
großen Professoren fast durchgehend Kirchenhchter, geistlich und
in geistlichen Ordnungen zusammengehalten auch die große Masse
der Schüler, erschüttert vielleicht, aber doch im großen und ganzen
ungebrochen auch die scholastischen Lehrmethoden, für die der
»blinde Heide« Aristoteles, gegen den Luther seinen ersten Kampf
geführt hatte, die maßgebende Autorität geblieben war; so heftig die
Humanisten gegen die alten Formen ankämpften, durchgedrungen
waren sie doch erst an wenigen Stellen, selbst in Wittenberg wurde
die Reformierung der Universität mit Hochdruck doch erst nach
dem Wormser Reichstag, als Luther auf der Wartburg saß, in Angriff
genommen.
Und nicht anders war es mit allen Organisationen, Gewohn-
heiten, Gebräuchen, in denen die abendländische Welt seit Jahr-
hunderten sich eingelebt hatte, im Großen wie im Kleinen, in Wissen-
schaften und Künsten, in der Lebensführung und der Weltanschau-
ung, in der Auffassung der menschlichen und der göttlichen Dinge.
So wie es Ranke mit gewohnter Präzision ausgedrückt hat: »Was in
Europa bestand, war doch im Grunde jener kriegerisch-priesterliche
Staat, der im 8. und 9. Jahrhundert ausgebildet war. Das priest er-
hebe Element war nur immer tiefer gedrungen — also mußte der
Angriff den Grund des gesamten Daseins erschüttern.«
Eben dies war Luthers Tat.
Es war das Corpus Christianum, die Res publica christiana, die
abendländische Christenheit, deren Einheit er zerstört hat, deren
in sich verklammerte Glieder er auseinanderbrach. Er war in der
Tat der große Waldrechter, wie er sich selbst bezeichnet hat, der die
Axt an die Wurzel legte, aus der alles erwachsen war.
Dabei bleibt völlig bestehen, daß der Reformator von der über-
kommenen Anschauung der Einheit, auch der politischen Zusammen-
gehörigkeit der abendländischen Welt, überzeugt blieb. Wie hätte
er eine Weltansicht aufgeben sollen, die noch länger als ein Jahr-
hundert in Kraft blieb, von der aus ein Johann Sleidan noch nach
Jahren seine »Geschichte des christlichen Staats unter Kaiser Karl V.«
und sein Buch von den Vier Monarchien schrieb, aus dem noch ein
Friedrich Wilhelm L von Preußen als Knabe seine Weltgeschichte
31
gelernt hat ! Er stieß aus, was er für seinen Glauben, sein Bekenntnis
ausstoßen mußte, und ließ bestehen, ja hielt wohl auch trotziger,
als vielleicht nötig gewesen wäre, an dem fest, was ihn darin nicht
störte, behielt darum Vorstellungen bei, die uns nichts weniger
als modern erscheinen, die von den Männern der Renaissance längst
über Bord geworfen waren, und verwarf andere, die der heutigen
Anschauung verwandt sind, nahm sogar unter Umständen An-
sichten und Sätze zurück, die ihn selbst schon auf dem Wege zu einer
neueren, aufgeklärteren Auffassung politischer oder reUgiöser Probleme
gezeigt hatten. Das alles kann uns nicht hindern, in ihm den großen
Bahnbrecher, den Simson zu sehen, der die Säule, welche das Welt-
system des Mittelalters bisher getragen hatte, zerbrochen hat. Daß
darum das Mittelalter an sich nicht zu Fall gekommen ist — wer
wollte dies leugnen! Es ward nur zu bald und zu fest, kurz nach
seinem Tode, wieder aufgerichtet und so stark gemacht, daß es noch
heute, auch im Vaterlande Martin Luthers selbst, unüberwindlich
dasteht. So reinhch pflegen sich leider die Weltepochen nicht von-
einander zu scheiden, daß dort das Alte und hier das Neue zu finden
ist: die Strömungen laufen vielmehr durch die Jahrhunderte neben
und oft im wirren Durcheinander hin, nicht in Querschnitten, sondern
in der Längsrichtung; kreuzen sie sich doch zuweilen in der gleichen
Brust; in demselben Herzen wohnen oft genug einander feindliche
alte und neue Gedanken.
Es kommt immer nur darauf an, den Punkt zu finden, an den
die Weiterschütterer die Hand gelegt, und von wo aus sie die Zeiten
voneinander geschieden, ein neues Element in die Weltentwicklung
hineingebracht haben. Hierüber aber kann uns wieder der große
Meister unserer Geschichtschreibung belehren: »Indem Luthers
Rehgion ein freies Gebiet anerkannte, welches sie nicht unmittelbar
zu beherrschen brauchte, gab er den Begriff des Corpus Christianum,
an dem er festhielt, im Prinzip bereits auf«. Er gab der historischen
und natürhchen Welt ihr Recht, ihre Ehre vor Gott zurück, stellte
auch sie unmittelbar vor das Anthtz des Höchsten, als des Schöpfers,
dem sie ihr Dasein verdankt, und aus dessen Hand nichts Böses,
sondern nur Gutes kommen kann. Das Recht der Macht, der staat-
lichen Ordnung an und für sich, unabhängig von der Form des Glau-
bens, die Grenzen der Christenheit überschreitend, ja über die Grenzen
ihrer Zeit in die Jahrhunderte zurückreichend, hat er, unmittelbar
32
aus seinem Glauben heraus, dessen Korrelat diese Auffassung des Staates
lediglich ist, rundum anerkannt und festgestellt. Und darum ist er
der Begründer eines neuen Weltalters geworden.
Nun endlich können wir die Frage beantworten, die wir vorhin
ungelöst lassen mußten. Luther war nach Worms gegangen, weil
der Kaiser als der Träger des Schwertes, der von Gott bestellte
Schirmer des Friedens und des Rechtes, ihn gerufen hatte; aus seinem
innersten Glauben war sein Entschluß entsprungen. Was er aber
in Worms erlebte, war kein Gericht, war weder Verhandlung noch
Urteil, sondern ein Diktat, Befehl, ausgefülirt durch den Kaiser nach
dem Willen jener fremden Gewalt, die den Reformator mit dem Bann
belegt, die er aber auch selbst soeben verflucht hatte.
In demselben Worms, in der Stadt der Burgonden, um die einst
die deutsche Sage, das hohe Lied von deutscher Treue und deutschem
Verrat, ihre goldenen Fäden gesponnen, hatte vor langen Zeiten (es
war bald ein halbes Jahrtausend her) ein deutscher Kaiser die Bischöfe
des Reiches und viele Fürsten mit ihnen um sich versammelt, um
dem Papst seiner Zeit Fehde anzusagen^). In einem Schriftstück
von grandiosem Pathos hatte er namens der deutschen Bischöfe und
kraft des eigenen kaiserhchen Rechtes Hildebrand, dem falschen
Mönch, dem Usurpator des römischen Stuhles, dem Tyrannen und
Zerstörer der allgemeinen Kirche, sein Descende, Descende zuge-
rufen. Eben gegen diesen Feind Gottes und der deutschen Nation,
den Papst, hatte Martin Luther den Kaiser und des Reiches Fürsten
um Hilfe angerufen. »Wo bist Du,« so hatte er noch im Sommer ge-
schrieben, »trefflicher Kaiser Karl? wo seid ihr christlichen Fürsten?
Ihr habt euch Christo in der Taufe angelobt und könnt diese höllische
Stimme des Antichristes ertragen! Wo seid ihr Bischöfe, ihr Doktoren
alle, die ihr Christus bekennet ? Könnt ihr schweigen zu diesen Greueln
der Papisten ? Gekommen, gekommen ist der Zorn Gottes über sie,
^) Schon Aleander ist die Parallele zu dem Nationalkonzil in Worms von
1076 aufgefallen. Er meinte, die Empörung Heinrichs IV. gegen Gregor VII.,
die hier in Worms, der alten Brutstätte aller und besonders der gegen den
Klerus gerichteten Kämpfe, angehoben, sei noch ein wahres Kinderspiel (viole
et rose) gegen die jetzige Empörung gewesen, da damals ganz Deutschland,
der Sohn des Kaisers selbst, auf selten des Papstes gestanden habe, während
jetzt nur der Kaiser mit Rom gehe (Brief vom 15. '16. Mai, bei Kalkoff,
Sehr, des V. f. R.-G. XVII, loi). Man sieht, daß die historischen Kenntnisse,
deren der Nuntius sich rühmt, doch etwas flüchtig zusammengelesen waren.
33
die Feinde des Kreuzes Christi und der Wahrheit Gottes, daß sie
auch allen Menschen zuwider sind und wehren die Wahrheit zu pre-
digen, wie Paulus sagt zu den Juden.« Sollte er jetzt seinen Nacken
dem Henker zum Streich hinhalten?, hätte er dann nicht eben das-
jenige als Recht anerkannt, was er bekämpft hatte: den Satz, daß
der Papst als oberster Herr des Corpus Christianum, als der Stell-
vertreter Gottes, in der Tat und Wahrheit beide Schwerter führe?
Hatte Christus, dessen Nachfolger zu sein der Tyrann in Rom sich
rühmen wollte, das getan, als er sich widerstandslos zur Schlacht-
l)ank führen ließ ? Hatte Pilatus, der Skeptiker, der, wie auch Herodes,
keine Schuld an diesem Menschen fand, der seine Hände in Unschuld
waschen wollte, so gehandelt wie Kaiser Karl ? Hatte er nicht diesen
Sektierer eben nur seinen Richtern, unter denen freilich der Hohe-
priester Judas war, die aber als die Ältesten die Vertreter, die ver-
ordneten Richter ihres Volkes waren, überlassen ? Und hatte Jesus
nicht als Sohn seines Volkes gerade ihr Richteramt bestätigt, als er
sich ihrem Spruch unterwarf, durch den sie den Ketzer, den Verräter
seines Volkes, das ihnen darin nun beifiel, ihn und sein Andenken,
für ewig zu vertilgen gedachten ? Während der Landpfleger, als er
jenen, die er verachtete, die Verantwortung für ihre Tat zuschob
und nur eben seine Kriegsknechte zur Exekution des Verurteilten
hergab, doch auch nur wieder tat, was er als Vertreter seines Kaisers
tun durfte, und was seines Amtes war?
Man weiß, wie schwer Luther der Entschluß geworden ist, dem
Drängen seiner Freunde nachzugeben und sich auf einen Weg zu be-
geben, der ihm von der geraden Straße, die er bisher gegangen war,
abzuweichen schien, und der seinen Fürsten und sein Volk (niemand
sah dies besser als er voraus) in immer neue Gefahren und Wirrsale
führen mußte. Noch auf der Wartburg sind ihm diese schweren Ge-
danken nachgegangen. Wir aber müssen sagen, daß Luther, indem
er seinem fürstlichen Herrn folgte, recht gehandelt hat. Weil Kaiser
Karl eben nicht gehandelt hatte als der Träger des von Gott ihm
anvertrauten Schwertes, als Finder des Rechtes aus dem eigenen
Empfinden und Gewissen heraus und nach dem Rate der Ältesten
seines Volkes, sondern als Anbeter einer fremden Gewalt, als der
Knecht des römischen Antichrists. Es war der Kampf um das deutsche
Recht, den deutschen Staat, den Luther führte, und dem Karl, der
Fremdling im Reich, der Burgunder, der Spanier, oder was er sonst
Lenz, Wille, Macht und Schicksal. 3
34
war, auswich, nicht bloß dem Papst, sondern weit mehr sich selbst
und den weltumfassenden Zielen seines Hauses zuliebe. Diesem
deutschen Staatsgedanken diente, wie der Reformator, so auch sein
Fürst, in dem Kreise, in den seine Geburt und das Recht seines Hauses
ihn gestellt hatte, als Amtmann an Gottes Statt, der seinen Untertanen
ein gerechter Herr sein wollte, sie im Frieden zu führen und zu er-
halten, zu richten und zu regieren als seine Ehre und seine PfHcht
ansah. Ob der Weg, den Kurfürst Friedrich einschlug, um sich und
seinen Mönch der Gewalt, die ihren Arm gegen ihn erhoben, für den
Moment zu entziehen, richtig gewählt war, mag dahingestellt bleiben;
Friedrich hat dabei vielleicht mehr klug als gerade weise gehandelt. Das
Ziel und das Ergebnis aber der Tagung von Worms konnte kein anderes
sein, wenn das Evangelium Luthers unverfälscht und in fortwirkender
Kraft bleiben sollte.
Denn nun mußte an jeden, der im Reich und in der Kirche
Deutschlands etwas zu bedeuten hatte, die Frage, der Friedrich
zunächst noch auszuweichen für nötig gehalten, von Jahr zu Jahr
näher und drohender herantreten: die Frage', ob er protestieren oder
sich unterwerfen wolle. Protestieren aber bedeutete zu jener Zeit
nicht, Schriftstücke entwerfen, die, mit Unterschrift und Siegel
versehen, die Unterwerfung nur bestätigen, sondern Verweigerung
des Gehorsams und den Entschluß, wenn es denn nicht anders sein
könne, mit der Faust, Macht gegen Macht, für seine Überzeugung
einzutreten. Hatte sich der Kaiser als der Vasall Roms enthüllt^
hatte er die Vertretung des Reiches selbst durch die Kniffe und Listen
seiner Diplomatie hinter sich hergezogen, so konnte dies Edikt, auch
wenn es im Namen des Reiches ergangen war, für alle diejenigen, die
für ihre Person und ihre Untertanen sich Gott allein verantwortlich
fühlten, keine Geltung mehr besitzen.
Dies wird nun das Problem der deutschen Reformationsgeschichte,
die sehr viel weiter reicht als bis zum Tode Karls V. Die Losung
konnte fortan nicht mehr bloß heißen: los von Rom, sondern auch:
los vom Kaisertum, los von den beiden internationalen Gewalten, die
Deutschland umklammert hielten und den Aufbau eines Reiches, das
dem Genius der Nation gemäß war, verhinderten. Man braucht aber
nur die Aufgabe so zu formulieren, um sich der ungeheuren Schwierig-
keiten, die sie darbot, bewußt zu werden. Ein Drittel des deutschen
Landes war unmittelbares Kirchengut, jeder Fußbreit, jede Pfründe,
35
jeder Besitztitel darin letzten Endes an Rom gebunden; nirgends,
außer etwa in Wien und Berlin, waren die Dynastien, die Städte,
große und kleine Stände von der fremden geistlichen Macht ab-
gelöst, und ebenso auch dem Kaisertum, freiwillig oder gezwungen,
so oder so, nach Reichsrecht verbunden. Und anderseits waren sie
alle wieder in sich zu stark und mit dem Leben von Jahrhunderten
zu eng verwachsen, um sich einfach einer, wenn auch ganz national
gearteten Einheitsmacht zu unterwerfen. Niemals hätte daher die
Reformation Martin Luthers eine nationale Monarchie im Sinne
der Nachbarstaaten begründen können. Das Ziel, das vielleicht
erreichbar war, und das jedenfalls den besten politischen Köpfen der
protestantischen Partei damals vorschwebte, war eine Organisation
der nationalen Kräfte nach Art der Generalstaaten, die den Partikular-
gewalten eine Gewähr ihres Bestandes und der ganzen Nation auf dem
Grunde der lutherischen Lehre vor Gott und der Welt Sicherung
und eine Stellung unter den großen Nationen der Erde gewährt hätte.
Und darin ist unser Volk gescheitert.
Man kann aber nicht sagen, daß dies nur an dem eigenen Un-
vermögen gelegen hat. Wenigstens trägt unsere Nation nicht allein
die Schuld. Es ist wahr, das Nächste nach Worms war die Zerstörung:
in ungeheurem Sturz krachte die deutsche Kirche, ein Bau von acht
Jahrhunderten, zusammen. Dem Fall der hierarchischen Ordnungen
folgte auf dem Fuß der Aufstand, zuerst die Rebellion der Reichs-
ritter, danach der Bauernaufruhr, beides Teilbewegungen, die erstere
von sehr geringem, die zweite von größerem Umfang; doch ging auch
der Bauernkrieg im Norden kaum über das Eichsfeld und den Rhein-
gau hinaus, und eng genug waren bei beiden die Ziele wie das Ver-
ständnis für die großen Fragen der Nation. Auch die täuferische Be-
wegung, die besonders in den Schichten der Handwerker wucherte,
welche vielfach mit den Bauern gemeinsame Sache gemacht hatten,
war, obschon bald hier bald da aufflackernd, dennoch nur von lokaler
und vorübergehender Wirkung. Das Evangelium Luthers ließ sich durch
alles dies nicht aufhalten. Im Gegenteil, nur um so mehr griffen die
Regierungen nach seinen Ordnungen, die ihnen einen Halt in der hin-
und herwogenden Bewegung gaben und gewährleisteten. Und so
zeigte sich auch die kaiserhche und die katholische Partei im Reiche
(denn beides deckte sich schon nicht mehr) nicht imstande, die evan-
gehsche Bewegung dauernd zu hemmen: weder das Augsburger
3*
36
Keligionsedikt von 1530 noch die Konkordienversuche, die der Kaiser
gezwungen auf die Bahn brachte; auch sein Sieg über die Schmal-
kaldener, wie entscheidend er war, wollte nichts helfen, so wenig wie
das Interim, mit dem er auf der Höhe seiner Macht die deutschen
Parteien in sein politisches System einzufangen versuchte. Nicht
einmal der Rehgionsfriede von Augsburg (1555), durch den die Deut-
schen über den Kopf Karls hinweg ihrem Hader ein vorläufiges Ziel
setzten, konnte in den ersten Jahren seines Bestandes die Evangeli-
sierung der Nation aufhalten. Wenn Aleander schon in Worms neun
Zehntel der Deutschen der neuen Ketzerei verfallen sah, so war zu
der Zeit, da Kaiser Karl die Regierung seiner Reiche in die Hände
seines Sohnes legte, Luthers Glaube in den festen Formen des Be-
kenntnisses wirklich der großen Mehrheit im Reich das bindende Ge-
setz für ihre staatlich-kirchlichen Ordnungen geworden. Erst im
achten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts kam ein dauernder Rückschlag.
Der entscheidende Grund hierfür lag in den Konstellationen der
europäischen Politik, von denen sich die Geschicke unserer Nation
nicht lösen ließen. Sie waren schon in den drei ersten Jahrzehnten,
wo sie im übrigen günstiger als jemals später für das Ansetzen der
Keimkräfte der neuen Kirche waren, wirksam, wenn nicht maßgebend:
die Friedensschlüsse ebenso wie die Schlachttage Karls V. bildeten
ebensoväele Epochen für den Fortgang oder die Hemmung der evange-
lischen Gedanken. Und danach gestaltete sich dann das Leben der
Nation auch in den späteren Generationen, die wir als die Epoche
der Gegenreformation zusammenzufassen pflegen.
So ist es nur den Partikulargewalten, die, seit Jahrhunderten
vorgebildet, schon mit festeren Formen in das Zeitalter Luthers ein-
traten, möglich geworden, dem Staatsgedanken seiner Religion sich
anzugleichen oder auch ihm zu widerstehen. Das Bekenntnis wurde
in jedem Falle (wo in Europa wäre es anders gewesen, wo hätte es
anders sein können?) für den Aufbau der deutschen Territorial-
staaten der festeste Kitt. Für die Obrigkeiten, die dem alten Glauben
treu blieben, war auch der Weg dazu der alte, die Verständigung mit
der Kurie, die Teilung der Macht, das Konkordat. Es hat sie für
eine Zeit zu Herren in ihren Ländern gemacht; zumal die Bischöfe
und Äbte des Reiches haben durch engen Anschluß an Rom, der
aber einer völligen Abhängigkeit nicht gleichkam, ihre Existenz,
soweit sie nicht dem Sturm ganz erlagen, auf lange hinaus gerettet.
37
Mit der Zeit aber stellte es sich heraus, daß die Staatsgedanken der
Reformation politisch von unvergleichlich viel höherer Kraft waren
als der in Trient neu gefestigte, ganz hispanisierte Glaube der
römischen Kirche sie darbot. Nun erst, auf dem durch Luthers Wort
geweihten Boden konnte der deutsche Genius die Stellung in der
Welt erringen, die er im i6. Jahrhundert, soweit auch damals schon
seine Wirkungen reichten, doch nicht zu erlangen vermocht, und wie
er sie in keinem Jahrhundert vorher entwickelt hatte. Denn im
Mittelalter war er, wie lebensvoll und tatenreich er sich erweisen
mochte, doch in allen seinen Schöpfungen abhängig gewesen von
fremden Kulturwerten; der Humanismus selbst, an dem sich der
neue Geist emporzuranken versuchte, stammte noch aus dem Ausland.
Nun aber versuchte sich der nationale Genius in originalen Produk-
tionen, zumal auf den Gebieten des rein geistigen Lebens, durch die
er alles hinter sich ließ, was frühere Jahrhunderte hervorgebracht,
und, man darf es aussprechen, eine Gedankenwelt schuf, die bis an
die Sterne reichte.
Es ist neuerdings wieder einmal Mode geworden, Luther von
der Scheide der beiden Weltalter, auf der ihn die Nachwelt, auch
seine Feinde, zu sehen gewohnt war, fortzustoßen, ihn (seinen Gegnern
vielleicht ebensowenig zur Freude, als denen, die noch immer zu
ihm halten) in das Mittelalter zurückzuschieben, hingegen die zweite
Hälfte des 17. Jahrhunderts, also die Epoche eines Thomasius (mit
dem die Vertreter solcher Meinungen allerdings selbst gewisse Züge
gemein haben) und eines Leibniz als die Epoche der eigentlichen
Reformation, der Neugeburt des »europäischen« Geistes (denn als
einen deutschen im eigentlichen Sinne fassen sie ihn nicht auf), eines
Neuprotestantismus anzuschauen. Theologen und (leider!) auch
Historiker finden sich darin zusammen: jene, weil sie zu sehr Sy-
stematiker sind, um den politischen Unterbau ihrer Ideologien sonder-
lich zu beachten, diese, weil sie die unlösliche Verflechtung der ge-
danklichen und der politischen Welt sich nicht klarmachen.
Hätten diese Verbündeten mit ihrer Auffassung recht, so wäre
es ganz unerklärbar, daß der Aufbau der neuen deutschen Gedanken-
welt, Dichtung und Philosophie und der in das Gefüge der sittlichen
wie der natürlichen Welt furchtlos eindringende Forschergeist, überall
sich auf dem Fundamente der evangelischen Staatsordnungen erhoben
hat, und daß, wo immer die katholischen Regierungen freien Regungen
38
Raum gaben, sie nur Nachahmer waren, sich und ihre Länder, zumeist
im Kampf mit Rom und dem römischen Geist selbst, dem neuen,
oder sagen wir lieber dem deutschen Geiste ergeben haben.
Es ist nicht einmal wahr, daß in dem Zeitalter eines Leibniz und
Newton (das auch dasjenige Bossuets und Fenelons, Ludwigs XIV.
und Jakobs IL von England war) ein Bruch der kirchhchen Welt-
anschauung, von dem die Zeitgenossen selbst übrigens gar nichts
gespürt haben, erfolgt ist, so wie es jene Neuesten meinen, die dabei
offenbar selbst unter dem Einfluß sehr moderner politischer Strö-
mungen stehen. Es war vielmehr, wie im Zeitalter der Renaissance,
zunächst nur ein kleiner Kreis vornehmer Geister, vielfach auch
sozial höher Gestellter, die einer Annäherung und Ausgleichung der
streitenden Bekenntnisse, der Vereinigung in einer höheren Gedanken-
schicht das Wort redeten: wieder nur Privilegierte, eine Aristokratie
des Geistes, der Struktur der poHtischen Welt entsprechend, die jetzt
weit mehr noch als im i6. Jahrhundert den oberen Klassen gehörte.
Die breiteren Schichten blieben noch lange von jenen Tendenzen
unberührt. Das Richtige an jener Beobachtung liegt lediglich darin,
daß das Bekenntnis nicht mehr, wie in der Epoche vorher, das vor-
wiegend bestimmende Moment in den Konstellationen der europä-
ischen Pohtik war. Das Motiv hierfür aber lag in der Konsolidierung
der Staatsgewalten selbst, die nun ihre Macht mehr als je auf auto-
nomen Kräften, vor allem Waffen und Steuern, aufzubauen ver-
mochten; und dies war wiederum das Ergebnis der Kriege in der
ersten Hälfte jenes waffenklirrenden Jahrhunderts, vor allem des
letzten großen Kampfes der 30 Jahre, der alles, was Schwäche war,
zermalmte oder zermürbte, die frondierenden Elemente unterwarf
und die Starken zwang, ihre Kräfte mehr als jemals im Zentrum zu-
sammenzufassen. Der kirchliche Boden, auf dem sie im Kriege oder
meist schon vorher gestanden, WTirde darum nicht aufgegeben; sie
verfolgten, soweit es möglich war, ihre alten Bahnen, in die sie nun
einmal unter dem Zwange der allgemeinen Konstellation und durch ihre
eigene Entwicklung gedrängt waren. Daher hat Ranke mit vollem Recht
als die Epoche der vielleicht größten Gefahr für den europäischen Prote-
stantismus die Jahre 1686 bis 1688 bezeichnet, also die Zeit der Höhe-
stellung der alten französischen Monarchie, als Ludwig XIV. den Kon-
tinent unter dem Schrecken seiner Waffen und seiner Politik hielt und Ja-
kob IL Stuart im Bunde mit ihm England zurekatholisieren unternahm.
39
Die Massen aber nahmen an diesen Plänen^ und Kämpfen noch
immer den stärksten Anteil. Sie waren es und ihre Führer, mit denen
sie ihr täghches Empfinden und Wollen verband, welche die
Regierungen zu ihrer jeder Toleranz fast durchweg noch abholden
Rehgionspohtik antrieben, oder die, wenn sie ihr widerstrebten, da
ihnen ja in der Regel die Waffen zum Widerstände bereits fehlten,
eher dazu bereit waren, das Vaterland zu wechseln als ihren Glauben.
Es war darin noch ganz wie in den alten Zeiten : vor dem Bekenntnis
traten Staat und Nation zurück; wer jenes schützte, dem hielt man
die Treue. Wie oft wurde dies (man denke an die Hugenotten oder
an William Penn und seine Genossen) die Wmrzel, aus der ein neues
Vaterlandsempfinden erwuchs !
Bis tief in das i8. Jahrhundert hinein reichte die Herrschaft
dieses Geistes. Starb er in den Regierungen allmählich ab, so durch-
drang er um so tiefer das persönliche Empfinden und das Leben in
der Gemeinde; hielt er nicht mehr die Philosophie und das wissen-
schafthche Denken unter seinem Bann, so versenkte er sich um so
mehr in die Welt der Gefühle, die ihm am Ende wertvoller wurde, als
die Unterscheidungslehren der Konfessionen und die Dialektik ihrer
Systeme. Aber das religiöse Gemeingefühl blieb dennoch zunächst
un verloren. »Es war ein Zeitalter,« so hat der alternde Goethe im
Rückblick auf seine Kindheit und die unmittelbar vorhergehenden
Jahre geurteilt, »in welchem die Gefühlsidealität der Massen noch
immer lediglich in der Rehgion war.« Das war der Untergrund für
die enthusiastische Aufnahme, die Klopstock, so jung er- war, fand,
als er, auf den Bahnen Miltons bewußt einherschreitend, sich mit
jugendlichem Wagemut an einen noch höheren, heiligeren Stoff, das
Leben und Leiden seines Herrn und Heilands selbst, heranmachte;
unmittelbar an religiösen Stoffen sammelte die deutsche Muse ihre
Kräfte. Und welche Tiefe der Andacht, welche Größe der Emp-
findung auf dem Boden protestantisch-lutherischer Rehgiosität noch
im Zeitalter eines Diderot und Voltaire bei uns Deutschen lebte,
offenbaren uns die erhabenen Klänge Bachscher imd Händelscher
Musik, die auch wir von dem Geist jener Zeit längst Verlassenen
als das Erhabenste und Innigste aller musikalischen Offenbarungen
verehren.
Diese Jahre aber waren zugleich die Epoche, in denen die poli-
tische Energie, welche die Staaten, die sich zmn Protestantismus
40
bekannt, damit erworben hatten, ihre Kraft überall und mit einer
Wucht bewies, vor der alles, was in der kirchlichen und staatlichen
Welt unseres Erdteiles katholische Farbe trug, fassungslos zurück-
wich, um bald, nach den großen Niederlagen seit der Mitte des Jahr-
hunderts, seine Rettung in der Nachahmung der politischen In-
stitutionen zu suchen, die den protestantischen Staaten Europas ein
so entscheidendes, schon über beide Hemisphären hinwegreichendes
Übergewicht gegeben hatten.
Das sind nun die Begebenheiten, die Europas Nationen zu neuen
Krisen und Katastrophen geführt und durch sie hindurch ein neues
Jahrhundert allgemeiner Geschichte heraufgeführt haben.
Wir aber halten hier inne, denn schon stehen wir mitten in neuen
Krisen, Nachwirkungen der alten, die alles in Frage zu stellen drohen,
was der deutsche Geist auf dem Grunde der Reformation geschaffen
hat. Wohin sie führen werden, wie alles enden wird — w^er mag das
sagen! Halten wir uns jedoch vor Augen, daß die Grund-
formen der Weltordnung, so wie Luther sie gesehen und im Geist
gestaltet hat, nach allen Wandlungen, allen Katastrophen, auch
allen Triumphen des menschlichen Geistes und seiner sittlichen wie
intellektuellen Kräfte noch unverloren, unerschüttert, unwiderlegt
sind, daß sie in dem Chaos der Gegenwart selbst jedem schärferen
Auge sichtbar sein müssen; suchen wir in dem Glauben, in dem Be-
kenntnis der größten Männer unseres Volkes, daß sie auf dem
Boden der Reformation ständen, unsern Trost; beherzigen wir den
Ausspruch, den der Alte von Weimar einmal über das Zukunfts-
wirken Martin Luthers getan hat, und in dem wir das Wort des ster-
benden Faust widerhallen hören: »Er wirkt nun schon manchen
guten Tag, und die Zahl der Tage, wo er in ferneren Jahrhunderten
aufhören wird, produktiv zu sein, ist nicht abzusehen.«
Schweden und Deutsdiland im 17. Jahrhundert.
(1922.)
I.
Unsere Betrachtung soll dem Jahrhundert gelten, das für Schweden
die Zeit welthistorischer Größe war, für Deutschland aber bis noch
vor kurzem als die Zeit seines tiefsten Niederganges hat gelten können :
der Epoche, da Schweden als die Großmacht des Nordens das Dominium
Maris baltici, einst das Herrschaftsgebiet deutscher Kaufleute und
Ritter, in Händen hatte, während Deutschland, im Innern durch-
wühlt von unendlichem Hader, an seinen Grenzen, im Norden wie
im Westen, zum Raube fremder Nationen wurde. Und doch hat es
in jenem Jahrhundert einen Moment gegeben, wo die entgegen-
gesetzte Entwicklung möglich schien, wo es den Anschein haben
konnte, als sollte dies der Augenblick werden, da unser Volk in den
Kreis der großen Mächte, aus dem es seit vier Jahrhunderten aus-
geschieden war, zurückkehren und die politische, wirtschaftliche und
geistige Einheit erringen würde, welche für jene die Basis ihrer Macht
geworden war; als sollte es, wie im Süden, so im Norden, von den
Donaulanden bis an das Nordkap Gesetze geben. Das war in den Fe-
bruarwochen des Jahres 1629, als Dänemark zu den Füßen des habsbur-
gischen Kaisers und seiner katholischen Freunde lag und ihre Räte
zu Lübeck mit den Vertretern König Christians von Dänemark zu-
sammenkamen, um den Besiegten den Frieden zu diktieren. Ver-
gebens boten sich Gesandte Gustav Adolfs als Vermittler an : Wallen-
stein, damals im Vollbesitz der Macht, widersetzte sich ihrer Zu-
lassung; vor den Toren der Stadt mußten die Schweden umkehren.
Umsonst versuchte Gustav Adolf den Dänenköaig, mit dem er an der
Grenze ihrer Reiche zusammenkam, bei der gemeinsamen Sache
festzuhalten. Christian selbst hatte den Anstoß zu der Begegnung
gegeben. Aber er verfolgte dabei von vornherein, wie Gustav Adolf
sehr bald merkte, kaum eine andere Absicht als sich dem Feinde
gegenüber schwer zu machen, um leidliche Bedingungen heraus-
42
zuschlagen. Vier Jahre hatte der Däne im Kriege ausgehalten. Nun
aber hatte er es satt. Alle seine Hoffnungen waren zerronnen. Feld
und Geld verloren: keine Aussicht, von sich aus je in den Besitz
der deutschen Stifter zu kommen, um derentwillen er letzten Endes
sich in den Krieg hatte hineinziehen lassen : dafür die Feinde im eigenen
Lande; bis an den Ottensund standen des Friedländers Regimenter;
nur noch die Inseln, und was er auf skandinavischem Boden besaß,
konnte König Christian sein eigen nennen. Einst hatte er sich
in dem stolzen Traum gewiegt, die drei Kronen des Nordens in seinen
Besitz und mit der Erneuerung der Union zugleich das Dominium
Maris an Dänemark zu bringen; statt dessen hatte er es erleben müssen,
daß dieser Jüngste der Wasabrut, dessen Ahnherr die Union zer-
sprengt hatte, von Haparanda bis zur Weichsel mächtig geworden
war, und daß nun an allen diesen Küsten die blaugelbe Flagge wehte.
Er hätte, wäre er Gustav Adolfs Aufforderung, mitzugehen, gefolgt,
doch immer nur, nicht viel anders als die deutschen Fürsten, an zweiter
Stelle stehen müssen; denn das Direktorium ließ sich Gustav Adolf,
wie er ihm offen sagte, nicht nehmen. Das aber wollte Christian von
dem soviel Jüngeren, den er selbst vor Jahren niedergekämpft und
zum Frieden gezwungen hatte, sich nicht bieten lassen. Lieber machte
er Frieden mit den Feinden seines Glaubens. Schweres Geld mußte
er ihnen zahlen, mehr als der Schwede von ihm gefordert hatte; aber
sein Land bekam er, bis an die Elbe heran, zurück. So konnte er in
Seelands Forsten ruhig das Weidwerk pflegen und hinter dem ge-
liebten Becher sitzen ; den Lorbeer und die Gefahren überließ er dem
Rivalen.
In keinem Augenblick seines Lebens tritt uns das heldische
Gemüt Gustav Adolfs reiner und mächtiger entgegen, als an jenen
nordischen Wintertagen auf dem ärmlichen Pfarrhof zu Ulfsbek,
als er »bei geringer Kost (so schreibt er selbst seinem Kanzler) und
vielem, jedoch schlechtem Wein« den an süßere Getränke gewöhnten
Dänenkönig bei sich zu Gaste hatte. Es war der Wendepunkt seiner
leuchtenden Bahn. Von Hollands Grenze bis an die Danziger Bucht,
an der ganzen Seekante entlang, lagen die Garnisonen des Kaisers
und der Liga; nur Glücksburg ward noch von den Dänen und Stralsund
auch von schwedischen Truppen gehalten. Schon waren wallen-
steinische Regimenter unter Hans Georg von Arnim, dem General-
leutnant des Herzogs, der im Sommer Stralsund belagert hatte, auf
43
dem Marsch nach Preußen; in allen Häfen Ostholsteins und Mecklen-
burgs wurden Kriegsschiffe gebaut; auch Polen blieb nicht zurück;
andere wollte Polen liefern; 22 Orlogsschiffe würden, so erfuhr es
Gustav Adolf von seinem Gastfreunde selbst, die Kaiserlichen im
Frühjahr in See bringen; zugleich wurden Brander zubereitet,
um womöglich des Königs Schiffe in ihren Häfen selbst zu ver-
nichten. Daß man die Feinde im eigenen Lande erwarten müsse,
wenn man ihnen nicht mit dem Angriff zuvorkam, stand danach
außer Frage; und so groß war doch auch bei Gustav Adolf das Ver-
trauen auf sich selbst wie auf die Kraft und Hingebung seines Volkes
nicht, vun sich nicht sagen zu müssen, daß seinem Schweden mit Ver-
lust der Seeherrschaft die Lebensader durchschnitten war. Fiel aber
Schweden, so war es, und Gustav Adolf unterheß nicht, den Nachbarn
ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, auch um Dänemark
geschehen. Den Frieden könne Christian, so bemerkte er, als dieser
daran zu zweifeln schien, jeden Tag haben; und er nannte sogleich
die Bedingungen: der Kaiser werde ihm sogar Jütland, Holstein
und alle die abgenommenen Länder herausgeben. Christian, so heißt
es in dem schwedischen Bericht über die Unterredung (die aber deutsch
geführt wurde) zuckte mit dem Munde und sagte: »Wenn ich das
wiederbekommen kann, will ich es auf Abschlag annehmen.« Worauf
Gustav Adolf: »Wenn ich Kaiser wäre, würde ich Euer Liebden das
alles geben ohne Bedenken«; und weiter — auf die verblüffte Frage
Christians, wie er das meine — : »Ich würde es tun, wenn Euer Liebden
nichts gegen mich vornehmen möchten und ich inzwischen meine
Flotte fertig bekäme und meine Sachen in Stand und diejenigen zu
Gehorsam bringen könnte, die sich etwa noch nicht fügen wollten;
später stände es in meinem Belieben, zurückzunehmen, was wieder-
gegeben war, und Euer Liebden und Schweden zu mächtig und Herr
der Ostsee zu werden. Das wäre Euer Liebden und Schwedens Ruin
und würde dem Kaiser um so leichter werden, als er Holz, Eisen
und alles hat, was er braucht. An Geld kann es ihm nicht fehlen,
und ebenso wenig an guten Seeleuten.« Hierauf konnte nun freihch
Christian, dem damit jede Deckung fehlte, nichts weiter sagen, als
was er schon gesagt hatte: er würde auch mit dieser Aussicht den
Frieden nicht abschlagen. Gustav Adolf wies noch auf die strategische
Bedeutung hin, die Dänemarks Flankenstellung für Schweden habe:
es sei auf dieser Seite gleichsam eine Mauer, deren Untergang — den
Gott gnädig abwenden möge — die ganze Kriegslast Schweden auf
den Hals wälzen würde. Er sagte dies, um den Freund dadurch von
der Stärke ihrer Position zu überzeugen, wenn sie gemeinsam handeln
würden. Aber er wird bei diesen Worten auch an den entgegen-
gesetzten Fall gedacht haben: daß nämlich schon der Friede diese
Mauer zu Fall bringen könnte. Denn nachdem Christian den Kampf
für sein Land aufgegeben hatte, war es doch sehr die Frage, ob er
für die Neutralität desselben, wenn sie in Gefahr kam, mit den Waffen
eintreten konnte oder auch nur wollte; und daß die Feinde aus Achtung
vor dem Völkerrecht an den dänischen Grenzpfählen haltmachen
würden, war nach den Erfahrungen des Krieges nicht zu erwarten:
so wie es von jeher zu allen Zeiten und an allen Orten gehalten worden
ist und werden wird. Das alles wußte Gustav Adolf — aber nur um
so entschlossener war er, alles an alles zu setzen.
Dreißig Jahre war nun bereits Schweden ununterbrochen mit
Krieg beladen gewesen. Fast noch ein Knabe, war er selbst mit
seinem Vater in die Schlacht geritten und seitdem kaum je aus
dem Sattel gekommen. Zweimal war er verwundet worden, noch
stak ihm eine Kugel in der Schulter. Er zeigte dem Dänenkönig
die Stelle und ließ ihn daran fühlen. Er trage, so sprach er zu ihm,
kein Bedenken, wenn es Gottes Wille sei, deren drei zu beherbergen,
ja, wenn es nötig sein sollte, sein Leben selbst für sein Vaterland
hinzuopfern: »will auch hoffen, daß meine Augen niemals den Tag
sehen sollen, da ich den Jammer über meinem Vaterland und meinen
Untertanen schauen müßte, den viele andere über den Ihren sehen
müssen ; ich will lieber sterben wie ein Mann. « Das ist das Löwenhafte
in Gustav Adolf: er sieht das Schicksal auf sich zukommen; jedoch
die Gefahr stählt nur seinen Mut: er kennt kein Ausweichen, Still-
halten, Zurückgehen; er stellt sich dem Schicksal entgegen; jede
Muskel spannt er zum Ansprung: der Löwe aus Mitternacht, wie
unsere Väter ihn nannten.
So müssen schwedische Augen zu ihrem Helden, der größten
Gestalt in der nordischen Geschichte, emporsehen. Haben wir Deut-
schen aber Ursache, uns in den Chor, ich will nicht sagen der Bewun-
derer, denn menschliche Größe verstehen, heißt schon sie bewundern,
und uns Deutschen wird es ja von Natur leichter als andern Völkern,
fremde Größe anzustaunen, aber der Verehrer Gustav Adolfs ein-
zureihen ? Den Manen des Mannes zu huldigen, dessen Eintritt in
45
den deutschen Krieg unser Land nicht bloß für die i8 Jahre, die er
noch währte, sondern für Jahrhunderte zum Schlachtfelde Europas
gemacht hat ? Bisher war das große Ringen, wie sehr es von jeher
durch die Verschiebungen der allgemeinen Konstellation bedingt
war, dennoch im wesentlichen ein Krieg des Kaisers und der Stände
gewesen. Auch Christian von Dänemark führte ihn kaum anders
als seine Vettern auf den deutschen Fürstenstühlen, denen er auch
in dieser Hinsicht gleicht, in der Kurzsichtigkeit ihrer Interessen und
der Beschränktheit ihrer politischen Ziele. Spanische und enghsche
Völker waren wohl zu Zeiten im Reich gewesen, jedoch nur als Hilfs-
truppen, und mehr gerufen als freiwillig gesandt; beide Mächte,
und Frankreich nicht minder, scheuten bis dahin die Einmischung,
wie auch Polens Antlitz gegen den Feind im Norden gerichtet war.
Erst Gustav Adolfs Landung in Pommern brachte die Wendung.
Seitdem ballten sich die Wolken am europäischen Horizont jedesmal
am dichtesten über Deutschland zusammen, und zerrissen ihre Blitze
die deutsche Erde. Was Gustav Adolf in Bärwalde einleitete, führte
Oxenstierna in Heilbronn zum Ziel : den Bund Schwedens mit Frank-
reich. Man weiß, was dieser Bund beiden Mächten gebracht hat,
der einen das Elsaß, der andern die Stellungen an der deutschen
Küste. Eine Freundschaft, die manche Unterbrechung erlitten hat,
aber immer wieder erneuert woirde: noch im Weltkriege haben wir
ihre Nachwirkungen verspüren können. So wurde Deutschland von
der See, die es Jahrhunderte lang beherrscht hatte, abgesperrt, ohn-
mächtig auch dann noch, als auf seinem Boden bereits die Groß-
macht seiner Zukunft aufgerichtet war.
Oft genug sind solche Klagen und Anklagen erhoben worden,
nicht so sehr in den alten Zeiten (noch Schiller hat den großen Schwe-
denkönig mit allen Glorien eines Retters der deutschen Freiheit um-
geben) als seit der Zeit, da unser Volk sich auf sich selbst zu besinnen
begann, da es unter der Losung von Kaiser und Reich um die Selbst-
gestaltung seines Schicksals rang; seitdem schwankt auch Gustav
Adolfs Charakterbild, wie das seines dämonischen Gegenspielers
von Nürnberg und Lützen, in der Geschichte. Und nicht bloß die
Anhänger Habsburgs und der Liga, die auch im 19. Jahrhundert
nicht ausgestorben waren, kämpften unter solcher Maske; sondern
auch die nationalen, die evangelischen Historiker selbst haben, wenn
sie Gustav Adolf als den Retter des deutschen Protestantismus aus-
46
riefen, wohl damit geschlossen, daß der große König zur rechten
Zeit für seinen Ruhm und für die Freiheit unseres Vaterlandes ge-
storben sei.
Auch wir würden uns gegen ein solches Urteil kaum wehren
können, wenn wir zugeben müßten, daß die Einheit der Nation, die
Gustav Adolf in dem Moment, da sie vollendet schien, zerbrach,
bereits die Form gewesen wäre oder sie doch hätte hervorbringen
können, in der der Genius unserer Nation seine Wohnung gefunden
hätte: den Staat, der es uns ermöglicht hätte, nach dem Bismarkischen
Wort als große Nation frei atmen zu können unter den Völkern der
Erde — wenn anders der Wille in uns lebendig geblieben ist, unser
Selbst zu behaupten.
Mithin bestimmt sich für uns Deutsche das Problem dahin, ob
dies wirklich die Einheit war, welche jenes Ziel verbürgte, die Macht,
welche dem Willen der Nation entsprach, die das zum Ausdruck
brachte, was das innerste Sehnen des deutschen Herzens war; ob die
Bedingungen, ja auch nur die Möglichkeiten, die in der Entwicklung
unseres Volkes, die in jener Epoche selbst in den Konstellationen
der europäischen Politik gegeben waren, in dieser Richtung lagen.
Auf alle diese Fragen gibt ein Satz die Antwort: es war die habs-
burgische Monarchie, die jene Einheit forderte, deren Machtwille
dadurch befriedigt, deren Traditionen dadurch erfüllt wurden: das
Haus, das im Besitz der Krone Karls des Großen war: die Dynastie,
die ihrer Natur nach jeder nationalen Eigenart feindlich sein mußte
und, wenn sie sich selbst treu bleiben wollte, geradezu gezwungen
war, sie zu unterdrücken. Gegen diese Gewalt hatte das Reich, so
wie es in seinen Ständen vertreten war, seit drei Jahrhunderten
Stellung genommen, seitdem das kleine Grafengeschlecht, das sich
aus der Eidgenossenschaft in dem Moment gelöst hatte, wo diese
selbst ihren Verband mit dem Deutschen Reich zu lockern begann, in
der Südostecke Deutschlands, in unserm ältesten Koloniallande seine
Eigenmacht mit den Mitteln aufgebaut hatte, die ihm seine Stellung
im Reiche an die Hand gab. Alle Reformversuche in Staat und Kirche,
welche die deutsche Geschichte dieser Jahrhunderte erfüllen, lassen
sich unter dem Gesichtspunkt dieses Ringens um die Macht im Reiche
verstehen.
Es war die Epoche, in der die Nationen des Westens wie die des
Nordens und des Ostens Europas ihre Kräfte in nationalen Monarchien
47
zu sammeln begonnen hatten. Überall geschah es unter dem Druck
schwerer auswärtiger Krisen, von Kämpfen, die sie um ihr Dasein
selbst zu führen hatten. So wurden die Träger dieser Kronen, die
alle einheimischen Geschlechtern entstammten und seit Generationen
mit den Geschicken ihrer Völker verwachsen waren, mehr als je die
Vertreter ihrer Machtinstinkte und Ideale. Unser Volk lebte nicht
unter diesem Druck. Zunächst stand es noch mitten im Fluß seiner
kolonialen Ausdehnung, die es wirtschaftlich und vielfach auch
politisch zum Herrn des Nordens und Ostens unseres Erdteils machte.
Und als durch die Gegenwirkung der Unterdrückten, sie sich eben in der
Sammlung ihrer Kräfte in nationalen Monarchien darstellte, diese
Herrschaft zerbröckelte und ihre Wurzeln zu verdorren drohten, halfen
deutsche Rivalen eifrig mit, ja taten wohl das Beste, um diese vollends
zu zerstören.
Nicht viel anders aber war es bei der Abspaltung der Grenz-
marken im Süden und Westen des Reiches. Auch dort wirkten
immerfort fremde und einheimische Elemente zusammen; ja es war
mehr als einmal weniger von außen wirkende Not als freiwiüiger
Entschluß, viel mehr Abfall als Entreißen, wenn ganze Volksteile,
wie die Eidgenossenschaft und die Niederlande, sich aus dem Ver-
bände des Reiches lösten. So waren es immer nur Teile, die Grenz-
gebiete der Nation, die von der Einwirkung fremder Mächte betroffen
wurden; die Kernlande, auf denen das alte Reich geruht, von denen
jene über alle Grenzen hinausstrebenden Kraftäußerungen unseres
Volkes ihren Ausgang genommen hatten, wurden kaum erreicht,
blieben wenigstens von den an den Grenzen tobenden Stürmen,
wenn nicht unberührt, so doch in der Tiefe unerschüttert. Der Druck,
unter dem auch sie standen (denn Kampf ist alles geschichtliche
Leben), kam von derselben Macht her, die des Reiches Krone trug.
Denn indem das Haus Habsburg seine Eigenmacht an der Peripherie
des Reiches aufbaute und also den Andrang der von Osten und
Süden her stoßenden neuen und alten Mächte auffing, ward es ge-
zwungen, alle Mittel, die ihm seine Stellung im Reiche bot, für sich
auszunutzen, dieses selbst in seine Interessen zu verwickeln und,
wenn irgend möglich, von sich aus in das Reich hineinzuwachsen
und sein Gefüge zu durchsetzen. Es waren dies aber Aufgaben, die
auch die alten Kaisergeschlechter vor sich gehabt, in denen sie ihre
Größe gesehen, und an denen sie sich müde gerungen hatten. Mit
48
vollem Recht konnte daher das neue Kaiserhaus sich als ihren Erben
betrachten, auch darin, daß es auf diesen Bahnen weiterschritt und
seine Macht nach dem slavischen Norden wie nach Itahen ausdehnte,
dem Boden, auf dem seine Vorgänger ihren Hauptkampfplatz und
die Krönung ihrer Macht gesucht hatten, und so weiter fort, immer
an den deutschen Grenzen entlang und den Körper der Nation um-
strickend.
Nur wenn in diesem selbst, in dem Rumpfe der Nation, wie wir
fast schon sagen müssen, von innen heraus ein eigener, alle Teile zu-
sammenfassender Machtwille sich entwickelte, ließ sich hoffen, jene
peripherische Macht mit der eigenen Kraft zu durchdringen, die
fremden Elemente in ihr auszumerzen und sie so in den Strom des
nationalen Lebens zurückzuführen, zu einer einzigen nationalen
Gewalt mit ihr zusammenzuwachsen. Schon aber waren die parti-
kularen Gewalten, die in den Tiefen der Jahrhunderte wurzelten,
in den Kernlanden des Reiches selbst viel zu stark geworden, als
daß sie ihr Selbst hätten aufgeben mögen. Vielmehr dies immer
weiter zu entwickeln, ihre »Freiheit«, wie sie es nannten, »die uralte
teutsche Libertät« gegen jeden übermächtigen Willen im Reich zu
behaupten, war das Interesse, in dem sie alle, wie feindlich sie zu-
einander stehen mochten, einig waren, — und das sie doch in Wirk-
lichkeit immer wieder gegeneinander führte.
Genau loo Jahre, bevor das Reich in den großen Krieg hinein-
gerissen wurde (denn dies geschah erst mit der Kaiserwahl Ferdi-
nands II., 1619), schien dennoch der große Augenbhck gekommen
zu sein: als der sächsische Mönch seinem Volk die Religion gab, die,
weil sie die persönlichste, auch die allgemeine war, die männliche
Religion, die, indem sie die Seele freimachte von aller Bindung durch
äußere Autoritäten, zugleich das Recht der Macht und aller staatlichen
Ordnung feststellte und also dem Genius unseres Volkes die Wohnung
verhieß, in der er frei, vor jeder Gefahr gesichert, sich zu den höchsten
Höhen der Sittlichkeit und der Erkenntnis erheben konnte. Aber
gerade da ward unser Volk von dem im Dunkel waltenden Schicksal
einer Prüfung unterworfen, fast möchte man sagen, genarrt, wie
wir es seitdem nur noch einmal wieder haben erleben müssen; denn
eben dies war die Stunde, wo sich der Ring, den jene Macht um alle
Grenzen zu legen begonnen hatte, bis auf das letzte Stück schloß.
Mehr als je lag nun in der Zersprengung dieser erstickenden Gewalt,
49
die mit allen der Nation feindlichen Kräften im Bunde war, das Heil
unseres Volkes. So galt es nun nicht bloß der Kirche sondern auch
dem Kaisertum; es galt den beiden universalen Mächten, die seit
acht Jahrhunderten das nationale Leben umstrickt hielten; es galt,
die höchste weltliche Gewalt im Reiche ihres internationalen Cha-
rakters zu entkleiden, sie aus der Verbindung mit dem Papsttum
und allen nicht deutschen Interessen ihres Trägers loszureißen, sie
dem Geist und Willen der Nation zu unterwerfen. Zu der Staats-
form, in der jene andern Nationen ihr Leben geführt, ihre Macht
entwickelt hatten, wäre unser Volk auch dann nicht gelangt. Denn
die »Libertät« der Stände, die stärkste Triebkraft im nationalen
Leben, durfte nicht angetastet werden; nur die hierarchischen und
alle unnationalen Elemente sollten ausgemerzt, die partikularen
Gewalten aber in ihrer Selbständigkeit gerade gesichert, ihr Zu-
sammenleben im Rahmen der Nation ermöglicht werden. Es wäre,
wenn es nach den Gedanken der Männer gegangen wäre, die unser
Volk auf diesen Weg führen wollten, ein Deutschland geworden, das,
unter einer nationalen Krone auf breiter ständischer Grundlage
aufgebaut, sich in allen seinen Schichten und Teilen mit der Rehgion
erfüllt hätte, welche, in der Einsamkeit eines Klosters, in den er-
schütternden Seelenkämpfen eines Bettelmönches geboren, dem tief-
sten Sehnen unseres Volkes entsprungen war.
Dies war die Aufgabe, vor die sich die Generation Luthers und
Karls V. gestellt sah.
Wir wissen, wie wenig sie die Probe bestanden hat. Jahrzehnte
hindurch, in immer neuen Anläufen, haben die Führer der evange-
lischen Partei, geistliche und welthche, es versucht : mit Predigen und
mit Schreiben, mit Überredung und Zwang, mit Kompromissen und
trotziger Opposition, durch Religionsgespräche und mit allen Mitteln
und Listen der Diplomatie, auf graden und auf krummen Wegen,
in den Formen des Reichsrechts auf den Versammlungen des Reiches
und in Sonderbündnissen, und wiederholt mit den Waffen — um
schließlich bei einer Lösung anzukommen, die keine Lösung war.
Denn sie war nichts als eine Beschränkung auf die Libertät in ihrem
engsten Verstände, die Isolierung jeder ständischen Gewalt, die
Neutralisierung der alles entscheidenden Frage in dem »Religions-
frieden« von Augsburg mit seinen Klauseln und Reservationen,
die nur wieder neue Kämpfe in Aussicht stellten. Es war bereits
Lern, Wille, Macht und Schicksal. 4
50
die Bankrotterklärung des deutschen Staates. Mochte jeder Stand»
jede Regierung, welthch oder geisthch, sehen, wie sie es treiben und
wo sie bleiben würde, auf eigene Gefahr: das Reich kümmerte sich
nicht darum, es überließ alles der Zukunft.
Auf so schwankem Boden ruhten nun das Reich und die Stände.
Wie hätte nicht ein jeder von ihnen alles daransetzen müäsen, um
gegen die Gefahren, die im Schoß der Zukunft lagen, und deren Heran-
nahen alle fühlten, gerüstet zu sein! Sie hatten keinen andern Ge-
danken: die Großen und die Kleinen, Katholiken und Protestanten,
vom Kaiser abwärts bis zu den Reichsunmittelbaren vom Adel und
den Bauernschaften in Schwaben; sie alle waren nur darauf bedacht,
da das Ganze versagte, die eigene Stellung zu verstärken, ihr Terri-
torium, wie groß oder klein es sein mochte, auszubauen, rückhaltlos
und rücksichtslos alles abzuwehren oder auszumerzen, was die eigene
Bahn kreuzen konnte, es mit einem Geiste zu erfüllen. Nichts war
dazu nötiger als die Herrschaft über die Kirche ihres Landes.
Die Kathohken setzten sie im Bunde mit der Kurie durch: sie
mußten aber die Macht mit ihr teilen, denn Rom gibt nichts um-
sonst. Die Evangelischen hatten ihre Geistlichkeit besser in der
Hand: aber sie waren wieder abhängig von den Spaltungen in ihrem
brüchig gewordenen Bekenntnis. Die alten Bünde, die frühere
Epochen der Reichsgeschichte beherrscht hatten, verkümmerten
und starben ab; nur nach der Konfession suchte jedermann
seine Freunde und seine Feinde. Je mehr aber sich jeder Stand
auf sich selbst zurückzog, um so größer wurde die Ohnmacht
des Ganzen.
Das Ende war — wie hätte es anders sein können! — der all-
gemeine Krieg, der sich nun langsam durch das Reich hindurchfraß
und bald die Nachbarmächte in seinen Feuergürtel mit hineinzog.
Dennoch blieben in allem Hader und unter dem Getöse der
Waffen selbst die Formen des Reiches unversehrt. Ja, sie wurden
im Kriege fast mehr beachtet als vordem. An ihrer Verstärkung
lag keinem etwas, aber ihre Zerstörung strebte niemand an, und alle
wollten Anteil haben an den Besitztiteln, den Vorrechten und allen
Machtelementen, welche die alte Verfassung immer noch darbot:
weil niemand sie dem andern gönnte, blieben sie alle daran gefesselt.
Vor allem das geistliche Gut des Reiches war die Braut, um die man
tanzte. Die Kathohschen mußten, schon um ihres Prinzips willen, an
51
der Konservierung der Stifter, soweit sie noch unmittelbar unter
dem Reiche standen und sich zum alten Glauben hielten, festhalten;
niemals hätte die Kirche, an die sie gebunden waren, und für die
sie fochten, eine Änderung daran gestattet. Aber die Kapitel und,
wenn es ging, die Bischofsstühle selbst mit ihren Anhängern oder
Angehörigen ihrer eigenen Häuser zu besetzen, war auch für sie alle
ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, und spaltete damit wieder die
eigene Partei, ganz besonders deren Häupter, Witteisbach und
Habsburg. Umgekehrt war es für die Protestanten eine Existenz-
frage, die seit dem Religionsfrieden noch evangelisch gebliebenen
Reichsstifter bei ihrem Glauben zu erhalten; das aber konnten sie
nicht besser, und jedenfalls nicht bequemer haben, als wenn sie es
ebenso hielten, wie ihre Gegner, und ihre Freunde und Angehörigen
mit den geistlichen Titeln und Gütern ausstatteten; denn ihre In-
korporierung, und also der Bruch der Reichsverfassung, war für sie
ein noch gefährlicheres Experiment, als wenn es die Gegner mit den
katholischen Stiftern so gemacht hätten. Und so war die Erhaltung
der »Libertät«, als des Grundrechtes des Reiches, eine Angelegen-
heit, bei der alle Glieder des Reiches, Freunde und Feinde, und die
Kämpfenden so gut wie die Neutralen, sich zusammenfanden.
Überblickt man von hier aus die Gesamtlage des Reiches in
jenen Tagen von Lübeck, so sieht man sofort, wie wenig es mit der
Auffassung auf sich hat, als habe damals die Einigung der Nation
unter Habsburgs Kaiserkrone vor der Tür gestanden, und nur der
Einbruch des schwedischen Königs in das Reich habe sie verhindert;
und man begreift, daß es selbst dann nur ein rasch vorübergehender
Moment gewesen wäre, wenn der Siegeslauf der katholischen Mächte
ungehemmt geblieben und bis an die Küste Schwedens getragen wäre.
Weil ja die Erhaltung oder die Verstärkung der Machtstellung der
katholischen Stände im Reich, jedes einzelnen unter ihnen, die Be-
dingung ihres Bundes mit dem Kaiser war. Nur eine Macht, die
stark genug war, um jeden Sonderwillen zu zerbrechen, Freund und
Feind gleichmäßig zu unterdrücken, wäre dazu imstande gewesen,
das Werk von Jahrhunderten, die deutsche »Freiheit«, auszurotten.
Wie aber hätte Kaiser Ferdinand je hieran denken können! Es wäre
der Bruch mit der Liga, es wäre der Bürgerkrieg in der verwirrendsten
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Form geworden; er hätte alles, was an der »Libertät« als dem Grund-
gesetz des Reiches hing, Freund und Feind seines Glaubens, gegen
sich aufgebracht; es wäre der Weg gewesen, um auch die neutral
GebUebenen sämthch auf die Gegenseite zu treiben. Niemals hätte
der Kaiser die römische Kurie, die für Witteisbach von jeher mehr
übrig gehabt hatte als für Habsburg, bei sich festgehalten; er würde,
wie seine Vorfahren an der Kaiserkrone so oft, den Papst selbst
sich zum Feinde gemacht haben. Zumal da es dann keinen Still-
stand auf dieser Bahn, keine Beschränkung auf Deutschland für ihn
gegeben hätte; er hätte die imperalistische Politik seines Ahnherrn,
zu der ihn die Spanier auch jetzt verführen wollten, wieder aufnehmen
müssen. Die deutsche Nation aber wäre, und je stärker Ferdinand
wurde, imi so mehr, nur ein dienendes Glied in dieser über alle nationalen
Interessen hinweggreifenden Monarchie geworden; in Ungarn und
gegen die Türken, in Italien und in Frankreich, in den Niederlanden,
wie in den nordischen Bereichen hätte sie dem Kaiser gegen seine
Feinde helfen müssen; nicht der Friede, sondern eine Kette von Kriegen,
an denen die Nation keinerlei Interesse gehabt, wäre ihr Lohn gewesen.
Nun hatte zwar Ferdinand ein Heer im Reich, wie es Karl V.
niemals besessen, und der General, dem er es anvertraut, wäre ihm
in diesem Moment wohl auf jene Bahnen gefolgt, ja es schien fast,
als ob er selbst ihn dahin führen wollte, über die Alpen und bis Kon-
stantinopel, Zielen entgegen, wie sie dem Ahnherrn nur in seinen
kühnsten Träumen vorgeschwebt hatten. Es war des Kaisers Untertan,
Albrecht von Waldstein, der Böhme, der Konvertit, die »hochmütige
Bestie«, wie seine Standesgenossen, die böhmisch -mährischen RebeUen,
ihn einst genannt, der Überläufer, der Verräter an ihrer Partei und
der Religion, wie sie ihn gescholten hatten. Nun hatte er dem Kaiser,
dem er im böhmischen Aufstand nur ein Regiment hatte zuführen
können, eine Stellung in seinen Erb- und Kronlanden und auch im
Reich verschafft, wie sie keiner seiner Vorfahren besessen; Ferdinand
aber hatte ihn dafür mit Geld und Gütern überschüttet, ihn in Böhmen
zum Fürsten, in Schlesien zum Herzog gemacht und nun, da er das
Reich in seinen Fäusten hielt, ihn in den Reichsfürstenstand selbst
erheben müssen. Auf des Kaisers Namen war das Heer geworben,
ihm hatten Offiziere und Mannschaften den Treueid geleistet: aber
Herr im Lager war allein der Friedländer, der General. Von ihm,
dem »Impresario des Krieges«, hingen sie alle ab, kein Wille galt
53
hier als der seine; seine Gelder, sein Kredit waren die Basis, auf der
alles ruhte : an sich mußte der Wallensteiner denken, wenn er warb,
marschierte, sich einlagerte, wenn er mit den Ständen, neutralen und
kriegführenden, mit den fremden Mächten, mit Freund oder Feind
seines Kaisers verhandelte, wenn er die Schlacht anbot oder aus-
schlug, angriff oder zurückwich. Eine Macht war es mit zwei Häup-
tern : eine eiserne Säule, angelehnt an einen halb vermorschten Stamm,
dessen Wurzeln aber weit verzweigt tief in dem Erdreich einer Ge-
schichte von Jahrhunderten lagen. Nur des Kaisers Name hatte
dem General den Weg ins Reich geöffnet, ihm das Recht oder den
Vorwand, die Möglichkeit gegeben, seine Werbungen zu veranstalten,
Kontributionen auszuschreiben, immer neue Regimenter zu bilden,
ihnen Löhnung und Verpflegung zu verschaffen, alle Klagen der Be-
drückten zu überhören und jeden Eigenwillen im Reiche zu zer-
brechen. Des Kaisers Politik zu unterstützen war ihm als das Ziel
seiner Kriegführung gesteckt worden — , aber deren Bedingungen
waren alle von ganz persönlichen Wünschen und Interessen durch-
setzt und von einem Schwärm niedrig gerichteter Leidenschaften
getragen und gelenkt. Würde es dem Habsburger gehngen, dies
Instrument der Macht, das im Feuer des Krieges gehärtet war, nach
seinem Willen zu lenken, es wie einen Stab in seiner Hand zu be-
wegen, hierhin und dorthin, ihn auch wohl beiseitezulegen nach
getaner Arbeit, so wie er es auf der Hochschule zu Ingolstadt von
seinen Lehrern, den frommen Vätern Jesu, gehört hatte, wenn sie
die Tugend des Gehorsams in immer neuen Wendungen priesen?
Mußte er nicht fürchten, daß die eiserne Säule ihm entgleiten, daß
sie, was er im Reiche besaß (Rechte und Pflichten, überheferten Ein-
fluß, Freunde, Bundesgenossen, und was ihn nach Amt und Her-
kommen sonst daran fesseln mochte), zerdrücken oder gar gegen ihn
selbst sich wenden, auf sein eigenes Haupt zerschmetternd nieder-
fallen könnte ? Schon drangen von allen Seiten die Klagen über die
Ausschreitungen der Wallensteinischen Soldateska, über den »neuen
und unhergekommenen Dominat, der zu endhcher Eversion der
löblichen uralten Reichsverfassung eingeführt werden solle«, an das
Ohr des Kaisers. Konnte Ferdinand, durfte er überhaupt seinem
General auf Wege folgen, die ihn in immer schwerere Konflikte mit
dem Reich, auf dem seine kaiserliche Majestät ruhte, bringen mußten
und ihn dabei von dem Herzog, je weiter dieser vorankam, um so
54
abhängiger machten ? Das waren die Erwägungen, die an ihn heran-
traten, als im Sommer 1630 die nächst ihm höchsten Vertreter des
Reiches, die Kurfürsten, mit dem Bayernherzog, Kurfürst Max an
der Spitze, ihn auf dem Tage zu Regensburg vor die Alternative
stellten, den Friedländer oder sie selbst aufzugeben. Wir können es
dem Kaiser nachfühlen, wie schwer ihm ein Entschluß werden mußte,
der ihn aufs neue machtlos machte, ihn unter die Hand des Witteis-
bachers beugte; aber die Entscheidung konnte nicht zweifelhaft sein:
die Verfassung des Reiches, wie verwittert sie war, war doch noch
stärker als die jedes seiner Glieder, und mochte es mit der Kaiser-
krone selbst und einer Waffengewalt, wie sie noch nicht dagewesen,
ausgestattet sein. Das Reich selbst, das die Nation umschloß, war
das Erdreich, in dem Habsburgs Stamm wurzelte, und aus dem er
sich nicht loslösen ließ, ohne selbst zu verkümmern. Es handelte
sich, mit einem Wort, darum, ob Ferdinand seinem Hause die Kaiser-
krone erhalten wollte. Denn das war es, was ihn nach Regensburg
gezogen hatte: die Wahl seines Sohnes zum römischen König, das
hieß nach ältestem Reichsrecht zu seinem Nachfolger. Ohne die
Krone war auch er nur ein Stand des Reiches, wie die andern, sein
Feldherr aber nur wieder sein Untertan; alle Rechte, die der General
im Namen des Kaisers für sich in Anspruch genommen, wären mit
einem Schlage dahin gewesen. Es war nicht anders : um sich und sein
Haus in der obersten Würde des Reiches zu behaupten, mußte Fer-
dinand den Mann preisgeben, der ihn groß gemacht hatte.
Für Gustav Adolf ein Erfolg, wie er ihn vor einem Jahr sich noch
nicht hatte träumen lassen können. Es war, als ob die katholische
Front ganz auseinanderbersten müßte; durch ganz Deutschland
ging die Erschütterung, bis in die kaiserlichen Garnisonen an der
pommerschen Küste merkte man den Stoß. Man kann zweifeln, ob
es Gustav Adolf andernfalls so leicht geworden wäre, festen Fuß auf
deutschem Boden zu fassen. Es war ein Sieg, der mehr als eine Schlacht
aufwog. Fortuna hatte ihn dem König zugewandt. Aber niemals
hat das alte Wort, daß das Glück dem Tapfern hold ist, mehr Wahr-
heit gehabt: es war der Lohn des Helden, der sich, als er sich von
aller Welt verlassen gesehen, ganz allein dem heranwogenden Unheil
entgegengestemmt hatte.
Weniger erfreut durften die deutschen Protestanten über die
Beschlüsse von Regensburg sein. Denn ihre Lage war jetzt bedrohter
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als vordem. Der Kampf für die gemeinsame katholische Rehgion
hatte Habsburg und Witteisbach zusammengeführt; es war das
einzige Band, das unzerrissen geblieben war. Von Wallenstein hätten
die Protestanten am Ende sogar Duldung ihres Glaubens erhoffen
können: von Kurfürst Max hatten sie keine Schonung zu erwarten.
Gelang es diesem, dem jetzt die gesamte katholische Streitmacht mit
Tilly als Generalissimus unterstellt war, die Krisis zu überwinden, so war
nach menschlicher Berechnung das Evangelium in Deutschland verloren.
Daß Gustav Adolf der Retter des deutschen Protestantismus
geworden ist, kann danach keinem Zweifel unterliegen. Und auch
über seine rehgiöse Stellung, ob er nicht vielleicht doch mehr Politiker
als Glaubensstreiter gewesen, ob der Protestantismus mehr Vorwand
als Antrieb für ihn gewesen sei, seine Armee über die Ostsee zu führen,
und was dergleichen Zweifelsfragen mehr sind, sollte wohl endlich die
Diskussion geschlossen sein. Wer so urteilt, hat kein Verständnis
für das Jahrhundert der Glaubenskämpfe, ja er versteht es überhaupt
nicht, Fragen an die Geschichte zu stellen. Als ob Wille und Macht,
die Tat und der Gedanke, der sie beseelt, je voneinander geschieden
werden könnten : sie sind vielmehr so eng ineinander verkettet, wie die
Macht selbst und das allwaltende Schicksal.
Gewiß, Gustav Adolf stand mit beiden Füßen auf dem Boden
seines Staates, des Schwedens, das der Ahnherr auf den Grund der
protestantischen Idee gestellt hatte: des EvangeUums, das vom
deutschen Boden her seinem Volke gebracht war. Dies war das
Band gewesen, das den Zweig der Wasas, dem Gustav Adolf ent-
stammte, mit dem Lande, in dem das Geschlecht wurzelte, verknüpft
hatte, dem Lande, das der Vater und der Großvater gegen äußere
und innere Feinde verteidigt hatten, dessen Macht er selbst zunächst
an des Vaters Seite, dann aber allein mit jugendlicher Kraft von
Ingermanland bis zur Weichsel ausgedehnt hatte. Alle seine Feldzüge
waren von diesem Gedanken getragen gewesen; niemals hatte er den
Zusammenhang mit der Umwelt, mit den universalen Ideen, die ganz
Europa in zwei feindliche Lager zerteilten, aus den Augen verloren,
so wenig wie einst in ihrer Weise EHsabeth von England oder Philipp II.
von Spanien. Das war es, was uns neben ihm die Politik des Dänen-
königs so dürftig erscheinen läßt, dem es, vne Gustav Adolf von ihm
sagte, nur darum zu tun war, einen Fuß in das Reich zu setzen, Ham-
burgs Hafen durch seine Zollstätten zu kontrollieren und sich ein
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paar Stifter aus dem deutschen Fischteich herauszufischen. Turmhoch
steht Gustav Adolfs PersönMchkeit und Pohtik über dem Nachbarn
und seinen deutschen Vettern, deren Pohtik jede Großzügigkeit ver-
missen läßt. Ihn bezeichnet das Wort, mit dem er im Mai 1630 von
seinen Ständen Abschied nahm: »Die Kirche Gottes und Schwedens
Majestät sind es wohl wert, daß man für sie Beschwerlichkeiten, ja
selbst den Tod erleide.«
Dies, die Hingabe an seine Idee, ist die Quelle, aus der alles bei
ihm hervorquillt: die staathche Einsicht und die klare Linienführung
m seinen Plänen, die Zucht, in der er sich selbst und die Seinen hält,
der unerschütterhche und doch stets besonnene Mut und in der Schlacht
die todverachtende Kühnheit, seine aufrichtige und doch so weit-
herzige Rehgiosität, der nie erlahmende Glaube an die Gerechtigkeit
seiner Sache, der Herrscherwille selbst, und die Kraft, mit der er
festhält, was er einmal angepackt hat — kurz der ganze Flor von
Herrschertugenden, der diesen Helden jedem teuer machen muß,
wem immer Sinn für historische Größe gegeben ist.
So ist Gustav Adolf der Schöpfer der schwedischen Großmacht
geworden.
Hat er aber • — und das ist eine Frage, deren Beantwortung
größeren Bedenken begegnen könnte — dem Volke, dem er helfen
wollte, das Heil gebracht? Hat er unserer Nation den Weg in die
Zukunft gewiesen, den Staat ihr gegeben oder doch sein Werden
eiTOÖglicht, an dessen Aufbau, so oft sie ihn von sich aus versucht
hatte, sie gescheitert war ? Das Ziel, das Gustav Adolf sich setzte, hat
er selbst mit Sicherheit bezeichnet, und seine Handlungen, wie das
Zeugnis der Seinen, vor allem seines nächsten Gehilfen, seines Axel
von Oxenstierna, der es erst nach dem Tode des Königs abgegeben
hat, haben es bestätigt. In einer auf der Grundlage der Rehgion
organisierten Gemeinschaft, einem Corpus Evangelicorum, wollte
der König das protestantische Norddeutschland mit seinem Stamm-
lande und den Eroberungen an den Ostküsten des baltischen
Meeres vereinigen, also daß die slavische Welt, ob kathohsch oder
byzantinisch, auf immer von der deutsch-schwedischen See ab-
geschlossen worden wäre. Die deutsche »Libertät« wollte er nicht
verletzen, vielmehr als der Retter der »teutschen Freiheit« betrat
er unsern Strand, und so ward er von der Masse der Nation, so weit
sie evangelisch war, begrüßt und gefeiert. So ist es • — wie oft! • —
57
dem toten Helden ins Grab nachgerufen worden. So lesen wir es schon
in dem Schreiben, das des Königs Generalleutnant, Gustav Hom, den
er in Süddeutschland zurückgelassen, vom Schlachtfeld von Lützen
her erhielt : »und hat dieser incomparabilis Heros, für dessen langes
Leben soviel tausend Seelen ohnzweifelig geseufzet haben, und dessen
Tod von männiglich betrauert wird, Germaniae Ubertatem et re-
Ugionem endüch mit seinem Blute bezahlen müssen.« Und so
waren denn seit seiner Landung bald alle verjagten Häupter der deut-
schen evangehschen Partei in dem Lager des Königs versammelt :
die böhmischen Exulanten mit ihrem geschäftigen Grafen Thiurn,
dem Königsmacher von 1619, an der Spitze, der Winterkönig selbst,
der aus seiner Verbannung im Haag herbeigeeilt war, die Ernestiner,
Ernst, Wilhelm und Bernhard, denen der König, wie so manchen
andern Fürsten, hohe Kommandos in seiner Armee gab, und die
Menge der Grafen und Herren, die ins Elend gejagt waren und nun
die Herstellung in ihren Besitz vmd militärische Posten von dem
fremden Herrscher erhofften.
Doch war er nicht jedermann willkommen. Nur unter dem Druck
der Waffen nahm gleich der erste Fürst, der sich ihm anschloß, der
Pommemherzog Buslav den König in seine Hauptstadt auf;
und nur in der Pressung zwischen der kathoHschen und der schwe-
dischen Macht bewilligte der Brandenburger seinem Schwager den
Durchzug durch sein Land, stellte sich danach Johann Georg
von Sachsen mit seinem Heer unter die schwedischen Fahnen. Denn
freihch, Widerstand duldete der Retter des deutschen Evangeliums
so wenig wie Neutralität; wo er stand, wollte er auch befehlen, und
was er einmal in der Hand hatte, hielt er fest. Er wußte, daß nur die
Macht das Bündel dieser auseinanderlaufenden Interessen zusammen-
schloß. Diese Macht mußte aber unter seiner Faust bleiben, denn er
allein wußte sie zu gebrauchen. Auch hatte er allein eine Gewalt
hinter sich, die unzersphttert und, so lange er lebte, frei von Gegen-
sätzen war, einen Staat, wie er selbst einmal gesagt hat, in dem
König und Stände, Höhere und Niedere, an Gottes Statt die König-
liche Hohe Majestät vertraten. Gustav Adolf verlangte gar nicht
einmal, daß sein Haus für alle Zeit im Besitz des Direktoriums jenes
Corpus EvangeUcorum sei. Hat doch der Söhnelose daran gedacht,
seinen Neffen, den jungen Kurprinzen von Brandenburg, der als
der Große Kurfürst in der Geschichte fortlebt, zu seinem Nachfolger
58
zu machen, und noch Axel von Oxenstierna hat diese Idee erwogen.
Aber daß Schweden die Hegemonie in diesem germanisch-protestan-
tischen Reichsverbande des Nordens behalten und nicht etwa an
Brandenburg-Preußen abgeben müsse, war selbstverständlich für
König und Kanzler. Friedrich Wilhelm hätte, wenn sich ihre Pläne
hätten erfüllen lassen, so gut wie sein Vetter Karl Gustav von Zwei-
brücken, am Mälarsee residieren und von dort aus das Dominium
Maris baltici behaupten müssen. Doch waren das für Gustav Adolf
Sorgen der Zukunft. Noch stand er auf der Höhe des Lebens, und so
lange er von sich sagen durfte, daß er allein das Ruder führen könne,
dachte er eben nicht daran, es in andere Hände zu geben.
Wäre aber einem solchen Bundesstaat, oder wie man dies poli-
tische System nennen will, Dauer beschieden gewesen?
Die geistige Einheit dieses Machtgebildes war gewiß so groß oder eher
größer als zu jener Zeit, damals wenigstens, die der nationalen Monarchien
des Westens. Hier aber war nicht Schweden, sondern Deutschland
der gebende Teil. Wittenberg war das geistige Zentrum dieser Macht.
Von Thüringens Bergen und von den Ufern des Main bis hin zum
Nordkap und rund um die Ostsee herrschte seit hundert Jahren der
deutsche Glaube in seiner ursprünglichsten Gestalt. Hunderte von
deutschen Federn verkündigten noch immer die Gedanken des Doktor
Martinus; zu vielen Tausenden wurden die Erzeugnisse norddeutscher
Druckerpressen nach allen Ländern des Nordens verbreitet ; hin und
her wanderten zwischen deutschen und skandinavischen Universitäten
Professoren und Studenten ; deutsche Schreiber saßen in den Kanzleien
des schwedischen Königs; deutsch schrieb und sprach er selbst wie
seine Muttersprache, in deutscher Sprache hat er sein herrUches
GlaubensHed gedichtet, eine deutsche Fürstentochter war ihm als
Gemahhn angetraut, deutsche Knechte und Reiter füllten in Masse
seine Heere, deutsche Edelleute und Fürstensöhne befehHgten neben
schwedischen Kommandeuren seine Armeen und Regimenter.
Und dennoch, so müssen wir sagen, — es zeigte sich schon,
während Gustav Adolf noch im vollen Leben stand — ist sein Plan
nicht anders zu beurteilen als alle Versuche, den Frieden in unserer
Nation auf dem Grunde eines einzigen Bekenntnisses zu errichten.
Das Reich hätte er zerrissen. Denn niemals hätten sich der Kaiser
und die Liga die Rolle, die ihnen, wie ihrer ReHgion, eine solche Ord-
nung zuteilte, gefallen lassen. Doch wäre dies am Ende nicht das
59
Schlimmste gewesen, wenn nur der König sein Werk in dieser Be-
grenzung hätte halten können. Aber die Exulanten und alle Be-
drängten, die auf ihn harrten und hofften, waren ja gar nicht bloß
Norddeutsche; sondern gerade im Süden, in Baden und Württem-
berg, so auch in der Pfaffengasse am Main und am Rhein, in den
Erblanden des Kaisers selbst, in Oberösterreich, Steiermark und
Tirol, und vor allem in Böhmen und Mähren, dem Brandherd, auf
dem das Feuer des Krieges sich entzündet hatte, und wo die Gluten
unter der Asche noch brannten, warteten Hunderttausende Evange-
lischer auf den schwedischen König als ihren Befreier.
Er selbst wünschte sich nichts Besseres. Er werde, so hat er
einmal gesagt, nicht ruhen und rasten, bis er den Feind an der Gurgel
gepackt, bis er, wie er es ein andermal ausgedrückt hat, den Papisten
das Knie auf die Brust und den Degen an die Kehle gesetzt habe und
zu ihnen sprechen könne: so oder so macht nun Frieden! Noch lag,
wenn es so Gottes Wille war, ein langes Leben vor dem Helden, der
kaum das 37. Jahr überschritten hatte, als er im Feld vor Lützen,
nicht weit von dem Ort, wo er seinen größten Sieg erfochten, sich
zum zweitenmal dem General in den Weg stellte, der ihm allein noch
Widerstand zu leisten vermochte. Es scheint fast, als ob der König
geglaubt habe, damit schon die Palmen des Sieges gewinnen zu können,
die ihm jenen Frieden sichern würden. Da rief ihn sein Gott, dem
er sich auf Leben und Sterben angelobt hatte, in die ewige
Heimat.
Und damit war für unser Volk jede Hoffnung, seine Einheit auf
dem Grunde der tiefsten Lebensgemeinschaft aufzubauen, begraben.
Es gab fortan für die Glieder des Reiches keine andere Form des
Zusammenlebens als das Prinzip der Libertät, die Einschnürung in
die territorialen Grenzen. Ob der Friede auf solcher Grundlage schon
mögüch sei, das allein war die Frage, vor die sich die Nation nach
dem Tode Gustav Adolfs gestellt sah.
Der Mann, der sie bejahte, war kein Geringerer als der große
General, den Gustav Adolf nicht hatte besiegen können. So hat
WaUenstein selbst schon im Frühling 1633 zu böhmischen Exulanten
sich ausgesprochen, Agenten Oxenstiernas, die ihn auf seinem Schlosse
zu Gitschin aufsuchten, um ihn, bereits zum zweitenmal, mit der
böhmischen Krone zu ködern: man müsse, so erklärte er ihnen, die
Armeen zusammenführen und den erwünschten Frieden, den man
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dann in den Händen haben werde, machen, dem Kaiser und den
Pfaffen zum Trotz, den Katholischen und Evangelischen zu Gutem:
wofür der König die Waffen ergriffen habe, damit den Geängstigten
und Bedrängten geholfen würde, das wolle er mm auf sich nehmen;
nur das allgemeine Beste und die Herstellung der Verjagten liege
ihm am Herzen. In Wirklichkeit war es doch etwas ganz anderes,
was der Herzog plante, so ähnlich er seine Worte den Gedanken
seines Gegners stellen mochte. Nicht die Rolle Gustav Adolfs, sondern
die des Kurfürsten Moritz von Sachsen, des Verräters an der evange-
lischen Sache, war es, die der Friedländer durchzuführen hoffte. So
lange Gustav Adolf im Leben gestanden, war Wallenstein sein Feind
gewesen; denn für sie beide, das hatte er bald gemerkt, war im Reiche
kein Platz. Nun aber sah er niemand mehr, der ihm den Rang noch
streitig machen konnte. So wollte er denn auf seine Art Frieden
machen. Denn daß dies der Gedanke war, der allem, was er seit
Lützen unternommen, zugrunde lag, duldet keinen Zweifel. So hat
er es noch in den Tagen von Pilsen bekannt. »Fried, Fried!«, so hörte
damals Herzog Franz von Lauenburg, des Kurfürsten von Sachsen
Unterhändler, den von der Gicht auf das Lager gestreckten Schwer-
kranken stöhnen. Und noch auf dem Wege, der den Herzog nach
Eger führte, hat man Ähnliches von ihm gehört. Noch hatte er den
Gedanken nicht aufgegeben, die Armeen der Kriegführenden in seine
Hand zu bekommen: auf dem Sammelplatz vor Prag wollte er sie
zusammenbringen: nicht bloß die des Kaisers und der Liga, sondern
auch die Truppen Brandenburgs und Sachsens, ja selbst die Regimenter,
die Herzog Bernhard von Weimar unter den Schweden führte. Da
aber wird ihm gemeldet, daß auch der Oberst Beck, von dem er es
am wenigsten erwartet hat, zu den Gegnern übergegangen und also
der Weg nach Prag ihm selbst versperrt sei. Und nun entfährt ihm
ein Wort, das tiefer in sein Innerstes hineinleuchtet als alles, was
man sonst von ihm vernommen hat: »Ich hatte den Frieden in der
Hand — Gott ist gerecht.« In der Tat, wer hätte, wäre ihm
jener Plan geglückt, noch widerstehen, wer das eigene Los,
sei es des Glückes oder des Verderbens, anders als aus der Hand
des Herzogs erwarten und empfangen können ! Er hätte seine Freunde,
die Sachsen und die Brandenburger, und gewiß auch den Emestiner,
nicht unbelohnt gelassen; den Verjagten würde er die Rückkehr in
ihr Land, die Herstellung in ihre Güter verschaff t haben ; die Franzosen
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dachte er mit Geld abzufinden; die Schweden sollten sich mit poin-
merschen und mecklenburgischen Häfen begnügen; denn ihn selbst
gelüstete es nicht mehr nach dem Herzogshut im Reich. Rache
wollte er an dem Bayernfürsten nehmen, der ihm den größten Schimpf
seines Lebens angetan hatte ; dem hatte er das Verderben geschworen.
Was aber nahm er (denn er pflegte sich doch nicht zu vergessen) als seinen
eigenen »Recompens« in Anspruch, wenn er die Stellung an der Ost-
seeküste aufgeben wollte ? Und was hatte er mit dem Kaiser im
Sinn? Fragen, deren voUe Lösung wohl für alle Zeit unmöglich sein
wird — weil der Herzog selbst sich die Antwort erst von den Er-
eignissen hätte diktieren lassen. Daß aber die böhmische Krone,
mochte er es auch gelegentlich ableugnen, im Hintergrund seiner
Gedanken gestanden, läßt sich gar nicht verkennen ; und ebensowenig,
daß er dem Habsburger das Los des Bayernfürsten bereitet haben
würde, wenn jener sich geweigert hätte, den Frieden aus seiner
Hand und nach seinem Willen anzunehmen; er hätte ihn, wir wissen
es aus seinem eigenen Munde, wie einst Kurfürst Moritz den Kaiser
Karl V., bis in die Tiroler Berge gejagt.
So sah Ferdinand die eiserne Säule, die er in der höchsten Not
diesem Dämon des Krieges zum zweitenmal anvertraut hatte, wieder-
um auf sich zukommen. Ein Ausweichen war nun nicht mehr mög-
lich. Er mußte, koste es, was es wolle, sie in seine Hand bekommen —
oder sie würde ihn, und mit ihm Kurfürst Max, mit dem die gleiche
Not ihn längst wieder zusammengeführt hatte, zugleich zermalmen.
Und das ist diesem Habsburger geglückt — auf demselben Wege,
den Wallenstein gegen ihn vor Jahren beschritten, und den er niemals
ganz verlassen hatte: den Verräter fällte der Verrat.
Fortuna hatte von neuem die Lose geschüttelt, und das Todes-
los des Generals war das Glückslos seines Kaisers geworden. Denn
nun besaß und behielt Ferdinand für sich und sein Haus das In-
strument der Macht, das ihm der Untertan, der Kondottiere, in dem
Feuer des Krieges geschmiedet hatte. Was andere Monarchen in
offenem Kampf oder in mühsehger Friedensarbeit sich schufen,
brachte dem Habsburger die Mordtat von Eger.
Der erste große Lohn war der Sieg von Nördhngen, der Breiten-
feld wettmachte und den Kaiser zum Herrn in Süddeutschland
erhob, während der Witteisbacher fortan in die Nebenrolle gedrückt
war. Es folgte der Prager Friede, der den kaiserlichen Heeren auch
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Norddeutschland wieder öffnete; bis an die Küste, an die sie sich
noch gerade klammerten, sahen sich die Schweden zurückgedrängt.
Dennoch konnte Ferdinand, konnten auch die kathoHschen
Stände nicht mehr darauf rechnen, die Stellung, die sie in Lübeck
eingenommen, je wieder zu erlangen. Der Friede selbst bedeutete
für den Kaiser den Rücktritt von seiner kathoHschen Politik, um
derentwillen er zweimal mit Wallenstein gebrochen hatte. Er mußte
dessen Ideen gewissermaßen wieder aufnehmen; denn nur so gewann
er den Beitritt der beiden norddeutschen Kurfürsten zum Kriegs-
bund gegen Schweden. Es blieb immer das Gleiche: die Neutralisi-
rung der Religion war die Vorbedingung für den Frieden im Reich.
So kündigte sich in den Prager Traktaten bereits der allgemeine
Friede an, der nach dreizehn neuen Kriegs] ahren in Münster und
Osnabrück zustande kam — ein Friede der Erschöpfung.
IL
Mit Recht ist neuerdings darauf hingewiesen worden, daß die
landläufigen Schilderungen von den verderblichen Wirkungen, die
der 30 jährige Krieg für Deutschland hatte, in allzu dunklen Farben
gehalten sind; man gewinnt daraus fast die Vorstellung, als sei die
entfesselte Kriegsfurie volle 30 Jahre hindurch mit immer gleicher
Wut über unser Land hingefahren, als habe der Krieg nichts als
Trümmer, Verwüstung und sittliche Verwilderung hinterlassen^).
In Wirklichkeit läßt sich nördlich wie südlich vom Main keine einzige
Landschaft nennen, die unausgesetzt unter dem Druck des Krieges
gestanden hätte, und mehr als eine, die er niemals erreicht hat. Durch-
märsche und Einquartierungen waren freihch eine schwere Last,
und wohin Sedes belli gelegt wurde, folgten Mord und Brand auf
dem Fuße; wie ein fressendes Feuer fiel das fremde Kriegsvolk plün-
dernd und sengend über das schutzlose Land und seine Bewohner
her, Dörfer und Klöster gingen in Rauch auf, und die festen Häuser
auf dem Lande, die Mauern der kleineren Städte zerbrachen unter
dem Donner der Kanonen. Aber das Unwetter ging gewöhnlich so
schnell vorüber, wie es gekommen war; länger als ein paar Monate
wurde eine Landschaft selten heimgesucht. Mit den Schrecken des
heutigen Krieges, der ganze Provinzen zur Einöde macht, Millionen
^) Robert Hoeniger, Der Dreißigjährige Krieg und die deutsche Kultur,
Preuß. Jahrbücher, Bd. 138, Heft 3.
63
von Kriegern gegeneinander führt, Staaten und Nationen in den
Abgrund der Vernichtung reißt, läßt sich die Kriegführung jener
Zeiten nicht von ferne vergleichen. Von den großen deutschen Kom-
munen erlitt das einzige Magdeburg solches Schicksal, und der Brand,
der große Teile dieser Stadt in Asche legte, ist, wie man heute weiß,
nicht von den Siegern, Tilly oder Pappenheim, befohlen worden,,
sondern vermutlich mehr durch Zufall als absichtlich entstanden
und verbreitet. Auch war es vornehmlich das letzte Jahrzehnt, in
dem der Krieg diesen bösartigen Charakter trug. Gustav Adolf hielt
seine Heere in Zucht, und ebenso verstand es Wallenstein, der große
Orgaiüsator des Krieges, durch sein Kontributionssystem die Er-
haltung seiner Armee und die Konservierung des Landes, das sie
ernähren mußte, einigermaßen im Gleichgewicht zu erhalten. Auch
kann ein Land, das dreißig Jahre hindurch die Armeen aller Parteien
ertrug, dessen Söhne zu Tausenden unter allen Fahnen fochten, ja
den Hauptteil aller dieser Heere stellten, nicht so menschenarm ge-
wesen sein, wie es die landläufigen Vorstellungen wollen. Überwog
doch im letzten Jahrzehnt des Krieges die Kavallerie, die schon immer
die Hauptwaffe des Zeitalters gewesen war, die Infanterie oft sogar
zahlenmäßig! Woher aber hätte man die Pferde und alle Zufuhr
anders bekommen können als aus dem Lande selbst? Städte, wie
Nürnberg, Augsburg und Ulm, Straßburg und alle Rheinstädte, so
auch die Vororte der Hanse, Bremen, Hamburg und Lübeck, und
im Osten Danzig, haben nie einen Feind in ihren Mauern gesehen. Sie
durften sich nicht bloß auf ihre Politik, die zwischen den Parteien
vortreffHch zu lavieren verstand, verlassen, sondern auch auf ihre
starken Wälle, Gräben und Bastionen; und wenn Gustav Adolf bei
der Zusammenkunft mit König Christian in Ulfsbek meinte, daß man
sich vor den Herren in Hamburg und Lübeck nicht so sehr zu ängstigen
brauche, sein Geschütz werde ihre veralteten Befestigungen schon
zerbrechen, »man müsse es diese Speckhökers lehren«, so fand er
doch keine Gelegenheit, dies kecke Wort wahr zu machen; Christian
aber hatte sich, wieviel er gegen beide Städte auf dem Kerbholz hatte,
wohl gehütet, mit ihnen anzubinden; der Krieg flutete, als er auf die
jütische Halbinsel übergriff, mehrmals an ihren Mauern vorüber,
und Hamburg hat, als der große Umschlags- und Geldplatz des Nordens
von allen Parteien umworben, gerade im deutschen Krieg den Grund
zu seiner Stellung als größter Handelshafen des Kontinents gelegt..
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Von den hohen Ständen hat nur der Kaiser vom ersten bis zum letzten
Jcihr die Waffen in den Händen gehalten; Kurfürst Max von Bayern,
der bis ans Ende bei ihm aushielt, kam ihm doch erst im zweiten Jahr
des Krieges zur Hilfe. Kursachsen trat zu ihnen, als es sich die Lausitz
aus der Konkursmasse des Winterkönigs holen wollte; danach blieb
gerade Johann Georg dem immer weiter sich ausbreitenden Brande
fern, bis ihn 1631 Tillys Einfall in sein Land auf Gustav Adolfs Seite
hinüberdrängte. So suchte auch Georg Wilhelm von Brandenburg
seine Länder, so lange es irgend anging, aus dem Kriege heraus-
zuhalten und bei der ersten Gelegenheit wieder herauszukommen;
niemals waren diese beiden, wie übrigens die meisten ihrer Standes-
genossen, zuverlässige Freunde, sei es des Königs oder des Kaisers.
Am schwersten hatten es die Durchmarschgebiete, wie Thüringen,
auch Kurbrandenburg, um das das Kriegsgewitter seit dem Ein-
bruch der Mansfelder und der Wallensteiner sich immer von neuem
zusammenballte; noch nachdem er seinen Frieden mit den Schweden
gemacht, mußte Georg Wilhelms Sohn, der junge Kurfürst Friedrich
Wilhelm, ihnen die Straßen durch sein Land freigeben. Am aller-
besten kamen des Kaisers Erblande davon; seine Hauptstadt blieb,
so nah ihr zuweilen der Feind kam, immer verschont, und die Alpen-
länder, Steiermark, Kärnten, Tirol haben niemals feindliche Gäste
zu beherbergen gehabt.
H Übrigens war Deutschland ja nicht das einzige Land, das in dem
Jahrhundert der Reformationskriege dreißig Kriegsjahre durchzu-
machen hatte. Nahe an vier Jahrzehnte, und viel tiefer noch war ganz
Westeuropa zur Zeit der Hugenottenkriege von Krieg und Revolution
durchwühlt worden, und diese Kämpfe, eng ineinander verflochten,
erscheinen oft wie ein einziges Ringen um Sein und Nichtsein jener
Nationen. Sie setzten in dem neuen Jahrhundert nach kurzer Pause
wieder ein; und erst durch sie ward Deutschland, das sich bis dahin
nahezu freigehalten hatte, in den allgemeinen Brand hineingezogen.
Dreißig Jahre hatte, wie bemerkt, Schweden bereits Krieg geführt,
als Gustav Adolf an Pommerns Küste landete, und schon im siebenten
Jahr nach dem Westfälischen Frieden führte Karl X. Gustav abermals
ein schwedisches Heer auf den deutschen Boden hinüber und erfüllte
sich der ganze Norden von neuem mit dem Lärm der Waffen. Will
man aber etwa behaupten, daß das England Elisabeths und Crom-
wells, die Niederlande unter den Oraniern, oder das Frankreich Hein-
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richs IV., Richelieus und Mazarins unter der Last dieser Kriege zer-
drückt und erniedrigt worden seien? Es war vielmehr die Epoche,
in der diese Nationen zu ihrer welthistorischen Stellung, zu eigen-
artiger Größe und Bedeutung gelangten: Macht und Kultur ver-
einigten sich in ihnen zu engstem Bunde; die Waffen selbst machten
sie reich, führten den Aufschwung aller Künste und höchste geistige
Produktion herbei.
So wenig ist es wahr, daß nur der Friede ernährt. Auch Krieg
und Revolution können Kraft erzeugen; auf den Sieg allein kommt
es an und auf die Macht, die er schafft.
Der Sieg blieb unserer Nation versagt. Jedoch auch nur insoweit,
als sie eine politische Einheit war und sein woUte: das Reich, das sie
umschloß, brach fast in Stücke, fremdem Willen folgten die auseinander
gerissenen Teile, und es war den Zeitgenossen wohl, als müsse alles
Leben aus seinen Formen entweichen. Wer es aber wagte, sich seiner
Haut zu wehren, durfte noch hoffen. Es war eine Zeit für Helden-
größe und Helden hat es auch unter den Deutschen jener Tage ge-
geben. Der Starke oder auch nur der stark sein Wollende arbeitete
sich empor; der Schwache und mehr noch der Schwächhche ging zu-
grunde; dem Mutigen allein gehörte die Zukunft.
So ist der große Krieg auch für uns Deutsche ein Kraftsammler
geworden. Nicht für das alte Reich, das er vielmehr an den Rand
der Ohnmacht brachte: aber für seine Gheder, soviele in dieser Welt
des Kampfes sich zu behaupten die Macht und den Willen besaßen.
Nicht der Krieg der dreißig Jahre ist die entscheidende Krisis für
unsere Nation gewesen; er führte nur die Entwicklung weiter, die
unabwendbar geworden war, seitdem die im Bunde von Schmalkalden
vereinigten deutschen Protestanten — ■ damals noch vom Auslande
allein gelassen und im Rahmen des Reichsverbandes und seiner
Organe — den Krieg für ihr Bekenntnis gegen Kaiser und Papst
gewagt und verloren hatten; der Westfähsche Friede bestätigte und
ergänzte nur den Religionsfrieden von Augsburg.
Zu einer Lösung der deutschen Frage, zum Aufbau des nationalen
Staates war man auf diesem Wege, der nicht weiter als bis zur Zer-
störung des alten Reiches führen konnte, auch in Münster und Osna-
brück nicht gelangt. Es blieben die universalen Formen, in denen
die deutschen Stämme sich zum erstenmal zur Einheit der Nation
zusammengefunden hatten: das kathoUsche Kaisertum und, soweit
Lenz, Wille, Macht und Schicksal. 5
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CS noch anerkannt wurde, das Papsttum selbst ; es blieben die ältesten
Säulen des Reiches, die geistUchen Stifter in den altfränkischen Gauen
am Main und zu beiden Seiten des Rheinstroms. Geschlossen standen
sich am Reichstage zu Regensburg die katholischen und evange-
lischen Stände in Sonderkorporationen gegenüber. Auch war kein
Stand des Reiches stark genug, um bereits der Einheit des Bekennt-
nisses entraten zu können; wo es einmal geschah, erfolgte es unter
dem Druck der Verhältnisse, und wenn Andersgläubige in den Frieden
des Staates Aufnahme fanden, ward ihnen darum noch keine Teil-
nahme an den Organen seiner Macht gewährt. Je stärker aber der
Einzelstaat wurde, je mehr er sich auf sich selbst verlassen konnte,
und das waren vor allem die protestantischen Fürstenhäuser, um so
leichter wurde es ihm, fremde Kirchengemeinschaften in seinem
Machtbereich zu dulden und ihre Anhänger durch Schonung ihrer
religiösen Meinungen zu nützlichen Bürgern zu erziehen.
Es war nichts anderes, als was wir auch sonst innerhalb der abend-
ländischen Welt in dieser Epoche beobachten. Was sich für Frank-
reich und England als das Ergebnis der Kämpfe, die diese Monarchien
seit einem Jahrhundert bis in ihre Fundamente erschüttert hatten, he-
rausgestellt oder wenigstens angebahnt hatte, die Konsolidierung der
Staatsgewalt, ihre Unabhängigkeit gegenüber den inneren rehgiösen
Parteiungen, das ward in Deutschland wenigstens für die Glieder
des Reiches durch den großen Krieg erreicht oder doch ermöglicht;
je stärker sie wurden, je mehr sich ihre Eigengewalt auf autonome
Kräfte, auf Waffen und Steuern und auf eine straff geghederte Be-
amtenschaft gründete, je unabhängiger vom Reich und seinen alten,
hierarchisch bedingten Formen sie wurden, um so weniger sahen sie
sich gezwungen, zur Aufrechterhaltung ihrer kirchlichen Pohtik
nach auswärtigen Bundesgenossen des gleichen Bekenntnisses zu
suchen. Dadurch aber vollzog sich eine tiefgreifende Abwandlung
in der allgemeinen Konstellation: wie im Reich das Zeitalter der
Unionen und Ligen ablief, so im europäischen Staatensystem das
der staatszersetzenden konfessionellen Allianzen. Innerhalb der
Staaten bheb die Einheit der poHtischen und kirchlichen Gewalt,
die für Spanien und den Norden Europas, und so auch für die Staaten
Italiens schon im Beginn der Periode nach geringen Erschütterungen
bewahrt war, im wesentüchen erhcdten, und die völhge Säkularisierung
der Staatsgewalt wurde nirgends erreicht; auch bUeben die Sym-
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pathien zwischen den Bekenntnissen über die Landesgrenzen hinweg
noch lange lebendig: aber um diese zu zerbrechen, um die Staaten
selbst in ihre Kämpfe mit hineinzureißen, reichte ihre Kraft nicht
mehr aus; ihrer pohtischen Macht entkleidet, mußten die kirchhchen
Parteien froh sein, wenn sie innerhalb der Staaten ihren Einfluß be-
hielten oder auch nur von den Regierenden im Frieden gelassen wurden.
Nun ist es von Interesse, die Rückwirkung zu beobachten, welche
diese Entwicklung der europäischen Politik auf das Reich selbst aus-
übte. Statt, wie man denken sollte, durch die Erhebung seiner Glieder
zu souveränen, europäisch orientierten Staatswesen immer weiter in
den Hintergrund geschoben zu werden, umkleideten sich seine Formen
wie mit neuem Leben. Während Chemnitz, der im schwedischen Solde
schrieb, ihm den nahen Untergang prophezeit und fast gewünscht
hatte, und Pufendorf daran verzweifeln wollte, das wunderliche Ge-
bilde in irgendeiner Kategorie seines Staatsrechts unterzubringen,
behauptete sich dies »Corpus irreguläre tantum non monstro simile«
nicht nur in allen seinen Würden und Ehren, sondern es wurde gerade
jetzt mehr als je der Mittelpunkt, um den sich seine Glieder zusammen-
schlössen, wenn sie eine gemeinsame Front gegen seine Feinde bilden
wollten. Der Rheinbund, den Frankreich, dem Kaiser zum Trotz, zu-
sammenbrachte, dauerte doch nur wenige Jahre, und seine Mitglieder,
darunter die höchsten geistlichen Stände im Reiche, dachten darum
nicht daran, ihren Zusammenhang mit den alten Ordnungen zu lösen,
sondern sie stellten sich selbst wohl als ihre wahren Vertreter hin
und vindizierten dem fremden König, dem sie sich unterworfen hatten,
die Rolle eines Protektors der deutschen Freiheit; wie denn in der
Tat Ludwig XIV. zu dem Reichsheer, das dem Kaiser gegen die
Türken zuzog und ihm den Sieg bei St. Gotthard gewinnen half,
gleichsam als Reichsstand sein Kontingent zusandte. Wenige Jalire
später aber wurde, zum erstenmal wieder seit der Zeit Karls V., der
Reichskrieg gegen Frankreich selbst erklärt und sammelten sich am
Rhein und im Elsaß die Truppen aller Stände, um die Grenzlande
des Reiches gegen den Erbfeind des deutschen Namens zu verteidigen
und das verlorene Reichsgut wieder zu gewinnen. Immer noch, so
lange die Rehgionskriege währten, waren die Kämpfe mit den Türken
die kritischen Momente für die habsburgische PoHtik gewesen; zumal
6S
die deutsche Linie des Hauses war dadurch in dem Aufbau ihrer
Hausmacht wie in der Vormachtstellung im Reich in gleicher Weise
gefährdet worden. Nichts hatte das Emporkommen der Protestanten
in dem abgelaufenen Jahrhundert mehr gefördert als der Druck,
unter dem die Osmanen die kaiserhche Politik gehalten hatten; und
nur der Rückgang ihrer kriegerischen Kraft, der Verfall des Sultanats,
der zum Frieden von 1612 und fast zu ihrer Ausschaltung aus der ,
europäischen Pohtik führte, hatte es Ferdinand IL ermöglicht,
noch einmal sich an der Restitution der Kirche im Reich zu ver-
suchen. Wenn er aber die katholischen Stände hierin — unter manchen
Schwankungen freilich — auf seiner Seite gehabt hatte, so waren sie,
sobald es dem Feinde im Osten galt, niemals zu finden gewesen ; in der
Verweigerung der Türkenhilfe hatten sie es, zumal die Witteisbacher in
München, Habsburgs älteste Rivalen im Reich, den Protestierenden
womöghch zuvorgetan. Jetzt aber, in eben der Zeit, da unter dem
Vezirat der Köprilis der alte Offensivgeist des Islams in Konstanti-
nopel noch einmal erwacht war, wetteiferten die deutschen Stände,
und die Protestanten mehr fast als die Altgläubigen, dem in seinen
Erblanden bedrohten Kaiser zu Hilfe zu eilen, wie bei St. Gotthard,
so 1683 beim Entsatz von Wien und 1686 bei der Erstürmung von
Ofen. Niemals hat ein Kaiser willigere Reichsstände gehabt als dieser
»Leopoldus Magnus«, der unkriegerischste aller Kaiser, die je die Krone
Karls des Großen getragen hatten ; sie haben seinem Hause dazu ge-
holfen, das Ziel, das ihm, seitdem es in den Osten verpflanzt war, vor-
geschwebt hatte, den Aufbau der Donaumonarchie, endlich zu erreichen.
Aber auch dem Ausbau des Reiches selbst und seinen Organen
wandten nun die Stände mehr als je ihr Interesse zu. Und wieder
sehen wir dabei die Starken, ohne Unterschied des Bekenntnisses,
mit am Werke. Denn wie Habsburg die kaiserhche Würde und die
daran geknüpften Vorrechte für sich ausnutzte, so war es auch für die
Reichsstände vorteilhaft, sich eine führende Stellung in den Reichs-
kreisen zu sichern ; und die protestantischen Häuser mußten um so mehr
hierauf bedacht sein, als die beiden kathohschen Vormächte, Bayern
und Habsburg, durch ihre Verbindung mit der alten Kirche in den dem
Reich noch verbliebenen Stiftern ein natürliches Übergewicht besaßen.
So geschah es, daß der Westfälische Friede, obschon er im Grund-
gedanken mit dem Religionsfrieden von Augsburg übereinkam und
in der Tat zur Auflösung des Reiches geführt hat, zunächst ein Band
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ward, das der ganzen Nation teuer wurde. Deutschland blieb die
Arena, in der die deutschen Stände, deren Souveränität darin anerkannt
war, und die damit zu vollberechtigten Gliedern der europäischen
Staatenfamilien wurden, ihre Machtkämpfe miteinander ausfochten;
aber der Umsturz der Reichsverfassung lag nicht mehr in ihrem
Interesse. Man sah in dem Friedensinstrument von Osnabrück das
Grundgesetz der deutschen Freiheit und in den Ordnungen des Reiches,
des Corps germanique, wie es bald in der Sprache der europäischen
Diplomatie hieß, das Fundament der nationalen Existenz. Ein
Reichspatriotismus, ein Gemeingefühl bildete sich aus, das sich aus
der Sphäre der hohen Politik auch auf die abhängigen, die regierten
Kreise der Nation ausbreitete und eine unserm Volke bis dahin un-
bekannte Atmosphäre des Behagens schuf, die für die deutsche Kultur
des i8. Jahrhunderts die Vorbedingung und für alle ihre geistigen
Hervorbringungen von einer nicht zu ermessenden Bedeutung ge-
worden ist. Alle Erschütterungen, von denen das Reich in den kom-
menden Generationen heimgesucht wurde, das Gegenkaisertum des
Witteisbachers Karl VII., der siebenjährige Reichskrieg gegen den
mächtigsten Stand des Reiches, alle Machtkämpfe der großen Staaten
Europas, die Deutschland immer wieder zu dem allgemeinen Schlacht-
felde machten, ließen die Verfassung des Reiches bestehen. Derselbe
Fürst, der als Rebell gegen Kaiser und Reich der Acht und Aberacht
verfallen war, hat am Ende seiner glorreichen Regierung den Fürsten-
bund zusammengebracht, der, angeblich auf den Grundlinien des
Schmalkaldischen Bundes, die deutsche »Freiheit« gegen Habsburgs
Dominatsgelüste zu erhalten bestimmt war. Die Nation aber war
ihm dafür nur dankbar; denn nicht seine Siege über Österreich und
dessen Verbündete haben Friedrich dem Großen die deutschen Herzen,
die er dadurch eher abstieß, gewonnen, sondern eben jener Bund,
der nicht die nationale Reform bringen, sondern die Ohnmacht des
Reiches konservieren wollte. Aus dieser Stimmung heraus konnte
ein Justus Moser, in dem die nationale Geschichtsschreibung des
neunzehnten Jahrhunderts fast ihren Anfänger und Begründer hat
sehen wollen, in jenen Jahren den Gedanken an eine deutsche Reichs-
geschichte fassen, die mit der Reichsreform von 1495, »dieser großen
und glücklichen Konföderation«, welche unter dem Namen des Ma-
ximiHanischen Landfriedens bekannt sei, anfangen und von da ab
in der ganzen deutschen Geschichte, »in allen vorfallenden Reichs-
70
handlungen«, das Ziel einer immer vollkommeneren Konföderation
nachweisen müsse: sich mit vereinten Kräften jedem auswärtigen
Angriff und jeder innerlichen Zerrüttung zu widersetzen.
Alle diese Verhältnisse muß man sich vor Augen halten, wenn
man die Stellung Schwedens zu Deutschland nach dem Dreißig-
jährigen Kriege verstehen will. Für den Staat Gustav Adolfs bedeutete
der Westfälische Friede, der, wie gesagt, nur das Werk des Prager
Friedens fortführte, eine Schranke, die ihm den Einfluß auf die
deutschen Geschicke mehr und mehr verwehrte. Wie hätten die
schwedischen Staatsmänner jetzt noch daran denken können, einen
Bund mit den deutschen Protestanten zustande zu bringen, der
das Reich zerrütten und zerreißen mußte! Karl X. Gustav, der es
versuchte, konnte sich als Staatsmann wie als Feldherr mit seinem
großen Vorgänger vielleicht messen. Es war echte Wasapolitik,
wenn er seine stürmische Laufbahn mit dem Feldzuge gegen Polen
begann; wie ja auch Gustav Adolf sich zuerst im Osten, in seinen
Kriegsfahrten gegen die sla vischen Reiche, Luft gemacht hatte, bevor
er an das eigentliche Ziel, den Kampf contra domum Austriacum,
heranging. Und es war wiederum ganz im Geiste des königlichen
Glaubenshelden, wenn auch Karl Gustav, der Sproß eines altprotestan-
tischen deutschen Fürstenhauses, sobald er an der Weichsel Fuß
gefaßt hatte, das Bistum Ermland säkularisierte und die Jesuiten
aus dem Lande trieb. Wenn er aber gemeint hatte, Friedrich Wilhelm
\-on Brandenburg ebenso leicht hinter sich her ziehen zu können,
wie es Gustav Adolf mit dem Vater gemacht hatte, so sollte er bald
eines besseren belehrt werden. Er selbst sah sich genötigt, als er ins
Gedränge geriet, jenen um Hilfe anzugehen; und der Sieg, den er
dann auf den Feldern vor Warschau gewann, der größte Erfolg, den
der Kriegsgewohnte bisher davongetragen, mußte er mit dem jungen
Vetter, der noch niemals im Kampf gestanden hatte, teilen; statt,
wie er gehofft, der Kette, die Schwedens großer König um die Ostsee
gelegt, ein neues GHed einzufügen, mußte er, nur um des Branden-
burgers Hilfe sich zu sichern, ihm weiteren Anteil an dem Dominium
maris baltici versprechen. Wieder, wie vor dreißig Jahren, griff nun
der Kaiser in die Verhältnisse des Nordens ein, diesmal aber getrennt
und unabhängig von der spanischen Linie seines Hauses und dafür
71
Seite an Seite mit der jungen Vormacht des norddeutschen Pro-
testantismus. Nichts wollte fortan dem König mehr glücken. Auch
den Sieg, den er in schnellem Ansturm über die Dänen gewann, ver-
darben ihm die Feinde. Sie entrissen ihm die Außen werke in Pommern
und Preußen; sie folgten ihm auf die dänischen Inseln, zerschlugen
ihm Heer und Flotte; von allen Freunden verlassen, von der Über-
macht der Gegner umdrängt, der eigenen Stände nicht mehr sicher,
sank der tapfere Kriegsmann ins Grab, bevor noch sein Land den
Frieden erkauft hatte. Einen Frieden, der Schweden alles zurückgab,
was es vor dem Kriege besessen hatte, der aber trotzdem ein Akt
schwerer Demütigung und die Aussaat neuer Niederlagen war. Deim
es verdankte ihn aUein der Dazwischenkunft Frankreichs, derselben
Macht, die einst am Rhein vor Gustav Adolf zurückgewichen war;
und es zog sich dadurch den unversöhnlichen Haß des deutschen
Fürsten zu, dem es seit dem großen Kriege Pommern vorenthalten
hatte, und der sich nun zum zweitenmal um sein Erbe betrogen sah.
Dies war die entscheidende Krisis für die baltische Großmacht. Seit-
dem war Schweden nicht mehr Herr seiner Politik. Schon als Mitglied
der Tripleallianz, die Ludwig XIV. im Verlauf des Devolutions-
krieges den Weg verstellte, bheb es hinter England und Holland
zurück. Halb gezwungen folgte es ein paar Jahre später dem fran-
zösischen König in den Krieg, den dieser durch den Überfall Hollands
entfesselt hatte, und der die schwedischen Waffen auf das Schlacht-
feld von FehrbelHn führte, zu der größten Niederlage, die es seit
Nördlingen erlitten. Wenn es aber damals die evangelische Sache
im Reich gegen die vereinigte Macht Habsburgs und der kathoHschen
Stände verteidigt hatte, so mußte es jetzt dem Stoß der einen pro-
testantischen Territorialmacht erhegen: als Vorkämpfer des Reiches,
jedoch ganz aus eigener Kraft, trieb der große Kurfürst, wie die Zeit-
genossen den Brandenburger von da ab nannten, die Geschlagenen vor
sich her; von Stralsund bis Riga verloren sie alle ihre Besitzungen jen-
seits der See, und nur aus Frankreichs Händen, das seine Vasallen
nicht im Stich lassen durfte, erhielten sie dieselben zum zweiten
Mal zurück.
»Es ist das Königreich Schweden bei dem jüngsten Kriege der-
gestalt erschüttert und an Kräften ausgesogen worden, daß es, eben
wie ein Körper nach ausgestandener gefährhcher Krankheit, eine
Stütze und Diät nötig hat, im Fall es nicht in eine Recidiv geraten
72
und der gänzlichen Destruction gewärtig sein will«, so lesen wir in
einem »Bedenken über den Zustand des Königreichs Schweden«, das
ein schwedischer Staatsmann und doch ein Deutscher, kein Geringerer
als Esaias Pufendorf, des großen Samuel Bruder, ein paar Jahre
nach dem Frieden von St. Germain dem König Karl XI. eingereicht
hat^). Mit kältester Überlegung, unberührt durch irgendwelche nationale
oder rehgiöse Sentimentalitäten, stellt er dem Staate seiner Wahl
das Horoskop. Die Gefahren sieht er nicht auf Seiten der alten Gegner
Schwedens. Der Kaiser, der Bayer und selbst der Pole würden eher
für als gegen Schweden sein. Zu trauen ist freilich keinem von ihnen.
An Höflichkeit werden die »Herren Oesterreicher« vermutlich gar
nicht sparsam sein, sondern mit vielen Worten bezeugen, daß die
Freundschaft der Krone Schweden ihnen lieb und angenehm sei;
aber darüber hinaus werden sie nicht gehen ; ihnen wird es genug sein,
wenn sie Schweden von Frankreich abziehen können. Nicht anders
ist Hollands Wohlwollen für Schweden einzuschätzen; sein Interesse
ist es, die Kräfte ZNvischen Schweden, Dänemark und Brandenburg
so verteilt zu erhalten, daß sie einander die Wage halten, »damit bei kon-
tinuierender Jalousie solcher drei Nachbarn Holland seinen Ostsee-
handel, alswelcher die rechte Mutter aller Commercien ist, den an selbiger
See wohnenden Nationen zum höchsten Präjudiz ungehindert exerzieren
und dadurch Mittel haben könne, andere impune zu insultieren und
Monarchiam Commerciorum zu behaupten«. Und so im ganzen
Umkreis des europäischen Horizontes. Mit England muß die Krone
Schweden Freundschaft halten und »selbige Nation karessieren,
eben wie von ethchen Indianern geschrieben wird, daß sie den Teufel
anbeten, damit er nicht schade«, aber einen reellen Nutzen, Vor-
schub oder Hilfe wird man von dorther niemals erwarten dürfen.
Spanien bedarf selbst anderer Leute Hilfe ; auch wäre ihm wenig daran
gelegen, ob die Ketzer im Norden wohl oder übel fahren und ein halb
Dutzend Provinzen mehr oder minder besitzen. Die Schweiz hat schon
geraume Zeit auf dem europäischen Theater eine servilische Figur ge-
macht ; in Italien wird niemand für Schweden ein Interesse haben, wie
auch von Portugal nur ein allgemeines Wohlwollen zu erwarten ist.
*) Dr. Bruno Schirrmacher hat sich das Verdienst erworben, dies
hochinteressante Schriftstück, das er unter den Manuskripten der Rostocker
Universitätsbibliothek ausfindig gemacht hat, herauszugeben (in einem Pro-
gramm der Realschul^ vor dem Lübecker Tor zu Hamburg, 1907).
73
Frankreich allein war die Macht, auf die Esaias Pufendorf
für Schweden rechnen zu können glaubte. Es war das Frank-
reich Ludwigs XIV., das sich im Jahr zuvor Straßburgs bemächtigt
hatte; die Monarchie, die schon jetzt am ganzen Rheinstrom mächtig
geworden war, mit der nicht bloß die drei geisthchen Kurfürsten,
sondern auch Dänemark und Brandenburg, Münster und der Hof
von Celle verbunden waren: nur durch die Eingliederung in diese
Allianz meinte der Bremische Kanzler die schwedische Krone vor
ihren Feinden, die dadurch selbst gefesselt würden, sichern zu können.
Es war der Verzicht auf eine eigene Pohtik, die Abdankung als Groß-
macht, die freiwillige Gleichstellung mit den deutschen Ständen,
welche Gustav Adolf vor fünfzig Jahren unter den Dominat Schwedens
gebeugt hatte. Nicht für immer nach der Meinung des Kanzlers;
denn der Sinn seines Ratschlages ging gerade dahin, den Staat so
stark zu machen, daß er seiner Außenwerke an den deutschen und
baltischen Küsten wieder sicherer werden, seine Stellung als die Groß-
macht des Nordens behaupten könne. Aber für den Moment wußte
er für Schweden keinen andern Ausweg, als daß es sich, wie er schreibt,
»auf sein innerlich restabhssement mit ganzen Kräften apphziere«.
Mit der Vasallenschaft unter Frankreich wollte er der Krone die
Ruhe jähre erkaufen, deren sie für die inneren Reformen bedurfte.
Aber das eine war bereits so unmöglich wie das andere. Die
Basis, auf der Gustav Adolfs Macht geruht hatte, war geborsten.
Was dem Kurfürsten von Brandenburg unter dem Druck äußerer
Not, im Kampf um die Existenz seines Hauses gelang, die Nieder-
zwingung des ständischen Eigenwillens, die Aufrichtung der absoluten
Monarchie, mißglückte den Nachfolgern des großen Königs. Das
Band, das Gustav Adolf um Krone und Stände Schwedens geschlungen
hatte, zerriß; statt gemeinsam mit ihrem König die Aufgabe, die
das Schicksal der Nation gestellt hatte, zu tragen, benutzten Schwedens
vornehme Geschlechter ihre sozialen und politischen Vorrechte, imi
dem Träger der Krone die Macht im Staate streitig zu machen. So
ward Schwedens Kraft gelähmt in derselben Zeit, da jene »drei un-
versöhnlichen und anjetzo formidablen Nachbarn« ihre Macht auf
dem gerade entgegengesetzten Prinzip aufbauten.
Das Bekenntnis aber, das wie nichts anderes zur Unterbauung
der schwedischen Großmacht gedient, hatte diese Kraft eingebüßt,
seitdem durch die Konsolidierung der staathchen Gewalten, von
74
der wir sprachen, die Religion als Energiequelle aus der internationalen
Politik mehr oder weniger ausgeschaltet war. Es konnte für Schweden
um so weniger bedeuten, als jede Gegenwirkung von München und
Wien her, wie sie vor fünfzig Jahren gedroht hatte, bereits fehlte.
Niemals war die Einheit des baltischen Kulturkreises inniger und
fester gewesen als in der Epoche, da die beiden Pufendorf, Sachsen
von Geburt, der eine als Staatsmann, der andere als Professor und
Historiograph, der schwedischen Krone dienten — um ihre
Laufbahn bei zweien unter den drei Erbfeinden Schwedens abzu-
schUeßen, Esaias am Hof von Kopenhagen und Samuel in Berhn,
als Historiograph desselben Fürsten, der Schwedens Macht bis auf
den Grund erschüttert hatte. So wenig empfand man in diesen Be-
reichen die nationalen Gegensätze. Die politischen freilich um so
mehr: wenigstens in den Kreisen, die überhaupt Anteil und Interesse
am Staate nahmen; während die auf dem Boden der lutherischen
Religiosität erwachsene Kulturgemeinschaft auch in der Politik alle
Gegensätze ausgUch und überdauerte.
Ein Stück der schwedischen Machtstellung gab es dennoch,
das von ernstesten religiösen und nationalen Gefahren bedroht war,
und dies um so mehr, als es selbst von nationalen Gegensätzen nicht
frei war — das waren die Provinzen nördlich und südlich vom Fin-
nischen Meerbusen, von der Memel bis hinauf zum Eismeer. Nur
der Krieg gegen die ottomanische Pforte und der Kampf mit den
Kosaken um die Ukraine, so urteilte der Bremische Kanzler, habe
den Zaren, der schon im Nordischen Kriege das gleiche gewollt,
davon abgehalten, Ingermanland und Livland anzugreifen und sich
an der Ostsee einen festen Fuß zu schaffen: man dürfe aber nicht
denken, daß er seinen Haß und seine Rachgier gegen Schweden ab-
gelegt habe; sobald er den Frieden mit der Pforte erreicht und die
inneren Unruhen gestillt habe, werde er ihm auf den Hals fallen;
und dies würde ihm dann um so leichter sein, »wenn unterdessen
die in den an Rußland grenzenden Provinzien wohnenden Unter-
tanen nicht genugsam encouragieret werden sollten, sowohl die Kultur
der Länder als ihre Affection gegen die Krone zu kontinuieren und
diesem grausamen Feind sich mit Gut und Blut entgegenzusetzen«.
König Karl XL wünschte sich in der Tat nichts Lieberes. Aber der
Widerstand der baltischen Barone war noch stärker als der seines
einheimischen Adels. Sie hatten keinen andern Gedanken als ihren
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Besitz und ihre soziale Vormachtstellung zu behaupten, und vergaßen
darüber, was sie dem Lande, das ihre Vorfahren der deutschen Kultur
unterworfen hatten, und der Zukunft ihrer Nation schuldig waren.
Schon aber ließ eine neue Abwandlung der europäischen PoUtik
der schwedischen Krone keine Zeit mehr für innere Reformen; und
wiederum blieb ihr nichts anderes übrig als dem Strom, der sich diesmal
gegen Frankreich richtete, zu folgen; sie mußte der neuen Koalition
gegen die Macht beitreten, die sie zweimal vor der Überwältigung
durch eben die Reichsstände gerettet hatte, mit denen sie nun Schulter
an Schulter stehen mußte. Die Früchte, die sie in dem Frieden von
Ryswik davontrug, entsprachen solcher Rolle; sie konnte nur gerade
noch ihre Stellung behaupten. Die Erneuerung der europäischen
Krisis, die in dem spanischen Erbfolgekrieg ihren Höhepunkt er-
reichte, befreite Schweden endlich von dem Druck, unter den es seit
dem Frieden von Oliva geraten war. Indem die Konflagration ihr
Zentrum in dem Süden und Westen des Erdteils fand und zu dem
Kampf um die Herrschaft über das Mittelmeer und die Ozeane sich
auswuchs, bUeb die nordische Welt sich selbst überlassen; mitten
durch Deutschland, über dem die Flammen des allgemeinen Brandes
seit drei Generationen jedesmal am stärksten zusammengeflossen
waren, ging jetzt die Linie, über die das Kriegsfeuer, so weit es vom
Westen her um sich fraß, nicht hinausgriff. Selbst der Sohn und
Nachfolger des großen Kurfürsten wandte, von dem Glanz der Königs-
krone geblendet, seine Augen von Pommern ab und ließ seine Re-
gimenter den kaiserhchen Fahnen folgen. Und so wagte Schwedens
jimger König, der soeben, nach der an Enttäuschungen überreichen
Regierung Karls XL, den Thron bestiegen hatte, es noch einmal,
um das Dominium maris baltici zu kämpfen.
Die Politik Karls XH. hat von jeher eine sehr entgegengesetzte
Beurteilung gefunden, und mehr noch als der Entschluß zu dem
Kriege, der Schwedens Machtstellung endgültig zerbrach, ihre Durch-
führung und die PersönUchkeit des jungen Herrschers selbst; was die
einen verdammten, haben andere gerechtfertigt oder gar bewundert.
Wir wollen uns solcher Urteile, sei es des Besserwissens oder der
Zustimmung, enthalten: genug, wenn wir das Bild des Kampfes-
frohen so festhalten, wie er uns im Ringen mit dem Schicksal entgegen-
tritt. Denn das ist doch der Kern der Dinge und die Tragik in diesem
Heldenleben, daß der Kampf, den Karl führte, unvermeidlich, und
76
der Sieg, das Ziel, das er erstrebte, dennoch nicht zu erreichen war.
Auch dann nicht, wenn die Sterne günstiger gestanden hätten und das
Schlachtenglück ihm treu gebheben wäre, wenn er etwa die Feinde
getrennt und seinem Lande noch einmal einen Frieden von OHva
erworben hätte ; es wäre doch nur eine Pause gewesen in dem Niedergang
der Macht, die seine Vorfahren aufgebaut hatten. Das Schicksal
Schwedens als der nordischen Großmacht war längst entschieden,
die Uhr war abgelaufen; ein Mehr oder Weniger an Klugheit oder
Glück, Trotz oder Wagemut konnte das Ende, das unabwendbar
war, nur um ein kleines beschleunigen oder aufhalten. Nicht in
persönlichen Momenten lagen die Gründe, sondern in der Abwandlung
der eiuropäischen Konstellation, in ihrer Erweiterung nach dem Osten
wie im Westen und Süden, und in der damit gegebenen Verdrängung
alter und dem Emporkommen neuer Mächte. Dann aber muß uns
der Anblick dieses Recken, der, gleich dem Vorfahr, das Schicksal nicht
erwarten will, sondern ihm entgegengeht, kühn, ja verwegen, in unbän-
digem Trotz, hart, wie das Granitgestein seiner Heimat, in der Tat zur
Bewunderung hinreißen, und das Wort unseres Dichters drängt sich uns
auf die Lippen: »Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt!« So hat ihn
Ranke aufgefaßt, wenn er ihn seinem Rivalen, dem Zaren, den Ger-
manen dem Slaven, gegenüberstellt, in dem Moment, da er auf den
Kampfplatz tritt: »großgesinnt und einfach, ohne Flecken in seinem
Lebenswandel, ganz ein Held, wahr in seinen Worten, kühn in seinem Vor-
nehmen, gottesf ürchtig, hartnäckig bis zum Eigensinn, unerschütterlich «.
Indem nun aber die barbarische Macht des Ostens sich in den
germanisch-protestantischen Kulturkreis hineindrängte und die Herr-
schaft im Norden mit einem Schlage an sich zu reißen drohte, lag auch
das deutsche Schicksal auf der Wagschale. Würde sich — das war
die weltgeschichtliche Frage, vor die sich unser Volk nun gestellt
sah — auf deutschem Boden eine Großmacht entwickeln, stark genug,
lun europäische Pohtik zu treiben, unbekümmert, wie der Staat der
Wasas, um Kaiser und Reich ? Eine Macht, die, genährt aus deutschen
Elementen, doch einer Anlehnung an die Reichsgenossen und die
Reichsformen nicht mehr bedurfte? Die gerade durch diese Un-
gebundenheit fähig wurde, sich neben die europäischen Mächte zu
stellen, für oder gegen sie auf der eigenen Kraft zu ruhen ? Und die
eben dadurch imstande war, alle widerstrebenden Gewalten in der
Nation unter sich zu beugen, im Reiche selbst sich auszubreiten und
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so am Ende das zu erreichen, woran die alten Verbände, die Unionen
und Ligen, die uns die Fremden ins Land gebracht hatten, immer
gescheitert waren: eine ihrem Geist und Willen entsprechende Form
an Stelle der verfallenen Reichsordnung zu setzen ? Für Habsburg
war dies von jeher unmöglich gewesen; oder es hätte sich selbst auf-
geben müssen. War dies Haus doch gerade dadurch in die Höhe ge-
kommen, daß es die Formen des Reichsrechts für sich ausgenutzt
hatte! So hatte es schon König Rudolf gemacht bei der Erwerbung
der Südostmarken und der Ansprüche auf Böhmen, so seine Nach-
kommen bei ihrer Verbindung mit Burgund und Spanien; so hatte
Ferdinand IL die tief erschütterte Macht der Dynastie in Böhmen
wieder aufbauen können; so wurden Leopoldus Magnus und seine
Nachfolger Herren in Ungarn, Siebenbürgen und Kroatien; und so
sicherte danach Maria Theresia, indem sie ihre Hand dem Lothringer
reichte und damit die Kaiserki^one ihrem Hause erhielt, von neuem
auch das Erbe ihrer Vorfahren. Nur im Reiche selbst hatte das Ge-
schlecht die Gewalt niemals erlangen können, die seinen Traditionen
und dem Geiste seiner PoUtik entsprach; sein Einfluß reichte dort
immer nur so weit, als es die Formen des Reichsrechts für sich in
Anspruch nehmen konnte; und so war es immer wieder gezwungen
gewesen, sich für sie einzusetzen und sie zu konservieren. Jeder
Versuch, sie zu beseitigen oder zu verfälschen, war stets auf einen
nicht zu besiegenden Widerstand gestoßen ; wie auch die Reichsstände
zueinander stehen mochten, gegen die Aufrichtung eines habsburgischen
Dominats im Reich hatten sie sich allezeit zusammengefunden. Nie-
mals, so sahen wir, war diese Gefahr höher gestiegen als in dem Moment,
da die vereinigte Offensive Ferdinands und der Liga die Küsten der
Nord- und Ostsee erreicht hatte. Und gerade da war der Kaiser, und
nicht erst durch die Erhebung Schwedens, sondern schon auf dem
Kurfürstentage in Regensburg, durch den Abfall der katholischen
Stände ^unter Führung des bayerischen Rivalen, von dem Ziel, das
er nahezu vor Augen sah, aufs weiteste abgetrieben worden. Danach
aber führten wiederum die Siege, die der Habsburgischen Monarchie
die , Wege nach dem Balkan und Italien öffneten, dahin, daß sich
ihr Zusammenhang mit dem Körper der Nation immer weiter lockerte
und ihr antinationaler Charakter immer deutlicher an das Licht trat.
Und so wuchs die norddeutsche protestantische Macht, wuchs
Brandenburg-Preußen in die Stellung hinein, welche vom Genius
78
der Nation gefordert wurde. Mehr noch, wie wir sagen müssen, durch
die Gunst der Lage und des Geschickes als durch die Kraft seiner
Herrscher, Auch diese aber haben nicht gefehlt, Männer, welche die
Gelegenheit zu benutzen, den Zufall zum Zwecke zu gestalten wußten:
Genius und Glück haben, wie es noch immer in den Epochezeiten der
Weltent Wicklung war, zusammenwirken müssen, um Hohenzollern
groß zu machen und alle Segensmächte der Nation um Preußens
Thron zu versammeln.
Werfen wir von hier aus noch einmal den Blick auf die Bilder-
folge, die wir in raschem Fluge an uns vorübergleiten heßen, und
stellen wir ihr die Gegenwart gegenüber, so entschleiert sich uns
der Zusammenhang der Zeiten, und wir umfassen wie mit einem Bhck
alles, was uns mit jener Epoche verbindet und was uns von ihr scheidet.
Nichts muß danach abwegiger erscheinen als die Auffassung, daß
der nationale Staat für uns auf immer verloren gewesen wäre, wenn
Gustav Adolf sein Ziel, die Niederwerfung des Hauses Habsburg und
die Errichtung eines um die Ostsee gelagerten evangelischen Staaten-
bundes unter der Hegemonie der schwedischen Krone, erreicht hätte.
Vielmehr, wenn es wahr ist, daß Bismarcks Reich auf den preußischen
Substruktionen ruhte, Preußen selbst aber auf den Ideen der Re-
formation aufgebaut war, daß diese ihm die morahschen Energien
verheben hat, die es zu seiner Stellung in der Welt, zur Niederzwingung
Habsburgs und zur Hegemonie in Deutschland stark machten, so
wird, wenn einer, Gustav Adolf mit unter den Vätern des Reiches
genannt werden müssen. Und insofern ist der große Kurfürst, den
der König selbst zu seinem Nachfolger hatte machen wollen, in Wahr-
heit sein Erbe geworden. Aber wir sahen ja, daß Friedrich Wilhelm,
wie in dem Feldzug von Fehrbellin, so schon im nordischen Kriege
den Kaiser zur Seite und das Reich im Rücken hatte, und daß er,
ein wie guter Protestant er war, dennoch nie daran gedacht hat, den
reügiösen Zwiespalt im Reiche zu erneuern: daß der Westfälische
Friede die Basis seines politischen Systems war. So aber ist es ge-
blieben, nicht bloß so lange das alte Reich noch bestand, sondern
auch zu den Zeiten des Deutschen Bundes. Ja, mehr noch — Bismarck
selbst hat sein Reich auf diesem Boden errichtet. Der Grundgedanke
jenes Friedens, die Libertät der Stände, war auch der seine: die
Territorialstaaten, Fürstenhäuser und Stadtrepubliken, soviele sich
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durch den Zeitensturm hindurchgerettet hatten, bUeben die Pfeiler, auf
denen sein Bau ruhte. Wohl ist der Schöpfer des neuen Deutschlands
sich des Zusammenhanges seines Werkes mit dem Geiste der Re-
formation stets bewußt gewesen, weit mehr als alle Liberalen, welche
die Führung der Nation auf dem Wege zur Einheit an sich zu reißen
versucht hatten; daß in Rom die Existenz Preußens noch immer als
ein »ketzerischer Mißbrauch« betrachtet wurde, lesen wir bereits in
einem seiner Berichte vom Bundestage in Frankfurt, Auch war
ihm niemals verborgen, daß die kathohsche Partei im Grimde ihres
Herzens den legitimen Sitz ihres Deutschlands noch inmier in Wien
erblickte. Wenn er gleichwohl mit diesen stärksten und unversöhn-
lichen Gegnern eines evangelischen Deutschlands Frieden geschlossen,
ja zu Zeiten, so noch am Ende seiner Regierung, den Bund mit ihnen
gesucht hat, so gehorchte er nur der Notwendigkeit, in der er allezeit
seine Herrin sah! Aber er hielt trotz allem an der Hoffnung fest,
daß der Geist, in dem er das Reich gegründet, sein Volk mit der Zeit
zu einem Ausgleich der miteinander ringenden Kräfte drängen und
führen werde, eben weil er an Preußens Macht und an die moralischen
Energien, die in ihr lebten, glaubte.
Wie aber in Bismarcks pohtischem System alles aus einer Wurzel
entsprossen ist, eins das andere stützt und jedes einzelne zmn Ganzen
strebt, so bemerken wir auch in seiner auswärtigen PoHtik Analogien
zu der Wendung, welche die deutschen Geschicke seit dem Tode
Gustav Adolfs, oder wenn man will seit Nördlingen, genommen
haben. Wenn er das Haus Habsburg aus seiner hegemonialen Stellung
ausstieß, so trat er nach dem Siege doch wieder in ein ähiüiches Ver-
hältnis zu ihm, wie wir es auch bei dem großen Kurfürsten wahr-
nahmen. Gleich diesem wahrte er dem russischen Koloß gegenüber
eine freundhche, jedoch der eigenen Macht bewußte Haltimg und
zeigte sich stets bemüht, das Band, wo es sich einmal gelockert
hatte, neu zu knüpfen ; während er Frankreich in die Stellung zurück-
warf, in der Gustav Adolf es noch festgehalten, die es aber nach
seinem Tode sofort durchbrochen hatte. Als aber das Zartum, po-
pulären Stimmungen, denen Bismarck stets, nach außen wie im
Innern, den staatlichen Willen entgegenstellte, nachgebend, die
österreichische Monarchie mit der Zerstörung bedrohte, bot der
Kanzler dieser seinen Schutz an; so etwa, wie brandenburgische oder
andere reichsständische Hilfstruppen dem Kaiser Leopoldus gegen
80
die Türken zugezogen waren. Daß er sich dennoch niemals einer
Pohtik verschrieben haben würde, die ihn und die Nation den Zielen
des habsburgischen Ehrgeizes unterworfen hätte, bedarf bei einem
Staatsmann, der, wo immer er stand, Herr seiner Entschlüsse blieb,
keines Wortes.
Dem entsprach Bismarcks Haltung in den nordischen Fragen.
Über die Linie, die er hier im Kampf um die Einheit der Nation er-
reicht hatte, ging er nicht hinaus: seiner eigenen Küsten und ihrer
Gewässer war nun Deutschland, nach der Wiedergewinnung der
Nordmark, vöUig Herr, seine Flüsse, einst »fremder Nationen Ge-
fangene« (noch im Kriege gegen Dänemark waren sie es gewesen)
frei und die Pforten für die mächtig sich entfaltende deutsche Wirt-
schaft zum Weltm.eer: aber das Dominium maris bcdtici hat Bismarck
niemals angestrebt; ihm genügte es, wenn in den nordischen Be-
reichen die Neutralität aufrechterhalten und den angrenzenden
Mächten der Anteil an der See überlassen bheb, der ihren in der
Vorzeit erworbenen Rechten und dem Maße ihrer Kraft entsprach;
allen Versuchungen (an denen es nicht fehlte), nationalen Velleitäten
zuliebe an fremde Hoheitsrechte auch nur zu rühren, hat er dauernd
sein Ohr verschlossen.
Erst der Weltkrieg, in den wir uns durch den Offensivgeist der
gegen uns vereinigten Großmächte hineindrängen Heßen, hat die
Wendung gebracht: als unsere siegreichen Waffen uns, wie im Osten
und Westen, so auch im Norden unseres Erdteils Wege öffneten, die
zu beschreiten auch nach Bismarcks Tode unsere Regenten niemals
geplant hatten. Nun schien es wirkhch Wahrheit zu werden, was
der Schöpfer des Reiches als eine »kindische Utopie « bezeichnet hatte :
die Abdrängung der byzantinisch-slavischen Macht des Ostens von
den Zugängen zu dem baltischen Meer, die Wiederaufrichtung eines
einheithchen protestantisch-germanischen Herrschaftsgebietes, das
Ziel, für das Gustav Adolf gestritten und in den Tod gegangen war.
Nur daß nicht Schweden, sondern unser Land, das Land Martin
Luthers, dessen Glaube, der deutsche Glaube, das geistige Band für
diesen Machtkomplex geworden war, die Führung haben sollte.
Nicht, wie Schwedens Helden, von Norden nach Süden, sondern
von Tannenbergs Feldern nordwärts führte uns der Weg. So
ward Riga, die älteste Kolonie des deutschen Kaufmanns in den
baltischen Provinzen, unser, so von Memel bis Reval alles Land,
81
das einst deutsche Ritter der deutschen Kultur unterworfen hatten,
mit den Inseln an seinen Küsten; so nahmen wir Dorpat, die Hoch-
schule der Wasas, unter unsere Obhut ; wir zerbrachen das Gibraltar
des Nordens, die vor den Toren der schwedischen Hauptstadt auf
den Alandinseln breit hingelagerte russische Zwingburg, und be-
freiten Finnland vom Joch barbarischer Unterdrücker; über Inger-
manland und Karelien hinweg und bis an die Küsten des äußersten
Nordens brandete die deutsche Flut.
Kaum vier Jahre sind seitdem vergangen, und wie eine Ewigkeit
liegen schon jene Tage hinter uns, als unsere Truppen zugleich in
Narwa standen und in Pultawa, in den Pässen des Kaukasus imd
in den Fruchtgefilden von Tiflis, auf dem Hochlande Armeniens und
an den Rändern der arabischen Wüste; während unsere Batterien
in den Bergen Makedoniens und jenseits der Alpen, auf den
katalaunischen Feldern und an der flandrischen Küste donnerten.
Niemals in allen Jahrhunderten hat sich Germaniens Kraft so gewaltig
und seinen Feinden so furchtbar erwiesen.
Jedoch ist hier nicht der Ort, solchen Gedanken nachzuhängen.
Und so sei nur noch eines Momentes gedacht, das uns an der Helden-
gestalt Gustav Adolfs, der im Vordergrund dieser Betrachtungen
stand, unmittelbar bewußt werden muß.
Was die Macht ist, und was sie in der Geschichte bedeutet, lehrte
er uns kennen. WahrUch nicht das Böse schlechthin, wie das schlimme
Wort lautet, das, vor langen Jahrhunderten ersonnen, von Phantasten
und Philosophen, von Gläubigen und Zweiflern, und oft genug von
den Machthungrigen selbst in tausendfacher Variierung gepredigt
und von den Armen im Geiste nachgebetet worden, heute aber mehr
als je das EvangeUum der Massen und aller Phihster geworden
ist. Macht für sich genommen ist weder gut noch böse, sondern nicht
viel mehr als ein Nichts, leeres Wort, bloßer Schall. Erst der Wille,
der die Masse, die zimächst mu: das Träge, das Nichtswirkende ist,
bewegt, weckt in dieser das Leben, schafft sie zur Macht um, verleiht
ihr Form und Gestalt; der Zweck aber, dem sie sich dann unterwirft,
der Gedanke, der sie treibt und trägt, gibt ihr die Seele, Sinn und
Bedeutung.
Lenz, Wüle, Marht und Schicksal.
Napoleon und das Sdiidksal.
(1913.)
Es mag Befremden erwecken, in dem Jahr, das an jedem seiner
Tage das Gedächtnis an die Großtaten unserer Väter erneuert, dem
Manne ein Gedenkblatt zu widmen, der das Joch, das jene zerbrachen,,
auf die Schulter unseres Volkes gelegt hat. Wieviel näher, so könnte
man einwenden, müßte es liegen, in das Lob der Helden einzustimmen,
die unserm Volke den Weg zur Freiheit gewiesen, und der ungezählten
Namenlosen, die mit ihrem Blute den Glauben daran besiegelt haben!
Wenn ich es dennoch wage, die Blicke meiner Leser einmal nach der
entgegengesetzten Seite zu lenken, auf den Mann, gegen welchen
alle diese Kräfte sich wandten, so geschieht es nicht etwa, weil mir
als einem neuen Cato die Sache des Besiegten besser gefiele, sondern
weil der Zusammenhang der Dinge, die Gründe der Erhebung, die
Kräfte, die dabei in die Wagschale gelegt wurden, von keinem Punkte
aus besser zu übersehen sind und also die Bedeutung jener Helden
selbst nur in um so helleres Licht treten kann.
Auch das Maß der Schuld, das auf Napoleon lastet, wird dann
um so deuthcher werden. Niemand in der Welt ist mehr gehaßt,
xmd auf keines Menschen Haupt sind die Anklagen voller gehäuft
worden, als auf das seine: aber auch niemand hat jemals stärker
gebüßt als der Gefangene von St. Helena. Und vergessen wir nicht,
daß dies Europa, welches um ausstieß, ihm einst fast ausnahmslos
zu Füßen gelegen, daß die Feinde von heute Freunde von gestern
gewesen, daß nur allzu viele unter ihnen ihm wiUig gefolgt waren,
sich ihm verbrüdert und verschwägert, Provinzen und Kronen aus
seiner Hand genommen, ihre Staaten mit seiner Hilfe von Grund
aus neu aufgebaut hatten. Man darf ja gar nicht einmal von einer
Erhebung der deutschen Nation sprechen. Es war zunächst ein Kampf
Deutscher gegen Deutsche, mit fremden Alliierten oder unter fremden
Fahnen, wie alle Kriege, die seit Jahrhunderten auf deutschem Boden
geführt worden waren. Nicht die Begeisterung für Deutschlands,
83
Ehre und Freiheit führte Österreichs Armeen nach langem Schwanken
den Preußen und Russen zu ; und erst als Napoleons Macht bei Leipzig
niedergebrochen war und seine aufgelösten Divisionen dem Rhein
zustrebten, legten sich ihm die Bayern vor, — um ihm zum letzten
seiner Siege auf deutschem Boden zu verhelfen. Rheinbundtruppen
standen von der Weichsel bis zur Elbe in den preußischen Festungen,
welche für die aus Rußland zurückflutende Armee Sammel- und
Stützpunkte wurden, und füllten aufs neue die Cadres, welche die
ungebrochene Energie des Kaisers gegen die norddeutschen Rebellen
aufgestellt hatte. Dem Aufstande des Volkes ging der Abfall der
Regierungen zur Seite oder voraus : von Provinz zu Provinz, von Land
zu Land, so wie die rollende Lawine hinter dem FHehenden herstürzt.
So aber war es gewesen, seitdem Napoleon die Blicke der Welt
auf sich gelenkt: solange er Kriege geführt, hatte er auch Alliierte
gehabt; und nur dadurch hatte er siegen können, daß er ihren Ehr-
geiz befriedigte, ihnen Anteil an der Beute gab, ihnen zu Hilfe kam,
wenn ihre kaum geschaffene Macht angegriffen war. Noch im Jahre
1814 hat er Bundesgenossen gehabt: die Italiener, die unter seinem
Stiefsohn Eugen für die Zukunft ihrer Nation gegen Österreich stritten ;
wenn er damals den Frieden aus der Hand der Gegner nicht hat an-
nehmen wollen, geschah es auch deshalb, weil er diese letzten Freunde
nicht im Stich lassen konnte oder wollte. Einzig in dem Feldzuge
von Waterloo hatte er nichts weiter hinter sich als Frankreich. Er
selbst sprach in seinen Bundesverträgen immer nur von seinen Alli-
ierten und den gemeinsamen Interessen; als »Chef der kontinentalen
Liga« hat er sich selbst bezeichnet. Durch die Kräfte des Festlandes
woUte er das Meer erobern.
In WirkHchkeit galt freilich, so weit sein System reichte, kein
Wille neben dem seinen. Wenn er seine Brüder erhöhte, ihnen die
Reiche gab, die wie eine Kette von Bastionen um Frankreich her
gelagert waren, so erhielten auch sie damit keine andere Stellung
als die Bayern, die Polen, die Österreicher, die Preußen und jeder-
mann, der von dem Übermächtigen in die Allianz gezogen oder ge-
zwungen ward. Sie durften die Kronen, die er ihnen gab, gar nicht
zurückweisen; jeder Versuch, eine ihren Ländern eigentünüiche
Pohtik zu verfolgen, ward ihnen als Verbrechen angerechnet, das sie
mit Absetzung oder der Beraubung ihrer Staaten zu sühnen hatten.
Nicht einmal persönlich frei zu sein, als Privatmann über sich und
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84
sein Los, seine Familie zu verfügen, gestattete der Kaiser seinem
Bruder Lucian. »Ich habe Europa nicht besiegt,« sprach er zu ihm,
»um vor dir zurückzuweichen. Wer nicht für mich ist, ist wider
mich. Fügst du dich nicht meinem System, so bist du mein Feind,
und Europa ist zu klein für uns beide.« »Der Himmel kann ein-
fallen, ich werde meine Ansicht nicht ändern.« »Man mag mich für
ungerecht und grausam halten, wenn mein System nur vorwärts geht. «
Der Erfolg aber war, daß dieses »System«, das Netz, in dem
der Eine jeden fremden Willen einfing, immer enger und fester wurde,
daß aus den Bundesgenossen Vasallen, aus den Vasallen Unter-
tanen wurden, daß Frankreichs Grenzen sich immer weiter aus-
dehnten, bis nach Albanien an der einen und bis Lübeck an der anderen
Stelle, und daß die Hoffnungen, die man auf den Emporkömmling
gesetzt, die Sympathien, die man ihm anfangs entgegengetragen,
sich immer mehr in Furcht und Haß verwandelten. Nichts hat das
Reich, das Napoleon aufbaute, fester zusammengekittet, als das
Konkordat, das er mit dem Papste schloß; woran die Revolutionäre
vergeblich gearbeitet: die Unterwerfung der universalen Kirche
unter den nationalen Staat war dadurch möglich geworden. Aber
das Ende war die Annexion des Kirchenstaates, die Gefangenneh-
mung des Papstes, die Entfremdung der Untertanen, die Zerrüttung
der französischen Kirche; und wenn der Friede mit Rom dem Usur-
pator die Freundschaft der gesamten katholischen Welt erworben
hatte, so ward die Feindschaft mit dem Papst der stärkste Ansporn
für den Haß der katholischen Nationen, die nun in ihm auch noch
den Häretiker sahen.
[v*^ Napoleon war kein Tyrann in dem gewöhnUchen Sinne des
Worts: der nichts sieht außer sich selbst, ohne Ziel und ohne Idee,
der nur die Macht um der Macht willen Hebt, nur der Zügellosig-
keit seines Willens und der Befriedigung seiner Leidenschaften dient.
Niemand hat sich stärker in der Gewalt gehabt als er; dem Zorn
selbst, wenn er ihn übermannte, gesellte sich oft genug die Berech-
nung hinzu. Er konnte nicht bloß verzeihen, sondern auch ver-
gessen. Er belohnte gern, und nicht bloß um die Menschen sich zu
verpflichten sondern aus wirklicher Dankbarkeit und einer An-
hänglichkeit, welche keinen Unterschied machte zwischen den Freunden
seiner Kindheit und seines Glanzes, seinen Dienern und den Ge-
nossen seiner Herrschaft.
85
Dieser Verächter der Ideen, für den die Religion nur den Wert
einer »Kuhpockenimpfung« besaß, einer Schutzhaut für die BUnd-
geborenen gegen die Betrüger wie gegen die Not und das Elend des
Lebens, für den alle Philosophen, Kant so gut wie Rousseau, Char-
latane waren, hatte dennoch ein volles Gefühl für das Heroische
und das geistig Große in der Geschichte wie im Reiche der Gedanken.
In der Vergangenheit war es Alexander, dem seine Bewunderung
galt, der Eroberer so vieler Reiche, der Gründer so vieler Städte, der
Erweiterer der Kulturwelt durch das Schwert, dessen Nachruhm drei
Erdteile erfülle. Wie oft hat er sein eigenes Geschick mit dem dieses
letzten der griechischen Heroen vergHchen! Auch wohl darin, daß
sein Werk das gleiche Schicksal haben, daß die Diadochen sich auch
auf seinem Grabe schlagen würden. Denn er empfand vollauf die
Tragik, die an allem Großen in der Welt haftet: die Übermacht des
Schicksals über die Kraft auch des Stärksten, das niederdrückende
Gewicht der Masse gegenüber dem Genius. In dem Kampf des
Geiües mit der Umwelt und ihrer blindwirkenden Gewalt sah er alle
Geschichte beschlossen; weil sie dies lehre, nannte er sie die »einzig
wahre Philosophie «. Nichts anderes war es, was ihn zu der klassischen
Tragödie hinzog, zu seinem Corneille, dessen Werke ihn in seine Feldzüge
begleiteten, und dessen heroische Gestalten ihm in den entscheidenden
Stunden des eigenen Lebens entgegentraten. Er sah in seinen Versen
den Widerschein des eigenen Schicksals. Und nicht anders sahen ihn
selbst imd sein Werk die größten seiner Zeitgenossen an, Goethe wie
Hegel, dem er an dem Tage vor Jena, als er über den Marktplatz
der kleinen Universitätsstadt ritt, wie das Schicksal selbst, wie
die Weltseele erschien. Daß die reife Saat der deutschen Gedanken-
welt unter seinem ehernen Tritt verderben müsse, fürchteten jene
Beiden nicht. In der Zeit, da Fichte dem deutschen Geist, dem Geist
der Freiheit in seinem Berhner Universitätsplan ein letztes Asyl
gegen den Dämon aufbauen wollte, trug Goethe sich mit dem Ge-
danken, sein Jena, seine eigenste Schöpfung, zu einer deutschen
Zentraluniversität unter dem Protektorat des Allmächtigen aus-
zugestalten. »Unter einem solchen Herrscher,« schreibt er dem
Freunde Graf Reinhard, »wer möchte da nicht streiten, wenn es auch
mit Aufopferung und Unbequemlichkeit geschehe!«
Und war es nicht wirklich so, daß die Hberalen Ideen auf Seiten
Napoleons, und die der Reaktion auf selten seiner Gegner waren ?
86
Die Revolution blieb die Voraussetzung seiner Herrschaft; die Welt
der Privilegien war abgetan und wurde beseitigt, wo immer der
Korse jenseits von Frankreichs Grenzen neue Staaten gründete
oder alte umschuf, ebenso in Spanien, dem er die Verfassung von
Bayonne gab, wie in den Rheinbundstaaten, die bis heute auf
diesen Grundlagen ruhen. Aber freihch, das alles trat zurück, sobald
die Gedanken der Beherrschten eine Richtung nahmen, die der
Pohtik des Kaisers entgegenlief. Dann erwachte in ihm sofort der
Tyrann, der nicht Gnade noch Erbarmen kannte und jeden freien
Hauch erstickte. Das mußte der unglückliche Palm erfahren, als
ihn die Kugeln in dem Festungsgraben von Braunau niederstreckten,
das Ernst Moritz Arndt und der Freiherr vom Stein, als sie Haus
und Heimat verlassen und in die Fremde flüchten mußten, oder
Madame de Stael und ihre hberalen Freunde in Frankreich. »Die
Zeit der Scherze ist vorbei, « sprach der Kaiser, als er Joseph Chenier
für ein allzu freies Wort einsperren Heß: »mag er still sein, das ist
das einzige Recht, das er hat.«
Daß Napoleon von Natur nicht grausam war, haben auch seine
Feinde, haben sogar Madame de Stael und die Remusat anerkannt ;
»ich hebte es nicht, Blut zu vergießen, « so hat er selbst im Angesicht
des Todes gesagt: aber wohin seine Wege ihn führten, folgten ihm,
so lange er Herr war, Ströme des Blutes. Als den Friedebringer be-
grüßte ihn nach dem i8. Brumaire das französische Volk, das durch
ein Jahrzehnt der Revolutionen und der Kriege hindurchgeführt war;
darum verzieh es ihm den Staatsstreich, und Europa pries mit ihm
den Sieger von Marengo als den Stifter des Weltfriedens • — aber
auf jeden Frieden, den der Sieg ihm gab, folgte ein neuer Krieg, und
imaufhörlich schoben sich die Grenzen seiner Macht vor und ver-
mehrte sich das Heer seiner Vasallen. Mit dem Manne, der im Kampf
nüt den Fluten des Meeres die Deiche immer weiter hinausschiebt,
hat ihn ein französischer Historiker verglichen. Jedoch ist dies Bild
nur halb richtig. Denn nicht Fruchtgefilde und fette Triften waren
es, die Napoleon den Wogen abgewann, sondern darum mußte er
die Dämme fort und fort erneuern und weiter hinausführen, weil
keiner hoch und fest genug war, um den Andrang der ringsum wogenden
Flut zurückzuhalten: Lachen und Sümpfe bildeten sich überall im
Innern des Walles; aus dem Boden selbst, den er gewonnen, sickerte
das Wasser herauf, jeden Versuch des Anbaus binnen kurzem hemmend
87
und zerstörend. Nur ein Wille, so unzerbrechlich \\de der seine, eine
Härte, die unerbittlich jeden Widerstand niederschlug, eine Kraft,
wie die Welt sie noch nicht gesehen, war imstande, dem ungeheuren
Gegendruck für ein paar Jahre standzuhalten.
So gleicht dieser Weiterschütterer dem Reiter auf Heimebergs
Bild, der in rasendem Lauf auf dem Balken, imter dem der Ab-
grund gähnt, hinter der Glücksgöttin hersprengt, die lockend und
gleißend auf rollender Kugel vor ihm hinweggleitet.
Oder hätte seine Eisenfaust den Renner herumreißen, ihn mit
einem Ruck parieren und umkehrend im Schritt auf das feste Land
zurückführen können? Lag es, unbildhch gesprochen, in Napoleons
Hand, den Frieden zu erhalten? Gab es irgendeinen Moment, wo
er ihn für immer hätte schließen können ? Einen Frieden, der Frank-
reich auch nur die Güter und die Grenzen gelassen hätte, die schon
in seinem Besitz waren, als der Name des jungen Offiziers noch kaum
in der Welt genannt wurde ? Hätte England sich mit den Stellungen
begnügt, die ihm Abukir gebracht, und die es, den Friedensbedin-
gungen von Amiens zum Trotz, behauptet hatte: mit dem Besitz
von Malta und Ägypten und den Kolonien, die es Frankreich und
seinen Verbündeten, Spanien und Holland, an Afrikas Küsten, in
Ost- und Westindien abgejagt hatte? Hätte es wohl dafür Belgien
und HoUand bei Frankreich gelassen: Länder, welche die Republik
erobert, bevor Napoleon bei Montenotte gesiegt hatte ? Oder würde
Österreich die itahenischen Provinzen, die ihm Eugen von Savoyen er-
obert, und seine Hegemonie über die italienischen Dynastien und
Repubhken, auch über die Kurie, die seit Jahrhunderten die Ver-
bündeten Habsburgs gewesen war, für immer aufgegeben haben ?
Würden die französischen Parteien, die Emigranten, mit der alten
KönigsfamiUe an der Spitze, ebenso wie alle anderen Fraktionen,
die seit 1789 sich in der Herrschaft über Frankreich abgelöst, die
neue Ordnung der Dinge anerkannt, dem Sieger von Marengo sich
unterworfen haben? Hätte Alexander von Rußland die ererbten
Hoffnungen auf die Ausdehnung der russischen Macht über Polen
und über die byzantinische Welt fahren lassen, und hätte, mit einem
Wort, irgendeine europäische Macht, die sich durch Bonapartes
Siege beeinträchtigt fühlte oder aus seiner Niederlage Vorteil zu
ziehen hoffen konnte, die friedlich gewordene Revolution in Frieden
gelassen? Das aUes muß bejahen, wer Napoleon zum Herrn über
88
das Schicksal machen, die Freiheit des Entschlusses, die Wahl der
poUtischen Stellung in sein Ermessen stellen will.
In der Tat ist dies die Auffassung, welche Jahrzehnte in Deutsch-
land geherrscht, zu der sich die ersten EQstoriker unseres Volkes,
ein Häusser imd Treitschke, ein Sybel und Duncker, bekannt haben,
und die wohl noch heute auf den meisten Kathedern gelehrt wird. Na-
poleon selbst aber hat sich jederzeit als den Knecht seines »Systems«
bezeichnet. »Ich bin,« so lautet ein berühmtes Wort von ihm, »der
größte Sklave unter den Menschen; ich muß einem Herrn gehorchen,
der kein Herz hat, der Berechnung der Umstände und der Natur
der Dinge.« »Je größer man ist,« so ein anderes aus derselben Zeit,
an Josephine gerichtet, »um so unfreier wird man; man hängt ab
von den Ereignissen und den Umständen — ich bekenne mich als
den größten Sklaven unter den Menschen; mein Herr hat kein Herz,
und dieser Herr ist die Natur der Dinge.« »Ich habe mich«, so ein
drittes, »niemals damit abgequält, die Umstände meinen Ideen an-
zuschmiegen; ich ließ mich gemeinhin von ihnen führen. Wer kann
im voraus über die zufäUigen Umstände, die unerwarteten Begeben-
heiten gebieten?« »Ich bin das Geschöpf der Umstände, ich bin
stets mit ihnen gegangen.« »Es ist weise imd pohtisch, das zu tun,
was das Geschick befiehlt, und die Straße zu gehen, auf der uns der
unwiderstehUche Lauf der Ereignisse führt.« Alle diese Aussprüche
stammen aus der Zeit, da Napoleon auf der Höhe seiner Laufbahn
stand, als seine mächtige Faust die Staatenwelt des Kontinentes wie
Ton zerbrach, um sie in neue Formen zu gießen, als er wie das Schicksal
selbst durch die Welt schritt. Aber er hat jederzeit so gesprochen:
solange er mit dem Schicksal rang, und auch nachdem er von ihm
gebändigt und erdrückt war. War das nun alles Selbsttäuschung
oder bloßer Vorwand, Heuchelei imd Lüge? Kein Vorwurf ist ihm
häufiger gemacht worden als dieser. Aber er sagte damit doch pichts
anderes, als was alle Mächtigen, die dem Schicksal ins Auge ge-
sehen und den Kampf mit ihm gewagt haben, empfunden und tausend-
mal ausgesprochen haben : mögen sie es nun Zufall nennen oder gött-
Hche Lenkung — immer bekennen sie dadurch ihre Inferiorität gegen-
über den durch die Welt, die sie bekämpfen und umgestalten, aus-
gebreiteten Gewalten. »Fert unda nee regitur«, so lautet das Motto,
das Bismarck seinem Werke vorgesetzt hat. So bot auch Napoleon
die breite Brust den Wogen und Stürmen des Lebens dar; scheiternd
89
oder landend vertraut er seinen Göttern. Er sieht sie nicht in den
Wolken; nicht aus den Höhen erwartet er die Bhtze des Schicksals;
nicht als Werkzeug des Allmächtigen hat er sich betrachtet: seine
Feinde haben ihn die Gottesgeißel, den neuen Attila genannt. Für
ihn lag das Fatum, das Unabwendbare in den historischen Zusammen-
hängen, in den Konstellationen der PoHtik, in den Traditionen, welche
Frankreich wie seine Verbündeten und Gegner, die ganze Staaten-
famiHe Europas miteinander verknüpften, in dem Ehrgeiz, den
ein jeder unter ihnen besaß, in allem, was Natur und Geschichte in
ihn gelegt, in den Existenzbedingungen und dem Willen des Staates
z;ur Macht. Das ist die »Natur der Dinge«, das »eherne Gesetz«,
dem sich jede Partei und jeder einzelne zu fügen hat, die Arena,
in der sie fechten müssen, die Schranken, die ihrer Freiheit gesetzt sind,
die Chancen für ihr Emporsteigen und ihr Fallen, die Notwendigkeit,
die über ihnen schwebt. »Die Parzen,« so schreibt der Kaiser kurz
vor Austerhtz, »weben das Leben der Menschen; das Schicksal hat
jedem Staate seine Dauer zugewiesen.« Er meinte damals, ein blindes
Geschick treibe das Haus Habsburg dem Untergange zu. Am Abend
vor der Schlacht, im Biwak, brachte er das Gespräch auf das Theater,
auf seinen gehebten Corneille. »Welche Kraft der Erfindung!«, rief
er aus. »Das wäre ein Staatsmann geworden! Die PoHtik muß der
Stoff für die moderne Tragödie werden. Sie muß unserm Theater
die antike Schicksalsidee ersetzen ■ — das Schicksal, das den Ödipus
zum Verbrecher macht, ohne daß er schuldig ist Es ist ein Irrtum,
die tragischen Stoffe erschöpft zu sehen: in Fülle liegen sie vor uns
in der pohtischen Notwendigkeit. Ein anderes Schicksal, aber ebenso
herrisch, ebenso un wider stehüch wie das antike: der Schrecken,
gemildert durch die Notwendigkeit.« »Man muß«, so schloß er,
»leben wollen und zu sterben wissen.« Denn — so deuten wir dies
Wort — man darf dem Kampf mit dem Schicksal nicht ausweichen,
man muß siegen wollen, auch wenn man sterben muß. So spricht
der Held: Ich muß meinem Stern folgen, und ich will ihm folgen.
In diesem Sinne hat Napoleon auf St. Helena allen denen, die
sein Andenken schmähen würden, prophezeit, daß sie auf Grarüt
beißen würden, hat er die Nachwelt zur Richterin seiner Taten auf-
gerufen. So haben auch seine Getreuen geurteilt. Niemand war
ihm vertrauter, niemand ergebener als Maret, der Herzog von
Bassano, der ihm als Minister des Auswärtigen in den Jahren der
90
Krisis und der Katastrophe diente. »Für die Geschichte«, so urteilt
dieser Zeuge, dessen vornehmen Charakter auch die Gegner nicht
haben schmälern können, »hat die bonapartistische Monarchie begonnen
am 20. Brumaire. Seitdem hat sie nur Abwandlungen erfahren.
Zunächst war sie Wahlmonarchie, daim lebenslänglich, schheßhch
erblich. Diese letzte Phase wurde vorbereitet durch die unaufhörHch
wiederkehrenden Konspirationen, die viel mehr darauf eingewirkt
haben als der Eintluß der Höflinge. Die Natur der Dinge drängte
zur ErbUchkeit. Die Anschläge gegen das Leben des Oberhauptes
beschleunigten ihre Einführung. Den Konsul auf Zeit konnte ein
Handstreich beseitigen, den Konsul auf Lebenszeit ein Mörder.
Napoleon nahm die ErbUchkeit an wie einen Schild. Fortan handelte
es sich nicht bloß darimi, ihn zu töten: man mußte den Staat um-
stürzen. Das ist die Wahrheit, das ist der Grund der Begebenheiten,
das ist es, was die Geschichte sagen wird, wenn einst ihr Historiker
kommt. «
ij^Von hier aus finden wir die Antwort auf alle Fragen, die wir
vorhin stellten. Napoleon hatte die Revolution geschlossen, aber
verleugnet hat er sie nie. »Ich bin die Revolution,« sagte er, als
er den Herzog von Enghien erschießen ließ, »und ich werde sie auf-
rechterhalten.« Er war ihr Erbe und woUte ihr Vermächtnis bewahren,
ihren Geist und ihre Ergebnisse behaupten. Er hatte den Staat der
Revolution so stark gemacht, daß er alle Parteien in ihn aufnehmen
durfte, welche aus ihrem Schöße geboren und von ihr wieder aus-
gestoßen waren, oder die sie von jeher bekämpft hatten; so stark,
daß er selbst Verschwörer wie Moreau nicht mehr aufs Schafott zu
schicken brauchte. Nicht mit Unrecht hat er auf St. Helena von
sich gesagt: »Wer unter den Monarchen kann sich rühmen, so wenig
Gegner wie ich dem Henker überliefert zu haben?« Und nur um ein
Exempel zu statuieren, um der Welt zu beweisen, daß er noch den
Geist der Revolution in sich trage, hat er den jungen Bourbon auf-
greifen und beseitigen lassen: er vergalt damit ja nur Gleiches mit
Gleichem. Denn die Flammen waren nur gebändigt, nicht erstickt;
sie glühten im Innern und wurden von außen durch tausend Hände,
durch den Ehrgeiz der fremden Mächte, der siegreichen wie der be-
siegten, und durch die Ausgestoßenen, die UnversöhnUchen, unab-
lässig geschürt. Nur die Macht konnte sie fesseln, jedes Nachgeben
gab ihnen Luft und neue Nahrung. Sieg oder Untergang blieb das
91
Los des Alleinherrschers, wie es das Los der Terroristen und der
Führer aUer Parteien in der Revolution gewesen war. Darum konnte
Napoleon nur als Sieger Frieden schHeßen : noch auf St. Helena
hat er dies als den Kern seiner Pohtik bezeichnet. Das Frankreich
der Revolution, die demokratisierte französische Gesellschaft blieb
die Basis seiner Macht. Und nicht bloß ihm waren die Bahnen ge-
wiesen, seitdem er sein Schicksal mit dem Frankreichs verknüpft
hatte, sondern diesem selbst. Denn die Revolution war nur wieder
eine Stufe in dem Gange, den die Geschichte Frankreichs seit Jahr-
hunderten gegangen war; wie Napoleon ihr Erbe, so war sie die Erbin
der alten Monarchie. Was diese versucht hatte, führte sie durch;
oder sie scheiterte daran, wie die alten Könige selbst. Sie erweiterte
die Grenzen Frankreichs bis zum Rhein und seine Vorherrschaft
über Deutschland und Itahen, und sie erfüUte damit Pläne, welche
die Träger der alten Krone immer gehegt hatten; sie nahm auch
den Kampf gegen England wieder auf, das letzte große Unternehmen
der bourbonischen Monarchie, an dem diese recht eigentlich sich ver-
blutet hatte: alle Kräfte hielt sie auf dieses Ziel gerichtet. Wenn
aber ein Lazarus Hoche, der General der Republik, den die heutige
französische Geschichtsschreibung recht eigentlich als den Antipoden
Napoleons, als die Verkörperung des französischen Genius, als den-
jenigen feiern möchte, der den Geist der Revolution wahrhaft in sich
dargestellt habe, noch in seinem letzten Lebensjahr den Kampf
gegen England als das höchste Ziel seines Ehrgeizes anstrebte — wie
hätte da der Korse, der Fremde, eine andere PoHtik treiben dürfen
als diejenige, auf die Revolution und Königtum, Gegenwart und
Vergangenheit Frankreichs hingedrängt hatten! Wir müssen viel-
mehr sagen, daß die Friedensschlüsse, die Napoleons Siege vorbe-
reiteten, und die sein Werk waren, Campoformio ebenso wde Luneville
und Amiens, die ausgreifenden Pläne der republikanischen Regierung
sogar eingeschränkt haben, und daß die Organisation, die er dem
Staate gab, die Rückkehr der Emigranten, die Errichtung der Allein-
herrschaft, das Konkordat mit dem Papste Konzessionen waren an
die Besiegten und Verjagten und ein Innehalten auf dem Wege der
repubhkanischen Propaganda. Um so weniger aber durfte er einen
Frieden schließen, der Frankreich hinter die Grenzen, welche die
Republik bereits vor ihm gewonnen, zurückgeführt und die Funda-
mente des Staates der Revolution verschoben hätte. Er war in den
92
Fesseln des »Systems« bereits an dem Tage, als er sich zum Herrn
Frankreichs aufwarf. Das war die Frage, um die der Kampf ging:
ob die Interessengemeinschaft, welche die Revolution jenseits der
Grenzen Frankreichs vorfand, und welche die Siege Napoleons jenseits
der Alpen wie des Rheins, in den Niederungen der Weichsel und am
Sunde wie an den Ufern des Bosporus noch hinzu erwarben, sich auf
die Dauer stärker erweisen würde als die Gegenkräfte, die, von Eng-
land geführt, ebenfalls über den ganzen Kontinent hin ausgedehnt,
ja in Frankreich selbst lebendig geblieben waren. Vielleicht, daß er
ihrer mächtig geworden wäre, wenn er noch dieselben Gegner vor
sich gehabt hätte, mit denen die Revolution ihre Kriege geführt
hatte: die mit ihren Aristokratien verbündeten Dynastien, für welche
die Masse der eigenen Untertanen nichts bedeutet hatte. Denn eben
dadurch hatte die Revolution gesiegt, daß in ihr das moderne Staats-
prinzip lebendig geworden, Staat und Volk zusammengewachsen,
die Nation zum Bewußtsein ihrer selbst erwacht war; so war sie nach
dem Worte des Propheten (schon Ranke hat es zitiert) auf die alte
Staaten weit gefallen wie eine eiserne Stange auf irdene Töpfe. Na-
poleons Kriege aber gingen über die der Revolution auch darin hinaus,
daß sie allerorten Gegenkräfte erweckten, gleichartig im Wesen, wenn
auch verschieden im Ziel, mit denen, welche die Revolution in Frank-
reich geweckt hatte: die Geister der Nationen erhoben sich
unter seinen eigenen Tritten und warfen ihn nieder.
In den verschiedensten Formen haben sie sich entladen; je nach
den Voraussetzungen, welche die Geschichte geschaffen hatte. Aber
überall kamen sie den alten Regierungen zu Hilfe; mit dem Prinzip
der Legitimität vereinigt, wurden sie unüberwindlich. Napoleon
hatte dieser Verbindung nichts entgegenzusetzen. Die Spanier wiesen
die modernen Ideen, die er ihnen in der Verfassung von Bayonne
aufdrängen wollte, mit Abscheu von sich, wie demokratisch und
national sie im übrigen ihren Widerstand organisieren mochten. Die
Italiener, die Polen hörten wohl auf den Weckruf, den er an sie richtete :
aber er konnte ihnen nur halb gewähren, was sie wünschten; die all-
gemeine Politik duldete es nicht anders; und so folgten auch sie ihm
nur halbwillig; schon 1807 und noch mehr 1812 in Rußland bekam
er es zu spüren. Die Rheinbundregierungen bildeten ihre Staaten
nach seinem Willen um: aber die Landsleute Haspingers, Speck-
bachers und Hofers fühlten wie die Spanier; sie wollten von dem
93
modernen Staat nichts wissen, sahen darin nur die Unterdrückung,
die Herrschaft der Fremden; mit Kruzifix und SkapuUer standen
Mönche und Pfarrer bei den Landesschützen, die für das »heilige
Land Tirol« und ihren Kaiser fochten; in Bayern selbst nahm der
Gegensatz, wo er gegen das französierende Regiment sich regte, als-
bald reaktionäre Formen an. Und überall folgten die Verbündeten,
die Freunde, und mochten es die eigenen Brüder sein, dem Kaiser
grade solange, als die Interessen ihrer Regierungen mit seinem System,
seiner Politik zusammengingen. Sobald der Sieg sich auf die Seite
seiner Gegner neigte, begann, von Tauroggen ab, der Abfall; mitten
in der Schlacht, die über seine Herrschaft in Deutschland entschied,
gingen die Sachsen zu den Verbündeten über ; hinter dem Geschlagenen,
dem FUehenden her wälzten sich die Wogen.
Kaum daß sie an Frankreichs Grenzen haltmachten. Mochte
auch die Nation ihrem Herrn zunächst noch gehorsam bleiben und
die neuen Heereskräfte, die er forderte, stellen: der Geist, der sie
einst um die Trikolore geschart, vor dem die Heere des alten Europas
in den Staub gesunken, war erloschen, erstickt durch das despotische
Regiment, das, lange bevor Bonaparte es in seine Faust genommen,
aus ihrem Schöße sich erhoben hatte. Napoleon durfte ihn gar nicht
wieder erwecken: er hätte nur die alten Parteien ins Leben zurück-
gerufen, den Bürgerkrieg neu entfacht und also die Proklamationen, mit
denen die Fremden in das Land kamen, gerechtfertigt. Die Bändigung
der Parteien, die Einheit der nationalen Kraft war die Basis seiner
Macht und das Prinzip seiner Herrschaft gewesen; er wollte es auch
im Untergange nicht verleugnen. Einst hatte das Feuer nationaler
Leidenschaft, dies Gemisch von Haß und Liebe, auch in seinen Adern
geglüht: solange sein Herz für Korsikas Freiheit geschlagen hatte.
Aber seitdem er mit den Seinen, einem Felsstück der korsischen
Küste vergleichbar, von dem Boden der Heimat losgerissen und an
Frankreichs Ufer geschleudert war, hatte er diese Gefühle in sich
ausgelöscht und die Verachtung der nationalen und aller liberalen
Ideen dafür eingetauscht. Sie hatten ihm seitdem wohl als Elemente
seiner PoUtik gedient: aber niemals hatte er diese nach ihnen ge-
richtet. Macht und abermals Macht war das Wort geworden, an das
er glaubte, und das Ziel, nach dem er strebte. »Chimären, ja wohl,
Chimären,« rief er aus, als ihn auf dem Schlachtfelde von Arcis sur
Aube General Sebastiani, der Landsmann und Waffengefährte von
94
den Pyramiden und dem 19. Brumaire, aufforderte, die Nation zum
Kampfe aufzurufen: »eine Erhebung der Nation fordern wollen in
einem Lande, in dem die Revolution die EdeUeute und die Priester
vernichtet hat und ich selbst die Revolution vernichtet habe ! « . . .
Vielmehr mußte er es alsbald erleben, daß der Abfall im Heere und
im Volke um sich griff. Zu den Ideologen gesellten sich die Verräter:
ihnen beiden erlag der Tyrann. So woUte es die Rache des Schicksals.
Werfen wir zum Schluß noch eine Frage auf. Was wäre ge-
schehen, wenn den Gewaltigen der Allbezwinger nicht sobald von
der Welt, die einst zu klein für seinen Ruhm gewesen war, hinweg-
genommen hätte ? Er hatte noch nicht das zweiundfünfzigste Lebens-
jahr vollendet, als es geschah. Neunzehn Jahre später warf, von dem
Herrscher Frankreichs selbst gesandt, das Schiff auf der Reede von
St. Helena Anker, das die Asche des Helden nach Frankreich zurück-
bringen soUte, damit sie inmitten seiner Trophäen ruhe. Es war eine
Huldigung, die bereits die Angst der damaligen französischen Re-
gierung, der zweiten Djmastie seit dem Sturze des Kaisers, verriet
vor dem gigantischen Schatten, der für Frankreich der Inbegriff
natioucder Größe und nationalen Ruhmes geworden war. Längst
war der Bund der vier Mächte, dem der Kaiser erlegen war, zerfallen;
England zuerst hatte sich, schon ein Jahr nach seinem Tode, von
den Alliierten losgemacht. Ganz undenkbar wäre es gewesen, zumal
seit der Julirevolution, seitdem England in allen Erdteilen die Fahne
der Freiheit emporhielt, daß Napoleon die Freiheit verweigert wäre.
Das Schicksal hat es nicht gewollt. Die ungeheure Tragik, die
über diesem Lebenslauf liegt, soUte sich ganz vollenden. Wie dem
Titanen der griechischen Sage der Geier, der Bote des rächenden
Zeus, die Leber zerfleischte, so mußte dieser moderne Titane unter
den mörderischen Griffen einer unheilbaren Krankheit dahinsiechen.
Jedoch sein Geist blieb so unbesieglich, wie der des hellenischen
Halbgottes, der noch in den Fesseln und unter Martern den Göttern
Trotz bot. Wie er es gegen seinen Kerkermeister Sir Hudson zum
Ausdruck brachte: »Ihr habt«, so sprach er zu ihm kurz vor seinem
Tode, »volle Gewcdt über meinen Körper, aber meine Seele wird
euch immer entgehen. Wisset, daß sie noch so stolz, so mutig auf
diesem Felsen ist wie damals, als ich Europa Gesetze gab.«
Der Historiker soll über den Parteien stehen. Aber das heißt
nicht, daß er sich freihalte von dem inneren Anteil an dem »großen
95
gigantischen Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den
Menschen zermalmt«. Die Weltgeschichte bietet auf jeder ihrer Seiten
Tragödien dar, wie sie keines Dichters Phantasie ersinnen kann. Keine
aber ergreift des Hörers Herz tiefer, keine offenbart den Wechsel
raenschhcher Geschicke in erhabeneren und furchtbareren Bildern
als die Geschichte dieses Mannes, der aus der Tiefe zur Sonnenhöhe
emporstieg, um in trostloser Verlassenheit zu sterben.
Die Religion im Aufbau der politischen Macht.
(Antrittsrede in Hamburg am 22. Mai 1914.)
Es mag wenige Begriffe geben, die dem Zeitbewußtsein näher
stehen und vertrauter sind als derjenige, dessen Beleuchtung unter
einem bestimmten Gesichtspunkt hier versucht werden soll ; und man
könnte fast vergessen, wie jung die Herrschaft ist, die er heute auf alle
Schichten unseres Volkes ausübt. Kaum hundert Jahre ist es her, daß
der Wille zur Macht bei uns erwachte, um sogleich die stärkste Kraft
in der Erziehung unseres Volkes zur Nation zu werden. Noch das
Geschlecht, das den Kampf um das Reich durchgefochten hat, Heß
diesen Gedanken nur zu oft hinter anderen Strebungen, Forderungen
der Partei, zm-ücktreten ; und erst der Schöpfer des neuen Deutschlands
hat ihn der Nation so tief in die Seele gesenkt, daß er heute bereits
alle anderen Regungen der Volksseele zu überwuchern droht.
Nirgends vielleicht treten uns Kraft und Wirkung der politischen
Macht sinnenfäUiger, greifbarer vor Augen als an der größten Aus-
fallspforte der deutschen Wirtschaft, an den Ufern des Stromes,
dessen breiter Rücken die Reichtümer aller Erdteile zu uns trägt.
Mit einem Bück über Hamburgs Hafen umspannt unser Auge ein
Rundgemälde deutscher Arbeit von überwältigender Größe. Wenden
wir uns dann aber zurück zu der Kuppe des Stadtwalls, auf der das
hochragende Denkmal steht, das Hamburgs Bürgerschaft dem Bau-
meister des Reiches errichtet hat — wie eine Göttergestalt aus Ger-
maniens Urzeit, die Fäuste beide um den Griff des Schwertes ge-
legt, finster, drohend, unnahbar steht er da — , so wird es uns un-
mittelbar bewußt, wie eng das laute Treiben dort unten und dies
stumme Steinbild zusammengehören, und daß nur die Macht, die
Bismarck schuf, diesem noch immer sich steigernden Leben Schutz
und Wachstum verspricht.
Keinen Augenblick aber dürfen wir rasten, jeder Nerv muß ge-
spannt bleiben. Denn rings um unsere Grenzen brandet die gleiche
Flut unablässigen Strebens und Schaffens. Alles, was unter der
97
Sonne lebt und liebt, streitet und stirbt, bietet den gleichen An-
blick, und sich selbst zu erhalten bleibt das oberste Gesetz. Dies
aber duldet keinen Stillstand; es gilt nur wachsen oder weichen.
Als wir unser Reich gewannen, schien es dennoch fast, als ob
wir eine Ausnahme machen und zum erstenmal in der Geschichte
Macht und Frieden miteinander verbinden würden. Bismarck selbst
verkündete es als sein Programm, und er erfand das Wort von der
Saturierung der Nation, das Leitwort einer Politik, die alles daran-
setzte, die Besiegten auseinanderzuhalten und die kaum geschicht-
teten Quadern tiefer in den aufgewühlten Boden hineinzubringen.
Unsere Vorfahren hatten nicht so gedacht: weder diejenigen, die das
römische Weltreich in Trümmer schlugen, noch die, welche in späteren
Jahrhunderten den slawischen Osten der deutschen Kultur Untertan
machten. Nicht viel mehr als hundert Jahre sind vergangen, seitdem
der letzte deutsche Vorstoß gegen den Osten erfolgte: damals, als
die norddeutsche Großmacht ihre Marken bis in die Steppen Wolhy-
niens vorschob. Wie weit sind wir heute von solchem Ehrgeiz ent-
fernt! Das stärkste Volk der Erde ist das friedfertigste geworden,
und es scheut kein Opfer, um den Krieg zu vermeiden. Setzen wir
aber einmal den Fall, daß die Feinde Habsburgs, die nicht nur jen-
seits der österreichischen Grenzen sitzen, diesen Staat zerreißen
wollten (mehr als einmal hat sich bereits dunkelstes Gewölk über ihm
zusammengeballt), würden wir dann sie bei ihrer Beute lassen und
zwölf Millionen unserer Brüder, das früheste Kolonialgebiet unseres
Volkes, den Eckstein des alten Reiches, das Land Walters von der
Vogelweide und des Nibelungensängers, ihnen preisgeben dürfen?
Und was würde geschehen, wenn unsere Nachbarn jenseits der Vogesen
und des Kanals sich untereinander über Holland und Belgien ver-
ständigten samt ihren Kolonien? Oder wenn Rußland über Dale-
karlien hinweg sich des Dominiiun maris baltici bemächtigen wollte,
das es schon einmal, unter Peter dem Großen (als eine russische
Flotte im Hafen von Kiel lag), besessen hat? In jedem Falle wären
für uns die Würfel geworfen! Wir müßten mobil machen, und wenn
halb Europa gegen uns verbunden wäre. Und so erscheint dem
Historiker der Friede, dessen wir genießen, nur als eine Stufe der
Weltentwicklung, und sind auch wir den gleichen Gesetzen unter-
worfen wie jede andere Macht; alles hängt ab von der allgemeinen
Politik, von der Stellung und dem Platz, den eine jede Macht in
Lenz, Wille, Macbt und Schicksal. 7
98
ihr einnimmt. Schon ist das Erdenrund wie mit einem Netz von einer
einzigen Konstellation umhüllt; vom Westen und Osten her sind zwei
Großmächte zu den alten hinzugetreten, neue Machtgruppen haben sich
gebildet, neue, einer früheren Zeit ungeahnte Kombinationen tauchen be-
reits am Horizonte auf, und auch für uns könnten die Zeiten des Friedens
bald zu Ende sein und neue Proben auf unsere Kraft uns bevorstehen.
So will es das allmächtige Schicksal. Es ist nicht das blinde
Fatum oder der Donnerer in den Wolken, an den die Alten glaubten,
der nach Laune und Willkür oder nach einem Maßstab von Gerechtig-
keit, über den nur er entscheidet, die Geschicke der Völker lenkt,
dem einen gibt, was er dem andern nimmt, Segen und Verderben,
wie es ihm gefällt, über die Erde hinstreut: sondern es ist die an den
Boden gefesselte, aus ihm emporsteigende Notwendigkeit, ein von
dem Weltzusammenhange untrennbarer Prozeß.
Dies ist der Grund, der uns zwingt, die auswärtige Pohtik in
den Mittelpunkt aller Geschichte zu stellen ; sowie der Staat wiederum
der Mittelpunkt und der Gipfel jeder geschichtlichen Betrachtung
sein wird — mag es sich nun um Recht oder Wirtschaft handeln,
um Religion oder Philosophie, um irgendwelche Erscheinungen der
Literatur oder um das, was man unter Kulturgeschichte und Länder-
kunde zusammenfassen möchte. Immer sind es die großen Haupt-
und Staatsaktionen, ist es die Welt des Staates, sind es seine Lebens-
bedingungen und alle seine Mittel und Verrichtungen, auf welche
die Entwicklung aus jeder Sphäre des Daseins hindrängt, und durch
die wiederum alle Äußerungen des allgemeinen wie des persönlichen
Lebens bestimmt werden.
So das Schauspiel, das wir vor Augen haben, der Ablauf der
Begebenheiten, eine durch die Jahrhunderte hin fortrollende Kette,
eine Reihenfolge von Bildern, reicher an Szenenwechsel, an tragischen
Konfükten, Peripetien und Katastrophen, als alles, was je von Dichter-
hand geschaffen wurde. Jedoch über das, was innerlich dabei vor-
geht, was das eigentüch Treibende darin ist, der Wille, der Genius
in der Geschichte, über alles dies ist damit noch nichts ausgesagt.
Versuchen wir die Antwort zu finden.
Wenn, wie wir bemerkten, der wirtschaftUche Aufschwung
unserer Nation mit der Gründung unseres Reiches aufs engste ver-
knüpft ist und als Folge davon verstanden werden darf, so könnten
wir fragen, ob hierin vielleicht schon das Ziel begriffen, hier also
99
auch die treibende Kraft zu suchen sei, ob also unser Volk die Stellung
in der Welt, die es gewann, behaupten wird, wenn es nur diesem
Zwecke lebt, rückhaltlos und rücksichtslos alles vor sich niederwerfend,
was ihm dabei störend in den Weg treten wollte. Dann wäre der
Historiker bald am Ziel. Ihm würde nur obhegen, das Maß dieser
wirtschaftlichen Kraft zu bestimmen, ihre Zusammensetzung, ihre
Tiefe, ihre Ausbreitung und die Mittel, die sie begründet und gefördert
haben, zu erkunden. Ausgeschlossen aber wäre aus der Kette der
wirkenden Kräfte die ganze Welt der sittlichen Zwecke. Und was
für uns gilt, muß auch für die andern gelten : die Geschichte der Jahr-
tausende müßte dann nach solchen Maßstäben erforscht imd ge-
schrieben werden. Ob es sich um China handelt oder Japan, mn
Indien oder Tibet, um die Negerstaaten oder die Insulaner der Süd-
see, um Griechen oder Römer, um Völker von höchster Kultur oder
von tiefster Barbarei, immer würden in dem Auf und Ab wirtschaft-
licher Krisen die historischen Wendezeiten, in dem Kampf \im die
gemeinen Bedürfnisse des Lebens die alles persönliche und öffentüche
Leben gestaltenden Kräfte zu suchen sein. Unsere Väter freihch,
deren Großtaten die Nation vor einem Jahre feierte, möchten mit
dieser Erklärung wenig zufrieden gewesen sein. Und auch wir Alten,
die in den Laufgräben vor Metz und Paris gelegen oder bei Loigny
und Orleans gefochten haben, werden es bestreiten, daß wir unser
Leben für solche Güter in die Schanze schlugen. Das müßte dann
eben auf Selbsttäuschung beruhen.
Nehmen wir es aber auf einen Augenblick an und setzen noch
weiter voraus, daß diese Einsicht bereits die allgemeine geworden
sei, und also nicht bloß die Regierenden, die Besitzenden, die Klugen,
die Gewalthaber, sondern gerade die Armen, die »Masse der Ent-
erbten« (wie man sagt), sie besäßen; daß alle Überlieferungen von
Recht und Moral, von Glaube und Sitte bereits ausgelöscht, alle
Bande, die uns heute noch mit den Vätern imd ihren Vorstellungen
verknüpfen, zerrissen, die alten Ordnungen in Staat und Kirche, in
Haus und Gemeinde bereits aufgelöst und beseitigt wären — was
würde die Folge sein? Wir tun ja damit nichts anderes, als was
so viele Philosophen und Historiker, zumal Wirtschaftshistoriker, und
mehr noch die Staatstheoretiker, oder Parteiführer, welche ihre
Programme philosophisch oder historisch zu unterbauen suchten,
uns vorgemacht haben; wobei nur leider zu sagen ist, daß die we-
100
nigsten unter ihnen jenen Gedanken zu Ende gedacht haben. Es
ist aber offenbar, daß, wenn man unter solchen Voraussetzungen
zu einer Lebensordnung, die vielleicht Eintracht und Haltbarkeit
verbürgen möchte, gelangen wollte, dies nur durch die absolut gleiche
Verteilung der irdischen Güter und den gleichen Anteil an ihrer Er-
zeugung geschehen könnte: nicht aus dem Grundsatz der Geiechtig-
keit, denn das Moralische bhebe ausgeschlossen, sondern des gleichen
Begehrens: weil, wenn dies unbefriedigt bhebe, Kampf, Zersetzung
und Anarchie die unausbleibliche Folge sein müßten. Es würde ein
Zustand werden völliger AusgegHchenheit, der Unterwerfung jedes
Willens unter den einen Zweck, zur Nahrung zu kommen, der Aus-
tilgung jedes freien Gedankens, jeder Eigenart, auch jeder Leiden-
schaft und jedes persönlichen Lebensgefühls; eine ungeheure Lange-
weile würde sich über die Erde ausbreiten; die Welt würde weder
Idole besitzen noch Ideale.
Wir fragen nicht danach, ob solche Gedankenbilder jemals
Zukunft haben werden ; denn deren Schleier zu heben, ist nicht unseres
Amtes. Auch das soll uns hier nicht kümmern, ob den Idealen, an
denen die Menschheit hängt (wandelbar wie sie sind), objektive
Werte zugrunde hegen, Ideen, welche über die Beschränktheit unseres
Daseins hinausreichen und unser Leben mit einer unbekannten Welt
verknüpfen — oder ob gar in der Geschichte eine höhere Leitung,
ein Aufstieg zu immer reineren und freieren Formen des Geistes
wahrzunehmen ist; denn auch damit würden wir die Grenzen ver-
letzen, die uns gesetzt sind. Im Endlichen wollen wir nach allen
Seiten schreiten, aber den Blick nicht auf Felder lenken, deren Be-
stellung dem Theologen oder dem Philosophen obliegt. Nur das
Prinzip, nicht das Objekt, ist uns mit diesen gemeinsam, das
Werdende, Begreifbare, Bedingte zu erkennen ist allein unsere Aufgabe.
Aber wäre selbst die Welt der Ideen, wie erhaben sie gedacht
werden möchten, nur ein Kreis von Vorstellungsformen, Traum-
bildern, die mit den Geschlechtern der Menschen kommen und gehen
— auch dann noch würden sie niemals aus der Geschichte hinweg-
genommen werden können. Wo eine Lebensordnung besteht, sind
sie da. Ohne sie ist alles zerfließendes Wasser. Sie allein zeigen die
Richtung an, geben die Gesetze, bilden und entwickeln die Organe;
sie sind das Treibende, Wirkende, Lebenschaffende.
101
Unter ihnen als stärkste Kraft die Religion. Diese hat, gleich
groß im Zerstören wie im Schaffen, das Antlitz der Nationen um-
gewandelt und neue Völker aus dem ewig kreißenden Schöße der
Geschichte hervorgehen lassen; Verfassung und Wirtschaft, Recht,
Kunst und Literatur und alle Gebiete des geistigen Lebens hat sie
in Formen gegossen, die ihrem Wesen entsprachen. Was bedeuteten
die Araber, bevor Muhammed unter ihnen erschien? Rings um ihre
Grenzen war der Strom der Kultur geflutet — sie aber waren draußen
gebheben, in ihre Stämme geteilt, um ihre Brunnen gelagert, geschichts-
los dahinlebend, gleichsam ein Stück ihrer Wüste, Ismaels Söhne,
des Verstoßenen. Bis der Prophet sie den kurzen großen Sätzen
seines Glaubens, den wenigen Zeremonien seines Kultus unterwarf.
So schmiedete er Arabiens Stämme zusammen und wies ihnen den
Weg zur Macht. Wie loderndes Feuer wogten sie über die benach-
barten Provinzen, Länder uralter Kultur, die aber Außenglieder der
hellenisch-römischen Welt geworden waren, dahin. Unter ihrem
Schwert erhob sich der Genius Asiens von neuem und erwachten
die barbarischen Völker Nordafrikas bis hin zu den Säulen des Her-
kules. Bis hart an das Zentrum des Byzantinischen Reiches drangen
diese Asiaten vor. Sie unterwarfen Hispanien, das schon einmal
einer aus Asien stammenden Macht zur Beute gefallen war. Und
erst das Schwert der Franken setzte ihnen im Westen, sowie im
Osten zunächst noch die zähe Kraft des byzantinischen Reiches,
die Grenze.
Jedoch wird man die Kraft des Islams, der nur Barbaren sich
zu verschmelzen vermag, nicht vergleichen wollen mit der Kraft
der christlichen Kirche. Auch sie ein Kind des Ostens, auf den Grenz-
gebieten der römisch-griechischen und der asiatischen Kultur ent-
standen, todfeindlich auch sie dem Reiche, das jene zusammen-
schloß, und voll Begier, sie zu vernichten. Wie ein Schlinggewächs,
dem rasch treibenden Senfkorn vergleichbar, — es ist ihr eigenes
Bild — legte sie sich um den Stamm des Imperiums, gerade zu der
Zeit, wo dieses in seiner Vollkraft, auf der Höhe seiner Entwicklung
stand und alle Mittelmeerkulturen unter seinem mächtigen Schatten
vereinigt hatte. Niemals hat es einen toleranteren Staat gegeben
als das römische Kaiserreich, das allen Rehgionen Schutz bot und
nichts forderte als die Anerkennung seiner Majestät in der Form des
dem Genius des Kaisers dargebrachten Opfers — und keine into-
102
lerantere Lebensgemeinschaft als die Gemeinde der Christen, der
»Heihgen«, der »Kinder Gottes«. Ein Fremdkörper, abge-
schlossen in ihrem Glauben, ihrer Sitte, und soweit es anging, auch
in ihrem Recht, richteten sie dennoch ihre Gedanken ganz auf die
Unterwerfung des Weltreiches, dessen Schutz sie genossen, und auf
die Vernichtung alles dessen, was ihrem Wesen darin feindlich war.
Aus der Tiefe strebten sie auf. Aber sogleich suchten sie an die Hohen,
die Einflußreichen heranzukommen; an alle Organe des Staates
klammerten sie sich an; in allen seinen Provinzen nisteten sie sich
ein; stets darauf bedacht, ihre Einheit zu behaupten, bildeten sie
dennoch ihre Amtsbezirke nach denen des Staates: seine Haupt-
städte machten sie zu ihren eigenen Metropolen ; und während das Reich
zerfiel, bauten sie die alte Hauptstadt zum Mittelpunkt ihrer Kirche
aus. Vergebens suchte der Staat, ein schon ermattender Kämpfer,
die Übermächtigen von sich abzuschütteln: die Verfolgungen, die
Grausamkeiten, zu denen er sich fortreißen Heß, selbst waren nur
Zeichen seiner Schwäche. Als Kaiser Konstantin die Kirche in den
Frieden des Reiches aufnahm, mochte sie vielleicht ein Zehntel seiner
Untertanen umfassen: ein Jahrhundert danach, und das Heidentum
war vernichtet oder in die Winkel entlegener Provinzen verbannt.
Welche Mittel die Kirche dabei anwandte, lehrt uns ein Publizist
jener Tage, der Sizihaner Firmicus Maternus, in einer Schrift, die
den Söhnen Konstantins gewidmet war. »Nehmt dreist hinweg,«
so redet er sie an, »den Tempelschmuck; in die Schmelze und in die
Münze mit jenen Göttern! Alle Weihgeschenke verwendet zu eurem
Nutzen und zum Nutzen des Herrn.« Schon war alle Lebenskraft
aus dem Körper des Reiches gewichen. Als die leere Hülse dahin-
sank, stand die Kirche, kaum erschüttert, aufrecht — mitten in der
barbarischen Flut. Nun aber entfaltete sich erst recht ihre Kraft.
Sie war es, die hier das Röraertum, dort die Griechen in ihrer harten
Schale zusammenschloß; so rettete sie das Erbe der antiken Kultur,
freiUch in dem Gepräge ihres Geistes: wie in einer Arche trug sie es
durch die Fluten der Völkerwanderung hindurch. Sie unterwarf
sich die Barbaren, die das Reich zerstörten, und breitete ihre Herr-
schaft bis in Lande aus, welche nie das Auge eines römischen Soldaten
erbUckt hatte. Sie erst hat die romanisch-germanischen Völker zur
Existenz erhoben, sie in die Geschichte eingeführt, zu ihrer Größe
emporgebracht, unendhche Saaten neuer Bildung ausgestreut und
103
den weltgeschichtlichen Horizont über beide Hemisphären verbreitet.
Und diese Gemeinschaft, so herrschgewaltig und herrschbegierig
— auf die Verneinung alles dessen, was Erdenglück und Erdenschön-
heit ist, war sie gegründet : Entsagung ist ihr höchstes Ideal gebheben,
und der sicherste Weg, zum Heil zu gelangen, die Askese.
Es kam die Zeit, wo auch sie ihre Katastrophe erlebte, wo die
Ideen, für die sie stritt, neue Formen gewannen, eine Wiedergeburt,
wie ihre Bekenner glaubten, zu ihrer ursprüngüchen Reinheit; und
alsbald sehen wir, wie auch diese, vielleicht in noch höherem Grade
als die Kirche des Mittelalters, staatsbildende Kraft bewähren: von
ihrem Geiste genährt, sind die germanischen Nationen die stärksten
der Erde geworden.
Sind also die Ideen in Wahrheit die machtbildenden Faktoren,
so muß der Ursprung aller Macht auf die Männer zurückgehen, in
denen sie erwachten; und stellen die Religionen das stärkste Element
dar im Aufbau der Geschichte, so sind im letzten Grunde ihre Stifter
die Bildner der poHtischen Welt. Nicht die Staatsmänner, die Gesetz-
geber, die Gründer und die Inhaber der jeweihgen Gewalt, sind die
Herren der Erde geworden: sondern die Träumer, die Propheten,
die von ihrer Zeit Verkannten, Verachteten und Verfolgten. Jene
waren Geschöpfe der Umstände, Sklaven der Pohtik, diese dagegen,
und mögen sie ihren Glauben in Kerker und Banden bekannt, Marter
und Tod für ihn erUtten haben, sind die wahrhaft Starken, die Mäch-
tigen, die Freien gewesen.
FreiHch, nur wenige unter den Propheten haben den Sieg ge-
schaut, den sie in heißem Gebet ersehnten und in leidenschafthcher
Predigt verkündigten. Wundervoll hat die Sage dies symboHsiert
in der Erzählung von Moses, der sein Volk aus Ägypterland durch
die Wüste führte: aber das gelobte Land Heß der Herr ihn nur von
ferne sehen. Und nicht das schhmmste Los fiel denen zu, die für
ihre Lehre starben; derm um so glorreicher strahlt ihr Name in der
Nachwelt: Geschichte und Legende haben ihr Leben verklärt. Weit
schmerzUcher doch und niederdrückender ist eine andere Tragik:
die Verkümmerung des Ideals selbst erleben zu müssen; niemand
hat darunter schwerer gehtten als der deutsche Reformator.
Das aber ist das Los jeder Rehgion. Nur in der Persönlichkeit
ihres Stifters erscheint sie in ihrer ursprüngUchen Gestalt. Sobald
sie in die Welt eintritt, die Gesellschaft nach ihrem Bilde formen
104
will, beginnt der Kampf, und damit ihre Abwandlung, ihre Politi-
sierimg. Denn nicht bloß die Lebensordnungen, die sie verdrängen
will, und die unter ihrem Stoß sich auf sich selbst besinnen, ihre
ursprüngliche Tendenz um so stärker ausprägen, setzen sich ihr sofort
entgegen, sondern bald auch Parteien, welche sich grade auf den
von ihr verkündigten Grundsatz berufen und ihn nur schärfer zu
vertreten vorgeben. Für das Alte streiten die Anhänglichkeit oder
auch nur die Trägheit der Masse und eine Fülle pohtischer Rück-
sichten und materieller Interessen — aber auch die radikalen Mei-
nungen sind oft solche, welche die Massen aufsuchen und hinter sich
herziehen. Zwischen diesen von rechts und Hnks andrängenden
Gewalten muß das neue Bekenntnis seinen Weg suchen. Wie wäre es
anders mogUch, als daß es selbst Partei werden und, um sich nur
zu erhalten und vorwärtszukommen, hier und dort Anlehnung suchen,
Kompromisse nach rechts oder links schließen, Spaltungen im eigenen
Schoß zu überbrücken suchen wird! In Ideen, Gebräuchen, Ein-
richtungen wird es sich den feindlichen Lebensformen annähern,
wie universell es sich geben und wie sehr es im ungeschmälerten Besitz
der Lehre imd des Geistes seines Stifters zu sein sich rühmen mag.
Parteienbildung aber heißt eben GHederung der Masse. Es
sind Organisationen für den Kampf, und sie fordern daher für sich
Einheit und Festigkeit, Befehl und Gehorsam, Taktik und Strategie,.
Losung und Feldgeschrei. Nur so können Stoß und Gegenstoß ge-
führt und ertragen, nur so kann die Hoffnung auf Sieg gewährleistet
werden. Damit ist gegeben, daß der alles belebende Geist sich in
dem Schoß einer Minderheit konzentriert; hier wird der Sitz der
Macht sein, die Stätte, wo das Feuer am heißesten brennt — und
wo die Klugheit wohnt, die es zugleich nährt und leitet. Das hat
noch für jede Zusammenfassung der Gesellschaft gegolten, mag sie
noch so breit unterbaut und weit gestellt gewesen sein; jüngst noch
ist das gleiche für unsere Sozialdemokratie nachgewiesen worden.
Die Staaten und die Kirchen selbst sind, man darf es so nennen,
konstituierte Minoritäten.
Dennoch wird die vorwaltende Schicht nichts erreichen können
ohne ein Gemeingefühl, das sie mit den untern Schichten verbindet :
eine Lebensluft, welche, ob hoch ob niedrig, jedermann atmet, der
zu dem gleichen Kreise gehört. Heute sichert die Demokratisierung
des öffentlichen Lebens den Massen freieste Bewegung, sie gewährt
105
ihnen Anteil und Einfluß von der Peripherie her bis in das Zentrum
des Staates; aber auch die alten Zeiten besaßen Organe, durch welche
die Massen zu Worte kamen, und man darf wohl zweifeln, wann der
Druck von unten stärker gewesen ist: ob in dem Jahrhundert der
Bartholomäusnacht und des deutschen Bauernkrieges oder unter der
Herrschaft des allgemeinen Stimmrechts.
Wenden wir das Gesagte auf das Verhältnis der WeltreHgionen
zueinander an, so erscheint die Lage für das kathoHsche Bekenntnis,
mögen immerhin die ihm anhängenden Nationen augenblicklich
im Nachteil sein, keineswegs ungünstig. In Österreichs Politik wird
— man denke nur an die Nötigung, die kathoHschen Serben von
den der griechischen Kirche ergebenen Stammesgenossen fernzu-
halten — das römisch-kathoHsche Element immer wirksam bleiben,
mag auch im übrigen eine gewisse Zurückhaltung gegenüber den
Nationahtäten geboten sein, die sich zu dem Glauben des russischen
Zaren bekennen. Wie feindseUg Frankreichs Leiter sich zu der Kirche
im eigenen Lande stellen mögen, mit der Kurie haben sie es doch
nicht bis zu einem offenen Zwist getrieben, an dem freihch auch diese
kein Interesse hat. Ähnhch rechnet man im Quirinal: die RivaHtät
mit den andern Mittelmeermächten, zumal in der Levante, schreibt diese
Linie vor. Und wie könnte die itaHenische Regierung eine Kirche be-
drängen wollen, an der die Masse des eigenen Volkes mit naiver Hin-
gebung hängt, und deren weltumspannendes Regiment von den
Söhnen des Landes geführt wird! England, das die MiUionen seiner
muhammedanischen und buddhistischen Untertanen mit aller Scho-
nung behandeln muß, stand von jeher der kathoHschen Kirche freier
gegenüber : auf den Gegensatz gegen Rom gründete sich seine nationale
Existenz; seine Pohtik ist Jahrhunderte hindurch darauf aufgebaut
gewesen. Seit der Französischen Revolution aber hat sich seine Stellung
zur kathoHschen Kirche verschoben, und es ist gar nicht zu erwarten,
daß sich etwa von Ulster her der Kampf Altenglands mit dem Papst-
tum erneuern könnte. Selbst Rußland hat, sobald und soweit es
panslawistische Politik treiben wiU, Ursache, ein Bekenntnis zu
schonen, das für MüHonen von Slawen die Grundlage des Daseins
geworden ist. GänzHche Neutralität gegenüber jedem Bekenntnis
fordert zunächst noch die Verfassung der großen transatlantischen
RepubHk; und nirgends hat die römische Kirche so ungehindert
106
sich entfalten können als in ihren Bereichen: aber mögen auch die
Italiener, die Iren und die katholischen Slawen, die dort heute die
Masse der Einwanderer bilden, im übrigen sich einem Staatsgebilde
einfügen, dessen nationbildende Kraft nur im römischen Kaiser-
reiche ihresgleichen hatte — niemals werden sie sich der protestan-
tischen Rehgion anschließen, sie müßten sich denn in ihrem Innersten
verwandeln. Je weiter aber die Nordamerikaner im Süden vor-
dringen, um so stärker wird der Widerstand seitens der romanisch-
katholischen Kulturkreise werden, denen die Mitte und die ganze
Südhälfte des amerikanischen Erdteils zugefallen sind. Nur das
Band des Staates, nicht das der Kirche, haben diese Staaten zer-
schnitten, als sie im vorigen Jahrhundert die Herrschaft der beiden
Pyrenäenreiche abschüttelten; und wie weit sie immer ihre Tore den
germanischen Nationen, ihrer Wirtschaft und ihrem Geiste öffnen
werden — daß sie sich von einer Macht, mit der ihr Volkstum seit
mehr denn einem Jahrtausend verbunden gewesen ist, ja durch die
sie geschaffen und entwickelt wurde, je loslösen könnten, ist wiederum
nicht zu glauben; die Teilnahme, welche noch jüngst die Kurie für
den Interventionsversuch der südamerikanischen Repubhken in
den mexikanischen Wirren an den Tag legte, deutete an, auf welche
Reserven Rom auf der anderen Hemisphäre noch hoffen darf.
Noch weniger hat die katholische Kirche ■ — wir brauchen
nicht davon zu sprechen, denn wir erfahren es jeden Tag an uns
selbst — von der inneren Politik zu befürchten. Neutralität ist das
Höchste, bis wohin die Regierungen, nicht bloß katholischer Staaten,
ihr gegenüber gehen können; und daß auch diese ihre Gefahren hat,
erlebt heute die französische Republik bei der Wiederholung des
Versuchs, der ihrer ersten Vorgängerin mißglückte : die beiden Macht-
sphären zu trennen und die Kirche ihren eigenen Kräften zu über-
lassen.
Als mit der großen Französischen Revolution ein neues Welt-
alter anzubrechen schien, glaubte man in den politischen Frei-
heiten den Boden gefunden zu haben, auf dem auch die Rehgions-
gemeinschaften fortan in Frieden und Freundschaft nebeneinander
leben könnten; die »freie Kirche im freien Staat« ward bald für Jahr-
zehnte das Schlagwort der Parteien. Heute ist, wenigstens im Lager des
LiberaHsmus, der Glaube hieran schwer erschüttert, und es hat sich
in der Tat genug ereignet, um jene Lehre ins Wanken zu bringen.
107
Ihre Wurzeln reichen bis in die Zeit zurück, als Macht und Bildung
noch das Vorrecht einer engbegrenzten Schicht der Gesellschaft
waren ; nur in dieser waren jene, die alten strengen Ordnungen in Kirche
und Staat auflösenden Gedanken zur Entwicklung gekommen, und
es war ein Stück ihrer Selbstzersetzung, wenn sie Ideen ausbildete
und verbreitete, die im Grunde gegen sie und ihre Welt gerichtet
waren; die Blindgeborenen gruben sich mit eigenen Händen das
Grab. Denn sie öffneten damit der Stummgewordenen den Mund;
sie schufen der Masse, die solange außerhalb der Macht geblieben
war, Organe, durch welche diese den Inhabern der Macht ihren Willen
aufdrängen, ihren Trieben und Leidenschaften, ihren Gewohnheiten
und Interessen, ihrer BegehrHchkeit und ihrer Unbildung Ausdruck
und Einfluß verschaffen konnte. Nun erst kam es an den Tag, was
aUes unter der Decke der aristokratischen Kultur, die zwei Jahr-
hunderte hindurch das politische und gesellschaftliche Leben Europas
beherrscht hatte, zurückgehalten oder zurückgeblieben war; bis auf
den Grund wurde die Gesellschaft umgewühlt. Ihre aristokratische
Gliederung, die auch die Hierarchie mit ergriffen, hatte zur Ohnmacht
der Kirche geführt: die Demütigung des Papsttimis, die Auflösung
des Jesuitenordens, eine sich täglich mehr ausbreitende Gleich-
gültigkeit, die schon auf die tieferen Schichten überzugreifen drohte,
Aufklärungserscheinungen und Toleranzgedanken, die mit dem
starren und streitbaren Genius der römischen Kirche schlechthin un-
vereinbar waren, waren das Ergebrüs geworden.
Aber eine Kirche, die sich durch ihre Priesterschaft an jeden
ihrer Angehörigen ganz persönUch wendet, sie im Leben und Tode
unmittelbar an sich fesselt, kann im Grunde sich gar nichts Besseres
wünschen als ihre Organe so zu gestalten, daß die Masse der Gläu-
bigen Anteil an ihrem Wirken und Wollen gewinnt ; sie ist ihrer Natur
nach demokratisch und muß um so mehr an Macht wachsen, je stärker
der Wille der Masse in ihr zur Geltung kommt. Voraussetzung ist
freilich, daß der Genius der Kirche noch in dem Bewußtsein der
Masse seine Wohnung hat. Daß dies aber der Fall ist, hat die Ge-
schichte des 19. Jahrhunderts bewiesen und lehrt in tausend Zügen
die Gegenwart. Die Kraft der katholischen Kirche, vor der heute
jede Regierung sich beugt, ruht auf dieser Teilnahme ihrer Gläubigen,
auf dem noch immer und allseitig aus der Tiefe emporquellenden Be-
dürfnis, das Ideal, nach dem jede Seele dürstet, und das uns allein
108
die Lebensbürde tragen hilft, in den Formen und Gebräuchen des
überlieferten Glaubens zu suchen. So ist die kathohsche Kirche auch
bei uns wieder Volkskirche geworden, und ihre in straffster GUede-
rung aufgebaute, von einem Geist beseelte und vorwärtsgetriebene
Priesterschaft kann die Menge der Bekenner um so leichter hinter
sich herziehen, als der Aufstieg in ihren Reihen durch alle ihre Ränge
bis zum päpstlichen Thron auch den Niedrigstgeborenen offensteht.
Ist es doch schon eine Seltenheit geworden, einen deutschen Edelmann
im Schmucke der Mitra zu sehen; Bürger- und Bauernsöhne haben
auf den Stühlen Platz genommen, welche einst den' stolzesten Ge-
schlechtern des alten Reiches vorbehalten waren.
Gewiß, in der Idee setzt auch der protestantische Glaube ein
breitflutendes Leben in der kirchHchen Gemeinschaft voraus; in
viel höherem Grade noch als der Kathohzismus, da er ja das Priester-
tum ausgestoßen hat und jede Seele unmittelbar vor das Antlitz
des Höchsten stellt. Und solange seine Anhänger in den überlieferten
Formen ihres Bekenntnisses des Lebens Glück und Heil fanden,
blieb dieser Charakter gewahrt, gleichgültig, ob sie unter reformierter
Verfassung oder unter konsistorialem Regiment lebten. Noch der
Pietismus des i8. Jahrhunderts hat, indem er die Schranken zwischen
den beiden protestantischen Kirchen zu überwinden und einzuebnen
unternahm, auch innerhalb seiner Gemeinden ein Gefühl der Gemein-
schaft genährt, das alle seine Bekenner in der gleichen Innigkeit der
Gottesverehrung zusammenschloß und damit auch eine sozial eng-
verbrüderte Genossenschaft schuf; und selbst unter der Herrschaft
der Aufklärungstheologie bheb ein auf treuer Anhänglichkeit an die
überlieferten Formen des Gottesdienstes ruhendes Gemeinbewußtsein
in der protestantischen Kirche lebendig. Erst die mit dem neu-
erwachten und neugearteten Pietismus durchsetzte Orthodoxie
des 19. Jahrhunderts, der Glaube der Gerlach und Hengstenberg, der
Vilmar und Tholuck, ein verengtes Überbleibsel der romantischen
Epoche, hat diese Kraft nicht mehr zu entwickeln vermocht, trotz-
dem sie sich mit den Regierungen verbündete und in Preußen, unter
Preisgebung ihrer extremsten Gruppe, die Landeskirche eroberte : statt
einer Gemeindekirche, wie sie gehofft, schufen ihre Führer eine Kirche
von Pastoren.
Dies geschah in derselben Zeit, wo die kathohsche Kirche sich
aufs neue in sich zusammennahm, alle ihrem Genius gefährlichen
1Ü9
Elemente, die auch in sie Eingang gefunden, ausmerzte und auf
allen Punkten zum Angriff überging. Indem sie die Massen in ihrer
Hand behielt, kamen ihr alle Vorteile, welche die Revolutionen und
Reformen des Jahrhunderts diesen zuwandte, zugute: Vereins-
und Versammlungsrecht, Freiheit der Presse und das Wahlrecht
für die Parlamente; und mehr noch die Versuche des Staates, ihre
immer höher anschwellende Kraft zu unterbinden, sie seinem Willen
zu untetwerfen.
Nun erst, im »Kulturkampf«, wie die Liberalen sagten (mit
einem Ausdruck, der nur ihre eigene Kraftlosigkeit auf diesem Kampf-
platz bezeichnete), kam die Macht der einen und die Ohnmacht der
andern Kirche vollends ans Licht. Während im katholischen Lager
alles Einheit, Hingebung, Kampfeswille war, nahm in der gegne-
rischen Kirche die Zersetzung überhand. Die »Erneuerer« des alten
Glaubens, sie, die sich als die wahren Hüter des Luthererbes be-
trachteten, waren mit ihrem Herzen bei den Verfolgten; sie predigten
Versöhnung und Bündnis mit einer Kirche, in welcher der Reformator
die Kirche des Antichrist erbhckt hatte; ihre ältesten Häupter waren
Mitglieder oder Hospitanten des Zentrums; imd diejenigen, die ihr
Amt in der Landeskirche am offenen Abfall hinderte, taten alles,
um die Kreise, auf die sie Einfluß hatten (und dieser reichte bis zum
Thron hinauf), wankend zu machen und denen, die im Treffen standen,
in den Rücken zu fallen. Kein Wunder, daß der Kampf so endigte
wie mancher andere, den die streitende Kirche geführt hat: mit
ihrem Triumphe.
Wo Hegen denn nun die Energien, ki'aft deren die protestantischen
Nationen heute dennoch vor den kathoUschen den Vorrang behaupten ?
Denn daß sie diese seit der Mitte des i8. Jahrhunderts, trotz mancher
Rückschläge, schließlich überflügelt haben, Hegt doch vor Augen.
Die Antwort wird lauten : in den Prinzipien, in denen sie wurzeln,
in den Ideen, die sie beseelen, die sie in ihren Willen, ihre Ordnungen
aufgenommen haben. Schon das Bewußtsein der Unabhängig-
keit von jeder fremden Lebensordnung, und rühmte sie sich gött-
Hcher Siegel, verleiht dem Staate der Reformation Kräfte, an welche
die an die katholische Kirche gebundenen Nationen nicht heran-
reichen. Zwar enthält auch die Lehre von dem »modernen« Staat
den Satz von der Unabhängigkeit des Staates gegenüber der Kirche.
110
Aber für sie bedeutet dies lediglich die Neutralität der Indifferenz;
und sie erniedrigt die Mutter der Nationen zu einer »Religionsgemein-
schaft«, einem Verein, dem sie noch viel zu bieten glaubt, wenn sie
ihm gewisse Rechte vor andern Vereinen und Genossenschaften zu-
bilhgt. Es ist dies eine Theorie, die von einer heute schon vergangenen
Entwicklungsstufe abgeleitet und an dem harten Fels der Tatsachen
bereits tausendmal zuschanden geworden ist. Sie mag bestenfalls
noch als Notbehelf für solche Staaten nützhch sein, die den Kampf
mit der kathohschen Kirche niemals gewagt haben oder in ihm ge-
scheitert sind und sich nun mit ihr wohl oder übel abzufinden suchen
müssen, weil sie in dem Wettkampf mit den freigwordenen Nationen
sonst allzuweit zurückbleiben würden. Ihre Voraussetzung ist ein
Machtbegriff, der nichts kennt als sich selbst und der, da ihm eine
höhere, beseelende Idee fehlt, immerdar etwas Wesenloses, Schatten-
haftes, Totes haben wird.
Die Unabhängigkeit, die sich auf die in dem Jahrhundert der
Reformation ans Licht gebrachten religiösen Werte gründet, hat
einen andern Sinn^). Sie ruht auf der Idee, daß jede politische
Gewalt eine Gottesordnung ist. Diese Anschauung fragt gar
nicht danach, ob die Gewalt durch Erbschaft erworben ist oder durch
Eroberung oder Revolution, ob sie christHch oder heidnisch, Mon-
archie oder Repubhk, der Staat Nimrods oder der Konstantins ist.
Sie ist in jedem Falle nach Gottes Willen da und damit an sich gut.
Niemand, der ihr Untertan ist, darf ihr widerstreben. Zwar ist sie
nur ein Notbehelf • — denn wieviel besser wäre es, wenn wir alle wie
Brüder miteinander lebten! Aber das Trachten der Menschen ist
böse von Jugend auf: fiele der Zwang, so wären Anarchie und ewiger
Krieg das Los der Menschheit. Die Bedürfnisse und Notwendigkeiten,
die das Leben hervortreibt und auferlegt, fordern nun einmal Regelung
und Schutz. Hierfür ist der Staat da; er hat den Frieden zu wahren,
die Ordnung und das Recht. Denn auch die Bedürfnisse und Not-
wendigkeiten, die Begierden selbst sind Menschentum, Daseins-
formen, von Gott zugelassen und also gewollt, ein Stück seiner Schöp-
fung und also gut (denn aus Güte und zu Gutem schuf er den Menschen)
— wenn sie ihrer Natur gemäß, nach seinem Willen gebraucht, be-
^) Vgl. zu dem Folgenden den Aufsatz über Luthers Lehre von der
Obrigkeit im i. Bande, S. 132; zum Ganzen aber den über »Nationalität und
Religion« ebd.. S. 234.
4
111
folgt, genossen werden: »Alle Kreaturen sind Gottes Heer.« An
diesem Ort tut sich die Kluft auf, die den Staat der Reformation
ewig von dem der katholischen Kirche scheiden wird: die Ehe, der
Erwerb, der Besitz, die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft,
in deren Abschwörung die kathohsche Kirche ihr höchstes sittHches
Ideal erbhckt, hier erscheinen sie in sich geheihgt, unmittelbar, wie
die Seele des Gläubigen, vor das Angesicht Gottes gestellt.
Damit aber sind nur erst die Voraussetzungen gegeben, die
Grundlagen, auf denen der Staat der Reformation sich erhebt. Denn
indem er in Aufgabe und Lebensformen freibleibt von den hierar-
chischen Ketten, wird er zugleich frei für den Dienst am Reich der
sittlichen Zwecke, öffnen sich in ihm Wege, auf denen jeder seiner
Bürger, jede Seele, jede Persönlichkeit freien Zugang gewinnen
kann zu dem Reiche der Erkenntnis, dem Reiche des Lichtes. Nur
die Wege, die Möglichkeit. Von einer Pfhcht des Staates hierzu
dürfen wir nicht sprechen; denn er hat an sich überhaupt keine
Pflichten, sondern nur Rechte. PfHchten hat der Inhaber des Amts,
diejenigen, die sein Amt ihm auferlegt. Aber als Träger des Schwertes
hat er alles andere eher zu tun, als für das Heil der Seelen zu sorgen.
Er kann nicht einmal die Strafe vergeben, sondern höchstens sie
feiern lassen. Er würde sein Amt mißbrauchen, wenn er es benutzen
wollte, um die Geister zu lenken. Nicht kraft seines Amtes, sondern
auf Grund höherer Antriebe persönlichster Natur, als ein Knecht
der idealen Mächte, in deren Schoß seine Gewalt ruht, von denen sie
ihr Leben hat, als Mensch zum Menschen, als ein Liebhaber, ein
Freund der Freiheit selbst handelt er, wenn er denen, die ihm an-
befohlen sind, dazu verhilft, geistige Güter zu erwerben. Nur als
Wegbereiter darf der Inhaber der Gewalt handeln, nur als Diener, als
Nothelfer sich betrachten. Denn nur wieder Notbehelfe, gefahrdrohend
in jedem Fall, sind alle Organisationen, in denen man das Reich der
freien Gedanken fassen und leiten will. »Möchte er nur nie vergessen, daß
die Sache an sich ohne ihn unendlich besser gehen würde, daß jene
äußeren Formen und Mittel immer notwendig nachteihg einwirken und
das Geistige und Hohe in die materielle und niedere Wirklichkeit herab-
ziehen, und möchte er darum stets das iimere Wesen vor Augen haben,
um gutzumachen, was er selbst, wenngleich ohne seine Schuld, gehin-
dert hat.« Nur so, nach diesem Wort Wilhelm v. Humboldts, läßt
sich hoffen, daß dort Freiheit wohnen kann, wo Macht gebietet.
112
Von hier aus können wir Stellung nehmen zu dem Satz, von
dem wir ausgingen : der bitteren Notwendigkeit eines ewigen Kampfes
zwischen den Mächten der Erde. Denn nun hat die Macht
ihr Recht bekommen und der Krieg seine Ehre. Ein Staat,
in dem Herrscher und Volk auf solchem Grunde stehen, wird Frieden
halten, solange er es vermag, aber auch den Krieg nicht scheuen.
Denn sie werden ihn führen, um die höchsten Güter der Menschheit
zu erretten, und in Wahrheit pro aris et focis streiten.
Im Weltkrieg.
Lenz, Wille, Macht und Schicksal.
Der deutsche Gott.
(August 1914.)
»Der Gott der russischen Erde ist groß«, so schloß der Zar seine
Anrede an die MitgUeder der Duma und seines Reichsrates, als er
die Greuel, die er durch den Weltkrieg entfesselt hatte, zu recht-
fertigen versuchte.
Wir kennen diesen Gott. Es ist der Gott, der Rußlands Ge-
schichte seit Jahrhunderten durchwaltet hat; Eroberung und Unter-
drückung waren immerdar seine Wege, Mord und Aufruhr, Tücke
und Verrat allezeit seine Werkzeuge; es ist der Gott der Despoten
und der Knechte.
Der Gott, in dessen Namen Deutschlands Heere in den Krieg
gezogen sind, ist ein anderer Gott. Er ist der Gott, der Eisen wachsen
ließ und keine Knechte wollte. Vor ihn, den Gerechten, sind wir,
als der Kaiser rief, betend getreten. Zu ihm, dem Allmächtigen,
dringt imter dem Brüllen der Geschütze unser »Vater, ich rufe dich ! «
empor. Ihm haben wir uns ergeben im Leben und im Sterben. Und
jauchzend, als ginge es zum Feste, stellt sich unsere Jugend dem
Gottesurteil der Schlachten.
Wunderbare, heihgende Macht des Krieges! Wo sind die bleich-
süchtigen Narren gebheben, die in dieser Welt voll Neid und Krieg
mit sanften, süßen Worten den ewigen Frieden pflanzen wollten?
Wo die blasphemischen Gesellen, welche an der Verkleinerung und
Karikierung des deutschen Wesens ihren Witz übten? Wo die
Zotenreißer, die den Schlammstrom Woche für Woche in Wort und
Bild über die von seinen Lehrern mühsam bestellten Äcker des deut-
schen Geistes leiteten, um daraus ihr Gold oder auch nur kärghchen
Tageslohn zu gewinnen? Wo alle die Nachäffer ausländischer Sitten
und Unsitten? Und wo die Propheten, die bereits die Götterdäm-
merung für unser Volkstum verkündigten? Wie ein Rauch sind sie
verschwunden. Emporgereckt hat sich mit wuchtend unhemmbarer
Kraft, in schimmernder Wehr der Siegfriedsgeist imsres Volkes.
116
Als eine Offenbarung hat es uns alle getroffen. Wie wenige
hatten doch noch den Glauben an unser Volk bewahrt angesichts
des unstillbaren und immer tiefer wühlenden Haders, der es in allen
seinen Schichten zerriß und ineinander verstrickt hielt! Schien es
doch fast, als ob die Einheit, die wir im Kampfe gewonnen, im Frieden
wieder zerfallen und die Institutionen, die wir uns gegeben, nur dazu
dienen sollten, um alle groben Instinkte ans Licht zu bringen und
den IdeaHsmus nationaler PoUtik in dem Wettstreit niedrig gerichteter
Interessen untergehen zu lassen.
Kleingläubige sind wir alle gewesen. Rührend, erschütternd, über-
wältigend offenbarte sich vom ersten Auftauchen der Gefahr an,
welch ein tiefer Fonds von Gottesfurcht in unserm Volke, in allen
seinen Schichten, ob hoch oder niedrig, Professor, Bauer oder Arbeits-
mann, Christ oder Jude, KathoHk oder Protestant, lebendig ge-
blieben ist. Es sind nicht die Dogmen der unterschiedlichen Kon-
fessionen und die aus diesen abgeleiteten reUgiösen oder pohtischen
Ansprüche und Pflichten, die dabei auftauchen: sondern Ideen und
Überzeugungen, welche allen Predigern und Philosophen gemeinsam
sind und, frei von dogmatischer Bindung, dennoch immerdar als die
Kemgedanken jeder echten Religiosität gegolten haben. Nicht die
Umwertung aller Werte, von der die Neunmalklugen soviel fabuliert
haben, sondern die alten, ewigen, welterbauenden Gedanken: Demut,
Treue, Gehorsam, Nächstenhebe, Pflichterfüllung bis aufs äußerste
und ein unzerstörbarer, stürmisch vorwärts drängender Glaube an
den Sieg der gerechten Sache. Bismarck war der rechte Prophet,
als er jenes Wort sprach von den Deutschen, die Gott fürchten, aber
sonst nichts auf der Welt, und das andere in derselben gewaltigen
Rede: daß, wenn wir angegriffen würden, das ganze Deutschland
von der Memel bis zum Bodensee wie eine Pulvermine aufbrennen
und von Gewehren starren werde, und daß kein Feind es wagen
werde, mit diesem furor teutonicus es aufzunehmen. Beschämt
fast stehen wir Alten, die wir 1870 erlebt haben, vor diesem nie ge-
sehenen Glühen und Leuchten des deutschen Geistes.
Sehg aber preisen wir uns, daß wir auch diese Zeit noch sehen
durften. Selig selbst dann, wenn alles vergebens wäre, wenn der
Schwall der Feinde unser mächtig werden und die deutsche Nation
ausgelöscht werden sollte. Auch dann noch wäre unser letzter Seufzer
ein Dank gegen Gott. Denn Gott würde uns dann dargestellt haben
1
117
als ein ewiges Beispiel für das, was Treue ist; eine Predigt würde
unser Todeskampf sein, die durch die Jahrtausende hallen würde.
Aber wir brauchen uns ja nicht zu ängstigen. Wir werden
siegen, weil wir siegen müssen: weil Gott die Seinen nicht ver-
lassen kann.
Der Kampf der Interessen und der Ideale wird darum imter
uns nicht aufhören. Das ist Menschenlos und kann gar nicht anders
sein. Viel zu tief sind die Widersprüche in das Leben unseres Volkes
verflochten. Auch der Streit der Konfessionen wird und soll nicht
aufhören. Denn es ist die Bestimmung der Deutschen, in alle Tiefen
der Erkenntnis hinabzusteigen: Gottsucher waren wir von jeher,
und wollen es bleiben. Aber die vergiftenden und auf nichts als
Trennung bedachten Formen dieser Kämpfe werden so nicht wieder-
kehren. AUzustark sind wir uns des gemeinsamen Untergrundes
deutschen Wesens bewußt geworden. Und der Glanz der Gegenwart
wird auch in die Vergangenheit seine Strahlen aussenden; die Ahn-
herren der Nation, alle ihre Helden, der Tat und des Gedankens,
werden wieder (wie es schon einmal war) in der Walhalla nationaler Er-
irmerung nebeneinander Platz finden. Sind es doch ihre Werke, für die
wir kämpfen. Ihre Gedanken sind es, die in allem, was wir Vaterland
nennen, Form gewonnen haben. Mit ihren Liedern zogen Deutsch-
lands Söhne in den Krieg. Wie im Geisterfluge umschweben ihre
erhabenen Schatten unsere Heere und stürmen mit ihnen vorwärts
dem Siege entgegen. Und ihr Schlachtruf ist der unsrige gebheben:
Gott mit uns!
Deutsdies Heldentum.
(November 1914.)
Tiefer als je, viel tiefer und weiter noch als im Jahre 1813, dringt
heute der deutsche Gedanke: alle Gegensätze in der Nation hat er
ausgeglichen, alle Herzen in eins verschmolzen; wo immer Deutsche
wohnen, flammt er auf, auch jenseits des Weltmeers bei den Ausge-
wanderten, den der alten Heimat Entrissenen — so weit die deutsche
Zunge klingt. Welch ein wundervolles, die Seele weitendes Schau-
spiel war es, als die deutschen Reservisten, die jenseits des Welt-
meers waren, dorthin eilten, wo deutsche Fahnen wehten! Ins Vater-
land zu ihren Regimentern konnten die wenigsten gelangen ; so strebten
sie zu den verlorenen Posten in unseren Kolonien. Sie wußten, daß
sie an deren Schicksal nichts ändern, daß Tod oder Gefangenschaft
ihr Los sein würde — aber nichts konnte sie zurückhalten; hunderte
von Meilen sind viele von ihnen durch Koreas und Chinas Provinzen
gewandert, um Tsingtau zu erreichen. Taten geschehen alle Tage,
vor denen alles, was uns in der Schule vom Heldentum der Antike
vorgetragen ward, verblassen muß. Was will selbst der Opfertod
eines Leonidas und seiner 700 Spartiaten bedeuten gegen die Tausende
unserer Freiwilligen, die sich zum Sturmlauf gegen die feindlichen
Schanzen und Schützengräben drängen, gegen die todgeweihten
Minenleger, die Luftgeschwader imserer Flieger, die Unterseer, die
in jedem Augenblick das Verderben zugleich androhen und erwarten,
und alle unsere Schiffsmannschaften, für die es nur eine Losung
gibt: siegen oder sinken! Nur in unserem eigenen Heldensange herr-
schen Klänge von der gleichen ehernen Kraft. Nibelungenklänge
sind es in der Tat, die uns aus der weit über alle Schöpfungen der
Phantasie hinausreichenden Wirklichkeit entgegenhallen. Ein Leuch-
ten wie von Jung- Siegfrieds Lichtgestalt dringt auf uns ein von
unsern jungen Regimentern, die den Hochgesang auf das Vaterland
anstimmten, als sie die feindlichen Linien an der Yser erstürmten:
»fielen wie Kräuter im Maien«. Und so fehlt in dieser gewaltigen
119
Symphonie von Sieg und Tod auch der andere Ton germanischen
Heldentums nicht, der in der Gestalt des grimmen Hagen seinen
Ausdruck fand: der Geist finsterer Entschlossenheit, in dem Haß
und Treue sich vermählen. Denn allzu tief haben sich die Schatten
des Todes auf unser Volk hinabgesenkt, um noch jener Jubelstimmung
der ersten Augusttage Raum zu lassen, die uns mit Flammenglut
emporriß — eine Offenbarung des deutschen Herzens, die erfahren
zu haben für jeden unter uns das größte Glück seines Lebens ge-
worden ist. Jedoch um keine Linie sind wir von der Entschlußkraft
abgewichen, die wir dem Ausbruch des Krieges entgegensetzten, von
dem Willen, durchzuhalten bis aufs Letzte. Nur um so grimmiger
ist unser Zorn geworden gegen die Buben, die uns an den Leib wollen,
um so heißer unser Haß. Wir wollen der Welt beweisen, daß wir
Nibelungenenkel sind, und müßte es auch von uns dereinst heißen:
»Nun hat die Mär ein Ende, das war der Nibelungen Not.«
Das ist der deutsche Militarismus, den die Engländer uns
austreiben wollen, von dem sie die Welt erlösen möchten. Unsre
Flotte würde dann auf dem Grunde des Meeres ruhen, unsere Kanonen
in den Festungen unsrer Nachbarn und unsre Soldaten unter der
Erde. Unsre Ostmarken, bis über Weichsel und Warthe hinweg,
und Oberschlesiens Kohlenfelder würden unter die Herrschaft der
russischen Kulturträger geraten. In des Rheins »gesegneten Ge-
breiten« würden Franzosen und Belgier es sich bequem machen:
jene würden die Rebengelände des Elsaß und der Pfalz, Lothringens
Erz- und Saarbrückens Kohlengruben zurückgewinnen, diese in der
Rheinprovinz ihre Rüben bauen, um den Engländern das Leben
zu versüßen. Albion selbst, großmütig wie immer, würde an unserer
Küste sich vielleicht mit Helgoland begnügen (wahrscheinHch doch,
ohne dort die Spuren des MiHtarismus auszutilgen) und nur noch
den Nordostseekanal mit Kuxhaven und Kiel unter seine Obhut
nehmen. Unsere Bureaukratie müßte freieren Formen der Verwal-
tung weichen, solchen, wie sie etwa in Irland oder im Ostend von
London zu finden sind; unser Reich aber würde zerbrochen, in seine
Gliedstaaten aufgelöst werden. Danach könnte denn unser Volk
der Pflege seiner alten Ideale zurückgegeben werden und die Welt
mit den Schöpfungen seiner Intelligenz und seines Kunstverstandes
bereichern: es würde wieder (wie ihm einst Lord Palmerston anriet)
mit den Wolken segeln dürfen und in den Lüften seine Schlösser bauen.
120
Der aber kennt nicht die Quellen unserer Kraft, der diese trennen
will von der Gedankenwelt unsrer geistigen Führer. Wenige unter
ihnen sind Männer der Tat gewesen: aber alle waren Helden, weil
sie Bekenner waren welterobemder Ideen. Unbekannt oft den Mäch-
tigen ihrer Zeit, verbreiteten sie zunächst im kleinen Kreise vom
Katheder her oder mit der Feder ihre Lehren. Aber üire Gedanken
wurden Taten, ihre Bücher gewannen Leben : sie flössen über in den Staat ;
alle seine Formen erfüllten sie; den Sinn der Macht wandelten sie
imi; sie drangen bis auf den Grund der Nation; Waffen und Politik,
Recht und Wirtschaft erhielten durch sie Ausdruck und Richtung;
die Männer des Schwertes, die Regenten selbst begannen ihnen zu
dienen und breiteten sie aus ; auf ihrem Grunde ruhte das alte Preußen
und ruht alles, was davon in das neue Reich eingeströmt ist; unsere
großen Monarchen, unsere pohtischen Reformer, die Helden des
Freiheitskrieges, und ihnen nach alle Kämpfer für die deutsche Einheit
bis hinauf zu Kaiser Wilhelms ehrwürdiger Gestalt und seinem
eisernen Kanzler stehen auf demselben Boden: der Welt deutscher
Ideen. Luther war es, der das Wesen des Krieges bestimmt hat,
den wir heute führen: den echten, den gerechten Krieg, den Krieg
der Notwehr gegen die Neider und die Räuber, den heihgen Krieg,
den Zermahner alles Abgelebten und Verderbten und den Schöpfer
und Erhalter aller echten Kultur, den Krieg, der zum Frieden gehört,
wie zum Lichte das Feuer. Er hat bereits das Bild des rechten Kriegs-
mannes voll umrissen, des deutschen Helden: »Siehe an,« so schreibt
er, »die rechten Krieger, die bei dem Schimpf gewest sind : die zücken
nicht balde, trotzen nicht, haben nicht Lust zu schlahen, aber wenn
man sie zwingt, daß sie müssen, so hüt' dich vor ihnen, so schimpfen
sie nicht ; ihr Messer steckt fest, aber müssen sie es zücken, so kommt
es nicht ohne Blut wieder in die, Scheide.«
Nicht das Todverachten macht schon den Helden. Auch der
Gladiator und der englische Söldner fürchten den Tod nicht; und
noch weniger achten die Barbaren, welche unsere Gegner auf die
Schlachtfelder Frankreichs und Belgiens geschleppt haben, des
Lebens: weil sie das Glück und den Sinn des Lebens nicht kennen.
Es ist hart für uns, die Blüte unserer Jugend, die Hoffnung unseres
Volkes, Hoch und Niedrig, Gelehrte und Ungelehrte, Arme und Reiche
gegen solche Horden auf die Schlachtbank schicken zu müssen. Sie
selbst aber, wie hoch sie stehen mögen, bis zu unsem Kaisersöhnen
121
hinauf, wollen gar nichts besseres als ihr Leben einsetzen für das
Leben der Nation, für Kaiser und Reich. Und ein solches Volk wollen
unsere Feinde entmannen, solch eine Macht wollen sie zertrümmern?
Es ist, als ob Knabenhände einen Block von Stahl umwerfen oder
die andrängende Flut mit ihren Sandburgen aufhalten wollten. Sie
müßten zunächst den Geist auslöschen, der in uns Leben gewonnen
hat; sie müßten uns erst sich selbst ähnhch machen.
So ist der Boden beschaffen, aus dem das deutsche Heldentum
aufsteigt und überwallt, ein ewig sich erneuernder Springquell. Unser
Herzblut ist es, das emporquillt. Und würde die deutsche Erde über-
strömt werden von dem Blute ihrer Kinder, wir würden dennoch
nicht wanken und nicht weichen: wir lassen uns nicht zwingen und
nicht dämpfen —
wir halten aus!
Bismarck.
(Rede, gehalten bei der Säkularfeier in Hamburg am i. April 1915.)
»Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts in der Welt« —
so lautet ein tausendfach wiederholtes Wort in der gewaltigen Rede,
worin der Schöpfer von Kaiser und Reich vor seinem letzten Reichs-
tage wie in einem Testament die Summe seiner Politik zusammen-
gefaßt, die Weltstellung unseres Volkes umschrieben und ihm seine
Ziele gewiesen hat, und die uns heute wie ein Präludium zu dem
Schlachtendonner der Gegenwart anmutet, dessen Nachhall noch
die fernsten Jahrhunderte vernehmen werden. Jedoch enthält jener
Satz niur die Hälfte des Gedankens, dem Bismarck vor den Vertretern
der Nation Ausdruck geben wollte, und wir müssen die Worte hinzu-
nehmen, die er unmittelbar daran knüpfte, um seinen vollen Sinn
zu verstehen: »Und die Gottesfurcht«, so fuhr er fort, »ist es schon,
die uns den Frieden Heben und pflegen läßt.«
In diesem Dreiklang, Furchtlosigkeit und Friedenshebe mit der
Gottesfurcht als Grundton, aus dem es uns entgegenhallt wie aus
dem Glaubenshede Martin Luthers, das heute zum Schlachtgesang
der Deutschen geworden ist, hegt der Sinn und das Ziel der Macht,
die Bismarck gründete. Dies ist das Recht, für das wir heute
kämpfen, der Wille, den wir in diesem Kriege bewähren, und die
Kraft, durch die wir uns gegen eine Welt von Feinden behaupten
werden: es ist der Geist, der dem Genius unseres Volkes gemäß ist,
das Band, das uns mit unsem Vätern und mit den Tiefen des deutschen
Lebens verbindet: mit Ideen, welche fernab von der Welt der Waffen
und der Politik, von allem, was Erwerb und Eroberung heißt, auf
den reinen Höhen humaner Ideale lagen und dennoch zum Inhalt
des nationalen Willens geworden sind, der in dem neuen Reiche
deutscher Nation Form gewonnen hat.
Denn von dort her kamen die Männer, welche vor hundert Jahren
unser Volk auf das Schlachtfeld hinausriefen, und von diesem Geist
getragen, erhoben zum erstenmal in unserer Geschichte Tausende
123
von Jünglingen und Männern das Schwert für des Vaterlandes Frei-
heit — in jener Zeit, auf die wir heute zurückbUcken wie auf das
Morgenrot des Tages, unter dessen Mittagssonne wir unsere heiße
Arbeit verrichten müssen. Als Fichte seine Schüler in den heiligen
Krieg entHeß, als er sie aufforderte, auszuziehen, um für die Freiheit
zu streiten, dachte auch er noch an keine andere Freiheit als an die,
deren Siege sein Zeitalter bereits geschaut, die er unter Preußens
absoluter Krone, unter dem Drucke der Fremdherrschaft selbst
verwirklicht sah: an die über Zeiten und Völker hinwegreichende
Geistesbildung, die er lehrte; nicht zur Errettung, sondern zur Er-
oberung dieser Freiheit sandte er seine Jimger hinaus; ihr sollten sie
Eingang in den Ländern verschaffen, die der fremde Despot in die
Bahn eines öden Ehrgeizes und Machtdünkels hineingezwungen
hatte, damit die Segensströme echtester, allgemein menschücher
Bildung sich über die Welt ergössen und sie mit neuer Lebenskraft
erfüllten.
Fichte ward selbst ein Opfer dieses Krieges; und so bleibt für
uns seine heroische Gestalt auf der Scheide beider Zeitalter: als
Prophet hinüberschauend nach dem festen Erdreich, auf dem wir
stehen, und doch wie auf Wolken wandelnd, in die Abgrundtiefe
des Gedankens den Bück gesenkt und mit der Selbstgewißheit des
Willens an die Sterne rührend. Aber auch die andern, die den Wechsel
der Zeiten an sich selbst erfuhren, Schleiermacher und Wilhelm
V. Humboldt, ScheUing und Hegel, Görres imd Arndt, und wer
immer zu den Bildnern unserer Nation gehörte, nahmen die Ideale
ihrer Jugend mit hinüber und suchten das Einst und das Jetzt in
ihren Vorstellungen vom Vaterlande, von deutscher Macht und Frei-
heit im Staat der Deutschen miteinander zu versöhnen. Und ihnen
nach nun die Generation der Freiheitskriege selbst, deren Lehrer
und Führer sie bheben, in deren Kämpfe sie verstrickt waren, mit
denen sie am Aufbau der neuen Nation arbeiteten. Von den Höhen
des deutschen Geistes stieg der deutsche Gedanke zu Tal, tausend
Widerständen begegnend, siegreich und gehemmt, weckend imd
werbend, unklar zuweilen und verflachend, reinigend, befruchtend
und zerstörend; fremde, radikale Ideen drängten sich hinzu, während
aus dem eigenen Boden Quellen hervorbrachen, die unter dem Schutt
der Zeiten lange begraben lagen, nun aber eine Lebenskraft ent-
wickelten, stärker als alle Ideen des Jahrhunderts; Parteien und
124
Kampf, wohin wir schauen: aber auf dem Grunde der Strömung,
wie trübe sie zuweilen fließen mochten, bleiben dem tiefer drin-
genden Blick immer Ideale des deutschen Geistes sichtbar, welche
in Gottesfurcht und FriedensHebe ihre Heimat haben.
Ein langer Weg, und ein schwerer fürwahr von jenen Zeiten
der Unnihe und Verwirrung bis dahin, wo wir stehen: dem Manne
aber, der unser Volk auf ihm geführt, der uns das Haus gebaut hat,
für das wir heute kämpfen, die Schranken niederbrach, die uns
trennten, den Willen und die Kraft in uns legte, die uns zum Schrecken
unsrer Feinde machen • — ihm gilt diese Feier: zu ihm wendet heute,
lunringt von der Lohe des Weltbrandes, unser Volk seinen BHck,
vor ihm senken sich alle Fahnen, welche in Ost und West siegreich
gegen die Bedränger unserer Freiheit wehen.
Zwei Generationen sind vergangen, seitdem unser Volk nach
langer Irrfahrt zum erstenmal sich am Ziel wähnte; als der Sturm-
wind der Pariser Februarrevolution in die Stickluft des deutschen
Lebens hineinfuhr und im Wirbel weniger Tage alle Regierungen
dem Drucke des nationalen Willens unterwarf. Es waren aber nicht
die Schlechtesten, welchen die Nation damals den Aufbau ihres
neuen Reiches anvertraute. Niemals wieder hat ein deutsches Par-
lament eine solche Fülle von Geist und Wissen, von sittUcher Energie
und rückhaltloser Hingebung an den nationalen Gedanken in sich
vereinigt, wie die Reichsversammlung, die am i8. Mai 1848 in der
alten Krönungsstadt am Main zusammentrat. Viele darunter noch
die Schüler und Freunde jener Großen, die wir nannten, in ihren
Gedanken erzogen, Mitkämpfer von 1813, und alle durchglüht von
der Idee, die das Jahr der deutschen Revolution der nationalen Er-
innerung auf immer unvergeßhch machen vard: dem heißen Willen
der Nation, endlich den Staat zu bauen, welcher der Größe und Herr-
hchkeit deutscher Kultur würdig wäre.
Es war das Ziel, welches die großen Nationen im Westen und
Osten längst erreicht hatten, die nun drohend die deutschen Grenzen
umlagerten: dieselben, welche heute ihre Millionen zur Vernichtung
unseres Reiches vereinigt haben. Keine stärkere historische Recht-
fertigung kann die deutsche Revolution haben als diese Tatsache.
War es auch nicht die zwölfte, so doch sicherhch die elfte Stunde,
die der Einigung der Nation gesetzt war. Daß Deutschlands Schick-
125
salsstunde vor der Tür sei, hat auch Bismarck niemals geleugnet:
den Willen in unserm Volk zur Einheit und zur Macht hat er immer
anerkannt ; es war die Voraussetzung, unter der er sein Werk begonnen
wie vollbracht hat. Gewiß, jene Männer waren Doktrinäre, imd so
mcLg man von dem Professorenparlament und dem Debattierklub
in Frankfurt reden. Aber ihren Zielen hat die Zukunft gehört, und
Bismarck selbst ist der Vollstrecker ihrer Gedanken geworden; diese
sind eingefügt in den Bau, den er errichtet hat. Von den ärgsten
der Frankfurter Doktrinäre stammt das Wahlrecht, das er zur Grund-
lage seines deutschen Parlaments gemacht hat; er war wie sie ein
Verächter der Legitimität, und er hat die sozialen Gedanken, die sie
mit ihrer nationalen Demokratie verknüpfen wollten, auf das neue
Reich übertragen und damit ein Werk vollbracht, das heute eine der
Grundlagen der ungeheuren Kraft geworden ist, die wir einer Welt
von Feinden gegenüberstellen. Er war ihnen allen hierdurch ver-
wandter als seinen eigenen reaktionären Freimden, und so ist es denn
kein Wunder, daß er aus ihren Kreisen die ersten imd die unbedingten
Diener gewonnen hat, imd daß die Verbannten jenseits des Welt-
meers die Verkünder seines Ruhmes geworden sind.
Nicht an diesem Ort haben wir die IrreaUtät der Frankfurter
Pläne zu suchen, sondern in der Nichtachtung des historischen Rechtes,
welches ihre Anhänger den in dem deutschen Boden festgewurzelten
Gewalten gegenüber bewiesen. Sie wähnten, daß die deutschen
Kronen, daß aUe territorialen Gewalten, welche das alte Reich über-
dauert hatten, der nationalen Idee sich rückhaltlos unterwerfen
würden und müßten, sowie sie selbst sich von den Schranken, die
sie daheim umgaben, gelöst und der Idee von dem neuen Reiche
ergeben hatten. Aber sie vergaßen, daß sie damit an Lebenskreise
rührten, die viel tiefer reichten als ihre Gedanken von nationaler
Einheit und parlamentarischen Rechten. Denn Deutschland war
kein Italien. Hier gab es keine auf der Nation lastende Fremdherr-
schaft, keine Bourbonenhöfe und keinen römischen Priesterstaat:
bis in die Höhezeit mittelalterHcher Kaiserherr hchkeit, ja wohl bis
in die Anfänge des deutschen Staates zurück reichten die Wurzeln
der deutschen Fürstenhäuser, und gemeinsam erlebte Geschicke
hatten zwischen ihnen rmd ihren Landschaften die Gefühle enger
Zusammengehörigkeit entwickelt. Seit drei Jahrhunderten hatte
sich, wie das poHtische, so auch das geistige Leben der Nation in
126
den Territorien gesammelt und geschieden; und wenn seit zwei
Generationen diese Fluten begonnen hatten, sich zu vermischen,
so waren dennoch die trennenden Linien überall sichtbar geblieben.
In ihrer jetzigen Gestalt waren diese Staaten durchweg junge Schöp-
fungen; ihre Regenten hatten ihre Kronen und Herzogshüte zumeist
von Napoleons Gnaden: aber jener Prozeß des Zusammenwachsens
war dadurch nirgends aufgehalten worden, eher beschleunigt,
sowie er auch heute noch unablässig sich fortsetzt.
Hier ist der Platz, auf dem wir Bismarck suchen müssen. Dies
ist der Boden, auf dem er im Sturm jähr der Revolution stand, und
von dem aus er in jugendlichem Trotz sich der andrängenden Woge
in den Weg warf. Sein Vaterland, das »Vaterhaus«, zu dem er sich
bekannte, war Preußen, er hat es niemals verlassen. Noch stand er
auf der Zinne der Partei, die keinen größeren Heißsporn besaß als
ihn: aber doch nur darum, weil er der Mann des Staates war, der
Erbe eines Hauses, dessen Söhne in allen Kriegen dieser Krone ge-
blutet, ihren Trägern gedient, wohl auch getrotzt hatten, aber im
Glück und Unglück mit ihrem Lande verwachsen gewesen waren:
der Genius Friedrichs des Großen war in dem jugendlichen Helden
lebendig geworden.
Daß Deutschland einig werden müsse, war ihm das Selbst-
verständliche. Wie er es von der Tribüne der preußischen National-
versammlung in die Debatte über die Reichsverfassung hineinwarf:
»Die deutsche Einheit will jedermann, den man danach fragt« —
»aber«, so setzte er hinzu, »mit dieser Verfassung will ich sie nicht!«
In seinen Reden und Briefen bhtzten bereits Gedanken auf, welche
die Wege seiner Zukunft beleuchteten. Aber als das Nächste galt
ihm, die Stellung der preußischen Krone in der Brandung zu be-
haupten. Preußens Ehre, Preußens Kraft, Preußens Großmachts-
stellung war seine Losung, Preußen und immer Preußen das Wort,
in dem sich die Summe seiner Politik zusammenfaßte. So war das
Programm beschaffen, mit dem der Sechsunddreißigj ährige am
10. Mai 1851 als Gesandter seines Königs seinen Einzug in die Stadt
des Deutschen Bundes hält.
Während er aber in Frankfurt den Boden studierte, auf den
ihn das »Rad des Lebens«, das ihn so plötzlich erfaßt, hinausgeworfen
hatte, Rivalen und Gegner und die wenigen Freunde mit suveränem
Blick umfaßte, in dem Wirrwarr der Intrigen jeder Lage gewachsen
127
und sie bis auf den Grund durchschauend und benutzend, rauschte
die nationale Woge, kaum zurückgeschlagen, schon wieder mit
neuer Kraft daher. Denn immer drohender hingen die Wolken über
dem deutschen Horizont: der Bund der drei Ostmächte seit der
Revolution vermorscht und durch den Krimkrieg vollends zersprengt;
Frankreichs Kraft unter dem neuen Bonaparte gegen den Rhein
und die Alpen gewandt; Rußland, soeben von Frankreich geschlagen,
dennoch bereit, ihm über Preußen hinweg die Hand zu reichen; und
England als Asyl für alle Verbannten seinem »Gewerbe« ergeben,
Revolutionen auf dem Festlande anzuzetteln. Ein paar Jahre noch,
und das Ungewitter der Tiefe brach los; von Napoleon geschürt und
geleitet, Krieg und Revolution zugleich, überglühte es ganz Italien
von den Alpen bis zu der Südküste Siziliens. Und während diese
Nation ihren Staat im Sturm gewann, fiel in Deutschland die gleiche
Bewegung, kaum entfacht, abermals in sich zusammen und ver-
strickte sich der Herrscher, auf den die Patrioten alle ihre Hoffnungen
gesetzt, mit seinem Landtag im Kampf um die Macht in einen Hader,
aus dem schließHch weder er noch eine der Parteien einen Ausweg
fanden.
In diesem Moment hat Bismarck das Steuer seines Staates er-
griffen. Sein König hatte ihn gerufen, damit er ihm gegen die inneren
Feinde helfe. Er aber lenkte, kaum daß er im Amte war, den Kurs
gerade auf den Feind zu, gegen den er schon in Frankfurt auf der
Wacht gestanden.
In vier Jahren war er am Ziel. Der Kampf um die Macht, um
die Macht über Deutschland, war entschieden. Der Scheitelpunkt
seiner Bahn war erreicht. AugenbHcks wandte er jetzt sein Anthtz
dem Pol zu, von dem er sich immer noch abgekehrt hatte, der Idee,
als deren Verächter er bisher gegolten hatte: dem Aufbau des
deutschen Staates.
Und alsobcdd veränderten sich alle Linien seiner PoUtik. Sieben
Jahre zuvor, damals als er bei den Parteien als der Verräter, als
Dienstknecht des Höllensohnes Bonaparte verschrien war, hatte er
zu einem Freunde gemeint, daß, wenn er von einem Teufel besessen
sei, es kein gallischer, sondern ein teutonischer sein müsse. Jetzt
sollte er dessen Kraft an sich erfahren. Aus der Tiefe her hielt der-
selbe ihn fest. Seine innere wie seine äußere PoHtik erhielt von diesem
Geist fortan die Richtung. Er gewann unerhörte Kräfte, so oft er
128
ihn anrief, und mußte sich fast hüten, den überstarken zu zitieren;
nur mit Mühe konnte er, schon ein halbes Jahr nach der Nieder-
werfung Österreichs, in der Luxemburger Frage den Strom dieser
Kräfte abdämmen; aber er benutzte alsbald die Glut, die sie ent-
facht, mn mit den letzten Hammerschlägen die Verfassung des Nord-
deutschen Bimdes fertig zu schmieden, die dann die Grundlage des
neuen Reiches geworden ist. Er selbst entzündete dies Feuer, als er im
Juli 1870 die Nation gegen Frankreich entflammen wollte, und es ist
nicht auszudenken, welche Kräfte dadurch gelöst wurden ; nur so konnten
damals, wie wiederum heute, unsere Feinde zu Boden gestreckt werden.
Aber die nationale Idee hat den Starken auch im Wege hinein-
gezwungen, die er heber vermieden hätte. Sie nötigte ihn im JuH
1866 dazu, der Opposition die Hand zu reichen und brachte ihn,
von dem Gesuch um Indemnität an bis hin zum Frieden von Wien,
in immer neue aufreibende Kämpfe mit seinem könighchen Herrn.
Sie führte den Bruch mit seiner eigenen Partei herbei und unter-
warf ihn Forderungen der Liberalen, die er sonst nie bewiUigt hätte.
Und vor allem, sie übte von selten der auswärtigen PoHtik einen
Druck auf ihn aus, den er in den alten Zeiten niemals gefühlt hatte.
Nim zeigte es sich, daß die Angst, welche die Patrioten immer vor
dem Zaren und dem französischen Cäsar gehabt hatten, nicht grundlos
gewesen war. Waren die europäischen Krisen vordem das rechte
Wetter für Bismarcks PoHtik gewesen, so mußte er, nachdem es ihm
noch einmal gelungen war, den ältesten und gefährlichsten aUer
Gegner Deutschlands, Frankreich, zu isoHeren und niederzuwerfen,
fortan aUes daransetzen, um solche Stürme zu vermeiden. Bis ans
Ende seiner Herrschaft hat nun dieser Gedanke seine PoHtik be-
herrscht; aUe Bündnisse, die er schloß, aUe Verhandlungen, die er
führte, dienten dem Zweck, den Frieden, den er der Nation erobert,
nach außen zu behaupten. Ein wahrhaft göttHches Geschick, das
uns die Todfeinde in die Flanken setzte, damit der Geist, der in
den Jahrhunderten der Ohnmacht und der Sehnsucht in ims er-
wachsen war, in dem Frieden, den die Macht verbürgt, weiter blühen
könne. Es ist das Ziel, das uns auch in dem neuen Kriege gestellt
ist, und durch nichts kann besser bewährt werden, daß es Bismarcks
Werk ist, welches wir durch ihn schirmen.
Aber wir begreifen es nun, daß die Last, die jedes Jahr drückender
wurde, auch seine gewaltige Kraft zu zermürben drohte, und daß
129
finstere Gedanken, dunklere Schatten sich auf seine Seele senkten,
Stimmungen der Schwermut und Resignation ihn überkamen. Dies
sind die Jahre, in denen er davon sprach, daß auch der Staatsmann
nichts weiter sei als ein Geschöpf der Verhältnisse, und wo er über
diejenigen lachen konnte, die ihm überhaupt eine besondere Macht
zuschrieben, indem sie Gewalt und Willkür verwechselten. Es war
das prometheische Los, das ihm schon Freund Roon vorhergesagt
hatte, und das noch alle Gewaltigen auf Erden getroffen hat.
Dennoch bheb er bis ans Ende der Kämpfer, und hat sich sein
Werk in seinen Grundlagen voll behauptet. Ein kunstvoll geeinigtes
Chaos, so hatte der Erbe des preußischen Thrones, für den er die
Kaiserkrone geschmiedet, die Verfassung bezeichnet, welche Bis-
marck dem Reiche gab : es ist die gleiche, die uns heute den ungeheuren
Kampf durchhalten läßt. AUe Maße waren richtig berechnet, auch
solche, an denen er selbst gezweifelt hat; ja gerade diese bewähren
heute ihre Stärke: um keine Liiüe ist der Bau aus seinen Fugen ge-
wichen. Die Grundkräfte des deutschen Lebens sind darin zu voller
Harmonie vereinigt: die nationale Idee, die Idee des Jahrhunderts
der Revolutionen, ist darin verschmolzen mit den Kräften, die in
den alten Zeiten gebildet waren und das zerfallende Reich wie die
Kämpfe um die Einigung selbst überdauert haben. Denn alles, was
Macht war, erkannte Bismarck an und schonte es, sobald es sich
seinem Staatsgedanken unterwarf. Darum ward der freiwillige Zu-
sammenschluß das Grimdgesetz des neuen Bundes, dem er den alten
Namen des Reiches zurückgab. Den Staaten, die es bilden, über-
ließ er die Pflege des kulturellen Lebens, das sie in ihren Bereichen
eigentümhch entwickelt hatten, alles, was lokales Interesse besitzt,
das eigentlich HeimatUche. Was aber die Macht verlangt, die uns
die Güter der Kultur erst sichert, dem Genius der Nation freie Ent-
faltung gewährt, was ihr die Möghchkeit bietet, frei zu atmen in
der Welt, das hat er in den gemeinsamen Organen des Rechts, der
Wirtschaft und des Krieges zusammengefaßt.
Nur wenn wir den Schöpfer von Kaiser und Reich seinem Werke
Selbst gegenüberstellen, wird uns seine titanische Gestalt in allen
ihren Zügen sichtbar, wird uns seine Entwicklung selbst verständ-
lich: die EinheitHchkeit und Geschlossenheit seiner PoUtik, die wie
ein von einem Gedanken beherrschtes System sich vor uns aus-
Lenz, Wille, Macht uud Scbicksal. 9
130
breitet, wie ein planmäßig in allen seinen Teilen wohlberechnetes
Kunstwerk sich darstellt; die Beharrlichkeit und die Vorsicht; die
Geduld auch, mit der er seine Pläne verfolgte, und der Trotz, die
UnerbittUchkeit, mit der er sie durchführte ; auch wohl die Ungeduld,
die ihn oft übermannte, der Herrscherwille, der seiner Herrscher-
kraft entsprach, die Glut der Leidenschaft, ohne die er niemals seine
Ziele erreicht hätte; das Nibelungenhafte seiner Natur, das ihn,
der im Glanz der Morgensonne seines Lebens wie Jung Siegfried aus-
gezogen war, gegen das Ende seiner Tage den altgewordenen Helden
unserer Sage gleichen ließ, an den grimmen Hildebrand, an Hagens
Zornmut und den Feueratem des starken und getreuen Dietrich
von Bern uns erinnern könnte: das Dämonische mit einem Wort,
das ihm wie allen Baumeistern der historischen Welt, die immer
zugleich Zerstörer waren und Schöpfer, zu eigen war. So wie es uns
seine Bilder offenbaren, von den weichen Formen der Jugendzeit
an bis zu den von tragischer Schwere umwitterten Zügen seiner Alters-
gestalt mit dem dunklen Glühen seiner Augen: Züge, die der Meister
des Hambm-ger Denkmals fast ins Überirdische, zu finsterer Majestät
erhöht hat.
Es ist alles so gekommen, wie er es in jener erhabenen Rede
vorausgesagt hat : die Feinde Deutschlands, deren PoHtik er mit rück-
haltloser Offenheit darin kennzeichnete, haben ihre Gedanken offenbar
gemacht, alle ihre Kräfte haben sie gegen uns vereinigt. Aber auch
sein Prophetenwort, daß, wenn es um unsere Ehre, unsere Freiheit
gehen sollte, das ganze Deutschland von der Memel bis zum Boden-
see wie eine Pulvermine aufbrennen würde, ist Wahrheit geworden.
Es ist, als ob der steinerne Riese auf der Kuppe des Hamburger
Stadtwalles von seinem Postament herabgestiegen wäre und sich
zu seinen Deutschen im Felde gesellt hätte. In Wahrheit, Bismarcks
gewaltiger Schatten zieht mit in unseren Heeren. Sein Schwert
ist es, dessen Schläge draußen so furchtbar widerhallen; und wohin
seine Flammenblitze fahren, dringt Verderben unter die Feinde
des deutschen Namens: als kämpfe St. Michael selber in unseren
Reihen. Denn der Geist unserer Väter ist in uns lebendig gebüeben,
die Vaterlandsüebe ist zum Gemeingut der ganzen deutschen Nation
geworden, und jeder Wehrmann hegt, so wie er es damals verkündigt
hat, den festen Glauben im Herzen: Gott wird mit uns sein.
Bistnardc als Diplomat.
(Januar 1915.)
Vor einigen Jahren war bei uns in der Öffentlichkeit eine leb-
hafte Diskussion entbrannt über eine Reform des diplomatischen
Dienstes. Nicht nur in der Presse, sondern auch im Parlament wiurde
Klage darüber geführt, daß der Kreis, aus dem die Regierung ihre
jungen Diplomaten wähle, zu eng gezogen sei; daß die Vorbildung,
besonders auf geschichthchem Gebiet und in allen wirtschafthchen
Fragen, zu gering sei; daß man auf die Zugehörigkeit zu einem der
vornehmen Korps oder einem der Garderegimenter und auf hoch-
klingende Adelstitel mehr Gewicht lege als auf Kenntnisse; und
daß man auf große Revenuen und gesellschaftliche Toumure mehr
achte als auf geistige Ressourcen. Solchen Vorwürfen gegenüber
hatte die Regierung keinen leichten Stand. Denn sie konnte nicht
leugnen, daß die Arbeit unserer Diplomaten nur geringe Erfolge
aufzuweisen habe. Und so ist denn auch seitdem manches geschehen,
imi den jungen Herren in der Wilhelmstraße ein stärkeres geistiges
Rüstzeug mitzugeben; und dann und wann mag ja wohl auch aus
den gehobenen bürgerlichen Kreisen der eine oder der andere, statt,
wie es sonst zu geschehen pflegte, in die Konsulatskarriere abge-
schoben oder in der Zentralverwaltung verwandt zu werden, zu dem
höheren auswärtigen Dienst zugelassen sein.
Heute sieht jedermann, daß imsere Diplomatie in der Tat gegen-
über den feindlichen Kräften, die uns seit Jahren bedrängten, versagt
hat; daß sie die Zahl unserer Feinde nicht vermindert und die unserer
Freunde nicht vermehrt hat; und daß sie selbst von der Plötzhchkeit
und der Schwere der Katastrophe kaum weniger überrascht worden
ist als die breite Welt der diplomatischen Laien. Unser führender
Staatsmann hat es in jener Stimde, da der enghsche Botschafter ihm
die Kriegserklärung seines Landes überbrachte — gewiß einer der
bedeutungsvollsten Momente in der neueren Geschichte — rück-
haltlos bekannt, daß seine Politik ein Fehlschlag gewesen sei, in Worten,
132
die durch den leidenschaftlichen Ton, den Schmerz und die sittHche
Empörung, die sie durchbebten, offenbarten, wie ernst es ihm mit
seinem durch fünf lange Jahre durchgeführten Bestreben gewesen
ist, den stärksten und hinterhaltigsten unserer Rivalen zum Freunde
zu gewinnen.
Seitdem hat das Schwert das Wort. Und siehe da, dies brachte
uns sofort, was der Feder versagt geblieben war: diplomatische Er-
folge. Der alte Dreibund wurde durch den Ausbruch des Krieges
gesprengt; denn mag er auch dem Namen nach noch heute gelten,
so weiß doch alle Welt, wie wenig er in Wirklichkeit bedeutet, und
daß wir noch froh sein mußten, wenn die Freundschaft mit Italien
sich nicht ins Gegenteil verwandelte: hatte es doch bereits zur Zeit
des Friedens in den Fällen, wo es auf die Probe ankam, seine Stellung
jedesmal bei unseren Gegnern genommen und da, wo es auf eigenen
Wegen ging, unsere Kreise direkt gestört. Statt dessen aber ist ein
neuer Dreibund entstanden, der, wenn etwa die Mittelstücke, welche
bisher fehlen, noch hinzukommen sollten, von Wilhelmshaven bis
Bagdad reichen würde und auf jeden Fall einen stärkeren Wall dar-
stellt, als das heute auseinandergebrochene Zentraleuropa: weil er
eben durch das Schwert gegründet, durch den Kampf, den jedes
seiner GHeder um die Existenz zu führen gezwungen ist, zusammen-
gefügt wurde. Noch wissen wir nicht, wie jene Zwischenstaaten
sich verhalten werden. Wie aber auch immer die Dinge laufen werden,
unser Schwert allein wird ebensowohl andere Schwerter, die sich
schon in der Scheide lockern wollten, darin zurückhalten, wie es sie,
falls wir mit ihm unsere Feinde niederschmettern, an unsere Seite
bringen wird. Auch die neuen Diplomaten, welche unsere Sache
jetzt an den fremden Höfen vertreten, werden, wie genau sie mit
den Intentionen unserer Regierung und derjenigen, bei denen sie
akkreditiert sind, vertraut sein, wie tief ihre Einsicht und wie fest
auch ihr Wille sein mögen, nichts erreichen ohne die Macht, die
hinter ihnen steht. Diese allein kann uns die Freunde erhalten, die
Avir besaßen, und neue gewinnen, wie sie allein unsere Feinde nieder-
zwingen wird.
Dürfen wir danach sagen, daß jene Klagen oder Vorwürfe gegen
eine Klasse von Beamten, denen unsere Regierung die wichtigsten
Interessen der Nation anvertraut, berechtigt waren ? Doch nur dann,
wenn es diplomatischer Geschicklichkeit möglich gewesen wäre.
133
den Felssturz, der im Sommer plötzlich und urgewaltig auf uns nieder-
brach, zurückzuhalten. Es gibt jedoch in der großen Politik säkulare
Verschiebungen, die auch die einsichtigste und kraftvollste Staats-
kunst (für welche die Diplomatie doch immer nur Mittel und Werkzeug
ist, zu der sie sich verhält wie die Taktik zur Strategie) nicht ver-
hindern kann. Das sind die großen Krisen, die Weltwenden in der
Geschichte, wie diejenige eine ist, die wir heute erleben: wo der
Staatsmann nichts weiter vermag als den Moment, den das Schicksal
ihm setzt, zu erfassen, wo seine Kunst gerade darin besteht, daß er
an die Macht, an das Schwert zu appelieren den Entschluß faßt,
den Krieg als das letzte Mittel der Politik, als die ultima ratio regum
ergreift. Ein solcher Moment trat ein für Friedrich den Großen
im Sommer 1756, als sich ihm die Koalition Rußlands, Österreichs
und Frankreichs in unabwendbarer Nähe am Horizonte abzeichnete;
für Napoleon im Frühjahr 1803, als England den Frieden, zu dem
es ein Jahr vorher sich verstanden hatte, zu brechen entschlossen
war; und für Bismarck am 13. Juli 1870, als er durch Umredigierung
der Emser Depesche das schon halb verlorene Spiel herstellte und,
was ein Rückzug zu werden drohte, mit ein paar Federstrichen in
einen nicht mehr zu hemmenden Angriff verwandelte.
Niemand ist sich dieser in der Natur der Dinge liegenden Not-
wendigkeit stärker bewußt gewesen als der Schöpfer unseres Reiches.
Zu allen Zeiten hat Bismarck gewußt, daß die Welle sich nicht lenken
läßt, daß alle Kunst und Kraft, die dem Staatsmann zu Gebote
steht, nur darin beruht, das Staatsschiff den Stürmen zmn Trotz
im rechten Kurs zu halten. Jahre hindurch hat er mit ihm die hohe
See der Politik aufgesucht und gerade die großen Krisen (nach seinem
eigenen Wort) als das Wetter begrüßt, in dem Preußens Macht wachsen
werde. Danach hat er zwei Jahrzehnte hindurch unausgesetzt mit
eingerefften Segeln seine Fahrt gemacht und alles getan, um den
Zusammenprall zu vermeiden; nahe am Ufer, ja im Hafen selbst
hat er sich nun gehalten: aber auch da waren es jederzeit die Fels-
wände der Macht, neben denen er ankerte, und vor denen es allen
Gegnern Deutschlands grauste. Daß es ihm in dieser Epoche seines
Wirkens gelungen ist, den Zusammenstoß mit überlegenen Gewalten
zu vermeiden, darf wohl als die größte Probe seiner Staatskunst
aufgefaßt werden. Aber auch dies war nur möglich, weil der zwei
Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und England,
134
und ebenso der neuere, erst im 19. Jahrhundert entwickelte, zwischen
England und Rußland noch bestanden: Konstellationen, die seitdem,
wie wir es heute erleben, beseitigt oder wenigstens hinausgeschoben
sind und einem Kriegsbund dieser drei Mächte und ihrer Vasallen
gegen uns Platz gemacht haben. Nicht eher also, als bis uns be-
wiesen würde, daß es möglich gewesen wäre, diese Umgruppierung
der großen Mächte zu verhindern, oder daß wir unsere Machtziele
trotz der Tripleentente hätten erreichen können, dürften wir in jene
Anklage rückhaltlos einstimmen.
Auch Bismarck hat gelegentlich das Bedürfnis einer besonderen
Vorbildung für die diplomatische Karriere betont. Jedoch verlangte
er dies nicht eigenthch von den Diplomaten von Fach; er richtete
solche Mahnungen vielmehr an diejenigen unter seinen Gegnern,
welche, ohne irgendwie als Fachleute in der hohen Politik sich be-
währt zu haben, ihm dennoch die Ziele der preußischen und der
deutschen Politik anzugeben wußten und die Methoden, die er an-
wandte, einer oft überaus scharfen Kritik unterzogen. Es waren
die Herren von der liberalen Oppostion, welche in den Kämpfen
um die deutsche Einheit andere Wege vorhatten als die, welche
Bismarck gewählt hatte. Er suchte diese unerbetenen Ratschläge
dann wohl mit der Bemerkung abzuwehren, daß jene von Dingen
sprächen, die außerhalb ihres Horizontes lägen, und zu denen eine
fachgemäße Vorbildung gehöre. Und diese Auffassung ist durch den
Erfolg, den Sieg Bismarks so allgemein geworden, daß sie sogar noch
heute zuweilen vorgetragen wird und nicht nur für Bismarck, sondern
auch für seine Nachfolger gelten soll. An seine eigenen Kollegen
hat Bismarck jedoch niemals solche Anforderungen gestellt. Er
beklagte sich wohl eher über die beamtenmäßige Manier, mit der
in der preußischen Diplomatie die Geschäfte getrieben würden;
»wir betreiben«, schreibt er an den General von Gerlach schon im
zweiten Bericht von seiner Frankfurter Gesandtschaft, »eine Menge
kleiner Sachen, die allerdings notwendig gemacht werden müssen, mit
denen aber der große Apparat von so vielen hochbezahlten Gesandt-
schaften und Unterbehörden kaum im Verhältnis zu stehen scheint «.
Und der dürftige Nachwuchs in der preußischen Diplomatie erregte
ihm ganz so wie ihren heutigen Anklägern die Galle: »Die Menschen«,
so lesen wir in einem anderen Briefe aus jener Zeit, »fehlen uns zum
135
Verzweifeln.« Aber die Eigenschaften, die er fordert, haben mit
den Ansprüchen, die er der Hberalen Opposition der 60 er Jahre,
etwa einem Gneist oder Virchow gegenüber machte, nichts zu tun.
»Prillwitz von den Gardekürassieren«, so schreibt er an den General,
»hat große Lust hierher, weil er in die Jahre kommt, wo ihm das
unverständige Fähndrichsleben, das er bisher getrieben, drückend
wird. Ich hätte ihn sehr gern, weil ich glaube, daß sich etwas aus
ihm machen läßt. Er hat ungewöhnhch viel Mutterwitz, ein sehr
preußisches Herz und ist doch soweit vernünftig schon geworden,
daß er die Mängel seiner Ausbildung fühlt und sich durch Haus-
lehrer mit tägHchem Unterricht nachzuhelfen sucht.« Vollends an
bürgerHchen Ersatz senkt Bismarck überhaupt nicht. Im Gegenteil,
indem er einem seiner Kollegen die Befähigimg zum Diplomaten
durchaus abspricht, meint er, derselbe sei, »etwa ein Diplomat von
der Art wie sie Harkort und anderen Demokraten vorschweben,
wenn sie der Kammer bürgerHche Geschäftsträger und Konsuln
statt der besternten Grafen anpreisen« — woraus man sieht, daß die
Forderungen, denen unsere Regierung heute einigermaßen nach-
zugeben sich anschickte, schon im Jahre 1853 von der gleichen Seite
vorgebracht worden sind. FreiHch hat Bismarck selbst eine ganze
Reihe bürgerlicher Namen in seinen Dienst gezogen; ich brauche nur
an Lothar Bucher zu erinnern, lange Zeit der intimste seiner Helfer,
oder an Busch, den Staatssekretär, den Bismarck ebenfalls hoch-
schätzte, auch an kleinere Geister, wie die Hepke, Ägidy und Moritz
Busch, das »Büschchen«, wie Bismarck wohl einmal den kleinen
Mann, wenn er ihn vmiwedelte, nannte. Aber er hat sie und andere
fast nur zu seinem persönUchen Dienst imd im Zentrum der Geschäfte
verwandt. Für die Vertretung des Staates an den Höfen sah auch er
es als selbstverständhch an, daß nach dem alten Herkommen und
dem allgemeinen Brauch, wenigstens der monarchischen Regie-
rungen, Mitgheder der aristokratischen Gesellschaft gewählt würden.
Zwar zufrieden war er auch mit ihnen selten genug. Von dem vorhin
Genannten, den er als den Idealdiplomaten der Demokratie charak-
terisiert, meinte er, er sei »unter uns gesagt ein ganzer Narr mit Stern
und Eichenlaub«. Nicht ganz so scharf, aber ebenfalls von geringer
Anerkennung zeugend, lauten seine Urteile über Diplomaten wie Josias
Bunsen, Graf Harry von Arnim und den Herrn von Werther, dem
sein unerhörtes Ungeschick als Botschafter in Paris im Juli 1870
136
das Genick brach; sowie Bismarck auch die Minister, unter denen
er diente, einen Otto v. Manteuffel, v. Schleinitz und Graf Bernstorff,.
nicht eben hoch einschätzte. Auch Robert von der Goltz, für dessen
Übernahme in den diplomatischen Dienst er sich in seiner Frank-
furter Zeit eingesetzt hatte, und zwar wesentlich unter dem Ge-
sichtspunkt, um ihn aus der Umgebung der Wochenblattpartei zu
entfernen, wurde ihm später überaus lästig. Kaum einer der großen
Posten war ihm in der Zeit seiner drei Kriege nach Gefallen besetzt ;
weder Savigny noch Arnim noch Werther, geschweige Graf Usedom,,
dienten ihm so wie er es wünschte. Und wenn Goltz als der einzige
nicht durch Bismarck selbst entfernt worden ist, so hat es nur
daran gelegen, daß ihn der Tod, bevor der Bruch entschieden war,,
hinwegnahm.
Er selbst jedoch hat von allen schulmäßigen Bedingungen, welche
heute an einen richtigen, seinen Aufgaben gewachsenen Diplomaten
gestellt werden, keine einzige erfüllt; es müßten denn seine Sprach-
kenntnisse genannt werden, vor allem seine wundervolle Beherrschung
des Französischen, wodurch er bei einer Audienz im Sommer 1862 sogar
dem Kaiser Napoleon imponierte. Er hatte ja, als er die Universität
bezog, an die diplomatische Laufbahn gedacht, und damals erfüllte
ihn wirkhch der Traum, ein neuer Metternich oder Talle3Tand zu
werden; der Ehrgeiz, wie er später einem Universitätsfreund schrieb,
war noch der Lotse auf seiner Lebensbahn. An dieser Absicht hielt
er noch fest, als seine Eltern es schon nicht mehr wünschten und
ihm die Offizierslaufbahn anrieten. Dann aber wurde ihm der Dienst
in den preußischen Schreibstuben, die Aussicht, auch beim Ergreifen
der diplomatischen Karriere aus der Engigkeit bureaukr atischer
Formen nicht herauskommen zu können, mehr und mehr lästig; er
riß sich von den Fesseln des Staates, welche seine junge Kraft nicht
zu ertragen vermochte, ganz los, um in der freien Luft des Land-
lebens das zu gewinnen, wonach seine Seele dürstete: Unabhängig-
keit, das hieß Herrschaft. Und erst die Revolution führte ihn wieder
zum Staate zurück. Sie hat ihm, wie vielen andern, freie Bahn für
die Entwicklung seiner Kräfte gemacht. Wäre sie nicht gekommen,
er hätte wohl sein Leben als Deichhauptmann in Schönhausen be-
schlossen. In der Revolution aber war es ganz die innere Politik,
der er sich ergab: der Rettung der Krone vor dem An wogen der
Demokratie, der Aufrechterhaltung Preußens gegen die alsbald
137
fessellos gewordene deutsche Bewegung galt sein Sinnen und Wirken,
mochten auch dann und wann bereits Gedanken in ihm aufblitzen,
die auf die spätere Richtung seiner auswärtigen Pohtik hinwiesen.
Auf diesem Felde hat er zuerst alle Künste seiner Diplomatie ent-
wickelt; es ist die Zeit, wo er meist in Potsdam war, »um«, wie er
jenem Universitätsfreunde schrieb, »einer ruchlosen Kamarilla zu
assistieren «.
Und diese Verdienste sind es gewesen, welche ihm die Stellung
in Frankfurt einbrachten; so wie sein Freund und Parteigenosse
Herr von Kleist-Retzow als Lohn für ähnliche Taten das Oberprä-
sidium der Rheinprovinz erhielt. Es galt, Preußen nach der Nieder-
lage von Olmütz wieder eine Stellung in dem bundestäglichen Deutsch-
land zu verschaffen, es mit Österreich näher zusammenzubringen,
anderseits aber die Mittel- und Kleinstaaten, die durch die unglück-
liche Unionspohtik an den Wiener Hof herangedrängt waren, von
diesem abzuziehen und (worin man sich mit allen Bundesregierungen
am meisten im Einklang finden durfte) die Reste des revolutionären
Geistes in dem gesamten Bundesgebiet auszutilgen.
In der Zeit, als Bismarck zu der Höhe des Sieges emporstieg
und alle Welt über die Größe seiner Erfolge und die Geniahtät seiner
Pohtik fast sprachlos war, pflegte man die Frankfurter Jahre als
seine Lehrzeit in der Diplomatie zu bezeichnen. Hierauf hat bereits
Heinrich v. Sybel in feiner Wendung die richtige Antwort gegeben,
wenn er schreibt, diese Auffassung passe genau so, wie wenn man
von der Schwimmschule eines jungen Fisches spräche. In der Tat
finden wir Bismarck zu Frankfurt vom ersten Tage ab in seinem
Element. . Jeder Weg, mag er zwischen Klippen hindurchführen
oder über Untiefen hinweggleiten, ist ihm fortan recht; jedes Hindernis
weiß er zu nehmen, und keines erschreckt ihn. Niemand von seinen
Kollegen imponiert ihm, und allen sieht er imter die Haut; sie sind
ihm xmausstelilich mit ihrer Wichtigtuerei und diplomatischen Be-
richtsmiene, die sie bei jedem Gespräch aufsetzen, und wodurch
der ganze Verkehr mit ihnen zu einem gegenseitigen mißtrauischen
Ausspionieren wird. Und wenn man noch etwas auszuspionieren und
zu verbergen hätte! Aber es sind lauter Lappalien, mit denen diese
Leute sich quälen, und diese Diplomaten sind ihm mit ihrer Klein-
lichkeitskrämerei viel lächerhcher als der Abgeordnete in der zweiten
138
Kammer im Gefühl seiner Würde. Sogar seine eigene Tätigkeit
erscheint ihm schal und wertlos. In der Kunst »mit vielen Worten
.gar nichts zu sagen«, schreibt er bereits am Ende der ersten Woche
an seine Gemahhn, »mache ich reißende Fortschritte, schreibe Be-
richte von vielen Bogen, die sich nett und rund wie Leitartikel lesen,
vmd wenn Manteuffel, nachdem er sie gelesen hat, sagen kann, was
darin steht, so kann er mehr wie ich«. Er weiß genau, daß nur äußere
Ereignisse, welche die Diplomatie weder leiten noch vorherbestimmen
kann, eine Änderung zustandebringen werden. Er hat nie daran
gezweifelt, daß sie alle mit Wasser kochen: »Aber eine solche nüchterne,
einfältige Wassersuppe, in der auch nicht ein einziges Fettauge von
Hammeltalg zu spüren ist, überrascht mich. Schickt Schnitzen
Filöhr, Stephan Lotke und Herrn v. Dombrowsky aus dem Chaussee-
hause her, wenn sie gewaschen und gekämmt sind, so will ich in der
Diplomatie Staat mit ihnen machen.« Er sehnt die Zeit herbei, wo
er dieser ganzen »goldbeblechten Schützenherrhchkeit« den Rücken
kehren kann und der Freiheit des Landlebens wiedergegeben werden
wird, aus der ihn das Rad des Lebens, das ihn erfaßte, herausgeworfen
hat. Kaum ist er in Frankfurt ein wenig warm geworden, so ent-
wirft er für seinen Freund Leopold v. Gerlach, in dem ersten Brief,
den er an ihn schreibt, eine ganze Galerie von Porträts seiner Kollegen.
Jedem gönnt er nur zwei bis drei Zeilen, aber sie treten vor uns hin,
als ob sie lebten; wie im Kinematograph ziehen sie an dem Leser
vorüber. An der Spitze Seine Exzellenz der Präsidialgesandte Graf
Thun: »ein Gemisch von ungehobelter Derbheit, die leicht für ehrUche
Offenheit passiert, von aristokratischer Nonchalance und slavisch-
bäuerhcher Schlauheit; hat stets keine Instruktionen und scheint
wegen Mangel an Geschäftskunde von seiner Umgebung abhängig
zu sein«. Ihm folgen seine Mitarbeiter: der Baron Brenner, »ein
romantischer Beau, groß, schön und brünett, klug und unterrichtet,
aber faul, in Gesellschaft schweigsam«; weiter der Baron Noll, »etwas
älter, scheinbar mehr der Flasche als den Weibern zugetan, ersterer
jedenfalls über den Durst«. Vorsicht und Unaufrichtigkeit ist der
bemerkenswerteste Charakterzug in ihrem Verkehr mit den Preußen.
Redensarten von der Notwendigkeit gemeinsamen und einheitlichen
Wirkens haben sie bis zum Überdruß im Munde; wenn es sich aber
darum handelt, Preußens Wünsche zu fördern, so ist ein offizielles
»nicht entgegen sein wollen« und ein heimliches Vergnügen, Hinder-
139
nisse zu bereiten, das einzige, was man von ihnen zu erwarten hat.
Es folgen die Mittelstaatler. Zuerst der Bayer, Genersd Xylander:
»stellt sich beschränkt und ehrhch, ersteres geUngt ihm vollständig <<;
in bezug auf die zweite Eigenschaft hat Bismarck noch kein Urteil
gewonnen. Herr v. Nostiz, der Sachse, »ist vorsichtig, höfUch, biegsam,
wie ich glaube, unzuverlässig und falsch aus Schwäche, geschäfts-
kundig und nach seinen Reden VTÜgär konstitutionell«. Über den
Württemberger, Herrn v. Reinhard (den Sohn jenes napoleonischen
Grafen Reinhard, der, ein württembergischer Pastorssohn, in jungen
Jahren nach Frankreich geraten und, von den Wellen der Revolution
in die Höhe getragen, nach langer diplomatischer Laufbahn Frank-
reichs erster Bundestagsgesandter gewesen war) ist Bismarck sich
noch nicht klar; später hat er um so böser über ihn geurteilt. Der
Badener, Herr v. Marschall, »ist ein kluger gewandter Mann, der
viel Hinneigung zu Preußen an den Tag legt, fast zu höflich; betrügt
auch er uns, so tut er es weiügstens mit Anstand«. Der Kurhesse,
Herr v. Trott, läßt sich nirgends sehen, »lebt einsam in seinem Zim-
mer, klcLgt sehr über die Hitze trotz eines auffallend leichten und
nicht ganz propern häushchen Kostüms imd macht einen etwas
landjimkerhchen Eindruck«. Und so geht es weiter bis zu den ganz
Kleinen herunter, dem Herrn v. Fritsch aus Weimar, dem Syndikus
Banks von Hamburg und dem »Talleyrand von Bremen«, dem alten
Smith, »dem keiner recht traut, xmd der für Deutschland nur insoweit
Sinn zu haben scheint, als Bremen darin Hegt«.
Ein wenig Karrikatur mag ja in diesen Bildern sein, und die darin
Geschilderten würden sich nicht geschmeichelt gefühlt haben; der
BHck für die Schwächen seiner Mitdeutschen war in Bismarck von
früh auf ausgebildeter, als für ihre stärkeren Seiten; die love of appro-
bation, auf die er für sich selbst keinen Anspruch machte, war in
ihm auch andern gegenüber, wie er \\iederholt eingestanden hat,
wenig entwickelt. Aber im Kern hat er die Herren Kollegen ohne
Frage richtig und mit \\aindervoller Treffsicherheit aufgefaßt. Er
konnte es, weü er selbst von den Schwächen der andern frei war;
denn Menschenkenntnis beruht immer auf Selbstbeobachtung und
Selbstkritik. Er hat Napoleon HL schon zu einer Zeit, wo dieser
noch in edlen Kabinetten und bei allen Parteien für einen Ausbund
poHtischer Klugheit galt, vöUig durchschaut, seine persönlichen
Schwächen ebenso wie die wankenden Stützen seiner Pohtik; und
140
Gortschakow, der in der öffentlichen Schätzung ungefähr die gleiche
Stellung einnahm wie der französische Kaiser, erschien ihm von
Anfang an mehr tölpelhaft als schlau; einen »Fuchs in Holzschuhen«
nennt er ihn schon in seinen Frankfurter Berichten. Wie er denn
überhaupt von den russischen Diplomaten wenig hielt: »Sie kochen«,
schreibt er während des Krimkrieges an den General v. Gerlach,
»eben auch mit Wasser, und diese wegen ihrer Feinheit und All-
gegenwärtigkeit sonst so gefürchtete russische Diplomatie könnte
zwar nicht von der unsrigen, aber doch von der österreichischen
sehr viel lernen«. Ein Blick, eine Wendung des allzeit Schlagfertigen
genügte, um die Schlausten zu entlarven. Er selbst blieb für jeder-
mann unergründlich und jeder Situation gewachsen. Mit der souve-
ränen Beherrschung aller Verkehrsformen verband er eine Höf-
lichkeit, die sich nichts vergab und ihn um so unnahbarer machte.
Man müsse, äußerte er einmal an der Tafelrunde zu Versailles, die
Leute so rücksichtsvoll behandeln wie möglich — oder sie unschäd-
lich machen, eins von beiden; grob sein dürfe man, fügte er scherzend
hinzu, nur gegen seine Frau. Es war eine Ritterlichkeit, wie man
sie dem Gegner auf der Mensur zu erweisen pflegt, oder, wie Bis-
marck selbst es während der Revolution gegen einen demokratischen
Parlamentskollegen als seinen Grundsatz bekannt hatte: eine Höf-
lichkeit »bis zur letzten Galgensprosse«. Immerhin hatte auch dies
bei ihm seine Grenze. Schon in Schönhausen, in den schönen Tagen
der ländlichen Freiheit und des Brautstandes, hat er der Geliebten
eine Probe von seiner Verhandlungskunst mitgeteilt, die ihn noch
im Besitz anderer Mittel zeigte. Es war ihm gelungen, einen durch
vier Jahre hingeschleppten Streit zwischen 41 »übermütigen Bauern«
(so schreibt er) durch einen Vergleich beizulegen : »Nach vierstündiger
Arbeit, bei der ich mit schmeichelnder Liebenswürdigkeit und klotziger
Grobheit wechselte und selbst einige Male in effektiven Zorn geriet,
hatte ich sie zusammen«. Wie oft hat er diese Taktik (den Gegner
zu erschrecken, den schon Wankenden durch einen leidenschaftlichen
Angriff zu entwaffnen) später im Großen angewandt; in den Zorn
selbst, so echt er war, legte er dann Berechnung.
Die Regel jedoch blieb ihm für alle Pohtik ruhiges Beobachten,
unbefangenes Urteilen und leidenschaftsloses Handeln, oder nennen
wir es lieber im Hinbhck auf seine Löwennatur : Bändigung der Leiden-
schaft. Immer sind es die Realitäten, auf die er den Bhck hinlenkt:
141
die allgemeine Lage; die Kräfte, über die der Gegner verfügt, mag
er sie aus eigener Macht schöpfen oder aus der Verbindung mit andern ;
auch seine persönlichen Schwächen, die, wie Bismarck sehr wohl
merkt, oft nur ein Ausdruck und Wiederschein der Machtlosigkeit
sind, aber gerade darum von ihm als wichtige Faktoren in die Rechnung
eingesetzt werden; und wer hätte sie besser ausnutzen können als
Bismarck! Er beurteilte sie alle »mit der Ruhe des klassifizierenden
Naturforschers«; und, wenn ihm einmal etwa im Verkehr mit dem
zanksüchtigen und stets intrigierenden Grafen Prokesch, Thuns
Nachfolger in Frankfurt, die Galle überlaufen wollte, so war ihm jener
im ganzen als Gegner noch lieber als der beschränkte, aber ehrhche
Graf Rechberg — wenigstens so lange ihm mehr daran lag, sich mit
Österreich zu schlagen als zu vertragen. »Sie müssen pohtisch schrei-
ben, und in der PoHtik ist der Zweck nicht Beleidigung«, so ermahnt
er einen seiner Adjimkten. »Die Begriffe Strafe, Lohn, Rache«, so
ist seine Lehre, »gehören nicht in die Politik. Diese darf der Nemesis
nicht ins Handwerk pfuschen, nicht das Richteramt üben wollen,
das ist Sache der göttlichen Vorsehung. Die Politik hat nicht zu
rächen, was geschehen ist, sondern zu sorgen, daß es nicht wieder
geschehe. Sie hat sich unter allen Umständen einzig und allein mit
der Frage zu beschäftigen: Was ist hierbei der Vorteil meines Landes,
■und wie nehme ich diesen Vorteil am besten wahr?« Er fand diese
Lehre in einem Lehrbuch der Politik, das er schon auf der Universität
studiert hatte, eingehender als die Vorlesimgen des alten Heeren, in
Shakespeares Königsdramen; aus »Richard dem Zweiten« zitierte
er sie einmal einem alten Gegner von 1866, dem Staatsminister
V. Mittnacht: »Ich kenne weder Haß noch Liebe«; — vom persön-
lichen Standpunkt sei das lächerhch, aber Staaten sollten so regiert
werden. Es war das Staatsgefühl, das in ihm noch mächtiger war
als die Leidenschaft, von der es doch ganz durchglüht war, das sie
wie mit eisernen Reifen umschloß und in Zucht hielt. Sobald Bis-
marck am Schreibtisch saß, gewann er sofort die voUe Ruhe des
Urteils. Darum lesen sich seine Berichte, schon die aus Frankfurt,
und gerade diese besonders, wie historisch-pohtische Abhandlungen:
sie atmen Rankesche Objektivität und könnten in der Tat mit der
Konzentriertheit ihrer Gedanken, dem Weitblick und der die histo-
rischen Bedingungen der politischen Lage voll erfassenden Einsicht
dem Geiste des Meisters der Geschichtswissenschaft entstammen.
142
Zu den sonderbaren Ansichten, die sich im Laufe der Zeit über
unseren Helden gebildet haben und zuweilen noch laut werden, gehört
auch die Meinung, daß Bismarck mit den Gewohnheiten einer ver-
alteten Diplomatie, die in einem listigen Verschleiern ihrer Absichten
ihre Hauptkunst gesehen, gebrochen und zum erstenmal das Prinzip
voller Offenheit in die Politik eingeführt habe. Damit aber tut man
ihm schweres Unrecht an; die Größe seines Wirkens würde dadurch
unendlich verheren. Wenn irgendein Politiker, so hat auch Bis-
marck sich auf Talleyrands Satz verstanden, daß die Diplomatie die
Kunst sei, seine Gedanken durch Worte zu verbergen. Erwäge man
doch, welche Aufgaben er sich gestellt hat, oder wie sie sich im Laufe
der Jahre für ihn gestalteten: gegenüber Österreich, von Olmütz
ab über Königgrätz zum Bündnis von Wien; gegenüber der Nation,
von der Revolution her, die keinen größeren Gegner fand als ihn,
bis zur Gründung des Reiches hin, in das er doch so viele Gedanken
von 1848 wieder aufnahm, und weiter diurch alle die Kämpfe hindurch,
die er mit den alten und den auf dem Boden des neuen Deutschlands
entstandenen Parteien zu führen hatte; gegenüber Europa, in dessen
Mitte er das Reich wieder aufrichtete, das seit Jahrhunderten in sich
zerfallen gewesen und zum Spielball der fremden Nationen geworden
war. Er hat Habsburg aus Deutschland verdrängt, um es dann wieder
an seine Seite zu ziehen; er hat Rußland der Protektorstellung, die
es seit den Tagen von Memel in Preußen und an den kleineren deutschen
Höfen besessen hatte, beraubt und durch das Bündnis mit Österreich
den Weg geöffnet, der, wenn er selbst ihn auch noch vermeiden konnte,
schließlich doch zu dem Kriege auf Leben und Tod geführt hat, in
dem wir heute mit den Moskowitern begriffen sind; Frankreich,
das Jahrhunderte hindurch über deutsche Kräfte wie über die eigenen
verfügt hatte und die Vormacht auf dem Kontinent gewesen war,
hat er zu Boden geschlagen und mit ihm die deutschen Westmarken
wieder entrissen, sowie er schon früher die Nordmarken Dänemark
abgenommen und der Nation zurückgewonnen hatte; und obschon
er von einer ausgreifenden Überseepolitik nicht viel wissen wollte,
hat er dennoch in den großen Fragen der internationalen Politik,
in Ägypten, am Balkan und am Kongo, Deutschlands Stellung voll
gewahrt und ist mit dem Flottenbau wie der Erwerbung unserer
Kolonien wiederum in Wege eingelenkt, die, mit den andern ver-
einigt, uns in den Weltkrieg hineingebracht haben.
*
143
Wie aber hätte Bismarck alle diese Ziele, welche das Leben der
Nation von Grund aus umgestalteten und ganz neue Konstellationen
in der allgemeinen Politik heraufbeschworen, jemals erreichen können,
wenn er seine Karten stets auf den Tisch gelegt hätte! »Ich schwöre
überall, daß wir uns mit Österreich gerührt in den Armen liegen
und jeder über des andern VortreffHchkeit weint«, meldet er seinem
Freunde, dem General, im März 1854 — in den Wochen, als er alles
tat, um den König und seinen Minister von dem Anschluß an die Bundes-
brüder in Wien und an ihre westmächtliche PoHtik zurückzuhalten.
Was aber für das Ausland gilt, trifft auch für das Inland zu.
Auch hier verfolgte Bismarck Ziele, die ihn zu allen Strömimgen
des öffentlichen Lebens in Beziehung brachten, aber mit keiner zu-
sammenfielen. Seine PoUtik berührte sich irgendwie und wo mit
den Programmen aller Parteien, die er auf seinem Wege zu dem
neuen Reiche fand — man möchte sagen von Ludwig v. Gerlach
bis zu Lassalle; aber er unterwarf jedes Stück darin dem Staats-
gedanken, für den er eintrat, und entschied sich danach für Annehmen
oder Ablehnen. Deshalb hat er mit allen Parteien kämpfen müssen.
Die Reaktionäre, seine alten Parteigenossen, seine ältesten Freunde,
zog er hinter sich her, um im Siege mit ihnen zu brechen ; den Liberalen
stemmte er sich entgegen, bedrängte, ja brutalisierte sie, um sich
im Siege, der sie, wie ihre Gegner spaltete, mit einem Teil von ihnen
zu verbünden. Denn wer sich ihm anschloß, mußte ihm folgen. Kom-
promisse konnte er wohl eingehen ; er hat sie fast allen seinen Rivalen
angeboten, den auswärtigen wie denen im Innern, und oft bewilligt;
bei jeder Wendung seiner PoHtik faßte er dies mit ins Auge; ja er hat
es geradezu als das konstitutionelle Prinzip für das Verhältnis zwischen
Krone und Volksvertretung in Preußen verfochten und durchgesetzt:
das konstitutionelle Leben, pflegte er zu sagen, bestehe aus Kom-
promissen; und wie wenig er, seitdem er in Frankfurt den diploma-
tischen Kampf mit Österreich über die deutsche Hegemonie begonnen
hatte, sich im Grunde eine andere Lösung, als die durch das Schwert
denken konnte, hielt er sich dennoch bis zuletzt den Ausweg einer
Verständigung offen: noch von Brunn aus, als die preußischen Vor-
posten schon den Turm von Sankt Stephan aus der Ferne erbückten,
lange nachdem er das preußisch-deutsche Programm vor der Welt
verkündigt, hat er den Rivalen die Hand zu einem Verständnis
hingehalten. Aber von seinem Wege Heß er sich nicht abdrängen, an
144
das Fundament seiner Politik durfte ihm niemand rühren. Er bheb in
allem er selbst; jedem Gedanken, den er in sein System aufnahm, gab
er das persönliche Gepräge.
Hat es überhaupt jemand gegeben, dem Bismarck in der Pohtik
sich rückhaltlos aufgeschlossen hätte — abgesehen etwa von dem
eigenen Sohn, dem er in den letzten Jahren seiner Herrschaft die
nächste Stelle unter ihm gab? Von Lothar Bucher könnte man es
Vielleicht sagen; doch kam dieser erst zu Bismarck, als der Kampf
um die Macht in Deutschland schon hell entbrannt war, und er wird
sich schwerhch so rasch das Vertrauen des Ministers erworben haben,
in dessen Besitz er zur Zeit der spanischen Thronkandidatur ja wohl
gewesen ist. Für die Epoche nach 1870 mag es auch noch für den
einen oder den andern gelten, wenigstens unter denen, die unmittelbar
unter dem Fürsten arbeiteten: für die Vertreter seiner Pohtik im
Auslande jedoch schwerlich. Von ihnen hat Bismarck, wenn Moritz
Busch, der es aus dem Munde Harry Arnims gehört haben will, recht
berichtet, gesagt: »Meine Botschafter müssen einschwenken auf
Kommando wie die Unteroffiziere, ohne zu wissen warum.« Ich
weiß nicht, ob dieser Idealzustand jemals unter Bismarck voll ver-
wirklicht worden ist: in den Jahren der Einheitskämpfe bestand
jedenfalls die zweite Hälfte jenes Satzes allerdings zu Recht — die
erste dagegen durchaus nicht. Graf Bernstorff z. B. war bei der
Londoner Konferenz über die Schleswig-Holsteinische Frage im Mai
1864, obschon er Preußen als Botschafter zu vertreten hatte, in den
tieferen Sinn der Instruktionen, die Bismarck ihm zusandte, gar
nicht eingeweiht; er hatte, wie alle andern, immer nur gerade das
eine ihm zugewiesene Stück der Absichten des Ministers auszu-
führen; das Gesamtbild seiner Diplomatie konnte ihm Bismarck
gar nicht mitteilen, schon deshalb nicht, weil es ihm selbst sich von
Stunde zu Stunde verschob. Aber auch das eigentliche Ziel seiner
Politik wird er dem Botschafter, dessen Ideen mit den seinen doch
nur eine sehr entfernte Verwandtschaft hatten, kaum enthüllt haben.
Im Sommer 1866 war Graf Bernstorff so ganz außer dem Zusammen-
hang der Politik seines Chefs, der vier Jahre zuvor von ihm selbst
amthche Weisungen hatte annehmen müssen, daß er im August
Graf Robert von der Goltz um einen Bericht über seine Verhand-
lungen mit Napoleon anging. Goltz hatte als Pariser Botschafter
diese führen müssen imd war soweit in Bismarcks Pläne eingeweiht;
145
aber er war darüber mit diesem völlig auseinandergekommen, also
daß Bismarck in den Konferenzen, die er mit Benedetti in den mäh-
rischen Quartieren pflog, vor den Ohren des französischen Gesandten
sich auf das heftigste über seinen eigenen Botschafter ausließ; sein
Benehmen, sagte er, grenze an Hochverrat. Und dabei hatte er selbst
Goltz zu seinem Nachfolger am französischen Hof gemacht, weil er ihn
höher einschätzte als andere und ihm persönhch gewogen war! Aber
sie waren sehr bald auseinandergekommen, und Bismarck hat das
Urteil, welches er damals über den alten Freund faßte, der 1870
nicht mehr erlebte, nicht wieder aufgegeben. »Goltz«, so schilderte
er ihn seinen Tischgenossen in Versailles, »war gescheit, ja in ge-
wissem Sinne ein rascher Arbeiter, unterrichtet, aber unbeständig
in seiner Auffassung von Personen und Verhältnissen, heut für diesen
Mann, diesen Plan eingenommen, morgen für einen andern, mitunter
fürs Gegenteil. Und dann war er immer in die Fürstinnen verhebt,
an deren Hof er beglaubigt war, erst in Amalie von Griechenland,
dann in Eugenie. Er war der Ansicht, was ich das Glück gehabt
hätte durchzusetzen, das könnte er mit seinem größeren Verstände
auch, und noch besser. Daher intrigierte er fortwährend gegen mich,
schrieb Briefe an den König, in denen er mich anklagte und vor mir
warnte. Das half ihm nun zwar nichts; denn der König gab mir die
Briefe, und ich beantwortete sie mit Verweisen.« Das khngt hart
und, wenn man wiU, ein wenig boshaft; die Fähigkeit, Menschen
zu bewundem, war eben nach Bismarcks eigenen Geständnis nur
mäßig in ihm ausgebildet. Aber sieht man daraufhin die paar Stücke
durch, die uns von der Korrespondenz zwischen dem Minister und
seinem Botschafter vorHegen (das Ganze wird — nach einem halben
Jahrhundert ! — noch immer als Geheimnis der hohen Pohtik hinter
Schloß und Riegel gehalten), so muß man sagen, daß es richtig und
nicht einmal besonders scharf geurteilt ist. Denn in der Tat wollten
sie sämthch alles besser wissen, als ihr Herr und Meister, und schufen
ihm in Immediatgesuchen oder in vertrauhchen Ergüssen gegen
ihre Freunde am Hofe, in der Diplomatie, in der Partei unausgesetzt
Sch^vie^igkeiten. Savigny sowohl wie Goltz, und gewiß auch Usedom,
forderten in dem schweren Jahre 1863 eine Politik, die sich von der
der Liberalen kaum unterschied. Savigny meinte, die Stellung
Preußens hänge von dem Einfluß ab, den es in Deutschland aus-
übe ; die diplomatischen Beziehungen zu den kleineren Staaten seien mit-
Lenz, WiUe, Macht und Schicksal. lO
146
hin die wichtigsten; es sei eine Verkehrtheit, dieselben von oben herab,,
mit Geringschätzung zu behandehi, sie von sich zu stoßen, und
vollends zu erklären: »Preußen verhandelt nur mit Großmächten«; wo-
mit er dann noch die großdeutsche Idee einer Versöhnung aller deut-
schen Höfe, den Wiener eingeschlossen, verband. Und Goltz hat sich
wirklich erlaubt, ähnliche Urteile in Separatberichten an den König
vorzubringen, und sich vor aller Welt über die Unfähigkeit des
Ministers aufgehalten. Das Schlimmste aber war, daß der König
eslbst in jenem Moment — es waren die Wochen, als die Schleswig- i
holsteinische Frage durch den Tod König Friedrichs von Dänemark i
akut geworden war und die Woge der nationalen Begeisterung hoch-
anschwellend alle Gegensätze der Parteien überfluten wollte — solchen
Ansichten gar nicht so fern stand. Waren es doch kaum andere, als i
er sie in seinen eigensten Handlungen, in seinem Regentschafts- i
Programm vom November 1858 und in seiner Begegnung mit Napoleon i
im Juni 1860 zu Baden-Baden, bekannt hatte — dieselben, über
die er mit Bismarck schon im März 1854 aneinandergeraten war,,
und von denen dieser ihn nun zu seiner Politik hinüberführen wollte.
Bismarck sah sich in diesem Augenblick ganz allein gelassen: nicht
bloß die Liberalen aller Schattierungen und die alten Gegner bei
Hofe, der Kronprinz und seine Gemahhn, die Königin mit ihrem
Anhang, Schleinitz, und wie sie alle hießen, arbeiteten gegen ihn^
sondern auch seine festesten Stützen gerieten ins Wanken; sogar
in der Armee begann man sich über den Minister, der Preußen einem
neuen Olmütz entgegenzuführen drohte, zu erregen. Blanckenburg,
den Bismarck damals (ohne ihm das Ziel, dem er zustrebte, zu zeigen)
eng an sich heranzog (täglich waren sie bis tief in die Nacht bei-
einander) hat in einem Brief an seinen Onkel Ludwig v. Gerlach
die Stimmung dieser Tage geschildert: »Ich kann nur sagen, daß er
der einzige ist, der vöUig klar, bewußt, ruhig und energisch den höchst ,
gefälirhchen Strom der aura popularis vom entscheidenden Orte ab-
dämmt. Alles war gegen ihn. Die Armeeaufregung wirkte auf den König
sehr zurück. Er wollte Aktion und alle Hunde waren los; aber der
Lange bheb fest wie ein Koloß, nur des Abends klagte er mir sein Leid«.
Der König aber war der stärkste, ja der einzige wirkHch feste
Rückhalt des Ministers. Verlor Bismarck auch ihn, so war sein Spiel
verloren und ging Preußen — wie er wußte und damals schrieb —
wirklich einem neuen Olmütz entgegen. Daß er dennoch seinen
147
Kurs fortsetzen konnte, alle Klippen, die ihn umringten, vermied,
Österreich, das noch im Sommer den nationalen Wind ganz in seinen
Segeln gehabt hatte, im vollen Strom der öffentlichen Meinung ge-
fahren war, von dieser lostrennte, es an dem Leitseil, das er ihm
umgeworfen, hinter sich herzog, den König, die Armee, die eigene
Partei und den Hauptteil der Liberalen, die er dadurch auseinander-
sprengte, für die Annexion (ein bis dahin für sie alle unfaßbarer
Gedanke !) gewann, um schließlich die Wiener Politik in ihrer Schlinge
beinahe zu ersticken (nur durch ihr Zerreißen, den Krieg, konnte
sie sich frei machen) — in diesem allem hat er selbst das Meisterstück
seiner diplomatischen Kunst erblickt; er hat sich (was er sonst nicht
zu tun pflegte) mit einem Gefühl des Stolzes dazu bekannt Das
Schwerste für ihn blieb immer die Behandlung des Königs. Die
Kämpfe, die er mit diesem durchgefochten, lun ihn gegen Österreich
ins Feld zu bringen, haben ihm noch mehr Mühe gemacht und stärker
zugesetzt als die um Schleswig-Holstein. Volle zehn Monate mußte
er vom August 1865 ab arbeiten, bevor er die Österreicher dahin
gebracht hatte, wo er sie haben woUte : daß sie nämhch selber Preußen
den Fehdehandschuh hinwarfen. Seinem König aber durfte er kaum
das Ziel zeigen, geschweige die Mittel und Wege, die er einschlagen
mußte. Während Wilhelm in Gastein glückselig über den endlich
erlangten, für Preußen ehrenvollen Abschluß des langen Haders
mit dem Kaiserstaat war, begann sein Minister bereits — fast in
derselben Stunde schon — an dem Bau eines der Minengänge, die
ihn zur Eroberung der feindlichen Position führen soUten. Endhch,
im Juni 1866, war er soweit : der Gallier, lauernd zwar auf den Moment,
wo er zupacken könnte, fürs erste jedoch außer Spiel gebracht; die
Florentiner auf Preußens Seite; die Kleinstaaten freihch meist im
Lager Habsburgs, aber mit diesem durch Bismarcks Politik zum
Bundesbruch gezwungen, und das herrliche Heer an der mährisch-
böhmischen Grenze — als der König selbst noch einmal zu zaudern
begann. Wir wollen es dem greisen Herrscher wahrlich nicht an-
rechnen. Er war schließlich doch derjenige, auf dem die Tat am
schwersten lastete. Er mußte als erster auf sich nehmen, was die
Zukunft, die dunkel genug war, bringen würde, Sieg oder Nieder-
lage. Es war etwas Großes, daß er, der in einer so ganz andern Welt
erzogen und alt geworden war, sich zu einer Pohtik mit so neuen
Zielen emporarbeiten konnte, und etwas noch Größeres, daß er, der
148
mit der Zartheit seines Gewissens, dem von höchstem Verantwortlich-
keitsgefühl erfüllten Herzen jeden Schritt auf der neuen Bahn be-
gleitete, dem einmal gefaßten Entschluß mit festem und frohem
Wagemute treu bUeb.
Um so leuchtender aber tritt auch Bismarcks Wesen und Werk
an dieser Stelle heraus. Er war Diplomat auch seinem König gegen-
über; aber seine Diplomatie verband sich hier mit dem Grundgefühl
seines Lebens, der Vasallentreue und der Preußentreue, der Hin-
gebung an Hohenzollerns Staat und König.
Wir aber verstehen jetzt, weshalb er niemand seine Geheimnisse
anvertrauen konnte als sich selbst.
Dennoch hat es wirklich Fälle gegeben, in denen Bismarck mit
einem Ruck den Vorhang hinwegriß und dem Gegner selbst Front-
stellung und Ziel seiner Politik rückhaltlos enthüllte. So der liberalen
Opposition gegenüber in jener Sitzung der Budgetkommission gleich
nach seinem Eintritt in das Ministerium, als er von der Lösung der
deutschen Frage durch die Macht, durch Blut und Eisen sprach, um
danach den Gegnern ein Kompromiß zwischen Krone und Parlament
anzubieten; so auch einige Wochen später gegen Graf Karoly, Öster-
reichs Botschafter in Berlin, dem er, wie den preußischen Liberalen,
Krieg oder Bündnis zur Auswahl hinlegte, um ihm, als jener von
dem traditionellen Einfluß des Kaiserhauses auf die deutschen Re-
gierungen anfing, den es sich nicht rauben lassen werde, das schnei-
dende Wort entgegenzuwerfen, Österreich müsse vielmehr seinen
Schwerpunkt nach Ofen verlegen. Es war die Diplomatie der Kraft
und des Kraftbewußtseins, die sich darin äußerte, die Diplomatie,
welche die Gewaltigen in der Geschichte noch immer angewandt
haben: Cäsar und Alexander wie CromweU und Napoleon. Es war
die auf das Schwert gestützte Bereitschaft; die Politik der Macht,
die den Frieden anbot, weil sie den Kampf nicht scheute: die Alter-
native, in welche Bismarck jeden, der mit ihm zu tun hatte, versetzte:
man mußte ihm folgen oder mit ihm kämpfen.
Bisweilen freilich kehrte Bismarck diese Offenheit auch dann
heraus, wenn er gar nicht hoffte, ja es kaum wünschte, daß die Gegner
daran glauben würden. Denn er erfuhr es wenigstens in den ersten
Jahren seines Ministeriums zur Genüge, daß die Welt an dem Ernst
seiner Absichten Zweifel trug und, was konsequenteste Energie war.
149
für das zusammenhanglose Hasardspiel eines Tollkühnen ansah.
Und so benutzte er wohl diesen Ruf »leichtfertiger Gewalttätigkeit«,
um die Gegner zu spalten oder auch nur in Verwirrung zu setzen.
Das Ziel, dem er zusteuerte, selbst wurde ihm dann zum Mittel, um
einen Vorteil für den Moment zu erringen. Wie oft hat er so im Kampf
mit Österreich und der Majorität der Bundesstaaten die »stärkste
seiner Künste«, den größten Trumpf, den er in Händen hatte, das
allgemeine deutsche Wahlrecht, halb oder ganz hervorgezogen!
Als er ihn dann wirklich auf den Tisch des Bundestages warf, wollte
es ihm niemand glauben und wäre er selbst in der Tat (seine Verhand-
lungen im Mai mit Baron Gabelentz und später mit Dr. Giscra in Brunn
beweisen es) unter Umständen bereit gewesen, ihn noch einmal zurück-
zunehmen. Denn er mußte nun einmal Umschau nach allen Seiten
halten und immer den Rücken frei haben, jeden Schritt mußte er
berechnen, um ihn, wenn es nicht vorwärts ging, ziurück zu tun.
Ganz undiu^chdringlich machte ihn der gleiche Trick einmal im März
1866, der Gräfin Hohenthal, der Gemahlin des sächsischen Gesandten
am Berhner Hof, gegenüber, die als seine Tischnachbarin bei der
Hoftafel mit der Miene liebenswürdiger Unschuld die Frage an ihn
richtete, ob die Preußen wirklich Sachsen überfallen und Österreich
bekriegen würden. Seine Antwort war: Zweifeln Sie nicht, liebe
Gräfin! Seit meinem Eintritt in das Ministerium habe ich keinen
andern Gedanken gehabt ; in diesem Augenblick werden die Kanonen
gegossen. Und als die Dame weiter fragte, ob sie mit den Ihrigen
wohl auf dem Lande in der Nähe von Leipzig bleiben oder auf ihre
Güter in Böhmen gehen sollte, war die Entgegnung: Bleiben Sie
in Sachsen, denn in der Nähe Ihres böhmischen Schlosses werden
die Österreicher geschlagen werden. Wie mag der Minister sich über
die Verdutztheit seiner Nachbarin belustigt haben, die nun selbst in
die Bedrängnis geriet, die sie von seinem Gesicht hatte ablesen wollen.
Bei alledem kam Bismarck niemals in Widerspruch mit sich selbst,
und wußte er jedesmal den diplomatischen Faden so zu drehen, daß
der Gegner sich darin verwickelte und sich ins Unrecht setzte. Wer
will heute noch in Abrede stehen, daß die Offensive in Bismarcks
Kampf mit Österreich auf Seiten Preußens war, daß er die Netze
gewebt hat, in denen die Wiener Politik sich zweimal verfing, und
aus denen sie sich dann nur mit dem Schwerte befreien konnte I Trotz-
150
dem aber brachte es Bismarck dahin (so wie Cäsar, als er den Rubicon
überschritt, gegenüber dem römischen Senat), daß der Bundesbruch
formell von Österreich und der Majorität der Kleinstaaten in Frank-
furt vollzogen wurde.
Auch vermochte er es — und das ist vielleicht das Merkwürdigste
an seiner Diplomatie, die ihn sonst so geheimnisvoll und gefahr-
drohend erscheinen Heß — , demjenigen, der sich mit ihm einließ,
imd den er an sich heranziehen wollte, Zutrauen einzuflößen. Und
dies forderte er geradezu für die Ausübung seines Berufes; einem
russischen Kollegen in Frankfurt, dessen Geschicklichkeit er sonst
anerkannte, der aber unzuverlässig war, sprach er deshalb die Eigen-
schaft eines guten Diplomaten ab. Ihm war sein Wort heilig; und
nichts konnte ihn als Vertreter Preußens in Frankfm"t tiefer erregen
als die Furcht, daß der Mangel an »initiativer Energie« seinen Minister
zu Handlungen der Untreue verführen könne. »Es wäre,« schreibt
er dem General v. Gerlach in der Besorgnis, seine Regierung könne
die Kleinstaaten Österreichs Drängen gegenüber preisgeben, »wie
Se. Majestät zu sagen pflegt, wider die einfache Offiziersehre, wenn
wir aus Angst vor unseren Feinden unsere Bundesgenossen im Stich
ließen. Ich würde gar nicht wissen, mit welchem Gesicht ich auf
diesem Posten nachher noch figurieren sollte, wenn es so käme; ich
würde elend vor Scham.« Und es entsprach seiner tiefsten Über-
zeugung, als er im Januar 1872, damals als er den Kampf gegen die
römische Partei im neuen Reich eröffnete, dem verschmitzten Führer
der Zentnunspartei, dem alten Weifenminister aus Meppen, das mann-
hafte Wort entgegenrief: »Ich habe den Grundsatz immer nützlich
gefunden, des Freundes Freund und — ich will nicht sagen, des
Feindes Feind, aber des Gegners Gegner zu sein.«
Freilich, er besann sich, bevor er sein Wort gab; er gab es nur
dann, wenn er des neuen Freundes sicher war, und immer nur in
einer Lage, die er selbst beherrschte. »Zug vmn. Zug« zahlte er, und
nur »gegen bar«; er pflegte nicht »die Katze im Sack zu kaufen«;
»ungemütliche Interessenpolitik« war es, was er trieb; Sentiments
ließ er nirgends Raum. »O armer Knecht, du kommst mit leeren
Händen«, zitierte er, als des Papstes Nuntius 1878 in Kissingen
eintraf, um die Verhandlungen über die Beendigung des Kultur-
kampfes zu beginnen; und da er im Reichstag der Gespräche ge-
denkt, die er cds preußischer Ministerpräsident durch Buchers Ver-
151
mittlung mit Lassalle gehabt hatte, kommt ihm das Wort in den Sinn,
mit dem der Grübler Faust den Versucher von sich fem halten möchte:
»Was kannst du armer Teufel geben!«
Denn die Pohtik war ihm »eine eminent praktische Wissenschaft«,
bei der man sich an die Form, an den Namen, an die Theorie nicht
so sehr kehren könne. Es sei nicht nützlich, belehrt er seinen kaiser-
lichen Herrn in der Krisis von 1875, dem Gegner die Sicherheit zu
geben, daß man seinen Angriff jedenfalls erwarten werde. »Es muß
hier,« so instruiert er im März 1870 Moritz Busch für einen Artikel,
den dieser in die Presse bringen sollte, »diplomatisch verfahren
werden — d. h., man muß sich bis zur letzten Stunde in der An-
gelegenheit fest zeigen und nichts von Geneigtheit zu einem Kom-
promiß zeigen, wenn wir einen Kompromiß, wie er uns paßt, haben
woUen« — eine Regel, die er (beiläufig bemerkt) schon als Guts-
besitzer von Kniephof oft genug, bei einem Pferdehandel oder auf
dem WoUmarkt zu Stettin, angewandt haben mag; nennt er es doch
schon 1847 als seinen Grundsatz, »sich niemals voreiHg durch selbst-
gemachte Befürchtungen erschrecken zu lassen.«
Wo wäre er auch geblieben, wenn er ohne solche Kaltblütigkeit
mit einem Schlaukopf wie Gortschakow oder mit dem Leisetreter
Napoleon IIL, dessen ganzer Lebenslauf eine Kette von Verschwö-
rungen gewesen war, hätte verhandeln wollen! Wer ihm immer
den Wind abfangen woUte, fand an ihm seinen Meister. Das erfuhren
General Govone, Italiens Unterhändler im Frühling 1866, imd sein
Herr und Auftraggeber, General La Marmora, so gut sie ihren Lands-
mann Macchiavelli studiert haben mochten; unversehens hingen
sie doch in der Schhnge. Und wenn der italienische Minister späterhin
»ein wenig«, oder \äelmehr recht viel, ja nahezu das volle Licht über
diese Verhandlungen ausgoß, so offenbarte er damit nur seine eigene
Niederlage. Seinem Gegenspieler, dessen Reputation er dadurch
schädigen wollte, tat es rüchts mehr. Denn jedermann erkannte an,
daß Bismarck nur nach dem deutschen Sprichwort auf einen Schelm
anderthalb gesetzt oder, wie er es selbst seinem kaiserhchen Herrn
bekannte, ä corsaire corsaire et demi gespielt hatte; und Wilhelm
war seinem Kanzler nur dankbar, daß er ihn ganz aus dem Spiel
gelassen imd der BegehrUchkeit des französischen Nachbarn die bel-
gischen und rheinischen Köder hingehalten hatte, ohne jemals seinen
Herrn zu komprimittieren und sich auch nur selbst binden zu lassen.
152
Er sah die Politik an als das, was sie wirklich ist : als einen Streit
von Macht gegen Macht, als Kriegführung, in der auch das Mittel
der List durchaus erlaubt ist, deren letzten Akt immer die Waffen
bilden. Dies Ende behielt er stets im Auge. Nichts war ihm ver-
haßter als »planlose Unentschlossenheit «, nichts verächthcher als
eine Defensive aus Gutmütigkeit oder leere, ihrer Machtpfhcht nicht
bewußte Friedfertigkeit, die gerade dadurch eine unzuverlässige,
aus Schwäche zweideutige Pohtik werden müsse. Die Regierung
Friedrich Wühehns IV. hatte ihm genug Gelegenheit gegeben, um
die Richtigkeit dieser Auffassung zu bestätigen. »Eine feige Politik,«
schreibt er in der Krisis von 1854 dem General Gerlach, »hat noch
immer Unglück gebracht«; und drei Jahre später, als alle die hoch-
fHegenden Ziele des kranken Königs in der Blamage von Neuen-
biu-g ihr fast tragikomisches Ende gefunden: »Wir sind die gut-
mütigsten, ungefährlichsten Politiker, und doch traut uns eigentlich
niemand, wir gelten wie unsichere Genossen und ungefährliche Feinde,
ganz als hätten wir uns im Äußern so betragen und wären im Innern
so krank wie Österreich.« »Majestät«, rät er ein andermal, »müssen
durchaus darauf halten, daß Allerhöchst Ihre Minister mehr Sekt
trinken; ohne eine halbe Flasche Cremant im Leibe dürfte mir keiner
von den Herrn ins Conseil kommen. Dann wird unsere Pohtik bald
eine respektablere Farbe annehmen.«
Für Bismarck war auch die Defensive stets als die Bereitschaft
gemeint, wie aus einer Bastion jeden Augenbhck auf den Feind vor-
zubrechen. War der Schwall der Gegner übergroß, so zog er sich
ganz auf die Basis der eigenen Macht zurück. Das wurde die Lage
seit der Gründung des Reiches. Denn durch die Einigung der Nation
hatte Preußen die Bewegungsfreiheit verloren, die es in dem Ri-
vahtätskampf mit Österreich gehabt und gerade seit Ohnütz wieder
gewonnen hatte, daher das rasche Wechseln in Bismarcks Po-
litik vor 1866; mit 400000 Mann war zu dieser Zeit die Krone
Hohenzollem in der Tat, wie Bismarck schreibt, niemals allein,
gegen die heute trotz ihrer Millionenheere dieselben Mächte koaliert
sind, zwischen denen hindurch der große Minister sein Werk in den
Hafen bringen mußte.
Denn der Regulator für alle Diplomatie bheb ihm die Macht;
und nur soweit sie der Staatskunst, die deren Gesetzen folgt, ent-
153
sprach, hatten alle Kunstgriffe der diplomatischen Technik für ihn
Wert. Auch darüber war er sich bereits in Frankfurt völlig klar.
»Gestern habe ich Brunnow (den russischen Gesandten) kennen-
gelernt«, schreibt er dem befreundeten General im Herbst 1855:
»Ein liebenswürdiger Mann von bequemen Formen; aber er scheint
mir mehr ein technischer Diplomat, als ein Staatsmann von höherem
Zuschnitt zu sein. Personen gewinnen, palliative Auskunftsmittel,
leidenschaftslose Kunst der Verhandlung traue ich ihm im höchsten
Grade zu; vor seinen selbständigen politischen Conceptionen aber
hat mir die erste Berührung und eine dreistündige Unterhaltung
keinen Respekt eingeflößt. Es fehlt ihm anscheinend an Überzeu-
gimgen und Glauben,«
Das eben unterschied Bismarck von den meisten seiner Kollegen,
und darum hat er sie alle überwunden. Wäre ihm der Erfolg versagt
geblieben, so hätten die liberalen Gegner, die in ihrer Weise preußische
und deutsche Größe miteinander vermählen wollten und in ihm den
Verderber ihrer Ideale sahen. Recht gehabt mit ihrer Behauptung,
daß er ein gewissenloser Hasardspieler sei. Der Erfolg allein bewies
die Richtigkeit seiner Rechnung. Die Größe Bismarcks liegt eben
darin, daß er an die Zukunft und das Recht Preußens in Deutschland
und der Welt glaubte, weil er seine Macht erkannte. Glaube und
Erkenntnis sind eins. Den Willen zur Macht, der in der Mon-
archie Friedrichs des Großen, zwar verkümmert und halb erstickt,
dennoch in der Tiefe unvermindert glühte, und mit dem sein eigener
eingeborener Herrschersinn in eins verschmolzen war, hat er aus
den Fesseln, die ihn umschnürt hielten, gelöst und von neuem in die
Welt der Waffen und der Politik hinausgeführt.
Hier liegt die Quelle seiner Taten. Von hier aus wird, wie seine
Staatskunst, so auch seine Diplomatie in allen Stücken sichtbar:
die Einheitlichkeit seines Wollens, die souveräne Sicherheit seines
Auftretens, die Zielbewußtheit seines Handelns, das Augenmaß,
das er für alle Realitäten besaß, der Sinn für alles was Macht war,
die Rücksichtslosigkeit auch, mit der er über Hindernisse hinweg-
schritt, der Radikalismus, den dieser Monarchist, der zugleich ein
Verächter war der Legitimität und ein Hasser aller Romantik in
der Politik, im Innern wie nach außen an den Tag legen konnte,
seine unerschütterliche Ruhe bei jeder Verhandlung und der heiße
Atem der Leidenschaft, den wir hinter allen seinen Aktionen spüren.
154
Auf diesem Grunde ruht auch das Reich, das Bismarck schuf:
Preußens Machtwille, der dem Staate Friedrichs des Großen gab,
was ihm gebührte, und des Reiches GHedern ließ, was im Laufe der
Geschichte ihr eigen geworden war, hat sich darin verschmolzen
mit dem Willen ziu: Macht, der die Nation selbst in ihrer Tiefe be-
seelte und zur Einigung aller ihrer Kräfte hintrieb. Heute, in dem
ungeheuren Ringen des Weltkrieges, erfahren wir von neuem, was
Bismarck uns damit gegeben. Sein Werk ist es, das wir gegen eine
Welt von Feinden verteidigen: sein Wille, sein Wort ist bei uns:
es ist uns, als hörten wir seine Stimme. So möge denn sein Geist
uns führen durch Not und Tod, durch Kampf und Sieg zur Errettung,
zur Erhöhung, zu neuer HerrHchkeit unseres heiligen Vaterlandes!
■
Deutsdilands Friedenspolitik
vor dem Weltkriege.
(1917)
»Wir übernehmen die kciiserliche Würde in dem Bewußtsein
der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reichs und seiner
Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit
Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines Volkes, zu ver-
teidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnimg, daß dem deutschen
Volke vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfer-
mutigen Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen
zu genießen, welche dem Vaterlande die seit Jahrhunderten ent-
behrte Sicherheit gegen erneuten Angriff Frankreichs gewähren.
Uns aber und Unsem Nachfolgern an der Kaiserkrone woUe Gott
verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reichs zu sein, nicht an
kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben
des Friedens auf dem Gebiet nationaler Wohlfahrt, Freiheit und
Gesittung. «
So lauteten die ewig denkwürdigen Worte, mit denen am Ab-
schluß dreier siegreicher Kriege König Wilhelm der Hohenzoller
durch den Mund seines ersten Ministers, des Grafen von Bismarck,
am 18. Januar 1871 in dem französischen Königsschlosse zu Ver-
sailles der deutschen Nation die neuen Bahnen ihres Lebens wies.
Es war der Taufspruch des neuen Reiches, die Urkunde gleichsam,
die in den Grundstein unseres nationalen Staates gelegt worden ist,
das Programm der deutschen PoHtik und das Kennwort, in dem
unser Volk, sein Kaiser und seine Fürsten heute wie damals sich
eins wissen. Wie schwer auch die inneren Kämpfe gewesen sind,
die das neue Reich seitdem erschüttert haben — imd wir wissen,
sie reichten bis auf den Grund der Nation — in dem Bekenntnis zum
Frieden sind die deutschen Parteien diese dreiundvierzig Jahre hin-
156
durch einig gewesen, so einig wie in der Stunde des 4. August 1914,
als ihre Führer im Königsschlosse zu Berlin dem Enkel Kaiser Wilhelms,
des Reichsgründers, die Hand zum Treugelöbnis reichten, zum Zeichen,
daß es in diesem Kriege keine Parteien mehr, nur deutsche Volks-
genossen, Brüder auf Leben und Sterben geben würde.
Nur ein Teil von dem, was unsere Väter ersehnt und wovon
sie geträumt hatten, ist im Jahre 1870 erreicht worden. Wir mußten,
um unser Reich gründen zu können, Millionen unserer Brüder, ein
volles Drittel unserer Volkskraft, draußen lassen. Und wenn wir
im Westen und Norden die deutschen Grenzmarken wiedergewannen,
so sind den eigenen Volksgenossen gegenüber im Südosten der Inn
und im Südwesten der Rhein die Grenzen geblieben : mitten durch die
Stämme der Bayern und der Alemannen, einst beide die Eckpfeiler
deutscher Größe, gehen heute die TrennungsHnien. Wir haben uns
dennoch beschieden. Wir haben es mit angesehen, daß Hundert-
tausende, gezwungen oder verführt, in fremdem Volkstum unter-
gingen • — also daß wir in den Jahren unseres jungen Reiches mehr
des deutschen Blutes verloren haben als in den Zeiten unserer Zer-
rissenheit und Ohnmacht. Trotzdem hat uns niemals der Gedanke
beherrscht, die unerlösten Brüder in unsere poHtische Gemeinschaft
hinüberzuziehen, der für die Italiener und alle slawischen Stämme
den Grundgedanken des politischen Wollens bildet. Wh haben nichts
weiter gefordert und erwartet, als unsere Macht im Schutz des Friedens
entwickeln zu können.
Während wir aber so unserer Arbeit lebten, einzig darauf be-
dacht, die Güter des Friedens zu wahren und zu mehren, wandelte
sich rings um uns her die Welt, drang Rußlands gewaltige Kraft
über das Kaspische Meer in die turanischen Steppen bis an die Tore
Indiens vor und über die Mandschurei hinweg bis an die Gestade des
Gelben Meeres, raubte und riß England alles an sich, was es auf
dem weiten Erdenrund an Beute für seine Begehrlichkeit fand, baute
Frankreich seine afrikanischen Besitzungen zu einem mächtigen
Kolonialreich aus, das, vor seinen Toren beginnend, bis weit über
die Mitte des dunklen Kontinentes sich erstreckte. Wir aber blieben,
unserer Einheit zum Trotz, an unsere Bastionen gefesselt. Wir litten
es schweigend, daß die Italiener, denen unsre Heere, unsre Siege
erst zu ihrem nationalen Staat verholfen hatten, sich jenen Riesen
zugesellten und, durch sie gedeckt, ja unter dem Schutz ihres Bund-
157
nisses mit uns selbst, den Türken, unsern Freunden, Tripolis raubten
und mitten in der griechischen Inselwelt sich festsetzten; daß Belgien,
das Geschöpf der großen Mächte, das nur ihrer Eifersucht aufeinander
das Leben verdankte, ein Zwittergebilde ohne die Kraft und selbst
ohne das Recht, auf eigene Faust PoHtik zu treiben, sich dennoch
am Kongo ein Kolonialgebiet schuf, größer, einheithcher und zu-
kunftsreicher als alle unsere Kolonien zusammengenommen. Es schien
fast (denn schon wurden, unter Japans und Amerikas Teilnahme,
China und die Südsee in die allgemeine Bewegung hineingerissen),
als hätten wir unsere Einheit, unser neues Reich nur dazu geschaffen,
um noch einmal eine Aufteilung der Erde unter unsere Rivalen zu
erleben. Gewiß, wir kamen noch rechtzeitig, um uns ein paar Stücke
von der noch freien Erde zu sichern. Aber was wollten, verglichen
mit dem Raube und der Raubgier der andern, die wenigen Kolonien
bedeuten, welche der Wagemut unserer Kaufleute oder die Aben-
teuerlust junger Patrioten uns da oder dort verschafften: ohne Zu-
sammenhang miteinander und ohne Verbindung mit der Heimat,
im Machtbereich der fremden Mächte gelegen, auf Gnade und Ungade
ihnen ausgehe fert, sobald sie unsere Feinde wurden! Auch unsere
Kolonien waren auf Frieden gegründet: er bot uns die einzige Mög-
lichkeit, sie zu behalten.
In den neunziger Jahren, nach dem Rücktritt Bismarcks, kam
bei uns wohl die Meinung auf, daß wir seitdem in einen neuen, um-
fassenderen Abschnitt unserer Politik hineingesteuert wären, daß
wir das beengte festländische Dasein mit dem offenen Fahrwasser
der Weltpolitik vertauscht hätten, wie das Schlagwort lautete,
das, ich weiß nicht von wem erfunden, plötzlich da war und bald
die öffenthche Meinung wie die Kreise unserer Regierenden beherrschte :
wir wähnten, mit jenen Weltmächten bereits in den gleichen Bahnen
zu ziehen. Eine Vorstellung, die uns heute, nach allem, was wir bis
zur Schwelle des Krieges hin erlebt haben, seltsam genug anmuten
muß. Das Umgekehrte Heße sich wohl mit größerem Rechte behaupten.
Gerade, daß wir mit jenen anderen nicht Schritt halten konnten, daß
uns die Bewegungsfreiheit von Jahr zu Jahr mehr genommen,
unsere Absperrung von den Quellen der Macht beständig vermehrt,
der Einfluß auf den Gang der großen Pohtik stetig verringert ward,
ist das Charakteristische für die beiden Jahrzehnte, die dem Kriege
vorangegangen sind. Solange Bismarck am Ruder des Staates stand.
158
ist die Stimme Deutschlands im Rate der Völker wahrlich nicht
ungehört gebheben. Unter seinem Vorsitz trat nach dem Frieden
von St. Stefano in Berhn der Kongreß zusammen, der bis auf weiteres
die Fragen schlichtete, welche Rußlands Sieg über die Türken im
Orient aufs neue aufgewirbelt hatte. Er war es, der, als erster unter
den europäischen Staatsmännern, dem Khedive von Ägypten den
Weg vertrat. Er vereitelte 1884 durch die Kongokonferenz Englands
Plan, die Mündung jenes gewaltigen Stromes in seine Gewalt zu
bringen und damit für alle Zukunft die beherrschende Stellung im
Innern des schwarzen Kontinentes an sich zu reißen. Ihm verdanken
wir den weitaus größten Teil unserer Kolonien, ebenso in der Südsee,
wie an der "West- und Ostküste Afrikas. Und das alles ledigüch auf
dem Wege von Verhandlungen und Korrespondenzen, durch eine
geschickte Führung des diplomatischen Spiels, ohne auch nur ein
Regiment mobil zu machen, ein Schiff hinauszuschicken: keine
stolzen und drohenden Gesten sind dazu nötig gewesen, sondern
nur etwa eine Erklärung des Kanzlers im Reichstage oder die Sen-
dung seines Sohnes Herbert nach London; zuweilen genügte bereits
ein Zeitungsartikel oder, wie in Ägjrpten, die Sendung eines Feld-
jägers, um den deutschen Forderungen Beachtung und Erfüllung
zu sichern. Denn hinter allem sahen die Rivalen die Macht und einen
unerschütterlichen Willen: die Hand zu Verhandlungen zu bieten,
um ins Leere zu greifen, ist niemals Bismarcks Art gewesen.
Erst nach seinem Abgang ist alles anders geworden. Zunächst
begannen wir selbst an unsem Kolonien fast das Interesse zu ver-
lieren; und als wir es wiedergewannen und der Wert der neuen Be-
sitzungen von Jahr zu Jahr mehr hervortrat, wuchsen die Schwierig-
keiten, sie zu behaupten und auszunutzen oder neue zu erwerben.
Außer Kiautschau und ein paar Inselgruppen in der Südsee haben
wir seitdem nur noch Grenzregulierungen oder kleine Erweiterungen
unserer afrikanischen Besitzungen im Austausch unserer oder der
Anrechte anderer gewonnen. In den großen Fragen, denjenigen, in
denen die Weltbewegung sich vollzog, wurden wir mehr und mehr
ausgeschaltet, oder wii hielten uns von Anfang an zurück, so in Kreta
imd Persien, inÄg5rpten und inTripoHs, auf dem Balkan und bei den
domigen Verhandlungen über Marokko, bis wir am Ende, hart am
Rande des Krieges vorüber, für eine kläghch kleine Entschädigung
in dem Sumpfgelände des Kongo zum völligen Verzicht auf allen
159
legitimen Einfluß über eines der reichsten Länder der Erde gebracht
wurden.
An Gelegenheiten, einzugreifen, Anteil an den Erwerbungen
der andern zu nehmen, hat es uns nicht gefehlt, uns so wenig wie
Italien und Frankreich. Denn jener Wettlauf der Mächte um die
Unterjochung der Welt vollzog sich unter brennender Eifersucht
und auf Grund von Gegensätzen, die in die Tiefe der Jahrhunderte
zurückreichten. Mehr als einmal sind sie nahe daran gewesen, die
Waffen gegeneinander zu ergreifen; wir brauchten nur unser Schwert
mit in die Wagschale zu werfen, so war es sicher, daß sie dorthin
sank, wohin wir uns stellten, und ein guter Anteil an der Beute
hätte uns nicht entgehen können. Wir aber wiesen alles von uns ■ —
um am Ende, als Lohn für unsere Friedfertigkeit und Sanftmut,
die Feindschaft der ganzen Welt und die Last eines Krieges auf uns
zu laden, wie ihn die Erde noch niemals sah.
Wie ist es dahin gekommen?
Es mag paradox kHngen und ist doch volle Wahrheit: aus der
Hochspannung zwischen den Mächten selbst, welche sich über die
Welt hin ausbreiteten, ist der Weltkrieg entstanden. Weil wir Frieden
hielten, haben sie uns mit Krieg überzogen. Weil wir nicht mittun
wollten, haben sie sich vertragen und sich dazu verbunden, uns mit
vereinten Kräften niederzuschlagen.
Zwar war für die Franzosen d^s Hauptmotiv, das sie in den
Krieg trieb, der nie gan2; gestillte und immer neu auflebende Haß
der Besiegten. Aber Jahre hindurch ist doch auch er zurückgetreten ;
wiederholt kam es zwischen uns und ihnen zu einer Entspannung,
und jederzeit waren wir bemüht, auf der Grundlage des Frankfurter
Friedens unser Verhältnis zu ihnen zu erleichtem. Zur Hilfe kam uns
dabei der alte Gegensatz Frankreichs zu England sowie der neu
auftauchende zu Italien, das die kaum gewonnene Großmachtstellung
im Mittelmeer sofort zu dem natürHchen Rivalen der alten
Freunde machte. Auch hätten die Franzosen von sich aus niemals
vermocht, eine Verschiebung der Machtverhältnisse zu erwirken;
nicht einmal ihr russisches Bündnis wäre imstande gewesen, das
deutsche System, das, auf Österreich und Italien gestützt, Mittel-
europa von der Nordsee bis zur Donau und Sizihen zusammenfaßte,
zu erschüttern. Erst Englands Eintritt in die Reihe unserer Gegner
hat das Verhängnis unabwendbar gemacht; erst als die beiden Riesen
160
unter unsem Feinden sich die Hand reichten, ist die Welt in Flammen
gesetzt worden.
Bemerken wir aber, daß diese beiden zunächst als Freunde an
uns herangetreten sind, daß sie ihre Geschäfte mit uns machen wollten :
Rußland schon im Jahre 1876, als es uns anbot, mit ihm gegen Öster-
reich zu gehen, in dem Augenblick, da es sich zum Kampf gegen
die Türkei erhob; England zwanzig Jahre später, um die Zeit, als es
soeben den französischen Nachbar im Sudan auf das tiefste ge-
demütigt, während sein Gegensatz gegen Rußland noch vöUig un-
geschlichtet, es selbst aber durch den Burenkrieg gefesselt war; drei
Jahre und länger haben die enghschen Diplomaten um uns geworben,
bevor sie sich entschlossen, das Steuer herumzuwerfen.
Noch immer hört man, daß es der Handelsneid gewesen sei,
der England zum Kriege gegen uns gereizt habe; den wirtschaftlichen
Konkurrenten habe es unschädlich machen wollen. Als ob es nicht
Mittel genug an der Hand gehabt hätte, um uns wirtschaftlich ins
Hintertreffen zu bringen, ohne sogleich, wie die enghschen Zeitungen
und sogar engUsche Staatsmänner damals und später wohl drohten,
unsere wenigen Kriegsschiffe zu versenken! Es hätte uns ja nur
von den Märkten abzusperren brauchen, über die es auf beiden
Hemisphären verfügte; wie denn in der Tat der damals leitende
enghsche Minister sich mit solchen Plänen getragen und sie ins Werk
zu setzen versucht hat, eben in den Jahren, wo er uns auf jene Wege
zu verführen sich anschickte. Auch folgten dem Zeitabschnitt, in dem
Englands Wirtschaft vor dem steigenden Andrang der deutschen Wirt-
schaftskraft emsthch besorgt zu werden angefangen hatte, bald Jahre,
in denen sie selbst zu glänzender Entwicklung gelangte und sich auf die
alten Grundsätze des Freihandels, unter der die großbritannische Wirt-
schaft sich die Erde unterworfen hatte, wieder aufs neue besann — ge-
rade in den Jahren, wo die Einkreisung des Deutschen Reiches sich voll-
zog. Niemals hat wirtschafthche Konkurrenz für sich vermocht, die
Mächte und Machtgruppen gegeneinander in Krieg zu bringen; es ist
nicht wahr, daß sie die grundlegende Kraft in der geschichtlichen
Entwicklung bildet: viel tiefer und verzweigter sind die Antriebe,
welche die politische Welt in Bewegung setzen; mit dem Werden
und Wachsen, den Daseinsbedingungen, dem Genius der Staaten
selbst sind sie verwachsen. Weit stärkere Gründe müssen es also
gewesen sein, denen England folgte, als es sich entschloß, seine Politik
161
in Bahnen zu leiten, die mit seinen seit einem Jahrhundert fest-
gehaltenen ÜberHeferungen im krassen Widerspruch standen. Ein
Deutschland, das, wie das alte Preußen, nur auf dem Kontinente
mächtig bleiben wollte und England in seinen weltimispannenden
Zielen nicht gestört hätte, würde dieses am Ende ruhig zwischen
sich und seinen Feinden haben lassen können. Ein Volk, das es nicht
zu fürchten hatte, brauchte es nicht mit der Vernichtung zu be-
drohen. Es entsprach vielmehr der engUschen Politik, solche Mächte
mit väterhchen Armen zu umschließen, sie in das eigene Kielwasser
aufzunehmen, unter den Schutz engUscher Schiffsgeschütze selbst
zu stellen — freihch mit dem Vorbehalt, ein Ausweichen aus der Fahr-
linie ihnen nicht zu gestatten und, wo es geschah, sie, sei es zu ver-
ruchten oder gewaltsam hinter sich herzuziehen: der Weltkrieg hat
dafür neue Beispiele in Fülle gebracht.
Eben dies waren nun aber die Jahre, in denen jene beiden Giganten
unter den Mächten der Welt stärker und unaufhaltsamer als je um
sich griffen. Rußland, das soeben seine sibirische Bahn vollendet
hatte, griff jetzt durch ganz Asien hin: während es schon an der
Ostküste Stellung faßte, drängte es gleichzeitig gegen die indischen
Bergländer vor; schon 1895 standen russische imd engUsche Truppen
sich auf dem Hochlande des Pamir, von dem der Abstieg in das Strom-
land des Indus leicht ist, gegenüber. Fast gewaltiger noch waren
die Pläne, mit denen England sich trug: von Indien her drängte es
nach Beludschistan vor, von Ägypten aus imterwarf es den Sudan;
die Niederwerfung der Buren machte es zum Herrn von Südafrika;
von Kairo bis zum Kap und von ebendort bis nach Indien spannte
es seine Blicke; Herrin bereits im Mittelmeer, sah es die Zeit heran-
nahen, wo auch der Indische Ozean eine enghsche See sein würde.
Welch eine Aussicht bot sich ihm also dar, wenn es ihm gelang, Deutsch-
lands gewaltige Kraft für den Anschluß an seine Pohtik zu gewinnen!
Eben diese Hoffnung aber gewährte ihm Deutschland nicht.
Wir waren so friedfertig wie je, aber unter Englands Schatten zu
kämpfen lehnten wir ab. Unsre Selbständigkeit wollten wir be-
haupten. Unsre Ziele waren noch dieselben, zu denen der Gründer
unseres Reiches sich in Versailles bekannt hatte. Wir forderten nur
Luft und Licht für uns selbst, in der Zuversicht, daß wir dann die
Stellung in der Welt, die wir haben wollten und haben mußten, erringen
würden. Offene Tore, freie Märkte und nichts anderes woUten wir haben.
Lenz, Wille, Macht und Schicksal. II
162
Schon aber war die halbe Welt verteilt, und die Stunde in der
Tat nicht mehr fem, wo alles, was sich von der muhammedanischen
Welt noch frei erhalten hatte, in die Hand jener vorstürmenden
Mächte geraten mußte. England hatte sich bisher nicht eigentüch
feindselig gegen den Islam verhalten ; mehr als einmal war es, zumal
Rußland gegenüber, als Schutzmacht für die Anhänger des Propheten
aufgetreten; war es doch längst, bereits von Indien her, eine muha-
medanische Macht geworden, eine größere als jede andere der Welt,
und gerade die Eroberung Ägyptens, der jetzt die des Sudans an-
gereiht wurde, und alle die neuen Besitzungen in Afrika und den
indisch-persischen Grenzlanden verstärkten diesen Charakter seiner
Politik. Glückte es den Briten vollends, nun auch noch das Stamm-
land der muhammedanischen ReUgion, deren heihgste Stätten, Mekka
und Medina, in ihre Gewalt zu bringen, so mußte einem von ihnen
gesetzten Ksdifen die Nachfolge des Propheten weit eher gebühren
als dem Sultan in Konstantinopel, dessen Ohnmacht dem, was diese
Würde von ihrem Träger forderte, so wenig entsprach. Auch Ruß-
land hatte in diesen Jahrzehnten ununterbrochener Ausbreitung
Millionen neuer muhammedanischer Untertanen erhalten, welche mit
dem Sultanat in Konstantinopel niemals in politischer Verbindung
gestanden hatten. Aber der Gegensatz zwischen ihm und der Türkei
war immer der stärkste gewesen; denn das Kreuz auf der Hagia Sofia
aufzurichten, die Meerengen zu gewinnen, entsprach den ältesten
Überlieferungen der russischen PoHtik und dem Machtbedürfnis des
Zarenstaates selbst. Wie groß also auch immer die Reibungsflächen
zwischen England und Rußland sein mochten, dem Sultan gegenüber
fanden sie sich doch bereits bis zu einem gewissen Grade zusammen.
Nun aber stellte sich zwischen ihnen beiden eine Macht auf, für die
jener Gegensatz zwischen einem Kahfat von Konstantinopel und von
Mekka nicht bestand, der vielmehr die Einheit der ganzen muhammeda-
nischen Welt am Herzen liegen mußte. Wie klar unsere Politik dies
Verhältnis empfand, beweist der Ausspruch unseres Kaisers bei
seinem Besuch des heiUgen Landes (1898) in Damaskus, wo er sich
als den treuen Freund der dreihundert Millionen Muhammedaner be-
kannte, welche die Erde bewohnen. Wollten wir aber solche Stellung
behaupten und das Los der Ausschaltung vermeiden, das uns bei
weiterem Fortschreiten Rußlands und Englands für den gesamten
Umfang der östüchen Hemisphäre bereitet wäre, so mußten wir
163
eine Waffe haben, mit der Fragen entschieden werden konnten,
welche nicht bloß auf das Festland Europas beschränkt waren, eine
Waffe, mit der wir England auf seinem eigensten Element, auf dem
Meere, begegnen konnten. Dies war der Sinn des Kaiserwortes vom
Jahre 1899: »Bitter not ist uns eine starke Flotte.« Nicht um unsere
paar Kolonien zu beschützen, um imsere Flagge gelegenthch in fremden
Häfen zu zeigen und rebellische Kanaken oder verschuldete Klein-
staaten Südamerikas ziu: Raison zu bringen, haben wir unsere Kampf-
schiffe gebaut (dazu hätten ein Dutzend Korvetten imd Kanonen-
boote genügt), sondern um uns die Freiheit der Bewegung zu
erhalten, uns vor der Abschnürung, die uns drohte, zu retten, irni
die Stellung unter den Mächten der Welt zu behaupten, die ims der
Schöpfer des Reiches erworben hatte, und von der wir wieder herab-
gedrängt werden sollten. Wir wollten jenen ebenbürtig bleiben, das
Gleichgewicht in der Welt, das jene Großen zu zerstören drohten,
wollten wir herstellen oder sichern. Geradeso hat ein Jahr nach
seinem Worte von der Flotte unser Kaiser den Sinn der deutschen
PoHtik gedeutet. »Ich bin nicht der Meinung,« so sprach er am 3. Juli
1900 in Bremen, »daß unser deutsches Volk vor dreißig Jahren imter
der Führung seiner Fürsten gesiegt und geblutet hat, um sich bei
großen auswärtigen Entscheidungen beiseite schieben zu Icissen. Ge-
schähe das, so wäre es ein für allemal mit der Weltmachtstellung des
deutschen Volkes vorbei, und ich bin nicht gewillt, es dahin konunen
zu lassen.« Wir hätten das Erbe, das uns Bismarck und sein Kaiser
erworben, verloren, wir wären im Vergleich zu den anderen Mächten
der Welt wieder geworden, was wir gewesen waren, ein Kleinstaat,
wenn wir uns nicht für den Kampf gerüstet hätten.
Denn die Macht allein ist es, welche in den Händeln dieser Welt
entscheidet. Nur wer das Schwert zu führen weiß, wird auf Erden
vorwärtskommen, sein Recht behaupten können; jeder Fortschritt
der Wirtschaft wie der Kultur hängt von dem Maße der Unabhängig-
keit ab, das ein Staat in der Welt behauptet. Niemals haben wir es
abgeleugnet, daß auch wir gleich den anderen Macht besitzen und
Macht erwerben wollen; war doch der in der Nation in der Zeit ihrer
Erniedrigung gesammelte imd gesteigerte Wille zur Macht der mäch-
tigste Antrieb in unseren Kämpfen um die Gewinnung der nationalen
Einheit gewesen. »Allzeit Mehrer des Reiches zu sein«, so lautete
das Grelöbnis unseres alten Kciisers im Schlosse zu Versailles. Aber
1Ö4
der Sinn unserer Macht war von jeher ein besonderer, das Ziel,
das wir unserer PoUtik stecken, liegt an einem anderen Ort, als dort,
wo die Gegner es suchen. Das ist es, was unseren politischen Ehrgeiz
von dem unserer Rivalen unterscheidet; mit den tiefsten Willens-
trieben, den höchsten Idealen unserer Nation, mit einer vierhundert-
jährigen Geschichte in ihren tragischen Verflechtungen und ihren
erhabensten Erinnerungen, mit unserm ganzen Sein und Wollen
hängt es zusammen. Der deutsche Staatsgedanke, mit einem Wort,
ist ein anderer als der unserer Gegner, und darum ist auch die Rich-
tung, in der wir unsere Macht in der Welt ausbreiten wollen, eine
andere. Jene wollen die Welt unterjochen, wir aber bieten den Völ-
kern, die unsere Freunde sein woUen, Freiheit und Frieden und Treue
tun Treue. Aus diesem Geiste stammt das Bekenntnis unseres alten
Kaisers Wühelm I., das wir an die Spitze unserer Betrachtung stellten,
und in dem seine eigene wundervolle Größe gipfelte; ihm sind unsere
Fürsten wie unsere Staatsmänner und unser ganzes Volk ohne Unter-
schied in den dreiundvierzig Jahren des Friedens, den wir nur durch
unsere Macht aufrechterhalten konnten, treu geblieben; ihm allein
dient unser Heer, das mit unserm Volke selbst eins ist; ihm auch
die Flotte, die unsere Flagge über alle Meere trug und bereits unsern
Feinden furchtbar ward ; aUe Verträge, alle Bündnisse, die wir schlössen,
hatten dieses Ziel. An ihm hielten wir fest, als wir unsern Freunden
in der Not beistanden. Dieser Geist leitete uns in den Tagen, die uns
vor die furchtbarste Gefahr stellten, in die je ein Volk geraten ist;
aus ihm schöpfen unsere Armeen die unversiegliche Geduld, den un-
widerstehüchen Heldenmut, den sie im Kampfe gegen vielfache Über-
macht bewährten, und aus diesem Geist schöpfen ihren Trost die
Daheimgebliebenen, die um ihre gefallenen Helden weinen; mit ihm
setzen wir uns auch den Schwachmütigen entgegen, und er wird
uns anspornen, nicht nachzulassen, bis wir den vollen Sieg in festen
Händen halten und die Feinde ringsum bekennen müssen, daß wir
das Recht haben, unsere Macht nach unserer Weise zu sichern und
auszubauen. Wir wissen wohl, daß wir noch nicht am Ende sind,
und daß noch ein gutes Stück der Arbeit vor uns liegt, aber wir halten
fest an der Losung, die ein Hindenburg uns gab: »Schwer ist die
Zeit, aber sicher der Sieg.«
Partei oder Vaterland?
(Anfang Oktober 1918.)
Die Entscheidung ist gefallen. Es ist nicht anders: Das Werk
Bismarcks, das er in der Verfassung des Deutschen Reiches auf-
gerichtet hat, ist im Zerfallen. Mag immerhin der Schlußstein des
Baues, der Aitikel 9, gelockert wae er ist, noch eine Weile an seinem
Platze bleiben: die Fundamente wanken. Der Grundgedanke des
Ganzen, das Gleichgewicht zwischen den beiden Organen des nationalen
Willens, Bundesrat und Reichstag, ist aufgehoben, das Schwergewicht
der Macht ist auf die Volksvertretung übergegangen; ihrer Mehrheit
ist das Reich und seine Zukunft ausgeheiert. Es sind vor allem die
beiden Parteien, die, obgleich einander wesensfremd, dennoch im
gemeinsamen Kampf gegen das neue Reich sich ausgebildet haben,
an deren Widerstand Bismarck sich matt gerungen, die ihn recht
eigentlich letzten Endes gestürzt haben: heute ist ihr Sieg vollendet;
sie, und wer sich ihnen aus den in den Kämpfen um Deutschlands
Einheit von Bismarck besiegten Fraktionen zugesellt hat, halten in
der schwersten Stunde, die unserm Volke je beschieden war, des
Reiches Schickscd in ihren Händen.
Wir aber, die wir im Geiste Bismarcks erzogen sind, auf ihn
eingeschworen waren, ihm bis auf diesen Tag die Treue bewahrt
haben, wollen nun erst recht uns seiner würdig zeigen. Niemals soll
von uns gesagt werden, daß wir die Partei über das Vaterland stellten.
Das Wort, in dem der Schöpfer des Reiches sein Wollen und Wirken
zusammengefaßt hat, sein »Patriae inserviendo consumor«, soll auch
für uns in Geltung bleiben. So wollen auch wir im Leben und Sterben
mit allen unseren Kräften dem Vaterlande angehören. Um seinet-
willen wollen wir denen, die mitten im Sturm das Ruder des Staates
ergriffen haben, nicht in den Weg treten; wir wollen ihnen vielmehr
die ungeheure Last der Verantwortung, die sie auf sich nahmen,
tragen helfen. Nichts mehr von Klage oder Anklage ! Viel zu kostbar
ist die Zeit. Wir alle sind Schicksalsgenossen, von der gleichen Not
166
zusammengeschmiedet wie mit eisernen Ketten. Stemmen wir
uns gemeinsam, Schulter an Schulter gelehnt, dem
furchtbaren Lose entgegen, das unser wartet, wenn wir
erliegen: der Schande, der Entmannung! Wetteifern
wir allein im Dienst am Vaterlande, in dem unerschüt-
terlichen Glauben an seine Kraft, dem unbeugsamen
Willen, auszuharren bis ans Ende — und Gott wird mit
uns sein.
In der Knechtschaft.
Sedantag 1920.
Zum fünfzigsten Mal jährt sich nun schon der Tag, an dem wir
auf den Feldern von Sedan den Thron des zweiten Bonaparte zer-
brachen, und stärker als je tritt uns die erschütternde Tragik des
Schicksals vor die Seele, unter dem zu leben uns bestimmt ist, so
lange wir die Ketten des Friedens von Versailles tragen werden.
Dem Titanenkampf, den wir gegen eine Welt von Feinden geführt
haben, ist das Loos der Titanen gefolgt. Dem an den Fels geschmiedeten
Prometheus gleicht in Wahrheit unser Volk. Seiner Grenzmarken
beraubt, ausgesogen bis aufs Letzte, entrechtet und verknechtet,
entehrt und verachtet, ein Volk von Heloten, die Parias unter den
Nationen der Erde, jeder Willkür zum Raube gegeben, im Innern aber
verwirrt und zerrissen, von Parteiwut zerfleischt, wie niemals in
seiner Geschichte, das ist das Deutschland von heute, das Volk Goethes
und Kants, Luthers und Bismarcks, so trifft uns der Tag, der uns einst
als der Gipfel deutscher HerrHchkeit gegolten hatte: von der Höhe
der Ehre und des Glückes, der Macht und des Reichtums sind wir in
den Abgrund des Elendes und der Ohnmacht gestürzt worden; der
Tag, der so lange unser höchster nationaler Festtag war, der Er-
innerungstag des größten und glänzendsten unserer Siege, er ist zum
Tage der tiefsten nationalen Trauer geworden.
Wir haben aber an ihm nicht nur den Triumph der Waffen über
den Erbfeind unseres Namens gefeiert, sondern mehr noch den Ab-
schluß aller Kämpfe, die wir gegen uns selbst geführt hatten, die
Erfüllung der Sehnsuchtsträume unserer Väter, die Gründung des
Reiches, dessen gewaltige Kraft sich gerade in unserm letzten Ringen,
in einem Kriege, wie kein Jahrtausend ihn sah, bewährt hat, und das
nur durch uns selbst zerstört werden konnte, den Frieden, der, auf
unsere Macht gegründet, uns selbst alle seine Güter in den Schoß
geworfen hatte und besser als alles andere den allgemeinen Frieden
verbürgte. Nie imd nirgends ist der Inhalt aller Reden, die am Sedan-
tage gehalten, aller Gebete, die je an ihm gesprochen wurden, ein
anderer gewesen. Es war die Losung, die unser alter Kaiser Wilhelm
170
ausgab, als er, umgeben von Deutschlands Fürsten und Heerführern,
umrauscht von den siegbekränzten Fahnen aller deutschen Stämme,
die Kaiserkrone annahm, an derselben Stelle, wo wir heute unser
eigenes Todesurteil unterschreiben mußten: das Segenswort, das er
damals über die junge Schöpfung aussprach. Es war das Ziel, das
sein gewaltiger Minister, der Schöpfer unseres Reiches, in jeder Wen-
dung seiner listenreichen Politik vor Augen hatte, so lange noch seine
starke Hand das Steuer führte, und das auch seinen Nachfolgern
bei allem Schwanken ihrer Politik immer vorgeschwebt hat. Es war
von Anbeginn an der Zweck aller unserer Rüstungen zu Wasser wie
zu Lande, der Sinn sogar noch der Aktion, durch die unsere Diplomatie
das Unheil geradeswegs über uns herzog, als sie die Macht des
Deutschen Reiches politischen Va-banque- Spielern auslieferte, dem
Staate, der Krone sich anvertraute, deren ganze Geschichte die Ver-
leugnung der nationalen Idee gewesen war, und deren letzter Träger
sich nicht gescheut hat, sobald er die Gefahr des Erliegens witterte,
seine Bundesfreunde und sein eigenes Volk zu verraten. Und so war
es noch der Antrieb für jene Politik der Verständigung mitten im Kriege,
welche, wie sie von allen Lauen und Feigen unterstützt wurde, so auch
den Feinden mit Recht nur als Schwäche und Ermattung erschien
und den Verrat in dem eigenen Lager groß zog.
War dies aber einst die Bedeutung unserer Sedansfeiern, so wissen
wir, was dieser Tag für uns fortan bedeuten wird. Er wird der Tag
bleiben wie der Erinnerung, so auch der Hoffnung, der Tag der Vor-
bedeutung für die Zeit, da wir unsere Ketten zerbrochen und von uns
geworfen haben werden. Er wird uns vor allem an die namenlosen
Leiden erinnern, welche die Machtgier unserer Feinde und die barbari-
schen Mittel ihrer Kriegführung über uns gebracht haben: die Ver-
folgung unseres Handels über die ganze Erde hin; die Internierung
unserer Volksgenossen, wohin immer ihre Gewalt reichte; die Ver-
jagung unserer Missionäre, die nichts weiter wollten als die Ausbreitung
des Reiches Gottes auf Erden, aus ihren wie aus unsern eigenen
Kolonien; die Einziehung unseres Eigentums und die Austilgung
unserer Sprache und Kultur; bergehohe Lügen und bodenlose Ver-
leumdung; brutale Beschimpfung unseres Volkes und seiner Führer;
hundertfache Neutrahtätsbrüche und tausendfache Ausstreuung von
Zwietrachtssaaten unter die ihnen feindlichen Heere und Völker ; dazu
die furchtbare Geißel der Aushungerung und des Erstickungstodes
171
durch ihre den ganzen Kontinent einschnürende Blockade — genug,
das ganze Heer der dämonischen Listen und Künste, das über uns
hereinbrach und nur zu spät in seinen furchtbaren Wirkungen von
uns erkannt worden ist. Aber auch der Schwachmütigen in den
eigenen Reihen, der FeigUnge und der Verräter unter uns — denn sie,
und nicht die Feinde, haben uns gefällt — wollen wir an diesem Tage
gedenken, sowie aller jener Schwarmgeister und Träumer, die sich
von dem Glauben an unsere Feinde narren ließen, weil sie nicht wußten,
daß nur der Wille zur Macht die Welt regiert und den Frieden in ihr
verbürgt. Wir aber suchen unsere Ziele nicht in den Wolken, hinter
den Nebelwänden zukünftiger Weltordnungen, sondern wir stellen
uns, unbekümmert um das, was die Zukunft uns bescheiden mag,
auf einen Grund, der uns tragen wird: kein Reich der Träume, sondern
ein Boden, der fester ist als Granit; kein Gebilde der Phantasie, aber
schöner als alles, was unsere Dichter und Denker je ersannen, denn
nur auf diesem Grunde haben sie alles geschaffen ; eine Schatzkammer,
die uns alles darbietet, was wir zum Leben gebrauchen, Geschmeide,
Perlen und Kronen aus grauester Vorzeit, und Pflüge und Schwerter,
um unser Land zu bebauen und zu schirmen ; eine Burg, hinter deren
Mauern wir uns aller Feinde erwehren, und aus der wir jederzeit
hervorbrechen können, wo und wann wir je herausgefordert werden,
denn sie umschheßt alles Mächtige und Große, das Heer aller Ideale
unseres Volkes. Stellen wir uns auf diesen Boden, auf den Boden des
Vaterlandes! Halten wir an ihm fest, als dem Quellborn, dem ewig
jungen, aller unserer Güter, unserer Macht und unserer Freiheit ! Den-
ken wir an alle die Lehrer und Propheten unseres Volkes, die das ver-
kündigt, an die zahllosen Scharen derer, die daran geglaubt und daran
gebaut haben. Vergessen wir auch ihn nicht, den gewaltigsten dieser
Baumeister, noch das Wort, das er einst den Reichsboten mahnend zurief ,
von dem deutschen Gedanken, den sie vor Europa leuchten lassen
sollten, denn er sei in der Verfinsterung begriffen ; und auch sie nicht,
die Hunderttausende, die um dieses Gedankens willen in den Tod ge-
gangen sind! Denken wir — wir dürfen es — auch an das, was wir,
denen er das Herz erfüllt, selbst für ihn getan haben in den vier Jahren,
welche die schwersten in dem Leben unseres Volkes waren und doch zu
seinen herrlichsten gehören. Arbeiten wir gemeinsam an der Wieder-
erweckung dieser Idee der Ideen, in allen Schichten unseres Volkes
ungesäumt und so lange wir atmen, zu jeglicher Stunde!
Knechtschaft.
(Rede, gehalten in Hambvirg am i8. Januar 1921.)
Zu einer Doppelf eier sind wir heute vereinigt. Dem Tage gilt
es, von dem Preußens Krone stammte, und jenem andern vor 50 Jahren,
von dem das Leuchten der deutschen Kaiserkrone ausging. Zwei
Ereignisse, die zu Marksteinen in der deutschen Geschichte geworden
sind; einem Doppelstern gleich standen sie 50 Jahre am deutschen
Himmel. Heute ist ihr Licht erloschen: Dunkel rings um uns her,
und kein Pfad will sich zeigen, der uns zum Lichte führen könnte.
Jedoch nicht, um auf den Ruinen zu weinen und die Welt mit
unsern Klagen zu erfüllen, sind wir zusammen gekommen. Das »Impavi-
dum ferient ruinae« würde auch dann für ims gelten, wenn die ge-
borstenen Wölbungen unserer Macht vollends über uns zusammen-
krachen würden. Wir aber wollen nicht aufhören zu hoffen. Denn
wir wissen, daß es der Glaube ist, der sich seine Welt erbaut; und
daß es der Wille zur Macht ist, der uns aus der Finsternis heraus-
bringen wird. Der Wille zur Macht hat Preußens und Deutschlands
Krone vereinigt, er hat die Geschicke Preußens und der Nation mit-
einander verkettet. Er war es bereits, der Preußens Soldatenkönig
antrieb, den Rocher de bronce der Monarchie, Armee und Beamtentum,
dem Trotz rebellischer Junker und jedem Sonderwillen entgegen
zu stabihsieren. Er erfüllte die jugendstarke Seele seines Sohnes,
als er das Schwert gegen die Habsburgerin erhob und im Kampfe
um Schlesien seinem Preußen die Stellung unter den Großmächten der
Erde gewann; noch in dem Nachfolger Friedrichs, dem Weiberknecht
Friedrich Wilhelm H., der das Werk, das der Vorgänger im Osten
begonnen, weiterführte, war er lebendig. Und wenn er in dem zweiten
Nachfolger des großen Königs erlosch, so war er doch in der Armee
und der Bureaukratie Preußens um so stärker. So war es mögüch,
daß der zerbrochene Staat wieder zusammenwuchs, daß sich die
alten monarchischen Formen mehr als je mit nationalen Ideen er*
173
füllten, daß der preußische Adler seinen Flug nun auch nach dem
Westen, über den Rhein hinüber bis zur Hauptstadt des Erbfeindes
nahm, daß Preußen vollends in Deutschland hinein wuchs. Schon
durchdrang der Wille zur Macht das politische Denken der gesamten
Nation, weckte die Erinnerung an die alte Kaiserherrlichkeit und
schuf den Traum eines neuen und nationalen Kaisertums. Auf Preußens
Krone selber lenkten sich die Hoffnungen der Patrioten, und aus dem
Süden, von Schwaben, der Stauffer Heimat her, klang die Stimme des
deutschen Sängers, die Stimme der Sehnsucht und der Hoffnung,
daß Friedrichs Adler die Verlassenen, Heimatlosen mit seiner goldnen
Schwinge decke.
Auch in der deutschen Revolution war der Wille zur Macht die
stärkste Kraft. Hier aber stieß er zusammen mit dem Eigenwillen
der in dem zerfallenden deutschen Reich emporgewachsenen Staaten,
der nirgends kräftiger pulsierte als in dem märkischen Edelmann,
dem Junker von Schönhausen; er war ganz in ihm verkörpert. Von
ihm, dem preußischen Machtgedanken, aus (er kannte noch keinen
andern) warf Bismarck sich dem Wogendrang der deutschen Idee
entgegen. Preußisch war seine Politik in der Revolution. Zu Preußens
Macht bekannte er sich in Frankfurt Österreich gegenüber. Sie gab
ihm die Richtung, als er sich dem mit dem nationalen Gedanken ver-
bündeten preußischen Liberalismus in den Weg stellte und die Krone
seines königlichen Herrn gegen innere und äußere Gegner aufrecht
hielt ; als er die Nordmark im Widerspruch zu der gesamten öffentlichen
Meinung der Nation eroberte und mit Österreich den Bund schloß,
um ihn alsbald wieder zu zerbrechen und Habsburg niederzuwerfen.
Gerade dadurch aber offenbarte er die deutsche Mission seines Staates,
der, was er für sich gewann, immer noch auch für Deutschland er-
worben hatte, unter dessen starker Hand, wohin sie immer griff,
deutsches Leben aufgewachsen, deutsche Kultur erblüht war, und
führte so den Beweis, daß nur die Macht die deutsche Frage lösen,
unser Volk zu sich selbst bringen, und ihm die Stellung in der Welt
erringen könnte, die seinem Willen zur Größe genug tat. So gelang
es Bismarck gewaltigem Willen, beide Strömungen in das gleiche Bette
zu leiten. Er, der Preuße, erfüllte sich jetzt ganz mit der nationalen
Idee ; unter seinen Händen schmolz die Macht seines Staates zusammen
mit der Macht der Nation. Und so kam die Stunde, da Preußens greiser
Herrscher im Königsschlosse zu Versailles, angesichts der belagerten
174
Hauptstadt des nationalen Feindes, zu der angestammten Krone
die Kaiserkrone hinzufügte, die ihm Fürsten und Volk Deutsch-
lands darbrachten. Auf diesem Fundamente ruhte seitdem unser
Reich. Jeder Akt der PoHtik, die des Reiches Schöpfer von nun an
verfolgte, empfing daher seine Richtung. Alle Maße der Verfassung,
die er der Nation, im Bimde oder auch im Kampfe mit den Parteien, gab,
waren danach berechnet. In dieser Form entfaltete sich die ungeheure
Kraft unseres Volkes noch über den Sturz und den Tod des Reichs-
gründers hinweg. Erst als der Wille zur Macht erlcihmte, zerbrach
Bismarcks Schöpfung, und mit ihr sogleich die Macht der Nation.
So spiegelt dieser Tag in seinem Doppelcharakter Deutschlands
Entwicklimg in mehr als zwei Jahrhunderten wieder. In diesem Geiste
müssen wir ihn feiern, als eine Gewähr für das Leben der Nation.
Jedoch auch die Gegenwart dürfen wir über der Vergangenheit
nicht vergessen; nicht vergessen, daß jener Stunde des Ruhmes ein
anderer Tag von Versailles gefolgt ist, vor dem ihr Glanz verbuch,
imd der zu dem Tage unserer tiefsten Erniedrigung geworden ist.
Denn nur, wenn wir den Abgrund in seiner ganzen Tiefe ausmessen,
unser Elend in seiner vollen Größe umfassen, können wir wieder
emporkommen. Niemals dürfen wir gleichgültig oder in blödem
Optimismus daran vorübergehen. Immer daran denken — und immer
davon sprechen, muß unsere Losung sein. Nicht die Welt, aber uns
selbst von der Furchtbarkeit unseres Schicksals, von der Unerträglich-
keit des Joches, das auf uns lastet, zu überzeugen, das ist die Aufgabe.
Täghch und stündlich müssen wir uns den Inhalt des mörderischen
Vertrages, den uns die Feinde abgepreßt haben, vor Augen halten,
wenn wir uns des Glaubens getrösten wollen, daß sich unsere Nation
aufs neue zu der Macht erheben wird, welche allein den Frieden und
das Recht sichern, alle Reichtümer und alle Güter der Kultur herbei-
schaffen, die nationale Ehre herstellen und die Freiheit selbst erobern
kann.
Es war ein Vertrag, wie ihn gewiß jeder Räuber gern mit seinem
Opfer schheßen möchte, auf Grund dessen er ihm auch wohl das Leben
lassen möchte: verstümmelt und wehrlos gemacht, von Ketten er-
drückt, fronden zu müssen, solange noch ein Lebensfunke in dem
Überfallenen glüht. Freilich in der bürgerlichen Gesellschaft wäre
175
ein solcher Pakt, und wäre er mit tausend Eiden bekräftigt, nicht
denkbar. Oder würde sich irgendwo ein Richter finden, der dem
Räuber sein Opfer überlcissen, es an Bedingungen ketten würde, die
es allen Qualen eines langsamen Sterbens überhefern müßten? In
der Gesellschaft der Nationen jedoch, die sich im Völkerbund ver-
einigt haben, denkt man darüber anders. Denn dieser ist gerade dazu
gestiftet, den Siegern die Beute zu sichern, die Knechtschaft, in
welche wir und unsere Verbündeten gerieten, zu verewigen. Ja, man
wagt es, das Ziel, welches der Austilgung unseres Volkes gleichkommt,
als die Erfüllung der erhabensten Ideale, als die Einsetzung eines Reiches
der Gerechtigkeit und des völkerbeglückenden Weltfriedens anzu-
kündigen. So fest ist die Völkerbundsakte mit den Friedensverträgen
verkettet, daß sie in dem unsem wie in allen andern an die Spitze
gestellt wurde. Wer sich zu diesen bekennt, ist also auch jener ver-
pfhchtet.
Selbstbestimmung der Nationen ist das Schlüsselwort,
in dem, wie die Worte lauten, aUe Artikel der Völkerbundsakte sich
zusammenfinden. Wahrlich, ein erhabener Gedanke! Es ist die Idee,
die, seitdem sie in der großen französischen Revolution zum erstenmal
auf dem europäischen Kontinent verwirklicht wurde, die belebende
Kraft des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. Nicht immer
war sie mit den hberalen Forderungen verbündet; nicht für die Ideen
von 1789 erhoben sich unter ihren Mönchen und Pfarrern die Spanier
und die Tiroler gegen ihre französischen Bedränger. Aber ob sie sich
der Revolution oder der Reaktion zugesellten, stets war es diese Idee,
die unsre Nationen in ihrer Tiefe aufrüttelte, sie mit dem Bewußtsein
ihrer selbst, dem Willen zur Einheit erfüllte und sie antrieb, sich eine
Stellung unter den Völkern der Erde zu machen, einen Platz an der
Sonne zu sichern. So hat sie, nachdem sie, anfänglich von dem revo-
lutionären Frankreich geleitet, jenseits der Alpen wie am Rhein und
an der Weichsel gezündet hatte, im Weiterschreiten der Revolution in
dem Kampf gegen ihren Erben, Napoleon, die Geister der Völker unseres
Erdteils aus der Erstarrung erlöst. Von ihr beseelt, haben sodann
die spanischen und portugiesischen Kolonien Süd- und Mittelamerikas
ihre Freiheit gewonnen, ihre staatHche IndividuaUtät entwickelt.
Alle Revolutionen und Kriege, die das 19. Jahrhundert erfüllten,
haben von ihr den stärksten Antrieb erhalten. Sie hat auch unserm
Volke nach Jahrhunderten der Zerrüttung endlich den Weg zum Heil
176
gewiesen : der Kaisertraum, der an die Glanzzeit längst entschwundener
Macht unserer Nation anknüpfte, war nur das Spiegelbild dieser
Sehnsucht. Von ihr ging die Glorie aus, die Wilhelms I. ehrwürdige
Gestalt umfloß. Auf sie stellte sich, nachdem er Österreich nieder-
gerungen, der heroische Staatsmann, der das Werk unserer Einigung
vollendete. Sie war der Odem, der alle Väter und Propheten unseres
nationalen Staates, von Ernst Moritz Arndt und dem Freiherrn
V. Stein bis hin zu Heinrich v. Treitschke, erfüllte; alles Schauen und
Schaffen des deutschen Genius in diesem unvergeßhchen Jahrhundert
deutscher Größe hat von ihr Form und Farbe erhalten. Auf diesem
Grunde ruhte auch das Reich, das wir uns in dem gerechtesten Kriege,
der je geführt wurde, gewannen; alle seine Institutionen sind um die
eine Idee, die Selbstbestimmung der Nation, herumgebaut worden;
43 Jahre hindurch war sie der Eckstein unseres Reiches. Schon nahmen
wir, seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts, wahr, wie die inneren
Widerstände, die sich dagegen erhoben hatten, alteingewurzelte und
neuentstandene, sich zu lösen begannen ; immer weitere Kreise unseres
Volkes erschlossen sich dem Verständnis für die Notwendigkeit der
Einheit und die Gesundung, die von dorther das Leben der Nation
durchdrang. Und wie tief diese Empfindungen bereits reichten,
bewährten jene Wochen, die uns heute wie eine verklungene Sage
erscheinen wollen, als die gegnerischen Mächte aus dem Dunkel ihrer
längst betriebenen Verschwörung heraustraten und uns das Schwert
in die Hand zwangen; als die Millionen deutscher Männer und Jüng-
linge unter die Waffen traten und alle Schrecken des Krieges gegen
eine Welt von Feinden freudig auf sich nahmen : nur das Bewußtsein,
für unsere Freiheit, für das Recht der Nation, ihr Leben nach eigenem
Willen zu gestalten, konnte uns diese Zuversicht verleihen.
Jedoch, wie die Verteidigung, so galt auch der Angriff unserer
Feinde eben diesem Willen. Ihn zu brechen, uns in die Ohnmacht
der alten Zeiten zurückzuschleudern, darin fanden sich alle zusammen,
darin bestärkten sie sich, je härter unser Widerstand, je größer die
Gefahr des Erliegens für sie selber wurde. Wir aber sind nicht der
Gewalt der Waffen erlegen — denn diese zerspHtterten an dem Eisen-
wall unserer Flotte und unserer Heere: sondern wir erlagen, weil
die Idee, die uns das Leben verliehen und uns zur weit-
^
177
gebietenden Größe erhoben hatte, im Kampfe selbst er-
lahmte. Hier Hegt imsre Schuld. Und wir wollen uns nicht damit zu
rechtfertigen versuchen, daß wir unter dem Druck einer ungeheuren
Übermacht, abgesperrt von aller Welt, durch Aushungerung und
Entbehrungen, wie kein großes Volk sie je zu tragen gehabt hat,
zermürbt waren; vielmehr, weil wir den Glauben an den Sieg verloren,
verloren wir den Krieg. Wir sind erniedrigt worden, weil der Wille,
uns auf der Höhe, die wir erreicht, zu halten, nicht stark genug
entwickelt, das Machtbewußtsein nicht tief genug in der Nation
verankert war; weil die Sünden der Vorzeit, Sondergeist und Partei-
sucht, Phihsterei und nationale Mattherzigkeit, unter den Leiden des
Klrieges von neuem emporgewuchert waren. Gewiß, zu Hundert-
tausenden waren die Söhne unseres Volkes für seine Freiheit in den
Tod gegangen, und Hunderttausende waren bis zuletzt bereit, ihr
Leben dafür einzusetzen; und noch hielten unsere Heere im Feindes-
lande selbst, von Edessa bis Ostende, das Feld. Aber die MiUionen
der Gleichgültigen und der Schwachmütigen in der Heimat erstickten
den Willen ziun Siege. In dieser Schwäche des nationalen Willens
wurzelten die Fehlansätze unserer Diplomatie, das Schwanken in den
Entschlüssen, das fortgesetzte Wechseln der Ziele, der aufdringhche
Verständigungswille und die bis zur Blindheit gesteigerte Gutgläubig-
keit gegenüber den Friedensphrasen der Feinde, hinter denen doch
nur der VemichtungswiUe lauerte: Lähmungserscheinungen, die,
von oben her sich verzweigend, immer breitere Schichten in Heer imd
Volk ergriffen, bis schheßhch Feigheit und Verrat und die Machtgier
fanatischer Demagogen, welche die blöde Menge mit ihren Utopien
umgaukelten, das Werk der Selbstentmannung vollendeten.
Dadurch erst gewannen die Verleumdungen, mit denen die Gegner
die gegen uns abgeriegelte Völkerwelt überschütteten, Boden. Wir
selbst haben ihnen den Acker besteht, die Furchen gezogen, in denen
ihre Giftsaaten aufgehen konnten. Von uns, von den Parteien, die
sich wie bösartige Schhnggewächse von der Wurzel her um den Stamm
unserer Macht gelegt, ja mit ihm groß geworden waren, ihn rings
eingeschnürt hatten, haben unsere Feinde alle Schlagworte entlehnt,
mit denen sie die unwissende und jeder Täuschung zugänghche Welt
betäubten, und die, von ims anfänghch verlacht, am Ende auch bei
uns die Massen hypnotisierten. Und so konnten sie die Wahrheit auf
den Kopf stehen und schheßhch mit der ungeheuerhchen Lüge Glauben
Lenz, Wille, Macht und Schicksal. 12
178
finden, daß ein Volk, welches in seiner Gesamtheit seit Jahrhunderten
keinen anderen Ehrgeiz gekannt hat als in dem Kampfe für die Güter
des Friedens und der Gesittung der Welt voranzuleuchten, das mit
seinen Kolonisationen und durch die Millionen seiner Auswanderer
immer nur aufbauend, nie zerstörend gewirkt hat, nach der Unter-
jochung der Erde strebe: Zielen, die gerade unsere Feinde seit Jahr-
hunderten verfolgten, und in denen sie sich eben durch unsere PoHtik,^
welche nichts als das Recht der Selbstbestimmung für sich und unsere
Freunde verlangte, gehemmt sahen.
Das aber ist nun an dem Vertrage, den unsere Gegner wie ein
Nessushemd über den Leib unseres Volkes geworfen haben, das Ent-
setzhche, das Nichtzuertragende, daß er die Idee des Jahrhunderts,,
der jene selbst ihre Kraft und Größe verdanken, und als deren Vor-
kämpfer und Schutzherren sie sich heute maskiert haben, in allen
seinen Bestimmungen verleugnet und in ihr Gegenteil verkehrt hat.
Alle seine Paragraphen sind nur Knebel und Klammern und Zangen»
um jedes unserer Gheder abzuschnüren, jede MögHchkeit, auch nur
einen Schritt aus eigener Kraft zu tun, uns zu nehmen, Keime des
Siechtimis und des unabwendbaren Todes uns einzuimpfen. Nicht
bloß, daß uns die Grenzmarken im Norden und Süden, im Osten und
Westen geraubt wurden ■ — Landschaften, die zum Urboden unseres
Volkes gehören, deren Wiedergewinnung, nachdem sie in den Jahr-
hunderten unseres Zerfalls verloren gegangen waren, den neuen
Aufstieg unserer Nation gekrönt hat oder die erst deutsche Kraft
dem historischen Leben erschloß: auch dem Torso, den die Feinde
uns heßen, haben sie jede Hoffnung, ein Eigenleben zu entwickeln,
unterbunden. Unsere Ströme haben sie internationahsiert ; in allen
Hauptstädten sitzen ihre Kommissionen, keine Fabrik, kein Staats-
gebäude ist vor ihren Späherbhcken sicher; deim der Vertrag gibt ihnen
tausend Gelegenheiten, unsere Geschäfte zu kontrollieren, unsere Er-
findungen, unser Eigentum, das geistige wie das materielle, für sich
auszunutzen und zu stehlen; und während sie uns an jeden Paragraphen
fesseln und imter brutalen Drohungen daran festhalten, scheuen sie
selbst sich nicht, den Vertrag, wo es ihnen paßt, zu verachten und zu
übertreten. Fleiß und Arbeit werden uns nicht helfen. Denn wir
haften dem Feinde mit allem Besitz und Einkommen, dem öffenthchen
wie dem privaten; und die ungeheuerhchen Forderungen, zu denen
der Friede sie berechtigt, würden uns für alle Ewigkeit belasten;
179
wir wären längst erstickt und vernichtet, bevor wir uns von der Ver-
schuldung gelöst hätten. Denn unsere Feinde sind die Herren geworden
in unsem Häfen, an unsem Küsten, auf unsern Strömen; ihre Kapi-
talien durchfluten unser Land; unsere Wohlfahrtsquellen haben sie
verstopft oder zu sich hinübergeleitet; aus unsern Häfen führten sie
die Ozeandampfer, von den Bahnhöfen die Lokomotiven und Wagen
fort ; unsere Fabrikanten haben ihre Maschinen und Werkzeuge, unsere
Landwirte ihre Herden hergeben müssen ; unserer Kolonien beraubt,
müssen wir die Rohstoffe für unsere Fabriken von unsern Feinden
kaufen, und auf ihren eigenen oder den von uns ausgelieferten Schiffen
mußten wir sie bisher heranschaffen. Ihre Garnisonen in den be-
setzten Provinzen müssen wir erhalten, und es Hegt ganz bei ihnen,
wie viele Regimenter sie dort einlegen wollen, Milharden müssen wir
auch dafür opfern; unsere Schulen und Kasernen und jede Wohnung,
die ihnen gefällt, stehen ihnen offen ; wir müssen ihnen die Bordeile
bauen, die sie lücht entbehren können, und Quartiere für die Dirnen
schaffen, die ihre Offiziere mit sich bringen — und müssen es mit
ansehen, wie unsere Frauen den viehischen Begierden ihrer farbigen
Söldner zum Opfer fallen; kein Richter steht uns gegen sie zur Seite.
Und so fehlt uns bereits jedes Recht, noch von einem deutschen Staat
zu sprechen, uns eine Nation zu nennen: wir sind ein Volk von Zwangs-
arbeitern geworden, Schuldknechte, Leibeigene unbarmherziger
Sklavenhalter.
Als im November 1918 unsere Macht in sich zusammenbrach,
gab es in Deutschland noch naive Gemüter, die da meinten, daß wir
in der Anghederung Deutsch-Österreichs, welches wir einst unter dem
Zwange der europäischen Pohtik von unserm Reiche hatten aus-
schließen müssen, eine Entschädigung für die verlorenen Provinzen
finden und also die großdeutschen Ziele durch unsere Niederlage ver-
wirklichen könnten. Von diesem Wahn sind jene guten Leute bcild
genug geheilt worden. Denn auf nichts sind unsere Feinde mehr be-
dacht gewesen, als die Rückkehr unserer Brüder zu ihrem Volke zu
verhindern. Und wenn sie heute dem Bruchteü, dem sie eine staat-
liche Existenz zugebilhgt haben, der aber nicht eirmial in seinem
Namen an sein Volkstum erinnern darf, in den Völkerbund aufnahmen,
so geschah es wiederum nur deshalb, um die Wiedervereinigung mit
der Nation zu verhindern. Die Randgebiete aber dieser ältesten
Koloiüe imseres Volkes haben sie unter die Verrätemationen, die
180
Tschechen, Slovenen und Kroaten, aufgeteilt, also daß diese Fremd-
stämmigen, die ihr Recht auf staatHche Existenz ganz auf die natio-
nale Idee gestützt, die darin ihren Antrieb, ihre Rechtfertigung in
dem Jahrhundert der Nationalitätskämpfe gesucht haben, heute mit
ihren Staaten das genaue Gegenbild zu dem Kaiserreich darstellen,
aus dem sie sich herausgelöst haben: sie selbst sind heute Nationah-
tätenstaaten geworden, und damit noch viel weniger lebensfähig als
das habsburgische Kaiserreich je gewesen ist, da ihnen die Eigen-
macht fehlt, die jenes besaß; sie sind von ihren Protektoren durchaus
abhängig und jeder Abwandlung der allgemeinen Politik unterworfen,
r Eben dies aber ist das Bild, welches das heutige Europa, in dem
ganzen Bereich, den unsere Feinde beherrschen, darstellt. Von allen
Nationen unseres Erdteils, die an dem Weltkriege teilnahmen, ist die
deutsche allein rein geworden von jeder Beimischung fremden Blutes,
sie, die auf allen Fronten Millionen ihrer eigenen Volksgenossen verlor.
Wohin unser Bhck sonst fallen mag, von Polen und der Ukraine bis
an den Kanal und darüber hinweg, sehen wir Staatsgebilde vor uns,
gemischt aus den feindsehgsten Elementen, Gegensätzen, deren Ent-
wicklung in die Jahrhunderte zurückreicht, und die heute völlig
verhärtet und unversöhnlich geworden sind. Wie tief sie reichen,
und wie furchtbar ihr Ausbruch sein kann, erlebten wir an Irland,
wo sie (dcLS Flammenmeer von Cork bezeugt es) noch gerade so un-
gestillt sind wie zu den Zeiten Cromwells und des Blutbades von
Drogheda,
Mit welcher Verachtimg pflegte man sonst von den Kriegen zu
sprechen, in denen in dem Zeitalter des Absolutismus um das Schicksal
der Völker gewürfelt wurde! Ist aber auf den Friedenskongressen
der heihgen AUianz jemals ein schamloserer Seelenschacher getrieben
worden als in den Verträgen von 1919? Auch tasteten die Sieger in
jenen Zeiten die Eigenart der Stämme und Völker, die sich ihrem
Szepter unterwerfen mußten, nicht an; nur England beutete schon
damals die Länder, die es unterjocht hielt, aus, oder vernichtete sie, wo
es auf Widerstand stieß: Irlands Beispiel beweist es. Wir Deutschen
aber durften, wie die Italiener unter Habsburg, mochten nun Polen
oder Franzosen, Dänen oder Schweden über uns gebieten, unbesorgt
unsern Geschäften nachgehen und unser Leben führen wie es der
Überheferung unserer Kultur entsprach. Das Elsaß war zu der Zeit,
da der junge Goethe in der Stadt Erwins v. Steinbach studierte.
I
181
noch grade so deutsch wie 80 Jahre zuvor, als Ludwig XIV. es mitten
im Frieden raubte; und niemals hat Danzig sich selbständiger
und deutscher gefühlt als unter der Herrschaft polnischer Starosten.
Niemand dachte damals in Kiel und Flensburg daran, von Dänemark,
oder in Vorpommern, von Schweden abzufallen ; und doch schlug der
Pulsschlag des deutschen Herzens nirgends voller als in dem Heimat-
lande eines Niebuhr und Ernst Moritz Arndt. Grade weil es nur die
Kabinette waren, welche die Kriege führten, weil nur sie und die
dünne Oberschicht der Privilegierten den Staat ausmachten, konnten
ihre Völker ihr Sonderdasein bewahren; hatten sie auch nicht Teil
an der Macht, so bUeb doch ihre Seele frei; eins bedingte das andere,
und keiner störte den andern. Erst seitdem die Tiefen in Bewegung
geraten, seitdem die Massen in den Staat eingedrungen sind und alle seine
Ordnungen mit ihren Interessen und Leidenschaften, ihren oft brutalen
Instinkten erfüllt haben, hat sich der Charakter der europäischen
PoHtik von Grund aus geändert. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ist
dadurch der Druck der Staaten aufeinander stärker geworden, bis
er sich in den furchtbaren Explosionen des Weltkrieges entlud.
So ist nun der Krieg für jedes Volk ein Kampf um Sein oder
Nichtsein geworden: Ausrottung oder Umschmelzung der NationaH-
täten wurde die Losung. Und so sind die Milhonen imserer Volks-
genossen, die wir an aUen unsern Grenzen ausHefem mußten, unmittel-
bar von der Gefahr der Vernichtung bedroht : sie sollen Dänen werden
oder Polen, Tschechen oder Slovaken, Kroaten oder Slovenen, Italiener
oder Franzosen und Wallonen; einen Ring deutscher Irredenten
haben unsere Feinde um uns gelegt: Haß und Machtgier haben
ihn geschmiedet; es ist das stärkste Band, das sie selbst zusammenhält.
Und alles dies soll nun der Völkerbund garantieren. Wer ihm
beigetreten ist, hat sich damit verpfUchtet, jeden Versuch der Unter-
drückten, an dem Joch zu rütteln, zusammen mit den Feinden er-
barmungslos niederzuhalten — im Namen der Humanität, des Welt-
friedens und weltbürgerHcher Gerechtigkeit. Als Feinde des Menschen-
geschlechtes würden wir verfolgt werden. Boykott und Blockade,
die Mittel, welche im Kriege unser Mark verzehrt haben, würden
wieder hervorgeholt werden; denn sie sind, wie Robert Cecil in Genf
sagte, die sanftesten Mittel, um uns zum Gehorsam zu bringen: man
braucht uns ja in der Tat die Kehle niur noch ein wenig zuzudrücken,
um uns widerstandslos auf die Knie zu zwingen.
182
Nun ist ja freilich in den Verträgen den nationalen Minderheiten
der Schutz ihrer völkischen Eigenart zugesagt worden. Wie es aber
damit gehalten wiid, davon \vissen die von uns Abgetrennten ein
Lied zu singen. Es ist überall die gleiche Melodie, dieselbe, die von
allen Orten der Welt von der Stunde ab zu uns drang, als die Feinde
die Fackel des Krieges gegen uns erhoben: Austilgung unserer Nation
ist bis heute das Thema geblieben. Man kann kaum noch mit Clemen-
ceau davon sprechen, daß der Friede von Versailles die Fortführung
des Krieges mit andern Mitteln sei. Denn es sind genau die gleichen
Methoden, HinterHst und Verleumdung, Rechtsbeugung und Gewalt-
tat, die dabei zur Anwendung kommen. Noch ist ja das Endziel,
das unsere Feinde sich gesetzt, nicht erreicht; auch in den Grenzen,
die sie uns gelassen, sind wir bis heute das größte Volk Europas dies-
seits vom Pruth und Dnjepr geblieben: zwanzig Millionen zuviel,
um das brutale Wort jenes stärksten Hassers des deutschen Namens
zu wiederholen.
Für uns Deutsche ergibt sich aus alledem die Pflicht, diesem Welt-
senat so fern wie möglich zu bleiben, in dem wir heute weniger be-
deuten würden als die Republik Liberia oder das Kaiserreich Slam.
Wir würden sonst unser Todesurteil noch einmal unterschreiben,
es vor den Völkern der halben Erde bestätigen. Uns bleibt nur übrig,
still zu sitzen, ims auf uns selbst zu besinnen und den Moment abzu-
warten, wo der Pendel, der heute nach der entgegengesetzten Seite
ausgeschlagen ist, den Weg zu uns zurückfindet. Jedem Versuch,
uns in den Völkerbund hineinzulocken oder zu zwingen, müssen wir
widerstehen. Lassen wir auch davon ab, an die irdische Gerechtigkeit
zu appellieren, um Milderung des Joches, um die Revision eines
Friedensvertrages zu bitten, dessen Sinn eben die Vernichtung unseres
Volkes ist. Es sind Ketten, schwerer als je ein Volk sie getragen hat.
Ketten aber revidiert man nicht, um sie etwas lockerer und bequemer
zu machen: sondern man zerbricht sie. Wann das geschehen wird,
ob man uns das Werk allein überlassen wird, oder ob diejenigen,
die heute noch unsere Feinde sind oder es bereits waren, einzeln oder
gemeinsam, uns dabei helfen werden, steht bei Gott. Es mag noch lange
währen. Denn heute sind wir ein Nichts. Gottes Mühlen mahlen
langsam. Aber kommen wird der Tag, wo der Druck, der heute auf
der Ohnmacht und der Schwäche ringsum auf Erden lastet, fort-
genommen, wo die Freiheit, die jene knechteten, aufs neue ihren
183
Umzug in der Welt halten wird. Und dies wird der Tag sein, an dem
auch der deutsche Genius, der freieste der Erde, aus seiner Erstarrung
erwachen und seine Fittiche aufs neue ausbreiten, wieder Raum in
der Welt gewinnen wird.
So mögen denn die Machthaber, die heute über die Geschicke der
Erdbewohner verfügen, es versuchen, dem Ewig-FHeßenden, Ewig-
Werdenden einen Damm entgegen zu stellen. Die Zeit wird kommen,
wo ihnen vor ihrer Gottähnhchkeit bange werden wird. Bis dahin
aber werden zwei Helferinnen, Schwestern beide, uns zur Seite stehen
- — die Erinnerung und die Hoffnung. Sie verknüpfen Vergangenheit und
Zukunft miteinander und reichen sich über die trauervolle Gegenwart
hinweg die Hände. Sie führen uns hinauf in das Hochland unserer
Geschichte und lassen uns von da hinüberschauen in das Land der
Verheißung. Von ihnen geleitet, bücken wir furchtlos und schwindel-
frei auch in den Abgrund, den Haß und Abgunst, Feigheit und Verrat
zu unsern Füßen gewühlt haben. Wir lassen uns nicht schrecken durch
die Nebel und die giftigen Schwaden, die aus der Tiefe emporsteigen,
durch die dämonischen Gewalten, von denen wir umgeben sind.
Denn wir sehen es auf dem Grunde wie Goldadern bhnken, das ist der
Goldhort deutscher Treue. Ungetreue Hände haben ihn versenkt.
Wir aber woUen ihn heben; denn wir wissen, daß uns Hilfe kommen
wird, je mehr wir ims darmn bemühen, und je fester wir an das Geüngen
glauben. Um uns her drängen sich in ungezählten Scharen die Schatten
derer, die an das Vaterland je und je geglaubt, die dafür gekämpft und
gehtten haben, alle Propheten und Sänger unseres Volkes, die er-
habenen Gestalten der Vorzeit und die gehebten Toten, imsere Brüder
und Söhne, die ihr Blut im Kampfe für deutsche Ehre und deutsche
Freiheit dahin gaben. Wir fühlen ihre Nähe. Sie streiten mit uns,
führen uns, gehen uns voran auf dem Wege zum Lichte. Mögen denn
immerhin wir Alten noch im Dunkel davon gehen: unsere Jugend
wird das Licht schauen, so gewiß, wie auf die Nacht der Morgen folgt.
Wir harren des Tages.
Eine Prophezeiung Napoleons.
(Zum 5. Mai 1921.)
»In zehn Jahren kann ganz Europa kosakisch oder repubükanisch
sein«, so lautet ein bekanntes Wort des Gefangenen von St. Helena.
Napoleon äußerte es schon im ersten Jahr seiner Verbannung im
Gespräch mit Las Cases, der damals das furchtbare Los mit ihm
teilte, das der Haß der Feinde über den Weiterschütterer, vor dem sie
einst alle gezittert, verhängt hatte. Der Kampf zwischen der Re-
volution und der Reaktion, dessen Wiederausbruch er mit Recht für
imvermeidhch hielt, werde, so meinte der Kaiser, auch die Stunde für
seine Befreiung werden; derm man werde seines Armes bedürfen,
um die Heere der Revolution gegen Rußland als die Hauptmacht
des reaktionären Systems zu führen. In der Tat hat Napoleon das
Wiedererwachen der Revolution, der Ideen von 1789, noch erlebt.
Aber seine Ketten waren nicht gelockert, und sein Befreier war der
Tod geworden: als das Dezennivmi, das, wie er gewähnt, den Nationen
Europas Freiheit oder Knechtschaft hatte bringen sollen, abgelaufen
war, waren die Fesseln, in welche die absoluten Mächte jenen Geist
geschmiedet hatten, fester als je; gerade Frankreich, das Geburts-
land der Revolution, war unter dem Lihenbarmer der Bourbonen
dem alten System von neuem vöUig untertänig geworden.
Nun darf man freihch solche Propheten worte nicht allzu buch-
stäblich nehmen, weder in bezug auf ihren Inhalt noch auf die Zeit,
für die sie gelten wollen. Aber auch wenn wir dies zugeben und ebenso
die allzu kurze Frist, die der Verbannte in der grenzenlosen Einsam-
keit seines Gefängnisses für die Erfüllung seiner Sehnsucht gesetzt
hat, übersehen wollten, erscheint jener Ausspruch doch allzu paradox,
um ihn ohne Widerspruch hingehen zu lassen. War doch die Pohtik der
Mächte, welche durch die Wiener und die Pariser Verträge Europa neu
konstituiert hatten, in jenem Moment gar nicht so reaktionär, wie sie
später, seit dem Aachener Kongreß im Herbst 1818, allerdings werden
sollte. Gerade der Zar gab sich zunächst allerorten als Liebhaber
185
der liberalen und nationalen Gedanken; er kokettierte mit ihnen,
wie Napoleon selbst, und rivalisierte darin mit ihm wieder gerade so,
wie er es als sein Freund und Verbündeter getan hatte. Dem Konflikt
so widersprechender Tendenzen hat er freihch auf die Dauer nicht aus-
weichen können; er ist ihm erlegen, und sein Ende ist dadurch kaimi
weniger tragisch geworden als das des großen Emporkömmhngs,
dessen Sturz ihn auf die Höhe seiner historischen Stellung geführt
hatte. Aber wenn auch der Kampf zwischen den Mächten des Be-
harrens und den aus der Zeit geborenen Kräften fortging und, immer
weitere Kreise ziehend, das neunzehnte Jahrhundert ganz erfüllte,
so finden wir darin doch, allen Erschütterungen durch Kriege und
Revolution zum Trotz, keinen Moment, in dem auch die weitgehendste
Interpretation eine Lösung im Sinne der Alternative, mit der Napoleon
die Zukunft Europas mnschreiben zu können glaubte, erbhcken
dürfte. Niemals hat sich die Entwicklung mit dem Gegensatz zwischen
Hberaler und reaktionärer Weltanschauung, zwischen Nationahsmus
und Universahsmus, Militarismus und Pazifismus, Demokratie und
Absolutismus — oder wie man die miteinander ringenden Gewalten
gegeneinander hat unterscheiden woUen — gedeckt. Demokratie
und Klerikahsmus haben sich nur zu gut miteinander vertragen,
während das Wort von dem Bunde zwischen Thron und Altar sich
brüchig genug erwiesen hat. Auch für die Erhaltung ihrer Eigenart
können manche Nationen ihrer Kirche dankbar sein; Spaniens Ge-
schichte gibt für das eine wie das andere Belege die Fülle. Und daß
höchster wirtschaftHcher Flor und aUer Komfort der Zivihsation sich
mit barbarischer Behandlung unterdrückter Nationen sehr wohl
verbinden läßt, haben im Sudan und in Irland — wn von andern
Exempeln zu schweigen — die Engländer bewiesen, die ihre Kriege
bekannthch heute wie vor hundert Jahren ganz allein im Dienste der
Freiheit und des Rechtes führen und als die durch Gott beauftragten
Freunde und Beschirmer aller kleinen imd ohnmächtigen Völker auf
dem ganzen Erdenrunde ihres Amtes walten.
Indessen Worte Napoleons sind nicht so bedeutungslos, lun kurzer-
hand beiseite geworfen zu werden. Und so mag es immerhin erlaubt
sein, den Satz, den wir an die Spitze imseres Essays stellten, daraufhin
zu prüfen, ob er, werm nicht für das 19., so doch für das 20. Jahr-
hundert oder auch nur für den Moment, in dem wir stehen, gelten darf,
für die Weltlage von heute, wie sie sich nach der unerhörten Kata-
186
Strophe, die unsern Kontinent mit Schutt und Trümmern bedeckte,
gestaltet hat. So daß also Napoleon die Frist für seine Erfüllung in
der begreiflichen Ungeduld des Propheten nur zu kurz gegriffen hätte.
Würden wir die Frage in dieser Form in dem Jahrzehnt vor dem
Weltkriege aufgeworfen haben, so wäre unsere Antwort allerdings nicht
anders ausgefallen als bisher; ja, wir hätten vielleicht dahin geschlossen,
daß es niemals eine falschere Prophezeiung gegeben habe, und daß die
Entwicklung gerade umgekehrt verlaufen sei. War es doch die Zeit,
wo alle Welt in einem Austausch ihrer wirtschaftlichen und geistigen
Güter wie nie zuvor stand, und unsere deutschen Staatsmänner
schon eine Weltpolitik ohne Krieg als ihr Programm zu verkünden
wagten. Wohl war Rußland noch weit stärker geworden als zu der
Zeit, da Napoleon das von ihm beherrschte Europa gegen Moskaus
Macht geführt hatte. In gewaltigem Ausmaß hatten sich seine Kräfte
über den Ural wie über den Kaukasus hin entwickelt ; in der Mandschurei
durch Japan jüngst zurückgedrängt, hielt es doch alle Positionen,
die es seit Jahrzehnten jenseits des Kaspischen Meeres, wie in Persien
und Kleinasien, gewonnen hatte, in festen Händen, und stärker als
je lastete seine Riesenfaust auf dem Balkan und dem nahen Orient.
Aber um so mehr war es gerade gegen den Westen in seiner Auswirkung
gehemmt. Denn hier stieß es auf eine Macht, welche jedes Hinweg-
dringen über die einmal gezogenen Grenzen unmögüch machte: an
Stehe der großen Senke, in die sich zwei Jahrhunderte hindurch von
allen Seiten her die europäischen Mächte gleich reißenden Strömen
hatten ergießen können, hatte sich Bismarcks gewaltige Schöpfung,
das Deutsche Reich, auf den preußischen Grundmauern erhoben;
wie ein Gebirgswall, an dem alle Stürme von Ost und West vergebhch
rütteln, erstreckte es sich von den Küsten der Nord- und Ostsee bis
tief in die Alpen. Der Bund der drei Ostmächte, in denen das russische
Zartum die Dominante gewesen, war längst zerfallen, aber der neue
Dreibund, den Bismarck an seine Stelle gesetzt, und an dem seine
Nachfolger festhielten, dem sich auch Rumänien angegliedert hatte,
umspannte einen Machtkreis, der, wie das deutsche Imperium des
Mittelalters, ganz Mitteleuropa von der jütischen Grenze bis an das
sizihsche Meer und von den Mündungen der Donau bis zu den Vogesen
in sich begriff und jedem Angriff der beiden außenstehenden Groß-
mächte des europäischen Festlandes Trotz bot. Niemals war für die
Ruhe der Welt besser gesorgt gewesen als durch die FriedenspoUtik
187
die durch die beherrschende Stellung des neuen Deutschlands, der
friedfertigsten Macht aller Jahrhunderte, gewährleistet war, niemals
die Gefahr, den europäischen Kontinent einer einzigen Gewalt zu unter-
werfen, mochte sie von Osten kommen oder von Westen, geringer
gewesen.
Diese Umgestaltung Europas war aber durchweg unter dem Zeichen
der Monarchie erfolgt: Italien sowohl wie Deutschland, und so auch
die Balkanstaaten, die sich aus der verfallenden türkischen Masse
erhoben, Rumänien und Serbien wie Griechenland und Bulgarien,
hatten ihr neues Leben unter Führung von Fürstenhäusern gewonnen,
mochten diese nun dem Lande selbst entstammen, wie Savoyen
und Hohenzollern und die beiden Mörderdynastien in Belgrad,
oder mochten Angehörige ausländischer Dynastien von den Partei-
häuptem, welche damit die Konsoüdierung der neuen Staaten
zum glücklichen Ende führen wollten, ins Land gerufen sein,
wie die schwäbischen Hohenzollern in Bukarest, der Koburger
in Sofia und Mitglieder des dänischen und bayerischen Königs-
hauses in Athen. Vergebens versuchten die radikalen Parteien die
nationale Idee, die doch gerade sie als die ersten auf ihr Banner
geschrieben hatten, mit ihren alten Zielen noch fernerhin zu verbinden;
indem die Kronträger den nationalen Gedanken zu ihrem Programm
machten und damit sich auch zu den repräsentativen Staatsformen
bekannten, hefen sie jenen allerorten den Rang ab. So stark wurde
dadurch ihre Stellung, wenigstens die der alten, dm"ch große Traditionen
mit ihren Untertanen und Volksgenossen verknüpften Fürstenhäuser,
daß den Liberalen aller Schattierungen kaum etwas andres übrig
blieb, als sich zu bekehren und ihre alten Grundsätze abzumildern
oder ganz zu verleugnen, und daß den Extremen unter ihnen, die
keinen Frieden mit der Monarchie machen wollten, der nationale
Gedanke unter den Händen entghtt und ihre Parteiprogramme
internationalen Formen und Zielen sich zuwandten. So erging es in der
einen oder der andern Richtung in Italien Garibaldi imd Mazzini,
in Deutschland aber den Führern oder den Erben der Parteien von
1848, von Lassalle bis zu Bebel und Liebknecht, und von Julius Froebel
rmd Willielm Jordan bis zu den Arbeitsgenossen Bismarcks, einem
Lothar Bucher und Konstantin Rößler. Auch in Spanien büeben alle
Versuche der Radikalen, ihre republikanischen Ideale zu verwirk-
lichen, umsonst; es bedurfte nur der entschlossenen Adoption eines
188
liberalen Programms, um eine der ältesten Dynastien Europas wieder
in den Besitz des nationalen Königsthrons, den sie durch fünf Gene-
rationen inne gehabt hatte, zu setzen. Bis an die Schwelle des Welt-
krieges können wir diese Verknüpfung des nationalen mit dem monar-
chischen Staatsgedanken verfolgen; noch bei der Bildung des albani-
schen Zwitterstaates, jenes von vornherein unmöglichen Gebildes,
durch dessen Herstellung die europäische Diplomatie die gegen-
einander strebenden Interessen Österreichs und Italiens samt ihren
Khentelen auszugleichen sich abmühte, nehmen wir diese Tendenz
der allgemeinen Politik wahr. Sehen wir von der Schweiz ab, deren
Existenz seit dem Sturz Napoleons, dem sie ihre Neuformung ver-
dankte, bis heute ledigUch auf der Rivalität der großen Nachbar-
mächte beruht, so hatte bis zum Weltkrieg nur eine Nation die
repubhkanische Staatsform behauptet — das war die im Kriege von
1870 besiegte. In keinem Jahrhundert seiner Geschichte ist Europa
ärmer an RepubHken gewesen, als wie in der Epoche Bismarcks und
Kaiser Wilhelms II.
Wie anders der AnbUck, den unser Erdteil seit den Friedens-
schlüssen von 1919 dem Beschauer darbietet ! Sollte man nicht glauben,
daß Napoleons Prognose doch nicht so unrichtig war, daß der Sieg
der republikanischen Staatsform heute gesichert sei, und also das
Endziel der Entwicklung Europas, wenn es auch noch nicht voll er-
reicht ward, doch in dieser Richtung der von ihm aufgestellten Alter-
native hegen wird? Heute, wo die republikanische Staatsform sich
an die Stelle jener drei absoluten Kronen, die schon vor hundert
Jahren ihre Todfeinde waren, gesetzt hat und damit von den Ge-
staden des Stillen Ozeans bis an die Atlantik, von Wladiwostok bis
Le Havre die herrschende geworden ist? Gerade in der Hauptstadt
des Zartums, in Moskau selbst, hat die europäische Demokratie in
ihrer extremsten Gestalt ihren Thron aufgeschlagen: in Frankreich
geboren, von französischem Geiste genährt, von einem deutschen Juden,
der, von der deutschen Philosophie herkommend, dennoch im Westen
seine geistige Heimat gefunden hatte, ausgebildet und vollendet,
hat jene Lehre sich heute die russische Erde ganz unterworfen. Vom
Kreml her, dem alten Zarenschloß, aus dessen Fenstern einst Na-
poleon die Hauptstadt des heiligen Rußlands, ein grandioses Opfer
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barbarischer Vaterlandsliebe, in Flammen aufgehen sah, erfolgen nun
schon seit vier Jahren und darüber mit unerhörter Kraft vulkanische
Stöße, welche sich in konzentrischen Kreisen nach allen Richtungen
auswirken. Weit über die Grenzen des moskowitischen Rußlands
hinweg vernehmen wir seitdem das Rollen des unterirdischen Donners ;
in Finnland wie in den baltischen Provinzen, in Litauen und in der
Ukraine, in GaUzien und in Ungarn schlugen die Flammen empor;
auch den deutschen Boden haben sie zeitweise ergriffen, und noch vor
kurzem sahen wir sie hier von neuem emporzüngeln. Erst jenseits
des Rheins, als der Grenz;e des heutigen Deutschlands, erlahmte,
bisher wenigstens, ihre Kraft. Aber, wenn auch die WeUenringe mit
der Entfernung von dem Zentrum der Bewegung sich mehr und
mehr verflachen, so spürt man immerhin noch die Erschütterung,
wie in Paris und London, so in Bombay und Kalkutta und in dem
äußersten Osten Asiens, den die Japaner den Russen aus den Händen
gerissen und ihren Machtgeboten unterworfen haben.
Bemerken wir wohl: es sind wiederum die Besiegten, die im
Weltkrieg unterlegenen Nationen, die dieser Bewegung zum Opfer
gefallen sind — oder für die sie vielleicht eine neue Äußerung originaler
Kraft sein, einen Weg ins Freie, ein Mittel der Erlösung aus den Fesseln,
welche die Friedensverträge von 1919 über sie geworfen, bedeuten
könnte. Denn mag auch der marxistische Zar, der heute das heilige
Rußland mit eisernem Szepter regiert, unumschränkter und erbarmungs-
loser als je ein Herrscher, der vor ihm im Kreml residierte, es vermocht
oder auch nur gewollt hat, zunächst noch den fremdstämmigen Be-
standteilen des alten Reiches die eigene Organisierung in repubhkani-
schen Formen erlauben, so hat er doch schwerUch darauf verzichtet,
sie alle als Schutzverwandte vom »Mütterchen Rußland« zu betrachten
und mit dem moskowitischen Zentrum in einem einzigen poHtischen
System dereinst zu vereinigen. Mit einem Wort, es sind die alten
Bahnen des Zartums, die der Organisator des neuen Rußlands auf-
gesucht hat, nur noch vunfassender, tiefer wühlend und ausschweifen-
der als es jemals von einem seiner Vorgänger versucht wurde. Ganz
besonders die auswärtige PoUtik Lenins empfängt erst unter diesem
Gesichtspunkt das rechte Licht. Wendet sie sich auch nicht mehr
oder noch nicht wieder dem ältesten Ziele des moskowitischen Ehr-
geizes zu, das im Weltkriege fast erreicht zu sein schien, der Be-
herrschung der Meerengen (denn hier würde der Widerstand noch zu
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stark sein), so bewegt sie sich mit um so größerer Energie auf den
Wegen, welche die zaristische PoHtik im vorigen Jahrhundert, seit den
Zeiten Pauls I., neben jenem verfolgt hat, und die auf Persien und
Indien gerichtet sind ; sie schiebt sich damit zwischen die noch getrenn-
ten Machtsphären Englands, den nahen und den ferneren Orient ein.
Würde es ihr hier gelingen — und zunächst sind es die Briten und ihre
Freunde, die im Nachteil und Zurückweichen sind — so würden sie
deren Stellungen in Vorderasien umklammert haben und sie bereits in
den Kern werken ihrer Macht, in Ägypten und Indien bedrohen. Was
der letzte der alten Zaren im Bunde mit England versucht, und worin
er zu seinem und seines Staates Verderben gescheitert war, würde
das neue Rußland hinausgeführt haben: der Kampf um Asien, das
letzte Ziel des britischen wie des russischen Ehrgeizes, wäre damit
zugunsten des Moskowitertums entschieden.
Zu den Besiegten, oder sagen wir lieber zu den im Weltkriege
zusammengebrochenen Nationen (denn nicht durch Waffen haben
uns unsere Überwinder gefällt) gehören auch wir, die Deutschen.
Wir aber haben uns nicht, wie die Russen, dem Machtgriff unserer
Gegner entzogen und ims unter dem Schutz der marxistischen Lehren
in einer neuen Front gegen sie gestellt : wir haben vielmehr, indem wir
unser Reich von den Gedanken des seinem Staate abtrünnig ge-
wordenen Propheten unterjochen ließen, uns den Feinden unserer
Nation unterworfen. Wir Toren wähnten, ihre Gnade durch eine
Kapitulation, die bis zur Selbstentblößung und dem Falschbekennen
nie begangener Schuld ging, erkaufen zu können; wir rechneten auf
Verzeihung, wenn wir nur unsem Kaiser verstießen und Bismarcks
Schöpfung zerbrachen; wir bedachten nicht, daß niemals die Formen
des Staates an sich bereits Macht sind, sondern daß sie es nur durch
die Kraft werden, die in ihnen zum Ausdruck kommt, durch den Willen,
der sich hinter ihnen birgt, und das Ziel, das dieser sich setzt; und wir
wollten nicht glauben, bis wir es zu fühlen bekamen, daß das Kriegs-
ziel der Feinde von vornherein die Zerbrechung unseres Reiches und
die Vernichtung unserer Nation war.
Hier stoßen wir auf den Grund des Problems, das wir zur Er-
örterung brachten, und hier liegt seine Lösung. Jene Prognose Na-
poleons, die Alternative, vor die er die Zukunft des Erdteils stellte,
der einst der Schauplatz seiner Taten gewesen, war so richtig oder
so falsch wie alle anderen Schlagworte und Programme, alle Ideologien
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seines Jahrhunderts, deren Lebensdauer und ihre Bedeutung immer
gerade so weit reichten, wie die Kraft und der Wille, die sich in ihnen
betätigten. Nun verstehen wir die \'ielfachen Kombinationen, die
alle diese Parteiparolen miteinander eingingen, allen Abwandlimgen
und Widersprüchen, die sich daraus ergaben, zum Trotz; wie es
z. B. dazu kam, daß sich gegen Deutschland und seine paar
Verbündeten eine KoaUtion zusammenfand, welche die heterogensten
Elemente in sich schloß: absolute Regierungen und Repubhken,
Verfassungsstaaten jeder Gattung, Herrenvölker und Vasallenländer,
Nationen von hoher Kultur und noch höherem Selbstbe\\'ußtsein,
und Stämme, die noch auf der untersten Stufe menschhcher Ent-
wicklung standen, Weltmächte und Zwergstaaten wie Liberia und
Haiti, weiße und farbige Vertreter aller Rassen bis zum dunkelsten
Schwarz und aller Rehgionen beider Hemisphären bis zu den Fetisch-
anbetem der Südsee und des innersten Afrika. Das Kriegsziel dieses
Völkerkonglomerats war, wie bemerkt, die Vernichtung Deutschlands,
als Strafe dafür, daß wir es gewagt hatten, uns um einen Platz an der
Sonne zu bewerben, nach sieben Jahrhunderten der Zersphtterung
uns einen Staat zu bauen, der unserm Kulturbewoißtsein, imserrn
Gemeingefühl, unserm Lebenswillen gemäß war. Die Losung freihch,
unter der sie den Krieg gegen uns führten, oder vielmehr das Heer
von Schlagworten, mit denen sie die Welt, Gläubige und Ungläubige,
Wissende und Betörte (und das war die Masse) überschütteten, lautete
anders. Da las und hörte man nichts als hohe Worte von Zivihsation,
Recht und Gerechtigkeit, von Weltfrieden, Freiheit imd Selbst-
bestimmung, als den Zielen des Kampfes, untermischt mit den schwer-
sten Anklagen gegen Militarismus und Kaiserismus und gegen die
verbrecherischen Handlungen einer barbarischen Kriegerkaste, von
der unser geknechtetes Volk selbst zu erretten der Zweck des heihgen
Krieges als eines neuen Kreuzzuges für alle Ideale demokratischer
Zivilisation sei.
Heute ruhen die Waffen; aber ihre Maske haben unsere Feinde
noch nicht abgenommen, da sie ihr Kriegsziel noch nicht völhg er-
reicht haben; dazu soll der Krieg nach dem Kriege führen, den sie
uns für ein Menschenalter oder darüber zugedacht haben. Immerhin,
gelüftet haben sie bereits die Maske hier und da; wenn etwa Eng-
lands führender Minister, ich weiß nicht, ob in poUtischer Absicht
oder nur aus der Hybris des Siegers heraus, gestand, daß schheßhch
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niemand an dem Kriege rechte Schuld trage, sondern alle nur so
hineingestolpert seien. Und so mag sich ja wohl mit der Zeit der
künsthche Nebel lösen, unter dessen Schutz unsere Gegner ihr Werk
vollbracht haben.
Hier allein, und nicht in der Kraft der politischen Dogmen und
Formen, ist wiederum der Grund dafür zu suchen, daß grade die
Besiegten mit den repubhkanischenOrdnungen und den dem.okratischen
Idealen beglückt wurden, die ihnen die Gegner, solange sie noch im
Kampf standen, sirenengleich angepriesen hatten — in einem Maße,
daß es den Siegern selbst bereits fast zu viel ward: die Niederlage trieb
alle zerstörenden Kräfte aus dem Innern jener Staaten hervor, während
sie den Regierungen der siegreichen Nationen nichts anhaben konnten,
obgleich doch dort ihre eigentliche Heimat gewesen war. Hätte
Itahen sich auf selten der Besiegten befunden, kein Zweifel, daß es
mit dem Hause Savoyen zu Ende gewesen wäre: der Sieg, der ihm
nach einem Dutzend schwerer Niederlagen mühelos in den Schoß fiel,
hat ihm die Krone erhalten: nicht die Waffen, sondern die Pohtik,
der Verrat an den Bundesgenossen hat es gerettet. Genau so steht
es mit Frankreich : wäre die Republik, die ihr Dasein selbst der Nieder-
lage, dem Zusammenbruch des zweiten Kaiserreichs verdankte, deren
Lebenselement dreiundvierzig Jahre hindurch die Hoffnung auf
Rache, auf die Herstellung ihrer verlorenen Hegemonie auf dem
Kontinent gewesen war, zum drittenmal der deutschen Kraft erlegen,
sie wäre so sicher verloren gewesen, wie es Napoleon III. als Ge-
fangener von Sedan war. Der Triumph aber, den sie heute in
ihrer Weise (wir denken an den Rhein) genießt, bändigt alle Frak-
tionen in ihrem Schoß; und man merkt es ihren führenden
Männern nicht an, daß sie selbst zum guten Teil aus sozialistischen
Parteien hervorgegangen sind. Auch in England blieb bisher, wie
vor hundert Jahren, alles beim Alten, Krone und Parlament, die
Parteien und die Minister. Und während Lenins Macht dort, wo sie
siegreich vordringt, südUch des Kaukasus, auf dem Wege nach Persien
hin, Repubhken ihres Gepräges gründet, schufen Lloyd George
und Lord Curzon im Orient, wo es irgend geht, Emirate und Sultanate,
in Kairo, Mekka und Damaskus, Kronen, leicht zwar und veränder-
lich, wie der Sand ihrer Wüsten, die aber für den Moment ihren Zweck
erfüllen: Englands Macht zu verstärken. Wenn unsere Feinde diese
monarchischen (die Demokratie müßte sagen: diese reaktionären)
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Formen den Polen und Tschechen, wie ihren Schutzbefohlenen in
Estland und Lettland, nicht gönnten, so verdanken es diese Rudi-
mente der besiegten Mächte mehr dem Zufall: es fehlt dort an Dy-
nastien, welche die nationale Tradition hinter sich haben. Wo diese,
wie in Ungarn, gegeben ist, sahen wir sofort einen Kronprätendenten
auftauchen, und es ist von besonderem Reiz, daß es gerade die Re-
publikaner von Paris waren, die sich um die Wiederaufrichtung des
habsburgischen Thrones, zunächst einmal in Budapest, zärtUch
bemüht zeigten. Im übrigen aber haben unsere Besieger die monarchi-
schen Institutionen nirgends im ganzen Umkreis der östlichen Sphäre,
auf der sie allein die Herren sind, angetastet, weder bei den Neutralen
noch bei den Unterworfenen und ihren Vasallen; sie haben sogar den
Griechen die Zurückberufung ihres Königs verziehen und den Minister,
der jenen verriet und sein Land ihnen auslieferte, geopfert. Man kann
gewiß nicht konservativer, undemokratischer handeln als unsere
Überwinder.
Merkwürdig, daß Napoleon, der doch wahrlich den Wert der
Macht, der Realitäten zu schätzen verstand, sich so phantastischen
Hoffnungen hingeben konnte, wie wir sie in jener Vorhersage seines
und Europas Schicksals erkermen mußten. Aber freihch, wenn wir
uns die Empfindungen vorstellen, die diesen Titanen, dem das Leben
im Donnergang des Krieges und der Revolutionen dahingegangen
war, erfüllen mußten, sobald er sein Auge von dem kahlen Felsen,
an den ihn Furcht und Haß seiner Gegner gekettet, über die endlose
Wasserwüste schweifen ließ, so können wir es wohl verstehen, daß er
solchen Träumen nachhing und Linien in die wallenden Nebel der
Zukunft hineinzeichnete, die uns, wenn wir sie greifen wollen, unter
den Händen zerfließen.
Solange der Kaiser auf dem festen Boden der Macht stand, so-
lange er mit dem Geschick, das über uns Sterblichen waltet, kämpfte,
hat jedenfalls kein anderer so wie er mit den Wirklichkeiten zu rechnen
verstanden. Freihch, daß kein ewiger Bund sich mit des Geschickes
Mächten flechten läßt, daß auch er, um ein Rankesches Wort dem
unseres Dichters zuzugesellen, wie jedermann unter dem Einfluß
der Gestirne lebte, welche die Welt beherrschen, war ihm gerade so
bewußt, wie es alle wahrhaft Großen, alle Weiterschütterer, an sich
Lenz, Wille, Macht und Schicksal. 13
194
erfahren und bekannt haben ; auf der Höhe des Sieges hat er darüber
nicht anders gedacht wie in der Tiefe des Unglücks.
Der Kampf aber, den das Schicksal diesem Gewaltigen auferlegt
hatte, war der Krieg gegen England. Er hatte ihn vorgefunden, ihn ge-
erbt von der Revolution, wie ihn diese von der Krone überkommen
hatte, die sie selbst gestürzt hatte. Ein Jahrhundert war die Tod-
feindschaft dieser beiden großen Nationen gerade alt, als die Revolution
ausbrach, die das neue Frankreich schuf. Als Napoleon fiel, 26 Jahre
nachher, war er beendigt : es war der letzte Akt gewesen eines Ringens
der beiden Großmächte des Westens um die Hegemonie in beiden
Hemisphären. England aber war der Sieger geworden.
Und ist es geblieben.
Wohl gab Frankreich den Kampf nach dem Sturz seines Cäsars
noch nicht völlig auf. Ließ es den Ehrgeiz, mit der protestantischen
Weltmacht um die Beherrschung der Ozeane zu streiten, fahren, so
hielt es doch an der Hoffnung fest, wenigstens im Mittelmeer den
alten Rang zu behaupten. Da es dies gegen England nicht mehr
vermochte, suchte es sein Ziel neben ihm, Schulter an Schulter, 2u er-
reichen : bei Navarino gegen die Türken und Ägypter, vor Sebastopol
gegen die Russen. Vor allem Napoleon HI. sah es, auch darin der
Erbe seines Oheims, als seine Lebensaufgabe an, das Mittelmeer zu
einem »lac frangais« zu machen, wie er es selbst einmal gegen Bis-
marck, schon bei ihrer ersten Begegnung in Paris nach dem Krim-
kriege, ausgesprochen hat. Eben deshalb heß er, auch darin nur das
Werk seines großen Vorgängers fortsetzend, die Landenge von Suez
durchstechen. Aber nicht jener Kanal, der den Weg zu den Welt-
meeren des Ostens erschloß, sondern der Besitz Ägyptens selbst schuf
erst die Bürgschaft für die Herrschaft im Mittelmeer, wie es das
Fundament war für die Herrschaft über die beiden Kontinente,,
die es miteinander verband. Hier aber erfuhr — nicht mehr der zweite
Bon aparte, der schon zugrunde gegangen war — sondern die neue
französische Repubhk, die auf den Trümmern des Kaiserreichs errichtet
war, ihre schwerste Niederlage. Es war für alle Zeiten die Krisis in
dem Verhältnis beider Großmächte des Westens Europas zueinander.
Indem Frankreich in Ägypten vor England zurückwich, indem es die
Bahnen einer selbständigen KolonialpoHtik verheß, auf die sein kluger
Minister Jules Ferry es hatte führen 'wollen, band es seine Zukunft
an den Willen Englands, Was 1882 mit der Beschießung des wehr-
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losen Alexandriens durch die englischen Schiffskanonen und dem
mühelosen Sieg Lord Wolseleys über die zuchtlosen Scharen Arabi
Paschas vor den Toren Kairos begann, wurde bei Faschoda voll-
endet; als Major Marchand im Sudan vor dem herrischen Gebot
Lord Kitcheners die Trikolore ungerächt streichen mußte, hatte
Frankreich das Spiel verloren: freiwillig gab es sich dazu her, fortan
englische Ketten zu tragen. Es nahm sie auf sich, weil es das noch
ältere Ziel seines Ehrgeizes, die Vorherrschaft auf dem Kontinent, nicht
vergessen konnte, weniger noch als den Verlust der einst von ihm
selbst geraubten deutschen Westmark. Heute hat es dies Ziel wieder
erreicht: aber die Ketten, die es bereits trug, lasten dafür auf ihm
um so schwerer. Denn nur wenn es seinem einstigen Rivalen zu WiUen
bleibt, kann es hoffen, das Chaos, das es durch den Wahnsinn der
Verträge von 1919 auf dem europäischen Festlande hat schaffen
helfen, zu meistern. Nur als Büttel Englands wird es am Rhein wie
an der Oder und der Weichsel seine Herrschaft behaupten können.
Keinen Schritt auf diesen Wegen wird es ohne Englands Erlaubnis
tun können, und im Orient oder wo immer jede Konzession jenem
bezahlen müssen. Denn die britische Diplomatie hat tausend Ge-
legenheiten, ein Abspringen des Bundesfreundes von dem Wege,
der ihm vorgeschrieben ist, zu verhindern; sie braucht nur die Rivalen
Frankreichs, Besiegte, Freunde, Bundesgenossen oder Neutrale,
aufzuputschen, in dem Wirrwarr der kontinentalen Politik ein wenig
herumzustochern, um die Dinge nach eigenem Gefallen zu lenken.
In der Ausstattung des Freundes mit Kolonien braucht England nicht
zu kargen, denn wirtschaftliche Schädigung wird es sich deshalb nicht
gefallen lassen; und würde Frankreich dennoch einmal einen Seiten-
sprung wagen, so würde ein einziger Prankenschlag des britischen
Löwen genügen, um das flottenlose wieder auf den richtigen Weg
zurückzubringen.
Von hier aus müssen wir die Gestalt des Giganten betrachten,
der es um die Wende des 18. Jahrhunderts noch ein letztes Mal ge-
wagt hat, den Kampf gegen England als der Erbe der alten französi-
schen Monarchie aufzunehmen. So gewinnen wir den BHckpunkt,
von dem aus sein Werk, alles was er getan und gelitten, geschaffen
und zerstört hat, in den Zusammenhang der Welthistorie einzu-
reihen ist. Von da aus können wir auch die Konstellationen begreifen,
unter denen die Gegenwart steht, und die Linien, die sie in Wahrheit
13*
196
mit dem Zeitalter Napoleons verknüpfen. So tritt uns nun in voller
Klarheit der Weg vor die Augen, den England gegangen ist, und das
Ziel, das es heute erreicht hat. Es ist noch nicht die Weltherrschaft;
denn die westliche Hemisphäre hat sich bisher seinen Zugriffen noch
immer wieder entzogen, und im äußersten Osten ist ihm eine Gegen-
macht entstanden, die auf verwandter Grundlage aufgebaut ist,
und von der sich seine Diplomaten heute oft genug fragen werden,
ob sie dieselbe als Freund oder Feind in vielleicht naher Zukunft
betrachten müssen. Aber zurzeit besitzt England noch — und dies
ist das Ergebnis des Weltkrieges — auf der östlichen Hemisphäre
den maßgebenden Einfluß, nachdem es die einzige Macht, die ihm hier
hätte entgegen treten können, mit Hilfe einer Koalition aus dem
Wege geräumt hat, in die es seine eigenen Rivalen, ja, seine politischen
Antipoden selbst eingespannt hatte, und die es trotzdem nur dadurch
zum Siege führen konnte, daß es die Unterstützung seiner ältesten
Kolonie, der Großmacht der westlichen Hemisphäre, für sein Ziel
gewann.
Bismardc als Prophet.
(1922.)
Der Prophezeiung Napoleons über die Zukunft des Erdteils,
über dem er einst die Geißel geschwungen hatte, stellen wir einen
Ausspruch Bismarcks gegenüber, in dem der Baumeister des kaiser-
lichen Deutschlands, auch er in den Jahren der Verbannung, seiner
Schöpfung das Horoskop gestellt hat : ein Wort, das zwar nur münd-
lich überliefert, jedoch nicht weniger gut beglaubigt ist; denn es
stammt aus der Umgebung des Fürsten selbst. Es lautet: »Zwanzig
Jahre nach dem Tode Friedrichs des Großen ging bei Jena das alte
Preußen zugrunde: zwanzig Jahre nach meinem Abgang wird das
Deutsche Reich untergehen, wenn so weiter regiert wird«. Ein Wort,
das auch dann, wenn Bismarck dabei nicht (wie man es zunächst
verstehen möchte) an seinen Tod, sondern an seine Entlassung
gedacht hat, erschütternd wirken muß.
Dabei ist es nur eines unter vielen, von denen das gleiche zu gelten
hat. Denn Bismarck liebte es (im Gegensatz zu Napoleon, der selten
den Blick über die Gegenwart, an die er in jedem Moment seines Lebens
sich klammerte, hinweg in die Zukunft gerichtet hat) den kommenden
Dingen ins Auge zu schauen. Seltsam genug, so möchte man meinen,
von einem Manne, der gewiß ebenso wie jener Weiterschütterer frei
war von dem Bestreben, über die Schranken, die ihm die Umwelt,
Zeit und Raum, setzte, hinaus Zielloses anzustreben, und für den
nicht weniger als für den Imperator nur das Gegebene, das zu
Berechnende Geltung besaß. Also daß man fast versucht sein könnte
zu fragen: wie kommt Saul unter die Propheten? Vielleicht aber
geben uns eben diese, die Propheten des alten Bundes, in denen unge-
zählte Geschlechter die Pfadfinder in die Zukunft, die Seher des Lichts,
die Brückenbauer zwischen Himmel und Erde erblickt haben, die
Antwort. Wenn wir sie nämlich mit ihren Sprüchen und Weissagungen
nicht so auffassen, wie die gläubige Nachwelt, losgelöst von der Gegen-
wart, weltentrückt im Verkehr mit himmlischen Geistern in den Räu-
198
men der Zukauft wandelnd, sondern so, wie die Forschung, die deutsche
Forschung des abgelaufenen Jahrhunderts, sie uns begreifen gelehrt
hat : als Kinder ihrer Zeit, inmitten ihres Volkes mit seinen Kämpfen
und seinen Leiden, die nirgends stärkeren Widerhall fanden als in
ihrer Brust. Sie waren nicht eigentlich die Führer der Parteien, wie
leidenschaftlich sie auch an den Geschicken ihres Volkes teilnahmen,
und noch weniger Inhaber der Staatsgewalt; auch zu den Priestern,
den Auslegern der Thora, gehörten die Wenigsten, sie standen eher
im Gegensatz zu ihnen: es waren Männer für sich, Jahves Söhne,
wie sie selbst sich nannten, Boten Jahves, durch die der Gott zu seinem
Volke sprach, nicht anders als einst durch Moses, der als ihr Anfänger
den Gott Israels zuerst verkündigt hatte. Man findet sie meist in der
Umgebung der Mächtigen, einzeln, wie jenen Nathan, der ratend und
warnend, auch wohl strafend, wo er straucheln will, König David zur
Seite steht (so etwa wie in Schillers Don Carlos der Großinquisitor
neben König Philipp), oder in Scharen, wie sie Elisa umgaben, als er
Jehu, Ahabs Feldhauptmann, gegen seinen König aufhetzte, weil
Ahab dem tyrischen Bial, dem Heimatsgott seiner Gemahlin Jesabel.
einen Altar errichtet hatte. Und doch hatte der König nichts anderes
getan als einst der große Salomon selbst; er diente, wie dieser, Jahve
nach der Väter Weise, die immer fremde Kulte toleriert hatten. Aber
der Gott Israels duldete schon nicht mehr andere Götter neben sich,
und also mußte Ahab sterben samt seinem Hause. Nur Wenige sind
es, die sich der Strömung des öffentlichen Willens, die hier Jahves
Gesalbten, den legitimen König, hinwegriß, entgegenstemmen. Das
aber sind gerade die großen Propheten, die Bahnbrecher, die schöpfe-
rischen Naturen. Verstoßen vom Hof, unverstanden von dem Haufen,
sind sie die Träger von Ideen, die aus der Tiefe ans Licht drängen
und ein neues Zeitalter vorbereiten. In der Gegenwart sind sie ver-
achtet, aber die Zukunft, wie sie sich auch gestalten mag, wird sie
rechtfertigen. In den Krisen und Katastrophen des Reiches treten
sie auf: Amos, der Hirte von Thekoa, und Elisas Vorgänger, der ge-
waltige Elias; Jesaias der Judäer, der nach Samarias Fall den Messias
kommen sieht, den starken und gerechten König, der wenigstens
Juda vor dem gleichen Lose bewahren wird; Jeremias, der das Unglück,
das er vorhergesagt, noch erleben mußte, und Ezechiel, dieser ein
Priester, der sein Volk, das nun zur Gemeinde sich umbildete, in die
Verbannung begleitete. Es sind die Pessimisten, die Verkündiger des
199
Unheils, dann aber doch auch wieder die Hirten und Tröster Israels;
denn sie verheißen ihrem Volk, daß Jahve auch im Unglück bei ihm
bleiben wird, der Gott seiner Väter, der mit ihm wandert und sich
wandelt : der Genius ihres Volkes, der nicht sterben wollte, blieb in
•diesen Männern lebendig.
Von hier aus gesehen, wird das Wort von Bismarck dem Pro-
pheten nicht mehr so paradox erscheinen: das Gleichartige, freilich
auch das, was ihn von den Propheten Israels unterscheidet, wird
uns sichtbar. Zunächst : er selbst war der Mann des Staates, Sammler
der politischen Kraft, Führer und Herrscher; mit mächtiger Hand
lenkt er das Schiff durch die schäumenden Wogen. Von der Partei
jedoch, obwohl er von ihr ausgeht und in seinen Anfängen als einer
ihrer Führer auftritt, ist auch er niemals ganz umschlossen. In jedem
Moment ist er eine Persönlichkeit für sich, deren Kern sich mit keiner
anderen deckt, obwohl er sich mit allen Parteien, soweit sie auf natio-
nalem Boden standen, von den Gerlachs bis hin zu Lassalle, berührt
und Elemente von ihnen in sich aufnimmt; nur von den Zielen und
Ideengängen eines Karl Marx blieb er immer geschieden. Es ist der
Granitboden der preußischen Monarchie, auf dem Bismarck steht,
der preußische Machtwille, der in ihm verkörpert, es ist der Genius
Preußens, der in ihm lebendig geworden ist : der Adler Friedrichs des
Großen schwebt über seinen Wegen. So wächst er über die eigene
Partei hinaus, kämpft mit allen, besiegt sie alle und baut um den
preußischen Grundpfeiler her, in Kämpfen, die das gesamte Feld
der inneren und äußeren Politik umfassen, ein Reich auf, das alles,
was in der Nation Wülen und Leben atmet, in sich schließt und zum
erstenmal wieder seit Jahrhunderten unserm Volke die Möglichkeit
schafft, als eine der großen Nationen der Erde die eigenen Bahnen
zu ziehen : dem deutschen Genius ist er jetzt der Führer, der Fortbildner
geworden. Um am Ende, einem Elias gleich, das Leben als ein Ver-
stoßener, in der Einsamkeit zu beschließen. Und wie aus Elias' Höhle
die Zomreden des Propheten, so dringen nun aus der Waldeinsam-
keit -^von Friedrichsruh Bismarcks Worte an das Ohr seines
Volkes: schwere, bittere Worte, des Zornes, des Hasses und der Ver-
achtung, jedoch mehr noch Worte der Warnung vor dem Dienst an frem-
den Altären und der Sorge um sein Werk und sein Volk. Wie Stein-
wurf und Keulenschlag eines Giganten, so fallen sie auf diejenigen, die
sich vermaßen, sein Werk fortzuführen, auf Regierende und Regierte,
200
Parteiführer und Zeitungsschreiber, und auf das Heer der falschen
Propheten, der Nichtverantwortlichen, der Schmeichler und der
Besserwisser, der Gleichgültigen und der Glaubenslosen, der
Lästerer und der Spötter. Sie aber verstopfen ihre Ohren, sie ver-
schließen ihre Augen, sie wollen nichts hören noch sehen und lassen
sich weiter treiben auf der schwankenden Flut, näher von Jahr zu Jahr
und zuletzt in rasender Fahrt den Klippen entgegen, zwischen denen
Bismarcks Reich, ein führerlos gewordenes Wrack, zerschellen wird.
Wie werden uns angesichts von alledem, was wir erleben mußten,
die Sagen der Alten wieder lebendig, die wir als Knaben lasen, von
Kassandras Schicksal und dem Schicksal des troischen Priesters,
der seine Volksgenossen vergebens von dem Abgrund zurückzureißen
versucht: sie hören nicht auf ihn; sie lassen sich von dem listigen
Griechen betören; jubelnd, erlöst, wie sie wähnen, von der Umklam-
merung ihrer Stadt und von aller Not des Krieges, ziehen sie mit
eigenen Händen das hölzerne Pferd in ihre Mauern, in dem sie ein
Denkmal des Friedens und der Freiheit erblicken, und achten nicht
des Waffengeklirrs in seinem Innern. Dem Seher aber nahen nun,
von Zeus gesandt, dem Meere entsteigend, die Schlangen; an dem
Altar seines Gottes selbst überfallen sie ihn und zerbrechen ihm alle
Glieder, ihm und seinen Knaben; denn die Götter haben Ilions Ver-
derben beschlossen. So nahm auch unser Volk, betäubt durch den
jähen Sturz von der Höhe seiner Siege, von den Bundesgenossen
verlassen und verraten, und zermürbt durch Hunger und Kriegsnot,
aus der Hand des Feindes den Giftbecher der Verführung. Trunken
gemacht durch die gleißenden Verheißungen von Frieden, Freiheit und
Völkerversöhnung, stürmte es sinnverwirrt, jubelnd fast, in koryban-
tischem Taumel auf die glanzverklärte Nebelwand zu, die den Abgrund
verhüllte. Was wollten die Stimmen, die Beschwörungen einzelner da-
gegen ausrichten! Sie verhallten im Orkan.
Heute ist uns die Binde von den Augen genommen, und mit
schmerzlichem Erstaunen sehen wir, wie klar der Schöpfer des Reiches
die Zukunft gedeutet hat, wie scharf die Linien von ihm gezogen worden
sind, welche die Gegenwart mit der Vergangenheit verbinden, wie tief
die Abgründe und Spaltungen, auf die er die Parteien im Reichs-
tag so oft warnend hingewiesen, schon damals waren, und wie recht
er hatte, wenn er sein »Zu Deinen Zelten, Israel!« seinem Volke zurief.
Es hieße das Leben des Gewaltigen wiederholen, wollten wir ihn in
I
201
jedem Moment dabei beobachten. Nur an einigen Beispielen, die wir
aus allen Epochen seiner politischen Laufbahn auswählen, wollen wir
uns dies klar machen.
Wer von unsern Feinden, die vor drei Jahren Stücke deutscher
Erde aus dem Leibe unseres Reiches und Volkes rissen, haben uns
wohl das Ärgste angetan ? Nicht die Franzosen, wie hart sie
auch, Gallier die sie sind, uns den Fuß auf den Nacken setzten ; denn
sie haben gleich uns wie Männer gekämpft, und es war ein hoher Preis,
um den sie fochten: die Wiedergewinnung nicht bloß der durch ihre
Vorfahren einst geraubten deutschen Westmark, sondern auch der
Vormachtstellung auf dem Kontinent, die sie Jahrhunderte lang
besessen hatten ; auch gibt es kein Aufhalten mehr für sie bei solchem
Ziel, sie sind die Sklaven ihres Tuns geworden und müssen, wenn sie
uns nicht ausmorden können, unsere Zerreißung durchführen und ver-
ewigen, denn sie wissen, daß, wären wir geeinigt und neu erstarkt,
von nationalem Wülen ganz durchglüht, sie aber, wie 1870, allein ge-
lassen, wir sie mit einem Griff erwürgen könnten. Auch die Italiener
nicht, Machiavells Söhne, obschon sie die Idee, auf der sie ihren
Staat aufgebaut, und in der sie die historische und sittliche Recht-
fertigung ihrer Politik gesucht haben, verleugneten, als sie sich des
Heimatlandes Andreas Hofers bemächtigten, in dem jeder Stein sie
wegen dieses Verrates an ihrem eigenen Staatsgedanken anklagen muß ;
sie haben, wenn auch schlecht genug, wenigstens gefochten. Noch auch
die Dänen , die erst nachträglich sich zum Beutemachen hinzudrängten
und sich von unsern Überwindern ein Stück unserer Nordmark schen-
ken ließen ; denn es war immerhin ihr altes Kronland und in der Mehr-
zahl von ihren Volksgenossen bewohnt, auch hatten sie vor Jahren,
und damals im Stich gelassen von ihren Freunden, tapfer darum ge-
kämpft. Das Demütigendste, Schmählichste, Nichtzuertragende haben
wir doch von den Polen erdulden müssen, denen wir das Joch von
der Schulter genommen, den Staat neu aufgebaut hatten, und die zum
Dank dafür, als wir zusanamenbrachen, aller ihrer Schwüre und Treu-
versicherungen vergessend, wie hungrige Wölfe über uns herfielen:
diese Sarmaten, die nichts aus eigener Kraft geschaffen, immer nur
eine Minderheit in ihren eigenen Grenzen gebildet haben, die niemals
vermochten, ihr Volkstum den Unterworfenen anders als mit Gewalt
aufzuzwingen, und heute schon wieder bei der Arbeit sind, was
202
immer von deutschem Leben in den Provinzen, die ihnen unsere
Besieger aus der Beute zuwarfen, noch übrig ist, vollends auszu-
tilgen. Das alles soll ihnen für ewig un verziehen und unvergessen
bleiben.
Daß hier Gegensätze bestehen, die nicht auszugleichen, eine
Kluft, die nicht zu überbrücken ist, hat niemand klarer erkannt als
Bismarck, und zu keiner Zeit seines Lebens hat er etwas anderes
vorausgesehen, als was wir seitdem erleben mußten. Den frühesten
Ausspruch dieser Art finden wir in einem Brief an seine junge Frau
aus Berlin vom zweiten vereinigten Landtag (3. April 1848). Er schrieb
ihn nach der Heimkehr von einer großen Bürgerversammlung, in der
den revolutionsbegeisterten Berlinern zum erstenmal, auf die Nachricht
über die Konsequenzen ihres Polen-Enthusiasmus, die Augen auf-
gegangen waren: »namentlich, nachdem ein trostloser Jude direkt
Samter angelangt war und schreckliche Geschichten über die aus-
gebrochenen Exzesse der Polen gegen die Deutschen vortrug ; er selbst
war stark geprügelt worden«. »Es ist recht merkwürdig,« so lesen wir
da,, »wie der Berliner in der gutmütigen Einfalt seines Enthusiasmus
für alles Ausländische sich jemals einbilden konnte, die Polen könnten
etwas andres als unsere Feinde sein, so lange sie nicht in den vollen
Grenzen von 1772 mit Westpreußen und allem Zubehör gewesen
wären«. Bismarck meinte, nun würde die Regierung sich bald genötigt
sehen, die von ihr selbst aufgewiegelten Polen gewaltsam zur Ruhe
zu bringen. Aber er hatte die Einsicht und Entschlußkraft des Königs
und seiner Minister noch immer überschätzt. Friedrich Wilhelm
glaubte auch jetzt noch mit Wohlwollen und Verständigungswillen
bei seinen alten Freunden weiterzukommen, und erst der offene Auf-
ruhr, mit dem die Polen die durch Oberst Willisen eingeleitete Ver-
mittlungsaktion beantworteten, zwang ihn, den Weg zu betreten, den
der Junker von Schönhausen als den einzig gangbaren bezeichnet hatte.
Unter diesem Eindruck" hat Bismarck jenen großartigen Brief
an die Redaktion der Magdeburger Zeitung geschrieben, in dem er
sein Volk — wohl als der einzige in dieser Sturmzeit — auf das würdig-
ste Ziel nationalen Ehrgeizes hinwies: Frankreich das Elsaß abzu-
fordern und die deutsche Fahne auf dem Straßburger Münster aufzu-
pflanzen, anstatt »mit der Ritterlichkeit von Romanhelden sich dafür
begeistern zu wollen, daß deutschen Staaten das letzte von dem ent-
zogen werde, was deutsche Waffen im Laufe der Jahrhunderte in Polen
203
und Italien gewonnen hatten«. Was er dann weiter über die nationalen
Ziele Polens sagt, deckt sich mit dem Anblick der Gegenwart bis in jede
Linie so sehr, daß jede andere als wörtliche Wiedergabe den Eindruck
abschwächen würde; und so sei es mir gestattet, hier den ganzen Ab-
schnitt zu wiederholen. »Eine nationale Entwicklung des polnischen
Elements in Posen kann kein andres vernünftiges Ziel haben, als das,
einer Herstellung eines unabhängigen polnischen
Reichs zur Vorbereitung zu dienen. Man kann Polen
in seinen Grenzen von 1772 herstellen wollen (wie die Polen selbst es
hoffen, wenn sie es auch noch verschweigen), ihm ganz Posen, West-
preußen und Ermeland wiedergeben; dann würden Preußens beste
Sehnen durchschnitten und Millionen Deutscher der polnischen Will-
kür überantwortet sein, um einen unsicheren Verbündeten zu gewinnen,
der lüstern auf jede Verlegenheit Deutschlands wartet, um Ostpreußen,
polnisch Schlesien, die polnischen Bezirke von Pommern für sich zu
gewinnen. Andrerseits kann eine Wiederherstellung Polens in einem
geringeren Umfang beabsichtigt werden, etwa so, daß Preußen zu die-
sem neuen Reich nur den entschieden polnischen Teil des Großherzog-
tums Posen hergäbe. In diesem Falle kann nur der, welcher die Polen
gar nicht kennt, daran zweifeln, daß sie unsre geschworenen Feinde
bleiben würden, solange sie nicht die Weichselmündung und außer-
dem jedes polnisch redende Dorf in West- und Ostpreußen, Pommern
und Schlesien von uns erobert haben würden. Wie kann aber ein
Deutscher, weinerlichem Mitgefühl und unpraktischen Theorien zu-
liebe, dafür schwärmen, dem Vaterlande in nächster Nähe einen
rastlosen Feind zu schaffen, der stets bemüht sein wird, die fieberhafte
Unruhe seines Innern durch Kriege abzuleiten und uns bei jeder west-
lichen Verwicklung in den Rücken zu fallen; der viel gieriger nach
Eroberung auf unsre Kosten sein wird und muß, als der russische
Kaiser, der froh ist, wenn er seinen jetzigen Koloß zusammenhalten
kann, und der sehr unklug sein müßte, wenn er den schon starken
Anteil zum Aufstand bereiter Untertanen, den er hat, durch Eroberung
deutscher Länder zu vermehren bemüht sein wollte. Schutz
gegen Rußland brauchen wir aber von Polen
nicht; wir sind uns selbst Schutz genug.«
Vielleicht das Bemerkenswerteste an diesen Sätzen ist der Hin-
weis auf die Unabänderlichkeit dieser Tendenz der polnischen Politik
durch ihre Rückführung auf die Psyche der polnischen Nation, die
204
ihrer Natur nach und gemäß ihrer historischen Bedingtheit sich kein
anderes Ziel setzen könne, und dementsprechend die Unabhängigkeit
des Urteils, mit der Bismarck die Motive ihrer Politik würdigt, ja,
gewissermaßen rechtfertigt. Auch darin aber ist er niemals ein anderer
geworden. »Haut doch die Polen, daß sie am Leben verzagen«, so
schreibt er seiner Schwester dreizehn Jahre später, als er von Peters-
burg aus den Ausbruch des großen Polenaufstandes gegen Rußland
beobachtete. Und fügt hinzu: »Ich habe alles Mitgefühl für ihre Lage,
aber wir können, wenn wir bestehen wollen, nichts anderes tun, als
sie ausrotten; der Wolf kann auch nicht dafür, daß er von Gott ge-
schaffen ist, wie er ist, und man schießt ihn doch dafür tot, wenn
man kann«. Furchtbare Worte, furchtbar gerade durch die Betonung
der Unabwendbarkeit des Schicksals, die jedes Erbarmen, auch wenn
es sich im Herzen regen möchte, ausschließt. Aber können wir selbst
zu einem anderen Schluß gelangen angesichts alles dessen, was unsere
Zeitungen Tag für Tag aus Oberschlesien berichten? Ist nicht alles
genau so gekommen, wie es dieser märkische Junker vorausgesagt hat ?
»Wenn die Polen ihr altes Reich in den Grenzen von 1772 zurückfor-
dern, so ist der wahre Sachverhalt der, daß 6 Millionen Polen eine
Herrschaft über 18 Millionen Nichtpolen begründen und zu diesem
Zwecke unter den vorhandenen fünf bis sechs Großmächten nicht
weniger als drei, nämlich Preußen, Österreich und Rußland in die Luft
sprengen wollen« — so äußerte er sich ein paar Jahre später, als die
Liberalen, die im Polenaufstande noch gegen den Reaktionär und
Russenfreund gewettert hatten, endlich klug geworden und den
deutschen Charakter seiner Polenpolitik begriffen hatten, zu der
Zeit, da er bereits die Fundamente des neuen Deutschlands legte, 1867
im konstituierenden Reichstage des Norddeutschen Bundes. »Wir
haben«, so ein andermal, »Jahrhunderte gelebt ohne die Reichs-
lande; wie aber unsre Existenz sich gestalten sollte, wenn heute ein
neues Königreich Polen sich bildete, das hat noch niemand auszu-
denken vermocht. Früher war es eine passive Macht; heute aber wird
es, unterstützt von anderen europäischen Mächten, ein aktiver Feind
sein, und solange es nicht Danzig, Thorn und Westpreußen in seinen
Besitz gebracht hätte, und ich weiß nicht, was der leicht erregbare
polnische Geist noch sonst erstreben möchte, würde es stets der
Bundesgenosse unserer Feinde sein, zumal von Deutschlands Erb-
feind, Frankreich. Niemals darf Deutschland einen zweiten katholi-
205
sehen Staat an seiner Ostgrenze dulden; daher muß es sich jeglicher
polnischen Bewegung widersetzen, selbst wenn diese durch Österreich
unterstützt würde. « Und um noch einen letzten Ausspruch unter vielen
andern zu zitieren : »Wir können an unseren Grenzen nicht die Wieder-
herstellung eines katholischen Reiches erlauben. Das wäre ein Frank-
reich im Norden. Heute haben wir ein Frankreich, alsdann würden
wir deren zwei haben, die natürlich verbündet sein würden, und wir
würden zwischen zwei Feinden stehen.«
Erst in dieser Beleuchtung, unter dem europäischen Horizont,
tritt der Gesichtspunkt ganz klar heraus, von dem Bismarck in der
polnischen Frage sich leiten ließ. Sie stellte sich ihm als ein Stück
der europäischen Konstellation dar, deren Gesamtheit er in jedem Mo-
ment seiner Politik vor Augen hatte, und nach deren Abwandlungen
er jeden seiner Schritte berechnete. Beachten wir aber, daß dabei
bis i863 Frankreich, das Frankreich Napoleons HL, als ein wesentlicher
Faktor für ihn noch nicht in Betracht kam, so wenig, daß er eher noch
auf die Mitwirkung des französischen Kaisers bei seiner Politik rechnete
als auf seine Gegnerschaft. Dies entsprach dem friderizianischen
Charakter, der seiner Staatskunst damals noch zu eigen war. Er stellte
sich damit in Gegensatz zu allen Richtungen, für die das nationale
Moment den Vorrang vor dem rein-staatlichen Interesse in Anspruch
nahm, mochten sie sich großdeutsch oder kleindeutsch nennen, in Wien
oder Berlin, in München oder Stuttgart, in Dresden und Hannover
oder auch in Frankfurt a. M. heimisch sein, zu den Erbkaiserlichen
nicht weniger als zu den Linksradikalen und zu den eigenen Freunden,
den »Gelehrten der Kreuzzeitung«, wie er sie nannte, ebenso wie etwa
zu den Verehrern der habsburgischen Kaiserherrlichkeit in den Kreisen
der Ketteier und der Reichensperger.
Daß auch er, der von sich sagen konnte, daß, wenn ein Teufel
in ihm stecke, es ein teutonischer sein müsse, bereit war, wenn es sein
mußte, für Deutschlands Macht und Ehre den Degen zu ziehen, zeigte
uns jener Hinweis auf Straßburg und das Elsaß aus dem April 1848,
zu einer Zeit, wo in Deutschland alle Welt sich zwar in dem Traum
der nationalen Wiedergeburt wiegte, aber Niemand an einen Angnlf
gegen Frankreich dachte. Ihm dagegen war es, noch in den ,, Gedanken
und Erinnerungen" hat er es bezeugt, niemals zweifelhaft, daß der Her-
stellung des Deutschen Reiches der Sieg über Frankreich vorangehen
müsse. Zunächst aber rechnete er noch nicht mit solchen Eventuali-
206
täten. Erst als er Österreich auf die Knie gezwungen hatte und den
Kurs aus dem engeren Fahrwasser rein-preußischer Großmachts-
poHtik heraus in das breite Gewoge der nationalen Bewegung gelenkt
hatte, bekam für ihn mit andern auch die polnische Frage, die ihm
noch im letzten Polenaufstande so geringe Sorge gemacht hatte, ein
ernsteres Gesicht. Denn nun zwang ihn die Verschiebung der Kon-
stellation, die sein eigener Sieg bewirkt hatte, in ihren ganzen Umkreis
den Blick in die Zukunft anders einzustellen als bisher. Wenn er in
Frankfurt, zum Entsetzen seines Freundes, des Generals von Gerlach,
wohl mit den Gedanken gespielt hatte, daß in einem Bund zwischen
Frankreich und Rußland, der damals möglich schien, Preußen sich
als Dritter anmelden müsse, schon um Österreich den Weg dorthin
zu verstellen, so war daran nun nicht mehr zu denken. Weder Ruß-
land noch Frankreich wären seit Königgrätz für eine solche Politik
zu haben gewesen; vielmehr begannen sich schon am europäischen
Horizont die Linien einer Koalition abzuzeichnen, in der nicht Preu-
ßen, sondern Österreich der willkommene Dritte zu werden drohte.
Damit aber war auch für Polen eine Lage geschaffen, die ihm ganz
andere Aussichten eröffnete, als es seit dem Tode Alexanders L jemals
gehabt hatte; daß man in Petersburg eine Konvention schließen würde,
wie sie durch Alvensleben während der letzten Revolution im Februar
1863 zustande gekommen war, brauchte es nicht mehr zu fürchten.
Zwar befreite sich Bismarck von dem Alb der Kaunitz- Koalition, der
jahrelang schwer auf ihm gelastet, 1879 durch das Wiener Bünd-
nis. Aber wenn er Österreich dadurch aus der gefahrdrohenden Ver-
bindung mit Frankreich löste, so tauschte er dafür durch die jetzt
kaum noch abwendbare Freundschaft Frankreichs und Rußlands
eine neue Last ein, die auf seine Politik um so schwerer drückte, je
weniger das Zartum nun noch imstande oder auch nur gewillt war,
dem mit den revolutionären Strömungen im russischen Volk selbst
verbündeten Panslavismus zu widerstehen. Und wie hätte Bismarck
seit dem Frieden von Frankfurt sich etwas anderes vorstellen können,
als daß Frankreich bei jeder pohtischen Kombination auf der Gegen-
seite zu suchen sei, daß, wie er es in, seiner drastischen Weise ausdrückte,
die Chassepots bei der ersten sich bietenden Gelegenheit von selber
losgehen würden! Es war ja, wie gesagt, nicht bloß der Verlust von
Metz und Straßburg oder die Erinnerung an die Kapitulationen von
Sedan und Paris, die in dem Lager der Franzosen das »feu sacr6 de
207
la re van che« nicht ausgehen Heßen, sondern vor allem (niemand hat
dies besser gewürdigt als der Schöpfer unseres Reiches) die Verdrän-
gung Frankreichs aus der hegemonischen Stellung, die es Jahrhunderte
hindurch auf dem Kontinent behauptet hatte, was ihm unerträglich war:
gegen Ludwig XIV. mehr noch als gegen den zweiten Bonaparte
hatten wir, nach Rankes bekanntem Wort, den Krieg geführt; »und
wenn es nicht diesmal gelang« (so lesen wir in den »Gedanken und Er-
innerungen«), »den Sieg über Frankreich zu vollem Abschluß zubringen,
so waren weitere Kriege ohne vorgängige Sicherstellung unserer vollen
Einigung in Sicht«. Nur eine Neubelebung des noch älteren und einst
viel tieferen Gegensatzes zwischen Frankreich und England hätte
die Gedanken der Besiegten von der Rheingrenze ablenken können.
Und ein paar Jahre hatte es wirklich fast den Anschein, als ob es
Bismarck gelingen müßte, den nationalen Ehrgeiz der Franzosen in
jene Bahnen abzulenken. Nachdem er sich aber in dieser Hoffnung
betrogen sah, seit der Entscheidung über Ägypten, wo Frankreich zum
ersten Mal seit dem Frankfurter Frieden vor England zurückwich,
war ihm jeder Zweifel, wo es in einem künftigen Kriege
Deutschlands stehen würde, genommen. Seitdem hat er unum-
wunden, in voller Öffentlichkeit hierauf, als auf eine unumstöß-
liche Gewißheit, hingewiesen, und niemand würde damals, weder
in Deutschland noch auch in Frankreich, gewagt haben, ihm dies
zu bestreiten.
Es waren die Jahre, wo sich das Gewölk, aus dem im Sommer
1914 die zerstörenden Blitze auf uns herniederfuhren, zu sammeln
begann, als der Revanchegedanke in Frankreich von der Tribüne
der Kammer und der Ministerbank selbst ungescheut ausgesprochen
wurde und sich in lärmenden Manifestationen entlud, um sogleich
in der slavischen Welt lautesten Widerhall zu finden, die Jahre, da
es Bismarck durch das bewunderungswürdig erdachte System seiner
Bündnisse noch gerade gelang, den drohenden Bergsturz aufzuhalten.
Es lag ihm fern, nach der Weise unserer Tage, die immer nach dem
Schuldigen fragt, Frankreich daraus einen Vorwurf zu machen ; er sah den
Konflikt durchaus im Lichte der Geschichte, als einen langwierigen
historischen Prozeß über die Ziehung der Grenze, die streitig geworden
sei von dem Zeitpunkte an, wo Frankreich seine volle innere Einigkeit
in einer nationalen Monarchie erreicht habe. So hat er es im Januar
1887 in dei grandiosen Rede ausgeführt, durch die er die wieder-
208
erwachte Kriegsstimmung in Frankreich zu dämpfen und den Wider-
stand im Reichstag gegen das neue Septennat zu brechen
versuchte. Er rechnete dabei von der Wegnahme der drei Bistümer
durch König Heinrich II. im Jahr 1552 ab; doch können wir sehr
wohl noch weiter zurückgehen, bis zu Phüipp dem Schönen oder gar
bis in den Anfang des 13. Jahrhunderts, bis zu Philipp August hinauf;
denn schon in dem Jahrhundert, da das Kaisertum des Mittelalters
zusammenbrach, begann Frankreichs Vormarsch gegen die westlichen
Provinzen unseres alten Reiches. Nun aber war endlich ein Damm
dagegen errichtet, die Westmark für Deutschland zurückgewonnen
und unsere Nation wieder im Besitz ihres Staates. Was in aller Welt
hätte uns noch veranlassen können, umringt wie wir waren von be-
siegten und rivalisierenden Mächten, unsere Linien über die wieder-
gewonnenen Grenzmarken hinweg auf französischen Boden auszu-
dehnen! »Wenn die Franzosen«, so Bismarck in jener Rede, »so lange
mit uns Frieden halten wollen, bis wir sie angreifen, wenn wir dessen
sicher wären, dann wäre der Friede ja für immer gesichert«. »Wir
werden«, wiederholte er, »Frankreich nicht angreifen, unter keinen
Umständen«. Offen gab er, wie auch sonst so oft, zu, daß er für seine
Person gern auf Metz verzichtet und sich lediglich mit der Sprach-
grenze begnügt, daß er nur den Militärs, die diese starke Festung
hätten haben wollen, nachgegeben habe; aber auch diese waren dabei
lediglich von dem Gedanken der Abwehr geleitet worden. Auch
dagegen, daß das französische Volk in seiner Masse den Krieg nicht
wünsche, ja selbst die gegenwärtige Regierung in Frankreich ihn zu
vermeiden suche, hat er nichts einzuwenden. Aber wie die Sachen
liegen, kann ihn dieses Vertrauen nicht bis zu dem Grade von Sicher-
heit einwiegen, um sagen zu können: Wir haben einen französischen
Krieg gar nicht mehr zu fürchten. Denn die französische Geschichte
lehrt, daß die Entschließungen Frankreichs in schweren Momenten
immer noch durch energische Minoritäten bewirkt worden sind. Diese
Kreise suchen einstweilen nur die Möglichkeit, den Krieg mit möglich-
ster Kraft zu beginnen; ihre Aufgabe ist es, le feu sacre de la revanche
zu unterhalten. Bismarck will nicht entscheiden, ob der Krieg in 10 Ta-
gen oder in 10 Jahren ausbrechen wird. Das häng^ von der Dauer
der Regierung ab, die in Frankreich gerade am Ruder sei. »Es ist
an jedem Tage möglich, daß eine französische Regierung ans Ruder
kommt, deren ganze Politik darauf berechnet ist, von dem feu sacre
209
zu leben, was jetzt so sorgfältig unter der Asche unterhalten wird«.
Und nun entwirft er vor den Reichsboten ein Zukunftsbild von einem
besiegten Deutschland, das kaum hinter dem, was wir täglich vor
Augen haben, zurückbleibt. Von der Geldfrage will er gar nicht
sprechen — »obschon die Franzosen so glimpflich mit uns nicht ver-
fahren würden, wie wir mit ihnen verfahren sind; ein so gemäßigter
Sieger wie der christliche Deutsche ist in der Welt nicht vorhanden.
Wir würden dieselben Franzosen uns gegenüber finden, unter deren
Herrschaft wir 1805 bis 1813 gelitten haben, und die uns ausgepreßt
haben bis aufs Blut, wie die Franzosen sagen: saigner ä blanc, d. h.
so lange zur Ader lassen, bis die Blutleere eintritt, damit der nieder-
geworfene Feind nicht wieder auf die Beine kommt und in den nächsten
30 Jahren nicht wieder an die Möglichkeit denken kann, sich dem
Sieger gegenüberzustellen.« Aber das Geld sei ja das Wenigste.
Man würde dafür sorgen, daß das Deutsche Reich so stark nicht bleibe,
wie es sei ; man würde, von der Rheingrenze ausgehend, uns vom Rhein
so viel abnehmen, wie man könnte. Auch das würde nicht genügen:
man würde — wie Bismarck mit einer Wendung gegen den weifischen
Führer der Zentrumspartei, der von einem ungefährlichen, friedlichen
Frankreich gesprochen hatte, sagt — vor allem Hannover uns ab-
nehmen, Schleswig an Dänemark bringen und uns in Polen so viele
Schwierigkeiten machen, wie Rußland es nur irgend erlauben würde.
Und ähnlich nach der Auflösung des Reichstages noch einmal, am 24. Ja-
nuar, im Abgeordnetenhause, als die Oppositionsredner mit seinen
angeblichen Monopolplänen Stimmung gegen die Regierung zu machen
versuchten: »Monopole? — ja, die werden kommen, wenn wir einen
unglücklichen Krieg geführt haben und infolgedessen in unseren Fi-
nanzen und Leistungsmitteln so erschöpft sein werden, daß wir zu
jedem Mittel die Zuflucht nehmen müssen. Dann werden nicht nur
Monopole, sondern sehr viel härtere Steuern kommen, als sie jetzt
überhaupt bekannt sind, gegen die wir jetzt eine Art Assekuranz,
eine Verstärkung, im Reichstage vorgeschlagen haben; dann wird
es Zeit sein, an Monopole zu denken; wenn wir militärisch schwach
sind, so werden wir als Geschlagene schließlich die Monopole uns
auferlegen müssen, um die feindlichen Kontributionen zu bezahlen,
die uns auferlegt werden. Also dieses ist die Möglichkeit, die weder
«in Finanzminister noch auch die heftigsten Monopolfeinde in Abrede
stellen können. Dann heißt es: Friß, Vogel, oder stirb!«
Lenz, Wille, Macht uud Schicksal. I4
210
Verlangt man nun wirklich noch von uns, an ein friedfertiges,
ein von uns überfallenes Frankreich zu glauben ? Oder, daß wir uns
auch nur auf eine Widerlegung des Geredes von unserer Schuld am
Weltkriege und unserer durch alle Schranken der nationalen und
sittlichen Grenzen hindurchbrechenden Machtgier einlassen sollen ?
Es wäre den Anwälten des Versaüler Friedens ja so leicht, ihre eigene
Politik in volles Licht zu setzen. Sie sind ja die Wissenden, im Besitz
aller Dokumente ; sie brauchen nur ihre Archive zu öffnen und würden
damit nichts anderes tun, als was die Besiegten in einem Maße getan
haben, wie es bisher so rasch und so gründlich noch niemals durch-
geführt woirde. Es war fast das Erste, was unsere Revolutionsregierung
in Angriff nahm : weü sie selbst an unsre Schuld zu glauben wünschte
und die Beweise in den Akten zu finden hoffte ; es war ein Stück üirer
eigensten Politik. Mit dem Ergebnis, daß, wie sie selbst eingestehen
mußte, sich nichts davon bewahrheitete, daß unsere Diplomatie
vielmehr, wie ungeschickt sie alles angefangen haben mochte, doch nichts
anderes angestrebt hatte, als das drohende Verhängnis von unserm
Lande abzuwehren. Aber unsere Gegner werden sich hüten, so sich ins
eigene Fleisch zu schneiden; sie werden jeder ernsthaften Diskussion,
so oft sie ihnen von unsern Historikern und Diplomaten angeboten
ward, immer wieder ausweichen, um dafür die Welt mit ihren lüg-
nerischen Behauptungen und Verleumdungen zu überschütten und zu
betäuben. Es ist auch das nur ein Stück ihrer Politik und übrigens
gar nicht so dumm gedacht; denn sie wissen, daß die Welt, wie es
von jeher war, dem Sieger weit eher zufällt als dem Besiegten und
sich gerne so lange täuschen läßt, als sie getäuscht sein will.
Man hört heutzutage bisweUen so urteilen, als sei Bismarck selbst
an dem Schicksal, das uns betroffen, nicht so ganz schuldlos, denn
er sei doch nun einmal der Begründer und der Anfänger des Bünd-
nisses mit Habsburg gewesen, das uns ins Verderben geführt hat. Und
gewiß hat er ganz allein diese größte Schwenkung in seiner Politik
vollzogen und sie mit dem Aufwand aller seiner Kraft durchführen
müssen ; im stärksten Kampf mit seinem alten Herrn, der von seiner
ererbten Verbindung mit Rußland sich nicht losreißen konnte. Wäre
dieser Vorwurf richtig, so würde ihn Bismarck jedenfalls nicht allein
verdienen, sondern mit ihm, man kann fast sagen, die gesamte Na-
211
tion; denn niemals war er von der Gunst des Augenblicks so voll
getragen wie damals, als alle Parteien, im Süden we im Norden,
Großdeutsche und Kleindeutsche, Klerikale und Liberale und von
Kronprinz Friedrich Wilhe Im herunter hoch und niedrig zu ihm standen ;
für die Festigung des Reichsgedankens ist kaum ein Ereignis von
solcher Bedeutung geworden. Jedoch wollen wir von einer Diskussion
darüber absehen; sie würde uns zu weit führen, auch wenn wir es als
eine Aufgabe des Historikers ansehen wollten, das Für und Wider bei
geschehenen Dingen zu erörtern und die getroffenen Entschei-
dungen nachträglich zu kritisieren. Jedenfalls ist es Bismarck gelungen,
so lange er das Steuer führte, das Schiff des Staates, um das die Wogen
der Zeit schon damals hoch genug gingen, in seinem Kurs zu halten.
Daß aber ein solcher Kenner Österreichs und seiner Politik (man denke
nur an seine Frankfurter Berichte) sich so leicht auf eine falsche Fährte
führen und so am Narrenseil hätte lenken lassen, wie es uns im Juli
1914 begegnete, ist doch allzu unwahrscheinlich. Wenn er die Freund-
schaft mit dem Grafen Andrassy (der, wie wir heute wissen, solch Lob
nicht unbedingt verdient hat) mit Nachdruck betonte und sein unbe-
dingtes Vertrauen zu der Ehrlichkeit der Wiener Politik aussprach
(über die er doch in Frankfurt einmal das bezeichnende Wort geprägt
hatte von dem Bettgenossen, der viel leichter als ein Fremder den Ge-
fährten betrügen, vergiften oder erdolchen könne), so entsprach diese
Haltung der nun obwaltenden Lage: das Bündnis von 1879 nötigte
ihn, andere Regungen in seiner Brust zu verschließen. Daß sie sich
ihm auch damals oft genug aufdrängten, brauchten wir selbst dann
nicht zu beweisen, wenn wir keine direkten Zeugnisse dafür besäßen.
Die Unsicherheit der österreichischen Zukunft, die wachsende Span-
nung zwischen Wien und Petersburg, die Völkermischung in der
Doppelmonarchie mit ihrer, wie Bismarck einmal schreibt, ätzenden
und gelegentlich zersprengenden Wirkung, die, wenn auch selten
eingestandene Feindseligkeit der Magyaren gegen alles Deutsche und
ihre Neigung zu Seitensprüngen, das alles waren Tatsachen, mit denen
Bismarck sich schon in Frankfurt unaufhörlich beschäftigt hatte ; und
ebenso wenig war er sich je im unklaren über die Bedenklichkeiten,
die der Bund mit dem Hause, das durch Jahrhunderte hin die deutsche
Krone getragen hatte, für Preußen-Deutschland mit sich brachte:
die schon höheren Jahre Kaiser Franz Josephs, die einen Umschwung
der Politik nach seinem Ableben befürchten ließen, die Sympathien,
T4*
212
die man in Wien von jeher für die Polen, diesseits und jenseits der
eigenen Grenzen, gehegt hatte, und vor allem die Versuchung für die
Wiener Diplomatie, das Bündnis gegen Rußland auf dem Balkan für
besondere Ziele des österreichischen Ehrgeizes auszunutzen. Solange
er aber das Ruder führte, brauchte er am Ende in bezug hierauf nichts
zu fürchten ; er hatte das Mittel in der Hand, um ein Abspringen Öster-
reichs von dem Wege, den er einzuhalten entschlossen war, zu verhüten.
Denn der Rückweg nach Petersburg war für Deutschland immer noch
leichter zu finden als für Österreich; es kam nur darauf an, darauf zu
achten, daß er für uns frei blieb und die Möglichkeit, von dem Bundes-
genossen freiwillig oder unfreiwillig verlassen zu werden, nicht aus
den Augen zu verlieren, sie auch rechtzeitig, d. h. bevor sie eintrat,
zu erkennen, um sich nicht die eigenen Wege zu versperren. Die
Sorgen des Fürsten nach dieser Richtung begannen erst, als er sich
von jedem Einfluß auf die deutsche Politik abgeschnitten sah. Da
freilich hat er sie nicht mehr in sich zurückdrängt, sondern laut hinaus-
gerufen, durch dokumentarische Enthüllungen aus den eigenen Akten
bestätigt und in seinem politischen Testament, in dem zweiten Band
seiner » Gedanken und Erinnerungen« , sie für alle Zeiten niedergelegt.
Heute sind die Richtlinien der Politik, die Bismarck in dem
letzten Jahrzehnt seiner Kanzlerschaft verfolgte, in der Sammlung
seiner Akten, die jüngst im Auftrag unserer Regierung selbst erfolgte,
lückenlos sichtbar geworden, und sie zeigen ihn, wie auf der Höhe
seiner Macht, so auch seiner staatsmännischen Kunst und Einsicht. Nun
erst ist das glänzend durchgeführte Spiel mit den 5 Kugeln — ■ Wesen,
Ziel und Ergebnis — in volle Beleuchtung gerückt; sowie auch die
großen Reichstagsreden aus dem Ende jener Jahre erst im Lichte dieser
Akten ganz verstanden werden können. Jedoch waren diese Reden
schon für die Zeitgenossen bestimmt, weniger noch für die Reichs-
tagsboten, die sie anhören und kritisieren durften, als für die fremden
Kanzleien, nicht an letzter Stelle für die Bundesfreunde an der Donau
selbst. Und so lange Bismarck im Regiment stand, werden sie dort
gewiß auch verstanden worden sein. Erst nach seinem Sturz sind sie
vergessen oder nicht mehr beachtet worden, obschon ihr Sinn in den
»Gedanken und Erinnerungen« zugänglich genug war, und leider mehr
noch in der Berliner Wilhelmstraße und in »Wallots Reichsbau« als
zu Wien in der Hofburg.
Heute sind sie jedermann verständlich geworden.
213
Durch die Enthüllungen, welche die letzten Jahre auch von an-
derer Seite gebracht haben, und die vor allem durch die kritische Sorg-
falt Felix Rachfahls von den Verdunkelungen und Mißverständ-
nissen, welche ihre Deutung zunächst erschwerten, gereinigt worden
sind, weiß man, daß Bismarck in die Kombinationen seiner Politik,
die das Bündnis von 1879 nach sich zog, auch England mit hineingezogen
hat. Daß wir jemals in England unsem größten Feind erblicken
müßten, daß gerade dort, mehr als irgendwo in der Welt, an den
Netzen des Verderbens geknüpft werden würde, die uns Ahnungslosen
über das Haupt geworfen werden sollten, ist freilich auch seinem
Prophetenauge verborgen geblieben. Auch trat davon ja, solange
Bismarck lebte, nichts in die Erscheinung; und wie groß auch sein Pes-
simismus in der Einsamkeit von Friedrichsruh sein mochte — daß wir
uns jemals so völlig von ihnen umstricken lassen könnten, das hat
er sich doch wohl niemals träumen lassen. Und dennoch ist seinem
rastlos schweifenden Auge an dem politischen Horizont schon in den
Jahren, da er noch die Leitung in der Hand hatte, man möchte sagen,
hinter den Nebeln der Zukunft eine Stelle aufgefallen, an der sich die
Bahnen seiner Politik gegebenenfalls sogar mit denen Englands
kreuzen könnten : wenn nämlich die panslavistische Richtung in Ruß-
land die Oberhand gewinnen und, statt die Gegensätze zwischen Ruß-
land und England in Asien zu vertiefen, eine Ausgleichung ihrer Inter-
essen, die damals hauptsächlich in Afghanistan aufeinander stießen,
herbeiführen und ihre vereinigten Kräfte nach dem nahen Orient,
gegen die Vormacht in der osmanischenWelt, die Türkei, lenken würden.
Auch darüber belehrt uns die jüngst bekannt gewordene amtliche
Publikation, besonders ein Bericht des Fürsten an Kaiser Wilhelm I.
vom 27. Mai 1885I). Bismarck geht darin aus von einem Artikel der
»Times«, in dem mit einem gewissen Ungestüm an Deutschland die
Zumutung gerichtet war, in dem afghanischen Konflikt als Friedens-
stifter aufzutreten. Dabei war von der »Times«, der dabei von franzö-
sischen Blättern sekundiert ward, die Behauptung ausgesprochen
worden, Deutschland wünsche, daß es zu einem Kriege zwischen Eng-
land und Rußland komme, und die Aussichten auf Frieden hätten
darum bei uns verstimmend gewirkt. In Wahrheit war weder von der
Regierung noch seitens der Presse im Reich irgendein Anlaß zu dieser
Insinuation gegeben worden. Das Motiv der Verleumdung war deutlich
1) Bd. IV. S. 124.
214
genug; es lag in dem Bestreben des leitenden englischen Organs, Miß-
trauen gegen Deutschland zu wecken und eine Verbindung Englands mit
Rußland und Frankreich in antideutschem Sinne anzubahnen. Dieselbe
PoHtik ward von französischen, namenthch von den orleanistischen
Blättern betrieben. Nun hatte Deutschland ja allerdings, wie Bismarck
in jenem Memoire weiter ausführt, kein Interesse, Rußland zu hindern,
wenn es die Beschäftigung, deren es für seine Armee bedurfte, lieber
in Asien als in Europa suchte, um so weniger, als die panslavistische
Strömung unter den russischen Offizieren sehr stark war und den
friedlichen Aussichten, die neuerdings in Asien eingetreten waren,
sofort ein energischerer Betrieb der Befestigungen an der Westgrenze
entsprochen hatte. Aber es war dennoch nichts geschehen, was jenem
Verdacht Nahrung hätte geben können, und also klar, daß diese eng-
lisch-russische Allianz mit ihrer angeblich christlichen und anti-
türkischen, in Wahrheit panslavistischen und radikalen Richtung sich
jederzeit nach Bedürfnis durch Frankreich verstärken konnte, sobald
die russisch-englische Politik bei Deutschland Widerstand fände;
es wäre (so heißt es in der Denkschrift) damit die Basis für eine Koalition
gegen uns gegeben, wie sie gefährlicher Deutschland nicht gegenüber-
treten könne. Die Konsequenz, welche Bismarck aus dieser Lage zog (es
war der Weg zwischen der Scylla und der Charybdis), war, alles zu
vermeiden, was dahin führen könnte, daß wir England die russische
Feindschaft abnähmen, indem wir sie uns selbst auflüden. Was
er dann weiter zur Begründung dieses Satzes sagt, ist durch den tiefen
Ernst, die Eindringlichkeit und die Klarheit, mit der alles ausgeführt
wird, sowie im Hinblick auf die Haltung unserer Diplomatie zu den ana-
logen Problemen vor dem Weltkriege so bedeutsam und wirkt, man darf
es sagen, wieder auf den Leser so erschütternd, daß es gestattet sein
wird, alles bis zum Schluß hier folgen zu lassen. »Um dies herbei-
zuführen«, so fährt er fort, »dazu würde schon der leiseste direkte
oder indirekte Druck auf Rußland genügen, schon eine freundschaftliche
Empfehlung, Frieden zu halten. Es ist zweifellos, daß Rußland sich
auf einen Krieg mit England nicht einlassen wird, wenn es befürchten
muß, während desselben von Deutschland oder Österreich bedroht
zu werden. Die leiseste Andeutung dieser Möglichkeit würde hinreichen,
um Rußland friedfertig gegen England zu stimmen, aber auch hin-
reichen, um das mühsam beseitigte Mißtrauen gegen uns wieder zu
wecken und zu beleben und die russische Politik dazu zu bestimmen.
215
ihre Spitze wieder ausschließlich gegen Westen zu richten. Aus diesem
Grunde haben wir uns sorgfältig enthalten, auch nur die geringste
Äußerung nach Petersburg gelangen zu lassen, welche als eine Pression
oder auch nur als Wink hätte gedeutet werden können, daß Euere
Majestät wünschte, Rußland möge Frieden halten. Denn es ist un-
möglich, zwischen zwei großen Mächten einen solchen Wunsch direkt
oder indirekt anzudeuten, ohne daß er einen Anflug einer Drohung für
den Fall der Nichterfüllung an sich trüge; selbst die freundschaft-
lichste Form würde ihn davon nicht freihalten können. Wenn daher
von Euerer Majestät Regierung eine unbedingte Enthaltsamkeit
in bezug auf alle Ratschläge zur Wahrung des Friedens beobachtet
worden ist, so liegt darin nur die sorgfältige Pflege des eigenen Friedens
und der eigenen nachbarlichen Beziehungen zu Rußland, auf welche
die deutsche Nation rechnen darf, keineswegs ein Wohlgefallen an
Zwistigkeiten und Kriegen, welche zwischen zwei uns befreundeten Staa-
ten entstehen können, oder irgendwie ehrgeizige Berechnung, welche
durch dergleichen Zwistigkeiten ihre Erfüllung finden könnte, sondern
einfach die pfhchtmäßige Schonung der glücklich wieder hergestellten
Beziehungen des Deutschen Reiches zu seinem östlichen Nachbar.«
Man braucht dies Memoire nur mit den Akten zu vergleichen,
in denen wir heute unsere Diplomatie vor dem Weltkriege in voUer
Klarheit vor uns sehen, um sein Urteü darüber fertig zu haben, wie
Bismarck sich in einer solchen Lage verhalten haben würde.
Wir sind mit unsern Ausführungen schon längst auf dem Boden
angelangt, dem das Prophetentum Bismarcks entstammte, auf dem
es sich entfalten konnte, und der es zugleich beschränkte. Es war der
historisch geschulte Blick, der ihm das Werdende selbst enthüllte.
Indem er das Gewesene in dem Umkreis, auf den ihn sein Amt,
seine Aufgabe hinführt, beherrscht, kann er mit einiger Zuversicht
auch das Zukünftige berechnen; denn das Vergangene lebt in der
Gegenwart fort und weist über diese selbst hinweg auf das Kommende
hin. Hier liegt die Grenze, an der sich der Staatsmann und der Histo-
riker zugleich begegnen und voneinander scheiden. Denn nur das
Gewordene in seinem Werden selbst zu ergreifen, ist des letzteren Auf-
gabe. Er hat lediglich mit dem Sein, nicht mit dem Sollen zu tun;
erkennen soll er, nicht handeln. Bis in die Gegenwart darf er vor-
216
dringen, wie die Vergangenheit selbst, die sie noch ganz erfüllt; das
unmittelbar Gegebene, das vor seinen Augen vorüberflutende Leben
bleibt ihm ebenso unterworfen wie die fernste Vorzeit — soweit als
es die Quellen gestatten, an die er gebunden ist, deren Bedeutung er
kennen muß, deren Umkreis jedoch er niemals überschreiten darf.
Jeder Schritt darüber hinaus ist für ihn ein Schritt vom Wege. Mag
er es versuchen, im Vertrauen etwa auf die Kenntnis des vergangenen
Lebens, die ihm sein Beruf verschafft hat, niemand wird ihn daran
hindern: aber er bleibt dann nicht mehr der Historiker und unterliegt
damit nur zu leicht der Gefahr, ein Handelnder zu werden. Denn
schon das Prophezeien, das Aussprechen, wie sich die Zukunft
gestalten wird oder soll, wird dann zum Handeln; mehr als einer
aus unserer historischen Zunft ist im Weltkriege dieser Versuchung
erlegen.
Anders der Staatsmann. Ihm liegt allerdings die Pflicht ob, auch
die Zukunft in den Umkreis seiner Berechnungen zu ziehen. Denn das
Werdende, das sich ans Licht Drängende soll er ja eben gestalten; er
soll Fortuna bezwingen, dem Schicksal selber die Bahn öffnen. Auch
er ist an das Gegebene gebunden. Nur im Rahmen des Wirklichen darf
er seine Kombinationen machen, die ihm die Knoten lösen, die Wider-
stände beseitigen werden, von denen er sich von überallher umdrängt
und bedroht sieht; zwischen tausend Klippen, sichtbaren und unsicht-
baren, muß er tastend den Weg suchen. Aber als Inhaber der Macht,
als der Mann am Steuer, und der nicht bloß den Blick, die Einsicht,
sondern auch seine Kraft und seinen Willen mit in die Wage der Ent-
scheidung legen kann, ist er unendlich viel besser dazu ausgerüstet als
der Historiker, der ohne die Informationen, die jenem zufließen, ohne
den Überblick über die kreuz und quer durcheinander schießenden,
wirren und stets noch absichtlich verwirrten Fäden des diplo-
matischen Gewebes zu besitzen, und nur auf dasjenige angewiesen,
was davon in die Öffentlichkeit dringt oder dringen soll, ratlos am
Ufer steht und den Strom des Geschehens, ohne ihn hemmen
zu können, an sich vorüberrauschen lassen muß. Was ihm, sobald
die Politik zur Geschichte erstarrt ist, so leicht wird: mit den Me-
thoden, die ihm sein Beruf an die Hand gibt, die miteinander
ringenden Kräfte nach Umfang und Stärke zu messen und zu
berechnen, in der Stille der Studierstube, mit der Ruhe des beobach-
tenden Naturforschers, das ist ihm, solange die Politik noch werdende
217
Geschichte!) ist, fast unmöglich; der Boden gleitet ihm unter den
Füßen fort, und sein Beruf selbst wird ihn mahnen, seine Hand
von Dingen zu lassen, die er nicht beherrscht. Nur von der höch-
sten Warte seiner Wissenschaft aus mag es ihm gegeben sein, in
den Kämpfen der Gegenwart weiter zu sehen als die blinde oder
verblendete Masse, klarer am Ende als die Regierenden selbst, falls
diese unter dem Einfluß der Parteien, dem Druck der eigenen Ver-
antwortung, falscher Einstellung ihrer Politik und angeborener Ent-
schlußlosigkeit unsicher im Handeln geworden sind und den Über-
blick über die Lage verloren haben. Denn je höher er sich über
den Moment erhebt, je mehr er sich von dem Druck der Vergangen-
heit, die auf dem gegenwärtigen Geschlecht lastet, befreit, um so
klarer müssen ihm die in die Jahrhunderte zurückreichenden Zusammen-
hänge der großen Politik werden, von denen die gegenwärtigen Kämpfe
nur ein Teil sind, um so deutlicher ihm die Probleme entgegentreten,
um die gefochten wird ; und um so sicherer wird er die Kräfte, die sich
darin miteinander messen, gegeneinander abschätzen können. Damit
aber betritt er den Boden, auf dem er sich neben den Staatsmann
stellen darf; dies eben ist der Punkt, an dem Politik und Historie sich
begegnen und ineinander greifen. Die Erkenntnis der Kräfte, mit denen
er zu rechnen hat, der eigenen wie der der Gegner, ist für den Staats-
mann die Vorbedingung des Handelns; nur wenn er des Einsatzes
sicher ist, über den er verfügt, darf er das Spiel wagen. Wer aber hätte
sich hierauf je besser verstanden als Otto von Bismarck ? Und wer wäre
sich dessen mehr bewußt gewesen als er! Es war die Forderung, die
er selbst (wie oft!) an den Lenker der auswärtigen Politik gestellt,
das Verdienst, das er, der seinen Anteil an den Ereignissen, die unter
seiner Hand Europas Geschicke umgestalteten, sonst wahrlich gering
genug abzuschätzen pflegte, für sich dennoch in Anspruch genommen
hat : das Augenmaß für das Wirkliche und Wirkende zu besitzen. Und
doch hätte ihm diese Gabe nichts genützt, wäre sie nicht unterstützt,
nein, bedingt gewesen durch Eigenschaften, die dem Historiker, wie
universal er denken und wie tief sein Blick in die Zusammenhänge des
Geschehens eindringen mag, nicht zu eignen brauchen, ja die er wohl
eher abzulehnen versucht sein möchte, weil sie ihm die Ruhe des
^) »Geschichte ist gleichsam erstarrte Politik, Politik werdende Geschichte.«
So Felix Rachfahl in seiner Freiburger Rektoratsrede über Bismarcks englische
Bündnispolitik, 1922.
218
Urteils nehmen könnten. Das ist zunächst der Wille, der das Er-
kannte in Handeln umsetzt, den Gedanken zur Tat wandelt. Auch der
Wille aber wird für sich nicht weit kommen, wenn der Machtgedanke,
in dessen Dienst er sich stellt, nicht in der Persönlichkeit seines Trägers
lebendig geworden ist, als eine sein ganzes Sein und Wollen durch-
strömende Kraft, als ein Glaube, der keinem Zweifel in seiner Seele
Raum läßt, daß er das Ziel, das er sich setzte, erreichen wird. So be-
stätigt es uns wieder ein Bismarck-Wort, das wir bereits in einem Briefe
aus den Anfängen seiner Frankfurter Gesandtschaft lesen: »Wenn auf
irgendeinem Gebiete,« schreibt er sein m Minis er am 29. September
1851, »so ist es auf dem der Politik, daß der Glaube handgreiflich Berge
versetzt, daß Mut und Sieg nicht im Kausalzusammenhange steh.-n,
sondern identisch sind; wenigstens für einen König von Preußen,
Gott sei Dank, ist es noch so.« Das ist der Kern: Glaube und Sieg,
durch den Willen verbunden, fallen in eins zusammen.:
Es war das Bekenntnis zur preußischen Monarchie, als der Form,
in der der Machtgedanke, den Bismarck in seiner Seele nährte, Leben
gewonnen hatte. Aber nicht die Form war es, die ihn fesselte: an das
Dogma ist dieser Glaube nicht gebunden, er wird nicht erlernt,
sondern erlebt. Es war das Land seiner Väter, für das Bismarck kämpfte,
der Staat, in den er hinein geboren war, mit dem ihn die ihm teuersten
Traditionen verbanden, für den er in der Revolution, die sich mit
allen Schlagworten aus der nationalen und liberalen Gedankensphäre
schmückte, gefochten hatte, und dem er nun die Bahn zur nationalen
Hegemonie schuf, die doch nur die Vollendung seines Werdeganges war.
Solange Bismarck dies Ziel unbeirrt verfolgen konnte, hat ihn
die Siegeszuversicht niemals verlassen; und jeder Schritt vorwärts
bestätigte ihm, daß er auf dem rechten Wege sei. Erst als er im Siege,
und durch den Sieg selbst gezwungen, die gesamte Nation mit den
in Preußens Krone lebendigen Energien zu durchdringen versuchte,
den deutschen Staat auf diesem Grunde aufzubauen unternahm,
hat sein Glaube zu wanken begonnen.
Zwar die alten Gegner hatte er nicht mehr zu fürchten. Sie hatte
sein Sieg auseinander gesprengt. Wer von ihnen sich nicht beugen,
die Doktrinen der Partei behaupten wollte, sah sich isoliert und zur
Bedeutungslosigkeit verurteilt; die andern aber (und das war die
219
Mehrzahl) unterwarfen sich freiwilUg und meldeten sich zur Mitarbeit
an dem Aufbau des neuen Reiches. Dies waren die alten Freunde
Preußens, die »Erbkaiserlichen« aus dem Frankfurter Parlament,
die Vorkämpfer von jeher für ein preußisch-deutsches Kaisertum;
sie mochten mit einem gewissen Recht von sich sagen, daß der führende
Staatsmann doch nur ihre Gedanken aufgenommen, ihre Ziele hinaus-
geführt habe. Bismarcks eigener Partei erging es nicht besser. Auch
in ihr gab es Elemente (Bismarcks älteste Freunde waren darunter),
die von einer Wandlung nichts wissen wollten; sie wurden ebenso
abgesprengt wie die Extremen der linken Seite, und das Gros der Partei
bildete sich nach den Forderungen und Notwendigkeiten um, welche
Bismarcks Politik, seitdem er Österreich niedergeworfen, mit sich
brachte, und die für ihn selbst Zwang und Gebot waren. Nur durch
gegenseitiges Nachgeben und Ausgleichen der in dem Leben der Nation so
verschiedenartig gelagerten Kräfte konnte das neue Reich gebaut werden.
Schon aber tauchten hinter den alten neue Gegner auf, dichter
gedrängt, strenger diszipliniert und geleitet, von grundsätzlicher Feind-
seligkeit gegen das neue Reich, sein Wesen und seine Formen erfüllt,
und von einem Massenwillen beseelt, wie ihn Bismarck noch niemals,
auch in der Revolution nicht, erlebt hatte. Denn bisher waren die
politischen Kämpfe des Jahrhunderts in Deutschland immer nur inner-
halb eines Bruchteils der Nation, in den in Staat und Gesellschaft
vorwaltenden Schichten ausgefochten worden. Das hatte auch für die
Revolution, aus der sich der erste, ephemere Bau eines nationalen
Staates erhoben hatte, gegolten. Die Fabrikarbeiter, überhaupt die
tieferen Schichten in den Städten oder gar auf dem Lande standen zu-
nächst noch abseits der Bewegung; sie blieben auch zahlenmäßig
hinter den Kleinbürgern, welche überall die Masse der Städtebewohner
ausmachten, zurück; erst als im Weiterschreiten der Revolution, mit
der wachsenden Verwirrung und wirtschaftlichen Stockungen sowie
durch die Verfügungen der hberal gewordenen Regierungen, sich die
alten Ordnungen lockerten, wurden auch sie unruhig und begannen
hier und da ihre Wünsche und Forderungen anzumelden. Auf den
Berliner Barrikaden haben neben Studenten besonders Handwerker-
gesellen oder deren Meister selbst gestanden, von den Fabrikarbeitern
nur ein Bruchteil; diese waren mit ihren Sj'mpathien eher bei den
Soldaten als bei den Handwerkern, mit denen sie sich von jeher schlecht
standen; und wenn die Berliner Bürger sich am i8. März dem revo-
220
lutionären Taumel in Masse ergaben, so waren auch sie schon nach
wenigen Tagen aufs stärkste ernüchtert, so daß alle Welt einmütig
die Rückkehr der Garnison forderte und sie bei ihrem Einzüge jubelnd
begrüßte. Denn auch dem »Bürgertum« dürfen wir (wie oft man auch
davon liest) nicht die Bedeutung zumessen, als sei es der Träger der
Revolution gewesen und der eigentliche Sieger geworden; als sei das
eben das Ergebnis der Revolution gewesen, daß der »dritte Stand«,
wie 1789 in Frankreich, so nun auch in Deutschland in den Staat
und seine Leitung voll eingetreten sei.
Von einem dritten Stand darf man in dem damaligen Deutschland
gar nicht reden, so wenig wie von einem vierten ; wie auch mit der Gegen-
überstellung von Bourgeoisie und Proletariat oder KapitaHsmus und
Arbeit Wesen und Ziele der deutschen Revolution nicht umschrieben
werden, mochten auch diese Schlagworte durch die Literaten bereits aus
den belgischen und französischen Parteiprogrammen und Journalen in die
deutsche Presse gebracht sein, aus denen der deutsche Liberalismus ja
auch sonst seine pohtische Weisheit holte ; Folgeerscheinung, nicht Ur-
sache waren, wo sie auftauchten, die sozialen Gegensätze und Konflikte.
Nicht gegen den Feudalstaat, den es in Preußen niemals gegeben hatte
(gerade im Kampf mit dem Ständetum hatten die Hohenzollern ihren
Staat ausgebaut), sondern gegen den Polizeistaat mit seiner allen
aufstrebenden Naturen nachgerade unerträglich gewordenen Bevor-
mundung des privaten und öffentlichen Lebens richtete sich der Stoßi).
Es waren die Fesseln, die der Junker von Schönhausen schon vor
Jahren abgeschüttelt, aus denen er sich in die Freiheit des Landlebens
gerettet hatte; auch ihm hat erst die Revolution Luft gemach und
den Platz freigegeben, auf dem er schaffen und wirken konnte; »krebs-
fräßig« hat er die Bureaukratie noch 1850, in dem Jahr, da die Reaktion
schon im vollen Siege war, genannt, und die »Geheimräte« sind ihm,
wie man weiß, zeitlebens eine ärgerliche Menschenklasse gewesen.
In allen Lagern saßen die Feinde des alten Systems: unter den Freun-
den Bismarcks mit ihren ständischen Velleitäten. deren Vorkämpfer
der König selbst war, so gut wie unter den Liberalen aller Schattie-
rungen, und ganz besonders auch in der Beamtenschaft, zumal in der
Juristenwelt, bis zu den Spitzen hinauf, und keineswegs bloß unter den
1) Näheres über diese Dinge, die mir der Beachtung wert zu sein scheinen,
in meiner Geschichte der Universität Berlin, II. 2, S. 186 — 257.
• 221
bürgerlich Geborenen; waren doch selbst in der Armee, in der der
Waffenadel noch durchaus dominierte, verwandte Stimmungen nicht
selten! Will man schon von einer bestimmten Schicht der Bevölke-
rung (der » Gesellschaft A, wie man zu sagen liebt) als Trägerin der
Bewegung sprechen, so mag man die Akademiker nennen, überhaupt
die Allgemeingebildeten, d. h. die Kreise, in denen die Ideen des Jahr-
hunderts und die Ideale der Nation lebten. Hier hatte auch die stärkste
Kraft in der deutschen Revolution, die Idee vom Reich, die Sehnsucht
und der Wille, ein einiges und starkes Deutschland zu schaffen, ihre
Heimat; auf den Höhen des geistigen Lebens war sie geboren, die
Tochter der Freiheit und des Sieges ; die Führer der Nation, ihre Denker
imd Dichter, und die Scharen der Helden, die für sie gestritten hatten,
waren ihre Propheten gewesen. Noch war sie nicht bis auf den Grund
der Nation gedrungen, und ihr Licht brach sich, je weiter es sich
herabsenkte, um so mannigfacher in den Regionen, die es erreichte.
Aber wie verschieden man es in Wien und in Berlin, nördlich wie süd-
lich vom Main, bei Großdeutschen und Kleindeutschen, in kathoUschen
und evangelischen Kreisen sah und auffaßte — irgendwie bekannten
sich doch aUe Parteien, soweit sie sich Deutsche nannten, zu dem
gleichen Ziel, dem Aufbau eines Reiches, das alle Kräfte der Nation
in sich schließen sollte. Es war die stärkste Idee des Jahrhunderts,
die belebende und regenerierende Kraft für alle unterdrückten und
gespaltenen, noch nicht entwickelten Nationalitäten, hier zersetzend,
dort befreiend, wirksam im ganzen Umkreis der europäischen Welt.
Wie also hätte sich unser Volk ihr entziehen, isolieren, zurückbleiben
können, wenn es sich nicht selbst aufgeben woUte! WoUend oder
nicht woUend wurde es in den Strudel hineingerissen.
Dennoch scheiterte die Revolution. Die alten Mächte, obschon
für den Moment vöUig gedemütigt und überrannt, hielten sich in dem
Sturm, wie sehr er sie schüttelte, aufrecht. Zumal in dem kleineren
Deutschland hatte die Bewegung die territorialen Gewalten nicht
umstürzen können, viel zu tief waren diese in dem Boden der Nation
verwurzelt. Aber auszurotten war sie auch hier nicht mehr, und es
währte nicht lange, so standen die Sterne für sie auch in Deutschland
günstiger als je. Der Grund lag in der Abwandlung der allgemeinen
Konstellation, zu der eben die Revolution den Anstoß gegeben hatte:
zunächst in der unmittelbar durch sie bewirkten Erschütterung des
Dreibimdes der Ostmächte und seiner Auflösung durch den Krimkrieg,
222
sodann in dem Emporkommen des zweiten französischen Kaiserreichs,
dieses Zwittergebildes von Reaktion und Revolution, das durch den
Druck, den es auf Deutschland ausübte, und durch die Entfesselung
des italienischen Freiheitskampfes aufs neue alle Fragen der deutschen
PoHtik in Aufruhr brachte. Für unsere Nation war es die zwölfte
Stunde. Ging sie abermals ungenützt vorüber, so war es mit jeder Aus-
sicht, daß unser Volk inmitten der national geschlossenen Staaten
Europas jemals zu einer auf sich selbst ruhenden Existenz gelangen
werde, vorbei. Jedermann empfand dies. Zumal in den mittleren und
kleineren Staaten kam es ebenso den Regierungen wie den Regierten
zu Bewußtsein. Isoliert wie sie waren, nicht mehr gedeckt durch den
Bund der Ostmächte, mußten sie alle mit einer Bewegung rechnen,
die ihre Grundlagen bedrohte; auch wenn sie ihr gram waren, durften
sie ihr Recht nicht verleugnen, sondern mußten versuchen, mit dem
nationalen Winde zu segeln. Auch für die Wiener Diplomaten galt
dies, und fast in noch höherem Grade als für jene, wie sehr auch solche
Politik dem Grundgesetz in der Geschichte des habsburgischen Hauses
widersprach; sie senkten den Todeskeim in den Boden Österreichs,
als sie nach der Niederlage in Italien daheim und in Deutschland
mit dem liberalen und nationalen Gedanken zu kokettieren begannen,
und taten damit doch nur, was unabwendbar war. Bismarcks Politik
allein brauchte die nationale Idee nicht zu fürchten. Ihm war es
erlaubt, die Segel nach dem eigenen Willen zu stellen, seitwärts oder
eine Weile sogar in entgegengesetzter Fahrtrichtung zu steuern;
weder Sturm noch Untiefen brauchte er, wenn er nur das Ruder fest
in der Hand behielt, zu scheuen. Denn er durfte sich sagen, daß er
am Ziel wieder mit der Richtung des nationalen Willens zusammen-
treffen würde. Er bestritt diesem das Recht, die Souveränität der
territorialen Krone anzutasten, jeder Versuch, deren Macht von innen
her aufzulösen, stieß bei ihm auf unbedingten Widerstand. Aber
innerhalb dieser Schranken erkannte er die Bewegung an: er begriff
ihre historische Notwendigkeit. Darum machte er, sobald er den Sieg
fest in der Hand hielt, mit ihr seinen Frieden, nahm sie in sein System
auf und verband den Willen der Nation zur Macht, der in ihr zum
Ausdruck kam, mit dem Machtwillen des preußischen Staates.
Noch glaubte er die Gefahr für sein Werk mehr bei den D5ma-
stien zu sehen als bei der Nation, und in dem Reichstage das Organ
zu besitzen, das dem nationalen Willen zum stärksten Ausdruck ver-
223
helfen und die partikularistischen Tendenzen der Regierungen nieder-
halten würde. Er folgte dabei dem allgemeinen Empfinden, und
was schien berechtigter zu sein im Hinblick auf Bismarcks eigene
bundestäglichen Erfahrungen und den kaum beendigten Krieg, dem
jahrhundertelange Kämpfe vorangegangen waren, sowie auch unter
dem Andrang der nationalen Woge, die als ein gewaltiges Echo
seines Sieges ihm entgegenrauschte und widerstandslos durch die
Länder der Besiegten bis hin zu den Alpen rollte! Und so, um den
Hebel so stark wie möglich zu machen, ließ er sich dazu herbei, das
Wahlrecht der Demokratie von 1849, ^^-S üini im Kriege gegen Öster-
reich und seine Verbündeten als Kampfmittel gedient hatte, in seiner
extremsten Form zur Grundlage des Reichstages zu machen.
Das war die große Täuschung, der Punkt, an dem auch Bismarcks
Prophetengabe, die Berechnung der in dem Leben der Nationen
wirkenden, ihre Zukunft bestimmenden Kräfte, versagte, der Irrtum,
in dem alle seine ferneren Kämpfe bis zu seinem Sturz und die Kata-
strophe seines Reiches selbst ihren Ursprung gehabt haben: in dem
Moment, da er sein Werk ins Leben einführte, schürzte er für sich
und sein Volk den Knoten des Schicksals.
Denn nun kam es an den Tag, wie dünn in Wahrheit die Schicht
war, in der der nationale Gedanke Wurzel gefaßt hatte, und wie
breit die Massen, an die er kaum herangekommen war. Gerade das
Gegenteil von dem, was der Schöpfer des neuen Reiches angenommen
hatte, trat ein : nicht der Reichstag, sondern der Bundesrat, nicht die
Wähler, die Nation als Masse gedacht, sondern die territorialen Ge-
walten, die Gliedstaaten des alten Reiches, das sie selbst auseinander-
gesprengt hatten, Fürsten und Städte, so viele sich durch die Stürme
der Jahrhunderte hindurchgerettet hatten, wurden die Stützen des
neuen. Niemals, solange Bismarcks Verfassung bestand, ist ein tieferer
Zwiespalt zwischen den Bundesstaaten und der Vormacht im Reich,
mit der die stärksten unter ihnen noch soeben um Sein oder Nichtsein
gekämpft hatten, oder der Reichsgewalt selbst zutage getreten;
stets hat der Bundesrat, so wie Bismarck es schon im Herbst 1866
gehofft hatte, als er auf dem Krankenlager zu Putbus sich die Grund-
linien seines Verfassungsbaues klar machte, sich als eine »geschlossene
Phalanx« dem Reichstage entgegengestellt: während das Reichswahl-
recht statt einer Klammer für die auseinanderstrebenden Glieder
des Reiches das Element seiner Zersetzung geworden ist. Alles, was
224
sich dem Wesen und den Formen dieses preußischen Deutschlands
widersetzte, Gegensätze, die in die Tiefe der Jahrhunderte zurück-
reichten, und solche, die eben erst geboren waren, heiligste Über-
lieferungen und Überzeugungen und dumpfe Masseninstinkte, soziale
Begehrlichkeit, für welche Worte wie nationale Ehre und Größe nichts
bedeuteten und Freiheit nur Befreiung aus der Enge und Dürftigkeit
des materiellen Daseins war, und politischer Radikalismus, der von
der Staatsidee der Revolution nicht lassen wollte, ja sogar die fremden,
von dem Boden ihrer Nationalität abgesprengten und dem Reich, zum
Teil schon vor Generationen, inkorporierten Elemente — sie alle hatten
in dem Wahlrecht der Revolution ein Organ erhalten, durch das sie
unmittelbar auf das Zentrum des Reiches einwirken konnten. Es war
ein Widerspruch in sich selbst: die Institution, die in dem nationalen
Gedanken allein ihre Begründung, ihre Rechtfertigung vor Gott und
der Geschichte suchte und fand (denn sie entsprach, wie bemerkt,
dem allgemeinen Empfinden, ich möchte sagen dem Genius des Jahr-
hunderts), mußte bei uns dazu dienen, den nationalen Staat, kaum
daß er geschaffen war, wieder mit der Zerstörung zu bedrohen. Und
dazu nun (als eine spezifisch deutsche Erscheinung, die sich aber auch
nur wieder allzusehr aus der Geschichte unseres Volkes erklärt) das
Bleigewicht der Gleichgültigen, die in der kleinstaatlichen Enge groß-
gezogene Michelei des großen Haufens, aller derer, denen nur das
eigene Tagwerk am Herzen lag, die, wenn überhaupt, fremden
Meinungen folgten, weil sie keine eigenen hatten, am liebsten aber von
der Wahlurne ganz wegblieben. Nur wer alles dies erwägt, wird sich
eine Vorstellung machen können von der Last, die der Schöpfer des
Reiches tragen mußte, von der Mühseligkeit des Weges, auf den ihn
das Schicksal gestellt hatte. Wie aber hätte er ihm ausweichen können !
Denn das war ja der Sinn des nationalen Gedankens, daß er sich an
jedermann im Volke wandte, in allen Herzen die gleiche Glut ent-
zünden, sie mit dem gleichen Willen zur Macht, zum Aufbau des
nationalen Staates erfüllen wollte. Also war die Aufgabe, ihn bis auf
den Grund der Nation hinabzutragen, ihn zum Massenwillen zu
machen, zu einer Kraft, vor der alle Gegensätze und Hemmungen,
von denen wir sprachen, und die das Wahlrecht der Revolution erst
recht ans Licht getrieben hatte, zurücktreten, und dem sie, wenn
sie sich nicht ausgleichen lassen wollten, unterworfen werden,
mußten.
225
Früh genug, früher als die meisten seiner Mitarbeiter und wohl
auch die Gegner selbst, bemerkte Bismarck, in welches Wirrsal er
sich verstrickt hatte. Wenn er in dem konstituierenden Reichstage
des Norddeutschen Bundes die Parteien zur raschen Arbeit an dem
Verfassungswerk mit dem hochgemuten Wort angefeuert hatte:
»Setzen wir Deutschland sozusagen in den Sattel! Reiten wird es
schon können«, so begegnen wir in den späteren Jahren nicht mehr
Äußerungen von solcher Zuversicht. Schon im März 1877, bei den
Debatten im Reichstage über die Steuergesetze, die den Kampf um
die neue Wirtschaftspolitik vorbereiteten, gestand er ein, daß die
Reichsflut rückläufig sei, daß wir einer Ebbe darin entgegengingen.
Noch weiß er nicht, ob er es tadeln solle oder ob die Neubelebung des
Partikularismus ein gesunder, naturgemäßer Entwicklungsgang sei.
Auch die Reichsflut werde wieder steigen. Man müsse nur nicht
annehmen, daß in drei oder selbst in zehn Jahren alle diese Sachen
fertiggemacht werden könnten. Man möge unsem Kindern auch
noch eine Aufgabe lassen : sie könnten sich sonst langweilen in der Welt,
wenn gar nichts mehr für sie zu tun sei. Man müsse einer natürlichen,
nationalen, organischen Entwicklung Zeit lassen, sich auszubilden,
und nicht ungeduldig werden, wenn sie Stagnationen, ja, selbst rück-
läufige Bewegung habe, dürfe auch denen, die diese verursachen, das
nicht so übel deuten; denn es sei schwer für sie, das, was bisher der
Inhalt und höchste Ehre ihres Lebens gewesen, mit einemmal der
Allgemeinheit zu opfern. Aber der höhere, nationale Schwung, die
Erziehung werde dahin treiben; »Ich bin überzeugt«, so rief er aus,
»unsere Kinder werden es viel natürlicher finden, als unsere Greise«.
Aber je weiter er vordrang, um so drückender ward die Last und um so
düsterer seine Stimmung. Bald schon finden wir in seinen Reden Worte
des Zweifels, der Klage und der Anklage, und selbst bitterer Resig-
nation. Er konnte sich mitunter, wie er einmal im Reichstage bekannte,
in schlaflosen Nächten des Gedankens nicht erwehren, daß unsere
Söhne vielleicht nochmals wieder um den ihm wohlbekannten runden
Tisch des Frankfurter Bundestages sitzen würden; und meinte sogar,
daß es keiner sehr großen europäischen Krisen bedürfe, um dem Bau.
auf dem die Parteien Kämpfe ausführten, als ob sie auf Felsengrund,
der in der Natur gewachsen sei, ständen. Risse und Erschütterungen
beizubringen. Es gab für ihn Stunden, wo er erUegen zu müssen
glaubte. Und wer hatte länger für die Einheit imd die Macht der
Lenz, Wille, Macht und Schicksal. 15
226
Nation gekämpft, wer sich so viele Feindschaft zugezogen und so viel
Haß getragen wie er, der alle Parteien wechselnd bekämpft hatte ■ —
wer besaß ein größeres Anrecht auf Ruhe! Er selbst sprach es
aus: »Ich bin müde, totmüde, und namentlich, wenn ich erwäge, gegen
was für Hindemisse ich kämpfen muß, wenn ich für das Deutsche
Reich, für die deutsche Nation, für ihre Einheit eintreten will. Ich
will das nicht charakterisieren, ich würde den Gleichmut verlieren«.
.Aber solche Momente gingen auch wieder vorüber, und von seinem
Wege ließ er sich trotz allem nicht abdrängen, er wich nicht von
seinem Ziel. Jene Worte stammen aus der Zeit, da er, wie man gemein-
hin sagt, auf der Höhe seiner Macht stand, aus dem Anfang der acht-
ziger Jahre, als er in dem Kampf, den er für das größte Werk seiner
inneren Politik, die Sozialreform, führte, kaum seine getreuesten
Anhänger hinter sich herziehen konnte und, wie er sagte, der Kaiser
sein einziger Bundesgenosse war. Niemals war er isoherter gewesen —
und niemals weniger gewillt, zu weichen; gerade weil die Partei-
kämpfe nicht versci; wunden, der parlamentarische Sand, durch den
man hindurch müsse, noch tiefer sei als anderswo, wolle er bleiben:
»Ich bin deshalb auf recht lange parlamentarische Kämpfe, auf länger,
wie mein Leben dauern wird, in dieser Frage gefaßt, aber ich werde
nicht um ein Haar breit darin schwanken, und wenn ich müde bin,
werde ich ausruhen, aber in keiner Weise umkehren; und ich werde
auf der Bresche sterben, so Gott will, \delleicht auf dieser Stelle
dermaleinst, wenn ich nicht mehr leben kann. Ein braves Pferd stirbt
in den Siehlen«.
Jedoch nicht bloß sein Kaiser, sondern auch dessen Bundes-
genossen standen dem Kanzler des Reiches damals zur Seite. Aufs
neue erfuhr Bismarck, wo die wirksamste und nachhaltigste Kraft
für den Aufbau der nationalen Macht lag: daß der Föderalismus,
die Einigkeit der Bundesstaaten dieselbe weit mehr verbürgte, als
der hin- und herwogende, in sich selbst zersetzte und zersplitterte
Massenwille, der seine Ziele nur durch die Unterdrückung des terri-
torialen Sondertimis erreichen konnte und also das kaum gewonnene
Reich im Innern wie nach außen von neuem tausend Gefahren auszu-
setzen drohte. Als große Nation frei atmen zu können in der Welt,
mächtig im Rate der Völker, in freiwilligem Zusammenschluß aller
Glieder des Volkes allzeit freudig bereit zu sein, für Deutschlands
Ehre und Größe einzutreten — das war die Idee des Reiches, für das
227
Bismarck sich eingesetzt hatte, das Ziel, dem er sein Volk entgegen-
führen wollte. Das meinte er, wenn er den Reichsboten mahnend
zurief, daß sie den nationalen Gedanken vor Europa leuchten lassen
möchten, und wenn er Klage darüber führte, daß derselbe in der
Verfinsterung begriffen sei. Es war das gleiche Ziel, das er früher im
Rahmen der Monarchie, mit der ihn seine Geburt und alle Traditionen
seines Geschlechtes verknüpften, angestrebt hatte, dasselbe, worin
Preußens Krone von jeher ihre Aufgabe gesehen hatte. In diese Welt,
die Welt der Waffen und der Politik, die ganze Nation mit hineinzu-
ziehen, sie in ihrer Gesamtheit mit dem gleichen Machtwillen zu
erfüllen, das eben war nun seine Aufgabe geworden. Weil er auf der
Linie der preußischen Politik, die er zum Siege geführt, im Weiter-
schreiten ihr gar nicht hatte ausweichen können, hatte er sie ergriffen;
gerade der Zwang, unter dem er dabei stand, hatte die deutsche
Mission Preußens bewiesen, in der Notwendigkeit das Schicksal,
das unabwendbare, sich offenbart. Und nun mußte er erleben, daß
diese Einigkeit, die Vorbedingung der nationalen Unabhängigkeit,
von den Fraktionen, die das Wahlrecht der Revolution ausgebrütet
hatte, mit Zersetzung bedroht wurde. Ihren Führern die Massen
zu entreißen und diesen das zu geben, was jene versprachen, aber
nicht erreichen konnten (nicht bloß, weil ihnen die Macht, sondern
mehr noch, weil ihnen das Augenmaß für das Erreichbare fehlte) :
den Anteil am Staat und den Gütern, die er ihnen bot, der ihren Be-
dürfnissen, ihren Wünschen und so auch dem MachtwiUen entsprach,
der sie alle deckte, und ohne den aUe Theorien leeres Stroh und ziel-
loses Begehren waren — dahin waren alle Bemühungen des Kanzlers
gerichtet. So hoffte er die Hingabe an das Reich, die er in den Dyna-
stien geweckt hatte, auch in die breiten Massen des Volkes zu bringen
und jenen Gesamtwillen, das Gemeingefühl in ihnen zu wecken, ohne
dessen Besitz noch niemals ein Gemeinwesen Bestand gehabt
hat.
Und in der jüngeren Generation lösten diese Gedanken in der
Tat bereits lauten Widerhall aus. Aber zunächst machten doch
noch die Alten die Politik, und unter diesen schlug nur wenigen
so wie einem Heinrich von Treitschke das Herz für die Jugend,
füllte der nationale Gedanke — frei von jeder Beschränkung ■ —
so die Seele wie diesem größten Propheten der Macht und Einheit
unseres Volkes.
15*
228
Nun läßt sich ja allerdings nicht verkennen, daß die Parteien,
soweit sie dem nationalen Gedanken überhaupt zugänglich waren,
sich dem Bismarcki sehen Reichsgedanken mit den Jahren mehr oder
weniger anbequemt hatten. Sie hatten, wenn man von denen um
Eugen Richter, den ganz Unentwegten, absah, alle von dem großen
Realisten gelernt und der rauhen Wirklichkeit einen guten Teil ihrer
Theorien geopfert. Wie sehr, erkennt man etwa aus den Programmen
der nationalliberalen Partei in den Anfangszeiten des Norddeutschen
Bundes, die mit ihren Anklagen gegen die Rückständigkeit der preußi-
schen Bureaukratie und mehr noch mit ihrer Betonung des parla-
mentarisch-unitarischen Gedankens und der Forderung einer einheit-
lichen Zentralgewalt, vor der die Landesgewalten, Regierungen und
Parlamente, in erster Linie die von Preußen, zurücktreten müßten,
Sätze enthalten, welche erst durch die Verfassung von Weimar ver-
wirklicht worden sind. Und das war die Partei, welche Jahre lang
den Reichstag beherrscht hat, und auf die Bismarck beim Aufbau seiner
Schöpfung sich in erster Linie stützen mußte. Sie mußte sich (und
ebenso die Konservativen) erst von Grund aus wandeln, ehe der
Kanzler sie in seinem Sinne verwenden konnte. Das ist ihm bei beiden
Parteien gelungen. Es waren vor allem die Realitäten des bürger-
lichen Lebens, die Wirtschaftsinteressen, die ihm dazu dienten; sie
verbanden das Gefolge Bennigsens und Miquels mit dem Schwer-
gewicht der Industrie in den Bezirken des Westens; während das
agrarische Interesse die preußisch-partikularistische Grundfarbe und
die ständischen Velleitäten, das Junkerhafte in der konservativen
Partei mehr und mehr verdrängte und über das ganze Reich
hin Scharen von bürgerlichen Gutsbesitzern und Bauern, und zurzeit
auch aus den mittleren Schichten der Städte in ihre Reihen herbeizog.
So trat auch in der geschlossensten aller Parteien, im Zentrum, mit der
Zeit das partikularistische Element, das dem klerikalen anfangs
nahezu ebenbürtig gewesen, in den Hintergrund, gerade in den Jahren,
da die kleine weifische Exzellenz, Windhorst, die »schwarze Perle von
Meppen«, von jeher der stärkste Gegenspieler Bismarcks im Reiche,
nach dem Tode Malhnckrodts und der beiden Reichensperger die Partei
leitete. Und selbst bei den Sozialdemokraten waren die revolutio-
nären Tiraden der ersten Jahre, die in den Mordanfällen auf den alten
Kaiser ihre Auswirkung gefunden hatten, gewählteren oder doch
weniger faßbaren Formen in ihrer Presse wie auf der Tribüne des
229
Reichstages gewichen. Abgeschworen aber hatte noch keine Partei
ihre alten Programme, und bedingungslos stellte sich keine hinter den
Kanzler. Rechter Verlaß war nicht einmal auf Bennigsens und
Miquels Gefolgsgenossen, und in der Partei, die einst die eigene des
Ministers gewesen war, griff in den letzten Jahren des alten Kaisers,
und mehr noch gleich nachdem er die Augen geschlossen, ein Geist
um sich, der alles andere war als Anhänglichkeit und Freundschaft für
den Schöpfer des Reiches. Während der Kanzler (das war die Summe),
rastlos auf seiner Bahn vorwärtsschreitend, immer neue Organe der
Kraft und Wohlfahrt für sein Land ersann und gestaltete, den Blick
stets auf alle Gegner draußen wie daheim gerichtet, zum Kampfe
stets bereit, auch wo er den Frieden wahren wollte, Zielen zustrebend,
deren Umrisse ihm selbst noch in unbestimmtem Lichte vorschwebten
(denn erst der Kampf konnte ihnen festere Formen verleihen), denen
aber die Macht, für die er eintrat, unhemmbar entgegenstrebte, und
in denen (das wußte er) die Kraft der Nation eine neue Stufe er-
reichen, ihr Leben auf dem Grunde, den er gelegt, besser gesichert sein,
ihr Genius mächtiger und freier sich erheben würde — sah er unter sich,
von einsamer Höhe, die Parteien und ihre Führer, die »gewerbsmäßigen
Volksvertreter«, die »Fraktionspartikularisten«: weich und unbesinnlich
die einen, unversöhnlich und zum Meutern geneigt die andern, alle an ihr
Dogma oder ihre Interessen gebunden und bei jedem Entschluß voll
ängstlicher Rücksicht auf ihre Wähler und ihre Mandate, untereinander
verzankt, aber immer bereit, das Werk des Einen zu kritisieren, und keiner
unter ihnen gewillt, ihm bis ans Ende zu folgen. Wohl gelang es ihm noch
einmal, die Sozialdemokratie, deren Führer sich durch die Stricke der Ge-
setze nicht bändigen ließen, im Reichstage zurückzudrängen; er ver-
dankte dies dem größten rednerischen Erfolge, de n er je im Reichstage er-
fochten hatte; aber es bedurfte dazu des stärksten Mittels, über das
er verfügte: nur der Ruf, daß das Vaterland in Gefahr sei, vermochte
das Heer der Gleichgültigen an die Wahlurne zu bringen und der Partei
der Revolution ein paar Mandate zu entreißen. Und dabei waren die
Wähler, welche die Geschlagenen um sich versammelt, in den Netzen
ihrer utopischen Verheißungen eingefangen hatten, doch wieder
zahlreicher gewesen, als je zuvor, um sich bei den nächsten Wahlen,
den letzten, die Bismarck angeordnet hatte, zu verdoppeln.
So war die Lage des Reiches, als den Kanzler die Ungnade des
jungen Herrn traf, den ein neidisches Geschick dem Schöpfer des
230
Reiches allzufrüh als Träger der kaiserlichen Würde zur Seite gestellt
hatte.
So wenig wir nun Anlaß haben, dieses Orts auf alle Fragen ein-
zugehen, welche sich an die Katastrophe knüpfen, läßt sich doch
e i n Moment nicht wohl aus dem Zusammenhang unserer Betrach-
timgen lösen — ich meine die Verteilung der Schuld, nicht sowohl
zwischen Kaiser und Kanzler selbst, als zwischen jenem und den
übrigen Mitspielern in dem Drama. Man pflegt die Mitschuld der
Parteien und der Ratgeber (sowohl des Kaisers als auch des Kanzlers) ,
wie auch die der Presse und der öffentlichen Meinung (soweit diese
in den Zeitungen zum Ausdruck kam) nicht so lebhaft zu betonen,
als die Schuld des Kaisers selbst, der ja freilich die Verantwortung für
sein Tun in erster Linie zu tragen hatte. Aber die Gerechtigkeit fordert
von uns, das Maß der VerantwortHchkeit auch bei allen denjenigen
festzustellen, die sonst bei dem Trauerspiel mitgewirkt haben, Bis-
marck hatte von Wilhelm II. dasselbe gefordert, zu dem er sich einst
gegen seinen alten Herrn in dem AugenbHck erboten hatte, als dieser
rat- und fassungslos den Parteien im preußischen Landtag gegenüber-
gestanden hatte, der eigene Sohn ihm fast abtrünnig geworden war
und seine Minister so wenig wie er selbst die Lage zu meistern gewußt
hatten. So wollte er nun auch seinen neuen Herrn (denn ohne den
Träger der Krone zur Seite zu haben, wäre er selbst machtlos gewesen)
in einen Kampf hineinführen, dessen Ziel ihm jetzt klar vor der
Seele stand, die Wege aber und die Mittel auch ihm noch ungewiß
waren und es sein mußten, denn erst der Kampf selbst konnte sie
ihm, wie früher so oft, an die Hand geben. Wozu sich der Groß-
vater in der äußersten Not, aus der er keinen Ausweg mehr gewußt,
entschlossen hatte, das sollte der Enkel in einer Lage tun, die er in
jugendlichem Selbstgefühl durch eine PoHtik der Nachgiebigkeit und
der Verständigung meistern zu können sich zutraute, und zu deren
Durchführung von allen Seiten Hilfsbereite sich an ihn herandrängten,
persönüche Freunde und langjährige Vertraute, Ehrgeizige und selbst-
sichere Theoretiker, Unverantwortliche und Ratgeber der Krone selbst,
Bismarcks eigene Gehilfen! Auch hatte der alte König in seinem
KonfUkt mit dem Landtage den Entschluß zum Kampf, der ihm
freilich schwer genug geworden war, nur zu fassen brauchen, um als-
bald Bismarcks eigene Partei geschlossen an seiner Seite zu sehen
231
und Minister zu finden, die sich der neue Chef nach seinem Beheben
hatte wählen können, während Bismarck 1890, soweit er um sich
sah, außer seinem Sohn unter seinen Kollegen niemand besaß, der ihm
dazu hätte helfen wollen, auch nur den Kaiser hinter ihn zu bringen ;
sie alle scheuten den neuen Kampf, den er gegen seine und des Reiches
Feinde beginnen wollte, kaum weniger als ihr junger Herr selbst.
Gewiß, sie haben ihren Chef nicht verraten, wie es Bismarck mehr als
einem unter ihnen in der Bitterkeit seines Unmutes vorwarf, aber bei
ihm gebheben sind sie in den Stunden der Krisis auch nicht. Der einzige
Maybach fand in dem letzten Ministerrat, den der Fürst abgehalten
hat, das rechte Wort ; auch Scholz und sogar Lucius, der ihm fast der
nächste war, konnten sich nicht darauf besinnen, was sie zu dem Ent-
schluß, den er ihnen vortrug, zu sagen hatten. Nicht anders die Führer
der befreundeten Parteien. Weder Rauchhaupt noch Helldorf fanden
in den Tagen der Entscheidung den Weg in die Wilhelmstraße, der
ihnen sonst so wohl bekannt war; und wenn Windhorst dazu bereit
war, so geschah es schwerHch, um sich dem Schöpfer des Reiches be-
dingungslos zur Verfügung zu stellen. Miquel, der seit Benningsens
Austritt aus dem Reichstage die nationalliberale Partei führte, hatte
ebenfalls bereits sein Konto in Ordnung gebracht und war im Begriff,
zum Kaiser hinüberzuwechseln; schon Mitte Februar, noch vor den
Wahlen, die seiner Partei so verderblich wurden, hatte er dem Freunde
in Hannover melden können, daß die Minister auf der Seite des Höch-
sten seien, »aber zwischen zwei Feuern, fast verzweifelt und vöUig
ratlos«. »Der Höchste«, so hatte er hinzugefügt, »bewährt sich nach
allen Richtungen«. Dem entsprach die Haltung des preußischen Land-
tages. Als dort (in Abwesenheit des Reichstages, der noch nicht zu-
sammengetreten war) der Erlaß des Kaisers vorgelesen wurde, worin
Se. Majestät den Kanzler des Reiches in Gnaden entließ, ward
diese Mitteilung mit eisigem Schweigen entgegengenommen; nicht
einer in der hohen Versammlung fand ein Wort des Dankes für den
Mann, der Preußen zur führenden Macht in Deutschland erhoben
hatte. Sogar im Bundesrat, wie in allen Reichsämtern, begegnete
Österreichs Botschafter (»zu seinem eigenen Erstaunen«, so schrieb er
nach Hause) Äußerungen der Kritik an dem Gestürzten und der Genug-
tuung über seinen Fall; und daß die Bundesgenossen an der Donau sich
über den Sturz des Staatsmannes, der Österreichs Schwerpunkt nach
Ofen verlegt hatte, gegrämt haben, ist wenig wahrscheinlich. Und so
232
war es überall, wo hohe Politik gemacht wurde, in den Redaktionen der
Zeitungen und dort, wo es fast Gebot war, nach den aufgehenden
Sternen zu blicken und von den gefallenen abzurücken, bei Hofe,
sowie auch im Reiche des Herrn von Holstein, in Bismarcks eigenen
Bureaus. Er selbst kannte die Menschen zu gut, um nicht seinem
Sohne Herbert im voraus zu sagen, daß alle, die seine Hand über
sich gefühlt, »Uff« machen würden, wenn ihr Druck von ihnen genommen
wäre. Dies hätte ihm auch der kluge Fürst von Hohenlohe bestätigen
können, der die Welt ebenfalls kannte, aber ihr mit größerem Gleich-
mut gegenüberstand, als Bismarcks heißes Herz es vermochte. Zu
den begeisterten Verehrern des Kanzlers gehörte auch er nicht; Be-
geisterungsfähigkeit war überhaupt nicht seine stärkste Eigenschaft.
In seiner Art, die Dinge zu sehen, lag immer noch etwas von dem Grand-
seigneur der alten Zeit, dem Reichsunmittelbaren, dem die Entwick-
lung des neuen Reichs nicht unmittelbar ans Herz griff; er folgte
ihr mehr fast wie einem interessanten Spiel, gleichsam vom Parkett
aus und mit einem leichten Anflug von Ironie. In diesem Ton sind
auch die Aufzeichnungen seines Tagebuchs über den Eindruck ge-
halten, den er im Berliner Schloß empfing, als er am 24. März
das Ordensfest daselbst besuchte. Wohin er nur blickte, sah er in
vergnügte Gesichter: überall das behagliche Gefühl, daß man jetzt
offen reden konnte und der große Mann nicht mehr zu fürchten war;
zumal Herr von Stosch, sein Tischnachbar, der ihm (das Lieblings-
thema des Generals) viel über sein Zerwürfnis mit Bismarck erzählte,
zeigte sich »froh wie ein Schneekönig«. Der alte Fürst zog aus allem, was
er sah und hörte, bei sich den Schluß auf die Wahrheit des Schrift-
wortes, daß die Sanftmütigen das Erdreich besitzen werden ; wozu wir
allerdings bemerken möchten, daß General von Stosch nicht gerade
zu den Sanftmütigen gehörte. Noch im Sommer, als ihn sein Weg
wieder nach Berlin führte, traf Hohenlohe hier auf die gleiche Stimmung.
Zwei Dinge fielen ihm, wie er in seinem Tagebuch notierte, in den drei
Tagen, die er damals dort zubrachte, auf: einmal, daß niemand Zeit
habe und alle in größerer Hetze seien als früher, zweitens, daß die
Individuen geschwollen seien. »Während früher«, schreibt er, »unter
dem vorwiegenden Einflüsse des Fürsten Bismarck die Individuen
eingeschrumpft und gedrückt waren, sind sie jetzt aufgegangen wie
Schwämme, die ins Wasser gelegt sind«. Ganz geheuer war ihm
dabei nicht, und die gewohnte Ironie blieb ihm in der Feder
233
stecken. »Das hat seine Vorzüge«, so meinte er skeptisch, »aber auch
seine Gefahren. Der einheithche Wille fehlt«. Er sollte noch selbst
erfahren, wie schwer es unter der neuen Ära war, sich auf dem Platz
zu behaupten, den ein Bismarck hatte verlassen müssen.
Für diesen selbst aber konnten nach solchen Erlebnissen die
Ovationen, welche ihm beim Abschied von der Stätte seines Wirkens
die Tausende seiner Anhänger, die sich doch auch zu der guten Ge-
sellschaft, wenn auch nicht zu den offiziellen Kreisen, rechnen durften,
in tiefster Erschütterung darbrachten, zunächst doch nur ein schwacher
Trost sein; erst später haben es ihm die Huldigungen, die Wallfahrten
nach Friedrichsruh und Kissingen, die nun bald einsetzten und Jahr
um Jahrsich wiederholten, dii Jubelstürme, die ihn auf der Wiener Reise,
und so oft er durch des Reiches Hauptstadt kam, umbrausten, zum
Bewußtsein gebracht, wie tief sein Bild in dem Herzen seines Volkes,
und nicht bloß bei den Jungen, sondern auch bei den Älteren, deren
Jugend in den Sonnenaufgang der deutschen Herrlichkeit gefallen war,
wohnte. Anderseits aber dürfen wir dem allem gegenüber wohl fragen,
ob der Erbe der beiden Kronen, die seit dem Tage von Versailles über
Deutschland leuchteten, die Macht, die in seine Hand gelegt war,
und d;e es an sich leicht war gegen ihren Schöpfer zu wenden
(denn dafür hatte ihn dieser — und darin lag erst die volle Tragik
des Moments — stark genug gemacht) hierzu gebraucht haben würde,
wenn ihm die Minister und alle seine Räte und Freunde, und ebenso
die Führer der Parteien im Lande und die Presse, welche sie be-
herrschten, in den Arm gefallen und einmütig für den Gründer des
Reiches eingetreten wären ^).
Und so kam alles, wie es kommen mußte.
Zwar zunächst schien sich kaum etwas geändert zu haben und nur
der Mann am Steuer zu fehlen. Der Kurs blieb der alte oder sollte
es doch bleiben — »Volldampf voran«, wie das Telegramm lautete, das
der Kaiser seinem Oheim in Weimar, dem Ernestiner, Bismarcks
altem Freund und Verehrer, sandte, unmittelbar nachdem der Lotse
das Schiff verlassen hatte. Und wenn man anfangs, in der äußeren
^) Für alles Nähere verweise ich auf meine Geschichte Bismarcks; in
dem Rahmen des Essays ließen sich nur die Grundgedanken des Buchcr-
vortragen.
234
wie in der inneren Politik, das Ruder etwas nach links zu stellen wagte,
so dauerte es nicht lange und man fand sich bei der bald be-
wegteren See wieder in dem gewohnten Fahrwasser, versuchte wenig-
stens die alte Fahrtrichtung einzuhalten. Der Meister war gegangen,
aber sein Werk war geblieben. Unerschüttert stand der gewaltige
Bau; um keine Linie war er aus seinen Fugen gewichen; alle Maße,
soweit sie Bismarcks Eigentum waren, den Stempel seines Genius
trugen, erwiesen sich als richtig berechnet. Die Bundesstaaten hielten
fest am Reich, die Fürsten standen zu ihrem Kaiser. Wirtschaftlich
wirkten sich nun erst alle Kräfte, denen er Bahn gemacht, die er
in den granitenen Mauern seines Staatsbaues eingefangen hatte,, in
ungeahnten Progressionen aus. Die Adern der Nation strotzten von
Kraft; unablässig stieg unsere Volkszahl, von 40 Millionen im Jahre
des Frankfurter Friedens bis auf 60 zu Beginn des neuen Jahr-
hunderts; ein paar Jahrzehnte noch des Friedens, und wir hatten sie
verdoppelt. Während die Auswanderung, die in den achtziger Jahren
bedenkliche Dimensionen angenommen hatte, bis auf wenige Tausende
sank, hatten wir bald nicht mehr Arme genug, um die ins Riesenhafte
wachsende Produktion zu bewältigen; zu Hunderttausenden mußten
Slaven und Italiener helfen, uns die Felder zu bestellen, die Kanäle
zu graben, Straßen und Bahndämme zu bauen, und jede grobe Arbeit
verrichten, die unsere eigenen »gelernten« Arbeiter schon zu vermeiden
suchten. Wie falsch hatten doch die Demagogen und alle Schrift-
gelehrten, auf dem Katheder und in der Presse, geurteilt, wenn
sie die Verelendung des Proletariats und die Aufsaugung des Mittel-
standes durch das unwiderstehlich wachsende Kapital vorausgesehen und
aus solcher Abwandlung der wirtschaftlichen Formen die Revolution,
die Umgestaltung des Staates, seiner Organe und seiner Ziele geweis-
sagt, gehofft oder auch gefürchtet hatten ! Gerade die mittleren Schich-
ten, die Menge der kleinen Besitzer und Gewerbetreibenden wuchs an,
und noch niemals hatte der deutsche Arbeiter bessere Tage gesehen,
niemals auch, wer immer tüchtig war, freiere Bahn vor sich gehabt.
Über alle Felder des nationalen Lebens rieselte die goldene Flut.
Schon kam der Moment in Sicht, wo unser Volk, das geistig bereits
allen Nationen der Erde vorangekommen war, auch im Wettlauf
um die irdischen Güter die Führung übernehmen mußte.
Daß 'f vulkanische Kräfte in der Tiefe wühlten, konnte freihch
jedermann merken. Überall, wo Europäer wohnten, in der Neuen Welt
235
wie in der Alten, vernahm man das Grollen unterirdischer Gewalten,
fühlte man das Erzittern des Bodens. Wie Blitze, welche die Abgründe
erhellen, wirkten die Mordtaten, welche in diesen Jahren häufiger als
je an gekrönten und ungekrönten Häuptern der Staaten, gleichgültig,
ob Monarchien oder Republiken, hirnlose Fanatiker verübten: ein
schreckenerregendes Menetekel auf der Nebelwand der Zukunft.
Dennoch, daß die Entladungen so rasch und furchtbar eintreten
würden, wie in Rußland 1905 und 1917 und ein Jahr später in Deutsch-
land, daß Machtgebilde, an denen Jahrhunderte gebaut hatten, die
gewaltigsten der Erde, in wenigen Tagen zu wüsten Trümmern zer-
schlagen würden, hätten damals auch die Revolutionäre nicht voraus-
sehen oder hoffen können. Jene Mordtaten waren wie Blitze, welche
die Gipfel trafen, aber die Grundfesten nicht zu erschüttern vermoch-
ten. Nicht Revolution, sondern Krieg lag um die Jahrhundertwende
in der Luft. Denn unaufhaltsam ^vuchsen die Kräfte der großen Na-
tionen, und mit ihnen der Machttrieb einer jeden und ihre Eifersucht
aufeinander. Jedoch lag in der allgemeinen Machterweiterung
selbst, so schien es, auch wieder ein friedeförderndes Moment. Der
Größe des Erwerbes entsprach die Größe des Einsatzes, den das Würfel-
spiel des Krieges kosten mußte. Und gerade die führenden Nationen
hatten das Meiste zu verlieren. Indem alle Reichtümer der Erde in
Europa zusammenflössen und im Austausch der Güter die durch
Intelligenz, Kapital und Arbeit rastlos befruchtete Produktion unseres
Erdteils beide Hemisphären durchdrang, mußten sie sich ihrer gemein-
samen Interessen bewußt werden : die Weltpolitik trieb sie auseinander
— die Weltwirtschaft führte sie wieder zusammen. So wuchs
parallel mit der Gefahr der Wunsch nach Verständigung. Es war die
Zeit der Schiedsgerichte und der Kongresse, des Professorenaustausches
zwischen der Alten und der Neuen Welt, der Aussprachen zwischen
den Herrschern und ihren Ministem, zwischen den Theologen aller
Bekenntnisse und Religionen und den Vertretern aller Wissenschaften
und Weltanschauungen. Internationale, weltumspannende Ord-
nungen wurden erdacht und ausgestaltet, um die Schrecken des
Krieges zu mildem, ihn im Sinne der Kultur, im Geist der sittlichen
Gesetze zu führen. Dem Kriege selbst ward der Krieg angesagt und im
Haag dem Frieden ein Haus gebaut, ein Thron errichtet. Eben die
Macht, die am ruhelosesten auf der Bahn der Erobemngen f ort-
schritt, hatte hierbei die Führung: als seine persönliche Mission
236
ließ es der junge Zar verkündigen; und so kamen wirklich an Hollands
Küste die Vertreter der großen und kleinen Kulturnationen zusammen,
um dem neuen Evangelium zu lauschen — so wie die Fische in der
Legende der Predigt des Heiligen Antonius: gerade die großen Räuber
wetteiferten dabei in Hingebung und Sanftmut.
Wir Deutschen setzten dem Kriege gegenüber unser Vertrauen
auf den Eisenpanzer unseres Heeres, um den wir Jahr für Jahr neue
Ringe legten, wie auch schon auf die wachsende Zahl unserer Schiffe,
mit denen wir unter der persönlichen Führung unseres Kaisers unsere
Küsten zu umgürten begonnen hatten. Dies Erbe Bismarcks und
seines alten Herrn hielt die neue Regierung fest, und darin stand die
Nation und, wenn auch widerstrebend und stets auf Abstriche vom
Budget bedacht, die Majorität der Parteien hinter ihr. Gegen die
Revolution aber hatte sie den Kampf, wenigstens so wie Bismarck
ihn geführt hatte, aufgegeben, und hierbei hatte sie die Parteien noch
mehr auf ihrer Seite als bei ihren Forderungen für Heer und Flotte.
Man war bei uns in bezug auf diese Gefahren fast unbesorgter gewor-
den als irgendwo anders. Das Sozialistengesetz, durch das Bismarck
die Geister der Tiefe zu bannen versucht hatte, blieb aufgehoben,
nachdem es in seinem letzten Reichstage zum Scheitern gebracht war.
Daß die sozialistische Partei von Stund an sich verdoppelte, nahm
man hin; vioichsen doch auch Reichtum, Macht und Ordnung in
gleichem Verhältnis. Und wirklich konnte es fast scheinen, als sei
für Deutschland diese Gefahr überwunden. Von den Mordanfällen
der siebziger Jahre, denen jenes Gesetz gefolgt war, blieben unsere
Häupter, im Gegensatz zu andern Ländern, verschont. Der
nationale Gedanke breitete sich in immer weiteren Kreisen aus. Er
begann sogar auf die Arbeiter und ihre Führung einzuwirken; denn
er vor allem schuf jene Unsicherheit in der sozialistischen Gedanken-
welt, die zu der ersten Abspaltung einer gemäßigten Richtung führte
und in den Programmen der Partei zum Ausdruck kam. Der alte
Führer der Partei, und der sich fast als den Schöpfer der deutschen
Sozialdemokratie bezeichnen durfte, August Bebel selbst, begann
seine Ansichten zu revidieren. Weit zurück lagen die Zeiten, da er
im Reichstag die Pariser Kommune verherrlicht hatte und das
leitende Berhner Organ der Partei ein Gedicht auf eine nihilistische
Revolutionsheldin mit dem Refrain: »Da fiel bereits der erste Schuß!«
hatte bringen dürfen; und das Jahrhundert ging zu Ende, ohne daß
237
der große »Kladderadatsch« gekommen war, den der Hitzkopf einst
prophezeit hatte. Schon glaubten Optimisten von einer Nationali-
sierung der revolutionären Partei sprechen, auf eine Verbindung ihrer
Forderungen mit den nationalen Notwendigkeiten hoffen zu können;
und LS begann von hier aus eine Kritik gegenüber Bismarcks Kampf-
methode einzusetzen und die Auffassung sich geltend zu machen, daß
der Altgewordene im Grunde doch zur rechten Zeit vom Steuer des
Staates zurückgetreten sei, und daß durch seine Entlassung Reich
und Nation vor schwerem Unheil bewahrt worden sei.
Bei alledem — gelöst war in den Fragen der inneren Politik, die
der Schöpfer des Reiches hinterlassen hatte, über die er gestürzt war,
nichts. Die Bruchstelle, die von Anfang an in seinem Werke sichtbar
gewesen, war geblieben, und die Parteien standen im Grunde sowohl
gegen einander, wie gegenüber der Regierung dort, wo sie gestanden
hatten, als Bismarck vom Kampfplatz verdrängt worden war. Der
alte Kanzler hatte es doch noch vermocht, wenigstens die auf dem
Boden des Reiches stehenden Fraktionen nach seinem Willen zu
zwingen, sie zusammen oder auch gegeneinander aufzubringen;
unter dem Druck seiner Hand hatten sich die nationalliberale und die
konservative Partei, wie bemerkt, aufs stärkste umgestaltet. Unter
seinen Nachfolgern absr bheb alles ungefähr so, wie er es 1890 verlassen
hatte; das neue Kartell, der »Block <' der nationalen Fraktionen, den
der vierte Kanzler zusammenbrachte, zerfiel so rasch, wie er gebildet
war, eben weil an ihrer Substanz nichts geändert war. Vor allem die
beiden großen Oppositionsparteien wahrten der Regierung gegenüber
ihre Stellung. Es gelang wohl einmal, die Sozialdemokraten zurück-
zudrängen, durch dasselbe Mittel, das Bismarck Erfolg gebracht
hatte, den Appell an den nationalen Gedanken; aber die Partei
holte sich die verlorenen Sitze schon bei den nächsten Wahlen
wieder, und ihr Wachstum war nicht mehr aufzuhalten; sie war
und bheb die Partei der großen Masse, und ihre häuslichen Strei-
tigkeiten hinderten sie nicht, nach außen die Front geschlossen
zu halten. Vollends das Zentrum hielt alle seine Positionen, es
blieb die »Breschbatterie«, der »Belagerungsturm«, auf welchen, wie
Bismarck einst gesagt hatte, auch andere Feinde der Regierung
hinaufspringen konnten, um den Mauerbrecher gegen sie einzusetzen,
die »unpohtische Partei«, die sich in die Bezirke des nationalen Staates
eingedrängt hatte.
238
Dennoch läßt sich nicht absehen, wie eine solche Summe von
Energien, wie sie in Bismarcks Reich vereinigt waren, in sich, ohne
einen Stoß von außen, hätte verkümmern und der Zersetzung anheim-
fallen können. Nur der Krieg konnte dies vollbringen. Wann aber
hätte je eine neue Macht, die sich in den Umkreis der bestehenden
Mächte gewaltsam eingedrängt hatte, ihren Platz behaupten können,
ohne noch einmal um denselben kämpfen zu müssen! War unsere
Macht wirklich so übergewaltig, daß sie hoffen konnte, ohne diese
Probe ihre Stellung zu behaupten, daß die Verdrängten oder die Be-
drohten es nicht wagen würden, den Gegenstoß zu führen, still sitzen
würden, wenn der neue Mitbewerber um den Besitz der Erde und aller
ihrer Güter weiter und weiter wüchse und ohne Krieg, nur durch das
Schwergewicht seiner Macht sich zwischen sie einzuschieben und
Stellungen einzunehmen versuchen würde, welche die anderen längst
als ihre eigene Domäne angesehen und aufs Korn genommen hatten ?
Daß die Stunde einmal kommen könnte, wo dieser Machtprobe
nicht mehr auszuweichen wäre, war Bismarcks Sorge von dem Augen-
bhck an gewesen, als er seine Ernte in die Scheunen gebracht hatte.
Seine ganze Politik hatte er seit dem Frankfurter Frieden darauf ein-
gestellt, sie, wenn irgend möglich, zu vermeiden; aber in keinem
Moment hatte er den Gedanken gehegt, daß die Gegner gutwilKg, aus
Liebe zur Menschheit und dem Frieden der Welt, ja, auch nur aus dem
Wunsche heraus, die über alle Grenzen hinweg ineinander verflochtene
Welt der wirtschaftlichen Interessen ungestört zu lassen, dem
Würfelspiel des Krieges aus dem Wege gehen würden. Denn er wußte,
daß die Staaten eingeborenen Trieben, die sich aus ihrer Lage und ihrer
Geschichte ergaben, unterworfen waren, Gestirne, die eine eherne Not-
wendigkeit in ihren Bahnen erhielt ; und daß darum nur das Schwert das
Schwert in der Scheide halten und die Stunde hinausschieben konnte,
wo trotz allem die ultima ratio regum die Entscheidung treffen würde.
Die Stunde kam, früher vielleicht, als es hätte zu geschehen
brauchen, aber, wie wir wohl sagen dürfen, doch als eine unabwend-
bare Forderung des Schicksals. Und nun bot unser Volk der Welt
ein Schauspiel, so erschütternd und so erhebend zugleich, wie es die
Menschheit in allen Jahrtausenden noch niemals gesehen hatte. Es
war wie ein Wunder vor unseren Augen. Also war es doch wahr ge-
worden, was Bismarck in jener größten seiner Reden geweissagt hatte:
daß die kampfesfreudige Vaterlandsliebe, welche 1813 die gesamte Be-
239
völkerung des damals schwachen, kleinen und ausgesogenen Preußen
unter die Fahnen rief, sich als das Gemeingut der ganzen deutschen
Nation erweisen, und daß das ganze Deutschland von der Memel bis
zum Bodensee wie eine Pulvermine aufbrennen und von Gewehren
starren werde, wenn es noch einmal von ruchlosen Gegnern angegriffen
werden würde! Nun erst offenbarte es sich, wie tief der nationale
Gedanke allen Widerständen zum Trotz in unser Volk gedrungen war,
und daß er sich wirklich zum Massenwillen entwickelt imd zu dem
heiligen Gelübde sich gesteigert hatte, alles zu vergessen, was die
Nation jemals getrennt hatte. An den Führern der soziaHstischen
Partei lag es nicht, mochte auch der oder jener von ümen sich der Er-
habenheit des Momentes bewußt werden und freiwillig das heüige Loos
des Kampfes für das Vaterland auf sich nehmen. Aber sie hätten
es nur wagen sollen, in diesem Moment ihren Genossen mit ihren
internationalen Utopien zu kommen: sie wären von dem Sturm der
nationalen Begeisterung, der das Land durchbrauste, weggefegt
worden. Unsere Krieger machten es, wie die alten Helden, von denen
unsere Sagen melden: sie zählten ihre Feinde nicht. Niemals wird das
Gedächtnis dieser Taten erlöschen, so lange noch männliche Herzen
auf Erden schlagen werden.
Aufs neue zeigte sich, wie gesund alle Organe waren, die Bismarck
aus der Tiefe seines Glaubens und seines Willens geschöpft und geschaffen
hatte; alle diese bewährten indem Sturm, der das Reich durchschüttelte,
ihre Kraft. Fester als je hielten die Bundesfürsten mit ihren Staaten
am Reich; sie haben bis ans Ende ausgehalten; erst mit dem Kaiser-
tum selbst sind sie untergegangen.
Aber bei alledem — die Bruchstelle im Bau war gebheben. Hier
war alles noch so, wie es in der Stunde gewesen war, da der Meister
von seiner Arbeitsstätte hatte weichen müssen; nichts war gelöst.
Was für unsere Gegner das Selbstverständliche war, die Verschmelzung
aller Regungen und Strömungen des Volksgeistes in einen einzigen
Willen, für den auch nur der Gedanke einer Absonderung vor dem
Ende, dem Siege, undenkbar war, blieb uns versagt. Nichts als den
»Burgfrieden«, wie der allgemein angenommene Ausdruck bezeich-
nend genug lautete, die Neutralisierung der Gegensätze, welche die
Nation zersetzt hatten, wurde erreicht, in einem Moment, wo es sich
um Sein oder Nichtsein, um die Schicksalsstunde unseres Volkes
handelte.
240
Nur der Sieg konnte uns helfen. Eisen und Blut hatten unser
Reich geschaffen, Eisen und Blut mußten darüber entscheiden, ob
wir als große Nation frei atmen würden in der Welt oder fortan in
Dienstbarkeit und Armut unser Dasein führen sollten.
Die Probe ist gemacht worden: wir haben sie nicht bestanden.
Wäre sie geglückt, so hätten die Fundamente, die Bismarck gelegt
hatte, sich tief und tiefer in den Boden der Nation senken müssen;
sie wären auf Generationen hin gesichert worden; als die mächtigste
Nation der Erde, als die unbesiegliche hätten wir dagestanden. Wer
also Bismarcks Reich, die von ihm geschaffenen Ordnungen, in welchem
Sinne auch immer, bekämpfte, konnte diesen Sieg nicht wünschen.
Wie sich sein Werk, wäre es durch den Sieg gekrönt worden, weiter
entwickelt haben würde, wohin die nach allen Seiten dann freigewor-
dene Bahn unser Volk geführt haben würde — wer will das sagen!
Wir wenigstens lassen von einem Unternehmen ab, das nicht unseres
Amtes ist. Auch danach wollen wir dieses Orts nicht fragen, an welcher
Stelle die Organe geschwächt, wo der Bruch zuerst sichtbar wurde,
wer der erste und wer die Hauptschuldigen gewesen, und wo sie zu
suchen sind, wo überall, sei es auf dem Schlachtfelde oder im diplo-
matischen Spiel, Klugheit, Wille und Kraft versagt haben, und ob
der Verständigungswille vielleicht mehr erreicht haben würde als
Fäuste und Schwerter. Mögen andere berechtigt sein oder sich dazu
berechtigt glauben, in den Wunden, die uns geschlagen wurden, zu
wühlen — unsere Aufgabe kann es nicht sein, daran zu rühren. Und
so sei nur noch mit kürzesten Worten des Momentes gedacht, da
uns in den Herbsttagen von 1918 das Schicksal mit feurigen Armen
umfaßte und uns von der Höhe des Sieges in den Abgrund hinunter-
riß.
Noch hatte kein Feind den deutschen Boden betreten, noch
herrschten wir im Osten über den Kaukasus hinweg bis an den Euphrat,
und zwar zurückgedrängt, aber unzerbrochen hielt unsere Front im
Westen, auch auf dem Meere waren wir noch immer unseren Feinden
furchtbar — als der Kaiser, nach dem Verrat und Abfall der Bul-
garen, unter dem von innen und außen her wirkenden Druck
seinen politischen Beratern weichend, sich entschloß, in dem Lager
des Schwachmuts und der Nachgiebigkeit, das auch alle inneren
Gegner des Bismarckreiches umfaßte, seines Landes Rettung zu suchen:
indem er durch den Erlaß vom 30. September dem Volke Teilnahme
241
an der Regierung versprach und damit die Parlamentarisierung des
Reiches in Aussicht stellte, zerbrach er mit eigener Hand das Szepter,
das Bismarck ihm und seinem Hause geschmiedet hatte. Von da ab
gab es kein Halten mehr. Der Wille zur Macht erlosch, der Glaube an
das Recht der Macht selbst starb ab, und der Wille zur Ohnmacht
begann die Stunde zu regieren. Schlagartig ergriff die Lähmung den
Körper der Nation. AUes klaffte mit einem Male auseinander, die
Brunnen des Abgrundes taten sich auf, und die Flut des Verderbens
wogte über uns her. Es waren die Tage, die Wochen, da die Parteien,
die auch Bismarck nicht hatte besiegen können, die immerdar die
Feinde einer Hohenzollemschen Kaiserkrone gewesen waren, im Reiche
zur Macht empordrangen. Mit der Verknechtung Deutschlands begann
ihre Herrschaft. Sie haben sie noch heute in Händen.
Weil der Wille erlahmte, ist unsere Macht zerbrochen worden und
hat das Schicksal den Spruch über uns gefällt, den nur der Wille hätte
abwenden können.
l-enz, Wille, Macht and Schicksal. l6
Gleidigewicht und Großmacht.
{1919. 1922.)
In dem Spiel mit den »fünf Kugeln«, zu dem Bismarck durch
das Bündnis mit Österreich im Herbst 1879 gezwungen war, und
das sein Nachfolger gleich nach seinem Sturz aufhob, weil, wie er
selbst nicht mit Unrecht sagte, er unfähig war, es fortzusetzen, war
(wenn der Ausdruck erlaubt ist) ein besonders schwieriger Trick
die Aufgabe, die österreichische Kugel, die stets abirren wollte, in
ihrer Bahn zu halten und sie gegebenenfalls wieder rechtzeitig auf-
zufangen; Bismarck hat sich damit ein volles Jahrzehnt, bis zu seiner
Entlassung plagen müssen. Wie geschickt er dabei verfuhr, und wie
glänzend überhaupt er sein Spiel allen Gegenspielern, zumal aber den
Wiener Diplomaten gegenüber durchführte, sehen wir heute aus der
Sammlung seiner Akten durch unsere Regierung mit aller DeutUch-
keit vor uns. Besonders einen Moment gab es dabei, der die vollste
Aufmerksamkeit dieses Meisterspielers erforderte: als Fürst Alexander
von Bulgarien im Herbst 1885 durch die Okkupation Ostrumeliens
das Werk des Berliner Kongresses umzustürzen versuchte und dadurch
Europa vor die Gefahr neuer Katastrophen zu stellen drohte. Denn
es handelte sich ja nicht bloß um die Kleinstaaten des Balkans, sondern
um die Interessen der großen Mächte, zunächst und vor allem Ruß-
lands und Österreichs, die auf einer Linie zu halten die Summe der
Bismarckischen Politik war. Die Lage bot fast das umgekehrte
Bild derjenigen dar, aus der sich im Juli 1914 der Weltkrieg entwickeln
sollte. Während Rußland seine schwere Hand auf Bulgarien hielt,
das es zugleich zügeln und für ein Weiterschreiten auf seiner durch
den Berhner Kongreß gestörten Bahn als Sturmbock bereithalten
wollte, hatte Serbien, dessen Krone damals König Milan, von der
Dynastie der Obrenowitsch, trug, sich Österreich zur Schutzmacht
und zum Hort seiner Interessen erwählt. Es war nicht zu erwarten,,
daß der ehrgeizige Fürst, der mit der nationalen Pohtik zugleich die
Existenz seines Hauses gegen die Prätensionen der Karageorgiewitsch
243
zu wahren hatte, die sich immer, mehr fast als die Obrenowitsch,
für die großserbischen Ansprüche eingesetzt hatten, stül sitzen und
die Bereicherung der bulgarischen Emporkömmlinge zulassen würde,
ohne für sich Kompensationen zu finden. Ließen die Mächte dies aber
zu, so war mit Sicherheit als unvermeidbar vorauszusehen, daß dann
auch die anderen Balkanhöfe, von Bukarest bis Athen, ihre An-
sprüche anmelden würden ; das ganze, in Berlin so mühsam aufgebaute
Gleichgewicht auf dem Balkan drohte dann zerschlagen zu werden.
Für die deutsche Politik war ein Mehr oder Weniger für die Einen
oder die Andern nicht so wichtig, als die beiden befreundeten Groß-
mächte darüber nicht auseinander zu bringen. Dies Ziel schien aber
bereits einigermaßen gesichert zu sein durch das geheime Bündnis,
das Bismarck (einer Anregung des Petersburger Kabinetts folgend),
nach längeren B( mühungen am i8. Juni 1881 zwischen den drei Kaiser-
höfen zustande gebracht hatte, und in dem, in einem Zusatzprotokoll,
die Union beider Bulgarien bereits ins Auge gefaßt war; während man
die Pforte von dem analogen Versuch zurückzuhalten beschloß, wollte
man sich einer Angliederung Ostrumeliens an Bulgarien, falls der Zwang
der Umstände dahin führen würde, nicht widersetzen und begrenzte
dies Wohlwollen nur für den Fall, daß die Bulgaren auch die be-
nachbarten Provinzen, insbesondere Mazedonien, angreifen, würden.
Serbiens war in diesem sehr merkwürdigen Vertrage, über dessen
Entstehung erst unsere Akten helleres Licht verbreiten konnten,
gar nicht gedacht worden. Im Gegenteil, indem Österreich die Annexion
Bosniens und der Herzegowina zu einem in sein Belieben ge-
stellten Zeitpunkt, und ebenso die Okkupation Novi Bazars gemäß
den früheren Abmachungen aufs neue zugesichert erhielt, war dadurch
den Ansprüchen Serbiens in dieser für die Doppelmonarchie be-
sonders gefährlichen Richtung ein Riegel vorgeschoben worden. Der
Monat war aber noch nicht zu Ende gegangen, als das Wiener Kabinett,
in dem seit Andrassys Abgang der Baron v. Haymerle die auswär-
tigen Angelegenheiten verwaltete, durch einen zweiten Geheim-
vertrag (den es aber nicht einmal den Berliner Freunden anvertraute,
erst nachträglich heß es etwas davon dorthin verlauten) sich König
Milan verpflichtet hatte, nicht bloß seine Dynastie zu unterstützen,
sondern auch »für die Zukunft eventuell einer Vergrößerung Serbiens
nach Südosten nicht entgegenzutreten, wenn die Verhältnisse es
mit sich bringen sollten«; dafür hatte sich Serbien auf 10 Jahre an
16*
244
die österreichische Pohtik gebunden. Der Gedanke, von dem sich diese
leiten ließ, liegt auf der Hand. Sie wollte zunächst für sich selbst
sorgen, dann aber doch auch den Nachbar, dessen Freundschaft
keineswegs über jedem Zweifel erhaben war, bei sich behalten; indem
sie ihm daher den Weg nach der Seite offen ließ, wo er — nicht mit
Österreich, aber mit den Bulgaren und Türken, denn von diesen waren
die Landschaften bewohnt, auf die sie ihn hinwies, zusammenstoßen
mußte, glaubte sie die großserbischen Aspirationen, die ja auch über
die Donau hinweg zu streben drohten, eindämmen zu können.
In dieser Haltung trat also der Nachfolger des Barons v. Haymerle,
Graf Kälnoky, der seinen Botschafterposten in Petersburg mit dem
Ministerium in Wien vertauscht hatte, den verbündeten Höfen ent-
gegen, als der in dem neuen Dreikaiserbündnis vorgesehene Fall
eintraf. Er versicherte nach beiden Seiten, daß er den gemeinsamen
Boden niemals verlassen und vor allem nach wie vor keinen Schritt
tun werde, ohne sich des Einverständnisses des Petersburger Kabinetts
zu versichern; bewies auch volles Verständnis für die Befürchtung
des Reichskanzlers, die der deutsche Botschafter Prinz Reuß ihm
hatte vortragen müssen, daß aus einem bewaffneten Konflikt zwischen
Serbien und Bulgarien leicht die beiden hinter diesen stehenden
Großmächte Österreich und Rußland berührt und gezwungen werden
würden, Partei für ihre Schützlinge zu nehmen; wies aber anderseits
doch auf die prekäre Lage hin, in die Österreich selbst geraten würde,
wenn der König durch die Chauvinisten, die seit der bulgarischen
Revolution bereits die Parole »Alt-Serbien« ausgegeben hätten, fort-
gerissen oder, falls er der nationalen Bewegung widerstehe, über
den Haufen geworfen werden würde, und konnte schließlich nicht
verhehlen, daß Serbien immerhin ein Recht darauf habe, auch seiner-
seits eine Kompensation zu suchen, welche das durch die bulgarische
»Infraktion« in den Berliner Vertrag gestörte Gleichgewicht wieder
einigermaßen herstellen würde. Dies setze natürlich eine Intervention
der Mächte voraus: käme diese zustande, so würde Österreich-Ungarn
für das befreundete Serbien eintreten müssen; verließe das letztere
diesen Boden, so würde es auch von der Doppelmonarchie seinem
Schicksal überlassen werden.
Bismarck ließ sich durch solche Provokationen nicht anfechten;
das Leitseil ließ er sich nicht aus der Hand nehmen. Mit vollem
Nachdruck eriimerte er dagegen an die Bestimmungen des Bündnisses
245
und an die Grenzen seiner eigenen Freundschaft. Man solle, so mußte
der Botschafter dem Minister sagen, unsere gewiß unwandelbare
Vertragstreue nicht auf zu harte Proben setzen und nicht vergessen,
daß uns ein Krieg mit Rußland sofort einen französischen Krieg auf
den Hals ziehen würde. In einer neuen Weisung, die von Friedrichs-
ruh nach einem Besuch des österreichischen Botschafters am Berliner
Hof, Graf Szechenyi, an den Prinzen Reuß abging (3. Oktober),
stellte er dem Versprechen Österreichs an Serbien die schon früher
in dem Bündnis der Kaisermächte eingegangene Verpflichtung gegen-
über; er wollte nicht zugeben, daß, wie Kälnoky gemeint hatte,
Österreich mit seinem Eintreten für Milan das kleinere Übel wähle,
wenn seine Pohtik, um den König zu halten, es auf einen Krieg mit
Rußland ankommen ließe, und warnte prophetisch die Freunde an
der Donau davor, die Überhebimg der Kleinstaaten im Balkan,
welche durch den Berliner Kongreß erst geschaffen seien, zu er-
mutigen : sie habe keine sicheren Grenzen, und mit der gleichen Auf-
regung könne der serbische Ehrgeiz sich unter veränderten Umständen
gegen Österreich wenden und von einer Serbia irredenta im Banat
sprechen, wenn man diesen Ehrgeizigen nicht gegenwärtig halte, daß
mit dem Berliner Vertrage auch die Rechte fallen, die sie aus dem-
selben erworben haben. Von einem Rechte Serbiens, Kompensationen
zu erhalten, weil Bulgarien und OstrumeHen vereinigt würden, wollte
der deutsche Kanzler überhaupt nichts hören, in welchem Sinne immer
man das Wort »Recht« nehmen möge; die angebhche Rechtfertigimg,
Erhaltung des Gleichgewichts, halte eine Prüfung nicht aus. Und nun
erhebt er sich über eben diesen Begriff zu einer Betrachtung, die über den
gegenwärtigen Fall weit hinausreicht und allgemeine Bedeutung bean-
spruchen darf. »Es wäre«, so fährt er fort, »eine interessante und nütz-
liche Studie, zu verfolgen, welche Vorstellungen und welche Zwecke
seit Ludwig XIV. mit diesem Ausdruck gedeckt worden sind. Ver-
steht man denselben in dem gewöhnlichen Sinne, daß kein Staat
mächtig genug werden dürfe, um die Unabhängigkeit der übrigen zu
bedrohen, so springt in die Augen, daß man ihn auf das Verhältnis
der Balkanstaaten untereinander unmöglich anwenden kann. Grie-
chenland, Serbien, Bulgarien haben jetzt jeder etwa 2 Millionen Ein-
wohner, Montenegro nur I4, Rumänien aber zwischen 5 und 6; dieses
Verhältnis würde durch den Zuwachs von 800000 Rumelioten zu Bul-
gcirien keine wesenthche Änderung erleiden. Die Redensart von Gleich-
246
gewicht ist im Munde der Serben einfach eine Beschönigung ihrer Be-
gehrhchkeit. Ich würde ihnen gönnen, eine Gebietsvergrößerung zu
erhalten, wenn das im friedUchen Wege möglich, aber einen Rechts-
anspruch darauf zu behaupten, ist eine Überhebung kindlicher Natur,
wie wir sie von den jungen südlichen Völkern gewöhnt sind.«
Damit rührt Bismarck an ein Problem, welches (ohne daß es
ihm recht bewußt war) nicht bloß die Geschichtschreiber, sondern
auch die Politiker Generationen hindurch auf das lebhafteste be-
schäftigt hat, wenn man auch von jenen nicht gerade sagen kann,
daß sie es an der Wurzel angepackt, d. h. in die rechte Verbindung
mit den Abwandlungen der allgemeinen Politik gebracht haben,
wodurch allein sein Verständnis ermöglicht wird. Die Theorie von
dem Gleichgewicht der Mächte als einem Prinzip, einem Recht, einer
sittlichen Forderung oder gar als dem Ziel, dem d;e Entwicklung
der geschichtlichen Welt zustrebt oder jedenfalls zustreben müßte,
ist sogar noch älter als Bismarck annahm ; man wird sie mindestens
noch um ein Jahrhundert weiter hinaufführen können. Ihre Be-
kenner gehörten ebensowohl der Praxis an wie der Theorie. Es waren
zum Teil Männer des Katheders und der Kanzel, fem von unmittel-
barem Anteil an der Politik, obschon auch sie, vielleicht unbewußt,
abhängig waren von dem Gang der politischen Entwicklung, den
Konstellationen in der Welt der Staaten und der Kirche, unter denen
sie lebten, wie eng im übrigen der Kreis sein mochte, für den sie
schrieben. Und selbst dann noch waren sie oft genug Organe der
Politik, der sie ihre Ziele dienstbar machten, für die sie die öffentliche
Meinung »aufzuklären«, zu bearbeiten hatten. Darüber hinaus aber
erscheint die Theorie vor allem in den Programmen der Regierungen
selbst und in ungezählten Flugschriften, welche sie auslegten, immer
so," wie es der hohen Regierung, die hinter ihnen stand, gefällig und
dienlich war. Ja, die führenden Politiker griffen wohl selbst in den
Federkampf ein, auch sie stets in der Absicht, die gegnerische Be-
gründung der Theorie zu entkräften, zuweilen sogar in der Form, daß
sie dieselbe anzweifelten und geradezu ihre Wertlosigkeit behaupteten.
Zu diesen haben wir also jetzt auch Otto von Bismarck zu stellen.
Damit soll ja nun nicht gesagt sein, daß Bismarck sich dem Satz
von dem Gleichgewicht der Mächte als einer Erscheinungsform des
geschichtlichen Lebens widersetzt habe. Hat er doch selbst daran
nicht allein geglaubt, sondern auch danach gehandelt, und zwar in
247
der inneren Politik kaum weniger als in der äußeren! Das konsti-
tutionelle System, so wie er es als preußischer Minister stets aufgefaßt
hat, beruhte gerade darauf, und nicht minder auch die Verfassung, die
er dem Reiche gab, wenn sie sich auch nicht allein damit umschreiben
läßt. Die unitarische Lösung, die Verschiebung des Schwergewichts
auf das Parlament, d. h. auf die Majorität der Wähler, und die Ver-
gewaltigung der Minderheit, hatte er von jeher bekämpft ; denn nicht der
gezwungene, sondern der freiwillige Zusammenschluß der Glieder des
Reiches bot ihm die Gewähr für Bestand und Wachstum der von ihm
geschaffenen Macht, nur sie konnte das Gemeingefühl in der Nation
erzeugen, ohne das jede Staatsordnung nur zu bald zu einem Scherben-
haufen werden muß. Ein Gleichgewichtssystem war auch das Ver-
hältnis der europäischen Mächte nach den Freiheitskriegen zueinander
gewesen, unter dem Bismarck seine Jugend verlebt und seine poü-
tischen Anschauungen ausgebildet hatte. Die Revolution von 1848
hatte dann das längst erschütterte zerstört, und eben dadurch
waren die Krisen entstanden, welche die durch Bismarck geleitete
Politik benutzte, um Preußen zur Hegemonie in Deutschland zu
führen und damit der gesamten Nation eine in sich selbst ruhende
Stellung unter den Mächten der Erde zu sichern, ohne die sie erneuter
Zersplitterung anheimfallen mußte, und also ein neues Gleichgewicht
unter den Mächten Europas zu schaffen. Diese Lage zu behaupten
und in sich immer stärker zu gestalten, das war seit dem Frankfurter
Frieden das Ziel, das der Schöpfer des Reiches sich gesetzt hatte; aus
dem Zerstörer war der Erhalter geworden, der konservative Charakter
seiner Politik konnte nun wieder klar heraustreten. Denn das Ge-
wordene, die gewachsene Macht und die in ihr lebendig gebhebenen
Energien zu erhalten und fortzubilden, war es, was Bismarck stets in
erster Linie gewollt und erstrebt hat. Die Macht erkannte er immer
an, mochte er ihr freundlich oder feindlich gegenüberstehen, einen
Ausgleich suchen oder den Kampf ansagen. Niemals ging er darum
einem Kompromiß aus dem Wege, vorausgesetzt, daß er das Vertrauen
fand, das er darbot; aber auch niemals, wenn es sein mußte, dem
Kampfe. Denn er wußte, daß Macht Macht bleiben will, und daß
darum das Gleichgewicht zwischen Macht und Macht immer nur
die Diagonale der im Innern wirkenden und von außen stoßenden
Kräfte, ein in sich schwankendes Ergebnis ihrir Kämpfe und ein
vorübergehender Moment der historischen Entwicklung sein kann.
248
Vor allem für die internationale Politik wird dieser Satz stets
seine Geltung behalten: als das »flüssige Element«, wie Bismarck sie
in seinen »Gedanken und Erinnerungen« genannt hat, »das unter
Umständen zeitweilig fest wird, aber bei Veränderungen der Atmo-
sphäre in seinen ursprünglichen Aggregatzustand zurückfällt«. Es
ist wahr, dies zeitweilige Festwerden von Machtelementen, die sonst
gegeneinander stießen, kann lange genug, wohl durch Jahrhunderte
hin, währen. Aber gerade dann pflegt das Entscheidende, das Fest-
haltende nicht das Gleichgewicht aller oder auch nur der vorwaltenden
Mächte zu sein, sondern das Übergewicht einer einzigen Macht, der
sich die übrigen beugten. So war es in den Jahrhunderten, als das
Imperiimi Romanum alles, was einst an Staaten und Nationen um
das Mittelmeer her geblüht hatte, in sich vereinigte, als die Fax
Romana Orient und Occident des alten Orbis terrarum gefesselt
hielt. Zur Stillegung, zu völliger Willensfesselung der Teile kam es
jedoch auch in Roms Machtkreis, wie groß er war und wie lange er
dauern mochte, niemals; so wenig wie er selbst als Ganzes zum Still-
stand gelangte. Es war vielmehr im Innern wie an den Grenzen ein
fortwährendes Hin- und Herrücken, Vordringen oder Zurückweichen.
Ein volles Jahrhundert und darüber schob das Kaiserreich seine
Bastionen auf drei Kontinenten vor, den Wegen folgend, welche
Marius und Sulla, Pompejus und Cäsar gebahnt hatten. Dann tritt
für ein paar Jahrzehnte ein Zustand des Beharrens, des Gleichgewichts
zwischen der im Imperium gesammelten Macht und der jenseits ihrer
Grenzen flutenden Völkerwelt ein : es ist die Epoche Hadrians und der w
Antonine, die Jahre, in denen die um das Mittelmeer gelagerten
Kulturen hinter den Grenzwällen und Standlagem der Legionen Schutz
fanden. Aber schon unter Marc Aurel zerbricht der Damm an der
gefährdetsten Stelle und beginnt die Rückflut, unter deren immer
wiederholtem Anprall die Deiche zerschmelzen, bis die von allen
Seiten anstürmende die Provinzen des Reiches von den Katarakten
des Nüs bis zu den schottischen Bergen überdeckt. Nur wenn die
Römer es vermocht hätten, alle Völker, die sie ihrer Macht unter-
warfen, mit ihrer Wesensart zu durchdringen, zu ihresgleichen zu
machen, so wie sie es mit den Stämmen Italiens, Hispaniens und
Galliens fertig brachten, hätten sie hoffen können, ihre Herrschaft in
den von Trajan erreichten Grenzen zu behaupten und sie noch darüber
hinaus zu tragen. Dazu aber waren sie niemals imstande. Der semi-
249
tischen Großmacht des Westens gegenüber hatten sie sich noch voll
behauptet; mit ihr gab es kein Vertragen, Krieg bis zur Vernichtung
des Gegners blieb bis zuletzt die Losung. Sobald sie aber über die
Adria hinweg tiefer in die hellenische Welt eindrangen, nahmen sie eine
Fülle fremder Kulturelemente in sich auf: Die Götter des Olymps
zogen nach dem Kapitol hinüber; Kunst und Literatur, die ganze
geistige Welt Roms erhielt griechisches Gepräge. Auch in dieser
Verschmelzung vermochte Roms Genius noch sich durchzusetzen;
ja sie gab ihm erst die Kraft und das Recht, den ganzen Westen seiner
Kultur zu unterwerfen und zugleich im Osten das Erbe Athens und
Alexanders anzutreten und zu verwahren: Nachwirkungen, die weit
über die Jahrhunderte hinaus reichten, in denen Roms Prokonsuln
und Cäsaren die östlichen Provinzen des Reiches verwalteten ; bis auf
unsere Tage hat die europäische Menschheit üinen dafür zu danken. Aber
je tiefer das Reich seine Wurzeln in den Boden des Ostens hineintrieb,
um so mehr wurde es umdrängt von dort einheimischen, noch vollleben-
digen Machtelementen, die unter dem Andrang der griechisch-römischen
Kultur wohl manches von üirer ursprüngUchen Art aufgeben mußten,
aber durch die Synthese mit ihr nur um so kräftiger emporstrebten
und sie zu ersticken oder zu sich hinüberzuziehen drohten. Es waren
die Geister der unterworfenen Völker, die sich gegen die Eroberer er-
hoben. Auszutilgen waren sie nicht mehr; gewollt oder nicht gewollt,
behaupteten sie sich nicht nur in ihrer Heimat, sondern drangen im
Reiche vor, forderten Luft und Licht, wohin immer die von ihren
Herren geöffneten Bahnen des Verkehrs und der Wirtschaft sie führten ;
des Reiches Grenzen selbst wurden einem Teü von ihnen bald zu eng.
Anfangs noch alle geduldet, viele sogar von den Herrschenden herbei-
gezogen und verhätschelt, andere wieder verachtet und mit steigendem
Haß verfolgt, untereinander die einen sich suchend, die andern mn
so strenger sich meidend, schufen sie in allen Provinzen des Reiches
Kolonien, Zellkerne gleichsam eines neuen und besonderen Lebens,
die in veränderten Formen, jedoch auf dem alten, oft streng be-
wahrten Grunde nach Wachstum und Ausbreitung strebten. Bis dann
die eine von diesen Gemeinschaften, diesen Kirchen, und zwar gerade
diejenige, die dem Staate der Cäsaren, obschon sie sich seinen Formen
am meisten genähert, dennoch, weil in ihrem Kemgedanken ihm ent-
gegengesetzt, die verhaßteste gewesen war, seiner mächtig wurde und
ihn zwang, Ziele, Gewalt und Wesen mit ihr zu teilen. Dies erst führte
250
des römischen Reiches Schicksalsstunde herbei: von innen her
unterwühlt und ausgehöhlt, brach es unter den nun immer stärkeren
Stößen der Barbaren auseinander, und neue Völker- und Staaten-
systeme gewannen zwischen seinen Trümmern und über sie hinweg,
von der Kirche, die nun erst ganz ins Freie hinaustrat, selbst geleitet,
Raum und Leben.
Ein Beispiel, das für unser Thema von zwiefachem Interesse ist.
Denn es lehrt einmal, daß die Geschichte die Anhäufung der poli-
tischen Macht in Weltreichen auf die Dauer nicht duldet: daß die
Elemente, welche in ihnen zeitweilig fest wurden, ihrer Natur nach
in ihren ursprünglichen Aggregatzustand zurückzukehren streben;
daß sie dabei zu verjüngten Formen, neuen Lebenszentren gelangen,
in denen Altes und Neues sich zu erneutem Wachstum vereinigt.
Sodann aber sehen wir, daß die neuentstandenen Gebilde, wie klein
sie anfangs sein mögen, auf ihrem Wege sich wiederum nicht hemmen
lassen, es sei denn, daß ihr Lebenswille in sich selbst abstirbt, oder
daß er von außen, durch einen stärkeren Machtwillen, abgetötet
und absorbiert wird. So daß also jede Machtform (»geprägte Form,
die lebend sich entwickelt«) ihrer Idee nach von dem Moment ab, wo
sie ins Leben tritt, die universale Herrschaft anstrebt: es liegt nicht
in ihrer Natur, sich selbst zu beschränken, die Grenzen müssen ihr
gesetzt werden.
Insofern ist es noch zu eng gefaßt, wenn Leopold Ranke dies
Wort, das ja das seine ist und das wir hier nur wiederholen, lediglich
auf die »vorwaltenden« Mächte anwendet. Indessen füllt es voll-
kommen seinen Platz aus, wenn wir es in den Rahmen einfügen, in
den der Meister es gestellt hat. Denn er denkt dabei an geschlossene
politische Horizonte und die von ihnen zusammengehaltenen Staaten-
systeme. Da aber sind es in der Tat in erster Linie die vorwaltenden
Mächte, die »ihrer Natur nach« soweit vorzudringen suchen, als es
die Rivalen irgend zulassen. Denn nur die großen Sterne bestimmen
die Bahnen, in denen die Konstellation verläuft und die Entwicklung
vorwärtsschreitet. Neben ihnen kommen die kleinen nur als Tra-
banten in Betracht; im Gefolge der großen allein können sie hoffen,
ihr Selbst zu behaupten oder mit jenen voranzukommen. Der Wille
zum Wachstum ist oder war einmal bei ihnen kaum in geringerem Grade
entwickelt; er brennt in ihnen vielleicht noch heißer, als in ihren
Herren; aber sie müssen sich in deren Willen ergeben. Den einen
1
251
von ihnen sind bereits die Grenzen gesetzt; sie mögen froh sein, wenn
sie sich kämpfend behaupten. Andere wohnen in einer Region der
Windstille, heute vielleicht gerade dort, wo, wie in der Schweiz, einst
das Zentrum der Stürme war: seit einem Jahrhundert, dem Jahr-
hundert der Nationalitätskämpfe, konnten dieselben rundherum
brausen, die Eidgenossenschaft blieb, obschon zusammengesetzt aus
Teilen der drei großen Nationen, die wie keine anderen revolutioniert
und umgestaltet wurden, dennoch, wie auf einer felsbewehrten Insel,
sicher in üiren Grenzen. Oft auch trieben die Kleinen im Aufruhr
der Elemente willenlos, ein Spiel der Wellen, dahin; aber der Strudel,
der sie bereits verschlungen, riß sie wieder empor und drückte ihnen
ungeahnte Schätze in die Hand. Und manch einer, der, während
über Europens Geschicke die blutigen Lose geschüttelt wurden, tatlos
und kraftlos zurückblieb, drängte sich, wenn er die Sieger um das
erlegte Wild versammelt sah, gierig hinzu, um am Leichenschmause
teilzunehmen, unbekümmert um die Schande, mit der er dadurch
sich und seines Landes Nachruhm belud. Aber Macht und Ehre zu-
gleich gewinnt nur, wer sich selbst einsetzt und das Schicksal im
Kampfe herausfordert. Darum haben, wie Otto von Bismarck es
schon in Frankfurt erkannte, die großen Krisen das Wetter gebildet,
welches Preußens Wachstum förderte, indem sie furchtlos, \'ieUeicht
auch sehr rücksichtslos von seinen Regenten benutzt wurden. So
haben der große Kurfürst und Friedrich der Große ihren Staat in
die Bahnen der Großmächte hineingeführt, und so hat Bismarck selbst
mit Preußens Kraft die Quadern des neuen Deutschlands zusammen-
gefügt, die in einem Ringen, wie kein Jahrtausend es sah, gegen
den Ansturm der ganzen Welt nur erschüttert wurden und erst von
innen her, durch die von dem Schöpfer des Reiches nie verkannten
und stets bekämpften Gewalten der Tiefe aus ihren Fugen gehoben
werden konnten.
Jedoch braucht auch der Erlegene nicht zu verzweifeln, denn
auch die Großen sind einmal klein gewesen und auf ihrem Wege zur
Macht oft genug durch Stürme verschlagen und zwischen die Klippen
geworfen worden: »Es wechselt alles — hier gibt es keine Ewigkeit.«
Wie hat uns doch der Weltkrieg auch dieses Bismarck- Wort ^\ieder
ins Gedächtnis gerufen! Staaten und Völker, deren Schicksal längst
beschlossen schien, die von den Tafeln der Geschichte wie wegge-
wischt waren, tauchten in ihm, gleich vergessenen Kontinenten, aus
252
den Fluten, unter denen sie begraben waren, wieder auf. Ihnen half
der Glaube, an sich selbst, an ihren Genius, an ihre Zukunft: nur wer
sich selbst verläßt, wird sich auch von Gott verlassen sehen.
Dies also ist das oberste Gesetz, das treibende Prinzip, die be-
wegende Kraft: der Wille zum Dasein.
Es ist wie in der Welt der Gestirne : ein nie aufhörendes Anziehen
und Abstoßen, Untergehen und Emporkommen. Alles ist Kampf.
Stillstand ist Tod. Kampfpausen, ein zeitweiliges Ausgleichen, ein
gewisses Festwerden des »flüssigen Elements« mag es geben: aber
nur im Ringen streitender Gewalten erwacht und bildet sich das Leben.
Auch auf die Großmächte trifft dies in vollem Maße zu. In
jedem Moment müssen sie sehen, wie sie's treiben, und wo sie bleiben.
Ein Stillstehen ist auch ihnen nicht erlaubt. Denn nicht auf sich
selbst ruht der Begriff einer Großmacht: er gebührt ihr nur im Hin-
bhck auf die Stellung, die sie in dem System der Mächte einnimmt,
dem sie angehört. Diese aber hängt wieder ab von der Beschaffenheit
des Systems selbst, seinem Umfang, der Zahl und der Größe seiner
Glieder, der Kraft und dem Willen, die in diesen leben, der Ziel-
richtung, die einem jeden eingeboren ist, den Wirkungen auch, die
von der Gesamtheit ausgehen, und den Aufgaben, die ihr damit
gestellt werden, den Notwendigkeiten, die über ihr schweben, und die
sie selbst wiederum vorwärts treiben oder einschränken. Mit gutem
Recht spricht man von den Großmächten Athen oder Sparta, wie
klein der Umkreis war, in dem sie herrschten. Wer aber würde heute
dem chinesischen Reiche diesen Titel gönnen wollen, das nach der
Zahl seiner Millionen und dem Umfang wie den Schätzen seines
Bodens Kräfte entwickeln könnte, vor denen der Erdboden erzittern
müßte! Es ist aber nicht einmal nötig, im Kampf zu erliegen, um
von der erreichten Höhe wieder herabzusinken. Mitten im Frieden,
den sie ängstlich bewahrt, kann eine Großmacht dieses Schicksal
erleiden. Das wurde Preußens Los in den Jahren vor Jena. Es war
damals noch ganz der Staat, der unter Friedrich dem Großen einer
europäischen Koalition Trotz geboten hatte: Heer und Verwaltung
wohlbestellt und geordnet, Ehre und Zucht, Treue und Gehorsam
die Fundamente; die Beamtenschaft und das Offizierkorps eher
besseren Geistes als zur Zeit des großen Königs, ihrem Herrscher
unbedingt ergeben, aber auch erfüllt von inniger Hingabe an die
Idee des Staates und einem starken Glauben an seine Kraft; stolz
I
I
253
auf die alten Traditionen, und dennoch, wie der Träger der Krone
selbst, Reformen geneigt und schon eifrig dabei, sie auszuführen;
schon saßen die Männer, welche Preußen aus der Tiefe des Unglücks
wieder emporgehoben haben, im Rate des Königs. Aber während
Friedrich Wilhelm sein Haus so gut gehütet sah, er selbst nur darauf
bedacht, ihm den goldenen Frieden zu bewahren, hatten die Kriege,
denen er fernblieb, Europas Antlitz verwandelt. Aus den Trümmern
der alten französischen Monarchie hatte sich eine Macht erhoben von
so eisernem Gefüge, daß jeder Staat, dem sie auf ihren Wegen be-
gegnete, zum Existenzkampf gezwungen wurde. Preußen war bereits
unter dem Druck der beiden sich bekämpfenden europäischen Koali-
tionen seines eigenen Willens beraubt, zu einer Macht zweiten Ranges
herabgebracht, als es endlich, nicht weit von Roßbachs Feldern,
sich Frankreichs Kaiser zum Kampfe stellte: ein Schlag des Über-
starken genügte, um den Staat Friedrichs des Großen zu zerbrechen.
Nicht anders war es mit dem Deutschland Bismarcks. Unsere Kraft
war im JuH 1914 wahrlich nicht geringer als zur Zeit des Frankfurter
Friedens; und der Wille, sich zu behaupten, durchdrang die Nation
bis in ihre Tiefen: die Stimmung der ersten Kriegswochen, auf die
wir heute wie auf eine verklungene Sage zurückblicken, bezeugt es;
man vergleiche damit nur die Vorgänge an den süddeutschen Höfen
und im bayerischen Landtage im Juli 1870, als Napoleon III. uns
den Krieg ansagte und Österreich drauf und dran war, ihm dabei
zu helfen. Aber während wir nach dem Siege in unserer zentralen
Stellung unter dem Druck feindseliger Nachbarn an unsere Bastionen
gefesselt blieben, konnten jene, ohne den Zwang, den sie auf uns
ausübten, im geringsten zu vermindern, ihre peripherische Lage voll
ausnutzen, um den noch freien Rest der Erde unter sich zu verteilen;
ein paar Brocken waren es, was sie uns zunächst noch überließen. Nun
haben wir ja versucht, es den andern gleichzutun, uns in ihre weit-
ausgreifenden Bahnen einzudrängen, der wachsenden Fülle unserer
Kräfte einen Ausweg ins Freie zu verschaffen, Weltpolitik (so nannten
wir es) ohne Krieg zu treiben. Da aber wandten sie alle, die alten und
die neuen Gegner, Besiegte und Rivalen, den ganzen Schwall ihrer
Macht gegen uns. Wir gerieten in die Gefahr, abgeschnürt zu werden,
auch ohne Krieg in unserm Eisenpanzer zu ersticken: und der Versuch,
uns zu retten, wurde unser Verderben. Säkulare Verschiebungen,
die sich so wenig abwenden lassen, wie ein im Verborgenen lange
254
vorbereiteter Bergsturz, wie der Ausbruch eines Vulkans. Nur eine
Umgestaltung der Konstellation, die Umgruppierung der vorwaltenden
Mächte kann in solchen Fällen das Geschick des Bedrohten, sei es
mit oder ohne Zusammenstoß, wenden. Ob das für uns möglich war,
bleibe unerörtert.
Vorbedingung für alles weitere sind jedesmal der politische
Horizont und die Konstellation, die in ihn eingebaut ist, als das
Theater, auf dem das Drama der Geschichte, eine nie abreißende
Kette tragischer KonfHkte, sich abspielt, Schicksal und Schuld die
Knoten schürzen und die Macht sie löst. In der Abwandlung und
Erweiterung des politischen Horizontes und damit der Konstellationen,
die sich im Lauf der Zeiten in ihrem Umkreis bilden, vollzieht sich
der Fortgang der allgemeinen Geschichte.
So hatten in den vorhellenischen Zeiten die Monarchien des
Ostens ihre Konstellationen gebildet und abgewandelt, ohne damit
wesentlich über die östHchen Gewässer des Mittelmeeres hinaus-
zugreifen. Seine Wogen mochten die Phönizier und nach ihnen die
Hellenen beherrschen: an den Küsten besaßen sie nichts als den
dünnen Kranz ihrer Kolonien und Faktoreien; auch in der Glanzzeit
der griechischen Stadtrepubhken, als sich ihre Siedlungen bis an die
Ostküste Spaniens und über die Säulen des Herkules hinweg er-
streckten, kam es nicht zu einer Konstellation, die den ganzen Um-
kreis des Meeres umfaßt hätte. Alexander der Große würde viel-
leicht, wenn wir an die Absicht, seine Macht nach der Unterwerfung
des Ostens in den Westen zu tragen, glauben dürfen, den politischen
Horizont bis an Spaniens Küste ausgedehnt haben, sei es, daß er
der Alleinherrscher geworden wäre oder auch nur im Ringen um die
Herrschaft das Gleichgewicht zwischen seiner griechisch-persischen
Macht und den beiden Großmächten des Westens erreicht hätte.
Sein früher Tod beseitigte jedenfalls alle solche Pläne und ließ in
den Kämpfen seiner Nachfolger um sein Erbe jenes Gleichgewichts-
system zwischen den aus seinen eigenen Provinzen gebildeten Reichen
entstehen, das von jeher als das klassische Beispiel für das Prinzip
des Mächtegleichgewichts angesehen worden ist. Das war es denn
wirklich ein paar Generationen hindurch — bis gerade die Mehrheit
und die auseinandergehenden Interessen der hellenistischen Monarchien
den Römern Gelegenheit boten, sich zwischen sie zu drängen und sie
insgesamt ihrer Botmäßigkeit zu unterwerfen.
I
255
Das Ende war dennoch, wie gesagt, das Wiederauseinandert rechen
dieser von einer einzigen Macht zusammengehaltenen Welt in drei
Machtkreise, deren jeder der Träger einer eigenartigen Kultur werden
sollte; Mekka, Rom und Konstantinopel wurden ihre Mittelpunkte.
Mit dem Einbruch des letzten Stammes aus dem freien Germanien
in Itahen, dessen von Rom her geschaffene Einheit damit zerbrach,
begann es; drei Generationen später bhcken wir in eine verwandelte
Welt, in die Welt des Mittelalters, dessen Anfänge darum mit
Recht in jene Epoche gesetzt werden. Die Grundlage bildeten überall
die Trümmer des alten Imperiums, seines Staates und seines Geistes.
Auch blieb das Zentrum des Weltgeschehens, soweit es diese drei
Macht- und Kulturkreise umschloß, das Mittelmeer, und die Herr-
schaft über seine Gestade das Ziel aller Großmächte, die in
diesen Jahrhunderten an seinen Küsten emporkamen; ein deutscher
Kaiser, der Süditalien zum Stützpunkt seiner Herrschaft machte,
ist ihm am nächsten gekommen. Jedoch waren das immer nur rasch
vorübergehende Episoden, und die historische Bewegung verlief nun
doch mehr nach der Peripherie hin, weit hinaus über alle Grenzen der
alten Welt; ihre Ausstrahlungen gingen über die drei Kontinente der
östlichen Hemisphäre hinweg. Wie heiß auch die Kämpfe sein mochten,
welche in dem Zentralgebiet ausgefochten wurden, und wie tief die
kulturellen Einwirkungen aufeinander (bei denen übrigens das Abend-
land weit mehr der empfangende, als der gebende Teil war), zu der
Ausbildung eines Gesamthorizontes und einer alle Mächte in ihm
zusammenfassenden Konstellation kam es niemals. Nicht einmal
innerhalb der Bereiche des Morgenlandes oder des Abendlandes gelang
dies. Und so können wir auch von einem Staatensystem auf dem
Grunde des Gleichgewichts weder bei den Nationen des Islams noch
in dem Umkreis der romanisch-germanischen Nationen in jenem
Zeitalter etwas finden. Im Gegenteil, bei letzteren könnte man
wohl eher sagen, daß es, wie unter dem Imperium Romanum, so
auch in den Jahrhunderten des Mittelalters nur wiederum eine
Macht war, welche durch ihr Übergewicht sie beherrscht und
zu einem geschlossenen politischen System vereinigt hat, eine
Macht, in der die universale Idee des alten römischen Reiches fort-
lebte, und die, soweit ihre Gewalt reichte, im Prinzip neben sich
keine andere auf sich selbst ruhende Macht duldete, sondern eine
jede nur soweit anerkannte, als sie sich üir unterwarf: dieselbe, die
256
einst das Reich der Cäsaren gezwungen hatte, die Gewalt mit ihr zu
teilen: die Macht der Kirche. Jedoch war das schon nicht mehr die
Kirche, die unter Konstantin dem Großen eine Gleichgewichtsstellung
zum Kaisertum erlangt hatte und danach für einige Generationen
mit ihm zu einer engverbundenen Doppelmacht zusammengewachsen
war. Diese war mit dem Reiche selbst auseinandergebrochen, und
nur ihrer Westhälfte war es gelungen, unter Loslösung von der kaiser-
lichen Gewalt solche Ansprüche zur Geltung zu bringen. Auch blieben
diese nicht unwidersprochen. Denn zugleich mit der Kirche des
Abendlandes hatte sich, von ihr selbst unterstützt und geleitet, das
Kaisertum des Westens ausgebildet, das gleich ihr in Rom die ideelle
Basis und das Zentrum seiner Macht suchte. Dies waren nun auf
Jahrhunderte hin die beiden Großmächte, welche im Abendlande, in
dem Horizont, der Roms Kirche umschloß, dominierten. Beide
machten Anspruch auf Universalität und volle Unabhängigkeit;
beide führten Ursprung und Autorität, als sakrosankt, unmittelbar
auf den Schöpfer der Welt zurück. Neben ihnen traten alle andern
Kronen in dem Umkreis der römischen Hierarchie in den Schatten:
sie selbst aber blieben ineinander verklammert und nicht auseinander-
zureißen, gelegentlich im Gleichgewicht, zu Zeiten nahezu verschmol-
zen, um dann wieder um so weiter auseinanderzutreten und sich mit
tötHchem Haß zu verfolgen; dabei auf der verwandten Basis ver-
wandten Zielen zustrebend, übernational beide, und, mochten sie sich
auch zuweilen mit einem nationalen Schimmer umkleiden, dennoch
beide jeder anderen Macht, die aus nationaler Wurzel aufschoß und
auf sich selbst zu ruhen versuchte, von Grund aus feindlich.
Der Schauplatz ihrer Kämpfe wechselte, je nachdem die Kaiser-
würde von Land zu Land, von Macht zu Macht wanderte. Auf der
Höhe der mittleren Jahrhunderte, in der Glanzzeit beider Mächte,
nahm er nur einen Bruchteü des Abendlandes, die Mitte Europas
von der Nordsee bis zum sizilischen Meer, ein. Die drei westlichen
Nationen, und ebenso die des Nordens lagen außerhalb. Der von der
römischen Kirche erfüllte politische Horizont zerfiel in verschiedene
Sphären, die sich zunächst kaum berührten. Das ist um so merk-
würdiger, als das Kulturleben jenes Zeitalters von einer Einheitlich-
keit und Wesensgleichheit war, wie sie kaum einer andern Epoche
zu eigen gewesen ist. Staat und Gesellschaft, Kirche und Wirtschafts-
leben, Wissenschaft, Literatur und alle Künste zeigten das gleiche
257
oder ein eng verwandtes Gepräge ; zumal die geistlichen Organisationen
waren von dem gleichen Geiste getragen, ineinander verkettet und
erfüllt von einem immer stärker werdenden Drang nach Einheit und
Konzentration. Einmütig stand man der Umwelt, mochte sie heidnisch
oder islamisch sein (für den Abendländer war es alles Heidentum),
gegenüber; denn die wenigen Ausnahmen, durchweg lokaler Natur,
wollen nichts bedeuten. So daß wir sogar von einer auswärtigen Politik
dieses Völkervereins, der Res publica christiana, sprechen dürfen:
die Kreuzzüge waren, unter Führung der Päpste, ihre gemeinsamen
Unternehmungen .
Aber eben in dieser Durchsetzung der abendländischen Welt mit
internationalen Institutionen lag die Ursache für die geringe Teil-
nahme jener Nationen an den Machtkämpfen, welche die beiden Groß-
mächte der Epoche miteinander führten. Es fehlte ihnen als Gesamt-
heit noch der Wille zur Macht, und damit der Ehrgeiz, sich auszu-
dehnen und sich Organe zu schaffen, die ihrer Gesamtkraft ent-
sprachen. Anlagen und Ansätze waren von dem Moment ab, wo
sich der Verband des weströmischen Imperiums löste, überall
vorhanden, und innerhalb ihrer Grenzen gab es bald eine Fülle
von Sondergewalten, die diesen Willen besaßen und ihn durch
ihr Aufstreben betätigten. Jede von diesen wollte vorwärtskommen,
keine sich beugen. Indem sie über die nationalen Grenzen hin-
wegdrängten, verhalfen sie der Gesamtheit der Kräfte ihrer Nationen
zu einem gewaltigen Wachstum: und zwar gilt das für alle Völker
des Abendlandes, für Italiener und Deutsche (man denke nur an
unsere östlichen Kolonisationen, die ganz und gar von den Sonder-
gewalten getragen wurden) noch mehr, als für die Nationen des Westens.
Im Ringen um die Macht gelangten auch wohl die partikularen Gewalten
zu gegenseitiger Grenzsetzung, zu einem ausgebildeten Gleichgewichts-
system, wie in dem angelsächsischen England: aber in ihrer Gesamt-
heit vermochten diese Nationen durch lange Jahrhunderte hin nicht
sich zu Staatspersönlichkeiten zu entwickeln. Zuerst im 13. Jahr-
hundert glückte etwas Derartiges in Frankreich und England. In den
kommenden Generationen hinderte innere Zersetzung auf beiden
Seiten des Kanals diese Entwicklung. In der zweiten Hälfte des
15. Jahrhunderts aber gelangten die drei Nationen des Westens nach
einer langen Periode bürgerlicher und auswärtiger Kriege, in die alle
drei, vorzüglich aber Frankreich und England, miteinander verwickelt
Lenz, Wille, Macht und Schicksal. I7
258
f
waren, zu festerer Konsistenz: es waren die drei großen Herrscher
Ferdinand von Aragon (der aber neben Isabella von Castilien zurück-
tritt) für Spanien, Ludwig XI. in Frankreich und Heinrich VII. Tudor
in England.
Während nun England sich weiterhin im Hintergrund hielt,
wandten Spanien und Frankreich, die damit nur die Machttendenzen
alter Teilgewalten von ihnen fortsetzten, ihre Kraft an den Pyrenäen,
und mehr noch in Italien gegeneinander; und indem Burgund und das
Habsburgische Haus (letzteres im Besitz der Kaiserkrone und als ■
Vertreter, bald Erbe deutscher, slavischer und magyarischer Länder
Träger aller Ansprüche, die sich an die Herrschaft über diesen Länder-
komplex knüpften) mit Spanien zu einer Macht zusammenMTichsen,
so entstand ein Machtkampf, der den ganzen Umkreis des Abendlandes
einschloß, an jedem Punkte desselben nachwirkte und jedes seiner
Glieder so oder so beeinflußte und seine Politik bestimmte.
Schon aber war eine dritte Macht aufgekommen, einheitlicher ge-
führt und ausgreifender als alles, was in der europäischen Welt empor-
strebte: die Todfeindin der Christenheit von Anfang, die Macht des
Islams, die Religion des Morgenlandes, hatte sich, nach Jahrhunderten
der Zerrüttung, unter der Hand barbarischer Herrscher, die aber
den Machtwillen, ihres Stammes Erbteil, aufs stärkste ausgebildet
hatten, noch einmal auf ihren Ursprung, die Religion des Schwertes
zu sein, besonnen und stürmte über die Trümmer des byzantinischen
Reiches hinweg gegen alle Grenzen des Abendlandes an. Wäre man
nun hier einig, wäre der Geist der Kreuzzüge noch lebendig gewesen,
so hätte man die Gefahr nicht so hoch anzuschlagen brauchen. Denn
die Summe der üiateriellen und geistigen Kräfte, welche sich im Schoß
der romanisch-germanischen Nationen gerade in den Jahrhunderten
ihres Auseinandertretens und ihrer inneren Kämpfe ausgebildet hatten,
war stärker als alles, was der nun barbarisierte Orient dagegen
aufzubringen vermochte. So aber traf sie der Stoß in dem Moment,
wo das Ringen jener beiden Machtgruppen in ihnen begann und sich
gerade dorthin wandte, wo auch das Zentrum des vom Osten nahenden
Sturmes war, nach Italien. Dorthin konvergierten nun aUe Linien
einer Konstellation, deren Horizont sich von der Mündung des
Euphrats bis über die Meerenge von Gibraltar und von den Höhen
des Atlas bis zum Nordkap spannte. Und so konnte es einen Moment
den Anschein gewinnen, als müsse die historische Bewegung aber-
259
mals in das Ringen um den Besitz des Mittelmeers und in den Kampf
zwischen Occident und Orient auslaufen.
Dennoch schlug die Entwicklung andere Wege ein. Der Seesieg
Spaniens, der katholischen Vormacht, bei Ltpanto drückte die tür-
kische Macht in die östliche Hälfte des Mittelmeers zurück, und alle
Versuche, über die ungarischen Eroberungen hinweg in das Deutsche
Reich einzubrechen, schlugen ihr fehl. Von der Peripherie her drohte
sie noch lange und blieb immer noch ein wichtiger Faktor in allen
Kombinationen der europäischen Politik; aber zu einem Mitspieler
(denn die paar Ausnahmen zählen nicht) wurde sie nicht, und jedes
weitere Eindringen in den abendländischen Machtkreis blieb ihr
versagt. Die westlichen und nördlichen Meere (die Ostsee mehr als
je) wurden zunächst die Zentren der europäischen Machtkämpfe, und
darüber hinaus die Ozeane die Bahnen, auf denen die vorwaltenden
Mächte Europas ihre weitgespannten Ziele verfolgten.
Und so vollzieht sich fortan innerhalb der romanisch-germa-
nischen Staatenwelt der Fortgang der historischen Bewegung : irgend-
wie nehmen alle poUtischen Gewalten, die ihm angehören, an jeder
Erschütterung teü, und immer sind es die großen Mächte, welche
die kleinen hinter sich herziehen und ihnen ihre Bahnen anweisen.
Was nicht ausschließt, daß zu Zeiten zwischen ihnen auch wohl eine
dritte Macht oder Machtgruppe sich einschiebt, der daran liegen
muß, sei es im Kampf oder auch im Friedenszustand der Gesamtheit,
die dominierenden Mächte im Gleichgewicht zu sehen. Eine solche
Macht war in den Kämpfen Habsburgs und Frankreichs, zumal in
dem Zeitalter Karls V., Venedig, sehr im Gegensatz zu einer andern
Republik jener Epoche, die erst vor kurzem in den Machtkampf
der ganz Großen entscheidend eingegriffen hatte, jetzt aber unter
dem Druck der neuen Konstellation in sich zerspalten und zerrissen
war: der Eidgenossenschaft.
England hielt sich in dieser Zeit immer noch zurück; seinem
staatsklugen König kam es vor allem darauf an, seine Macht fest
zusammenzuhalten. Daß sie da war, mußten auch die beiden Haupt-
ringer in der europäischen Arena spüren; keinen Schritt und Griff
konnten sie wagen, ohne über den Kanal hinüberzusehen, und mehr
als eirmial machte der eigenwillige Tudor, Heinrichs VH. gewalt-
tätiger Sohn, ein paar Waffengänge mit: »Cui adhaereo, praeest«,
so lautet ein Wort, das ihm in den Mund gelegt wird. Jedoch hat
17*
260
Heinrich VIII. dies Wort niemals voll zur Wahrheit gemacht. So
oft Karl V. und Franz I. sich daher zum Kampf gegeneinander stellen
mochten, zu einem Endergebnis zwischen ihnen kam es nicht ; nieder-
zwingen ließ sich weder der eine noch der andere.
Keine der Mächte Europas geriet aber in dieser Zeit in ein größeres
Gedränge als die geistliche Großmacht, die durch so viele Jahrhunderte
die Übermacht über jede andere Macht behauptet hatte. Jetzt ward
sie bis auf den Grund erschüttert, während umgekehrt der fast ver-
blichene Glanz der kaiserlichen Majestät durch die Ausbildung der
habsburgischen Weltmacht eine nie dagewesene und nie geahnte
Bedeutung gewann. Wenn die römische Kirche es versuchte (und
dahin war in der Tat das Steuer ihrer Politik fort und fort gerichtet),
das Gleichgewicht zwischen den beiden Großmächten des Abend-
landes festzuhalten, ihre Interessen auf Kosten des neuen furcht-
baren Feindes, der sich aus ihrem Schöße selbst gegen sie erhoben
hatte, und der auch für jene beiden noch der Feind war, aus-
zugleichen, so erwies sich dies auf die Dauer nicht nur als vergeblich,
sondern endete nahezu mit ihrem eigenen Zusammenbruch. Nun
aber zog die allgemeine Zersetzung der Kirche auch die Machtbereiche
der beiden Großstaaten mehr und mehr in ihren Strudel und zwang
sie, ihre Politik unter den Gesichtspunkt der streitenden Konfessionen
selbst zu stellen. So wurde die Zugehörigkeit zu einer der kirchlichen
Parteien, die ihrerseits nationale oder überhaupt politische Grenzen
nicht anerkannten, das bestimmende Moment in dem Kampf der
Mächte untereinander.
Hier ist die Stelle, an der England, das Elisabethanische England,
aus der Reserve, in der es nach Heinrichs VIII. Tode noch längere
Zeit verharrt hatte, heraustrat und seine europäische Stellung gewann.
Während Frankreich, von innerem Hader verzehrt, aus der Rolle
des Vorkämpfers gegen Habsburg nahezu ausschied und seine Teile
auseinanderzufallen drohten, übernahm England die Führung in
dem Kampf gegen das habsburgische Spanien, das von der Gefahr
der kirchlichen Revolution kaum angetastet worden war und nur
imi so fester sich auf den mit dem Wesen seiner Nation verschmolzenen
katholischen Glauben gestellt, ja mit Roms Machtwillen sich fast
identifiziert hatte. So deckte sich also jetzt für eine Weile der Kampf
der beiden europäischen Vormächte mit dem Gegensatz der beiden
religiösen Weltmächte, der sich in zwei Generationen herausgebildet
261
hatte. Hätten Coligny und seine Partei gesiegt, so hätte Frankreich
Elisabeths Stellung eingenommen, und die Weltentwicklung würde
ganz andere Bahnen eingeschlagen haben. Die Niederzwingung der
Hugenotten hat Frankreich vielleicht Entwicklungsmöglichkeiten ge-
raubt, welche weit über das hinaus gegangen wären, was es unter
seinen beiden großen Kardinälen und Ludwig XIV. erlangt hat : aber
zunächst wurde doch die Lahmlegung des nationalen Machtwillens
aufgehalten und die Bahn aufs neue freigemacht, welche die alte
französische Monarchie im Laufe eines Jahrhunderts zum vollen
Siege über das spanische Habsburg und zur Höhe ihrer europäischen
Stellung geführt hat.
MögHch ward dies nur durch das erneute Zurücktreten Englands,
das unter den Stuarts wiederum in innere Verwirrung gestürzt wairde.
Aber das Jahr 1688 bewies (wie es schon in Cromwells Episode zutage
getreten war), daß die Revolution nur eine Umstellung der in England
lebenden Kräfte, eine Neubelebung der moralischen Energie, eine
Verstärkung der politischen Struktur bedeutet hatte, in der Richtung,
die dem nationalen Machtwillen den weitesten Spielraum gewährte:
das »ozeanische Zeitalter« Englands beginnt, und damit eine neue
Epoche der allgemeinen Geschichte.
Wiederum sind es zwei Hauptmächte, die, von ihren Bundes-
genossen umgeben, in den Kampf um den Dominat innerhalb der
romanisch-germanischen Staatenwelt gegeneinander treten : das Frank-
reich Ludwigs XIV. und das mit Holland fast wie zu einem Staats-
wesen zusammengefügte England Williams III. In zwei Waffen-
gängen, beide nur durch eine kurze Pause getrennt, wird er von 1688
bis 1714 entschieden : er endet mit der Niederlage Frankreichs. Jedoch
handelt es sich schon nicht mehr bloß um die Obmacht in den Be-
reichen der abendländischen Nationen, auch nicht um Europa allein
und die europäischen Gewässer, sondern, nach den Vorspielen früherer
Zeiten, wird jetzt die ozeanische Welt in das Kampfgebiet mitein-
bezogen. Und zugleich kommen andere Mächte mit empor, die bald
imstande sein werden, auf die Gesamtkonstellation entscheidend
einwirken zu können: es sind die drei Großmächte des Ostens, durch
deren Aufstieg die Barriere, die in den früheren Generationen zu
Frankreichs Gunsten vom Nordkap bis zu den Karpathen und weiter
zum Bosporus hin zwischen sie gelegt war und ihr Aufkommen ge-
hemmt hatte, niedergebrochen wurde, in Kämpfen, die in der gleichen
262
Zeit vor sich gingen und zum Teil noch gar nicht einmal mit dem
Kampf der anderen Mächtegruppen sich unmittelbar verquickten.
Damit aber wird die Konstellation von Grund aus verändert.
Einmal, indem ihre Grenzen sich erweitern: über die abendländischen
Nationen hinweg schließt sie fortan Rußland mit ein, das sofort als
Großmacht in ihr auftritt. Auch Habsburgs Macht gewinnt jetzt ein
ganz anderes Gesicht: die spanische Linie stirbt aus; und während
Spanien, trotzdem es seine Kolonien behält, unter den Bourbonen zur
Unbedeutendheit herabsinkt, rückt das deutsche Haus, als Besitzerin
des Donaustaates, in die vorderste Reihe der Mächte. Zugleich aber
erhebt sich innerhalb des Deutschen Reiches unter den Territorial-
staaten, die seit zwei Jahrhunderten dem Gesamthause Habsburgs
Widerpart gehalten, in Brandenburg-Preußen eine Macht, in der sich
die besten und zukunftsreichsten Kräfte deutschen Wesens ver-
körpert haben. Mit den Friedensschlüssen von Hubertusburg und
Paris, nach dem Krieg der sieben Jahre, ist diese Entwicklung ab-
geschlossen. Es ist die Epoche, in der Englands Herrschaft über die
Ozeane begründet ward.
Unbestritten bheb sie ihm nicht. Als sich aus dem niederge-
brochenen alten Frankreich jene neue Macht erhob, welche, die
Traditionen des alten Königtums wieder aufnehmend, den grandiosen
Versuch machte, an der Spitze des Kontinents, den sie unterworfen
hatte, seine Hegemonie zu zerbrechen, mußte es von neuem darum
kämpfen. Das Geschick entschied abermals zugunsten der insularen
Macht. Indem Regierung und Volk Englands mit einer Energie und
Zähigkeit, die sich in jeder Gefahr neu bewährten, den Kampf fast
ohne Pause durch nahezu ein Vierteljahrhundert durchführten, be-
festigten sie aufs neue ihre Herrschaft über die Ozeane und alle Ge-
wässer, die ihren kontinentalen Rivalen den Ausgang in dieselben
ermöglichten: rings um unsem wie um die andern Kontinente legten
sie an den Küsten oder auf den Inseln vor ihnen Festungen an, die
jene fesselten und ihnen selbst die Verbindung von Küste zu Küste
sicherten. Auch wurden sie zunächst auf ihrer Bahn, die sie noch
immer weiter führte, wenig beunruhigt. Erst in dem letzten Drittel
des 19. Jahrhunderts traten die festländischen Großmächte aus den
Schranken, in denen sie durch revolutionäre Zuckungen und kriege-
rische Auseinandersetzung zwischen ihnen selbst lange festgehalten
waren, heraus, um den Wettlauf mit der ozeanischen Macht auf zu-
263
nehmen. Noch niemals hatte Europas Gesamtkraft solche Fortschritte
gemacht, wie in den Jahrzehnten vor der letzten Entscheidung über
den Besitz der Erde. Die Geister des Orientes begannen, um em
Rankesches Wort zu wiederholen, vor den Geistern des Occidentes
zu erbleichen. Jetzt erst wurde die Eroberung des ErdbaUs durch
die europäischen Nationen, das Werk von vier Jahrhunderten, voll-
endet. Aber kaum waren die Sieger unter ihnen am Ziel, so fielen
sie mit ihren VasaUen und den ihnen Unterworfenen und Versklavten
über uns, die zuletzt Gekommenen, her, um uns zu vernichten.
Und'so umfaßt nun der Horizont, der die großen Mächte in ihrem
Ringen um die Herrschaft einschließt, die Erde selbst; beide Hemi-
sphären büden die Arena für ihre Kämpfe; jeder Druck, der auf irgend-
einen Punkt ausgeübt whd, teüt sich mit der SchneUigkeit des Ge-
dankens (der elektrische Funke selbst ist der Träger) überallhm mit:
Ruhe oder Erregung gehorchen an jeder Stehe des ErdbaUs den
gleichen Kräften.
Zentrum des Weltgeschehens ist (merkwürdig genug) doch wieder
der alte Orbis terrarum, das Mittehneer und seme Gestadeländer,
geworden. Daß wir, die von ihm Ausgeschlossenen, uns zwischen
die Besitzer einzuschieben versuchten, gerade an der Stehe, wo
ihre eigenen Interessen wie nirgends sonst aufeinander stießen (denn
eben dort sind die beiden Kontinente, über die sie ihre Herrschaft
ausgedehnt haben, miteinander verbunden und öffnen sich die Aus-
gänge in die Meere des Ostens), ward, wie nichts anderes, der
Anlaß für unsere Gegner, sich über uns herzumachen.
Wh selbst dachten nur an friedliche Erwerbungen. Die Erhaltung
der Staatenwelt Asiens lag ganz in unserem Interesse. So entsprach
es den Überlieferungen unserer Politik und dem Charakter unseres
Volkes- wer hätte je der Eigenart asiaÜscher Kulturen em so mniges
Verständnis entgegengebracht wie der Deutsche! Seit mehr als emera
Jahrhundert haben Dichtung und Phüosophie bei uns aus diesen
QueUen getrunken, sowie unsere Wissenschaft bis auf diesen Tag die
Führung m der Erforschung des Orientes behauptet hat.
Aber eben das war es, was unsere Gegner, wie sehr sie unter-
emander rivalisieren mochten, gegen uns in Harnisch brachte. Denn
ihre Politik gmg gerade auf Zertrennung und Unterjochung der Staaten-
welt des nahen wie des fernen Ostens aus. Ihre Beutezüge, die in dem
neuen Jahrhundert unerhörte Dimensionen angenommen, hatten
264
die beiden stärksten unter ihnen, England und Rußland, schon gegen-
einander geführt; es schien fast, als wollten diese jetzt sich selbst
anpacken. Daß wir Persien und die Türkei ihren Griffen zu entziehen
ims anschickten, gestützt auf die neu erworbene Macht unserer Flotte,
durch die wir auch fern von unseren Grenzen unserm Willen Nach-
druck geben konnten, brachte sie wieder zusammen. Sie vertagten
ihren Streit, verabredeten Teilung der Beute und überzogen uns
mit Krieg. Mit dem Ergebnis, daß wir zwar Rußland zu Boden
schlugen, England aber danach mit seinen Verbündeten uns selbst
durch Waffen, Hunger und Revolution niederzwang. So geriet der
ganze Länderkreis, den einst Alexander der Große dem Abendlande
gewonnen, und den danach der Orient wieder an sich gezogen hatte,
statt in die Hände der slavisch-byzantinischen Macht, die ihn seit
Jahrhunderten als ihr Erbteil erträumt und begehrt hatte, unter die
Botmäßigkeit Englands und der Mittelmeermächte, die in seinem
Gefolge einhergingen. Und so herrscht nun wieder, wenn auch nicht
so absolut und unbestritten, wie es unter dem kaiserlichen Rom
der Fall war, ein Wille von Gibraltar bis zum persischen Meerbusen.
Nur daß der Schwerpunkt nicht, wie einst, im Mittelmeer selbst,
auf dem Lande, das die zentrale Stellung in ihm hat, ruht, sondern
an der äußersten Peripherie des alten Imperium Romanum, bei
einer Nation, die erst im 17. Jahrhundert sich in die Mittelmeer-
politik eingedrängt hat, und deren Wege nach ihrer Lage und Ge-
schichte sie viel mehr nach Westen als in den Osten hätten weisen
müssen. Bedingung für sie ist, daß sie die Mittelmeerstaaten alle
fest in ihrer Hand behält, weil nur so die Wege gesichert sind, die
zu ihren größten und ausschließlichen Besitztümern, den »Dominions«
auf den drei Kontinenten der östlichen Hemisphäre, hinführen. Sie
wird es vermögen, wenn sie alle in der Schwebe, im Gleichgewicht
gegeneinander halten und ihr Machtbegehren teils zügeln, teils be-
friedigen kann.
Ob nun damit als Pax Britannica eine neue Epoche in der Ge-
schichte des Mittelmeeres eingeleitet ist, wie es diejenige war, die
mit der Eroberung des Ostens durch die Römer begann und als Pax
Romana nahezu ein halbes Jahrtausend währte, bleibe wieder un-
gefragt; denn es würden da Faktoren mitsprechen, die erst der Zu-
kunft angehören. Gewiß ist nur, daß abermals die Geschicke der
Welt von dem Bestände dieser Herrschaft abhängig geworden sind.
I
265
Überblicken wir so den Ablauf der in vier Jahrhunderten wahr-
haft zur Weltgeschichte sich erweiternden Geschichte unseres Erd-
teils, so wird es deutlich, was wir von der Theorie des poHtischen
Gleichgewichts und den Abwandlungen, der sie im Laufe dieser
Epoche unterlegen ist, zu halten haben. Von einem Gesetz im Sinne
einer normativen, in dem Leben der Nationen wirkenden Idee, einer
in den Ereignissen zutage tretenden Tendenz, einer von Innen her
wirkenden Kraft können wir, wie gesagt, nicht sprechen. Die überall
wirkende Kraft ist der um ein politisches Zentrum gelagerte, auf
dieses gerichtete Wille zur Macht, der die kleinsten Teile so gut wie
die größten bewegt. Nicht um das zerstörte Gleichgewicht herzu-
stellen, treten die Mächte, wer sie auch seien, in den Kampf ein,
sondern um sich die Stellung zu sichern, die sie erstreben; ihr zu
Liebe werden sie sich niemals genieren, einer bereits überragenden
Kraft zum voUen Übergewicht zu verhelfen. Daß dies so sei, haben
gerade die großen Politiker, diejenigen, welche Wirkhchkeitssinn
besaßen, wenn sie ihre Meinung (die sie freilich meist für sich be-
hielten) einmal offen heraussagten, stets eingestanden. »Der Traum
vom ewigen Frieden«, schreibt Friedrich der Große, »ist ein Phantom,
das jeder fortwirft, wenn der Zwang an ihn selber herantritt. Ein
Gleichgewicht der Staaten, das dauern könnte, läßt sich gar nicht
denken.« Auch die Theoretiker lassen sich wohl solche Geständnisse
entschlüpfen. Daniel Defoe, obschon ein Verteidiger des Prinzips
vom Gleichgewicht, dem er, ein echter Engländer, unter Umständen
das strenge Recht opfern will, ist dennoch der Meinung, daß natur-
gemäß jeder Herrscher seine Macht so weit ausdehnen würde, bis
ihm durch einen Stärkeren Halt geboten werde. Ein anderer Schrift-
steller jenes Jahrhunderts, das allen Dogmen feind war, gelangt
als Apologet Preußens, dessen aufsteigendes Gestirn von den Gegnern
als eine Störung ihrer Stellung empfunden wurde, zu der Behauptung,
daß die Politik der Königin Elisabeth von England mehr in Selbst-
verteidigung, als in Hingabe an den Balancegedanken bestanden
habe, und daß man begründetes Mißtrauen gegen die Mächte hegen
dürfe, die von Gleichgewicht und allgemeinem Wohl sprächen, aber
damit nichts als ihr eigenes Interesse wahrzunehmen suchten. Daß
das Gleichgewicht auf dem Rechte der Selbsterhaltung beruhe, war
auch die Auffassung eines Gegners des großen Königs; aber gerade
daraus zog derselbe den Schluß, daß Preußens Macht zerstört werden
266
müsse, da sie alle andern Staaten im Reich übertreffe, also das Gleich-
gewicht im Corps germanique, und damit auch das europäische Gleich-
gewicht selbst bedrohe. Während wieder einer der geschicktesten Ver-
teidiger Friedrichs, Johann Heinrich Gottlob Justi, das europäische
Gleichgewicht eine Chimäre, ein schönes Gespenst nennt. Kein Volk, so
sagt er, habe in Wahrheit sich nach dem Balancesystem gerichtet, sondern
alle hätten sich dieses Lehrgebäudes bedient, um sich Bundesgenossen
zu verschaffen und ihre Sonderinteressen darunter zu verstecken.
Und so ist, man darf wohl sagen ohne Ausnahme, die gesamte
Literatur über die Lehre vom Gleichgewicht von ihrem ersten Auf-
tauchen im i6. Jahrhundert bis zu ihrem allmählichen Absterben im
19. Jahrhundert von den politischen Strömungen und Interessengegen-
sätzen abhängig, denen sie ihr Dasein verdankte, eine Wiederspiegelung
der Kämpfe, welche die europäischen Mächte in den Jahrhunderten,
in denen sie herrschte, miteinander führten. Nur zu oft war sie
eine Maske, die sich die Kämpfenden vorhielten, künstlicher Nebel,
den diese durch gekaufte Federn oder in Staatsschriften und Pro-
klamationen verbreiteten, um die eigenen Absichten zu verhüllen
und die Gegner zu diskreditieren, auf die öffentliche Meinung ge-
richtet, die sich zu allen Zeiten gern hat täuschen lassen, dem alten
Satze gemäß: »Mundus vult decipi«. Alle Mächte haben dies Kampf-
mittel benutzt, keine je geschickter als England. Und so wandelt sich
die Theorie mit dem Auf und Ab der Kämpfe um die Macht ; sie wird
von den Kämpfenden einander zugeworfen wie der Ball im Spiel^).
Angewandt wurde sie in dieser Absicht zuerst in dem Kampfe
Englands gegen Habsburg. Damals wurde sie in Zusammenhang
gebracht mit dem allgemeinen Gegensatz des Protestantismus zur
alten Kirche, in dem zugleich die Idee des Kampfes gegen die »Mon-
archie«, die imperiale Idee, weiterlebte, die in Karl V. einen so
mächtigen Repräsentanten gefunden hatte. Von jeher war die
Opposition gegen die »Monarchie« im Namen der »Freiheit« geführt
worden; gerade auch in Deutschland, und hier nicht bloß in den
evangelischen Kreisen (von keinem bewußter als von Zwingli, dem
Eidgenossen, und seinen oberdeutschen Freunden), sondern auch bei
^) Eine Übersicht über die 'Abwandlungen der Theorie, die mir gute
Dienste getan hat bei Kaeber, »Die Idee des europäischen Gleichgewichts
in der publizistischen Literatur vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts«,
1907; Berliner Dissertation aus dem Seminar Otto Hintzes.
267
den katholischen Ständen, wie Bayern, oder bei solchen Evangelischen,
die, wie Moritz von Sachsen, in den konfessionellen Kämpfen neutral
oder gar Verräter waren, aber für die »alte, löbliche Libertät und
Freiheit unseres geliebten Vatterlands, der Teutschen Nation« gegen
Habsburgs »Tyrannei« sich einsetzten. »Religion and Liberty« waren
auch für Elisabeth verbunden — und dazu, echt englisch, als dritter
Ton in dem Gleichklang, Englands »Trade«. Hierin kleidete sich für
England das Schlagwort von der Balance of power volle anderthalb
Jahrhunderte und länger. Noch heute wird es, zur Formel erstarrt,
im englischen Parlament jährHch zur Begründung der Forderungen
für die englische Armee von der Regierung benutzt.
Indessen, das Zeitalter, in dem die Konfessionen das bestimmende
Element in der internationalen Politik waren, ging vorüber. Der
Begriff der Res pubHca christiana, dereinst durch das Papsttum
vertreten, das aus dieser Stellung seine Theorie des Gleichgewichts,
das Schiedsrichteramt zwischen den streitenden Mächten der Christen-
heit zu führen, abgeleitet hatte, und den auch die Reformation nicht
aufgelöst hatte, verlor seine Berechtigung in einer Zeit, wo ganz
Osteuropa in den allgemeinen Horizont mit hineingezogen war, wo
auch die Türkei fast schon wie ein Teil des europäischen Systems
behandelt wurde. Es erging ihm, wie so vielen andern Anschauungen
und Institutionen des kirchlichen Zeitalters: er wurde säkularisiert.
Und so schiebt sich allmählich jener wesenlos gewordenen An-
schauung der neue Begriff »Europa« unter. Wie schwer die Welt
sich hieran gewöhnte, sehen wir daran, daß noch im Jahre 1711
Europa nur für den Mächtekreis des 'spanischen Erbfolgekrieges an-
gesprochen ward, als der »regierende Teil von Europa«; so daß die
nordischen Mächte und ihr Krieg, der den ganzen Osten Europas
nmspannte und bis tief in Deutschland hineinreichte, davon ausge-
schlossen war; und der Friede von Utrecht (1713) wurde noch abge-
schlossen »zur Befestigung und Bestätigung des Friedens und der Ruhe
der christlichen Welt (christiani orbis) durch ein gerechtes Gleich-
gewicht der Macht (justo potentiae equihbrio)«. Während nun aber
England den Umkreis seiner Macht weit über die europäischen Grenzen
ausdehnte, die Ozeane und die fremden Kontinente mit hineinzog,
hielt es dennoch an dem Begriff des europäischen Gleichgewichts
mehr als jede andere fest. Nur daß es damit lediglich an das Gleich-
gewicht der Mächte des europäischen Festlandes dachte, die Welt-
268
meere und ihre Küsten aber sich selbst vorbehielt, als einen dem
europäischen Gleichgewichtssystem entrückten Annex der eigenen
Macht. Erklärlich, daß seinen europäischen Gegnern diese Abtren-
nung des Hauptteils seiner Macht von dem europäischen Staaten-
system, um dessen Gleichgewicht es zärtlich bemüht war, nicht eben
nach dem Herzen war, und daß es darum gerade die Franzosen waren,
welche dagegen protestierten. So der ältere Mirabeau, der in seinem
»Ami des hommes « gegenüber der englischen Meerestyrannei an Stelle
der »Chimäre« des Gleichgewichts seinem König die Stellung eines
obersten Schiedsrichters, eines Pere universel, in einem Weltbunde
sichern wollte, in dem volle Handelsfreiheit und allgemeiner Friede
herrschen sollten. Oder Maubert, der die Idee vom Gleichgewicht
in den Händen einer Landmacht als so chimärisch bezeichnete, daß
die Zukunft nicht mehr begreifen könne, wie eine solche Fabel jemals
unter zivilisierten Völkern habe Glauben finden können; es sei —
behauptet er — allein die englische Politik gewesen, welche die Welt
auf die falsche Fährte gelockt habe, um sich das Imperium über
alle Meere zu erobern und dadurch Europa in Ketten zu schmieden.
Ein dritter, Jaques Nicolas Moreau, nennt die Universalmonarchie
ein absurdes Projekt, das in Wahrheit immer nur ein Traum gewesen
sei, wie das Gleichgewicht ein Schemen. Indem er den europäischen
Kontinent von England aus ansieht, vergleicht er ihn mit einer Wiese,
deren sie bewässernder Bach einem fremden Herrn gehöre, der nach
Belieben in ihm fischen oder seinen Lauf abändern könne; das kom-
merzielle wie das politische Gleichgewicht ließen sich nicht trennen,
und so habe England Zeit gehabt, die universelle Tyrannei zu okku-
pieren, gegen die es selbst sich mit ganz Europa verbündet habe.
Als aber das revolutionierte Frankreich den Kontinent seiner
Machtsphäre angliederte, brachte es damit wieder alle Wasser der
Theorie auf die Mühle Englands. Mehr als je gewann England in der
öffentlichen Meinung Europas die Stellung als Hüter des Gleich-
gewichtes gegenüber der neu emporgekommenen »Monarchie«, einer
einzigen, in die Hand eines Abenteurers geratenen Macht, zurück.
So bereitete sich das System der heiligen Allianz vor, das am Ab-
schluß des neuen Weltkampfes ins Leben trat. Ihr Herold und bis
an seinen Tod ihr bedeutendster Verfechter ist Friedrich Gentz ge-
wesen; in diesem Sinn hat er schon im Jahre 1806, dem Jahre von
Jena, seine »Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen
2G9
Gleichgewichts in Europa« veröffentHcht, die Schrift, in der man
die klassische Darstellung der Theorie zu erblicken pflegt.
Seit den Wiener Verträgen hat die Theorie mehr und mehr auf-
gehört, die Kabinette und die öffentliche Meinung Europas zu be-
schäftigen, und daher erklärt es sich, daß sie Bismarck fast fremd
geworden war; wie er übrigens auch dem Begriff »Europa« von jeher
skeptisch gegenüberstand; er meinte, dies Wort führten diejenigen mit
Vorhebe im Munde, welche gern andern zuschieben wollten, was sie
selbst auszuführen sich nicht getrauten. Indem die Nationalität fast
durchweg, stärker als je zuvor, die Substanz der StaatspersönUchkeit
wurde oder zu werden suchte, tauchten andere Schlagworte in den
Federkämpfen, welche den Streit der Mächte vorbereiteten und be-
gleiteten, auf. Freiheit und Gerechtigkeit, Kampf gegen Handels-
tyrannei und Welterobeningssucht sind Töne, die auch im 19. und
20. Jahrhundert immer wieder erklingen, zumeist gerade von der Seite
her, wo man selber befürchten muß, solchen Vorwürfen zu begegnen ;
die Stelle der alten Res publica christiana und der »Christenheit« aber
haben »Kultur« und »Zivilisation« eingenommen. So lautete noch der
Text der Predigt, durch die England und seine Freunde unsere Nation
den Völkern der Erde denunzierten, als sie im Weltkrieg uns von der
Idee, in der Welt etwas bedeuten zu wollen, kurierten.
Es ist von besonderem Interesse, das System des politischen
Gleichgewichts, so wie Friedrich Gentz es sich dachte, und wie es in
der heiligen Allianz für ein paar Jahre verwirklicht wurde, mit dem
Plan des Völkerbundes zu vergleichen. Auch Gentz will einen
Staatenbund zusammenbringen zur Abwehr der übermächtigen und
zur Erhaltung der Kleinen, die der Fürsorge der Gesamtheit anvertraut
werden sollen, einen wirklichen Staatenverein mit durchgebildeter
Verfassung und einem Regierungen und Völker belebenden gleich-
artigen Geist. Strengste Gerechtigkeit sei die oberste Regel; jeder
dem andern verpflichtet, Unabhängigkeit, Sicherheit und alle Rechte
zu gewährleisten; kein Isolierungssystem, keine Gewalttätigkeit
gegen fremde Gefahr, aber auch keine absolute Neutralität, keine
unbedingte Ausschließung von irgendemer wichtigen Verhandlung
sei gestattet. Dadurch allein könnten endlose Streitigkeiten und
immerwährende Kriege vermieden werden; je vollständiger, harmo-
nischer, geschlossener das Föderativsystem der europäischen Staaten
sei, je empfindlicher jeder einzebie Teil für jede Verletzung des ganzen,
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je treuer und fester das Band, welches jeden mit allen verknüpft,
desto weniger Kriege würde es geben. Wer sich aber nicht fügen
wolle in dem Umkreise dieser Staatenwelt, der werde dazu gezwungen
werden müssen. Mit andern Worten, das Recht der Intervention
wird von Gentz in Anspruch genommen. Wo sich in einem Staat
eine regelmäßige Regierung befinde, möge sie beschaffen sein, wie
sie wolle, aus Recht oder aus Gewalt entsprungen, gemäßigt oder
tyrannisch, verderblich oder wohltätig, schwach oder stark, habe
der Völkerbund — eben dies Wort wendet Gentz an — neutral
zu sein; mit den inneren Angelegenheiten der Staaten habe er nichts
zu schaffen. Ein Übergewicht jedoch, wie Frankreich es durch Krieg
und Revolution erworben habe, könne nicht geduldet werden; um
so weniger, als das höhere Interesse Europas sich mit dem wahren
Interesse Frankreichs decke.
Der Völkerbund (die Liga der Nationen, wie unsere Feinde ihn
nennen) erscheint danach, in den Stü unserer Zeit übertragen, fast
wie eine Wiedergeburt, eine Neubildung der heiligen Allianz, in der
Generationen die Beleidigung des Weltgewissens, die Ausgeburt
finsterster Reaktion und die Knechtung des Geistes der Freiheit er-
blickt haben. Heute pflegt man den Bund, der, ganz wie die heiHge
Allianz, den Weltfrieden zu wahren, d. h. die Ergebnisse des Welt-
krieges zu erhalten sucht, anders einzuschätzen, und nicht bloß im
Lager unserer Feinde, sondern auch in unsern eigenen Reihen. Also
wäre es gewiß lohnend, einmal festzustellen, wo etwa Unterschiede
zwischen zwei so n^h verwandten Organisationen des Friedens zu
suchen sind, und woher es sich erklärt, daß der Liberalismus die eine
in den Abgrund der Hölle verwünschte, die andere aber im ver-
klärtem Lichte sieht. Jedoch ist hier nicht der Ort dazu. Und so sei
nur noch auf ein' n Punkt hingewiesen, in dem die Abwandlung der
Zeiten und das, was aus einem Volk, das bis vor kurzem das stärkste
der Erde war, geworden ist, vollkommen sichtbar wird. Die Theorie
von dem Rechte des Gleichgewichts in der Verteüung der Macht war
eine Maske, welche die im Kampf gegen eine übermächtige Gewalt
stehende Partei vorzunehmen pflegte. Darum wechselte sie gemeinhin
mit dem Sieger ihren Träger. Der Völkerbund dagegen (und das
hat er wiederum mit der heiligen Allianz gemeinsam) will eine Garantie
sein, welche den Siegern das geraubte Gut sichern soll, mithin eine
neue Fessel für den Besiegten ist. Sie werden diese vielleicht erweitern
271
und sie dem Besiegten um so loser umlegen, je sicherer sie sich fühlen,
also daß sie ihn am Ende gar zur Aufnahme in den Völkerbund be-
gnadigen möchten; und sie werden sie um so enger schmieden, je
größer ihre Angst vor dem Wiederaufkommen des Gegners ist. Uns
ist bisher noch der letztere Fall beschieden; die Absicht, uns zu par-
doni.ieren, die zuweilen laut wurde und besonders bei den schwä-
cheren Mitgliedern des Bundes auftauchte (die ja dadurch eine Ver-
stärkung ihrer eigenen Lage erfahren würden), stieß noch immer
auf Widerstand bei dem Gegner, der am meisten Ursache hat, uns
zu fürchten: ein Beweis, daß wir auch in der Not der Gegenwart
diesem Gegner noch gefährlich erscheinen, und gerade darum eine
Hoffnung, daß unserer Nation trotz allem eine bessere Zukunft,
ein Leben in Freiheit beschieden sein wird.
Sdilußwort,
an die Fachgenossen des Verfassers gerichtet.
Wir wollen fortfahren, gemeinsam unsern Acker zu bestellen,
ihn wieder reinigen von dem Schutt, den die Unvernunft darüber
gekarrt hat: unbekümmert um die Meinungen des Tages, frei, wie
bisher, von der Sorge, daß wir über unserm Werk uns selbst und
unsere Ideale verlieren könnten, vielmehr • des Glaubens, daß wir,
je tiefer wir graben, um so reichere Schätze gewinnen werden, daß wir
gerade dann die Wurzelechtheit und die Wirkungskraft der in unserer
Geschichte tätigen moralischen Energien begreifen, die Mächtigkeit
der Fundamente, welche die Vorfahren gelegt haben, und an denen
die Pygmäen von heute rütteln möchten, aufdecken und also den
Weg aufzeigen werden, der uns aus dem Dunkel der Gegenwart zu
einer lichteren Zukunft emportragen wird — daß es, mit einem Wort,
der Genius unseres Volkes selbst ist, der uns die Fackel voran trägl.
Sanctus amor patriae dat animum.
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