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Full text of "Kleine historische Schriften"

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WILLE,  MACHT  UND 
SCHICKSAL 


VON 


MAX  LENZ 


I(  faut  voufoir  vi  vre  et  savoir  mourir. 
Napoleon. 


CM'R'B 


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V 


MÜNCHEN  UND  BERLIN  1922 
DRUCK  UND  VERLAG  VON  R.  OLDENBOURG 


KLEINE  HISTORISCHE  SCHRIFTEN 

m,  BAND 


Alle  Rechte,  einschließlich  des  Übersetzungsrechtes,  vorbehalten 


THEODOR  BIRT 

DEM  PHILOLOGEN  UND  POETEN 
IN  TREUER  FREUNDSCHAFT 


Vorwort. 

Der  Gedanke,  der  diese  dritte  Sammlung  kleiner  historischer 
Schriften^)  zusammenhält,  ist  schon  in  dem  Titel  zum  Ausdruck 
gekommen,  so  daß  ich  nur  wenige  Worte  zur  Entstehung  derselben 
mitzuteilen  habe.  Auch  diesmal  ist  die  Mehrzahl  bereits  ver- 
öffentlicht. Ungedruckt  waren  bisher  der  Essay  über  Schweden 
und  Deutschland  im  17.  Jahrhundert,  die  Rede  zum  18.  Januar 
1921  und  die  beiden  parallelen  Aufsätze:  »Eine  Prophezeiung 
Napoleons«  und  »Bismarck  als  Prophet«;  ergänzt  und  umgearbeitet 
ist  die  Abhandlung  über  »Gleichgewicht  und  Großmacht«.  Das 
Schlußwort  entnahm  ich  dem  Dankschreiben,  das  ich  vor  zwei 
Jahren  den  Freunden  sandte,  die  mir  ihre  Glückwünsche  zu  meinem 
70.  Geburtstage  ausgesprochen  hatten;  es  will,  und  deshalb  wieder- 
hole ich  es  hier,  der  Stimmung  Ausdruck  geben,  aus  der  heraus 
ich  jeden  dieser  Aufsätze  niedergeschrieben  habe,  und  die  ich  auch 
den   Lesern  dieses   Buches  mitteilen  möchte. 


^)  Es  erschienen:  Nr.  i  1921  in  den  Schriften  des  Vereins  für  Reforma- 
tionsgeschichte; 3,  4  und  9  1913,  1914  u.  191 7  in  Velhagen  und  Klasings 
Monatsheften  (4  unter  anderm  Titel;  auch  im  Sonderdruck);  5  und  6  191 4  in 
den  Süddeutschen  Monatsheften;  7  und  8  191 5  in  dem  von  Erich  Marcks 
und  mir  herausgegebenen  »Bismarck- Jahr«  (Hamburg,  Verlagsbuchhandlung 
Broschek  &  Co.);  10  am  9.  Oktober  1918  in  der  Täglichen  Rundschau;  ir  im 
September  1920  in  den  Hamburger  Akademischen  Blättern;  15  1920  im  Hand- 
buch der  Politik  I^,  ebenfalls  unter  anderm  Titel  (Verlag  von  Dr.  Walter 
Rothschild,  Berlin  und  Leipzig). 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Luthers  Tat  in  Worms i 

Schweden  und  Deutschland  im  17.  Jahrhundert 41 

Napoleon  und  das  Schicksal 82 

Die  Religion  im  Aufbau  der  politischen  Welt 96 

Im  Weltkrieg 

Der  deutsche  Gott 114 

Deutsches  Heldentum 117 

Bismaxck 121 

Bismarck  als  Diplomat 130 

Deutschlands  Friedenspohtik  vor  dem  Weltkriege 134 

Partei  oder  Vaterland  ? 164 

In  der  Kneditschaft 

Sedantag  1920 i6g 

Einechtschaft  (Rede  zum  18.  Januar  1921) 172 

Eine  Prophezeiung  Napoleons 184 

Bismarck  als  Prophet 197 

Gleichgewicht  und  Großmacht 242 


Schlu  ßwort 


272 


Luthers  Tat  in  Worms. 

(1921.) 

Man  spricht  von  Luthers  Tat  in  Worms  und  pflegt  dabei  im 
Grunde  doch  nur  an  ein  Wort  zu  denken,  einen  kurzen  Ausspruch 
des  Reformators,  der,  wie  wir  heute  wissen,  nicht  einmal  buchstäblich 
so  gelautet  hat,  wie  er  auf  dem  Denkmal  zu  Worms  in  Erz  gegraben 
steht,  dessen  Sinn  freilich  in  Verbindung  mit  den  Sätzen,  auf  die  er 
sich  zurückbezog,  vom  ersten  Augenblick  an  feststand,  und  dessen 
weltbewegende  Bedeutung,  unausgeschöpft  bis  heute,  noch  auf  Jahr- 
hunderte hinaus  immer  von  neuem  offenbar  werden  wird. 

Für  Luther  selbst,  ich  meine  für  die  innere  Entwicklung  des 
Reformators,  lag  in  dem  Worte  von  Worms,  in  jenem  »Gott  helfe 
mir,  Amen«,  mit  dem  er  am  Nachmittag  des  18.  April  1521  vor  Kaiser 
und  Reich  das  Bekenntnis  zu  seiner  Lehre  abschloß  und  bestätigte, 
nichts  Besonderes.  Über  seinen  Glauben  war  er  seit  Jahren,  lange 
bevor  er  die  95  Thesen  über  die  Kraft  des  Ablasses  an  die  Tür  der 
Schloßkirche  zu  Wittenberg  angeschlagen  hatte,  mit  sich  ins  reine 
gekommen;  die  Schriften  aber,  durch  die  er  ihn  gerechtfertigt,  und 
die  ihm  nun  von  dem  Offizial  des  Erzbischofs  von  Trier  namens  der 
Stände  des  Reiches  vorgehalten  ^vurden,  waren  zu  vielen  Tausenden 
in  ganz  Deutschland  ausgegossen;  sie  hatten  bereits  die  Grenzen  des 
Reiches  überschritten.  Hatte  die  Kirche  den  rebeUischen  Mönch  aus- 
gestoßen, so  hatte  auch  er  alle  Brücken  nach  Rom  hin  abgebrochen; 
ja  man  kann  zweifelnd  fragen,  wo  anfangs  das  größere  Maß  der  Feind- 
Sehgkeit  vorgewaltet  hatte,  in  Rom  oder  in  Wittenberg.  Der  An- 
greifer war  jedenfalls  Luther  gewesen,  und  der  Gegensatz  gegen  die 
römische  Lehre  mit  dem  Moment  gegeben,  wo  er  sich  des  neuen 
Glaubens  bewußt  geworden  war,  lange  bevor  er  ihn  in  die  Welt  hinaus- 
trug, in  der  Stille  des  Klosters  und  im  Ringen  seiner  Seele.  Man  muß 
die  Thesen  lesen,  welche  sich  unmittelbar  gegen  die  Person  des  regie- 
renden Papstes  richten,  etwa  die  8^. :  warum  er  nicht  um  der  Liebe 
zum  Höchsten  und  der  Not  der  Seelen  \villen  das  Fegfeuer  ganz  aus- 

Lenz,  Wille,  Macht  und  Schicksal.  I 


lösche,  da  er  doch  für  einen  so  gleichgültigen  Zweck  wie  den  Bau 
einer  Kirche  um  unseliges  Geld  zahllose  Seelen  erlöse  ?  oder  die  8y. : 
warum  er,  der  reicher  sei  als  Krassus  und  Krösus,  nicht  von  dem 
eigenen  Golde,  statt  dem  Schweiße  der  armen  Gläubigen,  die  Basihka 
Sankt  Peters  erbaue? —  um  sich  darüber  klar  zu  werden,  wie  tief 
der  Reformator  bereits  damals  den  Riß  empfand,  und  wie  frei  er 
im  Grunde  seiner  Seele  sich  bereits  von  den  Fesseln  fühlte,  mit  denen 
ihn  sein  Gelübde  an  die  Gebote  seiner  Kirche  band.  Argumente  und 
Skrupel  der  Laien  nannte  er  solche  Fragen:  als  plagten  ihn,  den 
Mönch,  weder  Skrupel  noch  Zweifel.  Aber,  setzt  er  sofort  hinzu, 
mit  bloßer  Gewalt  solche  Einwände  niederhalten,  anstatt  sie  mit 
rechtfertigenden  Gründen  aufzulösen,  heiße  Kirche  und  Papst  den 
Feinden  zum  Gelächter  und  die  Christgläubigen  unglücklich  machen. 
Es  waren  die  Zustände,  die  vor  aller  Augen  lagen,  über  die  in 
Deutschland  alle  Welt  seit  Jahrzehnten  schalt  oder  spottete.  Zu  den 
Spöttern  gehörte  Luther  nicht;  die  hohnvolle  Satire  in  den  Briefen 
der  Viri  obscuri  war  gar  nicht  nach  seinem  Herzen.  Er  sah  so  gut 
wie  die  andern,  daß,  wie  er  mit  einem  Bibelwort  sagte,  alle  Gassen 
Jerusalems  voll  des  Gestanks  waren;  aber  er  mochte  nicht,  daß  das 
Heilige,  auch  nicht  in  seiner  Verkehrung,  dem  Volk  zum  Gespött 
gemacht  werde;  er  nannte  dies  ein  Beißen  unter  dem  Zaun  her.  Viel 
zu  ernst  nahm  er  es  mit  seinem  Beruf  und  den  Aufgaben,  die  ihm 
darin  gestellt  waren,  um  an  Angriffen  gegen  seinen  eigenen  Stand 
Freude  zu  haben,  die  mehr  auf  Belustigung  der  Leser  als  auf  Besserung 
des  Volkes  abzielten  und  in  ihrer  Verallgemeinerung  der  Pfaffen- 
sünden voll  von  Ungerechtigkeit  waren;  wir  brauchen  nur  an  Luther 
selbst  und  seine  Seelenkämpfe  zu  denken,  um  uns  zu  sagen,  wie  viel 
Ernst  und  Gedankentiefe  in  den  Mauern  deutscher  Klöster  eben 
damals  lebendig  war.  Vor  seinen  Brüdern  im  Kloster,  den  Kollegen 
an  der  Universität,  selbst  vor  den  Studenten  verbarg  er  freilich  seine 
Gedanken  längst  nicht  mehr.  Schon  im  Jahre  1515  auf  1516,  in  der 
Vorlesung  über  den  Römerbrief,  ja  schon  zwei  Jahre  früher  in  der 
über  die  Psalmen  hatte  er  die  Geißel  über  die  Verrottung  in  Kirche 
und  Welt  geschwungen;  man  fühlt  sich  an  seine  Sturmschrift  vom 
Sommer  1520,  »An  den  christlichen  Adel  deutscher  Nation«,  erinnert,, 
wenn  man  darin  liest,  wie  scharf  er  mit  dem  geistlichen  wie  dem  welt- 
lichen Regiment  ins  Gericht  geht.  Aber  damit  glaubte  Luther  noch 
nicht  den  Kreis  zu  überschreiten,  in  den  ihn  sein  Amt,  wie  er  es  ansah» 


gestellt  hatte;  als  Doctor  Sacrae  paginae  fühlte  er  sich  dazu  berufen, 
für  die  Ehre  und  Reinheit  der  Kirche  zu  streiten.  Formell  über- 
schritt er  die  Schranken,  in  die  Kloster  und  Universität  ihn  bannten, 
nicht  einmal  mit  der  Veröffentlichung  der  Thesen;  denn  er  folgte 
dabei  nur  dem  allgemeinen  Universitätsbrauch  und  dem  Recht,  das 
ihm  seine  Professur  gab,  und  an  dem  gerade  die  philosophische  Schule, 
der  er  angehörte,  mit  besonderem  Nachdruck  festhielt.  In  Wirklich- 
keit freilich  war  er  über  die  Tragweite  seines  Schrittes  nicht  im  un- 
klaren. Er  tat  ihn,  als  ihm  seine  Beichtkinder  die  Ablaßzettel  vor- 
zeigten, für  die  sie  sich  in  dem  nahen  Jüterbogk  von  dem  Mainzer 
Ablaßkrämer  ihre  Sünden  hatten  abkaufen  lassen,  mit  andern  Worten, 
als  der  böse  Feind  ihm  in  die  eigene  Hürde,  in  den  Bereich  seiner 
Seelsorge  eingebrochen  war:  nun  aber  sogleich  mit  einer  Wucht 
und  einer  Entschlossenheit,  die  kein  Zurück  mehr  kannte  und  allen 
Konsequenzen  entgegensah;  in  das  Zentrum  des  feindlichen  Systems, 
gegen  das  Herz  des  Gegners,  unmittelbar  gegen  Rom  führte  er  den 
Stoß. 

An  dieser  Auffassung  der  Tat  vom  31.  Oktober  1517  darf  uns 
nicht  irre  machen,  daß  Luther  sich  in  den  Thesen  so  gibt,  als  führe 
er  im  Grunde  die  Sache  des  Papstes,  spräche  dessen  eigene  Meinung 
aus,  die  nur  von  den  Ablaßkrämern  gefälscht  würde.  Das  war  eine 
Wand,  hinter  der  er  Deckung  suchte,  ein  Schild,  den  er  vor  sich  hin- 
stellte, um  die  Gegenstöße  der  überstarken  Macht,  gegen  die  er  an- 
ging, einigermaßen  abzuschwächen.  In  der  gleichen  Absicht  hat  er 
den  »Resolutionen «,  d.  h.  den  Erläuterungen  zu  den  Thesen,  die  er 
im  Sommer  darauf  ausgehen  ließ,  ein  offenes  Schreiben  an  den  Papst 
selbst  vorangestellt,  worin  er  sich  dem  heiligen  Vater  zu  Füßen  legt, 
sein  ganzes  Leben  und  Sein,  sein  Urteil  selbst  ihm  unterwirft :  »Befiehl 
über  Leben  und  Tod,  rufe  mich  zu  dir  oder  verstoße  mich,  bestätige 
oder  verwirf,  wie  es  dir  gefällt.  Ich  will  deine  Stimme  als  die  Stimme 
Christi,  der  in  dir  regiert  und  spricht,  anerkennen.  Habe  ich  den  Tod 
verdient,  ich  weigere  mich  nicht,  zu  sterben.«  Liest  man  dann  aber 
die  Schrift  selbst,  so  stößt  man  auf  Sätze  über  das  »römische  Babel«, 
den  Schlund,  der  alle  Reichtümer  der  Welt  verschlinge,  welche  hinter 
den  Episteln  Huttens  gegen  den  Blutsäufer  Julius  II.  (der  uns  übrigens 
auch  in  Luthers  Vorlesung  über  den  Römerbrief  begegnet,  sowie 
in  den  Resolutionen  der  blutige  Schatten  Alexanders  VI.  auftaucht) 
nicht  zurückstehen.    Man  wird  dem  Reformator  nicht  gerecht,  man 


würde  ihm  sogar  Unrecht  antun,  wollte  man  annehmen,  daß  er  welt- 
fremd und  im  kindlichen  Vertrauen  sich  dem  Oberhirten  der  Christen- 
heit genaht  hätte,  als  wisse  derselbe  nichts  von  den  Missetaten  seiner 
Diener  und  werde  sich  gern  eines  Besseren  belehren  lassen,  auch  gegen 
die  Übertreter  der  Lehre  Christi  einschreiten.  Als  ob  Luther  Rom 
nie  gesehen  und  von  den  literarischen  Fehden  der  Humanisten  gegen 
die  Römlinge  auf  beiden  Seiten  der  Alpen  nie  etwas  gehört  habe! 
Gewiß:  daß  er  der  Anfänger  einer  ungeheuren  Weltverwirrung  war, 
daß  er  die  Kirche  des  Abendlandes  zerreißen  und  also  die  Nationen, 
die  bisher  in  ihrem  Schöße  geruht  hatten,  von  ihrer  Kulturgemein- 
schaft getragen  waren,  einer  Ära  von  Revolutionen,  einer  Umgestaltung 
von  Grund  aus  entgegenführen  würde,  ahnte  der  Reformator  nicht, 
als  er  sich  zum  Kampfe  stellte.  Eher  glaubte  er  an  das  Umgekehrte: 
daß  er  mit  dem  Johannesruf,  mit  dem  er  seine  Thesen  eröffnete, 
nicht  durchdringen,  daß  er  sich  am  Ende  von  aller  Welt  ebenso  ver- 
raten und  verlassen  sehen  werde,  wie  sein  Herr  und  Meister  und 
tausend  andere,  welche  der  blöden  Menge  die  Wahrheit  verkündet 
und  sich  zu  ihr  bekannt  hatten.  »Dieser  Handel,«  so  schreibt  er, 
noch  vor  dem  Kolloquium  in  Leipzig,  seinem  Vertrautesten,  Georg 
Spalatin,  »ward,  wenn  er  von  Gott  ist,  nicht  eher  enden,  als  bis,  wie 
Christum  seine  Jünger,  so  auch  mich  alle  meine  Freunde  verlassen 
haben  und  die  Wahrheit  allein  bleibt,  welche  sich  errettet  mit  ihrer 
Rechten,  nicht  mit  meiner,  nicht  mit  deiner,  noch  mit  der  irgend- 
eines Menschen.  Und  daß  diese  Stunde  kommen  wird,  habe  ich  von 
Anfang  an  gewußt.«  Zu  den  Optimisten  im  landläufigen  Sinne  ge- 
hörte Luther  nicht,  wenigstens  nicht,  seitdem  er  Mönch  geworden; 
er  wäre  sonst  nicht  ins  Kloster  gegangen.  Auch  die  Friedfertigen, 
die  nach  Versöhnung,  Verständigung  mit  den  Feinden  Dürstenden 
konnten  ihn  nicht  zu  den  Ihrigen  zählen,  so  sehr  er  sich  allezeit  nach 
dem  Frieden  sehnte.  Nur  im  Sturm,  in  der  Not  der  Seele  erschien 
ihm  das  ewige  Licht.  »Mich  wundert,  daß  ich  noch  traurig  bin«  — 
das  ist  der  Grundakkord  in  seinem  Leben. 

Daß  er  trotz  allem  durchbrach,  sobald  er  sah,  daß  die  Zeit  ge- 
kommen war  —  gerade  darin  offenbarte  sich  die  Stärke  seines  Glau- 
bens. Damit  soll  nicht  geleugnet  werden,  daß  der  Reformator  Schritt 
für  Schritt,  bald  vorsichtig  tastend,  bald  stürmisch  vordringend, 
vorwärts  gegangen  ist,  und  daß  er  zunächst  nicht  wußte,  wohin  die 
Reise  ging.    So  wie  es  ein  anderer  Gewaltiger  aus  späterer  Zeit,  auch 


er  ein  Weiterschütterer,  obschon  aus  einer  ganz  anderen  Sphäre 
stammend,  im  Hinbhck  auf  sich  selbst  ausgesagt  hat:  Derjenige 
komme  nicht  weit,  der  sogleich  wisse,  wohin  er  gehe.  Es  war  in  dem 
Reformator  jene  Bhndheit  der  Simsonskraft,  welche  diejenigen,  in 
denen  sie  wohnt  (und  das  sind  eben  die  Mächtigen,  die  ganz  Großen 
in  der  Geschichte),  wohl  auf  Nebenwege  führen  kann,  sie  auch  wohl 
ein  paar  Schritte  zurücktun  oder  gar  straucheln  und  an  Dingen, 
welche  bereits  ebenfalls  reif  zum  Untergange  sind,  vorübergehen 
läßt;  die  aber,  wenn  einmal  ein  solcher  vom  Geist  Getriebener,  von 
seinem  Dämon  Geführter  seine  Hand  an  die  Säule  legt,  welche  ein 
altgewordenes  Welts5^stem  trägt,  sie  dann  um  so  gewaltiger  anpackt 
und  aus  ihrem  Grunde  reißt. 

Wie  weit  aber  der  Reformator  schon  in  dem  ersten  Kampf  jähr 
gekommen  war,  lehrt  uns  eben  jene  Schrift,  deren  Kirchenbegriff 
sich  gar  nicht  mehr  mit  dem  der  römischen  Hierarchie  deckt,  die 
von  den  Sakramenten  nur  noch  drei,  neben  der  Buße  Taufe  und 
Abendmahl,  nennt  und  diese  allein  an  den  Glauben  bindet,  den  Papst 
aber  und  alle  Heiligen  als  irrende  und  sündenbeladene  Menschen 
bezeichnet.  Wenn  Luther  darin  dem  Papst  noch  die  Gesetzgebung 
in  der  Kirche  im  Verein  mit  dem  Konzil  zuerkennt,  so  ist  auch  das 
nur  eine  neue  Deckung,  die  er  gegen  die  Summa  potestas  des  römischen 
Pontifex  aufsucht;  denn  das  Konzil  selbst  ist  ihm  schon  nicht  mehr 
die  letzte  Instanz:  gerade  das  jüngste,  das  Laterankonzil  Julius' IL, 
verwirft  er,  und  zwar  aus  dem  Grunde,  weil  es  dem  Papste  die  Un- 
fehlbarkeit zugeschrieben  und  damit  selbst  gegen  die  göttliche  Wahr- 
heit verstoßen  habe.  »Die  Kirche«,  so  schreibt  er,  »bedarf  einer 
Reformation,  aber  diese  ist  nicht  die  Sache  eines  Menschen,  wie  der 
Papst,  oder  vieler  Kardinäle,  wie  auf  den  letzten  beiden  Konzilien, 
sondern  der  ganzen  christlichen  Welt  —  nein,  Gottes  selbst,  der  allein 
die  Zeit  dazu  bestimmen  kann,  er,  der  die  Zeiten  geschaffen  hat.« 
Schon  tönt  uns  aus  dem  Widmungsschreiben  an  Leo  X.  das  Wort 
von  Worms  entgegen,  an  einer  Stelle,  die  im  übrigen  wiederum  an- 
zeigt, vAe  vertraut  dem  Wittenberger  Mönch  auch  das  Rom  des 
Medizäerpapstes  war;  denn  er  spielt  darin  auf  die  am  römischen  Hof 
heimisch  gewordene  humanistische  Eleganz  an,  die  feinste  Blüte 
italienischer  Kultur,  der  gegenüber  er,  mit  sichtHcher  Ironie,  in  wohl- 
geformter, feinziselierter  Redewendung  seine  deutsche  Ungelenkheit 
betont.    »Was  soll  ich  tun?«,  so  lauten  die  Worte:  »Widerrufen  kann 


ich  nicht  und  sehe  doch  den  Haß  der  Menge  gegen  mich  entflammt; 
ungern  trete  ich  hinaus  in  die  Gefahren  und  den  Lärm  der  Welt, 
ich  ungelehrter,  beschränkter,  nicht  feingebildeter  Mann  in  unserm 
Jahrhundert  voll  Geist  und  Schönheit,  das  einen  Cicero  in  den  Winkel 
drücken  könnte.  Aber  die  Not  zwingt  mich,  die  Gans  muß  unter 
den  Schwänen  schnattern.«  Um  dann  zum  Schluß  dem  heiligen 
Vater,  vor  dem  er  selbst  sich  in  den  Staub  wirft,  die  Majestät  des 
Allmächtigen  gegenüber  zu  stellen,  als  dessen  Stellvertreter  auf 
Erden  jenen  die  Theoretiker  des  heiligen  Stuhles  und  tausend  Bullen 
rühmen:  »Denn  Gottes  ist  die  Erde  mit  allem,  was  sie  trägt:  er  sei 
geheihgt  in  Ewigkeit,  Amen;  er  bewahre  auch  dich  immerdar,  Amen!« 
Indem  aber  Luther  so  in  die  Arena  herabstieg,  führte  er  den 
Kampf  schon  nicht  mehr,  wie  bisher,  für  sich  allein,  für  die  eigene 
Seele,  sondern,  wie  bemerkt,  auch  für  seine  Beichtkinder,  für  seine 
Mitbrüder  und  Kommilitionen  im  Kloster  und  an  der  Universität, 
ja  auch  für  ihren  hohen  Protektor,  Kurfürst  Friedrich  selbst,  der 
durch  sein  Amt  als  der  Defensor  Ecclesiae  in  seinem  Lande  bestellt 
war,  und  der  dem  Orden  Luthers  und  seiner  eigenen  Pflanzung,  der 
jungen  Hochschule  in  Wittenberg,  seine  ganz  besondere  Huld  zuge- 
wandt hatte.  So  fühlte  sich  der  Reformator  sofort  durch  hundert 
Rücksichten  gebunden.  Er  konnte  gar  nicht  damit  rechnen,  daß 
der  Fürst,  soviel  Verständnis  derselbe  für  die  frommen  Lehren  seines 
Doktor  Martinus  besaß,  und  so  hoch  er  ihn  und  seinen  Einfluß  an 
der  Universität  schätzte,  alle  Schranken,  die  ihn  selbst  in  Kirche 
und  Reich  umgaben,  durchbrechen  und  sich  sofort  mit  seinem  ganzen 
Land  für  den  Bettelmönch  einsetzen  würde.  Und  dies  nicht  bloß 
um  der  Gefahren  willen,  die  der  Kurfürst  damit  über  sich  und  sein 
Land  wie  über  die  Universität  heraufbeschwor:  hätte  Friedrich  der 
Weise  sich  nur  von  Furcht  oder  von  Motiven  des  Eigennutzes  und 
der  Begehrlichkeit  leiten  lassen,  etwa  von  der  Eifersucht  auf  seine 
Nachbarn,  die  hohenzollernschen  Brüder,  den  Erzbischof,  der  ihm 
durch  die  Ablaßverkäufer  sein  gutes  Geld  aus  dem  Lande  zog,  und 
den  Markgarfen  Kurfürsten,  der  ihm  den  Weg  zum  Magdeburger 
Stiftsland  versperrte,  oder  von  seinen  nachbarlichen  Irrungen  mit 
dem  Vetter  in  Dresden,  dem  steif  nackigen  Herzog  Georg  —  er  hätte 
Luther  wahrhch  nicht  so  weit  auf  seinem  dornigen  Wege  begleitet. 
Sowie  auch  der  Reformator  schwerlich  bis  Worms  gelangt  wäre, 
wenn  er,  wie  die  Gegner  sofort  zu  erkennen  glaubten,  seine  Thesen 


nur,  um  dem  Fürsten  bei  jenen  Konflikten  zur  Hülfe  zu  kommen, 
veröffentlicht  hätte.  Beide,  Fürst  wie  Reformator,  hatten  schwer 
an  der  Verantwortung  für  ihr  Tun  zu  tragen;  denn  sie  sahen  klarer 
als  andere  die  Gefahren,  die  sich  ihnen  von  überallher  auf  ihren  Wegen 
entgegentürmten.  Wenn  Friedrich  der  Weise  nicht  bloß  die  Inter- 
essen seines  Hauses  und  die  Pflichten  gegen  sein  Land  zu  berück- 
sichtigen hatte,  sondern  auch  die  weitgespannten  Netze  der  allge- 
meinen Politik,  die  gerade  in  diesen  Jahren  auf  die  großen  Entschei- 
dungen hindrängte,  so  mußte  Luther  bei  jedem  seiner  Schritte,  die 
soviel  Bande  des  Alten,  Herkömmlichen  zerbrachen  und  dem  frommen 
Kurfürsten  tausend  Verlegenheiten  schufen,  ebenfalls  auf  dessen 
Stellung  im  Reich  und  in  der  Hierarchie  selbst  acht  geben,  die  der 
sächsischen  Politik  an  sich  eine  vermittelnde  Richtung,  die  Aus- 
gleichung der  Gegensätze  vorschrieb:  er  durfte  um  so  weniger  daran 
vorübergehen,  als  seine  universale,  von  allem  Erdenstaub  befreite 
Religion  ihrem  Ziel  und  Wesen  nach  der  bürgerlichen  Gewalt,  der  welt- 
lichen Obrigkeit,  wie  Luther  es  nannte,  ihre  Würde  zu  wahren,  ihre 
Eigenkraft,  Freiheit  und  Selbständigkeit  zu  befestigen  und  zu  be- 
stätigen gewillt  war. 

Drei  Jahre  hindurch  haben  so  Fürst  und  Reformator  gemeinsam 
den  Kampf  gegen  Rom  geführt,  nicht  ohne  allerhand  Listen  und 
Kunstgriffe  zu  gebrauchen,  um  sich  dem  Zugriff  der  römischen 
T5n:annei  zu  entziehen.  In  jeder  Phase  des  Kampfes  nehmen  wir 
wahr,  wie  eng  sie  miteinander  verbündet,  und  wie  wohlüberlegt  jeder 
Schritt  des  Reformators  war,  zugleich  aber  auch,  wie  unmöglich  eine 
Versöhnung  der  Gegensätze  war,  die  sich  zwischen  dieser  aus  der 
Tiefe  des  deutschen  Gewissens  geschöpften  ReHgion  und  derjenigen, 
die  von  Rom  her  die  Welt  gefangen  hielt,  erhoben  hatten. 

Daß  hier  Weltanschauungen  miteinander  rangen,  zwischen  denen 
€in  Ausgleich  nicht  zu  erreichen  war,  darüber  waren  sich  auch  die 
Gegner  des  Wittenberger  Mönchs  keinen  Moment  im  unklaren.  Wenn 
Rom  dennoch  so  lange  gezögert  und  verhandelt  hat,  bevor  es  den 
Bannblitz  gegen  den  Rebellen  schleuderte,  so  geschah  es  in  der  Hoff- 
nung, diesen  zu  isolieren,  ihn  mit  seinem  Herrn  oder  mit  sich  selbst 
in  Widerspruch  zu  bringen,  oder  —  was  den  Monsignori  fast  das 
liebste  gewesen  wäre  —  ihm,  wenn  nicht  eiserne,  so  doch  goldene 
Fesseln  anzulegen,  ihn,  nach  altem  Brauch,  mit  einer  reichen  Pfründe 
(man  wäre  am  Ende  bis  zur  Anbietung  des  roten  Huts  gegangen) 


zu  begaben  und  dadurcli  mundtot  zu  machen.  Seit  dem  Sommer 
1520,  als  Johann  Eck  die  Bannbulle  über  die  Alpen  brachte,  Luther 
aber  in  seinen  drei  großen  Reformationsschriften  den  Abgrund,  der 
zwischen  Wittenberg  und  Rom  gähnte,  in  seiner  ganzen  Tiefe  auf- 
gedeckt hatte,  war  jedoch  jede  Aussicht  auf  eine  friedhche  Lösung 
verschwunden.  Wenn  Luther  im  Herbst  sich  durch  seine  Freunde 
bei  Hof  und  durch  ängstliche  Kollegen  von  der  Universität  doch 
noch  einmal  überreden  ließ,  die  Bulle  als  untergeschoben  auszugeben 
und  an  ein  Konzil  zu  appellieren,  in  zwei  Flugschriften,  worin  er 
freilich  den  Verfasser  dieses  »unechten«  Schriftstückes  als  den  Anti- 
christ selbst  bezeichnete  und  den  Stuhl  zu  Rom,  falls  es  wirklich  von 
ihm  ausgehe,  als  den  Sitz  des  Satans,  des  Erzfeindes  Christi,  im  Namen 
Gottes  des  Barmherzigen,  seines  Erlösers,  von  sich  aus  verfluchen  zu 
wollen  drohte,  so  schob  er  wenige  Wochen  später  auch  diese  letzte 
Kulisse  beiseite :  mit  der  großartigen  Demonstration  der  Verbrennung 
der  Bulle  am  20.  Dezember  vor  dem  Elstertor  zu  Wittenberg  in  Gegen- 
wart der  Dozenten  und  Scholaren  der  Universität  hatte  er  die  Schiffe 
hinter  sich  verbrannt. 

Demnach  liegt  die  Bedeutung,  die  dem  Tage  von  Worms  im 
Lebensgange  Luthers  zukommt,  nicht  in  der  Auflehnung  gegen  die 
höchste  kirchliche,  sondern  gegen  die  höchste  staatliche  Gewalt,  an 
die  er  mitsamt  seinem  Landesfürsten  gebunden  war,  nicht  in  dem 
Bruch  mit  Rom  —  der  nun  hinter  ihm  lag  — ,  sondern  mit  Kaiser 
und  Reich,  mit  dem  Römischen  Reich  Deutscher  Nation. 

Hier  aber  war  Luther  nicht  der  Angreifer;  er  stellte  sich  viel- 
mehr willig  seinen  Richtern.  An  Versuchungen,  ihn  zurückzuhalten, 
hat  es  nicht  gefehlt.  Auf  dem  ganzen  Wege  von  Wittenberg  bis  Worms 
haben  sie  ihn  begleitet:  in  der  Angst,  dem  Mitleid,  der  Sorge  um  sein 
Schicksal,  die  sich  in  den  Beifall  mischten,  mit  dem  er,  wohin  er 
kam,  aufgenommen  ward,  in  der  Nachricht  von  dem  Sequestrations- 
mandat gegen  seine  Bücher,  das  ihn  unterwegs,  noch  in  seiner  thürin- 
gischen Heimat,  erreichte,  in  der  Einladung  nach  der  Ebernburg,  die 
ihm  Martin  Bucer,  der  Dominikaner,  der  seit  drei  Jahren,  seit  den 
Tagen  von  Heidelberg,  sein  glühender  Anhänger  geworden  war,  ihm 
nach  Oppenheim  überbrachte,  und  die  auf  Lockungen  des  kaiser- 
lichen Beichtvaters  selbst  zurückging,  und  —  was  für  ihn  fast  das 
Peinlichste  von  allem  war  —  in  den  besorgten  Warnungen,  die  er 
durch  Spalatin  von  seiten  seines  kurfürstlichen  Freundes  erfuhr,  den 


er  in  sein  eigenes  Schicksal  zu  verwickeln  fürchten  mußte,  fanden 
dieselben  ihren  Ausdruck.  Für  ihn  aber  gab  es  kein  Schwanken:  die 
Ladung,  im  Namen  des. Reiches  an  ihn  ergangen,  war  für  ihn  Befehl: 
er  wollte,  er  mußte  nach  Worms,  und  wenn  darin  so  viel  Teufel  wären 
als  Ziegel  auf  den  Dächern.  Das  also  war  die  Stimmung,  in  der  er 
seinen  Freunden  entgegentrat,  als  sie  ihn  vor  seiner  Herberge  im 
Johanniterhof  der  alten  Reichsstadt  empfingen:  »Gott  wird  mit  mir 
sein«,  sprach  er,  als  er  vom  Wagen  stieg. 

Was  seiner  dort  harrte,  war  ihm  unverborgen.  Hatte  er  im  ver- 
gangenen Sommer  noch  seine  Hoffnung  auf  den  Laienstand  gesetzt, 
nachdem  der  geistliche  »unachtsam«  und  »untüchtig«  geworden  war, 
dem  »christlichen  Volk,  vornehmlich  deutscher  Nation«  zu  helfen, 
hatte  er  damals  den  »christlichen  Adel  deutscher  Nation«  und  den 
Kaiser  selbst,  »das  junge  edle  Blut  Carolus«,  d.  h.  die  weltlichen  Ver- 
treter des  deutschen  Staates  in  ihrer  Gesamtheit  für  sich  und  sein 
Evangelium  aufgerufen,  so  war  er  seitdem  auch  in  dem  Vertrauen 
auf  sie  längst  erschüttert.  Sah  er  doch  in  seinem  eigenen  Lande,  in 
Stadt  und  Universität,  bei  Hofe  und  an  seinem  trotz  allem  so  verehrten 
und  treuen  Fürsten  selbst,  weviel  weltliche  Interessen  sich  in  ilire 
Opposition  gegen  die  römischen  Zwangsgebote  mischten,  und  wie 
schwach  der  Wille  entwickelt  war,  dem  »Reiche  Gottes«,  an  das  er 
sich  halten  wollte,  zu  dienen.  »Verlasse  dich  nicht  auf  Fürsten  noch 
auf  das  Urteil  der  Menschen «,  so  hatte  er  schon  im  November  seinem 
Spalatin  geschrieben,  »denn  wenn  das  Evangelium  von  den  Mächtigen 
der  Erde  gepflanzt  und  erhalten  werden  sollte,  würde  Gott  es  nicht 
den  Fischern  geoffenbart  haben.«  »Ich  will«,  so  hatte  er  den  Kaiser 
selbst,  indem  er  sich  zum  Verhör  anbot,  angeredet,  »keinen  Schutz, 
wenn  ich  der  Gottlosigkeit  und  der  Ketzerei  überführt  werde.  Das 
eine  bitte  ich,  daß  meine  Lehre,  sei  sie  nun  wahr  oder  falsch,  nicht 
verdammt  werde  unverhört  und  unüberwunden.«  Jetzt  war  die 
Stunde  da,  von  der  er  von  Anfang  an  geweißt,  daß  sie  kommen  werde: 
der  Tag  der  Bewährung,  der  Moment,  wo  er  verlassen  »wie  die  Blume 
auf  dem  Felde«  allein  bleiben  sollte  mit  der  Wahrheit  zu  seiner  Rechten. 
So  trat  er  nun  hin  vor  Kaiser  und  Reich;  so  antwortete  er  auf  die 
Fragen,  die  ihm  der  Anwalt  der  Stände  vorhielt;  so  verteidigte  er 
sein  Evangelium,  und  so  griff  er  die  päpstlichen  Irrlehren  an,  die 
römischen  Tyrannen,  welche  die  Wahrheit  zum  Verderben  Deutsch- 
lands gefälscht  hätten;  so  bekannte  er  seine  Freude  an  der  Zwie- 


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tracht  über  das  göttliche  Wort,  wie  ja  der  Herr  spreche:  »Ich  bin 
nicht  gekommen,  Frieden  zu  bringen,  sondern  das  Schwert,  ich  bin 
gekommen,  den  Sohn  zu  erregen  wider  seinen  Vater  und  die  Tochter 
wider  ihre  Mutter«;  so  wagte  er,  der  Bettehnönch,  den  jungen  Mann, 
der  da  im  Glanz  der  kaiserlichen  Majestät,  von  seinen  Räten  und 
Dienern  und  den  Fürsten  des  Reiches  umgeben,  vor  ihm  saß,  an  die 
vielen  Exempel  der  Schrift  zu  erinnern,  vom  Pharao,  vom  König 
zu  Babel  und  den  Königen  Israels,  welche  gerade  dann  das  Verderben 
über  sich  herzogen,  wenn  sie  mit  den  klügsten  Anschlägen  ihre  Reiche 
zu  befrieden  und  zu  befestigen  gedachten.  Und  so  gab  er  zum 
Schluß  auf  das  Drängen  des  Offizials,  ohne  Umschweife  und  Ecken 
zu  bekennen,  ob  er  die  Sätze  des  Hus  und  anderer  Ketzer  gegen  die 
Beschlüsse  der  Konzilien,  besonders  des  von  Konstanz,  aufrecht- 
erhalte, jene  »unstößige  und  unbissige«  Antwort  in  den  unsterblichen 
Worten :  »Es  sei  denn,  daß  ich  durch  Zeugnis  der  Schrift  überwunden 
werd'  oder  aber  durch  offenbare  Gründe  (denn  ich  glaub'  weder  dem 
Papst  noch  den  Konzilien  allein,  weil  es  am  Tage  ist,  daß  dieselben 
zu  mehrmalen  geirret  und  wider  sich  selbst  geredet  haben) :  ich  bin 
über%\ainden  durch  die  Schriftstellen,  welche  ich  angeführt  habe,  und 
gefangen  im  Gewissen  an  dem  Wort  Gottes;  derhalben  ich  nichts 
mag  noch  will  widerrufen,  weil  wider  das  Ge\vissen  zu  handeln  be- 
schwerHch,  unheilsam  und  gefährlich  ist,    Gott  helf  mir,  Amen!« 

Die  beiden  Nuntien,  Caracciolo  und  Aleander,  die  dem  kaiser- 
lichen Hoflager  von  den  Niederlanden  bis  Worms  gefolgt  waren, 
hatten  an  den  beiden  Verhörstagen  durch  Abwesenheit  geglänzt. 
Für  sie  war  die  Sache  abgetan,  denn  Rom  hatte  gesprochen.  Sie 
hätten  sich  und  ihrem  Herrn  etwas  vergeben,  wenn  sie  auch  nur  einen 
Blick  auf  den  Ketzer,  es  sei  denn,  daß  er  auf  dem  Holzstoß  stand, 
geworfen  hätten.  Schon  daß  er  von  dem  Kaiser  freies  Geleit  erhalten, 
zimi  Verhör  vor  den  Ständen  des  Reiches  zugelassen  war,  war  ein 
Verstoß  gegen  das  Recht  der  Kirche  gewesen,  nach  dem  die  weltliche 
Macht  einfach  auszuführen  hatte,  was  der  Herr  der  Christenheit  be- 
fahl; hatte  ihm  sein  Gott  doch  beide  Schwerter  in  die  Hand  gegeben! 
So  hatte  denn  Aleander,  dessen  besonderer  Auftrag  die  Betreibung 
des  lutherischen  Handels  war,  lediglich  seine  Pflicht  getan,  wenn  ei 
alles  daran  gesetzt  hatte,  um  die  Hinkunft  des  Mönches  nach  Worms 
zu  hintertreiben;  wie  er  denn  auch  jetzt  noch  hinter  der  Szene  un- 
aufhörlich seine  Gönner  und  Freunde  bei  Hof  und  unter  den  Ständen 


11 

gegen  Luther  bearbeitete  und  scharf  zu  machen  suchte.  Niemand 
hatte  darum  ein  brennenderes  Interesse  als  er,  zu  erfahren,  wie  sich 
der  Ketzer  verhalten,  wie  er  vor  den  Ständen  aufgetreten,  was  er 
gesagt,  und  wie  seine  Worte  aufgenommen  wären.  Seine  Freunde 
hatten  ihm  von  einer  Geste  des  Bruder  Martin  berichtet,  die  sie  be- 
obachtet, als  er  in  einem  Schwärm  von  Neugierigen  und  geleitet  von 
vielen  sächsischen  Edelleuten  den  Saal  verlassen  hatte.  Da  habe  er, 
so  schreibt  der  Nuntius  seinen  Auftraggebern,  die  Hand  in  die  Höhe 
gereckt,  »wie  die  deutschen  Landsknechte  pflegen,  wenn  sie  im  Kampf- 
spiel über  einen  wohlgelungenen  Hieb  frohlocken«.  Und  ähnliches 
erzählt  ein  Spanier:  »mit  hocherhobenen  Armen,  die  gespreizten 
Hände  ausgestreckt,  wie  die  Deutschen  beim  Lanzenbrechen  zum 
Zeichen  des  Sieges  zu  tun  pflegen«,  seien  der  Ketzer  und  seine  Be- 
gleiter hinausgegangen.  So  war  es  in  der  Tat:  wie  ein  Sieger  vom 
Kampfplatz,  so  kehrte  Luther  zum  Johanniterhof  zurück.  Gerade 
so  hat  es  ein  Deutscher,  Sixtus  Ölhafen  von  Nürnberg,  von  seinem 
Eintritt  in  die  Herberge  noch  in  derselben  Stunde  aufgezeichnet:  die 
Hände  in  die  Höhe  gehoben,  sei  Dr.  Martinus  unter  seine  Freunde 
getreten,  »und  mit  fröhlichem  Angesicht  schrie  er:  Ich  bin  hindurch, 
ich  bin  hindurch!«  Ob  aber  jene  Beobachter,  der  Deutsche  wie  die 
Ausländer,  den  Sinn  jener  Gebärde  Luthers  und  des  Ausspruchs, 
mit  dem  er  sie  begleitete,  richtig  verstanden  haben?  Daß  er  nun 
eben  den  Weg,  den  Gott  ihn  geführt,  vollendet  und  das  Ziel  erreicht 
zu  haben  meinte,  das  er  von  Anfang  an  vor  sich  gesehen  hatte:  den 
Moment,  wo  die  Wahrheit  allein  blieb,  wo  sie  —  nicht  ihn,  aber  sich 
erretten  werde,  mit  ihrer  Rechten,  nicht  mit  seiner,  auch  nicht  mit 
der  Spalatins  und  seines  Fürsten,  noch  mit  der  irgendeines  Menschen  ? 
Wir  aber  fragen :  war  dies  wirklich  bereits  das  Ziel  ?  Hatte  Luther 
den  letzten  Schritt  getan?  Weshalb  war  er  denn  nach  Worms  ge- 
kommen ?  Weil  der  Kaiser  ihn  gerufen  hatte,  im  Namen  des  Reiches, 
das  Gott  ihm  gegeben,  als  der  Träger  des  Schwertes,  das  Gott  ihm 
anvertraut  hatte,  als  der  Inhaber  der  richterlichen  Gewalt,  die  nach 
dem  Willen  des  Höchsten  in  seine  Hände  gelegt  war.  Eben  dieser 
Gewalt  hatte  Jesus  Christus  sich  gebeugt.  Ihm  hätten  Legionen  der 
Engel  zu  Hilfe  kommen  können:  er  rief  sie  nicht  herbei;  er  unterwarf 
sich  dem  Spruch  seiner  Richter,  wie  ungerecht  er  war;  er  bot  dem 
Henker  seinen  Nacken  dar,  wie  ein  Lamm,  das  zur  Schlachtbank 
geführt  wird ;  Geißelung,  die  Dornenkrone  und  den  Tod  am  Kreuze 


12 

nahm  er  auf  sich,  weil  er  dem  Kaiser  geben  wollte,  was  des  Kaisers 
war  —  dem  Staate  seinen  Leib,  seine  Seele  Gott:  er  bestätigte  seine 
Lehre  durch  das  Opfer  seiner  selbst. 

Luther  folgte  hierin  seinem  Herrn  und  Meister  nicht:  das  Mar- 
tyrium hat  er  nicht  auf  sich  genommen.  Was  Tausende  erduldet 
hatten,  seitdem  Christus  in  die  Welt  gekommen  war,  mochten  sie 
Ketzer  gewesen  sein  oder  Roms  Kinder,  alle  die  Heiligen,  zu  denen 
er  einst  gebetet,  und  die  er  nun  als  Sünder,  wie  er  selbst  sich  nannte, 
erkannt  hatte,  vermied  er.  Er  wartete  den  Rechtsspruch,  der  nun 
unabwendbar  erschien  und  den  auch  die  Besprechungen,  die  in  den 
nächsten  Tagen  im  Beisein  des  alten  Vermittlers,  Erzbischofs  Richard 
von  Trier,  noch  stattfanden,  nicht  mehr  verhindern  konnten,  nicht 
mehr  ab:  unter  dem  Schutz  des  zugesagten  Geleits,  das  noch  ein 
paar  Wochen  in  Kraft  blieb,  zog  er  davon,  um,  bevor  man  noch  in 
Worms  zum  Schluß  gekommen  war  —  sich  unsichtbar  zu  machen. 

Durfte  Martin  Luther  das?  Vertrug  sich  solche  Haltung  mit 
dem  Gehorsam  gegen  die  weltliche  Obrigkeit,  den  er  predigte,  und 
den  seine  Lehre  verlangte?  Lag  darin  nicht  eine  Verleugnung  des 
Glaubens,  von  dem  alle  seine  Bücher  sprachen,  und  zu  dem  er  sich 
eben  erst  vor  Kaiser  und  Reich  bekannt  hatte  ? 


Vergegenwärtigen  wir  uns,  bevor  wir  auf  diese  alles  entscheidende 
Frage  die  Antwort  suchen,  die  allgemeine  Lage  und  die  Persönlich- 
keiten, die  im  Vordergrunde  der  Handlung  standen. 

Wäre  alles  so  gegangen,  wie  der  Kaiser  es  wünschte,  so  wäre 
Luthers  Schicksal  bald  entschieden  gewesen.  »Der  soll  mich  nicht 
zum  Ketzer  machen«,  in  diesen  Worten,  die  Karl  an  seine  Umgebung 
richtete,  als  er  den  hageren,  abgehärmten  Augustinereremiten  mit 
den  glühenden  Augen  in  dem  bleichen  Gesicht  vor  sich  stehen  sah, 
malte  sich  die  Stimmung,  in  der  er  der  Begegnung  bereits  entgegen- 
gesehen hatte.  Es  war  nicht  bloß  die  mit  hochmütigster  Verachtung 
gepaarte  Ignoranz  (was  wußte  dieser  junge  Mensch,  dessen  religiöses 
Innenleben,  soweit  davon  gesprochen  werden  kann,  die  entscheidenden 
Eindrücke  in  Spanien  erhalten  hatte,  der  weder  Latein  noch  Deutsch 
genügend  verstand,  um  der  Rede  Luthers  zu  folgen,  von  den  Seelen- 
kämpfen des  deutschen  Mönches!):  es  mischte  sich  darin  doch  auch 
der  Unwille,  daß  die  Stände  ihn,  den  Kaiser  (denn  das  Gefühl  der 
Majestät,  die  einzige  große  Leidenschaft,  die  in  dieser  schwerblütigen. 


13 

melancholischen  Persönhchkeit  glühte,  war  schon  damals  voll  in 
ihm  entwickelt),  gezwungen  hatten,  den  Ketzer  überhaupt  zum  Verhör 
vor  ihm  zuzulassen.  Eine  Zeitlang  hatte  er  oder  wer  ihn  darin  beraten 
(an  erster  Stelle  also  wohl  noch  der  Duc  de  Chievres)  daran  gedacht, 
den  Mönch  zu  benutzen,  um  auf  den  päpstlichen  Stuhl  zu  drücken 
und  ihn  von  seiner  Hinneigung  zu  Frankreich  zu  kurieren,  wie  ja 
schon  der  Ahnherr,  Kaiser  Max,  mit  solchen  Gedanken  gespielt  hatte ; 
seitdem  aber  hatte  man  sich  miteinander  verständigt,  und  damit 
war  für  die  kaiserliche  Pohtik  Luther  zum  Stein  des  Anstoßes  ge- 
worden, der  aus  dem  Wege  geräumt  werden  mußte.  In  diesem  Sinne 
ließ  Karl  gleich  am  Morgen  des  19.  April  sich  gegen  die  Kurfürsten 
und  viele  andere  Fürsten,  die  er  dazu  entboten  hatte,  aus,  in  einer 
Erklärung,  die  er  mit  eigener  Hand  in  französischer  Sprache  (eine 
andere  beherrschte  er  nicht)  niedergeschrieben  hatte,  und  die  er  nun 
aus  dem  Original  und  in  deutscher  Übertragung  vorlesen  ließ.  Hierzu 
waren  auch  die  Nuntien  herbeigekommen,  und  sie  konnten  zufrieden 
sein,  es  war  mehr,  als  sie  erwartet  hatten.  Karl  gab  sich  darin  so, 
als  sei  jetzt  alles  entschieden,  als  bleibe  den  Ständen  nichts  anderes 
mehr  zu  tun  übrig,  als  den  überwiesenen  Ketzer  den  Traditionen  der 
Kirche  gemäß  zur  Ahndung  seines  Verbrechens  ihrem  kaiserlichen 
Herrn  zu  überlassen.  Ganz  überglücklich  war  Aleander.  Er  gab 
dem  Kaiser  gleich  beide  Titel,  des  allerchristlichsten  und  des  wahrhaft 
katholischen  Fürsten;  Karl  habe  nun  soviel  für  Gott  und  den  Papst 
getan,  daß  er  und  Caracciolo  schon  mit  etwas  weniger  zufrieden  ge- 
wesen wären.  Er  glaubte  bei  der  Verlesung  der  Erklärung  bemerkt 
zu  haben,  daß  viele  der  Fürsten  so  bleich  wie  der  Tod  geworden  seien. 
Wie  jetzt  der  Kaiser,  so  waren  die  Spanier  von  vornherein  ge- 
stimmt gewesen.  Für  sie  war  Reinheit  des  Glaubens  und  des  Blutes 
ein  und  dasselbe,  Abfall  von  der  Kirche  Verrat  an  der  Nation.  Von 
dem  Herzog  von  Alba  (es  war  der  Großvater  des  Henkers  der  Nieder- 
lande) schreibt  Aleander  schon  in  den  ersten  Wormser  Tagen,  er  würde 
sich,  wie  jeder  gute  Spanier,  dem  Papst  und  der  Kirche  zuliebe  das 
Zeug  vom  Leibe  reißen.  »Ins  Feuer  mit  dem  Ketzer!«  schrien  die 
Trabanten  des  Herzogs,  die  am  Ausgang  des  Saales  postiert  waren, 
Luther  nach,  als  er  nach  dem  zweiten  Verhör  fortgeführt  wurde.  Sie 
hätten  es  aber  nur  wagen  sollen,  dem  Mönch  ein  Haar  zu  krümmen! 
Wo  Luther  ging  und  stand,  sah  er  sich  von  Landsleuten  umgeben. 
Als  er  zum  Verhör  in  den  Saal  eintrat,  drängten  sich  sechs  oder  sieben 


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Männer  so  ungestüm  mit  hinein,  daß  sie  alles  beiseite  schoben;  es 
war  der  Westfale  Hermann  von  dem  Busche,  ein  Humanist  und  so 
heißblütig  wie  sein  Freund  Ulrich  von  Hütten,  mit  seinen  Gesellen; 
sie  stellten  sich  als  freiwillige  Leibwächter  dem  geistlichen  Helden 
zur  Seite.  Von  persönlicher  Gefahr  war  für  Luther  in  allen  diesen 
Tagen  keine  Rede.  Im  Gegenteil,  Aleander  hatte  für  sich  zu  fürchten ; 
wenigstens  besorgte  er  für  seine  Person  das  Schlimmste ;  und  über  Püffe, 
die  ihm  ein  »höchst  lutherischer  Türhüter«,  wie  er  mit  schmerzHchem 
Humor  schreibt,  versetzt  hatte,  konnte  er  in  der  Tat  sich  mit  Recht 
beklagen.  Er  meinte,  der  Kaiser  selbst  würde  verloren  sein,  wenn  die 
aufrührerisch  Gesinnten  ihm  an  den  Leib  wollten.  Das  mochte  allzu 
ängstlich  gedacht  sein:  Kaiser  Karl  wenigstens  ließ  sich  nicht  ein- 
schüchtern, auch  nicht  durch  den  Zettel  mit  dem  aus  den  Bauern- 
revolten bekannten  Drohruf  »Bundschuh!  Bundschuh!  Bundschuh!«, 
den  man  am  Morgen  des  20.  April,  also  dem  Tage  nach  jener  Er- 
klärung Karls  vor  den  Fürsten,  an  der  Rathaustür  und  anderen  Orten 
der  Stadt  angeheftet  fand,  und  als  dessen  Unterzeichner  »400  Edel- 
leute«,  vorsichtigerweise  ohne  ihren  Namen  darunterzusetzen,  sich 
»bekannt «  hatten.  Er  lachte  über  die  Feigherzigkeit  Albrechts  (denn 
dieser  war  es,  der  ihm  und  den  Fürsten  das  Plakat  zugesandt  hatte, 
dessen  Ursprung  vielleicht  in  seiner  eigenen  Umgebung,  aber  sicher- 
hch  ohne  sein  Zutun,  zu  suchen  war)  und  bemerkte  zu  den  Nuntien, 
denen  es  der  Erzbischof  ebenfalls  hatte  zugehen  lassen,  es  verhalte 
sich  mit  dieser  Verschwörung  wie  mit  der  des  Mucius  Scävola,  der 
auch  300  Genossen  haben  wollte,  während  er  ganz  allein  stand.  Es 
war  die  Haltung,  die  Kaiser  Karl  auch  später,  in  gefahrvolleren  Mo- 
menten seines  Lebens,  bewahrt,  und  die  ihm  so  oft  über  die  schwierig- 
sten Lagen  hinweggeholfen  hat  —  bis  zu  dem  Tage,  wo  er  vor  den 
Heerhaufen  des  Kurfürsten  Moritz  über  den  Brenner  flüchten  mußte 
und  der  Verrat,  zu  dem  er  jenen  angestiftet,  ihm  von  dem  Verräter 
selbst  vergolten  wurde;  in  ihr  liegt  der  Zug  der  Größe,  die  der  Politik 
Karls  V.  bei  allen  ihren  Schwächlichkeiten  und  Schwankungen  eignet. 
Mochte  nun  auch  die  Sorge  des  wälschen  Prälaten,  dem  beim 
Zungen-  und  Federkampf  jedenfalls  wohler  zu  Mut  war,  als  da,  wo 
die  Schwerter  klirrten,  vergebhch  sein,  so  ist  es  doch  nicht  zu  leugnen, 
daß  der  Kaiser  in  jenem  Moment  so  gut  wie  wehrlos  war;  und  man 
kann  in  der  Tat  fragen,  ob  er  nicht,  wenn  es  wirklich  zum  Aufruhr 
kam,   doch  mit   seinen   Spaniern  und  Burgundern   allein  geblieben 


15 

wäre.  Reiter  und  Knechte  hatte  jedenfalls  nur  einer  im  Reich  zur 
Stelle,  das  war  Franz  von  Sickingen,  dem  sie  auf  allen  Straßen  zu- 
liefen; der  sei,  so  meldete  Aleander  es  nach  Rom,  zurzeit  König  in 
Deutschland.  Nun  rüstete  Franz  allerdings  wohl  —  ganz  sicher  war 
jedoch  auch  das  noch  nicht  —  für  den  Kaiser.  Aber  zugleich  war  er 
der  Führer  der  Reichsritterschaft,  von  allen  öffentlichen  Gewalten 
im  Reich  diejenige,  die  sich  dem  Wittenberger  Professor  ganz  offen 
zum  Kampf  gegen  Rom  und  die  Römlinge  in  deutschen  Landen  zur 
Verfügung  gestellt  hatte;  ihr  Hauptgebiet  war  gerade  die  Pfalz; 
rings  um  Worms  lagen  ihre  Burgen,  die  festeste,  die  nahe  Ebernburg, 
eben  der  Sitz  Sicldngens,  die  »Herberge  der  Gerechtigkeit«,  auf  der 
die  Häupter  des  jungen  Deutschlands,  Martin  Bucer  von  Schlettstadt, 
Johann  Oecolampad  von  Basel  und  der  Heißsporn  der  Poetenpartei, 
Ulrich  von  Hütten,  des  Ritters. Gäste  waren.  Sie  hatten  eine  eigene 
Presse  in  dem  Hause  ihres  Beschützers  aufgestellt,  von  der  ihre 
Schriften,  vor  allem  Huttens  wilde  Invektiven  gegen  Papst  und 
Kardinäle,  die  Nuntien  und  alle  Romanisten,  wie  Brandpfeile  ins 
Land  flogen.  In  Worms  fand  man  sie  auf  allen  Straßen;  in  ganzen 
Wagenladungen  brachten  die  Buchführer  sie  und,  dem  Mandat  zima 
Trotz,  auch  Luthers  Schriften  in  die  Stadt,  und  das  Volk  riß  sich  um 
sie  und  die  zahllosen  Spottschriften  und  die  kunstlosen  Holzschnitte, 
auf  denen  es  seine  Helden  abgebildet  sah,  die  Schwertträger  Sickingen 
und,  mit  dem  Lorbeer  bekränzt,  Hütten,  vor  allem  aber,  wie  ein 
Heihger  in  der  Strahlenkrone,  den  Mönch,  in  dem  es  seinen  Messias 
erblickte;  auch  Aleanders  Porträt  (er  selbst  schreibt  es)  bot  man  feil 
—  den  aber,  wie  er  am  Galgen  hing.  Und  das  alles,  ohne  daß  auch 
nur  der  Versuch  einer  Hemmung  erfolgte;  die  Pfaffen  auf  den  Kanzeln, 
gegen  die  der  Sturm  doch  ging,  predigten  selbst  im  Sinne  der  neuen 
Lehre.  Man  sieht,  weshalb  der  Kaiser  nicht  daran  gedacht  hat,  im 
Sinne  seines  Vorfahren,  des  Kaisers  Sigmund,  zu  handeln  und  dem 
überwiesenen  Ketzer  das  Geleit  zu  brechen;  er  hätte  den  Strom  un- 
mittelbar gegen  sich  gewendet.  Nur  wenn  er  die  Stände  für  die  Achts- 
erklärung gewann,  konnte  er  hoffen,  an  Luther  heranzukommen. 

Nun  waren  freiHch  die  Fürsten  und  Städte  noch  keineswegs 
sämtlich  oder  auch  nur  in  der  Mehrzahl  für  Luthers  Evangelium  zu 
haben.  Der  Kurfürst  von  Brandenburg  z.  B.  stand  zu  dem  Witten- 
berger Handel  von  jeher  nicht  viel  anders  als  der  Kaiser.  Sein  Bruder 
Albrecht  hatte  freilich  Zeiten  gehabt,  wo  er  von  so  etwas  wie  einer 


16 

nationalen  Führerschaft  in  geistlichen  und  weltlichen  Dingen  (etwa 
nach  Art  seines  Amtsvorgängers  Dieters  von  Isenburg  oder  gar  des 
großen  Grafen  Berthold  von  Henneberg)  geträumt  hatte,  und  an  das 
Abenteuer  mit  Tetzels  Aussendung  mochte  er  wohl  noch  immer 
ungern  und  mit  leichter  Gewissensbeschwerung  zurückdenken;  aber 
im  Sommer  1520  hatte  er  gemerkt,  daß  die  Herren  in  Rom  nicht  mit 
sich  spaßen  ließen,  und  seitdem  wurde  er  sichtlich,  wie  eine  zwischen- 
weltliche Seele,  hin  und  her  gerissen  von  der  Hoffnung,  unter  römischen 
und  kaiserlichen  Auspizien  zur  Höhe  der  Position  eines  Kardinal- 
legaten Germaniens  emporzusteigen,  und  der  Aussicht,  dem  Druck 
der  aus  demselben  Germanien  aufstrebenden  Elemente  der  Tiefe 
folgen  zu  müssen,  die  nirgends  stärker  wühlten,  als  in  seiner  Mainzer 
Diözese,  und  ihn  noch  immer  mit  sich  fortzuziehen  suchten.  Mit 
ihrem  Primas  und  Erzkanzler  waren  auch  die  andern  Glieder  der 
deutschen  Kirche,  Bischöfe  und  Prälaten,  alles,  was  von  den  Ständen 
geistliche  Farbe  trug,  von  dem  sächsischen  Mönch  abgerückt,  den 
anfänglich  viele  so  freundlich  begrüßt  hatten,  seitdem  ihnen  der  Ernst 
der  Lage  zu  Bewußtsein  gekommen  war.  Auf  der  Bank  der  weltlichen 
Fürsten  hielt  Herzog  Georg  an  der  starren  Haltung  gegen  den  Schütz- 
hng  seines  Vetters  und  Nachbarn  unbedingt  fest,  von  den  andern 
hatten  die  wenigsten  bereits  eine  feste  Stellung  genommen.  Wenn 
der  jugendliche  Landgraf  von  Hessen,  dessen  lebensvolle  Persönlich- 
keit Aleanders  besonderes  Interesse  erregte  (er  schien  ihm  ein  junger 
Mann  von  glänzender  Begabung  zu  sein),  seiner  Sympathie  für  den 
Mönch,  den  er  im  Johanniterhof  besuchte,  unverhohlen  Ausdruck 
gab,  so  stand  doch  einem  offenen  Eintreten  für  den  Reformator  seine 
Feindschaft  mit  Sickingen  und  dessen  Gesellen,  die  dem  Unmündigen 
in  das  Land  gefallen,  Aufruhr  und  Verehrung  hineingebracht  hatten, 
im  Wege;  bevor  dieser  Spahn  beigelegt  war,  durften  Luther  und  die 
Seinen  kaum  auf  Hilfe  von  Philipps  Seite  rechnen.  In  den  Städten, 
-zumal  in  denen  vom  Reich,  besaß  die  Bewegung  bereits  ihre  Haupt- 
herde, und  die  Magistrate  hatten  schwere  Arbeit,  um  die  andrängende 
Flut  in  gefahrlosere  Bahnen  zu  lenken;  aber  zurzeit  lag  ihnen  fast 
noch  mehr  daran,  einen  gnädigen  Kaiser  als  einen  gnädigen  Gott  zu 
haben;  auch  hatten  sie  in  der  Tat  Ursache,  zu  klagen,  denn  sie  sahen 
sich  auf  dem  Reichstage  überall  zurückgedrängt  zugunsten  der  Fürsten, 
die  Reichsregiment  und  Reichskammergericht  nach  ihrem  Gefallen 
emrichteten  und  durch  die  Zollgrenze,  die  um  das  Reich  gelegt  werden 


17 

sollte,  dem  Handel  eine  Fessel  anzulegen  sich  anschickten,  welche 
allen  Städteboten  als  etwas  ganz  Unerhörtes,  Unerträgliches  erschien; 
ihrer  Hinneigung  zu  der  evangelischen  Partei  ward  dadurch,  soweit 
sie  überhaupt  vorhanden  war,  ein  starker  Dämpfer  aufgedrückt. 

Aber  %vie  verschieden  auch  die  Interessen  der  Stände  und  die 
Aussichten,  die  sich  Luthers  Sache  von  ihrer  Seite  darboten,  waren, 
in  einer  Richtung  standen  zum  mindesten  die  weltlichen  unter  ihnen 
alle  beieinander:  sobald  es  gegen  Rom  ging.  Am  wenigsten  hatte  der 
Hohenzoller  in  Berlin  Ursache  sich  zu  beschweren,  da  er  seine  Kirche 
durch  das  Konkordat  von  1448  fester  als  die  andern  in  der  Hand  hielt ; 
an  Häkeleien  fehlte  es  aber  auch  bei  ihm  nicht;  gerade  jetzt  hatte  er 
Mühe,  seinen  Kandidaten  für  den  Brandenburger  Bischofsstuhl, 
seinen  geistlichen  Rat  Scultetus,  Luthers  scharfen  Gegner,  gegen  den 
Kandidaten  des  Domkapitels,  Georg  von  Blumenthal,  bei  der  Kurie 
durchzudrücken.  Herzog  Georg  forderte  ebenso  energisch,  wie  die 
Unterdrückung  der  lutherischen  Lehre,  die  Herstellung  der  Kirchen- 
zucht, und  Aleander  bezeichnete  sowohl  ihn  wie  die  Witteisbacher 
beider  Linien  ausdrücklich  als  Feinde  des  päpsthchen  Stuhles.  Auch 
in  kirchlichen  Kreisen  waren  solche  Stimmungen  keineswegs  un- 
erhört. War  doch  die  Bewegung  mehr  von  ihrer  Seite  als  von  der 
Laienwelt  ausgegangen.  Die  Führer  waren  fast  durchweg  Geist- 
liche; und  der  Stoß  wirkte  gerade  dadurch  so  stark  und  unwider- 
stehlich, weil  er  aus  dem  Schoß  der  Kirche  hervorgebrochen  war;  die 
Humanisten  selbst  waren  vielfach,  oder  gar  in  der  Mehrzahl,  Kleriker. 
In  dieser  allgemeinen  Empörung  über  die  römische  Verwaltung,  die 
mit  ihrer  zentralisierenden  Tendenz  und  durch  die  selbstsüchtige 
Ausnutzung  der  innerdeutschen  Parteiungen  den  in  jedem  territorialen 
Bezirk  bis  zu  den  Burg-  und  Dorfgemeinden  herunter  lebenden  Willen 
zur  Zusammenfassung  und  zum  Ausbau  der  eigenen,  partikularen 
Macht  hemmte  und  damit  auch  die  Ausbildung  eines  nationalen 
Gesamtwillens  in  allen  kirchlichen  Fragen  unmöglich  machte,  lag 
der  Kern  der  Bewegung;  daher  stammte  die  unerhörte  Wucht  und 
Wut,  mit  der  sie  zum  Ausbruch  kam:  so  daß  Aleander  mit  Recht 
schreiben  konnte,  neun  Zehntel  der  deutschen  Nation  und  die  Steine 
selbst  schrien:  »Luther«. 

Wie  wenn  nun  der  Reformator  die  Aussichten,  die  sich  daraus 
für  seine  Sache  ergaben,  benutzt,  wenn  er  jene  Strömungen  in  sein 
Bett  geleitet,  sich  zum  Führer  der  Nation  gegen  Rom  gemacht  hätte? 

Lenz,  Wille,  Macht  und  Schicksal.  2 


18 

Daß  er  den  Zusammenhang  seines  Evangeliums  mit  den  nationalen 
Hoffnungen  und  Notwendigkeiten  längst  begriffen  hatte,  lehren  seine 
Briefe;  mit  jedem  seiner  Schritte  war  es  ihm  nur  immer  klarer  ge- 
worden, daß  er  im  tiefsten  Grunde  nicht  bloß  um  das  Heil  seiner 
Seele,  sondern  um  die  Seele  seines  Volkes  selber  kämpfte.  Hätte  er 
da  nicht  hoffen  können,  auch  die  Bischöfe  und  Prälaten  hinter  sich 
her  zu  ziehen,  die,  mochten  sie  ihn  auch  noch  verleugnen,  weil  sie 
(schreibt  Aleander)  vor  Sickingen  und  seinen  Gesellen  zitterten  wie 
die  Hasen,  die  gejagt  und  verspeist  werden  sollten,  dennoch  bereits 
selbst  an  den  Ketten  zerrten,  mit  denen  sie  an  den  römischen  Stuhl 
gefesselt  waren  ? 

Es  wäre  der  Weg  geworden,  den  einst  Wiclif  und  Hus  gegangen 
waren.  Sie  waren  dabei  gescheitert.  Aber  seitdem  war  die  Welt  ein 
gutes  Stück  vorwärts  gekommen.  Und  daß  die  Gedanken  Luthers 
an  sich  wohl  fähig  waren,  einen  nationalen  Staatsbau  zu  fundamen- 
tieren,  sollte  der  Siegeszug  offenbaren,  den  sie  noch  in  demselben 
Jahrzehnt  rund  um  die  Ostsee  vollendeten.  Die  ganze  nordische 
Welt  ruhte  fortan  auf  dem  Grunde,  den  der  sächsische  Mönch  gelegt 
hatte.  Auf  ihm  errichteten  in  Schweden  die  Wasas,  indem  sie  das 
dänische  Joch  von  dem  Nacken  ihres  Volkes  nahmen,  ihren  Staat, 
der  dann  dem  Norden  Gesetze  gab.  Luthers  Lehre  verlieh  Dänemark 
selbst,  das  sich  nun  gegen  den  eigenen  König  erhob,  neue  Kraft.  Sie 
zerstörte  die  hierarchischen  Formen,  in  denen  die  preußischen  und 
baltischen  Kolonisationen  von  ihrer  Gründung  ab  gelebt  hatten, 
und  schuf  auch  hier  Staatsgebilde,  die  den  Stürmen  der  Zeit  (und 
wo  waren  sie  stärker  als  zwischen  der  Weichsel  und  dem  finnischen 
Meerbusen?)  Jahrhunderte  getrotzt  und  dem  deutschen  Geist,  der 
diesen  Boden  der  abendländischen  Kultur  erschlossen  hatte,  die  Herr- 
schaft neu  gesichert,  ja  nun  erst  recht  ihm  den  Zugang  zu  dem  Osten 
ermöghcht  haben.  Für  alle  diese  Länder,  von  Grönland  bis  Narwa 
und  Dünaburg,  ward  auf  Generationen  hinaus  Wittenberg  das  geistige 
Zentnmi,  allen  politischen  und  völkischen  Wirren  und  Gegensätzen, 
die  in  ihnen  herrschten,  zum  Trotz.  Auch  dann  noch,  als  unter  neuen 
Weltverhältnissen  die  Starrheit  der  kirchlichen  Formen  allgemein 
nachließ  und,  jedoch  immer  noch  auf  dem  alten  Grunde,  der  deutsche 
Geist  sich  in  neuen  Gestaltungen  versuchte,  blieb  diese  geistige  Einheit 
gewahrt :  man  denke  nur  an  die  Missionsfahrten  des  Grafen  Zinzendorf 
und  seiner  geistlichenBrüder  und  Schwestern  nach  Grönlands  Küsten,, 


19 

an  die  Abhängigkeit,  ja  die  Gleichsetzung  und  Unterwerfung  der 
dänisch-norwegischen  Literatur  unter  den  Geist  unserer  Klassiker  zur 
Zeit  eines  Holberg  und  Steffens,  an  die  innige  Verbindung  des  schwe- 
dischen und  des  deutschen  Geistes  in  denselben  Jahrzehnten,  und  an 
die  bis  Charkow  und  über  den  Ural  hinweg  reichende  Hegemonie  der 
auf  lutherischen  Universitäten  vorgebildeten  deutschen  Gelehrten, 
die  hier  bis  tief  in  das  19.  Jahrhundert  hinein  ungebrochen  blieb. 
Das  gleiche  Bild  bietet  uns  Ungarns  Entwicklung  .  In  Johann  Zapolya, 
dem  Woiwoden  von  Siebenbürgen,  dem  Lande  der  Szekler  und  der 
Sachsen,  tritt  uns  wiederum  schon  in  dem  Jahrzehnt  nach  dem  Reichs- 
tage von  Worms  zum  erstenmal  der  Vertreter  einer  magyarischen 
Nationalpartei  entgegen,  der  den  Staat  auf  den  Grund  der  lutherischen 
Ideen  stellte,  kaum  40  Jahre  nach  dem  Tode  des  Matthias  Corvinus, 
der  das  gleiche  Ziel,  den  Aufbau  eines  magyarischen  Nationalstaates, 
in  engster  Verbindung  mit  der  Kurie  verfolgt  hatte;  durch  zwei  Jahr- 
hunderte hin  ist  so  das  deutsche  Evangelium  das  stärkste  moralische 
Element  in  der  magyarischen  Nationalpartei  gewesen;  die  Bethlen, 
Rakoczy  und  Tököly  waren,  wenn  auch  nicht  mehr  persönlich  Lu- 
theraner, politisch  doch  alle  Nachfolger  Johann  Zapolyas. 

Hätte  also  Luther,  wir  wiederholen  es,  die  deutsche  Nation  nicht 
auch  auf  solche  Wege  führen  sollen  ?  Hätte  er  es  überhaupt  gekonnt  ? 
Oder  war  etwa,  was  der  nordischen  Staatenwelt  zum  Heil  ward,  für 
Deutschland  unmöglich? 

Ranke,  der  in  seiner  Darstellung  des  Wormser  Reichstages  diese 
Fragen  (nur  etwas  anders  gestellt)  ebenfalls  aufgeworfen  hat,  war 
noch  geneigt,  wenigstens  die  zweite  in  gewissen  Grenzen  zu  bejahen. 
Indem  er  der  100  Gravamina  gedenkt,  jenes  Schriftstücks,  in  dem  alle 
Vorwürfe  und  Anklagen  gegen  die  T5n:annei  und  Simonie  des  römischen 
Stuhls,  welche  die  Nation,  geistlichen  wie  weltlichen  Standes,  seit 
Jahrzehnten  in  Erregung  hielten,  zum  Vortrag  vor  dem  Kaiser  ge- 
sammelt waren,  fügt  er  hinzu:  Man  könnte  sich  fast  zu  dem  Wunsche 
versucht  fühlen,  daß  Luther  fürs  erste  hierbei  stehen  geblieben  sein 
möchte.  Luther  hätte  dann  von  den  Ständen  nimmermehr  verlassen 
werden  können;  denn  er  hätte  dann  nur  die  Gesinnung  der  Stände 
selbst  zum  Ausdruck  gebracht ;  auch  der  Kaiser,  den  der  eigene  Beicht- 
vater mit  dem  Zorn  des  Himmels  bedrohte,  wenn  er  die  Kirche  nicht 
reformiere,  hätte  ihr  wahrscheinlich  nicht  \viderstehen  können.  »Es 
würde«,  so  schließt  Ranke  diese  Gedanken  ab,  »die  Nation  in  ihrer 


20 

Einheit  befestigt,  zu  einem  Bewußtsein  derselben  erst  vollkommen, 
geführt  haben,  wenn  sie  einen  gemeinschaftlichen  Kampf  wider  die 
weltliche  Herrschaft  von  Rom  unter  seiner  Anführung  bestanden  hätte.« 

Ich  weiß  nicht,  ob  wir  den  Meister  auch  nur  soweit  folgen  dürfen. 
Ranke  selbst  weist  darauf  hin,  daß  die  geistlichen  Stände  bereits 
schwankend  geworden  waren,  so  daß  die  Räte  der  weltlichen  Fürsten 
die  Eingabe,  in  der  doch  ein  ganzer  Teil  den  Beschwerden  der  Geist- 
lichen selbst  gewidmet  war,  vor  dem  Kaiser  allein  zum  Vortrag  brachten, 
am  22.  April,  also  im  Anschluß  und,  wie  es  fast  scheint,  als  Gegenzug 
gegen  die  kaiserliche  Erklärung  vom  19.  und  im  Zusammenhang  mit 
der  Vermittlungsaktion,  die  Richard  von  Trier  durch  die  neue  Be- 
fragung Luthers  in  Gang  brachte.  Erscheint  es  daher  schon  an  sich 
mehr  als  zweifelhaft,  ob  Luther  auch  nur  die  Stände  in  der  Viel- 
gestaltigkeit ihrer  Interessen  auf  diese  Parole  insgesamt  hinter  sich  ge- 
bracht hätte,  so  wäre  es  völlig  unmöghch  gewesen,  die  kaiserliche 
Politik,  die  sich  eben  erst  mit  der  Kurie  verständigt  hatte,  gerade 
jetzt,  unmittelbar  vor  dem  ersten  großen  Waffengange  Karls  mit 
dem  französischen  Rivalen,  von  Rom  abzureißen  und  auf  der  Linie 
einer  national-deutschen  Politik  festzulegen. 

Wir  haben  es  jedoch  nicht  nötig,  solchen  Erwägungen  weiter 
nachzuhängen :  hat  doch  der  Altmeister  selbst  ihre  Nutzlosigkeit  durch 
die  herrhchen  Worte  dargetan,  die  er  jener  Äußerung  unmittelbar 
folgen  läßt,  und  in  denen  er  sie  in  einem  höheren  Sinne  beantwortet. 
»Jedoch  die  Antwort  ist«,  so  schreibt  er:  »die  Kraft  dieses  Geistes 
würde  gebrochen  gewesen  sein,  wenn  eine  Rücksicht  ihn  gefesselt 
hätte  von  einem  nicht  durchaus  religiösen  Inhalt.  Nicht  von  den  Be- 
dürfnissen der  Nation,  sondern  von  religiösen  Überzeugungen  war  er 
ausgegangen,  ohne  die  er  nie  etwas  gemacht  hätte,  und  die  ihn  nun 
freilich  weiter  geführt  hatten,  als  es  zu  jenem  politischen  Kampf 
nötig  oder  auch  nützlich  war.  Der  ewig  freie  Geist  bewegt  sich  in 
seinen  eigenen  Bahnen.« 

Wir  bemerkten,  daß  Wichf  und  Hus  ein  Jahrhundert  zuvor  bei 
dem  Versuch,  den  Aufbau  ihrer  Nationen  auf  dem  Grunde  romfeind- 
hcher  Gedanken  zu  erreichen,  gescheitert  wären.  Luther  selbst  hat, 
wie  man  weiß,  im  Weiterschreiten  auf  seiner  Bahn  in  der  Ideenwelt 
des  böhmischen  Reformators  seine  eigenen  Gedanken  weder  zu  finden 
geglaubt;  und  man  hat  lange  Zeit  in  jenen  beiden  wirklich  die  »Vor- 
reformatoren«, in  Luther  aber  eben  nur  den  Fortführer  und  Vollender 


21 

ihrer  Ideen  sehen  wollen.  Heute  werden  \vir  dies  nicht  mehr  nach- 
schreiben dürfen,  auch  abgesehen  davon,  daß  dem  Tschechen  über- 
haupt die  Originahtät  abzusprechen  ist,  da  er  in  seinen  Schriften,  wie 
wir  seit  Loserths  eindringenden  Forschungen  wissen,  bis  auf  den 
Wortlaut  von  seinem  englischen  Vorgänger  abhängig  war.  Gewiß, 
persönlich  neigten  beide  nicht  zu  den  Extremen;  die  Kirche  des 
Utraquismus,  in  der  der  Geist  des  Gründers  des  böhmischen  Wicli- 
fitismus  fortlebte,  trug  Züge,  die  in  Verfassung  und  Kultus  an  die 
englische  Hochkirche  erinnern,  und  die  Anschauungen  Wiclifs  von  den 
Sakramenten,  der  Schlüsselgewalt  des  Papstes,  vom  Heiligenkult  und 
Reliquien  dienst,  ja  von  der  Gnadenwahl  und  Kirche  selbst  deuten 
ohne  Frage  bereits  auf  Luther  hin.  Es  war  wie  ein  Wetterleuchten 
vor  dem  Blitzen  und  Donnern,  das  in  dem  folgenden  Jahrhundert  los- 
brechen und  Segen  wie  Zerstörung  über  die  Welt  bringen  sollte.  Und 
niemand  wird  jenen  Männern  den  Ernst  der  Überzeugung  absprechen 
dürfen;  sie  haben  beide  für  ihren  Glauben  gelitten,  Hus  hat  für  ihn, 
und  nicht  bloß  für  die  Sache  seiner  Nation,  den  Tod  des  Märt5n:ers 
auf  sich  genommen.  Aber  es  läßt  sich  doch  nicht  leugnen,  daß  sie 
von  politischen,  nationalen  Interessen  ausgegangen  sind  und  sich 
immer  von  diesen  und  den  Parteien,  die  sich  im  besonderen  zu  ihren 
Trägern  gemacht  hatten,  haben  leiten  lassen.  Beide  waren,  wie 
Luther,  Theologen  und  Professoren  an  ihren  Landesuniversitäten. 
Aber  Mönche  waren  sie  nicht ;  zu  jeder  Zeit  waren  sie  in  die  kirchlichen 
und  staatlichen  Verhältnisse  ihrer  Länder  tief  verflochten.  Hus  war 
der  Führer  der  tschechischen  Magister  gewesen,  welche  die  deutschen 
Dozenten  und  Scholaren  von  der  Prager  Universität  vertrieben,  und 
Wiclif,  mochte  er  selbst,  als  er  dem  Parlament  bei  seiner  Opposition 
gegen  die  Geldforderungen  der  Kurie  von  Avignon  seine  Feder  heh, 
und  so  auch  späterhin  sich  in  Schranken  halten,  hat  seine  Lehre  von 
dem  Recht  des  Besitzes,  an  dem  der  Todsünder  keinen  Teil  habe, 
und  die  für  jenen  Kampf  die  Rechtfertigung  sein  sollte,  auf  Gedanken 
gestellt,  deren  Konsequenzen  die  Taboriten  gezogen  haben;  hat  er 
doch  selbst  zugegeben,  daß  sie  in  vielen  Punkten  mit  dem  gegen- 
wärtigen Stand  der  Gesellschaft  unverträglich  seien.  Luther  hingegen 
war,  als  er  ins  Kloster  trat,  fern  von  jeder  Auflehnung,  von  jedem 
Gedanken  an  einen  Konflikt  mit  der  Hierarchie.  Was  wußte  er,  der 
Plebejer,  der  Mansfelder  Bergmannssohn,  der  Student,  der  gerade 
erst   die   Vorstufe   des   Fachstudiums   hinter   sich   gebracht,   weder 


Juristerei  noch  Theologie  studiert  hatte,  von  den  Welthändeln?  Er 
glaubte  wirklich  der  Welt  Valet  zu  sagen,  für  immer  in  den  Mauern 
des  Klosters  zu  bleiben,  als  er  von  den  Freunden  Abschied  nahm  und 
mit  seinem  Vater,  der  so  viel  Hoffnungen  auf  seinen  Martin  gesetzt, 
darüber  brach.  Ein  Gottsucher  war  er  bereits,  aber  Theologe  ist  er 
erst  im  Kloster  geworden.  Es  war  der  Gott  seiner  Kirche,  der  sich 
täglich  in  tausend  Wundern  offenbarte,  der  hinter  jedem  Tüttelchen 
ihrer  Lehre,  jeder  Willensäußerung,  jedem  Anspruch,  den  sie  machte, 
sich  verbarg,  dessen  Macht  und  Ehre  alle  Jahrhunderte,  Himmel  und 
Erde  priesen  und  bezeugten,  vor  dem  alles,  was  irdisch,  Staub  war, 
und  verloren,  wenn  er  zürnte.  Daß  dieser  Gott  auch  sein  Gott  sei, 
war  für  den  jungen  Mönch  die  Voraussetzung,  der  Boden,  auf  dem  er 
stand ;  er  hatte  ihn  niemals  verlassen.  Was  er  wollte,  war  das  gleiche, 
was  die  Kirche  ihm  anbot,  in  dessen  Besitz  sie  war  (so  sagten  ihm  ihre 
Diener),  sie  allein,  das  was  sie  einem  jeden  gab,  und  umsonst,  wenn  er 
nur  danach  verlangte,  sich  ihr  anvertraute,  die  Gnadenmittel  annahm, 
die  sie  in  verschwenderischer  Fülle  aus  Schätzen,  die  sie  seit  Jahr- 
hunderten aufgehäuft  und  unablässig  vermehrte,  feilbot:  die  Gewiß- 
heit der  göttlichen  Gnade,  die  Errettung  aus  der  Sünden  Schoß,  den 
Frieden  der  Seele.  Eben  deshalb  suchte  dieser  junge  Sünder  (so  be- 
trachtete er  selbst  sich)  das  Kloster  auf.  Denn  einen  Weg,  der  sicherer 
zum  Ziel,  zu  dem  Heil,  nach  dem  er  dürstete,  führte,  gab  es  nach  der 
Lehre  der  Kirche  nicht.  Und  so  schritt  er  auf  ihm  vorwärts,  durch 
das  Heer  immer  neuer  Anfechtungen  hindurch,  ohne  jeden  anderen 
Ehrgeiz,  jeden  anderen  Gedanken,  als  den  einen,  der  ihn  ins  Kloster 
getrieben  • —  bis  er  ins  Freie  kam,  oder  wenigstens  zu  einer  Lichtung, 
von  wo  er  den  Himmel  und  seine  Sterne  über  sich  erblickte,  mochten 
auch  die  Schatten  der  Dämmerung  noch  um  ihn  sich  lagern. 

Von  hier  aus,  von  der  Weltferne  seines  Gottesbewußtseins  gegen- 
über dem  der  römischen  Kirche  müssen  wir  die  Tat  Luthers  in  Worms 
betrachten,  um  ihre  Größe  und  ihre  Bedeutung  ganz  zu  ermessen: 
weil  seine  Religion  so  ganz  persönlich  war,  weil  sie  ihn  vor  Gottes 
Angesicht  frei  hinstellte,  keinen  andern  Mittler  anerkannte,  als  den, 
in  dem  er  sich  selbst  offenbart  hatte,  jedes  Feilschen  und  Markten 
um  die  götthche  Gnade  ablehnte,  dehnte  sich  ihr  Bereich  über  alle 
Jahrhunderte  und  alles,  was  irdisch  war,  hinaus,  war  sie  nicht  an 
Zeit  noch  Stätte  gebunden.  Eben  dies  war  aber  auch  der  Anspruch 
Roms.    Auch  seine  Gebote  richteten  sich  zunächst  nur  an  das  Indi- 


23 

viduum.  Dies  hielt  seine  Kirche  durch  das  siebenfache  Band  ihrer 
Sakramente  gefesselt,  das  jedermann,  der  ihr  Untertan  geworden  war, 
von  der  Wiege  bis  zur  Bahre,  an  jeder  großen  Station  seines  Lebens- 
weges, umschloß.  Eben  deshalb  behauptete  sie  die  universale  Kirche 
zu  sein,  und  war  es  in  der  Tat,  insofern  sie  sich  lun  die  politischen 
Formen  nicht  kümmerte,  über  nationale  Grenzen  hinwegsah  und  alle 
Parteiungen,  jeden  partikularen  oder  allgemeinen  Willen  nur  von  sich 
aus  und  von  jenem  Zentralgedanken  her  beachtete.  Gerade  dadurch 
aber  umklammerte  und  durchsetzte  sie  alle  Ordnungen  in  Staat  und 
Gesellschaft,  bannte  sie  jeden  persönlichen  Gestaltungswillen  in  die 
Grenzen,  die  sie  selbst  setzte,  ließ  sie  auf  keinem  Gebiete,  in  keiner 
Höhenlage  des  Lebens  gelten,  was  ihrem  eigenen  Willen  widerstrebte. 
Das  war  das  »babylonische  Gefängnis«,  aus  dem  Luther  sich  und  seine 
Nation  zu  retten  versucht  hat. 

Was  hätte  es  ihm  nun  genutzt,  wenn  er  die  Klagen  und  An- 
klagen der  deutschen  Stände,  das  ganze  Chaos  ihrer  Wünsche  und 
Interessen  sich  zu  eigen  gemacht,  sich  zum  Führer  jener  antirömischen 
Bewegung  gemacht  hätte!  Er  wäre  bald  am  Ende  seines  Lateins 
gewesen.  Sie  hätten  ihn  alle  für  sich  zu  benutzen,  an  ihren  Karren 
zu  spannen  gesucht:  Sickingen,  Hütten  und  ihre  Freunde  ebenso 
wie  die  herzogHch  Sächsischen,  oder  die  Witteisbacher,  oder  Kardinal 
Albrecht  und  die  Bischöfe.  Es  wäre  ein  Wirrwarr,  ein  Kampf  aller 
gegen  alle  geworden,  in  dem  er  selber  den  Boden  unter  den  Füßen 
und  seine  Ziele  rettungslos  aus  den  Augen  verloren  hätte;  in  tausend 
Widersprüche  verstrickt,  wäre  er  gerade  in  die  Untiefen  gefallen,  in 
die  ihn  die  römischen  Diplomaten  hatten  führen  wollen,  und  nichts 
hätte  die  Kirche  in  ihrem  Anspruch,  die  Versöhnerin,  die  Friedens- 
stifterin, die  universale  Mutter  aller  Christgläubigen  zu  sein,  besser 
rechtfertigen  können. 

Diese  Kirche  hatte  in  den  letzten  beiden  Jahrhunderten  schon 
stärkere  Erschütterungen  erfahren,  als  ihr  damit  beschieden  worden 
wären:  Spaltungen,  die  um  so  gefährlicher  sich  angelassen  hatten, 
als  sie  nicht,  wie  im  Mittelalter  so  oft,  von  der  weltlichen  Macht, 
dem  Imperium  oder  einem  der  Könige  des  Westens,  in  die  Kirche 
hineingetragen  wurden,  sondern  von  ihr  selbst,  und  zwar  von  der 
Spitze  her  ihren  Ausgang  nahmen.  Jene  hatten  die  Glieder  an  das 
Zentrum  der  Kirche  nur  noch  mehr  herangetrieben;  im  Kampf  war 
die  Hierarchie  erstarkt,  war  das  Papsttum  seiner  Macht  bewußt  ge- 


24 

worden,  hatte  auch  die  Theorie  des  kirchlichen  Absolutismus  ihre 
schärfste  Formulierung  gefunden.  Als  aber  das  Haupt  sich  spaltete, 
wurden  alle  Gheder  mitergriffen  und  drohte  dem  ganzen  Körper 
die  Lähmung.  So  unlöslich  ward  der  Konflikt,  daß  innerhalb  der 
hierarchischen  Kreise  selbst  der  Gedanke  auftauchen  und  für  den 
Moment  siegen  konnte,  der  Kirche  parlamentarische  Ordnungen  zu 
geben,  die  Pyramide  (nach  dem  bekannten  Wortbild  aus  einer  modernen 
politischen  Revolution)  auf  ihre  Basis,  statt  auf  ihre  Spitze,  zu  stellen, 
die  Provinzen  der  Kirche,  die  Obedienzen,  wie  man  damals  sagte,  in 
geschlossenen  Verbänden  vereinigt  zu  ihren  Trägern  zu  machen. 
Allmählich  war  jedoch  die  Kurie  ihrer  Feinde  von  neuem  Meister 
geworden.  Denn  daß  die  Einheit  zum  Wesen  der  Kirche  gehöre,  war 
von  jedermann  zugestanden  und  trat,  je  größer  die  Verwirrung  war, 
um  so  mehr  ins  allgemeine  Bewußtsein.  Gerade  um  diese  Einheit 
wiederherzustellen,  kam  der  Gedanke  an  ein  über  den  Päpsten  ste- 
hendes Konzil  auf;  die  Bewegung,  die  zu  den  Konzilien  von  Pisa  und 
Konstanz  führte,  hatte  darin  gerade  ihren  Ursprung.  An  ihr  und 
der  Universalität  der  Kirche,  von  der  jene  ja  nur  die  Konsequenz 
war,  hielten  die  Gegner  des  päpstlichen  Absolutismus  (die  Radikalen 
mit  eingeschlossen)  ebenso  fest  wie  die  Freunde,  nur  daß  die  Theorie, 
der  Begriff  der  Kirche  sich  änderte.  Der  Jubelruf  »Papam  habemus«, 
der  die  Wähler  des  Konzilspapstes  empfing,  als  aus  dem  Konklave 
im  Kaufhaus  von  Konstanz  der  staatskluge  Kardinal  Otto  von  Colonna 
als  Papst  Martin  V.  hervorging,  brachte  zum  Ausdruck,  wie  sehr  das 
Gemeingefühl  des  Zeitalters  nach  dieser  Lösung  verlangte.  Und  so 
lange  die  Kirche  ein  in  sich  ruhender,  den  weltlichen  Ordnungen 
gegenüber  souveräner,  ja  ihre  Organe  durchsetzender  Körper  bheb, 
war  ihre  Zusammenfassung  in  einer  zentralen,  alle  Teilgewalten  über- 
ragenden und  ausgleichenden  Gewalt  das  Gegebene.  Die  Geschichte 
der  Reformkonzihen  des  15.  Jahrhunderts  hat  es  bewiesen.  Der  Ver- 
such eines  ständisch-parlamentarischen  Wiederaufbaus  der  Papst- 
kirche überlebte  die  Regierung  Martins  V.  nur  um  ein  paar  Jahre. 
Aus  dem  Schöße  des  zu  Basel  zusammengekommenen  neuen  Reform- 
konzils selbst  brach  das  Schisma  aus,  zerrüttender  und  kläglicher  noch 
in  seinem  Verlauf  als  der  Kampf  der  Päpste  von  Avignon  gegen  ihre 
römischen  Gegner,  und  das  Ende  vom  Ganzen  war  die  Herstellung 
des  Papsttums  zu  einer  Vollgewalt,  wie  es  sie  im  ganzen  Mittelalter 
nicht  gehabt  hat ;  niemals  hatte  es  sich  in  der  ewigen  Stadt  so  unbesorgt 


lo 


fühlen  dürfen  und  so  glänzend  zu  repräsentieren  verstanden,  wie  in 
den  70  Jahren,  die  ihm,  seitdem  die  geistlichen  Rebellen  von  Basel 
zu  Kreuze  gekrochen,  noch  vergönnt  waren,  bevor  das  Ungewitter 
der  Tiefe  hervorbrach,  in  der  Epoche  der  Rovere,  der  Medici  und 
der  Borgia. 

Freilich  gelang  dies  nur  auf  dem  Wege  des  Kompromisses.  Denn 
auch  die  Obedienzen,  oder,  besser  gesagt,  die  in  ihnen  vorwaltenden, 
in  ihrem  staatlichen  Zusammenhang  bereits  gefestigten  Mächte  hatten 
die  große  Spaltung  ohne  Schaden  überstanden.  Wie  diese  bereits 
hinter  den  Konflikten,  die  im  Zentrum  der  Kirche  zum  Ausbruch 
gekommen,  gestanden  und  in  jedem  Moment  der  nachfolgenden 
Kämpfe  ihren  Vorteil  wahrgenommen,  im  Zusammenschluß  mit  der 
eigenen  Geistlichkeit  (was  denn  auch  hier  Reibungen  genug  herbei- 
führte) ihren  Staat  aufgebaut  hatten,  so  ließen  sie  sich  den  Friedens- 
schluß mit  der  Kurie  und  ihren  Wiederaufbau  auch  nur  wieder  ab- 
kaufen; nur  so  gelang  es  Eugen  IV.,  den  Widerstand  der  Baseler  zu 
brechen,  und  so  konnten  auch  seine  Nachfolger  niemals  sich  gestatten, 
etwa  in  der  Art  eines  Gregor  VII.  oder  der  großen  Päpste  des  12.  und 
13.  Jahrhunderts  gegenüber  den  neuen  Mächten  aufzutreten.  Indem 
sie  aber  die  Macht  respektierten,  sich  auf  die  Teilung  des  Einflusses 
in  Konkordaten  einließen,  konnten  sie  im  übrigen  die  Zentralisierung 
der  Verwaltung,  auch  in  den  Ländern,  mit  deren  Regierungen  sie 
ihre  Verträge  abgeschlossen,  so  gut  oder  besser  als  in  den  früheren 
Zeiten  betreiben.  Es  waren  vor  allem  die  großen  Monarchien  des 
Westens,  in  denen  diese  Vereinbarungen  zwischen  Staats-  und  Kirchen- 
gewalt getroffen  wurden;  aber  auch  die  Königreiche  des  Nordens 
und  des  Ostens  waren  kraftvoll  genug  oder  durch  ihre  politische  Lage 
so  begünstigt,  daß  sie  auf  diese  Weise  einer  allzu  straffen  Anziehung 
der  papalen  Gewalt  sich  erwehren  konnten;  sogar  die  italienischen 
Teilstaaten  vermochten  sich  so  oder  so  mit  der  Kurie,  an  deren  Bestand 
in  ihrem  Lande  sie  schließlich  mehr  oder  weniger  alle  interessiert 
waren,  auseinanderzusetzen.  Einzig  der  deutschen  Nation  blieb  dies 
versagt.  Nur  zwei  Fürstenhäuser  gab  es  hier,  denen  dies  schon  beim 
Abschluß  des  Baseler  Konzils  vergönnt  war:  die  Habsburger  und  die 
Hohenzollern.  Für  alle  anderen  partikularen  Gewalten  im  Reich  und 
für  dessen  Gesamtorganisation  selbst  waren  die  Reformkonzilien, 
trotzdem  sie  auf  deutscher  Erde  abgehalten  waren,  umsonst  gewesen: 
in  der  allgemeinen  Zersplitterung,  in  dem  Durcheinander  fürstlicher, 


26 

städtischer,  ritterlicher  und  bäurischer  Elemente,  geisthcher  und 
weltlicher  Korporationen  und  Eigengewalten,  war  Rom  die  einzige 
Macht,  die  in  sich  geschlossen  und  von  einem  Willen  beherrscht  war 
und  so  die  Instanz  geworden  oder  geblieben  war,  an  die  sich  alle 
Sonderinteressenten  wenden,  Gnaden  für  sich  erlangen,  oder  ihre  Ab- 
weisung zugunsten  ihrer  Gegner  befürchten  mußten.  Bheb  es  hierbei, 
vermochte  sich  nicht  ein  Zentrum,  ein  Machtwille  in  der  Nation  zu 
erheben,  der  alle  auseinanderlaufenden  Strömungen  in  ein  Bett  lenkte, 
einem  gemeinsamen  Interesse,  einer  die  Nation  zusammenschließenden 
Idee  unterwarf,  so  war  nur  die  Verewigung  des  Zwiespalts,  ja  eine 
wachsende  Zerrüttung  zu  erwarten. 

Auch  die  konziliaren  Theorien  waren  mit  dem  Scheitern  der 
konziliaren  Reformen  in  Mißkredit  gekommen;  niemals  waren,  wir 
sahen  es,  die  papalen  Ansprüche  rückhaltloser  ausgesprochen  und  so 
widerspruchslos  als  die  heiligsten  Gesetze  der  Mutter  Kirche  ex  Ca- 
thedra verkündet  worden,  als  von  den  Päpsten,  deren  Andenken 
voll  Blut  und  Wollust  der  Abscheu  der  Jahrhunderte  geworden  ist. 
Es  war  dasselbe  Rom,  um  das  der  Kultus  edelster  Schönheit  unver- 
gänglichen Glanz  gewoben  hat :  genährt  von  den  erhabensten  Gedanken 
der  Antike,  durchgebildet  mit  den  Formen  ihrer  Kunst,  hatte  der 
italienische  Geist  im  Vatikan  seinen  schimmernden  Thron  errichtet; 
ein  Leuchten  wie  vor  dem  Erwachen  des  jungen  Tages  ging  nun  von 
dort,  von  dem  Pontifikat  eines  Julius  IL,  eines  Leo  X.  durch  die 
Jahrhunderte  hin.  Und  so  hat  man  wirklich  in  dem  Geist  der  Re- 
naissance die  Kraft  sehen  wollen,  welche  die  Welt  erneuert,  den  Typus 
des  modernen  Menschen,  einen  neuen  Begriff  der  Gesellschaft  ge- 
schaffen habe.  Aber  wir  brauchen  uns  bloß  daran  zu  erinnern,  daß 
das  Latein  des  Laterandekrets  über  die  päpstliche  Unfehlbarkeit  und 
der  Bulle,  welche  den  deutschen  Ketzer  in  den  Abgrund  der  Hölle 
verwies,  von  denselben  Männern  entworfen  worden  ist,  die  sich  mit 
jener  humanistischen  Bildung  schmückten,  um  zu  erkennen,  daß, 
wer  ihrem  Zeitalter  solche  Vorstellungen  entgegenbringt,  von  den 
die  Tiefen  bewegenden,  das  Antlitz  der  Nationen  und  den  Aufbau 
ihrer  Staaten  bedingenden  und  gestaltenden  Kräften  keine  Ahnung 
hat.  In  Wahrheit  hat  die  Renaissance  der  hierarchischen  Welt- 
gestalt kaum  die  Haut  geritzt.  Gewiß  ist  sie  aus  dem  italienischen 
Geist  in  seiner  Vermählung  mit  dem  der  Antike,  in  der  er  sich  selber 
wiederzufinden   vermeinte,  hervorgegangen  und  ruht   auf  den  poli- 


27 

tischen  Fundamenten  und  Konstellationen,  welche  das  Italien  des 
14.  Jahrhunderts  darbot,  so  wie  jede  geistige  Bewegung  aus  dem 
Schöße  einer  Nation  und  ihrer  politischen  Gestaltung  geboren  wird. 
Aber  schon  in  der  Epoche  Petrarcas  und  Cola  Rienzis,  in  denen  die 
neue  Bildung  sich  dieses  Ursprunges  voll  bewußt  ward  und  wirklich 
von  nationalem  Schwünge  sich  tragen  heß,  schloß  sie  sich  von  der 
Menge,  von  der  Welt  des  Volgare  ab,  auch  wenn  sie  es  gelegentlich 
meisterhaft  handhabte  und  in  klassische  Formen  goß,  und  suchte 
die  Höhen,  die  Welt  der  Mächtigen  auf,  in  der  sie  allein  atmen  konnte 
und  leben  wollte.  Ihre  Vertreter  waren  und  blieben  doch  nur  ein 
Ausschnitt  aus  der  Nation,  ein  Kreis  von  Privilegierten,  eine  neue 
geistige  Aristokratie;  an  die  Tiefen  reichten  sie  nicht  heran,  sie  scheuten 
eher  mit  ihr  die  Berührung.  Die  Tiefen  blieben  durch  sie  unbewegt ; 
wo  sie  aber  einmal  in  Konfhkt  gerieten  mit  jener  Bildung,  wie  in 
dem  Zank,  den  die  Neapolitanischen  Mönche  mit  Laurentius  Valla, 
dem  Skeptiker,  hatten,  oder  bei  dem  Angriff  des  großen  Bußpredigers 
Savonarola,  des  Dominikanermönches  von  San  Marco,  auf  das  medi- 
zäische  Florenz,  versagte  die  Selbstgewißheit  der  vornehmen  Herren 
gänzHch,  und  bewiesen  sie  damit,  daß  sie  bei  aller  ihrer  Bildung  mit 
dem,  was  die  Masse  war  und  wollte,  nichts  zu  schaffen  hatten,  zugleich 
aber,  daß  sie  den  auf  die  Empfindungen  und  Bedürfnisse  eben  dieser 
Masse  abgestellten  und  durch  sie  bedingten  sozialen  Institutionen  in 
Staat,  Kirche  und  Gesellschaft  nicht  gewachsen  waren  und  den- 
selben nichts  anhaben  konnten. 

Vollends  dem  deutschen  Geist  standen  diese  Wälschen  durchaus 
fremd  gegenüber.  Nichts  lehrreicher  hierfür  als  das  Auftreten  und 
Verhalten  Aleanders  in  Worms.  Auch  er  war  ein  Professor  wie 
Luther,  einer  der  namhafteren  Humanisten,  sein  Fach  das  Griechische; 
an  der  berühmtesten  Universität  der  Christenheit,  an  der  Sorbonne 
in  Paris,  hatte  er  vielbesuchte  Vorlesungen  gehalten,  er  war  ein  Gräcist, 
der  sich  neben  Erasmus,  mit  dem  er  rivalisierte,  sehen  lassen  konnte; 
als  Bibhothekar  des  päpsthchen  Stuhles  und  Kardinal  der  Kirche  ist 
er  gestorben.  Aber  niemand  stand  dem  Wittenberger  Mönch  ver- 
ständnisloser gegenüber  als  dieser  bestgebildete  Italiener.  Für  ihn 
war  Luther  immer  nur  der  Rebell,  der  Hund,  der  Basilisk,  ein  Ketzer, 
tausendmal  schlimmer  als  Arius;  sov.ae  er  nur  den  Namen  des  deutschen 
Kollegen  hinschreibt,  steigt  ihm  die  Galle  ins  Blut.  Auch  die  deutschen 
Humanisten  sieht   er  kaum   anders   an.     Er  kann   allerdings  nicht 


28 

leugnen,  daß  diese  tollen  Hunde,  die  Deutschen,  jetzt  auch  mit  den 
Waffen  des  Geistes  ausgerüstet  sind  und  sich  dessen  zu  rühmen 
wissen,  daß  sie  nicht  mehr  die  dummen  Bestien  seien,  wie  ihre  Vor- 
fahren, daß  sie  das  Wasser  des  Tiber  in  ihren  Rhein  geleitet,  und  daß 
ihnen  Itahen  die  Schätze  seines  Wissens  habe  abtreten  müssen.  Aber 
Barbaren  bleiben  sie  mit  ihrem  Hütten  an  der  Spitze  für  ihn  doch; 
so  etwa  wie  Emil  Boutroux,  der  Pariser  Philosophieprofessor,  sonst 
ein  trefflicher  Mann,  der  seine  Gedanken  im  wesentlichen  aus  Deutsch- 
land bezogen  hat,  nach  Ausbruch  des  Weltkrieges  und  offenbar  unter 
dem  Einfluß  einer  Kriegspsychose  von  der  durch  die  Wissenschaft 
verstärkten  deutschen  Barbarei  zu  schreiben  vermochte. 

Und  in  der  Tat,  der  Gegensatz  zwischen  dem  deutschen  und 
dem  italienischen  Humanismus  war  von  Anfang  an  gegeben,  und 
man  spürt  ihn  mit  jedem  Schritt  der  deutschen  Entwicklung  mehr. 
Gerade  in  diesem  Moment,  in  den  Tagen  von  Worms,  war  er  auf 
seiner  Höhe.  Vor  allem:  die  deutschen  Humanisten  sonderten  sich 
von  ihrem  Volke  nicht  ab,  wie  sie  denn  auch  meist  aus  dem  Volke 
stammten,  als  Bauern-  und  Bürgersöhne  auf  den  Universitäten 
studiert  hatten,  sondern  sie  standen  mitten  in  der  nationalen  Be- 
wegung, deren  W^ortführer  sie  von  jeher  gewesen,  und  der  sie  in  der 
Mehrzahl  eben  jetzt,  allen  voranstürmend  Ritter  Ulrich  von  Hütten, 
ihre  Feder  liehen.  Auch  sie  mieden  nicht  gerade  die  Höfe;  Kaiser 
Max  hatte  sie  sogar  geflissentlich  an  sich  herangezogen,  und  ein 
Hütten  es  nicht  verschmäht,  dem  Hohenzoller  in  Mainz  zu  dienen; 
schon  als  dieser  Tetzel  ausgesandt,  war  er  an  seinem  Hofe 
gewesen.  Aber  auch  dies  Verhältnis  hatte  einen  populären  Hinter- 
grund; gerade  durch  die  Poeten  auf  die  öffentliche  Meinung  zu  wirken, 
war  die  Absicht  jener  beiden  gewesen.  Aleander  empfand  diesen 
Gegensatz  durchaus.  »Ich  sage  es«,  schreibt  er,  »unsern  Poeten  und 
Rhetoren,  deren  ganzes  Tun  darin  besteht,  an  ein  paar  Verschen 
monatelang  zu  feilen  und  um  eines  armen  Wortes  willen  einander  zu 
verleumden,  gerade  ins  Gesicht,  daß  sie  sich  vertragen  und  einmütig 
in  ihren  Schriften  unsern  Glauben  verteidigen  sollten.«  Mit  ihren 
Einsichten  und  Fähigkeiten,  meint  er,  würden  sie  mehr  als  sieben 
dieser  Schreihälse  zum  Schweigen  bringen,  die  allein  mit  ihren  schrift- 
stellerischen und  poetischen  Künsten  sich  bei  der  Menge  in  solches 
Ansehen  gesetzt  haben,  als  wenn  sie  die  echte  Theologie  schon  ganz 
unter  die  Füße  getreten  hätten.    Diese  Schreihälse  wurden  aber  dem 


29 

römischen  Glauben  um  so  gefährlicher,  als  sie  jetzt,  dem  Beispiel 
Luthers  folgend,  schon  dazu  übergingen,  dem  Volke  ihre  Klagen 
und  Spottreden  über  Rom  und  die  Romanisten  auf  Deutsch  in  Vers 
und  Prosa  vorzutragen. 

Bei  alledem  darf  man  den  Einfluß  der  deutschen  Humanisten 
auf  die  Nation  im  Kampf  gegen  Rom  nicht  überschätzen.  Sturm- 
geister wie  Hütten  waren  doch  die  wenigsten.  An  Spott  und  Satire 
hatten  sie  sich  gerne  beteihgt,  auch  so  ernste  Geister  wie  schon  vor 
Jahren  Professor  Bebel  in  Tübingen.  Aber  zum  Scherz  waren  die 
Zeiten  nicht  mehr  angetan.  Das  bekam  Willibald  Pirckheimer  zu 
spüren,  als  der  von  ihm  so  grausam  »abgehobelte«  Eck  seinen  Namen 
in  die  Bannbulle  gegen  Luther  gebracht  hatte:  er  beeilte  sich,  um 
nicht  mit  Rom  in  Konflikt  zu  geraten,  zu  deprezieren.  Mut  war 
auch  bei  den  deutschen  Literaten  (wie  man  das  ja  auch  zu  andern 
Zeiten  finden  mag)  nicht  die  Haupttugend,  darin  stand  Hütten  ziemlich 
einsam,  dem  es  daran  wenigstens,  obschon  gerade  er  nirgends  in  die 
Tiefe  schürfte,  so  wenig  fehlte  wie  an  echtnationaler  Gesinnung.  In 
der  Mehrzahl  waren  sie  doch  Schulmeister,  wie  ja  die  Bewegung  von 
den  Schulen  ihren  Ausgang  genommen  hatte,  und  vielfach  froh,  bei 
aller  Sympathie  für  den  kühnen  Professor  an  der  Eibuniversität,  so 
wie  etwa  der  alte  Jakob  Wimphehng,  der  nun  in  Straßburg  lebte, 
und  Beatus  Rhenanus  in  Schlettstadt,  in  ihrem  Winkel  bei  ihren 
geliebten  Büchern  bleiben  zu  können;  im  Hinblick  auf  die  stolzen 
Herren  an  der  Tafelrunde  eines  Lorenzo  Medici  oder  die  Tischgenossen 
Papst  Leos  X.  erscheinen  uns  diese  braven  Landsleute  kaum  viel 
anders  als  so,  wie  Albrecht  Dürer  sich  seinen  Hieronymus  im  Gehäus 
vorstellte,  verglichen  mit  Rafaels  platonischer  Akademie. 

Jedenfalls,  die  Führung  der  nationalen  Bewegung  behielten  die 
deutschen  Humanisten,  die  sich  schon  zu  spalten  begannen  (trat 
doch  ein  Cochläus  schon  persönlich  in  Worms  gegen  Luther  in  die 
Schranken),  nicht  mehr,  seitdem  der  Mönch  von  Wittenberg  im 
Vordergrunde  des  Kampfes  stand.  Es  gab  fortan  nur  noch  die  eine 
Alternative:  für  oder  gegen  den  Reformator. 

Man  darf  aber,  um  die  Größe  der  Tat  von  Worms  würdigen  zu 
können,  überhaupt  nicht  an  der  Tatsache  vorübergehen,  daß  das 
hierarchische  System,  von  außen  angesehen,  noch  an  keinem  Punkte 
wirklich  durchbrochen  war.  Die  Universitäten,  auch  die  neuge- 
gründeten in  Wittenberg  und  Frankfurt,  waren  noch  immer  geisthche 


30 

Körperschaften,  ausgestattet  mit  päpstlichen  Privilegien,  organisiert 
wie  alle  ihre  Mitschwestern  im  ganzen  Abendland,  geistlich  auch 
die  Fakultäten,  die  Theologie  die  Königin  der  Wissenschaften,  die 
großen  Professoren  fast  durchgehend  Kirchenhchter,  geistlich  und 
in  geistlichen  Ordnungen  zusammengehalten  auch  die  große  Masse 
der  Schüler,  erschüttert  vielleicht,  aber  doch  im  großen  und  ganzen 
ungebrochen  auch  die  scholastischen  Lehrmethoden,  für  die  der 
»blinde  Heide«  Aristoteles,  gegen  den  Luther  seinen  ersten  Kampf 
geführt  hatte,  die  maßgebende  Autorität  geblieben  war;  so  heftig  die 
Humanisten  gegen  die  alten  Formen  ankämpften,  durchgedrungen 
waren  sie  doch  erst  an  wenigen  Stellen,  selbst  in  Wittenberg  wurde 
die  Reformierung  der  Universität  mit  Hochdruck  doch  erst  nach 
dem  Wormser  Reichstag,  als  Luther  auf  der  Wartburg  saß,  in  Angriff 
genommen. 

Und  nicht  anders  war  es  mit  allen  Organisationen,  Gewohn- 
heiten, Gebräuchen,  in  denen  die  abendländische  Welt  seit  Jahr- 
hunderten sich  eingelebt  hatte,  im  Großen  wie  im  Kleinen,  in  Wissen- 
schaften und  Künsten,  in  der  Lebensführung  und  der  Weltanschau- 
ung, in  der  Auffassung  der  menschlichen  und  der  göttlichen  Dinge. 
So  wie  es  Ranke  mit  gewohnter  Präzision  ausgedrückt  hat:  »Was  in 
Europa  bestand,  war  doch  im  Grunde  jener  kriegerisch-priesterliche 
Staat,  der  im  8.  und  9.  Jahrhundert  ausgebildet  war.  Das  priest  er- 
hebe Element  war  nur  immer  tiefer  gedrungen  —  also  mußte  der 
Angriff  den  Grund  des  gesamten  Daseins  erschüttern.« 

Eben  dies  war  Luthers  Tat. 

Es  war  das  Corpus  Christianum,  die  Res  publica  christiana,  die 
abendländische  Christenheit,  deren  Einheit  er  zerstört  hat,  deren 
in  sich  verklammerte  Glieder  er  auseinanderbrach.  Er  war  in  der 
Tat  der  große  Waldrechter,  wie  er  sich  selbst  bezeichnet  hat,  der  die 
Axt  an  die  Wurzel  legte,  aus  der  alles  erwachsen  war. 

Dabei  bleibt  völlig  bestehen,  daß  der  Reformator  von  der  über- 
kommenen Anschauung  der  Einheit,  auch  der  politischen  Zusammen- 
gehörigkeit der  abendländischen  Welt,  überzeugt  blieb.  Wie  hätte 
er  eine  Weltansicht  aufgeben  sollen,  die  noch  länger  als  ein  Jahr- 
hundert in  Kraft  blieb,  von  der  aus  ein  Johann  Sleidan  noch  nach 
Jahren  seine  »Geschichte  des  christlichen  Staats  unter  Kaiser  Karl  V.« 
und  sein  Buch  von  den  Vier  Monarchien  schrieb,  aus  dem  noch  ein 
Friedrich  Wilhelm  L  von  Preußen  als  Knabe  seine  Weltgeschichte 


31 

gelernt  hat !  Er  stieß  aus,  was  er  für  seinen  Glauben,  sein  Bekenntnis 
ausstoßen  mußte,  und  ließ  bestehen,  ja  hielt  wohl  auch  trotziger, 
als  vielleicht  nötig  gewesen  wäre,  an  dem  fest,  was  ihn  darin  nicht 
störte,  behielt  darum  Vorstellungen  bei,  die  uns  nichts  weniger 
als  modern  erscheinen,  die  von  den  Männern  der  Renaissance  längst 
über  Bord  geworfen  waren,  und  verwarf  andere,  die  der  heutigen 
Anschauung  verwandt  sind,  nahm  sogar  unter  Umständen  An- 
sichten und  Sätze  zurück,  die  ihn  selbst  schon  auf  dem  Wege  zu  einer 
neueren,  aufgeklärteren  Auffassung  politischer  oder  reUgiöser  Probleme 
gezeigt  hatten.  Das  alles  kann  uns  nicht  hindern,  in  ihm  den  großen 
Bahnbrecher,  den  Simson  zu  sehen,  der  die  Säule,  welche  das  Welt- 
system des  Mittelalters  bisher  getragen  hatte,  zerbrochen  hat.  Daß 
darum  das  Mittelalter  an  sich  nicht  zu  Fall  gekommen  ist  —  wer 
wollte  dies  leugnen!  Es  ward  nur  zu  bald  und  zu  fest,  kurz  nach 
seinem  Tode,  wieder  aufgerichtet  und  so  stark  gemacht,  daß  es  noch 
heute,  auch  im  Vaterlande  Martin  Luthers  selbst,  unüberwindlich 
dasteht.  So  reinhch  pflegen  sich  leider  die  Weltepochen  nicht  von- 
einander zu  scheiden,  daß  dort  das  Alte  und  hier  das  Neue  zu  finden 
ist:  die  Strömungen  laufen  vielmehr  durch  die  Jahrhunderte  neben 
und  oft  im  wirren  Durcheinander  hin,  nicht  in  Querschnitten,  sondern 
in  der  Längsrichtung;  kreuzen  sie  sich  doch  zuweilen  in  der  gleichen 
Brust;  in  demselben  Herzen  wohnen  oft  genug  einander  feindliche 
alte   und  neue  Gedanken. 

Es  kommt  immer  nur  darauf  an,  den  Punkt  zu  finden,  an  den 
die  Weiterschütterer  die  Hand  gelegt,  und  von  wo  aus  sie  die  Zeiten 
voneinander  geschieden,  ein  neues  Element  in  die  Weltentwicklung 
hineingebracht  haben.  Hierüber  aber  kann  uns  wieder  der  große 
Meister  unserer  Geschichtschreibung  belehren:  »Indem  Luthers 
Rehgion  ein  freies  Gebiet  anerkannte,  welches  sie  nicht  unmittelbar 
zu  beherrschen  brauchte,  gab  er  den  Begriff  des  Corpus  Christianum, 
an  dem  er  festhielt,  im  Prinzip  bereits  auf«.  Er  gab  der  historischen 
und  natürhchen  Welt  ihr  Recht,  ihre  Ehre  vor  Gott  zurück,  stellte 
auch  sie  unmittelbar  vor  das  Anthtz  des  Höchsten,  als  des  Schöpfers, 
dem  sie  ihr  Dasein  verdankt,  und  aus  dessen  Hand  nichts  Böses, 
sondern  nur  Gutes  kommen  kann.  Das  Recht  der  Macht,  der  staat- 
lichen Ordnung  an  und  für  sich,  unabhängig  von  der  Form  des  Glau- 
bens, die  Grenzen  der  Christenheit  überschreitend,  ja  über  die  Grenzen 
ihrer  Zeit  in  die  Jahrhunderte  zurückreichend,  hat  er,  unmittelbar 


32 

aus  seinem  Glauben  heraus,  dessen  Korrelat  diese  Auffassung  des  Staates 
lediglich  ist,  rundum  anerkannt  und  festgestellt.  Und  darum  ist  er 
der  Begründer  eines  neuen  Weltalters  geworden. 

Nun  endlich  können  wir  die  Frage  beantworten,  die  wir  vorhin 
ungelöst  lassen  mußten.  Luther  war  nach  Worms  gegangen,  weil 
der  Kaiser  als  der  Träger  des  Schwertes,  der  von  Gott  bestellte 
Schirmer  des  Friedens  und  des  Rechtes,  ihn  gerufen  hatte;  aus  seinem 
innersten  Glauben  war  sein  Entschluß  entsprungen.  Was  er  aber 
in  Worms  erlebte,  war  kein  Gericht,  war  weder  Verhandlung  noch 
Urteil,  sondern  ein  Diktat,  Befehl,  ausgefülirt  durch  den  Kaiser  nach 
dem  Willen  jener  fremden  Gewalt,  die  den  Reformator  mit  dem  Bann 
belegt,  die  er  aber  auch  selbst  soeben  verflucht  hatte. 

In  demselben  Worms,  in  der  Stadt  der  Burgonden,  um  die  einst 
die  deutsche  Sage,  das  hohe  Lied  von  deutscher  Treue  und  deutschem 
Verrat,  ihre  goldenen  Fäden  gesponnen,  hatte  vor  langen  Zeiten  (es 
war  bald  ein  halbes  Jahrtausend  her)  ein  deutscher  Kaiser  die  Bischöfe 
des  Reiches  und  viele  Fürsten  mit  ihnen  um  sich  versammelt,  um 
dem  Papst  seiner  Zeit  Fehde  anzusagen^).  In  einem  Schriftstück 
von  grandiosem  Pathos  hatte  er  namens  der  deutschen  Bischöfe  und 
kraft  des  eigenen  kaiserhchen  Rechtes  Hildebrand,  dem  falschen 
Mönch,  dem  Usurpator  des  römischen  Stuhles,  dem  Tyrannen  und 
Zerstörer  der  allgemeinen  Kirche,  sein  Descende,  Descende  zuge- 
rufen. Eben  gegen  diesen  Feind  Gottes  und  der  deutschen  Nation, 
den  Papst,  hatte  Martin  Luther  den  Kaiser  und  des  Reiches  Fürsten 
um  Hilfe  angerufen.  »Wo  bist  Du,«  so  hatte  er  noch  im  Sommer  ge- 
schrieben, »trefflicher  Kaiser  Karl?  wo  seid  ihr  christlichen  Fürsten? 
Ihr  habt  euch  Christo  in  der  Taufe  angelobt  und  könnt  diese  höllische 
Stimme  des  Antichristes  ertragen!  Wo  seid  ihr  Bischöfe,  ihr  Doktoren 
alle,  die  ihr  Christus  bekennet  ?  Könnt  ihr  schweigen  zu  diesen  Greueln 
der  Papisten  ?    Gekommen,  gekommen  ist  der  Zorn  Gottes  über  sie, 


^)  Schon  Aleander  ist  die  Parallele  zu  dem  Nationalkonzil  in  Worms  von 
1076  aufgefallen.  Er  meinte,  die  Empörung  Heinrichs  IV.  gegen  Gregor  VII., 
die  hier  in  Worms,  der  alten  Brutstätte  aller  und  besonders  der  gegen  den 
Klerus  gerichteten  Kämpfe,  angehoben,  sei  noch  ein  wahres  Kinderspiel  (viole 
et  rose)  gegen  die  jetzige  Empörung  gewesen,  da  damals  ganz  Deutschland, 
der  Sohn  des  Kaisers  selbst,  auf  selten  des  Papstes  gestanden  habe,  während 
jetzt  nur  der  Kaiser  mit  Rom  gehe  (Brief  vom  15. '16.  Mai,  bei  Kalkoff, 
Sehr,  des  V.  f.  R.-G.  XVII,  loi).  Man  sieht,  daß  die  historischen  Kenntnisse, 
deren  der  Nuntius  sich  rühmt,  doch  etwas  flüchtig  zusammengelesen  waren. 


33 

die  Feinde  des  Kreuzes  Christi  und  der  Wahrheit  Gottes,  daß  sie 
auch  allen  Menschen  zuwider  sind  und  wehren  die  Wahrheit  zu  pre- 
digen, wie  Paulus  sagt  zu  den  Juden.«  Sollte  er  jetzt  seinen  Nacken 
dem  Henker  zum  Streich  hinhalten?,  hätte  er  dann  nicht  eben  das- 
jenige als  Recht  anerkannt,  was  er  bekämpft  hatte:  den  Satz,  daß 
der  Papst  als  oberster  Herr  des  Corpus  Christianum,  als  der  Stell- 
vertreter Gottes,  in  der  Tat  und  Wahrheit  beide  Schwerter  führe? 
Hatte  Christus,  dessen  Nachfolger  zu  sein  der  Tyrann  in  Rom  sich 
rühmen  wollte,  das  getan,  als  er  sich  widerstandslos  zur  Schlacht- 
l)ank  führen  ließ  ?  Hatte  Pilatus,  der  Skeptiker,  der,  wie  auch  Herodes, 
keine  Schuld  an  diesem  Menschen  fand,  der  seine  Hände  in  Unschuld 
waschen  wollte,  so  gehandelt  wie  Kaiser  Karl  ?  Hatte  er  nicht  diesen 
Sektierer  eben  nur  seinen  Richtern,  unter  denen  freilich  der  Hohe- 
priester Judas  war,  die  aber  als  die  Ältesten  die  Vertreter,  die  ver- 
ordneten Richter  ihres  Volkes  waren,  überlassen  ?  Und  hatte  Jesus 
nicht  als  Sohn  seines  Volkes  gerade  ihr  Richteramt  bestätigt,  als  er 
sich  ihrem  Spruch  unterwarf,  durch  den  sie  den  Ketzer,  den  Verräter 
seines  Volkes,  das  ihnen  darin  nun  beifiel,  ihn  und  sein  Andenken, 
für  ewig  zu  vertilgen  gedachten  ?  Während  der  Landpfleger,  als  er 
jenen,  die  er  verachtete,  die  Verantwortung  für  ihre  Tat  zuschob 
und  nur  eben  seine  Kriegsknechte  zur  Exekution  des  Verurteilten 
hergab,  doch  auch  nur  wieder  tat,  was  er  als  Vertreter  seines  Kaisers 
tun  durfte,  und  was  seines  Amtes  war? 

Man  weiß,  wie  schwer  Luther  der  Entschluß  geworden  ist,  dem 
Drängen  seiner  Freunde  nachzugeben  und  sich  auf  einen  Weg  zu  be- 
geben, der  ihm  von  der  geraden  Straße,  die  er  bisher  gegangen  war, 
abzuweichen  schien,  und  der  seinen  Fürsten  und  sein  Volk  (niemand 
sah  dies  besser  als  er  voraus)  in  immer  neue  Gefahren  und  Wirrsale 
führen  mußte.  Noch  auf  der  Wartburg  sind  ihm  diese  schweren  Ge- 
danken nachgegangen.  Wir  aber  müssen  sagen,  daß  Luther,  indem 
er  seinem  fürstlichen  Herrn  folgte,  recht  gehandelt  hat.  Weil  Kaiser 
Karl  eben  nicht  gehandelt  hatte  als  der  Träger  des  von  Gott  ihm 
anvertrauten  Schwertes,  als  Finder  des  Rechtes  aus  dem  eigenen 
Empfinden  und  Gewissen  heraus  und  nach  dem  Rate  der  Ältesten 
seines  Volkes,  sondern  als  Anbeter  einer  fremden  Gewalt,  als  der 
Knecht  des  römischen  Antichrists.  Es  war  der  Kampf  um  das  deutsche 
Recht,  den  deutschen  Staat,  den  Luther  führte,  und  dem  Karl,  der 
Fremdling  im  Reich,  der  Burgunder,  der  Spanier,  oder  was  er  sonst 

Lenz,  Wille,  Macht  und  Schicksal.  3 


34 

war,  auswich,  nicht  bloß  dem  Papst,  sondern  weit  mehr  sich  selbst 
und  den  weltumfassenden  Zielen  seines  Hauses  zuliebe.  Diesem 
deutschen  Staatsgedanken  diente,  wie  der  Reformator,  so  auch  sein 
Fürst,  in  dem  Kreise,  in  den  seine  Geburt  und  das  Recht  seines  Hauses 
ihn  gestellt  hatte,  als  Amtmann  an  Gottes  Statt,  der  seinen  Untertanen 
ein  gerechter  Herr  sein  wollte,  sie  im  Frieden  zu  führen  und  zu  er- 
halten, zu  richten  und  zu  regieren  als  seine  Ehre  und  seine  PfHcht 
ansah.  Ob  der  Weg,  den  Kurfürst  Friedrich  einschlug,  um  sich  und 
seinen  Mönch  der  Gewalt,  die  ihren  Arm  gegen  ihn  erhoben,  für  den 
Moment  zu  entziehen,  richtig  gewählt  war,  mag  dahingestellt  bleiben; 
Friedrich  hat  dabei  vielleicht  mehr  klug  als  gerade  weise  gehandelt.  Das 
Ziel  und  das  Ergebnis  aber  der  Tagung  von  Worms  konnte  kein  anderes 
sein,  wenn  das  Evangelium  Luthers  unverfälscht  und  in  fortwirkender 
Kraft  bleiben  sollte. 

Denn  nun  mußte  an  jeden,  der  im  Reich  und  in  der  Kirche 
Deutschlands  etwas  zu  bedeuten  hatte,  die  Frage,  der  Friedrich 
zunächst  noch  auszuweichen  für  nötig  gehalten,  von  Jahr  zu  Jahr 
näher  und  drohender  herantreten:  die  Frage',  ob  er  protestieren  oder 
sich  unterwerfen  wolle.  Protestieren  aber  bedeutete  zu  jener  Zeit 
nicht,  Schriftstücke  entwerfen,  die,  mit  Unterschrift  und  Siegel 
versehen,  die  Unterwerfung  nur  bestätigen,  sondern  Verweigerung 
des  Gehorsams  und  den  Entschluß,  wenn  es  denn  nicht  anders  sein 
könne,  mit  der  Faust,  Macht  gegen  Macht,  für  seine  Überzeugung 
einzutreten.  Hatte  sich  der  Kaiser  als  der  Vasall  Roms  enthüllt^ 
hatte  er  die  Vertretung  des  Reiches  selbst  durch  die  Kniffe  und  Listen 
seiner  Diplomatie  hinter  sich  hergezogen,  so  konnte  dies  Edikt,  auch 
wenn  es  im  Namen  des  Reiches  ergangen  war,  für  alle  diejenigen,  die 
für  ihre  Person  und  ihre  Untertanen  sich  Gott  allein  verantwortlich 
fühlten,  keine  Geltung  mehr  besitzen. 

Dies  wird  nun  das  Problem  der  deutschen  Reformationsgeschichte, 
die  sehr  viel  weiter  reicht  als  bis  zum  Tode  Karls  V.  Die  Losung 
konnte  fortan  nicht  mehr  bloß  heißen:  los  von  Rom,  sondern  auch: 
los  vom  Kaisertum,  los  von  den  beiden  internationalen  Gewalten,  die 
Deutschland  umklammert  hielten  und  den  Aufbau  eines  Reiches,  das 
dem  Genius  der  Nation  gemäß  war,  verhinderten.  Man  braucht  aber 
nur  die  Aufgabe  so  zu  formulieren,  um  sich  der  ungeheuren  Schwierig- 
keiten, die  sie  darbot,  bewußt  zu  werden.  Ein  Drittel  des  deutschen 
Landes  war  unmittelbares  Kirchengut,  jeder  Fußbreit,  jede  Pfründe, 


35 

jeder  Besitztitel  darin  letzten  Endes  an  Rom  gebunden;  nirgends, 
außer  etwa  in  Wien  und  Berlin,  waren  die  Dynastien,  die  Städte, 
große  und  kleine  Stände  von  der  fremden  geistlichen  Macht  ab- 
gelöst, und  ebenso  auch  dem  Kaisertum,  freiwillig  oder  gezwungen, 
so  oder  so,  nach  Reichsrecht  verbunden.  Und  anderseits  waren  sie 
alle  wieder  in  sich  zu  stark  und  mit  dem  Leben  von  Jahrhunderten 
zu  eng  verwachsen,  um  sich  einfach  einer,  wenn  auch  ganz  national 
gearteten  Einheitsmacht  zu  unterwerfen.  Niemals  hätte  daher  die 
Reformation  Martin  Luthers  eine  nationale  Monarchie  im  Sinne 
der  Nachbarstaaten  begründen  können.  Das  Ziel,  das  vielleicht 
erreichbar  war,  und  das  jedenfalls  den  besten  politischen  Köpfen  der 
protestantischen  Partei  damals  vorschwebte,  war  eine  Organisation 
der  nationalen  Kräfte  nach  Art  der  Generalstaaten,  die  den  Partikular- 
gewalten eine  Gewähr  ihres  Bestandes  und  der  ganzen  Nation  auf  dem 
Grunde  der  lutherischen  Lehre  vor  Gott  und  der  Welt  Sicherung 
und  eine  Stellung  unter  den  großen  Nationen  der  Erde  gewährt  hätte. 

Und  darin  ist  unser  Volk  gescheitert. 

Man  kann  aber  nicht  sagen,  daß  dies  nur  an  dem  eigenen  Un- 
vermögen gelegen  hat.  Wenigstens  trägt  unsere  Nation  nicht  allein 
die  Schuld.  Es  ist  wahr,  das  Nächste  nach  Worms  war  die  Zerstörung: 
in  ungeheurem  Sturz  krachte  die  deutsche  Kirche,  ein  Bau  von  acht 
Jahrhunderten,  zusammen.  Dem  Fall  der  hierarchischen  Ordnungen 
folgte  auf  dem  Fuß  der  Aufstand,  zuerst  die  Rebellion  der  Reichs- 
ritter, danach  der  Bauernaufruhr,  beides  Teilbewegungen,  die  erstere 
von  sehr  geringem,  die  zweite  von  größerem  Umfang;  doch  ging  auch 
der  Bauernkrieg  im  Norden  kaum  über  das  Eichsfeld  und  den  Rhein- 
gau hinaus,  und  eng  genug  waren  bei  beiden  die  Ziele  wie  das  Ver- 
ständnis für  die  großen  Fragen  der  Nation.  Auch  die  täuferische  Be- 
wegung, die  besonders  in  den  Schichten  der  Handwerker  wucherte, 
welche  vielfach  mit  den  Bauern  gemeinsame  Sache  gemacht  hatten, 
war,  obschon  bald  hier  bald  da  aufflackernd,  dennoch  nur  von  lokaler 
und  vorübergehender  Wirkung.  Das  Evangelium  Luthers  ließ  sich  durch 
alles  dies  nicht  aufhalten.  Im  Gegenteil,  nur  um  so  mehr  griffen  die 
Regierungen  nach  seinen  Ordnungen,  die  ihnen  einen  Halt  in  der  hin- 
und  herwogenden  Bewegung  gaben  und  gewährleisteten.  Und  so 
zeigte  sich  auch  die  kaiserhche  und  die  katholische  Partei  im  Reiche 
(denn  beides  deckte  sich  schon  nicht  mehr)  nicht  imstande,  die  evan- 
gehsche    Bewegung    dauernd    zu    hemmen:    weder    das    Augsburger 

3* 


36 

Keligionsedikt  von  1530  noch  die  Konkordienversuche,  die  der  Kaiser 
gezwungen  auf  die  Bahn  brachte;  auch  sein  Sieg  über  die  Schmal- 
kaldener,  wie  entscheidend  er  war,  wollte  nichts  helfen,  so  wenig  wie 
das  Interim,  mit  dem  er  auf  der  Höhe  seiner  Macht  die  deutschen 
Parteien  in  sein  politisches  System  einzufangen  versuchte.  Nicht 
einmal  der  Rehgionsfriede  von  Augsburg  (1555),  durch  den  die  Deut- 
schen über  den  Kopf  Karls  hinweg  ihrem  Hader  ein  vorläufiges  Ziel 
setzten,  konnte  in  den  ersten  Jahren  seines  Bestandes  die  Evangeli- 
sierung der  Nation  aufhalten.  Wenn  Aleander  schon  in  Worms  neun 
Zehntel  der  Deutschen  der  neuen  Ketzerei  verfallen  sah,  so  war  zu 
der  Zeit,  da  Kaiser  Karl  die  Regierung  seiner  Reiche  in  die  Hände 
seines  Sohnes  legte,  Luthers  Glaube  in  den  festen  Formen  des  Be- 
kenntnisses wirklich  der  großen  Mehrheit  im  Reich  das  bindende  Ge- 
setz für  ihre  staatlich-kirchlichen  Ordnungen  geworden.  Erst  im 
achten  Jahrzehnt  des  16.  Jahrhunderts  kam  ein  dauernder  Rückschlag. 

Der  entscheidende  Grund  hierfür  lag  in  den  Konstellationen  der 
europäischen  Politik,  von  denen  sich  die  Geschicke  unserer  Nation 
nicht  lösen  ließen.  Sie  waren  schon  in  den  drei  ersten  Jahrzehnten, 
wo  sie  im  übrigen  günstiger  als  jemals  später  für  das  Ansetzen  der 
Keimkräfte  der  neuen  Kirche  waren,  wirksam,  wenn  nicht  maßgebend: 
die  Friedensschlüsse  ebenso  wie  die  Schlachttage  Karls  V.  bildeten 
ebensoväele  Epochen  für  den  Fortgang  oder  die  Hemmung  der  evange- 
lischen Gedanken.  Und  danach  gestaltete  sich  dann  das  Leben  der 
Nation  auch  in  den  späteren  Generationen,  die  wir  als  die  Epoche 
der  Gegenreformation  zusammenzufassen  pflegen. 

So  ist  es  nur  den  Partikulargewalten,  die,  seit  Jahrhunderten 
vorgebildet,  schon  mit  festeren  Formen  in  das  Zeitalter  Luthers  ein- 
traten, möglich  geworden,  dem  Staatsgedanken  seiner  Religion  sich 
anzugleichen  oder  auch  ihm  zu  widerstehen.  Das  Bekenntnis  wurde 
in  jedem  Falle  (wo  in  Europa  wäre  es  anders  gewesen,  wo  hätte  es 
anders  sein  können?)  für  den  Aufbau  der  deutschen  Territorial- 
staaten der  festeste  Kitt.  Für  die  Obrigkeiten,  die  dem  alten  Glauben 
treu  blieben,  war  auch  der  Weg  dazu  der  alte,  die  Verständigung  mit 
der  Kurie,  die  Teilung  der  Macht,  das  Konkordat.  Es  hat  sie  für 
eine  Zeit  zu  Herren  in  ihren  Ländern  gemacht;  zumal  die  Bischöfe 
und  Äbte  des  Reiches  haben  durch  engen  Anschluß  an  Rom,  der 
aber  einer  völligen  Abhängigkeit  nicht  gleichkam,  ihre  Existenz, 
soweit  sie  nicht  dem  Sturm  ganz  erlagen,  auf  lange  hinaus  gerettet. 


37 

Mit  der  Zeit  aber  stellte  es  sich  heraus,  daß  die  Staatsgedanken  der 
Reformation  politisch  von  unvergleichlich  viel  höherer  Kraft  waren 
als  der  in  Trient  neu  gefestigte,  ganz  hispanisierte  Glaube  der 
römischen  Kirche  sie  darbot.  Nun  erst,  auf  dem  durch  Luthers  Wort 
geweihten  Boden  konnte  der  deutsche  Genius  die  Stellung  in  der 
Welt  erringen,  die  er  im  i6.  Jahrhundert,  soweit  auch  damals  schon 
seine  Wirkungen  reichten,  doch  nicht  zu  erlangen  vermocht,  und  wie 
er  sie  in  keinem  Jahrhundert  vorher  entwickelt  hatte.  Denn  im 
Mittelalter  war  er,  wie  lebensvoll  und  tatenreich  er  sich  erweisen 
mochte,  doch  in  allen  seinen  Schöpfungen  abhängig  gewesen  von 
fremden  Kulturwerten;  der  Humanismus  selbst,  an  dem  sich  der 
neue  Geist  emporzuranken  versuchte,  stammte  noch  aus  dem  Ausland. 
Nun  aber  versuchte  sich  der  nationale  Genius  in  originalen  Produk- 
tionen, zumal  auf  den  Gebieten  des  rein  geistigen  Lebens,  durch  die 
er  alles  hinter  sich  ließ,  was  frühere  Jahrhunderte  hervorgebracht, 
und,  man  darf  es  aussprechen,  eine  Gedankenwelt  schuf,  die  bis  an 
die  Sterne  reichte. 

Es  ist  neuerdings  wieder  einmal  Mode  geworden,  Luther  von 
der  Scheide  der  beiden  Weltalter,  auf  der  ihn  die  Nachwelt,  auch 
seine  Feinde,  zu  sehen  gewohnt  war,  fortzustoßen,  ihn  (seinen  Gegnern 
vielleicht  ebensowenig  zur  Freude,  als  denen,  die  noch  immer  zu 
ihm  halten)  in  das  Mittelalter  zurückzuschieben,  hingegen  die  zweite 
Hälfte  des  17.  Jahrhunderts,  also  die  Epoche  eines  Thomasius  (mit 
dem  die  Vertreter  solcher  Meinungen  allerdings  selbst  gewisse  Züge 
gemein  haben)  und  eines  Leibniz  als  die  Epoche  der  eigentlichen 
Reformation,  der  Neugeburt  des  »europäischen«  Geistes  (denn  als 
einen  deutschen  im  eigentlichen  Sinne  fassen  sie  ihn  nicht  auf),  eines 
Neuprotestantismus  anzuschauen.  Theologen  und  (leider!)  auch 
Historiker  finden  sich  darin  zusammen:  jene,  weil  sie  zu  sehr  Sy- 
stematiker sind,  um  den  politischen  Unterbau  ihrer  Ideologien  sonder- 
lich zu  beachten,  diese,  weil  sie  die  unlösliche  Verflechtung  der  ge- 
danklichen und  der  politischen  Welt  sich  nicht  klarmachen. 

Hätten  diese  Verbündeten  mit  ihrer  Auffassung  recht,  so  wäre 
es  ganz  unerklärbar,  daß  der  Aufbau  der  neuen  deutschen  Gedanken- 
welt, Dichtung  und  Philosophie  und  der  in  das  Gefüge  der  sittlichen 
wie  der  natürlichen  Welt  furchtlos  eindringende  Forschergeist,  überall 
sich  auf  dem  Fundamente  der  evangelischen  Staatsordnungen  erhoben 
hat,  und  daß,  wo  immer  die  katholischen  Regierungen  freien  Regungen 


38 

Raum  gaben,  sie  nur  Nachahmer  waren,  sich  und  ihre  Länder,  zumeist 
im  Kampf  mit  Rom  und  dem  römischen  Geist  selbst,  dem  neuen, 
oder  sagen  wir  lieber  dem  deutschen  Geiste  ergeben  haben. 

Es  ist  nicht  einmal  wahr,  daß  in  dem  Zeitalter  eines  Leibniz  und 
Newton  (das  auch  dasjenige  Bossuets  und  Fenelons,  Ludwigs  XIV. 
und  Jakobs  IL  von  England  war)  ein  Bruch  der  kirchhchen  Welt- 
anschauung, von  dem  die  Zeitgenossen  selbst  übrigens  gar  nichts 
gespürt  haben,  erfolgt  ist,  so  wie  es  jene  Neuesten  meinen,  die  dabei 
offenbar  selbst  unter  dem  Einfluß  sehr  moderner  politischer  Strö- 
mungen stehen.  Es  war  vielmehr,  wie  im  Zeitalter  der  Renaissance, 
zunächst  nur  ein  kleiner  Kreis  vornehmer  Geister,  vielfach  auch 
sozial  höher  Gestellter,  die  einer  Annäherung  und  Ausgleichung  der 
streitenden  Bekenntnisse,  der  Vereinigung  in  einer  höheren  Gedanken- 
schicht das  Wort  redeten:  wieder  nur  Privilegierte,  eine  Aristokratie 
des  Geistes,  der  Struktur  der  poHtischen  Welt  entsprechend,  die  jetzt 
weit  mehr  noch  als  im  i6.  Jahrhundert  den  oberen  Klassen  gehörte. 
Die  breiteren  Schichten  blieben  noch  lange  von  jenen  Tendenzen 
unberührt.  Das  Richtige  an  jener  Beobachtung  liegt  lediglich  darin, 
daß  das  Bekenntnis  nicht  mehr,  wie  in  der  Epoche  vorher,  das  vor- 
wiegend bestimmende  Moment  in  den  Konstellationen  der  europä- 
ischen Pohtik  war.  Das  Motiv  hierfür  aber  lag  in  der  Konsolidierung 
der  Staatsgewalten  selbst,  die  nun  ihre  Macht  mehr  als  je  auf  auto- 
nomen Kräften,  vor  allem  Waffen  und  Steuern,  aufzubauen  ver- 
mochten; und  dies  war  wiederum  das  Ergebnis  der  Kriege  in  der 
ersten  Hälfte  jenes  waffenklirrenden  Jahrhunderts,  vor  allem  des 
letzten  großen  Kampfes  der  30  Jahre,  der  alles,  was  Schwäche  war, 
zermalmte  oder  zermürbte,  die  frondierenden  Elemente  unterwarf 
und  die  Starken  zwang,  ihre  Kräfte  mehr  als  jemals  im  Zentrum  zu- 
sammenzufassen. Der  kirchliche  Boden,  auf  dem  sie  im  Kriege  oder 
meist  schon  vorher  gestanden,  WTirde  darum  nicht  aufgegeben;  sie 
verfolgten,  soweit  es  möglich  war,  ihre  alten  Bahnen,  in  die  sie  nun 
einmal  unter  dem  Zwange  der  allgemeinen  Konstellation  und  durch  ihre 
eigene  Entwicklung  gedrängt  waren.  Daher  hat  Ranke  mit  vollem  Recht 
als  die  Epoche  der  vielleicht  größten  Gefahr  für  den  europäischen  Prote- 
stantismus die  Jahre  1686  bis  1688  bezeichnet,  also  die  Zeit  der  Höhe- 
stellung der  alten  französischen  Monarchie,  als  Ludwig  XIV.  den  Kon- 
tinent unter  dem  Schrecken  seiner  Waffen  und  seiner  Politik  hielt  und  Ja- 
kob IL  Stuart  im  Bunde  mit  ihm  England  zurekatholisieren  unternahm. 


39 

Die  Massen  aber  nahmen  an  diesen  Plänen^  und  Kämpfen  noch 
immer  den  stärksten  Anteil.  Sie  waren  es  und  ihre  Führer,  mit  denen 
sie  ihr  täghches  Empfinden  und  Wollen  verband,  welche  die 
Regierungen  zu  ihrer  jeder  Toleranz  fast  durchweg  noch  abholden 
Rehgionspohtik  antrieben,  oder  die,  wenn  sie  ihr  widerstrebten,  da 
ihnen  ja  in  der  Regel  die  Waffen  zum  Widerstände  bereits  fehlten, 
eher  dazu  bereit  waren,  das  Vaterland  zu  wechseln  als  ihren  Glauben. 
Es  war  darin  noch  ganz  wie  in  den  alten  Zeiten :  vor  dem  Bekenntnis 
traten  Staat  und  Nation  zurück;  wer  jenes  schützte,  dem  hielt  man 
die  Treue.  Wie  oft  wurde  dies  (man  denke  an  die  Hugenotten  oder 
an  William  Penn  und  seine  Genossen)  die  Wmrzel,  aus  der  ein  neues 
Vaterlandsempfinden  erwuchs ! 

Bis  tief  in  das  i8.  Jahrhundert  hinein  reichte  die  Herrschaft 
dieses  Geistes.  Starb  er  in  den  Regierungen  allmählich  ab,  so  durch- 
drang er  um  so  tiefer  das  persönliche  Empfinden  und  das  Leben  in 
der  Gemeinde;  hielt  er  nicht  mehr  die  Philosophie  und  das  wissen- 
schafthche  Denken  unter  seinem  Bann,  so  versenkte  er  sich  um  so 
mehr  in  die  Welt  der  Gefühle,  die  ihm  am  Ende  wertvoller  wurde,  als 
die  Unterscheidungslehren  der  Konfessionen  und  die  Dialektik  ihrer 
Systeme.  Aber  das  religiöse  Gemeingefühl  blieb  dennoch  zunächst 
un verloren.  »Es  war  ein  Zeitalter,«  so  hat  der  alternde  Goethe  im 
Rückblick  auf  seine  Kindheit  und  die  unmittelbar  vorhergehenden 
Jahre  geurteilt,  »in  welchem  die  Gefühlsidealität  der  Massen  noch 
immer  lediglich  in  der  Rehgion  war.«  Das  war  der  Untergrund  für 
die  enthusiastische  Aufnahme,  die  Klopstock,  so  jung  er-  war,  fand, 
als  er,  auf  den  Bahnen  Miltons  bewußt  einherschreitend,  sich  mit 
jugendlichem  Wagemut  an  einen  noch  höheren,  heiligeren  Stoff,  das 
Leben  und  Leiden  seines  Herrn  und  Heilands  selbst,  heranmachte; 
unmittelbar  an  religiösen  Stoffen  sammelte  die  deutsche  Muse  ihre 
Kräfte.  Und  welche  Tiefe  der  Andacht,  welche  Größe  der  Emp- 
findung auf  dem  Boden  protestantisch-lutherischer  Rehgiosität  noch 
im  Zeitalter  eines  Diderot  und  Voltaire  bei  uns  Deutschen  lebte, 
offenbaren  uns  die  erhabenen  Klänge  Bachscher  imd  Händelscher 
Musik,  die  auch  wir  von  dem  Geist  jener  Zeit  längst  Verlassenen 
als  das  Erhabenste  und  Innigste  aller  musikalischen  Offenbarungen 
verehren. 

Diese  Jahre  aber  waren  zugleich  die  Epoche,  in  denen  die  poli- 
tische Energie,  welche  die  Staaten,  die  sich  zmn  Protestantismus 


40 

bekannt,  damit  erworben  hatten,  ihre  Kraft  überall  und  mit  einer 
Wucht  bewies,  vor  der  alles,  was  in  der  kirchlichen  und  staatlichen 
Welt  unseres  Erdteiles  katholische  Farbe  trug,  fassungslos  zurück- 
wich, um  bald,  nach  den  großen  Niederlagen  seit  der  Mitte  des  Jahr- 
hunderts, seine  Rettung  in  der  Nachahmung  der  politischen  In- 
stitutionen zu  suchen,  die  den  protestantischen  Staaten  Europas  ein 
so  entscheidendes,  schon  über  beide  Hemisphären  hinwegreichendes 
Übergewicht  gegeben  hatten. 

Das  sind  nun  die  Begebenheiten,  die  Europas  Nationen  zu  neuen 
Krisen  und  Katastrophen  geführt  und  durch  sie  hindurch  ein  neues 
Jahrhundert  allgemeiner  Geschichte  heraufgeführt  haben. 

Wir  aber  halten  hier  inne,  denn  schon  stehen  wir  mitten  in  neuen 
Krisen,  Nachwirkungen  der  alten,  die  alles  in  Frage  zu  stellen  drohen, 
was  der  deutsche  Geist  auf  dem  Grunde  der  Reformation  geschaffen 
hat.  Wohin  sie  führen  werden,  wie  alles  enden  wird  —  w^er  mag  das 
sagen!  Halten  wir  uns  jedoch  vor  Augen,  daß  die  Grund- 
formen der  Weltordnung,  so  wie  Luther  sie  gesehen  und  im  Geist 
gestaltet  hat,  nach  allen  Wandlungen,  allen  Katastrophen,  auch 
allen  Triumphen  des  menschlichen  Geistes  und  seiner  sittlichen  wie 
intellektuellen  Kräfte  noch  unverloren,  unerschüttert,  unwiderlegt 
sind,  daß  sie  in  dem  Chaos  der  Gegenwart  selbst  jedem  schärferen 
Auge  sichtbar  sein  müssen;  suchen  wir  in  dem  Glauben,  in  dem  Be- 
kenntnis der  größten  Männer  unseres  Volkes,  daß  sie  auf  dem 
Boden  der  Reformation  ständen,  unsern  Trost;  beherzigen  wir  den 
Ausspruch,  den  der  Alte  von  Weimar  einmal  über  das  Zukunfts- 
wirken Martin  Luthers  getan  hat,  und  in  dem  wir  das  Wort  des  ster- 
benden Faust  widerhallen  hören:  »Er  wirkt  nun  schon  manchen 
guten  Tag,  und  die  Zahl  der  Tage,  wo  er  in  ferneren  Jahrhunderten 
aufhören  wird,  produktiv  zu  sein,  ist  nicht  abzusehen.« 


Schweden  und  Deutsdiland  im  17.  Jahrhundert. 

(1922.) 

I. 

Unsere  Betrachtung  soll  dem  Jahrhundert  gelten,  das  für  Schweden 
die  Zeit  welthistorischer  Größe  war,  für  Deutschland  aber  bis  noch 
vor  kurzem  als  die  Zeit  seines  tiefsten  Niederganges  hat  gelten  können : 
der  Epoche,  da  Schweden  als  die  Großmacht  des  Nordens  das  Dominium 
Maris  baltici,  einst  das  Herrschaftsgebiet  deutscher  Kaufleute  und 
Ritter,  in  Händen  hatte,  während  Deutschland,  im  Innern  durch- 
wühlt von  unendlichem  Hader,  an  seinen  Grenzen,  im  Norden  wie 
im  Westen,  zum  Raube  fremder  Nationen  wurde.  Und  doch  hat  es 
in  jenem  Jahrhundert  einen  Moment  gegeben,  wo  die  entgegen- 
gesetzte Entwicklung  möglich  schien,  wo  es  den  Anschein  haben 
konnte,  als  sollte  dies  der  Augenblick  werden,  da  unser  Volk  in  den 
Kreis  der  großen  Mächte,  aus  dem  es  seit  vier  Jahrhunderten  aus- 
geschieden war,  zurückkehren  und  die  politische,  wirtschaftliche  und 
geistige  Einheit  erringen  würde,  welche  für  jene  die  Basis  ihrer  Macht 
geworden  war;  als  sollte  es,  wie  im  Süden,  so  im  Norden,  von  den 
Donaulanden  bis  an  das  Nordkap  Gesetze  geben.  Das  war  in  den  Fe- 
bruarwochen des  Jahres  1629,  als  Dänemark  zu  den  Füßen  des  habsbur- 
gischen  Kaisers  und  seiner  katholischen  Freunde  lag  und  ihre  Räte 
zu  Lübeck  mit  den  Vertretern  König  Christians  von  Dänemark  zu- 
sammenkamen, um  den  Besiegten  den  Frieden  zu  diktieren.  Ver- 
gebens boten  sich  Gesandte  Gustav  Adolfs  als  Vermittler  an :  Wallen- 
stein, damals  im  Vollbesitz  der  Macht,  widersetzte  sich  ihrer  Zu- 
lassung; vor  den  Toren  der  Stadt  mußten  die  Schweden  umkehren. 
Umsonst  versuchte  Gustav  Adolf  den  Dänenköaig,  mit  dem  er  an  der 
Grenze  ihrer  Reiche  zusammenkam,  bei  der  gemeinsamen  Sache 
festzuhalten.  Christian  selbst  hatte  den  Anstoß  zu  der  Begegnung 
gegeben.  Aber  er  verfolgte  dabei  von  vornherein,  wie  Gustav  Adolf 
sehr  bald  merkte,  kaum  eine  andere  Absicht  als  sich  dem  Feinde 
gegenüber    schwer   zu    machen,    um    leidliche    Bedingungen    heraus- 


42 

zuschlagen.  Vier  Jahre  hatte  der  Däne  im  Kriege  ausgehalten.  Nun 
aber  hatte  er  es  satt.  Alle  seine  Hoffnungen  waren  zerronnen.  Feld 
und  Geld  verloren:  keine  Aussicht,  von  sich  aus  je  in  den  Besitz 
der  deutschen  Stifter  zu  kommen,  um  derentwillen  er  letzten  Endes 
sich  in  den  Krieg  hatte  hineinziehen  lassen :  dafür  die  Feinde  im  eigenen 
Lande;  bis  an  den  Ottensund  standen  des  Friedländers  Regimenter; 
nur  noch  die  Inseln,  und  was  er  auf  skandinavischem  Boden  besaß, 
konnte  König  Christian  sein  eigen  nennen.  Einst  hatte  er  sich 
in  dem  stolzen  Traum  gewiegt,  die  drei  Kronen  des  Nordens  in  seinen 
Besitz  und  mit  der  Erneuerung  der  Union  zugleich  das  Dominium 
Maris  an  Dänemark  zu  bringen;  statt  dessen  hatte  er  es  erleben  müssen, 
daß  dieser  Jüngste  der  Wasabrut,  dessen  Ahnherr  die  Union  zer- 
sprengt hatte,  von  Haparanda  bis  zur  Weichsel  mächtig  geworden 
war,  und  daß  nun  an  allen  diesen  Küsten  die  blaugelbe  Flagge  wehte. 
Er  hätte,  wäre  er  Gustav  Adolfs  Aufforderung,  mitzugehen,  gefolgt, 
doch  immer  nur,  nicht  viel  anders  als  die  deutschen  Fürsten,  an  zweiter 
Stelle  stehen  müssen;  denn  das  Direktorium  ließ  sich  Gustav  Adolf, 
wie  er  ihm  offen  sagte,  nicht  nehmen.  Das  aber  wollte  Christian  von 
dem  soviel  Jüngeren,  den  er  selbst  vor  Jahren  niedergekämpft  und 
zum  Frieden  gezwungen  hatte,  sich  nicht  bieten  lassen.  Lieber  machte 
er  Frieden  mit  den  Feinden  seines  Glaubens.  Schweres  Geld  mußte 
er  ihnen  zahlen,  mehr  als  der  Schwede  von  ihm  gefordert  hatte;  aber 
sein  Land  bekam  er,  bis  an  die  Elbe  heran,  zurück.  So  konnte  er  in 
Seelands  Forsten  ruhig  das  Weidwerk  pflegen  und  hinter  dem  ge- 
liebten Becher  sitzen ;  den  Lorbeer  und  die  Gefahren  überließ  er  dem 
Rivalen. 

In  keinem  Augenblick  seines  Lebens  tritt  uns  das  heldische 
Gemüt  Gustav  Adolfs  reiner  und  mächtiger  entgegen,  als  an  jenen 
nordischen  Wintertagen  auf  dem  ärmlichen  Pfarrhof  zu  Ulfsbek, 
als  er  »bei  geringer  Kost  (so  schreibt  er  selbst  seinem  Kanzler)  und 
vielem,  jedoch  schlechtem  Wein«  den  an  süßere  Getränke  gewöhnten 
Dänenkönig  bei  sich  zu  Gaste  hatte.  Es  war  der  Wendepunkt  seiner 
leuchtenden  Bahn.  Von  Hollands  Grenze  bis  an  die  Danziger  Bucht, 
an  der  ganzen  Seekante  entlang,  lagen  die  Garnisonen  des  Kaisers 
und  der  Liga;  nur  Glücksburg  ward  noch  von  den  Dänen  und  Stralsund 
auch  von  schwedischen  Truppen  gehalten.  Schon  waren  wallen- 
steinische  Regimenter  unter  Hans  Georg  von  Arnim,  dem  General- 
leutnant des  Herzogs,  der  im  Sommer  Stralsund  belagert  hatte,  auf 


43 

dem  Marsch  nach  Preußen;  in  allen  Häfen  Ostholsteins  und  Mecklen- 
burgs wurden  Kriegsschiffe  gebaut;  auch  Polen  blieb  nicht  zurück; 
andere  wollte  Polen  liefern;  22  Orlogsschiffe  würden,  so  erfuhr  es 
Gustav  Adolf  von  seinem  Gastfreunde  selbst,  die  Kaiserlichen  im 
Frühjahr  in  See  bringen;  zugleich  wurden  Brander  zubereitet, 
um  womöglich  des  Königs  Schiffe  in  ihren  Häfen  selbst  zu  ver- 
nichten. Daß  man  die  Feinde  im  eigenen  Lande  erwarten  müsse, 
wenn  man  ihnen  nicht  mit  dem  Angriff  zuvorkam,  stand  danach 
außer  Frage;  und  so  groß  war  doch  auch  bei  Gustav  Adolf  das  Ver- 
trauen auf  sich  selbst  wie  auf  die  Kraft  und  Hingebung  seines  Volkes 
nicht,  vun  sich  nicht  sagen  zu  müssen,  daß  seinem  Schweden  mit  Ver- 
lust der  Seeherrschaft  die  Lebensader  durchschnitten  war.  Fiel  aber 
Schweden,  so  war  es,  und  Gustav  Adolf  unterheß  nicht,  den  Nachbarn 
ausdrücklich  darauf  aufmerksam  zu  machen,  auch  um  Dänemark 
geschehen.  Den  Frieden  könne  Christian,  so  bemerkte  er,  als  dieser 
daran  zu  zweifeln  schien,  jeden  Tag  haben;  und  er  nannte  sogleich 
die  Bedingungen:  der  Kaiser  werde  ihm  sogar  Jütland,  Holstein 
und  alle  die  abgenommenen  Länder  herausgeben.  Christian,  so  heißt 
es  in  dem  schwedischen  Bericht  über  die  Unterredung  (die  aber  deutsch 
geführt  wurde)  zuckte  mit  dem  Munde  und  sagte:  »Wenn  ich  das 
wiederbekommen  kann,  will  ich  es  auf  Abschlag  annehmen.«  Worauf 
Gustav  Adolf:  »Wenn  ich  Kaiser  wäre,  würde  ich  Euer  Liebden  das 
alles  geben  ohne  Bedenken«;  und  weiter  —  auf  die  verblüffte  Frage 
Christians,  wie  er  das  meine  — :  »Ich  würde  es  tun,  wenn  Euer  Liebden 
nichts  gegen  mich  vornehmen  möchten  und  ich  inzwischen  meine 
Flotte  fertig  bekäme  und  meine  Sachen  in  Stand  und  diejenigen  zu 
Gehorsam  bringen  könnte,  die  sich  etwa  noch  nicht  fügen  wollten; 
später  stände  es  in  meinem  Belieben,  zurückzunehmen,  was  wieder- 
gegeben war,  und  Euer  Liebden  und  Schweden  zu  mächtig  und  Herr 
der  Ostsee  zu  werden.  Das  wäre  Euer  Liebden  und  Schwedens  Ruin 
und  würde  dem  Kaiser  um  so  leichter  werden,  als  er  Holz,  Eisen 
und  alles  hat,  was  er  braucht.  An  Geld  kann  es  ihm  nicht  fehlen, 
und  ebenso  wenig  an  guten  Seeleuten.«  Hierauf  konnte  nun  freihch 
Christian,  dem  damit  jede  Deckung  fehlte,  nichts  weiter  sagen,  als 
was  er  schon  gesagt  hatte:  er  würde  auch  mit  dieser  Aussicht  den 
Frieden  nicht  abschlagen.  Gustav  Adolf  wies  noch  auf  die  strategische 
Bedeutung  hin,  die  Dänemarks  Flankenstellung  für  Schweden  habe: 
es  sei  auf  dieser  Seite  gleichsam  eine  Mauer,  deren  Untergang  —  den 


Gott  gnädig  abwenden  möge  —  die  ganze  Kriegslast  Schweden  auf 
den  Hals  wälzen  würde.  Er  sagte  dies,  um  den  Freund  dadurch  von 
der  Stärke  ihrer  Position  zu  überzeugen,  wenn  sie  gemeinsam  handeln 
würden.  Aber  er  wird  bei  diesen  Worten  auch  an  den  entgegen- 
gesetzten Fall  gedacht  haben:  daß  nämlich  schon  der  Friede  diese 
Mauer  zu  Fall  bringen  könnte.  Denn  nachdem  Christian  den  Kampf 
für  sein  Land  aufgegeben  hatte,  war  es  doch  sehr  die  Frage,  ob  er 
für  die  Neutralität  desselben,  wenn  sie  in  Gefahr  kam,  mit  den  Waffen 
eintreten  konnte  oder  auch  nur  wollte;  und  daß  die  Feinde  aus  Achtung 
vor  dem  Völkerrecht  an  den  dänischen  Grenzpfählen  haltmachen 
würden,  war  nach  den  Erfahrungen  des  Krieges  nicht  zu  erwarten: 
so  wie  es  von  jeher  zu  allen  Zeiten  und  an  allen  Orten  gehalten  worden 
ist  und  werden  wird.  Das  alles  wußte  Gustav  Adolf  —  aber  nur  um 
so  entschlossener  war  er,  alles  an  alles  zu  setzen. 

Dreißig  Jahre  war  nun  bereits  Schweden  ununterbrochen  mit 
Krieg  beladen  gewesen.  Fast  noch  ein  Knabe,  war  er  selbst  mit 
seinem  Vater  in  die  Schlacht  geritten  und  seitdem  kaum  je  aus 
dem  Sattel  gekommen.  Zweimal  war  er  verwundet  worden,  noch 
stak  ihm  eine  Kugel  in  der  Schulter.  Er  zeigte  dem  Dänenkönig 
die  Stelle  und  ließ  ihn  daran  fühlen.  Er  trage,  so  sprach  er  zu  ihm, 
kein  Bedenken,  wenn  es  Gottes  Wille  sei,  deren  drei  zu  beherbergen, 
ja,  wenn  es  nötig  sein  sollte,  sein  Leben  selbst  für  sein  Vaterland 
hinzuopfern:  »will  auch  hoffen,  daß  meine  Augen  niemals  den  Tag 
sehen  sollen,  da  ich  den  Jammer  über  meinem  Vaterland  und  meinen 
Untertanen  schauen  müßte,  den  viele  andere  über  den  Ihren  sehen 
müssen ;  ich  will  lieber  sterben  wie  ein  Mann. «  Das  ist  das  Löwenhafte 
in  Gustav  Adolf:  er  sieht  das  Schicksal  auf  sich  zukommen;  jedoch 
die  Gefahr  stählt  nur  seinen  Mut:  er  kennt  kein  Ausweichen,  Still- 
halten, Zurückgehen;  er  stellt  sich  dem  Schicksal  entgegen;  jede 
Muskel  spannt  er  zum  Ansprung:  der  Löwe  aus  Mitternacht,  wie 
unsere  Väter  ihn  nannten. 

So  müssen  schwedische  Augen  zu  ihrem  Helden,  der  größten 
Gestalt  in  der  nordischen  Geschichte,  emporsehen.  Haben  wir  Deut- 
schen aber  Ursache,  uns  in  den  Chor,  ich  will  nicht  sagen  der  Bewun- 
derer, denn  menschliche  Größe  verstehen,  heißt  schon  sie  bewundern, 
und  uns  Deutschen  wird  es  ja  von  Natur  leichter  als  andern  Völkern, 
fremde  Größe  anzustaunen,  aber  der  Verehrer  Gustav  Adolfs  ein- 
zureihen ?    Den  Manen  des  Mannes  zu  huldigen,  dessen  Eintritt  in 


45 

den  deutschen  Krieg  unser  Land  nicht  bloß  für  die  i8  Jahre,  die  er 
noch  währte,  sondern  für  Jahrhunderte  zum  Schlachtfelde  Europas 
gemacht  hat  ?  Bisher  war  das  große  Ringen,  wie  sehr  es  von  jeher 
durch  die  Verschiebungen  der  allgemeinen  Konstellation  bedingt 
war,  dennoch  im  wesentlichen  ein  Krieg  des  Kaisers  und  der  Stände 
gewesen.  Auch  Christian  von  Dänemark  führte  ihn  kaum  anders 
als  seine  Vettern  auf  den  deutschen  Fürstenstühlen,  denen  er  auch 
in  dieser  Hinsicht  gleicht,  in  der  Kurzsichtigkeit  ihrer  Interessen  und 
der  Beschränktheit  ihrer  politischen  Ziele.  Spanische  und  enghsche 
Völker  waren  wohl  zu  Zeiten  im  Reich  gewesen,  jedoch  nur  als  Hilfs- 
truppen, und  mehr  gerufen  als  freiwillig  gesandt;  beide  Mächte, 
und  Frankreich  nicht  minder,  scheuten  bis  dahin  die  Einmischung, 
wie  auch  Polens  Antlitz  gegen  den  Feind  im  Norden  gerichtet  war. 
Erst  Gustav  Adolfs  Landung  in  Pommern  brachte  die  Wendung. 
Seitdem  ballten  sich  die  Wolken  am  europäischen  Horizont  jedesmal 
am  dichtesten  über  Deutschland  zusammen,  und  zerrissen  ihre  Blitze 
die  deutsche  Erde.  Was  Gustav  Adolf  in  Bärwalde  einleitete,  führte 
Oxenstierna  in  Heilbronn  zum  Ziel :  den  Bund  Schwedens  mit  Frank- 
reich. Man  weiß,  was  dieser  Bund  beiden  Mächten  gebracht  hat, 
der  einen  das  Elsaß,  der  andern  die  Stellungen  an  der  deutschen 
Küste.  Eine  Freundschaft,  die  manche  Unterbrechung  erlitten  hat, 
aber  immer  wieder  erneuert  woirde:  noch  im  Weltkriege  haben  wir 
ihre  Nachwirkungen  verspüren  können.  So  wurde  Deutschland  von 
der  See,  die  es  Jahrhunderte  lang  beherrscht  hatte,  abgesperrt,  ohn- 
mächtig auch  dann  noch,  als  auf  seinem  Boden  bereits  die  Groß- 
macht seiner  Zukunft  aufgerichtet  war. 

Oft  genug  sind  solche  Klagen  und  Anklagen  erhoben  worden, 
nicht  so  sehr  in  den  alten  Zeiten  (noch  Schiller  hat  den  großen  Schwe- 
denkönig mit  allen  Glorien  eines  Retters  der  deutschen  Freiheit  um- 
geben) als  seit  der  Zeit,  da  unser  Volk  sich  auf  sich  selbst  zu  besinnen 
begann,  da  es  unter  der  Losung  von  Kaiser  und  Reich  um  die  Selbst- 
gestaltung seines  Schicksals  rang;  seitdem  schwankt  auch  Gustav 
Adolfs  Charakterbild,  wie  das  seines  dämonischen  Gegenspielers 
von  Nürnberg  und  Lützen,  in  der  Geschichte.  Und  nicht  bloß  die 
Anhänger  Habsburgs  und  der  Liga,  die  auch  im  19.  Jahrhundert 
nicht  ausgestorben  waren,  kämpften  unter  solcher  Maske;  sondern 
auch  die  nationalen,  die  evangelischen  Historiker  selbst  haben,  wenn 
sie  Gustav  Adolf  als  den  Retter  des  deutschen  Protestantismus  aus- 


46 

riefen,  wohl  damit  geschlossen,  daß  der  große  König  zur  rechten 
Zeit  für  seinen  Ruhm  und  für  die  Freiheit  unseres  Vaterlandes  ge- 
storben sei. 

Auch  wir  würden  uns  gegen  ein  solches  Urteil  kaum  wehren 
können,  wenn  wir  zugeben  müßten,  daß  die  Einheit  der  Nation,  die 
Gustav  Adolf  in  dem  Moment,  da  sie  vollendet  schien,  zerbrach, 
bereits  die  Form  gewesen  wäre  oder  sie  doch  hätte  hervorbringen 
können,  in  der  der  Genius  unserer  Nation  seine  Wohnung  gefunden 
hätte:  den  Staat,  der  es  uns  ermöglicht  hätte,  nach  dem  Bismarkischen 
Wort  als  große  Nation  frei  atmen  zu  können  unter  den  Völkern  der 
Erde  —  wenn  anders  der  Wille  in  uns  lebendig  geblieben  ist,  unser 
Selbst  zu  behaupten. 

Mithin  bestimmt  sich  für  uns  Deutsche  das  Problem  dahin,  ob 
dies  wirklich  die  Einheit  war,  welche  jenes  Ziel  verbürgte,  die  Macht, 
welche  dem  Willen  der  Nation  entsprach,  die  das  zum  Ausdruck 
brachte,  was  das  innerste  Sehnen  des  deutschen  Herzens  war;  ob  die 
Bedingungen,  ja  auch  nur  die  Möglichkeiten,  die  in  der  Entwicklung 
unseres  Volkes,  die  in  jener  Epoche  selbst  in  den  Konstellationen 
der  europäischen  Politik  gegeben  waren,  in  dieser  Richtung  lagen. 

Auf  alle  diese  Fragen  gibt  ein  Satz  die  Antwort:  es  war  die  habs- 
burgische  Monarchie,  die  jene  Einheit  forderte,  deren  Machtwille 
dadurch  befriedigt,  deren  Traditionen  dadurch  erfüllt  wurden:  das 
Haus,  das  im  Besitz  der  Krone  Karls  des  Großen  war:  die  Dynastie, 
die  ihrer  Natur  nach  jeder  nationalen  Eigenart  feindlich  sein  mußte 
und,  wenn  sie  sich  selbst  treu  bleiben  wollte,  geradezu  gezwungen 
war,  sie  zu  unterdrücken.  Gegen  diese  Gewalt  hatte  das  Reich,  so 
wie  es  in  seinen  Ständen  vertreten  war,  seit  drei  Jahrhunderten 
Stellung  genommen,  seitdem  das  kleine  Grafengeschlecht,  das  sich 
aus  der  Eidgenossenschaft  in  dem  Moment  gelöst  hatte,  wo  diese 
selbst  ihren  Verband  mit  dem  Deutschen  Reich  zu  lockern  begann,  in 
der  Südostecke  Deutschlands,  in  unserm  ältesten  Koloniallande  seine 
Eigenmacht  mit  den  Mitteln  aufgebaut  hatte,  die  ihm  seine  Stellung 
im  Reiche  an  die  Hand  gab.  Alle  Reformversuche  in  Staat  und  Kirche, 
welche  die  deutsche  Geschichte  dieser  Jahrhunderte  erfüllen,  lassen 
sich  unter  dem  Gesichtspunkt  dieses  Ringens  um  die  Macht  im  Reiche 
verstehen. 

Es  war  die  Epoche,  in  der  die  Nationen  des  Westens  wie  die  des 
Nordens  und  des  Ostens  Europas  ihre  Kräfte  in  nationalen  Monarchien 


47 

zu  sammeln  begonnen  hatten.  Überall  geschah  es  unter  dem  Druck 
schwerer  auswärtiger  Krisen,  von  Kämpfen,  die  sie  um  ihr  Dasein 
selbst  zu  führen  hatten.  So  wurden  die  Träger  dieser  Kronen,  die 
alle  einheimischen  Geschlechtern  entstammten  und  seit  Generationen 
mit  den  Geschicken  ihrer  Völker  verwachsen  waren,  mehr  als  je  die 
Vertreter  ihrer  Machtinstinkte  und  Ideale.  Unser  Volk  lebte  nicht 
unter  diesem  Druck.  Zunächst  stand  es  noch  mitten  im  Fluß  seiner 
kolonialen  Ausdehnung,  die  es  wirtschaftlich  und  vielfach  auch 
politisch  zum  Herrn  des  Nordens  und  Ostens  unseres  Erdteils  machte. 
Und  als  durch  die  Gegenwirkung  der  Unterdrückten,  sie  sich  eben  in  der 
Sammlung  ihrer  Kräfte  in  nationalen  Monarchien  darstellte,  diese 
Herrschaft  zerbröckelte  und  ihre  Wurzeln  zu  verdorren  drohten,  halfen 
deutsche  Rivalen  eifrig  mit,  ja  taten  wohl  das  Beste,  um  diese  vollends 
zu  zerstören. 

Nicht  viel  anders  aber  war  es  bei  der  Abspaltung  der  Grenz- 
marken im  Süden  und  Westen  des  Reiches.  Auch  dort  wirkten 
immerfort  fremde  und  einheimische  Elemente  zusammen;  ja  es  war 
mehr  als  einmal  weniger  von  außen  wirkende  Not  als  freiwiüiger 
Entschluß,  viel  mehr  Abfall  als  Entreißen,  wenn  ganze  Volksteile, 
wie  die  Eidgenossenschaft  und  die  Niederlande,  sich  aus  dem  Ver- 
bände  des  Reiches  lösten.  So  waren  es  immer  nur  Teile,  die  Grenz- 
gebiete der  Nation,  die  von  der  Einwirkung  fremder  Mächte  betroffen 
wurden;  die  Kernlande,  auf  denen  das  alte  Reich  geruht,  von  denen 
jene  über  alle  Grenzen  hinausstrebenden  Kraftäußerungen  unseres 
Volkes  ihren  Ausgang  genommen  hatten,  wurden  kaum  erreicht, 
blieben  wenigstens  von  den  an  den  Grenzen  tobenden  Stürmen, 
wenn  nicht  unberührt,  so  doch  in  der  Tiefe  unerschüttert.  Der  Druck, 
unter  dem  auch  sie  standen  (denn  Kampf  ist  alles  geschichtliche 
Leben),  kam  von  derselben  Macht  her,  die  des  Reiches  Krone  trug. 
Denn  indem  das  Haus  Habsburg  seine  Eigenmacht  an  der  Peripherie 
des  Reiches  aufbaute  und  also  den  Andrang  der  von  Osten  und 
Süden  her  stoßenden  neuen  und  alten  Mächte  auffing,  ward  es  ge- 
zwungen, alle  Mittel,  die  ihm  seine  Stellung  im  Reiche  bot,  für  sich 
auszunutzen,  dieses  selbst  in  seine  Interessen  zu  verwickeln  und, 
wenn  irgend  möglich,  von  sich  aus  in  das  Reich  hineinzuwachsen 
und  sein  Gefüge  zu  durchsetzen.  Es  waren  dies  aber  Aufgaben,  die 
auch  die  alten  Kaisergeschlechter  vor  sich  gehabt,  in  denen  sie  ihre 
Größe  gesehen,  und  an  denen  sie  sich  müde  gerungen  hatten.    Mit 


48 

vollem  Recht  konnte  daher  das  neue  Kaiserhaus  sich  als  ihren  Erben 
betrachten,  auch  darin,  daß  es  auf  diesen  Bahnen  weiterschritt  und 
seine  Macht  nach  dem  slavischen  Norden  wie  nach  Itahen  ausdehnte, 
dem  Boden,  auf  dem  seine  Vorgänger  ihren  Hauptkampfplatz  und 
die  Krönung  ihrer  Macht  gesucht  hatten,  und  so  weiter  fort,  immer 
an  den  deutschen  Grenzen  entlang  und  den  Körper  der  Nation  um- 
strickend. 

Nur  wenn  in  diesem  selbst,  in  dem  Rumpfe  der  Nation,  wie  wir 
fast  schon  sagen  müssen,  von  innen  heraus  ein  eigener,  alle  Teile  zu- 
sammenfassender Machtwille  sich  entwickelte,  ließ  sich  hoffen,  jene 
peripherische  Macht  mit  der  eigenen  Kraft  zu  durchdringen,  die 
fremden  Elemente  in  ihr  auszumerzen  und  sie  so  in  den  Strom  des 
nationalen  Lebens  zurückzuführen,  zu  einer  einzigen  nationalen 
Gewalt  mit  ihr  zusammenzuwachsen.  Schon  aber  waren  die  parti- 
kularen Gewalten,  die  in  den  Tiefen  der  Jahrhunderte  wurzelten, 
in  den  Kernlanden  des  Reiches  selbst  viel  zu  stark  geworden,  als 
daß  sie  ihr  Selbst  hätten  aufgeben  mögen.  Vielmehr  dies  immer 
weiter  zu  entwickeln,  ihre  »Freiheit«,  wie  sie  es  nannten,  »die  uralte 
teutsche  Libertät«  gegen  jeden  übermächtigen  Willen  im  Reich  zu 
behaupten,  war  das  Interesse,  in  dem  sie  alle,  wie  feindlich  sie  zu- 
einander stehen  mochten,  einig  waren,  —  und  das  sie  doch  in  Wirk- 
lichkeit immer  wieder  gegeneinander  führte. 

Genau  loo  Jahre,  bevor  das  Reich  in  den  großen  Krieg  hinein- 
gerissen wurde  (denn  dies  geschah  erst  mit  der  Kaiserwahl  Ferdi- 
nands II.,  1619),  schien  dennoch  der  große  Augenbhck  gekommen 
zu  sein:  als  der  sächsische  Mönch  seinem  Volk  die  Religion  gab,  die, 
weil  sie  die  persönlichste,  auch  die  allgemeine  war,  die  männliche 
Religion,  die,  indem  sie  die  Seele  freimachte  von  aller  Bindung  durch 
äußere  Autoritäten,  zugleich  das  Recht  der  Macht  und  aller  staatlichen 
Ordnung  feststellte  und  also  dem  Genius  unseres  Volkes  die  Wohnung 
verhieß,  in  der  er  frei,  vor  jeder  Gefahr  gesichert,  sich  zu  den  höchsten 
Höhen  der  Sittlichkeit  und  der  Erkenntnis  erheben  konnte.  Aber 
gerade  da  ward  unser  Volk  von  dem  im  Dunkel  waltenden  Schicksal 
einer  Prüfung  unterworfen,  fast  möchte  man  sagen,  genarrt,  wie 
wir  es  seitdem  nur  noch  einmal  wieder  haben  erleben  müssen;  denn 
eben  dies  war  die  Stunde,  wo  sich  der  Ring,  den  jene  Macht  um  alle 
Grenzen  zu  legen  begonnen  hatte,  bis  auf  das  letzte  Stück  schloß. 
Mehr  als  je  lag  nun  in  der  Zersprengung  dieser  erstickenden  Gewalt, 


49 

die  mit  allen  der  Nation  feindlichen  Kräften  im  Bunde  war,  das  Heil 
unseres  Volkes.  So  galt  es  nun  nicht  bloß  der  Kirche  sondern  auch 
dem  Kaisertum;  es  galt  den  beiden  universalen  Mächten,  die  seit 
acht  Jahrhunderten  das  nationale  Leben  umstrickt  hielten;  es  galt, 
die  höchste  weltliche  Gewalt  im  Reiche  ihres  internationalen  Cha- 
rakters zu  entkleiden,  sie  aus  der  Verbindung  mit  dem  Papsttum 
und  allen  nicht  deutschen  Interessen  ihres  Trägers  loszureißen,  sie 
dem  Geist  und  Willen  der  Nation  zu  unterwerfen.  Zu  der  Staats- 
form, in  der  jene  andern  Nationen  ihr  Leben  geführt,  ihre  Macht 
entwickelt  hatten,  wäre  unser  Volk  auch  dann  nicht  gelangt.  Denn 
die  »Libertät«  der  Stände,  die  stärkste  Triebkraft  im  nationalen 
Leben,  durfte  nicht  angetastet  werden;  nur  die  hierarchischen  und 
alle  unnationalen  Elemente  sollten  ausgemerzt,  die  partikularen 
Gewalten  aber  in  ihrer  Selbständigkeit  gerade  gesichert,  ihr  Zu- 
sammenleben im  Rahmen  der  Nation  ermöglicht  werden.  Es  wäre, 
wenn  es  nach  den  Gedanken  der  Männer  gegangen  wäre,  die  unser 
Volk  auf  diesen  Weg  führen  wollten,  ein  Deutschland  geworden,  das, 
unter  einer  nationalen  Krone  auf  breiter  ständischer  Grundlage 
aufgebaut,  sich  in  allen  seinen  Schichten  und  Teilen  mit  der  Rehgion 
erfüllt  hätte,  welche,  in  der  Einsamkeit  eines  Klosters,  in  den  er- 
schütternden Seelenkämpfen  eines  Bettelmönches  geboren,  dem  tief- 
sten  Sehnen   unseres  Volkes  entsprungen  war. 

Dies  war  die  Aufgabe,  vor  die  sich  die  Generation  Luthers  und 
Karls  V.  gestellt  sah. 

Wir  wissen,  wie  wenig  sie  die  Probe  bestanden  hat.  Jahrzehnte 
hindurch,  in  immer  neuen  Anläufen,  haben  die  Führer  der  evange- 
lischen Partei,  geistliche  und  welthche,  es  versucht :  mit  Predigen  und 
mit  Schreiben,  mit  Überredung  und  Zwang,  mit  Kompromissen  und 
trotziger  Opposition,  durch  Religionsgespräche  und  mit  allen  Mitteln 
und  Listen  der  Diplomatie,  auf  graden  und  auf  krummen  Wegen, 
in  den  Formen  des  Reichsrechts  auf  den  Versammlungen  des  Reiches 
und  in  Sonderbündnissen,  und  wiederholt  mit  den  Waffen  —  um 
schließlich  bei  einer  Lösung  anzukommen,  die  keine  Lösung  war. 
Denn  sie  war  nichts  als  eine  Beschränkung  auf  die  Libertät  in  ihrem 
engsten  Verstände,  die  Isolierung  jeder  ständischen  Gewalt,  die 
Neutralisierung  der  alles  entscheidenden  Frage  in  dem  »Religions- 
frieden« von  Augsburg  mit  seinen  Klauseln  und  Reservationen, 
die  nur  wieder  neue  Kämpfe  in  Aussicht  stellten.    Es  war  bereits 

Lern,   Wille,  Macht  und  Schicksal.  4 


50 

die  Bankrotterklärung  des  deutschen  Staates.  Mochte  jeder  Stand» 
jede  Regierung,  welthch  oder  geisthch,  sehen,  wie  sie  es  treiben  und 
wo  sie  bleiben  würde,  auf  eigene  Gefahr:  das  Reich  kümmerte  sich 
nicht  darum,  es  überließ  alles  der  Zukunft. 

Auf  so  schwankem  Boden  ruhten  nun  das  Reich  und  die  Stände. 
Wie  hätte  nicht  ein  jeder  von  ihnen  alles  daransetzen  müäsen,  um 
gegen  die  Gefahren,  die  im  Schoß  der  Zukunft  lagen,  und  deren  Heran- 
nahen alle  fühlten,  gerüstet  zu  sein!  Sie  hatten  keinen  andern  Ge- 
danken: die  Großen  und  die  Kleinen,  Katholiken  und  Protestanten, 
vom  Kaiser  abwärts  bis  zu  den  Reichsunmittelbaren  vom  Adel  und 
den  Bauernschaften  in  Schwaben;  sie  alle  waren  nur  darauf  bedacht, 
da  das  Ganze  versagte,  die  eigene  Stellung  zu  verstärken,  ihr  Terri- 
torium, wie  groß  oder  klein  es  sein  mochte,  auszubauen,  rückhaltlos 
und  rücksichtslos  alles  abzuwehren  oder  auszumerzen,  was  die  eigene 
Bahn  kreuzen  konnte,  es  mit  einem  Geiste  zu  erfüllen.  Nichts  war 
dazu  nötiger  als  die  Herrschaft  über  die  Kirche  ihres  Landes. 
Die  Kathohken  setzten  sie  im  Bunde  mit  der  Kurie  durch:  sie 
mußten  aber  die  Macht  mit  ihr  teilen,  denn  Rom  gibt  nichts  um- 
sonst. Die  Evangelischen  hatten  ihre  Geistlichkeit  besser  in  der 
Hand:  aber  sie  waren  wieder  abhängig  von  den  Spaltungen  in  ihrem 
brüchig  gewordenen  Bekenntnis.  Die  alten  Bünde,  die  frühere 
Epochen  der  Reichsgeschichte  beherrscht  hatten,  verkümmerten 
und  starben  ab;  nur  nach  der  Konfession  suchte  jedermann 
seine  Freunde  und  seine  Feinde.  Je  mehr  aber  sich  jeder  Stand 
auf  sich  selbst  zurückzog,  um  so  größer  wurde  die  Ohnmacht 
des  Ganzen. 

Das  Ende  war  —  wie  hätte  es  anders  sein  können!  —  der  all- 
gemeine Krieg,  der  sich  nun  langsam  durch  das  Reich  hindurchfraß 
und  bald  die  Nachbarmächte  in  seinen  Feuergürtel  mit  hineinzog. 

Dennoch  blieben  in  allem  Hader  und  unter  dem  Getöse  der 
Waffen  selbst  die  Formen  des  Reiches  unversehrt.  Ja,  sie  wurden 
im  Kriege  fast  mehr  beachtet  als  vordem.  An  ihrer  Verstärkung 
lag  keinem  etwas,  aber  ihre  Zerstörung  strebte  niemand  an,  und  alle 
wollten  Anteil  haben  an  den  Besitztiteln,  den  Vorrechten  und  allen 
Machtelementen,  welche  die  alte  Verfassung  immer  noch  darbot: 
weil  niemand  sie  dem  andern  gönnte,  blieben  sie  alle  daran  gefesselt. 
Vor  allem  das  geistliche  Gut  des  Reiches  war  die  Braut,  um  die  man 
tanzte.   Die  Kathohschen  mußten,  schon  um  ihres  Prinzips  willen,  an 


51 

der  Konservierung  der  Stifter,  soweit  sie  noch  unmittelbar  unter 
dem  Reiche  standen  und  sich  zum  alten  Glauben  hielten,  festhalten; 
niemals  hätte  die  Kirche,  an  die  sie  gebunden  waren,  und  für  die 
sie  fochten,  eine  Änderung  daran  gestattet.  Aber  die  Kapitel  und, 
wenn  es  ging,  die  Bischofsstühle  selbst  mit  ihren  Anhängern  oder 
Angehörigen  ihrer  eigenen  Häuser  zu  besetzen,  war  auch  für  sie  alle 
ein  Ziel,  aufs  innigste  zu  wünschen,  und  spaltete  damit  wieder  die 
eigene  Partei,  ganz  besonders  deren  Häupter,  Witteisbach  und 
Habsburg.  Umgekehrt  war  es  für  die  Protestanten  eine  Existenz- 
frage, die  seit  dem  Religionsfrieden  noch  evangelisch  gebliebenen 
Reichsstifter  bei  ihrem  Glauben  zu  erhalten;  das  aber  konnten  sie 
nicht  besser,  und  jedenfalls  nicht  bequemer  haben,  als  wenn  sie  es 
ebenso  hielten,  wie  ihre  Gegner,  und  ihre  Freunde  und  Angehörigen 
mit  den  geistlichen  Titeln  und  Gütern  ausstatteten;  denn  ihre  In- 
korporierung, und  also  der  Bruch  der  Reichsverfassung,  war  für  sie 
ein  noch  gefährlicheres  Experiment,  als  wenn  es  die  Gegner  mit  den 
katholischen  Stiftern  so  gemacht  hätten.  Und  so  war  die  Erhaltung 
der  »Libertät«,  als  des  Grundrechtes  des  Reiches,  eine  Angelegen- 
heit, bei  der  alle  Glieder  des  Reiches,  Freunde  und  Feinde,  und  die 
Kämpfenden  so  gut  wie  die  Neutralen,  sich  zusammenfanden. 


Überblickt  man  von  hier  aus  die  Gesamtlage  des  Reiches  in 
jenen  Tagen  von  Lübeck,  so  sieht  man  sofort,  wie  wenig  es  mit  der 
Auffassung  auf  sich  hat,  als  habe  damals  die  Einigung  der  Nation 
unter  Habsburgs  Kaiserkrone  vor  der  Tür  gestanden,  und  nur  der 
Einbruch  des  schwedischen  Königs  in  das  Reich  habe  sie  verhindert; 
und  man  begreift,  daß  es  selbst  dann  nur  ein  rasch  vorübergehender 
Moment  gewesen  wäre,  wenn  der  Siegeslauf  der  katholischen  Mächte 
ungehemmt  geblieben  und  bis  an  die  Küste  Schwedens  getragen  wäre. 
Weil  ja  die  Erhaltung  oder  die  Verstärkung  der  Machtstellung  der 
katholischen  Stände  im  Reich,  jedes  einzelnen  unter  ihnen,  die  Be- 
dingung ihres  Bundes  mit  dem  Kaiser  war.  Nur  eine  Macht,  die 
stark  genug  war,  um  jeden  Sonderwillen  zu  zerbrechen,  Freund  und 
Feind  gleichmäßig  zu  unterdrücken,  wäre  dazu  imstande  gewesen, 
das  Werk  von  Jahrhunderten,  die  deutsche  »Freiheit«,  auszurotten. 
Wie  aber  hätte  Kaiser  Ferdinand  je  hieran  denken  können!  Es  wäre 
der  Bruch  mit  der  Liga,  es  wäre  der  Bürgerkrieg  in  der  verwirrendsten 

4* 


52 

Form  geworden;  er  hätte  alles,  was  an  der  »Libertät«  als  dem  Grund- 
gesetz des  Reiches  hing,  Freund  und  Feind  seines  Glaubens,  gegen 
sich  aufgebracht;  es  wäre  der  Weg  gewesen,  um  auch  die  neutral 
GebUebenen  sämthch  auf  die  Gegenseite  zu  treiben.  Niemals  hätte 
der  Kaiser  die  römische  Kurie,  die  für  Witteisbach  von  jeher  mehr 
übrig  gehabt  hatte  als  für  Habsburg,  bei  sich  festgehalten;  er  würde, 
wie  seine  Vorfahren  an  der  Kaiserkrone  so  oft,  den  Papst  selbst 
sich  zum  Feinde  gemacht  haben.  Zumal  da  es  dann  keinen  Still- 
stand auf  dieser  Bahn,  keine  Beschränkung  auf  Deutschland  für  ihn 
gegeben  hätte;  er  hätte  die  imperalistische  Politik  seines  Ahnherrn, 
zu  der  ihn  die  Spanier  auch  jetzt  verführen  wollten,  wieder  aufnehmen 
müssen.  Die  deutsche  Nation  aber  wäre,  und  je  stärker  Ferdinand 
wurde,  imi  so  mehr,  nur  ein  dienendes  Glied  in  dieser  über  alle  nationalen 
Interessen  hinweggreifenden  Monarchie  geworden;  in  Ungarn  und 
gegen  die  Türken,  in  Italien  und  in  Frankreich,  in  den  Niederlanden, 
wie  in  den  nordischen  Bereichen  hätte  sie  dem  Kaiser  gegen  seine 
Feinde  helfen  müssen;  nicht  der  Friede,  sondern  eine  Kette  von  Kriegen, 
an  denen  die  Nation  keinerlei  Interesse  gehabt,  wäre  ihr  Lohn  gewesen. 
Nun  hatte  zwar  Ferdinand  ein  Heer  im  Reich,  wie  es  Karl  V. 
niemals  besessen,  und  der  General,  dem  er  es  anvertraut,  wäre  ihm 
in  diesem  Moment  wohl  auf  jene  Bahnen  gefolgt,  ja  es  schien  fast, 
als  ob  er  selbst  ihn  dahin  führen  wollte,  über  die  Alpen  und  bis  Kon- 
stantinopel, Zielen  entgegen,  wie  sie  dem  Ahnherrn  nur  in  seinen 
kühnsten  Träumen  vorgeschwebt  hatten.  Es  war  des  Kaisers  Untertan, 
Albrecht  von  Waldstein,  der  Böhme,  der  Konvertit,  die  »hochmütige 
Bestie«,  wie  seine  Standesgenossen,  die  böhmisch -mährischen  RebeUen, 
ihn  einst  genannt,  der  Überläufer,  der  Verräter  an  ihrer  Partei  und 
der  Religion,  wie  sie  ihn  gescholten  hatten.  Nun  hatte  er  dem  Kaiser, 
dem  er  im  böhmischen  Aufstand  nur  ein  Regiment  hatte  zuführen 
können,  eine  Stellung  in  seinen  Erb-  und  Kronlanden  und  auch  im 
Reich  verschafft,  wie  sie  keiner  seiner  Vorfahren  besessen;  Ferdinand 
aber  hatte  ihn  dafür  mit  Geld  und  Gütern  überschüttet,  ihn  in  Böhmen 
zum  Fürsten,  in  Schlesien  zum  Herzog  gemacht  und  nun,  da  er  das 
Reich  in  seinen  Fäusten  hielt,  ihn  in  den  Reichsfürstenstand  selbst 
erheben  müssen.  Auf  des  Kaisers  Namen  war  das  Heer  geworben, 
ihm  hatten  Offiziere  und  Mannschaften  den  Treueid  geleistet:  aber 
Herr  im  Lager  war  allein  der  Friedländer,  der  General.  Von  ihm, 
dem   »Impresario  des  Krieges«,  hingen  sie  alle  ab,  kein  Wille  galt 


53 

hier  als  der  seine;  seine  Gelder,  sein  Kredit  waren  die  Basis,  auf  der 
alles  ruhte :  an  sich  mußte  der  Wallensteiner  denken,  wenn  er  warb, 
marschierte,  sich  einlagerte,  wenn  er  mit  den  Ständen,  neutralen  und 
kriegführenden,  mit  den  fremden  Mächten,  mit  Freund  oder  Feind 
seines  Kaisers  verhandelte,  wenn  er  die  Schlacht  anbot  oder  aus- 
schlug, angriff  oder  zurückwich.  Eine  Macht  war  es  mit  zwei  Häup- 
tern :  eine  eiserne  Säule,  angelehnt  an  einen  halb  vermorschten  Stamm, 
dessen  Wurzeln  aber  weit  verzweigt  tief  in  dem  Erdreich  einer  Ge- 
schichte von  Jahrhunderten  lagen.  Nur  des  Kaisers  Name  hatte 
dem  General  den  Weg  ins  Reich  geöffnet,  ihm  das  Recht  oder  den 
Vorwand,  die  Möglichkeit  gegeben,  seine  Werbungen  zu  veranstalten, 
Kontributionen  auszuschreiben,  immer  neue  Regimenter  zu  bilden, 
ihnen  Löhnung  und  Verpflegung  zu  verschaffen,  alle  Klagen  der  Be- 
drückten zu  überhören  und  jeden  Eigenwillen  im  Reiche  zu  zer- 
brechen. Des  Kaisers  Politik  zu  unterstützen  war  ihm  als  das  Ziel 
seiner  Kriegführung  gesteckt  worden  — ,  aber  deren  Bedingungen 
waren  alle  von  ganz  persönlichen  Wünschen  und  Interessen  durch- 
setzt und  von  einem  Schwärm  niedrig  gerichteter  Leidenschaften 
getragen  und  gelenkt.  Würde  es  dem  Habsburger  gehngen,  dies 
Instrument  der  Macht,  das  im  Feuer  des  Krieges  gehärtet  war,  nach 
seinem  Willen  zu  lenken,  es  wie  einen  Stab  in  seiner  Hand  zu  be- 
wegen, hierhin  und  dorthin,  ihn  auch  wohl  beiseitezulegen  nach 
getaner  Arbeit,  so  wie  er  es  auf  der  Hochschule  zu  Ingolstadt  von 
seinen  Lehrern,  den  frommen  Vätern  Jesu,  gehört  hatte,  wenn  sie 
die  Tugend  des  Gehorsams  in  immer  neuen  Wendungen  priesen? 
Mußte  er  nicht  fürchten,  daß  die  eiserne  Säule  ihm  entgleiten,  daß 
sie,  was  er  im  Reiche  besaß  (Rechte  und  Pflichten,  überheferten  Ein- 
fluß, Freunde,  Bundesgenossen,  und  was  ihn  nach  Amt  und  Her- 
kommen sonst  daran  fesseln  mochte),  zerdrücken  oder  gar  gegen  ihn 
selbst  sich  wenden,  auf  sein  eigenes  Haupt  zerschmetternd  nieder- 
fallen könnte  ?  Schon  drangen  von  allen  Seiten  die  Klagen  über  die 
Ausschreitungen  der  Wallensteinischen  Soldateska,  über  den  »neuen 
und  unhergekommenen  Dominat,  der  zu  endhcher  Eversion  der 
löblichen  uralten  Reichsverfassung  eingeführt  werden  solle«,  an  das 
Ohr  des  Kaisers.  Konnte  Ferdinand,  durfte  er  überhaupt  seinem 
General  auf  Wege  folgen,  die  ihn  in  immer  schwerere  Konflikte  mit 
dem  Reich,  auf  dem  seine  kaiserliche  Majestät  ruhte,  bringen  mußten 
und  ihn  dabei  von  dem  Herzog,  je  weiter  dieser  vorankam,  um  so 


54 

abhängiger  machten  ?  Das  waren  die  Erwägungen,  die  an  ihn  heran- 
traten, als  im  Sommer  1630  die  nächst  ihm  höchsten  Vertreter  des 
Reiches,  die  Kurfürsten,  mit  dem  Bayernherzog,  Kurfürst  Max  an 
der  Spitze,  ihn  auf  dem  Tage  zu  Regensburg  vor  die  Alternative 
stellten,  den  Friedländer  oder  sie  selbst  aufzugeben.  Wir  können  es 
dem  Kaiser  nachfühlen,  wie  schwer  ihm  ein  Entschluß  werden  mußte, 
der  ihn  aufs  neue  machtlos  machte,  ihn  unter  die  Hand  des  Witteis- 
bachers beugte;  aber  die  Entscheidung  konnte  nicht  zweifelhaft  sein: 
die  Verfassung  des  Reiches,  wie  verwittert  sie  war,  war  doch  noch 
stärker  als  die  jedes  seiner  Glieder,  und  mochte  es  mit  der  Kaiser- 
krone selbst  und  einer  Waffengewalt,  wie  sie  noch  nicht  dagewesen, 
ausgestattet  sein.  Das  Reich  selbst,  das  die  Nation  umschloß,  war 
das  Erdreich,  in  dem  Habsburgs  Stamm  wurzelte,  und  aus  dem  er 
sich  nicht  loslösen  ließ,  ohne  selbst  zu  verkümmern.  Es  handelte 
sich,  mit  einem  Wort,  darum,  ob  Ferdinand  seinem  Hause  die  Kaiser- 
krone erhalten  wollte.  Denn  das  war  es,  was  ihn  nach  Regensburg 
gezogen  hatte:  die  Wahl  seines  Sohnes  zum  römischen  König,  das 
hieß  nach  ältestem  Reichsrecht  zu  seinem  Nachfolger.  Ohne  die 
Krone  war  auch  er  nur  ein  Stand  des  Reiches,  wie  die  andern,  sein 
Feldherr  aber  nur  wieder  sein  Untertan;  alle  Rechte,  die  der  General 
im  Namen  des  Kaisers  für  sich  in  Anspruch  genommen,  wären  mit 
einem  Schlage  dahin  gewesen.  Es  war  nicht  anders :  um  sich  und  sein 
Haus  in  der  obersten  Würde  des  Reiches  zu  behaupten,  mußte  Fer- 
dinand den  Mann  preisgeben,  der  ihn  groß  gemacht  hatte. 

Für  Gustav  Adolf  ein  Erfolg,  wie  er  ihn  vor  einem  Jahr  sich  noch 
nicht  hatte  träumen  lassen  können.  Es  war,  als  ob  die  katholische 
Front  ganz  auseinanderbersten  müßte;  durch  ganz  Deutschland 
ging  die  Erschütterung,  bis  in  die  kaiserlichen  Garnisonen  an  der 
pommerschen  Küste  merkte  man  den  Stoß.  Man  kann  zweifeln,  ob 
es  Gustav  Adolf  andernfalls  so  leicht  geworden  wäre,  festen  Fuß  auf 
deutschem  Boden  zu  fassen.  Es  war  ein  Sieg,  der  mehr  als  eine  Schlacht 
aufwog.  Fortuna  hatte  ihn  dem  König  zugewandt.  Aber  niemals 
hat  das  alte  Wort,  daß  das  Glück  dem  Tapfern  hold  ist,  mehr  Wahr- 
heit gehabt:  es  war  der  Lohn  des  Helden,  der  sich,  als  er  sich  von 
aller  Welt  verlassen  gesehen,  ganz  allein  dem  heranwogenden  Unheil 
entgegengestemmt  hatte. 

Weniger  erfreut  durften  die  deutschen  Protestanten  über  die 
Beschlüsse  von  Regensburg  sein.   Denn  ihre  Lage  war  jetzt  bedrohter 


55 

als  vordem.  Der  Kampf  für  die  gemeinsame  katholische  Rehgion 
hatte  Habsburg  und  Witteisbach  zusammengeführt;  es  war  das 
einzige  Band,  das  unzerrissen  geblieben  war.  Von  Wallenstein  hätten 
die  Protestanten  am  Ende  sogar  Duldung  ihres  Glaubens  erhoffen 
können:  von  Kurfürst  Max  hatten  sie  keine  Schonung  zu  erwarten. 
Gelang  es  diesem,  dem  jetzt  die  gesamte  katholische  Streitmacht  mit 
Tilly  als  Generalissimus  unterstellt  war,  die  Krisis  zu  überwinden,  so  war 
nach  menschlicher  Berechnung  das  Evangelium  in  Deutschland  verloren. 

Daß  Gustav  Adolf  der  Retter  des  deutschen  Protestantismus 
geworden  ist,  kann  danach  keinem  Zweifel  unterliegen.  Und  auch 
über  seine  rehgiöse  Stellung,  ob  er  nicht  vielleicht  doch  mehr  Politiker 
als  Glaubensstreiter  gewesen,  ob  der  Protestantismus  mehr  Vorwand 
als  Antrieb  für  ihn  gewesen  sei,  seine  Armee  über  die  Ostsee  zu  führen, 
und  was  dergleichen  Zweifelsfragen  mehr  sind,  sollte  wohl  endlich  die 
Diskussion  geschlossen  sein.  Wer  so  urteilt,  hat  kein  Verständnis 
für  das  Jahrhundert  der  Glaubenskämpfe,  ja  er  versteht  es  überhaupt 
nicht,  Fragen  an  die  Geschichte  zu  stellen.  Als  ob  Wille  und  Macht, 
die  Tat  und  der  Gedanke,  der  sie  beseelt,  je  voneinander  geschieden 
werden  könnten :  sie  sind  vielmehr  so  eng  ineinander  verkettet,  wie  die 
Macht  selbst  und  das  allwaltende  Schicksal. 

Gewiß,  Gustav  Adolf  stand  mit  beiden  Füßen  auf  dem  Boden 
seines  Staates,  des  Schwedens,  das  der  Ahnherr  auf  den  Grund  der 
protestantischen  Idee  gestellt  hatte:  des  EvangeUums,  das  vom 
deutschen  Boden  her  seinem  Volke  gebracht  war.  Dies  war  das 
Band  gewesen,  das  den  Zweig  der  Wasas,  dem  Gustav  Adolf  ent- 
stammte, mit  dem  Lande,  in  dem  das  Geschlecht  wurzelte,  verknüpft 
hatte,  dem  Lande,  das  der  Vater  und  der  Großvater  gegen  äußere 
und  innere  Feinde  verteidigt  hatten,  dessen  Macht  er  selbst  zunächst 
an  des  Vaters  Seite,  dann  aber  allein  mit  jugendlicher  Kraft  von 
Ingermanland  bis  zur  Weichsel  ausgedehnt  hatte.  Alle  seine  Feldzüge 
waren  von  diesem  Gedanken  getragen  gewesen;  niemals  hatte  er  den 
Zusammenhang  mit  der  Umwelt,  mit  den  universalen  Ideen,  die  ganz 
Europa  in  zwei  feindliche  Lager  zerteilten,  aus  den  Augen  verloren, 
so  wenig  wie  einst  in  ihrer  Weise  EHsabeth  von  England  oder  Philipp  II. 
von  Spanien.  Das  war  es,  was  uns  neben  ihm  die  Politik  des  Dänen- 
königs so  dürftig  erscheinen  läßt,  dem  es,  vne  Gustav  Adolf  von  ihm 
sagte,  nur  darum  zu  tun  war,  einen  Fuß  in  das  Reich  zu  setzen,  Ham- 
burgs Hafen  durch  seine  Zollstätten  zu  kontrollieren  und  sich  ein 


56 

paar  Stifter  aus  dem  deutschen  Fischteich  herauszufischen.  Turmhoch 
steht  Gustav  Adolfs  PersönMchkeit  und  Pohtik  über  dem  Nachbarn 
und  seinen  deutschen  Vettern,  deren  Pohtik  jede  Großzügigkeit  ver- 
missen läßt.  Ihn  bezeichnet  das  Wort,  mit  dem  er  im  Mai  1630  von 
seinen  Ständen  Abschied  nahm:  »Die  Kirche  Gottes  und  Schwedens 
Majestät  sind  es  wohl  wert,  daß  man  für  sie  Beschwerlichkeiten,  ja 
selbst  den  Tod  erleide.« 

Dies,  die  Hingabe  an  seine  Idee,  ist  die  Quelle,  aus  der  alles  bei 
ihm  hervorquillt:  die  staathche  Einsicht  und  die  klare  Linienführung 
m  seinen  Plänen,  die  Zucht,  in  der  er  sich  selbst  und  die  Seinen  hält, 
der  unerschütterhche  und  doch  stets  besonnene  Mut  und  in  der  Schlacht 
die  todverachtende  Kühnheit,  seine  aufrichtige  und  doch  so  weit- 
herzige Rehgiosität,  der  nie  erlahmende  Glaube  an  die  Gerechtigkeit 
seiner  Sache,  der  Herrscherwille  selbst,  und  die  Kraft,  mit  der  er 
festhält,  was  er  einmal  angepackt  hat  —  kurz  der  ganze  Flor  von 
Herrschertugenden,  der  diesen  Helden  jedem  teuer  machen  muß, 
wem  immer  Sinn  für  historische  Größe  gegeben  ist. 

So  ist  Gustav  Adolf  der  Schöpfer  der  schwedischen  Großmacht 
geworden. 

Hat  er  aber  • —  und  das  ist  eine  Frage,  deren  Beantwortung 
größeren  Bedenken  begegnen  könnte  —  dem  Volke,  dem  er  helfen 
wollte,  das  Heil  gebracht?  Hat  er  unserer  Nation  den  Weg  in  die 
Zukunft  gewiesen,  den  Staat  ihr  gegeben  oder  doch  sein  Werden 
eiTOÖglicht,  an  dessen  Aufbau,  so  oft  sie  ihn  von  sich  aus  versucht 
hatte,  sie  gescheitert  war  ?  Das  Ziel,  das  Gustav  Adolf  sich  setzte,  hat 
er  selbst  mit  Sicherheit  bezeichnet,  und  seine  Handlungen,  wie  das 
Zeugnis  der  Seinen,  vor  allem  seines  nächsten  Gehilfen,  seines  Axel 
von  Oxenstierna,  der  es  erst  nach  dem  Tode  des  Königs  abgegeben 
hat,  haben  es  bestätigt.  In  einer  auf  der  Grundlage  der  Rehgion 
organisierten  Gemeinschaft,  einem  Corpus  Evangelicorum,  wollte 
der  König  das  protestantische  Norddeutschland  mit  seinem  Stamm- 
lande und  den  Eroberungen  an  den  Ostküsten  des  baltischen 
Meeres  vereinigen,  also  daß  die  slavische  Welt,  ob  kathohsch  oder 
byzantinisch,  auf  immer  von  der  deutsch-schwedischen  See  ab- 
geschlossen worden  wäre.  Die  deutsche  »Libertät«  wollte  er  nicht 
verletzen,  vielmehr  als  der  Retter  der  »teutschen  Freiheit«  betrat 
er  unsern  Strand,  und  so  ward  er  von  der  Masse  der  Nation,  so  weit 
sie  evangelisch  war,  begrüßt  und  gefeiert.    So  ist  es  • —  wie  oft!  • — 


57 

dem  toten  Helden  ins  Grab  nachgerufen  worden.  So  lesen  wir  es  schon 
in  dem  Schreiben,  das  des  Königs  Generalleutnant,  Gustav  Hom,  den 
er  in  Süddeutschland  zurückgelassen,  vom  Schlachtfeld  von  Lützen 
her  erhielt :  »und  hat  dieser  incomparabilis  Heros,  für  dessen  langes 
Leben  soviel  tausend  Seelen  ohnzweifelig  geseufzet  haben,  und  dessen 
Tod  von  männiglich  betrauert  wird,  Germaniae  Ubertatem  et  re- 
Ugionem  endüch  mit  seinem  Blute  bezahlen  müssen.«  Und  so 
waren  denn  seit  seiner  Landung  bald  alle  verjagten  Häupter  der  deut- 
schen evangehschen  Partei  in  dem  Lager  des  Königs  versammelt : 
die  böhmischen  Exulanten  mit  ihrem  geschäftigen  Grafen  Thiurn, 
dem  Königsmacher  von  1619,  an  der  Spitze,  der  Winterkönig  selbst, 
der  aus  seiner  Verbannung  im  Haag  herbeigeeilt  war,  die  Ernestiner, 
Ernst,  Wilhelm  und  Bernhard,  denen  der  König,  wie  so  manchen 
andern  Fürsten,  hohe  Kommandos  in  seiner  Armee  gab,  und  die 
Menge  der  Grafen  und  Herren,  die  ins  Elend  gejagt  waren  und  nun 
die  Herstellung  in  ihren  Besitz  vmd  militärische  Posten  von  dem 
fremden  Herrscher  erhofften. 

Doch  war  er  nicht  jedermann  willkommen.  Nur  unter  dem  Druck 
der  Waffen  nahm  gleich  der  erste  Fürst,  der  sich  ihm  anschloß,  der 
Pommemherzog  Buslav  den  König  in  seine  Hauptstadt  auf; 
und  nur  in  der  Pressung  zwischen  der  kathoHschen  und  der  schwe- 
dischen Macht  bewilligte  der  Brandenburger  seinem  Schwager  den 
Durchzug  durch  sein  Land,  stellte  sich  danach  Johann  Georg 
von  Sachsen  mit  seinem  Heer  unter  die  schwedischen  Fahnen.  Denn 
freihch,  Widerstand  duldete  der  Retter  des  deutschen  Evangeliums 
so  wenig  wie  Neutralität;  wo  er  stand,  wollte  er  auch  befehlen,  und 
was  er  einmal  in  der  Hand  hatte,  hielt  er  fest.  Er  wußte,  daß  nur  die 
Macht  das  Bündel  dieser  auseinanderlaufenden  Interessen  zusammen- 
schloß. Diese  Macht  mußte  aber  unter  seiner  Faust  bleiben,  denn  er 
allein  wußte  sie  zu  gebrauchen.  Auch  hatte  er  allein  eine  Gewalt 
hinter  sich,  die  unzersphttert  und,  so  lange  er  lebte,  frei  von  Gegen- 
sätzen war,  einen  Staat,  wie  er  selbst  einmal  gesagt  hat,  in  dem 
König  und  Stände,  Höhere  und  Niedere,  an  Gottes  Statt  die  König- 
liche Hohe  Majestät  vertraten.  Gustav  Adolf  verlangte  gar  nicht 
einmal,  daß  sein  Haus  für  alle  Zeit  im  Besitz  des  Direktoriums  jenes 
Corpus  EvangeUcorum  sei.  Hat  doch  der  Söhnelose  daran  gedacht, 
seinen  Neffen,  den  jungen  Kurprinzen  von  Brandenburg,  der  als 
der  Große  Kurfürst  in  der  Geschichte  fortlebt,  zu  seinem  Nachfolger 


58 

zu  machen,  und  noch  Axel  von  Oxenstierna  hat  diese  Idee  erwogen. 
Aber  daß  Schweden  die  Hegemonie  in  diesem  germanisch-protestan- 
tischen Reichsverbande  des  Nordens  behalten  und  nicht  etwa  an 
Brandenburg-Preußen  abgeben  müsse,  war  selbstverständlich  für 
König  und  Kanzler.  Friedrich  Wilhelm  hätte,  wenn  sich  ihre  Pläne 
hätten  erfüllen  lassen,  so  gut  wie  sein  Vetter  Karl  Gustav  von  Zwei- 
brücken, am  Mälarsee  residieren  und  von  dort  aus  das  Dominium 
Maris  baltici  behaupten  müssen.  Doch  waren  das  für  Gustav  Adolf 
Sorgen  der  Zukunft.  Noch  stand  er  auf  der  Höhe  des  Lebens,  und  so 
lange  er  von  sich  sagen  durfte,  daß  er  allein  das  Ruder  führen  könne, 
dachte  er  eben  nicht  daran,  es  in  andere  Hände  zu  geben. 

Wäre  aber  einem  solchen  Bundesstaat,  oder  wie  man  dies  poli- 
tische System  nennen  will,  Dauer  beschieden  gewesen? 

Die  geistige  Einheit  dieses  Machtgebildes  war  gewiß  so  groß  oder  eher 
größer  als  zu  jener  Zeit,  damals  wenigstens,  die  der  nationalen  Monarchien 
des  Westens.  Hier  aber  war  nicht  Schweden,  sondern  Deutschland 
der  gebende  Teil.  Wittenberg  war  das  geistige  Zentrum  dieser  Macht. 
Von  Thüringens  Bergen  und  von  den  Ufern  des  Main  bis  hin  zum 
Nordkap  und  rund  um  die  Ostsee  herrschte  seit  hundert  Jahren  der 
deutsche  Glaube  in  seiner  ursprünglichsten  Gestalt.  Hunderte  von 
deutschen  Federn  verkündigten  noch  immer  die  Gedanken  des  Doktor 
Martinus;  zu  vielen  Tausenden  wurden  die  Erzeugnisse  norddeutscher 
Druckerpressen  nach  allen  Ländern  des  Nordens  verbreitet ;  hin  und 
her  wanderten  zwischen  deutschen  und  skandinavischen  Universitäten 
Professoren  und  Studenten ;  deutsche  Schreiber  saßen  in  den  Kanzleien 
des  schwedischen  Königs;  deutsch  schrieb  und  sprach  er  selbst  wie 
seine  Muttersprache,  in  deutscher  Sprache  hat  er  sein  herrUches 
GlaubensHed  gedichtet,  eine  deutsche  Fürstentochter  war  ihm  als 
Gemahhn  angetraut,  deutsche  Knechte  und  Reiter  füllten  in  Masse 
seine  Heere,  deutsche  Edelleute  und  Fürstensöhne  befehHgten  neben 
schwedischen  Kommandeuren  seine  Armeen  und  Regimenter. 

Und  dennoch,  so  müssen  wir  sagen,  —  es  zeigte  sich  schon, 
während  Gustav  Adolf  noch  im  vollen  Leben  stand  —  ist  sein  Plan 
nicht  anders  zu  beurteilen  als  alle  Versuche,  den  Frieden  in  unserer 
Nation  auf  dem  Grunde  eines  einzigen  Bekenntnisses  zu  errichten. 
Das  Reich  hätte  er  zerrissen.  Denn  niemals  hätten  sich  der  Kaiser 
und  die  Liga  die  Rolle,  die  ihnen,  wie  ihrer  ReHgion,  eine  solche  Ord- 
nung zuteilte,  gefallen  lassen.    Doch  wäre  dies  am  Ende  nicht  das 


59 

Schlimmste  gewesen,  wenn  nur  der  König  sein  Werk  in  dieser  Be- 
grenzung hätte  halten  können.  Aber  die  Exulanten  und  alle  Be- 
drängten, die  auf  ihn  harrten  und  hofften,  waren  ja  gar  nicht  bloß 
Norddeutsche;  sondern  gerade  im  Süden,  in  Baden  und  Württem- 
berg, so  auch  in  der  Pfaffengasse  am  Main  und  am  Rhein,  in  den 
Erblanden  des  Kaisers  selbst,  in  Oberösterreich,  Steiermark  und 
Tirol,  und  vor  allem  in  Böhmen  und  Mähren,  dem  Brandherd,  auf 
dem  das  Feuer  des  Krieges  sich  entzündet  hatte,  und  wo  die  Gluten 
unter  der  Asche  noch  brannten,  warteten  Hunderttausende  Evange- 
lischer auf  den  schwedischen  König  als  ihren  Befreier. 

Er  selbst  wünschte  sich  nichts  Besseres.  Er  werde,  so  hat  er 
einmal  gesagt,  nicht  ruhen  und  rasten,  bis  er  den  Feind  an  der  Gurgel 
gepackt,  bis  er,  wie  er  es  ein  andermal  ausgedrückt  hat,  den  Papisten 
das  Knie  auf  die  Brust  und  den  Degen  an  die  Kehle  gesetzt  habe  und 
zu  ihnen  sprechen  könne:  so  oder  so  macht  nun  Frieden!  Noch  lag, 
wenn  es  so  Gottes  Wille  war,  ein  langes  Leben  vor  dem  Helden,  der 
kaum  das  37.  Jahr  überschritten  hatte,  als  er  im  Feld  vor  Lützen, 
nicht  weit  von  dem  Ort,  wo  er  seinen  größten  Sieg  erfochten,  sich 
zum  zweitenmal  dem  General  in  den  Weg  stellte,  der  ihm  allein  noch 
Widerstand  zu  leisten  vermochte.  Es  scheint  fast,  als  ob  der  König 
geglaubt  habe,  damit  schon  die  Palmen  des  Sieges  gewinnen  zu  können, 
die  ihm  jenen  Frieden  sichern  würden.  Da  rief  ihn  sein  Gott,  dem 
er  sich  auf  Leben  und  Sterben  angelobt  hatte,  in  die  ewige 
Heimat. 

Und  damit  war  für  unser  Volk  jede  Hoffnung,  seine  Einheit  auf 
dem  Grunde  der  tiefsten  Lebensgemeinschaft  aufzubauen,  begraben. 
Es  gab  fortan  für  die  Glieder  des  Reiches  keine  andere  Form  des 
Zusammenlebens  als  das  Prinzip  der  Libertät,  die  Einschnürung  in 
die  territorialen  Grenzen.  Ob  der  Friede  auf  solcher  Grundlage  schon 
mögüch  sei,  das  allein  war  die  Frage,  vor  die  sich  die  Nation  nach 
dem  Tode  Gustav  Adolfs  gestellt  sah. 

Der  Mann,  der  sie  bejahte,  war  kein  Geringerer  als  der  große 
General,  den  Gustav  Adolf  nicht  hatte  besiegen  können.  So  hat 
WaUenstein  selbst  schon  im  Frühling  1633  zu  böhmischen  Exulanten 
sich  ausgesprochen,  Agenten  Oxenstiernas,  die  ihn  auf  seinem  Schlosse 
zu  Gitschin  aufsuchten,  um  ihn,  bereits  zum  zweitenmal,  mit  der 
böhmischen  Krone  zu  ködern:  man  müsse,  so  erklärte  er  ihnen,  die 
Armeen  zusammenführen  und    den  erwünschten  Frieden,  den    man 


60 

dann  in  den  Händen  haben  werde,  machen,  dem  Kaiser  und  den 
Pfaffen  zum  Trotz,  den  Katholischen  und  Evangelischen  zu  Gutem: 
wofür  der  König  die  Waffen  ergriffen  habe,  damit  den  Geängstigten 
und  Bedrängten  geholfen  würde,  das  wolle  er  mm  auf  sich  nehmen; 
nur  das  allgemeine  Beste  und  die  Herstellung  der  Verjagten  liege 
ihm  am  Herzen.  In  Wirklichkeit  war  es  doch  etwas  ganz  anderes, 
was  der  Herzog  plante,  so  ähnlich  er  seine  Worte  den  Gedanken 
seines  Gegners  stellen  mochte.  Nicht  die  Rolle  Gustav  Adolfs,  sondern 
die  des  Kurfürsten  Moritz  von  Sachsen,  des  Verräters  an  der  evange- 
lischen Sache,  war  es,  die  der  Friedländer  durchzuführen  hoffte.  So 
lange  Gustav  Adolf  im  Leben  gestanden,  war  Wallenstein  sein  Feind 
gewesen;  denn  für  sie  beide,  das  hatte  er  bald  gemerkt,  war  im  Reiche 
kein  Platz.  Nun  aber  sah  er  niemand  mehr,  der  ihm  den  Rang  noch 
streitig  machen  konnte.  So  wollte  er  denn  auf  seine  Art  Frieden 
machen.  Denn  daß  dies  der  Gedanke  war,  der  allem,  was  er  seit 
Lützen  unternommen,  zugrunde  lag,  duldet  keinen  Zweifel.  So  hat 
er  es  noch  in  den  Tagen  von  Pilsen  bekannt.  »Fried,  Fried!«,  so  hörte 
damals  Herzog  Franz  von  Lauenburg,  des  Kurfürsten  von  Sachsen 
Unterhändler,  den  von  der  Gicht  auf  das  Lager  gestreckten  Schwer- 
kranken stöhnen.  Und  noch  auf  dem  Wege,  der  den  Herzog  nach 
Eger  führte,  hat  man  Ähnliches  von  ihm  gehört.  Noch  hatte  er  den 
Gedanken  nicht  aufgegeben,  die  Armeen  der  Kriegführenden  in  seine 
Hand  zu  bekommen:  auf  dem  Sammelplatz  vor  Prag  wollte  er  sie 
zusammenbringen:  nicht  bloß  die  des  Kaisers  und  der  Liga,  sondern 
auch  die  Truppen  Brandenburgs  und  Sachsens,  ja  selbst  die  Regimenter, 
die  Herzog  Bernhard  von  Weimar  unter  den  Schweden  führte.  Da 
aber  wird  ihm  gemeldet,  daß  auch  der  Oberst  Beck,  von  dem  er  es 
am  wenigsten  erwartet  hat,  zu  den  Gegnern  übergegangen  und  also 
der  Weg  nach  Prag  ihm  selbst  versperrt  sei.  Und  nun  entfährt  ihm 
ein  Wort,  das  tiefer  in  sein  Innerstes  hineinleuchtet  als  alles,  was 
man  sonst  von  ihm  vernommen  hat:  »Ich  hatte  den  Frieden  in  der 
Hand  —  Gott  ist  gerecht.«  In  der  Tat,  wer  hätte,  wäre  ihm 
jener  Plan  geglückt,  noch  widerstehen,  wer  das  eigene  Los, 
sei  es  des  Glückes  oder  des  Verderbens,  anders  als  aus  der  Hand 
des  Herzogs  erwarten  und  empfangen  können !  Er  hätte  seine  Freunde, 
die  Sachsen  und  die  Brandenburger,  und  gewiß  auch  den  Emestiner, 
nicht  unbelohnt  gelassen;  den  Verjagten  würde  er  die  Rückkehr  in 
ihr  Land,  die  Herstellung  in  ihre  Güter  verschaff t  haben ;  die  Franzosen 


61 

dachte  er  mit  Geld  abzufinden;  die  Schweden  sollten  sich  mit  poin- 
merschen  und  mecklenburgischen  Häfen  begnügen;  denn  ihn  selbst 
gelüstete  es  nicht  mehr  nach  dem  Herzogshut  im  Reich.  Rache 
wollte  er  an  dem  Bayernfürsten  nehmen,  der  ihm  den  größten  Schimpf 
seines  Lebens  angetan  hatte ;  dem  hatte  er  das  Verderben  geschworen. 
Was  aber  nahm  er  (denn  er  pflegte  sich  doch  nicht  zu  vergessen)  als  seinen 
eigenen  »Recompens«  in  Anspruch,  wenn  er  die  Stellung  an  der  Ost- 
seeküste aufgeben  wollte  ?  Und  was  hatte  er  mit  dem  Kaiser  im 
Sinn?  Fragen,  deren  voUe  Lösung  wohl  für  alle  Zeit  unmöglich  sein 
wird  —  weil  der  Herzog  selbst  sich  die  Antwort  erst  von  den  Er- 
eignissen hätte  diktieren  lassen.  Daß  aber  die  böhmische  Krone, 
mochte  er  es  auch  gelegentlich  ableugnen,  im  Hintergrund  seiner 
Gedanken  gestanden,  läßt  sich  gar  nicht  verkennen ;  und  ebensowenig, 
daß  er  dem  Habsburger  das  Los  des  Bayernfürsten  bereitet  haben 
würde,  wenn  jener  sich  geweigert  hätte,  den  Frieden  aus  seiner 
Hand  und  nach  seinem  Willen  anzunehmen;  er  hätte  ihn,  wir  wissen 
es  aus  seinem  eigenen  Munde,  wie  einst  Kurfürst  Moritz  den  Kaiser 
Karl  V.,  bis  in  die  Tiroler  Berge  gejagt. 

So  sah  Ferdinand  die  eiserne  Säule,  die  er  in  der  höchsten  Not 
diesem  Dämon  des  Krieges  zum  zweitenmal  anvertraut  hatte,  wieder- 
um auf  sich  zukommen.  Ein  Ausweichen  war  nun  nicht  mehr  mög- 
lich. Er  mußte,  koste  es,  was  es  wolle,  sie  in  seine  Hand  bekommen  — 
oder  sie  würde  ihn,  und  mit  ihm  Kurfürst  Max,  mit  dem  die  gleiche 
Not  ihn  längst  wieder  zusammengeführt  hatte,  zugleich  zermalmen. 
Und  das  ist  diesem  Habsburger  geglückt  —  auf  demselben  Wege, 
den  Wallenstein  gegen  ihn  vor  Jahren  beschritten,  und  den  er  niemals 
ganz  verlassen  hatte:  den  Verräter  fällte  der  Verrat. 

Fortuna  hatte  von  neuem  die  Lose  geschüttelt,  und  das  Todes- 
los des  Generals  war  das  Glückslos  seines  Kaisers  geworden.  Denn 
nun  besaß  und  behielt  Ferdinand  für  sich  und  sein  Haus  das  In- 
strument der  Macht,  das  ihm  der  Untertan,  der  Kondottiere,  in  dem 
Feuer  des  Krieges  geschmiedet  hatte.  Was  andere  Monarchen  in 
offenem  Kampf  oder  in  mühsehger  Friedensarbeit  sich  schufen, 
brachte  dem  Habsburger  die  Mordtat  von  Eger. 

Der  erste  große  Lohn  war  der  Sieg  von  Nördhngen,  der  Breiten- 
feld wettmachte  und  den  Kaiser  zum  Herrn  in  Süddeutschland 
erhob,  während  der  Witteisbacher  fortan  in  die  Nebenrolle  gedrückt 
war.    Es  folgte  der  Prager  Friede,  der  den  kaiserlichen  Heeren  auch 


62 

Norddeutschland  wieder  öffnete;  bis  an  die  Küste,  an  die  sie  sich 
noch  gerade  klammerten,  sahen  sich  die  Schweden  zurückgedrängt. 
Dennoch  konnte  Ferdinand,  konnten  auch  die  kathoHschen 
Stände  nicht  mehr  darauf  rechnen,  die  Stellung,  die  sie  in  Lübeck 
eingenommen,  je  wieder  zu  erlangen.  Der  Friede  selbst  bedeutete 
für  den  Kaiser  den  Rücktritt  von  seiner  kathoHschen  Politik,  um 
derentwillen  er  zweimal  mit  Wallenstein  gebrochen  hatte.  Er  mußte 
dessen  Ideen  gewissermaßen  wieder  aufnehmen;  denn  nur  so  gewann 
er  den  Beitritt  der  beiden  norddeutschen  Kurfürsten  zum  Kriegs- 
bund gegen  Schweden.  Es  blieb  immer  das  Gleiche:  die  Neutralisi- 
rung  der  Religion  war  die  Vorbedingung  für  den  Frieden  im  Reich. 
So  kündigte  sich  in  den  Prager  Traktaten  bereits  der  allgemeine 
Friede  an,  der  nach  dreizehn  neuen  Kriegs] ahren  in  Münster  und 
Osnabrück  zustande  kam  —  ein  Friede  der  Erschöpfung. 

IL 

Mit  Recht  ist  neuerdings  darauf  hingewiesen  worden,  daß  die 
landläufigen  Schilderungen  von  den  verderblichen  Wirkungen,  die 
der  30  jährige  Krieg  für  Deutschland  hatte,  in  allzu  dunklen  Farben 
gehalten  sind;  man  gewinnt  daraus  fast  die  Vorstellung,  als  sei  die 
entfesselte  Kriegsfurie  volle  30  Jahre  hindurch  mit  immer  gleicher 
Wut  über  unser  Land  hingefahren,  als  habe  der  Krieg  nichts  als 
Trümmer,  Verwüstung  und  sittliche  Verwilderung  hinterlassen^). 
In  Wirklichkeit  läßt  sich  nördlich  wie  südlich  vom  Main  keine  einzige 
Landschaft  nennen,  die  unausgesetzt  unter  dem  Druck  des  Krieges 
gestanden  hätte,  und  mehr  als  eine,  die  er  niemals  erreicht  hat.  Durch- 
märsche und  Einquartierungen  waren  freihch  eine  schwere  Last, 
und  wohin  Sedes  belli  gelegt  wurde,  folgten  Mord  und  Brand  auf 
dem  Fuße;  wie  ein  fressendes  Feuer  fiel  das  fremde  Kriegsvolk  plün- 
dernd und  sengend  über  das  schutzlose  Land  und  seine  Bewohner 
her,  Dörfer  und  Klöster  gingen  in  Rauch  auf,  und  die  festen  Häuser 
auf  dem  Lande,  die  Mauern  der  kleineren  Städte  zerbrachen  unter 
dem  Donner  der  Kanonen.  Aber  das  Unwetter  ging  gewöhnlich  so 
schnell  vorüber,  wie  es  gekommen  war;  länger  als  ein  paar  Monate 
wurde  eine  Landschaft  selten  heimgesucht.  Mit  den  Schrecken  des 
heutigen  Krieges,  der  ganze  Provinzen  zur  Einöde  macht,  Millionen 


^)  Robert  Hoeniger,  Der  Dreißigjährige  Krieg  und  die  deutsche  Kultur, 
Preuß.   Jahrbücher,  Bd.  138,  Heft  3. 


63 

von  Kriegern  gegeneinander  führt,  Staaten  und  Nationen  in  den 
Abgrund  der  Vernichtung  reißt,  läßt  sich  die  Kriegführung  jener 
Zeiten  nicht  von  ferne  vergleichen.  Von  den  großen  deutschen  Kom- 
munen erlitt  das  einzige  Magdeburg  solches  Schicksal,  und  der  Brand, 
der  große  Teile  dieser  Stadt  in  Asche  legte,  ist,  wie  man  heute  weiß, 
nicht  von  den  Siegern,  Tilly  oder  Pappenheim,  befohlen  worden,, 
sondern  vermutlich  mehr  durch  Zufall  als  absichtlich  entstanden 
und  verbreitet.  Auch  war  es  vornehmlich  das  letzte  Jahrzehnt,  in 
dem  der  Krieg  diesen  bösartigen  Charakter  trug.  Gustav  Adolf  hielt 
seine  Heere  in  Zucht,  und  ebenso  verstand  es  Wallenstein,  der  große 
Orgaiüsator  des  Krieges,  durch  sein  Kontributionssystem  die  Er- 
haltung seiner  Armee  und  die  Konservierung  des  Landes,  das  sie 
ernähren  mußte,  einigermaßen  im  Gleichgewicht  zu  erhalten.  Auch 
kann  ein  Land,  das  dreißig  Jahre  hindurch  die  Armeen  aller  Parteien 
ertrug,  dessen  Söhne  zu  Tausenden  unter  allen  Fahnen  fochten,  ja 
den  Hauptteil  aller  dieser  Heere  stellten,  nicht  so  menschenarm  ge- 
wesen sein,  wie  es  die  landläufigen  Vorstellungen  wollen.  Überwog 
doch  im  letzten  Jahrzehnt  des  Krieges  die  Kavallerie,  die  schon  immer 
die  Hauptwaffe  des  Zeitalters  gewesen  war,  die  Infanterie  oft  sogar 
zahlenmäßig!  Woher  aber  hätte  man  die  Pferde  und  alle  Zufuhr 
anders  bekommen  können  als  aus  dem  Lande  selbst?  Städte,  wie 
Nürnberg,  Augsburg  und  Ulm,  Straßburg  und  alle  Rheinstädte,  so 
auch  die  Vororte  der  Hanse,  Bremen,  Hamburg  und  Lübeck,  und 
im  Osten  Danzig,  haben  nie  einen  Feind  in  ihren  Mauern  gesehen.  Sie 
durften  sich  nicht  bloß  auf  ihre  Politik,  die  zwischen  den  Parteien 
vortreffHch  zu  lavieren  verstand,  verlassen,  sondern  auch  auf  ihre 
starken  Wälle,  Gräben  und  Bastionen;  und  wenn  Gustav  Adolf  bei 
der  Zusammenkunft  mit  König  Christian  in  Ulfsbek  meinte,  daß  man 
sich  vor  den  Herren  in  Hamburg  und  Lübeck  nicht  so  sehr  zu  ängstigen 
brauche,  sein  Geschütz  werde  ihre  veralteten  Befestigungen  schon 
zerbrechen,  »man  müsse  es  diese  Speckhökers  lehren«,  so  fand  er 
doch  keine  Gelegenheit,  dies  kecke  Wort  wahr  zu  machen;  Christian 
aber  hatte  sich,  wieviel  er  gegen  beide  Städte  auf  dem  Kerbholz  hatte, 
wohl  gehütet,  mit  ihnen  anzubinden;  der  Krieg  flutete,  als  er  auf  die 
jütische  Halbinsel  übergriff,  mehrmals  an  ihren  Mauern  vorüber, 
und  Hamburg  hat,  als  der  große  Umschlags-  und  Geldplatz  des  Nordens 
von  allen  Parteien  umworben,  gerade  im  deutschen  Krieg  den  Grund 
zu  seiner  Stellung  als  größter  Handelshafen  des  Kontinents  gelegt.. 


64 

Von  den  hohen  Ständen  hat  nur  der  Kaiser  vom  ersten  bis  zum  letzten 
Jcihr  die  Waffen  in  den  Händen  gehalten;  Kurfürst  Max  von  Bayern, 
der  bis  ans  Ende  bei  ihm  aushielt,  kam  ihm  doch  erst  im  zweiten  Jahr 
des  Krieges  zur  Hilfe.  Kursachsen  trat  zu  ihnen,  als  es  sich  die  Lausitz 
aus  der  Konkursmasse  des  Winterkönigs  holen  wollte;  danach  blieb 
gerade  Johann  Georg  dem  immer  weiter  sich  ausbreitenden  Brande 
fern,  bis  ihn  1631  Tillys  Einfall  in  sein  Land  auf  Gustav  Adolfs  Seite 
hinüberdrängte.  So  suchte  auch  Georg  Wilhelm  von  Brandenburg 
seine  Länder,  so  lange  es  irgend  anging,  aus  dem  Kriege  heraus- 
zuhalten und  bei  der  ersten  Gelegenheit  wieder  herauszukommen; 
niemals  waren  diese  beiden,  wie  übrigens  die  meisten  ihrer  Standes- 
genossen, zuverlässige  Freunde,  sei  es  des  Königs  oder  des  Kaisers. 
Am  schwersten  hatten  es  die  Durchmarschgebiete,  wie  Thüringen, 
auch  Kurbrandenburg,  um  das  das  Kriegsgewitter  seit  dem  Ein- 
bruch der  Mansfelder  und  der  Wallensteiner  sich  immer  von  neuem 
zusammenballte;  noch  nachdem  er  seinen  Frieden  mit  den  Schweden 
gemacht,  mußte  Georg  Wilhelms  Sohn,  der  junge  Kurfürst  Friedrich 
Wilhelm,  ihnen  die  Straßen  durch  sein  Land  freigeben.  Am  aller- 
besten kamen  des  Kaisers  Erblande  davon;  seine  Hauptstadt  blieb, 
so  nah  ihr  zuweilen  der  Feind  kam,  immer  verschont,  und  die  Alpen- 
länder, Steiermark,  Kärnten,  Tirol  haben  niemals  feindliche  Gäste 
zu  beherbergen  gehabt. 

H  Übrigens  war  Deutschland  ja  nicht  das  einzige  Land,  das  in  dem 
Jahrhundert  der  Reformationskriege  dreißig  Kriegsjahre  durchzu- 
machen hatte.  Nahe  an  vier  Jahrzehnte,  und  viel  tiefer  noch  war  ganz 
Westeuropa  zur  Zeit  der  Hugenottenkriege  von  Krieg  und  Revolution 
durchwühlt  worden,  und  diese  Kämpfe,  eng  ineinander  verflochten, 
erscheinen  oft  wie  ein  einziges  Ringen  um  Sein  und  Nichtsein  jener 
Nationen.  Sie  setzten  in  dem  neuen  Jahrhundert  nach  kurzer  Pause 
wieder  ein;  und  erst  durch  sie  ward  Deutschland,  das  sich  bis  dahin 
nahezu  freigehalten  hatte,  in  den  allgemeinen  Brand  hineingezogen. 
Dreißig  Jahre  hatte,  wie  bemerkt,  Schweden  bereits  Krieg  geführt, 
als  Gustav  Adolf  an  Pommerns  Küste  landete,  und  schon  im  siebenten 
Jahr  nach  dem  Westfälischen  Frieden  führte  Karl  X.  Gustav  abermals 
ein  schwedisches  Heer  auf  den  deutschen  Boden  hinüber  und  erfüllte 
sich  der  ganze  Norden  von  neuem  mit  dem  Lärm  der  Waffen.  Will 
man  aber  etwa  behaupten,  daß  das  England  Elisabeths  und  Crom- 
wells,  die  Niederlande  unter  den  Oraniern,  oder  das  Frankreich  Hein- 


65 

richs  IV.,  Richelieus  und  Mazarins  unter  der  Last  dieser  Kriege  zer- 
drückt und  erniedrigt  worden  seien?  Es  war  vielmehr  die  Epoche, 
in  der  diese  Nationen  zu  ihrer  welthistorischen  Stellung,  zu  eigen- 
artiger Größe  und  Bedeutung  gelangten:  Macht  und  Kultur  ver- 
einigten sich  in  ihnen  zu  engstem  Bunde;  die  Waffen  selbst  machten 
sie  reich,  führten  den  Aufschwung  aller  Künste  und  höchste  geistige 
Produktion  herbei. 

So  wenig  ist  es  wahr,  daß  nur  der  Friede  ernährt.  Auch  Krieg 
und  Revolution  können  Kraft  erzeugen;  auf  den  Sieg  allein  kommt 
es  an  und  auf  die  Macht,  die  er  schafft. 

Der  Sieg  blieb  unserer  Nation  versagt.  Jedoch  auch  nur  insoweit, 
als  sie  eine  politische  Einheit  war  und  sein  woUte:  das  Reich,  das  sie 
umschloß,  brach  fast  in  Stücke,  fremdem  Willen  folgten  die  auseinander 
gerissenen  Teile,  und  es  war  den  Zeitgenossen  wohl,  als  müsse  alles 
Leben  aus  seinen  Formen  entweichen.  Wer  es  aber  wagte,  sich  seiner 
Haut  zu  wehren,  durfte  noch  hoffen.  Es  war  eine  Zeit  für  Helden- 
größe und  Helden  hat  es  auch  unter  den  Deutschen  jener  Tage  ge- 
geben. Der  Starke  oder  auch  nur  der  stark  sein  Wollende  arbeitete 
sich  empor;  der  Schwache  und  mehr  noch  der  Schwächhche  ging  zu- 
grunde; dem  Mutigen  allein  gehörte  die  Zukunft. 

So  ist  der  große  Krieg  auch  für  uns  Deutsche  ein  Kraftsammler 
geworden.  Nicht  für  das  alte  Reich,  das  er  vielmehr  an  den  Rand 
der  Ohnmacht  brachte:  aber  für  seine  Gheder,  soviele  in  dieser  Welt 
des  Kampfes  sich  zu  behaupten  die  Macht  und  den  Willen  besaßen. 
Nicht  der  Krieg  der  dreißig  Jahre  ist  die  entscheidende  Krisis  für 
unsere  Nation  gewesen;  er  führte  nur  die  Entwicklung  weiter,  die 
unabwendbar  geworden  war,  seitdem  die  im  Bunde  von  Schmalkalden 
vereinigten  deutschen  Protestanten  — ■  damals  noch  vom  Auslande 
allein  gelassen  und  im  Rahmen  des  Reichsverbandes  und  seiner 
Organe  —  den  Krieg  für  ihr  Bekenntnis  gegen  Kaiser  und  Papst 
gewagt  und  verloren  hatten;  der  Westfähsche  Friede  bestätigte  und 
ergänzte  nur  den  Religionsfrieden  von  Augsburg. 

Zu  einer  Lösung  der  deutschen  Frage,  zum  Aufbau  des  nationalen 
Staates  war  man  auf  diesem  Wege,  der  nicht  weiter  als  bis  zur  Zer- 
störung des  alten  Reiches  führen  konnte,  auch  in  Münster  und  Osna- 
brück nicht  gelangt.  Es  blieben  die  universalen  Formen,  in  denen 
die  deutschen  Stämme  sich  zum  erstenmal  zur  Einheit  der  Nation 
zusammengefunden  hatten:  das  kathoUsche  Kaisertum  und,  soweit 

Lenz,   Wille,  Macht  und  Schicksal.  5 


66 

CS  noch  anerkannt  wurde,  das  Papsttum  selbst ;  es  blieben  die  ältesten 
Säulen  des  Reiches,  die  geistUchen  Stifter  in  den  altfränkischen  Gauen 
am  Main  und  zu  beiden  Seiten  des  Rheinstroms.  Geschlossen  standen 
sich  am  Reichstage  zu  Regensburg  die  katholischen  und  evange- 
lischen Stände  in  Sonderkorporationen  gegenüber.  Auch  war  kein 
Stand  des  Reiches  stark  genug,  um  bereits  der  Einheit  des  Bekennt- 
nisses entraten  zu  können;  wo  es  einmal  geschah,  erfolgte  es  unter 
dem  Druck  der  Verhältnisse,  und  wenn  Andersgläubige  in  den  Frieden 
des  Staates  Aufnahme  fanden,  ward  ihnen  darum  noch  keine  Teil- 
nahme an  den  Organen  seiner  Macht  gewährt.  Je  stärker  aber  der 
Einzelstaat  wurde,  je  mehr  er  sich  auf  sich  selbst  verlassen  konnte, 
und  das  waren  vor  allem  die  protestantischen  Fürstenhäuser,  um  so 
leichter  wurde  es  ihm,  fremde  Kirchengemeinschaften  in  seinem 
Machtbereich  zu  dulden  und  ihre  Anhänger  durch  Schonung  ihrer 
religiösen  Meinungen  zu  nützlichen  Bürgern  zu  erziehen. 

Es  war  nichts  anderes,  als  was  wir  auch  sonst  innerhalb  der  abend- 
ländischen Welt  in  dieser  Epoche  beobachten.  Was  sich  für  Frank- 
reich und  England  als  das  Ergebnis  der  Kämpfe,  die  diese  Monarchien 
seit  einem  Jahrhundert  bis  in  ihre  Fundamente  erschüttert  hatten,  he- 
rausgestellt oder  wenigstens  angebahnt  hatte,  die  Konsolidierung  der 
Staatsgewalt,  ihre  Unabhängigkeit  gegenüber  den  inneren  rehgiösen 
Parteiungen,  das  ward  in  Deutschland  wenigstens  für  die  Glieder 
des  Reiches  durch  den  großen  Krieg  erreicht  oder  doch  ermöglicht; 
je  stärker  sie  wurden,  je  mehr  sich  ihre  Eigengewalt  auf  autonome 
Kräfte,  auf  Waffen  und  Steuern  und  auf  eine  straff  geghederte  Be- 
amtenschaft gründete,  je  unabhängiger  vom  Reich  und  seinen  alten, 
hierarchisch  bedingten  Formen  sie  wurden,  um  so  weniger  sahen  sie 
sich  gezwungen,  zur  Aufrechterhaltung  ihrer  kirchlichen  Pohtik 
nach  auswärtigen  Bundesgenossen  des  gleichen  Bekenntnisses  zu 
suchen.  Dadurch  aber  vollzog  sich  eine  tiefgreifende  Abwandlung 
in  der  allgemeinen  Konstellation:  wie  im  Reich  das  Zeitalter  der 
Unionen  und  Ligen  ablief,  so  im  europäischen  Staatensystem  das 
der  staatszersetzenden  konfessionellen  Allianzen.  Innerhalb  der 
Staaten  bheb  die  Einheit  der  poHtischen  und  kirchlichen  Gewalt, 
die  für  Spanien  und  den  Norden  Europas,  und  so  auch  für  die  Staaten 
Italiens  schon  im  Beginn  der  Periode  nach  geringen  Erschütterungen 
bewahrt  war,  im  wesentüchen  erhcdten,  und  die  völhge  Säkularisierung 
der  Staatsgewalt  wurde  nirgends  erreicht;  auch  bUeben  die   Sym- 


67 

pathien  zwischen  den  Bekenntnissen  über  die  Landesgrenzen  hinweg 
noch  lange  lebendig:  aber  um  diese  zu  zerbrechen,  um  die  Staaten 
selbst  in  ihre  Kämpfe  mit  hineinzureißen,  reichte  ihre  Kraft  nicht 
mehr  aus;  ihrer  pohtischen  Macht  entkleidet,  mußten  die  kirchhchen 
Parteien  froh  sein,  wenn  sie  innerhalb  der  Staaten  ihren  Einfluß  be- 
hielten oder  auch  nur  von  den  Regierenden  im  Frieden  gelassen  wurden. 


Nun  ist  es  von  Interesse,  die  Rückwirkung  zu  beobachten,  welche 
diese  Entwicklung  der  europäischen  Politik  auf  das  Reich  selbst  aus- 
übte. Statt,  wie  man  denken  sollte,  durch  die  Erhebung  seiner  Glieder 
zu  souveränen,  europäisch  orientierten  Staatswesen  immer  weiter  in 
den  Hintergrund  geschoben  zu  werden,  umkleideten  sich  seine  Formen 
wie  mit  neuem  Leben.  Während  Chemnitz,  der  im  schwedischen  Solde 
schrieb,  ihm  den  nahen  Untergang  prophezeit  und  fast  gewünscht 
hatte,  und  Pufendorf  daran  verzweifeln  wollte,  das  wunderliche  Ge- 
bilde in  irgendeiner  Kategorie  seines  Staatsrechts  unterzubringen, 
behauptete  sich  dies  »Corpus  irreguläre  tantum  non  monstro  simile« 
nicht  nur  in  allen  seinen  Würden  und  Ehren,  sondern  es  wurde  gerade 
jetzt  mehr  als  je  der  Mittelpunkt,  um  den  sich  seine  Glieder  zusammen- 
schlössen, wenn  sie  eine  gemeinsame  Front  gegen  seine  Feinde  bilden 
wollten.  Der  Rheinbund,  den  Frankreich,  dem  Kaiser  zum  Trotz,  zu- 
sammenbrachte, dauerte  doch  nur  wenige  Jahre,  und  seine  Mitglieder, 
darunter  die  höchsten  geistlichen  Stände  im  Reiche,  dachten  darum 
nicht  daran,  ihren  Zusammenhang  mit  den  alten  Ordnungen  zu  lösen, 
sondern  sie  stellten  sich  selbst  wohl  als  ihre  wahren  Vertreter  hin 
und  vindizierten  dem  fremden  König,  dem  sie  sich  unterworfen  hatten, 
die  Rolle  eines  Protektors  der  deutschen  Freiheit;  wie  denn  in  der 
Tat  Ludwig  XIV.  zu  dem  Reichsheer,  das  dem  Kaiser  gegen  die 
Türken  zuzog  und  ihm  den  Sieg  bei  St.  Gotthard  gewinnen  half, 
gleichsam  als  Reichsstand  sein  Kontingent  zusandte.  Wenige  Jalire 
später  aber  wurde,  zum  erstenmal  wieder  seit  der  Zeit  Karls  V.,  der 
Reichskrieg  gegen  Frankreich  selbst  erklärt  und  sammelten  sich  am 
Rhein  und  im  Elsaß  die  Truppen  aller  Stände,  um  die  Grenzlande 
des  Reiches  gegen  den  Erbfeind  des  deutschen  Namens  zu  verteidigen 
und  das  verlorene  Reichsgut  wieder  zu  gewinnen.  Immer  noch,  so 
lange  die  Rehgionskriege  währten,  waren  die  Kämpfe  mit  den  Türken 
die  kritischen  Momente  für  die  habsburgische  PoHtik  gewesen;  zumal 


6S 

die  deutsche  Linie  des  Hauses  war  dadurch  in  dem  Aufbau  ihrer 
Hausmacht  wie  in  der  Vormachtstellung  im  Reich  in  gleicher  Weise 
gefährdet  worden.  Nichts  hatte  das  Emporkommen  der  Protestanten 
in  dem  abgelaufenen  Jahrhundert  mehr  gefördert  als  der  Druck, 
unter  dem  die  Osmanen  die  kaiserhche  Politik  gehalten  hatten;  und 
nur  der  Rückgang  ihrer  kriegerischen  Kraft,  der  Verfall  des  Sultanats, 
der  zum  Frieden  von  1612  und  fast  zu  ihrer  Ausschaltung  aus  der  , 
europäischen  Pohtik  führte,  hatte  es  Ferdinand  IL  ermöglicht, 
noch  einmal  sich  an  der  Restitution  der  Kirche  im  Reich  zu  ver- 
suchen. Wenn  er  aber  die  katholischen  Stände  hierin  —  unter  manchen 
Schwankungen  freilich  —  auf  seiner  Seite  gehabt  hatte,  so  waren  sie, 
sobald  es  dem  Feinde  im  Osten  galt,  niemals  zu  finden  gewesen ;  in  der 
Verweigerung  der  Türkenhilfe  hatten  sie  es,  zumal  die  Witteisbacher  in 
München,  Habsburgs  älteste  Rivalen  im  Reich,  den  Protestierenden 
womöghch  zuvorgetan.  Jetzt  aber,  in  eben  der  Zeit,  da  unter  dem 
Vezirat  der  Köprilis  der  alte  Offensivgeist  des  Islams  in  Konstanti- 
nopel noch  einmal  erwacht  war,  wetteiferten  die  deutschen  Stände, 
und  die  Protestanten  mehr  fast  als  die  Altgläubigen,  dem  in  seinen 
Erblanden  bedrohten  Kaiser  zu  Hilfe  zu  eilen,  wie  bei  St.  Gotthard, 
so  1683  beim  Entsatz  von  Wien  und  1686  bei  der  Erstürmung  von 
Ofen.  Niemals  hat  ein  Kaiser  willigere  Reichsstände  gehabt  als  dieser 
»Leopoldus  Magnus«,  der  unkriegerischste  aller  Kaiser,  die  je  die  Krone 
Karls  des  Großen  getragen  hatten ;  sie  haben  seinem  Hause  dazu  ge- 
holfen, das  Ziel,  das  ihm,  seitdem  es  in  den  Osten  verpflanzt  war,  vor- 
geschwebt hatte,  den  Aufbau  der  Donaumonarchie,  endlich  zu  erreichen. 

Aber  auch  dem  Ausbau  des  Reiches  selbst  und  seinen  Organen 
wandten  nun  die  Stände  mehr  als  je  ihr  Interesse  zu.  Und  wieder 
sehen  wir  dabei  die  Starken,  ohne  Unterschied  des  Bekenntnisses, 
mit  am  Werke.  Denn  wie  Habsburg  die  kaiserhche  Würde  und  die 
daran  geknüpften  Vorrechte  für  sich  ausnutzte,  so  war  es  auch  für  die 
Reichsstände  vorteilhaft,  sich  eine  führende  Stellung  in  den  Reichs- 
kreisen zu  sichern ;  und  die  protestantischen  Häuser  mußten  um  so  mehr 
hierauf  bedacht  sein,  als  die  beiden  kathohschen  Vormächte,  Bayern 
und  Habsburg,  durch  ihre  Verbindung  mit  der  alten  Kirche  in  den  dem 
Reich  noch  verbliebenen  Stiftern  ein  natürliches  Übergewicht  besaßen. 

So  geschah  es,  daß  der  Westfälische  Friede,  obschon  er  im  Grund- 
gedanken mit  dem  Religionsfrieden  von  Augsburg  übereinkam  und 
in  der  Tat  zur  Auflösung  des  Reiches  geführt  hat,  zunächst  ein  Band 


69 

ward,  das  der  ganzen  Nation  teuer  wurde.  Deutschland  blieb  die 
Arena,  in  der  die  deutschen  Stände,  deren  Souveränität  darin  anerkannt 
war,  und  die  damit  zu  vollberechtigten  Gliedern  der  europäischen 
Staatenfamilien  wurden,  ihre  Machtkämpfe  miteinander  ausfochten; 
aber  der  Umsturz  der  Reichsverfassung  lag  nicht  mehr  in  ihrem 
Interesse.  Man  sah  in  dem  Friedensinstrument  von  Osnabrück  das 
Grundgesetz  der  deutschen  Freiheit  und  in  den  Ordnungen  des  Reiches, 
des  Corps  germanique,  wie  es  bald  in  der  Sprache  der  europäischen 
Diplomatie  hieß,  das  Fundament  der  nationalen  Existenz.  Ein 
Reichspatriotismus,  ein  Gemeingefühl  bildete  sich  aus,  das  sich  aus 
der  Sphäre  der  hohen  Politik  auch  auf  die  abhängigen,  die  regierten 
Kreise  der  Nation  ausbreitete  und  eine  unserm  Volke  bis  dahin  un- 
bekannte Atmosphäre  des  Behagens  schuf,  die  für  die  deutsche  Kultur 
des  i8.  Jahrhunderts  die  Vorbedingung  und  für  alle  ihre  geistigen 
Hervorbringungen  von  einer  nicht  zu  ermessenden  Bedeutung  ge- 
worden ist.  Alle  Erschütterungen,  von  denen  das  Reich  in  den  kom- 
menden Generationen  heimgesucht  wurde,  das  Gegenkaisertum  des 
Witteisbachers  Karl  VII.,  der  siebenjährige  Reichskrieg  gegen  den 
mächtigsten  Stand  des  Reiches,  alle  Machtkämpfe  der  großen  Staaten 
Europas,  die  Deutschland  immer  wieder  zu  dem  allgemeinen  Schlacht- 
felde machten,  ließen  die  Verfassung  des  Reiches  bestehen.  Derselbe 
Fürst,  der  als  Rebell  gegen  Kaiser  und  Reich  der  Acht  und  Aberacht 
verfallen  war,  hat  am  Ende  seiner  glorreichen  Regierung  den  Fürsten- 
bund zusammengebracht,  der,  angeblich  auf  den  Grundlinien  des 
Schmalkaldischen  Bundes,  die  deutsche  »Freiheit«  gegen  Habsburgs 
Dominatsgelüste  zu  erhalten  bestimmt  war.  Die  Nation  aber  war 
ihm  dafür  nur  dankbar;  denn  nicht  seine  Siege  über  Österreich  und 
dessen  Verbündete  haben  Friedrich  dem  Großen  die  deutschen  Herzen, 
die  er  dadurch  eher  abstieß,  gewonnen,  sondern  eben  jener  Bund, 
der  nicht  die  nationale  Reform  bringen,  sondern  die  Ohnmacht  des 
Reiches  konservieren  wollte.  Aus  dieser  Stimmung  heraus  konnte 
ein  Justus  Moser,  in  dem  die  nationale  Geschichtsschreibung  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  fast  ihren  Anfänger  und  Begründer  hat 
sehen  wollen,  in  jenen  Jahren  den  Gedanken  an  eine  deutsche  Reichs- 
geschichte fassen,  die  mit  der  Reichsreform  von  1495,  »dieser  großen 
und  glücklichen  Konföderation«,  welche  unter  dem  Namen  des  Ma- 
ximiHanischen  Landfriedens  bekannt  sei,  anfangen  und  von  da  ab 
in  der  ganzen  deutschen  Geschichte,   »in  allen  vorfallenden  Reichs- 


70 

handlungen«,  das  Ziel  einer  immer  vollkommeneren  Konföderation 
nachweisen  müsse:  sich  mit  vereinten  Kräften  jedem  auswärtigen 
Angriff  und  jeder  innerlichen  Zerrüttung  zu  widersetzen. 


Alle  diese  Verhältnisse  muß  man  sich  vor  Augen  halten,  wenn 
man  die  Stellung  Schwedens  zu  Deutschland  nach  dem  Dreißig- 
jährigen Kriege  verstehen  will.  Für  den  Staat  Gustav  Adolfs  bedeutete 
der  Westfälische  Friede,  der,  wie  gesagt,  nur  das  Werk  des  Prager 
Friedens  fortführte,  eine  Schranke,  die  ihm  den  Einfluß  auf  die 
deutschen  Geschicke  mehr  und  mehr  verwehrte.  Wie  hätten  die 
schwedischen  Staatsmänner  jetzt  noch  daran  denken  können,  einen 
Bund  mit  den  deutschen  Protestanten  zustande  zu  bringen,  der 
das  Reich  zerrütten  und  zerreißen  mußte!  Karl  X.  Gustav,  der  es 
versuchte,  konnte  sich  als  Staatsmann  wie  als  Feldherr  mit  seinem 
großen  Vorgänger  vielleicht  messen.  Es  war  echte  Wasapolitik, 
wenn  er  seine  stürmische  Laufbahn  mit  dem  Feldzuge  gegen  Polen 
begann;  wie  ja  auch  Gustav  Adolf  sich  zuerst  im  Osten,  in  seinen 
Kriegsfahrten  gegen  die  sla vischen  Reiche,  Luft  gemacht  hatte,  bevor 
er  an  das  eigentliche  Ziel,  den  Kampf  contra  domum  Austriacum, 
heranging.  Und  es  war  wiederum  ganz  im  Geiste  des  königlichen 
Glaubenshelden,  wenn  auch  Karl  Gustav,  der  Sproß  eines  altprotestan- 
tischen deutschen  Fürstenhauses,  sobald  er  an  der  Weichsel  Fuß 
gefaßt  hatte,  das  Bistum  Ermland  säkularisierte  und  die  Jesuiten 
aus  dem  Lande  trieb.  Wenn  er  aber  gemeint  hatte,  Friedrich  Wilhelm 
\-on  Brandenburg  ebenso  leicht  hinter  sich  her  ziehen  zu  können, 
wie  es  Gustav  Adolf  mit  dem  Vater  gemacht  hatte,  so  sollte  er  bald 
eines  besseren  belehrt  werden.  Er  selbst  sah  sich  genötigt,  als  er  ins 
Gedränge  geriet,  jenen  um  Hilfe  anzugehen;  und  der  Sieg,  den  er 
dann  auf  den  Feldern  vor  Warschau  gewann,  der  größte  Erfolg,  den 
der  Kriegsgewohnte  bisher  davongetragen,  mußte  er  mit  dem  jungen 
Vetter,  der  noch  niemals  im  Kampf  gestanden  hatte,  teilen;  statt, 
wie  er  gehofft,  der  Kette,  die  Schwedens  großer  König  um  die  Ostsee 
gelegt,  ein  neues  GHed  einzufügen,  mußte  er,  nur  um  des  Branden- 
burgers Hilfe  sich  zu  sichern,  ihm  weiteren  Anteil  an  dem  Dominium 
maris  baltici  versprechen.  Wieder,  wie  vor  dreißig  Jahren,  griff  nun 
der  Kaiser  in  die  Verhältnisse  des  Nordens  ein,  diesmal  aber  getrennt 
und  unabhängig  von  der  spanischen  Linie  seines  Hauses  und  dafür 


71 

Seite  an  Seite  mit  der  jungen  Vormacht  des  norddeutschen  Pro- 
testantismus. Nichts  wollte  fortan  dem  König  mehr  glücken.  Auch 
den  Sieg,  den  er  in  schnellem  Ansturm  über  die  Dänen  gewann,  ver- 
darben ihm  die  Feinde.  Sie  entrissen  ihm  die  Außen  werke  in  Pommern 
und  Preußen;  sie  folgten  ihm  auf  die  dänischen  Inseln,  zerschlugen 
ihm  Heer  und  Flotte;  von  allen  Freunden  verlassen,  von  der  Über- 
macht der  Gegner  umdrängt,  der  eigenen  Stände  nicht  mehr  sicher, 
sank  der  tapfere  Kriegsmann  ins  Grab,  bevor  noch  sein  Land  den 
Frieden  erkauft  hatte.  Einen  Frieden,  der  Schweden  alles  zurückgab, 
was  es  vor  dem  Kriege  besessen  hatte,  der  aber  trotzdem  ein  Akt 
schwerer  Demütigung  und  die  Aussaat  neuer  Niederlagen  war.  Deim 
es  verdankte  ihn  aUein  der  Dazwischenkunft  Frankreichs,  derselben 
Macht,  die  einst  am  Rhein  vor  Gustav  Adolf  zurückgewichen  war; 
und  es  zog  sich  dadurch  den  unversöhnlichen  Haß  des  deutschen 
Fürsten  zu,  dem  es  seit  dem  großen  Kriege  Pommern  vorenthalten 
hatte,  und  der  sich  nun  zum  zweitenmal  um  sein  Erbe  betrogen  sah. 
Dies  war  die  entscheidende  Krisis  für  die  baltische  Großmacht.  Seit- 
dem war  Schweden  nicht  mehr  Herr  seiner  Politik.  Schon  als  Mitglied 
der  Tripleallianz,  die  Ludwig  XIV.  im  Verlauf  des  Devolutions- 
krieges  den  Weg  verstellte,  bheb  es  hinter  England  und  Holland 
zurück.  Halb  gezwungen  folgte  es  ein  paar  Jahre  später  dem  fran- 
zösischen König  in  den  Krieg,  den  dieser  durch  den  Überfall  Hollands 
entfesselt  hatte,  und  der  die  schwedischen  Waffen  auf  das  Schlacht- 
feld von  FehrbelHn  führte,  zu  der  größten  Niederlage,  die  es  seit 
Nördlingen  erlitten.  Wenn  es  aber  damals  die  evangelische  Sache 
im  Reich  gegen  die  vereinigte  Macht  Habsburgs  und  der  kathoHschen 
Stände  verteidigt  hatte,  so  mußte  es  jetzt  dem  Stoß  der  einen  pro- 
testantischen Territorialmacht  erhegen:  als  Vorkämpfer  des  Reiches, 
jedoch  ganz  aus  eigener  Kraft,  trieb  der  große  Kurfürst,  wie  die  Zeit- 
genossen den  Brandenburger  von  da  ab  nannten,  die  Geschlagenen  vor 
sich  her;  von  Stralsund  bis  Riga  verloren  sie  alle  ihre  Besitzungen  jen- 
seits der  See,  und  nur  aus  Frankreichs  Händen,  das  seine  Vasallen 
nicht  im  Stich  lassen  durfte,  erhielten  sie  dieselben  zum  zweiten 
Mal  zurück. 

»Es  ist  das  Königreich  Schweden  bei  dem  jüngsten  Kriege  der- 
gestalt erschüttert  und  an  Kräften  ausgesogen  worden,  daß  es,  eben 
wie  ein  Körper  nach  ausgestandener  gefährhcher  Krankheit,  eine 
Stütze  und  Diät  nötig  hat,  im  Fall  es  nicht  in  eine  Recidiv  geraten 


72 

und  der  gänzlichen  Destruction  gewärtig  sein  will«,  so  lesen  wir  in 
einem  »Bedenken  über  den  Zustand  des  Königreichs  Schweden«,  das 
ein  schwedischer  Staatsmann  und  doch  ein  Deutscher,  kein  Geringerer 
als  Esaias  Pufendorf,  des  großen  Samuel  Bruder,  ein  paar  Jahre 
nach  dem  Frieden  von  St.  Germain  dem  König  Karl  XI.  eingereicht 
hat^).  Mit  kältester  Überlegung,  unberührt  durch  irgendwelche  nationale 
oder  rehgiöse  Sentimentalitäten,  stellt  er  dem  Staate  seiner  Wahl 
das  Horoskop.  Die  Gefahren  sieht  er  nicht  auf  Seiten  der  alten  Gegner 
Schwedens.  Der  Kaiser,  der  Bayer  und  selbst  der  Pole  würden  eher 
für  als  gegen  Schweden  sein.  Zu  trauen  ist  freilich  keinem  von  ihnen. 
An  Höflichkeit  werden  die  »Herren  Oesterreicher«  vermutlich  gar 
nicht  sparsam  sein,  sondern  mit  vielen  Worten  bezeugen,  daß  die 
Freundschaft  der  Krone  Schweden  ihnen  lieb  und  angenehm  sei; 
aber  darüber  hinaus  werden  sie  nicht  gehen ;  ihnen  wird  es  genug  sein, 
wenn  sie  Schweden  von  Frankreich  abziehen  können.  Nicht  anders 
ist  Hollands  Wohlwollen  für  Schweden  einzuschätzen;  sein  Interesse 
ist  es,  die  Kräfte  ZNvischen  Schweden,  Dänemark  und  Brandenburg 
so  verteilt  zu  erhalten,  daß  sie  einander  die  Wage  halten,  »damit  bei  kon- 
tinuierender  Jalousie  solcher  drei  Nachbarn  Holland  seinen  Ostsee- 
handel, alswelcher  die  rechte  Mutter  aller  Commercien  ist,  den  an  selbiger 
See  wohnenden  Nationen  zum  höchsten  Präjudiz  ungehindert  exerzieren 
und  dadurch  Mittel  haben  könne,  andere  impune  zu  insultieren  und 
Monarchiam  Commerciorum  zu  behaupten«.  Und  so  im  ganzen 
Umkreis  des  europäischen  Horizontes.  Mit  England  muß  die  Krone 
Schweden  Freundschaft  halten  und  »selbige  Nation  karessieren, 
eben  wie  von  ethchen  Indianern  geschrieben  wird,  daß  sie  den  Teufel 
anbeten,  damit  er  nicht  schade«,  aber  einen  reellen  Nutzen,  Vor- 
schub oder  Hilfe  wird  man  von  dorther  niemals  erwarten  dürfen. 
Spanien  bedarf  selbst  anderer  Leute  Hilfe ;  auch  wäre  ihm  wenig  daran 
gelegen,  ob  die  Ketzer  im  Norden  wohl  oder  übel  fahren  und  ein  halb 
Dutzend  Provinzen  mehr  oder  minder  besitzen.  Die  Schweiz  hat  schon 
geraume  Zeit  auf  dem  europäischen  Theater  eine  servilische  Figur  ge- 
macht ;  in  Italien  wird  niemand  für  Schweden  ein  Interesse  haben,  wie 
auch  von  Portugal  nur  ein  allgemeines  Wohlwollen  zu  erwarten  ist. 


*)  Dr.  Bruno  Schirrmacher  hat  sich  das  Verdienst  erworben,  dies 
hochinteressante  Schriftstück,  das  er  unter  den  Manuskripten  der  Rostocker 
Universitätsbibliothek  ausfindig  gemacht  hat,  herauszugeben  (in  einem  Pro- 
gramm der  Realschul^  vor  dem  Lübecker  Tor  zu  Hamburg,    1907). 


73 

Frankreich  allein  war  die  Macht,  auf  die  Esaias  Pufendorf 
für  Schweden  rechnen  zu  können  glaubte.  Es  war  das  Frank- 
reich Ludwigs  XIV.,  das  sich  im  Jahr  zuvor  Straßburgs  bemächtigt 
hatte;  die  Monarchie,  die  schon  jetzt  am  ganzen  Rheinstrom  mächtig 
geworden  war,  mit  der  nicht  bloß  die  drei  geisthchen  Kurfürsten, 
sondern  auch  Dänemark  und  Brandenburg,  Münster  und  der  Hof 
von  Celle  verbunden  waren:  nur  durch  die  Eingliederung  in  diese 
Allianz  meinte  der  Bremische  Kanzler  die  schwedische  Krone  vor 
ihren  Feinden,  die  dadurch  selbst  gefesselt  würden,  sichern  zu  können. 
Es  war  der  Verzicht  auf  eine  eigene  Pohtik,  die  Abdankung  als  Groß- 
macht, die  freiwillige  Gleichstellung  mit  den  deutschen  Ständen, 
welche  Gustav  Adolf  vor  fünfzig  Jahren  unter  den  Dominat  Schwedens 
gebeugt  hatte.  Nicht  für  immer  nach  der  Meinung  des  Kanzlers; 
denn  der  Sinn  seines  Ratschlages  ging  gerade  dahin,  den  Staat  so 
stark  zu  machen,  daß  er  seiner  Außenwerke  an  den  deutschen  und 
baltischen  Küsten  wieder  sicherer  werden,  seine  Stellung  als  die  Groß- 
macht des  Nordens  behaupten  könne.  Aber  für  den  Moment  wußte 
er  für  Schweden  keinen  andern  Ausweg,  als  daß  es  sich,  wie  er  schreibt, 
»auf  sein  innerlich  restabhssement  mit  ganzen  Kräften  apphziere«. 
Mit  der  Vasallenschaft  unter  Frankreich  wollte  er  der  Krone  die 
Ruhe  jähre  erkaufen,  deren  sie  für  die  inneren  Reformen  bedurfte. 

Aber  das  eine  war  bereits  so  unmöglich  wie  das  andere.  Die 
Basis,  auf  der  Gustav  Adolfs  Macht  geruht  hatte,  war  geborsten. 
Was  dem  Kurfürsten  von  Brandenburg  unter  dem  Druck  äußerer 
Not,  im  Kampf  um  die  Existenz  seines  Hauses  gelang,  die  Nieder- 
zwingung des  ständischen  Eigenwillens,  die  Aufrichtung  der  absoluten 
Monarchie,  mißglückte  den  Nachfolgern  des  großen  Königs.  Das 
Band,  das  Gustav  Adolf  um  Krone  und  Stände  Schwedens  geschlungen 
hatte,  zerriß;  statt  gemeinsam  mit  ihrem  König  die  Aufgabe,  die 
das  Schicksal  der  Nation  gestellt  hatte,  zu  tragen,  benutzten  Schwedens 
vornehme  Geschlechter  ihre  sozialen  und  politischen  Vorrechte,  imi 
dem  Träger  der  Krone  die  Macht  im  Staate  streitig  zu  machen.  So 
ward  Schwedens  Kraft  gelähmt  in  derselben  Zeit,  da  jene  »drei  un- 
versöhnlichen und  anjetzo  formidablen  Nachbarn«  ihre  Macht  auf 
dem  gerade  entgegengesetzten  Prinzip  aufbauten. 

Das  Bekenntnis  aber,  das  wie  nichts  anderes  zur  Unterbauung 
der  schwedischen  Großmacht  gedient,  hatte  diese  Kraft  eingebüßt, 
seitdem   durch   die    Konsolidierung   der   staathchen    Gewalten,    von 


74 

der  wir  sprachen,  die  Religion  als  Energiequelle  aus  der  internationalen 
Politik  mehr  oder  weniger  ausgeschaltet  war.  Es  konnte  für  Schweden 
um  so  weniger  bedeuten,  als  jede  Gegenwirkung  von  München  und 
Wien  her,  wie  sie  vor  fünfzig  Jahren  gedroht  hatte,  bereits  fehlte. 
Niemals  war  die  Einheit  des  baltischen  Kulturkreises  inniger  und 
fester  gewesen  als  in  der  Epoche,  da  die  beiden  Pufendorf,  Sachsen 
von  Geburt,  der  eine  als  Staatsmann,  der  andere  als  Professor  und 
Historiograph,  der  schwedischen  Krone  dienten  —  um  ihre 
Laufbahn  bei  zweien  unter  den  drei  Erbfeinden  Schwedens  abzu- 
schUeßen,  Esaias  am  Hof  von  Kopenhagen  und  Samuel  in  Berhn, 
als  Historiograph  desselben  Fürsten,  der  Schwedens  Macht  bis  auf 
den  Grund  erschüttert  hatte.  So  wenig  empfand  man  in  diesen  Be- 
reichen die  nationalen  Gegensätze.  Die  politischen  freilich  um  so 
mehr:  wenigstens  in  den  Kreisen,  die  überhaupt  Anteil  und  Interesse 
am  Staate  nahmen;  während  die  auf  dem  Boden  der  lutherischen 
Religiosität  erwachsene  Kulturgemeinschaft  auch  in  der  Politik  alle 
Gegensätze  ausgUch  und  überdauerte. 

Ein  Stück  der  schwedischen  Machtstellung  gab  es  dennoch, 
das  von  ernstesten  religiösen  und  nationalen  Gefahren  bedroht  war, 
und  dies  um  so  mehr,  als  es  selbst  von  nationalen  Gegensätzen  nicht 
frei  war  —  das  waren  die  Provinzen  nördlich  und  südlich  vom  Fin- 
nischen Meerbusen,  von  der  Memel  bis  hinauf  zum  Eismeer.  Nur 
der  Krieg  gegen  die  ottomanische  Pforte  und  der  Kampf  mit  den 
Kosaken  um  die  Ukraine,  so  urteilte  der  Bremische  Kanzler,  habe 
den  Zaren,  der  schon  im  Nordischen  Kriege  das  gleiche  gewollt, 
davon  abgehalten,  Ingermanland  und  Livland  anzugreifen  und  sich 
an  der  Ostsee  einen  festen  Fuß  zu  schaffen:  man  dürfe  aber  nicht 
denken,  daß  er  seinen  Haß  und  seine  Rachgier  gegen  Schweden  ab- 
gelegt habe;  sobald  er  den  Frieden  mit  der  Pforte  erreicht  und  die 
inneren  Unruhen  gestillt  habe,  werde  er  ihm  auf  den  Hals  fallen; 
und  dies  würde  ihm  dann  um  so  leichter  sein,  »wenn  unterdessen 
die  in  den  an  Rußland  grenzenden  Provinzien  wohnenden  Unter- 
tanen nicht  genugsam  encouragieret  werden  sollten,  sowohl  die  Kultur 
der  Länder  als  ihre  Affection  gegen  die  Krone  zu  kontinuieren  und 
diesem  grausamen  Feind  sich  mit  Gut  und  Blut  entgegenzusetzen«. 
König  Karl  XL  wünschte  sich  in  der  Tat  nichts  Lieberes.  Aber  der 
Widerstand  der  baltischen  Barone  war  noch  stärker  als  der  seines 
einheimischen  Adels.    Sie  hatten  keinen  andern  Gedanken  als  ihren 


75 

Besitz  und  ihre  soziale  Vormachtstellung  zu  behaupten,  und  vergaßen 
darüber,  was  sie  dem  Lande,  das  ihre  Vorfahren  der  deutschen  Kultur 
unterworfen  hatten,  und  der  Zukunft  ihrer  Nation  schuldig  waren. 

Schon  aber  ließ  eine  neue  Abwandlung  der  europäischen  PoUtik 
der  schwedischen  Krone  keine  Zeit  mehr  für  innere  Reformen;  und 
wiederum  blieb  ihr  nichts  anderes  übrig  als  dem  Strom,  der  sich  diesmal 
gegen  Frankreich  richtete,  zu  folgen;  sie  mußte  der  neuen  Koalition 
gegen  die  Macht  beitreten,  die  sie  zweimal  vor  der  Überwältigung 
durch  eben  die  Reichsstände  gerettet  hatte,  mit  denen  sie  nun  Schulter 
an  Schulter  stehen  mußte.  Die  Früchte,  die  sie  in  dem  Frieden  von 
Ryswik  davontrug,  entsprachen  solcher  Rolle;  sie  konnte  nur  gerade 
noch  ihre  Stellung  behaupten.  Die  Erneuerung  der  europäischen 
Krisis,  die  in  dem  spanischen  Erbfolgekrieg  ihren  Höhepunkt  er- 
reichte, befreite  Schweden  endlich  von  dem  Druck,  unter  den  es  seit 
dem  Frieden  von  Oliva  geraten  war.  Indem  die  Konflagration  ihr 
Zentrum  in  dem  Süden  und  Westen  des  Erdteils  fand  und  zu  dem 
Kampf  um  die  Herrschaft  über  das  Mittelmeer  und  die  Ozeane  sich 
auswuchs,  bUeb  die  nordische  Welt  sich  selbst  überlassen;  mitten 
durch  Deutschland,  über  dem  die  Flammen  des  allgemeinen  Brandes 
seit  drei  Generationen  jedesmal  am  stärksten  zusammengeflossen 
waren,  ging  jetzt  die  Linie,  über  die  das  Kriegsfeuer,  so  weit  es  vom 
Westen  her  um  sich  fraß,  nicht  hinausgriff.  Selbst  der  Sohn  und 
Nachfolger  des  großen  Kurfürsten  wandte,  von  dem  Glanz  der  Königs- 
krone geblendet,  seine  Augen  von  Pommern  ab  und  ließ  seine  Re- 
gimenter den  kaiserhchen  Fahnen  folgen.  Und  so  wagte  Schwedens 
jimger  König,  der  soeben,  nach  der  an  Enttäuschungen  überreichen 
Regierung  Karls  XL,  den  Thron  bestiegen  hatte,  es  noch  einmal, 
um  das  Dominium  maris  baltici  zu  kämpfen. 

Die  Politik  Karls  XH.  hat  von  jeher  eine  sehr  entgegengesetzte 
Beurteilung  gefunden,  und  mehr  noch  als  der  Entschluß  zu  dem 
Kriege,  der  Schwedens  Machtstellung  endgültig  zerbrach,  ihre  Durch- 
führung und  die  PersönUchkeit  des  jungen  Herrschers  selbst;  was  die 
einen  verdammten,  haben  andere  gerechtfertigt  oder  gar  bewundert. 
Wir  wollen  uns  solcher  Urteile,  sei  es  des  Besserwissens  oder  der 
Zustimmung,  enthalten:  genug,  wenn  wir  das  Bild  des  Kampfes- 
frohen so  festhalten,  wie  er  uns  im  Ringen  mit  dem  Schicksal  entgegen- 
tritt. Denn  das  ist  doch  der  Kern  der  Dinge  und  die  Tragik  in  diesem 
Heldenleben,  daß  der  Kampf,  den  Karl  führte,  unvermeidlich,  und 


76 

der  Sieg,  das  Ziel,  das  er  erstrebte,  dennoch  nicht  zu  erreichen  war. 
Auch  dann  nicht,  wenn  die  Sterne  günstiger  gestanden  hätten  und  das 
Schlachtenglück  ihm  treu  gebheben  wäre,  wenn  er  etwa  die  Feinde 
getrennt  und  seinem  Lande  noch  einmal  einen  Frieden  von  OHva 
erworben  hätte ;  es  wäre  doch  nur  eine  Pause  gewesen  in  dem  Niedergang 
der  Macht,  die  seine  Vorfahren  aufgebaut  hatten.  Das  Schicksal 
Schwedens  als  der  nordischen  Großmacht  war  längst  entschieden, 
die  Uhr  war  abgelaufen;  ein  Mehr  oder  Weniger  an  Klugheit  oder 
Glück,  Trotz  oder  Wagemut  konnte  das  Ende,  das  unabwendbar 
war,  nur  um  ein  kleines  beschleunigen  oder  aufhalten.  Nicht  in 
persönlichen  Momenten  lagen  die  Gründe,  sondern  in  der  Abwandlung 
der  eiuropäischen  Konstellation,  in  ihrer  Erweiterung  nach  dem  Osten 
wie  im  Westen  und  Süden,  und  in  der  damit  gegebenen  Verdrängung 
alter  und  dem  Emporkommen  neuer  Mächte.  Dann  aber  muß  uns 
der  Anblick  dieses  Recken,  der,  gleich  dem  Vorfahr,  das  Schicksal  nicht 
erwarten  will,  sondern  ihm  entgegengeht,  kühn,  ja  verwegen,  in  unbän- 
digem Trotz,  hart,  wie  das  Granitgestein  seiner  Heimat,  in  der  Tat  zur 
Bewunderung  hinreißen,  und  das  Wort  unseres  Dichters  drängt  sich  uns 
auf  die  Lippen:  »Den  lieb'  ich,  der  Unmögliches  begehrt!«  So  hat  ihn 
Ranke  aufgefaßt,  wenn  er  ihn  seinem  Rivalen,  dem  Zaren,  den  Ger- 
manen dem  Slaven,  gegenüberstellt,  in  dem  Moment,  da  er  auf  den 
Kampfplatz  tritt:  »großgesinnt  und  einfach,  ohne  Flecken  in  seinem 
Lebenswandel,  ganz  ein  Held,  wahr  in  seinen  Worten,  kühn  in  seinem  Vor- 
nehmen, gottesf  ürchtig,  hartnäckig  bis  zum  Eigensinn,  unerschütterlich  «. 
Indem  nun  aber  die  barbarische  Macht  des  Ostens  sich  in  den 
germanisch-protestantischen  Kulturkreis  hineindrängte  und  die  Herr- 
schaft im  Norden  mit  einem  Schlage  an  sich  zu  reißen  drohte,  lag  auch 
das  deutsche  Schicksal  auf  der  Wagschale.  Würde  sich  —  das  war 
die  weltgeschichtliche  Frage,  vor  die  sich  unser  Volk  nun  gestellt 
sah  —  auf  deutschem  Boden  eine  Großmacht  entwickeln,  stark  genug, 
lun  europäische  Pohtik  zu  treiben,  unbekümmert,  wie  der  Staat  der 
Wasas,  um  Kaiser  und  Reich  ?  Eine  Macht,  die,  genährt  aus  deutschen 
Elementen,  doch  einer  Anlehnung  an  die  Reichsgenossen  und  die 
Reichsformen  nicht  mehr  bedurfte?  Die  gerade  durch  diese  Un- 
gebundenheit  fähig  wurde,  sich  neben  die  europäischen  Mächte  zu 
stellen,  für  oder  gegen  sie  auf  der  eigenen  Kraft  zu  ruhen  ?  Und  die 
eben  dadurch  imstande  war,  alle  widerstrebenden  Gewalten  in  der 
Nation  unter  sich  zu  beugen,  im  Reiche  selbst  sich  auszubreiten  und 


77 

so  am  Ende  das  zu  erreichen,  woran  die  alten  Verbände,  die  Unionen 
und  Ligen,  die  uns  die  Fremden  ins  Land  gebracht  hatten,  immer 
gescheitert  waren:  eine  ihrem  Geist  und  Willen  entsprechende  Form 
an  Stelle  der  verfallenen  Reichsordnung  zu  setzen  ?  Für  Habsburg 
war  dies  von  jeher  unmöglich  gewesen;  oder  es  hätte  sich  selbst  auf- 
geben müssen.  War  dies  Haus  doch  gerade  dadurch  in  die  Höhe  ge- 
kommen, daß  es  die  Formen  des  Reichsrechts  für  sich  ausgenutzt 
hatte!  So  hatte  es  schon  König  Rudolf  gemacht  bei  der  Erwerbung 
der  Südostmarken  und  der  Ansprüche  auf  Böhmen,  so  seine  Nach- 
kommen bei  ihrer  Verbindung  mit  Burgund  und  Spanien;  so  hatte 
Ferdinand  IL  die  tief  erschütterte  Macht  der  Dynastie  in  Böhmen 
wieder  aufbauen  können;  so  wurden  Leopoldus  Magnus  und  seine 
Nachfolger  Herren  in  Ungarn,  Siebenbürgen  und  Kroatien;  und  so 
sicherte  danach  Maria  Theresia,  indem  sie  ihre  Hand  dem  Lothringer 
reichte  und  damit  die  Kaiserki^one  ihrem  Hause  erhielt,  von  neuem 
auch  das  Erbe  ihrer  Vorfahren.  Nur  im  Reiche  selbst  hatte  das  Ge- 
schlecht die  Gewalt  niemals  erlangen  können,  die  seinen  Traditionen 
und  dem  Geiste  seiner  PoUtik  entsprach;  sein  Einfluß  reichte  dort 
immer  nur  so  weit,  als  es  die  Formen  des  Reichsrechts  für  sich  in 
Anspruch  nehmen  konnte;  und  so  war  es  immer  wieder  gezwungen 
gewesen,  sich  für  sie  einzusetzen  und  sie  zu  konservieren.  Jeder 
Versuch,  sie  zu  beseitigen  oder  zu  verfälschen,  war  stets  auf  einen 
nicht  zu  besiegenden  Widerstand  gestoßen ;  wie  auch  die  Reichsstände 
zueinander  stehen  mochten,  gegen  die  Aufrichtung  eines  habsburgischen 
Dominats  im  Reich  hatten  sie  sich  allezeit  zusammengefunden.  Nie- 
mals, so  sahen  wir,  war  diese  Gefahr  höher  gestiegen  als  in  dem  Moment, 
da  die  vereinigte  Offensive  Ferdinands  und  der  Liga  die  Küsten  der 
Nord-  und  Ostsee  erreicht  hatte.  Und  gerade  da  war  der  Kaiser,  und 
nicht  erst  durch  die  Erhebung  Schwedens,  sondern  schon  auf  dem 
Kurfürstentage  in  Regensburg,  durch  den  Abfall  der  katholischen 
Stände  ^unter  Führung  des  bayerischen  Rivalen,  von  dem  Ziel,  das 
er  nahezu  vor  Augen  sah,  aufs  weiteste  abgetrieben  worden.  Danach 
aber  führten  wiederum  die  Siege,  die  der  Habsburgischen  Monarchie 
die  ,  Wege  nach  dem  Balkan  und  Italien  öffneten,  dahin,  daß  sich 
ihr  Zusammenhang  mit  dem  Körper  der  Nation  immer  weiter  lockerte 
und  ihr  antinationaler  Charakter  immer  deutlicher  an  das  Licht  trat. 
Und  so  wuchs  die  norddeutsche  protestantische  Macht,  wuchs 
Brandenburg-Preußen   in   die    Stellung   hinein,    welche   vom    Genius 


78 

der  Nation  gefordert  wurde.  Mehr  noch,  wie  wir  sagen  müssen,  durch 
die  Gunst  der  Lage  und  des  Geschickes  als  durch  die  Kraft  seiner 
Herrscher,  Auch  diese  aber  haben  nicht  gefehlt,  Männer,  welche  die 
Gelegenheit  zu  benutzen,  den  Zufall  zum  Zwecke  zu  gestalten  wußten: 
Genius  und  Glück  haben,  wie  es  noch  immer  in  den  Epochezeiten  der 
Weltent Wicklung  war,  zusammenwirken  müssen,  um  Hohenzollern 
groß  zu  machen  und  alle  Segensmächte  der  Nation  um  Preußens 
Thron  zu  versammeln. 


Werfen  wir  von  hier  aus  noch  einmal  den  Blick  auf  die  Bilder- 
folge, die  wir  in  raschem  Fluge  an  uns  vorübergleiten  heßen,  und 
stellen  wir  ihr  die  Gegenwart  gegenüber,  so  entschleiert  sich  uns 
der  Zusammenhang  der  Zeiten,  und  wir  umfassen  wie  mit  einem  Bhck 
alles,  was  uns  mit  jener  Epoche  verbindet  und  was  uns  von  ihr  scheidet. 
Nichts  muß  danach  abwegiger  erscheinen  als  die  Auffassung,  daß 
der  nationale  Staat  für  uns  auf  immer  verloren  gewesen  wäre,  wenn 
Gustav  Adolf  sein  Ziel,  die  Niederwerfung  des  Hauses  Habsburg  und 
die  Errichtung  eines  um  die  Ostsee  gelagerten  evangelischen  Staaten- 
bundes unter  der  Hegemonie  der  schwedischen  Krone,  erreicht  hätte. 
Vielmehr,  wenn  es  wahr  ist,  daß  Bismarcks  Reich  auf  den  preußischen 
Substruktionen  ruhte,  Preußen  selbst  aber  auf  den  Ideen  der  Re- 
formation aufgebaut  war,  daß  diese  ihm  die  morahschen  Energien 
verheben  hat,  die  es  zu  seiner  Stellung  in  der  Welt,  zur  Niederzwingung 
Habsburgs  und  zur  Hegemonie  in  Deutschland  stark  machten,  so 
wird,  wenn  einer,  Gustav  Adolf  mit  unter  den  Vätern  des  Reiches 
genannt  werden  müssen.  Und  insofern  ist  der  große  Kurfürst,  den 
der  König  selbst  zu  seinem  Nachfolger  hatte  machen  wollen,  in  Wahr- 
heit sein  Erbe  geworden.  Aber  wir  sahen  ja,  daß  Friedrich  Wilhelm, 
wie  in  dem  Feldzug  von  Fehrbellin,  so  schon  im  nordischen  Kriege 
den  Kaiser  zur  Seite  und  das  Reich  im  Rücken  hatte,  und  daß  er, 
ein  wie  guter  Protestant  er  war,  dennoch  nie  daran  gedacht  hat,  den 
reügiösen  Zwiespalt  im  Reiche  zu  erneuern:  daß  der  Westfälische 
Friede  die  Basis  seines  politischen  Systems  war.  So  aber  ist  es  ge- 
blieben, nicht  bloß  so  lange  das  alte  Reich  noch  bestand,  sondern 
auch  zu  den  Zeiten  des  Deutschen  Bundes.  Ja,  mehr  noch  —  Bismarck 
selbst  hat  sein  Reich  auf  diesem  Boden  errichtet.  Der  Grundgedanke 
jenes  Friedens,  die  Libertät  der  Stände,  war  auch  der  seine:  die 
Territorialstaaten,  Fürstenhäuser  und  Stadtrepubliken,  soviele  sich 


79 

durch  den  Zeitensturm  hindurchgerettet  hatten,  bUeben  die  Pfeiler,  auf 
denen  sein  Bau  ruhte.  Wohl  ist  der  Schöpfer  des  neuen  Deutschlands 
sich  des  Zusammenhanges  seines  Werkes  mit  dem  Geiste  der  Re- 
formation stets  bewußt  gewesen,  weit  mehr  als  alle  Liberalen,  welche 
die  Führung  der  Nation  auf  dem  Wege  zur  Einheit  an  sich  zu  reißen 
versucht  hatten;  daß  in  Rom  die  Existenz  Preußens  noch  immer  als 
ein  »ketzerischer  Mißbrauch«  betrachtet  wurde,  lesen  wir  bereits  in 
einem  seiner  Berichte  vom  Bundestage  in  Frankfurt,  Auch  war 
ihm  niemals  verborgen,  daß  die  kathohsche  Partei  im  Grimde  ihres 
Herzens  den  legitimen  Sitz  ihres  Deutschlands  noch  inmier  in  Wien 
erblickte.  Wenn  er  gleichwohl  mit  diesen  stärksten  und  unversöhn- 
lichen Gegnern  eines  evangelischen  Deutschlands  Frieden  geschlossen, 
ja  zu  Zeiten,  so  noch  am  Ende  seiner  Regierung,  den  Bund  mit  ihnen 
gesucht  hat,  so  gehorchte  er  nur  der  Notwendigkeit,  in  der  er  allezeit 
seine  Herrin  sah!  Aber  er  hielt  trotz  allem  an  der  Hoffnung  fest, 
daß  der  Geist,  in  dem  er  das  Reich  gegründet,  sein  Volk  mit  der  Zeit 
zu  einem  Ausgleich  der  miteinander  ringenden  Kräfte  drängen  und 
führen  werde,  eben  weil  er  an  Preußens  Macht  und  an  die  moralischen 
Energien,  die  in  ihr  lebten,  glaubte. 

Wie  aber  in  Bismarcks  pohtischem  System  alles  aus  einer  Wurzel 
entsprossen  ist,  eins  das  andere  stützt  und  jedes  einzelne  zmn  Ganzen 
strebt,  so  bemerken  wir  auch  in  seiner  auswärtigen  PoHtik  Analogien 
zu  der  Wendung,  welche  die  deutschen  Geschicke  seit  dem  Tode 
Gustav  Adolfs,  oder  wenn  man  will  seit  Nördlingen,  genommen 
haben.  Wenn  er  das  Haus  Habsburg  aus  seiner  hegemonialen  Stellung 
ausstieß,  so  trat  er  nach  dem  Siege  doch  wieder  in  ein  ähiüiches  Ver- 
hältnis zu  ihm,  wie  wir  es  auch  bei  dem  großen  Kurfürsten  wahr- 
nahmen. Gleich  diesem  wahrte  er  dem  russischen  Koloß  gegenüber 
eine  freundhche,  jedoch  der  eigenen  Macht  bewußte  Haltimg  und 
zeigte  sich  stets  bemüht,  das  Band,  wo  es  sich  einmal  gelockert 
hatte,  neu  zu  knüpfen ;  während  er  Frankreich  in  die  Stellung  zurück- 
warf, in  der  Gustav  Adolf  es  noch  festgehalten,  die  es  aber  nach 
seinem  Tode  sofort  durchbrochen  hatte.  Als  aber  das  Zartum,  po- 
pulären Stimmungen,  denen  Bismarck  stets,  nach  außen  wie  im 
Innern,  den  staatlichen  Willen  entgegenstellte,  nachgebend,  die 
österreichische  Monarchie  mit  der  Zerstörung  bedrohte,  bot  der 
Kanzler  dieser  seinen  Schutz  an;  so  etwa,  wie  brandenburgische  oder 
andere  reichsständische  Hilfstruppen  dem  Kaiser  Leopoldus  gegen 


80 

die  Türken  zugezogen  waren.  Daß  er  sich  dennoch  niemals  einer 
Pohtik  verschrieben  haben  würde,  die  ihn  und  die  Nation  den  Zielen 
des  habsburgischen  Ehrgeizes  unterworfen  hätte,  bedarf  bei  einem 
Staatsmann,  der,  wo  immer  er  stand,  Herr  seiner  Entschlüsse  blieb, 
keines  Wortes. 

Dem  entsprach  Bismarcks  Haltung  in  den  nordischen  Fragen. 
Über  die  Linie,  die  er  hier  im  Kampf  um  die  Einheit  der  Nation  er- 
reicht hatte,  ging  er  nicht  hinaus:  seiner  eigenen  Küsten  und  ihrer 
Gewässer  war  nun  Deutschland,  nach  der  Wiedergewinnung  der 
Nordmark,  vöUig  Herr,  seine  Flüsse,  einst  »fremder  Nationen  Ge- 
fangene« (noch  im  Kriege  gegen  Dänemark  waren  sie  es  gewesen) 
frei  und  die  Pforten  für  die  mächtig  sich  entfaltende  deutsche  Wirt- 
schaft zum  Weltm.eer:  aber  das  Dominium  maris  bcdtici  hat  Bismarck 
niemals  angestrebt;  ihm  genügte  es,  wenn  in  den  nordischen  Be- 
reichen die  Neutralität  aufrechterhalten  und  den  angrenzenden 
Mächten  der  Anteil  an  der  See  überlassen  bheb,  der  ihren  in  der 
Vorzeit  erworbenen  Rechten  und  dem  Maße  ihrer  Kraft  entsprach; 
allen  Versuchungen  (an  denen  es  nicht  fehlte),  nationalen  Velleitäten 
zuliebe  an  fremde  Hoheitsrechte  auch  nur  zu  rühren,  hat  er  dauernd 
sein  Ohr  verschlossen. 

Erst  der  Weltkrieg,  in  den  wir  uns  durch  den  Offensivgeist  der 
gegen  uns  vereinigten  Großmächte  hineindrängen  Heßen,  hat  die 
Wendung  gebracht:  als  unsere  siegreichen  Waffen  uns,  wie  im  Osten 
und  Westen,  so  auch  im  Norden  unseres  Erdteils  Wege  öffneten,  die 
zu  beschreiten  auch  nach  Bismarcks  Tode  unsere  Regenten  niemals 
geplant  hatten.  Nun  schien  es  wirkhch  Wahrheit  zu  werden,  was 
der  Schöpfer  des  Reiches  als  eine  »kindische  Utopie  «  bezeichnet  hatte : 
die  Abdrängung  der  byzantinisch-slavischen  Macht  des  Ostens  von 
den  Zugängen  zu  dem  baltischen  Meer,  die  Wiederaufrichtung  eines 
einheithchen  protestantisch-germanischen  Herrschaftsgebietes,  das 
Ziel,  für  das  Gustav  Adolf  gestritten  und  in  den  Tod  gegangen  war. 
Nur  daß  nicht  Schweden,  sondern  unser  Land,  das  Land  Martin 
Luthers,  dessen  Glaube,  der  deutsche  Glaube,  das  geistige  Band  für 
diesen  Machtkomplex  geworden  war,  die  Führung  haben  sollte. 
Nicht,  wie  Schwedens  Helden,  von  Norden  nach  Süden,  sondern 
von  Tannenbergs  Feldern  nordwärts  führte  uns  der  Weg.  So 
ward  Riga,  die  älteste  Kolonie  des  deutschen  Kaufmanns  in  den 
baltischen  Provinzen,    unser,   so  von  Memel  bis  Reval  alles  Land, 


81 

das  einst  deutsche  Ritter  der  deutschen  Kultur  unterworfen  hatten, 
mit  den  Inseln  an  seinen  Küsten;  so  nahmen  wir  Dorpat,  die  Hoch- 
schule der  Wasas,  unter  unsere  Obhut ;  wir  zerbrachen  das  Gibraltar 
des  Nordens,  die  vor  den  Toren  der  schwedischen  Hauptstadt  auf 
den  Alandinseln  breit  hingelagerte  russische  Zwingburg,  und  be- 
freiten Finnland  vom  Joch  barbarischer  Unterdrücker;  über  Inger- 
manland  und  Karelien  hinweg  und  bis  an  die  Küsten  des  äußersten 
Nordens  brandete  die  deutsche  Flut. 

Kaum  vier  Jahre  sind  seitdem  vergangen,  und  wie  eine  Ewigkeit 
liegen  schon  jene  Tage  hinter  uns,  als  unsere  Truppen  zugleich  in 
Narwa  standen  und  in  Pultawa,  in  den  Pässen  des  Kaukasus  imd 
in  den  Fruchtgefilden  von  Tiflis,  auf  dem  Hochlande  Armeniens  und 
an  den  Rändern  der  arabischen  Wüste;  während  unsere  Batterien 
in  den  Bergen  Makedoniens  und  jenseits  der  Alpen,  auf  den 
katalaunischen  Feldern  und  an  der  flandrischen  Küste  donnerten. 
Niemals  in  allen  Jahrhunderten  hat  sich  Germaniens  Kraft  so  gewaltig 
und  seinen  Feinden  so  furchtbar  erwiesen. 


Jedoch  ist  hier  nicht  der  Ort,  solchen  Gedanken  nachzuhängen. 
Und  so  sei  nur  noch  eines  Momentes  gedacht,  das  uns  an  der  Helden- 
gestalt Gustav  Adolfs,  der  im  Vordergrund  dieser  Betrachtungen 
stand,  unmittelbar  bewußt  werden  muß. 

Was  die  Macht  ist,  und  was  sie  in  der  Geschichte  bedeutet,  lehrte 
er  uns  kennen.  WahrUch  nicht  das  Böse  schlechthin,  wie  das  schlimme 
Wort  lautet,  das,  vor  langen  Jahrhunderten  ersonnen,  von  Phantasten 
und  Philosophen,  von  Gläubigen  und  Zweiflern,  und  oft  genug  von 
den  Machthungrigen  selbst  in  tausendfacher  Variierung  gepredigt 
und  von  den  Armen  im  Geiste  nachgebetet  worden,  heute  aber  mehr 
als  je  das  EvangeUum  der  Massen  und  aller  Phihster  geworden 
ist.  Macht  für  sich  genommen  ist  weder  gut  noch  böse,  sondern  nicht 
viel  mehr  als  ein  Nichts,  leeres  Wort,  bloßer  Schall.  Erst  der  Wille, 
der  die  Masse,  die  zimächst  mu:  das  Träge,  das  Nichtswirkende  ist, 
bewegt,  weckt  in  dieser  das  Leben,  schafft  sie  zur  Macht  um,  verleiht 
ihr  Form  und  Gestalt;  der  Zweck  aber,  dem  sie  sich  dann  unterwirft, 
der  Gedanke,  der  sie  treibt  und  trägt,  gibt  ihr  die  Seele,  Sinn  und 
Bedeutung. 


Lenz,  Wüle,  Marht  und  Schicksal. 


Napoleon  und  das  Sdiidksal. 

(1913.) 

Es  mag  Befremden  erwecken,  in  dem  Jahr,  das  an  jedem  seiner 
Tage  das  Gedächtnis  an  die  Großtaten  unserer  Väter  erneuert,  dem 
Manne  ein  Gedenkblatt  zu  widmen,  der  das  Joch,  das  jene  zerbrachen,, 
auf  die  Schulter  unseres  Volkes  gelegt  hat.  Wieviel  näher,  so  könnte 
man  einwenden,  müßte  es  liegen,  in  das  Lob  der  Helden  einzustimmen, 
die  unserm  Volke  den  Weg  zur  Freiheit  gewiesen,  und  der  ungezählten 
Namenlosen,  die  mit  ihrem  Blute  den  Glauben  daran  besiegelt  haben! 
Wenn  ich  es  dennoch  wage,  die  Blicke  meiner  Leser  einmal  nach  der 
entgegengesetzten  Seite  zu  lenken,  auf  den  Mann,  gegen  welchen 
alle  diese  Kräfte  sich  wandten,  so  geschieht  es  nicht  etwa,  weil  mir 
als  einem  neuen  Cato  die  Sache  des  Besiegten  besser  gefiele,  sondern 
weil  der  Zusammenhang  der  Dinge,  die  Gründe  der  Erhebung,  die 
Kräfte,  die  dabei  in  die  Wagschale  gelegt  wurden,  von  keinem  Punkte 
aus  besser  zu  übersehen  sind  und  also  die  Bedeutung  jener  Helden 
selbst  nur  in  um  so  helleres  Licht  treten  kann. 

Auch  das  Maß  der  Schuld,  das  auf  Napoleon  lastet,  wird  dann 
um  so  deuthcher  werden.  Niemand  in  der  Welt  ist  mehr  gehaßt, 
xmd  auf  keines  Menschen  Haupt  sind  die  Anklagen  voller  gehäuft 
worden,  als  auf  das  seine:  aber  auch  niemand  hat  jemals  stärker 
gebüßt  als  der  Gefangene  von  St.  Helena.  Und  vergessen  wir  nicht, 
daß  dies  Europa,  welches  um  ausstieß,  ihm  einst  fast  ausnahmslos 
zu  Füßen  gelegen,  daß  die  Feinde  von  heute  Freunde  von  gestern 
gewesen,  daß  nur  allzu  viele  unter  ihnen  ihm  wiUig  gefolgt  waren, 
sich  ihm  verbrüdert  und  verschwägert,  Provinzen  und  Kronen  aus 
seiner  Hand  genommen,  ihre  Staaten  mit  seiner  Hilfe  von  Grund 
aus  neu  aufgebaut  hatten.  Man  darf  ja  gar  nicht  einmal  von  einer 
Erhebung  der  deutschen  Nation  sprechen.  Es  war  zunächst  ein  Kampf 
Deutscher  gegen  Deutsche,  mit  fremden  Alliierten  oder  unter  fremden 
Fahnen,  wie  alle  Kriege,  die  seit  Jahrhunderten  auf  deutschem  Boden 
geführt   worden   waren.     Nicht   die   Begeisterung   für   Deutschlands, 


83 

Ehre  und  Freiheit  führte  Österreichs  Armeen  nach  langem  Schwanken 
den  Preußen  und  Russen  zu ;  und  erst  als  Napoleons  Macht  bei  Leipzig 
niedergebrochen  war  und  seine  aufgelösten  Divisionen  dem  Rhein 
zustrebten,  legten  sich  ihm  die  Bayern  vor,  —  um  ihm  zum  letzten 
seiner  Siege  auf  deutschem  Boden  zu  verhelfen.  Rheinbundtruppen 
standen  von  der  Weichsel  bis  zur  Elbe  in  den  preußischen  Festungen, 
welche  für  die  aus  Rußland  zurückflutende  Armee  Sammel-  und 
Stützpunkte  wurden,  und  füllten  aufs  neue  die  Cadres,  welche  die 
ungebrochene  Energie  des  Kaisers  gegen  die  norddeutschen  Rebellen 
aufgestellt  hatte.  Dem  Aufstande  des  Volkes  ging  der  Abfall  der 
Regierungen  zur  Seite  oder  voraus :  von  Provinz  zu  Provinz,  von  Land 
zu  Land,  so  wie  die  rollende  Lawine  hinter  dem  FHehenden  herstürzt. 
So  aber  war  es  gewesen,  seitdem  Napoleon  die  Blicke  der  Welt 
auf  sich  gelenkt:  solange  er  Kriege  geführt,  hatte  er  auch  Alliierte 
gehabt;  und  nur  dadurch  hatte  er  siegen  können,  daß  er  ihren  Ehr- 
geiz befriedigte,  ihnen  Anteil  an  der  Beute  gab,  ihnen  zu  Hilfe  kam, 
wenn  ihre  kaum  geschaffene  Macht  angegriffen  war.  Noch  im  Jahre 
1814  hat  er  Bundesgenossen  gehabt:  die  Italiener,  die  unter  seinem 
Stiefsohn  Eugen  für  die  Zukunft  ihrer  Nation  gegen  Österreich  stritten ; 
wenn  er  damals  den  Frieden  aus  der  Hand  der  Gegner  nicht  hat  an- 
nehmen wollen,  geschah  es  auch  deshalb,  weil  er  diese  letzten  Freunde 
nicht  im  Stich  lassen  konnte  oder  wollte.  Einzig  in  dem  Feldzuge 
von  Waterloo  hatte  er  nichts  weiter  hinter  sich  als  Frankreich.  Er 
selbst  sprach  in  seinen  Bundesverträgen  immer  nur  von  seinen  Alli- 
ierten und  den  gemeinsamen  Interessen;  als  »Chef  der  kontinentalen 
Liga«  hat  er  sich  selbst  bezeichnet.  Durch  die  Kräfte  des  Festlandes 
woUte  er  das  Meer  erobern. 

In  WirkHchkeit  galt  freilich,  so  weit  sein  System  reichte,  kein 
Wille  neben  dem  seinen.  Wenn  er  seine  Brüder  erhöhte,  ihnen  die 
Reiche  gab,  die  wie  eine  Kette  von  Bastionen  um  Frankreich  her 
gelagert  waren,  so  erhielten  auch  sie  damit  keine  andere  Stellung 
als  die  Bayern,  die  Polen,  die  Österreicher,  die  Preußen  und  jeder- 
mann, der  von  dem  Übermächtigen  in  die  Allianz  gezogen  oder  ge- 
zwungen ward.  Sie  durften  die  Kronen,  die  er  ihnen  gab,  gar  nicht 
zurückweisen;  jeder  Versuch,  eine  ihren  Ländern  eigentünüiche 
Pohtik  zu  verfolgen,  ward  ihnen  als  Verbrechen  angerechnet,  das  sie 
mit  Absetzung  oder  der  Beraubung  ihrer  Staaten  zu  sühnen  hatten. 
Nicht  einmal  persönlich  frei  zu  sein,  als  Privatmann  über  sich  und 

6* 


84 

sein  Los,  seine  Familie  zu  verfügen,  gestattete  der  Kaiser  seinem 
Bruder  Lucian.  »Ich  habe  Europa  nicht  besiegt,«  sprach  er  zu  ihm, 
»um  vor  dir  zurückzuweichen.  Wer  nicht  für  mich  ist,  ist  wider 
mich.  Fügst  du  dich  nicht  meinem  System,  so  bist  du  mein  Feind, 
und  Europa  ist  zu  klein  für  uns  beide.«  »Der  Himmel  kann  ein- 
fallen, ich  werde  meine  Ansicht  nicht  ändern.«  »Man  mag  mich  für 
ungerecht  und  grausam  halten,  wenn  mein  System  nur  vorwärts  geht. « 
Der  Erfolg  aber  war,  daß  dieses  »System«,  das  Netz,  in  dem 
der  Eine  jeden  fremden  Willen  einfing,  immer  enger  und  fester  wurde, 
daß  aus  den  Bundesgenossen  Vasallen,  aus  den  Vasallen  Unter- 
tanen wurden,  daß  Frankreichs  Grenzen  sich  immer  weiter  aus- 
dehnten, bis  nach  Albanien  an  der  einen  und  bis  Lübeck  an  der  anderen 
Stelle,  und  daß  die  Hoffnungen,  die  man  auf  den  Emporkömmling 
gesetzt,  die  Sympathien,  die  man  ihm  anfangs  entgegengetragen, 
sich  immer  mehr  in  Furcht  und  Haß  verwandelten.  Nichts  hat  das 
Reich,  das  Napoleon  aufbaute,  fester  zusammengekittet,  als  das 
Konkordat,  das  er  mit  dem  Papste  schloß;  woran  die  Revolutionäre 
vergeblich  gearbeitet:  die  Unterwerfung  der  universalen  Kirche 
unter  den  nationalen  Staat  war  dadurch  möglich  geworden.  Aber 
das  Ende  war  die  Annexion  des  Kirchenstaates,  die  Gefangenneh- 
mung des  Papstes,  die  Entfremdung  der  Untertanen,  die  Zerrüttung 
der  französischen  Kirche;  und  wenn  der  Friede  mit  Rom  dem  Usur- 
pator die  Freundschaft  der  gesamten  katholischen  Welt  erworben 
hatte,  so  ward  die  Feindschaft  mit  dem  Papst  der  stärkste  Ansporn 
für  den  Haß  der  katholischen  Nationen,  die  nun  in  ihm  auch  noch 
den  Häretiker  sahen. 

[v*^  Napoleon  war  kein  Tyrann  in  dem  gewöhnUchen  Sinne  des 
Worts:  der  nichts  sieht  außer  sich  selbst,  ohne  Ziel  und  ohne  Idee, 
der  nur  die  Macht  um  der  Macht  willen  Hebt,  nur  der  Zügellosig- 
keit  seines  Willens  und  der  Befriedigung  seiner  Leidenschaften  dient. 
Niemand  hat  sich  stärker  in  der  Gewalt  gehabt  als  er;  dem  Zorn 
selbst,  wenn  er  ihn  übermannte,  gesellte  sich  oft  genug  die  Berech- 
nung hinzu.  Er  konnte  nicht  bloß  verzeihen,  sondern  auch  ver- 
gessen. Er  belohnte  gern,  und  nicht  bloß  um  die  Menschen  sich  zu 
verpflichten  sondern  aus  wirklicher  Dankbarkeit  und  einer  An- 
hänglichkeit, welche  keinen  Unterschied  machte  zwischen  den  Freunden 
seiner  Kindheit  und  seines  Glanzes,  seinen  Dienern  und  den  Ge- 
nossen seiner  Herrschaft. 


85 

Dieser  Verächter  der  Ideen,  für  den  die  Religion  nur  den  Wert 
einer  »Kuhpockenimpfung«  besaß,  einer  Schutzhaut  für  die  BUnd- 
geborenen  gegen  die  Betrüger  wie  gegen  die  Not  und  das  Elend  des 
Lebens,  für  den  alle  Philosophen,  Kant  so  gut  wie  Rousseau,  Char- 
latane  waren,  hatte  dennoch  ein  volles  Gefühl  für  das  Heroische 
und  das  geistig  Große  in  der  Geschichte  wie  im  Reiche  der  Gedanken. 
In  der  Vergangenheit  war  es  Alexander,  dem  seine  Bewunderung 
galt,  der  Eroberer  so  vieler  Reiche,  der  Gründer  so  vieler  Städte,  der 
Erweiterer  der  Kulturwelt  durch  das  Schwert,  dessen  Nachruhm  drei 
Erdteile  erfülle.  Wie  oft  hat  er  sein  eigenes  Geschick  mit  dem  dieses 
letzten  der  griechischen  Heroen  vergHchen!  Auch  wohl  darin,  daß 
sein  Werk  das  gleiche  Schicksal  haben,  daß  die  Diadochen  sich  auch 
auf  seinem  Grabe  schlagen  würden.  Denn  er  empfand  vollauf  die 
Tragik,  die  an  allem  Großen  in  der  Welt  haftet:  die  Übermacht  des 
Schicksals  über  die  Kraft  auch  des  Stärksten,  das  niederdrückende 
Gewicht  der  Masse  gegenüber  dem  Genius.  In  dem  Kampf  des 
Geiües  mit  der  Umwelt  und  ihrer  blindwirkenden  Gewalt  sah  er  alle 
Geschichte  beschlossen;  weil  sie  dies  lehre,  nannte  er  sie  die  »einzig 
wahre  Philosophie  «.  Nichts  anderes  war  es,  was  ihn  zu  der  klassischen 
Tragödie  hinzog,  zu  seinem  Corneille,  dessen  Werke  ihn  in  seine  Feldzüge 
begleiteten,  und  dessen  heroische  Gestalten  ihm  in  den  entscheidenden 
Stunden  des  eigenen  Lebens  entgegentraten.  Er  sah  in  seinen  Versen 
den  Widerschein  des  eigenen  Schicksals.  Und  nicht  anders  sahen  ihn 
selbst  imd  sein  Werk  die  größten  seiner  Zeitgenossen  an,  Goethe  wie 
Hegel,  dem  er  an  dem  Tage  vor  Jena,  als  er  über  den  Marktplatz 
der  kleinen  Universitätsstadt  ritt,  wie  das  Schicksal  selbst,  wie 
die  Weltseele  erschien.  Daß  die  reife  Saat  der  deutschen  Gedanken- 
welt unter  seinem  ehernen  Tritt  verderben  müsse,  fürchteten  jene 
Beiden  nicht.  In  der  Zeit,  da  Fichte  dem  deutschen  Geist,  dem  Geist 
der  Freiheit  in  seinem  Berhner  Universitätsplan  ein  letztes  Asyl 
gegen  den  Dämon  aufbauen  wollte,  trug  Goethe  sich  mit  dem  Ge- 
danken, sein  Jena,  seine  eigenste  Schöpfung,  zu  einer  deutschen 
Zentraluniversität  unter  dem  Protektorat  des  Allmächtigen  aus- 
zugestalten. »Unter  einem  solchen  Herrscher,«  schreibt  er  dem 
Freunde  Graf  Reinhard,  »wer  möchte  da  nicht  streiten,  wenn  es  auch 
mit  Aufopferung  und  Unbequemlichkeit  geschehe!« 

Und  war  es  nicht  wirklich  so,  daß  die  Hberalen  Ideen  auf  Seiten 
Napoleons,  und  die  der  Reaktion  auf  selten  seiner  Gegner  waren  ? 


86 

Die  Revolution  blieb  die  Voraussetzung  seiner  Herrschaft;  die  Welt 
der  Privilegien  war  abgetan  und  wurde  beseitigt,  wo  immer  der 
Korse  jenseits  von  Frankreichs  Grenzen  neue  Staaten  gründete 
oder  alte  umschuf,  ebenso  in  Spanien,  dem  er  die  Verfassung  von 
Bayonne  gab,  wie  in  den  Rheinbundstaaten,  die  bis  heute  auf 
diesen  Grundlagen  ruhen.  Aber  freihch,  das  alles  trat  zurück,  sobald 
die  Gedanken  der  Beherrschten  eine  Richtung  nahmen,  die  der 
Pohtik  des  Kaisers  entgegenlief.  Dann  erwachte  in  ihm  sofort  der 
Tyrann,  der  nicht  Gnade  noch  Erbarmen  kannte  und  jeden  freien 
Hauch  erstickte.  Das  mußte  der  unglückliche  Palm  erfahren,  als 
ihn  die  Kugeln  in  dem  Festungsgraben  von  Braunau  niederstreckten, 
das  Ernst  Moritz  Arndt  und  der  Freiherr  vom  Stein,  als  sie  Haus 
und  Heimat  verlassen  und  in  die  Fremde  flüchten  mußten,  oder 
Madame  de  Stael  und  ihre  hberalen  Freunde  in  Frankreich.  »Die 
Zeit  der  Scherze  ist  vorbei, «  sprach  der  Kaiser,  als  er  Joseph  Chenier 
für  ein  allzu  freies  Wort  einsperren  Heß:  »mag  er  still  sein,  das  ist 
das  einzige  Recht,  das  er  hat.« 

Daß  Napoleon  von  Natur  nicht  grausam  war,  haben  auch  seine 
Feinde,  haben  sogar  Madame  de  Stael  und  die  Remusat  anerkannt ; 
»ich  hebte  es  nicht,  Blut  zu  vergießen, «  so  hat  er  selbst  im  Angesicht 
des  Todes  gesagt:  aber  wohin  seine  Wege  ihn  führten,  folgten  ihm, 
so  lange  er  Herr  war,  Ströme  des  Blutes.  Als  den  Friedebringer  be- 
grüßte ihn  nach  dem  i8.  Brumaire  das  französische  Volk,  das  durch 
ein  Jahrzehnt  der  Revolutionen  und  der  Kriege  hindurchgeführt  war; 
darum  verzieh  es  ihm  den  Staatsstreich,  und  Europa  pries  mit  ihm 
den  Sieger  von  Marengo  als  den  Stifter  des  Weltfriedens  • —  aber 
auf  jeden  Frieden,  den  der  Sieg  ihm  gab,  folgte  ein  neuer  Krieg,  und 
imaufhörlich  schoben  sich  die  Grenzen  seiner  Macht  vor  und  ver- 
mehrte sich  das  Heer  seiner  Vasallen.  Mit  dem  Manne,  der  im  Kampf 
nüt  den  Fluten  des  Meeres  die  Deiche  immer  weiter  hinausschiebt, 
hat  ihn  ein  französischer  Historiker  verglichen.  Jedoch  ist  dies  Bild 
nur  halb  richtig.  Denn  nicht  Fruchtgefilde  und  fette  Triften  waren 
es,  die  Napoleon  den  Wogen  abgewann,  sondern  darum  mußte  er 
die  Dämme  fort  und  fort  erneuern  und  weiter  hinausführen,  weil 
keiner  hoch  und  fest  genug  war,  um  den  Andrang  der  ringsum  wogenden 
Flut  zurückzuhalten:  Lachen  und  Sümpfe  bildeten  sich  überall  im 
Innern  des  Walles;  aus  dem  Boden  selbst,  den  er  gewonnen,  sickerte 
das  Wasser  herauf,  jeden  Versuch  des  Anbaus  binnen  kurzem  hemmend 


87 

und  zerstörend.  Nur  ein  Wille,  so  unzerbrechlich  \\de  der  seine,  eine 
Härte,  die  unerbittlich  jeden  Widerstand  niederschlug,  eine  Kraft, 
wie  die  Welt  sie  noch  nicht  gesehen,  war  imstande,  dem  ungeheuren 
Gegendruck  für  ein  paar  Jahre  standzuhalten. 

So  gleicht  dieser  Weiterschütterer  dem  Reiter  auf  Heimebergs 
Bild,  der  in  rasendem  Lauf  auf  dem  Balken,  imter  dem  der  Ab- 
grund gähnt,  hinter  der  Glücksgöttin  hersprengt,  die  lockend  und 
gleißend  auf  rollender  Kugel  vor  ihm  hinweggleitet. 

Oder  hätte  seine  Eisenfaust  den  Renner  herumreißen,  ihn  mit 
einem  Ruck  parieren  und  umkehrend  im  Schritt  auf  das  feste  Land 
zurückführen  können?  Lag  es,  unbildhch  gesprochen,  in  Napoleons 
Hand,  den  Frieden  zu  erhalten?  Gab  es  irgendeinen  Moment,  wo 
er  ihn  für  immer  hätte  schließen  können  ?  Einen  Frieden,  der  Frank- 
reich auch  nur  die  Güter  und  die  Grenzen  gelassen  hätte,  die  schon 
in  seinem  Besitz  waren,  als  der  Name  des  jungen  Offiziers  noch  kaum 
in  der  Welt  genannt  wurde  ?  Hätte  England  sich  mit  den  Stellungen 
begnügt,  die  ihm  Abukir  gebracht,  und  die  es,  den  Friedensbedin- 
gungen von  Amiens  zum  Trotz,  behauptet  hatte:  mit  dem  Besitz 
von  Malta  und  Ägypten  und  den  Kolonien,  die  es  Frankreich  und 
seinen  Verbündeten,  Spanien  und  Holland,  an  Afrikas  Küsten,  in 
Ost-  und  Westindien  abgejagt  hatte?  Hätte  es  wohl  dafür  Belgien 
und  HoUand  bei  Frankreich  gelassen:  Länder,  welche  die  Republik 
erobert,  bevor  Napoleon  bei  Montenotte  gesiegt  hatte  ?  Oder  würde 
Österreich  die  itahenischen  Provinzen,  die  ihm  Eugen  von  Savoyen  er- 
obert, und  seine  Hegemonie  über  die  italienischen  Dynastien  und 
Repubhken,  auch  über  die  Kurie,  die  seit  Jahrhunderten  die  Ver- 
bündeten Habsburgs  gewesen  war,  für  immer  aufgegeben  haben  ? 
Würden  die  französischen  Parteien,  die  Emigranten,  mit  der  alten 
KönigsfamiUe  an  der  Spitze,  ebenso  wie  alle  anderen  Fraktionen, 
die  seit  1789  sich  in  der  Herrschaft  über  Frankreich  abgelöst,  die 
neue  Ordnung  der  Dinge  anerkannt,  dem  Sieger  von  Marengo  sich 
unterworfen  haben?  Hätte  Alexander  von  Rußland  die  ererbten 
Hoffnungen  auf  die  Ausdehnung  der  russischen  Macht  über  Polen 
und  über  die  byzantinische  Welt  fahren  lassen,  und  hätte,  mit  einem 
Wort,  irgendeine  europäische  Macht,  die  sich  durch  Bonapartes 
Siege  beeinträchtigt  fühlte  oder  aus  seiner  Niederlage  Vorteil  zu 
ziehen  hoffen  konnte,  die  friedlich  gewordene  Revolution  in  Frieden 
gelassen?    Das  aUes  muß  bejahen,  wer  Napoleon  zum  Herrn  über 


88 

das  Schicksal  machen,  die  Freiheit  des  Entschlusses,  die  Wahl  der 
poUtischen  Stellung  in  sein  Ermessen  stellen  will. 

In  der  Tat  ist  dies  die  Auffassung,  welche  Jahrzehnte  in  Deutsch- 
land geherrscht,  zu  der  sich  die  ersten  EQstoriker  unseres  Volkes, 
ein  Häusser  imd  Treitschke,  ein  Sybel  und  Duncker,  bekannt  haben, 
und  die  wohl  noch  heute  auf  den  meisten  Kathedern  gelehrt  wird.  Na- 
poleon selbst  aber  hat  sich  jederzeit  als  den  Knecht  seines  »Systems« 
bezeichnet.  »Ich  bin,«  so  lautet  ein  berühmtes  Wort  von  ihm,  »der 
größte  Sklave  unter  den  Menschen;  ich  muß  einem  Herrn  gehorchen, 
der  kein  Herz  hat,  der  Berechnung  der  Umstände  und  der  Natur 
der  Dinge.«  »Je  größer  man  ist,«  so  ein  anderes  aus  derselben  Zeit, 
an  Josephine  gerichtet,  »um  so  unfreier  wird  man;  man  hängt  ab 
von  den  Ereignissen  und  den  Umständen  —  ich  bekenne  mich  als 
den  größten  Sklaven  unter  den  Menschen;  mein  Herr  hat  kein  Herz, 
und  dieser  Herr  ist  die  Natur  der  Dinge.«  »Ich  habe  mich«,  so  ein 
drittes,  »niemals  damit  abgequält,  die  Umstände  meinen  Ideen  an- 
zuschmiegen; ich  ließ  mich  gemeinhin  von  ihnen  führen.  Wer  kann 
im  voraus  über  die  zufäUigen  Umstände,  die  unerwarteten  Begeben- 
heiten gebieten?«  »Ich  bin  das  Geschöpf  der  Umstände,  ich  bin 
stets  mit  ihnen  gegangen.«  »Es  ist  weise  imd  pohtisch,  das  zu  tun, 
was  das  Geschick  befiehlt,  und  die  Straße  zu  gehen,  auf  der  uns  der 
unwiderstehUche  Lauf  der  Ereignisse  führt.«  Alle  diese  Aussprüche 
stammen  aus  der  Zeit,  da  Napoleon  auf  der  Höhe  seiner  Laufbahn 
stand,  als  seine  mächtige  Faust  die  Staatenwelt  des  Kontinentes  wie 
Ton  zerbrach,  um  sie  in  neue  Formen  zu  gießen,  als  er  wie  das  Schicksal 
selbst  durch  die  Welt  schritt.  Aber  er  hat  jederzeit  so  gesprochen: 
solange  er  mit  dem  Schicksal  rang,  und  auch  nachdem  er  von  ihm 
gebändigt  und  erdrückt  war.  War  das  nun  alles  Selbsttäuschung 
oder  bloßer  Vorwand,  Heuchelei  imd  Lüge?  Kein  Vorwurf  ist  ihm 
häufiger  gemacht  worden  als  dieser.  Aber  er  sagte  damit  doch  pichts 
anderes,  als  was  alle  Mächtigen,  die  dem  Schicksal  ins  Auge  ge- 
sehen und  den  Kampf  mit  ihm  gewagt  haben,  empfunden  und  tausend- 
mal ausgesprochen  haben :  mögen  sie  es  nun  Zufall  nennen  oder  gött- 
Hche  Lenkung  —  immer  bekennen  sie  dadurch  ihre  Inferiorität  gegen- 
über den  durch  die  Welt,  die  sie  bekämpfen  und  umgestalten,  aus- 
gebreiteten Gewalten.  »Fert  unda  nee  regitur«,  so  lautet  das  Motto, 
das  Bismarck  seinem  Werke  vorgesetzt  hat.  So  bot  auch  Napoleon 
die  breite  Brust  den  Wogen  und  Stürmen  des  Lebens  dar;  scheiternd 


89 

oder  landend  vertraut  er  seinen  Göttern.  Er  sieht  sie  nicht  in  den 
Wolken;  nicht  aus  den  Höhen  erwartet  er  die  Bhtze  des  Schicksals; 
nicht  als  Werkzeug  des  Allmächtigen  hat  er  sich  betrachtet:  seine 
Feinde  haben  ihn  die  Gottesgeißel,  den  neuen  Attila  genannt.  Für 
ihn  lag  das  Fatum,  das  Unabwendbare  in  den  historischen  Zusammen- 
hängen, in  den  Konstellationen  der  PoHtik,  in  den  Traditionen,  welche 
Frankreich  wie  seine  Verbündeten  und  Gegner,  die  ganze  Staaten- 
famiHe  Europas  miteinander  verknüpften,  in  dem  Ehrgeiz,  den 
ein  jeder  unter  ihnen  besaß,  in  allem,  was  Natur  und  Geschichte  in 
ihn  gelegt,  in  den  Existenzbedingungen  und  dem  Willen  des  Staates 
z;ur  Macht.  Das  ist  die  »Natur  der  Dinge«,  das  »eherne  Gesetz«, 
dem  sich  jede  Partei  und  jeder  einzelne  zu  fügen  hat,  die  Arena, 
in  der  sie  fechten  müssen,  die  Schranken,  die  ihrer  Freiheit  gesetzt  sind, 
die  Chancen  für  ihr  Emporsteigen  und  ihr  Fallen,  die  Notwendigkeit, 
die  über  ihnen  schwebt.  »Die  Parzen,«  so  schreibt  der  Kaiser  kurz 
vor  Austerhtz,  »weben  das  Leben  der  Menschen;  das  Schicksal  hat 
jedem  Staate  seine  Dauer  zugewiesen.«  Er  meinte  damals,  ein  blindes 
Geschick  treibe  das  Haus  Habsburg  dem  Untergange  zu.  Am  Abend 
vor  der  Schlacht,  im  Biwak,  brachte  er  das  Gespräch  auf  das  Theater, 
auf  seinen  gehebten  Corneille.  »Welche  Kraft  der  Erfindung!«,  rief 
er  aus.  »Das  wäre  ein  Staatsmann  geworden!  Die  PoHtik  muß  der 
Stoff  für  die  moderne  Tragödie  werden.  Sie  muß  unserm  Theater 
die  antike  Schicksalsidee  ersetzen  ■ —  das  Schicksal,  das  den  Ödipus 
zum  Verbrecher  macht,  ohne  daß  er  schuldig  ist  Es  ist  ein  Irrtum, 
die  tragischen  Stoffe  erschöpft  zu  sehen:  in  Fülle  liegen  sie  vor  uns 
in  der  pohtischen  Notwendigkeit.  Ein  anderes  Schicksal,  aber  ebenso 
herrisch,  ebenso  un wider stehüch  wie  das  antike:  der  Schrecken, 
gemildert  durch  die  Notwendigkeit.«  »Man  muß«,  so  schloß  er, 
»leben  wollen  und  zu  sterben  wissen.«  Denn  —  so  deuten  wir  dies 
Wort  —  man  darf  dem  Kampf  mit  dem  Schicksal  nicht  ausweichen, 
man  muß  siegen  wollen,  auch  wenn  man  sterben  muß.  So  spricht 
der  Held:  Ich  muß  meinem  Stern  folgen,  und  ich  will  ihm  folgen. 
In  diesem  Sinne  hat  Napoleon  auf  St.  Helena  allen  denen,  die 
sein  Andenken  schmähen  würden,  prophezeit,  daß  sie  auf  Grarüt 
beißen  würden,  hat  er  die  Nachwelt  zur  Richterin  seiner  Taten  auf- 
gerufen. So  haben  auch  seine  Getreuen  geurteilt.  Niemand  war 
ihm  vertrauter,  niemand  ergebener  als  Maret,  der  Herzog  von 
Bassano,  der  ihm  als  Minister  des  Auswärtigen  in  den  Jahren  der 


90 

Krisis  und  der  Katastrophe  diente.  »Für  die  Geschichte«,  so  urteilt 
dieser  Zeuge,  dessen  vornehmen  Charakter  auch  die  Gegner  nicht 
haben  schmälern  können,  »hat  die  bonapartistische  Monarchie  begonnen 
am  20.  Brumaire.  Seitdem  hat  sie  nur  Abwandlungen  erfahren. 
Zunächst  war  sie  Wahlmonarchie,  daim  lebenslänglich,  schheßhch 
erblich.  Diese  letzte  Phase  wurde  vorbereitet  durch  die  unaufhörHch 
wiederkehrenden  Konspirationen,  die  viel  mehr  darauf  eingewirkt 
haben  als  der  Eintluß  der  Höflinge.  Die  Natur  der  Dinge  drängte 
zur  ErbUchkeit.  Die  Anschläge  gegen  das  Leben  des  Oberhauptes 
beschleunigten  ihre  Einführung.  Den  Konsul  auf  Zeit  konnte  ein 
Handstreich  beseitigen,  den  Konsul  auf  Lebenszeit  ein  Mörder. 
Napoleon  nahm  die  ErbUchkeit  an  wie  einen  Schild.  Fortan  handelte 
es  sich  nicht  bloß  darimi,  ihn  zu  töten:  man  mußte  den  Staat  um- 
stürzen. Das  ist  die  Wahrheit,  das  ist  der  Grund  der  Begebenheiten, 
das  ist  es,  was  die  Geschichte  sagen  wird,  wenn  einst  ihr  Historiker 
kommt. « 

ij^Von  hier  aus  finden  wir  die  Antwort  auf  alle  Fragen,  die  wir 
vorhin  stellten.  Napoleon  hatte  die  Revolution  geschlossen,  aber 
verleugnet  hat  er  sie  nie.  »Ich  bin  die  Revolution,«  sagte  er,  als 
er  den  Herzog  von  Enghien  erschießen  ließ,  »und  ich  werde  sie  auf- 
rechterhalten.« Er  war  ihr  Erbe  und  woUte  ihr  Vermächtnis  bewahren, 
ihren  Geist  und  ihre  Ergebnisse  behaupten.  Er  hatte  den  Staat  der 
Revolution  so  stark  gemacht,  daß  er  alle  Parteien  in  ihn  aufnehmen 
durfte,  welche  aus  ihrem  Schöße  geboren  und  von  ihr  wieder  aus- 
gestoßen waren,  oder  die  sie  von  jeher  bekämpft  hatten;  so  stark, 
daß  er  selbst  Verschwörer  wie  Moreau  nicht  mehr  aufs  Schafott  zu 
schicken  brauchte.  Nicht  mit  Unrecht  hat  er  auf  St.  Helena  von 
sich  gesagt:  »Wer  unter  den  Monarchen  kann  sich  rühmen,  so  wenig 
Gegner  wie  ich  dem  Henker  überliefert  zu  haben?«  Und  nur  um  ein 
Exempel  zu  statuieren,  um  der  Welt  zu  beweisen,  daß  er  noch  den 
Geist  der  Revolution  in  sich  trage,  hat  er  den  jungen  Bourbon  auf- 
greifen und  beseitigen  lassen:  er  vergalt  damit  ja  nur  Gleiches  mit 
Gleichem.  Denn  die  Flammen  waren  nur  gebändigt,  nicht  erstickt; 
sie  glühten  im  Innern  und  wurden  von  außen  durch  tausend  Hände, 
durch  den  Ehrgeiz  der  fremden  Mächte,  der  siegreichen  wie  der  be- 
siegten, und  durch  die  Ausgestoßenen,  die  UnversöhnUchen,  unab- 
lässig geschürt.  Nur  die  Macht  konnte  sie  fesseln,  jedes  Nachgeben 
gab  ihnen  Luft  und  neue  Nahrung.    Sieg  oder  Untergang  blieb  das 


91 

Los  des  Alleinherrschers,  wie  es  das  Los  der  Terroristen  und  der 
Führer  aUer  Parteien  in  der  Revolution  gewesen  war.  Darum  konnte 
Napoleon  nur  als  Sieger  Frieden  schHeßen :  noch  auf  St.  Helena 
hat  er  dies  als  den  Kern  seiner  Pohtik  bezeichnet.  Das  Frankreich 
der  Revolution,  die  demokratisierte  französische  Gesellschaft  blieb 
die  Basis  seiner  Macht.  Und  nicht  bloß  ihm  waren  die  Bahnen  ge- 
wiesen, seitdem  er  sein  Schicksal  mit  dem  Frankreichs  verknüpft 
hatte,  sondern  diesem  selbst.  Denn  die  Revolution  war  nur  wieder 
eine  Stufe  in  dem  Gange,  den  die  Geschichte  Frankreichs  seit  Jahr- 
hunderten gegangen  war;  wie  Napoleon  ihr  Erbe,  so  war  sie  die  Erbin 
der  alten  Monarchie.  Was  diese  versucht  hatte,  führte  sie  durch; 
oder  sie  scheiterte  daran,  wie  die  alten  Könige  selbst.  Sie  erweiterte 
die  Grenzen  Frankreichs  bis  zum  Rhein  und  seine  Vorherrschaft 
über  Deutschland  und  Itahen,  und  sie  erfüUte  damit  Pläne,  welche 
die  Träger  der  alten  Krone  immer  gehegt  hatten;  sie  nahm  auch 
den  Kampf  gegen  England  wieder  auf,  das  letzte  große  Unternehmen 
der  bourbonischen  Monarchie,  an  dem  diese  recht  eigentlich  sich  ver- 
blutet hatte:  alle  Kräfte  hielt  sie  auf  dieses  Ziel  gerichtet.  Wenn 
aber  ein  Lazarus  Hoche,  der  General  der  Republik,  den  die  heutige 
französische  Geschichtsschreibung  recht  eigentlich  als  den  Antipoden 
Napoleons,  als  die  Verkörperung  des  französischen  Genius,  als  den- 
jenigen feiern  möchte,  der  den  Geist  der  Revolution  wahrhaft  in  sich 
dargestellt  habe,  noch  in  seinem  letzten  Lebensjahr  den  Kampf 
gegen  England  als  das  höchste  Ziel  seines  Ehrgeizes  anstrebte  —  wie 
hätte  da  der  Korse,  der  Fremde,  eine  andere  PoHtik  treiben  dürfen 
als  diejenige,  auf  die  Revolution  und  Königtum,  Gegenwart  und 
Vergangenheit  Frankreichs  hingedrängt  hatten!  Wir  müssen  viel- 
mehr sagen,  daß  die  Friedensschlüsse,  die  Napoleons  Siege  vorbe- 
reiteten, und  die  sein  Werk  waren,  Campoformio  ebenso  wde  Luneville 
und  Amiens,  die  ausgreifenden  Pläne  der  republikanischen  Regierung 
sogar  eingeschränkt  haben,  und  daß  die  Organisation,  die  er  dem 
Staate  gab,  die  Rückkehr  der  Emigranten,  die  Errichtung  der  Allein- 
herrschaft, das  Konkordat  mit  dem  Papste  Konzessionen  waren  an 
die  Besiegten  und  Verjagten  und  ein  Innehalten  auf  dem  Wege  der 
repubhkanischen  Propaganda.  Um  so  weniger  aber  durfte  er  einen 
Frieden  schließen,  der  Frankreich  hinter  die  Grenzen,  welche  die 
Republik  bereits  vor  ihm  gewonnen,  zurückgeführt  und  die  Funda- 
mente des  Staates  der  Revolution  verschoben  hätte.    Er  war  in  den 


92 

Fesseln  des  »Systems«  bereits  an  dem  Tage,  als  er  sich  zum  Herrn 
Frankreichs  aufwarf.  Das  war  die  Frage,  um  die  der  Kampf  ging: 
ob  die  Interessengemeinschaft,  welche  die  Revolution  jenseits  der 
Grenzen  Frankreichs  vorfand,  und  welche  die  Siege  Napoleons  jenseits 
der  Alpen  wie  des  Rheins,  in  den  Niederungen  der  Weichsel  und  am 
Sunde  wie  an  den  Ufern  des  Bosporus  noch  hinzu  erwarben,  sich  auf 
die  Dauer  stärker  erweisen  würde  als  die  Gegenkräfte,  die,  von  Eng- 
land geführt,  ebenfalls  über  den  ganzen  Kontinent  hin  ausgedehnt, 
ja  in  Frankreich  selbst  lebendig  geblieben  waren.  Vielleicht,  daß  er 
ihrer  mächtig  geworden  wäre,  wenn  er  noch  dieselben  Gegner  vor 
sich  gehabt  hätte,  mit  denen  die  Revolution  ihre  Kriege  geführt 
hatte:  die  mit  ihren  Aristokratien  verbündeten  Dynastien,  für  welche 
die  Masse  der  eigenen  Untertanen  nichts  bedeutet  hatte.  Denn  eben 
dadurch  hatte  die  Revolution  gesiegt,  daß  in  ihr  das  moderne  Staats- 
prinzip lebendig  geworden,  Staat  und  Volk  zusammengewachsen, 
die  Nation  zum  Bewußtsein  ihrer  selbst  erwacht  war;  so  war  sie  nach 
dem  Worte  des  Propheten  (schon  Ranke  hat  es  zitiert)  auf  die  alte 
Staaten  weit  gefallen  wie  eine  eiserne  Stange  auf  irdene  Töpfe.  Na- 
poleons Kriege  aber  gingen  über  die  der  Revolution  auch  darin  hinaus, 
daß  sie  allerorten  Gegenkräfte  erweckten,  gleichartig  im  Wesen,  wenn 
auch  verschieden  im  Ziel,  mit  denen,  welche  die  Revolution  in  Frank- 
reich geweckt  hatte:  die  Geister  der  Nationen  erhoben  sich 
unter   seinen   eigenen   Tritten   und  warfen   ihn   nieder. 

In  den  verschiedensten  Formen  haben  sie  sich  entladen;  je  nach 
den  Voraussetzungen,  welche  die  Geschichte  geschaffen  hatte.  Aber 
überall  kamen  sie  den  alten  Regierungen  zu  Hilfe;  mit  dem  Prinzip 
der  Legitimität  vereinigt,  wurden  sie  unüberwindlich.  Napoleon 
hatte  dieser  Verbindung  nichts  entgegenzusetzen.  Die  Spanier  wiesen 
die  modernen  Ideen,  die  er  ihnen  in  der  Verfassung  von  Bayonne 
aufdrängen  wollte,  mit  Abscheu  von  sich,  wie  demokratisch  und 
national  sie  im  übrigen  ihren  Widerstand  organisieren  mochten.  Die 
Italiener,  die  Polen  hörten  wohl  auf  den  Weckruf,  den  er  an  sie  richtete : 
aber  er  konnte  ihnen  nur  halb  gewähren,  was  sie  wünschten;  die  all- 
gemeine Politik  duldete  es  nicht  anders;  und  so  folgten  auch  sie  ihm 
nur  halbwillig;  schon  1807  und  noch  mehr  1812  in  Rußland  bekam 
er  es  zu  spüren.  Die  Rheinbundregierungen  bildeten  ihre  Staaten 
nach  seinem  Willen  um:  aber  die  Landsleute  Haspingers,  Speck- 
bachers und  Hofers  fühlten  wie  die  Spanier;  sie  wollten  von  dem 


93 

modernen  Staat  nichts  wissen,  sahen  darin  nur  die  Unterdrückung, 
die  Herrschaft  der  Fremden;  mit  Kruzifix  und  SkapuUer  standen 
Mönche  und  Pfarrer  bei  den  Landesschützen,  die  für  das  »heilige 
Land  Tirol«  und  ihren  Kaiser  fochten;  in  Bayern  selbst  nahm  der 
Gegensatz,  wo  er  gegen  das  französierende  Regiment  sich  regte,  als- 
bald reaktionäre  Formen  an.  Und  überall  folgten  die  Verbündeten, 
die  Freunde,  und  mochten  es  die  eigenen  Brüder  sein,  dem  Kaiser 
grade  solange,  als  die  Interessen  ihrer  Regierungen  mit  seinem  System, 
seiner  Politik  zusammengingen.  Sobald  der  Sieg  sich  auf  die  Seite 
seiner  Gegner  neigte,  begann,  von  Tauroggen  ab,  der  Abfall;  mitten 
in  der  Schlacht,  die  über  seine  Herrschaft  in  Deutschland  entschied, 
gingen  die  Sachsen  zu  den  Verbündeten  über ;  hinter  dem  Geschlagenen, 
dem  FUehenden  her  wälzten  sich  die  Wogen. 

Kaum  daß  sie  an  Frankreichs  Grenzen  haltmachten.  Mochte 
auch  die  Nation  ihrem  Herrn  zunächst  noch  gehorsam  bleiben  und 
die  neuen  Heereskräfte,  die  er  forderte,  stellen:  der  Geist,  der  sie 
einst  um  die  Trikolore  geschart,  vor  dem  die  Heere  des  alten  Europas 
in  den  Staub  gesunken,  war  erloschen,  erstickt  durch  das  despotische 
Regiment,  das,  lange  bevor  Bonaparte  es  in  seine  Faust  genommen, 
aus  ihrem  Schöße  sich  erhoben  hatte.  Napoleon  durfte  ihn  gar  nicht 
wieder  erwecken:  er  hätte  nur  die  alten  Parteien  ins  Leben  zurück- 
gerufen, den  Bürgerkrieg  neu  entfacht  und  also  die  Proklamationen,  mit 
denen  die  Fremden  in  das  Land  kamen,  gerechtfertigt.  Die  Bändigung 
der  Parteien,  die  Einheit  der  nationalen  Kraft  war  die  Basis  seiner 
Macht  und  das  Prinzip  seiner  Herrschaft  gewesen;  er  wollte  es  auch 
im  Untergange  nicht  verleugnen.  Einst  hatte  das  Feuer  nationaler 
Leidenschaft,  dies  Gemisch  von  Haß  und  Liebe,  auch  in  seinen  Adern 
geglüht:  solange  sein  Herz  für  Korsikas  Freiheit  geschlagen  hatte. 
Aber  seitdem  er  mit  den  Seinen,  einem  Felsstück  der  korsischen 
Küste  vergleichbar,  von  dem  Boden  der  Heimat  losgerissen  und  an 
Frankreichs  Ufer  geschleudert  war,  hatte  er  diese  Gefühle  in  sich 
ausgelöscht  und  die  Verachtung  der  nationalen  und  aller  liberalen 
Ideen  dafür  eingetauscht.  Sie  hatten  ihm  seitdem  wohl  als  Elemente 
seiner  PoUtik  gedient:  aber  niemals  hatte  er  diese  nach  ihnen  ge- 
richtet. Macht  und  abermals  Macht  war  das  Wort  geworden,  an  das 
er  glaubte,  und  das  Ziel,  nach  dem  er  strebte.  »Chimären,  ja  wohl, 
Chimären,«  rief  er  aus,  als  ihn  auf  dem  Schlachtfelde  von  Arcis  sur 
Aube  General  Sebastiani,  der  Landsmann  und  Waffengefährte  von 


94 

den  Pyramiden  und  dem  19.  Brumaire,  aufforderte,  die  Nation  zum 
Kampfe  aufzurufen:  »eine  Erhebung  der  Nation  fordern  wollen  in 
einem  Lande,  in  dem  die  Revolution  die  EdeUeute  und  die  Priester 
vernichtet  hat  und  ich  selbst  die  Revolution  vernichtet  habe ! « .  .  . 
Vielmehr  mußte  er  es  alsbald  erleben,  daß  der  Abfall  im  Heere  und 
im  Volke  um  sich  griff.  Zu  den  Ideologen  gesellten  sich  die  Verräter: 
ihnen  beiden  erlag  der  Tyrann.   So  woUte  es  die  Rache  des  Schicksals. 

Werfen  wir  zum  Schluß  noch  eine  Frage  auf.  Was  wäre  ge- 
schehen, wenn  den  Gewaltigen  der  Allbezwinger  nicht  sobald  von 
der  Welt,  die  einst  zu  klein  für  seinen  Ruhm  gewesen  war,  hinweg- 
genommen hätte  ?  Er  hatte  noch  nicht  das  zweiundfünfzigste  Lebens- 
jahr vollendet,  als  es  geschah.  Neunzehn  Jahre  später  warf,  von  dem 
Herrscher  Frankreichs  selbst  gesandt,  das  Schiff  auf  der  Reede  von 
St.  Helena  Anker,  das  die  Asche  des  Helden  nach  Frankreich  zurück- 
bringen soUte,  damit  sie  inmitten  seiner  Trophäen  ruhe.  Es  war  eine 
Huldigung,  die  bereits  die  Angst  der  damaligen  französischen  Re- 
gierung, der  zweiten  Djmastie  seit  dem  Sturze  des  Kaisers,  verriet 
vor  dem  gigantischen  Schatten,  der  für  Frankreich  der  Inbegriff 
natioucder  Größe  und  nationalen  Ruhmes  geworden  war.  Längst 
war  der  Bund  der  vier  Mächte,  dem  der  Kaiser  erlegen  war,  zerfallen; 
England  zuerst  hatte  sich,  schon  ein  Jahr  nach  seinem  Tode,  von 
den  Alliierten  losgemacht.  Ganz  undenkbar  wäre  es  gewesen,  zumal 
seit  der  Julirevolution,  seitdem  England  in  allen  Erdteilen  die  Fahne 
der  Freiheit  emporhielt,  daß  Napoleon  die  Freiheit  verweigert  wäre. 

Das  Schicksal  hat  es  nicht  gewollt.  Die  ungeheure  Tragik,  die 
über  diesem  Lebenslauf  liegt,  soUte  sich  ganz  vollenden.  Wie  dem 
Titanen  der  griechischen  Sage  der  Geier,  der  Bote  des  rächenden 
Zeus,  die  Leber  zerfleischte,  so  mußte  dieser  moderne  Titane  unter 
den  mörderischen  Griffen  einer  unheilbaren  Krankheit  dahinsiechen. 
Jedoch  sein  Geist  blieb  so  unbesieglich,  wie  der  des  hellenischen 
Halbgottes,  der  noch  in  den  Fesseln  und  unter  Martern  den  Göttern 
Trotz  bot.  Wie  er  es  gegen  seinen  Kerkermeister  Sir  Hudson  zum 
Ausdruck  brachte:  »Ihr  habt«,  so  sprach  er  zu  ihm  kurz  vor  seinem 
Tode,  »volle  Gewcdt  über  meinen  Körper,  aber  meine  Seele  wird 
euch  immer  entgehen.  Wisset,  daß  sie  noch  so  stolz,  so  mutig  auf 
diesem  Felsen  ist  wie  damals,  als  ich  Europa  Gesetze  gab.« 

Der  Historiker  soll  über  den  Parteien  stehen.  Aber  das  heißt 
nicht,  daß  er  sich  freihalte  von  dem  inneren  Anteil  an  dem  »großen 


95 

gigantischen  Schicksal,  welches  den  Menschen  erhebt,  wenn  es  den 
Menschen  zermalmt«.  Die  Weltgeschichte  bietet  auf  jeder  ihrer  Seiten 
Tragödien  dar,  wie  sie  keines  Dichters  Phantasie  ersinnen  kann.  Keine 
aber  ergreift  des  Hörers  Herz  tiefer,  keine  offenbart  den  Wechsel 
raenschhcher  Geschicke  in  erhabeneren  und  furchtbareren  Bildern 
als  die  Geschichte  dieses  Mannes,  der  aus  der  Tiefe  zur  Sonnenhöhe 
emporstieg,  um  in  trostloser  Verlassenheit  zu  sterben. 


Die  Religion  im  Aufbau  der  politischen  Macht. 

(Antrittsrede  in   Hamburg  am  22.  Mai   1914.) 

Es  mag  wenige  Begriffe  geben,  die  dem  Zeitbewußtsein  näher 
stehen  und  vertrauter  sind  als  derjenige,  dessen  Beleuchtung  unter 
einem  bestimmten  Gesichtspunkt  hier  versucht  werden  soll ;  und  man 
könnte  fast  vergessen,  wie  jung  die  Herrschaft  ist,  die  er  heute  auf  alle 
Schichten  unseres  Volkes  ausübt.  Kaum  hundert  Jahre  ist  es  her,  daß 
der  Wille  zur  Macht  bei  uns  erwachte,  um  sogleich  die  stärkste  Kraft 
in  der  Erziehung  unseres  Volkes  zur  Nation  zu  werden.  Noch  das 
Geschlecht,  das  den  Kampf  um  das  Reich  durchgefochten  hat,  Heß 
diesen  Gedanken  nur  zu  oft  hinter  anderen  Strebungen,  Forderungen 
der  Partei,  zm-ücktreten ;  und  erst  der  Schöpfer  des  neuen  Deutschlands 
hat  ihn  der  Nation  so  tief  in  die  Seele  gesenkt,  daß  er  heute  bereits 
alle  anderen  Regungen  der  Volksseele  zu  überwuchern  droht. 

Nirgends  vielleicht  treten  uns  Kraft  und  Wirkung  der  politischen 
Macht  sinnenfäUiger,  greifbarer  vor  Augen  als  an  der  größten  Aus- 
fallspforte der  deutschen  Wirtschaft,  an  den  Ufern  des  Stromes, 
dessen  breiter  Rücken  die  Reichtümer  aller  Erdteile  zu  uns  trägt. 
Mit  einem  Bück  über  Hamburgs  Hafen  umspannt  unser  Auge  ein 
Rundgemälde  deutscher  Arbeit  von  überwältigender  Größe.  Wenden 
wir  uns  dann  aber  zurück  zu  der  Kuppe  des  Stadtwalls,  auf  der  das 
hochragende  Denkmal  steht,  das  Hamburgs  Bürgerschaft  dem  Bau- 
meister des  Reiches  errichtet  hat  —  wie  eine  Göttergestalt  aus  Ger- 
maniens  Urzeit,  die  Fäuste  beide  um  den  Griff  des  Schwertes  ge- 
legt, finster,  drohend,  unnahbar  steht  er  da  — ,  so  wird  es  uns  un- 
mittelbar bewußt,  wie  eng  das  laute  Treiben  dort  unten  und  dies 
stumme  Steinbild  zusammengehören,  und  daß  nur  die  Macht,  die 
Bismarck  schuf,  diesem  noch  immer  sich  steigernden  Leben  Schutz 
und  Wachstum  verspricht. 

Keinen  Augenblick  aber  dürfen  wir  rasten,  jeder  Nerv  muß  ge- 
spannt bleiben.  Denn  rings  um  unsere  Grenzen  brandet  die  gleiche 
Flut    unablässigen    Strebens  und    Schaffens.     Alles,   was  unter  der 


97 

Sonne  lebt  und  liebt,  streitet  und  stirbt,  bietet  den  gleichen  An- 
blick, und  sich  selbst  zu  erhalten  bleibt  das  oberste  Gesetz.  Dies 
aber  duldet  keinen  Stillstand;  es  gilt  nur  wachsen  oder  weichen. 

Als  wir  unser  Reich  gewannen,  schien  es  dennoch  fast,  als  ob 
wir  eine  Ausnahme  machen  und  zum  erstenmal  in  der  Geschichte 
Macht  und  Frieden  miteinander  verbinden  würden.  Bismarck  selbst 
verkündete  es  als  sein  Programm,  und  er  erfand  das  Wort  von  der 
Saturierung  der  Nation,  das  Leitwort  einer  Politik,  die  alles  daran- 
setzte, die  Besiegten  auseinanderzuhalten  und  die  kaum  geschicht- 
teten  Quadern  tiefer  in  den  aufgewühlten  Boden  hineinzubringen. 
Unsere  Vorfahren  hatten  nicht  so  gedacht:  weder  diejenigen,  die  das 
römische  Weltreich  in  Trümmer  schlugen,  noch  die,  welche  in  späteren 
Jahrhunderten  den  slawischen  Osten  der  deutschen  Kultur  Untertan 
machten.  Nicht  viel  mehr  als  hundert  Jahre  sind  vergangen,  seitdem 
der  letzte  deutsche  Vorstoß  gegen  den  Osten  erfolgte:  damals,  als 
die  norddeutsche  Großmacht  ihre  Marken  bis  in  die  Steppen  Wolhy- 
niens  vorschob.  Wie  weit  sind  wir  heute  von  solchem  Ehrgeiz  ent- 
fernt! Das  stärkste  Volk  der  Erde  ist  das  friedfertigste  geworden, 
und  es  scheut  kein  Opfer,  um  den  Krieg  zu  vermeiden.  Setzen  wir 
aber  einmal  den  Fall,  daß  die  Feinde  Habsburgs,  die  nicht  nur  jen- 
seits der  österreichischen  Grenzen  sitzen,  diesen  Staat  zerreißen 
wollten  (mehr  als  einmal  hat  sich  bereits  dunkelstes  Gewölk  über  ihm 
zusammengeballt),  würden  wir  dann  sie  bei  ihrer  Beute  lassen  und 
zwölf  Millionen  unserer  Brüder,  das  früheste  Kolonialgebiet  unseres 
Volkes,  den  Eckstein  des  alten  Reiches,  das  Land  Walters  von  der 
Vogelweide  und  des  Nibelungensängers,  ihnen  preisgeben  dürfen? 
Und  was  würde  geschehen,  wenn  unsere  Nachbarn  jenseits  der  Vogesen 
und  des  Kanals  sich  untereinander  über  Holland  und  Belgien  ver- 
ständigten samt  ihren  Kolonien?  Oder  wenn  Rußland  über  Dale- 
karlien  hinweg  sich  des  Dominiiun  maris  baltici  bemächtigen  wollte, 
das  es  schon  einmal,  unter  Peter  dem  Großen  (als  eine  russische 
Flotte  im  Hafen  von  Kiel  lag),  besessen  hat?  In  jedem  Falle  wären 
für  uns  die  Würfel  geworfen!  Wir  müßten  mobil  machen,  und  wenn 
halb  Europa  gegen  uns  verbunden  wäre.  Und  so  erscheint  dem 
Historiker  der  Friede,  dessen  wir  genießen,  nur  als  eine  Stufe  der 
Weltentwicklung,  und  sind  auch  wir  den  gleichen  Gesetzen  unter- 
worfen wie  jede  andere  Macht;  alles  hängt  ab  von  der  allgemeinen 
Politik,  von  der  Stellung  und  dem  Platz,  den  eine  jede  Macht  in 

Lenz,   Wille,  Macbt  und  Schicksal.  7 


98 

ihr  einnimmt.  Schon  ist  das  Erdenrund  wie  mit  einem  Netz  von  einer 
einzigen  Konstellation  umhüllt;  vom  Westen  und  Osten  her  sind  zwei 
Großmächte  zu  den  alten  hinzugetreten,  neue  Machtgruppen  haben  sich 
gebildet,  neue,  einer  früheren  Zeit  ungeahnte  Kombinationen  tauchen  be- 
reits am  Horizonte  auf,  und  auch  für  uns  könnten  die  Zeiten  des  Friedens 
bald  zu  Ende  sein  und  neue  Proben  auf  unsere  Kraft  uns  bevorstehen. 

So  will  es  das  allmächtige  Schicksal.  Es  ist  nicht  das  blinde 
Fatum  oder  der  Donnerer  in  den  Wolken,  an  den  die  Alten  glaubten, 
der  nach  Laune  und  Willkür  oder  nach  einem  Maßstab  von  Gerechtig- 
keit, über  den  nur  er  entscheidet,  die  Geschicke  der  Völker  lenkt, 
dem  einen  gibt,  was  er  dem  andern  nimmt,  Segen  und  Verderben, 
wie  es  ihm  gefällt,  über  die  Erde  hinstreut:  sondern  es  ist  die  an  den 
Boden  gefesselte,  aus  ihm  emporsteigende  Notwendigkeit,  ein  von 
dem  Weltzusammenhange  untrennbarer  Prozeß. 

Dies  ist  der  Grund,  der  uns  zwingt,  die  auswärtige  Pohtik  in 
den  Mittelpunkt  aller  Geschichte  zu  stellen ;  sowie  der  Staat  wiederum 
der  Mittelpunkt  und  der  Gipfel  jeder  geschichtlichen  Betrachtung 
sein  wird  —  mag  es  sich  nun  um  Recht  oder  Wirtschaft  handeln, 
um  Religion  oder  Philosophie,  um  irgendwelche  Erscheinungen  der 
Literatur  oder  um  das,  was  man  unter  Kulturgeschichte  und  Länder- 
kunde zusammenfassen  möchte.  Immer  sind  es  die  großen  Haupt- 
und  Staatsaktionen,  ist  es  die  Welt  des  Staates,  sind  es  seine  Lebens- 
bedingungen und  alle  seine  Mittel  und  Verrichtungen,  auf  welche 
die  Entwicklung  aus  jeder  Sphäre  des  Daseins  hindrängt,  und  durch 
die  wiederum  alle  Äußerungen  des  allgemeinen  wie  des  persönlichen 
Lebens  bestimmt  werden. 

So  das  Schauspiel,  das  wir  vor  Augen  haben,  der  Ablauf  der 
Begebenheiten,  eine  durch  die  Jahrhunderte  hin  fortrollende  Kette, 
eine  Reihenfolge  von  Bildern,  reicher  an  Szenenwechsel,  an  tragischen 
Konfükten,  Peripetien  und  Katastrophen,  als  alles,  was  je  von  Dichter- 
hand geschaffen  wurde.  Jedoch  über  das,  was  innerlich  dabei  vor- 
geht, was  das  eigentüch  Treibende  darin  ist,  der  Wille,  der  Genius 
in  der  Geschichte,  über  alles  dies  ist  damit  noch  nichts  ausgesagt. 

Versuchen  wir  die  Antwort  zu  finden. 

Wenn,  wie  wir  bemerkten,  der  wirtschaftUche  Aufschwung 
unserer  Nation  mit  der  Gründung  unseres  Reiches  aufs  engste  ver- 
knüpft ist  und  als  Folge  davon  verstanden  werden  darf,  so  könnten 
wir  fragen,  ob  hierin  vielleicht  schon  das  Ziel  begriffen,  hier  also 


99 

auch  die  treibende  Kraft  zu  suchen  sei,  ob  also  unser  Volk  die  Stellung 
in  der  Welt,  die  es  gewann,  behaupten  wird,  wenn  es  nur  diesem 
Zwecke  lebt,  rückhaltlos  und  rücksichtslos  alles  vor  sich  niederwerfend, 
was  ihm  dabei  störend  in  den  Weg  treten  wollte.  Dann  wäre  der 
Historiker  bald  am  Ziel.  Ihm  würde  nur  obhegen,  das  Maß  dieser 
wirtschaftlichen  Kraft  zu  bestimmen,  ihre  Zusammensetzung,  ihre 
Tiefe,  ihre  Ausbreitung  und  die  Mittel,  die  sie  begründet  und  gefördert 
haben,  zu  erkunden.  Ausgeschlossen  aber  wäre  aus  der  Kette  der 
wirkenden  Kräfte  die  ganze  Welt  der  sittlichen  Zwecke.  Und  was 
für  uns  gilt,  muß  auch  für  die  andern  gelten :  die  Geschichte  der  Jahr- 
tausende müßte  dann  nach  solchen  Maßstäben  erforscht  imd  ge- 
schrieben werden.  Ob  es  sich  um  China  handelt  oder  Japan,  mn 
Indien  oder  Tibet,  um  die  Negerstaaten  oder  die  Insulaner  der  Süd- 
see, um  Griechen  oder  Römer,  um  Völker  von  höchster  Kultur  oder 
von  tiefster  Barbarei,  immer  würden  in  dem  Auf  und  Ab  wirtschaft- 
licher Krisen  die  historischen  Wendezeiten,  in  dem  Kampf  \im  die 
gemeinen  Bedürfnisse  des  Lebens  die  alles  persönliche  und  öffentüche 
Leben  gestaltenden  Kräfte  zu  suchen  sein.  Unsere  Väter  freihch, 
deren  Großtaten  die  Nation  vor  einem  Jahre  feierte,  möchten  mit 
dieser  Erklärung  wenig  zufrieden  gewesen  sein.  Und  auch  wir  Alten, 
die  in  den  Laufgräben  vor  Metz  und  Paris  gelegen  oder  bei  Loigny 
und  Orleans  gefochten  haben,  werden  es  bestreiten,  daß  wir  unser 
Leben  für  solche  Güter  in  die  Schanze  schlugen.  Das  müßte  dann 
eben  auf  Selbsttäuschung  beruhen. 

Nehmen  wir  es  aber  auf  einen  Augenblick  an  und  setzen  noch 
weiter  voraus,  daß  diese  Einsicht  bereits  die  allgemeine  geworden 
sei,  und  also  nicht  bloß  die  Regierenden,  die  Besitzenden,  die  Klugen, 
die  Gewalthaber,  sondern  gerade  die  Armen,  die  »Masse  der  Ent- 
erbten« (wie  man  sagt),  sie  besäßen;  daß  alle  Überlieferungen  von 
Recht  und  Moral,  von  Glaube  und  Sitte  bereits  ausgelöscht,  alle 
Bande,  die  uns  heute  noch  mit  den  Vätern  imd  ihren  Vorstellungen 
verknüpfen,  zerrissen,  die  alten  Ordnungen  in  Staat  und  Kirche,  in 
Haus  und  Gemeinde  bereits  aufgelöst  und  beseitigt  wären  —  was 
würde  die  Folge  sein?  Wir  tun  ja  damit  nichts  anderes,  als  was 
so  viele  Philosophen  und  Historiker,  zumal  Wirtschaftshistoriker,  und 
mehr  noch  die  Staatstheoretiker,  oder  Parteiführer,  welche  ihre 
Programme  philosophisch  oder  historisch  zu  unterbauen  suchten, 
uns  vorgemacht  haben;  wobei  nur  leider  zu  sagen  ist,  daß  die  we- 


100 

nigsten  unter  ihnen  jenen  Gedanken  zu  Ende  gedacht  haben.  Es 
ist  aber  offenbar,  daß,  wenn  man  unter  solchen  Voraussetzungen 
zu  einer  Lebensordnung,  die  vielleicht  Eintracht  und  Haltbarkeit 
verbürgen  möchte,  gelangen  wollte,  dies  nur  durch  die  absolut  gleiche 
Verteilung  der  irdischen  Güter  und  den  gleichen  Anteil  an  ihrer  Er- 
zeugung geschehen  könnte:  nicht  aus  dem  Grundsatz  der  Geiechtig- 
keit,  denn  das  Moralische  bhebe  ausgeschlossen,  sondern  des  gleichen 
Begehrens:  weil,  wenn  dies  unbefriedigt  bhebe,  Kampf,  Zersetzung 
und  Anarchie  die  unausbleibliche  Folge  sein  müßten.  Es  würde  ein 
Zustand  werden  völliger  AusgegHchenheit,  der  Unterwerfung  jedes 
Willens  unter  den  einen  Zweck,  zur  Nahrung  zu  kommen,  der  Aus- 
tilgung jedes  freien  Gedankens,  jeder  Eigenart,  auch  jeder  Leiden- 
schaft und  jedes  persönlichen  Lebensgefühls;  eine  ungeheure  Lange- 
weile würde  sich  über  die  Erde  ausbreiten;  die  Welt  würde  weder 
Idole  besitzen  noch  Ideale. 

Wir  fragen  nicht  danach,  ob  solche  Gedankenbilder  jemals 
Zukunft  haben  werden ;  denn  deren  Schleier  zu  heben,  ist  nicht  unseres 
Amtes.  Auch  das  soll  uns  hier  nicht  kümmern,  ob  den  Idealen,  an 
denen  die  Menschheit  hängt  (wandelbar  wie  sie  sind),  objektive 
Werte  zugrunde  hegen,  Ideen,  welche  über  die  Beschränktheit  unseres 
Daseins  hinausreichen  und  unser  Leben  mit  einer  unbekannten  Welt 
verknüpfen  —  oder  ob  gar  in  der  Geschichte  eine  höhere  Leitung, 
ein  Aufstieg  zu  immer  reineren  und  freieren  Formen  des  Geistes 
wahrzunehmen  ist;  denn  auch  damit  würden  wir  die  Grenzen  ver- 
letzen, die  uns  gesetzt  sind.  Im  Endlichen  wollen  wir  nach  allen 
Seiten  schreiten,  aber  den  Blick  nicht  auf  Felder  lenken,  deren  Be- 
stellung dem  Theologen  oder  dem  Philosophen  obliegt.  Nur  das 
Prinzip,  nicht  das  Objekt,  ist  uns  mit  diesen  gemeinsam,  das 
Werdende,  Begreifbare,  Bedingte  zu  erkennen  ist  allein  unsere  Aufgabe. 

Aber  wäre  selbst  die  Welt  der  Ideen,  wie  erhaben  sie  gedacht 
werden  möchten,  nur  ein  Kreis  von  Vorstellungsformen,  Traum- 
bildern, die  mit  den  Geschlechtern  der  Menschen  kommen  und  gehen 
—  auch  dann  noch  würden  sie  niemals  aus  der  Geschichte  hinweg- 
genommen werden  können.  Wo  eine  Lebensordnung  besteht,  sind 
sie  da.  Ohne  sie  ist  alles  zerfließendes  Wasser.  Sie  allein  zeigen  die 
Richtung  an,  geben  die  Gesetze,  bilden  und  entwickeln  die  Organe; 
sie  sind  das  Treibende,  Wirkende,  Lebenschaffende. 


101 

Unter  ihnen  als  stärkste  Kraft  die  Religion.  Diese  hat,  gleich 
groß  im  Zerstören  wie  im  Schaffen,  das  Antlitz  der  Nationen  um- 
gewandelt und  neue  Völker  aus  dem  ewig  kreißenden  Schöße  der 
Geschichte  hervorgehen  lassen;  Verfassung  und  Wirtschaft,  Recht, 
Kunst  und  Literatur  und  alle  Gebiete  des  geistigen  Lebens  hat  sie 
in  Formen  gegossen,  die  ihrem  Wesen  entsprachen.  Was  bedeuteten 
die  Araber,  bevor  Muhammed  unter  ihnen  erschien?  Rings  um  ihre 
Grenzen  war  der  Strom  der  Kultur  geflutet  —  sie  aber  waren  draußen 
gebheben,  in  ihre  Stämme  geteilt,  um  ihre  Brunnen  gelagert,  geschichts- 
los  dahinlebend,  gleichsam  ein  Stück  ihrer  Wüste,  Ismaels  Söhne, 
des  Verstoßenen.  Bis  der  Prophet  sie  den  kurzen  großen  Sätzen 
seines  Glaubens,  den  wenigen  Zeremonien  seines  Kultus  unterwarf. 
So  schmiedete  er  Arabiens  Stämme  zusammen  und  wies  ihnen  den 
Weg  zur  Macht.  Wie  loderndes  Feuer  wogten  sie  über  die  benach- 
barten Provinzen,  Länder  uralter  Kultur,  die  aber  Außenglieder  der 
hellenisch-römischen  Welt  geworden  waren,  dahin.  Unter  ihrem 
Schwert  erhob  sich  der  Genius  Asiens  von  neuem  und  erwachten 
die  barbarischen  Völker  Nordafrikas  bis  hin  zu  den  Säulen  des  Her- 
kules. Bis  hart  an  das  Zentrum  des  Byzantinischen  Reiches  drangen 
diese  Asiaten  vor.  Sie  unterwarfen  Hispanien,  das  schon  einmal 
einer  aus  Asien  stammenden  Macht  zur  Beute  gefallen  war.  Und 
erst  das  Schwert  der  Franken  setzte  ihnen  im  Westen,  sowie  im 
Osten  zunächst  noch  die  zähe  Kraft  des  byzantinischen  Reiches, 
die  Grenze. 

Jedoch  wird  man  die  Kraft  des  Islams,  der  nur  Barbaren  sich 
zu  verschmelzen  vermag,  nicht  vergleichen  wollen  mit  der  Kraft 
der  christlichen  Kirche.  Auch  sie  ein  Kind  des  Ostens,  auf  den  Grenz- 
gebieten der  römisch-griechischen  und  der  asiatischen  Kultur  ent- 
standen, todfeindlich  auch  sie  dem  Reiche,  das  jene  zusammen- 
schloß, und  voll  Begier,  sie  zu  vernichten.  Wie  ein  Schlinggewächs, 
dem  rasch  treibenden  Senfkorn  vergleichbar,  —  es  ist  ihr  eigenes 
Bild  —  legte  sie  sich  um  den  Stamm  des  Imperiums,  gerade  zu  der 
Zeit,  wo  dieses  in  seiner  Vollkraft,  auf  der  Höhe  seiner  Entwicklung 
stand  und  alle  Mittelmeerkulturen  unter  seinem  mächtigen  Schatten 
vereinigt  hatte.  Niemals  hat  es  einen  toleranteren  Staat  gegeben 
als  das  römische  Kaiserreich,  das  allen  Rehgionen  Schutz  bot  und 
nichts  forderte  als  die  Anerkennung  seiner  Majestät  in  der  Form  des 
dem   Genius  des  Kaisers  dargebrachten  Opfers  —  und  keine  into- 


102 

lerantere  Lebensgemeinschaft  als  die  Gemeinde  der  Christen,  der 
»Heihgen«,  der  »Kinder  Gottes«.  Ein  Fremdkörper,  abge- 
schlossen in  ihrem  Glauben,  ihrer  Sitte,  und  soweit  es  anging,  auch 
in  ihrem  Recht,  richteten  sie  dennoch  ihre  Gedanken  ganz  auf  die 
Unterwerfung  des  Weltreiches,  dessen  Schutz  sie  genossen,  und  auf 
die  Vernichtung  alles  dessen,  was  ihrem  Wesen  darin  feindlich  war. 
Aus  der  Tiefe  strebten  sie  auf.  Aber  sogleich  suchten  sie  an  die  Hohen, 
die  Einflußreichen  heranzukommen;  an  alle  Organe  des  Staates 
klammerten  sie  sich  an;  in  allen  seinen  Provinzen  nisteten  sie  sich 
ein;  stets  darauf  bedacht,  ihre  Einheit  zu  behaupten,  bildeten  sie 
dennoch  ihre  Amtsbezirke  nach  denen  des  Staates:  seine  Haupt- 
städte machten  sie  zu  ihren  eigenen  Metropolen ;  und  während  das  Reich 
zerfiel,  bauten  sie  die  alte  Hauptstadt  zum  Mittelpunkt  ihrer  Kirche 
aus.  Vergebens  suchte  der  Staat,  ein  schon  ermattender  Kämpfer, 
die  Übermächtigen  von  sich  abzuschütteln:  die  Verfolgungen,  die 
Grausamkeiten,  zu  denen  er  sich  fortreißen  Heß,  selbst  waren  nur 
Zeichen  seiner  Schwäche.  Als  Kaiser  Konstantin  die  Kirche  in  den 
Frieden  des  Reiches  aufnahm,  mochte  sie  vielleicht  ein  Zehntel  seiner 
Untertanen  umfassen:  ein  Jahrhundert  danach,  und  das  Heidentum 
war  vernichtet  oder  in  die  Winkel  entlegener  Provinzen  verbannt. 
Welche  Mittel  die  Kirche  dabei  anwandte,  lehrt  uns  ein  Publizist 
jener  Tage,  der  Sizihaner  Firmicus  Maternus,  in  einer  Schrift,  die 
den  Söhnen  Konstantins  gewidmet  war.  »Nehmt  dreist  hinweg,« 
so  redet  er  sie  an,  »den  Tempelschmuck;  in  die  Schmelze  und  in  die 
Münze  mit  jenen  Göttern!  Alle  Weihgeschenke  verwendet  zu  eurem 
Nutzen  und  zum  Nutzen  des  Herrn.«  Schon  war  alle  Lebenskraft 
aus  dem  Körper  des  Reiches  gewichen.  Als  die  leere  Hülse  dahin- 
sank,  stand  die  Kirche,  kaum  erschüttert,  aufrecht  —  mitten  in  der 
barbarischen  Flut.  Nun  aber  entfaltete  sich  erst  recht  ihre  Kraft. 
Sie  war  es,  die  hier  das  Röraertum,  dort  die  Griechen  in  ihrer  harten 
Schale  zusammenschloß;  so  rettete  sie  das  Erbe  der  antiken  Kultur, 
freiUch  in  dem  Gepräge  ihres  Geistes:  wie  in  einer  Arche  trug  sie  es 
durch  die  Fluten  der  Völkerwanderung  hindurch.  Sie  unterwarf 
sich  die  Barbaren,  die  das  Reich  zerstörten,  und  breitete  ihre  Herr- 
schaft bis  in  Lande  aus,  welche  nie  das  Auge  eines  römischen  Soldaten 
erbUckt  hatte.  Sie  erst  hat  die  romanisch-germanischen  Völker  zur 
Existenz  erhoben,  sie  in  die  Geschichte  eingeführt,  zu  ihrer  Größe 
emporgebracht,   unendhche   Saaten  neuer  Bildung  ausgestreut   und 


103 

den  weltgeschichtlichen  Horizont  über  beide  Hemisphären  verbreitet. 
Und  diese  Gemeinschaft,  so  herrschgewaltig  und  herrschbegierig 
—  auf  die  Verneinung  alles  dessen,  was  Erdenglück  und  Erdenschön- 
heit ist,  war  sie  gegründet :  Entsagung  ist  ihr  höchstes  Ideal  gebheben, 
und  der  sicherste  Weg,  zum  Heil  zu  gelangen,  die  Askese. 

Es  kam  die  Zeit,  wo  auch  sie  ihre  Katastrophe  erlebte,  wo  die 
Ideen,  für  die  sie  stritt,  neue  Formen  gewannen,  eine  Wiedergeburt, 
wie  ihre  Bekenner  glaubten,  zu  ihrer  ursprüngüchen  Reinheit;  und 
alsbald  sehen  wir,  wie  auch  diese,  vielleicht  in  noch  höherem  Grade 
als  die  Kirche  des  Mittelalters,  staatsbildende  Kraft  bewähren:  von 
ihrem  Geiste  genährt,  sind  die  germanischen  Nationen  die  stärksten 
der  Erde  geworden. 

Sind  also  die  Ideen  in  Wahrheit  die  machtbildenden  Faktoren, 
so  muß  der  Ursprung  aller  Macht  auf  die  Männer  zurückgehen,  in 
denen  sie  erwachten;  und  stellen  die  Religionen  das  stärkste  Element 
dar  im  Aufbau  der  Geschichte,  so  sind  im  letzten  Grunde  ihre  Stifter 
die  Bildner  der  poHtischen  Welt.  Nicht  die  Staatsmänner,  die  Gesetz- 
geber, die  Gründer  und  die  Inhaber  der  jeweihgen  Gewalt,  sind  die 
Herren  der  Erde  geworden:  sondern  die  Träumer,  die  Propheten, 
die  von  ihrer  Zeit  Verkannten,  Verachteten  und  Verfolgten.  Jene 
waren  Geschöpfe  der  Umstände,  Sklaven  der  Pohtik,  diese  dagegen, 
und  mögen  sie  ihren  Glauben  in  Kerker  und  Banden  bekannt,  Marter 
und  Tod  für  ihn  erUtten  haben,  sind  die  wahrhaft  Starken,  die  Mäch- 
tigen, die  Freien  gewesen. 

FreiHch,  nur  wenige  unter  den  Propheten  haben  den  Sieg  ge- 
schaut, den  sie  in  heißem  Gebet  ersehnten  und  in  leidenschafthcher 
Predigt  verkündigten.  Wundervoll  hat  die  Sage  dies  symboHsiert 
in  der  Erzählung  von  Moses,  der  sein  Volk  aus  Ägypterland  durch 
die  Wüste  führte:  aber  das  gelobte  Land  Heß  der  Herr  ihn  nur  von 
ferne  sehen.  Und  nicht  das  schhmmste  Los  fiel  denen  zu,  die  für 
ihre  Lehre  starben;  derm  um  so  glorreicher  strahlt  ihr  Name  in  der 
Nachwelt:  Geschichte  und  Legende  haben  ihr  Leben  verklärt.  Weit 
schmerzUcher  doch  und  niederdrückender  ist  eine  andere  Tragik: 
die  Verkümmerung  des  Ideals  selbst  erleben  zu  müssen;  niemand 
hat  darunter  schwerer  gehtten  als  der  deutsche  Reformator. 

Das  aber  ist  das  Los  jeder  Rehgion.  Nur  in  der  Persönlichkeit 
ihres  Stifters  erscheint  sie  in  ihrer  ursprüngUchen  Gestalt.  Sobald 
sie  in  die  Welt  eintritt,  die  Gesellschaft  nach  ihrem  Bilde  formen 


104 

will,  beginnt  der  Kampf,  und  damit  ihre  Abwandlung,  ihre  Politi- 
sierimg. Denn  nicht  bloß  die  Lebensordnungen,  die  sie  verdrängen 
will,  und  die  unter  ihrem  Stoß  sich  auf  sich  selbst  besinnen,  ihre 
ursprüngliche  Tendenz  um  so  stärker  ausprägen,  setzen  sich  ihr  sofort 
entgegen,  sondern  bald  auch  Parteien,  welche  sich  grade  auf  den 
von  ihr  verkündigten  Grundsatz  berufen  und  ihn  nur  schärfer  zu 
vertreten  vorgeben.  Für  das  Alte  streiten  die  Anhänglichkeit  oder 
auch  nur  die  Trägheit  der  Masse  und  eine  Fülle  pohtischer  Rück- 
sichten und  materieller  Interessen  —  aber  auch  die  radikalen  Mei- 
nungen sind  oft  solche,  welche  die  Massen  aufsuchen  und  hinter  sich 
herziehen.  Zwischen  diesen  von  rechts  und  Hnks  andrängenden 
Gewalten  muß  das  neue  Bekenntnis  seinen  Weg  suchen.  Wie  wäre  es 
anders  mogUch,  als  daß  es  selbst  Partei  werden  und,  um  sich  nur 
zu  erhalten  und  vorwärtszukommen,  hier  und  dort  Anlehnung  suchen, 
Kompromisse  nach  rechts  oder  links  schließen,  Spaltungen  im  eigenen 
Schoß  zu  überbrücken  suchen  wird!  In  Ideen,  Gebräuchen,  Ein- 
richtungen wird  es  sich  den  feindlichen  Lebensformen  annähern, 
wie  universell  es  sich  geben  und  wie  sehr  es  im  ungeschmälerten  Besitz 
der  Lehre  imd  des  Geistes  seines  Stifters  zu  sein  sich  rühmen  mag. 

Parteienbildung  aber  heißt  eben  GHederung  der  Masse.  Es 
sind  Organisationen  für  den  Kampf,  und  sie  fordern  daher  für  sich 
Einheit  und  Festigkeit,  Befehl  und  Gehorsam,  Taktik  und  Strategie,. 
Losung  und  Feldgeschrei.  Nur  so  können  Stoß  und  Gegenstoß  ge- 
führt und  ertragen,  nur  so  kann  die  Hoffnung  auf  Sieg  gewährleistet 
werden.  Damit  ist  gegeben,  daß  der  alles  belebende  Geist  sich  in 
dem  Schoß  einer  Minderheit  konzentriert;  hier  wird  der  Sitz  der 
Macht  sein,  die  Stätte,  wo  das  Feuer  am  heißesten  brennt  —  und 
wo  die  Klugheit  wohnt,  die  es  zugleich  nährt  und  leitet.  Das  hat 
noch  für  jede  Zusammenfassung  der  Gesellschaft  gegolten,  mag  sie 
noch  so  breit  unterbaut  und  weit  gestellt  gewesen  sein;  jüngst  noch 
ist  das  gleiche  für  unsere  Sozialdemokratie  nachgewiesen  worden. 
Die  Staaten  und  die  Kirchen  selbst  sind,  man  darf  es  so  nennen, 
konstituierte  Minoritäten. 

Dennoch  wird  die  vorwaltende  Schicht  nichts  erreichen  können 
ohne  ein  Gemeingefühl,  das  sie  mit  den  untern  Schichten  verbindet : 
eine  Lebensluft,  welche,  ob  hoch  ob  niedrig,  jedermann  atmet,  der 
zu  dem  gleichen  Kreise  gehört.  Heute  sichert  die  Demokratisierung 
des  öffentlichen  Lebens  den  Massen  freieste  Bewegung,  sie  gewährt 


105 

ihnen  Anteil  und  Einfluß  von  der  Peripherie  her  bis  in  das  Zentrum 
des  Staates;  aber  auch  die  alten  Zeiten  besaßen  Organe,  durch  welche 
die  Massen  zu  Worte  kamen,  und  man  darf  wohl  zweifeln,  wann  der 
Druck  von  unten  stärker  gewesen  ist:  ob  in  dem  Jahrhundert  der 
Bartholomäusnacht  und  des  deutschen  Bauernkrieges  oder  unter  der 
Herrschaft  des  allgemeinen  Stimmrechts. 


Wenden  wir  das  Gesagte  auf  das  Verhältnis  der  WeltreHgionen 
zueinander  an,  so  erscheint  die  Lage  für  das  kathoHsche  Bekenntnis, 
mögen  immerhin  die  ihm  anhängenden  Nationen  augenblicklich 
im  Nachteil  sein,  keineswegs  ungünstig.  In  Österreichs  Politik  wird 
—  man  denke  nur  an  die  Nötigung,  die  kathoHschen  Serben  von 
den  der  griechischen  Kirche  ergebenen  Stammesgenossen  fernzu- 
halten —  das  römisch-kathoHsche  Element  immer  wirksam  bleiben, 
mag  auch  im  übrigen  eine  gewisse  Zurückhaltung  gegenüber  den 
Nationahtäten  geboten  sein,  die  sich  zu  dem  Glauben  des  russischen 
Zaren  bekennen.  Wie  feindseUg  Frankreichs  Leiter  sich  zu  der  Kirche 
im  eigenen  Lande  stellen  mögen,  mit  der  Kurie  haben  sie  es  doch 
nicht  bis  zu  einem  offenen  Zwist  getrieben,  an  dem  freihch  auch  diese 
kein  Interesse  hat.  Ähnhch  rechnet  man  im  Quirinal:  die  RivaHtät 
mit  den  andern  Mittelmeermächten,  zumal  in  der  Levante,  schreibt  diese 
Linie  vor.  Und  wie  könnte  die  itaHenische  Regierung  eine  Kirche  be- 
drängen wollen,  an  der  die  Masse  des  eigenen  Volkes  mit  naiver  Hin- 
gebung hängt,  und  deren  weltumspannendes  Regiment  von  den 
Söhnen  des  Landes  geführt  wird!  England,  das  die  MiUionen  seiner 
muhammedanischen  und  buddhistischen  Untertanen  mit  aller  Scho- 
nung behandeln  muß,  stand  von  jeher  der  kathoHschen  Kirche  freier 
gegenüber :  auf  den  Gegensatz  gegen  Rom  gründete  sich  seine  nationale 
Existenz;  seine  Pohtik  ist  Jahrhunderte  hindurch  darauf  aufgebaut 
gewesen.  Seit  der  Französischen  Revolution  aber  hat  sich  seine  Stellung 
zur  kathoHschen  Kirche  verschoben,  und  es  ist  gar  nicht  zu  erwarten, 
daß  sich  etwa  von  Ulster  her  der  Kampf  Altenglands  mit  dem  Papst- 
tum erneuern  könnte.  Selbst  Rußland  hat,  sobald  und  soweit  es 
panslawistische  Politik  treiben  wiU,  Ursache,  ein  Bekenntnis  zu 
schonen,  das  für  MüHonen  von  Slawen  die  Grundlage  des  Daseins 
geworden  ist.  GänzHche  Neutralität  gegenüber  jedem  Bekenntnis 
fordert  zunächst  noch  die  Verfassung  der  großen  transatlantischen 
RepubHk;   und  nirgends  hat   die   römische   Kirche   so   ungehindert 


106 

sich  entfalten  können  als  in  ihren  Bereichen:  aber  mögen  auch  die 
Italiener,  die  Iren  und  die  katholischen  Slawen,  die  dort  heute  die 
Masse  der  Einwanderer  bilden,  im  übrigen  sich  einem  Staatsgebilde 
einfügen,  dessen  nationbildende  Kraft  nur  im  römischen  Kaiser- 
reiche ihresgleichen  hatte  —  niemals  werden  sie  sich  der  protestan- 
tischen Rehgion  anschließen,  sie  müßten  sich  denn  in  ihrem  Innersten 
verwandeln.  Je  weiter  aber  die  Nordamerikaner  im  Süden  vor- 
dringen, um  so  stärker  wird  der  Widerstand  seitens  der  romanisch- 
katholischen Kulturkreise  werden,  denen  die  Mitte  und  die  ganze 
Südhälfte  des  amerikanischen  Erdteils  zugefallen  sind.  Nur  das 
Band  des  Staates,  nicht  das  der  Kirche,  haben  diese  Staaten  zer- 
schnitten, als  sie  im  vorigen  Jahrhundert  die  Herrschaft  der  beiden 
Pyrenäenreiche  abschüttelten;  und  wie  weit  sie  immer  ihre  Tore  den 
germanischen  Nationen,  ihrer  Wirtschaft  und  ihrem  Geiste  öffnen 
werden  —  daß  sie  sich  von  einer  Macht,  mit  der  ihr  Volkstum  seit 
mehr  denn  einem  Jahrtausend  verbunden  gewesen  ist,  ja  durch  die 
sie  geschaffen  und  entwickelt  wurde,  je  loslösen  könnten,  ist  wiederum 
nicht  zu  glauben;  die  Teilnahme,  welche  noch  jüngst  die  Kurie  für 
den  Interventionsversuch  der  südamerikanischen  Repubhken  in 
den  mexikanischen  Wirren  an  den  Tag  legte,  deutete  an,  auf  welche 
Reserven  Rom  auf  der  anderen  Hemisphäre  noch  hoffen  darf. 

Noch  weniger  hat  die  katholische  Kirche  ■ —  wir  brauchen 
nicht  davon  zu  sprechen,  denn  wir  erfahren  es  jeden  Tag  an  uns 
selbst  —  von  der  inneren  Politik  zu  befürchten.  Neutralität  ist  das 
Höchste,  bis  wohin  die  Regierungen,  nicht  bloß  katholischer  Staaten, 
ihr  gegenüber  gehen  können;  und  daß  auch  diese  ihre  Gefahren  hat, 
erlebt  heute  die  französische  Republik  bei  der  Wiederholung  des 
Versuchs,  der  ihrer  ersten  Vorgängerin  mißglückte :  die  beiden  Macht- 
sphären zu  trennen  und  die  Kirche  ihren  eigenen  Kräften  zu  über- 
lassen. 

Als  mit  der  großen  Französischen  Revolution  ein  neues  Welt- 
alter anzubrechen  schien,  glaubte  man  in  den  politischen  Frei- 
heiten den  Boden  gefunden  zu  haben,  auf  dem  auch  die  Rehgions- 
gemeinschaften  fortan  in  Frieden  und  Freundschaft  nebeneinander 
leben  könnten;  die  »freie  Kirche  im  freien  Staat«  ward  bald  für  Jahr- 
zehnte das  Schlagwort  der  Parteien.  Heute  ist,  wenigstens  im  Lager  des 
LiberaHsmus,  der  Glaube  hieran  schwer  erschüttert,  und  es  hat  sich 
in  der  Tat  genug  ereignet,  um  jene  Lehre  ins  Wanken  zu  bringen. 


107 

Ihre  Wurzeln  reichen  bis  in  die  Zeit  zurück,  als  Macht  und  Bildung 
noch  das  Vorrecht  einer  engbegrenzten  Schicht  der  Gesellschaft 
waren ;  nur  in  dieser  waren  jene,  die  alten  strengen  Ordnungen  in  Kirche 
und  Staat  auflösenden  Gedanken  zur  Entwicklung  gekommen,  und 
es  war  ein  Stück  ihrer  Selbstzersetzung,  wenn  sie  Ideen  ausbildete 
und  verbreitete,  die  im  Grunde  gegen  sie  und  ihre  Welt  gerichtet 
waren;  die  Blindgeborenen  gruben  sich  mit  eigenen  Händen  das 
Grab.  Denn  sie  öffneten  damit  der  Stummgewordenen  den  Mund; 
sie  schufen  der  Masse,  die  solange  außerhalb  der  Macht  geblieben 
war,  Organe,  durch  welche  diese  den  Inhabern  der  Macht  ihren  Willen 
aufdrängen,  ihren  Trieben  und  Leidenschaften,  ihren  Gewohnheiten 
und  Interessen,  ihrer  BegehrHchkeit  und  ihrer  Unbildung  Ausdruck 
und  Einfluß  verschaffen  konnte.  Nun  erst  kam  es  an  den  Tag,  was 
aUes  unter  der  Decke  der  aristokratischen  Kultur,  die  zwei  Jahr- 
hunderte hindurch  das  politische  und  gesellschaftliche  Leben  Europas 
beherrscht  hatte,  zurückgehalten  oder  zurückgeblieben  war;  bis  auf 
den  Grund  wurde  die  Gesellschaft  umgewühlt.  Ihre  aristokratische 
Gliederung,  die  auch  die  Hierarchie  mit  ergriffen,  hatte  zur  Ohnmacht 
der  Kirche  geführt:  die  Demütigung  des  Papsttimis,  die  Auflösung 
des  Jesuitenordens,  eine  sich  täglich  mehr  ausbreitende  Gleich- 
gültigkeit, die  schon  auf  die  tieferen  Schichten  überzugreifen  drohte, 
Aufklärungserscheinungen  und  Toleranzgedanken,  die  mit  dem 
starren  und  streitbaren  Genius  der  römischen  Kirche  schlechthin  un- 
vereinbar waren,  waren  das  Ergebrüs  geworden. 

Aber  eine  Kirche,  die  sich  durch  ihre  Priesterschaft  an  jeden 
ihrer  Angehörigen  ganz  persönUch  wendet,  sie  im  Leben  und  Tode 
unmittelbar  an  sich  fesselt,  kann  im  Grunde  sich  gar  nichts  Besseres 
wünschen  als  ihre  Organe  so  zu  gestalten,  daß  die  Masse  der  Gläu- 
bigen Anteil  an  ihrem  Wirken  und  Wollen  gewinnt ;  sie  ist  ihrer  Natur 
nach  demokratisch  und  muß  um  so  mehr  an  Macht  wachsen,  je  stärker 
der  Wille  der  Masse  in  ihr  zur  Geltung  kommt.  Voraussetzung  ist 
freilich,  daß  der  Genius  der  Kirche  noch  in  dem  Bewußtsein  der 
Masse  seine  Wohnung  hat.  Daß  dies  aber  der  Fall  ist,  hat  die  Ge- 
schichte des  19.  Jahrhunderts  bewiesen  und  lehrt  in  tausend  Zügen 
die  Gegenwart.  Die  Kraft  der  katholischen  Kirche,  vor  der  heute 
jede  Regierung  sich  beugt,  ruht  auf  dieser  Teilnahme  ihrer  Gläubigen, 
auf  dem  noch  immer  und  allseitig  aus  der  Tiefe  emporquellenden  Be- 
dürfnis, das  Ideal,  nach  dem  jede  Seele  dürstet,  und  das  uns  allein 


108 

die  Lebensbürde  tragen  hilft,  in  den  Formen  und  Gebräuchen  des 
überlieferten  Glaubens  zu  suchen.  So  ist  die  kathohsche  Kirche  auch 
bei  uns  wieder  Volkskirche  geworden,  und  ihre  in  straffster  GUede- 
rung  aufgebaute,  von  einem  Geist  beseelte  und  vorwärtsgetriebene 
Priesterschaft  kann  die  Menge  der  Bekenner  um  so  leichter  hinter 
sich  herziehen,  als  der  Aufstieg  in  ihren  Reihen  durch  alle  ihre  Ränge 
bis  zum  päpstlichen  Thron  auch  den  Niedrigstgeborenen  offensteht. 
Ist  es  doch  schon  eine  Seltenheit  geworden,  einen  deutschen  Edelmann 
im  Schmucke  der  Mitra  zu  sehen;  Bürger-  und  Bauernsöhne  haben 
auf  den  Stühlen  Platz  genommen,  welche  einst  den'  stolzesten  Ge- 
schlechtern des  alten  Reiches  vorbehalten  waren. 

Gewiß,  in  der  Idee  setzt  auch  der  protestantische  Glaube  ein 
breitflutendes  Leben  in  der  kirchHchen  Gemeinschaft  voraus;  in 
viel  höherem  Grade  noch  als  der  Kathohzismus,  da  er  ja  das  Priester- 
tum  ausgestoßen  hat  und  jede  Seele  unmittelbar  vor  das  Antlitz 
des  Höchsten  stellt.  Und  solange  seine  Anhänger  in  den  überlieferten 
Formen  ihres  Bekenntnisses  des  Lebens  Glück  und  Heil  fanden, 
blieb  dieser  Charakter  gewahrt,  gleichgültig,  ob  sie  unter  reformierter 
Verfassung  oder  unter  konsistorialem  Regiment  lebten.  Noch  der 
Pietismus  des  i8.  Jahrhunderts  hat,  indem  er  die  Schranken  zwischen 
den  beiden  protestantischen  Kirchen  zu  überwinden  und  einzuebnen 
unternahm,  auch  innerhalb  seiner  Gemeinden  ein  Gefühl  der  Gemein- 
schaft genährt,  das  alle  seine  Bekenner  in  der  gleichen  Innigkeit  der 
Gottesverehrung  zusammenschloß  und  damit  auch  eine  sozial  eng- 
verbrüderte Genossenschaft  schuf;  und  selbst  unter  der  Herrschaft 
der  Aufklärungstheologie  bheb  ein  auf  treuer  Anhänglichkeit  an  die 
überlieferten  Formen  des  Gottesdienstes  ruhendes  Gemeinbewußtsein 
in  der  protestantischen  Kirche  lebendig.  Erst  die  mit  dem  neu- 
erwachten und  neugearteten  Pietismus  durchsetzte  Orthodoxie 
des  19.  Jahrhunderts,  der  Glaube  der  Gerlach  und  Hengstenberg,  der 
Vilmar  und  Tholuck,  ein  verengtes  Überbleibsel  der  romantischen 
Epoche,  hat  diese  Kraft  nicht  mehr  zu  entwickeln  vermocht,  trotz- 
dem sie  sich  mit  den  Regierungen  verbündete  und  in  Preußen,  unter 
Preisgebung  ihrer  extremsten  Gruppe,  die  Landeskirche  eroberte :  statt 
einer  Gemeindekirche,  wie  sie  gehofft,  schufen  ihre  Führer  eine  Kirche 
von  Pastoren. 

Dies  geschah  in  derselben  Zeit,  wo  die  kathohsche  Kirche  sich 
aufs  neue  in  sich  zusammennahm,   alle  ihrem   Genius  gefährlichen 


1Ü9 

Elemente,  die  auch  in  sie  Eingang  gefunden,  ausmerzte  und  auf 
allen  Punkten  zum  Angriff  überging.  Indem  sie  die  Massen  in  ihrer 
Hand  behielt,  kamen  ihr  alle  Vorteile,  welche  die  Revolutionen  und 
Reformen  des  Jahrhunderts  diesen  zuwandte,  zugute:  Vereins- 
und Versammlungsrecht,  Freiheit  der  Presse  und  das  Wahlrecht 
für  die  Parlamente;  und  mehr  noch  die  Versuche  des  Staates,  ihre 
immer  höher  anschwellende  Kraft  zu  unterbinden,  sie  seinem  Willen 
zu  untetwerfen. 

Nun  erst,  im  »Kulturkampf«,  wie  die  Liberalen  sagten  (mit 
einem  Ausdruck,  der  nur  ihre  eigene  Kraftlosigkeit  auf  diesem  Kampf- 
platz bezeichnete),  kam  die  Macht  der  einen  und  die  Ohnmacht  der 
andern  Kirche  vollends  ans  Licht.  Während  im  katholischen  Lager 
alles  Einheit,  Hingebung,  Kampfeswille  war,  nahm  in  der  gegne- 
rischen Kirche  die  Zersetzung  überhand.  Die  »Erneuerer«  des  alten 
Glaubens,  sie,  die  sich  als  die  wahren  Hüter  des  Luthererbes  be- 
trachteten, waren  mit  ihrem  Herzen  bei  den  Verfolgten;  sie  predigten 
Versöhnung  und  Bündnis  mit  einer  Kirche,  in  welcher  der  Reformator 
die  Kirche  des  Antichrist  erbhckt  hatte;  ihre  ältesten  Häupter  waren 
Mitglieder  oder  Hospitanten  des  Zentrums;  imd  diejenigen,  die  ihr 
Amt  in  der  Landeskirche  am  offenen  Abfall  hinderte,  taten  alles, 
um  die  Kreise,  auf  die  sie  Einfluß  hatten  (und  dieser  reichte  bis  zum 
Thron  hinauf),  wankend  zu  machen  und  denen,  die  im  Treffen  standen, 
in  den  Rücken  zu  fallen.  Kein  Wunder,  daß  der  Kampf  so  endigte 
wie  mancher  andere,  den  die  streitende  Kirche  geführt  hat:  mit 
ihrem  Triumphe. 

Wo  Hegen  denn  nun  die  Energien,  ki'aft  deren  die  protestantischen 
Nationen  heute  dennoch  vor  den  kathoUschen  den  Vorrang  behaupten  ? 
Denn  daß  sie  diese  seit  der  Mitte  des  i8.  Jahrhunderts,  trotz  mancher 
Rückschläge,   schließlich  überflügelt  haben,  Hegt  doch  vor  Augen. 

Die  Antwort  wird  lauten :  in  den  Prinzipien,  in  denen  sie  wurzeln, 
in  den  Ideen,  die  sie  beseelen,  die  sie  in  ihren  Willen,  ihre  Ordnungen 
aufgenommen  haben.  Schon  das  Bewußtsein  der  Unabhängig- 
keit von  jeder  fremden  Lebensordnung,  und  rühmte  sie  sich  gött- 
Hcher  Siegel,  verleiht  dem  Staate  der  Reformation  Kräfte,  an  welche 
die  an  die  katholische  Kirche  gebundenen  Nationen  nicht  heran- 
reichen. Zwar  enthält  auch  die  Lehre  von  dem  »modernen«  Staat 
den  Satz  von  der  Unabhängigkeit  des  Staates  gegenüber  der  Kirche. 


110 

Aber  für  sie  bedeutet  dies  lediglich  die  Neutralität  der  Indifferenz; 
und  sie  erniedrigt  die  Mutter  der  Nationen  zu  einer  »Religionsgemein- 
schaft«, einem  Verein,  dem  sie  noch  viel  zu  bieten  glaubt,  wenn  sie 
ihm  gewisse  Rechte  vor  andern  Vereinen  und  Genossenschaften  zu- 
bilhgt.  Es  ist  dies  eine  Theorie,  die  von  einer  heute  schon  vergangenen 
Entwicklungsstufe  abgeleitet  und  an  dem  harten  Fels  der  Tatsachen 
bereits  tausendmal  zuschanden  geworden  ist.  Sie  mag  bestenfalls 
noch  als  Notbehelf  für  solche  Staaten  nützhch  sein,  die  den  Kampf 
mit  der  kathohschen  Kirche  niemals  gewagt  haben  oder  in  ihm  ge- 
scheitert sind  und  sich  nun  mit  ihr  wohl  oder  übel  abzufinden  suchen 
müssen,  weil  sie  in  dem  Wettkampf  mit  den  freigwordenen  Nationen 
sonst  allzuweit  zurückbleiben  würden.  Ihre  Voraussetzung  ist  ein 
Machtbegriff,  der  nichts  kennt  als  sich  selbst  und  der,  da  ihm  eine 
höhere,  beseelende  Idee  fehlt,  immerdar  etwas  Wesenloses,  Schatten- 
haftes, Totes  haben  wird. 

Die  Unabhängigkeit,  die  sich  auf  die  in  dem  Jahrhundert  der 
Reformation  ans  Licht  gebrachten  religiösen  Werte  gründet,  hat 
einen  andern  Sinn^).  Sie  ruht  auf  der  Idee,  daß  jede  politische 
Gewalt  eine  Gottesordnung  ist.  Diese  Anschauung  fragt  gar 
nicht  danach,  ob  die  Gewalt  durch  Erbschaft  erworben  ist  oder  durch 
Eroberung  oder  Revolution,  ob  sie  christHch  oder  heidnisch,  Mon- 
archie oder  Repubhk,  der  Staat  Nimrods  oder  der  Konstantins  ist. 
Sie  ist  in  jedem  Falle  nach  Gottes  Willen  da  und  damit  an  sich  gut. 
Niemand,  der  ihr  Untertan  ist,  darf  ihr  widerstreben.  Zwar  ist  sie 
nur  ein  Notbehelf  • —  denn  wieviel  besser  wäre  es,  wenn  wir  alle  wie 
Brüder  miteinander  lebten!  Aber  das  Trachten  der  Menschen  ist 
böse  von  Jugend  auf:  fiele  der  Zwang,  so  wären  Anarchie  und  ewiger 
Krieg  das  Los  der  Menschheit.  Die  Bedürfnisse  und  Notwendigkeiten, 
die  das  Leben  hervortreibt  und  auferlegt,  fordern  nun  einmal  Regelung 
und  Schutz.  Hierfür  ist  der  Staat  da;  er  hat  den  Frieden  zu  wahren, 
die  Ordnung  und  das  Recht.  Denn  auch  die  Bedürfnisse  und  Not- 
wendigkeiten, die  Begierden  selbst  sind  Menschentum,  Daseins- 
formen, von  Gott  zugelassen  und  also  gewollt,  ein  Stück  seiner  Schöp- 
fung und  also  gut  (denn  aus  Güte  und  zu  Gutem  schuf  er  den  Menschen) 
—  wenn  sie  ihrer  Natur  gemäß,  nach  seinem  Willen  gebraucht,  be- 


^)  Vgl.  zu  dem  Folgenden  den  Aufsatz  über  Luthers  Lehre  von  der 
Obrigkeit  im  i.  Bande,  S.  132;  zum  Ganzen  aber  den  über  »Nationalität  und 
Religion«  ebd..  S.  234. 


4 


111 

folgt,  genossen  werden:  »Alle  Kreaturen  sind  Gottes  Heer.«  An 
diesem  Ort  tut  sich  die  Kluft  auf,  die  den  Staat  der  Reformation 
ewig  von  dem  der  katholischen  Kirche  scheiden  wird:  die  Ehe,  der 
Erwerb,  der  Besitz,  die  Grundlagen  der  menschlichen  Gesellschaft, 
in  deren  Abschwörung  die  kathohsche  Kirche  ihr  höchstes  sittHches 
Ideal  erbhckt,  hier  erscheinen  sie  in  sich  geheihgt,  unmittelbar,  wie 
die  Seele  des  Gläubigen,  vor  das  Angesicht  Gottes  gestellt. 

Damit  aber  sind  nur  erst  die  Voraussetzungen  gegeben,  die 
Grundlagen,  auf  denen  der  Staat  der  Reformation  sich  erhebt.  Denn 
indem  er  in  Aufgabe  und  Lebensformen  freibleibt  von  den  hierar- 
chischen Ketten,  wird  er  zugleich  frei  für  den  Dienst  am  Reich  der 
sittlichen  Zwecke,  öffnen  sich  in  ihm  Wege,  auf  denen  jeder  seiner 
Bürger,  jede  Seele,  jede  Persönlichkeit  freien  Zugang  gewinnen 
kann  zu  dem  Reiche  der  Erkenntnis,  dem  Reiche  des  Lichtes.  Nur 
die  Wege,  die  Möglichkeit.  Von  einer  Pfhcht  des  Staates  hierzu 
dürfen  wir  nicht  sprechen;  denn  er  hat  an  sich  überhaupt  keine 
Pflichten,  sondern  nur  Rechte.  PfHchten  hat  der  Inhaber  des  Amts, 
diejenigen,  die  sein  Amt  ihm  auferlegt.  Aber  als  Träger  des  Schwertes 
hat  er  alles  andere  eher  zu  tun,  als  für  das  Heil  der  Seelen  zu  sorgen. 
Er  kann  nicht  einmal  die  Strafe  vergeben,  sondern  höchstens  sie 
feiern  lassen.  Er  würde  sein  Amt  mißbrauchen,  wenn  er  es  benutzen 
wollte,  um  die  Geister  zu  lenken.  Nicht  kraft  seines  Amtes,  sondern 
auf  Grund  höherer  Antriebe  persönlichster  Natur,  als  ein  Knecht 
der  idealen  Mächte,  in  deren  Schoß  seine  Gewalt  ruht,  von  denen  sie 
ihr  Leben  hat,  als  Mensch  zum  Menschen,  als  ein  Liebhaber,  ein 
Freund  der  Freiheit  selbst  handelt  er,  wenn  er  denen,  die  ihm  an- 
befohlen sind,  dazu  verhilft,  geistige  Güter  zu  erwerben.  Nur  als 
Wegbereiter  darf  der  Inhaber  der  Gewalt  handeln,  nur  als  Diener,  als 
Nothelfer  sich  betrachten.  Denn  nur  wieder  Notbehelfe,  gefahrdrohend 
in  jedem  Fall,  sind  alle  Organisationen,  in  denen  man  das  Reich  der 
freien  Gedanken  fassen  und  leiten  will.  »Möchte  er  nur  nie  vergessen,  daß 
die  Sache  an  sich  ohne  ihn  unendlich  besser  gehen  würde,  daß  jene 
äußeren  Formen  und  Mittel  immer  notwendig  nachteihg  einwirken  und 
das  Geistige  und  Hohe  in  die  materielle  und  niedere  Wirklichkeit  herab- 
ziehen, und  möchte  er  darum  stets  das  iimere  Wesen  vor  Augen  haben, 
um  gutzumachen,  was  er  selbst,  wenngleich  ohne  seine  Schuld,  gehin- 
dert hat.«  Nur  so,  nach  diesem  Wort  Wilhelm  v.  Humboldts,  läßt 
sich  hoffen,   daß  dort  Freiheit  wohnen  kann,   wo  Macht   gebietet. 


112 


Von  hier  aus  können  wir  Stellung  nehmen  zu  dem  Satz,  von 
dem  wir  ausgingen :  der  bitteren  Notwendigkeit  eines  ewigen  Kampfes 
zwischen  den  Mächten  der  Erde.  Denn  nun  hat  die  Macht 
ihr  Recht  bekommen  und  der  Krieg  seine  Ehre.  Ein  Staat, 
in  dem  Herrscher  und  Volk  auf  solchem  Grunde  stehen,  wird  Frieden 
halten,  solange  er  es  vermag,  aber  auch  den  Krieg  nicht  scheuen. 
Denn  sie  werden  ihn  führen,  um  die  höchsten  Güter  der  Menschheit 
zu  erretten,  und  in  Wahrheit  pro  aris  et  focis  streiten. 


Im  Weltkrieg. 


Lenz,  Wille,  Macht  und  Schicksal. 


Der  deutsche  Gott. 

(August   1914.) 

»Der  Gott  der  russischen  Erde  ist  groß«,  so  schloß  der  Zar  seine 
Anrede  an  die  MitgUeder  der  Duma  und  seines  Reichsrates,  als  er 
die  Greuel,  die  er  durch  den  Weltkrieg  entfesselt  hatte,  zu  recht- 
fertigen versuchte. 

Wir  kennen  diesen  Gott.  Es  ist  der  Gott,  der  Rußlands  Ge- 
schichte seit  Jahrhunderten  durchwaltet  hat;  Eroberung  und  Unter- 
drückung waren  immerdar  seine  Wege,  Mord  und  Aufruhr,  Tücke 
und  Verrat  allezeit  seine  Werkzeuge;  es  ist  der  Gott  der  Despoten 
und  der  Knechte. 

Der  Gott,  in  dessen  Namen  Deutschlands  Heere  in  den  Krieg 
gezogen  sind,  ist  ein  anderer  Gott.  Er  ist  der  Gott,  der  Eisen  wachsen 
ließ  und  keine  Knechte  wollte.  Vor  ihn,  den  Gerechten,  sind  wir, 
als  der  Kaiser  rief,  betend  getreten.  Zu  ihm,  dem  Allmächtigen, 
dringt  imter  dem  Brüllen  der  Geschütze  unser  »Vater,  ich  rufe  dich ! « 
empor.  Ihm  haben  wir  uns  ergeben  im  Leben  und  im  Sterben.  Und 
jauchzend,  als  ginge  es  zum  Feste,  stellt  sich  unsere  Jugend  dem 
Gottesurteil  der  Schlachten. 

Wunderbare,  heihgende  Macht  des  Krieges!  Wo  sind  die  bleich- 
süchtigen Narren  gebheben,  die  in  dieser  Welt  voll  Neid  und  Krieg 
mit  sanften,  süßen  Worten  den  ewigen  Frieden  pflanzen  wollten? 
Wo  die  blasphemischen  Gesellen,  welche  an  der  Verkleinerung  und 
Karikierung  des  deutschen  Wesens  ihren  Witz  übten?  Wo  die 
Zotenreißer,  die  den  Schlammstrom  Woche  für  Woche  in  Wort  und 
Bild  über  die  von  seinen  Lehrern  mühsam  bestellten  Äcker  des  deut- 
schen Geistes  leiteten,  um  daraus  ihr  Gold  oder  auch  nur  kärghchen 
Tageslohn  zu  gewinnen?  Wo  alle  die  Nachäffer  ausländischer  Sitten 
und  Unsitten?  Und  wo  die  Propheten,  die  bereits  die  Götterdäm- 
merung für  unser  Volkstum  verkündigten?  Wie  ein  Rauch  sind  sie 
verschwunden.  Emporgereckt  hat  sich  mit  wuchtend  unhemmbarer 
Kraft,  in  schimmernder  Wehr  der  Siegfriedsgeist  imsres  Volkes. 


116 

Als  eine  Offenbarung  hat  es  uns  alle  getroffen.  Wie  wenige 
hatten  doch  noch  den  Glauben  an  unser  Volk  bewahrt  angesichts 
des  unstillbaren  und  immer  tiefer  wühlenden  Haders,  der  es  in  allen 
seinen  Schichten  zerriß  und  ineinander  verstrickt  hielt!  Schien  es 
doch  fast,  als  ob  die  Einheit,  die  wir  im  Kampfe  gewonnen,  im  Frieden 
wieder  zerfallen  und  die  Institutionen,  die  wir  uns  gegeben,  nur  dazu 
dienen  sollten,  um  alle  groben  Instinkte  ans  Licht  zu  bringen  und 
den  IdeaHsmus  nationaler  PoUtik  in  dem  Wettstreit  niedrig  gerichteter 
Interessen  untergehen  zu  lassen. 

Kleingläubige  sind  wir  alle  gewesen.  Rührend,  erschütternd,  über- 
wältigend offenbarte  sich  vom  ersten  Auftauchen  der  Gefahr  an, 
welch  ein  tiefer  Fonds  von  Gottesfurcht  in  unserm  Volke,  in  allen 
seinen  Schichten,  ob  hoch  oder  niedrig,  Professor,  Bauer  oder  Arbeits- 
mann, Christ  oder  Jude,  KathoHk  oder  Protestant,  lebendig  ge- 
blieben ist.  Es  sind  nicht  die  Dogmen  der  unterschiedlichen  Kon- 
fessionen und  die  aus  diesen  abgeleiteten  reUgiösen  oder  pohtischen 
Ansprüche  und  Pflichten,  die  dabei  auftauchen:  sondern  Ideen  und 
Überzeugungen,  welche  allen  Predigern  und  Philosophen  gemeinsam 
sind  und,  frei  von  dogmatischer  Bindung,  dennoch  immerdar  als  die 
Kemgedanken  jeder  echten  Religiosität  gegolten  haben.  Nicht  die 
Umwertung  aller  Werte,  von  der  die  Neunmalklugen  soviel  fabuliert 
haben,  sondern  die  alten,  ewigen,  welterbauenden  Gedanken:  Demut, 
Treue,  Gehorsam,  Nächstenhebe,  Pflichterfüllung  bis  aufs  äußerste 
und  ein  unzerstörbarer,  stürmisch  vorwärts  drängender  Glaube  an 
den  Sieg  der  gerechten  Sache.  Bismarck  war  der  rechte  Prophet, 
als  er  jenes  Wort  sprach  von  den  Deutschen,  die  Gott  fürchten,  aber 
sonst  nichts  auf  der  Welt,  und  das  andere  in  derselben  gewaltigen 
Rede:  daß,  wenn  wir  angegriffen  würden,  das  ganze  Deutschland 
von  der  Memel  bis  zum  Bodensee  wie  eine  Pulvermine  aufbrennen 
und  von  Gewehren  starren  werde,  und  daß  kein  Feind  es  wagen 
werde,  mit  diesem  furor  teutonicus  es  aufzunehmen.  Beschämt 
fast  stehen  wir  Alten,  die  wir  1870  erlebt  haben,  vor  diesem  nie  ge- 
sehenen Glühen  und  Leuchten  des  deutschen  Geistes. 

Sehg  aber  preisen  wir  uns,  daß  wir  auch  diese  Zeit  noch  sehen 
durften.  Selig  selbst  dann,  wenn  alles  vergebens  wäre,  wenn  der 
Schwall  der  Feinde  unser  mächtig  werden  und  die  deutsche  Nation 
ausgelöscht  werden  sollte.  Auch  dann  noch  wäre  unser  letzter  Seufzer 
ein  Dank  gegen  Gott.    Denn  Gott  würde  uns  dann  dargestellt  haben 


1 


117 

als  ein  ewiges  Beispiel  für  das,  was  Treue  ist;  eine  Predigt  würde 
unser  Todeskampf  sein,  die  durch  die  Jahrtausende  hallen  würde. 

Aber  wir  brauchen  uns  ja  nicht  zu  ängstigen.  Wir  werden 
siegen,  weil  wir  siegen  müssen:  weil  Gott  die  Seinen  nicht  ver- 
lassen kann. 

Der  Kampf  der  Interessen  und  der  Ideale  wird  darum  imter 
uns  nicht  aufhören.  Das  ist  Menschenlos  und  kann  gar  nicht  anders 
sein.  Viel  zu  tief  sind  die  Widersprüche  in  das  Leben  unseres  Volkes 
verflochten.  Auch  der  Streit  der  Konfessionen  wird  und  soll  nicht 
aufhören.  Denn  es  ist  die  Bestimmung  der  Deutschen,  in  alle  Tiefen 
der  Erkenntnis  hinabzusteigen:  Gottsucher  waren  wir  von  jeher, 
und  wollen  es  bleiben.  Aber  die  vergiftenden  und  auf  nichts  als 
Trennung  bedachten  Formen  dieser  Kämpfe  werden  so  nicht  wieder- 
kehren. AUzustark  sind  wir  uns  des  gemeinsamen  Untergrundes 
deutschen  Wesens  bewußt  geworden.  Und  der  Glanz  der  Gegenwart 
wird  auch  in  die  Vergangenheit  seine  Strahlen  aussenden;  die  Ahn- 
herren der  Nation,  alle  ihre  Helden,  der  Tat  und  des  Gedankens, 
werden  wieder  (wie  es  schon  einmal  war)  in  der  Walhalla  nationaler  Er- 
irmerung  nebeneinander  Platz  finden.  Sind  es  doch  ihre  Werke,  für  die 
wir  kämpfen.  Ihre  Gedanken  sind  es,  die  in  allem,  was  wir  Vaterland 
nennen,  Form  gewonnen  haben.  Mit  ihren  Liedern  zogen  Deutsch- 
lands Söhne  in  den  Krieg.  Wie  im  Geisterfluge  umschweben  ihre 
erhabenen  Schatten  unsere  Heere  und  stürmen  mit  ihnen  vorwärts 
dem  Siege  entgegen.    Und  ihr  Schlachtruf  ist  der  unsrige  gebheben: 

Gott  mit  uns! 


Deutsdies  Heldentum. 

(November   1914.) 

Tiefer  als  je,  viel  tiefer  und  weiter  noch  als  im  Jahre  1813,  dringt 
heute  der  deutsche  Gedanke:  alle  Gegensätze  in  der  Nation  hat  er 
ausgeglichen,  alle  Herzen  in  eins  verschmolzen;  wo  immer  Deutsche 
wohnen,  flammt  er  auf,  auch  jenseits  des  Weltmeers  bei  den  Ausge- 
wanderten, den  der  alten  Heimat  Entrissenen  —  so  weit  die  deutsche 
Zunge  klingt.  Welch  ein  wundervolles,  die  Seele  weitendes  Schau- 
spiel war  es,  als  die  deutschen  Reservisten,  die  jenseits  des  Welt- 
meers waren,  dorthin  eilten,  wo  deutsche  Fahnen  wehten!  Ins  Vater- 
land zu  ihren  Regimentern  konnten  die  wenigsten  gelangen ;  so  strebten 
sie  zu  den  verlorenen  Posten  in  unseren  Kolonien.  Sie  wußten,  daß 
sie  an  deren  Schicksal  nichts  ändern,  daß  Tod  oder  Gefangenschaft 
ihr  Los  sein  würde  —  aber  nichts  konnte  sie  zurückhalten;  hunderte 
von  Meilen  sind  viele  von  ihnen  durch  Koreas  und  Chinas  Provinzen 
gewandert,  um  Tsingtau  zu  erreichen.  Taten  geschehen  alle  Tage, 
vor  denen  alles,  was  uns  in  der  Schule  vom  Heldentum  der  Antike 
vorgetragen  ward,  verblassen  muß.  Was  will  selbst  der  Opfertod 
eines  Leonidas  und  seiner  700  Spartiaten  bedeuten  gegen  die  Tausende 
unserer  Freiwilligen,  die  sich  zum  Sturmlauf  gegen  die  feindlichen 
Schanzen  und  Schützengräben  drängen,  gegen  die  todgeweihten 
Minenleger,  die  Luftgeschwader  imserer  Flieger,  die  Unterseer,  die 
in  jedem  Augenblick  das  Verderben  zugleich  androhen  und  erwarten, 
und  alle  unsere  Schiffsmannschaften,  für  die  es  nur  eine  Losung 
gibt:  siegen  oder  sinken!  Nur  in  unserem  eigenen  Heldensange  herr- 
schen Klänge  von  der  gleichen  ehernen  Kraft.  Nibelungenklänge 
sind  es  in  der  Tat,  die  uns  aus  der  weit  über  alle  Schöpfungen  der 
Phantasie  hinausreichenden  Wirklichkeit  entgegenhallen.  Ein  Leuch- 
ten wie  von  Jung- Siegfrieds  Lichtgestalt  dringt  auf  uns  ein  von 
unsern  jungen  Regimentern,  die  den  Hochgesang  auf  das  Vaterland 
anstimmten,  als  sie  die  feindlichen  Linien  an  der  Yser  erstürmten: 
»fielen  wie  Kräuter  im  Maien«.    Und  so  fehlt  in  dieser  gewaltigen 


119 

Symphonie  von  Sieg  und  Tod  auch  der  andere  Ton  germanischen 
Heldentums  nicht,  der  in  der  Gestalt  des  grimmen  Hagen  seinen 
Ausdruck  fand:  der  Geist  finsterer  Entschlossenheit,  in  dem  Haß 
und  Treue  sich  vermählen.  Denn  allzu  tief  haben  sich  die  Schatten 
des  Todes  auf  unser  Volk  hinabgesenkt,  um  noch  jener  Jubelstimmung 
der  ersten  Augusttage  Raum  zu  lassen,  die  uns  mit  Flammenglut 
emporriß  —  eine  Offenbarung  des  deutschen  Herzens,  die  erfahren 
zu  haben  für  jeden  unter  uns  das  größte  Glück  seines  Lebens  ge- 
worden ist.  Jedoch  um  keine  Linie  sind  wir  von  der  Entschlußkraft 
abgewichen,  die  wir  dem  Ausbruch  des  Krieges  entgegensetzten,  von 
dem  Willen,  durchzuhalten  bis  aufs  Letzte.  Nur  um  so  grimmiger 
ist  unser  Zorn  geworden  gegen  die  Buben,  die  uns  an  den  Leib  wollen, 
um  so  heißer  unser  Haß.  Wir  wollen  der  Welt  beweisen,  daß  wir 
Nibelungenenkel  sind,  und  müßte  es  auch  von  uns  dereinst  heißen: 
»Nun  hat  die  Mär  ein  Ende,  das  war  der  Nibelungen  Not.« 

Das  ist  der  deutsche  Militarismus,  den  die  Engländer  uns 
austreiben  wollen,  von  dem  sie  die  Welt  erlösen  möchten.  Unsre 
Flotte  würde  dann  auf  dem  Grunde  des  Meeres  ruhen,  unsere  Kanonen 
in  den  Festungen  unsrer  Nachbarn  und  unsre  Soldaten  unter  der 
Erde.  Unsre  Ostmarken,  bis  über  Weichsel  und  Warthe  hinweg, 
und  Oberschlesiens  Kohlenfelder  würden  unter  die  Herrschaft  der 
russischen  Kulturträger  geraten.  In  des  Rheins  »gesegneten  Ge- 
breiten« würden  Franzosen  und  Belgier  es  sich  bequem  machen: 
jene  würden  die  Rebengelände  des  Elsaß  und  der  Pfalz,  Lothringens 
Erz-  und  Saarbrückens  Kohlengruben  zurückgewinnen,  diese  in  der 
Rheinprovinz  ihre  Rüben  bauen,  um  den  Engländern  das  Leben 
zu  versüßen.  Albion  selbst,  großmütig  wie  immer,  würde  an  unserer 
Küste  sich  vielleicht  mit  Helgoland  begnügen  (wahrscheinHch  doch, 
ohne  dort  die  Spuren  des  MiHtarismus  auszutilgen)  und  nur  noch 
den  Nordostseekanal  mit  Kuxhaven  und  Kiel  unter  seine  Obhut 
nehmen.  Unsere  Bureaukratie  müßte  freieren  Formen  der  Verwal- 
tung weichen,  solchen,  wie  sie  etwa  in  Irland  oder  im  Ostend  von 
London  zu  finden  sind;  unser  Reich  aber  würde  zerbrochen,  in  seine 
Gliedstaaten  aufgelöst  werden.  Danach  könnte  denn  unser  Volk 
der  Pflege  seiner  alten  Ideale  zurückgegeben  werden  und  die  Welt 
mit  den  Schöpfungen  seiner  Intelligenz  und  seines  Kunstverstandes 
bereichern:  es  würde  wieder  (wie  ihm  einst  Lord  Palmerston  anriet) 
mit  den  Wolken  segeln  dürfen  und  in  den  Lüften  seine  Schlösser  bauen. 


120 

Der  aber  kennt  nicht  die  Quellen  unserer  Kraft,  der  diese  trennen 
will  von  der  Gedankenwelt  unsrer  geistigen  Führer.  Wenige  unter 
ihnen  sind  Männer  der  Tat  gewesen:  aber  alle  waren  Helden,  weil 
sie  Bekenner  waren  welterobemder  Ideen.  Unbekannt  oft  den  Mäch- 
tigen ihrer  Zeit,  verbreiteten  sie  zunächst  im  kleinen  Kreise  vom 
Katheder  her  oder  mit  der  Feder  ihre  Lehren.  Aber  üire  Gedanken 
wurden  Taten,  ihre  Bücher  gewannen  Leben :  sie  flössen  über  in  den  Staat ; 
alle  seine  Formen  erfüllten  sie;  den  Sinn  der  Macht  wandelten  sie 
imi;  sie  drangen  bis  auf  den  Grund  der  Nation;  Waffen  und  Politik, 
Recht  und  Wirtschaft  erhielten  durch  sie  Ausdruck  und  Richtung; 
die  Männer  des  Schwertes,  die  Regenten  selbst  begannen  ihnen  zu 
dienen  und  breiteten  sie  aus ;  auf  ihrem  Grunde  ruhte  das  alte  Preußen 
und  ruht  alles,  was  davon  in  das  neue  Reich  eingeströmt  ist;  unsere 
großen  Monarchen,  unsere  pohtischen  Reformer,  die  Helden  des 
Freiheitskrieges,  und  ihnen  nach  alle  Kämpfer  für  die  deutsche  Einheit 
bis  hinauf  zu  Kaiser  Wilhelms  ehrwürdiger  Gestalt  und  seinem 
eisernen  Kanzler  stehen  auf  demselben  Boden:  der  Welt  deutscher 
Ideen.  Luther  war  es,  der  das  Wesen  des  Krieges  bestimmt  hat, 
den  wir  heute  führen:  den  echten,  den  gerechten  Krieg,  den  Krieg 
der  Notwehr  gegen  die  Neider  und  die  Räuber,  den  heihgen  Krieg, 
den  Zermahner  alles  Abgelebten  und  Verderbten  und  den  Schöpfer 
und  Erhalter  aller  echten  Kultur,  den  Krieg,  der  zum  Frieden  gehört, 
wie  zum  Lichte  das  Feuer.  Er  hat  bereits  das  Bild  des  rechten  Kriegs- 
mannes voll  umrissen,  des  deutschen  Helden:  »Siehe  an,«  so  schreibt 
er,  »die  rechten  Krieger,  die  bei  dem  Schimpf  gewest  sind :  die  zücken 
nicht  balde,  trotzen  nicht,  haben  nicht  Lust  zu  schlahen,  aber  wenn 
man  sie  zwingt,  daß  sie  müssen,  so  hüt'  dich  vor  ihnen,  so  schimpfen 
sie  nicht ;  ihr  Messer  steckt  fest,  aber  müssen  sie  es  zücken,  so  kommt 
es  nicht  ohne  Blut  wieder  in  die, Scheide.« 

Nicht  das  Todverachten  macht  schon  den  Helden.  Auch  der 
Gladiator  und  der  englische  Söldner  fürchten  den  Tod  nicht;  und 
noch  weniger  achten  die  Barbaren,  welche  unsere  Gegner  auf  die 
Schlachtfelder  Frankreichs  und  Belgiens  geschleppt  haben,  des 
Lebens:  weil  sie  das  Glück  und  den  Sinn  des  Lebens  nicht  kennen. 
Es  ist  hart  für  uns,  die  Blüte  unserer  Jugend,  die  Hoffnung  unseres 
Volkes,  Hoch  und  Niedrig,  Gelehrte  und  Ungelehrte,  Arme  und  Reiche 
gegen  solche  Horden  auf  die  Schlachtbank  schicken  zu  müssen.  Sie 
selbst  aber,  wie  hoch  sie  stehen  mögen,  bis  zu  unsem  Kaisersöhnen 


121 

hinauf,  wollen  gar  nichts  besseres  als  ihr  Leben  einsetzen  für  das 
Leben  der  Nation,  für  Kaiser  und  Reich.  Und  ein  solches  Volk  wollen 
unsere  Feinde  entmannen,  solch  eine  Macht  wollen  sie  zertrümmern? 
Es  ist,  als  ob  Knabenhände  einen  Block  von  Stahl  umwerfen  oder 
die  andrängende  Flut  mit  ihren  Sandburgen  aufhalten  wollten.  Sie 
müßten  zunächst  den  Geist  auslöschen,  der  in  uns  Leben  gewonnen 
hat;  sie  müßten  uns  erst  sich  selbst  ähnhch  machen. 

So  ist  der  Boden  beschaffen,  aus  dem  das  deutsche  Heldentum 
aufsteigt  und  überwallt,  ein  ewig  sich  erneuernder  Springquell.  Unser 
Herzblut  ist  es,  das  emporquillt.  Und  würde  die  deutsche  Erde  über- 
strömt werden  von  dem  Blute  ihrer  Kinder,  wir  würden  dennoch 
nicht  wanken  und  nicht  weichen:  wir  lassen  uns  nicht  zwingen  und 
nicht  dämpfen  — 

wir  halten   aus! 


Bismarck. 

(Rede,  gehalten  bei  der  Säkularfeier  in  Hamburg  am  i.  April  1915.) 

»Wir  Deutschen  fürchten  Gott  und  sonst  nichts  in  der  Welt«  — 
so  lautet  ein  tausendfach  wiederholtes  Wort  in  der  gewaltigen  Rede, 
worin  der  Schöpfer  von  Kaiser  und  Reich  vor  seinem  letzten  Reichs- 
tage wie  in  einem  Testament  die  Summe  seiner  Politik  zusammen- 
gefaßt, die  Weltstellung  unseres  Volkes  umschrieben  und  ihm  seine 
Ziele  gewiesen  hat,  und  die  uns  heute  wie  ein  Präludium  zu  dem 
Schlachtendonner  der  Gegenwart  anmutet,  dessen  Nachhall  noch 
die  fernsten  Jahrhunderte  vernehmen  werden.  Jedoch  enthält  jener 
Satz  niur  die  Hälfte  des  Gedankens,  dem  Bismarck  vor  den  Vertretern 
der  Nation  Ausdruck  geben  wollte,  und  wir  müssen  die  Worte  hinzu- 
nehmen, die  er  unmittelbar  daran  knüpfte,  um  seinen  vollen  Sinn 
zu  verstehen:  »Und  die  Gottesfurcht«,  so  fuhr  er  fort,  »ist  es  schon, 
die  uns  den  Frieden  Heben  und  pflegen  läßt.« 

In  diesem  Dreiklang,  Furchtlosigkeit  und  Friedenshebe  mit  der 
Gottesfurcht  als  Grundton,  aus  dem  es  uns  entgegenhallt  wie  aus 
dem  Glaubenshede  Martin  Luthers,  das  heute  zum  Schlachtgesang 
der  Deutschen  geworden  ist,  hegt  der  Sinn  und  das  Ziel  der  Macht, 
die  Bismarck  gründete.  Dies  ist  das  Recht,  für  das  wir  heute 
kämpfen,  der  Wille,  den  wir  in  diesem  Kriege  bewähren,  und  die 
Kraft,  durch  die  wir  uns  gegen  eine  Welt  von  Feinden  behaupten 
werden:  es  ist  der  Geist,  der  dem  Genius  unseres  Volkes  gemäß  ist, 
das  Band,  das  uns  mit  unsem  Vätern  und  mit  den  Tiefen  des  deutschen 
Lebens  verbindet:  mit  Ideen,  welche  fernab  von  der  Welt  der  Waffen 
und  der  Politik,  von  allem,  was  Erwerb  und  Eroberung  heißt,  auf 
den  reinen  Höhen  humaner  Ideale  lagen  und  dennoch  zum  Inhalt 
des  nationalen  Willens  geworden  sind,  der  in  dem  neuen  Reiche 
deutscher  Nation  Form  gewonnen  hat. 

Denn  von  dort  her  kamen  die  Männer,  welche  vor  hundert  Jahren 
unser  Volk  auf  das  Schlachtfeld  hinausriefen,  und  von  diesem  Geist 
getragen,   erhoben   zum   erstenmal  in  unserer   Geschichte  Tausende 


123 

von  Jünglingen  und  Männern  das  Schwert  für  des  Vaterlandes  Frei- 
heit —  in  jener  Zeit,  auf  die  wir  heute  zurückbUcken  wie  auf  das 
Morgenrot  des  Tages,  unter  dessen  Mittagssonne  wir  unsere  heiße 
Arbeit  verrichten  müssen.  Als  Fichte  seine  Schüler  in  den  heiligen 
Krieg  entHeß,  als  er  sie  aufforderte,  auszuziehen,  um  für  die  Freiheit 
zu  streiten,  dachte  auch  er  noch  an  keine  andere  Freiheit  als  an  die, 
deren  Siege  sein  Zeitalter  bereits  geschaut,  die  er  unter  Preußens 
absoluter  Krone,  unter  dem  Drucke  der  Fremdherrschaft  selbst 
verwirklicht  sah:  an  die  über  Zeiten  und  Völker  hinwegreichende 
Geistesbildung,  die  er  lehrte;  nicht  zur  Errettung,  sondern  zur  Er- 
oberung dieser  Freiheit  sandte  er  seine  Jimger  hinaus;  ihr  sollten  sie 
Eingang  in  den  Ländern  verschaffen,  die  der  fremde  Despot  in  die 
Bahn  eines  öden  Ehrgeizes  und  Machtdünkels  hineingezwungen 
hatte,  damit  die  Segensströme  echtester,  allgemein  menschücher 
Bildung  sich  über  die  Welt  ergössen  und  sie  mit  neuer  Lebenskraft 
erfüllten. 

Fichte  ward  selbst  ein  Opfer  dieses  Krieges;  und  so  bleibt  für 
uns  seine  heroische  Gestalt  auf  der  Scheide  beider  Zeitalter:  als 
Prophet  hinüberschauend  nach  dem  festen  Erdreich,  auf  dem  wir 
stehen,  und  doch  wie  auf  Wolken  wandelnd,  in  die  Abgrundtiefe 
des  Gedankens  den  Bück  gesenkt  und  mit  der  Selbstgewißheit  des 
Willens  an  die  Sterne  rührend.  Aber  auch  die  andern,  die  den  Wechsel 
der  Zeiten  an  sich  selbst  erfuhren,  Schleiermacher  und  Wilhelm 
V.  Humboldt,  ScheUing  und  Hegel,  Görres  imd  Arndt,  und  wer 
immer  zu  den  Bildnern  unserer  Nation  gehörte,  nahmen  die  Ideale 
ihrer  Jugend  mit  hinüber  und  suchten  das  Einst  und  das  Jetzt  in 
ihren  Vorstellungen  vom  Vaterlande,  von  deutscher  Macht  und  Frei- 
heit im  Staat  der  Deutschen  miteinander  zu  versöhnen.  Und  ihnen 
nach  nun  die  Generation  der  Freiheitskriege  selbst,  deren  Lehrer 
und  Führer  sie  bheben,  in  deren  Kämpfe  sie  verstrickt  waren,  mit 
denen  sie  am  Aufbau  der  neuen  Nation  arbeiteten.  Von  den  Höhen 
des  deutschen  Geistes  stieg  der  deutsche  Gedanke  zu  Tal,  tausend 
Widerständen  begegnend,  siegreich  und  gehemmt,  weckend  imd 
werbend,  unklar  zuweilen  und  verflachend,  reinigend,  befruchtend 
und  zerstörend;  fremde,  radikale  Ideen  drängten  sich  hinzu,  während 
aus  dem  eigenen  Boden  Quellen  hervorbrachen,  die  unter  dem  Schutt 
der  Zeiten  lange  begraben  lagen,  nun  aber  eine  Lebenskraft  ent- 
wickelten,  stärker   als   alle   Ideen   des   Jahrhunderts;   Parteien  und 


124 

Kampf,  wohin  wir  schauen:  aber  auf  dem  Grunde  der  Strömung, 
wie  trübe  sie  zuweilen  fließen  mochten,  bleiben  dem  tiefer  drin- 
genden Blick  immer  Ideale  des  deutschen  Geistes  sichtbar,  welche 
in  Gottesfurcht  und  FriedensHebe  ihre  Heimat  haben. 

Ein  langer  Weg,  und  ein  schwerer  fürwahr  von  jenen  Zeiten 
der  Unnihe  und  Verwirrung  bis  dahin,  wo  wir  stehen:  dem  Manne 
aber,  der  unser  Volk  auf  ihm  geführt,  der  uns  das  Haus  gebaut  hat, 
für  das  wir  heute  kämpfen,  die  Schranken  niederbrach,  die  uns 
trennten,  den  Willen  und  die  Kraft  in  uns  legte,  die  uns  zum  Schrecken 
unsrer  Feinde  machen  • —  ihm  gilt  diese  Feier:  zu  ihm  wendet  heute, 
lunringt  von  der  Lohe  des  Weltbrandes,  unser  Volk  seinen  BHck, 
vor  ihm  senken  sich  alle  Fahnen,  welche  in  Ost  und  West  siegreich 
gegen  die  Bedränger  unserer  Freiheit  wehen. 


Zwei  Generationen  sind  vergangen,  seitdem  unser  Volk  nach 
langer  Irrfahrt  zum  erstenmal  sich  am  Ziel  wähnte;  als  der  Sturm- 
wind der  Pariser  Februarrevolution  in  die  Stickluft  des  deutschen 
Lebens  hineinfuhr  und  im  Wirbel  weniger  Tage  alle  Regierungen 
dem  Drucke  des  nationalen  Willens  unterwarf.  Es  waren  aber  nicht 
die  Schlechtesten,  welchen  die  Nation  damals  den  Aufbau  ihres 
neuen  Reiches  anvertraute.  Niemals  wieder  hat  ein  deutsches  Par- 
lament eine  solche  Fülle  von  Geist  und  Wissen,  von  sittUcher  Energie 
und  rückhaltloser  Hingebung  an  den  nationalen  Gedanken  in  sich 
vereinigt,  wie  die  Reichsversammlung,  die  am  i8.  Mai  1848  in  der 
alten  Krönungsstadt  am  Main  zusammentrat.  Viele  darunter  noch 
die  Schüler  und  Freunde  jener  Großen,  die  wir  nannten,  in  ihren 
Gedanken  erzogen,  Mitkämpfer  von  1813,  und  alle  durchglüht  von 
der  Idee,  die  das  Jahr  der  deutschen  Revolution  der  nationalen  Er- 
innerung auf  immer  unvergeßhch  machen  vard:  dem  heißen  Willen 
der  Nation,  endlich  den  Staat  zu  bauen,  welcher  der  Größe  und  Herr- 
hchkeit  deutscher  Kultur  würdig  wäre. 

Es  war  das  Ziel,  welches  die  großen  Nationen  im  Westen  und 
Osten  längst  erreicht  hatten,  die  nun  drohend  die  deutschen  Grenzen 
umlagerten:  dieselben,  welche  heute  ihre  Millionen  zur  Vernichtung 
unseres  Reiches  vereinigt  haben.  Keine  stärkere  historische  Recht- 
fertigung kann  die  deutsche  Revolution  haben  als  diese  Tatsache. 
War  es  auch  nicht  die  zwölfte,  so  doch  sicherhch  die  elfte  Stunde, 
die  der  Einigung  der  Nation  gesetzt  war.   Daß  Deutschlands  Schick- 


125 

salsstunde  vor  der  Tür  sei,  hat  auch  Bismarck  niemals  geleugnet: 
den  Willen  in  unserm  Volk  zur  Einheit  und  zur  Macht  hat  er  immer 
anerkannt ;  es  war  die  Voraussetzung,  unter  der  er  sein  Werk  begonnen 
wie  vollbracht  hat.  Gewiß,  jene  Männer  waren  Doktrinäre,  imd  so 
mcLg  man  von  dem  Professorenparlament  und  dem  Debattierklub 
in  Frankfurt  reden.  Aber  ihren  Zielen  hat  die  Zukunft  gehört,  und 
Bismarck  selbst  ist  der  Vollstrecker  ihrer  Gedanken  geworden;  diese 
sind  eingefügt  in  den  Bau,  den  er  errichtet  hat.  Von  den  ärgsten 
der  Frankfurter  Doktrinäre  stammt  das  Wahlrecht,  das  er  zur  Grund- 
lage seines  deutschen  Parlaments  gemacht  hat;  er  war  wie  sie  ein 
Verächter  der  Legitimität,  und  er  hat  die  sozialen  Gedanken,  die  sie 
mit  ihrer  nationalen  Demokratie  verknüpfen  wollten,  auf  das  neue 
Reich  übertragen  und  damit  ein  Werk  vollbracht,  das  heute  eine  der 
Grundlagen  der  ungeheuren  Kraft  geworden  ist,  die  wir  einer  Welt 
von  Feinden  gegenüberstellen.  Er  war  ihnen  allen  hierdurch  ver- 
wandter als  seinen  eigenen  reaktionären  Freimden,  und  so  ist  es  denn 
kein  Wunder,  daß  er  aus  ihren  Kreisen  die  ersten  imd  die  unbedingten 
Diener  gewonnen  hat,  imd  daß  die  Verbannten  jenseits  des  Welt- 
meers die  Verkünder  seines  Ruhmes  geworden  sind. 

Nicht  an  diesem  Ort  haben  wir  die  IrreaUtät  der  Frankfurter 
Pläne  zu  suchen,  sondern  in  der  Nichtachtung  des  historischen  Rechtes, 
welches  ihre  Anhänger  den  in  dem  deutschen  Boden  festgewurzelten 
Gewalten  gegenüber  bewiesen.  Sie  wähnten,  daß  die  deutschen 
Kronen,  daß  aUe  territorialen  Gewalten,  welche  das  alte  Reich  über- 
dauert hatten,  der  nationalen  Idee  sich  rückhaltlos  unterwerfen 
würden  und  müßten,  sowie  sie  selbst  sich  von  den  Schranken,  die 
sie  daheim  umgaben,  gelöst  und  der  Idee  von  dem  neuen  Reiche 
ergeben  hatten.  Aber  sie  vergaßen,  daß  sie  damit  an  Lebenskreise 
rührten,  die  viel  tiefer  reichten  als  ihre  Gedanken  von  nationaler 
Einheit  und  parlamentarischen  Rechten.  Denn  Deutschland  war 
kein  Italien.  Hier  gab  es  keine  auf  der  Nation  lastende  Fremdherr- 
schaft, keine  Bourbonenhöfe  und  keinen  römischen  Priesterstaat: 
bis  in  die  Höhezeit  mittelalterHcher  Kaiserherr hchkeit,  ja  wohl  bis 
in  die  Anfänge  des  deutschen  Staates  zurück  reichten  die  Wurzeln 
der  deutschen  Fürstenhäuser,  und  gemeinsam  erlebte  Geschicke 
hatten  zwischen  ihnen  rmd  ihren  Landschaften  die  Gefühle  enger 
Zusammengehörigkeit  entwickelt.  Seit  drei  Jahrhunderten  hatte 
sich,  wie  das  poHtische,  so  auch  das  geistige  Leben  der  Nation  in 


126 

den  Territorien  gesammelt  und  geschieden;  und  wenn  seit  zwei 
Generationen  diese  Fluten  begonnen  hatten,  sich  zu  vermischen, 
so  waren  dennoch  die  trennenden  Linien  überall  sichtbar  geblieben. 
In  ihrer  jetzigen  Gestalt  waren  diese  Staaten  durchweg  junge  Schöp- 
fungen; ihre  Regenten  hatten  ihre  Kronen  und  Herzogshüte  zumeist 
von  Napoleons  Gnaden:  aber  jener  Prozeß  des  Zusammenwachsens 
war  dadurch  nirgends  aufgehalten  worden,  eher  beschleunigt, 
sowie  er  auch  heute  noch  unablässig  sich  fortsetzt. 

Hier  ist  der  Platz,  auf  dem  wir  Bismarck  suchen  müssen.  Dies 
ist  der  Boden,  auf  dem  er  im  Sturm  jähr  der  Revolution  stand,  und 
von  dem  aus  er  in  jugendlichem  Trotz  sich  der  andrängenden  Woge 
in  den  Weg  warf.  Sein  Vaterland,  das  »Vaterhaus«,  zu  dem  er  sich 
bekannte,  war  Preußen,  er  hat  es  niemals  verlassen.  Noch  stand  er 
auf  der  Zinne  der  Partei,  die  keinen  größeren  Heißsporn  besaß  als 
ihn:  aber  doch  nur  darum,  weil  er  der  Mann  des  Staates  war,  der 
Erbe  eines  Hauses,  dessen  Söhne  in  allen  Kriegen  dieser  Krone  ge- 
blutet, ihren  Trägern  gedient,  wohl  auch  getrotzt  hatten,  aber  im 
Glück  und  Unglück  mit  ihrem  Lande  verwachsen  gewesen  waren: 
der  Genius  Friedrichs  des  Großen  war  in  dem  jugendlichen  Helden 
lebendig  geworden. 

Daß  Deutschland  einig  werden  müsse,  war  ihm  das  Selbst- 
verständliche. Wie  er  es  von  der  Tribüne  der  preußischen  National- 
versammlung in  die  Debatte  über  die  Reichsverfassung  hineinwarf: 
»Die  deutsche  Einheit  will  jedermann,  den  man  danach  fragt«  — 
»aber«,  so  setzte  er  hinzu,  »mit  dieser  Verfassung  will  ich  sie  nicht!« 
In  seinen  Reden  und  Briefen  bhtzten  bereits  Gedanken  auf,  welche 
die  Wege  seiner  Zukunft  beleuchteten.  Aber  als  das  Nächste  galt 
ihm,  die  Stellung  der  preußischen  Krone  in  der  Brandung  zu  be- 
haupten. Preußens  Ehre,  Preußens  Kraft,  Preußens  Großmachts- 
stellung war  seine  Losung,  Preußen  und  immer  Preußen  das  Wort, 
in  dem  sich  die  Summe  seiner  Politik  zusammenfaßte.  So  war  das 
Programm  beschaffen,  mit  dem  der  Sechsunddreißigj  ährige  am 
10.  Mai  1851  als  Gesandter  seines  Königs  seinen  Einzug  in  die  Stadt 
des  Deutschen  Bundes  hält. 

Während  er  aber  in  Frankfurt  den  Boden  studierte,  auf  den 
ihn  das  »Rad  des  Lebens«,  das  ihn  so  plötzlich  erfaßt,  hinausgeworfen 
hatte,  Rivalen  und  Gegner  und  die  wenigen  Freunde  mit  suveränem 
Blick  umfaßte,  in  dem  Wirrwarr  der  Intrigen  jeder  Lage  gewachsen 


127 

und  sie  bis  auf  den  Grund  durchschauend  und  benutzend,  rauschte 
die  nationale  Woge,  kaum  zurückgeschlagen,  schon  wieder  mit 
neuer  Kraft  daher.  Denn  immer  drohender  hingen  die  Wolken  über 
dem  deutschen  Horizont:  der  Bund  der  drei  Ostmächte  seit  der 
Revolution  vermorscht  und  durch  den  Krimkrieg  vollends  zersprengt; 
Frankreichs  Kraft  unter  dem  neuen  Bonaparte  gegen  den  Rhein 
und  die  Alpen  gewandt;  Rußland,  soeben  von  Frankreich  geschlagen, 
dennoch  bereit,  ihm  über  Preußen  hinweg  die  Hand  zu  reichen;  und 
England  als  Asyl  für  alle  Verbannten  seinem  »Gewerbe«  ergeben, 
Revolutionen  auf  dem  Festlande  anzuzetteln.  Ein  paar  Jahre  noch, 
und  das  Ungewitter  der  Tiefe  brach  los;  von  Napoleon  geschürt  und 
geleitet,  Krieg  und  Revolution  zugleich,  überglühte  es  ganz  Italien 
von  den  Alpen  bis  zu  der  Südküste  Siziliens.  Und  während  diese 
Nation  ihren  Staat  im  Sturm  gewann,  fiel  in  Deutschland  die  gleiche 
Bewegung,  kaum  entfacht,  abermals  in  sich  zusammen  und  ver- 
strickte sich  der  Herrscher,  auf  den  die  Patrioten  alle  ihre  Hoffnungen 
gesetzt,  mit  seinem  Landtag  im  Kampf  um  die  Macht  in  einen  Hader, 
aus  dem  schließHch  weder  er  noch  eine  der  Parteien  einen  Ausweg 
fanden. 

In  diesem  Moment  hat  Bismarck  das  Steuer  seines  Staates  er- 
griffen. Sein  König  hatte  ihn  gerufen,  damit  er  ihm  gegen  die  inneren 
Feinde  helfe.  Er  aber  lenkte,  kaum  daß  er  im  Amte  war,  den  Kurs 
gerade  auf  den  Feind  zu,  gegen  den  er  schon  in  Frankfurt  auf  der 
Wacht  gestanden. 

In  vier  Jahren  war  er  am  Ziel.  Der  Kampf  um  die  Macht,  um 
die  Macht  über  Deutschland,  war  entschieden.  Der  Scheitelpunkt 
seiner  Bahn  war  erreicht.  AugenbHcks  wandte  er  jetzt  sein  Anthtz 
dem  Pol  zu,  von  dem  er  sich  immer  noch  abgekehrt  hatte,  der  Idee, 
als  deren  Verächter  er  bisher  gegolten  hatte:  dem  Aufbau  des 
deutschen    Staates. 

Und  alsobcdd  veränderten  sich  alle  Linien  seiner  PoUtik.  Sieben 
Jahre  zuvor,  damals  als  er  bei  den  Parteien  als  der  Verräter,  als 
Dienstknecht  des  Höllensohnes  Bonaparte  verschrien  war,  hatte  er 
zu  einem  Freunde  gemeint,  daß,  wenn  er  von  einem  Teufel  besessen 
sei,  es  kein  gallischer,  sondern  ein  teutonischer  sein  müsse.  Jetzt 
sollte  er  dessen  Kraft  an  sich  erfahren.  Aus  der  Tiefe  her  hielt  der- 
selbe ihn  fest.  Seine  innere  wie  seine  äußere  PoHtik  erhielt  von  diesem 
Geist  fortan  die  Richtung.    Er  gewann  unerhörte  Kräfte,  so  oft  er 


128 

ihn  anrief,  und  mußte  sich  fast  hüten,  den  überstarken  zu  zitieren; 
nur  mit  Mühe  konnte  er,  schon  ein  halbes  Jahr  nach  der  Nieder- 
werfung Österreichs,  in  der  Luxemburger  Frage  den  Strom  dieser 
Kräfte  abdämmen;  aber  er  benutzte  alsbald  die  Glut,  die  sie  ent- 
facht, mn  mit  den  letzten  Hammerschlägen  die  Verfassung  des  Nord- 
deutschen Bimdes  fertig  zu  schmieden,  die  dann  die  Grundlage  des 
neuen  Reiches  geworden  ist.  Er  selbst  entzündete  dies  Feuer,  als  er  im 
Juli  1870  die  Nation  gegen  Frankreich  entflammen  wollte,  und  es  ist 
nicht  auszudenken,  welche  Kräfte  dadurch  gelöst  wurden ;  nur  so  konnten 
damals,  wie  wiederum  heute,  unsere  Feinde  zu  Boden  gestreckt  werden. 

Aber  die  nationale  Idee  hat  den  Starken  auch  im  Wege  hinein- 
gezwungen, die  er  heber  vermieden  hätte.  Sie  nötigte  ihn  im  JuH 
1866  dazu,  der  Opposition  die  Hand  zu  reichen  und  brachte  ihn, 
von  dem  Gesuch  um  Indemnität  an  bis  hin  zum  Frieden  von  Wien, 
in  immer  neue  aufreibende  Kämpfe  mit  seinem  könighchen  Herrn. 
Sie  führte  den  Bruch  mit  seiner  eigenen  Partei  herbei  und  unter- 
warf ihn  Forderungen  der  Liberalen,  die  er  sonst  nie  bewiUigt  hätte. 
Und  vor  allem,  sie  übte  von  selten  der  auswärtigen  PoHtik  einen 
Druck  auf  ihn  aus,  den  er  in  den  alten  Zeiten  niemals  gefühlt  hatte. 
Nim  zeigte  es  sich,  daß  die  Angst,  welche  die  Patrioten  immer  vor 
dem  Zaren  und  dem  französischen  Cäsar  gehabt  hatten,  nicht  grundlos 
gewesen  war.  Waren  die  europäischen  Krisen  vordem  das  rechte 
Wetter  für  Bismarcks  PoHtik  gewesen,  so  mußte  er,  nachdem  es  ihm 
noch  einmal  gelungen  war,  den  ältesten  und  gefährlichsten  aUer 
Gegner  Deutschlands,  Frankreich,  zu  isoHeren  und  niederzuwerfen, 
fortan  aUes  daransetzen,  um  solche  Stürme  zu  vermeiden.  Bis  ans 
Ende  seiner  Herrschaft  hat  nun  dieser  Gedanke  seine  PoHtik  be- 
herrscht; aUe  Bündnisse,  die  er  schloß,  aUe  Verhandlungen,  die  er 
führte,  dienten  dem  Zweck,  den  Frieden,  den  er  der  Nation  erobert, 
nach  außen  zu  behaupten.  Ein  wahrhaft  göttHches  Geschick,  das 
uns  die  Todfeinde  in  die  Flanken  setzte,  damit  der  Geist,  der  in 
den  Jahrhunderten  der  Ohnmacht  und  der  Sehnsucht  in  ims  er- 
wachsen war,  in  dem  Frieden,  den  die  Macht  verbürgt,  weiter  blühen 
könne.  Es  ist  das  Ziel,  das  uns  auch  in  dem  neuen  Kriege  gestellt 
ist,  und  durch  nichts  kann  besser  bewährt  werden,  daß  es  Bismarcks 
Werk  ist,  welches  wir  durch  ihn  schirmen. 

Aber  wir  begreifen  es  nun,  daß  die  Last,  die  jedes  Jahr  drückender 
wurde,  auch  seine  gewaltige  Kraft  zu  zermürben  drohte,  und  daß 


129 

finstere  Gedanken,  dunklere  Schatten  sich  auf  seine  Seele  senkten, 
Stimmungen  der  Schwermut  und  Resignation  ihn  überkamen.  Dies 
sind  die  Jahre,  in  denen  er  davon  sprach,  daß  auch  der  Staatsmann 
nichts  weiter  sei  als  ein  Geschöpf  der  Verhältnisse,  und  wo  er  über 
diejenigen  lachen  konnte,  die  ihm  überhaupt  eine  besondere  Macht 
zuschrieben,  indem  sie  Gewalt  und  Willkür  verwechselten.  Es  war 
das  prometheische  Los,  das  ihm  schon  Freund  Roon  vorhergesagt 
hatte,  und  das  noch  alle  Gewaltigen  auf  Erden  getroffen  hat. 

Dennoch  bheb  er  bis  ans  Ende  der  Kämpfer,  und  hat  sich  sein 
Werk  in  seinen  Grundlagen  voll  behauptet.  Ein  kunstvoll  geeinigtes 
Chaos,  so  hatte  der  Erbe  des  preußischen  Thrones,  für  den  er  die 
Kaiserkrone  geschmiedet,  die  Verfassung  bezeichnet,  welche  Bis- 
marck  dem  Reiche  gab :  es  ist  die  gleiche,  die  uns  heute  den  ungeheuren 
Kampf  durchhalten  läßt.  AUe  Maße  waren  richtig  berechnet,  auch 
solche,  an  denen  er  selbst  gezweifelt  hat;  ja  gerade  diese  bewähren 
heute  ihre  Stärke:  um  keine  Liiüe  ist  der  Bau  aus  seinen  Fugen  ge- 
wichen. Die  Grundkräfte  des  deutschen  Lebens  sind  darin  zu  voller 
Harmonie  vereinigt:  die  nationale  Idee,  die  Idee  des  Jahrhunderts 
der  Revolutionen,  ist  darin  verschmolzen  mit  den  Kräften,  die  in 
den  alten  Zeiten  gebildet  waren  und  das  zerfallende  Reich  wie  die 
Kämpfe  um  die  Einigung  selbst  überdauert  haben.  Denn  alles,  was 
Macht  war,  erkannte  Bismarck  an  und  schonte  es,  sobald  es  sich 
seinem  Staatsgedanken  unterwarf.  Darum  ward  der  freiwillige  Zu- 
sammenschluß das  Grimdgesetz  des  neuen  Bundes,  dem  er  den  alten 
Namen  des  Reiches  zurückgab.  Den  Staaten,  die  es  bilden,  über- 
ließ er  die  Pflege  des  kulturellen  Lebens,  das  sie  in  ihren  Bereichen 
eigentümhch  entwickelt  hatten,  alles,  was  lokales  Interesse  besitzt, 
das  eigentlich  HeimatUche.  Was  aber  die  Macht  verlangt,  die  uns 
die  Güter  der  Kultur  erst  sichert,  dem  Genius  der  Nation  freie  Ent- 
faltung gewährt,  was  ihr  die  Möghchkeit  bietet,  frei  zu  atmen  in 
der  Welt,  das  hat  er  in  den  gemeinsamen  Organen  des  Rechts,  der 
Wirtschaft  und  des  Krieges  zusammengefaßt. 


Nur  wenn  wir  den  Schöpfer  von  Kaiser  und  Reich  seinem  Werke 
Selbst  gegenüberstellen,  wird  uns  seine  titanische  Gestalt  in  allen 
ihren  Zügen  sichtbar,  wird  uns  seine  Entwicklung  selbst  verständ- 
lich: die  EinheitHchkeit  und  Geschlossenheit  seiner  PoUtik,  die  wie 
ein  von  einem   Gedanken  beherrschtes   System  sich  vor  uns  aus- 

Lenz,  Wille,  Macht  uud  Scbicksal.  9 


130 

breitet,  wie  ein  planmäßig  in  allen  seinen  Teilen  wohlberechnetes 
Kunstwerk  sich  darstellt;  die  Beharrlichkeit  und  die  Vorsicht;  die 
Geduld  auch,  mit  der  er  seine  Pläne  verfolgte,  und  der  Trotz,  die 
UnerbittUchkeit,  mit  der  er  sie  durchführte ;  auch  wohl  die  Ungeduld, 
die  ihn  oft  übermannte,  der  Herrscherwille,  der  seiner  Herrscher- 
kraft entsprach,  die  Glut  der  Leidenschaft,  ohne  die  er  niemals  seine 
Ziele  erreicht  hätte;  das  Nibelungenhafte  seiner  Natur,  das  ihn, 
der  im  Glanz  der  Morgensonne  seines  Lebens  wie  Jung  Siegfried  aus- 
gezogen war,  gegen  das  Ende  seiner  Tage  den  altgewordenen  Helden 
unserer  Sage  gleichen  ließ,  an  den  grimmen  Hildebrand,  an  Hagens 
Zornmut  und  den  Feueratem  des  starken  und  getreuen  Dietrich 
von  Bern  uns  erinnern  könnte:  das  Dämonische  mit  einem  Wort, 
das  ihm  wie  allen  Baumeistern  der  historischen  Welt,  die  immer 
zugleich  Zerstörer  waren  und  Schöpfer,  zu  eigen  war.  So  wie  es  uns 
seine  Bilder  offenbaren,  von  den  weichen  Formen  der  Jugendzeit 
an  bis  zu  den  von  tragischer  Schwere  umwitterten  Zügen  seiner  Alters- 
gestalt mit  dem  dunklen  Glühen  seiner  Augen:  Züge,  die  der  Meister 
des  Hambm-ger  Denkmals  fast  ins  Überirdische,  zu  finsterer  Majestät 
erhöht  hat. 

Es  ist  alles  so  gekommen,  wie  er  es  in  jener  erhabenen  Rede 
vorausgesagt  hat :  die  Feinde  Deutschlands,  deren  PoHtik  er  mit  rück- 
haltloser Offenheit  darin  kennzeichnete,  haben  ihre  Gedanken  offenbar 
gemacht,  alle  ihre  Kräfte  haben  sie  gegen  uns  vereinigt.  Aber  auch 
sein  Prophetenwort,  daß,  wenn  es  um  unsere  Ehre,  unsere  Freiheit 
gehen  sollte,  das  ganze  Deutschland  von  der  Memel  bis  zum  Boden- 
see wie  eine  Pulvermine  aufbrennen  würde,  ist  Wahrheit  geworden. 
Es  ist,  als  ob  der  steinerne  Riese  auf  der  Kuppe  des  Hamburger 
Stadtwalles  von  seinem  Postament  herabgestiegen  wäre  und  sich 
zu  seinen  Deutschen  im  Felde  gesellt  hätte.  In  Wahrheit,  Bismarcks 
gewaltiger  Schatten  zieht  mit  in  unseren  Heeren.  Sein  Schwert 
ist  es,  dessen  Schläge  draußen  so  furchtbar  widerhallen;  und  wohin 
seine  Flammenblitze  fahren,  dringt  Verderben  unter  die  Feinde 
des  deutschen  Namens:  als  kämpfe  St.  Michael  selber  in  unseren 
Reihen.  Denn  der  Geist  unserer  Väter  ist  in  uns  lebendig  gebüeben, 
die  Vaterlandsüebe  ist  zum  Gemeingut  der  ganzen  deutschen  Nation 
geworden,  und  jeder  Wehrmann  hegt,  so  wie  er  es  damals  verkündigt 
hat,  den  festen  Glauben  im  Herzen:  Gott  wird  mit   uns  sein. 


Bistnardc  als  Diplomat. 

(Januar  1915.) 

Vor  einigen  Jahren  war  bei  uns  in  der  Öffentlichkeit  eine  leb- 
hafte Diskussion  entbrannt  über  eine  Reform  des  diplomatischen 
Dienstes.  Nicht  nur  in  der  Presse,  sondern  auch  im  Parlament  wiurde 
Klage  darüber  geführt,  daß  der  Kreis,  aus  dem  die  Regierung  ihre 
jungen  Diplomaten  wähle,  zu  eng  gezogen  sei;  daß  die  Vorbildung, 
besonders  auf  geschichthchem  Gebiet  und  in  allen  wirtschafthchen 
Fragen,  zu  gering  sei;  daß  man  auf  die  Zugehörigkeit  zu  einem  der 
vornehmen  Korps  oder  einem  der  Garderegimenter  und  auf  hoch- 
klingende Adelstitel  mehr  Gewicht  lege  als  auf  Kenntnisse;  und 
daß  man  auf  große  Revenuen  und  gesellschaftliche  Toumure  mehr 
achte  als  auf  geistige  Ressourcen.  Solchen  Vorwürfen  gegenüber 
hatte  die  Regierung  keinen  leichten  Stand.  Denn  sie  konnte  nicht 
leugnen,  daß  die  Arbeit  unserer  Diplomaten  nur  geringe  Erfolge 
aufzuweisen  habe.  Und  so  ist  denn  auch  seitdem  manches  geschehen, 
imi  den  jungen  Herren  in  der  Wilhelmstraße  ein  stärkeres  geistiges 
Rüstzeug  mitzugeben;  und  dann  und  wann  mag  ja  wohl  auch  aus 
den  gehobenen  bürgerlichen  Kreisen  der  eine  oder  der  andere,  statt, 
wie  es  sonst  zu  geschehen  pflegte,  in  die  Konsulatskarriere  abge- 
schoben oder  in  der  Zentralverwaltung  verwandt  zu  werden,  zu  dem 
höheren  auswärtigen  Dienst  zugelassen  sein. 

Heute  sieht  jedermann,  daß  imsere  Diplomatie  in  der  Tat  gegen- 
über den  feindlichen  Kräften,  die  uns  seit  Jahren  bedrängten,  versagt 
hat;  daß  sie  die  Zahl  unserer  Feinde  nicht  vermindert  und  die  unserer 
Freunde  nicht  vermehrt  hat;  und  daß  sie  selbst  von  der  Plötzhchkeit 
und  der  Schwere  der  Katastrophe  kaum  weniger  überrascht  worden 
ist  als  die  breite  Welt  der  diplomatischen  Laien.  Unser  führender 
Staatsmann  hat  es  in  jener  Stimde,  da  der  enghsche  Botschafter  ihm 
die  Kriegserklärung  seines  Landes  überbrachte  —  gewiß  einer  der 
bedeutungsvollsten  Momente  in  der  neueren  Geschichte  —  rück- 
haltlos bekannt,  daß  seine  Politik  ein  Fehlschlag  gewesen  sei,  in  Worten, 


132 

die  durch  den  leidenschaftlichen  Ton,  den  Schmerz  und  die  sittHche 
Empörung,  die  sie  durchbebten,  offenbarten,  wie  ernst  es  ihm  mit 
seinem  durch  fünf  lange  Jahre  durchgeführten  Bestreben  gewesen 
ist,  den  stärksten  und  hinterhaltigsten  unserer  Rivalen  zum  Freunde 
zu  gewinnen. 

Seitdem  hat  das  Schwert  das  Wort.  Und  siehe  da,  dies  brachte 
uns  sofort,  was  der  Feder  versagt  geblieben  war:  diplomatische  Er- 
folge. Der  alte  Dreibund  wurde  durch  den  Ausbruch  des  Krieges 
gesprengt;  denn  mag  er  auch  dem  Namen  nach  noch  heute  gelten, 
so  weiß  doch  alle  Welt,  wie  wenig  er  in  Wirklichkeit  bedeutet,  und 
daß  wir  noch  froh  sein  mußten,  wenn  die  Freundschaft  mit  Italien 
sich  nicht  ins  Gegenteil  verwandelte:  hatte  es  doch  bereits  zur  Zeit 
des  Friedens  in  den  Fällen,  wo  es  auf  die  Probe  ankam,  seine  Stellung 
jedesmal  bei  unseren  Gegnern  genommen  und  da,  wo  es  auf  eigenen 
Wegen  ging,  unsere  Kreise  direkt  gestört.  Statt  dessen  aber  ist  ein 
neuer  Dreibund  entstanden,  der,  wenn  etwa  die  Mittelstücke,  welche 
bisher  fehlen,  noch  hinzukommen  sollten,  von  Wilhelmshaven  bis 
Bagdad  reichen  würde  und  auf  jeden  Fall  einen  stärkeren  Wall  dar- 
stellt, als  das  heute  auseinandergebrochene  Zentraleuropa:  weil  er 
eben  durch  das  Schwert  gegründet,  durch  den  Kampf,  den  jedes 
seiner  GHeder  um  die  Existenz  zu  führen  gezwungen  ist,  zusammen- 
gefügt wurde.  Noch  wissen  wir  nicht,  wie  jene  Zwischenstaaten 
sich  verhalten  werden.  Wie  aber  auch  immer  die  Dinge  laufen  werden, 
unser  Schwert  allein  wird  ebensowohl  andere  Schwerter,  die  sich 
schon  in  der  Scheide  lockern  wollten,  darin  zurückhalten,  wie  es  sie, 
falls  wir  mit  ihm  unsere  Feinde  niederschmettern,  an  unsere  Seite 
bringen  wird.  Auch  die  neuen  Diplomaten,  welche  unsere  Sache 
jetzt  an  den  fremden  Höfen  vertreten,  werden,  wie  genau  sie  mit 
den  Intentionen  unserer  Regierung  und  derjenigen,  bei  denen  sie 
akkreditiert  sind,  vertraut  sein,  wie  tief  ihre  Einsicht  und  wie  fest 
auch  ihr  Wille  sein  mögen,  nichts  erreichen  ohne  die  Macht,  die 
hinter  ihnen  steht.  Diese  allein  kann  uns  die  Freunde  erhalten,  die 
Avir  besaßen,  und  neue  gewinnen,  wie  sie  allein  unsere  Feinde  nieder- 
zwingen wird. 

Dürfen  wir  danach  sagen,  daß  jene  Klagen  oder  Vorwürfe  gegen 
eine  Klasse  von  Beamten,  denen  unsere  Regierung  die  wichtigsten 
Interessen  der  Nation  anvertraut,  berechtigt  waren  ?  Doch  nur  dann, 
wenn    es    diplomatischer    Geschicklichkeit    möglich    gewesen    wäre. 


133 

den  Felssturz,  der  im  Sommer  plötzlich  und  urgewaltig  auf  uns  nieder- 
brach,  zurückzuhalten.  Es  gibt  jedoch  in  der  großen  Politik  säkulare 
Verschiebungen,  die  auch  die  einsichtigste  und  kraftvollste  Staats- 
kunst (für  welche  die  Diplomatie  doch  immer  nur  Mittel  und  Werkzeug 
ist,  zu  der  sie  sich  verhält  wie  die  Taktik  zur  Strategie)  nicht  ver- 
hindern kann.  Das  sind  die  großen  Krisen,  die  Weltwenden  in  der 
Geschichte,  wie  diejenige  eine  ist,  die  wir  heute  erleben:  wo  der 
Staatsmann  nichts  weiter  vermag  als  den  Moment,  den  das  Schicksal 
ihm  setzt,  zu  erfassen,  wo  seine  Kunst  gerade  darin  besteht,  daß  er 
an  die  Macht,  an  das  Schwert  zu  appelieren  den  Entschluß  faßt, 
den  Krieg  als  das  letzte  Mittel  der  Politik,  als  die  ultima  ratio  regum 
ergreift.  Ein  solcher  Moment  trat  ein  für  Friedrich  den  Großen 
im  Sommer  1756,  als  sich  ihm  die  Koalition  Rußlands,  Österreichs 
und  Frankreichs  in  unabwendbarer  Nähe  am  Horizonte  abzeichnete; 
für  Napoleon  im  Frühjahr  1803,  als  England  den  Frieden,  zu  dem 
es  ein  Jahr  vorher  sich  verstanden  hatte,  zu  brechen  entschlossen 
war;  und  für  Bismarck  am  13.  Juli  1870,  als  er  durch  Umredigierung 
der  Emser  Depesche  das  schon  halb  verlorene  Spiel  herstellte  und, 
was  ein  Rückzug  zu  werden  drohte,  mit  ein  paar  Federstrichen  in 
einen  nicht  mehr  zu  hemmenden  Angriff  verwandelte. 

Niemand  ist  sich  dieser  in  der  Natur  der  Dinge  liegenden  Not- 
wendigkeit stärker  bewußt  gewesen  als  der  Schöpfer  unseres  Reiches. 
Zu  allen  Zeiten  hat  Bismarck  gewußt,  daß  die  Welle  sich  nicht  lenken 
läßt,  daß  alle  Kunst  und  Kraft,  die  dem  Staatsmann  zu  Gebote 
steht,  nur  darin  beruht,  das  Staatsschiff  den  Stürmen  zmn  Trotz 
im  rechten  Kurs  zu  halten.  Jahre  hindurch  hat  er  mit  ihm  die  hohe 
See  der  Politik  aufgesucht  und  gerade  die  großen  Krisen  (nach  seinem 
eigenen  Wort)  als  das  Wetter  begrüßt,  in  dem  Preußens  Macht  wachsen 
werde.  Danach  hat  er  zwei  Jahrzehnte  hindurch  unausgesetzt  mit 
eingerefften  Segeln  seine  Fahrt  gemacht  und  alles  getan,  um  den 
Zusammenprall  zu  vermeiden;  nahe  am  Ufer,  ja  im  Hafen  selbst 
hat  er  sich  nun  gehalten:  aber  auch  da  waren  es  jederzeit  die  Fels- 
wände der  Macht,  neben  denen  er  ankerte,  und  vor  denen  es  allen 
Gegnern  Deutschlands  grauste.  Daß  es  ihm  in  dieser  Epoche  seines 
Wirkens  gelungen  ist,  den  Zusammenstoß  mit  überlegenen  Gewalten 
zu  vermeiden,  darf  wohl  als  die  größte  Probe  seiner  Staatskunst 
aufgefaßt  werden.  Aber  auch  dies  war  nur  möglich,  weil  der  zwei 
Jahrhunderte    alte    Gegensatz    zwischen    Frankreich    und    England, 


134 

und  ebenso  der  neuere,  erst  im  19.  Jahrhundert  entwickelte,  zwischen 
England  und  Rußland  noch  bestanden:  Konstellationen,  die  seitdem, 
wie  wir  es  heute  erleben,  beseitigt  oder  wenigstens  hinausgeschoben 
sind  und  einem  Kriegsbund  dieser  drei  Mächte  und  ihrer  Vasallen 
gegen  uns  Platz  gemacht  haben.  Nicht  eher  also,  als  bis  uns  be- 
wiesen würde,  daß  es  möglich  gewesen  wäre,  diese  Umgruppierung 
der  großen  Mächte  zu  verhindern,  oder  daß  wir  unsere  Machtziele 
trotz  der  Tripleentente  hätten  erreichen  können,  dürften  wir  in  jene 
Anklage  rückhaltlos  einstimmen. 


Auch  Bismarck  hat  gelegentlich  das  Bedürfnis  einer  besonderen 
Vorbildung  für  die  diplomatische  Karriere  betont.  Jedoch  verlangte 
er  dies  nicht  eigenthch  von  den  Diplomaten  von  Fach;  er  richtete 
solche  Mahnungen  vielmehr  an  diejenigen  unter  seinen  Gegnern, 
welche,  ohne  irgendwie  als  Fachleute  in  der  hohen  Politik  sich  be- 
währt zu  haben,  ihm  dennoch  die  Ziele  der  preußischen  und  der 
deutschen  Politik  anzugeben  wußten  und  die  Methoden,  die  er  an- 
wandte, einer  oft  überaus  scharfen  Kritik  unterzogen.  Es  waren 
die  Herren  von  der  liberalen  Oppostion,  welche  in  den  Kämpfen 
um  die  deutsche  Einheit  andere  Wege  vorhatten  als  die,  welche 
Bismarck  gewählt  hatte.  Er  suchte  diese  unerbetenen  Ratschläge 
dann  wohl  mit  der  Bemerkung  abzuwehren,  daß  jene  von  Dingen 
sprächen,  die  außerhalb  ihres  Horizontes  lägen,  und  zu  denen  eine 
fachgemäße  Vorbildung  gehöre.  Und  diese  Auffassung  ist  durch  den 
Erfolg,  den  Sieg  Bismarks  so  allgemein  geworden,  daß  sie  sogar  noch 
heute  zuweilen  vorgetragen  wird  und  nicht  nur  für  Bismarck,  sondern 
auch  für  seine  Nachfolger  gelten  soll.  An  seine  eigenen  Kollegen 
hat  Bismarck  jedoch  niemals  solche  Anforderungen  gestellt.  Er 
beklagte  sich  wohl  eher  über  die  beamtenmäßige  Manier,  mit  der 
in  der  preußischen  Diplomatie  die  Geschäfte  getrieben  würden; 
»wir  betreiben«,  schreibt  er  an  den  General  von  Gerlach  schon  im 
zweiten  Bericht  von  seiner  Frankfurter  Gesandtschaft,  »eine  Menge 
kleiner  Sachen,  die  allerdings  notwendig  gemacht  werden  müssen,  mit 
denen  aber  der  große  Apparat  von  so  vielen  hochbezahlten  Gesandt- 
schaften und  Unterbehörden  kaum  im  Verhältnis  zu  stehen  scheint «. 
Und  der  dürftige  Nachwuchs  in  der  preußischen  Diplomatie  erregte 
ihm  ganz  so  wie  ihren  heutigen  Anklägern  die  Galle:  »Die  Menschen«, 
so  lesen  wir  in  einem  anderen  Briefe  aus  jener  Zeit,  »fehlen  uns  zum 


135 

Verzweifeln.«  Aber  die  Eigenschaften,  die  er  fordert,  haben  mit 
den  Ansprüchen,  die  er  der  Hberalen  Opposition  der  60  er  Jahre, 
etwa  einem  Gneist  oder  Virchow  gegenüber  machte,  nichts  zu  tun. 
»Prillwitz  von  den  Gardekürassieren«,  so  schreibt  er  an  den  General, 
»hat  große  Lust  hierher,  weil  er  in  die  Jahre  kommt,  wo  ihm  das 
unverständige  Fähndrichsleben,  das  er  bisher  getrieben,  drückend 
wird.  Ich  hätte  ihn  sehr  gern,  weil  ich  glaube,  daß  sich  etwas  aus 
ihm  machen  läßt.  Er  hat  ungewöhnhch  viel  Mutterwitz,  ein  sehr 
preußisches  Herz  und  ist  doch  soweit  vernünftig  schon  geworden, 
daß  er  die  Mängel  seiner  Ausbildung  fühlt  und  sich  durch  Haus- 
lehrer mit  tägHchem  Unterricht  nachzuhelfen  sucht.«  Vollends  an 
bürgerHchen  Ersatz  senkt  Bismarck  überhaupt  nicht.  Im  Gegenteil, 
indem  er  einem  seiner  Kollegen  die  Befähigimg  zum  Diplomaten 
durchaus  abspricht,  meint  er,  derselbe  sei,  »etwa  ein  Diplomat  von 
der  Art  wie  sie  Harkort  und  anderen  Demokraten  vorschweben, 
wenn  sie  der  Kammer  bürgerHche  Geschäftsträger  und  Konsuln 
statt  der  besternten  Grafen  anpreisen«  —  woraus  man  sieht,  daß  die 
Forderungen,  denen  unsere  Regierung  heute  einigermaßen  nach- 
zugeben sich  anschickte,  schon  im  Jahre  1853  von  der  gleichen  Seite 
vorgebracht  worden  sind.  FreiHch  hat  Bismarck  selbst  eine  ganze 
Reihe  bürgerlicher  Namen  in  seinen  Dienst  gezogen;  ich  brauche  nur 
an  Lothar  Bucher  zu  erinnern,  lange  Zeit  der  intimste  seiner  Helfer, 
oder  an  Busch,  den  Staatssekretär,  den  Bismarck  ebenfalls  hoch- 
schätzte, auch  an  kleinere  Geister,  wie  die  Hepke,  Ägidy  und  Moritz 
Busch,  das  »Büschchen«,  wie  Bismarck  wohl  einmal  den  kleinen 
Mann,  wenn  er  ihn  vmiwedelte,  nannte.  Aber  er  hat  sie  und  andere 
fast  nur  zu  seinem  persönUchen  Dienst  imd  im  Zentrum  der  Geschäfte 
verwandt.  Für  die  Vertretung  des  Staates  an  den  Höfen  sah  auch  er 
es  als  selbstverständhch  an,  daß  nach  dem  alten  Herkommen  und 
dem  allgemeinen  Brauch,  wenigstens  der  monarchischen  Regie- 
rungen, Mitgheder  der  aristokratischen  Gesellschaft  gewählt  würden. 
Zwar  zufrieden  war  er  auch  mit  ihnen  selten  genug.  Von  dem  vorhin 
Genannten,  den  er  als  den  Idealdiplomaten  der  Demokratie  charak- 
terisiert, meinte  er,  er  sei  »unter  uns  gesagt  ein  ganzer  Narr  mit  Stern 
und  Eichenlaub«.  Nicht  ganz  so  scharf,  aber  ebenfalls  von  geringer 
Anerkennung  zeugend,  lauten  seine  Urteile  über  Diplomaten  wie  Josias 
Bunsen,  Graf  Harry  von  Arnim  und  den  Herrn  von  Werther,  dem 
sein  unerhörtes  Ungeschick  als  Botschafter  in  Paris  im   Juli  1870 


136 

das  Genick  brach;  sowie  Bismarck  auch  die  Minister,  unter  denen 
er  diente,  einen  Otto  v.  Manteuffel,  v.  Schleinitz  und  Graf  Bernstorff,. 
nicht  eben  hoch  einschätzte.  Auch  Robert  von  der  Goltz,  für  dessen 
Übernahme  in  den  diplomatischen  Dienst  er  sich  in  seiner  Frank- 
furter Zeit  eingesetzt  hatte,  und  zwar  wesentlich  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt, um  ihn  aus  der  Umgebung  der  Wochenblattpartei  zu 
entfernen,  wurde  ihm  später  überaus  lästig.  Kaum  einer  der  großen 
Posten  war  ihm  in  der  Zeit  seiner  drei  Kriege  nach  Gefallen  besetzt ; 
weder  Savigny  noch  Arnim  noch  Werther,  geschweige  Graf  Usedom,, 
dienten  ihm  so  wie  er  es  wünschte.  Und  wenn  Goltz  als  der  einzige 
nicht  durch  Bismarck  selbst  entfernt  worden  ist,  so  hat  es  nur 
daran  gelegen,  daß  ihn  der  Tod,  bevor  der  Bruch  entschieden  war,, 
hinwegnahm. 

Er  selbst  jedoch  hat  von  allen  schulmäßigen  Bedingungen,  welche 
heute  an  einen  richtigen,  seinen  Aufgaben  gewachsenen  Diplomaten 
gestellt  werden,  keine  einzige  erfüllt;  es  müßten  denn  seine  Sprach- 
kenntnisse genannt  werden,  vor  allem  seine  wundervolle  Beherrschung 
des  Französischen,  wodurch  er  bei  einer  Audienz  im  Sommer  1862  sogar 
dem  Kaiser  Napoleon  imponierte.   Er  hatte  ja,  als  er  die  Universität 
bezog,  an  die  diplomatische  Laufbahn  gedacht,  und  damals  erfüllte 
ihn  wirkhch  der  Traum,  ein  neuer  Metternich  oder  Talle3Tand  zu 
werden;  der  Ehrgeiz,  wie  er  später  einem  Universitätsfreund  schrieb, 
war  noch  der  Lotse  auf  seiner  Lebensbahn.    An  dieser  Absicht  hielt 
er  noch  fest,  als  seine  Eltern  es  schon  nicht  mehr  wünschten  und 
ihm  die  Offizierslaufbahn  anrieten.   Dann  aber  wurde  ihm  der  Dienst 
in  den  preußischen  Schreibstuben,  die  Aussicht,  auch  beim  Ergreifen 
der    diplomatischen    Karriere    aus    der    Engigkeit    bureaukr atischer 
Formen  nicht  herauskommen  zu  können,  mehr  und  mehr  lästig;  er 
riß  sich  von  den  Fesseln  des  Staates,  welche  seine  junge  Kraft  nicht 
zu  ertragen  vermochte,  ganz  los,  um  in  der  freien  Luft  des  Land- 
lebens das  zu  gewinnen,  wonach  seine  Seele  dürstete:  Unabhängig- 
keit, das  hieß  Herrschaft.   Und  erst  die  Revolution  führte  ihn  wieder 
zum  Staate  zurück.    Sie  hat  ihm,  wie  vielen  andern,  freie  Bahn  für 
die  Entwicklung  seiner  Kräfte  gemacht.    Wäre  sie  nicht  gekommen, 
er  hätte  wohl  sein  Leben  als  Deichhauptmann  in  Schönhausen  be- 
schlossen.   In  der  Revolution  aber  war  es  ganz  die  innere  Politik, 
der  er  sich  ergab:  der  Rettung  der  Krone  vor  dem  An  wogen  der 
Demokratie,    der    Aufrechterhaltung    Preußens    gegen    die    alsbald 


137 

fessellos  gewordene  deutsche  Bewegung  galt  sein  Sinnen  und  Wirken, 
mochten  auch  dann  und  wann  bereits  Gedanken  in  ihm  aufblitzen, 
die  auf  die  spätere  Richtung  seiner  auswärtigen  Pohtik  hinwiesen. 
Auf  diesem  Felde  hat  er  zuerst  alle  Künste  seiner  Diplomatie  ent- 
wickelt; es  ist  die  Zeit,  wo  er  meist  in  Potsdam  war,  »um«,  wie  er 
jenem  Universitätsfreunde  schrieb,  »einer  ruchlosen  Kamarilla  zu 
assistieren  «. 


Und  diese  Verdienste  sind  es  gewesen,  welche  ihm  die  Stellung 
in  Frankfurt  einbrachten;  so  wie  sein  Freund  und  Parteigenosse 
Herr  von  Kleist-Retzow  als  Lohn  für  ähnliche  Taten  das  Oberprä- 
sidium der  Rheinprovinz  erhielt.  Es  galt,  Preußen  nach  der  Nieder- 
lage von  Olmütz  wieder  eine  Stellung  in  dem  bundestäglichen  Deutsch- 
land zu  verschaffen,  es  mit  Österreich  näher  zusammenzubringen, 
anderseits  aber  die  Mittel-  und  Kleinstaaten,  die  durch  die  unglück- 
liche Unionspohtik  an  den  Wiener  Hof  herangedrängt  waren,  von 
diesem  abzuziehen  und  (worin  man  sich  mit  allen  Bundesregierungen 
am  meisten  im  Einklang  finden  durfte)  die  Reste  des  revolutionären 
Geistes  in  dem  gesamten  Bundesgebiet  auszutilgen. 

In  der  Zeit,  als  Bismarck  zu  der  Höhe  des  Sieges  emporstieg 
und  alle  Welt  über  die  Größe  seiner  Erfolge  und  die  Geniahtät  seiner 
Pohtik  fast  sprachlos  war,  pflegte  man  die  Frankfurter  Jahre  als 
seine  Lehrzeit  in  der  Diplomatie  zu  bezeichnen.  Hierauf  hat  bereits 
Heinrich  v.  Sybel  in  feiner  Wendung  die  richtige  Antwort  gegeben, 
wenn  er  schreibt,  diese  Auffassung  passe  genau  so,  wie  wenn  man 
von  der  Schwimmschule  eines  jungen  Fisches  spräche.  In  der  Tat 
finden  wir  Bismarck  zu  Frankfurt  vom  ersten  Tage  ab  in  seinem 
Element.  .  Jeder  Weg,  mag  er  zwischen  Klippen  hindurchführen 
oder  über  Untiefen  hinweggleiten,  ist  ihm  fortan  recht;  jedes  Hindernis 
weiß  er  zu  nehmen,  und  keines  erschreckt  ihn.  Niemand  von  seinen 
Kollegen  imponiert  ihm,  und  allen  sieht  er  imter  die  Haut;  sie  sind 
ihm  xmausstelilich  mit  ihrer  Wichtigtuerei  und  diplomatischen  Be- 
richtsmiene, die  sie  bei  jedem  Gespräch  aufsetzen,  und  wodurch 
der  ganze  Verkehr  mit  ihnen  zu  einem  gegenseitigen  mißtrauischen 
Ausspionieren  wird.  Und  wenn  man  noch  etwas  auszuspionieren  und 
zu  verbergen  hätte!  Aber  es  sind  lauter  Lappalien,  mit  denen  diese 
Leute  sich  quälen,  und  diese  Diplomaten  sind  ihm  mit  ihrer  Klein- 
lichkeitskrämerei  viel  lächerhcher  als  der  Abgeordnete  in  der  zweiten 


138 

Kammer  im  Gefühl  seiner  Würde.  Sogar  seine  eigene  Tätigkeit 
erscheint  ihm  schal  und  wertlos.  In  der  Kunst  »mit  vielen  Worten 
.gar  nichts  zu  sagen«,  schreibt  er  bereits  am  Ende  der  ersten  Woche 
an  seine  Gemahhn,  »mache  ich  reißende  Fortschritte,  schreibe  Be- 
richte von  vielen  Bogen,  die  sich  nett  und  rund  wie  Leitartikel  lesen, 
vmd  wenn  Manteuffel,  nachdem  er  sie  gelesen  hat,  sagen  kann,  was 
darin  steht,  so  kann  er  mehr  wie  ich«.  Er  weiß  genau,  daß  nur  äußere 
Ereignisse,  welche  die  Diplomatie  weder  leiten  noch  vorherbestimmen 
kann,  eine  Änderung  zustandebringen  werden.  Er  hat  nie  daran 
gezweifelt,  daß  sie  alle  mit  Wasser  kochen:  »Aber  eine  solche  nüchterne, 
einfältige  Wassersuppe,  in  der  auch  nicht  ein  einziges  Fettauge  von 
Hammeltalg  zu  spüren  ist,  überrascht  mich.  Schickt  Schnitzen 
Filöhr,  Stephan  Lotke  und  Herrn  v.  Dombrowsky  aus  dem  Chaussee- 
hause her,  wenn  sie  gewaschen  und  gekämmt  sind,  so  will  ich  in  der 
Diplomatie  Staat  mit  ihnen  machen.«  Er  sehnt  die  Zeit  herbei,  wo 
er  dieser  ganzen  »goldbeblechten  Schützenherrhchkeit«  den  Rücken 
kehren  kann  und  der  Freiheit  des  Landlebens  wiedergegeben  werden 
wird,  aus  der  ihn  das  Rad  des  Lebens,  das  ihn  erfaßte,  herausgeworfen 
hat.  Kaum  ist  er  in  Frankfurt  ein  wenig  warm  geworden,  so  ent- 
wirft er  für  seinen  Freund  Leopold  v.  Gerlach,  in  dem  ersten  Brief, 
den  er  an  ihn  schreibt,  eine  ganze  Galerie  von  Porträts  seiner  Kollegen. 
Jedem  gönnt  er  nur  zwei  bis  drei  Zeilen,  aber  sie  treten  vor  uns  hin, 
als  ob  sie  lebten;  wie  im  Kinematograph  ziehen  sie  an  dem  Leser 
vorüber.  An  der  Spitze  Seine  Exzellenz  der  Präsidialgesandte  Graf 
Thun:  »ein  Gemisch  von  ungehobelter  Derbheit,  die  leicht  für  ehrUche 
Offenheit  passiert,  von  aristokratischer  Nonchalance  und  slavisch- 
bäuerhcher  Schlauheit;  hat  stets  keine  Instruktionen  und  scheint 
wegen  Mangel  an  Geschäftskunde  von  seiner  Umgebung  abhängig 
zu  sein«.  Ihm  folgen  seine  Mitarbeiter:  der  Baron  Brenner,  »ein 
romantischer  Beau,  groß,  schön  und  brünett,  klug  und  unterrichtet, 
aber  faul,  in  Gesellschaft  schweigsam«;  weiter  der  Baron  Noll,  »etwas 
älter,  scheinbar  mehr  der  Flasche  als  den  Weibern  zugetan,  ersterer 
jedenfalls  über  den  Durst«.  Vorsicht  und  Unaufrichtigkeit  ist  der 
bemerkenswerteste  Charakterzug  in  ihrem  Verkehr  mit  den  Preußen. 
Redensarten  von  der  Notwendigkeit  gemeinsamen  und  einheitlichen 
Wirkens  haben  sie  bis  zum  Überdruß  im  Munde;  wenn  es  sich  aber 
darum  handelt,  Preußens  Wünsche  zu  fördern,  so  ist  ein  offizielles 
»nicht  entgegen  sein  wollen«  und  ein  heimliches  Vergnügen,  Hinder- 


139 

nisse  zu  bereiten,  das  einzige,  was  man  von  ihnen  zu  erwarten  hat. 
Es  folgen  die  Mittelstaatler.  Zuerst  der  Bayer,  Genersd  Xylander: 
»stellt  sich  beschränkt  und  ehrhch,  ersteres  geUngt  ihm  vollständig  <<; 
in  bezug  auf  die  zweite  Eigenschaft  hat  Bismarck  noch  kein  Urteil 
gewonnen.  Herr  v.  Nostiz,  der  Sachse,  »ist  vorsichtig,  höfUch,  biegsam, 
wie  ich  glaube,  unzuverlässig  und  falsch  aus  Schwäche,  geschäfts- 
kundig und  nach  seinen  Reden  VTÜgär  konstitutionell«.  Über  den 
Württemberger,  Herrn  v.  Reinhard  (den  Sohn  jenes  napoleonischen 
Grafen  Reinhard,  der,  ein  württembergischer  Pastorssohn,  in  jungen 
Jahren  nach  Frankreich  geraten  und,  von  den  Wellen  der  Revolution 
in  die  Höhe  getragen,  nach  langer  diplomatischer  Laufbahn  Frank- 
reichs erster  Bundestagsgesandter  gewesen  war)  ist  Bismarck  sich 
noch  nicht  klar;  später  hat  er  um  so  böser  über  ihn  geurteilt.  Der 
Badener,  Herr  v.  Marschall,  »ist  ein  kluger  gewandter  Mann,  der 
viel  Hinneigung  zu  Preußen  an  den  Tag  legt,  fast  zu  höflich;  betrügt 
auch  er  uns,  so  tut  er  es  weiügstens  mit  Anstand«.  Der  Kurhesse, 
Herr  v.  Trott,  läßt  sich  nirgends  sehen,  »lebt  einsam  in  seinem  Zim- 
mer, klcLgt  sehr  über  die  Hitze  trotz  eines  auffallend  leichten  und 
nicht  ganz  propern  häushchen  Kostüms  imd  macht  einen  etwas 
landjimkerhchen  Eindruck«.  Und  so  geht  es  weiter  bis  zu  den  ganz 
Kleinen  herunter,  dem  Herrn  v.  Fritsch  aus  Weimar,  dem  Syndikus 
Banks  von  Hamburg  und  dem  »Talleyrand  von  Bremen«,  dem  alten 
Smith,  »dem  keiner  recht  traut,  xmd  der  für  Deutschland  nur  insoweit 
Sinn  zu  haben  scheint,  als  Bremen  darin  Hegt«. 

Ein  wenig  Karrikatur  mag  ja  in  diesen  Bildern  sein,  und  die  darin 
Geschilderten  würden  sich  nicht  geschmeichelt  gefühlt  haben;  der 
BHck  für  die  Schwächen  seiner  Mitdeutschen  war  in  Bismarck  von 
früh  auf  ausgebildeter,  als  für  ihre  stärkeren  Seiten;  die  love  of  appro- 
bation,  auf  die  er  für  sich  selbst  keinen  Anspruch  machte,  war  in 
ihm  auch  andern  gegenüber,  wie  er  \\iederholt  eingestanden  hat, 
wenig  entwickelt.  Aber  im  Kern  hat  er  die  Herren  Kollegen  ohne 
Frage  richtig  und  mit  \\aindervoller  Treffsicherheit  aufgefaßt.  Er 
konnte  es,  weü  er  selbst  von  den  Schwächen  der  andern  frei  war; 
denn  Menschenkenntnis  beruht  immer  auf  Selbstbeobachtung  und 
Selbstkritik.  Er  hat  Napoleon  HL  schon  zu  einer  Zeit,  wo  dieser 
noch  in  edlen  Kabinetten  und  bei  allen  Parteien  für  einen  Ausbund 
poHtischer  Klugheit  galt,  vöUig  durchschaut,  seine  persönlichen 
Schwächen  ebenso  wie  die  wankenden  Stützen  seiner  Pohtik;  und 


140 

Gortschakow,  der  in  der  öffentlichen  Schätzung  ungefähr  die  gleiche 
Stellung  einnahm  wie  der  französische  Kaiser,  erschien  ihm  von 
Anfang  an  mehr  tölpelhaft  als  schlau;  einen  »Fuchs  in  Holzschuhen« 
nennt  er  ihn  schon  in  seinen  Frankfurter  Berichten.  Wie  er  denn 
überhaupt  von  den  russischen  Diplomaten  wenig  hielt:  »Sie  kochen«, 
schreibt  er  während  des  Krimkrieges  an  den  General  v.  Gerlach, 
»eben  auch  mit  Wasser,  und  diese  wegen  ihrer  Feinheit  und  All- 
gegenwärtigkeit sonst  so  gefürchtete  russische  Diplomatie  könnte 
zwar  nicht  von  der  unsrigen,  aber  doch  von  der  österreichischen 
sehr  viel  lernen«.  Ein  Blick,  eine  Wendung  des  allzeit  Schlagfertigen 
genügte,  um  die  Schlausten  zu  entlarven.  Er  selbst  blieb  für  jeder- 
mann unergründlich  und  jeder  Situation  gewachsen.  Mit  der  souve- 
ränen Beherrschung  aller  Verkehrsformen  verband  er  eine  Höf- 
lichkeit, die  sich  nichts  vergab  und  ihn  um  so  unnahbarer  machte. 
Man  müsse,  äußerte  er  einmal  an  der  Tafelrunde  zu  Versailles,  die 
Leute  so  rücksichtsvoll  behandeln  wie  möglich  —  oder  sie  unschäd- 
lich machen,  eins  von  beiden;  grob  sein  dürfe  man,  fügte  er  scherzend 
hinzu,  nur  gegen  seine  Frau.  Es  war  eine  Ritterlichkeit,  wie  man 
sie  dem  Gegner  auf  der  Mensur  zu  erweisen  pflegt,  oder,  wie  Bis- 
marck  selbst  es  während  der  Revolution  gegen  einen  demokratischen 
Parlamentskollegen  als  seinen  Grundsatz  bekannt  hatte:  eine  Höf- 
lichkeit »bis  zur  letzten  Galgensprosse«.  Immerhin  hatte  auch  dies 
bei  ihm  seine  Grenze.  Schon  in  Schönhausen,  in  den  schönen  Tagen 
der  ländlichen  Freiheit  und  des  Brautstandes,  hat  er  der  Geliebten 
eine  Probe  von  seiner  Verhandlungskunst  mitgeteilt,  die  ihn  noch 
im  Besitz  anderer  Mittel  zeigte.  Es  war  ihm  gelungen,  einen  durch 
vier  Jahre  hingeschleppten  Streit  zwischen  41  »übermütigen  Bauern« 
(so  schreibt  er)  durch  einen  Vergleich  beizulegen :  »Nach  vierstündiger 
Arbeit,  bei  der  ich  mit  schmeichelnder  Liebenswürdigkeit  und  klotziger 
Grobheit  wechselte  und  selbst  einige  Male  in  effektiven  Zorn  geriet, 
hatte  ich  sie  zusammen«.  Wie  oft  hat  er  diese  Taktik  (den  Gegner 
zu  erschrecken,  den  schon  Wankenden  durch  einen  leidenschaftlichen 
Angriff  zu  entwaffnen)  später  im  Großen  angewandt;  in  den  Zorn 
selbst,  so  echt  er  war,  legte  er  dann  Berechnung. 

Die  Regel  jedoch  blieb  ihm  für  alle  Pohtik  ruhiges  Beobachten, 
unbefangenes  Urteilen  und  leidenschaftsloses  Handeln,  oder  nennen 
wir  es  lieber  im  Hinbhck  auf  seine  Löwennatur :  Bändigung  der  Leiden- 
schaft.   Immer  sind  es  die  Realitäten,  auf  die  er  den  Bhck  hinlenkt: 


141 

die  allgemeine  Lage;  die  Kräfte,  über  die  der  Gegner  verfügt,  mag 
er  sie  aus  eigener  Macht  schöpfen  oder  aus  der  Verbindung  mit  andern ; 
auch  seine  persönlichen  Schwächen,  die,  wie  Bismarck  sehr  wohl 
merkt,  oft  nur  ein  Ausdruck  und  Wiederschein  der  Machtlosigkeit 
sind,  aber  gerade  darum  von  ihm  als  wichtige  Faktoren  in  die  Rechnung 
eingesetzt  werden;  und  wer  hätte  sie  besser  ausnutzen  können  als 
Bismarck!  Er  beurteilte  sie  alle  »mit  der  Ruhe  des  klassifizierenden 
Naturforschers«;  und,  wenn  ihm  einmal  etwa  im  Verkehr  mit  dem 
zanksüchtigen  und  stets  intrigierenden  Grafen  Prokesch,  Thuns 
Nachfolger  in  Frankfurt,  die  Galle  überlaufen  wollte,  so  war  ihm  jener 
im  ganzen  als  Gegner  noch  lieber  als  der  beschränkte,  aber  ehrhche 
Graf  Rechberg  —  wenigstens  so  lange  ihm  mehr  daran  lag,  sich  mit 
Österreich  zu  schlagen  als  zu  vertragen.  »Sie  müssen  pohtisch  schrei- 
ben, und  in  der  PoHtik  ist  der  Zweck  nicht  Beleidigung«,  so  ermahnt 
er  einen  seiner  Adjimkten.  »Die  Begriffe  Strafe,  Lohn,  Rache«,  so 
ist  seine  Lehre,  »gehören  nicht  in  die  Politik.  Diese  darf  der  Nemesis 
nicht  ins  Handwerk  pfuschen,  nicht  das  Richteramt  üben  wollen, 
das  ist  Sache  der  göttlichen  Vorsehung.  Die  Politik  hat  nicht  zu 
rächen,  was  geschehen  ist,  sondern  zu  sorgen,  daß  es  nicht  wieder 
geschehe.  Sie  hat  sich  unter  allen  Umständen  einzig  und  allein  mit 
der  Frage  zu  beschäftigen:  Was  ist  hierbei  der  Vorteil  meines  Landes, 
■und  wie  nehme  ich  diesen  Vorteil  am  besten  wahr?«  Er  fand  diese 
Lehre  in  einem  Lehrbuch  der  Politik,  das  er  schon  auf  der  Universität 
studiert  hatte,  eingehender  als  die  Vorlesimgen  des  alten  Heeren,  in 
Shakespeares  Königsdramen;  aus  »Richard  dem  Zweiten«  zitierte 
er  sie  einmal  einem  alten  Gegner  von  1866,  dem  Staatsminister 
V.  Mittnacht:  »Ich  kenne  weder  Haß  noch  Liebe«;  —  vom  persön- 
lichen Standpunkt  sei  das  lächerhch,  aber  Staaten  sollten  so  regiert 
werden.  Es  war  das  Staatsgefühl,  das  in  ihm  noch  mächtiger  war 
als  die  Leidenschaft,  von  der  es  doch  ganz  durchglüht  war,  das  sie 
wie  mit  eisernen  Reifen  umschloß  und  in  Zucht  hielt.  Sobald  Bis- 
marck am  Schreibtisch  saß,  gewann  er  sofort  die  voUe  Ruhe  des 
Urteils.  Darum  lesen  sich  seine  Berichte,  schon  die  aus  Frankfurt, 
und  gerade  diese  besonders,  wie  historisch-pohtische  Abhandlungen: 
sie  atmen  Rankesche  Objektivität  und  könnten  in  der  Tat  mit  der 
Konzentriertheit  ihrer  Gedanken,  dem  Weitblick  und  der  die  histo- 
rischen Bedingungen  der  politischen  Lage  voll  erfassenden  Einsicht 
dem  Geiste  des  Meisters  der  Geschichtswissenschaft  entstammen. 


142 

Zu  den  sonderbaren  Ansichten,  die  sich  im  Laufe  der  Zeit  über 
unseren  Helden  gebildet  haben  und  zuweilen  noch  laut  werden,  gehört 
auch  die  Meinung,  daß  Bismarck  mit  den  Gewohnheiten  einer  ver- 
alteten Diplomatie,  die  in  einem  listigen  Verschleiern  ihrer  Absichten 
ihre  Hauptkunst  gesehen,  gebrochen  und  zum  erstenmal  das  Prinzip 
voller  Offenheit  in  die  Politik  eingeführt  habe.  Damit  aber  tut  man 
ihm  schweres  Unrecht  an;  die  Größe  seines  Wirkens  würde  dadurch 
unendlich  verheren.  Wenn  irgendein  Politiker,  so  hat  auch  Bis- 
marck sich  auf  Talleyrands  Satz  verstanden,  daß  die  Diplomatie  die 
Kunst  sei,  seine  Gedanken  durch  Worte  zu  verbergen.  Erwäge  man 
doch,  welche  Aufgaben  er  sich  gestellt  hat,  oder  wie  sie  sich  im  Laufe 
der  Jahre  für  ihn  gestalteten:  gegenüber  Österreich,  von  Olmütz 
ab  über  Königgrätz  zum  Bündnis  von  Wien;  gegenüber  der  Nation, 
von  der  Revolution  her,  die  keinen  größeren  Gegner  fand  als  ihn, 
bis  zur  Gründung  des  Reiches  hin,  in  das  er  doch  so  viele  Gedanken 
von  1848  wieder  aufnahm,  und  weiter  diurch  alle  die  Kämpfe  hindurch, 
die  er  mit  den  alten  und  den  auf  dem  Boden  des  neuen  Deutschlands 
entstandenen  Parteien  zu  führen  hatte;  gegenüber  Europa,  in  dessen 
Mitte  er  das  Reich  wieder  aufrichtete,  das  seit  Jahrhunderten  in  sich 
zerfallen  gewesen  und  zum  Spielball  der  fremden  Nationen  geworden 
war.  Er  hat  Habsburg  aus  Deutschland  verdrängt,  um  es  dann  wieder 
an  seine  Seite  zu  ziehen;  er  hat  Rußland  der  Protektorstellung,  die 
es  seit  den  Tagen  von  Memel  in  Preußen  und  an  den  kleineren  deutschen 
Höfen  besessen  hatte,  beraubt  und  durch  das  Bündnis  mit  Österreich 
den  Weg  geöffnet,  der,  wenn  er  selbst  ihn  auch  noch  vermeiden  konnte, 
schließlich  doch  zu  dem  Kriege  auf  Leben  und  Tod  geführt  hat,  in 
dem  wir  heute  mit  den  Moskowitern  begriffen  sind;  Frankreich, 
das  Jahrhunderte  hindurch  über  deutsche  Kräfte  wie  über  die  eigenen 
verfügt  hatte  und  die  Vormacht  auf  dem  Kontinent  gewesen  war, 
hat  er  zu  Boden  geschlagen  und  mit  ihm  die  deutschen  Westmarken 
wieder  entrissen,  sowie  er  schon  früher  die  Nordmarken  Dänemark 
abgenommen  und  der  Nation  zurückgewonnen  hatte;  und  obschon 
er  von  einer  ausgreifenden  Überseepolitik  nicht  viel  wissen  wollte, 
hat  er  dennoch  in  den  großen  Fragen  der  internationalen  Politik, 
in  Ägypten,  am  Balkan  und  am  Kongo,  Deutschlands  Stellung  voll 
gewahrt  und  ist  mit  dem  Flottenbau  wie  der  Erwerbung  unserer 
Kolonien  wiederum  in  Wege  eingelenkt,  die,  mit  den  andern  ver- 
einigt, uns  in  den  Weltkrieg  hineingebracht  haben. 


* 


143 

Wie  aber  hätte  Bismarck  alle  diese  Ziele,  welche  das  Leben  der 
Nation  von  Grund  aus  umgestalteten  und  ganz  neue  Konstellationen 
in  der  allgemeinen  Politik  heraufbeschworen,  jemals  erreichen  können, 
wenn  er  seine  Karten  stets  auf  den  Tisch  gelegt  hätte!  »Ich  schwöre 
überall,  daß  wir  uns  mit  Österreich  gerührt  in  den  Armen  liegen 
und  jeder  über  des  andern  VortreffHchkeit  weint«,  meldet  er  seinem 
Freunde,  dem  General,  im  März  1854  —  in  den  Wochen,  als  er  alles 
tat,  um  den  König  und  seinen  Minister  von  dem  Anschluß  an  die  Bundes- 
brüder in  Wien  und  an  ihre  westmächtliche  PoHtik  zurückzuhalten. 

Was  aber  für  das  Ausland  gilt,  trifft  auch  für  das  Inland  zu. 
Auch  hier  verfolgte  Bismarck  Ziele,  die  ihn  zu  allen  Strömimgen 
des  öffentlichen  Lebens  in  Beziehung  brachten,  aber  mit  keiner  zu- 
sammenfielen. Seine  PoUtik  berührte  sich  irgendwie  und  wo  mit 
den  Programmen  aller  Parteien,  die  er  auf  seinem  Wege  zu  dem 
neuen  Reiche  fand  —  man  möchte  sagen  von  Ludwig  v.  Gerlach 
bis  zu  Lassalle;  aber  er  unterwarf  jedes  Stück  darin  dem  Staats- 
gedanken, für  den  er  eintrat,  und  entschied  sich  danach  für  Annehmen 
oder  Ablehnen.  Deshalb  hat  er  mit  allen  Parteien  kämpfen  müssen. 
Die  Reaktionäre,  seine  alten  Parteigenossen,  seine  ältesten  Freunde, 
zog  er  hinter  sich  her,  um  im  Siege  mit  ihnen  zu  brechen ;  den  Liberalen 
stemmte  er  sich  entgegen,  bedrängte,  ja  brutalisierte  sie,  um  sich 
im  Siege,  der  sie,  wie  ihre  Gegner  spaltete,  mit  einem  Teil  von  ihnen 
zu  verbünden.  Denn  wer  sich  ihm  anschloß,  mußte  ihm  folgen.  Kom- 
promisse konnte  er  wohl  eingehen ;  er  hat  sie  fast  allen  seinen  Rivalen 
angeboten,  den  auswärtigen  wie  denen  im  Innern,  und  oft  bewilligt; 
bei  jeder  Wendung  seiner  PoHtik  faßte  er  dies  mit  ins  Auge;  ja  er  hat 
es  geradezu  als  das  konstitutionelle  Prinzip  für  das  Verhältnis  zwischen 
Krone  und  Volksvertretung  in  Preußen  verfochten  und  durchgesetzt: 
das  konstitutionelle  Leben,  pflegte  er  zu  sagen,  bestehe  aus  Kom- 
promissen; und  wie  wenig  er,  seitdem  er  in  Frankfurt  den  diploma- 
tischen Kampf  mit  Österreich  über  die  deutsche  Hegemonie  begonnen 
hatte,  sich  im  Grunde  eine  andere  Lösung,  als  die  durch  das  Schwert 
denken  konnte,  hielt  er  sich  dennoch  bis  zuletzt  den  Ausweg  einer 
Verständigung  offen:  noch  von  Brunn  aus,  als  die  preußischen  Vor- 
posten schon  den  Turm  von  Sankt  Stephan  aus  der  Ferne  erbückten, 
lange  nachdem  er  das  preußisch-deutsche  Programm  vor  der  Welt 
verkündigt,  hat  er  den  Rivalen  die  Hand  zu  einem  Verständnis 
hingehalten.   Aber  von  seinem  Wege  Heß  er  sich  nicht  abdrängen,  an 


144 

das  Fundament  seiner  Politik  durfte  ihm  niemand  rühren.  Er  bheb  in 
allem  er  selbst;  jedem  Gedanken,  den  er  in  sein  System  aufnahm,  gab 
er  das  persönliche  Gepräge. 

Hat  es  überhaupt  jemand  gegeben,  dem  Bismarck  in  der  Pohtik 
sich  rückhaltlos  aufgeschlossen  hätte  —  abgesehen  etwa  von  dem 
eigenen  Sohn,  dem  er  in  den  letzten  Jahren  seiner  Herrschaft  die 
nächste  Stelle  unter  ihm  gab?  Von  Lothar  Bucher  könnte  man  es 
Vielleicht  sagen;  doch  kam  dieser  erst  zu  Bismarck,  als  der  Kampf 
um  die  Macht  in  Deutschland  schon  hell  entbrannt  war,  und  er  wird 
sich  schwerhch  so  rasch  das  Vertrauen  des  Ministers  erworben  haben, 
in  dessen  Besitz  er  zur  Zeit  der  spanischen  Thronkandidatur  ja  wohl 
gewesen  ist.  Für  die  Epoche  nach  1870  mag  es  auch  noch  für  den 
einen  oder  den  andern  gelten,  wenigstens  unter  denen,  die  unmittelbar 
unter  dem  Fürsten  arbeiteten:  für  die  Vertreter  seiner  Pohtik  im 
Auslande  jedoch  schwerlich.  Von  ihnen  hat  Bismarck,  wenn  Moritz 
Busch,  der  es  aus  dem  Munde  Harry  Arnims  gehört  haben  will,  recht 
berichtet,  gesagt:  »Meine  Botschafter  müssen  einschwenken  auf 
Kommando  wie  die  Unteroffiziere,  ohne  zu  wissen  warum.«  Ich 
weiß  nicht,  ob  dieser  Idealzustand  jemals  unter  Bismarck  voll  ver- 
wirklicht worden  ist:  in  den  Jahren  der  Einheitskämpfe  bestand 
jedenfalls  die  zweite  Hälfte  jenes  Satzes  allerdings  zu  Recht  —  die 
erste  dagegen  durchaus  nicht.  Graf  Bernstorff  z.  B.  war  bei  der 
Londoner  Konferenz  über  die  Schleswig-Holsteinische  Frage  im  Mai 
1864,  obschon  er  Preußen  als  Botschafter  zu  vertreten  hatte,  in  den 
tieferen  Sinn  der  Instruktionen,  die  Bismarck  ihm  zusandte,  gar 
nicht  eingeweiht;  er  hatte,  wie  alle  andern,  immer  nur  gerade  das 
eine  ihm  zugewiesene  Stück  der  Absichten  des  Ministers  auszu- 
führen; das  Gesamtbild  seiner  Diplomatie  konnte  ihm  Bismarck 
gar  nicht  mitteilen,  schon  deshalb  nicht,  weil  es  ihm  selbst  sich  von 
Stunde  zu  Stunde  verschob.  Aber  auch  das  eigentliche  Ziel  seiner 
Politik  wird  er  dem  Botschafter,  dessen  Ideen  mit  den  seinen  doch 
nur  eine  sehr  entfernte  Verwandtschaft  hatten,  kaum  enthüllt  haben. 
Im  Sommer  1866  war  Graf  Bernstorff  so  ganz  außer  dem  Zusammen- 
hang der  Politik  seines  Chefs,  der  vier  Jahre  zuvor  von  ihm  selbst 
amthche  Weisungen  hatte  annehmen  müssen,  daß  er  im  August 
Graf  Robert  von  der  Goltz  um  einen  Bericht  über  seine  Verhand- 
lungen mit  Napoleon  anging.  Goltz  hatte  als  Pariser  Botschafter 
diese  führen  müssen  imd  war  soweit  in  Bismarcks  Pläne  eingeweiht; 


145 

aber  er  war  darüber  mit  diesem  völlig  auseinandergekommen,  also 
daß  Bismarck  in  den  Konferenzen,  die  er  mit  Benedetti  in  den  mäh- 
rischen Quartieren  pflog,  vor  den  Ohren  des  französischen  Gesandten 
sich  auf  das  heftigste  über  seinen  eigenen  Botschafter  ausließ;  sein 
Benehmen,  sagte  er,  grenze  an  Hochverrat.  Und  dabei  hatte  er  selbst 
Goltz  zu  seinem  Nachfolger  am  französischen  Hof  gemacht,  weil  er  ihn 
höher  einschätzte  als  andere  und  ihm  persönhch  gewogen  war!  Aber 
sie  waren  sehr  bald  auseinandergekommen,  und  Bismarck  hat  das 
Urteil,  welches  er  damals  über  den  alten  Freund  faßte,  der  1870 
nicht  mehr  erlebte,  nicht  wieder  aufgegeben.  »Goltz«,  so  schilderte 
er  ihn  seinen  Tischgenossen  in  Versailles,  »war  gescheit,  ja  in  ge- 
wissem Sinne  ein  rascher  Arbeiter,  unterrichtet,  aber  unbeständig 
in  seiner  Auffassung  von  Personen  und  Verhältnissen,  heut  für  diesen 
Mann,  diesen  Plan  eingenommen,  morgen  für  einen  andern,  mitunter 
fürs  Gegenteil.  Und  dann  war  er  immer  in  die  Fürstinnen  verhebt, 
an  deren  Hof  er  beglaubigt  war,  erst  in  Amalie  von  Griechenland, 
dann  in  Eugenie.  Er  war  der  Ansicht,  was  ich  das  Glück  gehabt 
hätte  durchzusetzen,  das  könnte  er  mit  seinem  größeren  Verstände 
auch,  und  noch  besser.  Daher  intrigierte  er  fortwährend  gegen  mich, 
schrieb  Briefe  an  den  König,  in  denen  er  mich  anklagte  und  vor  mir 
warnte.  Das  half  ihm  nun  zwar  nichts;  denn  der  König  gab  mir  die 
Briefe,  und  ich  beantwortete  sie  mit  Verweisen.«  Das  khngt  hart 
und,  wenn  man  wiU,  ein  wenig  boshaft;  die  Fähigkeit,  Menschen 
zu  bewundem,  war  eben  nach  Bismarcks  eigenen  Geständnis  nur 
mäßig  in  ihm  ausgebildet.  Aber  sieht  man  daraufhin  die  paar  Stücke 
durch,  die  uns  von  der  Korrespondenz  zwischen  dem  Minister  und 
seinem  Botschafter  vorHegen  (das  Ganze  wird  —  nach  einem  halben 
Jahrhundert !  —  noch  immer  als  Geheimnis  der  hohen  Pohtik  hinter 
Schloß  und  Riegel  gehalten),  so  muß  man  sagen,  daß  es  richtig  und 
nicht  einmal  besonders  scharf  geurteilt  ist.  Denn  in  der  Tat  wollten 
sie  sämthch  alles  besser  wissen,  als  ihr  Herr  und  Meister,  und  schufen 
ihm  in  Immediatgesuchen  oder  in  vertrauhchen  Ergüssen  gegen 
ihre  Freunde  am  Hofe,  in  der  Diplomatie,  in  der  Partei  unausgesetzt 
Sch^vie^igkeiten.  Savigny  sowohl  wie  Goltz,  und  gewiß  auch  Usedom, 
forderten  in  dem  schweren  Jahre  1863  eine  Politik,  die  sich  von  der 
der  Liberalen  kaum  unterschied.  Savigny  meinte,  die  Stellung 
Preußens  hänge  von  dem  Einfluß  ab,  den  es  in  Deutschland  aus- 
übe ;  die  diplomatischen  Beziehungen  zu  den  kleineren  Staaten  seien  mit- 

Lenz,  WiUe,  Macht  und  Schicksal.  lO 


146 

hin  die  wichtigsten;  es  sei  eine  Verkehrtheit,  dieselben  von  oben  herab,, 
mit  Geringschätzung  zu  behandehi,  sie  von  sich  zu  stoßen,  und 
vollends  zu  erklären:  »Preußen  verhandelt  nur  mit  Großmächten«;  wo- 
mit er  dann  noch  die  großdeutsche  Idee  einer  Versöhnung  aller  deut- 
schen Höfe,  den  Wiener  eingeschlossen,  verband.  Und  Goltz  hat  sich 
wirklich  erlaubt,  ähnliche  Urteile  in  Separatberichten  an  den  König 
vorzubringen,  und  sich  vor  aller  Welt  über  die  Unfähigkeit  des 
Ministers  aufgehalten.  Das  Schlimmste  aber  war,  daß  der  König 
eslbst  in  jenem  Moment  —  es  waren  die  Wochen,  als  die  Schleswig-  i 

holsteinische  Frage  durch  den  Tod  König  Friedrichs  von  Dänemark  i 

akut  geworden  war  und  die  Woge  der  nationalen  Begeisterung  hoch- 
anschwellend alle  Gegensätze  der  Parteien  überfluten  wollte  —  solchen 
Ansichten  gar  nicht  so  fern  stand.   Waren  es  doch  kaum  andere,  als  i 

er  sie  in  seinen   eigensten   Handlungen,   in  seinem   Regentschafts-  i 

Programm  vom  November  1858  und  in  seiner  Begegnung  mit  Napoleon  i 

im  Juni  1860  zu  Baden-Baden,  bekannt  hatte  —  dieselben,  über 
die  er  mit  Bismarck  schon  im  März  1854  aneinandergeraten  war,, 
und  von  denen  dieser  ihn  nun  zu  seiner  Politik  hinüberführen  wollte. 
Bismarck  sah  sich  in  diesem  Augenblick  ganz  allein  gelassen:  nicht 
bloß  die  Liberalen  aller  Schattierungen  und  die  alten  Gegner  bei 
Hofe,  der  Kronprinz  und  seine  Gemahhn,  die  Königin  mit  ihrem 
Anhang,  Schleinitz,  und  wie  sie  alle  hießen,  arbeiteten  gegen  ihn^ 
sondern  auch  seine  festesten  Stützen  gerieten  ins  Wanken;  sogar 
in  der  Armee  begann  man  sich  über  den  Minister,  der  Preußen  einem 
neuen  Olmütz  entgegenzuführen  drohte,  zu  erregen.  Blanckenburg, 
den  Bismarck  damals  (ohne  ihm  das  Ziel,  dem  er  zustrebte,  zu  zeigen) 
eng  an  sich  heranzog  (täglich  waren  sie  bis  tief  in  die  Nacht  bei- 
einander) hat  in  einem  Brief  an  seinen  Onkel  Ludwig  v.  Gerlach 
die  Stimmung  dieser  Tage  geschildert:  »Ich  kann  nur  sagen,  daß  er 
der  einzige  ist,  der  vöUig  klar,  bewußt,  ruhig  und  energisch  den  höchst  , 

gefälirhchen  Strom  der  aura  popularis  vom  entscheidenden  Orte  ab- 
dämmt. Alles  war  gegen  ihn.  Die  Armeeaufregung  wirkte  auf  den  König 
sehr  zurück.  Er  wollte  Aktion  und  alle  Hunde  waren  los;  aber  der 
Lange  bheb  fest  wie  ein  Koloß,  nur  des  Abends  klagte  er  mir  sein  Leid«. 
Der  König  aber  war  der  stärkste,  ja  der  einzige  wirkHch  feste 
Rückhalt  des  Ministers.  Verlor  Bismarck  auch  ihn,  so  war  sein  Spiel 
verloren  und  ging  Preußen  —  wie  er  wußte  und  damals  schrieb  — 
wirklich   einem   neuen   Olmütz   entgegen.     Daß   er   dennoch   seinen 


147 

Kurs  fortsetzen  konnte,  alle  Klippen,  die  ihn  umringten,  vermied, 
Österreich,  das  noch  im  Sommer  den  nationalen  Wind  ganz  in  seinen 
Segeln  gehabt  hatte,  im  vollen  Strom  der  öffentlichen  Meinung  ge- 
fahren war,  von  dieser  lostrennte,  es  an  dem  Leitseil,  das  er  ihm 
umgeworfen,  hinter  sich  herzog,  den  König,  die  Armee,  die  eigene 
Partei  und  den  Hauptteil  der  Liberalen,  die  er  dadurch  auseinander- 
sprengte, für  die  Annexion  (ein  bis  dahin  für  sie  alle  unfaßbarer 
Gedanke !)  gewann,  um  schließlich  die  Wiener  Politik  in  ihrer  Schlinge 
beinahe  zu  ersticken  (nur  durch  ihr  Zerreißen,  den  Krieg,  konnte 
sie  sich  frei  machen)  —  in  diesem  allem  hat  er  selbst  das  Meisterstück 
seiner  diplomatischen  Kunst  erblickt;  er  hat  sich  (was  er  sonst  nicht 
zu  tun  pflegte)  mit  einem  Gefühl  des  Stolzes  dazu  bekannt  Das 
Schwerste  für  ihn  blieb  immer  die  Behandlung  des  Königs.  Die 
Kämpfe,  die  er  mit  diesem  durchgefochten,  lun  ihn  gegen  Österreich 
ins  Feld  zu  bringen,  haben  ihm  noch  mehr  Mühe  gemacht  und  stärker 
zugesetzt  als  die  um  Schleswig-Holstein.  Volle  zehn  Monate  mußte 
er  vom  August  1865  ab  arbeiten,  bevor  er  die  Österreicher  dahin 
gebracht  hatte,  wo  er  sie  haben  woUte :  daß  sie  nämhch  selber  Preußen 
den  Fehdehandschuh  hinwarfen.  Seinem  König  aber  durfte  er  kaum 
das  Ziel  zeigen,  geschweige  die  Mittel  und  Wege,  die  er  einschlagen 
mußte.  Während  Wilhelm  in  Gastein  glückselig  über  den  endlich 
erlangten,  für  Preußen  ehrenvollen  Abschluß  des  langen  Haders 
mit  dem  Kaiserstaat  war,  begann  sein  Minister  bereits  —  fast  in 
derselben  Stunde  schon  —  an  dem  Bau  eines  der  Minengänge,  die 
ihn  zur  Eroberung  der  feindlichen  Position  führen  soUten.  Endhch, 
im  Juni  1866,  war  er  soweit :  der  Gallier,  lauernd  zwar  auf  den  Moment, 
wo  er  zupacken  könnte,  fürs  erste  jedoch  außer  Spiel  gebracht;  die 
Florentiner  auf  Preußens  Seite;  die  Kleinstaaten  freihch  meist  im 
Lager  Habsburgs,  aber  mit  diesem  durch  Bismarcks  Politik  zum 
Bundesbruch  gezwungen,  und  das  herrliche  Heer  an  der  mährisch- 
böhmischen Grenze  —  als  der  König  selbst  noch  einmal  zu  zaudern 
begann.  Wir  wollen  es  dem  greisen  Herrscher  wahrlich  nicht  an- 
rechnen. Er  war  schließlich  doch  derjenige,  auf  dem  die  Tat  am 
schwersten  lastete.  Er  mußte  als  erster  auf  sich  nehmen,  was  die 
Zukunft,  die  dunkel  genug  war,  bringen  würde,  Sieg  oder  Nieder- 
lage. Es  war  etwas  Großes,  daß  er,  der  in  einer  so  ganz  andern  Welt 
erzogen  und  alt  geworden  war,  sich  zu  einer  Pohtik  mit  so  neuen 
Zielen  emporarbeiten  konnte,  und  etwas  noch  Größeres,  daß  er,  der 


148 

mit  der  Zartheit  seines  Gewissens,  dem  von  höchstem  Verantwortlich- 
keitsgefühl erfüllten  Herzen  jeden  Schritt  auf  der  neuen  Bahn  be- 
gleitete, dem  einmal  gefaßten  Entschluß  mit  festem  und  frohem 
Wagemute  treu  bUeb. 

Um  so  leuchtender  aber  tritt  auch  Bismarcks  Wesen  und  Werk 
an  dieser  Stelle  heraus.  Er  war  Diplomat  auch  seinem  König  gegen- 
über; aber  seine  Diplomatie  verband  sich  hier  mit  dem  Grundgefühl 
seines  Lebens,  der  Vasallentreue  und  der  Preußentreue,  der  Hin- 
gebung an  Hohenzollerns  Staat  und  König. 

Wir  aber  verstehen  jetzt,  weshalb  er  niemand  seine  Geheimnisse 
anvertrauen  konnte  als  sich  selbst. 


Dennoch  hat  es  wirklich  Fälle  gegeben,  in  denen  Bismarck  mit 
einem  Ruck  den  Vorhang  hinwegriß  und  dem  Gegner  selbst  Front- 
stellung und  Ziel  seiner  Politik  rückhaltlos  enthüllte.  So  der  liberalen 
Opposition  gegenüber  in  jener  Sitzung  der  Budgetkommission  gleich 
nach  seinem  Eintritt  in  das  Ministerium,  als  er  von  der  Lösung  der 
deutschen  Frage  durch  die  Macht,  durch  Blut  und  Eisen  sprach,  um 
danach  den  Gegnern  ein  Kompromiß  zwischen  Krone  und  Parlament 
anzubieten;  so  auch  einige  Wochen  später  gegen  Graf  Karoly,  Öster- 
reichs Botschafter  in  Berlin,  dem  er,  wie  den  preußischen  Liberalen, 
Krieg  oder  Bündnis  zur  Auswahl  hinlegte,  um  ihm,  als  jener  von 
dem  traditionellen  Einfluß  des  Kaiserhauses  auf  die  deutschen  Re- 
gierungen anfing,  den  es  sich  nicht  rauben  lassen  werde,  das  schnei- 
dende Wort  entgegenzuwerfen,  Österreich  müsse  vielmehr  seinen 
Schwerpunkt  nach  Ofen  verlegen.  Es  war  die  Diplomatie  der  Kraft 
und  des  Kraftbewußtseins,  die  sich  darin  äußerte,  die  Diplomatie, 
welche  die  Gewaltigen  in  der  Geschichte  noch  immer  angewandt 
haben:  Cäsar  und  Alexander  wie  CromweU  und  Napoleon.  Es  war 
die  auf  das  Schwert  gestützte  Bereitschaft;  die  Politik  der  Macht, 
die  den  Frieden  anbot,  weil  sie  den  Kampf  nicht  scheute:  die  Alter- 
native, in  welche  Bismarck  jeden,  der  mit  ihm  zu  tun  hatte,  versetzte: 
man  mußte  ihm  folgen  oder  mit  ihm  kämpfen. 

Bisweilen  freilich  kehrte  Bismarck  diese  Offenheit  auch  dann 
heraus,  wenn  er  gar  nicht  hoffte,  ja  es  kaum  wünschte,  daß  die  Gegner 
daran  glauben  würden.  Denn  er  erfuhr  es  wenigstens  in  den  ersten 
Jahren  seines  Ministeriums  zur  Genüge,  daß  die  Welt  an  dem  Ernst 
seiner  Absichten  Zweifel  trug  und,  was  konsequenteste  Energie  war. 


149 

für  das  zusammenhanglose  Hasardspiel  eines  Tollkühnen  ansah. 
Und  so  benutzte  er  wohl  diesen  Ruf  »leichtfertiger  Gewalttätigkeit«, 
um  die  Gegner  zu  spalten  oder  auch  nur  in  Verwirrung  zu  setzen. 
Das  Ziel,  dem  er  zusteuerte,  selbst  wurde  ihm  dann  zum  Mittel,  um 
einen  Vorteil  für  den  Moment  zu  erringen.  Wie  oft  hat  er  so  im  Kampf 
mit  Österreich  und  der  Majorität  der  Bundesstaaten  die  »stärkste 
seiner  Künste«,  den  größten  Trumpf,  den  er  in  Händen  hatte,  das 
allgemeine  deutsche  Wahlrecht,  halb  oder  ganz  hervorgezogen! 
Als  er  ihn  dann  wirklich  auf  den  Tisch  des  Bundestages  warf,  wollte 
es  ihm  niemand  glauben  und  wäre  er  selbst  in  der  Tat  (seine  Verhand- 
lungen im  Mai  mit  Baron  Gabelentz  und  später  mit  Dr.  Giscra  in  Brunn 
beweisen  es)  unter  Umständen  bereit  gewesen,  ihn  noch  einmal  zurück- 
zunehmen. Denn  er  mußte  nun  einmal  Umschau  nach  allen  Seiten 
halten  und  immer  den  Rücken  frei  haben,  jeden  Schritt  mußte  er 
berechnen,  um  ihn,  wenn  es  nicht  vorwärts  ging,  ziurück  zu  tun. 
Ganz  undiu^chdringlich  machte  ihn  der  gleiche  Trick  einmal  im  März 
1866,  der  Gräfin  Hohenthal,  der  Gemahlin  des  sächsischen  Gesandten 
am  Berhner  Hof,  gegenüber,  die  als  seine  Tischnachbarin  bei  der 
Hoftafel  mit  der  Miene  liebenswürdiger  Unschuld  die  Frage  an  ihn 
richtete,  ob  die  Preußen  wirklich  Sachsen  überfallen  und  Österreich 
bekriegen  würden.  Seine  Antwort  war:  Zweifeln  Sie  nicht,  liebe 
Gräfin!  Seit  meinem  Eintritt  in  das  Ministerium  habe  ich  keinen 
andern  Gedanken  gehabt ;  in  diesem  Augenblick  werden  die  Kanonen 
gegossen.  Und  als  die  Dame  weiter  fragte,  ob  sie  mit  den  Ihrigen 
wohl  auf  dem  Lande  in  der  Nähe  von  Leipzig  bleiben  oder  auf  ihre 
Güter  in  Böhmen  gehen  sollte,  war  die  Entgegnung:  Bleiben  Sie 
in  Sachsen,  denn  in  der  Nähe  Ihres  böhmischen  Schlosses  werden 
die  Österreicher  geschlagen  werden.  Wie  mag  der  Minister  sich  über 
die  Verdutztheit  seiner  Nachbarin  belustigt  haben,  die  nun  selbst  in 
die  Bedrängnis  geriet,  die  sie  von  seinem  Gesicht  hatte  ablesen  wollen. 


Bei  alledem  kam  Bismarck  niemals  in  Widerspruch  mit  sich  selbst, 
und  wußte  er  jedesmal  den  diplomatischen  Faden  so  zu  drehen,  daß 
der  Gegner  sich  darin  verwickelte  und  sich  ins  Unrecht  setzte.  Wer 
will  heute  noch  in  Abrede  stehen,  daß  die  Offensive  in  Bismarcks 
Kampf  mit  Österreich  auf  Seiten  Preußens  war,  daß  er  die  Netze 
gewebt  hat,  in  denen  die  Wiener  Politik  sich  zweimal  verfing,  und 
aus  denen  sie  sich  dann  nur  mit  dem  Schwerte  befreien  konnte  I  Trotz- 


150 

dem  aber  brachte  es  Bismarck  dahin  (so  wie  Cäsar,  als  er  den  Rubicon 
überschritt,  gegenüber  dem  römischen  Senat),  daß  der  Bundesbruch 
formell  von  Österreich  und  der  Majorität  der  Kleinstaaten  in  Frank- 
furt vollzogen  wurde. 

Auch  vermochte  er  es  —  und  das  ist  vielleicht  das  Merkwürdigste 
an  seiner  Diplomatie,  die  ihn  sonst  so  geheimnisvoll  und  gefahr- 
drohend erscheinen  Heß  — ,  demjenigen,  der  sich  mit  ihm  einließ, 
imd  den  er  an  sich  heranziehen  wollte,  Zutrauen  einzuflößen.  Und 
dies  forderte  er  geradezu  für  die  Ausübung  seines  Berufes;  einem 
russischen  Kollegen  in  Frankfurt,  dessen  Geschicklichkeit  er  sonst 
anerkannte,  der  aber  unzuverlässig  war,  sprach  er  deshalb  die  Eigen- 
schaft eines  guten  Diplomaten  ab.  Ihm  war  sein  Wort  heilig;  und 
nichts  konnte  ihn  als  Vertreter  Preußens  in  Frankfm"t  tiefer  erregen 
als  die  Furcht,  daß  der  Mangel  an  »initiativer  Energie«  seinen  Minister 
zu  Handlungen  der  Untreue  verführen  könne.  »Es  wäre,«  schreibt 
er  dem  General  v.  Gerlach  in  der  Besorgnis,  seine  Regierung  könne 
die  Kleinstaaten  Österreichs  Drängen  gegenüber  preisgeben,  »wie 
Se.  Majestät  zu  sagen  pflegt,  wider  die  einfache  Offiziersehre,  wenn 
wir  aus  Angst  vor  unseren  Feinden  unsere  Bundesgenossen  im  Stich 
ließen.  Ich  würde  gar  nicht  wissen,  mit  welchem  Gesicht  ich  auf 
diesem  Posten  nachher  noch  figurieren  sollte,  wenn  es  so  käme;  ich 
würde  elend  vor  Scham.«  Und  es  entsprach  seiner  tiefsten  Über- 
zeugung, als  er  im  Januar  1872,  damals  als  er  den  Kampf  gegen  die 
römische  Partei  im  neuen  Reich  eröffnete,  dem  verschmitzten  Führer 
der  Zentnunspartei,  dem  alten  Weifenminister  aus  Meppen,  das  mann- 
hafte Wort  entgegenrief:  »Ich  habe  den  Grundsatz  immer  nützlich 
gefunden,  des  Freundes  Freund  und  —  ich  will  nicht  sagen,  des 
Feindes  Feind,  aber  des  Gegners  Gegner  zu  sein.« 

Freilich,  er  besann  sich,  bevor  er  sein  Wort  gab;  er  gab  es  nur 
dann,  wenn  er  des  neuen  Freundes  sicher  war,  und  immer  nur  in 
einer  Lage,  die  er  selbst  beherrschte.  »Zug  vmn.  Zug«  zahlte  er,  und 
nur  »gegen  bar«;  er  pflegte  nicht  »die  Katze  im  Sack  zu  kaufen«; 
»ungemütliche  Interessenpolitik«  war  es,  was  er  trieb;  Sentiments 
ließ  er  nirgends  Raum.  »O  armer  Knecht,  du  kommst  mit  leeren 
Händen«,  zitierte  er,  als  des  Papstes  Nuntius  1878  in  Kissingen 
eintraf,  um  die  Verhandlungen  über  die  Beendigung  des  Kultur- 
kampfes zu  beginnen;  und  da  er  im  Reichstag  der  Gespräche  ge- 
denkt, die  er  cds  preußischer  Ministerpräsident  durch  Buchers  Ver- 


151 

mittlung  mit  Lassalle  gehabt  hatte,  kommt  ihm  das  Wort  in  den  Sinn, 
mit  dem  der  Grübler  Faust  den  Versucher  von  sich  fem  halten  möchte: 
»Was  kannst  du  armer  Teufel  geben!« 

Denn  die  Pohtik  war  ihm  »eine  eminent  praktische  Wissenschaft«, 
bei  der  man  sich  an  die  Form,  an  den  Namen,  an  die  Theorie  nicht 
so  sehr  kehren  könne.  Es  sei  nicht  nützlich,  belehrt  er  seinen  kaiser- 
lichen Herrn  in  der  Krisis  von  1875,  dem  Gegner  die  Sicherheit  zu 
geben,  daß  man  seinen  Angriff  jedenfalls  erwarten  werde.  »Es  muß 
hier,«  so  instruiert  er  im  März  1870  Moritz  Busch  für  einen  Artikel, 
den  dieser  in  die  Presse  bringen  sollte,  »diplomatisch  verfahren 
werden  —  d.  h.,  man  muß  sich  bis  zur  letzten  Stunde  in  der  An- 
gelegenheit fest  zeigen  und  nichts  von  Geneigtheit  zu  einem  Kom- 
promiß zeigen,  wenn  wir  einen  Kompromiß,  wie  er  uns  paßt,  haben 
woUen«  —  eine  Regel,  die  er  (beiläufig  bemerkt)  schon  als  Guts- 
besitzer von  Kniephof  oft  genug,  bei  einem  Pferdehandel  oder  auf 
dem  WoUmarkt  zu  Stettin,  angewandt  haben  mag;  nennt  er  es  doch 
schon  1847  als  seinen  Grundsatz,  »sich  niemals  voreiHg  durch  selbst- 
gemachte Befürchtungen  erschrecken  zu  lassen.« 

Wo  wäre  er  auch  geblieben,  wenn  er  ohne  solche  Kaltblütigkeit 
mit  einem  Schlaukopf  wie  Gortschakow  oder  mit  dem  Leisetreter 
Napoleon  IIL,  dessen  ganzer  Lebenslauf  eine  Kette  von  Verschwö- 
rungen gewesen  war,  hätte  verhandeln  wollen!  Wer  ihm  immer 
den  Wind  abfangen  woUte,  fand  an  ihm  seinen  Meister.  Das  erfuhren 
General  Govone,  Italiens  Unterhändler  im  Frühling  1866,  imd  sein 
Herr  und  Auftraggeber,  General  La  Marmora,  so  gut  sie  ihren  Lands- 
mann Macchiavelli  studiert  haben  mochten;  unversehens  hingen 
sie  doch  in  der  Schhnge.  Und  wenn  der  italienische  Minister  späterhin 
»ein  wenig«,  oder  \äelmehr  recht  viel,  ja  nahezu  das  volle  Licht  über 
diese  Verhandlungen  ausgoß,  so  offenbarte  er  damit  nur  seine  eigene 
Niederlage.  Seinem  Gegenspieler,  dessen  Reputation  er  dadurch 
schädigen  wollte,  tat  es  rüchts  mehr.  Denn  jedermann  erkannte  an, 
daß  Bismarck  nur  nach  dem  deutschen  Sprichwort  auf  einen  Schelm 
anderthalb  gesetzt  oder,  wie  er  es  selbst  seinem  kaiserhchen  Herrn 
bekannte,  ä  corsaire  corsaire  et  demi  gespielt  hatte;  und  Wilhelm 
war  seinem  Kanzler  nur  dankbar,  daß  er  ihn  ganz  aus  dem  Spiel 
gelassen  imd  der  BegehrUchkeit  des  französischen  Nachbarn  die  bel- 
gischen und  rheinischen  Köder  hingehalten  hatte,  ohne  jemals  seinen 
Herrn  zu  komprimittieren  und  sich  auch  nur  selbst  binden  zu  lassen. 


152 

Er  sah  die  Politik  an  als  das,  was  sie  wirklich  ist :  als  einen  Streit 
von  Macht  gegen  Macht,  als  Kriegführung,  in  der  auch  das  Mittel 
der  List  durchaus  erlaubt  ist,  deren  letzten  Akt  immer  die  Waffen 
bilden.  Dies  Ende  behielt  er  stets  im  Auge.  Nichts  war  ihm  ver- 
haßter als  »planlose  Unentschlossenheit «,  nichts  verächthcher  als 
eine  Defensive  aus  Gutmütigkeit  oder  leere,  ihrer  Machtpfhcht  nicht 
bewußte  Friedfertigkeit,  die  gerade  dadurch  eine  unzuverlässige, 
aus  Schwäche  zweideutige  Pohtik  werden  müsse.  Die  Regierung 
Friedrich  Wühehns  IV.  hatte  ihm  genug  Gelegenheit  gegeben,  um 
die  Richtigkeit  dieser  Auffassung  zu  bestätigen.  »Eine  feige  Politik,« 
schreibt  er  in  der  Krisis  von  1854  dem  General  Gerlach,  »hat  noch 
immer  Unglück  gebracht«;  und  drei  Jahre  später,  als  alle  die  hoch- 
fHegenden  Ziele  des  kranken  Königs  in  der  Blamage  von  Neuen- 
biu-g  ihr  fast  tragikomisches  Ende  gefunden:  »Wir  sind  die  gut- 
mütigsten, ungefährlichsten  Politiker,  und  doch  traut  uns  eigentlich 
niemand,  wir  gelten  wie  unsichere  Genossen  und  ungefährliche  Feinde, 
ganz  als  hätten  wir  uns  im  Äußern  so  betragen  und  wären  im  Innern 
so  krank  wie  Österreich.«  »Majestät«,  rät  er  ein  andermal,  »müssen 
durchaus  darauf  halten,  daß  Allerhöchst  Ihre  Minister  mehr  Sekt 
trinken;  ohne  eine  halbe  Flasche  Cremant  im  Leibe  dürfte  mir  keiner 
von  den  Herrn  ins  Conseil  kommen.  Dann  wird  unsere  Pohtik  bald 
eine  respektablere  Farbe  annehmen.« 

Für  Bismarck  war  auch  die  Defensive  stets  als  die  Bereitschaft 
gemeint,  wie  aus  einer  Bastion  jeden  Augenbhck  auf  den  Feind  vor- 
zubrechen. War  der  Schwall  der  Gegner  übergroß,  so  zog  er  sich 
ganz  auf  die  Basis  der  eigenen  Macht  zurück.  Das  wurde  die  Lage 
seit  der  Gründung  des  Reiches.  Denn  durch  die  Einigung  der  Nation 
hatte  Preußen  die  Bewegungsfreiheit  verloren,  die  es  in  dem  Ri- 
vahtätskampf  mit  Österreich  gehabt  und  gerade  seit  Ohnütz  wieder 
gewonnen  hatte,  daher  das  rasche  Wechseln  in  Bismarcks  Po- 
litik vor  1866;  mit  400000  Mann  war  zu  dieser  Zeit  die  Krone 
Hohenzollem  in  der  Tat,  wie  Bismarck  schreibt,  niemals  allein, 
gegen  die  heute  trotz  ihrer  Millionenheere  dieselben  Mächte  koaliert 
sind,  zwischen  denen  hindurch  der  große  Minister  sein  Werk  in  den 
Hafen  bringen  mußte. 


Denn  der  Regulator  für  alle  Diplomatie  bheb  ihm  die  Macht; 
und  nur  soweit  sie  der  Staatskunst,  die  deren  Gesetzen  folgt,  ent- 


153 

sprach,  hatten  alle  Kunstgriffe  der  diplomatischen  Technik  für  ihn 
Wert.  Auch  darüber  war  er  sich  bereits  in  Frankfurt  völlig  klar. 
»Gestern  habe  ich  Brunnow  (den  russischen  Gesandten)  kennen- 
gelernt«, schreibt  er  dem  befreundeten  General  im  Herbst  1855: 
»Ein  liebenswürdiger  Mann  von  bequemen  Formen;  aber  er  scheint 
mir  mehr  ein  technischer  Diplomat,  als  ein  Staatsmann  von  höherem 
Zuschnitt  zu  sein.  Personen  gewinnen,  palliative  Auskunftsmittel, 
leidenschaftslose  Kunst  der  Verhandlung  traue  ich  ihm  im  höchsten 
Grade  zu;  vor  seinen  selbständigen  politischen  Conceptionen  aber 
hat  mir  die  erste  Berührung  und  eine  dreistündige  Unterhaltung 
keinen  Respekt  eingeflößt.  Es  fehlt  ihm  anscheinend  an  Überzeu- 
gimgen  und  Glauben,« 

Das  eben  unterschied  Bismarck  von  den  meisten  seiner  Kollegen, 
und  darum  hat  er  sie  alle  überwunden.  Wäre  ihm  der  Erfolg  versagt 
geblieben,  so  hätten  die  liberalen  Gegner,  die  in  ihrer  Weise  preußische 
und  deutsche  Größe  miteinander  vermählen  wollten  und  in  ihm  den 
Verderber  ihrer  Ideale  sahen.  Recht  gehabt  mit  ihrer  Behauptung, 
daß  er  ein  gewissenloser  Hasardspieler  sei.  Der  Erfolg  allein  bewies 
die  Richtigkeit  seiner  Rechnung.  Die  Größe  Bismarcks  liegt  eben 
darin,  daß  er  an  die  Zukunft  und  das  Recht  Preußens  in  Deutschland 
und  der  Welt  glaubte,  weil  er  seine  Macht  erkannte.  Glaube  und 
Erkenntnis  sind  eins.  Den  Willen  zur  Macht,  der  in  der  Mon- 
archie Friedrichs  des  Großen,  zwar  verkümmert  und  halb  erstickt, 
dennoch  in  der  Tiefe  unvermindert  glühte,  und  mit  dem  sein  eigener 
eingeborener  Herrschersinn  in  eins  verschmolzen  war,  hat  er  aus 
den  Fesseln,  die  ihn  umschnürt  hielten,  gelöst  und  von  neuem  in  die 
Welt  der  Waffen  und  der  Politik  hinausgeführt. 

Hier  liegt  die  Quelle  seiner  Taten.  Von  hier  aus  wird,  wie  seine 
Staatskunst,  so  auch  seine  Diplomatie  in  allen  Stücken  sichtbar: 
die  Einheitlichkeit  seines  Wollens,  die  souveräne  Sicherheit  seines 
Auftretens,  die  Zielbewußtheit  seines  Handelns,  das  Augenmaß, 
das  er  für  alle  Realitäten  besaß,  der  Sinn  für  alles  was  Macht  war, 
die  Rücksichtslosigkeit  auch,  mit  der  er  über  Hindernisse  hinweg- 
schritt, der  Radikalismus,  den  dieser  Monarchist,  der  zugleich  ein 
Verächter  war  der  Legitimität  und  ein  Hasser  aller  Romantik  in 
der  Politik,  im  Innern  wie  nach  außen  an  den  Tag  legen  konnte, 
seine  unerschütterliche  Ruhe  bei  jeder  Verhandlung  und  der  heiße 
Atem  der  Leidenschaft,  den  wir  hinter  allen  seinen  Aktionen  spüren. 


154 


Auf  diesem  Grunde  ruht  auch  das  Reich,  das  Bismarck  schuf: 
Preußens  Machtwille,  der  dem  Staate  Friedrichs  des  Großen  gab, 
was  ihm  gebührte,  und  des  Reiches  GHedern  ließ,  was  im  Laufe  der 
Geschichte  ihr  eigen  geworden  war,  hat  sich  darin  verschmolzen 
mit  dem  Willen  ziu:  Macht,  der  die  Nation  selbst  in  ihrer  Tiefe  be- 
seelte und  zur  Einigung  aller  ihrer  Kräfte  hintrieb.  Heute,  in  dem 
ungeheuren  Ringen  des  Weltkrieges,  erfahren  wir  von  neuem,  was 
Bismarck  uns  damit  gegeben.  Sein  Werk  ist  es,  das  wir  gegen  eine 
Welt  von  Feinden  verteidigen:  sein  Wille,  sein  Wort  ist  bei  uns: 
es  ist  uns,  als  hörten  wir  seine  Stimme.  So  möge  denn  sein  Geist 
uns  führen  durch  Not  und  Tod,  durch  Kampf  und  Sieg  zur  Errettung, 
zur  Erhöhung,  zu  neuer  HerrHchkeit  unseres  heiligen  Vaterlandes! 


■ 


Deutsdilands  Friedenspolitik 
vor  dem  Weltkriege. 

(1917) 

»Wir  übernehmen  die  kciiserliche  Würde  in  dem  Bewußtsein 
der  Pflicht,  in  deutscher  Treue  die  Rechte  des  Reichs  und  seiner 
Glieder  zu  schützen,  den  Frieden  zu  wahren,  die  Unabhängigkeit 
Deutschlands,  gestützt  auf  die  geeinte  Kraft  seines  Volkes,  zu  ver- 
teidigen. Wir  nehmen  sie  an  in  der  Hoffnimg,  daß  dem  deutschen 
Volke  vergönnt  sein  wird,  den  Lohn  seiner  heißen  und  opfer- 
mutigen Kämpfe  in  dauerndem  Frieden  und  innerhalb  der  Grenzen 
zu  genießen,  welche  dem  Vaterlande  die  seit  Jahrhunderten  ent- 
behrte Sicherheit  gegen  erneuten  Angriff  Frankreichs  gewähren. 
Uns  aber  und  Unsem  Nachfolgern  an  der  Kaiserkrone  woUe  Gott 
verleihen,  allzeit  Mehrer  des  Deutschen  Reichs  zu  sein,  nicht  an 
kriegerischen  Eroberungen,  sondern  an  den  Gütern  und  Gaben 
des  Friedens  auf  dem  Gebiet  nationaler  Wohlfahrt,  Freiheit  und 
Gesittung. « 

So  lauteten  die  ewig  denkwürdigen  Worte,  mit  denen  am  Ab- 
schluß dreier  siegreicher  Kriege  König  Wilhelm  der  Hohenzoller 
durch  den  Mund  seines  ersten  Ministers,  des  Grafen  von  Bismarck, 
am  18.  Januar  1871  in  dem  französischen  Königsschlosse  zu  Ver- 
sailles der  deutschen  Nation  die  neuen  Bahnen  ihres  Lebens  wies. 
Es  war  der  Taufspruch  des  neuen  Reiches,  die  Urkunde  gleichsam, 
die  in  den  Grundstein  unseres  nationalen  Staates  gelegt  worden  ist, 
das  Programm  der  deutschen  PoHtik  und  das  Kennwort,  in  dem 
unser  Volk,  sein  Kaiser  und  seine  Fürsten  heute  wie  damals  sich 
eins  wissen.  Wie  schwer  auch  die  inneren  Kämpfe  gewesen  sind, 
die  das  neue  Reich  seitdem  erschüttert  haben  —  imd  wir  wissen, 
sie  reichten  bis  auf  den  Grund  der  Nation  —  in  dem  Bekenntnis  zum 
Frieden  sind  die  deutschen  Parteien  diese  dreiundvierzig  Jahre  hin- 


156 

durch  einig  gewesen,  so  einig  wie  in  der  Stunde  des  4.  August  1914, 
als  ihre  Führer  im  Königsschlosse  zu  Berlin  dem  Enkel  Kaiser  Wilhelms, 
des  Reichsgründers,  die  Hand  zum  Treugelöbnis  reichten,  zum  Zeichen, 
daß  es  in  diesem  Kriege  keine  Parteien  mehr,  nur  deutsche  Volks- 
genossen, Brüder  auf  Leben  und  Sterben  geben  würde. 

Nur  ein  Teil  von  dem,  was  unsere  Väter  ersehnt  und  wovon 
sie  geträumt  hatten,  ist  im  Jahre  1870  erreicht  worden.  Wir  mußten, 
um  unser  Reich  gründen  zu  können,  Millionen  unserer  Brüder,  ein 
volles  Drittel  unserer  Volkskraft,  draußen  lassen.  Und  wenn  wir 
im  Westen  und  Norden  die  deutschen  Grenzmarken  wiedergewannen, 
so  sind  den  eigenen  Volksgenossen  gegenüber  im  Südosten  der  Inn 
und  im  Südwesten  der  Rhein  die  Grenzen  geblieben :  mitten  durch  die 
Stämme  der  Bayern  und  der  Alemannen,  einst  beide  die  Eckpfeiler 
deutscher  Größe,  gehen  heute  die  TrennungsHnien.  Wir  haben  uns 
dennoch  beschieden.  Wir  haben  es  mit  angesehen,  daß  Hundert- 
tausende, gezwungen  oder  verführt,  in  fremdem  Volkstum  unter- 
gingen • —  also  daß  wir  in  den  Jahren  unseres  jungen  Reiches  mehr 
des  deutschen  Blutes  verloren  haben  als  in  den  Zeiten  unserer  Zer- 
rissenheit und  Ohnmacht.  Trotzdem  hat  uns  niemals  der  Gedanke 
beherrscht,  die  unerlösten  Brüder  in  unsere  poHtische  Gemeinschaft 
hinüberzuziehen,  der  für  die  Italiener  und  alle  slawischen  Stämme 
den  Grundgedanken  des  politischen  Wollens  bildet.  Wh  haben  nichts 
weiter  gefordert  und  erwartet,  als  unsere  Macht  im  Schutz  des  Friedens 
entwickeln  zu  können. 

Während  wir  aber  so  unserer  Arbeit  lebten,  einzig  darauf  be- 
dacht, die  Güter  des  Friedens  zu  wahren  und  zu  mehren,  wandelte 
sich  rings  um  uns  her  die  Welt,  drang  Rußlands  gewaltige  Kraft 
über  das  Kaspische  Meer  in  die  turanischen  Steppen  bis  an  die  Tore 
Indiens  vor  und  über  die  Mandschurei  hinweg  bis  an  die  Gestade  des 
Gelben  Meeres,  raubte  und  riß  England  alles  an  sich,  was  es  auf 
dem  weiten  Erdenrund  an  Beute  für  seine  Begehrlichkeit  fand,  baute 
Frankreich  seine  afrikanischen  Besitzungen  zu  einem  mächtigen 
Kolonialreich  aus,  das,  vor  seinen  Toren  beginnend,  bis  weit  über 
die  Mitte  des  dunklen  Kontinentes  sich  erstreckte.  Wir  aber  blieben, 
unserer  Einheit  zum  Trotz,  an  unsere  Bastionen  gefesselt.  Wir  litten 
es  schweigend,  daß  die  Italiener,  denen  unsre  Heere,  unsre  Siege 
erst  zu  ihrem  nationalen  Staat  verholfen  hatten,  sich  jenen  Riesen 
zugesellten  und,  durch  sie  gedeckt,  ja  unter  dem  Schutz  ihres  Bund- 


157 

nisses  mit  uns  selbst,  den  Türken,  unsern  Freunden,  Tripolis  raubten 
und  mitten  in  der  griechischen  Inselwelt  sich  festsetzten;  daß  Belgien, 
das  Geschöpf  der  großen  Mächte,  das  nur  ihrer  Eifersucht  aufeinander 
das  Leben  verdankte,  ein  Zwittergebilde  ohne  die  Kraft  und  selbst 
ohne  das  Recht,  auf  eigene  Faust  PoHtik  zu  treiben,  sich  dennoch 
am  Kongo  ein  Kolonialgebiet  schuf,  größer,  einheithcher  und  zu- 
kunftsreicher als  alle  unsere  Kolonien  zusammengenommen.  Es  schien 
fast  (denn  schon  wurden,  unter  Japans  und  Amerikas  Teilnahme, 
China  und  die  Südsee  in  die  allgemeine  Bewegung  hineingerissen), 
als  hätten  wir  unsere  Einheit,  unser  neues  Reich  nur  dazu  geschaffen, 
um  noch  einmal  eine  Aufteilung  der  Erde  unter  unsere  Rivalen  zu 
erleben.  Gewiß,  wir  kamen  noch  rechtzeitig,  um  uns  ein  paar  Stücke 
von  der  noch  freien  Erde  zu  sichern.  Aber  was  wollten,  verglichen 
mit  dem  Raube  und  der  Raubgier  der  andern,  die  wenigen  Kolonien 
bedeuten,  welche  der  Wagemut  unserer  Kaufleute  oder  die  Aben- 
teuerlust junger  Patrioten  uns  da  oder  dort  verschafften:  ohne  Zu- 
sammenhang miteinander  und  ohne  Verbindung  mit  der  Heimat, 
im  Machtbereich  der  fremden  Mächte  gelegen,  auf  Gnade  und  Ungade 
ihnen  ausgehe fert,  sobald  sie  unsere  Feinde  wurden!  Auch  unsere 
Kolonien  waren  auf  Frieden  gegründet:  er  bot  uns  die  einzige  Mög- 
lichkeit, sie  zu  behalten. 

In  den  neunziger  Jahren,  nach  dem  Rücktritt  Bismarcks,  kam 
bei  uns  wohl  die  Meinung  auf,  daß  wir  seitdem  in  einen  neuen,  um- 
fassenderen Abschnitt  unserer  Politik  hineingesteuert  wären,  daß 
wir  das  beengte  festländische  Dasein  mit  dem  offenen  Fahrwasser 
der  Weltpolitik  vertauscht  hätten,  wie  das  Schlagwort  lautete, 
das,  ich  weiß  nicht  von  wem  erfunden,  plötzlich  da  war  und  bald 
die  öffenthche  Meinung  wie  die  Kreise  unserer  Regierenden  beherrschte : 
wir  wähnten,  mit  jenen  Weltmächten  bereits  in  den  gleichen  Bahnen 
zu  ziehen.  Eine  Vorstellung,  die  uns  heute,  nach  allem,  was  wir  bis 
zur  Schwelle  des  Krieges  hin  erlebt  haben,  seltsam  genug  anmuten 
muß.  Das  Umgekehrte  Heße  sich  wohl  mit  größerem  Rechte  behaupten. 
Gerade,  daß  wir  mit  jenen  anderen  nicht  Schritt  halten  konnten,  daß 
uns  die  Bewegungsfreiheit  von  Jahr  zu  Jahr  mehr  genommen, 
unsere  Absperrung  von  den  Quellen  der  Macht  beständig  vermehrt, 
der  Einfluß  auf  den  Gang  der  großen  Pohtik  stetig  verringert  ward, 
ist  das  Charakteristische  für  die  beiden  Jahrzehnte,  die  dem  Kriege 
vorangegangen  sind.    Solange  Bismarck  am  Ruder  des  Staates  stand. 


158 

ist  die  Stimme  Deutschlands  im  Rate  der  Völker  wahrlich  nicht 
ungehört  gebheben.  Unter  seinem  Vorsitz  trat  nach  dem  Frieden 
von  St.  Stefano  in  Berhn  der  Kongreß  zusammen,  der  bis  auf  weiteres 
die  Fragen  schlichtete,  welche  Rußlands  Sieg  über  die  Türken  im 
Orient  aufs  neue  aufgewirbelt  hatte.  Er  war  es,  der,  als  erster  unter 
den  europäischen  Staatsmännern,  dem  Khedive  von  Ägypten  den 
Weg  vertrat.  Er  vereitelte  1884  durch  die  Kongokonferenz  Englands 
Plan,  die  Mündung  jenes  gewaltigen  Stromes  in  seine  Gewalt  zu 
bringen  und  damit  für  alle  Zukunft  die  beherrschende  Stellung  im 
Innern  des  schwarzen  Kontinentes  an  sich  zu  reißen.  Ihm  verdanken 
wir  den  weitaus  größten  Teil  unserer  Kolonien,  ebenso  in  der  Südsee, 
wie  an  der  "West-  und  Ostküste  Afrikas.  Und  das  alles  ledigüch  auf 
dem  Wege  von  Verhandlungen  und  Korrespondenzen,  durch  eine 
geschickte  Führung  des  diplomatischen  Spiels,  ohne  auch  nur  ein 
Regiment  mobil  zu  machen,  ein  Schiff  hinauszuschicken:  keine 
stolzen  und  drohenden  Gesten  sind  dazu  nötig  gewesen,  sondern 
nur  etwa  eine  Erklärung  des  Kanzlers  im  Reichstage  oder  die  Sen- 
dung seines  Sohnes  Herbert  nach  London;  zuweilen  genügte  bereits 
ein  Zeitungsartikel  oder,  wie  in  Ägjrpten,  die  Sendung  eines  Feld- 
jägers, um  den  deutschen  Forderungen  Beachtung  und  Erfüllung 
zu  sichern.  Denn  hinter  allem  sahen  die  Rivalen  die  Macht  und  einen 
unerschütterlichen  Willen:  die  Hand  zu  Verhandlungen  zu  bieten, 
um  ins  Leere  zu  greifen,  ist  niemals  Bismarcks  Art  gewesen. 

Erst  nach  seinem  Abgang  ist  alles  anders  geworden.  Zunächst 
begannen  wir  selbst  an  unsem  Kolonien  fast  das  Interesse  zu  ver- 
lieren; und  als  wir  es  wiedergewannen  und  der  Wert  der  neuen  Be- 
sitzungen von  Jahr  zu  Jahr  mehr  hervortrat,  wuchsen  die  Schwierig- 
keiten, sie  zu  behaupten  und  auszunutzen  oder  neue  zu  erwerben. 
Außer  Kiautschau  und  ein  paar  Inselgruppen  in  der  Südsee  haben 
wir  seitdem  nur  noch  Grenzregulierungen  oder  kleine  Erweiterungen 
unserer  afrikanischen  Besitzungen  im  Austausch  unserer  oder  der 
Anrechte  anderer  gewonnen.  In  den  großen  Fragen,  denjenigen,  in 
denen  die  Weltbewegung  sich  vollzog,  wurden  wir  mehr  und  mehr 
ausgeschaltet,  oder  wii  hielten  uns  von  Anfang  an  zurück,  so  in  Kreta 
imd  Persien,  inÄg5rpten  und  inTripoHs,  auf  dem  Balkan  und  bei  den 
domigen  Verhandlungen  über  Marokko,  bis  wir  am  Ende,  hart  am 
Rande  des  Krieges  vorüber,  für  eine  kläghch  kleine  Entschädigung 
in  dem   Sumpfgelände  des  Kongo  zum  völligen  Verzicht  auf  allen 


159 

legitimen  Einfluß  über  eines  der  reichsten  Länder  der  Erde  gebracht 
wurden. 

An  Gelegenheiten,  einzugreifen,  Anteil  an  den  Erwerbungen 
der  andern  zu  nehmen,  hat  es  uns  nicht  gefehlt,  uns  so  wenig  wie 
Italien  und  Frankreich.  Denn  jener  Wettlauf  der  Mächte  um  die 
Unterjochung  der  Welt  vollzog  sich  unter  brennender  Eifersucht 
und  auf  Grund  von  Gegensätzen,  die  in  die  Tiefe  der  Jahrhunderte 
zurückreichten.  Mehr  als  einmal  sind  sie  nahe  daran  gewesen,  die 
Waffen  gegeneinander  zu  ergreifen;  wir  brauchten  nur  unser  Schwert 
mit  in  die  Wagschale  zu  werfen,  so  war  es  sicher,  daß  sie  dorthin 
sank,  wohin  wir  uns  stellten,  und  ein  guter  Anteil  an  der  Beute 
hätte  uns  nicht  entgehen  können.  Wir  aber  wiesen  alles  von  uns  ■ — 
um  am  Ende,  als  Lohn  für  unsere  Friedfertigkeit  und  Sanftmut, 
die  Feindschaft  der  ganzen  Welt  und  die  Last  eines  Krieges  auf  uns 
zu  laden,  wie  ihn  die  Erde  noch  niemals  sah. 
Wie  ist  es  dahin  gekommen? 

Es  mag  paradox  kHngen  und  ist  doch  volle  Wahrheit:  aus  der 
Hochspannung  zwischen  den  Mächten  selbst,  welche  sich  über  die 
Welt  hin  ausbreiteten,  ist  der  Weltkrieg  entstanden.  Weil  wir  Frieden 
hielten,  haben  sie  uns  mit  Krieg  überzogen.  Weil  wir  nicht  mittun 
wollten,  haben  sie  sich  vertragen  und  sich  dazu  verbunden,  uns  mit 
vereinten  Kräften  niederzuschlagen. 

Zwar  war  für  die  Franzosen  d^s  Hauptmotiv,  das  sie  in  den 
Krieg  trieb,  der  nie  gan2;  gestillte  und  immer  neu  auflebende  Haß 
der  Besiegten.  Aber  Jahre  hindurch  ist  doch  auch  er  zurückgetreten ; 
wiederholt  kam  es  zwischen  uns  und  ihnen  zu  einer  Entspannung, 
und  jederzeit  waren  wir  bemüht,  auf  der  Grundlage  des  Frankfurter 
Friedens  unser  Verhältnis  zu  ihnen  zu  erleichtem.  Zur  Hilfe  kam  uns 
dabei  der  alte  Gegensatz  Frankreichs  zu  England  sowie  der  neu 
auftauchende  zu  Italien,  das  die  kaum  gewonnene  Großmachtstellung 
im  Mittelmeer  sofort  zu  dem  natürHchen  Rivalen  der  alten 
Freunde  machte.  Auch  hätten  die  Franzosen  von  sich  aus  niemals 
vermocht,  eine  Verschiebung  der  Machtverhältnisse  zu  erwirken; 
nicht  einmal  ihr  russisches  Bündnis  wäre  imstande  gewesen,  das 
deutsche  System,  das,  auf  Österreich  und  Italien  gestützt,  Mittel- 
europa von  der  Nordsee  bis  zur  Donau  und  Sizihen  zusammenfaßte, 
zu  erschüttern.  Erst  Englands  Eintritt  in  die  Reihe  unserer  Gegner 
hat  das  Verhängnis  unabwendbar  gemacht;  erst  als  die  beiden  Riesen 


160 

unter  unsem  Feinden  sich  die  Hand  reichten,  ist  die  Welt  in  Flammen 
gesetzt  worden. 

Bemerken  wir  aber,  daß  diese  beiden  zunächst  als  Freunde  an 
uns  herangetreten  sind,  daß  sie  ihre  Geschäfte  mit  uns  machen  wollten : 
Rußland  schon  im  Jahre  1876,  als  es  uns  anbot,  mit  ihm  gegen  Öster- 
reich zu  gehen,  in  dem  Augenblick,  da  es  sich  zum  Kampf  gegen 
die  Türkei  erhob;  England  zwanzig  Jahre  später,  um  die  Zeit,  als  es 
soeben  den  französischen  Nachbar  im  Sudan  auf  das  tiefste  ge- 
demütigt, während  sein  Gegensatz  gegen  Rußland  noch  vöUig  un- 
geschlichtet,  es  selbst  aber  durch  den  Burenkrieg  gefesselt  war;  drei 
Jahre  und  länger  haben  die  enghschen  Diplomaten  um  uns  geworben, 
bevor  sie  sich  entschlossen,  das  Steuer  herumzuwerfen. 

Noch  immer  hört  man,  daß  es  der  Handelsneid  gewesen  sei, 
der  England  zum  Kriege  gegen  uns  gereizt  habe;  den  wirtschaftlichen 
Konkurrenten  habe  es  unschädlich  machen  wollen.  Als  ob  es  nicht 
Mittel  genug  an  der  Hand  gehabt  hätte,  um  uns  wirtschaftlich  ins 
Hintertreffen  zu  bringen,  ohne  sogleich,  wie  die  enghschen  Zeitungen 
und  sogar  engUsche  Staatsmänner  damals  und  später  wohl  drohten, 
unsere  wenigen  Kriegsschiffe  zu  versenken!  Es  hätte  uns  ja  nur 
von  den  Märkten  abzusperren  brauchen,  über  die  es  auf  beiden 
Hemisphären  verfügte;  wie  denn  in  der  Tat  der  damals  leitende 
enghsche  Minister  sich  mit  solchen  Plänen  getragen  und  sie  ins  Werk 
zu  setzen  versucht  hat,  eben  in  den  Jahren,  wo  er  uns  auf  jene  Wege 
zu  verführen  sich  anschickte.  Auch  folgten  dem  Zeitabschnitt,  in  dem 
Englands  Wirtschaft  vor  dem  steigenden  Andrang  der  deutschen  Wirt- 
schaftskraft emsthch  besorgt  zu  werden  angefangen  hatte,  bald  Jahre, 
in  denen  sie  selbst  zu  glänzender  Entwicklung  gelangte  und  sich  auf  die 
alten  Grundsätze  des  Freihandels,  unter  der  die  großbritannische  Wirt- 
schaft sich  die  Erde  unterworfen  hatte,  wieder  aufs  neue  besann  —  ge- 
rade in  den  Jahren,  wo  die  Einkreisung  des  Deutschen  Reiches  sich  voll- 
zog. Niemals  hat  wirtschafthche  Konkurrenz  für  sich  vermocht,  die 
Mächte  und  Machtgruppen  gegeneinander  in  Krieg  zu  bringen;  es  ist 
nicht  wahr,  daß  sie  die  grundlegende  Kraft  in  der  geschichtlichen 
Entwicklung  bildet:  viel  tiefer  und  verzweigter  sind  die  Antriebe, 
welche  die  politische  Welt  in  Bewegung  setzen;  mit  dem  Werden 
und  Wachsen,  den  Daseinsbedingungen,  dem  Genius  der  Staaten 
selbst  sind  sie  verwachsen.  Weit  stärkere  Gründe  müssen  es  also 
gewesen  sein,  denen  England  folgte,  als  es  sich  entschloß,  seine  Politik 


161 

in  Bahnen  zu  leiten,  die  mit  seinen  seit  einem  Jahrhundert  fest- 
gehaltenen ÜberHeferungen  im  krassen  Widerspruch  standen.  Ein 
Deutschland,  das,  wie  das  alte  Preußen,  nur  auf  dem  Kontinente 
mächtig  bleiben  wollte  und  England  in  seinen  weltimispannenden 
Zielen  nicht  gestört  hätte,  würde  dieses  am  Ende  ruhig  zwischen 
sich  und  seinen  Feinden  haben  lassen  können.  Ein  Volk,  das  es  nicht 
zu  fürchten  hatte,  brauchte  es  nicht  mit  der  Vernichtung  zu  be- 
drohen. Es  entsprach  vielmehr  der  engUschen  Politik,  solche  Mächte 
mit  väterhchen  Armen  zu  umschließen,  sie  in  das  eigene  Kielwasser 
aufzunehmen,  unter  den  Schutz  engUscher  Schiffsgeschütze  selbst 
zu  stellen  —  freihch  mit  dem  Vorbehalt,  ein  Ausweichen  aus  der  Fahr- 
linie ihnen  nicht  zu  gestatten  und,  wo  es  geschah,  sie,  sei  es  zu  ver- 
ruchten oder  gewaltsam  hinter  sich  herzuziehen:  der  Weltkrieg  hat 
dafür  neue  Beispiele  in  Fülle  gebracht. 

Eben  dies  waren  nun  aber  die  Jahre,  in  denen  jene  beiden  Giganten 
unter  den  Mächten  der  Welt  stärker  und  unaufhaltsamer  als  je  um 
sich  griffen.  Rußland,  das  soeben  seine  sibirische  Bahn  vollendet 
hatte,  griff  jetzt  durch  ganz  Asien  hin:  während  es  schon  an  der 
Ostküste  Stellung  faßte,  drängte  es  gleichzeitig  gegen  die  indischen 
Bergländer  vor;  schon  1895  standen  russische  imd  engUsche  Truppen 
sich  auf  dem  Hochlande  des  Pamir,  von  dem  der  Abstieg  in  das  Strom- 
land des  Indus  leicht  ist,  gegenüber.  Fast  gewaltiger  noch  waren 
die  Pläne,  mit  denen  England  sich  trug:  von  Indien  her  drängte  es 
nach  Beludschistan  vor,  von  Ägypten  aus  imterwarf  es  den  Sudan; 
die  Niederwerfung  der  Buren  machte  es  zum  Herrn  von  Südafrika; 
von  Kairo  bis  zum  Kap  und  von  ebendort  bis  nach  Indien  spannte 
es  seine  Blicke;  Herrin  bereits  im  Mittelmeer,  sah  es  die  Zeit  heran- 
nahen, wo  auch  der  Indische  Ozean  eine  enghsche  See  sein  würde. 
Welch  eine  Aussicht  bot  sich  ihm  also  dar,  wenn  es  ihm  gelang,  Deutsch- 
lands gewaltige  Kraft  für  den  Anschluß  an  seine  Pohtik  zu  gewinnen! 

Eben  diese  Hoffnung  aber  gewährte  ihm  Deutschland  nicht. 
Wir  waren  so  friedfertig  wie  je,  aber  unter  Englands  Schatten  zu 
kämpfen  lehnten  wir  ab.  Unsre  Selbständigkeit  wollten  wir  be- 
haupten. Unsre  Ziele  waren  noch  dieselben,  zu  denen  der  Gründer 
unseres  Reiches  sich  in  Versailles  bekannt  hatte.  Wir  forderten  nur 
Luft  und  Licht  für  uns  selbst,  in  der  Zuversicht,  daß  wir  dann  die 
Stellung  in  der  Welt,  die  wir  haben  wollten  und  haben  mußten,  erringen 
würden.  Offene  Tore,  freie  Märkte  und  nichts  anderes  woUten  wir  haben. 

Lenz,   Wille,  Macht  und  Schicksal.  II 


162 

Schon  aber  war  die  halbe  Welt  verteilt,  und  die  Stunde  in  der 
Tat  nicht  mehr  fem,  wo  alles,  was  sich  von  der  muhammedanischen 
Welt  noch  frei  erhalten  hatte,  in  die  Hand  jener  vorstürmenden 
Mächte  geraten  mußte.  England  hatte  sich  bisher  nicht  eigentüch 
feindselig  gegen  den  Islam  verhalten ;  mehr  als  einmal  war  es,  zumal 
Rußland  gegenüber,  als  Schutzmacht  für  die  Anhänger  des  Propheten 
aufgetreten;  war  es  doch  längst,  bereits  von  Indien  her,  eine  muha- 
medanische  Macht  geworden,  eine  größere  als  jede  andere  der  Welt, 
und  gerade  die  Eroberung  Ägyptens,  der  jetzt  die  des  Sudans  an- 
gereiht wurde,  und  alle  die  neuen  Besitzungen  in  Afrika  und  den 
indisch-persischen  Grenzlanden  verstärkten  diesen  Charakter  seiner 
Politik.  Glückte  es  den  Briten  vollends,  nun  auch  noch  das  Stamm- 
land der  muhammedanischen  ReUgion,  deren  heihgste  Stätten,  Mekka 
und  Medina,  in  ihre  Gewalt  zu  bringen,  so  mußte  einem  von  ihnen 
gesetzten  Ksdifen  die  Nachfolge  des  Propheten  weit  eher  gebühren 
als  dem  Sultan  in  Konstantinopel,  dessen  Ohnmacht  dem,  was  diese 
Würde  von  ihrem  Träger  forderte,  so  wenig  entsprach.  Auch  Ruß- 
land hatte  in  diesen  Jahrzehnten  ununterbrochener  Ausbreitung 
Millionen  neuer  muhammedanischer  Untertanen  erhalten,  welche  mit 
dem  Sultanat  in  Konstantinopel  niemals  in  politischer  Verbindung 
gestanden  hatten.  Aber  der  Gegensatz  zwischen  ihm  und  der  Türkei 
war  immer  der  stärkste  gewesen;  denn  das  Kreuz  auf  der  Hagia  Sofia 
aufzurichten,  die  Meerengen  zu  gewinnen,  entsprach  den  ältesten 
Überlieferungen  der  russischen  PoHtik  und  dem  Machtbedürfnis  des 
Zarenstaates  selbst.  Wie  groß  also  auch  immer  die  Reibungsflächen 
zwischen  England  und  Rußland  sein  mochten,  dem  Sultan  gegenüber 
fanden  sie  sich  doch  bereits  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zusammen. 
Nun  aber  stellte  sich  zwischen  ihnen  beiden  eine  Macht  auf,  für  die 
jener  Gegensatz  zwischen  einem  Kahfat  von  Konstantinopel  und  von 
Mekka  nicht  bestand,  der  vielmehr  die  Einheit  der  ganzen  muhammeda- 
nischen Welt  am  Herzen  liegen  mußte.  Wie  klar  unsere  Politik  dies 
Verhältnis  empfand,  beweist  der  Ausspruch  unseres  Kaisers  bei 
seinem  Besuch  des  heiUgen  Landes  (1898)  in  Damaskus,  wo  er  sich 
als  den  treuen  Freund  der  dreihundert  Millionen  Muhammedaner  be- 
kannte, welche  die  Erde  bewohnen.  Wollten  wir  aber  solche  Stellung 
behaupten  und  das  Los  der  Ausschaltung  vermeiden,  das  uns  bei 
weiterem  Fortschreiten  Rußlands  und  Englands  für  den  gesamten 
Umfang   der   östüchen   Hemisphäre   bereitet   wäre,   so   mußten  wir 


163 

eine  Waffe  haben,  mit  der  Fragen  entschieden  werden  konnten, 
welche  nicht  bloß  auf  das  Festland  Europas  beschränkt  waren,  eine 
Waffe,  mit  der  wir  England  auf  seinem  eigensten  Element,  auf  dem 
Meere,  begegnen  konnten.  Dies  war  der  Sinn  des  Kaiserwortes  vom 
Jahre  1899:  »Bitter  not  ist  uns  eine  starke  Flotte.«  Nicht  um  unsere 
paar  Kolonien  zu  beschützen,  um  imsere  Flagge  gelegenthch  in  fremden 
Häfen  zu  zeigen  und  rebellische  Kanaken  oder  verschuldete  Klein- 
staaten Südamerikas  ziu:  Raison  zu  bringen,  haben  wir  unsere  Kampf- 
schiffe gebaut  (dazu  hätten  ein  Dutzend  Korvetten  imd  Kanonen- 
boote genügt),  sondern  um  uns  die  Freiheit  der  Bewegung  zu 
erhalten,  uns  vor  der  Abschnürung,  die  uns  drohte,  zu  retten,  irni 
die  Stellung  unter  den  Mächten  der  Welt  zu  behaupten,  die  ims  der 
Schöpfer  des  Reiches  erworben  hatte,  und  von  der  wir  wieder  herab- 
gedrängt werden  sollten.  Wir  wollten  jenen  ebenbürtig  bleiben,  das 
Gleichgewicht  in  der  Welt,  das  jene  Großen  zu  zerstören  drohten, 
wollten  wir  herstellen  oder  sichern.  Geradeso  hat  ein  Jahr  nach 
seinem  Worte  von  der  Flotte  unser  Kaiser  den  Sinn  der  deutschen 
PoHtik  gedeutet.  »Ich  bin  nicht  der  Meinung,«  so  sprach  er  am  3.  Juli 
1900  in  Bremen,  »daß  unser  deutsches  Volk  vor  dreißig  Jahren  imter 
der  Führung  seiner  Fürsten  gesiegt  und  geblutet  hat,  um  sich  bei 
großen  auswärtigen  Entscheidungen  beiseite  schieben  zu  Icissen.  Ge- 
schähe das,  so  wäre  es  ein  für  allemal  mit  der  Weltmachtstellung  des 
deutschen  Volkes  vorbei,  und  ich  bin  nicht  gewillt,  es  dahin  konunen 
zu  lassen.«  Wir  hätten  das  Erbe,  das  uns  Bismarck  und  sein  Kaiser 
erworben,  verloren,  wir  wären  im  Vergleich  zu  den  anderen  Mächten 
der  Welt  wieder  geworden,  was  wir  gewesen  waren,  ein  Kleinstaat, 
wenn  wir  uns  nicht  für  den  Kampf  gerüstet  hätten. 

Denn  die  Macht  allein  ist  es,  welche  in  den  Händeln  dieser  Welt 
entscheidet.  Nur  wer  das  Schwert  zu  führen  weiß,  wird  auf  Erden 
vorwärtskommen,  sein  Recht  behaupten  können;  jeder  Fortschritt 
der  Wirtschaft  wie  der  Kultur  hängt  von  dem  Maße  der  Unabhängig- 
keit ab,  das  ein  Staat  in  der  Welt  behauptet.  Niemals  haben  wir  es 
abgeleugnet,  daß  auch  wir  gleich  den  anderen  Macht  besitzen  und 
Macht  erwerben  wollen;  war  doch  der  in  der  Nation  in  der  Zeit  ihrer 
Erniedrigung  gesammelte  imd  gesteigerte  Wille  zur  Macht  der  mäch- 
tigste Antrieb  in  unseren  Kämpfen  um  die  Gewinnung  der  nationalen 
Einheit  gewesen.  »Allzeit  Mehrer  des  Reiches  zu  sein«,  so  lautete 
das  Grelöbnis  unseres  alten  Kciisers  im  Schlosse  zu  Versailles.    Aber 


1Ö4 

der  Sinn  unserer  Macht  war  von  jeher  ein  besonderer,  das  Ziel, 
das  wir  unserer  PoUtik  stecken,  liegt  an  einem  anderen  Ort,  als  dort, 
wo  die  Gegner  es  suchen.  Das  ist  es,  was  unseren  politischen  Ehrgeiz 
von  dem  unserer  Rivalen  unterscheidet;  mit  den  tiefsten  Willens- 
trieben, den  höchsten  Idealen  unserer  Nation,  mit  einer  vierhundert- 
jährigen Geschichte  in  ihren  tragischen  Verflechtungen  und  ihren 
erhabensten  Erinnerungen,  mit  unserm  ganzen  Sein  und  Wollen 
hängt  es  zusammen.  Der  deutsche  Staatsgedanke,  mit  einem  Wort, 
ist  ein  anderer  als  der  unserer  Gegner,  und  darum  ist  auch  die  Rich- 
tung, in  der  wir  unsere  Macht  in  der  Welt  ausbreiten  wollen,  eine 
andere.  Jene  wollen  die  Welt  unterjochen,  wir  aber  bieten  den  Völ- 
kern, die  unsere  Freunde  sein  woUen,  Freiheit  und  Frieden  und  Treue 
tun  Treue.  Aus  diesem  Geiste  stammt  das  Bekenntnis  unseres  alten 
Kaisers  Wühelm  I.,  das  wir  an  die  Spitze  unserer  Betrachtung  stellten, 
und  in  dem  seine  eigene  wundervolle  Größe  gipfelte;  ihm  sind  unsere 
Fürsten  wie  unsere  Staatsmänner  und  unser  ganzes  Volk  ohne  Unter- 
schied in  den  dreiundvierzig  Jahren  des  Friedens,  den  wir  nur  durch 
unsere  Macht  aufrechterhalten  konnten,  treu  geblieben;  ihm  allein 
dient  unser  Heer,  das  mit  unserm  Volke  selbst  eins  ist;  ihm  auch 
die  Flotte,  die  unsere  Flagge  über  alle  Meere  trug  und  bereits  unsern 
Feinden  furchtbar  ward ;  aUe  Verträge,  alle  Bündnisse,  die  wir  schlössen, 
hatten  dieses  Ziel.  An  ihm  hielten  wir  fest,  als  wir  unsern  Freunden 
in  der  Not  beistanden.  Dieser  Geist  leitete  uns  in  den  Tagen,  die  uns 
vor  die  furchtbarste  Gefahr  stellten,  in  die  je  ein  Volk  geraten  ist; 
aus  ihm  schöpfen  unsere  Armeen  die  unversiegliche  Geduld,  den  un- 
widerstehüchen  Heldenmut,  den  sie  im  Kampfe  gegen  vielfache  Über- 
macht bewährten,  und  aus  diesem  Geist  schöpfen  ihren  Trost  die 
Daheimgebliebenen,  die  um  ihre  gefallenen  Helden  weinen;  mit  ihm 
setzen  wir  uns  auch  den  Schwachmütigen  entgegen,  und  er  wird 
uns  anspornen,  nicht  nachzulassen,  bis  wir  den  vollen  Sieg  in  festen 
Händen  halten  und  die  Feinde  ringsum  bekennen  müssen,  daß  wir 
das  Recht  haben,  unsere  Macht  nach  unserer  Weise  zu  sichern  und 
auszubauen.  Wir  wissen  wohl,  daß  wir  noch  nicht  am  Ende  sind, 
und  daß  noch  ein  gutes  Stück  der  Arbeit  vor  uns  liegt,  aber  wir  halten 
fest  an  der  Losung,  die  ein  Hindenburg  uns  gab:  »Schwer  ist  die 
Zeit,  aber  sicher  der  Sieg.« 


Partei  oder  Vaterland? 

(Anfang  Oktober  1918.) 

Die  Entscheidung  ist  gefallen.  Es  ist  nicht  anders:  Das  Werk 
Bismarcks,  das  er  in  der  Verfassung  des  Deutschen  Reiches  auf- 
gerichtet hat,  ist  im  Zerfallen.  Mag  immerhin  der  Schlußstein  des 
Baues,  der  Aitikel  9,  gelockert  wae  er  ist,  noch  eine  Weile  an  seinem 
Platze  bleiben:  die  Fundamente  wanken.  Der  Grundgedanke  des 
Ganzen,  das  Gleichgewicht  zwischen  den  beiden  Organen  des  nationalen 
Willens,  Bundesrat  und  Reichstag,  ist  aufgehoben,  das  Schwergewicht 
der  Macht  ist  auf  die  Volksvertretung  übergegangen;  ihrer  Mehrheit 
ist  das  Reich  und  seine  Zukunft  ausgeheiert.  Es  sind  vor  allem  die 
beiden  Parteien,  die,  obgleich  einander  wesensfremd,  dennoch  im 
gemeinsamen  Kampf  gegen  das  neue  Reich  sich  ausgebildet  haben, 
an  deren  Widerstand  Bismarck  sich  matt  gerungen,  die  ihn  recht 
eigentlich  letzten  Endes  gestürzt  haben:  heute  ist  ihr  Sieg  vollendet; 
sie,  und  wer  sich  ihnen  aus  den  in  den  Kämpfen  um  Deutschlands 
Einheit  von  Bismarck  besiegten  Fraktionen  zugesellt  hat,  halten  in 
der  schwersten  Stunde,  die  unserm  Volke  je  beschieden  war,  des 
Reiches  Schickscd  in  ihren  Händen. 

Wir  aber,  die  wir  im  Geiste  Bismarcks  erzogen  sind,  auf  ihn 
eingeschworen  waren,  ihm  bis  auf  diesen  Tag  die  Treue  bewahrt 
haben,  wollen  nun  erst  recht  uns  seiner  würdig  zeigen.  Niemals  soll 
von  uns  gesagt  werden,  daß  wir  die  Partei  über  das  Vaterland  stellten. 
Das  Wort,  in  dem  der  Schöpfer  des  Reiches  sein  Wollen  und  Wirken 
zusammengefaßt  hat,  sein  »Patriae  inserviendo  consumor«,  soll  auch 
für  uns  in  Geltung  bleiben.  So  wollen  auch  wir  im  Leben  und  Sterben 
mit  allen  unseren  Kräften  dem  Vaterlande  angehören.  Um  seinet- 
willen wollen  wir  denen,  die  mitten  im  Sturm  das  Ruder  des  Staates 
ergriffen  haben,  nicht  in  den  Weg  treten;  wir  wollen  ihnen  vielmehr 
die  ungeheure  Last  der  Verantwortung,  die  sie  auf  sich  nahmen, 
tragen  helfen.  Nichts  mehr  von  Klage  oder  Anklage !  Viel  zu  kostbar 
ist  die  Zeit.    Wir  alle  sind  Schicksalsgenossen,  von  der  gleichen  Not 


166 


zusammengeschmiedet  wie  mit  eisernen  Ketten.  Stemmen  wir 
uns  gemeinsam,  Schulter  an  Schulter  gelehnt,  dem 
furchtbaren  Lose  entgegen,  das  unser  wartet,  wenn  wir 
erliegen:  der  Schande,  der  Entmannung!  Wetteifern 
wir  allein  im  Dienst  am  Vaterlande,  in  dem  unerschüt- 
terlichen Glauben  an  seine  Kraft,  dem  unbeugsamen 
Willen,  auszuharren  bis  ans  Ende  —  und  Gott  wird  mit 
uns  sein. 


In  der  Knechtschaft. 


Sedantag  1920. 

Zum  fünfzigsten  Mal  jährt  sich  nun  schon  der  Tag,  an  dem  wir 
auf  den  Feldern  von  Sedan  den  Thron  des  zweiten  Bonaparte  zer- 
brachen, und  stärker  als  je  tritt  uns  die  erschütternde  Tragik  des 
Schicksals  vor  die  Seele,  unter  dem  zu  leben  uns  bestimmt  ist,  so 
lange  wir  die  Ketten  des  Friedens  von  Versailles  tragen  werden. 
Dem  Titanenkampf,  den  wir  gegen  eine  Welt  von  Feinden  geführt 
haben,  ist  das  Loos  der  Titanen  gefolgt.  Dem  an  den  Fels  geschmiedeten 
Prometheus  gleicht  in  Wahrheit  unser  Volk.  Seiner  Grenzmarken 
beraubt,  ausgesogen  bis  aufs  Letzte,  entrechtet  und  verknechtet, 
entehrt  und  verachtet,  ein  Volk  von  Heloten,  die  Parias  unter  den 
Nationen  der  Erde,  jeder  Willkür  zum  Raube  gegeben,  im  Innern  aber 
verwirrt  und  zerrissen,  von  Parteiwut  zerfleischt,  wie  niemals  in 
seiner  Geschichte,  das  ist  das  Deutschland  von  heute,  das  Volk  Goethes 
und  Kants,  Luthers  und  Bismarcks,  so  trifft  uns  der  Tag,  der  uns  einst 
als  der  Gipfel  deutscher  HerrHchkeit  gegolten  hatte:  von  der  Höhe 
der  Ehre  und  des  Glückes,  der  Macht  und  des  Reichtums  sind  wir  in 
den  Abgrund  des  Elendes  und  der  Ohnmacht  gestürzt  worden;  der 
Tag,  der  so  lange  unser  höchster  nationaler  Festtag  war,  der  Er- 
innerungstag des  größten  und  glänzendsten  unserer  Siege,  er  ist  zum 
Tage  der  tiefsten  nationalen  Trauer  geworden. 

Wir  haben  aber  an  ihm  nicht  nur  den  Triumph  der  Waffen  über 
den  Erbfeind  unseres  Namens  gefeiert,  sondern  mehr  noch  den  Ab- 
schluß aller  Kämpfe,  die  wir  gegen  uns  selbst  geführt  hatten,  die 
Erfüllung  der  Sehnsuchtsträume  unserer  Väter,  die  Gründung  des 
Reiches,  dessen  gewaltige  Kraft  sich  gerade  in  unserm  letzten  Ringen, 
in  einem  Kriege,  wie  kein  Jahrtausend  ihn  sah,  bewährt  hat,  und  das 
nur  durch  uns  selbst  zerstört  werden  konnte,  den  Frieden,  der,  auf 
unsere  Macht  gegründet,  uns  selbst  alle  seine  Güter  in  den  Schoß 
geworfen  hatte  und  besser  als  alles  andere  den  allgemeinen  Frieden 
verbürgte.  Nie  imd  nirgends  ist  der  Inhalt  aller  Reden,  die  am  Sedan- 
tage  gehalten,  aller  Gebete,  die  je  an  ihm  gesprochen  wurden,  ein 
anderer  gewesen.   Es  war  die  Losung,  die  unser  alter  Kaiser  Wilhelm 


170 

ausgab,  als  er,  umgeben  von  Deutschlands  Fürsten  und  Heerführern, 
umrauscht  von  den  siegbekränzten  Fahnen  aller  deutschen  Stämme, 
die  Kaiserkrone  annahm,  an  derselben  Stelle,  wo  wir  heute  unser 
eigenes  Todesurteil  unterschreiben  mußten:  das  Segenswort,  das  er 
damals  über  die  junge  Schöpfung  aussprach.  Es  war  das  Ziel,  das 
sein  gewaltiger  Minister,  der  Schöpfer  unseres  Reiches,  in  jeder  Wen- 
dung seiner  listenreichen  Politik  vor  Augen  hatte,  so  lange  noch  seine 
starke  Hand  das  Steuer  führte,  und  das  auch  seinen  Nachfolgern 
bei  allem  Schwanken  ihrer  Politik  immer  vorgeschwebt  hat.  Es  war 
von  Anbeginn  an  der  Zweck  aller  unserer  Rüstungen  zu  Wasser  wie 
zu  Lande,  der  Sinn  sogar  noch  der  Aktion,  durch  die  unsere  Diplomatie 
das  Unheil  geradeswegs  über  uns  herzog,  als  sie  die  Macht  des 
Deutschen  Reiches  politischen  Va-banque- Spielern  auslieferte,  dem 
Staate,  der  Krone  sich  anvertraute,  deren  ganze  Geschichte  die  Ver- 
leugnung der  nationalen  Idee  gewesen  war,  und  deren  letzter  Träger 
sich  nicht  gescheut  hat,  sobald  er  die  Gefahr  des  Erliegens  witterte, 
seine  Bundesfreunde  und  sein  eigenes  Volk  zu  verraten.  Und  so  war 
es  noch  der  Antrieb  für  jene  Politik  der  Verständigung  mitten  im  Kriege, 
welche,  wie  sie  von  allen  Lauen  und  Feigen  unterstützt  wurde,  so  auch 
den  Feinden  mit  Recht  nur  als  Schwäche  und  Ermattung  erschien 
und  den  Verrat  in  dem  eigenen  Lager  groß  zog. 

War  dies  aber  einst  die  Bedeutung  unserer  Sedansfeiern,  so  wissen 
wir,  was  dieser  Tag  für  uns  fortan  bedeuten  wird.  Er  wird  der  Tag 
bleiben  wie  der  Erinnerung,  so  auch  der  Hoffnung,  der  Tag  der  Vor- 
bedeutung für  die  Zeit,  da  wir  unsere  Ketten  zerbrochen  und  von  uns 
geworfen  haben  werden.  Er  wird  uns  vor  allem  an  die  namenlosen 
Leiden  erinnern,  welche  die  Machtgier  unserer  Feinde  und  die  barbari- 
schen Mittel  ihrer  Kriegführung  über  uns  gebracht  haben:  die  Ver- 
folgung unseres  Handels  über  die  ganze  Erde  hin;  die  Internierung 
unserer  Volksgenossen,  wohin  immer  ihre  Gewalt  reichte;  die  Ver- 
jagung unserer  Missionäre,  die  nichts  weiter  wollten  als  die  Ausbreitung 
des  Reiches  Gottes  auf  Erden,  aus  ihren  wie  aus  unsern  eigenen 
Kolonien;  die  Einziehung  unseres  Eigentums  und  die  Austilgung 
unserer  Sprache  und  Kultur;  bergehohe  Lügen  und  bodenlose  Ver- 
leumdung; brutale  Beschimpfung  unseres  Volkes  und  seiner  Führer; 
hundertfache  Neutrahtätsbrüche  und  tausendfache  Ausstreuung  von 
Zwietrachtssaaten  unter  die  ihnen  feindlichen  Heere  und  Völker ;  dazu 
die  furchtbare  Geißel   der  Aushungerung   und  des  Erstickungstodes 


171 

durch  ihre  den  ganzen  Kontinent  einschnürende  Blockade  —  genug, 
das  ganze  Heer  der  dämonischen  Listen  und  Künste,  das  über  uns 
hereinbrach  und  nur  zu  spät  in  seinen  furchtbaren  Wirkungen  von 
uns  erkannt  worden  ist.  Aber  auch  der  Schwachmütigen  in  den 
eigenen  Reihen,  der  FeigUnge  und  der  Verräter  unter  uns  —  denn  sie, 
und  nicht  die  Feinde,  haben  uns  gefällt  —  wollen  wir  an  diesem  Tage 
gedenken,  sowie  aller  jener  Schwarmgeister  und  Träumer,  die  sich 
von  dem  Glauben  an  unsere  Feinde  narren  ließen,  weil  sie  nicht  wußten, 
daß  nur  der  Wille  zur  Macht  die  Welt  regiert  und  den  Frieden  in  ihr 
verbürgt.  Wir  aber  suchen  unsere  Ziele  nicht  in  den  Wolken,  hinter 
den  Nebelwänden  zukünftiger  Weltordnungen,  sondern  wir  stellen 
uns,  unbekümmert  um  das,  was  die  Zukunft  uns  bescheiden  mag, 
auf  einen  Grund,  der  uns  tragen  wird:  kein  Reich  der  Träume,  sondern 
ein  Boden,  der  fester  ist  als  Granit;  kein  Gebilde  der  Phantasie,  aber 
schöner  als  alles,  was  unsere  Dichter  und  Denker  je  ersannen,  denn 
nur  auf  diesem  Grunde  haben  sie  alles  geschaffen ;  eine  Schatzkammer, 
die  uns  alles  darbietet,  was  wir  zum  Leben  gebrauchen,  Geschmeide, 
Perlen  und  Kronen  aus  grauester  Vorzeit,  und  Pflüge  und  Schwerter, 
um  unser  Land  zu  bebauen  und  zu  schirmen ;  eine  Burg,  hinter  deren 
Mauern  wir  uns  aller  Feinde  erwehren,  und  aus  der  wir  jederzeit 
hervorbrechen  können,  wo  und  wann  wir  je  herausgefordert  werden, 
denn  sie  umschheßt  alles  Mächtige  und  Große,  das  Heer  aller  Ideale 
unseres  Volkes.  Stellen  wir  uns  auf  diesen  Boden,  auf  den  Boden  des 
Vaterlandes!  Halten  wir  an  ihm  fest,  als  dem  Quellborn,  dem  ewig 
jungen,  aller  unserer  Güter,  unserer  Macht  und  unserer  Freiheit !  Den- 
ken wir  an  alle  die  Lehrer  und  Propheten  unseres  Volkes,  die  das  ver- 
kündigt, an  die  zahllosen  Scharen  derer,  die  daran  geglaubt  und  daran 
gebaut  haben.  Vergessen  wir  auch  ihn  nicht,  den  gewaltigsten  dieser 
Baumeister,  noch  das  Wort,  das  er  einst  den  Reichsboten  mahnend  zurief , 
von  dem  deutschen  Gedanken,  den  sie  vor  Europa  leuchten  lassen 
sollten,  denn  er  sei  in  der  Verfinsterung  begriffen ;  und  auch  sie  nicht, 
die  Hunderttausende,  die  um  dieses  Gedankens  willen  in  den  Tod  ge- 
gangen sind!  Denken  wir  —  wir  dürfen  es  —  auch  an  das,  was  wir, 
denen  er  das  Herz  erfüllt,  selbst  für  ihn  getan  haben  in  den  vier  Jahren, 
welche  die  schwersten  in  dem  Leben  unseres  Volkes  waren  und  doch  zu 
seinen  herrlichsten  gehören.  Arbeiten  wir  gemeinsam  an  der  Wieder- 
erweckung dieser  Idee  der  Ideen,  in  allen  Schichten  unseres  Volkes 
ungesäumt  und  so  lange  wir  atmen,  zu  jeglicher  Stunde! 


Knechtschaft. 

(Rede,  gehalten  in  Hambvirg  am  i8.  Januar  1921.) 

Zu  einer  Doppelf eier  sind  wir  heute  vereinigt.  Dem  Tage  gilt 
es,  von  dem  Preußens  Krone  stammte,  und  jenem  andern  vor  50  Jahren, 
von  dem  das  Leuchten  der  deutschen  Kaiserkrone  ausging.  Zwei 
Ereignisse,  die  zu  Marksteinen  in  der  deutschen  Geschichte  geworden 
sind;  einem  Doppelstern  gleich  standen  sie  50  Jahre  am  deutschen 
Himmel.  Heute  ist  ihr  Licht  erloschen:  Dunkel  rings  um  uns  her, 
und  kein  Pfad  will  sich  zeigen,  der  uns  zum  Lichte  führen  könnte. 

Jedoch  nicht,  um  auf  den  Ruinen  zu  weinen  und  die  Welt  mit 
unsern  Klagen  zu  erfüllen,  sind  wir  zusammen  gekommen.  Das  »Impavi- 
dum  ferient  ruinae«  würde  auch  dann  für  ims  gelten,  wenn  die  ge- 
borstenen Wölbungen  unserer  Macht  vollends  über  uns  zusammen- 
krachen würden.  Wir  aber  wollen  nicht  aufhören  zu  hoffen.  Denn 
wir  wissen,  daß  es  der  Glaube  ist,  der  sich  seine  Welt  erbaut;  und 
daß  es  der  Wille  zur  Macht  ist,  der  uns  aus  der  Finsternis  heraus- 
bringen wird.  Der  Wille  zur  Macht  hat  Preußens  und  Deutschlands 
Krone  vereinigt,  er  hat  die  Geschicke  Preußens  und  der  Nation  mit- 
einander verkettet.  Er  war  es  bereits,  der  Preußens  Soldatenkönig 
antrieb,  den  Rocher  de  bronce  der  Monarchie,  Armee  und  Beamtentum, 
dem  Trotz  rebellischer  Junker  und  jedem  Sonderwillen  entgegen 
zu  stabihsieren.  Er  erfüllte  die  jugendstarke  Seele  seines  Sohnes, 
als  er  das  Schwert  gegen  die  Habsburgerin  erhob  und  im  Kampfe 
um  Schlesien  seinem  Preußen  die  Stellung  unter  den  Großmächten  der 
Erde  gewann;  noch  in  dem  Nachfolger  Friedrichs,  dem  Weiberknecht 
Friedrich  Wilhelm  H.,  der  das  Werk,  das  der  Vorgänger  im  Osten 
begonnen,  weiterführte,  war  er  lebendig.  Und  wenn  er  in  dem  zweiten 
Nachfolger  des  großen  Königs  erlosch,  so  war  er  doch  in  der  Armee 
und  der  Bureaukratie  Preußens  um  so  stärker.  So  war  es  mögüch, 
daß  der  zerbrochene  Staat  wieder  zusammenwuchs,  daß  sich  die 
alten  monarchischen  Formen  mehr  als  je  mit  nationalen  Ideen  er* 


173 

füllten,  daß  der  preußische  Adler  seinen  Flug  nun  auch  nach  dem 
Westen,  über  den  Rhein  hinüber  bis  zur  Hauptstadt  des  Erbfeindes 
nahm,  daß  Preußen  vollends  in  Deutschland  hinein  wuchs.  Schon 
durchdrang  der  Wille  zur  Macht  das  politische  Denken  der  gesamten 
Nation,  weckte  die  Erinnerung  an  die  alte  Kaiserherrlichkeit  und 
schuf  den  Traum  eines  neuen  und  nationalen  Kaisertums.  Auf  Preußens 
Krone  selber  lenkten  sich  die  Hoffnungen  der  Patrioten,  und  aus  dem 
Süden,  von  Schwaben,  der  Stauffer  Heimat  her,  klang  die  Stimme  des 
deutschen  Sängers,  die  Stimme  der  Sehnsucht  und  der  Hoffnung, 
daß  Friedrichs  Adler  die  Verlassenen,  Heimatlosen  mit  seiner  goldnen 
Schwinge  decke. 

Auch  in  der  deutschen  Revolution  war  der  Wille  zur  Macht  die 
stärkste  Kraft.  Hier  aber  stieß  er  zusammen  mit  dem  Eigenwillen 
der  in  dem  zerfallenden  deutschen  Reich  emporgewachsenen  Staaten, 
der  nirgends  kräftiger  pulsierte  als  in  dem  märkischen  Edelmann, 
dem  Junker  von  Schönhausen;  er  war  ganz  in  ihm  verkörpert.  Von 
ihm,  dem  preußischen  Machtgedanken,  aus  (er  kannte  noch  keinen 
andern)  warf  Bismarck  sich  dem  Wogendrang  der  deutschen  Idee 
entgegen.  Preußisch  war  seine  Politik  in  der  Revolution.  Zu  Preußens 
Macht  bekannte  er  sich  in  Frankfurt  Österreich  gegenüber.  Sie  gab 
ihm  die  Richtung,  als  er  sich  dem  mit  dem  nationalen  Gedanken  ver- 
bündeten preußischen  Liberalismus  in  den  Weg  stellte  und  die  Krone 
seines  königlichen  Herrn  gegen  innere  und  äußere  Gegner  aufrecht 
hielt ;  als  er  die  Nordmark  im  Widerspruch  zu  der  gesamten  öffentlichen 
Meinung  der  Nation  eroberte  und  mit  Österreich  den  Bund  schloß, 
um  ihn  alsbald  wieder  zu  zerbrechen  und  Habsburg  niederzuwerfen. 
Gerade  dadurch  aber  offenbarte  er  die  deutsche  Mission  seines  Staates, 
der,  was  er  für  sich  gewann,  immer  noch  auch  für  Deutschland  er- 
worben hatte,  unter  dessen  starker  Hand,  wohin  sie  immer  griff, 
deutsches  Leben  aufgewachsen,  deutsche  Kultur  erblüht  war,  und 
führte  so  den  Beweis,  daß  nur  die  Macht  die  deutsche  Frage  lösen, 
unser  Volk  zu  sich  selbst  bringen,  und  ihm  die  Stellung  in  der  Welt 
erringen  könnte,  die  seinem  Willen  zur  Größe  genug  tat.  So  gelang 
es  Bismarck  gewaltigem  Willen,  beide  Strömungen  in  das  gleiche  Bette 
zu  leiten.  Er,  der  Preuße,  erfüllte  sich  jetzt  ganz  mit  der  nationalen 
Idee ;  unter  seinen  Händen  schmolz  die  Macht  seines  Staates  zusammen 
mit  der  Macht  der  Nation.  Und  so  kam  die  Stunde,  da  Preußens  greiser 
Herrscher  im  Königsschlosse  zu  Versailles,  angesichts  der  belagerten 


174 

Hauptstadt  des  nationalen  Feindes,  zu  der  angestammten  Krone 
die  Kaiserkrone  hinzufügte,  die  ihm  Fürsten  und  Volk  Deutsch- 
lands darbrachten.  Auf  diesem  Fundamente  ruhte  seitdem  unser 
Reich.  Jeder  Akt  der  PoHtik,  die  des  Reiches  Schöpfer  von  nun  an 
verfolgte,  empfing  daher  seine  Richtung.  Alle  Maße  der  Verfassung, 
die  er  der  Nation,  im  Bimde  oder  auch  im  Kampfe  mit  den  Parteien,  gab, 
waren  danach  berechnet.  In  dieser  Form  entfaltete  sich  die  ungeheure 
Kraft  unseres  Volkes  noch  über  den  Sturz  und  den  Tod  des  Reichs- 
gründers hinweg.  Erst  als  der  Wille  zur  Macht  erlcihmte,  zerbrach 
Bismarcks   Schöpfung,  und  mit  ihr  sogleich  die  Macht  der  Nation. 

So  spiegelt  dieser  Tag  in  seinem  Doppelcharakter  Deutschlands 
Entwicklimg  in  mehr  als  zwei  Jahrhunderten  wieder.  In  diesem  Geiste 
müssen  wir  ihn  feiern,  als  eine  Gewähr  für  das  Leben  der  Nation. 

Jedoch  auch  die  Gegenwart  dürfen  wir  über  der  Vergangenheit 
nicht  vergessen;  nicht  vergessen,  daß  jener  Stunde  des  Ruhmes  ein 
anderer  Tag  von  Versailles  gefolgt  ist,  vor  dem  ihr  Glanz  verbuch, 
imd  der  zu  dem  Tage  unserer  tiefsten  Erniedrigung  geworden  ist. 
Denn  nur,  wenn  wir  den  Abgrund  in  seiner  ganzen  Tiefe  ausmessen, 
unser  Elend  in  seiner  vollen  Größe  umfassen,  können  wir  wieder 
emporkommen.  Niemals  dürfen  wir  gleichgültig  oder  in  blödem 
Optimismus  daran  vorübergehen.  Immer  daran  denken  —  und  immer 
davon  sprechen,  muß  unsere  Losung  sein.  Nicht  die  Welt,  aber  uns 
selbst  von  der  Furchtbarkeit  unseres  Schicksals,  von  der  Unerträglich- 
keit  des  Joches,  das  auf  uns  lastet,  zu  überzeugen,  das  ist  die  Aufgabe. 
Täghch  und  stündlich  müssen  wir  uns  den  Inhalt  des  mörderischen 
Vertrages,  den  uns  die  Feinde  abgepreßt  haben,  vor  Augen  halten, 
wenn  wir  uns  des  Glaubens  getrösten  wollen,  daß  sich  unsere  Nation 
aufs  neue  zu  der  Macht  erheben  wird,  welche  allein  den  Frieden  und 
das  Recht  sichern,  alle  Reichtümer  und  alle  Güter  der  Kultur  herbei- 
schaffen, die  nationale  Ehre  herstellen  und  die  Freiheit  selbst  erobern 
kann. 


Es  war  ein  Vertrag,  wie  ihn  gewiß  jeder  Räuber  gern  mit  seinem 
Opfer  schheßen  möchte,  auf  Grund  dessen  er  ihm  auch  wohl  das  Leben 
lassen  möchte:  verstümmelt  und  wehrlos  gemacht,  von  Ketten  er- 
drückt, fronden  zu  müssen,  solange  noch  ein  Lebensfunke  in  dem 
Überfallenen  glüht.    Freilich  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft  wäre 


175 

ein  solcher  Pakt,  und  wäre  er  mit  tausend  Eiden  bekräftigt,  nicht 
denkbar.  Oder  würde  sich  irgendwo  ein  Richter  finden,  der  dem 
Räuber  sein  Opfer  überlcissen,  es  an  Bedingungen  ketten  würde,  die 
es  allen  Qualen  eines  langsamen  Sterbens  überhefern  müßten?  In 
der  Gesellschaft  der  Nationen  jedoch,  die  sich  im  Völkerbund  ver- 
einigt haben,  denkt  man  darüber  anders.  Denn  dieser  ist  gerade  dazu 
gestiftet,  den  Siegern  die  Beute  zu  sichern,  die  Knechtschaft,  in 
welche  wir  und  unsere  Verbündeten  gerieten,  zu  verewigen.  Ja,  man 
wagt  es,  das  Ziel,  welches  der  Austilgung  unseres  Volkes  gleichkommt, 
als  die  Erfüllung  der  erhabensten  Ideale,  als  die  Einsetzung  eines  Reiches 
der  Gerechtigkeit  und  des  völkerbeglückenden  Weltfriedens  anzu- 
kündigen. So  fest  ist  die  Völkerbundsakte  mit  den  Friedensverträgen 
verkettet,  daß  sie  in  dem  unsem  wie  in  allen  andern  an  die  Spitze 
gestellt  wurde.  Wer  sich  zu  diesen  bekennt,  ist  also  auch  jener  ver- 
pfhchtet. 

Selbstbestimmung  der  Nationen  ist  das  Schlüsselwort, 
in  dem,  wie  die  Worte  lauten,  aUe  Artikel  der  Völkerbundsakte  sich 
zusammenfinden.  Wahrlich,  ein  erhabener  Gedanke!  Es  ist  die  Idee, 
die,  seitdem  sie  in  der  großen  französischen  Revolution  zum  erstenmal 
auf  dem  europäischen  Kontinent  verwirklicht  wurde,  die  belebende 
Kraft  des  neunzehnten  Jahrhunderts  geworden  ist.  Nicht  immer 
war  sie  mit  den  hberalen  Forderungen  verbündet;  nicht  für  die  Ideen 
von  1789  erhoben  sich  unter  ihren  Mönchen  und  Pfarrern  die  Spanier 
und  die  Tiroler  gegen  ihre  französischen  Bedränger.  Aber  ob  sie  sich 
der  Revolution  oder  der  Reaktion  zugesellten,  stets  war  es  diese  Idee, 
die  unsre  Nationen  in  ihrer  Tiefe  aufrüttelte,  sie  mit  dem  Bewußtsein 
ihrer  selbst,  dem  Willen  zur  Einheit  erfüllte  und  sie  antrieb,  sich  eine 
Stellung  unter  den  Völkern  der  Erde  zu  machen,  einen  Platz  an  der 
Sonne  zu  sichern.  So  hat  sie,  nachdem  sie,  anfänglich  von  dem  revo- 
lutionären Frankreich  geleitet,  jenseits  der  Alpen  wie  am  Rhein  und 
an  der  Weichsel  gezündet  hatte,  im  Weiterschreiten  der  Revolution  in 
dem  Kampf  gegen  ihren  Erben,  Napoleon,  die  Geister  der  Völker  unseres 
Erdteils  aus  der  Erstarrung  erlöst.  Von  ihr  beseelt,  haben  sodann 
die  spanischen  und  portugiesischen  Kolonien  Süd-  und  Mittelamerikas 
ihre  Freiheit  gewonnen,  ihre  staatHche  IndividuaUtät  entwickelt. 
Alle  Revolutionen  und  Kriege,  die  das  19.  Jahrhundert  erfüllten, 
haben  von  ihr  den  stärksten  Antrieb  erhalten.  Sie  hat  auch  unserm 
Volke  nach  Jahrhunderten  der  Zerrüttung  endlich  den  Weg  zum  Heil 


176 

gewiesen :  der  Kaisertraum,  der  an  die  Glanzzeit  längst  entschwundener 
Macht  unserer  Nation  anknüpfte,  war  nur  das  Spiegelbild  dieser 
Sehnsucht.  Von  ihr  ging  die  Glorie  aus,  die  Wilhelms  I.  ehrwürdige 
Gestalt  umfloß.  Auf  sie  stellte  sich,  nachdem  er  Österreich  nieder- 
gerungen, der  heroische  Staatsmann,  der  das  Werk  unserer  Einigung 
vollendete.  Sie  war  der  Odem,  der  alle  Väter  und  Propheten  unseres 
nationalen  Staates,  von  Ernst  Moritz  Arndt  und  dem  Freiherrn 
V.  Stein  bis  hin  zu  Heinrich  v.  Treitschke,  erfüllte;  alles  Schauen  und 
Schaffen  des  deutschen  Genius  in  diesem  unvergeßhchen  Jahrhundert 
deutscher  Größe  hat  von  ihr  Form  und  Farbe  erhalten.  Auf  diesem 
Grunde  ruhte  auch  das  Reich,  das  wir  uns  in  dem  gerechtesten  Kriege, 
der  je  geführt  wurde,  gewannen;  alle  seine  Institutionen  sind  um  die 
eine  Idee,  die  Selbstbestimmung  der  Nation,  herumgebaut  worden; 
43  Jahre  hindurch  war  sie  der  Eckstein  unseres  Reiches.  Schon  nahmen 
wir,  seit  dem  Beginn  des  neuen  Jahrhunderts,  wahr,  wie  die  inneren 
Widerstände,  die  sich  dagegen  erhoben  hatten,  alteingewurzelte  und 
neuentstandene,  sich  zu  lösen  begannen ;  immer  weitere  Kreise  unseres 
Volkes  erschlossen  sich  dem  Verständnis  für  die  Notwendigkeit  der 
Einheit  und  die  Gesundung,  die  von  dorther  das  Leben  der  Nation 
durchdrang.  Und  wie  tief  diese  Empfindungen  bereits  reichten, 
bewährten  jene  Wochen,  die  uns  heute  wie  eine  verklungene  Sage 
erscheinen  wollen,  als  die  gegnerischen  Mächte  aus  dem  Dunkel  ihrer 
längst  betriebenen  Verschwörung  heraustraten  und  uns  das  Schwert 
in  die  Hand  zwangen;  als  die  Millionen  deutscher  Männer  und  Jüng- 
linge unter  die  Waffen  traten  und  alle  Schrecken  des  Krieges  gegen 
eine  Welt  von  Feinden  freudig  auf  sich  nahmen :  nur  das  Bewußtsein, 
für  unsere  Freiheit,  für  das  Recht  der  Nation,  ihr  Leben  nach  eigenem 
Willen  zu  gestalten,  konnte  uns  diese  Zuversicht  verleihen. 


Jedoch,  wie  die  Verteidigung,  so  galt  auch  der  Angriff  unserer 
Feinde  eben  diesem  Willen.  Ihn  zu  brechen,  uns  in  die  Ohnmacht 
der  alten  Zeiten  zurückzuschleudern,  darin  fanden  sich  alle  zusammen, 
darin  bestärkten  sie  sich,  je  härter  unser  Widerstand,  je  größer  die 
Gefahr  des  Erliegens  für  sie  selber  wurde.  Wir  aber  sind  nicht  der 
Gewalt  der  Waffen  erlegen  —  denn  diese  zerspHtterten  an  dem  Eisen- 
wall unserer  Flotte  und  unserer  Heere:  sondern  wir  erlagen,  weil 
die  Idee,  die  uns  das  Leben  verliehen  und  uns  zur  weit- 


^ 


177 

gebietenden  Größe  erhoben  hatte,  im  Kampfe  selbst  er- 
lahmte. Hier  Hegt  imsre  Schuld.  Und  wir  wollen  uns  nicht  damit  zu 
rechtfertigen  versuchen,  daß  wir  unter  dem  Druck  einer  ungeheuren 
Übermacht,  abgesperrt  von  aller  Welt,  durch  Aushungerung  und 
Entbehrungen,  wie  kein  großes  Volk  sie  je  zu  tragen  gehabt  hat, 
zermürbt  waren;  vielmehr,  weil  wir  den  Glauben  an  den  Sieg  verloren, 
verloren  wir  den  Krieg.  Wir  sind  erniedrigt  worden,  weil  der  Wille, 
uns  auf  der  Höhe,  die  wir  erreicht,  zu  halten,  nicht  stark  genug 
entwickelt,  das  Machtbewußtsein  nicht  tief  genug  in  der  Nation 
verankert  war;  weil  die  Sünden  der  Vorzeit,  Sondergeist  und  Partei- 
sucht, Phihsterei  und  nationale  Mattherzigkeit,  unter  den  Leiden  des 
Klrieges  von  neuem  emporgewuchert  waren.  Gewiß,  zu  Hundert- 
tausenden waren  die  Söhne  unseres  Volkes  für  seine  Freiheit  in  den 
Tod  gegangen,  und  Hunderttausende  waren  bis  zuletzt  bereit,  ihr 
Leben  dafür  einzusetzen;  und  noch  hielten  unsere  Heere  im  Feindes- 
lande selbst,  von  Edessa  bis  Ostende,  das  Feld.  Aber  die  MiUionen 
der  Gleichgültigen  und  der  Schwachmütigen  in  der  Heimat  erstickten 
den  Willen  ziun  Siege.  In  dieser  Schwäche  des  nationalen  Willens 
wurzelten  die  Fehlansätze  unserer  Diplomatie,  das  Schwanken  in  den 
Entschlüssen,  das  fortgesetzte  Wechseln  der  Ziele,  der  aufdringhche 
Verständigungswille  und  die  bis  zur  Blindheit  gesteigerte  Gutgläubig- 
keit gegenüber  den  Friedensphrasen  der  Feinde,  hinter  denen  doch 
nur  der  VemichtungswiUe  lauerte:  Lähmungserscheinungen,  die, 
von  oben  her  sich  verzweigend,  immer  breitere  Schichten  in  Heer  imd 
Volk  ergriffen,  bis  schheßhch  Feigheit  und  Verrat  und  die  Machtgier 
fanatischer  Demagogen,  welche  die  blöde  Menge  mit  ihren  Utopien 
umgaukelten,  das  Werk  der  Selbstentmannung  vollendeten. 

Dadurch  erst  gewannen  die  Verleumdungen,  mit  denen  die  Gegner 
die  gegen  uns  abgeriegelte  Völkerwelt  überschütteten,  Boden.  Wir 
selbst  haben  ihnen  den  Acker  besteht,  die  Furchen  gezogen,  in  denen 
ihre  Giftsaaten  aufgehen  konnten.  Von  uns,  von  den  Parteien,  die 
sich  wie  bösartige  Schhnggewächse  von  der  Wurzel  her  um  den  Stamm 
unserer  Macht  gelegt,  ja  mit  ihm  groß  geworden  waren,  ihn  rings 
eingeschnürt  hatten,  haben  unsere  Feinde  alle  Schlagworte  entlehnt, 
mit  denen  sie  die  unwissende  und  jeder  Täuschung  zugänghche  Welt 
betäubten,  und  die,  von  ims  anfänghch  verlacht,  am  Ende  auch  bei 
uns  die  Massen  hypnotisierten.  Und  so  konnten  sie  die  Wahrheit  auf 
den  Kopf  stehen  und  schheßhch  mit  der  ungeheuerhchen  Lüge  Glauben 

Lenz,  Wille,  Macht  und  Schicksal.  12 


178 

finden,  daß  ein  Volk,  welches  in  seiner  Gesamtheit  seit  Jahrhunderten 
keinen  anderen  Ehrgeiz  gekannt  hat  als  in  dem  Kampfe  für  die  Güter 
des  Friedens  und  der  Gesittung  der  Welt  voranzuleuchten,  das  mit 
seinen  Kolonisationen  und  durch  die  Millionen  seiner  Auswanderer 
immer  nur  aufbauend,  nie  zerstörend  gewirkt  hat,  nach  der  Unter- 
jochung der  Erde  strebe:  Zielen,  die  gerade  unsere  Feinde  seit  Jahr- 
hunderten verfolgten,  und  in  denen  sie  sich  eben  durch  unsere  PoHtik,^ 
welche  nichts  als  das  Recht  der  Selbstbestimmung  für  sich  und  unsere 
Freunde  verlangte,  gehemmt  sahen. 

Das  aber  ist  nun  an  dem  Vertrage,  den  unsere  Gegner  wie  ein 
Nessushemd  über  den  Leib  unseres  Volkes  geworfen  haben,  das  Ent- 
setzhche,  das  Nichtzuertragende,  daß  er  die  Idee  des  Jahrhunderts,, 
der  jene  selbst  ihre  Kraft  und  Größe  verdanken,  und  als  deren  Vor- 
kämpfer und  Schutzherren  sie  sich  heute  maskiert  haben,  in  allen 
seinen  Bestimmungen  verleugnet  und  in  ihr  Gegenteil  verkehrt  hat. 
Alle  seine  Paragraphen  sind  nur  Knebel  und  Klammern  und  Zangen» 
um  jedes  unserer  Gheder  abzuschnüren,  jede  MögHchkeit,  auch  nur 
einen  Schritt  aus  eigener  Kraft  zu  tun,  uns  zu  nehmen,  Keime  des 
Siechtimis  und  des  unabwendbaren  Todes  uns  einzuimpfen.  Nicht 
bloß,  daß  uns  die  Grenzmarken  im  Norden  und  Süden,  im  Osten  und 
Westen  geraubt  wurden  ■ —  Landschaften,  die  zum  Urboden  unseres 
Volkes  gehören,  deren  Wiedergewinnung,  nachdem  sie  in  den  Jahr- 
hunderten unseres  Zerfalls  verloren  gegangen  waren,  den  neuen 
Aufstieg  unserer  Nation  gekrönt  hat  oder  die  erst  deutsche  Kraft 
dem  historischen  Leben  erschloß:  auch  dem  Torso,  den  die  Feinde 
uns  heßen,  haben  sie  jede  Hoffnung,  ein  Eigenleben  zu  entwickeln, 
unterbunden.  Unsere  Ströme  haben  sie  internationahsiert ;  in  allen 
Hauptstädten  sitzen  ihre  Kommissionen,  keine  Fabrik,  kein  Staats- 
gebäude ist  vor  ihren  Späherbhcken  sicher;  deim  der  Vertrag  gibt  ihnen 
tausend  Gelegenheiten,  unsere  Geschäfte  zu  kontrollieren,  unsere  Er- 
findungen, unser  Eigentum,  das  geistige  wie  das  materielle,  für  sich 
auszunutzen  und  zu  stehlen;  und  während  sie  uns  an  jeden  Paragraphen 
fesseln  und  imter  brutalen  Drohungen  daran  festhalten,  scheuen  sie 
selbst  sich  nicht,  den  Vertrag,  wo  es  ihnen  paßt,  zu  verachten  und  zu 
übertreten.  Fleiß  und  Arbeit  werden  uns  nicht  helfen.  Denn  wir 
haften  dem  Feinde  mit  allem  Besitz  und  Einkommen,  dem  öffenthchen 
wie  dem  privaten;  und  die  ungeheuerhchen  Forderungen,  zu  denen 
der  Friede  sie  berechtigt,  würden  uns  für  alle  Ewigkeit  belasten; 


179 

wir  wären  längst  erstickt  und  vernichtet,  bevor  wir  uns  von  der  Ver- 
schuldung gelöst  hätten.  Denn  unsere  Feinde  sind  die  Herren  geworden 
in  unsem  Häfen,  an  unsem  Küsten,  auf  unsern  Strömen;  ihre  Kapi- 
talien durchfluten  unser  Land;  unsere  Wohlfahrtsquellen  haben  sie 
verstopft  oder  zu  sich  hinübergeleitet;  aus  unsern  Häfen  führten  sie 
die  Ozeandampfer,  von  den  Bahnhöfen  die  Lokomotiven  und  Wagen 
fort ;  unsere  Fabrikanten  haben  ihre  Maschinen  und  Werkzeuge,  unsere 
Landwirte  ihre  Herden  hergeben  müssen ;  unserer  Kolonien  beraubt, 
müssen  wir  die  Rohstoffe  für  unsere  Fabriken  von  unsern  Feinden 
kaufen,  und  auf  ihren  eigenen  oder  den  von  uns  ausgelieferten  Schiffen 
mußten  wir  sie  bisher  heranschaffen.  Ihre  Garnisonen  in  den  be- 
setzten Provinzen  müssen  wir  erhalten,  und  es  Hegt  ganz  bei  ihnen, 
wie  viele  Regimenter  sie  dort  einlegen  wollen,  Milharden  müssen  wir 
auch  dafür  opfern;  unsere  Schulen  und  Kasernen  und  jede  Wohnung, 
die  ihnen  gefällt,  stehen  ihnen  offen ;  wir  müssen  ihnen  die  Bordeile 
bauen,  die  sie  lücht  entbehren  können,  und  Quartiere  für  die  Dirnen 
schaffen,  die  ihre  Offiziere  mit  sich  bringen  —  und  müssen  es  mit 
ansehen,  wie  unsere  Frauen  den  viehischen  Begierden  ihrer  farbigen 
Söldner  zum  Opfer  fallen;  kein  Richter  steht  uns  gegen  sie  zur  Seite. 
Und  so  fehlt  uns  bereits  jedes  Recht,  noch  von  einem  deutschen  Staat 
zu  sprechen,  uns  eine  Nation  zu  nennen:  wir  sind  ein  Volk  von  Zwangs- 
arbeitern geworden,  Schuldknechte,  Leibeigene  unbarmherziger 
Sklavenhalter. 

Als  im  November  1918  unsere  Macht  in  sich  zusammenbrach, 
gab  es  in  Deutschland  noch  naive  Gemüter,  die  da  meinten,  daß  wir 
in  der  Anghederung  Deutsch-Österreichs,  welches  wir  einst  unter  dem 
Zwange  der  europäischen  Pohtik  von  unserm  Reiche  hatten  aus- 
schließen müssen,  eine  Entschädigung  für  die  verlorenen  Provinzen 
finden  und  also  die  großdeutschen  Ziele  durch  unsere  Niederlage  ver- 
wirklichen könnten.  Von  diesem  Wahn  sind  jene  guten  Leute  bcild 
genug  geheilt  worden.  Denn  auf  nichts  sind  unsere  Feinde  mehr  be- 
dacht gewesen,  als  die  Rückkehr  unserer  Brüder  zu  ihrem  Volke  zu 
verhindern.  Und  wenn  sie  heute  dem  Bruchteü,  dem  sie  eine  staat- 
liche Existenz  zugebilhgt  haben,  der  aber  nicht  eirmial  in  seinem 
Namen  an  sein  Volkstum  erinnern  darf,  in  den  Völkerbund  aufnahmen, 
so  geschah  es  wiederum  nur  deshalb,  um  die  Wiedervereinigung  mit 
der  Nation  zu  verhindern.  Die  Randgebiete  aber  dieser  ältesten 
Koloiüe  imseres  Volkes  haben  sie  unter  die  Verrätemationen,   die 


180 

Tschechen,  Slovenen  und  Kroaten,  aufgeteilt,  also  daß  diese  Fremd- 
stämmigen,  die  ihr  Recht  auf  staatHche  Existenz  ganz  auf  die  natio- 
nale Idee  gestützt,  die  darin  ihren  Antrieb,  ihre  Rechtfertigung  in 
dem  Jahrhundert  der  Nationalitätskämpfe  gesucht  haben,  heute  mit 
ihren  Staaten  das  genaue  Gegenbild  zu  dem  Kaiserreich  darstellen, 
aus  dem  sie  sich  herausgelöst  haben:  sie  selbst  sind  heute  Nationah- 
tätenstaaten  geworden,  und  damit  noch  viel  weniger  lebensfähig  als 
das  habsburgische  Kaiserreich  je  gewesen  ist,  da  ihnen  die  Eigen- 
macht fehlt,  die  jenes  besaß;  sie  sind  von  ihren  Protektoren  durchaus 
abhängig  und  jeder  Abwandlung  der  allgemeinen  Politik  unterworfen, 
r  Eben  dies  aber  ist  das  Bild,  welches  das  heutige  Europa,  in  dem 
ganzen  Bereich,  den  unsere  Feinde  beherrschen,  darstellt.  Von  allen 
Nationen  unseres  Erdteils,  die  an  dem  Weltkriege  teilnahmen,  ist  die 
deutsche  allein  rein  geworden  von  jeder  Beimischung  fremden  Blutes, 
sie,  die  auf  allen  Fronten  Millionen  ihrer  eigenen  Volksgenossen  verlor. 
Wohin  unser  Bhck  sonst  fallen  mag,  von  Polen  und  der  Ukraine  bis 
an  den  Kanal  und  darüber  hinweg,  sehen  wir  Staatsgebilde  vor  uns, 
gemischt  aus  den  feindsehgsten  Elementen,  Gegensätzen,  deren  Ent- 
wicklung in  die  Jahrhunderte  zurückreicht,  und  die  heute  völlig 
verhärtet  und  unversöhnlich  geworden  sind.  Wie  tief  sie  reichen, 
und  wie  furchtbar  ihr  Ausbruch  sein  kann,  erlebten  wir  an  Irland, 
wo  sie  (dcLS  Flammenmeer  von  Cork  bezeugt  es)  noch  gerade  so  un- 
gestillt sind  wie  zu  den  Zeiten  Cromwells  und  des  Blutbades  von 
Drogheda, 

Mit  welcher  Verachtimg  pflegte  man  sonst  von  den  Kriegen  zu 
sprechen,  in  denen  in  dem  Zeitalter  des  Absolutismus  um  das  Schicksal 
der  Völker  gewürfelt  wurde!  Ist  aber  auf  den  Friedenskongressen 
der  heihgen  AUianz  jemals  ein  schamloserer  Seelenschacher  getrieben 
worden  als  in  den  Verträgen  von  1919?  Auch  tasteten  die  Sieger  in 
jenen  Zeiten  die  Eigenart  der  Stämme  und  Völker,  die  sich  ihrem 
Szepter  unterwerfen  mußten,  nicht  an;  nur  England  beutete  schon 
damals  die  Länder,  die  es  unterjocht  hielt,  aus,  oder  vernichtete  sie,  wo 
es  auf  Widerstand  stieß:  Irlands  Beispiel  beweist  es.  Wir  Deutschen 
aber  durften,  wie  die  Italiener  unter  Habsburg,  mochten  nun  Polen 
oder  Franzosen,  Dänen  oder  Schweden  über  uns  gebieten,  unbesorgt 
unsern  Geschäften  nachgehen  und  unser  Leben  führen  wie  es  der 
Überheferung  unserer  Kultur  entsprach.  Das  Elsaß  war  zu  der  Zeit, 
da  der  junge  Goethe  in  der   Stadt  Erwins  v.  Steinbach  studierte. 


I 


181 

noch  grade  so  deutsch  wie  80  Jahre  zuvor,  als  Ludwig  XIV.  es  mitten 
im  Frieden  raubte;  und  niemals  hat  Danzig  sich  selbständiger 
und  deutscher  gefühlt  als  unter  der  Herrschaft  polnischer  Starosten. 
Niemand  dachte  damals  in  Kiel  und  Flensburg  daran,  von  Dänemark, 
oder  in  Vorpommern,  von  Schweden  abzufallen ;  und  doch  schlug  der 
Pulsschlag  des  deutschen  Herzens  nirgends  voller  als  in  dem  Heimat- 
lande eines  Niebuhr  und  Ernst  Moritz  Arndt.  Grade  weil  es  nur  die 
Kabinette  waren,  welche  die  Kriege  führten,  weil  nur  sie  und  die 
dünne  Oberschicht  der  Privilegierten  den  Staat  ausmachten,  konnten 
ihre  Völker  ihr  Sonderdasein  bewahren;  hatten  sie  auch  nicht  Teil 
an  der  Macht,  so  bUeb  doch  ihre  Seele  frei;  eins  bedingte  das  andere, 
und  keiner  störte  den  andern.  Erst  seitdem  die  Tiefen  in  Bewegung 
geraten,  seitdem  die  Massen  in  den  Staat  eingedrungen  sind  und  alle  seine 
Ordnungen  mit  ihren  Interessen  und  Leidenschaften,  ihren  oft  brutalen 
Instinkten  erfüllt  haben,  hat  sich  der  Charakter  der  europäischen 
PoHtik  von  Grund  aus  geändert.  Von  Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt  ist 
dadurch  der  Druck  der  Staaten  aufeinander  stärker  geworden,  bis 
er  sich  in  den  furchtbaren  Explosionen  des  Weltkrieges  entlud. 

So  ist  nun  der  Krieg  für  jedes  Volk  ein  Kampf  um  Sein  oder 
Nichtsein  geworden:  Ausrottung  oder  Umschmelzung  der  NationaH- 
täten  wurde  die  Losung.  Und  so  sind  die  Milhonen  imserer  Volks- 
genossen, die  wir  an  aUen  unsern  Grenzen  ausHefem  mußten,  unmittel- 
bar von  der  Gefahr  der  Vernichtung  bedroht :  sie  sollen  Dänen  werden 
oder  Polen,  Tschechen  oder  Slovaken,  Kroaten  oder  Slovenen,  Italiener 
oder  Franzosen  und  Wallonen;  einen  Ring  deutscher  Irredenten 
haben  unsere  Feinde  um  uns  gelegt:  Haß  und  Machtgier  haben 
ihn  geschmiedet;  es  ist  das  stärkste  Band,  das  sie  selbst  zusammenhält. 

Und  alles  dies  soll  nun  der  Völkerbund  garantieren.  Wer  ihm 
beigetreten  ist,  hat  sich  damit  verpfUchtet,  jeden  Versuch  der  Unter- 
drückten, an  dem  Joch  zu  rütteln,  zusammen  mit  den  Feinden  er- 
barmungslos niederzuhalten  —  im  Namen  der  Humanität,  des  Welt- 
friedens und  weltbürgerHcher  Gerechtigkeit.  Als  Feinde  des  Menschen- 
geschlechtes würden  wir  verfolgt  werden.  Boykott  und  Blockade, 
die  Mittel,  welche  im  Kriege  unser  Mark  verzehrt  haben,  würden 
wieder  hervorgeholt  werden;  denn  sie  sind,  wie  Robert  Cecil  in  Genf 
sagte,  die  sanftesten  Mittel,  um  uns  zum  Gehorsam  zu  bringen:  man 
braucht  uns  ja  in  der  Tat  die  Kehle  niur  noch  ein  wenig  zuzudrücken, 
um  uns  widerstandslos  auf  die  Knie  zu  zwingen. 


182 

Nun  ist  ja  freilich  in  den  Verträgen  den  nationalen  Minderheiten 
der  Schutz  ihrer  völkischen  Eigenart  zugesagt  worden.  Wie  es  aber 
damit  gehalten  wiid,  davon  \vissen  die  von  uns  Abgetrennten  ein 
Lied  zu  singen.  Es  ist  überall  die  gleiche  Melodie,  dieselbe,  die  von 
allen  Orten  der  Welt  von  der  Stunde  ab  zu  uns  drang,  als  die  Feinde 
die  Fackel  des  Krieges  gegen  uns  erhoben:  Austilgung  unserer  Nation 
ist  bis  heute  das  Thema  geblieben.  Man  kann  kaum  noch  mit  Clemen- 
ceau  davon  sprechen,  daß  der  Friede  von  Versailles  die  Fortführung 
des  Krieges  mit  andern  Mitteln  sei.  Denn  es  sind  genau  die  gleichen 
Methoden,  HinterHst  und  Verleumdung,  Rechtsbeugung  und  Gewalt- 
tat, die  dabei  zur  Anwendung  kommen.  Noch  ist  ja  das  Endziel, 
das  unsere  Feinde  sich  gesetzt,  nicht  erreicht;  auch  in  den  Grenzen, 
die  sie  uns  gelassen,  sind  wir  bis  heute  das  größte  Volk  Europas  dies- 
seits vom  Pruth  und  Dnjepr  geblieben:  zwanzig  Millionen  zuviel, 
um  das  brutale  Wort  jenes  stärksten  Hassers  des  deutschen  Namens 
zu  wiederholen. 

Für  uns  Deutsche  ergibt  sich  aus  alledem  die  Pflicht,  diesem  Welt- 
senat so  fern  wie  möglich  zu  bleiben,  in  dem  wir  heute  weniger  be- 
deuten würden  als  die  Republik  Liberia  oder  das  Kaiserreich  Slam. 
Wir  würden  sonst  unser  Todesurteil  noch  einmal  unterschreiben, 
es  vor  den  Völkern  der  halben  Erde  bestätigen.  Uns  bleibt  nur  übrig, 
still  zu  sitzen,  ims  auf  uns  selbst  zu  besinnen  und  den  Moment  abzu- 
warten, wo  der  Pendel,  der  heute  nach  der  entgegengesetzten  Seite 
ausgeschlagen  ist,  den  Weg  zu  uns  zurückfindet.  Jedem  Versuch, 
uns  in  den  Völkerbund  hineinzulocken  oder  zu  zwingen,  müssen  wir 
widerstehen.  Lassen  wir  auch  davon  ab,  an  die  irdische  Gerechtigkeit 
zu  appellieren,  um  Milderung  des  Joches,  um  die  Revision  eines 
Friedensvertrages  zu  bitten,  dessen  Sinn  eben  die  Vernichtung  unseres 
Volkes  ist.  Es  sind  Ketten,  schwerer  als  je  ein  Volk  sie  getragen  hat. 
Ketten  aber  revidiert  man  nicht,  um  sie  etwas  lockerer  und  bequemer 
zu  machen:  sondern  man  zerbricht  sie.  Wann  das  geschehen  wird, 
ob  man  uns  das  Werk  allein  überlassen  wird,  oder  ob  diejenigen, 
die  heute  noch  unsere  Feinde  sind  oder  es  bereits  waren,  einzeln  oder 
gemeinsam,  uns  dabei  helfen  werden,  steht  bei  Gott.  Es  mag  noch  lange 
währen.  Denn  heute  sind  wir  ein  Nichts.  Gottes  Mühlen  mahlen 
langsam.  Aber  kommen  wird  der  Tag,  wo  der  Druck,  der  heute  auf 
der  Ohnmacht  und  der  Schwäche  ringsum  auf  Erden  lastet,  fort- 
genommen,   wo  die  Freiheit,    die  jene  knechteten,  aufs  neue  ihren 


183 

Umzug  in  der  Welt  halten  wird.  Und  dies  wird  der  Tag  sein,  an  dem 
auch  der  deutsche  Genius,  der  freieste  der  Erde,  aus  seiner  Erstarrung 
erwachen  und  seine  Fittiche  aufs  neue  ausbreiten,  wieder  Raum  in 
der  Welt  gewinnen  wird. 

So  mögen  denn  die  Machthaber,  die  heute  über  die  Geschicke  der 
Erdbewohner  verfügen,  es  versuchen,  dem  Ewig-FHeßenden,  Ewig- 
Werdenden  einen  Damm  entgegen  zu  stellen.  Die  Zeit  wird  kommen, 
wo  ihnen  vor  ihrer  Gottähnhchkeit  bange  werden  wird.  Bis  dahin 
aber  werden  zwei  Helferinnen,  Schwestern  beide,  uns  zur  Seite  stehen 
- —  die  Erinnerung  und  die  Hoffnung.  Sie  verknüpfen  Vergangenheit  und 
Zukunft  miteinander  und  reichen  sich  über  die  trauervolle  Gegenwart 
hinweg  die  Hände.  Sie  führen  uns  hinauf  in  das  Hochland  unserer 
Geschichte  und  lassen  uns  von  da  hinüberschauen  in  das  Land  der 
Verheißung.  Von  ihnen  geleitet,  bücken  wir  furchtlos  und  schwindel- 
frei auch  in  den  Abgrund,  den  Haß  und  Abgunst,  Feigheit  und  Verrat 
zu  unsern  Füßen  gewühlt  haben.  Wir  lassen  uns  nicht  schrecken  durch 
die  Nebel  und  die  giftigen  Schwaden,  die  aus  der  Tiefe  emporsteigen, 
durch  die  dämonischen  Gewalten,  von  denen  wir  umgeben  sind. 
Denn  wir  sehen  es  auf  dem  Grunde  wie  Goldadern  bhnken,  das  ist  der 
Goldhort  deutscher  Treue.  Ungetreue  Hände  haben  ihn  versenkt. 
Wir  aber  woUen  ihn  heben;  denn  wir  wissen,  daß  uns  Hilfe  kommen 
wird,  je  mehr  wir  ims  darmn  bemühen,  und  je  fester  wir  an  das  Geüngen 
glauben.  Um  uns  her  drängen  sich  in  ungezählten  Scharen  die  Schatten 
derer,  die  an  das  Vaterland  je  und  je  geglaubt,  die  dafür  gekämpft  und 
gehtten  haben,  alle  Propheten  und  Sänger  unseres  Volkes,  die  er- 
habenen Gestalten  der  Vorzeit  und  die  gehebten  Toten,  imsere  Brüder 
und  Söhne,  die  ihr  Blut  im  Kampfe  für  deutsche  Ehre  und  deutsche 
Freiheit  dahin  gaben.  Wir  fühlen  ihre  Nähe.  Sie  streiten  mit  uns, 
führen  uns,  gehen  uns  voran  auf  dem  Wege  zum  Lichte.  Mögen  denn 
immerhin  wir  Alten  noch  im  Dunkel  davon  gehen:  unsere  Jugend 
wird  das  Licht  schauen,  so  gewiß,  wie  auf  die  Nacht  der  Morgen  folgt. 

Wir  harren  des  Tages. 


Eine  Prophezeiung  Napoleons. 

(Zum  5.  Mai  1921.) 

»In  zehn  Jahren  kann  ganz  Europa  kosakisch  oder  repubükanisch 
sein«,  so  lautet  ein  bekanntes  Wort  des  Gefangenen  von  St.  Helena. 
Napoleon  äußerte  es  schon  im  ersten  Jahr  seiner  Verbannung  im 
Gespräch  mit  Las  Cases,  der  damals  das  furchtbare  Los  mit  ihm 
teilte,  das  der  Haß  der  Feinde  über  den  Weiterschütterer,  vor  dem  sie 
einst  alle  gezittert,  verhängt  hatte.  Der  Kampf  zwischen  der  Re- 
volution und  der  Reaktion,  dessen  Wiederausbruch  er  mit  Recht  für 
imvermeidhch  hielt,  werde,  so  meinte  der  Kaiser,  auch  die  Stunde  für 
seine  Befreiung  werden;  derm  man  werde  seines  Armes  bedürfen, 
um  die  Heere  der  Revolution  gegen  Rußland  als  die  Hauptmacht 
des  reaktionären  Systems  zu  führen.  In  der  Tat  hat  Napoleon  das 
Wiedererwachen  der  Revolution,  der  Ideen  von  1789,  noch  erlebt. 
Aber  seine  Ketten  waren  nicht  gelockert,  und  sein  Befreier  war  der 
Tod  geworden:  als  das  Dezennivmi,  das,  wie  er  gewähnt,  den  Nationen 
Europas  Freiheit  oder  Knechtschaft  hatte  bringen  sollen,  abgelaufen 
war,  waren  die  Fesseln,  in  welche  die  absoluten  Mächte  jenen  Geist 
geschmiedet  hatten,  fester  als  je;  gerade  Frankreich,  das  Geburts- 
land der  Revolution,  war  unter  dem  Lihenbarmer  der  Bourbonen 
dem  alten  System  von  neuem  vöUig  untertänig  geworden. 

Nun  darf  man  freihch  solche  Propheten worte  nicht  allzu  buch- 
stäblich nehmen,  weder  in  bezug  auf  ihren  Inhalt  noch  auf  die  Zeit, 
für  die  sie  gelten  wollen.  Aber  auch  wenn  wir  dies  zugeben  und  ebenso 
die  allzu  kurze  Frist,  die  der  Verbannte  in  der  grenzenlosen  Einsam- 
keit seines  Gefängnisses  für  die  Erfüllung  seiner  Sehnsucht  gesetzt 
hat,  übersehen  wollten,  erscheint  jener  Ausspruch  doch  allzu  paradox, 
um  ihn  ohne  Widerspruch  hingehen  zu  lassen.  War  doch  die  Pohtik  der 
Mächte,  welche  durch  die  Wiener  und  die  Pariser  Verträge  Europa  neu 
konstituiert  hatten,  in  jenem  Moment  gar  nicht  so  reaktionär,  wie  sie 
später,  seit  dem  Aachener  Kongreß  im  Herbst  1818,  allerdings  werden 
sollte.    Gerade  der  Zar  gab  sich  zunächst  allerorten  als  Liebhaber 


185 

der  liberalen  und  nationalen  Gedanken;  er  kokettierte  mit  ihnen, 
wie  Napoleon  selbst,  und  rivalisierte  darin  mit  ihm  wieder  gerade  so, 
wie  er  es  als  sein  Freund  und  Verbündeter  getan  hatte.  Dem  Konflikt 
so  widersprechender  Tendenzen  hat  er  freihch  auf  die  Dauer  nicht  aus- 
weichen können;  er  ist  ihm  erlegen,  und  sein  Ende  ist  dadurch  kaimi 
weniger  tragisch  geworden  als  das  des  großen  Emporkömmhngs, 
dessen  Sturz  ihn  auf  die  Höhe  seiner  historischen  Stellung  geführt 
hatte.  Aber  wenn  auch  der  Kampf  zwischen  den  Mächten  des  Be- 
harrens und  den  aus  der  Zeit  geborenen  Kräften  fortging  und,  immer 
weitere  Kreise  ziehend,  das  neunzehnte  Jahrhundert  ganz  erfüllte, 
so  finden  wir  darin  doch,  allen  Erschütterungen  durch  Kriege  und 
Revolution  zum  Trotz,  keinen  Moment,  in  dem  auch  die  weitgehendste 
Interpretation  eine  Lösung  im  Sinne  der  Alternative,  mit  der  Napoleon 
die  Zukunft  Europas  mnschreiben  zu  können  glaubte,  erbhcken 
dürfte.  Niemals  hat  sich  die  Entwicklung  mit  dem  Gegensatz  zwischen 
Hberaler  und  reaktionärer  Weltanschauung,  zwischen  Nationahsmus 
und  Universahsmus,  Militarismus  und  Pazifismus,  Demokratie  und 
Absolutismus  —  oder  wie  man  die  miteinander  ringenden  Gewalten 
gegeneinander  hat  unterscheiden  woUen  —  gedeckt.  Demokratie 
und  Klerikahsmus  haben  sich  nur  zu  gut  miteinander  vertragen, 
während  das  Wort  von  dem  Bunde  zwischen  Thron  und  Altar  sich 
brüchig  genug  erwiesen  hat.  Auch  für  die  Erhaltung  ihrer  Eigenart 
können  manche  Nationen  ihrer  Kirche  dankbar  sein;  Spaniens  Ge- 
schichte gibt  für  das  eine  wie  das  andere  Belege  die  Fülle.  Und  daß 
höchster  wirtschaftHcher  Flor  und  aUer  Komfort  der  Zivihsation  sich 
mit  barbarischer  Behandlung  unterdrückter  Nationen  sehr  wohl 
verbinden  läßt,  haben  im  Sudan  und  in  Irland  —  wn  von  andern 
Exempeln  zu  schweigen  —  die  Engländer  bewiesen,  die  ihre  Kriege 
bekannthch  heute  wie  vor  hundert  Jahren  ganz  allein  im  Dienste  der 
Freiheit  und  des  Rechtes  führen  und  als  die  durch  Gott  beauftragten 
Freunde  und  Beschirmer  aller  kleinen  imd  ohnmächtigen  Völker  auf 
dem  ganzen  Erdenrunde  ihres  Amtes  walten. 

Indessen  Worte  Napoleons  sind  nicht  so  bedeutungslos,  lun  kurzer- 
hand beiseite  geworfen  zu  werden.  Und  so  mag  es  immerhin  erlaubt 
sein,  den  Satz,  den  wir  an  die  Spitze  imseres  Essays  stellten,  daraufhin 
zu  prüfen,  ob  er,  werm  nicht  für  das  19.,  so  doch  für  das  20.  Jahr- 
hundert oder  auch  nur  für  den  Moment,  in  dem  wir  stehen,  gelten  darf, 
für  die  Weltlage  von  heute,  wie  sie  sich  nach  der  unerhörten  Kata- 


186 

Strophe,  die  unsern  Kontinent  mit  Schutt  und  Trümmern  bedeckte, 
gestaltet  hat.  So  daß  also  Napoleon  die  Frist  für  seine  Erfüllung  in 
der  begreiflichen  Ungeduld  des  Propheten  nur  zu  kurz  gegriffen  hätte. 
Würden  wir  die  Frage  in  dieser  Form  in  dem  Jahrzehnt  vor  dem 
Weltkriege  aufgeworfen  haben,  so  wäre  unsere  Antwort  allerdings  nicht 
anders  ausgefallen  als  bisher;  ja,  wir  hätten  vielleicht  dahin  geschlossen, 
daß  es  niemals  eine  falschere  Prophezeiung  gegeben  habe,  und  daß  die 
Entwicklung  gerade  umgekehrt  verlaufen  sei.  War  es  doch  die  Zeit, 
wo  alle  Welt  in  einem  Austausch  ihrer  wirtschaftlichen  und  geistigen 
Güter  wie  nie  zuvor  stand,  und  unsere  deutschen  Staatsmänner 
schon  eine  Weltpolitik  ohne  Krieg  als  ihr  Programm  zu  verkünden 
wagten.  Wohl  war  Rußland  noch  weit  stärker  geworden  als  zu  der 
Zeit,  da  Napoleon  das  von  ihm  beherrschte  Europa  gegen  Moskaus 
Macht  geführt  hatte.  In  gewaltigem  Ausmaß  hatten  sich  seine  Kräfte 
über  den  Ural  wie  über  den  Kaukasus  hin  entwickelt ;  in  der  Mandschurei 
durch  Japan  jüngst  zurückgedrängt,  hielt  es  doch  alle  Positionen, 
die  es  seit  Jahrzehnten  jenseits  des  Kaspischen  Meeres,  wie  in  Persien 
und  Kleinasien,  gewonnen  hatte,  in  festen  Händen,  und  stärker  als 
je  lastete  seine  Riesenfaust  auf  dem  Balkan  und  dem  nahen  Orient. 
Aber  um  so  mehr  war  es  gerade  gegen  den  Westen  in  seiner  Auswirkung 
gehemmt.  Denn  hier  stieß  es  auf  eine  Macht,  welche  jedes  Hinweg- 
dringen über  die  einmal  gezogenen  Grenzen  unmögüch  machte:  an 
Stehe  der  großen  Senke,  in  die  sich  zwei  Jahrhunderte  hindurch  von 
allen  Seiten  her  die  europäischen  Mächte  gleich  reißenden  Strömen 
hatten  ergießen  können,  hatte  sich  Bismarcks  gewaltige  Schöpfung, 
das  Deutsche  Reich,  auf  den  preußischen  Grundmauern  erhoben; 
wie  ein  Gebirgswall,  an  dem  alle  Stürme  von  Ost  und  West  vergebhch 
rütteln,  erstreckte  es  sich  von  den  Küsten  der  Nord-  und  Ostsee  bis 
tief  in  die  Alpen.  Der  Bund  der  drei  Ostmächte,  in  denen  das  russische 
Zartum  die  Dominante  gewesen,  war  längst  zerfallen,  aber  der  neue 
Dreibund,  den  Bismarck  an  seine  Stelle  gesetzt,  und  an  dem  seine 
Nachfolger  festhielten,  dem  sich  auch  Rumänien  angegliedert  hatte, 
umspannte  einen  Machtkreis,  der,  wie  das  deutsche  Imperium  des 
Mittelalters,  ganz  Mitteleuropa  von  der  jütischen  Grenze  bis  an  das 
sizihsche  Meer  und  von  den  Mündungen  der  Donau  bis  zu  den  Vogesen 
in  sich  begriff  und  jedem  Angriff  der  beiden  außenstehenden  Groß- 
mächte des  europäischen  Festlandes  Trotz  bot.  Niemals  war  für  die 
Ruhe  der  Welt  besser  gesorgt  gewesen  als  durch  die  FriedenspoUtik 


187 

die  durch  die  beherrschende  Stellung  des  neuen  Deutschlands,  der 
friedfertigsten  Macht  aller  Jahrhunderte,  gewährleistet  war,  niemals 
die  Gefahr,  den  europäischen  Kontinent  einer  einzigen  Gewalt  zu  unter- 
werfen, mochte  sie  von  Osten  kommen  oder  von  Westen,  geringer 
gewesen. 

Diese  Umgestaltung  Europas  war  aber  durchweg  unter  dem  Zeichen 
der  Monarchie  erfolgt:  Italien  sowohl  wie  Deutschland,  und  so  auch 
die  Balkanstaaten,  die  sich  aus  der  verfallenden  türkischen  Masse 
erhoben,  Rumänien  und  Serbien  wie  Griechenland  und  Bulgarien, 
hatten  ihr  neues  Leben  unter  Führung  von  Fürstenhäusern  gewonnen, 
mochten  diese  nun  dem  Lande  selbst  entstammen,  wie  Savoyen 
und  Hohenzollern  und  die  beiden  Mörderdynastien  in  Belgrad, 
oder  mochten  Angehörige  ausländischer  Dynastien  von  den  Partei- 
häuptem,  welche  damit  die  Konsoüdierung  der  neuen  Staaten 
zum  glücklichen  Ende  führen  wollten,  ins  Land  gerufen  sein, 
wie  die  schwäbischen  Hohenzollern  in  Bukarest,  der  Koburger 
in  Sofia  und  Mitglieder  des  dänischen  und  bayerischen  Königs- 
hauses in  Athen.  Vergebens  versuchten  die  radikalen  Parteien  die 
nationale  Idee,  die  doch  gerade  sie  als  die  ersten  auf  ihr  Banner 
geschrieben  hatten,  mit  ihren  alten  Zielen  noch  fernerhin  zu  verbinden; 
indem  die  Kronträger  den  nationalen  Gedanken  zu  ihrem  Programm 
machten  und  damit  sich  auch  zu  den  repräsentativen  Staatsformen 
bekannten,  hefen  sie  jenen  allerorten  den  Rang  ab.  So  stark  wurde 
dadurch  ihre  Stellung,  wenigstens  die  der  alten,  dm"ch  große  Traditionen 
mit  ihren  Untertanen  und  Volksgenossen  verknüpften  Fürstenhäuser, 
daß  den  Liberalen  aller  Schattierungen  kaum  etwas  andres  übrig 
blieb,  als  sich  zu  bekehren  und  ihre  alten  Grundsätze  abzumildern 
oder  ganz  zu  verleugnen,  und  daß  den  Extremen  unter  ihnen,  die 
keinen  Frieden  mit  der  Monarchie  machen  wollten,  der  nationale 
Gedanke  unter  den  Händen  entghtt  und  ihre  Parteiprogramme 
internationalen  Formen  und  Zielen  sich  zuwandten.  So  erging  es  in  der 
einen  oder  der  andern  Richtung  in  Italien  Garibaldi  imd  Mazzini, 
in  Deutschland  aber  den  Führern  oder  den  Erben  der  Parteien  von 
1848,  von  Lassalle  bis  zu  Bebel  und  Liebknecht,  und  von  Julius  Froebel 
rmd  Willielm  Jordan  bis  zu  den  Arbeitsgenossen  Bismarcks,  einem 
Lothar  Bucher  und  Konstantin  Rößler.  Auch  in  Spanien  büeben  alle 
Versuche  der  Radikalen,  ihre  republikanischen  Ideale  zu  verwirk- 
lichen, umsonst;  es  bedurfte  nur  der  entschlossenen  Adoption  eines 


188 

liberalen  Programms,  um  eine  der  ältesten  Dynastien  Europas  wieder 
in  den  Besitz  des  nationalen  Königsthrons,  den  sie  durch  fünf  Gene- 
rationen inne  gehabt  hatte,  zu  setzen.  Bis  an  die  Schwelle  des  Welt- 
krieges können  wir  diese  Verknüpfung  des  nationalen  mit  dem  monar- 
chischen Staatsgedanken  verfolgen;  noch  bei  der  Bildung  des  albani- 
schen Zwitterstaates,  jenes  von  vornherein  unmöglichen  Gebildes, 
durch  dessen  Herstellung  die  europäische  Diplomatie  die  gegen- 
einander strebenden  Interessen  Österreichs  und  Italiens  samt  ihren 
Khentelen  auszugleichen  sich  abmühte,  nehmen  wir  diese  Tendenz 
der  allgemeinen  Politik  wahr.  Sehen  wir  von  der  Schweiz  ab,  deren 
Existenz  seit  dem  Sturz  Napoleons,  dem  sie  ihre  Neuformung  ver- 
dankte, bis  heute  ledigUch  auf  der  Rivalität  der  großen  Nachbar- 
mächte beruht,  so  hatte  bis  zum  Weltkrieg  nur  eine  Nation  die 
repubhkanische  Staatsform  behauptet  —  das  war  die  im  Kriege  von 
1870  besiegte.  In  keinem  Jahrhundert  seiner  Geschichte  ist  Europa 
ärmer  an  RepubHken  gewesen,  als  wie  in  der  Epoche  Bismarcks  und 
Kaiser  Wilhelms  II. 


Wie  anders  der  AnbUck,  den  unser  Erdteil  seit  den  Friedens- 
schlüssen von  1919  dem  Beschauer  darbietet !  Sollte  man  nicht  glauben, 
daß  Napoleons  Prognose  doch  nicht  so  unrichtig  war,  daß  der  Sieg 
der  republikanischen  Staatsform  heute  gesichert  sei,  und  also  das 
Endziel  der  Entwicklung  Europas,  wenn  es  auch  noch  nicht  voll  er- 
reicht ward,  doch  in  dieser  Richtung  der  von  ihm  aufgestellten  Alter- 
native hegen  wird?  Heute,  wo  die  republikanische  Staatsform  sich 
an  die  Stelle  jener  drei  absoluten  Kronen,  die  schon  vor  hundert 
Jahren  ihre  Todfeinde  waren,  gesetzt  hat  und  damit  von  den  Ge- 
staden des  Stillen  Ozeans  bis  an  die  Atlantik,  von  Wladiwostok  bis 
Le  Havre  die  herrschende  geworden  ist?  Gerade  in  der  Hauptstadt 
des  Zartums,  in  Moskau  selbst,  hat  die  europäische  Demokratie  in 
ihrer  extremsten  Gestalt  ihren  Thron  aufgeschlagen:  in  Frankreich 
geboren,  von  französischem  Geiste  genährt,  von  einem  deutschen  Juden, 
der,  von  der  deutschen  Philosophie  herkommend,  dennoch  im  Westen 
seine  geistige  Heimat  gefunden  hatte,  ausgebildet  und  vollendet, 
hat  jene  Lehre  sich  heute  die  russische  Erde  ganz  unterworfen.  Vom 
Kreml  her,  dem  alten  Zarenschloß,  aus  dessen  Fenstern  einst  Na- 
poleon die  Hauptstadt  des  heiligen  Rußlands,  ein  grandioses  Opfer 


189 

barbarischer  Vaterlandsliebe,  in  Flammen  aufgehen  sah,  erfolgen  nun 
schon  seit  vier  Jahren  und  darüber  mit  unerhörter  Kraft  vulkanische 
Stöße,  welche  sich  in  konzentrischen  Kreisen  nach  allen  Richtungen 
auswirken.  Weit  über  die  Grenzen  des  moskowitischen  Rußlands 
hinweg  vernehmen  wir  seitdem  das  Rollen  des  unterirdischen  Donners ; 
in  Finnland  wie  in  den  baltischen  Provinzen,  in  Litauen  und  in  der 
Ukraine,  in  GaUzien  und  in  Ungarn  schlugen  die  Flammen  empor; 
auch  den  deutschen  Boden  haben  sie  zeitweise  ergriffen,  und  noch  vor 
kurzem  sahen  wir  sie  hier  von  neuem  emporzüngeln.  Erst  jenseits 
des  Rheins,  als  der  Grenz;e  des  heutigen  Deutschlands,  erlahmte, 
bisher  wenigstens,  ihre  Kraft.  Aber,  wenn  auch  die  WeUenringe  mit 
der  Entfernung  von  dem  Zentrum  der  Bewegung  sich  mehr  und 
mehr  verflachen,  so  spürt  man  immerhin  noch  die  Erschütterung, 
wie  in  Paris  und  London,  so  in  Bombay  und  Kalkutta  und  in  dem 
äußersten  Osten  Asiens,  den  die  Japaner  den  Russen  aus  den  Händen 
gerissen  und  ihren  Machtgeboten  unterworfen  haben. 

Bemerken  wir  wohl:  es  sind  wiederum  die  Besiegten,  die  im 
Weltkrieg  unterlegenen  Nationen,  die  dieser  Bewegung  zum  Opfer 
gefallen  sind  —  oder  für  die  sie  vielleicht  eine  neue  Äußerung  originaler 
Kraft  sein,  einen  Weg  ins  Freie,  ein  Mittel  der  Erlösung  aus  den  Fesseln, 
welche  die  Friedensverträge  von  1919  über  sie  geworfen,  bedeuten 
könnte.  Denn  mag  auch  der  marxistische  Zar,  der  heute  das  heilige 
Rußland  mit  eisernem  Szepter  regiert,  unumschränkter  und  erbarmungs- 
loser als  je  ein  Herrscher,  der  vor  ihm  im  Kreml  residierte,  es  vermocht 
oder  auch  nur  gewollt  hat,  zunächst  noch  den  fremdstämmigen  Be- 
standteilen des  alten  Reiches  die  eigene  Organisierung  in  repubhkani- 
schen  Formen  erlauben,  so  hat  er  doch  schwerUch  darauf  verzichtet, 
sie  alle  als  Schutzverwandte  vom  »Mütterchen  Rußland«  zu  betrachten 
und  mit  dem  moskowitischen  Zentrum  in  einem  einzigen  poHtischen 
System  dereinst  zu  vereinigen.  Mit  einem  Wort,  es  sind  die  alten 
Bahnen  des  Zartums,  die  der  Organisator  des  neuen  Rußlands  auf- 
gesucht hat,  nur  noch  vunfassender,  tiefer  wühlend  und  ausschweifen- 
der als  es  jemals  von  einem  seiner  Vorgänger  versucht  wurde.  Ganz 
besonders  die  auswärtige  PoUtik  Lenins  empfängt  erst  unter  diesem 
Gesichtspunkt  das  rechte  Licht.  Wendet  sie  sich  auch  nicht  mehr 
oder  noch  nicht  wieder  dem  ältesten  Ziele  des  moskowitischen  Ehr- 
geizes zu,  das  im  Weltkriege  fast  erreicht  zu  sein  schien,  der  Be- 
herrschung der  Meerengen  (denn  hier  würde  der  Widerstand  noch  zu 


1 


190 

stark  sein),  so  bewegt  sie  sich  mit  um  so  größerer  Energie  auf  den 
Wegen,  welche  die  zaristische  PoHtik  im  vorigen  Jahrhundert,  seit  den 
Zeiten  Pauls  I.,  neben  jenem  verfolgt  hat,  und  die  auf  Persien  und 
Indien  gerichtet  sind ;  sie  schiebt  sich  damit  zwischen  die  noch  getrenn- 
ten Machtsphären  Englands,  den  nahen  und  den  ferneren  Orient  ein. 
Würde  es  ihr  hier  gelingen  —  und  zunächst  sind  es  die  Briten  und  ihre 
Freunde,  die  im  Nachteil  und  Zurückweichen  sind  —  so  würden  sie 
deren  Stellungen  in  Vorderasien  umklammert  haben  und  sie  bereits  in 
den  Kern  werken  ihrer  Macht,  in  Ägypten  und  Indien  bedrohen.  Was 
der  letzte  der  alten  Zaren  im  Bunde  mit  England  versucht,  und  worin 
er  zu  seinem  und  seines  Staates  Verderben  gescheitert  war,  würde 
das  neue  Rußland  hinausgeführt  haben:  der  Kampf  um  Asien,  das 
letzte  Ziel  des  britischen  wie  des  russischen  Ehrgeizes,  wäre  damit 
zugunsten  des  Moskowitertums  entschieden. 

Zu  den  Besiegten,  oder  sagen  wir  lieber  zu  den  im  Weltkriege 
zusammengebrochenen  Nationen  (denn  nicht  durch  Waffen  haben 
uns  unsere  Überwinder  gefällt)  gehören  auch  wir,  die  Deutschen. 
Wir  aber  haben  uns  nicht,  wie  die  Russen,  dem  Machtgriff  unserer 
Gegner  entzogen  und  ims  unter  dem  Schutz  der  marxistischen  Lehren 
in  einer  neuen  Front  gegen  sie  gestellt :  wir  haben  vielmehr,  indem  wir 
unser  Reich  von  den  Gedanken  des  seinem  Staate  abtrünnig  ge- 
wordenen Propheten  unterjochen  ließen,  uns  den  Feinden  unserer 
Nation  unterworfen.  Wir  Toren  wähnten,  ihre  Gnade  durch  eine 
Kapitulation,  die  bis  zur  Selbstentblößung  und  dem  Falschbekennen 
nie  begangener  Schuld  ging,  erkaufen  zu  können;  wir  rechneten  auf 
Verzeihung,  wenn  wir  nur  unsem  Kaiser  verstießen  und  Bismarcks 
Schöpfung  zerbrachen;  wir  bedachten  nicht,  daß  niemals  die  Formen 
des  Staates  an  sich  bereits  Macht  sind,  sondern  daß  sie  es  nur  durch 
die  Kraft  werden,  die  in  ihnen  zum  Ausdruck  kommt,  durch  den  Willen, 
der  sich  hinter  ihnen  birgt,  und  das  Ziel,  das  dieser  sich  setzt;  und  wir 
wollten  nicht  glauben,  bis  wir  es  zu  fühlen  bekamen,  daß  das  Kriegs- 
ziel der  Feinde  von  vornherein  die  Zerbrechung  unseres  Reiches  und 
die  Vernichtung  unserer  Nation  war. 

Hier  stoßen  wir  auf  den  Grund  des  Problems,  das  wir  zur  Er- 
örterung brachten,  und  hier  liegt  seine  Lösung.  Jene  Prognose  Na- 
poleons, die  Alternative,  vor  die  er  die  Zukunft  des  Erdteils  stellte, 
der  einst  der  Schauplatz  seiner  Taten  gewesen,  war  so  richtig  oder 
so  falsch  wie  alle  anderen  Schlagworte  und  Programme,  alle  Ideologien 


191 

seines  Jahrhunderts,  deren  Lebensdauer  und  ihre  Bedeutung  immer 
gerade  so  weit  reichten,  wie  die  Kraft  und  der  Wille,  die  sich  in  ihnen 
betätigten.  Nun  verstehen  wir  die  \'ielfachen  Kombinationen,  die 
alle  diese  Parteiparolen  miteinander  eingingen,  allen  Abwandlimgen 
und  Widersprüchen,  die  sich  daraus  ergaben,  zum  Trotz;  wie  es 
z.  B.  dazu  kam,  daß  sich  gegen  Deutschland  und  seine  paar 
Verbündeten  eine  KoaUtion  zusammenfand,  welche  die  heterogensten 
Elemente  in  sich  schloß:  absolute  Regierungen  und  Repubhken, 
Verfassungsstaaten  jeder  Gattung,  Herrenvölker  und  Vasallenländer, 
Nationen  von  hoher  Kultur  und  noch  höherem  Selbstbe\\'ußtsein, 
und  Stämme,  die  noch  auf  der  untersten  Stufe  menschhcher  Ent- 
wicklung standen,  Weltmächte  und  Zwergstaaten  wie  Liberia  und 
Haiti,  weiße  und  farbige  Vertreter  aller  Rassen  bis  zum  dunkelsten 
Schwarz  und  aller  Rehgionen  beider  Hemisphären  bis  zu  den  Fetisch- 
anbetem  der  Südsee  und  des  innersten  Afrika.  Das  Kriegsziel  dieses 
Völkerkonglomerats  war,  wie  bemerkt,  die  Vernichtung  Deutschlands, 
als  Strafe  dafür,  daß  wir  es  gewagt  hatten,  uns  um  einen  Platz  an  der 
Sonne  zu  bewerben,  nach  sieben  Jahrhunderten  der  Zersphtterung 
uns  einen  Staat  zu  bauen,  der  unserm  Kulturbewoißtsein,  imserrn 
Gemeingefühl,  unserm  Lebenswillen  gemäß  war.  Die  Losung  freihch, 
unter  der  sie  den  Krieg  gegen  uns  führten,  oder  vielmehr  das  Heer 
von  Schlagworten,  mit  denen  sie  die  Welt,  Gläubige  und  Ungläubige, 
Wissende  und  Betörte  (und  das  war  die  Masse)  überschütteten,  lautete 
anders.  Da  las  und  hörte  man  nichts  als  hohe  Worte  von  Zivihsation, 
Recht  und  Gerechtigkeit,  von  Weltfrieden,  Freiheit  imd  Selbst- 
bestimmung, als  den  Zielen  des  Kampfes,  untermischt  mit  den  schwer- 
sten Anklagen  gegen  Militarismus  und  Kaiserismus  und  gegen  die 
verbrecherischen  Handlungen  einer  barbarischen  Kriegerkaste,  von 
der  unser  geknechtetes  Volk  selbst  zu  erretten  der  Zweck  des  heihgen 
Krieges  als  eines  neuen  Kreuzzuges  für  alle  Ideale  demokratischer 
Zivilisation  sei. 

Heute  ruhen  die  Waffen;  aber  ihre  Maske  haben  unsere  Feinde 
noch  nicht  abgenommen,  da  sie  ihr  Kriegsziel  noch  nicht  völhg  er- 
reicht haben;  dazu  soll  der  Krieg  nach  dem  Kriege  führen,  den  sie 
uns  für  ein  Menschenalter  oder  darüber  zugedacht  haben.  Immerhin, 
gelüftet  haben  sie  bereits  die  Maske  hier  und  da;  wenn  etwa  Eng- 
lands führender  Minister,  ich  weiß  nicht,  ob  in  poUtischer  Absicht 
oder  nur  aus  der  Hybris  des  Siegers  heraus,  gestand,  daß  schheßhch 


192 

niemand  an  dem  Kriege  rechte  Schuld  trage,  sondern  alle  nur  so 
hineingestolpert  seien.  Und  so  mag  sich  ja  wohl  mit  der  Zeit  der 
künsthche  Nebel  lösen,  unter  dessen  Schutz  unsere  Gegner  ihr  Werk 
vollbracht  haben. 

Hier  allein,  und  nicht  in  der  Kraft  der  politischen  Dogmen  und 
Formen,  ist  wiederum  der  Grund  dafür  zu  suchen,  daß  grade  die 
Besiegten  mit  den  repubhkanischenOrdnungen  und  den  dem.okratischen 
Idealen  beglückt  wurden,  die  ihnen  die  Gegner,  solange  sie  noch  im 
Kampf  standen,  sirenengleich  angepriesen  hatten  —  in  einem  Maße, 
daß  es  den  Siegern  selbst  bereits  fast  zu  viel  ward:  die  Niederlage  trieb 
alle  zerstörenden  Kräfte  aus  dem  Innern  jener  Staaten  hervor,  während 
sie  den  Regierungen  der  siegreichen  Nationen  nichts  anhaben  konnten, 
obgleich  doch  dort  ihre  eigentliche  Heimat  gewesen  war.  Hätte 
Itahen  sich  auf  selten  der  Besiegten  befunden,  kein  Zweifel,  daß  es 
mit  dem  Hause  Savoyen  zu  Ende  gewesen  wäre:  der  Sieg,  der  ihm 
nach  einem  Dutzend  schwerer  Niederlagen  mühelos  in  den  Schoß  fiel, 
hat  ihm  die  Krone  erhalten:  nicht  die  Waffen,  sondern  die  Pohtik, 
der  Verrat  an  den  Bundesgenossen  hat  es  gerettet.  Genau  so  steht 
es  mit  Frankreich :  wäre  die  Republik,  die  ihr  Dasein  selbst  der  Nieder- 
lage, dem  Zusammenbruch  des  zweiten  Kaiserreichs  verdankte,  deren 
Lebenselement  dreiundvierzig  Jahre  hindurch  die  Hoffnung  auf 
Rache,  auf  die  Herstellung  ihrer  verlorenen  Hegemonie  auf  dem 
Kontinent  gewesen  war,  zum  drittenmal  der  deutschen  Kraft  erlegen, 
sie  wäre  so  sicher  verloren  gewesen,  wie  es  Napoleon  III.  als  Ge- 
fangener von  Sedan  war.  Der  Triumph  aber,  den  sie  heute  in 
ihrer  Weise  (wir  denken  an  den  Rhein)  genießt,  bändigt  alle  Frak- 
tionen in  ihrem  Schoß;  und  man  merkt  es  ihren  führenden 
Männern  nicht  an,  daß  sie  selbst  zum  guten  Teil  aus  sozialistischen 
Parteien  hervorgegangen  sind.  Auch  in  England  blieb  bisher,  wie 
vor  hundert  Jahren,  alles  beim  Alten,  Krone  und  Parlament,  die 
Parteien  und  die  Minister.  Und  während  Lenins  Macht  dort,  wo  sie 
siegreich  vordringt,  südUch  des  Kaukasus,  auf  dem  Wege  nach  Persien 
hin,  Repubhken  ihres  Gepräges  gründet,  schufen  Lloyd  George 
und  Lord  Curzon  im  Orient,  wo  es  irgend  geht,  Emirate  und  Sultanate, 
in  Kairo,  Mekka  und  Damaskus,  Kronen,  leicht  zwar  und  veränder- 
lich, wie  der  Sand  ihrer  Wüsten,  die  aber  für  den  Moment  ihren  Zweck 
erfüllen:  Englands  Macht  zu  verstärken.  Wenn  unsere  Feinde  diese 
monarchischen   (die   Demokratie   müßte  sagen:   diese   reaktionären) 


193 

Formen  den  Polen  und  Tschechen,  wie  ihren  Schutzbefohlenen  in 
Estland  und  Lettland,  nicht  gönnten,  so  verdanken  es  diese  Rudi- 
mente der  besiegten  Mächte  mehr  dem  Zufall:  es  fehlt  dort  an  Dy- 
nastien, welche  die  nationale  Tradition  hinter  sich  haben.  Wo  diese, 
wie  in  Ungarn,  gegeben  ist,  sahen  wir  sofort  einen  Kronprätendenten 
auftauchen,  und  es  ist  von  besonderem  Reiz,  daß  es  gerade  die  Re- 
publikaner von  Paris  waren,  die  sich  um  die  Wiederaufrichtung  des 
habsburgischen  Thrones,  zunächst  einmal  in  Budapest,  zärtUch 
bemüht  zeigten.  Im  übrigen  aber  haben  unsere  Besieger  die  monarchi- 
schen Institutionen  nirgends  im  ganzen  Umkreis  der  östlichen  Sphäre, 
auf  der  sie  allein  die  Herren  sind,  angetastet,  weder  bei  den  Neutralen 
noch  bei  den  Unterworfenen  und  ihren  Vasallen;  sie  haben  sogar  den 
Griechen  die  Zurückberufung  ihres  Königs  verziehen  und  den  Minister, 
der  jenen  verriet  und  sein  Land  ihnen  auslieferte,  geopfert.  Man  kann 
gewiß  nicht  konservativer,  undemokratischer  handeln  als  unsere 
Überwinder. 


Merkwürdig,  daß  Napoleon,  der  doch  wahrlich  den  Wert  der 
Macht,  der  Realitäten  zu  schätzen  verstand,  sich  so  phantastischen 
Hoffnungen  hingeben  konnte,  wie  wir  sie  in  jener  Vorhersage  seines 
und  Europas  Schicksals  erkermen  mußten.  Aber  freihch,  wenn  wir 
uns  die  Empfindungen  vorstellen,  die  diesen  Titanen,  dem  das  Leben 
im  Donnergang  des  Krieges  und  der  Revolutionen  dahingegangen 
war,  erfüllen  mußten,  sobald  er  sein  Auge  von  dem  kahlen  Felsen, 
an  den  ihn  Furcht  und  Haß  seiner  Gegner  gekettet,  über  die  endlose 
Wasserwüste  schweifen  ließ,  so  können  wir  es  wohl  verstehen,  daß  er 
solchen  Träumen  nachhing  und  Linien  in  die  wallenden  Nebel  der 
Zukunft  hineinzeichnete,  die  uns,  wenn  wir  sie  greifen  wollen,  unter 
den  Händen  zerfließen. 

Solange  der  Kaiser  auf  dem  festen  Boden  der  Macht  stand,  so- 
lange er  mit  dem  Geschick,  das  über  uns  Sterblichen  waltet,  kämpfte, 
hat  jedenfalls  kein  anderer  so  wie  er  mit  den  Wirklichkeiten  zu  rechnen 
verstanden.  Freihch,  daß  kein  ewiger  Bund  sich  mit  des  Geschickes 
Mächten  flechten  läßt,  daß  auch  er,  um  ein  Rankesches  Wort  dem 
unseres  Dichters  zuzugesellen,  wie  jedermann  unter  dem  Einfluß 
der  Gestirne  lebte,  welche  die  Welt  beherrschen,  war  ihm  gerade  so 
bewußt,  wie  es  alle  wahrhaft  Großen,  alle  Weiterschütterer,  an  sich 

Lenz,  Wille,  Macht  und  Schicksal.  13 


194 

erfahren  und  bekannt  haben ;  auf  der  Höhe  des  Sieges  hat  er  darüber 
nicht  anders  gedacht  wie  in  der  Tiefe  des  Unglücks. 

Der  Kampf  aber,  den  das  Schicksal  diesem  Gewaltigen  auferlegt 
hatte,  war  der  Krieg  gegen  England.  Er  hatte  ihn  vorgefunden,  ihn  ge- 
erbt von  der  Revolution,  wie  ihn  diese  von  der  Krone  überkommen 
hatte,  die  sie  selbst  gestürzt  hatte.  Ein  Jahrhundert  war  die  Tod- 
feindschaft dieser  beiden  großen  Nationen  gerade  alt,  als  die  Revolution 
ausbrach,  die  das  neue  Frankreich  schuf.  Als  Napoleon  fiel,  26  Jahre 
nachher,  war  er  beendigt :  es  war  der  letzte  Akt  gewesen  eines  Ringens 
der  beiden  Großmächte  des  Westens  um  die  Hegemonie  in  beiden 
Hemisphären.   England  aber  war  der  Sieger  geworden. 

Und  ist  es  geblieben. 

Wohl  gab  Frankreich  den  Kampf  nach  dem  Sturz  seines  Cäsars 
noch  nicht  völlig  auf.  Ließ  es  den  Ehrgeiz,  mit  der  protestantischen 
Weltmacht  um  die  Beherrschung  der  Ozeane  zu  streiten,  fahren,  so 
hielt  es  doch  an  der  Hoffnung  fest,  wenigstens  im  Mittelmeer  den 
alten  Rang  zu  behaupten.  Da  es  dies  gegen  England  nicht  mehr 
vermochte,  suchte  es  sein  Ziel  neben  ihm,  Schulter  an  Schulter,  2u  er- 
reichen :  bei  Navarino  gegen  die  Türken  und  Ägypter,  vor  Sebastopol 
gegen  die  Russen.  Vor  allem  Napoleon  HI.  sah  es,  auch  darin  der 
Erbe  seines  Oheims,  als  seine  Lebensaufgabe  an,  das  Mittelmeer  zu 
einem  »lac  frangais«  zu  machen,  wie  er  es  selbst  einmal  gegen  Bis- 
marck,  schon  bei  ihrer  ersten  Begegnung  in  Paris  nach  dem  Krim- 
kriege, ausgesprochen  hat.  Eben  deshalb  heß  er,  auch  darin  nur  das 
Werk  seines  großen  Vorgängers  fortsetzend,  die  Landenge  von  Suez 
durchstechen.  Aber  nicht  jener  Kanal,  der  den  Weg  zu  den  Welt- 
meeren des  Ostens  erschloß,  sondern  der  Besitz  Ägyptens  selbst  schuf 
erst  die  Bürgschaft  für  die  Herrschaft  im  Mittelmeer,  wie  es  das 
Fundament  war  für  die  Herrschaft  über  die  beiden  Kontinente,, 
die  es  miteinander  verband.  Hier  aber  erfuhr  —  nicht  mehr  der  zweite 
Bon  aparte,  der  schon  zugrunde  gegangen  war  —  sondern  die  neue 
französische  Repubhk,  die  auf  den  Trümmern  des  Kaiserreichs  errichtet 
war,  ihre  schwerste  Niederlage.  Es  war  für  alle  Zeiten  die  Krisis  in 
dem  Verhältnis  beider  Großmächte  des  Westens  Europas  zueinander. 
Indem  Frankreich  in  Ägypten  vor  England  zurückwich,  indem  es  die 
Bahnen  einer  selbständigen  KolonialpoHtik  verheß,  auf  die  sein  kluger 
Minister  Jules  Ferry  es  hatte  führen  'wollen,  band  es  seine  Zukunft 
an  den  Willen  Englands,    Was  1882  mit  der  Beschießung  des  wehr- 


195 

losen  Alexandriens  durch  die  englischen  Schiffskanonen  und  dem 
mühelosen  Sieg  Lord  Wolseleys  über  die  zuchtlosen  Scharen  Arabi 
Paschas  vor  den  Toren  Kairos  begann,  wurde  bei  Faschoda  voll- 
endet; als  Major  Marchand  im  Sudan  vor  dem  herrischen  Gebot 
Lord  Kitcheners  die  Trikolore  ungerächt  streichen  mußte,  hatte 
Frankreich  das  Spiel  verloren:  freiwillig  gab  es  sich  dazu  her,  fortan 
englische  Ketten  zu  tragen.  Es  nahm  sie  auf  sich,  weil  es  das  noch 
ältere  Ziel  seines  Ehrgeizes,  die  Vorherrschaft  auf  dem  Kontinent,  nicht 
vergessen  konnte,  weniger  noch  als  den  Verlust  der  einst  von  ihm 
selbst  geraubten  deutschen  Westmark.  Heute  hat  es  dies  Ziel  wieder 
erreicht:  aber  die  Ketten,  die  es  bereits  trug,  lasten  dafür  auf  ihm 
um  so  schwerer.  Denn  nur  wenn  es  seinem  einstigen  Rivalen  zu  WiUen 
bleibt,  kann  es  hoffen,  das  Chaos,  das  es  durch  den  Wahnsinn  der 
Verträge  von  1919  auf  dem  europäischen  Festlande  hat  schaffen 
helfen,  zu  meistern.  Nur  als  Büttel  Englands  wird  es  am  Rhein  wie 
an  der  Oder  und  der  Weichsel  seine  Herrschaft  behaupten  können. 
Keinen  Schritt  auf  diesen  Wegen  wird  es  ohne  Englands  Erlaubnis 
tun  können,  und  im  Orient  oder  wo  immer  jede  Konzession  jenem 
bezahlen  müssen.  Denn  die  britische  Diplomatie  hat  tausend  Ge- 
legenheiten, ein  Abspringen  des  Bundesfreundes  von  dem  Wege, 
der  ihm  vorgeschrieben  ist,  zu  verhindern;  sie  braucht  nur  die  Rivalen 
Frankreichs,  Besiegte,  Freunde,  Bundesgenossen  oder  Neutrale, 
aufzuputschen,  in  dem  Wirrwarr  der  kontinentalen  Politik  ein  wenig 
herumzustochern,  um  die  Dinge  nach  eigenem  Gefallen  zu  lenken. 
In  der  Ausstattung  des  Freundes  mit  Kolonien  braucht  England  nicht 
zu  kargen,  denn  wirtschaftliche  Schädigung  wird  es  sich  deshalb  nicht 
gefallen  lassen;  und  würde  Frankreich  dennoch  einmal  einen  Seiten- 
sprung wagen,  so  würde  ein  einziger  Prankenschlag  des  britischen 
Löwen  genügen,  um  das  flottenlose  wieder  auf  den  richtigen  Weg 
zurückzubringen. 

Von  hier  aus  müssen  wir  die  Gestalt  des  Giganten  betrachten, 
der  es  um  die  Wende  des  18.  Jahrhunderts  noch  ein  letztes  Mal  ge- 
wagt hat,  den  Kampf  gegen  England  als  der  Erbe  der  alten  französi- 
schen Monarchie  aufzunehmen.  So  gewinnen  wir  den  BHckpunkt, 
von  dem  aus  sein  Werk,  alles  was  er  getan  und  gelitten,  geschaffen 
und  zerstört  hat,  in  den  Zusammenhang  der  Welthistorie  einzu- 
reihen ist.  Von  da  aus  können  wir  auch  die  Konstellationen  begreifen, 
unter  denen  die  Gegenwart  steht,  und  die  Linien,  die  sie  in  Wahrheit 

13* 


196 

mit  dem  Zeitalter  Napoleons  verknüpfen.  So  tritt  uns  nun  in  voller 
Klarheit  der  Weg  vor  die  Augen,  den  England  gegangen  ist,  und  das 
Ziel,  das  es  heute  erreicht  hat.  Es  ist  noch  nicht  die  Weltherrschaft; 
denn  die  westliche  Hemisphäre  hat  sich  bisher  seinen  Zugriffen  noch 
immer  wieder  entzogen,  und  im  äußersten  Osten  ist  ihm  eine  Gegen- 
macht entstanden,  die  auf  verwandter  Grundlage  aufgebaut  ist, 
und  von  der  sich  seine  Diplomaten  heute  oft  genug  fragen  werden, 
ob  sie  dieselbe  als  Freund  oder  Feind  in  vielleicht  naher  Zukunft 
betrachten  müssen.  Aber  zurzeit  besitzt  England  noch  —  und  dies 
ist  das  Ergebnis  des  Weltkrieges  —  auf  der  östlichen  Hemisphäre 
den  maßgebenden  Einfluß,  nachdem  es  die  einzige  Macht,  die  ihm  hier 
hätte  entgegen  treten  können,  mit  Hilfe  einer  Koalition  aus  dem 
Wege  geräumt  hat,  in  die  es  seine  eigenen  Rivalen,  ja,  seine  politischen 
Antipoden  selbst  eingespannt  hatte,  und  die  es  trotzdem  nur  dadurch 
zum  Siege  führen  konnte,  daß  es  die  Unterstützung  seiner  ältesten 
Kolonie,  der  Großmacht  der  westlichen  Hemisphäre,  für  sein  Ziel 
gewann. 


Bismardc  als  Prophet. 

(1922.) 

Der  Prophezeiung  Napoleons  über  die  Zukunft  des  Erdteils, 
über  dem  er  einst  die  Geißel  geschwungen  hatte,  stellen  wir  einen 
Ausspruch  Bismarcks  gegenüber,  in  dem  der  Baumeister  des  kaiser- 
lichen Deutschlands,  auch  er  in  den  Jahren  der  Verbannung,  seiner 
Schöpfung  das  Horoskop  gestellt  hat :  ein  Wort,  das  zwar  nur  münd- 
lich überliefert,  jedoch  nicht  weniger  gut  beglaubigt  ist;  denn  es 
stammt  aus  der  Umgebung  des  Fürsten  selbst.  Es  lautet:  »Zwanzig 
Jahre  nach  dem  Tode  Friedrichs  des  Großen  ging  bei  Jena  das  alte 
Preußen  zugrunde:  zwanzig  Jahre  nach  meinem  Abgang  wird  das 
Deutsche  Reich  untergehen,  wenn  so  weiter  regiert  wird«.  Ein  Wort, 
das  auch  dann,  wenn  Bismarck  dabei  nicht  (wie  man  es  zunächst 
verstehen  möchte)  an  seinen  Tod,  sondern  an  seine  Entlassung 
gedacht  hat,   erschütternd  wirken  muß. 

Dabei  ist  es  nur  eines  unter  vielen,  von  denen  das  gleiche  zu  gelten 
hat.  Denn  Bismarck  liebte  es  (im  Gegensatz  zu  Napoleon,  der  selten 
den  Blick  über  die  Gegenwart,  an  die  er  in  jedem  Moment  seines  Lebens 
sich  klammerte,  hinweg  in  die  Zukunft  gerichtet  hat)  den  kommenden 
Dingen  ins  Auge  zu  schauen.  Seltsam  genug,  so  möchte  man  meinen, 
von  einem  Manne,  der  gewiß  ebenso  wie  jener  Weiterschütterer  frei 
war  von  dem  Bestreben,  über  die  Schranken,  die  ihm  die  Umwelt, 
Zeit  und  Raum,  setzte,  hinaus  Zielloses  anzustreben,  und  für  den 
nicht  weniger  als  für  den  Imperator  nur  das  Gegebene,  das  zu 
Berechnende  Geltung  besaß.  Also  daß  man  fast  versucht  sein  könnte 
zu  fragen:  wie  kommt  Saul  unter  die  Propheten?  Vielleicht  aber 
geben  uns  eben  diese,  die  Propheten  des  alten  Bundes,  in  denen  unge- 
zählte Geschlechter  die  Pfadfinder  in  die  Zukunft,  die  Seher  des  Lichts, 
die  Brückenbauer  zwischen  Himmel  und  Erde  erblickt  haben,  die 
Antwort.  Wenn  wir  sie  nämlich  mit  ihren  Sprüchen  und  Weissagungen 
nicht  so  auffassen,  wie  die  gläubige  Nachwelt,  losgelöst  von  der  Gegen- 
wart, weltentrückt  im  Verkehr  mit  himmlischen  Geistern  in  den  Räu- 


198 

men  der  Zukauft  wandelnd,  sondern  so,  wie  die  Forschung,  die  deutsche 
Forschung  des  abgelaufenen  Jahrhunderts,  sie  uns  begreifen  gelehrt 
hat :  als  Kinder  ihrer  Zeit,  inmitten  ihres  Volkes  mit  seinen  Kämpfen 
und  seinen  Leiden,  die  nirgends  stärkeren  Widerhall  fanden  als  in 
ihrer  Brust.  Sie  waren  nicht  eigentlich  die  Führer  der  Parteien,  wie 
leidenschaftlich  sie  auch  an  den  Geschicken  ihres  Volkes  teilnahmen, 
und  noch  weniger  Inhaber  der  Staatsgewalt;  auch  zu  den  Priestern, 
den  Auslegern  der  Thora,  gehörten  die  Wenigsten,  sie  standen  eher 
im  Gegensatz  zu  ihnen:  es  waren  Männer  für  sich,  Jahves  Söhne, 
wie  sie  selbst  sich  nannten,  Boten  Jahves,  durch  die  der  Gott  zu  seinem 
Volke  sprach,  nicht  anders  als  einst  durch  Moses,  der  als  ihr  Anfänger 
den  Gott  Israels  zuerst  verkündigt  hatte.  Man  findet  sie  meist  in  der 
Umgebung  der  Mächtigen,  einzeln,  wie  jenen  Nathan,  der  ratend  und 
warnend,  auch  wohl  strafend,  wo  er  straucheln  will,  König  David  zur 
Seite  steht  (so  etwa  wie  in  Schillers  Don  Carlos  der  Großinquisitor 
neben  König  Philipp),  oder  in  Scharen,  wie  sie  Elisa  umgaben,  als  er 
Jehu,  Ahabs  Feldhauptmann,  gegen  seinen  König  aufhetzte,  weil 
Ahab  dem  tyrischen  Bial,  dem  Heimatsgott  seiner  Gemahlin  Jesabel. 
einen  Altar  errichtet  hatte.  Und  doch  hatte  der  König  nichts  anderes 
getan  als  einst  der  große  Salomon  selbst;  er  diente,  wie  dieser,  Jahve 
nach  der  Väter  Weise,  die  immer  fremde  Kulte  toleriert  hatten.  Aber 
der  Gott  Israels  duldete  schon  nicht  mehr  andere  Götter  neben  sich, 
und  also  mußte  Ahab  sterben  samt  seinem  Hause.  Nur  Wenige  sind 
es,  die  sich  der  Strömung  des  öffentlichen  Willens,  die  hier  Jahves 
Gesalbten,  den  legitimen  König,  hinwegriß,  entgegenstemmen.  Das 
aber  sind  gerade  die  großen  Propheten,  die  Bahnbrecher,  die  schöpfe- 
rischen Naturen.  Verstoßen  vom  Hof,  unverstanden  von  dem  Haufen, 
sind  sie  die  Träger  von  Ideen,  die  aus  der  Tiefe  ans  Licht  drängen 
und  ein  neues  Zeitalter  vorbereiten.  In  der  Gegenwart  sind  sie  ver- 
achtet, aber  die  Zukunft,  wie  sie  sich  auch  gestalten  mag,  wird  sie 
rechtfertigen.  In  den  Krisen  und  Katastrophen  des  Reiches  treten 
sie  auf:  Amos,  der  Hirte  von  Thekoa,  und  Elisas  Vorgänger,  der  ge- 
waltige Elias;  Jesaias  der  Judäer,  der  nach  Samarias  Fall  den  Messias 
kommen  sieht,  den  starken  und  gerechten  König,  der  wenigstens 
Juda  vor  dem  gleichen  Lose  bewahren  wird;  Jeremias,  der  das  Unglück, 
das  er  vorhergesagt,  noch  erleben  mußte,  und  Ezechiel,  dieser  ein 
Priester,  der  sein  Volk,  das  nun  zur  Gemeinde  sich  umbildete,  in  die 
Verbannung  begleitete.    Es  sind  die  Pessimisten,  die  Verkündiger  des 


199 

Unheils,  dann  aber  doch  auch  wieder  die  Hirten  und  Tröster  Israels; 
denn  sie  verheißen  ihrem  Volk,  daß  Jahve  auch  im  Unglück  bei  ihm 
bleiben  wird,  der  Gott  seiner  Väter,  der  mit  ihm  wandert  und  sich 
wandelt :  der  Genius  ihres  Volkes,  der  nicht  sterben  wollte,  blieb  in 
•diesen  Männern  lebendig. 

Von  hier  aus  gesehen,  wird  das  Wort  von  Bismarck  dem  Pro- 
pheten nicht  mehr  so  paradox  erscheinen:  das  Gleichartige,  freilich 
auch  das,  was  ihn  von  den  Propheten  Israels  unterscheidet,  wird 
uns  sichtbar.  Zunächst :  er  selbst  war  der  Mann  des  Staates,  Sammler 
der  politischen  Kraft,  Führer  und  Herrscher;  mit  mächtiger  Hand 
lenkt  er  das  Schiff  durch  die  schäumenden  Wogen.  Von  der  Partei 
jedoch,  obwohl  er  von  ihr  ausgeht  und  in  seinen  Anfängen  als  einer 
ihrer  Führer  auftritt,  ist  auch  er  niemals  ganz  umschlossen.  In  jedem 
Moment  ist  er  eine  Persönlichkeit  für  sich,  deren  Kern  sich  mit  keiner 
anderen  deckt,  obwohl  er  sich  mit  allen  Parteien,  soweit  sie  auf  natio- 
nalem Boden  standen,  von  den  Gerlachs  bis  hin  zu  Lassalle,  berührt 
und  Elemente  von  ihnen  in  sich  aufnimmt;  nur  von  den  Zielen  und 
Ideengängen  eines  Karl  Marx  blieb  er  immer  geschieden.  Es  ist  der 
Granitboden  der  preußischen  Monarchie,  auf  dem  Bismarck  steht, 
der  preußische  Machtwille,  der  in  ihm  verkörpert,  es  ist  der  Genius 
Preußens,  der  in  ihm  lebendig  geworden  ist :  der  Adler  Friedrichs  des 
Großen  schwebt  über  seinen  Wegen.  So  wächst  er  über  die  eigene 
Partei  hinaus,  kämpft  mit  allen,  besiegt  sie  alle  und  baut  um  den 
preußischen  Grundpfeiler  her,  in  Kämpfen,  die  das  gesamte  Feld 
der  inneren  und  äußeren  Politik  umfassen,  ein  Reich  auf,  das  alles, 
was  in  der  Nation  Wülen  und  Leben  atmet,  in  sich  schließt  und  zum 
erstenmal  wieder  seit  Jahrhunderten  unserm  Volke  die  Möglichkeit 
schafft,  als  eine  der  großen  Nationen  der  Erde  die  eigenen  Bahnen 
zu  ziehen :  dem  deutschen  Genius  ist  er  jetzt  der  Führer,  der  Fortbildner 
geworden.  Um  am  Ende,  einem  Elias  gleich,  das  Leben  als  ein  Ver- 
stoßener, in  der  Einsamkeit  zu  beschließen.  Und  wie  aus  Elias'  Höhle 
die  Zomreden  des  Propheten,  so  dringen  nun  aus  der  Waldeinsam- 
keit -^von  Friedrichsruh  Bismarcks  Worte  an  das  Ohr  seines 
Volkes:  schwere,  bittere  Worte,  des  Zornes,  des  Hasses  und  der  Ver- 
achtung, jedoch  mehr  noch  Worte  der  Warnung  vor  dem  Dienst  an  frem- 
den Altären  und  der  Sorge  um  sein  Werk  und  sein  Volk.  Wie  Stein- 
wurf und  Keulenschlag  eines  Giganten,  so  fallen  sie  auf  diejenigen,  die 
sich  vermaßen,  sein  Werk  fortzuführen,  auf  Regierende  und  Regierte, 


200 

Parteiführer  und  Zeitungsschreiber,  und  auf  das  Heer  der  falschen 
Propheten,  der  Nichtverantwortlichen,  der  Schmeichler  und  der 
Besserwisser,  der  Gleichgültigen  und  der  Glaubenslosen,  der 
Lästerer  und  der  Spötter.  Sie  aber  verstopfen  ihre  Ohren,  sie  ver- 
schließen ihre  Augen,  sie  wollen  nichts  hören  noch  sehen  und  lassen 
sich  weiter  treiben  auf  der  schwankenden  Flut,  näher  von  Jahr  zu  Jahr 
und  zuletzt  in  rasender  Fahrt  den  Klippen  entgegen,  zwischen  denen 
Bismarcks  Reich,  ein  führerlos  gewordenes  Wrack,  zerschellen  wird. 

Wie  werden  uns  angesichts  von  alledem,  was  wir  erleben  mußten, 
die  Sagen  der  Alten  wieder  lebendig,  die  wir  als  Knaben  lasen,  von 
Kassandras  Schicksal  und  dem  Schicksal  des  troischen  Priesters, 
der  seine  Volksgenossen  vergebens  von  dem  Abgrund  zurückzureißen 
versucht:  sie  hören  nicht  auf  ihn;  sie  lassen  sich  von  dem  listigen 
Griechen  betören;  jubelnd,  erlöst,  wie  sie  wähnen,  von  der  Umklam- 
merung ihrer  Stadt  und  von  aller  Not  des  Krieges,  ziehen  sie  mit 
eigenen  Händen  das  hölzerne  Pferd  in  ihre  Mauern,  in  dem  sie  ein 
Denkmal  des  Friedens  und  der  Freiheit  erblicken,  und  achten  nicht 
des  Waffengeklirrs  in  seinem  Innern.  Dem  Seher  aber  nahen  nun, 
von  Zeus  gesandt,  dem  Meere  entsteigend,  die  Schlangen;  an  dem 
Altar  seines  Gottes  selbst  überfallen  sie  ihn  und  zerbrechen  ihm  alle 
Glieder,  ihm  und  seinen  Knaben;  denn  die  Götter  haben  Ilions  Ver- 
derben beschlossen.  So  nahm  auch  unser  Volk,  betäubt  durch  den 
jähen  Sturz  von  der  Höhe  seiner  Siege,  von  den  Bundesgenossen 
verlassen  und  verraten,  und  zermürbt  durch  Hunger  und  Kriegsnot, 
aus  der  Hand  des  Feindes  den  Giftbecher  der  Verführung.  Trunken 
gemacht  durch  die  gleißenden  Verheißungen  von  Frieden,  Freiheit  und 
Völkerversöhnung,  stürmte  es  sinnverwirrt,  jubelnd  fast,  in  koryban- 
tischem  Taumel  auf  die  glanzverklärte  Nebelwand  zu,  die  den  Abgrund 
verhüllte.  Was  wollten  die  Stimmen,  die  Beschwörungen  einzelner  da- 
gegen ausrichten!    Sie  verhallten  im  Orkan. 

Heute  ist  uns  die  Binde  von  den  Augen  genommen,  und  mit 
schmerzlichem  Erstaunen  sehen  wir,  wie  klar  der  Schöpfer  des  Reiches 
die  Zukunft  gedeutet  hat,  wie  scharf  die  Linien  von  ihm  gezogen  worden 
sind,  welche  die  Gegenwart  mit  der  Vergangenheit  verbinden,  wie  tief 
die  Abgründe  und  Spaltungen,  auf  die  er  die  Parteien  im  Reichs- 
tag so  oft  warnend  hingewiesen,  schon  damals  waren,  und  wie  recht 
er  hatte,  wenn  er  sein  »Zu  Deinen  Zelten,  Israel!«  seinem  Volke  zurief. 
Es  hieße  das  Leben  des  Gewaltigen  wiederholen,  wollten  wir  ihn  in 


I 


201 

jedem  Moment  dabei  beobachten.  Nur  an  einigen  Beispielen,  die  wir 
aus  allen  Epochen  seiner  politischen  Laufbahn  auswählen,  wollen  wir 
uns  dies  klar  machen. 


Wer  von  unsern  Feinden,  die  vor  drei  Jahren  Stücke  deutscher 
Erde  aus  dem  Leibe  unseres  Reiches  und  Volkes  rissen,  haben  uns 
wohl  das  Ärgste  angetan ?  Nicht  die  Franzosen,  wie  hart  sie 
auch,  Gallier  die  sie  sind,  uns  den  Fuß  auf  den  Nacken  setzten ;  denn 
sie  haben  gleich  uns  wie  Männer  gekämpft,  und  es  war  ein  hoher  Preis, 
um  den  sie  fochten:  die  Wiedergewinnung  nicht  bloß  der  durch  ihre 
Vorfahren  einst  geraubten  deutschen  Westmark,  sondern  auch  der 
Vormachtstellung  auf  dem  Kontinent,  die  sie  Jahrhunderte  lang 
besessen  hatten ;  auch  gibt  es  kein  Aufhalten  mehr  für  sie  bei  solchem 
Ziel,  sie  sind  die  Sklaven  ihres  Tuns  geworden  und  müssen,  wenn  sie 
uns  nicht  ausmorden  können,  unsere  Zerreißung  durchführen  und  ver- 
ewigen, denn  sie  wissen,  daß,  wären  wir  geeinigt  und  neu  erstarkt, 
von  nationalem  Wülen  ganz  durchglüht,  sie  aber,  wie  1870,  allein  ge- 
lassen, wir  sie  mit  einem  Griff  erwürgen  könnten.  Auch  die  Italiener 
nicht,  Machiavells  Söhne,  obschon  sie  die  Idee,  auf  der  sie  ihren 
Staat  aufgebaut,  und  in  der  sie  die  historische  und  sittliche  Recht- 
fertigung ihrer  Politik  gesucht  haben,  verleugneten,  als  sie  sich  des 
Heimatlandes  Andreas  Hofers  bemächtigten,  in  dem  jeder  Stein  sie 
wegen  dieses  Verrates  an  ihrem  eigenen  Staatsgedanken  anklagen  muß ; 
sie  haben,  wenn  auch  schlecht  genug,  wenigstens  gefochten.  Noch  auch 
die  Dänen ,  die  erst  nachträglich  sich  zum  Beutemachen  hinzudrängten 
und  sich  von  unsern  Überwindern  ein  Stück  unserer  Nordmark  schen- 
ken ließen ;  denn  es  war  immerhin  ihr  altes  Kronland  und  in  der  Mehr- 
zahl von  ihren  Volksgenossen  bewohnt,  auch  hatten  sie  vor  Jahren, 
und  damals  im  Stich  gelassen  von  ihren  Freunden,  tapfer  darum  ge- 
kämpft. Das  Demütigendste,  Schmählichste,  Nichtzuertragende  haben 
wir  doch  von  den  Polen  erdulden  müssen,  denen  wir  das  Joch  von 
der  Schulter  genommen,  den  Staat  neu  aufgebaut  hatten,  und  die  zum 
Dank  dafür,  als  wir  zusanamenbrachen,  aller  ihrer  Schwüre  und  Treu- 
versicherungen vergessend,  wie  hungrige  Wölfe  über  uns  herfielen: 
diese  Sarmaten,  die  nichts  aus  eigener  Kraft  geschaffen,  immer  nur 
eine  Minderheit  in  ihren  eigenen  Grenzen  gebildet  haben,  die  niemals 
vermochten,  ihr  Volkstum  den  Unterworfenen  anders  als  mit  Gewalt 
aufzuzwingen,    und   heute   schon  wieder    bei   der  Arbeit   sind,   was 


202 

immer  von  deutschem  Leben  in  den  Provinzen,  die  ihnen  unsere 
Besieger  aus  der  Beute  zuwarfen,  noch  übrig  ist,  vollends  auszu- 
tilgen. Das  alles  soll  ihnen  für  ewig  un verziehen  und  unvergessen 
bleiben. 

Daß  hier  Gegensätze  bestehen,  die  nicht  auszugleichen,  eine 
Kluft,  die  nicht  zu  überbrücken  ist,  hat  niemand  klarer  erkannt  als 
Bismarck,  und  zu  keiner  Zeit  seines  Lebens  hat  er  etwas  anderes 
vorausgesehen,  als  was  wir  seitdem  erleben  mußten.  Den  frühesten 
Ausspruch  dieser  Art  finden  wir  in  einem  Brief  an  seine  junge  Frau 
aus  Berlin  vom  zweiten  vereinigten  Landtag  (3.  April  1848).  Er  schrieb 
ihn  nach  der  Heimkehr  von  einer  großen  Bürgerversammlung,  in  der 
den  revolutionsbegeisterten  Berlinern  zum  erstenmal,  auf  die  Nachricht 
über  die  Konsequenzen  ihres  Polen-Enthusiasmus,  die  Augen  auf- 
gegangen waren:  »namentlich,  nachdem  ein  trostloser  Jude  direkt 
Samter  angelangt  war  und  schreckliche  Geschichten  über  die  aus- 
gebrochenen Exzesse  der  Polen  gegen  die  Deutschen  vortrug ;  er  selbst 
war  stark  geprügelt  worden«.  »Es  ist  recht  merkwürdig,«  so  lesen  wir 
da,,  »wie  der  Berliner  in  der  gutmütigen  Einfalt  seines  Enthusiasmus 
für  alles  Ausländische  sich  jemals  einbilden  konnte,  die  Polen  könnten 
etwas  andres  als  unsere  Feinde  sein,  so  lange  sie  nicht  in  den  vollen 
Grenzen  von  1772  mit  Westpreußen  und  allem  Zubehör  gewesen 
wären«.  Bismarck  meinte,  nun  würde  die  Regierung  sich  bald  genötigt 
sehen,  die  von  ihr  selbst  aufgewiegelten  Polen  gewaltsam  zur  Ruhe 
zu  bringen.  Aber  er  hatte  die  Einsicht  und  Entschlußkraft  des  Königs 
und  seiner  Minister  noch  immer  überschätzt.  Friedrich  Wilhelm 
glaubte  auch  jetzt  noch  mit  Wohlwollen  und  Verständigungswillen 
bei  seinen  alten  Freunden  weiterzukommen,  und  erst  der  offene  Auf- 
ruhr, mit  dem  die  Polen  die  durch  Oberst  Willisen  eingeleitete  Ver- 
mittlungsaktion beantworteten,  zwang  ihn,  den  Weg  zu  betreten,  den 
der  Junker  von  Schönhausen  als  den  einzig  gangbaren  bezeichnet  hatte. 

Unter  diesem  Eindruck"  hat  Bismarck  jenen  großartigen  Brief 
an  die  Redaktion  der  Magdeburger  Zeitung  geschrieben,  in  dem  er 
sein  Volk  —  wohl  als  der  einzige  in  dieser  Sturmzeit  —  auf  das  würdig- 
ste Ziel  nationalen  Ehrgeizes  hinwies:  Frankreich  das  Elsaß  abzu- 
fordern und  die  deutsche  Fahne  auf  dem  Straßburger  Münster  aufzu- 
pflanzen, anstatt  »mit  der  Ritterlichkeit  von  Romanhelden  sich  dafür 
begeistern  zu  wollen,  daß  deutschen  Staaten  das  letzte  von  dem  ent- 
zogen werde,  was  deutsche  Waffen  im  Laufe  der  Jahrhunderte  in  Polen 


203 

und  Italien  gewonnen  hatten«.  Was  er  dann  weiter  über  die  nationalen 
Ziele  Polens  sagt,  deckt  sich  mit  dem  Anblick  der  Gegenwart  bis  in  jede 
Linie  so  sehr,  daß  jede  andere  als  wörtliche  Wiedergabe  den  Eindruck 
abschwächen  würde;  und  so  sei  es  mir  gestattet,  hier  den  ganzen  Ab- 
schnitt zu  wiederholen.  »Eine  nationale  Entwicklung  des  polnischen 
Elements  in  Posen  kann  kein  andres  vernünftiges  Ziel  haben,  als  das, 
einer  Herstellung  eines  unabhängigen  polnischen 
Reichs  zur  Vorbereitung  zu  dienen.  Man  kann  Polen 
in  seinen  Grenzen  von  1772  herstellen  wollen  (wie  die  Polen  selbst  es 
hoffen,  wenn  sie  es  auch  noch  verschweigen),  ihm  ganz  Posen,  West- 
preußen und  Ermeland  wiedergeben;  dann  würden  Preußens  beste 
Sehnen  durchschnitten  und  Millionen  Deutscher  der  polnischen  Will- 
kür überantwortet  sein,  um  einen  unsicheren  Verbündeten  zu  gewinnen, 
der  lüstern  auf  jede  Verlegenheit  Deutschlands  wartet,  um  Ostpreußen, 
polnisch  Schlesien,  die  polnischen  Bezirke  von  Pommern  für  sich  zu 
gewinnen.  Andrerseits  kann  eine  Wiederherstellung  Polens  in  einem 
geringeren  Umfang  beabsichtigt  werden,  etwa  so,  daß  Preußen  zu  die- 
sem neuen  Reich  nur  den  entschieden  polnischen  Teil  des  Großherzog- 
tums Posen  hergäbe.  In  diesem  Falle  kann  nur  der,  welcher  die  Polen 
gar  nicht  kennt,  daran  zweifeln,  daß  sie  unsre  geschworenen  Feinde 
bleiben  würden,  solange  sie  nicht  die  Weichselmündung  und  außer- 
dem jedes  polnisch  redende  Dorf  in  West-  und  Ostpreußen,  Pommern 
und  Schlesien  von  uns  erobert  haben  würden.  Wie  kann  aber  ein 
Deutscher,  weinerlichem  Mitgefühl  und  unpraktischen  Theorien  zu- 
liebe, dafür  schwärmen,  dem  Vaterlande  in  nächster  Nähe  einen 
rastlosen  Feind  zu  schaffen,  der  stets  bemüht  sein  wird,  die  fieberhafte 
Unruhe  seines  Innern  durch  Kriege  abzuleiten  und  uns  bei  jeder  west- 
lichen Verwicklung  in  den  Rücken  zu  fallen;  der  viel  gieriger  nach 
Eroberung  auf  unsre  Kosten  sein  wird  und  muß,  als  der  russische 
Kaiser,  der  froh  ist,  wenn  er  seinen  jetzigen  Koloß  zusammenhalten 
kann,  und  der  sehr  unklug  sein  müßte,  wenn  er  den  schon  starken 
Anteil  zum  Aufstand  bereiter  Untertanen,  den  er  hat,  durch  Eroberung 
deutscher  Länder  zu  vermehren  bemüht  sein  wollte.  Schutz 
gegen  Rußland  brauchen  wir  aber  von  Polen 
nicht;   wir  sind  uns  selbst    Schutz  genug.« 

Vielleicht  das  Bemerkenswerteste  an  diesen  Sätzen  ist  der  Hin- 
weis auf  die  Unabänderlichkeit  dieser  Tendenz  der  polnischen  Politik 
durch  ihre  Rückführung  auf  die  Psyche  der  polnischen  Nation,  die 


204 

ihrer  Natur  nach  und  gemäß  ihrer  historischen  Bedingtheit  sich  kein 
anderes  Ziel  setzen  könne,  und  dementsprechend  die  Unabhängigkeit 
des  Urteils,  mit  der  Bismarck  die  Motive  ihrer  Politik  würdigt,  ja, 
gewissermaßen  rechtfertigt.  Auch  darin  aber  ist  er  niemals  ein  anderer 
geworden.  »Haut  doch  die  Polen,  daß  sie  am  Leben  verzagen«,  so 
schreibt  er  seiner  Schwester  dreizehn  Jahre  später,  als  er  von  Peters- 
burg aus  den  Ausbruch  des  großen  Polenaufstandes  gegen  Rußland 
beobachtete.  Und  fügt  hinzu:  »Ich  habe  alles  Mitgefühl  für  ihre  Lage, 
aber  wir  können,  wenn  wir  bestehen  wollen,  nichts  anderes  tun,  als 
sie  ausrotten;  der  Wolf  kann  auch  nicht  dafür,  daß  er  von  Gott  ge- 
schaffen ist,  wie  er  ist,  und  man  schießt  ihn  doch  dafür  tot,  wenn 
man  kann«.  Furchtbare  Worte,  furchtbar  gerade  durch  die  Betonung 
der  Unabwendbarkeit  des  Schicksals,  die  jedes  Erbarmen,  auch  wenn 
es  sich  im  Herzen  regen  möchte,  ausschließt.  Aber  können  wir  selbst 
zu  einem  anderen  Schluß  gelangen  angesichts  alles  dessen,  was  unsere 
Zeitungen  Tag  für  Tag  aus  Oberschlesien  berichten?  Ist  nicht  alles 
genau  so  gekommen,  wie  es  dieser  märkische  Junker  vorausgesagt  hat  ? 
»Wenn  die  Polen  ihr  altes  Reich  in  den  Grenzen  von  1772  zurückfor- 
dern, so  ist  der  wahre  Sachverhalt  der,  daß  6  Millionen  Polen  eine 
Herrschaft  über  18  Millionen  Nichtpolen  begründen  und  zu  diesem 
Zwecke  unter  den  vorhandenen  fünf  bis  sechs  Großmächten  nicht 
weniger  als  drei,  nämlich  Preußen,  Österreich  und  Rußland  in  die  Luft 
sprengen  wollen«  —  so  äußerte  er  sich  ein  paar  Jahre  später,  als  die 
Liberalen,  die  im  Polenaufstande  noch  gegen  den  Reaktionär  und 
Russenfreund  gewettert  hatten,  endlich  klug  geworden  und  den 
deutschen  Charakter  seiner  Polenpolitik  begriffen  hatten,  zu  der 
Zeit,  da  er  bereits  die  Fundamente  des  neuen  Deutschlands  legte,  1867 
im  konstituierenden  Reichstage  des  Norddeutschen  Bundes.  »Wir 
haben«,  so  ein  andermal,  »Jahrhunderte  gelebt  ohne  die  Reichs- 
lande; wie  aber  unsre  Existenz  sich  gestalten  sollte,  wenn  heute  ein 
neues  Königreich  Polen  sich  bildete,  das  hat  noch  niemand  auszu- 
denken vermocht.  Früher  war  es  eine  passive  Macht;  heute  aber  wird 
es,  unterstützt  von  anderen  europäischen  Mächten,  ein  aktiver  Feind 
sein,  und  solange  es  nicht  Danzig,  Thorn  und  Westpreußen  in  seinen 
Besitz  gebracht  hätte,  und  ich  weiß  nicht,  was  der  leicht  erregbare 
polnische  Geist  noch  sonst  erstreben  möchte,  würde  es  stets  der 
Bundesgenosse  unserer  Feinde  sein,  zumal  von  Deutschlands  Erb- 
feind, Frankreich.    Niemals  darf  Deutschland  einen  zweiten  katholi- 


205 

sehen  Staat  an  seiner  Ostgrenze  dulden;  daher  muß  es  sich  jeglicher 
polnischen  Bewegung  widersetzen,  selbst  wenn  diese  durch  Österreich 
unterstützt  würde. «  Und  um  noch  einen  letzten  Ausspruch  unter  vielen 
andern  zu  zitieren :  »Wir  können  an  unseren  Grenzen  nicht  die  Wieder- 
herstellung eines  katholischen  Reiches  erlauben.  Das  wäre  ein  Frank- 
reich im  Norden.  Heute  haben  wir  ein  Frankreich,  alsdann  würden 
wir  deren  zwei  haben,  die  natürlich  verbündet  sein  würden,  und  wir 
würden  zwischen  zwei  Feinden  stehen.« 

Erst  in  dieser  Beleuchtung,  unter  dem  europäischen  Horizont, 
tritt  der  Gesichtspunkt  ganz  klar  heraus,  von  dem  Bismarck  in  der 
polnischen  Frage  sich  leiten  ließ.  Sie  stellte  sich  ihm  als  ein  Stück 
der  europäischen  Konstellation  dar,  deren  Gesamtheit  er  in  jedem  Mo- 
ment seiner  Politik  vor  Augen  hatte,  und  nach  deren  Abwandlungen 
er  jeden  seiner  Schritte  berechnete.  Beachten  wir  aber,  daß  dabei 
bis  i863  Frankreich,  das  Frankreich  Napoleons  HL,  als  ein  wesentlicher 
Faktor  für  ihn  noch  nicht  in  Betracht  kam,  so  wenig,  daß  er  eher  noch 
auf  die  Mitwirkung  des  französischen  Kaisers  bei  seiner  Politik  rechnete 
als  auf  seine  Gegnerschaft.  Dies  entsprach  dem  friderizianischen 
Charakter,  der  seiner  Staatskunst  damals  noch  zu  eigen  war.  Er  stellte 
sich  damit  in  Gegensatz  zu  allen  Richtungen,  für  die  das  nationale 
Moment  den  Vorrang  vor  dem  rein-staatlichen  Interesse  in  Anspruch 
nahm,  mochten  sie  sich  großdeutsch  oder  kleindeutsch  nennen,  in  Wien 
oder  Berlin,  in  München  oder  Stuttgart,  in  Dresden  und  Hannover 
oder  auch  in  Frankfurt  a.  M.  heimisch  sein,  zu  den  Erbkaiserlichen 
nicht  weniger  als  zu  den  Linksradikalen  und  zu  den  eigenen  Freunden, 
den  »Gelehrten  der  Kreuzzeitung«,  wie  er  sie  nannte,  ebenso  wie  etwa 
zu  den  Verehrern  der  habsburgischen  Kaiserherrlichkeit  in  den  Kreisen 
der  Ketteier  und  der  Reichensperger. 

Daß  auch  er,  der  von  sich  sagen  konnte,  daß,  wenn  ein  Teufel 
in  ihm  stecke,  es  ein  teutonischer  sein  müsse,  bereit  war,  wenn  es  sein 
mußte,  für  Deutschlands  Macht  und  Ehre  den  Degen  zu  ziehen,  zeigte 
uns  jener  Hinweis  auf  Straßburg  und  das  Elsaß  aus  dem  April  1848, 
zu  einer  Zeit,  wo  in  Deutschland  alle  Welt  sich  zwar  in  dem  Traum 
der  nationalen  Wiedergeburt  wiegte,  aber  Niemand  an  einen  Angnlf 
gegen  Frankreich  dachte.  Ihm  dagegen  war  es,  noch  in  den  ,, Gedanken 
und  Erinnerungen"  hat  er  es  bezeugt,  niemals  zweifelhaft,  daß  der  Her- 
stellung des  Deutschen  Reiches  der  Sieg  über  Frankreich  vorangehen 
müsse.   Zunächst  aber  rechnete  er  noch  nicht  mit  solchen  Eventuali- 


206 

täten.  Erst  als  er  Österreich  auf  die  Knie  gezwungen  hatte  und  den 
Kurs  aus  dem  engeren  Fahrwasser  rein-preußischer  Großmachts- 
poHtik  heraus  in  das  breite  Gewoge  der  nationalen  Bewegung  gelenkt 
hatte,  bekam  für  ihn  mit  andern  auch  die  polnische  Frage,  die  ihm 
noch  im  letzten  Polenaufstande  so  geringe  Sorge  gemacht  hatte,  ein 
ernsteres  Gesicht.  Denn  nun  zwang  ihn  die  Verschiebung  der  Kon- 
stellation, die  sein  eigener  Sieg  bewirkt  hatte,  in  ihren  ganzen  Umkreis 
den  Blick  in  die  Zukunft  anders  einzustellen  als  bisher.  Wenn  er  in 
Frankfurt,  zum  Entsetzen  seines  Freundes,  des  Generals  von  Gerlach, 
wohl  mit  den  Gedanken  gespielt  hatte,  daß  in  einem  Bund  zwischen 
Frankreich  und  Rußland,  der  damals  möglich  schien,  Preußen  sich 
als  Dritter  anmelden  müsse,  schon  um  Österreich  den  Weg  dorthin 
zu  verstellen,  so  war  daran  nun  nicht  mehr  zu  denken.  Weder  Ruß- 
land noch  Frankreich  wären  seit  Königgrätz  für  eine  solche  Politik 
zu  haben  gewesen;  vielmehr  begannen  sich  schon  am  europäischen 
Horizont  die  Linien  einer  Koalition  abzuzeichnen,  in  der  nicht  Preu- 
ßen, sondern  Österreich  der  willkommene  Dritte  zu  werden  drohte. 
Damit  aber  war  auch  für  Polen  eine  Lage  geschaffen,  die  ihm  ganz 
andere  Aussichten  eröffnete,  als  es  seit  dem  Tode  Alexanders  L  jemals 
gehabt  hatte;  daß  man  in  Petersburg  eine  Konvention  schließen  würde, 
wie  sie  durch  Alvensleben  während  der  letzten  Revolution  im  Februar 
1863  zustande  gekommen  war,  brauchte  es  nicht  mehr  zu  fürchten. 
Zwar  befreite  sich  Bismarck  von  dem  Alb  der  Kaunitz- Koalition,  der 
jahrelang  schwer  auf  ihm  gelastet,  1879  durch  das  Wiener  Bünd- 
nis. Aber  wenn  er  Österreich  dadurch  aus  der  gefahrdrohenden  Ver- 
bindung mit  Frankreich  löste,  so  tauschte  er  dafür  durch  die  jetzt 
kaum  noch  abwendbare  Freundschaft  Frankreichs  und  Rußlands 
eine  neue  Last  ein,  die  auf  seine  Politik  um  so  schwerer  drückte,  je 
weniger  das  Zartum  nun  noch  imstande  oder  auch  nur  gewillt  war, 
dem  mit  den  revolutionären  Strömungen  im  russischen  Volk  selbst 
verbündeten  Panslavismus  zu  widerstehen.  Und  wie  hätte  Bismarck 
seit  dem  Frieden  von  Frankfurt  sich  etwas  anderes  vorstellen  können, 
als  daß  Frankreich  bei  jeder  pohtischen  Kombination  auf  der  Gegen- 
seite zu  suchen  sei,  daß,  wie  er  es  in, seiner  drastischen  Weise  ausdrückte, 
die  Chassepots  bei  der  ersten  sich  bietenden  Gelegenheit  von  selber 
losgehen  würden!  Es  war  ja,  wie  gesagt,  nicht  bloß  der  Verlust  von 
Metz  und  Straßburg  oder  die  Erinnerung  an  die  Kapitulationen  von 
Sedan  und  Paris,  die  in  dem  Lager  der  Franzosen  das  »feu  sacr6  de 


207 

la  re  van  che«  nicht  ausgehen  Heßen,  sondern  vor  allem  (niemand  hat 
dies  besser  gewürdigt  als  der  Schöpfer  unseres  Reiches)  die  Verdrän- 
gung Frankreichs  aus  der  hegemonischen  Stellung,  die  es  Jahrhunderte 
hindurch  auf  dem  Kontinent  behauptet  hatte,  was  ihm  unerträglich  war: 
gegen  Ludwig  XIV.  mehr  noch  als  gegen  den  zweiten  Bonaparte 
hatten  wir,  nach  Rankes  bekanntem  Wort,  den  Krieg  geführt;  »und 
wenn  es  nicht  diesmal  gelang«  (so  lesen  wir  in  den  »Gedanken  und  Er- 
innerungen«), »den  Sieg  über  Frankreich  zu  vollem  Abschluß  zubringen, 
so  waren  weitere  Kriege  ohne  vorgängige  Sicherstellung  unserer  vollen 
Einigung  in  Sicht«.  Nur  eine  Neubelebung  des  noch  älteren  und  einst 
viel  tieferen  Gegensatzes  zwischen  Frankreich  und  England  hätte 
die  Gedanken  der  Besiegten  von  der  Rheingrenze  ablenken  können. 
Und  ein  paar  Jahre  hatte  es  wirklich  fast  den  Anschein,  als  ob  es 
Bismarck  gelingen  müßte,  den  nationalen  Ehrgeiz  der  Franzosen  in 
jene  Bahnen  abzulenken.  Nachdem  er  sich  aber  in  dieser  Hoffnung 
betrogen  sah,  seit  der  Entscheidung  über  Ägypten,  wo  Frankreich  zum 
ersten  Mal  seit  dem  Frankfurter  Frieden  vor  England  zurückwich, 
war  ihm  jeder  Zweifel,  wo  es  in  einem  künftigen  Kriege 
Deutschlands  stehen  würde,  genommen.  Seitdem  hat  er  unum- 
wunden, in  voller  Öffentlichkeit  hierauf,  als  auf  eine  unumstöß- 
liche Gewißheit,  hingewiesen,  und  niemand  würde  damals,  weder 
in  Deutschland  noch  auch  in  Frankreich,  gewagt  haben,  ihm  dies 
zu  bestreiten. 

Es  waren  die  Jahre,  wo  sich  das  Gewölk,  aus  dem  im  Sommer 
1914  die  zerstörenden  Blitze  auf  uns  herniederfuhren,  zu  sammeln 
begann,  als  der  Revanchegedanke  in  Frankreich  von  der  Tribüne 
der  Kammer  und  der  Ministerbank  selbst  ungescheut  ausgesprochen 
wurde  und  sich  in  lärmenden  Manifestationen  entlud,  um  sogleich 
in  der  slavischen  Welt  lautesten  Widerhall  zu  finden,  die  Jahre,  da 
es  Bismarck  durch  das  bewunderungswürdig  erdachte  System  seiner 
Bündnisse  noch  gerade  gelang,  den  drohenden  Bergsturz  aufzuhalten. 
Es  lag  ihm  fern,  nach  der  Weise  unserer  Tage,  die  immer  nach  dem 
Schuldigen  fragt,  Frankreich  daraus  einen  Vorwurf  zu  machen ;  er  sah  den 
Konflikt  durchaus  im  Lichte  der  Geschichte,  als  einen  langwierigen 
historischen  Prozeß  über  die  Ziehung  der  Grenze,  die  streitig  geworden 
sei  von  dem  Zeitpunkte  an,  wo  Frankreich  seine  volle  innere  Einigkeit 
in  einer  nationalen  Monarchie  erreicht  habe.  So  hat  er  es  im  Januar 
1887  in  dei   grandiosen  Rede  ausgeführt,  durch  die  er  die  wieder- 


208 

erwachte  Kriegsstimmung  in  Frankreich  zu  dämpfen  und  den  Wider- 
stand im  Reichstag  gegen  das  neue  Septennat  zu  brechen 
versuchte.  Er  rechnete  dabei  von  der  Wegnahme  der  drei  Bistümer 
durch  König  Heinrich  II.  im  Jahr  1552  ab;  doch  können  wir  sehr 
wohl  noch  weiter  zurückgehen,  bis  zu  Phüipp  dem  Schönen  oder  gar 
bis  in  den  Anfang  des  13.  Jahrhunderts,  bis  zu  Philipp  August  hinauf; 
denn  schon  in  dem  Jahrhundert,  da  das  Kaisertum  des  Mittelalters 
zusammenbrach,  begann  Frankreichs  Vormarsch  gegen  die  westlichen 
Provinzen  unseres  alten  Reiches.  Nun  aber  war  endlich  ein  Damm 
dagegen  errichtet,  die  Westmark  für  Deutschland  zurückgewonnen 
und  unsere  Nation  wieder  im  Besitz  ihres  Staates.  Was  in  aller  Welt 
hätte  uns  noch  veranlassen  können,  umringt  wie  wir  waren  von  be- 
siegten und  rivalisierenden  Mächten,  unsere  Linien  über  die  wieder- 
gewonnenen Grenzmarken  hinweg  auf  französischen  Boden  auszu- 
dehnen! »Wenn  die  Franzosen«,  so  Bismarck  in  jener  Rede,  »so  lange 
mit  uns  Frieden  halten  wollen,  bis  wir  sie  angreifen,  wenn  wir  dessen 
sicher  wären,  dann  wäre  der  Friede  ja  für  immer  gesichert«.  »Wir 
werden«,  wiederholte  er,  »Frankreich  nicht  angreifen,  unter  keinen 
Umständen«.  Offen  gab  er,  wie  auch  sonst  so  oft,  zu,  daß  er  für  seine 
Person  gern  auf  Metz  verzichtet  und  sich  lediglich  mit  der  Sprach- 
grenze begnügt,  daß  er  nur  den  Militärs,  die  diese  starke  Festung 
hätten  haben  wollen,  nachgegeben  habe;  aber  auch  diese  waren  dabei 
lediglich  von  dem  Gedanken  der  Abwehr  geleitet  worden.  Auch 
dagegen,  daß  das  französische  Volk  in  seiner  Masse  den  Krieg  nicht 
wünsche,  ja  selbst  die  gegenwärtige  Regierung  in  Frankreich  ihn  zu 
vermeiden  suche,  hat  er  nichts  einzuwenden.  Aber  wie  die  Sachen 
liegen,  kann  ihn  dieses  Vertrauen  nicht  bis  zu  dem  Grade  von  Sicher- 
heit einwiegen,  um  sagen  zu  können:  Wir  haben  einen  französischen 
Krieg  gar  nicht  mehr  zu  fürchten.  Denn  die  französische  Geschichte 
lehrt,  daß  die  Entschließungen  Frankreichs  in  schweren  Momenten 
immer  noch  durch  energische  Minoritäten  bewirkt  worden  sind.  Diese 
Kreise  suchen  einstweilen  nur  die  Möglichkeit,  den  Krieg  mit  möglich- 
ster Kraft  zu  beginnen;  ihre  Aufgabe  ist  es,  le  feu  sacre  de  la  revanche 
zu  unterhalten.  Bismarck  will  nicht  entscheiden,  ob  der  Krieg  in  10  Ta- 
gen oder  in  10  Jahren  ausbrechen  wird.  Das  häng^  von  der  Dauer 
der  Regierung  ab,  die  in  Frankreich  gerade  am  Ruder  sei.  »Es  ist 
an  jedem  Tage  möglich,  daß  eine  französische  Regierung  ans  Ruder 
kommt,  deren  ganze  Politik  darauf  berechnet  ist,  von  dem  feu  sacre 


209 

zu  leben,  was  jetzt  so  sorgfältig  unter  der  Asche  unterhalten  wird«. 
Und  nun  entwirft  er  vor  den  Reichsboten  ein  Zukunftsbild  von  einem 
besiegten  Deutschland,  das  kaum  hinter  dem,  was  wir  täglich  vor 
Augen  haben,  zurückbleibt.  Von  der  Geldfrage  will  er  gar  nicht 
sprechen  —  »obschon  die  Franzosen  so  glimpflich  mit  uns  nicht  ver- 
fahren würden,  wie  wir  mit  ihnen  verfahren  sind;  ein  so  gemäßigter 
Sieger  wie  der  christliche  Deutsche  ist  in  der  Welt  nicht  vorhanden. 
Wir  würden  dieselben  Franzosen  uns  gegenüber  finden,  unter  deren 
Herrschaft  wir  1805  bis  1813  gelitten  haben,  und  die  uns  ausgepreßt 
haben  bis  aufs  Blut,  wie  die  Franzosen  sagen:  saigner  ä  blanc,  d.  h. 
so  lange  zur  Ader  lassen,  bis  die  Blutleere  eintritt,  damit  der  nieder- 
geworfene Feind  nicht  wieder  auf  die  Beine  kommt  und  in  den  nächsten 
30  Jahren  nicht  wieder  an  die  Möglichkeit  denken  kann,  sich  dem 
Sieger  gegenüberzustellen.«  Aber  das  Geld  sei  ja  das  Wenigste. 
Man  würde  dafür  sorgen,  daß  das  Deutsche  Reich  so  stark  nicht  bleibe, 
wie  es  sei ;  man  würde,  von  der  Rheingrenze  ausgehend,  uns  vom  Rhein 
so  viel  abnehmen,  wie  man  könnte.  Auch  das  würde  nicht  genügen: 
man  würde  —  wie  Bismarck  mit  einer  Wendung  gegen  den  weifischen 
Führer  der  Zentrumspartei,  der  von  einem  ungefährlichen,  friedlichen 
Frankreich  gesprochen  hatte,  sagt  —  vor  allem  Hannover  uns  ab- 
nehmen, Schleswig  an  Dänemark  bringen  und  uns  in  Polen  so  viele 
Schwierigkeiten  machen,  wie  Rußland  es  nur  irgend  erlauben  würde. 
Und  ähnlich  nach  der  Auflösung  des  Reichstages  noch  einmal,  am  24.  Ja- 
nuar, im  Abgeordnetenhause,  als  die  Oppositionsredner  mit  seinen 
angeblichen  Monopolplänen  Stimmung  gegen  die  Regierung  zu  machen 
versuchten:  »Monopole?  —  ja,  die  werden  kommen,  wenn  wir  einen 
unglücklichen  Krieg  geführt  haben  und  infolgedessen  in  unseren  Fi- 
nanzen und  Leistungsmitteln  so  erschöpft  sein  werden,  daß  wir  zu 
jedem  Mittel  die  Zuflucht  nehmen  müssen.  Dann  werden  nicht  nur 
Monopole,  sondern  sehr  viel  härtere  Steuern  kommen,  als  sie  jetzt 
überhaupt  bekannt  sind,  gegen  die  wir  jetzt  eine  Art  Assekuranz, 
eine  Verstärkung,  im  Reichstage  vorgeschlagen  haben;  dann  wird 
es  Zeit  sein,  an  Monopole  zu  denken;  wenn  wir  militärisch  schwach 
sind,  so  werden  wir  als  Geschlagene  schließlich  die  Monopole  uns 
auferlegen  müssen,  um  die  feindlichen  Kontributionen  zu  bezahlen, 
die  uns  auferlegt  werden.  Also  dieses  ist  die  Möglichkeit,  die  weder 
«in  Finanzminister  noch  auch  die  heftigsten  Monopolfeinde  in  Abrede 
stellen  können.    Dann  heißt  es:  Friß,  Vogel,  oder  stirb!« 

Lenz,  Wille,  Macht  uud  Schicksal.  I4 


210 

Verlangt  man  nun  wirklich  noch  von  uns,  an  ein  friedfertiges, 
ein  von  uns  überfallenes  Frankreich  zu  glauben  ?  Oder,  daß  wir  uns 
auch  nur  auf  eine  Widerlegung  des  Geredes  von  unserer  Schuld  am 
Weltkriege  und  unserer  durch  alle  Schranken  der  nationalen  und 
sittlichen  Grenzen  hindurchbrechenden  Machtgier  einlassen  sollen  ? 
Es  wäre  den  Anwälten  des  Versaüler  Friedens  ja  so  leicht,  ihre  eigene 
Politik  in  volles  Licht  zu  setzen.  Sie  sind  ja  die  Wissenden,  im  Besitz 
aller  Dokumente ;  sie  brauchen  nur  ihre  Archive  zu  öffnen  und  würden 
damit  nichts  anderes  tun,  als  was  die  Besiegten  in  einem  Maße  getan 
haben,  wie  es  bisher  so  rasch  und  so  gründlich  noch  niemals  durch- 
geführt woirde.  Es  war  fast  das  Erste,  was  unsere  Revolutionsregierung 
in  Angriff  nahm :  weü  sie  selbst  an  unsre  Schuld  zu  glauben  wünschte 
und  die  Beweise  in  den  Akten  zu  finden  hoffte ;  es  war  ein  Stück  üirer 
eigensten  Politik.  Mit  dem  Ergebnis,  daß,  wie  sie  selbst  eingestehen 
mußte,  sich  nichts  davon  bewahrheitete,  daß  unsere  Diplomatie 
vielmehr,  wie  ungeschickt  sie  alles  angefangen  haben  mochte,  doch  nichts 
anderes  angestrebt  hatte,  als  das  drohende  Verhängnis  von  unserm 
Lande  abzuwehren.  Aber  unsere  Gegner  werden  sich  hüten,  so  sich  ins 
eigene  Fleisch  zu  schneiden;  sie  werden  jeder  ernsthaften  Diskussion, 
so  oft  sie  ihnen  von  unsern  Historikern  und  Diplomaten  angeboten 
ward,  immer  wieder  ausweichen,  um  dafür  die  Welt  mit  ihren  lüg- 
nerischen Behauptungen  und  Verleumdungen  zu  überschütten  und  zu 
betäuben.  Es  ist  auch  das  nur  ein  Stück  ihrer  Politik  und  übrigens 
gar  nicht  so  dumm  gedacht;  denn  sie  wissen,  daß  die  Welt,  wie  es 
von  jeher  war,  dem  Sieger  weit  eher  zufällt  als  dem  Besiegten  und 
sich  gerne  so  lange  täuschen  läßt,  als  sie  getäuscht  sein  will. 


Man  hört  heutzutage  bisweUen  so  urteilen,  als  sei  Bismarck  selbst 
an  dem  Schicksal,  das  uns  betroffen,  nicht  so  ganz  schuldlos,  denn 
er  sei  doch  nun  einmal  der  Begründer  und  der  Anfänger  des  Bünd- 
nisses mit  Habsburg  gewesen,  das  uns  ins  Verderben  geführt  hat.  Und 
gewiß  hat  er  ganz  allein  diese  größte  Schwenkung  in  seiner  Politik 
vollzogen  und  sie  mit  dem  Aufwand  aller  seiner  Kraft  durchführen 
müssen ;  im  stärksten  Kampf  mit  seinem  alten  Herrn,  der  von  seiner 
ererbten  Verbindung  mit  Rußland  sich  nicht  losreißen  konnte.  Wäre 
dieser  Vorwurf  richtig,  so  würde  ihn  Bismarck  jedenfalls  nicht  allein 
verdienen,  sondern  mit  ihm,  man  kann  fast  sagen,  die  gesamte  Na- 


211 

tion;  denn  niemals  war  er  von  der  Gunst  des  Augenblicks  so  voll 
getragen  wie  damals,  als  alle  Parteien,  im  Süden  we  im  Norden, 
Großdeutsche  und  Kleindeutsche,  Klerikale  und  Liberale  und  von 
Kronprinz  Friedrich  Wilhe  Im  herunter  hoch  und  niedrig  zu  ihm  standen ; 
für  die  Festigung  des  Reichsgedankens  ist  kaum  ein  Ereignis  von 
solcher  Bedeutung  geworden.  Jedoch  wollen  wir  von  einer  Diskussion 
darüber  absehen;  sie  würde  uns  zu  weit  führen,  auch  wenn  wir  es  als 
eine  Aufgabe  des  Historikers  ansehen  wollten,  das  Für  und  Wider  bei 
geschehenen  Dingen  zu  erörtern  und  die  getroffenen  Entschei- 
dungen nachträglich  zu  kritisieren.  Jedenfalls  ist  es  Bismarck  gelungen, 
so  lange  er  das  Steuer  führte,  das  Schiff  des  Staates,  um  das  die  Wogen 
der  Zeit  schon  damals  hoch  genug  gingen,  in  seinem  Kurs  zu  halten. 
Daß  aber  ein  solcher  Kenner  Österreichs  und  seiner  Politik  (man  denke 
nur  an  seine  Frankfurter  Berichte)  sich  so  leicht  auf  eine  falsche  Fährte 
führen  und  so  am  Narrenseil  hätte  lenken  lassen,  wie  es  uns  im  Juli 
1914  begegnete,  ist  doch  allzu  unwahrscheinlich.  Wenn  er  die  Freund- 
schaft mit  dem  Grafen  Andrassy  (der,  wie  wir  heute  wissen,  solch  Lob 
nicht  unbedingt  verdient  hat)  mit  Nachdruck  betonte  und  sein  unbe- 
dingtes Vertrauen  zu  der  Ehrlichkeit  der  Wiener  Politik  aussprach 
(über  die  er  doch  in  Frankfurt  einmal  das  bezeichnende  Wort  geprägt 
hatte  von  dem  Bettgenossen,  der  viel  leichter  als  ein  Fremder  den  Ge- 
fährten betrügen,  vergiften  oder  erdolchen  könne),  so  entsprach  diese 
Haltung  der  nun  obwaltenden  Lage:  das  Bündnis  von  1879  nötigte 
ihn,  andere  Regungen  in  seiner  Brust  zu  verschließen.  Daß  sie  sich 
ihm  auch  damals  oft  genug  aufdrängten,  brauchten  wir  selbst  dann 
nicht  zu  beweisen,  wenn  wir  keine  direkten  Zeugnisse  dafür  besäßen. 
Die  Unsicherheit  der  österreichischen  Zukunft,  die  wachsende  Span- 
nung zwischen  Wien  und  Petersburg,  die  Völkermischung  in  der 
Doppelmonarchie  mit  ihrer,  wie  Bismarck  einmal  schreibt,  ätzenden 
und  gelegentlich  zersprengenden  Wirkung,  die,  wenn  auch  selten 
eingestandene  Feindseligkeit  der  Magyaren  gegen  alles  Deutsche  und 
ihre  Neigung  zu  Seitensprüngen,  das  alles  waren  Tatsachen,  mit  denen 
Bismarck  sich  schon  in  Frankfurt  unaufhörlich  beschäftigt  hatte ;  und 
ebenso  wenig  war  er  sich  je  im  unklaren  über  die  Bedenklichkeiten, 
die  der  Bund  mit  dem  Hause,  das  durch  Jahrhunderte  hin  die  deutsche 
Krone  getragen  hatte,  für  Preußen-Deutschland  mit  sich  brachte: 
die  schon  höheren  Jahre  Kaiser  Franz  Josephs,  die  einen  Umschwung 
der  Politik  nach  seinem  Ableben  befürchten  ließen,  die  Sympathien, 

T4* 


212 

die  man  in  Wien  von  jeher  für  die  Polen,  diesseits  und  jenseits  der 
eigenen  Grenzen,  gehegt  hatte,  und  vor  allem  die  Versuchung  für  die 
Wiener  Diplomatie,  das  Bündnis  gegen  Rußland  auf  dem  Balkan  für 
besondere  Ziele  des  österreichischen  Ehrgeizes  auszunutzen.  Solange 
er  aber  das  Ruder  führte,  brauchte  er  am  Ende  in  bezug  hierauf  nichts 
zu  fürchten ;  er  hatte  das  Mittel  in  der  Hand,  um  ein  Abspringen  Öster- 
reichs von  dem  Wege,  den  er  einzuhalten  entschlossen  war,  zu  verhüten. 
Denn  der  Rückweg  nach  Petersburg  war  für  Deutschland  immer  noch 
leichter  zu  finden  als  für  Österreich;  es  kam  nur  darauf  an,  darauf  zu 
achten,  daß  er  für  uns  frei  blieb  und  die  Möglichkeit,  von  dem  Bundes- 
genossen freiwillig  oder  unfreiwillig  verlassen  zu  werden,  nicht  aus 
den  Augen  zu  verlieren,  sie  auch  rechtzeitig,  d.  h.  bevor  sie  eintrat, 
zu  erkennen,  um  sich  nicht  die  eigenen  Wege  zu  versperren.  Die 
Sorgen  des  Fürsten  nach  dieser  Richtung  begannen  erst,  als  er  sich 
von  jedem  Einfluß  auf  die  deutsche  Politik  abgeschnitten  sah.  Da 
freilich  hat  er  sie  nicht  mehr  in  sich  zurückdrängt,  sondern  laut  hinaus- 
gerufen, durch  dokumentarische  Enthüllungen  aus  den  eigenen  Akten 
bestätigt  und  in  seinem  politischen  Testament,  in  dem  zweiten  Band 
seiner  »  Gedanken  und  Erinnerungen« ,  sie  für  alle  Zeiten  niedergelegt. 

Heute  sind  die  Richtlinien  der  Politik,  die  Bismarck  in  dem 
letzten  Jahrzehnt  seiner  Kanzlerschaft  verfolgte,  in  der  Sammlung 
seiner  Akten,  die  jüngst  im  Auftrag  unserer  Regierung  selbst  erfolgte, 
lückenlos  sichtbar  geworden,  und  sie  zeigen  ihn,  wie  auf  der  Höhe 
seiner  Macht,  so  auch  seiner  staatsmännischen  Kunst  und  Einsicht.  Nun 
erst  ist  das  glänzend  durchgeführte  Spiel  mit  den  5  Kugeln  — ■  Wesen, 
Ziel  und  Ergebnis  —  in  volle  Beleuchtung  gerückt;  sowie  auch  die 
großen  Reichstagsreden  aus  dem  Ende  jener  Jahre  erst  im  Lichte  dieser 
Akten  ganz  verstanden  werden  können.  Jedoch  waren  diese  Reden 
schon  für  die  Zeitgenossen  bestimmt,  weniger  noch  für  die  Reichs- 
tagsboten, die  sie  anhören  und  kritisieren  durften,  als  für  die  fremden 
Kanzleien,  nicht  an  letzter  Stelle  für  die  Bundesfreunde  an  der  Donau 
selbst.  Und  so  lange  Bismarck  im  Regiment  stand,  werden  sie  dort 
gewiß  auch  verstanden  worden  sein.  Erst  nach  seinem  Sturz  sind  sie 
vergessen  oder  nicht  mehr  beachtet  worden,  obschon  ihr  Sinn  in  den 
»Gedanken  und  Erinnerungen«  zugänglich  genug  war,  und  leider  mehr 
noch  in  der  Berliner  Wilhelmstraße  und  in  »Wallots  Reichsbau«  als 
zu  Wien  in  der  Hofburg. 

Heute  sind  sie  jedermann  verständlich  geworden. 


213 

Durch  die  Enthüllungen,  welche  die  letzten  Jahre  auch  von  an- 
derer Seite  gebracht  haben,  und  die  vor  allem  durch  die  kritische  Sorg- 
falt Felix  Rachfahls  von  den  Verdunkelungen  und  Mißverständ- 
nissen, welche  ihre  Deutung  zunächst  erschwerten,  gereinigt  worden 
sind,  weiß  man,  daß  Bismarck  in  die  Kombinationen  seiner  Politik, 
die  das  Bündnis  von  1879  nach  sich  zog,  auch  England  mit  hineingezogen 
hat.  Daß  wir  jemals  in  England  unsem  größten  Feind  erblicken 
müßten,  daß  gerade  dort,  mehr  als  irgendwo  in  der  Welt,  an  den 
Netzen  des  Verderbens  geknüpft  werden  würde,  die  uns  Ahnungslosen 
über  das  Haupt  geworfen  werden  sollten,  ist  freilich  auch  seinem 
Prophetenauge  verborgen  geblieben.  Auch  trat  davon  ja,  solange 
Bismarck  lebte,  nichts  in  die  Erscheinung;  und  wie  groß  auch  sein  Pes- 
simismus in  der  Einsamkeit  von  Friedrichsruh  sein  mochte  —  daß  wir 
uns  jemals  so  völlig  von  ihnen  umstricken  lassen  könnten,  das  hat 
er  sich  doch  wohl  niemals  träumen  lassen.  Und  dennoch  ist  seinem 
rastlos  schweifenden  Auge  an  dem  politischen  Horizont  schon  in  den 
Jahren,  da  er  noch  die  Leitung  in  der  Hand  hatte,  man  möchte  sagen, 
hinter  den  Nebeln  der  Zukunft  eine  Stelle  aufgefallen,  an  der  sich  die 
Bahnen  seiner  Politik  gegebenenfalls  sogar  mit  denen  Englands 
kreuzen  könnten :  wenn  nämlich  die  panslavistische  Richtung  in  Ruß- 
land die  Oberhand  gewinnen  und,  statt  die  Gegensätze  zwischen  Ruß- 
land und  England  in  Asien  zu  vertiefen,  eine  Ausgleichung  ihrer  Inter- 
essen, die  damals  hauptsächlich  in  Afghanistan  aufeinander  stießen, 
herbeiführen  und  ihre  vereinigten  Kräfte  nach  dem  nahen  Orient, 
gegen  die  Vormacht  in  der  osmanischenWelt,  die  Türkei,  lenken  würden. 
Auch  darüber  belehrt  uns  die  jüngst  bekannt  gewordene  amtliche 
Publikation,  besonders  ein  Bericht  des  Fürsten  an  Kaiser  Wilhelm  I. 
vom  27.  Mai  1885I).  Bismarck  geht  darin  aus  von  einem  Artikel  der 
»Times«,  in  dem  mit  einem  gewissen  Ungestüm  an  Deutschland  die 
Zumutung  gerichtet  war,  in  dem  afghanischen  Konflikt  als  Friedens- 
stifter aufzutreten.  Dabei  war  von  der  »Times«,  der  dabei  von  franzö- 
sischen Blättern  sekundiert  ward,  die  Behauptung  ausgesprochen 
worden,  Deutschland  wünsche,  daß  es  zu  einem  Kriege  zwischen  Eng- 
land und  Rußland  komme,  und  die  Aussichten  auf  Frieden  hätten 
darum  bei  uns  verstimmend  gewirkt.  In  Wahrheit  war  weder  von  der 
Regierung  noch  seitens  der  Presse  im  Reich  irgendein  Anlaß  zu  dieser 
Insinuation  gegeben  worden.  Das  Motiv  der  Verleumdung  war  deutlich 

1)  Bd.  IV.  S.  124. 


214 

genug;  es  lag  in  dem  Bestreben  des  leitenden  englischen  Organs,  Miß- 
trauen gegen  Deutschland  zu  wecken  und  eine  Verbindung  Englands  mit 
Rußland  und  Frankreich  in  antideutschem  Sinne  anzubahnen.  Dieselbe 
PoHtik  ward  von  französischen,  namenthch  von  den  orleanistischen 
Blättern  betrieben.  Nun  hatte  Deutschland  ja  allerdings,  wie  Bismarck 
in  jenem  Memoire  weiter  ausführt,  kein  Interesse,  Rußland  zu  hindern, 
wenn  es  die  Beschäftigung,  deren  es  für  seine  Armee  bedurfte,  lieber 
in  Asien  als  in  Europa  suchte,  um  so  weniger,  als  die  panslavistische 
Strömung  unter  den  russischen  Offizieren  sehr  stark  war  und  den 
friedlichen  Aussichten,  die  neuerdings  in  Asien  eingetreten  waren, 
sofort  ein  energischerer  Betrieb  der  Befestigungen  an  der  Westgrenze 
entsprochen  hatte.  Aber  es  war  dennoch  nichts  geschehen,  was  jenem 
Verdacht  Nahrung  hätte  geben  können,  und  also  klar,  daß  diese  eng- 
lisch-russische Allianz  mit  ihrer  angeblich  christlichen  und  anti- 
türkischen, in  Wahrheit  panslavistischen  und  radikalen  Richtung  sich 
jederzeit  nach  Bedürfnis  durch  Frankreich  verstärken  konnte,  sobald 
die  russisch-englische  Politik  bei  Deutschland  Widerstand  fände; 
es  wäre  (so  heißt  es  in  der  Denkschrift)  damit  die  Basis  für  eine  Koalition 
gegen  uns  gegeben,  wie  sie  gefährlicher  Deutschland  nicht  gegenüber- 
treten könne.  Die  Konsequenz,  welche  Bismarck  aus  dieser  Lage  zog  (es 
war  der  Weg  zwischen  der  Scylla  und  der  Charybdis),  war,  alles  zu 
vermeiden,  was  dahin  führen  könnte,  daß  wir  England  die  russische 
Feindschaft  abnähmen,  indem  wir  sie  uns  selbst  auflüden.  Was 
er  dann  weiter  zur  Begründung  dieses  Satzes  sagt,  ist  durch  den  tiefen 
Ernst,  die  Eindringlichkeit  und  die  Klarheit,  mit  der  alles  ausgeführt 
wird,  sowie  im  Hinblick  auf  die  Haltung  unserer  Diplomatie  zu  den  ana- 
logen Problemen  vor  dem  Weltkriege  so  bedeutsam  und  wirkt,  man  darf 
es  sagen,  wieder  auf  den  Leser  so  erschütternd,  daß  es  gestattet  sein 
wird,  alles  bis  zum  Schluß  hier  folgen  zu  lassen.  »Um  dies  herbei- 
zuführen«, so  fährt  er  fort,  »dazu  würde  schon  der  leiseste  direkte 
oder  indirekte  Druck  auf  Rußland  genügen,  schon  eine  freundschaftliche 
Empfehlung,  Frieden  zu  halten.  Es  ist  zweifellos,  daß  Rußland  sich 
auf  einen  Krieg  mit  England  nicht  einlassen  wird,  wenn  es  befürchten 
muß,  während  desselben  von  Deutschland  oder  Österreich  bedroht 
zu  werden.  Die  leiseste  Andeutung  dieser  Möglichkeit  würde  hinreichen, 
um  Rußland  friedfertig  gegen  England  zu  stimmen,  aber  auch  hin- 
reichen, um  das  mühsam  beseitigte  Mißtrauen  gegen  uns  wieder  zu 
wecken  und  zu  beleben  und  die  russische  Politik  dazu  zu  bestimmen. 


215 

ihre  Spitze  wieder  ausschließlich  gegen  Westen  zu  richten.  Aus  diesem 
Grunde  haben  wir  uns  sorgfältig  enthalten,  auch  nur  die  geringste 
Äußerung  nach  Petersburg  gelangen  zu  lassen,  welche  als  eine  Pression 
oder  auch  nur  als  Wink  hätte  gedeutet  werden  können,  daß  Euere 
Majestät  wünschte,  Rußland  möge  Frieden  halten.  Denn  es  ist  un- 
möglich, zwischen  zwei  großen  Mächten  einen  solchen  Wunsch  direkt 
oder  indirekt  anzudeuten,  ohne  daß  er  einen  Anflug  einer  Drohung  für 
den  Fall  der  Nichterfüllung  an  sich  trüge;  selbst  die  freundschaft- 
lichste Form  würde  ihn  davon  nicht  freihalten  können.  Wenn  daher 
von  Euerer  Majestät  Regierung  eine  unbedingte  Enthaltsamkeit 
in  bezug  auf  alle  Ratschläge  zur  Wahrung  des  Friedens  beobachtet 
worden  ist,  so  liegt  darin  nur  die  sorgfältige  Pflege  des  eigenen  Friedens 
und  der  eigenen  nachbarlichen  Beziehungen  zu  Rußland,  auf  welche 
die  deutsche  Nation  rechnen  darf,  keineswegs  ein  Wohlgefallen  an 
Zwistigkeiten  und  Kriegen,  welche  zwischen  zwei  uns  befreundeten  Staa- 
ten entstehen  können,  oder  irgendwie  ehrgeizige  Berechnung,  welche 
durch  dergleichen  Zwistigkeiten  ihre  Erfüllung  finden  könnte,  sondern 
einfach  die  pfhchtmäßige  Schonung  der  glücklich  wieder  hergestellten 
Beziehungen  des  Deutschen  Reiches  zu  seinem  östlichen  Nachbar.« 
Man  braucht  dies  Memoire  nur  mit  den  Akten  zu  vergleichen, 
in  denen  wir  heute  unsere  Diplomatie  vor  dem  Weltkriege  in  voUer 
Klarheit  vor  uns  sehen,  um  sein  Urteü  darüber  fertig  zu  haben,  wie 
Bismarck  sich  in  einer  solchen  Lage  verhalten  haben  würde. 


Wir  sind  mit  unsern  Ausführungen  schon  längst  auf  dem  Boden 
angelangt,  dem  das  Prophetentum  Bismarcks  entstammte,  auf  dem 
es  sich  entfalten  konnte,  und  der  es  zugleich  beschränkte.  Es  war  der 
historisch  geschulte  Blick,  der  ihm  das  Werdende  selbst  enthüllte. 
Indem  er  das  Gewesene  in  dem  Umkreis,  auf  den  ihn  sein  Amt, 
seine  Aufgabe  hinführt,  beherrscht,  kann  er  mit  einiger  Zuversicht 
auch  das  Zukünftige  berechnen;  denn  das  Vergangene  lebt  in  der 
Gegenwart  fort  und  weist  über  diese  selbst  hinweg  auf  das  Kommende 
hin.  Hier  liegt  die  Grenze,  an  der  sich  der  Staatsmann  und  der  Histo- 
riker zugleich  begegnen  und  voneinander  scheiden.  Denn  nur  das 
Gewordene  in  seinem  Werden  selbst  zu  ergreifen,  ist  des  letzteren  Auf- 
gabe. Er  hat  lediglich  mit  dem  Sein,  nicht  mit  dem  Sollen  zu  tun; 
erkennen  soll  er,  nicht  handeln.    Bis  in  die  Gegenwart  darf  er  vor- 


216 

dringen,  wie  die  Vergangenheit  selbst,  die  sie  noch  ganz  erfüllt;  das 
unmittelbar  Gegebene,  das  vor  seinen  Augen  vorüberflutende  Leben 
bleibt  ihm  ebenso  unterworfen  wie  die  fernste  Vorzeit  —  soweit  als 
es  die  Quellen  gestatten,  an  die  er  gebunden  ist,  deren  Bedeutung  er 
kennen  muß,  deren  Umkreis  jedoch  er  niemals  überschreiten  darf. 
Jeder  Schritt  darüber  hinaus  ist  für  ihn  ein  Schritt  vom  Wege.  Mag 
er  es  versuchen,  im  Vertrauen  etwa  auf  die  Kenntnis  des  vergangenen 
Lebens,  die  ihm  sein  Beruf  verschafft  hat,  niemand  wird  ihn  daran 
hindern:  aber  er  bleibt  dann  nicht  mehr  der  Historiker  und  unterliegt 
damit  nur  zu  leicht  der  Gefahr,  ein  Handelnder  zu  werden.  Denn 
schon  das  Prophezeien,  das  Aussprechen,  wie  sich  die  Zukunft 
gestalten  wird  oder  soll,  wird  dann  zum  Handeln;  mehr  als  einer 
aus  unserer  historischen  Zunft  ist  im  Weltkriege  dieser  Versuchung 
erlegen. 

Anders  der  Staatsmann.  Ihm  liegt  allerdings  die  Pflicht  ob,  auch 
die  Zukunft  in  den  Umkreis  seiner  Berechnungen  zu  ziehen.  Denn  das 
Werdende,  das  sich  ans  Licht  Drängende  soll  er  ja  eben  gestalten;  er 
soll  Fortuna  bezwingen,  dem  Schicksal  selber  die  Bahn  öffnen.  Auch 
er  ist  an  das  Gegebene  gebunden.  Nur  im  Rahmen  des  Wirklichen  darf 
er  seine  Kombinationen  machen,  die  ihm  die  Knoten  lösen,  die  Wider- 
stände beseitigen  werden,  von  denen  er  sich  von  überallher  umdrängt 
und  bedroht  sieht;  zwischen  tausend  Klippen,  sichtbaren  und  unsicht- 
baren, muß  er  tastend  den  Weg  suchen.  Aber  als  Inhaber  der  Macht, 
als  der  Mann  am  Steuer,  und  der  nicht  bloß  den  Blick,  die  Einsicht, 
sondern  auch  seine  Kraft  und  seinen  Willen  mit  in  die  Wage  der  Ent- 
scheidung legen  kann,  ist  er  unendlich  viel  besser  dazu  ausgerüstet  als 
der  Historiker,  der  ohne  die  Informationen,  die  jenem  zufließen,  ohne 
den  Überblick  über  die  kreuz  und  quer  durcheinander  schießenden, 
wirren  und  stets  noch  absichtlich  verwirrten  Fäden  des  diplo- 
matischen Gewebes  zu  besitzen,  und  nur  auf  dasjenige  angewiesen, 
was  davon  in  die  Öffentlichkeit  dringt  oder  dringen  soll,  ratlos  am 
Ufer  steht  und  den  Strom  des  Geschehens,  ohne  ihn  hemmen 
zu  können,  an  sich  vorüberrauschen  lassen  muß.  Was  ihm,  sobald 
die  Politik  zur  Geschichte  erstarrt  ist,  so  leicht  wird:  mit  den  Me- 
thoden, die  ihm  sein  Beruf  an  die  Hand  gibt,  die  miteinander 
ringenden  Kräfte  nach  Umfang  und  Stärke  zu  messen  und  zu 
berechnen,  in  der  Stille  der  Studierstube,  mit  der  Ruhe  des  beobach- 
tenden Naturforschers,  das  ist  ihm,  solange  die  Politik  noch  werdende 


217 

Geschichte!)  ist,  fast  unmöglich;  der  Boden  gleitet  ihm  unter  den 
Füßen  fort,  und  sein  Beruf  selbst  wird  ihn  mahnen,  seine  Hand 
von  Dingen  zu  lassen,  die  er  nicht  beherrscht.  Nur  von  der  höch- 
sten Warte  seiner  Wissenschaft  aus  mag  es  ihm  gegeben  sein,  in 
den  Kämpfen  der  Gegenwart  weiter  zu  sehen  als  die  blinde  oder 
verblendete  Masse,  klarer  am  Ende  als  die  Regierenden  selbst,  falls 
diese  unter  dem  Einfluß  der  Parteien,  dem  Druck  der  eigenen  Ver- 
antwortung, falscher  Einstellung  ihrer  Politik  und  angeborener  Ent- 
schlußlosigkeit  unsicher  im  Handeln  geworden  sind  und  den  Über- 
blick über  die  Lage  verloren  haben.  Denn  je  höher  er  sich  über 
den  Moment  erhebt,  je  mehr  er  sich  von  dem  Druck  der  Vergangen- 
heit, die  auf  dem  gegenwärtigen  Geschlecht  lastet,  befreit,  um  so 
klarer  müssen  ihm  die  in  die  Jahrhunderte  zurückreichenden  Zusammen- 
hänge der  großen  Politik  werden,  von  denen  die  gegenwärtigen  Kämpfe 
nur  ein  Teil  sind,  um  so  deutlicher  ihm  die  Probleme  entgegentreten, 
um  die  gefochten  wird ;  und  um  so  sicherer  wird  er  die  Kräfte,  die  sich 
darin  miteinander  messen,  gegeneinander  abschätzen  können.  Damit 
aber  betritt  er  den  Boden,  auf  dem  er  sich  neben  den  Staatsmann 
stellen  darf;  dies  eben  ist  der  Punkt,  an  dem  Politik  und  Historie  sich 
begegnen  und  ineinander  greifen.  Die  Erkenntnis  der  Kräfte,  mit  denen 
er  zu  rechnen  hat,  der  eigenen  wie  der  der  Gegner,  ist  für  den  Staats- 
mann die  Vorbedingung  des  Handelns;  nur  wenn  er  des  Einsatzes 
sicher  ist,  über  den  er  verfügt,  darf  er  das  Spiel  wagen.  Wer  aber  hätte 
sich  hierauf  je  besser  verstanden  als  Otto  von  Bismarck  ?  Und  wer  wäre 
sich  dessen  mehr  bewußt  gewesen  als  er!  Es  war  die  Forderung,  die 
er  selbst  (wie  oft!)  an  den  Lenker  der  auswärtigen  Politik  gestellt, 
das  Verdienst,  das  er,  der  seinen  Anteil  an  den  Ereignissen,  die  unter 
seiner  Hand  Europas  Geschicke  umgestalteten,  sonst  wahrlich  gering 
genug  abzuschätzen  pflegte,  für  sich  dennoch  in  Anspruch  genommen 
hat :  das  Augenmaß  für  das  Wirkliche  und  Wirkende  zu  besitzen.  Und 
doch  hätte  ihm  diese  Gabe  nichts  genützt,  wäre  sie  nicht  unterstützt, 
nein,  bedingt  gewesen  durch  Eigenschaften,  die  dem  Historiker,  wie 
universal  er  denken  und  wie  tief  sein  Blick  in  die  Zusammenhänge  des 
Geschehens  eindringen  mag,  nicht  zu  eignen  brauchen,  ja  die  er  wohl 
eher  abzulehnen  versucht  sein  möchte,  weil  sie  ihm  die  Ruhe  des 


^)  »Geschichte  ist  gleichsam  erstarrte  Politik,  Politik  werdende  Geschichte.« 
So  Felix  Rachfahl  in  seiner  Freiburger  Rektoratsrede  über  Bismarcks  englische 
Bündnispolitik,  1922. 


218 

Urteils  nehmen  könnten.  Das  ist  zunächst  der  Wille,  der  das  Er- 
kannte in  Handeln  umsetzt,  den  Gedanken  zur  Tat  wandelt.  Auch  der 
Wille  aber  wird  für  sich  nicht  weit  kommen,  wenn  der  Machtgedanke, 
in  dessen  Dienst  er  sich  stellt,  nicht  in  der  Persönlichkeit  seines  Trägers 
lebendig  geworden  ist,  als  eine  sein  ganzes  Sein  und  Wollen  durch- 
strömende Kraft,  als  ein  Glaube,  der  keinem  Zweifel  in  seiner  Seele 
Raum  läßt,  daß  er  das  Ziel,  das  er  sich  setzte,  erreichen  wird.  So  be- 
stätigt es  uns  wieder  ein  Bismarck-Wort,  das  wir  bereits  in  einem  Briefe 
aus  den  Anfängen  seiner  Frankfurter  Gesandtschaft  lesen:  »Wenn  auf 
irgendeinem  Gebiete,«  schreibt  er  sein  m  Minis  er  am  29.  September 
1851,  »so  ist  es  auf  dem  der  Politik,  daß  der  Glaube  handgreiflich  Berge 
versetzt,  daß  Mut  und  Sieg  nicht  im  Kausalzusammenhange  steh.-n, 
sondern  identisch  sind;  wenigstens  für  einen  König  von  Preußen, 
Gott  sei  Dank,  ist  es  noch  so.«  Das  ist  der  Kern:  Glaube  und  Sieg, 
durch  den  Willen  verbunden,  fallen  in  eins  zusammen.: 


Es  war  das  Bekenntnis  zur  preußischen  Monarchie,  als  der  Form, 
in  der  der  Machtgedanke,  den  Bismarck  in  seiner  Seele  nährte,  Leben 
gewonnen  hatte.  Aber  nicht  die  Form  war  es,  die  ihn  fesselte:  an  das 
Dogma  ist  dieser  Glaube  nicht  gebunden,  er  wird  nicht  erlernt, 
sondern  erlebt.  Es  war  das  Land  seiner  Väter,  für  das  Bismarck  kämpfte, 
der  Staat,  in  den  er  hinein  geboren  war,  mit  dem  ihn  die  ihm  teuersten 
Traditionen  verbanden,  für  den  er  in  der  Revolution,  die  sich  mit 
allen  Schlagworten  aus  der  nationalen  und  liberalen  Gedankensphäre 
schmückte,  gefochten  hatte,  und  dem  er  nun  die  Bahn  zur  nationalen 
Hegemonie  schuf,  die  doch  nur  die  Vollendung  seines  Werdeganges  war. 

Solange  Bismarck  dies  Ziel  unbeirrt  verfolgen  konnte,  hat  ihn 
die  Siegeszuversicht  niemals  verlassen;  und  jeder  Schritt  vorwärts 
bestätigte  ihm,  daß  er  auf  dem  rechten  Wege  sei.  Erst  als  er  im  Siege, 
und  durch  den  Sieg  selbst  gezwungen,  die  gesamte  Nation  mit  den 
in  Preußens  Krone  lebendigen  Energien  zu  durchdringen  versuchte, 
den  deutschen  Staat  auf  diesem  Grunde  aufzubauen  unternahm, 
hat  sein  Glaube  zu  wanken  begonnen. 

Zwar  die  alten  Gegner  hatte  er  nicht  mehr  zu  fürchten.  Sie  hatte 
sein  Sieg  auseinander  gesprengt.  Wer  von  ihnen  sich  nicht  beugen, 
die  Doktrinen  der  Partei  behaupten  wollte,  sah  sich  isoliert  und  zur 
Bedeutungslosigkeit   verurteilt;    die  andern  aber  (und  das  war  die 


219 

Mehrzahl)  unterwarfen  sich  freiwilUg  und  meldeten  sich  zur  Mitarbeit 
an  dem  Aufbau  des  neuen  Reiches.  Dies  waren  die  alten  Freunde 
Preußens,  die  »Erbkaiserlichen«  aus  dem  Frankfurter  Parlament, 
die  Vorkämpfer  von  jeher  für  ein  preußisch-deutsches  Kaisertum; 
sie  mochten  mit  einem  gewissen  Recht  von  sich  sagen,  daß  der  führende 
Staatsmann  doch  nur  ihre  Gedanken  aufgenommen,  ihre  Ziele  hinaus- 
geführt habe.  Bismarcks  eigener  Partei  erging  es  nicht  besser.  Auch 
in  ihr  gab  es  Elemente  (Bismarcks  älteste  Freunde  waren  darunter), 
die  von  einer  Wandlung  nichts  wissen  wollten;  sie  wurden  ebenso 
abgesprengt  wie  die  Extremen  der  linken  Seite,  und  das  Gros  der  Partei 
bildete  sich  nach  den  Forderungen  und  Notwendigkeiten  um,  welche 
Bismarcks  Politik,  seitdem  er  Österreich  niedergeworfen,  mit  sich 
brachte,  und  die  für  ihn  selbst  Zwang  und  Gebot  waren.  Nur  durch 
gegenseitiges  Nachgeben  und  Ausgleichen  der  in  dem  Leben  der  Nation  so 
verschiedenartig  gelagerten  Kräfte  konnte  das  neue  Reich  gebaut  werden. 
Schon  aber  tauchten  hinter  den  alten  neue  Gegner  auf,  dichter 
gedrängt,  strenger  diszipliniert  und  geleitet,  von  grundsätzlicher  Feind- 
seligkeit gegen  das  neue  Reich,  sein  Wesen  und  seine  Formen  erfüllt, 
und  von  einem  Massenwillen  beseelt,  wie  ihn  Bismarck  noch  niemals, 
auch  in  der  Revolution  nicht,  erlebt  hatte.  Denn  bisher  waren  die 
politischen  Kämpfe  des  Jahrhunderts  in  Deutschland  immer  nur  inner- 
halb eines  Bruchteils  der  Nation,  in  den  in  Staat  und  Gesellschaft 
vorwaltenden  Schichten  ausgefochten  worden.  Das  hatte  auch  für  die 
Revolution,  aus  der  sich  der  erste,  ephemere  Bau  eines  nationalen 
Staates  erhoben  hatte,  gegolten.  Die  Fabrikarbeiter,  überhaupt  die 
tieferen  Schichten  in  den  Städten  oder  gar  auf  dem  Lande  standen  zu- 
nächst noch  abseits  der  Bewegung;  sie  blieben  auch  zahlenmäßig 
hinter  den  Kleinbürgern,  welche  überall  die  Masse  der  Städtebewohner 
ausmachten,  zurück;  erst  als  im  Weiterschreiten  der  Revolution,  mit 
der  wachsenden  Verwirrung  und  wirtschaftlichen  Stockungen  sowie 
durch  die  Verfügungen  der  hberal  gewordenen  Regierungen,  sich  die 
alten  Ordnungen  lockerten,  wurden  auch  sie  unruhig  und  begannen 
hier  und  da  ihre  Wünsche  und  Forderungen  anzumelden.  Auf  den 
Berliner  Barrikaden  haben  neben  Studenten  besonders  Handwerker- 
gesellen oder  deren  Meister  selbst  gestanden,  von  den  Fabrikarbeitern 
nur  ein  Bruchteil;  diese  waren  mit  ihren  Sj'mpathien  eher  bei  den 
Soldaten  als  bei  den  Handwerkern,  mit  denen  sie  sich  von  jeher  schlecht 
standen;  und  wenn  die  Berliner  Bürger  sich  am  i8.  März  dem  revo- 


220 

lutionären  Taumel  in  Masse  ergaben,  so  waren  auch  sie  schon  nach 
wenigen  Tagen  aufs  stärkste  ernüchtert,  so  daß  alle  Welt  einmütig 
die  Rückkehr  der  Garnison  forderte  und  sie  bei  ihrem  Einzüge  jubelnd 
begrüßte.  Denn  auch  dem  »Bürgertum«  dürfen  wir  (wie  oft  man  auch 
davon  liest)  nicht  die  Bedeutung  zumessen,  als  sei  es  der  Träger  der 
Revolution  gewesen  und  der  eigentliche  Sieger  geworden;  als  sei  das 
eben  das  Ergebnis  der  Revolution  gewesen,  daß  der  »dritte  Stand«, 
wie  1789  in  Frankreich,  so  nun  auch  in  Deutschland  in  den  Staat 
und  seine  Leitung  voll  eingetreten  sei. 

Von  einem  dritten  Stand  darf  man  in  dem  damaligen  Deutschland 
gar  nicht  reden,  so  wenig  wie  von  einem  vierten ;  wie  auch  mit  der  Gegen- 
überstellung von  Bourgeoisie  und  Proletariat  oder  KapitaHsmus  und 
Arbeit  Wesen  und  Ziele  der  deutschen  Revolution  nicht  umschrieben 
werden,  mochten  auch  diese  Schlagworte  durch  die  Literaten  bereits  aus 
den  belgischen  und  französischen  Parteiprogrammen  und  Journalen  in  die 
deutsche  Presse  gebracht  sein,  aus  denen  der  deutsche  Liberalismus  ja 
auch  sonst  seine  pohtische  Weisheit  holte ;  Folgeerscheinung,  nicht  Ur- 
sache waren,  wo  sie  auftauchten,  die  sozialen  Gegensätze  und  Konflikte. 
Nicht  gegen  den  Feudalstaat,  den  es  in  Preußen  niemals  gegeben  hatte 
(gerade  im  Kampf  mit  dem  Ständetum  hatten  die  Hohenzollern  ihren 
Staat  ausgebaut),  sondern  gegen  den  Polizeistaat  mit  seiner  allen 
aufstrebenden  Naturen  nachgerade  unerträglich  gewordenen  Bevor- 
mundung des  privaten  und  öffentlichen  Lebens  richtete  sich  der  Stoßi). 
Es  waren  die  Fesseln,  die  der  Junker  von  Schönhausen  schon  vor 
Jahren  abgeschüttelt,  aus  denen  er  sich  in  die  Freiheit  des  Landlebens 
gerettet  hatte;  auch  ihm  hat  erst  die  Revolution  Luft  gemach  und 
den  Platz  freigegeben,  auf  dem  er  schaffen  und  wirken  konnte;  »krebs- 
fräßig«  hat  er  die  Bureaukratie  noch  1850,  in  dem  Jahr,  da  die  Reaktion 
schon  im  vollen  Siege  war,  genannt,  und  die  »Geheimräte«  sind  ihm, 
wie  man  weiß,  zeitlebens  eine  ärgerliche  Menschenklasse  gewesen. 
In  allen  Lagern  saßen  die  Feinde  des  alten  Systems:  unter  den  Freun- 
den Bismarcks  mit  ihren  ständischen  Velleitäten.  deren  Vorkämpfer 
der  König  selbst  war,  so  gut  wie  unter  den  Liberalen  aller  Schattie- 
rungen, und  ganz  besonders  auch  in  der  Beamtenschaft,  zumal  in  der 
Juristenwelt,  bis  zu  den  Spitzen  hinauf,  und  keineswegs  bloß  unter  den 

1)  Näheres  über  diese  Dinge,  die  mir  der  Beachtung  wert  zu  sein  scheinen, 
in  meiner  Geschichte  der  Universität  Berlin,  II.  2,  S.  186 — 257. 


•  221 

bürgerlich  Geborenen;  waren  doch  selbst  in  der  Armee,  in  der  der 
Waffenadel  noch  durchaus  dominierte,  verwandte  Stimmungen  nicht 
selten!  Will  man  schon  von  einer  bestimmten  Schicht  der  Bevölke- 
rung (der  » Gesellschaft  A,  wie  man  zu  sagen  liebt)  als  Trägerin  der 
Bewegung  sprechen,  so  mag  man  die  Akademiker  nennen,  überhaupt 
die  Allgemeingebildeten,  d.  h.  die  Kreise,  in  denen  die  Ideen  des  Jahr- 
hunderts und  die  Ideale  der  Nation  lebten.  Hier  hatte  auch  die  stärkste 
Kraft  in  der  deutschen  Revolution,  die  Idee  vom  Reich,  die  Sehnsucht 
und  der  Wille,  ein  einiges  und  starkes  Deutschland  zu  schaffen,  ihre 
Heimat;  auf  den  Höhen  des  geistigen  Lebens  war  sie  geboren,  die 
Tochter  der  Freiheit  und  des  Sieges ;  die  Führer  der  Nation,  ihre  Denker 
imd  Dichter,  und  die  Scharen  der  Helden,  die  für  sie  gestritten  hatten, 
waren  ihre  Propheten  gewesen.  Noch  war  sie  nicht  bis  auf  den  Grund 
der  Nation  gedrungen,  und  ihr  Licht  brach  sich,  je  weiter  es  sich 
herabsenkte,  um  so  mannigfacher  in  den  Regionen,  die  es  erreichte. 
Aber  wie  verschieden  man  es  in  Wien  und  in  Berlin,  nördlich  wie  süd- 
lich vom  Main,  bei  Großdeutschen  und  Kleindeutschen,  in  kathoUschen 
und  evangelischen  Kreisen  sah  und  auffaßte  —  irgendwie  bekannten 
sich  doch  aUe  Parteien,  soweit  sie  sich  Deutsche  nannten,  zu  dem 
gleichen  Ziel,  dem  Aufbau  eines  Reiches,  das  alle  Kräfte  der  Nation 
in  sich  schließen  sollte.  Es  war  die  stärkste  Idee  des  Jahrhunderts, 
die  belebende  und  regenerierende  Kraft  für  alle  unterdrückten  und 
gespaltenen,  noch  nicht  entwickelten  Nationalitäten,  hier  zersetzend, 
dort  befreiend,  wirksam  im  ganzen  Umkreis  der  europäischen  Welt. 
Wie  also  hätte  sich  unser  Volk  ihr  entziehen,  isolieren,  zurückbleiben 
können,  wenn  es  sich  nicht  selbst  aufgeben  woUte!  WoUend  oder 
nicht  woUend  wurde  es  in  den  Strudel  hineingerissen. 

Dennoch  scheiterte  die  Revolution.  Die  alten  Mächte,  obschon 
für  den  Moment  vöUig  gedemütigt  und  überrannt,  hielten  sich  in  dem 
Sturm,  wie  sehr  er  sie  schüttelte,  aufrecht.  Zumal  in  dem  kleineren 
Deutschland  hatte  die  Bewegung  die  territorialen  Gewalten  nicht 
umstürzen  können,  viel  zu  tief  waren  diese  in  dem  Boden  der  Nation 
verwurzelt.  Aber  auszurotten  war  sie  auch  hier  nicht  mehr,  und  es 
währte  nicht  lange,  so  standen  die  Sterne  für  sie  auch  in  Deutschland 
günstiger  als  je.  Der  Grund  lag  in  der  Abwandlung  der  allgemeinen 
Konstellation,  zu  der  eben  die  Revolution  den  Anstoß  gegeben  hatte: 
zunächst  in  der  unmittelbar  durch  sie  bewirkten  Erschütterung  des 
Dreibimdes  der  Ostmächte  und  seiner  Auflösung  durch  den  Krimkrieg, 


222 

sodann  in  dem  Emporkommen  des  zweiten  französischen  Kaiserreichs, 
dieses  Zwittergebildes  von  Reaktion  und  Revolution,  das  durch  den 
Druck,  den  es  auf  Deutschland  ausübte,  und  durch  die  Entfesselung 
des  italienischen  Freiheitskampfes  aufs  neue  alle  Fragen  der  deutschen 
PoHtik  in  Aufruhr  brachte.  Für  unsere  Nation  war  es  die  zwölfte 
Stunde.  Ging  sie  abermals  ungenützt  vorüber,  so  war  es  mit  jeder  Aus- 
sicht, daß  unser  Volk  inmitten  der  national  geschlossenen  Staaten 
Europas  jemals  zu  einer  auf  sich  selbst  ruhenden  Existenz  gelangen 
werde,  vorbei.  Jedermann  empfand  dies.  Zumal  in  den  mittleren  und 
kleineren  Staaten  kam  es  ebenso  den  Regierungen  wie  den  Regierten 
zu  Bewußtsein.  Isoliert  wie  sie  waren,  nicht  mehr  gedeckt  durch  den 
Bund  der  Ostmächte,  mußten  sie  alle  mit  einer  Bewegung  rechnen, 
die  ihre  Grundlagen  bedrohte;  auch  wenn  sie  ihr  gram  waren,  durften 
sie  ihr  Recht  nicht  verleugnen,  sondern  mußten  versuchen,  mit  dem 
nationalen  Winde  zu  segeln.  Auch  für  die  Wiener  Diplomaten  galt 
dies,  und  fast  in  noch  höherem  Grade  als  für  jene,  wie  sehr  auch  solche 
Politik  dem  Grundgesetz  in  der  Geschichte  des  habsburgischen  Hauses 
widersprach;  sie  senkten  den  Todeskeim  in  den  Boden  Österreichs, 
als  sie  nach  der  Niederlage  in  Italien  daheim  und  in  Deutschland 
mit  dem  liberalen  und  nationalen  Gedanken  zu  kokettieren  begannen, 
und  taten  damit  doch  nur,  was  unabwendbar  war.  Bismarcks  Politik 
allein  brauchte  die  nationale  Idee  nicht  zu  fürchten.  Ihm  war  es 
erlaubt,  die  Segel  nach  dem  eigenen  Willen  zu  stellen,  seitwärts  oder 
eine  Weile  sogar  in  entgegengesetzter  Fahrtrichtung  zu  steuern; 
weder  Sturm  noch  Untiefen  brauchte  er,  wenn  er  nur  das  Ruder  fest 
in  der  Hand  behielt,  zu  scheuen.  Denn  er  durfte  sich  sagen,  daß  er 
am  Ziel  wieder  mit  der  Richtung  des  nationalen  Willens  zusammen- 
treffen würde.  Er  bestritt  diesem  das  Recht,  die  Souveränität  der 
territorialen  Krone  anzutasten,  jeder  Versuch,  deren  Macht  von  innen 
her  aufzulösen,  stieß  bei  ihm  auf  unbedingten  Widerstand.  Aber 
innerhalb  dieser  Schranken  erkannte  er  die  Bewegung  an:  er  begriff 
ihre  historische  Notwendigkeit.  Darum  machte  er,  sobald  er  den  Sieg 
fest  in  der  Hand  hielt,  mit  ihr  seinen  Frieden,  nahm  sie  in  sein  System 
auf  und  verband  den  Willen  der  Nation  zur  Macht,  der  in  ihr  zum 
Ausdruck  kam,  mit  dem  Machtwillen  des  preußischen  Staates. 

Noch  glaubte  er  die  Gefahr  für  sein  Werk  mehr  bei  den  D5ma- 
stien  zu  sehen  als  bei  der  Nation,  und  in  dem  Reichstage  das  Organ 
zu  besitzen,  das  dem  nationalen  Willen  zum  stärksten  Ausdruck  ver- 


223 

helfen  und  die  partikularistischen  Tendenzen  der  Regierungen  nieder- 
halten würde.  Er  folgte  dabei  dem  allgemeinen  Empfinden,  und 
was  schien  berechtigter  zu  sein  im  Hinblick  auf  Bismarcks  eigene 
bundestäglichen  Erfahrungen  und  den  kaum  beendigten  Krieg,  dem 
jahrhundertelange  Kämpfe  vorangegangen  waren,  sowie  auch  unter 
dem  Andrang  der  nationalen  Woge,  die  als  ein  gewaltiges  Echo 
seines  Sieges  ihm  entgegenrauschte  und  widerstandslos  durch  die 
Länder  der  Besiegten  bis  hin  zu  den  Alpen  rollte!  Und  so,  um  den 
Hebel  so  stark  wie  möglich  zu  machen,  ließ  er  sich  dazu  herbei,  das 
Wahlrecht  der  Demokratie  von  1849,  ^^-S  üini  im  Kriege  gegen  Öster- 
reich und  seine  Verbündeten  als  Kampfmittel  gedient  hatte,  in  seiner 
extremsten  Form  zur  Grundlage  des  Reichstages  zu  machen. 

Das  war  die  große  Täuschung,  der  Punkt,  an  dem  auch  Bismarcks 
Prophetengabe,  die  Berechnung  der  in  dem  Leben  der  Nationen 
wirkenden,  ihre  Zukunft  bestimmenden  Kräfte,  versagte,  der  Irrtum, 
in  dem  alle  seine  ferneren  Kämpfe  bis  zu  seinem  Sturz  und  die  Kata- 
strophe seines  Reiches  selbst  ihren  Ursprung  gehabt  haben:  in  dem 
Moment,  da  er  sein  Werk  ins  Leben  einführte,  schürzte  er  für  sich 
und  sein  Volk  den  Knoten  des  Schicksals. 

Denn  nun  kam  es  an  den  Tag,  wie  dünn  in  Wahrheit  die  Schicht 
war,  in  der  der  nationale  Gedanke  Wurzel  gefaßt  hatte,  und  wie 
breit  die  Massen,  an  die  er  kaum  herangekommen  war.  Gerade  das 
Gegenteil  von  dem,  was  der  Schöpfer  des  neuen  Reiches  angenommen 
hatte,  trat  ein :  nicht  der  Reichstag,  sondern  der  Bundesrat,  nicht  die 
Wähler,  die  Nation  als  Masse  gedacht,  sondern  die  territorialen  Ge- 
walten, die  Gliedstaaten  des  alten  Reiches,  das  sie  selbst  auseinander- 
gesprengt hatten,  Fürsten  und  Städte,  so  viele  sich  durch  die  Stürme 
der  Jahrhunderte  hindurchgerettet  hatten,  wurden  die  Stützen  des 
neuen.  Niemals,  solange  Bismarcks  Verfassung  bestand,  ist  ein  tieferer 
Zwiespalt  zwischen  den  Bundesstaaten  und  der  Vormacht  im  Reich, 
mit  der  die  stärksten  unter  ihnen  noch  soeben  um  Sein  oder  Nichtsein 
gekämpft  hatten,  oder  der  Reichsgewalt  selbst  zutage  getreten; 
stets  hat  der  Bundesrat,  so  wie  Bismarck  es  schon  im  Herbst  1866 
gehofft  hatte,  als  er  auf  dem  Krankenlager  zu  Putbus  sich  die  Grund- 
linien seines  Verfassungsbaues  klar  machte,  sich  als  eine  »geschlossene 
Phalanx«  dem  Reichstage  entgegengestellt:  während  das  Reichswahl- 
recht statt  einer  Klammer  für  die  auseinanderstrebenden  Glieder 
des  Reiches  das  Element  seiner  Zersetzung  geworden  ist.    Alles,  was 


224 

sich  dem  Wesen  und  den  Formen  dieses  preußischen  Deutschlands 
widersetzte,  Gegensätze,  die  in  die  Tiefe  der  Jahrhunderte  zurück- 
reichten, und  solche,  die  eben  erst  geboren  waren,  heiligste  Über- 
lieferungen und  Überzeugungen  und  dumpfe  Masseninstinkte,  soziale 
Begehrlichkeit,  für  welche  Worte  wie  nationale  Ehre  und  Größe  nichts 
bedeuteten  und  Freiheit  nur  Befreiung  aus  der  Enge  und  Dürftigkeit 
des  materiellen  Daseins  war,  und  politischer  Radikalismus,  der  von 
der  Staatsidee  der  Revolution  nicht  lassen  wollte,  ja  sogar  die  fremden, 
von  dem  Boden  ihrer  Nationalität  abgesprengten  und  dem  Reich,  zum 
Teil  schon  vor  Generationen,  inkorporierten  Elemente  —  sie  alle  hatten 
in  dem  Wahlrecht  der  Revolution  ein  Organ  erhalten,  durch  das  sie 
unmittelbar  auf  das  Zentrum  des  Reiches  einwirken  konnten.  Es  war 
ein  Widerspruch  in  sich  selbst:  die  Institution,  die  in  dem  nationalen 
Gedanken  allein  ihre  Begründung,  ihre  Rechtfertigung  vor  Gott  und 
der  Geschichte  suchte  und  fand  (denn  sie  entsprach,  wie  bemerkt, 
dem  allgemeinen  Empfinden,  ich  möchte  sagen  dem  Genius  des  Jahr- 
hunderts), mußte  bei  uns  dazu  dienen,  den  nationalen  Staat,  kaum 
daß  er  geschaffen  war,  wieder  mit  der  Zerstörung  zu  bedrohen.  Und 
dazu  nun  (als  eine  spezifisch  deutsche  Erscheinung,  die  sich  aber  auch 
nur  wieder  allzusehr  aus  der  Geschichte  unseres  Volkes  erklärt)  das 
Bleigewicht  der  Gleichgültigen,  die  in  der  kleinstaatlichen  Enge  groß- 
gezogene Michelei  des  großen  Haufens,  aller  derer,  denen  nur  das 
eigene  Tagwerk  am  Herzen  lag,  die,  wenn  überhaupt,  fremden 
Meinungen  folgten,  weil  sie  keine  eigenen  hatten,  am  liebsten  aber  von 
der  Wahlurne  ganz  wegblieben.  Nur  wer  alles  dies  erwägt,  wird  sich 
eine  Vorstellung  machen  können  von  der  Last,  die  der  Schöpfer  des 
Reiches  tragen  mußte,  von  der  Mühseligkeit  des  Weges,  auf  den  ihn 
das  Schicksal  gestellt  hatte.  Wie  aber  hätte  er  ihm  ausweichen  können ! 
Denn  das  war  ja  der  Sinn  des  nationalen  Gedankens,  daß  er  sich  an 
jedermann  im  Volke  wandte,  in  allen  Herzen  die  gleiche  Glut  ent- 
zünden, sie  mit  dem  gleichen  Willen  zur  Macht,  zum  Aufbau  des 
nationalen  Staates  erfüllen  wollte.  Also  war  die  Aufgabe,  ihn  bis  auf 
den  Grund  der  Nation  hinabzutragen,  ihn  zum  Massenwillen  zu 
machen,  zu  einer  Kraft,  vor  der  alle  Gegensätze  und  Hemmungen, 
von  denen  wir  sprachen,  und  die  das  Wahlrecht  der  Revolution  erst 
recht  ans  Licht  getrieben  hatte,  zurücktreten,  und  dem  sie,  wenn 
sie  sich  nicht  ausgleichen  lassen  wollten,  unterworfen  werden, 
mußten. 


225 

Früh  genug,  früher  als  die  meisten  seiner  Mitarbeiter  und  wohl 
auch  die  Gegner  selbst,  bemerkte  Bismarck,  in  welches  Wirrsal  er 
sich  verstrickt  hatte.  Wenn  er  in  dem  konstituierenden  Reichstage 
des  Norddeutschen  Bundes  die  Parteien  zur  raschen  Arbeit  an  dem 
Verfassungswerk  mit  dem  hochgemuten  Wort  angefeuert  hatte: 
»Setzen  wir  Deutschland  sozusagen  in  den  Sattel!  Reiten  wird  es 
schon  können«,  so  begegnen  wir  in  den  späteren  Jahren  nicht  mehr 
Äußerungen  von  solcher  Zuversicht.  Schon  im  März  1877,  bei  den 
Debatten  im  Reichstage  über  die  Steuergesetze,  die  den  Kampf  um 
die  neue  Wirtschaftspolitik  vorbereiteten,  gestand  er  ein,  daß  die 
Reichsflut  rückläufig  sei,  daß  wir  einer  Ebbe  darin  entgegengingen. 
Noch  weiß  er  nicht,  ob  er  es  tadeln  solle  oder  ob  die  Neubelebung  des 
Partikularismus  ein  gesunder,  naturgemäßer  Entwicklungsgang  sei. 
Auch  die  Reichsflut  werde  wieder  steigen.  Man  müsse  nur  nicht 
annehmen,  daß  in  drei  oder  selbst  in  zehn  Jahren  alle  diese  Sachen 
fertiggemacht  werden  könnten.  Man  möge  unsem  Kindern  auch 
noch  eine  Aufgabe  lassen :  sie  könnten  sich  sonst  langweilen  in  der  Welt, 
wenn  gar  nichts  mehr  für  sie  zu  tun  sei.  Man  müsse  einer  natürlichen, 
nationalen,  organischen  Entwicklung  Zeit  lassen,  sich  auszubilden, 
und  nicht  ungeduldig  werden,  wenn  sie  Stagnationen,  ja,  selbst  rück- 
läufige Bewegung  habe,  dürfe  auch  denen,  die  diese  verursachen,  das 
nicht  so  übel  deuten;  denn  es  sei  schwer  für  sie,  das,  was  bisher  der 
Inhalt  und  höchste  Ehre  ihres  Lebens  gewesen,  mit  einemmal  der 
Allgemeinheit  zu  opfern.  Aber  der  höhere,  nationale  Schwung,  die 
Erziehung  werde  dahin  treiben;  »Ich  bin  überzeugt«,  so  rief  er  aus, 
»unsere  Kinder  werden  es  viel  natürlicher  finden,  als  unsere  Greise«. 
Aber  je  weiter  er  vordrang,  um  so  drückender  ward  die  Last  und  um  so 
düsterer  seine  Stimmung.  Bald  schon  finden  wir  in  seinen  Reden  Worte 
des  Zweifels,  der  Klage  und  der  Anklage,  und  selbst  bitterer  Resig- 
nation. Er  konnte  sich  mitunter,  wie  er  einmal  im  Reichstage  bekannte, 
in  schlaflosen  Nächten  des  Gedankens  nicht  erwehren,  daß  unsere 
Söhne  vielleicht  nochmals  wieder  um  den  ihm  wohlbekannten  runden 
Tisch  des  Frankfurter  Bundestages  sitzen  würden;  und  meinte  sogar, 
daß  es  keiner  sehr  großen  europäischen  Krisen  bedürfe,  um  dem  Bau. 
auf  dem  die  Parteien  Kämpfe  ausführten,  als  ob  sie  auf  Felsengrund, 
der  in  der  Natur  gewachsen  sei,  ständen.  Risse  und  Erschütterungen 
beizubringen.  Es  gab  für  ihn  Stunden,  wo  er  erUegen  zu  müssen 
glaubte.    Und  wer  hatte  länger  für  die  Einheit  imd  die  Macht  der 

Lenz,  Wille,  Macht  und  Schicksal.  15 


226 

Nation  gekämpft,  wer  sich  so  viele  Feindschaft  zugezogen  und  so  viel 
Haß  getragen  wie  er,  der  alle  Parteien  wechselnd  bekämpft  hatte  ■ — 
wer  besaß  ein  größeres  Anrecht  auf  Ruhe!  Er  selbst  sprach  es 
aus:  »Ich  bin  müde,  totmüde,  und  namentlich,  wenn  ich  erwäge,  gegen 
was  für  Hindemisse  ich  kämpfen  muß,  wenn  ich  für  das  Deutsche 
Reich,  für  die  deutsche  Nation,  für  ihre  Einheit  eintreten  will.  Ich 
will  das  nicht  charakterisieren,  ich  würde  den  Gleichmut  verlieren«. 
.Aber  solche  Momente  gingen  auch  wieder  vorüber,  und  von  seinem 
Wege  ließ  er  sich  trotz  allem  nicht  abdrängen,  er  wich  nicht  von 
seinem  Ziel.  Jene  Worte  stammen  aus  der  Zeit,  da  er,  wie  man  gemein- 
hin sagt,  auf  der  Höhe  seiner  Macht  stand,  aus  dem  Anfang  der  acht- 
ziger Jahre,  als  er  in  dem  Kampf,  den  er  für  das  größte  Werk  seiner 
inneren  Politik,  die  Sozialreform,  führte,  kaum  seine  getreuesten 
Anhänger  hinter  sich  herziehen  konnte  und,  wie  er  sagte,  der  Kaiser 
sein  einziger  Bundesgenosse  war.  Niemals  war  er  isoherter  gewesen  — 
und  niemals  weniger  gewillt,  zu  weichen;  gerade  weil  die  Partei- 
kämpfe nicht  versci; wunden,  der  parlamentarische  Sand,  durch  den 
man  hindurch  müsse,  noch  tiefer  sei  als  anderswo,  wolle  er  bleiben: 
»Ich  bin  deshalb  auf  recht  lange  parlamentarische  Kämpfe,  auf  länger, 
wie  mein  Leben  dauern  wird,  in  dieser  Frage  gefaßt,  aber  ich  werde 
nicht  um  ein  Haar  breit  darin  schwanken,  und  wenn  ich  müde  bin, 
werde  ich  ausruhen,  aber  in  keiner  Weise  umkehren;  und  ich  werde 
auf  der  Bresche  sterben,  so  Gott  will,  \delleicht  auf  dieser  Stelle 
dermaleinst,  wenn  ich  nicht  mehr  leben  kann.  Ein  braves  Pferd  stirbt 
in  den  Siehlen«. 

Jedoch  nicht  bloß  sein  Kaiser,  sondern  auch  dessen  Bundes- 
genossen standen  dem  Kanzler  des  Reiches  damals  zur  Seite.  Aufs 
neue  erfuhr  Bismarck,  wo  die  wirksamste  und  nachhaltigste  Kraft 
für  den  Aufbau  der  nationalen  Macht  lag:  daß  der  Föderalismus, 
die  Einigkeit  der  Bundesstaaten  dieselbe  weit  mehr  verbürgte,  als 
der  hin-  und  herwogende,  in  sich  selbst  zersetzte  und  zersplitterte 
Massenwille,  der  seine  Ziele  nur  durch  die  Unterdrückung  des  terri- 
torialen Sondertimis  erreichen  konnte  und  also  das  kaum  gewonnene 
Reich  im  Innern  wie  nach  außen  von  neuem  tausend  Gefahren  auszu- 
setzen drohte.  Als  große  Nation  frei  atmen  zu  können  in  der  Welt, 
mächtig  im  Rate  der  Völker,  in  freiwilligem  Zusammenschluß  aller 
Glieder  des  Volkes  allzeit  freudig  bereit  zu  sein,  für  Deutschlands 
Ehre  und  Größe  einzutreten  —  das  war  die  Idee  des  Reiches,  für  das 


227 

Bismarck  sich  eingesetzt  hatte,  das  Ziel,  dem  er  sein  Volk  entgegen- 
führen wollte.  Das  meinte  er,  wenn  er  den  Reichsboten  mahnend 
zurief,  daß  sie  den  nationalen  Gedanken  vor  Europa  leuchten  lassen 
möchten,  und  wenn  er  Klage  darüber  führte,  daß  derselbe  in  der 
Verfinsterung  begriffen  sei.  Es  war  das  gleiche  Ziel,  das  er  früher  im 
Rahmen  der  Monarchie,  mit  der  ihn  seine  Geburt  und  alle  Traditionen 
seines  Geschlechtes  verknüpften,  angestrebt  hatte,  dasselbe,  worin 
Preußens  Krone  von  jeher  ihre  Aufgabe  gesehen  hatte.  In  diese  Welt, 
die  Welt  der  Waffen  und  der  Politik,  die  ganze  Nation  mit  hineinzu- 
ziehen, sie  in  ihrer  Gesamtheit  mit  dem  gleichen  Machtwillen  zu 
erfüllen,  das  eben  war  nun  seine  Aufgabe  geworden.  Weil  er  auf  der 
Linie  der  preußischen  Politik,  die  er  zum  Siege  geführt,  im  Weiter- 
schreiten ihr  gar  nicht  hatte  ausweichen  können,  hatte  er  sie  ergriffen; 
gerade  der  Zwang,  unter  dem  er  dabei  stand,  hatte  die  deutsche 
Mission  Preußens  bewiesen,  in  der  Notwendigkeit  das  Schicksal, 
das  unabwendbare,  sich  offenbart.  Und  nun  mußte  er  erleben,  daß 
diese  Einigkeit,  die  Vorbedingung  der  nationalen  Unabhängigkeit, 
von  den  Fraktionen,  die  das  Wahlrecht  der  Revolution  ausgebrütet 
hatte,  mit  Zersetzung  bedroht  wurde.  Ihren  Führern  die  Massen 
zu  entreißen  und  diesen  das  zu  geben,  was  jene  versprachen,  aber 
nicht  erreichen  konnten  (nicht  bloß,  weil  ihnen  die  Macht,  sondern 
mehr  noch,  weil  ihnen  das  Augenmaß  für  das  Erreichbare  fehlte) : 
den  Anteil  am  Staat  und  den  Gütern,  die  er  ihnen  bot,  der  ihren  Be- 
dürfnissen, ihren  Wünschen  und  so  auch  dem  MachtwiUen  entsprach, 
der  sie  alle  deckte,  und  ohne  den  aUe  Theorien  leeres  Stroh  und  ziel- 
loses Begehren  waren  —  dahin  waren  alle  Bemühungen  des  Kanzlers 
gerichtet.  So  hoffte  er  die  Hingabe  an  das  Reich,  die  er  in  den  Dyna- 
stien geweckt  hatte,  auch  in  die  breiten  Massen  des  Volkes  zu  bringen 
und  jenen  Gesamtwillen,  das  Gemeingefühl  in  ihnen  zu  wecken,  ohne 
dessen  Besitz  noch  niemals  ein  Gemeinwesen  Bestand  gehabt 
hat. 

Und  in  der  jüngeren  Generation  lösten  diese  Gedanken  in  der 
Tat  bereits  lauten  Widerhall  aus.  Aber  zunächst  machten  doch 
noch  die  Alten  die  Politik,  und  unter  diesen  schlug  nur  wenigen 
so  wie  einem  Heinrich  von  Treitschke  das  Herz  für  die  Jugend, 
füllte  der  nationale  Gedanke  —  frei  von  jeder  Beschränkung  ■ — 
so  die  Seele  wie  diesem  größten  Propheten  der  Macht  und  Einheit 
unseres  Volkes. 

15* 


228 

Nun  läßt  sich  ja  allerdings  nicht  verkennen,  daß  die  Parteien, 
soweit  sie  dem  nationalen  Gedanken  überhaupt  zugänglich  waren, 
sich  dem  Bismarcki  sehen  Reichsgedanken  mit  den  Jahren  mehr  oder 
weniger  anbequemt  hatten.  Sie  hatten,  wenn  man  von  denen  um 
Eugen  Richter,  den  ganz  Unentwegten,  absah,  alle  von  dem  großen 
Realisten  gelernt  und  der  rauhen  Wirklichkeit  einen  guten  Teil  ihrer 
Theorien  geopfert.  Wie  sehr,  erkennt  man  etwa  aus  den  Programmen 
der  nationalliberalen  Partei  in  den  Anfangszeiten  des  Norddeutschen 
Bundes,  die  mit  ihren  Anklagen  gegen  die  Rückständigkeit  der  preußi- 
schen Bureaukratie  und  mehr  noch  mit  ihrer  Betonung  des  parla- 
mentarisch-unitarischen Gedankens  und  der  Forderung  einer  einheit- 
lichen Zentralgewalt,  vor  der  die  Landesgewalten,  Regierungen  und 
Parlamente,  in  erster  Linie  die  von  Preußen,  zurücktreten  müßten, 
Sätze  enthalten,  welche  erst  durch  die  Verfassung  von  Weimar  ver- 
wirklicht worden  sind.  Und  das  war  die  Partei,  welche  Jahre  lang 
den  Reichstag  beherrscht  hat,  und  auf  die  Bismarck  beim  Aufbau  seiner 
Schöpfung  sich  in  erster  Linie  stützen  mußte.  Sie  mußte  sich  (und 
ebenso  die  Konservativen)  erst  von  Grund  aus  wandeln,  ehe  der 
Kanzler  sie  in  seinem  Sinne  verwenden  konnte.  Das  ist  ihm  bei  beiden 
Parteien  gelungen.  Es  waren  vor  allem  die  Realitäten  des  bürger- 
lichen Lebens,  die  Wirtschaftsinteressen,  die  ihm  dazu  dienten;  sie 
verbanden  das  Gefolge  Bennigsens  und  Miquels  mit  dem  Schwer- 
gewicht der  Industrie  in  den  Bezirken  des  Westens;  während  das 
agrarische  Interesse  die  preußisch-partikularistische  Grundfarbe  und 
die  ständischen  Velleitäten,  das  Junkerhafte  in  der  konservativen 
Partei  mehr  und  mehr  verdrängte  und  über  das  ganze  Reich 
hin  Scharen  von  bürgerlichen  Gutsbesitzern  und  Bauern,  und  zurzeit 
auch  aus  den  mittleren  Schichten  der  Städte  in  ihre  Reihen  herbeizog. 
So  trat  auch  in  der  geschlossensten  aller  Parteien,  im  Zentrum,  mit  der 
Zeit  das  partikularistische  Element,  das  dem  klerikalen  anfangs 
nahezu  ebenbürtig  gewesen,  in  den  Hintergrund,  gerade  in  den  Jahren, 
da  die  kleine  weifische  Exzellenz,  Windhorst,  die  »schwarze  Perle  von 
Meppen«,  von  jeher  der  stärkste  Gegenspieler  Bismarcks  im  Reiche, 
nach  dem  Tode  Malhnckrodts  und  der  beiden  Reichensperger  die  Partei 
leitete.  Und  selbst  bei  den  Sozialdemokraten  waren  die  revolutio- 
nären Tiraden  der  ersten  Jahre,  die  in  den  Mordanfällen  auf  den  alten 
Kaiser  ihre  Auswirkung  gefunden  hatten,  gewählteren  oder  doch 
weniger  faßbaren  Formen  in  ihrer  Presse  wie  auf  der  Tribüne  des 


229 

Reichstages  gewichen.  Abgeschworen  aber  hatte  noch  keine  Partei 
ihre  alten  Programme,  und  bedingungslos  stellte  sich  keine  hinter  den 
Kanzler.  Rechter  Verlaß  war  nicht  einmal  auf  Bennigsens  und 
Miquels  Gefolgsgenossen,  und  in  der  Partei,  die  einst  die  eigene  des 
Ministers  gewesen  war,  griff  in  den  letzten  Jahren  des  alten  Kaisers, 
und  mehr  noch  gleich  nachdem  er  die  Augen  geschlossen,  ein  Geist 
um  sich,  der  alles  andere  war  als  Anhänglichkeit  und  Freundschaft  für 
den  Schöpfer  des  Reiches.  Während  der  Kanzler  (das  war  die  Summe), 
rastlos  auf  seiner  Bahn  vorwärtsschreitend,  immer  neue  Organe  der 
Kraft  und  Wohlfahrt  für  sein  Land  ersann  und  gestaltete,  den  Blick 
stets  auf  alle  Gegner  draußen  wie  daheim  gerichtet,  zum  Kampfe 
stets  bereit,  auch  wo  er  den  Frieden  wahren  wollte,  Zielen  zustrebend, 
deren  Umrisse  ihm  selbst  noch  in  unbestimmtem  Lichte  vorschwebten 
(denn  erst  der  Kampf  konnte  ihnen  festere  Formen  verleihen),  denen 
aber  die  Macht,  für  die  er  eintrat,  unhemmbar  entgegenstrebte,  und 
in  denen  (das  wußte  er)  die  Kraft  der  Nation  eine  neue  Stufe  er- 
reichen, ihr  Leben  auf  dem  Grunde,  den  er  gelegt,  besser  gesichert  sein, 
ihr  Genius  mächtiger  und  freier  sich  erheben  würde  —  sah  er  unter  sich, 
von  einsamer  Höhe,  die  Parteien  und  ihre  Führer,  die  »gewerbsmäßigen 
Volksvertreter«,  die  »Fraktionspartikularisten«:  weich  und  unbesinnlich 
die  einen,  unversöhnlich  und  zum  Meutern  geneigt  die  andern,  alle  an  ihr 
Dogma  oder  ihre  Interessen  gebunden  und  bei  jedem  Entschluß  voll 
ängstlicher  Rücksicht  auf  ihre  Wähler  und  ihre  Mandate,  untereinander 
verzankt,  aber  immer  bereit,  das  Werk  des  Einen  zu  kritisieren,  und  keiner 
unter  ihnen  gewillt,  ihm  bis  ans  Ende  zu  folgen.  Wohl  gelang  es  ihm  noch 
einmal,  die  Sozialdemokratie,  deren  Führer  sich  durch  die  Stricke  der  Ge- 
setze nicht  bändigen  ließen,  im  Reichstage  zurückzudrängen;  er  ver- 
dankte dies  dem  größten  rednerischen  Erfolge,  de  n  er  je  im  Reichstage  er- 
fochten hatte;  aber  es  bedurfte  dazu  des  stärksten  Mittels,  über  das 
er  verfügte:  nur  der  Ruf,  daß  das  Vaterland  in  Gefahr  sei,  vermochte 
das  Heer  der  Gleichgültigen  an  die  Wahlurne  zu  bringen  und  der  Partei 
der  Revolution  ein  paar  Mandate  zu  entreißen.  Und  dabei  waren  die 
Wähler,  welche  die  Geschlagenen  um  sich  versammelt,  in  den  Netzen 
ihrer  utopischen  Verheißungen  eingefangen  hatten,  doch  wieder 
zahlreicher  gewesen,  als  je  zuvor,  um  sich  bei  den  nächsten  Wahlen, 
den  letzten,  die  Bismarck  angeordnet  hatte,  zu  verdoppeln. 

So  war  die  Lage  des  Reiches,  als  den  Kanzler  die  Ungnade  des 
jungen  Herrn  traf,  den  ein  neidisches  Geschick  dem  Schöpfer  des 


230 

Reiches  allzufrüh  als  Träger  der  kaiserlichen  Würde  zur  Seite  gestellt 
hatte. 

So  wenig  wir  nun  Anlaß  haben,  dieses  Orts  auf  alle  Fragen  ein- 
zugehen, welche  sich  an  die  Katastrophe  knüpfen,  läßt  sich  doch 
e  i  n  Moment  nicht  wohl  aus  dem  Zusammenhang  unserer  Betrach- 
timgen  lösen  —  ich  meine  die  Verteilung  der  Schuld,  nicht  sowohl 
zwischen  Kaiser  und  Kanzler  selbst,  als  zwischen  jenem  und  den 
übrigen  Mitspielern  in  dem  Drama.  Man  pflegt  die  Mitschuld  der 
Parteien  und  der  Ratgeber  (sowohl  des  Kaisers  als  auch  des  Kanzlers) , 
wie  auch  die  der  Presse  und  der  öffentlichen  Meinung  (soweit  diese 
in  den  Zeitungen  zum  Ausdruck  kam)  nicht  so  lebhaft  zu  betonen, 
als  die  Schuld  des  Kaisers  selbst,  der  ja  freilich  die  Verantwortung  für 
sein  Tun  in  erster  Linie  zu  tragen  hatte.  Aber  die  Gerechtigkeit  fordert 
von  uns,  das  Maß  der  VerantwortHchkeit  auch  bei  allen  denjenigen 
festzustellen,  die  sonst  bei  dem  Trauerspiel  mitgewirkt  haben,  Bis- 
marck  hatte  von  Wilhelm  II.  dasselbe  gefordert,  zu  dem  er  sich  einst 
gegen  seinen  alten  Herrn  in  dem  AugenbHck  erboten  hatte,  als  dieser 
rat-  und  fassungslos  den  Parteien  im  preußischen  Landtag  gegenüber- 
gestanden hatte,  der  eigene  Sohn  ihm  fast  abtrünnig  geworden  war 
und  seine  Minister  so  wenig  wie  er  selbst  die  Lage  zu  meistern  gewußt 
hatten.  So  wollte  er  nun  auch  seinen  neuen  Herrn  (denn  ohne  den 
Träger  der  Krone  zur  Seite  zu  haben,  wäre  er  selbst  machtlos  gewesen) 
in  einen  Kampf  hineinführen,  dessen  Ziel  ihm  jetzt  klar  vor  der 
Seele  stand,  die  Wege  aber  und  die  Mittel  auch  ihm  noch  ungewiß 
waren  und  es  sein  mußten,  denn  erst  der  Kampf  selbst  konnte  sie 
ihm,  wie  früher  so  oft,  an  die  Hand  geben.  Wozu  sich  der  Groß- 
vater in  der  äußersten  Not,  aus  der  er  keinen  Ausweg  mehr  gewußt, 
entschlossen  hatte,  das  sollte  der  Enkel  in  einer  Lage  tun,  die  er  in 
jugendlichem  Selbstgefühl  durch  eine  PoHtik  der  Nachgiebigkeit  und 
der  Verständigung  meistern  zu  können  sich  zutraute,  und  zu  deren 
Durchführung  von  allen  Seiten  Hilfsbereite  sich  an  ihn  herandrängten, 
persönüche  Freunde  und  langjährige  Vertraute,  Ehrgeizige  und  selbst- 
sichere Theoretiker,  Unverantwortliche  und  Ratgeber  der  Krone  selbst, 
Bismarcks  eigene  Gehilfen!  Auch  hatte  der  alte  König  in  seinem 
KonfUkt  mit  dem  Landtage  den  Entschluß  zum  Kampf,  der  ihm 
freilich  schwer  genug  geworden  war,  nur  zu  fassen  brauchen,  um  als- 
bald Bismarcks  eigene  Partei  geschlossen   an  seiner  Seite  zu  sehen 


231 

und  Minister  zu  finden,  die  sich  der  neue  Chef  nach  seinem  Beheben 
hatte  wählen  können,  während  Bismarck  1890,  soweit  er  um  sich 
sah,  außer  seinem  Sohn  unter  seinen  Kollegen  niemand  besaß,  der  ihm 
dazu  hätte  helfen  wollen,  auch  nur  den  Kaiser  hinter  ihn  zu  bringen ; 
sie  alle  scheuten  den  neuen  Kampf,  den  er  gegen  seine  und  des  Reiches 
Feinde  beginnen  wollte,  kaum  weniger  als  ihr  junger  Herr  selbst. 
Gewiß,  sie  haben  ihren  Chef  nicht  verraten,  wie  es  Bismarck  mehr  als 
einem  unter  ihnen  in  der  Bitterkeit  seines  Unmutes  vorwarf,  aber  bei 
ihm  gebheben  sind  sie  in  den  Stunden  der  Krisis  auch  nicht.  Der  einzige 
Maybach  fand  in  dem  letzten  Ministerrat,  den  der  Fürst  abgehalten 
hat,  das  rechte  Wort ;  auch  Scholz  und  sogar  Lucius,  der  ihm  fast  der 
nächste  war,  konnten  sich  nicht  darauf  besinnen,  was  sie  zu  dem  Ent- 
schluß, den  er  ihnen  vortrug,  zu  sagen  hatten.  Nicht  anders  die  Führer 
der  befreundeten  Parteien.  Weder  Rauchhaupt  noch  Helldorf  fanden 
in  den  Tagen  der  Entscheidung  den  Weg  in  die  Wilhelmstraße,  der 
ihnen  sonst  so  wohl  bekannt  war;  und  wenn  Windhorst  dazu  bereit 
war,  so  geschah  es  schwerHch,  um  sich  dem  Schöpfer  des  Reiches  be- 
dingungslos zur  Verfügung  zu  stellen.  Miquel,  der  seit  Benningsens 
Austritt  aus  dem  Reichstage  die  nationalliberale  Partei  führte,  hatte 
ebenfalls  bereits  sein  Konto  in  Ordnung  gebracht  und  war  im  Begriff, 
zum  Kaiser  hinüberzuwechseln;  schon  Mitte  Februar,  noch  vor  den 
Wahlen,  die  seiner  Partei  so  verderblich  wurden,  hatte  er  dem  Freunde 
in  Hannover  melden  können,  daß  die  Minister  auf  der  Seite  des  Höch- 
sten seien,  »aber  zwischen  zwei  Feuern,  fast  verzweifelt  und  vöUig 
ratlos«.  »Der  Höchste«,  so  hatte  er  hinzugefügt,  »bewährt  sich  nach 
allen  Richtungen«.  Dem  entsprach  die  Haltung  des  preußischen  Land- 
tages. Als  dort  (in  Abwesenheit  des  Reichstages,  der  noch  nicht  zu- 
sammengetreten war)  der  Erlaß  des  Kaisers  vorgelesen  wurde,  worin 
Se.  Majestät  den  Kanzler  des  Reiches  in  Gnaden  entließ,  ward 
diese  Mitteilung  mit  eisigem  Schweigen  entgegengenommen;  nicht 
einer  in  der  hohen  Versammlung  fand  ein  Wort  des  Dankes  für  den 
Mann,  der  Preußen  zur  führenden  Macht  in  Deutschland  erhoben 
hatte.  Sogar  im  Bundesrat,  wie  in  allen  Reichsämtern,  begegnete 
Österreichs  Botschafter  (»zu  seinem  eigenen  Erstaunen«,  so  schrieb  er 
nach  Hause)  Äußerungen  der  Kritik  an  dem  Gestürzten  und  der  Genug- 
tuung über  seinen  Fall;  und  daß  die  Bundesgenossen  an  der  Donau  sich 
über  den  Sturz  des  Staatsmannes,  der  Österreichs  Schwerpunkt  nach 
Ofen  verlegt  hatte,  gegrämt  haben,  ist  wenig  wahrscheinlich.    Und  so 


232 

war  es  überall,  wo  hohe  Politik  gemacht  wurde,  in  den  Redaktionen  der 
Zeitungen  und  dort,  wo  es  fast  Gebot  war,  nach  den  aufgehenden 
Sternen  zu  blicken  und  von  den  gefallenen  abzurücken,  bei  Hofe, 
sowie  auch  im  Reiche  des  Herrn  von  Holstein,  in  Bismarcks  eigenen 
Bureaus.  Er  selbst  kannte  die  Menschen  zu  gut,  um  nicht  seinem 
Sohne  Herbert  im  voraus  zu  sagen,  daß  alle,  die  seine  Hand  über 
sich  gefühlt,  »Uff«  machen  würden,  wenn  ihr  Druck  von  ihnen  genommen 
wäre.  Dies  hätte  ihm  auch  der  kluge  Fürst  von  Hohenlohe  bestätigen 
können,  der  die  Welt  ebenfalls  kannte,  aber  ihr  mit  größerem  Gleich- 
mut gegenüberstand,  als  Bismarcks  heißes  Herz  es  vermochte.  Zu 
den  begeisterten  Verehrern  des  Kanzlers  gehörte  auch  er  nicht;  Be- 
geisterungsfähigkeit war  überhaupt  nicht  seine  stärkste  Eigenschaft. 
In  seiner  Art,  die  Dinge  zu  sehen,  lag  immer  noch  etwas  von  dem  Grand- 
seigneur  der  alten  Zeit,  dem  Reichsunmittelbaren,  dem  die  Entwick- 
lung des  neuen  Reichs  nicht  unmittelbar  ans  Herz  griff;  er  folgte 
ihr  mehr  fast  wie  einem  interessanten  Spiel,  gleichsam  vom  Parkett 
aus  und  mit  einem  leichten  Anflug  von  Ironie.  In  diesem  Ton  sind 
auch  die  Aufzeichnungen  seines  Tagebuchs  über  den  Eindruck  ge- 
halten, den  er  im  Berliner  Schloß  empfing,  als  er  am  24.  März 
das  Ordensfest  daselbst  besuchte.  Wohin  er  nur  blickte,  sah  er  in 
vergnügte  Gesichter:  überall  das  behagliche  Gefühl,  daß  man  jetzt 
offen  reden  konnte  und  der  große  Mann  nicht  mehr  zu  fürchten  war; 
zumal  Herr  von  Stosch,  sein  Tischnachbar,  der  ihm  (das  Lieblings- 
thema des  Generals)  viel  über  sein  Zerwürfnis  mit  Bismarck  erzählte, 
zeigte  sich  »froh  wie  ein  Schneekönig«.  Der  alte  Fürst  zog  aus  allem,  was 
er  sah  und  hörte,  bei  sich  den  Schluß  auf  die  Wahrheit  des  Schrift- 
wortes, daß  die  Sanftmütigen  das  Erdreich  besitzen  werden ;  wozu  wir 
allerdings  bemerken  möchten,  daß  General  von  Stosch  nicht  gerade 
zu  den  Sanftmütigen  gehörte.  Noch  im  Sommer,  als  ihn  sein  Weg 
wieder  nach  Berlin  führte,  traf  Hohenlohe  hier  auf  die  gleiche  Stimmung. 
Zwei  Dinge  fielen  ihm,  wie  er  in  seinem  Tagebuch  notierte,  in  den  drei 
Tagen,  die  er  damals  dort  zubrachte,  auf:  einmal,  daß  niemand  Zeit 
habe  und  alle  in  größerer  Hetze  seien  als  früher,  zweitens,  daß  die 
Individuen  geschwollen  seien.  »Während  früher«,  schreibt  er,  »unter 
dem  vorwiegenden  Einflüsse  des  Fürsten  Bismarck  die  Individuen 
eingeschrumpft  und  gedrückt  waren,  sind  sie  jetzt  aufgegangen  wie 
Schwämme,  die  ins  Wasser  gelegt  sind«.  Ganz  geheuer  war  ihm 
dabei    nicht,    und    die    gewohnte    Ironie    blieb   ihm   in    der    Feder 


233 

stecken.  »Das  hat  seine  Vorzüge«,  so  meinte  er  skeptisch,  »aber  auch 
seine  Gefahren.  Der  einheithche  Wille  fehlt«.  Er  sollte  noch  selbst 
erfahren,  wie  schwer  es  unter  der  neuen  Ära  war,  sich  auf  dem  Platz 
zu  behaupten,  den  ein  Bismarck  hatte  verlassen  müssen. 

Für  diesen  selbst  aber  konnten  nach  solchen  Erlebnissen  die 
Ovationen,  welche  ihm  beim  Abschied  von  der  Stätte  seines  Wirkens 
die  Tausende  seiner  Anhänger,  die  sich  doch  auch  zu  der  guten  Ge- 
sellschaft, wenn  auch  nicht  zu  den  offiziellen  Kreisen,  rechnen  durften, 
in  tiefster  Erschütterung  darbrachten,  zunächst  doch  nur  ein  schwacher 
Trost  sein;  erst  später  haben  es  ihm  die  Huldigungen,  die  Wallfahrten 
nach  Friedrichsruh  und  Kissingen,  die  nun  bald  einsetzten  und  Jahr 
um  Jahrsich  wiederholten,  dii  Jubelstürme,  die  ihn  auf  der  Wiener  Reise, 
und  so  oft  er  durch  des  Reiches  Hauptstadt  kam,  umbrausten,  zum 
Bewußtsein  gebracht,  wie  tief  sein  Bild  in  dem  Herzen  seines  Volkes, 
und  nicht  bloß  bei  den  Jungen,  sondern  auch  bei  den  Älteren,  deren 
Jugend  in  den  Sonnenaufgang  der  deutschen  Herrlichkeit  gefallen  war, 
wohnte.  Anderseits  aber  dürfen  wir  dem  allem  gegenüber  wohl  fragen, 
ob  der  Erbe  der  beiden  Kronen,  die  seit  dem  Tage  von  Versailles  über 
Deutschland  leuchteten,  die  Macht,  die  in  seine  Hand  gelegt  war, 
und  d;e  es  an  sich  leicht  war  gegen  ihren  Schöpfer  zu  wenden 
(denn  dafür  hatte  ihn  dieser  —  und  darin  lag  erst  die  volle  Tragik 
des  Moments  —  stark  genug  gemacht)  hierzu  gebraucht  haben  würde, 
wenn  ihm  die  Minister  und  alle  seine  Räte  und  Freunde,  und  ebenso 
die  Führer  der  Parteien  im  Lande  und  die  Presse,  welche  sie  be- 
herrschten, in  den  Arm  gefallen  und  einmütig  für  den  Gründer  des 
Reiches  eingetreten  wären  ^). 


Und  so  kam  alles,  wie  es  kommen  mußte. 

Zwar  zunächst  schien  sich  kaum  etwas  geändert  zu  haben  und  nur 
der  Mann  am  Steuer  zu  fehlen.  Der  Kurs  blieb  der  alte  oder  sollte 
es  doch  bleiben  —  »Volldampf  voran«,  wie  das  Telegramm  lautete,  das 
der  Kaiser  seinem  Oheim  in  Weimar,  dem  Ernestiner,  Bismarcks 
altem  Freund  und  Verehrer,  sandte,  unmittelbar  nachdem  der  Lotse 
das  Schiff  verlassen  hatte.    Und  wenn  man  anfangs,  in  der  äußeren 


^)  Für  alles  Nähere  verweise  ich  auf  meine  Geschichte  Bismarcks;  in 
dem  Rahmen  des  Essays  ließen  sich  nur  die  Grundgedanken  des  Buchcr- 
vortragen. 


234 

wie  in  der  inneren  Politik,  das  Ruder  etwas  nach  links  zu  stellen  wagte, 
so  dauerte  es  nicht  lange  und  man  fand  sich  bei  der  bald  be- 
wegteren See  wieder  in  dem  gewohnten  Fahrwasser,  versuchte  wenig- 
stens die  alte  Fahrtrichtung  einzuhalten.  Der  Meister  war  gegangen, 
aber  sein  Werk  war  geblieben.  Unerschüttert  stand  der  gewaltige 
Bau;  um  keine  Linie  war  er  aus  seinen  Fugen  gewichen;  alle  Maße, 
soweit  sie  Bismarcks  Eigentum  waren,  den  Stempel  seines  Genius 
trugen,  erwiesen  sich  als  richtig  berechnet.  Die  Bundesstaaten  hielten 
fest  am  Reich,  die  Fürsten  standen  zu  ihrem  Kaiser.  Wirtschaftlich 
wirkten  sich  nun  erst  alle  Kräfte,  denen  er  Bahn  gemacht,  die  er 
in  den  granitenen  Mauern  seines  Staatsbaues  eingefangen  hatte,,  in 
ungeahnten  Progressionen  aus.  Die  Adern  der  Nation  strotzten  von 
Kraft;  unablässig  stieg  unsere  Volkszahl,  von  40  Millionen  im  Jahre 
des  Frankfurter  Friedens  bis  auf  60  zu  Beginn  des  neuen  Jahr- 
hunderts; ein  paar  Jahrzehnte  noch  des  Friedens,  und  wir  hatten  sie 
verdoppelt.  Während  die  Auswanderung,  die  in  den  achtziger  Jahren 
bedenkliche  Dimensionen  angenommen  hatte,  bis  auf  wenige  Tausende 
sank,  hatten  wir  bald  nicht  mehr  Arme  genug,  um  die  ins  Riesenhafte 
wachsende  Produktion  zu  bewältigen;  zu  Hunderttausenden  mußten 
Slaven  und  Italiener  helfen,  uns  die  Felder  zu  bestellen,  die  Kanäle 
zu  graben,  Straßen  und  Bahndämme  zu  bauen,  und  jede  grobe  Arbeit 
verrichten,  die  unsere  eigenen  »gelernten«  Arbeiter  schon  zu  vermeiden 
suchten.  Wie  falsch  hatten  doch  die  Demagogen  und  alle  Schrift- 
gelehrten, auf  dem  Katheder  und  in  der  Presse,  geurteilt,  wenn 
sie  die  Verelendung  des  Proletariats  und  die  Aufsaugung  des  Mittel- 
standes durch  das  unwiderstehlich  wachsende  Kapital  vorausgesehen  und 
aus  solcher  Abwandlung  der  wirtschaftlichen  Formen  die  Revolution, 
die  Umgestaltung  des  Staates,  seiner  Organe  und  seiner  Ziele  geweis- 
sagt, gehofft  oder  auch  gefürchtet  hatten !  Gerade  die  mittleren  Schich- 
ten, die  Menge  der  kleinen  Besitzer  und  Gewerbetreibenden  wuchs  an, 
und  noch  niemals  hatte  der  deutsche  Arbeiter  bessere  Tage  gesehen, 
niemals  auch,  wer  immer  tüchtig  war,  freiere  Bahn  vor  sich  gehabt. 
Über  alle  Felder  des  nationalen  Lebens  rieselte  die  goldene  Flut. 
Schon  kam  der  Moment  in  Sicht,  wo  unser  Volk,  das  geistig  bereits 
allen  Nationen  der  Erde  vorangekommen  war,  auch  im  Wettlauf 
um  die  irdischen  Güter  die  Führung  übernehmen  mußte. 

Daß 'f vulkanische  Kräfte  in  der  Tiefe  wühlten,  konnte  freihch 
jedermann  merken.  Überall,  wo  Europäer  wohnten,  in  der  Neuen  Welt 


235 

wie  in  der  Alten,  vernahm  man  das  Grollen  unterirdischer  Gewalten, 
fühlte  man  das  Erzittern  des  Bodens.  Wie  Blitze,  welche  die  Abgründe 
erhellen,  wirkten  die  Mordtaten,  welche  in  diesen  Jahren  häufiger  als 
je  an  gekrönten  und  ungekrönten  Häuptern  der  Staaten,  gleichgültig, 
ob  Monarchien  oder  Republiken,  hirnlose  Fanatiker  verübten:  ein 
schreckenerregendes  Menetekel  auf  der  Nebelwand  der  Zukunft. 

Dennoch,  daß  die  Entladungen  so  rasch  und  furchtbar  eintreten 
würden,  wie  in  Rußland  1905  und  1917  und  ein  Jahr  später  in  Deutsch- 
land, daß  Machtgebilde,  an  denen  Jahrhunderte  gebaut  hatten,  die 
gewaltigsten  der  Erde,  in  wenigen  Tagen  zu  wüsten  Trümmern  zer- 
schlagen würden,  hätten  damals  auch  die  Revolutionäre  nicht  voraus- 
sehen oder  hoffen  können.  Jene  Mordtaten  waren  wie  Blitze,  welche 
die  Gipfel  trafen,  aber  die  Grundfesten  nicht  zu  erschüttern  vermoch- 
ten. Nicht  Revolution,  sondern  Krieg  lag  um  die  Jahrhundertwende 
in  der  Luft.  Denn  unaufhaltsam  ^vuchsen  die  Kräfte  der  großen  Na- 
tionen, und  mit  ihnen  der  Machttrieb  einer  jeden  und  ihre  Eifersucht 
aufeinander.  Jedoch  lag  in  der  allgemeinen  Machterweiterung 
selbst,  so  schien  es,  auch  wieder  ein  friedeförderndes  Moment.  Der 
Größe  des  Erwerbes  entsprach  die  Größe  des  Einsatzes,  den  das  Würfel- 
spiel des  Krieges  kosten  mußte.  Und  gerade  die  führenden  Nationen 
hatten  das  Meiste  zu  verlieren.  Indem  alle  Reichtümer  der  Erde  in 
Europa  zusammenflössen  und  im  Austausch  der  Güter  die  durch 
Intelligenz,  Kapital  und  Arbeit  rastlos  befruchtete  Produktion  unseres 
Erdteils  beide  Hemisphären  durchdrang,  mußten  sie  sich  ihrer  gemein- 
samen Interessen  bewußt  werden :  die  Weltpolitik  trieb  sie  auseinander 
—  die  Weltwirtschaft  führte  sie  wieder  zusammen.  So  wuchs 
parallel  mit  der  Gefahr  der  Wunsch  nach  Verständigung.  Es  war  die 
Zeit  der  Schiedsgerichte  und  der  Kongresse,  des  Professorenaustausches 
zwischen  der  Alten  und  der  Neuen  Welt,  der  Aussprachen  zwischen 
den  Herrschern  und  ihren  Ministem,  zwischen  den  Theologen  aller 
Bekenntnisse  und  Religionen  und  den  Vertretern  aller  Wissenschaften 
und  Weltanschauungen.  Internationale,  weltumspannende  Ord- 
nungen wurden  erdacht  und  ausgestaltet,  um  die  Schrecken  des 
Krieges  zu  mildem,  ihn  im  Sinne  der  Kultur,  im  Geist  der  sittlichen 
Gesetze  zu  führen.  Dem  Kriege  selbst  ward  der  Krieg  angesagt  und  im 
Haag  dem  Frieden  ein  Haus  gebaut,  ein  Thron  errichtet.  Eben  die 
Macht,  die  am  ruhelosesten  auf  der  Bahn  der  Erobemngen  f ort- 
schritt,   hatte  hierbei  die   Führung:    als   seine  persönliche   Mission 


236 

ließ  es  der  junge  Zar  verkündigen;  und  so  kamen  wirklich  an  Hollands 
Küste  die  Vertreter  der  großen  und  kleinen  Kulturnationen  zusammen, 
um  dem  neuen  Evangelium  zu  lauschen  —  so  wie  die  Fische  in  der 
Legende  der  Predigt  des  Heiligen  Antonius:  gerade  die  großen  Räuber 
wetteiferten  dabei  in  Hingebung  und  Sanftmut. 

Wir  Deutschen  setzten  dem  Kriege  gegenüber  unser  Vertrauen 
auf  den  Eisenpanzer  unseres  Heeres,  um  den  wir  Jahr  für  Jahr  neue 
Ringe  legten,  wie  auch  schon  auf  die  wachsende  Zahl  unserer  Schiffe, 
mit  denen  wir  unter  der  persönlichen  Führung  unseres  Kaisers  unsere 
Küsten  zu  umgürten  begonnen  hatten.  Dies  Erbe  Bismarcks  und 
seines  alten  Herrn  hielt  die  neue  Regierung  fest,  und  darin  stand  die 
Nation  und,  wenn  auch  widerstrebend  und  stets  auf  Abstriche  vom 
Budget  bedacht,  die  Majorität  der  Parteien  hinter  ihr.  Gegen  die 
Revolution  aber  hatte  sie  den  Kampf,  wenigstens  so  wie  Bismarck 
ihn  geführt  hatte,  aufgegeben,  und  hierbei  hatte  sie  die  Parteien  noch 
mehr  auf  ihrer  Seite  als  bei  ihren  Forderungen  für  Heer  und  Flotte. 
Man  war  bei  uns  in  bezug  auf  diese  Gefahren  fast  unbesorgter  gewor- 
den als  irgendwo  anders.  Das  Sozialistengesetz,  durch  das  Bismarck 
die  Geister  der  Tiefe  zu  bannen  versucht  hatte,  blieb  aufgehoben, 
nachdem  es  in  seinem  letzten  Reichstage  zum  Scheitern  gebracht  war. 
Daß  die  sozialistische  Partei  von  Stund  an  sich  verdoppelte,  nahm 
man  hin;  vioichsen  doch  auch  Reichtum,  Macht  und  Ordnung  in 
gleichem  Verhältnis.  Und  wirklich  konnte  es  fast  scheinen,  als  sei 
für  Deutschland  diese  Gefahr  überwunden.  Von  den  Mordanfällen 
der  siebziger  Jahre,  denen  jenes  Gesetz  gefolgt  war,  blieben  unsere 
Häupter,  im  Gegensatz  zu  andern  Ländern,  verschont.  Der 
nationale  Gedanke  breitete  sich  in  immer  weiteren  Kreisen  aus.  Er 
begann  sogar  auf  die  Arbeiter  und  ihre  Führung  einzuwirken;  denn 
er  vor  allem  schuf  jene  Unsicherheit  in  der  sozialistischen  Gedanken- 
welt, die  zu  der  ersten  Abspaltung  einer  gemäßigten  Richtung  führte 
und  in  den  Programmen  der  Partei  zum  Ausdruck  kam.  Der  alte 
Führer  der  Partei,  und  der  sich  fast  als  den  Schöpfer  der  deutschen 
Sozialdemokratie  bezeichnen  durfte,  August  Bebel  selbst,  begann 
seine  Ansichten  zu  revidieren.  Weit  zurück  lagen  die  Zeiten,  da  er 
im  Reichstag  die  Pariser  Kommune  verherrlicht  hatte  und  das 
leitende  Berhner  Organ  der  Partei  ein  Gedicht  auf  eine  nihilistische 
Revolutionsheldin  mit  dem  Refrain:  »Da  fiel  bereits  der  erste  Schuß!« 
hatte  bringen  dürfen;  und  das  Jahrhundert  ging  zu  Ende,  ohne  daß 


237 

der  große  »Kladderadatsch«  gekommen  war,  den  der  Hitzkopf  einst 
prophezeit  hatte.  Schon  glaubten  Optimisten  von  einer  Nationali- 
sierung der  revolutionären  Partei  sprechen,  auf  eine  Verbindung  ihrer 
Forderungen  mit  den  nationalen  Notwendigkeiten  hoffen  zu  können; 
und  LS  begann  von  hier  aus  eine  Kritik  gegenüber  Bismarcks  Kampf- 
methode einzusetzen  und  die  Auffassung  sich  geltend  zu  machen,  daß 
der  Altgewordene  im  Grunde  doch  zur  rechten  Zeit  vom  Steuer  des 
Staates  zurückgetreten  sei,  und  daß  durch  seine  Entlassung  Reich 
und  Nation  vor  schwerem  Unheil  bewahrt  worden  sei. 

Bei  alledem  —  gelöst  war  in  den  Fragen  der  inneren  Politik,  die 
der  Schöpfer  des  Reiches  hinterlassen  hatte,  über  die  er  gestürzt  war, 
nichts.  Die  Bruchstelle,  die  von  Anfang  an  in  seinem  Werke  sichtbar 
gewesen,  war  geblieben,  und  die  Parteien  standen  im  Grunde  sowohl 
gegen  einander,  wie  gegenüber  der  Regierung  dort,  wo  sie  gestanden 
hatten,  als  Bismarck  vom  Kampfplatz  verdrängt  worden  war.  Der 
alte  Kanzler  hatte  es  doch  noch  vermocht,  wenigstens  die  auf  dem 
Boden  des  Reiches  stehenden  Fraktionen  nach  seinem  Willen  zu 
zwingen,  sie  zusammen  oder  auch  gegeneinander  aufzubringen; 
unter  dem  Druck  seiner  Hand  hatten  sich  die  nationalliberale  und  die 
konservative  Partei,  wie  bemerkt,  aufs  stärkste  umgestaltet.  Unter 
seinen  Nachfolgern  absr  bheb  alles  ungefähr  so,  wie  er  es  1890  verlassen 
hatte;  das  neue  Kartell,  der  »Block <'  der  nationalen  Fraktionen,  den 
der  vierte  Kanzler  zusammenbrachte,  zerfiel  so  rasch,  wie  er  gebildet 
war,  eben  weil  an  ihrer  Substanz  nichts  geändert  war.  Vor  allem  die 
beiden  großen  Oppositionsparteien  wahrten  der  Regierung  gegenüber 
ihre  Stellung.  Es  gelang  wohl  einmal,  die  Sozialdemokraten  zurück- 
zudrängen, durch  dasselbe  Mittel,  das  Bismarck  Erfolg  gebracht 
hatte,  den  Appell  an  den  nationalen  Gedanken;  aber  die  Partei 
holte  sich  die  verlorenen  Sitze  schon  bei  den  nächsten  Wahlen 
wieder,  und  ihr  Wachstum  war  nicht  mehr  aufzuhalten;  sie  war 
und  bheb  die  Partei  der  großen  Masse,  und  ihre  häuslichen  Strei- 
tigkeiten hinderten  sie  nicht,  nach  außen  die  Front  geschlossen 
zu  halten.  Vollends  das  Zentrum  hielt  alle  seine  Positionen,  es 
blieb  die  »Breschbatterie«,  der  »Belagerungsturm«,  auf  welchen,  wie 
Bismarck  einst  gesagt  hatte,  auch  andere  Feinde  der  Regierung 
hinaufspringen  konnten,  um  den  Mauerbrecher  gegen  sie  einzusetzen, 
die  »unpohtische  Partei«,  die  sich  in  die  Bezirke  des  nationalen  Staates 
eingedrängt  hatte. 


238 

Dennoch  läßt  sich  nicht  absehen,  wie  eine  solche  Summe  von 
Energien,  wie  sie  in  Bismarcks  Reich  vereinigt  waren,  in  sich,  ohne 
einen  Stoß  von  außen,  hätte  verkümmern  und  der  Zersetzung  anheim- 
fallen können.  Nur  der  Krieg  konnte  dies  vollbringen.  Wann  aber 
hätte  je  eine  neue  Macht,  die  sich  in  den  Umkreis  der  bestehenden 
Mächte  gewaltsam  eingedrängt  hatte,  ihren  Platz  behaupten  können, 
ohne  noch  einmal  um  denselben  kämpfen  zu  müssen!  War  unsere 
Macht  wirklich  so  übergewaltig,  daß  sie  hoffen  konnte,  ohne  diese 
Probe  ihre  Stellung  zu  behaupten,  daß  die  Verdrängten  oder  die  Be- 
drohten es  nicht  wagen  würden,  den  Gegenstoß  zu  führen,  still  sitzen 
würden,  wenn  der  neue  Mitbewerber  um  den  Besitz  der  Erde  und  aller 
ihrer  Güter  weiter  und  weiter  wüchse  und  ohne  Krieg,  nur  durch  das 
Schwergewicht  seiner  Macht  sich  zwischen  sie  einzuschieben  und 
Stellungen  einzunehmen  versuchen  würde,  welche  die  anderen  längst 
als  ihre  eigene  Domäne  angesehen  und  aufs  Korn  genommen  hatten  ? 

Daß  die  Stunde  einmal  kommen  könnte,  wo  dieser  Machtprobe 
nicht  mehr  auszuweichen  wäre,  war  Bismarcks  Sorge  von  dem  Augen- 
bhck  an  gewesen,  als  er  seine  Ernte  in  die  Scheunen  gebracht  hatte. 
Seine  ganze  Politik  hatte  er  seit  dem  Frankfurter  Frieden  darauf  ein- 
gestellt, sie,  wenn  irgend  möglich,  zu  vermeiden;  aber  in  keinem 
Moment  hatte  er  den  Gedanken  gehegt,  daß  die  Gegner  gutwilKg,  aus 
Liebe  zur  Menschheit  und  dem  Frieden  der  Welt,  ja,  auch  nur  aus  dem 
Wunsche  heraus,  die  über  alle  Grenzen  hinweg  ineinander  verflochtene 
Welt  der  wirtschaftlichen  Interessen  ungestört  zu  lassen,  dem 
Würfelspiel  des  Krieges  aus  dem  Wege  gehen  würden.  Denn  er  wußte, 
daß  die  Staaten  eingeborenen  Trieben,  die  sich  aus  ihrer  Lage  und  ihrer 
Geschichte  ergaben,  unterworfen  waren,  Gestirne,  die  eine  eherne  Not- 
wendigkeit in  ihren  Bahnen  erhielt ;  und  daß  darum  nur  das  Schwert  das 
Schwert  in  der  Scheide  halten  und  die  Stunde  hinausschieben  konnte, 
wo  trotz  allem  die  ultima  ratio  regum  die  Entscheidung  treffen  würde. 

Die  Stunde  kam,  früher  vielleicht,  als  es  hätte  zu  geschehen 
brauchen,  aber,  wie  wir  wohl  sagen  dürfen,  doch  als  eine  unabwend- 
bare Forderung  des  Schicksals.  Und  nun  bot  unser  Volk  der  Welt 
ein  Schauspiel,  so  erschütternd  und  so  erhebend  zugleich,  wie  es  die 
Menschheit  in  allen  Jahrtausenden  noch  niemals  gesehen  hatte.  Es 
war  wie  ein  Wunder  vor  unseren  Augen.  Also  war  es  doch  wahr  ge- 
worden, was  Bismarck  in  jener  größten  seiner  Reden  geweissagt  hatte: 
daß  die  kampfesfreudige  Vaterlandsliebe,  welche  1813  die  gesamte  Be- 


239 

völkerung  des  damals  schwachen,  kleinen  und  ausgesogenen  Preußen 
unter  die  Fahnen  rief,  sich  als  das  Gemeingut  der  ganzen  deutschen 
Nation  erweisen,  und  daß  das  ganze  Deutschland  von  der  Memel  bis 
zum  Bodensee  wie  eine  Pulvermine  aufbrennen  und  von  Gewehren 
starren  werde,  wenn  es  noch  einmal  von  ruchlosen  Gegnern  angegriffen 
werden  würde!  Nun  erst  offenbarte  es  sich,  wie  tief  der  nationale 
Gedanke  allen  Widerständen  zum  Trotz  in  unser  Volk  gedrungen  war, 
und  daß  er  sich  wirklich  zum  Massenwillen  entwickelt  imd  zu  dem 
heiligen  Gelübde  sich  gesteigert  hatte,  alles  zu  vergessen,  was  die 
Nation  jemals  getrennt  hatte.  An  den  Führern  der  soziaHstischen 
Partei  lag  es  nicht,  mochte  auch  der  oder  jener  von  ümen  sich  der  Er- 
habenheit des  Momentes  bewußt  werden  und  freiwillig  das  heüige  Loos 
des  Kampfes  für  das  Vaterland  auf  sich  nehmen.  Aber  sie  hätten 
es  nur  wagen  sollen,  in  diesem  Moment  ihren  Genossen  mit  ihren 
internationalen  Utopien  zu  kommen:  sie  wären  von  dem  Sturm  der 
nationalen  Begeisterung,  der  das  Land  durchbrauste,  weggefegt 
worden.  Unsere  Krieger  machten  es,  wie  die  alten  Helden,  von  denen 
unsere  Sagen  melden:  sie  zählten  ihre  Feinde  nicht.  Niemals  wird  das 
Gedächtnis  dieser  Taten  erlöschen,  so  lange  noch  männliche  Herzen 
auf    Erden    schlagen    werden. 

Aufs  neue  zeigte  sich,  wie  gesund  alle  Organe  waren,  die  Bismarck 
aus  der  Tiefe  seines  Glaubens  und  seines  Willens  geschöpft  und  geschaffen 
hatte;  alle  diese  bewährten  indem  Sturm,  der  das  Reich  durchschüttelte, 
ihre  Kraft.  Fester  als  je  hielten  die  Bundesfürsten  mit  ihren  Staaten 
am  Reich;  sie  haben  bis  ans  Ende  ausgehalten;  erst  mit  dem  Kaiser- 
tum selbst  sind  sie  untergegangen. 

Aber  bei  alledem  —  die  Bruchstelle  im  Bau  war  gebheben.  Hier 
war  alles  noch  so,  wie  es  in  der  Stunde  gewesen  war,  da  der  Meister 
von  seiner  Arbeitsstätte  hatte  weichen  müssen;  nichts  war  gelöst. 
Was  für  unsere  Gegner  das  Selbstverständliche  war,  die  Verschmelzung 
aller  Regungen  und  Strömungen  des  Volksgeistes  in  einen  einzigen 
Willen,  für  den  auch  nur  der  Gedanke  einer  Absonderung  vor  dem 
Ende,  dem  Siege,  undenkbar  war,  blieb  uns  versagt.  Nichts  als  den 
»Burgfrieden«,  wie  der  allgemein  angenommene  Ausdruck  bezeich- 
nend genug  lautete,  die  Neutralisierung  der  Gegensätze,  welche  die 
Nation  zersetzt  hatten,  wurde  erreicht,  in  einem  Moment,  wo  es  sich 
um  Sein  oder  Nichtsein,  um  die  Schicksalsstunde  unseres  Volkes 
handelte. 


240 

Nur  der  Sieg  konnte  uns  helfen.  Eisen  und  Blut  hatten  unser 
Reich  geschaffen,  Eisen  und  Blut  mußten  darüber  entscheiden,  ob 
wir  als  große  Nation  frei  atmen  würden  in  der  Welt  oder  fortan  in 
Dienstbarkeit  und  Armut  unser  Dasein  führen  sollten. 

Die  Probe  ist  gemacht  worden:  wir  haben  sie  nicht  bestanden. 
Wäre  sie  geglückt,  so  hätten  die  Fundamente,  die  Bismarck  gelegt 
hatte,  sich  tief  und  tiefer  in  den  Boden  der  Nation  senken  müssen; 
sie  wären  auf  Generationen  hin  gesichert  worden;  als  die  mächtigste 
Nation  der  Erde,  als  die  unbesiegliche  hätten  wir  dagestanden.  Wer 
also  Bismarcks  Reich,  die  von  ihm  geschaffenen  Ordnungen,  in  welchem 
Sinne  auch  immer,  bekämpfte,  konnte  diesen  Sieg  nicht  wünschen. 
Wie  sich  sein  Werk,  wäre  es  durch  den  Sieg  gekrönt  worden,  weiter 
entwickelt  haben  würde,  wohin  die  nach  allen  Seiten  dann  freigewor- 
dene Bahn  unser  Volk  geführt  haben  würde  —  wer  will  das  sagen! 
Wir  wenigstens  lassen  von  einem  Unternehmen  ab,  das  nicht  unseres 
Amtes  ist.  Auch  danach  wollen  wir  dieses  Orts  nicht  fragen,  an  welcher 
Stelle  die  Organe  geschwächt,  wo  der  Bruch  zuerst  sichtbar  wurde, 
wer  der  erste  und  wer  die  Hauptschuldigen  gewesen,  und  wo  sie  zu 
suchen  sind,  wo  überall,  sei  es  auf  dem  Schlachtfelde  oder  im  diplo- 
matischen Spiel,  Klugheit,  Wille  und  Kraft  versagt  haben,  und  ob 
der  Verständigungswille  vielleicht  mehr  erreicht  haben  würde  als 
Fäuste  und  Schwerter.  Mögen  andere  berechtigt  sein  oder  sich  dazu 
berechtigt  glauben,  in  den  Wunden,  die  uns  geschlagen  wurden,  zu 
wühlen  —  unsere  Aufgabe  kann  es  nicht  sein,  daran  zu  rühren.  Und 
so  sei  nur  noch  mit  kürzesten  Worten  des  Momentes  gedacht,  da 
uns  in  den  Herbsttagen  von  1918  das  Schicksal  mit  feurigen  Armen 
umfaßte  und  uns  von  der  Höhe  des  Sieges  in  den  Abgrund  hinunter- 
riß. 

Noch  hatte  kein  Feind  den  deutschen  Boden  betreten,  noch 
herrschten  wir  im  Osten  über  den  Kaukasus  hinweg  bis  an  den  Euphrat, 
und  zwar  zurückgedrängt,  aber  unzerbrochen  hielt  unsere  Front  im 
Westen,  auch  auf  dem  Meere  waren  wir  noch  immer  unseren  Feinden 
furchtbar  —  als  der  Kaiser,  nach  dem  Verrat  und  Abfall  der  Bul- 
garen, unter  dem  von  innen  und  außen  her  wirkenden  Druck 
seinen  politischen  Beratern  weichend,  sich  entschloß,  in  dem  Lager 
des  Schwachmuts  und  der  Nachgiebigkeit,  das  auch  alle  inneren 
Gegner  des  Bismarckreiches  umfaßte,  seines  Landes  Rettung  zu  suchen: 
indem  er  durch  den  Erlaß  vom  30.  September  dem  Volke  Teilnahme 


241 

an  der  Regierung  versprach  und  damit  die  Parlamentarisierung  des 
Reiches  in  Aussicht  stellte,  zerbrach  er  mit  eigener  Hand  das  Szepter, 
das  Bismarck  ihm  und  seinem  Hause  geschmiedet  hatte.  Von  da  ab 
gab  es  kein  Halten  mehr.  Der  Wille  zur  Macht  erlosch,  der  Glaube  an 
das  Recht  der  Macht  selbst  starb  ab,  und  der  Wille  zur  Ohnmacht 
begann  die  Stunde  zu  regieren.  Schlagartig  ergriff  die  Lähmung  den 
Körper  der  Nation.  AUes  klaffte  mit  einem  Male  auseinander,  die 
Brunnen  des  Abgrundes  taten  sich  auf,  und  die  Flut  des  Verderbens 
wogte  über  uns  her.  Es  waren  die  Tage,  die  Wochen,  da  die  Parteien, 
die  auch  Bismarck  nicht  hatte  besiegen  können,  die  immerdar  die 
Feinde  einer  Hohenzollemschen  Kaiserkrone  gewesen  waren,  im  Reiche 
zur  Macht  empordrangen.  Mit  der  Verknechtung  Deutschlands  begann 
ihre  Herrschaft.    Sie  haben  sie  noch  heute  in  Händen. 

Weil  der  Wille  erlahmte,  ist  unsere  Macht  zerbrochen  worden  und 
hat  das  Schicksal  den  Spruch  über  uns  gefällt,  den  nur  der  Wille  hätte 
abwenden  können. 


l-enz,  Wille,  Macht  and  Schicksal.  l6 


Gleidigewicht  und  Großmacht. 

{1919.  1922.) 

In  dem  Spiel  mit  den  »fünf  Kugeln«,  zu  dem  Bismarck  durch 
das  Bündnis  mit  Österreich  im  Herbst  1879  gezwungen  war,  und 
das  sein  Nachfolger  gleich  nach  seinem  Sturz  aufhob,  weil,  wie  er 
selbst  nicht  mit  Unrecht  sagte,  er  unfähig  war,  es  fortzusetzen,  war 
(wenn  der  Ausdruck  erlaubt  ist)  ein  besonders  schwieriger  Trick 
die  Aufgabe,  die  österreichische  Kugel,  die  stets  abirren  wollte,  in 
ihrer  Bahn  zu  halten  und  sie  gegebenenfalls  wieder  rechtzeitig  auf- 
zufangen; Bismarck  hat  sich  damit  ein  volles  Jahrzehnt,  bis  zu  seiner 
Entlassung  plagen  müssen.  Wie  geschickt  er  dabei  verfuhr,  und  wie 
glänzend  überhaupt  er  sein  Spiel  allen  Gegenspielern,  zumal  aber  den 
Wiener  Diplomaten  gegenüber  durchführte,  sehen  wir  heute  aus  der 
Sammlung  seiner  Akten  durch  unsere  Regierung  mit  aller  DeutUch- 
keit  vor  uns.  Besonders  einen  Moment  gab  es  dabei,  der  die  vollste 
Aufmerksamkeit  dieses  Meisterspielers  erforderte:  als  Fürst  Alexander 
von  Bulgarien  im  Herbst  1885  durch  die  Okkupation  Ostrumeliens 
das  Werk  des  Berliner  Kongresses  umzustürzen  versuchte  und  dadurch 
Europa  vor  die  Gefahr  neuer  Katastrophen  zu  stellen  drohte.  Denn 
es  handelte  sich  ja  nicht  bloß  um  die  Kleinstaaten  des  Balkans,  sondern 
um  die  Interessen  der  großen  Mächte,  zunächst  und  vor  allem  Ruß- 
lands und  Österreichs,  die  auf  einer  Linie  zu  halten  die  Summe  der 
Bismarckischen  Politik  war.  Die  Lage  bot  fast  das  umgekehrte 
Bild  derjenigen  dar,  aus  der  sich  im  Juli  1914  der  Weltkrieg  entwickeln 
sollte.  Während  Rußland  seine  schwere  Hand  auf  Bulgarien  hielt, 
das  es  zugleich  zügeln  und  für  ein  Weiterschreiten  auf  seiner  durch 
den  Berhner  Kongreß  gestörten  Bahn  als  Sturmbock  bereithalten 
wollte,  hatte  Serbien,  dessen  Krone  damals  König  Milan,  von  der 
Dynastie  der  Obrenowitsch,  trug,  sich  Österreich  zur  Schutzmacht 
und  zum  Hort  seiner  Interessen  erwählt.  Es  war  nicht  zu  erwarten,, 
daß  der  ehrgeizige  Fürst,  der  mit  der  nationalen  Pohtik  zugleich  die 
Existenz  seines  Hauses  gegen  die  Prätensionen  der  Karageorgiewitsch 


243 

zu  wahren  hatte,  die  sich  immer,  mehr  fast  als  die  Obrenowitsch, 
für  die  großserbischen  Ansprüche  eingesetzt  hatten,  stül  sitzen  und 
die  Bereicherung  der  bulgarischen  Emporkömmlinge  zulassen  würde, 
ohne  für  sich  Kompensationen  zu  finden.  Ließen  die  Mächte  dies  aber 
zu,  so  war  mit  Sicherheit  als  unvermeidbar  vorauszusehen,  daß  dann 
auch  die  anderen  Balkanhöfe,  von  Bukarest  bis  Athen,  ihre  An- 
sprüche anmelden  würden ;  das  ganze,  in  Berlin  so  mühsam  aufgebaute 
Gleichgewicht  auf  dem  Balkan  drohte  dann  zerschlagen  zu  werden. 
Für  die  deutsche  Politik  war  ein  Mehr  oder  Weniger  für  die  Einen 
oder  die  Andern  nicht  so  wichtig,  als  die  beiden  befreundeten  Groß- 
mächte darüber  nicht  auseinander  zu  bringen.  Dies  Ziel  schien  aber 
bereits  einigermaßen  gesichert  zu  sein  durch  das  geheime  Bündnis, 
das  Bismarck  (einer  Anregung  des  Petersburger  Kabinetts  folgend), 
nach  längeren  B(  mühungen  am  i8.  Juni  1881  zwischen  den  drei  Kaiser- 
höfen zustande  gebracht  hatte,  und  in  dem,  in  einem  Zusatzprotokoll, 
die  Union  beider  Bulgarien  bereits  ins  Auge  gefaßt  war;  während  man 
die  Pforte  von  dem  analogen  Versuch  zurückzuhalten  beschloß,  wollte 
man  sich  einer  Angliederung  Ostrumeliens  an  Bulgarien,  falls  der  Zwang 
der  Umstände  dahin  führen  würde,  nicht  widersetzen  und  begrenzte 
dies  Wohlwollen  nur  für  den  Fall,  daß  die  Bulgaren  auch  die  be- 
nachbarten Provinzen,  insbesondere  Mazedonien,  angreifen, würden. 
Serbiens  war  in  diesem  sehr  merkwürdigen  Vertrage,  über  dessen 
Entstehung  erst  unsere  Akten  helleres  Licht  verbreiten  konnten, 
gar  nicht  gedacht  worden.  Im  Gegenteil,  indem  Österreich  die  Annexion 
Bosniens  und  der  Herzegowina  zu  einem  in  sein  Belieben  ge- 
stellten Zeitpunkt,  und  ebenso  die  Okkupation  Novi  Bazars  gemäß 
den  früheren  Abmachungen  aufs  neue  zugesichert  erhielt,  war  dadurch 
den  Ansprüchen  Serbiens  in  dieser  für  die  Doppelmonarchie  be- 
sonders gefährlichen  Richtung  ein  Riegel  vorgeschoben  worden.  Der 
Monat  war  aber  noch  nicht  zu  Ende  gegangen,  als  das  Wiener  Kabinett, 
in  dem  seit  Andrassys  Abgang  der  Baron  v.  Haymerle  die  auswär- 
tigen Angelegenheiten  verwaltete,  durch  einen  zweiten  Geheim- 
vertrag (den  es  aber  nicht  einmal  den  Berliner  Freunden  anvertraute, 
erst  nachträglich  heß  es  etwas  davon  dorthin  verlauten)  sich  König 
Milan  verpflichtet  hatte,  nicht  bloß  seine  Dynastie  zu  unterstützen, 
sondern  auch  »für  die  Zukunft  eventuell  einer  Vergrößerung  Serbiens 
nach  Südosten  nicht  entgegenzutreten,  wenn  die  Verhältnisse  es 
mit  sich  bringen  sollten«;  dafür  hatte  sich  Serbien  auf  10  Jahre  an 

16* 


244 

die  österreichische  Pohtik  gebunden.  Der  Gedanke,  von  dem  sich  diese 
leiten  ließ,  liegt  auf  der  Hand.  Sie  wollte  zunächst  für  sich  selbst 
sorgen,  dann  aber  doch  auch  den  Nachbar,  dessen  Freundschaft 
keineswegs  über  jedem  Zweifel  erhaben  war,  bei  sich  behalten;  indem 
sie  ihm  daher  den  Weg  nach  der  Seite  offen  ließ,  wo  er  —  nicht  mit 
Österreich,  aber  mit  den  Bulgaren  und  Türken,  denn  von  diesen  waren 
die  Landschaften  bewohnt,  auf  die  sie  ihn  hinwies,  zusammenstoßen 
mußte,  glaubte  sie  die  großserbischen  Aspirationen,  die  ja  auch  über 
die  Donau  hinweg  zu  streben  drohten,  eindämmen  zu  können. 

In  dieser  Haltung  trat  also  der  Nachfolger  des  Barons  v.  Haymerle, 
Graf  Kälnoky,  der  seinen  Botschafterposten  in  Petersburg  mit  dem 
Ministerium  in  Wien  vertauscht  hatte,  den  verbündeten  Höfen  ent- 
gegen, als  der  in  dem  neuen  Dreikaiserbündnis  vorgesehene  Fall 
eintraf.  Er  versicherte  nach  beiden  Seiten,  daß  er  den  gemeinsamen 
Boden  niemals  verlassen  und  vor  allem  nach  wie  vor  keinen  Schritt 
tun  werde,  ohne  sich  des  Einverständnisses  des  Petersburger  Kabinetts 
zu  versichern;  bewies  auch  volles  Verständnis  für  die  Befürchtung 
des  Reichskanzlers,  die  der  deutsche  Botschafter  Prinz  Reuß  ihm 
hatte  vortragen  müssen,  daß  aus  einem  bewaffneten  Konflikt  zwischen 
Serbien  und  Bulgarien  leicht  die  beiden  hinter  diesen  stehenden 
Großmächte  Österreich  und  Rußland  berührt  und  gezwungen  werden 
würden,  Partei  für  ihre  Schützlinge  zu  nehmen;  wies  aber  anderseits 
doch  auf  die  prekäre  Lage  hin,  in  die  Österreich  selbst  geraten  würde, 
wenn  der  König  durch  die  Chauvinisten,  die  seit  der  bulgarischen 
Revolution  bereits  die  Parole  »Alt-Serbien«  ausgegeben  hätten,  fort- 
gerissen oder,  falls  er  der  nationalen  Bewegung  widerstehe,  über 
den  Haufen  geworfen  werden  würde,  und  konnte  schließlich  nicht 
verhehlen,  daß  Serbien  immerhin  ein  Recht  darauf  habe,  auch  seiner- 
seits eine  Kompensation  zu  suchen,  welche  das  durch  die  bulgarische 
»Infraktion«  in  den  Berliner  Vertrag  gestörte  Gleichgewicht  wieder 
einigermaßen  herstellen  würde.  Dies  setze  natürlich  eine  Intervention 
der  Mächte  voraus:  käme  diese  zustande,  so  würde  Österreich-Ungarn 
für  das  befreundete  Serbien  eintreten  müssen;  verließe  das  letztere 
diesen  Boden,  so  würde  es  auch  von  der  Doppelmonarchie  seinem 
Schicksal  überlassen  werden. 

Bismarck  ließ  sich  durch  solche  Provokationen  nicht  anfechten; 
das  Leitseil  ließ  er  sich  nicht  aus  der  Hand  nehmen.  Mit  vollem 
Nachdruck  eriimerte  er  dagegen  an  die  Bestimmungen  des  Bündnisses 


245 

und  an  die  Grenzen  seiner  eigenen  Freundschaft.  Man  solle,  so  mußte 
der  Botschafter  dem  Minister  sagen,  unsere  gewiß  unwandelbare 
Vertragstreue  nicht  auf  zu  harte  Proben  setzen  und  nicht  vergessen, 
daß  uns  ein  Krieg  mit  Rußland  sofort  einen  französischen  Krieg  auf 
den  Hals  ziehen  würde.  In  einer  neuen  Weisung,  die  von  Friedrichs- 
ruh  nach  einem  Besuch  des  österreichischen  Botschafters  am  Berliner 
Hof,  Graf  Szechenyi,  an  den  Prinzen  Reuß  abging  (3.  Oktober), 
stellte  er  dem  Versprechen  Österreichs  an  Serbien  die  schon  früher 
in  dem  Bündnis  der  Kaisermächte  eingegangene  Verpflichtung  gegen- 
über; er  wollte  nicht  zugeben,  daß,  wie  Kälnoky  gemeint  hatte, 
Österreich  mit  seinem  Eintreten  für  Milan  das  kleinere  Übel  wähle, 
wenn  seine  Pohtik,  um  den  König  zu  halten,  es  auf  einen  Krieg  mit 
Rußland  ankommen  ließe,  und  warnte  prophetisch  die  Freunde  an 
der  Donau  davor,  die  Überhebimg  der  Kleinstaaten  im  Balkan, 
welche  durch  den  Berliner  Kongreß  erst  geschaffen  seien,  zu  er- 
mutigen :  sie  habe  keine  sicheren  Grenzen,  und  mit  der  gleichen  Auf- 
regung könne  der  serbische  Ehrgeiz  sich  unter  veränderten  Umständen 
gegen  Österreich  wenden  und  von  einer  Serbia  irredenta  im  Banat 
sprechen,  wenn  man  diesen  Ehrgeizigen  nicht  gegenwärtig  halte,  daß 
mit  dem  Berliner  Vertrage  auch  die  Rechte  fallen,  die  sie  aus  dem- 
selben erworben  haben.  Von  einem  Rechte  Serbiens,  Kompensationen 
zu  erhalten,  weil  Bulgarien  und  OstrumeHen  vereinigt  würden,  wollte 
der  deutsche  Kanzler  überhaupt  nichts  hören,  in  welchem  Sinne  immer 
man  das  Wort  »Recht«  nehmen  möge;  die  angebhche  Rechtfertigimg, 
Erhaltung  des  Gleichgewichts,  halte  eine  Prüfung  nicht  aus.  Und  nun 
erhebt  er  sich  über  eben  diesen  Begriff  zu  einer  Betrachtung,  die  über  den 
gegenwärtigen  Fall  weit  hinausreicht  und  allgemeine  Bedeutung  bean- 
spruchen darf.  »Es  wäre«,  so  fährt  er  fort,  »eine  interessante  und  nütz- 
liche Studie,  zu  verfolgen,  welche  Vorstellungen  und  welche  Zwecke 
seit  Ludwig  XIV.  mit  diesem  Ausdruck  gedeckt  worden  sind.  Ver- 
steht man  denselben  in  dem  gewöhnlichen  Sinne,  daß  kein  Staat 
mächtig  genug  werden  dürfe,  um  die  Unabhängigkeit  der  übrigen  zu 
bedrohen,  so  springt  in  die  Augen,  daß  man  ihn  auf  das  Verhältnis 
der  Balkanstaaten  untereinander  unmöglich  anwenden  kann.  Grie- 
chenland, Serbien,  Bulgarien  haben  jetzt  jeder  etwa  2  Millionen  Ein- 
wohner, Montenegro  nur  I4,  Rumänien  aber  zwischen  5  und  6;  dieses 
Verhältnis  würde  durch  den  Zuwachs  von  800000  Rumelioten  zu  Bul- 
gcirien  keine  wesenthche Änderung  erleiden.  Die  Redensart  von  Gleich- 


246 

gewicht  ist  im  Munde  der  Serben  einfach  eine  Beschönigung  ihrer  Be- 
gehrhchkeit.  Ich  würde  ihnen  gönnen,  eine  Gebietsvergrößerung  zu 
erhalten,  wenn  das  im  friedUchen  Wege  möglich,  aber  einen  Rechts- 
anspruch darauf  zu  behaupten,  ist  eine  Überhebung  kindlicher  Natur, 
wie  wir  sie  von  den  jungen  südlichen  Völkern  gewöhnt  sind.« 

Damit  rührt  Bismarck  an  ein  Problem,  welches  (ohne  daß  es 
ihm  recht  bewußt  war)  nicht  bloß  die  Geschichtschreiber,  sondern 
auch  die  Politiker  Generationen  hindurch  auf  das  lebhafteste  be- 
schäftigt hat,  wenn  man  auch  von  jenen  nicht  gerade  sagen  kann, 
daß  sie  es  an  der  Wurzel  angepackt,  d.  h.  in  die  rechte  Verbindung 
mit  den  Abwandlungen  der  allgemeinen  Politik  gebracht  haben, 
wodurch  allein  sein  Verständnis  ermöglicht  wird.  Die  Theorie  von 
dem  Gleichgewicht  der  Mächte  als  einem  Prinzip,  einem  Recht,  einer 
sittlichen  Forderung  oder  gar  als  dem  Ziel,  dem  d;e  Entwicklung 
der  geschichtlichen  Welt  zustrebt  oder  jedenfalls  zustreben  müßte, 
ist  sogar  noch  älter  als  Bismarck  annahm ;  man  wird  sie  mindestens 
noch  um  ein  Jahrhundert  weiter  hinaufführen  können.  Ihre  Be- 
kenner  gehörten  ebensowohl  der  Praxis  an  wie  der  Theorie.  Es  waren 
zum  Teil  Männer  des  Katheders  und  der  Kanzel,  fem  von  unmittel- 
barem Anteil  an  der  Politik,  obschon  auch  sie,  vielleicht  unbewußt, 
abhängig  waren  von  dem  Gang  der  politischen  Entwicklung,  den 
Konstellationen  in  der  Welt  der  Staaten  und  der  Kirche,  unter  denen 
sie  lebten,  wie  eng  im  übrigen  der  Kreis  sein  mochte,  für  den  sie 
schrieben.  Und  selbst  dann  noch  waren  sie  oft  genug  Organe  der 
Politik,  der  sie  ihre  Ziele  dienstbar  machten,  für  die  sie  die  öffentliche 
Meinung  »aufzuklären«,  zu  bearbeiten  hatten.  Darüber  hinaus  aber 
erscheint  die  Theorie  vor  allem  in  den  Programmen  der  Regierungen 
selbst  und  in  ungezählten  Flugschriften,  welche  sie  auslegten,  immer 
so,"  wie  es  der  hohen  Regierung,  die  hinter  ihnen  stand,  gefällig  und 
dienlich  war.  Ja,  die  führenden  Politiker  griffen  wohl  selbst  in  den 
Federkampf  ein,  auch  sie  stets  in  der  Absicht,  die  gegnerische  Be- 
gründung der  Theorie  zu  entkräften,  zuweilen  sogar  in  der  Form,  daß 
sie  dieselbe  anzweifelten  und  geradezu  ihre  Wertlosigkeit  behaupteten. 
Zu  diesen  haben  wir  also  jetzt  auch  Otto  von  Bismarck  zu  stellen. 

Damit  soll  ja  nun  nicht  gesagt  sein,  daß  Bismarck  sich  dem  Satz 
von  dem  Gleichgewicht  der  Mächte  als  einer  Erscheinungsform  des 
geschichtlichen  Lebens  widersetzt  habe.  Hat  er  doch  selbst  daran 
nicht  allein  geglaubt,  sondern  auch  danach  gehandelt,  und  zwar  in 


247 

der  inneren  Politik  kaum  weniger  als  in  der  äußeren!  Das  konsti- 
tutionelle System,  so  wie  er  es  als  preußischer  Minister  stets  aufgefaßt 
hat,  beruhte  gerade  darauf,  und  nicht  minder  auch  die  Verfassung,  die 
er  dem  Reiche  gab,  wenn  sie  sich  auch  nicht  allein  damit  umschreiben 
läßt.  Die  unitarische  Lösung,  die  Verschiebung  des  Schwergewichts 
auf  das  Parlament,  d.  h.  auf  die  Majorität  der  Wähler,  und  die  Ver- 
gewaltigung der  Minderheit,  hatte  er  von  jeher  bekämpft ;  denn  nicht  der 
gezwungene,  sondern  der  freiwillige  Zusammenschluß  der  Glieder  des 
Reiches  bot  ihm  die  Gewähr  für  Bestand  und  Wachstum  der  von  ihm 
geschaffenen  Macht,  nur  sie  konnte  das  Gemeingefühl  in  der  Nation 
erzeugen,  ohne  das  jede  Staatsordnung  nur  zu  bald  zu  einem  Scherben- 
haufen werden  muß.  Ein  Gleichgewichtssystem  war  auch  das  Ver- 
hältnis der  europäischen  Mächte  nach  den  Freiheitskriegen  zueinander 
gewesen,  unter  dem  Bismarck  seine  Jugend  verlebt  und  seine  poü- 
tischen  Anschauungen  ausgebildet  hatte.  Die  Revolution  von  1848 
hatte  dann  das  längst  erschütterte  zerstört,  und  eben  dadurch 
waren  die  Krisen  entstanden,  welche  die  durch  Bismarck  geleitete 
Politik  benutzte,  um  Preußen  zur  Hegemonie  in  Deutschland  zu 
führen  und  damit  der  gesamten  Nation  eine  in  sich  selbst  ruhende 
Stellung  unter  den  Mächten  der  Erde  zu  sichern,  ohne  die  sie  erneuter 
Zersplitterung  anheimfallen  mußte,  und  also  ein  neues  Gleichgewicht 
unter  den  Mächten  Europas  zu  schaffen.  Diese  Lage  zu  behaupten 
und  in  sich  immer  stärker  zu  gestalten,  das  war  seit  dem  Frankfurter 
Frieden  das  Ziel,  das  der  Schöpfer  des  Reiches  sich  gesetzt  hatte;  aus 
dem  Zerstörer  war  der  Erhalter  geworden,  der  konservative  Charakter 
seiner  Politik  konnte  nun  wieder  klar  heraustreten.  Denn  das  Ge- 
wordene, die  gewachsene  Macht  und  die  in  ihr  lebendig  gebhebenen 
Energien  zu  erhalten  und  fortzubilden,  war  es,  was  Bismarck  stets  in 
erster  Linie  gewollt  und  erstrebt  hat.  Die  Macht  erkannte  er  immer 
an,  mochte  er  ihr  freundlich  oder  feindlich  gegenüberstehen,  einen 
Ausgleich  suchen  oder  den  Kampf  ansagen.  Niemals  ging  er  darum 
einem  Kompromiß  aus  dem  Wege,  vorausgesetzt,  daß  er  das  Vertrauen 
fand,  das  er  darbot;  aber  auch  niemals,  wenn  es  sein  mußte,  dem 
Kampfe.  Denn  er  wußte,  daß  Macht  Macht  bleiben  will,  und  daß 
darum  das  Gleichgewicht  zwischen  Macht  und  Macht  immer  nur 
die  Diagonale  der  im  Innern  wirkenden  und  von  außen  stoßenden 
Kräfte,  ein  in  sich  schwankendes  Ergebnis  ihrir  Kämpfe  und  ein 
vorübergehender  Moment    der  historischen  Entwicklung  sein  kann. 


248 

Vor  allem  für  die  internationale  Politik  wird  dieser  Satz  stets 
seine  Geltung  behalten:  als  das  »flüssige  Element«,  wie  Bismarck  sie 
in  seinen  »Gedanken  und  Erinnerungen«  genannt  hat,  »das  unter 
Umständen  zeitweilig  fest  wird,  aber  bei  Veränderungen  der  Atmo- 
sphäre in  seinen  ursprünglichen  Aggregatzustand  zurückfällt«.  Es 
ist  wahr,  dies  zeitweilige  Festwerden  von  Machtelementen,  die  sonst 
gegeneinander  stießen,  kann  lange  genug,  wohl  durch  Jahrhunderte 
hin,  währen.  Aber  gerade  dann  pflegt  das  Entscheidende,  das  Fest- 
haltende nicht  das  Gleichgewicht  aller  oder  auch  nur  der  vorwaltenden 
Mächte  zu  sein,  sondern  das  Übergewicht  einer  einzigen  Macht,  der 
sich  die  übrigen  beugten.  So  war  es  in  den  Jahrhunderten,  als  das 
Imperiimi  Romanum  alles,  was  einst  an  Staaten  und  Nationen  um 
das  Mittelmeer  her  geblüht  hatte,  in  sich  vereinigte,  als  die  Fax 
Romana  Orient  und  Occident  des  alten  Orbis  terrarum  gefesselt 
hielt.  Zur  Stillegung,  zu  völliger  Willensfesselung  der  Teile  kam  es 
jedoch  auch  in  Roms  Machtkreis,  wie  groß  er  war  und  wie  lange  er 
dauern  mochte,  niemals;  so  wenig  wie  er  selbst  als  Ganzes  zum  Still- 
stand gelangte.  Es  war  vielmehr  im  Innern  wie  an  den  Grenzen  ein 
fortwährendes  Hin-  und  Herrücken,  Vordringen  oder  Zurückweichen. 
Ein  volles  Jahrhundert  und  darüber  schob  das  Kaiserreich  seine 
Bastionen  auf  drei  Kontinenten  vor,  den  Wegen  folgend,  welche 
Marius  und  Sulla,  Pompejus  und  Cäsar  gebahnt  hatten.  Dann  tritt 
für  ein  paar  Jahrzehnte  ein  Zustand  des  Beharrens,  des  Gleichgewichts 
zwischen  der  im  Imperium  gesammelten  Macht  und  der  jenseits  ihrer 
Grenzen  flutenden  Völkerwelt  ein :  es  ist  die  Epoche  Hadrians  und  der  w 

Antonine,  die  Jahre,  in  denen  die  um  das  Mittelmeer  gelagerten 
Kulturen  hinter  den  Grenzwällen  und  Standlagem  der  Legionen  Schutz 
fanden.  Aber  schon  unter  Marc  Aurel  zerbricht  der  Damm  an  der 
gefährdetsten  Stelle  und  beginnt  die  Rückflut,  unter  deren  immer 
wiederholtem  Anprall  die  Deiche  zerschmelzen,  bis  die  von  allen 
Seiten  anstürmende  die  Provinzen  des  Reiches  von  den  Katarakten 
des  Nüs  bis  zu  den  schottischen  Bergen  überdeckt.  Nur  wenn  die 
Römer  es  vermocht  hätten,  alle  Völker,  die  sie  ihrer  Macht  unter- 
warfen, mit  ihrer  Wesensart  zu  durchdringen,  zu  ihresgleichen  zu 
machen,  so  wie  sie  es  mit  den  Stämmen  Italiens,  Hispaniens  und 
Galliens  fertig  brachten,  hätten  sie  hoffen  können,  ihre  Herrschaft  in 
den  von  Trajan  erreichten  Grenzen  zu  behaupten  und  sie  noch  darüber 
hinaus  zu  tragen.   Dazu  aber  waren  sie  niemals  imstande.    Der  semi- 


249 

tischen  Großmacht  des  Westens  gegenüber  hatten  sie  sich  noch  voll 
behauptet;  mit  ihr  gab  es  kein  Vertragen,  Krieg  bis  zur  Vernichtung 
des  Gegners  blieb  bis  zuletzt  die  Losung.  Sobald  sie  aber  über  die 
Adria  hinweg  tiefer  in  die  hellenische  Welt  eindrangen,  nahmen  sie  eine 
Fülle  fremder  Kulturelemente  in  sich  auf:  Die  Götter  des  Olymps 
zogen  nach  dem  Kapitol  hinüber;  Kunst  und  Literatur,  die  ganze 
geistige  Welt  Roms  erhielt  griechisches  Gepräge.  Auch  in  dieser 
Verschmelzung  vermochte  Roms  Genius  noch  sich  durchzusetzen; 
ja  sie  gab  ihm  erst  die  Kraft  und  das  Recht,  den  ganzen  Westen  seiner 
Kultur  zu  unterwerfen  und  zugleich  im  Osten  das  Erbe  Athens  und 
Alexanders  anzutreten  und  zu  verwahren:  Nachwirkungen,  die  weit 
über  die  Jahrhunderte  hinaus  reichten,  in  denen  Roms  Prokonsuln 
und  Cäsaren  die  östlichen  Provinzen  des  Reiches  verwalteten ;  bis  auf 
unsere  Tage  hat  die  europäische  Menschheit  üinen  dafür  zu  danken.  Aber 
je  tiefer  das  Reich  seine  Wurzeln  in  den  Boden  des  Ostens  hineintrieb, 
um  so  mehr  wurde  es  umdrängt  von  dort  einheimischen,  noch  vollleben- 
digen Machtelementen,  die  unter  dem  Andrang  der  griechisch-römischen 
Kultur  wohl  manches  von  üirer  ursprüngUchen  Art  aufgeben  mußten, 
aber  durch  die  Synthese  mit  ihr  nur  um  so  kräftiger  emporstrebten 
und  sie  zu  ersticken  oder  zu  sich  hinüberzuziehen  drohten.  Es  waren 
die  Geister  der  unterworfenen  Völker,  die  sich  gegen  die  Eroberer  er- 
hoben. Auszutilgen  waren  sie  nicht  mehr;  gewollt  oder  nicht  gewollt, 
behaupteten  sie  sich  nicht  nur  in  ihrer  Heimat,  sondern  drangen  im 
Reiche  vor,  forderten  Luft  und  Licht,  wohin  immer  die  von  ihren 
Herren  geöffneten  Bahnen  des  Verkehrs  und  der  Wirtschaft  sie  führten ; 
des  Reiches  Grenzen  selbst  wurden  einem  Teü  von  ihnen  bald  zu  eng. 
Anfangs  noch  alle  geduldet,  viele  sogar  von  den  Herrschenden  herbei- 
gezogen und  verhätschelt,  andere  wieder  verachtet  und  mit  steigendem 
Haß  verfolgt,  untereinander  die  einen  sich  suchend,  die  andern  mn 
so  strenger  sich  meidend,  schufen  sie  in  allen  Provinzen  des  Reiches 
Kolonien,  Zellkerne  gleichsam  eines  neuen  und  besonderen  Lebens, 
die  in  veränderten  Formen,  jedoch  auf  dem  alten,  oft  streng  be- 
wahrten Grunde  nach  Wachstum  und  Ausbreitung  strebten.  Bis  dann 
die  eine  von  diesen  Gemeinschaften,  diesen  Kirchen,  und  zwar  gerade 
diejenige,  die  dem  Staate  der  Cäsaren,  obschon  sie  sich  seinen  Formen 
am  meisten  genähert,  dennoch,  weil  in  ihrem  Kemgedanken  ihm  ent- 
gegengesetzt, die  verhaßteste  gewesen  war,  seiner  mächtig  wurde  und 
ihn  zwang,  Ziele,  Gewalt  und  Wesen  mit  ihr  zu  teilen.  Dies  erst  führte 


250 

des  römischen  Reiches  Schicksalsstunde  herbei:  von  innen  her 
unterwühlt  und  ausgehöhlt,  brach  es  unter  den  nun  immer  stärkeren 
Stößen  der  Barbaren  auseinander,  und  neue  Völker-  und  Staaten- 
systeme gewannen  zwischen  seinen  Trümmern  und  über  sie  hinweg, 
von  der  Kirche,  die  nun  erst  ganz  ins  Freie  hinaustrat,  selbst  geleitet, 
Raum  und  Leben. 

Ein  Beispiel,  das  für  unser  Thema  von  zwiefachem  Interesse  ist. 
Denn  es  lehrt  einmal,  daß  die  Geschichte  die  Anhäufung  der  poli- 
tischen Macht  in  Weltreichen  auf  die  Dauer  nicht  duldet:  daß  die 
Elemente,  welche  in  ihnen  zeitweilig  fest  wurden,  ihrer  Natur  nach 
in  ihren  ursprünglichen  Aggregatzustand  zurückzukehren  streben; 
daß  sie  dabei  zu  verjüngten  Formen,  neuen  Lebenszentren  gelangen, 
in  denen  Altes  und  Neues  sich  zu  erneutem  Wachstum  vereinigt. 
Sodann  aber  sehen  wir,  daß  die  neuentstandenen  Gebilde,  wie  klein 
sie  anfangs  sein  mögen,  auf  ihrem  Wege  sich  wiederum  nicht  hemmen 
lassen,  es  sei  denn,  daß  ihr  Lebenswille  in  sich  selbst  abstirbt,  oder 
daß  er  von  außen,  durch  einen  stärkeren  Machtwillen,  abgetötet 
und  absorbiert  wird.  So  daß  also  jede  Machtform  (»geprägte  Form, 
die  lebend  sich  entwickelt«)  ihrer  Idee  nach  von  dem  Moment  ab,  wo 
sie  ins  Leben  tritt,  die  universale  Herrschaft  anstrebt:  es  liegt  nicht 
in  ihrer  Natur,  sich  selbst  zu  beschränken,  die  Grenzen  müssen  ihr 
gesetzt  werden. 

Insofern  ist  es  noch  zu  eng  gefaßt,  wenn  Leopold  Ranke  dies 
Wort,  das  ja  das  seine  ist  und  das  wir  hier  nur  wiederholen,  lediglich 
auf  die  »vorwaltenden«  Mächte  anwendet.  Indessen  füllt  es  voll- 
kommen seinen  Platz  aus,  wenn  wir  es  in  den  Rahmen  einfügen,  in 
den  der  Meister  es  gestellt  hat.  Denn  er  denkt  dabei  an  geschlossene 
politische  Horizonte  und  die  von  ihnen  zusammengehaltenen  Staaten- 
systeme. Da  aber  sind  es  in  der  Tat  in  erster  Linie  die  vorwaltenden 
Mächte,  die  »ihrer  Natur  nach«  soweit  vorzudringen  suchen,  als  es 
die  Rivalen  irgend  zulassen.  Denn  nur  die  großen  Sterne  bestimmen 
die  Bahnen,  in  denen  die  Konstellation  verläuft  und  die  Entwicklung 
vorwärtsschreitet.  Neben  ihnen  kommen  die  kleinen  nur  als  Tra- 
banten in  Betracht;  im  Gefolge  der  großen  allein  können  sie  hoffen, 
ihr  Selbst  zu  behaupten  oder  mit  jenen  voranzukommen.  Der  Wille 
zum  Wachstum  ist  oder  war  einmal  bei  ihnen  kaum  in  geringerem  Grade 
entwickelt;  er  brennt  in  ihnen  vielleicht  noch  heißer,  als  in  ihren 
Herren;  aber  sie  müssen  sich  in  deren  Willen  ergeben.    Den  einen 


1 


251 

von  ihnen  sind  bereits  die  Grenzen  gesetzt;  sie  mögen  froh  sein,  wenn 
sie  sich  kämpfend  behaupten.  Andere  wohnen  in  einer  Region  der 
Windstille,  heute  vielleicht  gerade  dort,  wo,  wie  in  der  Schweiz,  einst 
das  Zentrum  der  Stürme  war:  seit  einem  Jahrhundert,  dem  Jahr- 
hundert der  Nationalitätskämpfe,  konnten  dieselben  rundherum 
brausen,  die  Eidgenossenschaft  blieb,  obschon  zusammengesetzt  aus 
Teilen  der  drei  großen  Nationen,  die  wie  keine  anderen  revolutioniert 
und  umgestaltet  wurden,  dennoch,  wie  auf  einer  felsbewehrten  Insel, 
sicher  in  üiren  Grenzen.  Oft  auch  trieben  die  Kleinen  im  Aufruhr 
der  Elemente  willenlos,  ein  Spiel  der  Wellen,  dahin;  aber  der  Strudel, 
der  sie  bereits  verschlungen,  riß  sie  wieder  empor  und  drückte  ihnen 
ungeahnte  Schätze  in  die  Hand.  Und  manch  einer,  der,  während 
über  Europens  Geschicke  die  blutigen  Lose  geschüttelt  wurden,  tatlos 
und  kraftlos  zurückblieb,  drängte  sich,  wenn  er  die  Sieger  um  das 
erlegte  Wild  versammelt  sah,  gierig  hinzu,  um  am  Leichenschmause 
teilzunehmen,  unbekümmert  um  die  Schande,  mit  der  er  dadurch 
sich  und  seines  Landes  Nachruhm  belud.  Aber  Macht  und  Ehre  zu- 
gleich gewinnt  nur,  wer  sich  selbst  einsetzt  und  das  Schicksal  im 
Kampfe  herausfordert.  Darum  haben,  wie  Otto  von  Bismarck  es 
schon  in  Frankfurt  erkannte,  die  großen  Krisen  das  Wetter  gebildet, 
welches  Preußens  Wachstum  förderte,  indem  sie  furchtlos,  \'ieUeicht 
auch  sehr  rücksichtslos  von  seinen  Regenten  benutzt  wurden.  So 
haben  der  große  Kurfürst  und  Friedrich  der  Große  ihren  Staat  in 
die  Bahnen  der  Großmächte  hineingeführt,  und  so  hat  Bismarck  selbst 
mit  Preußens  Kraft  die  Quadern  des  neuen  Deutschlands  zusammen- 
gefügt, die  in  einem  Ringen,  wie  kein  Jahrtausend  es  sah,  gegen 
den  Ansturm  der  ganzen  Welt  nur  erschüttert  wurden  und  erst  von 
innen  her,  durch  die  von  dem  Schöpfer  des  Reiches  nie  verkannten 
und  stets  bekämpften  Gewalten  der  Tiefe  aus  ihren  Fugen  gehoben 
werden  konnten. 

Jedoch  braucht  auch  der  Erlegene  nicht  zu  verzweifeln,  denn 
auch  die  Großen  sind  einmal  klein  gewesen  und  auf  ihrem  Wege  zur 
Macht  oft  genug  durch  Stürme  verschlagen  und  zwischen  die  Klippen 
geworfen  worden:  »Es  wechselt  alles  —  hier  gibt  es  keine  Ewigkeit.« 
Wie  hat  uns  doch  der  Weltkrieg  auch  dieses  Bismarck- Wort  ^\ieder 
ins  Gedächtnis  gerufen!  Staaten  und  Völker,  deren  Schicksal  längst 
beschlossen  schien,  die  von  den  Tafeln  der  Geschichte  wie  wegge- 
wischt waren,  tauchten  in  ihm,  gleich  vergessenen  Kontinenten,  aus 


252 

den  Fluten,  unter  denen  sie  begraben  waren,  wieder  auf.  Ihnen  half 
der  Glaube,  an  sich  selbst,  an  ihren  Genius,  an  ihre  Zukunft:  nur  wer 
sich  selbst  verläßt,  wird  sich  auch  von  Gott  verlassen  sehen. 

Dies  also  ist  das  oberste  Gesetz,  das  treibende  Prinzip,  die  be- 
wegende Kraft:  der  Wille   zum   Dasein. 

Es  ist  wie  in  der  Welt  der  Gestirne :  ein  nie  aufhörendes  Anziehen 
und  Abstoßen,  Untergehen  und  Emporkommen.  Alles  ist  Kampf. 
Stillstand  ist  Tod.  Kampfpausen,  ein  zeitweiliges  Ausgleichen,  ein 
gewisses  Festwerden  des  »flüssigen  Elements«  mag  es  geben:  aber 
nur  im  Ringen  streitender  Gewalten  erwacht  und  bildet  sich  das  Leben. 

Auch  auf  die  Großmächte  trifft  dies  in  vollem  Maße  zu.  In 
jedem  Moment  müssen  sie  sehen,  wie  sie's  treiben,  und  wo  sie  bleiben. 
Ein  Stillstehen  ist  auch  ihnen  nicht  erlaubt.  Denn  nicht  auf  sich 
selbst  ruht  der  Begriff  einer  Großmacht:  er  gebührt  ihr  nur  im  Hin- 
bhck  auf  die  Stellung,  die  sie  in  dem  System  der  Mächte  einnimmt, 
dem  sie  angehört.  Diese  aber  hängt  wieder  ab  von  der  Beschaffenheit 
des  Systems  selbst,  seinem  Umfang,  der  Zahl  und  der  Größe  seiner 
Glieder,  der  Kraft  und  dem  Willen,  die  in  diesen  leben,  der  Ziel- 
richtung, die  einem  jeden  eingeboren  ist,  den  Wirkungen  auch,  die 
von  der  Gesamtheit  ausgehen,  und  den  Aufgaben,  die  ihr  damit 
gestellt  werden,  den  Notwendigkeiten,  die  über  ihr  schweben,  und  die 
sie  selbst  wiederum  vorwärts  treiben  oder  einschränken.  Mit  gutem 
Recht  spricht  man  von  den  Großmächten  Athen  oder  Sparta,  wie 
klein  der  Umkreis  war,  in  dem  sie  herrschten.  Wer  aber  würde  heute 
dem  chinesischen  Reiche  diesen  Titel  gönnen  wollen,  das  nach  der 
Zahl  seiner  Millionen  und  dem  Umfang  wie  den  Schätzen  seines 
Bodens  Kräfte  entwickeln  könnte,  vor  denen  der  Erdboden  erzittern 
müßte!  Es  ist  aber  nicht  einmal  nötig,  im  Kampf  zu  erliegen,  um 
von  der  erreichten  Höhe  wieder  herabzusinken.  Mitten  im  Frieden, 
den  sie  ängstlich  bewahrt,  kann  eine  Großmacht  dieses  Schicksal 
erleiden.  Das  wurde  Preußens  Los  in  den  Jahren  vor  Jena.  Es  war 
damals  noch  ganz  der  Staat,  der  unter  Friedrich  dem  Großen  einer 
europäischen  Koalition  Trotz  geboten  hatte:  Heer  und  Verwaltung 
wohlbestellt  und  geordnet,  Ehre  und  Zucht,  Treue  und  Gehorsam 
die  Fundamente;  die  Beamtenschaft  und  das  Offizierkorps  eher 
besseren  Geistes  als  zur  Zeit  des  großen  Königs,  ihrem  Herrscher 
unbedingt  ergeben,  aber  auch  erfüllt  von  inniger  Hingabe  an  die 
Idee  des  Staates  und  einem  starken  Glauben  an  seine  Kraft;  stolz 


I 

I 


253 

auf  die  alten  Traditionen,  und  dennoch,  wie  der  Träger  der  Krone 
selbst,  Reformen  geneigt  und  schon  eifrig  dabei,  sie  auszuführen; 
schon  saßen  die  Männer,  welche  Preußen  aus  der  Tiefe  des  Unglücks 
wieder  emporgehoben  haben,  im  Rate  des  Königs.  Aber  während 
Friedrich  Wilhelm  sein  Haus  so  gut  gehütet  sah,  er  selbst  nur  darauf 
bedacht,  ihm  den  goldenen  Frieden  zu  bewahren,  hatten  die  Kriege, 
denen  er  fernblieb,  Europas  Antlitz  verwandelt.  Aus  den  Trümmern 
der  alten  französischen  Monarchie  hatte  sich  eine  Macht  erhoben  von 
so  eisernem  Gefüge,  daß  jeder  Staat,  dem  sie  auf  ihren  Wegen  be- 
gegnete, zum  Existenzkampf  gezwungen  wurde.  Preußen  war  bereits 
unter  dem  Druck  der  beiden  sich  bekämpfenden  europäischen  Koali- 
tionen seines  eigenen  Willens  beraubt,  zu  einer  Macht  zweiten  Ranges 
herabgebracht,  als  es  endlich,  nicht  weit  von  Roßbachs  Feldern, 
sich  Frankreichs  Kaiser  zum  Kampfe  stellte:  ein  Schlag  des  Über- 
starken genügte,  um  den  Staat  Friedrichs  des  Großen  zu  zerbrechen. 
Nicht  anders  war  es  mit  dem  Deutschland  Bismarcks.  Unsere  Kraft 
war  im  JuH  1914  wahrlich  nicht  geringer  als  zur  Zeit  des  Frankfurter 
Friedens;  und  der  Wille,  sich  zu  behaupten,  durchdrang  die  Nation 
bis  in  ihre  Tiefen:  die  Stimmung  der  ersten  Kriegswochen,  auf  die 
wir  heute  wie  auf  eine  verklungene  Sage  zurückblicken,  bezeugt  es; 
man  vergleiche  damit  nur  die  Vorgänge  an  den  süddeutschen  Höfen 
und  im  bayerischen  Landtage  im  Juli  1870,  als  Napoleon  III.  uns 
den  Krieg  ansagte  und  Österreich  drauf  und  dran  war,  ihm  dabei 
zu  helfen.  Aber  während  wir  nach  dem  Siege  in  unserer  zentralen 
Stellung  unter  dem  Druck  feindseliger  Nachbarn  an  unsere  Bastionen 
gefesselt  blieben,  konnten  jene,  ohne  den  Zwang,  den  sie  auf  uns 
ausübten,  im  geringsten  zu  vermindern,  ihre  peripherische  Lage  voll 
ausnutzen,  um  den  noch  freien  Rest  der  Erde  unter  sich  zu  verteilen; 
ein  paar  Brocken  waren  es,  was  sie  uns  zunächst  noch  überließen.  Nun 
haben  wir  ja  versucht,  es  den  andern  gleichzutun,  uns  in  ihre  weit- 
ausgreifenden Bahnen  einzudrängen,  der  wachsenden  Fülle  unserer 
Kräfte  einen  Ausweg  ins  Freie  zu  verschaffen,  Weltpolitik  (so  nannten 
wir  es)  ohne  Krieg  zu  treiben.  Da  aber  wandten  sie  alle,  die  alten  und 
die  neuen  Gegner,  Besiegte  und  Rivalen,  den  ganzen  Schwall  ihrer 
Macht  gegen  uns.  Wir  gerieten  in  die  Gefahr,  abgeschnürt  zu  werden, 
auch  ohne  Krieg  in  unserm  Eisenpanzer  zu  ersticken:  und  der  Versuch, 
uns  zu  retten,  wurde  unser  Verderben.  Säkulare  Verschiebungen, 
die  sich  so  wenig  abwenden  lassen,  wie  ein  im  Verborgenen  lange 


254 

vorbereiteter  Bergsturz,  wie  der  Ausbruch  eines  Vulkans.  Nur  eine 
Umgestaltung  der  Konstellation,  die  Umgruppierung  der  vorwaltenden 
Mächte  kann  in  solchen  Fällen  das  Geschick  des  Bedrohten,  sei  es 
mit  oder  ohne  Zusammenstoß,  wenden.  Ob  das  für  uns  möglich  war, 
bleibe  unerörtert. 

Vorbedingung  für  alles  weitere  sind  jedesmal  der  politische 
Horizont  und  die  Konstellation,  die  in  ihn  eingebaut  ist,  als  das 
Theater,  auf  dem  das  Drama  der  Geschichte,  eine  nie  abreißende 
Kette  tragischer  KonfHkte,  sich  abspielt,  Schicksal  und  Schuld  die 
Knoten  schürzen  und  die  Macht  sie  löst.  In  der  Abwandlung  und 
Erweiterung  des  politischen  Horizontes  und  damit  der  Konstellationen, 
die  sich  im  Lauf  der  Zeiten  in  ihrem  Umkreis  bilden,  vollzieht  sich 
der  Fortgang  der  allgemeinen  Geschichte. 

So  hatten  in  den  vorhellenischen  Zeiten  die  Monarchien  des 
Ostens  ihre  Konstellationen  gebildet  und  abgewandelt,  ohne  damit 
wesentlich  über  die  östHchen  Gewässer  des  Mittelmeeres  hinaus- 
zugreifen. Seine  Wogen  mochten  die  Phönizier  und  nach  ihnen  die 
Hellenen  beherrschen:  an  den  Küsten  besaßen  sie  nichts  als  den 
dünnen  Kranz  ihrer  Kolonien  und  Faktoreien;  auch  in  der  Glanzzeit 
der  griechischen  Stadtrepubhken,  als  sich  ihre  Siedlungen  bis  an  die 
Ostküste  Spaniens  und  über  die  Säulen  des  Herkules  hinweg  er- 
streckten, kam  es  nicht  zu  einer  Konstellation,  die  den  ganzen  Um- 
kreis des  Meeres  umfaßt  hätte.  Alexander  der  Große  würde  viel- 
leicht, wenn  wir  an  die  Absicht,  seine  Macht  nach  der  Unterwerfung 
des  Ostens  in  den  Westen  zu  tragen,  glauben  dürfen,  den  politischen 
Horizont  bis  an  Spaniens  Küste  ausgedehnt  haben,  sei  es,  daß  er 
der  Alleinherrscher  geworden  wäre  oder  auch  nur  im  Ringen  um  die 
Herrschaft  das  Gleichgewicht  zwischen  seiner  griechisch-persischen 
Macht  und  den  beiden  Großmächten  des  Westens  erreicht  hätte. 
Sein  früher  Tod  beseitigte  jedenfalls  alle  solche  Pläne  und  ließ  in 
den  Kämpfen  seiner  Nachfolger  um  sein  Erbe  jenes  Gleichgewichts- 
system zwischen  den  aus  seinen  eigenen  Provinzen  gebildeten  Reichen 
entstehen,  das  von  jeher  als  das  klassische  Beispiel  für  das  Prinzip 
des  Mächtegleichgewichts  angesehen  worden  ist.  Das  war  es  denn 
wirklich  ein  paar  Generationen  hindurch  —  bis  gerade  die  Mehrheit 
und  die  auseinandergehenden  Interessen  der  hellenistischen  Monarchien 
den  Römern  Gelegenheit  boten,  sich  zwischen  sie  zu  drängen  und  sie 
insgesamt  ihrer  Botmäßigkeit  zu  unterwerfen. 


I 


255 

Das  Ende  war  dennoch,  wie  gesagt,  das  Wiederauseinandert  rechen 
dieser  von  einer  einzigen  Macht  zusammengehaltenen  Welt  in  drei 
Machtkreise,  deren  jeder  der  Träger  einer  eigenartigen  Kultur  werden 
sollte;  Mekka,  Rom  und  Konstantinopel  wurden  ihre  Mittelpunkte. 
Mit  dem  Einbruch  des  letzten  Stammes  aus  dem  freien  Germanien 
in  Itahen,  dessen  von  Rom  her  geschaffene  Einheit  damit  zerbrach, 
begann  es;  drei  Generationen  später  bhcken  wir  in  eine  verwandelte 
Welt,  in  die  Welt  des  Mittelalters,  dessen  Anfänge  darum  mit 
Recht  in  jene  Epoche  gesetzt  werden.  Die  Grundlage  bildeten  überall 
die  Trümmer  des  alten  Imperiums,  seines  Staates  und  seines  Geistes. 
Auch  blieb  das  Zentrum  des  Weltgeschehens,  soweit  es  diese  drei 
Macht-  und  Kulturkreise  umschloß,  das  Mittelmeer,  und  die  Herr- 
schaft über  seine  Gestade  das  Ziel  aller  Großmächte,  die  in 
diesen  Jahrhunderten  an  seinen  Küsten  emporkamen;  ein  deutscher 
Kaiser,  der  Süditalien  zum  Stützpunkt  seiner  Herrschaft  machte, 
ist  ihm  am  nächsten  gekommen.  Jedoch  waren  das  immer  nur  rasch 
vorübergehende  Episoden,  und  die  historische  Bewegung  verlief  nun 
doch  mehr  nach  der  Peripherie  hin,  weit  hinaus  über  alle  Grenzen  der 
alten  Welt;  ihre  Ausstrahlungen  gingen  über  die  drei  Kontinente  der 
östlichen  Hemisphäre  hinweg.  Wie  heiß  auch  die  Kämpfe  sein  mochten, 
welche  in  dem  Zentralgebiet  ausgefochten  wurden,  und  wie  tief  die 
kulturellen  Einwirkungen  aufeinander  (bei  denen  übrigens  das  Abend- 
land weit  mehr  der  empfangende,  als  der  gebende  Teil  war),  zu  der 
Ausbildung  eines  Gesamthorizontes  und  einer  alle  Mächte  in  ihm 
zusammenfassenden  Konstellation  kam  es  niemals.  Nicht  einmal 
innerhalb  der  Bereiche  des  Morgenlandes  oder  des  Abendlandes  gelang 
dies.  Und  so  können  wir  auch  von  einem  Staatensystem  auf  dem 
Grunde  des  Gleichgewichts  weder  bei  den  Nationen  des  Islams  noch 
in  dem  Umkreis  der  romanisch-germanischen  Nationen  in  jenem 
Zeitalter  etwas  finden.  Im  Gegenteil,  bei  letzteren  könnte  man 
wohl  eher  sagen,  daß  es,  wie  unter  dem  Imperium  Romanum,  so 
auch  in  den  Jahrhunderten  des  Mittelalters  nur  wiederum  eine 
Macht  war,  welche  durch  ihr  Übergewicht  sie  beherrscht  und 
zu  einem  geschlossenen  politischen  System  vereinigt  hat,  eine 
Macht,  in  der  die  universale  Idee  des  alten  römischen  Reiches  fort- 
lebte, und  die,  soweit  ihre  Gewalt  reichte,  im  Prinzip  neben  sich 
keine  andere  auf  sich  selbst  ruhende  Macht  duldete,  sondern  eine 
jede  nur  soweit  anerkannte,  als  sie  sich  üir  unterwarf:  dieselbe,  die 


256 

einst  das  Reich  der  Cäsaren  gezwungen  hatte,  die  Gewalt  mit  ihr  zu 
teilen:  die  Macht  der  Kirche.  Jedoch  war  das  schon  nicht  mehr  die 
Kirche,  die  unter  Konstantin  dem  Großen  eine  Gleichgewichtsstellung 
zum  Kaisertum  erlangt  hatte  und  danach  für  einige  Generationen 
mit  ihm  zu  einer  engverbundenen  Doppelmacht  zusammengewachsen 
war.  Diese  war  mit  dem  Reiche  selbst  auseinandergebrochen,  und 
nur  ihrer  Westhälfte  war  es  gelungen,  unter  Loslösung  von  der  kaiser- 
lichen Gewalt  solche  Ansprüche  zur  Geltung  zu  bringen.  Auch  blieben 
diese  nicht  unwidersprochen.  Denn  zugleich  mit  der  Kirche  des 
Abendlandes  hatte  sich,  von  ihr  selbst  unterstützt  und  geleitet,  das 
Kaisertum  des  Westens  ausgebildet,  das  gleich  ihr  in  Rom  die  ideelle 
Basis  und  das  Zentrum  seiner  Macht  suchte.  Dies  waren  nun  auf 
Jahrhunderte  hin  die  beiden  Großmächte,  welche  im  Abendlande,  in 
dem  Horizont,  der  Roms  Kirche  umschloß,  dominierten.  Beide 
machten  Anspruch  auf  Universalität  und  volle  Unabhängigkeit; 
beide  führten  Ursprung  und  Autorität,  als  sakrosankt,  unmittelbar 
auf  den  Schöpfer  der  Welt  zurück.  Neben  ihnen  traten  alle  andern 
Kronen  in  dem  Umkreis  der  römischen  Hierarchie  in  den  Schatten: 
sie  selbst  aber  blieben  ineinander  verklammert  und  nicht  auseinander- 
zureißen,  gelegentlich  im  Gleichgewicht,  zu  Zeiten  nahezu  verschmol- 
zen, um  dann  wieder  um  so  weiter  auseinanderzutreten  und  sich  mit 
tötHchem  Haß  zu  verfolgen;  dabei  auf  der  verwandten  Basis  ver- 
wandten Zielen  zustrebend,  übernational  beide,  und,  mochten  sie  sich 
auch  zuweilen  mit  einem  nationalen  Schimmer  umkleiden,  dennoch 
beide  jeder  anderen  Macht,  die  aus  nationaler  Wurzel  aufschoß  und 
auf  sich  selbst  zu  ruhen  versuchte,  von  Grund  aus  feindlich. 

Der  Schauplatz  ihrer  Kämpfe  wechselte,  je  nachdem  die  Kaiser- 
würde von  Land  zu  Land,  von  Macht  zu  Macht  wanderte.  Auf  der 
Höhe  der  mittleren  Jahrhunderte,  in  der  Glanzzeit  beider  Mächte, 
nahm  er  nur  einen  Bruchteü  des  Abendlandes,  die  Mitte  Europas 
von  der  Nordsee  bis  zum  sizilischen  Meer,  ein.  Die  drei  westlichen 
Nationen,  und  ebenso  die  des  Nordens  lagen  außerhalb.  Der  von  der 
römischen  Kirche  erfüllte  politische  Horizont  zerfiel  in  verschiedene 
Sphären,  die  sich  zunächst  kaum  berührten.  Das  ist  um  so  merk- 
würdiger, als  das  Kulturleben  jenes  Zeitalters  von  einer  Einheitlich- 
keit und  Wesensgleichheit  war,  wie  sie  kaum  einer  andern  Epoche 
zu  eigen  gewesen  ist.  Staat  und  Gesellschaft,  Kirche  und  Wirtschafts- 
leben, Wissenschaft,  Literatur  und  alle  Künste  zeigten  das  gleiche 


257 

oder  ein  eng  verwandtes  Gepräge ;  zumal  die  geistlichen  Organisationen 
waren  von  dem  gleichen  Geiste  getragen,  ineinander  verkettet  und 
erfüllt  von  einem  immer  stärker  werdenden  Drang  nach  Einheit  und 
Konzentration.  Einmütig  stand  man  der  Umwelt,  mochte  sie  heidnisch 
oder  islamisch  sein  (für  den  Abendländer  war  es  alles  Heidentum), 
gegenüber;  denn  die  wenigen  Ausnahmen,  durchweg  lokaler  Natur, 
wollen  nichts  bedeuten.  So  daß  wir  sogar  von  einer  auswärtigen  Politik 
dieses  Völkervereins,  der  Res  publica  christiana,  sprechen  dürfen: 
die  Kreuzzüge  waren,  unter  Führung  der  Päpste,  ihre  gemeinsamen 
Unternehmungen . 

Aber  eben  in  dieser  Durchsetzung  der  abendländischen  Welt  mit 
internationalen  Institutionen  lag  die  Ursache  für  die  geringe  Teil- 
nahme jener  Nationen  an  den  Machtkämpfen,  welche  die  beiden  Groß- 
mächte der  Epoche  miteinander  führten.  Es  fehlte  ihnen  als  Gesamt- 
heit noch  der  Wille  zur  Macht,  und  damit  der  Ehrgeiz,  sich  auszu- 
dehnen und  sich  Organe  zu  schaffen,  die  ihrer  Gesamtkraft  ent- 
sprachen. Anlagen  und  Ansätze  waren  von  dem  Moment  ab,  wo 
sich  der  Verband  des  weströmischen  Imperiums  löste,  überall 
vorhanden,  und  innerhalb  ihrer  Grenzen  gab  es  bald  eine  Fülle 
von  Sondergewalten,  die  diesen  Willen  besaßen  und  ihn  durch 
ihr  Aufstreben  betätigten.  Jede  von  diesen  wollte  vorwärtskommen, 
keine  sich  beugen.  Indem  sie  über  die  nationalen  Grenzen  hin- 
wegdrängten, verhalfen  sie  der  Gesamtheit  der  Kräfte  ihrer  Nationen 
zu  einem  gewaltigen  Wachstum:  und  zwar  gilt  das  für  alle  Völker 
des  Abendlandes,  für  Italiener  und  Deutsche  (man  denke  nur  an 
unsere  östlichen  Kolonisationen,  die  ganz  und  gar  von  den  Sonder- 
gewalten getragen  wurden)  noch  mehr,  als  für  die  Nationen  des  Westens. 
Im  Ringen  um  die  Macht  gelangten  auch  wohl  die  partikularen  Gewalten 
zu  gegenseitiger  Grenzsetzung,  zu  einem  ausgebildeten  Gleichgewichts- 
system, wie  in  dem  angelsächsischen  England:  aber  in  ihrer  Gesamt- 
heit vermochten  diese  Nationen  durch  lange  Jahrhunderte  hin  nicht 
sich  zu  Staatspersönlichkeiten  zu  entwickeln.  Zuerst  im  13.  Jahr- 
hundert glückte  etwas  Derartiges  in  Frankreich  und  England.  In  den 
kommenden  Generationen  hinderte  innere  Zersetzung  auf  beiden 
Seiten  des  Kanals  diese  Entwicklung.  In  der  zweiten  Hälfte  des 
15.  Jahrhunderts  aber  gelangten  die  drei  Nationen  des  Westens  nach 
einer  langen  Periode  bürgerlicher  und  auswärtiger  Kriege,  in  die  alle 
drei,  vorzüglich  aber  Frankreich  und  England,  miteinander  verwickelt 

Lenz,  Wille,  Macht  und  Schicksal.  I7 


258 

f 

waren,  zu  festerer  Konsistenz:  es  waren  die  drei  großen  Herrscher 

Ferdinand  von  Aragon  (der  aber  neben  Isabella  von  Castilien  zurück- 
tritt) für  Spanien,  Ludwig  XI.  in  Frankreich  und  Heinrich  VII.  Tudor 
in  England. 

Während  nun  England  sich  weiterhin  im  Hintergrund  hielt, 
wandten  Spanien  und  Frankreich,  die  damit  nur  die  Machttendenzen 
alter  Teilgewalten  von  ihnen  fortsetzten,  ihre  Kraft  an  den  Pyrenäen, 
und  mehr  noch  in  Italien  gegeneinander;  und  indem  Burgund  und  das 
Habsburgische  Haus   (letzteres  im  Besitz  der  Kaiserkrone  und  als  ■ 

Vertreter,  bald  Erbe  deutscher,  slavischer  und  magyarischer  Länder 
Träger  aller  Ansprüche,  die  sich  an  die  Herrschaft  über  diesen  Länder- 
komplex  knüpften)  mit  Spanien  zu  einer  Macht  zusammenMTichsen, 
so  entstand  ein  Machtkampf,  der  den  ganzen  Umkreis  des  Abendlandes 
einschloß,  an  jedem  Punkte  desselben  nachwirkte  und  jedes  seiner 
Glieder  so  oder  so  beeinflußte  und  seine  Politik  bestimmte. 

Schon  aber  war  eine  dritte  Macht  aufgekommen,  einheitlicher  ge- 
führt und  ausgreifender  als  alles,  was  in  der  europäischen  Welt  empor- 
strebte: die  Todfeindin  der  Christenheit  von  Anfang,  die  Macht  des 
Islams,  die  Religion  des  Morgenlandes,  hatte  sich,  nach  Jahrhunderten 
der  Zerrüttung,  unter  der  Hand  barbarischer  Herrscher,  die  aber 
den  Machtwillen,  ihres  Stammes  Erbteil,  aufs  stärkste  ausgebildet 
hatten,  noch  einmal  auf  ihren  Ursprung,  die  Religion  des  Schwertes 
zu  sein,  besonnen  und  stürmte  über  die  Trümmer  des  byzantinischen 
Reiches  hinweg  gegen  alle  Grenzen  des  Abendlandes  an.  Wäre  man 
nun  hier  einig,  wäre  der  Geist  der  Kreuzzüge  noch  lebendig  gewesen, 
so  hätte  man  die  Gefahr  nicht  so  hoch  anzuschlagen  brauchen.  Denn 
die  Summe  der  üiateriellen  und  geistigen  Kräfte,  welche  sich  im  Schoß 
der  romanisch-germanischen  Nationen  gerade  in  den  Jahrhunderten 
ihres  Auseinandertretens  und  ihrer  inneren  Kämpfe  ausgebildet  hatten, 
war  stärker  als  alles,  was  der  nun  barbarisierte  Orient  dagegen 
aufzubringen  vermochte.  So  aber  traf  sie  der  Stoß  in  dem  Moment, 
wo  das  Ringen  jener  beiden  Machtgruppen  in  ihnen  begann  und  sich 
gerade  dorthin  wandte,  wo  auch  das  Zentrum  des  vom  Osten  nahenden 
Sturmes  war,  nach  Italien.  Dorthin  konvergierten  nun  aUe  Linien 
einer  Konstellation,  deren  Horizont  sich  von  der  Mündung  des 
Euphrats  bis  über  die  Meerenge  von  Gibraltar  und  von  den  Höhen 
des  Atlas  bis  zum  Nordkap  spannte.  Und  so  konnte  es  einen  Moment 
den  Anschein  gewinnen,  als  müsse  die  historische  Bewegung  aber- 


259 

mals  in  das  Ringen  um  den  Besitz  des  Mittelmeers  und  in  den  Kampf 
zwischen  Occident  und  Orient  auslaufen. 

Dennoch  schlug  die  Entwicklung  andere  Wege  ein.  Der  Seesieg 
Spaniens,  der  katholischen  Vormacht,  bei  Ltpanto  drückte  die  tür- 
kische Macht  in  die  östliche  Hälfte  des  Mittelmeers  zurück,  und  alle 
Versuche,  über  die  ungarischen  Eroberungen  hinweg  in  das  Deutsche 
Reich  einzubrechen,  schlugen  ihr  fehl.  Von  der  Peripherie  her  drohte 
sie  noch  lange  und  blieb  immer  noch  ein  wichtiger  Faktor  in  allen 
Kombinationen  der  europäischen  Politik;  aber  zu  einem  Mitspieler 
(denn  die  paar  Ausnahmen  zählen  nicht)  wurde  sie  nicht,  und  jedes 
weitere  Eindringen  in  den  abendländischen  Machtkreis  blieb  ihr 
versagt.  Die  westlichen  und  nördlichen  Meere  (die  Ostsee  mehr  als 
je)  wurden  zunächst  die  Zentren  der  europäischen  Machtkämpfe,  und 
darüber  hinaus  die  Ozeane  die  Bahnen,  auf  denen  die  vorwaltenden 
Mächte  Europas  ihre  weitgespannten  Ziele  verfolgten. 

Und  so  vollzieht  sich  fortan  innerhalb  der  romanisch-germa- 
nischen Staatenwelt  der  Fortgang  der  historischen  Bewegung :  irgend- 
wie nehmen  alle  poUtischen  Gewalten,  die  ihm  angehören,  an  jeder 
Erschütterung  teü,  und  immer  sind  es  die  großen  Mächte,  welche 
die  kleinen  hinter  sich  herziehen  und  ihnen  ihre  Bahnen  anweisen. 
Was  nicht  ausschließt,  daß  zu  Zeiten  zwischen  ihnen  auch  wohl  eine 
dritte  Macht  oder  Machtgruppe  sich  einschiebt,  der  daran  liegen 
muß,  sei  es  im  Kampf  oder  auch  im  Friedenszustand  der  Gesamtheit, 
die  dominierenden  Mächte  im  Gleichgewicht  zu  sehen.  Eine  solche 
Macht  war  in  den  Kämpfen  Habsburgs  und  Frankreichs,  zumal  in 
dem  Zeitalter  Karls  V.,  Venedig,  sehr  im  Gegensatz  zu  einer  andern 
Republik  jener  Epoche,  die  erst  vor  kurzem  in  den  Machtkampf 
der  ganz  Großen  entscheidend  eingegriffen  hatte,  jetzt  aber  unter 
dem  Druck  der  neuen  Konstellation  in  sich  zerspalten  und  zerrissen 
war:  der  Eidgenossenschaft. 

England  hielt  sich  in  dieser  Zeit  immer  noch  zurück;  seinem 
staatsklugen  König  kam  es  vor  allem  darauf  an,  seine  Macht  fest 
zusammenzuhalten.  Daß  sie  da  war,  mußten  auch  die  beiden  Haupt- 
ringer in  der  europäischen  Arena  spüren;  keinen  Schritt  und  Griff 
konnten  sie  wagen,  ohne  über  den  Kanal  hinüberzusehen,  und  mehr 
als  eirmial  machte  der  eigenwillige  Tudor,  Heinrichs  VH.  gewalt- 
tätiger Sohn,  ein  paar  Waffengänge  mit:  »Cui  adhaereo,  praeest«, 
so  lautet  ein  Wort,  das  ihm  in  den  Mund  gelegt  wird.    Jedoch  hat 

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Heinrich  VIII.  dies  Wort  niemals  voll  zur  Wahrheit  gemacht.  So 
oft  Karl  V.  und  Franz  I.  sich  daher  zum  Kampf  gegeneinander  stellen 
mochten,  zu  einem  Endergebnis  zwischen  ihnen  kam  es  nicht ;  nieder- 
zwingen ließ  sich  weder  der  eine  noch  der  andere. 

Keine  der  Mächte  Europas  geriet  aber  in  dieser  Zeit  in  ein  größeres 
Gedränge  als  die  geistliche  Großmacht,  die  durch  so  viele  Jahrhunderte 
die  Übermacht  über  jede  andere  Macht  behauptet  hatte.  Jetzt  ward 
sie  bis  auf  den  Grund  erschüttert,  während  umgekehrt  der  fast  ver- 
blichene Glanz  der  kaiserlichen  Majestät  durch  die  Ausbildung  der 
habsburgischen  Weltmacht  eine  nie  dagewesene  und  nie  geahnte 
Bedeutung  gewann.  Wenn  die  römische  Kirche  es  versuchte  (und 
dahin  war  in  der  Tat  das  Steuer  ihrer  Politik  fort  und  fort  gerichtet), 
das  Gleichgewicht  zwischen  den  beiden  Großmächten  des  Abend- 
landes festzuhalten,  ihre  Interessen  auf  Kosten  des  neuen  furcht- 
baren Feindes,  der  sich  aus  ihrem  Schöße  selbst  gegen  sie  erhoben 
hatte,  und  der  auch  für  jene  beiden  noch  der  Feind  war,  aus- 
zugleichen, so  erwies  sich  dies  auf  die  Dauer  nicht  nur  als  vergeblich, 
sondern  endete  nahezu  mit  ihrem  eigenen  Zusammenbruch.  Nun 
aber  zog  die  allgemeine  Zersetzung  der  Kirche  auch  die  Machtbereiche 
der  beiden  Großstaaten  mehr  und  mehr  in  ihren  Strudel  und  zwang 
sie,  ihre  Politik  unter  den  Gesichtspunkt  der  streitenden  Konfessionen 
selbst  zu  stellen.  So  wurde  die  Zugehörigkeit  zu  einer  der  kirchlichen 
Parteien,  die  ihrerseits  nationale  oder  überhaupt  politische  Grenzen 
nicht  anerkannten,  das  bestimmende  Moment  in  dem  Kampf  der 
Mächte  untereinander. 

Hier  ist  die  Stelle,  an  der  England,  das  Elisabethanische  England, 
aus  der  Reserve,  in  der  es  nach  Heinrichs  VIII.  Tode  noch  längere 
Zeit  verharrt  hatte,  heraustrat  und  seine  europäische  Stellung  gewann. 
Während  Frankreich,  von  innerem  Hader  verzehrt,  aus  der  Rolle 
des  Vorkämpfers  gegen  Habsburg  nahezu  ausschied  und  seine  Teile 
auseinanderzufallen  drohten,  übernahm  England  die  Führung  in 
dem  Kampf  gegen  das  habsburgische  Spanien,  das  von  der  Gefahr 
der  kirchlichen  Revolution  kaum  angetastet  worden  war  und  nur 
imi  so  fester  sich  auf  den  mit  dem  Wesen  seiner  Nation  verschmolzenen 
katholischen  Glauben  gestellt,  ja  mit  Roms  Machtwillen  sich  fast 
identifiziert  hatte.  So  deckte  sich  also  jetzt  für  eine  Weile  der  Kampf 
der  beiden  europäischen  Vormächte  mit  dem  Gegensatz  der  beiden 
religiösen  Weltmächte,  der  sich  in  zwei  Generationen  herausgebildet 


261 

hatte.  Hätten  Coligny  und  seine  Partei  gesiegt,  so  hätte  Frankreich 
Elisabeths  Stellung  eingenommen,  und  die  Weltentwicklung  würde 
ganz  andere  Bahnen  eingeschlagen  haben.  Die  Niederzwingung  der 
Hugenotten  hat  Frankreich  vielleicht  Entwicklungsmöglichkeiten  ge- 
raubt, welche  weit  über  das  hinaus  gegangen  wären,  was  es  unter 
seinen  beiden  großen  Kardinälen  und  Ludwig  XIV.  erlangt  hat :  aber 
zunächst  wurde  doch  die  Lahmlegung  des  nationalen  Machtwillens 
aufgehalten  und  die  Bahn  aufs  neue  freigemacht,  welche  die  alte 
französische  Monarchie  im  Laufe  eines  Jahrhunderts  zum  vollen 
Siege  über  das  spanische  Habsburg  und  zur  Höhe  ihrer  europäischen 
Stellung  geführt  hat. 

MögHch  ward  dies  nur  durch  das  erneute  Zurücktreten  Englands, 
das  unter  den  Stuarts  wiederum  in  innere  Verwirrung  gestürzt  wairde. 
Aber  das  Jahr  1688  bewies  (wie  es  schon  in  Cromwells  Episode  zutage 
getreten  war),  daß  die  Revolution  nur  eine  Umstellung  der  in  England 
lebenden  Kräfte,  eine  Neubelebung  der  moralischen  Energie,  eine 
Verstärkung  der  politischen  Struktur  bedeutet  hatte,  in  der  Richtung, 
die  dem  nationalen  Machtwillen  den  weitesten  Spielraum  gewährte: 
das  »ozeanische  Zeitalter«  Englands  beginnt,  und  damit  eine  neue 
Epoche  der  allgemeinen  Geschichte. 

Wiederum  sind  es  zwei  Hauptmächte,  die,  von  ihren  Bundes- 
genossen umgeben,  in  den  Kampf  um  den  Dominat  innerhalb  der 
romanisch-germanischen  Staatenwelt  gegeneinander  treten :  das  Frank- 
reich Ludwigs  XIV.  und  das  mit  Holland  fast  wie  zu  einem  Staats- 
wesen zusammengefügte  England  Williams  III.  In  zwei  Waffen- 
gängen, beide  nur  durch  eine  kurze  Pause  getrennt,  wird  er  von  1688 
bis  1714  entschieden :  er  endet  mit  der  Niederlage  Frankreichs.  Jedoch 
handelt  es  sich  schon  nicht  mehr  bloß  um  die  Obmacht  in  den  Be- 
reichen der  abendländischen  Nationen,  auch  nicht  um  Europa  allein 
und  die  europäischen  Gewässer,  sondern,  nach  den  Vorspielen  früherer 
Zeiten,  wird  jetzt  die  ozeanische  Welt  in  das  Kampfgebiet  mitein- 
bezogen. Und  zugleich  kommen  andere  Mächte  mit  empor,  die  bald 
imstande  sein  werden,  auf  die  Gesamtkonstellation  entscheidend 
einwirken  zu  können:  es  sind  die  drei  Großmächte  des  Ostens,  durch 
deren  Aufstieg  die  Barriere,  die  in  den  früheren  Generationen  zu 
Frankreichs  Gunsten  vom  Nordkap  bis  zu  den  Karpathen  und  weiter 
zum  Bosporus  hin  zwischen  sie  gelegt  war  und  ihr  Aufkommen  ge- 
hemmt hatte,  niedergebrochen  wurde,  in  Kämpfen,  die  in  der  gleichen 


262 

Zeit  vor  sich  gingen  und  zum  Teil  noch  gar  nicht  einmal  mit  dem 
Kampf  der  anderen  Mächtegruppen  sich  unmittelbar  verquickten. 

Damit  aber  wird  die  Konstellation  von  Grund  aus  verändert. 
Einmal,  indem  ihre  Grenzen  sich  erweitern:  über  die  abendländischen 
Nationen  hinweg  schließt  sie  fortan  Rußland  mit  ein,  das  sofort  als 
Großmacht  in  ihr  auftritt.  Auch  Habsburgs  Macht  gewinnt  jetzt  ein 
ganz  anderes  Gesicht:  die  spanische  Linie  stirbt  aus;  und  während 
Spanien,  trotzdem  es  seine  Kolonien  behält,  unter  den  Bourbonen  zur 
Unbedeutendheit  herabsinkt,  rückt  das  deutsche  Haus,  als  Besitzerin 
des  Donaustaates,  in  die  vorderste  Reihe  der  Mächte.  Zugleich  aber 
erhebt  sich  innerhalb  des  Deutschen  Reiches  unter  den  Territorial- 
staaten, die  seit  zwei  Jahrhunderten  dem  Gesamthause  Habsburgs 
Widerpart  gehalten,  in  Brandenburg-Preußen  eine  Macht,  in  der  sich 
die  besten  und  zukunftsreichsten  Kräfte  deutschen  Wesens  ver- 
körpert haben.  Mit  den  Friedensschlüssen  von  Hubertusburg  und 
Paris,  nach  dem  Krieg  der  sieben  Jahre,  ist  diese  Entwicklung  ab- 
geschlossen. Es  ist  die  Epoche,  in  der  Englands  Herrschaft  über  die 
Ozeane  begründet  ward. 

Unbestritten  bheb  sie  ihm  nicht.  Als  sich  aus  dem  niederge- 
brochenen alten  Frankreich  jene  neue  Macht  erhob,  welche,  die 
Traditionen  des  alten  Königtums  wieder  aufnehmend,  den  grandiosen 
Versuch  machte,  an  der  Spitze  des  Kontinents,  den  sie  unterworfen 
hatte,  seine  Hegemonie  zu  zerbrechen,  mußte  es  von  neuem  darum 
kämpfen.  Das  Geschick  entschied  abermals  zugunsten  der  insularen 
Macht.  Indem  Regierung  und  Volk  Englands  mit  einer  Energie  und 
Zähigkeit,  die  sich  in  jeder  Gefahr  neu  bewährten,  den  Kampf  fast 
ohne  Pause  durch  nahezu  ein  Vierteljahrhundert  durchführten,  be- 
festigten sie  aufs  neue  ihre  Herrschaft  über  die  Ozeane  und  alle  Ge- 
wässer, die  ihren  kontinentalen  Rivalen  den  Ausgang  in  dieselben 
ermöglichten:  rings  um  unsem  wie  um  die  andern  Kontinente  legten 
sie  an  den  Küsten  oder  auf  den  Inseln  vor  ihnen  Festungen  an,  die 
jene  fesselten  und  ihnen  selbst  die  Verbindung  von  Küste  zu  Küste 
sicherten.  Auch  wurden  sie  zunächst  auf  ihrer  Bahn,  die  sie  noch 
immer  weiter  führte,  wenig  beunruhigt.  Erst  in  dem  letzten  Drittel 
des  19.  Jahrhunderts  traten  die  festländischen  Großmächte  aus  den 
Schranken,  in  denen  sie  durch  revolutionäre  Zuckungen  und  kriege- 
rische Auseinandersetzung  zwischen  ihnen  selbst  lange  festgehalten 
waren,  heraus,  um  den  Wettlauf  mit  der  ozeanischen  Macht  auf  zu- 


263 


nehmen.  Noch  niemals  hatte  Europas  Gesamtkraft  solche  Fortschritte 
gemacht,  wie  in  den  Jahrzehnten  vor  der  letzten  Entscheidung  über 
den  Besitz  der  Erde.  Die  Geister  des  Orientes  begannen,  um  em 
Rankesches  Wort  zu  wiederholen,  vor  den  Geistern  des  Occidentes 
zu  erbleichen.  Jetzt  erst  wurde  die  Eroberung  des  ErdbaUs  durch 
die  europäischen  Nationen,  das  Werk  von  vier  Jahrhunderten,  voll- 
endet. Aber  kaum  waren  die  Sieger  unter  ihnen  am  Ziel,  so  fielen 
sie  mit  ihren  VasaUen  und  den  ihnen  Unterworfenen  und  Versklavten 
über  uns,  die  zuletzt  Gekommenen,  her,  um  uns  zu  vernichten. 

Und'so  umfaßt  nun  der  Horizont,  der  die  großen  Mächte  in  ihrem 
Ringen  um  die  Herrschaft  einschließt,  die  Erde  selbst;  beide  Hemi- 
sphären büden  die  Arena  für  ihre  Kämpfe;  jeder  Druck,  der  auf  irgend- 
einen Punkt  ausgeübt  whd,  teüt  sich  mit  der  SchneUigkeit  des  Ge- 
dankens (der  elektrische  Funke  selbst  ist  der  Träger)  überallhm  mit: 
Ruhe  oder  Erregung  gehorchen  an  jeder   Stehe  des  ErdbaUs  den 

gleichen  Kräften. 

Zentrum  des  Weltgeschehens  ist  (merkwürdig  genug)  doch  wieder 
der  alte  Orbis  terrarum,  das  Mittehneer  und  seme  Gestadeländer, 
geworden.  Daß  wir,  die  von  ihm  Ausgeschlossenen,  uns  zwischen 
die  Besitzer  einzuschieben  versuchten,  gerade  an  der  Stehe,  wo 
ihre  eigenen  Interessen  wie  nirgends  sonst  aufeinander  stießen  (denn 
eben  dort  sind  die  beiden  Kontinente,  über  die  sie  ihre  Herrschaft 
ausgedehnt  haben,  miteinander  verbunden  und  öffnen  sich  die  Aus- 
gänge in  die  Meere  des  Ostens),  ward,  wie  nichts  anderes,  der 
Anlaß  für  unsere  Gegner,  sich  über  uns  herzumachen. 

Wh  selbst  dachten  nur  an  friedliche  Erwerbungen.  Die  Erhaltung 
der  Staatenwelt  Asiens  lag  ganz  in  unserem  Interesse.  So  entsprach 
es  den  Überlieferungen  unserer  Politik  und  dem  Charakter  unseres 
Volkes-  wer  hätte  je  der  Eigenart  asiaÜscher  Kulturen  em  so  mniges 
Verständnis  entgegengebracht  wie  der  Deutsche!  Seit  mehr  als  emera 
Jahrhundert  haben  Dichtung  und  Phüosophie  bei  uns  aus  diesen 
QueUen  getrunken,  sowie  unsere  Wissenschaft  bis  auf  diesen  Tag  die 
Führung  m  der  Erforschung  des  Orientes  behauptet  hat. 

Aber  eben  das  war  es,  was  unsere  Gegner,  wie  sehr  sie  unter- 
emander  rivalisieren  mochten,  gegen  uns  in  Harnisch  brachte.  Denn 
ihre  Politik  gmg  gerade  auf  Zertrennung  und  Unterjochung  der  Staaten- 
welt des  nahen  wie  des  fernen  Ostens  aus.  Ihre  Beutezüge,  die  in  dem 
neuen    Jahrhundert    unerhörte    Dimensionen    angenommen,    hatten 


264 

die  beiden  stärksten  unter  ihnen,  England  und  Rußland,  schon  gegen- 
einander geführt;  es  schien  fast,  als  wollten  diese  jetzt  sich  selbst 
anpacken.  Daß  wir  Persien  und  die  Türkei  ihren  Griffen  zu  entziehen 
ims  anschickten,  gestützt  auf  die  neu  erworbene  Macht  unserer  Flotte, 
durch  die  wir  auch  fern  von  unseren  Grenzen  unserm  Willen  Nach- 
druck geben  konnten,  brachte  sie  wieder  zusammen.    Sie  vertagten 
ihren    Streit,    verabredeten   Teilung   der   Beute   und   überzogen   uns 
mit  Krieg.    Mit  dem  Ergebnis,   daß  wir  zwar  Rußland  zu  Boden 
schlugen,  England  aber  danach  mit  seinen  Verbündeten  uns  selbst 
durch  Waffen,  Hunger  und  Revolution  niederzwang.    So  geriet  der 
ganze  Länderkreis,  den  einst  Alexander  der  Große  dem  Abendlande 
gewonnen,  und  den  danach  der  Orient  wieder  an  sich  gezogen  hatte, 
statt  in  die  Hände  der  slavisch-byzantinischen  Macht,  die  ihn  seit 
Jahrhunderten  als  ihr  Erbteil  erträumt  und  begehrt  hatte,  unter  die 
Botmäßigkeit   Englands   und   der   Mittelmeermächte,   die   in   seinem 
Gefolge  einhergingen.    Und  so  herrscht  nun  wieder,  wenn  auch  nicht 
so  absolut  und  unbestritten,   wie  es  unter  dem  kaiserlichen   Rom 
der  Fall  war,  ein  Wille  von  Gibraltar  bis  zum  persischen  Meerbusen. 
Nur  daß  der  Schwerpunkt  nicht,  wie  einst,  im  Mittelmeer  selbst, 
auf  dem  Lande,  das  die  zentrale  Stellung  in  ihm  hat,  ruht,  sondern 
an   der   äußersten    Peripherie   des   alten    Imperium    Romanum,   bei 
einer  Nation,  die  erst  im  17.  Jahrhundert  sich  in  die  Mittelmeer- 
politik eingedrängt  hat,  und  deren  Wege  nach  ihrer  Lage  und  Ge- 
schichte sie  viel  mehr  nach  Westen  als  in  den  Osten  hätten  weisen 
müssen.    Bedingung  für  sie  ist,  daß  sie  die  Mittelmeerstaaten  alle 
fest  in  ihrer  Hand  behält,  weil  nur  so  die  Wege  gesichert  sind,  die 
zu  ihren  größten  und  ausschließlichen  Besitztümern,  den  »Dominions« 
auf  den  drei  Kontinenten  der  östlichen  Hemisphäre,  hinführen.    Sie 
wird  es  vermögen,  wenn  sie  alle  in  der  Schwebe,  im  Gleichgewicht 
gegeneinander  halten  und  ihr  Machtbegehren  teils  zügeln,  teils  be- 
friedigen kann. 

Ob  nun  damit  als  Pax  Britannica  eine  neue  Epoche  in  der  Ge- 
schichte des  Mittelmeeres  eingeleitet  ist,  wie  es  diejenige  war,  die 
mit  der  Eroberung  des  Ostens  durch  die  Römer  begann  und  als  Pax 
Romana  nahezu  ein  halbes  Jahrtausend  währte,  bleibe  wieder  un- 
gefragt; denn  es  würden  da  Faktoren  mitsprechen,  die  erst  der  Zu- 
kunft angehören.  Gewiß  ist  nur,  daß  abermals  die  Geschicke  der 
Welt  von  dem  Bestände  dieser  Herrschaft  abhängig  geworden  sind. 


I 


265 

Überblicken  wir  so  den  Ablauf  der  in  vier  Jahrhunderten  wahr- 
haft zur  Weltgeschichte  sich  erweiternden  Geschichte  unseres  Erd- 
teils, so  wird  es  deutlich,  was  wir  von  der  Theorie  des  poHtischen 
Gleichgewichts   und   den   Abwandlungen,    der   sie   im   Laufe   dieser 
Epoche  unterlegen  ist,  zu  halten  haben.   Von  einem  Gesetz  im  Sinne 
einer  normativen,  in  dem  Leben  der  Nationen  wirkenden  Idee,  einer 
in  den  Ereignissen  zutage  tretenden  Tendenz,  einer  von  Innen  her 
wirkenden  Kraft  können  wir,  wie  gesagt,  nicht  sprechen.   Die  überall 
wirkende  Kraft  ist  der  um  ein    politisches  Zentrum  gelagerte,  auf 
dieses  gerichtete  Wille  zur  Macht,  der  die  kleinsten  Teile  so  gut  wie 
die  größten  bewegt.    Nicht  um  das  zerstörte  Gleichgewicht  herzu- 
stellen, treten  die  Mächte,  wer  sie  auch  seien,  in  den  Kampf  ein, 
sondern  um  sich  die  Stellung  zu  sichern,  die  sie  erstreben;  ihr  zu 
Liebe  werden  sie  sich  niemals  genieren,  einer  bereits  überragenden 
Kraft  zum  voUen  Übergewicht  zu  verhelfen.    Daß  dies  so  sei,  haben 
gerade    die   großen    Politiker,    diejenigen,    welche    Wirkhchkeitssinn 
besaßen,  wenn  sie  ihre  Meinung  (die  sie  freilich  meist  für  sich  be- 
hielten) einmal  offen  heraussagten,  stets  eingestanden.    »Der  Traum 
vom  ewigen  Frieden«,  schreibt  Friedrich  der  Große,  »ist  ein  Phantom, 
das  jeder  fortwirft,  wenn  der  Zwang  an  ihn  selber  herantritt.    Ein 
Gleichgewicht  der  Staaten,  das  dauern  könnte,  läßt  sich  gar  nicht 
denken.«   Auch  die  Theoretiker  lassen  sich  wohl  solche  Geständnisse 
entschlüpfen.    Daniel  Defoe,   obschon  ein  Verteidiger  des  Prinzips 
vom  Gleichgewicht,  dem  er,  ein  echter  Engländer,  unter  Umständen 
das  strenge  Recht  opfern  will,  ist  dennoch  der  Meinung,  daß  natur- 
gemäß jeder  Herrscher  seine  Macht  so  weit  ausdehnen  würde,  bis 
ihm  durch  einen  Stärkeren  Halt  geboten  werde.   Ein  anderer  Schrift- 
steller jenes   Jahrhunderts,   das  allen   Dogmen   feind  war,   gelangt 
als  Apologet  Preußens,  dessen  aufsteigendes  Gestirn  von  den  Gegnern 
als  eine  Störung  ihrer  Stellung  empfunden  wurde,  zu  der  Behauptung, 
daß  die  Politik  der  Königin  Elisabeth  von  England  mehr  in  Selbst- 
verteidigung,  als  in   Hingabe   an   den   Balancegedanken   bestanden 
habe,  und  daß  man  begründetes  Mißtrauen  gegen  die  Mächte  hegen 
dürfe,  die  von  Gleichgewicht  und  allgemeinem  Wohl  sprächen,  aber 
damit  nichts  als  ihr  eigenes  Interesse  wahrzunehmen  suchten.    Daß 
das  Gleichgewicht  auf  dem  Rechte  der  Selbsterhaltung  beruhe,  war 
auch  die  Auffassung  eines  Gegners  des  großen  Königs;  aber  gerade 
daraus  zog  derselbe  den  Schluß,  daß  Preußens  Macht  zerstört  werden 


266 

müsse,  da  sie  alle  andern  Staaten  im  Reich  übertreffe,  also  das  Gleich- 
gewicht im  Corps  germanique,  und  damit  auch  das  europäische  Gleich- 
gewicht selbst  bedrohe.  Während  wieder  einer  der  geschicktesten  Ver- 
teidiger Friedrichs,  Johann  Heinrich  Gottlob  Justi,  das  europäische 
Gleichgewicht  eine  Chimäre,  ein  schönes  Gespenst  nennt.  Kein  Volk,  so 
sagt  er,  habe  in  Wahrheit  sich  nach  dem  Balancesystem  gerichtet,  sondern 
alle  hätten  sich  dieses  Lehrgebäudes  bedient,  um  sich  Bundesgenossen 
zu  verschaffen  und  ihre   Sonderinteressen  darunter  zu   verstecken. 

Und  so  ist,  man  darf  wohl  sagen  ohne  Ausnahme,  die  gesamte 
Literatur  über  die  Lehre  vom  Gleichgewicht  von  ihrem  ersten  Auf- 
tauchen im  i6.  Jahrhundert  bis  zu  ihrem  allmählichen  Absterben  im 
19.  Jahrhundert  von  den  politischen  Strömungen  und  Interessengegen- 
sätzen abhängig,  denen  sie  ihr  Dasein  verdankte,  eine  Wiederspiegelung 
der  Kämpfe,  welche  die  europäischen  Mächte  in  den  Jahrhunderten, 
in  denen  sie  herrschte,  miteinander  führten.  Nur  zu  oft  war  sie 
eine  Maske,  die  sich  die  Kämpfenden  vorhielten,  künstlicher  Nebel, 
den  diese  durch  gekaufte  Federn  oder  in  Staatsschriften  und  Pro- 
klamationen verbreiteten,  um  die  eigenen  Absichten  zu  verhüllen 
und  die  Gegner  zu  diskreditieren,  auf  die  öffentliche  Meinung  ge- 
richtet, die  sich  zu  allen  Zeiten  gern  hat  täuschen  lassen,  dem  alten 
Satze  gemäß:  »Mundus  vult  decipi«.  Alle  Mächte  haben  dies  Kampf- 
mittel benutzt,  keine  je  geschickter  als  England.  Und  so  wandelt  sich 
die  Theorie  mit  dem  Auf  und  Ab  der  Kämpfe  um  die  Macht ;  sie  wird 
von  den  Kämpfenden  einander  zugeworfen  wie  der  Ball  im  Spiel^). 

Angewandt  wurde  sie  in  dieser  Absicht  zuerst  in  dem  Kampfe 
Englands  gegen  Habsburg.  Damals  wurde  sie  in  Zusammenhang 
gebracht  mit  dem  allgemeinen  Gegensatz  des  Protestantismus  zur 
alten  Kirche,  in  dem  zugleich  die  Idee  des  Kampfes  gegen  die  »Mon- 
archie«, die  imperiale  Idee,  weiterlebte,  die  in  Karl  V.  einen  so 
mächtigen  Repräsentanten  gefunden  hatte.  Von  jeher  war  die 
Opposition  gegen  die  »Monarchie«  im  Namen  der  »Freiheit«  geführt 
worden;  gerade  auch  in  Deutschland,  und  hier  nicht  bloß  in  den 
evangelischen  Kreisen  (von  keinem  bewußter  als  von  Zwingli,  dem 
Eidgenossen,  und  seinen  oberdeutschen  Freunden),  sondern  auch  bei 


^)  Eine  Übersicht  über  die  'Abwandlungen  der  Theorie,  die  mir  gute 
Dienste  getan  hat  bei  Kaeber,  »Die  Idee  des  europäischen  Gleichgewichts 
in  der  publizistischen  Literatur  vom  16.  bis  zur  Mitte  des  18.  Jahrhunderts«, 
1907;  Berliner  Dissertation  aus  dem  Seminar  Otto  Hintzes. 


267 

den  katholischen  Ständen,  wie  Bayern,  oder  bei  solchen  Evangelischen, 
die,  wie  Moritz  von  Sachsen,  in  den  konfessionellen  Kämpfen  neutral 
oder  gar  Verräter  waren,  aber  für  die  »alte,  löbliche  Libertät  und 
Freiheit  unseres  geliebten  Vatterlands,  der  Teutschen  Nation«  gegen 
Habsburgs  »Tyrannei«  sich  einsetzten.  »Religion  and  Liberty«  waren 
auch  für  Elisabeth  verbunden  —  und  dazu,  echt  englisch,  als  dritter 
Ton  in  dem  Gleichklang,  Englands  »Trade«.  Hierin  kleidete  sich  für 
England  das  Schlagwort  von  der  Balance  of  power  volle  anderthalb 
Jahrhunderte  und  länger.  Noch  heute  wird  es,  zur  Formel  erstarrt, 
im  englischen  Parlament  jährHch  zur  Begründung  der  Forderungen 
für  die  englische  Armee  von  der  Regierung  benutzt. 

Indessen,  das  Zeitalter,  in  dem  die  Konfessionen  das  bestimmende 
Element  in  der  internationalen  Politik  waren,  ging  vorüber.  Der 
Begriff  der  Res  pubHca  christiana,  dereinst  durch  das  Papsttum 
vertreten,  das  aus  dieser  Stellung  seine  Theorie  des  Gleichgewichts, 
das  Schiedsrichteramt  zwischen  den  streitenden  Mächten  der  Christen- 
heit zu  führen,  abgeleitet  hatte,  und  den  auch  die  Reformation  nicht 
aufgelöst  hatte,  verlor  seine  Berechtigung  in  einer  Zeit,  wo  ganz 
Osteuropa  in  den  allgemeinen  Horizont  mit  hineingezogen  war,  wo 
auch  die  Türkei  fast  schon  wie  ein  Teil  des  europäischen  Systems 
behandelt  wurde.  Es  erging  ihm,  wie  so  vielen  andern  Anschauungen 
und  Institutionen  des  kirchlichen  Zeitalters:  er  wurde  säkularisiert. 
Und  so  schiebt  sich  allmählich  jener  wesenlos  gewordenen  An- 
schauung der  neue  Begriff  »Europa«  unter.  Wie  schwer  die  Welt 
sich  hieran  gewöhnte,  sehen  wir  daran,  daß  noch  im  Jahre  1711 
Europa  nur  für  den  Mächtekreis  des  'spanischen  Erbfolgekrieges  an- 
gesprochen ward,  als  der  »regierende  Teil  von  Europa«;  so  daß  die 
nordischen  Mächte  und  ihr  Krieg,  der  den  ganzen  Osten  Europas 
nmspannte  und  bis  tief  in  Deutschland  hineinreichte,  davon  ausge- 
schlossen war;  und  der  Friede  von  Utrecht  (1713)  wurde  noch  abge- 
schlossen »zur  Befestigung  und  Bestätigung  des  Friedens  und  der  Ruhe 
der  christlichen  Welt  (christiani  orbis)  durch  ein  gerechtes  Gleich- 
gewicht der  Macht  (justo  potentiae  equihbrio)«.  Während  nun  aber 
England  den  Umkreis  seiner  Macht  weit  über  die  europäischen  Grenzen 
ausdehnte,  die  Ozeane  und  die  fremden  Kontinente  mit  hineinzog, 
hielt  es  dennoch  an  dem  Begriff  des  europäischen  Gleichgewichts 
mehr  als  jede  andere  fest.  Nur  daß  es  damit  lediglich  an  das  Gleich- 
gewicht der  Mächte  des  europäischen  Festlandes  dachte,  die  Welt- 


268 

meere  und  ihre  Küsten  aber  sich  selbst  vorbehielt,  als  einen  dem 
europäischen  Gleichgewichtssystem  entrückten  Annex  der  eigenen 
Macht.  Erklärlich,  daß  seinen  europäischen  Gegnern  diese  Abtren- 
nung des  Hauptteils  seiner  Macht  von  dem  europäischen  Staaten- 
system, um  dessen  Gleichgewicht  es  zärtlich  bemüht  war,  nicht  eben 
nach  dem  Herzen  war,  und  daß  es  darum  gerade  die  Franzosen  waren, 
welche  dagegen  protestierten.  So  der  ältere  Mirabeau,  der  in  seinem 
»Ami  des  hommes «  gegenüber  der  englischen  Meerestyrannei  an  Stelle 
der  »Chimäre«  des  Gleichgewichts  seinem  König  die  Stellung  eines 
obersten  Schiedsrichters,  eines  Pere  universel,  in  einem  Weltbunde 
sichern  wollte,  in  dem  volle  Handelsfreiheit  und  allgemeiner  Friede 
herrschen  sollten.  Oder  Maubert,  der  die  Idee  vom  Gleichgewicht 
in  den  Händen  einer  Landmacht  als  so  chimärisch  bezeichnete,  daß 
die  Zukunft  nicht  mehr  begreifen  könne,  wie  eine  solche  Fabel  jemals 
unter  zivilisierten  Völkern  habe  Glauben  finden  können;  es  sei  — 
behauptet  er  —  allein  die  englische  Politik  gewesen,  welche  die  Welt 
auf  die  falsche  Fährte  gelockt  habe,  um  sich  das  Imperium  über 
alle  Meere  zu  erobern  und  dadurch  Europa  in  Ketten  zu  schmieden. 
Ein  dritter,  Jaques  Nicolas  Moreau,  nennt  die  Universalmonarchie 
ein  absurdes  Projekt,  das  in  Wahrheit  immer  nur  ein  Traum  gewesen 
sei,  wie  das  Gleichgewicht  ein  Schemen.  Indem  er  den  europäischen 
Kontinent  von  England  aus  ansieht,  vergleicht  er  ihn  mit  einer  Wiese, 
deren  sie  bewässernder  Bach  einem  fremden  Herrn  gehöre,  der  nach 
Belieben  in  ihm  fischen  oder  seinen  Lauf  abändern  könne;  das  kom- 
merzielle wie  das  politische  Gleichgewicht  ließen  sich  nicht  trennen, 
und  so  habe  England  Zeit  gehabt,  die  universelle  Tyrannei  zu  okku- 
pieren, gegen  die  es  selbst  sich  mit  ganz  Europa  verbündet  habe. 
Als  aber  das  revolutionierte  Frankreich  den  Kontinent  seiner 
Machtsphäre  angliederte,  brachte  es  damit  wieder  alle  Wasser  der 
Theorie  auf  die  Mühle  Englands.  Mehr  als  je  gewann  England  in  der 
öffentlichen  Meinung  Europas  die  Stellung  als  Hüter  des  Gleich- 
gewichtes gegenüber  der  neu  emporgekommenen  »Monarchie«,  einer 
einzigen,  in  die  Hand  eines  Abenteurers  geratenen  Macht,  zurück. 
So  bereitete  sich  das  System  der  heiligen  Allianz  vor,  das  am  Ab- 
schluß des  neuen  Weltkampfes  ins  Leben  trat.  Ihr  Herold  und  bis 
an  seinen  Tod  ihr  bedeutendster  Verfechter  ist  Friedrich  Gentz  ge- 
wesen; in  diesem  Sinn  hat  er  schon  im  Jahre  1806,  dem  Jahre  von 
Jena,  seine  »Fragmente  aus  der  neuesten  Geschichte  des  politischen 


2G9 

Gleichgewichts  in  Europa«  veröffentHcht,   die   Schrift,   in  der  man 
die  klassische  Darstellung  der  Theorie  zu  erblicken  pflegt. 

Seit  den  Wiener  Verträgen  hat  die  Theorie  mehr  und  mehr  auf- 
gehört, die  Kabinette  und  die  öffentliche  Meinung  Europas  zu  be- 
schäftigen, und  daher  erklärt  es  sich,  daß  sie  Bismarck  fast  fremd 
geworden  war;  wie  er  übrigens  auch  dem  Begriff  »Europa«  von  jeher 
skeptisch  gegenüberstand;  er  meinte,  dies  Wort  führten  diejenigen  mit 
Vorhebe  im  Munde,  welche  gern  andern  zuschieben  wollten,  was  sie 
selbst  auszuführen  sich  nicht  getrauten.  Indem  die  Nationalität  fast 
durchweg,  stärker  als  je  zuvor,  die  Substanz  der  StaatspersönUchkeit 
wurde  oder  zu  werden  suchte,  tauchten  andere  Schlagworte  in  den 
Federkämpfen,  welche  den   Streit  der  Mächte  vorbereiteten  und  be- 
gleiteten, auf.    Freiheit  und   Gerechtigkeit,   Kampf  gegen  Handels- 
tyrannei und  Welterobeningssucht  sind  Töne,  die  auch  im  19.  und 
20.  Jahrhundert  immer  wieder  erklingen,  zumeist  gerade  von  der  Seite 
her,  wo  man  selber  befürchten  muß,  solchen  Vorwürfen  zu  begegnen ; 
die  Stelle  der  alten  Res  publica  christiana  und  der  »Christenheit«  aber 
haben  »Kultur«  und  »Zivilisation«  eingenommen.    So  lautete  noch  der 
Text  der  Predigt,  durch  die  England  und  seine  Freunde  unsere  Nation 
den  Völkern  der  Erde  denunzierten,  als  sie  im  Weltkrieg  uns  von  der 
Idee,  in  der  Welt  etwas  bedeuten  zu  wollen,  kurierten. 

Es  ist  von  besonderem  Interesse,  das  System  des  politischen 
Gleichgewichts,  so  wie  Friedrich  Gentz  es  sich  dachte,  und  wie  es  in 
der  heiligen  Allianz  für  ein  paar  Jahre  verwirklicht  wurde,  mit  dem 
Plan  des  Völkerbundes  zu  vergleichen.  Auch  Gentz  will  einen 
Staatenbund  zusammenbringen  zur  Abwehr  der  übermächtigen  und 
zur  Erhaltung  der  Kleinen,  die  der  Fürsorge  der  Gesamtheit  anvertraut 
werden  sollen,  einen  wirklichen  Staatenverein  mit  durchgebildeter 
Verfassung  und  einem  Regierungen  und  Völker  belebenden  gleich- 
artigen Geist.  Strengste  Gerechtigkeit  sei  die  oberste  Regel;  jeder 
dem  andern  verpflichtet,  Unabhängigkeit,  Sicherheit  und  alle  Rechte 
zu  gewährleisten;  kein  Isolierungssystem,  keine  Gewalttätigkeit 
gegen  fremde  Gefahr,  aber  auch  keine  absolute  Neutralität,  keine 
unbedingte  Ausschließung  von  irgendemer  wichtigen  Verhandlung 
sei  gestattet.  Dadurch  allein  könnten  endlose  Streitigkeiten  und 
immerwährende  Kriege  vermieden  werden;  je  vollständiger,  harmo- 
nischer, geschlossener  das  Föderativsystem  der  europäischen  Staaten 
sei,  je  empfindlicher  jeder  einzebie  Teil  für  jede  Verletzung  des  ganzen, 


270 

je  treuer  und  fester  das  Band,  welches  jeden  mit  allen  verknüpft, 
desto  weniger  Kriege  würde  es  geben.  Wer  sich  aber  nicht  fügen 
wolle  in  dem  Umkreise  dieser  Staatenwelt,  der  werde  dazu  gezwungen 
werden  müssen.  Mit  andern  Worten,  das  Recht  der  Intervention 
wird  von  Gentz  in  Anspruch  genommen.  Wo  sich  in  einem  Staat 
eine  regelmäßige  Regierung  befinde,  möge  sie  beschaffen  sein,  wie 
sie  wolle,  aus  Recht  oder  aus  Gewalt  entsprungen,  gemäßigt  oder 
tyrannisch,  verderblich  oder  wohltätig,  schwach  oder  stark,  habe 
der  Völkerbund  —  eben  dies  Wort  wendet  Gentz  an  —  neutral 
zu  sein;  mit  den  inneren  Angelegenheiten  der  Staaten  habe  er  nichts 
zu  schaffen.  Ein  Übergewicht  jedoch,  wie  Frankreich  es  durch  Krieg 
und  Revolution  erworben  habe,  könne  nicht  geduldet  werden;  um 
so  weniger,  als  das  höhere  Interesse  Europas  sich  mit  dem  wahren 
Interesse  Frankreichs  decke. 

Der  Völkerbund  (die  Liga  der  Nationen,  wie  unsere  Feinde  ihn 
nennen)  erscheint  danach,  in  den  Stü  unserer  Zeit  übertragen,  fast 
wie  eine  Wiedergeburt,  eine  Neubildung  der  heiligen  Allianz,  in  der 
Generationen  die  Beleidigung  des  Weltgewissens,  die  Ausgeburt 
finsterster  Reaktion  und  die  Knechtung  des  Geistes  der  Freiheit  er- 
blickt haben.  Heute  pflegt  man  den  Bund,  der,  ganz  wie  die  heiHge 
Allianz,  den  Weltfrieden  zu  wahren,  d.  h.  die  Ergebnisse  des  Welt- 
krieges zu  erhalten  sucht,  anders  einzuschätzen,  und  nicht  bloß  im 
Lager  unserer  Feinde,  sondern  auch  in  unsern  eigenen  Reihen.  Also 
wäre  es  gewiß  lohnend,  einmal  festzustellen,  wo  etwa  Unterschiede 
zwischen  zwei  so  n^h  verwandten  Organisationen  des  Friedens  zu 
suchen  sind,  und  woher  es  sich  erklärt,  daß  der  Liberalismus  die  eine 
in  den  Abgrund  der  Hölle  verwünschte,  die  andere  aber  im  ver- 
klärtem Lichte  sieht.  Jedoch  ist  hier  nicht  der  Ort  dazu.  Und  so  sei 
nur  noch  auf  ein'  n  Punkt  hingewiesen,  in  dem  die  Abwandlung  der 
Zeiten  und  das,  was  aus  einem  Volk,  das  bis  vor  kurzem  das  stärkste 
der  Erde  war,  geworden  ist,  vollkommen  sichtbar  wird.  Die  Theorie 
von  dem  Rechte  des  Gleichgewichts  in  der  Verteüung  der  Macht  war 
eine  Maske,  welche  die  im  Kampf  gegen  eine  übermächtige  Gewalt 
stehende  Partei  vorzunehmen  pflegte.  Darum  wechselte  sie  gemeinhin 
mit  dem  Sieger  ihren  Träger.  Der  Völkerbund  dagegen  (und  das 
hat  er  wiederum  mit  der  heiligen  Allianz  gemeinsam)  will  eine  Garantie 
sein,  welche  den  Siegern  das  geraubte  Gut  sichern  soll,  mithin  eine 
neue  Fessel  für  den  Besiegten  ist.  Sie  werden  diese  vielleicht  erweitern 


271 

und  sie  dem  Besiegten  um  so  loser  umlegen,  je  sicherer  sie  sich  fühlen, 
also  daß  sie  ihn  am  Ende  gar  zur  Aufnahme  in  den  Völkerbund  be- 
gnadigen möchten;  und  sie  werden  sie  um  so  enger  schmieden,  je 
größer  ihre  Angst  vor  dem  Wiederaufkommen  des  Gegners  ist.  Uns 
ist  bisher  noch  der  letztere  Fall  beschieden;  die  Absicht,  uns  zu  par- 
doni.ieren,  die  zuweilen  laut  wurde  und  besonders  bei  den  schwä- 
cheren Mitgliedern  des  Bundes  auftauchte  (die  ja  dadurch  eine  Ver- 
stärkung ihrer  eigenen  Lage  erfahren  würden),  stieß  noch  immer 
auf  Widerstand  bei  dem  Gegner,  der  am  meisten  Ursache  hat,  uns 
zu  fürchten:  ein  Beweis,  daß  wir  auch  in  der  Not  der  Gegenwart 
diesem  Gegner  noch  gefährlich  erscheinen,  und  gerade  darum  eine 
Hoffnung,  daß  unserer  Nation  trotz  allem  eine  bessere  Zukunft, 
ein  Leben  in  Freiheit  beschieden  sein  wird. 


Sdilußwort, 

an  die  Fachgenossen  des  Verfassers  gerichtet. 


Wir  wollen  fortfahren,  gemeinsam  unsern  Acker  zu  bestellen, 
ihn  wieder  reinigen  von  dem  Schutt,  den  die  Unvernunft  darüber 
gekarrt  hat:  unbekümmert  um  die  Meinungen  des  Tages,  frei,  wie 
bisher,  von  der  Sorge,  daß  wir  über  unserm  Werk  uns  selbst  und 
unsere  Ideale  verlieren  könnten,  vielmehr  •  des  Glaubens,  daß  wir, 
je  tiefer  wir  graben,  um  so  reichere  Schätze  gewinnen  werden,  daß  wir 
gerade  dann  die  Wurzelechtheit  und  die  Wirkungskraft  der  in  unserer 
Geschichte  tätigen  moralischen  Energien  begreifen,  die  Mächtigkeit 
der  Fundamente,  welche  die  Vorfahren  gelegt  haben,  und  an  denen 
die  Pygmäen  von  heute  rütteln  möchten,  aufdecken  und  also  den 
Weg  aufzeigen  werden,  der  uns  aus  dem  Dunkel  der  Gegenwart  zu 
einer  lichteren  Zukunft  emportragen  wird  —  daß  es,  mit  einem  Wort, 
der  Genius  unseres  Volkes  selbst  ist,  der  uns  die  Fackel  voran  trägl. 
Sanctus  amor  patriae  dat  animum. 


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